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Bergpredigt
Revolution der Welt durch Gott?
13 Predigten in der Stiftskirche Tübingen Herausgeg...
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rche Tubingen
Bergpredigt
Revolution der Welt durch Gott?
13 Predigten in der Stiftskirche Tübingen Herausgegeben von der Evang. Studentengemeinde Tübingen
J, F. Steinkopf Verlag Stuttgart
Einband Roland Sauer. Gesetzt, gedruckt und gebunden 1973 bei Robert Bardtenschlager, Inh. Julius Kern, Buchdruck, Offsetdruck, Reutlingen, Aulberstr. 27. Alle Rechte vorbehalten. © J. F. Steinkopf Verlag GmbH, Stuttgart 1973· ISBN 3 7984 o28o 9
Inhalt
Vorwort
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Predigt am 22. 10. 1972: Herbert Gropper, Studentenpfarrer. . . . . . . . . . . . . . . .
13
Predigt am 29. 10. 1972: Dr. Wolfgang Steck, Assistent
..................
20
Predigtam 5.11.1972: Dr. Günter Kehrer, Assistent . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
27
Predigt am 12. 11. 1972: Professor D. Otto Michel
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34
Predigt am 19. 11. 1972: Professor Dr. Eberhard Jüngel. . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
42
Predigt am 3· 12. 1972: Dr. Helmut Claß, Landesbischof . . . . . . . . . . . . . . . . . .
54
Predigt am 26. 11. 1972: Professor Dr. Jürgen Moltmann '
Predigt am 10. 12. 1972: Dr. Gotthold Hasenhüttl, Dozent
75
Predigt am 17. 12. 1972: Dr. Gerhard Marcel Martin, Assistent. . . . . . . . . . . . . .
83
Predigt am 14. 1. 1973: Professor Dr. Dr. Dietrich Rössler . . . . . . . . . . . . . . . .
92
Predigt am 28. 1. 1973: Professor Dr. Peter Stuhlmacher
99
Predigt am 4· 2. 1973: Professor Dr. Friedrich Lang
106
Predigt am 11. 2. 1973: Dr. Theophil Steudle, Studentenpfarrer ............ 114
Vorwort Wenn der Gemeinderat einer Studentengemeinde beschließt, eine Predigtreihe herauszugeben - dieser Beschluß wurde von der Tübinger Studentengemeinde im Februar 1972 gefaßt -, dann paßt dies sicher nicht unbedingt zu den Vorstellungen, die man sich von einer Studentengemeinde im allgemeinen macht. Für Tübingen gilt dies in besonderem Maß, da es uns wohl bisher nicht gelungen ist, hinreichend verständlich zu machen, daß Gottesdienst und politische (in diesem Fall: hochschulpolitische) Aktivitäten sich für eine christliche Gemeinde nicht ausschließen, vielmehr eng zusammengehören. Seit Jahren findet während des Semesters· jeden Sonntag um 11 Uhr in der Stiftskirche Tübingen ein in der Regel gut besuchter Gottesdienst statt. Stiftskirchengemeinderat, Studentenpfarramt, Studentengemeinde und zum Teil auch SMD (Studentenmission) verantworten und gestalten ihn. Die Predigten werden gehalten von Professoren und Assistenten der Evang. Theol. Fakultät, vom Landesbischof bzw. dem für Studentenseelsorge zuständigen Referenten, von Gastpredigern und den Studentenpfarrern. Im Wintersemester 1972/73 wurde zum ersten Mal über einen zusammenhängenden Text gepredigt, dessen Abschnitte für die Prediger verbindlich waren. Wir hatten im Einverständnis mit den Predigern als Text die Bergpredigt gewählt und vorgeschlagen, die neue Matthäus-Übersetzung von 1.
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W. Jens zu verwenden. Drei der Gottesdienste fanden als ökumenische Gottesdienste zusammen mit der Katholischen Hochschulgemeinde (KHG) statt. Einer der Prediger (über Matth. 7, 1-10) war aus Prinzip mit der Veröffentlichung seiner Predigt nicht einverstanden. Dieser Abschnitt fehlt in unserer Reihe, denn wir hielten es nicht für richtig, irgendeinen »Ersatz« zu konstruieren. Die Liturgie wurde entweder vom Prediger allein oder von einem Team gestaltet und wich kaum v:on der in Württemberg üblichen ab. In der Regel fand eine Diskussion über die Predigt jeweils im Anschluß an den Gottesdienst statt; die Beteiligung war unterschiedlich groß, meist gab es lebhafte Auseinandersetzungen. Nicht leicht war es für die Prediger, das Kirchenjahr entsprechend zu berücksichtigen (Totensonntag, Advent etc.), oft wurde auf direkten Bezug verzichtet. Semesteranfangs- und Semesterschlußgottesdienst hoben sich heraus, da sie einen stärkeren Bezug zur Situation herstellten. Dies gilt besonders für die Predigt zum Schluß des Semesters, die nicht nur eine Art Zuammenfassung der Thematik der Bergpredigt, sondern auch ein Resümee des Semesters für Studentengemeinde und Studentenschaft versucht. 2. Der Gottesdienst der Studentengemeinde ist mit der besonderen Situation am Hochschulort aufs engste verflochten. Darum sollen zur Information einige Bemerkungen über die Lage hier in Tübingen hinzugefügt werden. In Tübingen studieren z. Zt. 15 ooo Studenten. In vielen Fächern besteht Numerus clausus, so z. B. in Medizin, Zahnmedizin, Biologie. Die meisten Seminare sind überfüllt (2oo300 Teilnehmer sind keine Ausnahmen). Die Höhe der staatlichen Zuschüsse steht in keinem Verhältnis zu den Lebenshaltungskosten. Die Lage auf dem Wohnungsmarkt ist katastrophal, viele Studenten wohnen weit außerhalb. Die Isolation und die Vereinsamung der Studenten in der Massenuniversität erschweren zusätzlich zu der Abhängigkeit vom Elternhaus und der Rolle des Außenseiters die psychologische
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Situation - die Selbstmordrate unter den Studenten ist im Vergleich mit anderen Altersgenossen am höchsten. Der gesamte Universitätsbetrieb wird zunehmend verschult. Genaue Vorschriften für Lehrpläne und Studiendauer in den einzelnen Studiengängen und verschärfte Prüfungsbedin'gungen wirken sich zunächst so aus, daß keine intensive Beschäftigung mit den Grundfragen und Grundlagen von Wissenschaft und Gesellschaft überhaupt möglich ist. Dazu kommt, daß der erhöhte Leistungsdruck das Konkurrenzverhalten unter den Studenten aufs äußerste steigert. Bedrückend dabei ist, daß es eigentlich nirgends Anzeichen für eine Besserung gibt. Im Gegenteil - es sieht so aus, als läge den Verantwortlichen gar nicht so viel an einer Veränderung, sondern nur daran, daß der' ganze Betrieb reibungsloser ablaufen soll: Die jetzige Struktur der Universität trägt dazu bei, Menschen auszubilden, die ihre Dienste für die Erhaltung der bestehenden, in gewisser Weise lebensfeindlichen Leistungsgesellschaft einsetzen können. Man orientiert sich in diesen Fragen nicht an langfristigen Notwendigkeiten - etwa an Lehr- und Lernmodellen, die besonders im Blick auf die Förderung der Kommunikation zwischen Lernenden und Lehrenden, zwischen Universität und übriger Bevölkerung entwickelt würden -, sondern an den Anforderungen der Industrie und des Wettbewerbs. So aber können die genannten Miseren nicht behoben werden. Das Interesse an universitären und hochschulpolitischen Vorgängen und Ereignissen ist nur bei einem kleineren Teil der Studenten vorhanden. Dies gilt verstärkt für religiöse Fragen. Mit religiösen oder spezifisch christlichen Fragen beschäftigen sich verhältnismäßig wenige Studenten, die überwiegende Zahl steht der Kirche und den Fragen des Glaubens gleichgültig oder in ausgesprochen ablehnender Haltung gegenüber. 3· In dieser- hier nur kurz umrissenen- Situation wagten wir, die Bergpredigt als Text unserer Gottesdienste vorzuschlagen. Warum wählten wir gerade diesen Abschnitt? 9
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Matthäus ist eine Sammlung von Reden, wie sie Matthäus zusammengestellt hat, um Menschen und Gemeinden seiner Zeit von Worten und Taten Jesu zu berichten. Erbenutzte als Vorlage eine Sammlung von einzelnen Sprüchen und Reden. Dabei waren wahrscheinlich auch die Stücke enthalten, die wir in der Bergpredigt, Matth. 5-7, und der Feldrede, Lukas 6, 2o-49 vorfinden. Der Vergleich mit der wesentlich kürzeren Feldrede des Lukas zeigt, daß man sich die von Matthäus beschriebene Rede nicht als geschlossene Einheit vorstellen darf; sie wurde wohl auch nicht durchgehend vor demselben Publikum gehalten. Matthäus läßt sich stark vom Bild des RabbiJesus leiten, der seine Schüler und andere Interessierte die Thora, das Gesetz, lehrt. Innerhalb der Rede bilden kleine Einheiten von Jesusworten (wie die »Wohldenen«-Sätze, die Antithesen, das Vaterunser) Kristallisationselemente, zu denen Matthäus weitere Sprüche hinzufügte. Der eigentliche Adressat dieser Worte Jesu war die Gemeinde, die sich wiederfindet in der großen Zahl der »Menge« oder auch in der kleinen Zahl der »Schüler« und »Nachfolger«. Bei Matthäus ist es ganz deutlich die »Ekklesia«, die Kirche Jesu Christi. Dabei sind Verkündigung und Forderung nie exklusiv an eine bestimmte Gruppe, sondern immer an alle gerichtet. Die Bergpredigt bringt mit ihren Forderungen kein neues Gesetz. Betrachtet man die Einzelforderungen isoliert, so sind sie Radikalisierungen der jüdischen Thora (Almosen, Beten, Nachgiebigkeit) und als solche erfüllbar. Sie rufen nicht zum Heroismus, zum Zwang auf: Das Reich Gottes ist nicht Ziel menschlicher Leistung, sondern Gabe. Nicht die Leistenden, die Besitzenden, die Gerechten, sondern die Habenichtse, die Armen und Hungernden werden von Jesus seliggepriesen. Um dieser Thematik des Reiches Gottes willen wählten wir die Bergpredigt. Wir wollten hören und erfahren, was diese Gedanken für eine Kraft haben- gerade angesichts der oben geschilderten Situation. 10
4· In dem Bemühen der Prediger, 'von der Bergpredigt her auf die besonderen Probleme in Hochschule und Studentengemeinde einzugehen, erwies es sich als nötig, auch andere gesellschaftliche Bereiche in die Betrachtung einzubeziehen, um Verständnis zu erreichen und eine theologische Antwort formulieren zu können. Die Evang. Studentengemeinde Tübingen hatte durch ihre zeitweilige Mitarbeit im Allgemeinen Studentenausschuß (AStA) sowie durch ihr Mitwirken im Studentenparlament und in den Grundordnungsgremien der Universität die Aufgabe übernommen, sich intensiv mit Fragen der Hochschulpolitik auseinanderzusetzen und studentische Interessen zu vertreten. Die Predigtreihe fand also statt unter den besonderen Bedingungen sich zuspitzender politischer Auseinandersetzungen an der Hochschule und zunehmender Schwierigkeiten der Auszubildenden. Alle Textauslegungen sind auf die Hörerschaft einer Hochschulgemeinde gerichtet;"~ie greifen damit - direkt oder indirekt - die skizzierte Situation auf. In der grundsätzlichen Einschätzung besteht sicherlich nicht unter allen Predigern Konsens - wohl aber darin, zu hoffen, daß der »Berg an Predigt« die Kraft seiner Verheißung realisiert. In diesem Sinn legen wir die Predigten, so wie sie gehalten wurden, einer breiteren Öffentlichkeit vor. Wir hoffen, daß dadurch deutlich wird, wie sehr für unsere Gemeinde- vielleicht in gewisser Weise beispielhaft - Gottesdienst und hochschulpolitische Aktivitäten zusammengehören. Der Evang. Landeskirche Württemberg danken wir für einen Zuschuß zu den Druckkosten.
Tübingen,
20.
März 1973
Für den Gemeinderat der ESG Tübingen: Bernhard Eicher, Ursula Koch, Hartmut Noack, Monika Schmidt, Theophil Steudle
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Herbert Gropper
22. Oktober 1.972 ökumenischer Gottesdienst
Matth. 5, 1.-1.2: Da er aber das Volk sah, ging er auf einen Berg und setzte sich; und seine Jünger traten zu ihm. Und er tat seinen Mund auf, lehrte sie und sprach: Selig sind, die da geistlich arm sind; denn das Himmelreich ist ihr. Selig sind, die da Leid tragen; denn sie sollen getröstet werden. Selig sind die Sanftmütigen; denn sie werden das Erdreich besitzen. Selig sind, die da hungert und dürstet nach der Gerechtigkeit; denn sie sollen satt werden. Selig sind die Barmherzigen; denn sie werden Barmherzigkeit erlangen. . Selig sind, die reines Herzens sind; denn sie werden Gott schauen. Selig sind die Friedfertigen; denn sie werden Gottes Kinder heißen. Selig sind, die um Gerechtigkeitwillen verfolgt werden; denn das Himmelreich ist ihr. Selig seid ihr, wenn euch die Menschen um meinetwillen schmähen und verfolgen und reden allerlei übles wider euch, so sie daran lügen. Seid fröhlich und getrost, es wird euch im Himmel wohl belohnt werden. Denn also haben sie verfolgt die Propheten, die vor euch gewesen sind.
Grenzsituationen menschlichen Lebens werden am Beginn des Semesters im Evangelium seliggepriesen. Ist damit unser aller Situation aufgezeigt? Oder sollte es unser aller Situation werden? Die Bergpredigt als Mitte der Botschaft Jesu ist das Predigtthema der Gottesdienste im Wintersemester. Es wurde
schon oft unternommen, diese Predigt auszulegen und neu zu deuten. Aber immer wieder muß man sich diesem Text neu stellen, weil kaum ein anderer des Neuen Testamentes uns so herausfordert. :1. Die neun Seligpreisungen sind bei Matthäus eine bewußte Komposition. Sie bestehen aus drei Teilen. Die beiden ersten Teile umfassen je vier Seligpreisungen. Die erste Gruppe heißt Menschen selig, die an einem Mangel leiden und deshalb durch das Verlangen nach Hilfe bestimmt sind. Der zweite Teil der Seligpreisungen redet über Menschen, die eine bestimmte Haltung einnehmen. Die jeweils vierte Seligpreisung der beiden ersten Teile redet von Gerechtigkeit. Gerechtigkeit rückt damit in die Mitte der Verheißung des Königtums Gottes. Der dritte Teil bringt eine ausführliche Seligpreisung der Verfolgten. 2. Die Armen stehen nicht von ungefähr am Anfang. Nicht Menschen sind gemeint, die sich selbst arm machen, -noch eine bestimmte Gruppe von Juden zur Zeit Jesu, die sich absonderten, um besonders am Gesetz festzuhalten. Gemeint sind Menschen auf der Schattenseite des Lebens, die zu kurz gekommen sind, Arme, die nichts haben und nichts wert sind. Nach prophetischer Tradition steht Gott besonders auf ihrer Seite. »Er schützt die Geringen im Volk, den Kindem der Armen bringt er das Heil und macht den Bedrücker zunichte«, so sagt es Psalm 72. Qie pharisäische Auffassung zur Zeit Jesu war weit davon entfernt, Arme seligzupreisen. Wer arm war,-wurde für Sün1den bestraft; -der Reiche wurde belohiH für frommes, Gott wohlgefälliges Leben. Diese Auffassung wird jetzt umgekehrt. Menschen, die arm wurden oder immer schon zu den Armen gehörten, werden seliggepriesen. Läßt sich das konkreter sagen? Wer waren diese Armen? Damals waren es die Habenichtse, dieTaglöhnerund Sklaven, Menschen mit unehrenhaften Berufen wie Zöllner, es waren Kranke, Aussätzige, Menschen auf der Schattenseite des Lebens. f.l~ute müßte man andere nennen: Süchtige, physisch und psy-
chisch Kranke, Gescheiterte, Menschen ohne Hoffnung und Zukunft.-Dazu gehören dann die der Dritten Welt, wirtschaftlich Ausgebeutete, bedrängte Minderheiten, Opfer der Kriege. Ist es falsch, auch im Raum der Universität solche zu suchen, wenn man an die Wohnsituation vieler unter uns, an den Numerus clausus, an die Einsamkeit und Vereinzelung, an das Verbohrtsein mancher in Ideologien denkt? Solchen Menschen gelten die Seligpreisungen heute. Bei solCherBehauptung hört man den Spott und das Gelächterderer, die darin eine billige Tröstung sehen, »Opium für das Volk«.,, Aber es geht nicht um die Seligpreisung ihres Zustandes. Weaer die Arm~t wird idealisiert, noch die ungerechtenZustände oder die Ausbeutung in unserer Welt. Menschen, die solches erleiden, sind gemeint! Auch das kann mißverstanden we~·clen. Eine soziologisch bestimmbare Schicht allein ist das nicht. Not kann auch Verbitterung und Haß hervorrufen. Matthäus setzt bei den Armen den Zusatz »im Geiste« als Interpretation dazu. Dann sind solche Menschen gemeint, die sich ihrer Lage bewußt werden, mehr noch, die nach einer Hoffnung ausschauen. Mögen es Bilder aus der Umwelt Jesu sein wie Leben, Licht, Barmherzigkeit, Reich Gottes, oder mag man es im Verstehenshorizont unserer Zeit und der Sprache heutiger Menschen ausdrücken: Glück, Liebe, Lebenserfüllung, - die Hoffnung ist geblieben. Aber auch Hoffnung läßt sich verschieden ansetzen: Vom Menschen und seiner Fähigkeit her- oder von einem anderen her, welches unser Text »Reich Gottes« nennt. Welche Hoffnung haben »solche Arme«? Hat doch die Rede vom »Opium« ihre Berechtigung? .3· Vielleicht hilft uns eine andere Seligpreisung aus der zweiten Gruppe weiter: »Selig die Friedensstifter, denn sie werden Söhne Gottes genannt werden.« Hier ist nicht mehr nur von einer Situation die Rede, sondern von aktivem Tun. Nicht um friedfertige Menschen geht es, sondern um solche, die Frieden machen, die Versöhnung stiften. Der höchste Ehrentitel der Bibel ist solchen verheißen.
Armen-
Die Sorge um Frieden gehört also zum Wesensmerkmal eines ChriSten.- ·Viel zu lange ist dieser Friede- nur als p~i~ater Fife(Jt;- mit Familie und Nachbarschaft oder als Friede des Menschen mit seinem Gott verstanden worden. Viel zu lange hat man die volle Breite der neutestamentlichen Botschaft übersehen. Friede beginnt bei der Bereitschaft zum Verstehen. Die junge Wissenschaft der Fried~~sforschung setzt genau da an. Friede hat weiter zu tun mit der _Fä_higk_ei! ZUJP: J5ompromiß~l,l!!l Verzeihenkönnen und zur Anerkennung der Freiheit anderer Mens&en.·.-Friede endet bei der Sorge ürn soziale Gerechtigkeit; Fortschritt ~nd Völkerfrieden. So paradox es klingen mag, Frieden und Ausgleich schaffen kann die Möglichkeit des Konfliktes in sich bergen. Das ist vor allem dann der Fall, wenn Gerechtigkeit als Voraussetzung geschaffen werden muß. Man sollte studentische Aktivitäten - seien es hochschulpolitische um Hochschulrahmengesetz, GO-Gremien, AStA und Fachschaften oder gesellschaftspolitische um unseren Staat oder allgemeinpolitische - a_uch einmal unter diesem Gesichtspunkt betrachten, daß Friede und Gerechtigkeit gesucht werden, nicht der Konflikt. Ist diese Behauptung ange~iChts de~ versChiedenen Meinungen, der harten Konfrontation und des erbitterten Streites innerhalb studentischer Gruppen zu kühn? Müßten da nicht christliche Gemeinden gerade dieses Ziel der Gerechtigkeit und des Friedens immer wieder neu ins Auge fassen und vermitteln? Müßten sie sich nicht immer wieder selbst daran orientieren? 4· Es war vorher die Rede von der Hoffnung der Armen. Es kann keine Hoffnung sein, die nur wartet und stillhält. Hoffnung ruft die, welche in irgendeiner Weise arm und elend sind, zum Handeln auf. Sie ruft aber auch die, welche meinen, nicht in solcher Grenzsituation zu stehen. Sie sollen »arm werden«, das heißt, sie sollen sich einsetzen für die Armen und ihre Befreiung. Bei solchen Worten wird die Spannung sichtbar zwischen Sein und Sollen, zwischen Wirklichkeit und Hoffnungserwartung. Wie oft schon brach der Ansatz zu-
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sammen, wie oft mußten auch wit schon aufgeben! Sollen wir resignieren? Sollen wir die Seligpreisungen als Phrasen billigen Trostes abtun? Wir könnten dazu versucht sein. Aber da ist der, von dem diese Sätze stammen: Jesus Christus. Sein Leben und seine Hoffnung steht hinter ihnen. Er hat das befreiende Wort Gottes verkündet und gelebt. Er hat sich in die Gemeinschaft mit den Armen und Unfreien begeben. Er wollte ihnen aufhelfen und Hoffnung schaffen. Darum litt und starb er. So gesehen hat er seinen Tod herausgefordert. Er litt nicht passiv an seiner Welt, sondern forderte sie heraus. Freilich, wenn Kreuz das letzte Wort über ihn wäre, wäre die Hoffnung tot. So aber ist in seinem Tod von Gott her neue Hoffnung aufgebrochen. Deshalb bleibt auch unsere Hoffnung. Sie steht nicht unangefochten, denn sie steht in der Spannung des Jetzt und Nochnicht. Sie fordert uns auf zum Tun. Sie holt uns immer wieder aus der Resignation. Sie läßt selbst den unglaublichen Satz glaubhaft werden: »Selig seid ihr, wenn sie euch schmähen und verfolgen und sagen alles Böse wider euch, daran lügend, um meinetwillen. Freuet euch und frohlocket, denn euer Lohn ist groß in den Himmeln.«
Meditation er sagte: Glückselig nenne ich, die arm sind. Sie sollen in Gottes Reich leben. Er sagte auch: Glückselig nenne ich die Trauernden. Sie sollen getröstet werden. wir vermuten: daß dies nicht nur dich und mich betrifft, sondern unsere Gesellschaft insgesamt und ihre Ordnungen. Daß es also heißen soll: wer bedürftig ist, wer Mangel leidet, wem etwas fehlt, wer damit an der Veränderung der Welt interessiert ist, an der Veränderung auf das Reich hin, das kommen soll, wer trauert über die derzeitige Aufteilung von Grund und Bo1.]
den, von Bildung und Wissen, wer bekümmert ist über die Unterdrückung, Entrechtung und Ausbeutung von zwei Dritteln aller Menschen- dem gilt die Verheißung. er sagte: Glückselig nenne ich, die nach Gerechtigkeit hungern und dürsten; denn Gott wird sie satt machen. Er sagte auch: Glückselig nenne ich, die Verfolgung leiden um der Gerechtigkeit willen; denn ihr Lohn wird groß sein. und wir vermuten: daß dies nicht nur dich und mich betrifft, sondern unsere Gesellschaft insgesamt und ihre Ordnungen. Daß es also heißen soll: wer danach trachtet, Gerechtigkeit zu schaffen, an der immerwährenden Verbesserung der Gesetzgebung und des Strafvollzugs mitzuwirken, an einer gerechteren Verteilung des Eigentums, an einer partnerschaftliehen Ordnung zwischen Männern und Frauen, Erwachsenen und Kindern, Lehrern und Schülern, Hochschulen und Studenten, Arbeitgebern und Arbeitern - und wer um eines solches Trachtens nach Gerechtigkeit willen diffamiert wird, Schaden leidet an seinem Ruf, an seinem Vermögen, an seiner Freiheit dem gilt die Verheißung. Gebet
Er war ein Mensch wie wir, denn er ist auch gestorben, er ist ein Name, man sagt uns, daß er lebt - es gibt wohl welche, die sagen, daß er lebt, daß er sie frei macht, um Freud und Leid zu tragen, daß er sie treibt, daß er der Weg und ihre Wahrheit ist und ihre eigene Zukunft. Er ist ein Wort, solang es Menschen gibt in dieser Weltstadt harter Fakten, nahe und fern, in allen Worten ein Mensch des Friedens, der den Tod erduldet. Wenn er ein Gott ist, Gott, wenn es dich gibt, dann bist du er für uns, dann ist er du. Dann bleiben wir in seiner Nähe, das muß genügen. 1.8
Fürbittengebet Bitte: Für alle Gehemmten, deren Gewissen verkrampft und unfrei ist. Für alle, die in Spannung und Unruhe leben, die unsicher sind und keinen Rat mehr wissen . . . . Herr, wecke unsere Initiative! Herr, erbarme dich! 2. Bitte: Für die Opfer der Korruption und Erpressung, der offenen und strukturellen Gewalt, die im Ringen düsterer und oft ganz konkreter Mächte niedergetreten werden . . . . Herr, wecke unsere Initiative! Herr, erbarme dich! 3· Bitte: Für alle, die mit Unrecht leben müssen, denen mißtraut wird, die leben unter Druck von Verdächtigung und Verleumdung, für alle, die eingebaut sind in ein unmenschliches System und ihm nicht entkommen können . . . . Herr, wecke unsere Initiative! Herr, erbarme dich! :1.
Wolfgang Steck
29. Oktober 1972
Matth. 5, 13-16: Ihr seid das Salz der Erde. Wenn nun das Salz kraftlos wird, womit soll man's salzen? Es ist zu nichts hinfort nütze, denn daß man es hinausschütte und lasse es die Leute zertreten. Ihr seid das Licht der Welt. Es kann die Stadt, die auf einem Berge liegt, nicht verborgen sein. Man zündet auch nicht ein Licht an und setzt es unter einen Scheffel, sondern auf einen Leuchter; so leuchtet es allen, die im Hause sind. So soll euer Licht leuchten vor den Leuten, daß sie eure guten Werke sehen und euren Vater im Himmel preisen. Kaum ein Wort der Bergpredigt konzentriert sich so direkt auf die Hörer. Und kaum ein Abschnitt redet uns so unmittelbar an wie die beiden Sätze vom Salz der Erde und vom Licht der Welt. Ihr seid das Salz der Erde. Und Ihr seid das Licht der Welt. Aber kaum ein Wort der Bergpredigt bleibt zugleich in einem so rätselhaften Dunkel wie die beiden Bildworte. Das Salz der Erde? Und: das Licht der Welt? Was ist das für eine merkwürdige Sprache, die die Wirklichkeit in Bilder verdichtet? Was ist das für eine seltsame Verpflichtung, die einen so unmittelbar engagiert und doch zugleich verschlüsselt redet? Was ist das für ein eigenartiger Umgang mit der sozialen Welt, mit unserem Handeln und unserer ethischen Orientierung, wo das Verhältnis des Christen zur Welt zugleich geklärt und dod1 wieder verschleiert wird? 20
Yjer sind wir, wenn wir dem zustimmen: Ihr seid das Salz des Landes und: Ihr seid das Licht der Welt?·, Diese Worte reden uns. unmittelbar an. Wir verstehen, was gemeint ist; wir spüren, daß wir gemeint sind. Aber wir finden hier keine Leitsätze des christlichen Handelns, keine Grundsätze christlicher Ethik, keine Orientierung für christliche Lebensführung. Diese Sätze enthalten keine ethischen Maßstäbe, sondern religiöses Wirklichkeitsverständnis. In den Bildworten der Bergpredigt verbergen sich zwei gegensätzliche Grundmöglichkeiten religiöser Einstellung: eine sd1einbar vergangene religiöse Position, die wir nicht leicht begreifen und die den Abstand zu der biblischen Welt deutlich spüren läßt. Daneben enthält der Predigttext ein offensichtlich aktuelles religiöses Selbstverständnis, eine religiöse Deutung unserer Wirklichkeit, mit der wir uns sofort identifizieren und in deren Vorstellungen wir uns ausdrücken können. Aus der Verwehung dieser beiden religiösen Einstellungen entsteht der seltsam doppeldeutige Zug dieser Worte: Betroffenheit und Ratlosigkeit, Zustimmung und Verweigerung, Gleichzeitigkeit der unmittelbaren Evidenz und Distanz des historischen Verstehens. 1. Es ist nicht leicht, jenes Wirklichkeitsverständnis, jenes Bild zu entdecken, das sich die ersten Christen von sich, von ihrer religiösen Gemeinschaft und von ihrer sozialen Welt machten, jenes Bild, das sich auch in den Sätzen vom Salz und vom Licht widerspiegelt. Denn diese Sätze sprechen nicht so klar wie Jesu Worte von den Lilien auf dem Felde, von den Spatzen, denen Gottes Sorge gilt, und von den Kindern, die dem Reich Gottes am nächsten sind. Q~s_ Salzwort und qas J.ichtwort des Matthäus reden indirekt, verschlüsselt. Die ersten Christen greifen hier Bildworte auf, vielleicht gä~gige Lebensweisheit, Sprichwörter. Und in dieser Bildersprache drückt sich nun das frühe Christentum aus. In diesen Bildern geben die ersten Christen ihre Auffassung vom Menschen, von den Dingen und von Gott wieder. Man muß sich deshalb 2:1
die Mühe machen und genau hinsehen, bis die Bilder transparent werden und ihren geheimen Sinn preisgeben. 1.:1. Zunächst werden uns hier ganz einfache und alltägliche Vorgänge aus dem bäuerlichen Haushalt erzählt. Wenn das Salz fad wird, ist es nicht mehr zu gebrauchen. Dann schmeckt die Suppe nicht mehr. Und auch zum Düngen kann man fades Salz nicht nehmen. Man kann es ruhig wegschütten. Oder: Wenn man unterwegs ist in eine Stadt, die auf einen Berg gebaut ist, dann kann man sich nicht verirren. Es kann die Stadt, die auf einem Berge liegt, nicht verborgen sein. Und schließlich: Wenn es Abend wird, dann zündet man im Haus das Licht an. Man stellt es nicht unter den Tisch oder gar unter einen Meßbecher, sondern mitten ins Zimmer, auf einen Leuchter. Dann wird es hell im Raum, und alle, die im Haus sind, können sich sehen. Für uns mögen diese Vorgänge aus dem antiken bäuerlichen Haushalt den erbaulichen Glanz der Idylle an sich tragen. Für die Menschen des ersten Jahrhunderts gehörte der Umgang mit dem Salzfaß oder mit dem öllicht zu den selbstverständlichen Handgriffen im Ablauf des Tages, zur Alltagsroutine. Und sie empfanden dabei wohl nicht mehr, als wenn wir morgens das Auto anlassen oder die Zentralheizung regulieren. 1.2. Aber hinter diesem selbstverständlichen Umgang mit den alltäglichen Dingen, mit Salz und Licht, verbirgt sich doch ein geheimer Sinn. Salz und Licht sind nicht irgendwelche GebrauchsartikeL Sie sind auch Symbole einer anderen Dimension der Wirklichkeit. Es sind heilige Dinge. Und die Sätze unseres Predigttextes sind Elemente religiöser Sprache, rituelle, kultische Formeln. Salz ist im Altertum Symbol der Beständigkeit, des Bewahrens, des ewigen Lebens. Darum werden in Israel auch die Gebote Gottes, die das Leben in der Gesellschaft bestimmen und die Beständigkeit der Lebensordnung garantieren, darum wird auch das Gottesgesetz mit dem Salz verglichen. Und es ist dasselbe Salz, mit dem im Alten Testament die Opfer gereinigt wer22
den. Salz ist etwas Heiliges. Es ist' Lebenssymbol, Hinweis auf die religiöse Dimension der alltäglichen Wirklichkeit. Ebenso das Licht. Es symbolisiert die Durchsichtigkeit, die Zuverlässigkeit des Zusammenlebens. Finsternis und Licht: darin verdichten sich Gegenwart und Zukunft des alttestamentlichen Gottesvolks. über die Jahrhunderte hinweg steht der Leuchter im Tempel für die Hoffnung der Gemeinde. Licht ist Ausdruck der Lebenshoffnung. Aber nicht nur Salz und Licht, auch die Stadt auf dem Berg drückt den religiösen Glauben der Juden und den der ersten Christen bildhaft aus. Sie ist zugleich Jerusalem, die heilige Stadt, und die Stadt der Endzeit, die Hoffnung der alttestamentlichen Propheten und der jungen christlichen Gemeinde. Das Salz der Erde, das Licht der Welt, die Stadt auf dem Berg, der Leuchter im Haus, sie sind Symbole der religiösen Dimension der Wirklichkeit. Daß in den Vorgängen des menschlichen Zusammenlebens immer eine andere Dimension des Lebens mitschwingt, daß sich im Alltäglichen das Heilige widerspiegelt, daß die Dinge und die Handlungen der Menschen eine Bedeutung haben, einen Sinn, der über den bloßen Zweck und Gebrauch hinausweist, das alles war für den antiken Menschen nicht zweifelhaft. Das war für ihn nichts Rätselhaftes, sondern ebenso wie die Vorgänge des täglichen Lebens ein selbstverständlicher Teil seiner Welt. 1..3. Auch in unserem Abschnitt aus der Bergpredigt drückt sich diese Mehrdeutigkeit des Lebens und der Welt aus. Matthäus nimmt die Lebensweisheit der Sprichwörter auf. Und er gebraucht auch die religiöse Bildersprache, in der sich die religiöse Interpretation der Wirklichkeit niederschlägt, die Auffassung vom Menschen, von den Dingen und von Gott, wie sie sich der antike Mensch bildete. In unserem Predigttext durchdringen sich ständig zwei Welten, die menschliche und die göttliche, menschliches Handeln und religiöser Sinn. Dieses verwobene Geflecht von alltäglicher Selbstverständlichkeit und religiöser Symbolik bestimmt die Vorstellungswelt dieser Verse. Und es macht das eigenartige Verhältnis 2}
von Distanz und Nähe aus, das unsere Beziehung zu dieser Vorstellungswelt kennzeichnet. Aber Matthäus trägt die Lebensweisheit der Sprichwörter, die Symbolhaftigkeit der Begriffe und die Mehrdeutigkeit des Wirklichkeitsverständnisses nicht einfach weiter. Er spitzt die Worte in einer eigenartigen Weise zu. Und er kehrt damit den darin verborgenen Sinn um. Er redet nicht von alltäglichen Vorgängen und auch nicht von deren geheimer religiöser Bedeutung. Sondern er redet von uns, von den Menschen. Ihr seid das Salz der Erde. Und ihr seid das Licht der Welt. Nicht die Gegenstände, mit denen wir täglich umgehen, deuten auf die religiöse Dimension des Lebens hin, sondern die Menschen, mit denen wir zusammenkommen, und wir selbst sind Zeugen und Zeichen religiöser Wirklichkeit. pje Menschen sind das Salz der Erde. Ohne sie haben die irdischen Verhältnisse keinen Bestand. Die Menschen sind das Licht der Welt. Wie sie mit den Dingen umgeheü; wie sie die Welt gestalten und Wirklichkeit konstruieren, daran wird ihr religiöser Sinn hell und klar._ Wo ein Mensch in die Mitte des Hauses tritt, qa, ist Licht im Haus. Und~~() Menschen menschlich zusammenleben, .da ist die Gemeinde ~ottes, die Stadt auf dem Berge. I~ Umgang der Menschen miteinander werden die guten Werke, Gottes Schöpfungswerke, sichtbar. Und menschliches Handeln gibt Grund, den Vater im Himmel zu preisen. Nicht in den Dingen, in ihrem heiligen Charakter und in ihrem geheimen symbolischen Sinn, sondern im menschlichen Handeln entsteht die religiöse Welt, entsteht das Reich Gottes. 2. So einfach und so wahr die Umkehr des religiösen Wirklichkeitsverständnisses sein mag, sie scheint uns zu selbstverständlich, um noch von Bedeutung zu sein. Mit den Bildern der Gleichnissätze verbinden wir keine religiösen Momente. Salz ist uns nicht heilig, Licht nur selten religiöses Symbol, Berge sprechen nicht zu uns. Die religiöse Metaphorik scheint uns abhanden gekommen zu sein. Wir gestalten unser Verhältnis zu den Dingen rational. Wir entmythi24
sieren die antike Geisterwelt und· machen die Wirklichkeit damit durchsichtig und klar. Aber seltsam: trotzdem redet uns dieser Text unmittelbar an. Und was uns in ihm anspricht, das ist eben ein religiöses Moment. So wie wir den Text unmittelbar verstehen, betrifft er das Verhältnis von uns Christen zur Welt, von Kirche und Welt. Was di~ Kirche ~ür die Welt bedeutet, welchen Dienst die Ki;che der -Welt 1eisten muß und was der Welt fehlt, wenn die Kirche versagt, wenn das Salz fad wird und der Leuchter unter den Scheffel gestellt wird, das ist offensichtlich das Thema unseres Textes. In diesem Verständnis unseres Predigttextes drückt sich die zweite Grundmöglichkeit religiöser Einstellung aus. Auch diese Einstellung prägt sich ihre metaphorischen und symbolischen Begriffe. Waren Salz und Licht, Berg und Leuchter die heiligen Begriffe der Antike, so sind nun zwei andere Worte des Textes zu Grundbegriffen des religiösen und theologischen Lebens geworden: Wir und die Welt, die Kirche und die Welt. »Kirche« und »Welt« sind nicht nur Schlüsselbegriffe theologischer Entwürfe, sondern sie sind ebenso Kernworte kirchlicher Resolutionen, und sie gehören auch zum Grundbe-stand der heutigen Predigtsprache. Wie der antike Mensch ständig mit der religiösen Dimension der Gegenstände lebte, so sehen wir uns nun dem Teil der Wirklichkeit gegenüber, den wir» Welt« nennen. Gewiß: die Welt, das ist nicht mehr das Reich der heiligen Dinge. Es sind die Menschen, ihre Lebensformen und ihre Lebensanschauungen. Aber: die Welt, das sind nicht wir. Wir vertreten die Kirche. Wir sollen Salz der Welt und Licht der Welt sein. Und wir würden unseren Auftrag an der Welt verraten, wenn wir selbst zur Welt würden. Wir stehen der Welt kritisch gegenüber, gerade auch dann, wenn wir ihr unsere Dienste anbieten: Kirche für die Welt. Aber: was ist das, »Welt«? Und was ist mit »Kirche« gemeint? Von welcher Kirche ist die Rede? Und von welcher Welt? Sind Kirche und Welt nicht wieder Bildworte, Sym-
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bole, Vorstellungen, in denen sich eine religiöse Einstellung, eineGlaubensweise ausdrückt? Kirche, das ist das, womit wir uns identifizieren können, das ist die Stadt auf dem Berg und das helle Licht. Die Welt ist demgegenüber wenig. Sie ist unkirchlich. Sie muß geändert, sie muß immer mehr uns angeglichen, sie muß immer mehr Kirche werden. Es ist ein seltsam distanziertes Verhältnis zur Wirklichkeit, das sich hinter diesen religiösen Formeln verbirgt: Skepsis und Resignation. 3· Das sind die zwei religiösen Grundeinstellungen, die hinter den Bildworten der Bergpredigt sichtbar werden. Dort steht eine kleine religiöse Gruppe an der Schwelle des ersten Jahrhunderts. Aber die ersten Christen definieren sich nicht am Rande der sozialen Welt und im Gegensatz zu ihr, sondern sie stellen sich in der Bergpredigt dar, von der Leonhard Ragaz sagt, sie sei die »unerhörte Botschaft von der Revolution der Welt durch Gott«. Und hier steht ein religiöses Bewußtsein, das sich aus der Distanz zur Gesellschaft, aus dem Gegensatz zur Welt definiert, das sich über die Schwelle der sozialen Wirklichkeit wieder zurückzuziehen beginnt und in einer eigenen kleinen Welt Zuflucht sucht. Matthäus hat die Worte vom Salz und vom Licht an den Anfang der Bergpredigt, gleich hinter die Seligpreisungen, gestellt und damit die religiöse Grundeinstellung ihrer ethischen Verkündigung gekennzeichnet. Die Bergpredigt ist kein kirchliches Programm zur Erneuerung der Welt. Sondern die Bergpredigt leitet- wie Leonhard Ragaz es ausdrückt- »die radikale Erneuerung der Sache Christi ein, die der letzte Sinn dieser Zeit ist. Die Bergpredigt lebt. Sie tritt zurück, wenn das Christentum herrscht; sie tritt hervor, wenn Christus und das Reich Gottes durchbrechen«.
Günter Kehrer
5· November 1972
Matth. 5, 17-20: Ihr sollt nicht wähnen, daß ich gekommen bin, das Gesetz oder die Propheten aufzulösen; ich bin nicht gekommen aufzulösen, sondern zu erfüllen. Denn ich sage euch wahrlich: Bis daß Himmel und Erde vergehe, wird nicht vergehen der kleinste Buchstabe noch ein Tüpfelchen vom Gesetz, bis daß es alles geschehe. Wer nun eines von diesen kleinsten Geboten auflöst und lehrt die Leute so, der wird der Kleinste heißen im Himmelreich; wer es aber tut und lehrt, der wird groß heißen im Himmelreich. Denn ich sage euch: Es sei denn eure Gerechtigkeit besser als die der Schriftgelehrten und Pharisäer, so werdet ihr nicht in das Himmelreich kommen. Das Christentum ist eine aus dem Judentum hervorgegangene Religion. Je weiter wir zu den Anfängen der christlichen Religion zurückgehen, um so deutlicher wird dieser Tatbestand. Die Herkunft des Christentums aus dem Judentum ist nicht unproblematisch. Bedeutet das Hervorgehen auch zugleich das Herausgehen, die Emanzipation von der jüdischen Tradition? Konkret heißt das: Verpflichtet diese Herkunft aus dem Judentum die Christen auf das Gesetz des jüdischen Volkes? Die Geschichte der christlichen Religion hat auf diese Frage keine völlig eindeutige Antwort gegeben, wenn auch die Tendenz der Antworten deutlich ist: durch den Neuen Bund sind die Gesetze des Alten Bundes aufgehoben. Sie müssen
nicht mehr als Zeichen der Bundestreue von den Christen gehalten werden. Gegenüber dieser Entwicklung sind die Verse, die wir eben gehört haben, störend. Da werden Worte als Jesu Worte berichtet, die alles andere als Freiheit von dem Gesetz verkünden, die vielmehr die Gültigkeit des Gesetzes, des jüdischen Gesetzes, bis zum Ende der Welt behaupten. Wer genug Gottvertrauen hat, um zu glauben, daß nicht nur der Anfang unseres christlichen Glaubens mit Gott ist, sondern auch seine weitere Entwicklung, wer dieses Vertrauen besitzt, wird solche Worte nicht als Hinweis dafür nehmen, daß wir nun auch als Christen endlich wieder das jüdische Gesetz als Maßstab unseres Handeins betrachten sollten. Auch nicht das Gesetz in seiner verschärften, verinnerlichten Form; in der Form etwa, wo aus dem handfesten Ehebruch schon die Lust auf diesen der breite Weg zur Hölle wird und sei es auch nur die Hölle frustrierter Selbstzerquälung. In das Himmelreich einzugehen um den Preis der Oberbietung der Gerechtigkeit der Pharisäer, dürfte manchem ein zu hoher Preis sein. Sobald wir keine Lust am Gesetz mehr haben- und wer hätte heute noch Lust am jüdischen Gesetz?-, wird das Gesetz zur Qual, zum Instrument, mit dem wir uns und unsere Mitmenschen foltern. Die Gerechtigkeit, die der Folterung entspricht, mag pathetisch, mag erhaben sein, aber sie taugt niemals zum Leben; und was nicht zum Leben taugt, kann auch nicht fürs Himmelreich taugen. Was ohne Lust geschieht, ist Sünde. Noch die gesetzeswidrige Tat, mit Freude und Lust getan, ist dem Menschen heilsamer als die lustlose, kalte Grausamkeit erhabener Gerechtigkeit. Unser Text spricht von einem bestimmten Gesetz, dem jüdischen, also dem Gesetz, das die normative Struktur einer Gesellschaft bildete, das funktionierte und sowohl sozial als auch religiös einsichtig war. Gesetze und Normen ändern sich. Das ist eine Binsenweisheit. Die Tatsache, daß das Christentum sich vom jüdischen Gesetz emanzipierte, schaffte keinen gesetzlosen Zustand, sondern einen Zustand, in dem
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andere Gesetze, andere Normen das' Leben der Menschen regelten. Uns interessiert nicht die historische Herkunft dieser neuen Gesetze, sondern die Tatsache, daß die Gesetze wandelbar sind. Was bedeutet das für die Gerechtigkeit? Ist Gerechtigkeit das eiserne Festhalten an einmal gegebenen Gesetzen? Ist der Gerechte der erhaben lächerliche Ritter von der preußischen Gestalt, der korrekt bis zur Vernichtung das tut, was das Gesetz befiehlt? Den ein Schauer anwandelt vor jeder Form sogenannter moralischer Verkommenheit, der mit kalten Händen den Sumpf trockenlegt, auf dem die Blumen des Bösen, diese lust- und liebevollen Geschöpfe, treiben? Vielleicht weil das Christentum in seiner Geschichte und vor allem in seinen Anfängen eine besondere Attraktivität für heiteres und auch sonst nicht ganz einwandfreies Publikum hatte, vielleicht war das Christentum deshalb immer in der Gefahr, in moralischer Hinsicht so intolerant, so tierisch ernst zu sein. Die Pharisäer übertrumpfen zu wollen in peinlicher Beachtung gegebener Gesetze, wird ein schwieriges Unterfangen sein. Unsere Gerechtigkeit wird nur dann eine qualitativ bessere sein, wenn wir wissen und danach leben, daß das Gesetz uns zum Leben gegeben ist, wenn wir den Mut haben zuzugeben, daß wir die Gesetze machen und daß wir es damit in der Hand haben, ob diese Gesetze uns mehr Leben geben oder uns einen langsamen Tod in gesetzlicher Erstarrung sterben lassen. Eine solche Sicht führt uns über den engen Bereich des jüdischen Gesetzes hinaus zu der bedeutsamen Frage nach dem Verhältnis des christlichen Glaubens zu den gesetzlichen, normativen Regulierungen des menschlichen Lebens. Daß ein guter Christ auch ein guter Bürger sei, galt und gilt den meisten Menschen als selbstverständlich. Der Christ mit etwas lockerer Lebensführung stellte seine geringe Festigkeit im Glauben unter Beweis. Die Töchter aus gut christlichen
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Häusern werden besonders gut behütet, und auch von Söhnen aus solchen Häusern ist manch Erstaunliches an Widerstand gegen Anfechtung zu vernehmen. Das blühende Gewerbe der Psychotherapie hat hier seine durchaus noch nachwachsenden Goldminen. Und dennoch gab es auch einen Unterstrom von Libertinismus in der Geschichte des Christentums, mal zaghaft, mal kräftig, das vergnügte Haupt erhebend, mit der lachenden Zuversicht, daß Gott seine Freude an den Sich-Freuenden habe, daß Gott kein ewiges Bündnis mit Trauerweiden abschließt. Libertinismus ist keine Lebensform, sondern Protest gegen das Gesetz, das Leben verhindert. Wenn uns gesagt wird, daß das Gesetz nicht vergehen wird, bis daß Himmel und Erde vergehen werden, dann heißt das, daß erst im Reich Gottes, im Reich der Freiheit, Lust und Vernunft sich nicht mehr im Wege stehen werden, während wir bis dahin nur in der Bändigung der Lust durch die Vernunft unser Leben haben können. Aber diese Bändigung soll Leben ermöglichen, und Leben ohne Lust ist soviel wie Agonie. Wir werden deshalb genau zu prüfen haben, wo Gesetze, wo Normen nur noch Agonie erlauben und wo sie frei machen zum Leben. Für diese Prüfung gibt es kein Patentrezept, keine Weisheits- oder Klugheitsregel, sondern nur das sympathische Aufmerksamsein auf eigenes und fremdes Leiden. Gesetz, das zum Leiden führt, kann nicht zum Leben verhelfen. Von Nietzsche stammt der zynische, aber richtige Satz, daß man den Christen ihre Erlösung erst dann glauben könne, wenn sie auch erlöst aussehen. Ich habe noch niemanden gesehen, der einen erlösten Eindruck machte und zugleich versuchte, sich durch einen Berg erdrückender Gesetzlichkeiten durchzuknabbern. Eben weil Christen wissen, daß sie erlöst sind ohne die Werke des Gesetzes, können sie sich an das Werk des Gesetzemachens mit größerer Toleranz, größerer Skepsis und größerer Heiterkeit machen als die Menschen, die glauben, die Arbeit am Gesetz sei der Weg zu irgendeinem Heil.
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Weil Christen wissen, daß das Gesetz, die Ordnung notwendig ist für diese Welt, weil sie wissen,· daß Gott den Menschen es übertragen hat, diese Ordnung oder eine andere für diese Welt zu schaffen, weil sie dies alles wissen, brauchen Christen nicht immer auf den Kothurnen bierernster Verantwortung einherzustelzen, sondern sie können sich sagen: Es hat Gott gefallen, uns diese Aufgabe zu übertragen, so wollen wir sie denn erfüllen, ohne unseren Mitmenschen auf den Nerven und Hormonen herumzutrampeln. Gott hat die Welt nicht erschaffen, um seine Kreatur zu quälen, sondern um sie leben zu sehen. Da, wo wir Mitarbeiter Gottes sein dürfen, da haben wir dafür zu sorgen, daß seine Schöpfung lebt; nicht daß sie einfach andauert, überlebt, mumifiziert in den Leichentüchern einer ernsten, erhabenen Ordnung, sondern lebt in der fröhlichen Gewißheit, daß Gott seine Schöpfung liebt. Der Sinn, den das Volk Israel seinem Gesetz gab, war dieser: daß durch dieses Gesetz und durch sein Einhalten Gott Israel das Leben verheißt: Daß Gott uns auch heute freisetzt zu unseren Taten, daß er will, daß wir Leben ermöglichen, ist eine universale Verheißung. Von dieser Aufgabe wird kein Buchstabe vergehen, kein Tüpfelchen weggenommen werden, bis daß Himmel und Erde vergehen. Hier können wir uns nicht wegstehlen, indem wir zurückgreifen auf eine angeblich göttliche Ordnung, der wir nur Geltung zu verschaffen hätten. Hier müssen wir mit Mut und Phantasie selber schaffen, selber lehren mit der Zusage, daß weder unser Irrtum noch unsere Bosheit Gott veranlassen, die Welt zu verlassen. Indem wir Gottes Schöpfung fortschreiben, liegt es in unserer Hand, ob diese Schöpfung zu einer halbgeschlossenen Anstalt, regiert von frustrierten Neurotikern, wird oder zu einer Welt getrösteter, fröhlicher Sünder. Wo unsere Gerechtigkeit die Gerechtigkeit derer ist, die anderen Menschen Stricke um die Hälse werfen, die jede Regung des Lebens in ihnen unterdrücken, da wird unsere Gerechtigkeit schlimmer als die völlige Gesetzlosigkeit. Es soll uns nicht scheren, ob
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irgendein Rechtssatz verletzt wird, sondern ob das Leben zu seinem Recht kommt. Leben kommt da zu seinem Recht, wo von zwei möglichen Zuständen derjenige gewählt wird, der mehr zum Erleben, zum Fühlen und Denken führt als der andere. Christliche Existenz heißt Mut zur Unordnung, zum Irregulären, sofern diese Unordnung besserer Grund zum Entstehen von Leben ist. Feindschaft gegen jeden lebenserstickenden Doktrinarismus, Skepsis gegen alle Versuche, die Welt aus einem Guß zu gestalten, Anerkennung, daß die Welt für uns fragmentarisch bleibt, weil wir wissen, daß alle Fragmente ihr Ziel und ihre Mitte dort haben, wo jeder Teil unendlich wichtiger als das Ganze ist: in Gott. Wenn die Christen so die Menschen lehren, und vor allem: wenn wir so handeln, jeder dort, wo er nun einmal ist, dann werden die Christen erkennbar sein an ihrem Lachen, an ihrer Fröhlichkeit; dann wird niemand mehr auf den schmutzigen Gedanken kommen, die Christlichkeit eines Christen in dessen Schlafzimmer testen zu wollen. Für die Ängstlichen ist dies alles Auflösung der Ordnung, aber es ist in Wahrheit Erfüllung des Ordnungsauftrages Gottes an die Menschen. Erst die Befreiung von der Ängstlichkeit macht uns geschickt zum Erfüllen des Auftrages. Erst wenn wir nicht mehr ängstlich auf längst vergangene Gräber zurückschielen, wenn wir keine Angst mehr davor haben, unsere kollektive Vergangenheit könne uns plötzlich ins Genick springen und uns zurück zu den Gräbern schleifen, erst dann können wir das erfüllen, was unsere Vorfahren begonnen haben: die Welt zu einer Welt des Menschen zu machen. Dabei geht nichts verloren, sondern findet alles seinen Platz nach Maßgabe der uns verfügbaren Einsicht. Wir beginnen nicht am Anfang, sondern in der Mitte. Wir setzen das fort, was die vor uns taten, und beginnen das, was die nach uns nun tun werden. Wir setzen es fort mit der Gewißheit, daß auch dort, wo wir versagen, Gott weiterhin seiner Schöpfung treu bleibt. )2
Gebet Wir bitten dich, Herr, um ein fröhliches Gemüt, aus dem keine todbringenden Taten entstehen können. Wir bitten dich, daß du uns Einsicht in das Notwendige gibst und Kraft, das EiJ:lsichtige zu tun. Wir bitten dich um Heiterkeit und Milde denen gegenüber, die das Notwendige nicht sehen oder anders sehen. Wir danken dir, Herr, daß du uns bis heute Mut und Kraft zur Bewältigung unseres Lebens gegeben hast und daß du uns in Jesus Christus zugesagt hast, bei uns und unserem Tun zu sein bis an der Welt Ende. Amen.
.3.3
Otto Michel
1.2.
November 1.972
An mir und meinem Leben ist nichts auf dieser Erd, was Christus mir gegeben, das ist der Liebe wert. In Verbindung mit den akademischen Gottesdiensten ist mir die Aufgabe zuteil geworden, ein Stück der Bergpredigt hier auszulegen: Matth. 5, 21-26: Ihr habt gehört, daß zu den Alten gesagt ist: Du sollst nicht töten; wer aber tötet, der soll des Gerichts schuldig sein. Ich aber sage euch: Wer mit seinem Bruder zürnt, der ist des Gerichts schuldig; wer aber zu seinem Bruder sagt: Rachal der ist des Rats schuldig; wer aber sagt: Du Narr! der ist des höllischen Feuers schuldig. Darum, wenn du deine Gabe auf den Altar gibst und wirst allda eingedenk, daß dein Bruder etwas wider dich habe, so laß allda vor dem Altar deine Gabe und gehe zuvor hin und versöhne dich mit deinem Bruder, und alsdann komm und opfere deine Gabe. Sei willfährig deinem Widersacher, dieweil du noch bei ihm auf dem Wege bist, auf daß dich der Widersacher nicht dermaleinst überantworte dem Richter, und der Richter überantworte dich dem Diener und werdest in den Kerker geworfen. Ich sage dir: Wahrlich, du wirst nicht von dannen herauskommen, bis du auch den letzten Heller bezahlest. Herr, heilige uns in deiner Wahrheit; dein Wort ist die Wahrheit! Amen. Ich weiß nicht, meine lieben Freunde, wie man als schlichter Mensch mit einem derartigen Text fertig werden soll- kann man überhaupt mit einem derartigen Text zu einem abschließenden Ergebnis kommen? Zunächst fällt das Auge auf das grundsätzliche Gebot des Alten Testaments: Du sollst nicht
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töten! Sicherlich meint es ursprünglich persönlich und wörtlich: Du sollst nicht morden! Aber yvenn Kriege willkürlich angezettelt werden und den Menschen die Freiheit gegeben wird, zu töten, zu plündern und abzubrennen, dann ist häufig genug auch dem einfachen Mord Tür und Tor geöffnet, und kein Gebot Gottes behält seine natürliche Bedeutung. Wir haben erfahren, daß es Zeiten gibt, in denen Gottes Gebote jede Gültigkeit verlieren. Wir kennen aber auch das Ergebnis, daß tiefes Leid über die Völker und über die Menschen gekommen ist und daß das Gewissen Lasten tragen muß, mit denen es nicht fertig werden kann. Jedes Volk trägt an diesem Schicksal besonders und kann mit dieser Last nicht fertig werden. Wir wissen auch, daß wir als deutsches Volk ganz besonders getroffen sind und daß niemand uns und unseren Nachkommen das Schicksa.l abnehmen kann, das auf uns liegt. Gottes Gebote behalten ihre Gültigkeit und bedrohen uns mit ihren Strafen, wenn wir uns über sie hinwegsetzen. Jesus aber hebt das alttestamentliche Gebot nicht aut sondern verschärft es im messianischen Sinn. Er will nicht nur den Mord beseitigen, sondern er weist uns auf den Weg des Friedens. Wir hören das Wort »Friede« heute anders als früher. In Kirche, Schule und Volksleben galt früher der Krieg als »Ernstfall«, auf den hin man gerüstet sein mußte. Heute nach den Katastrophen ist für uns Deutsche der Friede der eigentliche »Ernstfall«, auf den wir uns rüsten müssen; der Krieg kann nur ein böser »Grenzfall« sein, der unserm Volk Verderben, aber nicht Gewinn bringt. Und doch brechen Kriege und Aufstände immer aufs neue aus und erhalten den Charakter der apokalyptischen Wehen und der Gerichte Gottes. Wir Christen lernen aufs neue den Segen eines Friedens, der auf Erden auch unter den Völkern Gerechtigkeit und Freiheit von Bedrückung bringen soll. Jesus ist auf dem Weg zu einem Frieden, der auch den Völkern Gerechtigkeit und Freiheit von Bedrückung bringen kann; aber die Gewalt des Bösen muß gebrochen werden I 35
Auch in der Gegenwart ist die Herrschaft Gottes verhüllt da und steht in Spannung zu all dem Elend und der Gewalttat der Menschen untereinander. Diese Herrschaft Gottes ist Verheißung und keine Theorie oder Idee; sie ist eine von Jesus angefachte Bewegung auf ein Ziel hin, das uns in der Bibel vorgehalten wird. Darum sollen wir Menschen werden, die nicht unter der Gewalt des Bösen und des Gerichtes stehen, sondern Kinder Gottes sind, zu seiner Herrlichkeit berufen. Von dieser Herrlichkeit der Kinder Gottes, die zum Friedestiften berufen sind, spricht unser Text. Es geht um das Friedestiften und um die Versöhnung in Haus und Familie, in der Gemeinde und im Umgang zwischen Mensch und Mensch schlechthin. Wenn wir selbst durch die Versöhnung und durch den Frieden Gottes von Tag zu Tag verwandelt werden, stehen wir unter der Aufforderung und unter dem Imperativ, der mich und den Nächsten nicht losläßt: Laß dich mit Gott und den Menschen versöhnen! Nimm den Frieden Christi hin, der höher ist als alle Vernunft, und trage ihn auf dieser Erde unter diesen Menschen weiter! Die Botschaft bleibt nicht nur ein Wortgeschehen, sondern verwandelt sich in immer neue Versuche des Sprechens, Handeins und Leidens, dem andern gerecht zu werden. Jesus schafft unter uns dadurch Frieden, daß er uns das unwillige, böse Herz nimmt und uns ein demütiges, gehorsames, williges Herz gibt. Nicht zürnen, nicht schelten, nicht vergelten, nicht Böses mit Bösem vergelten, nicht verachten und nicht richten! Aber dies »Nicht« soll nicht ein Verzicht und eine Schwäche sein, sondern ein aus dem gewandelten Herzen kommender Angriff auf das Reich des Bösen. Junge und Alte zürnen, streiten, verachten in verschiedener Weise, aber immer wieder aus ihrer Vitalität und aus einem unversöhnlichen Herzen heraus. Es gibt allerdings ein Amt des Gesetzes und einen Dienst am Feuer Gottes, der selbst wieder zürnen und schelten kann, aber dieser Dienst am Feuer Gottes verdirbt nicht, sondern reinigt. Auch in unserer Zeit ist der prophetische Dienst am Feuer Gottes dringend und
unentbehrlich. Jesus selbst hat das Gebot Gottes und sein Gericht den Menschen eingeprägt. Aber er hat Menschen immer zurückgerufen und nicht wegweisen woUen. Hier in der Bergpredigt geht Jesus in einzigartiger Weise in den Bereich der unerschöpflichen Gnade und Liebe hinein. Gnade und Liebe tragen das Evangelium am weitesten vor. Jeder Versuch, aus Gnade heraus zu handeln, steht unmittelbar im messianischen Dienst Jesu. Merkwürdig sind die beiden Beispielerzählungen. Ein Mann ist auf dem Wege von Galiläa nach Jerusalem, um ein Opfer darzubringen. Bevor er vor den Priester tritt, fällt ihm ein: Ich habe mich mit meinem Bruder verzankt - er könnte mir inzwischen das Haus anzünden. Jesus sagt: Der lebendige Gott hat es eiliger mit der Versöhnung als mit deinem Opfer - gehe hin und versöhne dich! Bosheit und Unfriede haben eine unheimliche Wirkung- auch menschliche Vernunft kann diese Wirkung erfassen -; du sollst mit der Versöhnung dieser unheimlichen Wirkung zuvorkommen! Es geht hier nicht um eine Klugheit, die auf alles gefaßt ist, sondern um den letzten Einsatz, der alle irdischen Möglichkeiten im Namen Gottes ausschöpft. Noch ein Beispiel: Da hat man einen Rechtsstreit vor sich -man hat bei ihm kein gutes Gewissen. Jesus sagt: Geh hin zu deinem Gegner und versöhne dich! Mach ihn willfährig, solange es möglich ist, du landest sonst im Kerker! Auch hier appelliert Jesus an die Vernunft, und doch steht hinter der Vernunft die große Dringlichkeit, alles um der Versöhnung und um des Friedens willen zu versuchen. Die Beispielerzählungen Jesu appellieren an die Vernunft, dienen aber in Wirklichkeit einem Willen, der um des Friedens und der Versöhnungwillen alles aufs Spiel setzt. Jesus bindet Vernunft und Glauben in einzigartiger Weise zusammen und will, daß wir ganz in den Dienst seiner Zukunft treten. Wir bekommen neue Augen für die Verlorenheit des Menschen, der sich selbst aufgibt und von anderen aufgegeben wird. Wir erkennen, wie andere Völker an der37
selben Verlorenheit leiden, an der wir uns immer wieder verblutet haben. Nun gehen wir einen neuen Weg der Vernunft und der Verheißung. Es gibt auch eine Vernunft, die in den Dienst des Bösen und der Katastrophen tritt- diese Vernunft, die im Dienst des Bösen steht, ist in den Augen Jesu Unvernunft und verführt und verderbt. Wenn Jesus in seiner Weise Vernunft und Glauben miteinander verbindet, wird unsere Vernunft und unser Glaube neu: Sie treten ein in die Dringlichkeit des Reiches Gottes. Es ist ein Wagnis, sich grundsätzlich vom Bösen zu trennen und sich nur auf das Wort und die Wahrheit Jesu zu verlassen. Jeder Versuch, sich auf diese Wahrheit und Wirklichkeit zu stützen, ruft neue Widerstände hervor und verlangt selbst Abklärung gegenüber falschen Versuchen, das biblische Wort mißzuverstehen. Jesus ist bereit, den Widerstand der Menschen auf sich zu nehmen; er schafft aber auch gleichzeitig eine Jüngerschaft, die ihren eigenen Weg immer wieder aufs neue verstehen muß. Solange wir hier auf Erden leben, stehen wir in der Spannung nach außen und in der Selbstkritik nach innen. Wir leiden darunter, daß man dem Wort Jesu widerspricht, wir tragen Schmerz darüber, daß im eignen Lager der Weg Jesu oft mißverstanden wird. Es liegt ein ungelöstes, von uns selbst nur anzudeutendes Rätsel auf der christlichen Existenz. Die Weisheit und Klugheit der Worte Jesu weisen in die Zukunft, die das Rätsellösen wird. Gott steht nicht in einem abstrakten System und nicht in einem vom Leben abgeschnittenen Gedankengebäude vor uns, sondern er wird uns erkennbar in den Grund- und Grenzsituationen, die das Leben selbst aufbrechen läßt. Wenn wir in die Kämpfe und Streitigkeiten zwischen Mensch und Mensch verstrickt sind, erkennen wir etwas von der ganzen Verlorenheit des Menschseins und strecken uns über uns selbst hinaus zur Verheißung Gottes hin, die allein uns trägt. Im tiefsten Sinn ruft die Bergpredigt uns in eine Existenz hinein, die ganz von der Verheißung Gottes getragen wird. Wir lernen es, von uns selbst wegzusehen und in die Verheißung Gottes
hineinzutreten. Im tiefsten Sinn ist die ganze Bibel ein Kampf um Gott selbst, und unser Leben steht ständig im Gespräch mit seiner Bewahrung und seinem Gericht. Wer die Verheißungen Gottes liebt, nimmt ihn selbst täglich aufs neue ernst, lebt aus seiner Gegenwart und gibt sich ihm preis. Wenn man auf einem Schiff fährt, dann fällt zunächst der Blick auf die Decks und die Kajüten, die Speisesäle und die Mannschaftsräume. Das Wichtigste aber ist der fast abgeschlossene Maschinenraum, um den sich der Passagier am wenigsten kümmert: Er treibt das Schiff nach vorne. Wir Christen haben in unserer Zeit uns selbst die Gottesfrage zu stellen und lebendig zu erhalten: Gott ist es, der im letzten uns vorwärtstreibt und zu seinem Werkzeug macht. Der Kampf gegen die Macht des Bösen wird von Jesus selbst geführt. In der Gegenwart spielt das Buch von Augstein über den »Menschensohn« eine große Rolle. Es ist wieder einmal eine Warnung und ein Gerichtszeichen an die Adresse der Christenheit, das beachtet werden will. Es ist ein kluges Buch, aber es weiß nichts von dem harten Kampf gegen die Macht des Bösen, den allein Jesus von Nazareth durchzustehen hat. Jesus ist nicht nur eine Gestalt aus der Vergangenheit, sondern der Erwählte Gottes, der unserem eigenen Kampf Autorität und Glaubwürdigkeit gibt. Solange wir hier auf Erden leben, tragen wir zwei Aufgaben mit uns, die aber nur scheinbar entgegengesetzt sind. In der Autorität Jesu lieben wir und schaffen wir Frieden; gleichzeitig aber kämpfen wir, protestieren wir und bleiben wir wach gegenüber allen Verfälschungen des Willens Gottes. Wir haben das Böse aufzudecken, wo es sich breitmachen will, aber wir haben den Menschen zu lieben, den Gott aus der Macht des Bösen befreien will. Es gibt immer wieder Beispiele, auf die wir hinweisen dürfen: Albert Schweitzer ging den Weg nach Afrika, weil er ahnte, daß die Katastrophen über Europa kommen würden, und er nahm sich des anderen Erdteils an, der so viel Elend und Bosheit kennengelernt hatte. Albert Schweitzer blieb auch der Warner, der den Atomtod fürchtete 39
und mit bitterer Ironie erzählen konnte, wie oft man ihn mundtot machen wollte. Ich denke an John Wesley, den englischen Prediger, der es wagte, gegen die Sklaverei und gegen das Elend der Arbeiter anzugehen, und der England vor schweren sozialen Krisen bewahrte. Vergessen möchte ich auch nicht Dag Hammarskjöld, den Schweden, der sich im Kampf um eine neue Ordnung im Kongo opferte, ohne Rücksid1t auf Kritik und Widerstand, die gerade an seiner Person erwuchsen. Er blieb ein schlichtes Beispiel christlicher Frömmigkeit inmitten einer weltweiten politschen Verantwortung. Sie alle sind Männer eines streitbaren Friedens, eines letzten Einsatzes um ganz konkrete geschichtliche Prozesse. Sie haben jeder an seinem Teil um das Heil der Menschen gerungen, aber die Wirklichkeit nicht unter den Füßen verloren. Alle Verheißung hat es auf Erden mit Erfüllung zu tun, und doch geht die Erfüllung nicht in unserer Zeit auf. Immer wieder dürfen wir es erleben, daß Versöhnung und Friede schon jetzt ihre Früchte tragen, aber wir müssen auch zugeben, daß wir oft genug in unserem Zeugendienst gescheitert sind und Wunden davongetragen haben, die nicht heilen wollen. Das Kreuz Jesu ist beides, Zeichen seiner Geduld und seines Sieges. Auf der Seite des Siegers zu stehen, bedeutet nicht, selbst in jedem Fall der Überlegene zu sein; aber man kann die eigene Sache in die Hand Gottes legen. Gott hat einen langen Atem, auch über unser Leben hinaus; er hat Zeit. Beides gilt: Er drängt uns, und er hat Zeit, er geht mitten hinein in unser Leben, aber weist uns auch über unser Leben hinaus. Gerade dann, wenn wir uns selbst zu wichtig nehmen, werden wir in eine harte Schule genommen. Das Evangelium bleibt Verheißung: Wir werden auf Erden den Streit nicht beenden, aber wir stehen auf der Seite des Friedensfürsten; wir werden geschlagen und an den Maßstäben der Welt gemessen, aber wir dürfen uns auf den Glauben berufen, der die Welt überwunde~ hat. Das Letzte bleibt das Geheimnis unseres Textes: Trotz aller Widerstände und trotz alles Unfriedens auf dieser Erde haben wir eine große Er-
laubnis Gottes, die uns niemand nehmen kann und die jedes Muß in eine Gnade verwandelt. Diese Erlaubnis heißt: »Du darfst lieben.« Der Friede Gottes, welcher höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Leben wir, so leben wir dem Herrn, sterben wir, so sterben wir dem Herrn; darum wir leben oder wir sterben, so sind wir des Herrn. Amen.
Gebet Lieber himmlischer Vater, wir danken dir, daß wir heute wieder dein Wort hören konnten. Schenke, daß wir es immer besser verstehen, und gib uns Kraft und Mut, es in die Wirklichkeit umzusetzen. Herr, wir bringen vor dich diese Gemeinde, die Kranken, Alten, Einsamen und Traurigen. Du kennst ihre Not; sei ihnen nahe mit deiner Hilfe. Sieh an die Zweifelnden und die, die dich suchen. Offenbare dich selbst. Wir bringen dir alle offene und verborgene Not dieser Erde, vor der wir nur hilflos dastehen können. Löse du die Probleme und Konflikte und zeig uns, wo wir uns einsetzen können, daß dein Reich auf Erden sichtbar wird!
Eberhard Jüngel
:19. November :1972
Matth.5, (27-)37: Euer Wort sei: Ja, ja- Nein, nein! Was darüber ist, das ist vom Teufel. Mit den Antithesen, die diesem Spitzensatz vorangehen, eckt die Bergpredigt gleich doppelt an, liebe Kommilitonen. Wer nach einer neuen Moral verlangt, nach einer neuen Ehe- und Sexualmoral zumal, und wer eine solche neue Moral nicht nur verlangt, sondern auch praktiziert, der wird die Ehebruchtheorien der Bergpredigt als ein typisch repressives Modell zur Erweckung von Schuldgefühlen denunzieren, wenn er nicht einfach den Kopf schüttelt und dann unbekümmert ins Bett geht. Jesu Antithesen zu dem, was den Alten über den Ehebruch gesagt ist, wirken auf junge Menschen, zumal auf solche mit revolutionärem Flair, hoffnungslos veraltet. Und so setzen sie denn seinem »Ich aber sage Euch« ihrerseits eine Antithese entgegen: »Ihr habt gehört, daß zu den Alten gesagt ist, der Ehebruch beginne bereits mit dem unkeuschen Blick und der Regung des Herzens. Wir aber sagen Euch: Etwas derart Brüchiges wie die Ehe kann überhaupt nicht gebrochen werden. Es ist alles erlaubt. - Die Bergpredigt in Ehren, aber das ist nun wirklich etwas lange her. Was sollen wir heute noch damit anfangen!« Also gut, lesen wir weiter! Doch bei der nächsten Antithese sieht die Sache schon ganz anders aus. Überhaupt nicht schwören - die Parole macht man sich nur gar zu gern zu eigen. Dieser Jesus ist nun wieder nur allzu modern, so daß sich die Vertreter der »alten Moral« dagegen wehren, Jesu
Worte wörtlich zu nehmen. Der staatlich geforderte Eid, heißt es dann, kann hier natürlich nicht gerneint sein. Und aus dem klaren »überhaupt nicht schwören« wird mit nicht geringer theologischer Kunst arn Ende schließlich die für den Staat unerläßliche Notwendigkeit, den Eid zu fordern und also schwören zu lassen. Wer hingegen Jesu Worte wörtlich nimmt, der eckt an und wird schnell als Schwärmer verschrien. Doch täuschen wir uns nicht: In Wirklichkeit eckt Jesus selber an. Diesmal ist er der Zeit eben zu weit vorausgeeilt. Und so macht er es keinem ganz recht: weder den Leuten von gestern, noch denen von übermorgen, weder denen mit der revolutionären Moral, noch den Vertretern der angeblich ewig gleichen Moral von gestern. Jesus paßt eben in keine Moral. Ebensowenig wie in eine Theorie der Unmoral. Wer sich für seine sittliche Überzeugung auf ihn beruft, gerät nur gar zu schnell in Widerspruch zu ihm. Und umgekehrt: Wer über ihn hinweggehen zu können glaubt, hat ihn unversehens zum Bundesgenossen. Ml!n, _kan!l,_so schein! e_s,nicht Ja zu Jesus sagen, ohne alsbald Nein zu ihm sagenzu1JlÜS~en:- Man kann ihn aber noch viel we~iger ven{~ü.;_en, ohne l~g~"udwann in dieser Verneinung gründlich irritiert zu werden. Jesusist, so scheint es, mit jedem von uns zutiefst solidarisch "u~d steh~ u~s doch zugleich in überlegener Fremdheit gegenüber. Zu Jesus können wir offensichtlich nur Ja und Nein sagen. · Aber' dagegen sp~icht nun Jesu eigenes Wort arn Ende unseres Textabschnittes: Euer Wort sei: Ja, ja- Nein, nein. Was darüber ist, das ist vorn Teufel. Diesern Wort wollen wir heute unsere Aufmerksamkeit zuwenden. Es faßt die Sätze über das Schwören zusammen, bringt aber auch die vorangegangenen Sätze über den Ehebruch noch einmal ins rechte Licht. Zwischen Mann und Frau gilt das geradezu exemplarisch: Euer Wort sei: Ja, ja- Nein, nein. Was darüber ist, das ist vorn Teufel. Ich werde darüber jetzt nichts weiter sagen, liebe Kornrnili43
toninnen und Kommilitonen. Denn was dazu zu sagen ist, das haben Sie sich zunächst einmal selber unter vier Augen, das haben Mann und Frau sich unter Ausschluß der Öffentlichkeit zu sagen. Ich überantworte also denen, die zusammengehören und ein Fleisch sein wollen, Jesu Worte über den Ehebruch im Lichte dieser Wahrheit: Euer Wort sei Ja, jaNein, nein. Das ist ein Satz, der Verbrechen an der Liebe verhindern soll. Er ist selber ein Satz der Liebe, den Sie, die Sie lieben und geliebt werden, nun selbst mit Ihrem Leben zu verantworten haben. Dabei mag Ihnen ein besseres und gründliches Verständnis des Satzes hilfreich sein, dem wir nun nachdenken wollen: Euer Wort sei: Ja, ja- Nein, nein. Was darüber ist, das ist vom Teufel. -Das ist ein Spitzensatz der Bergpredigt. Mit der Bergpredigt kann man freilich die Welt nicht regieren. Der große Bismarck soll das gesagt haben, also ein für seinen Realitätssinn viel gerühmter Mann. Regieren, Politik machen, das war für ihn die Kunst des Möglichen. Mit der Bergpredigt die Welt zu regieren scheint demnach unmöglich zu sein. J]nd irgendwie muß man dem großen Mann recht ,geb,~n, 9bman nun will oder nicht. -Man stelle sich "doch einmal vor, unsere Politikerhätten in'd'em eben zu Ende gegangenen Wahlkampf die Fragen der Wähler nach der Regel der Bergpredigt nur mit Ja oder Nein beantworten dürfen, ohne jedes Wenn und Aber, aber auch ohne beschwörende oder verlockende Beteuerungen- einfach Ja oder Nein. Also auf die Frage nach dem Schutz der Freiheit, nach mehr sozialer Gerechtigkeit, nach Ordnung und finanzieller Sicherheit und ebenso auf die Frage nach der Zukunft Deutsd1lands hüben und drüben, nach mehr Menschlichkeit für die getrennten Menschen in der einen Nation, nach einem versöhnlichen Verhältnis zu den Nachbarvölkern nicht nur im Westen, sondern auch im Osten- aufalle diese unser Volk bewegenden Fragen immer nur: j~, ja 'oder Nein, nein. Ach, das müßte schön sein! In d~r Tat, liebe'Gemeinde, das wäre schön. Doch wir wis44
sen: es ist zu schön, um wahr zu' sein. Die Welt läßt sich offensichtlich ohne Wenn und Aber nicht regieren und ohne Zukunftsbeschwörungen verlockender oder drohender Art wohl auch nicht, jedenfalls nicht von Menschen. Mit der klaren Unterscheidung von Ja und Nein wird die Welt offensichtlich nur von höherer Warte, wird sie nur von Gott regiert. Ja, das ist geradezu das Kennzeichen Gottes, daß er Ja und Nein nicht miteinander vermischt, sondern ein für allemal unterschieden hat. Als er Ja sagte zu dieser Welt und Nein zum Chaos, da schuf Gott Himmel und Erde. Die Welt zu bejahen und das Chaos zu verneinen, das ist Gottes unwiderruflicher Schöpfungsakt. Und innerhalb der Schöpfung wiederum das Leben zu bejahen und den Tod zu verneinen, das ist Gottes unwiderruflicher Liebesakt. Und unter den Menschen die Gottlosen zu bejahen und die Gottlosigkeit zu verneinen, das ist Gottes unwiderruflicher Versöhnungswillen. Gott sagt nicht heute Ja zu uns und morgen Nein, sondern in unverbrüd1licher Wahrheit und Treue: Ja. Keinem Menschen, auch dem ärgsten Gegner nicht, darf diese göttliche Bejahung abgesprochen werden. Sie darf ihm nicht einmal vorenthalten werden - wie denn auch kein Mensch das Recht hat, sich selber Gottes heilsames Ja vorzuenthalten oder gar abzusprechen. Ein nie und nirgends mehr bejahter Mensch - das ist ein hoffnungsloser Fall. Doch für Gott gibt es keine hoffnungslosen Fälle. Kein noch so gottloses Argument, aber auch kein noch so frommer Vorbehalt darf deshalb Gottes Ja zum Menschen noch einmal problematisieren. Nichts ist niederträchtiger, als hier am Ende doch noch Ja und Nein zu vermischen zu einem trüben Vielleicht. Wo immer dieses trübe Geschäft geschieht, da geschieht die schlimmste aller Sünden, denn da wird Gottes Wahrhaftigkeit beleidigt. Zu diesem trüben Geschäft sagt Gott ein für allemal: Nein! Das soll eben gerade nicht sein, daß der Mensch aus Ja Nein macht und aus Nein Ja. Wo dergleichen geschieht, liebe Gemeinde, wo Ja und Nein 45
willentlich und gar methodisch durcheinandergebracht werden, da ist kein Verlaß, da weiß man n~clltL~()ran man ist, da g;;ät u~;e~ Fuß ~uf ~~iüpf~fg~~·B~d~n. Nicht~~bei Got't. Woran wir bei Gott sind, kann jedermann wissen. Auf seine Güte kann man sich verlassen. Auf Gott ist Verlaß. Ja, man könnte Gott regelrecht so definieren: Gott ist der, auf den der Mensch sich verlassen kann. Denn sein Wort ist Ja, jaNein, nein. Was darüber ist, ist nicht von Gott. Es ist vom Teufel. Es ist teuflisch, Ja und Nein durcheinanderzubringen. Wer Ja und Nein durcheinanderbringt, der bringt auch Sein und Nichtsein, bringt auch Leben und Tod durcheinander. Ja - Nein, auf diesem Unterschied steht die Welt. Ja muß Ja sein, und Nein muß Nein sein und bleiben. Darauf ist die Welt aufgebaut, darauf baut alles auf. Und wenn es nicht so wäre, könnte man auf nichts mehr bauen. Das Fundament wäre morsch und verfault, kaum daß es gelegt wäre. Auf den Unterschied von Ja und Neinmuß man sich _in jeder Hi~~i~ht verlassen können. Darauf baut nicht nur der Computer und seine Wissenschaft auf, sondern gen~uso die Liebe und ihr Leben, Auf dem Unterschied von Ja und Nein baut die Wahrheit s~lber auf, liebe Gemeinde. Ja und Nein- einen größeren Gegensatz kann man sich doch kaum vorstellen. Es sollte also jeder diese beiden kleinen Wörter klar unterscheiden können. Und doch passiert es immer wieder, daß auf eif1.1Ilal die Grenzen zwischen Ja und Nein fließend werden, so daß man zwischen. be.id~;n nicht mehr recht unterscheiden kann. Man nennt das Lüge ..:und die Bibel nennt den Geist, der Ja und. Nein seit Anbeglnn und stets aufs neue durcheinanderbringt, den Vater der Lüge. Dasis! der Teufel. Nicht die Wahrheit, sonderrt Cjie sich -als Wahrheit tarnende intelligente Lüge ist das Markenzeichen des Teufels. Des Teufels? Ist lügen nicht menschlich? Es läßt sich doch nicht bestreiten, daß wir lügen können. Und wie I Das fängt mit der harmlosen Flunkerei an, die vielleicht noch Spaß macht, aber das endet mit schrecklicher Konsequenz bei den
großen Lebenslügen, also bei jener Lüge, mit der wir uns sozusagen in unserem Leben eingerichtet haben. Da belügt man dann nicht nur andere, sondern zugleich sich selbst. Ja, es gibt Lebenslügen - und zwar nicht wenige -, mit denen eine ganze Gesellschaft sich selber belügt und betrügt. Solche Lebenslügen kommen stolz daher. Sie sind über den Verdacht der kleinlichen und schmutzigen Lüge in der Regel erhaben, hoch erhaben. Denn Lebenslügen treten in der Regel im moralischen Gewande auf und im Schein der hohen Ideale. Gerade der sittlich unsichere Mensch und gerade die moralisch brüchige Gesellschaft hüllen sich gern in illusionäre ethische und gesellschaftliche Ideale. Da werden dann Werte verbindlich gemacht und Forderungen erhoben, die so anspruchsvoll sind, daß kein Mensch sie erfüllen und keine Gesellschaft sie einlösen kann. Je totaler solche Ansprüche sind, desto mehr blüht dann allerdings die sittliche Korruption, um den Anschein zu wahren, man genüge den Ansprüchen, die man an sich und alle Welt stellt und die doch kein Mensch erfüllen kann. Und die Lebenslüge wird immer verlogener. Es ist wie mit des Kaisers neuen Kleidern. Man trägt die wertvollen Stücke und verschafft ihnen bei jederm~nn die gebührende Achtung - bis schließlich irgendwann einmal ein Kind oder sonst ein harmloser Mensch es auszusprechen wagt, wie nackt doch seine Majestät der Mensch ist. Und im Unterschied zum Märchen ist dann noch nicht einmal gewiß, ob diese schlichte Wahrheit Zustimmung finden wird oder ob nicht vielmehr der, der sie auszusprechen wagte, ein schlimmes Ende finden wird. Denn nichts kann der sich selbst belügende Mensch schlechter vertragen als eben dies, daß seine Lebenslüge aufgedeckt wird. Und so lügt er denn seine verlogenste Lüge: er bestreitet, daß es so etwas wie Lebenslügen bei ihm überhaupt gibt. Früher vielleicht einmal. Oder anderswo. Möglicherweise. Aber hier und jetzt, in unserm, in meinem Leben - das darf doch nicht wahr sein! Bei uns ist dochJa-Ja und Nein- Nein.
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Der Mensch lügt die Lüge weg. Das ist die größte seiner Lebenslügen, mit der er sich selbst betrügt. Und irgendwie merkt er's doch. Seine Versicherung, Ja und Nein nicht durcheinanderzubringen, hat dann in ihrer Erbärmlichkeit schon wieder etwas Komisches und erinnert an jene Berliner Beteuerung: mir und mich verwechsle ich nicht; das kommt bei mich nicht vor. Der Mensch weiß sehr genau, daß und wie er sich und andere belügen kann. Und weil wir wissen, daß wir lügen können, deshalb werden wir mißtrauisch und unsicher, ob denn nun wirklich auf das Ja und Nein eines anderen Verlaß ist. Doch auch gegen diese Unsicherheit hat der erfinderische Mensch ein Mittel entdeckt. Er hat das Schwören erfunden. Er sagt nun nicht nur Ja oder Nein, sondern gibt darüber hinaus Erklärungen ab. Er beteuert sein Wort und beschwört die Wahrheit. Schwören ist also mehr noch als die Wahrheit sagen. Wer schwört, sagt, es sei wahr, daß er die Wahrheit sage. Wer schwört, verdoppelt die Wahrheit. Dagegen wendet sich Jesus mit der Forderung, es bei der einfachen Wahrheit, also bei einem klaren ja, ja oder Nein, nein zu belassen. Die doppelte Wahrheit- das ist zuviel des Guten. Und was zuviel des Guten ist, ist eben vom Bösen, genauer von dem Bösen oder, etwas altmodischer ausgedrückt, vom Teufel. Und da ist er nun wieder, der Unheimliche ... Wir kommen offensichtlich nicht darum herum, liebe Gemeinde, auch diesem merkwürdigen Wesen oder vielmehr Unwesen, das wir Teufel nennen, die ihm gebührende Aufmerksamkeit zu schenken, wenn wir Jesu Bergpredigt recht verstehen wollen. Dabei kommt nun freilich alles darauf an, welche Art von Aufmerksamkeit denn dem teuflischen Unwesen gebührt. Jesu Aufforderung, Ja oder Nein zu sagen, ist ja alles andere als eine Einladung an ihn, das ist vielmehr eine klare und entschiedene Absage an den Teufel. Man kann die Bergpredigt, ja man kann Jesu ganzes Leben und Sterben als eine einzige große Teufelsaustreibung verstehen. Das also ist die Aufmerksamkeit, die dem Teufel gebührt: ihn auszutreiben
aus allen seinen Niederlassungen. E'r hat in dieser Welt nichts zu suchen. Der Teufel gehört in die Hölle. Er ganz allein gehört dahin. Den Teufel muß man in die Hölle jagen. Jesu Aufforderung: »Euer Wort sei: Ja, ja - Nein, nein. Was darüber ist, das ist vom Teufel«, ist Aufforderung zur Nachfolge. Und Jesus nachfolgen heißt in diesem Fall, den Teufel aus unserer Welt vertreiben, heißt die Welt entteufeln. Das klingt nun freilich etwas reichlich hochgemut: die Welt entteufeln. Sind es denn nicht wir selbst, die das Gegenteil besorgen, und die Welt geradezu verteufeln? Ja, wovon reden wir da eigentlich, wenn wir vom Teufel reden? Der intelligente Lügner- das sind doch eben wir. Nach Meinung neue_r~:r:Jor.s.chung soll bei der Menschwerd'Ung desÄffen die erwachende Fähigkeit zur_intelligenten Lüge eine. ge~ichtige Rolle gespielt haben. Der Me~~ch spricht jedenfalls ni~ht dagegen,·ganz und ga; ~icht. Reden wir also nicht in Wirklichkeit vom Menschen, wenn wir vom Teufel reden? Ist nicht alie Teufelei menschlich? Sind wir es nicht, die anderen Mensche~ und ~i~lleicht sog~; uns selbst die Hölle auf Erden bereiten? Ist der Teufel nicht eine allzu menschliche Ausrede, eine höchst raffinierte Ausrede des intelligent lügenden Menschen? Ist der Teufel nicht eine unserer intelligentesten Lügen- vorgebracht zu unserer eigenen Entlastung und Entschuldigung 7 Es ist etwas dran an dieser Vermutung, liebe Gemeinde. Sie ist jedenfalls sehr viel ernsthafter als die heute gängige Meinung, der Teufel sei ein bloßes Schreckgespenst vergangeuer Zeiten - erfunden, um unterdrückte Menschen noch mehr in Angst und Schrecken zu versetzen und sie durch die ständige Bedrohung mit Hölle, Tod und Teufel gefügig zu machen. Sicherlich hat es das gegeben und nur allzuoft gegeben, daß man den Teufel als eine ausgesprochen repressive Figur an die Wand gemalt hat. Und sicherlich soll man den Teufel nicht an die Wand malen, sondern eben austreiben aus dieser Welt. Den Teufel an die Wand malen- das heißt doch dem Teufel eine Figur geben, ihm Gestalt verleihen. Doch damit
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ist er auch schon schrecklich verharmlost. Wer ständig und willentlich Ja und Nein durcheinanderbringt, der hat auch keine eigene Figur und Gestalt, weder die mit Hörnern, Schwanz und Pferdefuß noch sonst irgendeine. Wo die Grenze zwischen Ja und Nein fließend ist, da bildet sich keine Gestalt und kein Wesen. Eine Figur, eine Gestalt haben das ist für den Vater der Lüge eine viel zu eindeutige, eine viel zu klare Sache. pie Lüge verbirgt sich. Und der Teufel ~itzt im Detail. Im Detail verbirgt er -sei~-teutlisCll~~ W~-s~~ sein Unwesen zu treiben. Aber eben dieses Detail, in dem der Teufel sitzt, das sind wir, liebe Gemeinde. Im Menschen läßt er sich nieder, mit menschlicher Hilfe realisiert er sich, mit menschlicher Kraft setzt er sich durch. Ohne den Menschen ist er nichts. Wie ein Parasit, um überhaupt da zu sein, etwas anderes br'~ucht, eine Niederlassung braucht, so auch der Böse. Der Teufel ist der Parasit schlechthin. Er lebt davon, sich im Menschen niederzulassen, um dann seine Niederlassung zu verwüsten und das Unterste zuoberst zu kehren, Ja und Nein durcheinanderzubringen und mit Methode aus Menschen Unmenschen zu machen. Deshalb ist das Unmenschliche teuflisch, ist die Unmenschlichkeit in allen ihren Gestalten die Hölle auf Erden. Dann hieße den Teufel austreiben auf jeden Fall dies: den l,Jnnienschen im Menschen bekämpfen. Den Unmenschen im Menschen bekämpft man aber arn besten noch immer, indem man dafür sorgt, daß man sich auf den Menschen im Menschen verlassen kann. Deshalb also Jesu Forderung: »Euer Wort sei: Ja, ja- Nein, nein. Was darüber ist, das ist vorn Teufel.« Der Mensch soll sich auf den Menschen verlassen können- so, wie er sich auf Gott verlassen kann. Ein Mensch, der Ja sagtund Neip_g~,~ir1t, ist unzuverlässig. Ein unzuver~ lässiger Mensch aber maCht auch seine Welt unzuverlässig, so daß man sich dann auf niemanden und nichts mehr verlas~en kann. Wo das geschieht, liebe Gemeinde, wo man sich ~uf ni~n{~nde~ und nichts verlassen kann, da ist wahrhaftig der Teufel los.
tim socerstrecht
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Und da hilft dann auch kein Senwären und kein Eid mehr. Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht, und wen:n er selbst die _Wahrheit spricht. Der Schwur macht den Menschen nicht verläßliilier. Denn wer schwört, beruft sich immer auf eine höhere Instanz. Wer schwört, beschwört Gott. Dafür ist Gott auch heute gerade noch gut genug: als Bürge für die Wahrheit unserer Rede einzutreten. Jesus hat das klar und eindeutig abgelehnt. Gott läßt sich nicht beschwören. Und er läßt sich deshalb nicht beschwören, weil der Mensch sich eben, wenn er es mit Menschen zu tun hat, auf den Menschen verlassen soll. Der Mensch soll so reden, daß man ihn beim Wort nehmen kann. Das also ist ein menschlicher Mensch: ein Men~ch, den man beim Wort nehmen kann. Und das ist sich aufeinander verlassen können. ' . . menschlich: ' · ·· · . · .. : . -. -· -·. -·--l.c So und nur so werden wir auch unsere Welt verläßlicher machen. Wir sind aufgerufen, die Welt zu entteufeln, also ihre kleinen und großen Lebenslügen tapfer zu bekämpfen. Das ist, menschlich geurteilt, sicherlich ein Kampf ohne Ende, zu dem viel Mut, zu dem vor allem der Mut zur Geduld gehört. Aber was menschlich geurteilt wie ein Kampf ohne Ende aussieht, begann mit einem Anfang, der nach göttlichem Urteil ein gutes Ende verbürgt. Als Jesus Christus diese Welt zu entteufeln begann, da wurde ein Anfang gesetzt, hinter den kein Mensch, aber auch kein Unmensch mehr zurück kann. Und der Teufel schon gar nicht. Seit diesem Anfang ist der Teufel in der Tat von gestern. Ohne diesen göttlichen Anfang wären wir freilich verloren, wäre der Kampf des Menschen gegen den Unmenschen allerdings ein hoffnungsloser Kampf ohne Ende, wäre mit unserer Macht wahrhaftig nichts getan. Ein endloser Kampf ohne Hoffnung auf Sieg, ein Krieg des Menschen gegen den Unmenschen ohne Aussicht auf ein gutes Ende - das wäre dann wohl die Hölle auf Erden: ein Zustand, in dem man weder leben noch sterben kann. Aber sowenig wie der Teufel im Menschen soll die Hölle auf Erden eine dauerhafte Niederlassung haben. Die Bergpredigt steht dagegen. Sie erlaubt
uns, gegen die Hölle auf Erden an Gott und sein Himmelreich zu appellieren: Dein Reich komme. Auch mit dieser Bitte kann man freilich die Welt nicht regieren. Aber ohne diese Bitte und gegen die Bergpredigt kann man die Welt erst recht nicht regieren, kann man sie jedenfalls nur schlecht, nur miserabel regieren. Gut regieren, gut Regiment - das geschieht da, wo wir diese unsere Erde und unsere Welt, wo wir unser irdisches Leben zur Hölle hin nicht mehr öffnen und für das Himmelreich nicht verschließen. Denn in die Hölle gehört kein menschliches Leben. Für sie ist Nein das einzig richtige Wort, so wie für Gott unser Ja das einzig richtige, das rettende Wort ist. Es hängt also wirklich alles davon ab, daß Ja und Nein nicht durcheinandergebracht werden. Unser Ja gehört Gott und seiner gut geschaffenen Welt, dieser Erde also und dem kommenden, dem himmlischen Reich. Und unser Nein gilt dem Anderen. Euer Wort sei: Ja, ja- Nein, nein! Ja, Heiland, reiß die Himmel auf! Und der Teufel soll zur Hölle fahren. Amen.
Gebet Dafür danken wir dir, lieber Herrgott, daß du nicht heute Ja zu uns sagst und morgen Nein, sondern Ja und immer wieder Ja. Wir danken dir, Gott, daß wir uns auf dich verlassen können. Dank sei dir, Gott Vater, der du uns die Treue hältst und deinen lieben Sohn Jesus Christus unter uns untreuen Menschen als Mitmensch leben und sterben ließest. Dank sei dir, ewiger Gottessohn, der du uns in unserer Gottverlassenheit nicht verlassen hast, sondern dem Vater gehorsam und uns Menschen getreu warst bis zum Tode am Kreuz. Dank sei dir, Heiliger Geist, der du die Wahrheit dieses Todes bei uns ans Licht gebracht hast und seitdem nicht mehr aufhörst, zu uns zu kommen und uns zur Treue gegen Gott zu ermutigen. Komm auch jetzt, du erneuernder Geist, und erneuere uns durch und durch, damit wir mit unseren okkupierten Ohren neu hören lernen, was Jesus Christus uns zu sagen hat, und mit unseren verblendeten Augen neu sehen
lernen, wo wir gebraucht werden und was wir zu tun haben. Ermutige uns, mit unseren alten und verbrauchten Worten aufs neue vor Gott zu bringen, was uns erfreut und was uns bedrückt, was wir hoffen und wovor wir uns fürchten, wofür wir dankbar sind und was wir erbitten, indem wir dich anrufen ...
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Helmut Claß
J· Dezember :1972
Matth. 5, 38-42: Ihr habt gehört, daß da gesagt ist: Auge um Auge, Zahn um Zahn. Ich aber sage euch, daß ihr nicht widerstreben sollt dem Übel; sondern, wenn dir jemand einen Streich gibt auf deine rechte Backe, dem biete die andere auch dar. Und wenn jemand mit dir rechten will und deinen Rock nehmen, dem laß auch den Mantel. Und wenn dich jemand nötigt eine Meile, so gehe mit ihm zwei. Gib dem, der dich bittet, und wende dich nicht von dem, der dir abborgen will. Bevor wir uns miteinander auf diesen Abschnitt besinnen, sollten wir uns doch wohl zuerst einmal darüber freuen, daß wir heute miteinander Advent feiern können. Advent ist Grund aller Freude. Aller hieb- und stichfesten Freude. Advent- das heißt doch: Gott ist im Kommen. Er ist unterwegs zur Welt. Er läßt sich von ihr nicht trennen. Damit sie Schöpfung bleibt. Seine Schöpfung! Und nicht zum Ausbeutungsprojekt des Menschen erniedrigt wird. Advent- Gott ist auch unterwegs zum Menschen. Auch von ihm läßt Gott sich nicht trennen. Keiner soll sich selber überlassen bleiben, ausgeliefert dem Drang zu gestalten und zu zerstören. Keiner muß nur Mensch sein. Jeder soll Geschöpf sein können. Jeder, der über diese Erde hingeht. Advent- Gott bleibt nicht draußen. Er hält sich nicht zurück. Er will sich kümmern um das, was er geschaffen hat. Er möchte seine Hand überall mit im Spiel haben, helfend, heilend, segnend. Die Schöpfung soll wieder heimfinden zu ihrem Schöpfer, um des Menschen, seiner Geschöpfe willen. Deshalb kommt Gott.
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Aber er ist nirgends willkommen. Niemand will ihn. Offenbar gibt es in dieser Welt eine Macht, die das verhindert. Mit allen Mitteln. Sie hat viele Gesichter. Aber immer benützt sie Menschen als willfährige Werkzeuge, Gottes Kommen zu verhindern. Zuerst sind es ganz einfach die Leute, die sein Kommen verhindern wollen. »Kein Raum in der Herberge.« Allenfalls ein Stall. Gottes Kommen in seine Schöpfung kann dennoch nicht verhindert werden. Und dann sind es die Familienangehörigen Jesu. Fromme, schlichte Leute, für die es aber unerträglich ist, daß wegen der öffentlichen Tätigkeit Jesu Rumor und allerlei Aufregungen entstehen. Der gute Ruf der Familie steht auf dem Spiel. Darum erklären seine Angehörigen Jesus für verrückt und wollen ihn zurückholen in das Elternhaus. Auch die Familie will Gottes Kommen aufhalten - wenn auch abermals vergeblich. Ferner sind es die Jünger, die Glieder jener Dienstgruppe, mit denen Jesus in einer Lebens- und Gütergemeinschaft verbunden war. Sie beherrschen jene traurige Kunst meisterlich, das Leben und Wirken Jesu, das schwer genug war, noch mehr zu erschweren und auf diese Weise Gottes Kommen zu hindern. Freilich - auch sie bleiben ohne Erfolg. Schließlich sind es die Männer an den Schalthebeln der Macht. Sie hängen Jesus auf- zwischen Himmel und Erde. Jedermann kann und soll es sehen, daß ihm nicht einmal im Sterben ein Platz zum Sterben auf dieser Erde gewährt wird. Das Kommen Gottes in Jesus von Nazareth ist gescheitert. Endgültig. So meinen jedenfalls die Mächtigen der damaligen Zeit. Aber sie haben sich getäuscht. Alle. Gott läßt sich an seinem Kommen nicht hindern. Und er schaltet sich ein in den Gang der Dinge. Nicht um zu herrschen, wie alle die anderen, die ihrem Machttrieb die Zügel schießen lassen, sondern um zu helfen. Zurechtzuhelfen. Aufzuhelfen. Weiterzuhelfen. Immer aufs neue nimmt Jesus das wahr, was wir mit unseren
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formelhaften, ein bißchen hochtrabenden Begriffen wie »Weltverantwortung«, »Solidarität mit der Welt«, »Konversion zur Welt« wahrscheinlich meinen. Und als Hauptaufgabe der Kirche heute herausstellen. Vielleicht müßte man doch ein bißchen zurückhaltender sagen: Gott möchte sich seiner Kirche bedienen, um seine Schöpfung wieder Zurückzugewinnen. Wo immer der einzelne Christ und die Christenheit als Ganze dazu bereit ist, bekommt sie es mit jener Macht zu tun, die das gerade nicht will. So war das und so ist das. Bis heute. So muß das jedoch nicht bleiben, meint Jesus. Davon redet er in dem Abschnitt aus der Bergpredigt, der uns für diesen Tag als Predigttext aufgegeben ist: »Ihr habt gehört, daß zu den Alten gesagt ist: Auge um Auge, Zahn um Zahn. Ich aber sage euch, daß ihr nicht widerstreben sollt dem Bösen.« Jesus macht also zunächst einmal darauf aufmerksam, daß jene Macht in dieser Welt erkannt ist. Er nennt sie beim Namen: »Das Böse.« Jesus verkennt auch nicht, daß dem Bösen keineswegs freier Lauf gelassen wird. Das Böse ist eingedämmt. Es ist dafür gesorgt, daß der Mensch nicht einfach der Todfeind des Menschen sein darf. Denn das Recht schützt den Menschen vor den Menschen. Es bewahrt mich vor der Verletzung des Lebensrechts und Lebensraums des andern. Es bewahrt aber auch den andern vor der Verletzung meines Lebensrechts und meines Lebensraums. Daß es unter uns Menschen schiedlich-friedlich zugeht, dafür möchte das Recht besorgt sein. Und wenn es dann doch zu Grenzverletzungen oder gar zu Grenzüberschreitungen kommt, dann enthält das Recht eine »handhabbare Formel für die UrteUsfindung« (Eichholz): »Auge um Auge, Zahn um Zahn.« Strafe muß also sein, aber sie muß dem Vergehen entsprechen. Vergeltung ist unerläßlich, aber sie darf nicht zur Rache entarten. »Ein Auge für ein Auge, nicht zwei.« »Ein Zahn für einen Zahn, nicht der ganze Kiefer.« So bekämpft jene Faustregel das Faustrecht, das uns Menschen allen so sehr im Blut liegt.
Jesus stellt das Recht und seine Regel, daß Vergehen und Vergeltung einander entsprechen müssen, nicht in Frage. Er stellt nur fest, daß es beides gibt in dieser Welt, wahrscheinlich sogar geben muß. Aber er stellt auch fest, daß die Jüngergemeinde, die Kirche aller Zeiten, sich des Rechts nicht bedienen soll, wo immer es um die Überwindung des Bösen geht. »Ich aber sage euch, daß ihr nicht widerstreben sollt dem Bösen.« Offenbar ist Jesus der Meinung, daß das Recht kein wirklich geeignetes Mittel ist, das Böse in dieser Welt zu beseitigen. Das Recht kann es nur bändigen, eindämmen, aber nicht überwinden, nicht beseitigen. Das Recht kann darum auch nicht dazu beitragen, daß Gott in dieser Welt besser zum Zug kommt und seine Schöpfung wieder zu ihrem Schöpfer zurückzukehren vermag. Jesus gibt nun den Seinen keineswegs ein neues, besseres Gesetz, das jenes schiedlich-friedliche Zusammenleben der Menschen eher bewerkstelligen könnte. Er weist vielmehr den Menschen ganz unmittelbar, ganz hautnah an den Menschen. Jesus gibt auch keine neue, bessere Formel zur Handhabung des Rechts im KonfliktfalL Nein- auch das nicht! Vielmehr: »Ihr sollt dem Bösen nicht widerstreben.« Manche Ausleger meinen, das hieße: »Ihr sollt das Rechtsmittel eines Prozesses nicht gebrauchen.« Also: Nicht das neue Recht, nicht die bessere Theorie bringt Jesus, sondern er hilft zu einem neuen Verhalten seiner Leute. Und zwar ein Verhalten, das sich bewähren muß im Alltäglichen, im Alltag einer tief weltlich gewordenen Welt, in extrem schwierigen Situationen. Jesus, der wahrhaftig noch ganz andere Extremsituationen dieses neuen Verhaltens bewährt hat, ruft auf zum Wagnis der gelebten und bis zum äußersten durchgehaltenen Liebe Gottes zu seiner Schöpfung und zu seinen Geschöpfen. Die erste Situation: Da erhält einer, ein Christ, von einem Nichtchristen mit dem Handrücken einen Schlag auf die rechte Wange. Ein besonders schimpflicher, ein entehren57
der Schlag. Wer ihn empfängt, ist gleichzeitig als Ketzer, als Ausgestoßener aus dem Volk Gottes gebrandmarkt. Die Möglichkeit des Martyriums taucht am Horizont auf. Es ist schwer, auch für einen Christen, seine Ehre zu verlieren. Und der Rufmord - leider verrichten ihn auch Christen aneinander - ist eine besonders gemeine Art, das Leben zu unerträglicher Qual zu machen. Und nach Märtyrerkronen zu schielen, verbietet dem Christen nicht nur sein Herr, sondern auch sein alter Adam. Dennoch: Wo ein Christ in seiner Ehre tief verletzt ist, da ist der Rechtsweg ausgeschlossen. »Wo dich einer schlägt auf die rechte Wange, dem biete die andere auch dar.« Das heißt doch: Liebe deinen Peiniger bis zum äußersten - mit Gottes Liebe. Du kannst das, weil du wie der verlorene Sohn im Gleichnis den Ring des Vaters als Zeichen wiedererhaltener Ehre am Finger trägst. Du kannst das, weil du eine unvergleichliche Ehre hast: angenommen, geliebt, bejaht zu sein von Gott selbst. Du kannst das, weil du eine unvergängliche Ehre hast: Bürger und Bote des kommenden Gottesreiches zu sein. Die zweite Situation: »Wenn jemand mit dir rechten will und deinen Rock nehmen, dem gib auch den Mantel.« Hier geht es ärgerlicherweise um die Aufhebung von Schutzbestimmungen im jüdischen Pfandrecht zugunsten des Armen. Der Gläubiger darf ihm für die Nacht nur die Tagesdecke und für den Tag nur die Nachtdecke pfänden. »Gib beides her«, sagt Jesus. Nicht weil er sich plötzlich auf die Seite der Mächtigen und Besitzenden geschlagen hätte, sondern weil gerade der Arme, der Rechtlose hineingenommen ist in die Königsherrschaft Gottes. Dort hat Gott das Fürsorgerecht und die Fürsorgepflicht für den Schutzlosen und Ausgebeuteten. Und er läßt sich dieses Recht und diese Pflicht nicht nehmen, er steht dazu. Die dritte Situation: »Und wenn dich jemand nöt.igt eine Meile, so gehe mit ihm zwei.« Hier geht es um den staatlich erzwungenen Hand- und Spanndienst, etwa zugunsten der römischen Post. Frondienste bringen nicht nur besonders
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ärgerliche und demütigende Belastringen an Zeit und Kraft, sondern auch ein nicht ungefährliches Risiko. Man weiß ja nie, was einem unterwegs droht. »Aber was macht's«, sagt Jesus. »Gehe statt einer Meile zwei.« Man kann auch unter der Knute eines unmenschlichen, totalitären Staatsapparats als wahrhaft Freier, als ein zur Freiheit der Kinder Gottes Berufener leben. Und die vierte Situation: »Gib dem, der dich bittet, und wende dich nicht von dem, der dir abborgen will.« Da geht es also um jene kleinen, aber doch lästigen Forderungen, die aus Nachbarschaft und Freundschaft entstehen können. Man weiß nie so recht, ob man nicht doch menschliche Liederlichkeit unterstützt, wenn man solchen Bitten nachkommt. Man weiß auch nicht, ob man nicht im Grunde nur ausgenützt wird. Und Undank ist bekanntlich der Welt Lohn. »Dennoch«, sagt Jesus, »laß los! Gib! Sei verschwenderisch! Du kannst es, denn du bist Kind eines reichen Vaters. Du wirst sehen, daß du in meiner Nachfolge nie Mangel haben wirst. Nie.« Ich weiß nun nicht, liebe Freunde, was Sie sagen würden, wenn wir über diese Anweisungen Jesu zu einem radikal anderen, ganz neuen Verhalten angesichts dieser vier Situationen miteinander diskutieren könnten. Ob Sie achselzukkend fragen würden: »Was soll das eigentlich?« Ob Sie lächeln würden über so viel Weltfremdheit? Oder ob Sie Protest anmelden würden, weil hier anscheinend alles beim alten bleiben soll? Von Veränderung, von Vermenschlichung der Verhältnisse keine Spur. Oder würden Sie auch verächtlich wie Nietzsche reden von den »knieweichen Lehren des Jesus von Nazareth«? Wenn Sie dieser Meinung sind, dann bitte ich Sie, ein Dreifaches zu bedenken: :L Jesus ist weder Hüter noch Bürge des status quo. Er hat noch nie Bestehendes einfach gutgeheißen. So gewiß seine Zielvorstellung heißt: »Siehe, ich mache alles neu!«- Jesus hätte sicher zugestimmt, als gestern abend in der Stuttgarter Stiftskirche anläßlich der Eröffnung der diesjährigen Aktion
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»Brot für die Welt« ein thailändischer Pfarrer, der eben aus Vietnam kam, uns sagte, wir dürften die Veränderung unmenschlicher Verhältnisse in der Dritten Welt nicht den Marxisten überlassen und uns auf die Betreuung der Opfer dieser Verhältnisse konzentrieren. Kampf gegen das Böse durch Änderung dessen, was geändert werden kann und geändert werden muß, ist ganz gewiß auch Christenpflicht. Und zwar nicht nur an den Brennpunkten des Weltelends, sondern auch bei uns. Aber es ist wahr: Jesus legt den Nachdruck stärker auf die Veränderung des Menschen. Indem er ihn aufruft, im Kampf gegen das Böse keine andere Waffe zu benutzen als die einzig wirksame, nämlich die konsequente Liebe, Gottes Liebe. Etwa so, wie es Martin Luther King gesagt und vorgelebt hat: »Macht mit mir, was ihr wollt, wir werden euch dennoch lieben.« So sollen Christen leben, wenn sie die Verhältnisse einer Welt ändern wollen, in der die Gewalt immer mehr eskaliert, in der die Wolfsnatur des Menschen immer deutlicher wird und die groteskerweise - wie es gestern in einer großen Tageszeitung zu lesen war- immer mehr befürchtet, der Friede, unser auf Wohlstand und Technik beruhender Friede, würde immer mehr Gewaltverbrecher hervorbringen. Ob es dann aber nicht hohe Zeit ist, die Anweisungen der Bergpredigt nicht als Utopie abzutun, sondern wenigstens auszuprobieren, ob sie nicht doch einen gangbaren Weg zeigen? Möglicherweise sogar einen besseren als alle bisherigen . . . 2. Es ist Jesus, der den Weg der konsequenten Liebe aufzeigt. Er ist diesen Weg selber vorausgegangen. Von Bethlehem bis Golgatha. Er verlangt nichts, was er nicht zuerst von sich selber verlangt hätte. Und er stellt keine Forderungen, deren Erfüllung er uns nicht ermöglichen würde. Aber er weiß, daß dieser neue Weg nicht ohne Leiden beschritten werden kann. Wahrhaft Neues wird in dieser Welt nur unter Schmerzen geboren. Ich meine jetzt weniger die Familienund Berufsnöte, die Krankheits- und Sterbensnöte, die nie6o
mand erspart bleiben. Ich meine vielmehr das »Leiden mit Gott unter der Welt« (Bonhoeffer), die es immer wieder nicht zulassen will, daß Gott zu ihr kommt, damit sie wieder seine Schöpfung wird und deshalb bewohnbarer Lebensraum für die Geschöpfe Gottes bleibt. Dieses »Leiden mit Gott unter der Welt« führt weder in Resignation noch in Frustration. Es ist schöpferisches Leiden, das Neues werden läßt im Menschen und in den Verhältnissen unserer Welt. Erste Ansätze einer neuen Welt Gottes, in der Leben überhaupt erst zum Leben im Vollsinn dieses Wortes wird. 3· Gestern erhielt ich einen Brief, in dem mir die Frage gestellt wurde, was denn die Kirche eigentlich tun würde, um endlich wieder »attraktiver« zu werden. Ich werde darauf folgendes antworten: »Attraktiy« wird die Kirche dann, wenn ihre Glieder anders sind und anders leben als die anderen. Wenn sie nur das sagt, was alle anderen auch sagen, sagt sie in Wirklichkeit gar nichts. Wenn sie nur das tut, was alle anderen auch tun, das sogenannte Normale und nicht das Besondere, dann hat sie letztlich nichts getan. Und ich werde den Briefschreiber an das Wort von Max Frisch erinnern: »Es ist wenig, was wir für die Welt tun können, aber dieses Wenige wollen wir wenigstens tun: das Eigene.« Und dieses Eigene, das ist die dem Christen zum Weitergeben anvertraute Gottesliebe. Sie vermittelt dem Rechtlosen Gottes Recht. Sie vermittelt dem Armen die Fürsorge Gottes. Sie vermittelt dem in Zwängen Lebenden die Freiheit der Kinder Gottes. Sie vermittelt dem, dessen Güte mißbraucht wird, ein Leben von Gottes Güte. Wo immer Kirche so handelt und redet, da wird sie attraktiv. Auch heute. Gerade heute. Und dann wird es Advent! Dazu kommt Gott in seine Welt. Dazu hat er in dieser Welt eine Gemeinde, eine Kirche. Und wir gehören zu ihr. Dort empfangen wir Gottes Liebe, um sie weiterzugeben. Nur so wird in dieser Welt das Böse überwunden. Nur so entsteht nicht nur anderes, sondern Neues.
Gebet Herr unser Gott I Du bist unterwegs zu uns. Immer neu. Obwohl wir dir jeden Tag die Treue brechen, jeden Tag dich verkennen, jeden Tag uns deiner schämen - irgendwo und irgendwann. Wir danken dir für deine Treue. Deine Schöpfung ist unsere Welt. Du hast uns für sie verantwortlich gemacht. Bewahre uns vor großen Worten, denen keine gemeinsamen Schritte folgen. Du hast uns geboten, für alle Menschen in Fürbitte einzustehen; gib, daß wir nicht vergessen, uns auch leibhaftig für sie einzusetzen, wo immer dies nötig und möglich ist. Dich bitten wir für die eine unteilbare Welt, die wir täglich zerspalten und zerstückeln, sooft wir unsere eigenen Interessen verfolgen, ohne die anderen zu beachten. Dein Friede bewahre uns vor aller Selbstzufriedenheit und Unzufriedenheit. Wir bitten dich für unser Volk und alle Völker. Befreie uns von aller nationalen Selbstverherrlichung und blinden Selbstbehauptung. Laß uns nicht von Frieden reden, wenn wir nach Geltung streben, sondern den Frieden entwickeln, der allen Beteiligten zum Wohl gereicht. Mache uns aufmerksam und empfindsam für alle Formen der Bedrückung und Behinderung des Lebens, für die Not der Kinder und der Alten, für die Notstandsgebiete in den Bereichen der Bildung, des Verkehrs-, des Wohnungs- und Gesundheitswesens, für die Notlage der Minderheiten und Minderbemittelten, für die Notwendigkeiten der Planung und Gestaltung unserer Umwelt. Gib, daß nicht Fortschrittsträume und Wohlstandspläne die drängenden Aufgaben und Möglichkeiten verdecken. Mache uns hellhörig und wachsam, wo immer mit dem Lebens- und Sicherheitsbedürfnis politisch und wirtschaftlich abhängiger Menschen eigennützige Geschäfte getrieben werden. Es darf auf Erden nicht verschwiegen werden, was gen Himmel schreit.
Besonders bitten wir dich für alle, die in Bedrängnis und Not sind: für die Kranken und Armen, für die Ausgebeuteten und Unterdrückten, für die Einsamen und Gehetzten, für die Gefangenen und Verfolgten, für die Heimatlosen und Verlassenen, für die Müden und Matten, für die in eigene Pläne und innere Zwänge Verstrickten ... und nimm du dich, o Herr, der Sterbenden an. Dich bitten wir für uns alle, vergib uns unsere Untaten, beschirme uns in der Anfechtung, bewahre uns vor leerem Geschwätz, erfrische uns mit deinem Geist und laß uns teilnehmen an deinem Werk. Dir allein gebührt Ehre und Anbetung. Zu dir rufen wir gemeinsam voller Zuversicht: Vater unser im Himmel! Geheiligt werde dein Name. Dein Reich komme. Dein Wille geschehe, wie im Himmel, so auf Erden. Unser tägliches Brot gib uns heute. Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigem. Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen. Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen.
Jürgen Moltmann
26. November :1972
Matth. 5, 43-48: Ihr habt gehört, daß gesagt ist: Du sollst deinen Nächsten lieben und deinen Feind hassen. Ich aber sage euch: Liebet eure Feinde; segnet, die euch fluchen; tut wohl denen, die euch hassen; bittet für die, so euch beleidigen und verfolgen, auf daß ihr Kinder seid eures Vaters im Himmel. Denn er läßt seine Sonne aufgehen über die Bösen und über di~ Guten und läßt regnen über Gerechte und Ungerechte. Denn wenn ihr liebet, die euch lieben, was werdet ihr für Lohn haben? Tun nicht dasselbe auch die Zöllner? Und wenn ihr nur zu euren Brüdern freundlich seid, was tut ihr Sonderliches? Tun nicht dasselbe auch die Heiden? Darum sollt ihr vollkommen sein, gleich wie euer Vater im Himmel vollkommen ist.
Gebet
Lieber Vater im Himmel, in Jesu Namen rufen wir dich an. Wir kommen mit leeren Händen. Unsere Feinde haben wir nicht lieben können. Wir haben sie meistens gar nicht gesehen. Wir sind ihnen aus dem Wege gegangen. Wo wir sie sahen, fanden wir keine Liebe in uns, sondern Angst und Ärger. So kommen wir zu dir nicht als Kinder deiner Liebe, sondern als ihre Feinde und bitten dich für uns und alle anderen: Segne, die dich fluchen, tue wohl denen, die dich hassen. Vergib uns, was wir unseren Feinden schuldig blieben. Du führst uns aus der Enge der Angst und aus dem Gefängnis des Hasses in den weiten Raum der Freiheit. Laß uns
deine Sonne sehen, die über Böse und Gute aufgeht, und uns mit unseren Feinden an ihrer Wärme freuen. Hier fällt zum ersten Mal in der Bergpredigt das Wort, in dem alles andere auf einen Nenner gebracht wird: Liebe, und zwar sofort und hart in der eindeutigen Bestimmung: Feindesliebe. Alle andere Liebe versteht sich von selbst. Gleiches mit Gleichem im Bösen wie im Guten zu vergelten, ist keine Kunst, ist das Normale. Feindesliebe aber ist das Besondere, das Außerordentliche. Sie ist das eigentlich Christliche, das »Mehr«, die »bessere Gerechtigkeit«. Daran soll man die Freien, die Kinder Gottes erkennen. Doch Feindesliebe ist das Menschenunmögliche. Niemand kann über seinen Schatten springen. Sie ist das Andere, das Göttliche. »Er läßt seine Sonne aufgehen über die Bösen sie zuerst- und die Guten«. Feindesliebe ist das gottentsprechende Geheimnis Jesu. Er segnete, die ihm fluchten. Er bat für die, die ihn folterten. Er schlug nicht zurück, sondern nahm das Leiden auf sich um der Liebe willen. Er starb für seine Feinde am Kreuz. Er starb so für uns. Spätestens an dieser Stelle wird klar, daß die ganze Bergpredigt nichts ist ohne den Bergprediger und seinen Weg zu jenem anderen Berg: nach Golgatha. In seiner Gemeinschaft, in seiner Nachfolge wird das Unmögliche möglich, wird geliebt, wo man sich haßt, wird gesegnet, wo man sich verflucht, wird Böses mit Gutem vergolten. J?as Geheimnis der Bergpredigt liegt nicht in ihren hohen sittlichen Idealen. Es ist}esus selbst. Versteht man ihn, so begreift man ihre Forderungen. Versteht man ihn nicht, so bleiben sie einem fremd, ärgerlich oder nur töricht. Mit dem Gebot der Feindesliebe tritt der Mann aus Nazareth uns sofort sozusagen auf beide Füße. Denn Feindesliebe setzt Feinde voraus. Haben wir eigentlich Feinde oder vermeiden wir so etwas Unangenehmes nicht lieber? Welche Feinde mutet uns Jesus denn zu? Hat man aber wirklich Feinde, so ist einem die Liebe doch unmöglich. Muß man es 1.
nicht ausfechten und durchstehen 7Kann man sich denn seinen Feinden zum Fraße vorwerfen? Beide Zumutungen sind ungewöhnlich. Sie machen uns unruhig. Zunächst das erste: Feindesliebe setzt offenbar Feinde voraus. Wir mögen das nicht. In unserem bürgerlich gut situierten Christentum haben wir Angst vor offener Feindsd1aft. Wir gehen Konflikten lieber aus dem Wege. Wir haben nicht nur in der Politik die berühmte Methode der »Ausklammerung« erfunden. Widersprüche werden verschleiert. Strittige Punkte werden einfach von der Tagesordnung abgesetzt. Ungelöste Probleme werden verdrängt, sie werden emeritiert oder in Watte verpackt und nachfolgenden Generationen zugeschoben. Statt Feinde und Feindesliebe haben wir die lauwarme Welt des »Seid nett zueinander« gewählt. Liebe, Friede, Heiterkeit oder: Milde, Sanftmut, Nachsicht oder: Anpassung, Konzessionen und Toleranz sind unsere Mittel, um sowohl den Ärger der Feindschaft wie auch die schwierige Feindesliebe zu vermeiden. Schließlich muß man doch mit jedem, den angenehmen und auch den unangenehmen Zeitgenossen, irgendwie auskommen, um selbst irgendwie schlecht und recht durchzukommen. Wir sind ziemlich unangreifbar geworden, weil wir nichts mehr wirklich ernst nehmen. Wir greifen nicht gern jemanden an, weder im Zorn noch in der Liebe, weil wir niemanden ernst nehmen. »Leben und Lebenlassen.« So geht es uns gut, oder nicht? Es tut mir leid, liebe Gemeinde, aber wenn ich die Bergpredigt im Blick auf Jesus lese, empfinde ich ihn als einen Störenfried unserer Kreise oder einen Spielverderber unserer Gesellschaftsspiele. Von ihm stammt das Wort nicht: »Seid nett zueinander.« »Ich bin nicht gekommen, Frieden zu bringen, sondern das Schwert« und »Wer nicht sein Kreuz auf sich nimmt und folgt mir nach, ist mein nicht wert«, läßt Matthäus ihn an anderer Stelle sagen (:1:1,.34·.38). Um der Wahrheitwillen wird es zur Feindschaft kommen. ]esus hat sie selbst erlitten. Indem er zu den Verhaßten und Verachteten ging, machte er deren Feinde zu seinen Feinden. Indem
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er den Gesetzesbrechern und den Ge'setzlosen jene zuvorkommende und ungeteilte Liebe Gottes brachte, zog er sich die Feindschaft des Gesetzes und seiner Hüter zu. Wie wir alle wissen, wurde er verfolgt, gehaßt, verspottet und zuletzt ausgestoßen und draußen vor dem Tor gekreuzigt. Auch seine Jünger, die alles verließen und ihm folgten, haben Feindschaft von Verwandten, Freunden, Volks- und Religionsgenossen erfahren. Jesus hat den Seinen nichts anderes vorausgesagt. Wahrer Frieden mit Gott in seiner Gemeinschaft bringt Unfrieden mit der Welt der Lüge. Wahre Versöhnung;I mit Gott bringt Streit mit einer unversöhnten Gesellschaft hervor. Wer ein »Kind des Vaters im Himmel« ist- und wie harmlos klingt dieser Name doch! -, wird zum Störenfried und zum Spielverderber in einer Welt, die sich ohne ihn mit dem Gesetz der Vergeltung eingerichtet hat. Wer seinen Weg einschlägt, dem geht die Nettigkeit verloren. Er ist niemandes Feind, aber er bekommt Feinde. Das ist unausweichlich. Der Bergprediger mutet uns Feinde zu, weil wir den Feinden der Feinde wohltun sollen. Und dann das zweite: Hat man nun aber Feinde um der Wahrheit und Gerechtigkeit willen, so ist Feindesliebe doch wohl die noch größere Zumutung. »So nun deinen Feind hungert, so speise ihn; dürstet ihn, so tränke ihn«, heißt es schon im Alten Testament (Spr. 25, 21.). Und ganz praktisch: »Wenn du deines Feindes Ochsen oder Esel begegnest, daß er irrt, so sollst du ihm denselben wieder zuführen« (2. Mos. 23, 4). Das war zu den Alten auch schon gesagt. Daß man seinen Feind nur hassen solle, dagegen nicht. Wer also die Kommunisten für seine und Gottes Feinde hält, der soll ihnen zu essen geben, wenn sie hungern, er soll »Brot für die Welt« und Medikamente auch nach Nordvietnam und auch an den Vietcong schicken. Wer die Kapitalisten für seine und seiner Klasse Feinde hält, der soll ihre Ochsen nicht schlachten und sich nicht mit ihren Eseln abgeben. Nun, spätestens hier muß die Empörung oder der Widerspruch kommen. »Mit der Bergpredigt kann man keinen Staat regieren«, hatte Bismarck
gesagt und sich damit als sogenannter ».ßealpolitiker« ausgewiesen. »Mit der Bergpredigt kann man ciditi:evoftieren«, hat Herbert Marcuse 1968 in Berlin erklärt und sich als »Realrevolutionär« ausgewiesen. Ein Student hatte ihn gefragt: Geht nicht im Haß gegen die Imperialisten das Humane verloren, so daß der Feind auch nicht ein bißchen Mensch für den Revolutionär bleibt? Und Marcuse antwortet: »Der Haß gegen Ausbeutung und Unterdrückung ist ein humanes Element ... Nichts ist entsetzlicher als die Liebespredigt >Hasse nicht deinen Gegner< in einer Welt, in der Haß durchaus institutionalisiert ist.« Er fügte allerdings hinzu: »Man kann einen Gegner schlagen und besiegen, ohne ihm die Ohren oder die Beine abzuschneiden und ohne ihn zu foltern.« Wer sich aber gegenüber seinen Feinden auf Haß und Vergeltung einläßt, der tritt in einen Teufelskreis ein, aus dem er und der andere nicht wieder heil herauskommen. Haß verzehrt, wenn man ihm nichts entgegenzusetzen hat. Das alttestamentliche Gesetz: »Ein Auge für ein Auge, ein Zahn für einen Zahn« ist noch relativ menschlich gegenüber der Todesspirale, die wir heute überall sehen, in der Eskalation der Gewalt, in der gegenseitigen überbietung des Hasses. Zuerst wird der Feind entmenschlicht: Er wird zum roten Untermenschen oder zur gelben Ratte oder zum schwarzen Nigger. Er wird zum Terroristen, den man ausmerzen, oder zum teuflischen Kapitalisten, den man zertreten muß. Der Haß verteufelt den Feind und tötet ihn mit den Worten und Bildern - dann fällt das Erschießen oder Liquidieren nachher leichter. Wer aber seinem Feind zum Feind wird, der wird selbst nach dem Bilde des Gegners geprägt. Wo zwei sich in denclinchvon Haß, Schlagabtausch und Vergeltung begeben, werden sie sich immer ähnlicher. Der gesteigerte Haß schiebt dann dem Feind alles in die Schuhe, was man selbst ihm anzutun bereit ist. In dieser Hinsicht sind die Feindbilder unserer Aggression meistens vielsagende Selbstdarstellungen. Wird Böses mitBösem vergolten, so richtet sich das eine Böse stets 68
nach dem anderen. Im Teufelskreis der Vergeltung wird man selbst zum Teufel des andern. Ob man religiös sagt: »Ich hasse, Herr, die dich hassen«, und sich freut, wenn die Gottlosen sich gegenseitig umbringen oder doch wenigstens in wirtschaftliche Schwierigkeiten kommen, oder ob man das selbst säkular oder ideologisch sagt - der Haß verzerrt die Züge, macht die Stimme rauh und zerstört den Rest der Menschlichkeit, macht die humanen Ziele unglaubwürdig. Ohne die Bergpredigt gibt es keine humane Regierung und auch keine humane Revolte gegen Unrecht und Ausbeutung. Ohne den gekreuzigten Bergprediger und Menschen, die ihm - nicht ihren Feinden - nachfolgen, gehen die Lichter aus, geht diese Welt im Teufelskreis der Vergeltung kaputt. Das Leichenschauhaus der Geschichte beweist es. Am Volkstrauertag und am Totensonntag sollten wir das wissen. 2. Feindschaft kommt um der Wahrheitwillen unausweichlich. Wie aber wird Feindesliebe darin möglich? Doch wohl nur dann, wenn wir nicht mehr fragen, was der Feind uns und denen, die wir lieben, angetan hat, sondern allein danach fragen, was fesus getan hat. Im Teufelskreis der Feindschaft wird man selbst zum Teufelskind. Der Gegner prägt einen und zwingt einem den Kampf auf. Wer nur auf den Feind starrt, wird zu einem Feind. Erst wenn etwas anderes einem wichtiger wird, erst wenn ein anderer mich aus diesem Teufelskreis befreit, hört die Orientierung am Feind auf, beginnt ein neues Spiel. Wer also sind wir? Wer prägt uns? Der Bergprediger sagt: Ihr seid Kinder Eures Vaters im Himmel. Darum liebt Eure Feinde. Seid vollkommen wie Euer Vater im Himmel vollkommen ist. Das ist die neue Bestimmung. Das ist die Befreiung. Doch - ach ja - ein Kind Gottes - wer wär' s nicht gern? Das klingt nach kindlicher Geborgenheit und Harmonie ringsum wie an Weihnachten. Bei fesus aber sieht das anders aus. Er nannte Gott »meinen Vater« und verließ seine Familie, seine Freundschaft und ging
aus der Geborgenheit ins Niemandsland. Er nannte Gott seinen Vater und verhielt sich ungesetzlich, war ein Freund der Sünder und Zöllner. Er nannte Gott seinen Vater und wurde zum Außenseiter, wurde als Krimineller (anomos) getötet. Und die ihm nachfolgten, nannten ihn darum mit Recht den Sohn dieses Vaters, denn er war sonst niemandes Sohn und Parteigänger. Wollen wir also wissen, was es heißt, »ein Kind Gottes« zu sein, so müssen wir uns an diesem ungewöhnlichen Menschen aus Nazareth orientieren. In seiner Bruderschaft und an seinem Weg zum Kreuz erfahren wir, wer Gott der Vater ist, und merken, was es bedeutet, ein Kind dieses Gottes auf Erden zu sein. An ihm erkennen wir wie die Jünger, daß wir selbst lange genug den Feinden nur Feinde waren und es noch sind. Durch ihn erfahren wir aber noch mehr die ungeheure, befreiende Macht der Liebe, die uns selbst als Feinde erreicht und entwaffnet. Die Bergpredigt wurde durch den Bergprediger selbst bewahrheitet. Sie ist darum kein hohes Ideal. Sie bewahrheitet sich an uns, wo wir erfahren, daß er für uns lebte, für uns litt und für uns gestorben ist, als wir noch Feinde und Gottlose waren (Röm.5,6), und aus diesem Glauben leben und lieben. Durch weniger als durch Feindesliebe kommt Gott auch nicht zu uns. Gott fragt nicht nach gut und böse, weil auch mein Gutes vor ihm nicht gut ist. Gottes Liebe sucht den Feind und vollendet sich am Feind. Anders könnte wohl keiner von uns von einer Liebe Gottes reden. Anders wird keiner zum Kind dieses Gottes. So hat Jesus in seinem Leben und Sterben Gott unter uns gebracht. Kinder Gottes sind überwundene Feinde. Kinder Gottes leben von einer harten und teuren Liebe. Sie hat Gott den Tod des Sohnes gekostet. Kinder Gottes sind durch ihn aus den immer enger werdenden Teufelskreisen des Hasses im Herzen und der Feindschaft in der Welt befreit. Sie treten aus diesen Gefängnissen heraus und sehen die Sonne eines neuen Tages. Sie geht am Morgen auf über die Bösen und die Guten und macht keinen
Unterschied. Allen schenkt sie das Leben und die Wärme. Und sie fühlen den Regen, der über Gerechte und Ungerechte niedergeht und die Wüste der Verwüstung wieder fruchtbar macht- ohne Unterschied und jenseits von Gut und Böse. Das sind große Bilder, und sie weisen hin auf jene Sonne der Gerechtigkeit und jenen Regen des Lebens, die das Böse des Unrechts und die Zerstörungen des Rechtes gut machen und überwinden. Wenn die Sonne aufgeht, soll man nicht mehr mit den Schatten der Nacht boxen. Man soll sich an das Licht halten. Wenn der Regen kommt, braucht man nicht mehr ums Wasser zu streiten. Man soll sich mit allen am Regen freuen. Wie geschieht das? Durch Feindesliebe. Sie entspricht Gott zutiefst. Sie entspricht Jesus bis zu seinem Ende. Durch sie kommt der Geist der Freiheit mitten unter uns. 3· Liebet Eure Feinde! Um Gottes willen, um Christi willen, lieben wir unsere Feinde! Das heißt doch: seht im Feind den Bruder und behandelt ihn wie euren Bruder. Fragt nicht, was er euch oder anderen angetan hat. Fragt, woran er leidet urtH welche Leiden ihn zum Feind machen. Fragt, was Gott ihm tun will;-det-serne Sonne -uber Böse und Gute scheinen läßt. Fragt, was I esus für ihn getan hat. Feindesliebe ist keine Sache für Schwache, die sich vor dem Feind fürchten. Wer noch Angst vor dem Feind hat, kennt die Liebe nicht. Sie ist einzig die Sache der Befreiten, die sich nicht mehr vom Gegner beeindrucken lassen. »Gewaltloser Widerstand gegen das Böse ist keine Methode für Feiglinge«, hat Martin Luther King einst gesagt. »Es ist der Weg der Starken ... Die Seele des weißen Mannes hat sehr gelitten; wir Schwarzen müssen ihn lieben, damit er seine Verkrampfungen, seine Unsicherheit und seine Ängste überwinden kann.« Wann werden wir weißf!n, reichen Christen das lernen? Weil- das viel Kraft und innere Freiheit verlangt, hieß es im ersten Gebot der christlichen Bürgerrechtsbewegung in Alabama 1963: »Jeden Tag über die Lehren und das Leben Jesu nachdenken.« Feindesliebe will nicht über den Feind siegen, ihn nicht zur
eigenen Ansicht bekehren. Feindesliebe lebt mit dem Feind unter der Sonne Gottes jenseits von Gut und Böse. Sie nimmt ihn in diesen größeren Horizont hinein. Wie geht das? »Segnet, die euch fluchen.« Einen anderen verfluchen heißt, ihn zur Hölle wünschen, weil man seine Gegenwart nicht mehr ertragen kann. Wir haben bekanntlich dafür größere Flüche und kleinere Schimpfworte. Wenn sie euch nicht mehr ertragen können, wenn sie euch verdammen, dann hebt die Hände zum Segen: Ihr Feinde- ihr Gesegneten Gottes, geht hin in Frieden. Laßt uns aufhören, sie zu verleumden und Greuelgeschichten über sie zu erzählen. Tut wohl denen, die euch hassen: Wohltun geschieht nichtnur durch Worte, sondern durch die Dinge, die man zum täglichen Leben braucht. Gebt denen zu essen und zu trinken, die eud1 hassen. Helft ihnen, wo ihr könnt. Steht ihnen bei. Vertretet nicht eure Interessen gegen sie. Vertretet die gemeinsamen Interessen. Es sind eure Brüder. Diese Feinde - es sind in Wahrheit die Unglücklichen. Bittet für die, die euch beleidigen und verfolgen: Das ist das letzte. »Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun«, betet Er im Sterben. Im Gebet tritt man für den anderein ein, nimmt seine Angst und seinen Haß auf sich, wird mit ihm solidarisch unter der Sonne, die über Böse und Gute scheint und über die Bösen zuerst. Ist das praktikabel - kann man damit leben? fragen wir noch einmal. Nun, Jesus hat dieses selbst als das Besondere, das Außerordentliche, das Unnormale bezeichnet. Gleiches mit Gleichem zu vergelten, ist keine Kunst. Das tun sie alle, tun wir täglich im Guten wie im Bösen. Freunde zu lieben und Feinde zu hassen, nach dieser Pfeife tanzen wir alle durchs Leben - und gehen über Leichen, die wir nicht sehen wollen. Gleich und gleich gesellt sich gern, das kann man überall haben: im Verein, in der Partei.und leider auch in der Kirche Christi. Jeder in seinem in-group-Käfig. Wer so ist .Wi~ ich, bestätigt mich. Wer anders ist und anders will, macht mich unsicher.
Weg mit ihm! Weg von ihm! Wie. langweilig ist das. Jeder im eigenen Saft. Wer aber aus der Reihe tanzt, wer sich gern mit Andersartigen und Andersgläubigen gesellt, wer die Staats-, die Klassen-, die Kirchenfeinde beherbergt, der bekommt es mit dem Gesetz zu tun. Wer Konflikte annimmt und Phantasie entwickelt, sie zu überwinden, wer das Besondere, das Außergewöhnliche versucht, nämlich die Feinde seiner Gruppe zu lieben und ihnen wohlzutun, der muß leiden. Er sitzt zwischen den Stühlen. Er ist nirgendwo mehr zuhause. Er ist ein V errät er für die einen und ein unsicherer Bundesgenosse für die anderen. Feindesliebe kann tödlich sein, wie am Schicksal Martin Luther Kings und vieler anderer Märtyrer unserer Zeit zu sehen ist. Es braucht starke Nerven und Kraft, diesen Weg durchzuhalten. Es braucht die immer neue Befreiung aus den Teufelskreisen der Angst und der Gewalt, die so verlockend sind. Es braucht den weiten Raum der Sonne Gottes, die Böse und Gute wärmt und erleuchtet. Es braucht endlich aber - und das ist der Preis die Annahme des Leidens. Liebet Eure Feinde - das Leiden dieser Liebe ist die furchtbarste und die befreiendste Kraft. Wir lernen den Sinn dieses Leidens aus der Passion des Bergpredigers. Wir lernen es auch aus der Leidensgeschichte der Märtyrer der Feindesliebe. Wir lernen es persönlich und politisch auch von Gandhi, mit dessen Worten aus dem indisd1en Freiheitskampf ich schließen möchte: »Alles, was von fundamentaler Bedeutung für ein Volk ist, läßt sich nicht durch Vernunft allein erreichen. Es muß durch Leiden erkauft werden. Vielleimt müssen Ströme von Blut fließen, bis wir frei werden, aber dann muß es unser Blut sein, nimt das Blut der anderen. Leiden ist eine viel stärkere Macht als das Gesetz des Dschungels, denn es kann aum unsere Gegner wandeln.«
Fürbitte Wir bitten dich, Vater, für unsere Feinde. Sei ihnen gnädig, segne si~, nimm sie an. 73
Wir bitten dich für die Feinde der Kirche, des Glaubens und deines gekreuzigten Sohnes: Friede sei mit ihnen! Sei gnädig denen, die uns verachten und verfolgen. Nimm Angst und Haß aus unserem Herzen. Wir bitten dich für die Feinde des Staates: Friede sei mit ihnen! Tue wohl denen, die uns hassen, und nimm die Furcht von uns, mit der wir sie verfolgen. Wir bitten dich für unsere persönlichen Feinde: Friede sei mit ihnen! Nimm die gnädig an, denen wir unerträglich sind, und wecke Liebe zu ihnen bei uns. Gib Frieden mitten im Streit, gib Liebe, wo man sich haßt. Dein Reich komme, und es vergehe die Feindschaft auf Erden. Deine Gnade komme, und es vergehe das Gesetz der Vergeltung. Dein Leiden verwandle uns aus Feinden zu Freunden, die sich in deinem Frieden aneinander freuen können.
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Gotthold Hasenhüttl
Ökumenischer Gottesdienst :10. Dezember 1972
Almosen oder Strukturreform? Matth. 6, :1-4: Habt acht auf eure Frömmigkeit, daß ihr die nicht übt vor den Leuten, auf daß ihr von ihnen gesehen werdet; ihr habt sonst keinen Lohn bei eurem Vater im Himmel. Wenn du nun Almosen gibst, sollst du nicht lassen vor dir posaunen, wie die Heuchler tun in den Synagogen und auf den Gassen, auf daß sie von den Leuten gepriesen werden. Wahrlich, ich sage euch: Sie haben ihren Lohn dahin. Wenn du aber Almosen gibst, so laß deine linke Hand nicht wissen, was die rechte tut, auf daß dein Almosen verborgen sei; und dein Vater, der in das Verborgene sieht, wird dir's vergelten. »Na ja ... seine Predigt war ein richtiges politisches Programm ... das ist zum Kotzen!« ... - »Was hält man in deiner Umgebung von (diesem Pfaffen)?«- »Die Leute mögen ihn sehr.«- »Ach?«- »Ja, man kann ihm nichts vorwerfen. Er teilt alles, was er hat; aber er läßt es einen auch spüren. Er scheint einem immerfort zu sagen: Ich gebe dir das um der Liebe Gottes willen. Ich würde lieber gar nichts rauchen als von seinem Tabak zu nehmen; aber ich bin der einzige ... «- »Sie müssen allmählich begreifen, daß ein Pfaffe nicht zu uns gehört.« So weit ein Dialog über die Wohltätigkeit der Christen, der Priester (in: J. P. Sartre, Der Pfahl im Fleisch, S. 262 f.). Ein großes Unbehagen steigt oft in uns auf, wenn man eifrigen Wohltätern begegnet. Eine klebrige Flüssigkeit scheint sich über einen zu ergießen, und man wünscht sich weit weg von einem solch guten Christen. Liegt es nur an seiner inneren Einstellung oder an seinem unso-
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zialen Handeln, weil er durch sein Flickwerk die bestehenden Verhältnisse zementiert 7 Ohne Zweifel geht es in der Schrift um die rechte Einstellung. Wo immer ein Ziel der Tat angegeben wird, das nicht den konkreten Menschen trifft, wird es abgelehnt, ja verurteilt. Gott, bzw. Christus wie auch der Ruhm vor den Menschen ist kein legitimes Motiv, sich den Menschen zuzuwenden. Es ist eine Mißachtung des Menschen. Mit der inneren Haltung ist aber das Problem noch nicht gelöst. Man kann nicht bestreiten, daß so manche Wohltat nur den Mund verstopft, damit der mißachtete Mensch nicht mehr schreien kann, ihm der Boden für den Protest entzogen ist. Wohltat kann so notwendige Strukturveränderungen hinausschieben, ja abblocken. Ist es also richtig, keine gute Tat zugunsten eines konkreten Menschen oder Volkes zu vollbringen, die nur die augenblickliche Not mildert, ohne die Kraft, neue Strukturen zu schaffen 7 Auf Grund eines Fernzieles konkrete Hilfe zu versagen, bei aller Doppeldeutigkeit dieser Hilfe, ist genauso ein Mißbrauch des lebendigen Menschen wie die gute Tat als Frömmigkeitsübung oder als Geltungsanspruch vor den Menschen. Der Mensch darf und kann keine Funktion gewisser Strukturen sein, keine Funktion meiner eigenen »guten Seele«. Tote Strukturen oder ein künftiger paradiesischer Zustand produzieren falsche Gerechtigkeit. Hic et nunc muß geholfen werden, keine Vertröstung kann da nützen. So trifft sich der christliche Wohltäter, der um der Liebe Gottes willen den Bedürftigen mißbraucht, mit dem Fortschrittlichen, der um einer zukünftigen besseren Welt willen auf die gegenwätige Hilfeleistung verzichten will. Beide sind unmenschlich, beide leben nicht konkret für den anderen, sondern für abstrakte Ideen. Zwar hilft der eine, aber er weigert sich, die Verhältnisse zu ändern, denn »Arme werdet ihr immer unter euch haben«; der andere verweigert die Wohltat und läßt den Nächsten zugrunde gehen um einer Utopie willen.
Muß aber nicht dem Mann zwischen Jerusalem und Jericho geholfen, doch zugleich etwas unternommen werden, damit ein solcher überfall sich nicht mehr ereignen kann? Keine Strukturveränderung auf Kosten des konkreten Menschen! Keine konkrete Hilfe und Wohltätigkeit ohne gesellschaftliche Veränderung, damit sie nicht mehr notwendig ist! Unter dieser Voraussetzung hat es noch Sinn, von unserer Bibelstelle zu sprechen, auch wenn der heutige Staat die meisten Wohltätigkeiten sozial organisiert hat und sie zu den staatlichen Dienstleistungen gehören. Auch das Judentum hatte eine vorbildlich organisierte Armenpflege. Ein Staat, eine Organisation kann den Vollzug des konkreten Einzelnen nicht ersetzen. Nach diesen einleitenden grundsätzlichen Überlegungen wenden wir uns nun der Perikope zu. Mit unserer Stelle beginnt der zweite große Abschnitt der Bergpredigt. Drei Leistungen vollbrachte der gerechte Jude über das gesetzlich Geregelte hinaus: Wohltätigkeit, Gebet und Fasten. Drei parallel aufgebaute Abschnitte haben wir vor uns, wobei Gebet und Fasten im Unterschied zur Wohltätigkeit nicht unmittelbar den Nächsten betreffen. Die »Eleemosyna« (»Wohltat«) erhält ihren unmittelbaren Sinn durch den Umgang mit anderen. Dabei ist aber das Urteil anderer Menschen nicht das Maß unserer Vollzüge. Ja, es darf es nicht sein! Die jesuanische Katechese, wie so oft, rät nicht ab, auch nicht einmal vom Fasten, geschweige denn von der Wohltätigkeit, aber ein anderer Maßstab soll gesetzt werden. Das Urteil der Menschen ist kein Maßstab für unsere Gerechtigkeit. Warum? Menschliches Urteil wird durch soziologisch-psychologische Verzerrungen entstellt und gibt oft ein lnteressenprinzip, bzw. eine Ideologie und nicht den wirklichen Sachverhalt wieder. Wer im Blickpunkt menschlicher Beurteilung stehen will, wer als »Wohltäter der Menschheit« Anerkennung heischt, der handelt wie der anfangs erwähnte Priester. Der konkrete Mensch wird nicht ernst genommen, sein Tun ist 77
entwertet, es ändert, verändert nichts. Schein und Sein stimmen nicht über·' .. Gott, bzw. der Vater kommt nicht ins Spiel. In der Scheinwohltätigkeit ist Gott nicht, das Gute für die Menschen bleibt aus, wie schon Seneca (Epist. XIX 4, 32) wußte: qui virtutem suam publicari vult, non virtuti laborat sed gloriae. Der Heiligenschein vermehrt nur die Scheinheiligen! Nach dieser ersten Überlegung der Bergpredigt folgt die Katechese über die Wohltätigkeit. Es ist bisher klargeworden: 1. sie hat Sinn, wir sollen auch für andere Menschen einstehen; 2. sie hat nur dann Sinn, wenn wir uns selbst dabei aus den Augen verlieren, also es nicht tun, um· selbst ein guter Mensch zu werden, den andere anstaunen können und vor dem sie ihren Hut ziehen; 3· Wohltat ist nur dann Wohltat, wenn sie nicht eine Farce ist, sondern zugleich anstrebt, die Verhältnisse unter den Menschen zu ändern. Sie kann nie ein Alibi für unmittelbar notwendige Strukturreformen sein. Nochmals wird im 2. Teil dieses Abschnittes von diesen »Heuchlern« gesprochen. Wohltäter genossen zur Zeit Jesu ein überaus großes öffentliches Ansehen und erhielten in der Synagoge die Ehrenplätze. Es sind die, die das Vermögen - wie es heißt - der Waisen und Witwen verprassen. Als Gnade schenken sie das, was den Armen gehörte. So wird die Wohltätigkeit zum Hohn, weil nur das gegeben wird, was den anderen zusteht. Unwillkürlich denkt man an große Stiftungen von Unternehmern; an ein wenig Weihnachtsgeld, das unter die Arbeiter verstreut wird, ohne an eine echte Mitbestimmung nur zu denken. Vor-sich-her-Posaunen läßt sich nicht die schlichte Gerechtigkeit, sondern die Wohltat. Sie ist ein Alibi für ausbleibende Veränderung, die manche »Wohltat« überflüssig machen würde. Mancher Universitätslehrer mag großzügig sein und Verständnis für verschiedene Anliegen vortäuschen, gegen die
Drittelparität aber auf die Barrikaden steigen oder gegen Abstimmungen in seinem patriarchalisch gehüteten Institut mit allen Mitteln vorgehen. Unliebsamen Gruppen in der Kirche entzieht man oft die finanzielle Basis, um dafür im Dschungel eine Kirche zu bauen oder in fernen Landen »wohltätig« zu sein. Alles Posaunen der Heuchelei! Freundliches Getue und Wohltätigkeit sind der Ersatz für konkrete Veränderungen, die an mancher Macht und manchen Privilegien rütteln. Es ist die Posaune, die den Engel mit der Schale ankündigt, der das Trinkwasser vergiftet und dafür beduselnden chemischen Wein zu trinken gibt. Heuchlerische Posaunen der Wohltätigkeit gibt es in Hülle und Fülle. Sie alle dispensieren von unauffälliger Arbeit an der Struktur und erhöhen den Selbstwert vor den Menschen. Die Wohltätigkeit wird zum TheaterspieL Daher auch der Ausdruck: Hypokrites, Schauspieler. Aus einem Tun, das ins Verborgene gehört, das heißt am Abbau der eigenen Macht mitarbeitet und nur dort sachgerecht wäre, wird eine öffentliche Schaustellung, ein Wohltätigkeitsfest, bei dem die Schauspieler ihren Beifall erhalten. Die Maske der Wohltätigkeit zieht die jesuanische Botschaft herunter. Wohltätigkeit ist dort eine Tragikomödie, wo der gerechte Anspruch den anderen verweigert und keine Änderung intendiert wird. Ja, noch mehr, der Wohltäter bringt durch sein joviales Getue Menschen in seine Abhängigkeit, wie Nietzsche sagt: »Wenn wir jemanden (bedürftig) sehen, so benützen wir gerne die jetzt gebotene Gelegenh~it;, Besitz von ihm zu ergreifen; dies tut z. B. der Wohltätige und Mitleidige ... er nennt die in ihm erweckte Begierde nach neuem Besitz >Liebe