ebook 2004 by meTro
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ebook 2004 by meTro
Dieses eBook ist nicht zum Verkauf bestimmt!
Backcover: In ihren Erinnerungen schildert die Malerin Dorothea Tanning ihr Leben als Künstlerin und als Ehefrau von Max Ernst. Sie war 34 Jahre lang bis zu seinem Tod 1976 mit ihm zusammen. Birthday ist ein ungewöhnlicher Lebensbericht – dicht, farbenreich, von poetischer Kra, ein surrealistisches Gemälde in literarischer Form.
Über das Buch »›Bitte kommen Sie herein‹, lächelte ich und versuchte, es wie zu jedem anderen auch zu sagen. Wir gingen ins Atelier, und da stand auf der Staffelei das Porträt, noch nicht ganz fertig. Er betrachtete es, und ich versuchte, nicht hinzusehen. Endlich: ›Wie soll es denn heißen ?‹ fragte er. ›Mir fällt einfach kein Titel ein.‹ ›Dann können Sie es Birthday nennen.‹ Einfach so.« Diese Szene steht am Anfang der Erinnerungen von Dorothea Tanning. ER – das ist der surrealistische Maler Max Ernst. SIE: eine junge Malerin, die ihren Weg in der Kunstszene suchte. Sie teilten ihr Leben 34 Jahre lang bis zu Max Ernsts Tod im Jahre 1976. Dorothea Tanning schildert dieses gemeinsame Leben. In ihrem Haus in der Provence trafen sich Künstler, die zu ihren Freunden zählten: Marcel Duchamp, Tristan Tzara, Man Ray, Andre Breton, Paul Eluard. Nach dem Tod von Max Ernst kehrt Dorothea Tanning in die USA zurück. So beglückend für sie die Nähe des Künstlers Max Ernst war, so hat sie sie doch immer wieder auch in Identitätskrisen ihres eigenen Schaffens gestürzt. Die Autorin Dorothea Tanning wurde am 25. August 1910 in Galesburg/ Illinois (USA) geboren. Schon als junges Mädchen kam sie in Kontakt mit der surrealistischen Künstlerszene von New York und begann ihren Weg als eigenständige Künstlerin. 1942 begegnete sie Max Ernst. In den 50er Jahren gingen sie zusammen nach Frankreich. Ihre Gemeinscha bestand 34 Jahre lang bis zu Max Ernsts Tod. Dorothea Tanning kehrte 1980 nach Amerika zurück und lebt in New York.
DOROTHEA TANNING
BIRTHDAY LEBENSERINNERUNGEN AUS DEM AMERIKANISCHEN VON BARBARA BORTFELDT
KIEPENHEUER & WITSCH
3. Auflage 1997 Titel der Originalausgabe Birthday © 1986 by Dorothea Tanning Aus dem Amerikanischen von Barbara Bortfeldt © 1990, 1991 by Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln Umschlag: Manfred Schulz, Köln Umschlagfoto: Dorothea Tanning und Max Ernst Gesamtherstellung: Clausen & Bosse, Leck ISBN 3-462-02155-9
Inhalt Vorwort
. Schnee und Stimmen
. Der andere Weg
. Geschichten für meine Ohren
. … und für seine
. Am Steinbockhügel
. Unter dem Dach
. Ein neuer Garten
. Ein Reich in der Provence
. Gefaltete Schwingen
. Immer noch im Atelier
. Dämmerlicht bei Tag und Nacht
Bilder
Vorwort
D
iese Sammlung von Reflexionen und Souvenirs, von Anekdoten, Gesprächen, Fluchten, Eroberungen, Stimmen und nutzlosen Meinungen wurde aufgeschrieben, um das Porträt einer amerikanischen Malerin zu zeichnen, die fast ihr halbes Leben lang eine internationale Künstlerin war, einfach weil sie im Ausland gelebt hat. Daß solche Wege durch Raum und Zeit späte Gedanken entscheidend prägen, ist unbestreitbar. Daß sie die innere Vision der Künstlerin und ihren ureigenen Wert bestimmen, ist selbstverständlich absurd. Eine solche Sicht kann nur dürstende Talente betreffen, die immer bereit sind, Ihresgleichen Tuschfarben aufzusaugen, wo sie sie auch finden. Der andere Grund für das Buch ist Max Ernst. Ein tiefes Bedürfnis, von diesem wahrha Großen zu erzählen, unsere gemeinsamen vierunddreißig Jahre heraufzubeschwören, ihm klarere Konturen zu geben und das Rätsel, das er den meisten Menschen aufgab, für ein Weilchen wegzuwischen, mit einem Wort, ihn so gegenwärtig und lebendig zu machen, wie ich ihn gekannt habe. Dies und der feste Glaube, daß nur ich gewisse elementare Wahrheiten über uns preisgeben kann, haben mir die Freude daran bewahrt, sie mitzuteilen. Dorothea Tanning
1. Schnee und Stimmen
J
ede Sekunde unseres Lebens zuvor und davor und auch davor noch ist, als wir uns begegneten. Das Prisma des Gewesenen: Ein großer Tag oder ein mißglückter; ein Sprung, ein Aufprall, ein Straucheln; ein Ringen um Geduld, das Warten zu ertragen; das alles sind Krumen, ausgestreut auf dem Pfad durchs Dickicht, der zurückführt zum Anfang. Die Momente unmittelbar vor unserem ersten Blick bedeuteten eigentlich nicht mehr als, sagen wir, ein Tag zwanzig Jahre zuvor, an dem er vielleicht mit Lust und mit Tzara ein Dada-Manifest entwarf, während ich mit dem Optimismus meiner elf Jahre einen BH anprobierte, der, da er nichts vorfand, schrumpelnd zusammensank wie ein niedergehender Fallschirm an der Brust der Erde. Der Anfang also besagt gar nichts. Er ist ohne Bedeutung wie jener Punkt auf meiner Perspektivenübung im Zeichenunterricht, die Stelle mitten auf dem Papier, an der sämtliche Linien – Wege? Straßen? – zu einem Ort namens Unendlichkeit zusammenliefen. Wer allerdings aus Neugier diesen Ort zu erreichen versuchte, könnte niemals hingelangen. Der Punkt hätte sich verflüchtigt, wäre weit voraus entschwunden, und man müßte ganz von vorn beginnen. Er war ein Trick nicht nur des Auges, sondern des Schicksals selbst, denn dieser Punkt war weder Anfang noch Ende, er war bloß ein dummer schwarzer Fleck, der immer weiter ins Unendliche entfloh. Jetzt laufen die Linien meiner selbstgezeichneten Graphik nicht mehr zusammen, sie öffnen sich und legen eine mittlere Distanz frei, in der wir, Max und ich, uns in feurigem Aufruhr aller Art
messen: Halsbrecherische Wagnisse, von stillen Siegen gekrönt; peinigendes Unterliegen, durch betörende Aussichten gelindert. Meine Fühler rühren an die Tiefen des Raumes, sie beginnen wild herumzutasten, wenn sich allmählich das Leuchten im Chaos verliert. Ich suche Entschuldigungen. Dabei kann sich im Chaos durchaus üppige Fülle verbergen. Vielleicht servieren diese Seiten keinen Reste-Eintopf, sondern ein Festmenü. Und man rechtfertigt sich doch nicht dafür, daß man ein Festessen gibt und alle Welt dazu einlädt. Daß man sich so viel Mühe macht, in alten Zeiten zu stöbern, in halben Nächten; daß man, wo die Erinnerungen verschwimmen, im Zweifelsfall Daten nachschlägt – war die Hochzeit tatsächlich , ich hätte schwören können, es war –; daß man sich einsam hinsetzt, mit nichts als einem Wörterbuch zur Gesellscha, obwohl man im Kino sein könnte, bei einem Konzert, auf einer Party oder einfach unter Freunden – daß man sich hinsetzt und das Kaleidoskop schüttelt. Dieser Anfang ist entschieden nicht der beste. Er ist griesgrämig, defensiv. Ich sollte mich nicht so aufregen. Ich will doch weiter nichts als alles hergeben – Ängste, Träume, Innerstes. Ich will zum Beispiel das Nest voll winziger neugeborener Mäuse nicht einfach vergessen, das wir, die Haushälterin und ich, eines Tages, als der Mistral durch jene ferne Scheune blies, hinter dem Sack Hühnerfutter fanden und das sie auf der Stelle totknüppelte (mit einer Hacke, vielleicht war es auch ein Besen), einfach so, als wären es Wanzen, Käfer, kleine Kaageschöpfe, und ich schaute weg, ich empfand etwas wie Säugetiersolidarität, eine Art ehrfürchtiger Bestürzung beim Anblick der vollkommenen rosigen Körperchen, dieser Füßchen, so zierlich, daß meine Augen die erstaunlichen Zehen nicht zählen konnten. Und das alles für nichts. N. Aber nicht doch. Wie trivial. Da will ich tief in dieses Labyrinth
eindringen, mein Leben, unser Leben, und fange an, von Mäusen zu reden! Ebensogut könnte ich von der Kröte erzählen, die wir eines Morgens mit abgebissenen Händen im Garten fanden, ein Katzenspaß wohl. Welch eine Art, zu sterben. Wir hatten einander täglich begrüßt. Unsere Kröte. Unsere Freundin, immer da, am selben Platz, freute sich vielleicht, uns zu sehen. Bis zu diesem Morgen, als wir den gewohnten Rundgang machten. »Schau nicht hin!« sagte Max und versuchte, mich wegzudrängen. Aber ich habe es gesehen und muß es vergessen. Das war in Huismes in Frankreich. Le Pin Perdu, unser zweites Haus, unser zweiter Garten, üppiges Grün, von Wegen gebändigt und ohne Hühner, eine weise Einteilung. Kein Maschendraht, der die Regeln setzt, keine törichten Stallgeschöpfe – die kamen später – mit ihrem ewigen Gepick, Gegacker und Gekack, ihrer Besteigerei und Eierlegerei. Mit ihrem glasigen Blick, wenn sie hockten und Eier ausstießen, und dem markerschütternden Triumphgeschrei danach. Mit ihrem langen Abendpalaver, Gelärme, schrecklicher als das Heulen der Verdammten am jüngsten Tag, Ausdruck ihrer kollektiven Langeweile, der die ländliche Idylle, an die wir glauben wollten, erschütterte wie hohle Rufe der Ewigkeit, so daß wir uns fragten, ob das Stadtleben nicht doch vorzuziehen sei für solche wie uns, die nicht den Mumm hatten, ein Kaninchen zu töten, aber nicht zuviel Skrupel, es zum Metzger zu bringen, der das erledigte. Wir werden Sedona in Arizona kennenlernen und Huismes in der französischen Touraine und Seillans in der Provence, Kettenglieder unserer Jahre, weit weg von New York und Paris. Die Unschuld des Landlebens ließ uns nicht los: Die Lu wie Kristall, das bezaubernde Unkraut, der unverfälschte Matsch. Sogar Stromausfälle gewannen Eleganz mit den brennenden Kerzen und Petroleumlampen,
die wir von Zimmer zu Zimmer trugen und die das Unermeßliche beiseiteschoben, das in den Nächten hing. In Sedona kochten wir auf Steinen im Freien, schlugen ein Feuer aus kümmerlichem Wüstengestrüpp. Wir spielten »Zuhause«. Wie der Künstler so spielt, er kennt sich aus, er kennt die echten Werte, den Wert des echten Schlamms. Er kann das Gikraut genauso gut erkennen wie der freundliche Viehzüchter unten an der Straße, der hier geboren und deshalb kompetent ist und weise von den ledernen Wangen bis hinunter zu den runzligen Stiefeln und der, weil er Viehzüchter ist, unmöglich ein Langweiler sein konnte. Das war bestimmt der falsche Anfang. Er hätte die mittlere Distanz zeigen müssen, wie versprochen. Statt dessen Matsch, Unkraut, Gipflanzen. Stippvisite im Sumpfgebiet, einem der liebsten Schlupfwinkel von Mutter Natur. Und doch, vielleicht ist er gar nicht so schlecht. Verwegene Experimente brauchen Morast. Der brodelt und gärt wie Ferment und bringt etwas hervor. In Wahrheit haben wir, die meisten, von denen hier die Rede ist, eigentlich überhaupt nichts Pastorales. Unsere Anfänge sind schlicht kleinstädtisch, mehr oder weniger urban. Wir kennen eingezäunten Rasen, frische Farbe auf Fassaden, Pflastergassen für Wagen mit wer-weiß-welcher Fracht. Kaum je lernt einer von uns den echten Schlamm, das gemeine Unkraut, die Ackerfurchen kennen. Eins allerdings ist uns vertraut, und wie: die Geselligkeit. Gesellig ist auch das Landleben. Und von unerbittlicher Geschwätzigkeit, wo es sich äußert, hemmungslos, ganz im Einklang mit der besagten mütterlichen Gottheit Natur. Freundlich, wenn möglich. Und unwiderstehlich, ein Magnet, eine Sirene, die uns aus der Stadt hinaus in offene Horizonte lockt. Also warten wir, wir in der Stadt, warten geduldig, bis wir einander finden, um miteinan
der zu fliehen. Man macht es nicht allein wie oreau. So viel Einsamkeit will man auch wieder nicht. Was sie gestern angekündigt haben, ist wahrscheinlich morgen. Wir alle sind dabei, wenn die Nachrichten kommen. Die Brände, die Massaker, die Wirtscha, ein Staatsstreich. Verhandlungen mit den Russen. Nie werden sie beendet, es bleibt immer genug für den folgenden Tag. Denke nicht allzuviel darüber nach, widme ihnen nur etwas Aufmerksamkeit wie ein Gebet, einen kurzen Kniefall auf den Teppich, wenn der Muezzin ru. Denn die Weltnachrichten im Fernsehen sind für jedermann überall ein zwingendes, feierliches Muß. Sie sind unser Gebet. Wir drücken auf den Knopf, statt eine Kerze anzuzünden. Hören, hören, sehen. Zuerst gab es nur das eine Bild, ein Selbstporträt. Es war nach heutigen Maßstäben eine bescheidene Leinwand. Aber es füllte mein New Yorker Atelier, das hintere Zimmer der Wohnung, als wäre es immer schon dagewesen. Tatsächlich, es war das Zimmer; plötzlich, eines Tages war mir die faszinierende Flucht der Türen aufgefallen – Flur, Küche, Bad, Atelier –, die sich da ballten und meinen Blick reizten mit grotesken Flächen, Licht und Schatten, drohendem Öffnen und Schließen. Von da aus war es ein leichter Sprung hinüber in den Traum von zahllosen Türen. Vielleicht war dieser Traum gewissermaßen ein Talisman für das, was sich ereignete, ein Echo verborgenen Geschehens, lineare Verdichtungen im Kristall eines Brieeschwerers der Zeit, die nichts erwarten ließ als die fertige Leinwand und später ein paar Schneeflocken, denn es war die Weihnachtszeit , und Max war mein Weihnachtsgeschenk. Es schneite heig, als er an der Tür klingelte. Auf der Suche nach Bildern für eine Ausstellung, die den Titel »Dreißig Frauen« (später »Einunddreißig Frauen«) tragen sollte, war er nur zu gern Emissär in Ateliers und forschte nach Begabungen im Bukett hübscher
junger Malerinnen, die nicht nur hübsch waren, wofür sie nichts konnten, sondern die sich auch als Künstlerinnen sehr ernst nahmen. »Bitte, kommen Sie herein«, lächelte ich und versuchte, es wie zu jedem anderen auch zu sagen. Er zögerte, stampe auf dem Abtreter herum. »Oh, machen Sie sich keine Sorgen wegen der Nässe«, fuhr ich fort. »Hier gibt’s keine Teppiche.« Viele Möbel gab es auch nicht oder sonst etwas, das die sechs Zimmer zwischen Vorder- und Rückfront gerechtfertigt hätte. Wir gingen ins Atelier, das immerhin wohnlicher war, und da stand auf der Staffelei das Porträt, noch nicht ganz fertig. Er betrachtete es und ich versuchte, nicht hinzusehen. Endlich: »Wie soll es denn heißen?« fragte er. »Ich habe eigentlich noch keinen Titel.« »Dann nennen Sie es doch Birthday.« Einfach so. Gleich weckt etwas anderes sein Interesse, ein Schachfoto, auf mein Zeichenbrett gepinnt. »Ach, Sie spielen Schach!« Er schwingt den Satz empor wie eine Frage und setzt ihn dann hin als Faktum, so daß mein »Ja« nichts weiter ist als der Widerhall eines Gesprächs aus ferner Vergangenheit. »Wie war’s denn mit einem Spiel«, Pause, »das heißt, wenn Sie Zeit haben.« Wir spielen. Es ist dunkel geworden, schneit nicht mehr. Tiefe Stille erfüllt den Raum. Meine Dame war schon zweimal gefährdet und steht in sehr schlechter Position. Schließlich verliere ich. Was denn sonst unter diesen Umständen? Alle Gedanken an Verteidigung, Gegenangriff und strategische Planung konzentrieren sich jenseits des Schachbretts, ich sehe nur noch diesen Raum mit zwei Figuren darin, bedroht mein Territorium, brennend mein Gesicht. Schach hat etwas Sinnliches, unter die Haut Gehendes. »Sie spielen vielversprechend. Ich könnte morgen wiederkommen, Ihnen ein paar Tips geben …« So sah der nächste Tag und der dann folgende uns Schach spielen wie besessen. Kelchförmige Schichten ei
ner alten Kruste, die Austauschregeln hielten mich sitzend auf dem steifen Stuhl statt in Sterngestalt ausgestreckt auf dem Bett. Bis eine Woche vergangen war und er kam, um zu bleiben. Daß wir beide Maler waren, Visionäre, schien mir damals nichts anderes als der glücklichste aller Zufälle. Mehr noch, es war so unglaublich, einer göttlichen Laune entsprungen, daß ich, das Unwägbare gewichtend, mir sagte: Ja, und wenn es nur drei Wochen dauert, ist es doch gut so. Er brauchte nur wenige Stunden, um einzuziehen. Es gab keine Diskussion. Es war, als hätte er ein Haus gefunden. Ja, ich denke, ich war sein Haus. Er wohnte in mir; er schmückte mich aus; er wachte über mich. Von der einen zur anderen Stunde wurde meine kahle hallende Etage gepackt wie ein Haufen Kisten, so daß, als das Schieben und Schleppen getan war, unsere Stimmen sich nahe blieben, wie sie es von Anfang an gewünscht hatten. Ich schaute zu im wohligen Zustand leichten Schwindels. Es war vor allem so selbstverständlich und richtig, dachte ich; das lange Warten auf dem Bahnsteig wurde belohnt mit der Ankun des Zuges, ich hatte gewußt, daß er kommen würde, früher oder später. Im Nu fand das letzte Bild einen Platz an der Tür, wurde die letzte Maske über meinen Schreibtisch gehängt. Eine Bilderpracht weitet meine Räume, macht meine Wände zu neuen Welten. Und als wäre das nicht genug, auch noch Hopigötzen, die Wolfsmaske von der Nordwestküste, Schilde aus Neuguinea. Es gab einen Totempfahl, der bis zur Decke reichte. Ein kleiner Hund namens Katchina kam herein und verkroch sich zitternd unter dem potlatch*, der zwischen den Fenstern stand. Über einer Tür ein Papuapaddel, auf dem Schreibtisch ein geschnitzter Horn* Ein großes, geschnitztes Holzgefäß, in dem die Eskimos Robbenfett auewahrten. Unser potlatch hatte die Gestalt eines zähnefletschenden Wolfes.
löffel mit Totemstiel. »So eine Menge!« sagte ich. »Aber das hier war mein allererstes Stück«, Max hob den Löffel hoch und erzählte seine Geschichte. Alles drehte sich dabei um einen Trödelladen auf der ird Avenue, Max war o daran vorbeigegangen, er wohnte in der Nähe. Eines Tages sah er genauer hin. Da lag inmitten des zusammengewürfelten Ramsches der Haidalöffel, die vier Gestalten seines schwarzbeinernen Totems blickten aus schillernden Perlmuttaugen majestätisch distanziert auf die Nippsachen ringsum. Max trat ein. Aus dem Hintergrund des Ladens kam ein aalglatter kleiner Mann hervor, san, aber höflich-unerbittlich wegen des Löffels. »Oh nein, den kann ich nicht einzeln verkaufen, er gehört zu dem Satz.« Und Max: »Zu welchem Satz?« »Aber sehen Sie doch – das ist eine Löffelkollektion.« Ein zweiter Blick bestätigte die bemerkenswerten Worte des Händlers. Im Schaufenster lagen, ausgerichtet wie Soldaten, Löffel aus Silber, Cloisonne, Holz, Elfenbein; georgianische Löffel, römische Löffel, ein Babylöffel … Nun folgte ein Wortgefecht, ein wildes verbales Tauziehen um das Ziegenhornjuwel (der Händler hielt es für Robbenzahn). Max geriet ins Schwärmen von der großen, wundervollen Kunst der sogenannten Primitiven – der Britisch-Kolumbianer, Alasker, Indios, Maya, Prä-Kolumbianer –, und der andere lauschte gebannt, hier und da eine Frage einwerfend. Ob diese mysteriösen Menschen immer noch solche Sachen herstellten? Oh nein, leider nicht, dieses Leben schwände schnell dahin. Am Ende verkaue er den Löffel. Der Käufer hinterließ seine Telefonnummer: »Und ich habe Freunde, die sind auch interessiert. Geben Sie mir Bescheid, wenn Sie wieder etwas haben.« Lange dauerte es nicht. Am nächsten Tag schon nahm Max den Anruf entgegen. »Ich komme sofort.« Über Nacht hatte sich eine herrliche Eskimomaske im Laden eingefunden.
Damit setzte ein geradezu hektischer Ansturm auf die ird Avenue ein. Das georgianische Silber des Händlers verschwand ziemlich schnell, dafür besorgte er, um Max und seinen Freunden das Herz zu erwärmen, immer staunenswertere Stücke immer seltenerer Primitivkunst. Zusammen mit Max eilten Breton, Seligman, Matta, Tanguy und Masson ihren neuen amerikanischen Freunden voran. Die Vorräte schienen unerschöpflich, bis ein paar verschlafene Museen, so vollgepfrop mit verstaubter Kunst, daß seit je kaum ein Durchkommen war, sich zu fragen begannen, was denn eigentlich los sei – so wie einer, der vor dem Spiegel steht und plötzlich seine schwindende Haarpracht sucht. Das alles aber kam später. Hübsch. Ein verstaubtes Etikett auf dem obersten Regalbrett, wo überflüssige Wörter verstaut sind, nur für alle Fälle. Ein Wort müder Anerkennung, das etwas kennzeichnen soll: ein Geschenk, eine Geste, vielleicht, eine »hübsche« Lösung. Aber nicht Max. Da war das Adjektiv störend, ich mochte es nicht, denn ich konnte den Gedanken nicht ertragen, in einer Schlafzimmersituation vielleicht die weniger Schöne zu sein. Als er dann aber zu mir kam, verschmolz sein Äußeres in meinen Sinnen und Blicken mit allem, was er war und tat, mit meinen Träumereien vor seinen Bildern, lange bevor ich ihm endlich begegnete; vor allem vielleicht, weil er so anders war, weil er nicht entfernt in das breitnackige, krastrotzende Idealbild maskuliner Körperpracht paßte, das so unangefochten ist unter uns, schloß ich ihn ganz unabhängig von der erotischen Seite unseres Zusammenseins ins Herz, ohne einen einzigen Blick zurück. Als wir uns auszogen und ich schließlich sah, was ich nicht hatte wahrhaben wollen, einen Körper, der ganz Harmonie war, ganz Lächeln, ganz Blütenblatt und magere Muskeln, und ganz für mich, da war es zu spät – meine spröden kleinen Bedenken waren
weggewischt, ich mußte nun doch und für diesmal mein Ego anpassen, rückhaltlos und ohne nachzudenken, und mit den Perlen und Kleidern ließ ich die schützenden Schichten der Eitelkeit fallen, die meine plumpe Weltlichkeit bis dahin geschönt hatten. Satin wäre das Wort für seine Haut, wenn es nicht schwerfiele, es zu sagen. Der schmale Körper glich in seiner Sparsamkeit mehr denen der Jungen, die von der Böschung kopfüber in den Weiher springen, als den schwellenden Rundungen der erwachsenen Cherubim Michelangelos. Seidenhände, Blumenhände, ja, doch mit den langen Fächern der Knochen innen so kravoll und aufrichtig. Hände, die entspannt auf einer Hüe ruhten oder in den Taschen steckten, so wie er eines Tages dastand und mir über die Schulter blickte. »Machst du das gern?« Unter meiner Feder, in schwarze Tusche getunkt, lag der große weiße Zeichenblock, bevölkert von Mädchen und Frauen. Sie waren voll bekleidet. Und die Kleider und Kostüme und Mäntel gab es bei Macy’s zu kaufen. Vielleicht waren es aber auch Bademoden. Oder Parfüms, aufsteigende Duwölkchen, entschwindende Federstriche, blaß schattiert. Ich legte meinen Sti hin, wie erstarrt. »Nein, natürlich nicht. Nein, ich hasse es.« Und er: »Warum machst du es dann?« Lautlos, zu mir selbst: Guter Gott. Ich war verstört, ach, viel schlimmer. Dieser ganze belanglose Fleiß entlarvte doch nur meine unermeßliche Bedeutungslosigkeit und legte den Finger darauf: Wie kann eine das machen und behaupten, Künstlerin zu sein? Wie kann sich eine wahre Künstlerin so weit erniedrigen? Er hatte ja recht, er hatte so recht. Ich wand mich. Aber er war noch da mit seiner lässigen Frage, und irgendwie mußte er Antwort bekommen. Also sagte ich: »Ich muß leben.« Kurze Zeit blieb es still. Dann: »Ecoute«, hörte ich ihn sagen. »Ich habe mit meiner Malerei
immer mein Brot verdient. Ich denke, das kann ich auch für zwei.« Und kaum zu glauben, er fügte hinzu: »Im übrigen, du bist Künstlerin. Du bist die Malerin des Birthday. Du darfst das jetzt nicht aufgeben.« Hätte ich diese Worte an Ort und Stelle aufgezeichnet, hätte ich sie mir über die Jahre tausendmal wieder abgespielt, sie wären mir nicht fester im Gedächtnis, als sie es heute sind. Dieses Bild. Tage später, als ich es einem Kaufinteressenten im Nachmittagslicht jenes Zimmers zeige, lehnt Max, die Hand auf der Hüe, in der Tür. Er hört freundlich zu, bis der Besucher nach dem Preis fragt. »Das Bild ist unverkäuflich«, sagt Max. Wohlerzogenes Schweigen, während seine vier Worte in zwei Köpfe einsickern. »Aber …« – und der Sammler blickt auf mich -»…?…«. Ein Moment hastiger Floskeln, höchster Spannung, eine Pause; ich zögere, träume ich? Diese Szene – aus welchem Film ist sie? Max sagt klar und deutlich: »Ich liebe Dorothea. Ich will den Rest meines Lebens mit ihr verbringen. Das Bild ist ein Teil dieses Lebens.« Darauf wußte der Sammler keine Antwort. Ich auch nicht. Wenn sich Max von mir wegwagte, wußte er, daß er nicht hinter sich zuschließen mußte. In diesen seltenen Zeiten schrieben wir Briefe, täglich. Sie brachten einen Charme anderer Art ins Haus, sie spotteten des tristen Hintergrunds der Trennung. Sie sagten Dinge, die wir niemals laut aussprachen. Wie armselig sind all die brieflosen Existenzen heutzutage, wie traurig ist doch das Telefon! Seine Briefe. Kein Platz darin für das Offenbaren bestandener Anfechtungen, kein Hinweis auf seinen immensen Teil an Kampf, Verfolgung, Entrinnen in letzter Minute; kein böses Wort über die Umstände. Max Ernst war, wie ich im Laufe der Jahre lernen sollte, so frei von Bitterkeit wie von Furcht. Im tiefsten Herzen hat er immer der Ironien des Schicksals gespottet, obwohl er deren Schäbigkeit und Gi darin erkannte.
Geschmückt war unsere Laube mit Girlanden aus den exotischen Blüten des fortdauernden surrealistischen Abenteuers. Zwanzig Jahre alt für ihn, neu für mich. Eine Feuersbrunst in Paris, deren Funken jetzt nach New York sprühten und für einen kleinen Alchimistenkrieg sorgten. Mit Feuereifer hatten Surrealisten Pamphlete gegen Franco, Mussolini, Hitler, Stalin, den Kolonialismus verfaßt. Max Ernst hatte unterschrieben und unterschrieben. Und so gab es , nach dem Fall von Paris, als der Eroberer sich anschickte, die Sonne über den Bergen Südfrankreichs zu verdunkeln, nur den einen Imperativ: Verschwinde! Gerüchte sickerten durch und breiteten sich aus. Man wünschte, daß Max zurückkäme, sagten einige, zurück ins Vaterland, obwohl man den Führer in einer Ausstellung »entarteter Kunst« neben einem Max Ernst-Gemälde fotografiert hatte, der Schönen Gärtnerin, die dann feierlich verbrannt wurde, eine Hexenverbrennung mit Blitzlichtern und Fahnen. Oh ja, holt ihn heim ins Reich, geläutert, gehorsam, sagte einer. Kein Wunder also, daß er den Blick nach Westen wandte. Noch aber ist er da, wo er nicht sein sollte, und so sperrt man ihn in Lager, diese Ausgeburt einer Justiz, die das bedrückendste, unglaublichste Kapitel der Weltgeschichte ist; auf der Flucht hin zum Meer kommt er tausendmal mit knapper Not davon. Eines Tages dann Marseille, das International Rescue Committee, am Steuer Varian Fry, ein bißchen Zeit zum Luholen. Und endlich gelangt er nach Lissabon, gesellt sich zur Schar jener Versprengten, die man Intellektuelle nannte, die man vor dem Chaos und Schlimmerem bewahrte und die dort ihrer Verschiffung in die offenen Arme Amerikas harrten, nach Amerika, das Gefallen an ihren Schöngeistern fand und das ihnen sein höchstes Gut zu bieten hatte: einen völlig neuen way of life. Surrealisten in New York! Sie waren überall gern gesehen. Alle Tü
ren standen ihnen offen, im Penthaus wie im Backsteinbau, man brauchte sie, so wie in alten Zeiten an öden Fürstenhöfen der Hofnarr unverzichtbar war. Der schirüchige Surrealismus. Für die einen bedeutete er Anregung, Aufregung. Für andere war er einfach amüsant. Wieder andere fanden ihn absurd und »umstritten« – ein Lieblingswort der Zeit, das unerwünscht meinte. Für mich war er geradezu eine Wohltat, denn ich erlebte, daß meine ausgefallenen Bilder nicht bloß Toleranz, sondern Begeisterung fanden bei diesen schöpferischen Exoten, die ich aus so vielen Gründen immer schon bewundert hatte. Wenn ich an diese ersten New Yorker Abende denke – es war –, denke ich an Spiele, über die Le Surréalisme Même, der personifizierte Surrealismus André Breton präsidierte. Das Wahrheitsspiel, das Blindenspiel, das Mörderspiel – was auch gespielt wurde, er leitete das Geschehen gleichbleibend feierlich und streng. Unter Bretons Ägide stürzten wir uns mit geradezu jugendlichem Eifer in diese Spiele, die er für so nötig hielt. Hatten sie etwas mit seinem Interesse für das Werk Sigmund Freuds zu tun? Mit dem Herumscharren in der Psyche? Mit dem Wunsch vielleicht, noch etwas mehr zum Lebenswissen beizutragen? (Er tat es.) Er verabscheute Musik, machte aber – ironisch, bestimmt – eine Ausnahme bei Offenbach, den einzigen Klängen, die er ohne sichtliche Qualen hören konnte. Dennoch, wenn er ein Gedicht las, hatte seine Stimme das Tremolo einer Opernarie. Mir gab das zu denken. Drang in dieser Stimme Musikalität durch? Unbewußt? Ein verrückter Gedanke. Dieser einzigartige Mann sprach ausschließlich Französisch und hütete sich, auch nur drei Worte Englisch zu lernen aus Angst, die Klinge seines eigenen empfindlichen Schreibwerkzeugs könnte stumpf werden. Vielleicht war er keineswegs überzeugt, daß Französisch irgendwelche ur-indo-europäischen Wurzeln hätte. Und
Englisch, das war einfach eine Zumutung, eine freche Drohung gegen das Beste, was er besaß. Wie herrlich, sich vorzustellen, daß er auf Zehenspitzen um das Bett seiner kostbaren Sprache schlich und Antibiotika verordnete, um die Amerikanismen in Schach zu halten. War die Gegend reich an Verschlußlauten, war sie auch arm an Frikativen, und heimlich versicherte er seiner Patientin, daß es nicht mehr lange dauern würde und sie wären wieder daheim. Als sie Andre frisch geschieden sahen, waren seine Freunde unablässig bemüht, ein Mädchen für ihn zu finden. Eines Abends brachte einer einen hübschen Rotschopf mit. Vergeblich. »Ich bin Geschäsfrau«, sagte sie nüchtern (Max muß lachen). »Ich trinke nicht. Ich rauche nicht. Und ich gehe mit keinem ins Bett.« Unmißverständlich. Gedolmetscht für Andre, der grinste. Er war ein Zauberer des lautlosen Gelächters. Mit fest geschlossenen Lippen kräuselte sich sein Gesicht, und sein geschmeidiger Oberkörper begann rhythmisch zu zucken wie aufgezogen. Das war sein Lachen. Es schien zu sagen: Eigentlich will ich nicht lachen, aber ich lache. Seine zeremonielle Art, sein großes, gelassenes Gesicht, das wohl Welten des verzweifelten Auegehrens maskierte, seine Neigung zum Okkulten, seine Kompromißlosigkeit, ach, das alles fügte sich vor meinen Augen zum Urbild des Mannes aus der Fremde zusammen. Kein Fabelwesen aus dem All kam für mich je dieser subtilen Mischung menschlicher Magie gleich. Und seine Freunde? Sein Verhältnis zu Max Ernst war ein Gewirr von Hauen und Stechen und höflichem Lächeln: höhnisches Grinsen von Max, bebende Vergeltung Bretons, eine Kette von Verstoßungen und Versöhnungen. Eine Probe davon erlebte ich auf einer New Yorker Party mit, an einem meiner ersten Abende mit Max und seinen Freunden. Plötzlich verstummte ringsum das Gespräch, alles lauschte, als
Breton weithin hörbar zu Max sagte: »Je n’écrirai’ jamais plus un mot sur vous!« (»Nie wieder werde ich ein Wort über Sie schreiben!«) Und Max: »Je m’en fous«, ein starker Ausdruck, der sich etwa mit »Ist mir scheißegal!« übersetzen läßt. Da ist etwas Fürchterliches im Gange, dachte ich, als Breton die Hand zu einer großen Geste in den Raum erhob, als seine Stimme anschwoll, fassungslos: »II s’en fout! II s’en fout!« All die Zeit stand ich dabei, begriff wenig und fühlte mich wie ein beliebiger Gegenstand, den der Wind von der Straße hereingeweht hatte, so fremd und deplaziert, daß sich die ganze Absurdität meiner Anwesenheit in der Seidenblume zu konzentrieren schien, die ich im Haar trug. Die frivole Idee, mir um halb acht eine Seidenblume ins Haar zu stecken, wies mich um zehn als krasse Außenseiterin aus. Das war allerdings kein Hinderungsgrund für Max, mich ein paar Minuten später bei der Hand zu packen und hinter sich her aus dem Zimmer zu ziehen. Der Streit währte nicht ewig. Als wir fünf Jahre später nach Paris kamen, war alles vergessen, wenigstens an der Oberfläche. Mit den Jahren ging ihr heroischer Kampf allerdings immer tiefer, und jedesmal hielt der Krampf ein wenig länger an, bis es plötzlich eines Tages keine Gruppe mehr gab, aus der Max verstoßen werden konnte. Arp war gegangen, soweit er überhaupt je dabeigewesen war; Aragon, Tzara, Eluard waren längst in Ungnade gefallen und in die eher dubiose Gesellscha von Parteibuchbesitzern geraten. Tanguy und Duchamp waren schon Amerikaner, also wenn noch geneigt, so doch entrückt; Miro in Spanien lebte tief verschlossen in seinem eigenen Universum. Und Picasso – er und der Surrealismus waren laue Freunde, auch wenn er einst dessen Spiele mitgespielt hatte. Bretons Antwort auf die Wahrheitsspiel-Frage: »Hast du Freunde?« lautete: »Nein, mein Freund.« Zweifellos war er sich, so sagte
Max, der Schönheit dieses Bekenntnisses zur vollkommenen Einsamkeit bewußt. Freunde oder nicht Freunde, der Zwiespalt blieb, verkörpert im Namen le groupe surréaliste. Intellektuell kreisten sie nahe der Flamme. Ihr Triebleben war weit entfernt von den perversen Gelüsten, die sie so sehr bewunderten und priesen, sie spürten eher schwaches Feuer in den Lenden, dafür blühende Phantasie im Kopf. Die Frau war ihnen meist ein wundervolles Mysterium. Gern küßten diese Surrealisten einer Frau die Hand; sie drängten sie nicht in einen Winkel, wie »Wüstlinge« täten und wie manche Frau sich wünschen mochte. Selbstverständlich, sie hatten ihre Abenteuer, aber eigentlich waren sie doch mehr für Ehe und Treue, und sie umgaben diese schlichten alten Begriffe mit einer Art leuchtender Aura, als hätten sie erstere erfunden und letztere wiedererweckt. Da sie die gegebene, unatembare Wirklichkeit grundsätzlich ablehnten, galt Kinderzeugen als Schlamperei; dennoch waren einige von ihnen, wenn auch mit Gewissensbissen, Väter und Mütter geworden. Den Phantasmen de Sades nachzueifern, das versuchten sie gar nicht erst. Die Spiele, von Breton dirigiert, flirteten mit dem Wagnis, aber nur verbal. Breton fädelte einen Schwarm von Projekten ein: ein kurzlebiges Blatt namens VW, eine Ausstellung, Erste Blätter des Surrealismus, Bücherschaufenster, Manifeste. Selbst die Schmähschrien waren höflich im Ton und immer belles lettres. Gerade diese Ambivalenz und Widersprüchlichkeit hat mich fasziniert und überzeugt. Les surrealistes. Ihre Begeisterung für das Unerhörte schwamm zwar in einem intellektuellen eoriensud, ihr philosophisches Forschen drehte sich aber im Grunde um die Erotik – eine magnetische Kra im Bunde mit Rebellion, stürmischer Ablehnung der menschlichen Lebenswirklichkeit. Welchen Widerhall müssen etwa Lautréamonts Worte in ihren Seelen gefunden haben – »cache-toi, guerre« –, Worte wie Sonnenglut und
Wogenwucht, die kantige Felsen zu geschmeidigen Steinen schleifen, rund und glatt. Geglättet aber wurden sie selbst unter den Worten. Schließt Weisheit nicht Leidenscha aus? Ich habe nie gehört, daß sie über die Rechte von Männern oder Frauen diskutiert hätten. Sie wußten, wie jeder wissen müßte, daß eine Frau zutiefst anders ist als ein Mann, daß sie aber sehr wohl fähig ist, so wie er oder besser mit heiklen Geheimnissen umzugehen und sogar Antworten zu finden, auf die er bisher nicht gekommen ist. Die Frau? Nur das eine wußten sie genau: daß sie sie begehrten. Désir, ein gigantisches Fünfletternwort. Mit Millionen von Worten haben sie die Frau verschwenderisch überschüttet, nicht um sie zu entwürdigen. Sie sangen heimliche Hymnen an ihre Unbesiegbarkeit. Ich glaube, auch in den romantischsten Momenten der Literaturgeschichte haben schreibende Männer das Idealbild Frau nie so sehr verehrt wie die Surrealisten. Und wie de Sade, meinten sie. Die Botscha de Sades war für sie ein Ruf zur Revolte, als Getändel getarnt. Seine trockene, gestochene Prosa war für rechtgläubige Surrealisten ein Programm des gesellschalichen Wandels, der, das sahen sie, mehr als hundert Jahre nach de Sade immer noch nicht stattgefunden hatte. Bei weitem nicht. Ihnen war auch, wie de Sade, ein Hang zur Eleganz eigen, den man achtzehntes Jahrhundert nennen könnte, klänge das nicht wie ein Makel. New York hatte für sie keine Straßencafés. Sprudelten vielleicht die ungezähmten Gedanken zwischen vier Wänden weniger frei? Fühlten sie sich zwischen den Schummerlampen, den freeformAschenbechern, den Schaumstoffpolstern New Yorker Wohnungen unbehaglich? Nach dem Kriege kehrten sie dorthin zurück, woher sie gekommen waren, und den Schlüssel ließen sie in der Tür stekken. Viele andere haben ihn seitdem benutzt, aber keiner hat ein einziges neues Möbelstück mitgebracht.
. Denen, die dablieben, öffnete die Siebenundfünfzigste Straße ihre Türen und Herzen, allen voran Julien Levy und seine Galerie, die man seit als Schaukasten des Surrealismus kannte. Ein außergewöhnlicher Mensch, dieser Julien Levy. Er war ganz sardonische Kultiviertheit von den blankpolierten Schuhen bis hinauf zum lackschwarzen Haar. Sein Blick war nicht ganz traurig. Er war überall gewesen. Er hatte wohl alles schon gemacht. Er nahm mich, kaum zu glauben, unter Vertrag. Gewisse schummrige Nachmittage in Juliens Wohnung über der Galerie halten neben trockenen Martinis den bleibenden Zauber der späten Stunde bereit. Das ist das richtige Wort, Zauber, es beschreibt genau das Glühen, das den sepiabraunen Raum erfüllt, die gemalten und ungemalten Menschen, die ein und aus gehen, jeder ein Künstler auf seine Art, und die Geräusche, die sie machen, murmelnd und pelzig wie der große Hut über Lotte Lenya. Darunter verschwimmt ihr Gesicht zu geschwärzten Augen und rotem Mund, sie redet mit ihrer dunklen Stimme und schwenkt dabei die mit Ringen, Cocktailglas und Zigarette beladene Rechte. Dieser Akzent. Nicht der Name eines Landes, Anderssein erklang in ihm, eine Welt, in der sich Schönstes und Schlimmstes so selbstverständlich vollzieht wie das vertraute Leben draußen vor Julien Levys Fenster. Bei meinem Blick zurück legt sich ein blauer Nachmittag über einen karmesinroten und erzeugt eine lila Stunde. Virgil omson gibt vom weichen ron seines Sessels aus treffende Randbemerkungen zum Besten wie eine Begleitmusik zu den Geräuschen und Gesprächen; Sylvia Marlowes Stimme, schnell und sicher wie ihre Finger auf dem Spinett, die ich später kennenlernte; da sind Tschelitschew und Leonid, die Russen, mit Berman, der meine ersten Bilder gesehen hatte. Er führte mich quer durchs Zimmer zu Balanchine. »Sie ist genau das, was Sie brauchen für die SchlafwandlerAusstattung. Auch Kostüme«, teilt er ihm mit. Eine folgenschwere
Begegnung, denn mit ihr begann eine Zusammenarbeit, die mich buchstäblich von den Füßen riß. Eines Tages nämlich (im Oktober ) studierte George Balanchine meinen Entwurf. Plötzlich schrie er in einem Ausbruch schöpferischer Begeisterung: »Ja! Das ist es«, und zur Bekräigung schwang er mich hoch in die Lu, einen Brocken von hundertfünfzehn Pfund, denen der Schreck noch einmal hundert Pfund hinzufügte. Wie froh wäre ich gewesen, leicht und geschmeidig zu sein, nicht ein lastendes Gewicht für sein berühmtes Rückgrat, das sonst federleichte Tänzerinnen auffing, trainiert, sich federleicht zu machen. Natürlich dauerte es nur einen Moment. Er setzte mich san wieder ab und redete dabei mit unserem Komponisten Vittorio Rieti. Das Ballett: e Night Shadow, Ballet Russe de Monte Carlo, aufgeführt im alten Haus der Metropolitan Opera. Ein anderes Mal im selben Raum Joseph Cornell. Hager, perlbleich, verwundert saß er da, ein bißchen abseits wie ich. Er hatte tatsächlich etwas für mich übrig, er sagte mir feinsinnige, versponnene Dinge über meine Zeichnungen – »Feen« nannte er sie – und wollte mehr davon sehen. Ob ich noch etwas in der Schublade hätte, eine Zeichnung, eine Fee, die er in einen Kasten einbauen könnte? Leider nein, das hatte ich nicht. Zu seiner Zurückhaltung, seiner federigen Gegenwart ganz und gar nicht passend umflatterte ihn die Zigeunerin Rose Lee, Broadwaysternchen und Künstlerfreundin. Sie war es, die in ihrem King Edward-Haus auf der Vierundsechzigsten Straße Vorführungen seiner Collagefilme organisierte. Sie war es auch, die Joes erstaunliche Kästen kaue, die andere zum Kauf ermunterte und die einen festen Platz hatte in seinem Pantheon der leuchtenden, unvergleichlichen Frauengestalten, die er, so denke ich manchmal, hoch in jenes Stratosphärenreich erhob, in dem die Engel wohnen, geschlechtslose Wesen, wie jeder weiß.
Joe Cornell, der vollendete Romantiker in einer betäubend weltlichen Welt, war hin und wieder in der Stadt, als käme er aus einer fernen Klostergemeinscha, die allen bis auf ganz wenigen unbekannt blieb. Wer sein Vertrauen gewann, wurde eingeladen, die beiden Menschen kennenzulernen, die sein tägliches Leben mit ihm teilten und für ihn gestalteten – seine Mutter und den angebeteten Bruder Robert, einen spastisch Gelähmten, für den jede neue Creation Joes ein Geschenk war. Roberts Lächeln, Roberts Entzücken, Roberts Beifall, aus einem wachen, gesunden Intellekt kommend, danach strebte Joe mit demselben Eifer wie die meisten Künstler sonst nach Ruhm. Andere, die ihn besser kannten als ich, mögen das ganze Bild dieses wunderbaren Mannes zeichnen. Aber daß wir einander mochten, war nichts Oberflächliches. Er hatte sofort Vertrauen zu mir, einer verwandten Künstlerseele mit parallelen Träumen, damals waren sie es. Ich war eine der Romantikerinnen, deren Romantik sich aus gewissen verstaubten, obskuren Texten und Bildern nährte, die es in verstaubten, obskuren Büchern und Museen zuhauf gibt. »Ich bin allein in meiner Landscha«, dachte ich. Ein oberster Imperativ für den romantischen Geist. Ein Nachmittag im Winter, griesgrämig-grau und windig. Zu fün fahren wir zum Utopia Parkway in Flushing, Long Island. Dort beherbergt ein kleines weißes Holzhaus Joseph, Bruder Robert und Mutter Cornell. Sie hat einen Kuchen gebacken und einen Teller voll Hafermehlplätzchen. Sie werden auf die Spitzendecke des Tisches gestellt, und wir setzen uns alle zum Tee. Unsere Unterhaltung ist so gezwungen, daß nicht ein Wort davon in Erinnerung bleibt. Mrs. Cornell ist still und scheu. Joseph sitzt da und träumt vor sich hin, wundert sich vielleicht, warum wir wohl da sind. Hier und da erläutert er, was Robert gesagt hat. Erst nach dem Tee erbietet er sich, uns die eisige Garage hinter dem Haus zu zei
gen. Auf Regalen bis zur Decke stehen seine Arbeiten, unvollendete und vollendete, und harren ihrer Stunde. Im übrigen sind in dieser Werkstatt des Weihnachtsmanns nur die »Damen« willkommen. Max, nicht begeistert, muß draußen bleiben. Ich aber kam zurück in das warme Wohnzimmer und brachte einen Schatz mit: Einen weißen Palast zwischen kahlen Bäumen und einen Spiegelhimmel wie die Welt vor dem Haus, alles in einem Kasten und alles meins … Ein anderes Long Island, ein sommerliches, wächst aus New Yorker Winter hervor. Ganz unten am Ende eines langen grünen Rasens ist das Geräusch, träge klatscht Wasser gegen die Seiten eines kleinen Ruderbootes, eines bateau ivre, das vergeblich auf das Hochsteigen und Eintauchen von Rudern und Stimmen wartet. Das gemietete Ferienhaus ist, wie sich herausstellt, ein Gefängnis, vor dessen Gittern ungeduldige Moskitos lauern und mich an eine andere ferne Veranda erinnern, an ähnlich blutdürstige Insekten, von denen in diesem Buche noch die Rede sein wird. Wir, mehrere Beherzte, Max, Dorothea, Julien und Muriel Levy, stürzen uns hinaus in den Garten, um hastig nach einer Tomate zu greifen. Ansonsten sitzen wir abgeschirmt und geschützt auf der großen Veranda, wir alle fertigen Schachfiguren an, die mit zurückgehen in die Stadt, wo sie in Juliens Herbstausstellung »e Imagery of Chess« aureten werden. Dort liegen eines Abends auch sechs Schachbretter vor sechs tapferen Spielern: Alfred Barr, Frederick Kiesler, Max Ernst, Dr. Zilboorg, Vittorio Rieti und ich nahmen es mit Schachmeister Koltanowsky auf, der mit verbundenen Augen spielte. Marcel Duchamp beaufsichtigte alle Bretter. (Der Vollständigkeit halber: Alle haben verloren, nur Kiesler erzielte ein Remis.)
2. Der andere Weg
B
erauscht vom Spektrum der Möglichkeiten, das sich plötzlich vor uns entfaltete, bewegten wir uns durch das Großstadtleben wie in einem furios gespielten, geisterhaen Prolog; mehr denn je fesselte uns das Malen, als müßte von nun an jedes Werk etwas unbedingt Einzigartiges werden, denn uns verging die Zeit nicht einfach, sie drehte sich um uns im Wirbel, schoß tollkühn davon und schlug Purzelbaum, ein Ungestüm, dem nur Dornbusch und Rauch noch fehlten und Dionysos wäre erstanden; wir warteten auf ein wenig Frieden, der uns beruhigte in unserer hektischen Hochstimmung, und eigentlich wußten wir nicht so recht, was wir tun sollten. Immerhin, im Mai machten wir, Max und ich, uns auf zu einem fernen Ort, empfohlen von Max’ Fluchtgenossen Etiemble. Es war Sedona, Arizona. Zuerst wollten wir nur den Sommer dort verbringen. Doch eine so wild-phantastische Landscha ließ sich nicht einfach einordnen und dann vergessen, als der Sommer vorbei war. Knapp drei Jahre später kamen wir wieder, um zu bleiben. Das hatte noch einen anderen, einen schrecklichen Grund, zu dem etwas gesagt werden muß, bevor es weitergeht mit Glanz und Glorie. Es begann an einem New York-Tag im November, oder heißt es an einem New Yorker Novembertag – da haben wir es, schon verweigern sich mir die Worte, wollen nicht helfen. Sie wissen, vielleicht besser als ich, daß es kein aschgraueres ema gibt als körperliche Leiden, und hier wollen wir nun die Geduld des Lesers auf die Probe stellen mit einem Bericht (in der dritten Person, bitte) über das häßliche, finstere, trostlos graue Etwas, das an jenem
Tag in ein lächelndes Zimmer eindringt und das Spiel verdirbt, den regenbogenbunten Ball des Hundes mitten auf dem Teppich anhält und Max in ein Knäuel hilfloser Verwirrung verwandelt, kaum imstande, den ungläubigen Blick auf das Bett zu richten, auf das man die Gelähmte gelegt hat. Es dauert nur ein paar Stunden, drei in diesem Fall, bis man die Beine nicht mehr gebrauchen kann, wenn das Virus zuzuschlagen beschließt. Angefangen hatte es in Connecticut, während eines Wochenendaufenthalts in einem hübschen Haus namens Stone Legend. Am Sonnabend fühlte sie sich seltsam, aber aufgekratzt, und sie ließ sich den Besuch bei der Schristellerfreundin und Nachbarin Jean Stafford nicht nehmen. Man bat sie in die kleine Bibliothek, und sie war ganz Ohr bei dem Gespräch über Bücher – was denn sonst? –, das auf omas Mann kam, warum, das weiß sie nicht mehr, nur daß Max dabei war, ein Deutscher mit einer Schwäche für Bruder Heinrich. Sie standen vor einer Bücherwand, und um etwas zu beweisen, das heißt in diesem Falle zu widerlegen, griff Jean ohne jede vorbereitende Sucherei in die Regale und zog mit langen, zärtlichen Fingern den Mann-Band heraus, schlug ihn auf, fand im Nu die Seite, las die Passage vor, klappte das Buch gekonnt zu und schob es wieder an seinen Platz. »Das war’s«, dachte Dorothea, »damit ist er erledigt.« Denn auch sie hatte ihn nie besonders gemocht. Und so schob sie ihre plötzliche Benommenheit auf omas Mann. Jean war sehr lieb. »Bring sie nach Hause«, gebot sie. Schwerwiegende Ereignisse sind o mit solch unauslöschlichen Erinnerungen an einen Menschen und das Drumherum der Teppiche, der Sonnenstrahlen, des goldenen Lichts im nachmittäglichen Zimmer verbunden, so auch dies mit der Summe der damals folgenden Stunden, in denen zwei Treppen zu überwinden waren, eine abwärts im Stone Legend, die andere in New York hinauf, huckepack bei Max. Er rennt los, Hilfe zu holen. Seine geschlagene
Gefährtin kriecht auf den Armen zur Tür, um einer Freundin zu öffnen, die auf hektische Anrufe hin gekommen ist. Ein Arzt wurde vorbeigeschickt; armer Kerl, was wußte er von den boshaen Rätseln der Natur? Was wußte man überhaupt? Sie benutzten Fremdwörter: Enzephalitis, Polyneuritis … Sie sagte, sie könnte nichts sehen. Sie könnte sich nicht bewegen. Sie weinte, allein in ihrer Qual. Eines Tages kamen zwei weißbekittelte Ärzte, um Rückenmarkflüssigkeit zu entnehmen. »Was machen Sie damit?« fragte Max. »Das spritzen wir einem Affen ein«, lautete die Antwort. Sie hörte es und kam ins Grübeln über das schauerliche Vorhaben. Irgendwo in einem Käfig saß ein seidiges, langarmiges Kerlchen, seine eng beieinanderstehenden blauen Augen schickten gewitzte Botschaen ins zierliche Hirn, seine verständigen Hände packten und drehten das einzige, was greiar war – die Gitterstäbe, die es von seinem Wald trennten. Wenn man ihm das Gi injiziert hätte, an dem sie darniederlag, würden sie dastehen und beobachten, wie seine Augen sich verstört umwölkten, wie seine Glieder erschlafften und wie es schließlich krampfgeschüttelt am Boden seines Käfigs läge, wo es im Fallen seinen Wassernapf umstieße, so daß sein glänzendes Fell in einer auseinanderlaufenden Pfütze zur letzten Ölung naß würde. Und das alles für Dorothea? Würde der Tod des Äffchens ihr helfen, zu leben? Würde sein höchstes Opfer ihr Genesung bringen? Daß es sterben würde, war sicher. But it would not be for us. Verschwommen tauchen sie auf, Erinnerungsnegative, tableaux (a peine) vivants, (kaum noch) lebende Bilder, wie abgenutzte Stummfilmsequenzen, für die Schauspieler in jämmerlichen Szenen Rollen spielen, die sie nicht verstehen. Die Tage, die folgten, waren vollkommen hohl. Es war wichtig, daß sie sich an ihre Ränder klammerte, daß sie nicht abrutschte in den Nebel, der über
dem Strudel jedes Tages brodelte. Sie wurde von einer lärmenden Pflegerin in dieser Welt gehalten und schien doch unterwegs in eine andere, feucht von grauen Tränen, die von fiebernden Lampen tropen, weil es nicht Tag noch Nacht gab dort in den abgedunkelten Räumen mit ihrer flanellenen Stille, die nur vom Gekreisch der Pflegerin zerschnitten wurde. Männer der Wissenscha kamen, untersuchten und gingen. Nachts war es Max, der die dampfenden Tücher aus der Küche holte und um ihre gemarterten Beine wickelte. Dann schlief er wohl ein wenig. Manchmal half ihm sein junger Sohn Jimmy, setzte sich ans Bett und las ihr etwas vor. Man konnte nichts tun als warten, wochenlang, wie es hieß. Endlich wurde das streitbare Ungeheuer träge, die Pestilenz flaute ab; das Zimmer hellte sich auf, sie wandte die Augen und sah ihn an. An diesem Tage sagte der Arzt: »Morgen setzen Sie sich auf.« »Nein, ich kann nicht. Nein.« Sie hatte den Zustand erreicht, in dem der Kranke nicht mehr aufstehen will, nie wieder. Ach, die fabelhaen Menschen, die liegend gelebt haben, während ihr Geist bis hin zu Satelliten und Sternen reichte! Entschlossen richtete der Arzt sie am nächsten Tag auf. Und genauso schnell legte er sie wieder hin, in bleicher Ohnmacht. »Sehen Sie, es hat keinen Zweck«, sagte sie. »Überhaupt keinen Zweck.« Bald darauf aber saß sie und fiel nicht mehr um. An diesem Abend trug Max zwei Gläser Champagner herein. Sie schmiedeten Pläne. Sobald sie reisen könnte, wollten sie zurückkehren an den Ort des roten Steins, der sich unter reinem Blau türmt. Sie wollten die tückische Stadt verlassen mit ihren gedockten Kriegsschiffen, ihrer Tsetsefliege, falls es die noch gab, ihrer brüllenden Pflegerin, ihren kalten, feuchten Straßen, ihren unglaublichen Feuersirenen, ihren Taxis, Krankenwagen und Klappmessern. Diesmal wollten sie alles mitnehmen, Leinwandrollen, Keilrahmen,
Farben. Und den Totempfahl, den Potlatch, die Katchinapuppen, die Bilder. Sie wollten ein Häuschen bauen. Wieso, meinten sie, bleiben Künstler in der Großstadt? Müssen sie denn mit Sammlern zusammenhocken, zu Vernissagen gehen, auf den Trien der Upper East- und der Westside Bildungsgewäsch anhören (Atossa, Tochter des Cyrus, Gattin des Darius und Mutter des Xerxes, war Jüngerin Sapphos), um gute Bilder, gute Objekte, irgend etwas Gutes zu schaffen? Nein. Wir wollen es anders machen. Sedona ist der andere Weg. Und es sind unvergleichliche Jahre. Wir bauen das Haus – aus Holz, denn es gibt kein Wasser. Wir verjagen das Vieh von unseren fünf Tomatenpflanzen; wir schleppen Eis zwanzig Meilen weit aus Cottonwood heran; wir füllen die Petroleumlampen, bei denen wir lesen; wir behaupten uns in plötzlichen Begegnungen mit Skorpionen, Tausendfüßlern, Taranteln, Schwarzen Witwen und einer Schlange im Besenschrank. Als schließlich Elektrizität erblüht, eine Explosion von knallig weißem Licht, jubilieren wir und kommen ins Grübeln. Unser Grammophon spielt Strawinsky, er-Platten, sehr laut. Die Klänge rollen hinaus, breiten sich aus und schmettern gegen die Karmesinfelsen. Wir fühlen uns unseres Daseins sicher. Sedona ist keine Stadt, nicht einmal ein Dorf. Ein Gemischtwarenladen liefert Bier und Viehfutter, und aus der Jukebox gibt es liebeswehe Weisen (»at Old Black Magic«). Näselnd witzeln die Viehknechte: »He, Max«, sagen sie, schätzen uns ab, nehmen Maß, entscheiden im Zweifel für uns. »Wohl hier zum Landschasmalen?« Unten an der Straße ist das Postamt, genau acht mal acht, Cola-Automat davor. Ein Wunder, daß Briefe manchmal ankommen … Päckchen waren für Max immer unwiderstehlich, rechteckige Überraschungen, verpackt und verschnürt, um aufgerissen
und verschlungen zu werden. Wir sind den Canyon herunter aus Flagstaff gekommen, vom Wocheneinkauf im Supermarkt, in der Weinhandlung, bei Penney’s, und sind bei der Post vorbeigefahren, wo ein Päckchen aus Frankreich für uns lag. Zurück in unserer Pseudo-Einfahrt laden wir die schweren Kartons aus dem Wagen, lauter Überraschungen. Sogar die Wäsche ist eine Überraschung, sie wird mit Wein und Lebensmitteln in die Küche getragen und sofort von kräigen Händen ihrer dünnen Verpackung aus rosa Papier entkleidet, die Schnur wird zerrissen oder beiseitegezerrt, und zum Vorschein kommen die guten alten Handtücher, Hemden, Socken … Jedesmal. Wenn er sich abwendet von den blöden Laken, ihren verblichenen Farben, ihrem ausgeleierten Gewebe, hat er die kurzlebige Enttäuschung ebenso schnell vergessen: die Wäsche. Sie hat nicht ein einziges neues Wunder offenbart. Aber es gibt Avocados und das Buch aus Frankreich, von Paul. Aufmachen. Erstaunlich, es trägt den Titel Huit Poemes visibles von Max Ernst und Paul Eluard*. Der Tag hat schließlich doch noch seine Überraschung gebracht. Einmal einem Wort begegnet, sheetrock, steht er da, hausbauend, und spricht es vor sich hin: zwei mal vier, sheetrock, sheetrock, und ich, die es höre: was heißt das, was soll das? Ich hab’s vergessen, nur daß er es brauchte in der Konzentration auf das werdende Werk: das Haus. Nachdenken über Zeitlichkeit, über all das, was er zu sagen hätte, anderswo, über alles, was er eigentlich heraufbeschwor und sagte und bedachte, über all die Räume, in denen er sein könnte, große Säle und Ateliers in einem Schloß hoch oben auf dem Berg, wo sein geschnitzter Ebenholzsessel hinter einem gewaltigen Schreibtisch thronte – nicht der Schuppen des Holzhändlers von Sedona, wo er stand und unter verzogenen, knotigen * »Das Innere der Sicht – sichtbare Lieder«, Galerie Der Spiegel, Köln
Brettern wählte, grünes Kriegsholz, zwei mal vier, und die Preßfaserplatten, die großen Nägel, damit wir Fenster am Haus hatten, die sich öffneten und schlossen, so daß er endlich im »Kapitänsstuhl« sitzen konnte als Kapitän des festgefügten, unverrückbaren kleinen Hauses, daß er ein Lieblingsbuch aufschlagen und lesen konnte, als sei nichts geschehen, als sei nichts vergeudet worden, nichts verloren. Er hatte einfach Raum und Zeit überbrückt, halbwegs über die Welt, in der dieses Buch oder ein anderes sich vor ihm geöffnet, den Dialog eröffnet hatte. Also hat es sheetrock eigentlich nie gegeben, auch wenn mir das Herz bricht, wenn ich an seine Stimme denke, die es sagte. Ständig machten wir buntschillernde Pläne, reine Schaumschlägerei, denn wie Gischt zerstoben sie zu Lugebilden unserer Hoffnungen, unrealisierbare Szenarien einer unmöglichen Zukun – Zukun, das Wort konnte er nicht einmal hören ohne tiefe Bestürzung und knurrige Verachtung. O weh, es war mein Wort. Wir alle sollten in die Zukun blicken, während wir die Gegenwart im Auge behalten, oder nicht? Hier draußen ist das Fernrohr umgedreht und ich sehe nur die Vergangenheit, die unmittelbare dort hinten, die gemeinsame und peinigende, wie sie hinübersickert in die Gegenwart, die sich rauh, humorlos und gefährlich bauscht. Sie ist da, damit wir sie bewältigen, auf Zehenspitzen und nicht allzu blind durchdringen, um großen Schmerz zu vermeiden. Und die Zukun? Ja, Max hatte recht. Es ist ein schreckliches Wort. Er spricht von einer Welt, die ich nicht gekannt habe, in der Tragödien, wie er sie darstellt, ihre Masken gleichsam von innen nach außen gewendet tragen und komische Ereignisse meist auch. Er erzählt von lächerlichen Situationen, zum Scheitern verurteilten Gruppenprojekten, von Explosionen und Pleiten wie fallengelassene Maschen; von Künstlern, Poeten; von Frauen, den vielen, o
schönen und immer zumindest exzentrischen, wenn nicht verrückten Frauen. Seine Geschichten von wilden Weibern, die er, das muß ich sagen, mit einem gewissen Genuß erzählte, machten, daß ich mich danach sehnte, auch verrückt zu sein. Ach, ich möchte toll sein, seufzte ich dann. Nein. Nein. Doch, so ein bißchen irre … Gott behüte. Nein. Davon habe ich genug. Ganz plötzlich war sein Ton ernst und alarmiert. Aber ich wünschte mir doch ach so sehr diese herrliche Unbekümmertheit um Vernun, um das a fortiori und das Deshalb. Es war eine Sorglosigkeit, die mir nie gehören sollte. Tragisch, daß ich, dummes Weib, davon verschont bleiben würde. Er wußte es und hielt mich nahe. Ferne Ereignisse, auch die kleinsten, wechseln beim Erzählen die Farbe. Sie alle klangen so vertraut dort in den weitoffenen Nächten Arizonas, abgehoben von ihren zwielichtigen Absurditäten und Wirrungen, ihren sehnlichen, unerfüllbaren Wünschen. Während unsere Wände Daheim improvisierten, war der Raum um unseren Tisch und unser Bett mit dem Gespinst seiner Geschichten verhangen, einem langen Strang schimmernder Perlen auf geknoteter Schnur mit Spannen von Zeit und Ort zwischen den Geschichten, die ihn selbst o gar nicht betrafen. Seine eigenen Ereignisse, anschaulich gemacht wie auf einem Wandteppich, einem verschwenderischen Gewebe in Farben, die direkt aus seinen Bildern in den Regenbogen dieser Geschichten zu springen schienen, wo sie Schabernack mit meiner Leichtgläubigkeit trieben, ohne eine einzige Lüge zu erzählen, da bin ich sicher – die meisten dieser Geschichten werden dahingehen mit mir, der Zuhörerin, die bei weitem nicht alle behalten hat. Schon verblaßt werden sie sichtbar und verschwinden wieder, sie kleben an meinem plötzlich dunklen Gedächtnis wie trockenes Mumienlinnen an einer unbestimmten Silhouette, die, grei man nach ihr, zu pudrigem Nichts wird.
Und eines Tages werden emsige Ausgräber vergeblich die Hacke schwingen auf der Suche nach einem Schimmer seiner Aura.
3. Geschichten für meine Ohren
E
in hoher Anspruch bestimmte sein Leben, ein sehr persönlicher und unerbittlicher Anspruch, den er an sich selbst richtete: niemals stehenzubleiben. Schon ganz früh hatte er einen Pakt mit sich geschlossen – oder auch nicht; kann sein, daß ein Pakt in dieser chemischen Verbindung überflüssig gewesen wäre, nur ein fremdes Element, das nicht absorbiert worden wäre von dem starken Gemisch, von Himmel und Hölle seiner suchenden Phantasie. Statt dessen tauchte er. Hinunter in das andere Element, wo Atmen unmöglich ist, jedem außer dem Blinden Schwimmer – ein Titel, den er mehreren Bildern gab und der zugleich Programm war für einen Künstler, der lieber ertrunken wäre als Wasser zu treten, Wasser zu treten. Er war einsam wie eine namenlose Insel, namenlos, weil zu weit weg von jedem anderen Stück Land, jenseits aller Grenzen. Der festen Meinung, daß es unbekannte Größen nicht geben darf, versuchen einige tollkühne Stümper, ihn auf ihren Karten zu fixieren: Ein Punkt im Surrealistenarchipel, der damals nach den schlimmen Explosionen von / aufgetaucht ist, oder war es früher? Irgendwas mit Dada. Die zwanziger Jahre. Die zwanziger? Aber damals war doch alles so fidel. Gewiß, wir kennen sämtliche Inseln. Gewiß, sie haben alle ihre Namen. Gewiß ist das alles erfunden, eine Ente, ein Märchen über ihn und seinen unangemessenen Mythos. Unerfreulich das ganze Gerede, er wäre ein Vogel. Doch immerhin, er hatte diese Art, ruckha den Kopf zu wenden, und wahrlich, der Blick auch nur eines blauen Auges wäre
entnervend genug gewesen. Und dann sein Gepfeife – er pfiff nur, wenn er allein war oder, wie wundervoll, bei mir. Das war sein Gesang. »Sie werden merken, liebe Freundin«, dies sagte mir der große Breton persönlich, »daß er ein Vogel ist. Und ein grausamer dazu. Nun, ich habe Sie gewarnt.« Den Liebenden ist alles Liebe. Darauf hatte er gesetzt. Untreue war überhaupt kein ema bei so viel Überschwang. Für ihn blieb es so, nach Stunden, nach Tagen, nach stürmischen Jahren, die das Laub aufwirbelten und hunderttausend versteinerte Vögel freilegten. Steine, Mädchen, Blumen, Vögel, alle verzaubert. Was ihm angetan wurde, hat ihn verstört – seine erste schimmernde Jugend wurde in einen kratzigen Kriegsanzug gesteckt und hinausgeschickt in die Suppe aus Schlamm und Blut; dort kämpe er an unbestimmbaren, verlorenen Fronten und hoe vielleicht, nicht zielen, nicht schießen zu müssen. Nicht töten zu müssen bestimmt. Bis Erlösung kam, teuer bezahlte, in Gestalt einer Granate, die ihm ins Gesicht explodierte. Tagelang lief er durch verwüstete Felder und Orte, um sein Regiment zu finden, denn dort konnten seine Wunden versorgt werden. »Mein ganzes Gesicht schien wegzufließen.« Endlich, im Hauptquartier, wurde er genäht und verbunden. Aber er war immer noch ihr Soldat, gesund an Geist und Gliedern, gerüstet, ihrem Befehl zu gehorchen. Einmal hatte er Order, der Truppe an der Front Verpflegung zu bringen, und so fuhr er mit dem Schatz auf Bummelzügen dahin bis zu einem Abend an einem Bahnhof (wo mag es gewesen sein?), der mit Flüchtlingen überfüllt war, humpelnden, wimmelnden menschlichen Wracks, die ihn mit seinem Sack anstarrten wie den Weihnachtsmann aus großen Augen, die fast nichts zu sehen schienen, ohne Haß jedenfalls, denn zum Hassen braucht man Kra. Dort im Bahnhof öffnete er den großen Sack und teilte die Herrlichkeiten aus. »Es war ein
Fest. Die Sterne wurden lebendig, verwandelten sich in leuchtende Blicke, die Kinder hörten auf zu weinen, alles lachte und sang und aß. Es war schön, schön. Und ich war die Last los.« »Aber dann warst du in großen Schwierigkeiten.« »Ja. Aber weißt du, fünf Tage später war der Krieg aus.« Mal für Mal sah er nachdenklich, ironisch, gelassen, wunschlos seinem eigenen Schatten zu, der floh und schweie, wie schon beim ersten Mal, als der Schatten die Spur legte, die zum Grundriß seines Lebens wurde. Zynisch war er, aber wer es aussprach, hatte unrecht. Lesend und atmend und zeichnend hatte er Maß genommen und eorien erwogen, die man auswarf wie Äpfel für hungrige Schulkinder. Er sagte nie: »Ich glaube.« Wie sah er sich selbst? Als schönen Jungen, von Frauen geliebt? Dann als schönen Mann, von Frauen geliebt? Es muß ihm zumindest ein kleines Vergnügen gewesen sein, den zärtlich sprechenden, in Lockung schwimmenden Augen zu begegnen. Augen aller Art. Sein Leben lang, überall. In diesen Augen sah er Bewunderung glitzern, Fragen, Sehnen. Das muß sie schön gemacht haben, auch solche, die es nicht waren. (Welch ein Unterschied zum atemlosen Don Juan, der ohne Ende seiner billigen Vorstellung von der vollkommenen Frau, der vollkommenen Liebe nachjagte. Armer Don Juan. Wie Blunder trostlos in seinen Wünschen verfangen, hatte er nicht ein bißchen Phantasie und war, sogar Moliere sagt es, ein gemeiner Schu, erfahren als Liebhaber, Wortklauber und Übeltäter. Hier gibt es keine Parallele, nicht nur, weil Jahrhunderte dazwischenliegen, sondern weil von Max eine ständige und unanfechtbare Huldigung an das Weibliche ausstrahlt.) Aus dem eigenen Wesen bezog Max die Zauberformel, die Frauen so verwandelte, wie er sie haben wollte und wie sie zu sein wünschten: Sinnbilder der Anmut. Auch das müssen sie wohl gesehen haben, wenn sie ihm in
die Augen schauten. »La nudité de la femme est plus sage que l’enseignement du philosophe« (»Die Nacktheit der Frau ist weiser als die Lehre des Philosophen«). Worte von Max. Wie blieb er so glücklich, so heiter? Wie kann man sich seine Aura bewahren und die Distanz im Angesicht der ständigen Bedrohung, der blinden Ungeheuerlichkeit, der Übermacht und immer wieder des Krieges, der sie scha? Ich werde nie sehr viel wissen über jenen Tag im Jahre , an dem die Gendarmen mit Handschellen für ihn sein Haus in Saint-Martin-d’Ardéche betraten. Denn er war ja noch Deutscher. Ihr Feind. Ich werde nie erfahren, was er gesagt hat. Hat er überhaupt etwas gesagt? Er könnte gelacht haben. Durchaus möglich. Nicht laut oder lustig, aber immerhin gelacht. Denn das war etwas, auf das er vorbereitet war, das er in anderen Formen schon kannte, war er doch selbst das perfekte Muster der Regelwidrigkeit – seine materielle Existenz sprengte auffällig den Rahmen, seine Dada-Sprache den Takt. Und so erlebte er ihn wieder und wieder, den anhaltenden Lachkrampf, weil er nicht hineinpaßte in das lächerliche Geschehen, wenn wieder einmal und trotz der Bemühungen des Künstlers Ordnung und Revolution sich Auge in Auge gegenüberstanden. Ich sehe sie ebenbürtig: Den Mann, den wechselnden Umkreis, beide unbeugsam. Gab es Verletzungen? Sicher nicht bei ihm. Jedesmal, wenn er über das aktuelle Mißverständnis hinwegschritt, wie man über den Müll in den Straßen der Welt steigt, sah er nur seinen eigenen Schatten vor sich ausgestreckt, der den Weg wies. Doch da waren seine Frauen. Was ist mit denen? Deutsche, französische, amerikanische Frauen, jedesmal muß, so oder so, ein Entschluß gefaßt worden sein. Und der, wohlgemerkt, hatte mit Liebe zu tun. Einem süßen Wahn, der lockte, der Bereicherung versprach oder permanentes Abenteuer oder Entdeckungen à deux. Und
sicherlich vor allem mit der Überzeugung, daß es diesmal nicht schiefgehen kann. So wird er zunächst Louises Ehemann und Vater von Jimmy. Max, der Künstler, der Ex-Student und Ex-Soldat, verwandelt sich in einen Familienvater, und es ist, als würde plötzlich einer zum König gekrönt, der bloß, sagen wir, zum Schlittschuhlaufen gegangen war. König sein ist keine Kleinigkeit, denn ein König muß verantwortlich und königlich handeln. Eine schwierige und anspruchsvolle Rolle. Entsprach er dem Bild? Ich kann es nicht wissen. Denn das war keine der Geschichten für meine Ohren, der Geschichten, aus denen der Wandteppich entstand. Vielleicht waren diese Fäden zu verfilzt und zu flüchtig, um sie in das bunte Gewebe der Tage und Jahre einzuspinnen, die folgten: der Pariser Tage und Jahre, bevölkert und befehligt von jenen greulichen, zottigen Ungeheuern des Nonkonformismus, die sich Dadaisten und später Surrealisten nannten, die den wahren Sinn des Fürstendaseins kannten und die, als sie ihn mit seiner Wunderkiste kommen sahen, zurücktraten, ihm den Weg bahnten und Platz machten, damit er eine neue Rolle spiele, die nicht minder königlich war, obwohl sie aus plebejischem Aufruhr bestand, denn wie alle Fürsten träumten sie davon, die Welt zu verändern. Halb verspielt, halb verzweifelt durchkämmten die Surrealisten Flohmärkte und Müllhalden nach den Materialien für ihre Botscha. Reich an Muße, wenn auch arm in den Taschen, kannten sie die Kra des Verwandlungsprozesses, und auch die Dichter schmiedeten verblüffende Objekte aus Worten und bekränzten sie mit dem Kehricht der Stadt. Inspiriert von Künstlern im kriegszerstörten Deutschland (Arp, Schwitters, ) und dem bereits magistralen Picasso, die alle schon wußten, wie aufregend es ist, mit Fundstücken aus Holz und Schrott Reliefs zu bauen, sahen
sie die Kunst als Orakelspruch des Unverhoen. Sie nannten es Dada. Eine rundum bandagierte Geige (Maurice Henry), ein siamesisch zusammengewachsenes Paar Schuhe (Meret Oppenheim), Duchamps Überraschungen, Man Ray – die Liste ist lang. Fundobjekte. Ironie als Antwort auf das Verderben. Das waren die Flüssigkeiten, in denen Max Ernst atmete. Dazu trug er seine eigenen Symbole bei und seinen Gleichmut. Ein Paß, von Freund Paul Eluard entliehen, hatte ihn über die Grenze gebracht. Von Deutschland nach Frankreich. Bald hatte er einen neuen Namen, Jean Paris hieß er für den patron (Chef) der Fabrik, wo er malte – Elefanten auf Armbänder, Les Artides de Paris. Wie macht man das? Oh, ganz einfach. Er zeigt es mir, es ging sehr schnell. Ja, so schnell, daß es nicht lange dauerte und seine Arbeitskollegen waren seine Feinde. Er war nicht normal, ein ausländischer Störenfried, sale boche. Übrigens machte sich der patron bald darauf mit den ungezählten Löhnen aus dem Staub. Inzwischen machte es ihm eigentlich nichts mehr aus. Die mühseligen Treppen hinunter und auf die Straße hinaus, wo seine Lungen sich in der freien Pariser Nebellu weiten. Fenster stehen in Flammen von der Sonne, die am Ende der Avenue untergeht. Rinnsale des letzten Regens, von bedächtigen Hunden mit und ohne Leine zum Schillern gebracht, schlängeln sich zwischen den Bukkeln des Kopfsteinpflasters. Malerisch das Café mit der Werbung für Getränke, die niemand will. Byrrh zum Beispiel. Ein Wort, das man überall sieht, ein Zeug zum Trinken. Doch in all den Jahren, in all den Cafés habe ich nie gehört, daß es jemand bestellt hätte. An einem Tischchen nicht größer als ein Serviertablett, das karierte Tischtuch windsicher festgeklammert, bestellt er Wem; geistesabwesend sieht er zu, wie das Glas mit einer schnellen Bewegung der angegrauten Serviette vom garçon ausgewischt wird, der dann den blaßgelben Stoff hineinkippt mit dieser kreisenden
Drehung der Flasche, auf die flotte Kellner so stolz sind. Ach, ihr Ziehharmonikas! Ach, ihr Wahrsager, ihr Geisterbeschwörer, die Straße hinauf und hinunter! Nicht weit schwärt der Flohmarkt, geschwollen von Gerümpel. Bald wird er heimgehen zu Paul, zu Fuß den langen Weg, denn Paul lebt in der Vorstadt. Er wohnt bei Paul, und Pauls Frau bohrt ihren ungezähmten Blick in seine Augen. So daß Paul endlich sagt: »Nimm sie.« So ist Paul, leben und leben lassen. Abenteuer à trois hatten die Erinnerung an à deux nun hoffnungslos überpinselt. Sie reisten zusammen nach Tirol oder Honfleur, es war ganz gleich. Paris umgab sie mit spielerischer Saison und mit Amerikanern, die den Rahm abschöpen und aus schwindelerregenden Stielgläsern Wein tranken in Lokalen, die sie für ein Butterbrot erworben und stets Le Vieux Moulin getau hatten: alte Mühlen, die sich nicht mehr drehten; verfallene, unglaublich morsche Haufen feuchter Steine und Balken, der Vergessenheit entrissen, zu neuem Leben erweckt mit Mörtel und Zement – dieser Zauberspucke, die noch unbekannt war, als die Mühlen einst gebaut wurden; ausgestattet mit Innentoiletten und Kühlschränken, die man mit großen Kosten und Mühen aus den Vereinigten Staaten herübergescha hatte, vorausgesetzt, man kannte jemanden im diplomatischen Dienst. Diese Amerikaner waren Emigranten, und ein Emigrant ist ein Mensch, der keinen Augenblick vergißt, daß er Emigrant ist. Einige von ihnen waren zu meiner Zeit noch da. Wenn sie das Weltgeschehen diskutierten, was sie mit Leidenscha taten, sagten sie beständig »wir«, wo es um die Absichten der amerikanischen Politik ging. Ich fand das inkonsequent bei Leuten, die mit demselben Eifer Franzose spielten wie Marie Antoinette die Schäferin. Hedonistinnen mit Namen Daphne und Nancy und Caresse, hingebungs
voll bedient von spottbilligen domestiques namens Delphine und Ninette und Chantal, konnten nicht über Mangel an bedürigen Künstlern und Dichtern klagen, die ihren aus Luxus und Völlerei bestehenden, ruhelosen Weekends als Dekoration dienten. Überallhin ging er mit Paul und Pauls Frau. Es währte lange Monate, in denen die Zigarettenglutaugen allmählich gegen ihn blitzten, nicht für ihn, während er sie hunderte von Malen zeichnete – ob er wußte, warum? –, und am Ende waren die Augen exorziert. Allerdings erst, als er verzweifelt frei sein wollte. »Warum? Was war passiert?« frage ich. »Sie wollte nicht, daß ich male«, mehr mag er nicht sagen. Auch Paul hatte genug. Er griff mit seinen schönen langen Fingern in die väterliche Schatulle – gerade tief genug, nicht tiefer – und schie sich nach Saigon ein. Einen Monat später kabelte der Papa: »Je te pardonne. Rentre.« (»Ich vergebe dir. Komm zurück.«) Telegramme hin und her, Paul an Max, Max an Paul. »Bring mir meine Frau und ich komme nach Hause.« »Mit Vergnügen.« Dann stach das ermattete Liebespaar ebenfalls in See, und es war ein Leichtes, die Augen bei ihrem Gemahl abzuliefern, nichts für ungut; er winkte ihnen zum Abschied zu, als er zurückblieb, um allein das berauschende westöstliche Gebräu Indochina in sich aufzunehmen. Als er einen Monat später die Gangway eines verrotteten russischen Dampfers hinaufstieg, um nach Frankreich zurückzukehren, nahm eine einmalig verrückte, ja, geradezu chaotische Reise ihren Anfang. Das Schiff war ein »Seelenverkäufer«, und seine Passagiere und Mannschaen, wie um Harmonie besorgt, hätten um Lorbeeren für besonders stumpfsinnige Wunderlichkeit konkurrieren können; sie achteten kaum auf das Knirschen und Knarren ihrer Barke und schienen bereit, für die frohe Hoffnung, eines Tages in Marseille anzulegen, alles zu riskieren.
Der schweizer Doktor der Anthropologie, dem die eine oder andere Stiung eine Pseudosafari finanziert hatte, ist sicher längst zu staatlichen Professorenwürden gelangt; damals befand er sich auf dem Rückweg zu seinen Kollegen. In Wahrheit war er nicht viel mehr als ein Halunke; er hatte kurz vor dem Ablegen den Wächter eines Dschungeltempels bestochen, so daß der beide Augen zudrückte, während er sich mit einer heiligen Riesenschlange aus dem Staube machte. Wozu brauchte ein schweizer Professor eine buddhistische Schlange? Zu Hause in der Schweiz würde er seinen Fund nach überstandener Seereise im Weidenkorb nur triumphierend dem heimischen Zoo überreichen. An Deck wimmelte es derweil von Vereinsdamen: den Mitgliedern eines Klubs Trauernder Bräute, die sich, vereint im gemeinsamen Verlust, zur Pilgerscha zusammengefunden hatten – ihre Verlobten, französische Soldaten alle, waren im Indochinakrieg gefallen. Im Unterdeck die schamha verschlossene Tür der lasterhaen Mademoiselle Yvonne, einer Missionarin, die keine Zeit verlor, ihre Kabine in eine schummrige Opiumhöhle zu verwandeln, gut besucht vor allem von der Mannscha. Und dann geschah etwas ganz Unerwartetes. Wenige Stunden Wegs von Saigon wurde das Schiff zu einem einzigen schrillen Schrei verängstigter Jungfern (laut Max); mehrere von ihnen hatten gesehen, wie die unselige Schlange aus dem Korb heraus aufs Deck geglitten war. Allgemeines Durcheinander, zänkisches Kreischen in höchsten Tönen der Wut und Angst. Eine stundenlange Suche förderte die Kreatur nicht zutage; die Damen bebten und schäumten. Der gewissenlose Professor erfuhr erst später, daß seine teuer bezahlte Trophäe in ihren Tempel heimgekehrt war, sie war durch eine Toilette entkommen und hatte mühelos die Bucht durchschwömmen. Fernöstliche Rachegötter? Böse westliche Poltergeister? Welche
Gespenster auch immer, welche Ursachen es gewesen sein mögen, drei Tage lang wurde das Schiff mit zermürbender Wucht gegen die Wogen geschleudert. Im Roten Meer blieb es dann stehen, die Maschinen lechzten nach Kohle. Tage weißglühender Sonne vergingen in einem Delirium explodierender Hitze, bis neben all den anderen Halluzinationen ein rettendes Schiff in Sicht kam und, kaum zu glauben, nicht auf den Horizont gemalt war, ein reales Schiff, das reale Kohle entbehren konnte. Der alte Kahn bewegte sich wieder, seine Passagiere erwachten aus der Leere, gewannen ihre Lebensgeister zurück. Der Leuchtturmwärter fuhr, wie die meisten anderen, nach Hause. Täglich schritt er um das enge Deck, verstört, doch ohne ersichtlichen Kummer. Er schien nicht über die Kra der Sprache zu verfügen. Hier und da ein flüsterndes oui oder non. Bald sprach sich herum, daß er fünfzehn Jahre lang einen Leuchtturm bedient hatte und nun, pensioniert, mit dem Ersparten nach Marseille zurückkehrte, um dort ein Häuschen zu kaufen und sein Gärtchen zu pflegen. Das war sein größter Wunsch. Bis ihn, bald nach Passieren der Straße von Singapur, eine kupferhaarige Stenographin entdeckte. »Was hat Sie in Saigon gehalten?« fragte Max sie eines Tages, als sie interessiert vor der ausgehängten Passagierliste stand. »Meine Arbeit.« »-?-«. »Ja. Import-Export.« Sie ließ sich im Speisesaal einen neuen Platz an einem Zweiertisch geben, nur sie und der Leuchtturmwärter. »Was hat Sie auf diesem Leuchtturm gehalten?« fragte sie ihn. »Es war eine Vertrauensstellung«, murmelte er. »Wissen Sie …« Er erzählte ihr alles. Bald lehnten sie zusammen an der Reling und schauten Hand in Hand auf das zinnerne Meer, saßen, Hände unter dem Tisch, im dunstschwülen Speisesaal und händchenhaltend spätnachts an Deck. So wuchs die Romanze an Bord augenfällig heran, wie schön.
In den Souks von Colombo kaue er ihr große, kostbare Steine. Endlich am Kai von Marseille wurde alles lebendig; Dienstmänner kämpen mit Koffern, und hinter den Barrieren schrien Leute überschwengliche Willkommensgrüße. Eine Gestalt löste sich aus dem Schwarm auf dem Kai, sie lief schneller als die anderen, ja, sie rannte mit erhobenen Armen, drehte um und lief im Zickzack durch die Menge zurück. Es war der Leuchtturmwärter. »Ich habe ihn beinahe nicht erkannt«, sagt Max, »er redete so schnell: ›Wo ist sie, wo ist sie hingegangen … Ich verstehe das nicht, haben Sie sie gesehen, haben Sie gesehen …‹ Ich konnte ihm nicht helfen. Was sollte man machen? Sie war verduet.« Als der Mann dort stand, fassungslos, und sich an den Kopf griff, schwand er sichtlich dahin, körperlos wie ein durchsichtiges Leuchtturmfenster über dem grenzenlos wogenden Ozean. Dann wandte er sich an einen Gendarmen und fragte höflich nach dem Weg zu Les Offices Maritimes. Sein Geld war weg, natürlich würde er wieder in Dienst gehen, auf einen anderen Leuchtturm. Was blieb ihm übrig? Und in fünfzehn Jahren … »Sie gehen vorüber … sie dauern nicht ewig«, flüstert er. »Au revoir.« »Und als er davontorkelte«, erinnert sich Max, »rief ich Idiot ihm noch nach: ›Bonne chance‹!« Der Aschengeschmack dieser beiden gräßlichen Worte. Auch Marie wurde Ehefrau. Sie war kaum achtzehn und nahm allen den Atem, sogar den Surrealisten, mit ihrer porzellanenen Schönheit in Blau und Gold. Und Max nahm ihr den Atem. Gemeinsam rissen sie aus. Und so kamen die bitteren Vorwürfe ihrer entrüsteten Eltern zu spät, der Schaden war nicht mehr zu beheben. Wutschnaubend mußten sie ihn, nolens volens, bei sich aufnehmen, eher als eine frische Leiche im Keller denn als Schwiegersohn. Doch mehr von ihnen gleich. Zunächst ist zu sagen, daß
das Mädchen zwar verliebt, doch im übrigen geistesabwesend und offenbar recht seltsam war. Max war es recht. Ihn beflügelte es, wie all die farbenfrohen Fäden sich zur Spirale seines Künstlerlebens wanden, und er malte und klebte und knetete schnelltrocknenden Gips; so formte er die Umrisse seines Denkens zu einem Momument, das seinen Sieg über die trübselige Not symbolisierte. Ein Atelier in der rue des Plantes, Zeit zum Malen, freundliche Sammler, die mit Bildern unterm Arm gingen, das Plätschern funkelnder surrealistischer Stimmen im Lieblingscafé, die schöne Gattin. Beunruhigend war eigentlich nur, auf welche Weise manchmal neue Bilder verschwanden. An solchen Tagen kam sie gegen Abend nach Hause, das Haar kunstvoll gelockt, die Nägel gespitzt und gelackt. Mit den Bilderchen bezahlte sie den coiffeur, wie sich herausstellte; war es nicht ein Glück, daß sie ihm gefielen? Vielleicht. Wenn das alles gewesen wäre. Doch nun begann sie, sich immer wieder nebelha in ihre kränkelnde Vergangenheit zurückzuziehen, ein Vorgang, den der bestürzte Ehemann nur dunkel begriff, und er kämpe, das wurde bedrückend klar, einen aussichtslosen Kampf. Denn hinter dem hübschen Gesicht verbarg sich ein Opfer, lauter Kette und kein Schuß, gewebt nach dem Muster einer Wahnidee zweier Irrer, die zufällig ihre Eltern waren. Dieses Mädchen war, so merkwürdig es klingen mag, sein ganzes junges Leben lang auf den ron vorbereitet worden. Ungläubig hörte Max ihr zu, als sie von der Legende erzählte – aber es ist doch wahr! –, daß ihr bestimmt sei, Königin von Frankreich zu werden. Ja, es läge ein Brief an einem geheimen Ort (wo denn?). Er sei von Madame de M.; er warte auf sie schon seit hundertvierzig Jahren; er belege ihre Abkun unmißverständlich, unwiderleglich, sie stamme ohne jeden Zweifel direkt von Madame A. ab, und deren Tochter werde die drei samtenen Stufen des rons ersteigen, wenn der Augenblick
gekommen sei. Man werde den Brief öffnen (ein Tag sei genannt) und sie würde zur Königin gekrönt. Die Monarchie würde endlich wiederhergestellt und sie wäre Sa Majesté Marie. Zuerst wollte er sich ausschütten vor Lachen. »Und ich – was wäre ich dann, der Prinzgemahl?« Er war ganz heitere Nachsicht. »Anzunehmen«, antwortete sie geistesabwesend, vielleicht träumte sie davon, welche Equipage sie für die Fahrt von der rue des Plantes zum Louvre wählen würde. Als Kind war sie in ein »sehr exklusives« Pensionat auf der Insel Jersey geschickt worden – nur Mädchen aus Adelshäusern waren zugelassen. In dieser Schule, von Nonnen geleitet, die natürlich genauso adelig waren, wurde Marie, die kleine roturière (Bürgerliche), von ihren Mitschülerinnen gnadenlos verspottet und herumgeschubst, bis eines Tages die gesamte Schulbelegscha zusammengerufen wurde, um eine Bekanntmachung entgegenzunehmen. Die Mutter Oberin rauschte aufs Podium: »Mesdemoiselles, es befindet sich in Ihrer Mitte eine pensionnaire, die Sie womöglich für undistinguiert halten und nicht der geringsten Beachtung wert. Hiermit, meine verehrten jungen Damen, gebe ich Ihnen zur Kenntnis, daß die fragliche Person von denkbar höchster Herkun und daß ihr bestimmt ist, als künige Königin über Sie alle zu herrschen. Sie werden nun in Ihre Zimmer gehen, um diese Worte zu bedenken und bei sich selbst die Korrektur vorzunehmen, die eine solche Mitteilung verlangt.« Im Jahre in der rue des Plantes war der berühmte Brief irgendwie in Vergessenheit geraten. Seine Wirkungen aber waren im Atelier gegenwärtig wie ungesunde Schwaden eines vergessenbringenden Gebräus, das die Realität in Schach halten sollte. Auf unbegreifliche Weise kippte die Spirale um und wurde zum Tunnel. Gewiß, es gab schöne Stunden mit surrealistischen Freunden, die, in der Blüte ihrer Kra und gerade dabei, große Happen der
erkennbaren Gegenwart zu ergattern, in dem schönen Paar den wandelnden Beweis eines lebensbejahenden Ethos sahen. Es gab auch Einladungen an die üppigen Tafeln von le tont Paris, wie man heute noch sagt; das Essen war häufig so-la-la, aber es war reichhaltig und immer geeignet, den gesunden Hunger der Dichter und Maler zu stillen. Da das Leben in der rue des Plantes nicht besonders streng war, probierte Marie es anders, und ihr religiöser Eifer schwappte und sickerte in jeden Winkel und verbreitete einen Geruch von Frömmigkeit, der sogar ins eheliche Bett eindrang und die Liebe zur tristen Übung machte, die nicht nur freudlos, sondern auch irgendwie unschicklich war. Denn die bleibende Form jeder ihrer Handlungen, die Farbe jedes ihrer Gedanken waren geprägt und getönt von einem mittelalterlichen Fanatismus, der immer melancholischer wurde und ihre Seele entstellte. Der lebenslange Halt ihrer königlichen Bestimmung hatte sich verflüchtigt wie in der Sonne vergessenes Weihwasser, und sie warf sich in ein Fegefeuer der Selbstkasteiung: Sie war immonde, unrein. Sie war verworfen, eine Sünderin. Wie eine gemarterte Hexe steckte sie ihre mühsam erworbenen Groschen in den Opferstock der Kathedrale und erhob ihre Stimme zur öffentlichen Beichte. Während Maries Nachmittage eine dampfende Brühe orgastischer Demut waren, gewürzt mit Friseurphilosophie, vergingen die seinen mit der lustvollen Jagd nach seinen persönlichen Schimären. Aber das Geld reichte nicht, manchmal auch nicht das Essen. Ein- oder zweimal passierte es, daß Amal, ihr senegalesischer Freund, in einem solch prekären Augenblick hereinschneite. Auch er besaß keinen Sou. Aber: »Attends-moi, je ferai le boulevard.« (»Wartet, ich geh’ mal über den Boulevard.«) Und nach einer Stunde war er wieder da mit Tüten voller Lebensmittel und Wein, und er entblößte seine wunderschönen weißen Zähne triumphierend
zu einem seligen Lächeln. Er rettete den Tag, doch nicht das Morgen. Marie, gescholten wegen der stibitzten Bilder und unfähig, sich eine Zukun ohne Coiffeur vorzustellen, überlegte hin und her und fand einen Job. Es war bei einem der mondänen Empfänge, als Madame Schiaparelli, die große couturière von der place Vendôme, Gesicht und Figur der jungen Frau musterte und sagte, sie könne eine Empfangsdame gebrauchen. Damit begann ein trügerisches Zwischenspiel, trügerisch deshalb, weil die Arbeit zwar Spaß machte, mehr oder weniger, aber nicht von langer Dauer war. Ja, schon nach wenigen Tagen war alles vorbei. Ihr Gefährte wußte nicht, was passiert war, warum sie nicht mehr hinging. Wahrscheinlich wollte er es gar nicht wissen. Sie sprachen nicht davon. Bis eine Freundin es ihm steckte: Madame Schiaparelli sei nicht begeistert davon, wie Marie im Fenster gesessen (sie mußte während der langen Mittagsruhe den Salon hüten) und ihre Zehennägel lackiert hätte. Eines Morgens fragte Max sie, ob es wahr sei, und sie sagte ja, es sei sehr ruhig gewesen. Von da an war nicht mehr die Rede vom Arbeiten, einem ohnehin entwürdigenden Wort. Und bald war klar, daß man ihr nicht einmal eine Besorgung übertragen konnte. Sobald sie auf der Straße war, gab die Unglückliche das Geld, das sie bei sich trug, dem erstbesten Bettler, wenn er mit ihr betete. Einmal sollte Marie ein Porträt, vom Modell mit Ehemann nach einem diskreten Blick durch das nackte Atelier in Aurag gegeben und im Voraus bezahlt, bei den Auraggebern abliefern. Als Max kein Lob bekam, nahm er an, es hätte nicht besonders gefallen. Die Dame, die ihm gesessen hatte und nichts zu sehen bekam, nahm an, daß der Künstler seine Gründe haben düre. Bis sie eines Tages, zwanzig Jahre später, am staubigen Schaufenster eines Pariser Bilderrahmers vorbeiging und in ihre eigenen Augen blickte, die sie
aus einem Haufen Bilderrahmen in der Ecke ansahen. Die Augen warteten darauf, daß einer Anspruch auf sie erhöbe, wenn er den Rahmen bezahlte, sagte der alte Rahmenhändler. Aus Höflichkeit hatten Künstler und Modell nie ein Wort über das fehlende Porträt verloren, obwohl sich beide ziemlich o trafen nach jenen hektischen Zeiten. Staub und Gestöber wehten nun überall. Das Atelier war eine Insel oder eine Zelle, es war nicht wichtig, solange es dort Pinsel und Farben gab, von einem großherzigen Kaufmann gratis zur Verfügung gestellt – er nahm nur hin und wieder ein Bild. Ein Wort zur Familie Lefebvre-Foinet, Lieferanten für Künstlerbedarf, französisch und konservativ bis auf die Knochen, von monumentaler Hingabe an die Benutzer ihrer (handgeriebenen) Farben, ihrer (handgeschnittenen) Leinwände und sogar handgeschöpen Papiere, ihrer russischen Zobelhaarpinsel, ihrer Blechnäpfchen zum Festklemmen am Palettenrand, kurz, all der vielen Dinge, die Künstler heute nicht mehr brauchen. In ihrem harzfarbenen, eichengetäfelten Laden hinter einem Schaufenster voll gewaltiger Krüge mit Pinseln und einer der hölzernen, roboterartigen Gelenkpuppen, die man Anfängern naiv als Hilfe zum Erlernen des Figurenzeichnens anbot, aus dem schattenhaen Hinterzimmer tretend, in dem unverpackbar Sperriges zu Paketen verschnürt wurde, oder aus dem angrenzenden, mit winzigen Bildern ausgehängten Büro im Taschenformat erschien Monsieur Maurice Lefebvre persönlich, ganz Bonhomie für die Herren und Galanterie für die Damen. Monsieur Maurice versäumte nie, diesen Unterschied zu machen, ganz gleich, welche Art von Maler da kam, und sein Lächeln erstrahlte geradenwegs oder verstohlen, je nachdem, ob er Mann oder Frau vor sich hatte. Man bedenke, in alten Zeiten waren
weibliche Kunden sehr selten, es sei denn, man rechnete die wahrscheinlich stumme, verhuschte Modell-Begleiterin mit, die sich schüchtern an ihren maître schmiegte, während er mit großer Geste seine Tube Siena wählte und etwas von Anschreiben murmelte, bevor er hinausstape in die Kälte, im Schlepptau sein rotnasiges Mädchen wie den langen Schal, der, zweifach um seinen Hals geschlungen, im rauhen Winde flatterte. Ihnen allen lieferte der Laden neben Pinseln und Farbtuben Wärme und Ermutigung. Der allzu o notleidende Künstler wußte, dort würde er Kredit bekommen im Austausch für ein gelegentliches Werk von seiner Hand. Bis auf den heutigen Tag stapeln sich Hunderte und Aberhunderte von Bildern (auch einige von uns) an den Wänden im Dachgeschoß ihres schiffsbugförmigen Hauses und tragen Daten aus Großvaters Zeiten. Und manchmal ist sogar etwas Schönes dabei. Einmal kam aus London eine Einladung für Max: eine gute Galerie, Freunde von Freunden, ob er ausstellen wolle? Es war vielversprechend. Er bereitete alles vor, Bilder wurden abgeschickt, Fahrkarten für den Schiffszug gekau. Als es Zeit war für die Abfahrt, wollte Marie nicht mitkommen. Sie sei krank. Sie sei unwürdig, unrein. Sie blieb eisern. Er war gezwungen, allein zu fahren. Bei der Ankun in London fand er ein Telegramm von ihr vor: »Bitte.« Also wurden Tickets abgeschickt (Geld zu schicken wäre Torheit gewesen), versehen mit ausführlichen Instruktionen wie für ein Kind mit Namensschildchen am Mantel. Sie warteten, er und Freund Roland, an der Victoria Station. Der Zug fuhr ein und hielt, zischte und sprühte eine Dampfwolke aus, während Max und Roland die Reisenden musterten, die undeutlich aus dem wolligen Weiß auauchten wie hastende Schatten. Aber keine Marie. Da standen sie, und Roland meinte, sie hätte vielleicht einfach den Schiffszug verpaßt. Gerade hatte sich der Dampf auf dem
Bahnsteig verzogen und gab den Blick frei auf einen einsamen Dienstmann im Kampf mit einem Schrankkoffer, dessen Griffe abgerissen waren. Hinter ihm, vom anderen Ende des Bahnsteigs, näherte sich eine kleine Frauengestalt, und sie fragten sich laut: »Ist das vielleicht …?« Sie war es. Sie kam langsam auf dem Bahnsteig heran, nicht lächelnd, nicht laufend, leicht humpelnd. Marie. In schmutzigen Fetzen und Spitzen, mit uralten Gummilatschen, das bleiche Gesicht verzerrt, die Augenhöhlen wie Krater, trug sie einen welken Veilchenstrauß in der einen, ein Einkaufsnetz in der anderen Hand. Daß das Netz vollkommen leer war, erschien den beiden bestürzten Männern wahrscheinlich als durchaus passendes Detail ihrer Erscheinung. Da war sie, ganz ausgepumpt und hohl, einer der Menschen, denen aufgegeben ist, die Lebensfreude anderer zu dämpfen. Roland wippte auf den Absätzen und lächelte unsicher. Max stand da wie vor den Kopf geschlagen. Die fröhlichen Neckereien blieben ihnen im Halse stecken, ihre lachenden Gesichter verdunkelten sich wie bei gescholtenen Schuljungen. Roland winkte einem Taxi, behutsam nahmen sie sie in die Mitte und beugten sich hinunter, um sie hineinzuschieben. »Ihr seid so lieb zu mir, so lieb. Ich verdiene das gar nicht.« »Pst …« »Ach, es ist doch wahr …« Jetzt war in ihrer Stimme keine Spur von Vertrautheit mehr zu hören, nur die Litanei von ihrer Sündhaigkeit, ihrer Unreinheit, wenn sie ihm die Hände küßte oder niederkniete. Zwei Tage lang redeten sie auf sie ein: »Bitte, vergiß das alles, Liebste. Du bist ein gutes Mädchen, und du mußt hübsch sein für Max. Nun komm schon, wir müssen dir was zum Anziehen besorgen für die Vernissage.« Und Roland fuhr mit ihr zu einer Modistin, wo sie auf die schwingenden, kreiselnden Mannequins
starrte; traurig, in den geborgten Mantel geduckt, murmelte sie wie eine gesprungene Schallplatte ihren Wahn: »Unrein, unrein … wozu bin ich hier … ich bin schmutzig, ein getünchtes Grab … die heilige Jungfrau weiß es, sie versteht es …«, und dann dumpf: »Bringt mich weg, bringt mich weg …« Sie fragten, sie diskutierten. Am Ende konnten sie doch nicht den geringsten Grund für ihren Selbsthaß entdecken. Für Menschen wie Marie ist die gedankliche Sünde genau so real wie die wirklich begangene – es ist deshalb höchst reizvoll, über die heißen Begierden nachzudenken, die bestimmt nur Erfindungen ihres Gemüts waren. Ihre besten Freundinnen daheim in Paris waren zum rechten Glauben konvertiert – eifernde Fanatikerinnen, die, wie so o bei dieser sehr seltsamen Spielart menschlichen Scheiterns, viel frommer waren als die lauen geborenen Beichtkinder. Mit Ausnahme Maries. Für sie und ihr Gefolge war die Beichte ein prickelndes Bad in Feuer und Züchtigung, so regelmäßig genossen, so berauschend, so unwiderstehlich wie der coup de rouge (das Glas Rotwein) in der Eckkneipe für den Alkoholiker. Eiligen Schrittes begaben sie sich zur Entblößung ihrer Seelen über die kalten Fliesen der Kirchen und Kathedralen in die Zellen des zügellosen Leidens hinter sündenfleckigem Holz. Hier in London war das Beichten schwierig. Es gab nur wenige katholische Kirchen. Und in welcher Sprache sollte man aufschreien? Die Stunde der Vernissage rückte heran. Marie wollte nicht mitkommen. »Laßt mich hier in meinem Zimmer.« Sie wollte meditieren, sie wollte beten. Doch als sie wiederkamen aus der Galerie, war Marie nicht da. Die Nacht verging ohne ein Zeichen von ihr. Max, fiebernd vor Erschöpfung, schlief ein. Im Morgengrauen holte die Türklingel Roland die Treppe herunter. Auf der Schwelle stand Marie mit
dem Taxifahrer, der seine Handvoll Guineas verlangte. Sie holten sie herein. Sie hatte den Weg zu einem Priester weit außerhalb Londons gefunden, einem französischen Pater, der sich bereitgefunden hatte, ihr die dringliche Beichte abzunehmen. Nun schlief sie einen barmherzigen Schlaf, zwei Tage lang. In der Londoner Woche, die folgte, traf Max Leute, gab Interviews, wurde eingeladen; Marie indes verlor jeden Kontakt zur Wirklichkeit. Und doch war keiner bereit, sie wegzubringen. Sie war so hübsch … Der drohende Schatten des Zusammenbruchs rückte näher – mit seiner verführerischen Aussicht auf Vergessen. Versinkend atmete der Künstler schwer und ohne Freude, bis zu dem Regentag, an dem Marie matt und geistesabwesend bat, zum Schiffszug nach Paris gebracht zu werden. Und wieder stand Max am Bahnsteig. Er setzte sie in ein Abteil. Lebewohl. Denn sie wußten beide, daß ihr Abschied von London auch der Abschied aus seinem Leben war. Er, der sich ganz mit seinen Bildern identifizierte, mit Loplop, dem König der Vögel, und der wußte, daß jeder Alptraum endet, wenn die Nacht vergeht, er blieb in London und widmete sich seinen Ausstellungen und dem Bild, das London im Jahre bot. Und dann, eines Abends, blickte er vom Teller auf und sah seinen bezaubernden Lohn, einen englischen diesmal – Leonora, frei von Angst vor nahenden Zusammenbrüchen, mochten sie auch verlokkend sein. Gefahren sind dazu da, überwunden zu werden. Und so rissen sie einander hin. Und landeten in einem hohen, windigen Haus in Südfrankreich. Der Ort? Saint-Martin-d’Ardèche, wo die Oliven wachsen und der Mistral die Vergangenheit verweht. Ich könnte nicht so tun, als wüßte ich das mindeste von dieser Zeit, wäre da nicht das stumme Zeugnis der Myriaden von Geschöpfen aus Zement und Farbe und Eisen, die er dort zurückgelassen hat,
für alle Zeiten und aller Augen. Und dazu ein paar Geschichten. Sie handeln von Weinbergen, von traubenfressenden Hunden und den Stammgästen der örtlichen Bar. Etwa dem kugelrunden alten Pfaffen aus dem Nachbardorf, einer Art Abt, sagte Max wohl, aus einem der Orte, die noch genau so daliegen wie in grauer Vorzeit, deren Hügel und Steine noch unberührt sind von wütenden Modernisierungsattacken, deren Bewohner tief wurzeln wie alte Bäume. Dieser Kirchenmann war ihr Beschützer im Angesicht Gottes, und als solchen ließen sie ihn gewähren. Sein einziges Vergnügen war ein gelegentlicher Eselsritt nach Saint-Martin, für ihn ein Ausflug in die große Stadt, wo er im Café seine ungebärdigen Schäflein vergessen und mit welterfahrenen Philosophen plaudern konnte: mit dem Barmann, dem Winzer, dem Olivenpresser, dem Dorauz. Max war manchmal da, und es entstand so etwas wie Freundscha zwischen Künstler und Gottesmann, woraus sich eine Einladung zum Essen bei dem jovialen abbé ergab, der seinem Freund versicherte, Kochen sei sein Hobby. Der Tag kam, der Künstler kam, das fünfgängige Diner kam auf den Tisch in seiner ganzen Herrlichkeit. »Bon appétit«, schmatzte der Gastgeber und senkte den Löffel in die Sepiasuppe. Es war wirklich ein üppiges Mahl, ausgiebig begossen mit köstlichen Weinen und einem erlesenen Cognac als Abschluß. Was den Gast irritierte, war nur die seidenweiche Sauberkeit desselben Tellers, den sein Gastgeber ihm wieder hinstellte, indem er aus der Küche zum Tisch herüberwatschelte mit der leichtfüßigen, geradezu schwebenden Mühelosigkeit fettleibiger Priester in ihrer Soutane, mit der sie alten Windjammern gleichen, komplett mit wogendem Seegang und gereen Segeln. Besonders bewundernswert, dachte er, muß die taktvolle Frau in der Küche sein, die sich nicht ein einziges Mal blicken ließ. Und das nicht ohne Grund. Denn am Ende der Mahlzeit, als wollte er sich verbeugen, spazierte des abbés treuer Helfer herein, schnau
zeleckend – sein Hund. Er war es, der im Verein mit dem wohlgenährten Mann Gottes zwischen den Gängen die Teller gesäubert hatte. Wie sonst, meinte der Fromme schlicht, hätte er alles allein schaffen sollen? Un peu de calme, ein bißchen Ruhe, A Moment of Calm. Es ist nicht schwer, sich diese Ruhe vorzustellen, gebräunt und gebrannt vom heißen provengalischen Wind, unbeschwert wie die Zikaden. Ja, die Ruhe strömte bergab von dem steinernen Haus mit seinen verrückten, winkenden Skulpturen und Friesen, einer ganzen Population von Schimären und Ungeheuern aus Zement, nicht Salz, und von dem Licht im provisorischen Atelier, wo Max versunken in seiner Geisterwelt stand, Meister der Moor und Sumpf und modernden Wald atmenden Leinwand, der rauschenden Triumphe seines Pinsels. Es war , Frühlingsruhe, eine gefährdete Ruhe und so viel kostbarer als jede zuvor. Sie war ein Tautropfen, eine vollkommene Welt, die langsam an einem Blatt hinunterglitt und dort um ihr Leben hing, ein goldenes Leben mit einer schönen Gefährtin, die nur ein bißchen verrückt war, wenn man aufpaßte. In dieser Ruhe malte er das große Bild und klebte es an die hintere Bogenwand des Gartenzimmers, das den Winden offenstand. Da war der triste, stachelige Wald, der das Kriegsgespenst barg, denn Max brachte nicht die Brutalität auf, das Verhängnis ins Freie zu holen, obwohl er den Geruch geschwärzter Blätter aus früheren, langen Jahren kannte. Er wußte auch, daß in den kahlen, struppigen Bäumen kein Leben war. Wo waren sie geblieben, die grünen Adern, das wimmelnde Leben seines Bildes La joie de vivre von , wo waren die Raupen, die Heuschrecken, die karikierenden Witze, die Holzläuse, Motten? Wo waren die Vögel? Statt dessen eiserne Äste. Die Bewegung hielt inne und der Wassertropfen blieb hängen. Das Bild war ein Omen, keine Mahnung. Mit weit offenen
Augen, aber ohne Erregung beobachtete er stumm und zeichnete stumm auf. Dort in dem hohen Haus mit seinen Olivenbäumen und Weinstöcken, das bis zum heutigen Tag sein Kleid aus Reliefs, plastischen Phönixen, Fresken trägt, bekleckste er das breite Leinen mit schwärzlichem Grün und Blau und Rostrot, beklemmenden Farben der schwindenden Hoffnung. Das geschändete Rechteck keuchte und hielt den Atem an. Er nannte es Un peu de calme, »Ein Augenblick der Ruhe«; denn er wußte, daß sie nur ein Augenblick war, diese Ruhe, und daß der Sturm ihn schon von Norden her ins Auge faßte. Bis zu dem Tage, an dem sie mit Handschellen kamen und ihn abführten, ihn, den feindlichen Ausländer. Der Sturm war nicht mehr weit und die Ruhe war tatsächlich ein Augenblick gewesen. Und so glitt das Tautropfenleben ab und fiel, es zerschellte wie eine Splitterbombe über der verwaisten Gefährtin, und san versank sie in Cognacvergessen, versorgt vom Kneipenwirt, der später für die Zeche das Haus in Zahlung nahm. Er ist ein Mann mit Sinn fürs Geschä. Er will ein Bordell aus dem Haus machen, ein Versteck vor Ehefrauen und Schnüfflern für die Freier aus Avignon, der großen Stadt. In der Zwischenzeit darf sie bleiben, wohnt allein im Haus, und da taucht eine Landsmännin aus England auf, nimmt sie in ihre Obhut, nimmt die Freundin mit, holt sie heraus aus der verwahrlosten Farm, aus dem gräßlichen Frankreich. Hört ihr zu, als sie ein schreiendes Bild von der Vergewaltigung malt, Vergewaltigung, die mit den Nazis ganz sicher kommt. Hastiges Packen, kaum Zeit für einen Zettel: »Lieber Max, ich bin mit C. weggefahren und erwarte dich in Estremadura …« Weg flohen sie, quer durch Frankreich und Spanien. Doch das tief getroffene Mädchen zersprang unterwegs wie ein Spiegel. In Santander lieferte man es in eine Klinik ein.
Er entkommt zum dritten Mal aus dem Lager (Largentière? Loriol?) und schlägt sich durch bis nach Hause. Sie ist fort. Das Haus ist nicht mehr seins. Stämmige Kerle sitzen um seinen Küchentisch. Jedem von ihnen fehlt ein kleiner Finger (eine Vorkehrung gegen den Kriegsdienst). Hauptsache, sie sind freundlich, warum auch nicht, da sie doch nicht in den Krieg müssen! Sie bedauern ihn sogar, den armen boche, der es nicht gerade sehr schlau angefangen hat. Er darf bleiben, als Logiergast für eine Nacht, wie sich zeigen soll. Denn am anderen Tag sind die Gendarmen wieder da, verlegen wegen der Handschellen. »Kommen Sie, Monsieur Max, seien Sie vernünig. So was macht man doch nicht …« Und das Grauen geht fröhlich weiter. Ein anderes Lager, Les Milles diesmal, eine ehemalige Ziegelei. Die Brennöfen geben fabelhae Zellen ab, sie sind brechend voll. Eine buntscheckige Gesellscha: Legionäre, die Brust voller Orden; Schwarzhändler für alles von Zigaretten über Opium (mäßiger Güte) und Wein bis zur getrüffelten Gänseleber. Bellmer im selben Ofen zeichnet Max im Profil, seinen Künstlerkollegen ganz aus Ziegelsteinen, ein Ziegelprofil aus dem Ziegelofen. Und siehe, der großartige Kommandant, der den Künstler höflich, aber bestimmt auffordert, das Porträt des Lagers zu malen, auf das er stolz ist. (Vierundzwanzig Jahre später kommt doch tatsächlich ein Brief von dem alten Bastard. Er lebt immer noch da unten. Er hat von dem Künstler gehört, seinem ehemaligen Häling, der das Lager so gekonnt porträtiert hat. Ob er so freundlich wäre, das Bild zu signieren?) Es gab reges Nachtleben, von forschen Tunten betrieben; ihr Lieben und Leiden bot segensreiche Ablenkung von den Ziegeln. Während sie sangen und spielten und mit den Rüschen raschelten, wurde an den Ziegelzellenmauern gekratzt, unablässig, verbissen und verzweifelt, verstohlen beobachtet von den Wachen, bis die
Zeit reif war für den triumphalen Moment der Entdeckung, so daß die Scharrer, jetzt dünne, blinde Nager, von neuem beginnen konnten mit der einzigen Tätigkeit, die sie inzwischen gelernt hatten. Es war dunkel im Ziegelofen. Zeichnen war schwerer als Kratzen, aber nun ja, man war aufgefordert zu zeichnen. Sie wollten ihre Porträts, die eitlen Wachoffiziere von Les Milles, schließlich – wen reizte es nicht, sich auf Papier zu betrachten anstatt im gehässigen Spiegel. Zum Lohn für die Porträts wies man Max eine schmeichelhae Aufgabe zu: den Müll hinauszukarren vors Tor. Eine Beförderung, ehrlich. Eine Auszeichnung, fein abgestimmt auf seine Fähigkeiten, könnte man sagen, wäre man Bewacher der verlausten Insassen von Les Milles in Frankreich. Wäre man Vertrauensmann für den Müll, könnte man auch sagen, daß eine solche Auszeichnung das eine bedeutet, ja, gebietet: die Flucht. Also machte er sich wieder davon, diesmal mit einem dichtenden Zellengenossen, der, wie sich herausstellte, nicht schwimmen konnte und so zur Plage wurde, zum jämmerlichen, zittrigen Kloß, den man durch Flüsse tragen und vor scharfäugigen Bauern verstecken mußte, die, hätten sie ihn erblickt, die ganze Geschichte ohne alle Worte von seinem Gesicht abgelesen hätten. Wieder das hohe, leere Haus, ein wortloser, abendlicher Arbeitsaufenthalt diesmal, ein Blitzbesuch, um seine Bilder, ach, einige seiner Bilder aus ihren Keilrahmen zu nehmen; nur die kleineren natürlich, um sie in Zeitungspapier einzurollen, in irgend etwas. Ade, ade dem warmen Wind, den Oliven, dem Wein. Ade der Ruhe, die gewesen. Diesmal wird er nicht wiederkommen. Seht ihn über die Berge laufen, in Scheunenverstecke kriechen, einen Bogen machen um Straßen, um Ortschaen. Brücken sind das Schlimmste. Eine Brücke ist bewacht an beiden Enden. Ein schläf
riger Bauer läßt ihn die Zügel halten; der schläfrige Gaul zieht ihn hinüber. Nur noch zwanzig Kilometer bis zu B. de L. dem sous-préfet. Mein alter Freund wird mir helfen, wird mir ein Ausreisevisum geben. Aber Monsieur de L. ist nicht da, heißt es. Nein. Da gibt es noch Georges, Präfekt des Nachbardepartements, vielleicht sitzt er noch in seiner Burg, denn es ist schwer vorstellbar, daß er sie wegen einer so flüchtigen Erscheinung wie den Nazis verließe. Auf zu Georges. Was sind fünfzig Kilometer? Georges war da und ging in seine Bibliothek, um ein Ausreisevisum auszustellen, ein beeindruckendes Stück Papier, das er höchst vergnügt mit seiner unleserlichen Unterschri schmückte und dazu mit jedem verfügbaren Gummistempel auf seinem Schreibtisch. Es folgten noch hundert-und-ein Entrinnen, tausend-undein Zwischenfall. Endlich die Grenze, der Bahnhof, ein Zug nach Madrid. Der Grenzwächter ist voller Diensteifer. Er studiert die hübschen Stempel, während Max atmet, eine Ewigkeit des behutsamen Atmens. Der Beamte hebt den Blick. »Das ist ein sehr eigenartiges Ausreisevisum. So ein Ausreisevisum habe ich noch nie gesehen.« Er wird zu einem anderen Schalter gerufen und kommt stirnrunzelnd zurück. »Ich bedaure. Ich muß Sie zurückschicken zur Prefektur in Pau.« Gleichzeitig bellt eine andere Uniform, ein Zollinspektor: »Was haben Sie da in dem Papier eingewickelt?« Und so fand die Ausstellung seines Lebens statt, die wilden, prachtvollen Leinwände wurden entrollt und in Minutenschnelle, so schien es, an die blätternden Wände des trübseligen kleinen Bahnhofs gepinnt. Reisende schauten und staunten. Da vor ihnen waren die Wälder und ihre gleißenden Basilisken, die grünen Augen der wuchernden Natur, die auf den übereifrigen Zollinspektor herabblickten; die totemhaen Wucherungen,
die eindringlich sprachen zu den flatternden Nonnen mit ihren gefalteten Händen und ihrem »bonito, bonito«-Gemurmel; die Ausbrüche irisierenden Lebens, die den Grenzer verlachten und anflehten. Er schaut, geht weg, kommt wieder. In der allgemeinen Bewegtheit ist er zu einem Entschluß gelangt. Er pflanzt sich auf vor Max, und seine Stimme muß wohl leicht gebebt haben: »Monsieur, ich bewundere Talent. Sie haben großes Talent. Aber ich muß Sie nach Pau schicken. Dort geht es in Richtung Pau. Da links der Zug nach Madrid. Hier bitte, Ihr Paß. Nehmen Sie nicht den falschen Zug. Adieu, Monsieur.« Ob er nicht ein Souvenir möchte, ein kleines Bild? Er zögert nicht mit seinem barsch gemurmelten »Non, merci.« Aus dem Zugfenster schauen blanke Augen hinaus auf funkelnde spanische Berge. In Ortschaen klettern magere, drahtige Kinder über die Wagen. Große feuchte Augen und aufgehaltene Hände scheinen überall zu sein. Kindliche Quälgeister, die abfallen, wenn der Zug in Fahrt kommt. Dann eines Tages ist er in Lissabon, im Estoril, wo die unglücklichen Flüchtlinge auf Papiere mit Stempeln warten. Wochenlang, monatelang. Dort ist auch Peggy Guggenheim, die gütige Sammlerin von Malerei, die rettend eingrei und ihn nach Amerika mitnimmt. Hier genießt er (im Juli ) ein paar verwirrende Ellis IslandTage, »köstliche Hamburger und einen herrlichen Blick auf die Freiheitsstatue«. Dann ist er, mit Sohn Jimmy und Peggy Guggenheim als Bürgen, in der Freiheit.
4. … und für seine
A
ls es an mir war, zu erzählen – was konnte ich schon erzählen, was in meiner Kindheit war vergleichbar mit dem geschichtsträchtigen Rheinland und Mäxchen im Nachthemd auf der Suche nach den Gleisen, aufgelesen von frommen Pilgern, die ihn Jesuskindlein nannten? Sein Vater, frommer Katholik und Wochenendmaler, war beeindruckt, ja hochbeglückt; hingerissen malte er seinen Jungen als Christkind, womit er nebenbei etwas für die eigenen Aussichten aufs Himmelreich tat. Wie könnte es Galesburg in Illinois, ein Ort, wo man auf dem Diwan saß und darauf wartete, erwachsen zu werden, mit Köln aufnehmen: seinem mächtigen Dom, seinen tanzenden Lichtern aus buntem Glas, die den Kindern über die Schultern fielen wie Juwelencapes und sie zu Prinzen und Poeten machten. Meine frühen Erinnerungen tauchten auf, taumelten durch die Zeit, kräuselten den Strom – bliesen vergessene Träume auf, die im trüben Naß emporstiegen. Aber fast immer die falschen. Ich angelte nach Lebensdaten; selbst entscheidende Ereignisse entglitten mir wie Seife im Badewasser. Ich wurde geboren, ja, und lief schnell, aber niemals davon. Dann, nach und nach, unter demselben beschirmenden Himmel wie Max, strebte ich und schlug mich durch und glaubte, daß mein Stern frei sei wie der jedes anderen Menschen auf Erden. Bald bekam ich es mit meinen vertrackten Ohren und Schultern zu tun, mit gerundeten Armen und Brüsten, so schüchtern getragen wie auf den Bildern im Museum, an denen weiße Kärtchen den Besucher informieren: erotisch – allmächtiges Schlagwort, je nach der
Menge des sichtbaren weiblichen Fleisches verwendet (männlicher Haut scheint diese Qualifizierung nicht zuzustehen). Das war ich, und es mißfiel mir nicht, denn ich kannte den freundlichen Feind stürmischer Frauen und kleiner Sternchen nicht. Das war ich, wollte hoch hinaus, flog über verbotenem Boden. Mein Feind? Kein Name, kein Gesicht, aber lebendig hinter jeder Fassade von Menschenhand, ein Zustand nur, aber unbesiegbar in seiner rauhen Übermacht. Ignoriere ihn, sagte ich. Flieg weiter. Flieg frei von Signalen, Sperren, Lotsen. Und nun, ob klug oder dumm, bin ich gelandet. Dieses geliebte Gesicht kann ich nicht anklagen. Er ist mein und ich bin sein und der Feind ist anderswo. Hier bekenne ich mein verworrenes Selbst, die Ozeanographie verlorener Herzschläge und untergegangener Hoffnungen, aus dunkelsten Tiefen heraufgebaggert, abgebürstet und von Muscheln gesäubert, ich biete Max die Bagatellen dar, der wie immer sagt: »Und dann?« Jetzt ist das Wasser glatt und ich sehe die Umrisse eines Sommertages im Jahre . Vor dem Orpheum-Kino in Galesburg liegt alles in grellem Licht, so daß Straßen und Läden wabern wie in einer Wüstenhalluzination, einer Fata Morgana ohne den Sand. Mein Vater und ich sind in den knisternden Nachmittag gegangen, um uns einen Film anzusehen. Keiner wollte mitkommen. Cowboys! Familienhohn, einstimmiger, begleitet meinen Vater an die Tür, als er wirklich darauf besteht. Ich aber will mit. In meinen weißen Schuhen und dem Organdykleid. In der Stadt wir die Hitze einen flimmernden Schleier vom blasigen Pflaster empor, und unsere Absätze stanzen den schwarzen Teer wie Pferdehufe en miniature. Mein Vater trägt einen Panamahut und kau am Schalter zwei Eintrittskarten, eine für sich und eine halbe für mich. Und mir fällt
meine Schwester ein, heute morgen: »Wer will schon Tom Mix sehen?« Ja, wer denn? Gewiß nicht mein Vater, der ist hier wegen des Pferdes Tony, nicht wegen des Reiters. Ein Pferdenarr, mein Vater. Tom Mix sagt auch mir nichts. Ich hätte ebensogut oben in meiner Astgabel bleiben können, wo sich, festgenagelt an dem dicken Ast vor meinem Sitz, ein Kasten mit Blechdeckel und Schlüssel befindet. Er ist für Geheimformeln da, die nichts mit Kino zu tun haben. Es beginnt mir leid zu tun … aber da lächelt mich im Dunklen von der Leinwand jemand an: Lord Churlton. Bläuliches Mondlicht zeigt mir ein lässiges Bein in engsitzender Breecheshose und einem sinnlich gestülpten Stiefel. Es schwingt sich über ein Fensterbrett. Im Nu sind ihm Kopf, Arme und Oberkörper gefolgt, zusammen mit samtenem Federhut, Spitzenkragen, Wams, Handschuhen, Degen und der Ahnung von feinem Linnen über pulsierenden Muskeln. Zwei grausame schwarze Augen brennen sich ein in meine. Und während mein Vater dem cleveren Tony entgegenbebt, packt mich leidenschaliches Verlangen nach Lord Churlton, dem Räuber. Vergiß die Geheimformeln im Baumkasten. Jedes Ding hat seine Zeit. Und du, Churlton, vergiß diese gezierte Lady mit den kunstvollen Locken und dem schwellenden Busen. Überlaß sie Tom Mix und komm zu mir. Ich warte, warte, du schöner Räuber, was ist ein Räuber, was ist böse, oh, leidenschalicher Lord Churlton! An diesem Abend versuchte ich, ihn zu zeichnen. Nicht in seinem Rüschenhemd oder dem Samtumhang, auch nicht als Adam, sondern in der offenen Tür stehend in einem rotgestreien Pyjama. Als der Stoff und die gebräunten Wangen koloriert werden mußten, kam mein Malkasten mit Wasserfarben zu Ehren, zwei Reihen kleiner runder Näpfchen mit schwach gefärbtem Kitt (er kleckste
mehr, als er färbte), dazu ein Pinsel ohne Spitze wie der im Kleistertopf. Das Bild war nicht sehr ähnlich, na und, wer wollte einem Lord Churlton gerecht werden? Ich träumte davon, daß er nach Galesburg käme, auch als ich längst wußte, daß er nicht kommen würde. »Und dann?« will Max wissen. Mein Vater hieß Andrew (früher in der alten Heimat Andreas) Peter George aning. Ein Rest vom Stolz der alten Welt trieb ihn zu dem Versuch, seine Kinder für das »Familienbuch« zu interessieren, ein Kompendium von Namen mit Titeln, Berufen, Geburts-, Todes-, Heiratsdaten – das übliche. Er selbst war mit siebzehn Jahren aus Schweden ausgewandert, ein Aussteiger, ein Ausreißer. Jetzt war ihm nichts geblieben als das kostbare Buch über ferne Menschen, die Legende geworden waren wie König Arthurs Tafelrunde; das große Haus drüben war zum Schloß geworden, die Getreidefelder zum Zauberwald, die Eisbahn zum endlosen Fluß, auf dem ein kleiner Junge mit Schlittschuhen schnell nach Hause läu, den Atem der Wölfe im Nacken. Eine seiner beiden fixen Ideen, Adel, war keine Eigenscha, sondern eine Klasse, der er anzugehören glaubte. War es Ehrgeiz? Er ist langsam daran gestorben, was immer in der Zeitung gestanden, wie heig meine Mutter seine Wanderei, Rennerei, Schwimmerei beklagt haben mag: »Sich stundenlang in diesen See zu legen!« Denn seine andere Obsession war körperliche Tüchtigkeit. Und der sportliche Eifer ist grenzenlos bei Menschen, die sowieso niemals sterben werden. Er bewunderte Hitler wegen des Sports. Wir lauschten den Berichten aus fernen Stadien: Olympische Rekorde wurden gebrochen und die Massen tobten. Wir hörten den komischen neuen Rhythmus marschierender Stiefel, der in unserem Radio wie atmo
sphärische Störungen klang, mehr und mehr. Dann begann Hitler, Menschen zu morden. Und das war es, woran mein Vater eigentlich starb. Zerschmettert von Enttäuschung hörte sein Herz auf zu schlagen, als Hitler über die Champs Elysees marschierte. .»Und dann?« fragte Max, der nichts ausgelassen haben wollte. Ach, Max, wozu? Nur ein hoffnungsloser Romantiker könnte den Wunsch verspüren, in unserem Städtchen aus dem Zug zu steigen, könnte meinen, daß der Schritt hinab auf den Galesburger Bahnsteig zu einem erlebenswerten Abenteuer gehörte, das man genießen und bewahren und vielleicht später in dieser oder jener Form verwerten könnte. Natürlich identifiziert man sich mit dem Ort, wenn man dort war, als beide noch klein waren, das Städtchen und man selbst, bevor man fortging. Doch wie könnten sich meine Collegetage dort mit Max’ Studentenstreichen beim prasselnden Freudenfeuer am Ufer des Rheins vergleichen, wo philosophische Reden sich eifernd in den Gesang der Lorelei mischten? Was war amüsant daran, daß ich mir ein Paar Seidenpumps eine Nummer zu klein kaue, weil es in der ganzen Stadt nur das eine Paar gab, und daß ich es beim Collegeball unter unbeschreiblichen Qualen trug? Daß die geistreichen Bemerkungen, die ich mir für die Ohren hartumworbener Jungen zurechtgelegt hatte, im direkten Stromkontakt zu meinen Füßen zu Asche verglühten, bevor sie laut werden konnten, unwiederbringliche Opfer der Eitelkeit? Max hört tiefernst zu. »Wie schrecklich«, sagt er. »Und dann?« Wenn es überhaupt etwas gab, was meine sichere Berufung zur Malerin störte, dann war es die öffentliche Bibliothek von Galesburg, breit aufragendes, massives Symbol der unbeschränkten Wahlfreiheit. Man stelle sich ein weitläufiges graues Gebäude vor,
unbestimmt klassizistisch im Stil, vierschrötig in den Proportionen. Es lag genau im Zentrum der Stadt auf einer bescheidenen, von Berberitzenbüschen gesäumten Grasinsel. An der nächsten Ecke lag das Postamt und ein paar Straßen weiter das College, wo man versucht hatte, mir etwas beizubringen, irgend etwas. Denn wie alle braven Töchter ging ich aufs College. Doch anders als die meisten suchte ich mir keinen jungen Kommilitonen zum Heiraten aus, wie man geho hatte. Ich hatte andere Pläne, die zuhause nicht gut gelitten waren. Ja, das bloße Wort Künstler war gleichlautend mit Bohémien. Die Kunstschule ist keine Schule. Das Mädchen ist ja ganz verdreht. Das College wird sie schon geradebiegen, wird die Kanten abschleifen, wird die Launen beruhigen, die wirbelnden Farben, die Wunderlichkeit, das Fieber. Wie unnötig waren die Sorgen meiner Eltern wegen des Bohémelebens, nach dem ich strebte. Sie wären von Grund auf einverstanden gewesen, die Armen, mit der Kunstwelt der Großstadt, diesem Vereinsleben, das sich auf gutes Benehmen und ein gewisses taktisches Geschick stützt, wozu auch gehört, daß man zur richtigen Zeit das Richtige tut. Jedesmal, wenn ich an der Galesburger Stadtbücherei vorbeiging, sah ich mich in Bücherstapeln vergraben die Entdeckungen machen, die in meinem College kaum zu machen waren. Und bald sollte es tatsächlich so kommen. Denn mit sechzehn wurde ich dort angestellt, nur stundenweise zwar, aber die Beschäigung verlieh mir die Illusion einer gewissen Unabhängigkeit und schloß sogar Ferien ein – Ferien in einer Hütte am Bracken-See in einer Art country club. Mein selbstverdientes Geld reichte für zwei Wochen. Zwei Wochen allein. Selbstbewußt, kompromißlos allein. Nein zu den Schwestern. Nein zu Freundinnen. Nein zu Jungen. Nein, nein. Statt dessen das reinliche Ritual des Zurechtlegens von Papier, Bleistien, Buntstien, Wasserfarben, was man so brauchte,
auf dem Brettertisch (ach, schon das schlichte Wort!). Irgend etwas würde geschehen, müßte geschehen. Es erfüllte mich von oben bis unten, von vorn bis hinten, und mein Kopf sagte, es werde sich wie ein Füllhorn über den Brettertisch ergießen. Diese Zweiwochenflucht, erkau mit dem häßlichen Geld, das ich eintönig verdient hatte, würde etwas hervorbringen: Blüten oder Monster, mir war es gleich, denn sie würden mein sein. Manchmal starrte ich stundenlang das sehr weiße Papier an. Draußen vor den Gittern der Veranda tanzten die Mücken, kräuselte sich der See unter Sonne und Mond (denn es gab einen Mond, ich hatte ihn eingeplant), und drinnen in der muffigen kleinen Hütte ließen sich vier Feldbetten hängen, alle leer und bis auf eins unbezogen; die farblosen Kissen pfannkuchenplatt, erschöp, unfähig, geradezusitzen; der Brettertisch. Ihn hatte ich auf die beschirmte Veranda geschoben, ein vernüniger Platz für einen Arbeitstisch im Juli. Vernünig war auch, früh zu Bett zu gehen nach einem endlosen Tag, denn das würde bestimmt den Morgen bringen, einen besseren Tag, leuchtend und verheißungsvoll. Nachts waren Pullover und der Regenmantel über meine Dekken gebreitet, denn es war kühl und regnete o. Ich hatte Besuch, genau dreimal. Meine Schwestern kamen heraus und sahen mich an. Betroffen, verletzt. Sie brachten mir einen Nußkuchen mit, der auf dem Ablaurett hockte, in sein kariertes Geschirrtuch gehüllt. Ein anderes Mal schauten drei mehr oder weniger gute Freundinnen in flauschigen Nachmittagskleidern vorbei, Mädchen, die mich für eine der ihren gehalten hatten, bis das hier kam. Ihre ungehemmte, unbefriedigte Neugier durchzog die nachmittägliche Hütte wie ein Pesthauch, wie eine benebelnde Ausdünstung, die sich mit dem Gestank aus zerstamper Vegetation und Seewasser mischte. Schamlose Fragen warteten nicht einmal hinter ihren Stühlen, sondern bewegten sich mit der albernen
Konversation auf die Veranda hinaus, schwer wie Gase und ebenso schwer wegzuwedeln. Einmal kam ein Junge – oh, der hätte für sie Sinn ergeben! –, schleppte seinen Tennisschläger mit sich und seine höflichen (hofierenden) Manieren; schaute immerzu auf die leeren Kojen und in unbeholfenem Verlangen wieder zurück auf diese Eigenbrötlerin, die ihm etwas zu verstehen geben wollte und damit restlos scheiterte. Denn das war es nicht, und ihn mußte man loswerden, ganz lieb, ohne Getue. Danach kamen die langen, einsamen Tage, die unhimmlische Stille, in die Regengeflüster tröpfelte; die Bootsfahrerspäße weit draußen klangen überraschend nahe (diese Stimme, war das nicht vielleicht jemand, den ich kannte?), ein Abendvogel landete auf dem Dach und hüpe herum. Auch mit Katzen war zu rechnen, die da oben Kämpfe austrugen, und mit zahllosen knackenden Zweigen in der Nacht. Es gab keine Angst, keine Langeweile; nur die bleierne Hohlheit, wo sich Fülle nicht einstellen wollte. Denn zwei Wochen Lake Bracken formten sich zum Fehlschlag, die Nachdenklichkeit wuchs und gebar eine kristallene Antwort, die zur Gewißheit erstarrte: Seen sind dazu da, sich darin zu ertränken. Zu meinen Pflichten in der Bücherei gehörte eine wöchentliche Bestandsaufnahme entsprechend der damals gültigen Klassifizierung. Das Problem war: Sobald ich mich zwischen die Regale begab, war es schwer, mich zu finden, und die leitende Bibliothekarin, eine resolute, imponierende Frau mit einem Kneifer, der beim Gehen auf ihrer Nase zitterte, wollte mich manchmal höchstpersönlich herunterputzen in ihrer überschäumenden Wut. Als Bannerträgerin der Moral hatte sie die geniale Methode eingeführt, mit einem roten Kreuzchen unter der Katalognummer jedes Buch zu markieren, das ihrer Meinung nach unmoralisch war, für Minderjährige
nicht geeignet. Auf diese Weise hatte ich keine Schwierigkeiten, die besten Bücher zu finden. Erewbon, Leaves of Grass, Tristram Shandy, e Scarlet Letter, e Red Lily – Dutzende und Aberdutzende von Büchern, überall zwischen die anderen gemischt in den Regalen dieses korrupten Steingebäudes, auf dem die amerikanische Fahne wehte und das sich, rundherum in den Sims graviert, mit großen Namen schmückte. Die Bibliothek wurde mit den Jahren zu meinem Hafen, ihre Schätze lockten verstohlen die Stimme der »Kunst« hervor, einmal sangen, einmal weinten ihre Sirenen und füllten mir Augen und Ohren mit Worten, und ihre Wucht zerschmetterte meine törichten Gewißheiten für immer. Fünfundzwanzig Jahre später brannte die öffentliche Bücherei von Galesburg bis auf die Grundmauern nieder, ihre zweihunderttausend Bände nährten die himmelhohen Flammen, während die städtischen Wasserreserven versprüht wurden und meine Schwestern mit tränennassen Gesichtern zusahen. Gott sei Dank, ich war nicht da. Nicht, daß ich nie wieder dort gewesen wäre. O, zuerst unter Vorwänden wie Ferien und Mutters Geburtstag. Deshalb erinnere ich mich an Mutters Farben: Jadegrün, American Beauty-Rot, Pfauenblau, Altrosa. Während sie sie in ihre Patchworkdecke näht, sitze ich im Zug von Chicago nach Galesburg. Letzter Erinnerungsblitz hier: Wir sind zu viert, wir fahren zum Heimspiel unseres Footballteams. Ich interessiere mich nicht im geringsten für Football. Meine hübsche Freundin ist thrilled; die beiden Jungen sind glückliche Medizinstudenten mit Medizinfläschchen voll Staatsalkohol, prozentig oder ähnlich extravagant. Wir stehen im schlenkernden Zug am Kühlautomaten, wo man sich einen konischen Pappbecher zieht und an einem Miniatur-Zapahn mit Eiswasser füllt. Feuer ver
sengt die Kehle, wenn man flott das Fläschchen kippt, und kratziges Gelächter maskiert das erste Mal (um Himmels willen, bloß nicht husten). Wie der Zug durch die stumpfsinnige Landscha rast! Wie kreischend komisch ist doch alles später beim Tanzen! Mein küniger Medikus klammert sich an mich wie ich mich an ihn. Wir lachen, daß uns die Bäuche wehtun. Wenn man vier Füße hat, kann man sich aufrecht halten. Ich habe außer meinen noch seine beiden, er hat noch meine. Nicht nur, daß wir nicht fallen, wir bringen sogar das Gleiten, das Drehen, die schnellen Rhythmen zustande. Jeder hält sich am anderen fest, meine Augen sind meist geschlossen, damit ich die kilometerhohen Wellen rund um unser schrägstehendes Deck nicht sehe. Wahrscheinlich bin ich glücklich, so wie man auf der Tanzfläche eben glücklich ist. Die Spiegelkugel schickt ihre Lichtblitze in die Kreisbahn ums Universum, niemand beobachtet uns, niemand kümmert sich, die Musiker sind ganz olympisches Wohlwollen in ihren flotten rosa Smokings, Götter, die in unsere halboffenen Münder herablächeln und zärtlich heidnische Rhythmen erzeugen, sie schmeicheln uns in lüsterne Sinnlichkeit und lassen uns vergessen, daß morgen Sonntag ist und Kirche, wo die Buntglasfenster jadegrün, american beauty-rot, pfauenblau und altrosa sind. Dann, nach vielen Jahren, treibt ein plötzliches Sehnen dich wieder dorthin zurück, zu einer Stippvisite nur, deine Flugtasche ist gestop voll handgeschnitzter Begriffe, eingewickelt in ein wollig weiches Bild von der besonderen kleinen Persönlichkeit, die du einst warst. Etwas Besonderes bist du immer noch. Und du glaubst, du kennst sie alle und sie kennen dich und du wirst sie irgendwie beeindrukken. Aber die Stadt ist gewachsen, obwohl man das vielleicht nicht gleich sieht, wenn man aus dem Zug steigt. Ja, eigentlich scheint es,
als sei sie geschrump. Viel hohler Wind pfei durch den Bahnhof, bläst tote Fahrscheine und Kaugummipapier über den Boden, aber Menschen sind nicht da, nur ein alter Mann mit Besen, der auört zu fegen, um dich anzustarren, als du ihn nach Taxis fragst. Das Café? Er erinnert sich nicht. Ein Wagen fährt vor und deine Schwester kommt, die dich umarmt und fortbringt von hier. Du sitzt neben ihr, hörst mit halbem Ohr zu und bist ziemlich verloren. Es ist die falsche Stadt. Kann dies die Hauptstraße sein, so seltsam leer für das Auge, so öde und still? Kribbelnd von Geistern in wirbelnden Windböen, die an leeren Schaufenstern vorbeifegen und den Staub im Innern von dem Staub draußen trennen? Ein Parkplatz gähnt, wo du einst an einem Mahagonitresen Handschuhe anprobiert oder für viel zuviel Geld einen Hut gekau hast. Was ist aus Leschers Sodabrunnen geworden, was aus dem Alcazar, dem freundlichen Hafen der Machos, wo mein Vater, da er ein Mann war, seine Sonntagszigarre kaufen konnte? Wo ist das große Bankfenster, in dem die schwankende Papierwährung der ganzen Welt ausgehängt wurde mit einer US-Dollarnote in der Mitte und der Legende: Der gute alte amerikanische Dollar bleibt immer derselbe! Die großen Bäume, die hochragenden Sherwood Forest-Bäume, wo sind sie? Unsere stolzen Galesburger Bäume? Sie lehnten ihre Kronen aneinander zu langen Spitzbogenreihen, die aus den Straßen Zelte machten, Galerien aus Blättern statt Glas. Wo sind die Bäume geblieben? Die Stadt ist dicht und dick, kubisch, ein Rußklecks auf dem Land; und du gehörst jetzt überhaupt nicht mehr dazu, bist ein Partikel unter vielen unbekannten Partikeln, die du wie in einer Kultur siehst, rein, und die herumflitzen, blind für deine gemischten Gefühle. Es ist einfacher so, sagst du dir, ein ganz und gar anderer Ort, in die Flasche gefüllt und verkorkt und etikettiert, ein eingetrocknetes Elixier.
»Aber das kennst du wohl nicht.« Max: »Ich denke doch. Der Ort, den du hinter dir lassen mußtest. Jeder hat einen.« Doch zurück in die dreißiger Jahre und nach Chicago. Damals, als die Tage zu Nächten wurden und die Monate zu Jahren, löste sich meine Seele mit unbekümmerter Endgültigkeit aus diesem warmen, gemütlichen Alltag. Distanziert beobachtete sie, wie der Körper seine leeren Bewegungsabläufe vollzog. Sie wartete geduldig, während der große Schrankkoffer mit Messingecken und fünf Schnappschlössern heimlich gepackt wurde. Ade, Galesburg. Ade, Anatole France. Ade, Stadtbücherei. Nun kann man um den Koffer bitten, ohne Umschweife. Mein Brief: »Er steht in meinem Zimmer« und »bringt ihn nur zum Bahnhof« wurde von zwei erschütterten Eltern vorgelesen wie eine Todesnachricht. Ihr Kummer: ein wärmender Luxus, den ich nur in Ehren halten konnte, weil ich lebte. Chicago, klirrend, pustend und dampfend vor Fülle, Wind, Gier. Hier – es ist – treffe ich meine ersten Exzentriker. Sie flanieren durch abendliche Grotesken zu Jazzklängen und dem Klingen der Gläser mit geeisten Getränken. Die Drinks sind mit fragwürdigem Alkohol gemacht, ein Überbleibsel der Prohibitionszeit. Es gibt Tausende von geeisten Drinks, und ich spüre mehr und mehr, daß mir ein außergewöhnliches Schicksal gewiß ist – so vieles wartet auf mich. An einem dieser Abende verschlug es mich ins Lampenlicht eines ehrfurchtgebietenden Raumes: An allen vier Wänden hoch bis zur Decke Bücher, über die ein Paar saner kleiner Uhus gebot. Die beiden waren Mann und Frau; er sammelte, sie schrieb moderne Lyrik. Oscar Williams, Dichter. Wie passend ist doch sein Little Treasury (Schatzkästlein) betitelt, ganz eins mit dem ernsten,
bebrillten Gesicht, dem wachen Vogelblick hinter dicken Linsen. Und seine Dichterin, Gene Derwood hieß sie, verkörperte alles, was mir in Galesburg nicht begegnet war. Intensität sprach aus ihren stark schielenden Augen. Ihre Frisur: Jeanne d’Arc-Fransen; ihre schmalen, ausdrucksvollen Züge von papierener Blässe; ihr dunkelbrauner Umhang – irgendwie sehe ich sie immer als Sepia-Vision: braun das Haar, die Augen, der Umhang, vielleicht das Buch in ihrer Hand –, all das ergab zusammengenommen ein lebendes Bild der absoluten Authentizität auch ohne die fast unhörbare Stimme, eine Erscheinung, der meine ganze Verehrung galt. Später bei einer Diskussion, einer dieser eigensinnigen Streitereien, die Wichtigtuer gern vom Zaun brechen, sah ich nur, wie sie aufstand in ihrem Zaubercape und Einspruch erhob – »gemach, Freund, gemach« –, und ich wußte, daß ich ein milieu gefunden hatte. Wie kamen sie hierher? Wie waren die Bücher, vom Boden zur Decke, von Tür zu Fenster, in diese Regale geflogen, wo sie sich anklammerten, dicht gedrängt, wo sie sich versammelten zu diesem san schimmernden Schwarm auf ihrem langen Flug von wo nach wo? Das Ganze war für mich wie ein tableau vivant, das man anschauen, schnell in sich aufnehmen mußte, bevor der Vorhang fiel. Seit wann mochten sie hier sein? Sicherlich noch nicht lange. Immerzu redeten sie von New York, der Stadt, dem Ziel aller Reisen. Ach ja. Tag für Tag machten sie Pläne für die Tausendmeilenreise mit Zwischenstops zum Schlafen und Essen. Minutiöse. Nur das fehlende Geld hielt sie auf, hielt ihre ächzende alte Karre in der Werkstatt, nicht auf der Autobahn Richtung Osten. Mit der Zeit planten wir die Reise gemeinsam, wenn auch die beiden Grüblergesichter wehmütig blickten, als ich bekannte, daß meine Taschen leer wa
ren wie ihre. Oh ja, meinen Teil würde ich zahlen. Das schae ich schon. Und so setzten wir das Datum fest. Für mich war es nichts Besonderes, daß ich wieder meinen Koffer packte, diesmal für New York. Hatte ich nicht als Siebenjährige beschlossen, in Paris zu leben? Und lag nicht New York auf dem Wege dahin? Eine ziemliche Prozedur, das Packen, das Auswählen und Aussondern; sinnlos, die Anhänglichkeit an vollkommen nutzlose Dinge, während wahrscheinlich Brauchbares kurzentschlossen hinausflog, abgeschüttelt wie die vertrauten Schlüssel, Flure, Zimmer, Wasserhähne, Buntdruckstoffe. Ich ging für immer, so selbstverständlich, wie man diese oder jene Schule mit dem Abschlußzeugnis verläßt. Dann, zwei Tage vor der Abfahrt, klingelte mein Telefon. Der Wagen läge noch in der Werkstatt darnieder. Er sei zu alt, habe der Mechaniker-Doktor diagnostiziert. Er brauche eine Herztransplantation, eine permanente Sauerstoffmaske, einen Satz von vier neuen Schuhen. Unser Abenteuer war auf unabsehbare Zeit verschoben. Hast du jemals einen Koffer – den Koffer, den du wochenlang mit deiner irdischen Habe gefüllt hast – wieder ausgepackt, bevor er seine Reise gemacht hat? Die bloße Möglichkeit einer solchen Kehrtwendung war unvorstellbar. Mit jedem Gegenstand steckte ein Stück meiner Beständigkeit und Entschlossenheit im Koffer, und müßte nun alles herausgenommen werden, herumgeworfen, zurückgelegt in aufgegebene Schubladen und leergeräumte Schränke, dann würde ich selbst zurückgeworfen, zerschmettert, hoffnungslos zerrieben wie ein geschlagenes Heer, dem nichts übrigbleibt als die Kapitulation. Auch nach dem Reinfall mit einer unseriösen Fluggesellscha ist das Kofferauspacken ein melancholisches Geschä, wie moderne Touristen, deren Flüge in listig letzter Minute einfach gestrichen werden, nur zu gut wissen. Stelle dir also die Möchtegern-New Yorkerin vor, wie sie auf dem Hin
tern vor dem Schrankkoffer sitzt, der ihr gesammeltes Leben birgt, alles – von der Mappe mit Zeichnungen ganz unten bis hinauf zum Wasserfarbkasten, zu Onkel Bobs Zigarrenkiste voll eingerollter Strümpfe, dem Schnappschußalbum, dem ledernen Notizbuch, dem ganzen läppischen Kram, ohne den die Reisende ein schattenloses, dimensionsloses Gespenst wäre. Ihr ist klar: Eine Reise muß sein. »Sie werden eine Reise machen«, meint die Wahrsagerin. Oh ja, sie hat recht. Am festgesetzten Abfahrtstag kaue ich mir am Busbahnhof ein einfaches Ticket nach New York. Und nachdem ich, schlafend und wachend, unzählbare Stunden durch die Septemberlandscha, durch gesichtslose Städte gerüttelt und geschüttelt worden war, spuckte der Bus mich und meinen gräßlichen Koffer am Greyhound-Bahnhof unten an der Eighth Avenue aus. »Nach Greenwich Village«, befehle ich dem Taxichauffeur. »Aber wohin da?« »Fahren Sie nur. Ich sage Ihnen dann schon, wann Sie halten sollen.« Beim ersten Schild Z bleiben wir stehen. Ich gehe hinein, schaue mich um und zahle fünf Dollar an die Wirtin, die mir einen Schlüssel für das Zimmer gibt (den winzigen Wandschrank mit Fenster); der Taxifahrer schleppt meinen Schrankkoffer auf dem Buckel nach oben. Fünf Minuten, und die Tür ist zu; ich bin New Yorkerin. An diesem Abend kommt mein Notizbuch aus dem Koffer. Mein Bleisti ist gespitzt, als hätte ich gleich um die Ecke auf dieses Taxi gewartet, das mich herbrachte. Rote Tafel, gelbes Taxi, blaue Tür Schwarz und weiß ein Photo, aber Doch nicht richtig: Farben flimmern
Rings der Ränder, bis die Nacht Herabfällt. Tageshelle Nacht Bläulich-grün und die Schlußlichter Rot. Rot auf Blau und Grün. Da sind Hunde, Hundefarbe Revolvermänner, Männerfarbe Gifarben, all die fleischlichen. Ich trete ein, denn er ist da Purpurabend, der die Karte gibt Kürbisroter Glücksfall, lila Schatten In dem Gasthaus Rote Tafel Purpurtaxi blauer Eber Brauner Hund Zigarettenglut orange. Eine Eberjagd• Ist nichts zum Betrachten Sie hat keine Farbe. Jeder konnte sehen, dies war ein schwaches Gedicht, wenn man es überhaupt so nennen dure. Aber es hatte einen Hauch von Eigensinn, die Farbzusammenstellung war aggressiv, und das gab mir zu denken. Für mich war klar: Ich würde Künstlerin sein in einem Maleratelier, wo solche Neigungen eine wertvolle Hilfe zur Selbstverwirklichung wären. Max: »Und dann?« Ein Paar Zeilen für ein paar Jahre. Eine Zeile pro Jahr – ist es mehr wert? Denn es gibt Jahre, die hinterlassen überhaupt keinen Eindruck im Gemüt. Sie sind nichts als eine Reihe von Punkten, die ein dunstiges, trübes, atemloses Etwas im Ungewissen markieren. Setze ein paar Pünktchen hinter ein Wort und du hast einen Jah
reswert an unbeantworteten Fragen, ganz zu schweigen von Unbesonnenheiten, Miseren und Fehlern in Hülle und Fülle. Die Wahrheit ist, daß einem nicht sehr viel daran liegt, sich an sie zu erinnern. An öde Jobs, vergeudete Abende, besessene Verehrer, Techtelmechtel; an den Rückzug ins heimische Nest zum Atemholen; an manchmal durchtriebene Mädchen, mit denen ich Zimmer, Wohnungen, Vertraulichkeiten teilte. Eins der Mädchen, keineswegs durchtrieben, außer vielleicht für meine Eltern, hätten sie es gewußt, entriß mich einmal dem Schoß der Familie durch einen dringenden Brief mit einem Stellenangebot; wir hatten das kleine Komplott gemeinsam ausgeheckt. Natürlich war die Stelle zu fünfundneunzig Prozent Erfindung. Aber in New York und in ihrer Wohnung auf der Achtundfünfzigsten Straße war alles möglich. Wir teilten uns die Miete und die Currybrote, nahmen Unterricht in Hindutänzen, lasen die Bhagavadgita und, ganz ausgewogen, Emily Dickinson. Wir trugen Baströckchen beim Dinnerabend einer Fachtagung, wo wir verblüen Kühlschrankvertretern eigenartige rosa-gelbe Nahrung auf Bananenblättern servierten und für diesen Dienst fünf Dollars kassierten, als wir nachts um eins gingen. Meine Komplizin fand es lustig; ich war entmutigt. Sie hieß Ronnie und war der glücklichste Mensch, der mir je begegnet ist. Daß sich ihre Werke – sie war nämlich »Staffeleimalerin« – im unbenutzten Zimmer stapelten, statt in Kunstmuseen zu hängen, warf nur einen ganz blassen Schatten auf ihr unglaublich sonniges Gemüt. Nie war sie anderswo gewesen, doch sie liebte New York mit einer beständigen Leidenscha, die sie in jedes öffentlich zu nennende Ereignis schickte, trieb, wirbelte. Ein Häuserblock in der City konnte ein Mirakel sein; ein Konzert, eine Ausstellung, ein Ballett war immer sublim. Spätere Jahre führten ihr Hippies, Rockstars, Junkies, Punks zu; sie liebte sie alle. »Die Szene« nannte sie es
und ahnte nicht einmal, daß die einiges an Glanz verlieren würde ohne sie. Unsere Zeit waren die dreißiger Jahre, als sich die meisten New Yorker Kunstgalerien in den vergleichsweise engen Grenzen der Siebenundfünfzigsten Straße zwischen ird und Sixth Avenue drängten. Wer zwischen Fih Avenue und Lexington durch die Siebenundfünfzigste Straße ging, eine Straßenseite hinauf, die andere hinunter, der wurde mit einer aufregenden, wenn auch zusammengewürfelten Ausstellung europäischer Bilder belohnt, dazwischen schüchtern ein paar amerikanische Sprenkel. Das Schönste an einem solchen Spaziergang war, daß mehr als die Häle der großen Erdgeschoßräume dieser hübschen Straße Kunst beherbergte. Viele andere Galerien versteckten sich zwar noch in gemütlichen Obergeschossen, aber es waren die großen Galerie-Schaufenster, die für den Spaß sorgten, wenn abends zwei Künstlerinnenembryos »Lu schnappen« gingen. Das taten wir ziemlich regelmäßig, auch bei widerlichstem Wetter, wir verschnürten uns gegen den Wind, der um die Ecke der Fih blies. Jedes zweite Schaufenster erstrahlte von französischen Impressionisten in schnörkelig antikisierenden Rahmen oder von deutschen Impressionisten, goldgerahmt. Die amerikanischen Bilder zeigten sich schüchtern in bescheidenen Holzleisten. Die magische Siebenundfünfzigste Straße war unsere Akademie. Dorthin kam alles, was des Anschauens wert war, und ging, nur um dem nächsten Meisterwerk Platz zu machen. Wir, arm wie Kirchenmäuse, konnten jedes dieser teppichbelegten, holzgetäfelten, musealen Interieurs betreten, vor Bildern oder Skulpturen stehenbleiben und sie ungestört diskutieren. Wir hatten feste Ansichten, aber wir sprachen leise, wie das in Kunstgalerien – ist dir das schon einmal aufgefallen? – jeder tut. Hier und da nisteten zwischen den »Großen« ein paar stille Lä
den, die englische Jagdszenen verkauen oder Meißner Kohlköpfe aus Porzellan, über die wir uns herzlich lustig machten. Es gab ein Geschä für curiosités (so hieß es), dessen riesiges Schaufenster überquoll von verstaubten, vergilbten, schlecht beleuchteten Gegenständen, die unter der Bezeichnung Primitivkunst angeboten wurden. Eines schneeigen Tages standen wir, die beiden Sterne der künigen Kunstwelt, vor dem Laden und dachten, wie immer, wir könnten vielleicht etwas »Gutes« entdecken. Und richtig, hinein ging’s, und im Nu hatten wir eine kleine braune Statuette gekau. Darauin änderten wir unseren Kurs und gingen zurück zur ird Avenue, wo uns unter der donnernden S-Bahn ein entzückter Händler das Stück für ein nettes Aufgeld abnahm. Danach änderten wir noch einmal die Richtung und suchten uns ein gutes Restaurant. Man tut, was man kann. Manchmal bogen wir auch um die Ecke, um ein paar Querstraßen weit über die Fih Avenue zu schlendern. Hier waren die Modeschaufenster, so nah bei den phantastischen Visionen um die Ecke und doch in kosmischer Ferne, und sie lösten Hohn und Spott bei uns aus. Wir lachten, bis es wehtat. Die albernen Kleiderpuppen, geistlos in ihren wunderlichen Gewändern, ihres törichten Selbst nicht bewußt, so wie der Prahlhans nichts weiß vom Eselsschwanz, der an seinen Hosenboden geheet ist, verwandelten unser Gekicher in johlende Verachtung, die in der abendlichen Straße widerhallte, bis wir nach Hause wankten in unseren vierten Stock, sehr zufrieden mit uns und dem Abend. An einem dieser Tage im Jahre oder schlüpen wir nach Geschässchluß in eine unserer Lieblingsgalerien (war es Paul Rosenberg?), wo sich schon eine Schar Niemande wie wir auf dem Fußboden vor einem großen Picasso-Gemälde niedergelassen hatte. Wir hörten einem hageren, eindringlichen jungen Mann mit
enormem Nietzsche-Schnurrbart zu, der uns gegenübersaß und über das Bild sprach. Nicht sein Akzent, den ich nicht identifizieren konnte, hielt mich in Bann, sondern die gezügelte Leidenscha in seiner Stimme, san und flammend zugleich, mit der er das Bild in ein neues Licht setzte. Ich glaube, er sprach von Intentionen und Wut und Zärtlichkeit und dem Leiden des spanischen Volkes. Er wies auf eine strategische Linie hin und folgte ihr dann in den Kampf, der am äußeren Ende des Bildes in stacheligem Chaos aufeinanderprallte. Während des ganzen Abends lächelte er nicht ein einziges Mal. Es war, als könnte er es gar nicht. Erst später erfuhr ich den Namen des Mannes: Arshile Gorky. Ein seltener Moment, und ich lebe mein planloses Leben weiter, nicht so bedrückt, daß ich nicht abends meine Strümpfe auswaschen würde, um sie morgens wieder anziehen zu können, nicht zu verdrossen, um meine Leinwand, nie größer als fünfzig Zentimeter, auf einen Stuhl zu stellen, weil ich keine Staffelei habe, nicht einmal wütend auf fadenscheinige Freundschaen umständehalber. Denn bin ich im New Yorker Museum of Modern Art durch die Ausstellung Fantastic Art, Dada, Surrealism gegangen. Natürlich, es hat schon Vorboten gegeben: Die große »Armory Show« von – zu früh für mich; Bücher, Alben, Kataloge aus Paris; auch Zeitschrien und rätselhae Pamphlete; surrealistische Ausstellungen in der Galerie Julien Levy (lauter finanzielle Pleiten, erfuhr ich später. Zum Beispiel wurde nicht ein einziges Bild der beiden ersten Dali-Ausstellungen verkau). Hier aber, hier im Museum, kommt die eigentliche Explosion, die mich aus dem gewohnten Trott reißt. Hier ist die unendlich facettierte Welt, auf die ich gewartet haben muß. Hier ist die grenzenlose Weite des M, eine Perspektive, die nur zufällig etwas mit dem Bemalen von Flächen zu tun hat. Hier im Inneren
eines harmlosen Betonbaues sind Wegzeichen versammelt, so gebieterisch, so befrachtet, so verführerisch und so, ja, pervers, daß sie, wie die heimlichen Offenbarungen der Galesburger Stadtbücherei, ganz von mir Besitz ergreifen sollten. Von diesem Tage an waren »Verirrung« für mich drei ebenso sinnlose Silben wie »Abweichung«, Synonyme für Minderheit. Meine eigenen Zeichnungen, technisch zaghae Reste alter Obsessionen, blieben im Versteck. Dann kam ein Tag im Juli , an dem ich ein Schiff nach Frankreich bestieg, zur letzten Etappe jener Lebensreise, die in Chicago begonnen hatte. Meine Taschen waren voller Briefe (sonst nicht viel), Empfehlungen an Künstler, an Soutine, Tanguy, Max Ernst,… »Ach nein!« »Oh doch.« Auch an Picasso. Natürlich ist keiner zu Hause. Kein Pariser ist im August zu Hause, wenn er es vermeiden kann. Somnambule concierges (sie runzeln die Stirn, noch ehe man den Mund aufmachen kann, was befürchtend?) schütteln die Köpfe: »Il est à la campagne.« Sie starren mich an, wundern sich bestimmt über diese exzentrische Amerikanerin, die sich einfallen läßt, im August an Türen zu klingeln. Ein besonders unheilschwangerer August – eine angstgelähmte Stadt, die mühsam atmet vor dem drohenden Krieg. Mit einem dicken Kloß im Hals wandere ich über die breiten, verlassenen Avenues, durch die Gärten, die Museen. Ich klopfe an stumme Türen, ich verirre mich im Labyrinth der Gassen. Ich bin hungrig zu falschen Zeiten. Wieder in meinem Zimmer, aufgelöst, niedergeschlagen, mit einem Gefühl der Unwirklichkeit, setze ich mich mit meinem Skizzenblock hin und zeichne Paris vom Fenster aus. Ich zeichne die Wolken, die so sichtlich französisch sind, zeichne die Dächer,
die entschwindenden Straßen, die Patina der Häuser und ihre Geduld, zeichne sie eilig, wie ein Spion seine Spezialkamera benutzen würde, wie er sich hinter dem Vorhang verbergen würde, genau wie ich jetzt in meinem Hotelzimmer lauere, um etwas Flüchtiges einzufangen, einen Schuldbeweis, ein vielleicht trauriges Geheimnis. Da draußen ist nichts einfach, nicht ein Mensch, den ich kenne, kein Freund eines Freundes. Da ist nur der feste Wille, wie ein Baum in meine beschlossene Zukun gepflanzt: wiederzukommen. Meine Künstler? Auch sie werden eines Tages wiederkommen, sagen die französischen Wolken, die verödeten Cafés, die perlgrauen Straßen. Bald ist der Krieg da wie ein pünktlicher Zug. Meine Botscha sagt: Fahren Sie heim. Das Telegramm meines Vaters sagt: Fahr nach Stockholm zu Onkel Hugo. Dafür gibt es nur die Eisenbahnverbindung (mit Unterbrechungen) – quer durch Belgien, quer durch Deutschland mit seltsamen Zwischenaufenthalten und noch seltsamerer Umsteigerei, und irgendwie kam mein albernes Gepäck immer mit, verpaßte die Anschlüsse nicht ganz. Stämmige Hitlerjungen leisteten mir Gesellscha; oh, ich hatte vielleicht Begleitung in diesen stickigen, stinkigen Zügen, wo es tags und nachts keine Pause gab und, überflüssig zu sagen, auch nichts zu essen; dicke, kecke Jungen in kurzen Khakihosen mit ihren Knien, ihren schrecklichen Eisenknien … ihrem beharrlichen Gehetze, das trotz des ständigen Stimmengewirrs zu mir durchdrang: »Ihr Amerikaner – ihr denkt wohl, ihr hättet eine Luwaffe. Eure Piloten, ha! Um die kümmern wir uns schon (Gelächter), das Reich wird es ihnen zeigen, unsere Luwaffe holt sie herunter wie Enten«, und so weiter und so fort. Ich lächele und lächele. Schließlich bin ich in Deutschland, und diese prahlerischen Knaben mit dik
ken blonden Haaren auf den stählernen Schenkeln wissen bereits (wieso?), daß mein Land in den Krieg eintreten wird. Paris hatte sich vor mir zurückgezogen, hatte meine Umarmung abgewiesen, hatte das Gesicht zur Wand gedreht. Zweiunddreißig von Mißerfolg strotzende Tage hatten mir Augen und Seele weit geöffnet. Deutschland war eine Bahnfahrt der Grotesken. Als ich glücklich Stockholm erreichte, hatte ich wundgescheuerte Ellenbogen von so viel kollektivem Irrsinn, daß mir klar war: Es würde nie eine Rolle spielen, was ich über das Geschehen dachte. Die Reise war also nicht ganz umsonst gewesen. Etwas hatte sie schließlich doch gebracht. Nie wieder würde der Lärm politischer Tiraden meine anders gestimmten Ohren ärgern. Nie wieder würde ich in flammendem, unbequemem Engagement in Versammlungen sitzen, in die ich nicht gehörte. Niemals würde ich Demagogen mit Helden verwechseln. Es wurden Träume geträumt, aber nicht meine. Außerdem – hatte ich nicht schon mit etwas anderem begonnen, etwas Lebenslangem mit Zwischenstop bei der Dada-Surrealismusausstellung vor drei Jahren? So daß ich, wenn der Surrealismus in Gestalt exotischer menschlicher Wesen etwas später nach New York käme, bereit wäre für ihn, bereit mit meinen Bildern, bereit mit meinen dreißig Geburtstagen, bereit, diese Geschichte zu beginnen, weiterzugehen, neu zu beginnen. Bei Onkel Hugo in der Stockholmer Vorstadt bringt ein gelbhaariges Mädchen in gestärktem Blauweiß über schwellend gepolsterten Knochen, das barfuß geht und mit dem ich kein Wort wechseln kann, um neun Uhr mein Frühstückstablett: Das Übliche und dazu einen großzügigen Teller Hering. Um elf zweites Frühstück im Eßzimmer im Beisein von Onkel Hugo, der uns erzählt, daß Polen jetzt geteilt ist wie eine Torte, Sowjets und Nazis beim Kaffeekränzchen. Ach, wann bin ich wieder zu Hause! Ich kann es kaum erwarten. Was werden sie jetzt sagen, Jerry und Greg und
Joan und die übrigen, die ich dort kenne? Natürlich werden sie etwas zu sagen haben. Aber es wird hinken, hinken. Meine Gedanken arbeiteten heig. Um meinen Aufruhr zu dämpfen, malte ich Tante Hannah in Öl. Sie nahm es so ernst, als wäre ich ein Auragskünstler und bestünde auf Seidenkleid und Perlenkette. Diese machte mir die größte Mühe – stell dir vor, eine Perle nach der anderen und noch eine, alle glatt und gleichmäßig, selbstverständlich. Trockene Blätter fielen und schlitterten über das frostige Gras. Der Winter brauste gen Stockholm; in der Nordsee wurden Naziminen gelegt. »Bleib doch, bleib«, bettelten meine netten Cousins. Jetzt aber wollte ich nichts als nach Hause, wenn der Krieg mich ließe. Auf der Gripsholm ab Göteborg brauchte ich zehn Tage. Es dauerte allerdings nicht lange, und der Alltag hatte mich wieder, als ich erst einmal sicher auf dem New Yorker Kai stand. Nach einer Weile und trotz quälender Nachrichten aus den Gegenden, die ich gerade kennengelernt hatte, war mir, als hätte ich Paris nie gesehen. Wenn ich mich nicht über den Zeichenblock beugte (Werbung für Macy’s: Mädchen, Mädchen – Mädchen in Badeanzügen, Mädchen in Kleidern, dann Mädchen in Pelzkappen oder Ophelia beim Ertrinken in einem neuen Duwasser; eine Seite falsche Juwelen, eine Seite Handtaschen … Handtaschen!), stöberte ich manchmal nach Schnäppchen, etwa bei Klein’s, einem Billigladen für Gebrauchtkleidung am New Yorker Union Square, damals beliebt bei Mädchen und Frauen ohne Geld, beliebt wegen seiner vom Himmel geschickten Gelegenheiten für die junge, hoffnungsvolle Städterin. Ein Fünfdollarkleid zu finden, in dem man sich der Zukun stellen konnte, ein schwarzes Kleid, das sogenannte »kleine Schwarze«,
war wie ein Lottenegewinn, allem weil man es fand. Anprobiert in einem großen, schrecklich hellen Raum, dessen unheimliches Grün von einer Spiegelwand verflüssigt wurde. In diesem Bassin der wogenden, sich windenden, neonbestrahlten Schwimmerinnen konnten alle, die nicht ganz arm waren, ihr grobkörniges Ebenbild im Spiegel betrachten. Hier ließ ein Getümmel von Frauen die Röcke und Unterröcke fallen, klemmte die Handtaschen zwischen Knie oder Zähne, entblößte das jämmerliche Fleisch vor den anderen, denen es egal war, während jede das Stück ihrer Wahl packte – Wahl, dieser Inbegriff der Herrlichkeit in tiefster Verzweiflung –, um es anzuprobieren, wenn möglich ohne Lippenstischmiere, bereit, über den schlappen Kragen, den fehlenden Gürtel, den kaputten Reißverschluß, den offenen Saum, das zerschlissene Futter hinwegzusehen, über all die Spuren des Gebrauchs durch feingliedrige, feenhae Figuren, die an diesem Tage nicht da waren, nur wir anderen, die sich die unseligen Gewänder über den Kopf zogen und zerrten oder zuerst über die Füße und dann hinauf zur gewölbten Taille, wo sie sehr o nicht weiter hinauf wollten ohne die gnadenlose Entschlossenheit ihrer Gegnerin, ganz in ihnen zu sein. Wenn niemand herschaute, zähmte auch ein rascher Ruck die widerspenstige Öffnung, und ein trockener kleiner Protestschrei der reißenden Kunstseide täuschte Schmerz vor. Alle Verrenkungen mit unserer perfekten Wahl rechtfertigend, nicht nach links noch rechts blickend, versunken, versessen standen wir im Taumel unserer frivolen Hoffnung vor demselben gewellten Spiegel. Wenn die Nacht kommt, werden diese Fünfdollarfetzen zu Kleidern geworden sein. Und über die Köpfe der Leute hinweg, in der gedämpen Beleuchtung, kaum als Umriß erkennbar in der Chiaroscurostunde, wird die schwarze Hülle zum zweitenmal an diesem Tag erwählt werden, diesmal wegen des Lebendigen, das in ihr ist. Stunden später, wenn sie ihren Zweck erfüllt hat, wird man
sie zu Boden fallen lassen wie eine abgestreie Haut, weil ein neuer Abschnitt beginnt. »Und dann bin ich gekommen«, sinniert Max. »Ja«, antworte ich. »Dann bist du gekommen.« Und mag es auch mitten in der Nacht sein, wir, Max und ich, beugen uns über unseren Rückspiegel und halten sozusagen vorsichtig verwundert Ausschau nach unseren ersten Tagen, ersten Erlebnissen, ersten Begegnungen, unseren ungestümen Sprüngen, wundersamen Rettungen. Wir mustern die lange Reihe und all ihre Einzelteile wie die erstaunliche Wirbelsäule eines perfekt gefügten Skeletts von einer ausgestorbenen Art, die nie wieder zu sehen sein wird. Unsere folgenschwere Begegnung, die Höhen, die Tiefen, die Zwänge des Stadtlebens, die uns hemmungslose Optimisten auf eine lange Reise schickten, um den anderen Weg zu suchen.
5. Am Steinbockhügel
Z
wischen Sedona, Arizona und New York City liegt der größte Teil der USA. Zweitausendfünundert Meilen haben unsere Fords in zwölf Jahren acht Mal geschluckt und gezählt. Jedesmal trug ein zweirädriger Anhänger aus dem Versandhaus eine Ladung Bilder unter der Persenning. Jedesmal, denn die schönen, glücklosen Bilder fuhren meist auf beiden Strecken mit, hin und zurück, fröhlich eingepackt unter der Wüstensonne. Stoisch wieder aufgeladen, minus eins oder zwei, für die Heimreise. Ein bleibender Eindruck jener Zeit, in die rote Felshaut meiner Erinnerung geprägt, ist Max mit dem Hammer in der Hand beim Nageln von Lattenrosten um Bilder. Sie ist ein verletzliches Ding, die bemalte Leinwand. Wie behutsam muß sie eingepaßt und festgezurrt werden, damit nichts ihre Haut berührt, dieses hilflose Baby, aus Geist und Geste geboren. Wir konnten uns, anders als die Bilder, frei bewegen. Schnell einmal hinausspringen in die hämmernde Hitze, um eine Kuh zu verscheuchen, das Vogelbad aufzufüllen, die beiden tapferen Zinnien zu pflücken, die über Nacht aufgeblüht waren. Nicht immer breitete die Natur die Arme aus. Ein Gewitter konnte uns einen weißglühenden Feuerball in die Haustür hängen. Allerdings nur für einen Augenblick und ohne Schaden anzurichten. Eine Woche lang konnte roter Wind wehen und an unserem Holzhaus zerren. Uns drinnen halten. Dann stiegen vielfache Schleier rötlichen Staubes auf, so hoch in die Lu, daß wir ohne zu blinzeln den vollkommen eindimensionalen weißen Teller anstarren konnten, der die Sonne sein sollte.
An diesem Ort der scharfen Kontraste, wo außer solchen Gewitterblitzen nichts elektrisch war, hörte man ab Mittag keinen Laut, nur das Summen der Hitze. Es war so intensiv, so allgegenwärtig, so uralt, daß auch wir, die Eindringlinge, uns still, gespannt und eigenartig behutsam bewegten, so als drohte Gefahr. Wie Sprungfedern schnellte die summende Hitze von den brennenden roten Felsen herab und schmolz den Teer auf unserem Pappdach. Sie kam herein und setzte sich auf meine Augen. Atmen war wichtig, ein Ereignis. Wie umzingelt von einem Feind, der es nicht wagt, den letzten Schlag zu führen, malten wir Tag für Tag verbissen unsere Bilder, jeder in seinen flimmernden vier Wänden, als wären wir Krieger, die ihre Waffen schwingen, um zu überleben und zu siegen. Große Gesten, etwa das schnelle Bedecken einer Leinwand mit Farbe, waren für die Abende reserviert. Diese begannen früh. Um halb fünf bis fünf tauchte die Sonne hinter unseren Hügel, und in einer halben Stunde sank die Temperatur um zwanzig Grad – ein dramatischer Szenenwechsel. Kristallklare Lu, in versengte Lungen gesogen, ließ die Energie Purzelbaum schlagen. Man klope, drückte, schabte, zerrte, wischte – Kunst schaffen ist keine lautlose Sache –, bis auch die Nacht herabsank wie ein zuklappendes Lid und es Zeit war, den Sternen zuzuschauen. Balken, Beile, Nägel, Schraubenzieher. Das Lot. Sie waren da draußen so wichtig wie Farben und Leinwand. Gemeinsam mit den Sägen bauten sie unser hölzernes Haus wie auch die Lattenverschläge für die Bilder. So daß wir, fragile Geschöpfe wie unsere Bilder, eingehegt werden konnten, überdacht, ins Innere verschlossen, ohne Berührung, unangetastet und heil. Stell dir vor, Leser, wie aufregend das Leben an einem solchen Ort der widerstreitenden Elemente war. Hoch oben ein so triumphierendes Blau, daß es die dunkelsten Winkel deines Hirns
durchdringt. Zu deinen Füßen der Boden uralt und grausam steinig, nichts als Steine und Kakteenskelette, die sich tot stellen. Die bösartigsten Geschöpfe der Natur krabbeln, kriechen, huschen, schleichen und beobachten dich haßerfüllt, aber sie sparen ihr Gi, solange du auf der Hut bist und, gewarnt, deinen Abstand wahrst. Und genau hier überläßt du dich diesem unglaublich verführerischen Schweben, das du, so sehr du dich bemühen magst, niemals benennen könntest. Woraus es besteht? Aus dem roten Staub, den Wacholderbüschen, den winzigen Wüstenblüten, den Steinen. Auch die Sterne verströmten Du mit ihrem Licht, wenn wir draußen saßen und zusahen, wie sie ganz langsam über den Himmel glitten. Immer stand etwas Erfreuliches in Aussicht. Ein Besuch von Marcel Duchamp, der uns ein wahres Schachfest versprach; Man Ray, dessen Auto drei Tage lang im Schlamm festsaß; Balanchine und Frau Tanny Leclercq, unterwegs zu den Strawinskys in Hollywood; auch Dylan omas, der eine Woche blieb und uns mit heigem Deklamieren und trunkenen Monologen traktierte. Ein Ereignis im Oktober . Man Ray fand es lustig: In der Absicht, zu heiraten, waren wir nach Hollywood gekommen, wo er wohnte. Hochzeit in Hollywood! Wir alle lachten darüber, aber am anderen Morgen sagte er: »Vielleicht gehen wir mit. Was Max kann, das kann ich auch.« Und fügte kläglich hinzu: »Obwohl ich etwas so Rechteckiges noch nie gemacht habe.« Am . Oktober wurden also bei einer Doppelhochzeit in Beverly Hills Max mit Dorothea und Man mit Julie vor dem Gesetz vereint. Na also. Gesagt, getan. Kurz und schmerzlos, gleich wieder zu vergessen. Zurück in Sedona widmen wir uns der widerspenstigen Wüste. In den kühlen Morgenstunden bearbeitet Max seinen Garten, er gräbt kleine Rinnen und Dämme, um das Wasser in feste Bahnen
zu lenken. Nur regnete es nie. Bis der tiefe Brunnen gebohrt wurde, gähnten Kanäle und Gräben wie spielzeuggroße Flußbetten, die an Wasser dachten, das sie nie gesehen hatten. Drinnen im windigen Häuschen unsere Freunde der Wildnis: Masken, Totems, Speere, der Potlatch, alle aus New York mitgebracht. »Woher kommt dies, Max?« fragte ich manchmal. Seine Antwort: »Sie haben es für dich gemacht.« Und ich, hartnäckig: »Aber wer hat es gemacht, was bedeutet es?« Und er, mit schwindendem Interesse: »Ach, das ist Tlingit« (vielleicht sagte er auch Kwakiutl). Er war schon wieder anderswo. Als der Photograph Cartier-Bresson aus Paris nach Sedona kam, betrachtete er die Wolfsmaske, ihre haarigen Ohren und weit aufgerissenen Kupferaugen. »Mit dem da würde Elie nie in einem Zimmer schlafen«, meinte er von seiner balinesischen Frau, und während er es sagte, bleckte die Maske erkennbar ihre furchterregenden Perlmuttzähne. Seitdem hatte ich nicht gerade Angst, aber doch großen Respekt vor ihr. Dort in der roten Welt gezackter Souvernirs, vom großen Gletscher gezeichnet, fanden Pioniere Namen für das, was sie sahen, und brachten es damit auf menschliches Maß. Der Cathedral Rock, eine rötliche Masse, sah für das kindliche Gemüt jener Siedler wie ein Dom aus. Der Courthouse Rock, ein edler Gigant, mit dem Namen zur Mahnung an Pachtzins und Papiere zurechtgestutzt. Gleich westlich von Sedona lag Cleopatra’s Nipple. Natürlich weiß niemand, wer den Namen ersann oder warum eine entrückte Gestalt wie Kleopatra die Phantasie eines Cowboys beschäigt haben mag – denn ein Cowboy muß es gewesen sein –, aber uns nannte man den Namen o und mit der gleichen Selbstverständlichkeit wie die anderen armseligen Bezeichnungen. Jahre später kamen wir wieder her und trafen eine völlig andere Bevölkerung an: Pensionäre, die hoen, hier zehn Minuten länger zu leben als anderswo, gescheiterte Doctores mit undurchsichtiger Vergangenheit,
unveröffentlichte Schristeller, wehmütig, aber nicht wankend, Maler mit Kameraaugen und einer Vorliebe für Landscha, alte Jünger neuer Religionen und ganz allgemein Leute, die sich mit der Verwandtscha zu Hause nicht recht vertrugen; wir kamen wieder und stellten fest, daß es Cleopatra’s Nipple nicht mehr gab; weniger phantasievolle Seelen hatten den Namen weggesäubert, jetzt hieß der Berg Chimney Rock und niemand konnte sich entsinnen, daß er je anders geheißen hätte. Damals wie heute können die Phonstärken der Natur ein Künstlerhirn zerschmettern. Ich habe es mitangesehen. Deshalb verschließe ich die Tür und male Interieurs. Große Ereignisse. Ein weiß-schwarzes Bild würde die rote Welt draußen zum Schweigen bringen. Große nackte Räume mit erstarrten Gestalten, wie Sodom und Gomorrha. Mit opalisierendem Licht und samtener Dunkelheit. Ist es nicht des Künstlers höchste Lust, das Licht zu beherrschen? Gegen Sonne und Mond anzutreten, ihre Logik mit Pinsel und Farbe und ungeheurem Ego auf den Kopf zu stellen? Ich bin da. Arthur Rimbaud, der rasende Dichter, ist auch da, auf der Tafel in meinem Bild. Was man dort sieht, sind Worte aus seinem geheimen Notizbuch. Intime, impertinente Signale. Die Tür ist keine Tür zum wildroten Garten, nur zu einer kleinen Privatheit, wie die Haustür, die hereinschaut. Studentinnen bitten einen frierenden Bettler herein; sie alle schauen suchend ins Innere und erinnern mich aus irgendeinem Grund an gewisse Vögel, die lebende Ameisen in ihrem Gefieder bergen. Nur daß wir drinnen sind, die Vögel aber draußen in den Krüppeltannen schaukeln, den Steinen und Skorpionen gleichgestellt. Hier drinnen, da draußen. Es ist alles gewissermaßen sichtbar, aber weggepackt, und läßt, könnte man sagen, an einen seltenen, schillernden Käfer denken, der auch so etwas wie ein Sieg ist. Interior with Sudden Joy, so heißt das Bild.
»Dies ist der Steinbockhügel«, sagte ich eines Tages. Max schaute ein Weilchen hinaus auf den steinigen, kaktusbewehrten Hang, auf die freigeräumte Spur, über die Räder rollen konnten. »Ja.« Es war ein großer Tag, als das Wasser unter dem Hügel heraufgeholt wurde. Ein Jahr lang hatten wir es hochziehen müssen, nun brauchten wir nur noch den Hahn aufzudrehen. So daß Max am nächsten Tag mit einem Monument für unseren Steinbockhügel beginnen konnte, einem König und einer Königin aus Zement und altem Eisen, fürstlichen Wächtern für unser Haus, unsere beiden heldenhaen Bäume, unsere Farben und Pinsel, unseren gefährdeten Frieden. Wie anders konnte er es nennen als Capricorn, Steinbock? Der Name eines Hauses ist mehr als bloß ein zusätzliches Kennzeichen, der Name, auf den es stolz ist hinter seinen erleuchteten Fenstern. Ein fester Bestandteil der Bücher, über denen ich seit meiner Schulzeit geträumt hatte, waren solche Häuser mit Namen, die nicht nur ihre Existenz bewiesen, sondern auch ihre Umgebung vereinnahmten, so daß Fluß, Dorf, Hänge, Seen und sogar Gebirge kaum mehr waren als wechselnder Hintergrund im geistigen Bild des Hauses mit seinem magischen Namen. Nichts an unserem selbstgebauten Zweizimmerhaus in Arizona war sichtlich eines Namens würdig. Capricorn Hill. Allein stand es da, nicht gerade windschief, aber doch recht verwegen, eingepfrop in eine Landscha von so überwältigender rotgoldener Erhabenheit, daß es eigentlich nur ein kurzlebiges Geschöpf sein konnte, ein Käfer aus braunen Brettern und Teerpappendach, der seiner Metamorphose harrte. Oben auf seinem Hügel, wo er die Winde teilte und recht gut Freund war mit den Sternen, die über unserem Terrassentisch pendelten wie Kronleuchter. An solchen Abenden, wenn wir Besuch hatten, waren wir wie die Magnas
co-Piraten beim Gelage auf dem gischtübersprühten Schiffsdeck, Segel gere, Windlichter stetig, während die Welt sich rückwärts drehte und unsere Stimmen kopfüber in der Wüstennacht hingen. Geschichten waren phantastisch, Dispute waren harmonisch, Philosophie ließ die Gedanken schweifen. Max erzählt von Mozart und Anderen Zu ihm, dem letzten wahren Europäer Amalgam allen Wohlklangs Kam grünes Gegaffe und machte aus Amalgam ein Potpourri Kam grünes Geblitze und verkündete Die empfindlich gigantisch chauvinistisch donnernd vaterländische Panik der Himmelschorharmonien Gestützt auf einen Sack voll Hoffnung. Und dann brach in ihm diese Hoffnung zusammen Als Studenten kamen, die tränenschweren Mützen In die Lu zu werfen Tressentragend traten sie aus der Ziegelmauer Mützen werfend. So kam der Wettersturz. So kam Wagner hinterdrein Mit Parsival zu Kreuze gekrochen All das wühlt einen inneren Strudel auf Von feingesponnenem Klang zum Sieden gebracht Es ist ein gewisses Etwas darin Eine zielstrebige Täuschung der Sinne Noch grün, wie eine Sonnenwende der Seelen. Man könnte denken, daß die Geschichte hier zu Ende wäre. Man
sollte meinen, daß nichts mehr kommt nach diesen samtenen Nächten, dem Vorspiel jedes leidenschalichen Tages in einer so erfüllten Landscha, daß wir sagten: »Hätte Wagner das gesehen, wäre seine Musik noch lauter, als sie schon ist«; man sollte also meinen, dieses Paradies hätte uns in Bann gehalten, uns die Heiterkeit bewahrt im beständigen Kampf mit der Not, im Existenzkampf; es hätte den Bogen des Hintergrunds geliefert, einen langen, leuchtenden Pinselstrich, auf den wir bis ans Ende aller Tage unsere Fragen und unsere Antworten heen, gipsen, kleben und malen konnten. Strotzend von Entdeckungen in nahen indianischen Höhlen, Canyons, Pueblos, alten und weisen. Cowboy Eimer, leidenschalicher Bundesgenosse des Ursprünglichen, ist unser Führer durch die Stromschnellen des Colorado (betonierte Dämme sind seitdem an ihre Stelle getreten) im Gummiboot. Er schlägt Zelte auf, backt Cowboy-Bisquits und zeigt uns indianische Hieroglyphen an verborgenen Stätten, die der Eindringling (wir) nie betreten hat. Kostbar wie Pfeilspitzen aus Quarz, von denen wir einige fanden, oder wie Diamanten (die nicht) ist die Erinnerung an diese neuntägige Wasserfahrt, achtzehn Meilen auf dem reißenden Strom, der wolkenkratzertief in blanken Stein schneidet. Leuchtende Herbststille, die dem Wasser lauschte, schwarze Schatten, die das Licht schluckten und unser tanzendes Gummiboot scheinbar in einer Unterwelt versteckten, wie Gustave Doré sie gezeichnet haben könnte, ein verlorenes Paradies, das keine Künstlertricks brauchte, nicht einmal Vorstellungskra, alles lag da, direkt vor unseren Augen, und dazu die geisterhae Gegenwart der Indios, die uns von ihrem Felsgrat hoch oben beäugten oder aus Höhlen und Spalten spähten. Beunruhigt. Denn es gehörte ihnen, und wir waren auch jetzt noch Störenfriede. Führer Eimer bewegte sich respektvoll durch das Zwielicht. Endlose Stunden lang sprach keiner
ein Wort. Als wir mit zwei Tagen Verspätung Lee’s Ferry erreichten – wir hatten in einem versteckten Canyon Filmdrehen gespielt –, wurden wir erleichtert von den Einheimischen begrüßt, auch von Journalisten, und unser Filmmaterial wurde im fernen New York säuberlich in Hans Richters Avantgardefilm by eingebaut. Bei alledem zeigte sich leider doch, daß dieses Paradies irgendwie nicht bewohnbar war, nicht einmal glaubha oder – kann das sein? – erstrebenswert. Wurden Adam und Eva wirklich aus dem Garten Eden vertrieben? Oder haben sie ihn verlassen? Ausstaffiert mit stichhaltigen Gründen, falls solche nötig wären, schlossen wir unsere windige Tür ab und machten uns auf den Weg nach Frankreich.
6. Unter dem Dach
A
ugust . Antwerpen, wo wir anlegen, ist mitten im Festtagstaumel. Ein Ensor-Fasching (wie abhängig sind wir doch von Bildern! – ein Turner-Sonnenuntergang, Vermeer-Licht, bleiche Friedrich-Berge, eine Reihe Daubigny-Bäume, eine SchwittersPlakatwand, ein grüner Apfel für Magritte, ein percheron von Rosa Bonheur – die Liste hat kein Ende, die Natur ist ernstha kompromittiert …), die perfekte Wiedererschaffung seiner Grotesken, der Blechbläserklang, die schreienden Farben, die gruselig grinsenden Masken, abscheuliche Karikaturen ihrer Träger, ob tot oder lebendig. Der Tod tanzt in den Straßen, der Tod ist ein Bär, der Tod ist ein Zwerg auf trippelnden Füßchen, ein Papierhut, zertrampelt von strammen, sonnenverbrannten Beinen. Plötzlich um die Ecke ist Stille, scheinbar kein Hauch. Ein enges Gäßchen mit Erkerfenstern im Erdgeschoß zeigt ordentlich aufgereihten Tod. In jedem Erker sitzt, eingerahmt in Ockerfirnis, Klöppelspitzen und Blumentöpfe, eine lauernde orangehaarige, gelbhaarige, schwarzhaarige Frau, still strickend oder stichelnd. Oder sich fächelnd. Natürlich gehört sie zu den Masken, genau wie ihre Nachbarin; sie sind unheimlich austauschbar, eine wie die andere, alle gleich, dieselben, sie trotzen jeder anarchischen Verschiedenheit und rufen schließlich dieses Gefühl der Desorientierung hervor, das Menschen im Spiegelkabinett verrückt macht. Und endlich Frankreich. Es war alles in allem ein Raum von achtundzwanzig Jahren und niemals mit Zeitraum zu verwechseln. Erfüllt war er von erstaunlichen Phantasien, die entstanden, um zu
bleiben. Von einzigartigen und poetischen Menschen. In diesem gigantischen Raum war immer Platz für neue eukalyptusgesäumte Wege. Schwelgerisches Schmausen teilte die Stunden mit lebenden und toten Denkmalen. Werde ich je die Rose vergessen, die Picasso von dem Strauch vor seiner Tür für mich pflückte? Natürlich hat er gewußt, daß ich sie nicht vergessen würde. Aber fangen wir an. Hart ist der Pariser Winter dieses ersten Jahres. Poeten und Proleten, in steife, grobe Mäntel vermummt, belagern gemeinsam das Café, hoffen von einem Zimmer zu hören, einem halben Zimmer irgendwo, überall, nur nicht im Hotel. Auch das Hotel ist vermummt und steif vor Kälte. Wir bekommen eine Wohnung mit Atelier auf dem quai Saint-Michel leihweise überlassen. Sie hat Damasttapeten und schöne Teppiche. Von ihrem luigen Balkon schauen wir hinunter auf den majestätischen Schwung der Seine, die zwischen uns und Notre Dame dahinfließt. Dieses elegante Ruhepolster, das wir zwei Monate lang bewohnen duren, im Januar und Februar, hatte zum Heizen nur zwei zierliche Porzellanöfchen, hübsche kleine Dingerchen namens mirus mit der zermürbenden Eigenscha, einfach auszugehen, statt die Kohle zu verbrennen, die wir hineinschaufelten. An der Hauswand draußen, neben unserer Nummer dreizehn, klebte (von der Toilette im Dachgeschoß abwärts) eine hohe Säule gelben Eises wie ein gemalter Wasserfall. So wie die Rohre platzte auch unsere Blase. Max bot dem eisigen Atelier die Stirn, doch seine Hand taute nicht so weit auf, um den Pinsel zu halten. Im Salon kuscheln wir uns tief in die Seidensessel, verpackt in Pullover, Mäntel, Stiefel, zwischen uns ein Schachbrett aus kaltem Marmor. Spiegel funkeln wie Eisblöcke, und in der Küche erstarren Fettaugen weiß auf den Pfannen. Wir machen Tee, literweise
heißen Tee, und Max kratzt ein Loch in die Eisblumen auf der Fensterscheibe. Ja, die Seine ist zugefroren. »Allons! Les misérables.« Da ist sie, unsere concierge, unsere Retterin, die eine Woche später für uns eigenen Raum organisiert: Zwei Kämmerchen in der Mansarde mit gemütlichem Ofen und welligem Bett. Unser erstes Pariser Heim. Zu erreichen über fünf Treppen. Die uns gar nichts ausmachen, besonders beim Abstieg, denn der bedeutet, daß wir warm sitzen werden im Café, winterlich eingeglast, mit Ofen, Ofenrohr, Schachbrett (man brachte die eigenen Figuren mit) und grauem Milchkaffee. Bald kommt Marcel Z. ein Schachfreund. Händeschütteln ringsum. Wir spielen und er schlägt mich mit Leichtigkeit und viel Schadenfreude. Der warme Dunst feuchter Mäntel, in der Ecke zusammengekauert wie verregnete Schafe. Die liebliche, dampfende Stille, nur unterbrochen von Seufzern gedanklicher Schwerarbeit oder von meinem Gegner, der (unfair, finde ich) mit den Fingern auf den Plastiktisch trommelt. Der kurze Winternachmittag hält nicht lange durch; die Lichter auf dem Boulevard leuchten auf, und sie erlöschen in den Boutiquen auf der anderen Straßenseite, wo die Geschäsleute aus der Tür treten und mit quietschendem Krachen die eisernen Gitter herunterziehen, unten abschließen und davongehen. Zeit zum Abendessen, wieder Händeschütteln, au revoir, und um die Ecke zum Restaurant Charpentier, einem Lokal mit großem Verständnis und kleinen Preisen. Da ist unser Man Ray. Amerikaner in Baskenmütze, unser Hochzeitszwilling, umhegt von seiner Julie, der sanmütigen Fee, dem Licht seines Lebens. »Sie haben das Schaufenster eingeworfen«, erzählt er uns traurig. Eine kleine Galerie hatte seine Objekte gezeigt. Das längst berühmte Metronom, das Nägel treibende Bügeleisen, das Pain peint, ein blaugestrichenes französisches Brot. Und in der Pariser Nacht hatten
Rowdies sie zertrümmert. E, hatten sie gekritzelt. »Restlos ruiniert, meine Sachen«, sagte Man. Er sagte immer »meine Sachen«: Objekte, Photographien, Gemälde. Sproß dieser Restaurantdynastie und Wirbelwindkellner war Ernest, der über die USA offenbar alles wußte – Berge, Flüsse, Bevölkerung, Präsidenten, die Sorte von Wissen, die man in Jahrbüchern findet und gleich wieder in ihnen begräbt. »Tiens, connaissez-vous les capitales?« Und er beugte sich herunter zu meinem Ohr, als er das dampfende Ragout vor mich hinsetzte, und schnurrte die Namen der Hauptstädte unserer Staaten herunter, womit er uns alle, die sie nicht kannten, beschämte. Eines Tages werde er hinfahren, sagte er. Vielleicht ist er jetzt da. Die milden Abende auf dem Boulevard Saint Germain versäumten selten, ihre Überraschung zu präsentieren. Dort leuchtete im Schein der Caféterrassen und des Autoverkehrs das Gesicht eines Freundes auf, Wifredo Lam, Roland Penrose, für einen Tag in der Stadt, Sam Francis oder Man Ray. Und dann begann ein für uns alle unverhoer Abend bei couscous oder pot-au-feu, ganz gleich, mit oder ohne Tischtuch, aber immer mit Wein und Witz. Mit Fug und Recht kann man sagen, daß ich mein Französisch von Madame Guyot gelernt habe, unserer Concierge. Sie mit ihrer Taubenstimme, ihrer immensen Liebenswürdigkeit, ihrem köstlichen Kalbsfrikassee, ihrer Meisterscha beim Aufspüren des Flohs im Bett, sie hat uns buchstäblich am Leben erhalten. Ja, sie ist für mich nur eine aus einer großen Schwesternscha heroischer Gestalten: der französischen Concierges. Ich habe nie verstanden, warum diese geduldigen, geschlagenen Frauen, Tag und Nacht an ihre elenden loges gekettet, einem Haus voll Mieter auf Wink und Ruf zu Diensten, angegriffen und beschimp bei jeder Widrigkeit, aus dem Schlaf gerissen von Spätkommenden und Frühaufstehern – warum sie vom Schicksal verdammt sind, für
immer in ihrer merde zu bleiben, verlästert und verhöhnt von weltmännisch Weitgereisten und dummdreist Aufgeblasenen, die nie etwas anderes in ihnen zu sehen scheinen als geborene Schlampen und Hexen. Sie sind, nolens-volens, Figuren eines Kasperletheaters, bizarre. Eine Zeitlang ging ich täglich zum Malen in ein Atelier auf der rue Saint-Andre-des-Arts, eigentlich ein kleines Appartement. Ich kann meine Augen schließen und sehe sie vor mir, meine AtelierConcierge. Ja, Sie, Madame Turpin, mit Ihren dicken Beinen voller Krampfadern, Ihren gleißend weißen Armen, die in kleinen Händen wie Schmetterlingen enden, sind Sie noch da zwischen den Backen Ihres Lehnstuhls hinter dem Fenster, dessen Aussicht nichts als feuchtes Kopfsteinpflaster und Hofmauern bietet? Kommt Ihr Mann noch von der wöchentlichen Überlandplackerei seines Fernfahrerjobs nach Hause, um Ihnen das Bett zu machen und Ihnen zu sagen, daß Sie immer noch seine Schöne, sein Augenstern sind? Leser, wir wollen dem Himmel fürs Fernsehen danken. Madame Deleuze hat einen weißen, stinkenden Hund. Madame Bertin hat drei Katzen. Madame Guyot hat auch eine, ein wahres Untier, das sein Frauchen liebt. Anders nämlich ist sein Benehmen nicht zu erklären, wenn Monsieur Guyot heimkommt (auch er ist Lastwagenfahrer) und Kiki auf den Tisch springt und in seine Suppe pinkelt. »Wir mußten ihn kastrieren lassen«, seufzt die liebevolle Madame Guyot. Jeden Morgen stape sie herauf zu uns in den Horst, um Feuer zu machen und Kaffee zu mahlen, während wir uns aus schwerem Schlaf emporkämpen, uns widerwillig dem fröstelnden Tag stellten. Endlich April, Spuren eines Frühlings. Wir gingen ins Kino. Und fanden dort die berühmten Pariser Flöhe, les puces. »Sie leben bevorzugt in den Kinos der Champs Élysees«, sagte Freund Marcel. Madame Guyot war geneigt, ihm zuzustimmen. Auf alle Fälle ge
schah es gewöhnlich nach einem Kinoabend, daß ich mir die Nacht im ungleichen Kampf mit den widerlichen Biestern um die Ohren schlug. Nicht so Max, der herrlich und ungebissen schlief. Flöhe. In diesem Sommer machten wir flüchtig Bekanntscha mit einem Romanschristeller, Pariser Genre: Ein Abend in Menilmontant und reichlich argot, deiger, unübersetzbarer Slang und Mädchen in Erwartungshaltung. Er war die Sorte von Machomann, die man in uralten französischen Filmen sieht: knappsitzender Anzug, Schlafzimmeraugen, weiß blitzende Zähne; er hatte ein mutiges und munteres Kapitel über diese Insekten geschrieben. Bei einer Vernissage gab ich ihm die Hand. »Warum hat er mir denn in die Handfläche gekratzt?« wollte ich von Max wissen. Und der lachte: »Vielleicht weil er gewöhnt ist, seine Flöhe zu kratzen.« Sprach’s und zog mich ans andere Ende des Raumes. Wer jung ist, ist draußen. Wer auf einem Dachboden wohnt, ist draußen. Das ist es, was Herauskommen bedeutet. Man hätte auch Ausgehen sagen können. Denn es ist ein Prozeß des Aus-sichherausgehens, ein unschuldiger, es ist das Bedürfnis, die anderen kennenzulernen. In unserem Fall das Bedürfnis, den zwei schrägen Kämmerchen zu entrinnen, den im Ofen verglühenden boulettes (Eierkohlen), die uns wärmten, dem Gaskocher, auf dem Freunde appetitliche Nationalgerichte zusammenbrauten, dem Kaltwasserbecken, das uns sauber hielt. Hinter dem Reichtum gesprungener Dachfenster und bröckelnder Wände, die dem spähenden Auge in jeder Ecke Leonardos Visionen in üppiger Auswahl bieten konnten, ausgenommen die von Pferden, Schlachten, Prozessionen, Landschaen, konnten wir Kinder der glorreichen Gegenwart andere Bilder wahrnehmen, die wie in Entwicklerflüssigkeit schwimmende Photos durch die blättern
de Oberfläche hervortraten: Ungeheuer aus dem Weltall, Bomben, Raketen, verwüstete Städte. Sind es doch immer die armen Poeten hinter ihren gebrechlichen Fassaden, die als erste dem Aufruhr, dem Umsturz zum Opfer fallen. Die sich durch ihr Ungewisses Leben schlagen in schiefen Häusern, in undichten Dachstuben, les mansardes, mit dem Wasserhahn am trübbraunen Treppenabsatz, in Kammern, die einst von den Dienstboten bewohnt worden sind und über viele steile Wendeltreppen erklommen werden müssen, zu denen auch das klebrige Geländer, die hoffnungslos ausgetretenen Stufen, die nackten Glühbirnen über den Türen gehören. Armer Poet, armer Tzara. Er stra seine Armut mit diesem Monokel Lügen. Wie sie alle hinter ihren elenden Wänden träumt er einen großen Traum, und vor seinem Donnergedicht stürzen alle Äußerlichkeiten in sich zusammen. In Zürich hat er Dada ins Leben gerufen. Nun hält Paris ihn versteckt, einen eingeschriebenen kommunistischen Schandfleck im dritten Stock eines muffigen Stiegenhauses. So jedenfalls habe ich es mir vorgestellt. Wir drückten den Klingelknopf, hörten es läuten. Die Tür ging auf und ein Mädchen in gekräuseltem Schwarzweiß wies uns den Weg in den Salon. Prachträume des achtzehnten Jahrhunderts, ganz ungewöhnlich hoch (ach, diese Treppen); die Strahlen der Wintersonne spielten mit den Kronleuchtern und warfen flimmernde lavendel-gelb-rosafarbene Reflexe auf den abgetretenen Serailteppich. Lange Fenster zu einem sepiabraunen Garten plauderten mit den kahlen Kronen alter Bäume. Eine Bibliothek aus Blättern: Hoch gestapelt Pamphlete und Traktate, Zeitschrien, Kataloge, Manuskripte, Kästen über Kästen, grau etikettiert, Alben, Zeitungen, Bücher – keine antiken, die interessierten ihn nicht –; und da, inmitten seiner Schätze wie in einem Nest aus Papier stand Tzara, wundervoller Tzara, genau wie
ich ihn mir gewünscht hatte. Seine Strickweste trug die Stopfstellen und Flecke eines Heldenlebens. Alles vom Dachstroh seines graumelierten Haars bis hinunter zur ausgebeulten Tweedhose schien mir ewig unveränderlich. Er trug kein Monokel, sondern eine Schildpattbrille. Hoch an den Wänden hingen afrikanische Schnitzereien neben Papuaspeeren, polynesischen Masken; eine Kollektion, die mit hellen Louis Seize-Stühlen und einem bronzebeschlagenen Schreibtisch in Harmonie lebte. »Le déjeuner est servi.« Wir setzten uns, nur wir drei, an einen runden Tisch, den phantastisches böhmisches Glas schmückte und der merkwürdigerweise in der großen Diele stand. Wir aßen Sardinen und tranken Wein, den die hübsche Soubrette servierte, und nach dem spartanischen Mahl betrachteten wir Mementos, Zeichnungen, Briefe, Gedichte auf liniertem Papier und einige der über und über bekritzelten Papiertischdecken. Es gab da für den emsigen Resteverwerter und Sammler ein bekanntes Rezept: Im Bistro nach fröhlichem Gelage, wenn die Gespräche, der Wein, das Gelächter, das Herumalbern zur Neige gingen, tauchten in einem bestimmten Moment wie aus dem Nichts Federhalter, Bleisti oder gar Buntstie auf. »Also los, Pablo, wie sah dieser dämliche Bulle aus, wie hat er mit dem Finger auf dich gezeigt?« Alle zeichneten, schrieben, signierten. »Du bist dran, Alberto – ha, seht mal! Porträt eines Penners.« Wenn die Rechnung bezahlt war (mit Riesengetöse), wenn Stühle zurückgeschoben, Mäntel angezogen wurden, gab es einen in dem bunten Gewusel, der sich rasch umdrehte, das »Tischtuch« abriß und die Zeichnungen, Signaturen und Kritzeleien sicher in seiner Tasche verwahrte, warum auch nicht, sie wären ja sonst im Mülleimer des Restaurants oder in der Tasche des Wirts gelandet. Tzaras geliebte Sammlung, was wird aus ihr werden?
Tzara, voll des grimmigen Witzes, konnte auch grausam sein. Ging doch ein Dichterkollege an dem Café vorbei, in dem er saß: »Ah, man cher ami, ich bin da auf ein seltenes Buch von Ihnen gestoßen, rarissime – alle Seiten waren aufgeschnitten.« (Die französischen Verleger überließen es meist ihren Lesern, die zu Büchern gebundenen Druckbögen an den Falzkanten aufzuschneiden.) Nun war sein Dada-Charme zur kommunistischen Faust geworden, und in Fuite, einem seiner eaterstücke, hörte ich den Darsteller sagen: »Lieber meine selbstgewählten Ketten als eine geschenkte Freiheit.« Max war nicht einverstanden. Es dauerte also nicht lange und wir merkten, daß das Paris links der Seine, wo sich für uns das ganze Leben abspielte, nach außen hin Sack und Asche trägt. Ein ewiger Karneval, in dem sich verkleiden und sich frei fühlen ein und dasselbe sind. So wie der Kalif von Bagdad sich in Bettlerlumpen hüllte, um sich unter sein Volk zu begeben, so tragen die Pariser Straßen ihre Uniform aus ärmlichen Grautönen, die sich zu Perle und Amethyst addieren, kostbar wie Patina. Das war es also. Sie alle wohnten hinter narbigen Wänden und schiefen Treppen. Der Lack der imitierten Holzmaserung überall, es roch muffig, aber besser als gar nichts. Angsterregende kleine Fahrstühle, in die man seinen Fatalismus und seine Ellenbogen hineinquetschte zu den anderen, den flotten Madames de, dem Monsieur le Préfet, der roten Komteß, dem stummen Museumsdirektor. »Pardon, madame.« »Oh là-là.« »Fünf! Sind wir nicht zu viele?« Einer beugt sich hinüber und schielt nach dem Schild. »Tragfähigkeit dreihundert Kilogramm«, liest er auf der Blechtafel. Allgemeines Gelächter bei den Damen, die natürlich alle ganz schlank sind. Wohlbehalten abgeliefert, werden wir in Räume geführt, die, so kam es meinen amerikanischen
Augen vor, sehr o an Versailles erinnerten. Einige Pariser lassen die spezifisch pariserische Neigung erkennen, sich nach der goldenen Zeit der Fürstenherrscha zurückzusehnen. Daß diese Zeit alles andere als golden war, hält solche Träumer nicht von ihren miefigen Spielchen ab. Aber das macht ja nichts. Sie sind meistens harmlos, nicht gefährlicher als Kinder, die am Strand Sandburgen bauen, die lieben Kleinen. Verblü ist man allerdings, wenn man gelegentlich einen Künstler mitspielen sieht. Was will er? Oder besser, was ist er? Seine Märchenwelt der Macht schmilzt die europäische Geschichte zu einer klebrigen Masse aus Titeln und Brokatschlafröcken zusammen. Er meint es todernst mit seiner vergoldeten Vergangenheit, in die er ein paar seiner Vorfahren plaziert, und mit der eigenen Vortrefflichkeit in der Gegenwart. Das alles funktioniert bewundernswert, vorausgesetzt, daß er seine vier Wände nicht verläßt. Und daß er gelernt hat, sich im Zaum zu halten, wenn er es doch tut. Ich habe solche Leute gar nicht selten bei Ausstellungseröffnungen und Empfängen erlebt. Sie sehen nichts. Und wenn sie etwas sehen, dann mit Widerwillen. Ein Maler, der eine erklärte Schwäche für kleine Mädchen hatte, fauchte einmal wie eine Katze, als Nabokovs Lolita, gerade neu in der Pariser Literaturszene, erwähnt wurde. »Ich fand das Buch abscheulich, Abscheulich. Dazu hat er kein Recht. Nur einem hochgeborenen Künstler sollte gestattet sein, dieses ema zu behandeln.« Unser Revier war natürlich Saint-Germain-des-Prés mit Ausläufern nach Montparnasse, wo eine andere Nostalgie das meist verbreitete Leiden ist. Es ist ausgeschlossen, an einem sonnigen Herbsttag über den Boulevard Montparnasse zu spazieren, ohne auf den Caféterrassen die verdrießlichen Geister früherer Immigranten sitzen zu sehen, in jene bestimmte glanzvolle Aura gehüllt, die nur zeitlicher Abstand verleihen kann. Alteingesessene Mont
parnos, Franzosen mit amerikanischem Nachgeschmack, hängen in den Korbsesseln, gesellige Gespenster voll der schnurrigen Geschichten, aber Gespenster allemal. Auch im Frühling wirkt die Gegend herbstlich mit ihrem bleichen neuen Grün, der noch bleicheren Sonne und irgendeinem gebrechlichen Überlebenden, der unbedingt über Hemingway oder Henry Miller oder Man Rays Kiki reden will. Stundenlang saß man am Tisch, ein vergessenes Glas Irgendwas zahlte für die Zeit. Zerlumpte Poeten tranken café-crèmes, um sich warm zu halten. Schwächliche Jünglinge mit explodiertem Haar schrieben in schmierige Kladden. Wenn sie aufschauten, was sie ziemlich o taten, sahen sie einen nicht. Und wenn sie dann die Augen wieder senkten, kritzelten ihre Bleistie selbstbewußt übers Papier. Manchmal leisteten ihnen Mädchen in dickem Make-up und dünner Jacke Gesellscha. Nach den Straßennamen zu urteilen befanden wir uns in einer Stadt der Heiligen, mit dem einen oder anderen Profanen dazwischen. Viel bespöttelt unter den Künstlern und Literaturfans war die rue Guillaume Apollinaire, gern zeigten sie einem das puppengroße Straßenstück, gesäumt von zwei massiven grauen Gebäuden ohne Hausnummern, ohne Haustüren, denn die lagen jeweils um die Ecke auf den zwei geschäigen Querstraßen. Auf der rue Guillaume Apollinaire konnte man gehen, aber nicht wohnen. Max meinte, Apollinaire hätte gelacht und seine Phantomstraße geliebt. Wie dem auch sei, er mußte sich in seiner Gru bald beruhigen. Das ema wurde in respektlosen Blättern wie Le Canard Enchaîné so gnadenlos aufgegriffen und ausgesponnen, daß die Stadtväter ein paar Jahre später, als niemand aufpaßte, zur Tat schritten; sie ließen in die Seitenfront ihres Gebäudes – es gehörte der Stadt – zwei Türöffnungen schlagen und auffallende Hausnummern zur Verschönerung anbringen.
Jetzt, im gemächlichen Schritt dieser Sommernacht, versagt mir das Gedächtnis seinen Dienst. Versuche es, versuche wenigstens, dich an einige der vierunddreißigmal dreihundertfünfundsechzig Nächte zu erinnern. Sie sind es, die man in Ehren halten muß. Versuche es, versuche dich an sie zu erinnern und an dieselbe Zahl dazugehöriger Tage, an Lichtgold und Mitternachtsblau, bevor alles schwarz wird. Denn man kann es nicht immer merken, wenn man im Orbit ist. Augenblicke ballen sich zu Jahren wie Schneebälle. Ich beobachte, wie sie uns umkreisen mit ihren Wirbeln und schwarzen Löchern, ihren Randnebeln, berühmten und unberühmten, sterblichen und wehmütig unsterblichen. Schon Winter. Wir sind am quai Saint-Michel in Zweifelshaltung erstarrt. Die gelbe Eissäule hängt immer noch an Nummer dreizehn. Und in der Touraine – sie wird der Garten Frankreichs genannt – werden wir bald in grünen Dunst eintauchen, um unsere zweite faulige Zisterne zu graben. Dazwischen unermeßliche Pausen, angefüllt mit Weiten vorbeiziehender Landschaen, Flüssen, Städten, Gebirgen, Kratern, Ruinen und Mauern, mit Tausenden von Mauern, geschichteten Steinen, Millionen von Steinen, die jeden umgrenzbaren Raum umgrenzen; bebauen und unbehauen, zerbröckelnd, zerbombt, restauriert, geschwärzt und klammheimlich geschwächt vom Kohlenmonoxyd, das der Steinzeit spottet, der gefährdeten Spezies. Ich bin das ideale Wachregister. Meine Augen, beutegierige Späher für Organe und Glieder, können nie genug bekommen vom Schauen. Hungrige Touristenaugen, die mir sagen: Sehen ist glauben. Vergangenheit ist überall, wohin ich mich auch wende, sie wird die Gegenwart verführen, wenn ich nicht aufpasse. Fresken erzählen unvergleichliche Geschichten, Tapisserien deuten Geschichte in Blau und Blut und Purpur. Eine Burg gießt ihr
anachronistisches Stirnrunzeln über das Motel mit Tankstelle zu ihren Füßen. Ohne scheppernde Rüstung, ohne müden, lahmen Gaul, ohne Läuse, schwärende Wunden bin ich vielleicht doch auf der Suche nach einem albernen Gral, so durchdrungen bin ich, so niedergeschmettert vom Augenschein, so plattgedrückt an der gemarterten Mauer. Überdies sind Wandteppiche vergänglich und können verblassen. Die Knüpfer im Kerker müssen das gewußt haben, als sie gegen die Zeit webten, um den Bann des Bösen zu brechen oder um ihren Hals zu retten in zugigen Steinkammern wie dieser hier in Angers. Diese Gobelins, zitternd im ewigen Schummerlicht, träumend und gleichgültig gegen die ständig wechselnden Augenpaare, die über sie hingleiten, während der Führer der Besichtigung sein schwammiges Geschwätz erdröhnen läßt, die apokalyptischen Szenen hier in verblichenen Blaus und Beiges haben ihr Feuer verloren. Doch ein Augenpaar, meins, verschwimmt bei ihrem Anblick. So alt. So verletzlich. So weit weg von ihrer versunkenen Glanzzeit. Es ist geradezu aufregend, über diese Vergänglichkeit nachzudenken. Jahrhunderte rücken heran und saugen dich ein, wenn du dort stehst; du bist Teil des Kreislaufs, für dich allein sind die mystischen Zeichen gesetzt; die Fanfare, dumpf, aber noch hörbar, sticht wie der Ellenbogen deines Nachbarn, der sich reckt, um etwas sehen zu können. Auf und ab im Zickzack, sein eigenes wirres Muster webend, schaukelte der deux chevaux, unser Schlachtroß. Aufgeschlagen auf meinem Schoß, wenn Max fuhr, lag als Gedankenfutter der Reiseführer, unverzichtbarer, leuchtend roter Begleiter der ängstlichen Reisenden, der jedes empfehlenswerte Hotel beschrieb mit kleinen Strichzeichnungen wie Badewanne, Toilette, Telephon, Bidet, mit Blumensternchen für besonders gute Küche. Monumente, Kirchen, Sehenswürdigkeiten aus Jahrhunderten der Geschichte waren zu
besichtigen – zwischen den Mahlzeiten. Denn unverkennbar waren es die Restaurants, denen die Faszination der Guide-Autoren galt, dieser erbarmungslosen Kompilatoren, die Bewirtungsunternehmen benoteten, so wie Schulmeister Prüfungsarbeiten der Schüler benoten, so daß bei der Autorität des Reiseführers und bei der Vorliebe der Franzosen für reichhaltiges und raffiniertes Essen auch das abgelegenste Dreisternehaus seine tägliche Quote andächtiger Genießer bekam. Diese »Tempel der Gastronomie« dure man nicht auf die leichte Schulter nehmen. Das Betreten eines solchen Speisesaals zur Essenszeit – man muß den starren Zeitschlitz beachten, in dem man abgefüttert werden kann – unterschied sich kaum vom Betreten einer der alten Kirchen auf der Route: dieselbe ehrfürchtige Stille, keiner lacht oder redet über Gemurmel hinaus, dieselben sanen, beseligten Kultdienste der Ministranten-Kellner, denen es schwerzufallen schien, nicht niederzuknien, wenn sie den Deckel von deiner mystischen Nahrung lüpen, la specialité de la maison, oder den rituellen Schluck Wein eingossen, damit monsieur probieren konnte (warum immer er?). Beim Zusammenfügen seiner anspruchslosen Zutaten nimmt der besternte Koch noch ein wenig dies, ein bißchen mehr das, eine Handvoll von jenem, einen Hauch von dem anderen, bis etwas entschieden Eigenartiges, aber Eßbares zubereitet und serviert worden ist. Damit hat er ein Geheimnis geschaffen, das er so sorgsam hütet, wie der alte Prager Alchimist seine Formel zum Goldmachen vor der Wißbegierde seiner Rivalen bewahrte. Es ist das Eßerlebnis, das über der Route aufragt. Autos werden von Restaurant zu Restaurant gelenkt, Häfen, die alle den Weg zum Mittelmeer weisen. Weiter fuhren wir, immer nach Süden bis auf ein paar kleine Abstecher – Tournus, Albi, Hauterives, wo der Postmann Cheval sein Traumschloß hinterlassen hat (vaut le détour, lohnt den Umweg, sagt das schlaue Reisebuch). Gewaltige Wolkendramen, stets
irgendwie ohne Lächeln oder regelrecht tragisch, füllten das Blickfeld und zermalmten die öden Küsten und faltigen Ebenen unter sich, uns blieb nur ein schmaler Saum Erde, um das Panorama in unserem Schwerkragefühl zu verankern. Die Losere, Frankreichs Steppe, reckte ihre steilen Berge, die hier und da eine Ruine trugen: ein steinernes, sturmgepeitschtes Gutshaus oder eine hohle Kapelle, von Gott und den Menschen verlassen, Inbegriff der Einsamkeit? Nein. Erde ist Erde, der Himmel ist gütig und dieses Landhaus kann wieder leben. Sicher könnten wir Fenster und Türen erneuern. Sie müßten natürlich blau gestrichen werden, passend zu klaren Tagen. Rauch würde aus den Kaminen aufsteigen. Bäume würden wachsen. Wir würden Wasser finden, bestimmt, man muß nur wollen … Drei oder vier Bäume auf der Windschattenseite. Ach, laß mich bleiben, laß mich hier wohnen! Ich bringe es wieder zum Atmen. Aber nein. Sieh dich um. Da ist es noch mit seinen heulenden Fensterlöchern, ganz klein jetzt und dann nur noch ein Fleck. Weiße Gipfel wie Papierhüte ragen links von uns auf, gehen in Blau über und dann in Grün, von grausam bis freundlich kommen sie zu uns herunter, um den gefährlichen Schwung der Straße zu umklammern, die auf der einen Seite den bodenlosen Abgrund zeigt und auf der anderen – sieh nur! – eine Hütte. Genug, um den Geist in Gebirgsträume zu wiegen, jede Kate lockt: Du da, komm her. Hier gibt es einen Kuchen zum Hineinbeißen und einen konvexen Spiegel. Und dann, jedesmal, kommt die Kurve, wir tauchen weg und verlieren sie aus den Augen mit einem Stich des Bedauerns, wie wenn man einen treuen Hund aussetzt. Gestern an einem Fluß baten mich die schwarzen Granitblöcke einer Wassermühle zu bleiben. Nimm mich. Südwärts kutschierend hielten wir eines Tages gegen Mittag in Saint-Martin-d’Ardèche an. Der übliche Dorfplatz, die gleichen
krummen Häuser, die Katze im weitoffenen Fenster, vier bärbeißige Boulespieler beim trägen Zeitlupenspiel, die Hosen an Hosenträgern und über den Knöcheln gekappt, die Patina der Baskenmütze, die buchstäblich klebt, ein integraler Bestandteil des Kopfes; wie immer läu ein eiliger, sichtlich einem Ziel zustrebender Hund über die Boulebahn, so daß der Spieler warten muß und seiner Konzentration ein müdes merde entringt. In jedem Ort dieselbe Szene, ein Filmklischee. Und immer geht das Klicken der stählernen Kugeln im ohrenbetäubenden Zikadengesirre unter. Die Platanen zeigen ihre knotigen Wurzeln und noch knotigeren Äste, die mit den knotigen, arthritischen, humpelnden Dörflern aufs beste harmonieren: den Omas und Opas und Großonkeln und ledigen Tanten der rastlosen Schönen und ehrgeizigen Jünglinge, die in die Großstadt gezogen sind. Was hier jung ist, sitzt unbeteiligt, leichtfüßig auf dem Sprung wie der Zugvogel. Vor dem Hotel unter grünem Blätterdach Mittagessen. »Tiens! C’est M’sieur Max!« staunt ein alter Kellner, der immer noch da ist. »Salut, M’sieur la gazette«, neckt Max, und mit gutem Grund. Denn der geschwätzige Alte setzt uns ins Bild: Der Gauner, der sich Max’ Haus unter den Nagel gerissen hat, damals in dem Durcheinander der Kriegszeit, als Max feindlicher Ausländer war, der sitzt jetzt hinter Gittern. Wegen dunkler Machenschaen, irgendwas mit Kuppelei in großem Stil. »Es ist immer noch Ihrs, M’sieur Max, Sie brauchen damit nur vor Gericht zu gehen.« Er weiß nicht, was so viele zu ihrer Befriedigung erfahren sollten: daß Max nicht vor Gericht geht. Für nichts auf der Welt. Wir klettern den steinigen Pfad hinauf, der dem Haus als Zuweg dient. Zuerst gefällt es mir nicht. Eine strenge Silhouette. Sieh mal an, das ist es also. Seine grauen Mauern haben etwas Grimmiges, Rauhes, sie sind schräg und durchlöchert von schmalen Fenstern wie Augen, es sieht eigentlich zu funktional aus für all die planlosen
Winkel und Anbauten, und in dem Stirnrunzeln, das es meinen Augen bietet, liegt ein Hinweis auf irgendeine alte Zweckbestimmung. Eine Mühle? Eine Ölpresse? Kein Mensch wohnt da. Bestimmt bewegten ihn an diesem Ort besondere Empfindungen, er wollte mir wohl nicht nur das Haus zeigen, sondern auch – versteckt zwar, nur durch ein Schweigen, einen seltsamen Wechsel des Tonfalls oder bloß einen diffusen Blick – einen Schimmer der Seelenverwirrung, die wie ein zusammengefaltetes Gespenst in ihm kauerte. Der Aufstieg zu seinem Haus (denn war es nicht noch und seit je, jetzt und für immer sein Haus?) war also ein schwerer Gang, eine gefährliche, verbissene Jagd auf Dämonen, denen er Auge in Auge entgegentreten wollte. Oh, in Wahrheit war er für mich bestimmt, der ganze Abstecher. Um mir das Haus zu zeigen, einen unbeschreiblich wunderbaren Ort, wie ich bald sehen sollte. Erwartet hatte ich etwas postkartenha Pittoreskes, dazu selbstverständlich die üppige Natur des Olivenhains und des Weinbergs, ein paar Schafe am Abhang; darauf war ich vorbereitet. Nicht aber auf die beherrschende Existenz seiner Totems. Max’ Totems aus Zement, Eisen, Gips. Von jeder Brüstung, jeder Treppenstufe, jedem Türsims, jedem Mäuerchen beugten sie sich über mich wie ein Stammesrat, der mich prüe und, das fühlte ich, zu meinen Ungunsten entschied. (Ich bin hier. Dies ist keine Geschichte.) Wir nähern uns dem Hause, stumm bis auf den Austausch von bonjours mit zwei Bengeln, die vor dem Eingang spielen und den Abhang hinunterlaufen, während wir einen Gartenraum betreten, fast unter dem Haus, im Souterrain. Innen ist er ein Steingewölbe, erfüllt vom üblichen Schimmelgeruch, der ganz plötzlich Teil eines seltsam traumhaen Augenblicks ist, als ich am anderen Ende des Raums einen dichten, hohen Wald erblicke, schwarz in der schummrigen Höhle, wo es jetzt ganz still ist, die Kinderstimmen sind weg, sogar die Zikaden haben ihr ewiges Gezirpe gerade ein
mal eingestellt, wie sie das ja manchmal tun. »Da«, sagt Max mit der Andeutung einer Geste. Er wendet sich ab und ich gehe näher heran. Erst jetzt zeigt mir das Bild seinen zerfetzten Rand, der sich von der Wand löst. Ich ziehe, nur ein bißchen. Die Leinwand haet an meiner Hand. Ich gehorche einem sozusagen gerechtfertigten Impuls, der nicht zu fragen braucht: aufsteigende Wut packt mich beim Anblick der Farbflocken am Boden, energisch, entschlossen ziehe ich und rolle ein, während er zusieht und nichts sagt, gar nichts, als ich das Bild schließlich – nein, nicht schließlich, sondern sogleich zusammengerollt im Griff habe und den Pfad hinunterlaufe, wo Max mich einholt und sagt, daß es sowieso zu spät ist, die Farbschicht noch zu retten. Aber seine Stimme ist zerhackt, geht im Gebrüll der Kreissäge eines Nachbarn unter, während ein kläffender Hund, den ich irgendwo an der Kette gesehen habe, halb droht, halb weint und eine rasche Folge warmer Windböen an meiner verrückten Last zerrt, mich beinahe umwir und Max’ weißes Haar durcheinanderbläst. Das Ende der Geschichte ist in wenigen Worten erzählt: Zwei Jahre lang wartete das Bild in Freund Georges Château im windigen Ucel. Dann, als in Huismes Atelierraum bereit war (), bekam es einen neuen Rücken und wurde heimgebracht, wo Max seinen Wald in einer Saison vollkommen neu malte, mit Vögeln in verwirrendem Federkleid bevölkerte und einen wässrigen Mond auf seine Bahn über den Bäumen schickte. War es der Schwarzwald seiner deutschen Kindheit? Oder die überwältigende Erinnerung an den amerikanischen Nordwesten? Woran immer es lag, Ein Augenblick der Ruhe war wahrer denn je. »Da ist es«, sagte er und trat zurück. »Es gehört dir.« Ein denkwürdiger, ein makelloser Moment.
-… Ein Jahr Frankreich oder zwei wechseln sich ab mit verzweifelten Reisen nach Arizona. Einmal beim üppigen Mäandern durch den amerikanischen Regenbogen, der sich über die Staaten wölbt (wir arbeiteten jedesmal eine andere Fahrtroute aus), standen wir an einer zugigen Kreuzung in der Wüste Neumexikos. Ein Wegweiser besagte: ACOMA, Indian Pueblo, siebenundvierzig Meilen. Wollen wir? Ja, wir wollten. Es waren langsame Meilen, gespickt mit Buckeln und Löchern, die Oberfläche eines Waschbretts, wenn man es überhaupt Oberfläche nennen konnte, wie sie für alle Straßen in Indianerreservaten typisch ist und auch von den robustesten Fahrzeugen kaum ohne Stöhnen und Keuchen bewältigt wird. Leichtsinnige Reisende in weich federnden Stadtautos lenken ihr elegantes Gefährt über eine Spur in Stein und Geröll. Und wenn man dann da ist in Acoma, hoch, hoch oben auf einem geisterhaen Tafelberg, dann kocht der Kühler, dann scheint die Sonne schräg aus einer anderen Richtung, und dann hat man irgendwie den Kontakt zu seinem Planeten verloren. »Das erste, was wir sahen, war eine Kirche«, sagte Max später. Stimmt. Sie beherrschte den Ort, sie erhob sich auf der leeren ebenen Lichtung im vollen Sonnenschein wie eine brennende Kerze. Es gab kein Anzeichen von Leben, nicht das kleinste. Max, der Kameralose, hätte jetzt doch gern eine gehabt. Ungläubig staunend stand er da. »Stell dir das vor! Eine katholische Kirche in einem Pueblo!« Während wir das Bild in uns aufnahmen, den rohen Lehm der Häuser, den rosa Glockenturm, den leeren Platz, kam ein Priester in schwarzer Soutane in Begleitung eines kleinen Jungen aus der Kirche. Einen Augenblick blieben sie stehen und sprachen miteinander, dann trennten sie sich und das Kind lief auf uns zu. »Hallo«, sagte Max. »Ich wußte gar nicht, daß ihr hier Christen seid.«
»Oh nein«, sagte der Junge, »sind wir nicht. Wir sind Katholiken. Die da drüben«, er wies nach Westen auf einen benachbarten Tafelberg, »das sind Christen, sie tanzen ohne Masken. Wir hier tanzen mit Masken. Wir sind Katholiken.« Er lächelte plötzlich. »Wollen Sie einen Tanz sehen?« »Oh ja!« »Das macht einen Dollar.« Er sagte es mit der Miene des seriösen Geschäsmanns. Ob es denn tatsächlich einen Tanz gäbe? Jetzt? »Ja, ja, sie machen sich gerade fertig im kiva.« Und richtig, bald füllte sich der Platz mit den Maskentänzern und den Männern ihres Stammes. Aus den Lehmhäusern ergossen sich Hunde, stumme Mütter, Kinder, Alte und Lahme heraus auf die staubige Agora. Und in den letzten Flammen eines herrlichen Sonnenuntergangs sahen wir einem Tanz zu, der, wie Max meinte, weder christlich noch katholisch war. Die Ozeandampfer, die uns über den Atlantik trugen – vier, sechs, sieben Mal – , verschwimmen alle zu einem. Immer zurück zu dem kleinen Haus, immer wieder weg in Erwartung der Gnade. Jedesmal kletterten wir, vornüber gegen die schräge Rampe geneigt, in höchstmöglicher Aufregung die Gangway hinauf (welche andere Art des Reisens kann sich mit der Einschiffung auf einem Ozeandampfer messen?), und wir schüttelten dabei alles ab, was unseren Frieden bedrohte, wir wußten, das köstliche Hier und Jetzt hieß Auslaufen. Sechs Tage lang schaukelten wir dahin, außer Reichweite für Freund und Feind. Die Zeit war eine Ewigkeit des großen Faulenzens, rund wie ein Ball in Schaum und Gischt, immer vor uns und hinter uns, ein gutmütiges Wassertier, vor dem man sich schließlich nicht fürchten mußte. Ihm war es gleich, wie lange man für den nächsten Schachzug brauchte. Bis, unmerklich und höchst wundersam, die Ewigkeit sich im Dunst verlor und der Tag der Landung da war, der eine Euphorie anderer Art brachte,
andere Ewigkeiten, die uns unter ihre Fittiche nahmen und dafür ihren Preis verlangten. Der Sommer in Paris ist häufig verregnet; der Herbst rückt heran, noch während man auf la canicule wartet, die Hitzewelle, die wieder einmal ausbleibt. Der amerikanische Sommer mit wellenschlagenden Temperaturen und einer hämmernden Sonne ist nicht zu erwarten in diesen eher nördlichen Breiten, wo man nicht unter den Achseln schwitzt und auch nie den Pullover zu Hause läßt. Immerhin, ein schöner Sommer bringt so wonnig blau-goldene Tage, daß man im Freien sein muß und nirgendwo sonst. Es war ein solcher Tag, als ich an der place Saint-Michel in den Bus stieg. Unter dem Arm trug ich ein kleines flaches Päckchen, ein Bild – einen Forêt von Max, den ich mir seit langem rahmen lassen wollte; nun war es soweit. Der Bus rumpelte, schlingerte, hüpe, und an der place Saint-Germain-des-Prés setzte er mich ab. Es war einer der Tage, an denen der Sommer noch auf den Dachfirsten balancierte, noch nicht ganz herunterkam, um uns zu wärmen, und ich hastete die Straße hinunter, bis mein Herz plötzlich stillstand, sich total umstülpte, daß es meine Brust erschütterte und ich wie angewurzelt stehenblieb. Das Päckchen war im Bus geblieben, allein auf dem Sitz. Wie lange wohl? Ich sah dem blöden Ungetüm nach, das davonbrummte, die rue de Rennes hinauf, und keinerlei Interesse zeigte für mein Päckchen und für mich, die da stocksteif auf der Straße stand im Gewimmel der Menschen, von denen ich keinen kannte. Hinterherfahren, mit dem nächsten Bus, der wahrscheinlich in irgendeine idiotische Richtung abdrehen würde, wie von Bussen ja verlangt wird. Melde es. Aber wem? Wo? Wie findet man die Telephonnummer? Und was nützt es? Irgendeiner würde mein Bild mitnehmen, hatte es schon mitgenommen, ein Päckchen ist immer aufregend, wir kannten das ja, ein Geheimnis, ein Glückstreffer, wer weiß? Ganz
vergeblich jagten sich die Gedanken, genau wie das geköpe Huhn oder der an Land gezogene Fisch noch eine Weile sinnlos zappeln, bevor sie aufgeben. Außerdem sah der entschwindende Bus jetzt geradezu schuldbewußt aus, er rannte sozusagen davon mit meinem Päckchen, und seine bloßen Umrisse waren die Silhouette eines plumpen Diebes. Es machte mich krank wie eine schlechte Nachricht vom Arzt. Das eine stand scheußlich fest: Mein kleiner Wald war nicht mehr meiner. Max war so froh gewesen an dem Tag, als er ihn mir gab, es war ein sonniger Moment, wie er nur in der Aufregung des Schenkens möglich ist. Oh, keine Panik. Oh Gott. Wahrscheinlich bin ich weitergelaufen, wahrscheinlich ist der Tag vorbeigegangen, doch nicht ganz so blau, nicht ganz so golden, seine Farben dunkelten und ein Loch tat sich auf, durch das ich einen kleinen Phantomwald sah, über den man am Abend wohl reden müßte, eine häßliche Beichte. Unangenehm, sicher, ein Abend voller Verachtung und Abscheu, warum nicht? Wie hätte ich anderes erwarten können? Wie ihm nicht recht geben? In den Schaufenstern sah ich mich eindimensional, flach, als substanzloses Geflimmer stümperhaen Versagens. Wieder etwas falsch gemacht. Unwiederbringlich. Oder könnte es anders sein? Ja, es war anders. An diesem Abend legte er Le Monde beiseite und hörte schweigend zu. Dann, nach einer Pause, ganz und gar nicht erregt von der unerfreulichen Neuigkeit, sagte er freundlich und ganz leichthin: »Macht nichts. Ich mach’ dir ein neues.« Bald darauf Venedig. Die Unvergleichliche. Der bloße Name ist schon genug, wie eine Maske über einem Lächeln. Es ist ein Wort wie Brüsseler Spitzen, es verspricht dem, der dorthin fährt, sicheren Lohn, ja, den einzigen Ort auf Erden, der absolut vorhersehbar ist. Hier hinter herzergreifenden Fassaden, deren verschleierte
Spiegelbilder im schmutzigen Kanal flattern wie zarte, zum Trocknen aufgehängte Altartücher, liegen alle Geheimnisse, die man sich wünschen kann. Hier ist Dreckwasser schön. Hier sind alle Räume edel, und die Würmer in den Wänden haben keine höhere Arbeitsmoral als die Gondolieri. Sie warten, während wir laufen. Natürlich glaubt man nicht wirklich an die Menschen oder die Hunde und Katzen, die hineingesetzt werden wie die winzigen Püppchen, mit denen Architekten in ihren Modellen die Proportionen veranschaulichen, denn die wirklichen Venezianer drängeln sich auf den Carpaccios in den Museen und versprechen, bald (heute abend?) aus ihren langen Ferien heimzukehren. Es war die Biennale in Venedig, damals noch ein Ereignis. Man wies uns ein fürstliches Hotelzimmer zu, goldene Stühle, ein Bett von königlicher Wucht, ein ulkiges Telephon, Seidentapeten. Unsere beiden Hunde waren nicht sonderlich beeindruckt, sie waren mit dem Menue beschäigt. Am zweiten Tag machte der Ober an der Tür Vorschläge. Aber ich sagte nein, er möge doch bitte Mohrrüben, Reis und Fleisch bringen. Genau das wollten sie. Hunde halten nichts von Abwechslung in dieser Beziehung. Doch der Kellner zog die Augenbrauen hoch und sagte: »Aber gnädige Frau, Mohrrüben hatten sie doch gestern!« Schamloses Besichtigen, Museen und Paläste, Straßen, Kanäle. Bei der Rückkehr ins Hotel ein Telegramm: »Max Ernst – Sie haben ersten Preis für Malerei erhalten (Arp für Skulptur, Miro für Graphik). Bitten Sie zum Giardini morgen elf Uhr.« Am nächsten Vormittag gelangen wir ans Tor, das von zwei prachtvollen bersaglierí in Weiß und Gold bewacht wird; sie halten uns an. Oh, Max! Er hat sein Telegramm vergessen. Er wühlt in seinen Taschen, ein Schlüsselkettchen in Gestalt einer Eule fällt auf den sandigen Weg. Während er es auebt, versucht er erfolglos, sich den prächtigen Wächtern verständlich zu machen, doch
Italienisch ist eine Sprache, mit der keiner von uns umgehen kann. Gesten. »Aber wir sind doch eingeladen«, mit dem Zeigefinger auf die ferne Versammlung. »Wir haben es vergessen. Ich habe es im Hotel liegengelassen. Danieli. Hotel Danieli.« Hier ein paar schnelle, unverständliche Worte des Wachsoldaten mit abweisendem Kopfschütteln und einem Zeigefinger in Richtung Stadt. »Aber es ist zu spät, noch einmal zurück zu gehen. Hören Sie nicht, die Feierstunde hat schon angefangen.« Wir hören von fern den Applaus, die Lautsprecher. Unerbittlich, der schöne bersagliere. Ein letzter Versuch: »Ma sono primo premio«, (»Aber ich bin erster Preis«) fleht Max und tippt sich an die Brust. Der hübsche Soldat reißt die Augen auf. Einen kurzen Moment lang starrt er ihn an, während er diese stammelnde Mitteilung verarbeitet. Dann tritt er beiseite zu seinem Kameraden, wo wir ihn nicht hören können. Aber wir sehen seine nur allzu deutlichen Gesten: Die rechte Hand erhoben, der Zeigefinger an der Schläfe in kreisender Bewegung. Primo premio, formen seine verächtlich geschürzten, schnurrbärtigen Lippen, und sein Gefährte verdreht die Augen gen Himmel. Stirnrunzelnd kommt er zurück, um uns hinauszubegleiten. So haben wir uns schließlich doch nicht im Ruhm gesonnt, in Max’ primo premio. Er hat ihn nicht einmal mehr erwähnt, höchstens in Gelächter, während wir uns statt dessen in Venedigs älteren Ruhm vertieen und im düsteren Mittelschiff einer kühlen Kirche mit zusammengekniffenen Augen nach den großen, schattenhaen Tintorettos spähten, die wir liebten, ohne sie recht zu erkennen – für uns hätten sie ebensogut Fälschungen sein können, das hätte auch nichts ausgemacht. Nicht an diesem Tage. Denn die Umstände und der Augenblick vereinten sich, fanden wir, zu einer Verzauberung, die das, was da im Giardini unter feuchtschwüler Sonne leierte, bei weitem übertraf. Einige, die dort gewesen wa
ren, erzählten uns später, daß die Namen der Preisträger gar nicht genannt worden waren, sie hätten wohl nur gestört bei der Erhabenheit der Ansprachen, die nicht die moderne Kunst, sondern die eigene Stadt feierten. Der erste Amerikaner, dem der große Preis zuteil geworden war. Das hatte zwei praktische Konsequenzen: Den Bann (den Ausschluß) aus der surrealistischen Enklave durch Breton und seine neuen Freunde wegen dieser Unterwerfung. Und das Geld für ein Bauernhaus in der Touraine. Allerdings – Amerikaner leider nicht mehr lange. Noch einmal sind wir in Arizona. Noch einmal setzen wir uns mit Rechtsanwälten auseinander und schreiben liebreizende Briefe an Kongreßabgeordnete, sie möchten doch bitte einsehen, welch grotesker Fehler der McCarran-Act sei. Es war die McCarthy-Zeit, Max war naturalisierter Amerikaner, also gewissermaßen Bürger zweiter Klasse und jedenfalls nicht wie wir anderen befugt, sich im Ausland aufzuhalten. Der Refrain war ihm recht geläufig, in drei Sprachen war er ihm bisher gesungen worden, immer mißtönend. Wir wußten, daß Empörung fruchtlos bleiben, daß aber Geduld gewiß belohnt werden müßte, und unsere Hoffnung stieg. Hatten wir nicht einen phantastischen Anwalt, der uns buchstäblich sein Wort gegeben hatte? War nicht bereits eine Ausnahme gemacht worden für von Stroheim, den Filmregisseur? Dure nicht ein Künstler, ein primo premio, gleiches erwarten? Nach sechzehn demütigenden Monaten schrecklicher Mühen, Fahrten nach Phoenix, knapp werdenden Geldes mußte ein Entschluß gefaßt werden. Die Bilder fanden nicht genügend Käufer, um uns zu ernähren. Und so verschenkten wir unser buckliges Häuschen, von Max’ Händen erbaut, und kehrten zurück zu den Pariser Pflichten. Das war im Frühjahr . Geld. Eine ganz neue Annehmlichkeit nach dem Ereignis von Venedig. Es begann hereinzukommen, wie es so schön heißt, und
Max gewöhnte sich schnell daran, mit behaglich gebauschten Taschen herumzulaufen (französische Geldscheine sind groß wie Fahnen, geschmackvoll bunt und sperrig). So mancher Tag sah ihn am Kopfende üppiger Tafeln in Dreisternerestaurants, wo er mit dem fröhlichen neuen Geld seine weniger glücklichen Busenfreunde, bons vivants alle, zu diesen monströsen Feinschmeckerdiners einlud, die vier Stunden dauern und Worte und Weine in Strömen fließen lassen. Schließlich ist es Zeit, die Rechnung zu bezahlen. Er grei in einer hinteren Hosentasche nach einem Bündel zerknüllter Scheine, wobei ein paar davon zu Boden segeln wie trockene Blätter. Er pellt einen ab und stop die übrigen wieder in die Hütasche, alles ganz langsam, geistesabwesend, vielleicht erzählt er dabei auch die Anekdote zu Ende, während die convives sich von den Stühlen aufrappeln, lachend und durcheinanderschwatzend. Und nun geschieht es, daß der Kellner hinter ihm herläu, mit rotem Gesicht, stolz auf seine blitzblanke Ehrlichkeit, einen Geldschein schwenkend. »M’sieur Max! Das ist Ihnen ‘runtergefallen. Lag unter’m Tisch.« Max dreht sich um, wortlos, ärgerlich, verdrossen. Nimmt das Ding mit einer achtlosen Geste des Widerwillens und der Gleichgültigkeit entgegen, die zu verstehen gibt: Warum muß mir der Idiot den Spaß verderben? Stellt mich bloß. Bringt mich in Verlegenheit, macht mich lächerlich. Ich hasse das. Niemand läßt sich gern dabei ertappen, daß er etwas Falsches tut. Ich glaube, ihm waren weniger beflissene, ja, weniger ehrliche Kellner lieber, denn mehr als einmal ging auf diese Weise die gute Laune kaputt, wenn auch nur für einen Augenblick. Ein Geldschein auf dem Fußboden hat etwas schrecklich Ernüchterndes. Einmal im Laufe unseres Adressenspiels kauen wir eine Wohnung, ein Pariser pied-à-terre, das in Wirklichkeit im ersten (ober
sten) Stock eines kleinen Hauses im fünfzehnten arondissement lag, einem höchst uneleganten Viertel. Max lugte in den Speicher hinein, eine Art Kriechgang. Ob er den auch kaufen könnte? »Sie können ihn dazu haben«, war die verblüffende Antwort. Also machten wir uns ans Werk, ein Atelier sollte daraus werden; Architekt, Installateure, Zimmerleute, die üblichen Rechnungen, der gewohnte Kampf, um den Bauleiter im Auge zu behalten. Aber oho, es lohnte sich: An der Nordseite hob sich das Dach und ließ Licht herein; glatter, heller Fußboden, Sitzkommoden unter der Dachschräge. Ein richtiges Atelier, über unsere eigene Treppe erreichbar, wo Max bald an der Arbeit war, als könnte nichts geschehen, was den steten Strom der Heiterkeit unterbräche. Es dauerte jedoch nicht lange, und die Kehrseite der Heiterkeit erfüllte unsere Laube erst mit Unbehagen, dann mit Qual. Wir hörten es eines Nachts, als wir früh um halb fünf aufwachten – das Getrappel von Pferdehufen draußen auf dem Pflaster der rue Dutot. Es kam immer um die gleiche Stunde: Das helle, rhythmische Klack-Klack riß mich aus dem Schlaf, ich hörte mit peinigender Deutlichkeit die vergnügten Schritte ungesehener Pferde, die gehorsam und nichtsahnend durch die in Stille versunkenen, schlafenden Straßen trabten, atmend in der scharfen Morgenlu und leise schnaubend, vielleicht gefiel ihnen der kecke Klang ihrer Hufe auf den Pflastersteinen bei ihrem Gang zum Schlachthaus eine kleine Meile weiter. Wieder und wieder sagte ich mir, daß sie nichts ahnten von ihrem Los. Aber wie sollte ich es ertragen? Bis eines Tages die Lösung kam in Gestalt zweier Herren, die an die Tür klopen und mich zu Boden schickten mit der Mitteilung, wir hätten sechs Monate Zeit zum Ausziehen. Oh doch, das Haus stünde auf der Abbruchliste. »Aber das kann nicht sein! Es gehört doch uns«, erklärte ich ihnen. »Madame, Sie müssen es gewußt haben. Alle Eigentümer sind benachrichtigt worden. Wiederholt.
Sehen Sie, hier ist der Erlaß. Der Sektor steht seit acht Jahren auf dem Abrißplan.« Eine niederschmetternde Eröffnung. Es war ein Jahr nach les travaux, unserem Umbau. Erschüttert, aber unbesiegt zogen wir aufs Land, wo neue travaux auf uns warteten.
7. Ein neuer Garten
H
uismes, Departement Indre-et-Loire, liegt in der Touraine und wird seit langem »der Garten Frankreichs« genannt. Cremefarbener Stein tüpfelt das grün-grüne Reich alter Könige und moderner Amerikaner, von denen zwei uns hinführten zu diesem Haus ganz in der Nähe unseres Freundes Alexander Calder. Wir richteten es her, ließen sanitäre Einrichtungen einbauen; wir kratzten und gipsten, erneuerten Fenster, Treppen, Heizungen, Tapeten, den Garten. In dieses Haus, das wir Le Pin Perdu, die Verlorene Pinie nannten (Le Pin hieß es vorher, aber eine Pinie war nicht zu sehen), kam alles, was wir besaßen. Unsere Träume und Ticks hatten sechstausend Meilen weit Wasser und Land überquert, und neue gesellten sich hier dazu. Die Häuser, die wir geschaffen haben! Die wir ausgepolstert, ausgelegt, ausstaffiert haben! Die Flohmärkte, von denen wir gezehrt haben, die Antiquitätenmessen, all der brocante (Trödel), nicht alt genug, bloß zu alt. Jedesmal im guten Glauben, es sei das letzte Mal, und jedesmal doch wieder weiterziehend mit einem wachsenden Berg von Zeug trotz schmerzlicher Verluste. Sie stutzen, ja amputieren unsere Geschichte. Briefe, Photographien, Bücher, Gegenstände, auch Dokumente, große und kleine Dinge, wertvoll wie der Atem – unmöglich, ein Leben ohne sie –, ziehen mit mir und den Betten und den Pfannen von Haus zu Haus wie eine Flasche Sauerstoff, die bessere Tage gesehen hat. So deutet der Schwund bei jedem Auruch (das Photo da, warum hat es nur ein Auge, das wie ein zugiger Tunnel blickt?) auf Verluste hin. Jedesmal geht etwas verloren, nicht viel, wird ein
gesogen in die unbekannte Leere, der du Teile deines unbekümmerten Lebens willig anvertraust, doch ohne sie ist dein Gedächtnis tief verstört und unvollkommen. Denn auch das Skelett kann sein Schlüsselbein verlieren wie den Schlüssel fürs letzte Haus, und auf welche Knochen kannst du deine Torheit dann hängen? Etwas später hatte ich vergessen, was ich nicht mehr besaß. In Huismes, ganz unten am anderen Ende des Gartens, wo sich der Himmel die Herrscha über ein schattenloses Stückchen Erde bewahrte, bauten wir ein Gewächshaus zum Schutz der Toplumen während der langen Winterzeiten und um Salat und Tomaten und Basilikum frühzeitig auf den Weg zu bringen (wir haben unseren Nachbarn, Monsieur Blondeau, um mindestens drei Wochen geschlagen). In diesem Gewächshaus kramte und werkelte unser netter alter Gärtner, Monsieur D. mit schiefer Baskenmütze, gestutztem Schnurrbart und Holzpantinen, und immer trug er eine Strickjacke, gefertigt von den emsigen Nadeln seiner unsichtbaren Madame D. – nicht ein einziges Mal in all den Jahren, die er bei uns war, bekamen wir seine Frau zu Gesicht, und das aus gutem Grund. Denn als wir eines milden Mainachmittags unerwartet aus der Stadt heimkamen und geraume Zeit am Tor geklingelt hatten, öffnete uns eine glutrote Yvette, unsere Haushälterin, und im selben Moment sahen wir auch Monsieur D. der, an seiner verbeulten Cordhose nestelnd, aus unserem Parterreschlafzimmer am hinteren Ende des Hauses entwich. Yvette also gehörten die Stricknadeln und auch die milden Mainachmittage. Und wir hatten immer vom alten Monsieur D. geredet! Achtzehn Jahre lang hielt diese Yvette unser tägliches Leben zusammen. Früh verwitwet, hatte sie aus dem Nichts vier Töchter großgezogen. Aus dem Nichts, mit Fabrikarbeit, von der Hand in den Mund. Bis eines trüben Tages ihr Arbeitgeber verschwand und mit ihm die Löhne der letzten drei Monate. Und so erbten wir
Yvette. Was sie achtzehn Jahre lang getan hat, ist eine Litanei, die niemanden mehr interessieren düre. Aber ich denke daran, wie sie aus dem Garten kam, die Arme voller Blumen, an ihr dünnes Stimmchen, das so gar nicht zu ihrem kompakten Körper paßte, wenn sie unsere Komplimente entgegennahm: »Oui, on dirait de fausses fleurs« (»Ja, man könnte sie glatt für Wachsblumen halten«). Oder wenn sie von ihrem Bruder erzählte, der einen Hund so lebensecht gezeichnet hätte, daß »man denkt, jetzt fängt er gleich an zu sprechen«. Sie machte mit bei unseren Albernheiten – manchmal versammelten wir uns wild kostümiert und unkenntlich zum Abendessen –, tauchte mit uns in die Korbtruhe voll Lumpen und Strandgut, um mit den Farben unseres Abends hervorzukommen. Ausstaffiert mit Feuerwehrhelm und schwarzem Spitzenschlüpfer servierte Yvette, diese schwer arbeitende Frau, aufmerksam und routiniert das Ragout. Ich sehe sie auf ihrer mobylette (einem Fahrrad mit Hilfsmotor) den Abhang hinunterhoppeln – die breite Rundung ihres geschnürten Hinterns bildete seltsamerweise nur eine feste, imposante Backe und ruhte, man sah es genau, bequem auf dem kleinen Dreieck des Sattels, unter dem ein langes Stangenbrot festgebunden war – ein Anblick, der bedrückte oder amüsierte, je nachdem, wer ihr nachschaute. Es war ein atemberaubender Tag, als Yvette beim Preisausschreiben einer Bauernzeitung ein Solex-Moped gewann. Die Preisfrage: Erraten Sie das genaue Alter dieses Hundes (verwuscheltes Foto). Ich sehe die beiden vor mir, über ihren Wachstuchtisch gebeugt. Es ist Abend. Monsieur D. streitet für seinen Tip, und dann, als sie einig geworden sind und alles geklärt ist, verrät er ihr, seiner Herzensdame, seine erste Lösung. Denn er hat schon eine eingeschickt, auf seinen Namen. Nun warten beide. Die Bauern ganz Frankreichs warten; jeder paysan hat geraten, wie alt der Hund sein
könnte. Dann ein Telegramm für Yvette. Oh Wunder! Sie hat den ersten Preis gewonnen, sie bekommt die Solex. Und ganz unglaublich, er, Monsieur D. gewinnt den Zweiten Preis, eine Schrotflinte. Als die Aufregung sich gelegt hat, fragt er, ob sie, Yvette, nicht tauschen wolle? Die Solex gegen die Flinte? Schließlich hätte sie doch schon ein Moped? Ah, non! Bestimmt nicht! Er war sozusagen ein Intellektueller, ein Denker, dieser Monsieur D.; er las den Canard Enchaîne, aber er behielt seine Gedanken und Meinungen für sich. Ja, er war alles andere als ein cassepied oder Schwätzer. Er rollte seine Schubkarre voll Mist das Mittelschiff unseres Gartenpfades hinab, als böte er Lilien dar für die Weihe am Altar. An Regentagen blieb er im Gewächshaus, diesem Brutkasten des Optimismus voll des grün-summenden Lebens wie die Ufer eines Teiches. Rührend war es im März, die Keimlinge in ihren Kisten zu sehen, die herausdrängten, die erst ihre bleichen, gekrümmten Hälse zeigten wie winzige Torbögen und am nächsten Tag den Kopf ganz aus dem geheimnisvollen Humus zogen. Max wünschte sich Kapuzinerkresse, die Glücksblumen, glücklich zu blühen, glücklich, sich im Salat essen zu lassen. Aber ihr gläsernes Gefängnis, wie so manches Gefängnis, wucherte nur zu bald außer Rand und Band. April, Mai. Im Juni war es Monsieur D schon fast unmöglich, zur Tür hereinzukommen, so erstickend war die ungezügelte Vegetation, die unbarmherzig verlangte, ins Freie gesetzt zu werden. Das Chlorophyll war überwältigend. Vertrocknete Töpfe begannen sich an den Außenwänden ringsum aufzureihen wie Abfalleimer, die nur auf Unsichtbarkeit hoen, auf Vergessen warteten. Kompost, erklärte er uns, das alles ergäbe guten Kompost. Verpflanzen könne er jetzt nicht, es hätte zu viel geregnet. Oder es hätte nicht genug geregnet und der Boden sei hart. Mit einem von beiden war immer zu rechnen. Wie der Zauberlehrling fing Monsieur D. jedes Jahr etwas an, womit er am Ende nicht fertig wurde.
Wir respektierten seine Gedankenwelt, was sonst hätten wir tun können im Angesicht einer solchen Würde, solcher Rätselhaigkeit? Yvette war es, die das Bild zusammenfügte, sie, deren Bruder in Gott weiß welches Konzentrationslager verschleppt worden war, zusammen mit den übrigen kräigen Männern von Huismes, Widerständler sie alle, die auf Nimmerwiedersehen verschwanden. Denunziert hatte sie ein schmieriger Kollaborateur, ein Mann mit »de« im Namen, der grand bourgeois des Ortes. Sie erzählte das Ganze mit tödlicher Schlichtheit. Der Collabo war immer noch da, oben in seinem vergammelten Herrenhaus, er wirtschaete ganz allein, betonte sie, weil für ihn natürlich keiner arbeiten würde. Nach dem Sieg der Alliierten hatte man ihn wie eine Ratte aus seinem ummauerten Garten gezerrt und zum Marktplatz geschleppt, um Gericht über ihn zu halten und ihn zu erschießen. Yvette seufzt. »Aber als es dann soweit war, na ja, da mochte keiner das Gewehr nehmen. Wir waren alle versammelt, vielleicht hundert Witwen und alte Leute. Keiner von uns wollte derjenige sein. Also lebt er weiter da oben in seinem Haus.« »Et il y a même ceux qui lui disent bonjour.« (»Und es gibt sogar welche, die mit ihm reden.«) Leistet man sich den einen oder anderen kleinen Luxus, kann alles in allem ein bescheidenes Leben großartig sein: man läßt sich einen Tag Zeit für die Antwort auf einen Brief oder gar mehrere; man sagt einfach: ich bin nicht da; man erzählt seine besten Einfälle dem Hund; man weint nur so zum Spaß. Was auch passieren mag, wir sind drinnen und schauen hinaus. , nach Venedig und dem primo premio, wieder in Huismes. Um diese Zeit war es, daß mit der Post für Max eine Menge Briefe kamen. Gefühlvolle, schüchterne, schmachtende Briefe. Angsteinflößend, ihre Andeutungen von innigem Verständnis, vergraben
in flachen Beeten unter dem höflichen Lehm bedingungsloser Bewunderung und, tiefer, diesem fieberhaen Verlangen, das bereit ist, bei der geringsten Ermutigung aufzukeimen – diese Leute wären ja so dankbar für ein Wort, ein Zeichen, ein Photo, ja, man möchte fast sagen für ein Schnipselchen von seinem Fingernagel, wenn es nur nicht zu viel Mühe machte. Das alles mußte ich sichten, wenn sein Schreibtisch bebte unter der Last der Werkzeuge und Bücher, der Berge offener Tuben verdorrender Farben und längst eingetrockneter Kugelschreiber im Koma, der Kunstkritiken und vergessenen Briefe, sogar irgendein Preis fand sich hier an, ein Scheck, den zu kassieren es Jahre zu spät war. Denn immer wieder einmal galt es, etwas ganz Bestimmtes zu finden. Der Kompost mußte umgewälzt, breitgeschmiert, aufgeschüttelt und schließlich weggefegt werden; ein bißchen Ordnung nahm dann den Schreibtisch im Sturm, ein Streifen der hölzernen Platte kam zum Vorschein, eine Ritze, die man mit Neueingängen zustopfen konnte, zum Beispiel mit jenen Freundesbriefen voll atmenden Lebens, die, gelesen und mit Sympathie zur Kenntnis genommen, in den Papierkorb wanderten. Max ließ jegliches Interesse an der eigenen Biographie vermissen, an der Ereigniskette, die gar keine Kette ist, sondern ein Fädengewirr, an dem fleißige Finger zupfen und knüpfen und ziehen, um ein Ende zu erwischen, an dem sich ein feuriger Tag, eine kalte Nacht festmachen läßt. Wir kennen ein paar Literaten, die der lieben alten Gewohnheit treu bleiben und Lavendelbriefe schreiben, wofür wir sie dankbar ms Herz schließen. Doch der Du, der dem Brief entströmt, ist wie das Riechfläschchen ein Anachronismus in der Zeit der Telephone und Tonbänder. Was also soll man einem Manne sagen, der seinen kostbaren Brief, wenn er ihn gelesen hat, einfach fallen läßt, wo er gerade steht, so wie ein Vogel die Hülsen des Korns verstreut, das er ver
schlingt? Manche dieser Freunde haben bestimmt gedacht, daß ihr Brief auf seinem ach so zarten Bogen Papier sorgsam gehütet würde. Einfach weil es ihn gab. Oder weil er so entzückend handgeschrieben war. Oder, sprechen wir es ruhig aus, seiner Unterschri wegen. Aber nein! Er ist weg. Und wird nie in den Gesammelten Briefen von erscheinen. Vor der Herausgeberschere, mag Max gedacht haben, ist der Brief jedenfalls gerettet, denn Herausgeber sind Zensoren genau wie Mütter oder Erben. Die letzteren sind ganz und gar nicht einverstanden mit ihrem ungezogenen Verwandten, obwohl er berühmt ist und obwohl er sie ganz unwissentlich reich gemacht hat; sie entrüsten sich heig über seine ausgefallenen Ideen und sind wütend, weil er von ihrer Existenz offenbar nie Notiz nahm. Nun also können sie ihn endlich zur Räson bringen, und sei es posthum. Wegschneiden, die schlimmen Sätze, die Schlüssel zu seiner Schande. Ja, das ist das mindeste, was sie tun können, dem Publikum die anstößigsten Passagen zu ersparen. Es kann zum Beispiel sein, daß der Gute in Armut aufgewachsen ist oder gar in Zwietracht. Das geht nicht, meinen seine Kinder und Verwandten, die nun wohlhabend und geachtet sind durch ihn, sie sehen sich genötigt, zu schönen. Und so erfinden sie für ihn eine völlig neue Vergangenheit, eine unverkennbar erträumte Legende wie, sagen wir, daß er einer ans Ufer treibenden Muschel entstiegen sei, groß und schön und keines bösen Gedankens fähig. Festzustellen ist auch, daß seit dieser Zeit unser Leben zwischen Briefen und Besuchen nie wieder das träumerische Dämmern war wie in Sedona, Arizona. Das blaßblaue Tor unserer Pin Perdu öffnete sich, um den kaum abreißenden Strom von Gästen aller Art einzulassen: von der Busenfreundin bis zu schier Neugierigen, von der Prominenz mit Riesenlimousine bis zum Studenten mit Rucksack, von Mitarbeitern und Ko-Autoren (Buch, Bühnenstück, Aus
stellung, Kunstdruck) bis zum Abgesandten aus der Heimat. Eine amerikanische Mäzenin frühstückte mit unserem Schreiner aus der Schweiz. Ein verwaistes Dienstmädchen aus Paris posierte für Man Ray, unseren amerikanischen Photographen. Nonstop-Schach spielten wir zwei Tage lang mit den beiden Duchamps. In einem unbedachten Moment zeigte ich Marcel einmal unsere Mona Lisa, eine handgemalte Kopie in Originalgröße, Max hatte sie bei einer Party als »Preis« gewonnen. Da war sie, ein sehniges, mißratenes Geschöpf, kravoll auf eine Holztafel gemalt, ihr schiefer Blick eine kategorische Absage an alle Künstler einschließlich Leonardo da Vinci. »Ihr fehlt nichts als ein Schnurrbart«, sagte ich, um den Spaß zu verlängern. Duchamp: »Gut, gib mir zwei kleine Pinsel und etwas Weiß und rohes Umbra.« An diesem Nachmittag wurde unsere Mona Lisa doch noch ein Kunstwerk, denn er malte ihr Härchen für Härchen Schnurrbart und Spitzbart, genau wie auf seinem berühmten Original. Auch ein goldener Augenblick. Fast immer lassen die Leute sich photographieren. Wenn exzentrische Gruppen, etwa die Hopi-Indianer, unsere Kameras verbannen, dann nur, weil sie Primitive sind. Ziviliserte Menschen haben überhaupt nichts dagegen. Im Gegenteil, sobald sie diesen runden schwarzen Rüssel auf sich gerichtet sehen, können sie die unwillkürliche Miene der Befriedigung nicht unterdrücken, als hätte ihnen eben jemand eine Medaille an die Brust geheet. O tun sie, als merkten sie es nicht. Aber es beschert ihnen einen seligen Moment. »Machen Sie richtige Aufnahmen? Ist ein Film drin in der Kamera?« »Fast immer«, erwidere ich unbedacht. Eines Tages nämlich war es mir schlecht ergangen, es war auf der Terrasse, wo sich ein ausgelassenes Besucherpaar, zwei Direktoren von irgendwas Künstle
rischem oder so, mit Gejuchze und Gewieher blumengeschmückte Strohhüte aufgesetzt hatten fürs Photo, bis ich merkte, daß kein Film im Kasten war. Meine Photomodelle machten kein Hehl aus ihrer Entrüstung, als ich (wie dumm von mir) die komische Entdeckung kundtat; mürrisch und sarkastisch sprachen sie kaum noch ein Wort mit mir, als sie gingen. Kein Mensch ist je so bestürmt worden, wieder »nach Hause« zu kommen. Bitte! Besucher, Autoren, Interviewer, Filmemacher brachten tagelang, wochenlang mein Haus hoffnungslos durcheinander. Ulkige Andenken, rezitierte Gedichte (wirklich verführerisch, diese Verse von Bürger, Hölderlin, Novalis …), zündende Studentenlieder. Alte Städte überschütteten ihn mit neuen Ehren begleitet von Medaillen und bunten Bändern. In seiner Heimatstadt Brühl bauten sie einen Max Ernst-Brunnen; sie benannten auch ein Gymnasium nach ihm. Gedenkmünzen zu seinen Geburtstagen. Eine Bronzetafel an seinem Geburtshaus. Und, unnötig zu sagen, retrospektive Ausstellungen, zu denen wir anreisten. Selbstverständlich. Aufmerksamkeiten, die ich – niedergeschlagen, zweifelnd – entgegenzunehmen gelernt hatte. Ach, die guten Leute, mit denen ich mich zu verständigen versuchte. Ihre grenzenlose Liebe und Bewunderung für ihn und deshalb für seine Frau. Sie hätschelten mich, umgirrten mich. »Stellen Sie sich vor, sie malt auch!« Und ich, nur für mich, mehr und mehr außer mir: »Ich habe die falsche Sprache gelernt.« S.Februar . In der Küche von Le Pin Perdu, in unserem Reich, öffnet Max eine Flasche Champagner, im großen Kamin knistert ein Feuer, und keinen kümmert, daß es draußen naß und finster ist um fünf Uhr. Monsieur D. ist eingetreten auf bestrumpften Füßen, die Holzpantinen bleiben neben der Tür zurück. Yvette dreht das Gas unter dem Porreegemüse klein und kommt, um ihr Glas zu nehmen. Die beiden halten zierlich die Stiele, den kleinen
Finger abgespreizt. Wir sind nur zu viert und wir trinken auf Max, den französischen Staatsbürger von diesem Tage an. Er, ein Jahr lang staatenlos, hatte feierlich akzeptiert, als der Ministerpräsident sagte: »Es wäre eine Ehre für Frankreich …« Nun also hat er endlich eine Heimat. Und ich – ich war traurig-froh, könnte man sagen. Im übrigen verspüre ich den unwiderstehlichen Drang, hier ein letztes Dokument wiederzugeben, das wir erhielten, fünf Jahre zu spät: B V S A Herrn Max Ernst Paris, Frankreich , rue de Lille, P, e . Juli Lieber Max: Wie Sie sicherlich wissen, hat der Oberste Gerichtshof am .Mai den Paragraphen des Immigrations- und Nationalitätsgesetzes (sowie gleichlautende Paragraphen früher erlassener Gesetze) für nicht verfassungskonform erklärt. Damit haben naturalisierte Staatsbürger jetzt dieselben Rechte und Privilegien wie im Lande geborene Amerikaner und können sich unbegrenzt im Ausland aualten, in ihrem Herkunsland oder einem anderen, ohne ihre amerikanische Staatsbürgerscha zu gefährden. Des weiteren sind auf diesen Paragraphen gestützte Entscheidungen über den Verlust der Staatsbürgerscha damit aufgehoben. Es ist mir deshalb eine große Freude, Ihnen mitzuteilen, daß ich Sie mit Vergnügen empfangen werde, falls Sie wünschen, sich ihre fortbestehende US-Staatsbürgerscha bestätigen zu lassen, einen Paß entgegenzunehmen oder sich als amerikanischer Staatsbürger registrieren zu lassen. Bitte, rufen Sie mich an, wann immer es Ihnen paßt, und ich werde dafür sorgen, daß Sie jederzeit, wenn Sie sich herbemühen, prompt bedient werden. Ich denke, ich brauche Ihnen nicht zu sagen,
wie glücklich ich persönlich bin, Ihnen diesen Brief zu schreiben, und ich hoffe, daß ich das Vergnügen habe, Sie und Frau Ernst wiederzusehen. Mit den freundlichsten persönlichen Grüßen Ihr Perry Culley, Amerikanischer Generalkonsul Ach, zu spät, zu spät. Daß er sich in jungen Jahren bewußt von seinem Heimatland abgewandt hatte, nachdem er, wohl oder übel, im mörderischsten Krieg der Welt dessen Uniform getragen hatte, daß er, als langsam neuer Wahnsinn heraufzog, das schlimme Schicksal seines Landes voraussah, muß für ihn grauenvoll gewesen sein. Und daß er dann, gemeinsam mit Millionen überraschter und hilfloser Menschen, wieder Opfer eben dieses Wahnsinns wurde – all das muß von ihm einen unerschütterlichen Glauben an die Kunst als Erlösung verlangt haben. An seine eigene Kunst natürlich und an die der anderen, die die Horde nicht überlebten. (Auch sie, La Horde, hat er gemalt, immer wieder in jenen bedrohlichen Jahren.) Auf den Steinplatten unter der Glyzinie tanzen Sonnenfunken, klein und rund wie die auf dem Tisch. Die Suppe damp im Schatten. Eine eigenartig gläserne Stunde, Gesprächsfetzen in dieser rollenden, rumpelnden Sprache, die ich nicht verstehe. Ein kleiner Streit, ziellos, verschwimmend wie ein warmer Schneetag, wenn die Worte rasch schmelzen. Oh Max, wie sorglos sitzt du da mit deiner fremden Sprache und deinem wehenden Haar über dem einen Ohr. Die Sonne ist weg und ein böiger Wind kommt auf. Von Zeit zu Zeit krähe ich ein Wort, ein unexotisches. Was soll ich hier? Du wirfst mir einen hilfesuchenden Blick zu und ich sage, wollen wir den Kaffee nicht drinnen trinken, und wir gehen alle ins Haus. Die kleine Auseinandersetzung ist zerronnen, eine Pfütze draußen auf dem Tisch bei den zerknüllten Servietten. Schweigend wird
am Kaffee genippt, weil du ganz plötzlich wie eine Statue bist, die Augen zur Decke gerichtet, du bist tausend Meilen weit weg und du wirst nicht wiederkommen. Zum tausendsten Mal springe ich ein; das Loch, du hast es gewußt, wird mit verläßlichen Artigkeiten gefüllt, aus alter Gewohnheit hervorgekramt, mit Lächeln, Gesten, Zeichensprache. Es ist ein Klacks gegen das, was ich für dich tun würde, wirklich. Du brauchst es nur zu sagen. Endlich sind sie gegangen, haben Auf Wiedersehen gewinkt. Die nächste Stunde ist dem Aufräumen gewidmet, das Garn wird wieder aufgewickelt und in seinen stillen Korb gebracht, es ist der selige Zeitspalt, den man beim Auauchen aus der Narkose erlebt. Mein Onkel, meine Tante und meine Cousine Das Leben ist kein Traum … Oh doch, oh doch, das war es. Meine Liebe war so ankerfest, so endgültig, daß manchmal ein Hauch von Bedauern darüber hinwegzog, ein seltsames Wölkchen: Nie würde ich die Verzweiflung der Liebe kennenlernen oder die Vielfalt ihrer Offenbarungen, nie sollte mir Liebesschmerz beschieden sein. Es war genau wie damals, als ich mir wünschte, verrückt zu sein, ohne zu wissen, wie glücklich ich war. Dann malte Max mein Porträt, auf seine Art. »Herrgott, jetzt könnte ich sterben«, dachte ich, als ich es sah. Aber was soll ich sagen – ich bin froh, daß das nicht passiert ist. Die Sprachverwirrung war schuld daran, daß wir als Paar nicht fünf Dimensionen hatten. Nicht einmal vier. Unsere Beziehung wirkte, oberflächlich betrachtet, ganz gefühlsbetont und sogar primitiv. Sie war aber gehaltvoller. Auch ohne Sprache. Ohne Sprachen, diese beängstigenden Instrumente, die wir uns erst mit den Jahren gefügig machten. Wir hatten das so ernstha gewollt. Ausgesprochen farbig war unsere Sprache und o, ach, sehr o komisch. Wir merkten, daß es möglich war, gebräuchliche oder abgeleitete Aus
drücke zu verwenden und abzuwandeln, und waren mit allem versehen, was wir zum Reden brauchten. Wir konnten angemessene, wohlformulierte Begründungen für Zustimmung oder Ablehnung, Bewunderung oder Desinteresse geben. Wir konnten ehrenha kämpfen. Natürlich gab es Kämpfe. Anklagen, ob berechtigt oder unberechtigt, das ist dabei nie von Belang. Ohne den Ärger, die zerknüllten Stunden, die Adrenalinstöße, die Überschwemmungen, das wortlose Schmollen – er konnte nicht essen, ich konnte nicht denken – hätte sich unser Teich mit Tang gefüllt. Die mündliche Verständigung, die uns zur Verfügung stand, genügte für unsere Zwecke durchaus, und wir hatten noch so viel anderes. Zudem war der Akzent eine stete Quelle des Entzückens. Mein Französisch mit seinen ungewollten Tolpatschigkeiten brachte alle Anwesenden zum Lachen. (Ich Amerikanerin werde nie lernen, truite zu bestellen, wenn ich trout (Forelle) möchte. Mit diesem einen Wort könnte ein Feind mich mühelos entlarven. Treet? Tweet? Wir müssen wählen.) Max’ Englisch war ein Schatz an komischen Wörtern. Bei ihm reimten sich bushes und cushions auf Russians. »Ah yes, Dorotaya.« In diesem großen Strudel Blau trieb allerdings ein hartnäckiger, mittelgroßer Schatten. Er überquerte das Becken nicht von der einen Seite zur anderen, er stieg nicht auf und löste sich in Schäfchenwolken auf, er blieb da und verwischte unsere Grenzen und sorgte für ein bißchen Enttäuschung. Was die Bücher betraf, so hatten wir nur die französischen gemeinsam, und die nicht immer. Es hatte keinen Sinn, so zu tun, als könnte ich Nuancen heraushören oder einen Stil genießen, obwohl ich Bouvard et Pècuchet mit Vergnügen lesen konnte. Was sollte ich denn mit der wild verwikkelten Prosa Andre Bretons anfangen? Oder mit den durch und durch französischen Sentenzen Malcolm de Chazals? Ich liebte die sane Seele von Marcel Schwob, und die perverse Extravaganz von
Villiers Axel ist immer noch eine reale Gefahr für mein prekäres Gleichgewicht. Aber die anderen, all die anderen … Wie wenig Zeit man doch hat. Woher sollte ich genug davon nehmen, um zu lernen, auch die deutschen noch zu lesen? Max lebte in einem stetig wachsenden Büchermeer. Kein Tag, der nicht ein neues Buch gebracht hätte, mit der Post (amerikanische), von Hand zu Hand (deutsche) oder aus dem Buchladen (französische). Meine eigene Bibliothek war eine kleinere Ecke. Hier standen meine ehemaligen glutvollen Gefährten, nun zur Seite geschoben wie abgeschüttelte Schulfreunde, sie lehnten im Hintergrund in der lässigen Haltung, die nur Worten zusteht. Sie wußten, sie würden an die Reihe kommen. Da stand das freche amerikanische Taschenbuch mit seinem peppigen Pin-up-Umschlag, der mit dem Inhalt nichts zu tun hat. Als ob sich ein Mensch für den Umschlag interessierte. Man brauchte ihn bloß abzureißen. Und die gebundenen Bücher in ihren verblaßten Deckeln, wie hatten sie es nur gescha, durchzuhalten, erfahrene Weltenbummler zu werden, sich taktvoll hier zusammenzuscharen, wo man sie zur Hand nehmen konnte? Meine Bücher. Und dann, ganz leise, ganz allmählich tauchten sie zwischen seinen auf. Als Übersetzungen: Jude the Obscure (Herzen in Aufruhr, ), Ulysses, Moby Dick. Auch Typee und Mardi. Hawthorne, oreau … Wie mochten sie, fragte ich mich, wohl Henry James übersetzen? Ambrose Bierce, gut. Fitzgerald, gut. Henry Miller, auch das konnte ich mir vorstellen. Aber Joyce? Guter Gott. Dennoch, sie alle, fröhlich Maskierte, schlüpen hinein in jene andere Gesellscha und nahmen dort huldvoll ihre Plätze ein, wie Emigranten ziemlich stolz darauf, daß sie in einer fremden Sprache Auskun geben konnten, wie spät es war. Die Wirkung auf mich war verblüffend. Urplötzlich waren meine Bücherfreunde ganz neu und nackt. Staunen erfüllte mich. Er woll
te also wissen, was ich wußte, wollte lesen, was ich las? Ein alarmierender Gedanke. Ich fühlte mich seltsam unruhig und verantwortlich. Zusammenhanglose Sätze aus diesem oder jenem Buch kamen mir in den Sinn. Wie mochten sie für ihn auf Französisch klingen? Wie mochte er sie wohl sehen? Endlich lernten wir uns in diesem Bereich unseres Lebens zum erstenmal richtig kennen. Wir Maler, denke ich, sind literarisch zu den Uneingeweihten zu zählen, zu denen da draußen. Zufrieden schlucken wir, was an Prosa oder Poesie unsere Bedürfnisse befriedigt, nicht einen Gedanken haben wir für ihre diversen Schöpfer übrig, die sich damit abrackern. Wir können bezaubert, was sage ich, süchtig werden von Kaa, der unseren zersplitterten Spiegel unterm Bett fand; wir können uns berauschen an Nabokov und ernüchtern mit Trollope. Von Céline wird uns übel, nicht weil er es darauf angelegt hat, sondern weil Slang nicht zu übersetzen ist. Und »drüben« gibt es Leser, denen genau so übel ist aus denselben Gründen – von ungenießbaren Übersetzungen unübersetzbarer Amerikanismen. Übrigens – wenn man sein Leben damit zugebracht hat, Fähigkeiten zu entwickeln, die mit Schristellern nichts zu tun haben, dann aber ohne Skrupel ein Buch schreiben will, kann man kaum erwarten, etwas sehr Gekonntes zuwege zu bringen. Mich in Worten auszudrücken statt in Bildern, das macht mich ganz zittrig, als müßte ich hinaus auf die Bühne und den Mund aufmachen, um ein Gedicht aufzusagen – was mir als Kind abverlangt worden ist. Nein, denk nicht darüber nach. Du steckst schon viel zu tief drin, um noch umzukehren. Das Werk schreitet fort, denn voranschreiten muß es ja, obwohl es manchmal rückwärts zu gehen scheint: Das Ende ist eigentlich der Anfang, das Innere ist außen, das Runde ist voll scharfer Ecken und das Laute ist unhörbar; je mehr ich mich um Sparsamkeit bemühe, um so mehr falsche Worte bedrängen mich und um so deutlicher merke ich, daß wenig Hoffnung
besteht, überhaupt jemandem das Wesen der Zeiten, der Szenen zu vermitteln. Vergnügliche Stunden, verschenkte Möglichkeiten; aber was soll’s, eine gewisse Sorglosigkeit muß sein. Neben den Büchern im Regal gab es noch die selbstgemachten. Büchermachen gehörte ebenso notwendig zu dem Leben, das wir führten, wie das Annähen von Mantelknöpfen. Ich wüßte keinen meiner Malerbekannten, der nicht irgendwann an einem Buch mitgearbeitet hätte. Die Auflagen waren nie höher als Exemplare, sonst wäre ihr Wert mit steigender Zahl gesunken. Leidenschalicher Verleger einiger der besten Bücher dieser Art war der kleine, rundliche Monsieur Broder aus der Schweiz, dem sein anstrengender Beruf nur zum Essen noch Zeit ließ, und es ist zu vermuten, daß er nicht bloß aß, wenn er Hunger hatte. So besessen er von le beau livre war, so genießerisch gab er sich la haute cuisine hin, der Feinschmeckerei. Ich bin sicher, daß er sich beim Zusammenstellen seiner feinen Bücher wie eine Art Meisterkoch vorkam. Eines Tages fragte er eher beiläufig: »Was für Bücher haben Sie denn so in Amerika?« »Oh, sehr gute Bücher«, sagte Max. »Aber wie sind sie gemacht?« wollte er wissen. »Wer kau sie?« Ich erklärte ihm, daß ein Buch im allgemeinen einen festen Einband hat, daß es zu vielen Tausenden gedruckt wird, »und wenn man es gelesen hat, stellt man es ins Regal …« »Ach so!« Monsieur Broder verbarg nicht seine Verachtung. »Also Sie meinen, man kau Bücher zum Lesenl« Die Texte stammten o von Dichterfreunden. Oder es lag irgendwo ein längst vergessenes Manuskript herum, das strahlend auferstand, auf Japanpapier, in edlen Lettern handgesetzt, mit reichlich Vakatseiten und vor allen Dingen mit liebevoll gefertigten
Radierungen in klaren Farben, die mit dem blütenblattgleichen Papier verschmolzen, so wie der Sonnenuntergang den Himmel violett und karminrot tränkt. Der Pariser Kupferstecher par excellence war Georges Visat. Er beherrschte alle Kniffe, Weichmacher, Säuren, chemische Wunder, herbeigelockte Zufälle; er trickste mit Wachs, Firnis, Zucker, Pasten, Harzen, Spucke, dann folgte stundenlanges Schaben, Glätten, Färben, Probieren, der ganze mühselige, leidenschaliche, schweißtreibende Prozeß des Kupferstechens, und so schuf er herrliche, tiefgründige Bilder in fließenden Spektralfarben, für die andere Leute den Ruhm ernteten. Das ist nun einmal so. Künstler und Kunsthandwerker: Beide Begriffe waren in diesem Zusammenhang unvollkommen. Ich, eine der ersteren, habe mit all dem Handwerklichen selbst herumexperimentiert. Bis mir aufging, daß es so gewaltig, so gewichtig ist, daß ich es lieber bleiben ließ, um vor der Vielfalt der Möglichkeiten nicht den Verstand zu verlieren. Visat, stets auf der Pirsch nach neuen Techniken, lieh sich eines Tages ein kleines Gemälde von mir aus und machte davon einen Kupferstich. Sein Werk war makellos. Aber war es nicht falsch, ein Schwindel? Müßte ein Sammler sich nicht betrogen fühlen? Würde Georges Visat mit seinen besonderen Händen, seinem gutmütigen Genie, seinem Licht unter Künstlerscheffeln nicht Schimpf und Schande ernten, weil er die Kunst des Kupferstichs bewahrte? Eine interessante Frage. Im Laufe der Jahre griff Visat ins Verlegerfach über und schuf nicht nur Stiche, sondern produzierte gleich das ganze Buch dazu. Bemerkenswert o waren es ausdrücklich und leidschalich erotische Bücher mit opulenten Erläuterungstexten von großem Erfindungsreichtum. Geschrieben wurden sie von sanen, hochkultivierten Männern und Frauen, die sich zweifellos mit ihrer blühenden Phantasie über den tristen Alltag hinwegtrösteten.
Auch solche Bücher wurden gebaut wie Dome, mit unerhört viel schöpferischer Glut und Inbrunst. Jedes war, erotisch oder nicht, ein starker Ausdruck gemeinschalicher Begeisterung und mußte zu einem schieren Wunderwerk werden. Wunderwerke waren auch die Bücher von Iliadz, einem anderen Kleinstverleger, befreundet mit Künstlern und Dichtern: Gebinde aus Worten, mit Liebe gedruckt und in die Hand zu nehmen. Was geschrieben wird, um bestimmten Zwecken zu dienen, hat sich stets dem Zeitgeist angepaßt, der gerade herrschte. Dies aber war so etwas wie ein »freies« Abenteuer, seriöser Zeitvertreib ohne intensive Vorbereitung, ohne Mühsal und ohne die geringste Rücksicht darauf, was andere Leute davon halten mochten, sollte es je das Licht des Druckes erblicken. Wenn Artaud oder Apollinaire – oder Henry Miller oder e. e. cummings – sich einfallen ließen, zu zeichnen oder gar zu malen, dann als exzentrische, spielerische Launen wie Kapriolen der Vögel in den Lüen. Sie riskierten nichts damit. Hier waren sie sicher vor Kritik und Mißverständnis, wie auch wir bildenden Künstler vor strengen Blicken geschützt waren, wenn wir fröhlich ein trauriges Gedicht in den Sand schrieben. Gewiß, von einem solchen Gedicht ist nichts zu erwarten, überhaupt nichts. Es sei denn ein bißchen eigener Spaß, der auch Quatsch genannt werden kann und manchmal ist. Wieder ein bunter Tag im Prisma Paris. Ein Rendezvous mit Max im Flore. Er kam und sagte: »Eins deiner Idole sitzt nebenan im Café. Oppenheimer.« Ich stand wie vom Donner gerührt, etwas wie Verlegenheit stieg in mir hoch, der beginnende Impuls, Desinteresse zu heucheln; oh ja, bei Max war ich stets auf der Hut vor ironischen Spaßen. Aber diesmal grinste er nicht, als er fortfuhr: »Drüben im Deux Magots. Da sitzt er mit einer Dame.« Gar nichts zu tun war in diesem Falle undenkbar, so daß ich ganz schamlos
nachsehen ging, einfach zur Türe des Café Flore hinaus, um am Deux Magots vorbeizugehen. Nur vorbeizugehen. Meine Augen zu weiden, daß sie ihn äßen, tränken und atmeten, diesen Menschen, der die Welt verändert hatte und sich wünschte, er hätte es nicht getan. Soll er dem ganzen Tag Farbe geben, schwärmte ich im Stillen. Ein Erdbeben würde er sein, eine Revolution, ein Nordlicht. Ein Blick in seine blauen Augen wäre … Da kommt er in Sicht mit seiner Frau. Doch alles ist plötzlich ganz fremd: die Passanten, der beschürzte Kellner, das Tischchen, Marmor mit Messingrand. Ein märchenhaer Zufall hat ihn da hingesetzt und das prahlerische Bild mit einem Getränk für ihn ergänzt. Auf seinem Marmortisch wie auf allen Tischen, die sich am Boulevard drängeln, stehen Gläser, rücken nun ins Blickfeld, eins für ihn und eins für sie. Woran denkt er hinter seiner berühmten Stirn? Was für fürchterliche Gewißheiten vergällen ihm vielleicht seinen Pariser Aperitif? Ob er wohl, nur für einen ungewöhnlichen Augenblick, seine Gedanken beschwichtigen, seine schreckliche Last vergessen kann? Und dann, als wir so durch den sonnengesprenkelten Schatten schritten, sahen wir, wie der Mann hinter dem kleinen Tisch sich halbwegs von seinem Stuhl erhob. »Max Ernst«, sagte er, einladend das schöne Gesicht, die halbe Geste, das halbe Lächeln. Alles ergab sich in einer einzigen makellosen Minute. Die Aufforderung: »Bitte – trinken Sie etwas mit uns … meine Frau … vor ein paar Minuten erst haben wir ein Bild von Ihnen gesehen, in einer Galerie gleich da drüben.« Und Max: »Ja, ich weiß. In der rue de Rennes.« Inzwischen werden Stühle herangerückt, und auch wir setzen uns hin. Sie unterhalten sich. Ich höre zu. Meine Ehrfurcht steigert sich zu Furcht. Ihre leichte Konversation kann daran nichts ändern. Allein purzeln meine wirren Gedanken durcheinander. Vielleicht hat Oppenheimer gemerkt, daß ich aus dem Gleichge
wicht bin, denn er spricht mich an: »Was ist das für ein Stein da in Ihrem Ring? Er kommt mir bekannt vor.« »Ach, das ist nichts Besonderes«, verunglimpfe ich meinen Ring. »Das ist Imitation, Talmi, Plunder. Eine Freundin hat ihn mir geschenkt.« Er sieht ihn sich noch einmal an. »Aber ich glaube, Sie tun ihm Unrecht, wenn sie ihn als Plunder bezeichnen«, höre ich ihn sagen. »Wissen Sie, früher als Kind habe ich Steine gesammelt. Und dies ist, wenn ich mich nicht irre, ein Kunzit. Er wird in Südkalifornien in der Gegend von San Diego gefördert. Ja, es ist ein echter Stein, und sogar ein sehr guter!« Jetzt, während meine Hand diesen Tag beschreibt, trägt sie den Ring, den Kunziten, und dem rötlichen Stein entsteigen Reflektionen aller Art. Ich erinnere mich an den Abend, als ich ihn zum erstenmal bewunderte, sogar an den Namen des Restaurants, und wie meine Freundin, die ihn trug, ihn vom Finger zog und mir reichte, eine seltene Geste, als hätte sich ein Schmetterling auf meiner Hand niedergelassen. Ich protestierte: »Das ist zu …« Und sie: »Nein, nein, ich bestehe darauf, du mußt ihn nehmen«, und wir hatten beide keine Ahnung von seinem Namen, seinem San Diego, wir genossen nur den Augenblick des Gebens und Nehmens, das Rosige. Damit Robert Oppenheimer, der Vater der Atombombe, wie die Medien ihn genannt haben, einen Moment lang seinen Platz in der schrecklichen Gegenwart vergessen und sich an seine Zeit »als Kind« erinnern konnte, mußte auf dem Boulevard SaintGermain ein rosa Stein in der Sonne funkeln.
8. Ein Reich in der Provence
N
un aber ist und wir haben die Touraine verlassen, haben die feuchten Nebelschleier von Huismes zurückgelassen und den grünlichen Schimmel, der sich in Max’ Schuhen verkroch und in Schlieren an den Schlafzimmerwänden hochstieg, dieses schnellwachsende Schoßkind der Mutter Natur mit Wurzeln unter dem pliesenboden. Jetzt sind wir Provençalen, sonnengerei wie Feigen. Seillans ist von nun an unsere Heimat. Zwanzig Jahre war er her, der Hügel in Arizona, der Steinbockhügel von damals. Nun hatten wir wieder einen Hügel, vielleicht älter, vielleicht nicht, in einem anderen Teil der Welt, auf einem anderen Festland. Oliven statt Wacholder, Krüppeleichen anstelle der Kakteen. Täglich und mit Sehnsucht betrachtet durch die ehrwürdigen Fenster unseres Landhauses hinter hohen Zypressen, die wie zusammengefaltete schwarze Regenschirme aussahen. Keine Straße, nur die mäandernden Trampelpfade eines verrunzelten Schäfers, der seine Herde eigentlich durch das Dorf führen sollte, wo sie dann aber – hopp – von der Straße hangaufwärts ausschwärmte, während seine zwei fleißigen Hunde geschickt wie Verkehrspolizisten die Manöver dirigierten. Wir mit unseren begehrlichen Augen waren lebende Symbole der vordringenden Modernität. Taten wir nicht alles, um den guten Schairten zu vertreiben (ihm zumindest die Nachmittage zu vergällen) – rannten wir nicht erbarmungslos hinter den armen Schafen her und jagten sie davon, damit sie anderswo grasten? Wir mit unseren großen Ideen, da standen wir oben am Hang und unten war das Dorf, eine verbrannte pâte aus zusammengeworfe
nen Steinen und rosigen Dächern, deren Geometrie ineinander verschmolz wie ein freundliches Puzzle, überragt vom üblichen château, in diesem Falle von einer massiven Festung, gegen die Sarazenen erbaut. Jenseits des Dorfes streckte sich ein Straßenband und wand sich zwischen immer blaueren Fernen hindurch auf dem Weg zum Meer, das ganze Panorama bot ein recht fröhliches Ebenbild der naiven Illustrationen in alten Handschrien. Später kam es manchmal vor, daß ich das Band ängstlich beobachtete, wenn Max zu Besorgungen nach Draguignan oder Saint-Raphael gefahren war. Es war leicht, den hübschen Hügel zu erwerben. Mit Monsieur E. dem Teileigentümer, wurden wir bald »handelseinig«, wie man sagt. Die moderne Zeit war schon vor uns da, sie lauerte in den Wünschen der dörflichen Nachfahren von Moslems und Römern, Phöniziern und Westgoten. Die Familien zahlloser Cousins, die seit Jahren nicht mehr miteinander gesprochen hatten, erbten von alten Großvätern und Großmüttern von Großvätern den kostbaren Hang, aber sie wollten lieber Autos und Fernsehgeräte, und so erschienen sie mürrisch-wortlos beim Notar, unterschrieben, kassierten und gingen, um sich nie wieder bei uns blicken zu lassen. Am nächsten Tag standen wir oben und schauten hinunter. Es war nun unseres, fortan unsere Zuflucht und unsere Aussicht. Damit nahm ›Das Haus‹ seinen Anfang. Ein Jahr lang gab es am Hang nur das Dröhnen der Bulldozer. Sie rissen und bissen die klaffende, keuchende Erde auf, verstörten ihre schläfrigen Steine, die davonplumpsten mit ihren urweltlichen Träumen, ihren Traumnamen: kambrisch, silurisch, devonisch. Der Schöpfungshügel mußte umgewälzt werden, mußte eingeebnet, aufgefüllt, ausgelotet, befestigt werden, wo vorher nichts war. Wir wollten nur eins: nur ein Plätzchen am Boden für das Haus, für seine Implantation, wie der Geologe es nannte.
Etwas gelblich scheint die Sonne, es ist im Winter . Eine Frau macht Ferien von Leinwand und Farben und beugt sich statt dessen über Pläne, Zeichnungen anderer Art, ganz gerade und wahr, akribisch ausgemessen nach der Logik von Eingangsbereich und Geschoßhöhe und Treppe und Höchstbelastung. Die Treppe soll zu einem »Ballsaal« hinaufführen (siehe oben, »große Ideen« – warum sollten wir das Feiern aus den Augen verlieren?). Ansonsten bleibt alles ebenerdig. So daß Max aus seinem Atelier, einem endlich richtig weiten, hohen Atelier, auf glattem Marmorboden hinübergehen kann zu allem, was unsere domaine noch umfaßt: die Säulenarkaden, die Bibliothek, die große Diele, den schlüssellochförmigen Pool, die Gartenterrasse in der Blüte des zarten dendritischen Gespinstes auf den Steinplatten, das wir alle gern für versteinerte Farne der Urzeit halten möchten. Bei einem tiefen Blick in unsere ganz private Kristallkugel sehen wir, daß die grausame Natur bald saner mit uns umgehen wird, daß sie uns grünen Rasen schenkt, wo nur brauner Schlamm und Sand war, daß der Rasen einen Pfirsichbaum aufnimmt, zerbrechlich wie aus Glas geblasen, wenigstens lebendig, wenn schon nicht fruchtbar, und daß auf einer Hangterrasse das Gemüse gedeiht und vierzig prachtvoll gesunde Hühner hinter Maschendraht. Ein paar Details sollten wir noch festhalten, bevor wir mit dem Hausbau fortfahren. Sie sind nicht überaus bedeutsam, mahnen aber zur Vorsicht, sie sind Warnzeichen, wie wohl nur verrückte Künstler sie nötig haben, die meinen, sie könnten einfach ein Haus wachsen lassen. Denn wer sonst würde die Dienste eines professionellen Architekten verschmähen? Wer hätte den Mumm, zu sagen: »Was heißt hier Architekt? Ich bin die Architektin.« Und so stürzt sie sich Hals über Kopf ins Inferno. Selbstgefällig zeichnet sie Pläne, die hoch fliegen wie Seifenblasen und die lang und breit erklärt werden müssen. Unvermeidlich bei einem solchen Unterfangen
überläßt sie dann in wachsender Demut alles dem Baumeister, der unter diesen Umständen schnell zum Kumpel wird. Das kann man wohl sagen, kein Unternehmer aus der Großstadt, kein forscher, urbaner Firmenchef, kein ausgekochter Geier von Makler, kein gerissener Advokat kann ein ausgefuchsterer Geschäsmann sein als der Doraumeister. Rosige Wangen zeugen von viel guter, frischer Lu, das breite Lachen ist verschmitzt wie Sankt Nikolaus in Person. Er trägt den letzten Schrei von Digitaluhr; seine blaue Windjacke paßt zu seinen Augen und zu seinem Porsche. Er erzählt Geschichten in seiner pittoresken Mundart. Er wartet vor der Tür mit surrendem Motor und fährt mit uns zur Baustelle hinauf. Er geht respektvoll mit M’sieur Max um, galant mit Madame. Und zu Weihnachten bringt er uns ein Geschenk oder zwei: einen Schirm, eine Brieasche, Kalender, Aschenbecher. Kein Wunder bei so viel Charme, so viel Bonhomie, daß wir uns bald beim Vornamen nennen. Er hat uns zum Essen eingeladen. In seinem Haus, das er sein Meisterstück nennt, suchen wir verzweifelt nach einem ema und kommen auf la fête. Nur noch drei Wochen, dann ist er da, der große viertägige Rummel, dem Alt, Jung und Mittelalt in Seillans an den übrigen dreihunderteinundsechzig Tagen des Jahres geduldig entgegensehen. Immer das gleiche, la fête, eine wilde Arabeske mitten im freudlosen Jahr, dafür arbeitete man, darauf konnte man bauen, da war man locker und laut, da tanzten schreiend bunte Hemden in einem kleinen Meer aus hochtoupierten blonden Frisuren. Denn so gut wie jeder weibliche Kopf des Ortes, alle brünett, war davon überzeugt, mit der Haarfarbe werde man auch das Leben ändern und die eigenen Möglichkeiten. Hinter alten Mauern und dunklen Torwegen wachsen junge Mädchen, die bei den ersten Tönen des Tanzvergnügens aus
schwärmen, hin zu ihnen, den himmlischen Rockrhythmen der Atomique Jazz et ses Boys. Stunden später, gleich außerhalb der Lichter und Girlanden, messen sie sich im wonnigen Zweikampf mit ungeduldigen jungen Burschen, die auf Blondinen fliegen und die zu wissen glauben, wozu sie gut sind. Zwei Tage nach diesem Fest (es ist Juli ) mit pastis in Strömen, mit Schießbuden, Knoblauch, Glücksspiel und flaschensplitterndem Kegelvergnügen ist es wieder still auf dem Dorfplatz bis auf das Klicken der boules im frühabendlichen Schatten. Und wir oben auf dem Hügel legen den Grundstein unseres Hauses, eine Mini-Zeremonie, an der ein Dutzend verkaterter Bauarbeiter und unsere häuslichen Helfer Olga und Albert teilnehmen. Während der Champagner aufschäumt, stehen sie alle verlegen herum, die Baskenmützen in der Hand. Dann rufen sie: »Bravo, M’sieur Max! Bravo, Madame Max!« Ein Tag nach dem anderen sah mich winken, den Hund rufen und den Hügel erklimmen. Wenn es mein Haus sein sollte, mußte es bewacht werden wie ein Vogelnest, damit ihm kein Übel widerfuhr. Ein rechteckiges Nest steinerner Vögel saß nachts auf meiner Brust, aus Baumeisterworten fest in meinen Schlaf gemörtelt. Bis auf den heutigen Tag habe ich, wenn ich die Spannweite eines Tragbalkens angeben soll, nur mein geliebtes Franglais, das mir »Balkenstützweite« sagen hil; und la doloire, die so traurig klingt, war doch bloß eine Schaufel, die sich hineinfraß in Sand und Zement. Limousinage, bétonnage, ja, und Winkelbänder, Oberschwellen. Werde ich mich ewig an ihre Scharniere, ihre Keilnute erinnern wie an ihr Lachen, wenn ich die Rotweinflasche aus meinem Korb zog, den coup de rouge? Manchmal winkte Max unten an seinem Fenster zu uns herauf. Dort oben scherze ich mit den Leuten, bespreche mit ihnen die Arbeit und benutze all die Ausdrücke, die ich im Leben nie wieder
benutzen werde. Kenntnisreich vielleicht. Wunderlich, unweiblich, fühle ich mehr als ich sehe, wie das Haus wächst, wie es von mir zehrt. Ein Mittagessen alle zwei Wochen im Hotel des Dorfes hat uns einander nähergebracht: den Maurermeister, den Zimmermann (neun Generationen Handwerkszun), den Klempner aus Nizza, Mann von Welt in Schlips und Kragen, den Elektriker, den Fliesenleger. Unsere Zusammenküne waren vom Allerlustigsten. Ich werde diese Leute nicht näher beschreiben oder sie kommentieren, ihre Gesten, ihre Ticks, ihre Mundartsprüche. Sie waren eben, wie Männer ihres Gewerbes sind, weder komisch noch würdig, weder satanisch noch bewundernswert. Ich müßte allerdings lügen, wenn ich behaupten wollte, mit ihnen allen an einem Tisch im Dorfrestaurant zu essen sei etwas anderes als eine schwere Prüfung gewesen. (Max blieb selbstverständlich sicher zu Hause, wo auch ich hätte bleiben können und sollen, hätte ich nicht an der Überzeugung festgehalten, daß die Götter unseres künigen Herdes, die dort im Restaurant Clariond in der Gemeinsamkeit der Interessen versammelt waren, ohne mich und nach ein paar Gläsern Gigondas ihr hohes Ziel vergessen und in Streit geraten würden, vielleicht sogar mit den Fäusten.) Als erstes entfalteten sie gemessen ihre großen Servietten, um die Krawatten zu schonen, die sie zur Feier des Tages angelegt hatten. Fünf Gänge waren bestellt; sie hatten alle einen gesunden Appetit und futterten, was das Zeug hielt. Hätte ich mitzuhalten versucht, was ich beim erstenmal tat, hätte ich den schweren Wein in mich hineingeschüttet und die Languste, das getrüffelte Rebhuhn, den Endiviensalat, den Topuchen in mich hineingestop … dann wäre anschließend sicher ein Tag im Bett fällig gewesen. Statt dessen spielte ich zwei Stunden lang schamlos eater mit Gezwinker und Gelächter und lustiger Geselligkeit mit diesen Männern – ein gräßliches Getue, das mich erschöp und atemlos
zurückließ. Wenn ich dann nach Hause wankte, wenn ich in das wunderbar stille Haus kam – nur von fern im zweiten Stock hörte ich Max in seinem Atelier –, dann dachte ich: So muß sich ein Callgirl nach der anstregenden Champagnerorgie fühlen, mit der es das Recht erworben hat, sich fallen zu lassen und zu schlafen. Es war eine Zeit des geometrischen Kunterbunts, bedeckt mit Diagrammen aus sehr geraden Linien, die jeden Hauch von Freude ausfiltern und statt dessen mit tausend frustrierenden Nadeln pieken. Erst einmal entschieden Kopf oder Zahl, ob an einem Tage gearbeitet wurde oder ob sich die Leute nicht blicken ließen. Noch heikler war es, mit einer Zahl von Leuten zu rechnen. Warten wir’s ab, morgen soll ein Installateurteam mit der Verlegung des unterirdischen Rohrs beginnen. Bestimmt? Am nächsten Tag keuchte ich bergan und kam mir genau wie eins der winzigen Figürchen vor, mit denen talentierte Mönche früher ihre Pergamente ausgeschmückt haben, und oben stieß ich auf einen Klempner, einen wortkargen Kerl, der auf der Erde hockte und gemächlich ein zweizölliges Plastikrohr mit dem Ellenbogen ausmaß (es paßte nicht). »Guten Tag.« »Tach.« »Wo sind die anderen alle?« fragte ich. Er knurrte: »Andere gibt’s nich.« Das sind die Tangenten zum gleichschenkligen Dreieck: R, der Regenschauer, der Arbeiten nicht zuließ; M, die verspätete Lieferung unerläßlicher Materialien vom Mars; diese in weiten Abständen aus Nichts punktierte Linie führt zu X, den als Drainage aufgestapelten Xenolithsteinen, die zusammenstürzten und unserem Vorarbeiter eine Rückenquetschung beibrachten, und schließlich diagonal zurück zu M, den fleißigen Maurern, die es fertigbrachten, den schönen Stein mit grauem Zement zu verputzen, und zu L, unserem Lieblingsbaumeister, der unseren behutsamen Plan eines
Schwimmbeckens kraß mißdeutete und statt dessen ein – insgeheim vielleicht von der Gemeinde gewünschtes – Wasserloch in Stadiongröße aushob. Zur Rede gestellt, sagt er nur: »Je m’excuse – entschuldigen Sie.« Dennoch, alles ging der verblüffenden Vollendung entgegen; Steine fügten sich zusammen, Erker rahmten die Landscha und das Haus warf einen marmornen Schatten. Schon ganz verrückt und verzückt ließ ich Steinmetze aus der Touraine kommen und auf Lastwagen die Säulen bringen, die sie zur Zierde der Loggia gefertigt hatten, dorische Maxfield ParrishSäulen, zwischen denen wir im phantastischen Abendlicht aus Rosa und einem unbeschreiblichen Blau auf die korallenroten Dächer von Seillans hinunterblicken würden. Es ging das Gerücht, ein solches Haus könne man sich nur im Gedanken an die Nachwelt ersinnen und erbauen, es sei sicherlich dazu bestimmt, als Museum zu dienen, wenn wir einmal nicht mehr wären. Ich glaube, diese Art von Museum oder Stiung (welch schmuckes Schirmwort), die dem Werk eines einzelnen Künstlers gewidmet ist, nimmt in den meisten Gemütern einen Platz ein, der eigentlich für Jakobs Himmelsleiter reserviert ist. Da steht es. Wie der Regenbogen aus Naturerscheinungen geboren, ergänzt durch einen unnatürlichen Topf voll Gold, öffnet es seine Tore für jedermann. Zehn Francs. Treten Sie ein. Schönheit ist Trumpf. Fußböden spiegelblank, Fenster funkelnd, nicht ein Stäubchen auf den Skulpturen, die Bilder hängen gerade und in perfektem Licht, der Aufseher lächelt, es gibt keine Taschendiebe, keine Lecks im Dach, kein Feuer würde es wagen, kein Unkraut in der Einfahrt, der Rasen ist gemäht (bei Nacht von den Heinzelmännchen), es gibt keine Läuse in den Bäumen und nirgends ein bißchen Rost. Und niemals Meuterei. Mit diesem festen Bild vor Augen haben verschiedene Künstler des zwanzigsten Jahrhunderts sich selbst die höheren Weihen verliehen. Sie glaubten an die Realität ihrer Himmelslei
ter und nutzten das Geld, das sie plötzlich hatten, für gigantische Bauwerke, in deren Fassaden geduldige Steinmetze ihre Namen meißeln mußten wie in Grabsteine. Das Bauwerk zu füllen, oh là là, darauf wartet im Atelier eine Rekordernte an Meisterwerken. Wir auf unserem Terrain dort in den Bergen von Saint-Roc, geradezu unerreichbar außer für Kletterer mit sehnigen Schenkeln oder Jeeps und Landrover, wir machten uns zweifellos nicht für die Nachwelt bereit. Max nahm die Geschäigkeit eigentlich kaum zur Kenntnis, schleppte nur Gäste zur Baustelle hinauf, um ihnen zu zeigen, was für ein Chaos Dorothea da anrichtete mit dem Geld, das die Leute ihm brachten. Sie fragte ihn manchmal, wie er es denn gern hätte; die Maße eines Zimmers zum Beispiel wurden so frischfröhlich gewählt wie ein Gericht von der Speisekarte. Er entschied in jedem Falle für das Größere. Das war es, was er ihr zum Spielen schenken konnte, seine Großzügigkeit, denn sie spielte in Wahrheit ein Spiel, beschwor aus Stein und Holz und Glas ein Zauberschloß herauf, magisch wie Jakobs Wolkenschloß am Ende der Himmelsleiter. So wirr waren die Motive. Am . Juni kämpen sich die Möbelpacker zu Fuß bergan, vom alten Haus hinauf zum neuen, nachdem ihr vollbeladener Transporter den steilen Weg verweigert hatte. Zwei Wochen später war der Umzug beendet – es würde sicherlich unser letzter sein (er war es). Fünf Jahre verlebten wir in diesem soliden Hafen – heaven hätte ich beinahe gesagt –, wo nichts den glatten Fluß der Arbeit und der guten Laune zu hemmen schien, nicht einmal das lästige Finanzamt in der Person eines schmallippigen Kerls, der, als Max sich zu seiner buchhalterischen Ignoranz bekannte, meinte: »Sie können ja vormittags Buch führen und nachmittags malen.« Der Vorschlag kam zu spät.
Zeichen, Zufälle, komische, wunderliche Begebenheiten – sie rissen eine ziemlich bedrohliche Zickzackspur hinter ihm auf wie ein Tornado, sie folgten seinen Schritten von einer Vernissage zur nächsten; denn sie spielten seinen Bildern seltsame Streiche und brachten ihn jedesmal soweit, daß er lachte und doch nicht lachte. Sie waren immer gut zur amüsanten Unterhaltung, so wie Gruselgeschichten von kopflosen Gespenstern in wilder Sturmnacht, die uns erschauern lassen, während wir, unseren Cognac nippend, gemütlich am prasselnden Kamin im Trophäensaal der alten Burg sitzen (Stil Fernsehfilm), die unser Gastgeber, ihr einziger Erbe, aus einer Laune heraus aufgesucht hat. Ein Märchen im Märchen. Die erste Ausstellung von Max Ernst-Gemälden in New York arrangierte der beherzte Julien Levy. Wie gut, daß sich der Künstler weit vom Schuß in Paris befand. Denn sie wurde mitten in der schlimmen Börsenkrise des Jahres eröffnet. Jahre später war eine Vernissage in Los Angeles kaum richtig in Gang gekommen, als es draußen zu schneien begann. Nicht zu fassen! Alle Anwesenden rannten hinaus auf die Straße zu den wundersamen, nie gesehenen Schneeflocken. Wie hätten einfache Bilder dagegen konkurrieren können? In Brühl (bei Köln), seinem Geburtsort, wurde eine Retrospektive auf die Beine gestellt, obwohl die Stadtväter Bedenken hatten, sie witterten Anarchie und Aufwiegelei und riefen: »Was haben wir euch gesagt!«, als genau um die Stunde der Vernissage der Blitz einschlug und das Transparent MAX ERNST zerriß, das quer über die Hauptstraße gespannt war. So wandte mancher seine Schritte statt zur Ausstellung lieber eilends zur Kirche. Dann kam das Abenteuer auf Hawaii. Inzwischen war auch ich dabei. Dort begann eine Ausstellung (von uns beiden, Gott steh mir bei), in der eine Reihe glimmender kleiner Vulkanbilder (seine) aus dem letzten Jahr zu sehen war. Mitten in den Empfang platzte die Nachricht herein: Der Kilauea, der große Vulkan auf der Insel Ha
waii, war soeben ausgebrochen, nachdem er sich viele Jahre lang totgestellt hatte. Wen kümmern da noch gemalte Vulkane? Einmal in Paris bereiteten wir uns auf die Reise nach Stuttgart zu einer Max Ernst-Retrospektive vor. Der . Januar war dieser schreckliche Tag. Etwa um ein Uhr in der Nacht roch es nach Rauch, und Max fand unsere Küche in hellen Flammen. »Dorotaya!« schrie er. Ich taumelte aus dem Schlaf und durch den Flanellrauch ans Telephon. »Ich rufe die Feuerwehr.« »Nein, das wirst du nicht tun. Die ruiniert uns nur alles«, sagte Max. Mit Wassereimern bekam er das Feuer klein, dann sagte er: »Jetzt kannst du sie rufen.« Das muß ich ihnen lassen, sie waren in vier Minuten zur Stelle. Allerdings sichtlich enttäuscht, für ihre Überschwemmungsbehandlung keinen Vorwand mehr zu finden, und so trollten sie sich bald ziemlich brummig, um ihr Wasserspiel betrogen, nur die verkohlten, qualmenden Schränke nahmen sie mit nach draußen. Am anderen Morgen rief Max aus dem Atelier oben zu mir herunter: »Dorotaya! Komm, ich möchte dir etwas zeigen.« Was denn nun … Zitternd stieg ich hinauf. Ein furchtbarer Schaden bestimmt … Er reckte den Zeigefinger. Da auf der Staffelei stand das Bild das er am Tag zuvor gemacht hatte. Auf schneeweißem Hintergrund, der Finnland sein konnte oder Sibirien, klebte eine rechteckige Collage aus Illustriertenanzeigen, leicht schräg, wie es seine Art war, und darauf prangten nur drei große Buchstaben: F (Feuer). Wir kamen noch nach Stuttgart. Die Ausstellung hing, alles war bereit. Während ich im Hotel etwas ruhte, sprach er mit seinen Gastgebern im Museum. Dann passierte etwas sehr Seltsames. Ich lag im Bett und hörte … war es das mahlende Rumpeln eines vorbeifahrenden Lastwagens? Gleichzeitig rüttelte alles, der Kleiderschrank kippte gegen den Nachttisch … Ich torkelte ans Fenster.
Unten im Park rannten ein paar Leute kreuz und quer durcheinander. Und im Nu war alles vorbei. Was war das? Hatte das Hotel nachgegeben? Als Max kam, erfuhr ich: Er hatte von dem Brand Zuhause erzählt, lachend, wie üblich. Die Museumsleute hatten mitgelacht. »Jetzt fehlt uns bloß noch ein Erdbeben«, witzelte einer. Er behielt recht. Sie bekamen ihr Erdbeben. Max wirkte zwar gleichbleibend attraktiv auf Frauen und auch auf manche Männer, aber in der New Yorker Kunstwelt insgesamt weckte er nicht so viel Sympathie. Ja, eigentlich fand er dort nie so recht Anerkennung. (Eine Gruppe, in die er nie ganz hineinzupassen schien, denkt bis heute nur mit Unbehagen, wenn nicht mit Schrecken an ihn.) Seine sehr eigenen Ansichten, seine Unberechenbarkeit, seine totale Nichtachtung des »guten Tons«, ganz zu schweigen davon, daß er es nicht einmal bemerkte, was das Schlimmste war, sorgten dafür, daß er mit derselben Strenge abgelehnt wurde, die Eigentümer eines Wohnhauses bei der Auswahl ihrer Mieter üben. Er hatte etwas an sich, was ich nur allmählich und mit Hangen und Bangen erkannte. Wenn ich hier nun überhaupt davon sprechen soll, dann muß ich tief nach Worten graben, die, wenn sie zutage kommen, braun werden und trocken wie Erdschollen und mich ohnmächtig, verstört, unfähig stehenlassen. Dieses profunde und absolut undurchdringliche Etwas – lastete auf ihm ein besonderes Wissen jenseits des Bücherwissens, ein gewichtiges Geheimnis? – entfernte ihn ganz unmerklich von der Stelle, an der er stand, und seine Freundlichkeit, seine Eleganz, seine ganze Persönlichkeit drückten Fernsein aus. Fern war er dem Atelier, fern seinen Büchern, allen Menschen; fern auch mir, ich sah es deutlich und ohne Entsetzen: Mußte ich denn seine Tiefen ganz ausloten wollen? Mußte ich mich durchbohren bis hinter den kühlen, fernen Blick, der mitten durch meine Augen ging? Denn manchmal
kam sein Blick von so weit her, daß ich die Fassung verlor und an einem wachsenden Kloß in der Kehle schluckte. (Gäbe es heute eine Sphinx, wie würde sie wohl aussehen?) Dennoch, das Rätsel seiner Fremdheit ist die eigentliche Daseinsberechtigung dieser Seiten, was sie auch sonst zu sagen haben mögen. Wie man ihn schildert in seinem Tun und Lassen, Reden oder Schweigen, immer gehört sie dazu, diese tiefinnerste Abwesenheit, diese Ahnung eines Ortes, den zu ergründen ich niemals hoffen konnte. Sie lastete auf ihm, immer, nicht unfreundlich oder etwa traurig. Er schien sich, von seinen drolligen Geschichten abgesehen, an nichts erinnern zu wollen. Der große, prallvolle Sack seiner Vergangenheit versank ungeöffnet. All das Schöne und Schreckliche, das andere mühelos herausziehen und begutachten könnten, das er selbst so schwer zur Kenntnis nahm, moderte dumpf im dunklen Nirgendwo, verloren, unentdeckt und unverlangt. Reimt sich Tandem auf Problem? Wir waren zwei, Künstler beide, wir wollten beide etwas erreichen, denkt man. Letzteres: Falsch. Mein eigenes Wagnis – man könnte sagen typisch in diesem Metier – war voller Widerspruch. Wo erwogen werden mußte, war es jedesmal ein Kampf mit schwankenden Waagschalen, in denen sich Bedürfnisse aller Art auf beiden Seiten häuen. Deshalb war Wählen nicht das Wort für das, was wir taten. Das ist ein Wort zum Einkaufen, für Pullover, Essen, Kleinkram. Hätte ich meine Liebe gewogen, hätte ich sie wie einen pulsierenden herzförmigen Klumpen auf die Messingschale gelegt, auf der anderen (sternförmig) der Erfolg, ich wäre einfach verachtungswürdig gewesen. Eine Künstlerin? Wahrlich, was sonst könnte eine solche Künstlerin sein als minderwertig, selbst wenn sie nach dem Abwiegen beschlösse, für die Liebe alles aufs Spiel zu setzen?
Was ist es denn, was sie riskiert? All die erhebenden, ehrenden Reden, die Illustrierten- und Fernsehinterviews, die konventionellen Zwänge waren, was mich betraf, völlig fehl am Platze. Nirgends konnte ich mich wiederfinden. Für mich stand fest, daß ich besser in meiner Ecke bliebe, wo Kunstmachen erlaubt war. Und wo ich Teil einer zweiseitigen, wechselseitigen Rettungsaktion sein konnte. Da gab es kein Abschätzen von Möglichkeiten, kein Hin und Her von Für und Wider. Es heißt, daß wir aus Wasser bestehen. So war ich vielleicht ein Fluß, der dem Meer entgegenstürzte und unterwegs mit einem Strom verschmolz, ganz natürlich. Wie hätte ich zurück oder seitwärts fließen können? Verliert eine Frau durch die Gemeinsamkeit des Ziels denn ihre Imagination? Oder ihre Hände? Ist es beklagenswert, ist es unfair, in einer verzauberten Sphäre leben zu müssen, wo das beifallheischende Streben anderer, manchmal kaum wahrnehmbarer Menschen nicht mehr ist als fernes Geraune, töricht wie Tischerücken? Daß ich in gewisser Weise Gehilfin eines so wunderbaren und rätselhaen Menschen gewesen bin, war zwar kein besonderer Vorzug (wer will schon bloß Gehilfin sein?), aber es war in keiner Weise schmerzlich oder entwürdigend. Nein, eher überkam mich in bestimmten Augenblicken ein starkes Gefühl wie Mitleid, wenn es schien, als erwarte, ja, als wünsche er, daß ich »die Sache in die Hand nahm«, daß ich wenigstens an seiner stummen Verwirrung teilnahm. Aber teilzuhaben an der ureigenen, wilden Wahrheit, die ihn fest umschloß, ach, das war nicht meine Sache. Warum auch? Er konnte ja auch meine nicht teilen. Und so war es am Anfang nur ein einziger Wunsch, der in mir wuchs wie ein Unkraut oder eine Rose, ganz wie ihr wollt: Gib ihnen ein kleines Geschenk, eine Überraschung, erzähle ihnen von Max Ernst, wie er war mit mir und mit anderen und auch mit sich selbst, mach ihn damit all denen zugänglich, die ihn verworren,
verschlossen, arrogant, schwierig, anmaßend fanden. Dafür reicht es nicht aus, daß ich ihn auf Armeslänge halte und mit schräggelegtem Kopf die Augen zusammenkneife. Er ist zu sehr ein Teil von mir gewesen, als daß noch eine Perspektive möglich wäre. Auch Zeit war dabei, wahre Countdownzeit, so lang und dicht, daß Er meist ein Wir war. Es versteht sich: was ich hier sage oder besser ertaste, betri uns nur als Paar. Was von außen kam, war dagegen ein nicht enden sollender Überfall, schlimm wie eine Seuche, lauter glitzernde Basilisker, maskiert als Freundscha, Bewunderung, Verständnis, und einer oder zwei, ganz kopflos, kamen als Liebe. Geschwätz und Platitüden konnten die Absichten nur unvollkommen kaschieren. Sie tröpfelten herab wie Zuckersa unter der Glyzinienlaube in der Touraine oder summten in der Hitze mit den Fliegen, später, auf der provençalischen Veranda. Sie drangen auf uns ein, jede forderte eine gewisse Aufmerksamkeit für plumpe Anspielungen auf Geld, Frauen, das Kunstderby. G S, S G . (Aus den Spielregeln.) Einmal an einem dieser sonnigen Nachmittage schreibe ich an mich selber: Geld. Mach reinen Tisch mit diesem trüben Kapitel. Ach, wenn ich das nur könnte! Mir wird dabei ganz schwindelig, es ist ein ewiger Alptraum. Ich weiß so wenig das Geld zu würdigen wie ohne es auszukommen. Könnte ich es doch kennenlernen, im gemütlichen Sessel mir gegenüber mit einem Gesicht zum Hineinschauen, einer Stimme, die auf meine Fragen antwortet, auf meine Anklagen, oder könnte ich es in einem Gäßchen schnappen, ihm den Nylonstrumpf vom Kopf ziehen, feststellen, warum es uns immer so teuflisch herumgeschubst hat … Es kann Bedürfnisse so perfekt imitieren, daß I
zu deiner zweiten Haut wird. Es kann I absolut unwiderstehlich machen. Nicht zu vergessen die schlaue Kehrseite, die schwache Seite sozusagen, am besten verkörpert von deinem gerissenen Anwalt, der sagt: D . Ich brauche, wir brauchen, manchmal türmte es sich drohend über uns auf, wendete Licht zu Dunkel und warf die heitere Zweisamkeit, in der wir lebten, aus dem Gleichgewicht. Was Max Ernst betri, so war er zwar nur ein Künstler, aber man konnte ihm zugute halten, daß er für einen beträchtlichen Boom auf dem Immobilienmarkt sorgte. Bei ihm zu sein, mit ihm zu lachen, ihn zu bewundern und seine Arbeiten wegzuschleppen das schien in seinen Besuchern den gebieterischen Wunsch zu wekken, höher am Hang zu leben, beginnend mit einem neu-alten château natürlich, einem Appartement, einem Landhaus, einer neuen Kunstgalerie oder gleich mehreren, immer größer und großartiger als das, was sie vorher hatten. Sie setzten sich an ihm fest wie Seidenraupen auf Maulbeerblättern. Es gab Projekte aller Art: Ein Filmfestival brauchte eine Trophäenskulptur. Ein Städtchen brauchte einen Brunnen. Ein Großmeister im Erfinden von Multiples brauchte ein Bild. Am seltsamsten waren vielleicht die beiden aufgeregten messieurs, die Betten herstellen wollten. Energiegeladen, voller Eifer, voller Geplapper, voller Ideen. Bouvard und Pècuchet. Oder Dick und Doof. Sie kamen aus Paris mit einem Pappkarton, den einer von ihnen (Bouvard?) ausgestreckt vor sich hertrug, eine leichte, aber kostbare Bürde. Geblasenes Glas? Ein seltener Schmetterling? Wir standen alle um unseren großen Tisch herum, als ausgepackt wurde. Zum Vorschein kam ein wackeliges kleines Bett, puppenhausgroß, Kopf- und Fußende waren aus zwei Seiten eines japanischen Vogelkäfigs gemacht, wie Max sie für seine Objektbilder benutzte. Tatsächlich befand sich das Bild Question insecte, das
diese beiden Erfinder zu »interpretieren« hoen, im Augenblick gerade in seinem Atelier. Ein Bett für surrealistische Träume, sagten sie. Es sollte einen Mond bekommen und Riesenwedel Farnkraut (aus Plastik). Eine Tagesdecke aus Nerzfellen sollte darauf liegen. Üppig war das Zubehör – schmächtige Nachttischchen, Lämpchen, Dekorationen, wie sie in Versandhauskatalogen zu finden sind. Sie wollten nichts weiter als seine Genehmigung. Ja, ja. Er bekäme für seine Unterschri zwei Betten! Selbstverständlich, aber ja. Die Ungeheuerlichkeit wurde tatsächlich in einigen Exemplaren hergestellt, mit Pappmond, Plastikfarnen, bedauernswerten Nerzen und allem Drum und Dran. Die Herren konnten ihre Erregung kaum bändigen. »Wo wollen Sie Ihre denn hinstellen?« fragte mich der eine in schwärmerischer Verzückung. Unser Keller breitete seine Spinnweben über die Dinger, als sie geliefert worden waren. Und nach einem peinlichen, schwammigen Werberummel fiel das ganze Projekt in sich zusammen. Es gab die Betten in Schweizer Warenhäusern, ein Bett in einem Münchner Magazin, Restbetten in der Fabrik. Wir brauchten unsere nur irgend jemandem anzudrehen, um den ganzen elenden Reinfall zu vergessen. Max, großzügig bis zur Gleichgültigkeit, gab. Es nahm kein Ende. Seit wir den sicheren Hafen Arizonas verlassen hatten, verging kaum ein Tag, an dem nicht wenigstens eine Zeichnung seinen Händen entflatterte, um sich auf dem Baum eines Bekannten niederzulassen. Wenn seltene Mappen, Alben, Frottagen, Stiche auf dem Tisch lagen, wurden sie ausgeteilt wie Plätzchen. Er wußte nie, was mit seinen Plastiken passierte. Immer war da einer, der zu ihm sagte: »Das Geld wird für Sie aufgehoben«, wie zu einem Kind. Warum habe ich nichts getan? Wollte ich, konnte ich eine von
diesen Ehefrauen werden? Würde ich jemals eine dieser Witwen sein? Les veuves abusives nannte er sie spöttisch. Wie soll man eine zusammenhängende Darstellung zustande bringen, wenn so viele Verbindungsstücke in Privatverstecken auf mehreren Kontinenten verschwunden sind? Die Antwort ist: Man kann es nicht. Vielleicht war das seine Absicht. Seiner Frau, auch Künstlerin, das bin ich, kommt das Verdienst zu, den Umsatz der Pariser Flohmärkte, Parfümerien, Läden und Boutiquen für preiswerten Modeschmuck belebt zu haben. Denn unweigerlich brachten die Freunde mir etwas mit, wie man dem Hund einen Knochen hinwir, damit er nicht bellt. Manchmal riß Max die Augen auf, durchschaute die plumpe List und rebellierte. Manchmal war auch einfach nichts mehr da. Plastiken? Collagen? Frottagen? Dann schrumpen mit der Beute auch die Parfümflaschen, bis es eines Tages, als es aus war mit den großen Geschäen, überhaupt kein Parfüm mehr gab. War eine Geste angezeigt, dann war es amüsant, eine Arbeit von ihr zu überreichen und den kleinen scheelen Blick der Enttäuschung zu registrieren, weil sie von ihr war und nicht von ihm. Da die Höflichkeit es gebot, lächelten alle. Damit habe ich also zu meinem Platz in dieser Welt der Besucher etwas gesagt. Worüber ich noch nicht gesprochen habe, aber sprechen muß, das ist mein Platz als Künstlerin. Und ach, da haben feine Rapiere fast unablässig zugestoßen – meistens seltsam absichtslos und deshalb um so niederträchtiger –, es hat der ganzen Kra meiner Geduld und meines Stolzes bedur, sie abzuschütteln. Wo war mein Eigensinn geblieben? Wie hatte sich mein lebenslanger Hochmut im Gewirr der Manöver verstrickt, bei denen es mehr um die Frau ging als um die Künstlerin? Von einer Minute zur anderen – so lange man braucht, um sich hoffnungslos zu ver
lieben oder einem Erschießungskommando ins Auge zu blicken – war ich aus meinem unerreichbaren Horst in ein Nest am Erdboden versetzt worden. Tausendmal hatte ich im Stillen die Zähne zusammengebissen, hatte den Kopf in den Nacken geworfen, war schlau gewesen und standha. War ich unbesiegbar? Die Welt würde mir schon die Antwort geben, würde die Dinge zurechtrücken, würde alle Überflieger vom falschen Geschlecht auf den Boden der Tatsachen zurückholen. Es begann mit kleinen Unterbrechungen der Arbeit für Unvorhergesehenes; unmerklich sickerten Kompromisse ein, bloß Gefälligkeiten eigentlich, kaum als Resignation mißzuverstehen. Wieder und wieder. Macht nichts, ich hatte Nerven aus Stahl. Aber es ging weiter, gerade dann, als wir uns sagten: »Jetzt ist es, wie es sein soll«, denn wir konnten zu zweit schließlich mutig den Vielen entgegentreten. Mehr und mehr lebte ich im Land der Verdrängung, während der Ansturm von außen an Umfang und Heigkeit zunahm. Er, mein Max, stand hilflos daneben, ungläubig und unglücklich. Manchmal ignorierte er einfach die Wünsche von Museumsdirektoren, nur weil sie so taktlos zu mir waren. Als wenn das etwas geändert hätte! Sie rückten ihm auf den Pelz, sie stürmten geradezu gegen unseren Kristall an, aber sie konnten nicht eine einzige seiner Facetten ankratzen. Zwei Künstler in zwei Ateliers; zwei Staffeleien, seine und ihre; das gleiche Tohuwabohu auf den Tischen, auch die Geräusche gleichen sich. Sind wir – ja, was denn? Eine Schule, ein Laboratorium, eine Heimarbeiterwerkstatt? Und da ist, ziemlich spät, der Gedanke: Wären nicht vielleicht zwei verschiedene métiers doch besser gewesen als eins? Und besser für wen? Dafür hätten wir uns zwei andere Gefährten suchen müssen. Kein häßliches Gehämmere im Gleichklang, keine Terpentinschwaden aus zwei Türen gleichzeitig, keine traurige Konfusion in Besucherköpfen vor den Wänden.
Von Anfang an waren »sie« bereit, bemüht und gewillt, seinen Einfluß aufzuspüren. Das Wort ist durchaus nicht zu unterschätzen. Es ist überall, eine beliebte Spitze der dürigen Feder. Einmal habe ich in einem zweiseitigen Artikel über meine Arbeit dreiundzwanzig Künstlernamen gezählt. Es hat richtig Spaß gemacht, diese Liste nach Jahrhunderten zu sortieren und festzustellen, daß ich ziemlich gleichmäßig der Kunst des neunzehnten und des zwanzigsten Jahrhunderts, und zwar der italienischen, französischen, britischen und japanischen (Meister, selbstverständlich) verpflichtet – und daß mein Werk, ganz vorsichtig ausgedrückt, feminin sei. Ein andermal hielt es der Kunstkritiker eines angesehenen New Yorker Wochenblattes in seinem Bericht über ein buntes Bildersammelsurium, das irgendwo zu sehen war, für richtig, meinen Birthday als »hart, schroff und flach, aber wirkungsvoll« zu bezeichnen. Wahrhaig, wirkungsvoll muß das Bild gewesen sein, denn als es im darauffolgenden Jahr wieder in einer Ausstellung hing, meinte derselbe Kritiker, es sei von einem »begabten Neuling« gemalt worden. War der Mann dabei, die Übersicht zu verlieren? Als der Birthday nämlich sieben Jahre später für eine der blockbusters genannten Gesamtschauen, die die Museen so gern veranstalteten, ausgeliehen wurde, schien das ganze Gerüst seines kompromißlosen Urteils inzwischen aus den Fugen, er schrieb im Taumel seiner Kapitulation, Birthday sei eins der Glanzstücke der Ausstellung. Als ich diesen letzten Phrasenkrampf las, schenkte mir das ema Kunstkritik einige Momente schmunzelnder Nachdenklichkeit und die feste Überzeugung, daß wahre Kennerscha, keineswegs zu verachten, uns stets erfreuet und belehret. Eines feuchten Pariser Abends besuchte ich in melancholischbesinnlicher Stimmung ein Konzert im Haus des Rundfunks; der Komponist Karlheinz Stockhausen dirigierte seine »Hymnen«, eine Musik, die mich aus meinen trüben Gedanken riß und mir
unglaublich, aber unmißverständlich zeigte, was ich tun mußte. Inmitten der überirdischen Klänge der »Hymnen« kreisten die irdischen, ja, organischen Formen, die ich schaffen würde, schaffen müßte, aus Tuch und Wolle. Ich sah sie ganz deutlich, lebende Materialien, zu lebenden Skulpturen geformt, deren Lebenserwartung etwa der unseren entsprach. Vergänglich würden sie sein und gebrechlich, um mir zu gefallen, die sie schuf und überlebte. Plötzlich fühlte ich mich zufrieden und stark, als ich um mich blickte. Niemand wußte, was in mir vorging. Ich hatte die »Hymnen« vergessen, merkte nur, daß sie zu Ende waren und alles aufstand, ich spürte Potenz und Kreativität, wie man Werke spürt, die noch nicht vollbracht sind. So also begann, was zu fünf Jahren bildhauerischer Tätigkeit wurde. Diese Arbeit in meinem Atelier in Seillans befaßte sich nicht wie gewohnt mit Leinwand und Farben, sondern mit Wollgarn und endlosen Bahnen sinnlicher Tweeds; sie zuzuschneiden war aufregend wie eine nahende Gefahr. Hin und wieder dachte ich zurück an jenen Musikabend, als ich ein Risiko übernahm und mir gefügig machte. Und als dabei meine Melancholie verging. Ein Künstler ist die Summe seiner Risiken, dachte ich, der Risiken des Lebens und des Todes. Und gemeinsam mit meiner Nähmaschine streckte und stichelte und stope ich die banalen Materialien menschlicher Bekleidung in einem Verwandlungsprozeß, dessen staunendster Zeuge ich selbst war. Max liebte unangemeldete Störungen im Atelier gar nicht. Ich übrigens auch nicht. Besuch gab es nur auf Einladung. Zu Hause, ungestört, nur wir, war ein neues Bild Anlaß für: »Möchtest du vielleicht sehen …?« Oh ja! Du kamst, du schautest, du sagtest, was du dachtest. Wenn ich Worte wie schön, leuchtend, zauberha, neu, heiter, herausfordernd, eindringlich, endgültig
sagte, dann nur, weil ich sie meinte. Dann und wann konnte ein falscher Ton das Klima reizen: »Das kleine Fleckchen Gelb da«, wagte ich mich vor, »ob da nicht Grün besser wäre? Ich überlege bloß, ob das bißchen Gelb …« Ein schlechter Moment. »Du!« Die freche Kritik ist abgetan. Trauriger, trauriger Abend. Aber am nächsten Tag kommt Besuch und ich folge ihm in Max’ Atelier, und dort sehe ich, daß der gelbe Fleck grün geworden ist. Ich bin verrückt vor Glück. In Wahrheit würde er fast alles für mich tun, denke ich selig. Dieselbe Aufforderung, dieselbe Besichtigung umgekehrt. Mein Atelier, mein neues Bild. Er kommt, er schaut, er sagt: »Wundervoll.« »Gefällt es dir wirklich?« »Es ist wundervoll.« »Aber hat es nicht irgend etwas? Die Form in dem blauen Rechteck da, sei ehrlich …« »Aber ich sagte doch – es ist wundervoll.« »Aber … etwas kannst du doch sagen. Ich nehm’s dir nicht übel.« Und er, nun ungeduldig: »Na hör mal. Ich habe gesagt, es ist wundervoll. Was willst du mehr? Was kann ich denn noch sagen?« Und er rauscht beleidigt hinaus. Am nächsten Tag beim Mittagessen gebe ich eine kleine Erklärung ab: »Max, das Bild, das ich dir gestern gezeigt habe … das neue mit dem blauen Hintergrund …« »Ja?« »Also – ich habe es vernichtet.« Er knallt seine Serviette hin, er starrt mich an, er donnert »N« Und kurz darauf: »Naja, es war nicht dein bestes.« Hin und wieder verspürte ich einen Anflug von Gereiztheit. Ich meinte, eine aufrichtige Meinungsäußerung, wenigstens der Ansatz eines echten Urteils, eines durchaus schonungslosen, sogar brutalen Urteils wäre das, was ich mir wünschte. Aber er hatte natürlich
recht. Das Verdikt des Meisters wäre ihm ebenso verhaßt gewesen wie später mir. Eine Verletzung, ein Meuchelmord. Jeder hat seinen eigenen Blick, sein eigenes Herz, seine eigene Seele. Wozu denn des Lehrers Schritt im üppigen Garten dieses Überflusses? »Was soll diese Manie zu lernen?« pflegte er zu sagen. »Lehrer! Alle Welt scheint Lehrer oder Lernender zu sein. Was kann man denn lernen, was man nicht in den Augen und in den Büchern schon hat?« »Du kannst das Sehen lehren«, sagte ich. »Das Tun kann man nicht lehren«, sagte er. Und ich: »Du kannst lehren, wie man denkt …« »Nicht, wie man fühlt.« Damit hatte er das letzte Wort. Er mag dabei an den Lehraurag (Lehraurag!) in Honolulu gedacht haben (wißt ihr noch, der Vulkan da?), an die dreißig Vorlesungen, die er damals im Sommer an der Universität vor einem dichtgedrängten Vielvölker-Auditorium gehalten hatte. Als es dann an der Zeit war, den Studenten die Prüfungen abzunehmen, rebellierte er; das kam nicht in Frage. Die Rolle des Richters war ihm zuwider; oh nein, das war gar nichts für ihn. Und so wurde die Tat still und heimlich von Wes begangen, seinem geschätzten Assistenten. Umgänglich und lächelnd machte er die Türen weit auf, immer in Erwartung des angenehm Überraschenden. Wo er auf Dummheit oder Verständnislosigkeit stieß, wandte er sich einfach ab, wie damals in Sedona von dem langweiligen Wäschepaket, und seine gesammelte Verachtung stand in dem deckenwärts gerichteten Blick geschrieben. Oder sein Humor gewann die Oberhand und er versprudelte Wortspiele, durchsetzt mit Komik eigener Provenienz, und Champagner für alle. Hat er je einen Gedanken darauf verwendet, was das Vernünftige sei? War Takt ein Wort für den Werkzeugkasten oder eine
neuartige Zahnpasta? Nichts Gefährlicheres als Aufrichtigkeit trieb ihn, Schwindlern und Eiferern gleichermaßen in die Parade zu fahren, mit Scherenwörtern zerschnitt er das durchsichtige Gewebe von Heuchelei und Hochmut. Ob er nun recht hatte oder nicht, so war Max, wie er leibte und lebte. Zeit und Erfahrungen hatten ihn in seiner Ablehnung der Mächtigen bestätigt, hatten ihm reichlich Beweise dafür geliefert, daß man durchaus ohne sie ein erfülltes Leben führen konnte, frei vom Gerangel um hierarchische Positionen. Er mit seinem Grinsen, das eine vernichtende Sottise verschönte, mit seiner spontanen Teilnahme an unseren häufigen Albereien, übermütigen Streichen aus reinem kindlichem Spieltrieb – er ließ ein Unselbst-Bewußtsein erkennen, für das ich Welten gegeben hätte. Manchmal regte sich in mir der leise Wunsch, daß er nicht so mit sich im Reinen wäre, nicht so heiter-gelassen. Einen großen Knacks hätte ich gern bei ihm gesehen, um helfend einspringen zu können. Um aus unserer Zweisamkeit die vollendete Symmetrie zu machen. »Die unentbehrliche Dorothea. Hat sein Leben herausgeputzt.« Ein flüchtiger Traum. Denn so notwendig war ich nicht. Jeder konnte sehen, daß er immer so gewesen war und immer so sein würde, ob mit einer eifrigen D. T. oder ohne sie. Was allerdings alles mit seiner sehr zufriedenstellenden Passion für mich nichts zu tun hatte. Bindende Loyalitäten waren ihm ebenso fremd wie feststehende Konventionen. Sich offen zu einer Gruppe, Nation, Partei zu bekennen, war ihm nicht gerade zuwider, aber doch irgendwie lästig – auch der surrealistischen Bewegung machte er zu schaffen mit seinen o anarchischen Seitensprüngen, so daß sie ihn wiederholt ausschloß und ebenso wiederholt umschmeichelte. Die warm gepolsterten Nester des Familiengefühls und der Blutsverwandtscha betrachtete er als Fallen; man flog darüber hin, man ließ sich nicht darauf nieder. Blut war zwar eine Notwendigkeit, aber es war doch
ein Greuel, ob es im Inneren floß oder draußen auf den Boden rann. Endziele, Parteien und Fahnen (»die Fahne soll schnell gehißt und feierlich eingeholt werden«) waren schlicht ermüdend. Unweigerlich hob sich sein Blick zur Decke, sobald ein Eiferer zu einer politischen Tirade ansetzte. Auf sicheren Füßen stand er da, leicht vornübergeneigt, immer behutsam mit seinen großen, drahtigen, kostbaren, geheimnisvollen Händen, und ließ geistesabwesend die vorgeschriebenen Rituale unbeachtet. Er hielt keiner Dame die Tür auf oder nahm ihren Arm beim Überqueren der Straße. Würdenträger und Berühmtheiten waren Popanze. eater fand man auf Bücherbrettern, nicht auf Bühnenbrettern. Hingerissen las er Strindberg – zu hingerissen, fand ich – und auch Shakespeare: »Natürlich hat er geschrieben, um gelesen zu werden.« Er ging ins Kino wie alle Maler: Wegen der Bilder. Matta, filmsüchtiger Künstler auch er, sagte einmal zu mir, es gäbe keinen Film, und sei er noch so miserabel, der einem nicht einen Augenblick der Erleuchtung schenkte. Die Zeit verliert sich im Nebel und ich verliere mich nun manchmal in Max’ Spiegeln: Max hat gesagt … Max hatte lieber. Max verabscheute … Max hätte immer … Max vergaß nie … Max hat mir erzählt … Max … Sein Tue-dies und Laß-das war o ungestüm und immer voller Farben. Das Tue-dies ist überall in diesem Buch zu finden. Vom Laß-das hier einige Proben: Gräme dich nicht um Pferde. Sei einfach dankbar, daß ihr Leidensweg zu Ende ist. Iß keine Gesundheitskost. Rühre kein Mehl in die Soße. Sag’ nie, du liebst einen Schuh. Trödele nicht zu lange, wenn du etwas kaufst. Deine Zeit ist mehr wert als dein Geld. Wecke niemals einen Menschen aus seinem gesunden Schlaf.
(Wie lustvoll erzählte er von dem Prozeß: Ein Mann brachte seine Frau um, weil sie ihn geweckt hatte – und wurde freigesprochen!) Gib niemals irgend etwas zu. Dies letztere hielt er in unseren ganzen vierunddreißig Jahren peinlich genau ein. Auch die Worte »es tut mir leid« oder »es war meine Schuld« kamen ihm nie über die Lippen. Ein eigenes Laß-das muß ich dem noch hinzufügen: Laß dich nie überreden, etwas zu essen, zu trinken, zu rauchen oder in dich aufzunehmen, wenn du nicht willst.
9. Gefaltete Schwingen
1
. Loplop ist abgestürzt, sein linker Flügel für immer still. Das Jahr ist starr, elf verlorene Monate auf dem zahlenverstopen Kalender. Max’ Bett ist die Achse; um sie dreht sich alles. Das hohe, weiße Bett, das sein Elend eng umschließt, das Betrogensein, das in seinen Augen liegt. Am Tag vor seinem letzten fragt er den Besucher, seinen alten Freund Robert: »Sag, Robert, was hältst du von dem Brief?« »Dem Brief?« Max beharrlich: »Ja doch, du weißt schon …« Robert, vorsichtig tastend: »Aber …« Und Max: »Der Brief, der Brief. Rimbauds Brief. La lettre du voyant.« Dieser rätselhae Brief, den Rimbaud an seinen Freund und Vertrauten Georges Izambard geschrieben hat, ist noch heute nicht überzeugend erklärt. Während seine letzten Stunden verrinnen, offenbart Max Ernst, was ihn bewegt. Von allem, was er erlebt hat, von all den Sphären, die er bewältigt, den Bollwerken, die er gesprengt, den Kerkern, denen er entkommen ist, von allem, was er geliebt oder geschätzt oder in Zweifel gezogen hat, von allen Worten, die er in seinem langen Leben gelesen hat, ist es Rimbauds Brief, der ihn jetzt fesselt. Er ist da, eingeschlossen in die sich verfinsternden Gänge seines Geistes, der Brief mit seinem ungelösten Rätsel. Er hat nicht den leisesten Wunsch, zu erfahren, was – klinisch – mit ihm geschehen ist. Die hübschen Krankenschwestern sind eine schlichte Notwendigkeit; sie tun ihre Arbeit, und er, schon stumm, schaut zu, wie sie ihn pflegen und füttern in wortloser und
souveräner Teilnahmslosigkeit. Das Medizinische ist ihm vollkommen gleichgültig. Der atemlose Arzt auf seinem täglichen Sprung schaut nach ihm, dosiert Arznei, jongliert mit Pillen. Leute kommen und gehen. Freund Patrick sagt: »Verzweifle nicht, Dorothea. Georges B. hat in seinem Bett noch acht Jahre gelebt« (gelähmt allerdings). Soll mir das Hoffnung geben? Soll ich dankbar sein für einen horizontalen Max, für eine zerbrechliche Puppe im hohen Bett? Wäre es denn für Max eine Erleichterung, wenn er wüßte, er könnte so am seidenen Faden hängenbleiben? Würden wir beide lernen in diesen endlosen Tagen, während die winzige Dämmerung zum wilden Mittag heranwächst und dann langsam, ganz langsam ins Dunkel versinkt, vielleicht in den Schlaf, so daß wir am nächsten Morgen von neuem beginnen, uns noch mehr anstrengen können zu lernen, die Lublase zu mögen? Könnten wir es wohl lernen, er drinnen, ich draußen, außerstande, uns auch nur bei der Hand zu halten, »Fassen Sie ja nicht an!«? Die regungslose Hand. »Jetzt stellen wir ihn uns einfach ohne die Krankheit vor.« Jemand beugte sich nah zu mir und sagte das, und sofort erkannten wir, daß es unmöglich war. Fast ein Jahr lang lag er in diesem Bett, wissend. Er schaute ins Fernsehgerät. Er sah stürzende Pferde, Explosionen. Er sah Insekten, prachtvoll vergrößert und lichtdurchschimmert, sah ihre gespannten, ruckhaen, so zielsicheren Bewegungen; kein Wunder, daß sie stärker sind als wir. Er betrachtete das gefurchte Gesicht des Cowboys und dachte vielleicht an das sirrende Sedona, das nun so fern lag; er sah Bug’s Bunny zu, der internationalen Gottheit, nicht Mensch, nicht Kaninchen, mit ihrer lachenden Stimme, die bald auf dem schmutzigen Fußboden des Werbespots erstarb, wo ein fleißiger Mop putzmittelgetränkt durch den Dreck wischt und einen rechteckigen Glanzstreifen hinterläßt, der ein Fenster zur Finsternis unseres Kummers wird.
Unbeweglich, unerreichbar. Wie er dort lag, war bestürzend klar, daß er sterben würde. Und daß es keinen Kompromiß, keine Offenbarung, gar nichts für mich geben würde, nirgends. Er würde sterben wie ein Vogel stirbt, die Schwingen gefaltet, nutzlos wie bemaltes Blech, er würde alles um sich her abstreifen, die barschen Schwestern, die kleine Köchin in ihren engen Jeans und klappernden Clogs, sein aufgewühltes Weib, den hektischen Doktor, die Besucher, erlaucht oder nicht. Alles lauter Fremde. Familie, Heimat, Götter, alle warteten draußen. Er hatte reichlich Zeit, sterbend zu kapitulieren, aber er tat es nicht. Da ist die Stimme Aragons, der am Bett sitzt: »Weißt du noch, Max?« Gedanken, Erinnerungen an die schönen Zeiten. Max hört halb hin oder auch gar nicht, seine Augen ruhen auf dem Fernsehgerät. Woody Woodpecker überlistet den Fuchs. Und Aragon, fabelha, nicht aufzuhalten: »Weißt du noch, Max, wie ich dich aus dem Tumult im Café Dome herausgelotst habe, als Dutzende von Bullen hereinschwärmten? Wir waren alle kampferprobte alte Pariser, wir anderen, hatten nichts zu fürchten; aber du, du armer Kerl mit deinem unmöglichen deutschen Paß …« Ach Max, sieh uns doch an. »Max, Liebling, Aragon sagt …« Woody winkt, Max schaut zu. »Mhmmmm«, sagt er matt. Er zeigt uns die so greiare Antwort. Aber dann ist er müde und die Antwort hat Zeit. Aragon wird gehen, traurig, weil er seine charmanten Souvenirs still im Gedächtnis behalten muß und nicht mit seinem alten Freund teilen kann. Ich kann mir nicht helfen, es fällt mir auf, daß er die Versammlung vor zwölf Jahren nicht erwähnt, als er uns gebeten hatte, ihn zu einem »Wohltätigkeits-Ballett« zu begleiten. Natürlich. Als wir zum Palais d’Hiver kamen, wurden wir durch die dichtgedrängte humanité-Menge (L’Humanité war Aragons Zeitung) nach vorn zur ersten Reihe geführt, wo ich mich zu meiner Verblüffung auf
einem Platz zwischen Waldeck Rochet, dem damaligen französischen Kommunistenchef, und meinem armen Max wiederfand, der, obwohl in der Falle, das halbstündige Vorspiel der Blitzlichter zähneknirschend, aber tapfer über sich ergehen ließ. Im Laufe dieses nicht endenwollenden Abends (Ballett gibt es keins) springt Aragon in seinem hübschen schwarzen Samtanzug federnd auf die Bühne und liest aus einem Bündel Papier Gedichte vor. Inzwischen ist mein Hirn so glasiert, daß seine Stimme nur als unartikuliertes Geräusch zu mir durchdringt und der anschließende stürmische Beifall als Drohung. Ich schaue mich um. Der Riesenraum ist gefüllt mit Gesichern, alle tragen den trostlosen Ausdruck des unterdrückten Widerwillens gegen ein Vergnügen, das sie nicht wollen; kantig oder rund, dunkel oder blaß, sie alle werden auf Kommando fröhlich singen oder heiser brüllen. Ich fühlte mich umzingelt. Kein Zweifel, ich tat besser daran, stillzusitzen. Alle paar Minuten schnellte ein Photograph um die Ecke nach vorn und knipste uns, Monsieur Rochet zu meiner Rechten, Max zur Linken. Was für ein Gesicht sollte ich machen? Sollte ich lächeln? Streng dreinblicken? Gedankenverloren? Unmöglich, sich zu verstecken. Ich warf verstohlene Blicke auf den struppigen Monsieur Rochet. Er war gespannt, zerzaust, seine Augen waren unter schattenwerfenden Bäumen geparkt. Unnötig zu sagen, daß zwischen uns kein Wort gewechselt wurde. Er hat wahrscheinlich meinen Platz als unbesetzt betrachtet. Dieser Abend war zwar nicht das Schlimmste, sicherlich aber mit das Groteskeste, was mir je widerfuhr. Er lief nach demselben halb komischen Drehbuch ab wie jene Alpträume, in denen man, sagen wir, nackt auf dem Flughafen steht und lange darauf warten muß, daß die Kleider endlich auf dem Kofferkarussell erscheinen. War das wirklich ich, Dotty Tanning aus Galesburg, die zarte Romantikerin, durchwoben mit Träumen von überirdischem Glanz,
von Metamorphose, Zauberei, Verzückung? Ja, sitz still. Als es vorbei war, drängelten wir uns unbemerkt ins Freie, während Aragon sich drinnen sonnte, umringt und glückstrahlend, zufrieden mit sich wie hier an diesem düsteren Nachmittag, ein rundum unbezwinglicher Mann. Auf Wiedersehen, auf Wiedersehen … Der Tag verblaßt zum Abend. Fernsehmädchen, Fernsehrennen und belfernde Schießeisen, eine Vielfalt von Geräuschen, die Geräusche sind das Ziel. Wallendes Fernsehhaar, das etwas beweisen soll, beweisen, daß alles wogt, Rauch, Feuer, Felder, Lava, Wasser, Würmer, Frauen unter Männern. Jetzt wird Licht gemacht und er zum Drogenschlaf gebettet. Der Abend ist steinern mit dem toten Fernseher und den höhnisch gebleckten Zähnen des hoffnungslosen weißen Todes, der sich gemütlich in dem großen, weichen, runden Sessel rekelt, den Max nicht benutzen kann. Für ihn war er hereingestellt worden, sein Lieblingssessel. Da kommt die Nacht, sie läßt das Zimmer verschwimmen und verschluckt unsere Wände. Was ist Zeit? Kann man sie weglachen? O wird ja gesagt, es gäbe sie gar nicht. Und da ist sie, übernimmt das Kommando, walkt alle durch, züchtigt die Leiber, die das Innere nach außen kehren, die sich billig und schlecht gebaut fühlen. Grollende Leiber im ewigen Zweikampf mit dem Geist. Ich bin hier, wir beide sind hier, es ist Mitternacht. Oder? Erstes Dämmern sickert ein wie bläulicher Staub auf der Dunkelheit. Meine Lungen atmen wertlose Lu, die niemand will, am wenigsten Max. Er hat einen ebenso festen Platz am Firmament der menschlichen Sterne wie die anderen, von denen wir zehren, wissentlich oder unwissentlich, deren hinterlassene Monumente Stützpfeiler unserer Verwegenheit sind. Ich glaube, er hat es gewußt. Und hat wie sie gefunden, daß das nicht so furchtbar wichtig wäre und auch nicht seiner persönlichen Bestätigung bedüre. Ein flammender Planet sieht nicht den eigenen Widerschein. Nein, der stetige Blick,
das bereitwillige Geben, der Überfluß, die Ironie, die Distanz sind es, die ihn kennzeichnen, den Künstler als Ereignis. Ereignis, sage ich, denn seine Vision war der Art, daß sie die Nähte der Malkunst sprengen mußte. Bei dem Versuch, seiner Gestalt klare Konturen zu geben, ist mir meine enorme Unzulänglichkeit schmerzha bewußt. Sie entspricht etwa den ungelenken, falschen Pinselstrichen von Bildrestauratoren. Von Anfang an habe ich gesehen, daß das Etikett »Maler« Max nicht gerecht werden kann. Es wir ihn in einen Topf mit denen, die malen können. Es sind große Maler, sie haben gut, besser, am besten gemalt. Akrobaten. Wie aber nennt man einen, der uns auffordert, die Welt der Ratio zu verlassen und dem Unwägbaren ins Auge zu blicken? Einen, der das ohne Worte tut, nur mit Zeichen, Symbolen, geheimnisvoller Mimikry, angeordnet auf Flächen, die sich listig als Gemälde ausgeben? Einen, bei dem gerade das Fehlende etwas sagt, der vermeintlich Bekanntes, ein Rad, einen Käfer oder einen Lichtstrahl, als Pointe, nicht als Farbe dort hinsetzt – ganz unkünstlerisch, in heiterer Respektlosigkeit vor dem Metier? Wie wäre es hier gewesen ohne ihn? Ich kann es mir nicht einmal vorstellen, die Worte verdampfen, die Formen zerfließen, und gewiß wäre heute nichts so, wie es ist. Heute Nacht ist Grau die Grundfarbe, das Endergebnis. Aschfarben ist der Himmel, der Deckel der Stadt, der Pelz im Mund. Die Zeit lebt mit dem Raum, ungestört; Mutter Zeit, Vater Raum. Sie sind König und Königin der Welt und des Universums und des ganzen Drumherums. Unbesieglich. Sie sind die einzigen. Nichts ist zu hören, sein Atem geht federleise. Etwas Intimes geschieht hier. Ungestört von trauernden Gesichtern bereitet sich Loplop, der König der Vögel, in Einsamkeit, in der anmutigen Sphäre
seines ätherischen Lureichs, auf Abstieg und Abschied vor. Er ist wie ein See mit Echo: Ich sage Max, alle sagen Max, der See sagt Max, das Echo sagt Max (von weither), und Max ist überall und Teil meiner Kehle und das Stäubchen im Wind. Ich halte meine schreienden Ohren zu, die niemand außer mir hören kann.
10. Immer noch im Atelier Stirnrunzelnd blickt nun dieser Tag, Der makellos zu sein versprach. Wer huscht da durch die Dämmerstunden? Wer schlä da meinen Schlaf?
A
pril . Im Atelier brennt kein Licht, nichts regt sich, und die bunten Scherze verblassen schnell. Bitter bin ich aus der Bahn geworfen. (Ist das Herz dazu verdammt, täglich neu zu brechen?) Juni. Immer noch im Atelier. Alles liegt zuhauf am Grunde meines rissigen Hirns. Alles. Es ist bleischwer und mag nicht aufstehen. Meistens ist es stockdunkel da unten. Stundenlang kannst du lustlos herumtappen. Meine Seele ist eine Höhle, ihre Worte sind in Kisten und Kästen versteckt, die Schlüssel verlorengegangen oder verrostet. Wenn ich die Schlüssel finde, passen sie nicht in die Schlösser. Und wenn sie passen, lassen sie sich nicht drehen. Und wenn sie doch das Schloß öffnen, hebt sich der Deckel nicht, denn die Scharniere sind steif. Und wenn die Truhe schließlich offen ist, zeigt sich ihr Inhalt meist vergammelt oder verschimmelt vom langen Warten, es ist der Mühe nicht wert, ihn ins Helle zu schleppen. Ein Sommer und dann ein zweiter sah mich und mein Gepäck wegfahren, nach Seillans, das mich jedesmal umwölkter wieder entließ. Völlig ratlos, was nun werden soll, bin ich kaum mehr als ein Schema der menschlichen Anatomie, blutrot-blaues Nervengeästel ohne schützende Haut. Das taubengraue Paris, unbeschreiblichste der Städte, ist immer noch heimatliche Zuflucht, wo es Freunde gibt mit guten Ratschlägen: »Du mußt ein neues Leben anfangen«,
gemeint ist: Zusammenleben. Was mich innerlich erschauern läßt. Frühjahr . Meine bleichen Nachmittage verrinnen hinter den ergrauenden Gardinen unserer weißen Zimmer. Nein. Ich muß lernen, »meine« zu sagen. Meine Zimmer. In der rue de Lilie. Das Weiß ringsum, auf Wänden und Böden, wird allmählich zu bräunlichem Grau, kopiert die Farbe meines Gemüts. Flaumiges Gänsegrau, saner als all das Weiß. Eigentlich ist die Stadt jetzt hier drinnen, ein Hauch von Schwarz, den ich akzeptiere, ohne Gegenwehr. Meine Zimmer also, in denen ich zu allen höflich bin. In denen ich über meine Lage aufgeklärt werde: gar nicht übel, wirklich, wenn du weißt, wo dein Platz ist, tust, was du tun sollst, keine Fragen stellst und daran denkst, daß du, nun ja, eine Frau bist, eine Witwe, und nicht sehr verläßlich. Was soll ich hier? Während die einen beraten, die anderen planen, versinke ich gurgelnd in einem Sumpf der Stille, der viel tiefer ist, als ich für möglich gehalten hätte. Wenn ich sage: »wir« machen dies oder das und für »uns« – was meine ich damit? Einen Ort, eine Sippe, ein Land? Identifiziere ich mich mit den Menschen oder bin ich bloß zufällig einer? Fröhlich glauben sie, die anderen, die mir äußerlich ähnlich sehen, daß ich hundertprozentig echt bin. Ich kann von Glück sagen, daß sie, die mich umringen, mich nicht zerquetschen, denn es wäre ja so leicht. Die gesellschalichen Regeln halten wohl auf wundersame Weise das Chaos im Zaum. Meistens tun wir, sie, einander nicht weh. Und wenn Eleven ihren rosigen Witz an den falschen Leuten schärfen, um so besser – dann kann ich leichter unbemerkt entwischen. Ein Jahr später bin ich heimgekehrt nach New York, instinktiv wie eine Brieaube. Hier übe ich mich in Konformität, der vornehm
sten der Freiheiten. Da sitzt man auf Stühlen oder steht in seinen Schuhen, manchmal hält man etwas in der Hand, ein Messer vielleicht oder ein volles Glas, das man keinesfalls verschüttet oder umkippt, sondern von Zeit zu Zeit zierlich an die Lippen hebt, um ein Schlückchen zu nehmen. Man trägt Liebenswürdigkeit im Gesicht – was ganz selbstverständlich ist, wenn man Gast ist, komischerweise aber auch o, wenn man allein ist und dieselben Schlückchen nippt und genauso dasteht, bloß ohne die engen Schuhe, obwohl auch das nicht sicher ist, denn manchmal bleiben die Schuhe an den Füßen und befriedigen auf recht praktische Weise das Bedürfnis nach einem kleinen Schmerz. Oh ja, wenn ich die Gesetze einhalte, die geschriebenen und die ungeschriebenen, die Gesellschas-, Staats-, Natur- und Stammesgesetze, dann wird mir nichts passieren, mein Körper wird ganz bleiben, wird nicht zerteilt wie die Leiber dummer Heuschrecken, die übermütig werden und sich fangen lassen, nur um ein großes grünes Bein einzubüßen, und wie soll ich dann von Ort zu Ort hüpfen? Wenn ich mich jetzt noch, so spät und so weitschweifig, dem ema zuwende, das heikler, tückischer, einschüchternder ist als alles andere – dem Malen eines Bildes –, dann muß die erste Frage lauten: Warum? Eine dicke pilzförmige Wolke teilt ihre Qualmladung aus, und keiner will das Ding beim Namen nennen, diese hautnahe, tiefgreifende Erfahrung. Sie ist gewaltig. Eine Umwälzung. Sie verlangt Zähigkeit; sie bedeutet einen aufreibenden, aufregenden, zermalmenden Prozeß, den man aus dem Nichts etwas schaffen nennen könnte. Dein Herz hämmert – es könnte ja mißlingen –, du gibst alles, was du zu haben glaubst – vor allen Dingen nichts von außen. Malen ist ein einsames Geschä.
Der Anfang ist unbehaglich. Einziger Zeuge: Das Atelier, in dem ein Ereignis bevorsteht. Nicht stolz, nicht verzagt, deiner Sache durchaus nicht sicher, aber auch nicht unsicher spielst du mit dem Licht, was eigentlich gar nicht nötig wäre, weil deine innere Vision so viel verspricht, dieses Bild, das hinter deinen Augen pulsiert, Kontur gewinnt und wieder verschwimmt. Selbstvertrauen braucht auch das, was zunächst wie eine rituelle Geste aussehen mag, sich aber bald als Kontemplation erweist. Die nach den millionenfachen Wegen fragt, auf denen es sich vollziehen kann, gewiß, die aber die Antworten nicht preisgibt, die du ersehnst. Oder? Vielleicht hast du sie ja schon, die Antwort, die du geben willst. Denn Stolz ist auch dabei. Wie überzeugt du bist! Wie ruhig, geradezu unbekümmert! Einen Schritt zurücktreten und betrachten, was getan ist, wissen: es ist, es wird einzigartig, das möchte jeder Künstler im Grunde seiner Seele, möchte es mehr als alles andere. Nicht jeder wird das laut sagen. Oh nein, viel eher wird dir bei einem Atelierbesuch eine gewissermaßen professionelle Bescheidenheit des Künstlers angeboten, der keineswegs Purzelbaum schlägt und sich auf die Brust trommelt, sondern der wortkarg ist und in sich gekehrt, der mehr dem Forscher im Labor gleicht mit allem Zubehör: seriöse Brille am Kettchen, Turnschuhe, fleckiger weißer Kittel, mysteriöse, Formeln ausdünstende Phiolen, all die modischen Accessoires, die fernsehgerechten. Eins steht fest: kein anderer brächte es zustande, dein Bild. Wie sollte er? Eine winzigkleine Feinheit, ein Tüpfelchen aus deinem persönlichen Tüpfelschatz, ein kühner Pinselschwung über die rechteckige Fläche, sie gehören dir. Sie locken, sie drohen, sie trotzen, wenn du sie zwischendurch betrachtest. Du bist eine Rumpelkammer, in der sich das Chaos türmt, aber du weißt, gleich hinter der Tür ist ein Pfeil, und der zeigt auf die eine herrliche, köstliche
Linie, die du zu brauchen glaubst, auf den Pinselstrich, der regieren und sich multiplizieren wird, bis sich ein Ganzes fügt und du den Ausweg gefunden hast. Halte ihn fest. Er ist dein Fingerabdruck, die gewundene Landkarte deiner Seele. Dann kommt ganz unmerklich das Auswählen. Denn, und hier beginnt das Unvorhersehbare, du wirst entscheiden müssen. Nicht alles auf einmal, nicht mit einem einzigen Entschluß. Sondern mit jedem Augenblick, mit jeder Bewegung, jedem Gedanken und jedem Bruchteil eines Gedankens, facettenblitzend, schneller als schnell. Es ist eine Orgie der Zeichen, nie zuvor gesehen, dennoch gültig. Und die Gefahren! Deine Hand kann schwanken, mißverstehen. Ein Klecks aus Versehen, ein falscher Schwung, und gedemütigt beugst und biegst du dich und nimmst sie wieder heraus. Oder du läßt sie drin, schaust weg, und es ist gewiß, daß alles verloren ist, unwiderruflich. Nein, halt! Das kann nicht sein. So kam sie eines Morgens ins Atelier. Der Fußboden war übersät mit dem Abraum der vergangenen Woche und des gestrigen Tages. Die Tische hielten noch stand unter der Last der Tuben und Pinsel, Dosen und Flaschen, dazwischen Lockenwicklernadeln, der Blick auf Del, ein Hemaschinchen, ein Plastikeimer Gips, ein Polaroidphoto von zwei Hunden, grüne Blitzbirnchen für Augen, eine Ansichtspostkarte mit sechs enteilenden Nudistenrücken auf einem eukalyptusbeschatteten Pfad, eine Feder ohne Spitze, ein Episkop. Am Boden oder an der Wand oder auf der Staffelei wartet weiß eine neue Fläche. Wie eine Schneewehe vor der Haustür haben sich die Gefühle aufgestaut. Ich sitze in einem Boot mit gläsernem Boden und schaue hinaus auf die Avenue. Hier war ich immer schon. Kunstmoden kamen und gingen. Sie lieferten Ismen für jeden Geschmack und jedes Medium. Augen weiten sich nicht mehr. Wir sehen uns Les Fauves an und wundern uns über den Namen. Eine so
ernsthae, gute Arbeit … Dada brachte das Boot zum Schaukeln, heckte kopfstehend den Surrealismus. Eine Zeitlang trugen feurige Werke keine Titel, nur Nummern. Nummer . Aber wieso denn, Nummer , das ist doch ein sehr bezeichnender Titel! Er besagt, daß dies das achtzehnte Bild ist, das ich in diesem Jahr gemalt habe; er ist so bezeichnend wie Dieser Hund Hat Soeben Dieses Kleine Mädchen Vor Dem Ertrinken Gerettet. Bei einem so beziehungsreichen Titel ist man doch sofort neugierig. Was ist mit den anderen siebzehn Bildern? Sind sie wie Nummer ? Vielleicht sähe man sich besser, sagen wir, Nummer an. (Nummer ist bloß Nummer .) Wie dem auch sei, es zeigt der Welt, dieser Künstler ist produktiv. Er sitzt nicht herum; er malt. Schon achtzehn Werke, und es ist erst der .März. Schwarze Bilder, blaue Bilder, aprikosenfarbene Bilder. Manchmal betrachtete ich sie in Büchern, so wie man sich auf der Straße einen Unfall ansieht, respektvoll, aber unbeteiligt. Ich bleibe lieber drinnen bei meinen eigenen Dramen. Ich male lieber meine eigenen Phantasien, schaffe meine eigenen Geschöpfe, lebe meine eigenen Lügen. Es ist sinnlos, sich mit Träumereien an der Fensterscheibe herumzuschlagen. Kampfgrün, Blutgeranie, wundgescheuertes Schwarz, ein alter Regentropfen. Die Leinwand liegt unter deiner flüssigen Hand. Explosia, mit dem Namen ist ein neuer Planet erfunden. »Wir malen, um zu erfinden. Unerhörte Neuigkeiten, Blumen, Leiber.« Ich habe das wieder und wieder gesagt. »Kein Arbeitsprozeß«, sage ich in den Raum, »nicht im Vierundzwanzigstundentakt zu messen: Einfach eine Zutat zu allen fünf Sinnen, mit dem sechsten muß man sich gesondert befassen.« Denn dies ist nur der Anfang. Ein lang aulitzendes Leben, sagt man, vor dem Sterben. Fünfunddreißig Jahre lang war das Leben Liebe, eine zweite Haut. Gebieterische, impulsive Liebe. Jetzt ist Leben leben; bequem,
vollkommen glattgeschmirgelt und schmucklos wie ein Skelett. Ohne Bindungen, ohne Verpflichtungen, zurückgezogen, tief und gleichmäßig geatmet. Sein zweiter Inhalt, nicht leben, sondern Kunst, entfaltet täglich farbige Schwingen zum Probeflug, verdrängt vielleicht zögernde Visionen von anderem Leben. Auch sie, die Visionen, sind unverbindlich, ja, ohne jede Ahnung von ihrer öffentlichen Dimension. Es ist einer dieser Tage, und noch ist Zeit zum Überlegen. Zeit, vor der ersten Handbewegung Inneres nach außen zu kehren. Du hast dir einen Stuhl herangezogen, sitzt nun da und starrst auf das Weiß, fühlst dich plötzlich hilflos und voller Angst vor deinem , leichtsinnigen Unterfangen. Was ist passiert, wo ist die Euphorie geblieben, das Selbstvertrauen, das du vor fünf Minuten noch hattest? Warum schwindet die Gewißheit wie die Perspektive, entzieht sich dir, verblaßt und läßt das Weiß zurück, nichts als eine gnadenlose Farbe? Kann eine Leinwand trotzig sein, verstockt? Es muß etwas geschehen. Zwiespältige Gefühle also für das ausdruckslose Rechteck. Einerseits ist es die unschuldige Fläche, bietet alle Möglichkeiten nach deinem Gutdünken; eine Verschwörung zeichnet sich ab. Du und die Leinwand, ihr tut euch zusammen. Oder vielleicht nicht? Auf der anderen Seite nämlich hat sie etwas seltsam Feindseliges, eine Leere, die widerspenstig ist wie der spurenlose Himmel, höhnisch wie Wetterleuchten. Sie verlockt dich zum Komplott, aber sie fordert dich auch kalt zum Kampf heraus. Ganz mechanisch werden in diesen ersten Minuten – Minuten? Stunden? – die Näpfchen gefüllt, Terpentin und Firnis und was man so braucht; Farbtuben werden ausgewählt wie Juwelen vom Tablett und ausgequetscht, sie speien Schlängelkleckse auf eine Papierpalette. Die schönen Farben machen Mut. Bald werden sie explodieren. Ein Strang Kobaltviolett. Mit Widerhall in Krapplack
und Titanrot und Purpur – der ist wirklich rot. Da ist das Orange vom Mars, Mars-Orange. Schon die Namen klingen wie Planeten: Cölinblau und Umbra, roh oder gebrannt; Ultramarin aus dem Meer, Manganblau und Indigo und Zinnober. Sirenengesänge aus Koschenillerot und Drachenblut, aus sattem Rötlichgelb und einem See von Brombeersa, die dich betören; sie singen dir ins Ohr und versprechen, daß du nur einen Pinsel in ihre Lieblichkeit zu stippen brauchst, um ein Wunder zu vollbringen. Was macht es schon aus, daß der Künstler nur allzu o an den Klippen strandet und das Wunder in die Ferne entrückt, ein mattes Schimmern? Etwas wird bleiben: Das Bild, das von dem Stoff, dem Brett, der Wand Besitz ergriffen hat. Es ist keine blinde Fläche mehr, was aber ist es? Das kann man sich fragen; auch sie wird sich fragen, sprachlos vor dem Augenschein. Denn es wird ein Ereignis sein, es wird ein Geburtstag sein, es wird einen Tag markieren in einer chaotischen Welt und zu Ordnung werden. Gelassen in seinem Aufruhr, üppig in seiner Begrenztheit. Da ist sie, die Leinwand, verführerisch jetzt statt verschüchternd. Ein rascher Entschluß – war er nicht geplant mitten in der Nacht? –, ein feiner Pinsel wird gewählt, wird eingetunkt und wieder eingetunkt. Noch verrückter. Lila. Goldocker. Ein letzter wütender Blick auf das drohende Weiß vor dem Absprung – und dann hinein, bedenkenlos hinein wie »die Taucher«, Henry James sprach von den Vögeln, »die nicht ans Wiederauauchen denken«. Jetzt, nur Sekunden später, ist die Leere, das Nichts endgültig ausgemerzt. Hundert Formen sind in zauberha spielerischen Umrissen zu ahnen, während mit jedem Strich (jetzt halten zwei Hände fünf Pinsel) tausend andere Bilder um ihr Leben bitten. Irgendwo surrt schwach der Summer. Die Geräusche der Straße dringen herauf, das Dröhnen eines Flugzeugs weht herunter. Mag sein, daß das
Telephon geklingelt hat. Eine Mittagstunde ohne Mittagessen kam und ging. Die belagerte Leinwand liegt auf dem Boden. Farben mischen sich. Kobaltblau und Chromgelb überbrücken mit ihren eleganten Nuancen eine Lücke. Wo ist das Kadmiumorange? Die Tuben sind durcheinander, die Verschlüsse sind weg, die Etiketten mit falschen Farben verschmiert. Ach, wo ist das Orangerot, es ist in diesem Moment die einzige Farbe der Welt und Dionysos der einzige Gott. Nun ist gar kein Licht mehr im Atelier. Der Tag packt zusammen, aber wen kümmert’s? Mit eigener Stimme summt die Leinwand eine Melodie zur Dämmerstunde, halb gehört, halb gesehen. Die Konturen tanzen; tönende Augen heißen dich Ausschau halten nach Überraschungen, die alle Regeln brechen: Weiß auf Schwarz, das Blau ergibt; Raum, der im Getümmel tiefer wird; und das Beste, die leidenschaliche, zwiespältige menschliche Kontur, die Schall und Schau einfängt und mich zur Sklavin macht. Ach, jetzt ist die Welt nicht mehr ganz dieselbe wie heute Morgen! Hier in diesem Raum lehnt ein Bild, das zumindest mit seiner Malerin im Einklang ist, die Feindseligkeiten sind vergessen. Für heute. Während die Pinsel gereinigt und die Fenster geöffnet werden, um den Terpentindunst zu lüen, wir die Künstlerin verstohlene Blicke – schau es nicht zu lange an – auf das lebendige, atmende Bild, denn es ist schon ein Bild. Wieder einmal ist sie leichten Sinnes, ja leichtsinnig, in überschwenglicher Laune. Es sind noch wunderbar lange Stunden bis morgen. Ein Abend mag voller Stille sein oder voll Lärm, es macht kaum einen Unterschied. Dann noch eine Stunde im Lampenlicht, wenn ich mich auf den Schlaf vorbereite, ohne nur einen der aulitzenden Gedanken zu bremsen, die mir durch den Kopf flitzen wie Rennautos über die Ziellinie, eins dicht hinter dem anderen, um dessen
Platz einzunehmen. Im Auspufflärm der Gedanken widerhallt das Stimmengedröhn des Abends, der eben zu Ende ging. Silhouetten von Personen, die dem Ereignis beigewohnt haben, was es auch war, sind die aueulenden Motoren der Reflexion. Sie ergreifen richtig Besitz von mir; ich folge den verschlissenen Bändern ihres Lebens und ihres möglichen Lebens, schaue, was sie getan haben, tun und tun könnten – ganz zu schweigen, was und wer sie waren, sind und sein werden, sein könnten. Was sie sagten. »Künstler sind Mütter. Wenn du ihre Werke nicht bewunderst, hassen sie dich.« »Sind Sie sicher?… Vielleicht sind wir alle Mütter.« »Eher Wanderprediger. Nur verkaufen wir nicht Gott, sondern uns selber. Sie wissen doch: Klappern gehört zum Handwerk.« »Was für eine Haltung! Befassen Sie sich nicht besser mal mit dem Begriff avant-garde? So was hat es nämlich gegeben, es kam mit dem Jahrhundert auf. Die haben den Acker gepflügt.« »Alles umgestürzt, meinen Sie wohl.« »Auch die Worte. Sie glauben ja gar nicht, wie respektlos die waren. In rüdem Ton. Sie haben es riskiert, geprügelt und geächtet zu werden, aber sie sagten, das sei gar nichts.« »Ach so, Sie sprechen von Dada. Klar. Man hat es eine Bewegung genannt – schreckliches Wort. Eine Detonation, die Aufruhr spuckte wie Lava. Eine Sache von sechs oder sieben Jahren. Bis die Lava zu Schlackeblöcken erstarrte.« Das war zu erwarten, dachte ich beim Zuhören. Bewegungen haben ein kurzes Leben. Sie vertrocknen und verkalken. Aber so lange sie dauern, gibt es kein Halten. Der Surrealismus zum Beispiel, ein überfülltes Wort, ein nicht ganz spontanes Auflodern. Keine Fahne weht, kein Schlagwort befleckt sein Gewebe, keiner besitzt ein Mitgliedsbuch. Kein beflissener Forscher verfolgt den Wahn (das wird später kommen). Kein
Museum, kein Kunstfreund mag ihn berühren. Keine Öffentlichkeitsarbeit – ja, was könnte das wohl auch sein? Einzige Bewegung, die der Weltkrieg zerschlug, konnte dieses bebende Experiment zur Erforschung der Psyche den Sturm nicht lebend überstehen. Seine Geister wurden gemetzelt oder mit den Leibern verstümmelt. Die Überlebenden kletterten auf das Floß, äußerlich gerettet, im Inneren zerrüttet. So sind einige von ihnen, wie wir gesehen haben, nach New York gekommen. Aber es wurde nie wieder das, was es einmal war. Ein paar sind sogar, Breton konnte es kaum fassen, dageblieben, um Amerikaner zu werden, als er, der standhae Kapitän seines sinkenden Schiffes, nach Paris zurückkehrte, wo er Tag für Tag in demselben Café saß, umringt vom Schwarm junger Pedanten, die an die Stelle seiner verstoßenen (verlorenen) Seelengefährten getreten waren, und er wollte bis zum Schluß glauben, daß sie genauso echt wären. Nachsichtig hörte er ihnen zu. Ihre eckigen Pirouetten prallten wie Kiesel am Felsen seines unerbittlichen Intellekts ab. Er wartete, traurig, vornehm. Im August sind auch wir dort bei ihm. Das Café, Inbegriff des Überlebten, ist menschenleer bis auf die Surrealisten. Da sitzen sie, lauter Anbeter, je nach Rolle um den Tisch plaziert. Wie bei Goethe in Weimar, wie bei Dante auf dieser florentinischen Brücke, wie bei Freud in Wien, in seinem hohen, blinden Haus. Oder hier auf der place Blanche bei Andre Breton. Jeder hat einen eigenen Gral vor sich stehen: Ricard, Cinzano, Noilly Prat, sogar Coca (»Saleté chimique«, »chemischer Dreck«, höhnt einer). Alles ohne Eis. Ich sprach damals nur wenig Französisch. Nicht auszudenken, welchen Eindruck ich gemacht haben muß in diesem Café, in dem Breton über ein Dutzend leichterregbarer Windbeutel gebot, die krampa die Sprüche ihres Meisters nachäen; stundenlang saß ich dabei, an Max’ Schulter gelehnt, die Ohren buchstäblich ge
spitzt, im Gesicht einen wissenden Ausdruck, wie ich hoe. Dann fingen wir an, Max und ich, wie treulose Groupies die Sitzungen zu schwänzen, wir gingen immer seltener hin und schließlich überhaupt nicht mehr. Bis zur venezianischen Sünde von , dem primo premio, der Max den »Ausschluß« aus der Surrealistengruppe einbrachte. Er schien es kaum zur Kenntnis zu nehmen, ließ nur ein verächtliches Schnauben hören. Immer noch laufen ein paar Leute entgeistert herum und wundern sich über die sensationelle Dürre nach den wahnwitzigen, üppigen, explosiven, heulenden Wettern, die unter der Bezeichnung Avantgarde zusammengefaßt werden. Die Vorhut. Heute hat man sie wie Waisenkinder adoptiert, ihre ungestüme Aufsässigkeit ist kanalisiert, ihre Wirbelstürme sind ins Geschirr gespannt. Avantgarde ist zum Wortetikett geworden, angepaßt, entblößt, bedeutungslos wie das Schildchen im Hemd. Du drückst die Augen zu, verschließst dein Gemüt vor Gefühlen, die du nicht eingestehen kannst. Bedauern? Mitleid? Enttäuschung? Sogar eine gewisse Frustration kann dich im Dunkeln packen, meistens allerdings tut dir jemand leid, einer, einzelne, die einsame Seelenpein, die man an öffentlichen Orten antri. Wie dort in der Bahnhofstoilette, wo sich jemand über das Waschbekken beugte und in einer fremden Sprache vor sich hin flüsterte. Oder bei John Cages Konzert, das schon angefangen hatte. Da passierte es, daß eine Schwingtür das andächtige Schweigen durchbrach und eine Frau sich umständlich in den Saal schlängelte. Darüber hatte man hinwegzusehen wie über alle kleinen Störungen. Doch es verstrichen Minuten und sie schlich immer noch auf Zehenspitzen die drei kleinen Stufen hinunter, die ins Parkett führten. Sie war, das merkte man bald, gar nicht anwesend. Und sie war in jeder ihrer Bewegungen vollkommen allein. Ganz
allein irgendwo weit weg lauschte sie den Astralklängen, die John hervorrief. Und genau so war jeder von uns dort ganz mit sich allein und taumelte, von Erdenschwere befreit, durch Sirenenräume. Doch anstatt mich dem dünnen, unhörbaren Klang hinzugeben und mit allem anderen Treibgut beschwerender und störender Dinge auch die Emotionen hinter mir zu lassen, fand ich mich hin und her geworfen auf einem wogenden Meer starker Gefühle, das meinen Planeten dreist überrollte: Kummer um jeden Riß in jedem Gewebe, um Folterer und Gefolterte, um ausgesetzte Hunde, um alle Hunde. (Um kultische Tieropfer: In einer Garage in Brooklyn harren sie ihres rituellen Todes. Der Polizist: »Die haben auch schon Babys umgebracht.«) Kummer um elegant gebrochene Pferdebeine, um Elefanten, die in der Savanne von Mörderhand sterben, fliegenumschwärmt. Um dem Wasser entrissene, zappelnde Fische. Ach, bloß nicht hinschauen. Um den Stier, der von aufgeblasenen Dummköpfen an der Nase herumgeführt wird. Eine niedergeknüppelte Schlange bereitet mir dieselbe Qual wie ein abgestürzter Vogel, eine verstümmelte Schildkröte und die Robben. Bären in der Falle, deren stählerne Zähne sich in ihren zerfetzten Armen festgebissen haben … Am schlimmsten unser Menschenleid, mischt es sich doch aus hoffnungslosem Stolz und stolzerfüllter Hoffnung, den Ingredienzien des vergessenmachenden Zaubertranks Überlegenheit: Problemdroge, weitverbreitetes, Verhalten prägendes, unkontrolliertes planetares Gi, dem alle verfallen sind, ausgenommen der Poet und der Irre, Künstler beide. Sie, geprügelt und verlacht, sehen keine Möglichkeit, zu helfen. Habe ich denn geschlafen? Da bin ich wieder vor meiner beklecksten Leinwand, die nun aufrecht im grellen Morgenlicht steht. Ich bin entsetzt. Wie kann ein Mensch das für gut halten, auch nur für einen
guten Anfang? Ach, das trügerische Zwielicht, hat die Luballons des Stolzes auf gepustet, die überall im Atelier herumgeflogen sind! Der Tag gestern hatte in einem Fest geendet, war geradezu erhebend gewesen. Ich hatte mir die Zeit mit Blicken leinwandwärts vertrieben, und so war die Schinderei des Pinselsäuberns im Fluge vergangen (welche Höllenarbeit nach einem vertanen Tag). Jetzt bist du festgelegt. Das Bild ist ein Faktum, mit dem zu rechnen ist. Es atmet, wenn auch noch so schwach. Es flüstert einen satanischen Vorschlag als schnelle, einfache Lösung: »Tue es, andere machen es auch, warum nicht du?« Wie soll ich das erklären? Für mich gibt es kein Schnell und Einfach. Täglichen Tiefen der Niedergeschlagenheit, vertraut wie dem Kriegsversehrten das Hinken, folgt vorübergehende Hochstimmung, manchmal die stille Gewißheit: Ja, das ist es … Aber wenn es das ist, dann ist dies doch … andererseits … alles ganz verändert, wieder dunkel … muß ich auf morgen verschieben … oh Gott, wie scheußlich … Nicht alles ist Freude, wie man uns weismachen will. Der bärtige Bursche in seinem Kattunkittel mit dem verbeulten Strohhut, die Augen voller Sterne und Blumen und Fleischeslust, und die Hand, seine Hand … Das gute Leben hält ihn fest in grün-rosiger Kreisbahn, in sonniger Umarmung; unbeachtete Fliegen umschwirren seinen Kopf wie winzige Flugzeuge, die auf Landeerlaubnis warten, und aus der gemütlichen Küche im robusten alten Haus tritt ein blaubeschürztes Wesen und bringt ein Glas Wein oder auch Milch (je nachdem, wie alt der Künstler ist). In gewichtigen Kunstbüchern wimmelt es davon: Seht hier den Künstler in seinem Atelier, in dem hochfliegenden Himmelsfensteratelier, das er sich bauen ließ, oder im Lo, den er gefunden, in der Scheune, die er sich hergerichtet hat, mit Nordlicht; im fotogenen Atelier, das seine künigen Triumphe und vergangenen Mißerfolge
birgt, in dem seine Hingabe und seine Zweifel wie Blasen die Lu erfüllen im makellosen Licht, das die o leere Leinwand mit der blendenden Wucht des Vorwurfs tri. Einige Tage haben ihre Gebärdenarabesken in dem großen Raum hinterlassen, haben Wirrwarr und Verzagtheit vergrößert. Staub ist in deiner Pupille aufgewirbelt; die Intention ist zu einer Laune zerflossen. Dann bringt eine Idee der Nacht dem Morgen ihr Gepäck. Sei begrüßt! Fang an. Starre sie an, die schon von falscher, erbärmlicher Farbe besetzte Leinwand. Dann endlich kommt der Kopfsprung mit einem tiefen Atemzug, der nichts zu tun hat mit Selbsterhaltung. Alle Türen stehen jetzt offen, die Lu ist wie Perlmutt, und du weißt, wie man den Tiger zähmt. Heute entkommt er dir nicht, denn du hast den Pinsel gepackt, hast ihn, so hoch schlägt deine Begeisterung, fast schon zu üppig mit dem Farbgemisch getränkt, dem formlosen Klecks auf gefügiger Palette. Während du Linien ziehst wie Seile vom Rand der einen Wirklichkeit zur anderen, während du die Welt auslöschst, die du gestern geschaffen hast und heute verabscheust, taucht allmählich eine neue Welt auf. Auch diesmal vollzieht sich das Ereignis ohne Blick auf die Stunden. Vor dem Bild, das nun entsteht, gibt es keine Panik mehr, die Herz und Hand zittern ließe, nur ein Sausen in den Ohren, das die dahinfließende Zeit wenig überzeugend markiert. Da sitzst du oder stehst, in jedem Falle wie betäubt, oder du gehst einen Schritt rückwärts und trittst dabei immer wieder auf vergessene Gegenstände, die dir heruntergefallen sind. Du schmeichelst das Bild heraus aus seinem Käfig und mit ihm die Charaktere und Inhalte, seine prophetischen Ahnungen, seine Frechheit. Freund oder Feind? Schwarz wie ein Adreßbuch mit Assoziationen getränkt, schwer
wie der Regentropfen, der am Fenster rinnt, schwimmt es seiner Vollendung entgegen. Unbemerkt sickert der Abend herein, bis das Halbdunkel alle Flächen im Raum liebkost, jedes Haar auf deinem Kopf und jede Form in deinem gemalten Bild. Jetzt hält dich das Auragen verstärkender Farben in Atem, was erst wichtig wird, wenn alles vorbei ist. Dieser Akt ist dein Komplize. Wie die Werkzeuge, Becher, Flaschen, Messer, Kleber, Lösungsmittel, Härter, Tuben, Gipstüten, Büchsen ohne Ende … Es ist Zeit, sich hinzusetzen. Zeit, die Pinsel zu reinigen, jetzt ein angenehmes Zwischenspiel. Zeit, zu schauen und wieder zu schauen; du kannst gar nicht genug davon bekommen, weil du nun draußen bist und hineinschaust. Du bist nur noch der Besucher, der großzügig eingeladen wird: »Bitte, treten Sie ein.« »Oh danke, gern.« Auch wenn das Zwielicht geschwunden, wenn alles schwarz und verschwommen ist und deine neuen Gefährten in verrußte Phantome verwandelt sind, trittst du ein. Mehr fühlend als sehend hast du Teil am Überschwang. Du bist überrascht und peinlich berührt, wenn du die fast verschwörerische Mahnung zu hören glaubst, daß schließlich deine Hand, dein Wille, deine Plakkerei das alles hervorgebracht hat, dieses nagelneue Ereignis in einer uralten Welt. Und so magst du überlegen: Habe ich dem Chaos ein bißchen Ordnung entrungen? Oder habe ich bloß zur allgemeinen Verwirrung beigetragen? So oder so, es hat eine Mutation stattgefunden. Du hast nicht im luleeren Raum gemalt. Du hast es gewagt, hast etwas für den Wandel getan. Für die Umwertung von Werten. Ein schwindelerregender Gedanke: Verändere die Welt. Er regiert das Tagewerk des Künstlers. Oh ja, die Bescheidenheit verbietet, daß du es aussprichst. Aber sage es dir heimlich. Du riskierst ja nichts. Dann eine letzte, neue Betrachtung im versagenden Licht, als du schon gedacht hast, du wärest fertig damit; wie überzeugt bist
du von dem, was du geschaffen hast, und dabei hast du es doch überhaupt nicht geschaffen: es hat sich einfach freigemacht, hat sich von dir gelöst in einem unerklärlichen Prozeß der Zellteilung. Im vergehenden Licht beobachtest du, wie es sich endgültig von dir trennt, und erkennend nickst du, denn du siehst, daß auch der sechste Sinn zu seinem Recht gekommen ist. Was ist nun daraus zu schließen, ihr Analytiker? Was kann ich euch erzählen, ihr edlen Kunstliebhaber, ihr freundlichen Träumer? Brauche ich Hilfe? Sagen die Farben nicht alles? Was will ich erreichen? Vor langer Zeit einmal habe ich gesagt: ich will verführen mit Hilfe unmerklicher Übergänge von einer Wirklichkeit in eine andere. Der Betrachter wird in einem Netz gefangen, dem er sich nur entwinden kann, indem er das ganze Bild durchwandert, bis er zum Ausgang kommt. Mein liebster Wunsch: eine Falle zu schaffen, die überhaupt keinen Ausgang hat, weder für ihn noch für mich.
11. Dämmerlicht bei Tag und Nacht
Z
u langes Liegenbleiben im Bett führt bisweilen zu mediokren Gedankengängen, unzuverlässigen Gefühlen, sogar abwegigen Überlegungen wie etwa zu der geteilten Aufmerksamkeit, mit der ich mich viel zu gleichmäßig dem Schreiben dieses Textes und meinem halbfertigen Bild im Atelier gewidmet habe. Besonders wenn ich bedenke, wie heig ich hin- und hergerissen war, wie gipfelhoch und abgrundtief ich die trügerische Psyche durchforscht habe, bevor ich mich für das Leben als Malerin entschied. Man sollte meinen, das wäre seitdem geklärt. Ist es auch. Damals habe ich, wie jeder es tut, gewogen, gewählt: Ärztin-Rechtsanwältin-Geschäsfrau-Direktorin, alles glanzlose Titel für mich im Vergleich zur Malerin-Dichterin-Tänzerin-Schauspielerin-Seiltänzerin, der es bestimmt ist, nach dieser oder jener Seite hin zu fallen. Obwohl das ein armseliges Bild ist, ein hinkender Vergleich. Ich möchte auch auf vibrierende Jugend hinweisen, in der die ganze Welt einzig auf dich wartet. Kein Grund mehr, mich noch hinter der gemalten Antwort zu verstecken. Kein Grund, noch unschlüssig zu sein. Weiß Gott, es gibt viele Türen, die für uns alle einen Spalt offenstehen. Tretet ein! Ich bin eingetreten – durch die gemalte Tür. Ob ich auch die geschriebene aufstoßen könnte? Das war mir immer zu gefährlich vorgekommen. Es ist noch gefährlich. Ach, hier hätte ich dieses Drahtseil spannen sollen, so anachronistisch es ist, dort oben, wo es nur zwei Möglichkeiten des Absturzes gibt. Zwei Sirenengesänge. Und dies ist bemerkenswert, zentral wie die Rocky Mountains: auf einer Seite sah ich nur sinnlichen Zauber, ständige Explosion
der Möglichkeiten, unglaubliche Wunder, in Taumel und Euphorie zu vollbringen. Auf der anderen Seite lag ein Labyrinth aus hinterhältigen, wankelmütigen, verführerischen, mächtigen Verwirrwörtern, das mich entweder narrte und verspottete wie ein Zirkusclown oder mich einwickelte in die trouvailles anderer Leute wie in den Gebrauchtnerz vom Trödler. Ein Fehlschlag wäre ganz unerträglich gewesen, schon ein einziger. Er hätte mich umgebracht. Worte sind mörderisch, dachte ich damals. Sie gaben sich harmlos, umtanzten mich tückisch und stellten sich in Positur, aber mir konnten sie nichts vormachen. Ich wußte, daß sie knüppeln konnten und daß sie o freudlos waren. Gemälde können mißlingen, aber damit ist nicht alles verloren. Versagende Maler leben recht zufrieden weiter. Es macht ihnen ja so viel Spaß, das Ding zu malen, und am Ende können sie es im Besenschrank verstecken, bevor die Türklingel ertönt. Solche Blüten entfalten sich manchmal auf Straßenmärkten. »Die Bettler zeigen ihre Blessuren«, sagt mein grausamer Freund Wes. Bei Worten wird erwartet, daß du realistisch bleibst. Wer will das schon? Meine Zeit gehört ja gerade dem täglichen, stündlichen Kampf, der Realität und ihrer strengen Forderung nach Berechenbarkeit zu entrinnen. Damals in Galesburg hat uns einmal das ema der sogenannten gespaltenen Persönlichkeit beschäigt. Eine Krankheit, die behandelt werden muß. Wie o haben wir Angst gehabt, wir hätten sie vielleicht, wie Gürtelrose; und jetzt – wie leichtsinnig, das so dreist zuzugeben –, nun ja: welch ein Glück, zwei Seelen zu haben, nicht nur eine! So mag sich dein Mr. Hyde in rohen Redensarten austoben, dein Dr. Jekyll achtet pflichtbewußt auf seine Syntax und wird niemals ein Wort passieren lassen, ohne es vorher zu kontrollieren und seinen Paß abzustempeln. Die Frau übrigens ist glücklicherweise mit zwei Persönlichkeiten ausgestattet: der äußerlichen und der inneren. Die Frau ist das Feu
er im Zentrum der Erde. Aber einigen Frauen genügt das nicht. Wenn ich bei Nabokov lese: »Die Natur erwartet vom erwachsenen Menschen, daß er die schwarze Leere vor sich und hinter sich genauso ungerührt hinnimmt wie die außerordentlichen Visionen dazwischen«, dann begreife ich, daß ich »Mensch« bin, und erkenne diesen Satz als für mich selbst gültig an. »Wir« haben das Wort man, Mann, Mensch, gefunden. Wir erfanden auch das Wort Brontosaurus. Und woman, Frau. Raffinesse? Doppelzüngigkeit? Mittlerweile kommen immer wieder Briefe. Eine Flutwelle, »Die Frauenbewegung«, spült über mich unvorsichtige Strandläuferin hinweg. Sie zieht und zerrt und preßt und fordert meine Solidarität, mein Bekenntnis zur Schwesternscha. Drohend wächst in meinem Winkel das Phänomen der Malenden Frauen empor. Diese Kategorie menschlichen Strebens, das Malen, hat irgendwie die Herzen zahlreicher Vorkämpferinnen der Sache erobert. Sie scheinen zu glauben, wenn Frauen malen könnten, könnten sie alles. Leute, die für Bilder nie zuvor etwas übrig hatten, organisieren nun Frauenausstellungen an allen Ecken und Enden des Landes und auch an fremden Gestaden. Sie sind fieberha. Sie sind hochgelehrt. Sie katalogisieren, dokumentieren, interpretieren die Ausstellungen. Herrlich unbekümmert um fehlende Qualität machen sie den Mangel durch lange historisch-analytische Hyperbeln auf schemenhae Malerinnen in schemenhaer Vergangenheit wett. Wenn ich versäume, ihre Briefe zu beantworten, schreiben sie neue. Sie lieben das Diskutieren. Manche werden auch böse und schnauzen mich an in einer Weise, die ich hysterisch nenne (womit sie ihre Weiblichkeit beweisen). Eine dieser Organisatorinnen, die mir aus Italien schrieb, äußerte die Vermutung, ich sträubte mich wohl aus Scham gegen eine Beteiligung an ihrer Ausstellung, vielleicht weil ich nichts hätte, was dafür gut genug wäre, und ich sollte mich nur nicht scheuen, es zuzugeben.
Soviel gebe ich zu: Einige dieser Briefe habe ich mit Genuß beantwortet. Sie fördern das Schlimmste in mir zutage. »Man müßte«, schrieb ich einmal, »eine ärztliche Untersuchung als Zulassungsbedingung vorschreiben – ganz besonders heutzutage, wo die Hochstapelei so überhand nimmt, am Ende stellt sich plötzlich heraus, daß eine Ausstellerin doch bloß ein Mann ist.« So ungefähr. Also, ein bißchen fühle ich zwar mit, aber nicht genug. Die Sache scheint klar: Wir müssen die ganze menschliche Rasse renovieren, nicht mehr und nicht weniger. Ich bin dabei nicht nur unbrauchbar, ich bin eine Feindin in absentia. Geächtet von Clique und Claque. Aber da sind sie, diese Bilder, die keinen Platz haben in unserem biologischen Sumpf, unserem Mauseleben. Nein, es sind Piratenkarten, Planzeichnungen der Meuterei. Kompasse für entlegenere Regionen. Für mein Land Nimmermehr? Wenn man so will. Noch ein Grund, Worte zu scheuen – und er hat nichts mit Ängstlichkeit zu tun -: ich war nicht sicher, ob ich mich wirklich preisgeben wollte, mein verrücktes, durchtriebenes, launisches, wucherndes, hoffnungsloses Selbst; ob ich auf den Fetzen Geheimnis, der mich so lange bedeckt hatte, sorgfältig aufgebügelt und häufig geflickt, wirklich verzichten wollte. Wer schreibt, wird so durchsichtig, sagte ich mir. Der erzählt alles. Der stump ab. Es bleibt kein Winkel seiner Seele, den er nicht ohne Erbarmen durchstöbert, ein Schnorchler, der verborgene Korallenbrocken herausbricht, um sie in diesem oder jenem Zusammenhang schrilich zu servieren. Die wahre Selbstberaubung. Wenn Schristeller den Raum betreten, weißt du alles über sie, die bekannten Persönlichkeiten, die transparenten Autoren. Du denkst an bestimmte Goldkörnchen: Faktum oder Fiktion? Du denkst: Ach ja, das. Als bestimmtest du eine Goldfischart, die mit den anderen in ihrem Glas herumrudert und lustige kleine Silbenschnüre von den Bäuchen baumeln läßt. Das Problem ist nur: das Glas ist zu eng, das Wasser verschmutzt,
und ich, das ist das Schlimmste, scheine mich zu den Schwimmern gesellt zu haben. Ein böser Traum, auch wenn er nur kurz ist. Denn just hier komme ich zum letzten, alles entscheidenden Grund: Empfindsamkeit. Tatsache ist: ein schlichtes Wort kann mir das Herz brechen. Viele solcher Worte, Tag für Tag aus meinem empfindlichen Selbst heraufgebaggert, würden mich umbringen. Bedauernswert? Eigentlich nicht. In einem von Mangel bestimmten Leben haben meine immer bereiten Tränen für eine höhere Art von Opulenz gesorgt. Von den Freuden, die ich mir ersehnt haben mag, wäre sicherlich keine dem schieren Entzücken nahegekommen, das mir Tränenvergießen bereitet hat. Ja, in meinem überströmenden Gefühl gingen die schlimmsten Entbehrungen unter, und verbotene Herrlichkeiten wurden zu feuchten, verwaschenen Trugbildern. Ich habe im Laufe der Jahre so manchen gekannt, der nicht weinen konnte, und habe gelernt, meinen Durst nach Kümmernis zu schätzen oder doch wenigstens mit Gelassenheit zu betrachten. Außerdem waren bei mir, die von allem außer von Worten überfloß, Tränen der sehr aufrichtige Ausdruck einer beharrlichen, absolut niederschmetternden Untergangsstimmung. Eine Zeitlang habe ich Tagebuch geführt und versucht, das alles festzuhalten, worin sich eine gewisse Widerstandskra zeigte und auch die vage Hoffnung, daß die Feder, die die Komponenten der Gleichung aufschrieb, zugleich auch deren Geheimnis durchdringen könnte. Aber sie tat nichts dergleichen. Eine ziemlich erschütternde Erfahrung, die nur die Traurigkeit vertiee und den Schlick am Grunde meines vertrauten, geliebten, undurchdringlichen, schauerlichen Abgrunds aufwühlte. Zusammen mit meinem gegenstandslosen Kummer nährte ich die Überzeugung, daß mir im Leben nichts Gutes widerführe, für
das ich nicht früher oder später bitter bezahlen müßte. Nur in der Zeit mit Max war es anders, ihm gelang es, mich für eine Weile glauben zu lassen, das sei nicht wahr. Und es gäbe das unbeugsame Namenlose gar nicht, das mir die Rechnung aufmacht und meine Schulden eintreibt. (Schmutz unterm Teppich.) Nun also war wieder Frühling, und ich hatte mich drei Jahre lang an den Zustand mehr oder weniger gewöhnt, der mir bleiben würde: An mein Leben als Alleinstehende. Spröde wie Glas und zerbrechlich wie ein rohes Ei, setzte ich meine Schritte mit Vorsicht. Sieh dich nicht um, wenn du nicht in etwas anderes verwandelt werden willst. Denn meine Identität schien das einzige zu sein, was mir geblieben war, und auch sie war wackelig. Mit dir selbst allein denkst du gern, daß du deine Situation beherrschst, daß du deinen Verlust nun verarbeitet hast, ohne daran zu zerbrechen, und daß du dich in Raum und Zeit neu eingerichtet hast; du bist ein Krüppel, aber deine Wunde ist verheilt, und du wirst mit jeder Schwierigkeit fertig. Aber wie leicht machst du dich lächerlich: Ein Lüchen hier, ein Windstoß dort, und es wir dich um. Lange Jahre des Versuchens in der einen, des Irrens in der anderen Spalte, und dazwischen kleine Erfolge, die dich anspornen in der Suche nach Furchtlosigkeit. Ganz zu schweigen von einem gewissen Bereich der Gefühle, die dich feien, etwa den kurzen Passagen, in denen du nett bist zu anderen, als hieltest du unter Wasser die Lu an. Leidenscha, Hoffnung und anderes Hinderliches legst du beiseite; bewußt läßt du dich treiben, nie erregt oder bewegt genug, um gegen den Strom zu schwimmen. Du wachst früh auf, denkst zärtlich an dich, nicht mehr ganz so heiter, wenn du der Lumpenparade der halben Stunden ins Auge blickst und ihrer Fracht halbherziger Minuten, die bereits schlapp machen unter der Last ihrer Gaben. Gleichwohl quengeln sie, bis du etwas tust, nichts Endgülti
ges – will ich das denn? –, du gehst nur ins Atelier, wo die Millionen Möglichkeiten liegen. Sandkörner in der Wüste. Ein Staubwirbel draußen vor dem Fenster. Er formt sich, nimmt menschliche Gestalt an, klop. Mach das Fenster auf. Ich wußte doch, daß Sie kommen würden. Ich wußte, daß Sie kommen würden, Milord – sind Sie nicht so genannt worden, Churlton, hat man Sie nicht mit Samtwams und Federbusch herausgeputzt, um Ihren bösen Zauber, Ihren aufgerissenen Mund, Ihre verschwenderische Schuld zu verbrämen? Falls Sie hier sind, um mir zu sagen, was ich bin, bemühen Sie sich nicht. Denn Sie sind niemand. Einst sind Sie zu mir gekommen, ein hartnäckiger Traum, und haben prahlerisch auf meiner Brust herumgetrampelt. Sie haben mir Mond und Sonne versprochen und keins von beidem gegeben. Nun sind Sie eine Vogelscheuche, ein obskurer Einzeller, ein Klecks unter meinem Pinsel, dem Endglied meiner Hand. Ich hebe ihn von der Leinwand ab, gerade rechtzeitig, um Ihr Gesicht vor dem Verschrumpeln zu bewahren. Das bringt mich auf Eros, den Gefährten, den sie mir beharrlich zuschreiben, die Experten, die jederzeit mit Deutungen zur Hand sind, die sozusagen die Güte haben, mir mitzuteilen, was ich male, was da unter meinen Fingern hindurch ausläu, ganz ungewollt. Er, der Gott, trägt bekanntlich eine Augenbinde. Wir beide haben verbundene Augen, alle haben verbundene Augen, taumelnd, tastend, trostlos. Wir bedienen uns eines phantastischen, sauber gewaschenen Apparats, dessen Einzelteile je nach seinen Fähigkeiten und Grenzen reibungslos ineinandergreifen sollen, wie es sich gehört; eines bewunderten, gepflegten Apparates von erfreulicher Eleganz und mehr oder weniger geliebt. Aber auch schwer, wässerig, ein bißchen töricht; immer in Trab, um den Anschluß nicht zu verlieren. Mutwillig werden Stunden vergeudet, um Minuten zu sparen. Zur Behandlung von Haut, Augen, Haaren, Sekreten und Exkreten
werden ganze Rituale entworfen und gewissenha eingehalten. Das Seltsamste aber ist die traurige kleine Prozession der Psychoanalytiker, die zum Altar der Libido pilgern und ihre tremolierenden Hymnen aus den offenen Büchern von Sigmund Sang Froid absingen (Wortspiel von Max)*. So sind zum Beispiel ein paar meiner Bilder, mit denen ich für die ese zu sprechen glaubte, daß wir einen verzweifelten Kampf gegen unbekannte Mächte führen, in Wirklichkeit feinfühlig weibliche, von Sexsymbolen starrende Phantasien. An anderer Stelle werden zwei Reihen schrecklicher Zähne an einer meiner Plastiken unter solch bohrenden Blicken, man glaubt es kaum, zur Vulva. Eine Statue, die für mich ein Ausdruck der Anmut war, ist ein phallisches Symbol, zweifellos weil sie aufrecht steht, statt zu liegen (oh Überheblichkeit). Das Gesicht des Todes, den ich fürchte, sieht mich aus vielen meiner Bilder an. Aber diese heißblütigen Schreiber mißdeuten es o als Gesicht der Geilheit. Eros können sie zwar jedesmal entdecken, aber sonst sehen sie niemanden. Wer ist hier besessen, die Künstlerin oder der Betrachter? Geblieben ist das tägliche heimliche Staunen, das noch mir gehört. Es ist Sonntagmorgen, sonntagsruhig. Die Lärmpause dringt von der Straße herein wie sonst der Lärm. Ich habe mir das Frühstückstablett ins Bett geholt, eine liebe alte Gewohnheit. Bald kommt von der anderen Seite der Wand das Schreien und Stöhnen meiner Nachbarin beim Liebesakt. Voll Kra und Wildheit kommt es geradezu nackt bei mir und meinem Tablett an. Vor drei Jahren, als ich es zum ersten Mal hörte und zum zweiten und dritten Mal, bekam ich ziemlich rote Ohren. Langsam kaute ich meinen Toast, während ich staunend und mit durcheinanderpurzelnden Gedanken lauschte, mir wurde klar, daß ich nie so geschrien hatte, und ich * Frz. sang-froid = kaltblütig.
fragte mich, ob die Liebe bei meiner Nachbarin etwas noch Köstlicheres sein könnte als das, was ich erlebt hatte. Hohe, seidenweiche Schreie. Natürlich. Ich wußte Bescheid. Aber das ist nicht dasselbe, bloß Bescheid wissen. Hier hörte ich es mit eigenen Ohren, machte mich nolens-volens des Voyeurismus schuldig. Ich liege in meinem Bett und rühre mich nicht, nichts rührt sich, nur mein Blut strömt, macht seine Sache diskret, macht es mir warm und gemütlich. In all den Jahren Wand an Wand mit der Nachbarin, deren Pünktlichkeit mir zur Gewohnheit wurde (immer am Sonntagvormittag um halb elf oder elf, und manchmal auch am Sonnabend), habe ich auf diese hohen, durchdringenden Töne gewartet. Ja, sie schenken mir bis auf den heutigen Tag ein Gefühl der Zufriedenheit mit der Welt; so sehr bin ich an diese Verzückungsmusik gewöhnt und auch gegen sie abgehärtet, daß sie nicht auffälliger ist als der seelenlose Stundenschlag einer Standuhr. Ich werde sie übrigens bald hinter mir lassen, weil ich die Wohnung wechsele. Lebe wohl, Eros. Lebe wohl, liebe Nachbarin mit deinen kravollen, wildbewegten, schwitzenden Schreien, mit deiner hart erarbeiteten Ekstase im Großstadtturm. Wir lassen dich auf dem Seziertisch zurück als Leckerbissen für die Horden hungriger Analytiker, während wir uns zu einem letzten Besuch bei uns selbst auf den Weg machen. Als ich sieben Jahre war und elf und sicher, daß ich alles haben könnte, folgte ich gern dem Gebot: werde Künstlerin. Trotz allem, was an Unangepaßtheit und Außenseitertum, an Warten, Schauen, Arbeiten, Fragen damit verbunden war. An Beharrlichkeit. Mit Energien reichlich ausgestattet, sah ich keine Probleme. Alles fügte sich so schön. Lord Churlton kam zwar nicht nach Galesburg, aber die Welt hat mich später dafür vollauf entschädigt. Und als Ersatz für meinen Kasten blasser Wasserfarben haben vielfältige Hilfsmit
tel ihr Bestes getan, mir zur Verwirklichung des dringenden Gebotes zu verhelfen, von dem ich damals besessen war. Jeder Mensch hat seinen Dämon, dachte ich. Auch das hübsche, selbstsichere Mädchen, fünfzehn vielleicht, das einmal bei einer Schulveranstaltung verkündete – unvergeßlich für mich trotz der vielen Jahre, die dazwischenliegen –, daß Gottes Mühlen langsam mahlen. Es war eine unabänderliche Tatsache, eingemeißelt in den Fels des Planeten, so wie sie es sagte. Für mich sind diese Worte ein Teil von ihr; mir kann keiner weismachen, sie hätte sie nicht an jenem Tage erdacht. Natürlich mahlen sie überaus fein, diese Mühlen, denn sie hat sie geweiht mit ihrer geschliffenen, dämonischen Diktion, mit ihrer unheilschwangeren Stimme, die für Fünfzehnjährige die Stimme des Schicksals war. Mein Dämon, besser meine Dämonen waren Zwillinge, denn das Gebot verdoppelte sich: Weg-von-hier kam hinzu, das Bedürfnis nach physischem Abstand, das nichts mit jenem fernen Punkt auf meiner Perspektivübung zu tun hatte, sondern nur mit der Art zu sehen, die meine eigene sein sollte. Geh, sagte ich mir. Mach dich auf den Weg. Finde die runde Welt. Zunächst also wanderten meine Augen von den Wasserfarben zu den Landkarten, damals in den dreißiger Jahren eine bewegte Pastellgeographie, auf der Grenzen sich so schnell verschoben und verflüchtigten wie Schachfiguren bei einem Blitzspiel – Zeichen der unaualtsamen Verkümmerung der Nationen, Staaten, Herzogtümer, Regionen und ihrer kleinen Könige und noch kleineren Armeen. Wollte ich gern Montenegro besuchen, »eine reine Gebirgswildnis«, Grundfläche Quadratmeilen, oder vielleicht König Zog in Albanien kennenlernen, dann hätte ich mich besser beeilt, bevor es beide nicht mehr gab. Und wie könnte ich je nach Hunza kommen? Wenigstens der eine Kindheitsbeschluß – Künstlerin zu sein
und in Paris zu leben – hat sich verwirklicht. Und was hatte ich davon? Ein halbes Leben reicht kaum aus, das in all seinen Facetten zu ergründen. Paris, eine betörende Freundin. Ich habe sie eigentlich nie richtig kennengelernt, Jahr um Jahr nur immer am Rande. Vielleicht trug sie zu viele Perlen, die nichts, rein gar nichts zum Gesamteindruck beitrugen und nur die Blässe ihrer Nachmittage betonten. Die schönste Stadt der Welt, sagte ich, und meine Stadt. Mit ihrem Dünkel, ihrem Müll, ihrer Schnürtaille. Ihre Arroganz war ein Warnzeichen: Rüttele nicht an meinen Geheimnissen. Wenn du mich schon berühren mußt, geh nicht zu weit. Meine Schächte sind verschlossen, meine Seitenwege führen dich zurück, mein Giebeldach beschirmt französische Poeten und Kohlenmonoxyd ist mein harter Kern. Es kommt immer noch vor, daß ich mir ferne und verschiedenartig fremde Orte nicht ohne erstickenden Kloß im Hals vorstellen kann. Erstickend die Gewißheit, daß ich eines Tages gehen werde und doch so wenige Orte gesehen habe, so wenige Landschaen; unerträglich der Gedanke, daß ich vielleicht in den falschen Zimmern gewesen bin, daß andere Haustüren, Hinterhöfe, Seitenstraßen ungeahnte Offenbarungen für mich bereitgehalten hätten. Auch wenn ich mit dem Zug oder dem Bus fahre und die Häuser an mir vorbeiziehen, ergrei es unweigerlich von mir Besitz, dieses seltsame Sehnen: Wie es wohl wäre, wenn ich hinter den beiden Fenstern dort wohnte und abends jemand nach Hause käme? Es ist wichtig für mich, zu wissen, wie das wäre, wie ich wäre. Nicht daß meine gewohnte Umgebung etwa öde und leer wäre. Man denke nur an die ereignisreichen Spiegel, das unterhaltsame Telephon, die traulichen Materialien meiner Kunst, den Mikrokosmos meiner Werkzeugschublade mit dem Bindfadengewirr und den verwaisten Schlüsseln. Sinnierend betrachte ich den Dachgar
ten gegenüber, wo schmächtige kleine »Bäume« demütig in der rationierten Erde ihrer Betonwannen sitzen und sich dem Stadtwind beugen. Wer wäre nicht bezaubert von Bäumen auf dem Dach? Man weiß, daß auch ihre Tage rationiert sind. Sie werden nicht groß und alt, ihr Leben ist kurz wie das jener bleichen, verlorenen Mädchen, die auf Sofas liegen, kaum imstande, einen durchsichtigen Finger zur flüsternden Abschiedsgeste zu heben. Der Künstler ist noch immer ein Giotto-Eremit, einsam in der Wüste. Der Welt entrückt ist er, die Geschäigkeit der fernen Stadt (im Hintergrund zu erkennen), das ganze Kaleidoskop des turbulenten Gemeinschaslebens berühren ihn überhaupt nicht, von ganzem Herzen und aus tiefster Seele ist er überzeugt, daß seine Wüste genügt, wenn sie von ihm, von seinem geweihten Selbst bewohnt wird. Dann, urplötzlich, leuchtet der Himmel auf mit seiner Flammenbotscha: Die Welt zählt doch, etwas. Wir lassen Rätsel herumliegen, lesbare Zeichen von der Messerschneide bis zu Nebelwolken – Aufrufe zum Mutmaßen. Wir plazieren unser Rätsel, dann verstecken wir uns hinter einem Baum oder einer Galeriewand und warten auf ein Zeichen. Und sei es ein Glühwürmchenstrahlen. Wir haben viel Zeit, aber wir warten ziemlich ungeduldig darauf, daß ein Paar Augen, irgendwelche Augen Impulse in ein Gehirn schicken, irgendein Gehirn, das uns und unsere visuellen Angebote in sich aufnimmt. Inzwischen planen wir, für morgen und nächstes Jahr und den kommenden Sommer. Späte Gedanken reifen, späte Blätter röten sich, und in der Stadt hält einer einen Vortrag über »Die Entdekkung des Wertvollen im Menschen«. Selbstverständlich wird er es finden. Sonst hätte er sich uns ja nicht ausgesucht. Unsere Rätsel, taxiert, interpretiert, klassifiziert, sind in Wahrheit an den kalten Stern der Einsamkeit adressiert – des Malers ältesten Gefährten. Man hat sich an ihn gewöhnt wie an Gebrechlichkeit,
einen überzähligen Zeh, eine gekerbte Narbe, ein zerquetschtes Ohr. Man deckt es zu, und nach einer Weile kann man es sogar für lange Zeiten völlig vergessen, vorausgesetzt, man hat seinen Teil an Geschrei und Nackttanz schon gehabt. Ein eifriger Klinkenputzer, hungrig auf Erinnerungen anderer Leute, ein Interviewer wird meinen Nachmittag verzehren. Was kann ich ihm sagen, das mit einem optimistischen Ton endet? Er taut mich auf, er holt mich aus. Doch warum soll ich ihm erzählen, daß ich mit vierundzwanzig ein Leben voller Mentoren wählte und kaum jemals wieder gemeinsam mit einem Menschen meiner Generation, noch weniger meines Jahrgangs gedacht und gehandelt habe? Es war, als hätte ich Klassen übersprungen. Alles um mich her trug die Farben der Seriosität, gestützt auf das Gewicht von Erfahrung und Belesenheit. Ich überredete mich selbst, sie zu übernehmen. Es war ein Privileg: ich profitierte vom bereits Erprobten, vom überlegenen Wissen. Vor Stürmen geschützt. Begehrt dazu, und gebraucht, umsorgt. Da war Platz, sich umzudrehen, Platz zum Tanzen, wenn keiner zusah, Platz, sich zu beschäigen, zu malen, zu spielen, und keine Grenze für einsame Gedanken. Es schien genug, es war genug. Nur die Aufregung legte sich im Laufe der Jahre. Wurde ruhiger. Meine Poeten erhoben die Stimmen nicht mehr in Dithyramben und Diatriben, sondern saßen an reichgedeckten Tischen, auf dem Schoß die unzerknautschten Servietten, schwelgten in ihren Erinnerungen an Vergangenes und beklagten behaglich das Heute (das anderswo gepriesene). Nostalgisch waren sie und nicht unzufrieden mit ihren stürmischen Lebensgeschichten. Aber nun waren sie alle gesetzte Leute, der Eßtisch schwamm in Harmonie, wir waren großartig. Es hätte so weitergehen können; es wäre so weitergegangen, wenn sie nicht nach und nach verschwunden wären, unmerklich, als hätte eine Falltür sie blitzschnell verschluckt.
Zuerst grämte ich mich. Ein Verrat, ungeheuerlich, ein Betrug. Wie phantasielos, sich aus dem Kampf zu verabschieden, sich zu verstecken, sich loszusagen, den Verstand zu beurlauben; und vor allen Dingen zu sterben und mich zurückzulassen im steigenden Staub. Hier mit dem Interviewer, der zur bloßen Kontur geworden ist, zu einer zweifelhaen Erscheinung, quälen mich unausgesprochene Fragen und demütigen mich Antworten, die ich anprobiere wie gläserne Pantoffeln, die nicht passen. Es ist sinnlos, ihm von den Stunden an meiner Schreibmaschine zu erzählen. Das würde ihn nur verwirren. Und ich müßte ihm auch sagen, daß mir, während diese Seiten sich türmten, klar und immer klarer wurde, daß ich mir etwas Unmögliches vorgenommen habe. Daß bestimmte Momente, ganz gleich, wie deutlich sie in Gestalt von Erinnerungen zu mir zurückkehren, doch immer nur Momente sind. Daß es mir nie gelingen wird, mit ihnen ein Leben darzustellen, schon gar nicht zwei, auch wenn ich sie hundertfach, tausendfach multiplizierte. Und je mehr ich mich um ein charakteristisches Bild meines absolut unvergleichlichen Lebens bemühe, seiner Übergänge von Unwissenheit zu Offenbarung, seiner entgegengesetzten Pole, seiner Verstrickungen, Banalitäten, Ängste, Euphorien, desto mehr sehe ich ein, daß ich keine Ordnung in das Chaos bringen werde und mich für keins der wabernden Bilder verbürgen kann. Abendlicher Sonnenschein wir einen Lichtkeil auf die Dielen zwischen beiden Sesseln. Ockergelb, leuchtend wie Farbe, so fern den verblichenen Tönen in Tzaras Regenbogenteppich, fern dem perligen Paris, fern all den Gärten unter anderer Sonne, in anderen Räumen, auf anderer Erde. Vierundzwanzig Parmaveilchen, in die rote Erde Sedonas gepflanzt, am Morgen säuberlich abgefressen. Der hochgewachsene Mais der Touraine, der sich kreuz und quer bestäubt in wollüstiger Raserei. Und in Seillans die Plage der streu
nenden Katzen, die sich unverfroren von unseren Hühnern nähren und über die flügelschlagenden menschlichen Verfolger amüsieren. Über die Vergangenheit kann man lachen, über die Zukun, denke ich, nicht. Und so schaue ich hinaus auf den Baum im Kübel. Er winkt mir zu von seinem Dach.
Birthday, . Ein Selbstporträt.
Max Ernst als Student, Bonn
Die Tanning-Familie, Galesburg, Illinois, . (Die Autorin ist die Zweite von links.)
Max Ernst, als Soldat, verwundet und unterwegs.
. Es war die große Zeit des Kinderstars. Eine aufgeregte Freundin meiner Mutter entschied, daß ich einer sein würde, und ging zu diesem Zweck mit mir zu einem örtlichen Photographen, wo ich gehorsam Fratzen schnitt. Aber damit war es nicht getan, ich wurde jahrelang in der Vortragskunst gedrillt und starb jedesmal tausend Tode, wenn ich ein Podium betrat. Die Rettung kam schließlich in Gestalt meines »gefährlichen Alters«.
Die Autorin mit .
Max Ernst mit Tristan Tzara (Tirol).
Die öffentliche Bibliothek von Galesburg, wo ich verdorben wurde.
schrieben die MGM-Filmstudio s einen Wettbewerb für ein Bild von der Versuchung des Heiligen Antonius aus, das in einem Film verwendet werden sollte. Zwölf Maler mühten sich. Sie brauchten das Geld. Als Mitbewerberin bin ich für das Reklamephoto in Positur gestellt worden. (Ich habe mit Enzephalitis im Bett gelegen.) Den Wettbewerb gewann Max. Ein anderer Wettbewerb in der Galerie Julien Levy ließ sieben beherzte Schachspieler: Alfred Barr, Frederick Kiesler, Max Ernst, Julien Levy, Vittono Rieti und mich, gegen den blind spielenden Schachmeister Koltanowski antreten, und Marcel Duchamp beaufsichtigte alle Bretter. Ergebnis: Alle verloren, nur Kiesler erzielte ein Remis.
Unser Haus in Sedona, Arizona, in Phasen seiner Wachstumsbeschwerden. Es wurde nie ganz erwachsen. Als läge es unter einem Bann statt unter der Sonne, wollte etwas seine Fenster krumm, wollte, daß seine Steintreppe ins Nichts führte, wollte es majestätisch unvollendet. Rund um es und uns: die roten Klippen des Oak Creek Canyon.
Hier hatten wir uns aus New York den Totempfahl von der Nordwestküste mitgebracht, der uns übrigens zu allen späteren Dachfirsten begleitete. Er steht heute im Pariser Musee de ‘Homme, und mit ihm so manches andere Stammesgut, unentbehrlich wie Bett und Napf.
Überraschend viele Freunde schlugen sich zu unserem Nest in der Wildnis durch. Von Henri CartierBresson stammt diese herrliche Aufnahme.
Im Sommer begann Max Ernst, überglücklich und inspiriert vom Wasser, das nun durch eine Leitung zu uns ins Haus kam (bis dahin hatten wir es täglich fünf Meilen entfernt aus einem Brunnen gezogen), mit Zement und Schrott herumzuspielen unter Zuhilfenahme von Kistendeckeln, Eierschalen, Autofedern, Milchkartons und anderen Überbleibseln. Das Ergebnis: Capricorn, der Steinbock, eine Monumentalskulptur hoheitsvoller, aber huldreicher Gottheiten, die unserem »Garten« Weihe gaben und über seine Bewohner wachten. Jahre später, als wir nicht mehr da waren, fertigte ein Bildhauerfreund Gußformen von ihnen an und schickte sie ihrem Schöpfer nach Huismes m Frankreich, der dort seinen Capncorn wieder zusammensetzte, um ihn in Bronze zu gießen. Das obige Foto ist ein spontaner Jux, nachdem eine menschenlose Dokumentaraufnahme gemacht worden war. (Photograph: John Kasnetsis.)
Ein Abschiedsblick auf Sedonas Wilson Mountain aus einem Fenster in spe.
Eins aus einer Serie kühler, verschlossener Bilder, Interior witb Sudden Joy, mit »Dorothea Tanning« signiert, beispielha für meine Reaktion auf die ungestüme, überwältigende, diabolisch rote Landscha draußen vor dem Atelier.
La. Horde, . Eine aus einer Reihe apokalyptischer Leinwände, die Max Ernst mit erschreckend ahnungsvoller Eindringlichkeit malte. Diese Werke sind rückblickend und vorausschauend gleichermaßen aktuell.
Ein Schnappschuß aus dem Jahre : Dächer von Paris, vom Ausguck unseres Dachateliers im quai Saint-Michel gesehen.
Andre Breton, Elisa Breton, Max Ernst und die Autorin in St. Cirque la Popie, einem Grüngebiet im Departement Lot in Mittelfrankreich.
Mit Teeny und Marcel Duchamp m Monte Carlo zum Schachturnier. Wir verbrachten ebensoviel Zeit damit, den Großen zuzuschauen, wie an unseren eigenen Brettern zu spielen.
Wieder in Paris, verkörpere ich meinen Hund.
Max, ich und unser Hund Katchma, aufgenommen etwa an unserem Haus m der Touraine (Huismes im französischen Departement Indre et Loire), einer Gegend, die allgemein als Land der Schlösser bekannt ist oder, mit einem noch hübscheren Beinamen, als »der Garten Frankreichs«.
Paris, . Lee Miller Penrose, Bill Copley, Max Ernst, die Autorin und Man Ray.
De Quel Amour. Stoff-Skulptur der Autorin, . Sammlung des Centre Pompidou in Paris. An einem dieser zerbrechlichen Pariser Abende, an denen alles den Anker lichtet und abhebt, dachte ich: Was ist das, la haute couture?, und begann, wieder in Seillans, sie neu zu definieren. Fünf Jahre später hatte ich ein bildhauerisches (Euvre aus Tweed, Flanell, Filz, Webpelzen, ausgestop mit geruper Wolle, alles mit der Nähmaschine gemacht.
A Moment of Calm — Ein Augenblick der Ruhe von Max Ernst, -. Sammlung der National Gallery of Art, Washington D. C.
Seillans in Südfrankreich.
Es war Frühling , triefend vor Verheißung; und so machte ich mich ans Werk, ein Haus zu entwerfen und zu bauen. Während Max Ernst nachsichtig und, wie ich bald merkte, mitfühlend zuschaute, kämpe ich für meinen Traum, eine dreijährige Schlacht um ein zweifelhaes Ziel. Im Juni zogen wir ein.
Er malte mein Porträt...
… und ich malte seins.