M i ro sl av K rl ež A Beisetzung in Theresienburg
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M i ro sl av K rl ež A Beisetzung in Theresienburg
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aria-Theresienburg ist eine kleine österreichischungarische Garnisonsstadt, die man vergeblich auf der Karte suchen wird – es gibt sie nicht, sie ist eine Erfindung Krležas. Der Ort ist so langweilig wie fast alle Garnisonsstädte. Amüsieren jedenfalls kann man sich dort nicht. Was bleibt, ist der Dienst und, natürlich Liebesaffären. Die jungen Offiziere tun, als wären sie Herzensbrecher, und es genügt, daß sie so tun; Erfolg haben sie jedenfalls. Mitten in die Langeweile schiebt sich im Sommer 1906 der große Tag des K. u. K. Aspern-Eßlingschen Siebzehnten Dragonerregiments, die jährliche Feier des vermeintlichen Sieges bei Eßling, der Napoleon allerdings nicht daran gehindert hat, kurz darauf in Wien einzuziehen. Die Feier ist eine Farce, aber irgend etwas muß eben gefeiert werden, auf irgend etwas muß das Regiment stolz sein, das schon bei Friedland und noch bei Königgrätz gekämpft hat, jedesmal tapfer, versteht sieh. Kurz vor der Feier wird eine japanische Militärabordnung aus Wien angekündigt, die ebenfalls tapferen hohen Offiziere, die gerade den Russisch-Japanischen Krieg gewonnen haben. Eine neue Planung wird nötig, Begrüßung, Ansprachen, Ballabend, aber auch ein Vortrag des Oberleutnants Ramong, eines hochbegabten Mathematikers, der sich in Tübingen zu habilitieren hofft, das Militär verachtet, leider aber gerade hochgradig verwirrt ist, weil Olga von Warronigg, die ungetreue Frau seines Regimentskommandeurs,
ihm gerade den Laufpaß gegeben hat. Er hatte eine Affäre mit ihr, die sie gewohnheitsmäßig überhaupt nicht, er aber über die Maßen ernst nahm. Während er lustlos seinen Vortrag hält, in dem von österreichischen Siegen die Rede nicht ist, denkt er an nichts anderes als an Olga, die – ohne ihn – eine Reise nach Sizilien antreten wird. Nur die Japaner, die ohnehin nichts zu verstehen scheinen, sind dankbar für seine Ausführungen, der Kommandeur und die anderen ordensgeschmückten Offiziere schäumen. Während des Balles kommt es zum Eklat, Ramong versucht Olga zur Rede zu stellen und verursacht in seiner Betrunkenheit einen Skandal, für den er wegen Beleidigung der Gäste zu Arrest verurteilt wird. Die Gäste freilich waren gar keine Japaner, sondern Hochstapler, die noch am Abend mit ihren verdächtig großen Spielgewinnen und den Geldern, die sie für die Witwen und Waisen in der Mandschurei gesammelt haben, auf Nimmerwiedersehen verschwinden. Ramongs Aufbegehren gegen die ungerechte Bestrafung hilft ihm nichts, hat nur eine weitere Bestrafung zur Folge. Er jagt sich eine Kugel in den Kopf und wird in allen Ehren beerdigt, denn nichts wäre furchtbarer als die Wahrheit, die doch alle kennen. Der Mann, in dessen Augen die Armee Schlächter und Mörder und debile Syphilitiker erzieht, der hingerissen ist von den Rätseln der Mathematik und leider auch hingerissen war von Olga von Warronigg, wird beigesetzt, als wäre nichts gewesen. Alle schweigen, niemand muckt auf, denn das eherne Gesetz der Armee lautet: Kuschen und wei-
terdienen. Krležas kleines Kabinettstück ist eine beißende Satire auf Krieg und Kriegsdienst, auf den Idiotismus von Leuten, die auf dem Standpunkt stehen: möglichst wenig Talent und möglichst viel Pflichtgefühl, die den Intellekt verachten, Außenseiter ausschließen und ihren Säbel, ihr Mordwerkzeug, allem Nachdenken vorziehen. Es ist auch eine Beispielerzählung über den notwendigen Untergang der Donaumonarchie.
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Der Autor M i ro s l av K rle ž a ( 1893–1981 ) besuchte zunächst die Militärakademie in Budapest, desertierte nach Paris, kehrte nach Serbien zurück und nahm 1912 am Balkankrieg teil. Noch im Ersten Weltkrieg begann er zu schreiben. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde er Vizepräsident der Jugoslawischen Akademie der Wissenschaften und Direktor des Lexikographischen Instituts. Er schildert in seinem Werk einerseits den Verfall der bürgerlichen Gesellschaft, andererseits verhöhnt er Militarismus und Diktatur in der Zeit vor den Kriegen. Werke: Der kroatische Gott Mars ( 1927 ), Die Glembays ( 1929 ), Die Rückkehr des Filip Latinovicz ( 1932 ), Bankett in Blitwien ( 1939 ).
Rowohlt Jahrhundert Herausgegeben von Walter Boehlich Band 83
M i ro sl av K rl ež A
Beisetzung in Theresienburg Er z ählung
Aus dem Serbokroatischen von Klaus Winkler
Rowohlt
Veröffentlicht im Rowohlt Taschenbuch Verl ag GmbH, Reinbek bei Hamburg, Mär z 1991 Copyright © der deutschen Übersetzung 1964 by Stiasny Verl ag Gm bH, Graz Die O riginal ausgabe erschien 1929 in Z agreb ( Foto des Autors: Keystone ) 1280-ISBN 3 499 40083 9
Gesetzt aus der Adobe G aramond pro für das cover: Jean Louis Théodore Géricault: D as Floss der Medusa. 1818–1819, Ö l auf L einwand, 491 × 716 c m. Paris, Musée du Louvre.
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as Kaiserliche und Königliche Aspern-Eßlingsche Siebzehnte Dragonerregiment hatte zwei Garnisonen, eine in Wien und die zweite im magyarisch-transdanubischen Maria-Theresienburg. Lauras Vater, der Kavallerieoberst Mihajlo Edler von Warronigg, Gemahl der Frau Olga, geborenen GlembayBárbóczy, befehligte den Stab des Kaders zu Maria-Theresienburg in den Jahren neunzehnhundertfünf und -sechs.
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as Kaiserliche und Königliche Aspern-Eßlingsche Siebzehnte Dragonerregiment hatte im Jahre 1628 der bekannte Quartiermeister Wallensteins, Robert St. Quentin d’ Espagne et de la Porte, als Kürassiereinheit gegründet; schon im Jahre 1632 spielte dieses mit kaiserlichem Patent ausgestattete Kürassierregiment in der Bataille von Friedland eine sehr wichtige Rolle. Sein Sturmangriff bei den Windmühlen von Lützen wurde auf einem kaiserlichen Gobelin im Wiener Kriegsgeschichtlichen Museum verewigt ( siebenhundert kroatische Reiter ließen ihre siebenhundert anonymen Bauernfelle in dieser ruhmreichen Schlacht ). Der Kaiserliche und Königliche Oberlieutenant Emil Sztatoczny hatte den Gobelin für den Regimentsehrensaal des Mariatheresienburger Regiments kopiert, und diese Imitation hing als kostbarer Karton unter den Regimentstrophäen. Der hohe Gemahl der Kaiserin Maria Theresia, der toskanische Großherzog Franz von Lothringen, hatte dieses heldenhafte Kürassierregiment umgewandelt und zu seinem persönlichen Garderegiment Chevaux-légers gemacht, aber während der 11
napoleonischen Kriege wurde das Aspern-Eßlingsche Regiment unter der reorganisierenden Hand des Fürsten Montenuovo den Dragonern zugeteilt, und dort blieb es ununterbrochen bis zu den Tagen unserer Geschichte der Glembaj. Im Jahre 1878 beging das Kaiserliche und Königliche Siebzehnte Regiment feierlich den Jahrestag seines zweihundertundfünfzigjährigen Bestehens, und sein damaliger Inhaber, der russische Großfürst Aleksandr Aleksandrovič, schenkte 53 000 Gulden an den Fonds der Regimentsstiftung für Militärausbildung von Offizierssöhnen, und S. M. der Kaiser und König Franz Joseph I. machte bei dieser Gelegenheit seinem Regiment eine Goldplakette zum Geschenk, mit Allerhöchsteigenhändigem Brief und Namenszug. Als vor 158 Jahren Kaiserin Maria Theresia ihr Erbfolgerecht auf Parma und Piacenza nach dem Prinzip der Sekundogenitur abtrat, wurde das Siebzehnte Regiment von Parma nach Alsóvár im Gebiet der türkischen Grenze verlegt, und dort blieb es bis zu den napoleonischen Kriegen. In den vierziger Jahren lag es in Verona und Mailand und kompromittierte sich ziemlich auf Rechnung der dummen österreichischen Politik in der Lombardei. Das Siebzehnte wurde als brachiale Polizeigewalt gegen das Risorgimento eingesetzt und verhaftete nach Pandurenart die Rebellen im Sinne der politischen Direktiven Metternichs. Jahrhundertelang opferte es unser kroatisches Fleisch und Blut und zog bald hier, bald dort in den Garnisonen der Monarchie herum wie ein Zirkus und kehrte erst bei der 12
letzten Dislokation in den siebziger Jahren mit Stab und Kader nach Alsóvár zurück, während die zweite Abteilung in Wien blieb, mit der administrativen Abteilung des Ergänzungskaders in Aspern, Niederösterreich. In der Schlacht bei Malplaquet verlor das Siebzehnte Regiment ( damals als Chevaux-Légers Nr. 3 ) vierhundert Mann, und für diese seine » bravouröse Geste auf dem Felde der Ehre « verlieh ihm der Herzog von Toskana eine seidene Fahne mit Wappen und goldgewebten Insignien. In der Schlacht bei Hochkirch verlor dieses Reiterregiment in blutigem Sturmangriff siebenhundert Pferde und Reiter und zeichnete sich derart brillant aus, daß ihm die Kaiserin persönlich eine vergoldete Ehrentrompete aus Silber mit Allerhöchstem Begleitbrief vom 28. Oktober 1764 stiftete, » für Verdienste unter dem Kommando des Grafen Imre Báthory «. Im Ellipsoid der vergoldeten Trompete waren in sehr kunstvollem Relief drei Hengste im Sprung dargestellt, und auf der Seite gegenüber war die Goldmedaille der Kaiserin eingraviert. Unter dem Bild der Herrscherin stand, in Kursive und mit goldenen Lilien geschmückt, folgende Allerhöchste Widmung eingegraben: » Die Kaiserin Ihrem treuen Theresienburger Dragonerregiment «. Quer an dieser kostbaren, gold-silbernen Trompete hing ein seidener gestickter Hoftrompeterbehang, die Standarte des kaiserlichen Herolds, mit zwei massiven Quasten, mit goldgewirkten Doppeladlern und den Initialen Ihrer Majestät, die mit Lorbeer zum heraldischen Motiv des kaiserlichen Monogramms verschlungen waren. Die gelbe Seide am Behang der Trompete war grau gewor13
den, aber das Gold auf den Adlerflügeln und die Fäden in den Buchstaben funkelten immer noch lebhaft. Diese kostbare kaiserliche Reliquie, dieses pathetische Andenken an siebenhundert durchschossene und wie Kürbisse zerhackte Schädel wurde im Ehrensaal des Regiments in einer bronzebeschlagenen Glasschatulle, auf einem violetten Plüschkissen aufbewahrt. Die Bronzeschatulle stand in einer goldenen Vitrine ( im Stil des mißgestalten Wiener mauvais-goût ) auf einer Estrade, und auf den Samtregalen der goldenen Vitrine lagen noch andere Trophäen, silberne Lorbeerblätter und schwarz-gelbe Moiréseiden, Fotografien und Plaketten, Siegerpokale, Urkunden und Siegel, lauter blutige Dokumente des unermeßlichen Elends kroatischen Kriegsruhms. So stand dort die goldgerahmte Daguerreotypie des Regimentsinhabers, des russischen Großfürsten Aleksandr Aleksandrovič im byzantinischen Magnatenbrokat eines russischen Bojaren mit Biberpelz und Sarafan, darunter die eigenhändige violette Unterschrift und die Großfürstenkrone. Da war die silbergerahmte Fotografie des Kaiserlichen Großherzogs Generalfeldmarschall Maria Immaculata Felix, der in den neunziger Jahren als Kadett gedient hatte, und noch zehn Jahre später wurde in der Menage beim schwarzen Kaffee von seinen Streichen erzählt: wie er einmal wegen einer Wette mit seiner Stute Belladonna den Budapester Schnellzug zum Stehen gebracht hatte und wie die Offiziere des Siebzehnten Regiments auf seine Initiative eines Nachts ein Klavier aus dem ersten Stock des Bürgerkasinos geworfen hatten. 14
In diesem Ehrensaal des Ruhms und der Geschichte des Regiments hingen drei historische Regimentsstandarten: eine, die mit dem Ritterkreuz des Mariatheresien-Ordens in der Schlacht bei Sadova ( zweihundert Tote auf dem Felde der Ehre ) dekoriert worden war, die zweite, durchsiebt im siegreichen Treffen bei Aspern und Eßling, wo auf dem Schlachtfeld das ganze Regiment mit Pferden und Reitern in voller Stärke gefallen war, und die dritte, aus Seide, noch nicht mit Blut befleckt, bereit, vom Siebzehnten als Signal durch den todbringenden Sturm vorwärtsgetragen zu werden, der noch in allen Schubladen der Regimentsschreibstuben unter dem Geheimsiegel des Allerhöchsten Mobilmachungsbefehls schlummerte. Die Vorhänge des Ehrensaales des Regiments waren schwer, aus Damast, und schlossen mit ihren schweren Falten von undurchsichtigem Gewebe den ganzen Raum in die dunkle Beleuchtung einer Leichenhalle ein. Zwölf schwere Stühle an einem langen, mit Purpur verhangenen Tisch, alles aus Eichenholz im altdeutschen Stil des Dreißigjährigen Kriegs à la Wallenstein geschnitzt. Dieser Ehrensaal des Siebzehnten Regiments lag im ersten Stock des Zentralbaus eines ehemaligen Jesuitenklosters, und man gelangte in diesen ersten Stock über ein monumentales Treppenhaus, das zu Ende des 18. Jahrhunderts aus Gründen der Repräsentation umgebaut worden war. Ein Portal mit Säulen, Giganten, Engelsköpfen und Wappen stand hoch über den Marmorstufen; links und rechts vor der Treppe waren drei altertümliche Kanonen aus dem 18. Jahrhundert mit der Mündung in die Erde ein15
gelassen und dienten als Barriere für die altmodischen Fiaker, in denen etwa die Elite von Maria-Theresienburg zum Besuch ihres gastfreundlichen Kavallerieregiments gefahren kam. Bei feierlichen Anlässen und Festlichkeiten, an denen die zivilen Behörden und auch die Damen der Theresienburger Gesellschaft teilnahmen, wurde vom Vestibül bis zum ersten Stock ein roter Teppich ausgelegt, und an jeder Wendung der Treppe im Zwischengeschoß, vor den Glastüren im Parterre und beim Eingang zum Korridor des ersten Stocks standen zwei Dragoner in Paradeuniform, mit weißen Handschuhen, wie Lakaien. Dieses barocke Jesuitenportal, die Teppiche und die Paradelakaien, der Festsaal mit Fahnen und altertümlichen Bildern – das alles sah sehr vornehm aus, und all das erschien aus der plebejischen Perspektive der subalternen, administrativen Zivilbeamtenschaft aus dem Volke als ritterlich-dekorativer Traum, und es gab keinen einzigen lebenden Theresienburger Regierungsassessor, der nicht die zivile Verdammnis seines elenden Beamtenberufs bedauert hätte: elendes Verhängnis der zivilen Kriecher! Aber die schönen Frauen fallen vor den Dragonern in ihrer pastellblauen Montur und vor ihren Säbeln wie die Garben. Sie mähen sie bloß so hin. Die Farbe der Tapeten an den Wänden des Festsaales war dunkelbraun verwittert, und an diesen Wänden hingen in Goldrahmen die neun Porträts der neun Regimentsinhaber. I. Der Herzog von Toskana, Franz von Lothringen, mit Hermelin und dem Purpurornat eines römischen Kaisers; II. Graf Béla Eszterházy, Sohn vom zweiten Obersten 16
des Siebzehnten, der auf dem Schlachtfeld gefallen war ( 1768–1803 ); dann III. Baron Feldmarschall-Lieutenant Albert Gleisstätten, der das Siebzehnte zur Zeit der Kampagne Bonapartes in der Lombardei kommandiert hatte ( 1803–24 ); IV. Graf Keglevich ( 1824–49 ), das einzige Bild eines Grandseigneurs in Zivil, mit weißseidener Krawatte und einem Windspiel; V. Großfürst Aleksandr Aleksandrovič ( 1849–69 ); in der Gala eines Dragonerobersten des Siebzehnten Regiments, mit den Insignien vom Goldenen Vlies, verliehen vom Kaiser als Zeichen des Dankes für die persönliche Teilnahme des Großfürsten an der Expedition gegen die Magyaren; VI. Der Großherzog von Mecklenburg-Schwerin ( 1869 bis 78 ); VII. Fürst Auersberg-Lipschitz; VIII. Der König von Bayern; IX. Generalmajor Graf Ségur-Cabanac ( 1888–99 ).
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ls Oberst von Warronigg das Kommando innehatte, war der Platz eines Ehreninhabers des Siebzehnten Dragonerregiments leer. Man meinte, Inhaber werde der König von Spanien werden, Alfonso XIII., der in ganz Europa als berühmter Charmeur und Golfvirtuose bekannt war, oder Erzherzog Ferdinand Albrecht oder der bulgarische Coburg, der jedes dritte Jahr in den Revieren von Theresienburg Schnepfen schoß und in der Komitatshauptstadt als guter und geistreicher Charmeur sehr volkstümlich war, ein Enkel von 17
Louis-Philippe, einem ebenso geistreichen Charmeur. Im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts galt das Kaiserliche und Königliche Dragonerregiment Nr. 17 nicht mehr als exklusives Gentry-Regiment, aber dessen ungeachtet genoß es dennoch den durchaus anständigen Ruf eines guten und distinguierten Regiments, in dem zu dienen zwar nicht besonders chic war, aber jedenfalls auch nicht kompromittierend. Im Siebzehnten Regiment bei der Theresienburger Abteilung dienten damals drei Grafen: Hollós, L’ Ours-Walderode und Buttler ( ein direkter Nachfahr des WallensteinMörders ), ein Herzog von Mantua ( als Kadett ), vier Barone und neun Adlige, neun elende Krautjunker dank Verböczi, die leider nichts besaßen außer ihrem armseligen Adelsprädikat, dieser billigen blaublütigen Marke, die wie eine Art Blechtrommel um den Zunamen gehängt wird und aus zwei nichtigen Buchstaben besteht: p und 1. Aber jedenfalls war die andere Hälfte des Offizierskorps, das genau 31 Köpfe zählte, leider – bürgerlich. Immerhin, diese Bürger waren alle mehr oder weniger von solider und durchaus anständiger Herkunft, Söhne von hohen Beamten, Großgrundbesitzern und Herren der Komitatsverwaltung. Es waren auch fünf, sechs Millionäre dabei, so zum Beispiel Lieutenant Mayer Kolozsváry, dessen Vater elf Brauereien des » süßen Kolozsváry-Doppelbiers « besaß, das in der ganzen Monarchie bekannt war dank der berühmten Plakate, auf denen König Matthias Corvinus seinen feudalen, fürstlichen, trunkenen Gästen den Gruß entbot mit einem schäumenden Krügel des » süßen Koloszváry-Doppelbiers «. 18
Aber es waren da auch problematische, dunkle Persönlichkeiten mit völlig obskurem Hintergrund, so zum Beispiel der beste Reiter des ganzen Regiments, Oberlieutenant Szalai, dessen Vater irgendwo in Kaposvár als pensionierter Komitatskanzlist lebte.
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heresienburg ( ungarisch Alsó Teréz-Vár ) war die Hauptstadt des jenseits der Donau gelegenen Komitates Alsóvár, Geburtsort des Kardinals, Staatsmannes und Predigers Thurzói Thuróczy Aladár ( ein historisch berühmter Henker, der im Verlauf seiner genialen rhetorischen Karriere als Kirchenredner Calvinisten und Hexen zu Tausenden umbrachte ), eine Stadt mit Kastanienalleen, mit dem Hauptkorso der Erzherzogin Maria Valeria und einem öffentlichen Haus neben dem Stadtzollamt, in der Gastwirtschaft zur Gläsernen Lilie. Im Vestibül des Bahnhofs von Theresienburg hing ein überirdisches, vier Meter hohes Bild des Kaisers Napoleon Bonaparte, in historischem grauem Mantel mit Zweispitz und dazu der ungarischen Reklameinschrift, die amerikanische Schreibmaschine Underwood habe die Erdkugel erobert. Mitten vor dem Bahnhofsgebäude stand zwischen Beeten von Tulpen und Stiefmütterchen das bronzene Reiterstandbild des Königs Matthias Corvinus mit drei marmornen Frauen. Eine hielt in der Hand eine Fahne, die zweite einen Lorbeerkranz und die dritte eine Urkunde mit königlichem Siegel, durch die König Matthias Alsóvár zur königlichen Freistadt erklärt hatte ( 1467 ). Das war eine 19
Arbeit von höchst problematischem künstlerischem Wert, aus der Hand irgendeines namenlosen Epigonen des Pester Bildhauermeisters Strobl, und unter der Krone des Matthias Corvinus hatten sich vor zwei Jahren Schwalben eingenistet, und dort waren sie dann auch im Frieden Gottes wohnen geblieben und reisten jeden März von Kairo zum Denkmal von Alsóvár. Theresienburg hatte drei Fabrikschornsteine ( den Schornstein der Dampfmühle, den Schornstein der Papierfabrik und den der Glashütte ), ein Rathaus mit Turm und beleuchteter Uhr, ein barockes Jesuitenkloster, das zur Kaserne umgebaut war, und eine Promenade vor der Kathedralkirche. Die Platanen der Promenade von Alsóvár waren alt und faul; jedes Jahr etwa warf ein Sturm den einen oder anderen Stamm um, und vor dem hölzernen Musikpavillon stand ein riesiger Eisenkäfig mit einem lebendigen Eichhörnchen. Am Ostrand der Promenade zwischen Immergrün und Oleanderbüschen leuchtete weiß die Marmorbüste von Lajos Kossuth, und am Westrand die der seligen Kaiserin Elisabeth, die so besonders großen Wert auf ihren Titel einer Königin von Ungarn gelegt hatte. Vor der Kaiserin verkaufte während der Sommerzeit ein alter Invalide vom Jahre 1848 Himbeergeist und Luftballons, und von Kossuth reckte sich diskret zwischen Efeu und Lorbeerbüschen eine groteske hölzerne Hand mit einer Tafel, auf der zwei symmetrische, elliptische Nullen in ihrer schlaraffischen Symbolik für das pannonische WC verzeichnet waren. 20
So sah Theresienburg aus, eine Stadt mit Platanen und einer Kathedrale, zwischen riesigen Eichenwäldern inmitten des welligen Terrains, das sich eintönig und waldig von der Donau bis zur steirischen Grenze und zum Plattensee hinwälzte. Pappeln an den Straßen, Schmieden und Wirtshäuser, Türme in der Ferne und Ziegeleien am Stadtrand, Waldparzellen und Weingärten mit hölzernen Sommerhäusern – dieses ganze Panorama rings um die Stadt war billiger Kitsch, und zur Zeit der Herbstregen war dieser Kitsch neblig und langweilig. Etwa halb drei Uhr nachts und gegen vier Uhr nachmittags kreuzten sich in Theresienburg zwei Pester Expresszüge, und wenn die Omnibusse der Hotels König Matthias und Magyarischer Palatin in ihrem eintönigen Trab über die Kronprinz-Rudolf-Allee und Maria-Valeria-Straße zurückkehrten, dann wußte das Kassafräulein Žofika im Cafe Sloboda schon, wer in Theresienburg angekommen war: ein neuer Offizier oder ein Handlungsreisender mit Krawatten. Theresienburg hatte zwei Konditoreien und ein graues Rokokotheater in der Deakstraße, von der bekannten Kaiserlichen und Königlichen Baufirma Hellmer und Fellner, den Hofbaumeistern für Provinztheater diesseits und jenseits vom Geltungsbereich des Ausgleichs, am östlichen und am westlichen Strand der Leitha. In der ersten Fensternische des Theresienburger Cafes und Hotels Zum Magyarischen Palatin saß jeden Tag von fünf bis sieben wie eine Wachspuppe im Waffenrock mit dem Leopoldkreuz S. Exzellenz Feldmarschall-Lieute21
nant von Schwartner, Divisionär und Standortkommandant, bei einem Kapuziner und der Reichspost von gestern, die mit dem Mittagszug eingetroffen war. In der Gesellschaft des Feldmarschall-Lieutenants von Schwartner las der Brigadier Generalmajor Draveczk seine Pester ungarische Zeitung, und manchmal, gewöhnlich samstags nach fünf, kam zum Generalstisch sehr höflich, subaltern und im vorschriftsmäßigen Abstand der Kavallerieoberst und Kommandeur des Siebzehnten Regiments, von Warronigg. Die Kavallerieoffiziere spielten Billard im Kaptol, in einem engen Gäßchen neben dem Dom, und die Infanterieoffiziere vom 107. Infanterieregiment kehrten im Bürgercafe Szahadság ( Freiheit ) an der Ecke beim Theater in der Deakstraße ein. Nach elf Uhr rührte sich auf den Straßen von Theresienburg niemand mehr. Auf dem Hauptmarkt beim Springbrunnen stand der Nachtwächter, und irgendein schwarzer Hund verschwand bei der letzten Petroleumlampe im Hintergrund der Allee in der Finsternis. Es überquerte etwa eine einzelne Frau im Kopftuch die Straße, allem Anschein nach auf dem Weg zur Apotheke. Vom Kaptol her schallt das Cimbal. Dort lumpen die Dragoner und werfen Gläser entzwei. Ein einzelner Fiaker trabt über den Asphalt der Deakstraße. Der fährt zur Gläsernen Lilie, weit draußen, an der Peripherie beim Stadtzollhaus. Auf dem Bahnhof jammert eine Dampfmaschine. Es ist spät. Mitternacht ist vorbei. 22
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m 22. Mai eines jeden Jahres feierte das Aspern- und Eßlingsche Regiment den Sieg bei Aspern und Eßling als seinen Regimentssieg, denn das Siebzehnte Dragonerregiment hatte jenes Heldenfleisch gestellt, das unter dem persönlichen Kommando des Erzherzogs Karl den Sturmangriff des Marschalls Masséna am Donauarm abgewiesen und Napoleon zurück in die Lobau geworfen hatte. In dem Gemetzel, bei dem siebzehn Generale umgekommen waren, hatte das Siebzehnte Regiment bis zu den Knien im Blut gewatet, war aber keinen Fuß breit zurückgewichen: » Ein Beispiel hoher Moral für Generationen « ( dreitausend Tote ). Der 22. Mai war der Tag des Triumphs für das Siebzehnte Regiment, aber am 22. Mai des Jahres 1906, zum 97. Jahrestag der Schlacht bei Aspern und Eßling, wurde dieser Triumph durch eine ungewöhnliche Ehrung besonders ausgezeichnet: Seine Exzellenz der Generallieutenant des kaiserlichjapanischen Heeres Graf Fudji-Hasegawa, der Sieger von Liao Jang und oberster Chef der operativen Abteilung im Generalstabskabinett des Generallieutenants Baron Kodama hatte dem siegreichen Siebzehnten Dragonerregiment seinen hohen Besuch angekündigt. Graf Fudji-Hasegawa war der General, der den General Zaharov und dazu die Generale Kuropatkin und Blagovješčenskij bis auf den letzten Mann geschlagen und der mit seinen genialen Operationen vor Liao Jang die russischen Divisionskommandeure und Generale Baron Stackelberg, Papengut, Webelj, Tizengausen, Baron Bilderljing 23
und Freiherr von Geršeljman zusammen mit ihren Divisionen samt Divisionstroß und Reserven gefangengenommen hatte ( zwanzigtausend Pferde und Reiter waren in diesem Gemetzel ums Leben gekommen ). Graf Fudji-Hasegawa hatte persönlich mit 116 Bataillonen, 33 Eskadronen und 112 Batterien operiert, und dieser Stabschef des Siegers, Marquis Ojama, der bei Wafaung, Fönhuantschön, Windschu und Mukden gesiegt hatte, war gekommen, um persönlich dem Siebzehnten Regiment zu seinem Siege über Napoleon bei Aspern und Eßling zu gratulieren. Schon 48 Stunden vor diesem außerordentlichen Ereignis war die Nervosität im Siebzehnten Regiment derartig groß, daß man den Eindruck hatte, auch die Pferdeketten in den Ställen klangen aufgeregter als an gewöhnlichen Tagen. Gerenne der Ordonnanzen, Türenschlagen, die Regimentsbarbierstube voll besetzt, Unruhe in den Schneiderwerkstätten von ganz Theresienburg. Hochkonjunktur im Leihhaus, und auch das Kassafräulein Žofika im Szabadság – alles war aufgeregt wegen des Grafen Fudji-Hasegawa, der mit dem Pester Express um fünf Uhr nachmittags eintreffen sollte. Das Programm war sehr kompliziert und innerhalb von 24 Stunden aufgestellt worden, denn der Graf Fudji mußte nach seinem internationalen Terminplan am nächsten Tag um zwei Uhr nachmittags mit dem Express nach Fiume abreisen, um rechtzeitig zu einer internationalen Flottenkonferenz in Venedig einzutreffen. Graf Fudji sollte in seinem Appartement im Magyarischen Palatin als Gast des Siebzehnten Regiments wohnen, aber da im letz24
ten Augenblick auch noch die Ankunft des Helden von Port Arthur, des Generals Lin Tsi, gemeldet wurde, übernahm Rittmeister Graf Hollós den Helden von Port Arthur ( und dessen Begleitung ) in seine gastfreundliche Fürsorge. Nach den telegrafischen Anweisungen des Kriegsministeriums wurde das kleine Programm des feierlichen Empfangs kurzerhand folgendermaßen festgelegt: Um fünf Uhr feierlicher Empfang am Bahnhof. Graf Fudji-Hasegawa in Begleitung der Generalität. Frühstück in der Menage des Regiments. Um sieben Uhr erwartet ihn im Ehrensaal das Offizierskorps des Siebzehnten in corpore. Begrüßungsrede des Regimentskommandeurs Obersten Ritter Warronigg. Antwort Seiner Exzellenz des Grafen Fudji-Hasegawa. Um acht Uhr im großen Saal des Offizierskasinos Vortrag des Oberlieutenants im Siebzehnten Dragonerregiment Dr. Géza Örkényi es Magasfalvai Ramong zum Thema: Der 97. Jahrestag des Kampfs bei Aspern und Eßling ( mit Lichtbildern ). Neun Uhr fünfzehn feierliches Abendessen zu Ehren des Siegers von Liao Jang und Mukden in der Menage des Siebzehnten Regiments. Danach venezianische Nacht im Park des Regiments. Am folgenden Tag: Abteilungsmanöver kombiniert mit Infanterie und Artillerie. Einnahme der Ausgangsstellungen zwei Uhr nachts. Neun Uhr dreißig Besichtigung des Siebzehnten im Gelände bei Malom-Falva. Elf Uhr dreißig Divisionsdéjeuner ( dinatoire ) im Gelände. Der General kehrt im Divisionsvierspänner nach Theresienburg zurück. Um zwei Uhr zehn Abfahrt mit dem Schnellzug nach Fiume. 25
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unkt fünf Uhr dreiunddreißig trat der Sieger von Liao Jang, Graf Fudji-Hasegawa, durch die Tür des Regimentsehrensaals; ihn begleiteten der japanische Admiral Watanaba, der General von Port Arthur, Pei Lin Tsi, der Kommandant der Theresienburger Infanteriedivision, Feldmarschall-Lieutenant von Schwartner, der Brigadier der 74. Brigade, Generalmajor Lajos Nemes Draveczky von Draveczky, der Oberst und Kommandeur des Siebzehnten Regiments, Ritter von Warronigg. An der Spitze der zahlreichen Suite von Divisionsadjutanten, Flügeladjutanten und Ordonnanzoffizieren, vor dem gesamten Offizierskorps des K. u. K. Siebzehnten Dragonerregiments, in dieser Masse von Gala, Lack, Nickel und Gold, sah Graf Fudji-Hasegawa altmodisch aus in seinem grauen Salonrock mit weißer Krawatte, in hellen Handschuhen, in seinem unmodernen Zylinder, kurzsichtig, mit fingerdicker Brille, wie eine Puppe, die mit Glasaugen zwinkert und scharfe Schneide- und Eckzähne zeigt, als ob sie knurre. Oberst Warronigg warf den routinierten Regisseurblick des erfahrenen Kommandeurs über die Offiziere seines Siebzehnten Regiments. Dort standen 29 Offiziere der Theresienburger Dragonerabteilung vom Oberstlieutenant Redl bis zum Kadetten Imre Fazekas, alle in voller Gala mit metallbeschlagenem Dragonerhelm unter dem rechten Arm, in hellblauem Waffenrock mit der berühmten kaiserlich-gelben Egalisierungsfarbe des Siebzehnten ( Farbe der Kanarienvögel, nach der man sie in der Monarchie Kanarienvögel oder Alsóvárer Rührei-Dragoner nannte ), in roten 26
Hosen, Stiefeln und mit schwerem Kavalleriepallasch an der Hüfte, alle vorschriftsmäßig stramm, alle in weißen Handschuhen, frisch rasiert, stumm, würdevoll wie Standbilder. 29 Paar Sporen erklangen in dem Augenblick, als Generallieutenant Graf Fudji-Hasegawa über die Schwelle der massiven Eichentür schritt, und dieses Klirren von 29 Paar Sporen tönte unangenehm durch den Saal, so wie Glas klingt, wenn es Neger bei Vorführungen eines Provinz-Zirkus zerbeißen. Als erster schritt vor dem Offiziersspalier her über den roten, vierzehneinhalb Meter langen Teppich der General Fudji-Hasegawa, ein direkter Nachkomme eines der berühmtesten Donnerer vom gelben, mongolischen Olymp und einer weißen, grazilen Elefantenkuh, die so ruhmreich war, Mutter von Halbgöttern und Halbelefanten in kaiserlichem Ornat zu werden, hinter ihm Admiral Baron Watanaba mit dem General Pei Lin Tsi, und hinter dem Admiral düster, stumm, sehr streng und dienstlich reserviert der Divisionskommandant Feldmarschall-Lieutenant von Schwartner im bescheidenen Glanz seines frischgebackenen Adelsattributs, das ihm von seiner Majestät genau vor zwei Jahren oktroyiert worden war. Admiral Watanaba trug die volle Gala eines japanischen Flottenoffiziers, mit Admiralszweispitz und weißem Schwanenfederbusch, reich galoniert mit 29 allerhöchsten internationalen Orden, voll von Sternen und emaillierten Abzeichen, mit silbernen Verzierungen und Schärpen, während der Held von Port Arthur, Pei Lin Tsi, in einfacher Khaki-Uniform erschienen war, auf der er die Minia27
turbänder seiner Auszeichnungen in zwei bunten, langen Schnallen über dem Herzen trug. Pei Lin Tsi, der vor Port Arthur neun Monate lang dem sicheren Tod ins Auge geblickt hatte, dieser miles gloriosus, trug keinen Säbel: seine rechte Hand fuchtelte nervös mit einem etwa 40 Zentimeter langen, silberbeschlagenen Bambusrohr herum. Die japanischen Generale in Begleitung des Divisionärs, des Brigadiers und des Obersten Warronigg schritten bis zur linken Wand des Saales und nahmen dort Aufstellung unter dem Bild S. M. des Kaisers und Königs F. J. I. auf schwarzem Araber, in der Galauniform eines österreichischen Feldmarschalls, einer italienischen Monumentalkomposition aus der Zeit von Solferino und Magenta. Die japanischen Herren erstiegen die Estrade und machten kehrt, während die Suite von Adjutanten, Begleitoffizieren und Flügeladjutanten diskret links und rechts vom Aufgang zurückblieb. Warronigg, eine hochgewachsene und magere Erscheinung mit angegrautem, ungestutztem Schnauzbart, stand mit auf der Estrade und war fast einen halben Kopf größer als die japanischen Würdenträger. Bei seinem Einzug am Schluß der Generalssuite hatte sein unruhiger Blick die Gesichter seiner Offiziere links und rechts gestreift, die, dem Dienstrang nach aufgereiht, in strengster zeremonieller Haltung darauf warteten, das Wort ihres Chefs zu hören. Es entstand eine stumme Pause, die nach dem Programm als erster der Divisionskommandeur Fcldmarschall-Lieutenant von Schwartner unterbrechen mußte. 28
Von Schwartner war unansehnlich von Natur und in seinem Alter kurzatmig geworden, und doch dominierte dieser blaublütige Arrivé von Schwartner über all die Dragonerritter dank seines Generalskostüms mit seinen roten Streifen, goldenen Sporen und hohen Auszeichnungen. Leopoldskreuz, Eiserne Krone IL Klasse, Kriegsverdienstmedaille am Bande des Kriegsverdienstkreuzes, Silberne Tapferkeitsmedaille, Kriegsmedaille für die bosnische Okkupation 1878, Militärdienstabzeichen III. Klasse für Offiziere, Bronzejubiläumsgedenkmedaille, Militärjubiläumskreuz, der italienische Verdienststern mit allen elf Orden auf der Brust, im Waffenrock, der zu eng geschnürt war für sein asthmatisches Herz, stand von Schwartner da, dann räusperte er sich dreimal laut und trocken, und seine Hand ( wie immer im frischgewaschenen, billigen, möglichst allerbilligsten Wildlederhandschuh, den ihm die gnädige Frau an der Peripherie von Wien bei israelitischen Krämern einkaufte ) winkte den Herren Offizieren, aus ihren Spalierreihen links und rechts bis zum Teppich einzuschwenken, Front zur Estrade: » In Doppelreihen links und rechts bitte anschließen, meine Herren! « Dieses Aufrücken links und rechts in Doppelreihe geschah fast lautlos, in einer Sekunde, und nach einem Augenblick Sporenklirren wurde es wiederum still. Das Offizierskorps des Siebzehnten Dragonerregiments stand still wie aus Wachs, ohne die geringste Bewegung und schaute fast ohne Wimpernschlag auf den Generallieutenant Graf Fudji-Hasegawa wie ein Mann. 29
Alle waren sie da, das ganze Siebzehner Eliteregiment. Die Grafen Hollós, Walderode und Buttler, die vier Barone des Regiments, Swirsen, Lendvaj, Rimay und Cziráky, und der Kadett Herzog von Mantua, und die neun Adligen, unter ihnen Oberlieutenant Géza Örkényi es Magasfalvai Ramong, Stolz des Regiments, Doktor der Mathematik an der Tübinger Universität, und dann die elf Plebejer, darunter der beste Reiter Szalaj, Sohn eines Komitatskanzlisten, und Oberlieutenant Emil Sztatoczny, der als Maler Talent und jenen Gobelin kopiert hatte, der die Kürassiere von St. Quentin im Sturmangriff bei den Windmühlen von Lützen zeigte. In diesem Augenblick waren im Saal mehr als fünfzig Sporen, fünfzig Nickelkartuschen, fünfzig Säbel und mehr als zweihundert kostbare Orden: japanische, kaiserliche und internationale aus Silber und Emaille, Seide und Blut; das ganze Riemenzeug, all die Kettchen, bronzenen Löwenhäupter, die Roßschweife auf den Tschakos der Husaren, Husarendolmane und Dragonergala, Pickelhauben und Helme, goldene Doppeladler, Handschuhe, Tschakos, Löwentatzen und Kartuschen, Augen, Frisuren und Gebisse – all das sah aus wie aus Wachs gegossen, tot und starr, ohne einen einzigen intelligenten Gedanken. Kaum daß unter dem Pelz des Husarendolmans und unter dem pastellblauen Tuch des Dragonerwaffenrocks das eingezwängte Menschenfleisch einförmig und eben merklich atmete. Alle Handschuhe waren weiß, wie mit Kreide bestrichen, alle Kartuschen glänzten, als wären sie aus kostbarem Metall, alle Knäufe der schweren Reitersäbel, 30
alle Troddeln an den goldenen Portepees, alle Sporen, alle Augenbrauen und alle Schnurrbarte – alles das war streng, mit Wichse, Lack und Brillantine bestrichen, in Benzin gewaschen, gebügelt, geordnet, restlos unter Regie und zur Repräsentation aufgestellt. Das Kaiserliche und Königliche Siebzehnte Dragonerregiment stand in Gala unter dem Bild des Kaiser-Imperators, unter den altertümlichen Porträts seiner toten Inhaber, unter seinen blutigen Fahnen zu Ehren des Siegers in der Mandschurei, von Liao Jang und von Mukden, des Grafen Fudji-Hasegawa. Feldmarschall-Lieutenant von Schwartner sprach langweilig und schablonenhaft, wie man schon so redet bei derartigen Anlässen. Er sagte, er betrachte es als eine ungewöhnliche Ehre und sei glücklich, im Namen eines der hervorragendsten kaiserlichen Eliteregimenter eine der bedeutendsten strategischen Kapazitäten begrüßen zu können, einen Mann, der im Pantheon internationaler Berühmtheit und Ehre unsterblich bleiben werde, so wie ein v. Clausewitz, ein v. Bleibtreu, ein Erzherzog Karl unsterblich seien; Graf Fudji sei nicht bloß ein einfacher Empiriker, sondern ein Gelehrter, der auf dem Gebiete der Ballistik schwerer Mörser mit seinem System Fudji 306 bereits im ChinesischJapanischen Krieg 1895 ein Recht auf den Lorbeer erworben habe. Amerika habe das anerkannt und ihn schon 1897 zum Ehrendoktor der Columbia University ernannt. Nach dem Feldmarschall-Lieutenant nahm programmgemäß der Kommandeur des Siebzehnten, Oberst Warronigg, das Wort. Er sprach von den genialen Operationen 31
der Armeen des Grafen Nodsu und des Barons Kuroki und betonte besonders, daß die Schlacht bei Liao Jang dank der herrlichen Zusammenarbeit aller, ganz besonders aber durch die Intuition und die strategische Weitsicht des Grafen Fudji zum Meisterwerk der Kriegskunst geworden sei. Es ist ihm besonders lieb, daß er gerade heute, am 22. Mai, am 97. Jahrestag von Bonapartes erster Niederlage, im Namen des siegreichen Siebzehnten Regiments zum Sieger des 29. August spricht. Er erwähnte auf diese Weise siebzehnmal das Wörtchen » besonders « und zitierte laut und pathetisch den Tagesbefehl des Generals Kuroki: » Die Kuroki-Armee, welche so oft schon dem Feind Verluste bereitete, soll nun mit größeren Truppenmassen als dies bis jetzt je geschah, einen Nachtangriff ausführen. Niemand soll darauf bedacht sein, lebend zurückzukehren. Jeder bekleide sich daher mit einem frischen Hemd ( als Leichenkleid ).« Ein solcher Befehl eines Generals gehört schon nicht mehr in den Bereich militärischer Stilistik! Das ist eine reine Epopöe. Solch ein Zeitalter derartiger Helden ist legendär. Und einer dieser legendären Helden steht hier auf der Estrade, und das Siebzehnte Dragonerregiment betrachtet in ungewöhnlicher innerer Bewegung diesen 22. Mai 1906 nach dem 22. Mai 1809 als seinen größten Ruhmestag! Nach einer Pause von 40 Sekunden begann der legendäre japanische Held zu sprechen. Unter dem Lützener Gobelin, unter den Fahnen von Malplaquet, Kollin, Aspern und Eßling, Magenta und Königgrätz, unter dem Bild des Kaisers, im grauen Salonrock, den Zylinder in der Hand, kurzsichtig und bescheiden stand er da auf der Estrade wie 32
ein Professor auf dem Katheder. Er sprach Englisch. Bescheiden und halblaut bat er die Generale und die Offiziere des Siebzehnten um Verzeihung, daß er nicht Deutsch sprechen könne, aber was er von seinen Deutschkenntnissen nicht vergessen habe, sei so wenig, daß er sich schäme, das hochgebildete kulturelle Niveau dieses ruhm- und siegreichen Korps zu beleidigen. Graf Fudji-Hasegawa sprach lange und langsam, und er hob die einzelnen Wörter besonders hervor, aber es verstand ihn in der Versammlung außer dem Grafen Hollós, dem Herzog von Mantua und dem Oberlieutenant Ramong so gut wie niemand. Man hörte ihn den Namen Bonapartes erwähnen, die Schlacht bei Aspern und Eßling, und Wagram, Moskau, Mandschurei, Port Arthur und Liao Jang. Man spürte, daß er sehr geschickt und gelehrt sprach; und weil er die Suggestion zu erzwingen wußte, machte er den Eindruck, dort auf der Estrade stehe ein Praktiker, » der schwarz vom Pulver der Gewehre mehr als 150 Bataillone in den Tod geschickt hatte» ( Zitat nach Feldmarschall-Lieutenant von Schwartner ), und damit wirkte Graf Fudji auf die Generalität und auf die Dragoner und die Adjutanten magisch und überzeugend. Das gelbe Gesicht, herb und hart wie aus Kautschuk, die flachen Schneide- und Eckzähne unter den roten Lippen, die glattrasierte mongolische Maske mit der schwarzen Brille, der imposante und geheimnisvolle englische Text – das war alles sehr effektvoll und suggestiv. Und hinterher, fast eine ganze Minute nach seinem letzten Satz, rührte sich 33
niemand, und keiner sprach ein Wort. Es folgte ein langes Schweigen voll von Respekt und historischem Pathos. Nach dieser Pause brachte seine Exzellenz den Wunsch zum Ausdruck, alle Offiziere persönlich kennenzulernen. Daraufhin zerteilte Feldmarschall-Lieutenant von Schwartner mit einer Bewegung seiner Hand die Achterreihen seiner Dragoner zum Spalier rechts und links vom roten Teppich, und somit hielt Graf Fudji-Hasegawa, begleitet von Rittmeister Graf Hollós und dem Kadetten Herzog von Mantua als Dolmetschern, vorschriftsmäßig Cercle mit allen anwesenden Offizieren. Jedem einzelnen gab er die Hand, und Ritter von Warronigg erstattete ihm Bericht über alle Berühmtheiten des Siebzehnten Regiments: Baron Cziráky, rangältester Absolvent der Kriegsschule, zukünftiger Generalstäbler, und Graf Buttler, der beste Schütze, und der Doktor der Mathematik der Tübinger Universität, Oberlieutenant Géza Ramong, und der Maler und Privatist der Pester Kunstakademie, Oberlieutenant Emil Sztatoczny, und Oberlieutenant Szalaj, der beim letzten internationalen Herbstreitturnier in Kopenhagen den internationalen Weltrekord für den Sprung zu Pferd ohne Anlauf um 7 Millimeter verbessert hatte. So stellte denn Graf Fudji, Schritt für Schritt von der Generalität begleitet, verschiedene Fragen; dann verneigte er sich vor dem Kadetten Fazekas als letztem, grinste wohlwollend nach allen Seiten und verließ in Begleitung des Feldmarschall-Lieutenants von Schwartner, des Admirals Watanaba und des Generals von Port Arthur Pei Lin Tsi 34
den Saal. Man hörte noch die Trompeten am Portal des alten Jesuitenklosters den Marschallsgruß wimmern, die Herrschaften stiegen in den Vierspänner, und in Begleitung weiterer vier Kutschen mit Adjutanten und Ordonnanzoffizieren bewegte sich der Zug im Trab zum Magyarischen Palatin auf dem Domplatz.
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berlieutenant Géza Örkényi es Magasfalvai Ramong war aus mehreren Gründen verdrossen. Schon vor zwei Monaten hatte er seine Habilitationsschrift über die Ellipsoide nach Tübingen geschickt und gedacht, er werde damit von Maria-Theresienburg und auch vom Siebzehnten Dragonerregiment loskommen, bei dem er schon fünf Jahre, ziemlich wenig begeistert von seinem Schicksal, diente. Eine Antwort aus Tübingen war indes noch nicht gekommen, und aus privaten Informationen hatte er erfahren, daß die Frage seiner Dozentur in Tübingen nicht so glatt gehen werde, wie es anfangs ausgesehen hatte. Überall tauchten nicht vorherzusehende Hindernisse und Verwicklungen auf. Abgesehen von Tübingen stand er noch über eine technische Agentur in Pest in vertraulichen Beziehungen zur » Festungsbauabteilung im Kriegsministerium « der Republik Bolivien, wo man einen hochqualifizierten Spezialisten, Mathematiker und Pionier, suchte. Oberlieutenant Ramong war nun zwar kein Pionier, aber er hatte vor zwei Jahren in Wien den einjährigen Pionierkurs absolviert, doch weil die Republik Bolivien neue Dokumente angefordert hatte, wurde die Sache immer komplizierter. 35
Die Chancen, einige Tausend Pfund pro Jahr zu verdienen, nahmen keinerlei konkrete Gestalt an, indes erschienen ihm die paar Tausend Pfund jährlich als einziger rettender Ausweg aus der romantischen Situation, in die er sich mit der Gemahlin seines Kommandeurs, der Baronin Warronigg verwickelt hatte. Beim Regiment war der Kommandeur Oberst Warronigg mit Ramong ( aus vielen Gründen ) unzufrieden, und er hatte ihn selbst » aus eigener Initiative «, wie man das nennt, zum Lehrer für Technologie an der Kadettenschule in Mährisch-Weißkirchen vorgeschlagen, um diese unangenehme und exaltierte Person, von dem die Frau Obristin Olga schon seit dem vergangenen Silvester schwärmte, loszuwerden. Oberlieutenant Ramong hatte keine Lust, unter die Technologen in Mährisch-Weißkirchen zu gehen. Und gerade jetzt in die Zeit, wo sich Frau Olga anschickte, nach Sizilien zu verreisen, fiel dieser blöde 97. Jahrestag von Aspern und Eßling, kamen die Japaner, und Oberst Warronigg, natürlich, drangsalierte ihn mit dem Befehl, einen unmöglichen Lichtbildvortrag im Kasino zu halten.
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as kann man überhaupt über den » Sieg « bei Aspern sagen, wo es doch überhaupt gar kein Sieg war, sondern nur ein völlig belangloses strategisches Intermezzo zwischen Wien und Wagram? Von Regensburg bis Thaun, von Abensberg bis Wagram, lauter Déb âcles, eins größer als das andere, und was soll das heißen, die historischen Fakten derart zu fälschen? Bonaparte sitzt in Schönbrunn, 36
und sie fälschen die Fakten mit irgendwelchen Siegen! Unglaublich! So saß der Oberlieutenant Ramong über die Karte der Gegend zwischen Regensburg und Wien gebeugt, auf der alles rot war von kleinen roten Pfeilen, die die Marschrichtungen von Bonapartes Marschällen Masséna, Davoust, Lannes, Bessières angaben, und starrte mechanisch auf die Städtenamen der Karte und dachte an die Frau seines Kommandeurs, die Obristin Olga. Gestern abend in der Dämmerung hatte ihr Stubenmädchen bei ihm geklingelt und einen Brief von Olga gebracht. Er wußte, daß sie eine Reise nach Sizilien vorhatte, aber daß sie ihn mit einer gewöhnlichen Visitenkarte und den Buchstaben p. p. c. liquidieren wollte, das war denn doch übertrieben originell von Olga Warronigg. So schüttelt man sich einen Pinscher vom Schoß, aber nicht einen Doktor der Mathematik und Offizier des Siebzehnten. Ist er ein Sack, daß sie ihn so über Bord werfen? Wie steht’ s mit der Kräfteverteilung zwischen Aspern und Wagram? Bonaparte: Oudinot drei Divisionen, Davoust vier Divisionen, die Kavalleriereserve des Generals Bessières fünf Kavalleriedivisionen, Bernadotte, Wrede und Broussier in konzentrischer Bewegung aus Graz nach Linz. Und was ist mit Erzherzog Karls Generalmajor Schoustek? Wo ist dieser Idiot Schoustek? ( Wie kann einer Schoustek heißen? Zu blöd! ) Also mit einer Visitenkarte und den drei Buchstaben p. p. c. ? Olga bildet sich ein, er werde diesen Handschuh vergessen? Es wäre eines Ramong unwürdig, darüber in pas37
sivem Schweigen hinwegzugehen. Und wenn sie morgen zu dem japanischen Abend erscheint, dann wird er ihr seine Meinung klarmachen. Er wird seine Beziehungen zu dieser Dame um jeden Preis klarstellen! Coûte que coûte! Daran wird sie denken! Géza Örkényi es Magasfalvai Ramong war eine verhältnismäßig komplizierte Persönlichkeit. Als einziger Sohn des pensionierten Husarenoberstlieutenants Aurel Ramong hatte dieser junge Mann eine sehr trübselige Kindheit an der Seite seines verwitweten Vaters verbracht, der zudem als junger Husarenoffizier beim Rennen gestürzt und mit einem Holzbein sein Leben lang verschlossen und unglücklich geblieben war. Nach der Familientradition stammten die Ramong aus Spanien; die Farben ihres Familienwappens aus dem Jahre 1694 waren die spanischen: ein roter Greif auf gelbem Feld. Zum 27. Geburtstag seines Einzigen im September vergangenen Jahres hatte der Vater ihm die in gelbrote Seide gebundenen Blätter Die Briefe an einen jungen Offizier geschickt mit der Bemerkung, er freue sich natürlich, daß sein Sohn in Mathematik promoviert habe, doch sei er der Meinung, daß das kaiserliche Offiziersdekret über seine Beförderung zum Oberlieutenant eine viel wichtigere Auszeichnung sei als seine Tübinger Ellipsoide. Der alte Ramong war als Invalide mit seinem Holzbein in die Verwaltungs- und Rechnungskarriere übergegangen und hatte schwermütig vor Sehnsucht nach der Eskadron zwanzig Jahre lang in den Militärrechnungsämtern als Beamter gearbeitet, um sich dann eines Tages völlig deklas38
siert in Pension zu finden. So lebte er trübselig und leer in einer dieser unsauberen und düsteren Straßen um den Pester Ostbahnhof, wo Altwarenhändler angeschlagenes Mobiliar verkaufen und wo aus den Schnapsboutiken die Orchestrions schallen. Der alte Ramong wohnte im ersten Stock einer riesigen Mietskaserne in einer Drei-Zimmer-Wohnung mit Renaissancebalkon und häßlicher, von Regen und Wind verwaschener Front, wo unter den Gipskaryatiden den ganzen Tag lang feiste, kropfige Tauben gurrten. Im Jahre 1899 hatte er sich von einer französischen Sanitätsfirma die damals modernste Prothese mit Gummigelenken anfertigen lassen, und in diesem Jahr war er unerwartet auf dem Ball des Roten Kreuzes in Husarengala und ganz neuen Lackstiefeln erschienen. Allein das Faktum des Holzbeins machte den Vater zu einem fremden Wesen, von dem der Sohn sich stumm distanziert hielt; Ramong dachte von Anfang an an seinen Vater als dritte Person und einen fremden Menschen mit Holzbein. Die graue Straße beim Ostbahnhof, die drei Zimmer im ersten Stock mit Balkon, der ungeheizte und kalte Salon mit roten Plüschsesseln und einer Imitation von vergoldeten französischen Stühlen ( die unsolide aussahen, so unsolide wie das Mobiliar in Fotografenateliers ), all das war Géza Ramong fern und fremd. Ihm war noch aus früher Kindheit der Gedanke befremdend und unangenehm, daß sein Vater ein Holzbein hatte, mit diesem Holzbein blöde Ballveranstaltungen besuchte, daß das Mobiliar im Salon immer mit weißen Stoffbezügen bezogen war, daß 39
die Ordonnanz Palatschinken backte, die nach Schichtseife rochen, daß der Vater jeden Morgen Schnaps trank, stinkende Portoricos rauchte; und in diesem Komplex unangenehmer Beziehungen hatte Ramong sich so von seinem Elternhaus entfernt, daß er nie ein inneres Bedürfnis danach empfand. Seit seinem elften Lebensjahr war er in militärischen Anstalten gewesen und hatte dabei an sein Elternhaus immer sehr kalt, wie an etwas Unangenehmes gedacht, wohin man im Urlaub reiste, wo die gebackenen Hühner immer sehr bleich und ohne Fett, die Knödel hart, die Zimmer ungeheizt und mit goldenen Möbeln in Leinenbezügen vollgestellt waren, und wo ein einsilbiger, verschlossener Mensch lebte, der ein Holzbein und kalte Finger hatte, ein Mann, der nach Unteroffiziersvirginiern stank, spuckte und Schnaps trank. Und später, als er zum Regiment gekommen war, zuerst zum Neunten, dann zum Siebzehnten, lebte Ramong in einer ebenso kalten Distanz zu aller Lebensrealität und wurde allein von seiner einzigen Leidenschaft fortgetragen: der Mathematik. Von der ersten Klasse der unteren Militärschule in Kiseg bis nach Mährisch-Weißkirchen war Ramong ein Phänomen in der Mathematik, geradezu mathematisch hellsichtig im höheren Sinn des Wortes, dabei isoliert von jeder Lebensrealität. Für Frauen hatte er nie besonders viel Sinn gezeigt, und die charmante Baronin Warronigg verwandelte sich in den Augen dieses jungen Mannes in ein Ideal, im edelsten und naivsten nachpetrarkischen Sinn. 40
» Es kann einer als Kavallerieoffizier ein Weiberheld sein, dann ist er krank, hat die Syphilis, riecht nach Pester Parfüms, schneidet in seiner roten Hose Grimassen wie ein Zirkusaffe, geht in Lack und hat sogenannten Erfolg bei den Damen. Er ist ein Weiberheld, stinkt wie die Pest nach Brillantine, schmiert sich mit Quecksilber ein, hat seine Weiberheldenlogik und lebt danach! « Er heiratet die Einzige eines Hausbesitzers, wohnt im eigenen Haus als der vornehme Herr Gemahl der einzigen Hausbesitzerstochter, hat eine Apanage von 30 000 Goldkronen, zieht die Miete ein zu 8 Prozent, trinkt sonntags vormittags Bier auf der Promenade, knuspert Brezel, reist zweiter Klasse im Nachtschnellzug und stirbt dann als Kavalleriemajor, Paralytiker und Ochse mit großen Hörnern. Aber Géza Ramong konnte sich nie vorstellen, was eigentlich das Geheimnis des sogenannten Erfolgs bei den Damen war. Schon seit der Pubertät war es ihm unter seiner persönlichen Würde vorgekommen, sich irgendeiner Dame ( Kleinbürgerin ), die man mit » Gnädiges Fräulein « anredet, zu nähern, in der roten Hose eines Zirkusaffen: Pardon, wenn Sie nichts Gescheiteres haben, möchte ich um einen Walzer bitten! Er kam sich selbst lächerlich vor, wie eine Karikatur aus den altmodischen, in Samt gebundenen Alben: Pardon, gnädiges Fräulein, wenn Sie nichts dagegen haben, gestatten Sie, gnädiges Fräulein, darf ich mich vorstellen? Ich bin de Ramong! Ich bin der Edle Ramong von Magasfalvai und Örkényi. Oberlieutenant im Siebzehnten. Ich bin ein Syphilitiker in roten Hosen, ich schmiere mir das Haar mit Brillantine ein! Ihr Herr Vater 41
ist Apotheker, er besitzt eine angesehene und gutgehende Apotheke auf dem Hauptplatz, verkauft Wurmkuchen, Verdauungstee und Franz-Joseph-I.-Bitterwasser, Ihr Herr Vater besitzt eine herrliche Apotheke mit dunkelvioletten Hypermangangefäßen im Schaufenster, und für mich, gnädiges Fräulein, wird es eine Ehre sein, der Vater der Apothekersenkel werden zu können, der Enkel meines zukünftigen Herrn Schwiegervaters, der so frei sein wird, mir das zweistöckige Haus mit Balkon an der Ecke der Maria-Valeria- und Matthias-Corvinus-Straße zu schenken und unter dem Titel der Mitgift auf meinen Namen zu überschreiben. Sie werden mir, gnädiges Fräulein, Hörner aufsetzen, in Opatija, in Wien und in Roič, und wir werden auf diese Weise ein ideales Paar werden, darf ich Sie um einen Walzer An der schönen blauen Donau bitten? Da, auf eine derartig imbezile Art kommt man an Frauen! An was für Frauen? An diese Theresienburger Gänschen, die auf den Bällen wie von Sinnen kichern, und die alten Nachteulen von Apothekermamas schauen uns an mit dem Blick von verfluchten Erinnyen! Zu blöd! Es war ihm immer unter seiner persönlichen Würde erschienen, und er wäre sich selbst in einem solchen Augenblick blöd vorgekommen wie eine Figur aus einem altmodischen Plüschalbum: Pardon, wenn Sie nichts dagegen haben, ich bin, gestatten Sie mir, daß ich mich vorstelle, der Edle von Ramong! Unwürdig! Komisch und dumm! Aber trotzdem: wenn einer kein Schlittschuhläufer ist, kein Tänzer, kein Weiberheld, kein Kartenspieler, kein Syphilitiker – etwas, 42
zum Teufel, muß er doch immerhin sein in diesem System von Pferden, Champagner, Weibern und Karten! Wie kann denn, zum Teufel, der Mensch » Mensch « werden in diesem System von Pferden, Champagner, Apothekergänschen und Poker? Bandi Kállay zum Beispiel war ein Weiberheld! Oberlieutenant Bandi Kállay war schon fünfzehn Jahre lang ununterbrochen aufs glücklichste in wenigstens dreißig Frauen verliebt. Immer elegant, im Lack, frisch gebadet, durchmanikürt, pedikürt, durchmassiert, durchtrainiert, durchpurgiert, durchvoltigiert, quecksilberimprägniert, durchgonorrhöisiert, in Panik und Verwirrung, ausrasiert, gepudert. Bandi Kállay ( geradezu in Todesangst vor einzigen Apothekerstöchtern ) lernte Englisch nach der Methode Berlitz, korrespondierte mit sieben Damen zugleich ( niemals im eigenen Regiment gemäß den berühmten Vorschriften der alten erprobten aktiven Liebhaber ), er lernte die modernsten Tänze, Boston und Cakewalk, spielte La Machicha auf der Gitarre, sang das neueste Couplet von Medgyasszay: » Little lady, oh yes, oh yes «, und war einer der glücklichsten Schürzenjäger im ganzen Siebzehnten Regiment. Er war als Liebhaber dekorativ, ohne Furcht und Tadel, trug am linken Arm drei goldene Armbänder, wohnte im Hotel Zum Magyarischen Palatin ( denn er konnte nicht leben ohne warmes Wasser, ohne Bidet, für sich und die Damen, für die das Bidet eine französische Schweinerei war ), hatte ein paraphiertes Fotoalbum mit einer ganzen Serie nackter Frauen, mit all seinen Liebchen, und so blöd 43
sympathisch, gefräßig, mit englischer Pfeife und bereits den ersten Zeichen sichtbarer Glatze spielte Bandi Kállay Karten, lieh Geld, setzte auf Pferde, liebte und lebte abenteuerlich von 24 bis 24 Uhr, wie sich das auch für einen Weiberhelden gehört. Oder der Kadett Herzog von Mantua, zum Beispiel! Er malte, komponierte, beschäftigte sich mit technischen Erfindungen und war auf englische Zeitschriften abonniert, er fotografierte, studierte Jura, war reich, jagte mit den kaiserlichen Prinzen, war die Sensation aller Damen, ja, der Herzog von Mantua war ein Weiberheld dank des blaublütigen fürstlichen Prestiges seines blauen Strumpfs. Ihm gaben sich die Frauen hin, ohne zu überlegen, glücklich, daß sie es durften, denn er hob die Frauen empor zu seinem fürstlichen Glanz und Ansehen, und alle seine Beziehungen in Maria-Theresienburg kompromittierten, im gesellschaftlichen Sinn des Wortes, nur ihn. Kreisassessor Dr. Ujhely zum Beispiel, Gemahl von Frau Ujhely, dem neuesten herzoglichen Flirt, betrachtete die fürstlichen Besuche in seiner bescheidenen Wohnung an der Sandor-Petöfi-Straße als besondere Ehrung. Alle Aristokraten des Siebzehnten waren Weiberhelden, und vom Rittmeister Grafen L’ Ours-Walderode sagte man, er sei progressiver Paralytiker, und da hatte einmal Rittmeister Döbrentey ( selbst auch progressiver Paralytiker ) in betrunkenem Zustand laut behauptet, die Theresienburger Abteilung des Siebzehnten gleiche eher einem Varieté-Ensemble als einem richtigen Regiment. Rittmeister Döbrentey war ein ausgeprägt mongoli44
scher Typ, mit kräftigen, knochigen Jochbeinen, waagrecht geschnittenen Augen, und als Chef der Regimentsmaschinengewehrabteilung sprach er immer mit einem tiefen Bariton, als riefe er im Gewehrfeuer aus einem tiefen schwarzen Faß. » Meine Herren, ich sage Ihnen: Wenn wir alles Quecksilber verkauften, das in den Adern unserer Kameraden fließt, hätten wir Quecksilber genug für alle Thermometer unserer ganzen Kaiserlichen Armee! Ein Offizier ist ein Offizier, wenn er schwarz ist vom Schießpulver, vom Qualm der Geschütze, von Blut und Schlamm bedeckt – das ist der Offizier als Mann, aber heute, das sind Wachspuppen, Modelle für den neuesten Modeschnitt, Mannequins, die in die Schaufenster des Maria-Valeria-Korsos gehören! « ( Die Maria-Valeria-Straße war die Hauptstraße von MariaTheresienburg: mit dreißig Schaufenstern und zwei Cafes war diese Straße der Korso von Maria-Theresienburg, auf dem die Dragoneroffiziere jeden Tag herumbummelten und Frauen jagten ).
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berlieutenant Ramong tanzte nicht, spielte nicht Karten, war kein Weiberheld, aber auch für die Kriegskunst zeigte er nicht viel Interesse. Sein glattrasiertes, energisches Gesicht mit den dünn geschnittenen Lippen, seine hohe Stirn und das üppige, wellige Haar, sein hartnäckiges und nachdenkliches Schweigen, all das verriet einen Menschen, den man im Regiment für einen etwas überspannten und unzugänglichen Sonderling hielt. So wie Lieutenant Winterfeld der » Schöngeist « des Regiments war und 45
Gedichte unter dem magyarischen Pseudonym Viktor Téli drucken ließ ( seine Sammlung venezianischer Sonette Torre del orologio hatte in der Kritik der Provinzpresse überdies ziemliche Beachtung gefunden ), und so wie Oberlieutenant Sztatoczny malte, so hatte Ramong angefangen, sich mit der Mathematik zu befassen, anstatt mit dem schönen Kassafräulein Žofika über Walzer zu plaudern oder von Pferden und Karten zu schwätzen. Zuerst aus Langeweile, aber dann wurde die Mathematik für Ramong Ersatz für Zigaretten, Pferde und Karten: mit der Zeit verwandelte er sich in einen leidenschaftlichen Mathematiker. Nachts las er Euler, La Grange und Descartes, und morgens hatte er Angst vor der Trompete. Gelbes Licht in den Ställen, Pferdedunst, das Kauen auf dem Heu, das Klirren der Pferdeketten, die Zurufe der Stallwachen, all das festungsmäßig Trübe in seinem eintönigen Reiterleben, all das, was unangenehm und schmutzig war: Nebel und dunkle Herbstmorgen, Gestank feuchten Sägemehls in der Reitbahn, der unangenehme Kontakt mit den Vorgesetzten – all das löste sich zu Rauch auf in der hellen Welt der Formeln, wenn die neueste Nummer des Cambridge Mathematical Journal in seinem hellgelben Deckel eintraf. Ramong las sein Cambridge Mathematical Journal mit Genuß, so wie man Partituren liest. Dieser Umschlag in hellem Ocker, der zitronengelbe Deckel, bedeutet für den Oberlieutenant Ramong eine tatsächliche, wahrhaftige, tiefe, naive Freude, ein Vergnügen, wie es auftritt in den Augen der Kinder, wenn sie mit den Fingern gelbe, raschelnde seidene Cornets voll von Datteln oder 46
Schokoladenbonbons anrühren, und als der Jahresbericht der deutschen Mathematiker seine Arbeit über die Disquisitionen von Gauß druckte, fühlte Ramong sich wie einer, der lange in der Windstille eines traurigen und armseligen Hafens auf den Wind gewartet hatte. Das einzige Bild, das sein Zimmer schmückte, war eine vierfarbige Heliogravüre von Géricaults Komposition Le Radeau de la Méduse, die er aus einer Wiener Kaffeehausillustrierten vor einem Jahr ausgeschnitten hatte, unmittelbar nach seinen ersten körperlichen Kontakten mit Olga, die ihn mit dieser Komposition bis zum Rand des Wahnsinns getrieben hatte. Für Olga war dieses Bild von Géricault zum Lebenssymbol geworden, ein Bild all ihrer Schiffbrüche, und Ramong, ein Mann mit lebhafter, mädchenhaft reiner Phantasie, hatte diesen genialen malerischen Schiffbruch in einem seltsamen Vorgefühl seines eigenen Untergangs liebgewonnen. Als Ramong zum Pionierkurs nach Wien abkommandiert war, hatte er fast ein ganzes Jahr lang auf der Universität den Jakobi-Enthusiasten Müller gehört, und der hatte ihn an seinen Schüler Lichthofen, Professor in Tübingen und Weltberühmtheit ersten Ranges, empfohlen. So war zwischen Lichthofen und Ramong eine mathematische Korrespondenz in Gang gekommen, die damit endete, daß Ramong zur Ehre eines Doktors der Mathematik in Tübingen promoviert wurde. Dies Doktorat der Mathematik machte aus ihm einen der interessantesten Offiziere im Siebzehnten, und natürlich bekundete vom vergangenen Silvester bis zum Mai ( genau vor einem Jahr ) die Frau Ob47
ristin Olga ein überaus wohlgeneigtes Interesse für diesen jungen » Mathematikprofessor « mit den feuchten, dunklen, melancholischen Augen eines jungen Pointers. Alles entwickelte sich recht banal, nach allen Regeln von Olgas Methode. In einem Sanatorium in Baden bei Wien nahm im vergangenen September dieses Abenteuer seine konkretere Gestalt an, und Ramong, für den Olga eines der ersten ernsthafteren Erlebnisse war, verlor alle Gewalt über sich. Alle seine Kombinationen hinsichtlich der Dozentur in Tübingen, all seine Hoffnungen und Träume von den Tausenden bolivianischer Pfunde – all das erhitzte sich bei Ramong zu einer völlig unausgeglichenen Temperatur, bei der dieser junge Mann jeden Sinn für die Realität verlor. Bei Olga war das ein ganz gewöhnliches Abenteuer ( » Mein Gott, ein Erlebnis mehr oder weniger ist ja schließlich egal « ) und sie war den ganzen Winter darauf aus, diese unangenehme und für die kleinen Theresienburger Verhältnisse jedenfalls überflüssige und dumme Verbindung möglichst ohne Reibung und Konflikt abzubauen. Im ganzen Frühjahr hatte sie Ramong kaum zwei-, dreimal getroffen, zuletzt Mitte April beim Morgenritt in der Eichenallee des bischöflichen Tiergartens, und gestern hatte sie ihm vor ihrer Abreise nach Sizilien eine Visitenkarte mit den drei Buchstaben p. p. c. ( pour prendre congé ) geschickt. Der Vortrag des Oberlieutenants Ramong über den » Siebenundneunzigsten Jahrestag der Schlacht bei Aspern und Eßling « im Offizierskasino vor den hohen japanischen Gästen fiel so langweilig aus, daß er langweiliger nicht hätte sein können. Im kleinen Saal des Kasinos war es unerträg48
lich heiß. Im Saal, der nur sechs Fenster hatte, drängte sich die Masse Damen der Theresienburger Gesellschaft, so daß alle sieben angrenzenden Zimmer und die zwei Vorzimmer und alle Flure übervoll von Gästen waren. Ramong war vollkommen geistesabwesend. Er las sein Manuskript geistlostrocken herunter, und dazu so leise, daß seine Stimme sich schon in den ersten Reihen verlor. Die Parkettböden knarrten, man hörte die Damen sich bewegen und Sporen rasseln, auf den Fluren trugen die Ordonnanzen ununterbrochen Stühle und Limonade, die Lampe des Projektors ging ein paarmal aus, und Oberlieutenant Ramong war einfach nicht imstande, sich zusammenzunehmen. In der zweiten Reihe, im braunen Halblicht, im weißen Spitzenkleid mit cremefarbenem Sonnenschirm und langen schwarzen Handschuhen bis an die Ellbogen, ganz weiß wie aus Alabaster, saß die Frau Oberst Olga Warronigg neben den beiden Theresienburger Generalinnen; wie sehr sich auch Ramong anstrengte, sich auf die Ereignisse zwischen Regensburg und Wagram zu konzentrieren – er dachte unablässig an Olga; an ihre drei Buchstaben p. p. c. und daran, daß sie mit ihrer durchsichtigen Schönheit alle diese Generalinnen überragte ( all diese Apothekerskreaturen, elendige! ), daß die düstere schwarze Farbe ihrer Handschuhe, die so dunkel waren wie die dunkelsten Stiefmütterchen, in diesem Augenblick einen herrlich pathetischen Zusammenbruch symbolisierten, den Zusammenbruch all dessen, um dessentwillen es ihm lohnend erschienen war zu leben; er dachte daran, wie diese bleiche, alabasterne Frau im vollen Glanz ihrer Schönheit in seinen Armen ge49
schlafen hatte, wie samten nackt sie gewesen war, wie ihr Haar übergossen war vom Duft einer dunklen, giftigen, tief unterirdischen, charonischen Kaskade, und morgen wird es sie nicht mehr geben auf diesem Planeten, sie wird verschwinden wie ein Schatten vor dem Morgengrauen, wird sich lautlos in Rauch auflösen, und er wird allein bleiben in seiner Schande und Dummheit.
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hne Zweifel hat bei Warroniggs Vorschlag, ihn nach Mährisch-Weißkirchen zu versetzen, diese Dame ihre Finger im Spiel gehabt! Sie fährt nach Sizilien, dann wird sie den Sommer in Agram verbringen, und im Herbst, da ist er schon lange in Weißkirchen! Eine edle Behandlung! » Und am 5. Juli hatte Erzherzog Karl 135 000 Gewehre und mehr als 400 Geschütze zur Verfügung. Bei Floridsdorf, Wagram, Hirschstetten, Aspern und Eßling stand das sechste Korps des Generalmajors von Klenau. Als linker Flügel zwischen Graf Nordmann und Kolowrat stand in der Brigade des Generals Schoustek das Siebzehnte Regiment. Der Wasserstand der Donau war zwei siebzig über normal! «
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ie ist nervös. Sie wischt sich dauernd die Nase, als ob sie erkältet wäre! Ihre Augen sind feucht, sie beißt sich auf die Lippe! Ihre Handschuhe sind dunkel wie der Paukenbehang bei Kavalleriebegräbnissen! Sie hatten zusammen D’ Annunzios Vergine delle Rocce gelesen – und Galathea hatte silberne Knie wie jenes Barock-Kruzifix in Mantua. Oh, diese Knie von Galathea, 50
als sie bei ihm gebadet hatte, in seiner Wiener Wohnung, dreifach glänzend im Kristall der Spiegel, übergossen von den sieben Farben des Prismas, mit hellen Alabasterknien und dichtem Seidenhaar, und er hatte mit seiner warmen Handfläche gefühlt, daß ihre Kniekehlen kalter Marmor waren. Galathea war von jeher kalter Stein gewesen, grausamer, fühlloser Marmor eines blöden Grabdenkmals, ihre Vorfahren sind grobe, balkanische, slawische Bauern, Barbaren, alles ist dort bei ihnen nackt, stumm, von Stein, unmenschlich – »Aber im Laufe der Nacht vom 4. zum 5. Juli schlug Bonaparte während heftigster Sturmböen Brücken über den Donauarm, und indem er so seine Linie auf der Basis Oudinot-Bernadotte erweiterte, hatte er 170 000 Gewehre zur Verfügung. So begann die blutige Ouvertüre zur Schlacht von Wagram sich zu entwickeln, zu einer der fatalsten und furchtbarsten Katastrophen der gesamten Kriegsgeschichte.« Diese halblaute Aufzählung strategischer Fakten dauerte etwas über 35 Minuten. Dann leuchtete im Saal der Lüster auf, und es ergoß sich im Raum das Gemurmel der Gäste. Ramong wurde vom Grafen Fudji-Hasegawa sehr herzlich beglückwünscht, und der General von Port Arthur, Pei Lin Tsi, erzählte ihm etwas auf englisch und mischte in seine englische Sprache japanische Ausdrücke, so daß Ramong kein Wort verstand. Nach dem Feldmarschall-Lieutenant von Schwartner, der Ramong sehr kühl die Hand gab, ohne ein einziges Wort, kam Oberst Warronigg. 51
» Ich bin mit Ihnen sehr unzufrieden, Ramong! Sie haben den Schwerpunkt Ihres Referats auf die Ereignisse zwischen Regensburg und Wagram verlegt, und nach Ihren Ausführungen sieht es so aus, als habe sich bei Aspern und Eßling geradezu gar nichts ereignet. Heute abend feiern wir nicht Wagram, die größte strategische Katastrophe der Weltgeschichte, sondern Aspern und Eßling, mein Lieber. Das ist direkt unbegreiflich! Und dann: die Rolle der Brigade Schoustek und unser Siebzehntes Regiment, all das ist Pfuscherei und taugt nichts! Ferner: Der geringste Takt gegenüber unseren Gästen hätte eine Parallele erfordert; wenn sonst nichts, dann hätte Ihnen die Anzahl der Geschütze als Anhaltspunkt dienen können. Bei Wagram und Liao Jang, dort und hier etwa genau die gleichen Kräfteverhältnisse. Im übrigen – hierüber werden wir im einzelnen morgen beim Rapport noch reden.« Ohne dem Oberlieutenant die Hand zu geben, drehte Oberst Warronigg ihm mit einem leichten Kopfnicken den Rücken und ging zur Gruppe, die sich um den Grafen Fudji gebildet hatte, dem gerade die Gräfin Margit Hollós, geborene Gräfin Hussarek-Walderode, vorgestellt wurde. Warronigg war wütend und beleidigt. Er hatte erwartet, Ramong werde den General Albert Warronigg, seinen Urgroßvater, erwähnen, der als Oberstlieutenant der Chevaux-Légers in der Brigade des Generals Schoustek in der Schlacht bei Aspern namentlich im allerhöchsten Befehl zitiert worden war und in der Schlacht bei Aspern und Eßling sein Baronat gewonnen hatte. Diese Sache war allen Offizieren des Regiments bekannt, und beim Fackelzug 52
des Regiments gestern abend hatte Oberstlieutenant Redl als Kommandant des Fackelzugs sie ganz besonders nachdrücklich betont. Nach Auffassung des Obersten Warronigg war es ganz außerordentlich unachtsam von Ramong, diesen Umstand unerwähnt zu lassen, und seiner Meinung nach hätten ein Gefühl für Regimentskameradschaft und Sinn für Solidarität eine Erwähnung vor den japanischen Gästen verlangt. Ramong stand neben dem Tisch, hoch, schlank, nervös, verschwitzt, sammelte seine Manuskripte und Karten und blickte auf die Gäste im Saal wie im Traum. Der Lüster schien mit gelblichem Licht, draußen auf der Straße blaute in den vier Ecken des Fensters ein warmer Maispätnachmittag. Dort bewegen sich die Herren, die Damen, die Syphilitiker und die Erbtöchter der Apotheker – das Theresienburger high life. Da lächelt Oberlieutenant Baron Rimay und trägt hoch über den Damen einen geflochtenen Stuhl, und Galathea ist mysteriöserweise verschwunden. Galathea ist nicht mehr da, sie ist weg! Nein. Olga ist hier. Sie lächelt so charmant dem Admiral Watanaba zu, sie spricht mit ihm englisch, natürlich, Olga spricht gut englisch! »Was hast du heute abend, Geza? « Bandi Kállay kam auf Ramong zu. » Du hast heute abend derartig miserabel etwas dahergemahlen, daß ich meinte, du würdest ohnmächtig. Was ist dir? Bist du krank? Du bist gelb wie eine Zitrone! «
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m großen Saal der Offiziersmenage des Siebzehnten Regiments ( der alten Jesuitenbibliothek ) war ein Hufeisen 53
für 62 Personen gedeckt. Der Maître d’ hôtel des Magyarischen Palatin, Hochnjetz, ein alter, routinierter Bordellmeister großen Stils, in allen Etablissements des Kaiserreichs berühmt und bekannt, ein Mann, der in erstklassigen Schweizer Etablissements gearbeitet hatte und dabei ein bekannter Fachmann für Fisch, Wein und Eis aller Sorten geworden war, verwandelte dieses schablonenhafte Hufeisen für 62 Personen in ein Ereignis, von dem man in Theresienburg noch lange sprach. Statt eines Tischtuchs hatte Hochnjetz einen grünen Teppich aus weichem Moos mitten auf den Tisch gelegt und mit Tulpen und Maiglöckchen geschmückt, und vor jedem Service stand im Moos eine à la mode anglaise gebundene Kokarde in den rot-weißen japanischen und den schwarz-gelben kaiserlichen Farben. Silberne Kerzenleuchter in drei Metern Abstand, Kristallvasen mit Rosen, Tannengirlanden und die dekorativen Kokarden – all das wirkte schon nachgerade als grands trucs austro-hongrois à la Hochnjetz. Aber beim schwarzen Bikavér aus Somogy und einem bernsteingelben dicken Tokajer, den man bereits im 16. Jahrhundert den grauen Bruder nannte, einem Wein, der im ganzen ungarischen Reichsteil durch sein Honigbouquet berühmt war, einer Gabe Gottes, mit der der Heilige Vater Papst Leo XIII. sämtliche feierlichen Gottesdienste in der Basilika zu Sankt Peter zelebrierte, beim kaiserlich-ärarischen TörleyChampagner, Plattenseefisch und Theresienburger Wachteln, beim schweren dunklen Wein aus Somogy jenseits der Donau, der sich des homerischen Epithets des schwarzen 54
venösen dicken Stierbluts rühmt ( und nach dem Rauch bäuerlicher Herdstellen riecht ) – bei all dem wandelte sich das crescendo lento dieses Dragonersymposions von Augenblick zu Augenblick mehr in ein wildes Zigeunerallegretto, so daß nach den ersten Trinksprüchen und Hochs auf den Mikado und den Kaiser-Imperator F. J. I. schon alle Köpfe rot waren.
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enerallieutenant Graf Fudji-Hasegawa saß auf dem Ehrenplatz zwischen den zwei Generalinnen, der Frau von Schwartner, Gemahlin des Divisionärs und Feldmarschall-Lieutenants, und der Frau Draveczka Draveczky, Brigadiersgattin, geborene Baroneß Lendvaj. Von der Dame aus Wien, Mizzi Schwartner, sagte man, sie sei Stubenmädchen gewesen, und bei ihr im Salon ( Louis XV ) ging die Konversation über Dienstmädchen, Wäschewaschen und Kompotts, während die Brigadiersgattin Draveczka Draveczky eine bekannte Reiterin der Spanischen Schule und jeden Morgen zu Pferd in der Pappelallee an der östlichen Stadtperipherie zu sehen war. Der Sieger von Liao Jang, Graf Fudji-Hasegawa, ein vollendeter Meisterpsychologe und Kenner der weiblichen Seele, dem es nicht schwer gewesen war, alle Geheimnisse der Wiener Naiven zu entdecken, erläuterte denn also der gnädigen Frau Mizzi Schwartner, daß die Frage eines guten und treuen Personals in Japan nicht von so großer Bedeutung ist wie in Theresienburg, wo nach Aussage der Frau Generalin Mizzika » ein Mensch nicht imstande ist, 55
um irgendeinen Preis an ein solides magyarisches Stubenmädchen zu kommen «. » Exzellenz, Sie müssen wissen, daß wir, das glückliche Volk unseres allerhöchsten Mikado, wir Japaner, zu unserem großen Glück noch immer im vollen 18. Jahrhundert leben. Unseren Göttern sei Dank, unserem Ten-no, unserer Tradition, bei uns ist der Begriff der westeuropäischen Demokratie völlig unbekannt. Bei uns hat niemand eine Vorstellung, was dieses odiöse und dumme Wort bedeutet. Wir Japaner, wir sind, Gott sei’ s Dank, ein feudales Volk, Exzellenz. Bei uns ist der Begriff der Revolution völlig unbekannt. Bei uns schweigt das Personal, als wäre es taubstumm! « »Ja, gewiß, Revolutionen gibt es nicht, selbstverständlich nicht, um Gottes willen, Exzellenz, aber bei euch Japanern gibt’ s keine Ungarn, bei euch spricht man nicht ungarisch, dort bei euch spricht ja die ganze Welt japanisch, ihr seid’ s ja alle Japaner. Aber bei uns! Und wenn das Zimmermädchen aus Wien ist, dann hat sie keine Ahnung von der magyarischen Sprache, und man kann sie nicht mal um ein Viertel Kaffee in den Laden schicken, denn jetzt hat der magyarische Chauvinismus sein Haupt wieder in solchem Maß erhoben, daß man niemanden irgendwo bedient, wenn er nicht magyarisch kann. Die Japaner haben’ s leicht, wo alle japanisch sprechen und keinerlei Sorge haben mit ihren Zimmermädchen, wenigstens in sprachlicher Hinsicht! « Links und rechts von den Generalinnen saßen die zwei japanischen Helden, der General von Port Arthur, Pei Lin 56
Tsi und der Admiral Watanaba. Neben dem Admiral Watanaba hatte Frau Olga Warronigg ihren Platz, neben Pei Lin Tsi die Gräfin Hollós, die Gemahlin vom Großgespan Graf Hollós, Vater des jungen Hollós, des Rittmeisters beim Siebzehnten. Die Generale Schwartner und Draveczky, die Obersten, der Kommandeur des Siebzehnten, Warronigg, und des 107. Infanterieregiments, Fuchs, saßen vis-à-vis der Japaner mit den Gräfinnen und Baroninnen und den Theresienburger Damen, entsprechend einem bizarren, eine Nuance asiatischen Protokoll, über das sich Olga volle 24 Stunden lang den Kopf zerbrochen hatte. Alles entwickelte sich plangemäß ohne jeden Zwischenfall. Der Törley-Wein war gut, der Champagner ließ sich ohne Explosionen öffnen, die Ordonnanzen, Dragoner in weißen Handschuhen ( Kellner im Zivilberuf ) servierten sehr höflich und diskret, die Kapelle des Hundertsiebenten unter der persönlichen Leitung des Kapellmeisters Czibulka spielte sanft und einschmeichelnd, mit einem Wort, das Siebzehnte Dragonerregiment brauchte sich seines Sieges über Bonaparte am 22. Mai 1809 nicht zu schämen. Bereits beim englischen Roastbeef zeigte sich, daß Graf Fudji-Hasegawa ganz gut deutsch sprach. Er erklärte den Generalen auf der anderen Seite des Tischs das Geheimnis seines Erfolgs über den Generalleutnant Blagovješčenskij. Damit nun den Herren auch die Distanzen seiner operativen Basis völlig klar wurden, verglich Graf Fudji die Entfernungen des fernen mandschurischen Kriegsschauplatzes mit österreichischen Distanzen, und es zeigte sich dabei auch, daß Graf Fudji die österreichisch-ungarische Karte 57
ganz genau kannte. Die Distanz von Pula bis nach Bruck an der Mur entspricht ungefähr der Distanz Port Arthur– Liao Jang und die von Pula nach Wiener Neustadt ungefähr der von Port Arthur nach Mukden. Wafangu ist Ljubljana, Fönhuantschön ist Zala-Egerszeg ( er sprach Zala allerdings falsch aus wie Tsala und Windschu ist Kiskomár. Dieses allmählich doch ein bißchen rätselhafte Feuerwerk von völlig sicher, geradezu meisterhaft beherrschter Materie lokaler österreicherischer topographischer Details und Entfernungen ( von Pula nach Bruck an der Mur! ), diese bravouröse Mnemotechnik, dank derer der japanische Admiral die Begriffe und Details vor den Herren Generalen einfach sackweise ausschüttete, das kam den bescheidenen Provinzstrategen einigermaßen überraschend, und diese Überraschung grenzte an Verwunderung, ja eigentlich noch mehr: an Staunen. Das Ansehen der japanischen Generale wuchs nachgerade, aus der Theresienburger Garnisonsperspektive gesehen, gespenstisch-steil, so daß es allmählich fast übermenschliche Ausmaße annahm. Diese kleinen gelben Katzen herrschten in dieser Nacht über die Theresienburger Generalität wie Giganten. Bei jedem zweiten Wort dieser Helden zwinkerte man sich in den Reihen der Offiziere bloß noch hingerissen zu. Admiral Watanaba, den die Obristin Warronigg mit ihrem perfekt englischen Air absolut charmierte, sog am Törley und erzählte, wie er in einem Graben den Kopf des russischen Generals Graf Rutkovskij gefunden hatte. Das war bloß eine unbedeutende Episode im Zuge der Arrièregardegefechte Kuropatkins bei Wafangu: die Generale von 58
Raaben, Fürst Nitko und Graf Rutkovskij sitzen siebeneinhalb Kilometer hinter der Artillerielinie in einer Pagode und spielen Poker. Explosion einer japanischen Granate, und drei Generale mit ihrem Poker bei Cognac und Zigaretten verwandeln sich in drei Stücke Fleisch ohne Kopf, wobei der Kopf des Generals Rutkovskij noch acht Stunden später in seinen Lippen eine Zigarette in einer goldenen Spitze hielt. An Hand dieser goldenen Spitze hat man ihn später denn auch identifiziert! Die goldgerandete Zigarettenspitze war dem Admiral Watanaba das liebste Andenken aus diesem ritterlichen Krieg. Strahlende Blicke funkelten schlangenhaft, alle zugleich wie hypnotisiert zu dem strahlenden goldenen Gegenstand hin, der in den dünnen, durchsichtigen, spinnenhaften Fingern dieses Panthers wie das unheilvolle Zeichen eines legendären Siegs funkelte. Admiral Watanaba plauderte all diese blutigen Geschichten mit einer Art von überlegenem Lächeln daher, als blicke er viel weiter als alle hier anwesenden kompletten Ignoranten der Kriegskunst, und bei der Beschreibung des Elends der mandschurischen Bevölkerung sparte er nicht mit den düsteren Farben. Er sprach über einzelne Fälle von Kannibalismus in der Mandschurei, wo Mütter ihre eigenen Kinder braten, denn der Krieg hat diese elende Provinz überrannt und hat sie dann als » internationale neutrale Zone « den Elementen auf Gnade und Ungnade überlassen. Die Mandschurei gehört heute weder zur russischen noch in die japanische Sphäre; dort gibt es keinen einzigen Vogel, denn die Leute haben alle aufgegessen. Die Vögel und die Hunde, und die Katzen, und die Pferde, und 59
die Kühe, und die Kinder, und das Zugvieh! Immerhin seien die Japaner, geleitet von der Idee der Menschenliebe, darangegangen, internationale Hilfsausschüsse für die Provinzen, die von der Katastrophe niedergewalzt wurden, zu gründen, und so organisieren sie jetzt zusammen mit den amerikanischen Quäkern und der Heilsarmee in einzelnen Ländern Wohltätigkeitskomitees in internationalem Rahmen. Die amerikanisch-japanische Aktion habe bisher ganz schöne Ergebnisse erbracht. Frau Warronigg interessierte sich sogleich für die elende Lage der mandschurischen Witwen und Kriegswaisen, aber da in ein, zwei Tagen ihre Abreise nach Sizilien bevorstand, versprach die Generalin Mizzi Schwartner, sie werde mit der Generalin Draveczka und der Gräfin Hollós sogleich so ein transdanubisches Komitee im Rahmen der amerikanisch-japanischen Aktion gründen und damit die Initiative für das ganze Königreich des Hl. Stephan ergreifen. Diese philanthropische Initiative von derartig charmantgroßherzigen Damen fand ein sentimentales Echo in der ganzen betrunkenen Gesellschaft, und die Frau Obristin Fuchs ( geb. Sachs-Lohner, israelitischen Bekenntnisses, Mitbesitzerin der kaiserlichen Mineralwasserquelle » Franz-Joseph-Bitterwasser « ) zog als erste ihr Brillantarmband ab, um auf diese Weise allen Millionärsfrauen im Reiche des Hl. Stephan ein Beispiel zu geben.
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berlieutenant Ramong saß bei den subalternen Herren und den unverheirateten Offizieren am linken Flügel des Hufeisens so unglücklich, daß ihm der Ausblick 60
zum Zentrum um die Generalität, Admiral Watanaba und Frau Olga, von den brennenden Kandelabern und dem Grün der Dekoration versperrt wurde. Durch den rußigen und warmen Glanz der Wachskerzen, durch das grüne Laub von Immergrün, Lorbeer und Rosen konnte Ramong den weißen Fleck von Olgas Dékolleté ahnen, und von Zeit zu Zeit hörte er durch das Klirren von Glas und Geigen Olga lachen, lustig, nervös, sonderbar, fern. Galathea zitiert Shelley: Here o here tbe song of wind … Galathea zitiert Shelley – und das ist gefährlich. Auch ihm hatte sie Shelley zitiert, und alles war gelogen! Wie unverschämt sie bloß log, diese antipathische, unbeständige Nymphomanin, was hatte sie vom ersten Tag an schamlos gelogen, wie nach einem höheren Plan, und nichts war wahr! Alles war bei dieser Frau Schauspiel und Pose. Warum hatte sie ihn belogen? Warum hatte sie ihm unter Tränen vom ersten Morgen ihrer Ehe mit diesem Kavallerie-Bramarbas erzählt? Warum hatte sie diese ganze romantische Geschichte von ihrem Selbstmord erfunden? Sie war raffiniert halb nackt unter dem seidenen Crèpe-de-Chine-Schleier, weich wie ein Schmetterling unter seinen Fingern, und ihr üppiges, aromatisches, fettes Haar duftete wie Weihrauch in dem kleinen Zimmer damals in Wien. Sie erzählte ihm von jenem verfluchten gelben, nebligen Morgen im Hotel Admiral Tegetthoff, an dem für dieses siebzehnjährige kleine Mädchen der Kreuzweg mit einem aristokratischen Gorilla begonnen hatte. Dieses bleiche, unglückliche kleine Mädchen in den Armen 61
des betrunkenen, groben Syphilitikers, des Kavalleristen, in diesem idiotischen Wien, wo die Sonnenuntergänge so trostlos sind und wo das arme, verlassene Kind niemanden hatte, zu dem sie nur ein einziges menschliches Wort hätte sprechen können! Galathea war allein, o Herrgott, ganz allein, und als sie sich in das graue, schlammige Wasser stürzte, da war das ihre menschlich-tiefe, edle, poetische Geste, mit der sie um Erlösung flehte. Kalt wie eine Guillotine fühlte Ramong den scharfen Stahl des Messers, das sich in sein Zwerchfell drückte, und sie hatte ihm dieses Messer in die Weichen gestoßen, diese lachende Lügnerin, die da auf konventionelle Manier mit den betrunkenen japanischen Affen Grimassen schnitt. Von ihr hatte er gelernt, Géricault zu sehen, sein Floß der Medusa, Olgas Bildsymbol für ihren Schiffbruch mit Warronigg, diese geniale Apologie aller Schiffbrüche der ganzen Geschichte, und da! Alles, ihr Selbstmordversuch, ihre Briefe, ihr Shelley, ihr Géricault, das alles war eine ordinäre Lüge und ein durchsichtiger Trick, minderjährige Schwachsinnige zu verführen, solche Kretins von Kavalleristen aus ihrem Regiment, wie er einer ist! Rechts neben ihm sprach Rittmeister Döbrentey mit Begeisterung von den Japanern: »Ja, diese gelben Mordskerle, mein Lieber, jawohl, das sind Offiziere! In Pulver und Staub, in Dampf und Blut, da ist der Offizier der rechte Mann an seinem Platze! Aber nicht auf dem Corso Maria-Valeria! Hast du den Fudji gehört, den Armeebefehl: ›Jeder bekleide sich mit einem frischen Hemd als Leichenkleid! ‹ Also herrlich, kolossal! « 62
Und auf der entgegengesetzten Seite des Hufeisens erläuterte Oberstlieutenant Redl der Gemahlin des Regimentsstabsarztes Schwedl ( geb. Szamuelli, israelitischen Bekenntnisses ), wie dumm es ist, Hausbesitzer in der Provinz zu sein: » In der Provinz bringt ein Haus einem im jährlichen Maximum viereinhalb Prozent und in Pest sehr oft acht bis elf Prozent. In der Provinz verliert man ganz anständig an den Mieten, und all das aus eigener persönlicher Unfähigkeit.« Diesen ganzen Lärm von Stimmen ringsum, die dummen Alltagsgespräche über Mieter und Dienstmägde, vom Pulver und vom Dampf, von Karten und Pferden, all diese brennenden Kandelaber und die Kapelle, die Generale und die dekolletierten Damen, das alles sah Ramong vor sich wie bunte Flecken von Tönen und Farben ohne jegliche innere Ordnung und logische Tiefe. Ramong konnte sich dem einen und immer gleichen Motiv einfach nicht entziehen, das ihn in Gedanken den ganzen Abend verfolgte: Olgas Selbstmordversuch an diesem nebligen Morgen in Wien! Zum Teufel, aber diese Frau hatte sich immerhin ins Wasser gestürzt! Sie hatte Charakter! Warum hätte sie ihn belügen sollen? Sie hatte gar keinen Grund, ihm etwas vorzulügen! Sie hatte ihm die Wahrheit gesagt in der reinen, begeisterten Inspiration der ehrlichen körperlichen Hingabe. In diesem kleinen Hotel war sie ganz feucht von warmen Tränen, ganz weich wie ein sterbender kleiner Schmetterling, als sie ihm die Details dieses verfluchten Selbstmords 63
erzählte, und sich so in Tränen ihm ganz hingab, und warum hätte sie das tun sollen, wenn sie nicht wahrhaftig so empfunden hätte ? Sie war ins Wasser gesprungen in einem einzigen Augenblick, der lange in ihr geschwelt hatte, und danach war er aufgelodert wie eine Fackel, und so hatte sie sich ihm hingegeben, als sie in ihm ihren Partner entdeckte, dem sie sich fürs ganze Leben anvertrauen wollte. Sie war gesprungen, als sie erkannt hatte, daß es so nicht weiter ging, und jetzt, wo sie mit ihm gebrochen hatte – auch so in einem einzigen Augenblick –, was war das für eine Labilität, was will sie, wie wagt sie es, so mit Leuten umzugehen? Ramong schwamm, als wäre er selbst eine eindimensionale Erscheinung, die zwischen den Dingen hier und den Ereignissen schwebt, in seinen Gedanken ohne rechte Bestimmung, aus dem ganzen Komplex der Gedanken über Olga zum Glas Törley, vom Glas Törley zum schwarzen Kaffee, und zurück zum Törley. Ramong trank Cognac, ein Glas nach dem andern, und von Minute zu Minute wurde ihm zunehmend deutlich, daß er heute abend auf jeden Fall mit Olga sprechen werde. Hier im Saal wird das nicht gehen! Aber unten im Garten, beim Ball wird er sie um einen Walzer bitten, und beim Walzer wird er ihr alles klarmachen! Einmal, wer er ist, dann, was Formen sind, und wie man sich in zivilisierter Gesellschaft benimmt! Beim Walzer, das wird das beste sein!
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ie venezianische Nacht im Regimentspark verlief vorschriftsmäßig. Alles war mit gelben und roten Lam64
pions geschmückt, es wurde ärarischer Littke serviert, der nach Dienstmädchenpomade sonntagsnachmittags riecht, und Bier; die Offiziere vom Hundertundsiebener tanzten Csardas auf dem Tennisplatz, der Mond schien, und es war eine warme Mainacht. Und als der ehemalige, ausgediente Artilleriefeuerwerker Janaček, Rechnungsfeldwebel beim Hundertsiebener, sein pyrotechnisches Meisterwerk anzündete ( riesige orangefarbige Feuerwerksbuchstaben in flammender Kursive: 22. 5. 1809–22. 5. 1906, alles eingerahmt von einem brennenden Dragonerhelm, der die rote Nummer Siebzehn trug ), da entbrannte die Begeisterung der Gäste zum Enthusiasmus, in den man gewöhnlich bei kostenlosem ärarischem Champagner und Mondschein verfällt, wenn die Menschheit, vom Enthusiasmus stumm geworden, den ersten Buchstaben des Alphabets skandiert. Beim Springbrunnen war für die höchsten Gäste zwischen Anlagen und Fontänen serviert. Dort war ein dichtes Gewirr von Rohrsesseln, roten Lampen, Damast und Silber, und beim Tennisplatz standen die langen Tische der Dragoner, mit einfachen weißen Tischtüchern bedeckt, für die zivilen Gäste, die Herren Komitatsbeamten, die Richter des Gerichtshofs, ferner für die Infanterie und die Damen der subalternen Infanterieoffiziere. Das Orchester der Hundertundsiebener unter der Leitung von Kapellmeister Czibulka spielte beim Springbrunnen Straußens Auf der schönen blauen … , und bei der Gloriette an der Promenade ließen die Zigeuner das Cimbal traurig wie bei einer Wallfahrt weinen. Gegen Mitternacht traf Bandi Kállay Ramong bei den Platanen am Springbrunnen. Der 65
Mensch irrte zwischen den Paaren umher, als habe er den Kopf verloren. » Du bist besoffen, Géza! Was hast du? « » Hast du sie gesehen ? Wo ist sie? « »Wer? « » Sie! Sie ist weg. Ich habe sie schon mehr als fünfzig Minuten lang nicht mehr gesehen! Sie waren bei ihr in der Wohnung! « »Wer? « »Wer? Diese japanischen Kreaturen! Sie ist jetzt beim Fischteich mit diesem japanischen Admiral, diesem japanischen Frosch! Ich gehe jetzt und suche sie! Ich muß heute abend mit ihr sprechen! « » Du bist verrückt! Hör zu, Géza, ich warne dich, dem alten Warronigg ist deine Nervosität aufgefallen. Er paßt auf dich auf! Du bist nicht normal! Du spielst mit dem Feuer! Du bist besoffen! Du schwankst ja, so betrunken bist du! « » Sie ist betrunken! Ich habe gesehen, wie sie mit diesen japanischen Kreaturen eine Flasche Whisky leergetrunken hat! Ich muß mit ihr sprechen, Bandi, ich erschieß mich, wenn ich nicht mit ihr sprechen kann. Sie hat diese japanischen Affen auf einen schwarzen Kaffee zu sich eingeladen! Sie rezitiert Shelley! Aber das ist doch unfaßbar! Aber das ist doch unmöglich! « » Du bist verrückt geworden! Das sind doch Gäste des Regiments! Sie ist gewissermaßen die Dame des Hauses! Das ist eine Frage der Form! « » Ich werde diesem japanischen Frosch ein paar Wat66
schen versetzen, verstehst du, ich werde diesen Affen mit dem Fuß – das wird eine Frage der Form sein.« » Du bist betrunken. Du weißt nicht, was du redest! « » Klar bin ich betrunken! Jetzt soll ich nicht einmal mehr betrunken sein dürfen! Ich laß mich nicht abwerfen! Ich bin kein Postpaket! Ich laß mich nicht expedieren! Ich werde mit ihr heute abend sprechen, um jeden Preis! « Bandi Kállay, der in den Künsten der Liebe sehr erfahren war und der sich schon jahrelang an das Prinzip hielt, wonach es auf keinen Fall gut ist, eine Geliebte im eigenen Regiment zu haben, sah ganz klar, daß all das höchst unweise war und daß es das beste wäre, Ramong zum Tisch zu schleppen, dort mit ihm noch die eine oder andere Flasche zu trinken und dann zusammen nach Hause zu gehen. Da hatte man die Blödheit! Da hatte man die imbezile, schreckliche, skandalöse Blödheit! Das ist das: eine Geliebte im eigenen Regiment! Voilà! Er nahm seinen Freund unter den Arm und gab sich in guter Absicht daran, ihn fortzuzerren, um ihn zu besänftigen und abzulenken, aber der riß sich unverhofft heftig los und rannte auf die Tänzer, bei dem Springbrunnen zu. Ihm nachzulaufen und ihn aufzuhalten war es schon zu spät. Vom Spielplatz her kam, den blühenden Flieder entlang, ganz in Weiß, würdevoll und schlank, Frau Olga, um einen ganzen Kopf größer als Admiral Watanaba. Sie sprachen in diesem Augenblick gerade davon, wie glücklich es sich traf, daß sie nach Sizilien fuhr und der Admiral Watanaba nach Rom unterwegs war. Ein wundersames und ungewöhnliches Zusammentreffen von Umständen: ihre 67
Reise nach Sizilien und seine Ankunft in Theresienburg! Er wird in Venedig auf sie warten, denn nach seinem Terminplan muß er sich dort eine Woche lang aufhalten. Czibulkas Orchester intonierte Rosen aus dem Süden, und Ramong, mitgerissen von dieser Straußschen Limonade und hundert Prozent betrunken, meinte, es wäre am besten, Olga um einen Tanz zu bitten ( das hatte er sich schon während seines Vortrags im Kasino vorgenommen ). Er nahm also einen Anlauf, hinter Olga her, am Fliederbosquet entlang, und erreichte Olga von rechts hinten, gerade am Rand des Rondells, wo die Fliederbüsche sich im Kreis rings um den Springbrunnen weiteten und wo um sie herum der bunte Kreis tanzender Paare sich drehte. » Pardon, gnädige Frau, darf ich um einen Walzer bitten? « »Ah, das sind Sie, von Ramong? Merci, ich möchte nicht mehr tanzen! Schönen Dank! « »Aber gnädige Frau, ich bitte Sie, nur einen Walzer! « »Was ist mit Ihnen heute abend, Ramong? Ich danke Ihnen, ich möchte nicht tanzen! « » Gnädige Frau, ich bitte Sie nur um einen einzigen Walzer, ich habe Ihnen ein paar Worte zu sagen! « » Sie sehen, daß ich in Gesellschaft des Admirals bin! Ich bin doch nicht frei! Verzeihen Sie, aber – « Frau Olga wandte sich Admiral Watanaba zu, der auf eine Distanz von drei Schritten von ihr wegtrat, Ramong aufmerksam betrachtete und ruhig, unbeweglich, ohne ein einziges Wort dastand. Olga lächelte nervös zum Admiral hinüber und bat ihn auf englisch, sich eine Sekunde zu gedulden. Admiral Watanaba verneigte sich vor der Dame, 68
dehnte sein Kautschukgesicht und machte noch zwei Schritte! So, den Blick auf die Tänzer gerichtet, hielt er sich diskret von Olga und Ramong abgewandt. » Galathee, ich bitte Sie! « »Aber lieber von Ramong, was ist mit Ihnen? Was sind das für bizarre Ideen! « » Galathee! Bitte lassen Sie heute diesen Kretin laufen! Wir beide sehen uns vielleicht nie mehr wieder! «
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among hatte ein weinerliches Zittern in der Stimme, und er schämte sich seiner selbst und seiner weinerlichen Erscheinung in diesem Augenblick. Das war sein einziges Gefühl, das sein betrunkenes Bewußtsein beherrschte: Schamgefühl. Er schämte sich, daß er hier um einen Walzer bettelte, daß da dieser japanische Frosch stand, daß er betrunken war und daß es ihn in der Kehle würgte, daß er Olgas Visitenkarte mit den drei Buchstaben bekommen hatte und daß sie nach Sizilien fuhr. Er schämte sich seinetwegen, ihretwegen, wegen aller Dinge, die zwischen ihnen gewesen waren, und all das erschien ihm schändlich und dumm. Aus der Scham steigerte sich Ramong allmählich in Zorn! Olga spürte in seinem betrunkenen und wilden Blick die Möglichkeit einer unangenehmen und gefährlichen Situation, und mit leiser, nervöser Stimme ( die zugleich warm und unzugänglich war ) ging sie darauf aus, ihn zu bändigen und ihn loszuwerden. » No, was ist? Was wollen Sie? Vous n’ avez aucun droit d’ être désagréable ce soir! « 69
» Ich verbiete Ihnen, heute abend auch nur ein einziges Wort an diese gelbe Maske zu richten. Das ist kein Mensch, das ist ein Affe! « »Aber was haben Sie, Ramong, um des lieben Gottes willen? Sie sind besoffen! Diese unerzogene Art und Weise bitte ich mir aus, was ist Ihnen, um Gottes willen? Sie sind unerzogen! Was wird sich der Mensch denken? « » Olga, aber das ist alles entsetzlich – Olga, ich bitte Sie, es geht um Leben und Tod! « Sie wandte sich um und ging auf den japanischen Admiral zu. Es schien, sie werde jetzt wirklich weggehen, und Ramong, völlig resigniert, werde sie gehen lassen und ihr kein Wort mehr sagen. Er gab auf. Es schien alles vorbei; da fuhr er auf, sprang hinter ihr her, zwei Schritte, und faßte sie bei der Hand. » Galathee! « Das war ein gefährlicher Augenblick, und er dauerte relativ lange. Olga wandte sich um, blickte Ramong an, und niemand kann sagen, was sich in diesem Augenblick hätte ereignen können, wenn nicht hinter den Fliederbüschen Oberst Warronigg erschienen wäre. Er war erregt, blaß, und in der Hand hielt er Olgas venezianischen weißen Schal. » Olga, Kind, es ist kalt! Ich versuche die ganze Zeit, dich zu finden, damit du dich nicht erkältest! « Das Auftreten Warroniggs gab dieser unangenehmen Situation eine neue Wendung. Olga faßte sich, und im gleichen Augenblick schon beherrschte sie sich selbst und Ramong. » Danke, Lieber, sofort, ich bitte dich nur, kümmere dich um Seine Exzellenz. Der Admiral ist allein! Ich 70
bin gleich bei euch! Ich muß nur eine Tour mit Herrn Ramong tanzen! « So überließ sie sich vollkommen leger, kalt und scharfsinnig Ramong und drehte sich mit ihm im süßen Kreis des Walzers Rosen aus dem Süden. Sie tanzten, ohne ein Wort zu sprechen. Beim letzten Takt verneigte sie sich vor Ramong, nahm seinen Arm und ging in seiner Begleitung zu ihrem Gemahl, leicht, sacht, als wäre sie nicht da. Dort lächelte sie ihren Oberlieutenant liebenswürdig mit ihrem Kommandeursgemahlinnenlächeln an, reichte ihm die Hand zum Kuß und hüllte sich in ihren venezianischen Schal.
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ach der Abfahrt der japanischen Generale nahmen die Ereignisse eine unerwartete Entwicklung. Der Divisionsgeneral Feldmarschall-Lieutenant von Schwartner meldete dem Kriegsministerium telegrafisch ( unter Berufung auf die Depesche des Kriegsministeriums v. 21. Mai d. J. Nr. 2022 ), daß der Befehl des außenpolitischen Departements des Kriegsministeriums betr. den Empfang der hohen japanischen Gäste im Sinne des obigen Titels befehls- und ordnungsgemäß ausgeführt wurde. General Graf Fudji-Hasegawa habe mit seiner Begleitung die Feier des Siebzehnten Dragonerregiments besucht, habe an einer Geländeübung der Garnison teilgenommen und sei planmäßig pünktlich zur festgesetzten Zeit in Richtung Fiume abgefahren. Das Kriegsministerium antwortete dem FeldmarschallLieutenant, daß es als solches vom Aufenthalt des Generals Fudji-Hasegawa in Theresienburg nichts wisse und um 71
detaillierte Berichterstattung ersuche. Die Division gab daraufhin als Expreßtelegramm den Text des depeschierten Befehls des Kriegsministeriums, Außenpolitische Abteilung, v. 21. Mai Nr. 2022 durch, in dessen Sinne der ganze Empfang der japanischen Gäste arrangiert worden war. Zwei Stunden später traf eine Expreßdepesche des Kriegsministeriums ein, in der der Befehl v. 21. Mai d. J. Nr. 2022 über einen Empfang japanischer Gäste als Mystifikation bezeichnet wurde. Eine halbe Stunde später kam eine neue chiffrierte Depesche vom Außenministerium, Nr. 017, wonach das Ministerium der Division in Theresienburg keinerlei Auftrag betr. Empfang japanischer Gäste erteilt hatte; die Kaiserliche Botschaft des japanischen Erhabenen Mikado in Wien habe zudem keinerlei Informationen über einen Aufenthalt des Grafen Fudji-Hasegawa in Europa. Soweit der Kaiserlichen Botschaft des japanischen Erhabenen Mikado in Wien nach privaten Informationen bekannt sei, sei Graf Fudji-Hasegawa Kommandant des Armeekorps von Yokohama und weile zur Zeit auf seinem Gut in der Nähe von Yokohama. Auf Grund dieser Depeschen kam es in den Militärkreisen Theresienburgs zu einer Panik. Und als 24 Stunden später vom Kriegsministerium mitgeteilt wurde, die privaten Informationen der japanischen Botschaft hätten sich bestätigt und Graf Fudji-Hasegawa habe als Korpskommandant seine dienstlichen Funktionen in Yokohama tatsächlich nicht unterbrochen, da wurde diese Panik zum Riesenskandal. Eine Schande, grandiose Täuschung hoher 72
militärischer Kreise in Theresienburg, Zeitungen, skandalöse Gerüchte in der gesamten öffentlichen Meinung des Königreichs von Szent-István, Extrablätter der gesamten österreichisch-ungarischen Presse, die die komische Seite dieses Abenteuers kräftig übertrieben herausbrachten – das wuchs insgesamt zu einer Lawine an, die innerhalb der nächsten 24 Stunden den Divisionskommandanten Feldmarschall-Lieutenant von Schwartner als verantwortlichen Faktor für diese unwahrscheinliche Blamage zum Gegenstand eines Untersuchungsverfahrens machte. Durch das neue Licht, in dem ihnen der feierliche Empfang der Japaner und die Feier des Siegs von Aspern und Eßling jetzt erschien, erhielten viele Details des japanischen Aufenthalts in Theresienburg ihre dritte Dimension, und viele Einzelheiten klärten sich auf. Es klärte sich auf das Geheimnis jener großartigen Baccarat-Partie beim Rittmeister Graf Hollós, bei der der Lieutenant des Siebzehnten Dragonerregiments Kolozsváry-Mayer 4300 Kronen, Graf Hollós 7200 Kronen und Baron Rimay 17 000 Kronen verloren hatten, alles zugunsten des japanischen Grafen Fudji-Hasegawa. Es wurde deutlich, wozu Admiral Watanaba anläßlich des festlichen Abendessens des Siebzehnten Regiments 6300 Kronen zur Unterstützung der Witwen und Kriegswaisen der armen, niedergetrampelten Mandschurei gesammelt und wozu der Divisionär Feldmarschall-Lieutenant von Schwartner im Namen der Theresienburger Infanteriedivision dem Admiral Watanaba 7500 Kronen für denselben wohltätigen Zweck ausgehändigt hatte. 73
Schließlich wurde auch verständlich ( und zwar war das von allem das Fatalste ), wieso der Generaldirektor der Theresienburger Sparkasse ( Alsóvári Magyar Takarék Pénztár ), Kárdossy, auf Grund einer persönlichen Empfehlung des Divisionärs, des Feldmarschall-Lieutenants von Schwartner, dem Grafen Fudji-Hasegawa auf einen Scheck der Shanghai Banking Corporation 4700 Dollar ausgezahlt hatte, damit der Graf Fudji nicht etwa noch die Realisierung seines Zahlungsauftrags auf dem Weg über eine Pester Bank abwarten mußte, was jedenfalls seinen Aufenthalt in Theresienburg bis zum Nachtschnellzug verlängert hätte. Da indessen dem Divisionär Feldmarschall-Lieutenant von Schwartner sehr darum zu tun war, den im telegrafischen Befehl des Kriegsministeriums verfügten Zeitplan genau einzuhalten, hatte er diese finanzielle Transaktion eine halbe Stunde vor Abfahrt des Schnellzugs persönlich über die Linie seiner privaten und dienstlichen Geschäftsverbindungen bewerkstelligt. Nach diesen Japanern wurde natürlich steckbrieflich in allen Richtungen gefahndet, aber das blieb, wie so oft bei derartigen lustigen Geschehnissen, erfolglos. So wurde im Laufe der Untersuchung bestätigt, daß sich die Japaner, die bis zur Pester Strecke vom Divisionsadjutanten, Infanteriehauptmann Bleich, begleitet wurden, dort auf der Station von Kaposvár sehr herzlich von ihrem Begleiter verabschiedet hatten, aber ihre weitere Spur verlor sich, und auf der ganzen Strecke bis Rijeka hatte kein Mensch eine Ahnung von japanischen Generalen. Beim Siebzehnten Dragonerregiment hatte der Besuch 74
des Grafen Fudji-Hasegawa jedoch viel schwerer wiegende Konsequenzen. Am nächsten Tag, nach dem Einrücken aus dem Gelände, befahl der Oberst des Siebzehnten, Ritter von Warronigg, den Oberlieutenant Ramong zum Offiziersrapport und bestrafte ihn wegen seiner unziemlichen Aufführung anläßlich des Empfangs eines hohen militärischen Funktionärs aus Japan mit zwölf Tagen Hausarrest. Diese idiotische Disziplinarmaßnahme war in blöd-stereotyper administrativer Sprache gehalten: » Oberlieutenant Ramong hat mit seinem Verhalten vor einem Admiral der siegreichen japanischen Armee eines der vornehmsten Kaiserlichen Regimenter kompromittiert. Er hat sich in völlig angetrunkenem Zustand dem hohen Gast des Kaiserlichen Regiments genähert, ihm seine Begleitung genommen und damit einen absoluten Mangel an Takt und Erziehung bewiesen. Oberlieutenant Ramong hat mit seinem oberflächlichen und unsoliden Vortrag den Ruhm des Regiments bagatellisiert, er hat vor ausländischen Vertretern siegreicher Waffen das völlige Fehlen von Pflichtgefühl und Fleiß bewiesen, und diese milde Strafe von zwölf Tagen Hausarrest soll ihm eine ernste Mahnung sein, daß ein Offizier mit seiner hohen Berufung nicht zu spielen hat. Alle Pflichten, und seien sie noch so unbedeutend, sind zu vollziehen in dem hohen Bewußtsein, daß alle Offiziersobliegenheiten im kaiserlichen Rock und unter kaiserlicher Fahne ausgeübt werden.« Als durch die Depesche des Kriegsministeriums erhärtet war, daß diese Hochstapler durchaus keine hohen japani75
schen Funktionäre waren und somit die Voraussetzungen, die für die Bestrafung des Oberlieutenants Ramong als Grundlage gedient hatten, gegenstandslos geworden waren, meldete sich Ramong zum Regimentsrapport und bat in Form einer Beschwerde an die Division um seine Rehabilitierung. Bei diesem zweiten Regimentsrapport kam es zu einem persönlichen Zusammenstoß zwischen ihm und Warronigg, und das Resultat dieses zweiten Rapports waren weitere zwanzig Tage Hausarrest. Am fünften Tag seines Hausarrests, nach Mitternacht, erschoß sich Oberlieutenant Ramong, und am anderen Morgen fand ihn die Ordonnanz auf dem Fußboden, das Gesicht zum Teppich. Er war kalt. Das Blut an seiner Wunde war schon völlig geronnen.
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ie Beisetzung des Oberlieutenants Géza Örkényi es Magasfalvai Ramong war laut Regimentsbefehl auf elf Uhr vormittags angesetzt. In diesem Regimentsbefehl, in dem Oberst Warronigg die genaue Einteilung des Leichenzugs angeordnet hatte ( im Rahmen dieser Einteilung war ganz genau der Platz für Berenice, die Stute des Verstorbenen, wie auch der Platz für den trauernden Vater des Selbstmörders, den Husarenoberstlieutenant Ramong, bestimmt ) – in diesem Regimentsbefehl hatte Oberst Warronigg seinem Offizierskorps des Siebzehnten Regiments befohlen, ihn in Paradegala und vollzählig im Festsaal am gleichen Tag um 9 Uhr 45 zu erwarten. 28 Paar Sporen erklangen genau in dem Augenblick, als haargenau um 9 Uhr 45 Oberst von Warronigg in den Saal 76
trat. Als erster erstarrte an der Tür der Ordonnanzdragoner Heinrich, der schon länger als 40 Minuten die Klinke hielt und in weißen, ärarischen Handschuhen, den Helm auf dem Kopf, mit Säbel und Waffenrock, den eintretenden Herren öffnete und die Rolle des feierlichen Türhüters spielte. Nachdem das scharfe Gerassel von Dragoner Heinrichs Sporen trostlos erklungen war, so schneidend wie der Klang der höchsten Taste eines verstimmten Klaviers, ertönte der vernickelte Stahl von 28 Reitersäbeln so kalt, als würden Metzgermesser gewetzt, und 28 düstere Offiziere standen da in stummer Trauer. Oberst Ritter Warronigg ging finster und nachdenklich über den vierzehneinhalb Meter langen Teppich zur Estrade, blieb bei der purpurnen Tischdecke stehen und legte auf den Purpur seinen Helm, seine Handschuhe, das Zwickerfutteral und ein Konvolut von Papieren und Briefen. Auf dem purpurnen Tischtuch standen eine geheimnisvolle Silberschüssel und daneben eine Flasche Spiritus. Alle Herren, die sich schon mehr als zehn Minuten vor dem Eintreffen ihres Kommandeurs versammelt hatten, schauten sich mit großem Interesse die Silberschüssel und die Flasche an, aber niemandem war klar, wozu diese etwas komischen Gegenstände hätten dienen können. Oberst Warronigg sonderte aus jenen Briefen und Manuskripten das Konzept seiner Rede aus, hob den Deckel der silbernen Kasserolle und setzte ihn nach einer langen, stillen Pause wieder an seinen Platz. Nachdem er sich überzeugt hatte, daß die Flasche Spiritus bereitstand, wandte er sich seinem Offizierskorps zu. 77
Alle waren sie da: die Grafen Hollós, L’ Ours-Walderode und Buttler, die vier Barone des Regiments und die neun Adligen, Oberstlieutenant Redl und Rittmeister Döbrentey und Bandi Kállay und Emil Sztatoczny und der Kadett Herzog von Mantua, alle achtundzwanzig, sie alle standen da, betrachteten das Ritual mit der silbernen Kasserolle, aber keine Menschenseele vermochte zu begreifen, was diese geheimnisvolle Vorstellung zu bedeuten hatte. Nur einer war nicht da. Géza Örkenyi es Magasfalvai Ramong, Kaiserlicher und Königlicher Oberlieutenant des Siebzehnten Dragonerregiments, Doktor der mathematischen Wissenschaften an der Tübinger Universität, lag auf einem schwarzen Katafalk im Leichenhaus des Regiments. Oberst Warronigg stand also da in seiner Autorität als Kommandeur des Siebzehnten Regiments, mit seinen neun Orden, mit seinem schweren Kavalleriesäbel, den er straff an der Kette hielt, ohne ein Wort, steif wie ein Panzer, mehr als zwei volle Minuten lang. Es war ein langes Schweigen, und aus der Ferne hörte man durch die Mauern das Signal einer Kavallerietrompete hallen. Nach dieser unangenehmen und affektierten Pause öffnete Oberst Warronigg sein Futteral, setzte den Zwicker auf, durchmusterte seine Papiere und warf dabei über die Gläser hinweg einen nervösen und unruhigen Blick auf seine Offiziere. Die Herren standen still und stramm, voller Erwartung, überrascht, wieso der Oberst sie nach vollen zwei Minuten immer noch nicht bequem stehen ließ. Das Novum, daß das ganze Offizierskorps korporativ länger als zwei Minuten in » Habt Acht « stand, war ein Vorzeichen, daß diese 78
Versammlung im Ehrensaal vor der Beisetzung des toten Kameraden keine gewöhnliche, banale Commemoratio sein werde. Wahrhaftig! Gleich schon nach den ersten Worten ihres Chefs, nach diesen ersten Staccati, die hart, aggressiv und aus voller Brust gesprochen wurden, wußten alle Herren, daß die Leichenrede des Obersten Warronigg das letzte Duell mit einem Gegner sein mußte; aus dieser furchtbaren und widerwärtigen Rede strömte Panik in den ganzen Saal; alle standen sie gelb und verkrampft da, wie in einer merkwürdigen, giftigen Hypnose, und ahnten nur so viel, daß es sich bei diesem verworrenen Spiel mit Worten um nichts anderes als die allzu menschliche Rache eines elenden, blamierten, gehörnten Ehemannes handelte. » Der Fall, der uns, meine Herren, zu diesem traurigen Epilog versammelt hat, ist betrüblich aus zwei Gründen: Einmal, weil der Selbstmord als solcher überhaupt schon einen Akt darstellt, der eines jeden ernsthaften Menschen unwürdig ist, darüber hinaus aber der Selbstmord eines aktiven Offiziers sich in keiner Weise mit den Pflichten verbinden läßt, wie wir sie laut Dienstreglement Punkt III usw., Absatz 24–46 › Über die Pflichten ‹ auf uns genommen haben – und zweitens, und das ist noch viel betrüblicher, weil wir uns hier nicht versammelt haben zur Beisetzung eines Kameraden, sondern eines Menschen, der in jeder Hinsicht unwürdig war, jenen selben Rock zu tragen, dessen sich auch unser Oberster Befehlshaber, Seine Majestät unser Kaiser und König rühmt! « Alle standen regungslos, in » Habt Acht «, nur die Blicke 79
wurden entsetzlich unruhig. In Starre versetzt durch dieses Kommando ihres Dompteurs schauten die Offiziere einander an wie kleine, dressierte Pinscher. Niemand wußte, was das bedeuten sollte. »Ja, meine Herren, ich bin mir der Schwere jedes meiner Worte bewußt, und ich bitte Sie, Ihre ganze Aufmerksamkeit zu konzentrieren und mich anzuhören als Ihren älteren Kameraden und als Ihren vorgesetzten Kommandeur, der die Ehre hat, vor Ihnen unter der Fahne des Siebzehnten Regiments zu stehen und der überzeugt ist, daß die Ehre unserer Fahne jenes Allerheiligste darstellt, für das wir alle, immer, ja immer und ohne jedes Nachdenken, alles zu opfern bereit sind, was wir haben, und zwar auch das Wertvollste in uns: unser eigenes Leben! Meine Herren, ich kann Ihnen nur so viel zur Einleitung sagen: wäre der verstorbene Oberlieutenant von Ramong nicht der Sohn eines unserer Kameraden, und stünde nicht im Leichenhaus in tiefem väterlichem Schmerz über ihn gebeugt ein Kaiserlicher und Königlicher Kavallerieoberstlieutenant, dann würde, ich gebe Ihnen, meine Herren, darauf mein Ehrenwort, unser Kaiserliches und Königliches Siebzehntes Regiment auf keinen Fall und unter keiner Bedingung hinter dem Leichnam dieses Verstorbenen einherschreiten, der in jeder Hinsicht unwürdig war sowohl unseres kameradschaftlichen Vertrauens als auch unserer Fahne und der Ehre, der er als aktiver Offizier teilhaftig wurde, und zwar besonders als Offizier unseres Siebzehnten Regiments. Denn, meine Herren, dieser betrübliche Selbstmord ist in den Annalen unseres Regiments 80
der dritte seit jenem Tag, an dem unser Regiment seine ruhmreiche Fahne aus den Händen unseres Protektors, des ruhmreichen Franz von Lothringen in seiner Eigenschaft als deutscher Kaiser, entgegennahm. Dieser Selbstmord ist der dritte, aber der schändlichste! Als erster erschoß sich in der Schlacht bei Malplaquet der Kommandeur der zweiten Abteilung, Rittmeister Harpner, bei der Katastrophe, in der das Regiment zusammenbrach. Diese Geste war verzweifelt, aber würdig eines römischen Centurionen, der lieber stirbt, als die Schande seiner Fahne zu überleben! Der zweite war vor zwei Jahren der Fall des Lieutenants Parniczay-Parneczki, ein Fall, der uns allen wohlbekannt ist. Das waren, wir wissen es alle, die Karten. Ehre oder Tod! Ein ritterliches Dilemma, und ein ritterlicher Entschluß! Aber diese Tat des Oberlieutenants Ramong, meine Herren, diese Tat läßt sich nur als das deuten, was sie ist: weibische Handlung eines Feiglings und tückische, heuchlerische Geste eines unaufrichtigen Schuftes.« Unruhe der Blicke im Saal. Panik. Pause. »Ja, meine Herren, eines tückischen Schuftes, das ist, meine Herren, das rechte Wort am rechten Platz! Und ich kann Ihnen eines sagen: wäre es nicht dazu gekommen, daß sich dieser Offizier eine Kugel in den Kopf gejagt hat, dann hätten wir uns ebenso eines Morgens getroffen, um die Trompete des Kriegsgerichts zu hören und uns vom Kriegsgericht das Allerhöchste Dekret verlesen zu lassen mit der Verfügung, dem Oberlieutenant Ramong seien die Orden abzunehmen, Sterne und Kartusche loszutrennen, 81
das kaiserliche Portepee abzuknüpfen, und der Kerkermeister solle ihn in das einzige Gewand kleiden, das ihm auch zustehe: den Sack der Zuchthäusler und Schufte! Meine Herren, ich sage Ihnen das in dem vollen Bewußtsein, daß jedes einzelne meiner Worte schwerer ist als der schwerste Reitersäbel, aber meine Erbitterung ist so tief und meine Enttäuschung so schwer, daß ich in meinem ganzen Vokabular keinen anderen Ausdruck finde. Oberlieutenant Ramong hat sich als Angehöriger unseres Regiments erschossen, und wir werden ihn in einer halben Stunde mit allen Ehren pro foro externo begraben, und ich bitte Sie, meine Herren, als Kameraden, und bitte Sie als meine jüngeren Freunde, jedes Wort von mir nach der Beisetzung ebenso in Ihrem Herzen zu vergraben, und nach dieser meiner Rede das Andenken an diesen Mann mit einem schwarzen Schleier zu verhüllen, als habe es ihn niemals in unserer Mitte gegeben! Ich wiederhole: empfände ich nicht Respekt und kameradschaftliche Solidarität gegenüber dem Vater des Selbstmörders, unserem Kameraden, dem alten Herrn Oberstlieutenant, und hätte ich allein nach meinem Pflichtgefühl handeln können – ich hätte die Erinnerung an Oberlieutenant Ramong dem Kriegsgericht zur zuständigen weiteren Veranlassung übergeben, um ihn von dort aus vorschriftsmäßig degradieren und von seinem Grabkreuz jedes Zeichen tilgen zu lassen, das ihn mit unserem Regiment, unseren Fahnen und Säbeln, mit unserem unbefleckten Pflichtgefühl und mit allem verband, was uns über die gewöhnliche bürgerliche Gesellschaft hinaushebt und uns damit auszeichnet, daß wir der allerhöchsten Stu82
fen des allerhöchsten Thrones würdig sind. Und wenn ich befohlen habe, daß wir uns hier versammeln, und wenn ich entschieden habe, daß wir geschlossen zu dieser Beisetzung gehen, so geschah das aus dem Bedürfnis, mit Ihnen gemeinsam mein Verantwortungsgefühl zu entlasten! Nur so, meine Herren, in Gemeinschaft mit Ihnen, Schulter an Schulter mit Ihrer kameradschaftlichen Solidarität, werde ich in der Lage sein, hinter der Leiche dieses Menschen zu gehen, dieses Offiziers, der nicht einmal soviel Moral in sich hatte, wie sie der allerletzte Niemand haben müßte! Ich bitte Sie, meine Herren, mich anzuhören und zu urteilen, ob ich richtig entschieden habe, und ob einer von Ihnen, meine Herren, stünde er an meiner Stelle, anders hätte verfügen können. Meine Herren, ich muß Ihnen gestehen, wie sehr auch Sie alle – gemäß Prinzip und Pflicht – mir gleich lieb sind, als Untergebene und als Kameraden – ich muß Ihnen in diesem Augenblick gestehen, daß ich gegenüber diesem unserem ehemaligen Kameraden stets ein gewisses heimliches Gefühl kalten Mißtrauens empfunden habe. Seine ewige, geradezu besessene Mathematik, seine Erfolge an der Tübinger Universität, sein unglückseliges Doktorat da und diese Habilitationsarbeiten von ihm, seine ganze Weltanschauung, Sprechweise, die ständige und unverhohlene Reserviertheit gegenüber uns allen, angefangen bei mir, dem Kommandeur, bis hin zum unbedeutenden letzten Dragoner im Stall, all das, meine Herren, war für mich, ich muß es zugeben, oft kaum faßbar und sonderbar! Wenn ich heute zurückblicke, sehe ich deutlich, daß das trübe, 83
unbestimmte Ahnungen waren, die sich leider in solchen Dimensionen verwirklicht haben, daß einem da wortwörtlich der Verstand stehenbleibt! Ich bin, meine Herren, ein moderner Offizier, ich bin ein Mensch von heute, ich darf ohne Übertreibung sagen, daß ich genug Bücher durchgeblättert habe, auch ich selbst habe heute und hatte von Anfang an höhere Ambitionen, und ich begreife, daß es gut ist, wenn die Offiziere von heute diese höheren Ambitionen hegen, aber, meine Herren, ich bin ein alter, erfahrener Empiriker, und ich kann Ihnen sagen, daß ich aus Erfahrung spreche, wenn ich Ihnen sage, daß für die Offiziere an erster Stelle der Säbel steht, an erster Stelle die Reitbahn, für Offiziere ist das Studium von Strategie und Taktik, aber nicht die Universität in Tübingen, und auch nicht Descartes! Wer Erfolg an der Tübinger Universität will, der mag an die Tübinger Universität unter die Mathematiker gehen, der soll Professor in Tübingen werden, aber er soll nicht bei den Siebzehner Dragonern in Theresienburg dienen! Und sehen Sie, meine Herren, das sind die tiefen und grundsätzlichen Widersprüche, das sind die fundamentalen Ursachen, aus denen Mißverständnisse entstehen und, sehen Sie, auch derartige betrübliche Folgen wie dieser schändliche Selbstmord! Wir, meine Herren, wir brauchen keinerlei Talente! Wir brauchen keine Infinitesimalrechnung, keine Hyperboloide, keine Doktorate, wir, meine Herren, brauchen ein eisernes Pflichtgefühl, und sonst nichts! Mit der Palette in der Hand zum Abmalen blöder und banaler Rosen auf Seide « – hier blickte Oberst Warronigg bedeutungsvoll den Oberlieutenant Sztatoczny an, 84
den Amateurmaler und Absolventen der Kunstakademie, der alle Boudoirs von Theresienburg mit Rosen auf Seidenkissen füllte – » damit werden wir nicht die allerhöchste Anstrengung vollbringen können, die nur der auszuhalten vermag, der sich seines hohen Pflichtgefühls bewußt ist, wenn es heißt, dem Feinde gegenüber zu stehen Auge in Auge, Brust an Brust, wenn es heißt, unerschütterlich zu sein wie ein Harnisch, und nicht wie irgendein Fräulein vom Maria-Valeria-Korso: kontemplativ und hyperintelligent! Rosen auf Seide, Palette in der Hand und Infinitesimale nützen Niemandem. Meine Herren, Rosen auf Seide sollen die Bürgerfräulein malen, über Mathematik sollen die Professoren verhandeln – aber wir sind Offiziere, wir sind Dragoner, und als solche brauchen wir ein ganz anderes Pflichtgefühl, eine ganz andere Weltanschauung und ein ganz anderes moralisches und hohes Bewußtsein unserer Offizierspflichten als all die verschiedenen Journalisten, Zivilisten, Professoren und Federfuchser, und wie sich schon dieses Lumpenproletariat in den Kanzleien, Cafes und Universitäten nennt. Ich habe immer gesagt und sage auch heute: Meine Herren, der Offizier ist nicht dann Offizier, wenn er im Waffenrock oder Salonmantel auf dem Maria-Valeria-Korso spaziert, der Offizier ist nicht dann Offizier, wenn er über Mathematik plappert und Walzer tanzt, sondern, meine Herren, blutig, schlammbedeckt, im Feuer und im Dampf, rußig vom Pulverqualm, von hoher Moral, hundertprozentig ergeben unserem allerhöchsten Ideal, den Säbel in der Hand, vor dem Angesicht des Feindes, dann sind wir, 85
meine Herren, Offiziere, und das ist die letzte und vollkommenste Erfüllung unserer hohen Pflicht.« » Sehr richtig, so ist es, jawohl! « legte laut der Paralytiker Rittmeister Döbrentey los, dem es schien, als höre er ein Echo seines eigenen Zitats. Dieser Zwischenruf wirkte sehr peinlich, und es entstand danach eine lange und unangenehme Stille. Diese langdauernde, tückische Stille demoralisierte Warronigg. Als alter Routinier, der schon jahrelang vor der Truppe daherbellte, hatte er seinen Monolog über den Tod eines Oberlieutenants begonnen, wie er seit Jahren über die verschiedenen Dinge in der Kaserne und deren Umgebung sprach: über Stellungen im Gelände, über Höhenkoten, über Karabiner, über Pferde oder über Frauen. Aber jetzt hatte mit seinem paralytischen und verrückten Zwischenruf dieses versoffene Schwein Döbrentey ihn aus dem Sattel geworfen, und er verlor sich auf den Brettern der Estrade wie ein Provinzschauspieler im Lampenfieber. Er merkte, daß er schlecht spielte und den Kontakt zu den Hörern verlor. Als er spürte, wie ihn die Elemente forttrugen und daß das nicht so ein harmloses Abenteuer war, wie er es sich zu Beginn vorgestellt hatte, da schlug eine Welle unangenehmer Assoziationen an die spröde Schale seines Verstands. Er schwimmt, und bis zum anderen Ufer ist es noch unsagbar weit! Schon volle fünfzehn Minuten donnert er hier autoritativ sein Requisitoire herunter, und er hat noch nicht eine einzige wesentliche Sache gesagt! Als sie ihn vor zwei Tagen aus dem Bett geholt hatten, in diesem düsteren und antipathischen Morgengrauen, 86
und als er in Ramongs Zimmer getreten war, da hatte ihn viel mehr als der Tote auf dem Fußboden jene polychrome Heliogravüre von Géricaults Komposition Le Radeau de la Méduse erschüttert, die da mit vier Heftzwecken an der Wand über dem einfachen Schreibtisch befestigt war, genauso irgendwie naiv, wie Schüler an der Wand ihren Stundenplan zu befestigen pflegen. In diesem Schiffbruch von Géricault dort an der Wand, in diesem Bild, das mit vier Heftzwecken an der Wand befestigt war, lag etwas, das war schülerhaft, jungenhaft, pubertär! Warronigg spürte den gewaltigen Altersunterschied, der zwischen ihm und dem Toten da auf dem Fußboden bestand, und dieser Gedanke machte sich bei ihm irgendwie im Blutkreislauf bemerkbar, von innen her, mit einer düsteren, venösen Schwere des Bluts tief aus dem Leib, und er atmete tief, um nicht vom Schlag getroffen zu werden. Warronigg wußte zwar, wußte ein ganzes Jahr schon, daß Ramongs Liaison mit Olga sentimental war, aber daß die Tiefe dieser Verbindung so blutig ernst war, daß Olga ihm ihr Geheimnis des Géricault-Gemäldes anvertraut hatte – das überraschte ihn. Das hieß: Olga hatte diesem schwachsinnigen Jungen alles erzählt. Olga hatte ihm gebeichtet, hatte mit ihm von ihrem Selbstmordversuch gesprochen, sie mußte ihm auch die Motive dieses Selbstmords berichtet haben, und wie man sie naß vom Donauwasser in die Halle des Hotels gebracht hatte. Naß, wie einen krepierten Vogel im Regen. So naß. Aber eben dieser vereitelte Selbstmord Olgas in Wien bildete das geheimnisvolle Band zwischen Warronigg und 87
seiner jungen Frau. Seit jenem lange vergangenen Morgen in Wien, als er hilflos auf den Knien geschluchzt und ihren weichen Kinderleib in den Armen gehalten hatte ( aus dem das schlammige Wasser troff wie von einem krepierten, nassen Vogel ), von diesem Morgen an hatte sich Warronigg Olga gegenüber zu seinem bekannten hündischen Verhältnis degradiert, das ihn zum lächerlichsten Hornvieh der gesamten österreichischen Kavallerie machte. Im Verhältnis zu seiner leichtsinnigen und nicht übertrieben intelligenten Frau war Warronigg nicht der arglose Hornochse ( wie man in den Garnisonen meinte ), sondern ein hartnäckiger, man könnte sagen fanatischer Büßer im härenen Gewand, ein Mensch, der ehrlich und ergeben Gott auf den Knien dankte, daß dieser Tod, zu dem es durch seine persönliche Schuld hätte kommen können, nicht Wirklichkeit geworden war. Olga betrachtete Géricaults Le Radeau de la Méduse als Symbol ihres eigenen ehelichen Schiffbruchs, aber daß sie, die von Natur stolz und nicht zu zähmen war, dieses ihr blutiges, intimes Geheimnis Ramong verraten hatte, konnte nur eines bedeuten: Daß diese, wie er meinte, neueste frivole Caprice Olgas nicht in die Reihe jener charmanten Schändlichkeiten fiel, die jahrelang passiv zu erdulden ihm vom Geschick verordnet war: all das war, wie es schien, viel tiefer, viel blutiger. Aber das enthielt denn doch die Elemente eines finsteren, öffentlichen Skandals, einer Gefahr, die jeden Augenblick aufflammen konnte. Gesellschaftlich beschränkt, von seiner Erziehung her mit einer Reihe konventioneller, blaublütiger Baronsvor88
urteile belastet, zitterte Warronigg vor nichts auf der Welt so sehr wie vor Skandalen, und zu den banalsten Skandalen gehörte seiner Meinung nach eine Ehescheidung. Alles auf der Welt, aber bloß nicht, daß die Vorhänge im Schlafzimmer hochgezogen werden! Im Halbdunkel des Alkovens fremde Leute wie bei einer Beisetzung – entsetzlich! Alles, bloß nicht den Skandal einer öffentlichen Gerichtsverhandlung! Bloß kein Gutachten von Dermatologen und Haufen blöder Papiere von jüdischen Advokaten! Schnüffelnasen im Bett! Aber was sich an jenem Morgen vor ihm in gespenstischen Relationen abzeichnete, bedeutete zweifellos eine logische und völlig unvermeidliche Ehescheidung. Dieser junge Offizier vor ihm auf dem Fußboden, blutig, beleuchtet von der rußigen Petroleumlampe in der unruhigen Hand einer animalisch entsetzten Ordonnanz, dieser junge Mann wollte ihm die Frau, die Mutter seines einzigen Kindes Laura, wegnehmen und mit ihr nach Bolivien fliehen ! Daß er in Ramongs Schreibtisch eine ganze Serie von Briefen Olgas an Ramong in violetter Schrift gefunden hatte, daß sie an diesen prächtigen, bronzenen Hippolyt und Pygmalion als Galathea unterschrieb, daß Olga ihrem Marmorgott, dem Sohn einer Göttin, beim Morgentee in bolivianischem Kimono und silbernen Pantöffelchen meldet, sie lebe und sterbe für seine bolivianische Idee, denn das sei ihre einzige Rettung aus dem Syphilitiker-Schiffbruch der Medusa, daß sich dort einige hellenische Aktfotografien der göttlichen Galathea ( vom Marmortorso 89
ihrer noch immer mädchenhaften Büste ) vorfanden, all diese Fakten waren zweifellos die Elemente einer skandalösen, unumgänglichen Ehescheidung, eines Prozesses, eines unvermeidlichen Duells, einer moralischen Blamage par excellence. Mit einem Wort: » Gott sei’ s Dank, jetzt bat sich das alles sebön geregelt « – und damit stopfte sich der Oberst Warronigg das ganze kriminelle Material in die Tasche und entzog es damit dem neugierigen Auge der Staatsanwaltschaft und der israelitischen Advokaten, und somit verlor das alles jegliche konkrete juristische Bedeutung.
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a! Da gibt’ s keinen Zweifel! Dieser Selbstmörder war der Geliebte seiner Frau! Sie hatte ihm alles gesagt, hatte ihm alles gestanden. Nach jenem Drama an dem Morgen in Wien war Warronigg mit Olga nach Paris gefahren, und an einem Spätnachmittag im August, als sie beide — en passant – im Louvre umhergingen, waren sie vor der Komposition Géricaults stehengeblieben; da plötzlich fing Olga beim Anblick dieser dramatischen Szene krampfhaft zu schluchzen an und drehte sich, weich wie Baumwolle, zu einem Knäuel zusammen. Sie hatten zusammen geweint, und ihre heißen Tränen waren über seine Hände gelaufen; Skandal im Louvre, Sensation für die Besucher, irgendwelche Spanier, und jetzt war also dieser junge Mann Teilhaber ihres intimsten Ehegeheimnisses … Warronigg konnte sich den Eindruck von Géricaults Schiffbruch in Ramongs Zimmer einfach nicht aus dem Kopf schlagen. Von diesen drohenden Wellen des grünen, ungeheuren Wassers vermochte er den Blick nicht abzu90
wenden: da der Tote, und dort an der Wand mit vier Heftzwecken dieser verfluchte Schiffbruch! Wie er jetzt in einer Nische des Festsaals steht, hat er das Gefühl, daß rings um ihn das riesige, düstere, stürmische Meer wogt, und er hat das Gefühl, daß ihn die Flut fortträgt, daß das grüne Wasser ihn überspült, daß der ganze Saal da mit dem alten Jesuitenkloster schlingert wie ein Schiff, daß alles knarrt wie ein Schiff aus Holz, daß alles versinkt im häßlichen Pfeifen der Bö, daß sich etwas über dieses Bild hinzieht wie der Flügel eines schwarzen, ungeheuren Riesenvogels. An Deck stehen seine Offiziere, sie alle treiben zusammen dahin, er spricht zu seinen Offizieren von der Estrade der Kommandobrücke herab, er ist der Kommandant des Schiffs, das noch nicht untergegangen ist, einer seiner Seconde-Offiziere liegt tot da, ist ertrunken, im weißen Leinentuch liegt er da vor ihnen allen, grün, ohne sich zu rühren, wahrhaftig tot: der Doktor der Mathematik in Tübingen, Doktor der Mathematik, der ihm Olga hatte wegnehmen wollen, mit ihr davonlaufen, aber er hat eine silberne Kasserolle herholen lassen und sie auf den Purpur gestellt wie einen Helm, und hat sich somit entschlossen, das alles mit Worten zu verbrennen, vor Gott und der Geschichte zu beweisen, daß all das nicht geschehen ist, daß all das nur Staub und Asche ist, und jetzt hat er den Faden in diesem Labyrinth verloren, und der besoffene Döbrentey hat ihm etwas zugerufen, alles ist still wie im Leichenhaus, in der Stadt läuten die Glocken, Olga ist weggefahren, sie schaukelt jetzt irgendwo in einer Gondel auf dem Canale Grande, sie wartet auf Admiral 91
Watanaba, und die Arme, das naive Kind, sie hat keine Ahnung, daß es den Admiral Watanaba nicht gibt, daß Watanaba ein Phantom ist, daß Ramong sich erschossen hat, daß ihr Geheimnis von Galathea und Bolivien entdeckt ist, daß die Glocken läuten …
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arronigg nahm mit einer nervösen Geste, als verjage er unangenehme lästige Fliegen, wie sie in Halluzinationsvisionen vorkommen, den Zwicker ab, wischte mit seinem Wildlederhandschuh über das Glas, setzte ihn wieder auf die Nase und setzte seine Rede fort mit der klaren und metallischen Stimme des echten Kommandeurs, der seine Kompanie geradewegs in den Tod schickt. » Es handelt sich, meine Herren, um unsere Haltung vor dem Feind im Gewehrfeuer, und nicht um amoureuse, blöde, schmutzige Abenteuer. In Ägypten, in Athen, in London und in Theresienburg stehen zunächst einmal wir mit unseren Eskadronen, und ohne uns, ohne unsere Disziplin, ohne unsere Eskadrons gäbe es keine Mathematik, keine Universitäten, keinen Descartes, keine Bilder von Géricault, keine Rosen auf Seide, keine kolorierten Fotografien, und gar nichts von alldem, was im allgemeinen den Gesprächsgegenstand beim schwarzen Kaffee abgibt. Ohne uns und unsere Moral gäbe es überhaupt keine Zivilisation, und deshalb war mein Standpunkt, meine Herren, und ist es geblieben: möglichst wenig Talent und möglichst viel Pflichtgefühl! Mit einem Wort: gerade deswegen, weil ich die Dinge immer und konsequent von diesem Standpunkt aus be92
trachtet habe, ist mir, wie ich gestehen muß, diese ganze ständige Betonung irgendeines außerordentlichen Talents beim verstorbenen Oberlieutenant Ramong von jeher recht verdächtig und unsympathisch gewesen. Es hieß von ihm, die Tübinger Universität habe seine Habilitationsschrift über die Parabel und die Hyperboloide angenommen, und er werde eine Dozentur in Tübingen bekommen; das erschien uns allen wie etwas Übernatürliches, geradezu übermenschlich. Aber es erwies sich, daß nach dieser Habilitationsschrift ein volles Jahr verging und daß aus der ganzen vielberedeten Dzentur nichts wurde und daß Hyperboloide eine Sache sind und die Pflichterfüllung eines Dragoneroffiziers eine Andere! Meine Herren, der Verstorbene hat zwar nicht gesoffen und nicht gespielt, aber trotzdem hat er von mir im Laufe dieses Jahres vier schriftliche Verweise bekommen, dazu sieben mündliche und dreimal je sieben Tage Hausarrest, und zwar alles wegen unglaublicher Nachlässigkeit im Dienst! Als Offizier vom Dienst hat er gelesen und seine Arbeiten geschrieben, nachts hat er kein einziges Mal auch nur eine Wache kontrolliert, zum Dienst kam er täglich und regelmäßig zu spät, und es ist eine bekannte Tatsache, daß Ramongs Zug in der zweiten Eskadron unordentlich war wie irgendein Wanderzirkus. Ich, meine Herren, will nicht abschweifen! Ich meine, daß ich als Ihr Kommandeur das Recht habe, Ihnen objektiv das Bild eines ehemaligen Kameraden aus unserer Mitte zu zeichnen, dem ich vorgesetzt war, und ich meine, daß es nicht übertrieben ist, wenn ich sage, daß Oberlieute93
nant Ramong das lebende Bild eines nachlässigen Offiziers war, zerstreut bei der Ausübung seiner Pflichten, weich im Dienst, ein nervöser und launenhafter Mensch, der seine Fähigkeiten nachgerade ein wenig überschätzte, wie ein Nachtwandler. An seinem Beispiel können wir leicht die alte Wahrheit lernen: auf zwei Stühle kann man sich nicht, setzen! Entweder man voltigiert in der Manege oder man hält die Kreide in der Hand als Professor für Mathematik! Tertium non datur! Aber das wäre alles nicht so wichtig, und ich, der ich heute vor den Fahnen unseres Regiments stehe und über einen toten Kameraden aus unserer Mitte spreche, brauchte den Oberlieutenant Ramong nicht zu meinen schlechtesten Offizieren zu rechnen, gäbe es nicht noch einige viel schwerer wiegende und noch viel dunklere Umstände! Oberlieutenant Ramong war laut Dekret des Kriegsministeriums als Professor der Technologie zur Kadettenschule Mährisch-Weißkirchen abgeordnet, und als guter Mathematiker hätte er gewiß das Renommee unseres Siebzehnten auch auf diesem Gebiet erhöht; ich hätte mithin unter dem Gewicht dieser Fakten keinen Grund gehabt, heute derartig streng und negativ über ihn zu sprechen, und ich hätte nicht das Recht gehabt, gegen ihn vor Ihnen eine so schwere Anklage zu erheben, hätte ich nicht Dokumente in der Hand, die diesen ganzen Selbstmord in ein neues und völlig anderes Licht rücken. Wie Ihnen, meine Herren, bekannt ist, hat sich Oberlieutenant Ramong in seinem Zimmer, auf der Ottomane liegend, erschossen. Als man mich sofort frühmorgens aus 94
dem Bett holte, bin ich zur Wohnung des Verstorbenen gegangen, und da ich nirgendwo einen Abschiedsbrief fand, habe ich die Pflicht auf mich genommen, den Nachlaß des Verstorbenen einigermaßen zu ordnen und – nach Möglichkeit – irgendeine Erklärung für diesen unverhofften Akt zu finden. Ich war der Meinung, das sei meine Pflicht als Vorgesetzter, als ältester Kamerad und als Vertreter seines Vaters, eines Oberstlieutenants der Kavallerie.
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nd sehen Sie hier, meine Herren, was ich gefunden habe: Gefunden habe ich auf dem Tisch eine Nummer der Zeitung Alsóvári Napló vom gleichen Tag, und unter den Lokalnachrichten war folgende Notiz mit Rotstift unterstrichen.« Oberst Warronigg breitete auf dem Tisch Konvolute von Manuskripten und Briefen und die Abendausgabe einer Nummer des Alsóvári Napló aus und mit der monotonen, langweiligen Stimme eines Gerichtsreferendars, ohne Akzent und ohne Artikulation, begann er eine Lokalnachricht aus der Abendausgabe des Alsóvári Napló vorzulesen, sehr schnell und beiläufig: » › Selbstmord eines Mannes, der neun Sprachen sprach. Gestern abend stürzte sich aus dem zweiten Stock der Postverwaltung ein unbekannter Mann und war auf der Stelle tot. Zuvor war er beim Direktor des Postamtes vorstellig geworden und hatte sich bei ihm um Einstellung als einstweiliger Briefträger auf Probe beworben. Als Qualifikation führte er an, er spreche neun Sprachen. Da alle Stellen für Briefträger auf Probe besetzt sind, erklärte der Direktor dem 95
Unbekannten, er könne ihn momentan nicht beschäftigen. Beim Verlassen des Direktorzimmers stürzte er sich in den gepflasterten Hof und war auf der Stelle tot. Die Identität läßt sich nicht ermitteln.‹ Der Verstorbene hat die ganze Notiz hier mit Rotstift sehr markant und energisch unterstrichen, ohne ein einziges Wort Kommentar, und hier, gestatten Sie mir, daß ich Ihnen vorlese, was er an den Rand geschrieben hat: › Polyglotte sind für Menschenfresser völlig überflüssig.‹ Außerdem lag auf dem Tisch ein eingeschriebener Brief des Rektorats der Tübinger Universität, in dem der Rektor der Universität Tübingen ihm die Habilitationsschrift zurückschickt mit dem Bemerken, die Frage seiner Dozentur sei einstweilen aus technischen Gründen gegenstandslos. Dieser Brief lag offen auf dem Tisch, ebenfalls mit Rotstift unterstrichen, und über das Ganze hin eine kräftige und energische Null. Außer diesem Brief und dieser Zeitungsnotiz habe ich, meine Herren, nichts gefunden, was sich auch nur irgendwie als ein sei es noch so ausgeblichener konkreter Wegweiser zu diesem Selbstmord hätte entziffern lassen. Zu diesem Selbstmord ist es nach meiner tiefsten Überzeugung nicht aus dem Augenblick heraus gekommen. Dieser Selbstmord hat in dem verstorbenen Oberlieutenant das ganze letzte Jahr lang geschwärt, und wir müssen, wenn möglich, den Vorhang vor seinem intimen Innenleben lüften, wir müssen uns in sein unsichtbares moralisches Profil hineindenken, damit uns klar wird, daß man ohne Ideal, ohne Pflichtgefühl, ohne Offiziersmoral nicht existieren kann. Denn, meine Herren, außer seinen mathe96
matischen Arbeiten und Manuskripten habe ich dieses Notizbuch hier gefunden, das in der Handschrift des Verstorbenen geführt ist und in dem er seine nervösen Eindrücke und Gedanken der letzten sieben, acht Monate notiert hat, das heißt, genau von dem Zeitpunkt ab, an dem die Frage seiner Dozentur in Tübingen akut wurde. Aus diesen seinen Aufzeichnungen hier, die man auch als Tagebuch des verstorbenen Oberlieutenants bezeichnen könnte, habe ich das düstere Bild inneren moralischen Verfalls gewonnen, auf Grund dessen ich das Recht zu haben glaube, ihn vor Ihren Augen als Kameraden wie auch als Menschen zu disqualifizieren. Meine Herren, in diesem blauen Notizheft zeichnete dieser Mensch Eindrücke und eigene Gedanken auf, und während er mit uns in unserem Kasino verkehrte, in unserer Menage, in unserer Reitbahn, während er mit uns zu unseren Übungen auszog, unter unseren Fahnen, im gleichen Rock wie wir, da dachte der Oberlieutenant so häßlich und so abscheulich von uns, als sei er uns der fernste und schrecklichste Feind! Mir fehlen das Wort und der Ausdruck, meine Empörung und meine Erbitterung zu beschreiben, und ich denke, am besten werde ich Ihnen so ein paar Zeilen aus dem Tagebuch eines Kameraden von uns zitieren, eines Kameraden, den wir aufrichtig geliebt und geschätzt haben, ohne im geringsten auch nur daran zu denken, daß unter uns ein maskiertes Gesicht, ein Typ mit geschlossenem Visier wandelte. So zum Beispiel taufte er an einem bestimmten Tag einen älteren Kameraden aus unseren Reihen einen Kretin, weil der in der Menage geäußert hatte, an der ganzen Fran97
zösischen Revolution imponiere ihm am meisten der Tod von Lafayettes Schweizergarde. Bitte, meine Herren, seien Sie so liebenswürdig, einen Augenblick Ihre Aufmerksamkeit folgender These zu widmen, die unser libre penseur im Zusammenhang mit der Äußerung unseres Kameraden aufgezeichnet hat: › Sokrates sagt voraus, die Menschheit werde genau so lange Krieg führen, bis die Leute anfingen, die Generale als Eselstreiber anzusehen. Nachdem ich diese Sentenz des Sokrates gelesen hatte, habe ich mich niemals mehr als Eselsvieh gefühlt. Wenn so eine Kavalleristenkreatur, ein derartiger Apologet der Schweizergarde, einen seiner Dragoner beim Voltigieren beleidigen will, dann nennt er ihn einen Feuerwehrmann! Aber ein einziger Feuerwehrmann ist mehr wert, als eine ganze Armee von Brandstiftern in corpore …‹ Der Eindruck, den er von uns als Menschen hatte, lief darauf hinaus, daß wir Dragoner Strohpuppen sind und uns von den Strohpuppen in der Reitbahn nur insofern unterscheiden, als wir an jedem Ersten Gehalt beziehen. Wie ein Spion hat er heimlich unsere intimsten Gespräche belauert, und dazu, meine Herren, daß einer unserer Kameraden, Graf Buttler, in der Menage die übrigens zutreffende und wahrheitsgemäße Bemerkung äußerte, unsere junge Generation verstehe es nicht mehr, sich am herrschaftlichen Tisch mit Spargeln und Krebsen zu bedienen, dazu bemerkt er: › Es gibt kriminelle Typen, die sehr viel Wert auf die Form legen, wie man Spargel ißt! ‹ Und dann knüpft er voller Bosheit an: › Buttler hat er98
klärt, unsere Bürgerlichen hätten mehr Angst vor den roten Fühlern einer gekochten Languste auf dem Tisch als vor russischen Bajonetten. Buttler hatte recht damit: vor Messern fürchten sich die Metzger nicht, weil ein scharfes Messer das Symbol der Metzgerehre ist. Und dieser Buttler, dieser Ritter ohne Furcht und Tadel, fürchtet sich nicht einmal vor der Languste. Es gibt kriminelle Typen, die widmen eine ungeheure Aufmerksamkeit der Frage, wie man Austern, wie man Schnecken und wie man Langusten ißt. Buttler, der allerdurchschnittlichste Abkömmling eines ordinären Mörders, wird hier also aus einer Perspektive von zwei Jahrhunderten zum Garnisons-Cicerone des aristokratischen bon ton.‹ Das, meine Herren, ist, wie Sie sehen, die analytische Methode dieser erhabenen mathematischen Tübinger Weltanschauung. Eines schöner als das andere! Wir alle waren für ihn Mörder, Falschspieler bei den Karten, Syphilitiker mit einem Gehirn voller Löcher wie ein Sieb, die eine nicht zu parierende Säbelquinte nur deshalb schlagen können, weil wir nicht wissen, was der Cosinus und was Rechtschreibung ist, und dieser Herr Doktor der Mathematik hat einen Kameraden aus unserer Mitte, der mit elf Auszeichnungen dekoriert ist, als einen ordinären Wucherer betrachtet, der die Armen mit hohem Mietzins betrügt, und zwar nur deshalb, weil dieser Kamerad Hauseigentümer ist. Dieser Mensch hat nicht an Gott geglaubt, nicht an die Heiligkeit der Pflicht und des Dienstreglements; all unsere Grundlagen unseres Systems waren für ihn › kannibalische Vorurteile ‹, und in diesem seinem megalomanen 99
Rausch hielt er uns für provinzielle Dummköpfe, intellektuelle Jammergestalten, Säufer, Paralytiker, Erpresser, Totengräber der Vernunft, Falschspieler, Urkundenfälscher, Zuhälter, die von der Mitgift der Apothekerfräulein aus der Provinz leben – nein, meine Herren, ich kann hiermit nicht fortfahren, denn all das ekelt mich an, all das ist krankhaft und schändlich! « Oberst Warronigg warf voller Ekel Ramongs blaues Notizbuch von sich, trat von der Estrade und schritt zu dem schweren Brokatvorhang an der altertümlichen Fensternische; dort hielt er gedankenverloren inne und verblieb so eine ganze Minute lang. Nach seinem langem Schweigen war sein Kopf leer, so absolut leer, wie riesengroße, leere Fässer leer sind, so verzweifelt leer, daß kein einziger Gedanke darin auftauchte, und vorhin bei der Verlesung der Lokalnachricht aus der Alsóvárer Zeitung hatte er das Gefühl gehabt, es drücke ihn um die Schläfen ein heißer Reifen aus Stahl. Die Angst hatte ihn gepackt über den Sätzen Ramongs. Da ist an vielen Stellen auch von ihm die Rede, und er hat es in der Eile unterlassen, mit Rotstift zu kennzeichnen, was er vorlesen soll. Vor den Kameraden des toten Offiziers, der die vollen Sympathien der ganzen Garnison genossen hatte, zeichnete er das Profil dieses Jungen in zu warmen, menschlichen Farben: er gab das Porträt dieses Betrügers und Diebs fremder Ehre so sympathisch, er hatte noch nicht begonnen, die Materie anzuschneiden, er war noch nicht in sie eingedrungen. Er liest da aus Ramongs intimem Tagebuch geistreiche Details vor, die den völlig entgegengesetzten Effekt hervorrufen werden! Da 100
muß man die ganze Art und Weise dieser dummen Rede ändern. Das ist hier nicht die Apologie eines bel esprit an seiner Totenbahre, sondern die Anklage eines Kommandeurs über dem Bild eines Hochverräters und Deserteurs! Wie er so ideenlos in seinem Nebel kreuzte, war sich Oberst Warronigg einer einzigen Sache bewußt: es ist in diesem Augenblick alles möglich, und nur eine einzige Sache kann fatal werden – er darf sich nicht in die Attitüde eines Schwächlings manövrieren, der sich dort vor allen als der Schuldige an diesem Tod reinzuwaschen versucht. Er muß zur offenen, frontalen Konterattacke übergehen, und zwar jetzt sofort! Die Minute dieses letzten Kampfes dauerte endlos lang. » › Es gibt Barone, die würdevolle Zuhälter sind. Sie leben von der Mitgift ihrer bürgerlichen Gemahlinnen, aber sie bewilligen ihnen nicht die Scheidung, weil sie Abenteurer und Glücksspieler sind und auf diese Art ihren Poker finanzieren. In der Behandlung der Freiheit ihrer Damen sind diese Herren ungewöhnlich liberal: sie lassen ihre Frauen in den blauen Stunden Ausflüge in fremde Betten machen, aber sie erwarten sie ebenso kaltblütig im eigenen Bett, wo sie die eheliche Pflicht ausschließlich für Geld erfüllen.‹ Oder: ›Wenn ein alter Syphilitiker ein siebzehnjähriges Mädchen defloriert und ihm dabei in der ersten Ehenacht ein Andenken fürs ganze Leben verehrt, dann nennt man das eine Mésalliance: ein blaublütiger Baron hat sich zur bürgerlichen Tochter eines Provinzadvokaten herabgelassen, und sie so erhöht, daß sie zur Beischläferin eines Syphilitikers wird! ‹ Oder: › Hamlet ist ein Kretin, weil er 101
Claudio nicht schon bei der Hochzeit seiner Mutter umgebracht hat.‹ « Niemand rührte sich im Saal. Alle standen sie kalt wie Stein: diese steife, zeremonielle Haltung ging jetzt schon über in eine quälende und anstrengende Erstarrung des Leibes. Unter Kartusche und Säbel, eingeschnürt von Ketten und Leibriemen, mit dem schweren Helm und dem Säbel in der Hand, unbeweglich, begannen die Offiziere, gegen die Schwerkraft mit schwerem und tiefem Atmen anzukämpfen. Immer noch in Gedanken, als spreche er mit sich selber, wandte sich Warronigg wieder zur Estrade, und indem er so vor der Front der Offiziere herschritt, sprach er düster und grob: » Das alles hätte man noch verzeihen können, man hätte das alles noch verstehen können! So ein junger und unerfahrener Offizier überschätzt seine Fähigkeiten, und berauscht von seinem verfluchten Doktorat da träumt er, wie er die Welt erobern wird! All das hätte man auch noch eine jugendliche Blutstauung im Kopf nennen können, eine moralische Aberration, aus der alle ihre Folgen sich hätten erklären lassen. Er war nachlässig im Dienst, nicht gewissenhaft, oberflächlich, er hat uns, mit allem Chaos, das er in sich trug, auf seine megalomane Art verachtet, er trug in seinem Herzen eine Teufelsfratze, und in der Unruhe und Unordnung seines eigenen seelischen Durcheinanders hat er zum Revolver gegriffen und das alles von sich abgespült! Und, meine Herren, stünden wir jetzt da über seinem Leichnam, und wäre das nun alles, was ich Ihnen über seinen Nachlaß zu sagen gehabt hätte, glauben Sie 102
mir, meine Herren, auf mein Offiziersehrenwort, ich hätte über ihn kein einziges negatives Wort gesprochen. Sie können sich, meine Herren, seine unglaubliche Dreistigkeit anläßlich des letzten Rapports nicht vorstellen, als er von mir verlangte, ich solle seinen ersten Hausarrest annullieren, da er wegen Ehrenbeleidigung eines Hochstaplers und nicht eines ausländischen Admirals bestraft worden sei. Er verlangte gegen mich einen Divisionsrapport, beim Rapport grinste er mich mit unerhörter Arroganz in Ton und Geste herausfordernd und höhnisch an, und dabei betonte er mit besonderem Nachdruck, er persönlich könne nicht zur Verantwortung gezogen werden für den schwachsinnigen Intelligenzmangel beim gesamten Theresienburger Offizierskorps inklusive der Generalität. – No also, gut, ein brennendes Gehirn, gut, das alles war nicht so tragisch, dieser Zimmerarrest! Aber, meine Herren, das ist nicht das Allerentsetzlichste! Sowohl die Verletzung der kameradschaftlichen Solidarität als auch die mangelnde Solidität im persönlichen Charakter, als auch die durchschnittliche Gleichgültigkeit im Dienst – all das hätte man aus Pietät angesichts eines frühen und regelrecht traurigen Todes verzeihen können! Aber eine Sache, die man an diesem Fall durchaus nicht verstehen kann: Oberlieutenant Ramong war ein Hochverräter! « Zucken mit den Köpfen, Unruhe. Pause. Sie hatten diesen moralischen Fenstersturz schon länger als 40 Minuten lang erwartet, und nun hörten sich die Herren Offiziere des Siebzehnten an, wie der Leichnam Ramongs schließlich durchs Fenster geschoben wurde, aber das Aufschla103
gen des Leichnams auf dem Pflaster vor dem Kloster verursachte Unruhe in der stummen Berührung der Blicke. Die Nervosität nahm offensichtlich auf allen Seiten zu. » Consummatum est «, dachte bei sich der Regimentskaplan, Doctor Theologiæ et Philosophiæ Mándoky, der Übersetzer von Balzacs Contes drôlatiques, schöne Seele und Moralist sui generis. » Parce nobis domine, quia dragoni sumus! « Und Oberst Warronigg sprang über das Finale seiner Rede mit der ungewöhnlichen Geschwindigkeit eines erfahrenen steeple-chase-Jockeys: nachdem er dem Huhn den Hals abgeschnitten hatte, warf er das Aas von sich mit einem Ekel, der größte Beachtung verdiente. »Ja, meine Herren, dieser Selbstmord ist eine Schande für unser Regiment darum, weil es der Selbstmord eines ordinären Hochverräters ist. Wenn er sich nicht selbst erschossen hätte, dann hätte das Kriegsgericht ihn erschießen lassen müssen. Oberlieutenant Ramong stand als aktiver Offizier unseres Siebzehnten Regiments in Korrespondenz mit einer ausländischen souveränen Macht und führte Vorbesprechungen über ein Engagement wie irgendein reisender Schauspieler. Der Geist der Regimentsehre, die Treue gegenüber dem Allerhöchsten Hause, die Loyalität als Bürger und als Offizier, Pflichtgefühl und fachliches Geschick in unserem Beruf – das waren im Hirn dieses Unglücksmenschen lauter Begriffe, mit denen man handeln kann wie mit jeder anderen Ware. Hier, bitte, ich habe in seiner Korrespondenz vier Briefe von der Technischen Abteilung des Kriegsministeriums der Republik Bolivien gefunden, in denen besagte Technische Abteilung unserem Kamera104
den antwortet, seine Forderungen seien zu hoch.« Als auf der purpurnen Tischdecke vor der geheimnisvollen Silberkasserolle Ramongs Briefe, die er aus Bolivien bekommen hatte, auftauchten, als eine Art Ehren-Todesstoß in diesem perversen Florettgefecht, da wäre Bandi Kállay um ein Haar der Helm aus dem Arm gerollt, so heftig fuhr er auf in seiner Indignation. Die Sache mit Bolivien, daß Ramong in diesem fernen und phantastischen Land als Festungsbauer Dienst tun wollte, diese Sache war Bandi Kállay bis in die Einzelheiten bekannt. Er persönlich hatte diese Pläne für blöd und naiv gehalten, ihm war das alles komisch vorgekommen, daß ein so romantisch verliebter Dilettant, wie Géza Ramong in der Liebe es war, sich in gefährliche Abenteuer einließ, daß ihn diese routinierte Hure eingewickelt hatte wie ein Biskuit in Wein, daß sie ihn sozusagen geschmolzen und aufgeschlürft hatte, daß sie ihn jagte wie eine Fliege, daß er verrückt geworden war und meinte, er müsse bis hin nach Bolivien fahren, um dort diese zahnlückige, antipathische, eingebildete Matrone zu heiraten.
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ls Bandi Kállay den senilen, boshaften Alten da anhörte, wie er sich vor allen Leuten schamlos erregte und schon mehr als eine halbe Stunde lang seinen Freund anspuckte, hatte er das Gefühl, als ob ein kleiner Spatz um sein Haupt flatterte und dauernd vor seinem Ohr schwirrte und ihm ein und dasselbe immer wieder vorzwitscherte: Man müßte diesen Schuft da auf dem Katheder erschießen wie einen Hund! Man müßte dieser Kanaille eine Kugel in 105
seinen idiotischen Schädel jagen! Man müßte seinen Helm so aufs Parkett schmettern, daß es wie eine Art Protest klingt, und damit würde über dieser idiotischen Schmach der Vorhang fallen! Man müßte mit dem Fuß stampfen, mit dem Säbel, mit der Faust losschlagen, man müßte diesem alten Aasgeier eine Ohrfeige herunterhauen, man müßte den Alten zum Duell fordern, sofort, auf dieses unmoralische Schwein losgehen, ihm mit dem Handschuh über die Fresse hauen, den Zwicker auf seiner riesigen thrombösen, fleischigen Nase zerschlagen, zwei, drei männliche Wörter aussprechen. » Und was deklamieren Sie uns da vor von irgendwelchen spanischen und bolivianischen Romanen? Als ob wir nicht alle wüßten, daß Ihre Frau Obristin das Liebchen dieses Mannes war? Und nicht nur sein Liebchen, sondern auch meins, verstehen Sie, auch meins, unsers ganz allgemein, mon cher colonel, je vous annonce respectueusement, verstehen Sie, von Sztatoczni bis zu mir, sie hat überhaupt ganz allgemein die Jockeys gemocht, und dieser naive Mathematiker war für sie das curiosum mundi! Und was Sie uns da von Bolivien erzählen, das ist ein ganz gewöhnliches technologisches Engagement im Ausland, das ist eine nachträgliche Diffamierung unseres toten Kameraden, das ist moralischer Mord niedrigster Kategorie! « Bandi Kállay meinte, man müsse jetzt demonstrativ auf diesem roten Samtteppich zur Estrade gehen, den Weg der ritterlichen Wahrheit beschreiten oder diese Höhle verlassen und die Tür dabei so zuschlagen, daß die ganzen altertümlichen Fenster aus den Bleirahmen fielen wie faule 106
Zähne aus einem Totenschädel, man müsse den Kommandeur zum Zweikampf fordern, eine unerhörte Insubordination provozieren, aber zugleich haspelte sich in seinem Kopf etwas ab, all das wäre nicht korrekt nach dem Barbasetti-Codex, es bestünden gewisse Regeln des Duells und des Ehrengerichts, das könne man viel korrekter in schriftlicher Prozedur regeln, mit einer Meldung an die Division, mit einer Kommission, mit Sekundanten, das Ganze wäre ein Skandal ohne Kopf und ohne Schwanz, und schließlich – diffamiert würde bei der ganzen Sache ausschließlich und einzig Frau Olga. Die charmante Gemahlin des Kommandeurs traf schließlich nicht die geringste Schuld an dieser exaltierten Geste Géza Ramongs. Ramong war von jeher exaltiert gewesen, und wozu letztlich auch eine Dame in dem Augenblick kompromittieren, in dem ohnehin die Komödie aus war, und am meisten opportun ist und bleibt ohnehin, was uns die alte Wahrheit lehrt: Kuschen und weiterdienen … » Ich, meine Herren, kann hierüber nicht weiter sprechen, denn ich fürchte mich, jene Linie zu überschreiten, die um jeden Preis einzuhalten ich mich entschlossen habe! Meine Herren, ich habe mich entschlossen, mit Rücksicht auf unseren Kameraden, den Vater des Selbstmörders, den Kavallerieoberstlieutenant Ramong, aus dieser ganzen Angelegenheit kein Problem zu machen. Dieser Tote hat ein Visier getragen, und er war der Ehre unseres Regiments nicht würdig. Er war kein Gentleman, sondern ein Narr, und ich bitte Sie, meine Herren, mir bei der Erfüllung meiner Pflicht zu helfen und weiterhin mit mir solidarisch zu 107
bleiben. Ich habe beschlossen, daß wir aus formalen Gründen geschlossen an der Beisetzung teilnehmen, nicht aus Pietät, sondern aus Mitleid mit einem invaliden kaiserlichen Oberstlieutenant, für den die Kenntnis der Wahrheit in diesem Falle den sicheren Tod bedeuten würde. Und ich habe ferner auch beschlossen, hier mit Ihnen zusammen alle die Dokumente zu verbrennen, die die Ehre unserer Fahne beschmutzt und uns allen eine schwere Verantwortung auferlegt haben! « Daraufhin legte Oberst Warronigg das blaue Notizbuch und die vier Briefe aus Bolivien in die Silberschüssel, übergoß alles mit Spiritus und steckte es an. In diesem Augenblick sah er aus wie der Großmeister eines mystischen Ordens, der der unsichtbaren Gottheit ein Opfer verbrennt.
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ie Halbeskadron, die die Beisetzung eskortierte, kommandierte Bandi Kállay. Er ritt am rechten Flügel des ersten Zugs als Kommandant des gesamten Trauerzugs. Hinter den Dragonern des ersten Zugs, die sich ganz langsam mit gezogenen Säbeln vorwärtsbewegten, ritten acht Regimentstrompeter, Trompeten an der Hüfte, finster, einer dem anderen ähnlich, auf dicken transdanubischen Stuten. Hinter den Trompetern und der Kapelle des 107. Regiments führte die Ordonnanz Heinrich Warroniggs Stute Dolores, die nach flämischer Weise verhüllt und mit schwarzer Ritterschabracke bedeckt war. Im Augenblick, als man Ramongs Berenice mit dem schwarzen flämischen Überzug hatte bedecken und ihr die schwarze Trauermaske über den Kopf ziehen wollen, da hatte sie mit 108
einem einzigen Tritt dem Dragoner, der als Pferdebursche da vor ihr mit dem schwarzen Kostüm in der Hand wie ein Gespenst erschienen war, den Schädel gespalten. Berenice war angesichts des schwarzen Fetzens wild geworden, und der tragische Tod des Stallburschen, eines neunzehnjährigen Jungen, wurde in der Kaserne und draußen als düsteres und rätselhaftes Omen dieser Beisetzung herumerzählt. In diesem Augenblick blieb nichts anderes übrig, als Dolores, die Stute des Kommandeurs, zu kostümieren, diese höchst fromme Stute des Obersten Warronigg, die sanft war wie eine Kuh beim Salzlecken, da Oberst Warronigg ja ohnehin mit den übrigen Offizieren zu Fuß hinter dem Sarg gehen würde, und so wurde Warroniggs Stute Dolores die seltene Ehre zuteil, in großer flämischer Trauergala Géza Ramong auf seinem letzten Weg zu geleiten. Hinter der Stute Dolores kamen Dragoner, die Kränze trugen: sechs Stück im Abstand von drei und drei Metern. Danach ging der Totengräber mit dem Kreuz, der Prior von St. Theresia mit zwei Assistenten, das Viergespann mit dem eisernen Ritter und dem Sarg, den ein schwarz-gelbes Tuch bedeckte. Auf dem Sarg lagen über dem schwarz-gelben Tuch der schwere Reitersäbel mit dem Dragonerhelm und ein einziger Kranz: vom Vater, dem Oberstlieutenant Ramong. Hinter der gläsernen Karosse schritt Oberstlieutenant Ramong mit dem Holzbein, in Husarengala, in blauer Attila und roter Hose, barhaupt und winzig wie ein Spielzeug. Hinter diesem ausgedörrten Greis ging, Schritt um Schritt im langsamen Takt der schwarz verhängten Trommeln an der Spitze der 28 Offiziere der Theresienbur109
ger Abteilung des Siebzehnten Dragonerregiments Oberst Warronigg, gebeugt und in Gedanken. Kapellmeister Czibulka spielte vorne vor dem Vierergespann Chopin, und Warronigg konnte und konnte von seinen trüben Gedanken nicht loskommen. Er hatte zu den Herren von dem Tagebuch des Selbstmörders, von dem bolivianischen Abenteuer und dem Brief aus Tübingen gesprochen. Davon, daß unter Ramongs Briefen auch einige intime Briefe seiner Gemahlin Frau Olga sich befanden, davon hatte er niemandem ein Wort gesagt. Das lag ihm nun auf der Seele, und er dachte darüber nach, daß Olga jetzt in Venedig war, auf der Piazzetta ( wo sie sicher Tauben füttert in ihrem neuen Brüsseler Spitzenkleid, ganz eingehüllt vom flatternden Schwarm weißer Tauben ), und daß er sie erst im September wiedersehen würde. Am Schluß des Trauerzugs ritt wieder ein Zug Dragoner unter dem Kommando von Lieutenant Kolozsváry-Mayer, dem Sohn des Fabrikanten des » doppelten süßen Kolozsváry-Bieres «. Am Rande des Gehsteigs erschrak ein kleiner Junge, der den feierlichen Leichenzug anschaute, vor Warroniggs Dolores in der schwarzen flämischen Mamille, vor ihrem schwarzen Teufelskopf aus Tuch, der die Ohren spitzte und wieherte, und in seinem panischen Schrecken breitete er beide Hände aus und ließ seinen roten Luftballon aus den feuchten Fingerchen fahren und senkrecht in die Höhe steigen. In einer steilen Parabel, mitgerissen vom Wind der Reiterphalanx, flog der Ballon zur Eskadron von Bandi Kállay, 110
und dann hob er sich wieder, in einer kühnen Senkrechten, von der Erde ab und verschwand senkrecht über der gläsernen Leichenkarosse hoch über Dächern, Kastanienbäumen und Kirchtürmen in der Heiterkeit des sonnigen Maimittags.
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