SEEWÖLFE
BAND 514
Fred McMason
Überrumpelt!
Seeabenteuer-Roman
Die spanische Galeone „Viento Este“ hatte Goldb...
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SEEWÖLFE
BAND 514
Fred McMason
Überrumpelt!
Seeabenteuer-Roman
Die spanische Galeone „Viento Este“ hatte Goldbarren geladen, aber die Ladung würde Spanien nie erreichen. Gleiches galt für Kapitän and Crew, die von zwölf goldgierigen Halunken unter dem Steuermann Julio Acosta - also den eigenen Kameraden - niedergemetzelt wurden, nachdem man die schiffbrüchige Galeone verlassen und die Küste von Florida erreicht hatte. Jetzt war der Weg für Julio Acosta und seine Kerle frei, sich das Gold der „Viento Este“ unter den Nagel zu reißen. Sie brauchten nur ein neues Schiff, um zurücksegeln zu können. Mit einer weiteren Mordtat schafften sie auch das. Doch als sie das Wrack erreichten, waren die Laderäume leer. Julio Acosta kochte vor Wut über - bis der sprechende Papagei auftauchte und ihm eine Spur zeigte...
1. 7. Juli 1595 - Cat-Cays-Inseln. Sie saßen in der Grotte und beobachteten durch einen schmalen Spalt im Eingang, was sich draußen auf der Insel tat. Sie, das waren Old O'Flynn, die Zwillinge, der Kutscher, Edwin Carberry, Stenmark, Martin Correa und die beiden Dänen Nils Larsen und Sven Nyberg. Zwei Tiere waren dabei, die Wolfshündin Plymmie und der krakeelende Papagei Sir John, der jetzt allerdings vorsichtshalber in eine Kiste gesperrt worden war. Sir John hatten sie ihre augenblickliche Lage zu verdanken, denn der Papagei war einfach losgeflogen, um eine fremde Galeone zu „erkunden“, die sich der Insel genähert hatte. Diese Galeone, die „San Jacinto“, hatte es allerdings in sich. Sie war mit einem Haufen wüster Kerle erschienen, um das Gold der auf den vorgelagerten Riffen gestrandeten anderen Galeone abzubergen. Das Gold war nicht mehr da. Die Männer vom Bund der Korsaren hatten es bereits abgeräumt und saßen jetzt buchstäblich auf einer Schiffsladung Goldbarren, die sie in mühsamer und harter Knochenarbeit in die Grotte geschafft hatten. Die von den Zwillingen Hasard und Philip entdeckte Grotte war das ideale Versteck. Sie lag in der Steilwand einer kleinen, nach Westen hin geöffneten Bucht etwa vier Yards hoch über einem schmalen Sandstrand. Die Öffnung dieser Grotte hatte etwa Türgröße, die Höhle selbst verbreiterte sich nach hinten. So war auch gleichzeitig für eine Menge Stauraum gesorgt. Früher einmal hatten in dieser Grotte Seevögel genistet. Diese Grotte bot aber noch weitere Vorteile. Sie konnte wegen ihrer Höhe ausgezeichnet verteidigt werden, und man konnte sie praktisch nur von unten besteigen. Das ging allerdings nicht ohne Leiter oder längere Tampen. Von oben hatten potentielle Angreifer schon gar keine Chance, die Höhle zu stürmen, weil sich die Steilwand über die Öffnung nach vorn neigte. Wer sich von oben abseilen wollte, würde erst einmal frei in der Luft baumeln und völlig hilflos sein. Jetzt, seit die Schnapphähne mit der Galeone vor der Küste lagen, hatten die Männer den Höhleneingang mit Felsbrocken verkeilt. Die Kerle waren auf der Suche nach dem Gold und vermuteten es auf dieser kleinen Insel, weil Sir John hierher zurückgeflogen war. Sie hatten die Insel in einer Jolle umtörnt und nach den Kerlen gesucht, von denen sie annähmen, sie seien im Besitz der vielen Goldbarren. Die Höhle hatten sie nicht gefunden, dafür aber die gut getarnte und versteckte Jolle der „Empress“, und das hatte sie schlagartig alarmiert. Kurz darauf waren die Kerle mit der Jolle zur „San Jacinto“ zurückgekehrt und hatten sich auf der Kühl versammelt. Dann hatten die Seewölfe von ihrem Versteck aus zugesehen, wie der Kapitän oder Anführer der Schnapphähne einen Mann erschossen hatte - mit äußerster Kaltblütigkeit, weil der Mann gegen den Kapitän gemotzt hatte. Das alles war erst eine knappe halbe Stunde her. Der Kapitän hatte sich durchgesetzt. Die Kerle kuschten wieder. Jetzt wurde eine zweite Jolle zu Wasser gelassen und mit acht Kerlen bemannt. Mit insgesamt sechzehn Mann pullte der Anführer zur Küste hinüber. Carberry hatte sich an den Fels gelehnt und blickte durch das Spektiv zur „San Jacinto“ hinüber, die außerhalb der Riffzone ankerte. Beide Jollen hatten sich bereits gelöst und wurden auf den Strand zugepullt.
„Wenn das wirklich der Kapitän ist“, meinte er, „dann ist er jedenfalls ein äußerst mieser und brutaler Halunke. Knallt den Mann einfach nieder und grinst noch dreckig dabei. Dem würde ich am liebsten die Faust in den Hals rammen.“ Der Kutscher blickte ebenfalls durch den Spalt zwischen den Felsbrocken. „Die Kerle sind ebenfalls die reinsten Galgenvögel“, sagte er, „die sehen alle ganz so aus, als sei die Henkersschlinge der passende Halsschmuck für sie. Denen steht die Gier nach Gold wie eingemeißelt in den unrasierten Visagen.“ In der Grotte war es warm, aber angenehm warm und nicht zum Ersticken, wie sie anfangs befürchtet hatten. „Wirklich feine Vögel“, meinte auch der Profos nach einem weiteren Blick. „So fein wie deine lausige Saatkrähe“, tönte aus dem Hintergrund Old O'Flynn. Der Alte war sauer auf den Papagei, dem sie ihre augenblickliche Situation zu verdanken hatten. Das „Mistvieh“ hatte die Kerle schließlich hierhergelockt, weil es seine Neugier wieder einmal nicht bezähmen konnte. „Hast du eben lausige Saatkrähe gesagt?“ fragte Carberry. „Oder habe ich mich da verhört?“ „Ich bleibe bei der lausigen Saatkrähe“, erwiderte Old O'Flynn erbost. „Ohne den Geierarsch wären wir jetzt nicht in dieser beschissenen Lage. Da pullen fünfzig Kerle auf uns zu, und wir können sehen, wo wir bleiben.“ „Es sind nicht fünfzig, sondern sechzehn“, sagte Carberry. „Und für das Verhalten von Sir John habe ich mich entschuldigt. Ich kann es jetzt auch nicht mehr ändern.“ „Hättest trotzdem besser auf ihn aufpassen sollen.“ „Verdammt noch mal!“ rief Carberry unterdrückt. „Du hast ja mit dem ganzen Scheiß angefangen, aber das hast du inzwischen wohl vergessen. Wo ist denn dein Schiff, auf das du so gut aufgepaßt hast? Abgehauen ist der Mistkahn, weil du zu dämlich warst, um...“ Der Kutscher berührte den aufgebrachten Profos sachte an der linken Schulter. Es sah ganz danach aus, als würde sich zwischen den beiden Dauerstreitern wieder mal ein heftiger Disput entwickeln. Aber den hatten sie im Moment nicht nötig. Es gab andere und wichtigere Dinge, nämlich die Realitäten, denen sie ins Auge sehen mußten. Der Kutscher war in extremen Situationen die Ruhe selbst, was er immer wieder unter Beweis gestellt hatte. Er griff auch meist schlichtend ein und schaffte es tatsächlich, die Kampfhähne wieder zu beruhigen. Der Kutscher hatte eben gute Nerven. „Es muß ja nicht unbedingt sein, daß ihr jetzt streitet“, mahnte er. „Wir haben zur Zeit wesentlich ändere Sorgen. Da pullen sechzehn bis an die Zähne bewaffnete Kerle heran, die keine Skrupel haben, jemanden umzubringen. Angesichts dieser goldgierigen Schnapphähne wäre es doch wohl angebrachter, ein wenig über unsere keineswegs rosige Lage nachzudenken.“ „Was gibt's da noch zu denken?“ knurrte Carberry. „Entweder die Bastarde entdecken uns, oder sie finden uns nicht Hast du vielleicht noch eine andere Lösung anzubieten, Kutscher?“ „O ja, mein Lieber. Wir sollten darüber nachdenken, wie wir uns jetzt verhalten, wenn die Kerle auf der Insel gelandet sind. Ergreifen wir die Initiative und greifen sie blitzartig an, oder verhalten wir uns einfach mucksmäuschenstill und rühren uns nicht?“ „Hm“, murmelte der Profos nur. „Eine gute Entscheidung.“ Die Ironie im Tonfall des Kutschers war überdeutlich herauszuhören. „Wenn wir auf die Kerle einen Feuerüberfall veranstalten, verraten wir uns. Dann sind auch gleichzeitig die anderen Schnapphähne auf der Galeone
gewarnt. Verhalten wir uns jedoch absolut still und ruhig, dann besteht durchaus die Möglichkeit, daß sie die Höhle gar nicht entdecken oder sie zumindest nicht beachten, denn immerhin liegt sie gut vier Yards hoch über dem Boden.“ Edwin Carberry lenkte wieder ein. „Du meinst, die Kerle vermuten nicht, daß jemand in der Höhle hockt?“ „Ja, das meine ich, eben wegen der Unzugänglichkeit der Grotte und ihrer Höhe.“ „Andererseits“, sagte Carberry, „haben wir Waffen, Pulver und Kugeln genug, um den Bastarden kräftig einzuheizen. Wir haben Pistolen, Musketen, Tromblons und Blunderbusse.“ „Ist mir hinlänglich bekannt“, entgegnete der Kutscher. „Aber wir werden nicht alle Kerle auf einmal erwischen, weil der Eingang zur Grotte stark eingeengt ist. Was nutzt es uns, wenn wir zehn von den Kerlen zum Teufel schicken. Dann können sich die restlichen sechs immer noch in Sicherheit bringen und zur Galeone gelangen. Dort werden sie dann weiter beraten, wie sie vorgehen.“ Martin Correa, Stenmark und die beiden Dänen nickten. „Was der Kutscher sagt, klingt gut und vernünftig“, meinte Nils. „Es ist besser, sich ruhig zu verhalten. Stimmen wir doch einfach darüber ab.“ „Ich stimme jedenfalls gegen den Profos“, sagte Old O'Flynn verbiestert. „Und das grundsätzlich aus Prinzip. Ich bin dafür, daß wir uns nicht rühren, sobald die Aasgeierbande anrückt“ Auch Stenmark und die Zwillinge waren dafür. Schließlich war auch der Profos überzeugt und einverstanden. „Gib doch zu, daß der Gedankengang des Kutschers vernünftig ist“, ereiferte sich Old O'Flynn schon wieder. „Sag’ ich doch die ganze Zeit. Verdammt noch mal, geh jetzt endlich von der Kiste runter, Donegal. Du hockst wie ein Aasgeier darauf. Nicht mehr lange, und Sir John wird jämmerlich ersticken.“ „Ich bleibe auf der Kiste sitzen, sonst kriegt der Entenarsch es fertig und verrät uns ein zweites Mal. Der braucht nur einen seiner berüchtigten Flüche auszustoßen, wenn die Kerle in der Nähe sind. Zudem sind in der Kiste Löcher drin. Ihm passiert gar nichts.“ „Plymmie wird uns auch nicht verraten“, sagte Hasard junior voller Überzeugung. „Ein Wort zur richtigen Zeit, und sie hüllt sich in vornehmes Schweigen.“ „Ich wünschte, Sir John könnte auch vornehm schweigen“, sagte Old O'Flynn wieder, „aber der zieht es ja grundsätzlich vor, lieber unflätig zu krakeelen oder zu fluchen.“ Sie waren sich jetzt alle einig. Sobald die Kerle hier vorbeischlichen, würden sie keinen Mucks von sich geben. „Sehr gut“, meinte der Kutscher. „Wir warten einfach ab, aber nur so lange, bis die Kerle tatsächlich Anstalten treffen, die Höhle zu untersuchen. Das können sie nicht ohne weiteres, denn dazu brauchen sie zumindest ein längeres Tau mit Enterhaken oder eine Jakobsleiter. Sie werden ganz sicher keine dabeihaben. Sollten sie aber Tauwerk oder Ähnliches holen, dann bleibt uns nichts anderes übrig, als ihnen kräftig einzuheizen.“ „Das ist ein Wort“, sagte Carberry. „Du bist doch ein kluges Kerlchen, Kutscher, und Nerven hast du wie Ankertrossen. Immer einen kühlen Kopf bewahren, was, wie?“ „Aber immer“, versicherte der schmalbrüstige Mann mit der hohen Stirn. „Du solltest auch öfter mal daran denken und nicht immer so hitzig sein.“ Der Kutscher warf wieder einen Blick durch den Spalt. Die Kerle waren jetzt sehr deutlich zu erkennen. Die meisten hatten die typischen Galgenvogelvisagen und
waren unrasiert. Das war ein bunt zusammengewürfelter Schwefelhaufen. Manche trugen nur Fetzen am Körper. Einer hatte eine turbanähnliche Kopfbedeckung auf, die er sich offenbar aus einem alten, vormals grünen Unterrock zusammengedreht hatte. Der größte Teil der Kerle war barfuß. Manche trugen nur eine Hose, die ihnen bis an die Knie reichte. Aber dafür waren sie bewaffnet, als wollten sie gleich in den Krieg ziehen. „Da ist noch etwas“, sagte Stenmark nachdenklich. „Sollten wir entdeckt werden und gezwungen sein, das Feuer zu eröffnen, dann sollten wir auch die beiden Jollen durchlöchern. Damit nehmen wir ihnen die Möglichkeit, eine Verbindung zur Galeone herzustellen. Sie können nicht mehr zurück, aber Unterstützung durch die anderen Halunken werden sie dann ebenfalls nicht erhalten. Das müssen wir mit der größten Gründlichkeit besorgen.“ Martin Correa, der die ganze Zeit geschwiegen hatte, stand von den Goldbarren auf und näherte sich ebenfalls dem verbarrikadierten Eingang der Höhle. „Sie haben noch eine weitere, allerdings kleine Jolle an Bord“, sagte er. „Sten hat aber recht: Wenn wir die beiden Jollen zerschießen, kriegen die Kerle eine Menge Schwierigkeiten, denn ich glaube kaum, daß sie schwimmen werden. Bei den Riffen wimmelt es von Haien, die sehr angriffslustig sind. Mit der kleinen Jolle können sie nicht viele Kerle auf einmal befördern. Wir hätten sie dann einigermaßen im Griff und unter Kontrolle. Also müssen sie von der Verbindung abgeschnitten werden.“ Das fanden alle durchaus richtig, logisch und völlig in Ordnung. Wenn es zwischen der Galeone und den Kerlen am Strand keine Verbindung mehr gab, dann waren sie abgeschnitten und somit hilflos. „Dann ist ja alles klar“, sagte Carberry. „Wir mucksen uns nicht, und falls wir doch entdeckt werden, geben wir den Kerlen Zunder und durchlöchern ihre Jollen. Dann können wir sie uns schnappen, vorausgesetzt, es bleiben noch welche übrig.“ Die Zwillinge, Hasard und Philip, hockten dicht am Eingang und hörten der Diskussion zu. Sie hatten bisher geschwiegen, überlegten und dachten mit, was ihre Situation betraf. „Darf ich mal etwas sagen?“ erkundigte sich Philip nach einer Weile bescheiden. „Natürlich darfst du“, ermunterte ihn Old O'Flynn. „Immer raus damit, wenn du was zu sagen hast.“ „So klar scheint das alles doch nicht zu sein. Es gibt ja noch eine Jolle am Strand, und die gehört uns. Wenn wir die beiden anderen Jollen zerschießen, müssen wir auch unsere eigene Jolle zerschießen.“ Sein Bruder Hasard nickte- beipflichtend. „Das stimmt genau. Wenn wir es nicht tun, dann sind die Kerle immer noch im Besitz einer Jolle - und ausgerechnet unserer. Die werden sie dann mißbrauchen, womit die Verbindung vom Strand zum Schiff doch wiederhergestellt wäre.“ Der Kutscher sah die Zwillinge sehr nachdenklich an. „Ihr könnt verdammt logisch denken“, sagte er anerkennend. „Natürlich habt ihr recht. Auch ich habe im Augenblick gar nicht an die Möglichkeit gedacht“ Carberry sah ziemlich unglücklich aus. Er kratzte sich verdattert den Nacken und sagte laut und deutlich: „Donnerscheiß!“ „Das ist wenigstens klar und drastisch ausgedrückt“, meinte der Kutscher. „Es zeigt auch besonders kraß unsere derzeitige Situation. Wer zerstört schon freiwillig das eigene Schiffchen, das uns zumindest die Möglichkeit gibt, den umliegenden Inseln einen Besuch abzustatten? Wir sitzen dann völlig auf dem trockenen und sind nicht mehr in der Lage, die Insel zu verlassen.“ Leichtes Unbehagen kam bei diesem Gedankengang auf.
Der einzige unverbesserliche Optimist war wieder mal Old O'Flynn, der alte Hinterdie-Kimm-Späher. Er war jetzt ebenfalls aufgestanden, um einen Blick durch den Schlitz zu werfen. „Na und?“ knurrte er. „Ich pfeife auf die Jolle. Wenn sie beim Teufel ist, baut Hesekiel mir eben eine neue. Die wird dann noch besser als die andere. Hesekiel muß sowieso eine neue „Empress“ auf Stapel legen. Dann kann er gleich die erforderlichen Jollen ebenfalls in Angriff nehmen. Wenn es soweit ist, schießen wir den Kahn eben zusammen.“ „Und damit basta und paletti, was, wie?“ höhnte der Profos. „Daß Hesekiel so weit von uns entfernt ist wie der Mond, scheint dich dabei immer noch nicht zu stören. Du denkst nur an deinen Torfkahn und an sonst nichts.“ „Die anderen werden uns schon finden“, behauptete Old O'Flynn in sattsam bekannter Sturheit, was den Profos jedesmal auf die Palme trieb. „Das haben wir ja schon besprochen. Damit ist das Problem so gut wie erledigt.“ „Du und deine erledigten Probleme“, fauchte Carberry. „Ich schieße jedenfalls nicht auf unsere eigene Jolle, sonst hocken wir hier bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag herum. Oder willst du wieder mal auf einem Hai zum Stützpunkt zurückreiten?“ „Du schießt also nicht auf unsere Jolle?“ vergewisserte sich der Alte beiläufig. „Nein, das habe ich schon gesagt.“ „Dann laß es bleiben“, erwiderte der Alte grantig. „Aber ich werde schießen - und zwar auf meine Jolle, wobei ich das ‚meine' ganz besonders hervorheben möchte, Mister Carberry. Wenn mich nicht alles täuscht, bin immer noch ich der Kapitän, und ich...“ „O Gott, jetzt hängt er wieder den Kapitän raus, wenn er nicht mehr weiterweiß. Ein Kapitän ohne Schiff, ein Kapitän, der seinen Torfschlorren einfach im Stich läßt. Da lach' ich aber wie der Satan persönlich.“ „Tust du immer“, versicherte der Alte. „Manchmal siehst du auch genauso aus wie jener.“ „Dann schieß doch auf deine Jolle, verdammt! Oder friß sie meinetwegen auf, du Kümmelarsch! Dir traue ich sowieso zu, daß du die Jolle Vierkant fressen kannst.“ „Ein O'Flynn kann alles.“ „Einen Scheiß kannst du - bestenfalls ein Schiffchen durch den Wind slippen lassen.“ „Und du läßt deinen Krakeeler entwischen, damit der Kotzreiher uns alle in die Pfanne haut.“ Der Kutscher räusperte sich wieder einmal. Dann schickte er einen stummen und entsagungsvollen Blick zur Höhlendecke. „Mit euch beiden wird es nie anders sein“, sagte er. „Ihr beiden Streithähne würdet euch selbst im Angesicht der Hölle noch in den Haaren liegen, und das alles mehr oder minder wegen einer läppischen Kleinigkeit. Einer muß immer auf Biegen oder Brechen recht behalten, sonst fühlt ihr euch nicht wohl.“ „Gebe ich ja zu“, motzte Old O'Flynn, „aber nur, weil dieser Mister Carberry immer das Maul vorn haben muß.“ „Weil Mister O'Flynn immer die Schnauze zur unpassenden Zeit aufreißen muß“, konterte der Profos. „Aber das mit der Jolle ist mir jetzt fast egal. Sie ist ja das ganz persönliche Eigentum des Oberadmirals, der sich um die anderen den Teufel schert.“ „Lauter, bitte“, forderte der Kutscher, „sonst können die Kerle nicht hören, was wir besprechen, und das wäre doch ein Jammer, wenn sie uns nicht finden würden.“ Aus einer der Kisten klang ein gedämpftes Geräusch, das sich undeutlich und sehr weit entfernt wie „Affenärsche“ anhörte. Der Papagei Sir John zeterte in seiner Kiste
los. Aber die unflätigen Worte waren kaum bis an den Eingang der Höhle zu vernehmen. „Dieses Satansbiest, dieses verdammte“, brabbelte Old O'Flynn. Eilig humpelte er durch die Höhle und nahm unter Carberrys mißbilligenden Blicken demonstrativ auf der Kiste Platz, die Sir John zur Zeit als unfreiwilliger Aufenthaltsort diente. „Sie landen gleich“, verkündete Stenmark. „Wir sollten uns jetzt wirklich ruhig verhalten.“ „Tu ich doch die ganze Zeit“, brummte Old Donegal verärgert. „Ich doch auch“, sagte der Profos. „Der Admiral kann bloß mal wieder seine Klappe nicht halten.“ Der Kutscher warf beiden einen undefinierbaren Blick zu. Carberry wandte sich verlegen ab und blickte angelegentlich zur Höhlendecke, als könne er kein Wässerchen trüben. Old O'Flynn hingegen starrte finster auf den Boden. Er sagte kein Wort mehr, aber seine Lippen bewegten sich lautlos. Insgeheim beschimpfte und beleidigte er die ganze Carberry-Sippschaft.
2.
Seit Julio Acosta das Kommando über die Galeone „San Jacinto“ übernommen hatte, herrschte Brutalität an Bord. Acosta war ein stiernackiger, schwarzbärtiger Mann mit harten Augen in einem kalt wirkenden Gesicht mit groben und rohen Zügen. Vorher war er Steuermann auf der Gold-Galeone „Viento Este“ gewesen, die der Sturm in die Klippen und Riffe gejagt hatte und deren Goldschatz jetzt in der Höhle lag. Als sie nach dem Aufbrummen unter Kapitän Juan de Molino das Wrack verlassen hatten und mit drei Booten die Küste Floridas erreichten, hatte Acosta einen Teil der Crew zum Mord aufgestachelt, um später das Gold selbst bergen zu können. Danach war es ihm und einigen seiner Kerle gelungen, auf einer Galeone anzuheuern, die mit Gewürzen nach Spanien zurücksegelte. Die Galeone gelangte nicht weit. Noch in der Nähe der Küste wurde der Kapitän der „San Jacinto“ das erste Opfer von Acostas Mörderbande. Acosta erschoß ihn kaltblütig und riß das Kommando an sich. Ein paar Männer der Stammcrew flogen kurzerhand außenbords, weil sie nicht mitmachen wollten. Mit einem Haufen rüder Kerle segelte Acosta nach vollbrachter Tat schließlich nach Süden und fütterte die Fische mit den Gewürzen, um die Laderäume für das Gold frei zu haben. Bisher hatte Acosta jedoch nur eine Schlappe nach der anderen erlitten und zunächst feststellen müssen, daß es das Gold nicht mehr gab und offenbar spurlos verschwunden war. Das hatte bei ihm den ersten Tobsuchtsanfall ausgelöst. Dann hatten sie die Spuren gefunden, aber es war wie verhext. Von den vermuteten „Goldräubern“ war niemand zu sehen. Sie hatten sich scheinbar in Luft aufgelöst. Einzige Hinterlassenschaften waren eine leere Flasche und eine Jolle gewesen. Den Kerlen war die Insel unheimlich geworden, doch ihre Gier nach dem vielen Gold war stärker und wurde immer ausgeprägter. Sie hatten auch vor Acosta hündische Angst, denn der hatte gerade eben eiskalt einen Mann auf der Kühl erschossen, der gemotzt hatte. Jetzt näherten sich die beiden Jollen zum zweitenmal dem schmalen Strand mit den Uferfelsen. Gleich hinter dem Strand stieg das Gelände stark an und war infolge schrundiger Felsen ziemlich unwegsam. Im zweiten Boot flüsterten zwei Kerle miteinander. Sie flüsterten deshalb, damit Acosta sie nicht hören konnte, obwohl der sich in der ersten Jolle befand. Der eine Schnapphahn war klein, dreckig, unrasiert und verkommen. Mehr als einen hochtrabenden Namen hatte er nicht auf zuweisen, außer einer Reihe von Untaten, die er begangen hatte. Er hörte auf den klingenden Namen Virgil Ventura dos Santos, war aber sehr weit davon entfernt, einem Heiligen auch nur das Wasser reichen zu können. Er hockte in der lauernden Haltung eines ständig Verfolgten auf der Ducht, drehte immer wieder den Kopf, und sah zum Land hin, während er pullte. Neben ihm hockte Normando, ein hagerer verkniffen wirkender Südspanier, ebenfalls seit zwei Wochen unrasiert und kaum gewaschen. Er hatte etwas Mühe mit dem Pullen, denn seine linke Hand war stark verkrüppelt. Ihm fehlte der Daumen. Beim Pullen sah es daher immer so aus, als würde er mit der linken Hand Fäden ziehen.
„Diese Insel ist mir mehr als unheimlich“, raunte Virgil Ventura dos Santos, der allgemein nur bei seinem Nachnamen gerufen wurde. „Ich sage dir, Normando, dieser buntschillernde Papagei war in Wirklichkeit der Teufel persönlich, der uns nur auf diese Insel locken wollte, um unsere Seelen zu kassieren. Das Gold kann ja schließlich nicht spurlos verschwunden sein. Das gibt es nämlich gar nicht“ Normando spuckte zielsicher über das Dollbord. Er drehte nur ganz selten den Kopf zum Land, denn auch ihm war diese Insel rätselhaft und unheimlich. Er war sich seiner Sache absolut sicher, daß hier Geister umgingen, die nicht nur Schabernack trieben, sondern ihnen auch ernsthaft an den Kragen wollten. Er warf einen schnellen Blick zur ersten Jolle hinüber, in der Acosta mit verkniffenem Gesicht hockte. Als der ehemalige Steuermann mißmutig und finster zurückblickte, drehte sich Normando hastig wieder um. Der Blick aus diesen kalten Augen war drohend und hinterhältig. „Jetzt markiert er wieder den Helden“, raunte Normando. „Wenn wir nachher am Strand sind, dann rückt er von der vordersten Front ab und läßt uns vorgehen, der Drecksack.“ Santos kniff bösartig die Augen zusammen. Er und Normando waren auf Acosta nicht gut zu sprechen, denn da war noch die Sache mit Carlos, den Acosta kaltblütig und ohne Vorwarnung erschossen hatte, und das nur, weil er gesagt hatte, Acosta könne bei der Suche nach den geheimnisvollen Kerlen ja vorangehen. Solche Dinge vergaßen die beiden nicht. Santos nahm sich ohnehin vor, es Acosta bei passender Gelegenheit heimzuzahlen. Diese Gelegenheit rückte jedoch vorerst in weite Ferne, denn jetzt ging es erst einmal um das Gold und um die „Geister“, die anscheinend auf dieser Insel hockten. Auf einer der Duchten hockte noch ein Kerl, der es kaum erwarten konnte, endlich das Gold zu finden. Sie nannten ihn Hongo, was soviel wie Giftpilz bedeutete und äußerst zutreffend war. Hongo war ein spitzbärtiger Kerl von zwergenhaftem Wuchs, äußerst explosiv, giftig und sehr gefährlich. Wegen seines krüppelhaften Wuchses litt er unter Minderwertigkeitskomplexen, die er mit Gemeinheit und Boshaftigkeit wieder abreagierte. Der dunkle Spitzbart verlieh ihm zwar ein etwas dämonisches Aussehen, ließ ihn wiederum aber auch lächerlich erscheinen. „Bald haben wir es“, sagte er heiser, „dann sind wir reich und werden ein herrliches Leben führen. Wollen wir wetten?“ Mit dem Giftpilz wollte jedoch keiner wetten. Selbst die stärksten und brutalsten Kerle aus der Bande der Schlagetots und Schnapphähne hielten sich von dem Zwerg fern. Der konnte vom einen Augenblick zum anderen voller Jähzorn und Wut explodieren und war schnell mit dem Messer zur Hand, weil er sich ständig selbst etwas beweisen mußte. „Wie ist es mit dir, Santos - wollen wir wetten, daß wir jetzt endlich das Gold finden?“ „Vielleicht stoßen wir statt auf Gold auf Geister“, sagte Santos ausweichend. „Mir ist jedenfalls sehr mulmig.“ „Weil du ein ängstlicher Scheißer bist“, sagte der Spitzbärtige voller Hohn, „weil du dauernd die Hosen voll hast.“ Santos ging nicht mehr darauf ein. Der Zwerg warf ihm noch einen giftigen Blick zu, dann schwieg auch er. Die beiden Jollen liefen jetzt auf den Strand. Die See war ruhig, am Himmel standen nur ein paar winzige Wölkchen. Knirschend liefen die Boote auf den Strand.
Der selbsternannte Kapitän der „San Jacinto“ blickte mißtrauisch und unbehaglich auf die Felsen am Strand. Dann wanderte sein Blick weiter. Nichts rührte sich. Durch die Palmenwedel strich sanft der lauwarme Wind. Zum Ufer liefen kleine Wellen plätschernd und raunend auf den Sand. Sonst war alles still und ruhig. Aber die Atmosphäre auf der Insel gefiel Acosta ganz und gar nicht. Diese Ruhe lastete wie ein Alptraum auf ihm, wie eine unheimliche Beklemmung. Er blickte wieder aus schmalen Augen zu den Felsen. Außer ein paar Krebsen, die geschäftig hin und her rannten, war nichts zu sehen. Die Kerle enterten aus den Jollen und blieben ratlos und mit ängstlich erwartungsvollen Gesichtern stehen. „Zieht die Jollen höher auf den Strand“, befahl Acosta. Seine Stimme war mehr ein Flüstern. Die Jollen wurden höher auf den Strand gezogen. Sechzehn Kerfe, bewaffnet bis an die Zähne, standen herum und wußten nicht, wie sie sich verhalten sollten. Sie blickten zu ihrem Anführer, der zwei Bandeliers mit Pistolen trug und eine Pistole ständig schußbereit in der Hand hielt. Acosta dachte nicht im Traum daran, Risiken für sein eigenes Leben einzugehen. Dafür hatte er ja seine Kerle, für die ein großer Teil der Beute abfiel, sobald man sie erst einmal gefunden hatte. Geduckt schlich Acosta zu den schützenden Felsen, die Pistole in der Faust, den Blick mißtrauisch immer wieder nach allen Seiten richtend. Einer dieser Felsen bot ihm hervorragende Deckung. Er schirmte ihn von vorn und zu den Seiten ab. Von hinten drohte ebenfalls keine Gefahr, denn dort war die offene See. Ziemlich erleichtert ging er in Deckung, und jetzt, aus dieser sicheren Deckung heraus, gab er seine Befehle. „Prado, du schwärmst mit deiner Gruppe aus, und zwar geht ihr nach Norden. Die andere Jollencrew bewegt sich nach Süden. Kämmt alles ab, und nehmt den Weg am Strand entlang.“ Prado, ein Klotz von einem Kerl mit einer Holzhackervisage, war vorher Bootsmann auf der Goldgaleone „Viento Este“ gewesen. Er war schon ganz gierig auf die Goldbarren, denn er wußte, welche Unmengen davon die Galeone geladen hatte. „Geht in Ordnung“, sagte er. „Wir werden auch immer ein Auge auf die Felsen im Innern der Insel haben. Bleibst du bei uns, oder gehst du mit der anderen Gruppe?“ erkundigte er sich dann wie beiläufig. Kongo und Normando grinsten dünn, als die Antwort ein wenig auf sich warten ließ. Sie kannten sie im voraus, genau wie Santos, der lauernd zu Acosta blickte. „Ich bleibe hier und halte die Stellung“, sagte er nach einer Weile. „Dann habe ich hier im Mittelpunkt beide Gruppen unter Kontrolle und kann alles beobachten. Ihr geht also immer am Strand entlang und haltet die Augen offen.“ Klar, dachte Prado, ohne sich etwas anmerken zu lassen. Einen anderen Weg gibt es ja auch nicht als den am Strand entlang. Der war ohnehin schmal genug, während inselwärts das Gelände immer mehr anstieg und unwegsam wurde. „Achtet auf Spuren im Sand, auf Fußabdrücke und alles mögliche. Auch auf Schleif spuren. In den Felsen werden die Kerle sowieso keine Spuren zurückgelassen haben.“ Die anderen Kerle waren nicht gerade entzückt von der Aussicht, wieder mal verheizt zu werden, während Acosta in sicherer Deckung zwischen den Felsen blieb, um alles „besser unter Kontrolle“ zu haben. Mit mürrischen, aber auch ängstlichen Gesichtern standen sie herum, als erwarteten sie jeden Augenblick ein über sie hereinbrechendes Unheil. Eine seltsame Mischung aus Gier und Angst beherrschte sie fast alle.
Da war einmal das viele Gold, der sagenhafte Reichtum, aber da war auf der anderen Seite auch die Angst vor den Unbekannten, die sich hier offenbar irgendwo versteckt hatten, nachdem sie Spuren auf der anderen Insel hinterlassen hatten. Ein paar der Schnapphähne blickten unbehaglich zu der Jolle der „Empress“, die einsam und verlassen hoch auf dem Strand lag. Der Anblick dieser Jolle ließ sie jedesmal vor Aufregung schlucken. „Die andere Gruppe übernimmt Morro“, sagte Acosta. Morro war ein kleiner durchtriebener Halunke, dürr und geiergesichtig, aber er hatte Grips im Schädel und war listig. Auch ihm mißfiel es sehr, daß Acosta wieder einmal aus dem Hintergrund agierte und sie vorschickte, wobei er noch zu einer äußerst faulen Ausrede griff, die jeder längst durchschaut hatte. Der geiergesichtige Kerl nickte grinsend. „Was ist, wenn die Kerle hier irgendwo auf uns lauern?“ fragte er. Der Giftpilz, der an der Boshaftigkeit seines eigenen Charakters fast erstickte, nickte dazu bekräftigend. „Ja, was dann? Die Kerle sind unsere Gegner, wenn sie tatsächlich das Gold an sich gerissen haben. Sie werden uns nicht gerade freundlich empfangen. Möglicherweise hocken sie geschützt in den Felsen und knallen uns aus dem Hinterhalt ab.“ Für Kongo war es bezeichnend, so zu denken. Er hätte auch niemals anders gehandelt. Aus dem Hinterhalt ging man immer das kleinste Risiko für sich selbst ein. „Reiß du nur dein schiefes Maul noch weiter auf!“ fauchte Acosta. „Ich habe doch gesagt, ihr sollt gefälligst die Klüsen auf machen und auf Spuren achten. Die Spuren verraten die Anwesenheit der Kerle, und so seid ihr immer rechtzeitig gewarnt. Oder geht das wieder nicht in deinen verkrüppelten Schädel?“ Den Ausdruck „verkrüppelt“ hörte Kongo gar nicht gern. Dann stieg ihm immer gleich die Galle hoch, und er explodierte. Diesmal begnügte er sich jedoch mit einem schnellen haßerfüllten Blick zu dem Mann, der vorsorglich in sicherer Deckung blieb und nicht das geringste Risiko für sich einging. „Na gut“, sagte er gefährlich leise. „Noch ist ja nicht aller Tage Abend.“ „Was soll das heißen?“ schrie Acosta. Wie zufällig zielte der Lauf seiner Pistole auf den zwergenhaften häßlichen Kerl mit den giftigen Blicken. „Nichts, wir werden das Gold schon finden - und die Kerle auch, die es geklaut haben.“ Die jähe explosivartig hochsteigende Wut hielt der Giftpilz diesmal nur unter größter Selbstbeherrschung zurück. Da war die Pistole, und die hielt Acosta in der Faust. Er würde keinen Lidschlag lang zögern, ihn ebenso abzuknallen, wie er das mit Carlos getan hatte. Die Pistole war das bessere Argument. Dem hatte er im Augenblick nichts entgegenzusetzen. „Haut jetzt endlich ab!“ fauchte Acosta. „Oder wollt ihr hier am Strand anwachsen?“ „Dann los“, sagte Prado unbehaglich, „ab nach Norden.“ Er stand dicht neben der Empress-Jolle und blickte sie unbehaglich an. Seine Kerle hatten sich mittlerweile um ihn geschart. Dann zogen sie ab nach Norden, wobei sie sich dicht am Wasser hielten. Morro übernahm die andere Gruppe. Sie marschierten gleich darauf in die entgegengesetzte Richtung los. Acosta sah ihnen aus seiner sicheren Deckung nach. Er nahm eine weitere Pistole aus dem Bandelier und legte sie vor sich auf den Felsen. Die andere behielt er in der Hand. Dann blickte er wieder zu jener Stelle, wo das Gelände anstieg, wo es Hügel und Felsen gab und sich dichtes Buschwerk befand.
Die Kerle müssen hier irgendwo stecken, dachte er, sie konnten sich nicht in Luft aufgelöst haben. Jetzt, da beide Gruppen unterwegs waren, fühlte er sich noch unbehaglicher als zuvor. Nach einer Weile warf er einen Blick zum Schiff hinüber. Ein paar einsame Gestalten standen am Schanzkleid und blickten stumm zur Insel. Sie waren sehr erleichtert, daß sie an Bord bleiben durften. Sein nächster Blick galt wieder der Jolle. Wie ein Fremdkörper lag sie hier am Strand. Wo, zum Teufel, mochten diese geheimnisvollen Kerle nur stecken, überlegte er immer wieder. Als seine Kumpane verschwunden waren, hatte Acosta laufend das Gefühl, beobachtet zu werden. Tausend unsichtbare Augen schienen ihn höhnisch und überlegen anzustarren. Unterdessen marschierte die Gruppe unter Morro ebenfalls immer dicht am Wasser entlang nach Süden. Die Schnapphähne waren aufgeregt und kribbelig. Sie alle hielten aufmerksam Ausschau nach allen Richtungen. Aber da waren nur die ansteigenden Hügel zu sehen, eine Zone, die schwer begehbar war, in der sich ein Gegner aber vorzüglich verbergen konnte. Lauernd, zögernd, die Pistolen in den Fäusten und ständig bereit zu schießen, schlichen sie weiter. „Keine verdammten Spuren“, murrte der Giftpilz. „Hier geht etwas nicht mit rechten Dingen zu. Wenn die hier mit einem Boot gelandet sind, muß es doch Spuren geben.“ „Wir werden schon noch welche finden“, meinte Morro. Er war gereizt und ebenfalls verunsichert, weil sich der Gegner offenbar doch in Luft aufgelöst hatte. Dann war vor einer kleinen dichtbewachsenen Landzunge der Strand plötzlich zu Ende. Buschwerk und Palmen standen direkt am Wasser. „Was jetzt?“ fragte einer. „Hier geht es nicht mehr weiter.“ „Durchs Wasser“, entschied Morro nach kurzem Zögern. „Aber haltet die Augen offen.“ Vor der ins Wasser reichenden Vegetation blieben sie stehen. Die Pistolen waren auf die Büsche gerichtet Einer der Kerl wischte sich nervös ein paar Schweißtropfen von der Stirn. Niemand war zu sehen, alles blieb still und ruhig. Nur die kleinen Wellen plätscherten spielerisch an den Strand. Morro trat zögernd ins Wasser, hielt sich dann an einem Palmenstamm fest und blickte voraus. „Da vorn ist wieder Strand“, sagte er leise. „Da können wir uns besser bewegen.“ Die Kerle folgten ihm durchs Wasser, umgingen die Buschgruppen und sahen auf der anderen Seite wieder den sandigen Strand. Er war genau so schmal wie der andere. Als sie sich dann wieder auf den Strand begaben, geschah es überraschend und plötzlich. Über ihren Köpfen war ein Kreischen zu hören, dann ein aufgeregtes Flattern. Die Kerle verloren die Nerven. „Der Papagei!“ schrie einer wild, und schon riß er den Arm mit der Pistole hoch. Aber es war nicht der geheimnisvolle Papagei, der sie mit wilden und lästerlichen Flüchen belegt hatte. Es war ein Seevogel, der in seiner Ruhe aufgescheucht worden war. Die Schnapphähne bemerkten das erst später. Plötzlich war die Luft vom wilden Knallen der Pistolen erfüllt. Jeder schoß aufgeregt und nervös auf den Vogel, der sich in die Lüfte geschwungen hatte und nun wieder krächzende Laute ausstieß.
Sie ballerten daneben, so aufgeregt waren sie. Der Vogel schraubte sich höher in den Himmel und wurde immer kleiner. Morro warf fluchend die Pistole in den Sand. „Verdammt noch mal!“ brüllte er. „Wir sind ja alle bescheuert. Das war ein ganz stinknormaler Vogel, kein Papagei.“ „Aber das hier ist keine stinknormale Insel“, zischte der Giftpilz. „Es hätte ja der Papagei sein können.“ Der Galgenvogel von ausgeprägter Boshaftigkeit und Heimtücke stand wieder mal kurz vor der Explosion. Er war übernervös, gereizt und fühlte sich von dem Vogel veralbert. In aller Eile lud er seine Pistole nach. Auch Morro hob seine Waffe wieder auf, um sie nachzuladen. Dem entschwundenen Vogel schickte er einen wütenden Blick hinterher. Ein langer dünner Kerl sah hämisch grinsend auf den Giftpilz, der vor lauter Nervosität kaum zum Nachladen kam. „Du hast es ja sehr eilig“, höhnte er. „Hast wohl schon Angst vor dem nächsten Vogel?“ Der boshafte Zwerg blickte aus tückischen Augen hoch. „Du kannst gleich was aufs Maul kriegen“, sagte er. „Da mußt du aber noch ein Stückchen wachsen, Kleiner.“ Was dann folgte, verblüffte die anderen wieder einmal. Der Lange hatte die Worte noch nicht richtig heraus, da warf ihm der Giftpilz die Pistole an den Kopf. Gleichzeitig zog er sein Messer und drang auf den Langen ein. Sein Gesicht war wachsbleich und eine schrecklich verzerrte Grimasse. Der Lange war inzwischen in den Sand gefallen und bedeckte mit beiden Händen das Gesicht, wo ihn die Pistole getroffen hatte. Er sah den Zwerg nur sehr undeutlich, der sich wie rasend auf ihn stürzte. Von den anderen wich die Erstarrung. Morro und zwei weitere Kerle stürzten sich auf den Zwerg, entrissen ihm das Messer, warfen ihn von den Füßen und hielten ihn fest. Hongo spuckte Gift und Galle und wehrte sich verbissen. Sogar mit den Zähnen packte er zu. Morro riß sein eigenes Messer heraus und setzte es dem tobenden und um sich schlagenden Zwerg an die Kehle. „Bleib ganz ruhig“, sagte er, „sonst steche ich dich ab. Wenn du keine Ruhe gibst, bist du erledigt. Soweit kommt es noch, daß wir uns gegenseitig an den Hals gehen.“ Hongo keuchte laut. Seine Blicke waren wie giftige Dolche. „Das wirst du noch bereuen“, zischte er haßerfüllt. „Ihr alle werdet es noch bereuen, ihr verdammten Schweine!“ „Gibst du jetzt Ruhe, du Halunke?“ Der Kleine nickte, wobei er an seiner grenzenlosen Wut fast erstickte. Immer noch sprühten seine Blicke Gift in alle Richtungen. Sie ließen ihn los, behielten ihn jedoch im Auge, weil der Giftpilz unberechenbar in seiner Wut war. Als er dann auf den Beinen stand, kriegte er fast wieder einen Tobsuchtsanfall. „Bleib schön friedlich“, sagte Morro leise. „Und sieh dich lieber aufmerksam nach unseren Gegnern um, statt auf die eigenen Leute loszugehen.“ Hongo gab keine Antwort, aber seine haßerfüllten Blicke sprachen wieder einmal Bände. Der Lange war ebenfalls vor Wut zum Bersten geladen. Die Pistole hatte in seinem Gesicht ein paar blutige Prellungen hinterlassen.
Er starrte bitterböse auf den Kleinen und sagte drohend: „Wir sind noch nicht fertig miteinander, du verkrüppelter Bastard. Wenn wir das hier hinter uns haben, sprechen wir uns noch.“ „Meinetwegen. Aber das werden dann deine letzten Worte sein.“ „Ladet eure Pistolen jetzt nach!“ befahl Morro. „Und dann geht es weiter, aber ohne Reibereien und Ärger. Wenn Acosta das erfährt, gibt es Krach. Der hat es auf dich sowieso abgesehen. Dann bist du sehr schnell ein toter Mann, Hongo.“ Der Mann, von dem sie gerade sprachen, zuckte verstört zusammen, als er die Schüsse hörte. Die Kerle ballerten, was das Zeug hielt. Es war die Gruppe, die nach Süden aufgebrochen war. Gerade jetzt eben verklangen die letzten Schüsse. Acosta nahm an, daß sie auf die geheimnisvollen Inselbewohner gestoßen waren. Offenbar hatten die sich jetzt gezeigt, und dabei war es zu der Schießerei gekommen. Er kroch noch weiter in den Schutz der Felsen und lauschte angespannt auf weitere Schüsse. Überraschenderweise blieb jedoch alles still und ruhig. Das beunruhigte ihn noch mehr. Er überlegte, ob er der Gruppe unter Morro folgen sollte, dann entschied er sich anders. Wenn der unsichtbare Gegner im Süden lauerte, dann war im Norden für ihn selbst nichts zu befürchten. Also konnte er die Gruppe im Norden wahrschauen und zur Verstärkung heranholen. Er zauderte jedoch noch eine Weile, und danach löste sich das Problem von selbst. * Der Trupp unter dem Bootsmann Prado ging immer stur nach Norden am Strand entlang. Die Schnapphähne äugten mißtrauisch nach allen Seiten, doch niemand ließ sich blicken. Die Insel schien von jeglichem Leben verlassen zu sein. Auch Spuren hatten sie bisher nicht gefunden, doch das wirkte eher besorgniserregend. Vor ihnen tauchten kleinere Felsen auf. Vor den Felsen standen Palmen, dazwischen wuchsen eine Unmenge Sträucher. „Das ist wie verhext auf dieser verdammten Insel“, sagte Prado. „Kein Schwanz ist zu sehen, und doch sitzen die Kerle irgendwo unsichtbar verborgen hier herum.“ In diesem Augenblick war aus weiter Ferne das Knallen von Pistolen zu hören. Prado blieb stocksteif stehen und sah die anderen an. In den Augen der Kerle las er plötzlich Angst und Entsetzen. „Verdammt“, sagte Normando heiser. „Jetzt geht es los. Die anderen sind entdeckt worden.“ Sieben oder acht Schüsse waren gefallen. Danach herrschte eine geradezu beängstigende Stille. Die Ruhe nach der Knallerei ging ihnen mächtig auf die Nerven. Sie standen da und lauschten. Der leise Nachhall der Schüsse war ebenfalls verklungen, und jetzt rührte sich nichts mehr. „Die werden die anderen doch nicht erledigt haben“, sagte einer halblaut. „Das hörte sich so an, als seien alle erschossen worden, sonst hätten sie sich doch gewehrt.“ „Mal bloß den Teufel nicht an die Wand“, knirschte Prado. „Wir werden mal nachsehen.“ „Und dann geraten wir in einen Hinterhalt und werden ebenfalls umgelegt.“ Wieder stand nackte Angst in den bärtigen und unrasierten Gesichtern der Schnapphähne und Schlagetots. Sie waren verunsichert, aber da war immer noch
die Gier nach dem vielen Gold, das ihnen mit einem Schlag schnellen Reichtum versprach. Bei Prado überwog diese Gier die Angst. Immer wieder dachte er an die vielen Goldbarren. „Zurück!“ befahl er. „Denkt an das Gold. Wenn wir das finden, dann haben wir ausgesorgt, und zwar für alle Zeiten. Und noch etwas“, fügte er zynisch hinzu. „Wenn es die anderen erwischt hat, wird der Anteil an der Beute für die anderen nur größer.“ Jetzt überlegten sie nicht mehr länger. Als Prado sich umdrehte und zurückging, folgten sie ihm. Etwas später trafen sie auf Acosta, der sich immer noch zwischen den Felsen aufhielt. Er war nur ein paar Yards weitergegangen und dann immer wieder stehengeblieben. „Was ist passiert?“ fragte Prado. „Da sind Schüsse gefallen.“ „Das habe ich gehört, und ich wollte euch gerade holen. Geht der anderen Gruppe nach und überzeugt euch, was da los ist. Aber beeilt euch gefälligst. Ein Mann bleibt noch bei mir zurück. Wenn was schiefgeht, können wir euch immer noch heraushauen.“ Prado grinste nur verächtlich. Er wußte genau, was los war, und daß Acosta zu feige war, sich selbst zu überzeugen. Der blieb lieber hier und wartete ab. „Na; was ist?“ fragte Acosta ungehalten. „Wird's bald? Du bleibst hier“, sagte er und zeigte auf einen schmierigen Kerl mit flackernden Augen. Der Schmierige nickte eifrig und dankbar. Er ahnte wohl, daß er nur dableiben sollte, weil Acosta allein Furcht empfand, aber das war ihm gerade recht Dann brauchte er auf dieser unheimlichen Insel wenigstens nicht seinen Kopf hinzuhalten. Prado zog los, ziemlich belemmert, aber auch darüber verärgert, daß sie wieder mal allein die Kastanien aus dem Feuer holen sollten, während Acosta in sicherer Deckung zurückblieb. Diesmal beeilten sie sich, und schon nach einer knappen halben Stunde sahen sie die anderen, die es gar nicht eilig hatten und sich nur vortasteten und dabei nach allen Seiten sicherten. Sie wurden gleich darauf von Morro entdeckt, blieben stehen und warteten, bis die andere Gruppe heran war. „Was ist denn hier passiert?“ wollte Prado wissen. „Auf was habt ihr geschossen?“ „Auf einen verdammten Vogel, der uns erschreckt hat. Wir sind ja alle ein bißchen nervös, und dann gingen gleich die Kracher los. Weiter ist aber nichts passiert.“ Prado starrte verblüfft in die Runde. „Ihr Idioten, ihr verdammten! Schießt auf einen Vogel, und wir glaubten, man hat euch aus dem Hinterhalt abgeknallt!“ Trotz seiner Worte war er erleichtert darüber, die anderen alle noch lebend vor sich zu sehen. Er fürchtete sich selbst ständig davor, in einen Hinterhalt zu geraten. „Bis jetzt haben wir noch niemanden gesehen, nicht einmal die Andeutung von Spuren gefunden. Es sieht auch nicht so aus, als würden die Kerle noch hier auf der Insel hocken.“ „Und das Boot?“ Morro zuckte mit den Schultern. „Weiß ich nicht. Möglicherweise haben sie es aus irgendwelchen unerfindlichen Gründen zurückgelassen.“ „Das gefällt mir trotzdem nicht“, sagte Prado. Er warf noch einen prüfenden Blick auf die Männer. „Wir kehren wieder um und gehen nach Norden zurück. Wenn ihr
wieder mal einen Vogel seht, dann ballert nicht gleich los, sonst gibt es hier nur ein Durcheinander.“ Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, drehte er sich um und ging den Weg zurück, bis sie wieder auf Acosta trafen, der mit dem Schmierigen hinter den Felsen lauerte. „Was ist passiert?“ fragte Acosta sofort. „Sind die anderen...?“ Den Rest der Frage ließ er offen. „Nichts ist passiert. Die Idioten haben auf einen Vogel geschossen, der vor ihnen aufgeflogen ist. Sie haben ihre Pistolen abgefeuert und dann gemerkt, daß nichts weiter dahintersteckte. Wir brauchen uns also nicht weiter zu sorgen.“ „Diese verdammten Blödmänner!“ fluchte Acosta. „Die müssen sich natürlich gleich meilenweit bemerkbar machen, damit die anderen Kerle auch wissen, wo wir sind.“ „Wenn die noch hier sind, wissen sie es sowieso. Möglicherweise beobachten sie uns irgendwo aus den Felsen. Sollen wir jetzt weitersuchen?“ „Natürlich, was sonst? Wir sind ja hier nicht zum Spaß auf der Insel. Geht wieder nach Norden und sucht alles ab.“ Prado zog voller Zorn los. Der Schmierige hockte hinter einem Felsen und wagte sich kaum noch hervor. Er hoffte darauf, daß ihn Prado übersah und vergaß. Jetzt aber, da nichts passiert war, konnte Acosta auf den Kerl verzichten. Er packte ihn am Hemd und zog ihn hervor. „Du gehst natürlich auch mit“, sagte er. Erneut zogen sie los, knurrend und fluchend, weil ihnen die Insel auf den Geist ging und hier offenbar Dämonen hausten, die sich nicht blicken ließen. Sie hatten mehr auf Spuren im Sand geachtet, doch da sie die Strecke schon einmal gelaufen waren und nichts entdeckt hatten, blickten sie jetzt immer öfter zu den Hügeln. Nach gut fünfzig Yards passierte der Trupp die Höhle, in der die Dämonen“ saßen und sich mucksmäuschenstill verhielten. Santos war es, der schließlich die Höhle entdeckte. Er blieb stehen und sah hinauf. „He, bleibt doch mal stehen!“ rief er. Die anderen blieben stehen und folgten seinem Blick. „Eine Höhle“, sagte Santos. „Da oben könnte sich doch vielleicht jemand verstecken, oder meint ihr nicht?“ Prado blickte ebenfalls zu der Höhle hoch. Sie hatten sie vorher nicht bemerkt, weil sie immer nur nach Spuren im Sand suchten. „Tatsächlich, eine Höhle“, sagte Prado. „Und du glaubst, da könnte sich jemand verstecken, was?“ „Warum nicht? Eine Höhle ist doch ein ideales Versteck.“ „Das halte ich für ziemlich schwachsinnig“, erwiderte Prado. Aber Santos war von dem Gedanken nicht mehr abzubringen. Auch Armando nickte bekräftigend. „Klar, eine Höhle ist ein gutes Versteck.“ Der Bootsmann grinste überlegen und höhnisch. „Die liegt mindestens um eine Haushöhe über dem Strand. Da hat sich dann wohl einer ein paar Flügel umgeschnallt und ist in die Höhle geflogen, vielleicht war's ein Engelchen. Und gleich taucht dieses Engelchen auf und schießt dir einen Kanal durch dein dummes Gehirn, damit du wieder besser denken kannst.“ „Die Möglichkeit besteht trotzdem“, sagte Santos hartnäckig. „Aber sicher doch“, höhnte Prado weiter. „Das Engelchen hat sich versteckt, und das Gold hat sich dieses Engelchen unters Hemd geklemmt und ebenfalls in die Höhle gebracht, eh? Kannst du mir mal sagen, wie das Gold nach oben gebracht wurde? Nein, das weißt du natürlich nicht. Du faselst nur dämliches Zeug. Ich weiß,
welche Mengen Goldbarren in der Galeone waren. Die schleppt man nicht einfach in eine Höhle, die mindestens um Haushöhe über dem Strand liegt.“ Weil Prado von Natur aus ein fauler Hund war, konnte er sich beim besten Willen nicht vorstellen, daß jemand auf die wahnsinnige Idee verfiel, das Gold da hinaufzubringen. Ausgeschlossen war das! Nicht einmal ein Verrückter würde das tun - und wenn, dann hätte er damit wochenlang zu tun gehabt. Diese Möglichkeit schloß er absolut aus, denn sie überstieg bei weitem seine Vorstellungskraft. „Von oben vielleicht“, sagte Santos verunsichert. Die Kerle standen herum, starrten zur Höhle hoch und grinsten, denn von oben war an die Höhle schon gar nicht heranzukommen. Prado zeigte an seine Stirn. „Du Spinner“, sagte er abfällig. „Von oben bricht man sich die Ohren, wenn man da hinein will. Sieh dir mal den Felsen an, der steht so weit über, daß es unmöglich ist. Da hängst du glatt in der Luft und verhungerst“ „Na ja“, murmelte Santos, „kann ja auch sein, daß sie das Gold woanders verbuddelt haben.“ „Das hört sich schon besser an. Ich selbst hätte die Kisten auch vergraben und niemals in die Höhle geschafft, weil das auch gar nicht möglich ist.“ Santos und Normando hatten die Nasen voll vom vielen Laufen. Alle beide waren ausgesprochen gehfaul und wollten nicht mehr weiter. Die Angst spielte auch eine gewisse Rolle dabei. „Bevor wir weiterlatschen, können wir die Höhle doch einmal untersuchen“, meinte Normando. „So rennen wir nur immer am Strand entlang und finden doch nichts. Ich bin jedenfalls dafür, daß wir der Grotte einen Besuch abstatten.“ Prado war überhaupt nicht dafür. Um die Höhle zu erreichen, bedurfte es fast schon artistischer Geschicklichkeit. „Na gut“, sagte er hämisch, „wenn! du so versessen darauf bist, du blöder Hund, dann klettere doch hoch! Und beim Klettern wirst du dir garantiert das Genick brechen.“ Normando und Santos warfen einen weiteren nachdenklichen Blick zu der so hoch liegenden Höhle. Der Fels war glattgeschliffen und hatte außerdem eine negative Neigung, wie die Schräge eines umgekehrten Daches, das auf dem Giebel steht. „Keine Lust mehr?“ fragte Prado. Santos schüttelte stumm den Kopf. Dann wandte er sich achselzuckend ab, denn die Worte vom „Genick brechen“ hatten bei ihm den Ausschlag gegeben. Für nichts und wieder nichts wollte er sich schon gar nicht das Genick brechen. „Du auch nicht?“ Normando schüttelte ablehnend den Kopf. „Lieber nicht. So gut im Klettern bin ich auch wieder nicht.“ „Hat einer der anderen ehrenwerten Seniores die Absicht, dort hinaufzusteigen?“ wandte sich Prado an die anderen. Aber die hatten erst recht keine Lust, sich auf waghalsige Klettertouren zu begeben. Sie standen nur herum und grinsten dümmlich oder verlegen. Prado schenkte der Höhle keine Beachtung mehr. Für ihn war der Fall damit erledigt. Die geheimnisvollen Kerle würden seiner Ansicht nach kaum so verrückt sein, sich in einer Höhle unmittelbar am Strand zu verkriechen, da die Insel ganz andere Verstecke bot. Und wie sollten sie dort hinauf gelangt sein? „Dann ziehen wir jetzt weiter“, entschied er. „Wir gehen wieder nach Norden. Kurz bevor es dunkel wird, brechen wir die Suche ab und kehren an Bord zurück.“ Die Kerle nickten. Nur Santos und Armando waren von der Idee nicht sehr begeistert, noch weiterlaufen zu müssen. Aber ihnen blieb nichts anderes übrig. Erneut setzte sich der Trupp in Bewegung.
3.
Durch den winzigen Spalt im Felsen konnten sie unter sich alles genau beobachten. Da nicht alle gleichzeitig hinausblicken konnten, kommentierte der Kutscher mit leisen Worten die Situation. „Jetzt sind sie gelandet und ziehen beide Jollen auf den Strand. Sie sehen verdammt mißtrauisch drein und wirken, als hätten sie vor Geistern Angst.“ Old O'Flynn, der auf der Kiste mit Sir John hockte, grinste bis an beide Ohren. „Die nehmen ja auch an, daß es hier Geister gibt. Die Insel dürfte den Halunken nicht geheuer sein.“ Wortfetzen waren jetzt zu hören, aber nicht zu verstehen. Mehr als fünfzig Yards waren die Kerle noch entfernt. „Ein Kerl gibt jetzt Befehle und teilt die anderen in zwei Gruppen ein“, erläuterte der Kutscher. Carberry stand neben ihm und linste ebenfalls durch den Spalt. „Der Anführer“, sagte er. „Der Kerl scheint die Hosen voll zu haben. Bewaffnet bis an die Zähne, aber keinen Mumm in den Knochen. Er ist gleich hinter den Felsen in Deckung gegangen.“ Sie sahen in furchtsame, aber auch gierige Gesichter, die unbehaglich die Jolle am Strand musterten. „Nähern sie sich?“ fragte Stenmark. „Noch nicht. Es sieht aber so aus, als würde die eine Gruppe nach Norden und die andere nach Süden gehen.“ „Der Oberbastard hält am Strand offenbar die Stellung“, sagte Carberry. „Der muß ja einen Heidenrespekt vor uns haben. Tatsächlich, der Kerl bleibt in Deckung und schickt die anderen vor.“ „Das ist die beste Art, gesund zu bleiben und länger zu leben“, erklärte Old O'Flynn grinsend. Sie sahen zu, wie am Strand noch herumpalavert wurde und sich die eine Gruppe nach Süden absetzte. Alle Kerle hielten Pistolen schußbereit in den Fäusten. Die andere Gruppe nahm jetzt - nach einem weiteren längeren Palaver - Kurs nach Norden und damit auf die Höhle. Der Anführer der wilden Horde blieb allein zurück. Sicherheitshalber legte er noch eine weitere Pistole schußbereit vor sich auf einen kleinen Felsen. Dann blickte er sich wieder mißtrauisch nach allen Seiten um. „Das ist vielleicht ein Hosenscheißer“, brummte Carberry abfällig. „Der hat sogar noch Angst vor der Jolle. Nur mit der Pistole ist er immer schnell zur Hand.“ In der Höhle lagen überall griffbereit Waffen - von Pistolen über Tromblons bis zu Blunderbussen und Musketen. Alle Waffen waren geladen und konnten sofort eingesetzt werden, wenn die Umstände es erforderten. Der Kutscher legte den Finger an die Lippen und schwieg. Sie sahen jetzt immer abwechselnd hinaus. Die Kerle rückten näher. Es waren zerfledderte Gestalten, richtiges Gesindel, dem die Goldgier in den Visagen stand. Aber auch Angst war in diesen Visagen zu sehen. Jeder hielt schußbereit eine Pistole in der Faust Die Kerle blickten in den Sand oder zu den Hügeln und Felsen, dorthin allerdings nur sehr flüchtig. Sie suchten im Sand nach Spuren und schienen überrascht zu sein, daß keine zu finden waren. Der letzte Regenschauer hatte alle Spuren verwischt. In der Höhle hielten sie fast alle den Atem an, als die Galgenvögel direkt darunter waren. Kein einziges Wort wurde mehr geflüstert.
„Scheißinsel, verhexte“, hörten sie eine Stimme sagen, die zu einem schmächtigen Kerl gehörte. „... werden bestimmt beobachtet“, fügte er hinzu. Jetzt war der entscheidende Augenblick da, als sie direkt unter der Höhle standen. Carberry, der Kutscher und Martin Correa konnten den Galgenvögeln direkt in die Gesichter blicken. Die Kerle schenkten der Höhle keinen einzigen Blick. Sie sahen nur einmal zu den glattgeschliffenen Felsen hoch, aber auch nur, weil sie vermuteten, jemand könne sich dort versteckt haben. Der Anführer, ein bulliger, brutal wirkender Kerl, hatte es offenbar sehr eilig. Er linste immer nur in den Sand. Die Kerle zogen vorbei und bewegten sich weiter nach Norden. „Ich krieg’ mich nicht mehr ein“, sagte Carberry grinsend. „Die sind ja noch dämlicher, als ich dachte. Nicht einmal den Eingang zur Höhle haben die entdeckt. Die haben sich wahrscheinlich mit Sand gewaschen.“ „Mit Sand?“ fragte der Kutscher verständnislos. „Wie kommst du denn darauf?“ „Die sahen so bescheuert aus“, erwiderte der Profos trocken. Der Kutscher grinste ein bißchen. Auch er und die anderen waren sehr erleichtert, daß die Galgenvögel weitergezogen waren. „Dann haben wir vorerst auch nichts mehr zu befürchten“, meinte Old O'Flynn. „Wenn sie uns jetzt nicht entdeckt haben, entdecken sie uns auf dem Rückweg ebenfalls nicht.“ „Verlaß dich nur nicht zu sehr darauf“, sagte Nils Larsen. „Wenn sie nichts gefunden haben, können sie auf dem Rückweg noch aufmerksamer sein als vorher.“ Der Kutscher linste noch einmal hinaus. Der Trupp zog weiter, immer noch im Sand nach Spuren suchend. Er sah nur noch ihre Rücken. „Fürs erste sind wir sie wenigstens los. Aber sie werden bald zurückkehren. So groß ist die Insel ja nicht“ Von der Kiste her meldete sich Old O'Flynn. Er tat so, als hätte ihn das alles nicht berührt. „Dann können wir ja mit dem feierlichen Teil beginnen“, erklärte er. „Ich habe nämlich eine Idee, und ich werde mit dir wetten, Ed.“ „Deine Ideen kenne ich zur Genüge. Das wird wieder mal der größte Stuß sein.“ „Ich wette trotzdem mit dir.“ „Und um was willst du wetten?“ fragte Carberry stirnrunzelnd. „Ich wette, daß du von einer Muck voll Wasser mit einem kleinen Schuß Rum besoffen wirst“ „Haha! Da kann ich nur lachen. Die Wette...“ Sie verstummten abrupt. Der Profos brachte die letzten Worte nicht mehr heraus. Dafür lauschten sie angestrengt. Weiter im Süden fielen Schüsse. Es knallte ein paarmal dumpf hintereinander. „Schüsse aus südlicher Richtung“, sagte Sven Nyberg. „Die andere Gruppe hat ihre Pistolen abgefeuert. Aber auf was mögen die Halunken nur gefeuert haben?“ Sie lauschten wieder, doch es fiel kein weiterer Schuß. „Sehr seltsam“, meinte Stenmark. „Fünf oder sechs Schüsse, und jetzt herrscht wieder Ruhe.“ Sie linsten durch den Spalt und sahen auf den Anführer, der immer noch so zwischen den Felsen stand, daß er von allen Seiten Deckung hatte. In seinem Rücken befand sich das offene Meer. Der Kerl wurde jetzt sehr nervös. Fast wäre er noch herumgehampelt. Er hielt jetzt zwei Pistolen in der Faust und sah sich sie gehetzt nach allen Seiten um. Er traf
jedoch keine Anstalten, irgend etwas zu unternehmen. Er verließ nur einmal kurz die Deckung, kehrte aber schleunigst wieder dorthin zurück.. „Der krumme Hund rührt keinen Finger“, sagte Stenmark, der ebenfalls einen schnellen Blick aus dem Spalt warf. „Der kümmert sich überhaupt nicht um seine Leute.“ „Aber auf irgend etwas müssen die doch geschossen haben“, sagte Hasard junior. „Vielleicht sind ihnen nur die Nerven durchgegangen“, sagte der Kutscher. „Außer uns befindet sich niemand auf der Insel, abgesehen von den unrasierten Strolchen. Ich nehme an, daß sie irgendein Tier aufgescheucht haben, und das hat sie so erschreckt, daß sie gleich zu ballern anfingen.“ „Das sind die Nerven“, kicherte Old O'Flynn, „die haben nämlich keine mehr. Sie wissen, daß es hier auf der Insel Männer gibt aber sie finden sie nicht, und das verunsichert sie. Hoffentlich gehen sie sich in ihrer Angst noch gegenseitig an den Kragen.“ „Wie ist das jetzt mit der Wette?“ fragte der Profos. „Du hast doch behauptet, ich würde...“ Die Neugier ließ dem Profos keine Ruhe, aber er wurde wieder einmal unterbrochen, und so erfuhr er noch immer nicht, wie das mit der merkwürdigen Wette funktionierte. Diesmal war es der Kutscher, der ihm die Neugier versalzte. „Ruhe jetzt. Die ganze Horde hat umgedreht und kehrt wieder zurück. Offenbar rennen sie jetzt nach Süden, um nachzusehen, was da passiert ist.“ Die Kerle hörten sie schon fluchen. Der Trupp hatte sich in Bewegung gesetzt. Ein Kerl rannte, die anderen hatten es nicht so eilig. Sie liefen an der Höhle vorbei, ohne auch nur einen einzigen Blick nach oben zu werfen. Kurz darauf waren sie bei den Felsen und palaverten mit ihrem Anführer, der wild gestikulierte. Das Palaver hielt jedoch nicht lange an. Dann stob die Horde los in Richtung Süden. Nur ein schmieriger Kerl mit verfilzten Haaren blieb bei dem stiernackigen Anführer zurück. „Anscheinend hat er Angst, allein zu bleiben, weil er nicht weiß, was weiter südlich vorgefallen ist“, sagte der Kutscher. „Jetzt beginnt bei ihnen das große Rätselraten.“ „Dann können wir uns ja in aller Ruhe mit der Wette beschäftigen“, sagte Carberry. „Ich bin wirklich sehr gespannt, was Donegal...“ „Habt ihr jetzt nichts anderes zu tun, als dämliche Wetten auszutragen?“ fauchte der Kutscher. „Wir sind noch lange nicht außer Gefahr, und ihr palavert nur rum!“ „Wir palavern über Rum, und nicht rum“, sagte Carberry grinsend. „Sie werden wieder zurückkehren, wenn sie feststellen, daß nichts weiter passiert ist“, warnte der Kutscher. „Vermutlich sind sie dann etwas aufmerksamer.“ Mit der Wette wurde vorerst nichts, denn Old O'Flynn tönte, daß er dazu Ruhe brauche und keine Hektik. Außerdem müsse man beobachten, was sich jetzt am Strand tue. Aber mit den Worten wollte er nur des Profos' Neugier noch etwas strapazieren. Am Strand tat sich eine Weile lang gar nichts. Die beiden Kerle lümmelten in sicherer Deckung herum und warteten. Von den anderen war nichts mehr zu sehen. Etwas später änderte sich das. Die Kerle kehrten zurück, und wieder begann ein längeres Palaver, bei dem harte Worte fielen. „Scheint alles in Ordnung zu sein“, meinte der Kutscher, „sonst hätte es mehr Aufregung gegeben. Die Bande hat auf Geister gefeuert und die Nerven verloren, wie ich annahm.“
„Gibt's denn hier wirklich Geister?“ fragte Old O'Flynn verunsichert den Kutscher. „Nein, natürlich nicht. Sie glauben nur, überall Geister und Gespenster zu sehen. Das würde dir vermutlich ähnlich ergehen, wenn du in der gleichen Lage wärest.“ „Vermutlich ja“, gab der Alte kleinlaut zu. Der Kutscher sah, daß die Horde erneut loszog. Den Schmierigen, der sich hinter den Felsen verbarg, nahmen sie mit. Der Kerl folgte ihnen nur höchst unwillig. „Haltet die Waffen griffbereit“, sagte Carberry. „Es sieht so aus, als suchten sie diesmal gründlicher. Ihr Häuptling hat ihnen das wohl eingeschärft.“ Sie legten Tromblons und Blunderbusse vor sich auf den Boden. Die Pistolen nahmen sie in die Hand und warteten. Dann traf sie fast der Schlag, als einer der Kerle plötzlich verhielt und genau zur Höhle hochstarrte. „He, bleibt doch mal stehen!“ hörten sie ihn rufen. Carberrys Gesicht drückte Kampfeslust aus. Der Kutscher kniff die Augen zusammen. In seinem Gesicht erschien ein harter Zug. Als die Kerle alle stehenblieben und zu der Öffnung starrten, da ahnte jeder, daß es jetzt gleich losgehen würde. Die Pistolen richteten sich auf den Eingang. Jeder war entschlossen, sein Leben so teuer wie möglich zu verkaufen. Doch dann bahnte sich bei den Schnapphähnen eine Diskussion an, bei der sich die Gesichter wieder entspannten. Sie hörten jedes Wort, das gesprochen wurde. Keine Silbe entging ihnen, und sie sahen natürlich überdeutlich die Gesichter vor sich. Die Kerle hatten dabei den Nachteil, daß sie vom Hellen ins Dunkle blicken mußten, und vom Hintergrund der Höhle konnten sie bei dem Tageslicht absolut nichts sehen - auch die Gesichter nicht, denn die waren von dem Spalt weit genug entfernt. Ein Kerl mit einer verkrüppelten Hand begann sich über die Höhle zu ereifern, und ein anderer tat es ihm nach. Doch dem Anführer mißfiel das offenbar. Von der Aussicht, die Höhle zu inspizieren, hielt er überhaupt nichts. Das lag hauptsächlich an der Höhe von vier Yards und dem vorkragenden Teil. Der eine Kerl brachte Gegenargumente, doch auch die zogen nicht Dann schwafelten sie über das Gold, und jetzt begannen die Arwenacks zum ersten Male breit zu grinsen, als sich der Dialog fortsetzte. Die Kerle vermochten sich absolut nicht vorzustellen, daß sich das viele Gold in der Höhle befand. „Ich weiß, welche Mengen Goldbarren in der Galeone waren. Die schleppt man nicht einfach in eine Höhle, die mindestens um Haushöhe über dem Strand liegt“ Der stiernackige Anführer hatte das gesagt. Der andere aber wollte der Grotte unbedingt einen Besuch abstatten, doch das stieß auf taube Ohren. Erst als der Anführer den einen Kerl aufforderte, doch nach oben zu klettern und sich das Genick zu brechen, war der Disput beendet. Keiner der Strolche hatte mehr Lust, die Höhle zu inspizieren. Der Kutscher, sonst immer kühl und gelassen, blickte in die Runde und grinste breit. Wenn die Kerle wüßten, daß sie jetzt nur vier Yards vor dem riesigen Goldhaufen standen, würden sie überschnappen. Jetzt empfand er die Situation fast als köstlich. Die Kerle waren ganz einfach dämlich oder zu faul. Die letzten Worte entschieden dann alles, als der Stiernackige sagte, sie würden jetzt weiterziehen und vor Anbruch der Dunkelheit die Suche abbrechen.
Die Meute tummelte, sich wieder, palaverte noch ein wenig und zog dann weiter nach Norden, um nach Spuren zu suchen. Als der Kutscher wiederum nur noch ihre Rücken sah, warf er einen Blick zu dem Mann zwischen den Felsen. Der beobachtete die Gruppe zwar scharf, zeigte aber keinerlei Interesse daran, sich persönlich herzubemühen. Als das Interesse der Kerle an der Höhle erloschen war, hatte auch er kein Interesse mehr daran. Er sah nur den Kerlen noch einmal flüchtig nach, die sich wieder nach Norden wandten.
4.
Der Kutscher wischte sich mit der Hand über die Stirn und war immer noch am Grinsen. Dann legte er die Pistole auf eine der Goldkisten. „Das sind Helden, was?“ sagte er, „die halten es für absolut ausgeschlossen, daß hier oben das viele Gold aus der Galeone liegt. Kein Grips im Schädel, bis auf zwei Strolche, die sich wenigstens Gedanken darüber gemacht haben.“ „Jedenfalls haben wir Glück gehabt, und das Glück haben wir der Dummheit dieser Schnapphähne zu verdanken“, sagte Martin. „Allerdings steht uns noch ein weiterer Vorbeimarsch bevor, wenn sie wieder zurückkehren.“ „Das ist fast wie bei einer Parade“, meinte Carberry. „Dauernd marschieren ein paar Ochsen vorbei und rennen wieder zurück. Ich fühle mich schon fast belästigt.“ Old O'Flynn meckerte wie ein alter Ziegenbock. Auch er und die anderen legten die Waffen erleichtert auf die Kisten zurück. Der Alte empfand Schadenfreude über die Dummheit der Schnapphähne. Er rieb sich die Hände und lachte wieder meckernd, allerdings so gemessen, daß ihn der Kerl zwischen den Felsen nicht hören konnte. „Das war mal wieder ein Späßchen“, sagte er, „da stehen diese Hohlköpfe herum und glotzen uns direkt an, ohne die geringste Ahnung zu haben. Und unser Köterchen hat sich auch sehr brav verhalten.“ Er strich der Wolfshündin Plymmie sanft über den Schädel. Das „Köterchen“ hatte keinen Laut gegeben, nicht einmal geknurrt, als die Schnapphähne vor der Höhle standen. Dafür hatten die Zwillinge gesorgt. Plymmie hatte lediglich die Nackenhaare aufgerichtet und die Ohren steil nach vorn gestellt „Du faselst nur von dem Köterchen“, blaffte der Profos den Alten an. „Von Sir Jöhnchen sagst du kein Wort, obwohl der nicht einmal den Schnabel aufgetan hat. Der hat sich genauso still und ruhig wie das Köterchen verhalten.“ „Der hat bei mir sowieso noch eine Rechnung offen“, sagte der Alte. „Durch ihn sind wir erst in diesen ganzen Brassel geraten. Dem hätte ich sofort den Kragen umgedreht, wenn er sich auch nur gemuckst hätte.“ Der Profos regte sich schon wieder auf. „Dir hätte ich auch den Kragen umgedreht“, drohte er, „denn das war nicht Sir Johns Schuld, sondern deine verdammte, weil du unbedingt den Jungbrunnen finden wolltest. Du bist einwandfrei selbst schuld an dem Brassel.“ „Geht das schon wieder los?“ fragte der Kutscher. „Langsam fallt ihr mir auf die Nerven mit euren Streitereien. Was hinter uns liegt, das können wir abhaken und vergessen, denn daran ist nichts mehr zu ändern. Konzentrieren wir uns also darauf, was vor uns liegt Das ist wichtiger.“ „Vor uns liegt nicht mehr viel Ärger“, behauptete Old O'Flynn. „Die Halunken kehren zurück, setzen zu ihrem Schiff über und verschwinden, weil sie nichts gefunden haben. Dann sind wir die Kerle los und können unser Höhlenleben beenden.“ Der Kutscher schüttelte energisch den Kopf. „Davon bin ich noch nicht überzeugt Es besteht durchaus die Möglichkeit, daß sie noch weitere Tage hier verbringen, um alles abzusuchen.“ „Glaube ich nicht“, behauptete Old O'Flynn stur. „Die sind bedient und haben die Schnauze voll.“ „Wir werden es abwarten“, sagte der Kutscher gemessen. „Aber so schnell werden wir die nicht los. Das sind hartnäckige Kerle. Ihr habt ja gehört, was der eine gesagt hat. Er wüßte genau, welche Mengen Gold sich an Bord der Galeone befanden. Das viele Gold läßt den Kerlen keine Ruhe mehr. Sie wollen es mit aller Gewalt haben.“
Es war jetzt später Nachmittag und ging schon fast auf den Abend zu. Zwischen den Felsen lümmelte immer noch der Kerl herum. Von den anderen war nichts zu sehen. Der Profos wollte wieder mehr über die angebotene Wette wissen, und er wurde ganz fuchtig, als der Kutscher ruhig erklärte, sie sollten erst einmal abwarten, bis die nächste „Parade“ fällig sei, was in spätestens einer halben Stunde der Fall sein werde. Das traf auch genau zu. Philip junior meldete den Trupp nach einer halben Stunde. „Ihr beiden seid unbezahlbar“, sagte Old O'Flynn zu den Zwillingen. „Ihr dürft nachher auch einen weggluckern, weil ihr diese Höhle gefunden habt. Ohne eure Entdeckung würden wir ziemlich in der Patsche sitzen. Vielleicht wäre es schon längst zum Kampf gekommen.“ Hasard und Philip freuten sich über das Lob, dem sich auch die anderen anschlossen, und sie freuten sich auch darüber, daß sie nachher einen „Weggluckern“ durften. Als die Kerle näherrückten, wurde es in der Höhle totenstill. Das „Köterchen“, die ausgewachsene und sehr scharfe Wolfshündin, stellte wieder Fell und Ohren hoch und war angespannt. Aber sie gab nicht das leiseste Knurren von sich. Der eingesperrte Sir John muckste sich ebenfalls nicht. Um ihn herum war alles dunkel, und da er die Welt nicht mehr verstand in dieser Dunkelheit, hielt er ebenfalls den Schnabel, was ganz besonders den Profos erfreute. Das Palaver der Kerle wurde lauter. Ein paar meckerten wieder über die Insel, weil sie keine Spuren gefunden hatten. Die Seewölfe lauschten andächtig den Worten. * Prado war sauer, mürrisch und schlecht gelaunt. Sie waren jetzt bis zur Nordspitze der Insel hochgelatscht und hatten nicht den kleinsten Hinweis auf die Anwesenheit fremder Kerle entdeckt. Nicht einen einzigen Fußabdruck hatten sie gefunden. Santos und Normando waren ebenfalls nicht begeistert vom vielen Laufen, zumal sich kein Erfolg einstellte. Der Höhle schenkten sie diesmal nur einen flüchtigen Blick, denn dort rührte sich immer noch nichts. „Vielleicht haben die anderen was im Süden gefunden“, brummte Prado. „Das ist noch meine einzige Hoffnung.“ „Wenn die auch nichts gefunden haben“, sagte Santos mürrisch, „dann ist der Traum vom Gold ausgeträumt. Dann können wir uns jede weitere Sache sparen. Dann ist das Gold nicht hier.“ „Ihr glaubt doch nicht im Ernst, daß Acosta jetzt einfach aufsteckt, was?“ höhnte der Bootsmann. „Der doch nicht - und ich auch nicht. Das Gold ist hier, und die Kerle auch, das ist sicher. Es kann gar nicht anders sein. Acosta wird morgen die ganze Insel umkrempeln lassen, und wenn noch mehr Tage darüber vergehen. So schnell segeln wir hier nicht weg, das hat er selbst gesagt.“ „Wo sollen wir denn noch suchen?“ „Überall. Es gibt noch genug Plätze, die wir nicht abgesucht haben. Wir werden auch ins Innere der Insel vordringen, und wir knöpfen uns die Felsen und alles andere vor.“ „Na, das wird ja ein feiner Spaß“, murrte einer.
„Du brauchst ja nicht mitzugehen. Du kannst die nächsten Tage in der Vorpiek verbringen und warten, bis wir das Gold gefunden haben. Allerdings kannst du dir dann deinen Anteil auf dem Mond abholen.“ Der Kerl hielt eingeschüchtert sein vorlautes Maul und schwieg. An der Höhle waren sie jetzt vorbei und näherten sich den Felsen, wo Acosta sie mit finsterem Gesicht erwartete. Der andere Trupp unter Morro war noch nicht zu sehen. „Wenn ich eure Schnauzen sehe, dann weiß ich, daß ihr nichts gefunden habt“, sagte Acosta zur Begrüßung. „Oder habt ihr wenigstens einen Hinweis entdeckt?“ Prado hockte sich verärgert auf einen kleinen Felsbrocken. „Nichts, absolut nichts haben wir gefunden. Es gibt nicht einmal Fußspuren. Bald glaube ich nicht mehr daran, daß auf dieser Insel irgendwelche Kerle hocken. Die sind mit dem Gold längst auf und davon und lachen sich jetzt halbtot.“ „Auf keinen Fall“, sagte Acosta, „die Kerle sind hier und das Gold ebenfalls. Dafür verwette ich meinen Kopf. Es gibt gar keine andere Möglichkeit. Irgendwo hocken die hier herum, die die ‚Viento Este' ausgeräubert haben. Folglich haben sie auch das Gold.“ „Aber es gibt keine Spuren.“ „Natürlich gibt es Spuren!“ brauste Acosta auf. „Die erste Spur ist der sprechende Papagei, die zweite Spur ist die Jolle. Der Papagei gehört zu den Kerlen wie die Jolle auch. Willst du noch weitere Beweise, daß die Bastarde hier sind?“ „Na gut, ich bin ja auch scharf darauf, das Gold zu finden, aber wir hätten zumindest eine Fußspur finden müssen, die die Kerle am Strand hinterlassen haben. Es ist ausgeschlossen, daß sie jede einzelne Spur verwischt haben. Dazu hätten sie tagelang gebraucht.“ „Vielleicht fällt dir noch eine andere Möglichkeit ein, wie die Spuren beseitigt worden sind.“ „Es gibt keine andere“, knurrte Prado mißmutig. „Es hat kürzlich geregnet, und dieser Regen hat auch die letzte Spur beseitigt Daran ist gar nichts geheimnisvoll. Der Regenschauer hat alles ausgelöscht.“ „Dann hätten wir auch nicht den Strand abzusuchen brauchen.“ „Mir fiel das auch erst später ein, aber es hätte ja noch andere Hinweise geben können.“ Von Süden her tauchte die andere Gruppe auf und näherte sich den Felsen. Da sie keine Begeisterung zeigten und auch nicht vor Freude brüllten, wußte Acosta gleich, wo die Glocken hingen. Natürlich hatten sie ebenfalls nichts gefunden. Das bestätigte sich ein paar Augenblicke später. Morro war genauso mürrisch wie die anderen. „Ergebnislos“, erklärte er. „Sieht so aus, als sei auf dieser Mistinsel noch nie ein Mensch gewesen.“ „Sieht aber nur so aus“, entgegnete Acosta. „In Wirklichkeit verhält es sich ganz anders. Die Kerle sind hier, davon bringt mich nichts ab, und wir werden sie auch finden, stellen und wie räudige Hunde abknallen, das verspreche ich euch. Und nun zurück an Bord, es wird gleich dunkel.“ Als er sich umdrehte, fiel ihm etwas ein. Er blickte fragend zu Prado, „Ihr seid vorhin stehengeblieben und habt zu den Felsen gestarrt“, sagte er. „Warum? Habt ihr da etwas Verdächtiges gesehen?“ „Da ist eine Höhle im Felsen, die haben wir uns angesehen. Aber...“ Acosta fuhr blitzschnell herum. Erregt packte er Prado am Arm. „Eine Höhle?“ brüllte er. „Und das sagst du erst jetzt? Eine Höhle ist doch das beste Versteck, das es hier gibt!“
„Aber die nicht, die ist unzugänglich“, versicherte Prado. „Keine Höhle ist unzugänglich. Los, nichts wie hin, das muß ich mir selbst ansehen.“ Prado wollte ihn zurückhalten, aber seit Acosta etwas von einer Höhle gehört hatte, war er nicht mehr zu bremsen. „Man kann wirklich nicht hinein. Wir haben sie uns lange genug angesehen.“ Auch das Argument zog nicht. Acosta stiefelte schon los, die gesamte Horde hinter sich herziehend. Die Kerle unter Morro waren ebenfalls schon ganz kribbelig. Etwas später standen sie in den letzten Sonnenstrahlen erneut vor der Höhle. Der Sonnenball war schon zu zwei Dritteln im Meer versunken und färbte die Kimm mit leuchtenden Farben. Eine Weile starrte Acosta schweigend zu der hoch gelegenen Höhle. Dann ärgerte er sich. Er hob einen Stein auf und feuerte ihn nach oben zwischen den Eingang und die Felsbrocken, die lose herumlagen, als sei der Eingang verschüttet. „Da gelangt man nicht hinauf“, sagte Prado. „Und da schleppt nicht mal ein Verrückter tonnenweise Gold nach oben. Von oben her ist an die Höhle ebenfalls nicht heranzukommen. Da bricht man sich schon bei dem Versuch das Genick.“ „Stimmt“, gab Acosta widerwillig zu. „Der Fels ist zu glatt, viel zu glatt. Leider - und dabei hatte ich mir soviel von der Höhle versprochen. Die können wir vergessen, da gelangen nicht mal Verrückte hinein. So ein Scheiß, so ein verdammter.“ Er stand da und lauschte, aber es rührte sich nichts. Der Sonnenball versank in einer phantastischen Farbenpracht im Meer. Dahinter war eine dunkle Wolkenwand zu erkennen, die sich langsam auf die Insel zuschob. „Was tun wir morgen?“ fragte Prado. „Wir krempeln die Insel um und stellen alles auf den Kopf“, entschied Acosta nach kurzem überlegen. „Alles wird durchgekämmt, restlos alles. Und ich finde das, was ich will“, fügte er drohend hinzu. Danach kehrten sie wieder zurück. Als sie an der Jolle standen, blickte Prado sie wieder an. „Wir sollten sie mitnehmen“, schlug er vor. „Wenn die Kerle hier sind, können sie nicht mehr weg.“ „Wir lassen sie hier“, sagte Acosta, „und behalten sie ständig im Auge. Das ist besser, denn irgendwann werden sich die Kerle schon mal hier anschleichen, nachts vermutlich.“ Das sah auch Prado ein. Aber sie begingen einen Fehler, denn sie dachten nicht nach. Mürrisch und enttäuscht darüber, daß sie nichts gefunden hatten, stiegen sie in die beiden Jollen und pullten zur Galeone hinüber. Die unheimliche Insel hüllte sich in schweigende Dunkelheit. Die große Wolke zog düster heran und verdeckte das restliche schwache Licht, bis man kaum noch die Hand vor den Augen sah. Die beiden Jollen wurden lässig in Höhe der Jakobsleiter vertäut. Acosta lehnte sich ans Schanzkleid und starrte mißmutig in die Finsternis. Ein paar Kerle standen um ihn herum. Er hob drohend beide Fäuste zum kaum noch sichtbaren Land hin. „Ich weiß, daß ihr da seid!“ schimpfte er. „Und das Gold habt ihr auch versteckt. Aber ich werde es finden, darauf könnt ihr euch verlassen!“ „Dann ziehen wir morgen bei Tagesanbruch los?“ fragte Prado. „Ja, sobald es hell wird, krempeln wir die verdammte Insel um. In spätestens zwei Tagen haben wir das Gold.“ Prado kontrollierte, ob alles in Ordnung war. Dann teilte er die Ankerwachen ein.
„Ein Mann pro Wache genügt“, sagte Acosta. „Ich will morgen früh ausgeschlafene Kerle haben, denn wir haben viel vor uns.“ Die meisten hauten sich in die Koje. Sie waren müde vom vielen Herumlatschen, und morgen würde es noch schlimmer werden. Nur ein paar Unentwegte blieben noch wach. Sie hockten zusammen und diskutierten über das viele Gold, und was sie damit tun würden, wenn sie es erst einmal hatten. Noch hatten sie es jedoch nicht.
5.
„Die Vorbeimärsche hören gar nicht mehr auf“, sagte Martin, als die Kerle weiterzogen und etwas später mit ihrem Anführer wieder zurückkehrten. Wieder hörten sie laut und deutlich jedes Wort, das gesprochen wurde. Die Situation wurde brenzlig, als der Anführer ganz genau wissen wollte, was es mit der Höhle auf sich hatte. Sie hielten erneut die Waffen in den Fäusten und waren gespannt, wie der Anführer reagieren würde. Nach einer Weile sah er jedoch ebenfalls ein, daß die vermuteten Goldräuber oder das Gold hier nicht zu finden waren. Nach kurzem Palaver rückte der Trupp endgültig ab. Aber die letzten Worte der Kerle klangen ihnen noch immer in den, Ohren. „Wir werden uns auf einen längeren Aufenthalt in der Grotte gefaßt machen müssen“, sagte der Kutscher. „Die Situation hat sich geändert, wie ich vermutete. Die Kerle geben nicht auf. Der Oberhäuptling hat ja gesagt, daß sie morgen die ganze Insel auf den Kopf stellen und umkrempeln werden. Das kann unter Umständen zwei oder drei Tage dauern.“ „Schöner Mist“, sagte Stenmark. „Aber wir sind ja zum Glück mit allem ausgerüstet, was wir zum Leben brauchen.“ „Stimmt“, gab der Kutscher zu, „nur werden wir uns kalt verpflegen müssen. Feuer können wir nicht entzünden. Trinkwasser haben wir zum Glück ebenfalls. Also richten wir uns wie bei einer Belagerung ein.“ „Weil du gerade von Wasser sprichst“, sagte Carberry. „Da ist doch noch die Wette mit Donegal. Wir können im Augenblick überhaupt nichts unternehmen und haben jede Menge Zeit. Also können wir uns auch mit der mysteriösen Wette beschäftigen.“ „Meinetwegen. Mich werdet ihr entschuldigen. Ich werde die ganze Angelegenheit gründlich überdenken.“ „Klar ausgedrückt heißt das, du willst eine Runde pennen“, sagte Carberry grinsend. „Das ist deine Vermutung.“ „Eigentlich könnten wir Sir John jetzt aus der Kiste lassen“, meinte Carberry. „Dann weiß er wenigstens, daß es uns noch gibt.“ Old O'Flynn war dagegen - wieder einmal. „Dann fängt dieser Lästergockel doch gleich zu krakeelen und zu fluchen an.“ „Tut er nachts so gut wie nie“, behauptete Carberry. „Selbst wenn er etwas sagen sollte, wird ihn keiner hören. Draußen ist es stürmisch geworden, außerdem tost das Wasser am Riff. Aber ich werde schon dafür sorgen, daß er den Schnabel hält.“ Also durfte Sir John aus der Kiste. Er hockte sich auf Carberrys Schulter und knabberte an seinem Ohr. „Sei bloß still“, warnte der Profos, „sonst geht's wieder in die Kiste zurück. Ich will keinen Ton hören.“ Sir John sagte auch nichts. In der Höhle war es mittlerweile dämmerig geworden, fast wie in der Kiste. Daher schien er sehr beleidigt zu sein, daß man ihm die Freiheit beschnitten hatte. „Und jetzt zur Wette“, sagte Old O'Flynn. Er warf einen Blick zum Kutscher, doch den schien das nicht zu interessieren. Er hatte sich auf einer der Kisten mit dem Barrengold gesetzt, lehnte mit dem Rücken an der Wand und hielt die Augen geschlossen. Er erweckte jedoch nicht den Eindruck eines Schlafenden. Old O'Flynn stellte eine Muck auf einen Kistenstapel, der ihnen gleichzeitig als provisorischer Tisch diente. Dann holte er grinsend eine Buddel Rum und entkorkte sie.
Zuerst reichte er sie den Zwillingen. „Versprochen ist versprochen“, sagte er. „Jetzt dürft ihr einen weggluckern.“ Hasard und Philip taten das begeistert und waren schon auf die Wette gespannt. Die Buddel ging weiter und jeder trank einen Schluck, bis auf den Kutscher, der sich in seiner Meditationsphase nicht stören ließ. Er schien immer noch nachzudenken. Der Alte stand auf, ging zu dem Wasserfaß hinüber und füllte eine Muck mit Trinkwasser auf. Nur eine Daumenbreite ließ er frei, in die er Rum hineingoß. Dann reichte er dem Profos die Muck. „Trink nur!“ forderte er ihn auf. „Aber nicht alles auf einmal, nur immer einen guten Schluck.“ Der Profos nahm die Muck, trank einen Schluck, wischte sich über den Mund und sagte abfällig: „Reichlich fade, das Gesöff.“ „Ich habe ja auch von Wasser mit einem Schuß Rum gesprochen.“ Donegal füllte wieder soviel Rum nach, wie Carberry getrunken hatte. Dann reichte er ihm erneut die Muck. „Immer noch jede Menge Wasser drin“, motzte der Profos, nachdem er wieder einen Schluck genommen hatte. Erneut füllte der Alte auf. Dabei grinste er diabolisch. „Das Wasser in dem Glas wird nie alle“, behauptete er, „und wenn ich noch hundertmal nachfüllen muß.“ Die Zwillinge grinsten, Stenmark, die beiden Dänen und Martin waren ebenfalls am Grinsen. Die Konturen der Männer wurden immer undeutlicher, als es dunkler in der Höhle zu werden begann. „Eine Muck Wasser“, brabbelte Old O'Flynn leise vor sich hin, „dann ein Schlückchen, wieder mit Rum auffüllen, noch ein Schlückchen und wieder aufgefüllt So geht das, hihi!“ So ging das eine Weile hin und her. Old O'Flynn hatte inzwischen schon die zweite Buddel Rum geholt. Nach etlichen Auffüllern kriegte der Profos ein wenig glasige Augen und war leicht angeschickert. Nach weiterem Auffüllen langte es ihm dann. „Donnerwetter“, murmelte er, „ich hatte wirklich nicht geglaubt, daß man von einer Muck voll Wasser besoffen werden kann. Diesmal hast du recht gehabt, Donegal.“ Der Alte grinste und genehmigte sich selbst natürlich auch einen. In der Hinsicht war er überhaupt nicht vergeßlich. „Weckt mich in spätestens zwei Stunden“, murmelte Carberry. „Ich bin hundemüde geworden.“ „Da siehst du mal, wie gefährlich Wasser ist“, sagte Old Donegal. „Du hättest den Rum lieber pur saufen sollen.“ Aber da hing der Profos schon quer über einer Kiste und schlief. In der Höhle war es jetzt so finster geworden, daß einer den anderen nicht sah. An Schlaf war bei den meisten zu dieser frühen Zeit noch nicht zu denken, und so dösten sie mehr oder weniger vor sich hin. Draußen blies der Wind, und das Tosen des Wassers am Riff war jetzt wieder deutlicher zu hören. „Ich glaube, wir können es wagen, im hinteren Teil der Höhle eine Kerze zu entzünden“, sagte der Kutscher in die Stille. „Vor den Spalt im Felsen hängen wir eine Decke. Es ist ausgeschlossen, daß man das Licht vom Schiff her sieht.“ „Wenn es aber bemerkt wird, sind wir erledigt“, wandte Martin ein. „Dann haben die Kerle genau das, was sie wollen.“ „Sie werden es nicht sehen“, versicherte der Kutscher. „Der Lichtschein dringt nicht einmal bis in den vorderen Teil der Grotte.“
„Ich bin auch dafür, daß wir Licht haben“, murmelte Old O'Flynn, „dann sieht alles gleich viel freundlicher aus.“ Der Kutscher tastete nach einer Decke und bewegte sich zum Höhleneingang. Dort hängte und stopfte er die Decke so in den Spalt, daß absolut kein Licht nach draußen dringen konnte. Anschließend wurde in der hinteren Ecke zwischen den aufgestapelten Goldkisten eine Kerze aus Bienenwachs entzündet. Davon hatten sie auf der Goldgaleone ebenfalls ein paar mitgehen lassen. Ein kleines Flämmchen zuckte auf und begann zu flackern. Die Umgebung wurde tatsächlich etwas freundlicher, wie Old Donegal ganz richtig gesagt hatte. Jetzt waren auch die Gestalten deutlicher zu erkennen. Sie warfen riesige Schatten an den Felswänden. Es sah ein bißchen unheimlich aus, sobald sich einer bewegte, aber die Zwillinge liebten diese Atmosphäre geradezu. Nur Old O'Flynn blinzelte ein bißchen und dachte wieder an Geister, die durch die Lüfte schweben. Sie unterhielten sich leise. Der Kutscher hatte sich zu der Runde gesetzt und legte zwei Entermesser auf die Kiste. In der Hand hielt er einen Wetzstein. Sorgfältig begann er, das erste Messer immer wieder zu wetzen. Durch das Schleifgeräusch erwachte der Profos. Er hatte nur eine knappe Stunde geschlafen und war wieder stocknüchtern. Er sah sich nur ein wenig verwirrt um. „Welcher Affenarsch hat da Licht entzündet?“ fragte er. „Wollt ihr den Piratenstrolchen Leuchtzeichen geben?“ „Der Affenarsch war ich“, erklärte der Kutscher. „Das Licht habe ich erst entzündet, als feststand, daß kein noch so kleiner Schimmer nach außen dringen kann. Schließlich pflege ich zu überlegen, wenn ich etwas vorhabe.“ „Wenn bei deinen Überlegungen nicht mehr herausgekommen ist, dann ist das aber schwach“, sagte Carberry. „Man hockt sich doch nicht zwei Stunden lang hin, um zu überlegen, ob man ein Licht anzündet.“ „Vielleicht habe ich noch mehr überlegt“, deutete der Kutscher mit einem feinen Lächeln an. „Wie du mich wieder ärgern kannst, was, wie?“ Der Kutscher beugte sich wieder über die Kiste und begann hingebungsvoll das Entermesser zu wetzen. „Ah, davon bin ich aufgewacht“, knurrte Carberry, „von deiner dämlichen Wetzerei. Warum schleifst du die Entermesser denn so unheimlich scharf?“ „Möglicherweise will ich Haare spalten.“ „Haarspalterei sieht dir ähnlich.“ Der Kutscher ließ sich in seiner Arbeit nicht stören. Die fragenden Blick ignorierte er. „Was willst du wirklich damit?“ fragte Carberry verbiestert, weil der Kutscher immer noch wetzte und wetzte und es ganz den Anschein hatte, als würde er den Rest seines Lebens nur noch Messer wetzen. „Ich brauche scharfe Messer, um ein paar Leinen durchzusäbeln.“ „Aha, ich verstehe“, sagte Carberry und tippte sich mit dem Zeigefinger an die Stirn. „Jetzt hat es ihn aber.“ „Was hat mich?“ „Der sogenannte Höhlenkoller hat dich erwischt. Das gibt es doch nicht, daß einer lange überlegt, dann ein Licht anzündet, um Messer zu wetzen, damit er damit irgendwelche unsichtbaren Leinen oder Taue durchsäbeln kann.“ „Klar gibt es das“, versicherte der Kutscher. „Und mich hat auch ganz bestimmt nicht der Höhlenkoller erwischt. Ich will mich mit der Arbeit auch nicht ablenken. Was gedenkst du denn zu tun, Ed?“
Der Profos brauchte nicht lange zu überlegen. Er verschränkte die Arme über der Brust und blickte den messerwetzenden Kutscher an. „Gar nichts. Ich sehe dir noch eine Weile zu, und wenn du dich totgewetzt hast, hau ich mich aufs Ohr, um zu schlafen.“ „Und morgen?“ „Verdammt. Morgen tue ich das gleiche. Wir können nichts anderes unternehmen und müssen abwarten, bis die Strolche wieder von der Insel verschwunden sind.“ „Das kann Tage dauern.“ „Weiß ich, aber es läßt sich nicht ändern. Es sei denn, wir greifen sie einfach an, wobei das Risiko verdammt groß ist. Wir sind nur eine Handvoll, aber die sind mehr als zwanzig Kerle.“ Der Kutscher legte das erste Messer auf die Kiste zurück und griff nach dem zweiten, das er derselben Prozedur unterzog. Old O'Flynn nahm das Messer und prüfte es. „Oh, verflixt, damit kann man wirklich Haare spalten“, sagte er. „Die Klinge ist verdammt scharf.“ „Du willst also gar nichts tun“, sagte der Kutscher nach einer Weile und nahm den Faden wieder auf. „Bei mir ist das anders. Ich habe nämlich vor, den Halunken die Jollen zu klauen.“ „Die - die Jollen?“ fragte Carberry verblüfft. „Wem willst du denn die Jollen klauen? Was soll der Quatsch?“ „Wer hat denn hier noch Jollen?“ fragte der Kutscher zurück. „Doch wohl nur unsere lieben Freunde, wenn wir von unserer eigenen einmal absehen.“ Der Kutscher hatte das ganz lässig dahingesagt, aber die Wirkung seiner Worte war doch verblüffend. Sie starrten ihn an, als hätte er gerade behauptet, daß es auf der Welt kein Seewasser gäbe. Der Profos stieß schnaufend die Luft aus. Old O'Flynn blickte den Kutscher verdattert an. Auch die anderen sahen verblüfft und überrascht zu dem schmächtigen Mann, der immer wieder für Überraschungen gut war und sich auch etwas dabei dachte, wenn er was plante oder vorhatte. Der Kutscher lehnte sich ein wenig zurück, nahm das Messer und warf es auf eine Holzkiste, wo die Klinge zitternd steckenblieb. „Das war vorhin meine Stunde der Besinnung“, erläuterte er. „Zugegeben, es hat ein bißchen lange gedauert, aber das Endergebnis ist schon zu gebrauchen. Übrigens könnte ich jetzt auch einen Schluck Rum vertragen.“ Carberry hatte ihm noch nie so schnell die Buddel zugeschoben. Er drückte sie ihm so hastig in die Hand, daß der Kutscher fast von der Kiste gefallen wäre. Dann blickte er ihn neugierig an und animierte ihn zum Trinken, damit der Kutscher weitersprach. Doch der ließ sich Zeit und war die Ruhe selbst. Dann setzte er die Buddel ab. „Als die Kerle zu ihrer Galeone pullten, linste ich ein bißchen durch den Spalt, und da fiel mir auf, daß sie die Jollen wohl aus lauter Faulheit nicht aufhievten. Sie vertäuten sie einfach längsseits in Höhe der Jakobsleiter. Gelingt es uns, ihnen die Jollen zu klauen, dann sind sie die Dummen.“ „Sie haben aber noch eine dritte Jolle“, warf Nils Larsen ein. „Ist mir bekannt, aber das ist eine sehr kleine Jolle, die höchstens mit vier Mann besetzt werden kann. Mehr gehen auf keinen Fall hinein.“ „Das ist richtig.“ „Mit vier Kerlen werden wir jederzeit fertig, wenn die auf der Insel landen wollen“, sagte der Kutscher. „Mehr aber können sie auf einmal nicht an Land absetzen.“
Der Profos war so hingerissen, daß er dem Kutscher kraftvoll auf die Schulter schlug. „Mann, das ist eine grandiose Idee“, sagte er begeistert „An die Möglichkeit habe ich - ehrlich gesagt - gar nicht gedacht. Aber ich habe ja auch nicht gesehen, daß sie die Jollen längsseits vertäut haben“, setzte er entschuldigend hinzu. „Natürlich nicht“, meinte der Kutscher großzügig, „sonst hättest du die Idee sicher auch gleich gehabt.“ Daraufhin nickte der Profos. Die anderen rückten näher an den Kutscher heran. „Das halte ich für sehr gut“, sagte Stenmark. „Dann hat die lästige Warterei ein Ende. Mir geht es sowieso auf die Nerven, hier untätig herumzusitzen und abzuwarten, bis es den Halunken einfällt, die Insel zu verlassen. Wie wollen wir vorgehen?“ „Von diesem Oberschnapphahn war es natürlich ein großer Fehler, unsere eigene Jolle am Strand liegen zu lassen. Soweit hat der Kerl nicht gedacht. Er scheint also nicht gerade ein großer Denker vor dem Herrn zu sein. Ich an seiner Stelle hätte sie jedenfalls mitgenommen oder zerstört.“ „Gut, daß es solche Schwachköpfe gibt“, sagte Carberry. „Jetzt weiß ich auch, warum du so eifrig Messer gewetzt hast, und ich weiß auch, was du damit durchsäbeln willst. Manchmal bist du ein Genie, Kutscher.“ „Freut mich, das ausgerechnet von dir zu hören. Ich hatte mir das also folgendermaßen gedacht: Wir brechen um Mitternacht auf, alle Mann versteht sich nur Sir John muß wieder in seine Kiste. Dann nehmen wir unsere Jolle und pullen zu der Galeone hinüber. Mitternacht und die Zeit danach habe ich bewußt gewählt. Die Kerle werden eine Ankerwache aufgestellt haben, und bekanntlich sind die Kerle nach der Mitternachtswache immer etwas dösig oder tranig. Mit der Zeit erlahmt dann die Aufmerksamkeit. Wir säbeln die Leinen der Jollen durch, nehmen sie mit und verschwinden wieder. Wir bewaffnen uns natürlich mit Blunderbussen und Tromblons. Kann sein, daß es schiefgeht und die Kerle etwas merken. Dann wird es eine Menge Ärger geben. Aber genausogut kann es auch gelingen.“ „Ein Risiko gehen wir in jedem Fall ein“, meinte Sven Nyberg. „Aber ohne Risiko kein Erfolg. Ich finde die Überlegung ebenfalls hervorragend.“ Old O'Flynn rieb sich grinsend die Hände. Er hörte gar nicht mehr auf zu feixen. „Das ist ganz nach meinem Geschmack“, sagte er. „Ich kann mir die Gesichter der Kerle lebhaft vorstellen, wenn sie merken, daß ihre Jollen verschwunden sind. Da wird die Angst an Bord umgehen, weil alles so geheimnisvoll verläuft.“ Der Alte schlurfte durch die Grotte zum Spalt und blickte hinaus. Draußen war nur Finsternis. Nicht einmal der Umriß der Galeone war zu erkennen. Aber er hörte klar und deutlich den Wellenschlag, der an die Riffe donnerte. Immer noch händereibend kehrte er wieder zurück. „Die Nacht ist wie geschaffen für eine solche Aktion. Hören können die Kerle wegen des Wellenschlags kaum etwas, und sehen werden sie uns auch nicht wenn es weiterhin so finster bleibt. Dann sollten wir jetzt mal die Leute einteilen, die das Unternehmen durchführen.“ „Vier Mann müßten eigentlich genügen“, meinte der Kutscher. „Je einer kann eine Jolle zurückpullen und zwei die eigene.“ „Ich bin natürlich dabei“, sagte Carberry sofort „Willst du auch mit, Kutscher? Schließlich hast du die Idee gehabt.“ Der Kutscher wehrte lächelnd ab. „Ich gehe nur mit zum Strand, um mitzuhelfen, die Jolle ins Wasser zu schieben. Teile du die Leute ein, Carberry.“
„Gut. Dann nehme ich Stenmark, Nils und Sven. Sten kann später bei mir in der Jolle bleiben.“ „Und wir?“ fragte Philip junior ein wenig enttäuscht. „Ihr geht mit zum Strand und wartet, bis unser Unternehmen abgeschlossen ist. Später könnt ihr die Jollen auf den Strand ziehen, wenn alles geklappt hat.“ Damit waren die Zwillinge einverstanden. „Dann ist das geklärt“, meinte Martin. „Wir werden am Strand auf euch warten und die Daumen drücken.“ Eine Weile wurde noch über das Unternehmen gesprochen. Dann saßen sie da und warteten, bis Mitternacht vorbei war.
6.
Sir John verschwand wieder in seiner Kiste. Er zeterte nicht einmal, als ihn der Profos wieder einsperrte. „Der weiß genau, was los ist“, behauptete Carberry, „deshalb verhält er sich auch so ruhig.“ Der Kutscher zweifelte zwar sehr stark an dieser Behauptung, aber er sagte nichts, sonst ging der Profos gleich wieder in die Luft, wenn man Sir Johns Fähigkeiten zweifelte. Sie steckten Tromblons, Blunderbusse und die beiden scharfen Entermesser ein. Dann ging der Kutscher zu einer Kiste hinüber, beugte sich über sie und entnahm ihr einen Topf mit Schmalz. Außerdem steckte er einen Lappen in die Hosentasche. Carberry sah ihn argwöhnisch von der Seite her an. „Was soll das denn? Hast du die Absicht, unterwegs eine Pause einzulegen und Schmalzbrote zu streichen?“ „Dann hätte ich sicher auch Brot mitgenommen.“ „Hast du aber nicht. Zu was dann das Schmalz?“ „Schmalz ist ein hervorragendes Fett, um Rundsein und Ledermanschetten der Riemen satt einzufetten“, erklärte der Kutscher. „Dann knarren die nicht mehr, und ihr könnt die Jolle fast lautlos durch das Wasser bewegen. Aus dem Grund nehme ich den Schmalzpott mit. Dann gibt es keine karrenden Geräusche.“ Der Profos schluckte wieder einmal. Der Kutscher war immer vorausdenkend und sehr klug, fast schon ausgebufft. Er dachte an alles und jedes, damit ja nichts schiefging. Carberry kam auch nicht umhin, ihm seine Hochachtung auszusprechen. „Du bist ein ganz gewichster Hundesohn“, sagte er anerkennend. „Du hast wirklich verdammt viel Grips im Schädel.“ Der Kutscher grinste nur. Er kannte die Ausdrücke des Profos' und wußte sie zu schätzen. Ed ging nicht gerade großzügig mit Lob um, aber wenn er solche Worte gebrauchte, dann drückte das allerhöchste Anerkennung aus. „Manchmal hast du auch schon etwas anderes behauptet“, sagte er, tiefsinnig und hintergründig lächelnd. „Das mußt du nicht so genau nehmen.“ „Nehmen wir Plymmie mit?“ erkundigte sich Hasard junior. „Oder muß sie in der Höhle zurückbleiben?“ „Plymmie könnt ihr mitnehmen, die kann nur von Nutzen sein. Das Köterchen verhält sich ja auch absolut ruhig.“ Old O'Flynn hatte die Decke aus dem Spalt schon entfernt, als er einen Blick hindurchwarf. Jetzt wurden noch ein paar Felssteine zur Seite geschoben. Die Kerze hatte Martin Correa schon gelöscht. Die Jakobsleiter wurde ausgebracht Als der Profos abenterte, warf er einen Blick in die Richtung, wo die Galeone lag. Jetzt, nachdem sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, erkannte er sie als schattenhaften Umriß. Ein leichter Wind wehte aus Nordost. „Eine Nacht zum Pferdeklauen“, sagte Old O'Flynn, der ebenfalls abgeentert war und auf das Meer blickte. „Kein Mond, kein Sternenlicht, genau das richtige Wetterchen für uns.“ „Und die richtige Zeit.“ Martin war der nächste, dann folgten Sten, die beiden Dänen, dann der Kutscher und schließlich die Zwillinge mit der Hündin.
Auf der Galeone brannte kein Licht. Sie lag da wie ein gespenstisches Ungeheuer. Hin und wieder war der Wellenschlag an den Riffen zu hören. Dann spritzte auch Gischt auf, der über das Meer trieb. „Ob die überhaupt eine Ankerwache haben?“ fragte Old O'Flynn zweifelnd. „Da ist nichts zu sehen.“ „Was nicht bedeutet, daß sie keine haben. Es ist sowieso kaum etwas zu sehen, aber so dämlich sind die Schnapphähne wohl auch nicht“, erwiderte Martin. „Schließlich hängt ihre Sicherheit davon ab.“ Der Profos hörte nur mit halbem Ohr zu. In Gedanken war er schon an der Bordwand der „San Jacinto“ und säbelte Leinen durch. Und dann hatte er plötzlich eine grandiose Idee. Er behielt sie noch für sich, aber dafür grinste er hinterhältig, was die anderen jedoch nicht sehen konnten. „Dann gehen wir endlich“, sagte er ungeduldig und voller Tatendrang. Er konnte es kaum noch erwarten. Dicht am Wasser eilten sie in die südliche Richtung, wo die Jolle auf dem Strand lag. Von dort aus beobachteten sie zunächst einmal ausgiebig das Schiff. Sie alle sahen jetzt etwas besser als vorher. Hasard junior konzentrierte seine Blicke auf die Back der Galeone. „Da scheint doch einer zu stehen“, raunte er dem Profos zu. „Direkt am Backbordschanzkleid auf der Back. Das sieht so aus, als nicke der Kerl ständig.“ „Kann sein“, sagte Carberry, „ich glaube auch, daß sich dort etwas bewegt. Könnte ein Kerl sein.“ Sie blickten zu der Jolle und grinsten wieder. Es war wirklich ein Fehler von dem Oberschnapphahn gewesen, die Jolle hier unbeachtet am Strand liegen zu lassen, obwohl die Kerle doch genau wußten, daß sie auf der Insel nicht allein waren. Aber vermutlich rechneten sie nicht damit, daß man ihnen einen üblen Streich spielen könnte. Der Kutscher nahm die Riemen aus der Jolle, tauchte den Lappen in den Schmalztopf und begann damit, die Ledermanschetten der Riemen einzufetten. „Den Pott könnt ihr nachher mitnehmen“, sagte er leise. „Dann fettet ihr bei den Jollen ebenfalls Rundsein und Riemen ein, damit man kein Knarren mehr hört.“ „Hatte ich bereits vor“, sagte Carberry trocken, „ob du das nun glaubst, oder nicht Soweit habe ich auch gedacht.“ Nachdem die Manschetten eingefettet waren, nahm sich der Kutscher die Rundsein vor und behandelte sie ebenfalls ausgiebig. Dann reichte er Lappen und Schmalzpott an Carberry weiter, der sie zwischen den Duchten verstaute. Sie sprachen nur noch leise und flüsternd, obwohl es unwahrscheinlich war, daß man sie an Bord der Galeone hörte. Es sollte jedoch jedes Risiko ausgeschaltet werden. „Wir nutzen die Deckung der Riffe aus“, sagte Carberry, „und pirschen uns von dort aus heran. Hinter den Riffen kann man uns sowieso nicht sehen.“ Die Riffe waren vom Strand aus schattenhaft zu sehen und würden ihnen auf einer kleinen Strecke gute Deckung bieten. Hin und wieder schäumte es dort etwas auf. „Jetzt die Jolle ins Wasser“, sagte Carberry. Alle packten mit an. Die Jolle wurde ein paar Yards weit getragen und dann ins Wasser gesetzt. Carberry, Stenmark, Sven und Nils nahmen auf den Duchten Platz. Die Entermesser lagen bereit. Carberry nahm eins an sich und steckte es in den Hosenbund. Das andere gab er Stenmark.
Die mörderischen Tromblons und Blunderbusse waren geladen und ebenfalls griffbereit. Sollten sie entdeckt werden, mußten sie sich den Rückweg freischießen oder die Kerle zumindest in Deckung halten. Martin und die Zwillinge gaben der Jolle einen kräftigen Stoß. „Mast- und Schotbruch“, wünschten sie flüsternd. „Wir drücken euch die Daumen.“ Sie nickten sich noch einmal grinsend zu, dann nahm das Unternehmen seinen Anfang. Das Boot zog los mit Kurs auf das erste kleinere Riff. Sie hielten genau darauf zu, bis sie sich in Deckung befanden. Sven und Nils beobachteten die Galeone und ganz besonders das Vordeck, wo offenbar doch eine Gestalt herumlümmelte. Der Kerl schien ständig mit dem Kopf zu nicken. Es konnte aber auch eine Täuschung sein, so genau ließ sich das noch nicht feststellen. Die Jolle glitt lautlos durch das Wasser. Da war kein Knarren, Ächzen oder Quietschen zu hören. Der Schmalzpott des vorausdenkenden Kutschers bewährte sich hervorragend. Als sie das erste kleine Riff erreichten, änderte der Profos etwas den Kurs und pullte auf das nächste, weiter links liegende Riff zu. Sie hatten schon fast die halbe Strecke zurückgelegt und bewegten sich immer noch lautlos voran. „Da steht tatsächlich einer“, raunte Sven, der die Back der Galeone scharf im Auge behielt. „Bis jetzt hat er nichts bemerkt, sonst hätte es längst Geschrei gegeben.“ Nils sah den Schatten jetzt auch deutlicher. Hin und wieder bewegte er sich fast unmerklich. Wenn er sie jetzt nicht entdeckte, dann würde er sie auch nicht mehr bemerken, denn Ed nahm jetzt Kurs auf die Steuerbordseite der „San Jacinto“, wo die Jakobsleiter ausgebracht war und die Jollen hingen. Ein kleines Riff tauchte nochmals auf, dann befanden sie sich schon in dem Winkel, wo der Kerl sie nicht mehr sehen konnte, vorausgesetzt, es fiel ihm nicht gerade ein, auf die andere Seite zu latschen, um dort einmal nachzuschauen. Am Strand blieben Donegal, Martin, die Zwillinge, der Kutscher und die Bordhündin zurück. „Hoffentlich geht alles klar“, meinte Old O'Flynn besorgt. „Wieso - hast du wieder mal Vorahnungen?“ „Diesmal kann ich überhaupt nichts sagen. Aber ich habe auch kein mulmiges Gefühl dabei. Ich weiß nur, daß wir nach geglückter Rückkehr ordentlich einen weggluckern werden.“ „Der Rum ist in der Höhle“, erinnerte der Kutscher. „Da auch“, sagte Old O'Flynn trocken. „Ich habe jedoch vorsichtshalber eine Buddel eingesteckt.“ Die Männer grinsten nur und blickten wieder aufs Wasser. Das Boot war nicht mehr zu sehen. Es mochte jetzt ungefähr eine Stunde nach Mitternacht sein. * Kurze Zeit vorher. Schon vor Mitternacht herrschte Ruhe an Bord der „San Jacinto“. Auch Acosta hatte sich in die Koje gelegt und schlief. Normando hatte bis um Mitternacht Ankerwache und war heilfroh, daß seine Zeit endlich um war. Draußen hatte sich nichts getan, und an Deck war es stinklangweilig. Außerdem war er hundemüde.
Der nächste, der für zwei Stunden zur Ankerwache eingeteilt war, war Kongo, der Giftpilz. Danach war für weitere zwei Stunden der listige Morro an der Reihe. Normando gönnte dem Giftpilz die Mitternachtswache. Die Sanduhr war noch nicht richtig abgelaufen, als er auch schon nach unten ging, ein Licht entzündete und Hongo weckte. Der zwergenhafte Kerl fuhr hoch, als hätte ihn eine giftige Natter gebissen. Böse starrte er in das Licht, dann sah er noch giftiger auf Normando. Er war noch halb verschlafen und sehr sauer. „Du bist dran“, sagte Normando. „Prado hat dich eingeteilt. Später mußt du Morro wecken. Dann geh mal schön nach oben. Ich werde mich jetzt in die Koje hauen.“ „Verdammt, die Zeit ist noch nicht um“, sagte der Krüppel giftig. „Klar ist die Zeit um. Kannst ja auf die Sanduhr schauen. Ist genau Mitternacht.“ Der Kleine wollte streiten, doch Normando winkte ab. „Der Kapitän wird dir das sehr verübeln, mein Lieber, wenn du nicht an Deck gehst, darauf kannst du dich verlassen.“ „Du verdammter Drecksack“, murrte der Zwerg. Dann stieg er mißmutig aus der Koje und zog sich ein paar Klamotten über. Neidvoll sah er zu, wie sich Normando in die Koje haute und dabei satt und zufrieden grinste. Er gab der Koje einen Fußtritt, daß es nur so dröhnte. Von dem Krach erwachten zwei andere Schläfer. Der Giftpilz schlich hinaus, denn es fehlte nicht viel, und die wütenden Kerle hätten ihn an Ort und Stelle verprügelt Gegen mehrere Mann wollte er allerdings jetzt nicht antreten. Als er oben an Deck war, fielen ihm vor Müdigkeit fast die Augen zu, und er verfluchte die lausige Ankerwache. Er hielt es nicht einmal für nötig, nach der Ankertrosse zu sehen, sondern warf nur einen schläfrigen Blick zum Land hin und erkannte kaum andeutungsweise die Umrisse der Insel. Eine Weile blieb er mißmutig und mit Gott und der ganzen Welt hadernd am Backbord-Schanzkleid stehen. Dabei riß er immer wieder das Maul auf und gähnte laut. Eine halbe Stunde lang hielt er es noch aus. Die See war relativ ruhig, der Wind wehte aus Nordosten. Das leise Plätschern am Riff tat ein übriges, um ihn noch schläfriger werden zu lassen. Er schreckte hoch, wenn ihm der Kopf auf die Brust fiel. Dann zuckte er verstört zusammen und sah sich hastig um. Niemand ließ sich von den anderen an Deck blicken. Keiner kontrollierte ihn. Wieder fuhr er hoch, war für Augenblicke hellwach und blickte auch einmal nach der Ankertrosse, die aus der Klüse schräg in die See ragte. Da war alles in Ordnung, und eigentlich konnte auch nichts passieren. Hongo legte die Unterarme aufs Schanzkleid und döste vor sich hin. Er schlief nicht, war aber auch nicht wach. Er befand sich in einer Art Halbschlaf, wo alles unwirklich und irreal wurde, wo Dinge Gestalt annahmen, die es gar nicht gab. Da half auch alles Zusammenreißen nichts. Er träumte. In dem Traum sah er sich als reicher Mann, der über eine ansehnliche Goldreserve verfügte und tun und lassen konnte, was er wollte. Noch einmal schreckte er hoch, denn er glaubte ein Flattern, wie von einem riesigen Vogel zu hören. Doch es waren nur der Wind und die Brandung am Riff, die dieses Geräusch verursachten. Er merkte auch nicht, daß sein Kopf ständig nach vorn sackte, und er merkte erst recht nicht, daß sich von der anderen Seite her ein
Boot mit vier Männern näherte. Er hatte den glasigen Blick drauf und war so gut wie weggetreten.
7.
Carberry grinste sich eins, als die stumme Gestalt des Ankerwächters noch einmal in ihr Blickfeld geriet. Fast unbeweglich stand der Kerl dort. Nur sein Kopf vollführte immer wieder diese merkwürdigen Nickbewegungen. Dann war da auch undeutlich ein leises Schnarchen zu hören. Die anderen grinsten ebenfalls. Sie alle kannten das, diesen Zustand zwischen Halbschlaf und trägem Wachsein. Bei dem Kerl da oben hatte sich dieser Zustand weiter verschlimmert. Er mußte eingeschlafen sein. „Der wird uns bestimmt nicht hören“, raunte Carberry. „Der Kerl ist glatt abgenippelt.“ Gleich darauf entschwand er wieder ihrem Blickfeld. Das Schnarchen wurde noch leiser. Sie hielten jetzt auf die beiden Jollen zu, die in Höhe der immer noch herabhängenden Jakobsleiter vertäut waren und leicht in der See dümpelten. Hier konnten sie sich sogar im Flüsterton unterhalten, ohne daß sie einer hören würde. Die gefährlichste Strecke war nur die zwischen den Riffen und dem Schiff. „Hast du das Messer bereit, Sten?“ fragte Carberry. „Ich habe es in der Hand.“ „Gut, dann steigt ihr beiden jetzt gleich über und drückt die Jollen etwas vom Rumpf ab, damit sie nicht randonnern.“ Mit dem letzten Ruderschlag pullte der Profos die Jolle an die anderen beiden heran. Nils und Sven waren bereit zum Übersetzen. Stenmark vergewisserte sich noch einmal, daß oben auch niemand auftauchte. Aber da war nichts zu sehen. Der Ankerwächter pennte immer noch und hörte und sah nicht, was um ihn herum vorging. Nils Larsen stieg vorsichtig in die eine Jolle über und drückte sie von der Bordwand ab. Sven Nyberg enterte das zweite Boot. Sten und Carberry nickten sich zu. Dann reichte Carberry dem Dänen den Schmalzpott hinüber. Gleichzeitig säbelte er mit dem scharfen Messer die Leine der einen Jolle durch. Ein einziger Schnitt genügte, dann war die Jolle nicht mehr mit der Galeone verbunden. Carberry grinste breit und schadenfroh. Dann sah er zu, wie der Schwede Stenmark ebenfalls mit einem schnellen Schnitt die Leine der anderen Jolle durchsäbelte. Nils Larsen war inzwischen schon emsig damit beschäftigt, Rundsein und Ledermanschetten einzufetten. Als er damit fertig war, gab er den Schmalzpott an seinen Freund Sven Nyberg weiter. Innerhalb kürzester Zeit waren sie fertig und tauchten die Riemen ein. „Haut gleich ab zum Strand“, raunte Carberry, „beeilt euch, ehe doch noch einer aufmerksam wird.“ „Und ihr?“ „Wir hauen auch gleich ab“, erwiderte Carberry. „Es dauert nur noch einen Augenblick, aber wartet nicht auf uns.“ „Du scheinst deine Gründe zu haben“, sagte Nils. „Habe ich auch“, versicherte der Profos. Seine Stimme klang so merkwürdig, als würde er gleich zu schluchzen beginnen. Dabei war es nichts anderes als sein erstickt klingendes Lachen, das er gewaltsam zu unterdrücken versuchte. Sven und Nils pullten los und nahmen Kurs auf das Achterschiff der „San Jacinto“. Von dort aus wollten sie im Schutz der Riffe wieder zum Strand pullen.
Als Nils einen Blick zurückwarf, wunderte er sich, denn das Boot mit Carberry und Stenmark hing immer noch unbeweglich auf der Steuerbordseite am Rumpf der Galeone. Dann rundeten beide das Heck und verschwanden in der Dunkelheit mit Kurs auf die Riffe. Stenmark wunderte sich ebenfalls, weil Carberry keinerlei Anstalten unternahm, den beiden Jollen zu folgen. „Was ist los?“ raunte er. „Gar nichts“, sagte Carberry. „Ich warte nur, bis die beiden einigermaßen in Sicherheit sind. Das wird gleich der Fall sein.“ „Und wir? Wir können doch folgen.“ „Tun wir auch, aber ich hatte da noch so eine Idee. Die Messer sind so herrlich scharf. Warum sollen wir sie nicht dazu benutzen, um die Ankertrosse durchzusäbeln? Das geht ruck, zuck, und dann treibt der Kahn hinaus und von der Leeküste weg. Was glaubst du, wie die Kerle sich freuen werden.“ Stenmark klappte der Unterkiefer weg vor soviel Unverfrorenheit. Er gab vor sich selbst ganz ehrlich zu, daß er daran gar nicht gedacht hatte. Auch er verbiß sich bei dem Gedanken nur noch sehr mühsam das Lachen. Klar, das würde ein toller Spaß für die Kerle werden, wenn sie erwachten und feststellten, daß sie auf See waren. Er hielt die Idee ebenfalls für großartig. Er nickte dem Profos begeistert zu, der noch einen Blick nach den beiden Jollen warf. Aber Nils und Sven waren bereits verschwunden und hatten das Achterkastell gerundet Der nächste Blick galt dem Schanzkleid über ihnen. Immer noch war niemand zu sehen. Der Ankerwächter döste weiter vor sich hin, obwohl sein Schnarchen im Augenblick nicht zu hören war. „Wir verholen jetzt“, raunte Carberry. Mit der erforderlichen Vorsicht bewegten sie die Jolle von der Höhe der Kühl zum Vorschiff und rundeten es, bis sie die Ankertrosse erkennen konnten. Kleine Schaumwirbel hatten sich darum gebildet. Mitunter war ein Gluckern zu hören. Carberry lehnte sich über das Dollbord, griff nach der schräg in die See ragenden Trosse und zog die Jolle näher heran. Alle beide hockten im Boot und grinsten dabei. Wenn der Ankerwächter jetzt aufmerksam wurde, konnten sie vermutlich ihr letztes Gebet sprechen, falls die Zeit noch reichte. Vielleicht schafften sie es aber doch, sich höllisch schnell abzusetzen. An Bord würde der Teufel los sein, und sie würden mit allem wild um sich ballern, was sie zur Verfügung hatten. Dennoch blieb Carberry die Ruhe selbst. Während Sten den pennenden Kerl scharf im Auge behielt, säbelte Ed mit ein paar Schnitten die Trosse durch. Die Trosse baumelte jetzt schlaff aus der Klüse, der Anker lag mit dem Rest der Trosse auf dem Grund. Da liegt der Anker gut, dachte der Profos. Die Kerle hatten zwar noch einen, doch der mußte erst einmal klariert und gesetzt werden, und darüber verging mit Sicherheit eine ganze Weile. Der Erfolg war jedoch schon zu Anfang ganz erstaunlich. Die „San Jacinto“ hatte es eilig, die schützende Leeküste zu verlassen und achteraus zu treiben. Bald, so schätzte Carberry, würde sie sich beim Achteraustreiben drehen und dann mit der Steuerbordseite zum Wind liegen und dementsprechend quer zur Wellenrichtung. Ganz vorsichtig begannen sie zu pullen und sich zum Strand hin abzusetzen. Ein letzter Blick galt dem Ankerwächter, der unbeweglich am Schanzkleid lehnte. Der würde sehr bald eine Menge Ärger kriegen.
Wie ein riesiger Schatten verschwand die Galeone mit den Schnapphähnen und trieb von den Riffen weg auf See. „Jetzt können wir den Kerlen nur noch Mast- und Schotbruch wünschen“, sagte Carberry zufrieden. „Sie fahren wieder zur See, ohne es zu wissen. War doch ein feiner Spaß, was, wie?“ Stenmark begann leise zu lachen. „Ein sehr feiner Spaß, in der Tat Schade, daß wir nicht die Gesichter der Kerle sehen können.“ „Das ist bedauerlich, aber nicht zu ändern. Ich wäre auch gern dabei“ „Sven und Nils haben den Strand schon erreicht“, sagte Sten. „Ich glaube, die haben noch gar nicht gemerkt, was wir uns geleistet haben.“ Es war zwar immer noch dunkel, doch die Orientierung fiel ihnen leichter als vorher. Sie sahen immer noch die Umrisse der langsam seewärts entschwindenden Galeone, und sie erkannten auch schattenhaft die beiden Jollen, die gerade den Strand erreichten. Sten und Carberry legten sich in die Riemen. Dabei lauschten sie gleichzeitig in die Dunkelheit. Nichts war zu hören als das Rauschen der See. „Die haben noch nichts bemerkt“, sagte Ed, „sonst hätten wir ganz sicher schon Gebrüll oder Rufen gehört. Schließlich geht das ja nicht lautlos vor sich, wenn die Kerle das gespitzt haben.“ „Geschrei wird es in jedem Fall geben.“ Wieder lachten beide, diesmal etwas lauter und ungehemmter, denn jetzt konnten die Kerle ihr Lachen bestimmt nicht mehr hören. „So, und jetzt volle Pulle gleich auf den Strand.“ Sie legten sich noch einmal kräftig in die Riemen, warfen einen Blick auf die Galeone und jagten auf den Strand hoch. Die beiden anderen waren schon da. Die Boote hatten sie noch nicht hochgezogen. Sven berichtete gerade, daß niemand etwas von der nächtlichen Aktion bemerkt hätte. „Von unserer bis jetzt auch noch nicht“, sagte Carberry mit einem hinterhältigen Grienen. „Wir haben den Kerlen noch einen kleinen Denkzettel verpaßt.“ Old O'Flynn war ebenfalls am Grinsen und blickte von einem zum ändern. Er rieb sich wieder die Hände und freute sich unbändig darüber, daß sie den Schnapphähnen die Jollen geklaut hatten. „Was habt ihr denn noch getan?“ wollte er wissen. „Ed hatte die Idee gehabt“, erwiderte Stenmark. „Er sagte, weil die Messer gerade so herrlich scharf seinen, könnten wir den Kerlen doch auch gleich die Ankertrosse abschnippeln. Das haben wir dann auch gleich getan.“ Der Profos zeigte aufs Meer hinaus. „Dahinten treibt der Pott jetzt. Wenn ihr genau hinseht, könnt ihr ihn noch als kleinen Umriß erkennen.“ Old O'Flynn schnappte erst einmal nach Luft, als er diese Neuigkeit vernahm. Dann stierte er sich die Augen aus und erkannte die Galeone schließlich weit draußen auf See. Sie schien bereits ein wenig von Steuerbord nach Backbord zu schlingern. Plötzlich begann Old O'Flynn zu lachen. Aber es war nicht sein übliches Gelächter. Es klang so, als stimme ein alter Ziegenbock lauthals ein Gemecker an. Der Alte war von echter Schadenfreude erfüllt, und das konnte ihm auch niemand verübeln. Er meckerte immer lauter, schlug sich auf die Schenkel und begann auf seinem Holzbein und dem gesunden Bein herumzuhüpfen. Die anderen konnten nicht anders und mußten seinem ansteckenden Gelächter folgen.
Selbst der Kutscher lachte mit. Sie hatten sich alle umgedreht und blickten aufs Meer. „Tatsächlich“, sagte Martin, „dort treibt sie. Sie ist schon ziemlich weit draußen. Viel Freude werden die Kerle jetzt wohl nicht mehr erleben, wenn sie wach werden.“ Am meisten aber freute sich Old O'Flynn, dessen meckerndes Gelächter immer noch über die See drang. Der Alte kriegte sich fast nicht mehr ein vor lauter Schadenfreude. „Darauf werden wir jetzt einen gluckern“, sagte er, „aber vorher ziehen wir die Jollen höher auf den Strand. „Aber schnell“, sagte Carberry lachend, „sonst verdunstet das gute Zeug in der Zwischenzeit noch.“ Wieder packten alle mit an, als die Jollen höher auf den Strand gezogen wurden. Etwas später lagen die Beiboote friedlich nebeneinander. „Wie werden sie sich wohl verhalten, wenn sie merken, daß sie abgetrieben sind?“ fragte Stenmark. „Ich bin davon überzeugt, daß sie nicht aufgeben und wieder zurückkehren werden.“ „Das ist anzunehmen“, sagte der Kutscher. „Sie geben ganz sicher nicht auf. Außerdem haben sie noch die kleine Jolle, wenn auch nur vier oder allerhöchstens fünf Mann hineingehen. Bestenfalls vier Mann können sie jeweils am Strand absetzen, doch, wie gesagt, mit denen sollten wir fertig werden. Wir müssen nur auf der Hut sein und sollten uns außerdem noch mit Musketen bewaffnen und zwischen den Felsen in Deckung gehen.“ Dem Vorschlag wurde zugestimmt. Sie mußten sich wirklich vorsehen. Aber Old O'Flynn juckte das vorerst noch nicht. Während er die Rumbuddel aus der Tasche holte und sie entkorkte, blickte er wieder aufs Meer hinaus. „Nicht mehr zu sehen“, sagte er unbekümmert. „Die Dunkelheit hat sie bereits verschluckt. Es wird sicher eine ganze Weile dauern, bis sie zurückkehren. Darauf trinken wir jetzt einen.“ Er gab die Buddel an Carberry weiter, und dann standen sie am Strand und gluckerten den sogenannten „O’Flynn'schen Streifen“ weg, der immer eine gute Daumenbreite betrug. Als der Kutscher dann die Buddel absetzte, drehte er den Kopf lauschend zum Meer hin. „Habt ihr das auch gehört?“ fragte er. „Das klang wie ein sehr weit entfernter Schrei.“ Sie lauschten jetzt alle mit vorgereckten Köpfen. Tatsächlich wiederholte sich das Geräusch gleich darauf noch einmal. Ein Ruf oder Schrei aus weiter, weiter Ferne war zu hören wie ein verwehendes Echo. „Vielleicht sind sie jetzt wachgeworden“, meinte Old O'Flynn. „Wird ja schließlich auch Zeit. Es geht schon fast auf den Morgen zu, und da heißt es, rechtzeitig aufzustehen.“ Er schickte wieder sein meckerndes Lachen in die Nacht hinaus. Etwas später hörten sie ein weiteres Geräusch. Es verwehte auch sehr rasch, aber es hörte sich wie ein weit entfernter Schuß an.
8.
Hongo erwachte von einem Geräusch, das sich vorerst nicht definieren ließ. Jedenfalls war es ungewohnt, und es schien sich einiges verändert zu haben. Aber das schob er auf seinen kurzen Schlaf, der ihn übermannt hatte. Jetzt war er wach, weil etwas nicht mehr stimmte. Aus verquollenen Augen sah er sich um, glaubte aber immer noch zu träumen. Was er sah, konnte einfach nicht wahr sein, denn die ganze Welt hatte sich von einem Augenblick zum ändern völlig verändert Er befand sich auf der «San Jacinto“, das war ihm bewußt Aber eben noch hatte die Galeone ruhig und still im Schutz der Leeküste vor Anker gelegen. Verwirrt stellte er fest, daß der Wind kräftig aufgebrist hatte. Und er hatte es nicht einmal gemerkt. Unbestimmbare Angst kroch in ihm hoch. Er nahm die Arme vom Schanzkleid und sah sich nach allen Seiten um. Dann wurde ihm bewußt, daß sich die Galeone heftig in der See bewegte. Der Giftpilz schluckte hart. Tatsächlich, das Schiff hatte keine ruhige Ankerlage mehr. Es bewegte sich pendelnd und schlingernd von Backbord nach Steuerbord. Dann erfolgte die umgekehrte Bewegung. Er stierte zu den Riffen, aber sah sie nicht Sie schienen verschwunden zu sein. Aber wie ist das nur möglich? fragte er sich verstört. Die Angst überfiel ihn noch stärker. Er rannte zur anderen Seite hinüber und stierte sich erneut die Augen aus. Nirgendwo war mehr Land zu sehen! Fassungslos drehte er sich ein paarmal um die eigene Achse, hastete ziellos von einer Seite zur anderen und suchte alles ab. Aber da war nur die See, weit und breit war nichts anderes zu erblicken. Die „San Jacinto“ bewegte sich immer heftiger von einer Seite zur anderen. Außer ihm befand sich kein Mensch an Deck. Die anderen hatten offenbar noch nichts bemerkt. Zu der Angst erfaßte ihn jetzt auch noch Panik. Wenn Acosta merkte, was hier passiert war, dann würde an Bord die Hölle los sein. Natürlich würde er nicht zugeben, daß er eingenickt war, obwohl ihm das wenig nutzen würde. Acosta kannte in solchen Angelegenheiten überhaupt keinen Spaß. Aber erst wollte er sich Gewißheit verschaffen. Er rannte nach achtern, stierte in alle Richtungen und konnte wiederum kein Land entdecken. Die andere Seite. Da war ebenfalls nichts, weder ein Riff noch ein schmaler Küstenstreifen. Dicke Schweißperlen traten auf seine Stirn. Der verkrüppelte Kerl rannte wieder zurück. Es konnte doch nicht sein, daß das Land so plötzlich verschwunden war, das gab es doch gar nicht. Dann fiel ihm die Ankertrosse ein. Wie gehetzt und von grauenerfüllter Angst getrieben, lief er zurück auf die Back und stürzte ganz nach vorn. Die Nacht war nicht mehr so finster wie zuvor, als er seine Wache angetreten hatte. Seine Augen hatten sich jetzt auch an die Dunkelheit gewöhnt und die Angst tat ein übriges. Als er über Bord blickte, traf ihn fast der Schlag. Er glaubte zu spinnen oder Trugbilder zu sehen. Die Ankertrosse schleifte durchs Wasser und wurde von den Wellen hin und her geworfen. Das Schiff schlingerte noch heftiger, und der Wind wehte ebenfalls noch stärker.
Der Giftpilz stieß in seiner Angst einen gellenden Schrei aus, der ihm selbst durch Mark und Bein ging. Dann stürzte er wie ein Irrer vor und griff durch die Klüse nach der Ankertrosse. Er holte sie mit zitternden Händen blitzschnell auf und stierte das Ende an. Ganz dicht hielt er es vor die Augen, aber er konnte es nicht genau erkennen. Dann befühlte er mit bebenden Fingern das Ende. „Gekappt“, stöhnte er, „durchgesäbelt! Hilf mir, o Heilige Mutter Maria.“ Sonst rief er nie die Heiligen an, aber diesmal tat er es in seiner namenlosen Angst und hoffte auf ein Wunder. Doch die Mutter Maria ignorierte ihn. Sie rührte keinen Finger für ihn und ließ ihn mit seiner Angst allein. Jetzt erfaßte ihn eine Panik, wie er sie noch nie gekannt und erlebt hatte. Er rannte wieder zurück zur Steuerbordseite. Die Galeone schlingerte und legte sich hart über. Fast wäre er dabei noch gegen das Schanzkleid gestürzt. Er griff nach der Jakobsleiter, zog sich halb über das Schanzkleid, hielt und klammerte sich fest und starrte ins Wasser hinunter. Die Jakobsleiter war noch da, aber die beiden Jollen nicht mehr. Wieder stieß er einen Schrei der Angst aus. Dann raste er, von wilder Panik getrieben und klatschnaß vor Aufregung am ganzen Körper wie ein Wilder auf die Kühl. Dort beugte er sich wieder über das Schanzkleid und holte eine der Vorleinen auf. Er stierte darauf - genauso fassungslos wie eben zuvor noch auf das Ende der Ankertrosse. Die Vorleine war gekappt. Scharf und sauber war sie durchtrennt worden, das fühlte er ganz deutlich. Er griff nach der nächsten Vorleine. Zu diesem Zeitpunkt hörte er im Innern des Schiffes schon die ersten Flüche. Er wurde fast wahnsinnig vor Angst * Julio Acosta, der Mann, der rücksichtslos über Leichen ging und keinerlei Skrupel kannte, wenn es sich um Gold handelte, hatte schlecht geschlafen. Dementsprechend war auch seine Laune. Immer wieder wälzte er sich unruhig in seiner Koje hin und her, schlief für Augenblicke ein und erwachte wieder. In seinen kurzen Träumen sah er die vielen Goldbarren vor sich, und wenn er erwachte, waren sie spurlos verschwunden, und er glaubte, hämisches Gelächter von allen Seiten zu hören. Er wußte nicht, wie lange er jetzt geschlafen hatte, aber er wurde von einer Bewegung geweckt, die ihm keine Ruhe mehr ließ. Das Schiff bewegte sich unruhig von einer Seite zur anderen und holte alle Augenblicke hart über, wie bei einem Roller, der es von der Seite erwischte. Mit einem Satz war er aus der Koje. Da er auf die schlingernden Bewegungen nicht eingestellt war, verlor er übergangslos den Halt und knallte mit dem Schädel an ein Schapp. Der harte Stoß verbesserte seine Laune keineswegs. Fluchend hängte er sich das Bandelier mit den geladenen Pistolen um. Wieder krängte die „San Jacinto“ hart über. Acosta riß mit einem weiteren wilden Ruck das Schott seiner Kammer auf und stürmte an Deck. Aber da war es dunkel, und er sah die Hand vor den Augen nicht. Er kehrte wieder um, raste in seine Kammer und nahm die Lampe vom Deckenbalken.
In diesem Augenblick hörte er einen gellenden Schrei. Danach war Getrappel an Deck zu hören. Jemand rannte wie ein Irrer über die Planken der Kühl, nachdem er den Niedergang hinuntergesprungen war. „Na wartet, ihr Bastarde!“ schrie er wild. Sein Gesicht begann sich vor Wut hektisch zu röten. Durch den gellenden Schrei waren inzwischen auch andere Kerle erwacht, die sich um ihren Schlaf betrogen sahen. Sie wurden wach und fluchten, was das Zeug hielt. Ein paar rappelten sich auf und hasteten an Deck, weil ihnen das Schlingern unheimlich wurde. Gerade eben noch hatten sie ruhig vor der Leeküste gelegen, und jetzt tanzte die „San Jacinto“ auf den Wellen, als sei sie auf hoher See. Mit der Laterne in der Hand stürmte Acosta wieder an Deck und sah sich wild nach allen Seiten um. Er konnte einfach nicht glauben, was er sah, aber die Tatsachen bewiesen das Gegenteil. Hart schluckend blickte er sich nach allen Seiten um. Kein Land mehr - nur noch die weite See. Die Wellen warfen die Galeone von Backbord nach Steuerbord. Immer wieder schlingerte sie von einer Seite zur anderen. Acostas anfängliche Verblüffung verwandelte sich in rasende Wut. Mit der Laterne in der Hand rannte er auf die Kühl, wo bereits zwei Kerle ratlos herumstanden und nach allen Seiten stierten. Er hängte die Laterne in die Webeleinen und sah den Giftpilz, der auf der Kühl hockte, zwei Leinen beglotzte und vor Angst fast grün im Gesicht war. Acosta war schon zur Stelle. So ungefähr ahnte er, was hier gerade passiert war. Er riß Hongo die Leinen aus der Hand und warf einen Blick drauf. Der Zwerg hockte unglücklich auf den Planken und fiel um, als Acosta ihn brutal zur Seite stieß. Die Leinen waren sauber gekappt worden, und zwar mit einem sehr scharfen Messer, das bewiesen die glatten Schnittstellen. Mit einem Fluch auf den Lippen warf er die Leinen dem Giftpilz ins Gesicht. Dann jagte er mit langen Sätzen zur Back. Inzwischen waren weitere Kerle an Deck erschienen. Sie brüllten, daß sie kein Land mehr in Sicht hätten und mitten auf See seien. Acosta erkannte sofort und auf den ersten Blick, was passiert war, als er die Ankertrosse in der Hand hielt. Auch sie war sauber gekappt. In seinen Augen loderte wilde Glut, als er auf die Kühl zurückkehrte. Eine weitere Laterne hing jetzt in den Webeleinen und erhellte das Deck. „Wer hatte Ankerwache?“ brüllte Acosta wild. „Normando!“ rief der Giftpilz mit schriller Stimme. „Bis um Mitternacht“, sagte Normando hastig, „dann habe ich Hongo geweckt, wie Prado angeordnet hat. Aber als ich nach unten ging, da war noch alles in Ordnung, und ich konnte das Land sehen.“ „Die Ankertrosse ist durchgesäbelt worden“, sagte Acosta mit eisiger Stimme, „außerdem die beiden Vorleinen der Jollen. Die Jollen sind ebenfalls verschwunden. Der Ankerwächter hat gepennt, sonst hätte er das bemerkt.“ „Ich habe nicht geschlafen!“ rief der Krüppel in seiner Angst. „Nicht einen Augenblick habe ich gepennt! Außerdem hatte Normando Wache und nicht ich.“ „Prado - wie war das? Laß sofort feststellen, wie spät es ist.“ Die Kontrolle der Sanduhren ergab einwandfrei, daß Kongo zu der Zeit Ankerwache hatte. Prado bestätigte das mit einem Grinsen. Acosta ging auf den giftigen Zwerg zu.
„Du verdammter Krüppel hast schon einmal dein Maul zu weit aufgerissen, du Bastard und Hurenbock! Und du hast mir auch einmal gedroht und gesagt, noch sei nicht aller Tage Abend. Jetzt ist aller Tage Abend für dich.“ Er drehte sich um und wandte sich an die anderen, die herumstanden und auf den Zwerg glotzten. „Hoffentlich habt ihr bald die Segel gesetzt, ihr Bastarde!“ fauchte er wild. „Mit dem krüppeligen Giftzwerg werde ich allein fertig. Hoch die Lappen! Wir segeln augenblicklich wieder zurück. Bringt das Schiff an den Wind.“ Die Kerle flitzten erleichtert los, denn Acosta hatte eine so üble Laune, wie sie das selten erlebt hatten. Der Giftpilz explodierte wieder einmal, obwohl Acosta jetzt eine Pistole in der Faust hielt „Nenn mich nicht Krüppel!“ schrie der Kleine. „Oder ich bringe dich um. Ich bringe jeden um, der mich so nennt.“ Ein höhnisches Lachen war die Antwort „Was bist du denn?“ höhnte Acosta. „Du bist ein nichtsnutziger, rotzfrecher und häßlicher Zwerg, der zu dämlich ist, für ein paar Stunden Ankerwache zu gehen! Ein Zwerg, der einpennt wenn es drauf ankommt! Ein Krüppel, der auf Goldbarren scharf ist damit er sich Weiberchen kaufen kann, weil ihn ohne Gold nicht einmal die allerletzte Hure nimmt! Du Witzfigur, du verdammte!“ Die Pistole ruckte in Acostas Faust vor, doch der Zwerg war jetzt nicht mehr zu bremsen. Seine Wut kannte keine Grenzen mehr. Blind vor Haß griff er in den Hosenbund und hielt sein Entermesser in der Faust. Mit einem gellenden Schrei drang er auf Acosta ein. Er wußte, daß der ihn jetzt wie einen tollwütigen Hund abknallen würde. Acosta war von der Situation überrascht, als der Kleine wie ein Irrer mit dem Entermesser auf ihn losging. Das kleine Kerlchen hüpfte geifernd herum wie ein Irrwisch und stach mit dem Messer zu. „Du Drecksack, du verdammter!“ brüllte er. Acosta sprang zur Seite. Der Zwerg war in seiner grenzenlosen Wut unberechenbar, aber auch unglaublich schnell und wendig. Er entging dem Stich mit dem Messer nur durch eine weitere schnelle Drehung seines Oberkörpers. Kongo raste jetzt. Im schwachen Licht der Laterne sah Acosta, daß ihm Schaum in den Mundwinkeln stand und seine tückischen Augen weit aufgerissen waren. Er trat nach dem Zwerg und schleuderte ihn mit einem Fußtritt bis an den Mast. Dann drückte er ab und schoß. Der Zwerg zuckte zusammen und wurde noch härter an den Mast getrieben. Das Messer in seiner Hand begann zu zittern. Er riß den Mund auf, als wollte er schreien, doch kein Ton drang über seine Lippen. Dann fiel das Messer auf die Planken, und der Zwerg sackte langsam am Mast zusammen, bis er auf dem Hosenboden hockte. Acosta feuerte ein zweites Mal. Daraufhin kippte der Zwerg mit dem Gesicht voraus auf die Planken. „Verdammter Bastard!“ fluchte Acosta. „Wir laufen wieder am Wind“, sagte Prado. Er warf nur einen flüchtigen Blick auf den toten Giftpilz. „Das alles war unnötig“, sagte Acosta etwas ruhiger. „In Zukunft teilst du zur Ankerwache solche Kerle ein, die nicht dauernd pennen. Und jetzt wirf den Stinker über Bord, ich kann den Bastard nicht mehr sehen.“
Keiner der Kerle verübelte es Acosta, daß er den Giftpilz umgebracht hatte, der an Bord sowieso nicht beliebt war. Die meisten von ihnen empfanden sogar Erleichterung darüber, weil Kongo sich schon mit jedem angelegt hatte. Prado fackelte auch nicht lange. Er packte den Krüppel am Gürtel, trug ihn ein Stück hinüber und warf ihn dann in die See. Nicht einmal das Aufklatschen wurde beachtet. Den Zwerg schluckte die Finsternis. Acosta kehrte aufs Achterdeck zurück. Die „San Jacinto“ lief jetzt wieder unter Segeln und nahm Kurs auf ihren alten Liegeplatz. Dann kriegte Acosta erst einmal seinen Tobsuchtsanfall. Er schrie, brüllte und fluchte herum. Es dauerte lange, bis er sich beruhigt hatte. Der einzige, der mit ihm noch vernünftig sprechen konnte, war Prado. Die anderen gingen dem ehemaligen Steuermann in weitem Bogen aus dem Weg. „Jetzt haben wir den endgültigen Beweis, daß sich irgendwelche Bastarde auf der Insel befinden müssen“, sagte er zornig. „Oder zweifelst du immer noch daran?“ „Nein, schon lange nicht mehr“, erwiderte Prado kleinlaut. „Die gekappten Leinen beweisen es. Vielleicht besteht doch die Möglichkeit, daß sie in der Höhle hocken.“ „Und das Gold ist auch da, dafür verwette ich meinen Kopf. Die Halunken haben uns die Jollen geklaut, um zu verhindern, daß wir mit mehreren Leuten gleichzeitig übersetzen.“ „Eine haben wir noch - die kleine.“ „Ja!“ brüllte Acosta. „Die kleine Scheißjolle, mit der wir allenfalls vier Mann an Land setzen können!“ Er regte sich schon wieder furchtbar auf und wurde dabei immer lauter. „Einer pullt die Kerle hinüber und kehrt dann wieder um, um die nächsten zu holen - und so fort. Das werden wir später bei Tagesanbruch praktizieren. Wir bilden eine Art Brückenkopf und räuchern die Bastarde endgültig aus. Aber vorher werde ich ihnen noch einheizen, daß ihnen alles vergeht. Laß sofort die vier Kanonen auf der Steuerbordseite kontrollieren. Sobald wir auf der alten Position liegen, heize ich den Halunken ein.“ Prado verschwand in auffallender Eile, um den nächsten Tobsuchtsanfall nicht aus unmittelbarer Nähe miterleben zu müssen. Acosta wurde dann völlig unberechenbar. Knappe zwei Stunden später tauchten die Riffe auf. Die „San Jacinto“ näherte sich wieder vorsichtig ihrem alten Platz und ging diesmal mit schwacher Fahrt vor den Steuerbordbuganker.
9.
Die Seewölfe hatten sich inzwischen aus der Grotte weitere Musketen und Munition geholt. Sie lagen zwischen den Felsen in Deckung und beobachteten das Meer. An Schlaf war nicht zu denken. Sie hatten in der Grotte ausgeruht und verspürten kein Bedürfnis nach weiterem Schlaf. Immer noch war der Himmel verhangen, aber die Sicht war ein wenig besser geworden. Hasard junior war es, der die Galeone zuerst bemerkte. „Sie kehren wieder zurück“, meldete er. „Und sie halten auf dieselbe Stelle zu.“ „Dann haben sie ja endlich ausgeschlafen“, meinte Old O'Flynn. „Außerdem werden sie um eine Erfahrung reicher geworden sein. Schließlich ist die Ankerwache nicht zum Pennen da.“ Sie grinsten sich eins, als die Galeone sich langsam näherte. Undeutliche Wortfetzen drangen an ihre Ohren. Die meisten Segel waren schon weggenommen worden. Jetzt wurde der Steuerbordbuganker gesetzt. Ein lautes Klatschen war zu hören, bevor er aufschäumend in der See verschwand. „Unsere Freunde dürften etwas indigniert sein“, meinte der Kutscher, zumindest aber leicht erbost, was ihre Verfassung betrifft. Sie sind einen Anker, zwei Jollen und vermutlich einen weiteren Kerl los, falls das vorhin ein Schuß war. Meiner Ansicht nach schleppen sie einen unberechenbaren Zorn mit sich herum.“ Carberry lachte verhalten. Auch er konnte sich die Gemütsverfassung der Schnapphähne sehr gut vorstellen. Was sich auf der Galeone tat, entzog sich vorerst jedoch ihren neugierigen Blicken. Es war noch zu dunkel, um genaue Einzelheiten erkennen zu können. „Morgen oder - genauer gesagt - nachher werden sie wieder ausschwärmen und die Insel absuchen“, sagte Nils Larsen. „Wie wäre es, wenn wir die erste Vorhut gleich hier zwischen den Felsen empfangen? Dann brauchen wir uns auch nicht mehr zu verstecken. Mehr als vier Mann können sie nicht auf einmal absetzen.“ Carberry und der Kutscher wollten das gerade bejahen, als ein jäher grellweißer Blitz die Dunkelheit zerriß. Der grellweiße Blitz wurde gelb, rot, schließlich orangefarben. Dann war eine gewaltige Explosion zu hören. Ein Pfeifton lag für einen Augenblick in der Luft. Dann donnerte eine Eisenkugel etwa zwanzig Yards entfernt vom Strand ins Wasser. Eine riesige Fontäne gischtete wild auf. Die Säule mit ihrem Schaum war selbst im Dunkel der Nacht gut zu erkennen. Als das Schaumgebilde mit Getöse in sich zusammensank, deckte die Dunkelheit alles wieder zu. „Ja, sie scheinen mächtig ergrimmt zu sein“, sagte Old O'Flynn. „Sie feuern in sinnloser Wut auf den Strand. Aber vorsichtshalber sollten wir die Köpfe doch schon mal einziehen. Vielleicht treffen sie sogar die Felsen.“ Kriechend zogen sie sich weiter zurück. Gleich darauf sah es aus, als erblühe an der Steuerbordseite der Galeone eine purpurfarbene Blume. Es gab wieder einen grellweißen Blitz, der die Farben änderte. Der Knall erfolgte sofort danach. Noch im Aufblitzen war heller Rauch zu erkennen, der wie ein Vorhang zur Seite gewischt wurde. „Ah ja“, sagte Old O'Flynn trocken. „Aber das reicht noch nicht. Vielleicht sollten sie kleinere Kugeln nehmen. Aber die Säulen im Wasser sehen doch fein aus, und sie rauschen auch so schön.“ Das wurde allgemein bestätigt. Die Seewölfe freuten sich über die schönen weißen Säulen und über die Feuerblumen, die an der Bordwand so farbig aufzuckten. Bei
Nacht wirkte das besonders imposant und beeindruckend. Bei Tag sah man nur ein kurzes Aufblitzen und grauen, schmierigen Qualm. „Immer noch mindestens zwanzig Yards zu kurz“, urteilte Stenmark. „Und dann haben sie erst den Strand erreicht und noch lange nicht uns zwischen den Felsen.“ „Hast du noch einen zum Gluckern?“ fragte Carberry. „Bei so einem Feuerwerk fehlt einfach ein Schnäpschen.“ „Ich habe leider nichts mehr“, sagte Old O'Flynn bedauernd. „Man soll eben nicht immer gleich alles saufen. Jetzt hätten wir das viel besser genießen können.“ „Vorhin war es auch ganz gut“, sagte der Profos beruhigend. Er hatte sich der Länge nach zwischen zwei Felsbrocken ausgestreckt, aber so, daß er einen direkten Blick auf die Silhouette der Galeone hatte und sie ständig im Auge behalten konnte. Vielleicht sollte der Feuerzauber ja nur der Ablenkung dienen, damit die Kerle in aller Ruhe ihre kleine Jolle aussetzen konnten, um das erste Kommando auf die Insel zu schicken. Von drüben hörten sie jetzt den auf Spanisch gebrüllten Feuerbefehl, aber das juckte sie kaum, denn alle Schüsse lagen zu kurz. „Na, dann feuert mal schön“, sagte der Profos und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. Interessiert sah er zu, wie erneut die Steuerbordseite in helles Licht getaucht wurde. Anschließend bewunderte er in aller Ruhe die hübsche Säule, die aus dem Wasser wuchs. * Als auf der „San Jacinto“ der Anker gesetzt wurde, war Acosta wieder einmal schier wahnsinnig vor Wut - und Ohnmacht. Er wußte, daß die Kerle auf der Insel hockten, daß sie sein Gold hatten und sich über ihn kranklachten, weil sie ihm die Jollen geklaut und zudem noch die Ankertrosse gekappt hatten. Und er konnte nichts tun - gar nichts, außer seine hilflose Wut austoben. Das tat er dann mit den Kanonen, sobald die Steuerbordseite wieder zur Insel zeigte. Die Kanonen waren bereits geladen, alle vier. Ein paar Kerle hockten dahinter, die glimmenden Lunten bereits in der Hand. Acosta wußte selbst, daß es sinnlos war, den Strand der Insel zu beschießen, denn er hatte kein festes Ziel, das er unter Feuer nehmen konnte. Aber selbst das war ihm egal. Er hoffte zumindest, den Kerlen Angst einzujagen mit seinem wahllosen Beschuß. An Land ließ sich auch nichts erkennen. Er sah nicht einmal die fremde Jolle und seine eigenen schon gar nicht. „Feuer!“ brüllte er einen Kerl an. Der Kerl senkte die Lunte auf das Zündloch und schloß die Augen, als der Feuerstrahl losbrach. Fast wäre ihm die zurückrumpelnde Lafette noch über die Füße gerollt. Acosta starrte dorthin, wo die Kugel einschlug. Er hoffte, daß sie irgendwo am Strand landen würde, doch die Distanz war zu weit. Die Eisenkugel schlug mit Donnergetöse ins Wasser. Eine Säule aus Wasser gischtete hoch und fiel in sich zusammen. „Feuer!“ brüllte er wieder in ohnmächtiger Wut. Wieder zerriß ein Feuerblitz die Dunkelheit. Die Galeone wurde für einen kurzen Augenblick in gespenstische Helligkeit getaucht. „Du Idiot!“ brüllte Acosta den Kanonier an. „Die Kugel lag viel zu kurz. Du sollst sie auf den Strand setzen, verflucht.“ „Ich kann nicht weiter feuern“, jammerte der Kerl.
Für Acosta war das jedoch keine Entschuldigung. Er ließ unter Gebrüll und heiseren Flüchen weiter auf den Strand feuern, mußte aber einsehen, daß die Reichweite der Culverinen zu gering war. Alle vier Kugeln waren im Wasser gelandet und hatten die Kerle ganz sicher nicht eingeschüchtert. „So geht das nicht“, sagte Prado. „Wir verschießen nur unsere Kugeln, die wir vielleicht noch bitter nötig haben. Wir erreichen nur, daß sich die Halunken was grinsen.“ Acosta sah das schließlich wutschnaubend ein: „Näher heran können wir nicht“, knurrte er, „da sind die Riffe, und wenn wir aufbrummen, lachen die Bastarde noch mehr. Das ist bei Nacht zu gefährlich.“ „Dann warten wir doch den Tagesanbruch ab“, schlug Prado vor. „Ich will aber nicht warten!“ brüllte Acosta zurück. „Ich will es diesen Halunken zeigen. Morgen stürmen wir die Insel sowieso, nachdem wir den Brückenkopf gebildet haben.“ Ein paar andere Kerle, die das hörten, waren von der Aussicht überhaupt nicht begeistert. Sie hatten vor der Insel und den unheimlichen Bewohnern noch mehr Angst als vorher. Diese Kerle blieben immer unsichtbar, klauten ihnen die Beiboote, kappten die Ankertrosse und verschwanden danach wieder so geheimnisvoll, wie sie erschienen waren. Ein paar sprachen in ihrer Angst schon von den „Unsichtbaren“, die die Insel bevölkerten, die man aber nie zu sehen kriegte, weil man eben ein ganz gewöhnlicher Sterblicher war. Daher hatten die meisten vor dem Tagesanbruch schon mächtigen Bammel. Acosta wanderte rastlos von einer Kanone zur anderen und überlegte, wie er es den Kerlen zeigen konnte. Prado begleitete ihn auf seiner ruhelosen Wanderung. Dann blieb Acosta plötzlich stehen. „Zwanzig Schritte etwa haben bis zum Strand gefehlt“, sagte er. „Ja, ungefähr.“ „Dann werden wir die Pulverladung einfach erhöhen, und so erreichen wir auch den Strand. Wir haben das früher schon einmal getan. Der Erfolg war ganz erstaunlich. Wir nehmen die doppelte Menge an Schießpulver.“ „Die doppelte Menge? Ist das nicht ein bißchen zuviel?“ „Die doppelte Menge habe ich gesagt. Los, ladet die erste Kanone wieder nach“, befahl Acosta. Das Rohr war bereits ausgewischt. Ein Kerl ging zögernd mit einer Holzschaufel daran, Pulver nachzufüllen. Er hampelte so ungeschickt und ängstlich herum, daß Acosta ihn mit einem harten Tritt zur Seite stieß und ihm die Pulverschaufel entriß. Dann füllte er selbst sehr großzügig Pulver nach, bis die Kammer voll war. Die Kerle waren weiß Gott keine Schießkünstler, aber als sie das viele Pulver sahen, kriegten etliche es mit der Angst zu tun. Einer wollte sich heimlich verdrücken, weil ihm diese Menge nicht geheuer war. Acosta holte ihn mit einem Griff zurück. „An die Kanone, du Hurensohn! Wenn ich dir den Befehl dazu gebe, dann feuerst du!“ Der Kerl nickte kläglich. Acosta selbst kannte die Wirkung bei erhöhter Pulverladung. Man konnte wesentlich weiter feuern, ging aber auch ein Risiko dabei ein. Und weil er selbst nicht gern ein Risiko einging und lieber die anderen vorschickte, zog er sich diskret zurück und tat so, als müsse er an Land den Einschlag der Kugel beobachten. Damit war er aus dem Splitterbereich, falls etwas schiefging. Prado verzog sich auch vorsichtshalber. Schließlich konnte man nie wissen, was passierte.
Die Kerle an den Kanonen aber hatten die Hosen voll. Voller Angst warteten sie auf den Feuerbefehl. Sie empfanden diese Ballerei als völlig sinnlos, trauten sich aber nicht, aufzumucken, weil in Acosta immer noch ein grenzenloser Zorn fraß. Sie wollten nicht so enden wie der Giftpilz Kongo, der gerade das Zeitliche gesegnet hatte. Der Kerl, der den Luntenstock in der verkrampften Faust hielt, zitterte wie Espenlaub. Seine Knie waren weich und wacklig. Er sah schon sein letztes Stündlein nahen. „Feuer!“ brüllte Acosta laut. Man konnte es mit Sicherheit bis zum Strand hören. Der Kerl zuckte wie unter einem Peitschenhieb zusammen, starrte auf den Luntenstock, stierte dann auf das Zündloch und wackelte noch mehr. Der Luntenstock zitterte immer stärker. „Feuer!“ brüllte Acosta mit Donnerstimme. „Zieh das Ding ab, oder ich stopfe dich in das Rohr!“ Die Angst vor dem brutalen Acosta überwog. Der bleich gewordene Kerl senkte die glimmende Lunte auf das Zündloch und wollte zur Seite treten. Ein bestialisch lauter Knall ertönte. Der Blitz war so gewaltig, daß alle für Sekunden geblendet waren. Aber das Getöse war noch lauter und schrecklicher als sonst, wenn eine Kanone feuerte. Die Culverine flog auseinander. Splitter fetzten nach allen Seiten und zischten heulend und jaulend über die Decks. Der Luntenmann wurde regelrecht auseinandergerissen und kam nicht einmal mehr dazu, einen Schrei auszustoßen. Er nahm auch den gewaltigen Blitz und Donner nicht mehr wahr. Er war auf der Stelle tot. Zwei andere wälzten sich blutend und laut um Hilfe brüllend auf den Planken. Sie schrien wie am Spieß. Metallteile der Culverine hatten sie getroffen und schwer verletzt. Schon nachdem er den zweiten Feuerbefehl gegeben hatte, war Acosta noch weiter in Deckung gegangen. Es mußte zwar nicht zutreffen, daß die Kanone auseinanderflog, aber so ganz sicher war er sich seiner Sache doch nicht. Daher war eine sichere Deckung immer eine gute Garantie fürs Überleben. Prado dachte ähnlich. Auch er zog sich noch ein Stück weiter zurück. Sie hörten Metallsplitter über sich hinwegpfeifen. Sie schlugen kreischend ins Holz oder fuhren in die See. Dann war es vorbei. Auf der Kühl lagen die Überreste des Luntenmannes. Zwei weitere wälzten sich schreiend an Deck. Ein Teil des Schanzkleides war zerfetzt worden. Ein paar Holzstücke, die aus dem Schanzkleid gefetzt worden waren, begannen zu brennen, und überall war Rauch und Qualm. „Löscht das Feuer!“ schrie Acosta. „Beeilt euch, verdammt!“ Die Kerle waren so verängstigt und voller Panik, daß sie wild durcheinanderkrebsten und sich gegenseitig behinderten. Um die beiden Schwerverletzten, die immer noch schreiend und verkrümmt auf den Planken lagen, kümmerte sich niemand. Ein paar beherzteren Kerlen gelang es schließlich, die brennenden Holzstücke zu löschen. Daraufhin verdichtete sich jedoch noch der Qualm und hüllte alles ein. Sie husteten und fluchten, dazwischen schrien die beiden anderen ihren wahnsinnigen Schmerz hinaus. „Einer ist tot, zwei sind verletzt“, meldete Prado, nachdem die Sicht etwas besser geworden war.
Für Acosta war die Antwort jedoch sehr bezeichnend, und sie entsprach auch genau seiner Logik. „Na und?“ brüllte er zurück. „Um so mehr bleibt für jeden von uns von dem Gold, das dort drüben auf der Insel auf uns wartet!“ Prado nickte dazu gleichgültig. Acosta hatte ja recht: Je mehr von ihnen ausstiegen, desto mehr blieb für die anderen übrig. * Nicht nur der Profos, auch die anderen zuckten zusammen, als der Feuerbefehl erfolgte und nichts geschah. Carberry richtete sich aus seiner halb liegenden Stellung auf und blickte zu der Galeone hinüber. Dort rannten zwar ein paar Kerle durcheinander, aber den Feuerbefehl überhörten sie offenbar. Dann erfolgte der Befehl noch einmal brüllend und scharf. Sie warteten wieder auf das Aufblühen einer großen Purpurblume, doch diesmal war alles ganz anders. Statt der Blume gab es einen riesigen grellen Blitz, der die Nacht meilenweit erleuchtete und für Augenblicke auch auf der Insel alles klar und scharf hervortreten ließ. Dem Blitz folgte ein gewaltiger rollender Donner, dann hörten sie es orgeln und pfeifen. Metallsplitter hieben pfeifend und sirrend durch die Luft. Danach war Gebrüll zu hören. Im Abglanz der grellen Lichtwolke blieben Qualm und Rauch zurück - und das entsetzliche Gebrüll schwerverletzter Männer. Dann war der Spuk vorbei. „Denen ist eine Culverine um die Ohren geflogen“, sagte der Kutscher. „Sie werden zuviel Pulver hineingeschüttet haben.“ „Woher willst du das wissen?“ fragte Martin. „Eine logische Überlegung, nichts weiter. Die Kerle konnten den Strand auch nach dem vierten Schuß nicht erreichen. Also versuchten sie es mit der Brechstange. Als der Feuerbefehl kam, verweigerten sie ihn vermutlich aus Angst, daß etwas passieren würde. Ja, und nach der zweiten Aufforderung flog ihnen das Ding um die Ohren.“ Drüben war immer noch das entsetzliche Schreien zu hören, doch nach einer Weile wurde es still. Es fiel auch kein Schuß mehr. Die Schnapphähne waren offenbar vorerst bedient. „Beim Morgengrauen werden sie es versuchen“, meinte Carberry. „Wir bleiben hier zwischen den Felsen in sicherer Deckung und werden ihnen einen würdigen Empfang bereiten. Aber streckt eure Nasen nur nicht vorzeitig heraus.“ Aus der Deckung der Felsen beobachteten sie weiter. Aber an Bord der „San Jacinto“ tat sich nicht mehr viel. Ein paar Kerle gossen Wasser über rauchende und glimmende Holzteile. Zweieinhalb Stunden vergingen, dann brach der Morgen mit einer fahlen Dämmerung an. Es wurde rasch heller, und damit traten alle Einzelheiten klar und deutlich zutage. Sie sahen, wie die kleine Jolle ausgesetzt wurde. Ein paar Kerle standen an Deck, die bis an die Zähne bewaffnet waren. Sie trugen Musketen in den Fäusten und hatten Bandeliers umhängen, in denen Pistolen steckten.
„Die scheinen nicht sehr glücklich zu sein“, sagte Carberry. „Die haben mächtigen Bammel, aber sie müssen, ob sie wollen oder nicht.“ Sie hatten ihre Musketen schußbereit neben sich liegen und warteten auf das Landkommando, das den „Brückenkopf“ bilden sollte. Vier schwerbewaffnete Schnapphähne enterten jetzt in die kleine Jolle. Sie mußten sich sehr zusammenquetschen, als noch ein fünfter abenterte, der die Jolle wieder zurückpullen sollte. Verunsichert blickten sie herüber, aber sie sahen nichts außer den Jollen, die auf dem Strand lagen – ihre eigenen Jollen. Vom Gegner war weit und breit keine Spur zu entdecken. Von Deck aus brüllte der Anführer ihnen etwas zu und fuchtelte mit einer Pistole herum, als die Kerle noch zögerten. Endlich pullten sie los. Angesichts des wild entschlossenen Acosta blieb ihnen keine andere Wahl. Das kleine Boot lag sehr tief im Wasser und wurde langsam gepullt. Dementsprechend langsam näherte es sich dem Land. Den Kerlen stand der Schweiß auf der Stirn. Sie stierten sich die Augen aus oder warfen hin und wieder einen Blick zum Schiff zurück. Meist hatten sie aber die Köpfe zum Land hin verrenkt. Als sie noch dreißig Yards vom Ufer entfernt waren, gab der Profos den anderen ein Handzeichen. Einen Lidschlag später krachten aus der Deckung der Felsen heraus die ersten Musketenschüsse. Auf diese Distanz war das Boot einfach nicht zu verfehlen. Zwei Kerle rissen schreiend die Arme hoch, kippten von der Ducht und landeten im Wasser. Die Seewölfe feuerten weiter. Die Jolle erhielt einen Treffer nach dem anderen in der Wasserlinie. Der dritte Kerl ging aufschreiend über Bord. Gleich darauf sackte die Jolle tiefer, legte sich auf die Seite und begrub den vierten Schnapphahn unter sich, der auch nicht mehr auftauchte. Als die Jolle wegsackte, hatte es nur einer von ihnen überlebt, und der schwamm jetzt voller Panik zurück, wobei er unentwegt schrie und seine Angst hinausbrüllte. Sie zogen ihn an Deck, und da ging das Geschrei erst richtig los, denn jetzt begannen auch die anderen zu murren. Acosta mußte sich harte Worte anhören. Sie warfen ihm vor, er würde einen nach dem anderen verheizen, sich selbst aber zurückhalten. Und die letzte Jolle, die sie noch hatten, sei ebenfalls zum Teufel. Acosta tobte, brüllte und schrie. Dann drohte er mit der Faust zum Land hin und feuerte eine Pistole ab. Die Seewölfe grinsten nur. Sie hatten den goldgierigen Schnapphähnen jetzt etliche Lektionen erteilt. Acosta hatte keine Boote mehr, und daß er schwimmend zum Strand übersetzte, war auszuschließen, denn bei den Riffen lauerten die Haie. Er mußte sich schon etwas einfallen lassen, um an das viele Gold zu gelangen... ENDE