MADDRAX DIE DUNKLE ZUKUNFT DER ERDE Band 113
Auszeit von Claudia Kern
Ein König wird kommen. Die Menschen in den Dörf...
15 downloads
480 Views
1MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
MADDRAX DIE DUNKLE ZUKUNFT DER ERDE Band 113
Auszeit von Claudia Kern
Ein König wird kommen. Die Menschen in den Dörfern lauschen den Gerüchten, die Reisende mitbringen. Hundert mal hundert Mann stark ist seine Armee, so heißt es, und die Berge selbst sind zu einer Festung verschmolzen, um ihn bei sich aufzunehmen. Man sagt, der Schlag seines Schwertes fege zehn Krieger hinweg und das Donnern seiner Stimme ließe Feinde auf die Knie sinken. Gerecht soll er sein und klug. Wer in seinem Reich lebt, muss niemals wieder um sein Leben fürchten. In der Nacht, wenn die Menschen auf ihren Schwertern schlafen, träumen sie von diesem Reich und von dem König, der kommen wird. Bald.
WAS BISHER GESCHAH
Am 8. Februar 2012 trifft der Komet »Christopher-Floyd« die Erde. Die Folgen sind verheerend. Die Erdachse verschiebt sich, weite Teile Asiens werden ausradiert, ein Leichentuch aus Staub legt sich um den Planeten... für Jahrhunderte. Nach der Eiszeit hat sich das Antlitz der Erde gewandelt: Mutationen bevölkern die Länder und die Menschheit ist unter dem Einfluss grüner Kristalle aus dem Kometen auf rätselhafte Weise degeneriert. In dieses Szenario verschlägt es den USPiloten Matthew Drax, dessen Staffel beim Kometeneinschlag durch einen Zeitriss ins Jahr 2516 gerät. Nach dem Absturz wird er von Barbaren gerettet, die ihn als Gott »Maddrax« verehren. Zusammen mit der telepathisch begabten Kriegerin Aruula wandert er über eine dunkle, postapokalyptische Erde... Körperlose Wesen, die Daa'muren, kamen damals mit dem Kometen zur Erde und veränderten die irdische Flora und Fauna, um einen Organismus zu erschaffen, der zu ihren Geistern kompatibel ist. Nach unzähligen Mutationen haben sie ihn nun gefunden: eine Echse mit gestaltwandlerischen Fähigkeiten. Auf der Suche nach Verbündeten versorgen Matt & Co. die Technos in Europa und Russland mit einem Serum, das deren Immunschwäche aufhebt. Selbst der Weltrat, skrupelloser Nachfolger der US-Regierung, tritt der Allianz bei. Bisher weiß man nur wenig über die Pläne der Daa'muren. Besser informiert ist ein Mann, den die Aliens in ihrer Gewalt haben: der irre Professor Dr. Smythe. Er kennt ihre Herkunft, einen glutflüssigen Lava-Planeten, und weiß um ihre Fähigkeiten. Sie streben eine Kooperation mit ihm an. Ihrer beider Ziel: die Weltherrschaft! Inzwischen versuchen die Gefährten, die Sippen und Bunker Europas zu einen. Auf den Cyborg Aiko
und die Rebellin Honeybutt müssen sie dabei verzichten: Aikos Gehirn wurde geschädigt, und er wird in Amarillo operiert. Auch der Neo-Barbar Rulfan, Sohn des Prime der Community Salisbury, ist für die Allianz unterwegs. In der Nähe von Köln stößt er dabei auf eine Gruppe Amazonen, nicht ahnend, dass Daa'muren deren Gestalt angenommen haben und ihn mit einem Virus infizieren, der ihn zu ihrem Sklaven macht. Da lässt eine Atom-Explosion den Kratersee erbeben! Aus den Tiefen des Alls kam eine japanische Rakete, die damals »Christopher-Floyd« treffen sollte, zur Erde zurück. Die Detonation auf der Meeresoberfläche kann den Daa'muren zwar kaum schaden, offenbart aber einen überraschenden Effekt: Der Antrieb der Kometen-Raumarche wird für den Bruchteil einer Sekunde reaktiviert! Davon ahnen Matt & Co nichts, als sie in Mailand zwischen kriegerische Händler und Retrologen geraten – Menschen, die die technischen Artefakte der Vergangenheit nicht als Teufelswerk ansehen, sondern sie ergründen wollen. Bei dem Kampf wird Pilot Peter Shaw schwer verletzt; das Team muss die Mission abbrechen und nach London zurückkehren...
Sie sprachen nie, wenn sie sich trafen. Jeden siebten Abend stand Aedda am Rand des heiligen Steinkreises und wartete auf die Lichter, die über die Ebene strichen und ihn ankündigten. Manchmal wartete sie die ganze Nacht, bevor er kam, manchmal war er es, der gegen einen der Steine lehnend auf sie wartete. Er hatte immer etwas dabei. Einen Sack Mehl vielleicht oder eine Stoffrolle oder eine Kiste mit Werkzeug. Er schien zu ahnen, welche Dinge sie am dringendsten benötigte, auch wenn das leicht war, denn wer nichts besaß, benötigte alles. Aedda brachte nur zwei Dinge in diesen Nächten mit: sich selbst und das zusammengerollte Fell eines Kamaulers. Im Winter hatte sie es im Schutz zweier umgestürzter Steine ausgebreitet, jetzt legte sie es in die Mitte des Kreises. Sie wusste, dass es ihm gefiel, wenn die Schatten ihrer Körper mit den Schatten der Steine verschmolzen. Hier auf der Ebene und in der Stadt, die man Saalsburri nannte, kursierten viele Gerüchte über den Mann, mit dem sie alle sieben Tage schlief. Er hatte die Gabe, mit vielen Zungen zu sprechen, aber ob sie ihm von Göttern oder von Dämonen verliehen worden war, wusste niemand. Manche behaupteten, er hätte die Gabe den Göttern gestohlen und die hätten aus Rache seine Seele in Stein verwandelt. Aedda glaubte, dass sie Recht hatten. Aus den Augenwinkeln bemerkte sie zwei weiße Lichtkegel, die über die Landschaft strichen und für Sekunden Gräser, Hecken und einzeln stehende Bäume aus der Dunkelheit rissen. Manchmal stachen die Lichter hoch in den Himmel, so als wollten sie die Götter selbst entdecken. Er kam früher als in den letzten Wochen. Das Brummen des seltsamen Wagens, in dem er reiste, erschreckte sie längst nicht mehr. Anfangs hatte sie das Geräusch mit dem Knurren eines Lupas verwechselt, doch
mittlerweile sah sie dem Fahrzeug gelassen entgegen. Sie wusste, dass ihr keine Gefahr drohte. Nach einer Weile kamen die Lichter so nahe heran, dass Aedda sich abwenden musste, um nicht geblendet zu werden. Das Brummen wurde lauter und erstarb, die Lichter erloschen. Sie hörte, wie etwas klirrte, dann Schritte, die sich durch das hohe Gras auf den Steinring zu bewegten. Sie drehte sich um. Der Mann, den alle Jedduard nannten, obwohl er nicht so hieß, ließ einen Sack von der Schulter ins Gras gleiten. Darin befanden sich mehrere kleine Säcke und Schläuche, in die Symbole eingebrannt waren. Aedda erkannte die Symbole für Salz, Tabak und Schießpulver – Dinge, die sie nicht nur verwenden, sondern vor allem tauschen konnte. Sie nickte zum Dank und zog sich aus. Jedduard war kein brutaler Liebhaber. Seine bis zur Nutzlosigkeit vernarbte rechte Hand strich beinahe gleichgültig über ihre Haut. Er sah sie nicht an, blickte stattdessen zu den Silhouetten ihrer Körper, die sich rhythmisch über die Steine bewegten. Mal verschwanden sie in den Schatten, mal brachen sie aus ihnen hervor wie Fliehende. Als es vorbei war, setzte Jedduard sich neben Aedda und sah stumm in den Himmel. Das Ritual, das in den letzten Monaten entstanden war, verlangte von ihr, den Sack zu nehmen und das Fell zusammenzurollen, aber an diesem Abend konnte sie es nicht einhalten. »Ich werde nicht wiederkommen«, sagte sie. Jedduard schwieg. Wenn ihre Worte ihn überraschten, ließ er sich das nicht anmerken. Seine Stille machte Aedda nervös. »Ich möchte dir danken«, fuhr sie fort. »Ohne deine Großzügigkeit –« Sie wollte ihm die Hand auf den Arm legen, aber er stand auf und ihre Bewegung fiel ins Leere. »Es war keine Großzügigkeit, nur ein Geschäft.« Er sprach ihre Sprache akzentfrei, so als wäre er in einem der Dörfer rund
um Saalsburri aufgewachsen. Sie hatte sich oft gefragt, wie seine Stimme klingen würde, aber die Kälte darin überraschte sie trotzdem. Jedduard setzte sich auf einen umgefallenen Stein und zog seine Stiefel an. »Gehst du weg von hier?«, fragte er ohne großes Interesse. Aedda rollte das Fell zusammen. »Ja. Ich werde nach Westen gehen, um den König zu suchen.« Er sah auf. Die Gleichgültigkeit verschwand aus seinem Gesicht. »Was weißt du über diesen König?« Sie griff nach dem Sack und lud ihn sich über die Schulter. »Nur das, was alle sagen. Dass er uns helfen wird, dass ein neues Zeitalter anbricht... ich möchte dabei sein, wenn es beginnt.« »Sei vorsichtig.« Jedduard blickte über die Ebene in die Nacht. »Es ist gefährlich, allein da draußen unterwegs zu sein.« »Oh, ich werde nicht allein sein.« Sie lächelte. »Das ganze Dorf geht.« * »Ein ganzes Dorf?«, fragte Matthew Drax. Durch die verspiegelten Gläser seiner Sonnenbrille betrachtete er den Marktplatz, der vor ihnen lag. Hölzerne Stände wechselten sich mit einfachen Karren ab, auf denen Händler Frischfleisch, gegerbte Felle und Fässer voller Ale anboten. Die Ruinen von Salisbury Cathedral ragten hinter ihnen wie steinerne Klauen empor. Das helle Blau eines wolkenlosen Himmels schimmerte durch die Fenster. Es war einer der ersten warmen Frühlingstage in Britana, und die meisten Menschen auf dem Marktplatz hatten ihre Felle abgelegt. »Im letzten Monat haben achtzehn Krieger ihren Schwur gebrochen, in diesem dreiundvierzig«, sagte Rulfan. Seine
langen weißen Haare wehten im Wind. »Wenn das so weitergeht, bleibt von unserer Armee nicht viel übrig.« Er trank einen Schluck Ale und lehnte sich auf der Holzbank zurück. Die Taverne, vor der sie in der Sonne saßen, machte an diesem Nachmittag ein gutes Geschäft. Es waren fast nur Männer, die an den langen Tischen saßen, und die meisten von ihnen schienen Krieger zu sein. Matt bemerkte, dass die Unterhaltungen trotz des Alkohols leise geführt wurden. Immer wieder warfen die Männer kurze Blicke zu dem Tisch, an dem er, Aruula und Rulfan saßen. Nur einige dieser Blicke galten Aruula. »Anscheinend wollen uns noch mehr Krieger verlassen«, sagte Matt. Aruula schüttelte den Kopf. »Sie haben doch einen Schwur geleistet. Den können sie nicht einfach brechen, ohne sich zu entehren.« »Da musst du schon Jed fragen«, antwortete Rulfan. »Ich weiß nur, dass unsere Armee täglich kleiner wird.« Matt drehte den Alekrug zwischen seinen Händen. »Und wie läuft es mit Jed?« »Wir haben ihn unter Kontrolle.« Es war die Antwort, die er erwartet und befürchtet hatte. Seit dem Tod seiner Freundin war der ehemals unsichere und freundliche Linguist unberechenbar geworden. Matt hielt ihn für eine Gefahr für sich selbst und andere. Und Jed war beileibe nicht der einzige Fall, der ihm Sorgen machte in letzter Zeit. Sein barbarischer Freund Pieroo zum Beispiel. Nachdem man seine Strahlenkrankheit halbwegs kuriert hatte, war er bei Nacht und Nebel nach Meeraka aufgebrochen, um seine Familie zu suchen. Inzwischen wusste man, dass Samtha und sein kleiner Sohn tot waren – und vermutlich auch alle anderen, die damals in Nuu'ork dem Fallout einer Atombombe ausgesetzt gewesen waren. Wo Pieroo jetzt steckte – niemand wusste es.
Oder Aiko; der Cyborg hatte einen Hirnschaden erlitten und war zusammen mit seiner Freundin Honeybutt in seine Heimatstadt Amarillo gereist, um sich dort einer Operation zu unterziehen. Seitdem hatten sie nichts mehr von den beiden gehört. Matt konnte nur hoffen, dass der Eingriff gelungen und Aiko auf dem Wege der Besserung war. Der aktuelle Sorgenfall betraf den EWAT-Piloten Peter Shaw. In Millan hatte ihn ein rachsüchtiger Nosfera mit einem Elektro-Schocker so schwer verletzt, dass man die Mission abbrechen und ihn sofort zur Basis hatte bringen müssen. Sein rechtes Auge war nicht mehr zu retten gewesen. Jetzt lag Shaw in London auf der Krankenstation, noch immer im kritischen Zustand. Captain Selina McDuncan und Navigator Andrew Farmer waren in seiner Nähe. Matt war froh gewesen, der deprimierenden Stimmung kurzzeitig entkommen zu können, als ihn ein Funkspruch Rulfans aus Salisbury erreichte. Der Sohn des Prime Sir Leonard Gabriel war gerade von einer Mission in Deutschland zurück, bei der er – so viel hatte Matt schon erfahren – eine Barbarin kennen und lieben gelernt hatte. Nun, er gönnte ihm sein Glück aus zweierlei Gründen von ganzem Herzen: Erstens war es wenigstens ein Lichtblick in dieser düsteren Zeit. Und zweitens war damit das Thema Aruula für den Albino wohl endlich und endgültig vom Tisch. Auch Aruula selbst schien darüber erleichtert; insgeheim hatte sie wohl an Rulfans Versprechen gezweifelt, zu akzeptieren, dass sie nur Maddrax liebte und die längst vergangene Liaison mit ihm ein Ausrutscher gewesen war. Rulfan schien Matts Schweigen falsch zu interpretieren. »Ich weiß, dass du gegen Jeds Einsatz bist«, sagte er, »aber wir können nicht auf ihn verzichten. Niemand versteht diese Leute so gut wie er, und wenn wir im Krieg gegen die Daa'muren eine Chance haben wollen, brauchen wir die Unterstützung der Bevölkerung. Allein haben wir nicht genügend Leute, um Häfen und Straßen zu überwachen und die Daa'muren im Fall
einer Invasion aufzuhalten. So brutal es klingt: Wir brauchen Kanonenfutter. Das kriegen wir durch Jed, und solange er diese Leistung bringt, ist es mir egal, ob er den Verstand verloren hat oder nicht.« Es war eine zynische, aber logische Haltung. Im Krieg gegen die Daa'muren mussten sie alle verfügbaren Mittel einsetzen, sonst hatten sie keine Chance. Der Gegner war zu stark und zu fremd. »Und dieser König«, sagte Matt nach einem Moment, »nimmt uns das Kanonenfutter weg« »Richtig«, stimmte Rulfan zu. »Deshalb sollten wir uns so bald wie möglich auf die Suche nach ihm machen.« Matt sah kurz zu Aruula hinüber. »Wir hatten eigentlich vor, nach Wien zu fliegen; dort soll es zu merkwürdigen Vorfällen gekommen sein. Vielleicht stecken unsere außerirdischen Freunde dahinter...?« »Erst sollten wir vor der eigenen Haustür kehren!«, sagte Rulfan bestimmt. »Aber wenn tatsächlich die Daa'muren –« »Das kann sicher ein paar Tage warten!« Rulfans rote Augen blitzten. Offensichtlich maß er der Bedrohung durch diesen ominösen König großes Gewicht bei. »Maddrax, ich bitte dich als Freund, die Expedition zu leiten. Es ist wichtig!« Matt war verblüfft; sowohl von Rulfans ungewohnter Heftigkeit als auch von der Bekräftigung ihrer neu gewonnenen Freundschaft. »Okay«, gab er nach. »Wenn du darauf bestehst... Wann können wir aufbrechen?« Rulfan lehnte sich zurück; er schien erleichtert. »Ich würde vorschlagen, morgen bei Sonnenaufgang, damit ihr das Tageslicht voll ausnützen könnt.« »Ihr?«, fragte Aruula. »Kommst du nicht mit?« »Nein, ich bin anderweitig beschäftigt. In der letzten Zeit hören wir viele Gerüchte über neue Sklavenhändler an der Küste. Darum müssen wir uns kümmern.« Er räusperte sich
nervös. »Da ist aber noch was anderes. Ich habe euch doch von Aunaara erzählt.« Aruula nickte. »Die Frau, die dir in Coellen das Leben gerettet hat.« »Und die jetzt bei mir lebt... eher mit mir. Das neue Leben fällt ihr schwer, und ich glaube, sie würde sich schneller einleben, wenn sie besseren Kontakt zu anderen Menschen hätte und sich nicht nur auf mich beziehen würde.« Matt hob die Augenbrauen, als er die versteckte Frage in Rulfans Worten entdeckte. »Willst du etwa, dass wir sie mitnehmen?« »Warum nicht? Ihr sollt den König doch nur aufspüren, ein paar Informationen einholen und zurückkehren. Das ist in jedem Fall ungefährlicher, als mit mir Sklavenhändler zu jagen.« Er machte eine kurze Pause, bevor er weiter sprach. »Ihr würdet mir einen großen Gefallen tun. Ich verspreche euch, dass es keine Probleme geben wird. Aunaara ist eine gute Schwertkämpferin und wird euch nicht im Weg stehen.« Matt öffnete den Mund, um weitere Bedenken zu äußern, aber Aruula kam ihm zuvor. »Wir sollten sie mitnehmen, Maddrax. Ich weiß, wie schwer es ist, sich in einer fremden Kultur zurechtzufinden. Wenn wir ihr dabei helfen können, sollten wir das tun.« Es fiel Matt schwer, sich diesem Argument zu widersetzen. Außer Aruula konnten wohl nur Wenige nachvollziehen, wie drastisch eine solche Umstellung war. Vielleicht war diese Mission genau das Richtige, um Aunaara besser in die Gemeinschaft einzugliedern. Sie würden einige Tage zusammen im EWAT verbringen, reden, sich kennen lernen. Tagelang mit einem Halbirren und einer Fremden im EWAT eingesperrt, flüsterte eine innere Stimme. Wird bestimmt toll. Matt ignorierte die Stimme. »Ich bin einverstanden.«
Rulfan lächelte. »Danke. Das wird sie...« Er unterbrach sich und nickte in Richtung der Marktstände. »Da ist Aunaara. Wartet einen Moment, dann stelle ich euch vor.« Er verließ den Tisch. Matt sah ihm nach, als er an einigen Karren vorbeiging und eine schlanke dunkelhaarige Frau am Arm berührte. Wie Aruula trug sie ihr Schwert auf dem Rücken. Die Frau drehte sich um und Matt stockte der Atem, als er bemerkte, wie schön sie war. Ihr Gesicht war ebenmäßig und fein geschnitten. Samtschwarze lange Haare rahmten es ein wie ein Gemälde. Rulfan küsste die Frau auf den Mund – länger als es in der Öffentlichkeit schicklich war – und führte sie zurück zum Tisch. »Das ist Aunaara«, sagte er. »Aunaara, das sind Aruula und Maddrax – Matthew Drax –, die Freunde, von denen ich dir erzählt habe.« »Wir haben auch schon ein wenig von dir gehört.« Matt schüttelte ihre Hand. Ihre Haut war warm und glatt. »Es freut mich, Rulfans Freunde kennen zu lernen.« Aunaara lächelte unsicher. Ihr Blick glitt zu Aruula. »Tuma sa feesa«, sagte sie in der Sprache der Wandernden Völker. »Tuma sa feesa«, antwortete Aruula. Sie klang reserviert. Ihre Hilfsbereitschaft schien bei Aunaaras Anblick verpufft zu sein. Eingesperrt im EWAT mit einem Halbirren, einer äußerst attraktiven Fremden und Aruula, meldete sich Matts innere Stimme zurück. Viel Vergnügen. Aunaara sprach Rulfan erst an, als er die Tür seines Quartiers hinter sich schloss. »War es schwierig?«
»Nein. Matthew Drax war anfangs dagegen, dich mitzunehmen, aber Aruula hat ihn überzeugt.« »Gut.« Aunaara warf einen Rucksack auf das Bett und begann zu packen. Sie hatte sich bereits so sehr an ihren menschlichen Körper gewöhnt, dass sie auch hinter verschlossenen Türen nicht mehr ihre eigentliche Gestalt annahm. Dabei hätte sie sich Rulfan ruhig offenbaren können. Er wusste, dass sie eine Spionin der Daa'muren war, aber die Beeinflussung durch den Virus, unter der er stand, verhinderte, dass er sie verriet. Ein anderer Gedanke nahm in seinem Kopf Gestalt an, doch er brauchte Sekunden, um ihn zu formulieren. Irgendetwas wollte ihn daran hindern, aber die Erinnerung war zu stark. »Wulf«, sagte er. »Was ist mit ihm? Wo ist er?« Aunaara zog die Stirn kraus. Dass er sich nach seinem Lupa erkundigte, bewies er, dass die Übernahme noch nicht vollkommen war. Es musste an seinen Genen liegen; Bunkermenschen, deren Synapsenblockade nicht so ausgeprägt war wie die der Oberflächenbewohner, leisteten dem Virus offenbar länger Widerstand. Und Rulfans Vater war einer dieser Technos. »Erinnerst du dich nicht?«, fragt sie sanft. »Du hast ihn in Coellen zurückgelassen, bei deinem Freund Honnes, damit du dich hier deinen Aufgaben intensiver widmen kannst.« In Wahrheit hatte sie beide getötet. Wulf, weil sich sein Instinkt auch durch Metamorphose nicht täuschen ließ. Und Honnes, weil der ihr wahres Wesen durchschaut hatte. »Habe ich das?« Rulfan dachte nach. Dann erhellte sich seine Miene. »Ja, du hast Recht. Wie konnte ich das vergessen?« Ein leiser Schrecken durchfuhr die Daa'murin. »Haben sich Mefju'drex und sein Weib nach ihm erkundigt?«, fragte sie alarmiert.
»Nein... nein«, antwortete Rulfan. »Sie haben seine Abwesenheit gar nicht bemerkt.« »Das ist gut. Es fehlte noch, dass der Primärfeind Verdacht schöpft«, fuhr sie fort. »Eine solche Gelegenheit wird sich so schnell nicht wieder ergeben.« »Was für eine Gelegenheit?«, fragte Rulfan. Es fiel ihm schwer, eigenständige Schlussfolgerungen zu ziehen. »Die Gelegenheit, das Ziel aller Daa'muren zu erreichen«, erklärte sie und legte einen Dolch auf den Rucksack, »und Mefju'drex zu töten.« Sie lächelte. Ihr Gesicht spiegelte sich in der Klinge der Waffe. * »Wales«, sagte Matt. »Bist du sicher?« »Ja.« Das war die einzige Antwort, die Jed Stuart gab, während er die Kursdaten in den Navigationscomputer überspielte. Sie saßen im Cockpit eines EWAT, der den klangvollen Namen Crusader of the Dark Blue Sea trug, von den Mannschaften aber nur Crusader genannt wurde. Hinter ihnen wurden die letzten Vorräte verladen. Techniker verschraubten die Spezialkameras, die an Heck und Bug angebracht worden waren und hoch auflösende Bilder der Umgebung lieferten. Im Cockpit hatte man zusätzlich zwei Monitore eingebaut, die von der Navigationskonsole beobachtet werden konnten. »Sir«, sagte Stuarts Assistent und Aufpasser, ein Lance Corporal, dessen Namen Matt sich nicht merken konnte. »In allen Informationen, die uns zum Standort des angeblichen Königs vorliegen, heißt es und ich zitiere...« Er sah auf die Papiere, die er in einer Hand hielt und die den Blick auf sein Namensschild verdeckten. »Die Berge selbst sind zu einer Festung verschmolzen. Eine solche geographische
Besonderheit bietet Snowdonia, eine extrem bergige und unzugängliche Region in Nordwales. Die walisischen Könige nutzten diese natürliche Festung, um sich gegen die Engländer und sogar gegen die Griechen zu verteidigen.« »Römer«, korrigierte Matt automatisch. Der Corporal, der Finn, Fisher oder Finch hieß, warf einen weiteren Blick auf seine Papiere. »Richtig, Sir. Entschuldigung, Sir.« Er strich mit der freien Hand nervös über seine Uniform. Die Metallknöpfe blitzten und der Stoff war noch steif. Erst seit kurzem waren die englischen Communities durch ein immunisierendes Serum in der Lage, ihre Bunker ohne Schutzanzüge zu verlassen. Jetzt griff man wieder auf Uniformen zurück, um sich zu identifizieren. Sie waren den alten englischen Armeeuniformen nachempfunden. Matt fielen die stilisierten und eingestickten Kronen auf den Metallknöpfen und Schulterstücken auf. Auch Jed trug eine solche Uniform, aber bei ihm fehlten die Rangabzeichen und das Namensschild. Die Menschen, mit denen er einen Großteil seiner Zeit verbrachte, konnten ohnehin nicht lesen. Aus den Augenwinkeln bemerkte Matt, wie Aruula und Aunaara das Cockpit betraten. Sie hatten Waffen und Ausrüstung im hinteren Teil des EWATs verstaut und unterhielten sich jetzt in der Sprache der Wandernden Völker. Aruula schien es zu genießen, endlich wieder die eigene Sprache benutzen zu können, und Matt vermutete, dass auch Aunaara froh war, mit jemandem zu reden, der einen ähnlichen Hintergrund besaß wie sie selbst. »Wir hätten Wudan ein lebendes Opfer darbringen sollen«, sagte sie in diesem Moment. »Erst die Schreie eines brennenden Tiers locken die Götter heran.« »Ich weiß«, antwortete Aruula, »aber die Menschen hier begreifen das nicht. Du wirst noch sehen, wie wenig sie von
solchen Dingen verstehen. Manchmal muss man einfach Rücksicht auf ihre Unwissenheit nehmen.« »Aber wird Wudan eine gefrorene Gerulkeule aus der Vorratskammer annehmen?« Aunaara klang skeptisch. »Hätten wir den Gerul nicht zumindest selbst töten müssen?« Oder wenigstens selbst auftauen, dachte Matt, verbiss sich die Bemerkung jedoch. Er warf einen Blick auf Jed, der neben ihm die Karten auf den Monitoren betrachtete. Früher hätte er sich voller Enthusiasmus an einer solchen Diskussion beteiligt, jetzt schien er nicht einmal zuzuhören. Seine Gedanken verharrten aber nur kurz bei Jed und machten einer Mischung aus Vorfreude und Erregung Platz. Es war das erste Mal, dass er selbst einen EWAT als Pilot fliegen würde. Nach den vielen Trainingsstunden im Simulator und einigen Gelegenheiten, bei denen er Shaw kurzzeitig am Steuer der Explorer abgelöst hatte, weckte das Gefühl, endlich wieder als Pilot tätig zu sein, Erinnerungen an früher. An seine Einheit, seine Staffel, seine Maschine – die F-17 Alpha 2. Er hatte erwogen, Captain McDuncan und Corporal Farmer aus London anzufordern, es aber rasch wieder verworfen. Shaw brauchte jetzt die moralische Unterstützung der Beiden; es war ungewiss, ob er mit nur einem Auge seinen Job weiter ausüben konnte. Außerdem – Matt gab es insgeheim zu – wollte er sich mal eine Auszeit von der Routine gönnen und diese Expedition mit Aruula und Jed allein durchführen – und Aunaara natürlich. Nach Snowdonia fliegen, ein paar Erkundigungen einholen, zurück nach Salisbury... was konnte da schon schief gehen? Der programmierte Bordcomputer würde eh den Hauptteil der Arbeit erledigen. Ein Techniker tauchte an der Luke auf und klopfte gegen das Metall. »Sie sind startklar, Sir. Viel Glück.«
»Danke.« Matt antwortete automatisch. Der Corporal hinter ihm reichte Jed einige Papiere und blieb unsicher stehen, als erwartete er eine Reaktion, die nicht kam. »Gute Reise, Sir«, sagte er dann und nickte Matt auf dem Weg nach draußen zu. Er wirkte erleichtert. »Und viel Erfolg.« Auf einen Knopfdruck schloss sich die Luke. Die Systeme erwachten summend und mit blinkenden Lichtern zum Leben. Draußen wurden die Hangartüren geöffnet. Einige Techniker winkten, als Matt den EWAT an ihnen vorbei auf den betonierten Landeplatz fuhr. Er schaltete das Magnetfeld zu und spürte den vertrauten Ruck im Magen, als der Flugpanzer abhob. »Warum sprichst du nicht mit der Maschine?«, fragte Aunaara von ihrem Sitz an der Wand aus. Ihre Haare schimmerten bläulich im Sonnenlicht, das durch die transparente Kuppel ins Innere fiel. »Weil es mehr Spaß macht, der Maschine zu zeigen, was man will, als es ihr zu sagen«, antwortete Matt. Im Gegensatz zu den meisten Piloten flog er den EWAT manuell, ohne Sprachsteuerung. Er genoss die körperliche Kontrolle über den Flugpanzer. »Ich habe ihm schon so oft erklärt, dass Fliegen gefährlich ist«, warf Aruula ein, »aber auf mich hört er ja nicht. Eines Tages werden sich die Götter dafür rächen, dass wir ihnen so nahe kommen.« »Vielleicht sollten wir heute Abend noch einmal Wudan opfern, aber dieses Mal so, wie es sich gehört.« Matt blendete das Gespräch aus. Seine Befürchtung, die beiden Frauen könnten sich nicht verstehen, schien unbegründet zu sein. Seit Sonnenaufgang unterhielten sie sich bereits angeregt – wenngleich auch meistens Aruula sprach und Aunaara interessiert zuhörte. Seit langem hatte seine Gefährtin nicht mehr so leidenschaftlich über ihre Götter gesprochen. Matt begann um die Tierwelt Britanas zu fürchten.
»Wenigstens verlangen die Götter nur Tiere«, sagte Jed leise. »Wir verlangen Menschen.« Matt drehte den Kopf und sah ihn an. Der EWAT glitt als dunkler Schatten über Stonehenge hinweg. »Was meinst du damit?« »Nichts. Ich habe nicht mit dir gesprochen.« »Mit wem hast du denn gesprochen?« Jed antwortete nicht. Schweigen senkte sich über das Cockpit. Matt blickte wieder auf die gewaltige Ebene, die sich vor ihm erstreckte. Das wird ein langer Flug, dachte er. * Sie ließen die Ebenen Wiltshires hinter sich, dann die sanften Hügel von Südwales. Die Landschaft wurde schroffer und karger, die Ansiedlungen seltener. Ab und zu sah man SchiipHerden auf steilen Bergwiesen grasen. Sie sahen auf, wenn sie das Geräusch des EWATs hörten. Die Kameras zoomten so nahe an sie heran, dass Jed ihre tückischen gelben Augen hinter den Hornpanzern erkennen konnte. Es gab nur wenige Krieger, die es wagten, Schiips zu jagen. Ihre Hufe waren so scharf und die Dornen an ihren Hörnern so spitz, dass selbst dicke Lederkleidung keinen Schutz bot. Um so begehrter waren Messer aus Schiiphorn und Jacken aus Schiipwolle. Wer die Jagd überlebte, konnte schnell reich werden. Jed lehnte sich in seinem Sitz zurück. Hinter ihm blickte Aruula gelangweilt, aber angespannt aus der Kuppel. Aunaara, die auf der anderen Seite des Cockpits saß, hatte den Kopf gegen die Scheibe gelehnt und schlief offenbar. Matt tat so, als müsse er sich auf die Steuerung des EWATs konzentrieren, obwohl der Kurs längst eingegeben war. Anfangs hatten sie sich noch unterhalten und die Worte waren wie Insekten um Jed gekreist – so schnell, dass er sie
nicht einfangen konnte, so klein, dass sie keine Bedeutung für ihn hatten. Irgendwann hatte er wohl verlernt, wie man ein Gespräch führte, auf eine Frage antwortete, über einen Scherz lachte. Manchmal, wenn er andere dabei beobachtete, bedauerte er das, so wie man es bedauerte, eine fremde Sprache nicht zu verstehen. Meistens war es ihm jedoch egal. Er wusste, dass er mehr als Majela verloren hatte, vielleicht seinen Verstand, vielleicht sich selbst. Überlebe, war ihre letzte Bitte an ihn gewesen, und er kämpfte jeden Tag aufs Neue darum, sie einzuhalten. Wie ein Besessener stürzte er sich in die Arbeit. Er arbeitete, wenn die Geister der Toten ihm ihren Hass entgegen schrien und wenn sich die Gedanken an sie in seine Träume stahlen. Er arbeitete, bis er vor Erschöpfung zusammenbrach, aber wenn er erwachte, erwachte die Erinnerung mit ihm. Egal, was er tat, es war niemals genug. »... erkennen, was das ist?« Die Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. Er öffnete die Augen, war überrascht darüber, dass er sie geschlossen hatte. »Was?«, fragte er. Matt zeigte auf einen Hügel, der vor ihnen lag. »Kannst du erkennen, was das ist?« Jed setzte sich auf und richtete die Kamera aus. Der Monitor zeigte ihm ein schmales Tal, das von Hügeln eingerahmt wurde. Ein Fluss bahnte sich seinen Weg durch den felsigen Boden. Zwischen den Bäumen ließ sich der Umriss einer Hütte erahnen. Er schwenkte die Kamera nach rechts, den Hügel hinauf. Der Wald war hier so dicht, dass es aussah, als seien die Bäume miteinander verwoben. Erst knapp unterhalb der Kuppe wich der Wald einer Lichtung mit hüfthohem Gras und wildem Getreide. Ein großes Gebäude erhob sich daraus. Die ehemals weißen Mauern waren von Efeu und Moos überzogen. Ein großes rotes H kennzeichnete den Hubschrauberlandeplatz in
der Mitte des mit Teerplatten ausgelegten Flachdachs. Ein Stück entfernt sah Jed ein rostiges, aber immer noch gut lesbares Schild. »Royal Institute for Neurological Disorders«, las er vor. Sein Blick glitt zu dem Symbol neben dem Schriftzug. Das Wetter war gnädig gewesen. Selbst nach all den Jahrhunderten ließ es sich leicht erkennen. Es war eine Krone. »Siehst du, was ich meine?«, sagte Matt. »Passt eine Krone nicht zu einem König?« Jed betrachtete das Symbol. Er bezweifelte, dass man es vom Boden aus sehen konnte, höchstens aus der Luft oder von einem anderen Hügel. Wenn jemand es entdeckt hatte, dann ebenso zufällig wie sie selbst. Matt lenkte den EWAT über das Gebäude. Es wirkte verlassen und erstaunlich gut erhalten. Aus einigen Fenstern ragten Äste und Sträucher, andere wurden von blinden Scheiben verdeckt. Ein überwuchertes Autowrack stand einsam auf einem Parkplatz. Unkraut hatte den Asphalt nach oben gedrückt. Sogar ein Baum wuchs in einer Spalte. »Ich möchte mir das ansehen«, sagte Matt und drückte den Steuerknüppel nach vorn. Zeitverschwendung, dachte Jed. Unter ihm kam das H des Landeplatzes langsam näher. Er drehte die Kameras, aber es war nichts zu sehen außer Dreck, Unkraut und Beton. »Wieso landen wir?«, fragte Aunaara. Ihre Stimme klang verschlafen. »Weil es hier ein altes Gebäude aus der Zeit vor Kristofluu gibt«, antwortete Aruula. »Maddrax geht sehr gerne in alte Gebäude. Meistens kommt er aber sehr schnell wieder heraus. Wenn er nicht heraus kommt, gehe ich hinein und rette ihn.« »Oh...«, sagte Aunaara. Matt räusperte sich, schwieg jedoch. Der EWAT landete sanft auf dem Dach. Dreck wurde aufgewirbelt und tanzte in
grauen Schlieren über die Monitore. Staubkörner prasselten gegen die Kuppel, fielen zurück auf den Boden und gaben den Blick auf eine Tür frei, die ins Innere des Gebäudes zu führen schien. Das Antriebsgeräusch verstummte und mit einem letzten leichten Ruck fiel das Magnetfeld in sich zusammen. Nach dem stundenlangen Flug wirkte die Stille desorientierend. Neben ihm griff Matt nach dem Lasergewehr, das in einer Halterung an der Wand befestigt war. Mit einem Knopfdruck entsicherte er den Einstieg. Schwüle, drückende Luft drang in den EWAT. Das Dach hatte sich in der Frühlingssonne den ganzen Tag über aufgeheizt; es herrschten sicher über dreißig Grad da draußen. Es roch nach Ozon und einem baldigen Gewitter. Matt zog die Jacke aus und warf sie über den Pilotensitz. »Wollen wir?«, fragte er. Jed hörte Aruula seufzen, dann klirrte Metall, als sie ihr Schwert in die Kralle auf ihrem Rücken einklinkte. »Wenn es sein muss.« Sie ging an ihm vorbei und sprang aus der Luke. Matt folgte ihr. Seine Hand streichelte ihren nackten Rücken. Jed wandte den Blick ab. * In der Ferne donnerte es. Leichter warmer Wind kam auf. Erste dicke Regentropfen patschten auf das Teerdach und verdampften in Sekunden. Die Tür war von Moos bedeckt. Zwischen dem Grün schimmerten einige Buchstaben hindurch, aber es war nicht mehr zu erkennen, welche Wörter sie einst gebildet hatten. Der Rahmen und die Angeln waren längst weggerostet. Nur das Moos schien die Tür noch aufrecht zu halten.
»Wir können immer noch umkehren«, sagte Aruula, aber das gezogene Schwert in ihrer Hand verriet Matt, dass sie nicht wirklich damit rechnete. Er grinste und trat die Tür ein. Sie brach in der Mitte durch, rutschte die Treppe hinunter und verschwand polternd in der Dunkelheit. Licht fiel als Rechteck durch die entstandene Öffnung, aber außer grauem Staub und grauen Stufen war nichts zu sehen. Matt zog seine Taschenlampe aus dem Gürtel und richtete sie nach unten. Der Strahl tanzte über die Wände des breiten Treppenhauses. Auf der linken Seite befand sich eine halb geöffnete Aufzugstür. Dahinter bemerkte Matt fingerdicke Stahlseile. Er fragte sich, ob die Aufzugkabine noch im Schacht hing oder bereits vor Jahrhunderten abgestürzt war. Vorsichtig ging er ein paar Schritte in das Gebäude hinein. Scherben knirschten unter seinen Stiefelsohlen. Auf einigen Stufen lagen zerbrochene Bilderrahmen. Die Fotos darin waren vergilbt und voller Risse. Eines zeigte eine grüne Landschaft, ein anderes eine untergehende Sonne. »Es ist niemand hier.« Aruulas Stimme ließ Matt zusammenzucken. »Lass uns wieder gehen.« Er schüttelte den Kopf. »Das ist nur das Treppenhaus, Aruula. Wir sollten uns zumindest das obere Stockwerk ansehen.« Der Boden wirkte stabil und die Wände schienen außer ein wenig Putz keine Substanz verloren zu haben. In den letzten Jahren vor dem Kometeneinschlag hatte man begonnen, die meisten öffentlichen Gebäude erdbebensicher zu bauen. Vermutlich stammte das Institut aus dieser Zeit. »Was ist das für ein Haus?«, fragte Aunaara. »Eine Art Krankenhaus.« Matt ging langsam die Treppe hinunter, vorbei an den Überresten der zerstörten Tür. Das Licht der Taschenlampe glitt über einen Absatz und weitere Stufen, die entgegengesetzt verliefen. Überall lag Staub. Hier
schien seit langem niemand mehr gewesen zu sein. Vielleicht waren sie sogar die Ersten, die das Gebäude seit dem Kometen betraten. Matt gefiel dieser Gedanke. »Sie haben den Kranken ein eigenes Haus gegeben?« Aunaara klang irritiert. »War das nicht sehr verschwenderisch?« »Heute wäre es das vermutlich.« Er verzichtete auf weitere Erklärungen. Seine Beziehung mit Aruula hatte ihn gelehrt, dass Geschichten aus der Zeit vor »Christopher-Floyd« selten den Effekt erzielten, den er erhoffte. »Es gibt einen Stamm auf einer der kleineren Kanalinseln«, sagte Jed hinter ihm. »Dort glaubt man, dass jede Krankheit von der Zahl Neun verursacht wird. Es halten sich nie neun Menschen in einem Raum auf, niemals liegen neun Bretter übereinander oder stehen neun Angeln in einer Reihe. Der Stamm weiß, wenn es ihm gelingen würde, die Zahl Neun auszurotten, müsste keiner von ihnen jemals wieder erkranken oder sterben.« Er machte eine Pause. »Als ich sie das letzte Mal besuchte, brannten sie die Wälder auf ihrer Insel nieder, um alle Bäume mit neun Ästen zu vernichten und jeder, der einen Satz mit neun Wörtern bildete, verlor sein Leben.« Das Licht der Taschenlampe fand eine Tür am Ende der Treppe. Matt räusperte sich. »Eine sehr... aufbauende Geschichte«, sagte er, weil er den Eindruck hatte, irgendetwas sagen zu müssen. »Das zeigt, wohin Besessenheit führen kann.« »So könnte man es sehen.« Matt blieb vor der Tür stehen. Sie war aus Metall und wirkte abgesehen von einigen Kratzern unbeschädigt. »Wie sollte man es sonst sehen?«, fragte er.
»Das Ziel dieses Stammes ist ein Leben ohne Krankheit und Tod. Sie sind bereit, für diesen Traum zu kämpfen und alles zu opfern. Sollte man das nicht bewundern?« Bewundern dafür, dass sie sich selbst vernichten?, dachte Matt, ohne es laut auszusprechen. »Es scheint ein sehr kluger Stamm zu sein«, mischte sich Aruula ein, »wenn jeder so gut zählen kann. Vielleicht haben sie ja Recht.« »Ich bezweifle das sehr.« Matt griff nach dem Türknauf. Es knirschte, als er ihn zuerst mit einer, dann mit beiden Händen zu drehen versuchte. Das Schloss war wohl festgerostet. Mit einem Tritt öffnete er auch diese Tür. Sie knallte gegen die Wand und schwang zurück. Matt stoppte sie mit dem Fuß. Vor ihnen lag ein dunkler Gang. Rechts und links gab es Türen in regelmäßigen Abständen und einen Aufzug. Die Luft roch frisch und ein wenig nach Asche. Aruula zeigte mit ihrem Schwert auf den Fußboden. Nur in den Ecken lag Staub. »Hier leben Menschen«, sagte sie leise. Matt nickte. Mit der Taschenlampe schwenkte er über nackte Wände und durch Türrahmen in leere Zimmer hinein. Die Fenster waren mit Brettern vernagelt. Licht drang durch die Ritzen. Draußen waren Bäume zu erkennen und Blätter, von denen Wasser tropfte. Es hatte angefangen zu regnen. »Niemand lebt hier«, widersprach Jed. »Der Korridor wird benutzt, sonst nichts.« »Das glaube ich auch.« Matt ging langsam weiter. Seine Schritte hallten durch den leeren Gang. Das Lasergewehr in seiner Hand gab ihm Sicherheit. »Aber wofür wird er benutzt?« Er erhielt keine Antwort auf seine Frage. »Wir sollten nicht hier sein«, sagte Aunaara stattdessen. »Es ist gefährlich.« »Wenn du willst, kannst du im EWAT warten. Dort bist du in Sicherheit.« Matt drehte sich zu ihr um. Sie ging dicht neben
Aruula und hielt ihr Schwert in beiden Händen. Es machte fast den Eindruck, als sei es auf seinen Rücken gerichtet. »Nein. Ich lasse euch nicht allein.« Aunaaras Stimme war fest, die Unsicherheit, die sie eben gezeigt hatte, verschwunden. Der Wandel erschien Matt ein wenig zu plötzlich. Vielleicht wollte sie nur einen Moment im Mittelpunkt stehen, dachte er. Vor ihm machte der Gang einen Knick nach links und endete in einer schmalen Treppe, die nach unten führte. Der Lichtstrahl der Taschenlampe fiel auf ein verblichenes Plastikschild. T he ap erä me, stand darauf. »Therapieräume«, vervollständigte Jed. Der Pfeil neben dem Schild zeigte nach unten. »Ich frage mich, wer oder was hier therapiert wurde.« Matt trat vorsichtig auf die erste Stufe. Nichts knirschte unter seinen Sohlen – kein Dreck, kein Glas, kein Putz. »Oder noch therapiert wird.« »Jemand beobachtet uns«, sagte Aruula zusammenhanglos. »Ich fühle, dass jemand hier ist.« Jed leuchtete mit seiner Lampe zurück in den Gang, Matt über die Wände und die Decke. Es war niemand zu sehen. Nur ihre eigenen Schatten wurden riesenhaft aus der Dunkelheit gerissen. Matt spürte, wie Aruulas Nervosität auf ihn übergriff. Die Treppe war so schmal, dass sie nur hintereinander gehen konnten. Mit einem Schwert konnte man hier nicht kämpfen. »Wir werfen nur noch einen Blick ins Erdgeschoss«, sagte er, »dann verschwinden wir.« »Okee.« Am Ende der Treppe sah Matt eine weitere Tür. Sie war aus Holz und wirkte, als habe man sie nachträglich eingebaut. Der
Griff war einfach geschnitzt und ohne jede Verzierung. Es gab kein Schloss. Matt legte die Taschenlampe neben sich auf die Stufen. Seine Fingerspitzen berührten den Griff, drückten langsam dagegen. Die Tür öffnete sich einen Spalt. »Etwas stimmt mit den Wänden nicht.« Jeds Stimme ließ ihn zusammenzucken. »Das ist –« Ein ohrenbetäubender Knall dröhnte über den Rest seiner Worte hinweg. Aunaara – oder war es Aruula? – schrie auf, dann polterte etwas die Treppe hinunter. Es schlug in Matts Rücken und trieb ihn nach vorne. Er versuchte sich zu fangen, stolperte durch die Tür hindurch. Ein elektronisches Summen erfüllte die Luft, so schrill und durchdringend, dass er in die Knie brach. Er presste beide Hände gegen den Kopf, aber es drang in sein Gehirn ein, durchstach es mit Nadeln, riss es mit Klauen auseinander. Matt schrie, und seine Welt verging. * Sie öffnete die Augen. Der Boden unter ihrem Körper war kalt. Sie lag auf der rechten Seite und ihre Wange berührte den Stein. Es war dunkel, aber hell genug, dass sie einen Teil ihrer Umgebung erkennen konnte. Aus diesem Winkel sah die Welt falsch aus. Ein umgestürzter Stuhl schien zu stehen, durch die vernagelten Fenster sah man liegende Bäume und waagerecht fallenden Regen. Es war aber nicht die Welt, die falsch war. Sie war es. Ein Mann stöhnte neben ihr. Ganz leicht drehte sie den Kopf, um sich nicht zu verraten. Die anderen sollten nicht wissen, dass sie wach war. Ihr Blick fiel auf eine lange Klinge. Sie brauchte einen Moment, bis ihr einfiel, dass man eine solche Klinge Schwert
nennt. Die Fingerspitzen des Manns berührten die Klinge, strichen darüber, wahrend er erwachte. Auch andere regten sich um sie herum. Sie hörte das Rascheln von Kleidung und das Klirren von Metall. Jeder schien eine Waffe zu besitzen. Sie fragte sich, wovor sie Angst hatten oder wer vor ihnen Angst hatte. Als der Mann neben ihr den Kopf hob, schloss sie die Augen und stellte sich schlafend. Er räusperte sich, stöhnte und stand auf. Seine Schritte schlurften über den Boden. Sie hörte, wie er das Schwert aufhob. Für einen schrecklichen Moment glaubte sie, er würde damit zustechen, doch dann entfernten sich die Schritte. Holz knirschte, als er den Stuhl aufstellte und sich setzte. Niemand sagte etwas. Da war nur ein ständiges Rascheln, Räuspern und Atmen. Die Stille war unnatürlich und zerrte an ihren Nerven, so wie die Leere in ihr an ihrem Verstand zerrte. Sie versuchte in sich hineinzuhorchen, aber sie fand nichts – keinen Gedanken, der älter als ein paar Herzschläge war, kein Bild jenseits des Raums, in dem sie lag. Alles war Gegenwart, nichts war Vergangenheit. Wenn es einmal etwas gegeben hatte in dieser Zeit, die sie Vergangenheit nannte, so war es verschwunden, ohne eine Spur zu hinterlassen. Ihr wurde schwindelig, wenn sie daran dachte. Durch halb geschlossene Lider betrachtete sie den Mann auf seinem Stuhl. Er hatte den Kopf in die Hände gestützt und massierte seine Schläfen. Das Schwert lag neben ihm auf dem Boden, nahe genug, dass er es jederzeit greifen konnte. Er hatte kurze blonde Haare und ein bartloses Gesicht. Die anderen Menschen sah sie nicht. Sie waren irgendwo hinter ihr. Der Mann auf dem Stuhl beobachtete sie durch die Finger seiner Hand. Gab es einen Grund, weshalb er so misstrauisch zu sein schien? Sie wusste, dass sie nicht mehr lange so liegen bleiben konnte. Die Kälte des Bodens drang in ihre Haut. Ihr Bein
begann zu kribbeln. Etwas lag darunter, ein langes Schwert. Die Klinge ragte fast bis zu ihrer Hand. Sie hatte keine Ahnung, ob sie damit umgehen konnte. Trotzdem gab ihr das Schwert Sicherheit. Der Mann auf dem Stuhl hob den Kopf. Er räusperte sich und stand auf. Sie sah, wie er den Mund öffnete, schloss, dann wieder öffnete. »Das hört sich jetzt vielleicht nach einer dummen Frage an«, sagte er. Seine Stimme war rau und er stutzte für einen Moment, als habe er sie noch nie gehört. »Aber weiß irgendjemand, wer ich bin?« * »Okay.« Der Mann, der sich selbst noch keinen Namen gegeben hatte, ging langsam auf und ab. Seine Stiefelsohlen wirbelten Staub empor. »Wenn wir ruhig bleiben und nachdenken, werden wir schon herausfinden, wer wir sind und was wir hier tun.« Es kostete ihn große Selbstbeherrschung, die Angst aus seiner Stimme zu verbannen. Die fehlende Erinnerung war wie ein Vakuum, das an seinem Verstand riss und ihn zu verschlingen drohte. Es gab nichts, das ihm vertraut erschien, weder das Schwert, das er neben den Stuhl gelegt hatte, noch die Menschen, die in dem großen leeren Raum standen. Sie wirkten nervös und wagten es kaum, einander in die Augen zu sehen. Wenn sie es doch taten, lächelten sie verlegen und drehten sich weg. Die Spannung war beinahe körperlich spürbar. Außer ihm befanden sich zwei weitere Männer und eine Frau in diesem Raum. Einer der Männer war blond, hager, Ende dreißig. Er trug eine grünliche Uniform, schwarze Stiefel und bewegte sich ununterbrochen, als fiele es ihm schwer stillzustehen.
Der andere war vielleicht zehn Jahre jünger, aber wesentlich breiter. Seine Haare waren dunkel und zu einem Zopf zusammengebunden. Er hatte ein rundes freundliches Gesicht. Eine Lederweste spannte sich über seinen Bauch. Er trug dicke Wollsocken und Sandalen. Er selbst hatte eine ebenfalls grüne Uniformhose aus einem leichten Stoff und Stiefel an, dazu ein dunkelgrünes Shirt, aber keine Jacke. Die Frau lag immer noch am Boden. Sie tat so, als sei sie noch nicht aufgewacht, aber er hatte längst bemerkt, dass sie die Lage beobachtete. Sie war schön. Ihr langes schwarzes Haar trug sie offen und die dunkle Lederkleidung schmiegte sich an ihren Körper. Ein Schwert lag neben ihr. Die Fingerspitzen ihrer rechten Hand waren nicht weit davon entfernt. Er achtete darauf, ihr nicht zu nahe zu kommen. »Nun«, sagte er, als niemand auf seine Worte einging, »versteht ihr mich überhaupt?« Der Hagere nickte. »Ja, ich... äh, verstehe dich schon. Ich denke nur noch über die... hm... Situation nach, das ist, äh... alles.« Er stockte und runzelte die Stirn. »Ob ich... äh... immer so spreche? Hm, das muss auf Dauer doch etwas, nun, ermüdend sein.« Der Dicke hob die Schultern und sagte etwas, das der Mann nur bruchstückhaft verstand. »Ihr sei su froggel schnell. Bidde langsam sprekke« Sein Dialekt war so stark, dass er fast schon eine andere Sprache zu sein schien. »Surri, wir sollne daru beffachte«, antwortete der Hagere im gleichen Dialekt, bevor er erneut stutzte, dieses Mal jedoch wesentlich erfreuter. »Oh, anscheinend spreche ich mehr als, hm, eine Sprache. Wie sieht es mit dir aus?«
»Ich verstehe nur wenig von dem, was er sagt, und ich könnte ihm nicht antworten. Trotzdem scheinen du und ich mehr gemeinsam zu haben als du und er.« Der Hagere warf einen Blick auf seine Kleidung. »Möglicherweise.« Er machte eine kurze Pause. »Was ist mit ihr?« »Später.« Der Mann schüttelte den Kopf und hoffte, dass sein Gegenüber begriff, dass er die Frau am Boden in Ruhe lassen sollte. »Hm, in Ordnung, dann... äh, sollten wir über die Umstände sprechen, in denen wir uns, nun, wieder gefunden haben. »Wenn ich mich hier... äh, umsehe, kann man zumindest eines... nun... ausschließen.« »Und was?«, fragte er, während der Dicke den Kopf schräg legte, als könne er so mehr verstehen. »Dass wir friedliebende Menschen sind. Seht euch doch nur die ganzen, hm, Schwerter an.« »Vielleicht leben wir in einer gefährlichen Welt.« Er blickte durch die vernagelten Fenster nach draußen in den Regen. »Vielleicht sind wir es, die sie gefährlich machen.« »Es bringt nichts, darüber zu spekulieren, wer oder was wir sind, wenn wir keine Anhaltspunkte haben.« Er machte einen Bogen um die Frau am Boden. Ihr Blick folgte ihm hinter halb geschlossenen Augenlidern. »Was wissen wir denn überhaupt? Dass wir Uniformen tragen. Dass nicht alle hier meine Sprache sprechen. Und dass wir in einem Raum aufgewacht sind, in dem Schwerter liegen, die übrigens nicht zwangsläufig uns gehören müssen. Sonst wissen wir nichts.« »Vorrädde.« Der Dicke zeigte mit dem Finger auf seinen Mund, um sich besser verständlich zu machen. »Wosinnende Vorräde? Wosinnende Ausrüstung? Simmerni Rejsende sonnern Eskaapes?« Der Mann verstand das letzte Wort nicht und sieht den Hageren fragend an.
»Flüchtlinge.« Die Übersetzung kam ohne Zögern. »Es stimmt. Du trägst noch nicht einmal eine, äh... Jacke. Entweder wir leben hier, was...«, er wirbelte Staub mit der Stiefelspitze auf, »... nicht sehr wahrscheinlich ist, oder wir sind hierher, hm, gereist, geflohen. Oder wir sind auf einer Pilgerfahrt, so wie die, hm, Luusinjas, die einmal im Jahr zur... äh, Quelle ihres Flusses reisen müssen, um daraus zu trinken. Sie glauben, wenn sie das nicht tun, ziehen die... äh, Götter ein Jahr ihres Lebens ab... Und ich habe keine Ahnung, weshalb ich das gerade gesagt habe.« Es gibt eine weitere Möglichkeit, dachte der Mann, aber er sprach sie nicht laut aus. Vielleicht waren sie nicht gemeinsam gereist, vielleicht gab es zwei Gruppen, von denen die eine die andere verfolgt hatte. Er beschloss den Hageren nicht darauf anzusprechen, denn ihm war aufgefallen, dass sie unterschiedliche Uniformen trugen. Wenn es tatsächlich zwei Gruppen gab, gehörten sie nicht unbedingt der Gleichen an. Er behielt den Gedanken im Hinterkopf. »Ich schlage vor, dass wir nach Vorräten und Gegenständen suchen, die uns gehören könnten«, sagte er. »Vielleicht haben wir ja Glück.« Der Dicke nickte und auch der Hagere stimmte zu. »Das... äh, halte ich für eine gute Idee. Und wir sollten nach der Ursache unseres... hm, Zustands suchen. Beides lässt sich miteinander verbinden.« »Wir brauchen Namen«, sagte der Mann, »damit wir vernünftig miteinander reden können.« Die Idee stand plötzlich in seinem Kopf, ohne dass er wusste, wo sie her kam. »Wenn ihr nichts dagegen habt, bin ich John.« Er zeigte auf den Hageren. »Du bist George, und du...«, er nickte dem Dicken zu, »... du bist, hm, Paul.« »Paal«, wiederholte der Dicke. »Okee.« Der Hagere nickte. »Ich... äh, habe nichts dagegen, hm, die Namen klingen erstaunlich vertraut.«
Der Mann, der sich den Namen John gegeben hatte, hob die Schultern. »Wer weiß, vielleicht heißen wir ja wirklich so.« Er sah sich in dem großen Raum um. Abgesehen von dem Stuhl lagen hier nur ein paar Bretter. Es gab zwei Türen, eine schwer aussehende, aber einfache Holztür und eine Metalltür, deren weiße Farbe abgeblättert war. »Fangen wir doch da hinten an«, sagte er und ging auf die Holztür zu. Die Bewegung war nur ein Huschen in seinem Augenwinkeln. Er hörte, wie George »Vorsicht!« rief, aber sein Körper reagierte bereits, duckte sich unter dem angreifenden Schatten hindurch. Eine Klinge blitzte auf. Er schlug nach der Hand, die sie hielt. Ein kurzer sengender Schmerz stach durch seinen Arm. Ein zweiter Schlag und seine Finger schlossen sich um den Schwertgriff. Eine Drehung, ein Tritt, dann lag die Angreiferin vor ihm am Boden. Ihre Augen waren weit aufgerissen. Die Spitze des Schwerts drückte gegen ihre Kehle. John stand schwer atmend über ihr. Das Adrenalin, das durch seinen Körper schoss, betäubte den Schmerz in seinem Arm und brachte ihn zum Grinsen. Ich kann kämpfen, dachte er. Cool. Das Schwert fühlte sich fremd an. Es lag schwer in seiner Hand. John ließ sich seine Unbeholfenheit nicht anmerken, sondern drehte den Kopf zu den anderen. »Habt ihr das gesehen?«, fragte er. Das Grinsen erstarb auf seinem Gesicht, als er bemerkte, dass George und Paul zurückgewichen waren. In ihren Blicken lagen Furcht und Misstrauen. »Eins ist zumindest sicher«, sagte George. »Du bist ein Kämpfer.« Paul nickte. »Abbe bissden Kriegge odde Mödde?«
John starrte die Frau an, die angsterfüllt zurück starrte. Die Spitze der Klinge hatte ihren Hals geritzt. Ein dünner Blutfaden lief herab und verlor sich in ihren Haaren. Ein Mörder würde zustoßen, dachte John, ein Krieger ihr Fesseln anlegen. Was werde ich tun? Die Antwort erschreckte ihn. Ich weiß es nicht. * Sie war nur kurz vor den anderen aufgewacht, aber etwas in ihr hatte ihr geraten, die Gruppe zu verlassen. Etwas stimmte nicht mit diesen Menschen, das hatte sie gespürt. Also war sie leise aufgestanden und durch eine helle Tür in den Nebenraum gegangen. Es war ein kleines Zimmer, in dem ein zerbrochener Tisch senkrecht wie eine Barrikade vor dem einzigen Fenster stand. Eine abgebrochene Messerspitze steckte zwischen den Dielen, als habe jemand versucht, die Bretter heraus zu hebeln. Die Frau, die ihren Namen nicht kannte, stellte sich hinter die Tür. Das Metall war brüchig und an einigen Stellen so stark durchgerostet, dass die Löcher einen Blick in den ersten Raum ermöglichten. Neugierig beobachtete sie das Erwachen der anderen, und erschrocken die erste Auseinandersetzung. Sie fragte sich, weshalb die schwarzhaarige Frau den blonden Mann, der sich John nannte, angegriffen hatte. War es vielleicht ein ähnliches Gefühl gewesen wie das, das ihr zur Flucht geraten hatte? Wussten ihre Gefühle etwas, das der Geist ihnen verschwieg? Sie spürte Sympathien für die Frau, die mit auf den Rücken gefesselten Händen am Boden saß. Der Hagere – war sein Name George? – hockte vor ihr und redete leise auf sie ein. John saß auf dem einzigen Stuhl und ließ sich von Paal mit einem Stück Stoff aus seinem Unterhemd den Arm verbinden. Die Wunde wirkte ungefährlich.
»Wir dürfen nicht anfangen, uns gegenseitig zu belauern«, sagte John gerade und zuckte zusammen, als Paal den Verband fest zog. »Egal wer oder was wir sind, wir sitzen zusammen in dieser Scheiße und kommen auch nur zusammen wieder raus. Sind wir uns soweit einig?« George nickte. »Ja, das sind wir.« »Sieht Yoko das auch so?« »Das tut sie.« »Bist du sicher?« Die schwarzhaarige Frau, der man den Namen Yoko gegeben hatte, antwortete an Georges Stelle. »Ich bin sicher. Ich habe nur aus Angst gehandelt.« Sie sprach mit einem leichten Akzent. »Wir haben alle Angst, aber du bist die Einzige, die mit dem Schwert herumgestochert hat.« John stand auf und bewegte prüfend den verletzten Arm. »Solange, bis wir uns sicher sind, dass es das erste und letzte Mal war, können wir dir die Fesseln nicht abnehmen. Verstehst du das?« »Ja.« »Einen, äh... Moment.« George stand ebenfalls auf. »Solange, bis wir uns sicher sind? Meinst du nicht eher, bis du, hm, beschlossen hast, dass es so ist? Nur weil du mit einem...«, er zeigte mit der linken Hand auf das Schwert, das neben John auf dem Boden lag, suchte anscheinend nach dem richtigen Wort, »... einem...« »Soord?«, half Paal aus. »Danke, ja... mit einem Soord umgehen kannst, bedeutet das nicht unbedingt, dass du irgendwem etwas zu befehlen hast. Du, äh, könntest ebenso gut mein, hm, Leibwächter sein. Paal ist mein äh... Koch«, er sah an seinem hageren Körper herab, »hm... mein schlechter Koch, und Yoko ist meine... meine...« George räusperte sich. »Ist ja auch, hm, egal. Was ich sagen will ist: Wir, äh... sollten Entscheidungen gemeinsam oder, äh... gar nicht treffen. Niemand befiehlt.«
Paal hob die Schultern. »Ich würds bedde finde, wenn inner befelle tut.« »Nein«, sagte John zur Überraschung der Frau hinter der Tür. »George hat Recht. Keiner von uns sollte sich über die anderen stellen.« Er sah die beiden Männer an. »Wer meint, Yoko solle gefesselt bleiben?« Er hob als Einziger die Hand. »Wer meint, wir sollten sie frei lassen?« George hob die Hand. »Was ist mit dir, Paul?«, fragte John. »Mir eggal. Makt, wasser wollt.« Die Frau hinter der Tür zog sich etwas tiefer in den Raum zurück, während die drei Männer weiter über Yoko sprachen. Bereits kurz nach Johns Erwachen war ihr klar geworden, dass er sich als – sie brauchte einen Moment, bis das richtige Wort in ihrem Geist auftauchte – Häuptling der Gruppe sah. Es überraschte sie, dass er jetzt so widerstandslos darauf verzichtete. Meinte er es ehrlich oder spielte er seine Einsicht nur? Er ist gefährlich, dachte sie ohne Angst. Aber das bin ich auch. Sie griff nach der Waffe, die sie an die Wand gelehnt hatte. Sie war schwarz, schwer und roch nach Öl. Die Frau wusste, dass man die Waffe Gewehr nannte, und sie glaubte, dass sie damit umgehen konnte. Im Nebenraum waren die Stimmen verstummt. Sie ging zurück zur Tür, sah durch eines der Löcher und zuckte zurück, als sie zwei Dinge bemerkte: Yoko trug keine Fesseln mehr, und sie und die drei bewaffneten Männer kamen direkt auf die Tür zu. John hob die Hand, um sie aufzustoßen. *
Es war ein guter Kompromiss, den sie nach einigen Diskussionen gefunden hatten. Yoko durfte sich zwar ungefesselt bewegen, aber keine Waffe tragen. Wenn man sie mit einer Waffe erwischte, würde man sie an Händen und Füßen fesseln und allein in irgendeinem Raum zurücklassen. Sie hatte ohne Zögern zugestimmt. George warf einen unauffälligen Blick auf John, der sich gerade das zweite Schwert in den Gürtel steckte. Störte es ihn wirklich nicht, dass er keine Befehlsgewalt über die anderen hatte? Oder hatte er vielleicht etwas gespürt in dem Moment, als er Yoko überwältigte, so wie George etwas gespürt hatte, als er Paal in dessen Dialekt antwortete? Es war wie ein Blitz gewesen, der durch seinen Geist schoss und für den Bruchteil einer Sekunde alles erhellte. Zu kurz, um etwas zu erkennen, doch lang genug, um das Wissen zu spüren, das sich in der Dunkelheit verbarg. Sprachen, Geschichten, Bräuche, Texte, Rituale, Schriften, Gesänge, Gedichte, Predigten, Witze. Eine ganze Welt wartete in seinem Geist auf ihre Entdeckung. Die Geschichte über die Luusinjas war nur ein Beispiel. Er hatte sie plötzlich vor sich gesehen, so klar, wie er die Wände des Zimmers sah. Das nächste Mal, wenn das geschieht, wird niemand davon erfahren, dachte er. Es war nicht gut, zu viel über sich zu preiszugeben. Deshalb auch nahm er die rechte Hand kaum aus der Tasche. Irgendwann musste etwas mit großer Wucht hindurch gestoßen worden sein, denn sie war vernarbt, steif und schmerzte bei jeder Bewegung. Sie war seine Schwäche – und Schwächen verriet man nicht. »Okay«, sagte John. »Hat jemand was dagegen, wenn wir durch diese Metalltür gehen?« Er wartete das Kopfschütteln der anderen ab. »Gut. Dann lasst uns loslegen, bevor es dunkel wird und wir die Suche abbrechen müssen.«
Hast du auch einen Blitz gesehen?, fragte sich George. Und was hat er dir enthüllt? Eine Hand lag auf dem Schwertknauf, mit der anderen stieß John die Tür auf. Rost rieselte herab. Das Zimmer, das hinter der Tür lag, war klein. Vor dem einzigen Fenster lehnte ein hochkant stehender Schreibtisch. Eine zweite, offen stehende Metalltür führte in einen Gang. Warum haben sie die Fenster verbarrikadiert?, dachte George. Er trat neben dem Schreibtisch und blickte durch einen schmalen Spalt nach draußen. Wald rahmte eine Lichtung ein. Aus dunklen Wolken fiel Regen. Das Gebäude, in dem sie sich befanden, schien auf einem Hügel zu stehen. »Ist da draußen irgendwas?«, fragte John. »Nein, nichts.« Er drehte sich um. »Aber irgendwas muss da gewesen sein. Die Barri-« »Da!« Pauls Stimme war so laut, dass George erschrocken zusammenzuckte. Er zeigte in den Gang. »Da iss jemann!« John riss das Schwert aus seinem Gürtel. »Wo?« »Bekk derr.« »Hinten durch«, übersetzte George automatisch. Wie die anderen starrte auch er nervös in den halb dunklen Gang. Ein wenig Licht fiel durch offen stehende Türen, die vermutlich zu anderen Räumen führten, hinein. Es war niemand zu sehen. »Bist du sicher?«, fragte John. Yoko, die als Einzige unbewaffnet war, hielt sich hinter ihm. Paul nickte und drehte den Schwertgriff zwischen seinen Händen, als wolle er ihn auswringen. »Da warn Skedau.« »Schatten«, sagte George. Er folgte John, als der langsam und mit erhobenem Schwert in den Korridor trat. Paul und Yoko schoben sich an ihm vorbei. Niemand wollte allein zurückbleiben. Es gab nur Türen auf der linken Seite des Gangs, auf der rechten befand sich eine graue Wand. Sie war an einer Stelle eingerissen. Ein schmaler grüner Zweig ragte aus dem Riss
hervor. Wenn niemand etwas unternahm, würde in einigen Jahren der ganze Gang grün sein. George betrachtete die verblassten Buchstaben an der Wand. »Therapieräume eins zwei drei«, las er leise vor. Paul fuhr herum und starrte ihn an. »Du verstehst, was dort steht?« »Sieht so aus.« John legte den Zeigefinger auf die Lippen. Die Unterhaltung verstummte. Vorsichtig blickte George in den ersten Raum. Auf die Tür war eine schwarze verblichene 1 aufgemalt. Das Zimmer selbst war leer bis auf einen Metallstuhl, der am Boden festgeschraubt war. Breite Ledergurte hingen an den Seiten herab. Die Rückenlehne war mit dunklen Spritzern übersät. Sie sahen aus wie Blut. »Was ist das für ein Ort?«, flüsterte Yoko. George trat zurück. Sein Mund war trocken. »Ich weiß es nicht.« Vor ihm hatte John bereits das zweite Zimmer erreicht. Er sah hinein, schien nichts zu finden und nickte den anderen zu. George ging an der Tür vorbei. Der zweite Therapieraum unterschied sich kaum von dem ersten. Auch hier stand ein Metallstuhl in der Mitte, dessen Rückenlehne allerdings unbefleckt war. John blieb einen Moment an der Wand stehen, bevor er in den dritten Raum blickte – und zurücksprang. Er holte mit dem Schwert aus, ließ es jedoch sofort wieder sinken und stieß den Atem aus. »Ich dachte, jemand sitzt in dem Stuhl«, sagte er, »aber es ist nur eine Decke.« George folgte seinem Blick, und obwohl er wusste, was ihn erwartete, zuckte auch er zurück. Es sah tatsächlich so aus, als würde jemand in dem Stuhl hocken. Der Korridor machte einen scharfen Knick nach links, dann direkt wieder nach rechts. Einige Fotos lagen in zerbrochenen
Rahmen auf dem Boden. George hockte sich hin und zog eines von ihnen unter den Glasscherben hervor. Es zeigte eine Gruppe Menschen, die vor einem Gebäude standen, und war so verblichen, dass die Gesichter nicht mehr als identitätslose graue Flecke waren. So wie wir, dachte George und steckte das Foto in seine Jackentasche. »Wartet.« John war ebenfalls in die Hocke gegangen, betrachtete jedoch kein Foto, sondern den Staub auf dem Boden. Direkt unter dem Fenster war das Licht so gut, dass man die Fußabdrücke mühelos erkennen konnte. »Jemand ist hier vorbei gelaufen«, sagte er. Seine Schwertspitze zeigte auf eine geschlossene Tür am Ende des Gangs. »Da rein.« Er stand auf. Der Korridor war so breit, dass zwei Personen nebeneinander gehen konnten. Paul und Yoko drängten sich nicht danach, in die erste Reihe zu treten, also fand George sich neben John wieder. Der sah ihn an. »Glaubst du, dass du mit einem Schwert umgehen kannst?« »Ich, äh... nein, das glaube ich nicht.« »Dann lass es stecken.« »Ich hatte nicht vor, hm, etwas anderes damit zu tun.« Sie blieben vor der Tür stehen und lauschten. George hörte nichts außer Johns Atem und seinen eigenen, schneller werdenden Herzschlag. Er nahm den Türknauf in die Hand und drehte ihn. Dann nickte er. Die Tür war unverschlossen. John stand mit erhobenem Schwert neben ihm. Er musste sich wohl einen Moment lang Mut machen, denn er holte tief Luft, bevor er ausholte und die Tür mit einem Tritt öffnete. Niemand versteckte sich in dem Raum, der dahinter lag. Eine umgestürzte, staubbedeckte Toilette lag am Boden, der
Wasserkasten hing schräg darüber. Trümmer eines Waschbeckens hatten die Kacheln zerschmettert. John ließ sein Schwert sinken. »Das ist unmöglich. Die Spuren enden direkt vor der Tür. Jemand muss in diesen Raum gegangen sein.« Er klopfte mit den Fingerknöcheln gegen die Kacheln. »Vielleicht gibt es hier einen Geheimgang.« »Oder die Spuren sind, äh... einfach nur alt«, sagte George und wandte sich ab. »Einer von uns könnte sie hinterlassen haben, bevor passierte, was, äh... auch immer mit uns passiert ist.« »Lassu addere Tür nemme. Hiirs niggs.« Das klang nach einem vernünftigen Vorschlag. Sie wussten nicht, was sich hinter der Holztür verbarg. Die Antwort auf all ihre Fragen konnte dort auf sie warten. John zögerte, nickte dann jedoch und schloss sich den anderen an. Durch den aufgewirbelten Staub gingen sie auf die Therapieräume zu. George unterdrückte ein Schaudern, als er Raum Nummer Drei passierte und aus den Augenwinkeln die Decke über dem Stuhl hängen sah. Es schien immer noch jemand dort zu sitzen. Er glaubte sogar den Kopf zu erkennen und die Blicke zu spüren, die ihm nachsahen. »Es wird dunkel«, sagte Yoko. »Ohne Fackeln werden wir bald nichts mehr sehen.« »Dann sollten wir uns beeilen oder eine Taschenlampe finden.« John klang ungeduldig. Yoko sah ihn stirnrunzelnd an. George bemerkte den kurzen Austausch, aber dann glitt sein Blick über die Wand zu dem grünen Zweig, der – – abgerissen am Boden lag! Er stutzte und blieb stehen. Niemand war hinter ihm gegangen, als er den Zweig gesehen hatte. Wieso war er abgerissen? Wer hat ihn abgerissen?, flüsterte eine Stimme in ihm. Wer, wenn alle vor dir waren?
Er dachte an den Stuhl, an die Decke, an den Kopf und an die Blicke in seinem Rücken. Der Raum war keine fünf Schritte entfernt, aber seine Knie zitterten, als er ihn erreichte. »Was ist los?«, hörte er John durch das Rauschen in seinem Kopf fragen. Er antwortete nicht, zwang sich dazu, in den Raum zu blicken. Der Stuhl war leer. Die Decke lag am Boden. Ihm war kalt. Er stellte sich vor, wie der Andere, der Fremde hinter ihnen her geschlichen war, wie er sich auf diesen Stuhl setzte und sie beobachtete, wartend, lauernd. »Was ist los?« wiederholte John und berührte ihn am Arm. George wich vor der Berührung zurück. »Wir müssen hier raus.« * »Jemand saß auf diesem Stuhl!« »Das war eine Decke.« »Nicht beim zweiten Mal!« George stemmte sich mit der Schulter gegen den schweren Schreibtisch, der das Fenster versperrte. »Ich weiß, was ich... äh, gesehen habe.« »Und was jetzt?« John steckte das Schwert in seinen Gürtel. Yoko und Paul standen an der Tür und starrten in den Korridor. Paul sagte irgendwas über Geister. »Was, hm, meinst du damit?« Der Schreibtisch rutschte zentimeterweise über den Boden. Das Dämmerlicht, das durch das Fenster fiel, ließ Georges Gesicht grau wirken. »Was wir jetzt tun sollen?«, fragte John deutlicher. »Da draußen sehe ich nur Wildnis. Es regnet in Strömen und ich schätze, dass du in einer Stunde nicht mehr die Hand vor Augen erkennen wirst.« George folgte seinem Blick durch das glaslose Fenster. Er schien darüber nicht nachgedacht zu haben. Der Wind, der durch den Raum pfiff, blähte seine Jacke auf.
»Wir würden uns den Tod holen, wenn wir die Nacht ohne Schutz und Feuer draußen verbringen müssten«, fuhr John fort. »Es ist besser, wenn wir hier bleiben.« »Und uns, hm, umbringen lassen?« »Wir sind zu viert, fast alle bewaffnet. Wenn hier jemand wäre, der uns umbringen will, hätte er das tun können, während wir bewusstlos am Boden lagen.« Er zeigte auf den Schreibtisch. »Wer weiß, ob wir diese Barrikaden nicht selber aufgestellt haben, um uns vor etwas zu schützen, das draußen lauert? Vielleicht laufen wir mitten in eine Falle.« »Vielleicht...« George klang wenig überzeugt, stemmte sich aber nicht mehr gegen den Schreibtisch. Der Blick, den er nach draußen warf, war beinahe sehnsüchtig. »Und wenn er keinen Menschen, sondern einen Geist gesehen hat?«, fragte Yoko. John hob die Schultern. Die Vorstellung war unheimlich, aber er ließ sich nichts anmerken. »Dann werden wir wohl erfahren, ob einer von uns gegen Geister kämpfen kann.« Er ging zu der Tür, die zurück in den ersten Raum führte. » Sind alle damit einver-«, begann er, unterbrach sich dann jedoch. George stand vor dem Fenster, Yoko allein am Gang. »Wo ist Paul?« Die anderen drehten die Köpfe. »Er war eben noch hier«, sagte Yoko. »Wir haben uns unterhalten.« »Paul?«, rief John in den Gang hinein. Prasselnder Regen antwortete ihm. Er lauschte einen Moment, dann zog er sein Schwert. »Er muss hier irgendwo sein.« George trat neben ihn. Sein Gesichtsausdruck sagte: Ich habe dich gewarnt, aber er sprach es nicht laut aus. Stattdessen zog er wortlos sein Schwert, nahm es wie einen Knüppel in die Hand. John wechselte von der linken auf die rechte Seite, so weit wie möglich vom Radius der Klinge entfernt. »Kann ich mein Schwert wiederhaben?« , fragte Yoko mit kläglicher Stimme. Ihre anfängliche Angriffslust war in
Nervosität umgeschlagen. Das ganze Gerede über Geister und heimliche Verfolger hatte seine Spuren hinterlassen. John nickte. Er reichte ihr sein eigenes Schwert und zog das Zweite aus dem Gürtel. Die Wunde in seinem Arm pochte dumpf, als wollte sie ihn daran erinnern, wer dafür die Verantwortung trug. »Danke.« Yoko ergriff das Schwert mit beiden Händen. Sie hielt es wesentlich sicherer als George. »Mach nur keinen Unsinn damit«, sagte John, bevor er ihr den Rücken zuwandte und in den Korridor ging. Die ersten beiden Therapieräume fand er unverändert vor, im dritten lag die Decke jetzt vor dem Stuhl auf dem Boden. Vielleicht war sie herunter gerutscht, vielleicht hatte sie jemand herunter gezogen. Er schüttelte den Gedanken ab, der unweigerlich im Verfolgungswahn enden musste, und lauschte in die Dämmerung hinein. Irgendwo raschelte etwas, oder war es eine Stimme, die unbekannte Worte flüsterte? John hob das Schwert, als er der Krümmung des Gangs folgte. Es waren nur wenige Schritte bis zu dem kleinen Bad, dessen Tür immer noch offen stand. Etwas bewegte sich darin. Er sah einen Schatten neben der umgestürzten Toilette. Neben ihm zog George die Luft ein, hatte die Bewegung wohl ebenfalls bemerkt. John hörte den Schatten flüstern. Langsam ging er zur Seite, bis er erkennen konnte, wer in dem Raum stand. Es war Paul. Er stand mit dem Gesicht zur Wand und flüsterte Unverständliches. »Mit wem redest du da?«, fragte John mit erhobenem Schwert. Paul fuhr herum. »Midd nimannde!« Die Antwort kam noch in der Drehung. »I hav nuu gebeddet.« »Zu wem hast du gebetet?«, fragte George.
»Weiß nich.« Paul hob die Schultern. »I hav gedaht, zu alle, de zuhörre. Kenn ja keii Nam.« Er wollte aus dem Bad heraustreten, aber John versperrte ihm den Weg. »Du willst mir also ernsthaft erzählen, dass du uns mitten im Gespräch heimlich verlassen hast, um auf dem Klo zu beten?« »Wa is Klo?« »Puupuu«, übersetzte George. »Ah... ja, genuu. I müsse mal un dahte, könnt I auch bedden.« »Zwei Fliegen mit einer Klappe sozusagen.« John ging einen Schritt zurück und ließ Paul vorbei. Er wartete, bis dessen breiter Rücken hinter der Biegung verschwunden war, dann ging er ins Bad und begann mit dem Schwertgriff gegen die Wand zu klopfen. »Man, äh... riecht nichts«, sagte George. »Wenn er, hm... auf dem Klo war, müsste man doch etwas riechen.« »Das denke ich auch.« Einige Kacheln zerplatzten unter dem Schwertgriff und fielen zu Boden. »Alles okee bei euch?«, rief Yoko von der anderen Seite der Biegung. »Ja!« John ließ das Schwert sinken. Die Wand klang massiv. Wenn es tatsächlich einen Durchgang gab, dann war er zu gut verborgen, um ihn mit dieser einfachen Methode zu finden. »Da, äh... gibt es noch etwas, dass mir, nun... aufgefallen ist«, sagte George nach einem Moment. Er zeigte mit der Schwertspitze auf die Toilette. »Paul schien nicht zu wissen, was das ist, und Yoko... nun, als sie, hm... bemerkte, dass es dunkel wird, wollte sie eine Fackel, während du nach einer, äh, Taschenlampe gefragt hast.« John sah ihn an und wartete auf die Schlussfolgerung dieser Beobachtungen. »Und?«, sagte er schließlich, als George nicht weiter sprach.
»Oh... ich, äh, ich dachte, das sei... nun, offensichtlich... Entschuldigung.« George sah sich kurz um und fuhr dann leiser fort. »Die beiden stehen nicht auf der... äh, das meine ich nicht abwertend, gleichen Zivilisationsstufe wie du und ich.« Es war tatsächlich offensichtlich, aber John dachte kaum darüber nach. Stattdessen fragte er sich, weshalb George diese Information mit ihm teilte. Wollte er eine gemeinsame Basis schaffen? »Glaubst du, sie gehören zusammen?« »Ich, äh, weiß es nicht. Sie sprechen nicht die, hm, gleiche Sprache.« »Wir schon«, sagte John. »Wahrscheinlich waren wir zusammen unterwegs, als was auch immer passierte. Wir sollten uns gegenseitig den Rücken frei halten. Was meinst du?« »Natürlich, warum, äh, nicht.« Die Antwort war alles andere als enthusiastisch, aber John ignorierte den Tonfall. Es herrschte zu viel Misstrauen in der kleinen Gruppe. Ständig belauerten sie sich, achteten auf jedes Wort und auf jede Bewegung der anderen. Ein halb gelogenes, zweifelndes Versprechen war immerhin ein Anfang. Und den mussten sie machen, sonst würden sie sich früher oder später gegenseitig umbringen. Um ihn herum flossen die Schatten ineinander. Die Nacht kam. * »Kannsde verstehn, was sie sagn?«, fragte Paul. Yoko drehte sich um und schüttelte den Kopf. »Nein, sie sprechen zu leise und zu schnell. Sie wollen wohl nicht, dass wir mithören.« »Das pass mir nit.« »Mir auch nicht.«
Sie gingen zurück in den Raum mit dem aufgestellten Tisch. Yoko hockte sich an die Wand und stützte die Arme auf den Schwertgriff. Paul blieb an der Tür stehen. Seine Blicke glitten vom Gang zum Fenster und wieder zum Gang. »I hav nachgedaht«, sagte er schließlich, ohne den Blick vom Gang abzuwenden. »Du und I, wir gehörn nich zu dene. Wir sin anners.« Er sprach deutlicher als zuvor. »Was meinst du damit?«, fragte Yoko vorsichtig. »Die kenne Sache, de wir nich kenne. Die trage anne... andere Stoffe, bessere Stiefel, nich?« Die gleiche Beobachtung hatte sie auch gemacht. Nicht nur in ihren Sprachen unterschieden sie sich, sondern auch in ihrem Wissen und ihrem Verhalten. Fast so, als kämen wir aus unterschiedlichen Welten, dachte sie. Paul schien ihr Schweigen als Zustimmung zu verstehen. » Un da hab I mir gedaht, gibt nu zwee Ding, die hie passiet sein könne. Ennwedde sinn wir Diener, die weglaufe taten, odde wir sinn Freie, die se als Diener haben wolle. Nich?« Er sagte Diener, aber er meinte Sklaven. Yoko biss sich auf die Lippe. »Du glaubst, dass die beiden Sklavenhändler sind?« »Vielleicht. Et pass zu dem, wa I seh.« »Ich weiß.« Sie kam auf die Beine und sah nach draußen, wo das letzte Licht hinter den Baumwipfeln verschwand. »Aber es gibt auch andere Erklärungen.« Sie sträubte sich gegen Pauls Idee. Nach der ersten Panik hatte sie begonnen, sich bei den anderen wohl zu fühlen. Ein Teil von ihr sehnte sich nach der Geborgenheit, die man nur in einem festen Verbund fand, in einer Gruppe, in der jeder seine Aufgabe kannte und niemand den anderen hinterging. Es wäre naiv gewesen, unter diesen Umständen auf eine solche Geborgenheit zu hoffen. Das wusste Yoko, auch wenn es nichts an ihren Wünschen änderte. Bis sie ihr Gedächtnis zurück erlangte, würde ihr die Gewissheit reichen, dass alle auf
der gleichen Seite standen, doch das wurde immer unwahrscheinlicher. Nur wenige Stunden waren vergangen, aber die Gruppe stand bereits kurz vor einer Spaltung. »Wir müssen uns aufeinander verlassen können«, sagte sie leise. »John ist der Gefährlichere der beiden. Wenn es zum Kampf kommt, muss er –« »Jee«, unterbrach Paul und kratzte sich am Kopf. »Hunge hav I auh.« Yoko hörte Schritte auf dem Korridor. »Allerdings«, stimmte sie laut zu. »Wir wissen nicht einmal, wie lange unsere letzte Mahlzeit zurückliegt.« »Oder wie lange es bis zur nächsten dauern wird.« John betrat den Raum und ging ohne stehen zu bleiben zur nächsten Tür. Yoko bemerkte, wie er auf das Schwert in ihrer Hand blickte. George folgte ihm. »Richtig. Wir, äh, sollten nach Nahrung suchen und nach etwas, in dem wir das, hm, Regenwasser sammeln können. Ich glaube nicht, dass es hier fließend Wasser gibt.« Ein weiterer Begriff, den ich nicht kenne, dachte sie. Paul nickte, als sei das eine Bestätigung seines Verdachts. »Kommt ihr?«, fragte George aus dem nächsten Raum. »Ja«, sagte Yoko. Sie sah Paul an. Seine Augen waren kalt und entschlossen. * Sie wartete. Eingeklemmt zwischen der Schreibtischplatte und der hölzernen Fensterbank hockte sie am Boden und wagte kaum zu atmen. Sie zählte hundert Herzschläge Stille, dann erst schob sie sich langsam aus ihrem Versteck. Ihre Beine waren eingeschlafen und stachen bei jeder Bewegung. Zweimal hatte sie geglaubt, man würde sie entdecken. Als John in den Raum stürmte und als George den Schreibtisch zur
Seite zu schieben begann. Mit dem Gewehr in der Hand hatte sie hinter der Platte gehockt und sich gefragt, ob sie den Abzug durchziehen würde. Eine Frage, auf die sie immer noch keine Antwort gefunden hatte. Sie schlich zur Tür und sah vorsichtig hindurch. Die anderen hatten den Raum verlassen, in dem sie aufgewacht waren. Sie waren durch eine Holztür auf der anderen Seite verschwunden. Man konnte ihre Stimmen gerade noch durch das dicke Holz hören. Sie fluchte leise. Es gab nur zwei Türen in diesem Raum. Die, in der sie stand und die in einer Sackgasse endete, und die, hinter der die anderen verschwunden waren. Ich muss hier raus, dachte sie. Je länger sie sich in dem Gebäude aufhielt, desto unheimlicher wurde es ihr. Es roch alt, modrig und irgendwie tot. Die Luft schien sie zu erdrücken, und da waren Blicke in ihrem Rücken, die selbst dann nicht verschwanden, wenn sie sich umdrehte und auf die leeren Wände blickte. Yoko hatte von Geistern gesprochen. Vielleicht hatte sie Recht. Sie trat ans Fenster. George hatte den Tisch so weit zur Seite geschoben, dass sie nach draußen klettern konnte. Einen Moment dachte sie darüber nach, dann kletterte sie auf den Fenstersims. Der Wind war kühl und trieb den Regen in ihr Gesicht. Sie leckte das Wasser von den Lippen, wusch den Geruch des Hauses von ihrer Haut. Die anderen hatten Angst vor der Dunkelheit und der Nässe, sie nicht. Mit einem Sprung landete sie in dem kniehohen Gras. Das Gewehr lag in ihrer Armbeuge, ihre Haltung war geduckt. Sie lauschte in den Wald hinein, der am Rande der Lichtung begann. Die Geräusche der Nacht und des Regens antworteten ihr. Sie hörte Baumstämme knarren, Blätter rauschen und Regentropfen fallen. Irgendwo schrie ein Nachtvogel.
Die Geräusche erschienen ihr vertrauter als alles, was sie in den letzten Stunden gehört hatte. Sie stellte sich vor, dass sie schon immer hier gelebt hatte. Vielleicht hatte sie gejagt und Fallen gestellt und die Felle auf einem Markt gegen Kleidung und Mehl getauscht. Hatten die Sklavenhändler sie zufällig entdeckt, sie verfolgt und versucht, ihr all das zu nehmen? Sie fühlte plötzliche Wut, als sie über die Lichtung und zwischen die ersten Baumstämme trat. Niemand hatte das Recht, sie wie Eigentum zu behandeln. Der Wald wurde dichter, der Regen stärker. Ihre Haare lagen schwer auf ihren Schultern. Kaltes Wasser lief bis in die Stiefel. Es war so dunkel, dass sie kaum mehr als eine Speerlänge weit sehen konnte. Eine Höhle wäre gut, dachte sie. Oder ein großer Baum mit ausladenden Ästen. Der Nachtvogel schrie erneut und sie fragte sich, ob er wohl schmecken würde. Sie zuckte zusammen, als ein Ast knackte und etwas blökte. Es war ein rauer, tiefer Laut. Mit angehaltenem Atem blieb sie stehen. Das Knacken wurde lauter. Ihre Blicke suchten nach Konturen in der Dunkelheit, aber die Nacht selbst schien sie täuschen zu wollen. Da waren Schatten, die vor ihren Augen tanzten, und Silhouetten, die verschwanden, wenn ihr Blick auf sie fiel. Sie wich langsam zurück. Auf dem weichen Waldboden war sie beinahe lautlos. Ihr Zeigefinger berührte den Abzug des Gewehrs. Als sie die Gestalt schließlich entdeckte, fragte sie sich, wie sie sich bis jetzt hatte verbergen können. Das Tier, wenn es denn eines war, ragte weit aus dem Unterholz heraus. Seine langen Hörner waren noch vorne gerichtet, die leuchtend gelben Augen richteten sich auf die Frau mit dem Gewehr. Es blökte dunkel.
Sie drückte ab. Ihr Finger zog den Abzug durch, aber nichts geschah. Kein Knall, kein Lichtblitz, keine Klinge, die hervorzuckte – einfach nichts. Blökend durchbrach das Tier das Unterholz. Es war so groß wie ein Mensch und vermutlich auch so schwer. Wasser lief von seinem Hornpanzer und es hielt den Kopf gesenkt wie einen Rammbock. Sie sah, wie Lehm unter seinen Hufen aufgeschleudert wurde. Rückwärts stolpernd drückte sie immer wieder den Finger gegen den Abzug, hoffte und betete, dass das Tier endlich fallen würde. Aber das tat es nicht. Es kam nur immer näher, viel schneller, als sie erwartet hätte. Schon ließ sie die Bäume hinter sich und stand wieder auf der Lichtung. Das Haus war weniger als einen Speerwurf entfernt, aber sie wusste, dass sie es nicht schaffen würde. Das Tier blökte lauter, als hätte es das ebenfalls erkannt. Die Zähne in seinem Maul waren spitz und lang wie Finger. Die Frau drehte sich zu ihm um. Sie griff nach dem Lauf der Waffe und holte mit ihr aus wie mit einem Knüppel. Die Bäume verschwanden hinter dem Berg aus Muskeln, Horn und Zähnen, der ihr entgegendonnerte. Gelbe Augen leuchteten. Sie schrie. * »I geh da nit rein.« »Ich, äh... auch nicht.« John hockte sich auf den Boden und sah die Treppe hinunter, die irgendwo in der Schwärze endete. Über seinem Kopf führte eine zweite Treppe nach oben. Sie endete in einer Falltür. Er hatte versucht, sie zu öffnen, aber entweder war sie verriegelt oder etwas Schweres stand darauf. Der einzige andere Ausgang führte über die andere Treppe nach unten in
den Keller. Der Rest des schmalen Raums war fenster- und türlos. »Wenn wir wenigstens eine Taschenlampe hätten«, sagte John und stand auf. »Oder ein paar Fackeln«, fügte er mit einem Blick auf Yoko hinzu. »Aber die haben wir nicht«, antwortete sie. Er hörte die Erleichterung in ihrer Stimme. »Bis zum Morgen können wir nichts tun.« »Un nix esse«, sagte Paul und stieß die Holztür auf, die zurück in den Raum führte, den sie als ihr Hauptquartier bezeichneten. Die anderen folgten ihm, und nach einem letzten Blick in die Schwärze folgte auch John. Sorgfältig verschloss er die Holztür mit einem Riegel und klemmte den einzigen Stuhl im Raum unter den Griff. Dann drehte er sich um. »Wie sind wir hier rein gekommen?«, fragte er. »Von diesem Zimmer führt kein direkter Weg nach draußen.« »Nun, hm, wir könnten seit längerer Zeit –« Ein lautes Blöken unterbrach George, dann ein Schrei. Er fuhr herum und starrte auf die vernagelten Fenster. »Das kam von draußen!« John schob sich an ihm vorbei ins andere Zimmer. Jemand war da draußen, jemand, der vielleicht endlich Antworten auf seine Fragen hatte. Er war es leid, diese Ratespiele gegen sich selbst und die anderen zu spielen. Er brauchte Gewissheit. Einen Moment zögerte er noch, dann stieg er durch das Fenster. Der Boden war aufgeweicht und schmatzte unter seinen Sohlen. Hinter ihm kletterten zuerst George, dann Yoko ebenfalls auf die Lichtung. Nur Paul blieb am Fenster stehen. Bereits nach wenigen Schritten war seine Silhouette nicht mehr zu sehen. »Bleibt zusammen«, flüsterte John. Der Regen durchnässte sein T-Shirt und rann ihm in die Augen. Mit beiden Händen hielt er das Schwert fest. Vor ihm bildeten die Bäume eine undurchdringliche schwarze Wand. Er hoffte, dass die
Unbekannte – er war sich sicher, dass eine Frau geschrien hatte – nicht in den Wald gelaufen war. In der Dunkelheit war sie dort unauffindbar. »Dieses... äh, Geräusch vor dem Schrei«, sagte George leise. »Das klang nach einem, nun, recht großen... Tier.« John nickte. »Ja.« Er bemerkte einen Schatten auf der Lichtung, der wie ein Felsen aussah. Yoko hatte ihn wohl ebenfalls bemerkt, denn sie fasste zuerst George, dann John am Arm und zeigte darauf. »Da ist etwas«, flüsterte sie. Mit erhobenen Schwertern gingen sie näher heran. Es war kein Felsen, das erkannte John rasch. Kein Fels stank so fürchterlich und hatte auch keine Beine. Oder Hörner, fügte er hinzu, als sein Gehirn die Gestalt in der Dunkelheit zusammenzusetzen begann. Ihm stockte der Atem. Er sah einen Hornpanzer, dorngeschützte Hufe, kurze Ohren und einen eingedrückten Schädel, der ihn vage an ein Schaf erinnerte. Die kleinen gelben Augen waren aufgerissen und trüb, das Maul geschlossen. Spitze Reißzähne ragten über die Lefzen. John wich zurück. Ein merkwürdig dumpfes Gefühl breitete sich in seinem Magen aus. Sein Mund wurde trocken. »Alles in Ordnung?«, hörte er George fragen. Er schüttelte den Kopf. »So ein Tier...«, sagte er rau, »so ein Tier gibt es nicht. Ich bin mir sicher. Das...« Es fiel ihm schwer auszudrücken, was er meinte. Seit er aufgewacht war, hatte er gespürt, dass etwas nicht stimmte. Nicht nur mit seinem Gedächtnis, sondern mit allem – mit dem verfallenen Haus, mit dem Schwert in seiner Hand, mit den Menschen. Der Anblick der toten Monstrosität zu seinen Füßen spülte das Gefühl wie eine Welle nach oben. Ihm wurde schwindelig, als die Realität in seinem Geist versank. »Das alles hier ist falsch«, sagte er. Seine Stimme zitterte. »Die Welt ist anders. Niemand würde... Es gibt...« Er suchte nach Worten für die Erinnerungen, die er spürte, aber sie
entzogen sich ihm. Schließlich senkte er frustriert den Kopf. Regenwasser tropfte auf seine Stiefelspitzen. »Es gibt solche Tiere nicht«, wiederholte er. Ein paar Minuten standen sie schweigend in der Dunkelheit, dann räusperte sich George. »Wir, hm... sollten wieder rein gehen, John. Der Regen wird stärker.« Er widersprach nicht, steckte nur langsam sein Schwert in den Gürtel und ging zum Fenster. Die Suche nach der Unbekannten hatte er fast vergessen. Morgen, dachte er müde. Wenn es hell ist, suchen wir weiter. Bei dem Wetter kann sie nicht weit kommen. Er ließ Yoko als Erste ins Innere klettern und blickte hinauf in den Himmel. Der Regen fiel in sein Gesicht und die Dunkelheit war so absolut, dass sie ihn hinunter zu drücken schien. »Meine Welt war heller«, sagte er leise. »Viel heller.« * Sie nannten ihn Paal, aber sein richtiger Name war Robbad. Am Fenster stehend wartete er, bis seine Opfer in der Nacht verschwunden waren, dann drehte er sich um und ging mit raschen Schritten zu der Treppe, die nach unten führte. »Seid ihr hier?«, fragte er in das schwarze Viereck hinein. »Ja«, flüsterte eine Stimme zurück. »Das sind wir.« Robbad setzte sich auf die oberste Treppenstufe. »Wir wären eben beinahe erwischt worden. Diese Gruppe ist misstrauischer als alle, die ich bisher erlebt habe.« »Das ist gut für unsere studiis.« Die Stimme kicherte. »Aber schlecht für mich. Was sind das überhaupt für Typen?« Er wartete auf eine Antwort, doch die blieb aus. Er seufzte leise. »Was soll ich jetzt tun?«
»Ist es wahr, dass die spezzimins die Symbole an den Wänden lesen können?« Die Stimmen benutzten immer so seltsame Worte. Studiis, Spezzimins – Robbad hatte gelernt, sie zu verstehen, auch wenn er nicht wusste, was sie bedeuteten. »Ja, die beiden Männer können sie lesen. Ich glaube, die Frau kann das nicht.« »Gut«, sagte die Stimme. Er hörte, wie etwas über die Treppenstufen rutschte. »Lass sie das finden.« Robbad stand auf, ging zwei Stufen weit in die Dunkelheit und hob einen rechteckigen, in Leder eingeschlagenen Gegenstand auf. »Was ist das?« »Gib es ihnen.« Die Stimmen schienen nicht in der Stimmung für Erklärungen zu sein. Er nickte, wandte sich ab und wollte gerade zurück zur Tür gehen, als das Flüstern ihn aufhielt. »Wo ist dein Bruder?« Robbad schluckte. »Deev? Der konnte nicht kommen. Hat sich den Fuß verstaucht.« Seine Worte klangen beiläufig, obwohl sich sein Magen verkrampfte. Er war ein guter Lügner. »Keine Sorge«, fügte er hinzu, »Ich kann die Aufgabe auch allein erledigen.« »Das hoffen wir«, flüsterte die Stimme. »Im Moment reicht es uns, wenn du weiter das Misstrauen unter den Spezzimins schürst, aber vielleicht werden wir noch mehr von dir verlangen.« »Kein Problem.« Er sah zur Tür. »Was ist mit der Frau, die abgehauen ist?« »Sie spielt für dich keine Rolle. Wir kümmern uns um sie.« Robbad wusste nicht genau, wieso ihn der Satz so anwiderte. Vielleicht lag es an der Vorstellung, die er damit verband, vielleicht auch an dem abstoßend süßen Tonfall, mit dem die Stimme sprach. »Okee. Dann melde ich mich morgen früh wieder.«
Er war froh, das Treppenhaus verlassen zu können. In den anderen Räumen erschien ihm die Luft leichter und klarer, so als wäre er aus den Sümpfen auf einen Berg geklettert. Als er das Fenster erreichte, hörte er die anderen bereits durch den prasselnden Regen miteinander reden. Er bückte sich und schob den Gegenstand unter den Schreibtisch. Dann lehnte er sich an die Wand. Das Misstrauen sollte er schüren, das hatten die Stimmen verlangt. Robbad arbeitete seit dem Tod seines Vaters vor mehr als zehn Wintern mit den Flüsterern zusammen, aber ihm war noch nie eine Gruppe begegnet, die von sich aus so viel Misstrauen zeigte – und so seltsam war. Mit der Glocke auf dem Dach hatten die Stimmen ihn am Nachmittag gerufen. Er hatte geglaubt, er solle eine neue Gruppe anlocken, aber die Menschen hatten bereits im Haus gelegen, als er eintrat. Das war ungewöhnlich. Normalerweise verirrte sich niemand in dieses Tal. Die Bauern in den umliegenden Tälern wussten, dass Menschen hier verschwanden und nie wieder auftauchten. Sie nannten es das Tal des Vergessens. Vielleicht waren sie unterwegs zu diesem König, von dem alle reden, dachte er, ohne sich wirklich dafür zu interessieren. Auf Befehl der Stimmen hatte er einige Gegenstände entfernt, aber der Gruppe die Waffen gelassen. Manchmal verlangten die Stimmen, dass er die Menschen auszog oder die Kleider untereinander tauschte. Er tat auch das, wenn sie es wollten. Unwillkürlich dachte er an Deev. Seit zwei Wochen war sein Bruder verschwunden. Er war ein paar Männern gefolgt, die sie den Flüsterern anbieten wollten, und seitdem nicht wieder aufgetaucht. Robbad hatte Angst, was passieren würde, wenn die Stimmen davon erfuhren. Er hatte sogar schon darüber nachgedacht, das Tal zu verlassen, aber noch schreckte er davor zurück. Seit Generationen trieb seine Familie Handel
mit den Flüsterern, tauschte Arbeitskraft und Menschen gegen Schiips. Es war ein gutes und reiches Leben. Bitte lass mich nicht im Stich, Deev, dachte er. Robbad sah auf, als Yoko durch das Fenster kletterte. Der Regen perlte von ihren Haaren ab und sie schüttelte sie sich wie ein nasser Lupa. »Irgendwas gefunden?«, fragte Robbad. »Nur ein großes totes Tier mit vielen Hörnern.« Er grinste, als ihm klar wurde, was sie meinte. »Abendessen.« * Das Tier hinterließ eine Spur aus Blut, Schlamm und Wasser auf dem Boden. John zog es bis zu dem Gang, der zu den Therapieräumen führte. Er hoffte, dass der Durchzug dafür sorgte, dass es nicht das ganze Haus voll stank. Aus dem Hauptquartier drang flackernder Feuerschein in den Raum. Yoko und Paul hatten den Stuhl zertrümmert und einige Bretter von den Fenstern gerissen. Gemeinsam war es ihnen gelungen, ein Feuer zu entzünden. Die Flammen brannten noch zaghaft, spendeten aber bereits Wärme und Licht. John fühlte, wie der Anblick seine Stimmung verbesserte. »Wärme, Nahrung und Licht«, sagte George abwesend. Er lehnte im Türrahmen und betrachtete den Raum. »Das ist alles, was wir, hm, brauchen, und vielleicht alles, was wir erwarten können. Was, äh, wäre... was wäre, wenn wir immer so leben müssten, wenn unser... nun, äh, Gedächtnis jede Nacht gelöscht würde und wir am Morgen als Unbekannte erwachten, wie eine Art... wie eine tägliche Reinkarnation. Und was, wenn das höchste Glück, das wir in dieser, äh... sinnlosen, verlorenen Existenz hätten, genau das hier ist: Wärme, Nahrung, Licht.
Mehr gibt es nicht. Das ist alles, was wir, äh... jemals erreichen können. Wäre das furchtbar oder wunderbar?« Yoko und Paul starrten ihn an, die klein geschnittenen Bretter vergessen in den Händen haltend. George bemerkte die plötzliche Aufmerksamkeit und strich sich verlegen mit der Hand durch die nassen Haare. »War nur so ein, äh... Gedanke.« »Lass uns den Schreibtisch wieder vors Fenster schieben, okay?« John begann zu ziehen, während George sich dagegen stemmte. Der Tisch rutschte über den Boden. Etwas unter der Platte wurde hervorgeschoben und stieß gegen Johns Stiefelspitze. »Warte mal«, sagte er und bückte sich. Der Gegenstand war in Leder eingeschlagen. Vorsichtig deckte er ihn auf, bis eine glatte Fläche vor ihm lag. Darauf waren verblichene bunte Blumen zu sehen, zwischen denen braune Kaninchen hockten. Ein geschwungener Schriftzug verkündete: Mein Tagebuch. »Siehst du?«, sagte John und zeigte auf die Kaninchen. »So sollten Tiere aussehen.« Sein Blick glitt zu dem stinkenden Kadaver in der Ecke. »Nicht so.« George hockte sich neben ihn. »Mach es auf.« Der Einband ließ sich mühelos aufklappen. Es gab zwar ein kleines Metallschloss, doch das hing offen nach unten. Die Seiten waren in einer sauberen Schrift eng beschrieben. An manchen Stellen war das Papier vergilbt, an anderen war das Alter kaum zu erkennen. John hielt die Seiten dem Feuerschein entgegen. »Neunzehnter Erster Zweitausendzwölf«, las er vor und stutzte dann. »Den Rest kann ich nicht lesen.« »Zeig mal.« George beugte sich vor. Er kniff die Augen zusammen und nickte dann sichtlich zufrieden. »Das ist Walisisch.« »Kannst du es lesen?« »Ja.«
Pauls Schatten fiel breit durch die Tür. Er trug zwei Schwerter, die er in den Kadaver rammte. »Das Feur brenne«, sagte er, während er mit dem einen Schwert den Hornpanzer aufbog und mit dem anderen zu schneiden begann. »Jezz felt nu no da Fleesch.« Er drehte den Kopf. »Was habt ihr denn da gefunden?« »Nichts«, antwortete John instinktiv, bevor George etwas sagen konnte. »Nur altes Zeug.« »Okee.« Pauls Antwort kam zögernd, aber er hakte nicht nach. George wickelte das Buch wieder in Leder ein und steckte es in die Außentasche seiner Hose. »Genau«, sagte er und räusperte sich. »Nichts... äh... Wichtiges. Kaum der Erwähnung wert und...« Er schien zu bemerken, wie schlecht er log, denn er brach ab. »Ich sollte wohl besser die nasse Jacke ausziehen.« John folgte ihm ins Hauptquartier. Die Aufregung über den Fund ließ ihn Hunger, Müdigkeit und Desorientierung vergessen. Vielleicht steckten in diesem Buch die Antworten auf all seine Fragen. Neben ihm zog George seine Jacke aus und legte sie ans Feuer. Er behielt eine Hand in der Tasche, als wolle er das Buch nicht loslassen. Yoko saß mit übereinander geschlagenen Beinen am Boden und sah ihn an. »Was hast du denn da am Hals?«, fragte sie. John tastete nach seiner Kehle, bemerkte dann jedoch, dass sie George angesprochen hatte. Der hob die Hand und berührte eine dünne, durchsichtige Kanüle, die dicht oberhalb des Schlüsselbeins in seinem Hals steckte. Seine Augen weiteten sich. »Was... was ist das?« Die Kanüle endete in einem flachen Beutel, der in einer eingenähten Tasche auf der Innenseite seines Hemdes steckte. Eine Flüssigkeit schwappte darin.
John sah die Panik in Georges Blick. »Zieh die Kanüle nicht raus! Du hast keine Ahnung, wozu dieses Zeug gut ist.« »Das, äh, ist genau das Problem. Hat jemand außer mir so was im Hals?« Yoko tastete ihren Hals unter den Haaren ab und schüttelte den Kopf. »Is was?«, fragte Paul, als er im Türrahmen stehen blieb. In einer Hand hielt er die beiden Schwerter, in der anderen blutige Fleischklumpen. »Steckt irgendwas in deinem Hals?«, fragte Yoko. Paul warf das Fleisch auf den Boden und strich über sein Genick. »Nee, sollte da wa stecke?« »Kommt darauf an, wen du fragst.« John ahnte, dass George sich jetzt so ähnlich fühlte, wie er sich eben gefühlt hatte. Es war zutiefst verstörend, wenn einem etwas, das man als selbstverständlich gesehen hatte, plötzlich entrissen wurde – ob es sich um die Welt handelte, in der man lebte, oder um den eigenen Körper. »Hey George«, sagte er. »Vielleicht findest du die Antwort auf diese Frage, wenn du liest.« »Ja, äh... das wäre möglich.« Georges Gesicht hellte sich auf. Seine Finger ließen die Kanüle los und griffen nach dem Buch in seiner Tasche. Vorsichtig, so als hielte er einen Schatz, nahm er aus dem schützenden Leder heraus. Yoko beugte sich vor. »Was ist das?« »Nu aldes Zeuch.« Paul spießte einen Fleischklumpen mit seinem Schwert auf und hielt ihn ins Feuer. Sein Blick traf John. »Stimm doch?« »Ja, ein altes Buch, nichts weiter.« Er fragte sich, warum er den beiden nicht die Wahrheit sagte. War es wirklich ein Instinkt, der ihn davor warnte, oder wollte er durch das Wissen, das sich hoffentlich in dem Buch befand, einen Vorteil verschaffen?
Wir werden sehen, dachte er, während George neben ihm das Buch aufschlug und zu lesen begann. * »Er liest es!« Die Flüsterer krallten ihre Hände ineinander. »Seht doch! Er liest die Symbole.« Atemlos sahen sie zu, wie die Blicke des Spezzimins über die Seiten glitten. Jeder von ihnen wünschte sich, er könne durch seine Augen blicken und mit seinem Wissen lesen. Seit Jahrhunderten pflegten sie das Buch mit größter Sorgfalt, ohne zu wissen, was sich darin verbarg. Es jetzt geöffnet zu sehen, löste Ehrfurcht aus und Neid. »Was sollen wir jetzt tun?«, fragte einer. »Was schon?«, sagte ein anderer. »Wir setzen die studiis fort. Persönliche Beweggründe dürfen unsere Objeetivitet nicht trüben.« Es war einer der Standardsätze, die über Generationen weitergereicht wurden. Objeetivitet war die Grundlage der wiischaftchen Forschung. Ohne sie konnte es keine korrekten studiis geben. »Aber dann werden wir vielleicht nie erfahren, was in dem Buch steht«, sagte ein Flüsterer. Seine Antwort war ein Schulterzucken. »Das liegt nicht in unserer Hand. Wir konnten nur den Weg für eine Erkenntnis ebnen. Über den Rest wird die Wiischaft entscheiden.« Mehr gab es nicht zu sagen. Die Flüsterer schwiegen und starrten auf die Hand, die eine Seite nach der anderen umblätterte. * Es hörte einfach nicht auf zu regnen. Die Frau ohne Namen blickte sehnsüchtig zum Waldrand und zu den Bäumen, die ein
wenig Schutz versprachen. Zweimal hatte sie versucht, dorthin zu gelangen, zweimal hatte das Blöken der Tiere sie zurückgetrieben. Ins Haus konnte sie auch nicht. Die anderen hatten den Tisch wieder vor das Fenster geschoben, und alle anderen Türen und Fenster waren entweder vergittert oder mit Brettern vernagelt. Das Blöken kam näher. Die Tiere witterten sie. Zitternd blieb sie vor dem Gebäude stehen. An einer Stelle direkt vor ihr fiel der Regen wie ein Wasserfall zu Boden. Eine Senke hatte sich dort gebildet und ein kleiner Bach, der zum Wald hin floss. Sie sah nach oben, vorbei an dem vernagelten Fenster, vor dem sie stand. Ein Rohr endete rund eine Speerlänge über ihrem Kopf. In der Dunkelheit konnte sie nicht richtig erkennen, wie es befestigt war, aber sie glaubte Metallringe zu sehen, die es umschlossen. Weiter unten entdeckte sie aufgerissene Ringe. Anscheinend hatte das Rohr früher bis in den Boden gereicht. Hinter ihr blökte es laut. Sie musste hier weg. Einen Augenblick zögerte sie, dann schlang sie sich das Gewehr über die Schulter. Am Kolben klebten Fell- und Knochenreste. Sie hatte sie nicht entfernt, sondern trug das Gewehr wie eine Trophäe. Es war schwer gewesen, das Tier zu erschlagen, und sie war stolz, dass es ihr gelungen war. Ein Sprung brachte sie auf den Fenstersims. Sie tastete sich an der Mauer entlang, suchte nach Einkerbungen und Lücken, in denen sie sich festklammern konnte. Ihre Stiefelspitze fand einen Spalt, dann noch einen. Mühsam kletterte sie nach oben. Sie versuchte nicht daran zu denken, wie weit entfernt das Dach noch war, sondern konzentrierte sich nur auf das Rohr und die Hoffnung, daran wie an einer Leiter empor klettern zu können. Ihre Wadenmuskeln verkrampften sich, ihre Finger schmerzten. Schon bald spürte sie weder die Kälte noch den
Regen, nur die Schmerzen ihres Körpers. Sie schloss die Augen, verließ sich ganz auf ihren Tastsinn. Stück für Stück kletterte sie weiter. Nach einer Ewigkeit berührten ihre Finger Metall. Sie öffnete die Augen. Das Rohr hing direkt neben ihr. Die Ringe, die es festhielten, wurden durch lange Metallstifte mit dem Mauerwerk verbunden. Vorsichtig setzte sie den Fuß auf einen der Stifte. Er federte ein wenig nach, hielt jedoch. Die plötzliche Erleichterung ließ sie grinsen. Der schwierigste Teil des Weges war geschafft. Die Stifte lagen so weit auseinander, dass sie sich auf die Zehenspitzen stellen musste, um sie zu erreichen, aber trotz des Regens rutschte sie nur einmal ab, bis sie endlich das Dach erreichte. Vorsichtig blickte sie über den Rand. Entweder waren die anderen noch nicht bis hierher vorgedrungen oder sie hatten es versäumt Wachen aufzustellen, denn es war niemand zu sehen oder zu hören. Trotzdem ging sie geduckt über den flachen Boden, der eine Handbreit unter Wasser stand. An einer Seite befand sich eine offen stehende Tür und eine Treppe, die nach unten in die Dunkelheit führte. Sie schreckte vor dem Geruch und der Ungewissheit zurück. Bei Tag und in der Nähe der anderen war ihr das Gebäude schon unheimlich gewesen. Die Vorstellung, es allein bei Nacht zu betreten, ließ ihren Magen schmerzen. Nur wenn es nicht anders geht, dachte sie. Einen halben Speerwurf entfernt ragte etwas aus der Dunkelheit, das wie ein längliches, aber niedriges Gebäude aussah. Sie hielt das Gewehr am Lauf gepackt und ging langsam darauf zu. Als sie näherkam, bemerkte sie, dass das Dach zum Teil aus einer undurchsichtigen schwarzen Glaskuppel bestand. Es gab einen Eingang, der nicht verschlossen war. Sie blieb davor stehen und sah hinein. Mehrere Sessel standen vor einer
Wand, auf der Lichter wie gefangene Gluuwume blinkten. Blaues Licht erhellte das Innere. Es ging von zwei kleineren Scheiben in einer der Wände aus. Sie sah tanzende Striche darauf und fragte sich, welche Macht in der Lage war, Striche zum Tanzen zu bringen. Das Innere des Hauses roch seltsam, aber nicht unangenehm. Sie blickte nach rechts, in das nächste Zimmer. Kisten standen an der Wand. Es gab einen Tisch, weitere Scheiben, blinkende Lichter und Gegenstände , deren Zweck sie nicht verstand. Wasser tropfte aus ihren Haaren auf den Metallboden. Das Geräusch ging im Prasseln des Regens unter. Sie schritt durch das Zimmer und blieb vor einigen Betten stehen, die anscheinend aus der Wand geklappt werden konnten. Eine Decke hängte sie sich über die Schultern, eine zweite wickelte sie um ihren Körper. Dann legte sie das Gewehr zur Seite und setzte sich auf die weiche Matratze. Die Spannung der letzten Stunden fiel von ihr ab. Das Zittern ließ nach, als sich die Wärme in ihr ausbreitete. Sie hatte Schutz vor dem Regen und der Nacht gefunden. Zumindest in diesem Moment war sie in Sicherheit. Aber ich darf nicht leichtsinnig werden, dachte sie. Wer immer hier lebt, kommt vielleicht bald zurück. Ich muss aufmerksam bleiben. Die Augen fielen ihr zu. Sie glaubte in ein tiefes dunkles Loch zu stürzen. Es gab Bilder dort, die so schnell an ihr vorbeischossen, dass sie sie nicht festhalten konnte. Ihr Leben war dort in diesem Tunnel, sie konnte es spüren. Verzweifelt versuchte sie ihren Sturz zu bremsen. Wenn sie doch nur eines der Bilder betrachten könnte. Beinahe hätte sie aufgeschrien, als eine Stimme sie aus dem dunklen Tunnel riss. »Hier ist Salisbury Control für Crusader. Wir erwarten Ihre Abendmeldung, Crusader. Salisbury Control, over.«
*
Draußen prasselte der Regen, drinnen das Feuer. Yoko hatte sich auf die Seite gelegt und blickte in die Flammen, die ihr Gesicht wärmten. Der Boden unter ihr war kalt, aber das spürte sie kaum. Die Kälte drang weder durch ihre Kleidung, noch durch ihre Haut. Paul saß ein Stück entfernt an der Wand. Er hatte Yoko gesagt, er wolle John die erste Wache nicht allein überlassen, aber wenn sie lauschte, konnte sie sein Schnarchen hören. Nach den Fleischmengen, die er gegessen hatte, wunderte sie sich nicht, dass er eingeschlafen war. George lag auf der anderen Seite der Flammen. Er benutzte seine Jacke als Kopfkissen und las im Schein des Feuers. John stand neben ihm, an den Türrahmen gelehnt. Er wirkte ungeduldig, wartete wohl darauf, dass George ihm sagte, was er erfahren hatte. Wenn sie als Erste wissen, was hier vorgeht, werden sie es uns auch sagen?, fragte sich Yoko. Oder werden sie uns belügen? Feinde würden lügen, Freunde ihr Wissen teilen. So einfach war das. Sie spürte, wie die Müdigkeit ihren Geist zu lähmen begann. Es behagte ihr nicht, unter den Blicken der anderen zu schlafen, aber ihr Körper ließ ihr keine Wahl. Einen Moment kämpfte sie noch gegen den Schlaf an, dann erschlaffte sie bereits – und sah Bilder aus einem See aufsteigen. Glühende Lava wogte bis zum Horizont, und sie blickte in einen violetten Himmel. Ein Komet zog darüber hinweg. Sein Schweif verlor sich in der Unendlichkeit des Alls. Etwas berührte sie. Eine grüne, schuppige Echsenhand. Und während sie darauf blickte, verwandelte sie sich in eine fellbedeckte Klaue, und weiter in einen biegsamen Tentakel. Er zog sie mit
sich, und sie ließ sich führen, vorbei an tiefen blauen Wassern und hinein in eine Höhle, wo ein Ei lag. Es war zerbrochen. Sie, die im Traum wusste, dass sie nicht Yoko war und es auch niemals sein würde, spürte Schrecken in sich aufsteigen. Jemand hatte ihr Volk angegriffen, ihm Schaden zugefügt! Es war notwendig, den Schuldigen zu eliminieren, bevor er weitere Gräuel verübte. Und sie war auserwählt worden, das Erforderliche zu tun. Voller Stolz nahm sie die Aufgabe an. Sie würde den Frevler töten, den Menschen, den sie – Jemand nieste. Yoko öffnete die Augen und blinzelte. Die Traumbilder zerrannen in ihrem Geist wie Sand zwischen den Fingern. Nichts blieb übrig außer dem Gefühl, etwas ungeheuer Wichtiges tun zu müssen. Ihre Tentakel spielten nervös mit den Flammen. Yoko starrte sie an. Sie waren lang und schuppig, und wenn sie sich bewegten, glitten sie über den Boden wie rote Schlangen. Die Flammen leckten an ihnen, aber da war kein Schmerz, nur eine angenehme Wärme. Es ist ein Traum, dachte sie, auch wenn sie wusste, dass das nicht stimmte. Ihr Herz schlug bis zum Hals und das Blut rauschte in ihren Ohren. Langsam zog sie die Tentakel zurück, rollte sie auf, bis sie so dicht an ihren Körper gepresst waren, dass niemand sie sehen konnte. Was passiert mit mir? Innerlich schrie sie die Frage, äußerlich lag sie vollkommen still. »Und?«, hörte sie John fragen. »Sobald ich fertig bin«, antwortete George. Yoko stellte sich vor, was passieren würde, wenn die beiden bemerkten, was mit ihr geschehen war. Sie würden sie fesseln, vielleicht sogar töten. Und Paul? Er würde sich wohl kaum mit
einem Monster verbünden, sondern zu den richtigen Menschen umschwenken. Dann war sie endgültig allein. War es möglich, dass alle Menschen sich so verändern konnten, dass sich in ihren Körpern andere Formen versteckten? Sie dachte einen Moment über die Frage nach, aber sie erschien ihr absurd. Nein, sie war das Ungeheuer, etwas, das nur die Gestalt eines Menschen angenommen hatte. Die Tentakel waren warm, rau und irgendwie schön. Sie konnte jede einzelne Schuppe darauf bewegen. Sie griffen ineinander, glitten übereinander und verformten sich. Werdet Arme, dachte Yoko, und die Schuppen gehorchten. Zwei glatte Arme schmiegten sich an ihren Körper. Sie hob die Hand und bewegte die Finger. Die Schatten fielen über ihre Augen. Ich kann es kontrollieren. Die Angst, die sie eben noch beherrscht hatte, verschwand, wurde ersetzt durch eine unstillbare Neugier und die Genugtuung, dass auch sie ein Geheimnis hatte. Sie verschränkte die Arme vor dem Körper und lächelte. * »Salisbury Control für Crusader, bitte kommen. Wir machen uns langsam Sorgen, Crusader. Bitte um Rückmeldung. Over.« Mit übereinander geschlagenen Beinen hockte sie auf dem Sitz und starrte die blinkenden Lichter an. Die Geisterstimme hatte die ganze Nacht gesprochen, mal längere Sätze, mal kürzere. Sie schien nach jemandem zu suchen, vielleicht nach den Menschen, die in diesem Haus lebten. Im ersten Moment hatte sie Angst vor der Stimme gehabt, aber nach einer Weile hatte sie erkannt, dass die Stimme blind war und sie nicht sehen konnte. Also setzte sie sich so hin, dass sie das Dach im Blickfeld hatte, und begann das Gewehr zu untersuchen.
Zwischendurch schlief sie immer wieder ein, und als die Stimme sie das nächste Mal weckte, hatte sich der Horizont bereits rosa gefärbt. Die letzten Regentropfen fielen in Pfützen, die sich auf dem Dach gebildet hatten, die ersten Vögel begannen zu singen. Sie stand auf und streckte sich. Ihr Magen knurrte, also machte sie sich auf die Suche nach etwas Essbarem. Sie wagte es nicht, sich den blinkenden Lichtern zu nähern, sondern ging zurück in den nächsten Raum. In einem Schrank entdeckte sie süßes Gebäck und seltsame kleine Beutel, in denen sich Kräuter zu befinden schienen. Ein Band, das in einer kleinen Papierfahne endete, war daran befestigt. Medizinbeutel, dachte sie, nahm einen Beutel heraus und band ihn sich ans Handgelenk. Wo es Geisterstimmen gab, konnte man nicht vorsichtig genug sein. Sie aß das Gebäck und trank Wasser aus einem durchsichtigen Behälter, der weicher und leichter als Glas war. Dann trat sie auf das Dach hinaus. Es war ein kühler, fast wolkenloser Morgen. Der Regen hatte aufgehört und es wehte ein leichter Wind. Sie blickte über die Baumwipfel und die Lichtung hinweg auf ein schmales Tal, das von einem Fluss in der Mitte geteilt wurde. Ein Gebirge ragte hinter dem Fluss auf. Sie sah Schnee auf der Spitze des höchsten Berges. Ein schmaler Weg führte von der Vorderseite des Gebäudes in den Wald hinein, aber wenn an seinem Ende eine Ansiedlung lag, dann blieb sie hinter den Bäumen verborgen. Es stiegen auch keine Rauchsäulen auf. Der einzige Rauch, der zu riechen war, stammte aus dem Gebäude unter ihr. Andere Lebenszeichen gab es nicht. Sie ging auf die Tür zu, die zurück ins Innere führte. Im Morgenlicht wirkte die staubige Treppe weit weniger bedrohlich als in der Nacht. Da drinnen lag vielleicht die Antwort auf die Frage, wer sie war. Entweder sie suchte diese Antwort, oder sie wandte sich ab und
verließ das Gebäude und das Tal, um irgendwo ein neues, fremdes Leben zu beginnen. Sie dachte darüber nach. Das Gebäude machte ihr Angst, aber die Leere in ihrem Gedächtnis entsetzte sie. Es würde lange dauern, diese Leere mit neuen Erinnerungen zu füllen, vielleicht bis zum Ende ihres Lebens. Dieser Gedanke gab den Ausschlag. Sie nahm das Gewehr von ihrer Schulter und betrat das Gebäude. Licht fiel als Rechteck auf die Treppe und ihr Schatten ragte bis in den Gang hinein. Sie roch Tod und ihre eigene Angst. Hier sind Menschen gestorben, dachte sie, während sie an offenen Türen vorbei durch den Korridor ging. Die Räume hinter den Türen waren leer, aber sie spürte, dass sie nicht allein war. Der Gang endete in einer Wand. Sie blickte nach unten und entdeckte eine Falltür mit einem schweren eisernen Ring in der Mitte. Obwohl sie mit beiden Händen daran zog, bewegte sich die Tür nicht. Sie nahm das Gewehr wieder in die Hand und sah nach oben. In der Decke befand sich ein Loch. Eine Kette ragte daraus hervor. Sie baumelte leicht, so als habe etwas sie leicht gestreift. »Ich kenne deinen Namen«, flüsterte eine Stimme. Erschrocken sprang sie zurück. »Was?« »Ich kenne deinen Namen.« Die Stimme klang seltsam vertraut, wie aus einem Traum. Der Gewehrlauf zeigte zuerst in den Gang, dann auf die Wand. »Wer bist du?« »Was glaubst du?« Sie wusste keine Antwort auf diese Frage. Das Gewehr in ihrer Hand zitterte. Sie hatte in der letzten Nacht einige Knöpfe gedrückt, aber noch nicht ausprobiert, ob es jetzt funktionierte. »Ich werde schießen, wenn du dich nicht zeigst«, sagte sie. »Und wenn ich keinen Körper habe?«
Alles hat einen Körper, wollte sie antworten, doch dann dachte sie an die Stimme in dem kleinen Haus. Vielleicht gab es hier mehr als nur einen Geist. »Was willst du von mir?«, fragte sie. »Ich will dir deinen Namen nennen, damit du weißt, dass ich es gut mit dir meine.« Die Stimme klang jetzt näher, als käme sie direkt aus der Wand. »Und ich will dich warnen. Die anderen, vor denen du fliehst... sie jagen dich.« Es roch merkwürdig an dieser Stelle der Wand, nicht nach Tod, mehr nach altem Stoff und Schweiß. »Warum jagen sie mich?« Die Stimme kicherte. »Um dich zu versklaven. Sie –« Die Frau ohne Namen holte mit dem Gewehr aus. Heftig schlug der Kolben gegen die Wand und durchbrach sie. Putz und Wandstücke fielen zu Boden. Staub wallte auf. Dahinter bewegte sich etwas. Sie ließ das Gewehr los. Ihre Hand schoss durch die Lücke, berührte Haut und griff danach. Sie hörte die Stimme husten, als sich ihre Finger um einen dünnen alten Männerhals schlossen und ihn nach vorne rissen. »Und jetzt sag mir meinen Namen!« »Aruula.« Die Antwort kam als ersticktes Krächzen. »Dein Name ist Aruula.« * John sah George an, als habe er den Verstand verloren. »Du willst was nicht tun?!« »Ich, äh, werde dir nicht sagen, was in dem Tagebuch steht.« »Und warum nicht?« George steckte die Hände tief in die Hosentaschen. Hinter ihm fiel das erste Morgenlicht ins Zimmer.
»Weil ich weder dir traue«, sagte er dann, »noch Paul, noch Yoko. Es, hm, gibt keinen Hinweis darauf, dass wir... äh... zusammen unterwegs waren. Wir sind wahrscheinlich Feinde, oder Jäger und, hm, Gejagte. Keine Freunde.« John öffnete den Mund, um ihm zu widersprechen, aber George redete weiter. »Uns verbindet nur ein, hm, gemeinsames Ziel. Das ist die, äh, Suche nach unserer Identität.« Paul runzelte die Stirn. »Iden-wa?« »Wer wir sind«, sagte John. »Ah, okee.« »Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich weiß, wo wir die, äh, Antwort auf unsere Fragen finden. Dieses Wissen wird mich vor... nun, vor euch dreien schützen.« Er senkte den Kopf, sah keinem von ihnen in die Augen. Yoko, die neben Paul am Boden gehockt hatte, stand auf. »Und was ist, wenn dir etwas passiert, wenn du versehentlich die Treppe herunter fällst?« George zog mit der Stiefelspitze Kreise in den Staub. »Dann, äh, solltet ihr besser dafür sorgen, dass ich, nun, dass ich weich falle«, sagte er leise. John rieb sich die Schläfen. Er hatte kaum geschlafen und der Konflikt zerrte an seinen Nerven. »Niemand will dich umbringen. Wir wollen nur wissen, was in diesem verdammten Tagebuch steht.« »Ich... äh... weiß.« Schweigen legte sich über den Raum. George betrachtete seine Stiefelspitzen. Paul wirkte gleichgültig und Yoko stützte sich auf ihr Schwert. John seufzte. »Okay, wenn du es unbedingt so willst, dann behalt den Inhalt für dich. Wie soll es jetzt weitergehen?« Seine Stimme klang so frustriert, wie er sich fühlte. »Wir, hm, gehen in den Keller.« »Und dann?«
»Sehen wir, äh, weiter.« George sah auf. »Für wie alt hältst du dieses... äh... Gebäude?« Es war kein guter Versuch eines Themawechsels, aber John ging trotzdem darauf ein. »Keine Ahnung. Ist das wichtig?« »Hm, nein... vielleicht... ich weiß nicht. Zur Sicherheit sollten wir den, hm, Wänden fern bleiben.« Yoko machte einen Schritt nach vorne, weg von der Wand, vor der sie gestanden hatte. »Warum?«, fragte sie. George hob die Schultern. »Es ist wirklich nur zur, hm, Sicherheit.« Er nahm eine der Fackeln, die Paul aus einer Decke, etwas Tierfett und einigen Brettern gebastelt hatte und hielt sie in die schwelende Glut des Feuers. »Wollen wir?« John folgte ihm nach kurzem Zögern. Die Treppe, die in den Keller führte, war immer noch so dunkel wie am vorherigen Abend. Es gab keine Lichtquelle, die sie erhellte. Paul schob sich an George vorbei und trat als erster auf die Stufen. »Damid du weich fälls«, sagte er. Es war John nicht klar, ob das sarkastisch gemeint war. Das flackernde Licht der Fackeln erhellte die Umgebung nur notdürftig. Es war feucht hier unten und die Wände waren zersetzt von dunklem Schimmel. Neonröhren zogen sich in gerader Linie an der Decke entlang. »Ich frage mich, ob sich die Stromversorgung wieder herstellen lässt«, sagte John. »Dann hätten wir zumindest Licht hier unten.« »Möglich ist es. Sie lief über... äh... Trilithiumkristalle.« Trilithiumkristalle. John hatte nicht gewusst, dass er das Wort kannte, doch jetzt, wo er es hörte, erkannte er auch seine Bedeutung. »Sind wir deswegen hier unten?«, fragte er. »Um nach Trilithiumkristallen zu suchen?« »Unter, hm, anderem.« Paul drehte sich um. Die Fackeln schälten nur eine Hälfte seines Gesichts aus der Dunkelheit. »Tri-wa?«
»Ein Medium zur Energiespeicherung«, antwortete Yoko, die als Letzte ging. John wäre beinahe gestolpert, und er bemerkte, dass auch George kurz verharrte, bevor er weiterging. Am Abend zuvor hatte Yoko nicht gewusst, was eine Taschenlampe war, und jetzt erklärte sie Paul mühelos die Bedeutung eines Trilithiumkristalls. Dafür gab es nur eine sinnvolle Erklärung: Yoko war nicht die Person, die sie zu sein schien. * Yoko bemerkte das Zögern der beiden Männer und die Stille, die nach ihrer Bemerkung einsetzte. Innerlich verfluchte sie ihre Gedankenlosigkeit, äußerlich blieb sie ein wenig zurück, um nicht mehr in Johns Reichweite zu sein. Bei ihrem ersten Angriff hatte sie gemerkt, dass er schneller war als sie. Jeder Schritt brachte mehr von ihrem Gedächtnis zurück. Es hatte in der letzten Nacht mit den merkwürdigen Träumen begonnen, aus denen jetzt immer klarere Bilder wurden. Sie wusste, dass Krieg herrschte und dass ihr Volk gegen die Menschen um die endgültige Herrschaft über diese Welt kämpfte. Ihr Körper und das wenige primitive Wissen, das sie an der Oberfläche gespeichert hatte, waren nur Tarnung. Dahinter verbarg sich etwas, das ihr im ersten Moment fremd, doch dann immer vertrauter erschien. Diese Erkenntnis, kein Mensch zu sein, war befreiend und verstörend zugleich. Sie fragte sich, wie ihr wahrer Körper wohl aussah. Sie dachte an die Träume, die sie gehabt hatte. Träume waren merkwürdige Dinge. Manchmal sah man genau, was sie von einem wollten, manchmal verbargen sie ihre Bedeutung hinter Rätseln und Fallen. Sie hatte den Frevler gesehen, in diesem einen Traum, ohne ihn wirklich zu sehen. Da war nur sein Stiefel, der das Ei
zertrümmerte, der Aufschrei, der durch ihr Volk ging, und der Name, den es verfluchte. Mefju'drex. Ihr Blick fiel auf John, der mit der Fackel die Wände des Gangs ableuchtete. War sie wegen ihm auf diese Mission gegangen? Oder wegen George, der vor ihm ging? Paul schloss sie aus. Ihr war nicht ganz klar, welche Rolle er spielte, aber er gehörte den Primitiven dieser Welt an, so viel war deutlich geworden. Es blieben John und George. Einer von beiden hieß Mefju'drex und würde sterben. Yoko verdrängte das Verlangen, das in ihr aufstieg. Noch musste sie sich auf ihre Umgebung konzentrieren. Einen Fehler hatte sie bereits begangen, einen zweiten durfte sie sich nicht erlauben. Nicht, weil es um ihr Leben ging, sondern weil der Schutz ihres Volkes über allem stand. »Hiersne Tü«, sagte Paul. Mit der Fackel zeigte er nach rechts. »Mach sie... auf.« George hatte das Tagebuch aufgeklappt, aber Yoko bezweifelte, dass er bei dem schlechten Licht etwas lesen konnte. »Warte.« John zog sein Schwert und trat neben ihn. »Du hast keine Ahnung, was sich dahinter verbirgt.« Paul hob die Schultern. »Werdn we ja glei sehn.« Er drehte den Knauf und stieß die Luft aus. »Fakk, die is schwe.« »Ja, sie ist mit... äh... Blei verkleidet. Früher wurde sie durch einen Mechanismus geöffnet.« George klappte das Buch zu und wollte sich mit der Schulter gegen die Tür stemmen, aber John zog ihn zurück. »Du bleibst da, wo es sicher ist. Das wolltest du doch?« »Das war nicht so –«
»Auf drei«, unterbrach ihn John und legte die Fackel auf den Boden. Er lehnte sich neben Paul an die Tür. »Eins, zwei, drei!« Es knirschte, als uralte Scharniere zur Bewegung gezwungen wurden. Paul und John stemmten sich fast waagerecht gegen die Tür, aber trotzdem öffnete sie sich nur langsam. Schließlich entstand ein Spalt, der breit genug für einen Menschen war – oder für ein menschenähnliches Wesen, fügte sie hinzu. John trat schwer atmend zurück. »Mehr ist nicht drin«, sagte er und hob die Fackel auf. Er hielt sie in den Spalt. »Da ist ein Gang.« »Und eine... äh... zweite Tür am Ende des Gangs. Sie dürfte leichter zu öffnen sein.« Nacheinander schlüpften sie durch den Spalt. Yoko bemerkte, dass John sich um einen großen Abstand zu ihr bemühte. Sie hatte das Misstrauen, das er fast schon abgelegt hatte, erneut geweckt. Vielleicht bist du nicht derjenige, der vor mir Angst haben muss, dachte sie. Das Gefühl, Macht über Leben und Tod zu haben, war beinahe wie ein Rausch. Jemand in diesem Gang würde durch ihre Hand sterben und ahnte nichts davon. Jenseits der Tür roch die Luft zwar abgestanden, aber nicht mehr so feucht. Der Gang war so breit, dass drei Leute bequem nebeneinander her gehen konnten. Anscheinend hatte man hier einmal größere Lasten befördert. George schloss zu John auf. »Diese ganze, hm, Sicherheitsfrage«, hörte Yoko ihn leise sagen. »Die solltest du nicht... es ist nicht...« Er brach ab und setzte neu an. »Wenn man das, hm, Gedächtnis verliert, setzt sich das Gehirn unter großen Stress. Es versucht die Lücken zu füllen und –« »Wenn das aus dem Tagebuch stammt, solltest du mir das besser nicht erzählen.« John wirkte ungeduldig.
»Ich... äh... sage es dir, weil es wichtig ist. Eine der, hm, ersten Reaktionen ist Paranoia. Die Unsicherheit macht uns alle paranoid.« »Para-wa?«, fragte Paul. Yoko sah, wie John und George zu einer Antwort ansetzten, dann aber zu ihr herüber sahen, als erwarteten sie eine Wiederholung ihres ersten Fehlers. Sie tat so, als hätte sie ihre Blicke nicht bemerkt. »Verfolgungswahn«, sagte John schließlich und wandte sich wieder an George. »Also hast du jetzt erkannt, dass niemand dich umbringen will?« »Nein... ich... hm, ich weiß nur, dass es möglicherweise Verfolgungswahn sein könnte, der mich so handeln lässt. Und wenn das, also wenn das stimmen sollte, werde ich mich natürlich, hm, später entschuldigen.« »Später?« John schien noch etwas anderes sagen zu wollen, unterbrach sich jedoch, als er die Tür am Ende des Gangs sah. Das Licht der Fackel reichte aus, um die großen Buchstaben erkennen zu können. »Generatorraum«, las er vor. »Betreten für Unbefugte verboten.« »Hm, das interessiert wohl niemanden mehr.« Es war wieder Paul, der als Erster an der Tür war und sie ohne jede Scheu öffnete. Yoko fragte sich, warum er so unvorsichtig war. Wusste er, dass ihm nichts passieren konnte? Sie betrat den Raum hinter den anderen und blieb überrascht stehen. Das Licht der Fackeln brach sich in spiegelnden Metalloberflächen, in Bildschirmen, unzähligen Lampen, Reglern, Hebeln und Knöpfen. George hob die Fackel. »Ich hoffe, äh, jemand hier versteht mehr von diesen, hm, Dingen, als ich anscheinend davon verstehe.« John lächelte zum ersten Mal an diesem Tag. »Geht mal zur Seite.«
*
»Aruula.« Sie ließ den Namen über die Zunge gleiten. Er klang nicht vertraut, aber er gefiel ihr und so entschied sie sich, ihn anzunehmen. »Ja, Aruula.« Der alte Mann war kaum zu verstehen. Sie lockerte den Griff um seinen Hals ein wenig. Er atmete auf und ließ sich gegen die Wand des schmalen Geheimgangs fallen. Sein Körper war mager. Die Lumpen hingen von seinen Schultern wie von knorrigen Ästen. »Wer bist du?«, fragte Aruula. »Einer der Wiischafler. Du bist ein Spezzimin.« Er schüttelte den Kopf. »Ich hätte vorsichtiger sein müssen. Du hast mich gesehen. Damit sind meine Studiis umsonst.« Er hatte einen seltsamen Akzent, aber das war nicht der Grund, weshalb Aruula ihn nicht verstand. Sie hatte die Worte, die er benutzte, noch nie gehört. »Wer bist du?«, wiederholte sie. Der Lauf ihres Gewehrs bohrte sich in den Magen des alten Mannes. Er sah sie stirnrunzelnd an. »Ich bin ein Freund. Ich will dich vor den Sklavenhändlern da unten schützen.« »Hast du mir mein Gedächtnis genommen?« »Nein, ich...« Sie spürte, dass er log. Sein Blick flackerte. Er konnte ihr nicht in die Augen sehen. Aruula zog den Lauf zurück und presste ihm die Mündung an den Kopf. »Und?« »Ja... ja, ich, nein, wir, wir mussten das tun.« Seine Angst war ein saurer Geruch. Sie senkte die Mündung nicht. »Warum?« »Wegen der Wiischaft. Du wirst das nicht verstehen. Wir sind die Letzten, mit uns enden die Studiis. Es ist wichtig, dass wir so viele Spezzimins wie möglich studiin, damit wir viele Ergebnisse vorlegen können, wenn sie eines Tages kommen, um sie abzuholen.«
»Wer sind sie... und wer sind wir?« Je mehr er sagte, desto weniger verstand Aruula. »Die Profitiirer. Auf sie warten wir. Aber wir sind nur noch zu dritt. Alle anderen sind tot. Wir hatten Kinder hier, aber die wollten nicht bleiben. Das Leben als Wiischafler war ihnen zu schwer.« »Wo sind die anderen beiden?« »Draußen. Sie jagen Schiips. Die Tiere sind ein, zwei Tage nach einem Strahl leicht zu töten.« Aruula hoffte, dass er von einem anderen Tier sprach als dem, das sie in der letzten Nacht erschlagen hatte. Sie sah sich um. Der Gang war so schmal, dass sie die Wände mit beiden Schultern fast berührte. Selbst wenn er log, würde es einem Angreifer schwer fallen, sie zu überraschen. »Gib mir mein Gedächtnis wieder«, sagte sie. »Kannst du das?« »Vielleicht. Ich habe es noch nie versucht.« Er schielte auf die Mündung an seiner Schläfe. Aruula senkte den Gewehrlauf. »Okee, dann versuch es jetzt.« »So einfach geht das nicht. Das ist ein sehr komplizierter...« Er zögerte, als müsse er nach dem richtigen Wort suchen. »Zauber?«, fragte sie. »Genau.« Er nickte und lächelte. Die Haut spannte sich über seine Wangenknochen. »Ein Zauber.« Aruula wusste nicht warum, aber sie hatte den Eindruck, einen Fehler begangen zu haben. »Was musst du dafür tun?« »Wir müssen zuerst in den Keller, um die Vorbereitungen zu treffen.« Er sah sie aus trüben blauen Augen an. »Wirst du mich töten?« »Wenn du mich anlügst.« Sie folgte dem alten Mann durch den Gang. In regelmäßigen Abständen gab es Löcher in den Wänden, neben denen seltsame Symbole standen. Sie blickte durch eines der Löcher
in den offenen Korridor, durch den sie vorher gegangen war. Es war ein merkwürdiges Gefühl, so als täte man etwas Verbotenes. »Ist das ganze Haus voller Geheimgänge?«, fragte sie. »Ja. Unsere Vorfahren haben sie über viele Sommer angelegt. An einem der letzten Gänge habe ich sogar noch mitgebaut.« Er stoppte vor einem Loch, aus dem die Spitze einer Holzleiter ragte. »Da unten begegnen wir vielleicht den Sklavenhändlern. Du musst mich vor ihnen beschützen, wenn das passiert. Nur ich kann dir helfen.« »Ich weiß.« Aruula hielt das Gewehr weiter auf ihn gerichtet, während er nach unten kletterte. Er schien keine Angst mehr vor ihr zu haben, wirkte sogar überlegen. Warum?, dachte sie. * John legte die Handflächen auf die Konsole und betrachtete die Schalter, Hebel und Knöpfe. Sie waren nur mit Zahlen und einzelnen Buchstaben beschriftet. Die Aufschrift »Strom: Ein/Aus« suchte er vergeblich. Trotzdem spürte John, wie sein Gehirn Zusammenhänge herzustellen begann. Das Wissen war da, er konnte sich nur nicht daran erinnern. Beinahe instinktiv legte er einige Schalter um. Nichts geschah, aber das hatte er nicht anders erwartet. Eine so große Anlage aktivierte man nicht mit einem simplen Knopfdruck. »Wofür haben die so viel Strom gebraucht?«, fragte er. »Diese Trilithiumkristalle reichen für eine ganze Stadt.« Er sah George an, doch der ignorierte ihn und schrieb irgendetwas mit einem Kugelschreiber auf ein Blatt Papier, das er aus dem Tagebuch gerissen hatte. »Was machst du da?«
George sah kurz auf. »Nichts... Wichtiges. Kannst du den Strom einschalten?« »Ja, wird nur noch etwas dauern. Die Anlage ist kompliziert.« »Beeil dich, wenn es, äh, geht.« »Warum?«, fragte John. »Passiert sonst etwas?« Er erhielt keine Antwort. Genervt wandte er sich wieder der Konsole zu. Paul und Yoko lehnten an der Wand, die Fackeln in den Händen. Er hatte den Eindruck, dass sie sich stumme Blicke zuwarf en, wenn er nicht hinsah. Ob sie sich gegen ihn verbünden wollten? Er drängte den Gedanken zurück. Vielleicht war es wirklich nur Paranoia, die ihn dazu brachte, jedes Wort und jede Geste zu bewerten. Seine Finger fanden weitere Knöpfe und zwei Hebel. Unsicher schwebten sie über einem dritten und zogen dann doch daran. John richtete sich mit einem Ruck auf, als ein dumpfes Dröhnen aus dem Nichts den Raum erfüllte. Paul sprang erschrocken zur Tür und George zuckte so heftig zusammen, dass er den Kugelschreiber über die ganze Seite zog und fluchte. Nur Yoko blieb ruhig, als hätte sie das Geräusch erwartet. An den Konsolen erwachten Lichter flackernd zum Leben. Monitore sprangen an, ohne ein Bild zu zeigen. Die Neonröhren an den Decken tauchten den Raum plötzlich in ein helles weißes Licht. »War das schnell genug für dich?«, fragte John. George strich das Blatt Papier glatt und legte es auf den Einband des Tagebuchs. »Ja, äh, danke. Das sollte reichen.« »Un jezz?« Paul war in der Tür stehen geblieben und hob die Schultern. »Wo gehts jezz hin?« »Ins, hm, Labor.« George betrachtete die Rückseite des Papiers. »Durch die Tür da hinten zurück nach, äh... oben.«
»Durch welche...« John drehte sich um und entdeckte eine schmale, unscheinbare Metalltür, die sich erst im Licht der Neonröhren von der Wand abhob. Er sah George an. »Hast du eine Karte des Gebäudes?« Der steckte das Papier ein. »So was in der Art.« »Wer legt eine Karte in ein Tagebuch? Es ist doch ein Tagebuch, oder?« Johns Misstrauen verlagerte sich von Yoko und Paul zurück auf George. Was hatte er gelesen und wieso weigerte er sich, den anderen davon zu erzählen? Warum vor allem weigerte er sich, es ihm zu erzählen? Weil er sich einen Vorteil davon erhofft. Das war zumindest eine, sogar die wahrscheinlichste Möglichkeit. »Ja«, sagte George. »Es ist ein, hm, Tagebuch, und es wurde von einer, nun, einer Frau geschrieben, die glaubte, etwas sehr Wichtiges tun zu müssen. Sie war nur, äh, vorsichtig, das ist alles.« »So vorsichtig wie du?« Die Frage kam von Yoko. George sah sie nicht an, sondern ging an ihr vorbei zu der Metalltür. »Das, äh, Labor ist ganz in der Nähe. Ihr müsst nicht... nun ja, ihr könnt hierbleiben, wenn euch das lieber ist.« John hörte die Nervosität in seiner Stimme. Den Weg allein weiterzugehen schien ihm noch unangenehmer zu sein, als bei Menschen zu bleiben, denen er einen Mord zutraute. »Keine Sorge«, sagte er. »Wir werden dich nicht aus den Augen lassen.« Der Satz klang genauso doppeldeutig, wie er ihn meinte. * Aruula hatte längst die Orientierung verloren. Der alte Mann, der sich Oolburt nannte, führte sie über wacklige Leitern, durch hölzerne Geheimgänge und verlassene Zimmer. Manchmal
ging es abwärts, dann wieder aufwärts. Sie hatte den Eindruck, dass er den Weg absichtlich verschleierte. Sie blickte durch eine offen stehende Tür in ein großes Zimmer und stoppte. Es lag im Halbdunkel, aber das Licht reichte aus, um die Kleiderberge zu erkennen, die darin lagen. Aruula sah Hosen, Jacken, Hemden, Lendenschurze, Mützen, Sandalen, Stiefel und Felle. Es stank nach Moder und Schimmel. »Wem gehört das alles?«, fragte sie. Oolburt sah kurz hinein. »Niemandem. Komm, wir müssen hier lang.« Er wollte weitergehen, aber Aruula hielt ihn fest. »Das stammt von Leuten wie mir, oder?« Sie richtete die Waffe wieder auf die Stirn des alten Manns. »Du verstehst das nicht. Unsere Studiis erfordern Opfer. Das muss man hinnehmen, wenn man wiischaflich arbeiten will.« Es hörte sich an, als würde er das bedauern. Aruula riss sich von dem Anblick los und deutete mit dem Gewehrlauf in den Gang. »Geh weiter. Und keine Umwege mehr.« Es ging wieder nach unten, durch weitere Gänge. Am Ende einer Leiter nahm Oolburt eine Fackel aus einer Wandhalterung und entzündete sie. Im flackernden Licht sah Aruula, dass vor ihnen eine Falltür in den Boden eingelassen war. »Das ist der Raum, in den wir müssen«, sagte Oolburt. Er zog an dem Eisenring in der Mitte der Falltür. Gleißend helles Licht fiel in den Gang. Aruula blinzelte und hob schützend eine Hand vor die Augen. Mit der anderen richtete sie das Gewehr auf Oolburts Silhouette. »Das ist keine Falle«, hörte sie ihn sagen. Ihre Augen gewöhnten sich langsam an die Helligkeit. Durch die geöffnete Falltür blickte sie in einen Raum voller glänzender Oberflächen und blinkender Lichter. Er erinnerte sie an das Haus auf dem Dach.
Oolburt hockte am Rand der Falltür. Seine Haut war so bleich, dass sie beinahe durchsichtig wirkte. Aruula sah dünne blaue Adern an seiner Schläfe pochen. »Sie haben den Strom aktiiert«, sagte er. »Wie haben sie das gemacht?« Er wirkte besorgt, fast schon schockiert. »Wer ist sie?« »Die anderen, die mit dir...« Er unterbrach sich. »Die Sklavenjäger, die dich verfolgt haben. Sie sind uns zuvorgekommen.« »Ist das ein Problem?« »Nur, wenn sie als erste ins Laboor gelangen.« Oolburt stand mit knackenden Gelenken auf. »Wir müssen uns beeilen. Wenn sie den Strahl auch noch aktiiren... wenn sie ihren eigenen Zauber sprechen, kann ich dir nicht mehr helfen.« Er trat gegen die Falltür. Sie schloss sich knallend und brachte die Dunkelheit zurück. Oolburt hob die Fackel auf und winkte Aruula zu. »Komm schon.« Sie folgte seinem grotesk verzerrten Schatten durch den Gang. Wenn ich nur wüsste, was in seinem Kopf vorgeht, dachte sie und fragte sich, weshalb sie plötzlich das Bedürfnis verspürte, sich mit angezogenen Beinen auf den Boden zu setzen. * Die Treppe aus dem Keller mündete in einen Gang, an dessen Ende John eine Tür mit der Aufschrift L BOR sah. »Das ist es«, sagte George neben ihm. »In ein, äh, paar Minuten haben wir es geschafft.« »Haben wir was geschafft?«, fragte John, erhielt aber mal wieder keine Antwort. Er seufzte. »Das geht mir langsam auf den Geist.«
»Nich nu dir.« Paul legte die Hand auf den Schwertgriff. »Wa is, wenn da wa drin is, wa guut fü dich is, abbe nich fü uns?« George hob nur die Schultern. »Sehen wir uns das erst mal an.« John schätzte, dass er als offensichtlich guter Kämpfer jeden in der Gruppe überwältigen konnte. Wenn in diesem Labor etwas nicht in Ordnung war, würde es ihm leicht fallen, George den Zettel abzunehmen und nachzusehen, was er darauf geschrieben hatte. Mit dem gezogenen Schwert in der Hand öffnete er die Tür. Sie war erstaunlich schwer und er bemerkte die breite Metallverriegelung an der Innenseite. In der linken Wand befand sich eine zweite, ähnlich gesicherte Tür. John sah sich um. Breite Kabelstränge zogen sich an den Wänden und der Decke entlang. Lichter blinkten auf Konsolen und spiegelten sich in schwarzen Monitoren. Ich weiß noch nicht einmal, wie ich aussehe, dachte er unvermittelt, widerstand aber der Versuchung, sich in einem Bildschirm zu betrachten. Ein Bürostuhl stand vor einer der Konsolen. Daneben lagen einige Bücher auf einem Stapel. Sie sahen alt aus. »Haltet George davon fern«, sagte er. Es sollte ein Witz sein, aber Paul stellte sich drohend neben den Stuhl. John spürte, wie seine Kopfschmerzen zurückkehrten. »Was sollen wir jetzt hier machen?« »Nun, äh, einen Moment.« George zog den Zettel aus seiner Tasche und ging zum Stuhl. Auf seinen Blick trat Paul zur Seite. Er setzte sich. »Ich glaube, hm... ja. Wenn wir diesen Hebel...«, er zeigte auf einen unscheinbaren grauen Hebel, der zwischen zwei Knöpfen saß, »... nun, betätigen, wird alles rückgängig gemacht.« »Du meinst den Gedächt-« Irgendwo hämmerte etwas gegen eine Wand. John fuhr herum. Paul zog sein Schwert und
richtete es auf George. Yoko blieb in der Tür stehen. John spürte ihre Blicke im Rücken. Das Hämmern wurde lauter. Eine Männerstimme brüllte Unverständliches, ein Schrei antwortete ihr. »Das kommt von da.« John zeigte auf die Tür in der linken Wand. Er winkte die anderen heran. Bis auf George hielten alle ein Schwert in der Hand. Vorsichtig zog er die Tür einen Spalt auf. Jetzt waren auch andere Geräusche zu hören. Ein Scheppern, Klirren und Stöhnen. Es kam von einem Punkt jenseits des kleinen Gangs, der vor ihm lag. »Du bleibs hier«, sagte Paul und packte George am Arm. Der blickte zurück ins Labor. »Es ist, äh, nur ein Hebel. Lasst mich mal –« »Später.« John trat in den Gang, der nach einigen Metern nach rechts abknickte. Dahinter befand sich ein halb verfallener Raum, in dem ein Schreibtisch mit abgebrochenen Beinen lag. Durch die verbarrikadierten Fenster sah er Bewegung. »Kommt da raus!«, brüllte eine dunkle Stimme mit leichtem Akzent. »Wir wissen, dass ihr da drin seid!« Einen Moment herrschte Stille, dann begann das Hämmern erneut. Wer auch immer da draußen war, wollte herein. John ging geduckt zum Fenster und sah durch einen Spalt zwischen den Brettern nach draußen. Er zählte sechs mit Schwertern und Fackeln bewaffnete Männer. Zwei von ihnen schlugen auf ein Fenster im Nebenraum ein. Durch die geöffnete Tür konnte man die Späne erkennen, die ins Zimmer flogen. Die anderen vier standen um drei weitere Männer herum. Einer von ihnen war jung und hockte am Boden. Er trug schwere Ketten an Händen und Füßen. Die anderen beiden waren alt, bleich wie Geister und ausgemergelt. Niemand hatte sich die Mühe gemacht, sie zu fesseln. Bis auf die Gefangenen trugen alle dunkelgraue Metallröhren um den Kopf, die nur die
Augen und den Mund frei ließen. Holzaufsätze auf den Schultern stützten sie. Die Männer bewegten sich unbeholfen, als seien die Röhren schwer wie Blei. »Kommt endlich raus!«, brüllte einer. »Sonst fackeln wir alles ab!« »Sieh dir das an«, sagte George leise. John hatte nicht bemerkt, dass er neben ihn getreten war. »Sie schützen nur den, äh, Kopf. Eine Rüstung für den Rest des Körpers gibt es nicht. Bemerkenswert. Wir, hm, sollten versuchen mit ihnen zu reden und das, äh, Problem klären.« John sah ihn an. »Bist du wahnsinnig? Hast du ihm überhaupt zugehört?« »Ich glaube nicht, dass er, hm, uns meint.« Einer der Männer ging ein Stück zur Seite und John konnte zum ersten Mal einen Blick auf den jüngeren Gefangenen werfen. Seine Augen war blau verquollen, seine Nase und Wangen geschwollen. Trotzdem kam ihm der Mann irgendwie bekannt vor. »Shiit«, sagte Paul am anderen Fenster. »Sie haben Deev.« Yoko und George drehten die Köpfe und starrten ihn an. Es dauerte einen Moment, bis Paul die unerwartete Aufmerksamkeit bemerkte und ihren Blick erwiderte. Seine Augen weiteten sich, dann kratzte er sich fast schon verlegen am Hals. »Uups.« * Paul hieß natürlich nicht Paul, aber John hatte sich nicht die Mühe gemacht, ihn nach seinem richtigen Namen zu fragen. Gefesselt hatte er ihn auch nicht, denn gegen die Angreifer da draußen wurden alle gebraucht. Die Krieger waren hier wegen Paul und den bleichen Gestalten, die draußen auf der Lichtung
standen, aber sie würden wohl kaum den Unterschied zwischen ihnen und ihren Opfern sehen. Zumindest für den Moment hatten sie ein gemeinsames Ziel: die Sicherung der Fenster und Türen. John ging die beiden Räume und einen Gang ab, der zur Außentür führte. Yoko sicherte die Tür, Paul die Fenster im ersten Raum. Sie hatten alles, was sie gefunden hatten, davor aufgestapelt; er hoffte nur, dass es ihnen genug Zeit bringen würde. »George«, sagte er, als er den hinteren Raum betrat. »Wenn wir unser Gedächtnis zurückbekommen, werden wir dann wieder das Bewusstsein verlieren?« »Ich... äh... weiß es nicht genau. Vielleicht für ein, hm, ein paar Minuten.« Er war sich nicht sicher, ob das reichte. Wie lange würden die Barrikaden ohne ihr Eingreifen halten? Fünf Minuten? Zehn? Eine halbe Stunde? Die Schwerter hämmerten unablässig gegen das Holz. Die Angreifer hatten mehrmals versucht Feuer zu legen, aber der starke Regen der letzten Nacht machte es ihnen schwer. Irgendwann würde es ihnen aber gelingen. Je länger sie warteten, desto schwerer wurde die Entscheidung. John nickte. »Okay, wir machen es.« George verließ seinen Posten am Fenster. Er wirkte erleichtert. »Gut, äh, sollten wir Yoko Bescheid sagen?« »Nein, sie wird es früh genug merken.« Sie gingen durch den Gang zurück zum Labor. John drehte das Schwert nervös zwischen den Fingern. Er fragte sich, ob er sich mögen würde, wenn er sein Gedächtnis zurückbekam und ob die Angreifer in ihren seltsamen Bleihelmen ihm eine Gelegenheit geben würden, das herauszufinden. Er stieß die angelehnte Tür auf – und prallte erschrocken zurück. Mit einem Blick nahm er die veränderte Situation auf.
Eine Leiter ragte aus einem Loch in der Decke bis auf den Boden. Daneben stand ein alter Mann, der wie der Zwillingsbruder der beiden Gefangenen auf der Lichtung aussah. Eine fast nackte Frau richtete ein Gewehr auf ihn, schwenkte aber zu John, als sie ihn in der Tür stehen sah. Ihm fiel auf, wie schön sie war. »Sklavenhändler! So hast du dir die Jagd wohl nicht vorgestellt!« Ihr Gesicht verzerrte sich vor Wut und Hass. Sie sieht George nicht. Sie denkt, ich bin allein, erkannte er. Das Schwert in seiner Hand erschien ihm lächerlich gegen das Gewehr. »Wir können dir dein Gedächtnis wiedergeben«, sagte er ruhig. »Dann wirst du sehen, dass ich kein Sklavenhändler bin.« Hoffe ich. Der alte Mann in der Ecke kicherte. »Ich hab dir gesagt, er würde lügen, Aruula. Wenn es um ihr Leben geht, lügen sie alle.« Die Frau, die er Aruula nannte, warf ihm einen kurzen Blick zu. »Lügst du auch?« Das Kichern verstummte. John spannte sich an. Er wartete auf seine Chance, doch stattdessen hob sich der Gewehrlauf, bis die Mündung auf seinen Kopf zeigte. Aruulas Zeigefinger bewegte sich, tippte gegen den Abzug. Im gleichen Moment landete etwas mit einem lauten Knall auf dem Fußboden, rutschte darüber hinweg. Der Gewehrlauf zuckte zur Seite. John warf sich nach vorn. Es zischte, als bäume sich eine Schlange neben ihm auf, dann fuhr der Laserstrahl hinter ihm in die Wand. Er achtete nicht darauf, nur auf Aruula, die das Gewehr herum riss, während er sich am Boden drehte und ausholte. Die Entfernung war zu groß. Er konnte sie mit dem Schwert nicht erreichen. Er konnte es nur werfen.
Und das tat er. Einen wunderbaren Augenblick sah es so aus, als würde er treffen. Das Schwert schoss Aruula entgegen, doch sie ließ sich fallen, schlug hart auf dem Boden auf. Der Sturz prellte ihr das Gewehr aus der Hand. John stieß sich ab. Seine ausgestreckten Finger berührten den Kolben, packten ihn. »Nein!«, schrie Aruula. Er kam hoch und wollte das Gewehr auf sie richten, aber sie hockte mit dem Rücken zu ihm auf dem Boden und starrte zu der Konsole und dem umgestürzten Stuhl. Der alte Mann hing über der Metallplatte, durchbohrt von Johns Schwert. Unendlich langsam gaben seine Beine nach und er rutschte nach unten. Seine Hände glitten über Tasten, Knöpfe, Hebel... »Halt ihn auf!« Die Schwärze war eine Explosion. * Taumelnd kam er auf die Beine. Sein Kopf schmerzte und der Lärm, der von irgendwo jenseits der Tür kam, hämmerte hinter seinen Schläfen. Eine fast nackte Frau setzte sich gerade auf und nahm ein Gewehr in die Hand. Ein alter Mann lag am Boden. In seinem Rücken steckte ein Schwert. Was ist hier los? Wer bin ich? Draußen schrien und hämmerten Männer. »Es hat nicht geklappt, ihr verdammten Piigs!« »Deev hat uns von dem Bleischutz erzählt!« »Kommt endlich raus!« Es roch verbrannt. Er stolperte in einen Gang hinein, sah einen weiteren Mann, der an der Wand saß und den Kopf schüttelte. Die Frau folgte ihm, als wisse sie nicht, was sie sonst tun sollte.
Er fand einen weiteren Mann auf dem Boden des ersten Raums, eine weitere Frau neben der Außentür. Sie alle machten den gleichen verwirrten Eindruck. Keiner weiß, was wir hier machen. Er blieb stehen. Eine Schwertspitze wurde durch das Fenster neben ihm gerammt und verkeilte sich. Ohne nachzudenken, griff er nach einer Metallstange und schlug sie gegen das Schwert, bis es abbrach. Draußen fluchte jemand. »Lasst nicht zu, dass sie reinkommen!«, rief er. »Um alles andere kümmern wir uns später!« Die beiden Frauen und der Mann nickten. Sie schienen froh über die Aufgabe zu sein. Er selbst war es auch. Es lenkte ihn von der entsetzlichen Leere in seinem Inneren ab. Der dritte Mann tauchte an der Tür auf und strich sich mit einer Hand durch die Haare. In der anderen hielt er ein beschriebenes Blatt Papier, das er jetzt stirnrunzelnd betrachtete. »Hey, was liest du da?« »Nichts...« Er las weiter, dann sah er auf. »Ich... äh, ich muss gehen.« Der Dicke am Fenster fuhr herum. Er hatte auf einmal ein Schwert in der Hand. »Nieman gehe«, sagte er schwer verständlich. »Gehörs du zu denne drauße?« »Ich, hm, ich weiß es nicht.« Der Mann wich zurück. »Ich, äh, muss jetzt wirklich gehen.« Der Dicke hob sein Schwert. Das geht nicht gut. »Lass ihn gehen, wenn er will«, sagte er laut und griff nach dem Arm des Dicken. Der riss sich mit einem Ruck los, lief auf den Hageren an der Tür zu. Der drehte sich um und verschwand im Gang. Die hübsche Frau, deren Körper mit aufgemalten oder tätowierten Streifen bedeckt war, schlug mit ihrem Gewehr nach einem Schwert. »Da hinten bricht gleich einer durch!«, rief sie. »Ich kann nicht alle Fenster verteidigen.«
Sie hat Recht. Kümmere dich zuerst ums Überleben, dann um alles andere. Er warf einen letzten Blick in den Gang, dann betrat er den Nebenraum. Späne flogen ihm entgegen. Zwei Männer mit Schwertern hackten auf die Barrikaden ein. Er schlug nach ihnen, bis sie aufgaben, dann begann er einige Stuhlbeine zwischen den Brettern zu verkanten. Aus den Augenwinkeln sah er, wie die Frau von der Außentür neben ihm auftauchte. Sie hielt ein Schwert in der Hand. Hat hier jeder außer mir ein Schwert? »Was ist los?«, fragte er. »Brauchst du Hilfe?« »Nein, das wird nicht nötig sein.« Ihre Stimme klang merkwürdig kalt und ruhig. Er zog das Stück einer Schreibtischplatte aus dem Müll. Ohne Nägel konnte er nichts damit anfangen. »Hast du irgendwo Nägel gesehen? Irgendwie müssen diese Barrikaden doch –« Sie unterbrach ihn. »Stirb, Mefju'drex!« Er fuhr herum. Etwas schlug gegen die Holzplatte in seinen Händen, bohrte sich hindurch. Die Schwertspitze stoppte Zentimeter vor seinem Magen. Die Frau schrie wütend. Mit einem Ruck drehte er die Platte. Das Schwert wurde der Unbekannten aus den Händen gerissen. Sie trat nach ihm, traf ihn am Knie. Stöhnend knickte er ein, prallte gegen die Barrikaden. Er dachte an das Stuhlbein und griff danach. »Was macht ihr denn?« Die zweite Frau tauchte im Türrahmen auf. »Die Feinde sind da draußen!« Er duckte sich und entging dem geworfenen Stein seiner Angreiferin. Sie stand auf der Platte und begann an dem Schwert zu ziehen. Mit einem Schritt war er bei ihr und hieb das Stuhlbein gegen ihre Stirn.
Die Haut platzte auf. Dampf schoss zischend aus der Wunde. Ohne einen Laut brach die Angreiferin zusammen und blieb liegen. Er starrte verwirrt auf den Dampf und dann auf die Frau im Türrahmen. »Siehst du das? Ist das normal? Und was für ein bescheuerter Name ist Mefju'drex?« Sie hob die Schultern. Hinter ihr auf der anderen Seite des Fensters brüllte ein Mann triumphierend. Eine brennende Fackel flog durch die zerstörten Barrikaden. Die Späne fingen Feuer. * Traue keinem! Lies die Karte. Gehe ins Labor. Folge den Anweisungen. Sofort! Es war eine kleine, präzise Handschrift, aber er wusste nicht, ob es seine war. Trotzdem tat er genau das, was die Worte von ihm forderten. Es war eine Aufgabe und sie lenkte ihn von der Stille in seinen Gedanken ab. Er verriegelte die Labortür nur Sekunden bevor sein dicker Verfolger dagegenkrachte. »Wa mahst du dadrin?!«, hörte er ihn brüllen. »Komm raus!« Er klang genauso wie die Männer vor den Fenstern. Mit den Fäusten und seinem Schwert hämmerte er gegen das Metall. Folge den Anweisungen. Rasch lief er durch den Raum und verschloss die zweite Tür. Er drehte das Blatt um, las die Sätze und stieg angewidert über den toten Mann am Boden hinweg. Er sah nicht aus, als läge er bereits länger hier. Die Welt, wie er sie in den ersten Momenten seines neuen Daseins erlebt hatte, schien nur aus Gewalt, Lärm und Tod zu bestehen.
Er verdrängte das Hämmern und konzentrierte sich auf die Anweisungen. Das Blatt hielt er in seiner pochenden rechten Hand. Seine Linke schwebte über den Tasten, Knöpfen und blutverschmierten Lichtern. Der Anblick war verwirrend, doch dann entdeckte er den kleinen grauen Hebel, der in den Anweisungen erwähnt wurde. Er legte die Hand darauf. Sein Mund wurde trocken. Was passiert jetzt? Jage ich das Gebäude in die Luft? Werden wir alle sterben? Oder vielleicht gerettet? Werde ich wieder wissen, wer ich bin? Seine Finger strichen einen Moment über den Hebel. Dann schloss er die Augen und legte ihn um. Nichts geschah. Nur das Hämmern an der Tür stoppte. Draußen ging der Lärm unvermindert weiter. Er öffnete die Augen und trat von der Konsole zurück. Er war den Anweisungen genau gefolgt, da war er sich sicher. Entweder war nicht eingetreten, was er sich erhofft hatte, oder das Ergebnis war subtiler als eine Explosion. Ich werde es schon herausfinden. Er sah hinauf zu der Leiter, die aus dem Raum führte. Sie erschien ihm wesentlich sicherer als der Weg, der wieder mit seinem dicken Verfolger konfrontiert hätte. Vorsichtig stieg er über die ausgetretenen Holzstufen nach oben, bis er einen Gang erreichte. Beißender Rauch stieg durch die Ritzen im Boden auf. Er hoffte, dass der Weg nach draußen kurz war. * Es war, als hätte man einen Vorhang von seinem Geist gezogen. Erfahrungen, Erinnerungen, alles lag dort, wo er es zurückgelassen hatte. Die Erleichterung war so groß, dass er die Gefahr beinahe vergessen hätte.
Matt brauchte einen Moment, um sich neu zu orientieren, um dem Gebäude auf dem Hügel den richtigen Platz in seiner Welt zu geben. Eine Fackel nach der anderen flog in die Zimmer. Die Flammen schlugen an den Wänden hoch. Aruula war bereits bis zur Tür zurückgewichen. Draußen johlten die Krieger. Matt sah in den Nebenraum, wo er die bewusstlose Aunaara – die bewusstlose Daa'murin, korrigierte er sich – zurückgelassen hatte. Er glaubte eine Bewegung hinter der Feuerwand zu sehen, war sich aber nicht sicher. »Ich weiß, wie wir zum Dach kommen!«, rief Aruula. »Komm!« Matt schloss sich ihr an. Der Rauch ließ seine Augen tränen und brachte ihn zum Husten. Verschwommen sah er Paul, der gegen die verschlossene Tür hämmerte. Er stieß ihn zur Seite. »Jed!«, schrie er. »Mach die Tür auf! Wir sind's!« Nichts geschah. Fluchend trat er einen Schritt zurück und zog Paul mit sich. Aruula reichte ihm das Lasergewehr. Zwei kurze Feuerstöße reichten, dann konnte er die Tür mit einem Tritt öffnen. Der Raum dahinter war leer, aber ein Blick auf die Leiter machte ihm klar, wohin Jed geflohen war. »Da rauf.« Aruula lief bereits vor. Matt atmete tief durch. Die Luft war hier noch kühl und angenehm. Er folgte Aruula und sah, wie Paul zur zweiten Tür lief und sie öffnete. Anscheinend rechnete er sich auf der anderen Seite des Gebäudes größere Überlebenschancen aus. Matt glaubte, dass er den Kriegern in die Arme laufen würde, hielt ihn aber nicht zurück. Die Gänge waren so eng, dass er fast seitwärts laufen musste. Einige Male mussten sie umkehren, weil sie in Sackgassen landeten, dann endlich stolperten sie aufs Dach. Rauch stieg in dichten Schwaden rund um sie auf, wurde vom Wind über das Gebäude und hinein in den Wald geweht.
Matt sah sich nach Jed um, aber außer ihnen war niemand auf dem Dach. Aruula erreichte den EWAT vor ihm und sprang hinein. Matt folgte ihr. »Er ist nicht hier«, sagte sie nach einem Blick in die hinteren Segmente. »Was ist, wenn er es nicht geschafft hat?« Matt schüttelte den Kopf und aktivierte den Antrieb. »Wir wären ihm begegnet, wenn er noch im Gebäude gewesen wäre.« Der EWAT hob ab und schwebte über dem Dach. »Wir finden ihn schon.« Aunaara sah dem EWAT durch den Schlitz ihrer Bleimaske nach. Ihre Gehirnstrukturen hatte sie nach dem ersten Amnesieschock so umgeformt, dass der zweite ihr nichts mehr anhaben konnte. Eigentlich hätte sie Mefju'drex mit einem Schlag töten können, aber sie hatte sich in ihrer scheinbaren Überlegenheit leichtsinnig verhalten. Diesen Fehler würde sie nicht noch einmal begehen. Sie dachte an den Krieger, der jetzt von ihrem Schwert durchbohrt in dem Gebäude verbrannte. Auch er war leichtsinnig gewesen, als er durch das Fenster in den Raum sprang, aber im Gegensatz zu ihm hatte sie überlebt. Der EWAT kreiste über ihr, als würde er nach etwas suchen. Aunaara wandte sich ab. Ein anderes Mal, dachte sie. Wir sehen uns wieder, Mefju'drex. * Zwei Tage später Konsteeble Reegan ließ seinen Frekkeuscher neben der großen Eiche an der Wegkreuzung halten und stützte die Arme auf den Sattelknauf. Es regnete in Strömen, und der Mann, der am Wegesrand entlang ging, hatte seine Jacke über den Kopf
gezogen, um sich zu schützen. Trotzdem war er genauso durchnässt wie Reegan. »Scheiß Wetter, um unterwegs zu sein«, sagte der Konsteeble. Der Mann sah auf. Er war blond und hager. »Ja.« »Warst du gestern auch schon unterwegs?« »Ja.« Reegan stieg vom Frekkeuscher und blieb vor dem Fremden stehen. Eine Hand tastete unauffällig nach dem Dolch unter seinem langen Mantel. »Ist das etwa Gerulfleisch in dem Beutel an deinem Gürtel?« Er wusste, dass es so war. Der Farmer hatte den Dieb in seiner Vorratskammer genau beschrieben. »Ja.« Reegan kannte den Hunger und die Taten, zu denen man sich hinreißen ließ, um ihn zu besiegen. »Wie ist dein Name?«, fragte er freundlicher. »Ich, äh, weiß es nicht.« »Das ist mal eine neue Antwort. Normalerweise sagen die Leute: Verpiss dich, geht dich nichts an.« Der Fremde hob die Schultern. Wasser lief über sein Gesicht in den Kragen seines Hemds. »Wenn es, hm, angebracht ist, kann ich das gerne sagen.« »Schon gut.« Reegan sah ihn an. Auf den ersten Blick hatte der Fremde wie ein normaler Herumtreiber gewirkt, doch als er jetzt näher herankam, bemerkte er, dass die Stiefel ungewöhnlich besohlt waren und die Hose viel zu fein gewoben war. Er gehörte nicht in diese Gegend. »Du weißt nicht, wer du bist?«, hakte er nach. »Nein.« Der Fremde schüttelte sich. Reegan bemerkte die goldenen Knöpfe seiner Jacke – goldene Knöpfe, auf denen Kronen zu sehen waren.
Er holte tief Luft. Sein Herz schlug schneller bei dem Gedanken, wem er einen Dienst erweisen konnte. »Aber ich weiß, wer Ihr seid«, sagte er. Der Fremde sah ihn zweifelnd an. »Und wer bin ich?« »Ihr seid ein Mann des Königs, und wenn Ihr es wollt, kann ich Euch zu ihm bringen.« »Tat-hm-sächlich?« Der Abgesandte, Krieger oder Schamane des Königs zögerte einen Moment, bevor er nickte. »Dann bring mich zu ihm.« Reegan half ihm in den Sattel des Frekkeuschers und nahm das Tier an den Zügeln. Es war ein gutes Gefühl, dem König zu dienen. ENDE
Das Abenteuer geht weiter! Im nächsten Band lesen Sie:
Fluchtpunkt El'ay von Bernd Frenz General Arthur Crows Philosophie ist militärisch einfach: Vernichte, was dir gefährlich werden kann, bevor es dich vernichtet. Das Killer-Kommando Miki Takeos hat ihn darin bestärkt, den Feind im fernen Los Angeles mit einem gezielten Schlag auszulöschen – und sich dabei dessen Technologie unter den Nagel zu reißen. Als Aiko davon erfährt, Takeos Sohn, setzt er alles daran, seinem Vater zu helfen – obwohl er von seiner Hirn-OP noch nicht vollends genesen ist. Aber auch die Japaner, mit denen Takeo paktiert, stehen bereit. Es wird ein gefährliches Spiel, für alle Seiten. Ein Spiel, das leicht zu einem furchtbaren Krieg eskalieren kann...