ATLAN Im Auftrag der Menschheit Nr. 109
Befehle des Bösen von Ernst Vlcek
Auf den planetarischen und kosmischen Stützp...
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ATLAN Im Auftrag der Menschheit Nr. 109
Befehle des Bösen von Ernst Vlcek
Auf den planetarischen und kosmischen Stützpunkten der USO, auf den Planeten des Solaren Imperiums und auf den übrigen Menschheitsweiten schreibt man den Monat August des Jahres 2842 – eines Jahres, dessen erste Hälfte recht turbulent verlief, wie die vorangegangenen Ereignisse eindeutig und drastisch bewiesen. Jetzt herrscht in der Galaxis relative Ruhe. Der Aufbau des Solaren Imperiums geht kontinuierlich voran. Es gibt im Augenblick weder im Bereich des Inneren noch im Bereich des Äußeren Gegner von Bedeutung, und demzufolge haben sich die Verantwortlichen der Großadministration, der Solaren Abwehr und der United Stars Organisation nur mit den Üblichen kleineren Zwischenfällen zu beschäftigen. Kein Wunder daher, daß Perry Rhodan, der Großadministrator, Staatsgeschäfte Staatsgeschäfte sein läßt und zusammen mit seiner Frau Mory Abro, der Regierungschefin von Plophos, zu einer Expedition in ein weit entferntes Sonnensystem aufgebrochen ist. Dabei wäre, wie es sich plötzlich herausstellt, die Anwesenheit von Perry Rhodans Frau auf Plophos, einer der bedeutendsten Koloniewelten der Menschheit, gerade jetzt dringend erforderlich! Denn Plophos, das dabei ist, sich auf dem Sektor der Organverpflanzungen eine galaxisweite Reputation zu erwerben, wird von einer Welle von Terrorakten heimgesucht. Menschen geraten in den Bann einer dunklen Macht und befolgen die BEFEHLE DES BÖSEN…
Die Hauptpersonen des Romans: Kerima Prosnerim – Eine dunkle Macht treibt sie zum Verbrechen. Bewin Valanta und Swart 70 – Zwei Männer im Leben Kerimas. Jaizaar Awrusch – Stellvertretender Obmann von Plophos. Järk Fortun – Leiter einer Organbank. Elena Houthan – Eine Selbstmörderin. Efkor Rongald – plophosischen Polizei.
Major
der
1. Miro Borket und Flogg Sistor steckten nacheinander ihre Dienstausweise in die positronische Stechuhr. Die Energiebarriere vor ihnen fiel zusammen. Sie betraten schnell den dahinterliegenden Korridor. Hinter ihnen baute sich die Energiebarriere wieder auf. Ihre Schritte hallten laut durch die gespenstische Stille, als sie in das Allerheiligste der Guerrigha-Klinik kamen: die Organbank. „Was für ein Unsinn!“ schimpfte Flogg Sistor verhalten. Er war der jüngere der beiden, noch nicht sechsundzwanzig Jahre alt, und hatte diesen Job erst seit vier Monaten. „Wozu stellt man noch zusätzlich Kontrolleure ein, wenn ein lückenloses robotisches Sicherheitssystem existiert. Außerdem arbeiten Roboter viel präziser und sind zudem noch unbestechlicher als Menschen.“ „Das stimmt nicht“, entgegnete Miro Borket. Er war über fünfzig Jahre alt und arbeitete seit der Gründung der Guerrigha-Organbank vor fünfundzwanzig Jahren als Nachtwächter. „Roboter kann man viel leichter täuschen als Menschen. Jede Alarmanlage, und sei sie noch so kompliziert, kann man umgehen, wenn man die Konstruktion und die Funktionsweise durchschaut hat. An mir käme dagegen kein Unbekannter vorbei.“
Borket hatte zwei ungleich lange Beine. Das linke Bein war etwas kürzer; und obwohl er den Unterschied mit einer dickeren Sohle und einem höheren Absatz des Schuhs ausgleichen wollte, hinkte er leicht. Er humpelte zu einer Tür mit der Aufschrift OB I – IV, Zutritt für Unbefugte verboten! und steckte seine Dienstmarke in den Eingabeschlitz neben dem Türrahmen. Flogg Sistor folgte seinem Beispiel. Die Positronik, die die Gehirnwellenmuster von zwei Personen registrierte, öffnete den Impulsriegel der Tür erst, nachdem sich alle beide identifiziert hatten. Die Tür sprang auf, sie betraten die Organbank, die im schwachen Licht der Notbeleuchtung vor ihnen lag. „Es ist ein alter Hut, daß Roboter sich manchmal ärgere Schnitzer als Menschen leisten“, nahm Sistor den Faden wieder auf. „Aber ich habe gesagt, daß sie unbestechlicher sind.“ „Wo ist da der Unterschied?“ fragte Borket, während er zwischen den Anlagen dahinhumpelte und mit der Taschenlampe die Vorratsbehälter beleuchtete, in denen menschliche Gliedmaßen konserviert waren. Er warf gelegentlich einen Blick auf die Skalen der Kühlsysteme, begutachtete die Anzeigen der Nährflüssigkeitszufuhr und Sauerstoffregler und überprüfte die Nährtanks. In der Organbank I – IV waren nur menschliche Gliedmaßen untergebracht, angefangen von einzelnen Fingern, ja, Fingerkuppen, bis zu ganzen Beinen von Männern, Frauen und Kindern. Hier wurden Beine jeder Altersgruppe und jeden Geschlechts aufbewahrt, Beine von Menschen mit dunkler und heller Haut, die dazwischenliegenden Schattierungen eingeschlossen; es gab behaarte Gliedmaßen, solche mit glatter Haut, feingliedrige Hände und derbe, kräftige Arme und zarte Frauenarme. Borket erblickte in einem Nährtank den zierlichen Daumen eines Babys und erinnerte sich daran, daß Järk Fortun, der organ technische Leiter der Guerrigha-Klinik, in seiner Gegenwart erwähnt hatte, daß der Daumen bereits verkauft sei. Sistors Stimme riß ihn aus seinen Gedanken. „Nehmen wir einmal dich, Miro. Du bist seit über fünfundzwanzig Jahren hier beschäftigt, hast dir nie etwas zuschulden kommen lassen
und deinen Dienst in all den Jahren immer mustergültig versehen.“ „Das kann man wohl sagen“, meinte Borket und blieb vor einem linken Männerbein stehen, das bereits seit einem Vierteljahr in dem Nährtank lagerte, weil sich dafür noch kein Käufer gefunden hatte. Es war stark behaart und besaß einen dunklen Teint. Borket blieb immer davor stehen, wenn er auf seiner nächtlichen Runde in die Organbank kam, denn es war das genau passende Gegenstück zu seinem eigenen rechten Bein. „Ja, sieh es dir nur an“, stichelte Sistor weiter. „Es würde dir passen. Wie nach Maß! Warum hat man es dir nicht verpaßt? Warum hat man dir stattdessen ein zu kurzes Bein mit hellerer Haut, das zudem noch völlig unbeharrt ist, angenäht?“ Borket zuckte nur die Schultern. „Man hat dir deine Treue schlecht gedankt“, fuhr Sistor fort. „Als du dein linkes Bein verlorst, hat sich die Direktion sofort bereit erklärt, dir ein neues Bein zu schenken. Aber man hat das nächstbeste Bein genommen, ohne sich darum zu kümmern, ob es zu dir paßt.“ „Ich verlor mein Bein nicht bei einem Dienstunfall“, sagte Borket mit belegter Stimme. „Die Klinik wäre überhaupt nicht verpflichtet gewesen, es mir zu ersetzen.“ „Zugegeben. Aber wenn man dir schon helfen wollte, hätte man gleich ganze Arbeit leisten können. Ich kann mir vorstellen, daß du den Verantwortlichen nun grollst, weil sie dir nicht ein Bein wie dieses hier überlassen haben, das zu dir paßt. Es ist sowieso ein Ladenhüter.“ „Hör damit auf“, sagte Borket unwirsch. „Ich will nur aufzeigen, wie verwundbar Menschen gegenüber Robotern sind“, erklärte Sistor. Borket gebot ihm durch eine Handbewegung Schweigen. Sie hatten das Ende des Raumes erreicht und standen vor der Verbindungstür zur Organbank V – VIII. „Was war das?“ sagte Borket verhalten. „Hast du das Geräusch nicht gehört? Es kam von nebenan.“ Sistor schüttelte den Kopf. Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch er kam nicht dazu. Diesmal hörte auch er ganz deutlich das Geräusch, das durch die Verbindungstür kam. Sie war nicht ordnungsgemäß verriegelt, sondern nur angelehnt.
Borket zog seinen Paralysator und stieß die Verbindungstür auf. * Hinter der Organbank mit den Extremitäten lag ein Raum, in dem die menschlichen Innenorgane aufbewahrt wurden. In den komplizierten Nährtanks schlugen Herzen, arbeiteten Nieren und ganze Lungen, wurden Drüsen und Nervenzellen gelagert. Auf den ersten Blick schien hier alles in Ordnung zu sein. Doch dann sah Borket zwischen den gespenstisch beleuchteten Anlagen einen Schatten. „Halt! Stehenbleiben, oder ich schieße!“ rief er und rannte in die Richtung, in der er den Eindringling gesehen hatte. Plötzlich sah er es in einer ganz anderen Richtung aufblitzen. Er duckte sich instinktiv, doch der Strahlenschuß hätte ihn sowieso verfehlt. Der Energiestrahl traf die Unterdruckkammer einer Lunge und ließ sie platzen. „In Deckung!“ schrie Borket seinem jüngeren Begleiter zu. Doch Sistor reagierte zu spät. Wieder geisterte ein Strahlenschuß durch den Raum und traf Sistor an der linken Schulter. Der Kontrolleur schrie markerschütternd auf und fiel Borket genau vor die Füße. Dieser besah sich die Wunde seines jüngeren Kollegen und stellte fest, daß es sich nur um eine zwar schmerzhafte aber relativ harmlose Fleischwunde handelte. „Bleib hier liegen, und rühr dich nicht vom Fleck“, raunte er Sistor zu. „Wir haben es mindestens mit drei Eindringlingen zu tun. Sie sind mit Strahlenwaffen ausgerüstet, deshalb haben wir keine Chance gegen sie.“ Borket verfluchte die -Hausordnung, die es ihnen untersagte, auf ihren Rundgängen Strahlenwaffen mitzunehmen. Die Bestimmung hatte schon ihre Richtigkeit, denn beim Einsatz von Strahlenwaffen wurden die teuren Anlagen und die Transplantate gefährdet. Aber was nützte es, wenn die Verbrecher keine Rücksicht darauf nahmen! Er hob den Kopf vorsichtig, zuckte jedoch sofort wieder zurück. Er hörte von ganz nahe das Zischen eines Strahlenschusses, gleich darauf explodierte eine Armlänge von ihm entfernt ein Nährtank. „Geh nicht aus der Deckung!“ schärfte er Sistor noch einmal ein, dann kroch er auf allen vieren davon.
Der nächste Alarmknopf war nur zehn Meter von ihm entfernt. Er rechnete sich gute Chancen aus, ihn zu erreichen. Er hatte schon die Hälfte des Weges zurückgelegt, als er das Geräusch sich rasch entfernender Schritte vernahm. Ohne lange zu überlegen, sprang er auf die Beine und stürzte zum Alarmknopf, schlug die Deckscheibe ein und hieb mit der Faust auf den Auslöser. Im nächsten Augenblick heulte die Alarmsirene auf. Gleichzeitig damit wurde automatisch ein Funknotruf an die klinikeigenen Wachmannschaften und an die plophosischen Sicherheitsvorrichtungen abgeschickt. Obwohl der Alarm auch zusätzliche Sicherheitsbehörden aktivieren sollte, wie etwa stählerne Schotte, die die Korridore versperrten und die Organbank hermetisch vor der Umwelt abriegelten, glaubte Borket nicht daran, daß es dazu kommen würde. Er hatte es hier mit professionellen Einbrechern zu tun, die sich auf ihr Handwerk verstanden und sicher mit allen Eventualitäten rechneten. So würden sie sich bestimmt auch für den Fall einer Entdeckung einen Fluchtweg freigehalten haben. Borket nahm die Verfolgung auf. Als er auf den Korridor hinauskam, sah er seine Befürchtungen bestätigt. Kein einziges Schott versperrte den Weg, die Energiebarrieren, die die ganze Nacht hindurch eingeschaltet waren, waren ebenfalls in sich zusammengefallen. Die Unbekannten mußten die Anlagen der Organbank gut studiert haben, bevor sie hier eindrangen! Was sie hier gesucht hatten, war Borket schon längst klar. Seit das Geschäft mit menschlichen Organen und Extremitäten auf Plophos florierte, hatten auch viele Verbrecher erkannt, daß es ein einträgliches Betätigungsfeld war. Es konnte kein Zweifel bestehen, daß die Unbekannten hier eingedrungen waren, um Organe zu stehlen. Die Alarmsirene heulte immer noch; ihr durchdringender Ton übertönte alle anderen Geräusche. Borket erreichte den Hauptkorridor und sah einige vermummte Gestalten im Treppenhaus verschwinden. Es waren viel mehr, als er ursprünglich vermutet hatte. Er sah mindestens ein halbes Dutzend Vermummte, aber es konnten auch noch mehr sein. Sie hatten den Lift unbeachtet gelassen und benutzten die Treppe, die nach oben führte.
Borket fluchte, weil ihn sein zu kurzes Bein am schnellen Laufen hinderte. Hätte die Organbank-Gesellschaft ihm ein passendes Bein angenäht, dann wäre es ihm möglich gewesen, mit den Verbrechern Schritt zu halten. So erreichte er das Stiegenhaus erst, als von ihnen jede Spur fehlte. Dennoch verhielt er sich vorsichtig. Immerhin konnte es sein, daß einer von ihnen zurückblieb, um ihm eine Falle zu stellen. Doch daran dachten die Verbrecher nicht. Das stellte er fest, als er die Treppe erreichte. Alle Vorsicht vergessend, hastete Borket die Treppe hoch. Er war jetzt überzeugt, daß die Verbrecher zum Dach hinaufwollten. Dort war ein Lande- und Parkplatz für Fluggefährte eingerichtet. Bestimmt waren sie auf dem Luftweg gekommen und wollten nun auf die gleiche Art wieder verschwinden. Borket erreichte keuchend das Dach. Als er hinaustreten wollte, sah er es unweit vor sich aufblitzen. Er ließ sich im selben Moment zu Boden fallen. Die Energiezungen strichen über ihn hinweg und fuhren hinter ihm in die Wand. Glühendheißer Kunststoff spritzte nach allen Seiten. Als Borket den Kopf hob, sah er, wie die letzten Verbrecher in bereitstehenden Gleitern verschwanden. Der erste Gleiter rollte an, hob sich in die Höhe und schoß mit Höchstbeschleunigung über den Rand des Daches hinaus. Insgesamt waren es vier Gleiter. Sie trugen keine Erkennungszeichen und hatten einen Grauflimmernden Tarnanstrich. Dafür konnte Borket erkennen, daß ihre Hüllen zusätzlich mit Terkonitstahlplatten gepanzert waren. Jetzt setzten sich auch die übrigen drei Gleiter in Bewegung und flogen mit heulenden Turbinen davon. Gleich darauf waren sie im Luftraum von New Taylor verschwunden. Borket lief humpelnd zum Rand des Daches und blickte über die Brüstung in den Park der Klinik hinunter. Dort hatten die Wachmannschaften bereits das Gebäude der Organbank umstellt. Sie hatten schwere Narkosegeschütze und Desintegratoren aufgefahren. „Umsonst“, sagte Borket zu sich. „Alles umsonst!“ Er zog unwillkürlich den Kopf ein, als eine Gleiterstaffel der plophosischen Polizei über ihn hinwegflog. Die sechs Polizeigleiter, die gerade auf dem Dach der Organbank zur Landung ansetzen
wollten, drehten sofort wieder ab und schossen in jene Richtung davon, in der auch die Panzergleiter der Verbrecher verschwunden waren. Wahrscheinlich hatten sie noch im letzten Augenblick über Funk erfahren, auf welche Art die Organdiebe geflüchtet waren. Borket blieb auf dem Dach, um hier den Abschluß der Aktion abzuwarten. Die sechs Polizeigleiter kamen nach einer halben Stunde wieder zurück. Der Vorsprung der Verbrecher war zu groß gewesen. Sie waren entkommen. Borket verließ mit hängenden Schultern den Dachparkplatz und begab sich in die unteren Geschosse. Er fürchtete, daß man ihn zur Rechenschaft ziehen und für den entstandenen Schaden verantwortlich machen würde. Das konnte ihm seine Stellung kosten. Dabei hatte er sein Bestes gegeben. Was konnte er dafür, daß die Wachmannschaften nicht schnell genug reagiert hatten und die plophosischen Polizeigleiter nicht rechtzeitig eingetroffen waren?
2. In der Organbank herrschte eine Hektik wie in einem Bienenstock. Rudel von Sachverständigen tummelten sich in den Lagerräumen und den Gängen. Die Polizei hatte einige Büros mit Beschlag belegt und leitete von dort aus die Untersuchungen. Borket hatte keine Minute lang Ruhe gehabt. Immer wieder hatte man ihn zum Verhör geholt, war er von den Sachverständigen befragt worden. Irgendwann, als der neue Tag bereits dämmerte, erfuhr er, daß es Sistor gut ging. Er war sofort auf die Unfallstation gebracht und behandelt worden. Der Strahlenschuß hatte nur eine Fleischwunde verursacht. Man hatte sie mit Bioplast versorgt. In vierzehn Tagen würde er wieder dienstfähig sein. Man hatte Borket zu verstehen gegeben, daß er sich weiterhin zur Verfügung halten sollte. Nachdem ihn die Polizisten in Ruhe ließen, wurde er von Mitgliedern der Wachmannschaft in einen geschlossenen Raum gebracht und dort wie ein Verbrecher bewacht. Er verspürte deshalb keinen Groll. Er sah ein, daß diese Maßnahme notwendig war. Nun wartete er bereits seit über einer Stunde darauf, zum organ-technischen Leiter der Organbank
vorgelassen zu werden. Endlich war es soweit. Der Wachkommandant persönlich holte ihn ab und brachte ihn ins Büro von Järk Fortun. Borket versuchte, in dem Gesicht des noch ziemlich jungen Mannes zu lesen, um sich ausrechnen zu können, was ihn erwartete. Aber Järk Fortuns Gesicht war ausdruckslos. Er war über 1,90 Meter groß, hatte strohblondes Haar, grünliche, stechende Augen und einen in starkem Kontrast zu seiner Haarfarbe stehenden dunklen Teint. Er bot Borket Platz vor seinem Schreibtisch an und setzte sich ihm gegenüber. Es waren noch ein halbes Dutzend anderer Leute im Raum, die Borket vom Sehen kannte, mit denen er aber persönlich noch nie zu tun gehabt hatte. Zwei von ihnen waren Fortuns Untergebene, die anderen waren Gesellschafter der GuerrighaOrganbank. Borket fühlte sich von allen beobachtet und verspürte ein steigendes Unbehagen. Sicher würde er gleich zu hören bekommen, wie hoch der Wert der Organe war, die die Eindringlinge mit sich genommen hatten. Es erleichterte ihn auch nicht, als Järk Fortun plötzlich lächelte – das konnte alles Mögliche bedeuten. „Tut mir leid, Borket, daß ich Sie so lange warten lieb“, meinte der Leiter der Organbank entschuldigend. Borket glaubte zu träumen, denn er hatte eher mit einem Donnerwetter gerechnet. „Aber“, fuhr Fortun fort, „ich war zu sehr mit anderen Dingen beschäftigt, um mich früher mit Ihnen unterhalten zu können. Ich glaube, wir können es kurz machen. Die Gesellschaft ist Ihnen zu Dank verpflichtet. Durch Ihren heldenhaften Einsatz haben Sie verhindert, daß die Eindringlinge ihr Vorhaben verwirklichen konnten. Deshalb möchte ich Ihnen im Namen aller Gesellschafter unsere Anerkennung aussprechen. Mehr als bloße Worte wird es Sie aber sicher freuen, daß Sie mit sofortiger Wirkung eine zwanzigprozentige Gehaltserhöhung erhalten sollen. Die haben Sie verdient.“ Fortun erhob sich und schüttelte Borket feierlich die Hand. Borket war wie benommen. Er stammelte etwas davon, daß er nur seine Pflicht getan hätte – und das nicht einmal zu seiner eigenen Zufriedenheit, denn den Verbrechern sei die Flucht gelungen, ohne daß er sie ernsthaft daran hätte hindern können. „Keine falsche Bescheidenheit, Borket“, sagte Fortun. „Sie haben
richtig gehandelt. Niemand hätte etwas davon gehabt, wenn Sie Ihr Leben geopfert hätten. Durch Ihr schnelles Eingreifen wurden die Eindringlinge zu einer überstürzten Flucht gezwungen, so daß es ihnen unmöglich war, auch nur ein einziges Organ zu entwenden. Bis auf die wenigen Nährtanks, die bei dem Kampf beschädigt wurden, ist der Organbank kein Schaden entstanden. Wenn Sie sie nicht aufgescheucht hätten, dann wäre wahrscheinlich der ganze Lagerraum geplündert worden.“ „Das verstehe ich nicht“, murmelte Borket. Er sah Fortun an. „Ist es wahr, daß die Verbrecher nichts mitgehen ließen?“ „Wenn ich es Ihnen sage, Borket“, meinte Fortun grinsend. „Es fehlt kein einziges Organ, und eine Bestandsaufnahme der Extremitäten hat gezeigt, daß auch hier nicht einmal ein kleiner Finger fehlt.“ Nachdem sich Fortun von dem Kontrolleur verabschiedet hatte, sah er ihm nach, als er wie ein Traumwandler das Büro verließ. Die Tür hatte sich kaum hinter ihm geschlossen, als sich der Leiter der Organbank an die anderen Männer wandte, die bisher geschwiegen hatten. „Nun, meine Herren, wir sind noch einmal mit einem blauen Auge davongekommen“, sagte er in geschäftsmäßigem Ton. Die Wärme, die in seiner Stimme gelegen hatte als er mit Borket sprach, war daraus verschwunden. Er fuhr fort: „Aber das sollte uns die weniger erfreulichen Tatsachen nicht vergessen lassen. Wir sind von einer gut organisierten Verbrecherbande heimgesucht worden, das läßt sich nicht aus der Welt schaffen. Wir dürfen uns nicht in Sicherheit wiegen, nur weil wir durch Zufall keine größere Einbuße erlitten haben. Die Statistik zeigt nämlich, daß die verbrecherischen Geschäfte mit menschlichen Organen in demselben Maße steigen wie unsere Popularität auf dem Gebiet der Organverpflanzung. Plophos ist auf dem besten Wege, zu einem Mekka für all jene Leidenden zu werden, die sich Gesundheit durch die Transplantationschirurgie erhoffen. Von überall aus der Galaxis kommen die Menschen nach Plophos, um sich hier neue Gliedmaßen zu holen oder ihre kranken und verbrauchten Organe durch gesunde ersetzen zu lassen. Wir haben auf dem Gebiet der Organverpflanzung bereits einen guten Namen. Diesen dürfen wir uns nicht durch verbrecherische Elemente zerstören lassen.“
„Glauben Sie, daß dieser eher unbedeutende Zwischenfall unserem guten Ruf abträglich sein könnte?“ fragte einer der Gesellschafter ungläubig. „Ich meine, der versuchte Diebstahl hat doch keinen Einfluß auf das Können unserer Transplantationschirurgen.“ „So unbedeutend, wie Sie es darstellen, ist dieser Zwischenfall nicht“, erwiderte Fortun. „Ich sagte schon, daß es ein Glück war, wenn die Verbrecher noch rechtzeitig verscheucht werden konnten, bevor sie ihr Vorhaben ausführten. Es könnte aber auch sein, daß es sich nicht um gewöhnliche Diebe handelte. Vielleicht wollten die Verbrecher überhaupt keine Organe stehlen.“ „Was sollten sie dann hier gewollt haben?“ fragte ein anderer Gesellschafter. „Unsere Nachforschungen haben ergeben, daß die Sicherheitsanlagen schon zwei Stunden vor dem Eingreifen der beiden Kontrolleure ausgeschaltet worden waren“, erklärte Fortun. „Die Eindringlinge hätten also Zeit gehabt, einige der Organe zu ihren Gleitern zu schaffen. Da sie es aber nicht taten, besteht die Möglichkeit, daß sie es in Wirklichkeit gar nicht darauf abgesehen hatten.“ „Ich kann meine Frage nur wiederholen“, sagte der Gesellschafter von vorhin. „Worauf hatten es die Verbrecher dann abgesehen, wenn nicht auf die Organe?“ „Eine mögliche Erklärung wäre, daß es sich um Saboteure handelte“, antwortete Fortun. „Es ist mir zugetragen worden, daß es vor fünf Tagen in der Mayora-Organbank zu einem ähnlichen Zwischenfall gekommen ist.“ „Davon ist uns nichts bekannt“, war der Tenor der vier Gesellschafter. „Der Vorfall ist auch nicht an die Öffentlichkeit gedrungen“, sagte Fortun. „In der Mayora-Organbank war man bemüht, die ganze Angelegenheit zu vertuschen, denn man fühlte sich nicht geschädigt. Und hier liegt die Parallele zu dem Einbruch in unsere Organbank. Auch in der Mayora-Klinik fehlte nachher kein einziges Organ aus den Lagerräumen. Das sollte uns zu denken geben.“ „Sie sprechen in zu großen Rätseln, Fortun“, sagte einer der Gesellschafter, der bisher geschwiegen hatte. „Was sollten wir uns denken? Und was sollten wir Ihrer Meinung nach unternehmen?“ „Ganz allgemein müssen wir uns künftig gegen die
verbrecherischen Elemente besser schützen“, erklärte Fortun. „Und damit meine ich nicht nur uns, die Organbanken, sondern das Volk der Plophoser im allgemeinen. Denn alle profitieren davon, wenn selbst von Terra die Menschen kommen, um sich bei uns neue Organe einpflanzen zu lassen. Deshalb meine ich, daß die Regierung verpflichtet wäre, uns zu unterstützen.“ „Wozu denn soviel Staub aufwirbeln? Es müßte doch genügen, die Sicherheitsmaßnahmen zu verstärken, um eine Wiederholung eines solchen Vorfalles zu verhindern!“ Järk Fortun blieb unerbittlich. „Ich beharre auf der Forderung, die Regierung einzuschalten. Dieser Überfall auf unsere Organbank war so perfekt geplant und dermaßen aufwendig, daß ich mir nicht recht vorstellen kann, eine normale Verbrecherorganisation stecke dahinter. Diese Angelegenheit könnte auch politische Hintergründe haben. Darum finde ich, daß die Regierung eingeschaltet werden sollte.“ „Bauschen Sie den Vorfall doch nicht so auf“, versuchte ihn einer der Gesellschafter zu besänftigen. „Das tue ich ganz gewiß nicht.“ Järk Fortun straffte sich. „Als Leiter der Organbank sehe ich es als meine Pflicht an, die Interessen unserer Klinik mit allen Mitteln zu wahren.“
3. „Meine Geduld ist zu Ende“, sagte Järk Fortun erregt. „Ich habe keine Lust mehr, mich von einer Kanzlei in die andere abschieben zu lassen und einem Untersekretär nach dem anderen mein Anliegen vorzutragen. Oder habe ich in meinem Gesuch nicht deutlich genug erklärt, den Obmann von Plophos, Rhodan-Abro, sprechen zu wollen?“ „Sie wissen, daß die Frau Obmann nicht auf Plophos weilt“, entgegnete Jalzaar Awrusch ruhig. „Sie ist mit Ihrem Mann, dem Großadministrator, zu einer Expedition in ein fernes Sonnensystem geflogen. Sie werden schon mit mir vorlieb nehmen müssen, Herr Fortun.“ Järk Fortun kannte Mory Rhodan-Abros Stellvertreter aus vielen TV-Sendungen und aus den Zeitungen, aber er stand ihm zum ersten
Mal gegenüber. Jalzaar Awrusch war viel größer als er, besaß ein markantes Gesicht, schwarze Haare und schmale, hellblaue Augen. Er wirkte durchtrainiert und war muskulös. Als er jedoch hinter seinem Arbeitstisch hervortrat, entdeckte Fortun, daß seine Beine im Verhältnis zum Oberkörper viel zu dünn waren. Das schien den Stellvertreter des plophosischen Obmanns jedoch nicht weiter zu stören, denn sonst hätte er Bioplast-Waden und keine enganliegenden Hosen getragen. Er galt in der Öffentlichkeit als ungemein tüchtig, war jedoch in Politikerkreisen nicht besonders beliebt; man prangerte vor allem seinen fast krankhaften Ehrgeiz an. Aber wie dem auch war, Awrusch mußte schon seine Qualitäten haben, denn sonst hätte er es mit 37 Jahren noch nicht zum Stellvertreter des Regierungsoberhauptes gebracht. Järk Fortun entspannte sich etwas. „Ich bin froh, daß Sie Zeit gefunden haben, mich zu empfangen, Herr Minister“, sagte er höflich. Er beugte sich leicht nach vorne und fragte: „War es Ihnen möglich, in die von mir eingesandten Unterlagen Einsicht zu nehmen?“ Jalzaar Awrusch tippte mit den Fingern auf die vor ihm liegende Ledermappe und nickte. „Ich habe mir die Akte durchgesehen“, sagte er mit leicht gerunzelter Stirn. Er machte eine Pause, in der er sich überlegte, ob er Fortun sagen sollte, daß sich die Regierung schon seit einiger Zeit mit den Organbanken beschäftigte. Aber er tat es dann doch nicht. Vor allem Mory Rhodan-Abro verfolgte mit einiger Besorgnis das Geschäft mit menschlichen Organen, das in den letzten Jahren einen geradezu beängstigenden Aufschwung genommen hatte. Nicht daß sie sich dem medizinischen Fortschritt in den Weg stellen wollte. Sie war vernünftig genug, sich zu sagen, daß nichts unversucht gelassen werden sollte, das Leben des Menschen zu verlängern. Und diesbezüglich bot die Transplantationschirurgie immer noch die besten Möglichkeiten. Zwar hatte auch die Plastochirurgie im 29. Jahrhundert bereits einen hohen Stand erreicht, aber künstliche Organe waren trotz allem immer noch Ersatzteile, die nicht so vollwertig waren wie natürliche Organe.
Niemand dachte daran, die Organverpflanzung zu verteufeln. Aber es gab auch eine Kehrseite – und die war das Geschäft. Schon längst nicht mehr waren die Organbanken von New Taylor, der Hauptstadt von Plophos, uneigennützige Einrichtungen. Tüchtige Manager hatten die Sache in die Hand genommen und machten unter dem Deckmantel der Wissenschaft phantastische Profite. Hier begann die Angelegenheit problematisch zu werden. Denn es war nicht immer der Fall, daß wirklich bedürftige Menschen neue Organe bekamen. Wenn zum Beispiel nur eine geeignete Niere vorhanden war, es aber zwei Anwärter darauf gab, dann würde der zahlungskräftigere bevorzugt werden. Es war Mory Rhodan-Abros Bestreben, zu verhindern, daß die Bewerber nach dem Bankkonto eingestuft wurden. Eine andere bedenkliche Sache war die Beschaffung der benötigten Organe. Woher sollten die kräftigen Herzen genommen werden, die die älteren Personen mit schwachen und kranken Herzen benötigten, um ihr Leben zu verlängern? Es gab ein Gesetz, wonach die Angehörigen von Verstorbenen nicht um ihr Einverständnis gebeten werden mußten, damit man das brauchbare Herz eines Toten einem kranken Lebenden einpflanzen konnte. Aber wie viele starben schon mit einem gesunden, kräftigen Herzen? Die Herzspender waren meist junge Leute, die bei Unfällen ihr Leben verloren hatten. Aber konnten die Ärzte nicht in diesem oder jenem Fall der Versuchung erliegen, dem Unfallopfer eher die brauchbaren Organe zu entnehmen, als dessen Wiederbelebung zu versuchen? Wenn ein Sterbender nur geringe Chancen zum Überleben hatte, dann konnte der Arzt zu dem Entschluß kommen, seine Kunst nicht an ihm versuchen zu wollen und lieber sein Herz zu retten, um einen anderen Menschen am Leben zu erhalten. Später würde niemand mehr rekonstruieren können, ob der andere nicht doch noch eine Chance zum Überleben gehabt hätte. Es blieb der Entscheidung der Mediziner überlassen. Sie waren gottgleich, konnten Schicksal spielen. Freilich würde die Mehrzahl der Ärzte an ihrem Berufsfeld festhalten. Aber bestimmt würden viele der professionellen Organverpflanzer nicht nach dem Wert des zu erhaltenden Lebens urteilen, sondern auch ihren Profit im Auge haben. Aber abgesehen von der Verhaltensweise der Ärzte, würden
die geschäftstüchtigen Manager schon dafür sorgen, daß zahlungskräftige Patienten den Vorrang erhielten. Mory Rhodan-Abro war deshalb bestrebt, die Organverpflanzung auf Plophos gesetzlich besser in den Griff zu bekommen. Die größte Gefahr drohte nicht von den Organbanken selbst, sondern von deren Lieferanten. Im Zuge der Entwicklung war ein neuer Berufszweig entstanden: die Organjäger. Wie der Name schon sagte, machten sie Jagd auf gesunde Organe und verkauften sie an die Organbanken, die ständigen Bedarf hatten. Die Organjäger waren ständig auf der Suche nach potentiellen Opfern. Sie trachteten, als erste an einem Unfallort zu sein, setzten sich mit den Hinterbliebenen der Opfer in Verbindung und holten sich eine Option auf deren Organe. Das war der Punkt, an dem das Geschäft mit den Organen kriminell zu werden begann. Die Organ Jäger schreckten nicht davor zurück, unheilbar Kranke aufzusuchen, um ihnen die noch heilen Organe abzukaufen, ja, sie gingen sogar so weit, sich von völlig gesunden Menschen eine Option auf deren Körper zu holen, so daß sie im Falle eines frühzeitigen Ablebens darüber verfügen konnten. In diesem Zusammenhang hatte erst vor wenigen Wochen ein Kriminalfall die Öffentlichkeit erschüttert. Der Polizei war aufgefallen, daß überraschend viele Personen an Unfällen starben, die alle bei ein und demselben Organjäger einen „Vorvertrag“ abgeschlossen hatten. Die Untersuchungen hatten ergeben, daß der Organjäger bei seinen Vertragspartnern nachgeholfen hatte und die Unfälle allesamt inszenierte. Das war natürlich nur ein Einzelfall, aber er zeigte immerhin auf, wohin der Handel mit menschlichen Organen führen konnte. Und deshalb beobachtete die Regierung von Plophos mit wachsendem Unbehagen, wie eine Organbank nach der anderen aus dem Boden schoß. So war es auch verständlich, daß Jalzaar Awrusch seinem Besucher nicht viel Sympathie entgegenbrachte. * Jalzaar Awrusch ließ die Ledermappe mit den Unterlagen auf die Schreibtischplatte fallen und verschränkte die Finger beider Hände ineinander.
„Was kann ich also für Sie tun, Herr Fortun?“ fragte er. Fortun spürte die Ablehnung des Ministers und nahm sofort Angriffsstellung ein. „Aus den Unterlagen geht nicht nur hervor, was sich in der Organbank unserer Klinik zugetragen hat“, sagte er. „Die beigelegten Wahrscheinlichkeitsberechnungen beleuchten auch die möglichen Hintergründe und bieten Gegenmaßnahmen an.“ Awrusch lächelte spöttisch. „Wenn ich Sie recht verstehe, verlangen Sie, daß die Regierung das Patronat über Ihre Organbank übernimmt. Ohne mich mit der Materie näher zu beschäftigen, muß ich jedoch befürchten, daß dies gegen die Verfassung von Plophos verstoßen würde. Es sei denn, der Staat würde mehr als fünfzig Prozent der Anteile Ihrer Klinik aufkaufen. Aber eine Verstaatlichung liegt wohl nicht in Ihrem Interesse.“ Fortun bekam einen roten Kopf. „Ich bin nicht hier, um Verkaufsverhandlungen zu führen, sondern um die Hintergründe eines Verbrechens aufzudecken, das in die Politik hineinspielen könnte. Und ich verlange nicht mehr, als daß die Regierung diesen Fall überprüft.“ „Warum wenden Sie sich nicht an die Polizei, Herr Fortun?“ fragte Awrusch. „Aus dem genannten Grund“, antwortete Fortun. „Weil es nicht unwahrscheinlich ist, daß hinter dem Anschlag auf unsere Organbank politische Motive stecken.“ Jalzaar kräuselte die Lippen und blätterte in der Ledermappe. „Was macht Sie denn so sicher, daß Sie die Möglichkeit eines ganz gewöhnlichen Diebstahls ausschließen? Ich habe nirgends Anhaltspunkte gefunden, die die Annahme begründen, daß eine Polit-Gruppe hinter dem Überfall steckt.“ „Es gibt aber auch keine Anhaltspunkte, die eine Beteiligung einer politischen Organisation ausschließen“, konterte Fortun. „Und das müßte Grund genug für die Regierung sein, den Fall zu untersuchen. Es gibt genug Interessengruppen, die den wirtschaftlichen Aufschwung Plophos’ dämpfen möchten. Da sind die Aras. Die Galaktischen Mediziner sehen es bestimmt nicht gerne, daß ein anderes Volk ihre Vormachtstellung bedroht. Und da ist die extremistische Panithergruppe, die nichts so sehr wie den Sturz der
Regierung anstrebt. Der Beispiele ließen sich noch viele anführen.“ Awrusch nickte beipflichtend. Was dieser Fortun sagte, war gar nicht aus der Luft gegriffen. Der Überfall auf die Guerrigha-Klinik war so perfekt ausgeführt worden, daß eine starke Macht dahinterstecken mußte. Andererseits gab es aber auch genügend Verbrecherorganisationen, die die Mittel und die Macht hatten, einen solchen Überfall auszuführen. Fortuns Argumente hatten etwas für sich. Nur glaubte Awrusch nicht, daß er sie vorbrachte, weil er um Plophos im Allgemeinen und die Regierung im Besonderen besorgt war. Aber von seinen Beweggründen durfte er, Awrusch, sich nicht beeinflussen lassen. „Wir werden der Sache nachgehen“, versprach Awrusch deshalb. „Ist das alles, was Sie dazu zu sagen haben, Herr Minister?“ fragte Fortun erstaunt. „Ich habe mir eigentlich Garantien dafür erwartet, daß Sie mit allen Kräften darum bemüht sein werden, diese Affäre zu klären. Ist es Ihnen nicht möglich, mir zumindest konkrete Angaben darüber zu machen, welche Maßnahmen Sie ergreifen werden, um diesen Fall zu klären?“ „Das kann ich noch nicht“, entgegnete Awrusch distanziert, „weil die ganze Angelegenheit noch viel zu undurchsichtig ist. Wir werden zuerst sondieren. Ermittlungen anstellen und herauszufinden trachten, ob es sich um eine politische Affäre handelt. Ich hoffe, Sie, die Organbanken, werden uns dabei unterstützen. Sollte sich jedoch herausstellen, daß Sie die Regierung nur für Ihre persönlichen Interessen einspannen wollen, dann haben Sie von uns keinerlei Unterstützung zu erwarten.“ Damit verabschiedete Jalzaar Awrusch den Leiter der GuerrighaOrganbank. Als er wieder allein war, nahm er sich die Ledermappe noch einmal vor. Vielleicht hatte ihn Fortun tatsächlich auf die Spur einer politischen Intrige gebracht. Durch die Organverpflanzung hatte Plophos einen ungemein starken wirtschaftlichen Aufschwung genommen, doch die Organverpflanzung war auch gleichzeitig ein wunder Punkt, an dem eine feindliche Machtgruppe einhaken konnte. Jalzaar Awrusch war es ernst damit, als er sagte, er würde der Sache nachgehen. Er sah für sich persönlich eine große Chance, seine Popularität und seine Macht zu vergrößern.
4. „Aufgeregt?“ fragte Swart 70. „Ein bißchen“, gestand Kerima Prosnerim. „Ist das nicht verständlich? Ich habe zwar überhaupt keine Beschwerden mehr, die bisherigen Tests sind alle zur Zufriedenheit der Ärzte verlaufen – und ich kann meine Rechte so gebrauchen, als sei sie schon immer ein Stück von mir gewesen. Aber…“ Swart 70 lächelte verständnisvoll. „Beim ersten Mal ist es mir auch nicht anders ergangen“, sagte er. Sie schlenderten auf einem entlegenen Weg durch den Park der Mayora-Klinik. Er, fast zwei Meter groß, ein Bär von einem Mann, mit schulterlangem, schlohweißem Haar und einem glatten Jungengesicht. Er trug Anstaltskleidung, die ihm jedoch um eine Nummer zu klein war. Sie, 1,75 Meter groß, 28 Jahre alt, wohlproportioniert, von faszinierender Schönheit, wenngleich in ihrer Gesamtheit um eine Spur zu mollig. „Ich erinnere mich noch genau, wie es mir ergangen ist“, erzählte Swart 70. „Bei mir war es das Herz. Ich war schon damals ein Mordskerl, ein richtiger Naturbursche, so aus dem Holz geschnitzt wie die Pioniere, die vor über achthundert Jahren von Terra nach Plophos ausgewandert sind. Aber mein Herz war ein Wrack. Jeder Schritt strengte mich an. Was blieb mir anderes übrig, als mich bei einer der Organbanken für eine neue Pumpe anzumelden. Ein Jahr später war ich an der Reihe. Es dauerte lange, bis ich es glauben konnte, daß ich von nun an ein neues Leben führen konnte. Ich lebte, noch lange so enthaltsam wie früher, Zweifel plagten mich und die Angst, auch mein neues Herz könnte jeden Augenblick aussetzen, verursachte mir wochenlang schlaflose Nächte. Aber irgendwann waren die Zweifel fort, ich konnte über meine Angstzustände lächeln. Heute weiß ich, daß Ben mich nie im Stich lassen wird. Beim zweiten Mal, als man mir Taybor verpaßte, da war ich schon zuversichtlicher. Na, und mit Joey eins, zwei und drei habe ich mich sofort angefreundet.“ Kerima mußte unwillkürlich lachen. Swart 70 hatte eine so erfrischende Art, über an und für sich ernste Dinge unbeschwert zu plaudern.
Er hieß eigentlich Swart Tomoro Gransch-Bowger, aber in der Klinik nannten ihn alle nur Swart 70 – weil er zu siebzig Prozent aus fremden Organen und Extremitäten bestand. „Wie hast du es eigentlich geschafft, die Namen deiner Spender herauszufinden?“ fragte sie. „Das war sicher nicht leicht, da die Ärzte ja ein großes Geheimnis daraus machen, von wem die Organe stammen, die sie einem einpflanzen.“ „Nein, leicht war es nicht“, gestand Swart 70 grinsend. „Es war sozusagen eine Lebensaufgabe. Ich würde mir die Mühe auch nicht noch einmal machen. Aber da ich schon einmal damit angefangen habe, mache ich weiter. Als man mir das starke Herz einpflanzte, war ich von dem Gedanken besessen, seinen früheren Besitzer ausfindig zu machen. Ich erfuhr aber nur, daß er Benjamin hieß und bei einem Transmitterunfall seinen Kopf verloren hatte. Da er auf seinen Körper bei einem Organjäger eine Hypothek aufgenommen hatte, wurde er sofort in die Mayora-Klinik gebracht. Ich habe den Organ Jäger später aufgesucht und ihn windelweich geprügelt. Aber er hat mir nichts über Ben erzählen wollen. Dabei hätte ich zu gerne gewußt, welcher Mensch er war. Von Joey zum Beispiel weiß ich alles. Er hat mir seine drei besten Stücke hinterlassen.“ Swart 70 meinte sein linkes Bein und seine beiden Arme. Kerima wußte auch, wie er seine eigenen Glieder verloren hatte. Swart 70 war ein Prospektor aus Leidenschaft, der seinen Beruf als Einzelgänger ausübte und auf seine Flüge nur robotische Begleiter mitnahm. Auf einer unbewohnten Sauerstoffwelt war ein Fehlprogrammierter Transportroboter auf ihn gefallen und hatte ihn unter sich begraben. Zum Glück funktionierte der Medo-Roboter, der Swart aufs Schiff brachte, dort jedoch seine beiden Arme und sein linkes Bein amputieren mußte. Swart 70 seufzte. „Maggi…“ „… heißt deine Niere“, vollendete Kerima den Satz. Plötzlich fand sie es nicht mehr amüsant, wenn Swart 70 so angeregt über seine Transplantate plauderte. Es deprimierte sie und erinnerte sie an ihren eigenen rechten Unterarm – besser gesagt, an den rechten Unterarm einer unbekannten Spenderin. Sie wußte nichts darüber, nur daß er auch von einer Frau stammen mußte, und das war ihr auch recht so. Es hätte ihr sicherlich nicht
behagt, über das Schicksal ihrer Spenderin in allen Einzelheiten Bescheid zu wissen. Sie interessierte nicht einmal ihr Name, und es fröstelte sie bei dem Gedanken, ihren rechten Unterarm Sally, Lona, Eileen oder sonst wie zu nennen. Im Grunde genommen war es makaber – nur bei Swart 70 wirkte es nicht so. Er war eine besondere Art von Mensch. „Verzeih, Kerima, ich wollte dich nicht langweilen“, entschuldigte er sich. Sie lächelte versöhnlich. „Das hast du auch nicht getan. Aber ich glaube, es wird Zeit für mich, zur Visite zu gehen.“ „Toi, toi, toi“, meinte Swart 70. „Ich bin sicher, daß du heute entlassen wirst. Sehen wir uns noch?“ „Ich komme mich noch verabschieden.“ Sie war recht zuversichtlich. Aber als sie sich dann dem Gebäude der Klinik näherte, machte sich die alte Angst wieder in ihr breit. Vielleicht war man zu dem Schluß gekommen, daß der neue Unterarm doch nicht so recht paßte? Wenn sie objektiv sein wollte, so mußte sie zugeben, daß er um einige Millimeter zu lang war, daß die Hautfarbe nicht ganz stimmte, und daß er auch muskulöser als ihr linker Unterarm war. Aber deshalb würde man ihn nicht gleich wieder amputieren! Was aber, wenn die Untersuchung ergeben hatte, daß der Arm nicht perfekt angenäht war, daß die Sehnen nicht richtig zusammengewachsen waren? Kerima hatte von solchen Fällen schon gehört. Als sie dann den Warteraum erreichte und darauf wartete, daß die Reihe an sie kam, schlug ihr das Herz fast zum Halse heraus. „Fräulein Kerima Prosnerim!“ Sie setzte sich wie in Trance in Bewegung und betrat das Untersuchungszimmer. * Swart sah sie schon von weitem; ihr glückliches Lächeln überstrahlte alles andere. Sie lief, unbeachtet der Verbotsschilder, quer über die Wiese geradewegs auf ihn zu. Ihr Anblick rührte ihn, und er stellte fest, daß er befreit und
erleichtert aufatmete. Er hatte sich von ihren unsinnigen Befürchtungen anstecken lassen – er, der alte Hase, der zu siebzig Prozent aus fremden Organen und Körperteilen bestand und der wußte, daß eine Armverpflanzung die harmloseste Sache von der Welt war. Dennoch atmete er auf, als er ihr strahlendes Lächeln sah und wußte, daß mit ihr alles in Ordnung war. Swart 70 kannte ihre Geschichte. Sie war Chemikerin und arbeitete in einem Labor an der Stadtgrenze von New Taylor. Ihre Arbeit war nicht besonders gefährlich. Aber als sie eines Tages etwas unaufmerksam war und sich Säure über den rechten Unterarm schüttete, mußte dieser amputiert werden. Kerima konnte diesen Schicksalsschlag nicht überwinden. Was leicht zu verstehen war, denn welche Chancen hatte eine junge Frau mit nur einem Arm denn schon im Leben? Die Versicherung bot Kerima an, ihr eine Prothese zu finanzieren. Doch damit wollte sie sich nicht zufrieden geben. Denn keine noch so gute Prothese konnte ihr ihren verlorenen Arm ersetzen. Deshalb meldete sie sich in der Mayora-Organbank an. Da aber der Nachschub an Organen und Extremitäten geringer war als die Nachfrage, mußte sie ein halbes Jahr warten, bis die Reihe an sie kam. Sie hatte ihm in allen Einzelheiten geschildert, wie sie zum ersten Mal den Unterarm gesehen hatte, den man ihr an den Armstumpf zu nähen gedachte. Man führte sie in einen Schauraum, wo ein einzelner Nährtank stand. Darin schwamm der offerierte Unterarm. Man nannte ihr sein Gewicht, die Länge, die Spanne der Finger, die Wachstumsfähigkeit der Fingernägel und die Unterschiede zu ihrem linken Unterarm. Kerima hätte es sich damals fast anders überlegt. Die Art, in der man ihr den Arm wie irgendeine Ware anbot, stieß sie ab. Doch sie überwand sich, denn alles war ihr lieber, als nur einen Arm zu besitzen… Sie hatte ihn erreicht und warf sich ihm in die Arme. „Geschafft, Swart“, rief sie überschwenglich. „Ich bin entlassen. Ich kann sofort nach Hause gehen.“ Sie drückte ihm einen Kuß auf die Wangen. „Worauf wartest du dann noch, Mädchen?“ meinte er lachend.
„Ach, du weißt gar nicht, wie glücklich ich bin, Swart“, rief sie. „Endlich bin ich wieder ein vollwertiger Mensch, kann wieder meinem Beruf nachgehen. Ich habe sofort Bewin angerufen. Er versprach, einen Schweber zu mieten und mich von Dachparkplatz abzuholen.“ „Dann ziehst du dich am besten schnell um, damit er nicht lange warten muß“, riet er ihr. Für einen Moment legte sich ein Schatten auf ihr Gesicht. „Hoffentlich wird es zwischen Bewin und mir so wie früher. Ich könnte es nicht ertragen, wenn er mich nur aus Mitleid…“ „Unsinn!“ sagte Swart 70 voll Überzeugung. „Er hat das letzte halbe Jahr für dich geopfert – wenn das nicht Liebe ist!“ „Du bist ein Schatz, Swart. Du kommst mich doch besuchen, wenn man dich aus der Klinik entläßt?“ „Selbstverständlich.“ „Hast du auch meine Adresse?“ „Ich habe sie mir insgesamt ein Dutzend Mal notiert.“ „Wirst du mir auch schreiben, wo ich dich finden kann?“ „Klar. Aber jetzt mach, daß du deine Sachen packst. Bewin wird sonst ungeduldig!“ Wieder huschte ein Schatten über ihr Gesicht. „Ich habe Angst vor unserer ersten Begegnung. Er hat mich kein einziges Mal in der Klinik besucht, weil ich es nicht wollte. Er hat mich so noch nicht gesehen…“ „Er wird dir den Arm nicht gleich wieder abbeißen!“ Kerima küßte ihn schnell noch einmal, dann lief sie davon. Sie ließ sich eine volle Stunde mit dem Packen Zeit. Als sie dann auf den Dachparkplatz kam, erwartete sie Bewin bereits. Er war fast 1,90 Meter groß, hatte braunes Haar wie sie und war schlank. Er umarmte sie wortlos und drückte sie lange an sich. Sie bekam nicht einmal eine Hand frei, um sich die Augen zu trocknen. Sie schwiegen auch, während sie zum Schweber gingen. Erst als sie darin saßen, öffnete er zum ersten Mal den Mund. Er sagte nur ihren Namen. „Kerima!“ Damit war der Bann gebrochen. Er fand seine Sprache wieder und redete munter drauflos, als hätte es die Geschehnisse des letzten halben Jahres überhaupt nicht gegeben. Er übersprang diese Zeit
ganz einfach und begann wieder dort, wo sie aufgehört hatten, bevor sie ihren rechten Unterarm verlor. Sie konnte diese Zeit jedoch nicht vergessen. Im ersten Moment glaubte sie, daß er sich verändert hatte, daß er seine Überschwenglichkeit nur schauspielerte. Aber dann erkannte sie, daß es nicht an ihm lag; er war der alte, der offenherzige, unbeschwerte Junge – sie dagegen hatte sich verändert. Als er davon zu sprechen beginnen wollte, was sie in den nächsten Tagen alles unternehmen würden, da unterbrach sie ihn mit einer Bewegung ihrer neuen Hand. Er starrte darauf, bestimmt, ohne sich etwas dabei zu denken, aber sie zog die Hand sofort erschrocken zurück. „Ich möchte mich für einige Tage zurückziehen, Bewin“, sagte sie dann. „Ich brauche etwas Ruhe, um mich in mein neues Leben einzugewöhnen. Du mußt Geduld mit mir haben, Liebling. Die Tage in der Klinik, das Bangen und Hoffen haben alle meine Kräfte verzehrt. Jetzt bin ich müde.“ „Und bist du denn nicht glücklich?“ „Doch, aber ich muß mich erst an das Glück gewöhnen. Gib mir eine Woche Zeit.“ Er nickte ihr zu. Für einige Sekunden war sein Gesicht ausdruckslos, aber dann lächelte er. „Gut, einverstanden. Ich werde dich zu Hause absetzen. Aber ich hoffe, du gestattest mir wenigstens, daß ich dich per Visiphon sehe.“ Kerima war froh, daß Bewin so einsichtig und rücksichtsvoll war. Hätte sie jedoch gewußt, welche Schrecken in den nächsten Tagen auf sie warteten, wäre sie bestimmt nicht von Bewin Valantas Seite gewichen.
5. Kerimas Apartment lag in einem Terrassenbau in einer ruhigen Gegend von New Taylor. Sie hatte sich hier eingemietet, weil die Menschen hier wie eine große Familie zusammenlebten, man aber trotzdem sein eigenes Leben führen konnte. Als sie die Wohnanlage nun betrat, wünschte sie sich fast, daß sie irgendeinen der kalten, nüchternen Betonklötze der Innenstadt
bewohnte, wo sich einer nicht um den anderen kümmerte. So blieb es ihr nicht erspart, daß die anderen Mieter sie sofort entdeckten und sie mit aufdringlichen Fragen bombardierten. Sie brachte das so schnell wie möglich hinter sich und flüchtete dann geradezu vor der Menschenmenge, die sich bald gebildet hatte, ins Haus. Anstatt im Lift zu ihrem Apartment im fünften Stock hinaufzufahren, schlich sie sich wie ein Dieb die Treppe hinauf. Aber wie es der Teufel haben wollte, traf sie dort auf ihre Nachbarin, der sie während ihrer Abwesenheit den Schlüssel ihrer Wohnung überlassen hatte, damit sie nach dem Rechten sähe. „Fräulein Prosnerim!“ rief sie aus, griff nach ihrer Hand und schüttelte sie. Als sie merkte, daß es Kerimas Rechte war, ließ sie sie schuldbewußt los. „Entschuldigen Sie, ich habe in der Aufregung nicht gemerkt, daß das Ihre… ich meine…“ „Schon gut, Frau Domeß“, half ihr Kerima über die Situation. Dann fragte sie: „Woran haben Sie denn bemerkt, daß es sich um meine Ersatzhand handelt?“ „Man merkt es überhaupt nicht, ehrlich“, versicherte Frau Domeß. „Die Hand paßt, als halte sie immer Ihnen gehört. Ich erinnerte mich nur plötzlich, daß es die Rechte war, die Sie verloren… Hoffentlich habe ich Ihnen nicht wehgetan!“ Kerima schüttelte müde den Kopf. „Ich habe überhaupt keine Beschwerden. Entschuldigen Sie mich jetzt bitte. Ich muß mich ausruhen.“ „Das ist nur verständlich…“ Kerima hörte noch, wie sie ihr etwas nachrief, aber sie achtete nicht darauf. Sie erreichte die Etage, in der sich ihr Apartment befand, schloß auf und trat mit einem Seufzer der Erleichterung ein. Geschafft! Eine Weile lehnte sie erschöpft an der Tür. Dann schaltete sie die Klimaanlage ein und begann, ihre Habseligkeiten aus der Reisetasche in den Schrank einzuräumen. Langsam begann sie sich zu akklimatisieren. Eigentlich hatte sie sich den ersten Tag zu Hause anders vorgestellt. Sie hätte nicht gedacht, daß ihr so ein turbulenter Empfang bereitet würde. Aber das hatte sie hinter sich. Sie entspannte sich. Warum nur war sie so kratzbürstig zu Frau Domeß gewesen? Diese Behandlung hatte sie sich nicht verdient. Warum verhielt sie sich überhaupt zu allen
Leuten, die solchen Anteil an ihrem Schicksal nahmen und sich ehrlich mit ihr freuten, so ablehnend und reserviert? Sie war doch glücklich! Sie schaltete das Tonband ein. Als aus allen vier Ecken des Wohnzimmers die quadrophonischen Klänge eines Orchesters drangen, begann sie sich wohler zu fühlen. Danach rief sie den Supermarkt an und bestellte einfache Menüs und einen kleinen Lebensmittelvorrat für die nächsten Tage. Sie hatte vor, sich in dieser Zeit nicht aus der Wohnung zu rühren. Die Zeit verging wie im Flug. Plötzlich war es Abend, und Kerima richtete sich für die Nacht her. Die erste Nacht, die sie als vollwertiger Mensch in ihren eigenen vier Wänden verbrachte! Sie ging früh zu Bett und schlief bald ein. Sie hatte einen seltsamen Traum: Swart 70 besuchte sie. Er berichtete ihr aufgeregt, daß seine Nachforschungen Erfolg gehabt hätten. Viel leichter, als er geglaubt hätte, es sei ihm gelungen herauszufinden, wer die Spenderin ihres rechten Unterarmes sei. „Ich will es nicht hören, Swart!“ hatte sie ihn angeschrieen. Aber er hörte nicht auf sie und berichtete, was er herausgefunden hatte: Die Hexe hieß Irene. Sie hatte ihren Mann im Schlaf erwürgt… Kerima sah das Gesicht der Hexe ganz deutlich vor sich, das zu einem satanischen Lächeln verzerrt war, hörte das Röcheln des um Atem ringenden Mannes, starrte auf die schönen, schlanken Hände, die unerbittlich zudrückten… Und dann hatte der Henker diese Mörderhände in Höhe der Ellenbogen abgehackt. Der Oberarzt nahm den rechten Unterarm der Hexe und hielt ihn Kerima hin. „Ein Prachtstück, Fräulein Prosnerim. Sie werden sich mit ihm als neuer Mensch fühlen, wenn wir ihn an Ihren Armstumpf genäht haben.“ „Ich will es nicht hören! Nein, ich will nichts hören!“ Kerima richtete sich schweißgebadet im Bett auf. Es war bereits Morgen. Sie legte sich nicht wieder nieder, sondern kleidete sich an. * Der neue Tag brachte keine Sensationen.
Kerima verließ ihre Wohnung kein einziges Mal. Bald hatte sie
den furchtbaren Traum vergessen. Einige Stunden las sie in ihrer Mikrothek, dann ließ sie sich mit Musik berieseln, sah fern. Gegen Mittag war der Dienstroboter vom Supermarkt gekommen und hatte die bestellten Lebensmittel bei ihr abgeliefert. Am Nachmittag läutete es an der Tür. Als Kerima durch den Spion sah, daß ihre Nachbarin draußen stand, öffnete sie erst gar nicht. Sie zog sich auf die Terrasse zurück und nahm ein Sonnenbad. Aus dem Park der Wohnanlage drangen helle Kinderstimmen zu ihr herauf. Sie lauschte ihnen, konnte jedoch nur vereinzelte Gesprächsfetzen verstehen. Irgendwann ertappte sie sich dabei, daß sie sich im Grunde genommen schon immer ein Kind gewünscht hatte. Vielleicht von Bewin? Seltsamerweise erschreckte sie der Gedanke, obwohl sie doch schon vor ihrem Unfall beschlossen hatten zu heiraten. Nein, wenn schon ein Kind, dann von einem anonymen Spender. Kerima schwang die Beine vom Liegestuhl und ging zur Terrassenbrüstung. Auf dem Spielplatz tummelten sich ein Dutzend Kinder, ohne sich der Gefahren bewußt zu werden, denen sie hier ausgesetzt waren. Kerima erkannte selbst zum ersten Mal, daß der Spielplatz dieser Wohnanlage seine Tücken hatte. Neben Schaukeln und verschiedenen Karussellen stand dort auch ein Klettergerüst aus Plastik. Es war fünf Meter hoch und besaß neben der Mehrzahl der starren Bestandteile auch einige bewegliche. Wenn die Kinder eine bestimmte Querstrebe erreichten, schwang diese plötzlich nach unten und wurde zu einer Rutschbahn. Ein anderer Balken wurde bei einer Belastung von einem Motor nach oben gezogen und rastete vor einem Schalensitz ein, der sich in einer Höhe von vier Metern befand. Das Material, aus dem das Klettergerüst bestand, war zwar widerstandsfähig, aber ebenso elastisch, so daß sich die Kinder nicht besonders wehtaten, wenn sie sich daran anschlugen. Kerima beobachtete gebannt das Treiben der Kinder. Irgendwie hatte sie das Gefühl, daß es zu einer Katastrophe kommen würde. Und da bahnte sie sich auch bereits an. Ein etwa sechsjähriger Junge ließ sich von dem motorbetriebenen Balken Hochhieven. Er hielt sich nur mit den Händen an dem Balken fest. Plötzlich schienen ihn jedoch die Kräfte zu verlassen. Seine eine
Hand löste sich – er schien zu fallen. Im letzten Moment fand er noch Halt an einem der senkrechten Träger. Unglücklicherweise bekam er eines der Gelenke zu fassen, in dem sich ein Querstab bewegte. Der Junge schrie vor Schmerz auf, als seine Finger in dem Gelenk eingeklemmt wurden. Er ließ los und fiel hinunter. Aus Kerimas Kehle hatte sich ebenfalls ein Schrei gelöst. Ihr war, als verspürte sie den Schmerz des Jungen. Sie barg ihr Gesicht in den Händen und wagte nicht, auf den Spielplatz hinunterzublicken. Sie glaubte, genau gesehen zu haben, wie sich die vier Finger des Jungen dunkel verfärbt hatten. Sie waren platt gedrückt, Sehnen und Knochen waren wie von einem Fallbeil durchtrennt worden, die Finger hingen nur noch an Hautlappen. „Mein Gott!“ entfuhr es Kerima entsetzt. Die Finger des Jungen würden nicht mehr zu retten sein. Sie mußten amputiert werden. Wenn er Glück hatte, bekam er in einigen Monaten von einer Organbank Ersatz… Aber es würden nicht mehr seine eigenen Finger sein! Und das war schrecklich genug. Als es auf dem Spielplatz wieder relativ ruhig wurde und die Geräusche anzeigten, daß die Kinder wieder ihrem Spiel nachgingen, als sei überhaupt nichts geschehen, nahm sie die Hände vom Gesicht. Die Kinder tollten tatsächlich herum, als wäre überhaupt nichts passiert. Und der Junge, dessen Finger Kerima schon verloren glaubte, machte munter mit. Er hatte auf der Hand, die er sich eingeklemmt hatte, nur einige Hautabschürfungen. Kerima atmete schwer. Sie hatte sich getäuscht. Ihre überreizten Sinne hatten ihr einfach einen Streich gespielt. Dennoch nahm sie sich vor, nie ein Kind in diese Welt zu setzen. Sie würde in der ständigen Angst leben, daß ihm etwas zustieß. Das Summen des Visiphons riß sie aus ihren düsteren Gedanken. Bewin war am Apparat. Sein offenes Jungengesicht erschien ihr in diesem Augenblick wie das eines rettenden Engels. Bevor er noch etwas sagen konnte, bat sie ihn mit flehender Stimme: „Komm bitte sofort zu mir. Ich ertrage es nicht mehr. Führe mich irgendwohin, nur bringe mich von hier fort.“ „Ich bin schon auf dem Weg“, versicherte er, ohne lange Fragen zu stellen. Als er eine halbe Stunde später in ihrem Apartment eintraf, hatte
sich ihre Stimmung schon wieder gewandelt. „Ich will nicht ausgehen“, sagte sie fast trotzig. „Aber, Kerima“, beschwor er sie. „Ich habe einen Schweber gemietet, und ein Freund hat mir sein Wochenendhaus in den Bergen zur Verfügung gestellt. Wir können sofort Losfliegen und uns einige herrliche Tage in den Bergen machen. Weit weg vom Großstadttrubel, in der Einsamkeit der Natur, wirst du wieder zu dir selbst zurückfinden.“ „Wenn du unbedingt willst, dann fliege allein“, entgegnete sie spitz. „Kerima, ich verstehe dich nicht“, sagte er betroffen. „Du hast mich noch nie verstanden.“ „Das ist nicht wahr. Du weißt, wie sehr ich dich liebe.“ „Liebe!“ sagte sie abfällig. „Du sagst Liebe und meinst Mitleid. Du siehst in mir einen Krüppel, dem du dich zufällig verpflichtet fühlst. Aber ich pfeife auf dein Mitgefühl.“ „Warum quälst du dich denn nur so“, sagte er verständnislos. „Du hast keinen Grund, an mir zu zweifeln. Was muß ich denn noch tun, um dir meine Liebe zu beweisen!“ „Mich in Ruhe lassen“, entgegnete sie. Ihre Augen funkelten ihn an. „Merkst du denn nicht, daß ich dich nicht mehr benötige. In dem halben Jahr, in dem ich nur einen Arm hatte, warst du für mich ein unentbehrlicher Handlanger. Aber jetzt habe ich wieder zwei Hände und bin nicht mehr hilfsbedürftig. Ich benötige keinen Kuli mehr.“ „Du hast dich erschreckend verändert, Kerima. Ich kenne dich nicht mehr wieder. Ich kann nicht glauben, daß du unsere Verbindung wirklich unter diesen Aspekten gesehen hast.“ „Nein?“ sagte sie spöttisch. „Armer Bewin! Hat nicht gewußt, daß er mir nur den fehlenden Arm ersetzen sollte!“ Bewin wich zurück. „Du treibst es zu weit, Kerima. Überlege dir, was du sagst.“ „Willst du mir drohen, mich zu verlassen? Dann gehe nur. Verschwinde endlich. Ich kann deinen Anblick nicht mehr ertragen!“ Bewin ging tatsächlich. Als Kerima allein war, warf sie sich auf die Sitzbank und schluchzte haltlos. Warum hatte sie Bewin davongejagt, obwohl sie doch genau wußte, wie sehr sie an ihm hing?
6. Die Tage vergingen einer wie der andere, und Kerima wurde immer deutlicher bewußt, daß in ihrem Innern eine Veränderung vor sich ging. Aber obwohl sie sich darüber klar war, konnte sie nichts dagegen tun. Sie wurde vergeßlich, unruhig und zanksüchtig. Manchmal ging sie mit einer bestimmten Absicht in die Küche und wußte nach wenigen Schritten nicht mehr, was sie dort eigentlich gewollt hatte. Sie suchte manchmal stundenlang Gegenstände, die sie gerade noch in der Hand gehabt hatte. Es war ihr auch einfach nicht mehr möglich, sich auf ein Buch, auf Musik oder eine Fernsehsendung zu konzentrieren. Eine Unruhe hatte sie erfüllt, die sie wie ein gefangenes Raubtier in ihrer Wohnung auf und ab gehen ließ. Irgend etwas braute sich in ihr zusammen, das wußte sie. Doch die Ungewißheit darüber, was in ihr vorging, zehrte nur noch mehr an ihr, machte sie nur noch nervöser und unleidlicher, bis sie sich selbst nicht mehr ausstehen konnte. Mit ihrer Nachbarin hatte sie sich schon längst zerstritten. Es war wegen irgendeiner Lappalie zu einer Auseinandersetzung gekommen, während der Frau Domeß schließlich in Tränen ausbrach. Kerima hatte aber auch noch Streit mit anderen Hausparteien gesucht, mit denen sie sich früher ausgezeichnet verstand. Sie fühlte sich zwar immer im Recht, mußte aber dann vor sich selbst zugeben, daß ein Teil der Schuld auch bei ihr lag. Als Bewin am nächsten Tag nach ihrer Auseinandersetzung angerufen hatte, um einen Versöhnungsversuch zu machen, hatte sie ihn beschimpft. Seit damals meldete er sich nicht mehr bei ihr. Es schien ihr manchmal fast so, als hätte sich ihre Persönlichkeit gespalten. Ihr anderes Ich vernichtete in einem konsequenten Selbstzerstörungswahn all das, wonach sie sich in Wirklichkeit sehnte: nach Geborgenheit, Liebe und Glück. Sie hatte viele schreckliche Nächte hinter sich, in denen unheimliche Alpträume ihren Schlaf störten. Oder in denen sie einfach wach lag und über ihre Situation grübelte.
Am vierten Tag nach ihrer Entlassung bekam sie ein Telegramm von Swart 70. BIN ENTLASSEN, stand darin. Sonst nichts. Sie hoffte, daß er sie anrufen würde, damit sie ihre Probleme mit ihm diskutieren konnte, oder daß er ihr zumindest in einem zweiten Telegramm mitteilte, wo er zu erreichen war. Aber Swart 70 rührte sich nicht mehr. Das bedauerte sie zutiefst, denn er war der einzige Mensch, mit dem sie sich noch hätte aussprechen können. Die fünfte Nacht brach an, und Kerima nahm ein Schlafmittel, um nicht wieder von Alpträumen geplagt zu werden. Aber das Schlafmittel verfehlte seine Wirkung. Kerima träumte, daß sie mit einem Nachtschlüssel in die Wohnung ihrer Nachbarin eindrang. Herr Domeß war ein Regierungsbeamter, der sich oft wichtige Akten zur Bearbeitung nach Hause nahm. Kerima schlich sich in sein Arbeitszimmer. Er bemerkte sie nicht, weil er über seinen Schreibtisch gebeugt und in seine Arbeit vertieft war. Sie ergriff eine marmorne Standuhr und schlug sie ihm über den Hinterkopf. Als er auf dem Boden lag, ließ sie die Marmoruhr so lange auf ihn hinuntersausen, bis sein Kopf eine formlose Masse war… Das verursachte ihr ein unbeschreibliches Lustgefühl. Aber sie war nicht befriedigt. Sie nahm die Geheimakten und zündete sie an. Ihre Erregung erreichte den Höhepunkt, als das Zimmer lichterloh in Flammen stand und Frau Domeß als lebende Fackel vor ihr hin und her lief… Kerima erwachte schweißgebadet. Als sie erkannte, daß alles nur ein Traum gewesen war, fühlte sie sich leer und unbefriedigt. Sie war hellwach, das Schlafmittel zeigte überhaupt keine Wirkung. Was für ein Traum! Wenn nur auch die Wirklichkeit so wäre, daß man durch Zerstörung höchstes Lustgefühl empfinden konnte. Aber die Wirklichkeit war trist, sie verlief in den geregelten, vorbestimmten Bahnen des Alltags. Kerima sprang plötzlich aus dem Bett, zog mit einer ruckartigen Bewegung eine Lade aus dem Nachttisch und schlug damit auf den Spiegel ein. Sie hielt erst inne, als kein einziger Splitter mehr aus dem Rahmen ragte. Zerstöre, zerstöre! hämmerte es in ihrem Gehirn. Träumte sie noch immer? Wenn sie nicht wach war und das nicht
die Realität, dann hatte sie einen äußerst realistischen Traum. Es war ein schöner Traum, sie wollte, daß er nie endete. Warum zögerte sie denn noch? Es lag in ihrer Macht, den Traum beliebig zu verlängern. Zerstöre! Zerstöre! Die Impulse trieben sie voran. Sie warf einen Pantoffel gegen das Glas der Schlafzimmertür, daß es in tausend Scherben brach. Dann trat sie durch den Türrahmen. Zerstöre! In ihr war die Bereitschaft, diesen Befehl auszuführen. Sie war plötzlich von dem langsam in ihr aufkeimenden Zerstörungswillen wie besessen. Sie raste wie eine Furie durch ihre Wohnung, warf Möbel um, schmetterte Zierrat gegen die Wände, zerfetzte ihre Kleider und empfand höchste Lust an dem Geräusch des zerreißenden Stoffes. Und dann hielt sie Bewins Foto in der Hand. Zerstöre! Die Ernüchterung kam über sie. Sie lehnte sich gegen den fremden Zwang auf, der ihr befahl, auch das Liebste zu zerstören, das sie auf dieser Welt hatte. Bewin ist dein ein und alles, sagte sie sich. Zerstöre! kam der Befehl. Sie focht einen langen Kampf in sich aus. Aber sie stand auf verlorenem Posten. Das andere in ihr war stärker. Sie mußte gegen ihren Willen Bewins Foto zerreißen. Nachdem diese Hürde genommen war, kannte sie keine Hemmungen mehr. Sie ergab sich den fremden Impulsen die von ihr verlangten: Zerstöre! Und als der neue Tag dämmerte, sah es in ihrer Wohnung wie auf einem Schlachtfeld aus. Sie erblickte noch eine einzelne Vase, die wie durch ein Wunder ihrer Zerstörungswut entgangen war. Sie wollte sich darauf stürzen. Aber sie hatte nicht mehr die Kraft. Der Kampf mit den toten Dingen ihrer Wohnung und die Auflehnung gegen die Suggestionen hatte sie all ihre Substanz gekostet. Erschöpft brach sie inmitten des Trümmerfeldes zusammen. Stunden später gab es für sie ein böses Erwachen.
*
Sie mußte mit irgendjemandem über ihre Erlebnisse der vergangenen Nacht sprechen. Das war kein Traum gewesen, die Verwüstung in ihrer Wohnung bestätigte das. Sie mußte sich jemandem mitteilen. Aber ihr Stolz verbot es ihr, sich Bewin anzuvertrauen. Es gab auch niemanden mehr unter ihren Bekannten, dem sie ihre Probleme vortragen konnte. Es gab nur einen einzigen Menschen, bei dem sie sich aussprechen konnte. Swart 70! Es dauerte aber einige Zeit, bis sie sich dazu durchgerungen hatte, in der Mayora-Klinik anzurufen. Dort ließ sie sich mit der Abteilung verbinden, in der Swart 70 gelegen hatte. Es war ein Schock für sie, als sie sich nach Swart Tomoro Gransch-Bowger erkundigte und man ihr sagte, daß ein Patient dieses Namens hier nie in Behandlung gewesen sei. Doch dann erkannte sie ihren Fehler und verlangte einfach nach Swart 70. Und tatsächlich hatte sie damit Erfolg – auch in der Kartei der Klinik war er unter seinem Spitznamen geführt worden. „Der Patient ist gestern entlassen worden“, sagte der Auskunftroboter. „Hat er nicht eine Adresse hinterlassen, unter der er zu erreichen ist?“ wollte Kerima wissen. „Bedaure, an Fremde darf ich keine diesbezüglichen Auskünfte geben. Wenn Sie sich bitte persönlich herbemühen, damit wir…“ Kerima unterbrach die Verbindung, rief noch einmal in der Organbank an und verlangte den Oberarzt zu sprechen, der sie behandelt hatte. Es dauerte nicht lange, bis er an den Apparat kam. Als er auf dem Bildschirm des Visiphons ihr verstörtes Gesicht erblickte, fragte er besorgt: „Ist es zu Komplikationen gekommen, Fräulein Prosnerim? Wenn es sich so verhält, dann kommen Sie…“ „Nein, nein, es ist alles in Ordnung“, fuhr sie ihm ins Wort. Sie versuchte ein Lächeln. „Mir geht es blendend. Ich rufe Sie nur an, weil ich eine private Bitte an Sie habe, Doktor.“ Sie erzählte ihm, daß sie erfahren habe, daß Swart 70 entlassen worden sei, ihr jedoch sein Aufenthaltsort nicht bekannt sei. Sie habe Schulden bei ihm, die sie begleichen möchte. Ob er ihr nicht seine Adresse beschaffen könne?
Der Arzt versprach sie zurückzurufen. Eine Viertelstunde später meldete er sich und sagte: „Swart hat in der Klinik angegeben, daß er sich im Magellan Hotel einquartieren wolle. Es ist eine bekannte Absteige für Raumfahrer.“ „Ich weiß, Doktor. Haben Sie vielen Dank.“ „Ist tatsächlich alles in Ordnung mit Ihnen?“ fragte er stirnrunzelnd. Kerima überlegte sich, ob sie sich ihm anvertrauen sollte. Er war immer sehr nett zu ihr gewesen. Aber sie brachte plötzlich keinen Ton über die Lippen. Ihre Rechte langte wie von selbst zum Visiphon und schaltete es aus. Gleich darauf suchte sie sich die Nummer des Magellan Hotels heraus und wählte sie. „Ich möchte Herrn Swart 70 sprechen“, sagte sie knapp, als der Kundendienst-Robot auf dem Bildschirm auftauchte. „Mein Name ist Kerima Prosnerim.“ Der Bildschirm verdunkelte sich für etwa eine Minute, dann erschien Swart darauf. Sein Gesicht erhellte sich, als er Kerima erblickte. Doch es verdüsterte sich sofort wieder. „Ich hätte das Telegramm nicht abschicken dürfen“, sagte er. „Na, sehr inhaltsreich war es nicht gerade“, meinte sie mit leichtem Vorwurf. „Es hat mich einige Anstrengung gekostet, deinen Aufenthaltsort ausfindig zu machen.“ „Du hättest nicht Kontakt zu mir aufnehmen dürfen“, erwiderte er. „Es wäre klüger gewesen – zumindest im Augenblick. Zur gegebenen Zeit hätte ich mich schon mit dir in Verbindung gesetzt.“ „Was ist denn nur los mit dir, Swart?“ fragte sie. „Irgend etwas vorgefallen?“ Er nickte und öffnete den Mund, um etwas zu sagen. Doch dann schien er es sich anders überlegt zu haben. Er lächelte, aber das Lächeln wirkte gezwungen. „Es ist nichts weiter, nur daß ich etwas menschenscheu geworden bin“, sagte er. „Und wie geht es dir? Hast du dich bereits in die menschliche Gesellschaft eingelebt?“ „Deshalb rufe ich dich an“, erwiderte sie. „Ich habe das Gefühl, daß irgend etwas mit mir nicht stimmt.“ „So?“ machte er. „Was soll denn mit dir nicht stimmen. Hast du
Schwierigkeiten mit deiner Hand?“ „Nicht, wie du es meinst. Aber…“ Sie unterbrach sich. Was sagte sie denn da? Sie blickte auf ihre Hand und machte mit ihr Greifbewegungen. Was sollte ihre Hand mit den Alpträumen zu tun haben? „Ich muß unbedingt mit dir sprechen, Swart“, stieß sie hervor. „Worüber?“ Seine Frage klang höflich, aber desinteressiert. Kerima wollte ihm sagen, daß sie in einem Tobsuchtsanfall ihre Wohnung verwüstet hatte, daß eine fremde, innere Stimme einen Vernichtungstrieb in ihr entfacht hatte, daß… Sie brachte kein Wort über die Lippen. Es war ihr einfach nicht möglich, über die Vorfälle der vergangenen Nacht zu sprechen. Irgend etwas hinderte sie daran. Ihre Zunge war wie gelähmt. „Wie geht es deiner Niere?“ fragte sie stattdessen. Es klang banal. Aber Swart 70 schien es nicht zu merken. „Gut. Mir geht es überhaupt blendend“, antwortete er, ohne darauf einzugehen, daß sie ihm gerade noch ihre Probleme hatte vortragen wollen. „Und dir?“ „Ausgezeichnet“, hörte sie sich sagen, obwohl sie eigentlich über viel wichtigere Dinge sprechen wollte. „Das ist erfreulich.“ „Ja.“ „Ich werde mich wieder melden. Kerima.“ „Das wäre nett.“ „Also…“ Der Bildschirm verdunkelte sich. Swart 70 hatte das Gespräch unterbrochen. Kerima starrte das stillgelegte Visiphon lange an. Täuschte sie sich, oder hatte sich auch Swart verändert? Es konnte nicht nur allein an ihr liegen, daß das Gespräch einen so unbefriedigten Verlauf genommen hatte. Es war auch seine Schuld, denn Swart 70 war auch nicht mehr er selbst. Damit hatte sie ihren letzten Freund verloren. Sie war ganz auf sich alleine gestellt. Allein gelassen mit ihren Alpträumen, von denen sie nicht wußte, wie sie enden würden.
7.
Nacht. Kerima schreckte hoch und fand sich auf ihrem zerstörten Bett zusammengerollt. Ihr war, als hätte jemand zu ihr gesprochen. Sie erhob sich von ihrem Lager und marschierte unruhig im Zimmer auf und ab. Sie fragte sich, was sie denn nun tun sollte, um sich die Zeit zu vertreiben. Schlafen würde sie nicht mehr können, das war klar. Sie fühlte sich überhaupt nicht schläfrig, sondern war völlig munter. Und da war die Stimme wieder. Nein, eine Stimme im üblichen Sinn war es eigentlich nicht. Es handelte sich vielmehr um Impulse, die direkt auf ihr Gehirn übergriffen und dort bestimmte Reize auslösten. Als sei es die selbstverständlichste Sache von der Welt, begann sich Kerima anzukleiden. Sie mußte hinaus, fort aus diesen engen Räumen, weg von dem Trümmerhaufen ihrer Möbel. Sie lächelte – zum ersten Mal seit Tagen. Es war jedoch ein teuflisches Lächeln, und es spiegelte genau den Inhalt ihrer Gedanken wieder. Sie verließ ihre Wohnung, fuhr im Lift hinunter und trat ins Freie. Ohne lange zu überlegen, wandte sie sich nach links. Sie hatte kein bestimmtes Ziel vor Augen, war aber überzeugt, daß dies der richtige Weg war. Sie kam am Spielplatz vorbei und erschauerte unwillkürlich, als ihr. Blick auf das Klettergestell fiel, wo sich vor Tagen der Junge die Finger eingeklemmt hatte. Aber sofort wurde sie von Impulsen überflutet, die sie beruhigten und sie ins seelische Gleichgewicht brachten. Was für eine häßliche Wohnanlage. Man müßte alle Gebäude schleifen, die Häuser dem Erdboden gleichmachen und… Ja, was eigentlich? Nichts sonst. Es genügte, wenn man die Wohnanlage zerstörte! Kerima erschrak vor ihren eigenen Gedanken. Aber dann beruhigte sie sich schnell wieder. Die Handtasche an den Körper gepreßt, erreichte sie eine belebtere Straße. Es war noch nicht spät. Passanten drängten sich auf den Bürgersteigen oder ließen sich von den verschieden schnellen Förderbändern davontragen.
Kerima war von den grellen Leuchtreklamen der Geschäftsportale wie geblendet. Dennoch starrte sie mit großen Augen darauf, wie ein Kind, das diese verwirrende Lichterpracht zum ersten Mal bei Nacht sehen durfte. Irgendwie fühlte sich Kerima in ihre Kindheit zurückversetzt. Sie erinnerte sich daran, wie sie mit den um einige Jahre älteren Jungen durch die Geschäftsstraßen gewandert war und sich dabei amüsiert hatte, wenn ihnen ein Streich gelungen war. Da war ein riesiges Schaufenster – gut zehn Mal zwanzig Meter groß. Das Schutzglas war aus einem Stück. Es mußte von außergewöhnlicher Qualität und ziemlich dick sein, um der Belastung standhalten zu können. Welch einen Knall würde es geben, wenn diese Scheibe zersprang! Kerima stellte sich davor, ohne überhaupt zu merken, was sich in dem Schaufenster befand. Sie griff in ihre Tasche und holte ein kleines Fläschchen heraus, von dessen Etikett ein Totenkopf leuchtete. Säure! Kerimas Hände zitterten, als sie den Verschluß des Fläschchens öffnete. Sie sah plötzlich wieder das Laboratorium vor sich, ihren Arbeitsplatz – da kippte der Säurebehälter um, und sein Inhalt ergoß sich über ihre Rechte! Sie hätte das Säurefläschchen am liebsten von sich geschleudert, doch die fremden Impulse hinderten sie daran. Der Wunsch, den anderen Leuten einen Streich zu spielen, war stärker als ihre Furcht vor der Säure. Endlich hatte sie das Fläschchen geöffnet. Sie blickte sich um, und als sie sicher war, daß niemand sie beobachtete, ritzte sie das Panzerglas des Schaufensters mit dem Diamant ihres Ringes und träufelte dann einige Tropfen der Säure auf diese Stelle. Schnell verschloß sie das Säurefläschchen wieder, verstaute es in ihrer Handtasche und machte sich davon. Als sie etwa dreißig Meter zurückgelegt hatte, ertönte in ihrem Rücken ein ohrenbetäubender Knall. Als sie sich umdrehte, sah sie, wie die Schaufensterscheibe barst. Menschen schrieen in Panik, hielten schützend die Arme vor die Gesichter. Einige aber schrieen vor Schmerz, brachen blutüberströmt zusammen, wenn sie von den Glassplittern getroffen wurden. Kerima
lächelte teuflisch. Sie verließ den Bürgersteig und wechselte von den langsameren Förderbändern auf den schnellen Mittelstreifen über. Dabei stellte sie sich so ungeschickt an, daß sie stolperte. Hilfreiche Hände streckten sich ihr entgegen, um ihr wieder auf die Beine zu helfen. Die Passanten merkten wohl, daß sich bei dem Sturz ihre Handtasche geöffnet hatte, aber es war ihnen entgangen, daß sie blitzschnell das Säurefläschchen herausgeholt und geöffnet hatte. Die Säure lief aus und fraß sich zischend durch die elastische Tragfläche des Förderbandes. Kerima bedankte sich bei ihren Helfern und zog sich dann schnell wieder auf den Bürgersteig zurück, wo sie in der Menge untertauchte. Aus einem dunklen Winkel beobachtete sie die Ereignisse. Ihr Atem ging schnell, ihre Augen leuchteten. Sie mußte nicht lange warten. Sie hörte einen Laut, als würde etwas, das unter größter Spannung stand, zerreißen. Auf dem Mittelstreifen der Straße, dem schnellsten Förderband, entstand ein Tumult. Die Passanten verloren den Halt, wurden davongeschleudert und segelten wie Geschosse durch die Luft. Das Förderband unter ihren Füßen schnalzte wie eine Peitsche durch die Luft, stieß, sich wie eine Schlange windend, zwanzig Meter in die Luft. Was folgte, war ein perfektes Chaos. Kerima setzte ihren Weg fort. Sie war erregt und wie berauscht. Sie hätte nie geglaubt, daß es solche Freude bereiten konnte, wenn man anderen Menschen schadete. Zerstöre! Der Befehl kam immer wieder, wurde immer drängender. Die Impulse, die auf ihren Geist einhämmerten, beschleunigten ihren Schritt, ließen ihre Augen unruhig durch die Straße wandern, auf der Suche nach Objekten, die sie zerstören konnte. In einem klaren Moment kam ihr das Verwerfliche ihres Tuns zu Bewußtsein. Was sie tat, hatte mit den Jugendstreichen ihrer Kindheit nichts zu tun. Damals war es Schadenfreude gewesen, heute war es die Lust am Zerstören. Was sie tat, war verbrecherisch. Sie durfte nicht zulassen, daß der fremde Einfluß sie zu weiteren Verbrechen trieb. Sie mußte sich dagegen auflehnen, mußte versuchen, wieder Herr über sich selbst zu werden. Komm zu dir, Kerima! beschwor sie sich selbst.
Zerstöre! verlangten die suggestiven Impulse von ihr. Nein, nein… Aber während sie sich noch gegen die Befehle des Bösen aufzulehnen versuchte, trugen sie ihre Beine in ein Automatenrestaurant. Ihre Hände holten präparierte Münzen aus ihrer Handtasche, die sie tags zuvor mit großer Mühe angefertigt hatte. Die Münzen sahen den gebräuchlichen Jetons, wie man sie für alle Automaten benötigte, täuschend ähnlich. Doch bestanden sie aus einem Material, das unter einer bestimmten Strahlung in Sekundenschnelle zerfiel. Und die Automaten besaßen solche Strahlungsquellen. Kerima ging von Automat zu Automat und warf in jeden einen der präparierten Jetons ein. Als sie alle ihre Münzen losgeworden war und gerade das Lokal verließ, zeigte ihre Arbeit bereits die ersten Auswirkungen. Bei einigen Automaten kam es bereits zu Stauungen. Wütende Männer und Frauen, die nach ihr Münzen eingeworfen hatten, warteten vergeblich, daß die Automaten das Gewünschte auswarfen. Sie hämmerten gegen die Wandung, fluchten, drückten die Reklamationstasten – ohne Erfolg. Kerima konnte zufrieden sein. Innerhalb weniger Minuten würde in dem Automatenrestaurant das Chaos perfekt sein. Bis man den Fehler beheben konnte, würden Stunden vergehen… * Kerima irrte nun schon seit Stunden durch das nächtliche New Taylor. Ihr Weg war gekennzeichnet von größeren und kleineren Sabotageakten. Immer wenn sie sich unbeobachtet fühlte, zerstörte sie irgend etwas. Sie befand sich in einem ständigen Kampf mit der unheimlichen Macht, die sie zu diesen Taten trieb. Manchmal führte sie die Befehle aus, ohne sich über ihre Handlungen klar zu sein. Dann wieder war sie sich der Verwerflichkeit ihres Tuns vollauf bewußt, kämpfte gegen ihren Zerstörungstrieb an, unterlag aber jedes Mal. Die Impulse waren stärker. Zerstöre, befahlen sie, und Kerima gehorchte. Sie war durch dunkle Gassen gekommen, hatte die Düsen von
Luftkissenfahrzeugen verstopft und beschädigt, Windschutzscheiben und Schaufensterscheiben eingeschlagen, Notrufsäulen funktionsunfähig gemacht und Dutzende von Funktaxis verschiedener Gesellschaften an ein und denselben Ort bestellt. Auf den ersten Blick schienen diese Sabotageakte keinen Sinn zu ergeben. Aber Kerima glaubte zu wissen, warum man sie dazu trieb. Erstens schien man sich davon überzeugen zu wollen, daß sie ein willenloser Befehlsempfänger war, zweitens schien es den Unbekannten, die ihr die zerstörerischen Befehlsimpulse übermittelten, daran gelegen zu sein, die Ruhe und Ordnung in der Hauptstadt von Plophos zu stören. Obwohl diese Impulse Kerima völlig in der Gewalt hatten, war es ihr möglich, ihren eigenen Gedanken nachzugehen. Allerdings reichte diese Gedankenfreiheit nie so weit, daß sie sich den Suggestivbefehlen hätte widersetzen können. Sie mußte gehorchen. Sie mußte zerstören. Ihr Weg hatte sie an den nördlichen Stadtrand geführt. Sie war in dieser Gegend noch nie gewesen, die Straßennamen waren für sie nichts sagend, die Häuser und anderen Anlagen waren ihr fremd. Aber sie erkannte, daß sie sich in einem Industriebezirk befand. Die Wohnhäuser wurden immer weniger, dafür tauchten nun mehr Bürogebäude und Lagerhallen auf. Hinweisschilder deuteten auf subplanetare Fabrikationsanlagen hin. Zerstöre! Kerima sah plötzlich rot. Sie packte das Vibratormesser, das sie sich – scheinbar grundlos – nach ihrer Entlassung aus der Klinik besorgt hatte, und schlitzte damit die Kunststoffkarosserie eines am Straßenrand geparkten Fahrzeuges auf. Es gab ein häßliches Geräusch, das ihr durch Mark und Bein ging und sie zur Besinnung brachte. Kerima wollte davonlaufen, da entdeckte sie den robotischen Polizeispion. Überall in den entlegenen Gegenden von New Taylor, in die nur selten Polizeistreifen kamen, standen diese Säulen, die mit ihren Fernsehaugen alle Vorgänge aufnahmen und an die Polizeizentrale weiterleiteten. Es konnte keinen Zweifel daran geben, daß der Robotspion sie bei ihrem Zerstörungswerk beobachtet hatte und innerhalb weniger
Minuten eine Polizeistreife auf den Plan rufen würde. Das machte sie rasend. Sie stürzte sich auf die Säule und hieb mit ihrem Vibratormesser so lange darauf ein, bis die Klinge brach. Dann lief sie zu dem von ihr beschädigten Fahrzeug zurück, brach die Tür auf und fuhr los. Es hatte sie überhaupt keine Mühe gekostet, das Luftkissenfahrzeug zu starten. Als hätte sie ihr Leben lang nichts anderes getan, als fremde Wagen in Betrieb zu nehmen! Sie fuhr eine Weile kreuz und quer durch das Industriegebiet und hielt dann auf dem halbleeren Parkplatz vor einem Bürogebäude. Als sie aussteigen wollte, hörte sie eine Männerstimme, die von ganz nahe kam und spöttisch sagte: „Was haben Sie denn angestellt, Ihren Wagen so zuzurichten.“ Kerima erstarrte auf ihrem Platz. Neben ihrem Wagen war ein Mann aufgetaucht, der Polizeiuniform trug. Das hatte ihr gerade noch gefehlt! „Das hat man davon, wenn man sein Fahrzeug an Freunde verleiht“, sagte sie und lächelte zaghaft. Sie blickte dem Polizisten ruhig entgegen, während ihre Hände auf der Suche nach einer Waffe durch den Innenraum des Wagens glitten. Sie würde notfalls um ihre Freiheit kämpfen! „Ja, das hat man davon“, sagte der Polizist gedehnt. „Darf ich Ihre Papiere sehen?“ „Selbstverständlich.“ Sie lächelte entschuldigend. „Ich bin gerade dabei, sie zu suchen.“ Als sie unter das Armaturenbrett griff, entdeckte sie dort einen schweren Totschläger. Es gab viele Wagenbesitzer, die sich durch ausgeklügelte Sicherheitsanlagen vor Überfällen zu schützen versuchten. Kerima konnte froh sein, daß dieser Wagen einen Besitzer hatte, der mehr von den direkten Verteidigungsmethoden hielt. „Sie brauchen nicht gleich nervös zu werden“, sagte der Polizist beruhigend. „Lassen Sie sich nur Zeit. Ich werde Sie schon nicht gleich fressen.“ Kerima umfaßte den Griff des Totschlägers. „Ah, hier sind die Wagenpapiere“, sagte sie dann. Sie stieß blitzschnell die Wagentür auf, sprang hinaus und hieb dem verdutzten Polizisten den Totschläger über den Kopf. Er brach
mit einem unartikulierten Laut zusammen. Aber er war noch nicht ganz ausgeschaltet. Er versuchte auf die Beine zu kommen und gleichzeitig die Waffe zu ziehen. Kerima schlug noch einmal zu. Danach rührte er sich nicht mehr. Sie verstaute den Totschläger in ihrer Handtasche und verließ ohne besondere Eile den Parkplatz. Obwohl sie nun schon ziemlich spät dran war, verhielt sie sich ganz ruhig, um nicht die Aufmerksamkeit eines zufälligen Beobachters auf sich zu lenken. So nahe an ihrem Ziel wollte sie kein Risiko eingehen. Welches Ziel? Und wieso kam sie zu dem Schluß, daß sie schon ziemlich spät dran war? Sie hatte weder eine Verabredung noch ein bestimmtes Ziel! Oder doch? Sie wußte es nicht, denn die fremden Impulse sagten nichts darüber aus; sie wirkten immer noch so auf sie ein, daß sie gewisse Gehirnzentren reizten und ihren Zerstörungstrieb schürten. Aber Kerima merkte nun auch, daß sie in eine bestimmte Richtung gelenkt wurde. Und was bisher wie eine sinnlose Wanderung quer durch New Taylor ausgesehen hatte, entpuppte sich nun als zielstrebiger Marsch zu einem gemeinsamen Treffpunkt. Kerima kämpfte wieder gegen die Befehlsimpulse an, aber wie schon die vorangegangenen Male unterlag sie auch diesmal. Ihre Beine brachten sie zu einer Lagerhalle, wo sie ein Dutzend anderer Männer und Frauen vorfand. Sie waren verschiedenen Alters und unterschiedlicher Herkunft, aber sie hatten alle etwas gemeinsam: Sie schienen keinen eigenen Willen zu haben.
8.
Die Szene hätte sich an einer Schwebebus-Station abspielen können. Die Frauen und Männer verhielten sich gerade so, als würden sie auf den Linienbus oder auf die Rohrbahn warten. Sie unterhielten sich nicht miteinander und blieben auf Distanz. Keiner achtete auf den anderen – sie verhielten sich so, wie sich Fremde eben verhielten, die zufällig an ein und demselben Ort zusammenkamen. Nur hatte diese Leute nicht der Zufall zusammengeführt. Kerima war sicher, daß es ihnen allen erging wie ihr selbst. Da war der vornehm gekleidete Mann von etwa achtzig Jahren, der den Kopf stolz erhoben hatte und durch die anderen hindurchblickte. Selbst jetzt, obwohl er unter dem Einfluß der fremden Impulse stand, zeigte sich auf seinem Gesicht ein Ausdruck von Arroganz. Hinter ihm, als wolle sie sich vor neugierigen Blicken schützen, stand eine junge Frau, den Kopf gesenkt, die Arme wie frierend um den Körper geschlungen. In ihrem Gesicht zuckte es. Kerima glaubte nicht, daß sie ein Nervenleiden hatte, sondern war überzeugt, daß ihre Gesichtszuckungen ein äußeres Anzeichen ihres psychischen Kampfes gegen die fremde Impulse waren. Eine ältere Frau in Alltagskleidern schritt einen imaginären Kreis ab, in dessen Mittelpunkt sich die anderen befanden. Sie schien überhaupt nicht wahrzunehmen, was um sie vorging. Sie benahm sich wie in Trance. Ähnlich erging es auch den anderen. Sie schienen mit offenen Augen zu träumen. Sie waren wach, jedoch ohne Bewußtsein, sie bewegten sich wie Schlafwandler. Außer Kerima waren noch zwölf Personen hier, die wie sie auf etwas warteten. Worauf denn eigentlich? Darüber gaben die fremden Impulse keine Auskunft. Aber Kerima wußte, daß ein bedeutendes Ereignis bevorstand, das ihr Leben von Grund auf ändern würde. Vielleicht erlebte sie bald schon eine Konfrontation mit jenen Unbekannten, die für ihren Zustand verantwortlich waren. Das bedrückende Schweigen lastete schwer auf ihr. Sie hätte gerne einen ihrer Leidensgenossen angesprochen, um mit ihm die Probleme zu diskutieren, die sie alle betrafen. Doch sie brachte es nicht über sich. Dieselbe Macht, die sie hier hergelenkt hatte,
bewirkte, daß sie Hemmungen hatte, die anderen Wartenden anzusprechen. Als beim Tor der Lagerhalle eine Bewegung entstand, versteifte sie sich unwillkürlich. Sie glaubte, daß nun die Unbekannten kamen, um ihnen die entscheidenden Befehle zu geben. Aber sie wurde enttäuscht. In die Lagerhalle kamen nicht mehrere Personen, sondern ein einzelner Mann. Kerima gab einen überraschten Laut von sich, als er in den Lichtschein der Notbeleuchtung trat und sie erkennen konnte, um wen es sich handelte. Swart 70! Sie starrte ihm erwartungsvoll entgegen. Er kam geradewegs auf sie zu. Sie wußte nicht, was sie von ihm erwartete, aber sie fühlte sich allein durch seine Anwesenheit erleichtert. Sie streckte die linke Hand aus, um ihn auf sich aufmerksam zu machen. Doch er nahm von ihr überhaupt keine Notiz – als kenne er sie überhaupt nicht, blieb er drei Schritte vor ihr stehen und wandte ihr den Rücken zu. Nun begriff sie auch sein seltsames Verhalten am Visiphon. Es hatte nicht nur an ihr gelegen, daß kein vernünftiges Gespräch zustande kam. Swart 70 war ebenfalls beeinflußt und nicht mehr Herr über sich selbst. Dieselbe unheimliche Macht, die sie zu einem willenlosen Werkzeug machte, hielt auch Swart 70 in ihrem Bann. Sie starrte auf seinen breiten Rücken, und es erschien ihr immer unwahrscheinlicher, daß dies derselbe Mann war, mit dem sie in der Mayora-Klinik unzählige vertraute Gespräche geführt hatte. Er rückte immer weiter aus ihrem Bewußtsein, obwohl er zum Greifen nahe war. Und dann hatte sie seine Anwesenheit vergessen. Er war nur noch – wie sie selbst – einer von vierzehn anonymen Befehlsempfängern. Im Hintergrund der Lagerhalle ging ein Licht an. Die vierzehn Beeinflußten drehten sich um und setzten sich dann wie auf Kommando in Bewegung. Sie wurden von vier unauffällig gekleideten Männern erwartet. Kerima versuchte sich ihre Gesichter einzuprägen, aber das war ihr unmöglich. Sie konnte sich nicht auf die Unbekannten selbst konzentrieren, sondern nur darauf, was sie sagten. Einer von ihnen sprach: „Wir haben euch herbestellt, um euch den
Überfall in allen Einzelheiten zu erklären. Ihr müßt euch alles genauestens einprägen, damit ihr im entscheidenden Augenblick nichts Falsches tut. Der Erfolg des Unternehmens hängt in erster Linie von der Einhaltung des Zeitplans ab. Beginnen wir mit dem Uhrenvergleich. Es ist jetzt exakt 2 Uhr 11.“ * Kerima stellte ihre Uhr, die um eine Minute vorging. Dann schenkte sie ihre ungeteilte Aufmerksamkeit wieder den vier Instrukteuren. Sie wußte, wie wichtig es war, daß sie nichts von dem vergaß, was man ihr jetzt mitteilte. Ein anderer Instrukteur ergriff das Wort. Er sagte: „Es wird ein Einsatz auf Leben und Tod. Wer nicht tötet, wird selbst getötet. Ihr besitzt alle einen gesunden Selbsterhaltungstrieb. Ihr wollt um jeden Preis überleben. Also müßt ihr jeden töten, der sich euch in den Weg stellt.“ Töten, töten! hallte es in Kerimas Geist nach. Der dritte Instrukteur ergriff das Wort. „Ihr müßt den anderen töten oder euch selbst. Wer in Gefangenschaft gerät, muß die Konsequenzen ziehen. Niemand darf dem Feind lebend in die Hände fallen. Gefangenschaft ist gleichbedeutend mit dem Tod.“ Selbstmord bei Gefangennahme! suggerierte der fremde Impuls Kerima ein. Sie war entschlossen, ihr Leben im Sinn der Sache zu opfern. Der vierte Instrukteur schaltete einen Projektor ein, und auf einer drei Mal vier Meter großen Wandfläche erschien die Abbildung eines Gebäudes, das Kerima bekannt vorkam. Sie versuchte aber nicht erst herauszufinden, um welches Gebäude es sich handelte, sondern wartete die Erklärungen des Instrukteurs ab. Es dauerte nicht lange, bis sie sie bekam. „Das ist das Blaustern-Gebäude. Dort hat der von der Regierung gebildete Untersuchungsausschuß für Organverpflanzung seinen Sitz. Dieses Regierungsgebäude ist das Ziel unseres Überfalls. Ihr werdet es um vier Uhr früh stürmen!“ Noch über eineinhalb Stunden Zeit, dachte Kerima mit einem Blick auf ihre Uhr. Auf der Projektionswand war nun eine
Grundrißzeichnung des Regierungsgebäudes zu sehen, so daß seine sternartige Form deutlich zu erkennen war. Kerima erinnerte sich jetzt auch daran, daß es aus blauem Marmor gebaut worden war. Daher auch die Bezeichnung. Der Instrukteur fuhr fort: „Um Punkt vier werdet ihr geschlossen durch das Hauptportal im Westflügel eindringen. Das bereitet keine Schwierigkeiten, weil die Sicherheitsanlagen nicht besonders aufwendig sind. Durch den Westflügel kommt ihr in den Großen Sitzungssaal im Zentrum des Sterns. Dort legt ihr eine Bombe. Ist das geschehen, flüchtet ihr durch den Ostflügel ins Freie. Nach dem Überfall zerstreut ihr euch wieder. Jeder hat sich auf dem schnellsten Wege nach Hause zu begeben und auf weitere Befehle zu warten.“ Der Instrukteur wiederholte seine Angaben noch einmal und forderte seine Zuhörer auf, ihren Weg durch das Regierungsgebäude auf dem Plan zu verfolgen. Während Kerima den bevorstehenden Überfall noch einmal im Geiste durchging, erschien vor ihr einer der Instrukteure und drückte ihr eine Strahlenwaffe in die Hand, die sie in ihrer Handtasche verstaute. Jeder der vierzehn Beeinflußten bekam eine solche Waffe. Als der Instrukteur Swart 70 erreichte, drückte er ihm zusätzlich zu dem Strahler noch einen hühnereigroßen Gegenstand in die Hand und sagte dazu: „Du wirst die Bombe im Großen Sitzungssaal hinterlegen. Wenn du den Auslöser ziehst, wird es noch fünf Minuten bis zur Explosion dauern.“ Nachdem die Waffen verteilt waren, sagte der Instrukteur, der am Anfang zu ihnen gesprochen hatte: „Rekapitulieren wir. Wenn ihr von hier fortgeht, müßt ihr euch sofort trennen. Jeder muß ganz alleine ans Ziel kommen. Ihr müßt trachten, schon vor vier Uhr beim Blaustern-Gebäude zu sein. Aber ihr dürft auch nicht zu früh eintreffen, weil das Verdacht erregen könnte. Um vier Uhr startet ihr den Überfall. Wer sich euch in den Weg stellt, wird getötet. Wer von euch in Gefangenschaft gerät, macht seinem Leben ein Ende. Ihr kommt aus dem Westflügel in den Großen Sitzungssaal und verlaßt das Gebäude wieder durch den Ostflügel. Danach geht jeder nach Hause, um weitere Befehle abzuwarten.“ Das Licht erlosch, die Instrukteure packten den Projektor ein und verschwanden.
Kerima kämpfte immer noch gegen die Suggestivimpulse an. Während der vergangenen Viertelstunde, als sie ihre Instruktionen erhalten hatte, war ihr Ich gelähmt gewesen. Aber jetzt flackerte es wieder auf. Sie erkannte, zu welchem ungeheuerlichen Verbrechen sie gezwungen werden sollte. Es war Wahnsinn! Sie durfte da nicht mitmachen. Sie mußte sich gegen die Befehle auflehnen. Als sie das Tor erreichte, wartete sie so lange, bis Swart 70 herangekommen war. Er blieb stehen und blickte ihr in die Augen – und ihr war, als blitze Erkennen in ihnen auf. Doch dann verzerrte sich sein Gesicht wie unter Schmerzen, er wandte sich von ihr ab und ging aus dem Tor, ohne sich noch einmal nach ihr umzudrehen. Sie folgte ihm. Aber schon nach wenigen Schritten lenkten sie ihre Beine in eine andere Richtung. Und als sie dann das Industriegelände verlassen hatte und in eine beleuchtete Straße kam, war sie allein. Getreu den Befehlen der Unbekannten schlugen sie jeder einen anderen Weg zum Blaustern-Gebäude ein. Kerima hatte noch fast eineinhalb Stunden Zeit, um an ihr Ziel zu kommen. Sie suchte die nächste Rohrbahn-Station auf und fuhr in die Nähe des Platzes, an dem das sternenförmige Regierungsgebäude aus blauem Marmor stand. Das letzte Stück des Weges gedachte sie zu Fuß zurückzulegen. Jeder einzelne Schritt war ein Kampf gegen die fremde Macht, die sie beherrschte. Sie wehrte sich tapfer gegen die Beeinflussung, aber letztlich unterlag sie doch. Die Hochhäuser wichen zurück und gaben einen großen Platz mit einem prächtigen Park frei, in dessen Mitte das Blaustern-Gebäude stand.
9. Es war fünf Minuten vor vier Uhr, als Kerima den Kiesweg betrat, der in schnurgerader Linie zum Westportal des Regierungsgebäudes führte. Links von sich vernahm sie aus den Büschen verhaltenes
Gemurmel. Wahrscheinlich handelte es sich um ein Liebespaar, das die laue Nacht für ein Schäferstündchen unter freiem Himmel nützte. Kerima ging unbeirrbar weiter. Da tauchte wenige Meter vor ihr aus einem Seitenweg der vornehm gekleidete Mann auf, den sie schon bei der Besprechung in der Lagerhalle gesehen hatte. Noch vier Minuten bis vier Uhr. Die Nacht war der Dämmerung gewichen. Der vornehm gekleidete Herr beschleunigte seinen Schritt etwas, so daß Kerima ihn nicht überholen konnte. Es waren nur noch zwanzig Meter bis zu der breiten Freitreppe, die zum Haupteingang des Regierungsgebäudes hinaufführte. Kerima sah auf den Stufen einen verwahrlosten Mann liegen, der offensichtlich hier sein Nachtlager aufgeschlagen hatte. Aber Kerima wußte es besser. Sie kannte den Mann aus dem Lagerschuppen. Noch drei Minuten. Oben, am Ende der Freitreppe, direkt neben dem Hauptportal standen ein Mann und eine Frau. Sie schienen nicht zusammenzugehören, blickten aber beide scheinbar interessiert auf die Gedenktafel an der Wand, in die mit goldenen Lettern die Namen der beiden prominenten Opfer einer Panither-Demonstration geschrieben waren. Kerima erinnerte sich an den Vorfall, der vor zwei Jahren stattgefunden hatte. Die Panither, eine radikale Extremistengruppe, hatten einen Protestmarsch zum Blaustern-Gebäude organisiert. Als sie ihr Ziel erreichten, stellten sich ihnen einige Politiker zur Diskussion. Es war zu einem Handgemenge gekommen, bei dem zwei Politiker den Tod fanden. Für einen Moment kam Kerima der Verdacht, daß die Panither auch hinter diesem Überfall stecken konnten. Aber dieser Gedanke wurde sofort von den fremden Impulsen unterdrückt, kaum daß er in ihrem Gehirn aufgeflackert war. Noch zwei Minuten. Kerima stieg die Treppe hinauf. Sie erkannte nun, daß der Mann vor der Gedenktafel frische Operationsnarben im Gesicht hatte. Es war denkbar, daß er, so wie sie selbst, erst vor wenigen Tagen aus einer Organbank entlassen worden war. Zusammen mit Swart 70 wären sie dann schon drei Personen in der vierzehnköpfigen Gruppe, die vor kurzem eine Transplantation über sich hatten ergehen lassen.
War das von besonderer Bedeutung? Gleich war es soweit! Der Vagabund, der auf der Treppe ein Nickerchen gemacht hatte, kam auf die Beine und lief die wenigen Stufen bis zum Hauptportal hinauf. Hinter einer Säule trat die junge Frau, in deren Gesicht es ständig zuckte, hervor. In ihrer Hand lag ein Impulsstrahler. Die beiden, die die Gedenktafel betrachtet hatten, drehten sich um und holten ebenfalls Impulsstrahler aus den Taschen ihrer Kleider hervor. Der vornehm gekleidete Herr lüftete seinen Hut und entnahm ihm eine Waffe. Die ältere Frau, die in dem Lagerschuppen ständig im Kreis gegangen war, kam die Treppe heraufgerannt. Alle vierzehn Personen erreichten fast gleichzeitig das Hauptportal. In diesem Augenblick schlug eine ferne Turmuhr viermal. Swart 70, der Kerima bisher noch nicht aufgefallen war, tauchte plötzlich auf und stieß die anderen beiseite. Er hatte wie selbstverständlich das Kommando übernommen – und alle akzeptierten es. Er zielte mit seinem Impulsstrahler auf das Türschloß und drückte ab. Kerima schloß für einen Moment geblendet die Augen. Als sie sie wieder öffnete, hatte das Tor ein häßliches Loch mit noch glühenden Rändern. Einer der Beeinflußten trat mit einem Bein dagegen und stieß es nach innen. Mit Swart 70 an der Spitze stürmten sie in das Regierungsgebäude. Eine blecherne Robotstimme erklang. Kerima konnte nicht verstehen, was sie sagte. Sie hob die Waffe in Richtung der Portierloge und drückte ab. Sie bestrich sie so lange mit ihrem Energiestrahl, bis sie einen glühenden, rauchenden Trümmerhaufen vor sich hatte. Dann machte sie, daß sie wieder zu den anderen aufschloß, die inzwischen weitergerannt waren. Dabei wäre sie fast über eine Gestalt gestolpert, die in der Mitte der Halle lag. Es handelte sich um einen älteren, unbewaffneten Mann – wahrscheinlich war es einer der Saaldiener, die hier entweder wohnten oder Nachtdienst hatten. Er hatte eine große, häßliche Wunde in der Brust. Kerima sprang über ihn hinweg und lief den anderen nach. Die Saboteure ließen die Türen links und rechts von sich
unbeachtet. Der Befehl hatte gelautet, den Großen Sitzungssaal zu stürmen und dann durch den Ostflügel aus dem Gebäude zu flüchten. Daran hielten sie sich strikt. Kerima holte die anderen ein. Der ältere, vornehme Herr war etwas zurückgefallen, er konnte mit den Jüngeren nicht mehr Schritt halten. Swart 70 lief immer noch voran. Wahrscheinlich war es auch er gewesen, der den Saaldiener kaltblütig niedergeschossen hatte. Kerima hätte an seiner Stelle ebenso gehandelt. Der Befehl lautete, gnadenlos zu töten, und dem konnte man sich nicht widersetzen. Es gab keine Auflehnung gegen die Impulse. Sie hatte das Ende des Hallengangs schon fast erreicht, als eine Alarmsirene aufheulte. Kerima erwartete, daß nun Kampfroboter auftauchen würden. Doch solche traten nicht in Erscheinung. Es stimmte also, was die unbekannten Auftraggeber behaupteten: Das Blaustern-Gebäude wurde nicht stark bewacht. Aber es gab selbstverständlich eine Alarmanlage, die sich aktiviert hatte, als sie ins Zentrum des Regierungsgebäudes vordrangen. Es konnte kein Zweifel daran bestehen, daß sie die Polizei auf den Plan rufen würde. Sie mußten sich beeilen, wollten sie der Exekutive nicht in die Hände fallen. Aber die Erledigung des Auftrages ging der eigenen Sicherheit vor. Und ihr Auftrag war es, den Großen Sitzungssaal in die Luft zu jagen. * Swart 70 erreichte den Rundgang, der den Großen Sitzungssaal umschloß. Er versuchte sich an einem der Eingänge. Als er jedoch feststellen mußte, daß die Tür verschlossen war, schmolz er mit seinem Impulsstrahler einfach das Schloß. Dann war der Weg frei. Die anderen folgten ihm in den Großen Sitzungssaal und verteilten sich über die Sitzreihen. Die junge Frau, in deren Gesicht es konvulsivisch zuckte, blieb am Eingang zurück, um ihn abzusichern. Kerima rannte die stufenförmig angeordneten Sitzreihen hinunter und auf der anderen Seite wieder hinauf zum gegenüberliegenden Ausgang. Da auch diese Tür verschlossen war, mußte sie das Schloß mit einem Impulsstrahl schmelzen.
Sie trat gegen die Tür und drang in den dahinterliegenden Rundgang vor, die Waffe schußbereit. Aber kein Gegner stellte sich ihr in den Weg. Vor ihr lag der lang gestreckte Hallengang des Ostflügels. Das war der Weg in die Freiheit. Wenn sie sofort losgerannt wäre, hätte sie ins Freie gelangen können, noch lange bevor die Polizeitruppen eingetroffen wären. Aber sie konnte ihre Chance nicht nützen. Die Suggestivbefehle zwangen sie auf ihre Kameraden zu warten. Sie blickte in den Sitzungssaal zurück. Die junge Frau bei der gegenüberliegenden Tür hatte das Feuer in den vor ihr liegenden Korridor eröffnet. Kerima wußte nicht, auf wen sie schoß. Swart 70 hatte einen Tisch an die Wand geschoben und einen Stuhl darauf gestellt. Dann kletterte er hinauf und deponierte die Bombe, nachdem er den Zünder eingeschaltet hatte, hinter einem Ölbild des regierenden Obmanns. Daraufhin sprang er auf den Boden hinunter, stellte Tisch und Stuhl wieder an ihre Plätze und zog sich zu dem Ausgang zurück, den Kerima bewachte. Sie wartete, bis er sie erreichte, dann erst verließ sie ihren Posten. Die anderen Saboteure hefteten sich an ihre Fersen. Die junge Frau, die den Sitzungssaal gegen irgendwelche Angreifer verteidigt hatte, schrie plötzlich auf. Kerima sah, daß ihre linke Hand von einem Strahlenschuß getroffen worden war. Aber sie kümmerte sich nicht weiter um sie. Sie rannte an Swarts Seite bereits in den Ostflügel. Nur der ältere, vornehme Herr blieb zurück, um der verwundeten Frau Rückendeckung zu geben. Kerima hatte mit Swart 70 bereits die halbe Strecke im Ostflügel zurückgelegt, als sie zurückblickte und feststellte, daß die beiden Nachzügler, der vornehme Herr und die Frau mit den Gesichtszuckungen, hinter ihnen nachkamen. Sie würden es gleich geschafft haben. Noch dreißig Meter, dann hatten sie das Tor erreicht, hinter dem der Park – die Freiheit – lag. Sekunden später sanken Kerimas Hoffnungen jedoch auf den Nullpunkt. In ihrem Rücken ertönte eine Lautsprecherstimme. „Ergebt euch! Ihr seid umzingelt! Jeder Fluchtversuch ist zwecklos. Wir haben das Gebäude umstellt!“ Alles nur Bluff! hämmerte es in Kerimas Gehirn. Die Impulse überfluteten ihren Geist mit verstärkter Kapazität, bis sie ihre
Resignation verscheucht hatten. Sie dachte nicht an Aufgabe, sie war nun mehr denn je davon überzeugt, daß die Chancen für einen Fluchtversuch gut standen. Da öffneten sich die beiden Torflügel vor ihnen. Swart 70 wurde langsamer und blieb schließlich stehen. Durch das geöffnete Tor war ein gepanzerter Gleiter zu sehen, hinter dem einige Polizisten Deckung gesucht hatten. Links und rechts des Tores standen weitere Polizisten mit schweren KombiStrahlern und Schutzanzügen. Swart 70 zögerte nur wenige Sekunden lang. Dann hatte ihn die fremde, unheimliche Macht wieder in ihrer Gewalt, die Impulse sagten ihm, wie er sich zu verhalten hatte. Kerima erging es nicht anders; die Impulse befahlen ihr, sich mitten durch die feindlichen Linien zu schlagen. Sie hob den Impulsstrahler, die anderen taten es ihr gleich, und wie auf Kommando deckten sie die Türöffnung mit einer Flut von tödlichen Energiestrahlen ein. Einige der marmornen Säulen schmolzen unter der Glut der freiwerdenden Energien. Drei Säulen barsten, und ein Teil des von ihnen getragenen Gemäuers stürzte ein. Die Polizisten, die dort Deckung gesucht hatten, zogen sich panikartig in den Park zurück. Einige, die von den Energiestrahlen oder von herabstürzenden Mauertrümmern verletzt worden waren, blieben hilflos zurück. Als die Saboteure mit Swart 70 an der Spitze auf die Freitreppe hinauskamen, wagten die anderen Polizisten nicht, das Feuer auf sie zu eröffnen, weil sie befürchten mußten, ihre Kameraden zu treffen. Das nützten die Saboteure aus, um sich aus der Schußlinie zu bringen. Kerima heftete sich mit drei anderen an Swarts Fersen. Instinktiv fühlte sie, daß sie in seiner Nähe die besten Überlebenschancen hatte. Als Prospektor, der auf unbekannten Welten schon unzähligen Gefahren getrotzt hatte, besaß er von ihnen allen die größte Kampferfahrung. Bei den anderen dreien handelte es sich um den älteren Herrn, das verwundete Mädchen und den Mann, den Kerima bei ihrer Ankunft schlafend auf der Treppe vorgefunden hatte. Swart 70 rannte im Schutz der Mauerbrocken die Freitreppe hinunter. Er stolperte beinahe über einen verwundeten Polizisten und
wollte ihn in plötzlicher Wut niederschießen. Aber dann überlegte er es sich anders, half dem stöhnenden Mann auf die Beine und hielt ihn wie einen Schild vor sich. Kerima hielt sich in Swarts Rücken. Die anderen drei folgten dicht auf. So erreichten sie den Park. Hier wimmelte es nur so von Polizisten. Überall standen gepanzerte Fluggleiter, und aus den Straßen kamen shiftähnliche Panzerfahrzeuge herangerollt. „Ergebt euch!“ forderten die Polizisten immer wieder über Lautsprecher. Aber sie hatten mit ihrem Aufruf keinen Erfolg. Die Beeinflußten würden sich lieber selbst töten, als sich gefangen nehmen lassen. Vor ihnen tauchten plötzlich drei Polizisten mit Paralysatoren auf. Swart 70 drückte seinem Gefangenen den Impulsstrahler an die Schläfe. Die Polizisten wagten nicht, sich zu rühren. Als Swart 70 zusammen mit Kerima an ihnen vorbei war, eröffnete er ohne Warnung das Feuer auf sie. Dadurch gerieten die Polizisten jedoch zwischen sie und die drei anderen Saboteure. Kerima erkannte, daß es die Absicht der Polizisten gewesen war, ihre Gruppe zu sprengen. Das war ihnen gelungen, ohne daß Swart 70 oder sie etwas dagegen hätten tun können. Die beiden Männer und die Frau mit den Gesichtszuckungen wehrten sich verzweifelt. Aber schon nach wenigen Sekunden ereilte den vornehm gekleideten Mann sein Schicksal. Er verglühte förmlich im konzentrierten Feuer der Polizisten. Nicht viel später starb auch der Vagabund. Die verwundete Frau dagegen fiel den Polizisten in die Hände… Kerima hatte mit Swart 70 und der Geisel das Ende des Parks erreicht. Als sie durch die Büsche traten, standen sie plötzlich einigen Neugierigen gegenüber, die sich trotz der frühen Stunde hier eingefunden hatten, um den Kampf aus nächster Nähe zu beobachten. Swart 70 ließ blitzschnell den verwundeten Polizisten fallen, sprang den nächsten Umstehenden an und drängte ihn mit vorgehaltener Waffe zu einem Schweber. Das war alles so schnell gegangen, daß Kerima gar nicht folgen konnte. Als sie sich nun in Bewegung setzte, sah sie aus den Augenwinkeln eine Bewegung. Der verwundete Polizist hatte aus
einer Schulterhalfter eine Strahlenpistole gezogen und drückte zweimal ab. Kerima schloß geblendet die Augen und spürte etwas Heißes an ihrer Stirn vorbeistreichen. Sie warf sich zurück und taumelte wie benommen auf den Gleiter zu. Dort sank gerade Swart 70 in sich zusammen. Sein rechter Schenkel wies einen schwarzen Fleck auf, der sich bereits rot zu färben begann. Er hielt sich an dem Mann fest, den er als lebenden Schild benutzte, und erschoß den Polizisten mit einem Impulsstrahl. Vor Kerimas Augen drehte sich alles. Sie wußte später nicht mehr, wie sie in den Schweber gelangt war. Für sie zählte nur, daß sie es überhaupt geschafft hatte, und daß Swart 70 mit seinem Gefangenen folgte und den Schweber startete. Sie Schossen dicht über die Köpfe der Schaulustigen hinweg, die sich zu Boden warfen, und tauchten in eine der Häuserschluchten ein. Swart 70 verließ die Hauptstraße und bog in eine schmale Gasse ein, wohin ihm die Polizisten mit ihren nicht so wendigen Gleitern nicht folgen konnten. „Setz den Mann irgendwo ab, er ist uns nur hinderlich“, konnte Kerima noch sagen, bevor sie das Bewußtsein verlor. Als sie wieder zu sich kam, war sie mit Swart 70 allein im Schweber. Sie befanden sich in einer Gegend, die ihr bekannt vorkam. „Aber…“, sagte sie erschrocken. „Das ist der Bezirk, in dem ich wohne.“ Swart 70 nickte grimmig. „Wir werden vorerst einmal in deiner Wohnung Unterschlupf suchen. Dort können wir für ein oder zwei Tage untertauchen.“
10. Für Polizeimajor Efkor Rongald sah es nicht gut aus. Obwohl seine Leute das Blaustern-Gebäude sofort nach dem Alarm mit Panzerfahrzeugen umstellt und ein halbes Dutzend schnelle Gleiter eingesetzt hatten, war es ihnen nicht gelungen, die Saboteure zu fangen. Die Bilanz nach diesem Überfall war für die Polizei
niederschmetternd. Acht seiner Leute waren verwundet, vier tot. Der Große Sitzungssaal des Regierungsgebäudes war einer Explosion zum Opfer gefallen, zwei Angestellte der Regierung tot, zwei verwundet. Die Saboteure dagegen hatten nur zwei Tote zu beklagen. Einer der Saboteure, eine Frau, war ihnen lebend in die Hände gefallen. Die anderen – nach übereinstimmenden Zeugenaussagen handelte es sich dabei um elf Frauen und Männer – konnten trotz aller Absperrungen entkommen. Polizeimajor Rongald stützte nun all seine Hoffnungen auf die Gefangene. Sie hatte bei den Kampfhandlungen die linke Hand verloren und mußte ins Inquisitenkrankenhaus eingeliefert werden, so daß es Rongald erst sechs Stunden später möglich war, sie zu verhören. Auf dem Weg ins Inquisitenspital ließ er sich von seinen Leuten gegen die aufdringlichen Reporter abschirmen. Was hätte er ihnen auch sagen sollen? Es gab keinen Sündenbock, dem er das Mißlingen der Aktion in die Schuhe hätte schieben können, denn er hatte den Großeinsatz beim Blaustern-Gebäude selbst geleitet. Als er das von starken Polizeitrupps bewachte Hospital erreichte, erwartete ihn die nächste Hiobsbotschaft. „Bisher war es noch nicht möglich, die beiden toten Saboteure zu identifizieren“, berichtete ihm sein Assistent, der ihn vor dem Krankenzimmer der inhaftierten Frau erwartete. „Von beiden fanden sich kaum noch Spuren. Der eine verglühte in Impulsstrahlen, der andere wurde von Desintegratorstrahlen zur Auflösung gebracht. Wir wissen nur, daß der eine schon älter, um die Achtzig und ziemlich wohlhabend gewesen sein muß. Letzteres geht aus den Resten seiner Kleidung hervor, er trug einen teuren Anzug. Der andere Tote war das genaue Gegenteil, jung und verwahrlost, irgendein namenloser Vagabund. Die beiden Männer kommen aus verschiedenen Gesellschaftsschichten, und es scheint zwischen ihnen keine Verbindung zu geben.“ „Die Mitglieder der Panither setzen sich aus allen Bevölkerungsschichten zusammen“, meinte der Polizeimajor knurrend. Der andere Polizist schüttelte den Kopf. „In dieser Richtung sind wir mit den Nachforschungen noch nicht
weitergekommen“, meinte er bedauernd. „Aber einen Zusammenhang gibt es doch. Die Gerichtsmediziner haben eine interessante Entdeckung gemacht.“ „Machen Sie es nicht so spannend“, sagte Rongald ungeduldig. „Beschränken Sie sich auf die Aufzählung von Fakten.“ „Jawohl. Die Gerichtsmediziner haben herausgefunden, daß beide Patienten von Organbanken gewesen sind. Bei dem älteren Herrn, das heißt, unter dem, was von ihm übrig geblieben ist, fanden sich Nahtstellen von Hauttransplantaten. Sie waren ziemlich frisch, nicht älter als sieben Tage. Der Vagabund dagegen muß sich vor wenigen Wochen einer Hypophysentransplantation unterzogen haben. Diese Spur wird gerade verfolgt. Unsere Leute klappern bereits alle Organbanken ab und überprüfen alle Patienten, die in letzter Zeit entlassen wurden.“ „Dann viel Glück“, sagte Rongald mißmutig. „Wenn das unsere einzige Spur ist, dann haben wir Zehntausende Verdächtige. Versuchen wir unser Glück mit der Gefangenen.“ Der behandelnde Arzt, der den Polizeimajor begleitete, räusperte sich. „Bevor Sie die Patientin verhören…“, begann er. Aber Rongald unterbrach ihn. „Schon gut, Doc“, sagte er. „Wir werden die Patientin nicht zu hart anfassen.“ „Das setze ich eigentlich als selbstverständlich voraus“, meinte der Arzt. „Ich wollte das auch gar nicht besonders betonen, sondern Sie nur auf eine Tatsache aufmerksam machen, die Sie vielleicht interessieren könnte. Weil Sie gerade von Organverpflanzungen sprachen… Die Patientin hat eine solche ebenfalls hinter sich. Und zwar wurde ihr ein neues Herz eingepflanzt.“ Rongald merkte auf. „Danke, Doc“, sagte er. „Vielleicht ist das wirklich ein wichtiger Anhaltspunkt.“ Er wandte sich wieder an seinen Assistenten. „Weiß man, um wen es sich bei der Verwundeten handelt?“ „Noch nicht. Aber wir haben ihr Foto und ihr Gehirnwellenmuster an die Meldebehörde weitergeben.“ Polizeimajor Rongald winkte ab. „Schicken Sie ihre Daten besser an die Organbanken.
Herzverpflanzungen werden nicht so häufig vorgenommen. Auf diese Weise muß sich ihre Identität viel schneller eruieren lassen. So – und jetzt nehmen wir sie uns einmal vor.“ * Die junge Frau lag regungslos in dem durch ein Energiegitter abgesicherten Bett. Ihr linker Armstumpf steckte in einem dicken Bioplast-Verband. Als die beiden Polizisten hereinkamen, wandte sie nicht einmal den Kopf. Sie starrte auf einen fiktiven Punkt, der weit außerhalb der Wände ihres Zimmers zu liegen schien. Das einzige Anzeichen von Leben waren die Zuckungen in ihrem Gesicht. Rongald setzte sich an ihr Bett und gab seinem Assistenten durch ein kaum merkliches Handzeichen zu verstehen, daß er den VideoRecorder einschalten solle, um das Verhör in Bild und Ton festzuhalten. Rongald stellte sich der Patientin erst einmal vor, bevor er mit seinen Fragen begann. „Wie heißen Sie?“ Keine Antwort. Rongald lächelte aufmunternd. „Es ist doch nichts dabei, wenn Sie uns Ihren Namen nennen. Früher oder später finden wir ihn doch heraus. Sie können sich und uns also eine Menge Ärger ersparen, wenn Sie uns diese harmlose Frage beantworten. Nun, wie heißen Sie?“ Keine Reaktion. Die Frau lag wie eine Unbeteiligte da, ihre Augen waren starr ins Leere gerichtet, nur in ihrem Gesicht zuckte es, als besäße sie ein Nervenleiden. „Sie wissen doch, daß Sie sich eines schweren Verbrechens schuldig gemacht haben“, begann Rongald anders herum. „Ich merke schon, daß Sie Ihre Verteidigung auf Unzurechnungsfähigkeit aufbauen. Aber damit kommen Sie nicht durch.“ Die Frau blieb unbewegt. Rongald fuhr fort: „Uns stehen genügend technische Hilfsmittel zur Verfügung, um Ihren Geisteszustand auch während der Tat zu überprüfen. Es hat also keinen Zweck, wenn Sie simulieren. Mildernd wäre für Sie nur, wenn Sie ein Geständnis ablegen. Beginnen wir also nochmals von
vorne. Wie heißen Sie?“ Die Frau gab keine Antwort. Und das änderte sich auch nicht in der nächsten halben Stunde. Rongald versuchte es mit gutem Zureden, mit versteckten Drohungen, mit Appellen an ihr Gewissen – aber er entlockte ihr damit keinen Ton. „Ich glaube, es ist zwecklos, Major“, raunte ihm sein Assistent zu. Rongald wollte ihn schon verärgert zurechtweisen, als verhalten an die Tür geklopft wurde. Gleich darauf ging sie auf, und ein uniformierter Polizeibeamter steckte den Kopf ins Zimmer. „Entschuldigen Sie, Sir“, sagte er. „Aber hier sind zwei Herren von der Staatspolizei…“ „Ich komme.“ Rongald gab seinem Assistenten einen Wink, die Patientin allein zu verhören, und ging auf den Korridor hinaus. Er blickte die beiden dezent gekleideten Männer, die jünger waren als er, herausfordernd an. „Ja?“ Der eine von ihnen meinte mit leicht spöttischem Lächeln: „Ich heiße Frederik Latiner, und das ist Bjo Gennel. Sie dürfen mich Fred nennen – zumindest für die Dauer unserer Zusammenarbeit. Wir sind zu Ihrer Unterstützung abgestellt worden.“ „Im Fall Blaustern-Gebäude?“ fragte Rongald. „Wieso schaltet sich überhaupt die Staatspolizei ein?“ „Das fragen Sie noch, Major?“ tat Frederik Latiner erstaunt. „Es liegt doch auf der Hand, daß das Blaustern-Gebäude von einer radikalen Extremistenorganisation überfallen wurde.“ „Es ist noch nicht heraus, daß die Panither dahinterstecken“, erwiderte Rongald angriffslustig. Er hatte es nicht gerne, wenn sich andere Dienststellen in seine Angelegenheiten einmischten. „Wer redet von den Panithern?“ fragte Latiner im gleichen erstaunten Tonfall wie vorhin. „Wir sehen nur, daß dies kein gewöhnlicher Kriminalfall ist, sondern die politischen Interessen des Staates betrifft. Darum fällt er in unseren Kompetenzenbereich. Wir werden die Ermittlungen weiterführen. Sie sollen dabei nur eine beratende Funktion haben. Ist das klar, Major Rongald?“ „Sonnenklar, Herr Latiner“, bestätigte Rongald zähneknirschend. „Nennen Sie mich Fred“, bot ihm Latiner an.
11.
„Wie sieht es denn hier aus!“ rief Swart 70, als er in Kerimas Wohnung kam. „Das… das hat nichts weiter zu bedeuten“, sagte sie schnell und schloß die Tür hinter ihnen. Sie war froh, daß niemand von den Hausparteien etwas von ihrem Eintreffen bemerkt hatte. „Gehen wir in die Küche, Swart, dort ist es gemütlicher.“ Der große Mann, der zu siebzig Prozent aus Tansplantaten bestand, folgte ihr wortlos in die Küche. „Hast du Hunger?“ fragte sie ihn. „Kaffee könnte ich schon vertragen“, sagte er. „Und Toast?“ Swart 70 nickte. Sie wischte sich die Hände an ihrem Kleid ab und rückte ihm einen Stuhl zurecht. „Setz dich!“ Er gehorchte wie ein Guterzogener Junge. Sie lächelte ihm zu, um ihm seine Bekommenheit zu nehmen, doch er starrte die leere Wand an. Während sie Kaffeewasser aufsetzte und die Toasts bereitete, warf sie ihm immer wieder prüfende Blicke zu. Doch Swart 70 schien mit seinen Gedanken ganz woanders zu sein. Es war, als sei sie für ihn überhaupt nicht existent. Kerima wollte mit ihm über die Ereignisse der Nacht sprechen. In ihr hatten sich so viele Fragen aufgestaut, es gab so viele Probleme, die sie gerne mit einem Menschen erörtert hätte. Swart 70 war für sie ein willkommener Gesprächspartner, denn er hatte dieselben Probleme wie sie. Als sie den Problemkomplex jedoch anschneiden wollte, brachte sie keinen Ton über die Lippen. Warum war es ihr nicht möglich, wenigstens mit Swart 70 über die Dinge zu sprechen, die sie bedrückten? Wieso erlaubte ihr die fremde Macht, die sie immer noch beherrschte, nicht, ihren Ängsten und Sorgen wenigstens Swart 70 gegenüber Luft zu machen? Er war doch ihr Verbündeter – wenngleich unfreiwillig. Sie kam mit der Kaffeekanne und den Toasts an den Tisch. „Es war eine turbulente Nacht!“ stieß Kerima plötzlich hervor und spürte, wie es sie siedend heiß überkam.
Swart 70 begegnete ihrem Blick und sagte tonlos: „Der Kaffee riecht gut.“ „Koste den Toast. Er ist knusprig“, sagte sie gegen ihren Willen. „Tatsächlich?“ Er biß herzhaft in einen Toast, daß es krachte. Er nickte während des Kauens und bestätigte: „Wirklich, sehr knusprig.“ Kerima war verzweifelt. Wie konnten sie nur über so banale und nebensächliche Dinge reden, obwohl sie sich in einer verzweifelten Lage befanden? Die Impulse überschwemmten ihren Geist und versuchten sie zu beruhigen. Aber sie lehnte sich erfolgreich gegen sie auf. „Wir haben ein furchtbares Verbrechen begangen, Swart!“ platzte sie heraus. Er wandte ihr den Kopf zu. „Wir haben das getan, wozu wir verpflichtet waren. Wir mußten es einfach tun!“ Seine Stimme war völlig emotionslos. Aber das störte sie nicht. Denn ihr genügte es schon, daß sie ihn überhaupt zu einer Stellungnahme bringen konnte. Sie wollte die Chance nützen und das einmal aufgegriffene Thema weiterverfolgen. Aber da wurde die fremde Macht in ihrem Geist wieder übermächtig und verleitete sie zu der Feststellung: „Eigentlich habe ich keinen Hunger.“ „Iß trotzdem“, forderte Swart 70 sie auf. Mit ihm schien eine Veränderung vor sich zu gehen. Die Starre fiel von seinem Körper ab, in seinem Gesicht zuckte es, in seine Augen kam Leben. Er griff nach ihrer Hand und sagte: „Es muß für dich sehr anstrengend gewesen sein, Kerima. Du mußt sehen, daß du wieder zu Kräften kommst. Die Ereignisse während der Nacht…“ Etwas in ihr zwang sie aufzuspringen und zu sagen: „Ich will nichts davon hören. Ich bin müde. Ich versuche, etwas zu schlafen.“ „Kerima, wir müssen darüber sprechen…“ Er versuchte sie am Arm zurückzuhalten, doch sie entriß sich seinem Griff. Sie stürmte aus der Küche. Er rief ihr irgend etwas nach, aber sie verstand nicht, was er sagte. In ihren Ohren war ein Rauschen, das alles andere übertönte. Sie merkte nur, daß er ihr folgte, und beschleunigte ihren Schritt. Sie erreichte das Badezimmer, fand die Pillenbox mit den Schlaftabletten und schluckte zwei davon.
„Kerima!“ Swart 70 packte sie an den Oberarmen und schüttelte sie. Seine Stimme klang erregt, sein Gesicht war eine Maske der Verzweiflung. „Kerima, wir müssen über… sprechen. Wir haben… Mir wurde gerade jetzt ganz deutlich bewußt, daß ich bis jetzt keinen freien Willen besessen habe…“ Sie wand sich verzweifelt in seinem Griff und bemühte sich, nicht zu verstehen, was er sagte. Eine Stimme in ihrem Innern sagte ihr, daß es besser für sie war, wenn sie nicht auf ihn hörte. „Kerima, ich muß mit dir reden, solange der fremde Zwang keinen Einfluß auf mich hat. Noch kann ich gegen die Impulse ankämpfen. Aber wer weiß, wie lange ich den Suggestivbefehlen noch widerstehen kann. Weißt du denn nicht mehr, was vorgefallen ist?“ Doch, sie wußte es. Aber sie wollte nicht daran denken. Sie brauchte Ruhe. Sie war so müde! Seine Stimme entschwand immer mehr, bis sie nur noch ein fernes Raunen war. Dann verstummte sie gänzlich, und Kerima ließ sich willig von den sanften Wogen des Schlafes forttragen. * Sie erwachte inmitten der Trümmer ihres Schafzimmers und blieb eine Weile mit offenen Augen liegen. Langsam kam ihre Erinnerung zurück. Sie hatte ihre Wohnung in einem Tobsuchtsanfall verwüstet. Dann war sie, von Unrast erfüllt, durch das nächtliche New Taylor gegangen und hatte getan, was getan werden mußte. Was dies genau war, wußte sie nicht mehr. Sie hütete sich auch, in ihrer Erinnerung danach zu forschen. Als alles vorbei war, suchte sie zusammen mit Swart 70 ihre Wohnung auf. Sie tranken Kaffee und aßen Toast und unterhielten sich über Gott und die Welt. Sie wußte noch, daß es ein angeregtes Gespräch gewesen war – mehr nicht. Swart 70! Kerima sprang von ihrem Lager hoch. Plötzlich sorgte sie sich um ihn. Er hatte sich nach der Ankunft in ihrer Wohnung so seltsam verhalten, daß sie befürchtete, er hätte sich etwas antun können. Sie kam keuchend ins Wohnzimmer, kletterte über die Trümmer
ihrer Möbel und – als sie zufällig einen Blick auf die Terrasse warf – sah sie Swart 70 dort zusammengekauert liegen. In panischem Entsetzen lief sie zu ihm hinaus und beugte sich über ihn. Als sie ihn an der Schulter berührte, fuhr er erschrocken hoch. Kerima atmete auf. „Alles in Ordnung, Swart?“ fragte sie besorgt. „Nein!“ stieß er hervor. Sie erschrak, als sie merkte, daß ihn ihre harmlose Frage so sehr in Aufruhr versetzte. Aber er beruhigte sich sofort wieder. „Welches Datum haben wir heute?“ fragte er. „Den 31. Juli“, antwortete sie. „Ich muß mich auf die Suche machen“, sagte er entschlossen. Als er ihren verständnislosen Gesichtsausdruck sah, erklärte er lächelnd: „Ich muß herausfinden, wer der Spender meiner Niere war. Es ist schon soviel Zeit verstrichen, ohne daß ich etwas unternahm. Ich muß mich beeilen, bevor alle Spuren verwischt sind.“ Für einen Moment verspürte sie bei dem Gedanken, daß Swart 70 sie verlassen würde, Panik. Aber die innere Stimme sagte ihr, daß es so besser sei, und sie beruhigte sich wieder. Die innere Stimme sagte ihr jedoch auch, daß es besser sei, wenn Swart 70 noch bis zum Abend wartete, damit ihn niemand sah, wenn er ihr Apartment verließ. „Warte noch, bis es dunkel ist“, schlug sie ihm deshalb vor. „Es ist besser, wenn niemand erfährt, daß du hier warst.“ „Du bist wohl um deinen guten Ruf besorgt?“ meinte er grinsend. Sie runzelte die Stirn. „Nein, das ist es nicht.“ Sie war wirklich nicht um ihren guten Ruf besorgt. Aber warum wollte sie trotzdem nicht, daß die Leute ihn sahen, wenn er von ihr fortging? Sie dachte angestrengt nach, konnte das Geheimnis jedoch nicht lüften. Hatten vielleicht die seltsamen Träume, die sie letzte Nacht geplagt hatten, etwas damit zu tun? Eine fremde, wesenlose Stimme hatte ihr Befehle gegeben. Sie sollte Menschen töten… Terror… Sabotage… Sie erschauerte. In Gedanken versunken, ging sie in die Küche. Dort sah sie zwei Waffen liegen. Es waren zwei Impulsstrahler, der eine zierlich, in eine Frauenhand passend, der andere eine schwere Männerwaffe.
Ihre Hand langte nach der Waffe, die für sie gedacht war, zuckte aber sofort wieder zurück. Sie rannte fluchtartig aus der Küche ins Wohnzimmer, wo Swart 70 inmitten der Trümmer vor dem eingeschalteten TV-Gerät saß. „Ich habe eine seltsame Entdeckung gemacht“, sagte Kerima zögernd. „In der Küche liegen zwei Impulsstrahler.“ „Unsere Waffen“, sagte Swart 70, ohne sie anzublicken. Er war von den Geschehnissen, die auf dem Bildschirm abrollten, so gefangen, daß er sich nur unwillig dazu bequemte, ihr eine Antwort zu geben. Sie ging zum TV-Gerät, um zu sehen, was ihn an der laufenden Sendung so faszinierte. Aber noch bevor sie richtig erkannte, was eigentlich gesendet wurde, wandte sie sich angewidert ab. „Hiergeblieben!“ rief Swart 70 plötzlich und zog sie am Arm zu sich herunter. Er bog ihr den Arm auf den Rücken und hielt mit der anderen Hand ihren Kopf, so daß sie auf den Bildschirm blicken mußte. „Swart, du tust mir weh!“ klagte sie. „Da, schau nur“, sagte er erregt. „Wenn du auf den Bildschirm blickst, dann erfährst du, was die beiden Impulsstrahler zu bedeuten haben.“ „Laß mich los. Ich möchte die Nachrichten nicht hören!“ rief sie verzweifelt. Ihr wurde fast übel von den Bildern und der aufdringlichen Stimme des Reporters. Aber Swart 70 ließ sie nicht los. Er zwang sie, die Geschehnisse auf dem Bildschirm zu verfolgen und der Stimme zu lauschen. „Letzte Nacht wurde das Blaustern-Gebäude von vierzehn Saboteuren überfallen“, sagte er keuchend. „Sie haben eine Bombe gelegt und einige Polizisten erschossen. Die Behörden stehen vor einem Rätsel, denn die Saboteure entkamen ihnen. Nur eines einzigen Saboteurs konnten sie habhaft werden. Es handelt sich um eine Frau. Erinnerst du dich an sie, Kerima?“ „Laß mich los, Swart!“ jammerte Kerima. Aber er hielt sie fest und fuhr unbeirrbar fort: „Erinnerst du dich an die Frau mit den Gesichtszuckungen, die ihre linke Hand durch einen Strahlenschuß verlor? Erinnerst du dich an den vornehmen älteren Herrn und an den Vagabunden? Die beiden kamen bei dem Überfall auf das Blaustern-Gebäude um.“
„Du tust mir weh, Swart.“ „Entschuldige, ich habe ganz vergessen, daß du verwundet wurdest!“ „Was redest du für ein dummes Zeug. Wir waren letzte Nacht zusammen in meiner Wohnung. Wir waren die ganze Zeit über hier!“ „Dummes Zeug?“ wiederholte er. Er schien wie von Sinnen, langte nach ihrer Stirn und berührte sie dort an einer Stelle, daß sie ein brennender Schmerz durchfuhr. „Und die Brandwunde an deiner Stirn? Sie rührt von einem Streifschuß her, Kerima. Da, sieh dir Mario an!“ Er zerriß das blutgetränkte Hosenbein an seinem Oberschenkel und zeigte ihr eine klaffende Brandwunde. „Die hat mir ein Polizist zugefügt, bevor ich ihn endgültig erledigen konnte.“ „Nein, das ist nicht wahr!“ rief sie entsetzt. „Das alles hast du nur geträumt!“ „Still jetzt“, sagte Swart 70 plötzlich. Kerima verstummte, so daß die Stimme des Reporters ganz deutlich zu hören war, die aus dem Lautsprecher des TV-Gerätes kam. „… gibt es noch keine Anhaltspunkte dafür, welche Organisation für den Überfall auf das Blaustern-Gebäude verantwortlich ist. Die Panither, auf die der erste Verdacht fiel, haben in einem Aufruf über einen Geheimsender jede Verantwortung für dieses Verbrechen abgelehnt. Es bleibt abzuwarten, inwieweit dieses Dementi der Wahrheit entspricht. Im Augenblick verfolgt die Staatspolizei eine Spur, die vom Sprecher des Pressedienstes als heiß bezeichnet wurde. Bei der Staatspolizei mißt man der Tatsache, daß sowohl die beiden gefallenen Terroristen wie auch die ins Inquisitenspital eingelieferte Terroristin erst vor kurzem aus Organbanken entlassen wurden, besondere Bedeutung bei. Man vermutet, daß auch die anderen noch flüchtigen Saboteure in letzter Zeit Organverpflanzungen an sich vornehmen ließen…“ „Hast du das gehört, Kerima?“ sagte Swart 70 eindringlich. „Man vermutet, daß alle vierzehn Saboteure Kunden der Organbanken sind. Und in unserem Fall trifft das auch zu. Du hast eine neue Hand bekommen, ich eine Niere. Ich sage dir, Kerima, daß die Transplantate an unserem seltsamen Verhalten schuld sind.“
Kerima schrie auf. Swart 70 ließ sie endlich los, so daß sie sich vor ihm in Sicherheit bringen konnte. Er mußte wahnsinnig sein. Wie sonst käme er auf so haarsträubende Vermutungen. Unwillkürlich verbarg sie ihren rechten Arm vor ihm hinter ihrem Rücken. Sie starrten einander an. Da schlug das Bildsprechgerät an. Kerima ließ es lange Zeit summen, bevor sie sich dazu überwinden konnte, das Gespräch entgegenzunehmen. Der Anrufer war niemand anderer als Bewin. Bei Kerimas Anblick weiteten sich seine Augen, und er sagte erschrocken: „Was ist mit dir passiert, Kerima? Ist dir etwas zugestoßen? Ich komme sofort, um dir zu helfen…“ „Nein!“ schrie sie ins Mikrophon. Aber Bewin hörte sie nicht mehr, er hatte die Verbindung unterbrochen.
12. „Sie heißt Elena Houthan und wohnt in der Eugaul Allee Süd 455“, berichtete Rongalds Assistent. „Keine Angehörigen. Sie wurde erst vor zwei Tagen aus der Guerrigha-Klinik entlassen. Es stimmt, daß sie ein neues Herz bekam.“ „Na, wenigstens kennen wir nun ihre Identität“, meinte Polizeimajor Rongald. Er blickte zu den beiden Staatspolizisten in den Besuchersesseln seines Büros. „Welche Marschroute schlagen Sie vor?“ „Wir werden Elena Houthan noch einmal eingehend verhören“, sagte Bjo Gennel, und Frederik Latiner nickte zustimmend. Rongald erhob sich. „Dasselbe wollte ich vorschlagen. Dann machen wir uns auf den Weg, meine Herren.“ „Nicht so hastig, Major“, sagte Latiner. „Ich bin sicher, daß Ihnen die Arbeit sowieso schon über den Kopf wächst. Es besteht keine Veranlassung, uns zu begleiten. Sie können also hier bleiben und sich um Ihren Bürokram kümmern. Bjo und ich werden uns die Terroristin allein vornehmen. Leben Sie wohl, Major.“ Rongald wäre diesem kaltschnäuzigen und zynischen
Staatspolizisten am liebsten an die Gurgel gesprungen, als dieser aus dem Büro ging. „Du hast ihn verärgert, Fred“, sagte Bjo Gennel, während sie im Antigrav-Lift zum Parkplatz auf dem Dach des Polizeipräsidiums hinauffuhren. Latiner zuckte die Achseln. „Wenn schon. Ich werde mit ihm hoffentlich nichts mehr zu tun haben.“ „Willst du Rongald ausbooten?“ fragte Gennel. „Ich werde veranlassen, daß er seine Finger aus dieser Sache heraushält. Das ist kein Fall für die Kriminalpolizei.“ Sie erreichten ihren Schweber auf dem Dachparkplatz und flogen ins Inquisitenspital. Dort wurden sie jedoch nicht zu der Patientin vorgelassen, sondern zuerst zu dem behandelnden Arzt geführt. „Warum machen Sie uns Schwierigkeiten, Doc?“ fragte Latiner ungehalten, als sie in das Sprechzimmer des Oberarztes kamen. Dieser winkte ab. „Mich können Sie nicht beeindrucken. Ich bin an den Umgang mit allen Arten von Polizisten gewöhnt und schon längst über das Stadium hinaus, in dem man sich einschüchtern läßt.“ „Sie können aber trotzdem Schwierigkeiten bekommen, wenn Sie uns nicht zu der Gefangenen lassen“, entgegnete Latiner. „Sie können sie jederzeit besuchen“, versicherte der Arzt. „Ich möchte Sie nur sprechen, bevor Sie zu ihr gehen – falls Sie das danach überhaupt noch wollen. Es hat nämlich keinen Sinn, die Patientin weiteren Verhören zu unterziehen, denn Sie werden aus ihr nichts herausbekommen.“ „Woher wissen Sie das so genau, Doc?“ wollte Bjo Gennel wissen. „Zu diesem Schluß bin ich durch die Untersuchungsergebnisse gekommen“, antwortete der Arzt. „Die Patientin befindet sich in einem Zustand, in dem sie nicht in der Lage ist, irgendwelche Auskünfte zu geben.“ „Sie ist nur stur, aber wir werden sie schon zum Sprechen bringen“, behauptete Latiner. „Wenn Sie gesagt hätten, daß sie psychisch gestört sei, dann wäre das der Wahrheit schon näher gekommen“, sagte der Arzt. „Wir haben sie eingehenden Untersuchungen und Tests unterzogen und dabei zweierlei festgestellt. Ihr Geist ist zwar aktiv, das Gehirn
verarbeitet alle Eindrücke – es denkt, wenn Sie so wollen, in ganz normalen und logischen Bahnen. Aber das Gehirn ist nicht in der Lage, die erhaltenen und erarbeiteten Informationen weiterzugeben. Das heißt mit anderen Worten, daß das Gehirn den Nervenzentren keine Befehle wie Sprechen, Gehen und dergleichen gibt. Was die Patientin tut, geschieht motorisch. Wir müssen sie sogar intravenös ernähren. Es ist, als existiere eine Gehirnblockade, die die Verbindung zu den Nervenzentren lähmt. Irgend etwas hat die Reizung der Suppressor-Felder, die in jedem Gehirn existieren, bewirkt, so daß die Beförderung von Informationen unterdrückt wird.“ Latiner lächelte belustigt. „Sie bemühen sich zwar redlich um ein für einen Laien unverständliches Mediziner-Kauderwelsch. Ich glaube aber doch herausgehört zu haben, daß die Gefangene irgendwelchen Einflüssen unterlegen ist, die sich nachteilig auf sie auswirken. Wäre es möglich, daß jemand sie manipuliert?“ „Das ist nicht auszuschließen“, mußte der Arzt zugeben. „Dann werden wir – mit Ihrer Unterstützung, Doc – die Mentalsperre zu durchbrechen versuchen“, beschloß Latiner. Der Arzt schüttelte den Kopf. „Ich fürchte, Sie haben mich nicht richtig verstanden. Ich habe nichts von der Existenz einer der herkömmlichen Mentalsperren gesagt. Tatsache ist, daß wir an der Patientin keine Beeinflussung von außen feststellen konnten. Wenn ich diese Möglichkeit dennoch nicht ausschließe, dann nur, weil sie auf eine Art beeinflußt werden könnte, die uns unbekannt ist. In jedem Fall aber wäre es sinnlos, sie einem neuerlichen Verhör zu unterziehen. Sie werden von ihr nichts erfahren.“ „Vielleicht können wir Elena Houthan durch Gedankenassoziationen aus der Reserve locken?“ fragte Latiner. Der Arzt hob die Augenbrauen. „Sie haben sie identifiziert? Ich glaube aber nicht, daß Sie sie durch Vermittlung ihrer persönlichen Daten zum Sprechen bringen. Sie reagiert auf keinerlei Reizimpulse.“ „Auch nicht auf den Lügendetektor?“ „Diese Art des Verhörs lehne ich ab“, sagte der Arzt kategorisch. „Wir haben es hier mit einer psychisch gestörten Person zu tun. Ich
werde meine Zustimmung nicht dazu geben, daß Sie die Patientin unter den Verhörautomaten foltern.“ „Wir haben es hier mit keiner gewöhnlichen Patientin zu tun, sondern mit einer gefährlichen Terroristin, hinter der womöglich eine feindliche politische Macht steht. Wenn Sie Ihre Zustimmung verweigern, werde ich sie mir von woanders holen – und zwar von höchster Instanz!“ * „Was du tust, ist strafbar, Fred“, sagte Bjo Gennel beschwörend. „Wenn herauskommt, daß du von unserer Dienststelle keine Erlaubnis für dieses Verhör hast, dann sind wir geliefert.“ „Nicht, wenn wir die Houthan zum Sprechen bringen“, sagte Latiner gepreßt. „Und verlasse dich darauf, ich werde ihr den Mund öffnen.“ Latiner grinste abfällig, als er die Unsicherheit seines Kameraden merkte. Bjo Gennel war ein fähiger Mann, aber er hätte es schon viel weiterbringen können, wenn er weniger Skrupel gehabt hätte. Er, Frederik Latiner, kannte keine Skrupel, seine Karriere führte steil hinauf zur Spitze der Staatspolizei von Plophos. „Fertig?“ fragte er den Leiter des technischen Stabes. „Wir sind bereit“, sagte der Mann unbehaglich. Latiner blickte zu der Patientin, die wie tot in ihrem Bett lag. Man hatte ihr das Haar aufgesteckt, damit man die drei Metallreifen mit den Sonden auf ihren Kopf stülpen konnte. Von den Sondenreifen auf dem Kopf der Patientin führten weder Drähte noch sonstige Verbindungen zu dem fahrbaren Gerät, um das die drei Techniker saßen. Es bestand lediglich eine drahtlose Energiebrücke, die alle Gehirnimpulse an das Gerät und alle Reizströme an das Gehirn weiterleitete. „Schwester?“ wandte sich Latiner an die Krankenschwester, die für das Wohlbefinden der Patientin verantwortlich war. Sie wich Latiners Blick aus und nickte nur leicht mit dem Kopf. „Dann fangt an!“ befahl Latiner den Technikern. Als die ersten Reizimpulse an das Gehirn der wie tot daliegenden Frau gesendet wurden, begann es plötzlich in ihrem Gesicht zu zucken. Latiner stellte fest, daß der starre Blick ihrer Augen sich
wandelte. Zuerst schien es, daß sie nicht mehr in grenzenlose Fernen blickte, sondern auf einen Punkt, der ganz nahe ihrem Gesicht lag. Dann bewegten sich ihre Augen, sie blickte nach links und rechts und ließ ihre Augen dann über ihre Umgebung wandern. „Können Sie mich sehen, Elena Houthan?“ fragte Latiner, der sich am Fußende ihres Bettes aufgebaut hatte. Ihre Augen richteten sich auf ihn, ohne ihn jedoch direkt anzusehen. Er näherte sich ihr während des Sprechens und setzte sich dann vor ihr auf den Bettrand. Dabei stellte er zufrieden fest, daß ihm ihre Augen folgten, wenngleich sie immer noch durch ihn hindurchblickten. Er war überzeugt, sich auf dem richtigen Weg zu befinden. „Wenn Sie mich sehen können, dann sagen Sie es, Elena Houthan“, sprach er beschwörend auf sie ein. „Wenn es Ihnen aber nicht möglich ist zu sprechen, dann nicken Sie. Oder geben Sie mir mit den Augen ein Zeichen.“ Er wartete einige Sekunden. Als von ihr jedoch keine Reaktion kam, gab er den Technikern ein Zeichen, die Stärke der Reizimpulse zu erhöhen. In ihrem Gesicht zuckten wieder einige Muskeln, ihre Pupillen weiteten sich, und sie öffnete den Mund, wie um etwas zu sagen. Sie schloß ihn aber sofort wieder, ohne einen Laut von sich gegeben zu haben. „Es hat keinen Sinn mehr, wenn Sie noch länger schweigen“, beschwor Latiner sie. „Wir kennen bereits Ihren Namen. Wir wissen, daß Sie Elena Houthan heißen, in der Eugaul Allee Süd 455 wohnen und in der Guerrigha-Organbank ein neues Herz bekommen haben. Es dauert bestimmt nicht mehr lange, dann wissen wir auch, wer Ihre Anstifter sind. Sie befinden sich auf einem sinkenden Schiff, Elena. Wollen Sie nicht doch sprechen?“ Es war, als redete er zu einer Wand. Außer, daß es in ihrem Gesicht gelegentlich zuckte, waren an ihr keine Reaktionen zu bemerken. Latiner gab den Technikern zu verstehen, daß sie die Reizimpulse verstärken sollten. Sie gehorchten, wenn auch zögernd. Diesmal stellte Latiner an der Patientin augenblicklich eine Wirkung fest, kaum daß sie die stärkeren Impulse empfing. Ihr Blick klärte sich merklich, ihre Finger bewegten sich ruckartig über die Decke, und ihre Lippen durchlief ein leichtes Beben. Aber
auch die Zuckungen in ihrem Gesicht wurden heftiger. „Elena Houthan!“ sagte Latiner eindringlich. Er hatte das Gefühl, daß er schnell handeln mußte, wenn er ihre Aufmerksamkeit gewinnen wollte. „Elena Houthan, geben Sie mir durch ein Zeichen zu verstehen, daß Sie mich hören können! Antworten Sie!“ Er war ganz sicher, daß sie ihn bewußt wahrnahm, denn der Blick ihrer Augen richtete sich genau auf ihn. Gespannt beobachtete er ihre Lippen, die sich zögernd und widerstrebend bewegten, so als müsse sie gegen Widerstände ankämpfen. Und dann kam ein krächzender Laut aus ihrer Kehle. „Reden Sie, Elena. Ich kann Sie hören. Nennen Sie mir Ihren Namen!“ Sie bewegte wieder die Lippen, aber auch diesmal brachte sie nur einen unartikulierten Laut hervor. „Sie kämpft gegen irgend etwas an“, meldete der leitende Techniker. „Es scheint, als befinde sie sich in einem ausweglosen Dilemma.“ „Natürlich“, behauptete Latiner unbeeindruckt. „Sie kämpft gegen die Gehirnblockade an. Erhöhen Sie die Kapazität der Reizimpulse, damit sie die Barriere niederreißen kann.“ „Das wäre unverantwortlich“, sagte der Techniker schwitzend. „Wir müssen ihr behilflich sein, diese Psycho-Krise zu überwinden“, entgegnete Latiner. „Und das können wir nur, wenn wir den fremden Widerständen in ihrem Geist gleichwertige Kräfte entgegenwerfen. Aus alleiniger Kraft kann sie die Blockade nicht niederreißen. Verstärken Sie die Reizimpulse. Ich übernehme die volle Verantwortung!“ Latiner starrte den Techniker an, bis dieser schließlich nachgab und eine Schaltung an seinem Gerät vornahm. Kaum hatte die erste Schockwelle ihren Geist erreicht, da bäumte sich Elena Houthan im Bett auf und schrie. Ihre gesunde Hand zuckte zum Kopf empor und versuchte die Sondenreifen herunterzureißen. Latiner konnte sie noch rechtzeitig am Handgelenk fassen und ihren Arm hinunterdrücken. „Abschalten!“ befahl er. „Verdammt, unterbrecht die Sendung! Seht ihr denn nicht, daß sie den Verstand zu verlieren droht?“ So zierlich gebaut Elena Houthan auch war, in diesen Sekunden entwickelte sie ungeahnte Kräfte, so daß es Latiner einige
Anstrengung kostete, nicht die Kontrolle über sie zu verlieren. Als dann das Gerät abgeschaltet war und keine Reizimpulse mehr durch die Sonden in ihr Gehirn drangen, fiel sie wie leblos aufs Bett zurück. Latiner ließ sie los. „Sie ist wieder völlig apathisch“, sagte er enttäuscht. Er hatte gehofft, daß sie durch die Schockbehandlung wieder normal wurde. Er wischte sich über die Stirn. „Ich hatte sie schon fast soweit. Aber das nächstemal werde ich die Gehirnblockade niederreißen.“ Er hatte schon während des Sprechens festgestellt, daß sich der Ausdruck ihrer Augen veränderte, dem aber keine Bedeutung beigemessen. Als jetzt plötzlich ihre gesunde Rechte vorschnellte, unter seine Achsel fuhr und den Impulsstrahler aus dem Halfter riß, kam seine Reaktion zu spät. Er schrie auf, um die anderen zu warnen und wollte ihr gleichzeitig die Waffe aus der Hand schlagen. Doch sein Schlag ging ins Leere. Er sah seine einzige Chance darin, sich aus der Schußlinie zu bringen, und warf sich blitzschnell neben das Bett zu Boden. Im nächsten Augenblick erhellte ein Blitz das Zimmer, und das Entladungsgeräusch des Impulsstrahlers war zu hören. Es fiel nur ein Schuß. „Du kannst wieder hochkommen“, sagte Bjo Gennel mit belegter Stimme. Er hielt seine Waffe entsichert in der Hand, hatte sie aber nicht abgefeuert. Latiner begriff nicht sofort. Erst als er sich erhoben hatte und auf das Bett blickte, sah er, was vorgefallen war. Elena Houthan hatte Selbstmord begangen. Sie hielt die Waffe immer noch umklammert, und der Lauf wies auf ihre Schläfe, wo ein kleines, schwarzes Loch zu sehen war. Latiner starrte benommen auf sie hinunter. Er befand sich in einer ausweglosen Situation. Nun würde es ans Tageslicht kommen, daß er sich bei dem Verhör der Gefangenen unerlaubter Methoden bedient hatte. Obwohl sie nicht an den Folgen seiner Verhörmethoden gestorben war, würde man ihn dennoch zur Rechenschaft ziehen. Er bezweifelte nicht, daß dies das Ende seiner Karriere war.
13.
Kerima starrte auf ihren rechten Unterarm. War es möglich, daß er für ihr ganzes Unglück verantwortlich war? Sie hatte geglaubt, nach der Entlassung aus der GuerrighaKlinik ein neues Leben beginnen zu können. Das halbe Jahr zuvor, das sie einarmig verlebt hatte, war für sie die Hölle gewesen. Und jetzt, da sie glaubte, als vollwertiger Mensch ein Leben wie vor dem Unfall führen zu können, brach die Katastrophe erst recht über sie herein. Kerima konnte keinen klaren Gedanken fassen. Da waren einmal die fremden Impulse, die immer noch auf sie einströmten und ihren Willen zu brechen versuchten. Aber Kerima konnte sie abwehren, denn sie waren nicht mehr so stark wie in der letzten Nacht, als sie von ihrer Wohnung aufgebrochen war, um Terror in New Taylor zu verbreiten. Sie konnte sich den Suggestivbefehlen bei einiger Anstrengung sogar widersetzen. Das zeigte sich am deutlichsten daran, daß sie die Erinnerung an die Geschehnisse der letzten Nacht wieder teilweise zurückerlangt hatte. Szenen wie aus einem Alptraum tauchten vor ihr auf: Die Männer und Frauen mit den Impulsstrahlern in den Händen, die das Blaustern-Gebäude stürmten; die Polizeigleiter und Panzerfahrzeuge; ein Gewirr von Energiestrahlen, die sich wie ein tödliches Netz durch den Park zogen – und Menschen, die darin umkamen. Diese Bilder gingen ihr sehr nahe, denn sie wußte, daß sie zum Teil dafür verantwortlich war. Man konnte sie eigentlich nicht für ihre Taten zur Rechenschaft ziehen, denn sie hatte unter fremdem Einfluß gestanden, als sie sie begangen hatte. Aber würde man ihr das auch glauben? Und wenn man ihr glaubte, was würde dann passieren? Angenommen, der angenähte rechte Unterarm war der Ursprung allen Übels. Dann würde man ihr den Arm wieder amputieren! Ein schrecklicher Gedanke. Kerima wollte ihn verscheuchen, aber je intensiver sie das versuchte, desto stärker machte er sich in ihrem Gehirn breit. Sie werden dir den Arm wieder amputieren, Kerima! Nein, nein – nur das nicht!
Sah der Arm nicht aus, wie ein Arm eben aussehen sollte? Sie bewegte die Finger, drehte die Hand, winkelte den Arm ab, betastete ihn vorsichtig und schloß die Finger der Linken dann um das Handgelenk. Sie drückte so fest zu, daß die Blutzufuhr unterbrochen wurde und ihre rechte Hand ganz weiß wurde. Endlich ließ sie ihr Handgelenk wieder los. Nein, die fremden Impulse waren gar nicht mehr ihr vordringlichstes Problem. Es war die angepflanzte Hand, die, wenn Swart 70 Recht hatte, nicht ihr gehörte, sondern das Werkzeug irgendeiner teuflischen Macht war. Sie würde diese Hand wieder verlieren, kaum daß sie sie bekommen hatte. Kerima sank langsam zu Boden und starrte auf die Trümmer in ihrer Wohnung. Das hatte ihre neue Hand getan. Sie dachte an den Überfall auf das Blaustern-Gebäude – auch dafür war ihre neue Hand verantwortlich. Sie schlug mit ihrer neuen Hand so lange auf den Boden, bis der Schmerz ihr die Tränen in die Augen trieb. Swart 70 hatte sie die ganze Zeit über beobachtet. „Erkennst du nun langsam die Wahrheit, Kerima?“ fragte er. Sie wandte sich ihm zu, Tränen in den Augen. „Glaubst du wirklich, daß dies die Wahrheit ist?“ fragte sie zurück. Er nickte. Er machte nicht den Eindruck, daß er unter dem Einfluß der Suggestivbefehle stand. Er schien völlig Herr seiner selbst zu sein. „Wir können uns nichts mehr vormachen, Kerima. Alle, die an dem Überfall auf das Blaustern-Gebäude beteiligt waren, waren vor kurzem Patienten von Organbanken. Das ist der einzige Zusammenhang, der zwischen uns allen besteht. Es wird schon so sein, daß die Transplantate schuld an unserem Zustand sind. Vielleicht sind sie es, die die fremden Impulse empfangen und an unsere Gehirne weiterleiten. Ich weiß es nicht, aber so oder so ähnlich wird es sich verhalten.“ „Was sollen wir nun tun, Swart?“ fragte sie verzweifelt. Er zuckte die Achseln. „Das beste wäre es, uns zu stellen“, antwortete er. „Aber ich glaube nicht, daß wir dazu in der Lage sind. Ich bin sicher, daß sich die Impulse sofort wieder verstärken und uns beherrschen würden,
kaum daß wir den ersten Schritt auf dem Weg zur Polizei getan hätten.“ „Aber vielleicht sollten wir es doch versuchen“, meinte Kerima. „Wenn wir sagen, daß wir unter Zwang gehandelt haben, wird man der Sache nachgehen. Man wird unsere Transplantate einer genaueren Überprüfung unterziehen und sie durch andere ersetzen, wenn man…“ Swart 70 lachte. Als er ihren verständnislosen Blick bemerkte, erklärte er: „Du vergißt, daß ich zu siebzig Prozent aus Transplantaten bestehe. Aber bestimmt sind sie nicht alle präpariert, sonst hätte ich die fremden Impulse schon vor Jahren gespürt. Nein, ich mache nur die Niere, die man mir zuletzt in der Guerrigha-Klinik eingepflanzt hat, für meinen Zustand verantwortlich. Wenn ich könnte, würde ich sie mir aus dem Leibe reißen!“ „Swart!“ rief Kerima entsetzt. Da läutete die Türglocke, und eine gedämpfte Stimme drang zu ihnen in die Wohnung. „Kerima, mach auf. Ich bin es, Bewin. Ich bin gekommen, um dir zu helfen!“ * Kerima erstarrte. Ihre Hilfesuchenden Blicke wanderten zu Swart 70. Dieser lächelte bitter. „Wie kann er dir helfen!“ murmelte er dann. Kerima rührte sich nicht vom Fleck. Die fremden Impulse verstärkten sich, lähmten ihren Willen und suggerierten ihr ein: Gib dich, nicht zu erkennen, Kerima! „Ich werde ihm nicht öffnen“, sagte sie entschlossen. Wieder erklang die Türglocke, und Bewin rief: „öffne die Tür, Kerima. Ich weiß, daß du zu Hause bist. Laß mich herein.“ Kerima schlich sich lautlos zur Tür. Sie hörte nun auch andere Geräusche auf dem Gang. Eine Frauenstimme, die sie unschwer als die ihrer Nachbarin Frau Domeß erkannte, sagte: „Sie muß drinnen sein, denn ich habe sie nicht fortgehen sehen. Aber sie wird Ihnen bestimmt nicht öffnen, Herr Valanta!“ „Warum sollte sie es nicht tun?“ „Weil sie nicht allein ist. Als ich heute Morgen auf die Terrasse
ging und zufällig über die Begrenzungsmauer blickte, habe ich bei Kerima einen Mann gesehen…“ „Falsche Schlange!“ sagte Kerima wütend. Sie zog sich langsam aus dem Flur ins Wohnzimmer zurück. Swart 70 war verschwunden. Sie durchsuchte alle Räume und fand ihn auf der Terrasse. Er neigte sich über die Brüstung und starrte in die Tiefe. Sie rannte zu ihm und zog ihn ins Wohnzimmer zurück. „Willst du, daß dich alle sehen können?“ herrschte sie ihn an. „Ich wollte nur nachschauen, wie hoch deine Wohnung liegt“, entgegnete er ruhig. „Zwanzig Meter sind es bestimmt. Einen Sturz aus dieser Höhe würde kein Mensch überleben!“ „Was redest du da!“ fuhr sie ihn an. „Du wolltest doch nicht hinunterspringen? So leicht kannst du es dir nicht machen, Swart!“ Er nickte. „Du hast Recht. So leicht werde ich es mir auch nicht machen. Ich kann nicht meinen gesunden Körper zerstören, nur weil ein Organ krank ist. Besser ist es, das kranke Organ zu eliminieren.“ „Hör auf damit, Swart!“ Er fuhr unbeirrbar fort: „Du hast es ungleich besser als ich, Kerima. Eine Niere kann man sich nicht selbst herausoperieren, aber sich selbst einen Arm zu amputieren, ist ganz leicht…“ Sie wich entsetzt vor ihm zurück. Er hatte sich in den letzten Minuten stark verändert. Plötzlich war er ihr so fremd, als sähe sie ihn in diesem Moment zum ersten Mal. „Es ist nichts dabei, Kerima“, sagte er, während er sich ihr näherte. „Ich habe es am eigenen Leib erfahren…“ Kerima schrie. Sie war bis an die Wand zurückgewichen. Jetzt konnte sie nicht mehr weiter. Als sie nach links ausweichen wollte, schnitt ihr Swart 70 den Weg ab und trieb sie wieder zurück. „Bewin!“ schrie sie. „Hilf mir! Bewin, zu Hilfe!“ Bei der Tür entstand ein Krachen und Poltern, als jemand von draußen dagegen anrannte. Das schien Swart 70 zur Besinnung zu bringen. Er ließ die Schultern hängen und wandte sich von ihr ab. „Warum soll ich dich zu deinem Glück zwingen“, sagte er. „Du mußt mit deinen Problemen selbst fertig werden, und ich werde versuchen, die meinen zu lösen.“ Bewin rannte wieder gegen die Tür. Kerima überlegte sich, ob sie
ihm öffnen sollte. Aber da ihr von Swart 70 keine Gefahr mehr drohte, schreckte sie vor diesem Schritt zurück. Sie wollte nicht, daß Bewin sie in diesem Zustand sah. Vor ihrer Tür mußten sich nun schon mehrere Personen versammelt haben. Schritte waren zu hören, Stimmen schwirrten durcheinander. „Wir alle haben schon längst gewußt, daß hier irgend etwas faul ist. Vorletzte Nacht…“ „Die Wände sind ja angeblich schalldicht, und man hört sonst auch – nichts. Aber in dieser Nacht…“ „Es hörte sich an, als würde jemand aus den Möbeln Kleinholz machen.“ „Ich war nahe daran, bei der Polizei Anzeige zu erstatten. Aber da wir wissen, daß Fräulein Prosnerim einen soliden Lebenswandel führt, habe ich davon Abstand genommen.“ „Trotzdem – irgend etwas muß geschehen!“ „Vielleicht wäre es doch besser, die Polizei zu verständigen. Man weiß ja nicht…“ „Schon geschehen!“ Kerima verstand diese Worte ganz deutlich. Irgendjemand hatte die Polizei alarmiert! Die suggestiven Impulse wurden wieder stärker. Sie mußte ihre ganze Willenskraft aufbieten, um sich von ihnen nicht unterkriegen zu lassen. „Swart! Polizei!“ Sie stieß fast mit ihm zusammen, als er aus dem Badezimmer kam. „Swart, sie haben die Polizei alarmiert!“ Er lächelte belustigt. „Mir macht das nichts mehr aus. Ich weiß mir selbst zu helfen.“ Als er es sagte, war in seinen Augen ein irrer Glanz. Er hielt irgend etwas in der Hand und ging auf die Terrasse hinaus. Gleich darauf kam er wieder zurück und verschwand in der Küche. Mit dem Impulsstrahler in der Hand begab er sich dann endgültig auf die Terrasse. „Swart, was hast du vor?“ fragte sie besorgt. „Ich werde mir selbst helfen“, sagte er mit zitternder Stimme. Er hatte sich auf der Terrasse niedergehockt und entledigte sich nun seines Hemdes. Sein nackter Oberkörper war schweißbedeckt. Er legte den Impulsstrahler vor sich hin und hob eines der
Injektionspflaster auf, die er sich aus dem Badezimmer geholt hatte. An den gelb-roten Streifen erkannte Kerima, daß es sich um schmerzstillende Injektionen handelte. „Was tust du da!“ rief sie entsetzt, als er sich sechs schmerzstillende Injektionspflaster in Höhe des Bauches gegen den Leib preßte. „Jetzt bin ich gegen alle Schmerzen immun“, sagte er und hieb sich mit aller Wucht die Faust gegen den Bauch. „Was das werden soll? Eine Operation – oder nur ein Harakiri. Das wird sich zeigen.“ Er hob den Impulsstrahler auf und richtete ihn gegen seinen Bauch. „Es tut gar nicht weh“, sagte er dabei. Kerima wandte sich ab, als sie sah, wie sich der Energiestrahl in Swarts Körper fraß. Blut sprudelte hervor, über seine Lippen kam ein Röcheln. „Gleich ist es vorbei.“ Kerima wurde übel. Dennoch wandte sie sich zur Terrasse zurück, als von dort eine Reihe seltsamer Geräusche kamen. Sie sah, wie Swart 70 sich erhoben hatte. Er stand taumelnd da, mit der Rechten den Impulsstrahler umklammert und gegen seinen Bauch gerichtet, mit der anderen Hand hielt er verzweifelt die große Wunde zusammen. Für die Bruchteile von Sekunden sah sie seine glühenden Augen auf sich gerichtet, dann blickte er an seinem Körper hinunter. „Die Operation ist noch nicht beendet…“, stammelte er mit gurgelnder Stimme. Er drückte den Impulsstrahler wieder ab. Diesmal erlosch der Energiestrahl nicht wieder, denn sein Daumen hatte den Sicherungsflügel auf Dauerfeuer umgelegt. Kerima sah, wie sich die Energie blitzförmig über seinen nackten Oberkörper fraß. Swart 70 verlor den Halt, er taumelte auf die Abgrenzungsmauer der Terrasse zu, beugte sich weiter über sie… Plötzlich waren seine Beine in der Luft, sein Körper verschwand in der Tiefe. Kerima hatte ein Stadium erreicht, in dem alle Schrecken von ihr abprallten. Sie war abgestumpft, unempfänglich für alle äußeren Eindrücke. Es gab nur eine unendliche Leere. Viel Zeit verging, ohne daß sie sich vom Fleck rührte, ohne daß sie die Geräusche und Stimmen aus dem Gang oder ihre nähere
Umgebung wahrnahm. Ihr Geist schien gebrochen. Erst als die Polizeisirenen ertönten, kam wieder Leben in sie. Ihre innere Stimme, die sie nicht als die fremden Suggestivimpulse erkannte, sagte ihr, daß sie nun aus all ihren Erlebnissen die Konsequenzen ziehen mußte. Die Lethargie fiel augenblicklich von ihr ab. Sie focht in ihrem Innern einen unerbittlichen Kampf gegen die fremden Befehle und befand sich zudem noch in einem ständigen Widerstreit mit ihren eigenen Gefühlen. Du darfst dich nicht ergeben. Kämpfe! Du darfst der Polizei nicht lebend in die Hände fallen! Kämpfe um dein Leben, oder zerstöre es! Heile deine Krankheit. Dein rechter Arm ist krank. Swart 70 hat dir den Weg gewiesen, das Übel an der Wurzel zu packen! Kerima fand sich plötzlich in der Küche wieder. Sie nahm den Impulsstrahler an sich und ging damit ins Bad. In ihrer Hausapotheke waren noch drei schmerzstillende Injektionspflaster, die sie sich knapp über der Beuge gegen den rechten Oberarm preßte. Wenige Sekunden später war der rechte Arm wie tot. Aber die Suggestivimpulse wurden dadurch nicht schwächer. „Ich gehe den Weg, den du mir gezeigt hast, Swart“, murmelte sie mit brüchiger Stimme und setzte den Impulsstrahler an ihren rechten Arm.
14. „Der Mann hat sich aus dem Fenster gestürzt!“ rief jemand von unten. „Er muß schon tot gewesen sein, bevor er auf dem Gehweg aufprallte. Irgendjemand hat ihn mit einer Strahlenwaffe furchtbar zugerichtet.“ Bewin Valanta hämmerte verzweifelt gegen Kerimas Wohnungstür. Er war schon unzählige Male dagegen angerannt, ohne daß die Tür nachgegeben hätte. „Die Polizei ist schon da!“ Bewin hörte die Sirenen. „Ich werde der Polizei den Nachschlüssel übergeben“, sagte Frau Domeß hinter Bewin.
Er wirbelte zu ihr herum. „Sie haben einen Schlüssel zu Kerimas Wohnung?“ fragte er. „Wieso haben Sie ihn mir nicht schon längst ausgehändigt?“ „Ich konnte es nicht verantworten“, rechtfertigte sich die Nachbarin. „Wenn Fräulein Prosnerim Ihren Besuch gewünscht hätte, hätte sie Sie schon längst hereingelassen. Bei der Polizei ist das etwas anderes…“ Bewin entriß der Frau den Schlüssel. Seine Hände zitterten so sehr, daß es eine Weile dauerte, bis er ihn ins Schloß einführen konnte. Als die Tür aufsprang, stürzte er wie ein Besessener in die Wohnung. „Kerima!“ Er mußte sich erst mühevoll seinen Weg durch die Trümmer bahnen, die sich im Vorzimmer türmten. Im Wohnzimmer bot sich ihm das gleiche Bild sinnloser Zerstörung. Es sah aus, als hätte hier ein Wahnsinniger getobt. „Kerima!“ Bewin mußte das Schlimmste befürchten. Er rannte in die Küche und dann, als er sie dort nicht fand, auf die Terrasse hinaus. Er warf nur einen Blick durch die Tür, dann kehrte er wieder um. In diesem Moment sah er sie im Badezimmer. Sie lehnte an der Wand und richtete eine Strahlenwaffe gegen ihren rechten Unterarm, der blutüberströmt war. „Kerima!“ Sie gewahrte ihn erst jetzt. Als sie ihm entgegenblickte, trat ein gehetzter Ausdruck auf ihr Gesicht. Sie schrie auf und richtete die Waffe gegen ihn. Er hätte nie geglaubt, daß sie auf ihn schießen würde, deshalb dachte er auch nicht daran, in Deckung zu gehen. Nur der Umstand, daß er über ein Hindernis strauchelte und zu Boden stürzte, rettete ihm das Leben. Der Strahlenschuß strich knapp über seinen Kopf hinweg und versengte ihm die Haare. Als er sich von seinem Sturz erholt hatte und aufblickte, sah er Kerima aus dem Bad in den Flur flüchten. Auf dem Gang erhob sich ein hysterisches Geschrei, als die dort versammelten Hausbewohner Kerima mit der schußbereiten Waffe heranstürmen sahen. Sie bot einen furchtbaren Anblick. Das Haar hing in wirren
Strähnen und umrahmte das totenblasse Gesicht mit den tief in den Höhlen liegenden, in einem irren Glanz leuchtenden Augen. Die blutige Rechte hing schlaff von ihrer Seite. Die Menschen auf dem Gang stoben in wilder Panik auseinander. „Nicht schießen, Kerima!“ rief Bewin verzweifelt. Er raffte sich auf und folgte ihr in das Stiegenhaus. Als er die Wohnung verließ, erkannte er an den verkohlten und geschmolzenen Flecken an den Wänden, daß Kerima von ihrer Schußwaffe Gebrauch gemacht hatte. Aber glücklicherweise schien sie niemanden getroffen zu haben. Dafür führte eine Blutspur die Treppe hinauf in das Obergeschoß. Das Blut mußte von Kerima stammen. Ohne lange zu überlegen, hastete er die Treppe hinauf. Zwei Etagen höher hatte er sie fast eingeholt. Sie erreichte gerade den oberen Treppenabsatz. Als sie ihn erblickte, stieß sie einen unartikulierten Schrei aus und richtete die Waffe auf ihn. Diesmal brachte er sich rechtzeitig in Sicherheit, so daß der Energiestrahl sein Ziel verfehlte. Was war nur in Kerima gefahren, das sie auf ihn schoß? Erkannte sie ihn nicht? Hielt sie ihn für einen Fremden – vielleicht für einen Feind, den sie tödlich haßte? Der Streit, den sie miteinander gehabt hatten, konnte doch nicht die Ursache dafür sein, daß sie plötzlich Amok lief. Diese Gedanken quälten Bewin, während er Kerima Etage um Etage zum Dach hinauf folgte. * Sie erreichte die Tür und wollte in die Dachgarage laufen, als sie den Uniformierten entdeckte. Sie eröffnete sofort das Feuer auf ihn und brachte sich dann mit zwei großen Sprüngen hinter einem abgestellten Gleiter in Deckung. Es standen nur einige Luftfahrzeuge in der Garage, weil um diese Tageszeit die meisten Mieter ihrer Arbeit nachgingen. Kerima blickte vorsichtig hinter ihrer Deckung hervor und entdeckte insgesamt vier Polizisten, die hinter Fahrzeugen und Pfeilern Deckung gesucht hatten. Als sie ihren Kopf zu weit hob, wurde sofort das Feuer auf sie eröffnet.
Aber es blitzte kein Mündungsfeuer auf. Das zeigte Kerima, daß die Polizisten nur Paralysatoren einsetzten. Man wollte sie lebend haben! Sie lachte grimmig. Lieber wollte sie sterben, als der Polizei lebend in die Hände zu fallen. Aber noch dachte sie nicht an Aufgabe. Mit vier Gegnern konnte sie es jederzeit aufnehmen. Ihr war alles egal, sie hatte nichts zu verlieren. In ihrem Rücken war ein Geräusch. Sie befürchtete schon, daß sich die Polizisten von hinten an sie angeschlichen hatten. Doch als sie herumwirbelte, sah sie nur einen Mann in Zivil. Bewin! Wie sie ihn haßte! Sie wußte nicht, wieso das so war, aber darauf kam es auch nicht mehr an. Sie schoß ohne Zögern auf ihn, traf ihn jedoch nicht, weil er sich sofort in Sicherheit brachte. Kerima erwog wieder ihre Fluchtchancen. Sie waren gar nicht so schlecht – obwohl die Polizisten sie von allen Seiten umzingelt hatten und vor der Garagenausfahrt ein gepanzerter Gleiter geparkt war. Dieser Gleiter war das größte Hindernis. Aber sie war eine ausgezeichnete Pilotin, so daß sie es sich ohne weiteres zutraute, mit einem flachen Gleitermodell durch die Lücke hindurchzustoßen, die zwischen dem Polizeigleiter und dem oberen Abschluß des Garagentores klaffte. Der freie Raum betrug gut eineinhalb Meter. Kerima sah zehn Meter von sich entfernt einen abgestellten Gleiter, der ihren Zwecken entsprach. Es war ein schnittiges Sportmodell, höchstens 1,40 Meter hoch. Sie wartete, bis sich einer der Polizisten aus seiner Deckung wagte, dann eröffnete sie das Feuer auf ihn. Er tauchte sofort wieder unter. Kerima feuerte daraufhin ungezielte Salven in jene Richtungen, in denen sie die anderen Beamten vermutete, und setzte sich gleichzeitig in Bewegung. Sie hatte schon mehr als die Hälfte zurückgelegt, als sie in ihrem linken Bein plötzlich einen Schmerz wie von tausend Nadeln verspürte. Obwohl das paralysierte Bein nun völlig gefühllos war, humpelte sie weiter auf ihr Ziel zu. Noch zwei Schritte… noch einen – sie hatte den Sportgleiter erreicht und riß die Tür auf. Bevor sie sich in das Fahrzeug fallen lassen konnte, traf sie der zweite Paralysestrahl. Auf einmal waren
die pochenden Schmerzen in ihrem rechten Arm wie weggeblasen. Sie lächelte verzerrt. Die Polizisten hatten ihr nur einen Gefallen getan, indem sie ihre Rechte, die sie sich in einem Anfall von Sinnesverwirrung hatte amputieren wollen, paralysierten. Dadurch hatte sie keine Schmerzen mehr und konnte sich besser auf ihr Vorhaben konzentrieren. Zu ihrem Glück steckte der Starterschlüssel. Sie brauchte ihn nur umzudrehen, um den Gleiter in Betrieb nehmen zu können. Als die Turbine aufheulte und der Gleiter auf das Garagentor zurollte, kamen die Polizisten aus ihrer Deckung. Aber das störte Kerima nicht, denn in der Pilotenkanzel war sie vor ihren Paralysestrahlen sicher. Sie schoß mit halsbrecherischer Geschwindigkeit auf die Garagenausfahrt zu und hob erst im letzten Moment vom Boden ab. Sie hatte den Zeitpunkt richtig abgeschätzt und war überzeugt, sicher durch die Lücke über dem Polizeigleiter stoßen zu können. Doch da kam es zu einem Zwischenfall, mit dem sie nicht gerechnet hatte. Die Turbine ihres Gleiters arbeitete zwar auf Hochtouren, dennoch wurde er immer langsamer. Es war als sei er in ein Kraftfeld geraten, das im Bereich des Garagentors wirksam war und die gesamte Antriebsenergie absorbierte. Kerima versuchte noch einmal, indem sie alles aus dem Gleiter herausholte, die Barriere zu durchbrechen. Aber das EnergieAbsorberfeld war zu stark. Ihr Gleiter schien für einen Moment über dem Boden zu schweben, dann sackte er abrupt ab und landete hart. Da wußte Kerima, daß alles verloren war. Sie konnte nicht mehr fliehen, also mußte sie Selbstmord begehen, um nicht ihren Feinden lebend in die Hände zu fallen. Kaum waren die Erschütterungen im Gleiter abgeklungen, als sie ihren Impulsstrahler hob und in den Mund schob. Bevor sie jedoch abdrücken konnte, hatte einer der herbeistürmenden Polizisten die Tür aufgerissen und hieb ihr mit einem wuchtigen Faustschlag die Waffe aus der Hand. Gleichzeitig paralysierte er sie mit einem breit gefächerten Lähmstrahl, um ihren Widerstand endgültig zu brechen. * Bewin Valanta hatte die Geschehnisse in der Dachgarage aus
seinem Versteck verfolgt. Als Kerima mit dem Gleiter abstürzte, lief er in die Garage hinaus. Er kam jedoch nicht weit. „Halt! Stehen bleiben, oder ich schieße!“ Bewin sah auf einen Polizisten mit schußbereitem Paralysator auf sich zukommen. Er wurde langsamer, ohne jedoch die Hände zu heben. Er nahm die Drohung des Polizisten nicht ernst, weil er meinte, seine Unschuld leicht beweisen zu können. „Lassen Sie mich vorbei. Ich muß zu meiner Verlobten“, schnauzte er den übereifrigen Polizisten an. „Ah, Sie gehören zu der Terroristin“, sagte der Polizist. „Dann haben wir ja einen guten Fang gemacht. Keine verdächtige Bewegung! Stellen Sie sich mit dem Gesicht zur Wand, und heben Sie die Hände über den Kopf!“ Langsam begriff Bewin, daß der Polizist es ernst meinte. Er kam der Aufforderung nach, weil er keine Lust hatte, sich paralysieren zu lassen. „Sie sind im Irrtum, wenn Sie glauben…“, versuchte er den Polizisten aufzuklären. Aber dieser schnitt ihm das Wort ab. „Sie bekommen noch Gelegenheit, sich zu verantworten. Hoffentlich sind Sie beim Verhör auch so gesprächig wie jetzt!“ Bewin spürte, wie er von hinten abgetastet wurde. „Sie werden keine Waffen bei mir finden“, sagte er zornig. „Verstehen Sie denn nicht, daß ich nur meiner Verlobten zu Hilfe kommen wollte, als sie plötzlich durchdrehte!“ „Mund halten!“ Bewin fühlte den Lauf einer Waffe in der Seite und resignierte. Er wagte es nicht einmal mehr, den Kopf zu wenden. Dennoch sah er aus den Augenwinkeln, wie ein Rettungsgleiter mit eingeschaltetem Blaulicht auf dem Dach landete. Jemand, wahrscheinlich Kerima, wurde auf einer Bahre im Rettungsgleiter verfrachtet, der daraufhin sofort startete. Schritte mehrerer Personen näherten sich. „Was ist mit dem da?“ erkundigte sich jemand. „Er ist der Komplize des Mädchens“, antwortete der Polizist, der Bewin angehalten hatte. „Er will mit ihrer Organisation nichts zu tun haben. Bewaffnet war er jedenfalls nicht.“
„Schafft ihn ins Präsidium“, sagte der Hinzugekommene. „Ich werde ihn mir später vornehmen.“ Die Schritte entfernten sich wieder. „Los, mitkommen“, sagte der Polizist und stieß Bewin vor sich her zu dem vor der Garage geparkten Panzergleiter. Bewin fluchte und drohte, sich über diese Behandlung beim Polizeipräsidenten zu beschweren. Aber das half ihm nichts. Man behandelte ihn wie einen Schwerverbrecher. An Bord des Polizeigleiters verpaßte man ihm Energie-Handschellen, zwei Polizisten mit schußbereiten Paralysatoren flankierten ihn während des Fluges. Als sie auf dem Dach des Polizeipräsidiums landeten, bekam er zwei Bewacher in Zivil, die mit ihm im Antigrav-Lift in eine der unteren Etagen fuhren. In einem mit Schränken und Schreibtischen überladenen Büro wurden seine Personalien zu Protokoll genommen. Dann wurde er dem Mann vorgeführt, dessen Stimme er schon in der Dachgarage von Kerimas Wohnung gehört hatte und der versprach, ihn sich später „vorzunehmen“. Er war ein älterer, mürrisch wirkender Mann, der sich als Polizeimajor Rongald vorstellte. An seiner Seite war ein viel jüngerer Beamter in Zivil, der jedoch nicht weniger Autorität ausstrahlte. Seinen Namen erfuhr Bewin später – er hieß Bjo Gennel. „Nun, Herr Valanta“, begann Rongald mit dem Verhör. „Erzählen Sie uns einmal, wie Sie Fräulein Prosnerim kennen gelernt haben und wie lange Sie sie schon kennen. Aber halten Sie sich bitte kurz.“ „Ich verstehe überhaupt nicht, was das alles soll“, begehrte Bewin auf. „Ich verlange eine Erklärung dafür, warum Sie mich wie einen Verbrecher behandeln. Ich habe nichts getan!“ Rongald seufzte. „Glauben Sie mir, daß es für uns alle viel einfacher ist, wenn Sie alle unsere Fragen beantworten. Wenn Sie unschuldig sind, dann haben Sie auch nichts zu befürchten.“ Bewin faßte zu dem Polizeimajor Vertrauen und beantwortete von da an seine Fragen bereitwillig, wenngleich er aus ihnen nicht recht klug wurde. Man fragte ihn nach seiner politischen Einstellung, wollte wissen, ob er Mitglied bei einem Verein oder einer Organisation sei. Bewin mußte das alles verneinen. Er konnte den Beamten auch nicht
weiterhelfen, als diese ihn nach Kerimas Bekanntenkreis befragten. Er antwortete wahrheitsgetreu, daß sie nach ihrem Säureunfall sehr zurückgezogen gelebt und, außer zu ihm, kaum Kontakt zu anderen Menschen gepflegt hatte. „Sind Sie dessen sicher?“ bohrte Bjo Gennel weiter. „Hat Ihnen Ihre Verlobte nicht andeutungsweise zu verstehen gegeben, daß sie Verbindung zu einer militanten Organisation gehabt hat?“ „Kerima soll Mitglied einer militanten Organisation gewesen sein?“ fragte Bewin ungläubig. „Einfach lächerlich. Sie war politisch überhaupt nicht engagiert.“ „Haben Sie schon von den Panithern gehört?“ „Ja, ich glaube. Aber wenn Sie annehmen, daß Kerima…“ „Es liegen schwere Verdachtsmomente gegen sie vor“, sagte Bjo Gennel. Er betrachtete Bewin aufmerksam, als er fortfuhr: „Entweder Sie verstehen es, uns zu täuschen, oder aber Sie sind tatsächlich so unwissend, wie Sie tun. In diesem Fall dürfte es Ihnen entgangen sein, daß Ihre Verlobte ein Doppelleben geführt hat.“ „Kerima?“ entfuhr es Bewin ungläubig. „Das kann ich nicht glauben. Ich kenne sie ziemlich gut. Welche Art von Doppelleben meinen Sie denn eigentlich?“ „Während sie Ihnen eine erbarmungswürdige Invalidin vorspielte, nahm sie gleichzeitig an Terroraktionen teil.“ Bewin sprang auf. „Das ist eine infame Lüge.“ Rongald beschwichtigte ihn mit einer Handbewegung. „Wir haben eindeutige Beweise, daß sie zumindest an dem Überfall auf das Blaustern-Gebäude teilgenommen hat – und zwar aktiv. Sie wissen, daß es dabei Menschenopfer gegeben hat?“ Bewin nickte. Er war ganz durcheinander. Die ungeheuerlichen Anschuldigungen, die gegen Kerima vorgebracht wurden, die Erwähnung der Panither-Organisation, zu der sie Verbindung haben sollte, das alles war so unglaublich und widersinnig – einfach unvorstellbar, daß es die Wahrheit sein sollte. Er konnte es nicht glauben. In seinem Kopf begann sich alles zu drehen, er konnte keinen klaren Gedanken fassen. „Wie stellt sich Kerima zu diesen unfaßbaren Beschuldigungen?“ fragte er. „Es war uns noch nicht möglich, sie zu befragen“, erklärte
Rongald. „Sie wachte zwar bereits aus der Paralyse auf, aber sie steht immer noch unter Schock. Sie wurde in eine Nervenheilanstalt eingeliefert. Es wird einige Tage dauern, bis sie wieder vernehmungsfähig ist.“ „Ich bin sicher, daß Kerima ihre Unschuld beweisen kann“, sagte Bewin voll Überzeugung. „Das hoffen wir auch“, meinte Bjo Gennel. Er erhob sich. „Das wäre im Augenblick alles, Herr Valanta. Sie können gehen. Halten Sie sich aber zu unserer Verfügung. Es ist möglich, daß wir noch einige Fragen an Sie haben.“
15. „Ich habe diese Versammlung nicht einberufen, weil ich die Lage als kritisch erachte“, sagte Jalzaar Awrusch, der Stellvertreter des regierenden Obmanns von Plophos, und fixierte die Anwesenden, „sondern vornehmlich deshalb, um an Ihr Gewissen zu appellieren, meine Herren. Ich gebe zu, daß wir vor einigen Problemen stehen, aber es geht nicht an, daß Panikmacher unter Ihnen diese Angelegenheit zu sehr aufbauschen. Von einer ernsthaften Bedrohung für Plophos kann jedenfalls nicht die Rede sein!“ Es entstand eine kurze Pause unter den fünfzehn Politikern, die Awruschs Aufforderung zu einer Lagebesprechung gefolgt waren. Sie glaubten, daß der Obmann-Stellvertreter noch etwas hinzuzufügen habe. Als dies nicht der Fall war, meldete sich ein kleinerer, dicklicher Mann mir einem schütteren Haarkranz zu Wort. „Ich nehme an, daß die Vorwürfe, Panikstimmung gemacht zu haben, unter anderem auch an meine Adresse gehen“, sagte er. „Deshalb möchte ich dazu Stellung nehmen. Wir alle haben die Entwicklung der Organbanken nicht ohne Besorgnis beobachtet. Die Organverpflanzung könnte ein Segen für die Menschheit sein, aber man muß eine starke Kontrolle ausüben, um es zu keinen nachteiligen Auswüchsen kommen zu lassen. Aber gerade das ist geschehen. Irgendwelche verbrecherischen Mächte haben sich der Organbanken bedient, um aus den Patienten willenlose Werkzeuge für ihre dunklen Pläne zu machen. Ich finde, wir sollten die letzten Ereignisse zum Vorwand nehmen, um die Organbanken unter die
Kontrolle der Regierung zu bekommen. Ich gebe zu, daß ich die Zwischenfälle mit Patienten der Organbanken in einem düsteren Licht gezeichnet habe. Aber nur aus dem vorhin erwähnten Grund. Wir sollten die Chance ergreifen, um die Organbanken unter unsere Kontrolle zu stellen.“ Jalzaar Awrusch lächelte. „Sie sprechen mir aus dem Herzen, aber leider hat es nichts mit unseren eigentlichen Problemen zu tun. Die staatliche Kontrolle der Organbanken steht nicht auf der Tagesordnung. Uns geht es in erster Linie darum, die Extremistenorganisation zu zerschlagen, die für den Überfall auf das Blaustern-Gebäude verantwortlich ist.“ „Ist der Zusammenhang mit den Organbanken und diesen Terroristen nicht erwiesen?“ rief der Sprecher von vorhin. „Die Ermittlungen der Staatspolizei haben doch ergeben, daß es sich bei den Terroristen um Patienten von Organbanken handelt, die erst vor kurzem entlassen wurden. Also sollten wir unser Hauptaugenmerk auf die Organbanken konzentrieren.“ „Nicht unbedingt“, erwiderte Jalzaar Awrusch. „Es stimmt zwar, daß alle Terroristen, die wir ausgeforscht haben, Organverpflanzungen hinter sich haben. Aber daraus läßt sich keine Schuld der Organbanken ableiten. Es ist sogar wahrscheinlicher, daß sich die Verbrecherorganisation nur der Organbanken bedient hat. So scheint es zumindest beim augenblicklichen Stand der Ermittlungen.“ Ein großer, hagerer Mann räusperte sich, um die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. „Ich befürchte trotz allem, daß Sie die Lage zu optimistisch sehen, Awrusch“, sagte er. „Zugegeben, der Überfall auf das BlausternGebäude ist, weltpolitisch gesehen, nur ein unbedeutender Zwischenfall. Aber es könnte der Auftakt zu weiteren und schwerwiegenderen Terroraktionen sein. Wir müssen gewappnet sein, wenn die Terrorwelle über uns kommt.“ „Es gibt keine Anzeichen für weitere Terroraktionen“, entgegnete Awrusch. „Natürlich rechnen wir mit weiteren Zwischenfällen, aber sie werden sich in Grenzen halten.“ „Und warum sind Sie dessen so sicher, Awrusch?“ „Rein logische Überlegungen haben mich zu dieser Überzeugung gebracht“, antwortete Awrusch. „Die Staatspolizei hat in allen Jahren
die radikalen Parteien und die illegalen Extremistenorganisationen beobachtet. Ich kann Ihnen deshalb versichern, daß es keine politische Organisation auf Plophos gibt, die einen Sturz der Regierung anstrebt und auch stark genug ist, ihn zu verwirklichen. Sie sehen also, daß es an den Voraussetzungen für eine ernsthafte Bedrohung fehlt.“ „Und was ist mit den Panithern?“ fragte ein anderer Politiker. Awrusch lächelte belustigt. „Es ist in den letzten Jahren geradezu Mode geworden, für alle unerklärlichen Geschehnisse die Panither verantwortlich zu machen. Ich schließe die Möglichkeit nicht aus, daß diese radikalen Revolutionäre hinter dem Überfall stecken. Ich würde den Panithern jede Gemeinheit zutrauen. Aber wenn sie hinter dieser Terroraktion stecken, dann darf erst recht nicht von einer ernsthaften Bedrohung gesprochen werden.“ Awrusch hob eine Aktenmappe in die Höhe. „Hier stehen alle Daten über die Panither. Wir wissen über ihre Aktivitäten Bescheid, kennen etliche ihrer Treffpunkte, die ungefähre Zahl ihrer Mitglieder – und nicht einmal ihr Funkkode, den sie ständig ändern, bleibt uns lange verborgen. Vielleicht werden uns die Panither in einigen Jahrzehnten gefährlich, im Augenblick sind sie uns allerdings höchstens nur lästig. Wir können uns gar nichts lieber wünschen, als daß sie die Terroraktionen inszeniert haben. Denn dann kann dieser Fall bald als gelöst zu den Akten gelegt werden.“ „Mit anderen Worten“, sagte der Politiker, der zu Awruschs Linken saß, „Ihre Leute sind in den Ermittlungen noch nicht weitergekommen!“ Awrusch bekam einen roten Kopf. Es mißfiel ihm außerordentlich, daß ausgerechnet jene Männer, die er zu seinen Vertrauten zählte, die schwachen Punkte in dem vorliegenden Fall so schonungslos aufdeckten. „Wir stehen erst am Anfang“, erklärte Awrusch. „Aber ich bin sicher, daß es nicht mehr lange dauern wird, bis wir die Terroristengruppe zerschlagen haben. Es besteht überhaupt kein Grund zur Panik.“ „Vielleicht ist aber zu großer Optimismus doch nicht angebracht“, meinte der Politiker links von ihm stirnrunzelnd. „Allein die Art, wie
die Terroristen – und damit meine ich die Fädenzieher im Hintergrund – vorgehen, sollte uns zu denken geben. Wie die Untersuchung ergeben hat, scheinen die vierzehn Saboteure, die das Blaustern-Gebäude stürmten, unter fremdem Einfluß gestanden zu haben. Das zeigte der Fall der Frau aus dem Inquisitenspital deutlich auf. Sie zeigte Symptome völliger Willenlosigkeit. Als sich ihr dann eine Chance zum Selbstmord bot, machte sie ihrem Leben augenblicklich ein Ende. In allen Berichten, die ich eingesehen habe, wird die Möglichkeit erwogen, daß ihr eine Art Selbstvernichtungstrieb einsuggeriert wurde. Wenn das stimmt, dann müssen wir auf alles gefaßt sein. Heute werden anonyme Bürger von den Verbrechern beherrscht, morgen sind es vielleicht schon Politiker in hohen Positionen oder andere einflußreiche Persönlichkeiten. Ich würde an Ihrer Stelle nicht die Verantwortung auf mich nehmen und aus eigener Initiative Entscheidungen fällen, Awrusch.“ „Das finde ich auch, deshalb berate ich mich mit Ihnen, meine Herren“, sagte Awrusch mit leichtem Spott. „Ich würde sogar weitergehen und den Obmann über die Sachlage informieren!“ „Einfach lächerlich“, erwiderte Awrusch gereizt. „Es ist einfach undenkbar, wegen jeder Kleinigkeit Mory Rhodan-Abro nach Plophos zu rufen, um sie entscheiden zu lassen.“ „In diesem Fall wäre es aber gut, sie wenigstens zu informieren“, beharrte der Politiker. „Nein, das werde ich nicht tun“, blieb Awrusch auf seinem Standpunkt. Er blickte sich angriffslustig um. „Sollte noch jemand von Ihnen ähnliche Vorschläge vorzubringen haben, meine Herren, so soll er sie für sich behalten. Ich kann ganz gut darauf verzichten. Ich bin für jede Anregung dankbar. Aber ganz bestimmt werde ich mich der Frau Obmann gegenüber nicht lächerlich machen, indem ich sie wegen einer solchen Lappalie zum Abbruch ihrer Expedition veranlasse. Wenn Sie mir keine fruchtbaren Vorschläge mehr zu unterbreiten haben, dann betrachte ich die Sitzung als geschlossen.“ Ohne abzuwarten, ob noch eine Wortmeldung kam, erhob er sich und verließ den Sitzungssaal. Jalzaar Awrusch nahm die Angelegenheit keineswegs so leicht, wie er seinen Mitarbeitern gegenüber getan hatte. Er glaubte
vielmehr, daß er einer großen politischen Verschwörung auf der Spur war. Aber deshalb dachte er nicht daran, Mory Rhodan-Abro zu verständigen. Er wollte den Fall aus eigener Kraft lösen, um Mory Rhodan-Abro bei ihrer Rückkehr nach Plophos den erfolgreichen Abschluß der Aktion melden zu können.
ENDE
Lesen Sie nächste Woche ATLAN Nr. 110: DAS AMOK-TEAM von H. G. Francis. Menschen verlieren ihr eigenes ich – die Befehle des Bösen sind stärker als sie.