Robert Cormier – Ausgeblendet
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Robert Cormier – Ausgeblendet
DER AUTOR Robert Cormier gilt als Meister des realistischen Jugend romans. Er wurde in der Kleinstadt Leominster im USStaat Massachusetts geboren, wo er sein Leben lang wohnte. Über dreißig Jahre lang arbeitete er als Journalist, wurde mehrfach ausgezeichnet und kam über diese Arbeit auch zu den Stoffen für seine Bücher. Als sein Roman »Der Schokoladenkrieg« 1974 (deutsch 1977) erschien, wurde Cormier auf einen Schlag berühmt. Seine Bücher wurden in mehr als ein Dutzend Sprachen übersetzt und zum Teil auch verfilmt. Robert Cormier starb am 2. No vember 2000 im Alter von 75 Jahren. Weitere lieferbare Titel von Robert Cormier bei cbt:
Auf der Eisenbahnbrücke (30006)
Gefühle sind immer dabei (30007)
Unheilvolle Minuten (30014)
Ich bin das, was übrig bleibt (30017)
Zärtlichkeit (30026)
Nachts, wenn die Schatten fallen (30028)
Der Schokoladenkrieg (30131)
Das Verhör (30154)
Tödliche Experimente (30057)
Bei cbj: Ein Sommer in Frenchtown
Robert Cormier
Ausgeblendet Aus dem Amerikanischen von Rose Aichele
Band 30262 cbt – C. Bertelsmann Taschenbuch Der Taschenbuchverlag für Jugendliche Verlagsgruppe Random House www.cbj-verlag.de
Umwelthinweis: Alle bedruckten Materialien dieses Taschenbuchs sind chlorfrei und umweltschonend.
1. Auflage Erstmals als cbt Taschenbuch Juli 2005 Gesetzt nach den Regeln der Rechtschreibreform © 2005 der deutschsprachigen Ausgabe bei cbt/cbj Verlag, München in der Verlagsgruppe Random House GmbH E-Book by Brrazo 10/2008 Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten © 1988 für den Originaltext by Robert Cormier Die amerikanische Originalausgabe erschien unter dem Titel ›Fade‹ bei Delacorte Press, New York Die deutsche Erstausgabe erschien 1988 bei Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt/Main Aus dem Amerikanischen von Rose Aichele Umschlagfoto: photonica, Hamburg Umschlagkonzeption: init. büro für gestaltung, Bielefeld st • Herstellung: CZ Satz: Uhl + Massopust, Aalen Druck: GGP Media GmbH, Pößneck ISBN 3-570-30262-8 Printed in Germany
Für Connie, in Liebe
Paul Auf den ersten Blick sah das Foto aus wie je des andere aus einem Familienalbum von damals – Sepia druck, die gestellten Posen, die Männer feierlich im Sonntagsanzug, die Frauen mit züchtiger Hochfrisur, in langem Rock und gebauschter Bluse. Ein Porträt der Fa milie meines Vaters auf der Eingangstreppe vor dem Haus in Quebec am Ufer des Richelieu-Flusses, aufge nommen vor dem Ersten Weltkrieg. Bald danach übersiedelte die ganze Familie nach Neu england, Vater und die Großeltern, meine fünf Onkel und vier Tanten, auch meine unendlich geliebte Tante Rosanna. Ich entdeckte das Foto, als ich acht oder neun war, und mein Vetter Jules sagte mir gleich, es sei ein Rätsel da bei, ich dürfte aber kein Sterbenswörtchen verraten. Spä ter merkte ich, dass das Rätsel dieses Fotos eigentlich gar kein Geheimnis war, in der Familie jedoch die verschie densten Reaktionen auslöste. Manche meinten, es sei gar nichts Rätselhaftes dabei, entweder hätte der Fotoapparat nicht richtig funktioniert oder jemand hätte sich einen kindischen Scherz erlaubt. Andere fingen an zu flüstern, wenn sie auf das Rätsel zu sprechen kamen, und hoben die Augenbrauen, als könnte schon die bloße Erwähnung des Bildes schlimme Folgen haben. Mein Großvater lehnte es rundweg ab, darüber zu reden, und tat einfach so, als gäbe es das Foto gar nicht, das doch im großen Familienalbum seinen festen Platz hatte. Das stand wiederum im Maha gonisekretär im Salon meines Großvaters. Mein Vater amüsierte sich über die ganze Sache. »Je de Familie hat ihre Geheimnisse«, sagte er. »Bei man chen spukt es und wir haben ein Bild.« Und was ist das Rätsel? 11
An der Stelle, wo Onkel Adelard hingehört, neben meinem Vater am Ende der letzten Reihe, ist einfach ein leerer Fleck. Nichts. In dem Augenblick, als der Verschluss klickte, war Onkel Adelard verschwunden. Mein Onkel Adelard verschwand ständig, ging fort und kam wieder zurück, ein Vagabund. Für mich war er eine faszinierende Gestalt, ein Abenteurer, für einige andere in der Familie bloß ein Landstreicher und ein Tramp. Die Familie hatte sich in Frenchtown, im Osten von Monument in Massachusetts, niedergelassen, wie hun derte andere Frankokanadier, die dort in den dreistöcki gen Mietshäusern und zweistöckigen Häusern wohnten, in den Kamm- und Knopf- und Hemdenfabriken arbeite ten, ihre Kinder auf die katholische Privatschule schick ten und sonntags in St. Jude zur Messe gingen. Die tägli chen Besorgungen erledigten sie in den Geschäften an der Fourth Street, gönnten sich aber auch immer mal wieder einen Ausflug zum Monument Center, dem Ein kaufszentrum in der Innenstadt. Ich wunderte mich über den Gleichmut, mit dem die Leute in Frenchtown die alltägliche Schinderei in der Fabrik Woche um Woche und Jahr um Jahr hinnahmen. Mein Vater zum Beispiel. Er sah gut aus, lachte gern und hatte als Baseballspieler in der Feierabendliga der Be triebsmannschaften einen tollen Ruf als wagemutiger Läufer, dem oft im entscheidenden Moment ein dramati scher Homerun gelang. Ebenso schnell tanzte er auf Hochzeiten die Quadrille und wirbelte auf dem Parkett juchzend meine Mutter herum, bis ihr schwindelig wur de. Am nächsten Morgen marschierte er wieder in die Kammfabrik; fünfundvierzig Jahre arbeitete er da, ertrug 12
die Entlassungen, die mageren Jahre nach der Weltwirt schaftskrise und die gewalttätigen Streiks. Mein Onkel Adelard entkam der Fabrik, der alltägli chen Plackerei, den Entlassungen und den Arbeitsnieder legungen, genau wie er in Kanada dem Objektiv des Fo tografen entkommen war. Deshalb fühlte ich mich ihm verwandt. Damals, im Sommer 1938, war ich ein ängstli cher und schüchterner Dreizehnjähriger, der sich manchmal vor dem eigenen Schatten fürchtete. Innerlich aber war ich tapfer und mutig wie die Cowboys in den Nachmittagsvorstellungen im Plymouth-Theater. Ich spürte, dass auch ich – bei der richtigen Gelegenheit oder wenn man mich auf die Probe stellte – zum Helden wer den konnte. In Frenchtown bot sich aber keine Gelegen heit. Ich sehnte mich danach, die Welt da draußen zu er forschen, die ich aus dem Kino, aus dem Radio und aus Büchern kannte. Außer aus meinen Büchern und Filmen kannte ich nur einen einzigen heldenhaften Menschen – Onkel Adelard, der den Mut hatte, anders zu sein und die Welt zu durchstreifen. Deshalb plagte ich meinen Vater bei jeder Gelegenheit mit Fragen. Ich wartete, während er im Radio die Nach richten hörte, dass Hitler in Europa ein Land nach dem anderen schluckte, und ich hatte Schuldgefühle, weil das Foto mir wichtiger war als die Armeen, die in Übersee marschierten. Wenn er das Radio ausmachte, versuchte ich seine Stimmung abzuschätzen, und wenn ich den Eindruck hatte, er sei jetzt gesprächig, brachte ich die Rede auf das Foto. Er lächelte dann oft resigniert, trank sein Bier, das er im Keller in irdenen Krügen braute, rauchte seine Ches terfield und sagte: »Na gut, was willst du wissen?« Als ob ich diese Fragen noch nie gestellt hätte. 13
»Also, es war Sonntagnachmittag, stimmt’s? Und ihr wart alle auf der Treppe in St. Jacques …?« »Stimmt«, sagte mein Vater und steckte sich mit ei nem Küchenstreichholz, das er an seiner Hose anzündete, noch eine Chesterfield an. »Wir waren im Sonntagsstaat mit Hemd und Krawatte und wollenen Jacketts. Es war ein heißer Sommernachmittag und keiner konnte richtig stillhalten.« »Und Onkel Adelard stand direkt neben dir …?« »Genau«, sagte er. »Man konnte ihn gar nicht überse hen. Er war unruhig und stand einfach nicht still. Bis dein Pépère sich umdrehte und ihn ansah; der konnte einen ansehen, das ging einem durch und durch. Da hat Ade lard endlich Ruhe gegeben, aber heimlich hat er mich gezwickt, um mich zum Zucken oder Wegspringen zu bringen.« »Was ist dann passiert?« »Eigentlich nichts. Als wir alle ruhig waren, machte Mr. Archambault, der Fotograf, die Aufnahme. Rosanna war noch ein Baby auf dem Arm deiner Mémère. Erst hat sie ein bisschen gequengelt, aber dann schlief sie ein und döste ganz ruhig vor sich hin. Und peng, schon war die Aufnahme gemacht.« »Erzähl mir bitte, was passiert ist, als Mr. Archam bault euch das Foto brachte«, bat ich. Mein Vater roch immer nach Zelluloid, ein süßsaurer Geruch, der nicht nur aus seinen Kleidern strömte, son dern auch aus seiner Haut, sogar dann, wenn er gerade aus dem Bad kam. So roch das Material, aus dem in der Fabrik Kämme und Bürsten gemacht wurden. Der Ge ruch der Arbeit und des Überdrusses, sogar der Geruch der Gefahr, denn Zelluloid ist leicht entzündlich und fängt manchmal ganz unerwartet und von selbst Feuer. 14
Er seufzte und sagte: »Als wir uns das Foto anschauten, war Adelard nicht drauf, sondern stattdessen ein leerer Fleck. Er war ver schwunden.« »Ist er wirklich verschwunden?«, fragte ich, als ob ich die Frage nicht schon tausendmal gestellt hätte. »Weiß du, Adelard war ein richtiger Schelm. Ich könnte mir schon vorstellen, dass er sich im allerletzten Augenblick, als der Fotograf so weit war, schnell zur Sei te weggeduckt hat …« »Aber hättest du das nicht gesehen?«, fragte ich. »Er muss sich doch irgendwie bewegt haben.« »Ich weiß nicht, Paul. Ich habe mich auf die Kamera konzentriert. Mr. Archambault sagte, bitte lächeln und nicht bewegen. Es war heiß in der Sonne und mein Kra gen war mir zu eng. Es war mir egal, was die anderen machten, besonders Adelard. Der ging einem sowieso meistens auf die Nerven. Ich habe also nicht gesehen, wie er sich bewegt hat.« Ich war entzückt, denn wenn mein Onkel Adelard ein fach verschwunden war, hatte es natürlich überhaupt kei ne Bewegung gegeben. »Und Mr. Archambault, der Fotograf? Hat der viel leicht etwas Ungewöhnliches gesehen?« »Wer weiß«, meinte mein Vater und seine Augen blitzten schon, weil jetzt gleich der übliche Witz kam: »Schwer zu sehen, was nicht da ist.« Ich lachte, nicht nur aus Höflichkeit, sondern weil mir dieses Frage- und Antwortspiel Spaß machte. Vater und ich allein in der Küche, der Zigarettenrauch kräuselte sich in der Luft und alle anderen waren irgendwo anders. Mein Vater fuhr fort: »Mr. Archambault, der arme Kerl, war viel verwirrter als wir. Er schwor, dass Adelard 15
wie alle anderen aufgestellt gewesen war, gab aber auch zu, dass er im Augenblick der Aufnahme niemand Be stimmten angesehen hatte. Er bot an, den Preis um ein Zwölftel zu reduzieren, weil einer der zwölf nicht auf dem Bild war. Dein Pépère bezahlte aber den vollen Preis; für die Familie sei er verantwortlich, sagte er, nicht der Fotograf.« »Was sagte Onkel Adelard zu der Geschichte?« Es ist schon seltsam, wie gespannt man auf eine Ant wort sein kann, auch wenn man sie schon kennt. Liegt das daran, dass die Antwort dieses Mal, dieses eine Mal anders sein könnte, dass ein vergessenes Detail wieder ans Licht kommen könnte? Oder liegt es daran, dass die Antwort bestätigen wird, was man hören will? »Hat man von Adelard jemals eine ehrliche Antwort bekommen?«, fragte mein Vater. Eine Frage, auf die er keine Antwort erwartete. »Jedenfalls hat er immer wieder betont, dass wir, wenn er uns erzählt hätte, was wirklich passiert ist, keinen anderen Gesprächsstoff mehr hätten als unsere langweiligen Betrachtungen über die Arbeit und das Zeitgeschehen.« »Also hat er nie zugegeben, dass er sich weggeduckt und versteckt hat, stimmt’s?«, fragte ich triumphierend. »Stimmt, Paul, er hat nur gelächelt, wenn wir ihn da nach fragten, und das Thema gewechselt …« Wir saßen einen Augenblick lang schweigend da, wahrscheinlich machte sich jeder seine eigenen Gedan ken über Onkel Adelard und das Foto. »Wo ist er nun, Vater?« »Wer weiß?« Mein Vater zog den weißen, gerafften Vorhang zurück und starrte durch das Fenster auf die anderen dreistöcki gen Mietshäuser an der Sixth Street: zwischen den Häu 16
sern Wäscheleinen, von denen Kleider wie vielfarbige Flaggen hingen, die einen hell und in schreienden Far ben, die anderen verblichen und matt. Der Gedanke an meinen Onkel Adelard dort draußen in der weiten Welt jenseits von Frenchtown und Monu ment faszinierte mich. »Er ist zurück«, verkündete mein Vater, als er die Küche in einer Wolke aus Zelluloidgeruch betrat und sein Ess geschirr auf den Tisch knallte. Ich sprang vom Stuhl auf, wo ich begierig nach De tails die letzte Ausgabe von Wings gelesen hatte. »Wann ist sie eingetroffen?«, fragte meine Mutter und wandte sich von dem Tisch um, wo sie meine beiden Schwestern, die Zwillinge Yvonne und Yvette, dabei be aufsichtigte, wie sie das Besteck auflegten. Sie? »Gestern Nacht, spät wie immer, hat sie bei Vater an geklopft«, sagte mein Vater und schüttelte dabei leicht missbilligend den Kopf. »Typisch Rosanna!« Ich stellte fest, dass ich wieder einmal das gehört hatte, was ich hören wollte – dass Onkel Adelard zurückgekehrt war –, und nicht, was mein Vater tatsächlich gesagt hatte. »Arme Rosanna«, sagte meine Mutter. Mein Vater schnaufte verächtlich und begab sich dann zum Spültisch, um das Geschirr abzuwaschen. Ich hatte Tante Rosanna fünf Jahre lang nicht mehr gesehen, was einem Dreizehnjährigen, der auf die Zeit zurückblickt, als er acht war, natürlich wie eine Ewigkeit vorkommen muss. Ich hatte beinahe vergessen, dass es sie gab, und besaß nur noch eine vage Vorstellung von roten Lippen und glänzendem schwarzen Haar und Klei dern, die beim Gehen glitzerten und schimmerten. Jedes 17
Mal, wenn ihr Name fiel, folgte betretenes Schweigen und die erwachsenen Familienmitglieder vermieden es, sich in die Augen zu blicken. Sie war nicht wie Onkel Adelard, um den immer viel gerätselt wurde und der Postkarten aus Orten wie Boise, Idaho, Billings, Monta na, und Waco, Texas, nach Hause schickte, während man von Tante Rosanna niemals etwas erfuhr. Ein paar Tage später schickte mich meine Mutter mit einem selbst gebackenen Apfelkuchen zu meinem Groß vater. Den noch warmen Kuchen in der Hand, klopfte ich unbeholfen mit meinem Ellbogen an die Tür. Wenig spä ter sah ich mich meiner Tante Rosanna gegenüber. Sie stand in der Nähe des Küchenfensters, in einem purpurnen Rock und einer weißen Bluse, ihr schwarzes Haar war nun sogar noch schwärzer und glänzte in der Nachmittagssonne, ihre Lippen waren immer noch voll und rot, röter als das schönste Himbeerbonbon. Und ihre Augen – was für Augen! Sie waren leuchtend blau, aber nicht himmelblau oder so blau wie die schönen Kelchglä ser, die meine Mutter an Festtagen hervorholte. Ihre Au gen waren von einem wässerigen Blau, so als ob sie gleich in Tränen zerfließen würden, und Lichter tanzten darauf wie auf der Oberfläche eines Sees. Es gibt Augenblicke, in denen einem das Herz und der Puls stocken, in denen man sich in der Schwebe zwi schen Leben und Tod befindet und auf etwas wartet, das einen in die Wirklichkeit zurückbringt. Was mich zu rückbrachte, war mein Name auf ihren Lippen: »Paul, du bist ja schon richtig erwachsen! Schön, dich wieder zu sehen!« Irgendwie war ich den Kuchen losgeworden und fand mich plötzlich in Rosannas Armen wieder. Sie hatte die Arme um mich geschlungen, ihr exotisches Parfüm ne 18
belte mich ein und ich spürte, wie sie ihren Busen an mich drückte. Es verschlug mir den Atem, mein Puls jag te, es prickelte auf der Haut und mir drehte sich alles. »Lass dich mal ansehen«, sagte sie und schob mich von sich, hielt mich aber mit den Händen an den Schul tern. Ich wollte mich nicht aus ihrer Umarmung lösen und doch gleichzeitig losreißen, wegrennen, mich verste cken, um diesen Augenblick ganz für mich allein zu ha ben und ihn in meinem Gedächtnis zu verewigen. Auch wollte ich eine Hymne singen oder ein Gedicht schreiben oder vor Freude Luftsprünge machen. Ich war aber so verdutzt, dass ich nur verlegen herumstand. »Was ist denn mit dir, Paul? Freust du dich denn nicht, mich wieder zu sehen? Du hast ja noch gar nichts ge sagt.« Klang Spott in ihrer Stimme mit? Genoss sie die Wir kung, die sie auf mich ausübte? Ich fühlte, wie mein Ge sicht die Farbe wechselte und dass ich ihr ungeschickt und lächerlich vorkommen musste. Meine Hose spannte und ich schwitzte wie ein Schwein. Ich stammelte, schluckte und würgte und wusste nicht, was ich mit meinen Händen anfangen sollte, als sie in ein zauberhaftes Lachen ausbrach, das zugleich voll und rau klang, während mir ihr Blick sagte, dass sie begriffen hatte, was mit mir geschah, und dass sich etwas Besonde res zwischen uns zugetragen hatte. »Ich erinnere mich, wie ich dich als Baby auf den Arm genommen und abgeküsst habe«, sagte sie. »Und nun bist du beinahe ein Erwachsener …« Trotz der Anwesenheit meiner Großeltern verging ich beinahe vor Wonne. Ich brannte darauf, ihr zu sagen, dass ich sie liebte, jetzt und für immer, und dass sie das Schönste war, was ich jemals gesehen hatte, schöner als 19
Merle Oberon und Margaret Sullavan in den Filmen im Plymouth, schöner und verführerischer als die Frauen in den Zeitschriften in Lakiers Drogerie, die ich immer mit gierigen Blicken verschlang, wenn mir Mr. Lakier den Rücken zukehrte. Mein Großvater hustete geräuschvoll und meine Großmutter fuhrwerkte herum und ich spürte, dass ihnen diese Begegnung zwischen Tante Rosanna und mir pein lich war und dass es ihnen reichte. »Ich bin froh, dass du zurück bist«, brachte ich noch heraus, als ich schon am Türknopf herumdrehte. Auf meiner Flucht aus der Küche schlug ich das Fliegengitter hinter mir zu, rannte polternd die Treppe hinunter und über den Hof, flitzte an den Reihen mit Tomatenstauden im Garten meines Großvaters vorbei und rannte so schnell ich konnte die Eigth Street hinunter. Mein Herz klopfte, meine Gedanken waren in Aufruhr und ich fragte mich, wie mir geschah: Ich war zugleich glücklich und traurig, ich schwitzte und fror und mein Herz war zum Überlaufen voll – ja mit was eigentlich? –, ich konnte es nicht in Worte fassen. Jemand rief mich beim Namen, als ich an Dondiers Metzgerei vorbeiraste. Vielleicht war es Pete Lagniard gewesen, ich hielt aber nicht an, konnte nicht anhalten, wollte immer weiterrennen, allein und doch nicht allein, weil ich in Gedanken an meine Tante Rosanna rannte – Paul … du bist erwachsen … ich erin nere mich, wie ich dich früher abküsste … Als ich in dieser Nacht im Bett lag, kuschelte ich mich wie ein Kind zusammen und geriet in große Erregung. »Was zum Teufel treibst du denn da?«, fragte mein äl terer Bruder Armand von der anderen Seite des Betts. Mein jüngerer Bruder Bernard lag zwischen uns und ich war froh, dass er fest schlief. 20
»Nichts«, sagte ich mit gedämpfter Stimme. Ich würg te das Gefühl der Scham ab, das in mir aufstieg und mich an meinen Beichtvater Blanchette erinnerte, der mich vor solchen Praktiken gewarnt hatte. War es aber eine Sünde, wenn man es aus Liebe tat, wenn man einem entsetzlichen Verlangen nachgab und damit eine wenn auch noch so ergötzliche Qual beendete, die einen ziellos in den Straßen herumlaufen und einem den Appetit vergehen ließ. Eine Qual, bei der man sich unruhig im Schlaf hin und her wälzte und die einen plötz lich so glücklich machte, dass der ganze Körper vor Glück bebte, und kurz darauf wieder so unglücklich, dass man am liebsten geweint hätte. »Schlaf jetzt«, sagte Armand und seine Stimme war er staunlich sanft für einen, der sich hauptsächlich mit Base ball beschäftigte und nur darauf aus war, die Schule zu schwänzen und sich in der Kammfabrik herumzutreiben. Ich lag im Bett und lauschte den Geräuschen meiner schlafenden Geschwister. Das Schlafzimmer war groß genug, um darin zwei Betten im rechten Winkel zueinan der unterzubringen. Während Armand, Bernard und ich das Bett in der Nähe der Küchentür innehatten, lagen die Zwillingsschwestern Yvonne und Yvette, die elf Jahre alt waren, in dem Bett am Fenster. Ringsum waren nächtli che Geräusche zu hören: auftauendes Eis, das in die Auf fangschale unter dem Tiefkühlfach in der Speisekammer tropfte, das leise Schnarchen meiner Geschwister, die sich unruhig im Schlaf wälzten und manchmal leise, spit zige Schreie ausstießen. Rose, die noch ein Baby war, schlief in ihrem Bettchen neben den Eltern im Schlaf zimmer. Manchmal wachte sie wimmernd auf und ich hörte, wie meine Mutter sie leise wieder in den Schlaf sang. 21
Ich dachte über die Wunder des Lebens nach, während die Zeit verging. Wie kam es, dass ich ausgerechnet in Frenchtown, einem Vorort von Monument, zu diesem ganz bestimmten Zeitpunkt das Licht der Welt erblickt hatte? Ich dachte an die Gedichte, die ich geschrieben und in meinem Schrank versteckt hatte. Gedichte, die von meiner Sehnsucht und meiner Einsamkeit, meinen Ängsten und Wünschen erfüllt waren. Ich schrieb meine Gedichte heimlich und lag dabei mit einer Taschenlampe unter der Bettdecke oder im Schuppen hinter einem alten ausrangierten schwarzen Herd. Ich wusste allerdings nicht, ob ich zum Dichter taugte. Ich fragte mich, warum ich mich im Bett hin und her wälzte und nicht einschla fen konnte wie meine Geschwister. Manchmal beneidete ich sie darum, wie sie vor sich hin lebten, ohne Fragen zu stellen oder über die Wunder um uns herum nachzuden ken. Oder hatten sie vielleicht auch Geheimnisse, die sie mit niemandem teilen wollten? Manchmal sehnte ich mich danach, so wie sie zu sein; ein Baseballstar wie Armand, der immer als Erster für ein Team ausgesucht wurde, oder gut aussehend wie Ber nard, der fast zu schön war für einen Jungen, wie einige fanden. Ich beneidete sogar die Zwillinge, die so fröhlich und albern waren, immer gute Noten bekamen und nie von den Eltern und den Nonnen in der Schule gescholten wurden. Am meisten beneidete ich aber Pete Lagniard, meinen besten Freund, der schneller rennen und über Zäune klettern konnte als alle anderen. Er kannte tausend Geheimnisse – wusste, was man mit Maisfasern alles machen kann, wie man sich eine Steinschleuder bastelt, mit der man immer trifft, und kannte die besten Verste cke in der Nachbarschaft. Ich dachte über mein Unge schick bei den Spielen im Schulhof, über meine tausend 22
Ängste und meine unerklärliche Einsamkeit nach, die mein Leben auch in den glücklichsten Momenten über schatteten. Ich zog die Bettdecke fest um meine Schultern, ob gleich es eine heiße Nacht war, und ließ vor meinem in neren Auge meine Tante Rosanna in ihrer ganzen Schön heit erstehen, glaubte ihren Duft wahrzunehmen und wie sie sich anfühlte, als sie mich in den Armen hielt. Ihr Ge sicht war ein Licht in meinem Inneren, ein Glühen, das mich sanft in den Schlaf geleitete, der tief und dunkel und ihretwegen wunderschön war. Die Fotografie war nicht das einzige Geheimnis, das in diesem Sommer mein Leben bestimmte. Es gab Gerüchte über seltsame Umtriebe an den Ufern des Moccasin Ponds und in den Außenbezirken von Monument. Ge rüchte über Freudenfeuer und heidnische Rituale und Geistererscheinungen. Wie alle Gerüchte waren sie schwer auszumachen. Ein paar ganz Mutige getrauten sich auch wirklich zum See hinaus, fanden aber nichts. Andere berichteten, dass sie von Feuer speienden Ges penstern vertrieben wurden. Dieses Feuer sei nur ihre eigene Whiskyfahne gewesen, die es zu ihnen zurückge blasen hätte, spottete mein Vater. Da die Julihitze anhielt, wurde der Moccasin Pond in diesem Sommer zum sa genumwobenen Ort, zum Gesprächsthema, mit dem man sich die feuchtwarmen Tage und Abende vertreiben konnte. Bis dann Pete Lagniard den Beweis erbrachte, dass die Gerüchte keine waren. Pete erzählte mir an einem Samstagnachmittag davon, als wir gerade auf dem Weg zum Plymouth waren, wo die neueste Episode von The Ghost Rider und ein Char lie-Chan-Krimi gezeigt wurden. 23
Pete war immer der Erste, der wusste, was sich in Frenchtown abspielte. Er war der Jüngste in einer Fami lie von neun Personen. Seine älteren Brüder und Schwes tern brachten aus den Fabriken, in denen sie arbeiteten, den Tratsch mit nach Hause. Pete war ein aufmerksamer Lauscher und erzählte mir alles weiter, was er aufge schnappt hatte. Wir liebten beide das Dramatische, das Kino und die Krimis, was uns natürlich noch fester zu sammenschweißte. Er wohnte im ersten Stock des drei stöckigen Hauses in der Sixth Street und ich im zweiten. Zwischen unseren Fenstern auf der Rückseite des Hauses hatten wir einen Flaschenzug gebaut, sodass wir in einer leeren Campbells-Suppendose Nachrichten austauschen konnten. Es wäre natürlich einfacher gewesen, zum Fens ter hinauszurufen, aber eben nicht so aufregend. Als wir vor dem Acme-Polstergeschäft stehen blieben, erzählte Pete, dass er seine Brüder über seltsame Zu sammenkünfte am Moccasin Pond hatte sprechen hören. »Was ist denn so seltsam daran?« »Es sind Zusammenkünfte von maskierten Männern mit Fackeln. Sie treffen sich jeden Freitagabend …« »Wer sind sie?«, fragte ich argwöhnisch. Maskierte Männer und brennende Fackeln passten so gar nicht zu Frenchtown und gehörten auf die Leinwand im Plymouth. »Bis jetzt weiß es noch niemand, aber meine Brüder werden es herausfinden«, prahlte Pete und spreizte sich dabei ein wenig, »ich habe sie sagen hören, dass sie nächsten Freitag nachts zum See gehen. Mein Bruder Curly hat gemeint: Wenn diese Trottel Ärger wollen, sol len sie ihn auch haben!« Curly, der in der Versandabtei lung der Kammfabrik arbeitete, war ein Hüne. Er konnte riesige Kisten heben, für die man sonst zwei oder drei Männer brauchte. 24
»Pete, bist du da auch ganz sicher?«, fragte ich und überlegte, ob wieder einmal seine blühende Fantasie mit ihm durchgegangen war. »Nun, es gibt einen Weg, um es herauszufinden«, sag te er. Seine Augen funkelten vor Aufregung. »Und wie?«, fragte ich, obwohl ich es natürlich wusste. »Freitag«, sagte er, »gehen wir nachts hin. Du und ich. Zum Moccasin Pond …« Mich packte das kalte Grausen. Ich hatte Angst und witterte Gefahr. Ich konnte aber auch den Kitzel nicht leugnen, den ich trotzdem dabei verspürte. Wie oft hatte ich mich nach Abenteuern gesehnt und gedacht, dass sie nur weit weg von Frenchtown und von Monument zu finden seien, an entfernten Orten des Globus. Nun warte te, nur ein paar Meilen weit weg, zum Greifen nahe, et was Spannendes und Geheimnisvolles auf mich. Als am Freitagabend die Dunkelheit über Frenchtown hereinbrach, schlich ich mich mit Pete aus dem Haus und wir machten uns auf den Weg zum Moccasin Pond. Wir gingen durch eine finstere Seitengasse zwischen Monu ments Kammfabrik und den Lagern von Boudreaus Ge tränkefirma und geisterten durch Alphabet Soup, den Stadtteil, in dem die Straßen durch Buchstaben statt durch Namen gekennzeichnet waren und Nichtsesshafte in heruntergekommenen Hütten und Baracken lebten. Wir durchstreiften die Water Street, wo nur noch ein paar weit auseinander liegende Häuser standen und dement sprechend mit Straßenlaternen gespart wurde. Wir sahen uns gelegentlich an: nächtliche Verschwörer, die sich daran berauschten, dass sie so spät noch zusammen un terwegs waren. Die Nacht war erfüllt von undefinierba ren Gerüchen, als produziere sie ihren eigenen Duft, der 25
tagsüber verborgen blieb: ein Hauch von Moschus, ge heimnisvoll und aufdringlich. Wenn dann gelegentlich ein Auto vorüberfuhr, zogen wir uns in die Schatten zurück und wurden eins mit der Nacht und ihren Geheimnissen. Wir rannten prustend den Ransom Hill hinauf, waren außer Atem, als wir Pepper Point erreichten, einen Punkt, von dem aus wir die Lichter von Monument in der Ferne blinken sahen. Als wir anhielten, um zu verschnaufen, fragte Pete: »Was meinst du, wie spät es ist?« »Ich schätze, nach elf«, sagte ich. Das klang toll: nach elf. Zu unseren Füßen schlum merte Frenchtown, die meisten Bewohner waren schon zu Bett gegangen. »Gehen wir«, sagte Pete und wir bahnten uns unseren Weg durch den dunklen Wald. Irgendwo bellte ein Hund, was die Stille der Nacht nur unterstrich. Insekten um schwirrten uns. Sterne blinkten am Himmel und der Voll mond tauchte aus den dahinjagenden Wolken auf. Wir duckten uns unter die Zweige hoher Bäume und zwängten uns durchs Gebüsch. Wir stießen zusammen, als wir stol perten und strauchelten. Wir fielen manchmal hin und hör ten gegenseitig unser verzweifeltes Ächzen und Stöhnen. Nach Atem ringend, gelangten wir schließlich auf eine Lichtung und folgten einem unebenen Weg, der zum Ufer des Moccasin Pond führte. Die Oberfläche glänzte im Mondlicht, das Wasser lag so ruhig und unberührt wie die weiße Bettdecke im Schlafzimmer meiner Eltern. Auf der anderen Seite des Sees stand ein Pavillon, in dem Samstagabends immer ein Tanz stattfand, seine weiße Verschalung leuchtete gespenstisch in der Dunkel heit. »Horch!«, sagte Pete und lauschte in Richtung See. 26
Über das Wasser drangen leise Fahrzeuggeräusche her über, wurden dann lauter, der See verstärkte die Geräu sche. Das Quietschen von Bremsen und Hupen vermischte sich mit dem Dröhnen aufheulender Motoren. Wie in ei nem Gefängnisfilm leuchteten Suchscheinwerfer übers Wasser und wir zogen automatisch die Köpfe ein. Wir gingen um den See herum, hielten uns dabei im Schatten und dicht am Boden, und folgten so der ge schwungenen Uferlinie. Wir bahnten unseren Weg zum Picknickplatz und verschanzten uns hinter einem Tisch, der hochkant stand. Als ich über die Kante des Tischs guckte, sah ich, dass fünfzehn oder zwanzig Autos einen Kreis gebildet hatten, die Scheinwerfer alle auf denselben Punkt in der Mitte gerichtet, die Motoren tuckerten leise vor sich hin, die Fahrer waren schemenhafte Gestalten hinter der Wind schutzscheibe. Als die Männer aus den Fahrzeugen heraussprangen, die Türen geräuschvoll zuschlugen und sich mit ge dämpfter Stimme Befehle zuriefen, flüsterte Pete leise und voll ehrfürchtiger Verwunderung: »Wow!« Und ich wiederholte den Ausruf im Stillen, als ich sah, was er gesehen hatte: Männer in langen, weißen Gewändern. Sie hatten spit ze Kapuzen übers Gesicht gezogen, die Augen bildeten dunkle Höhlen, wo man Löcher in den Stoff geschnitten hatte. Eine der Gestalten trug ein überdimensionales höl zernes Kreuz herum, der horizontale Balken war breiter als die Spannweite der Arme des Mannes. Er begab sich in die Mitte des erhellten Kreises. Wie der böse Priester in einer heidnischen Zeremonie hob er das Kreuz in die Höhe. Er forderte Gott selbst her aus, als er ihm das Kreuz entgegenhielt. Die anderen 27
vermummten Gestalten scharten sich um ihn, feuerten ihn an und schrien. »Der Ku-Klux-Klan«, flüsterte mir Pete ins Ohr. »Den gibt’s doch nur im Süden«, sagte ich. »Sie sind aber hier.« Pete packte mich brutal an der Schulter, seine Finger nägel gruben sich in mein Fleisch. »Duck dich!«, befahl er mir. Als ich den Kopf einzog, sah ich gerade noch eine vermummte Gestalt in unsere Richtung marschieren, in der einen Hand das Gewehr, in der anderen die Whisky flasche. Pete flüsterte mir mit zitternder Stimme ins Ohr: »Eine Wache.« Der Wächter ging so nahe an uns vorbei, dass wir das Krachen der Tannennadeln hörten, die er unter den Fü ßen zertrat, und nach einer Weile das Gurgeln des Whis kys, den er im Gehen hinuntergoss. Als ich den Kopf wieder hob, war aus dem Kreuz eine zuckende Fackel geworden. Wütende Flammen züngel ten in der Dunkelheit empor. Das Kreuz wurde drohend himmelwärts geschwungen, die Mitglieder des Klans sprangen und tanzten in einer Art Orgie um das Kreuz herum, brüllten und schlugen sich gegenseitig auf den Rücken. Die Luft wurde nicht nur durch die züngelnden Flammen des Kreuzes erleuchtet, sondern von einer Au ra, die man nur schwer beschreiben kann. Worte lagen mir auf der Zunge, die ich aber nicht laut aussprechen konnte. Sie blieben mir im Hals stecken. Worte wie: Hass. Tücke. Das Böse. Plötzlich trat Stille ein, als sich die Vermummten um den Kreuzträger herum aufstellten. »Nigger raus!«, brüllte er. 28
Die Menge brüllte: »Nigger raus!« »Papisten raus!«, brüllte der Kreuzträger wieder, die ses Mal war seine Stimme höher und schriller, das Kreuz über ihm stand immer noch in Flammen. Pete drehte sich fragend zu mir um. »Das sind wir«, sagte ich. »Die Katholiken.« »Papisten raus!«, betete die Menge nach. Sie verliehen ihren Stimmen Nachdruck, indem sie mit den Fäusten auf die Kühlerhauben trommelten. »Juden raus!« Die Worte hatten einen entsetzlich tri umphalen Klang. »Juden raus!«, betete die Menge nach. »Wo zum Teufel sind denn Curly und seine Bande?«, flüsterte mir Pete ins Ohr. Mir fiel auf, dass in der Dunkelheit hinter dem Pavil lon etwas in Bewegung geraten war. Als ich in die Rich tung blinzelte, erlebte ich eine Explosion von Licht: Au toscheinwerfer, Suchscheinwerfer und Taschenlampen richteten sich auf die vermummten Gestalten. Kriegsge schrei und Freudengeheul zerrissen dabei die Luft und schließlich sah ich die Eindringlinge, die Knüppel und Baseballschläger dabeihatten, unter großem Geschrei auf den Parkplatz zu den Klanmitgliedern vordringen. Einen Augenblick lang standen die vermummten Ges talten vor Erstaunen stumm und wie versteinert da, of fensichtlich waren sie auf den Angriff nicht vorbereitet gewesen. Dann, wie auf ein Stichwort hin, fingen sie in Panik an zu rennen, stolperten und fielen hin, behindert durch ihre wallenden Gewänder. Pete sprang auf und juchzte vor Freude. »Schlagt die Scheißkerle zusammen!«, brüllte er. Es war weniger ein richtiger Kampf als vielmehr eine wütende Jagd auf die Mitglieder des Klans, die zu ihren 29
Autos eilten, wobei sie wie hysterische Frauen ihre Ge wänder hochrafften, während ihre Verfolger die Waffen schwangen, ihre Ziele dabei aber öfter verfehlten als tra fen. Rufe, Schreie und Schmerzgebrüll erfüllten die Luft. Petes Bruder Curly stapfte boshaft grinsend und ohne Waffe durch den Rauch und Staub, als ob er sich auf ei nem Sonntagsspaziergang befände. Plötzlich sprang ihn ein Vermummter mit einem wilden Schrei von hinten an. Curly wirbelte ihn mühelos herum, wobei er sich für ei nen, der so korpulent war, als ziemlich behände erwies. Sein Angreifer flog durch die Luft und prallte dumpf ge gen die Seite eines Wagens. Mit einem Hurraruf wandte ich mich um und sah das hölzerne Kreuz verkohlt und in ziemlich erbarmungs würdigem Zustand auf dem Boden liegen. »Paul, pass auf!«, rief Pete. Der vermummte Wächter kam auf uns zu und schwang drohend sein Gewehr in unsere Richtung. »Ich sehe euch gut, ihr kleinen Scheißkerle!«, rief er. Wir rappelten uns auf. Pete versetzte dem Tisch einen Stoß, sodass er krachend zu Boden fiel. Der Aufpasser sprang so ungeschickt zurück, dass er beinahe über sein langes Gewand gestolpert wäre. Wir rannten so schnell wir konnten in den Schutz des Waldes, liefen im Zickzack, gingen gebückt, um dem Feind eine kleinere Angriffsfläche zu bieten, ahmten die Leinwandstars nach, die wir in so vielen Filmen hatten fliehen sehen. Pete tauchte im niederen Gebüsch unter, ich aber stolperte und fiel mit dem Gesicht nach unten auf den Sandstrand. Ich spuckte Sand, rieb mir verzwei felt das Gesicht und versuchte aufzustehen, als ich die Schritte des näher kommenden Wächters hörte. »Beeil dich, Paul«, rief Pete aus dem Schatten. 30
Ich wollte aufstehen, bekam aber keine Luft mehr, es war, als hätte mich jemand vor die Brust geschlagen, und ein zuckender Schmerz durchfuhr mich vom Kopf bis zu den Füßen. Ich brach auf dem Sand zusammen, versuchte verzweifelt wieder zu Atem zu kommen und war froh, dass der zuckende Schmerz so schnell wieder verging, wie er gekommen war. Als ich wieder atmen konnte, sah ich die groteske Silhouette des Wächters im Mondlicht auf mich zukommen. Es durchrieselte mich kalt, als ich hilflos die schauer liche Gestalt anstarrte, die mit dem Gewehr in der Hand auf mich zu schwankte. »Wo bist du, Paul?« Wo mochte ich wohl sein? Der Wächter rückte immer näher und blieb, das Ge wehr auf mich gerichtet, in nächster Nähe stehen. In meiner Sterbensangst fing ich zitternd an zu beten: Gegrüßet seist du, Maria … Ich bat um Vergebung mei ner Sünden und blickte zu dem Wächter auf, der drohend vor mir aufragte. Das Gewehr zitterte in seiner Hand und er sah sich um, wobei er ein bisschen schwankte und seine Kapuze sich auf und ab bewegte. Ich begann wieder Hoffnung zu schöpfen. Er ist be trunken, dachte ich, stockbesoffen, und sieht mich des wegen nicht. Er machte einen Schritt zurück, als hätte er seinen Orientierungssinn verloren. Hinter ihm auf dem Park platz ging das Handgemenge mit Gebrüll und Geschrei weiter. Unsicheren Schrittes und mit gesenktem Gewehr begab er sich wieder in die Richtung, aus der der Lärm kam. Ich fröstelte immer noch, obwohl es eine sehr war me Nacht war. 31
Dann warf er wieder einen Blick in meine Richtung, murmelte: »Hol dich der Teufel!«, und stieß einen Schlachtruf aus, als er sich wieder ins Getümmel stürzte, mit der einen Hand seine Kapuze haltend und mit der anderen das Gewehr schwenkend. Ich nutzte die Zeit, um aufzustehen, mich ins Gebüsch zu schlagen und mich vorwärts zu tasten, weil ich nichts sah. Schließlich stolperte ich auf eine Lichtung hinaus und warf mich erschöpft und völlig durchgeschwitzt auf den Boden. Die Kälte war verflogen. Wenig später fand mich Pete. »Was ist passiert?«, fragte er. »Ich habe überall nach dir gesucht.« »Ich bin gestolpert und hingefallen. Ich habe schon geglaubt, er bringt mich um.« »Ich habe dich nicht gesehen, ich dachte, du wärst in die andere Richtung gerannt.« »Er war betrunken«, sagte ich, »und genau vor mir. Er hat mich aber nicht gesehen. Er ist wieder zu der Schlä gerei zurückgegangen …« Pete gab mir ein Taschentuch, um mir das Gesicht ab zuwischen. Dann schlichen wir uns leise durch den Wald, indem wir den Flecken des Mondlichts folgten, die sich auf dem Boden abzeichneten. Der Lärm des Handge menges nahm ab, wurde hinter uns immer schwächer, bis wir nur noch den Wald um uns herum wahrnahmen, die Wurzeln, Steine, Pflanzen und die Geräusche von flie henden Tieren im Gehölz. Schließlich brachen wir an einem mächtigen Baum zu sammen. Wir waren völlig außer Atem und die Knochen taten uns weh. Pete schloss die Augen und schlief unver züglich ein. Nach einer Weile gab auch ich nach und fiel in einen tiefen, traumlosen Schlaf. 32
Als ich wieder erwachte, vergoss das Morgenrot gera de Blut über den Himmel. Wir tappten aus dem Wald hinaus und schlichen wie zwei müde Gespenster den Ransom Hill hinab und durch die Straßen von French town nach Hause in die Sixth Street. Am Nachmittag darauf, als ich gerade in der Gemüse ecke von Mr. Dondier’s Markt Orangen zu einsturzge fährdeten Pyramiden aufbaute, brachte mir Pete die Mo nument Times vorbei. Wir duckten uns, damit uns nie mand sah, und knieten uns auf den Boden neben den Kartoffelkisten. »Schau«, flüsterte Pete und breitete die Titelseite der Zeitung vor mir auf dem Boden aus. Ich hörte die Regist rierkasse klingeln, als Mr. Dondier die Bestellung von Mrs. Thellier, die elf Kinder hatte, abrechnete. Die Schlagzeile in der rechten oberen Ecke der Times lautete: Klan und Straßenbande:
Kollision am See
Und darunter hieß es: Gestern Nacht wurde bei uns ein Comeback des KuKlux-Klan verhindert, als eine Versammlung von Klanmitgliedern am Moccasin Pond durch eine Grup pe Männer gestört wurde, die angeblich in Monument ansässig sind. Wie inoffiziellen Aussagen zu entnehmen ist, gab es einige Verletzte; keiner der Verletzten aber hat ei nen Arzt aufgesucht. Die letzten Aktivitäten des Klans wurden Mitte der 33
zwanziger Jahre registriert, doch waren sie in den ver gangenen Monaten wieder verstärkt zu verzeichnen. Polizeichef Henry Stowe erklärte heute, dass »wir die Anwesenheit des Klans in unserer Stadt nicht dul den werden«. »Ist das nicht toll, Paul?«, flüsterte mir Pete zu. »Und wir sind dabei gewesen. Wir haben Schlagzeilen gemacht.« Als ich die Geschichte noch einmal durchlas, wander ten meine Gedanken zurück zu der Szene am Seeufer, als der vermummte Wächter mit dem Gewehr vor mir ge standen hatte. Ich dachte über den zuckenden Schmerz und die Todesangst nach, die ich ausgestanden hatte und die mich – das sichere Ende vor Augen – beten ließ, ob wohl dann nichts passierte. In der stickigen Hitze von Dondier’s, mit den Knien auf dem sägemehlbestreuten Boden, zitterte ich beim Gedanken an mein knappes Ent rinnen. Ich wusste damals noch nicht, dass ich in der Nacht am Ufer des Moccasin Pond zum ersten Mal ausgeblen det gewesen war. In diesem Sommer wurde ich zum Detektiv. Ich forschte nach weiteren Geheimnissen, machte bittersüße Erfah rungen mit dem Ausspionieren, war ein einsamer Beob achter und ein Horcher, einer, der sich an den Ecken he rumtreibt und bei Gesprächen mithört, der Schatten ver folgt, die nur in seiner Fantasie existieren, und sich schließlich für das süßeste aller Ziele entscheidet – Tante Rosanna. Ich konzentrierte mich auf das Haus meines Großva ters in der Eighth Street, weil meine Tante das vordere Gästezimmer bewohnte, das gewöhnlich Besuchern aus 34
Kanada vorbehalten war. Die Küche meiner Großeltern war selten leer und selten war es dort still. Gewöhnlich saßen Leute um den großen Tisch herum, mein Großva ter führte in seinem Schaukelstuhl in der Nähe des gro ßen, schwarzen Herdes den Vorsitz, während meine Großmutter, eine spindeldürre Frau, hin und her flitzte und geschäftig Kaffee ausschenkte, Kuchen aufschnitt und Abendessen servierte. Kein Wunder, dass sie immer ein langes Mittagsschläfchen halten musste. Ich drückte mich in dieser Wohnung herum, hörte Ge spräche mit und schlenderte im Haus umher. Als meine Tante einmal nicht zu Hause war, schlich ich mich in ihr Zimmer und öffnete in meiner Schamlosigkeit alle Schubladen ihrer Kommode. Ich sah einen seidenen Slip auf einem Stoß mit anderer Unterwäsche liegen und drückte das rosa Höschen an meine Wange. Ihr Parfüm war betörend. Ich fühlte mich ganz schwach und krank vor Liebe und Verlangen. Ich legte es darauf an, flüchtige Blicke von ihr zu er haschen, und wo immer ich konnte, ergötzte ich mich an ihrer Anmut und weidete meine Augen an ihrem wunder schönen Körper. Es war qualvoll, mit ihr im gleichen Zimmer zu sein, weil ich gleichzeitig versuchte sie anzu sehen und gleichzeitig wegzusehen. Ich ließ die Blicke ziellos umherschweifen, um sie dann immer wieder mit beschleunigtem Puls, fiebernd vor Erregung und mit brennenden Augen zu ihr zurückkehren zu lassen. Jedes Mal, wenn sich unsere Blicke begegneten, war ich wie gebannt. Manchmal riss ich meinen Blick von ihr los, weil ich befürchtete, dass sie in meine Seele blicken und all die schrecklichen und wunderschönen Gedanken über sie entdecken könnte. Als ich eines Abends nach dem Essen im Schlafzim 35
mer noch las, belauschte ich ein Gespräch zwischen mei nen Eltern, bei dem plötzlich Tante Rosannas Name fiel. »Sie hätte wegbleiben sollen«, sagte mein Vater. Noch kurz zuvor hatte das Radio Arnos ‘n’ Andy gespielt, dann waren die rauen Stimmen verklungen und die Worte meines Vaters kamen aus der Küche herüber. Vorsichtig schlich ich mich aus dem Bett und zur Tür, ich hatte nur Strümpfe an. »Frenchtown ist aber ihre Heimatstadt, Lou«, sagte meine Mutter, »warum sollte sie nicht hierher zurück kommen?« »Sie macht immer nur Ärger«, sagte er in einem für ihn ungewöhnlich sturen Ton. »Die Leute machen ihr das Leben schwer«, erwiderte meine Mutter. Ihre Stimme war so sanft wie immer, aber nun auch stur. »Du kennst doch ihr Problem …« »Ja, dass sie keinem Mannsbild widerstehen kann.« »Nein, Lou, du täuschst dich. Du bist ungerecht. Sie ist nur sehr gutmütig, fällt aber immer wieder auf die Falschen herein, die sie dann im Stich lassen.« »Warum kann sie nicht wie andere Mädchen als Ver käuferin arbeiten und eine gute Partie machen? Stattdes sen benimmt sie sich wie eine Gammlerin.« »Sie ist keine Gammlerin, Lou. Und das weißt du auch. Nun gut, sie ist nicht gerade eine Heilige, aber – « Sie konnte den Satz nicht zu Ende sprechen, da Armand und die Zwillinge plötzlich zur Tür hereinstürmten. Die Unterhaltungen in unserer Familie endeten nur in den sel tensten Fällen von ganz alleine; sie wurden immer durch ständiges Kommen und Gehen gestört oder durch plötzlich ausbrechende Betriebsamkeit. Das Schlimme beim Hor chen war, dass viele der Gespräche unvollständig blieben.
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An einem schwülen Nachmittag ging ich zum Haus mei nes Großvaters. Ich bekam keine Antwort, als ich leise an die Küchentür klopfte. Ich hielt den Atem an und drehte den Türknopf. Die Tür ging ohne einen Laut auf. Ich hielt inne, schaute vorsichtig hinein und hatte das Gefühl, eine Sünde zu begehen. Ich ging leise durch die Küche, horchte am Schlafzimmer meiner Großeltern und hörte das leise, gleichmäßige Schnarchen meiner Großmutter. Ich schlich mich durchs Ess- und Wohnzimmer, froh über den weichen Teppichboden auf dem Weg zum Schlafzimmer meiner Tante Rosanna. Ich blieb vor dem Schreibtisch stehen, in dem das Fa milienalbum mit der Fotografie lag, auf der mein Onkel Adelard fehlte. An der Wand hinter dem Schreibtisch war eine andere, schwarz umrandete Fotografie mit dem Bild meines Onkels Vincent, der vor langer Zeit gestor ben und auf dem St. Jude-Friedhof begraben war. Er war im Schlaf gestorben, man fand ihn im Alter von zehn Jahren tot im Bett. Ein sanfter Junge, wie mein Vater sagte, der Vögel und kleine Tiere liebte. Obgleich mein Vater meinen Onkel Adelard immer in Schutz nahm, wenn mein Onkel Victor oder andere ihn wegen seines unsteten Lebenswandels kritisierten, trug er es ihm nach, dass er Frenchtown so kurz nach Vincents Tod verlassen hatte. »Eine Familie sollte zusammenhalten, wenn das Schicksal zuschlägt«, hörte ich meinen Vater nach einem Hochamt am Jahrestag von Vincents Tod zu meiner Mut ter sagen. »Adelard hatte keinen Grund, so mir nichts dir nichts am Tag der Beerdigung zu verschwinden …« »Vielleicht war er so traurig, dass er es nicht ertragen konnte, hier zu bleiben«, wandte meine Mutter ein. »Mag sein«, erwiderte er, die Spannung in seinem 37
Gesicht verriet aber, dass er nicht davon überzeugt war. Ich bekreuzigte mich vor Onkel Vincents Bild und ging dann langsam und vorsichtig zum Schlafzimmer meiner Tante. Die Tür war nur leicht angelehnt und ich hielt ge spannt inne. Ihr aromatisches Parfüm erfüllte die Luft. War sie da? Sollte ich vielleicht an die Tür klopfen? Ich brannte darauf, sie zu sehen, und hatte genug Mut ge fasst, ihr das Gedicht zu zeigen, das ich für sie geschrie ben hatte. Ich hatte es schon länger als eine Woche mit mir herumgetragen. Das Gedicht würde für mich spre chen, würde ihr das sagen, wozu ich zu schüchtern und verklemmt war. Als ich nun außer Atem und ängstlich im Wohnzimmer stand, verließ mich mein ganzer Mut. Zum Gehen gewandt hörte ich ein Geräusch, das ich nicht identifizieren konnte. Sang sie leise vor sich hin? Ich näherte mich der Tür, senkte den Kopf und holte tief Atem. Da merkte ich, dass meine Tante Rosanna leise vor sich hin weinte wie ein Kind. »Wer ist dort?«, rief sie plötzlich. »Niemand!«, sagte ich, und dann: »Paul.« Ich hörte das Rascheln von Kleidern, als sie sich der Tür näherte. Die Tür ging auf und offenbarte Rosanna in ihrer ganzen Schönheit. Sie trug einen blauen Morgen mantel aus einem hauchdünnen Stoff. Und wie ich es nur in meinen Träumen für möglich gehalten hatte, war der Mantel nicht ganz zugeknöpft, sodass ihr Busen beinahe entblößt war. Doch als ich die Tränen auf ihren Wangen sah, überkamen mich sofort Schuldgefühle. »Paul«, sagte sie und wie immer ließ mein Name aus ihrem Munde meinen ganzen Körper erzittern wie einen Bogen nach dem Abschuss des Pfeils. 38
»Tut mir Leid«, sagte ich. Ich bedauerte, dass ich mich heimlich an sie herangeschlichen hatte, dass ich sie in solcher Seelennot antraf, und doch wurde mir bei ihrem Anblick ganz anders und meine Hose spannten wieder einmal. »Es braucht dir doch nicht Leid zu tun, Paul«, sagte sie, zog ihren Mantel fester zu und versteckte sich vor meinen begehrlichen Blicken. »Kann ich irgendetwas für dich tun?«, fragte ich, ob wohl ich wusste, dass es zwecklos war. »Weißt du, wie man jemand ein bisschen Vernunft beibringen kann?«, fragte sie. »Das könnte ich jetzt gebrauchen; eine gehörige Portion gesunden Menschen verstands, was die Mannsbilder anbelangt. Und über haupt …« Sie wischte sich die Wangen mit einem Spit zentaschentuch ab und brachte ein schwaches Lächeln zustande. »Dann wäre ich vielleicht nicht so dumm …« »Du bist doch nicht dumm«, protestierte ich. »Du bist … du bist …« Ich zögerte, die Worte blieben mir in der Kehle stecken. Seit Wochen hatte ich ihr eine Liebeser klärung machen wollen, hatte ihr von der Gefühlsverwir rung erzählen wollen, die sie bei mir verursacht hatte, und wie sie mein Leben bereichert hatte. Nun brachte ich nicht einmal den Mund auf, als ich vor ihr stand. »Was bin ich, Paul?«, fragte sie und ich suchte verge bens nach dem spöttischen Ton in ihrer Stimme. Mit zitternden Händen kramte ich nach dem Gedicht in meiner Tasche. Als ich es herauszog, sah ich zu mei nem Entsetzen, dass es vom vielen Falten und meinen verschwitzten Händen ganz zerknittert und verschmiert war. »Hier!«, sagte ich und hielt es ihr hin, ich brachte nur das eine Wort heraus. 39
Sie faltete das Blatt auseinander, und nachdem sie mich sanft und voller Zärtlichkeit angesehen hatte, fing sie an zu lesen und mit ihren Lippen die Worte zu for men. Ich sprach die Worte stumm nach: Meine Liebe für dich ist so rein Wie die Flamme einer Kerze, So strahlend wie Sonnenschein, So süß wie der Atem eines Kindes … Schon während ich sie aussprach, wusste ich, dass die Worte verlogen waren, denn meine Liebe zu ihr war we der rein noch süß, sie war voll sinnlicher Begierde. Ich wollte sie liebkosen, sie ganz verschlingen. Meine Liebe für dich Ist ein Flüstern in der Nacht, Ein stummes Abendgebet … Das war das Widerlichste daran, wie ich einsehen muss te. Die Religion in das Gedicht einzubeziehen – ein Sak rileg. Und doch musste ich ihr beweisen, dass ich nicht wie die anderen war, nicht wie die Männer, die vermut lich in den Kneipen an ihr herumgrapschten oder ihr auf der Straße hinterherpfiffen. Ich wollte ihr zeigen, dass ich anders war, trotz meiner schamlosen Gedanken und Wünsche. Dass ich im Grunde ganz rein, unbefleckt und keusch war. Sie war aufs Bett gesunken, während sie das Gedicht las, und ich konnte an ihren Lippenbewegungen sehen, dass sie es noch einmal las. Ihr Morgenmantel war wie der aufgegangen und ihr Busen war zu sehen, rund, voll und weiß wie Milch. Sie hatte die Beine übereinander 40
geschlagen und ich konnte die roten Strapse an ihren Schenkeln sehen. Ein Anblick, bei dem mir die Augen übergingen, das Herz pochte und das Blut in den Adern raste. »Das ist schön«, sagte sie mit sanfter Stimme, als sie das Gedicht in den Händen hielt, ihre Augen wasserblau wie immer, nur glich das Wasser nun Tränen. Meine Augen waren auf ihren Busen gerichtet – ich konnte einfach den Blick nicht abwenden –, und während ich mich vor ihr wand und Stielaugen bekam, konnte ich einen köstlichen Augenblick lang von seinem Anblick zehren. Dann fühlte ich, wie ich in Verzückung geriet, und kämpfte verzweifelt dagegen an, indem ich die Knie zusammendrückte, während mich Rosanna, das Gedicht immer noch in der Hand, mit sanftem und zärtlichem Gesichtsausdruck ansah. Ich beugte mich vor, versuchte mich klein zu machen und gleichzeitig diesen plötzli chen, schönen und doch auch schrecklichen Samenerguss zurückzuhalten, was mir aber nicht gelang. Als sich unse re Blicke trafen, erbebte mein Körper vor Freude. Ich hatte noch nie den stechenden Schmerz der Glückselig keit empfunden, den süßen Höhepunkt der Erregung. Ich zitterte und fröstelte wie vom Sturmwind gepeitscht. Wie immer überkamen mich flüchtige Scham- und Schuldge fühle, dieses Mal schlimmer denn je, weil sie zugesehen hatte, als es passiert war. Und ich hatte gesehen, wie sie zuerst verdutzt, dann besorgt dreinblickte und dann – ja, was? Ich konnte den Ausdruck nicht enträtseln, war es Erstaunen oder Ekel? – Ich sah, wie sich ihr Mund zu einem Oval formte, und hörte ihre Stimme: »O Paul!« Ob sie wohl die Flecken auf meiner Hose sah? »O Paul«, sagte sie noch einmal. In ihrer Stimme lag 41
eine solche Traurigkeit und vielleicht sogar der Vorwurf eines Treuebruchs. Einen kurzen Moment lang konnte ich mich nicht von der Stelle rühren, stand wie angewurzelt da in meiner Scham und Schmach und spürte diese entsetzliche Kleb rigkeit in der Hose. Beim Schlucken erstickte ich beinahe am Speichel, der in meiner Kehle sauer geworden war. »Tut mir Leid«, schrie ich und wich zurück. Die Trä nen blendeten mich so sehr, dass ich Rosanna durch den Schleier, den sie bildeten, nicht mehr sehen konnte. Dann war ich draußen, schluchzte meine Tränen heraus, als ich durchs Wohnzimmer und durch die Küche über den Flur zur Veranda hastete. Ich rannte die Treppe hinab, vorbei an den dreistöckigen Mietshäusern, den Läden, der Kir che und der Schule. Warum war ich eigentlich immer auf der Flucht vor ihr? Omer LaBatt. Die Arme in die Seite gestemmt, den Schild seiner grün karierten Stoffmütze in die Stirn gezogen, hatte er sich an der Ecke von Fourth und Mechanic Street auf dem Gehweg vor dem First National Store großspurig aufgepflanzt und wartete auf mich. Es war schon schlimm genug, dass ich es mir wahr scheinlich mit meiner Tante Rosanna für immer verdor ben hatte, aber nun holte mich auch noch am Tag darauf das Schicksal in Gestalt meines Erzfeindes LaBatt ein. Obgleich er sich auf der anderen Straßenseite befand, sah ich seinen finsteren Gesichtsausdruck, und als er seine Mütze zurückschob, erblickte ich die glasigen, glanzlo sen Augen, die ohne jedes Erbarmen waren. So erschien er mir immer: wie ein Phantom, völlig un 42
erwartet und quasi aus dem Nichts. Manchmal stürmte ich aus dem Durchgang zwischen den beiden fünfstöcki gen Häusern in der Second Street hervor – es waren die höchsten Gebäude in Frenchtown nach der Kirche von St. Jude – und traf ihn dort, wie er mit in die Seiten ge stemmten Armen auf mich wartete. Ein anderes Mal pflanzte er sich an einem Ort auf, von dem er wusste, dass ich früher oder später dort vorbeikommen würde – sei es Dondier’s Markt oder Lakier’s Drugstore –, und stellte sich mi r in den Weg, wenn ich aus dem Laden kam. Wie zum Beispiel jetzt. Ich schluckte und bereitete mich auf meine Flucht vor. Er war älter als ich, aber man konnte sein Alter schwer schätzen – er mochte fünfzehn oder neunzehn oder gar schon zwanzig sein. Er war nicht groß, was die breiten Schultern und die breite Brust nur noch unterstrichen. Mit seinen kurzen, kräftigen Beinen war er kein guter Läufer. Ich konnte ihn locker abhängen und das war mei ne Rettung. Doch ich fürchtete mich davor, dass ich stol pern und hinfallen und hilflos liegen bleiben könnte, bis er mich einholte. Weil ich über den Verlust meiner Tante Rosanna so unglücklich war und fand, dass ich in meiner so entsetz lich gewordenen Welt ohnehin nichts mehr zu verlieren hatte, rief ich: »He, LaBatt, warum suchst du dir nicht einen aus, der genauso mickrig ist wie du?« Ich hatte ihn noch nie zuvor angesprochen. Statt einer Antwort führ er fort, mich wütend anzustarren. Dann grinste er, ein boshaftes Lächeln, bei dem er seine ge zackten Zähne entblößte. Ich wog meine Chancen ab. Sie hingen natürlich von 43
dem ab, was er tat. Omer LaBatt jagte mich nicht immer. Manchmal genügte es ihm, mich dazu zu zwingen, die Richtung zu ändern, über die Straße auszuweichen, einen weiten Bogen um ihn zu machen und ihm das Stückchen Erde zu überlassen, auf dem er sich gerade befand. Es gab aber auch Zeiten, in denen wir uns wilde Verfol gungsjagden durch die Straßen, Seitengassen und Hinter höfe lieferten. Etwas mutiger geworden, weil ich ihn angemacht hatte und davon die Welt nicht untergegangen war, brüllte ich: »Warum ich, LaBatt? Warum hast du dir ausgerechnet mich ausgesucht?« Das war für mich ein Rätsel, über das ich lange nach gedacht und das ich nie gelöst hatte. Seit mindestens drei Jahren tyrannisierte er mich nun schon, ohne dass ich kapierte, warum. Er war mir völlig fremd und ich hatte ihm nie etwas zuleide getan. Ich kannte weder seine Fa milie noch seine Freunde, wenn er überhaupt welche hat te. Er war plötzlich in meinem Leben aufgetaucht, vor Lakier’s Drugstore hatten sich unsere Blicke zum ersten Mal schicksalhaft gekreuzt. In dem Augenblick, als ich in diese blassgelben Augen sah, wurde mir bewusst, dass dies mein Feind war, jemand, der die Macht besaß und danach gierte, mir wehzutun, mich zu verstümmeln und vielleicht sogar zu vernichten. Ich sprach mit niemandem darüber, nicht einmal mit Pete Lagniard. Kurze Zeit nach dieser ersten Begegnung aber zeigte ich ihn Pete und fragte: »Wer ist eigentlich dieser Bursche?« Wie gewöhnlich hatte Pete eine Antwort parat. »Das ist Omer LaBatt«, sagte er, »ein zäher Bursche. Er ist vor kurzem von Boston hierher gezogen. Er arbei tet für Rudolphe Toubert.« 44
Die Auskunft genügte, um mir Schauer über den Rü cken zu jagen, weil ich mir denken konnte, was er mit »arbeiten« meinte. Pete war aber noch nicht fertig. »Er ist von der Schule abgegangen«, fuhr er fort. »Jeder geht einmal von der Schule ab«, sagte ich wahrheitsgetreu. Die meisten Jungen und Mädchen in Frenchtown beenden mit vierzehn Jahren ihre Schulzeit, das ist das gesetzmäßige Alter, um berufstätig zu werden. »Ja, er ist aber in der fünften Klasse abgegangen«, sagte Pete, »er war schon vierzehn und immer noch in der fünften Klasse.« Das besiegelte mein Schicksal. Ich konnte mich mit jemandem auseinander setzen, der einigermaßen zivili siert war, und an seinen Verstand appellieren, angesichts völliger Beschränktheit aber fühlte ich mich hilflos. Der Versuch, mit Omer LaBatt Frieden zu schließen, würde der Begegnung mit einer Bestie gleichkommen. Ich stand ihm nun unmittelbar gegenüber, als er mir zurief: »Du bist erledigt, Moreaux!« Er setzte mir nach. Er raste auf mich zu, sprang über den Randstein und auf die Straße und holte mit den Beinen kräftig aus. Als er sich näherte, kamen mir seine breiten Schultern sogar noch breiter und wuchtiger vor. In Windeseile machte ich mich davon, meine Füße be rührten kaum den Boden, ich war stolz auf mein einziges sportliches Talent, nämlich Laufen. Und noch etwas kam mir zugute: meine Fähigkeit, mich zu verstecken und in Hauseingängen oder auf Veranden, hinter Büschen, Zäu nen und Geländern Zufluchtsorte ausfindig zu machen. Ich rannte an Bouchards Eisenwarenhandlung und Joe Spagnolas Frisörgeschäft vorbei durch die Pee Alley, 45
hetzte über den mit zerbrochenen Flaschen übersäten Boden. Abfälle, die von den Trinkern stammten, die dort schnell mal zur Flasche griffen oder an die Backstein wand pissten. Ich duckte mich in Mr. Beaudreaus Toma tenbeet hinter die Stauden, deren strenger Geruch mich in der Nase juckte. Als ich zwischen den Zweigen hin durchblickte, die schwer mit Tomaten beladen waren, sah ich Omer LaBatt unentschlossen in der Nähe von ein paar Müllcontainern herumstehen. Er schaute blinzelnd in meine Richtung. Ich zog den Kopf ein. Offenbar aber nicht schnell genug. »Du bist erledigt«, tönte er, als er auf mich zu rannte. Ich sprang auf und die Jagd ging weiter. Ich rannte an einem verbogenen, hölzernen Zaun entlang, von dem ich wusste, dass dort eine Latte lose war, an der man vorbei schlüpfen konnte. Geschützt durch das wild wuchernde Gestrüpp, das auf verlassenen Grundstücken gedeiht, hastete ich weiter. Ich hörte Omers Flüche – Hundesohn, Scheißkerl –, als er sich seinen Weg durchs Tomatenbeet bahnte. Ich fand die lose Zaunlatte und hielt die Luft an, um mich dünn zu machen, als ich durch die Öffnung schlüpfte. Omer LaBatt würde sich wahrscheinlich schwer tun, seine breiten Schultern durch den schmalen Spalt zu zwängen. Keuchend hielt ich an, als ich im Hin terhof der Witwe Dolbier landete. Ich war in Schweiß gebadet. Mrs. Dolbier verdiente den Unterhalt für sich und ihre Kinder mit Waschen, Bügeln und Nähen. Ihr Hinterhof bestand aus endlosen Reihen von Wäscheleinen, an de nen Wäschestücke in allen möglichen Formen, Größen und Farben hingen. Es war wie eine kleine Zeltstadt. Ich duckte mich, damit ich unter den Wäschestücken durch schlüpfen konnte, als ich mich dem Haus näherte, stol 46
perte aber über einen hölzernen Korb, in dem die Witwe ihre Wäsche transportierte. Während ich mich aufrappel te, hatte ich mich in einem langen, rosa Nachthemd ver heddert. Als ich mich davon zu befreien versuchte, hörte ich, wie sich Omer LaBatt murrend und fluchend durch die Öffnung im Zaun zwängte. In meiner Panik griff ich nach einem Overall, da bedeckte plötzlich eine Holzfäl lerjacke mein Gesicht, während das Nachthemd immer noch an mir klebte. Omer stürzte sich mit wildem Geschrei auf die aufge hängten Wäschestücke, während ich verzweifelt um mich schlug. Einen Augenblick lang übermannte mich die An strengung. Die Angst ließ mir das Blut in den Adern er starren. Als ich an den Kleidern zerrte, schlang sich ein blaues Hemd um mich, Wäscheklammern flogen durch die Luft und ich fiel der Länge nach hin. Beim Umbli cken sah ich, dass Omer LaBatt in dieselbe Falle getappt war und verzweifelt mit den Hemden und Blusen kämpf te, in die er sich verheddert hatte. »Hundesohn!«, brüllte Omer. Plötzlich war eine dritte Person unter den sich bau schenden Wäschestücken. Schrill wie eine Fabriksirene durchschnitt Mrs. Dolbiers Stimme die Luft. »Zum Teufel mit dir, du Mistkerl!«, schrie sie und stürzte sich ins Gemenge. Sie hatte einen Besen dabei, mit dem sie voller Inbrunst nach Omer ausholte. Ich duckte mich und kroch auf allen vieren davon. »Mistkerl«, schrie sie wieder, »meine ganze Arbeit …« Ich blickte auf und sah, wie sie Omer LaBatt mit dem Besen verdrosch. Er versuchte zu entkommen, hatte sich aber in einem Haufen von Hemden und Hosen verheddert und war ihren Schlägen hilflos ausgeliefert. In einem Versuch, sich zu schützen, hob er die Arme, was aber nur 47
dazu führte, dass eine ganze Wäscheleine mit Hemden über ihm zusammenbrach. Ich brüllte vor Schadenfreude. Die Witwe tauchte aus dem Durcheinander von Schlafanzügen und Nachthem den auf, blickte in meine Richtung, hielt inne, runzelte die Stirn und attackierte Omer dann wieder mit dem Be sen, ihre Stimme überschlug sich dabei: »Mistkerl … Dieb … Halunke!« Seltsam, sie hatte mich direkt angesehen und sich dann wieder Omer LaBatt zugewandt. Da ich nun vor ihr si cher war, befreite ich mich von den Kleidungsstücken, war froh, meine Vermummung los zu sein, und versuchte den Atem anzuhalten und den Schmerz zu ertragen, den der Sturz verursacht hatte. Ich schlotterte immer noch vor Kälte. Als ich endlich frei war, rannte ich über den Hof und den Rasen an der Vorderseite, lief die Straße entlang und begab mich in Sicherheit. Im schattigen Eingang von Dondier’s Markt ruhte ich mich aus und wartete, bis mein Herz wieder normal schlug und ich wieder regel mäßig Luft holen konnte. Als ich nach Hause stapfte, tröstete ich mich damit, dass Omer LaBatts Verfolgungsjagd an diesem Tag we nigstens ein Gutes gehabt hatte. Für kurze Zeit waren meine Gedanken nicht bei Tante Rosanna gewesen, mein Schmerz und meine Seelennot waren verschwunden, als ich durch die Straßen, Seitengassen und Hinterhöfe von Frenchtown um mein Leben rannte. Was ich nicht wusste – dass ich zum zweiten Mal aus geblendet gewesen war. An Werktagen trugen die Frauen von Frenchtown nach mittags noch keine hohen Absätze. Außer Tante Rosan 48
na. Ich entdeckte sie eines Tages in leuchtend roten, hochhackigen Sandalen mit Riemen um die Knöchel, die wie dünne Finger ihre Fesseln umfassten. Ich versteckte mich hinter der großen Eiche gegenüber der Lachance Dampfwäscherei, als sie vorüberging, und folgte ihr, nachdem ich bis fünfzig gezählt hatte. Das eine oder andere Mal warf sie einen Blick über die Schulter, als ob sie vermutete, von jemand verfolgt zu werden. Ich war aber zu schnell, um von ihr entdeckt zu werden. Ich schlich mich von Baum zu Baum, rannte zwischen den Häusern hindurch, versteckte mich hinter den Geländerpfosten auf den Veranden und duckte mich bei meiner heißen Verfolgungsjagd hinter die Büsche. Ich hielt mich für klug und findig und versuchte das Schamgefühl zu unterdrücken, das in mir hochstieg, wäh rend ich ihr auf den Fersen blieb. Scham, sie so zu ver folgen, Scham, weil ich mich in ihrem Zimmer verraten hatte. Sie näherte sich der Ecke von Fourth Street und Spru ce Street, wo Gelegenheitsarbeiter, Männer wie Jungen, herumlungerten. Ich verzog angewidert das Gesicht, weil ich die Bemerkungen kannte, die Männer machten, wenn sie vorüberging. Ich beobachtete sie von einer Veranda auf der anderen Straßenseite aus und spendete ihr heim lich Beifall, als sie hocherhobenen Hauptes an ihnen vo rüberging und sie ignorierte. Was die Typen aber nicht davon abhielt, ihr hinterher zu pfeifen und zu rufen: »He Baby, soll ich mitkommen?« An der Kreuzung von Mechanic und Third Street, wo die Türme von St. Jude in den Himmel ragen, hielt Ro sanna plötzlich an. Würde sie in die Kirche gehen? Viel leicht beichten? Was beichten? Doch sie setzte den Weg fort und ging wieder in Richtung Fourth Street, scheinbar 49
ziellos, langsamer jetzt, mit gesenktem Kopf, als wäre sie ganz in Gedanken. Sie blickte sich nun nicht mehr um und trat sicher auf. Es war leicht, ihr zu folgen, ohne ent deckt zu werden, ich sah mich aber weiter vor, als sie dort, wo Fourth Street und Mechanic zusammenstoßen, um die Ecke bog. Sie hielt plötzlich vor einem dreistöckigen Haus, Fourth Street Nr. 111, bückte sich, um ihre Strumpfnähte gerade zu ziehen, und tastete ihre Taille ab, um sich zu vergewissern, dass ihre Bluse immer noch im Rock steckte. Sie lockerte das Haar mit der Hand, die Ringe an ihren Fingern blitzten im Sonnenlicht auf. Ich wusste, wer in der Nummer 111 wohnte, und ich verzagte, als ich mich hinter dem Gebüsch auf der gegenüberliegenden Straßenseite versteckte. Bitte lass sie weitergehen, betete ich. Lass sie sich ei nes anderen besinnen. Aber mein Gebet wurde nicht erhört. Sie bog in die Einfahrt ein, beim Gehen kickten ihre Stöckelabsätze kleine Kiespartikel hoch. Sie ging an der Treppe vorbei, die zur Hintertür führte, zur Garage auf der Rückseite des Gebäudes. Auf einem Schild an der Garage hieß es: TOUBERT GMBH. Bloß der nicht, sagte ich mir, als ich sie an die Tür klopfen sah, wobei sie den Kopf neigte wie ein Kind, das um Süßigkeiten bettelt. Trotz meiner Verzweiflung rühr te sie mein Herz mit dieser sanften Neigung ihres Kop fes. Die Tür ging auf, sie trat hinein und ich sah für einen kurzen Moment ein Paar wartende Arme. Warum in aller Welt, dachte ich, war sie an Rudolphe Toubert geraten?
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Von allen Bewohnern Frenchtowns glich Rudolphe Tou bert am ehesten einem Gangster und doch sprach nie mand das Wort laut aus. Er war »der Mann, den man un bedingt aufsuchen musste«. Der Mann, den man aufsu chen musste, wenn man auf ein Pferd oder Fußballspiel wetten wollte. Der Mann, bei dem man sich einen Kredit verschaffen konnte, wenn die städtische Bausparkasse den Kreditantrag abgewiesen hatte. Der Mann, der einem jederzeit einen Gefallen tat. In Frenchtown wusste man sehr wohl, dass, wenn man in Schwierigkeiten geraten war – sei’s im Geschäft, auf der Straße oder sogar im Privatleben –, Rudolphe Toubert der Mann war, der ei nen Ausweg wusste. Natürlich musste man für seine Dienste in jeder Beziehung bezahlen. Zum Beispiel wechselten die Leute das Thema, wenn der Name von Jean Paul Rodier fiel. Jean Paul hatte man eines Morgens blutend und mit Schürfwunden in der Pee Alley aufge funden. Man munkelte, dass er ein Darlehen von Rudol phe Toubert nicht zurückgezahlt hatte. Es gab aber keine Beweise dafür und keine Zeugen. Rudolphe Toubert war eine flotte, auffällige Erschei nung. Er war groß und schlank mit einem geckenhaften Schnurrbart auf der Oberlippe. Er trug immer einen An zug mit Weste und fuhr einen großen, grauen Packard, der majestätisch durch die Straßen von Frenchtown roll te. Manchmal hatte er ein hübsches Mädchen dabei. Mei ne Mutter fand, dass er »billig« aussah mit seinem poma disierten Haar und seinen Nadelstreifenanzügen, wie ein zweitklassiger Filmschauspieler. Mein Vater sagte, dass es egal sei, ob er »billig« aussah oder nicht – er war gut im Geschäft. Jede Woche kaufte mein Vater dem Boten, der für Rudolphe Toubert arbeitete, in der Fabrik ein Lot terielos ab. Ein 25-Cent-Los der Hoffnung, wie er es 51
nannte. Der gute alte Francoeur aus der Ninth Street hatte einmal 1500 Dollar gewonnen mit einem Los von Rudol phe Toubert. Mr. Francoeurs Name wurde immer noch mit Ehrfurcht und Verwunderung ausgesprochen von den Leuten, die sich an sein Glück erinnerten und sich die Glückszahl gemerkt hatten: 55 522. Sie gewann aber nie wieder. Rudolphe Toubert kontrollierte den ganzen Zeitungs versand in Frenchtown, einschließlich der Zustellung der Bostoner Zeitungen – wie Globe, Post und Daily Record – sowie der Monument Times. Er zahlte den Zeitungsver käufern eine Pauschale statt einer Kommission, sodass die Zeitungsjungen in Frenchtown viel weniger verdien ten als in anderen Teilen der Stadt. Er richtete die Routen nach seinem Gutdünken ein und gab den Jungen, die er bevorzugte, die besten Routen. Die Routen, um die sie sich rissen, lagen in einem kleinen Bezirk mit dreistöcki gen Mietshäusern, wo die Zeitungen schnell zugestellt werden konnten und die Kunden rechtzeitig zahlten und großzügige Trinkgelder gaben. Mein jüngerer Bruder, Bernard, kämpfte in diesem Sommer mit der schlimmsten Tour. Es war die längste Route in Frenchtown, die den geringsten Gewinn brachte und darüber hinaus durch eine ziemlich unheimliche Ge gend führte. Toubert gab sie immer den jüngsten und unerfahrensten Jungen. Obwohl die Tour nur aus zwölf Kunden bestand, erstreckte sie sich über mehr als drei Kilometer, von den Eisenbahnschienen am Rand des Stadtzentrums von Monument entlang der Mechanic Street bis zum kleinen Cottage von Mr. Joseph LeFarge am Tor des Friedhofes von St. Jude. Mr. LeFarge war der bedeau der Gemeinde, was bedeutete, dass er sowohl Mesner wie Leichenbestatter war, der die Gräber aushob 52
und auf dem Friedhof das Gras mähte. Er war ein stiller, unsympathischer Mann mit dünnen Lippen, die sich nie zu einem Lächeln verzogen, und Augen, hinter denen sich dunkle Geheimnisse zu verbergen schienen. Er hätte eine Figur aus einem Horrorfilm sein können, obwohl mein Vater behauptete, er sei ein sanfter Mann, der kei ner Fliege etwas zuleide tun könne. Mein Vater musste aber auch nicht Tag für Tag die Zeitungen zu Mr. LeFarges Haus bringen, vor allem nicht während der Herbst- und Wintertage, wenn es schon dunkel war oder gerade die Dunkelheit anbrach, wenn man dort ankam und man von LeFarges Auffahrt aus die Grabsteine sah. Sein Haus lag nicht nur abseits, einige hundert Meter vom nächsten dreistöckigen Haus entfernt, sondern auch noch direkt gegenüber der städtischen Mülldeponie, von der sich die Rauchwolken des vermo dernden Abfalls wie blasse Geister in den abendlichen Himmel erhoben. Der schlimmste Tag war Freitag, wenn kassiert werden musste. Statt die zusammengerollte Zei tung über das Balkongeländer zu werfen und sich dann aus dem Staub zu machen, musste man an die Tür klop fen und eine Ewigkeit warten, bis LeFarge antwortete, wobei man es tunlichst vermied, zum Friedhof mit seinen drohenden Grabsteinen hinüberzublicken. LeFarge beeil te sich nie, zur Tür zu kommen, und gab einem auch niemals Trinkgeld. Ich konnte mit Bernard mitfühlen, wenn er sich jeden Tag um dieselbe Zeit auf den Weg machte, weil ich mich der gleichen Tortur ein paar Jahre zuvor hatte unterzie hen müssen. Bernard war erst acht Jahre alt, ich war wenigstens schon zehn gewesen. Er wollte schon nach dem zweiten Tag aussteigen, wusste aber, dass er dies nicht tun konn 53
te. Für die Familie zählte jeder Cent. Ich packte an den Nachmittagen Tomaten ein und arbeitete als Bote bei Dondier, während Armand in der Kammfabrik jobbte. »Es ist ja nicht wegen der langen Gänge und der Hun de«, sagte Bernard, als wir nach dem Abendessen auf der Treppe zur Veranda saßen. Er versuchte die Tränen zu rückzuhalten. »Es ist aber …« Die Stimme versagte ihm. »Mr. LeFarges Haus, stimmt’s?«, fragte ich. »Das darf ja wohl nicht wahr sein, es ist doch Som mer!«, sagte Armand. »Es ist ja noch nicht einmal dun kel, wenn du dort ankommst.« Armand sprach mit der Tapferkeit seiner 66 Kilo und seines stämmigen Körper baus. Er glaubte nicht an Gespenster und schreckte nachts nie aus Angstträumen hoch. Als wir später allein waren, traf ich mit Bernard eine Vereinbarung. Ich versprach ihm, Mr. LeFarge die Zei tung zu liefern, nachdem ich mit meiner Arbeit in Don dier’s Market fertig war. Ich gab damit an, alle Abkür zungen zu kennen, und versicherte ihm, dass ich die Aus lieferung leicht schaffen würde und rechtzeitig zum Abendessen daheim wäre. »Und was muss ich dafür tun?«, fragte Bernard. Bernard hatte mir nichts anzubieten. »Ich werde mir etwas ausdenken«, erwiderte ich. Sein Lächeln war schön anzusehen, fast wie bei einem Mädchen. Kein Wunder, dass ihn meine Schwestern Yvonne und Yvette um sein gutes Aussehen und sein Haar beneideten, das sich ohne Kamm und Brennschere lockte. So brachte ich also den ganzen Sommer über die Mo nument Times zu Mr. LeFarge. Bernard gab die Zeitung im Frischmarkt ab und ich rannte nach der Arbeit zur Mechanic Street, indem ich über Hinterhöfe und verlas 54
sene Grundstücke abkürzte, dabei Häuser mit Wachhun den im Hof vermied und immer Ausschau nach Omer LaBatt hielt. Trotz der Erfahrung meiner dreizehn Jahre war ich immer noch nervös, wenn ich mich dem Haus des Leichenbestatters näherte, ich vermied es, zum Friedhof hinüberzusehen, und versuchte mich nicht den giftigen Dämpfen des brennenden Abfalls auf der ande ren Straßenseite auszusetzen. Nun stand ich also vor Rudolphe Touberts Haus und dachte an meine Tante Rosanna, die mit ihm in der Gara ge war. Mich quälte die Vorstellung seiner langen, spit zen Finger, die ihren Körper streichelten, und dass sich seine Lippen den ihren näherten und ihre Lippen sich öffneten, so wie im Film. Ich suchte die Fenster des dreistöckigen Hauses nach seiner Ehefrau ab, die gewöhnlich hinter den Vorhängen lauerte. Sie war an den Rollstuhl gefesselt, verließ nie die Wohnung und verbrachte ihre Tage, wie es hieß, indem sie von einem Fenster zum anderen fuhr. Manchmal er haschte ich einen flüchtigen Blick aus ihrem schmalen, blassen Gesicht, wenn sie auf die Straße hinausschaute oder die Leute beim Kommen und Gehen beobachtete, die mit Rudolphe Toubert Geschäfte tätigten. Zwischen durch suchten ihn Frauen zu merkwürdigen Zeiten auf, so wie meine Tante, und diese Angeberei mit den Lie besaffären stieß mich am meisten an ihm ab. Schließlich kam Tante Rosanna wieder aus der Garage heraus, sie machte langsam die Tür hinter sich zu und blieb einen Augenblick lang im Hof stehen. Sah sie wirk lich zerzaust aus? War ihr Haar vielleicht ein bisschen durcheinander und hatte sie ihren orangefarbenen Lip penstift etwas zu hastig aufgetragen? Oder bildete ich mir 55
das nur ein, weil ich eifersüchtig war? Wie hätte ich mir auch sicher sein können in meinem Versteck, wo ich die ganze Zeit damit rechnen musste, von einem Hund auf gespürt und vertrieben zu werden. Als sie die Einfahrt verließ und an ihrem Rock zerrte, überraschte sie mich damit, dass sie sich nach links statt nach rechts wandte, was hieß, dass sie nicht zu meinen Großeltern zurückkehrte, sondern zur Festwiese, am En de der Spruce Street, ging. Die Festwiese war eine aus gedehnte Grünfläche für Familienpicknicks am Ufer des Moosock-Flusses, der ohne klare Richtung zwischen Birken und Tannen und im Schatten von Ulmen und Ahornbäumen dahinplätscherte, um dann auf die ausge dehnten offenen Felder hinauszufließen. Trotz hartnäcki ger Gerüchte, dass sie in eine Mülldeponie umgewandelt werden sollte, wenn die städtische Deponie voll war, blieb die Festwiese unberührt. Die Kinder von French town tollten dort gelegentlich herum, zündeten nachts Freudenfeuer an, schwammen nackt im Fluss und spiel ten. Pfadfinder schlugen dort öfters ihre Zelte auf und verdienten sich ihre Abzeichen im Zelten und Naturstu dium und dergleichen. Mit meinem Schreibblock wan derte ich oft dort hinaus und versuchte Gedichte zu schreiben, lehnte mich an einen Baumstamm oder ließ die Füße in den Fluss hängen und beobachtete die wech selnden Farbschattierungen – die je nachdem, welche Färbemittel man an diesen Tagen in den Fabriken benutzt hatte, rot, grün oder schmutzig braun waren. Ich hielt mich in sicherem Abstand hinter meiner Tan te, als sie die Spruce Street verließ und schnell über den schmalen Steg ging, der zur Festwiese führte. Es erstaun te mich, dass eine Frau mit hohen Absätzen so schnell gehen konnte, ohne zu schwanken oder zu stolpern. Ich 56
war froh, dass ich mit meinen Gummisohlen auf der Brü cke kaum zu hören war. Als sie auf eine Picknickbank zusteuerte, die unter ei ner Gruppe von Birken stand, hielt ich inne und sah sie an. Wie immer war ich überwältigt von ihrer Schönheit. Die Geräusche des Sommers klangen mir in den Ohren, das Flattern der Vögel in den Bäumen und das hohe Summen der »Nähnadeln«, der Insekten, von denen ich einst geglaubt hatte, sie nähten einem die Lippen zu, be vor man aufschreien konnte. Ein Hund bellte in der Fer ne, weit weg, zu weit weg, um gefährlich zu werden. Die Festwiese schimmerte im Sonnenlicht, meine Tan te und ich waren die einzigen Menschen auf weiter Flur. Ich fühlte mich plötzlich ausgeliefert und fragte mich, ob ich ein Versteck ausfindig machen könnte, bevor sie meine Anwesenheit bemerkte. Plötzlich drehte sie sich um. Und sah mich. Sie schien nicht erstaunt zu sein, als sich unsere Blicke trafen. Wie gewöhnlich wurde ich in ihrer Nähe rot und nervös und wusste nicht, was ich mit meinen Händen an fangen sollte. Nun war es schlimmer denn je. Ich hatte ein schlechtes Gewissen, weil ich ihr gefolgt war und nach spioniert hatte, vor allem aber wegen meines beschämen den Auftritts mit den befleckten Hosen in ihrem Schlaf zimmer, als sie Zeugin meiner Erregung geworden war. Mit undurchdringlicher Miene winkte sie mich heran. Und ich ging zu ihr, ich konnte einfach nicht wider stehen, obgleich ich vor Scham am liebsten weggerannt wäre. »Warum bist du mir gefolgt, Paul?«, fragte sie. »Ich weiß nicht«, sagte ich, das Blut stieg mir ins Ge sicht und die Schläfen pochten. Dann, mit verzweifelter 57
Stimme: »Bist du immer noch böse auf mich?« Und ver fluchte mich für die Frage, weil sie an neulich erinnerte. Sie ließ sich auf dem Picknicktisch nieder, ihr Arm strich über die Tischplatte. »Paul, ich bin doch nicht böse auf dich, höchstens wütend auf mich selbst. Bist du etwa böse auf mich?« Ich hätte am liebsten Ja geschrien. Weil sie ausge rechnet Rudolphe Toubert aufgesucht hatte, weil sie es wahrscheinlich mit ihm getrieben hatte, während ich draußen wartete und seine Frau sein Büro vom Fenster aus beobachtete. Und ich hätte am liebsten Nein ge schrien, weil ich ihr aufgrund meiner Liebe ohnehin alles verzieh. Ich schüttelte den Kopf und sagte: »Wie könnte ich auf dich böse sein?« Sie winkte mich zur Bank heran. Ich setzte mich vorsichtig hin, denn ich fühlte mich unendlich verletzbar. Sofort war ich in ihrem Dunstkreis gefangen und die Nähe ihres Körpers machte mich bei nahe schwindlig. »Es war von Anfang an verkehrt«, sagte sie, »so mit dir zu flirten. Es war nicht wirklich geflirtet. Du bist für mich schon immer etwas Besonderes gewesen. Du hattest so etwas Scheues an dir, so etwas Sanftes. Ich habe dich immerzu auf den Arm genommen und geherzt.« Sie blies sich eine lose Haarsträhne aus dem Gesicht. »Du bist immer noch etwas Besonderes für mich, Paul. Manchmal vergesse ich aber, dass du kein Baby mehr bist, und ich nicht mehr mit dir spielen kann …« »Es war meine Schuld«, rief ich, weil ich nicht wollte, dass sie die Verantwortung für alles übernahm, was zwi schen uns passierte, »und ist es immer noch. Ich habe unrecht getan …« 58
»Wieso denn?«, fragte sie verblüfft. »Weil ich dir nachspioniert habe. Weil ich mich in dein Zimmer geschlichen habe, als du nicht zu Hause warst. Und dir heute gefolgt bin. Es geht mich nichts an, was du tust.« Und dann setzte ich alles auf eine Karte. Machte einen Sprung wie vom höchsten Turm der St. Jude-Kirche und es war mir gleich, ob mein Herz in tau send Stücke zerbrechen würde. »Ich liebe dich …« »Ach Paul«, sagte sie, und ihre Stimme klang, als hät te sie einen rauen Hals, »es ist doch nicht Liebe – « »Natürlich ist es das!« Ich war darauf gefasst. »Ich weiß selbst, dass ich erst dreizehn bin, trotzdem ist es Liebe und nicht nur Verliebtheit. Keine Schwärmerei. Ich weiß alles darüber aus Büchern und Filmen. Ich liebe dich von ganzem Herzen und werde dich immer lieben.« Das Bekenntnis hatte mich innerlich befreit. Ich hätte meiner Freude am liebsten Luft gemacht und mit den Vögeln um die Wette gesungen. Dann aber sah ich ihren traurigen Gesichtsausdruck und hielt mich zurück. Sie streckte die Hand aus, berührte damit meine Schul ter und die Schulter fing angenehm zu brennen an. »Das ist das Schönste, was mir jemals gesagt wurde«, flüsterte sie, »und ich werde es niemals vergessen. Du darfst mich aber nicht lieben, Paul. Ich bin deine Tante und zu alt für dich. Du wirst noch etliche Mädchen lie ben, bevor du die Richtige findest. Dann wirst du dich an deine alte Tante erinnern und dich fragen: Was habe ich bloß in ihr gesehen?« »Sag so was nicht«, rief ich und Tränen traten mir in die Augen, mein Kinn begann zu zittern, was mich schon immer verraten hat. »Ich werde dich immer lieben. Ich werde nie jemand anders lieben!« Sie griff nach meiner Hand und ich zögerte, zog sie 59
etwas zurück, weil meine Handfläche ganz verschwitzt war. Sie nahm meine Hand aber trotzdem, schien nichts von der unangenehmen Feuchtigkeit zu merken und um klammerte meine Finger mit den ihren. Ich fühlte mich ihr so nahe, dass ich meinen ganzen Mut zusammennahm und sie das fragte, was mir schon immer auf der Seele gebrannt hatte: »Tante Rosanna, warum bist du von Frenchtown weg gegangen?« Sie wandte den Blick ab, ließ ihn zu den alten Heu schobern in der Ferne schweifen. Im Hitzedunst erschie nen sie wie urzeitliche Tiere, die sich ausruhten. »Es gibt viele Gründe«, sagte sie geistesabwesend. »Bitte, du hast doch gerade gesagt, dass ich kein Kind mehr bin.« Meine Kühnheit überraschte mich, aber dass sie immer noch meine Hand hielt, machte mir Mut. »Gut«, sagte sie und sah mich angriffslustig an, »ich bin von Frenchtown weggegangen, weil ich schwanger war.« Ich hatte dieses Wort noch von niemandem ausgespro chen gehört. Von Zeit zu Zeit hatte ich mitbekommen, wie meine Mutter und andere Frauen eine Person als »in anderen Umständen« bezeichneten und selbst diese Um schreibung wurde nur geflüstert. In der Gossensprache hieß es, dass man einer Frau »ein Kind machte«, schwanger war beinahe Gossensprache, ein anstößiges Wort, das meine Tante in den Mund nahm. »Schockiert dich das?«, fragte sie. »Nein«, sagte ich und versuchte meine Erschütterung zu verbergen. »Ich war nicht verheiratet, wollte aber das Kind haben. Ich wusste, dass ich es weggeben musste, aber ich wollte es austragen.« Sie blies wieder die Strähne weg, die ihr 60
ins Gesicht gefallen war. »Oh, ich glaube, es hätte sich schon etwas machen lassen, um es nicht zu bekommen. Aber das hätte ich nicht übers Herz gebracht. Ich liebe Kinder …« In diesem Augenblick begriff ich, dass ich sie immer lieben würde. »Deshalb bin ich aus Frenchtown weggegangen, bevor man etwas gemerkt hat.« »Und wohin bist du gegangen?« »Nach Kanada. Zu Tante Florina und Onkel August. Sie waren sehr lieb zu mir. Haben mir keine Fragen ge stellt und ich habe ihnen keine Lügen aufgetischt. Sie leben immer noch in St. Jacques, auf einer kleinen Farm. Sie haben sich rührend um mich gekümmert und alles geregelt mit dem Arzt, einem alten Mann aus der Ge meinde. Aber das Kind wurde tot geboren.« Ich sagte nichts. Um uns herum war alles still, als ob die Vögel und Tiere des Waldes den Atem angehalten hätten. »Ein Mädchen. Ich habe sie nur einmal gesehen«, sag te sie. Und dann, mit einem leisen Lächeln: »Weißt du, Paul, alle Neugeborenen, die ich jemals gesehen habe, waren verschrumpelt, mein Kind aber nicht. Sie war wie eine Rose, rosafarben. Ich habe sie kurz auf dem Arm gehabt und dann wurde sie mir wieder weggenommen. Sie ist auf dem Friedhof von St. Jacques beerdigt. Ich bin nie wieder dort gewesen.« Ihre Stimme war nur noch ein Flüstern, und es war, als ob sie nicht mehr mit mir, sondern nur noch mit sich selbst spräche. »Für mich war vorgesehen, sie zur Adop tion freizugeben. Der Arzt wollte sich darum kümmern und das Baby in einer guten Familie unterbringen. Ich willigte ein, obgleich ich mir, als die Geburt immer näher 61
kam, nicht mehr sicher war, ob ich das fertig bringen würde. Und dann ist sie gestorben …« Sie schüttelte unwillig den Kopf und klatschte mit der Hand gegen die Bank. »Aber nun genug davon, Paul! Es ist aus und vorbei.« Wir blieben eine Weile schweigend nebeneinander sit zen, so nahe, dass ich die Pfefferminze in ihrem Atem roch. »Warst du die ganze Zeit über in St. Jacques?«, fragte ich schließlich. »Nein, ich tauge nicht fürs Landleben«, sagte sie, »da habe ich mein Glück in Montreal versucht und in einem Kosmetiksalon gearbeitet. Letztes Jahr bin ich dann nach Boston gegangen. Weißt du, was mein Problem ist, Paul? Dass ich nirgends hingehöre. Ich gehöre auch nicht nach Frenchtown. Deine Mémère und dein Pépère haben mich hier nach meiner Rückkehr aufgenommen, weil sie nie mandem die Tür vor der Nase zuschlagen wollen. Sie lassen mich hier wohnen, aber ich bin wie eine Untermie terin, ohne Miete zu bezahlen. Die Mädchen, die ich von der Schule her kenne, sind verheiratet und haben Kinder. Die Unverheirateten arbeiten in der Fabrik. Ich passe hier nicht rein und eigne mich nicht für die Fabrik.« Sie sagte das Letztere mit einem gewissen Stolz in der Stimme. »Warum bist du dann zurückgekommen?«, fragte ich. »Gute Frage«, sagte sie und runzelte die Stirn. »Ich bin zurückgekommen, weil ich die Pensionen, die billi gen Hotels und die Zufallsbekanntschaften satt hatte …« Mich schmerzte ihre Einsamkeit, all die Dinge, die in ihrem Leben schiefgelaufen waren. »Aber lass mich dir eines sagen, Paul. Fremde behan deln dich manchmal besser als deine Verwandten. Sie beurteilen dich nach dem, was du heute tust, und nicht 62
nach dem, was du gestern verbrochen hast. Ich bin also wieder auf dem Sprung und werde Frenchtown verlassen. Hier ist nichts mehr, was mich hält.« Aber ich bin doch hier, hätte ich am liebsten gerufen, obwohl ich wusste, dass ich ihr nur die Liebe eines Drei zehnjährigen bieten konnte und nichts weiter: keinen Schutz vor Zufallsbekanntschaften, kein Geld, um ihr die ausgefallenen Kleider zu kaufen, die sie so sehr liebte. »Wann gehst du fort?«, fragte ich, obgleich es sicher besser wäre, es nicht so genau zu wissen. »Das kommt darauf an«, sagte sie. Die Nachmittags stimmung änderte sich beinahe unmerklich, der Sonnen schein war in ein Glühen übergegangen, hatte nun die Farbe von Zinn statt Silber. Das Laub der Bäume hing schlaff herab, die Blätter klebten aneinander, die Zweige bogen sich durch, als machten sie eine Verbeugung. Die Vögel waren geflohen und hatten eine Leere hinterlassen. »Ich wusste, dass du mir heute Nachmittag gefolgt bist, Paul«, sagte sie, »und deswegen wäre ich auch fast nicht zu Rudolphe Toubert gegangen. Ich wollte nicht, dass du mich dort hingehen siehst. Aber ich hatte mich dazu entschlossen und es war zu spät, meinen Entschluss zu ändern. Es hat mich große Überwindung gekostet, ihn aufzusuchen, und ich hatte Angst, dass ich es nie mehr schaffen würde, wenn ich jetzt meine Meinung änderte.« »Hat dein Weggang etwas mit ihm zu tun?«, fragte ich. Sie nickte. »Ich habe ihn um Hilfe gebeten. Wenn ich Frenchtown dieses Mal verlasse, will ich es richtig anpa cken, mit Zukunftsaussichten. Ich würde gerne ein klei nes Geschäft eröffnen …« Ein Geschäft? Meine Tante Rosanna eine Geschäfts frau? 63
»Was für ein Geschäft denn?« »Einen Frisiersalon. Ich kann das. Ich habe in Montre al als Friseuse gearbeitet und würde dort gerne einen kleinen Salon eröffnen. Deswegen habe ich Rudolphe Toubert aufgesucht. Damit er mir das Startkapital be schafft.« Ich dachte an Jean Paul Rodier und die Prügel, die er in der Pee Alley bezogen hatte, und überlegte mir, ob Rudolphe Toubert seine Schläger bis nach Montreal schicken würde. »Hat er versprochen, dir das Geld zu leihen?«, fragte ich und hoffte, dass er abgelehnt hatte und sie in French town bleiben würde. »Es dreht sich nicht um Leihen«, sagte sie und ein Schatten huschte über ihre Stirn. Plötzlich begriff ich und ich begriff sehr langsam, aber umso qualvoller, wie bei einer Wunde, bei der man zu erst nur das Blut sieht. »War er derjenige?«, fragte ich und meine Stimme klang weit entfernt, als würde ein anderer sprechen. »Derjenige, der …« Ich brachte die Worte nicht über die Lippen. »Ja, Paul, derjenige, der mich in Schwierigkeiten ge bracht hat.« Plötzlich wurde sie schamhaft, benutzte den Ausdruck »in Schwierigkeiten« statt »schwanger«. Bei ihr hörte sich das sehr fein und beinahe gekünstelt an. »Das Kind – es war von ihm.« Ein plötzlicher Schmerz durchfuhr mich. Dann hatte sie also doch mit ihm geschlafen. War mit seinem Fleisch und Blut schwanger gegangen. Hatte sich von ihm lieb kosen und küssen lassen – ich wollte es mir nicht noch weiter ausmalen. »Nur wenige sind in die Sache eingeweiht, Paul. Dein 64
Pépère würde ihn umbringen, wenn er es wüsste. Ebenso dein Vater. Sie glauben, dass es jemand war, der zufällig durch Frenchtown gekommen ist. Deswegen haben sie eine so schlechte Meinung von mir, aber …« Sie zuckte mit den Achseln, ihre Schultern hoben und senkten sich, als sie seufzte. »Gibt dir Rudolphe Toubert das Geld?«, fragte ich. »Ich glaube schon. Aber er lässt die Leute gern zap peln. Jedenfalls hat er das beim ersten Mal getan. Er gab mir das Geld erst beim Weggehen, nachdem er mich eine Zeit lang hingehalten hat. Er bezweifelte, dass das Baby von ihm war …« Wieder las sie in meiner Miene. »Ach Paul, das Kind war wirklich von ihm. Und er wusste es auch ganz genau. Damals genoss ich zwar mein Leben, aber ich schlief nicht mit jedem x-Beliebigen. Er sagte, dass er mir dieses Mal nur aus Gutherzigkeit etwas gibt.« »Ich glaube nicht, dass er ein Herz hat«, sagte ich. Wieder setzte ich alles auf eine Karte: »Als du ihn heute Nachmittag besucht hast, hat er … hast du …« Aber ich brachte es nicht übers Herz, die Frage zu beenden. Sie schüttelte den Kopf. »Nein.« Und mit mehr Nach druck: »Klar wollte er. Er hat mich berührt. An mir her umgegrapscht. Aber ich habe ihn abgewiesen …« Mein Blut geriet bei ihren Worten in Wallung – noch mehr Gossensprache, an mir herumgegrapscht – und die Worte erweckten wieder meine Begierde, obwohl ich Rudolphe Toubert hasste und es entsetzlich fand, was er meiner Tante angetan hatte und vorhin wieder anzutun versuchte. Trotz alledem fühlte ich, wie ich wieder in Hitze geriet, und war hin- und hergerissen zwischen Lust und Qual, Schuldgefühl und Begierde. Meine Hand hatte die ganze Zeit in der ihren geruht 65
und sie hatte sie abwechselnd gedrückt, liebkost und mit ihren Fingern umschlungen, während wir sprachen. Nun nahm sie meine Hand und legte sie an ihre Brust und ich umfasste und liebkoste ihre Brust, als wäre sie dafür be stimmt, als sei ich für diesen Augenblick geboren, als hätten all meine Tage und Nächte mich darauf vorberei tet. Ich war erstaunt über die Weichheit und Festigkeit ihrer Brust – wie konnte sie beides zugleich sein? – und wie sie meinem Druck nachgab und meine Hand so wun derbar ausfüllte. Außer in meinen kühnsten nächtlichen Träumen hatte ich noch nie einen Busen in der Hand gehalten, weder von einer erwachsenen Frau noch von einem Mädchen. Er war zugleich leicht und schwer, als ich ihn in seiner seidenen Umhüllung liebkoste. Als ich zu ihr emporblickte, sah ich unendliche Trau rigkeit in ihrem Blick. »Magst du das?«, fragte sie und legte ihre Hand auf meine Hand, die ihre Brust hielt. Und mir wurde klar, dass ich um kein Haar besser war als Rudolphe Toubert und all die anderen in ihrem Leben, die nur ihren Körper wollten und sich nicht darum scher ten, wer sie war, welche Bedürfnisse sie hatte, welche Wünsche und Ziele. Ich hatte sie nie nach ihren Hoffnun gen und Träumen gefragt und nicht einmal gewusst, dass sie Friseuse war – und bis zum heutigen Tag nicht heraus gefunden, warum sie Frenchtown verlassen hatte. Und doch liebte ich sie. Liebte? Wusste ich denn wirklich, was Liebe war? Bei Rudolphe Touberts Beziehung zu ihr konnte man schließlich auch nicht von Liebe sprechen. Wir hatten dasselbe von ihr gewollt. Ich wurde ganz schwach vor Scham und alle Begierde verließ mich. Ich zog meine Hand zurück und sie zitterte – ein Gegenstand, losgelöst von meinem Körper, wie ein Blatt vom Zweig gelöst in der Luft schwebt, bis es der Wind davonträgt. 66
»Tut mir Leid«, sagte ich und empfand noch immer Verlangen nach ihr, auch nachdem ich mir alle Zärtlich keiten versagt hatte. Die Fabriksirenen heulten in der Ferne auf, es war fünf Uhr nachmittags, Geschäftsschluss. Die Sirenen von Frenchtown heulten immer zur gleichen Zeit auf: das dumpfe Brüllen der Kammfabrik, der durchdringende Ton der Hemdenfabrik und die abgehackten Klagelaute der Knopffabrik, die wie die Schreie einer gequälten See le klangen. In der Sommerluft erzeugten die Sirenen eine seltsame Art von Harmonie, obgleich schrill und unrein, verschmolzen sie doch miteinander, wie der Aufschrei all der Arbeiter in den alten Fabrikhallen: Proteste gegen die lange Arbeitszeit, die unerträgliche Hitze, die Qualen und Schmerzen, die Frustrationen und Verluste. Die Sirenen waren die Erkennungsmelodie von Frenchtown, und ich höre sie noch manchmal in meinen Träumen. Ich sah meine Tante an und sagte: »Warum hast du das getan? Warum hast du meine Hand dorthin geführt?« »Weil ich dich liebe, Paul. Auf meine Weise. Du be deutest mir mehr als Rudolphe Toubert. Und wenn er mich berühren kann, warum solltest du es nicht dürfen?« Die Andeutung eines Lächelns spielte um ihre Mund winkel. »Ich wollte dir etwas geben, an das du dich erin nern kannst. Obwohl es natürlich falsch war. Aber ich scheine sowieso immer das Falsche zu tun …« Der Schrei eines Blauhähers zerriss die Stille des Spätnachmittags, als ob er die Sirenen wieder zum Er klingen bringen wollte. »Es ist Zeit zu gehen«, sagte Tante Rosanna. Ich folgte ihr über die schmale Brücke. Sie ging bar fuß und trug ihre Schuhe in der Hand, die Strümpfe hatte sie in ihrer Handtasche verstaut. Wir gingen langsam 67
nach Hause, nickten den müden, verschwitzten Arbeitern zu, die von den Fabriken nach Hause zurückkehrten, lan ge Schatten auf den Gehsteig warfen und sich schleppend durch die nachlassende Hitze bewegten. An der Ecke von Mechanic und Sixth Street trennte ich mich von meiner Tante. Sie lächelte mir zärtlich zu und strich mir mit der Hand über die Wange. Als ich nach Hause kam, empfing mich meine Mutter mit der Nachricht, mein Onkel Adelard, dieser unstete Wanderer, sei nach Frenchtown zurückgekehrt und warte im Haus meines Großvaters auf unseren Besuch. Die Heimkehr Onkel Adelards wurde immer zu einem besonderen Ereignis für die ganze Verwandtschaft, auch für diejenigen, die – wie mein Onkel Victor – seine Streifzüge missbilligten und meinten, dass er sich in Frenchtown niederlassen, heiraten und eine Familie gründen sollte. Wenn er eintraf, geriet die Verwandt schaft in Aufregung und alle versammelten sich bei mei nen Großeltern, um seine Geschichten anzuhören und ihn mit Fragen zu bombardieren. Ich saß auf dem Boden, meiner Tante Rosanna zu Füßen, ganz fasziniert von On kel Adelards Gegenwart und freudig erregt, weil ich meiner Tante so nahe war, konnte aber kaum den Blick zu ihr heben, wenn ich an den Moment auf der Festwiese zurückdachte. Onkel Adelard stand an der Tür, groß und hager, in ei nem alten Anzug, der von der Sonne gebleicht und offen sichtlich abgetragen war. Sein Gesicht war wie seine Kleidung, blass und verblichen. Die Augen lagen tief in den Höhlen. Während ich ihm aufmerksam zuhörte, be merkte ich nach einer Weile, dass er weniger Geschich ten erzählte als Fragen beantwortete, geduldig und 68
pflichtgetreu, als sei dies eine Schuld, die er zurückzah len, eine Prüfung, der er sich unterziehen müsse. »Ja«, antwortete er meinem Vetter Jules, »der Westen ist so, wie man ihn in Wildwestfilmen sieht. Gewelltes Land und weite Ebenen. Was man aber in den Filmen nicht sieht, ist die Kälte. In den Filmen ist es immer heiß, die Cowboys reiten in der Hitze über die Prärie und im mer scheint die Sonne. Letztes Jahr in Montana hat es am vierten Juli geschneit – natürlich ist der Schnee ge schmolzen, als er auf die Erde fiel – aber immerhin war es Schnee.« »Warst du ein Cowboy?«, rutschte es mir heraus. Alle lachten, ich wurde feuerrot, Tante Rosanna streckte die Hand nach mir aus und fuhr mir durchs Haar, es war wie eine Liebkosung. Onkel Adelard blickte lächelnd zu mir herab, dabei bildeten sich um seine Augen Fältchen. »Nun, ich bin ein paarmal auf einem Pferd geritten und es gab Kühe, dort, wo ich eine Zeit lang gearbeitet habe. Ja, vielleicht war ich ein Cowboy, Paul. Ich habe allerdings als Handwer ker gearbeitet und die Zäune der Pferche repariert. Du weißt doch, was Planwagen sind? Nun, wir hatten einen Planwagen. Das Essen war aber so schlecht, dass ich den ganzen Sommer über Durchfall hatte …« Wir mussten alle lachen und ich war entzückt, dass er sich meinen Namen gemerkt hatte. Ich überlegte mir, ob ich mein Glück versuchen und ihn nach dem Foto fragen sollte, beschloss dann aber, es sein zu lassen, weil ich befürchtete, mich vor meiner Familie zu blamieren, schließlich kannte ich die Vorliebe meines Onkels für ausweichende Antworten. Während er sich dann die Antworten auf andere Fra gen überlegte – »Hast du die Golden Gate Bridge gese 69
hen?« und »Stimmt es, dass der Mississippi so breit ist, dass man nicht bis ans andere Ufer hinübersehen kann?« – beobachtete ich ihn genau und bemerkte, dass er von uns allen zwischen Veranda und Flur Abstand hielt, als brauche er die Distanz um sich herum. Er sprach mit großer Selbstverständlichkeit von seinen Reisen, ohne sich für Großstädte wie Chicago oder Los Angeles zu begeistern. »Sie sind wie Monument, nur eben größer«, sagte er. Machte er nur Spaß oder war es ihm ernst? Wenn er sich nicht für seine Reiseziele begeistern konn te, warum ging er dann Jahr für Jahr fort und war immer auf Achse? Es gibt einen Zeitpunkt, an dem der Abend in die Nacht übergeht, die Leute anfangen, das Gähnen zu un terdrücken und die Beine zu strecken. Morgen erwartete sie wieder die Arbeit und unter der Woche blieben Arbei ter nie lange auf. Schließlich stand mein Vater auf. Er hatte meine klei ne Schwester Rose auf dem Arm, die selig schlief – eine Puppe mit herabhängenden Gliedmaßen. »Nun, Del, wir sind froh, dass du wieder zu Hause bist. Wir freuen uns, dich wieder hier zu haben …« Die anderen murmelten zustimmend, als sie aufstan den und sich zum Gehen wandten. Onkel Victor legte seinem jüngeren Bruder den Arm um die Schulter und küsste ihn auf die Wange. »Ich kann dir jederzeit einen Job in der Fabrik verschaffen, wenn du willst«, sagte er froh gelaunt, es war aber offensichtlich, dass er von Ade lard nicht erwartete, sein Angebot anzunehmen. »Zeit zur Beichte«, verkündete meine Mutter eines Sams tagmorgens. Ich zuckte vor den gefürchteten Worten zurück, wuss 70
te aber, dass sie unvermeidlich waren. Während des Schuljahres trieben uns die Nonnen einmal im Monat zur Kirche, wo wir unsere Sünden beichteten. Die Beichte war eine Tortur. Die Lippen ans Gitter gepresst, flüsterte man seine Sünden dem Priester ins Ohr und war sich peinlich bewusst, dass dieser – nur ein paar Zentimeter entfernt – gespannt zuhörte. Man wusste auch, dass die Klassenkameraden auf den Bänken in der Nähe des Beichtstuhls warteten, bis sie an die Reihe kamen, und fürchtete die ganze Zeit, man könnte durch den wehen den Vorhang hindurch gehört und die Schande publik werden. In den Ferien wurde die Beichte vorübergehend einge stellt, obwohl meine Mutter uns mindestens einmal wäh rend des Sommers zur Kirche abkommandierte. Armand und ich protestierten immer dagegen. An den Samstagen im Sommer beschäftigten wir uns mit Baseball, Kino und häuslichen Arbeiten; wir waren zu beschäftigt, um zur Beichte zu gehen. Meine Mutter blieb hart: »Im Sommer passieren fürchterliche Dinge. Leute werden vom Blitz getroffen. Der Junge von den LeLondes ist letztes Jahr ertrunken. Ist euch denn klar, dass ihr geradewegs zur Hölle fahrt, wenn ihr – Gott behüte – die Beichte aus lasst?« Ich sah zum Fenster hinaus, als Armand weiter wider sprach. Ich war mir der Sünden bewusst, die sich bei mir angesammelt hatten und meine Seele befleckten. Die schlimmste Sünde war immer diese verstohlene, nächtli che Tat gewesen, wenn ich von den Dingen träumte, die mich in Erregung versetzten und mich beschämten. Ich hatte sie routinemäßig gebeichtet und die demütigende Schelte des Priesters erduldet – »Gott liebt nicht die, die unreinen Herzens sind« – und dass ich zur Strafe den 71
ganzen Rosenkranz hersagen musste. Nun aber trug ich eine Sünde mit mir herum, die schwerer wog als alle an deren. Ich hatte die Brust einer Frau mit der Hand be rührt. Das war schlimmer, als im Dunkeln unzüchtig zu denken und zu handeln. Bestimmt war es eine Todsünde. Ich marschierte also an diesem Nachmittag mit Ar mand zur Kirche und wir betraten die dämmerige Stille, unsere Turnschuhe tappten leise über den Zementboden. »Hier müssen wir ja eine Ewigkeit warten«, flüsterte Armand und zeigte auf die Leute, die geduldig in den Bankreihen knieten. »Was für ein Gedränge!« In Wirklichkeit war es gar nicht so schlimm. Mir kam der Gedanke: Hat er vielleicht auch Sünden, die er nicht beichten will? »Was passiert, wenn wir die Beichte schwänzen?«, fragte ich, entsetzt über meine eigene Kühnheit. »Nichts«, sagte er, »das ist keine Sünde.« »Aber wir müssen lügen, wenn uns Mama fragt, ob wir gebeichtet haben.« »Dann beichten wir das eben das nächste Mal«, sagte er mit zwingender Logik. Wir drückten uns unschlüssig in der Ecke herum und atmeten den Geruch von Weihrauch und brennenden Kerzen ein. Ich werde mir mein Taschengeld zusammen sparen und nächste Woche eine Kerze für 25 Cent an zünden, um es wieder gutzumachen, gelobte ich. Plötz lich kam mir ein Gedanke: »Wie wär’s morgen früh?«, flüsterte ich. »Sonst bekommen wir die heilige Kommu nion nicht.« Armand zuckte mit den Achseln. »Dann stehen wir eben früh auf und gehen in die Sechs-Uhr-Messe. Mutter und Vater gehen immer um zehn …« Weitere Täuschungsmanöver. Weitere Sünden. 72
»Jetzt komm schon«, bedeutete mir Armand mit einem Blick über die Schulter, als er dem Ausgang zustrebte. Draußen im Tageslicht sah ich ihm zu, wie er vor Freude juchzend davonrannte. Während ich dort stehen blieb, meiner schweren Sünden bewusst und doch auch matt vor Erleichterung, weil ich diesen entsetzlichen Augen blick im Beichtstuhl verschoben hatte. Wenig später war ich wieder zurück in der Kirche, kniete in einem abgelegenen Winkel nieder und betete einen vollständigen Rosenkranz – insgesamt fünf Vater unser und fünfzig Ave Maria – und hoffte, dass mir dies die Hölle ersparen würde, wenn ich diesen Sommer nicht überlebte. Auf dem Nachhauseweg betete ich noch zehn Ave Marias, um ganz sicherzugehen. In den darauffolgenden Tagen machte Onkel Adelard die Runde bei seinen Brüdern und Schwestern, nahm mal hier, mal da eine Mahlzeit ein. Jeder deckte den Tisch mit dem besten Tafelsilber und bereitete ihm ein fürstli ches Mahl. Obgleich es Sommer war, machte ihm meine Mutter bei uns zu Hause tourtière, die französisch kanadische Pastete, die es sonst nur an den hohen Festta gen gab. Die Pastete war die Lieblingsspeise meines On kels und er meinte, meine Mutter mache die beste tourti ère auf der ganzen Welt. Wir saßen um den großen Tisch im Esszimmer, der nur bei festlichen Anlässen benutzt wurde, und mein On kel aß, als ob er kurz vor dem Verhungern wäre. Das Es sen verschwand so schnell, er schien es nur hinunterzu schlucken, ohne zu kauen. Er blickte einmal kurz auf und sah, wie wir ihm voller Ehrfurcht zusahen. »Man lernt schnell zu essen, wenn man auf Reisen 73
ist«, sagte er, »weil man nie weiß, wann man gestört wird.« Ab und zu fühlte ich seinen Blick auf mir ruhen und sah schüchtern weg, freute mich aber darüber, dass er mich bemerkt hatte. Meine Mutter hatte erzählt, dass er sich in seinen gelegentlichen Briefen immer nach mir erkundigte. »Er sagt, dass du der Sensible in der Familie bist«, er klärte sie mir, als ich durch seine Aufmerksamkeit pein lich berührt schien. Während des Essens stellte Onkel Adelard meinen Ge schwistern die üblichen Fragen, erkundigte sich nach der Schule und dergleichen, höfliche Fragen, auf die einfache Antworten erfolgten, obwohl Armand trotzig behauptete, dass er es nicht erwarten könne, die Schule zu verlassen und in der Kammfabrik zu arbeiten. Mein Vater schüttelte den Kopf. Es war ein ewiger Zankapfel in der Familie, weil mein Vater wollte, dass Armand weiter in der Schule blieb. Keiner der Moreaux’ hatte jemals einen Abschluss an der High School gemacht – alle meine Cousins hatten ihre Schulausbildung mit vierzehn beendet, um dann in der Fabrik zu arbeiten – und mein Vater war fest ent schlossen, dieses Muster mit seinen Söhnen und Töchtern zu durchbrechen. Sehr zum Verdruss von Armand. Schließlich fiel Onkel Adelards Blick auf mich und verweilte dort. »Und du, Paul, schreibst du immer noch Gedichte?« Ich wurde rot und der Bissen tourtière blieb mir im Hals stecken. Ich schaffte es aber, mit dem Kopf zu ni cken und brachte ein einziges Wort hervor: »Ja.« Obwohl meine Geschwister meine Verlegenheit zu genießen schienen, freute ich mich insgeheim, dass Onkel Adelard von meinen Gedichten gehört hatte. 74
»Stell dir vor, Lou«, sagte Adelard zu meinem Vater, »ein Junge aus Frenchtown, aus dem einmal ein Schrift steller wird! Eines Tages werden wir stolz darauf sein, dass er einer der Unseren ist. Könntest du dir vorstellen, eines Tages in der Stadtbücherei auf ein Buch von Paul Moreaux zu stoßen?« Von Paul Moreaux. Diese Zukunftsaussicht verwirrte mich und ich brachte während der ganzen Mahlzeit keinen Bissen mehr hinun ter – Essen war unwichtig, selbst Apfelkuchen mit Schlagsahne zum Dessert. Ich sah mich selbst schon als berühmten Schriftsteller, der die Welt bereist und nach Frenchtown zurückkehrt, wo er von der jubelnden Menge bei der Ankunft auf dem Hauptbahnhof begrüßt wird. »Ach Elise«, sagte Onkel Adelard zu meiner Mutter, als er seinen leeren Dessertteller von sich schob, »jetzt weiß ich wenigstens, was mir fehlt, wenn ich weg bin, und es ist es wert, dass man meilenweit dafür reist …« Meilenweit. Wie ich ihn um das beneidete, was er ge sehen, um die Leute, die er kennen gelernt hatte, und um die Geheimnisse, die er in seinem Herzen barg. Nach dem Essen setzte er sich mit meinem Vater ans Küchenfenster, während meine Mutter den Tisch ab räumte und zusammen mit meinen Schwestern das Ge schirr abwusch. Mein Vater fragte Onkel Adelard nach den Arbeitsbedingungen in anderen Teilen der Vereinig ten Staaten. »Sie sind nicht besonders gut«, sagte Onkel Adelard, »ohne Franklin D. Roosevelt im Weißen Haus wären sie aber noch mieser.« Mein Vater erhob sein Glas, um auf »Franklin Roosevelt, den größten Präsiden ten aller Zeiten« zu trinken. »Abe Lincoln war aber auch nicht übel«, meinte Onkel Adelard und stieß mit meinem Vater an. 75
Da ich mich nicht für Politik interessierte, ging ich auf mein Zimmer und nahm Die Abenteuer des Tom Sawyer in die Hand, die ich schon mehrmals gelesen hatte. Ich konnte mich aber nicht einmal auf diese spannende und Schrecken erregende Jagd durch die Höhlen konzentrie ren, weil ich mir ständig überlegte, ob ich wohl den Mut hätte, meinen Onkel nach der Fotografie zu fragen, so lange er bei uns war. Kurze Zeit danach fiel ein Schatten in den Eingang meines Zimmers. Ich legte das Buch weg und blickte zu ihm auf. Würde ich es wagen? »Ich habe etwas für dich«, sagte er und griff in die Ta sche. »Einen Brief. Von Tante Rosanna …« Sein Gesichtsausdruck verriet mir, dass der Brief die Neuigkeit enthielt, die ich befürchtet hatte. »Dann geht sie also weg«, sagte ich. Er nickte. »Du bedeutest ihr sehr viel, Paul. Sie hat sonst niemandem einen Brief dagelassen.« Irgendwie fühlte ich, dass er von der schweren Last wusste, die mich bedrückte – der Last der Liebe und der Abschiede und der Last, die es bedeutet, wenn man im Leben nicht bekommt, wonach man sich am meisten sehnt. Er berührte mich an der Schulter, seine Hand blieb ei nen Augenblick lang dort, dann ging er. Vielleicht fühlte er, dass ich allein sein wollte und in diesem Augenblick allein sein musste. Vorsichtig schnitt ich den Briefumschlag mit meinem Fahrtenmesser auf, das ich hatte, obwohl ich nie ein Pfadfinder gewesen war, und faltete das Blatt auseinan der, das im Umschlag steckte. Es war blau liniiert und ein paar Tintenkleckse waren darauf.
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Lieber Paul, wenn du diese Zeilen liest, werde ich schon fort sein. Ich mag keinen Abschied. Mach mit deinem Tichten weiter und bleib so lieb wie du bist, wie es im Lied heißt. Vergiss mich nicht. Deine dich liebende Tante Rosanna Ich war erstaunt über das kindische Gekritzel, das aussah, als ob ein Drittklässler die Worte mühsam mit einer krat zigen Feder geschrieben hätte. Das »T« am Anfang von Dichten und die Tintenkleckse waren Anzeichen dafür. Ich würde diesen Brief für immer behalten und ihn treu und brav jeden Tag lesen bis ins hohe Alter. Wenn man die Tür zum Polierraum in der Kammfabrik öffnete, schlug es einem wie ein Feuerstoß aus dem Fe gefeuer entgegen. Wie Gnome zusammengekauert saßen die Arbeiter auf Schemeln, beugten sich über die drehen den Räder und pressten die Kämme dagegen, um die rau en Stellen abzuschleifen. Der Raum hallte vom Maschi nenlärm wider, während der Gestank des Schlammes die Luft verpestete. Der Schlamm war eine Mischung aus Asche und Wasser, durch das die Räder liefen, damit sie nicht zu heiß waren, wenn sie mit den Kämmen in Be rührung kamen. Weil sich der Polierraum im Keller be fand, wo es keine Fenster gab, malochten die Arbeiter im grellen Schein der Deckenbeleuchtung, die alles noch unerträglicher machte: den Lärm, die Gerüche, die Hitze und das Fluchen der Männer. Am kältesten Tag im Jahr war die Temperatur im Polierraum erdrückend, im Som mer unerträglich. Die Arbeiter waren aus den anderen Abteilungen hierher verbannt worden: Neuankömmlinge 77
aus Kanada und Italien, denen jeder Job recht war, Stö renfriede im Betrieb, die man auf diese Weise gefügig machen wollte, und Arbeiter, die bei Hector Monard, dem Aufseher, in Ungnade gefallen waren. Von Hector Monard war ich an diesem Morgen am Fabrikeingang begrüßt worden. Mein Vater hatte verges sen, seine Brotzeit mitzunehmen, und meine Mutter hatte mich geschickt, um sie ihm zu bringen. Ich wurde ganz klein, als sich Hector Monard über mich beugte. Er war groß und spindeldürr. Er war dünn wie eine Rasierklinge und genauso gefährlich, wie die Arbeiter sagten. Ich würgte meine Angst hinunter und hielt die Papiertüte hoch: »Da ist die Brotzeit für meinen Vater.« Er starrte mich an, als ob ich eine lästige Fussel wäre, die ihn an seinem Sonntagsanzug störte. »Welcher Vater denn?« »Louis Moreaux.« Mir blieben die Worte im Hals ste cken. »Im Polierraum«, sagte er und machte eine wegwer fende Bewegung mit der Hand über die Schulter. Mein Vater im Polierraum? Nicht möglich. »Was?« »Bist du taub, Junge?«, fragte er stirnrunzelnd. »Im Polierraum.« Dann wandte er sich ab und sagte: »Bring’s ihm. Wir machen hier keine Dienstbotengänge.« Ich ging vorsichtig den Gang entlang, der ins Innere der Fabrik führte, und war mir bewusst, dass ich auf feindliches Gebiet vorstieß. Ich war schon immer ge spannt gewesen auf die Fabrik, die so lange unser aller Leben beherrscht hatte und die das Hauptthema so vieler Gespräche beim Abendessen oder auf der Veranda gewe sen war, wenn sich die Männer am Abend dort versam melten, um zu rauchen und Bier zu trinken. Auf unserer 78
Veranda hatte ich dann auch vom Polierraum und den anderen Abteilungen gehört, von der Brandgefahr, dem Fehlen der Sicherheitsmaßnahmen und Hector Monards Machenschaften. Eines Abends hatte Onkel Victor, der immer Reden hielt, auf dem Geländer sitzend eine lange Rede über ihn gehalten. »Er ist schlimmer als die Eigen tümer«, sagte er. »Sie sind Yankees – und was kann man von denen schon Gutes erwarten? Hector Monard aber ist ein Frankokanadier wie wir. Man würde meinen, dass ein Frankokanadier seinen Landsleuten hilft. Der denkt aber gar nicht daran!« Ich ging durch die verschiedenen Abteilungen, die hölzernen Fußbodendielen vibrierten unter meinen Füßen im Rhythmus der Maschinen im Gebäude. Die Luft war mit dem süßsauren Dampf von Zelluloid geschwängert und brannte mir in den Augen. Tausende von Arbeiter fingern bewegten sich mit insektenartiger Geschwindig keit an den Werkbänken. Bei meinem Gang durch die Fabrik sah ich Kämme und Bürsten auf allen Produktionsstufen. Zelluloidplat ten, die von Arbeitern zugeschnitten wurden; kleine Öfen, in denen man das Ausgangsmaterial erhitzte, um es in die gewünschten Formen zu bringen; Arbeiter, die Kämme lochten, damit sie mit Rheinkieseln und ande rem Zierrat besetzt werden konnten; Borsten, die in die Bürsten eingepasst wurden. Eine verwirrende Anord nung von Tätigkeiten, die mich schwindlig machten. Mehr noch als die Maschinen waren es die Arbeiter. Männer und Frauen, Jungen und Mädchen. Sie konzent rierten sich auf ihre Arbeit und blickten manchmal auf, wenn ich vorbeiging. Hegten sie mir gegenüber Groll? Empfanden sie mich nicht nur als Außenseiter, sondern als Feind, der in ihren privaten Bereich vorgedrungen 79
war und die kameradschaftliche Atmosphäre in ihren Abteilungen störte? Mein Gefühl der Fremdheit wuchs, als ich von einem Jungen meines Alters, den ich nach dem Weg zum Po lierraum fragte, eine barsche Auskunft bekam. »Da lang!« Er zeigte mit dem Finger in die gewünschte Rich tung und wandte sich dann abrupt ab, die Mundwinkel verächtlich nach unten gezogen. Als ich die hölzernen Stufen zum Keller hinabstieg, schwoll der Maschinenlärm an und die Treppe vibrierte unter meinen Füßen. Ich klopfte an eine geschlossene Tür und wartete darauf, dass sie sich vom Stampfen der Maschinen auf der anderen Seite verbiegen und aufsprin gen müsse. Ich klopfte noch einmal lauter und schlug dann mit der geballten Faust dagegen. Schließlich stieß ich die Tür auf – und sah zum ersten Mal den Polierraum. Ich wurde von der Hitze und den Gerüchen überwältigt. Und war entsetzt, als ich meinen Vater mit seiner schwarzen Gummischürze erblickte. Wie er sich mit zer zaustem Haar und dem mit Schlammspritzern bedeckten Gesicht über das Rad beugte, sah er aus wie ein Sklave in einem Horrorfilm, den man gerade geschlagen und aus gepeitscht hatte. Sofort war Vorarbeiter Robillard zur Stelle, der sich vor mir aufbaute und mir die Sicht versperrte, ein Riese von einem Mann, der völlig verdreckt war und seine ka putten Zähne in einem breiten Grinsen entblößte. Ich hat te auch von dem Vorarbeiter gehört bei den abendlichen Gesprächen auf der Veranda. Er war das Gegenteil von Hector Monard. Ein Frankokanadier, der seinen Landsleu ten half, ein Mann, der die Akkordarbeit achtete, ein Vor arbeiter, der zusammen mit seinen Arbeitern anpackte. Er sah das Lunchpaket in meiner Hand. 80
»Für wen?« Wegen des Lärms hörte ich nicht, was er sagte, konnte ihm aber die Worte von den Lippen able sen. Er wartete meine Antwort nicht ab, sondern trat aus dem Polierraum heraus und schlug die Tür geräuschvoll hinter sich zu. Der Maschinenlärm flaute ab, obgleich der Boden immer noch unter meinen Füßen vibrierte. »Bist du Lou Moreaux’ Junge?«, fragte er und blinzel te mich an, während er sich das Gesicht mit der schmut zigen Hand abwischte. Ich nickte stumm. Beim Anblick meines Vaters am Rad hatte es mir die Stimme verschlagen. »Dieser Dreckskerl Monard«, sagte Robillard, »hat dich hier runtergeschickt, stimmt’s?« Ich nickte wieder. Mein Vater hatte doch immer bei der Arbeit Ärger vermieden, was ihm Onkel Victor übel nahm. Warum hatte man ihn dann strafversetzt? »Es hat ihm noch nicht genügt, deinen Vater hierher zu versetzen, er wollte auch noch, dass du ihn bei der Sklavenarbeit siehst«, sagte Robillard. Er machte seinem Ärger auf Französisch Luft, gebrauchte die vertrauten Flüche der Provinzler. »Warum«, brachte ich gerade noch heraus, »warum ist mein Vater hier unten?« »Es sind schlechte Zeiten, Junge«, sagte er, »in denen viel Schlimmes passiert. Gewerkschaftskram. Dein Vater soll ein abschreckendes Beispiel abgeben. Aber er ist ein harter, eigensinniger Bursche. Er weiß ganz genau, was in einer Fabrik abläuft. Man muss es nehmen, wie es kommt.« Er hustete stark, räusperte sich und spuckte ei nen riesigen, grauen Speichelklumpen auf den Boden. »Das ist schon okay mit deinem Vater«, sagte er und sprach das Wort nach Art der Frankokanadier aus, näm lich »Hokay«. 81
Ich stolperte die Treppe hinauf, stieß eine Tür auf und stürmte hinaus an die frische Luft. Hinter mir waren die Geräusche der Fabrik noch gedämpft zu hören, nach der Bruthitze in der Fabrik war die zunehmende morgendli che Sommerhitze eine Wohltat. Von der gegenüberlie genden Seite aus betrachtete ich das Gebäude, in dem mein Vater und so viele andere ein Drittel ihres Lebens verbrachten und wo mein Bruder Armand arbeiten woll te. Die Fabrik war vier Stockwerke hoch und schmutzig grau wie der Schlamm im Polierraum, die Verschalungs bretter waren bei Werksbränden verkohlt und nie erneuert worden. Ich dachte daran, wie sehr sich mein Vater und die anderen Arbeiter dem Ort angepasst hatten, an dem sie ihren Lebensunterhalt verdienten: Ihre Haut war blass von all den Stunden, die sie in den Fabrikräumen verbrachten, der Geruch von Zelluloid war in ihre Poren eingedrungen, die Verbrennungen und Verletzungen, die sie während der vielen Jahre erlitten hatten, waren vernarbt. Ich dachte an meinen Bruder Armand, der nun die Be rufsschule besuchte, um Drucker zu werden, den Unter richt aber schleifen ließ, weil er in der Fabrik arbeiten wollte. Ausgerechnet der gut aussehende Armand, im Sport ein Ass, Armand, der sich nicht vor der Dunkelheit fürchtete und kühn und unerschrocken durch seine Tage und Nächte schlenderte. Ich fragte mich, ob er eines Tages genauso ramponiert und abgenutzt aussehen würde wie die Fabrik und ob mein Vater vor langer Zeit ein Junge wie Armand gewe sen war. Mein Vater, mein Bruder und die Fabrik. Es regnete zum ersten Mal in diesem Sommer. In der Nacht goss es in Strömen, bei Tagesanbruch nieselte es 82
nur noch. Der Regen brachte solch eine frische Brise mit sich, dass die Leute die Fenster weit öffneten und die Kinder barfuß in den Straßen herumliefen und vor Ver gnügen juchzten. Mitten am Vormittag war ich dann endlich in der Stimmung zum Schreiben. Die alltäglichen Dinge waren verrichtet und die Familie hatte sich zerstreut. Durch die frische Luft, die der Regen mit sich brachte, hatte ich neue Kräfte gesammelt. Meine Mutter nahm die Mäd chen mit in die Stadt zum Einkaufen, nachdem sie eine halbe Stunde lang nach passenden regendichten Kopfbe deckungen gesucht hatte. Armand ging zu einem Pfad findertreffen in der Schule und Bernard musste in der Kirche ministrieren. Den Schreibblock vor mir auf dem Küchentisch und den Bleistift in der Hand, war ich bereit, die Gefühle zu Papier zu bringen, die in mir tobten. Ich hatte das Gefühl zu zerspringen, wenn ich mir nicht Luft verschaffte. Ein Bild schwebte mir vor Augen – das Gesicht meiner Tante Rosanna. Und ich musste wieder daran denken, wie ich einen Augenblick lang ihre Brust liebkost hatte. Würde ich diesen flüchtigen Moment auf dem Papier überhaupt festhalten können? Und wie stand es mit meinem Vater, der mir, im Po lierraum über das Rad gebeugt, wie ein Fremder vorge kommen war und den ich kaum wieder erkannt hatte? Ich dachte darüber nach, wie paradox es war, mir alle Ein zelheiten des Zusammenseins mit Tante Rosanna ins Ge dächtnis zurückrufen zu wollen, um darüber den entsetz lichen Anblick meines Vaters am Rad zu vergessen. Und dass nun gerade das Gegenteil der Fall war: Mein Vater ging mir nicht mehr aus dem Kopf, ich wurde das Bild von ihm am Rad nicht mehr los, während die Erinnerung 83
an das Erlebnis mit meiner Tante immer bruchstückhafter wurde und sich in nichts auflöste, auch als ich es wieder einzufangen versuchte. Schließlich begann ich zu schreiben. Kein Gedicht, obwohl ich bis jetzt meine Gefühle immer in Gedichte hatte einfließen lassen. Diesmal verfasste ich eine Ge schichte, ließ die Worte leicht und elegant fließen und musste nicht krampfhaft nach Wörtern suchen, die sich reimten. Ich schrieb über einen Jungen und seinen Vater, über den Besuch im Polierraum, wobei ich nicht lange nach Worten suchte und mir nicht den Kopf darüber zer brach, worauf die Geschichte hinauswollte. Ich versuchte nur diesen Besuch in der Fabrik schriftlich festzuhalten. Wenn es möglich ist, sich diese Qual von der Seele zu schreiben, dachte ich, werde ich auch wieder frei sein, um über Tante Rosanna schreiben zu können. Ich schrieb, bis mir Arm und Schulter wehtaten und ich vor Schmerzen kaum mehr weiterkonnte. Und bis mir die Worte ausgingen. Ich war so erschöpft, als hätte ich einen Dauerlauf gemacht. Ich zählte die Wörter nach, die ich geschrieben hatte: 2303. Ich ging auf die Veranda und hielt mein Gesicht in die frische Brise, die der Regen gebracht hatte. Ich lehnte mich übers Geländer und rief in die Nacht hinaus: »Pete … Pete …« Von unten kam keine Antwort, nur meine Stimme hallte matt in der ruhigen Umgebung wider. Der Regen fiel gleichmäßig und dampfend, plätscherte unten im Hof wie unzählige, winzige Fontänen und floss in kleinen Rinnsalen in den Gully. Ich hörte Schritte auf der Veranda im ersten Stock, die an der Treppe innehielten. »Pete?«, rief ich wieder. 84
Immer noch keine Antwort, aber jemand kam die Treppe herauf. Der Regen raunte mir ins Ohr und die Schritte näher ten sich. »Na, komm schon, Pete«, sagte ich. Pete kam aber nicht in Sicht, stattdessen erschien On kel Adelard, der einen staubigen, weichen, mit Regen tropfen gesprenkelten Hut trug. Er hatte ihn tief in die Stirn gezogen, sodass seine Augen im Schatten der Hut krempe verborgen waren. »Außer mir ist niemand zu Hause«, sagte ich. Adelard zog den Stuhl zu sich heran, in dem sich mein Vater im Sommer immer nach der Arbeit ausruhte, und nahm den Hut ab. Wie die Cowboys im Film trug er ein blaues Tuch um den Hals. Oder wie Landstreicher. Oder Gammler, wie Onkel Victor sagen würde. »Das macht nichts«, sagte er, »ich wollte sowieso mit dir sprechen.« »Mit mir?« Ich konnte es kaum glauben, fühlte mich aber geschmeichelt. »Ja, Paul«, sagte er, lehnte sich im Sessel zurück und starrte in den Regen hinaus. Ich dachte an die Geschichte, die ich angefangen hatte, und überlegte, ob ich mir ein Herz fassen und sie ihm zeigen sollte und ob er verstehen würde, was ich sagen wollte. Ich zog mich am Geländer hoch und ließ mich vor sichtig auf dem durchweichten Holz nieder. Wir saßen eine Weile schweigend da. Ich spürte die Feuchtigkeit des Geländers. In der Umgebung herrschte Stille, nur das Rieseln des Regens war zu hören: wie in einem Film, in dem die Tonspur plötzlich abgeschaltet wird. Worüber wollte er mit mir sprechen? 85
Ich hatte mich schon immer schwer getan, mit anderen schweigend dazusitzen, und fing an, unruhig mit den Beinen zu zappeln. Ich saß unsicher auf dem Geländer und lief Gefahr herunterzufallen. Mir fiel etwas ein, womit ich das Schweigen brechen könnte. Würde ich mich getrauen, das Thema anzu schneiden? Merkwürdigerweise fing er selbst damit an. »Du kennst doch das Foto, Paul? Das, was sie oben in Kanada gemacht haben, bevor wir in die Staaten gin gen?« Ich nickte, weil ich meiner Stimme nicht traute. »Darüber muss ich mir dir reden«, sagte er und sah mich mit durchdringendem Blick an. »Deswegen bin ich dieses Mal nach Hause gekommen.« »Ich habe es mir schon tausendmal angesehen«, sagte ich und betrachtete sein Gesicht, den resignierten Zug um seinen Mund, die dunklen Ringe unter den Augen, die wie Blutergüsse aussahen. »Ich habe schon die ganze Zeit darüber nachgegrübelt.« »Sag mir, worüber du nachgegrübelt hast.« »Nun, du hättest mit drauf sein sollen. Mémère und Pépère sind drauf. Auch mein Vater. Und alle Onkel und Tanten. Alle außer dir …« »Ja«, sagte er, »alle außer mir.« Seine Stimme war traurig, wehmütig. Ich nahm all meinen Mut zusammen und sagte: »Es ist ein großes Rätsel, Onkel Adelard. Alle machen sich Ge danken wegen dir und des Fotos. Ich meine, warst du nun dort oder nicht, oder hast du ihnen einen Streich ge spielt?« »Es war ein Streich«, sagte er. »Ach so.« 86
»Was ist los«, fragte er, »du scheinst enttäuscht zu sein.« »Ich weiß, dass es verrückt ist«, erwiderte ich, »ich hatte aber immer gehofft, dass du dir nicht nur einen Scherz erlaubt und dich geduckt hast, dass du …« Mir gingen die Worte aus, sie hörten sich plötzlich töricht an. »Dass ich verschwunden wäre«, ergänzte er, »mich in Luft aufgelöst hätte?« Ich nickte, wurde feuerrot und fühlte mich plötzlich lächerlich. »Genau das habe ich aber getan«, sagte er. Blinzelnd fragte ich ihn: »Was hast du getan?« »Ich bin verschwunden.« »Aber du hast gesagt, dass es nur ein Streich war.« Oder war er immer noch zum Scherzen aufgelegt, die ses Mal aber auf meine Kosten? »Es war ein Streich, Paul. Ein oder zwei Tage, bevor das Foto gemacht wurde, hatte ich herausgefunden, dass …« Er fand nicht die richtigen Worte und blickte wieder finster in den strömenden Regen hinaus. »Was hast du herausgefunden?« Meine Stimme hallte seltsam hohl auf der Veranda. Wusste ich es vielleicht schon selbst? Allmählich regnete es stärker und der Regen fiel zi schend aufs Pflaster. Ich wandte den Blick von Adelard und sah zu den in Nebel gehüllten Türmen von St. Jude, die über den dreistöckigen Mietshäusern kaum zu sehen waren. Ich horchte auf andere Geräusche im Regen – eine Hupe, das Gebell eines Hundes, einen Vogelruf, Schritte, Stimmen, irgendetwas – es war aber nichts zu hören. Ich war mit meinem Onkel allein in einer Welt, die nur uns gehörte. »Paul«, rief er. 87
Ich fuhr fort, auf die Kirchtürme zu starren, die im nassen, grauen Himmel verschwammen. »Paul«, rief er wieder. Zögernd wandte ich mich nach ihm um. Er war nicht mehr da. Ich starrte auf den Stuhl, auf dem er gesessen hatte. Er war leer. Sein Hut lag immer noch auf dem Boden neben dem Stuhl. Die Veranda war leer, ich hatte ihn aber nicht aufbrechen, nicht über die Veranda und die Treppe hi nuntergehen hören. Und doch hatte ich das Gefühl, auf der Veranda nicht allein zu sein. Ich spürte seine Anwe senheit, als ob er sich versteckt hätte und nur außer Sicht, aber ganz in der Nähe wäre. Ich fühlte auch seinen Blick auf mir ruhen, fühlte, wie er mich musterte, mich beo bachtete. Im Handumdrehen war er wieder da. Saß auf seinem Stuhl, mit übereinander geschlagenen Beinen, die Hände im Schoß, das Tuch um den Hals. In dem Augenblick, der seinem Erscheinen vorange gangen war, hatte die Luft um den Stuhl geflimmert wie nach einer Lichtexplosion. Aus dem Schein tauchte On kel Adelard auf. Er sah mich mit einem so traurigen Blick an, wie ich ihn noch nie zuvor bei ihm gesehen hatte. Der Streik in der Kammfabrik begann während der Hundstage im August. Es war so heiß und schwül, dass wir von unseren Eltern dazu angehalten wurden, Hunden aus dem Weg zu gehen, die bei der Hitze womöglich durchdrehen und dann nicht nur Fremde, sondern auch Leute angreifen würden, die sie kannten, besonders aber Kinder. Wir erfuhren vom Streik, als mein Vater eine Stunde 88
später als sonst von der Arbeit nach Hause kam. Nach dem er Gesicht und Hände gewaschen hatte, verkündete er: »Wir treten morgen in den Streik, wenn sie unsere Forderungen nicht akzeptieren.« Meine Mutter blickte ihn scharf an. »Nein, ich habe nicht für Streik gestimmt«, sagte er, als wir uns um den Tisch versammelten, »man muss sich aber der Mehrheit beugen. Darüber waren wir uns einig. Ich glaube nicht, dass dies der richtige Zeitpunkt für ei nen Streik ist, aber ich werde das tun, wofür die Mehrheit gestimmt hat. Wir müssen zeigen, dass wir zusammen halten.« Das war die längste Rede, die mein Vater jemals über die Schwierigkeiten in der Fabrik gehalten hatte, im Ge gensatz zu Onkel Victor, der gar nicht genug davon be kommen konnte. Ich hätte meinem Vater am liebsten gesagt: Dann brauchst du während des Streiks wenigstens nicht im Po lierraum zu arbeiten. In der Luft knisterte es vor Spannung, als sich die Männer in den ersten Tagen des Streiks auf den Straßen versammelten und zur Fabrik marschierten. Alle waren guter Dinge und jauchzten und scherzten und es kam zu vielen lustigen Einlagen – Mr. Landry, der immer beim Tanz am Samstagabend im St.-Jeans-Saal zur Quadrille aufforderte, führte den Marsch mit einem Taktstock wie ein Tambourmajor an. Doch das Klima verschlechterte sich, als es in den darauf folgenden Tagen heißer wurde und den Männern allmählich klar wurde, dass es am En de der Woche keinen Lohn geben würde. Die Sonne brannte erbarmungslos vom Himmel herab, als die Män ner tagsüber Streikposten standen, und der Abend brachte kaum Erleichterung. Es war, als ob die dreistöckigen 89
Häuser und das Pflaster die Hitze tagsüber speicherten und nachts wieder abgäben. Der ausbleibende Wochenlohn zeigte allmählich Wir kung, besonders in den Geschäften von Frenchtown. Mr. Dondier sagte mir, dass er mich nicht mehr länger brau che, dass er seine Böden selbst putzen, Aufträge ausfuh ren und Kartoffeln in 5-kg-Säcke abfüllen könne. Er leg te mir die Hand auf den Arm und sah mich dabei ganz betrübt an. Miss Fortier, die den Geschenkladen neben Lakier’s Drugstore hatte, machte ihr Geschäft Ende Ok tober »vorübergehend« zu und öffnete es nie wieder. Je mand sagte, sie sei nach Kanada zurückgegangen. Als uns Onkel Victor besuchte, war der Streik das Ge sprächsthema. »Wir werden nie aufholen, was wir jetzt verlieren«, beteuerte mein Vater. »Eine Wirtschaftskrise ist keine gute Zeit zum Streiken.« Meine Mutter seufzte, sie wusste, dass es unweigerlich in einem Streitgespräch enden würde. »Den richtigen Zeitpunkt gibt es nicht«, sagte Onkel Victor, »aber wir müssen über den Tellerrand hinausse hen und unseren Blick auf das nächste Jahr und die nächsten zehn Jahre richten. Sieh dir deine Kinder an, Lou. Willst du, dass sie einmal nur Kurzarbeit, keinen Arbeitsschutz und keinen Urlaub bekommen?« »Meine Kinder werden keine Fabrikarbeiter«, sagte mein Vater mit fester Stimme. Armand sah bekümmert weg. »Erziehung ist der Schlüssel für die Zukunft, Vic, Streiks sind es nicht.« »Es wird aber immer Fabriken geben, Lou, und Leute, die dort arbeiten. Was wir tun, wird den Leuten in Zukunft helfen, ob sie nun mit dir verwandt sind oder nicht …« Mein Vater schloss sich den Streikposten an, er trug 90
ein Transparent mit der Aufschrift: DEN ARBEITERN MEHR RECHTE! Und ich sah ihm zu, wie er mit den anderen Streikenden, Männern wie Frauen, vor der Fab rik auf und ab ging. Auch meine Tanten waren darunter. Mein Vater machte ein verbissenes Gesicht und mar schierte stocksteif, als ob seine Beine schmerzten. Viele der Streikenden lachten und scherzten, als sie auf und ab gingen, während andere finster dreinblickten, drohend die Schultern bewegten und »Streikbrecher« brüllten und die Vorarbeiter und Büroangestellten verfluchten, die wie gewöhnlich zur Arbeit gingen, als die Sirene ertönte. On kel Victor schrie und fluchte nicht, als Streikführer reihte er sich auch nicht in die Streikpostenkette ein. Er stand abseits, war nie allein, immer drängten sich Leute um ihn, denen er Befehle gab oder deren Fragen er beantwor tete, während er an seiner Zigarre herumkaute. Armand lungerte in der Nähe herum, bereit, Aufträge auszufüh ren, er war voller Eifer und lechzte danach, dass etwas geschah. Er sah meinen Vater nicht an und mein Vater sah ihn nicht an. Als Hector Monard, kurz bevor die Sirene ertönte, zur Arbeit erschien, trat eisiges Schweigen ein. Niemand brüllte, niemand fluchte. Die Streikenden blickten ihn mit stummer Wut und hasserfüllten Blicken an, als er vorüberging. Für mich war es niederschmetternder als lautes Geschrei. Mord lag in der Luft. Monard ging erho benen Hauptes und schaute weder rechts noch links, die Lippen hatte er zu einem verächtlichen Grinsen verzo gen. Es war dasselbe Lächeln, das ich bei ihm gesehen hatte, als ich meinem Vater das Lunchpaket in die Fabrik brachte. In diesem Jahr fiel der erste Schnee schon sehr früh, noch vor Thanksgiving. Es folgte eine Kältewelle mit 91
eisigen Winden, die einem den Atem raubten und die Fenster der Häuser durchrüttelten. Die Streikposten aber hörten nicht auf, vor der Fabrik zu patrouillieren und ihre Schilder hochzuhalten. Sie stampften vor Kälte auf dem gefrorenen Boden, waren nun in dicke Wintermäntel ein gehüllt und ihr Atem dampfte, wenn sie miteinander sprachen. Als die Kälte immer unerträglicher wurde, kauerten sie sich um die Feuer, die sie in den Mülltonnen angezündet hatten. Der Streik dauerte 121 Tage und endete an einem Mittwoch, anderthalb Wochen vor Weihnachten. Das Ende kam nach einer Nacht der Gewalt, in der mein Va ter blutüberströmt und mit drei anderen Männern ins Krankenhaus von Monument gebracht wurde. Doch noch vor Beginn des Streiks im August hatte ich erfahren, dass ich über die Gabe des Ausblendens verfügte. Zuerst der Stillstand. Dann der zuckende Schmerz. Dann die Kälte. Während des Stillstands kommen für einen kurzen Augenblick alle Körperfunktionen zum Erliegen. Es ist, als ob eine Uhr stehen bliebe. Eine entsetzliche Stille entsteht, die aber nur einen Atemzug lang dauert – ob gleich sie einem wie eine Ewigkeit vorkommt. Und dann, wenn einen Panik ergreift, beginnt das Herz wieder zu schlagen, Blut pulsiert durch die Adern und balsamische Luft wird wieder in die Lunge gepumpt. Danach durchzuckt dich ein Schmerz, der jede Zelle deines Körpers durchdringt, dir Höllenqualen verursacht und nur insofern gnädig ist, als er so schnell wieder ver geht, wie er gekommen ist. Die Kälte setzt mit dem Ausblenden ein und bleibt 92
während der ganzen Zeit, in der du unsichtbar bist. Sie ist unabhängig von Jahreszeit oder Wetter. Die Kälte kommt von innen und breitet sich wie eine Eisschicht unter der Haut aus. »Die Kälte erinnert dich daran, dass du unsichtbar bist«, hatte Onkel Adelard trocken bemerkt, »falls du es vergessen solltest.« Ich stand in der Dämmerung auf dem Gehweg vor unse rem Haus, als die Dunkelheit die dreistöckigen Mietshäu ser und die Türme von St. Jude’s schon umhüllte, obwohl auf den Steinmauern noch der letzte Widerschein des Tageslichts zu sehen war. Ausgeblendet … … dachte ich, kann ich alles tun, kann überall hinge hen, Meere überqueren, Berggipfel erklimmen. Was aber sollte ich in diesem Augenblick tun? In Frenchtown gab es keine Berge, auf die man steigen konnte. Keine Meere, die man befahren konnte. Die Kälte durchdrang meinen Körper und ließ mich in der Sommerhitze schaudern und ich schlang die Arme, die ich nicht sehen konnte, um die Brust, die ich nicht sehen konnte. Ich bewegte mich nicht, nahm die Kälte in mich auf, sodass sie nicht mehr so heftig, sondern ge dämpft und erträglich war. Ich ging die Spruce Street entlang auf die Third Street zu, wo die Straße heller beleuchtet war und die Schau fenster Licht auf den Gehweg warfen. Vor Lakier’s Drugstore hatten sich Kinder versammelt und ich ent deckte David Renault, der gerade ein Eis schleckte und dabei Pete Lagniard und Artie LeGrande zuschaute, die mit Cowboy-Karten, die sie auf dem Gehweg und auf 93
ihren Knien liegen hatten, Quartett spielten und dabei mit den Spielkarten gekonnt umgingen. Theresa Terrault, die immer kicherte und sich mit ihren engen Pullovern, die ihren sprießenden Busen, und mit Röcken, die ihre wohl geformten Hüften zur Geltung brachten, an die Jungen heranmachte, lehnte an einem Briefkasten. Sie war das einzige Mädchen, das noch auf der Straße war. Die ande ren Mädchen waren nach Einbruch der Dunkelheit rasch nach Hause gegangen, bevor ihre Brüder ausgeschickt wurden, um sie zu suchen. Obwohl Theresa erst dreizehn war, ging sie nicht nach Hause. Ich schlich mich vorsichtig heran, weil ich dem Aus blenden nicht traute und befürchtete, dass es mich plötz lich im Stich lassen würde. Pete Lagniard fluchte leise, als er eine seiner Lieblingskarten verlor, die mit Ken Maynard darauf. Theresas Kichern erfüllte die Nacht mit Heiterkeit. Ich blieb stehen, betrachtete sie, wobei mein Blick ihr Gesicht, die blitzenden Augen und die runden Wangen mit den Grübchen streifte, die groß genug waren, um sie mit der Zungenspitze zu liebkosen. Dann glitt er über ihren kleinen Busen. Ich nahm die ganze Anmut ihres Körpers in mich auf. Mir wurde auf einmal bewusst, dass ich dies noch nie zuvor getan hatte. Auf der Lein wand oder in Zeitschriften konnte ich den Anblick von Mädchen und Frauen ertragen, musste aber immer weg sehen, wenn ich ihnen im wirklichen Leben begegnete. So war ich im Park mit Tante Rosanna vor Verlegenheit beinahe umgekommen und hatte nicht gewusst, wohin ich schauen sollte. Nun aber konnte ich mich am An blick von Theresa richtig satt sehen, starrte sie fasziniert an und stellte fest, dass ich sie sogar hätte berühren können. 94
Ich zitterte, als mein Körper schlagartig von einer Käl tewelle ergriffen wurde. »Was ist denn das?«, rief sie plötzlich, sah sich um und hielt ihre Arme schützend vor die Brust. »Was soll denn schon sein?«, fragte Andre Gillard. Er hatte Theresa mit einem besonders gewagten Steppschritt imponieren wollen und sah nun verwundert zu ihr auf. Sie zuckte mit den Achseln und schaute sich um, als ob sich unvermittelt ein Wind erhoben hätte, der sie frös teln ließ. »Ich weiß nicht«, sagte sie und verzog schmollend den Mund, »etwas …« Sie fröstelte in der Hitze und sah mir dabei direkt ins Gesicht. Ich stand keine zwei Meter von ihr entfernt, am Rand der Gruppe. Ich wich ein paar Schritte zurück und riskierte es, mich preiszugeben, indem ich einen Laut von mir gab. Ein Geräusch würde aber nichts ausmachen, solange sie mich nicht sehen konnte. Konnte sie mich denn sehen? War ich wieder dabei, Gestalt anzunehmen? Ich blickte an mir herab, sah aber nur, dass ich nicht da war, und erinnerte mich an die Worte meines Onkels: Du bist da und auch wieder nicht. Sie sehen dich nicht, aber sie füh len dich und wissen, dass du anwesend bist. Der Augenblick ging vorüber und Andre Gillard schlug bei einem Luftsprung die Hacken zusammen. Pete Lagniard schrie ihn an, dass er das sein lassen solle, weil er sich sonst nicht konzentrieren könne. Theresa warf Andre noch einmal einen schmachtenden Blick zu, ki cherte hinter ihrer vorgehaltenen Hand, deren Nägel blut rot lackiert waren, während ich sie in ihrer ganzen Schönheit bewundern konnte, ihre schlanke Gestalt und ihre Weichheit. 95
Andre und Theresa brachen miteinander auf, tauchten in der Dunkelheit unter. Andre hatte den Arm um ihre Schulter gelegt und sie lehnte sich an ihn, die Nachtluft trug ihr Kichern zu mir herüber. Pete und Artie ignorierten die beiden, weil sie sich auf ihr Spiel konzentrierten, während David Renault sein Eis aufaß und das Ende der Waffeltüte mit zufriedenem Schmatzen in den Mund stopfte. Andre und Theresa gingen zwischen den Schatten die Third Street entlang, tauchten für Sekunden im grellen Schein einer Straßenlaterne auf und verloren sich dann wieder in der Dunkelheit. Ich sah, wie sie sich in einen leer stehenden Eingang verdrückten. Sollte ich ihnen nachspionieren? Sollte ich herausfinden, was sie taten? Ich schaute mich um, sah zu den dreistöckigen Miets häusern auf der anderen Straßenseite hinüber, erhaschte flüchtige Eindrücke von Leuten, die in der kühlen Nacht luft auf ihren Veranden saßen. In meinem Zustand konnte ich überallhin gehen. In je de dieser Wohnungen. Konnte nachspionieren, wem ich wollte. Konnte ihnen bei ihren Gesprächen, beim Streiten und Lieben zuschauen. Konnte den Frauen beim Auszie hen zusehen, bevor sie ins Bett gingen. Wenn ich wollte, konnte ich sie sogar berühren. Ich konnte in jedes Wohn zimmer und Schlafzimmer eindringen. Ich berauschte mich an den unzähligen Sinnenfreuden, die sich vor mir auftaten. Warum war mein Onkel eigentlich immer so traurig, wenn er vom Ausblenden sprach? Ich spürte noch die Kälte in mir, als ich Pete und Artie ihrem Kartenspiel überließ, mit David Renault als einzi gem Zuschauer. Ich ging in die Richtung, die Andre und 96
Theresa eingeschlagen hatten, und wusste nicht genau, wo ich landen würde. In Dondier’s Markt sah ich noch Licht. Mr. Dondier war an der Kasse und rechnete die Tageseinkünfte auf einem Schreibblock zusammen. Bei jedem Posten be rührte er seine Zunge mit der Bleistiftspitze, wie er es auch sonst immer tat, sodass seine Zungenspitze schwarz war. Mr. Dondier war ein ernster Mann, der selten lächelte. Ich fragte mich, ob ich ihn zum Lächeln bringen könnte. Oder noch besser – ob ich ihm vielleicht einen Streich spielen könnte mit dem Obst, dem Gemüse und den Kon serven? Wozu ich bis jetzt noch nicht den Mut gehabt hatte. Ich fasste Mut, weil ich unsichtbar war … … öffnete die Tür und machte sie vorsichtig wieder zu. Mr. Dondier blickte auf, den Bleistift an den Lippen, die Glühlampe über ihm spiegelte sich in seiner Glatze. Er schaute auf die Uhr. Wie gewöhnlich roch der Laden nach Kaffee, Orangen und undefinierbaren, scharfen Gewürzen: Gerüche, die Mr. Dondier anhafteten wie der süßsaure Geruch von Zelluloid meinem Vater. Als Mr. Dondier seine Arbeit am Rechnungsblock wieder aufnahm, ließ er den Bleistift übers Papier gleiten. Ich war erstaunt über meine Unverfrorenheit, als ich nä her an ihn heranrückte und ihn dabei beobachtete, wie er die Zahlen in einer Tabelle anordnete und dabei die Lip pen bewegte. Mich fröstelte ein wenig. Er hob den Kopf. »Wer ist da?«, rief er und sah mir dabei direkt ins Ge sicht. Einen Augenblick lang war ich in Panik, weil ich 97
glaubte, dass das Ausblenden nicht funktionierte und er mich sah. Ich stand direkt vor ihm. Dann fiel mir aber ein, dass er nicht »Wer ist da?« gefragt hätte, wenn er mich hätte sehen können. Er befeuchtete die Lippen und beugte sich wieder über seine Arbeit. Er hatte kleine Schweißperlen auf der Stirn, die wie Tautropfen an einer Melone aussahen. Dann blickte er wieder auf, blinzelte und sah sich noch einmal prüfend im Laden um, versuchte in alle Winkel zu spä hen und murmelte leise etwas vor sich hin, das ich aber nicht verstand. Er sah so ängstlich, so müde und abgehärmt aus, dass ich ihm unmöglich einen Streich spielen konnte. Schließlich legte er seinen Block und den Bleistift in die kleine Schachtel neben der Kasse, ging zum Laden eingang, blickte durchs Fenster auf die Straße hinaus und ließ dann das Schloss zuschnappen. Er warf noch einen Blick über die Schulter und ging dann durch die engen Gänge der Gemüseabteilung zum Hinterzimmer. Ich war tete einen Augenblick lang vor der Fleischtheke, bevor ich ihm folgte. Ich spürte nun kaum mehr die Kälte. Im Hinterzimmer knipste er die gebogene Arbeits leuchte an, die den Haufen von Geschäftsbüchern, Papie ren und Bleistiftstumpen auf seinem alten Schreibtisch in eine Lichtflut tauchte. Er nahm einen kleinen Schlüssel aus seiner Westentasche und legte ihn behutsam in die unterste Schublade. Der Schublade entnahm er eine Vier telliterflasche Whisky. Er hielt die Flasche hoch und trank in großen Schlucken, keuchte, wischte sich die Au gen mit dem Handrücken und stellte die Flasche auf den Schreibtisch. Dann sah er sich wieder um und rief: »Ist dort je mand?« 98
Er schraubte die Flasche auf und trank wieder, seine Augen tränten von der Schärfe des Whiskys. Mr. Dondier schüttelte sich und setzte sich auf den alten Klavierstuhl, der ihm als Bürostuhl diente. Er stellte die Flasche wie der in die Schublade und setzte sich mit gesenktem Kopf auf den Stuhl. Eine Zeit lang bewegte er sich nicht und meine Beine fingen schon an zu schmerzen. Ich drehte mich um, als jemand an der Eingangstür rüttelte und ans Fenster klopfte. Mr. Dondier sprang auf und ging so schnell zum Ein gang, dass ich keine Zeit mehr hatte zurückzuweichen und er mich im Vorübergehen beinahe gestreift hätte. Ich schaute ihm nach, wie er zum Eingang ging. Durch die Fensterscheibe sah ich die vagen Umrisse einer schlanken Gestalt. Mr. Dondier schloss die Tür auf und öffnete sie. Theresa Terrault trat hastig ein und warf beim Hinein gehen noch einen Blick hinter sich. »Ich dachte schon, du würdest gar nicht mehr kom men«, sagte Mr. Dondier und schloss die Tür hinter ihr wieder zu, »also habe ich vor ein paar Minuten abge schlossen.« »Ich kann nichts dafür, dass ich zu spät komme«, sagte sie mit der piepsenden Stimme eines kleinen Mädchens, das sie natürlich auch war, trotz des aufregenden Pullo vers und der sprießenden Brüste. »Ich habe hier drinnen etwas gehört«, sagte er, »und gedacht, dass du dich vielleicht schon früher hereinge schlichen hast, um mir einen Streich zu spielen …« Als sie sich dem Hinterzimmer näherten, berührte er zuerst ihre Wange, dann ihre Brust. »Du würdest mir aber kei nen Streich spielen, nicht wahr, Theresa?« »Nein, Mr. Dondier«, sagte sie schüchtern. 99
Ich starrte Mr. Dondier und Theresa fassungslos an. Clara, seine Tochter, war in meiner Klasse, ein Mädchen, das immer guter Laune war und gern und viel lachte. Sie war so alt wie Theresa. Theresa aber war eine schlechte Schülerin, die Bücher und Hausaufgaben hasste und sit zen geblieben war. Nun stieg mir das Blut ins Gesicht, als ich Mr. Dondier, der bei der 10-Uhr-Messe am Sonn tagmorgen immer die Kollekte einsammelte, Theresa zu sich heranziehen und ihren Busen streicheln sah. »Halt, Augenblick!«, sagte sie und wich mit ausge streckter Hand vor ihm zurück. Mr. Dondier kramte in der Hosentasche nach seiner Brieftasche und holte einen Geldschein heraus, dessen Wert ich nicht erkennen konnte. War es ein Dollar oder waren es fünf? Er legte ihn mit zitternder Hand auf den Schreibtisch. »Er gehört dir«, sagte er, »wenn du …« Sie kicherte, als er ihr unter die Arme griff und sie auf den Schreibtisch hob. Sie zog ihren Rock hoch, unter dem ihre knorpeligen Knie zum Vorschein kamen. Das Gesicht rot und verschwitzt, setzte sich Mr. Don dier auf den Klavierstuhl. Sein Blick war seltsam starr, als er ihre Beine auf seine Schultern hob und mit dem Gesicht zwischen ihren Beinen verschwand. Er stöhnte und zuckte heftig mit den Schultern, als er sich zwischen ihren Schenkeln vergrub. Theresa sah auf seine Glatze herab, die im Schein der Lampe immer noch feucht schimmerte. Ihr Blick war leer, die Augen glanzlos, als ob sie nicht wirklich da wäre und Mr. Dondier sich an jemand anderem verginge. »O Theresa«, stöhnte Mr. Dondier, seine Stimme war gedämpft, als er ihren Namen keuchte und nun ihr Hin terteil mit beiden Händen packte. Mir wurde speiübel und mein Herz pochte so heftig, 100
dass ich instinktiv zurückwich. Meine Wangen wurden glühend heiß. Ich musste hier raus. Auf dem Weg zum Eingang hatte ich immer noch das Bild von Mr. Dondier und Theresa Terrault vor meinem inneren Auge, wie die Sterne, die man weiter sieht, wenn man zu lange in eine Lichtquelle gestarrt hat. Ich ver schluss meine Augen vor dem Bild, ging zwischen den Warenregalen hindurch und achtete darauf, dass ich nichts umwarf. Ich öffnete leise die Tür und schlüpfte hinaus, hielt mich im Schatten des Eingangs und wartete, um zu se hen, ob die Straße leer war. Ein Auto fuhr vorüber, die Scheinwerfer abgeblendet, der Fahrer nur ein Schatten hinter der Windschutzscheibe. Wieder empfand ich hef tige Kälte. Ich eilte die Straße hinab, meine Tennisschuhe glitten lautlos über den Gehweg, während ich versuchte meine düsteren Gedanken zu verdrängen. Im Schuppen hinter unserem Haus ließ ich später den Stillstand und den zuckenden Schmerz über mich erge hen, als ich die Unsichtbarkeit zwang, von mir zu wei chen. Und zu meiner großen Erleichterung sah ich die ersten undeutlichen Konturen meines Körpers, dann die Knochen und Muskeln und zuletzt die Kleider, die ich trug, wiederkehren. Völlig erschöpft und kraftlos, als ob ich einen langen Marsch hinter mir hätte, blieb ich eine Weile mit angezogenen Knien auf dem Boden sitzen. Als ich durch das kleine, staubige Fenster hinaussah, erblickte ich den Mond, der in der Ferne am Himmel schien. Ich lenkte meine Gedanken auf den Mond, um die Erinnerung an das zu löschen, was ich in Mr. Don diers Hinterzimmer gesehen hatte. Was aber war mit den anderen, denen ich zuvor nachspioniert hatte: David Re 101
nault, Artie und Pete Lagniard, meinem besten Freund? Und was war mit den Leuten, die in den dreistöckigen Mietshäusern in ihren vier Wänden wohnten? Wenn ich einem der Bewohner gefolgt wäre, ihnen nachspioniert hätte, in ihre Wohnungen eingedrungen wäre, hätte ihr Privatleben dann auch Geheimnisse enthüllt? Düstere und Ekel erregende Geheimnisse, die man besser nicht lüftete? Schließlich verschwand der Mond und ich schlich mich ins Haus, vorbei an meinem Vater, der in seinem Sessel in der Nähe des Radios döste, und meiner Mutter, die schon im Bett lag. Ich blieb kurz am Eingang zu mei nem Zimmer stehen, sah meinen Vater an und horchte dabei auf die belanglosen Geräusche in der Wohnung. Die Geräusche schienen mir fremd geworden zu sein, ich war ein Fremder in meinem eigenen Zuhause. Ich hatte ein Gefühl tiefer Schuld und Scham, als hätte ich eine entsetzliche Sünde begangen. Ich zog mich aus und schlüpfte ins Bett, konnte aber lange Zeit nicht einschla fen. Es war das zweite Mal, dass ich mich selbst ausge blendet hatte. Das erste Mal war es in Anwesenheit Onkel Adelards im Haus meines Großvaters geschehen. Eines Samstag nachmittags, als alle weggegangen waren, hatte er seinen Stuhl nach hinten an die Wand gekippt und den Befehl gegeben: »Tu es!« Er hatte mir genaue Anweisungen gegeben. Mir ge sagt, dass ich mich an eine nicht vorhandene Wand leh nen und meine Augen vor jeder Ablenkung verschließen sollte, da man sich im Dunkeln besser konzentrieren 102
könne. Er sagte mir, dass ich auf etwas warten solle, das er »Stillstand« nannte. Woraufhin ich die Augen schloss und mich mit ange spannten Muskeln, angewinkelten Ellbogen und ohne die Beine zu bewegen an die unsichtbare Wand lehnte, be reit, mich Regen, Sturm und Hagel zu widersetzen. Plötzlich war alles weg. Ich befand mich in diesem Schwebezustand, den er erwähnt hatte, gefühllos, mit angehaltenem Atem, ein Nichts, ein Vakuum. War es so, wenn man starb? Ich wollte vor Angst aufschreien, bevor ich aber überhaupt etwas tun konnte, durchzuckte mich der Schmerz, ein stechender, brutaler Schmerz, der mich vollständig in seinen Bann schlug. Ich hörte ein Stöhnen, das sich wie die Klage eines verwundeten Tieres anhörte, und doch wusste ich, dass es von mir kam, auch wenn ich einen solchen Laut noch nie von mir gegeben hatte. Ich öffnete die Augen und sah meinen Onkel in dem Augenblick, als mich die Kälte durchdrang. Sie entstand irgendwo in meinem Inneren und breitete sich nach allen Seiten aus, in den Knochen und Sehnen, die so unerträg lich schmerzten. Dann hörte der Schmerz plötzlich wieder auf. Ließ nicht allmählich nach oder wurde schwächer, nein, er hörte einfach auf. Und die Kälte war eine Wohltat nach dem Schmerz. Meine Augenlider begannen zu flattern und ich beg riff, dass ich sie nicht wirklich geöffnet hatte, um meinen Onkel zu sehen – ich hatte durch die Augenlider geblickt. Meine Augenlider waren weg, einfach nicht mehr vor handen. So wie auch alles andere von mir verschwunden war. »Wie fühlst du dich?«, fragte mein Onkel. Es war eine 103
unendliche Traurigkeit in seinem Blick, die gleiche Trau rigkeit, die ich an jenem Tag auf der Veranda bei ihm gesehen hatte. Ich war überrascht, dass meine Stimme ganz normal klang, als ich sprach. »Jetzt wieder gut. Ein paar Minuten lang war es schrecklich – mit all den entsetzlichen Emp findungen.« »Sekunden«, verbesserte er mich, »drei Sekunden vielleicht.« »Nicht mehr?« Nein. Er schüttelte den Kopf. Ich hielt meine Hand vor die Augen und konnte sie nicht sehen. Ich erforschte den Raum, in dem meine Hand hätte sein sollen und auch wirklich war. Wiewohl nicht zu sehen. Onkel Adelard blinzelte mich an und nickte dann zufrie den mit dem Kopf. »Perfekt. Ein perfektes Ausblenden.« »Warum nennst du es ›Ausblenden‹?« »Weil du verschwunden bist, so wie Farbe aus einem alten Stück Stoff verschwindet …« Mich schüttelte es vor Kälte. Als ich meine Brust schützend mit den Armen umfasste, konnte ich mein Hemd fühlen, den Baumwollstoff und die Knöpfe. »Meine Kleider«, fragte ich ihn, »sind dann wohl auch verschwunden? Du kannst sie nicht sehen, stimmt’s?« »Nein, alles in deinem unmittelbaren Spannungsfeld, sogar eine Armbanduhr oder ein Ring, verschwindet mit dir. Aber alles, was du berührst oder aufhebst, ist nicht davon betroffen, ist noch sichtbar.« Er kniff die Augen zusammen. »Du frierst, nicht wahr?« »Ja«, sagte ich, »als ob es plötzlich Winter geworden wäre.« »Die Kälte bleibt während des Ausblendens. Nach den 104
ersten paar Minuten gewöhnst du dich aber daran. Und merk dir – es wird nicht immer so schwierig sein, dich auszublenden. Obwohl du immer den Schwebezustand und den zuckenden Schmerz ertragen musst – was manchmal aber so schnell geht, dass du ganz leicht und beinahe übergangslos unsichtbar wirst …« »Wie lange dauert das Ausblenden?«, fragte ich. »So lange du willst«, erwiderte er, »bis du es selbst abbrichst.« »Ich habe Angst, Onkel Adelard.« »Wovor?« »Vor allem. Mich zu bewegen. Zu gehen. Gerade jetzt habe ich Angst, das Gleichgewicht zu verlieren und hin zufallen, wenn ich zu gehen versuche. Klingt das ver rückt?« Er schüttelte lächelnd den Kopf. »Das passiert immer beim ersten Mal, wenn man versucht auf Beinen zu ge hen, die man nicht sieht. Wie könnte man auch sicher sein, dass sie wirklich da sind? Du darfst es mir aber glauben und dir selbst auch.« Ich blickte an mir herab und sah nichts. Nur Luft. Ob wohl ich mein Gewicht behalten hatte, fühlte ich eine Leichtigkeit, als ob ich mit meinem Körper durch die Luft schweben könnte. »Mach ein paar Schritte«, schlug er vor. Meine Schritte waren wie die ersten Gehversuche ei nes Kindes, schwankend und wackelig. Ich hatte Schwie rigkeiten mit dem Gleichgewicht, drohte zu fallen, es war wie ein Balanceakt, bei dem ich das Seil nicht sehen konnte. Ich griff Halt suchend nach der Rückenlehne ei nes Stuhls und war überrascht, wie fest sich das Holz anfühlte. Wie Onkel Adelard versprochen hatte, blieb der Stuhl sichtbar. 105
Als ich vorsichtig durchs Zimmer ging, wurde ich wieder zuversichtlicher. Ich ging ans Fenster und sah auf das Treiben in der Eighth Street herab, einer Welt, die weit weg schien. Ein wenig mit den Füßen schlurfend ging ich auf meinen Onkel zu und blieb dicht vor ihm stehen. »Ein paar Vorsichtsmaßregeln, Paul. Manchmal kommt das Ausblenden völlig ungebeten. Es gibt aber warnende Anzeichen – du wirst plötzlich kurzatmig, was bedeutet, dass der Stillstand unmittelbar bevorsteht und du nicht mehr viel Zeit hast vor dem Ausblenden. Wenn du in Gesellschaft bist, musst du weggehen, dich sobald als möglich zurückziehen. Das Ausblenden wird dir auch die Kraft nehmen. Da nach wirst du dich verbraucht und erschöpft fühlen. In deinem Alter vielleicht noch nicht so sehr, aber wenn du älter bist. Je länger du unsichtbar bleibst, desto höher der Preis, der von deinem Körper dafür gefordert wird.« Er hob die Hand, als ob er mich zurückhalten wolle, vielleicht spürte er die Panik, in die ich geriet. »Und noch eine Regel«, sagte er. »Bleib allen Kame ras fern. Lass dich auch nicht knipsen, wenn du nicht ausgeblendet bist. Einmal bist du auf dem Film drauf, ein anderes Mal nicht. Was das Ausblenden anbetrifft, so gibt es vieles, was ich dir nicht erklären kann. Die Sache mit der Kamera hat vielleicht mit dem Licht zu tun und wie es sich auf den Film auswirkt. Ich weiß es nicht. Du musst also unter allen Umständen vermeiden, dass man dich knipst …« »Dieses Bild im Familienalbum. Du hast gesagt, dass du dir damit einen Scherz erlaubt hast«, erinnerte ich meinen Onkel. »Ja, das war auch so. Damals. Ich habe mich ausge 106
blendet, kurz bevor der Fotograf das Bild gemacht hat. Erst später fand ich zufällig heraus, dass ich auf einem Film gar nicht erscheine …« Als ich in diesem seltsamen, neuen Zustand so vor meinem Onkel stand, anwesend und auch wieder nicht, den Kopf voller Regeln und Vorsichtsmaßregeln, hätte ich am liebsten aufgeschrien: Hol mich hier raus, stell das Ausblenden ab, lass mich erwachen aus diesem Alp traum! Als hätte er mein stummes Flehen gehört, sagte er: »Komm zurück, Paul, lass es gut sein!« Die Hände an der Seite zu Fäusten geballt, stützte ich mich an die unsichtbare Mauer und fühlte, wie etwas sich mit aller Gewalt gegen mich stemmte. Ich hielt aber stand und geriet wieder in den Stillstand, war gefangen in diesem seltsamen Schwebezustand zwischen Dunkelheit und Licht, atemlos und von Panik ergriffen. Dann durch zuckte mich der Schmerz, als ob mein Körper ein straffer Kupferdraht wäre, durch den stetig heftige Stromstöße jagen. Als ich so weit war, dass ich endlich schreien konnte, hörte der Schmerz auf, der Stillstand war vor über, ich konnte wieder atmen und das Kältegefühl war vergangen. Ich war plötzlich wieder ein ganzer Mensch, war heil, intakt, sichtbar, hier und jetzt, war wieder Paul Moreaux in der Wohnung meines Großvaters, im zweiten Stock im Haus in der Eighth Street. Alles war wieder wie zuvor. Und doch war es nicht mehr dasselbe. Und würde es auch nie wieder sein. »Warum hast du mich ausgewählt?«, fragte ich, als ich mit Onkel Adelard in den Straßen von Frenchtown spa zieren ging. Ich begrüßte die Passanten mit einem Kopf 107
nicken und blieb stehen, um Mrs. Pontbriand zuzusehen, wie sie Hemden und Hosen an ihrer Wäschespinne auf hing, als ob sie unsichtbare Kinder – ausgeblendete Kin der – zum Trocknen aufhängen würde. »Ich habe dich nicht ausgewählt, Paul«, sagte mein Onkel, als wir die Seventh Street überquerten. »Du hast aber doch gesagt, dass du dieses Mal mei netwegen zurückgekommen bist«, versuchte ich meinen Standpunkt möglichst logisch darzulegen. Eine Woche lang, seit seiner ersten Enthüllung auf der Veranda, wa ren meine Gedanken und Gefühle in Aufruhr gewesen. An jenem Tag hatte er mich zur Geduld ermahnt und ge sagt, dass er alles zu gegebener Zeit erklären würde. Er bat mich, ihm ganz zu vertrauen und mit niemandem über das Ausblenden zu sprechen. In dieser Woche war ich ganz für mich geblieben, hat te Bücher gelesen, weite Spaziergänge zur Festwiese ge macht und besonders Pete Lagniard gemieden, weil ich befürchtete, dass ich mit meinem Geheimnis gleich her ausplatzen würde, wenn wir miteinander sprachen. Ich blieb den Orten fern, an denen wir uns meistens herum drückten, und ignorierte die eiligen Botschaften, die er mir über den Flaschenzug zukommen ließ. Ich hatte ihn zutiefst gekränkt, weil ich an diesem Nachmittag nicht zur letzten Vorstellung von The Ghost Rider ins Ply mouth mitgegangen war, wo wir endlich etwas über die Herkunft des Phantom-Cowboys erfahren sollten, der die Prärie unsicher macht. Zuerst hatte es Pete nicht glauben wollen und dann wütend gebrüllt: »Zum Teufel mit dir!« Ohne sich noch einmal umzuschauen, hatte er sich da vongemacht, während ich ihn mit Bedauern fortgehen sah. Ich wusste, dass mir keine andere Wahl blieb. Onkel Adelard hatte diesen Nachmittag gewählt, um 108
mich in das Ausblenden einzuweihen, weil Onkel Octave und Tante Olivine an diesem Tag einen Ausflug zum La ke Whalom machten, sodass er ihre Wohnung für seine Zwecke nutzen konnte. Nun bogen wir in die Mechanic Street ein, kamen an den Häusern vorbei, wo ich früher Zeitungen ausgetragen hatte und die nun zu Bernards Revier gehörten. »Ich bin zurückgekehrt, weil ich wusste, dass deine Zeit für das Ausblenden gekommen war«, sagte er. »Wie hast du das gewusst?« Er seufzte und legte mir den Arm um die Schulter. »Es ist etwas in unserem Blut, etwas, das von Generation zu Generation weitervererbt wird. Wenn ich dich so ansehe, Paul, sehe ich mich, wie ich damals auf dem Bauernhof in St. Jacques war. Ich habe meinem Onkel Theophile die gleichen Fragen gestellt.« Vor lauter Hitze war mein Hemd ganz durchge schwitzt und der Overall klebte mir am Körper. »Theophile war ein Handlungsreisender, ein ziemlich ausgefallener Name für einen Vertreter. Er ließ sich in Montreal nieder und in den Ferien besuchte er uns ab und zu auf dem Bauernhof. Les fêtes! Dieses eine Mal kam er aber im Juli und blieb ein paar Tage. Eines Nachmittags folgte er mir zu den abgelegenen Feldern und weihte mich in das Ausblenden ein …« Staub tanzte auf den Sonnenstrahlen, stieg von der Straße auf, die am Anfang der Woche geteert und mit Kies bestreut worden war. »Onkel Theophile verriet mir alles, was er über das Ausblenden wusste. Er sagte, dass es von einer Generati on der Moreaux zur nächsten, immer vom Onkel zum Neffen weitergegeben wird, und erzählte mir auch, wie es vor langer Zeit begonnen hat …« 109
Er kam meiner Frage zuvor und meinte: »Du willst wohl wissen, wie lange? Wer weiß? Vielleicht hat es schon zur Zeit Christi angefangen. Onkel Theophile hat es für mich so weit zurückverfolgt, wie er konnte. Er ist von seinem Onkel Hector im Alter von acht Jahren in das Ausblenden eingeweiht worden. Das war 1878, wie ich später herausfand. Und Onkel Hector hatte wiederum von seinem Onkel, einem Mann namens Philippe, über das Ausblenden erfahren. Nach meinen Berechnungen muss das um 1840 herum gewesen sein.« Wir verließen den ausgebauten Teil der Mechanic Street und gingen den Berg hinunter zur städtischen Mülldeponie und dem Friedhof. »Ich verbrachte nur den einen Nachmittag mit Theo phile und der arme Mann versuchte mir alles zu sagen, was er wusste, was allerdings nicht viel war. Es gab gro ße Lücken, die er nicht füllen konnte. Er sagte, dass ihm Hector von einem Bauern in Frankreich erzählt habe, einem Moreaux, der sich unsichtbar machen konnte. Die ser Moreaux war mit einem Schiff nach Neufrankreich gekommen, so wurde Kanada damals genannt. Das muss um die Mitte des siebzehnten Jahrhunderts gewesen sein. Siehst du nun, wie weit das Ausblenden zurückreicht, Paul?« Als wir am Haus von Mr. LeFarge anlangten, blieben wir in der Hitze stehen und warfen einen flüchtigen Blick auf die verwitterten Grabsteine des Friedhofs. Ich folgte meinem Onkel, als er den schmalen Weg überquerte, der für die Trauerzüge beinahe zu eng war. »Was wir also über die Geschichte des Ausblendens wissen, fängt mit diesem Bauern an, der nach Kanada kam. Alles Übrige können wir natürlich nur erraten. Er hat sich in Quebec angesiedelt, das Land bebaut, eine 110
Familie gegründet und Nachfahren gehabt. Dich und mich. Und vor uns Philippe, Hector und Theophile. Er hat seinen Neffen im Ausblenden unterwiesen, so wie ich dich darin unterweise.« Wir ruhten uns auf einer Steinbank aus, die Sommer hitze drang durch den Stoff meines Overalls und brannte auf meiner Haut. Onkel Adelard lehnte sich zurück, streckte die Beine aus und schloss die Augen. Müdig keitsfalten durchzogen sein Gesicht wie alte Kratzspuren. »Ich wollte, ich könnte dir mehr erzählen, Paul. Mehr über die Geschichte, die Regeln und Bestimmungen. Die Fragen beantworten, die dir durch den Kopf gehen. Aber das ist alles, was ich dir zu bieten habe, tut mir Leid.« Er öffnete die Augen und sah mich an. »Vielleicht fin dest du später mehr über das Ausblenden heraus. Viel leicht schreibst du darüber. Nicht für andere, sondern als eine Art Leitfaden für Leute wie uns, Leute, die sich un sichtbar machen können. Wir finden wenig Trost …« Die Traurigkeit, die ich mit ihm verband, lag in sei nem Blick. Wo war der durchtriebene Gauner geblieben, über den mir mein Vater Geschichten erzählt hatte? Die ser blasse, müde Mann glich weder meinem Vater noch meinen anderen Onkeln. War dies eine Folge des Aus blendens? Und würde es bei mir dieselbe Wirkung ha ben? »Komm«, sagte er und erhob sich. Ich folgte ihm über grasbewachsene Wege, zwischen Grabsteinen aller Arten und Größen hindurch: Kreuzen, Engeln, überladenen Grabsteinen und solchen, die nur aus Schiefertafeln bestanden. Er blieb an einem Grab an der Ecke mit einem ein drucksvollen Granitblock stehen, in den der Name Mo reaux eingraviert war. Ein kleiner Granitquader war ne 111
ben dem großen Stein aufgestellt worden. Frische, freundliche Gänseblümchen umgaben ihn. Der Name Vincent war in den Stein eingraviert. Onkel Adelard kniete nieder, bekreuzigte sich, seine Lippen bewegten sich im Gebet. Ich kniete ebenfalls und betete für die Seele meines Onkels Vincent. Natürlich konnte ich ihn mir nur schwerlich als Onkel vorstellen. Er war im Alter von zwölf Jahren gestorben. Ich habe nicht vergessen, wie wütend mein Vater auf Onkel Ade lard war, weil er die Stadt vor Vincents Beerdigung ver lassen hatte. Wir erhoben uns wieder. Als ich Onkel Adelard ansah, war sein Gesicht zu einer Grimasse verzerrt. »Das Gras ist schön hier«, sagte ich, nur um überhaupt etwas zu sagen. »Vincent ist meinetwegen gestorben«, murmelte On kel Adelard, seine Stimme war so leise, dass ich ihn kaum verstand. »Lass uns von hier weggehen«, sagte er müde, die Hand auf meiner Schulter, als ob er sich beim Weggehen auf mich stützen könne wie auf einen Stock. »Vater vergib mir, denn ich habe gesündigt«, flüsterte ich in dem verdunkelten Beichtstuhl, die Worte brachen sich zischend am Gitter, das mich von Vater Gastineau trenn te. Für meine Beichte hatte ich ihn ausgewählt, weil er der jüngste der drei Vikare von St. Jude war. »Ich habe meine letzte Beichte im Juni abgelegt, die Absolution erteilt bekommen und Buße getan.« Als ich die alte Formel hergesagt hatte, zögerte ich, weil ich trotz meines ausgetüftelten Plans unsicher war. Um Zeit zu gewinnen, begann ich wie üblich mit der lässlichen Sünde, die mir den Weg zu den schwerwie 112
genderen Übertretungen erleichtern sollte: »Ich habe dreimal die Beherrschung verloren.« Eine der großen Kirchentüren wurde leise geschlossen. Es hörte sich beinahe wie ein Seufzen an. Ansonsten war es absolut still. Ich hatte den späten Nachmittag, kurz vor dem Ende der Beichtstunden, für meine Beichte ausgewählt und in einiger Entfernung vom Beichtstuhl auf einer Kirchen bank gewartet, bis die Bußfertigen weniger wurden. Ich war auch mit mir selbst uneins gewesen und hatte mich gefragt, warum ich überhaupt hier war. Am Anfang des Sommers hatten Armand und ich unsere Mutter bezüg lich der Beichte erfolgreich getäuscht, sodass sie das Thema seitdem nicht mehr angeschnitten hatte. Ende August, als die plötzlich kühl gewordenen. Nächte das Ende des Sommers ankündigten, hatte ich plötzlich das Bedürfnis zu beichten und rechnete meine Sünden zu sammen. Die Summe war niederschmetternd. Befreie dich davon bei der Beichte und stirb in Frieden, wenn du vom Blitz getroffen wirst, sagte ich mir. Vater Gastineau räusperte sich und ich druckste her um, rückte mit den Lippen ganz nahe an das Gitter und flüsterte: »Ich habe die Brust eines weiblichen Wesens berührt, Vater.« »Eines weiblichen Wesens?«, fragte der Priester mit gedämpfter Stimme, als ob er ein Räuspern unterdrücken wolle. Ich hatte lange und gründlich darüber nachgedacht, wie ich meine Sünde beichten sollte. Ich konnte nicht sagen, dass ich die Brust eines Mädchens berührt hatte, denn das wäre eine Lüge gewesen. Priester errieten oft auf eine geradezu unheimliche Weise, ob ein Bußfertiger 113
jung oder alt war. Wie hätte ich beichten können, dass ich die Brust einer erwachsenen Frau berührt hatte, ohne unzählige Fragen auszulösen? Deswegen hatte ich mich für weibliches Wesen entschieden. »Ja«, antwortete ich und spürte, wie sich mein Adamsapfel dabei bewegte, »ein weibliches Wesen.« »Und wie oft hast du die Brust dieses weiblichen We sens berührt?« Es hieß immer »wie oft« – das unvermeidliche Auf rechnen bei der Beichte. »Einmal«, erwiderte ich. »Nur einmal?« »Ja.« »Und was ist dann passiert?« »Nichts.« »Du bist nicht – weitergegangen?« »Nein.« Meine Lunge schmerzte, ich hatte den Atem angehalten. »Hast du vor, das Gleiche wieder zu tun, wenn du die ses weibliche Wesen wieder siehst?« Ich verneinte die Frage vehement. Es entstand eine Pause. Mein Schicksal war völlig in der Schwebe, hing an einem seidenen Faden. »Sonst noch was?«, fragte er schließlich. Einem Impuls folgend, wollte ich »Nein« sagen, um die Tortur zu beenden. Doch nach all diesen qualvollen Wochen hatte ich mich dazu überwunden zu kommen und wollte nun keinen Rückzieher mehr machen. »Ja.« Ich senkte den Kopf, als ich offen aussprach, was ich schon so oft im Stillen geübt hatte: »Vater, ich muss eine Sünde beichten, von der ich nicht genau weiß, ob sie überhaupt eine ist.« Ein Seufzer, der schon beinahe ein unwirsches Stöh nen war, drang aus der Dunkelheit auf der anderen Seite 114
des Gitters. Hatte ich vielleicht einen Fehler begangen und war mit meiner Beichte zu spät dran? War der Geist liche, nachdem er stundenlang von Sündern belagert worden war, zu müde, um noch eine so schwierige Frage zu beantworten? Was aber hätte ich denn sonst sagen sollen? Ich wusste wirklich nicht, ob das Ausblenden eine Sünde war. Im Schuppen und im Keller hatte ich das Ausblenden geübt und gelernt, den entsetzlichen Still stand und den qualvollen Schmerz zu ertragen. Ich hatte auch gelernt, die Kälte zu absorbieren. Nach kurzer Zeit konnte ich mich mühelos aus- und wieder einblenden, ich blieb für längere Zeitabschnitte unsichtbar, mein Körper gewöhnte sich daran, so wie sich die Augen nach einer Weile an die Dunkelheit gewöhnen. Die Erfahrung des Ausblendens war jedoch immer enttäuschend. Es brachte nicht die versprochene Freiheit. Ich konnte unbemerkt durch die Straßen gehen, konnte Leuten nachspionieren, bei privaten Gesprächen zuhören und Läden, Wohnungen und öffentliche Gebäude betreten, ohne gesehen und ent deckt zu werden. Was aber war der Zweck? Um in La kier’s Drugstore oder in billigen Kaufhäusern in der In nenstadt zu klauen? Um mich ohne Eintrittskarte ins Plymouth zu schmuggeln? Für den Aufwand des Aus blendens ein zu geringer Ertrag. Ich wollte nicht stehlen. Wie hätte ich auch etwas aus einem Geschäft entwenden können, wenn der Gegenstand sichtbar blieb? Wo hätte ich ihn später verstecken sollen? Ich war kein Dieb und wollte auch keiner werden. »Erzähl mir von dieser Sünde, bei der du dir nicht si cher bist, dass es eine ist«, sagte Vater Gastineau. Ich versuchte seine Haltung mir gegenüber abzuschät zen. Klang er ungeduldig, unwirsch oder müde? Oder aufnahmefähig? 115
»Hab keine Angst«, fügte er etwas sanfter hinzu. »Ist es eine Sünde, wenn man Leuten nachspioniert«, fragte ich, »sie beobachtet, wenn sie nicht ahnen, dass man in der Nähe ist?« »Sag nur, du bist ein Spanner?« Seine Stimme über schlug sich, klang wie ein Stück Holz, das brach. »Nein«, sagte ich, war mir aber nicht sicher. »Ja«, ver besserte ich mich, »ich habe Leute ausspioniert. Habe gesehen, wie sie … etwas getan haben, das sie nicht soll ten …« »Hör zu, Junge«, sagte er und kam mir dabei so nahe, dass ich seinen Atem spürte. »Ich will nicht von dir wis sen, was du gesehen hast. Wenn du gesehen hast, wie eine Sünde begangen wurde, musst du Schweigen dar über bewahren. Wenn du anderen davon erzählst, wirst du ein Teil dieser Sünde. Die Privatsphäre eines Men schen ist heilig. Wenn es eine Sünde ist, was er dort tut, muss er selbst es beichten. Du darfst nicht mehr spionie ren. Hast du verstanden?« »Ja«, sagte ich, hatte aber nicht verstanden. War Spio nieren nun eine Sünde oder nicht? Meiner Meinung nach war er meiner Frage ausgewichen, hatte mir keine Ant wort daraufgegeben. Jedenfalls atmete ich erleichtert auf, weil ich einem Wutausbruch des Beichtvaters entgangen war, und ließ das Kinn auf meine verschlungenen Finger auf dem Sims sinken. »Sonst noch etwas?«, fragte der Priester plötzlich sehr schroff und rutschte dabei auf seinem Stuhl hin und her. »Nein«, sagte ich. Hatte er noch nicht genug gehört? »Zur Strafe wirst du einen Rosenkranz beten. Was das Übrige anbetrifft, wirst du dich von diesem weiblichen Wesen fern halten und sie nicht wieder berühren. Und du 116
wirst nicht mehr spionieren. Versprich mir nun aus Reue eine gute Tat …« Erst später, als ich nach Hause rannte und mein Ge sicht in der kühlen Brise des ausklingenden Sommernachmittags badete, stellte ich fest, dass ich vergessen hatte, meine anderen großen Sünden zu beichten: die un keuschen, nächtlichen Gedanken und die Samenergüsse, die sie auslösten. Hörten denn die Sünden nie auf? »He, Pete«, rief ich, »Pete … kommst du nach draußen?« Aus seiner Wohnung kam aber keine Antwort. »Ach komm schon, Pete«, rief ich und horchte auf das Echo meiner Stimme in der Dämmerung. Die Häuser in der Nachbarschaft lagen in tiefer Stille, wie immer nach dem Abendessen. Immer noch keine Antwort, obwohl ich wusste, dass Pete und seine ganze Familie zu Hause waren. Verdrossen stieß ich gegen die unterste Stufe und schlenderte ziellos zur Straße. Das Zwielicht glättete die harten Konturen der Dinge und brachte quälende Ein samkeit mit sich. Ich dachte an das Ausblenden und wie es mich vom Rest der Welt, meiner Welt, nämlich Frenchtown, isoliert hatte. Von meiner Familie und von Pete. Ich hatte in den vergangenen zwei Wochen kaum mehr mit ihm gesprochen. Zuerst hatte ich ihn absichtlich gemieden, und dann war er mir aus dem Weg gegangen. Anfangs war ich wegen der Distanz zwischen uns er leichtert gewesen. Das Ausblenden hatte mich verwirrt und ich musste einen Weg finden, um damit zu leben. »Was willst du?«, brüllte Pete, der plötzlich am Fens ter erschien. Ich zuckte mit den Achseln. »Willst du ein Eis?«, rief 117
ich zurück. Bei Lakier’s konnte man immer noch zwei Eis für fünf Cent kaufen und ich hatte sogar acht Cent dabei. »Ich hab keine Lust«, gab er mir zu verstehen und ver schwand vom Fenster. Ohne ein bestimmtes Ziel vor Augen zu haben, schlenderte ich die Sixth Street entlang und hielt vor ei ner verlassenen Garage an, deren Türen abgerissen wa ren. Sie stand neben dem Haus von Luciers, einem der wenigen Einfamilienhäuser in der Straße. Als ich mit den Schatten der Garage verschmolz, dachte ich ans Aus blenden, den Stillstand und den zuckenden Schmerz. Klaviermusik drang aus dem Haus. Yolande Lucier, die in meine Klasse ging, sang »All alone by the telefone«, ihre Stimme klang lieblich und wehmütig in der Abend luft. Ich war auch ganz allein, nur gab es in unserem Haus kein Telefon. Wen hätte ich auch anrufen sollen? Keiner meiner Bekannten hatte ein Telefon. Sollte ich vielleicht Tante Rosanna in Montreal anrufen? Unmöglich. Nie mand hatte von ihr gehört, seit sie aus Monument weg gegangen war. Ach, wenn doch Tante Rosanna noch in Frenchtown, im Haus meines Großvaters wäre … ich ließ den Gedan ken wieder fallen. Es wäre ein Sakrileg, mein Ausblen den für so etwas zu missbrauchen, jedenfalls so kurz nach meiner Beichte. Ich malte sie mir im fernen Kanada aus mit den Männern, die vor ihrem Geschäft herumlun gerten, wenn sie am Feierabend den Laden dichtmachte. Wenn die Liebe etwas so Schönes ist, dass Gedichte und Lieder darüber verfasst werden, warum musste ich dann so darunter leiden? »Bist du da drin?« 118
Petes Gesicht war düster und blass, als er zur Garage hereinschaute. »Was zum Teufel tust du da drinnen?« Die Neugier dämpfte den Arger in seiner Stimme. »Nichts«, erwiderte ich, eine Antwort, die immer ak zeptiert wurde, sogar von unseren Eltern, auch wenn sie dabei ein böses Gesicht machten. »Willst du den Schluss von The Ghost Rider wissen?«, fragte er. Armand hatte mir bereits erzählt, dass sich der Phan tom-Cowboy als Ladenbesitzer in der Stadt entpuppt hat te. Ich sagte aber: »Klar«, und erwiderte damit seine freundschaftliche Geste, war froh, dass wir uns wieder vertrugen, auch wenn es nur für kurze Zeit wäre. Auf dem Zementboden, den Rücken gegen die mit Stuck verzierte Wand gelehnt, den Klang von Yolandes Stimme in den Ohren, die immer wieder »All alone by the telefone« wiederholte, erzählte mir Pete Szene für Szene den Schluss von The Ghost Rider. Dann saßen wir schweigend da, während Yolande auf dem Klavier zu üben begann, was kein Ohrenschmaus war. »Nächste Woche beginnt die Schule wieder«, sagte Pete angewidert. Er sprach den Gedanken aus, der mich nicht losließ und der der Grund war, weshalb ich ihn vorher gerufen hatte. Ich wusste, dass unsere Freundschaft zu Ende ging. Obgleich Pete und ich gleichaltrig waren – genau einen Monat auseinander –, war er in der Schule zwei Klassen unter mir. Pete betrachtete die Schule als Feindesland. In der Schule wurde er mürrisch und grüblerisch, war über heblich gegenüber den Lehrern, fiel bei Prüfungen durch und fing im Schulhof Streit an. Pete, in den Sommerfe rien unbeschwert und unternehmungslustig, war in der 119
Schule wie ausgewechselt. Und er sah mich oft an wie einen Fremden. »Das bedeutet ›Junior high‹ für mich«, sagte ich: Die Silas B. Thornton Junior High School in der Innenstadt von Monument, in der Nähe des Rathauses und der Stadtbibliothek. Ein Schauer der Erwartung – und Angst -– überlief mich, als ich an die Schulzeit dachte, die vor mir lag, und an die drastischen Veränderungen, die sie mit sich bringen würde. Meine Klasse hatte im Juni ihren Abschluss in St. Jude gefeiert, die Jungen in blauen Ja cketts aus Serge und weißen Hosen aus Flanell, die Mäd chen in weißen Kleidern. Auf dem Kopf hatten sie dazu passende, zerbrechliche Kronen getragen. Schwester An gela waren Tränen der Rührung gekommen, als sie uns so in Reih und Glied dastehen sah. »Ihr werdet nie mehr so rein sein«, hatte sie geschluchzt, den Rosenkranz in den gefalteten Händen. Ihre Worte hatten sich als prophetisch erwiesen, we nigstens für mich. Als ich mich zu Pete umwandte, ver spürte ich plötzlich den unwiderstehlichen Drang, ihm vom Ausblenden und der Nacht zu erzählen, als ich ihm beim Kartenlegen mit Artie LeGrande zugesehen und was ich später im Hinterzimmer von Dondier’s erlebt hatte. Wo wir doch schon unzählige Geheimnisse mitein ander geteilt hatten – warum nicht auch dieses, das größ te von allen? »Pete«, fing ich an. »Ja, was?« Er grübelte, das Kinn beinahe auf der Brust. Doch wenn ich es nicht einmal einem Geistlichen in der Dunkelheit des Beichtstuhls anvertrauen konnte, wie konnte ich es dann Pete Lagniard sagen? Ich wollte ihm sagen: Pete, ich kann mich selbst ausblenden. Kann un sichtbar werden. Wie in dem Film, den du vor einiger 120
Zeit gesehen hast, von dem Mann, der sich in Bandagen gewickelt hat. »Erinnerst du dich an den Film, den du gesehen hast und den ich verpasst habe, weil ich Zahnschmerzen hat te?«, fragte ich. »Welchen Film?« Du darfst es keiner Menschenseele verraten, hatte mich mein Onkel gewarnt. »Vergiss es«, antwortete ich. Yolande übte nicht mehr auf dem Klavier, sodass es in der Garage gespenstisch still war. »Werden wir immer Freunde bleiben?«, fragte Pete. »Immer«, sagte ich. Es klang aber seltsam hohl und leer im abendlich stil len Frenchtown. In der Silas B. Thornton Junior High School gab es drei verschiedene Schulzweige. Schwester Angela hatte aber angeordnet, dass alle Schulabsolventen den kaufmänni schen Zweig wählten. »Der humanistische Zweig kommt für euch nicht in frage«, sagte sie, »das ist etwas für die Reichen auf dem Weg zum College.« »Und was ist mit dem allgemeinen Zweig?«, fragte mein Vetter Jules, der nie um Fragen verlegen war. »Der ist gut für Nichtstuer«, sagte sie, »wenn ihr euch für den allgemeinen Zweig einschreibt, könnt ihr genauso gut mit der Schule aufhören und in der Fabrik arbeiten.« So war denn alles entschieden: Ich fand mich mit Kur sen in Buchführung, technischem Zeichnen und Steno grafie wieder, die allesamt tödlich langweilig und trocken waren und mich auf – ja, was? – vorbereiten sollten, etwa auf die Arbeit im Büro? 121
Am ersten Tag in der Silas B. Thornton Junior High School waren die Kurse dann plötzlich egal. Auf den Gängen dagegen war es aufregend, sie waren voller Le ben. Die Lehrer trugen Anzüge, die Lehrerinnen Kleider, keine schwarz-weißen Nonnengewänder, und sie blieben an den Türen zu den Klassenzimmern stehen und spra chen und scherzten mit den vorbeikommenden Schülern. Es klingelte, Türen wurden zugeschlagen, aus den Klas senzimmern drang Gelächter und die Sonne, die durchs Fenster schien, war heller als die in der Konfessionsschu le von St. Jude. Meine Klassenlehrerin, Miss Walker, war faszinie rend. Sie trug ein rotes Kleid mit dem dazu passenden Lippenstift. Ihre hohen Absätze klickten rhythmisch, als sie vor der Klasse auf und ab ging und unsere Namen aufrief. Alle fünfundvierzig Minuten kündigte das Klingelzei chen die nächste Unterrichtsstunde an. Das waren die aufregendsten Augenblicke des Tages, ich musste dabei an den endlosen Schultag in Schwester Angelas Klasse denken, der von acht Uhr morgens bis drei Uhr dreißig nachmittags dauerte und so eintönig und nervtötend war, dass ich mich fragte, wie ich solch eine entsetzliche Pro zedur überhaupt hatte durchstehen können. Hier in Silas B. (ich hatte mir bereits die gängige Bezeichnung für die Schule angewöhnt) wechselten wir siebenmal am Tag das Klassenzimmer, hatten andere Lehrer und andere Unterrichtsfächer und – Wunder über Wunder – eine täg liche Lernpause, in der wir lesen, vor uns hin träumen oder uns verstohlen nach den neuen Mitschülern umse hen konnten, denen wir begegneten, die, wie ich an ihren Namen ablesen konnte – Buchanan, Talbot, Weidman, Kelly, Borcelli –, nicht französischer, sondern amerikani 122
scher Abstammung oder Protestanten, Juden, Iren und Italiener waren. In meinem Kopf drehte sich alles vor Farben und Licht und Gelächter und Stimmen und Ge klingel, als ich an diesem Nachmittag die Treppe hinun terstolperte, um mich mit Vetter Jules auf der gegenüber liegenden Straßenseite zu treffen. Von allen meinen Cousins stand er mir, was Alter und Neigungen anbetraf, am nächsten. Wenn Pete Lagniard mein Mitverschwörer während der Sommerferien war, so war Jules mein bester Freund während des Schuljahrs. Im Sommer trennten sich gewöhnlich unsere Wege, weil er Baseball in der Nachbarschaftsliga spielte und der An führer der Pfadfindergruppe Nr. 17 von St. Jude war. Pe te und ich waren Spielverderber, mit einer Abneigung gegen organisiertes Vergnügen. Wir zogen das Plymouth vor oder trieben uns auf den Straßen und Feldern herum und erfanden unsere eigenen Spiele, wir plünderten abends Gärten und verteilten die Tomaten und Gurken an bedürftige Familien und fühlten uns dabei wie Ritter auf nicht vorhandenen Pferden. Wenn der Sommer zu Ende ging, kam ich wieder mit meinen Cousins zusammen und fühlte mich immer zu Jules besonders hingezogen. Wir lasen gern. An kühlen Herbstabenden und Nachmittagen im Winter pilgerten wir zur Stadtbücherei in der Innenstadt von Monument und liehen uns Bücher aus. Jeder Benutzer konnte nur fünf Bücher ausleihen, weil wir aber zu zweit hingingen, verdoppelte sich die Zahl, und wir tauschten die Bücher dann untereinander aus. Wir lasen alles Mögliche, von Tom Swift bis zu Penrod and Sam, Bücher über Reisen, Seeräuber und Entdeckungen, Bücher mit und ohne Bil der. Im Sommer verschlang ich mit Pete Lagniard immer Comics und ließ mich von Superman und Terry und den 123
Piraten faszinieren. Die Bibliothek aber war für mich und Jules eine literarische Fundgrube. Und am Tag, als Miss Wheaton, die zierliche Bibliothekarin, die nur im Flüster ton sprach, uns Benutzerkarten für Erwachsene ausstellte, rannten wir vor Freude juchzend die Straße entlang und warfen unsere Bücher in die Luft. Nun konnten wir uns mit Erwachsenenliteratur eindecken, was uns zuvor ver boten gewesen war. In diesem Augenblick aber ließ Jules keine Freude er kennen. »Ich hasse diese Schule«, erklärte er, sein hübsches Gesicht war plötzlich verkniffen und mürrisch, als er mit dem Kinn auf den roten Backsteinbau von Silas B. wies, aus dessen Türen hunderte von Schülern strömten. Als ich nicht antwortete, fragte er: »Du etwa nicht?« Ich zuckte nur mit den Achseln, weil ich ihn nicht ver raten wollte. »Wir gehören nicht hierher«, meinte er, »wir werden sie nie einholen.« Damit meinte er, dass wir erst in der neunten Klasse in diese Schule gekommen waren und Ende des Jahres schon wieder auf die Monument High überwechseln würden. »Die sind schon seit der ersten Klasse zusam men. Mein Klassenlehrer hat Raymond LeBlanc einen Frankokanadier genannt. Klang aber nicht sehr freund lich. Hörte sich an, als ob’s ein Schimpfwort wäre.« »Meine Klassenlehrerin ist sehr schön«, sagte ich. »Sie mag Filme. Hat alle Episoden von The Ghost Rider gesehen. Mann, und Schwester Angela findet, dass es eine Sünde ist, ins Kino zu gehen, an Werktagen eine lässliche, an Sonntagen eine Todsünde.« »Ich sitze hinter einer Jüdin«, sagte Jules. »Sie heißt Stein und ihrem Vater gehört der Vanity Shop, wo die 124
Frauen ihre schicken Kleider kaufen. Sie hat mich nur angesehen und das Gesicht verzogen, als ob ich der letzte Scheißdreck wäre …« »Das Kurssystem finde ich toll«, sagte ich. An diesem speziellen Aspekt der Schule konnte er unmöglich etwas aussetzen. »Der Tag vergeht wie im Flug …« »Das Essen in der Cafeteria ist furchtbar«, sagte er. »Ich hasse Gemüsesuppe. Und das Sandwich war ent setzlich: Lachs, in dem noch die Gräten waren …« »Sie haben eine Schülerzeitung«, sagte ich, »für Lite ratur. Jeder kann Erzählungen einreichen und sie werden sie veröffentlichen, wenn sie gut genug sind.« Jules blieb stehen und drehte sich nach mir um. »Du bist ein Frankokanadier, Paul. Ich glaube nicht, dass ihnen deine Erzählungen gut genug sind.« »Ach, komm schon, Jules«, sagte ich, »mach Silas B. nicht ganz mies.« Wir gingen schweigend nebeneinander her. Ich wollte ihm sagen, dass ich an diesem Tag meinem ersten Protes tanten begegnet war. Wagte es aber nicht. Kurz nachdem Miss Walker alle aufgerufen hatte, um zu sehen, wer an wesend war, fiel mein Mathebuch mit einem dumpfen Geräusch auf den Boden. Der Schüler hinter mir wollte das Buch mit dem Fuß wegkicken, aber blitzschnell ver drehte ihm jemand mit der Hand den Fuß. Der Junge schrie leise auf. Ich schaute auf, um zu sehen, wer ihn am Kicken gehindert hatte. So lernte ich Emerson Winslow kennen. Ich war noch nie jemandem mit zwei Nachna men begegnet. Er lächelte mich an und zwinkerte, kniff nur träge ein Auge zusammen, ein Zwinkern, das besag te: Immer mit der Ruhe, nimm das alles – den Fuß und sogar das Leben – nicht zu ernst. Eine blonde Locke fiel ihm in die Stirn. Solch einen eleganten Pullover, wie er 125
ihn trug, hatte ich noch nie zuvor gesehen: Er war beige und weich und sah überhaupt nicht wie Wolle aus, son dern wie geschmolzenes Butterkaramell. Ich war noch nie einem so ausgeglichenen, ungezwungenen und lässi gen Menschen begegnet wie ihm. Ich war mir sicher, dass Emerson Winslow nicht einmal durch eine Bom benexplosion in seiner Nähe aus der Ruhe gebracht wor den wäre. Er hätte sich wahrscheinlich nur den Staub von den Kleidern gebürstet, wäre ungerührt weggegangen und hätte über die ganze Sache gelacht. Ich hütete mich aber, Jules gegenüber Emerson Wins low oder etwas anderes von Silas B. zu erwähnen, als wir durch die Innenstadt von Monument gingen, vorbei am Park mit den vielen Statuen, und die Eisenbahnschienen und -signale erreichten, die den Beginn von Frenchtown markierten. Als wir uns dem Schnittpunkt von Fifth und Water Street näherten, entdeckte ich Onkel Adelard, der an ei nem Briefkasten lehnte, den Hut tief ins Gesicht gezogen, das blaue Tuch um den Hals. Er winkte mich nicht zu sich herüber oder machte mir Zeichen, trotzdem wusste ich, dass er auf mich wartete. Während der letzten Tage dieses Sommers und der ers ten Tage im Herbst gab mir Onkel Adelard Unterricht im Ausblenden. Natürlich nicht direkt Unterricht. Er gab mir die Grundlagen weiter, die ich brauchte, ob gleich er nur widerwillig davon sprach. Ich fühlte, dass er etwas zurückhielt. Wir schlenderten durch die Stra ßen von Frenchtown und blieben ab und zu stehen, wäh rend ich ihm Fragen stellte oder er mir die Antworten gab. Auch heute gibt es in Frenchtown immer noch Plät ze für mich, die für immer mit Erinnerungen an Onkel 126
Adelard und die Dinge verknüpft sind, über die wir da mals sprachen. Zum Beispiel auf den Stufen der St.-Jean-Halle an der Fourth Street, während das Klicken der Billardbälle durchs offene Fenster drang: »Wie konntest du wissen, dass ich der Richtige bin, Onkel Adelard?« »Das Leuchten, Paul. Onkel Theophile sagte mir, dass ich nach der Helligkeit Ausschau halten soll, die den Körper umgibt. Er sagte, dass der richtige Neffe es mir durch das Leuchten signalisieren würde. So wie es auch bei dem Neffen der nächsten Generation der Fall sein wird. Eines Abends, als du noch ein Baby warst, habe ich deine Eltern besucht. Ein paar Minuten lang blieben wir allein – deine Mutter wusch das Geschirr ab und dein Vater füllte die Ölkanne für den Ofen. Ich sah dich in deinem Kinderbettchen an und deine Haut leuchtete, als ob Licht durch deine Adern fließt. Natürlich war mir da klar, dass du der Richtige bist. Dann begann das Warten. Zwischen dem Leuchten und dem Auftauchen des Aus blendens können viele Jahre liegen. Bei dir geschieht es mit dreizehn. Ich war sechzehn. Und in der kommenden Generation, wer weiß? Du musst also die Augen offen halten und warten, Paul.« »Aber was, wenn ich das Leuchten nicht sehe, wenn ich den Richtigen nicht als Baby kennen lerne?« »Dann wird dich etwas zu ihm rufen. Ich habe keinen Beweis dafür, aber ich glaube trotzdem daran. Etwas hat Theophile zu mir auf den Bauernhof gerufen. Etwas hat mich in diesem Jahr zu dir gerufen. Ich war gerade in Lincoln, Nebraska, und bin auf einer staubigen Straße über die großen Ebenen nach Norden getrampt. Da hatte ich eine Ahnung, dass du anfängst, dich auszublenden. 127
Woher ich das wusste? Keine Ahnung, ich wusste es ein fach. Ich ging in die Stadt zurück, stieg in einen Zug und fuhr nach Osten. Ich benutzte das Ausblenden, um un bemerkt einsteigen zu können und den Kontrolleuren auszuweichen, und ich bin gerade rechtzeitig hierher ge kommen.« »Was meinst du mit – rechtzeitig?« »Weil es in dir zu gären anfing, Paul. Ob es dir nun bewusst war oder nicht. Denk einmal zurück – erinnerst du dich noch an etwas, das dir zugestoßen ist und das du dir nicht erklären konntest? Irgendwelche Blackouts? Seltsame Stimmungen? Ohnmachtsanfälle?« Ich dachte wieder an den Kampf am Moccasin Pond und wie ich gestrauchelt und hingefallen war, als mich der Vermummte verfolgte. An den zuckenden Schmerz und die Kälte. Und vor allem daran, dass der Wächter mich nicht gesehen hatte, als ich kaum einen Meter von ihm entfernt im hellen Mondschein am Ufer lag. Damals hatte ich gedacht, dass er zu betrunken wäre, um mich zu bemerken. Nun wurde mir klar, dass ich wahrscheinlich zum ersten Mal ausgeblendet war. Später jagte mich Omer LaBatt durch die Gassen von Frenchtown und hätte mich beinahe im Hinterhof von Mrs. Dolbier erwischt. Merkwürdigerweise hatte die wütende Mrs. Dolbier aber nur Omer LaBatt verdroschen. Ohne Zweifel war ich für sie unsichtbar gewesen. Nun kamen die Erinnerungen schneller – eine Reihe verwirrender Episoden vor einem Jahr, als mich mein Vater zu Dr. Goldstein gebracht hat te, nachdem ich zweimal ohnmächtig geworden war; einmal in der Bibliothek, als ich mit meinem Vetter Jules Bücher heraussuchte, und ein anderes Mal, als mein Va ter mich auf dem Boden im Schuppen fand, wo ich of fensichtlich gestürzt war und mir Prellungen am Kopf 128
zugezogen hatte. Der Arzt fand nichts, verschrieb mir aber ein Stärkungsmittel, während mir meine Mutter ess löffelweise Lebertran einflößte, der den penetranten Fischgeschmack einer Mischung namens Vater Johns Medizin ausglich und etwas besser schmeckte, aber dick flüssig und schwer zu schlucken war. »Armer Paul«, sagte Onkel Adelard. Als wir an einem Septemberabend auf derselben Bank saßen, auf der Tante Rosanna meine Hand auf ihre Brust gelegt hatte, fragte ich ihn: »Und wie steht’s mit dir, Onkel Adelard?« »Mit mir?«, fragte er erstaunt, als ob er für niemand von Interesse sein könnte. »Wie hat sich das Ausblenden auf dein Leben ausge wirkt?« »Schwer zu beurteilen nach dem, was mir widerfahren ist. Tatsächlich habe ich es bis jetzt vermieden, über meine Erfahrungen mit dir zu sprechen, weil ich wollte, dass du deine eigenen Erfahrungen machst. Wir sind völ lig verschieden. Uns muss ja nicht unbedingt dasselbe widerfahren. Du musst mit deinem eigenen Leben zu rechtkommen.« Er sprach mit Bestimmtheit und ich fühlte, dass er mir absichtlich auswich. Ich ließ jedoch nicht locker. Was hatte ich schon zu verlieren? »Es muss aber doch etwas geben, das du mir sagen kannst. Zum Beispiel, wie du das Ausblenden eingesetzt hast. Ob es sich als gut oder schlecht erwiesen hat. Et was, das mir den Weg weist …« Ich dachte an meine erste niederschmetternde Erfahrung mit dem Ausblenden im Hinterzimmer von Mr. Dondier. »Also gut«, sagte er und seufzte resigniert, »ich benut ze meine Fähigkeit nur, wenn es unbedingt notwendig ist. 129
Ich benutze sie auch nie zum eigenen Vergnügen, son dern nur, um zu überleben. Zum Beispiel, wenn ich un terwegs Hunger bekomme und kein Geld mehr habe. Einmal war ein Freund von mir in einer misslichen Lage, da habe ich das Ausblenden benutzt, um ihm zu helfen. Eines Tages werde ich dir vielleicht mehr sagen können. Fürs Erste musst du dich mit dem zufrieden geben. Ein paar Regeln habe ich dir schon gesagt. Du weißt jetzt, wie man den Zustand herbeiführen und wie man ihn wie der aufheben kann. Was das Übrige anbetrifft, das musst du selbst lernen. Lass dich von deinem Instinkt lenken, er ist zuverlässig. Verwende das Ausblenden für gute Zwe cke. Ich glaube, das ist das Allerwichtigste.« Eines Abends gingen wir nach dem Essen am Kloster von St. Jude vorbei und sahen den Nonnen zu, die – den Rosenkranz in der Hand – paarweise in ihren schwarz weißen Ordenstrachten auf dem Gelände herumspazier ten. »Weißt du, Paul«, sinnierte mein Onkel, »manchmal überlege ich mir, warum gerade wir, die Moreaux’, diese Fähigkeit haben. Einfache Leute. Bauern aus Frankreich, Farmer aus Kanada. Ich, ein Gammler. Vielleicht wird es bei dir anders sein. Du gehörst zu einer Generation mit einer ordentlichen Schulbildung. Vielleicht stehst du für einen Neubeginn …« Die Sonne war hinter der Kirche untergegangen und warf tiefe Schatten über das Kloster und die betenden Nonnen. Sie schienen in den Schatten verschwunden zu sein. »Und ich frage mich manchmal, Paul«, fuhr er fort, »was passiert wäre, wenn unsere Gabe in die falschen Hände geraten wäre, an schlechte, skrupellose Menschen. Und darüber hinaus – denke ich manchmal mit Grausen 130
an die Zukunft, was aus der Generation nach dir wird, ob dort jemand das Ausblenden vielleicht missbraucht …« Wir schwiegen und dachten über diese Möglichkeit nach, eine Welt, regiert von einem, der sich unsichtbar machen konnte und diese Gabe dazu nutzte, Macht und Besitz zu erwerben: Hitler in Nazi-Deutschland – die Vorstellung eines zukünftigen, unsichtbaren Hitler war einfach zu schrecklich. »Ach Paul«, sagte Onkel Adelard, der meine Gedan ken erriet, »es tut mir Leid, dass dir diese Last auferlegt ist.« »Vielleicht ist es gar keine Last, Onkel Adelard«, er widerte ich, obgleich ich nicht daran glaubte. Eines Nachmittags, als er gegenüber der Schule auf mich wartete, eröffnete er mir, dass er von Frenchtown und Monument weggehen würde. »Wann?« »In ein oder zwei Tagen. Ich muss mich zuerst von der ganzen Familie verabschieden.« »Wirst du je wiederkommen?«, fragte ich und hatte Angst vor der Antwort. Wir durchquerten Monument Park und gingen an den Statuen vorbei, die man zur Ehre der Kriegsgefallenen von Monument errichtet hatte. »Ich werde dich nie verlassen, Paul.« Er hatte mir schon so viel erzählt, aber es gab immer noch viel, was ich nicht wusste. »Ich habe Angst«, sagte ich und versuchte das Zittern in meiner Stimme zu unterdrücken. »Es ist gespenstisch …« »Ich weiß«, erwiderte er. »Ich werde das Ausblenden nicht benutzen«, erklärte ich, »ich will, dass alles so bleibt, wie es jetzt ist.« »Willst du das wirklich, Paul?« »Nein«, gab ich verschämt zu. Ich dachte an meine 131
Wunsch träume und mein Verlangen. An die Bücher, die ich schreiben, an die Länder, in die ich reisen würde. An den Ruhm, den ich begehrte. »Aber ich will etwas aus eigener Kraft tun.« Das Ausblenden konnte meine Bü cher nicht schreiben. »Leg kein Gelübde ab, Paul«, sagte mein Onkel. Mir kam plötzlich ein aufregender Gedanke und ich hätte ihn beinahe gefragt: Hast du etwa ein Gelübde ab gelegt, wegen dem, was Vincent zugestoßen ist? Vincent sei seinetwegen gestorben, hatte er gesagt. Ich konnte mich jedoch nicht zu der Frage überwinden. Stattdessen fragte ich ihn: »Wohin gehst du?« »Es ist ein großes Land dort draußen, in dem ich vieles noch nicht gesehen habe. Zwar kein Ersatz für eine Fami lie, aber doch ein gewisser Trost …« »Willst du wirklich gehen, Onkel Adelard?« »Es gibt vieles im Leben, was man nicht tun will, aber tun muss. Und am Ende stellt man fest, dass es gar nicht so übel war, wie man dachte. Man gewöhnt sich an alles. Vergiss nicht, was ich dir gesagt habe. Schreib es eines Tages nieder! Sei immer vorsichtig und halte die Augen nach dem Richtigen offen. Das ist dein Auftrag, wenn es überhaupt einen gibt …« Wir führten keine Gespräche mehr miteinander, bei denen wir allein waren. Er machte seine Runde in der Familie, kurze Besuche mit viel Gelächter und gutmüti gem Spott. »Das nächste Mal besorgen wir dir eine gut aussehen de Frau«, scherzte Onkel Victor, drehte sich aber um, nachdem er es gesagt hatte, und ich sah die Zweifel in seinem Gesicht. »Ich hoffe, dass der Streik bald zu Ende geht«, sagte Onkel Adelard. 132
Bevor er ging, umarmte er uns alle, küsste die Frauen und schüttelte mir fest die Hand. Ich konnte ihm fast nicht in die Augen sehen. »Ich komme wieder, Paul«, sagte er zu mir, als wir uns umarmten. Ungefähr eine Woche später, als ich mein Notizbuch mit Gedichten aus meinem Versteck hervorholte, fand ich Onkel Adelards blaues Tuch, frisch gewaschen und gebügelt und ordentlich zusammengelegt im Wand schrank. Nachdem mein Onkel fort war, nahmen mich die Ereig nisse in Silas B. völlig in Anspruch. Das Ausblenden ge hörte dem vergangenen Sommer an, mit seinen geheim nisvollen Begebenheiten, den Spielen auf der Straße, dem Obstklauen in den Gärten und der Schlacht am Moccasin Pond. Zu meinem Entzücken lernte ich in Silas B. etwas kennen, das es in der Konfessionsschule von St. Jude nicht gegeben hatte: Aktivitäten außerhalb des Stundenplanes. Ich trat in den Eugene-O’Neill-DramaClub ein und bewarb mich für den Chor von The Pirates of Penzance, der vom Schulchor an Weihnachten aufge führt werden sollte. Ich reichte die Geschichte, die ich über den Jungen, seinen Vater und die Fabrik geschrieben hatte, bei der literarischen Schülerzeitung namens The Statue ein, das heißt, ich ließ sie auf Miss Walkers Schreibtisch liegen. Sie war redaktionelle Beraterin seitens der Lehrerschaft. Ich hatte die Erzählung »Verletzungen im Paradies« beti telt, mir hatte der Gegensatz zwischen den beiden Sub stantiven gefallen, die auf beklemmende Weise durch eine einfache Präposition miteinander verbunden waren. Eines Nachmittags behielt mich Miss Walker nach dem Klingeln noch da. Ich wartete gespannt, während 133
sich das Klassenzimmer langsam leerte. Als wir schließ lich allein waren, blickte sie zu mir auf, lächelte und zog das Manuskript aus ihrer Schublade. Ich erkannte es so fort an meiner Handschrift auf dem Titelblatt. Ich hatte es eingereicht, bevor ich erfuhr, dass alle Manuskripte ge tippt werden mussten. »Das ist einfach nicht akzeptabel, Moreaux«, befand sie immer noch lächelnd. »Ich wusste nicht, dass es getippt werden muss«, sagte ich, »ich werde nächstes Semester einen Kurs in Maschi neschreiben belegen.« »Es geht nicht so sehr um die Form«, ihr Lächeln wurde immer breiter, als ob sie sich über etwas amüsie ren würde, das sie nicht mit mir teilen wollte. »Die Ge schichte als solche ist nicht annehmbar, Moreaux. Weder das Thema noch der Schreibstil eignen sich für unsere Schülerzeitung.« Warum lächelte sie, wenn sie mein Leben zerstörte? »Ich würde vorschlagen«, sagte sie teilnahmslos und bestimmt, »dass du dich dieses Jahr ganz auf die Schule konzentrierst. Der Übergang von der konfessionellen zur staatlichen Schule ist schwierig genug. Nächstes Jahr hast du noch einen Wechsel, wenn du von hier weggehst und in die High School eintrittst. Soviel ich weiß, hast du dich um die Teilnahme am Chor von The Pimtes of Pen zance beworben. Ich schlage vor, dass du deine Bewer bung zurücknimmst. Deine Noten sind jetzt wichtiger …« Das Lächeln war nun eisig, genauso wie die blauen Augen. Keine Weichheit lag darin. Diese Augen waren aus purem Eis. Ich riss mich vom Anblick dieses Lächelns los und blickte auf meine Schuhe mit den Gummisohlen herab, die mein Vater mit Zement angeklebt hatte. Die abge 134
wetzten Stellen waren sichtbar, obwohl ich die Schuhe tüchtig poliert hatte. Ich musste daran denken, was Jules zu mir gesagt hatte: Du bist ein Frankokanadier, Paul, und nichts, was du jemals schreibst, wird gut genug sein. Trotz Miss Walkers Bemerkungen weigerte ich mich, Jules Recht zu geben. Ich blickte zu ihr auf; sie blätterte nun mit gerümpfter Nase in dem Manuskript, als ob ihm ein schlechter Geruch entströmte. »Ich möchte Schriftsteller werden«, sagte ich und spürte, dass meine Stimme dabei zitterte. »Ich weiß, dass ich noch viel lernen muss – « »Vielleicht wirst du sogar eines Tages Schriftsteller, Moreaux«, sie blickte zu mir auf, »im Augenblick aber musst du andere Prioritäten setzen. Das Lernen kommt an erster Stelle. Später wirst du dann auch Zeit zum Schreiben haben …« Ich wankte aus dem Klassenzimmer und rannte durch den Gang. Während ich mühsam die Tränen zurückzu halten versuchte, bog ich im Eiltempo um eine Ecke im zweiten Stock und stieß mit jemandem zusammen, der aus der entgegengesetzten Richtung kam. Meine Bücher flogen durch die Luft, zusammen mit den Manuskriptsei ten, die wie riesige, schmutzige Schneeflocken auf den Boden fielen. »He, warum so eilig?« Emerson Winslow stand dort und strich die blonde Locke zurück. Er trug einen grünen Pullover, der aus dem gleichen weichen Material war wie der beigefarbe ne. »Keine Eile«, murmelte ich, als ich mich niederbeug te, um die verstreuten Bücher und Seiten zusammenzu klauben. Er schloss sich mir an und ging in die Knie. »›Verletzungen im Paradies‹« las er laut, als er das Titel 135
blatt aufhob, »›von Paul Moreaux …‹« Er sah mich neu gierig an. »Sag nur, du bist Schriftsteller?« »Bis vor kurzem habe ich das gedacht«, erwiderte ich, »bis Miss Walker meine Geschichte zurückgewiesen hat, weil sie meint, dass sie für The Statue nicht gut genug ist.« »Und findest du, dass sie gut genug ist?«, fragte er. »Ich muss noch viel lernen«, sagte ich, »Prioritäten setzen.« »Du hast meine Frage noch nicht beantwortet«, sagte er mit seinem trägen Lächeln. »Okay, ja, ich glaube, dass sie gut genug ist.« Meine Stimme klang fest und überzeugt. War die Geschichte wirklich gut genug? Emerson Winslow zuckte mit den Achseln, eine ele gante Bewegung, die mich an die britischen Flieger in den Filmen über den 1. Weltkrieg erinnerte. Mit diesem verwegenen Lächeln und ihren wehenden weißen Sei denhalstüchern flogen sie dem Tod entgegen. »Nur das zählt«, meinte Emerson. Als ich die Seiten wieder ordnete, fragte er beiläufig: »Hast du was Bestimmtes vor?« Als ob es auf die Ant wort nicht ankäme. »Nein«, erwiderte ich. Es zog mich nicht mehr hin zu den trostlosen Straßen von Frenchtown mit all den elen den dreistöckigen Mietshäusern und schäbigen Geschäf ten. »Dann komm!« Er ging vor mir her und warf noch ei nen Blick über die Schulter. Ich folgte ihm. Schließlich hatte er drei meiner Bücher dabei. Das Haus, in dem er wohnte, überragte alle anderen in dieser Wohngegend im Nordteil der Stadt. Es war ein 136
weißes, mit Türmchen versehenes Haus von der Art, wie ich sie nur aus Filmen kannte. In der Mitte des Rasens badeten Vögel in einem Wasserbecken. In der Einfahrt polierte ein Mann in einer schwarzen Uniform hinge bungsvoll einen glänzenden, kastanienbraunen Sportwa gen. Als wir näher kamen, blickte er zu Emerson Winslow auf und sagte: »Guten Tag, Sir.« Ich hatte noch nie gehört, wie jemand in meinem Alter mit Sir angeredet wurde. Der Mann mit den sanften blauen Augen und dem ergrauenden Haar hätte Emersons Großvater sein können. »Hallo, Riley«, sagte Emerson. »Das ist mein Freund, Paul Moreaux …« »Ein wunderschönes Auto«, sagte ich. »Und ein Vergnügen, es zu pflegen«, meinte Riley und ließ keinen Moment von der Arbeit ab, während wir miteinander schwatzten. Im Inneren des Hauses befanden sich Bücher in Glas kästen und Kronleuchter, auf Hochglanz polierte Möbel, ein Flügel, Fenster vom Boden bis zur Decke; eine In neneinrichtung, wie ich sie nie zuvor in Frenchtown ge sehen hatte. Rein gar nichts an diesem Haus war typisch für Frenchtown. Ich musste mir mein völliges Banausen tum eingestehen, da ich für nichts in diesem Haus den richtigen Namen kannte. Zum Beispiel wusste ich nicht, wie man den wunderschönen Schreibtisch aus glänzen dem, dunklem Holz bezeichnete, von dem ich sicher war, dass er mehr als nur einen einfachen Schreibtisch dar stellte und nicht nur einen Namen, sondern eine ganze Geschichte hatte. Und das Sofa mit der üppigen Polste rung und dem gelben Bezug! Nein, nicht gelb, sondern golden! Und der Teppich unter meinen Füßen mit dem exotischen Muster! Beinahe in Panik dachte ich: Ich weiß überhaupt nichts. 137
Wir gingen eine gewundene Treppe hinauf in den zweiten Stock, das Geländer glänzte so hell, dass ich nicht wagte, es zu berühren und Fingerabdrücke zu hin terlassen. Im zweiten Stock waren die Wände auf dem Flur cremefarben. Eine der Türen ging auf und ein Mäd chen kam heraus. Geblendet musste ich blinzeln und wegschauen, so wie es Schauspieler im Film zu tun pfle gen, sah wieder zu ihr hin, eine Doppelaufnahme. Sie war wie eine weibliche Version von Emerson Winslow, eine eindrucksvollere Version von ihm, mit blondem Haar und einem Kranz von Locken, glitzernden, grünen Augen, die sich über einen Scherz, den nur die beiden Geschwister verstanden, amüsierten. »Meine Zwillingsschwester«, sagte Emerson, »stell dir vor, Paul, du biegst um die Ecke und siehst dich selbst auf dich zukommen! Nur dass es ein Mädchen ist.« Er berührte ihre Schulter, eine zarte Geste, die schon beinahe eine Liebkosung war. »Page, das ist Paul Moreaux …« »Hi, Paul«, sagte sie und warf meinen Namen in die Luft wie einen bunten Ballon. Page? Hatte er sie wirklich Page genannt? War Page denn ein richtiger Name? Ich fühlte mich wieder wie ein Idiot. Brachte kein Wort heraus und stand stocksteif da. Hätte schlucken müssen, getraute mich aber nicht, weil ich wusste, dass es ein hässliches Geräusch verursachen und mich in Un gnade stürzen würde. »Page ist die Vornehme in der Familie«, sagte Emer son, »sie kommt ins Internat. Fairfield Academy …« »Ich gehe nur, damit du nicht gehen musst«, sagte sie wehmütig. »Daddy meint, dass wenigstens einer von uns in die Welt hinaus muss.« 138
Sie redete wie Emerson, nonchalant, beiläufig, als ob das, was sie sagte, nicht wirklich zählte. »Ich darf hier bleiben, weil ich völlig unbegabt bin«, hänselte Emerson seine Schwester. »Ich bin auf keinem Gebiet ein Ass. Siehst du jetzt, was du davon hast, ein Ass zu sein?« »Ein Ass!« Sie wies die Beschreibung voller Verach tung von sich und sah Emerson liebevoll an, als hielte sie ihn für das Ass. Wie sehr ich mir wünschte, dass sie mich so ansehen würde! Als hätte sie meine Gedanken erraten, wandte sie sich an mich und sagte: »Aber du musst was Besonderes sein, ein Ass, wenn dich Emerson mit nach Hause bringt.« Wollte sie mich aufziehen? Obgleich sie ganz anders war als Tante Rosanna überlief es mich auch bei ihr heiß und kalt. Sie brachte mich dazu, mich zu winden und vor Erregung zu schlucken, alles in allem aber angenehme Empfindungen. »Bist du also wer, Paul?« »Jeder ist wer!« Mit diesen Worten half mir Emerson aus der Patsche. »Paul ist Schriftsteller.« Er wandte sich mir zu. »Page ist Tänzerin. Ballett …« Page rollte mit den Augen, sah mich dann an und schielte wie ein Kobold. Und sah dabei trotzdem wun derschön aus. »Wenn sie nicht meine Schwester wäre und ich sie nicht liebte, würde ich sie hassen«, sagte Emerson. »Sie ist so gut in allem. Und sie tut alles …« »Nicht alles«, widersprach Page Winslow und tat et was, das ebenso unerwartet wie hinreißend war. Sie streckte Emerson die Zunge heraus. Kindisch, doch in diesem Augenblick perfekt, so perfekt wie ihr Schielen. Wir mussten alle drei lachen und unser Gelächter hallte im Flur wider. Ich wunderte mich darüber, dass Emerson 139
Winslow mich als Schriftsteller bezeichnet hatte, wäh rend ich mit ihm und seiner Schwester Page in dieser prächtigen Villa stand. »Bin gleich wieder da«, rief Emerson über die Schul ter, als er den Flur entlangging, in einem der Zimmer verschwand und die Tür hinter sich schloss. Ich blieb mit Page Winslow allein zurück. Ich wusste nicht, was ich sagen, geschweige denn, tun sollte. »Was schreibst du?«, fragte sie. »Kurzgeschichten, Gedichte.« Ich hatte Mühe, meine Stimme zu beherrschen, und hoffte, dass sie sich nicht überschlagen würde. »Worüber?«, fragte sie und konzentrierte sich auf mich, als ob ihr meine Antwort sehr viel bedeutete. »Über das Leben. Über das, was ich fühle, was ich se he. Über Frenchtown, wo ich lebe.« Ich hielt inne und fragte mich, ob ich schon zu viel enthüllt hatte, erinnerte mich an das, was Miss Walker über meine Dichtkunst gesagt hatte, und fragte mich, ob ich Page Winslow be trog. War ich wirklich ein Dichter oder einer, der nur so tat? Sie trug einen weißen Faltenrock und einen Pullover mit V-Ausschnitt in so zarten Pastellfarben, dass man sie kaum erkennen konnte: Lavendel, Blassblau, Altrosa; sanfte Regenbogenfarben. Ihr Haar war superblond, bei nahe weiß, und ihre Wangen hatten einen zarten rosa Schimmer. Ihr Busen zeichnete sich mit sanften Wölbun gen unter dem Pullover ab. Ich wusste nicht, wohin ich schauen sollte. Hatte ich meine Liebe zu Tante Rosanna verraten? Ich suchte verzweifelt nach etwas, das ich ihr noch sa gen könnte, während Page Winslow völlig entspannt da 140
stand, als ob sie darauf wartete, von aller Welt – oder von mir – unterhalten zu werden. »Du bist immer noch zu Hause«, sagte ich, »geht die Fairfield Academy erst später los?« Losgehen? Ich fühlte mich wie ein Trottel, der Dorftrottel von Frenchtown, schweigsam, schwerfällig und dumm. »Ich fahre übermorgen. Ich war mit Emerson ein Jahr lang unterwegs – auf dem Kontinent.« Sie sprach das letz te Wort aus, als würde sie jemand anderen zitieren. »Hört sich toll an, was?«, sagte sie ironisch. »Alles, was dabei herauskam, war, dass wir sitzen geblieben sind. Hier gehe ich nun nach Fairfield und bin schon beinahe fünfzehn – aber ich musste mir ja unbedingt in Italien das Bein bre chen.« Sie seufzte und hielt resigniert die Hände in die Höhe. »Und sollte eigentlich topfit und startbereit sein …« »Willst du denn nicht gehen?« »Ich glaube schon, aber ich bin mir nicht sicher. Emerson ist ein Glückspilz. Er weiß wenigstens, was er will.« »Und was will er?« »Nichts.« Die Sonne brannte durchs Fenster und blendete meine Augen. Ich war noch nie solchen Menschen begegnet, die Worte wegwarfen wie Spielzeug, dessen sie überdrüssig waren. In Frenchtown sagten die Bewohner nur, was sie wirklich meinten. »Und was willst du?«, fragte ich. »Das ist ja das Problem«, antwortete sie, »ich weiß nicht, was ich will. Und du?« »Alles«, erwiderte ich, »ich will schreiben, ich will die Welt sehen, ich will …« Und wagte nicht, es auszuspre chen: Liebe. Ruhm. Glück. In Großstädten leben. Ozeane überqueren. Meine Bücher in Bibliotheken sehen. 141
»Ich beneide dich«, sagte sie. Und wieder suchte ich nach Spott in ihrer Stimme. Mich und beneiden? Einen, der sich schüchtern und linkisch benahm, der unter seiner Unwissenheit litt in diesem Haus, in das er nicht gehörte, wo er sich vorkam, als wäre er mit Wesen von einem anderen Stern und nicht nur vom anderen Ende der Stadt zusammen. Emerson kam wieder, er hatte graue, bequeme Hosen mit messerscharfen Bügelfalten und ein frisches, weißes Hemd angezogen. Zu Hause zog ich nach der Schule immer meine abgetragenen Overalls und alte, verschos sene Hemden an. Ich wusste, dass die wenigen Augenbli cke des Zusammenseins mit Page Winslow aus und vor bei waren, als sie zur Treppe ging. Sie ging übermorgen von Monument weg. Würde ich sie jemals wieder sehen? »Also Tschüssing«, flötete sie und hielt an der obers ten Stufe an. Die komische Ausdrucksweise passte vorzüglich zu ihr, so wie ihr auch die vorherigen Grimassen ausge zeichnet gestanden hatten. Emerson und ich ahmten sie lachend nach: »Tschüs sing!«, als sie die Treppe hinabsegelte, wobei ihre Füße kaum den Teppich berührten. »Hast du jemals von Bunny Berigan gehört?«, fragte Emerson in die Leere des Flurs hinein, die nach Pages Abgang entstanden war. Ich schüttelte den Kopf. »Dann hast du aber was verpasst!«, sagte er. Ich folgte ihm durch den Flur zu seinem Zimmer. Er machte die Tür hinter uns zu. Ich war beeindruckt, plötz lich in Emersons ganz privater Welt zu sein. Er hatte ein eigenes Zimmer, ein eigenes Bett und einen eigenen Schreibtisch. Ein Wimpel der Harvard Universität, braun 142
mit weißen Buchstaben, hing an der Wand über seinem Schreibtisch. (»Die Alma mater meines Vaters«, sagte Emerson und zuckte mit den Achseln.) An der Wand hingen gerahmte Fotos, die Emerson und Page in ver schiedenen Altersstufen zeigten. In Badeanzügen am Strand. In Gesellschaftskleidung. Am Fußende des Betts stand ein Plattenspieler mit Platten, die im Regal darunter or dentlich gestapelt waren. Auf dem Plattenteller lag eine Platte. Kurz darauf hörte ich zum ersten Mal den gequälten Wohllaut von Bunny Berigans Trompete, goldene Töne, die stiegen und fielen und von Traurigkeit durchdrungen waren, und dann Berigans dünne, durchdringende Stimme: Ich bin im Flugzeug um die Welt geflogen,
Und habe in Spanien Revolutionen niedergeschlagen …
Ich hörte fasziniert zu, während Emerson zum Fenster ging und hinaussah. Ich neigte den Kopf zum Lautspre cher und ließ die Musik auf mich wirken, schloss die Augen und kapselte mich völlig ab. Nach seiner Vokal einlage legte Bunny Berigan mit seinem Solo los, die Trompete erklang wie ein Schrei aus der Tiefe, wild und melancholisch, gewaltiger als Worte, eindrucksvoller als eine Stimme. Die Trompete blies beinahe willkürlich Töne in die Luft. Ich fühlte aber, dass sich der Trompeter auf einen Höhepunkt zubewegte, als entwerfe er ein un sichtbares und schwer zu fassendes Gebilde in der Luft, immer höher und höher, um in Triumph und gleichzeitig endlosem Verlust und Traurigkeit zu gipfeln. Die Trom petentöne schwangen immer höher empor und ich musste an das Gedicht von Robert Browning denken: Ach, Hö 143
henflüge sollen die Grenzen des Menschen überwinden! Warum gäbe es sonst wohl einen Himmel? Und dann war dieser höchste und unglaubliche Ton erreicht, der wie ein Atemzug war, den man anhält, kurz bevor der Tod ein tritt. Dann herrschte Stille, in der nur das Kratzen der Nadel auf der Platte zu hören war. Ich war sprachlos, gefangen von der Musik, die ich so fort noch einmal hören wollte, so wie ich Page Winslow zurückrufen wollte, aber einfach nicht konnte. Später sprachen wir dann über Bücher und Filme und Bühnenstücke, die er mit seiner Familie in Boston gese hen hatte. Dezembertag und O Wildnis! »Meine Eltern lieben das Theater.« Er hob Theater besonders hervor, indem er es in mehrere Silben zerlegte, als The-a-ter aus sprach und dabei mit den Augen rollte. »Was macht dein Vater beruflich?«, fragte ich. »Nichts«, gab er zur Antwort. Dann, seufzend: »Nun, ich glaube, irgendetwas, das mit Banken, Aktien und festverzinslichen Wertpapieren zu tun hat. Er ist viel in Boston. Meine Mutter tummelt sich in Wohltätigkeits vereinen, was sie rührig-rührig nennt …« Er fragte mich nicht, was mein Vater beruflich tat, und ich fing von mir aus nicht damit an. Er stellte die Musik lauter und wir hörten schweigend zu. Warum hatte ich das Gefühl, dass dieses Stillschweigen über die Arbeit meines Vaters eine weitere Sünde war, die ich beichten musste? Als die Platte zu Ende war, sagte ich ihm, dass ich ge hen müsse. Der Raum lag im Schatten, die Nachmittags sonne schimmerte matt durchs Fenster. Später musste ich die Zeitung für meinen Bruder Bernard zu Mr. LeFarge bringen. »Du musst eben wiederkommen«, sagte Emerson, als 144
wir die Treppe hinunter und durch die Eingangshalle zur Haustür gingen. »Ich werde dich von Riley nach Hause fahren lassen.« »Nein«, sagte ich entsetzt. In Frenchtown im funkeln den Sportwagen mit einem uniformierten Chauffeuer am Steuer vorfahren – unmöglich! Er begleitete mich die Treppe hinunter bis zur geteer ten Einfahrt. Page Winslow begegneten wir nicht mehr. »Tschüssing«, rief er lachend, als ich über die runde Einfahrt rannte und winkte, ohne mich noch einmal um zusehen. »Tschüssing«, sagte ich, obwohl ich wusste, dass er mich nicht hörte. Nein, ich werde es nicht tun. Und warum nicht? Weil … Also, weil7. Weil ich nicht unsichtbar werden will. Ich will den Stillstand, den Schmerz und die Kälte nicht ertragen müssen. Willst du sie denn nicht wieder sehen? Ihr Haus betre ten, neben ihr stehen, in ihr Schlafzimmer gehen, sie im Schlaf betrachten, vielleicht zusehen, wenn sie sich aus zieht? Nein, das will ich nicht. Ich will nichts davon tun. Klar willst du! Natürlich willst du! Die Stimme war hinterhältig und beharrlich. Es war die Stimme, die sich mit dem Wissen um das Ausblenden von selbst eingestellt hatte, fast so, als ob das Ausblenden sei ne eigene Stimme hätte. Was natürlich unmöglich war. War aber das Ausblenden als solches nicht unmöglich? 145
Jetzt komm schon, Paul. Lass uns gehen. Es wird dun kel. Du kannst in ein paar Minuten dort sein. Nein … Aber morgen fährt sie weg. Vielleicht siehst du sie nie wieder. Oder vielleicht erinnert sie sich nicht mehr an dich, wenn sie dich das nächste Mal sieht und schaut dich ausdruckslos an und saßt: Wer ist denn das? Ach, es war aber nicht nur Page Winslow, die mich lockte. Es war auch dieses Haus, das wie ein fremder Planet für mich war, sein Stil und sein ganzes Wesen, die Namen der Einrichtungsgegenstände, die ich nicht kann te. Als ob man ein Museum besichtigt und die Namen der Künstler nicht kennt, die solche wundervollen Kunstwer ke schufen. Und die Bewohner dieses Hauses, die ich noch nicht gesehen hatte, den Vater, der seine Tage in Boston zubrachte und mit Aktien und Wertpapieren zu tun hatte, und die Mutter, die in Wohltätigkeit machte, während mein Vater Streikposten stand und meine Mut ter als Putzfrau arbeitete und zu Hause am Herdfeuer kochte. Ich wusste, dass ich nicht in dieses Haus gehörte. Und doch zog es mich dorthin. In der Dunkelheit wirkte das Haus wie ein riesiges Schiff im Trockendock, schimmernd, obwohl es stillstand, seine Fenster schwammen im Licht. Der Abendtau funkelte wie winzige Glasscherben auf dem Rasen. Musik drang durchs Fenster, nicht Bunny Berigan, sondern Klassik, majestätisch, mit schwirrenden Violinen und Salven von Blechinstrumenten. Als ich über den Rasen schlich, jagte die Kälte des Ausblendens durch meinen Körper, aber ich ignorierte sie und fühlte mich so federleicht, als ob ich zum obers 146
ten Turm des Hauses emporspringen und auf seiner höchsten Spitze stehen könnte. Als ich die Treppe hinaufging und versuchte die Tür zu öffnen, war ich nicht überrascht, sie verschlossen zu finden. Ich klingelte und horchte auf das Geläut im Inne ren, das überall im Flur widerhallte. Einen Stein in der Hand, drückte ich mich neben der Tür an die Hauswand. Als sie aufschwang, fiel ein Schat ten auf den Treppenabsatz: Riley kam heraus und blickte forschend in die Nacht hinaus. Ich warf den kleinen Stein in den Hof, hörte, wie er über den Kiesweg hüpfte, sah Riley in die Richtung schauen, aus der das Geräusch kam, und ein paar Schritte darauf zu gehen. Das genügte, um mich ins Haus schlüp fen zu lassen, wo ich mich an die Wand am Eingang drückte. Kurz darauf kam Riley herein, schloss die Tür und schob den Riegel vor. Stirnrunzelnd ging er den Flur entlang, seine Absätze klickten auf den Bodenfliesen. Ich ging ihm nach, in seinem Gefolge waren meine Turn schuhe nicht zu hören. Die Musik wurde lauter, als wir uns einer Tür zur Rechten, bei dem geschwungenen Treppenaufgang, näherten. Als Riley an der Tür stehen blieb, brachen die Violi nen abrupt ab. Riley sprach in die Stille des Raums hin ein: »Entschuldigen Sie, Mr. Winslow, gnädige Frau! Es war niemand an der Tür. Vielleicht ist die Glocke kaputt. Ich werde sie am Vormittag nachsehen lassen.« Gemurmel kam aus dem Zimmer und nach einer kur zen Pause schwoll die Musik wieder an, während Riley klickend an der Treppe vorbei zum Hinterhaus ging. Ich bewegte mich vorsichtig, leichtfüßig, leise, blieb an der Tür stehen und schaute hinein. Zwei Männer und eine Frau saßen in bequemen Sesseln im Zimmer, die 147
Frau in einem einfachen blauen Kleid mit einer einreihi gen Perlenkette um den Hals. Ihr blondes Haar glänzte im Schein einer Lampe, die neben ihrem Sessel stand. Zweifellos war sie Emersons und Pages Mutter, eine et was ältere Version von ihnen, ihr Haar hatte dieselbe weißblonde Farbe. Die Gesichter der Männer konnte ich nicht sehen. Sie wandten mir den Rücken zu und lausch ten aufmerksam auf das, was ihnen die Frau über die Musik hinweg erzählte. Sie waren wie Figuren in einem Gemälde. Ich schlich mich zur Treppe und mir war etwas schwindlig, als ich über den dicken Teppich hinaufstieg. Ich hatte mich immer noch nicht an die Abwesenheit meiner Arme und Beine gewöhnt, mir war, als versuchte ich aufwärts gegen den Strom zu schwimmen. Ich blieb auf dem Treppenabsatz stehen und sah, dass alle Türen zu waren, nur unter der Tür von Emersons Zimmer war ein dünner Lichtstreifen zu erkennen. Ich blieb an der Tür stehen, blickte mich um und hörte Stimmen im Zimmer. Mein Herz schlug höher, als ich das Gemurmel von Page hörte, dann ihr helles und fröh liches Gelächter und die leisen Klänge von Bunny Beri gans Trompete. Ich legte das Ohr an die Tür und erkann te den unverkennbar spöttischen Tonfall von Page, konn te aber die Worte nicht verstehen. Einsamkeit packte mich. Wie ich mich danach sehnte, mit ihnen in diesem Zimmer zu sein, zu lachen und ver trauliche Gespräche zu führen, zu scherzen und Teil ihres schönen, süßen Lebens zu sein. Ich riss mich los, ging zu Pages Tür und schlüpfte schnell ins Zimmer. Ich wartete, bis sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Atmete ihr Parfüm ein, das leicht und duftig war, ein Hauch von Frühling, viel 148
leicht von Flieder oder Wiesenblumen. Nach einer Weile konnte ich ihren Schreibtisch an der Wand zu meiner Linken erkennen, das Bett befand sich gegenüber. Ich ging ein paar Schritte und stolperte beinahe über einen weichen, dicken Teppich. Sah eine kleine Figur auf den Kissen auf dem Bett liegen und tastete sie mit den Hän den ab. Eine Shirley-Temple-Puppe – ich musste lächeln. Page Winslow, immer noch ein Kind, mit einer Puppe auf dem Bett! Völlig unerwartet öffnete sich die Tür. Ein Lichtkegel fiel ins Zimmer, Ich sprang erschreckt auf, hatte einen Augenblick lang vergessen, dass man mich nicht sehen konnte. Page Winslow machte die Tür hinter sich zu, es war wieder dunkel, dann knipste sie die kleine Lampe auf dem Schreibtisch an. Sanftes Licht umgab sie. Sie war barfuß, trug einen Rock und einen weiten Pullover. Ein zartes Grau, nur der Hauch einer Farbe. Ich stand ihr gegenüber, in der Nähe der Schranktür, und hoffte, dass sie nicht an den Schrank musste. Ihre Schönheit schmerzte mich. Ihr Zimmer war ganz in Blau und Weiß gehalten, ein weiches Blau und ein sanftes Weiß. Während ich sie betrachtete, beugte sie sich etwas herab, um sich im Spiegel auf ihrem Schreibtisch anzu sehen. Sie hob die Hand mit den langen, schlanken Fin gern, die einer Pianistin würdig gewesen wären, zum Ge sicht, blinzelte kurz in den Spiegel, entdeckte einen Punkt auf der Wange und berührte ihn mit dem Finger. »Ein Pickel«, sagte sie bestürzt. Ich sah keinen Pickel, sah nur, wie wunderschön sie war. Plötzlich drehte sie sich um und sah mich an, sah mir direkt in die Augen. Ich wurde von Panik ergriffen – konnte sie mich sehen? Sah sie mich aus dem Nichts auf 149
tauchen? Würde sie schreien und meinen Namen rufen und mich beschuldigen, dass ich in ihr Haus eingebro chen war, in ihrem Schlafzimmer herumgeschnüffelt hat te? War ich dazu verdammt, die Menschen in meinem unsichtbaren Zustand jedes Mal zu beunruhigen? Nun wandte sie sich von mir ab, wobei sie die Stirn runzelte. Leicht fröstelnd murmelte sie: »Gespenstisch!«, und betrachtete wieder ihr Gesicht im Spiegel. »Hu!«, sagte sie blinzelnd. Wie konnte sie ihre Schönheit anzweifeln? Sie richtete sich auf, zog den Pullover über den Kopf und machte sich nicht einmal die Mühe, ihn aufzuknöp fen. Dann sah ich fasziniert zu, wie sie ihren Rock fallen ließ, der um ihre Füße eine graue Lache bildete. Sie raffte ihr weißes und an den Rändern mit Spitzen besetztes Un terkleid über die Hüften und zog es über den Kopf, um es dann nachlässig aufs Bett zu werfen. Nur noch mit weißem Büstenhalter und Slip bekleidet stand sie da, ihre Haut leuchtete blassrosa im Lampenlicht. Sie war schlank und zart im Gegensatz zu meiner üppigen Tante Rosanna und es beeindruckte mich zu tiefst, dass jede auf ihre Art schön war und mich doch auf die gleiche Art und Weise bewegte. Ich wagte nicht, mich zu bewegen, hatte Angst, in jene Ekstase zu gera ten, die ich mir für die nächtlichen Stunden im Bett vor behalten hatte. Ganz unerwartet drehte sie sich wieder zu mir um, ihre Augen waren Schlitze, als sie in meine Richtung blickte. Schmerz packte mich, als die Kälte in meinem Körper zunahm. Sie wandte sich wieder ab, immer noch mit ge runzelter Stirn, und griff nach einem weißen Morgen mantel, der zusammengefaltet auf dem Bett lag. Sie warf 150
den Mantel über die Schultern und zog mit verborgenen Bewegungen ihren Büstenhalter aus, streifte den Slip ab und warf beides aufs Bett. Ich hätte gerne nach der sei denen Unterwäsche gegriffen und mein Gesicht darin vergraben. Wenn ich mich schon nicht getraute, sie zu berühren, könnte ich wenigstens die Dinge berühren, die sie auf dem Körper getragen hatte. »Hallo …« Ich hörte Emerson Winslows Stimme, unbeschwert und munter, und sah gleichzeitig die Tür aufgehen. Er betrat das Zimmer in einem braunen Morgenman tel, hatte Pantoffeln an, und sein Haar war wie gewöhn lich zerzaust. Er schloss die Tür leise hinter sich, blieb stehen und sah sie an. Sie drehte sich um bei seinem Gruß, die Arme in die Seiten gestemmt, ihr Morgenmantel etwas offen, und ich erhaschte einen Blick auf ihren Schenkel. »Ach, Emmy«, sagte sie, »ich werde dich vermissen …« Er ging mit ausgestreckten Armen auf sie zu. Sie tat einen Schritt in seine offenen Arme und legte den Kopf an seine Schulter. Die beiden waren sich so ähnlich, wie Spiegelungen, die sich umarmten und miteinander ver schmolzen. »Ich werde dich auch vermissen«, murmelte er in ihr Haar. Sie blickte zu ihm auf. Und sie küssten sich. Gierig, leidenschaftlich öffneten sie die Münder für eine Liebkosung. Ich war wie vom Blitz getroffen und trat zurück, stieß gegen die Wand hinter mir und versuchte leise zu atmen. Der Kuss dauerte an, man hörte sie leise stöhnen und seine Hand glitt unter ihren Morgenmantel. Ich verschloss die Augen vor ihrem Anblick. Dennoch sah ich zu meiner 151
Verwunderung, wie sie sich umarmten. Ich hatte ganz vergessen, dass meine Augenlider ebenfalls ausgeblendet waren und mich nicht am Sehen hindern würden. Ich wandte mich ab, blickte zu Boden, während ich sie flüstern hörte: »Ach, Emmy, ich liebe dich …« Ich hörte einen Schalter klicken und das Zimmer war plötzlich in Dunkelheit getaucht. Doch die Dunkelheit löschte die Geräusche nicht, die ihr Liebesspiel begleite ten, ihr lustvolles Keuchen, als sie aufs Bett sanken. Ich drückte die Hände ganz fest auf die Ohren, sank auf den Boden, kauerte mich zusammen, die Ohren er füllt vom fernen Rauschen einer Seemuschel. Ich war aber nicht am Meeresstrand, sondern im Schlafzimmer von Emerson Winslow und seiner Schwester Page. Nach einer Weile nahm ich die Hände wieder von den Ohren. Im Zimmer war es still. Ich drehte mich zum Bett um. Die Umrisse von Emerson und Page waren unter der Bettdecke kaum zu erkennen. Die einsamste aller Ewigkeiten schien zu vergehen, während ich zusammengekauert in der Ecke hockte. Schließlich glitt Emerson aus dem Bett, verließ das Zimmer und machte die Tür leise hinter sich zu. Ich war tete, bis ich Pages leises Schnarchen hörte, bevor ich wegging, und fragte mich, ob man auf einem Gesicht, das man nicht sah, wohl Tränen erkennen würde. Als ich später, nach dem Stillstand und dem Schmerz, fröstelnd von der plötzlichen Kälte der Nacht, im Schat ten einer Ulme stand, erinnerte ich mich an den Tag, als ich Onkel Adelard fragte: »Wenn das Ausblenden ein Geschenk ist, warum bist du dann immer so traurig?« »Habe ich jemals behauptet, dass es ein Geschenk ist?«, erwiderte er. 152
Ich überlegte einen Augenblick lang. »Ich glaube nicht.« »Was ist das Gegenteil von einem Geschenk, Paul?« »Ich weiß nicht.« Aber nun wusste ich es. Oder glaubte es zu wissen. Erschöpft und entkräftet rang ich auf dem Rasen eines fremden Hauses im vornehmen Norden der Stadt nach Atem, einem Ort, an den ich nicht gehörte, an den mich das Ausblenden gebracht hatte. Ich dachte über meine Erfahrungen mit dem Ausblenden nach. Eigentlich hatte ich nur Dinge gesehen, die mir zuwider waren, die ich niemals hatte sehen wollen. Im nahen Gebüsch knurrte ein Hund, ein bedrohliches Knurren, das mir bekannt vorkam. Ich war mit dieser Art Knurren sehr vertraut, war von hunderten von Hunden verfolgt worden, als ich noch Zeitungen austrug. Ich wartete nicht auf ein weiteres Knurren, sondern rannte los, blindlings, wild, rannte den ganzen Weg nach Frenchtown, ohne mich ein einziges Mal umzuschauen, als ob mich etwas weit Schlimmeres als ein Hund ver folgte. Omer LaBatt besaß die Fähigkeit, mich zu überraschen, er tauchte plötzlich an Straßenecken auf oder versperrte mir in bedrohlicher Haltung den Weg, wenn ich aus Dondier’s Markt oder aus Lakier’s Drugstore herauskam. Eines Nachmittags, es war schon gegen Abend und die Schatten der dreistöckigen Mietshäuser von Frenchtown wurden immer länger, überraschte er mich wieder. Als ich in die Pee Alley einbog, um den Nachhauseweg ab zukürzen, stieß ich auf Omer LaBatt, der gerade einen Jungen von neun oder zehn Jahren schikanierte: den klei nen Bruder von Artie LeGrande. 153
Omer streckte ihm die offene Hand hin, während der Junge in seiner Tasche kramte. »Los, mach schon, gib’s her!«, befahl Omer, der nicht bemerkt hatte, dass ich auf getaucht war. Joey LeGrande zog die Hand aus der Tasche und ließ ein paar Münzen in Omers Handfläche fallen. Mit zu ckenden Lippen und Tränen in den Augen sagte er: »Das ist mein Zeitungsgeld.« »Das sind aber nur zwanzig Cent«, entrüstete sich Omer und warf die Münzen in die Luft, »du musst tiefer graben, Kleiner!« »Es ist aber nicht mein Geld«, protestierte Joey, »es gehört Rudolphe Toubert. Er macht mich zur Schnecke …« »Das ist dein Problem«, sagte Omer ungerührt, »rück schon die Kohle raus!« Joey grub wieder in seinen Taschen und zog noch ein paar Münzen heraus, die er einzeln in Omer LaBatts aus gestreckte Hand fallen ließ. Joey schluchzte nun, die Tränen kullerten ihm über die Wangen, sein Haar war zerzaust, das eine Hosenbein hing ihm beinahe bis zum Knöchel herab. »Was soll ich denn Rudolphe Toubert sagen?«, schrie er verzweifelt. »Sag ihm, dass du’s den Missionaren gespendet hast«, sagte Omer und steckte zufrieden das Geld ein. »Okay, Kleiner, auf die Knie!« »Nein«, schrie der Junge, seine Nase fing an zu laufen. »Auf die Knie!«, fuhr ihn Omer an. Meine plötzliche Atemnot zeigte mir, dass ich im Beg riff war auszublenden. Der Stillstand trat ein, dann der zuckende Schmerz, als ich den Jungen auf die Knie fallen sah. Omer LaBatt ragte drohend über ihm auf wie der Herr über Leben und Tod. Ich verging beinahe vor 154
Schmerz. Omer LaBatt öffnete zuerst die Gürtelschnalle und dann die Knöpfe seines Hosenschlitzes. Ich kauerte mich nieder, nahm die Kälte in mir auf, der Schmerz ver ließ meinen Körper. Ich blickte an mir herunter und sah, dass ich völlig unsichtbar war, die Luft in meiner Lunge war kühl und frisch. Ich stürzte mich auf Omer LaBatt. Er sah auf, als ich mich näherte, hörte mich auf sich zustürmen, war aber auf den Angriff nicht gefasst, als ich ihm die Schulter in die Magengrube rammte. Ich freute mich über seine Schreie, als er mit schmerzverzerrtem Gesicht nach hin ten taumelte und mit den Händen wild in der Luft herum fuchtelte. Er sank benommen zu Boden, schüttelte ver wirrt den Kopf, rappelte sich wieder hoch und stützte sich auf ein Knie. Joey LeGrande, die Augen ungläubig aufgerissen, richtete sich ebenfalls auf, wich zurück und starrte Omer LaBatt entgeistert an. Ich sah ihn die Gasse entlangren nen, wobei er sich immer wieder nach seinem angeschla genen Angreifer umschaute. Einmal stolperte er und stand wieder auf. Als er das Ende der Gasse erreicht hat te, verschwand er von der Bildfläche. Ich wandte mich wieder Omer LaBatt zu, hielt inne und sah zu, wie er sich aufrappelte und nach Luft schnappte. Ich trat ihm mit aller Kraft in den Unterleib. In diesem Tritt lag die Rache für all die Verfolgungsjagden durch die Straßen von Frenchtown und die Angst, die er mir und den anderen Kindern eingejagt hatte. Als er sich vor Schmerz den Leib hielt und sich vorbeugte, kickte ich noch einmal, dieses Mal erwischte ich ihn mit dem Schuh an der Kinn lade. Er heulte auf vor Schmerz, fiel stöhnend zu Boden, Schaum tropfte aus seinem Mund. Als ich mich triumphierend über ihn beugte, das süße 155
Gefühl der Rache voll auskostete, klopfte mir das Herz vor Freude und ich zitterte am ganzen Körper. Nie hatte ich mich besser gefühlt, mehr im Einklang mit der gan zen Welt. Allmählich fanden sich auch Neugierige in der Gasse ein, die Omer LaBatt beguckten, der immer noch verstört auf dem Boden herumkroch. Ich hätte am liebsten ge brüllt: »Ich habe das vollbracht – ich, Paul Moreaux.« Stattdessen verließ ich widerstrebend den Ort meiner Ra che, weil ich befürchtete, dass die Menschenmenge mein klopfendes Herz hören könnte. Als ich später im Schuppen wieder sichtbar war, fing ich an zu zittern, sobald ich den Angriff auf Omer LaBatt noch einmal durchlebte. Meinen Angriff? Mir kam es nun so vor, als ob derjenige, der Omer LaBatt so brutal angegriffen hatte, nicht ich, sondern ein ganz anderer gewesen wäre. Ich hatte Gewalt und heftige Auseinan dersetzungen immer vermieden, war unzählige Male vor Omer LaBatt geflohen, wusste, dass ich ein Feigling war, der nur in seinen kühnsten Träumen Mut bewies. Die Befreiung von Joey LeGrande und der Angriff auf Omer LaBatt waren keine wirklichen Heldentaten gewesen. Was aber waren sie dann? »Das Ausblenden«, murmelte ich vor mich hin. Ich hatte diese Gabe noch nie zum Guten nutzen können. Würde ich jemals vergessen, was im Hinterzimmer von Dondier’s Markt und im Schlafzimmer der Winslows passiert war? Nun schien sogar mein Sieg über Omer LaBatt besudelt. Ich hatte noch nie einem anderen menschlichen Wesen wehgetan, bis ich in der Pee Alley in Raserei geraten war. Und nicht nur das, ich hatte es sogar genossen. 156
Und dabei hatte Onkel Adelard einmal gesagt: »Paul, es ist gut, dass einer wie du die Gabe des Ausblendens hat. Einer, der liebenswürdig und sanft ist und kein Scheusal.« Hatte ich mich in ein Scheusal verwandelt? Ich versuchte mich im Schuppen klein zu machen, winkelte die Knie an und schloss die Augen, als ob ich die Welt so draußen halten und mich vor ihr verstecken könnte. Ich wusste aber, dass es kein Versteck für mich gab. Erst sehr viel später in der Nacht, als ich schon im Bett lag, fiel mir noch etwas anderes ein, das mich im Dun keln beinahe laut aufschreien ließ. In der Pee Alley war ich ohne mein Zutun unsichtbar geworden. »Ich habe eine neue Bunny Berigan«, sagte Emerson Winslow. »Wie schön.« »Willst du sie dir heute Nachmittag anhören?« Er passte mich nach dem Klingelzeichen ab. Miss Walker hatte die Klasse nach Hause entlassen und die anderen Schüler wollten nach draußen und drängten sich wie üblich an der Tür. Ich hatte Emerson in den vergan genen drei Tagen gemieden. Als ich ihm keine Antwort gab, fragte er: »Willst du auch weiterhin Geschichten schreiben?« »Ich weiß nicht«, antwortete ich und stapelte meine Bücher auf dem Pult. »Vielleicht irgendwann, aber nicht jetzt.« Ich packte meine Bücher, wandte mich zum Ge hen und vermied es immer noch, ihn anzusehen: »He, ich muss jetzt gehen. Also bis dann!« Ich hoffte, dass er meiner Stimme die Unsicherheit nicht anhörte. »Oh«, sagte er nur. 157
Ich hatte noch nie ein solches Oh gehört. Eine elegante Silbe, die immer weiterzuklingen schien, wie ein leises Glockenspiel im Klassenzimmer, das nach dem poltern den Weggang der Schüler ganz still geworden war. Sie hallte wider in meinem Kopf, mit einer Bedeutung, die weit über ihre Länge hinausging. Solche Endgültigkeit lag darin. Als ich Emerson Winslow ansah, der lächelnd und mit diesem leicht spöttischen Blick im Licht des Fensters stand, wusste ich, dass ich mich von ihm und diesem glanzvollen Haus im Norden der Stadt für immer verabschiedet und Page Winslow für immer verloren hat te. Aber sie hatte ohnehin nie mir gehört, sondern immer nur Emerson. Als der November schneidende Winde und Platzregen mit sich brachte, waren die Straßen von Frenchtown noch nie so trostlos und öde, die dreistöckigen Mietshäuser so unscheinbar und hässlich, die Bäume so starr und kahl gewesen. Es sah nicht so aus, als ob der Streik enden würde: Ei nes Abends verkündete mein Vater beim Essen, die Ver handlungen seien gescheitert. »Es heißt, dass die Firma Streikbrecher einschleusen will.« Yvonne schnitt eine Grimasse. »Streikbrecher?« »Billige Arbeitskräfte, die von den Fabrikbesitzern eingestellt werden, um die Streiklinien zu durchbrechen und in der Fabrik zu arbeiten. Gewöhnlich Arbeiter, die von außerhalb kommen.« »Was auf Kämpfe rauslaufen könnte, stimmt’s, Pa pa?« Armand war ganz aufgeregt. »Onkel Victor meint, dass wir den Streikbrechern keine Chance geben dürfen. Wenn sie die Linien durchbrechen, nehmen sie euch eure Arbeit weg und der Streik bricht zusammen …« 158
»Bin ich aber froh, dass wir einen Fachmann im Haus haben«, meinte mein Vater sarkastisch, »das erspart mir viel Mühe …« Wie die anderen konzentrierte sich Armand nun auf sein Essen. Einmal blickte ich auf und sah meine Eltern besorgte Blicke tauschen. War es für mich auch so schon schwer genug gewesen, mir meinen Vater als Streikpos ten mit einem Schild vorzustellen, konnte ich ihn mir unmöglich im Kampf mit den Streikbrechern vorstellen. In diesem Jahr schrieb ich keine Geschichten mehr. Kon zentrierte mich auf die Schule, machte sorgfältig meine Hausaufgaben, bestand alle Prüfungen und schloss das erste Semester als Zweitbester ab. Ich hörte auf zu den Treffen des Eugene-O’Neill-Drama-Clubs zu gehen und keiner schien mich zu vermissen. Ich wurde nicht in den Chor von The Pimtes of Penzance gewählt. So vergingen die Herbsttage und -abende. Zwischen Schule und Bibliothek. Mit Büchern, in denen ich meiner Einsamkeit entfliehen konnte. Als im November der erste Schnee fiel, brachte ich meinem Vater eine Thermosfla sche mit heißer Suppe, während er mit vor Kälte geröte ten Wangen, die Hände in den von meiner Mutter ge strickten, wollenen Handschuhen Streikposten stand. »Wann wird der Streik aufhören, Vater?«, fragte ich ihn und stampfte mit den Füßen auf den Boden, um ge gen die Kälte anzukämpfen. Er zitterte, als er die dampfende Suppe schlürfte. Ge fangen in meiner eigenen Kälte und Einsamkeit schaute ich ihm dabei zu. Die Streikbrecher sind da. Die Worte verbreiteten sich an diesem eisigen Dezem 159
bernachmittag ebenso schnell, wie Paul Reveres War nung vor beinahe zwei Jahrhunderten von Boston nach Lexington geeilt sein musste. Tatsächlich fühlte ich mich auch wie ein Paul Revere des zwanzigsten Jahrhunderts, als ich durch Frenchtown jagte und darauf brannte, die aufregende Neuigkeit zu verbreiten. Lexington und Con cord lagen nur zwanzig Meilen östlich von Monument und unser Geschichtskurs in Silas B. hatte im Oktober einen Ausflug zu der »grob gezimmerten Brücke, die sich über die Flut spannte« gemacht. Als ich an diesem Dezembertag nach Hause eilte, fühlte auch ich mich wie ein Rädchen der Geschichte und war begierig zu berich ten, was ich gesehen hatte. Drei Lastwagen von der Müllabfuhr hatten an der Kreuzung Main und Mechanic Street an der Ampel gehalten: alte, klapperige Lastwagen. Erstaunlich war nur, dass sie Menschen geladen hatten. Männer, die auf der Ladefläche der Lastwagen zusammengepfercht und erbarmungslos der rauen Witterung des Winternachmittags ausgesetzt waren. Sie hatten die Mützen tief in die Stirn gezogen und sahen unförmig aus in ihren warmen Jacken und kurzen Mänteln. Die Lastwagen stießen blaue Abgase aus, die Motoren tuckerten im Leerlauf, während sie darauf warteten, dass die Ampel auf Grün umschalte te. Ich empfand Mitleid für die Männer. Wie die Lastwa gen, auf denen sie saßen, sahen sie alt, mitgenommen und verbraucht aus. Wie weit waren sie gereist und wie weit mussten sie noch fahren? Als ich nach Anhaltspunk ten suchte, sah ich an einem der Lastwagen ein Num mernschild aus Maine und an der Tür eines anderen das legendäre Firmenzeichen METRO SAND & GRAVEL, BANGOR, ME. Zwei Männer standen neben mir an der Ampel und 160
warteten auf das gelbe Fußgängerlicht. Sie trugen schwarze Mäntel mit schmalen Samtkragen. Ich sah ihre weißen Hemden und die dünnen Krawatten. Das können nur Bankleute sein, dachte ich und machte mir wieder einmal einen Spaß daraus, die Berufe von Fremden zu erraten. »Offenbar ist der Import angekommen«, sagte einer der Männer. Ich kannte ihn nicht, aber seine Stimme hät te die von Emerson Winslows Vater sein können. »Es musste ja früher oder später passieren«, erwiderte der andere in einem undeutlichen, näselnden YankeeTonfall. Import. Was ich sofort in Streikbrecher übersetzte. Die Ampel sprang auf Gelb um, die Motoren der Lastwagen ächzten und stöhnten in Erwartung des grü nen Lichts, ich rannte über die Straße, ließ die Bankleute hinter mir und hätte in meinem Eifer, die Neuigkeiten in Frenchtown zu verbreiten, beinahe eine Frau mit einem Kinderwagen umgerannt. Doch ich hatte ganz vergessen, dass Frenchtown über ein einzigartiges Nachrichtensystem verfugt. Zum Bei spiel gelangte einmal die Nachricht vom Ausbruch eines Fabrikfeuers zu den Familien der Arbeiter, noch bevor die Sirenen aufheulten oder die Feuerwehrautos mit Blaulicht die Mechanic Street entlangrasten. Als ich nun von der Mechanic Street ins Zentrum von Frenchtown kam, fühlte ich, dass etwas in der Luft lag. Vor den Lä den hatten sich Männer versammelt, die Frauen verstän digten sich von Balkon zu Balkon. Die Ladenbesitzer standen am Eingang und alle schienen auf einmal zu re den. Als ich die Treppe zu unserer Wohnung hinaufstürm te, begegnete ich Armand, der gerade die Ölkanne für 161
den Herd in der Küche aus dem großen Fass im Schup pen abgefüllt hatte. »Hast du schon das Neueste gehört?«, fragte Armand, als ich stehen blieb, um Atem zu schöpfen. »Die Streik brecher sind da.« »Ich weiß«, sagte ich, »ich habe sie in der Stadt gese hen.« Armand war ganz baff. »Komm herein. Vater und ein paar seiner Kollegen sind da«, sagte er. Als ich in der warmen Küche stand, haspelte ich mei ne Geschichte herunter. Meine Zunge bewegte sich blitz schnell dabei. Ich fühlte mich wie ein Schauspieler, der auf einer Bühne eine Vorstellung gibt, und alle Augen sind auf ihn gerichtet. »Also Nummernschilder aus Maine«, sagte mein Va ter, als meine Vorstellung beendet war. Er schüttelte den Kopf und wurde still. »Frankokanadier«, erklärte Mr. Lagniard, die Stimme voller Hass. »Landarbeiter.« Er war ein riesiger Mann mit gewaltigem Durst, der aber kaum einmal krank war. »Dann stimmt es also, was sie über Toubert sagen …« Ich fühlte, dass mein Augenblick im Rampenlicht vor über war, und sank neben Armand auf den Boden. »Spre chen sie von Rudolphe Toubert?«, fragte ich ihn flüsternd. Er winkte mich ins Schlafzimmer und ich folgte ihm, verließ nur widerwillig den Schauplatz meines Trium phes. Als wir auf der Bettkante saßen, sagte Armand: »Es heißt, dass Rudolphe Toubert dafür gesorgt hat, dass die Streikbrecher hierher kommen. Die Fabrikbesitzer sind zu ihm gegangen, damit er die Streikbrecher anheuert, und Rudolphe Toubert hat es natürlich nur zu gerne ge tan. Es heißt, dass er soundso viel Kopfgeld bekommen hat. Von allen Verrätern …« 162
»Er ist schlimmer als Hector Monard«, unterbrach ich ihn, weil mich Rudolphe Touberts Verrat überraschte. »Sie sind beide Verräter. Der eine ist so schlimm wie der andere.« Die Stimmen der Männer in der Küche drangen als leises Gemurmel zu uns herüber. »Was passiert jetzt?«, fragte ich Armand. »Wir warten«, sagte er. »Die Arbeiter treffen sich morgen Abend mit den Fabrikbesitzern. Ein letztes Tref fen, um die Sache beizulegen. Alle hoffen, dass die Streikbrecher nicht eingesetzt werden müssen …« »Aber warum lässt man sie dann den weiten Weg von Maine hierher machen?« »Um Macht zu demonstrieren«, erklärte Armand. »Die Fabrikbesitzer wollen zeigen, dass es ihnen ernst ist, da mit setzen sie uns die Pistole an den Kopf. Die sie natür lich einsetzen werden, wenn das Gespräch danebengeht.« Beim Abendessen sagte mein Vater: »Ich muss euch über die Streikbrecher aufklären.« Und wir wurden alle ganz still. »Es sind Menschen wie wir. Wie ich und all die ande ren Arbeiter. Auch in Maine sind die Zeiten schlecht. Vielleicht schlechter als hier, weil Landarbeiter sowohl vom Wetter als auch von den Arbeitsbedingungen ab hängen. Wir müssen uns wenigstens keine Sorgen um das Wetter machen. Wenn der Streik vorüber ist, haben wir unsere Jobs, ob es regnet oder ob die Sonne scheint.« »Würdest du als Streikbrecher nach Maine gehen?«, fragte Armand. »Man steckt nicht in der Haut von anderen«, erwiderte mein Vater. »Aber du würdest doch nie Streikbrecher werden, oder?«, beharrte Armand. 163
»Die Zeiten sind schlecht, Armand«, erwiderte mein Vater, seine Stimme war erstaunlich sanft. »Es liegt nicht an den Menschen. Wir versuchen alle nur, unseren Le bensunterhalt zu verdienen und unsere Familien zu er nähren …« Die Versammlung begann am Donnerstag um sieben Uhr abends und dauerte die ganze Nacht bis zum folgenden Morgen, als die Unterhändler eine Unterbrechung bean tragten und ihre Gespräche erst um die Mittagszeit fort setzten. Die Versammlung ließ Optimismus in Frenchtown aufkommen. Wochenlang waren die Streikenden erfolg los vor der Fabrik auf und ab gegangen. Obgleich mit den Streikbrechern gerechnet werden musste, war die Versammlung das erste Zeichen, dass die Fabrikbesitzer bereit waren, mit den Arbeitern zu verhandeln. So herrschte trotz der Anwesenheit der Streikbrecher in Mo nument Hochstimmung, als die Versammlung begann. Das Wetter schien ein gutes Omen zu sein für das, was bevorstand. Für Dezember war es ungewöhnlich mild und in der Sonne schmolzen Raureif und der erste Schnee dahin. Der gefrorene Boden wurde wieder weich und verwandelte sich an einigen Stellen in Schlamm. Für einen Jungen aus Frenchtown bedeutete Schlamm Früh ling und hier schien wirklich ein Scheinfrühling aus gebrochen zu sein. Als die Verhandlungen weitergingen, fanden sich die Familien bei den Arbeitern im Fabrikhof ein, und es herrschte Feststimmung. Die Feuer in den Öltonnen wur den angefacht, weniger als Schutz vor der Kälte denn als Zeichen der Hoffnung und Liebe, so wie in St. Jude Ker zen angezündet wurden als sichtbar gemachte Gebete. 164
Meine Mutter packte meine kleine Schwester Rose in eine Decke und ging mit ihr und den Zwillingen Yvonne und Yvette zum Fabrikhof, wo ich mit Bernard und den anderen Wache hielt. Armand trieb sich bei den Strei kenden am Fabrikeingang herum. Als Lieblingsneffe meines Onkels Victor, der als einer der Unterhändler bei der Versammlung fungierte, wurde er von den Arbeitern mit einem gewissen Respekt behandelt. Er machte sich nützlich, indem er Botengänge ausführte und Botschaften übermittelte. Und er hatte sich auch schon das Gehabe der Arbeiter angewöhnt, lachte prompt über die Witze und wusste, wann er stillsitzen und den Mund halten musste. Schweigen ergriff die Menge und alle Augen richteten sich auf die Rampe, als die Tür aufging und mein Onkel Victor mit zwei oder drei seiner Kollegen herauskam. Keiner rührte sich, sogar die Kinder waren still. Onkel Victor hob die Arme. »Wir machen eine Pause«, sagte er. Ein enttäuschtes Murren kam aus der Menge. »Geht nach Hause«, rief er mit erhobener Stimme. »Die Verhandlungen werden die ganze Nacht andauern. Ihr braucht eure Kräfte für das, was uns bevorsteht, wenn wir scheitern.« Seine Worte warfen einen Schatten auf die Versam melten im Hof und zerstörten die hoffnungsfrohe Atmo sphäre, die zuvor geherrscht hatte. Meine Mutter gab mir ein Zeichen und ich holte Ber nard aus der Menge. Als ich Armand sagte, dass es Zeit sei, um nach Hause zu gehen, meinte mein Vater: »Ist schon gut, Paul, er kann bleiben …« Armand strahlte. Die meisten Arbeiter blieben im Hof und drängten sich in kleinen Gruppen zusammen, als es kalt zu werden 165
begann und die Feuer in den Tonnen nur noch unruhig flackerten. Ein schneidender Wind blies uns um die Oh ren, als wir nach Hause gingen. Ich beneidete Armand, der zurückgeblieben war. Zumindest gehörte er irgendwo dazu, wusste, wofür er bestimmt war, obwohl diese Be stimmung nicht das war, was ich wollte. Der zweite Tag der Verhandlungen brach an. In der Schule fiel ich bei einer Prüfung durch: in Mathe, mei nem schlechtesten Fach. Im Klassenzimmer bemerkte ich, dass Emerson Winslow seinen Platz einem rothaari gen Jungen überlassen hatte, der geräuschvoll schniefte und dessen Nase beständig lief. Als ich mich verstohlen umschaute, sah ich Emerson Winslow auf einem Platz in der Nähe des Fensters, der fünf Reihen weit weg war. Der rothaarige Junge – ich wusste nicht, wie er hieß, und wollte es auch nicht wissen – wischte sich die Nase an seinem Hemdsärmel ab. Als ich nach der Schule nach Hause kam, teilte mir meine Mutter mit, dass die Verhandlungen noch andauer ten. Mein Vater hatte kurz vorbeigeschaut, um ein Bad zu nehmen, einen Bissen hinunterzuschlingen, und sich dann wieder auf seinen Wachtposten zurückbegeben. Ein Geräusch und ein Raunen weckte mich und ich blick te in die Dunkelheit des Schlafzimmers. Ich war sofort hellwach. Die Bettfedern quietschten, als ich mich auf richtete, um an Bernard vorbeizuschauen, der sich wie immer im Schlaf zusammengerollt hatte. Schemenhaft sah ich die Umrisse von Armand, der sich neben dem Bett schnell anzog. Auf den Ellbogen gestützt flüsterte ich: »Was ist denn los?« 166
Er legte den Finger auf die Lippen, als er in seinen Pullover schlüpfte. Dann ging er in halb geduckter Hal tung um das Bett herum. »Ich gehe zur Fabrik«, sagte er, als er neben mir knie te, »es heißt, dass die Streikbrecher versuchen werden, kurz vor Sonnenaufgang in die Fabrik zu gelangen.« »Ich komme mit«, sagte ich, obwohl ich mein warmes, sicheres Bett nur sehr ungern verließ. »Dann beeil dich«, drängte er, »es ist beinahe fünf Uhr …« Noch halb im Schlaf stolperten wir die Treppe hinun ter aus dem Haus in die seltsame Stille des frühen Mor gens. Der Himmel war blassgelb am Horizont, darüber war es noch dunkel. Als wir die Fabrik erreichten, übernahmen wir eine Wache am anderen Ende des Hofes, kauerten uns hinter niedrige Holzhaufen und hefteten die Augen auf die Gruppen von Männern im Hof. Zu Beginn des Streiks waren von den Fabrikbesitzern Scheinwerfer aufgestellt worden. Sie erfassten die Männer mit ihrem erbarmungs los grellen Schein und tauchten ihre Gesichter in ein fah les Licht. Die Männer gingen missmutig und mit gesenk ten Köpfen auf und ab, in der kalten Luft sah man ihren Atem dampfen. Ich suchte nach meinem Vater, sah ihn aber nicht. Zwei Polizisten patrouillierten auf dem Geh steig. Sie hatten Pistolen in den Halftern und Knüppel am Gürtel hängen. »Glaubst du wirklich, dass es zum Kampf kommt?«, fragte ich Armand. »Klar«, erwiderte er, »dadran führt kein Weg vorbei. Schau genau hin. Siehst du die Ausbuchtungen in ihren Jacken? Das sind Waffen.« 167
»Waffen?« Wie hässlich das Wort doch klang, als ich es aussprach. »Ach, keine Kanonen«, versicherte mir Armand, »Schlagstöcke, wie sie die Polypen benutzen.« Ich entdeckte meinen Vater in der Menge, er ließ die Arme hängen, sah verletzbar und wehrlos aus. Ich hätte eine Million Dollar wetten können, dass er keinen Schlagstock unter dem Mantel trug. Ab und zu schwatzten die Polizisten mit den Streiken den, ihre Stimmen kamen über den Hof zu uns herüber. Dann wandten sich alle der Straße zu, als ein Wagen vorgefahren kam, der Motor summte leise, als er anhielt. Es war Rudolphe Touberts grauer Packard, der wie ein Raubtier im dunklen Dschungel geräuschvoll schnaubte. Aus seinem Auspuffrohr quollen Abgase. Der Wagen fuhr in die Nacht hinein. »Scheißkerl«, murmelte Armand. Einen Augenblick später sagte er: »Horch nur!« Ich hob den Kopf, spitzte die Ohren, hörte das Ge murmel der Männer und das Prasseln der Flammen in den Tonnen. Ich horchte angespannt und hörte, ja, etwas neben diesen Geräuschen, das zuerst kaum wahrnehmbar war, aber immer deutlicher wurde, je mehr ich mich an strengte. Es war das ferne Rattern und Keuchen alter Lastwagen, die durch die Nacht fuhren, das Knattern der Motoren, das jeden Augenblick lauter wurde. Die Polizisten standen plötzlich in Alarmbereitschaft, breitbeinig und die Hände am Halfter. Einige Streikende steckten die Hände in die Jacken, und ich wusste, dass sie nach den Knüppeln griffen, die sie dort versteckt hatten. Ich suchte nach meinem Vater, sah verschwommen sein Gesicht auftauchen, bis er in der Menge verschwand. Dann trat Stille ein, und zwar so plötzlich, dass sie 168
selbst wie ein Geräusch war; alle waren überrascht, die Männer im Hof standen regungslos, die Polizisten so still wie die Statuen im Park von Monument. »Sind sie weggefahren?«, flüsterte ich Armand zu, die Frage war mehr Wunsch als Frage. Sie hatten doch nicht die beschwerliche Fahrt von Maine hierher gemacht, um in Hörweite der Fabrik wieder umzukehren. »Sie schleichen sich von hinten an uns heran«, sagte Armand. Uns. Er identifizierte sich völlig mit den Arbei tern im Hof. Ich lehnte mich zurück, dachte an das letztes Erlebnis, bei dem ich zum Spion geworden war, als die Männer von Monument die vermummten Mitglieder des KuKlux-Klan am Moccasin Pond angegriffen hatten. Doch das war ein Kampf zwischen Gut und Böse gewesen, ein Angriff auf Menschen, die Kirchen in Brand steckten und die Welt von Katholiken, Schwarzen und Juden befreien wollten. Der Kampf, der nun bevorstand, war anders, ein tragischer Kampf, Arbeiter gegen Arbeiter, von Männern wie meinem Vater gegen ihresgleichen. Und wahrschein lich hatten auch sie ihre Familien in Maine zurückgelas sen. Als ich wieder aufsah, waren die Streikbrecher da. Wie erbarmungslose Gespenster marschierten sie aus dem Halbdunkel heraus in ungeordneten Sechser- oder Achterreihen, unsichtbare Kolonnen hinter sich. Sie ge rieten völlig aus dem Tritt, als sie die Straße überquerten. Einer der Männer strauchelte, ihre Mienen waren in der Dunkelheit nicht zu erkennen, so als besäßen sie gar kei ne Gesichtszüge. Die Streikenden bildeten eine Verteidigungslinie am Eingang zum Hof, während die beiden Polizisten auf dem Gehweg Stellung bezogen. 169
»Halt«, rief einer der Polizisten, »kommt nicht näher!« Doch die Streikbrecher rückten immer näher, ihre Schritte hallten dumpf auf dem Pflaster. Nun, da sie sich am Rand des Scheinwerferlichts befanden, konnte ich sie deutlich sehen, ihre Gesichter schimmerten bläulich und fahl in dem unbarmherzigen Licht. Der Kampf brach ohne Vorwarnung aus. Noch kurz zuvor hatten sich die Männer in grimmigem Schweigen gegenübergestanden, zögernd, abwartend und undurch dringlich in ihrer Lautlosigkeit. Dann brachen die Fron ten plötzlich zusammen und die Männer stürmten aufein ander los wie auf ein Signal hin, das nur sie hören konn ten. Sie prallten zusammen, kämpften unbeholfen mitein ander: unerfahrene Kämpfer, Mitwirkende in einem gro tesken Ballett. Die Stille des Kampfes war schaurig, war anders als die Schlacht am Moccasin Pond, bei der es laut und wild zugegangen war, mit Geschrei und Gehupe und Autos, auf die wie auf riesige Trommeln eingehämmert wurde. Beim Handgemenge im Fabrikhof ging, während die Dämme rang allmählich die Dunkelheit durchbrach, alles ganz leise und gedämpft vor sich, nur gelegentliches Keuchen, Stöhnen und unterdrückte Schreie waren zu hören, als hätten sich die Kämpfenden geschworen, eine Schlacht zu schlagen, die den Rest der Welt nicht stören sollte. Armand sprang ungeduldig auf, hopste unruhig herum und schrie: »Zeigt es ihnen! Bringt die Scheißkerle um …« Und stürmte davon, um sich am Kampf zu beteili gen. Ich schrie: »Komm zurück, Armand, komm sofort wieder zurück!« Aber er tauchte im Getümmel unter. 170
Ich sah mich nach den Polizisten um. Sicher würden sie Armand sehen und ihn daran hindern, mitzukämpfen. Die Polizisten rannten jedoch nutzlos herum und ver suchten die Kämpfenden zu trennen, zupften an ihren Jacken, wichen den Schlägen aus und beschworen die Männer: Aufhören! So hört doch endlich auf! Gebt auf sonst gibt es noch Verletzte! … Während der Kampf weiterging, gewann das weiße Morgenlicht die Oberhand über das gelbe Scheinwerfer licht. Ich versuchte meinen Vater und Armand in der Menge ausfindig zu machen und stellte fest, dass ich Streikende und Streikbrecher in dem Getümmel nicht mehr unterscheiden konnte. Alle waren sie für mich Fremde. Plötzlich tauchten die Waffen auf, so unvermittelt wie ein Zauberkünstler Kaninchen und Halstücher aus Zylin dern oder aus dem Nichts hervorzaubert. Aber dies waren keine Bühnenrequisiten, sondern Knüppel, Hämmer und abgesägte Schlaghölzer. Von der Wange des Vorarbeiters Robillard sah ich das erste Blut fließen. Gleichzeitig blitzte die erste Messerklinge im Morgenlicht bedrohlich auf. Schließlich entdeckte ich meinen Vater, der an einem riesigen Kerl herumzerrte, der einen der Unseren in die Knie gezwungen hatte. Weil er den Koloss nicht dazu bringen konnte, den Griff zu lockern, sprang ihm mein Vater in den Rücken, was für einen Augenblick sehr ko misch aussah, als ob mein Vater eine Art Huckepack spielen würde. Der Koloss ließ locker – sein Opfer sackte auf dem Boden zusammen – und fuhr herum, um dadurch meinen Vater abzuschütteln. Dieser hielt sich mit aller Gewalt fest, umschloss mit den Knien die Taille des Gegners wie mit einer Zange. Wütend machte der Koloss 171
nun eine Drehung, schüttelte meinen Vater ab und schleuderte ihn wie einen Ball in die Menge. Ich sah das Messer wieder aufblitzen. Einen Augenblick später tauchte mein Vater wieder auf. Er taumelte und hielt sich die Brust, Blut quoll zwi schen den Fingern hervor. Mit zitternden Knien und schmerzverzerrtem Gesicht sah er zum Himmel auf. Er weinte und schrie nicht, sondern schien den Schmerz zu rückzudrängen. Während ich ihn verzweifelt und wie gelähmt beobachtete, sah er an sich hinunter und erblick te das Blut an seinen Händen, das nun ganz dunkel war, sich ausbreitete und wie Wasser aus einer Quelle aus der Wunde hervorsprudelte. »Nein!«, schrie ich. Um meinen Vater herum tat sich eine Lücke auf, als die Männer erkannten, was passiert war, und zurückwi chen. Mein Vater blieb wie angewurzelt stehen, das Ge sicht schneeweiß im Morgenlicht, die Augen weit aufge rissen vor Fassungslosigkeit. Er fiel in Zeitlupe in sich zusammen, ein Körperteil nach dem anderen klappte zu sammen; zuerst knickten die Beine ein, dann gaben die Knie nach und zuletzt fiel der Oberkörper nach vorn. Dann sackte er vollends zusammen, seine Hände griffen ins Leere und er schlug mit dem Kopf auf den Kies. Als ich zu ihm hinrannte, hörte ich in der Ferne schon Sirenen heulen und Motoren dröhnen, dann sah ich jede Menge Leute eintreffen, zum Geschehen eilen und mei nen Vater, umgeben von einem Wald von Beinen, auf dem Boden liegen. Dann sah ich ihn nicht mehr, meine Augen waren blind von Tränen. Die nächsten Minuten vergingen wie im Nebel: Poli zisten in schwarzen Straßenkreuzern trafen ein, Träger erschienen mit einer Trage, einer behelfsmäßigen Trage 172
aus Stangen und einer Decke, die man in der Eile zu sammengestellt hatte. Mein Vater wurde zu einem Lie ferwagen gebracht. Polizisten und Arbeiter räumten den Laderaum für ihn frei, warfen Geräte auf den Boden. Wo war Armand? Jemand legte den Arm um mich. Als ich von ihm ab rückte, sah ich, dass es Vorarbeiter Robillard war. Er drückte ein blutiges Taschentuch auf die Schnittwunde in seinem Gesicht. In seinen Augen standen Tränen und ich wusste, dass sie meinem Vater galten und nicht ihm selbst. Armand tauchte leichenblass neben mir auf, er stand unter Schock. »Wir müssen es Mama sagen«, meinte er, »wir müssen es ihr unbedingt sagen.« Ich riss mich los. »Du sagst es ihr«, rief ich aus der Tiefe meines Schmerzes und meines Kummers. Und rannte davon. Rannte immer, wenn etwas Schlimmes passierte. Rannte durch die Straßen, wurde gejagt und jagte. Und nun rannte ich wieder. Hinter der Garage wünschte ich mir das Ausblenden her bei. Betete darum. Lass mich dieses Mal nicht im Stich. Und ich wurde nicht im Stich gelassen. Immer noch au ßer Atem wurde ich vom Stillstand überrascht und stellte mich dann dem stechenden Schmerz. Als mich die Kälte ergriff, kam ich wieder zu Atem, der Schmerz ver schwand und ich war frei. Ich blickte an mir herab und sah meinen Körper nicht mehr. Streckte die Hände aus und sah sie nicht. Ich ging um die Garage herum. Sah den eleganten Pa ckard. Blinzelte durchs Fenster. Sah Rudolphe Toubert, der einen schwarzen Telefonhörer ans Ohr hielt, den 173
kleinen Schnurrbart stutzerhaft auf der Oberlippe. Ich beobachtete ihn genau, sah, wie er die Lippen beim Spre chen bewegte, wie er den Blick unruhig im Büro hin und her gleiten ließ. Ich ging zum Eingang der Garage. Blieb stehen, schaute nach rechts und dann nach links und schauderte in der Kälte des Ausblendens. Doch ich ignorierte es, weil ich meinen Vater rächen wollte, der inzwischen im Krankenhaus angekommen sein musste und möglicher weise schon tot war. Ich öffnete die Tür, drehte vorsichtig den Türknopf herum. Schloss sie schnell wieder, weil ein kalter Luft zug mich begleitete. Rudolphe Toubert, der immer noch den Telefonhörer am Ohr hatte, blickte verdutzt auf und ordnete ein paar Papiere, die der Luftzug in Unordnung gebracht hatte. »Wart mal«, sagte er in den Hörer. Er setzte den Hörer ab und sah durch mich hindurch. Dann sprach er wieder in die Sprechmuschel: »Komisch, ich hätte wetten mö gen, dass eben die Tür aufgegangen und jemand herein gekommen ist. Aber es ist nichts …« Ich ging ein paar Schritte auf ihn zu, als er fortfuhr: »Zweitausend Dollar, ich glaube, das ist angemessen …« Das Büro hatte sich seit meinen Zeitungstouren nicht verändert. Der Schreibtisch mit dem vielen Papierkram und den Ordnern stand immer noch in der Mitte. Zu sei ner Linken war eine Ablage, auf der die Zeitungen für die Zeitungsjungen gebündelt und gestapelt lagen. Der Geruch von Druckerschwärze lag in der Luft. Als ich näher kam, roch ich Rudolphe Touberts aufdringliches Eau de Cologne. Mit seinen langen, sorgfältig manikür ten Fingern griff er wieder nach dem Telefon, die Augen zu Schlitzen verengt, während er zuhörte. 174
»Ja, jemand muss dran glauben«, sagte er ins Telefon, »jemand muss immer dran glauben. Das ist der Lauf der Dinge. Aber zweitausend ist der Preis. Zahlbar bei Liefe rung.« Was wollte er liefern? Noch einen Verwundeten ins Krankenhaus wie meinen Vater? Er legte auf, tätschelte seinen Schnurrbart, lächelte und schien völlig mit sich zufrieden. Sein Hemd war ganz frisch, die Kragenenden glatt. Die rote Krawatte war mit kleinen, weißen Blumen gemustert. Ein blaues Taschentuch schaute aus der Brusttasche des Jacketts hervor. Das Hemd war rotweiß gestreift, dazu trug er rote Hosenträger. Er kramte in den Papieren auf seinem Schreibtisch herum. Blickte misstrauisch auf, unsere Blicke trafen sich beinahe. Sein Lächeln war nun verflogen. Ich hatte mich inzwischen an die Reaktionen der Leute auf das Ausblenden gewöhnt und lächelte boshaft. Stirnrunzelnd und verwirrt sah er sich vorsichtig im Büro um, ließ den Blick langsam durch den Raum glei ten, spähte in die entferntesten Winkel und verweilte bei den Schatten. Ein Anflug von Furcht in seinen Augen? Er griff zum Telefon, hielt den Hörer ans Ohr und sprach in die Sprechmuschel: »Bitte verbinden Sie mich mit 3648-R.« Wartete dann, den Hörer am Ohr, trommelte mit den Fingern auf den Schreibtisch und pfiff unmusikalisch vor sich hin, die Stirn feucht von Schweiß. Er lockerte den Hemdkragen. Ich kam nicht näher, blieb ungefähr zwei Meter vor seinem Schreibtisch stehen. »Herve«, sagte er ins Telefon, »ich will, dass du hier 175
her kommst.« Wartete die Antwort ab und schüttelte dann unwillig den Kopf: »Es ist mir egal, wie spät es ist!« Hörte wieder zu. Dann: »Sag mal, Herve, wer ist dir wichtiger – deine Frau oder ich?« Lächelte freudlos und kalt: »Zum Teufel mit ihr!« Dann, nach einer Pau se, im Befehlston: »Los, mach dich schon auf die So cken!« Wenn Herve Boissoneau, seine rechte Hand, auf dem Weg zu ihm war, musste ich mich beeilen. Ich wusste ja, was ich zu tun hatte. Aber wie sollte ich es anpacken? Ich sah mich im Büro um, ging zum Ladentisch, sah aus den Augenwinkeln, dass Rudolphe Toubert immer noch am Schreibtisch saß und nervös vor sich hin pfiff, so wie ich immer aus Angst vor mich hin summte, wenn ich am Friedhof von St. Jude vorbeiging. Rudolphe Toubert hatte sich nach rechts gedreht, bei nahe so, als ob er mein Vorrücken verfolgt hätte. Viel leicht war ich unachtsam gewesen. Sein Schnurrbart glänzte vor Feuchtigkeit und er zog das bunte Taschen tuch aus der Tasche und tupfte sich damit die Stirn ab. Ich sah ihn hasserfüllt an. Ich dachte an meine Tante Rosanna, mit der er ge schlafen hatte. Und an die Zeitungsausträger, Bernard und all die anderen Kinder, die ihm ausgeliefert waren. An all die Männer, die in gottverlassenen Gassen zu sammengeschlagen worden waren. An die Streikbre cher, die er nach Frenchtown gebracht hatte, um Arbei ter in Kämpfer, Menschen in Monster zu verwandeln. Ich dachte an meinen Vater, der verwundet und blut überströmt im Krankenhaus lag und vielleicht schon tot war. Ich wandte mich von ihm ab und sah mich auf der Ab lage nach einer Waffe um. Unter den Schnüren und alten 176
Zeitungen fand ich sie dann: das große Messer, das er zum Zuschneiden der Schnüre für das Bündeln der Zei tungen brauchte. Ich nahm es in die Hand. Als ich in die Sixth Street einbog, sah ich die Men schenmenge vor unserem Haus, zusammengekauert wie Leute, die schon längere Zeit dort ausgeharrt hatten. Sie machten mir Platz und sahen mich im Vorübergehen mit großen Augen an. Es war der Blick für die Angehörigen von Unfallopfern. Ich entdeckte auch Pete in der Menge. Er hatte die Arme über der Brust gekreuzt und erhob sei ne Hand zum Gruß, eine kleine Geste der Anteilnahme. Onkel Victor stand am Fuß der Außentreppe, mit einer unangezündeten Zigarre im Mund, einen Tropfen brau nen Tabaksaft im Mundwinkel. Armand saß niederge schlagen und mit gesenktem Kopf auf dem Geländer. »Mein Vater«, fing ich mit mühsam beherrschter Stimme an. »Er ist im Krankenhaus«, erklärte Onkel Victor, »und wird operiert. Sie haben uns nach Hause geschickt. Dr. Goldstein sagte, dass er uns nach der Operation Bescheid sagen wird.« Armand sprang vom Geländer herunter und fragte vorwurfsvoll: »Wo bist du gewesen?« Ich zuckte mit den Achseln, fand keine Worte und hät te auch nicht antworten können, wenn ich die Worte ge funden hätte. Meine Mutter rief vom Balkon herunter: »Komm her auf, Paul, dir muss ja eiskalt sein …« Plötzlich wurde ich mir der Kälte bewusst und meine Zähne fingen an zu klappern. Der Boden war mit Baureif überzogen und an den Fenstern glitzerte es weiß. Ich hat 177
te bis jetzt nicht gewusst, dass die Sonne kalt sein kann. Als ich Onkel Victor aus der Nähe betrachtete, sah ich die Erschöpfung in seinem Gesicht, die von tiefen Fur chen durchzogenen Wangen, die matten, glanzlosen Au gen. »Haben die Streikbrecher gewonnen, Onkel Victor?«, fragte ich. »Keiner gewinnt einen Kampf wie diesen«, antwortete er. »Wir haben ihnen Saures gegeben!« Mit Feuereifer und loderndem Blick mischte sich Armand ein. »Die Po lizei hat sie zur Stadt hinausbefördert, wieder auf ihre Lastwagen verfrachtet und nach Hause geschickt, mit Ausnahme derer, die im Krankenhaus sind. Sie werden nicht mehr wiederkommen, stimmt’s, Onkel Victor?« »Stimmt!«, erwiderte dieser und legte Armand den Arm um die Schulter. Seiner Stimme fehlte Armands Begeisterung und Stolz. »Was ist mit dem Streik?«, fragte ich immer noch zit ternd und betäubt von dem, was sich in Rudolphe Tou berts Büro zugetragen hatte. Konnte ich denn wirklich so seelenruhig hier stehen und meinen Onkel über den Streik ausfragen? »Er geht weiter«, antwortete Onkel Victor, »wird aber demnächst beigelegt. Wir werden ein bisschen dazuge winnen, aber auch verlieren. Wir werden mehr Gewinn als Verlust machen …« Ich ging die Treppe hinauf, wo mich meine Mutter mit offenen Armen empfing, und ließ mich von ihr umarmen. Ich zitterte vor Kälte. Sie fühlte meine Stirn. »Du hast Fieber, Paul«, sagte sie und führte mich ins Schlafzim mer, sie brachte mir Aspirin und heißen Kakao und schaute mir beim Trinken zu. Sie sah mitgenommen aus, 178
ihre Augen waren trübe, als ob sie plötzlich blind gewor den wäre und alle Tätigkeiten – wie Gehen, Sprechen, Sich-um-mich-Kümmern – nur noch aus der Erinnerung ausübe. »Ich hoffe, dass Pa wieder gesund wird«, flüsterte ich ihr zu, als sie mich auf die Wange küsste. »Wir müssen stark sein, Paul«, sagte sie, »was auch immer passiert, bete und sei stark …« Ich fiel in einen tiefen, traumlosen Schlaf, stürzte in unermessliche Abgründe, in bodenlose Dunkelheit. Ich war erloschen, wurde zu einem Nichts. Und wachte wieder auf von fröhlichem Gelächter, dem Klirren von Gläsern, die angestoßen wurden, und Jubelrufen. Nachdem ich mir den Schlaf aus den Augen gerieben hatte, schlich ich zur Tür, starrte hinaus zur Kü che, sah meine Mutter strahlend am Tisch sitzen, die Ge schwister auf ihren angestammten Plätzen. Onkel Victor lehnte an der Tür. Dann sah mich meine Mutter dort stehen. »Dein Vater, Paul«, rief sie mit leuchtenden Augen und mit vor Glück und Freude geröteten Wangen, »er hat’s überlebt. Dr. Goldstein ist eben erst weggegangen. Er wird wieder gesund …« »Gut«, sagte ich, meine Stimme klang hohl. Ich dachte an Rudolphe Toubert, an das Messer und den seltsamen Laut, der aus seinem Mund kam, als das Messer in ihn drang und das Ziel traf. Ich wandte mich ab, damit mich niemand erbeben sah. Drei Wochen später starb Bernard. Im Schlaf. Kalt und auf ewig entrückt, als wir ihn am letzten Tag dieses schicksalhaften Jahres wecken wollten. 179
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Susan Ich möchte mich vorstellen. Ich heiße Susan Roget und sitze hier in Meredith Mar tins Wohnung im neunten Stock, in Peter Cooper Village, New York, New York, an der Schreibmaschine. Und wenn ich zum Fenster hinausblicke, sehe ich den East River, auf dem ein Schlepper einen riesigen Tanker durch die aufgewühlten Fluten zieht. Es ist ein strahlen der Tag im Juli – Samstag, der 9. um genau zu sein – und etwas lässt mich nicht los, nämlich die abschließenden Worte in diesem Manuskript, das ich bestimmt schon zehnmal gelesen habe. Kalt und auf ewig entrückt, als wir ihn am letzten Tag dieses schicksalhaften Jahres we cken wollten. Scheiße. Das ist allerdings nicht so, wie ich beginnen will. Vielmehr soll der Anfang schlicht, unkompliziert und direkt sein. In seinem Kurs »Kreatives Schreiben« sagt Professor Waronski, dass man am besten ohne Um schweife zur Sache kommt, dass jeder Anfang recht ist, wenn man nur anfängt. Vor allem soll man sich aber selbst treu bleiben. Gut, ich bleibe mir selbst treu. Das ist es auch, was mich in diese missliche Lage brachte. Ich hätte das Ma nuskript erst gar nicht lesen dürfen, hätte es von Rechts wegen gar nicht ausfindig machen sollen. Dann hätte ich auch nichts über den Jungen Paul, das Ausblenden und alles, was damit zusammenhing, erfahren. Okay, ich glaube, ich habe nun einen Anfang.
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Als Nächstes sollte ich vielleicht erklären, wie ich über die Universität von Boston zu einer berühmten literari schen Agentin nach Manhattan gelangte, das tausend Meilen von Farley, Iowa, entfernt liegt. Durch meine Dreistigkeit und Risikobereitschaft. Pro fessor Waronski ist der Meinung, dass man als Schrift steller Risiken auf sich nehmen, Widrigkeiten die Stirn bieten und ein bisschen besessen und verrückt sein müs se. So nahm ich also meinen ganzen Mut zusammen (was mich nicht viel Anstrengung kostete, weil ich nicht gera de ein Hasenfuß bin) und riskierte es, Meredith Martin einen Brief zu schreiben. Im Brief erklärte ich: 1. Ich will unbedingt Schriftstellerin werden. Es war schon immer mein sehnlichster Wunsch. Ich würde lieber schreiben als essen und trinken, was nur eine geringfügige Übertreibung ist. 2. Ich werde mein erstes Semester im Herbst an der Universität von Boston beginnen, mit Kommunikati onswissenschaften im Hauptfach, was aber auf Schriftstellerei hinausläuft. Dann ließ ich die Katze aus dem Sack: 3. Ich bin die Nichte eines ihrer berühmtesten Autoren – des Autors von Verletzungen im Paradies und all der anderen herrlichen Romane. (Eine entfernte Nichte, ja, aber immerhin verwandt.) Dann die Nötigung: 4. Könnte ich vielleicht als Praktikantin im Sommer in Ihrer Agentur arbeiten? Das Gehalt wäre kein Prob 182
lem, weil ich das Geld nicht dringend brauche. (Seit der Scheidung von meiner Mutter hat mein Vater so entsetzliche Schuldgefühle, dass er mich mit Geschen ken und Liebesbezeugungen nur so überschüttet und mir versprach mich zu unterstützen, wenn ich in mei nen Bemühungen um eine Praktikantinnenstelle bei Meredith Martin erfolgreich wäre.) Mein letztes Wagnis: Ich gab ihr meine Telefonnummer im Studentenheim, falls sie mich anrufen wollte. Was meine Zimmernachbarin, Dorrie Feingold, nicht mehr als Mut, sondern als Chuzpe bezeichnete. Aber o Wunder, Meredith Martin rief tatsächlich an und lud mich – vielleicht aus Neugierde – nach New York ein. Wir verstanden uns glänzend. Ich erfuhr, dass sie in ihrer Wohnung in Manhattan an Besucher ge wöhnt ist und ständig jemanden von ihren vielen Nich ten und Neffen aus dem Mittelwesten bei sich zu Gast hat. Meredith war früher Bibliothekarin in einer Klein stadt in Kansas und hat ein Zimmer in ihrer Wohnung nur für Feriengäste reserviert. Nicht nur stellte sie mich ein – zu einem minimalen Gehalt bei maximalen Anfor derungen –, sondern sie forderte mich auch dazu auf, in ihre Wohnung zu ziehen, und wies sogar meinen Dank zurück. »Ich verdanke Paul viel mehr als das«, sagte sie. Was verdankte sie ihm? Ich fragte sie nicht danach. So viel Mut hatte ich dann auch wieder nicht. Und so sitze ich nun hier in Manhattan, in Merediths Wohnung. Es ist die dritte Woche meiner Tätigkeit für Broome & Co.: Ich öffne die Post, tippe die Verträge und mache Telefondienst. Und ich finde alles sehr aufregend, 183
ganz zu schweigen vom Rummel in der Stadt selbst, in diesem herrlichen Sommer 1988. Noch etwas mehr Hintergrundinformation, bevor ich weitererzähle: Es ist eine der großen Tragödien meines Leben, dass ich meinen berühmten Onkel, den Romancier, nie per sönlich kennen gelernt habe. (Ich habe mich immer so auf ihn bezogen – schließlich ist er ja wirklich berühmt und mein Onkel.) Er starb 1967 im Alter von zweiund vierzig Jahren. Ich war damals noch nicht einmal auf der Welt, übertreibe aber nicht, wenn ich behaupte, dass er den wichtigsten Einfluss auf meinen Werdegang hatte. Gierig verschlang ich seine Romane und Kurzgeschich ten, lange Passagen kann ich auswendig. Im Gymnasium und während der ersten zwei Jahre an der Universität von Boston habe ich unzählige Aufsätze über seine Werke geschrieben. Ich habe verschiedene Artikel und Rezensi onen aufgestöbert, die er für kleine und unbekannte Ma gazine schrieb. Der Grund, weshalb ich an die Universität von Boston wollte, war die Nähe zu Monument, wo mein Onkel ge lebt hat. Ich habe die Straßen abgeklappert, durch die er gelaufen ist, habe in der Kirche von St. Jude gebetet, ha be mich gegenüber der Kirche vor dem Mietshaus her umgedrückt, wo er im obersten Stockwerk wohnte, als ob ich erwartete, dass sein Geist dort hervortreten und mich mit einem Lächeln begrüßen würde. (Ich frage mich, ob er jemals gelächelt hat, mein Großvater sagte, dass er ein sehr ernster, sensibler Mensch gewesen sei, der immer ein bisschen traurig und versonnen zu sein schien.) Mein Großvater ist natürlich meine direkte Verbindung zu meinem berühmten Verwandten. Sie waren Vettern ers ten Grades, die zusammen aufwuchsen und in der glei 184
chen Klasse im Gymnasium ihren Abschluss machten. Jedes Mal wenn ich in Monument bin, gehe ich immer zuerst zu meinem Großvater ins Polizeipräsidium. Er antwortet geduldig und sorgfältig auf meine Fragen und fährt mich manchmal in Frenchtown herum, zeigt mir Sehenswürdigkeiten und Schauplätze, die in den Roma nen und Kurzgeschichten nur leicht verfremdet auftau chen. Zeit für wahre Bekenntnisse: Ich muss zugeben, dass mich oft die Vorstellung quält, gar keine richtige Schriftstellerin zu sein, sondern dass ich mich nur durch die Blutsverwandtschaft mit einem berühmten Autor zur Schriftstellerei verleiten ließ. Bin ich dadurch wirklich zur Schriftstellerin prädestiniert? Wenn die Worte nicht richtig fließen oder oberflächlich und schal erscheinen, werde ich von Zweifeln geplagt und quäle mich. Das ist mein Dilemma, die Bürde, die ich immer mit mir herumschleppe. Einer der Gründe – wenn nicht der Hauptgrund –, wa rum ich von Meredith Martin eingestellt werden wollte, war, dass ich hoffte, ihr eine meiner Arbeiten vorlegen zu können, um von ihr eine Antwort auf die quälende Frage zu bekommen: Was bin ich nun wirklich? Eine Schrift stellerin oder eine Stümperin? Und noch ein Bekenntnis von großer Wichtigkeit, das erklärt, warum ich Höllenqualen leide, während ich das hier niederschreibe: Ich bin eine entsetzliche Schnüffle rin. Ich horche die Leute schamlos aus. Ich öffne zwar nicht die Post von anderen Leuten oder höre mit, wenn andere telefonieren, was ich aber tue: Ich mische mich in anderer Leute Angelegenheiten ein. Schließlich will ich ja Schriftstellerin werden und muss etwas über die Men schen herausbekommen. Was sie tun und warum sie es 185
tun. Also. Ich gebe zu, dass ich an dem Tag – es war ge nau vor einer Woche –, als ich das Manuskript in einem Wandschrank von Meredith entdeckte, herumgeschnüf felt habe. Ich habe die Wohnung aber nicht gezielt nach irgendwelchen dunklen oder unanständigen Geheimnis sen durchsucht. (Ich habe sogar die Bündel mit Briefen in ihrem Mahagonisekretär links liegen lassen.) Ich wollte einfach mehr über sie selbst erfahren. Welches Parfüm sie mag. Welches Briefpapier sie für ihre persönliche Post benutzt. So was eben. Meredith ist sehr ordentlich und geht bei allem sehr systematisch vor. (Eine Frau kommt zweimal in der Wo che, um Ordnung zu machen, aber sie hat sehr wenig zu tun.) Wenn es überhaupt ein Durcheinander gibt in ihrer Wohnung, dann entsteht es durch die Schachteln. Kö nigsblaue Schachteln, 20,5 x 23,5 cm groß, mit der Auf schrift BROOME & COMPANY, die in der ganzen Wohnung verstreut sind. Gehäuft, gestapelt, aufgetürmt. Sie enthalten natürlich die Manuskripte, über denen Me redith an jedem Tag ihres Berufslebens von früh bis spät sitzt. Bei meinen Nachforschungen über Meredith zog ich Schubladen auf und öffnete Wandschränke. Ich war be eindruckt von den Etiketten, die überall dran waren, an gefangen bei den Koffern bis zu den Klamotten – Vuit ton, Halston, Laura Ashley. Meredith ist versessen auf Hüte: besonders große Hüte mit breitem Rand, Schlapp hüte. (»Ich bin im falschen Jahrhundert geboren«, be hauptet sie von sich.) In einem der Wandschränke befin den sich unzählige Fächer mit Hüten. In diesem Wandschrank machte ich dann auch meine Entdeckung; im obersten Fach, versteckt in einer Ecke, fand ich eine Schachtel. Die Art von Schachtel, die ge 186
wöhnlich 500 Bogen Schreibmaschinenpapier enthält. Aus dem Leim gegangen, abgenutzt und mit eingedrück ten Ecken unterschied sie sich von den offiziellen Broo me-&-Company-Schachteln. Ich stellte mich auf die Ze henspitzen und nahm sie vorsichtig herunter. Obgleich mir Meredith erlaubt hatte, einige der Manuskripte in den Broome-Schachteln durchzulesen, zögerte ich nun. Sollte ich auch diese unbeschriftete Schachtel öffnen? Zum Teufel, warum denn nicht? Ich nahm den Deckel herunter und mir verschlug es den Atem, als ich die kurze Notiz auf der vergilbten ers ten Seite las: Wenn du dies einmal lesen wirst, liebe Meredith, wer de ich wahrscheinlich schon lange tot sein. (Du siehst,
wie sehr ich darauf vertraue, dass du mich so lange
überleben wirst!) Mach damit, was du willst.
Ich danke dir für alles.
Paul
Ich sank wie betäubt zu Boden. Nach einer Weile begann ich das Manuskript im Eiltempo zu lesen, ohne Pausen, von der Eingangsszene, als das Familienfoto in Kanada gemacht wurde, bis zur letzten traurigen Eintragung, die von Bernards Tod berichtete. Die Zeit verging wie im Flug. Ich wusste nicht, wie lange ich gelesen hatte. Ich bedauerte, dass ich weder rauchte noch trank, noch Drogen nahm, denn dann hätte ich jetzt wenigstens etwas zu tun gehabt. Ich ging ins Wohnzimmer, ohne mir meines Gangs durch die Zimmer bewusst zu sein. Gierig verschlang ich ein paar Pralinen, ohne etwas davon zu haben. Mir wurde leicht übel. Mein Gott, ich war über ein posthumes, unveröffent 187
lichtes Manuskript eines der berühmtesten Schriftsteller der Nation gestoßen, das von seiner Agentin hier unter Verschluss gehalten wurde. Und nun war auch ich in das Geheimnis eingeweiht. Das hast du nun von deiner Schnüffelei, Susan, Baby. Vielleicht heilt dich das von dieser üblen Gewohnheit. Mein Gewissen regte sich. Das Problem war nur: Was tun? Es sollte sich aber zeigen, dass ich gar nichts tun musste. An diesem Abend kam Meredith vom Wind zerzaust nach Hause, warf ihren breitkrempigen Hut auf den Tisch im Flur, schaute mich abwechselnd an und wieder weg und sagte schließlich: »Du hast es also gefunden, nicht wahr?« Ich fing an, Entschuldigungen zu stammeln, und wuss te vor Verlegenheit nicht, was ich mit meinen Händen und Füßen tun sollte. »Bitte, Susan, spar dir die Entschuldigungen. Viel leicht wollte ich ja, dass du’s findest. Ich hätte auch ein besseres, weniger zugängliches Versteck dafür suchen können. Zum Beispiel drunten im Büro, in dem großen, alten Safe. Lass mich erst mal Luft holen – ich bin ganz kaputt – und dann reden wir darüber.« Als wir uns dann später gegenübersaßen, zwischen uns auf dem Couchtisch das Manuskript, sagte Meredith: »Paul sagte mir einmal, dass dem Autor zumindest ein bedeutendes Zusammentreffen von wichtigen Ereignis sen im Roman gestattet ist. Vielleicht gilt das auch ganz allgemein für das Leben. In meinem Fall war es der Tag, an dem du nach der Praktikantenstelle gefragt hast, zufäl lig war es auch der Tag, an dem mir Pauls Manuskript gebracht wurde …« 188
»Woher ist es gekommen? Wo war es denn all die Jah re?«, fragte ich. »Es wurde mir von einem Rechtsanwalt in Monument zugesandt. Von Lionel Duschenes, einem alten Hasen, der behauptete, dass ihm Paul das Manuskript 1967, ein paar Wochen vor seinem Tod, persönlich überbracht ha be mit der Verfügung, es bis 1988 zurückzubehalten und es mir dann zu übergeben.« Sie lehnte sich zurück und schloss die Augen. »Armer Paul. Schien nie glücklich zu sein. Fühlte sich immer von etwas – verfolgt. Ich hatte ihn ganz besonders ins Herz geschlossen. Verletzungen im Paradies, sein erster Roman, war auch der erste Ro man, den ich als Agentin verkauft habe. Wir haben beide zusammen angefangen, ich, das schüchterne, junge Ding aus Kansas, und Paul, der schüchterne Schriftsteller aus Neuengland …« Sie öffnete die Augen wieder, sie glänzten – vielleicht von Tränen? »Was quält dich so, Meredith?« »Das Manuskript. Es geht mir nicht aus dem Kopf. Ist es …« Sie stockte, stellte die Frage nicht. »Du hast es gelesen, sag mir, was du davon hältst.« »Nun, vor allen Dingen ist es ein Fragment, unvoll ständig. Es hat mich aber sehr berührt …« Meredith war so still wie der kristallene Briefbeschwe rer in Form eines Rehkitzes, der neben dem Manuskript auf dem Tisch lag. Ich kam nun in Fahrt, weil ich gewöhnlich immer eine Show abziehe, wenn ich im Mittelpunkt stehe, und sagte: »Was mir auch aufgefallen ist, ist, dass Paul hier zum ersten Mal in seinem literarischen Werk reale Namen für seine Personen benutzt. Gut, nur die Vornamen. Moreaux statt dem eigentlichen Familiennamen Roget …« 189
»Einige Namen sind aber schon real«, fügte Meredith hinzu: »Silas B. Thornton Junior High ist zum Beispiel eine Schule, die es wirklich gibt. Und auch Monument …« »Richtig«, stimmte ich ihr zu, »und man kann auch die Personen wieder erkennen. Wie zum Beispiel meinen Großvater, Pauls Vetter Jules. Opa hat mir viel von Paul erzählt. Über ihre gemeinsame Kindheit. Und im Manu skript hört es sich auch so an, wie es mir mein Großvater geschildert hat …« »Was ist dir sonst noch aufgefallen?«, fragte Meredith. »Nun, es gleicht sicherlich seinen Romanen und Kurzgeschichten. Er hat Frenchtown immer als Hinter grund benutzt. Einige Kritiker haben ihn als autobiografi schen Schriftsteller hingestellt, was er aber nicht wirklich war. Ich will damit sagen, dass er seine vertraute Umge bung, das frankoamerikanische Milieu, verwendet hat, um seine fiktiven Plots dort anzusetzen. Zum Beispiel ist Verletzungen im Paradies eine Vater-Sohn-Geschichte zur Zeit der Weltwirtschaftskrise …« Ich bemerkte, dass ich mich selbst zitierte aus einem Referat, das ich im letzten Semester bei Professor Waronski geschrieben hatte: »Der Vater arbeitet in einer Fabrik, der Sohn hat künstlerische Ambitionen, will in der Welt herumreisen. Der Höhepunkt des Romans ist ein Feuer, in dem der Vater umkommt. Aus Pietät gegenüber seinem Vater verzichtet der Sohn auf seinen Traum vom Reisen und arbeitet anstelle seines Vaters in der Fabrik. Im wirkli chen Leben starb Pauls Vater im reifen Alter von 76 Jah ren im Bett. Und Paul wurde Schriftsteller und arbeitete keinen einzigen Tag lang in der Fabrik. Das war seine übliche Methode, eine fiktive Geschichte vor einem sehr realen Hintergrund anzusetzen.« »Stimmt, Susan«, sagte Meredith. »Das ist das Muster, 190
das allen seinen Büchern zugrunde liegt – Komm nach Hause, komm nach Hause und Zwiegespräch um Mitter nacht. Es ist immer das gleiche Milieu – nämlich French town –, die Charaktere aber hat er verfremdet. Warum? Weil Frenchtown eine kleine Welt für sich ist, in der je der jeden kennt und man wirklich existierende Personen wieder erkennen würde … Nun aber nennt er die Perso nen bei ihrem richtigen Namen, beschreibt Straßen, die es wirklich gibt. Es ist, als ob – « Langsam dämmerte es mir, als ich ihr zuhörte, hörte, wie sie sich verlegen räusperte, sah, wie sie die Stirn run zelte und den Briefbeschwerer genau in die Mitte des Tisches legte. »Als ob was?« »Ich weiß, dass es sich verrückt anhört, aber – als ob er seine Biografie geschrieben hätte. Paul war 1938 drei zehn Jahre alt, wie die Hauptperson seines Romans, des sen Name ebenfalls Paul ist. Während der Zeit, in der ich seine Agentin war, habe ich Monument mehrere Male besucht, weil Paul nie nach New York kommen wollte. Sogar als er für Zwiegespräch um Mitternacht den Coo ver-Preis gewann. Der Coover bedeutet sogar noch mehr als der Pulitzerpreis – er wird nicht jedes Jahr verliehen, sondern nur, wenn ein Roman herauskommt, der ihn ver dient. Aber Paul wollte nicht an dem Fest teilnehmen und die Auszeichnung entgegennehmen. Andere Schriftsteller hätten sich danach die Finger geleckt. Er verfasste eine Rede, die er mich bei der Preisverleihung zu halten bat. Er vermied auch Bücherpremieren – Harbor House ist berühmt für seine fantastischen Partys, wenn seine Star autoren ein Buch herausbringen. Paul drückte sich immer davor. Er gab stattdessen eine Party in Monument, lud aber niemanden aus dem Verlagsgeschäft dazu ein, außer 191
mir. So habe ich ihn und seine Familie kennen gelernt. Deinen Großvater Jules, seine Mutter und seinen Vater. Seinen Bruder Armand und seine Zwillingsschwestern, besonders aber seine jüngste Schwester, Rose, die er of fensichtlich vergötterte. Sie sind alle im Manuskript, Su san. Die ganze Familie, genau wie er sie mir beschrieben hat, wenn er über seine Kindheit sprach.« Ich sagte nichts und wartete, bis sie weitermachte, weil ich wusste, dass noch mehr kam. »Was mich auch wundert, ist, warum hat er einen Rechtsanwalt beauftragt, das Manuskript bis 1988 zu rückzuhalten? Vielleicht, damit die Personen, denen die Charaktere ähneln, nicht mehr am Leben sind?« »Die meisten sind aber noch am Leben, Meredith. Mein Großvater, sein Bruder Armand und seine Schwestern …« »Die alten Leute sind es aber nicht mehr. Seine Mutter und sein Vater. Die meisten seiner Tanten und Onkel sind tot – und diejenigen, die noch am Leben sind, sind noch nicht so alt. Vielleicht hat sich Paul diese Zeit aus bedungen, um sie zu schützen. Wahrscheinlich hat er gemeint, dass seine Zeitgenossen, wie zum Beispiel dein Großvater, durch die Geschichte nicht verletzt werden oder sich darüber aufregen …« »Warum sollte sich jemand darüber aufregen?«, fragte ich, »sie haben sich doch über die anderen Romane auch nicht aufgeregt?« »Das kann man doch nicht mit den anderen Romanen vergleichen …« Was sie andeutete, war natürlich absurd. Und doch – Ich fühlte, wie die Farbe aus meinem Gesicht wich. Gleichzeitig fragte ich mich, ob jemand tatsächlich füh len konnte, dass ihm die Farbe aus dem Gesicht wich. Lächerlich. 192
»Was ist?«, fragte Meredith. »Nichts.« Es war aber doch etwas; etwas, das mir mein Großvater während meiner Besuche in Monument erzählt hatte. Ich wollte jetzt aber nicht darüber sprechen. Noch nicht. »Meredith, was hast du mit dem Manuskript vor? Kann man es veröffentlichen? Es scheint nur ein Roman fragment zu sein …« »Doch, man kann es veröffentlichen. Natürlich nicht als Roman, sondern als Teil einer Sammlung von Pauls Schriften.« Ihr Ton war nun geschäftsmäßig, ruhig, die Agentin sprach wieder aus ihr. »Harbor House trägt sich seit einiger Zeit mit dem Gedanken, eine Sammlung von Pauls Aufsätzen, Rezensionen und ein paar der Kurzge schichten herauszubringen, die noch nicht in Buchform erschienen sind. Dieses Manuskript würde gut dazu pas sen. Stell dir vor, ein unveröffentlichtes Werk von Paul Roget! Es könnte das Kernstück sein, aber – « »Warum zweifelst du?« Sie seufzte tief und sank zurück aufs Sofa, war nun wieder alles andere als eine Agentin. »Wollte es Paul wirklich veröffentlichen?« »Er hat es dir schließlich zugespielt, nicht wahr? Du bist seine Agentin – und es ist dein Job, Literatur heraus zubringen.« »Ich weiß, ich weiß …« Sie nahm das Manuskript zur Hand. »Mir wird aber immer mehr bewusst, wie verstört er in seinen späteren Jahren war. Er hörte auf zu schrei ben und kapselte sich ab. Und dann taucht plötzlich die ses Manuskript auf. Ein rätselhaftes Manuskript. Ich habe mich gefragt, ob ich die richtige Person bin, um darüber zu entscheiden, oder ob ich mit jemandem aus Pauls Fa milie Kontakt aufnehmen sollte. Jemandem mit einer 193
objektiven Meinung. Also habe ich mich an deinen Großvater gewandt …« »Großvater? Er war aber Pauls Vetter, er ist mit ihm aufgewachsen. Wie sollte er objektiver sein als du?« »Er ist Polizist. Ein Untersuchungsbeamter. Es ist sein Job, Fakten und die Wahrheit herauszufinden. Also bin ich vor zwei Wochen nach Monument gefahren und habe das Manuskript mitgenommen. Habe ihn gebeten, es zu lesen und ihn nach seiner Meinung gefragt. Welche Mei nung denn, wollte er wissen. Ich sagte – aber Moment, Susan. Lies es selbst.« Auf dem Weg zu ihrem Schreibtisch rief sie mir über die Schulter zu: »Wie ich vermutet habe, ist dein Großva ter ein Mensch, der sehr systematisch vorgeht. Er hat mir einen Bericht gesandt.« Sie zog eine Schublade auf und entnahm ihr einen gewöhnlichen weißen Briefumschlag. Sie hielt inne, als sie den Brief in der Hand hielt, und brachte ihn mir dann. »Da, lies«, sagte Meredith, »und dann reden wir wei ter …« Als ich den Briefumschlag öffnete, stellte ich fest, dass weder Meredith noch ich bisher das Ausblenden erwähnt hatten. DATUM: 3.7.88 AN: Ms. Meredith E. Martin VON: Leutnant Jules J. Roget BEZUG: nicht betiteltes Manuskript von Paul Roget Im Folgenden finden Sie meinen Bericht zu dem Manu skript, das Sie mir am 30. 6. 88 in meinem Büro vorge legt haben. Als Sie mir an jenem Tag gegenübersaßen, konnte ich 194
Ihnen ansehen, dass Sie das Manuskript beunruhigt hat. Da ich kein Literaturkritiker bin, nahm ich an, dass Ihre Besorgnis Fakten und Personen im Buch galt, und Sie deswegen die Sache von mir überprüft haben wollten. Vielleicht wollten sie mich sogar verleumderische Aus sagen kontrollieren lassen. Paul war immer sehr wahr heitsgetreu in seinen Büchern und Geschichten, und sehr oft bedurfte es jemanden, der mit der Szenerie vertraut war, um die Grenzen von Realität und Fiktion aufzuzei gen. Ich muss zugeben, dass es für mich ein Schock war, Pauls Stimme so viele Jahre nach seinem Tod wieder zu »hören«. Mehr als einmal musste ich meine Lektüre ab brechen, weil ich von Gefühlen überwältigt wurde. Ob wohl es mich traurig stimmte, war ich froh, dass Sie mir das Manuskript gebracht haben. Durch Ihre häufigen Be suche in Monument und Frenchtown über all die Jahre und Ihre langjährige Hingabe an Paul und seine Karriere habe ich das Gefühl, dass Sie zu unserer Familie gehö ren. Um zur vorliegenden Angelegenheit zurückzukeh ren: Beim Durchlesen des Manuskripts wurde mir klar, dass Sie mich gar nicht gebeten hatten, Fakten und Per sonen nachzuprüfen. Ich kann mir nun die Frage denken, die Sie mir stellen wollten, jedoch gezögert haben, sie auszusprechen. Lassen Sie mich die Frage beantworten: Diese Erzählung ist nicht autobiografisch. Ich werde in diesem Bericht den Beweis erbringen, dass das, was Paul geschrieben hat, reine Erfindung ist. Lassen Sie mich zuerst auf die Unsichtbarkeit eingehen: Das Ausblenden – wie es Paul genannt hat – kann man 195
unmöglich als Tatsache akzeptieren. Jeder vernünftige Mensch muss es als einen Auswuchs wildester Fantasie verwerfen. Paul hat sich in seinen Romanen immer mit Realismus befasst und nie einen Hang zu Science-Fiction oder Fantasy an den Tag gelegt. Wie so viele von uns, die der Generation der Dreißiger- und Vierzigerjahre an gehören, war er vernarrt ins Kino, wo man sich in meiner Jugend bei einem Kinobesuch immer zwei Filme pro Vor stellung ansehen konnte. Viele der Filme, besonders die Serien jener Zeit, befassten sich mit dem Fantastischen. Zum Beispiel Bück Rogers und Flash Gordon – Serien, die von Weltraumabenteuern handelten. Und dann gab es einen unvergesslichen Film, der Jung und Alt bewegte, Der Unsichtbare mit Claude Rains in der Hauptrolle. Möglicherweise wurde Paul durch den Film zur Idee des Ausblendens inspiriert und hat einige Jahre gewartet, bis er seinen eigenen Zugang zu dem Thema gefunden hatte. Davon abgesehen glaube ich, dass niemand bezweifeln kann, dass das Ausblenden, oder wie man es auch nennen mag, nicht möglich ist. Allein das Ausblenden beweist, dass die Geschichte pure Erfindung ist. Das ist jedoch ein so offensichtlicher Schluss, dass ich glaube, Sie suchten nach einem anderen Beweis oder so gar nach etwas, das gar nicht existiert. Um zu erfüllen, was ich für meine Pflicht halte, möch te ich noch auf andere Beispiele zu sprechen kommen, die meine These untermauern, dass dieses Werk fiktiv ist. Zum Beispiel die Fotografie. Wir müssen uns zuallererst mit der Fotografie befas sen, weil sie der Dreh- und Angelpunkt der Geschichte ist, ohne die Paul seine Erzählung vielleicht überhaupt nicht angefangen hätte. 196
Die Fotografie war gewiss real, es hat sie tatsächlich gegeben. Ich benutze die Vergangenheitsform, weil sie entweder verloren gegangen ist oder vernichtet wurde. Seit ich das Manuskript gelesen habe, verbrachte ich viel Zeit damit, die Fotografie wieder aufzuspüren, und ich habe Tante Olivine und Onkel Edgar nach dem Bild ge fragt. (Die einzige Tante und der einzige Onkel, die noch am Leben sind.) In ihrem hohen Alter (sie ist nun 87 Jah re alt) spricht Tante Olivine ständig von Kanada und der kleinen Farm, auf der sie aufgewachsen ist. Sie erinnert sich noch genau an den Tag, an dem das Bild aufge nommen wurde, weil es sie todunglücklich machte, Ka nada zu verlassen und in die Vereinigten Staaten auszu wandern. Sie kann sich noch genau daran erinnern, dass Adelard nicht auf dem Foto war, hat es aber als einen seiner Streiche abgetan (er war schon immer unaussteh lich, sagte sie). Dann sprach sie vom Tag ihrer Erstkom munion in der kleinen Kirche von St. Jacques, und es gelang mir nicht mehr, ihr noch etwas über das Foto zu entlocken. Als ich sie noch einmal nach Adelard fragte, wurden ihre Augen ganz glasig und sie schlief kurz dar auf ein. Auch Onkel Edgar hat ganz bestimmte Erinnerungen an die Fotografie. Obgleich Ende siebzig, erledigt er noch vielerlei Arbeiten in der Gemeinde von St. Jude. Er behauptet, dass sein Vater – der gemeinsame Großvater von Paul und mir – nie über die Fotografie sprechen wollte, weil er fand, dass Adelards Fehlen auf dem Bild am Vorabend des Neuanfangs in einem anderen Land ein böses Omen war. Onkel Edgar aber steht mit beiden Bei nen auf der Erde und glaubt nicht an Omen. Seiner Mei nung nach hat Adelard den Fotografen ausgetrickst, in dem er sich im entscheidenden Augenblick wegduckte. 197
Onkel Edgar wusste weder, was aus dem Bild, noch, was aus dem Fotoalbum geworden ist. Er sagte, dass im Jahr, als seine Eltern starben (sie starben 1965 innerhalb von fünf Wochen), die Söhne und Töchter, einschließlich ihm selbst, Bilder aus dem Album entnahmen, die für sie von persönlichem Wert waren. Onkel Edgar wählte ein Bild seiner Schwestern aus, die auf dem Rasen vor ihrem Zuhause in der Eighth Street posierten. Er sah weder das Album noch die übrigen Bilder wieder. Ich fragte auch Pauls Bruder Armand und seine Zwil lingsschwestern bei verschiedenen Anlässen nach der Fotografie. (Seine jüngste Schwester, Rose, ist 1978 an einem Gehirntumor gestorben.) Armand und Yvette sag ten, sie hätten von dem Foto gewusst, und erinnerten sich, aus Neugierde ab und zu einen Blick darauf gewor fen zu haben, aber mehr sei nicht gewesen. Yvonne sagte mir, dass sie die Fotografie nie gesehen habe und sich nur dunkel daran erinnere, dass darüber gesprochen wur de. In meinen Gesprächen mit ihnen brachte ich auch Pauls krankhafte Abneigungen zur Sprache – dass er sich zum Beispiel nie fotografieren ließ und nie Auto fuhr –, weil ich Anhaltspunkte zu finden hoffte, die die Ereignis se im Manuskript glaubwürdiger machen würden. Die Antworten fielen negativ aus. Obwohl ich ziemlich viel zu riskieren glaubte, fragte ich jeden Einzelnen von ihnen: »Ist Paul jemals von der Bildfläche verschwunden?«, stellte aber fest, dass ich überhaupt nichts riskierte, weil keiner die Frage wörtlich nahm. Armands Antwort war typisch: »Ach ja, er ist ab und zu von der Bildfläche verschwunden, aber immer wieder nach Frenchtown zurückgekehrt.« Meinen eigenen Kommentar zur Fotografie möchte ich erst jetzt, nach den Reaktionen der anderen preisge 198
ben: Ja, ich erinnere mich sehr gut daran, kann mich aber nicht daran erinnern, wie Paul auf Seite 2 des Manu skripts behauptet, dass ich ihn als Erster in das Geheim nis der Fotografie eingeweiht und zur Verschwiegenheit verpflichtet habe. Ich unterstreiche diese Worte, weil sie sich auf eine Stelle im Manuskript beziehen, die mich direkt angeht, wo aber meine Erinnerung sich nicht mit dem deckt, was Paul geschrieben hat. Ich zitiere das als schlagenden Beweis dafür, dass Paul, als er über die Fo tografie und das Ausblenden zu schreiben begann, eine fiktive Geschichte im Kopf hatte. Ich hörte die gleichen Geschichten, die Paul auch hörte, schenkte ihnen aber nicht viel Beachtung. Onkel Adelard trieb sich so viel herum, dass er für mich kaum zählte. So viel zu der Fotografie. Ich gebe zu, dass sie rätsel haft bleibt und ihr Vorhandensein, mit oder ohne Erklä rung, genügte, um jemand mit Pauls Sinn für Dramatik dazu zu inspirieren, den Sprung vom Unmöglichen zum Möglichen zu tun. Schließlich war alles, was er schrieb, frei erfunden. Er hat mir einmal gesagt, dass seine ge samte literarische Karriere die Antwort auf eine sehr ein fache Frage ist, nämlich: »Was wäre, wenn?« Lassen Sie mich nun zu den Personen und dem Hin tergrund der Erzählung kommen. Es ist offensichtlich, dass Paul auch hierbei wieder sein Geschick beweist, wirkliche Personen aus ihrer realen Umgebung herauszu greifen und sie in fiktive Charaktere in einer künstlichen Umgebung umzuwandeln. Er nimmt die Wahrheit und formt sie nach dem Plan, der ihm vorschwebt. Besonders in diesem Fragment erscheinen seine Charaktere dann real, wenn sie aus der Entfernung betrachtet werden. Aus der Nähe gesehen sind sie aber ganz anders. Zum Beispiel Tante Rosanna. 199
In Wirklichkeit war Tante Rosanna nicht die Person, die Paul auf dem Papier erschaffen hat. Ich habe noch eine lebhafte Vorstellung von ihr und ich habe auch mei ne Eltern ausführlich über sie sprechen hören. Wenn Paul sie geliebt hat – was natürlich möglich ist –, so könnte ich nicht behaupten, jemals auch nur andeutungsweise etwas von dieser Leidenschaft mitbekommen zu haben. Ich will nicht ihr Aussehen oder ihren Charakter schlecht machen, aber sie war nicht gerade die Schönheit oder das sanfte Opferlamm, das Paul aus ihr gemacht hat. Ja, sie war hübsch, aber im landläufigen Sinne, in dem es jede gesunde, junge Frau ist. Sie war vor allem rundlich und liebte knallbunte Kleider – Orange schien ihre Lieblings farbe gewesen zu sein – und sie trug auch immer hohe Absätze, was Paul angedeutet hat. Ihr Haar war das Beste an ihr (pflegte meine Mutter zu sagen) und sie probierte für ihr Leben gern Frisuren aus. Das heißt, bei anderen Leuten. Ihr eigenes Haar sah immer schlampig und zer zaust aus. Sie war gutmütig, ließ sich leicht ausnutzen und konnte keiner Fliege etwas zuleide tun, sagte meine Mutter. Aber sie hatte Pech mit den Männern. Was ihr Verhältnis mit Rudolphe Toubert anbetrifft, so zweifelte niemand in der Familie daran, dass er der Vater ihres Kindes war. (Es war nicht das streng gehütete Geheimnis, das Paul daraus machte.) Ich glaube aber nicht, dass Rudolphe ein unbescholtenes Mädchen ver führte. Die Annahme, dass Rosanna noch Jungfrau war, als sie sich mit ihm einließ, ist unbegründet. Rosanna war eine der wenigen Schülerinnen, die je von der Konfessionsschule von St. Jude hinausgeworfen wurden. In der siebten Klasse, mit dreizehn, wurde sie von Mr. LeFarge im »Jungen-Keller« (für die Nonnen der Deckname für Toilette) erwischt, wo sie vor sechs 200
oder sieben Jungen strippte, die sie anfeuerten und ihr Münzen vor die Füße warfen. Mr. LeFarge, der an leben und leben lassen glaubte – wahrscheinlich weil er die meiste Zeit bei den Toten auf dem Friedhof verbrachte –, verschwieg den Vorfall vor den Nonnen und Priestern. (Die Jungen plauderten es selbst aus.) Doch Rosanna wurde später in diesem Jahr von der Mutter Oberin in einer der Besenkammern mit zwei Jungen erwischt, wo sie eine Handlung vollzog, die zu beschreiben sich die Mutter Oberin nicht überwinden konnte, obwohl sie wis sen ließ, dass es gewiss eine Todsünde gewesen sei, die einen zur Hölle verdammte. Es ist durchaus möglich, dass Paul in seine Tante ver narrt war und dass sie ihn sexuell erregte. Rosanna hatte die Fähigkeit, jugendliche Gemüter zu verwirren. Meine eigenen Erinnerungen an sie hören ziemlich früh auf. Ob wohl sie sich aufs Frisieren verstand, kann ich mich nicht entsinnen, dass sie jemals einen eigenen Frisiersalon er öffnet hat, weder in Kanada noch in den Vereinigten Staa ten. Sie kam sehr selten nach Frenchtown zurück und ich kann mich nur noch dunkel an ihre Besuche erinnern. Kei ner in der Familie weiß, ob sie tot ist oder noch lebt. Ich war offen mit meinen Bemerkungen über Rosanna und hoffe nicht den Eindruck erweckt zu haben, als ob ich Rosanna damit schlecht machen wolle. Ich fand es jedoch wichtig zu zeigen, wie sehr Paul seine Tante in der Erzählung idealisiert, und habe das nur erwähnt, um meine These zu erhärten, dass Pauls Bericht Fiktion ist und er seine übliche Vorgehensweise angewandt hat, nämlich reale Personen und Schauplätze zu wählen, die er dann aufgrund seiner Gestaltungskraft in Geschöpfe seiner Einbildung verwandelte. Wie zum Beispiel Rudolphe Toubert: 201
Der ja kaum ein Ausbund von Tugend war, wie sich aus unseren Polizeiakten ersehen lässt – aber auch nicht der Bösewicht, als den ihn Paul geschildert hat. Er war alles andere als ein Held und hat oft gegen die Gesetze verstoßen. Wie Paul berichtet, hat er seine Frau betrogen und vor ihren Augen mit anderen Frauen Affären gehabt. Doch obwohl sie unser Mitgefühl verdient, weil ihre Krankheit sie an den Rollstuhl fesselte, war sie nicht ge rade die liebenswerteste Person in Frenchtown, und es war bestimmt nicht leicht, mit ihr zu leben. (Heute würde ihre Krankheit wahrscheinlich als psychosomatisch be zeichnet werden.) Sie war scharfzüngig und hatte für niemanden ein freundliches Wort übrig, auch bevor sie an den Rollstuhl gefesselt wurde. Dies entschuldigt na türlich nicht Rudolphe Touberts Affären, hilft aber, seine Promiskuität zu erklären. Es stimmt aber auch, dass Rudolphe Toubert den Be wohnern von Frenchtown während der Wirtschaftskrise geholfen hat, wenn auch auf illegale Weise. Man darf nicht vergessen, dass die Frankokanadier damals noch als arme Einwanderer angesehen wurden und bei den Ban ken und Geschäftsleuten nicht gerade hoch im Kurs stan den. Durch seine verschiedenen Lotterien machte Rudol phe den Leuten wieder Hoffnung. (Verkaufte ihnen Hoff nung, wäre die treffendere Bezeichnung dafür, so wie es Pauls Vater in der Erzählung ausdrückte.) Aber Rudolphe Toubert hat sich auch nie vor der Bezahlung gedrückt, hat die Gewinner immer ausbezahlt. Und er hat regelmäßig, ohne zusätzliche Sicherheiten, größere Geldbeträge an die Bewohner von Frenchtown verliehen und von den Leuten nur verlangt, die Schuld zu einem Zinssatz abzuzahlen, der, wenn auch hoch, doch nicht unerschwinglich war. Was Touberts Grausamkeit anbetrifft, so ist es eine 202
Tatsache, dass er dem Mann namens Paul Rodier einen Denkzettel verpassen wollte, weil dieser sich weigerte, seine Schulden zurückzubezahlen. Ohne Strafe wäre sein ganzes Kreditwesen zusammengebrochen. Toubert hat seine Schläger aber nur angewiesen, Jean Paul ein biss chen aufzuschrecken und ihm ein paar Hiebe zu verpas sen. Aber die Schläger ließen sich hinreißen. Jean Paul gehörte zu den meistgehassten Bewohnern von French town, er hatte eine große Klappe, verprügelte, wie man wusste, seine schwächliche Frau, die keine 45 Kilo wog, und zahlte seine Schulden nicht zurück. Kaum jemand bedauerte also den Überfall auf Rodier. Mir ist klar geworden, dass ich mich anhöre, als wolle ich Rudolphe Toubert in Schutz nehmen, ebenso wie ich Tante Rosanna sehr unvorteilhaft gezeichnet habe. Meine Absichten unterscheiden sich jedoch von denen Pauls: Seine Berichte sind erfunden, ich versuche mich dagegen an die Tatsachen zu halten. Ich glaube auch, dass ich über die Tatsachen besser informiert bin, als es Paul war, und sie als solche besser einzuschätzen weiß. Ich führte einmal ein Gespräch mit Paul – nach der Veröffentlichung seines zweiten Romans Komm nach Hause, komm nach Häusel –, in dem wir über die alten Familienfeste sprachen, besonders über den Neujahrstag, den die Frankokanadier Jour de l'An nennen. An diesem Tag kam die Familie immer im Hause meines Großvaters zusammen, es gab viel zu essen und zu trinken und es wurde viel gesungen. In gewisser Weise wurde er mehr gefeiert als Weihnachten. Jedenfalls fingen Paul und ich an, uns an die Familien feiern in unserer Kindheit zu erinnern und besonders an einen Jour de l’An, bei dem ich mich mit ihm aus dem Staub gemacht hatte, um in der Scheune heimlich Ziga 203
retten zu rauchen, und wir aus Versehen das Heu in Brand steckten. Wir mussten vom Scheunenboden herun terklettern, um die Flammen zu löschen, was uns glückli cherweise gelang, bevor sich das Feuer ausbreitete. Ich werde nie das Wiehern von Richard vergessen, so hieß das alte Pferd meines Großvaters. Das Tier klang beinahe menschlich in seiner Angst vor dem Rauch und den Flammen. Paul wurde ganz still, nachdem wir über den Vorfall gesprochen hatten. »Das ist also wirklich passiert?«, fragte er schließlich. »Klar ist es passiert«, erwiderte ich, »erinnerst du dich etwa nicht mehr daran?« »Ja, doch«, sagte er, »weißt du, Jules, ich habe so viel von dem, was in jener Zeit passiert ist, in Dichtung umge setzt, dass ich mir manchmal, wenn ich meine Bücher wie der durchlese und an die Vergangenheit zurückdenke, nicht mehr sicher bin, was wirklich passiert ist und was nicht.« Das ist einer der Gründe, warum man sich nicht darauf verlassen kann, dass sich Paul beim Schreiben an die Tatsachen hält. Seiner Fantasie, die eine seiner größten Gaben war, hat er nicht nur freien Lauf gelassen, sie hat ihn auch dazu befähigt, gewöhnliche Ereignisse und Menschen aus seinem Leben herauszugreifen und sie eindrucksvoller zu gestalten, als sie es in Wirklichkeit waren. Der Vater in Verletzungen im Paradies ist eine denk würdige Gestalt, die die Kritiker mit der Hauptperson von Hemingways Old Man and the Sea verglichen ha ben, während mein Onkel, Pauls Vater, auf den die Figur zurückgeht, ein ganz normaler Mensch war, ohne die tragische Dimension, die ihm Paul dank seiner Schöpfer kraft verliehen hat. 204
Der hiesige Polizeichef hat mir einmal gesagt, dass ich wenig oder gar keine Fantasie hätte. Ich fasste die Be merkung als Kritik auf, bis er mir sagte, dass er mir in Wirklichkeit ein hohes Lob spende. Meine Stärke als Po lizist rühre von der Fähigkeit her, die Dinge so zu sehen, wie sie wirklich sind, und bei meinen Ermittlungen im mer logisch vorzugehen. Er meinte, dass ich mich selten von der richtigen Spur ablenken ließe oder mir vergebli che Mühe mache, weil ich in der Lage sei, echte Hinwei se von falschen Fährten oder Ablenkungsmanövern zu unterscheiden. Ich glaube, dass mich diese Eigenschaften dazu befähigen, Pauls Manuskript richtig einzuschätzen. Nicht nur als lebenslanger Einwohner von Frenchtown, sondern auch in meiner Eigenschaft als Polizeikommissar bin ich berechtigt, diese Beobachtungen über Frenchtown und die Ereignisse anzustellen, über die Paul schreibt. Im Polizeipräsidium einer kleinen Stadt fließen viele Infor mationen zusammen, Informationen, die sowohl die Ver gangenheit als auch die Gegenwart betreffen. Wir haben zum Beispiel ein vollständiges Dossier über Rudolphe Toubert, in dem auch die ehrenvollen Erwähnungen sei tens der Gemeinde für seinen Einsatz zugunsten der Ju gend von Frenchtown vermerkt sind. Paul beurteilt Ru dolphe Touberts Monopol über die Zeitungsausträger in der Geschichte ziemlich abwertend. Obwohl Toubert sei ne Macht über die Jungen genossen haben mag, hat er doch auch hunderten von ihnen die Gelegenheit gegeben, sich während der Wirtschaftskrise ihr erstes Geld zu ver dienen. Er hat ihnen auch Schutz gewährt. (Die Zeitungs jungen in den anderen Teilen der Stadt wurden oft von älteren Jungen verprügelt oder eingeschüchtert; und ein schüchterner Junge wie Bernard zum Beispiel hätte die brutalen Zustände in der Innenstadt von Monument über 205
haupt nicht überlebt.) Paul versäumt auch die jährlichen Weihnachtsfeiern zu erwähnen, die Rudolphe Toubert für die Jungen abgehalten hat, und die Geschenke, die sie bekamen. Ich glaube, dass Paul, um der Dramatik willen, einen Bösewicht brauchte und dass ihm Rudolphe Tou bert zu diesem Zweck vorzüglich gedient hat. Das bringt uns zu Touberts Tod. In unseren Akten wird sein Tod immer noch als ungelöster Mordfall ge führt. Seine Leiche wurde am 19. Dezember 1938 mit zahl reichen Stichwunden in seinem Büro aufgefunden. In derselben Nacht verließ einer von Touberts Angestellten namens Herve Boisseneau die Stadt. Er wurde von einem zuverlässigen Zeugen dabei beobachtet, wie er den Zug nach Boston bestieg. Rudolphe Touberts Safe war ge plündert worden und Boisseneau kannte die Kombinati on. Herve Boisseneau blieb für immer verschwunden, die Mordwaffe wurde nie gefunden. Am Vortag des Mordes waren Rudolphe Toubert und Herve Boisseneau in einen massiven Streit verwickelt gewesen. Boisseneau war ein kräftiger Mann, der in der Lage gewesen wäre, Toubert zu überwältigen und ihm die tödlichen Wunden zuzufü gen. Man muss auch beachten, dass Paul den Mord an Ru dolphe Toubert nicht wirklich beschrieben hat. Warum diese Auslassung, wenn er so viele andere Szenen so aus führlich beschrieben hat? Die Ereignisse in jener tragischen Nacht haben wirk lich stattgefunden: Pauls Vater wurde in dem Handge menge vor der Fabrik verwundet und auf dem schnellsten Weg ins Krankenhaus gebracht. Obgleich er viel Blut verlor, wurde seine Wunde nicht als kritisch angesehen, und er hat sich schnell wieder erholt. Doch nach den Po 206
lizeiberichten zu urteilen, die immer noch im Archiv sind, hat er zu keinem Zeitpunkt in Lebensgefahr ge schwebt. Paul hat die Verletzung seines Vaters offen sichtlich übertrieben, um für die Ereignisse jener Nacht einen dramatischen Höhepunkt zu schaffen. Tragisch ist auch, dass nach Pauls Erzählung sein Bruder Bernard drei Wochen später ganz plötzlich und ohne ersichtlichen Grund starb. In Wirklichkeit aber ergab die Autopsie von Bernards Leiche, dass er unter einem angeborenen Herz fehler litt, von dem seine Familie nichts gewusst hatte. Wie so oft in jenen Tagen wurde auch Pauls Bruder ein fach als »schwächlich« angesehen, was man seinem Mangel an Appetit und Kraft zuschrieb. Was unseren Onkel Vincent anbetrifft, der viele Jahre zuvor verstorben war und dessen unerwarteter Tod von Paul mit dem Ausblenden und mit Bernards Tod in Ver bindung gebracht wird, so verlasse ich mich auf meine eigene Erinnerung und auf das, was ich von Onkel Edgar erfahren habe. Offensichtlich war Vincent vom Tag sei ner Geburt an kränklich, ging selten ins Freie zum Spie len und war eine Klasse hinter den anderen Kindern in seinem Alter zurück, weil er so viel Unterricht versäum te. Sein Tod, der seine Familie in großes Leid stürzte, kam nicht völlig unerwartet. Es verwundert mich, dass Paul so viele unvereinbare Ereignisse herausgriff und sie in eine Erzählung zwang, die nach Wirklichkeit schmeckt, bis man dann jedes Er eignis und jede Figur einzeln untersucht und bemerkt, wie Paul sie seinen gestalterischen Zwecken unterworfen hat. Eine weitere Bemerkung zu dem berühmten Streik in der Kammfabrik: Paul beschrieb den Streik in einfachen Worten, ohne auf den komplizierten Sachverhalt im Ein 207
zelnen einzugehen. Unverzeihbar erscheint mir, dass Paul den Besitzer der Kammfabrik, Howard Haynes, völlig weggelassen hat, obwohl dieser doch direkt mit den Streikenden verhandelt hat und sein Büro in der Fabrik der Schauplatz der Verhandlungen war. Haynes ging je den Tag durch die Streikpostenkette und wurde gelegent lich tüchtig ausgebuht. Man ging jedoch nie gewaltsam gegen ihn vor, weil er ein fairer Arbeitgeber gewesen war. Doch es war die große Zeit der Gewerkschaften und die Industrie war im Umbruch begriffen und Männer wie Howard Haynes waren bald von der Bildfläche ver schwunden. Warum hat Paul den Fabrikbesitzer überhaupt nicht erwähnt oder sich mit den Fragen des Streiks auseinander gesetzt? Ich glaube, es gibt eine einfache Antwort: Er ignorierte Howard Haynes, weil er sich auf Rudolphe Toubert als den Bösewicht der Erzählung konzentrierte. Natürlich ist dies nur meine Theorie, aber ich bin davon überzeugt, dass sie stichhaltig ist. Nun muss ich mich aber auch meinem persönlichen Verhältnis zu meinem Vetter Paul zuwenden, obgleich ich nur eine untergeordnete Rolle in dieser Erzählung spiele. Ich war jedenfalls überrascht, als jemand be schrieben zu werden, der angeblich so verbittert war über die Silas B. Thornton Junior High School, obwohl ich das eine Jahr dort und die nachfolgenden Jahre auf der Monument High School zur glücklichsten Zeit meines Lebens zähle. Es ist wahr, dass ich ziemlich besorgt war wegen Silas B. Die meisten Schüler, die in der neunten Klasse von den Konfessionsschulen dorthin kamen, wa ren Nachzügler. Das staatliche Schulsystem in jenen Ta gen sah eigentlich eine dreijährige Aufbauphase vor (7. 8. und 9. Klasse). Und wir fühlten uns alle etwas verloren 208
bei unseren ersten Kontakten mit den Lehrern und Schü lern einer staatlichen Schule. Die meisten von uns pass ten sich aber schnell an. Möglicherweise habe ich Paul jedoch wegen seiner Schriftstellerei gewarnt. Ich be fürchtete wohl, dass seine Arbeiten nicht angenommen würden, weil er ein Frankokanadier war. Eine wohl be gründete Annahme. Jedoch, und ich betone es noch ein mal, kann ich mich nicht entsinnen, diese Feststellung jemals gemacht zu haben. Ist das nicht wieder Pauls übli che Methode – sich eines wirklich vorhandenen Gefühls zu dichterischen Zwecken zu bedienen? Auch möchte ich darauf hinweisen, dass Paul die Ges talt der Lehrerin, die seine Kurzgeschichte zurückwies, nur sehr geringfügig veränderte. Diese Kurzgeschichte wurde später – völlig überarbeitet – in die BakerSammlung der besten Kurzgeschichten des Jahres (1949) aufgenommen und gab schließlich das erste Kapitel für seinen ersten Roman ab, dem sie auch den Namen gab. (In der Einleitung zu seiner späteren Kurzgeschichten sammlung spendet Paul seiner Lehrerin Anerkennung für ihre Ehrlichkeit und Offenheit.) Paul und ich verloren uns an der Schule für den Rest des Jahres aus den Augen und kamen uns nicht mehr nä her bis zum Abschlussjahr auf der High School, als Paul bei einer Abstimmung unserer Klassenkameraden für das Jahrbuch zum Klassenpoeten und ich zum Freund und Helfer der Schüler gewählt wurde. Zwei Jungen aus Frenchtown, denen von ihren Klassenkameraden Lob und Ehre zuteil wurde, eine Art Meilenstein zu unserer Zeit! Um es zu feiern, schlich ich mich mit Paul bei unse rem Großvater in den Keller. Mit seinem selbst gebrauten Holunderwein stießen wir auf unseren Erfolg an und schworen uns ewige Treue, bevor wir auf den Boden 209
kotzten. Aus Paul wurde natürlich mehr als ein mickriger High-School-Poet, während ich schließlich zur Polizei in Monument ging. Ich gehörte zu den 90 Prozent meines Jahrgangs, die im 2. Weltkrieg 1942 in die Armee eingezogen wurden, fünf Wochen nachdem ich mein High-School-Diplom bekommen hatte und ein paar Monate nach dem Angriff der Japaner auf Pearl Harbor. Paul wurde wegen eines durchlöcherten Trommelfells zurückgestellt, ein Gebre chen, das trotz seiner Geringfügigkeit beim Militär viele Zurückstellungen zur Folge hatte, weil man davon aus ging, dass niemand mit kaputten Hörorganen das Dröh nen der Schlacht aushalten könne. Paul war sehr niedergeschlagen wegen seiner Einstu fung als »untauglich« und hat wirklich bittere Tränen vergossen, als wir eines Abends auf der Veranda hinter seinem Haus saßen. Heutzutage können sich die Leute den glühenden Patriotismus jener Jahre nur schwer vor stellen, als junge Männer (und Frauen) darauf brannten, ihrem Land zu dienen, auch wenn es sie das Leben koste te. Viele Soldaten aus Monument starben im Krieg, ent weder im Kampf oder bei Unfällen, die mit dem Krieg zusammenhingen. Ihre Namen sind in bronzenen Buch staben auf dem Kriegerdenkmal im Park von Monument festgehalten, gegenüber dem Polizeipräsidium. Ein Denkmal, das ich immer vor mir sehe, wenn ich im Büro aus dem Fenster blicke. Unter den Namen ist auch der von Omer Batisse, den Paul in seiner Erzählung Omer LaBatt genannt hat. Omer fiel auf Iwo Jima, in einer der blutigsten Schlachten im Südpazifik, als Mitglied einer Marineeinheit, die die Insel am zweiten Tag der Schlacht angriff. Auch wenn er als Held starb, habe ich ihn noch 210
als kräftigen, ungehobelten Kerl in Erinnerung (was na türlich nicht bedeutet, dass er nicht als Held sterben konnte), der sich auf der Straße herumtrieb und mit Ge legenheitsarbeiten für Rudolphe Toubert (wahrscheinlich reine Muskelarbeit) Geld zusammenraffte. So ist es durchaus möglich, dass er Paul durch die Straßen und Gassen von Frenchtown verfolgte, obwohl Paul meines Wissens mit niemandem darüber sprach. Was den Jungen anbetrifft, den Omer in der Gasse angepöbelt hat, so habe ich nicht feststellen können, ob an dieser Episode etwas Wahres ist. Da sie aber im Zusammenhang mit dem Aus blenden steht, nehme ich an, dass es sich um reine Erfin dung handelt. Ich muss mich nun mit dem Thema Sexualität in der Erzählung befassen, besonders insofern es den Ladenbe sitzer betrifft, den Paul Mr. Dondier genannt hat, und die Zwillinge, die er als Emerson und Page Winslow be zeichnet. Man muss Paul zugute halten, dass er völlig fiktive Namen für diese Figuren gewählt hat, und ich neige dazu, sie als gänzlich fiktiv anzusehen, obwohl sie sich entfernt mit lebenden Personen decken. Ich weiß nur wenig über die wirklichen Zwillinge, die er in der Erzäh lung dargestellt hat, kannte aber den Mann sehr gut, der das Modell für Mr. Dondier abgegeben haben könnte. Deswegen bin ich erstaunt über Pauls Enthüllung und nehme stark an, dass er sich die ganze Episode ausge dacht hat. Dieser Ladenbesitzer (zufällig handelte es sich dabei um keinen Fleischmarkt) war über jeden Zweifel erhaben. Das Mädchen lässt sich mit niemandem verglei chen, den ich kenne. Wenn das Ausblenden erfunden ist – und was sollte es sonst sein? –, ist es dann nicht auch logisch, dass alles, was mit dem Ausblenden zusammen hängt, besonders das Ausspionieren, ebenfalls erfunden 211
ist? Das Gleiche gilt für die Personen, die Paul als Emer son und Page Winslow bezeichnet hat. Der Inzest, den Paul beschreibt, ist für mich schockierend, obgleich er damit weniger ins Detail gegangen ist als in seinen frühe ren Büchern, in denen er sehr viel härtere Sexszenen aus führlich beschrieben hat. Page Winslow (um Pauls Pseudonym für sie zu ver wenden) ist mir noch lebhaft in Erinnerung, obwohl die Begegnung mit ihr nur ganz kurz war. Ich sah sie an ei nem Wintertag in Monument aus einem Spezialgeschäft für Damenmoden in den strahlenden Sonnenschein he raustreten, ihre Hände waren in einem Pelzmuff verbor gen und ein langer, brauner Pelzmantel umhüllte ihre schlanke Gestalt. Sie kam aus dem Geschäft und schritt durch Schnee und Matsch zu einem wartenden Automo bil wie eine Prinzessin, die an ihren Untertanen vorbei schreitet. Sie war wahrscheinlich das schönste Mädchen, das mir jemals begegnet ist, und mir blieb vor Staunen der Mund offen stehen, als ich sie vorübergehen sah. Ihr Bruder, den wir aus der Erzählung als Emerson Winslow kennen, blieb bis zu seinem ersten HighSchool-Jahr in unserer Klasse. Wir kannten uns nur flüchtig, jedoch gut genug, um uns mit einem gelegentli chen »Hallo« zu grüßen, wenn wir aneinander vorbeigin gen. Er sah immer – heute würden wir sagen – cool aus. Er war nicht aus der Fassung zu bringen und gehörte kei ner Clique an, hätte aber leicht der Anführer seiner eige nen Clique werden können. Die Szene, die Paul be schreibt, in der sich die Geschwister lieben, war umso schockierender für mich wegen des späteren Schicksals der Geschwister: Das Mädchen, das in der Erzählung für Page Winslow Pate stand, kam im Alter von sechzehn Jahren bei einem Bootsunglück vor der Küste von Maine 212
ums Leben. Später in diesem Jahr verließ Emerson, der in der Unterstufe war, die Monument High School. Be richten zufolge soll er sich in einer vornehmen Privat schule in Vermont eingeschrieben haben. Jemand erzähl te später, dass er aus Gewissensgründen den Kriegsdienst im 2. Weltkrieg verweigert und als Pfleger in einem La zarett in England gearbeitet habe. Sicher weiß ich, dass sich der Junge, den Paul als Emerson Winslow bezeich nete, als Mönch in einem römisch-katholischen Kloster am Fuß der Smoky Mountains in Tennessee der Kon templation verschrieben hat. Es ist nun 2 Uhr 34 auf der Digitaluhr auf meinem Schreibtisch, mein Rücken schmerzt und meine Augen brennen. Vor einer Weile habe ich noch einmal überflogen, was ich bis jetzt geschrieben habe, und ehrlich gesagt mag ich die Art und Weise nicht, wie ich auf dem Papier klinge. Die Polizeiberichte, die ich gewöhnlich schreibe, sind unpersönlich, und es steht einem dabei ein bestimmtes Vokabular zur Verfugung mit Wörtern, die einem als Stützen dienen, wie zum Beispiel Täter, Durchsuchungs befehl, einsperren, unrechtmäßiger Besitz und so weiter. Für den vorliegenden Bericht aber war es nötig, ein völ lig neues Vokabular zu entwickeln. Ich habe versucht so objektiv zu bleiben, als ob ich vor Gericht aussagte, wo es einzig und allein auf einen ehrlichen und kompetenten Eindruck ankommt. Ich frage mich, ob das auch hier der Fall ist und ob ich dafür weniger menschlich und teil nahmsvoll klinge, als ich es in Wirklichkeit bin? So verrät dieser Bericht nichts von der hohen Mei nung, die ich immer von Paul hatte, und dem Stolz mei ner Familie und unserer Besorgnis um sein Glück, das 213
sich ihm immer zu entziehen schien. Er heiratete nicht, erlebte nie das Glück einer eigenen Familie. Er machte sich seinen Ruhm nicht zunutze, reiste nicht in die Frem de und lehnte dutzende von Einladungen zu Lesungen und zu Besuchen in großen europäischen Städten ab. Er vermied Interviews, ließ sich nicht fotografieren, widme te sich vollständig seiner schriftstellerischen Tätigkeit und seiner Familie – seinen Eltern, Brüdern und Schwes tern, Cousins, Neffen und Nichten. Er hielt seinen alten Freunden die Treue. Ich habe Pete Lagniard noch nicht erwähnt und dass Paul seinen Freund Pete als stillen Ge sellschafter in einer Druckerei untergebracht hat. Pete, der vielleicht die einzige Figur in der ganzen Geschichte ist, die wahrheitsgemäß und ohne fiktive Züge gezeichnet wurde, starb 1973 an einem Herzanfall, als er sich ein Baseballspiel der Red Sox in Fenway Park anschaute. Paul hat sich kaum einmal aus Monument oder French town entfernt, lebte immer allein und verschenkte den größten Teil seines Geldes. Er unterstützte seine Eltern. Das einzige Vergnügen, außer seinem Schreiben, wenn es denn eines war, bereiteten ihm seine Nichten und Nef fen, die er so offenkundig liebte und die ihn oft besuch ten und seine Wohnung zum Mittelpunkt ihrer Aktivitä ten in Frenchtown machten. Meine Hand stockt, während ich diesen Bericht beende, und die Traurigkeit lässt mich nicht mehr los. Ich bin traurig, weil beim Durchlesen des Manuskripts die Erin nerung an längst vergangene Zeiten wieder zurückge kommen ist, die vielleicht für uns alle hätten viel glückli cher sein können. Über Paul und seine Erzählung zu schreiben war, als sähe man während des Tippens in ei nen Spiegel, auch wenn es vielleicht nur ein Zerrspiegel 214
ist, wie man sie bei Karnevalsveranstaltungen oder in Vergnügungsparks antrifft. Ein Zerrspiegel der Erinne rung, der es schwer macht, Wirkliches und nur Eingebil detes zu unterscheiden. Ich glaube jedoch, dass das, was ich geschrieben habe, die Wahrheit ist. Ich bin überzeugt davon, dass ich Tat sachen von Hirngespinsten, Erfundenes von Realem ge trennt habe. Folglich gehört Pauls Manuskript ohne je den Zweifel in den Bereich der Fiktion. Etwas anderes zu glauben würde bedeuten, an das Unmögliche zu glauben. Mein Großvater, Jules Roget, sieht weder aus wie ein Polizeikommissar noch wie ein Großvater. Ich stelle mir Kommissare wie die Privatdetektive in den Thrillern vor und Großväter als freundliche alte Männer mit Schmer bäuchen, weißen Haaren und einer Brille auf der roten Nase. Großvater Roget ist nichts dergleichen. Er spricht mit einer leisen Stimme, die beinahe ein Murmeln ist, und hat nur Spuren von Grau in seinem blauschwarzen Haar. Er ist groß und schlank, ohne die Spur eines Bauches. Er gleicht auch nicht der Person, die den Bericht über das Manuskript verfasst hat. Das ist offensichtlich eine Seite von ihm, die ich nie kennen gelernt habe: den Poli zeikommissar, dem Verdächtige beim Verhör gegenüber sitzen. Aber ich war dankbar für diese unerbittliche Lo gik, das unpersönliche Zurschaustellen von Beweismate rial in seinem Bericht. Pauls Schilderung des Lebens in Frenchtown vor fünf zig Jahren hatte mich verzaubert. Ich war von den auto biografischen Untertönen einfach entzückt gewesen, weil ich grundsätzlich alles, was ich über ihn erfahren konnte, förmlich verschlang, und hier hatte ich nun wieder etwas ganz Neues, Aufregendes über ihn. Die Personen in der 215
Geschichte – angefangen bei seinen Eltern, über seinen Onkel Victor bis hin zu seinem Freund Pete und auch der Großvater mit seinem kurzen Auftritt – zogen mich in ihren Bann. Nicht einen Augenblick lang hatte ich in der Erzählung mehr gesehen als ein Romanfragment und Fiktion. Im Gegenteil, beim Lesen bemerkte ich, dass Paul sich auf ein völlig neues Gebiet vorgewagt hatte, in den Bereich des Fantasyromans. Ich trauerte all den ver passten Möglichkeiten auf diesem Gebiet nach, weil dies wahrscheinlich Pauls letztes Werk gewesen war. Als ich jedoch mit Merediths Reaktion auf die Ge schichte konfrontiert wurde, mit ihren Zweifeln, ihren versteckten Hinweisen und ihrem besorgten Gesichtsaus druck, hatte ich dem Manuskript zugebilligt, dass es möglicherweise, aber wirklich nur möglicherweise auto biografisch sein könnte. Was wäre, wenn … Paul Rogets Frage an sich selbst war mir wieder eingefallen und ver folgte mich. Als ich den Bericht meines Großvaters zu Ende gele sen hatte, machte ich es mir erleichtert auf dem Sofa be quem. Die Gabe des Ausblendens war natürlich pure Einbildung. Sonst müsste man ja an das Unmögliche glauben, worauf mein Großvater, der rationalste aller Menschen, schon hingewiesen hatte. »Oh, auf dem Weg liegt Wahnsinn« – wie Shakespeare sagt, den Professor Waronski unablässig zitiert. »Fertig?«, fragte Meredith nach einer Weile und schaute um die Ecke ihres Schlafzimmers, wohin sie sich mit einem Manuskript von Broome zurückgezogen hatte, während ich den Bericht meines Großvaters las. Ich drückte den Bericht an mich und nickte. »Beeindruckt?«, fragte sie, als sie sich neben mich aufs Sofa setzte. 216
»Sehr«, sagte ich, »das war wie eine kalte Dusche, Meredith, genau das, was ich jetzt gebraucht habe.« »Bin ganz deiner Meinung«, sagte Meredith. »Beim ersten Durchlesen habe ich das Gleiche damit gemacht und mich wie an einem Rettungsring daran festgehalten.« Beim ersten Durchlesen … Scheiße, würde es zu einer Neuauflage der Zweifel kommen? Offensichtlich sah sie, wie sich mein Gesichtsausdruck veränderte. Wich wieder die Farbe aus meinen Wangen oder verriet ich nur Erstaunen? »Bitte hab ein bisschen Geduld mit mir, okay, Susan? Lass mich noch ein Weil chen den Anwalt des Teufels spielen …« Wieder nickte ich, dieses Mal, weil ich meiner Stimme nicht traute. »Schau, Susan, was dein Großvater in seinem Bericht schreibt, widerspricht meiner Interpretation des Manu skripts nicht ganz, wenn wir das Ausblenden einmal bei seite lassen.« Es war das erste Mal, dass sie das Wort in den Mund nahm. »Soll ich?« »Meinetwegen«, erwiderte ich, immer noch sparsam mit Worten. »Gut, abgesehen von der Unsichtbarkeit, glaube ich, dass Paul die Wahrheit sagt. Über seine Familie, seine Tante Rosanna, seinen Freund Pete, über alle. Dein Großvater belügt sich nämlich fortwährend selbst in die sem Bericht. Zum Beispiel sah er Tante Rosanna auf die eine, Paul sah sie auf die andere Weise. Aber ihre Exis tenz verleugnet er nicht. Im Gegenteil, dein Großvater hält nicht eine einzige Person im Manuskript für erfun den, nur die Art und Weise, wie Paul sie gezeichnet hat. Und wer kann schon behaupten, dass dein Großvater Recht hat und Paul nicht? Der springende Punkt ist doch, dass die Personen im Manuskript für ihn klar erkennbar 217
waren. Was in Pauls anderen Werken nicht der Fall ist, abgesehen von Vater und Sohn in den Verletzungen. Und selbst dort ist die Ähnlichkeit mit Paul und seinem Vater nur oberflächlich. In keinem seiner anderen Romane und in keiner seiner Kurzgeschichten waren Parallelen zu lebenden Personen zu erkennen. Aber in seinem Manu skript sind alle wieder zu erkennen und die Vornamen stimmen.« Ich stand auf, ging zum Fenster und blickte in die Nacht hinaus, die Lichter blinkten aus der Ferne über den Fluss herüber, das Wasser war gewellt wie eine bestimm te Art von schwarzem Leder. Lichter blitzten auf, als ein Hubschrauber durch die Luft flog. Ich spürte, dass Mere dith auf einen Kommentar von mir wartete. »Aber was lässt sich aus all dem schließen, Mere dith?«, fragte ich und wandte mich ihr wieder zu. »Dass dies hier Paul Rogets realistischster Roman mit autobiografischen Zügen ist. Und wenn er ihn so ge schrieben hat, dann wollte er, dass wir an das glauben, was im Roman passiert ist. Und wir müssen alles glauben oder nichts.« »Ich habe mir da so eine Theorie zurechtgelegt«, sagte ich, wobei ich mir nicht sicher war, ob es auch wirklich eine Theorie war: »Vielleicht musste Paul eine wirkliche Welt schaffen, damit der Leser dazu gezwungen wird, auch an die Welt seiner Fantasie zu glauben, was aber nicht bedeutet, dass diese Welt real war.« Ich verspürte einen stechenden Schmerz über dem linken Auge, der gewöhnlich immer dann auftrat, wenn ich die ganze Nacht vor einem wichtigen Examen gepaukt oder über den Erschöpfungszustand hinaus an einer Arbeit ge schrieben hatte. Meredith kam zu mir ans Fenster, unsere Schultern be 218
rührten sich. »Ich kann mich auch nicht satt sehen dar an«, sagte sie, »die Aussicht ändert sich immer wieder, sie ist nie gleich.« Die vertraute Atmosphäre und die Bewegung machten mir Mut. »Warum bist du so unerbittlich, Meredith?«, fragte ich, »warum bestehst du darauf, dass Paul die Wahrheit sagt?« Ich wagte mich weiter vor: »Siehst du denn nicht, was die Wahrheit bedeuten würde? Dass das Ausblenden real wäre und Paul die Fähigkeit gehabt hätte, sich unsichtbar zu machen? Dass Paul vor fünfzig Jahren in Monument einen Menschen umgebracht hätte?« Mich schauderte es beinahe, als ich diese Worte aussprach. »Ich weiß, ich weiß«, murmelte sie müde und be kümmert mit geschlossenen Augen und lehnte die Stirn an die Fensterscheibe. »Es ist verrückt, aber …« Ich wartete und hoffte, dass sie sagen würde: »Du hast Recht, dein Großvater hat Recht, lassen wir’s dabei be wenden, machen wir das Licht aus und gehen schlafen.« Ich war zum Umfallen müde, an dem sensiblen Punkt über meinem Auge pochte es stärker. Meredith drehte sich abrupt zu mir um und faltete die Hände: »Und noch etwas, Susan.« Die Stimme klang wieder munter. »Bitte?« Ohne eine Antwort abzuwarten, fragte sie: »Erinnerst du dich noch daran, dass sich Paul nicht fotografieren lassen wollte und an Adelards War nung vor dem Fotografieren, von der im Manuskript die Rede ist?« »Ja«, sagte ich widerwillig und versuchte meine Un geduld zu verbergen. »Ich muss dir noch etwas über Fotos sagen, dann sind wir quitt, du brauchst es nicht einmal zu kommentieren.« Ich erwiderte nichts, sondern wartete, dass sie fortfuhr, mein Protest wäre ohnehin sinnlos gewesen. Außerdem 219
war ich ihr Gast und sie war von Anfang an freundlich zu mir gewesen. »Ich habe dir vom Coover-Literaturpreis erzählt, und wie Paul sich geweigert hat, nach Manhattan zu kommen, nicht wahr? Diese besondere Episode hatte ein Nach spiel. Paul war mit einem Schlag berühmt geworden und die Leser wollten mehr über diesen Mann erfahren, der die Öffentlichkeit scheute und von dem noch nie ein Foto erschienen war. Wie man sich denken kann, gab es Leu te, die ihn unter allen Umständen fotografieren wollten. Eine Starfotografin, von der es hieß, dass sie auch die schwersten Fälle löse, bekam von der Lit Times den Auf trag, Paul Roget zu knipsen. Die Lit Times war damals ein schickes literarisches Magazin mit einer Vorliebe für Klatsch, Interna und Exklusivberichte. Es ging nach ein paar Jahren wieder ein, war aber während seiner Blüte zeit sehr einflussreich und marktbeherrschend. Die Lit Times schickte die Starfotografin nach Monu ment. Alles ging ganz unbemerkt vor sich. Die Fotogra fin war eine Freundin von mir, Virginia Blakely, meine Zimmernachbarin aus dem College. Sie vertraute sich mir aber nicht an, weil sie annahm, dass ich Paul warnen würde, womit sie Recht hatte. Sie brauchte eine ganze Woche, dann erwischte sie Paul tatsächlich und machte aus der Ferne drei schnelle Fotos von ihm, als er gerade aus seinem Haus kam und in ein Auto stieg – « »Fotografien? Von Paul?« Meine Stimme überschlug sich vor Aufregung. Sie schnitt eine Grimasse, lächelte und hielt die Hände hoch: »Halt dich fest, Susan, und lass mich ausreden. Virginia brachte mir die Bilder, nachdem die Lit Times sie abgelehnt hatte. Ich will dir zeigen, warum die Fotos abgelehnt wurden …« 220
Sie ging wieder zum Sekretär und öffnete dieselbe Schublade. Dieses Mal zog sie einen Briefumschlag aus Manilapapier heraus. Ich hielt buchstäblich den Atem an, mein Herz raste, die Kopfschmerzen waren beinahe ver gessen. Sogar ein unterbelichtetes, abgelehntes, unschar fes Foto von Paul Roget wäre eine Offenbarung für die Welt und für mich eine unschätzbare Kostbarkeit. Ich verließ meinen Platz am Fenster, als Meredith den Umschlag mit drei Schwarz-Weiß-Fotografien, grobkör nig, ohne Tiefe, wie die Fotos in Zeitungen eben sind, im Format 20x25 cm auf den Couchtisch legte. Darauf wa ren die Vorderfront eines Autos zu sehen, die Eingangs treppe zu einem Gebäude und ein Fenster mit einem zu gezogenen Vorhang im Hintergrund. Im Mittelpunkt be fand sich die verschwommene Gestalt eines Mannes, der auf dem Weg zum Wagen war. Doch halt! Als ich die Fotografien prüfend betrachtete, sah ich, dass die Gestalt vom ersten Foto auf dem zweiten Foto schwächer geworden war. Auf dem dritten Foto sah man sie überhaupt nicht mehr, weil sie im Wagen verschwun den war, als das Foto geknipst wurde. »Fällt dir was auf?«, fragte Meredith. »Natürlich.« Ich war ungeduldig, weil ich ein Foto von Paul Roget in greifbarer Nähe gehabt und ihn doch wieder nicht gesehen hatte. »Ist ja alles völlig ver schwommen. Diese Starfotografin hat alles vermasselt.« »Schau es dir noch einmal genauer an«, sagte Mere dith, »siehst du, wie scharf die Bilder sind? Der Wagen, die Eingangstreppe, der Spitzenvorhang? Erstaunlich deutliche Details im Hintergrund für ein lichtschwaches Teleobjektiv.« Ich blickte argwöhnisch auf, weil ich wusste, dass sie 221
mich wieder auf ein Terrain führte, das ich nicht betreten wollte. »In Wirklichkeit hat weder Virginia noch ihre Kamera versagt. Alles auf den Fotos ist deutlich zu sehen und scharf, außer Paul. Seine Gestalt ist auch nicht wirklich verschwommen oder verwackelt. Sie ist wie das Bild ei nes Phantoms, das auf den ersten beiden Bildern entwe der Gestalt angenommen hat oder am Verschwinden war. Auf dem dritten Bild war Paul dann wirklich ganz ver schwunden …« »Er ist im Auto.« Ich versuchte meine Stimme ganz ruhig und vernünftig klingen zu lassen. »Meinst du?«, fragte Meredith. »Oder ist er vielleicht unsichtbar geworden? Hat er auf dem ersten Foto damit begonnen und sich dann auf dem letzten völlig ausge blendet?« Ich schlief in dieser Nacht sehr schlecht. Verkehrslärm, das Geräusch von Reifen, die neun Stockwerke unter mir über den Asphalt brausten – hatte es zu regnen begon nen? –, drangen zu mir herauf und die altmodische Uhr im Wohnzimmer schlug jede Viertelstunde und dazu die vollen Stunden, was in der stillen Wohnung schicksalhaft klang. »Nur kein Dramatisieren, Susan«, murmelte ich vor mich hin, als ich mich unruhig im Bett hin und her warf, das Kopfkissen zusammenknautschte, am Leintuch zupfte und dann still und bewegungslos dalag und hoffte, auf diese Weise Schlaf zu finden. Gott sei Dank waren meine Kopfschmerzen vergangen. Ich muss irgendwann doch geschlafen haben, weil ich plötzlich in ziemlich vage und unwirkliche Träume ver sank, die hauptsächlich aus Gesichtern bestanden, die in Nebel und Regen verschwammen. Eines der Gesichter 222
war das meines Großvaters, bei dem ich aus dem Schlaf auftauchte und auf der Digitaluhr sah, dass es Viertel vor vier war. Ich dachte darüber nach, was mir mein Großva ter über Paul und die Stadtbücherei in Monument erzählt hatte, und warum ich es gegenüber Meredith nicht er wähnt hatte. Das Problem war aber zu schwer, um es gleich zu lösen, und ich versank wieder in einen tieferen, bleiernen Schlaf. Als ich aufwachte, schien die Morgen sonne durchs tropfnasse Fenster ins Zimmer, ein Nebel horn tönte klagend vom Fluss herüber. Die Digitaluhr zeigte 9 Uhr 42 an – der Wecker hatte um 9 Uhr nicht geklingelt. Als ich den Flur entlangtappte, ging ich an Merediths Schlafzimmer vorbei, warf einen Blick hinein und sah, dass im ungemachten Bett niemand mehr war; horchte dann auf Duschgeräusche an der Badezimmertür. Guckte hinein, niemand da. Sie war auch nicht in der Küche oder im Wohnzimmer. Ich blickte durchs Fenster in den grau en Morgen hinaus, die Wasserfläche des Flusses glich Schieferplatten, die Hochhäuser schimmerten im Regen und Nebel. Sonntags ging ich gewöhnlich mit Meredith zur Mor genmesse in die St.-Patrick’s-Kirche. Wir fuhren jedes Mal mit dem Bus und besorgten uns auf dem Rückweg die Times und Croissants. Offensichtlich war sie heute ohne mich gegangen. War sie böse auf mich? Oder mied sie mich nur? Waren ihr vielleicht ihre letzten Bemer kungen in der vergangenen Nacht heute Morgen so unre alistisch und unmöglich vorgekommen wie mir und hat ten sie aus der Wohnung getrieben? Auf dem Couchtisch fand ich ein ordentlich gestapel tes Manuskript, auf dem eine Nachricht lag. 223
Liebste Susan, tut mir Leid, aber ich habe mich dir ge genüber gestern Nacht nicht ganz fair verhalten. Und zwar von Anfang an. Hier ist der Schluss von Pauls Manuskript, den ich weder dir noch Jules gezeigt habe. Vielleicht erklärt er alles – oder nichts. Wie dem auch sei, vergib mir. Bis später. Meredith Fast wie im Traum streckte ich im Zeitlupentempo die Hand aus, nahm den Zettel weg und blickte auf die erste Seite des Manuskripts: Ich schreibe nun über Frenchtown im späten Frühjahr 1963, als ich in … Ich sah zur Seite, rieb mir die Augen, ließ mich aufs Sofa nieder, nahm mir den Stapel mit Manuskriptseiten vor und las wieder die Anfangsworte.
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Paul Ich schreibe nun über Frenchtown im späten Frühjahr 1963, als ich in der Mechanic Street ein Drei zimmerapartment im Dachgeschoss eines dreistöckigen Mietshauses bewohnte. Die Wohnung war meinen Be dürfnissen angepasst: mit einer Küche, in der ich mir ein fache Mahlzeiten zubereitete oder die Aufläufe, die mir meine Mutter mitgegeben hatte, in meinem alten Gasherd wieder aufwärmte; einem Schlafzimmer, in dem ich ge gen Morgen unruhig einschlief; und einem Zimmer zur Straßenseite, in dem ich schrieb. Es befand sich direkt gegenüber dem riesigen bunten Glasfenster, das St. Judas darstellte. Von außen sah ich nur die Konturen seiner Gestalt aus Blei. Es wirkte wie ein Serienporträt. Es gab auch eine kleine Veranda, auf der ich am Abend manchmal saß und mir der Umgebung von Frenchtown voll bewusst wurde. Das Haus befindet sich immer noch dort, wie auch die Kirche und Frenchtown selber, obgleich es natürlich keine französische Stadt mehr ist und eigentlich noch nie eine richtige Stadt war. Jene erste Generation von Frankokanadiern, die dem Ort seinen Namen gaben, sind entweder schon gestorben oder verbringen ihr Lebensende in Anlagen mit so ent setzlichen Namen wie »Haus Sonnenuntergang« oder »Letzter Horizont«. Die meisten ihrer Söhne und Töchter sind von Frenchtown weggezogen, obgleich einige noch in den Wohnungen leben, die während des Aufschwungs nach dem 2. Weltkrieg in Monument gebaut wurden. Als die Frankokanadier aus Frenchtown wegzogen, rückten andere nach. Zuerst die Schwarzen, die die Straßen be 225
lebten und dem Leben ein wenig Schwung gaben, indem sie den Jazz und Blues aus den Ghettos von Boston, New York City und Chicago mitbrachten. Als Nächste kamen die Puertoricaner, die sich mit den Schwarzen vermisch ten, manchmal auch mit ihnen kämpften, bis beide Ras sen sich schließlich in einem unverbindlichen Frieden zusammenschlossen. Nun sind die Puertoricaner den Schwarzen und Frankokanadiern zahlenmäßig überlegen, die Luft ist erfüllt von den würzigen Gerüchen ihrer Speisen, der beißende Geruch des Zelluloids ist nur noch eine vage Erinnerung. In Frenchtown heulen keine Fabriksirenen mehr auf. Die alte Knopffabrik stellte vor Jahren ihre Produktion ein, das Gebäude wurde abgerissen, um Platz zu machen für ein soziales Wohnungsbauprojekt. Die Hemdenfabrik schloss ihre Tore bald nach dem 2. Weltkrieg, die Fenster wurden mit Brettern vernagelt, die Farbe der Verscha lungsbretter blätterte ab wie vertrocknete Haut, während die Stadt ihre Zukunft in einem Stadtsanierungsprojekt diskutierte, das nie verwirklicht wurde. Als Plastikfabrik hat die Kammfabrik von Monument eine neue Identität bekommen, sie ist nun Teil einer Firmengruppe mit Hauptsitz im Staat New York. Alle Arten von Spielzeug, Kämmen, Blumentöpfen, Schemeln und Schachteln wer den von Maschinen gepresst, die rund um die Uhr in Be trieb sind. Mein Bruder Armand ist Betriebsratsvorsit zender, ein Posten, der während der Wirtschaftskrise noch unbekannt war. Er lebt immer noch in Frenchtown, auf einer Art Ranch, mit einem Swimmingpool hinter dem Haus, in einem Bezirk, der auf der alten städtischen Mülldeponie errichtet wurde. Er ist mit Sheila Orsini verheiratet, die früher als Sekretärin im Büro der Kamm fabrik arbeitete. Zurzeit, in der ich schreibe, haben sie 226
drei Söhne, den dreizehnjährigen Kevin, den elfjährigen Dennis, den neunjährigen Michael und eine sechsjährige Tochter, Debbie. Für meinen Vater war Armand der Trost seines Alters, obwohl sie sich ständig stritten. Mein Vater verachtete Kunststoffprodukte, bezeichne te sie als »Imitation«. »Sicherer als Zelluloid«, konterte Armand. »Sicher, aber billig. Dagegen ein Kamm aus Zelluloid. Wir haben immer noch welche im Haus. Sie sind immer noch wie neu.« »Aber sie sind leicht entzündlich.« Mein Vater schnaubte verächtlich und hüllte sich in Schweigen. »Was ist bloß mit uns los, Paul?«, fragte mich Armand später. »Ich trete ihm offenbar immer auf den Schlips. Warum müssen wir uns dauernd streiten? Ich versuche ein guter Sohn zu sein. Himmel noch mal, ich bin doch in der Fabrik in seine Fußstapfen getreten …« »Das Alter und die neue Zeit«, antwortete ich. »Das macht ihn verrückt. Nicht du oder ich oder irgendein an derer.« Um nicht zu frieren, saß mein Vater mollig eingepackt auf der Veranda, die Sonnenstrahlen waren noch zu schwach, um seine alten Knochen zu erwärmen. Nach meinem Pensum an der Schreibmaschine saß ich mehr mals in der Woche mit ihm zusammen. Er stand immer auf, um mich zu umarmen, wenn ich kam, seine Wange fühlte sich an meiner Haut trocken und glatt an wie altes Papier, das beim Anfassen zerbröselt. Seine Schwierig keiten hatten begonnen, als er von einem Auto auf der Spruce Street angefahren und in den Rinnstein geworfen wurde. Die Verletzungen beschleunigten den Alterungs 227
prozess, so wie ein früher Frosteinbruch Blumen zerstört, die noch blühen, und er war gezwungen, vorzeitig in Rente zu gehen. Ich glaube, er hat seine Arbeit in der Fabrik geliebt, trotz der harten Zeiten. Obgleich ich ihn regelmäßig besuchte und nur ein paar Straßen weiter wohnte, war er unglücklich, weil ich nicht mehr mit ihm und meiner Mutter zusammenziehen woll te. »Hinausgeworfenes Geld«, sagte er, »du verplemperst es für Miete und Essen – kocht dir deine Mutter etwa nicht mehr gut genug?« »Sie gibt mir heute mehr mit, als ich früher bei ihr ge gessen habe«, versicherte ich ihm. Meine Mutter drängte mir Aufläufe, Pasteten, Kuchen und Kekse auf, wenn ich sie besuchte, oder brachte mir welche mit, wenn sie mich besuchte, was beinahe jeden zweiten Tag geschah. »Er ist Schriftsteller«, rief meine Mutter zu meiner Verteidigung aus der Wohnung, »er muss allein sein, wenn er schreibt. Er kann nicht solche Plagegeister wie uns um sich haben …« Yvonne und Yvette, meine Zwillingsschwestern, be suchten meine Eltern regelmäßig, obgleich Yvette in Gardner lebte, das einige Kilometer entfernt war, und Yvonne in Worcester, eine dreiviertel Stunde Autofahrt entfernt. Sie verbrachten die meiste Zeit mit meiner Mut ter in der Küche und bedachten meinen Vater mit einer zerstreuten, mütterlichen Zärtlichkeit, als ob sie seine Mütter wären und nicht seine Töchter. Es war eine Vor liebe meiner Mutter gewesen, sie gleich anzuziehen, als sie noch klein waren. Als Yvette und Yvonne größer wurden, zogen sie sich völlig verschieden an. Yvette hat te ein Faible für maßgeschneiderte Kleidung in gedämpf ten Farben, während Yvonne mit Rüschen besetzte Klei der in grellen Farben und Stöckelschuhe liebte. Manch 228
mal, wenn sie in einem besonderen Licht stand, erinnerte sie mich an Rosanna, was mich sehr berührte. Wenn Yvette und Yvonne zu Besuch kamen, war das Haus vol ler Gelächter und Geplauder. Es ging dabei um Kinder, Rezepte, Frisuren und Sonderangebote und die Unterhal tung war sehr fröhlich, sorglos und anspruchslos. Beide hatten drei Kinder, jeweils zwei Söhne und eine Tochter, als ob sich das Muster ihres Zwillingsschicksals trotz der Veränderungen im Laufe der Jahre erhalten hätte. Yvonnes Kinder waren der elfjährige Brian, die zehnjäh rige Donna und Timothy, der gerade acht Jahre alt ge worden war. Yvettes Kinder waren Richard, der zehn, Laura, die neun, und Bernard, der sechs Jahre alt war. Bleibt nur noch Rose, die jüngste, klügste und schöns te der Geschwister. Sie war Absolventin von Medallion, einem kleinen, katholischen College für Frauen am Fen way in Boston, promovierte an der Universität von Bos ton in Rechtswissenschaft und richtete sich zusammen mit ihrem Ehemann, Harry Barringer, der auf Körper schaftsrecht spezialisiert war, in Albany eine Anwalts kanzlei ein. Als jüdischer Intellektueller interessierte sich ihr Ehemann leidenschaftlich für Politik. Einmal hatte er sich erfolglos für das Amt eines demokratischen Abge ordneten beworben ein Liberaler, dessen Gesinnung nicht zu seinem Berufsimage passt. Rose trat in der Anfangs zeit ihrer Liebe zum Judentum über und wurde im Ema nuel-Tempel in Albany getraut. Harry war in Albany ge boren, deshalb lebte das Paar auch weiter dort. Ich fragte mich manchmal, ob mein Vater wegen Rose weinte, wenn ihm auf der Veranda grundlos die Tränen über die Wangen liefen, und ob sich meiner Mutter bei der Haus arbeit das Herz zusammenzog, wenn sie an Rose dachte. Meine Eltern sprachen nie über Roses Konversion. Sie 229
besuchten jeden Sonntag die Messe, ließen keinen der hohen Feiertage aus und gingen an jedem ersten Samstag im Monat zur Beichte, obgleich ich mir nicht vorstellen kann, welche Sünden sie zu beichten gehabt hätten. Ich ging nicht mehr zur Beichte und zur Messe. Meine Eltern stellten mir und Rose keine Glaubensfragen. Manchmal schlich ich mich am Abend in die Kirche von St. Jude und betete im Stillen. Schwester Angela sagte einmal, eine der größten Sünden sei, nicht an eine Ret tung zu glauben. Ich betete für meine Mutter und meinen Vater und alle anderen in der Familie, auch für Tante Rosanna, wo immer sie sein mochte, und hoffte, dass die Sünden, die ich nicht gebeichtet hatte, meinen Gebeten nicht abträglich waren. An den Feiertagen kam die Familie immer zusammen, und obwohl Rose zum jüdischen Glauben übergetreten war, feierte sie die katholischen Feste mit uns. Sie und Harry schenkten an Weihnachten mit vollen Händen und ließen nie das Festmahl am Ostersonntag aus. Meine Mutter hörte auf, ihren traditionellen Osterschinken zu backen, und tischte stattdessen Truthahn mit allen Beila gen auf. Als ich das erste Mal am Ostermorgen in der Küche den Duft von gefülltem Truthahn einsog, nahm ich meine Mutter ganz fest in die Arme und küsste sie auf die Wange, und sie verscheuchte mich, so wie sie uns immer ins Bett gescheucht hatte, als wir noch klein wa ren. Mit der Zeit hörte meine Mutter auch auf, Rose nach dem Nachwuchs zu fragen. Ach, die Kinder. Ich habe die Kinder nur nebenbei erwähnt und doch machte ich mir um sie mehr Sorgen als um alle anderen oder alles andere. Sie besuchten mich oft in meiner Wohnung. Besonders Armands Söhne und Töchter, die 230
in Frenchtown zu Hause waren, schauten oft nach der Schule oder an den Wochenenden vorbei. Yvettes und Yvonnes Kinder kamen gewöhnlich zu mir, wenn sie mit ihren Müttern zu Besuch in Frenchtown waren, und sie verbrachten einen Teil ihrer Sommerferien hier, Armands Swimmingpool war für sie eine Hauptattraktion. Ich spannte die Kinder für Arbeiten ein. Meine Nich ten erledigten die Hausarbeiten, wischten die Böden, spülten das Geschirr und staubten die Möbel ab. Meine Neffen machten Botengänge, nahmen unterwegs Le bensmittel mit, in der Hauptsache Kuchen und Kekse, Doughnuts und Bonbons, die sie später selbst aßen, und brachten meine Briefe und Manuskripte zur Post. Ich ließ es mir nicht nehmen, sie zu bezahlen, und stopfte meine Regale mit Büchern und Spielen voll, mit denen ich den Geschmack der verschiedenen Altersgruppen zu treffen hoffte. Ich hatte alle Platten von Elvis Presley, die Ar mands ältere Söhne, Kevin und Dennis, unaufhörlich ab spielten. Manchmal fühlte ich mich wie ein Verräter, als würde ich die Kinder für meine eigenen Zwecke missbrauchen. Es steckte aber mehr dahinter. Ich war nicht verheiratet, hatte keine eigenen Kinder. Mit Ausnahme der Tage, an denen ich mit dem Schreiben gut vorankam und die Wor te nur so aufs Papier glitten, war es sehr einsam in der Wohnung. Ein altes Ehepaar, die Contoirs, wohnten unter mir, aber ihre Gegenwart wurde mir nur bewusst, wenn sie wieder ihren Fernseher aufdrehten. Wenn meine Nef fen und Nichten kamen, brachten sie Farbe, Klang und Lärm ins Haus. Sie drangen bei mir ein und übernahmen die Geschäfte. Die Mädchen experimentierten am Herd herum und kochten alle möglichen Gerichte aus Kochbü chern, die ich antiquarisch erworben hatte. Wir machten 231
lange Spaziergänge, obgleich ich den Friedhof von St. Jude mied und ich sie nicht mehr auf die Festwiese mit nehmen konnte, weil aus dem riesigen Areal aus Gras und Bäumen nun eine Einkaufsstraße geworden war. Den Moosock-Fluss hatte man umgeleitet und er führte an den bestimmten Wochentagen nun kein rotes oder grünes Wasser mehr. Wenn ich Zeit mit den Kindern verbrachte, beobachte te ich sie genau, war ich immer auf der Suche. Ich tat es vorsichtig, verstohlen, zwanglos, suchte jedoch immer. Seit ihrer Geburt hatte ich sie nicht aus den Augen gelas sen. Ich lernte sie zu lieben. Debbies herzzerreißende Schüchternheit schmerzte mich, die Art und Weise, wie sie sich zurückhielt, wenn die anderen auf den Putz hau ten. Ich war maßlos stolz, als Michael bei einer Ge schichtsausstellung in der Schule den ersten Preis ge wann für seine meisterhafte Darstellung der Schlacht von Gettysburg, die mit Miniatursoldaten und Kanonen, die Michael während des ganzen Winters geschnitzt hatte, naturgetreu nachgebildet war. Laura war so schön und zerbrechlich, dass ich ein Ritter in glänzender Rüstung hätte sein mögen, um sie vor all den Grobianen und Bes serwissern zu beschützen, denen sie unweigerlich begeg nen würde. Auch in der jungen Generation spiegelte sich Rosanna wider. So wie meine Schwester Yvonne mit ihren ver rückten Farben und ihrer lockeren Art im Umgang mit Leuten Rosannas Züge hatte, so erinnerte mich auch Donna an sie. Es gibt alte Kinderfotos von Rosanna, auf denen sie Donna in diesem Alter völlig gleicht, nur dass Donnas Züge feiner sind, als wäre das Blut der Moreaux’ im Laufe der Generationen veredelt worden. Manchmal 232
war mein Blick von Tränen verschleiert, wenn ich Donna anblickte. Niemand hat je erfahren, wie sehr ich Rosanna liebte. Eine aussichtslose Liebe, weil sie aus meinem und dem Leben der ganzen Familie verschwunden war. Sie schrieb keine Briefe mehr oder sandte Postkarten und sie kam auch nicht an den Feiertagen auf Besuch. Mit der Zeit wurde meine Sehnsucht nach ihr schwächer und ver schwand schließlich ganz, bis auf wenige Augenblicke, wenn Donna ins Zimmer trat oder ich auf der Straße den flüchtigen Eindruck von einer Frau erhaschte, die mich an Rosanna erinnerte, an ihren Gang oder das vom Wind zerzauste Haar. Und die alte Seelenqual kehrte zurück. Unablässig suchte ich bei den Kindern nach Anhalts punkten, Zeichen, aber ich fand keine Hinweise. Im Sommer bekam Kevin einen Ausschlag. Er war ro bust wie sein Vater, breitschultrig, mit Händen, die einst für die Fabrikarbeit ideal gewesen wären. Der Ausschlag brach nach einem Spaziergang zum Moccasin Pond aus. Mein ganzer Clan hatte Heidelbeeren gepflückt. Der Ausschlag breitete sich über Kevins Arme und Brust aus, die Haut legte sich in Falten und ein strahlender Glanz ging von ihr aus, den ich pochenden Herzens anstarrte. Deutete er auf das Ausblenden hin? Ich überprüfte Ke vins Haut, wie ich es mit einer Laborprobe tun würde, versuchte objektiv zu sein und konnte doch nicht leug nen, dass mein Blut in Wallung geriet und meine Schlä fen pochten. Nach dem Arztbericht erwies sich der Aus schlag als allergische Reaktion. Ich hatte allerdings schon die ganze Zeit gewusst, dass Kevin nicht der Neffe war, den ich gesucht hatte. Keines der Kinder verfügte über die Gabe. 233
Woher ich das wusste? Ich wusste nicht, woher ich es wusste, sondern nur, dass es so war. Onkel Adelard hatte gesagt, dass er etwas im Blut verspürt habe, das ihn nach Frenchtown zog, als die Gabe des Ausblendens bei mir voll entwickelt war. Es war ein Ruf, dem er unbedingt folgen musste. In die sem Frühjahr erging derselbe Ruf an mich in meiner Wohnung im dritten Stock. Ich erwachte manchmal mit ten in der Nacht, wie auf einen Hilferuf aus der Dunkel heit hin. Ein anderes Mal wurde ich bis spät in die Nacht hinein durch eine innere Unruhe wach gehalten, fühlte mich verfolgt von etwas, das ich weder sehen noch grei fen konnte, wie eine Erinnerung, an die man sich nicht mehr erinnern kann. Ich wälzte mich im Bett hin und her und konnte keine Ruhe im Schlaf finden. Ich vermutete, dass der Gesuchte bereits durch die Straßen lief und auf der Welt war. Aber ich konnte nicht sagen, wo. Ich wuss te nur, er war irgendwo auf diesem Planeten. Eines Nachmittags klopfte meine Schwester Rose an die Tür. Ich war überrascht, dass sie einen Koffer dabei hat te. Als sie meine sorgenvolle Miene sah, fragte sie: »Hast du was dagegen, wenn ich ein paar Tage bei dir bleibe? Ich kann auf der Couch schlafen …« Sie sah müde und abgekämpft aus, als sie die Küche betrat. »Ich musste weg«, erklärte sie, »und mir war klar, dass ich nur nach Frenchtown konnte. Ich wollte den El tern nicht zur Last fallen oder ihnen Sorgen machen. Gestern habe ich in einem Motel übernachtet. Aber das schaffe ich nicht noch einmal, ich dachte, dass ich viel leicht ein paar Tage bei dir bleiben könnte.« »Fühl dich wie zu Hause«, sagte ich, »ich lege mich auf die Couch, ich schlafe sowieso kaum.« 234
Ich stellte keine Fragen. Sie schien völlig verzweifelt zu sein. Ich berührte sie an der Schulter und küsste sie auf die Wange. Sie hob die Hand und streichelte mein Gesicht. »Guter alter Paul«, sagte sie, »auf dich kann man immer zählen.« Meine kleine Schwester, die nun erwachsen, eine ver heiratete Frau, für mich aber immer noch die kleine Schwester war. Sie hatte Probleme, war zu dick – »ich neige dazu, am laufenden Band zu essen, wenn etwas schiefgeht, und in letzter Zeit bin ich zum Vielfraß ge worden«, sagte sie und ließ sich auf die Couch fallen. Sie nahm ein ausgiebiges Bad, zog sich bequeme Ho sen und einen weiten, marineblauen Pullover an. »Ich bin am Verhungern«, verkündete sie, »ich habe Lust auf was Ordinäres, zum Beispiel Pizza mit allem …« Im Gebäude, in dem früher Lakier’s Drugstore gewe sen war, befand sich nun eine Pizzeria, und ich suchte die am üppigsten belegte Pizza aus, die Rose und ich mit tüchtigen Schlucken Bier hinunterschlangen. »Gut zu essen ist die beste Rache«, meinte Rose. Als ich schließlich im Schneidersitz auf dem Boden saß und Rose es sich auf der Couch bequem gemacht hatte, begann sie zu erzählen, während sie am letzten Stück der Pizza kaute: »Das Problem sind Kinder. Es ist gleichzeitig einfach und unkompliziert und schwierig und kompliziert. Ich will Kinder und Harry will keine.« Sie seufzte, wischte sich einen Spritzer Tomatensauce von der Wange und blickte stirnrunzelnd und mit finsterer Miene auf mich herab. »Ich will nicht nur Kinder, ich muss welche ha ben! Ich will ja keinen Stall voll. Zunächst nur eines. Aber er will überhaupt keine Kinder in diese entsetzliche Welt setzen, meint er. So ein Quatsch, sage ich. Dann 235
kämpfen wir. Streiten. Ich versuche ihn zu verfuhren, er wird abweisend. Es hat unser Sexualleben zerstört. Himmel, es hat unser ganzes Leben zerstört, Punktum.« »Vielleicht ändert er sich mit der Zeit«, sagte ich, »es könnte ja sein, dass er Unsterblichkeit anstrebt. Was könnte dies besser garantieren als ein Kind mit deinem Blut in den Adern, das deine Gene in die Zukunft trägt … Vielleicht sieht er das schließlich ein …« »Das glaubst du doch selbst nicht«, sagte sie, »wenn du mit jemand so lange zusammenlebst, lernst du ihn auch wirklich kennen. Ich kenne Harry durch und durch, das ist ja das Schlimme daran. Er wird sich nicht än dern.« Verzweifelt strich sie sich eine Strähne aus der Stirn. Die Falten auf ihrer Stirn waren die Inschrift ihres Kummers. »Ansonsten ist er freundlich, liebevoll und fürsorglich. Und ich bin ja schließlich auch nicht gerade vollkom men. Ich werde immer dicker, werde schnell wütend. Bin alles andere als eine perfekte Gattin und Wohnungsge nossin …« »In meinem Buch bist du vollkommen«, entgegnete ich. »Ich bin es aber nicht wirklich«, sagte sie mit dumpfer Resignation in der Stimme, was mich traurig machte. »Diese Sache mit dem Kinderkriegen ist schon irgendwie paradox. Zum Weinen und paradox.« Aus irgendeinem Grund ging mir bei diesen Worten ein Stich durchs Herz und ich horchte auf. Der Boden unter mir begann zu beben, als das alte Ehepaar, das unten wohnte, den Fernseher wie gewöhn lich auf volle Lautstärke drehte. Ab und zu ließ ein Trommler einen Trommelwirbel erklingen, Lachen aus der Konserve drang durch den dünnen Boden. 236
Ich hatte ein Déjà-vu-Erlebnis, mir war, als ob wir die se Unterhaltung schon einmal geführt hätten, mit Rose auf der Couch und mit mir auf dem Boden. Ich wusste fast, was sie als Nächstes sagen würde und doch auch wieder nicht. »Erinnerst du dich noch an meine Zeit in Medallion? An den Sommer zwischen meiner Sophomore- und Juni or-Zeit? Den Sommer, in dem ich nicht nach Hause kam? Als ich als Beraterin in ein Mädchenferienlager nach Maine ging? Weißt du noch?« »Ja«, erwiderte ich, »aber nur schwach.« Es war der Sommer, in dem ich Verletzungen im Paradies begann und die Realität von Frenchtown und der Familie in den Hintergrund trat. »Du erinnerst dich wahrscheinlich nicht mehr daran, dass ich das ganze Frühjahr über nicht nach Hause kam. An Ostern habe ich es gerade noch gescharrt, sonst hätten unsere Eltern Zustände bekommen. Dann aber nicht mehr, und Ostern war früh in dem besagten Jahr …« Ich schwieg, wandte den Blick von ihr ab, musterte die Blumentapete und wartete, dass sie weitersprach. Und irgendwie wusste ich, was kommen würde. »Jedenfalls war ich schwanger. Es war verrückt.« Ihre Stimme hatte einen ehrfürchtigen Klang, und es war, als spräche sie von jemand anderem und nicht von sich selbst. »Ein einziges Mal, das erste Mal und meine kost bare Unschuld, für die ich so gekämpft hatte, war dahin. Einfach so. Und wie ich sie beschützt habe! Habe mit den Jungs gerungen, ihnen gut zugeredet, und hätte des wegen beinahe einen Judokurs gemacht. Wie ich mich gegen die Hände der Typen gewehrt habe, auf Partys, bei Treffen! Aber Tätscheln war die Sache, der ich gewach sen war. Nur diesem tollen Hecht vom Boston College 237
konnte ich nicht widerstehen. Obwohl ich eigentlich nie auf den gut aussehenden Die-Welt-gehört-mir-Typ ge standen habe. Aber in diesem Fall war es so. Ich war von den Socken, schwebte auf Wolken. Er war ein Basket ballstar, 1 Meter 90 groß, ich ging ihm gerade bis zur Brust, verstehst du …« Sie sah mich offen an. »Nimmst du mir das übel, Paul? Bist du enttäuscht von deiner kleinen Schwester? Wirst du mich nun weniger lieb haben?« »Sei bloß nicht albern!«, erwiderte ich. »Du siehst aber so … so traurig aus.« »Traurig, weil ich damals nicht wusste, was dir wider fuhr. Der Gedanke erschreckt mich manchmal, dass sich eine Familie zur gleichen Zeit so nah und doch so fern ist. All die Geheimnisse, die wir voreinander haben.« Vor allem mein eigenes dunkles Geheimnis. »Nun, das Erstaunliche ist, dass ich es wirklich geheim gehalten habe. All die Jahre. Damals wusste es keiner. Heute weiß es keiner. Jedenfalls nicht zu Hause, in Frenchtown. Niemand, außer meinen zwei besten Schul freundinnen. Ohne sie wäre ich verloren gewesen …« »Und der Junge?« »Er hat es nie erfahren. Ich habe es ihm nie erzählt. Als ich es genau wusste, nach drei Monaten, hat er schon Jagd auf eine andere gemacht. Und ich? Ich war froh, dass er weg war. Wenn man fünf oder sechs Wochen lang jeden Morgen ins Klo eines Wohnheims kotzt, kann einem der Sinn für Romantik schon vergehen …« »Was hast du dann getan?«, fragte ich. Und wusste die Antwort. »Ich war zwar schwanger, aber das heißt nicht, dass ich keine gute Katholikin war«, sagte sie, »ich wusste, dass ich das Baby austragen muss. Ach, uns klangen da 238
mals die Ohren von den Geschichten, die wir über illega le Abtreibungen gehört hatten. Horrorgeschichten! Jeden falls war der Preis dafür hoch. Ich habe nicht einen Mo ment lang daran gedacht, einem Kind das Leben zu neh men, zumal einem Kind, das in mir heranwuchs. Unmög lich. Wenigstens für mich …« »Du hast also das Baby bekommen«, sagte ich. Es war der Neffe, den ich suchte. Er war die ganze Zeit hier gewesen, irgendwo auf dieser Welt. »Es war nicht leicht«, sagte sie und blies Luft aus ih rem Mundwinkel. Plötzlich war sie nun wieder das kleine Mädchen. »Ich musste Vorbereitungen treffen. Ich wuss te nicht, was ich ohne meine Zimmernachbarin, ein Mäd chen namens Hettie, und Annie, meine beste Freundin am College, gemacht hätte. Und eine Nonne: Schwester Annuntiata. Ein Schatz. Sie war nicht von der Art, die einem Moralpredigten halten, die Stirn runzeln oder gleich schockiert sind. Klein, robust und drahtig. Mit ihr war nicht zu spaßen. Sie passte auf alles auf, sogar auf mich …« Die endlosen, unaufhörlichen Wiederholungen. Die Gezeiten des Lebens und der Verhaltensweisen. Ich dachte an Rosanna und an ihre Reise nach Kanada, an das Baby, das in einer kleinen Gemeinde tot zur Welt kam. Und nun, zu einer anderen Zeit und an einem ande ren Ort war es wieder ein Baby, das zur Welt kam: der Neffe, den ich suchte. »Also ging ich in jenem Sommer nach Maine und nicht in das Ferienlager und nicht als Beraterin. Blieb im Kloster der Barmherzigen Schwestern, einem Orden, der sich hauptsächlich in der Kontemplation übt. Ich schickte Postkarten nach Hause. Es war nicht zu fassen, wie ich zunahm. Wahrschein 239
lich bin ich meine überschüssigen Pfunde nie mehr ganz losgeworden. Vielleicht trage ich immer noch einen Teil davon mit mir herum, quasi zur Buße. Das Baby wurde Ende August geboren. Gott sei Dank eine Woche zu früh. Im September war ich nach einem kurzen Besuch zu Hause zurück in der Schule. Merkwürdigerweise fanden unsere Eltern, dass ich prima aussah. Sie haben schon immer die Gesundheit am Körpergewicht gemessen. Di cke Babys standen damals ganz hoch im Kurs. Und hier war ich nun, ihre mollige und gesunde Tochter.« Es fiel mir schwer, ihr nicht die Fragen zu stellen, die mir vom Anfang ihrer Geschichte an auf dem Herzen lagen. Aber ich blieb still, wartete und ermahnte mich zur Geduld. »Ich muss also wieder ein Baby haben, Paul. Ich habe schon eines verloren …« »Verloren?« Hatte ihr Baby denn nicht überlebt? War es in der Klosterzelle in Maine gestorben? »Für mich verloren, Paul …« »Dann lebte das Baby also?« »Ja, obwohl ich es nie gesehen habe. Ihn. Schrecklich, ihn als es zu bezeichnen. Ich habe noch nie mit jemand darüber gesprochen, nicht einmal mit Hettie und Annie. Jedenfalls war alles anders, als ich nach Medallion zu rückkehrte. Hettie verliebte sich in einen Jungen von Harvard und wir sahen uns nur noch selten. Im Jahr dar auf suchten wir uns andere Zimmernachbarinnen aus. Annie studierte Malerei und verbrachte ihr drittes Stu dienjahr in Florenz.« Wir schwiegen eine Zeit lang. »Das ist also mein entsetzliches Geheimnis.« Sie blickte zur Decke empor, hielt die Arme in die Höhe und seufzte gewaltig. »Ich fühle mich nun frei«, sagte sie, 240
»zum ersten Mal seit Jahren. Ich habe es noch niemandem zuvor anvertraut, Paul. Es ist wie ein Bekenntnis. Wie eine 100-Dollar-Sitzung beim Therapeuten. Plötzlich fühle ich mich wieder gut. Immer noch übergewichtig, aber doch leichter, als ob ich plötzlich fünfzig Pfund abgeworfen hätte!« Dann sah sie mich besorgt und voller Zärtlichkeit an. »Danke, Paul. Ich habe dich nur sehr ungern damit belastet, aber ich bin dir sehr dankbar fürs Zuhören.« Bis tief in die Nacht hinein lag ich wach und konnte nicht einschlafen, ich musste an diesen Sohn von ihr denken. Wie alt mochte er wohl sein – zwölf, dreizehn? Mir war bewusst, dass er mich rief, dass er mir ein Zei chen gab. In der Küche hörte ich leise Schritte auf dem Linoleum und sah Roses füllige Figur im weißen Flanell nachthemd am Eingang zu meinem Zimmer auftauchen. Sie kam zu mir, kniete an meinem Bett nieder. Ich sah im schwachen Mondlicht, das durchs Fenster fiel, dass ihre Wangen tränennass waren, und hörte sie seufzen. »Ich habe ihn im Stich gelassen, Paul, habe ihn weggegeben. Wahrscheinlich ist er das einzige Kind, das ich jemals haben werde.« Ich zog sie zu mir heran, nahm sie in die Arme und fing ihre erstickten Seufzer auf, als sie ihr Ge sicht an meiner Brust vergrub. »Mein armer, verlorener Junge«, murmelte sie ver zweifelt. »Vielleicht ist er ja nicht verloren«, räumte ich vor sichtig ein. »Was willst du damit sagen?« »Dein Sohn ist irgendwo dort draußen in der Welt.« Ich sprach nur sehr ungern weiter, fuhr aber trotzdem fort: »Hast du irgendeinen Anhaltspunkt, wo er sein könnte? Vielleicht kannst du ihn ausfindig machen und besuchen?« 241
Ich fühlte, wie sie erstarrte, als sie von mir abrückte. »Ausgeschlossen, Paul! Ich habe auf all das verzichtet, als ich ihn aufgab.« »Wie alt wäre er nun? Zwölf? Dreizehn?« »Dreizehn im kommenden August. Am 21. August. Ich frage mich, ob er klein oder groß ist. Sein Vater war groß, ein Basketballstar. Er sah sehr gut aus. Ich hoffe, dass er seinem Vater nachschlägt und nicht klein und pummelig ist wie ich …« »Du bist doch nicht pummelig …« Sie lächelte matt. Ihre Wangen waren immer noch feucht von Tränen. »Guter alter Paul!« Dann strich sie sich das Haar zu rück. »Nein, ich könnte ihn nie mehr aufsuchen. Ich habe es versprochen. Ich wusste sowieso nicht, wo ich ihn su chen sollte.« »Er wurde in Maine geboren. Wo in Maine, sagtest du?« »Er kam im Krankenhaus von Bangor auf die Welt. Das Kloster befindet sich aber im Randgebiet einer Kleinstadt namens Ramsey. Ein unheimliches, altes Ge bäude aus Stein, das völlig überwuchert ist. Die Klausur der Nonnen nahm einen Teil des Klosters ein. Sie verlie ßen diesen Teil des Klosters nie, außer zur täglichen Messe und dem Abendgottesdienst. Schwester Annuntia ta und ein paar andere verrichteten die Hausarbeiten, kochten und putzten.« Ramsey. Orden der Barmherzigen Schwestern. Konnte sie mir noch mehr Informationen geben? »Himmel, sie waren gut zu mir«, fuhr Rose fort, »be sonders diese wundervolle Schwester Annuntiata mit den blauen Augen voller Frohsinn und Hoffnung. Sie war meine Kameradin. ›Mach dir keine Sorgen‹, sagte sie am 242
Tag, als ich wegging, ›wir haben ein gutes Zuhause für ihn gefundene« Sie erhob sich, die Tränen waren versiegt. »Danke, dass ich mich bei dir ausweinen konnte.« Bei ihrer Umarmung küsste sie mich auf die Wange. Am Eingang blieb sie im Halbdunkel stehen, das weiße Nachthemd schmiegte sich weich an ihren Körper, und wünschte mir winkend eine Gute Nacht. Als ich später auf der alten Couch lag und es mir wie gewöhnlich misslang, süßes Vergessen im Schlaf zu fin den, weil mich das Wissen um den gesuchten Neffen, der vielleicht jetzt schon auf mich wartete, zu sehr erregte, spürte ich, wie ich unsichtbar wurde, wie es mir den Atem verschlug, was den Stillstand ankündigte. Ich ver suchte mich dagegen zu wehren, wappnete mich aber für den stechenden Schmerz, weil ich bis jetzt noch nicht herausgefunden hatte, wie das Ausblenden abzuhalten war. Als ich auch dieses Mal den Kampf wieder verlor, war ich froh, dass Rose im Nebenzimmer schlief und wenigstens nicht mit eigenen Augen gesehen hatte, wie sich mein Körper in Nichts auflöste. So viel über das Ausblenden, seine ewig wechselnde Natur, die vielen Gesichter, die es hat: Zuerst konnte ich das Ausblenden kontrollieren, es nach Belieben herbeirufen und meinen unsichtbaren Zu stand wieder aufheben. Nach einer gewissen Zeit fing es an, sich völlig unerwartet einzustellen, ohne dass ich es gewollt hätte. Als wir Armands vierzigsten Geburtstag mit einer Par ty in André’s Restaurant feierten, fühlte ich, als wir unse re Sektgläser zu einem Toast erhoben, dass das Ausblen den unmittelbar bevorstand. Ich stellte das Glas sofort ab und entschuldigte mich, hastete an den Tischen vorbei 243
und eilte unverzüglich zur Toilette, wobei ich den Schmerz in mich aufnahm. Auf der Toilette bekam ich gerade noch einen kurzen Eindruck von mir im Spiegel, der über einem der Waschbecken hing, bevor ich sah, wie sich mein Körper in Nichts auflöste. Als mich die Kälte umfing, eilte ich in eine der Kabinen, warf die Tür hinter mir zu und verriegelte sie. Dabei sah ich schon meine Hand nicht mehr. Mein Herz schlug heftig, mein Körper, den ich nicht mehr sehen konnte, war schweiß gebadet und ich staunte über mein knappes Entkommen. Mein ganzes Leben lang habe ich mich vor dem Aus blenden in Gegenwart anderer gefürchtet. Ich fürchtete mich vor dem Krankwerden, vor einem Zustand, der einen operativen Eingriff oder den Aufent halt im Krankenhaus erforderlich machen würde, bei dem ich dann keine Kontrolle über das Ausblenden und kein Versteck mehr hätte. Meine Wohnung wurde zu meinem Versteck. Einmal, als ich einen rasenden Schmerz in den Eingeweiden verspürte, schloss ich mich drei Wochen lang zu Hause ein, biss die Zähne zusammen, als die Schmerzen immer schlimmer wurden, und rechnete schon mit einem Blinddarmdurchbruch oder inneren Blu tungen. Ich zeichnete meine Fieberkurve auf: 38,9 “C, 39,4 “C. Schüttelfrost begleitete das Fieber, der Schmerz war mal oberflächlich, mal heftig. Im Schlafzimmer be trachtete ich mich im Spiegel und sagte mir immer wie der: Ich gehe in kein Krankenhaus! Schließlich wurden die Symptome schwächer, der Schmerz war nichts mehr im Vergleich zum Anfang, die Temperatur ging zurück und wurde wieder normal. Danach blieb ich immer auf der Hut, zog mich im Winter sehr warm an, um Erkäl tungen zu vermeiden, trank jeden Tag Fruchtsäfte, achte te auf mein Gewicht, schlenderte durch die Stadt, um 244
meine Muskeln zu trainieren, und passte auf, dass ich nicht zu viel aß und trank. Das Ausblenden veränderte sich im Lauf der Jahre. Es fing an mich zu schwächen, ließ mich jedes Mal matt und erschöpft zurück. Ich hatte keinen Appetit mehr, war un ruhig, irrte ziellos umher. Diese Mattigkeit dauerte manchmal Tage oder sogar Wochen an. Ich konnte dann nicht mehr an der Schreibmaschine sitzen, verbrachte Tage im Bett oder auf der Couch und versuchte schließ lich, die Worte mit dem Kugelschreiber zu Papier zu bringen, eine Methode, die sich bei mir noch nie bewährt hat. Ich kann am besten arbeiten, wenn ich an meiner Schreibmaschine sitze, einer alten L. C. Smith, und mei ne Finger über die Tasten klappern lasse, die in Lettern die Gedanken festzuhalten versuchen, die meinem Geist entspringen. Als Onkel Adelard im Herbst, bevor er starb, zum letzten Mal nach Frenchtown kam, war ich entsetzt zu sehen, welchen Preis die Jahre und das Ausblenden von ihm gefordert hatten. Er war ganz ausgemergelt, die Haut spannte sich über den Wangenknochen und die Augen waren tief in die Höhlen zurückgesunken. »Jedes Aus blenden zehrt mehr an mir«, sagte er. »Ich spüre zwar kei nen brennenden Schmerz mehr, nichts dergleichen. Aber es bringt mich allmählich um, zehrt mich langsam auf.« Als ich meinen Onkel erstaunt anblickte, erkannte ich, dass ich meinem Schicksal ins Auge blickte. Während dieses letzten Besuchs schlenderten wir nicht durch die Straßen von Frenchtown, sondern saßen an den kühlen Abenden auf meiner Veranda. Wir trugen dicke Pullover, tranken Bier, legten lange Gesprächspausen ein, in denen wir uns aber einander sehr nahe fühlten. Ich 245
wies darauf hin, wie komisch es war, dass ihn seine Gabe in ferne Gegenden getrieben hatte, während sie mich in Frenchtown zurückhielt. »Warum bist du eigentlich hier geblieben?«, fragte er. Lag es denn nicht klar auf der Hand? »Weil ich hier in Frenchtown die Kontrolle über das Ausblenden habe. Hier fühle ich mich sicher. Wenn es mich unvermutet überfällt, was immer öfter geschieht, bin ich nie weit weg von zu Hause.« Es gab aber noch mehr Gründe: »In ge wisser Weise hat mich das Ausblenden zu dem Schrift steller gemacht, der ich nun bin. Ich wollte zwar schon immer in der Welt herumkommen und habe dich um dei ne Reisen beneidet, aber dann wurde mir klar, dass ich Frenchtown nicht verlassen musste, um zu schreiben. Ich hatte von Ruhm und Reichtum geträumt, von einer Men schenmenge, die mich bei meiner Ankunft in den Groß städten bejubelt, von schönen Frauen, die mir um den Hals fallen. Aber dann habe ich herausgefunden, dass die Schönheit vom Geschriebenen selbst kommt und Ruhm nichts mit einer jubelnden Menschenmenge und mit Frauen zu tun hat, die einem hinterherrennen.« Nachdem ich kurz innegehalten hatte: »Und du, Onkel, bist du dort draußen fündig gewor den, so wie ich hier?« »Für mich war es anders, Paul, weil das Ausblenden bei mir ganz anderer Natur war. Es gab Dinge …« Wie immer an bestimmten Abenden in der Woche probte der Chor in der Kirche von St. Jude, die sich ge genüber meiner Wohnung befand. Entfernte Stimmen erhoben sich zum Gesang. »Was für Dinge?«, fragte ich leise, weil ich das Gefühl hatte, dass er mir nun endlich Genaueres über das Aus blenden mitteilen würde. 246
»Heutzutage reibt mich das Ausblenden einfach auf. Früher machte es mich verrückt. Beherrschte meinen Körper, meine Sinne. Ließ mich begehren, was meiner Natur zuwider war. Rief in mir gefährliches Verlangen wach. Gab mir das Gefühl, als ob ich alles tun könnte. Und mehr als das: dass ich es tun wollte. Manchmal gab ich nach. Brach in Läden ein, einmal sogar in ein Lagerhaus, und klaute. Immer in der Dun kelheit, immer bei Nacht. Schlug ein Fenster ein, und schon war ich drin im Laden. Oder ich ging früher hinein und blieb drinnen, bis der Ladenbesitzer zuschloss und wegging. Ich hatte herausbekommen, wo er das Geld versteckte, wenn er es nicht ins Nachtdepot der Bank brachte. Nach einer Weile lernte ich die Tricks, wie man Geld versteckt. Die Besitzer verstauten es in Zigarrenschachteln oder hinter den Flaschen auf einem Regal. Nie in einer Schublade. Eines Nachts raubte ich in einer Stadt in Ohio hintereinander zehn Läden aus. Es war völlig verrückt. Später zählte ich in meinem Zimmer das Geld nach. Beinahe 1200 Dollar in kleinen Scheinen. Zählte das Geld noch einmal, lachte – das Feuer des Ausblen dens brannte immer noch in mir. Am nächsten Morgen aber, wie in Katerstimmung, geriet ich in Panik, als ich das Geld sah. Und verschenkte es. Schickte einen Teil davon an ein paar der Läden zurück. Das Schlimme dar an ist, dass ich das Geld wollte, um damit auf den Putz zu hauen, aber es nicht konnte. Ich musste es unbedingt wieder zurückgeben. Vielleicht ist das der eigentliche Fluch der Gabe. Dass ich sie nie zum Vergnügen nutzen konnte.« Ich sagte nichts darauf. Ich war überrascht, dass er schließlich doch noch so offen mit mir sprach, und fürch tete, dass er innehalten würde, wenn ich ihn unterbrach. 247
»Und Frauen. Mit den Frauen war es dasselbe und vermutlich noch schlimmer. Ich war nie ein Schürzenjä ger, war eher unbeholfen und schüchtern im Umgang mit ihnen. Ich sah auch nicht besonders gut aus. Meine Gabe nützte mir nichts. Sie half mir nur, ihnen nachzuspionie ren oder in ihrer Nähe zu stehen, bevor sie fühlten, dass ich dort war. In einer Pension in North Dakota schlich ich mich nach ein Uhr nachts auf den Gängen herum mit dem heftigen Verlangen nach einer Frau. Das Ausblen den hatte mich erregt. Ich entdeckte eine unverschlossene Tür, kannte die Frau vom Sehen, die dort wohnte. Sie war jung und schön. Ich schlich mich in ihr Zimmer, sie lag mit einem Nachthemd bekleidet im Bett und schlief ohne Decke. Es war eine warme Nacht. Ich stand an ihrem Bett. Kam näher. Hob die Hand. Ganz sachte berührte ich sie an der Schulter. Sie stöhnte leise, bewegte sich im Schlaf und entflammte mich nur noch mehr. Ich liebkoste sie. Ver stehst du, Paul? Liebkoste sie. Sie riss entsetzt die Augen auf, ich zog die Hand zurück. Sie schrie. Ich habe noch nie einen solchen Schrei gehört, so eine angsterfüllte Stimme. Sie schrie immer wieder, starrte mich an. Nicht mich, sondern die Stelle, an der ich stand. Sie fühlte mich dort, wusste, dass da etwas war, und das machte mich für sie so entsetzlich. Alle aus dem Haus kamen herbeigerannt, klopften an die Tür, die Lichter gingen an, ich wurde beinahe niedergetrampelt, musste mich an die Wand drücken. Lange Zeit hörte sie nicht auf zu schreien, dann weinte sie herzzerreißend. Und ich musste dort bleiben und alles mit ansehen. Ich hörte sie sagen: ›Etwas hat mich berührt. Etwas bat mich berührte In einer Ecke des Zimmers kniend sah ich, was aus mir geworden war: ein Etwas, ein Monster. Das ist es, was das Ausblenden aus mir gemacht hat: ein Monster.« 248
Was ich bereits wusste.
Und dass auch ich ein Schreckgespenst geworden war.
In all den Jahren, in denen wir das Geheimnis des Aus blendens teilten, während all der Besuche meines Onkels, sprach er nur einmal von meinem Onkel Vincent, seinem Bruder, und meinem Bruder Bernard, seinem Neffen. Das Gespräch fand während der Totenwache an Bernards Sarg statt. Wie gewöhnlich war mein Onkel so unverhofft bei meinem Großvater aufgetaucht, als wäre er zuvor ausge blendet gewesen. Es war am zweiten Tag der Totenwa che. Damals wurde die Totenwache drei Tage und drei Nächte lang im Haus des Verstorbenen gehalten. Wäh rend dieser Zeit war das Haus nie leer oder still, immer brodelte Kaffee auf dem Herd, der Geruch von Essen vermischte sich mit dem süßlichen Geruch von Blumen gebinden. Bernard war in der guten Stube aufgebahrt worden, alle Vorhänge waren zugezogen. Ein Bouquet mit weißen Nelken, das den Todesfall anzeigte, hing an der Eingangstür. Eigentlich konnte ich den Anblick meines toten Bru ders nicht ertragen, seine Schönheit war nun wächsern und unwirklich, in den bleichen, gefalteten Händen hielt er den Rosenkranz der Erstkommunion. Es zog mich aber doch immer wieder zu seinem Sarg hin, an dem ich nie derkniete und betete, obwohl die Worte leer und bedeu tungslos waren. Meine Mutter erwies sich als die Tapfere in der Fami lie, sie rannte in den Zimmern hin und her, überwachte den Herd, begrüßte meine Tanten und die Frauen aus der Nachbarschaft, die dampfende Gerichte und Platten mit belegten Brötchen und Gebäck ins Haus brachten. Mein 249
Vater war vor Kummer verstummt, er brachte viele Stunden schweigend in der Nähe des Sargs zu, seine Au gen waren trüb. Mein Bruder Armand und meine Schwestern durchlie fen die entsetzlichen Rituale der Trauer – sie gingen mit niedergeschlagenem Blick umher, gaben einsilbige Ant worten und waren durch den unerwarteten Todesfall in unserer Familie wie gelähmt. Während in mir das Wissen heranwuchs, dass ich schuld war an Bernards Tod. Ich will nun in Worte fassen, was ich während der schmerzlich langen Zeit nicht vermochte. Ich habe Rudolphe Toubert umgebracht. Ich hielt das Messer, das in seinen Körper eingedrun gen ist. Und habe immer wieder auf ihn eingestochen. Ich habe die Szene in diesem Augenblick noch so leb haft vor Augen wie damals. Ich stand da und hielt das Messer in der Hand und Ru dolphe Toubert hat es gesehen. Was aber hat er wirklich gesehen? Ein Messer, das in der Luft schwebte. Ein Wunder, Zauberei, und natürlich etwas, das es nicht gab. Ich hatte vergessen, dass ich ausgeblendet war, hatte das Messer vom Ladentisch genommen und mich umge dreht, um ihm ins Gesicht zu sehen. Als ich feststellte, dass er mich ansah, bemerkte ich meinen Fehler. Onkel Adelard hatte mir eingeschärft, dass mich jeder Gegens tand verraten würde, den ich berührte oder in die Hand nahm, wenn ich ausgeblendet war, weil er den Anschein erweckte, als ob er sich von selbst bewegte. Ich überlegte mir meinen nächsten Schritt. Ich wusste, dass ich mich rächen musste für das, was er meinem Va 250
ter und den anderen Arbeitern, Tante Rosanna, Bernard und hunderten von Jungen in Frenchtown, mich einge schlossen, angetan hatte. Wollte ich ihn töten? Kann ich das nach all diesen Jahren wirklich noch beantworten? Vielleicht trug ich mich mit Mordgedanken, aber ist der Wunsch wirklich Vater der Tat? Jedenfalls sah er das Messer. Ich schaute es ebenfalls an, wie es über dem Laden tisch in der Luft schwebte. Ich hielt es in der rechten Hand, die aber unsichtbar war. Rudolphe Toubert starrte, stierte sogar, wobei ihm beinahe die Augen aus den Höhlen traten. Gleichzeitig erhob er sich von seinem Stuhl, stützte sich mit den Handflächen auf den Schreibtisch und ließ dabei das Messer nicht aus den Augen. Dann sah er weg, schüttelte heftig den Kopf. Die Au gen auf die Tür gerichtet, lehnte er sich an den Schreib tisch. Er hob die Hand und rieb sich die Augen, und ich wusste, dass ich ganz schnell handeln und das Messer verstecken musste, damit es, wenn er wieder hinsah, ver schwunden wäre, und er das, was er zuvor erblickt hatte, als Hirngespinst oder Sinnestäuschung ansehen würde. Ich war aber nicht schnell genug. Er guckte mich an, wobei er mit den Händen das Ge sicht bedeckte und nur ein Auge, das das Messer fixierte, zwischen zwei gespreizten Fingern sichtbar war. »Himmel!«, rief er, immer noch mit weit aufgerisse nem Mund. Wie hypnotisiert von dem Messer kam er hinter dem Schreibtisch hervor. Ich lachte. Kein richtiges Lachen, sondern ein Kichern, das voller Schadenfreude war. Ich genoss nicht nur den Anblick von Rudolphe Toubert, sondern wusste auch, dass ihn 251
mein Lachen, mein Kichern, in einen noch viel größeren Schrecken versetzen würde. Sein Blick wandte sich vom Messer ab und richtete sich auf den Ursprungsort des Kicherns. Er fing an unzu sammenhängendes Zeug zu brabbeln, sein Körper zuckte, sein Mund bewegte sich, um Laute zu formen, vielleicht einen Hilferuf oder einen Schrei aus innerer Not, und dann hörte das Brabbeln auf. Er konnte nicht mehr spre chen. Stand stumm und wie gelähmt da. In diesem Moment tat er, womit ich nicht gerechnet hatte. Er überrumpelte mich. Wie von einer Wurfmaschi ne geschleudert, schoss er nach vorn, die Beine sprangen vorwärts, die Arme ausgebreitet und mit wildem, rasen dem Blick. Ich blieb wie angewurzelt stehen, als er Kurs auf mich nahm, mit ausgestrecktem Arm, das Messer immer noch auf ihn gerichtet. Er holte aus, als ob er dem Messer einen Schlag versetzen wollte, rannte aber statt dessen auf mich zu, direkt ins Messer und warf mich da bei um. Ich hielt das Messer fest umklammert, sah, wie es in seine Brust eindrang und sofort Blut sein gestreiftes Hemd durchtränkte. Er blickte an sich herab, als ob er es nicht fassen könne, griff sich mit der Hand an die Brust und sah, wie Blut darüber rann. Wie mein Vater eine Stunde früher im Fabrikhof. Er hob den Kopf und schrie laut auf: »Nein!« Das Wort hallte gellend in der Garage wider. Er stürzte zu Boden. Im Fallen streckte er die Hände aus, mit denen er meine Beine streifte, nach Halt suchte. Ich riss mich los. Dabei stieß ich ihm das Messer in den Rücken, als er auf die Knie fiel. Ich stach immer wieder auf ihn ein. Für meinen Vater, für die Streikenden, für Bernard und Ro sanna, und natürlich auch meinetwegen. 252
Er brach in einer Lache von Blut auf dem Boden zu sammen. Die Geschichte vom Mord an Rudolphe Toubert füllte drei Tage lang die Seiten der Monument Times. Mit Bil dern des Büros, wo die Leiche gefunden wurde, und ei nem eingefügten Foto, auf dem sein Gesicht zu sehen war mit dem dünnen Schnurrbart und der geckenhaften Fliege, die er um den Hals gebunden hatte. Am zweiten Tag war das verschwommene Bild von Herve Boisseneau auf den Stufen vor seinem Haus in der Seventh Street in der Zeitung. Offensichtlich war es mit einer Boxkamera gemacht worden. Die Schlagzeile über dem Bild lautete: MORDVERDÄCHTIGER GESUCHT Und in kleinerer Schrift darunter: Mordwaffe verschwunden Durch den Mord rückte die Beilegung des Streiks aus dem Mittelpunkt des Interesses, obwohl die Times am Seitenende einen Bericht herausbrachte, in dem davon die Rede war, dass sich »Betriebsleitung und Ange stellte hinsichtlich der strittigen Fragen in einem bei nahe fünf Monate dauernden Streik, der die gesamte Produktion lahm legte, geeinigt hätten«. Verächtlich schnaubend knallte Armand die Zeitung auf den Küchentisch. »Die können einfach nicht zugeben, dass die Fabrik verloren und die Arbeiter gewonnen ha ben!« 253
Mein Vater erklärte: »So einfach ist es nicht, Armand. Wir haben noch einen langen Weg vor uns. Experten werden aus Washington kommen, um eine Wahl auszu schreiben. Die Arbeiter müssen für eine Gewerkschaft stimmen, wenn sie eine wollen. Vielleicht sind sie aber auch dagegen …« Mit feurigem Blick antwortete Armand: »Nie und nimmer, Vater. Onkel Victor sagt – « »Ich weiß, ich weiß«, beschwichtigte ihn Vater, und Armand sah, dass er nur Spaß gemacht hatte. Mein Vater hatte schon lange keinen Spaß mehr gemacht. »Hör mal, Armand, ich hab’s mir überlegt. Wenn du die Schule ver lassen und in der Fabrik arbeiten willst, o. k. Nur zu. Die Zeiten haben sich geändert. Vielleicht brauchen wir jun ge Kerle wie dich, um zu sehen, dass sich ein Wandel vollzieht.« Armand jauchzte vor Freude und sprang von seinem Stuhl auf, wobei er die Hände über dem Kopf zusam menschlug wie Joe Louis, als er zum Boxweltmeister gekrönt wurde. Ich sah den Schatten, der das Gesicht meines Vaters verdunkelte, und schwor mir, dass ich den High-School-Abschluss machen und ein Diplom nach Hause bringen würde, das man in der guten Stube auf hängen konnte. Die Kirche. Wieder einmal kniete ich in einem entlegenen Winkel des Kirchenschiffs und sah die Bußfertigen kommen und gehen. Wieder einmal hatte ich das Bedürfnis zu beich ten, mich von der Last meines Gewissens zu befreien und dem Priester die Sünden, die ich begangen hatte, zuzu flüstern. Ich hatte einen Mord begangen, hatte das fünfte Gebot übertreten. Im Vergleich dazu schienen meine frü 254
heren Sünden gering zu sein. Dass ich meiner Tante an die Brust gegriffen hatte, war so zu einer lässlichen Sün de abgemildert worden. Wenn ich mich nicht einmal da zu hatte überwinden können, geringere Sünden zu beich ten, wie sollte ich dann die Worte finden, um einen Mord zu beschreiben? Ich schauderte, als ich mir die Reaktion der Priesters vorstellte. Ich hatte in der Schule gelernt, dass das Beichtgeheimnis nicht verletzt werden durfte, dass der Priester ruhig zuhören und schweigen musste. Als ich dort kniete, Kerzenlicht an den dunklen Wänden, wusste ich, dass meine Tat den Rahmen einer Beichte sprengte. Ich hatte mich an Gott vergangen. An Gott, der die Welt und mich erschaffen hatte. Vergib mir, lieber Jesus. Und wartete auf ein Zeichen. Die Bußfertigen kamen und gingen, die Kerzen fla ckerten, die Sonne fiel schräg durch das Fenster, auf dem der Weltuntergang dargestellt war. Kein Zeichen – aber hatte ich damit gerechnet? Nach einer Weile verließ ich die Kirche. Eine Schlagzeile in der Times: INDIZIEN IM MORDFALL SCHWINDEN; SUCHE ERGEBNISLOS Die Suche nach Herve Boisseneau und dem Messer, das bei dem Mord an Rudolphe Toubert vor drei Wo chen angeblich verwendet wurde, ist in eine Sackgasse geraten, verkündete heute die Polizei … Ich legte die Zeitung beiseite, nachdem ich den Bericht 255
gelesen hatte, und fühlte weder Erleichterung noch Furcht. Ich sagte mir: Wenn sie Herve Boisseneau jemals fin den, werde ich mich freiwillig stellen. Ich dachte an Sidney Carton in der Geschichte zweier Städte, das wir in Silas B. gerade durchnahmen. »Die Tat zu vollbringen übertrifft alles, was ich bis jetzt getan ha be.« Doch ich fühlte mich überhaupt nicht edelmütig wie Sidney Carton. Fühlte überhaupt nichts. Ich schnitt den Zeitungsbericht der Times mit der Schere aus und legte ihn sorgfältig zusammengefaltet zu den Gedichten und Erzählungen, die ich auf dem Schrankregal zusammen mit dem blauem Halstuch mei nes Onkels aufbewahrte. Ein Haus, in dem keiner schläft, ist ein Haus, in dem es spukt. Man wacht mitten in der Nacht auf und hört ge dämpfte Stimmen und leise Schritte. Und auch wenn man die Ohren spitzt und nichts hört, weiß man, dass das Haus nicht still ist, dass Menschen in den Zimmern sind und Wache halten. Bei der Totenwache hielten zur Nachtzeit immer die Männer Wache und ließen die Frauen schlafen. Die Frauen trugen die Hauptlast der Totenwache, sie mussten Stunde um Stunde für Essen, Trinken und andere Labsal sorgen, nach den Kindern schauen und den Haushalt in Gang halten. Auch bei einem Todesfall geht das Leben weiter: Die Wäsche muss gewaschen und gebügelt wer den, Mahlzeiten müssen zubereitet, ein trauriges Kind getröstet und die Betten gemacht werden. Wenn es Nacht wurde, gingen die Frauen nach Hause, außer Tante Oli 256
vine, die bei uns blieb, um meiner Mutter zu helfen, bis sie dann schließlich erschöpft ins Bett sanken. Tante Ro sanna war bei der Totenwache nicht anwesend. Man hat te sie von Bernards Tod nicht benachrichtigen können. Niemand wusste ihre Adresse. Seit ihrer Abreise vor ei nigen Monaten hatte sie keine Postkarten oder Briefe mehr geschickt. »Sie wollte einen Kosmetiksalon in Montreal eröff nen«, erzählte ich meinem Vater, als er verlauten ließ, dass niemand wusste, wie man mit ihr Kontakt aufneh men sollte. Mein Vater verzog verächtlich den Mund. »Rosanna und ein Geschäft betreiben! Was für ein Hirngespinst! Sie arbeitet wahrscheinlich in irgendeinem Lokal als Be dienung.« Als ich im Bett lag und dem Kommen und Gehen der nächtlichen Wächter lauschte, ließen mir die Stimmen keine Ruhe. Du hast ihn getötet! Ein Herzanfall. Bernard ist an einem Herzanfall ge storben. Achtjährige bekommen keine Herzanfälle! Es ist selten. Passiert aber. Das hat Dr. Goldstein ge sagt. Dr. Goldstein kann sich auch irren. Dr. Goldstein ist nicht Gott! Bernard war schon immer schwächlich. Nicht so schwächlich, um zu sterben! Bitte, lass mich in Ruhe! Warum sollte ich dich in Ruhe lassen, wenn du an sei nem Tod schuld bist’? Bis in die frühen Morgenstunden dauerte die Ausei nandersetzung mit der Stimme in meinem Inneren, die 257
mir Vorwürfe machte und vor der ich entsetzt zurück schreckte, weil es meine eigene Stimme war: Ich war die Stimme. Tagsüber befolgte ich ganz mechanisch die Riten des Trauerns: Ich kniete am Sarg und sagte dabei Gebete vor mich hin, nach einer Weile vermied ich es, Bernard an zusehen, der starr und reglos dalag. Am Abend des zwei ten Tages zwang ich mich dazu, ihn anzusehen. Seine Haut hatte begonnen sich zu verändern, sie war nun nicht mehr blass, sondern wurde immer dunkler. Auch schie nen sich seine Züge zu vergröbern, die Lippen und die Nasenlöcher blähten sich auf. Er veränderte sich vor un seren Augen, aber keiner verlor ein Wort darüber. Viel leicht bemerkten sie es auch nicht. Ich floh aus dem Zimmer, floh vor dem widerlichen Blumenduft und der stickigen Enge. Onkel Adelard stöberte mich im Schuppen auf. Er setzte sich auf einen alten Küchenstuhl, den mein Vater weggeworfen hatte, weil die Füße wackelten. On kel Adelard sah mich so traurig an – mit dieser alten Traurigkeit, die ich schon kannte –, sodass meine Wut von mir wich und ich mir ganz leer vorkam. In den ersten Stunden hatte ich vorgehabt, mich meinem Onkel zu nä hern und ihm zu beichten, was geschehen war. Er würde die Antworten für mich parat haben. Nun aber zögerte ich. »Als Onkel Vincent starb …«, fing ich an. »Ja … Ich weiß, wie du dich fühlst, Paul. Er war mein Bruder, so wie Bernard dein Bruder ist …« »An jenem Tag auf dem Friedhof«, ich musste meinen ganzen Mut zusammennehmen, »sagtest du, dass Vincent deinetwegen gestorben ist …« Ich hätte beinahe hinzuge fügt: wegen des Ausblendens. Unterließ es aber. 258
»Ich habe mir deswegen lange Zeit Vorwürfe ge macht, Paul«, sagte er, »und vielleicht ist das ja immer noch der Fall. Inzwischen habe ich aber gelernt, damit zu leben …« »Warum hast du dir Vorwürfe gemacht?« »Weil ich nichts getan habe, um ihm zu helfen. Er hat te große Schmerzen, behielt es aber für sich. Er hat’s nur mir anvertraut. Hat mich schwören lassen, es zu ver schweigen. Manchmal wachte er mitten in der Nacht auf und klammerte sich an mich. Sag Vater nichts davon, flehte er mich dann an. Und ich erfüllte seinen Wunsch. Ich hätte es Vater sagen sollen. Ich benutzte das Aus blenden, um ihm zu helfen …« »Wie das?« »Ich machte mich unsichtbar, um mich bei Lakier’s einzuschleichen. Stöberte dort Medizin auf. Hatte mir gemerkt, welches schmerzstillende Medikament mit ei nem Betäubungsmittel präpariert war, um Vincents Schmerzen zu lindern. Fand das Mittel und brachte es nach Hause. So konnte er schlafen. Ich hatte allerdings nicht gedacht, dass er todkrank war. Ich dachte, dass er nur krank ist, Schmerzen hat und meine Hilfe braucht. Und dass er wollte, dass ich ihm helfe, seinen Zustand vor den anderen geheim zu halten. Wenn ihn das glücklich machte, tat ich es gerne. Ich nutzte meine besondere Gabe, um ihm Spielsachen zu besorgen. Machte mich in der Nacht auf, brach in die Läden ein und brachte ihm, was ich auftreiben konnte. Tat alles, was in meiner Macht stand. Schenkte ihm mei ne Liebe, behielt seine Geheimnisse für mich, nutzte meine Gabe, um seine Schmerzen erträglicher zu ma chen. Trotzdem starb er. Und wäre vielleicht sogar noch am Leben, wenn ich mich nicht eingemischt hätte oder 259
meinen Eltern gesagt hätte, was er durchmacht.« Tränen traten ihm in die Augen. »Aber ich habe nicht damit ge rechnet, dass er stirbt.« Ich berührte seinen Arm voller Mitgefühl und wusste, dass ich mich ihm doch nicht anvertrauen konnte. Die Umstände von Vincents Tod unterschieden sich von de nen Bernards. Onkel Adelard hatte niemanden umge bracht. Vincents Tod war kein Racheakt gewesen. Ich ließ ihn stehen und kniete am Sarg nieder, betete nicht, sondern schaute das zerbrechliche Wesen an, das mein Bruder gewesen war. Tut mir Leid, Bernard, es tut mir ja so Leid. Wusste aber, dass Worte nicht ausreichten. Bernard wurde an einem stürmischen Morgen beerdigt. Der Frost brannte auf unseren Wangen, als wir unter dem verschossenen, grünen Baldachin standen, der überhaupt keinen Schutz bot. Wir drängten uns schaudernd anein ander und blickten auf den grauen Metallsarg hinab, der mit Gurten über dem Loch gehalten wurde. Ich wandte den Blick ab und sah Mr. LeFarge in einiger Entfernung am Zaun stehen, seelenruhig auf seinen Spaten gelehnt, als ob es mitten im Sommer wäre. Vater Belander schleuderte seine Worte in die Luft. Sie wurden vom Wind fortgeblasen. Französische und lateinische Sätze, die sich in Luft auflösten. Unzeitgemä ße Donnerschläge begleiteten den Sturm, als ob sich so gar der Himmel gegen Bernards frühen Tod und sein Be gräbnis auflehnte. Armand und ich hatten uns gegenseitig die Arme um die Schultern gelegt und drückten uns schniefend aneinander, die Tränen auf den Wangen wa ren festgefroren. Es fing an zu schneien. Der Schnee wirbelte in atem 260
beraubendem Tempo durch die Luft, als der Trauerzug in geliehenen Autos und einer schwarzen Limousine von Tessiers Bestattungsinstitut seinen Heimweg antrat. Der Wagen, in dem ich mitfuhr, gehörte Mr. Lakier und hatte eine luxuriöse Innenausstattung. Alles war in Dunkel braun gehalten und hatte einen Geruch an sich, den ich seltsam fand, den Geruch des Neuen. »Ein Schneesturm«, schrie jemand, als wir eilends aus dem Wagen über die Treppe ins Haus flüchteten. Wir ließen uns alle in der Küche und der guten Stube nieder. Meine Mutter und die Tanten machten sich daran, das Essen zuzubereiten. Die Männer standen in kleinen Grüppchen zusammen und tranken Whisky in hastigen Schlucken. Nach einiger Zeit schlich ich mich ins Schlafzimmer und machte die Tür leise hinter mir zu. Ich sah nicht zum Bett hinüber, wo Bernard immer zwischen mir und Ar mand geschlafen hatte. Ich ging ans Fenster. Die Schei ben waren weiß vor Frost. Ich versuchte das Eis wegzu wischen, bekam aber nicht mal eine kleine Stelle frei. Ich versuchte zu weinen, konnte es aber nicht. Mir war, als ob die Hölle nicht aus Feuer und Rauch bestün de, sondern arktisch wäre, alles weiß und starr. Für mich war die Hölle kein Ort der Verdammnis, sondern der Gleichgültigkeit. Mit erstarrten Fingern löste ich den Riegel und schob das Fenster hoch. Sogleich wurde ich vom wirbelnden Wind und Schnee durchgerüttelt. Die beißende Kälte stach mir in die Augen und brannte auf den Wangen. Ich dachte an Bernard, der still in seinem Sarg in der Er de lag, bis er zu Staub würde – mein kleiner Bruder, Staub. Ich stützte mich mit den Händen auf den Fenstersims, mein Gesicht blieb Kälte, Schnee und Wind ausgesetzt. 261
»Scheißkerl!«, schrie ich, wusste aber nicht, wen ich damit meinte. »Ich werde das Ausblenden nie mehr benutzen«, gelobte ich, ohne zu wissen, ob ich es laut gesagt hatte oder nicht. »Zum Teufel mit dem Ausblenden!«, schrie ich und verwarf diese Gabe, die wie ein Unheil über mein Leben hereingebrochen war. »Ich schwöre, dass ich nie mehr von meiner Gabe Gebrauch machen werde. Du kannst mich vernichten, wenn ich es tue …« Ich wartete. Worauf? Ich wusste es nicht. Wartete aber trotzdem. Ich hörte ein leises Geräusch. Kaum hörbar, der Klang von Metall, das auf Holz trifft. Als ich hinuntersah, er blickte ich die alte Blechdose, die Pete Lagniard und ich dazu benutzt hatten, Botschaften zwischen dem ersten und zweiten Stock hin- und herzusenden. Ich holte sie herauf und erinnerte mich an den herrli chen Sommer, als ich mit Pete auf dem Weg zum Mocca sin Pond durch die Nacht geisterte und wie unschuldig ich damals noch gewesen war. Als ich die Dose ein wenig neigte und etwas Schnee herausfiel, entdeckte ich in ihrem Inneren ein Stück Papier, das flach zusammengefaltet war. Meine Finger waren so steif, dass ich Mühe hatte, das Pa pier herauszuziehen. Ich faltete es hastig auseinander, weil ein Andenken an den Sommer, eine Botschaft von Pete aus der Zeit vor dem Streik, der Gewalt und den schlim men Ereignissen plötzlich sehr kostbar war. Vor allem, weil sie aus der Zeit vor dem Ausblenden stammte. Ich öffnete den Zettel und sah die gekritzelten Worte, die sich wie winzige Schlangen auf dem Papier ringelten. Hallo, Paul! Es war unverkennbar Bernards Schrift.
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Pete und ich waren es oft überdrüssig geworden, den Fla schenzug als Kommunikationsmittel zu benutzen, weil unsere Geschwister natürlich herausbekommen hatten, was wir taten, und uns Streiche spielten. Wir fanden alles Mögliche, von widerlichen Gegenständen aus der Müll tonne bis zu toten Mäusen in der Konservendose. Ich wusste, dass Armand derjenige war, der die Mäuse hi neintat, während Pete steif und fest behauptete, dass sein Bruder Herbie für den Abfall verantwortlich sei. Darauf hin hörten wir eine Zeit lang auf, die Flaschenpost zu benutzen, und fingen ein paar Wochen später wieder da mit an. Meine Schwestern hinterließen mir gewöhnlich Zettel in der Konservendose, die mich daran erinnerten, den Abfall zu den Mülltonnen hinunterzubringen oder dass ich an der Reihe war mit dem Abtrocknen, eine Ar beit, die ich hasste. Bernard hinterließ mir ab und zu eine Nachricht, die gewöhnlich aus einem skurrilen Rätsel oder nur einem Gruß bestand. Er unterzeichnete sie nie, seine Handschrift war für mich unverkennbar. Ich starrte den Zettel an, das brüchige Papier und die mit Kugelschreiber geschriebenen Zeilen, die mir nackt und deutlich vom weißen Papier in die Augen sprangen. Hallo, Paul! Als ob er mich angesprochen hätte. Ich wusste, dass ich nie wieder das Ausblenden benut zen würde, solange ich lebte. Ich wollte nicht, dass ande re meinetwegen sterben mussten. Am Sonntag ging ich mit meinen Eltern zur Messe. Die heilige Kommunion begann. Ich schloss mich meinen Eltern im Mittelgang an, kniete am Altargitter nieder und faltete die Hände unter dem weißen Leinen. Erhob das Gesicht zum Priester, öffnete den Mund und ließ zu, dass 263
er die Hostie auf meine Zunge legte. Dann ging ich zu rück zu meinem Platz, die Hostie schmolz auf meiner Zunge. Ich achtete darauf, dass sie meine Zähne nicht berührte und schluckte sie hinunter, indem ich mir sagte: Stell sie dir als Oblate vor, denk nicht an die Kommunion mit dem Leib Christi. Kniend wartete ich auf Blitz und Donner, machte mich darauf gefasst, dass die Mauern der Kirche einstürzten, die Pfeiler übereinander fielen. Nichts dergleichen ge schah. Das war vielleicht das Schlimmste von allem. Das Nichts. Die Leere, die sich in all den folgenden Jahren nicht mehr auffüllen würde. 25 Jahre später in meiner Wohnung im dritten Stock ge genüber der Kirche von St. Jude lag ich tief in der Nacht ausgeblendet im Bett. Meine Schwester schlief nebenan im Schlafzimmer, ohne etwas von meinem Zustand zu ahnen. Ich hatte das Gelübde nicht gebrochen, das ich am Tag von Bernards Beerdigung abgelegt hatte, und weigerte mich, über die Albträume nachzugrübeln, die ich entfes seln würde, riefe ich das Ausblenden herbei. Das Aus blenden hatte sich jedoch immer wieder von selbst einge stellt und meine Kräfte aufgezehrt. Ich war seinem An sturm hilflos ausgeliefert. Im Schutz der Dunkelheit ertrug ich das Ausblenden ein weiteres Mal, zögerte den Augenblick meiner Rück kehr und die damit verbundenen Symptome noch ein bisschen hinaus: die Pause, den Schmerz und die Kälte. In dieser Nacht war ich jedoch beinahe glücklich, als mich das Ausblenden überkam. Ich dachte an meinen unbekannten Neffen dort draußen, der das Ausblenden an 264
die nächste Generation weitergeben würde und dem ich bis heute noch nicht hatte beistehen können. Rose hatte mir die Hinweise gegeben, die ich brauchte. Ich würde ihn finden. Ihn warnen, ihn beschützen. Ich würde versuchen, für meinen armen Neffen zu tun, was Onkel Adelard für mich nicht hatte tun können.
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Ozzie Die Nonnen nahmen ihn auf, gaben ihm zu essen, pflegten ihn, wenn er erkältet war oder Fieber hat te, verbanden seine Wunden und betreuten ihn liebevoll. Dank sei den Nonnen, obwohl er das Kloster als solches hasste. Wie auch die übrige Welt. Er hasste auch sich selbst, besonders das, was er an sich nicht ändern konnte: die Kopfschmerzen und das Schniefen. Konnte nichts dagegen tun, dass die Nase ständig lief, seit ihm sein Va ter, der doch gar nicht sein Vater war, so heftig auf die Nase geschlagen hatte, dass er durchs ganze Zimmer flog. Dann, als er Ozzies Blut und das gebrochene Na senbein sah, schlug er immer wieder darauf ein. Seitdem läuft Ozzies Nase unaufhörlich und manchmal quälen ihn direkt über den Augenhöhlen unerträgliche Kopfschmer zen, die bis zu den Backenknochen ausstrahlen. »Hör mit dem Schniefen auf!«, befahl ihm sein Vater, der nicht sein Vater, sondern ein Heuchler und Betrüger war, und schlug ihn wieder. »Und hör auf zu heulen!« Als er noch klein war, weinte er immer, wenn ihn der alte Heuchler verdrosch, das Weinen machte ihn rasend, so dass er Ozzie immer wieder schlug und dabei brüllte: »Hör endlich auf zu heulen! Zum Teufel!« Ozzie ver suchte zu erklären, dass er heulte, weil er geschlagen wurde, und er nicht aufhören konnte, bevor nicht die Schläge aufhörten, konnte aber die Worte nicht heraus bringen, weil die Schläge erbarmungslos auf ihn nieder prasselten. Nach geraumer Zeit hörte er auf zu weinen. Oder war vielleicht in ihm die Quelle versiegt, aus der die Tränen entsprangen? Wenn auch nicht mit dem Schniefen, so konnte er doch mit dem Weinen aufhören. 266
Und das tat er dann auch. Er weinte nicht mehr, was auch immer geschah. Seine Mutter war daran schuld, dass er bei den Non nen Unterschlupf suchte. Arme Mama, die er so sehr liebte. Er verband sie in der Erinnerung mit Flaschen, aber mehr noch mit den Gerüchen, die aus den Flaschen kamen. Erst viel später erfuhr er, dass es Alkohol war. Sie goss den Alkohol heimlich in sich hinein, wenn sie sich unbeobachtet fühlte. Er brauchte sehr lange, bis er merkte, dass sie ihr Süffeln verbarg, bis sie es schließlich nicht mehr verbarg und den Fusel gierig hinunterstürzte, als ob er ihr täglich Brot und sie kurz vor dem Verhun gern wäre. Und wenn der Heuchler dann nach Hause kam, verprügelte er sie wegen des Trinkens und versteck te die Flaschen. Später zerschlug er sie im Spülbecken und Mama schlug er auch. In der Nacht versuchte sich Ozzie gegen die Geräu sche abzuschotten, die aus dem Schlafzimmer drangen: Das seltsame Geräusch der Bettfedern, vor allem aber gegen die Schreie seiner Mutter und manchmal ihr Stöhnen, dann ihre gedämpften Schreie und das Grun zen des alten Mannes – wie von einem wilden Tier! Ozzie konnte die Geräusche nicht ertragen, verstopfte sich die Ohren und vergrub sich tiefer in den Kissen und Decken. Schließlich kam sie eines Nachts mit einem violetten Bluterguss auf der Wange, die Kinnlade scharlachrot und geschwollen zu Ozzie ans Bett gekrochen und flüsterte ihm verzweifelt zu, dass sie gehen müsse, küsste ihn zum Abschied, umarmte ihn und sagte, dass sie bald wieder kommen und ihn holen würde, was aber nicht geschah. »Geh ihm aus dem Weg!«, riet sie ihm. Sie zog dann in dieses schreckliche Haus in der Bowker Street ein, wo 267
die Huren leben, obgleich sie keine war. Sie starb, bevor sie kommen und ihn retten konnte. Als der alte Heuchler entdeckte, dass sie weg war, verabreichte er Ozzie die schlimmste Tracht Prügel, die der jemals bekommen hat te. Dann schlug er alles im Haus kurz und klein, schmiss die Stühle an die Wand, warf das Geschirr auf den Boden und schlief zwischen den Trümmern auf dem Küchenbo den ein, wo ihn Ozzie am Morgen fand. Dein Papa ist arm und deine Mama eine Hure! Das war ein Refrain, den man ihm in der Schule hin terherrief, als seine Mutter in die Bowker Street übersie delte. Deswegen hasste er die Kinder, besonders Bull Zimmer, der ihn Tag für Tag verfolgte, ihn manchmal auch erwischte, zu Boden warf und seine Nase in den Dreck stieß oder auf den Bürgersteig quetschte, während die anderen beifällig lachten. Inzwischen hatte er noch etwas anderes gelernt, als das Weinen sein zu lassen. Er hatte gelernt zu erdulden. Erdulden – ein Wort aus der Schule. Hatte es nachgeschlagen. Sodass er jetzt erdulde te. Nicht weinte. Die Schläge ertrug. Er wies die Hilfe von Schwester Annuntiata zurück, war wütend auf sie, als sie einmal Bull Zimmer wegjagte, nachdem er Ozzie zum Kloster gefolgt war, mit Steinen beworfen hatte und ihn damit am Hinterkopf traf. Später im Kloster wusch Schwester Annuntiata seine Wunde aus und strich ihm mit der kühlen Hand über die Stirn. Sie roch nach alter Medizin, die zu lange im Regal gestanden hatte. Sie war selbst alt, hatte braune Flecken auf den Handrücken, und ihr Gesicht war so faltig wie eine zusammengeknüllte Papiertüte. Das war alles, was er von ihr zu sehen bekam, das Gesicht und die Hände, alles andere steckte im schwarz-weißen Habit. Er fühlte die Kühle ihrer Hand auf der Stirn und hätte sich ihr bei 268
nahe gefügt, aber eben nur beinahe, und hielt sich statt dessen zurück. »Die Sommerferien fangen bald an, Ozzie«, flüsterte sie, »dann hast du eine Zeit lang schulfrei und kannst hier im Kloster arbeiten.« Die Schule war ein altes Backsteingebäude in der In nenstadt, wo seine Lehrerin, Miss Ball, die er in der ach ten Klasse hatte, mit ihrer Härte ihrem Namen alle Ehre machte und ihn schaudern ließ. Sie tat so, als wäre er gar nicht anwesend, rief ihn nie auf zum Hersagen, was in gewisser Weise genauso schlimm war, wie von Bull Zimmer nach der Schule verprügelt zu werden. Als sie ihm einmal direkt ins Gesicht blickte, sah er etwas, das noch viel schlimmer war als Hass. Sah absolute Leere in ihrem Blick. Als ob es ihn gar nicht gäbe, als ob er über haupt nicht zählte. »Armer Ozzie«, sagte Schwester Annuntiata. Und er zog sich von ihr zurück, aber auf eine sanfte Art, weil sie seine einzige Freundin war. Trotzdem wollte er ihr Mitleid nicht, wollte von niemand Mitleid. »Ich bemitleide dich doch nicht, armer Ozzie«, sagte Schwester Annuntiata, »ich halte mich doch nicht für besser als dich.« »Was ist es dann?«, fragte er verblüfft. »Mitgefühl«, erwiderte Schwester Annuntiata, »Mit gefühl, mein Junge, und Liebe. Das was der Herr für uns alle empfindet, obwohl ich mir natürlich nicht anmaßen will, mich mit ihm zu vergleichen.« Die Nonnen – immer so bescheiden, so anständig, flüstern im Kloster, immer so besorgt, mehr zu sein, als sie scheinen. »Mea culpa«, sagte Schwester Annuntiata und kniete an seinem Bett nieder, »mea culpa …« 269
Er sah sie misstrauisch an, weil er niemandem glaubte, der in einer fremden Sprache sprach. »Was heißt das?«, fragte er sie blinzelnd, weil er befürchtete, dass sie ihm einen Streich spielte. »Nichts, worüber du dir Gedanken machen musst«, erwiderte sie. Die Worte aber klangen ihm in den Ohren nach. »Wir wollen zusammen beten«, sagte sie. Er betete für seine Mama, für niemanden sonst, nicht einmal für sich selbst. Arme Mama, die nicht einmal seine richtige Mutter war, ihn aber trotzdem liebte, und er sie. Er wusste, dass er ein Adoptivkind war, dass ihn seine leibliche Mutter weggegeben hatte. Als er noch jünger war, hatten all die se Dinge Ozzie immer sehr verwirrt. Seine richtigen El tern, seine Blutsverwandten, waren natürlich für immer verschwunden. Hol sie der Teufel! Er würde nie ihre Namen erfahren oder woher sie gekommen und wohin sie gegangen waren. Was ihm nur recht sein konnte. Er hasste sie beide, so wie man nur jemanden hassen konn te, den man nie kennen gelernt hatte. Sie hatten ihn preisgegeben und zurückgelassen. Sie hatten ihn herge geben, verdammt noch mal! Wer gab schon sein Kind her? Er konnte froh sein, dass die Nonnen die Mutter für ihn gefunden hatten, die ihn aufzog, auch wenn sie nicht blutsverwandt war. Sie war klein und lieb gewesen, hatte ihm in ihrem singenden Tonfall Geschichten erzählt und Lieder vorgesungen, Lieder aus Irland über dem Meer und von grünen Weiden und den kleinen Menschen und dem Haus, in dem sie geboren war. Sie hatte ihm von dem Vater vorgeschwärmt, an den er sich nicht mehr er innern konnte und den sie geliebt hatte. Sie hatte ihm 270
erzählt, wie glücklich sie gewesen waren, als sie Ozzie mit nach Hause nehmen durften. Es war sein zweiter Va ter gewesen, nicht der Heuchler und Betrüger, und auch nicht sein leiblicher Vater, wer auch immer das sein mochte. Sein zweiter Vater, den seine Mutter geliebt hat te, war groß und gut aussehend gewesen, und er konnte Wunder auf das Papier zaubern, hatte sie erzählt. Er musste nur ein paar Linien auf dem Papier ziehen und schon wurden daraus ein Hase oder ein Rehkitz oder ein Zwerglein. Er war zu gut für diese Welt, hatte seine Mut ter gesagt. Zu schön. Er hatte ein Lächeln um den Mund und ein Strahlen wie Weihnachten im Blick. Und Weih nachten war es auch gewesen, als er starb. Er fand, dass die Leute nicht an Weihnachten sterben sollten. Aber sein guter Vater hatte es getan. In einem grotesken Un fall, so hieß es, als er mit Geschenken für Ozzie beladen nach Hause zurückkehrte. Er wurde von einem Stromka bel erschlagen, das der grimmige Wintersturm herunter gerissen hatte. Ozzie und seine Mutter weinten die ganze Nacht über, bis Ozzie bei Tagesanbruch einschlief, als die eisige Morgendämmerung die Fenster berührte. Seine Mutter wurde nach dem Tod des guten Vaters krank. Sie war schon immer sehr zart gewesen, leicht wie eine Feder, mehr Mädchen als Frau. Das war der Mo ment, als der alte Slater auftauchte. Vielleicht war er noch nicht wirklich alt, aber auch nicht mehr jung. Er war Holzfäller, wenn er arbeitete, roch penetrant nach Sägemehl, und es schien, dass er sogar Sägemehl in den Augen hatte, seine Pupillen waren dunkel, aber wie mit Sägemehl gesprenkelt. Er gab Ozzie seinen Familienna men, gab ihm einen anständigen, bürgerlichen Namen: Oscar Slater. Du bist jetzt ein Slater und kannst stolz dar auf sein, sagte ihm der neue Vater. Und Ozzie versuchte 271
es, bis sein Vater anfing, ihn zu schlagen und ihm Ohr feigen zu geben und schließlich seine Nase entdeckte. Was war geschehen, dass der neue Vater sich in solch ein Monster verwandelte? Ozzie wusste es nicht und würde es auch nie herausfinden. Nach einer Weile konnte er sich nicht einmal mehr an die Zeit erinnern, als sein Va ter noch nicht das Monster gewesen war, das ihn und sei ne Mutter verprügelte. Und dann starb sie. In diesem anrüchigen Haus in der Bowker Street. Sie lag blass und zerbrechlich im Sarg. Ozzie kniete dort in der Nacht. Die Kerzen waren heruntergebrannt. Er versuchte zu weinen, wollte weinen, hatte das Be dürfnis, um seine Mutter zu weinen, wegen ihres grau samen Schicksals, und er konnte einfach nicht weinen. Und er hasste diesen heuchlerischen Vater jetzt noch mehr, hasste ihn mehr denn je, weil ihn der Heuchler um seine Fähigkeit zu weinen gebracht und ihn dazu gezwungen hatte, mit dem Weinen aufzuhören. Und nun hatte er nicht einmal mehr Tränen für seine Mutter, konnte ihr mit seinen Tränen nicht die letzte Ehre er weisen. Stattdessen schniefte er, seine Nase lief, als er den schmerzenden Kopf an den Sarg lehnte. Und er schwor Rache. Ich werde dich eines Tages umbringen, du verdamm ter Heuchler und Betrüger, gelobte Ozzie, würde ihn nicht nur für die Schläge auf die Nase und die anderen Schläge umbringen, sondern vor allem für das, was er Mutter angetan hatte, dafür, dass er sie aus dem Haus und in diese entsetzliche Wohnung in der Bowker Street ge trieben hatte, das Haus, vor dem die Kinder johlten, auf das sie mit Fingern zeigten und das sie mit Steinen be warfen. Dein Vater ist arm und deine Mutter eine Hure! 272
Ja, er würde auch die anderen umbringen. Einen nach dem anderen. Mit Bull und Miss Ball würde er anfangen. Dann käme Dennis O’Shea dran mit seinem karottenfar benen Haarschopf und seiner scharfen Zunge, der sich die Sprüche und Lieder ausdachte. Schlauer Dennis O’S hea, der den Kindern ein Bein stellte, die den Gang ent langgingen, und dann eine Unschuldsmiene aufsetzte! Die Mädchen waren auch nicht besser. Fiona Finley mit ihren vornehmen Klamotten, den Schuhen mit den hohen Absätzen und den Nylons. Die immer in einer Parfüm wolke einherschwebte und die Nase rümpfte, wenn Ozzie in ihre Nähe kam, als ob sie von etwas Widerlichem Wind bekommen hätte. Und Alice Robillard, die alle an deren Klassenkameraden zum Geburtstag einlud außer Ozzie. Das Leben im Kloster ersparte ihm die Erfahrung mit der Stadt, wo er immer die Blicke der Menschen meiden, in Durchgängen verschwinden und Abkürzungen nehmen musste. Natürlich war er hässlich und böse. Er kickte Katzen mit dem Fuß und verfolgte Hunde, bevor sie ihn jagten. Er beschimpfte die Leute, die in ihm den Sohn eines Schlägers sahen, mit einer hässlichen Nase und mit einer Mutter, von der es hieß, dass sie eine Hure sei, ob wohl dies gar nicht stimmte. Er zahlte es ihnen heim, indem er sie anspuckte, bestahl und aus den Läden Wa ren klaute. Schließlich ließen sie ihn nicht mehr in die Geschäfte, bevor er ihnen sein Geld gezeigt hatte. In Kelcey’s Lebensmittelladen, Dempsey’s Drugstore und den Supermarktketten hatte er Hausverbot. Zuvor war er bei Kelcey zum Putzen und Auffüllen der Regale einge stellt gewesen, der ihn immer wieder angeschnauzt hatte, dass er sein Schniefen sein lassen solle. »Die Kunden finden das unappetitlich!« Das brachte das Fass zum 273
Überlaufen. Dir werde ich’s geben, dachte Ozzie, als er neun Baby-Ruth-Riegel, die er wahnsinnig gern aß, in seiner Jackentasche verschwinden ließ. Was natürlich dumm war, aber in diesem Augenblick sah er es als die einzige Möglichkeit, Rache zu üben: Kelcey etwas zu stehlen, das gut schmeckte. Die Riegel bauschten sich allerdings in seiner Tasche und Kelcey packte ihn so hef tig beim Kragen, dass die Riegel vor den Augen der Kundschaft herausfielen. Man hatte ihn erwischt und nun stand er gedemütigt und schniefend vor Calafano, dem Frisör, und Mrs. Spritzer, die so hochnäsig tat, nur weil ihr Mann Stadtrat war. Ozzie schwor Rache. Sein einziger Freund in der Stadt war der alte Pinder, der zu viel trank und über den Gehsteig torkelte, überall anstieß und immer wieder hinfiel. Pinder war sein ältes ter Bekannter. Er hielt sich mit Gelegenheitsarbeiten für die Ladenbesitzer über Wasser, wie Mülltonnen heraus tragen und den Gehsteig kehren. Manchmal übernachtete er auf der Straße und manchmal hinter einem der Super märkte, wenn er zu betrunken oder zu müde war, um nach Hause zu gehen. Sein Zuhause war der Keller des Stundenhotels, in dem die Huren wohnten, wo seine Mutter gewohnt hatte, nachdem sie von zu Hause weggegangen war, obwohl sie keine Hure war. »Mein Junge, deine Mutter war eine echte Dame«, hatte ihm der alte Mann einmal gesagt, »gesoffen hat sie wie ein Loch und war trotzdem eine Dame durch und durch.« Als Ozzie noch nicht bei den Nonnen wohnte, hatte er, wenn es spät wurde, manchmal bei dem alten Pinder auf der Straße übernachtet, um dem Zorn des Heuchlers und Betrügers zu entgehen, der nicht sein Vater war. Ozzie hatte mit Pinder Rücken an Rücken geschlafen, um ein bisschen Wärme abzubekommen von 274
dem alten Mann, der immer ein paar Pullover und Jacken und mindestens zwei Mäntel anhatte. Einen legte er um Ozzies Schultern und sie schliefen behaglich in der Käl te, bis sie bei Tagesanbruch erwachten, wenn Reap, der Polizist, sie mit den Füßen anstieß und herumstreunende Hunde sie anbellten. Dann rappelten sich Ozzie und Pinder auf und machten sich zitternd und mit schmerzenden Knochen davon. Als sich Ozzie eines Nachts aus dem Kloster in die Stadt davongestohlen hatte, sah er den alten Mann mit einem vom Alkohol verglasten Blick an einer Parkuhr lehnen. »Du bist bei den Nonnen besser aufgehoben«, sagte Pinder, den es vor Kälte und Trunkenheit schüttelte und der entsetzlich stank. So gewöhnte sich Ozzie an die Lebensweise im Klos ter, schlief auf der Pritsche in der kleinen Zelle, die nicht größer war als eine Speisekammer. Die Nonnen gaben ihm von ihrem Essen ab, einfache Mahlzeiten, die nach nichts schmeckten, die er aber hinunterschluckte, um die Leere in seinem Magen zu füllen. Er verrichtete einfache Arbeiten für die Nonnen, schrubbte Böden und Wände im Kloster. Schwester Annuntiata pflegte bei ihren Haus arbeiten zu singen. Er liebte den Klang ihrer Stimme, obgleich sie manchmal zitterte und brach, sodass er ki chern musste. Keiner schlug ihn im Kloster. Hier fühlte er sich sicher vor der Schule. Nachdem seine Mutter gestorben war, zogen ihn die Kinder nicht mehr ihretwegen auf, sondern verspotteten ihn wegen seiner Nase. Seiner verfluchten Nase. Der Na se mit den Pickeln und den geplatzten Äderchen, die wie eine zerquetschte Erdbeere aussah. Als seine Verfolger in der Schule aufhörten, Reime auf seine Mutter zu singen, dachten sie sich einen für seine Nase aus: Nasenhahn, 275
Nasenhahn, tröpfelt stetig ohne Scham. Wieder einmal hatte der boshafte Dennis O’Shea zugeschlagen. Inzwi schen aber hatte Ozzie gelernt, so zu tun, als ob er sie gar nicht hörte. Und Bull war es schließlich müde geworden, ihn zu verprügeln, ließ ihn in Ruhe und jagte ihn nicht mehr. Ozzie harrte auf den richtigen Augenblick. Er war tete. Wartete worauf? Er wusste es nicht. Aber er wusste, dass er darauf wartete, dass etwas ge schah. Etwas Unglaubliches. Wenn er nachts auf seiner Pritsche lag, spürte er es in allen Gliedern und in seiner Seele; falls er wirklich so etwas wie eine Seele hatte, was er im Gegensatz zu Schwester Annuntiata bezweifelte. Jedenfalls fühlte er tief in seinem Inneren, dass etwas auf ihn zukam, dass ihm etwas bevorstand. Geduldig zählte er die Tage, hielt durch und stellte seine Abschussliste zusammen. Kurz bevor er nachts ein schlief, dachte er sich die Liste der Personen aus, die Zie le seiner Rache werden würden, wenn das eintrat, worauf er wartete. Der heuchlerische Vater stand ganz oben auf seiner Liste, dann kamen Bull Zimmer und die anderen Mitschüler, Dennis O’Shea und Alice Robillard. Und etwas ganz Besonderes hatte er sich für Miss Ball ausge dacht, die dann endlich von seiner Existenz erfahren würde. Wenn er die Augen schloss, ergötzte er sich an der Vorstellung von blutrünstiger Folter und Todesschreien. Er lächelte, während er in den Schlaf sank und auf das Unglaubliche wartete. Das auch wirklich eintrat.
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Natürlich tötete er den alten Heuchler zuerst, schlug auf den Kopf dieses Vaters ein, der nicht sein richtiger Vater war und nach dieser Tat auch nie mehr sein würde. Als ob er einen Nagel in den Kopf seines Vaters treiben wür de, hämmerte er auf seine Stirn ein. Ozzie tötete den alten Heuchler im Schlaf. Überrasch te ihn in der Wohnung, in der sie zu dritt, seine Mutter, er und der Heuchler, all die Jahre gelebt hatten. Er hatte erfahren, dass der Heuchler wieder in die Stadt zurück gekehrt sei. Er wusste nicht, wo er gewesen war, und es war ihm auch schnuppe. Es war das erste Mal nach Mut ters Tod, dass er sich wieder in der Stadt hatte blicken lassen. Seine Rückkehr war mit dem unglaublichen Er eignis zusammengefallen. Es war wie ein Omen gewe sen. Etwas, worauf er die ganze Zeit über gewartet hatte. Er hatte keinen Namen für das Unglaubliche. Wie soll te er auch? Ohnehin würde man die Bezeichnung nur brauchen, wenn man laut darüber sprach. Was er aber nie tun würde. Er würde nie darüber sprechen. Wie auch? Darüber?
Wie es dazu kam.
Endlich, nach all dem Warten.
Er war in der Nacht aufgewacht, was ungewöhnlich war, weil er sonst immer bis zum Morgen und ohne zu träu men durchschlief. Der Schlaf war beinahe wie ein Vaku um in seinem Leben und er wachte beim ersten Tages licht immer schnell auf. In jener Nacht war er jedoch mit ten in der Nacht in der Dunkelheit aus dem Schlaf aufge schreckt. Sein Körper fühlte sich seltsam an, so leicht, so kühl, eine Kälte, die von innen kam, als ob ein Eisblock in sei 277
nem Inneren geschmolzen wäre und sich die Kälte über seinen ganzen Körper ausbreitete. Er konnte sich noch schwach daran erinnern, dass er einen Schmerz empfun den hatte, der schnell gekommen und wieder verschwun den war. Er knipste die Lampe neben seinem Bett an. Und sah, was er nicht sah. Er wusste, dass er den Arm ausgestreckt hatte, um das Licht anzuknipsen. War sich auch bewusst, dass seine Finger den Schalter gedreht hatten. Als aber das Licht das Zimmer erhellte und er blinzeln musste, bemerkte er, dass er weder seinen Arm noch seine Hand, noch seine Finger sah. Es war verrückt. Er wusste doch, dass sie vorhanden waren, konnte sie fühlen, sie bewegen, er schnalzte mit den Fingern und hörte das Geräusch, konn te die Finger aber nicht sehen. Er schloss die Augen, lehnte sich zurück, griff nach dem Schalter und drehte das Licht wieder aus, horchte auf das leise Klicken. Lag im Dunkeln, ertrug den Alb traum wie so vieles andere. Er hatte einmal gehört, der schlimmste Albtraum wäre der, wenn man träume, im hell erleuchteten Zimmer wach im Bett zu liegen, und glaube, dass es wahr sei. Und dass dies der Augenblick wäre, in dem einen die Schreckgespenster heimsuchten. Schaudernd griff er wieder nach dem Schalter und drehte das Licht an. Hielt die Hand hoch, konnte sie aber nicht sehen. Konnte das Zimmer, den Boden, die Fenster und den weißen Vorhang, den Stuhl an der Wand sehen, sich selbst aber nicht. Schlug mit der Hand, die er nicht sehen konnte, die Bettdecke zurück und sah, dass auch sein restlicher Körper verschwunden war. Seine alter, verblichener Schlafanzug, auf dem die Nonnen bestan den, war ebenfalls weg. 278
Spurlos verschwunden. Er schlug mit Armen und Beinen um sich, wälzte sich im Bett, sah, wie die dünne Matratze unter seinem Ge wicht durchhing. Schwang die Beine über die Kante der Pritsche und setzte sich aufrecht hin. Wenigstens konnte er sich vorstellen, dass er aufrecht saß, fühlte nur, dass seine Füße die kalten Fußbodenbretter berührten. Ihn fröstelte wieder, die Kälte machte ihm aber nicht wirk lich etwas aus. Dann ergriff ihn Panik: Wie kriege ich meinen Körper zurück? Oder musste er immer so bleiben? Plötzlich stemmte er sich nach vorn, als ob er gegen ein Hindernis, eine unsichtbare Mauer ankämpfte, die sich dort befand und so unsichtbar war wie sein Körper. Eine plötzliche Aufwallung – und die Kälte wich im Nu von ihm, der Atem setzte aus, Schmerz überkam ihn … Dann war er wieder da, der Schmerz war so schnell ver gangen, wie er gekommen war. Sein Körper – er selbst – war wieder sichtbar, seine Hände, Arme, Beine und der Pyjama waren plötzlich wieder da. Der Pyjama war ver schwitzt und klebte an seinem Körper. Er tappte über den kalten Boden und blickte in den Spiegel, sah die entsetz liche Erdbeernase wieder, die kleinen Augen und das spitze Kinn. Na gut, er war wieder da und hätte nie ge dacht, dass er sich darüber freuen würde, dieses Gesicht wieder zu sehen. Er blieb noch einen kurzen Moment bei dem alten Heuchler im Zimmer, nun, da er aufgehört hatte zu blu ten und der Vater, der nun nie wieder sein Vater sein würde, still war, nur noch ein lebloser Gegenstand und kein Mensch mehr. Ozzie wartete, spitzte die Ohren, hör te kein Geräusch mehr in der Nacht. Sah den blutigen 279
Hammer an, der sich in der Luft bewegte, ohne dass die rechte Hand sichtbar gewesen wäre, die ihn hielt, weil sie unsichtbar war wie sein übriger Körper. »Für dich, Mutter!«, flüsterte er und wischte den Hammer mit dem Leintuch ab. Dann warf er ihn auf das Bett neben den Leichnam, der bei Lebzeiten solch ein Heuchler und Betrüger gewesen war. Sein erstes Opfer. Ozzie lächelte in der Dunkelheit, ein Lächeln, das niemand jemals sehen würde. Ein Lächeln voller – ja, was? Liebenswürdigkeit. Und darüber hinaus: Siegesge wissheit. Als er mit dem Hammer zum Schlag ausgeholt und gespürt hatte, wie der Knochen nachgab, hatte er zum ersten Mal in seinem Leben erfahren, wie süß und machtvoll Rache sein kann. Er wollte hier noch länger verweilen, traute sich aber nicht. Er war seit beinahe einer Stunde vom Kloster weg und musste unbemerkt wieder zurückkehren, sich durch die Gänge und die Küche schleichen, ohne ein Geräusch zu machen, ohne einen Laut von sich zu geben, weil dort immer jemand wach war und Schwester Annuntiata manchmal nach ihm schaute. »Mach’s gut, du Scheißkerl von einem Vater, der nie mein Vater war«, sagte er, blickte wieder auf das Bett und kicherte leise vor sich hin. Dann ging er in die Nacht hinaus. Als er dann – immer noch unsichtbar – durch die Stadt lief, musste er lachen, als er sein Werk der Zerstörung sah. War sogar stolz darauf. Toll! Ganz toll! Alles sein Werk. Sie hatten das Schaufenster von Kelcey’s Lebensmit 280
telladen mit Brettern vernagelt und er wartete nun darauf, dass Kelcey es wieder einsetzte. Dann würde er es wieder einschlagen, genau wie vor einer Woche. In derselben Nacht hatte er auch die Reifen von drei Wagen, die in der Main Street geparkt waren, zugerichtet, hatte sie mit ei nem Küchenmesser, das er aus der Klosterküche entwen det hatte, aufgeschlitzt. Zum Lachen hatte ihn gebracht, dass das Messer einer Nonne solchen Schaden anrichten konnte. Dieser erste Ausflug in die Stadt war ein Expe riment gewesen. Er hatte sehen wollen, wie es war, wenn man irgendwohin kam, ohne gesehen zu werden. Der wirkliche Test aber war gewesen, am helllichten Tag in die Stadt zu gehen, wenn Leute auf der Straße und die Läden geöffnet waren und Reap, der Polizist, seine Runde machte. Inzwischen hatte er in seiner Zelle im Kloster das Verschwinden und Wiederkehren geübt. Er hatte gelernt, dass Übung den Meister macht. Hatte sich kommen und gehen, gehen und kommen lassen, hatte gelernt den Augenblick zu ertragen, in dem er keine Luft mehr bekam, dann den kurzen, stechenden Schmerz, bis er alles mühelos beherrschte. Die Kälte machte ihm nichts aus. Eines Tages war er in die Innenstadt gegangen und hatte sich in dem alten Durchgang unsichtbar ge macht. Dann war er zur Main Street geschlendert, zwi schen den Leuten hindurchgeschlüpft und auf Kelcey’s Lebensmittelladen zugegangen. Das Fenster war immer noch mit Brettern vernagelt gewesen. Er hatte den Laden betreten und war zwischen den Reihen hindurchgegan gen. Der alte Kelcey hatte so herrschsüchtig wie immer an der Kasse gestanden. Um ihn zu ärgern, hatte Ozzie eine Auslage mit Konserven umgestoßen, die hübsch und ordentlich – so wie es Kelcey mochte – zu einer Pyrami de aufgebaut war. Kelcey hörte den Lärm und war 281
schleunigst herbeigeeilt, hatte gestockt, als er sah, dass die Pyramide eingestürzt war und die Konservendosen überall auf dem Boden herumrollten. Und während Kel cey auf den Knien herumgerutscht war und die Dosen wieder aufhob, hatte Ozzie den Ständer mit Kuchenschachteln und anderem Gebäck im nächsten Gang um gekippt. Bums und schon prasselten sie herunter, und er hörte Kelcey rufen: »Was zum Teufel …« Ozzie musste die Lippen zusammenkneifen, um das Lachen, das Ki chern zu unterdrücken, in das er beinahe ausgebrochen wäre. Als Kelcey zu dem umgestürzten Ständer eilte, um den das herausgefallene Gebäck verstreut lag, war der alte John Stanton hereingekommen, hatte einen völlig verwirrten Kelcey angetroffen, der sich mit in die Hüften gestemmten Händen und völlig verblüfftem Gesicht den Ort der Zerstörung ansah. Und da war auch Ozzie gewe sen, keine anderthalb Meter weg. »Was ist denn hier los, Kelcey?«, fragte Mr. Stanton, ein Feuerwehrmann im Ruhestand. Ozzie hasste ihn nicht so sehr wie die anderen. Als er noch ein kleiner Knirps war, hatte Mr. Stanton Ozzie auf den Sitz des großen Ge rätewagens hochgehoben und ihm gesagt, dass er die große silberne Glocke läuten solle. Ozzie hatte am Strang gezogen und die Glocke geläutet. Damals war er viel leicht sechs oder sieben Jahre alt gewesen. In der Feuer wache hatte Mr. Stanton rote Hosenträger über dem blauen Hemd getragen. Ozzie hatte davon geträumt, spä ter auch einmal Feuerwehrmann wie Mr. Stanton zu wer den und rote Hosenträger zu tragen, nur dass er dazu kaum eine Chance hatte. Als sich Mr. Stanton Kelcey zugesellte, um die auf dem Boden verstreuten Schachteln anzuschauen, fühlte Ozzie Wut in sich aufkeimen. Aber warum Wut? Schließlich hatte er doch gerade sehr ge 282
nüsslich Kelceys Laden auf den Kopf gestellt und dabei kaum ein Kichern unterdrücken können. Und nun packte ihn plötzlich eine fürchterliche Wut, die auch noch gegen Mr. Stanton gerichtet war. Schlag ihn! Mr. Stanton aber war ein lieber alter Mann, der zu Ozzie einmal sehr nett gewesen war. Ja, aber … Als Nächstes stellte Ozzie fest, dass er sich Mr. Stan ton näherte und der alte Feuerwehrmann im selben Au genblick aufsah und Ozzie direkt in die Augen blickte, als könne er ihn wirklich sehen, was natürlich nicht der Fall war. Mr. Stanton riss Mund und Augen auf. Das war, als Ozzie ihn schlug. Er wollte ihn nicht wirklich schla gen, verlangte nicht danach, tat es aber trotzdem. Ein kurzer, schneller Schlag in den Nacken, der den alten Feuerwehrmann an der Schädelbasis traf, wobei Ozzie seine Hand wie eine Art Axt benutzte. Der alte Feuer wehrmann schrie vor Schmerz auf, fiel nach vorn auf die Knie in das Durcheinander von Konditoreischachteln, landete mit der flachen Hand auf einer Schachtel und sank damit in einen rosa glasierten Kuchen. »Was ist los, John?«, fragte Kelcey und beugte sich über den alten Feuerwehrmann, der nun auf allen vieren stöhnend und ächzend auf dem Boden herumkroch. Ozzie drehte sich der Magen um. Ihm wurde speiübel. Sein Blut kochte. Ich muss hier raus, dachte er. Es mach te keinen Spaß mehr. Er ging zur Tür und ließ die Män ner in ihrer Verwirrung zurück. Er hatte den alten Feuer wehrmann, der so freundlich zu ihm gewesen war, nicht wirklich schlagen wollen. Warum hatte er es dann trotz dem getan? Weil er keine andere Wahl gehabt hatte. Und ehrlich gesagt, war der Schlag, mit dem er den alten Kerl im Genick getroffen hatte, wirklich toll gewesen. Es war toll, so um sich schlagen zu können und zu wissen, dass 283
man Herr der Situation ist, das Sagen hat und einem kei ner dabei zusieht. Und es war auch toll gewesen, mit der Zerstörung des Ladens anzufangen. Eines Tages würde er wiederkommen, ganze Arbeit leisten und den verdamm ten Laden mit Kelcey mittendrin zum Einsturz bringen, sodass Kelcey unter den Trümmern begraben werden würde. Wie auch immer. Das war nur der Anfang gewesen. Es gab Wichtigeres zu tun. Die Bullen kamen ins Kloster und befragten Ozzie. Sie fingen nicht sofort damit an, sondern drückten ihm zuerst ihr Beileid aus, wie sie es nannten. Natürlich war alles eine Farce. Alle wussten, dass der alte Heuchler Ozzie und seine Mutter misshandelt und geschlagen hat te. Die Nachbarn hatten mehr als einmal die Bullen geru fen, die den alten Heuchler daraufhin ins Gefängnis ab führten. Er kam aber nie vor Gericht, weil die Bullen sei ner Mutter sagten, dass sie eine Klage einreichen müsste, was sie natürlich nie tat, weil der Typ früher oder später nach Hause gekommen wäre und sie dann beide windel weich geprügelt hätte. »Wo warst du in der Nacht, als dein Vater getötet wurde?«, fragte Sergeant McAllister mit seiner sanften Stimme, die Augen blickten freundlich. Er trug keine Uniform, nur eine grüne Schottenjacke. Er sprach wie ein Lehrer oder Priester. »Na, hier im Kloster.« Ozzie sprach laut und deutlich und ihm wurde nun klar, dass die Bullen doch nicht nur gekommen waren, um ihm ihr Beileid auszudrücken. Nun legte Schwester Annuntiata los, ihre Stimme war schrill und wütend, die gleiche Stimme, die sie gegen über Jungen wie Bull Zimmer und den Klugscheißern 284
benutzte. »Er ist die ganze Nacht hier gewesen!« Ihre Augen brannten wie zwei kleine Fackeln. »Na, na, Schwester, das sind doch nur Routinefragen«, entgegnete ihr Inspektor McAllister auf seine sanfte, ge mächliche Art. »Und wir brauchen Aussagen. Für das Protokoll.« Er kratzte sich an seinem grau melierten Kopf. »Mr. Slater wurde zwischen neun und elf Uhr nachts ermordet, und zwar mit dem Hammer, den er in seinem Geräteschuppen aufbewahrte. Also müssen wir jeden, der von dem Hammer wusste und in der Nähe ge wesen sein könnte, fragen, wo er sich zur Tatzeit auf gehalten hat. Vielleicht hat jemand, der in dieser Nacht in der Nähe war, etwas Verdächtiges gesehen, das uns wei terhilft.« Dann sagte er wieder zu Ozzie gewandt: »Ver stehst du, was ich meine?« »Ich war die ganze Nacht hier«, entgegnete Ozzie und überlegte, ob er diesen ruhigen, aber gefährlichen Poli zisten auf seine Liste setzen sollte. »Herr, in unserem Kloster ist es nie still und es ist immer jemand unterwegs«, sagte Schwester Annuntiata. »Ozzie ist ein guter Junge. Er ist in unserer Obhut. Wir wissen über seine Ausgänge Bescheid. In jener Nacht war er die ganze Zeit hier. Auch wenn er versucht hätte sich hinauszuschleichen, was unser Ozzie nie tun würde, hätte jemand von uns ihn gesehen. Darauf kann ich Ihnen mein Wort geben …« »Ich will’s Ihnen ja gern glauben, Schwester«, sagte der Polizist und nickte ihr zu, »das Wort einer Barmher zigen Schwester genügt der Polizei …« Schwester Annuntiata war aber immer noch in voller Fahrt: »Mir gefällt nicht, dass sie einem Jungen seines Alters zutrauen, eine solche Tat am eigenen Vater zu begehen!« 285
»Ja, aber sehen Sie, Schwester, er war ja nicht sein leiblicher Vater«, und zu Ozzie gewandt: »Stimmt’s?« »Er war ein Heuchler und Betrüger«, sagte Ozzie mit lauter Stimme und war froh, dass er es aussprechen konn te, er hatte es sich schon so oft vorgesagt. »Meine Mutter hat ihn geheiratet, weil sie ein Dach über dem Kopf brauchte. Sie hat ihn nicht geliebt. Keiner hat ihn geliebt. Er war ein böser Mensch.« Seine triefende Erdbeernase war der schlagende Beweis dafür und alle wussten das. »Und ich kann nicht einmal behaupten, dass ich seinen Tod bedauere. Ich hab’s aber nicht getan.« Lügen fielen einem leicht, wenn man sich im Recht glaubte. »Das behauptet ja auch niemand«, sagte Schwester Annuntiata, die ihren Rosenkranz in der Hand hielt. Das wäre beinahe ins Auge gegangen, dachte Ozzie später. Er sollte sich vielleicht lieber eine Weile zurück halten. Den rechten Augenblick abwarten, er hatte ja eine Engelsgeduld. Kelcey’s Geschäft blieb das Lieblingsziel für seine At tacken und er stahl gelegentlich im Laden und stieß die eine oder andere Auslage um. Er hörte Gerüchte in der Stadt, dass es bei Kelcey’s spukte, ging alle paar Tage dort vorbei und sah nicht mehr viel Kundschaft. Wer kaufte schon gerne in einem Geschäft, in dem es nicht recht geheuer war? Unterwegs in der Stadt schnappte er Gesprächsfetzen auf, blieb stehen, um zu lauschen und die Gespräche zu verfolgen. Blieb aber nicht lange, weil er Angst hatte, dass ihn ein Drang überkommen könnte. Wenn er unsichtbar war, trieb immer häufiger ein in nerer Drang sein Spiel mit ihm, boxte ihn, zerrte an ihm, zuerst sehr dezent, sodass er es fast nicht merkte, mit der Zeit aber sehr viel vehementer. Er kämpfte dagegen an, weil er ihn an der Verwirklichung seiner Pläne hinderte. 286
Eines Tages entwickelte sich dann die Stimme aus dem inneren Drang. Er war wie gewöhnlich im Durch gang hinter dem Supermarkt stehen geblieben und hatte sich in einen verborgenen Winkel zurückgezogen, um unsichtbar zu werden, weil er sich in der Stadt ein biss chen austoben wollte. Er kam aus dem Durchgang wieder heraus, fühlte sich gut in Form, wie er so in der Sonne herumlungerte, und war stolz darauf, verschwunden und für niemanden sichtbar zu sein. Auf der anderen Straßen seite entdeckte er eine junge Frau mit einem langen, schwarzen Pferdeschwanz, die einen Kinderwagen schob. Sie hielt an, beugte sich vor und schaute nach dem Baby im Wagen. Er fragte sich, ob ihn seine Mutter wohl auch so spazieren geführt hatte. Er konnte sich nicht ent sinnen, jemals einen Kinderwagen in der Wohnung gese hen zu haben. Trauer überkam ihn, als er ihnen zusah. Er verspürte den heftigen Drang in sich, hinüberzugehen, um – er verwarf den Gedanken, das Verlangen aber wie der – ihnen etwas anzutun. Hätte sie am liebsten platt gemacht. Wen? Beide. Ihnen am liebsten wehgetan. Aber das will ich doch gar nicht! Klar, willst du es. Ist doch besser, als bei Kelcey her umzualbern. Heute will ich aber meinen Spaß mit Kelcey haben. Die Frau ist aber wichtiger als Kelcey. Das Baby auch. Tu ihnen weh! Tu ihnen beiden weh! Ich kenne weder die Frau noch das Baby. Du brauchst sie doch nicht zu kennen, wenn du ihnen wehtun willst. Danach wurde die Stimme immer penetranter. Ver rückte Gespräche. Gespräche, die in Wirklichkeit gar keine waren. Manchmal schien es ihm, als ob eine frem de Person in ihm wäre oder als ob es zwei Seiten von 287
ihm gäbe und er wie ein Apfel in zwei Hälften geteilt war. Sei still, schnauzte er manchmal die Stimme an, diese andere Seite seines Selbst. Und manchmal gab sie dann auch Ruhe. Manchmal aber auch nicht. Wenn dies pas sierte, hob er die Unsichtbarkeit wieder auf, um der Stimme zu entfliehen. Wie an dem Tag, als er auf der anderen Straßenseite die Frau mit dem Kinderwagen er blickte. Er zog sich in den Durchgang zurück, fand sei nen Schlupfwinkel und nahm wieder Gestalt an. So ent ledigte er sich der Stimme. Als Ozzie dann zum Kloster zurückging, tat er etwas, das er hasste. Er ließ seiner Traurigkeit freien Lauf. Was nicht allzu oft passierte. Manchmal aber, kurz nach dem Aufwachen am Morgen, oder wenn er, wie jetzt, den Heimweg zum Kloster allein antreten musste, schniefte er, Einsamkeit überkam ihn und er wünschte, er wäre immer noch ein kleines Baby, das die Mutter auf dem Schoß wiegt und dem sie Wiegenlieder singt. Er wünsch te auch, dass er mit jemand reden, ihm das Unerhörte mitteilen könnte, das ihm widerfahren war. Konnte er es Schwester Annuntiata anvertrauen? Vielleicht, vielleicht aber auch nicht. Schwester Annuntiata kam oft nachts in seine Zelle, strich ihm mit der Hand über die Stirn und murmelte Armer Ozzie. Er drehte sich dann immer weg und fühlte sich einsamer denn je. Dann passierte etwas Schlimmes. Er wurde von dem alten Pinder dabei beobachtet, wie er gerade vom sichtbaren in den unsichtbaren Zustand überwechselte. Es passierte an einem Samstagnachmit tag, als Ozzie in die Stadt gegangen war, um sich wieder einmal auf Kosten von Kelcey zu amüsieren. Er genoss die Macht, die er über Kelcey ausübte, war andererseits 288
aber auch bitter enttäuscht von seiner Fähigkeit. Seine größte Enttäuschung war, dass er tagsüber nichts stehlen konnte, denn alles, was er mitnähme, sei es Geld aus der Kasse oder Lebensmittel, wäre sichtbar und würde den Eindruck erwecken, als ob es in der Luft schwebte, und natürlich für große Aufregung sorgen. Eines Nachts brach er in zwei andere Geschäfte in der Main Street ein, zuerst in Dempsey’s Drugstore und dann im Ramsey Di ner. Er zerschlug jedes Mal ein kleines Fenster, schlüpfte hindurch und war enttäuscht von der Ausbeute, die er in den Kassen fand – insgesamt ein Betrag von nur 23.55 Dollar. Danach ließ er sich mit dem Stehlen Zeit, wartete auf den Tag, an dem er einen wirklich großen Coup lan den konnte – wie zum Beispiel in der Ramsey Savings Bank, wenn der Geldtransporter tausende von Dollar in großen Rupfensäcken abholte. Er musste nur noch einen Weg finden, wie er die Säcke vom Schauplatz entfernen und sie irgendwo verstecken konnte, wusste aber, dass es zu schaffen war. Das wäre dann ein sorgfältig geplanter Raub wie im Film, mit dem er genug Beute machen wür de, um ihn aus dieser Stadt heraus in die große, weite Welt zu bringen. Im Moment aber wartete er, frönte klei nen Überfällen in der Stadt und boshaften Schikanen ge genüber Leuten wie Kelcey. Bei einem dieser Streifzüge durch die Innenstadt passierte es, dass ihn der alte Pinder erspähte, als er den Durchgang hinter dem Supermarkt betrat. Ozzie hatte sich allein gewähnt und das Gesicht an die Wand gelehnt, um beim Stemmen, das ihn vom sichtbaren in den unsichtbaren Zustand versetzte, mehr Kraft zu haben. Als er sich umdrehte und froh war, ver schwunden zu sein, hörte er ein Geräusch zu seiner Rech ten, das klang wie ein kleines Tier auf der Flucht. Er fuhr herum und sah den alten Mann wie einen geölten Blitz 289
auf die Straße hinauseilen und mit Stielaugen zu der Stel le zurückblicken, wo Ozzie verschwunden war. Ozzie blieb unschlüssig stehen, aber er wusste, was er zu tun hatte. Er musste den alten Mann umbringen, bevor dieser ihn bei jemand verpfeifen konnte. Musste ihn für immer zum Schweigen bringen. Er rannte schnell zum Ende des Durchgangs, sah den alten Mann den hölzernen Gehsteig entlangtorkeln und den Kopf schütteln, als er zur Imbissstube ging, wo er, wie Ozzie wohl wusste, um ein Bier betteln würde. Harmloser alter Trottel, wahr scheinlich dachte er, dass er Gespenster sah, vom Saufen Halluzinationen oder Katzenjammer oder beides hatte. Ozzie ließ ihn ziehen. Musste abwarten. Wer würde schon einem alten Gammler glauben, wenn er erzählte, dass er gesehen hatte, wie Ozzie Slater im Durchgang plötzlich unsichtbar geworden war? Er entsann sich, wie ihm der alte Mann, als sie in den kalten Nächten zusam men auf der Straße übernachteten, seinen Mantel gege ben und ihm versichert hatte, dass seine Mutter eine wirkliche Dame wäre mit einem feinen Auftreten. Lass ihn fürs Erste in Ruhe! Dann passierte noch etwas Schlimmes. Sein innerer Drang war nun stärker denn je. Er ergriff Besitz von ihm, als er an der Ecke Main und Cotton Street, gegenüber der Stadtbücherei, anlangte und die Bibliothekarin die Treppe herunterkommen sah. Sie war wunderschön, klein und zierlich und trippelte wie ein kleines Mädchen, das versucht jemand einzuholen, von dem es abgehängt wurde. Er schlich sich ab und zu in die Bücherei, um Zeitschriften durchzublättern, hauptsäch lich aber, um sich an kalten Tagen aufzuwärmen oder an regnerischen wieder trocken zu werden. Die Bibliotheka rin hatte ihn nie fortgeschickt, sondern ihn immer freund 290
lich begrüßt. Wenn er eines Tages heiraten würde, so wusste er, dass er nach jemandem wie ihr suchen würde. Nun klickte sie in ihrem rosafarbenen Outfit und auf hohen Absätzen erhobenen Hauptes den Gehsteig ent lang. Wie immer ging sie sehr schnell. Ihr Anblick mun terte ihn auf. Er seufzte, als er sie in ihrer ganzen Anmut im Dunst des Sommermorgens entschwinden sah. Und wieder die verführerische Stimme in seinem Inne ren: Du weißt doch, was du mit ihr tun solltest’. Was? Du weißt es. Nein. Na klar. Dann sag’s mir. Tu ihr weh’. Nein. Du sagst nur Nein, aber du meinst Ja, stimmt’s? Du willst es doch, stimmt’s? Sei still, rief er, sei still! Und fing an zu rennen. Weg von der Bibliothekarin und der Main Street in den Schutz des Klosters. Weg von der Stimme, vor der er nicht wirklich davonlaufen konn te. Denn die Stimme war immer bei ihm, war in ihm. Er kam nicht weit. Nur bis zur Ecke Spruce und Pine Street. Dort hielt er an. Holte tief Atem. Die Stimme: Kehr um! Und er kehrte um. Zurück zur Main Street, die Füße jagten über den Beton. Er war unsichtbar und konnte rennen, niemand würde es bemerken, solange er auf der Straße blieb und nicht auf dem hölzernen Gehsteig rann te, wo man seine Schritte hören würde. Sie ging nun an Kelcey’s Laden vorbei und dann an 291
Dempsey’s Drugstore. Sie ging hinüber zum Ramsey Diner auf der anderen Straßenseite und bog nach links in die Spring Street ein. Seine Gedanken eilten ihm voraus. Er versuchte sich auszumalen, wohin sie ging und welche abgelegenen Orte auf ihrem Weg lagen, wo er sie packen und in ein Versteck ziehen konnte. Sie ging auf ihren hohen Absätzen klickend die Straße entlang, ohne nach rechts oder links zu schauen, ihre ge bräunten Beine glänzten in der Sonne, das schwarze Haar schwang im gleichen Rhythmus wie ihr Körper. Er über legte. Wenn sie genau diesen Weg weiterverfolgte, an der Blossom und Summer Street vorbei, würde sie direkt am alten Barnard-Haus vorbeikommen, das nun verfallen und dessen Keller mit Gestrüpp überwachsen und ideal war für das, was er ihr antun würde. Es kribbelte ihm in den Fingern vor Erwartung. Er ballte die Hände zu Fäus ten und öffnete sie wieder, so wie er mit ihnen diesen hübschen, schlanken Hals umschließen und immer fester zusammendrücken würde, bis – Sie hielt plötzlich mitten auf dem Gehweg inne. Dreh te sich nicht nach links oder rechts, sondern blieb wie angewurzelt stehen. Sah aus wie ein Mannequin in einer Schaufensterauslage. Auf der Stelle erstarrt. War er unvorsichtig gewesen? Hatte sie seine Schritte gehört? Oder fühlte sie seine Gegenwart, so wie es bei manchen Leuten der Fall war? Sie setzte sich wieder in Bewegung, eilig, ihre Beine glänzten in der Sonne wie die Schenkel einer Schere, sie rannte beinahe, und er rannte auch, auf Zehenspitzen, um kein Geräusch zu machen, er musste vorsichtig sein. Sie hielt wieder an. Nur ein paar Meter vor ihm. Er ebenfalls. Sie drehte sich um, schaute in seine Richtung und sah ihm direkt ins Gesicht. Als ob sie ihn wirklich 292
sehen könnte, obwohl das ja nicht möglich war. Ein Blick voller Furcht. Das war, als ihn der Hund angriff. Der Hund gab weder ein Bellen noch ein Knurren von sich. Ozzie hörte nicht, wie er sich näherte, wäre aber beinahe umgeworfen worden, als ihn das Tier ansprang und dabei die Zähne fletschte: lange, gelbe Zähne. Dann hörte er ein leises und drohendes Knurren. Nach diesem ersten Angriff war der Schäferhund allerdings völlig verwirrt, wich noch immer knurrend zurück, ein leises Winseln war nun aus dem Knurren herauszuhören. Ozzie erholte sich wieder und behauptete seine Stellung. »Braves Hündchen«, flüsterte ihm Ozzie mit leiser, einschmeichelnder Stimme zu. Der Hund erstarrte, als er die Stimme hörte, hob dann seine spitze Schnauze, winselte ein bisschen, und Ozzie kicherte, überlegte sich, was dem Hund wohl durch den Sinn ging, als er dort niemanden sah, nur witterte und eine Stimme aus dem Nichts hörte. Ozzie wollte schon mit dem Fuß ausholen, um den zu dringlichen Hund wegzukicken, der ihn bei der Verfol gung der Bibliothekarin störte, verzichtete dann aber doch darauf, als er aufblickte und sein Opfer im Lauf schritt einen mit Steinplatten belegten Weg hinaufeilen sah, der zu einem Backsteinhaus führte. Ein eleganter, glänzender Wagen stand in der Einfahrt. Die Bibliotheka rin verschwand eilends im Inneren des Hauses. »Scheiße!«, rief er. Und machte den Hund dafür verantwortlich. Der Hund blieb in der Nähe. Verwirrt ließ er den Kopf hängen. Er stellte nun keine Gefahr mehr für Ozzie dar. Ozzie fühlte sich betrogen. Tritt ihn. 293
Ja. Er ging zu dem Hund hinüber und gab ihm einen kräf tigen Fußtritt in die Weich teile. Der Hund machte einen Satz und heulte vor Schmerz auf. Seine Läufe sträubten sich, weil der Angriff so überraschend gekommen war, dann jagte er die Straße hinunter, immer noch heulend und jaulend. Vielleicht waren dies die Laute, die ein Hund von sich gibt, wenn er weint. Ozzie sah ihn davonjagen, lächelte in sich hinein, und die Stimme sagte: Toll! Er antwortete der Stimme aber nicht, denn er befürch tete, dass sie es ihm übel nahm, dass ihm die Bibliotheka rin entwischt war. Er wartete auf den alten Pinder am Ende des Durch gangs, wusste, dass er nach Anbruch der Dunkelheit hier früher oder später anhalten würde. Und wirklich, als sich die Dunkelheit wie Ruß auf die Stadt herabsenkte, kam der alte Mann schleppenden Schrittes die Main Street heraufgeschlurft. Als er in die Passage einbog, versperrte ihm Ozzie den Weg. »Na, wie geht’s dir, alter Junge?«, fragte er frohgemut. »Ozzie, Ozzie!«, sagte der alte Pinder kopfschüttelnd und wich ein bisschen zurück, wobei er sich die Lippen leckte. Er leckte sich immer die Lippen, weil er immer Alkohol brauchte. Sie gingen zusammen in den Durchgang, der Fusel stank entsetzlich, es war nicht der süßliche Geruch des Gins, den seine Mutter getrunken hatte, sondern der mod rig saure Geruch von Muskateller, der von Erbrochenem überlagert war. »Wie ist es dir so ergangen, alter Junge?«, fragte Ozzie. Der alte Mann zuckte unter seinen Mänteln und den Lagen von Pullovern zusammen. Ob es heiß oder kalt 294
war, Winter oder Sommer, er zog sich immer gleich an. Dann wandte er sich Ozzie zu und Ozzie sah die Angst in seinem Blick, die unterwürfige Angst, mit der er signali sierte: Schlag mich nicht, tu mir nicht weh! »He, immer mit der Ruhe, alter Junge«, sagte Ozzie, »niemand tut dir was!« Und plötzlich wollte er den alten Mann in das Unfass liche einweihen, das ihm widerfahren war, wollte ihn in das Geheimnis des Unsichtbarwerdens einweihen. Er hatte es so lange für sich behalten, bis es sich anfühlte wie eine brodelnde Masse, die nun überzukochen drohte. »Setz dich, alter Junge«, sagte er. Und der alte Mann sackte auf dem Boden zusammen, neben den Müllcontai nern von Dempsey’s, mit dem Rücken gegen die eintöni ge Backsteinwand. »Ich will dir was zeigen!« Mist, er tat so, als ob er es nicht bereits wüsste! Das Licht fiel von der Main Street in den dunklen Durchgang. Ozzie fühlte sich wie ein Schauspieler auf der Bühne. Dann vergewisserte er sich, dass auch nie mand zusah, und stemmte sich nach vorn, der Atem setz te aus und kehrte zurück, der Schmerz überwältigte ihn. Dann war er unsichtbar und in die Kälte eingetaucht. »Ich habe nichts gesehen, hörst du!«, schrie der alte Mann mit wütendem Blick, seine gelb belegte Zunge ließ er während des Sprechens aus dem Mund schnellen. »Ich will davon nichts sehen und nichts hören!« Immer noch wütend blinzelte er und fragte: »Wo bist du, Ozzie?« »Vor deiner Nase«, brüllte Ozzie dem alten Mann ins Ohr, sodass dieser beinahe einen Satz in die Luft machte. Dann vertrieb er dem alten Kerl die Zeit damit, dass er Gegenstände in der Luft schweben ließ, Abfälle, die er aus den Mülltonnen hervorzog. Dann ließ er die Müll tonnen hüpfen und sich drehen und schließlich zu Boden 295
fallen. Der alte Mann gackerte und schüttelte sich manchmal vor Lachen. Ozzie aber schaute manchmal zu ihm hinüber und entdeckte etwas, das sich hinter dem Lachen verbarg: die Todesangst des alten Mannes. So machte Ozzie dem alten Pinder klar, dass er weder Gespenster gesehen hatte noch sich im Delirium tremens befand. Nun gut, das war Ozzie Slater, sein Freund; der selbe Ozzie, dem er nachts Unterschlupf gewährt hatte und der nun vor seinen Augen mit diesem Unfasslichen protzte, das ihm widerfahren war, und vom Vergnügen sprach, das sie beide dadurch haben könnten. (Ozzie er zählte ihm natürlich nicht, was er dem alten Heuchler angetan und in Kelcey’s Laden angerichtet hatte.) »Vergnügen?« Der alte Mann war völlig verwirrt und zitterte vom Fusel oder dem süchtigen Verlangen nach Fusel. »Ich zeige dir, was ich damit meine«, sagte Ozzie, zog den alten Mann hoch und schleppte ihn zu den Fenstern auf der Rückseite des Spirituosengeschäfts, die auf eine kleine Veranda in der Passage hinausgingen. »Pass auf«, sagte Ozzie. Er schlug das Fenster in der Nähe der Hintertür ein, entfernte alle Glassplitter und schlüpfte hindurch. Er wusste, dass der alte Mann den Muskateller nur trank, weil er am billigsten war. Deswegen suchte Ozzie nach dem guten Scotch, von dem der alte Mann so schwärmte, der so angenehm in der Kehle brannte und den er als jun ger Mann in der guten alten Zeit am Samstagabend in Boston zu trinken pflegte. Ozzie holte zwei Flaschen aus dem Regal, trug sie in gebückter Haltung, damit sie kei ner, der möglicherweise vorbeikam, durch die Luft schweben sah. Er schlüpfte wieder hinaus, stellte die bei den Flaschen auf die Stufen am Hintereingang und ge 296
noss den Gesichtsausdruck des alten Mannes: wie Weih nachten mitten im Sommer. Als sie wieder draußen im Durchgang waren und der alte Mann sich gesetzt hatte, ließ Ozzie ihn, bevor er sich dem Alkohol ergab, schwören, dass er nichts verraten würde. Er malte ihm den Spaß aus, den sie zusammen haben könnten, und die Unmengen von Alkohol, die ihm Ozzie besorgen würde. Ozzie wollte dafür nur die Ver schwiegenheit des alten Mannes und dass er in der Stadt Augen und Ohren offen halten und ihm alles erzählen solle, was dort über Ozzie gesprochen wurde. Als er den alten Pinder ansah, der immer mehr in sich zusammenfiel, je mehr er trank, und mit herabhängender Kinnlade und verglastem, leerem Blick dasaß, fühlte sich Ozzie versucht, ihn auf der Stelle umzubringen, damit er es hinter sich hatte. Vielleicht aber konnte ihm der alte Mann auf die eine oder andere Weise noch nützlich sein. Außer dem hatte es dieser Heuchler von einem Vater verdient zu sterben, gewiss aber nicht dieser harmlose alte Trottel. Pass auf die Nonne auf! Warum auf die Nonne? Darum. Warum? Darum … Er wollte der entsetzlichen Stimme entfliehen und rannte aus dem Kloster und durch den Wald, rannte, bis ihm die Lunge zu zerbersten drohte und seine Beine höl lisch schmerzten. Er warf sich auf den Grasboden, warte te, bangte, dass sich die Stimme wieder melden würde, und war froh, dass dies nicht der Fall war. Neuerdings waren die Stimme und der innere Drang eins geworden, peinigten ihn und hinderten ihn daran, zu 297
tun, was er gerne getan hätte, machten ihm stattdessen ausgeklügelte Vorschläge, was er tun sollte. So wollte er zum Beispiel Bull Zimmer nachspionieren, herausfinden, was er im Sommer tun würde, und Rachepläne schmie den. Das Gleiche galt für Miss Ball. Die Stimme aber hatte ihm befohlen zu warten. Schließlich waren erst we nige Wochen vergangen seit dem Tod des alten Heuch lers, also würde er besser warten. Was er dann auch tat, weil es ihm ohnehin leicht fiel. Er blieb der Stadt fern, außer für einige sporadische Be suche, bei denen er den alten Mann aufsuchte. »Hast du mit jemand über mich gesprochen?« Der alte Mann murmelte jedes Mal vor sich hin, dass er kein Sterbens wörtchen verraten würde. Ozzie stieß ihn ein bisschen herum, um ihm von dem, was passieren würde, wenn er ihn verriet, einen Vorgeschmack zu geben. Einmal schlug ihm Ozzie die Nase blutig und es verschaffte ihm Genugtuung, einmal die Nase von jemand anderem blu ten zu sehen. Die meiste Zeit jedoch blieb er im Kloster und machte sich nützlich. »Rührige Hände sind glückli che Hände«, sagte Schwester Annuntiata und gab ihm einen Eimer mit Wasser, eine Bürste, einen Besen oder das grüne Zeug, mit dem man die Fenster putzte. Annun tiata wurde von einer Biene gestochen. Ihr Gesicht schwoll so sehr an, dass man das eine Auge nicht mehr sehen konnte und sie ein bisschen wie Popeye in den Comics aussah. Ozzie musste sich die Hände vors Ge sicht halten, damit sie ihn nicht lachen sah. Später ent deckte er dann auf dem Feld diese gelben Blumen, die im Unkraut wucherten. Blumen, die schon ziemlich verblüht waren. Was soll’s, gut genug für die Nonne! Nichts Übertriebenes, gerade richtig für sie. Er tat die Blumen in einen Krug, den er in der Abstellkammer fand, und stellte 298
sie auf den kleinen Tisch in der Nähe von Annuntiatas Bett, als sie draußen in der Küche war. »Nanu, vielen Dank, Ozzie«, sagte sie später voller Freude. In ihrem gesunden Auge standen Tränen. »Es sind nur alte Blumen«, sagte er unwirsch, aus ir gendeinem Grund war er nun zornig. Auf sich und auf sie. Das war ein Fehler. Warum war es ein Fehler? Weil sie glaubt, dass du sie bestechen willst! Warum sollte ich sie bestechen wollen? Weil sie dich verdächtigt, den alten Heuchler umge bracht zu haben. Nimm dich in Acht vor ihr! Sie beo bachtet dich. Nein, tut sie nicht. Vielleicht tat sie es aber doch. Vielleicht verdächtigte sie ihn wirklich. Ihm fiel nun einiges auf. Zum Beispiel, wie scharf sie mit diesem gesunden Auge blickte, mit dem sie alles verfolgte, hauptsächlich aber Ozzie. Er hat te das Gefühl, dass sie ihn mit diesem Auge an eine Wand nageln und dort zappelnd festhalten könnte. Jedes Mal wenn er sich herumdrehte, war sie da, mit geschwol lenem Gesicht, die Haut beinahe violett, und diesem scharf blickenden blauen Auge. Dann heilte ihr Gesicht ab, die Schwellung ging zurück, die lila Färbung verschwand, beide Augen waren wieder offen und sie erschien ihm nun weniger bedrohlich. Sie treibt ihr Spiel mit dir! Welches Spiel denn? Sie tut so, als ob sie dich nicht beobachten würde, derweil sammelt sie Beweise. Welche Beweise denn? Beweise für das, was du dem alten Heuchler angetan hast. 299
Ich höre dir nicht zu, ich höre nicht auf das, was du sagst! Tust du aber doch! Und natürlich hörte er auf die Stimme und begann nun seinerseits, die Nonne zu beobachten. Beobachtete sie, wie sie ihn beobachtete. Im Kloster fühlte er sich von ihr auf Schritt und Tritt verfolgt, ob er nun seine alltäglichen Arbeiten verrichtete oder nur die Zeit totschlug. Wenn er nichts ahnend um die Ecke bog, war sie auch da und mit ihren Arbeiten beschäftigt, jedenfalls aber da. Wenn er bei Tisch aufschaute, sah er, dass ihr Blick auf ihm ruhte. Spät in der Nacht hörte er Schritte hinter seiner Tür und wusste, dass sie es war. Weißt du, was du tun musst? Er antwortete nicht. Obwohl es eine warme Nacht war, hatte er sich fest in seine Bettdecke eingewickelt. Früher oder später musst du es doch tun. Er antwortete immer noch nicht, obwohl ihn die Stimme damit piesackte. Es war wie ein Jucken, das ei nen zum Kratzen reizte. Ich werde es nicht tun! Außerdem hast du gesagt, dass es nach der Beseitigung des Heuchlers noch zu früh ist, um etwas zu tun. Das schien die Stimme zu befriedigen. Er wartete, aber es kam keine Antwort. Er wollte der alten Nonne nichts zuleide tun. Sie hatte ihn aufgenommen, war freundlich zu ihm gewesen. Sie war alt und würde ohne hin bald sterben. Er wollte Bull Zimmer und Miss Ball und die Kinder in der Schule erledigen, nicht aber die alte Nonne. Du solltest jetzt handeln, sagte die listige Stimme, kurz bevor er einschlief. Stattdessen tobte er sich nachts darauf in der Stadt aus. 300
Fand einen Hammer im Schuppen und raste damit durch den Wald. Unsichtbar kreuzte er damit in der Stadt auf und konnte kaum mehr atmen vor Erregung. Sein Körper strotzte vor Kraft und Energie, als ob er einen Zauber trank getrunken hätte. Den Hammer schwingend rannte er durch die verlassene Hauptstraße, schlug Schaufenster ein und Fenster von Autos, die am Randstein parkten. Dann beulte er die Wagen ein. Warf mit Steinen nach der Leuchtreklame. Zerschlug die kleinen Glasscheiben an den Parkuhren. Entdeckte das Bibliotheksgebäude und hatte eine zündende Idee. Er rannte hin, jagte die Treppe hinauf, schlug das Fenster ein, griff hinein und öffnete die Tür von innen. Dann warf er in einem Zerstörungs taumel Bücherschränke um, fegte hunderte von Büchern von den Regalen und warf sie gegen das Fenster. Das wird ihr eine Lehre sein! Diesem Miststück von einer Bibliothekarin. Er stellte fest, dass die Stimme wieder gesprochen hatte, und obwohl Ozzie die Stimme nicht zufrieden stellen wollte, ergötzte er sich doch an der Verwüstung, die er verursacht hatte. Tausende von Bü chern lagen auf dem Boden verstreut. Das Heulen einer Sirene trieb ihn wieder aus der Bib liothek auf die Straße, wo das Licht in den Räumen über den Geschäften abgeschaltet worden war. Ein Streifen wagen bog gerade um die Ecke. Die Sirene war zu hören, noch ehe der Wagen in Sicht kam. Ozzie tollte lachend und tanzend auf dem Gehsteig herum, hüpfte und geriet ganz außer sich vor Freude. – Gott, wie er diese verfluchte Stadt hasste und welch ein riesiges Vergnügen ihm diese zerstörerischen Attacken bereiteten, mit denen er sich und seine Mama für das er littene Unrecht rächen wollte. Ich werde euch noch Schlimmeres zeigen, schwor er, 301
als der Scheinwerfer des Streifenwagens das Werk der Verwüstung erhellte, das er angerichtet hatte. Das ist noch gar nichts! Leute kamen aus den Gebäuden heraus und rieben sich verwirrt die Augen, während ein junger Polizist seine Mütze nach hinten schob und den Kopf schüttelte, als die letzte Fensterscheibe im Spirituosenge schäft plötzlich nachgab und in unzähligen Splittern zu Boden fiel. Ozzie stimmte ein Freudengeheul an. Als er sich zum Durchgang schlich, sah er den alten Pinder, der wie gewöhnlich betrunken einherschwankte und sich das Werk der Zerstörung ansah. »Na, was meinst du, alter Junge?«, fragte ihn Ozzie. Der alte Mann machte einen Satz, als ihn die Stimme erreichte, die von keinem Körper ausging. In seinem Übermut schlug Ozzie den alten Mann. Wollte ihm das Gleiche antun, was er der Stadt angetan hatte. Schlug ihn kräftig auf den Kopf, sodass er rückwärts gegen die Backsteinmauer der Passage torkelte. Schlug ihn dann auf den Mund, sah Blut aus dem Mund quellen und ein Stück von einem Zahn herausfliegen. Hörte den alten Mann vor Schmerz aufschreien, als er auf dem Boden zusammenbrach. Ein Passant sah in Ozzies Richtung und begann auf ihn zuzugehen. Er ließ den alten Mann zusammengeschlagen auf der Straße liegen. Für eine Nacht hatte er genug zerstört. Er kehrte jetzt besser wieder zum Kloster zurück, auch wenn er den Ort seines Triumphs nicht verlassen wollte. Ein weiterer Streifenwagen traf ein. Die Sirenen heulten. Widerwillig machte er sich auf den Weg. Suchte durch die Passage das Weite. Das war gar nicht so übel!
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Er wartete einige Tage, bevor er sich wieder in die Stadt wagte, obgleich er furchtbar gerne sehen wollte, was er angerichtet hatte. Sei vorsichtig, sagte er sich. Er schnauzte sich, ging die Hintertreppe des Klosters hinab und durch den Hof. Suchte eine Stelle, wo er sich für kurze Zeit verstecken konnte, als plötzlich der alte Pinder aus dem Wald auftauchte und in den Hof kam. Der alte Mann war ziemlich aufgeregt, in seinen Mund winkeln hatte sich Speichel gesammelt, die alten Augen waren wie gewöhnlich rot und glasig, aber jetzt lagen auch Anspannung und Wachsamkeit in seinem Blick. »Was ist mit dir los, alter Junge?«, fragte Ozzie. Pinder war noch nie zuvor zu ihm ins Kloster gekommen. »Ein Fremder ist in der Stadt«, sagte der alte Mann und spuckte dabei in alle Richtungen, »und er sucht nach dir!« Ich wusste, dass er hier in der Nähe war, irgendwo in der Stadt, spürte es in dem Augenblick, als ich aus dem Bus stieg. Etwas lag in der Luft wie ein ferner Klang, den nur ich vernahm. Eine Atmosphäre, die schwer fassbar war und die ich zu definieren versuchte, als ich vor dem ehe maligen, offensichtlich in eine Imbissstube umgewandel ten Eisenbahnwagen stand, an dem aber kein Schild zu sehen war. Der morgendliche Geruch von Kaffee, Speck und anderen gegrillten Speisen zog durchs offene Fenster und erzeugte einen Hauch von Normalität, was aber nicht ausreichte, um die feindselige Atmosphäre zu zerstreuen, die mir in der Stadt entgegenschlug. Auf den ersten Blick erinnerte mich Ramsey an die Wildwest-Filmstädte aus den Samstagsmatineen im Ply mouth. Gehsteige aus verzogenem Holz und Geländer aus Eisen, an denen in früherer Zeit die Pferde angebun 303
den wurden. Überdachte Gehsteige mit abgeschrägten Dächern, die auf wackeligen Pfählen ruhten. Nur die Parkuhren zerstörten die Illusion des Unzeitgemäßen. In einer Enzyklopädie in der Stadtbücherei von Mo nument hatte ich gelesen, dass Ramsey vor langer Zeit ein wohlhabendes Heilbad war, berühmt wegen seiner Mineralquellen, die tausende von Besuchern anzogen, unter anderem auch Präsident Grover Cleveland. Die Quellen waren inzwischen versiegt, die Zeit war an der Stadt vorübergegangen. Ramsey war nur noch ein Schat ten seiner selbst, ohne Industrie oder Einkaufsstraßen, mit einer Einwohnerzahl von weniger als 3000, nach der letzten amerikanischen Volkszählung. Es gab weder Mo tels noch Kinos. Nur ein etwas anrüchiges Hotel, das Glenwood, in dem ich mir ein Zimmer für drei Nächte hatte reservieren können, trotz des Desinteresses des Ho telangestellten am Telefon. So war ich zwar auf ein ver schlafenes Provinznest gefasst gewesen, nicht aber auf die Verödung und Verwüstung, die mir auf meinem Weg über die Main Street zum Hotel allenthalben begegneten. Ramsey war wie eine Stadt im Belagerungszustand. Oder wie eine Stadt, die sich gerade von einem Angriff erholte. An einem Geschäft, auf dessen Ladenschild in verblichener Schrift KELCEY’S LEBENSMITTEL stand, waren die Fenster mit Brettern vernagelt. Die Scherben der eingeworfenen Straßenlampen lagen noch herum. Ebenso die zertrümmerten Röhren einer Leucht reklame, die einmal Dempsey’s Drugstore angezeigt hat te. Auch die Glasscheiben der Parkuhren waren alle ein geworfen. Im Glenwood Hotel trat ich in eine Eingangshalle mit einem Boden voller zerbrochener Fliesen und einem durchhängenden Sofa mit längst verschossenem Bezug. 304
Auf einem kleinen Tisch stand eine Glocke von der Art, wie sie die Schwestern von St. Jude auf ihren Schreibti schen hatten. Ich klingelte und horchte auf das hohle Echo. Ich habe hier nichts verloren, sagte ich zu mir selbst. Ich wäre besser wieder im sicheren Frenchtown. Vor meiner Abfahrt hatte ich alle Risiken in Erwägung gezo gen: Angenommen, ich verlor die Kontrolle über das Ausblenden in einer fremden Stadt, in der ich nie zuvor gewesen war? Angenommen, ich wurde während der Fahrt im Bus oder in der Bahn unsichtbar oder wenn ich die Straßen von Ramsey durchstreifte? Schließlich hatte ich meine Ängste verworfen. Es war wichtiger, den ge suchten Neffen zu finden. Das Risiko war wirklich ge ring. Manchmal vergingen Monate, in denen kein Aus blenden stattfand. In der Hotelhalle wurden meine Befürchtungen etwas zerstreut. In wenigen Augenblicken würde ich mein Zim mer haben, in das ich mich flüchten konnte, wenn das Ausblenden unerwartet einsetzte, so wie mir meine Woh nung in Frenchtown auch immer als Zufluchtsort diente. Ein Mann mittleren Alters kam die Treppe herab, die mit keinem Teppich belegt war. Der Mann war klein und dünn, hatte die spärlichen Haarsträhnen so gekämmt, dass er damit seine Glatze möglichst gut verdeckte. »Ich habe letzte Woche angerufen«, sagte ich, »und ein Zimmer bestellt. Mein Name ist John LeBlanc.« Da mir klar war, dass ich auf unbekanntes Terrain vor stieß, ein Geheimnis lüften wollte, das mit dem Ausblen den zusammenhing, hatte ich meinen richtigen Namen verschwiegen, was mir im Augenblick zwar absurd vor kam, vom Instinkt her aber richtig erschien. »Ich weiß«, sagte er, immer noch ziemlich gleichgül tig. Er zog einen Dietrich aus der Tasche und sagte: »Wir 305
haben hier nur Dauergäste und bekommen nicht viele Durchreisende zu sehen.« Ich zahlte im Voraus, wir wickelten das Geschäft ste hend in der Eingangshalle ab, es gab keine Hotelrezepti on. Als er mir ein Zeichen gab, ihm zu folgen, fragte ich ihn: »Was ist denn in der Stadt los? Es sieht ja so aus, als ob hier ein Orkan gewütet hätte …« »Vandalismus«, erklärte er. »Wahrscheinlich junge Punks aus Bangor, die den Ort verwüstet haben.« Das Zimmer, zu dem er mich führte, lag im zweiten Stock und machte einen erstaunlich gemütlichen Ein druck. Es wurde dominiert von einem Himmelbett mit Steppdecke, einem auf Hochglanz polierten Schreibtisch aus Mahagoni und einem Schaukelstuhl. »Mrs. Wrights Zimmer«, sagte er, »sie ist den August über in Kanada. Das einzige Zimmer, das noch frei ist. Sie haben Glück. Es kommt niemand mehr nach Ramsey. Warum auch? Die Stadt ist vor die Hunde gegangen.« Er wartete. Ich merkte, dass er eigentlich von mir wis sen wollte, weshalb ich nach Ramsey gekommen war. Ich hatte mir schon eine entsprechende Geschichte zu rechtgelegt: »Ich bin Schriftsteller«, sagte ich, »und schreibe ein Buch über alte Heilbäder. Ich will im Vor feld ein paar Details abchecken …« Er nickte kurz und ging zur Tür hinaus, die er behutsam hinter sich schloss. Mir kam zu Bewusstsein, dass er mir kein einziges Mal in die Augen geschaut hatte, von dem Augenblick an, als er die Treppe heruntergekommen war bis zu dem Moment, als er mein Zimmer verlassen hatte. Was hier zumindest an diesem Tag das übliche Ver halten gegenüber Fremden war, wie ich bald erfahren sollte.
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Ich verbrachte den Morgen damit, in der Stadt herumzu streifen, machte kleine Besorgungen in den Läden – kaufte Rasierklingen in Demsey’s Drugstore, Kleenex in Kelcey’s Lebensmittelgeschäft, eine Newsweek in Dun ker’s Kramladen – und keiner beachtete mich. Die Män ner mittleren Alters, die an der Kasse saßen und wahr scheinlich die Besitzer waren, nahmen kaum Notiz von mir, als sie die Posten eintippten und mir das Wechsel geld zurückgaben. Am Ende der Main Street befand sich die Stadtbiblio thek von Ramsey und ihr gegenüber die Gemeindekirche mit einem Glockenturm. In der Bibliothek, einem Back steinbau mit einem durchhängenden Dach, gab es kein Anzeichen von Leben. Auf einem Zettel an der Tür stand, dass die Bibliothek wegen Renovierung geschlos sen sei. Das Rathaus mit Polizei und Feuerwehr befand sich am anderen Ende der Main Street. Der Stadtpark auf der gegenüberliegenden Straßenseite, mit einem Aussichts punkt in der Mitte und einer alten Kanone am Eingang, lag völlig verlassen da. Ich aß im Ramsey Diner zu Mittag, wo die Gäste Bier mit einem Schuss Whisky zu ihrem billigen Mittagsmenü bestellten, das an diesem Tag aus Hackbraten bestand. Der Mann an der Theke sah mich nicht an, als er meine Bestellung entgegennahm und mir später den Teller über die gekachelte Theke zuschob. Auch sonst würdigte mich hier keiner eines Blickes. Am Nachmittag machte ich mich zu Fuß auf den Weg, folgte ungefähr zwei Meilen einer kurvenreichen Schnellstraße und kam schließlich zu einer Lichtung, auf der sich ein hölzernes Schild mit der Aufschrift Barm herzige Schwestern in verblasster, gotischer Schrift be 307
fand. Ich folgte einem Kiesweg und kam zu einem alten Steinbau mit einem einzelnen Turm, auf dessen Spitze ein kleines, goldenes Kreuz stand. Das Gebäude war von Efeu überwuchert, was aussah, als klammerten sich tausende von grünen Händen daran. Die Fenster waren hoch und schmal, sie gaben keine Geheimnisse preis. Ich klingelte am Tor und hörte das Geläute durch ferne Korridore unaufhörlich widerhallen. Nach kurzer Zeit öffnete sich die schwere Tür aus Eichenholz und es kam eine winzige Frau im schwarz-weißen Habit zum Vor schein, den man heutzutage nur noch selten sieht. Ihre rosafarbenen Wangen glänzten wie polierte Äpfel. »Ja?«, flüsterte sie. »Sagen Sie – könnte ich vielleicht an der Messe in der Kapelle teilnehmen?« »An Werktagen empfangen wir keine Besucher«, sag te sie, ihr Gesichtsausdruck und ihre Stimme waren vol ler Bedauern. »Nur am ersten Sonntag im Monat. Tut mir Leid …« Sie zögerte einen Augenblick lang, als ob sie mir noch Trost spenden wolle, und schloss dann langsam die Tür. Als ich mich zum Gehen wandte, wurde mein Körper kalt, als hätte jemand mit dem Fingernagel über meinen Rücken gekratzt, und in diesem Augenblick wusste ich, dass mein Neffe entweder hier war oder hier gewesen sein musste. Irgendwo in der Nähe, vielleicht sogar im Kloster. Mein erster Impuls war, noch einmal die Glocke zu läuten. Doch ich hielt mich zurück, weil ich noch nicht bereit war, dem gesuchten Neffen gegenüberzutre ten. Noch nicht. Irgendwie brachte ich ihn mit der Zer störung in der Stadt in Verbindung. Ich wusste nicht, wa rum ich das vermutete, aber es war so. Wieder der Ruf des Blutes. Die Blutsbande. Zwischen meinem Onkel 308
Adelard und mir, und nun auch zwischen mir und diesem Jungen in Ramsey. Zurück in der Stadt, kam mit der Abenddämmerung die Kälte. Bis zu diesem Augenblick hatte ich kein be stimmtes Gefühl für das Wetter in der Stadt entwickelt, so als läge sie unter einer Glasglocke und es gäbe kein Wetter. Mein Besuch erfolgte Mitte August, es hätte aber auch jeder andere Tag im Jahr auf einem anderen, der Erde ähnlichen Planeten sein können. »Taxi?« Als ich mich umdrehte, sah ich mich einem alten Mann gegenüber, der eine verblichene Baseballmütze trug, über den schmutzigen Schutzschild war RED SOX gestickt. Der Mann hatte blutunterlaufene Augen, ein abge härmtes, verschrumpeltes Gesicht, abgebrochene Zähne, eine Nase, die von einem Bruch des Nasenbeins krumm geworden war, und eine frische violette Beule, die sich direkt an der Stirn befand. »Sind Sie Taxifahrer?«, fragte ich, obwohl mir die Lä cherlichkeit der Frage bewusst war. »Himmel, nein«, sagte er, »in dieser Stadt gibt’s gar kein Taxi. Ich könnte aber eine Fahrgelegenheit für Sie arrangieren. Darf ich mich vorstellen, Tommy Pinder.« Er war von einer Duftwolke umgeben, die sich aus den verschiedensten Gerüchen zusammensetzte und von Al kohol über Erbrochenes bis zu einem Gestank reichte, den ich von der Mülldeponie am Rand von Frenchtown kannte. Er warf mir einen prüfenden Blick zu und sagte: »Haben Sie denn gefunden, was Sie suchen?« »Wonach suche ich denn?«, fragte ich ihn. Seine Au gen waren gerötet und wässerig, aber auch Intelligenz flackerte darin auf. 309
»Nun, ich schätze, dass Sie nach etwas suchen«, erwi derte er. »Habe Sie den ganzen Tag in den Straßen rumlaufen und unnützes Zeugs in den Geschäften kaufen se hen. Sie haben eine Zeitschrift bei Dunker’s gekauft und sie gleich darauf in die Mülltonne gestopft, ohne sie zu lesen. Ich habe mir gesagt: Der Kerl ist irgendetwas auf der Spur.« »Ich bin Schriftsteller«, sagte ich, »und schreibe ein Buch über Heilbäder. Dachte, dass ich vielleicht ein Ka pitel über Ramsey einfügen könnte.« Der Alte zog sich immer tiefer in seine Kleider zu rück. Ich sah, dass er einen Regenmantel unter seinem unsäglichen Überzieher trug und mindestens zwei Pullo ver darunter. »Woher?«, fragte er. »Aus Massachusetts …« Als ich wieder seine Alko holfahne roch, fragte ich ihn: »Wie wär’s mit einem Drink?« »Saudumme Frage!« Das Grinsen verlieh seinem Ge sicht ein groteskes Aussehen. In diesem Augenblick schlug ich den schriftstelleri schen Bogen und sah, wie sehr der alte Mann der Stadt glich. Beide waren verfallen, zerstört, alt. Hinter dem scheinbar zwanglosen Verhalten des alten Mannes spürte man Angst und Nervosität oder brauchte er nur sehr nötig etwas zu trinken? »Lass uns in eine Kneipe gehen«, sagte ich, obwohl ich in der ganzen Stadt keine Kneipe gesehen hatte, nur den Ramsey Diner, wo die Gäste Bier und Whisky zum Mittagessen tranken. »Ich ziehe das Trinken im Freien vor«, sagte der Alte mit einem Anflug von Würde. »Den Aussichtspunkt dort drüben im Park. Wenn Sie mir ein paar Dollar geben, 310
gehe ich zu Dempsey’s und kaufe uns eine Flasche guten Muskateller oder was immer Sie wollen …« Als ich das Geld aus der Tasche zog, sagte ich: »Ich möchte nichts. Ich warte im Park auf Sie.« Ein Park von bescheidenen Ausmaßen. Der graue Lauf der Kanone war über und über mit unverständlichen Kritzeleien verschmiert. Wer auch immer über die Stadt hergefallen war, hatte den Park verschont. Ein Schein werfer, der ebenfalls verschont geblieben war, tauchte den Aussichtspunkt in Licht. Zusammen mit dem Alten saß ich auf der Treppe und blickte auf die Main Street herab. In ihrer Stille war sie beinahe unheimlich. Ein paar Leute kamen und gingen, eilten durch die Schatten, traten aus den Läden ins Licht und verschwanden wieder im Dunkel. Der Alte fing nicht sofort an zu trinken und schien es zu genießen, nur die Flasche in Händen zu halten. Er hat te die Papiertüte ordentlich zusammengefaltet und sie in einer Innentasche seiner Kleidung verschwinden lassen. »Wie gefällt Ihnen unsere Stadt?«, fragte er. Leutselig fuchtelte er mit der Hand in der Luft herum, als ob er mir die Stadt als Geschenk anbieten wolle. »Ich würde sie nicht gerade als den liebenswürdigsten Ort der Welt bezeichnen«, erwiderte ich. »Den ganzen Tag über hat mich hier kaum jemand gegrüßt.« »Die Leute hier sind verschlossen«, sagte er nachdenk lich und musterte die Flasche, die er gegen das Licht hielt. Plötzlich nahm er die Verschlusskappe ab, setzte die Flasche an die Lippen und trank voller Verzweiflung. »Eigentlich müssten die Leute hier aber viel zu sagen haben«, sagte ich, »wenn man sich die Main Street an sieht, hat man das Gefühl, im Krieg zu sein. Es sieht aus, als ob Ramsey unter Beschuss gestanden hätte …« 311
»Herr, Ramsey ist eine Unglücksstadt«, sagte er, »al les geht hier den Bach runter. Die Alten sterben allmäh lich und die Jungen ziehen weg. Die Heilquellen sind versiegt. Und wir haben das Kloster dort draußen im Wald, das irgendwie unheimlich ist.« Er schnitt eine Grimasse und entblößte dabei den abgebrochenen Zahn mit dem blutigen Rand. »Vielleicht spukt es auch in der Stadt. Wenn es in einem Haus Gespenster geben kann, warum nicht in einer Stadt?« »Wie lange geht das hier schon so?« »Wie lange geht was schon so?«, fragte er und muster te die Flasche, die er mit zitternden Händen zärtlich strei chelte. »Der Spuk«, erwiderte ich, »muss ziemlich neu sein. Die Heilquellen sind doch schon längst versiegt, schon vor dem 1. Weltkrieg. Und das Kloster war auch schon vorher da. Aber der ganze Schaden mit den zerbrochenen Schaufensterscheiben scheint erst vor kurzem entstanden zu sein …« Statt einer Antwort trank er wieder. Sein Adamsapfel bewegte sich beim Schlucken. Auf der anderen Straßenseite verließen zwei Männer den Ramsey Diner und tauchten in der Dunkelheit unter. Ein junges Liebespaar schlenderte Hand in Hand durch die Sommernacht. »Das ist eine hässliche Beule an Ihrer Stirn«, sagte ich. Vorsichtig berührte er die Wunde. »Ich falle manch mal hin«, sagte er einfältig, »Altsein ist die reinste Hölle. Ich stoße auch immer wieder an. Der Alkohol ist nicht immer dran schuld. Neulich bin ich über eine lose Planke auf diesem gottverdammten Gehsteig gestolpert. Dazu auch noch stocknüchtern!« »Sie scheinen ja ziemlich oft hinzufallen!« Ich pokerte 312
ein bisschen. »Ist auch noch ziemlich frisch: der Bluter guss an Ihrer Stirn und der abgebrochene Zahn. Sieht aus, als ob’s gestern passiert wäre. Oder vielleicht sogar heute …« Ich fischte im Trüben und folgte meinem In stinkt. »Schätze, Sie hatten dasselbe Pech wie die Stadt. Vielleicht werden Sie ja auch von Gespenstern verfolgt.« Wieder ein lauernder Blick von ihm, bei dem er sein blutunterlaufenes Auge zukniff, als ob er mich mit dem einen Auge besser sehen könnte. »Was haben Sie da gesagt, Herr?« »Ich habe nur so meine Beobachtungen angestellt«, sagte ich, »als Schriftsteller muss ich alles genau beobach ten. Während Sie mich beobachtet haben, habe ich mich in der Stadt umgesehen. Und da ist mir zum Beispiel die Zerstörung aufgefallen und dass niemand bereit war, einen Fremden zu grüßen. Als ob sie alle vor etwas Angst hät ten.« Ich pokerte wieder: »Und um wieder auf Ihre Verlet zungen zu kommen. Es ist, als ob sich die Stadt im Bela gerungszustand befände, Sie mit inbegriffen …« Er grübelte über diese Bemerkungen nach, hielt die Flasche in die Höhe, drehte sie in den Händen herum, setzte sie an die Lippen, trank aber nicht. »Das Zeugs wirkt derzeit sehr schnell bei mir«, sagte er mit einem Zungenschlag, »zack, und schon bin ich weg!« Er rülpste und ich wandte mich angewidert ab. »Dann falle ich hin und breche mir die Zähne aus – « »Das glaube ich nicht!« Ich spielte nun mit offenen Karten. »Was?« »Ich glaube nicht, dass Sie sich den Zahn beim Hinfal len ausgebrochen haben. Sieht nicht so aus, als ob es von einem Sturz herrührt.« Ich wurde immer dreister und füg te hinzu: »Ich glaube, dass Sie jemand verprügelt hat …« 313
»Wer würde schon einen alten Mann wie mich schla gen?«, fragte er, die blutunterlaufenen Augen waren nun auf der Hut, trotz des Alkohols, der den ganzen Körper durchdrang. »Ich kümmere mich um meinen Kram, ich will mich mit niemandem anlegen.« »Vielleicht war es das gleiche Gespenst«, sagte ich in kühlem, sachlichem Ton, »das gleiche Gespenst, das die Stadt heimsucht. Das Gespenst, das gar kein Gespenst ist …« »Was soll denn das nun wieder heißen?« Bevor ich antworten konnte, rappelte er sich hoch, während er gleichzeitig versuchte, eine Tasche für seine Flasche zu finden. Ich stand auf und legte ihm den Arm um die Schulter, wobei ich versuchte, seinen sauren Mundgeruch und den muffigen Gestank seiner Kleider zu meiden. »Immer mit der Ruhe, Mr. Pinder«, sagte ich, »ich meine es doch nicht bös mit Ihnen.« Als ich seine Schulter ein wenig drückte, brachte ich ihn dazu, sich wieder zu setzen. »Ei gentlich würde ich Ihnen gerne helfen. Wenn Ihnen je mand übel mitspielt, könnten wir vielleicht etwas dage gen unternehmen …« »Niemand kann etwas dagegen tun«, sagte er, »nicht, wenn es sich um ein Gespenst handelt, das keines ist …« »Wer ist es dann?« »Pst … pst …«, sagte er und legte einen zitternden Fin ger auf die Lippen, während er immer tiefer in die vielen Schichten seiner Kleidung zu sinken schien. Er rückte mit dem Gesicht ganz nahe an mich heran und ich machte mich schon wieder auf die üblen Gerüche gefasst. »In Ramsey passieren entsetzliche Dinge. Sie reisen am besten wieder ab, kehren dem Glenwood den Rücken und gehen wieder nach Massachusetts zurück, wo sie hingehören!« 314
»Sie meinen, dass mir auch etwas zustoßen könnte? Dass man mich vielleicht verprügeln wird? Dass man mir einen Zahn ausschlägt oder dass ich eine Beule am Kopf bekomme?« Er wich zurück. »Das habe ich nun wieder nicht be hauptet.« Sein Kopf fiel nach vorn und das Kinn sank ihm auf die Brust. »Ich weiß nicht mehr, was ich gesagt habe. Sie dürfen das, was ich sage, nicht für bare Münze nehmen!« Plötzlich blickte er auf, neigte den Kopf zur Seite und horchte gespannt und aufmerksam: »Hören Sie etwas?« Ich reckte den Kopf in die Höhe, blinzelte zu den Schatten hinüber, die den Aussichtspunkt umgaben: den dunklen Umrissen der Sträucher und der Bäume mit den schweren, tief herabhängenden Zweigen. Auf der ande ren Straßenseite war niemand zu sehen. Eine verschlafe ne Stadt, eine Stadt, in der man früh schlafen ging. »Haben Sie Schritte gehört?«, flüsterte er mir ins Ohr. Meinte er die meines Neffen? War er etwa in der Nähe? Lauerte er im Gebüsch? »Ich höre nichts«, sagte ich. Er nickte bei meinen Worten, seufzte vor Erleichte rung auf und trank wieder. Seine Hand zitterte, als er die Flasche an die Lippen setzte. Seine Lippen hingen nun schlaff herab, die Augenlider waren auf halbmast. Ich sah, dass er jetzt bald zu betrunken sein würde, um mir noch Auskünfte zu liefern. Ich durfte keine Zeit mehr verlieren. »Auf was haben Sie gewartet?«, fragte ich und rückte näher zu ihm heran. »Auf wessen Schritte?« »Ich weiß nicht«, flüsterte er vertraulich, als ob wir ein Geheimnis miteinander hätten. »Aber ich weiß es«, raunte ich ihm zu, »die Schritte 315
eines dreizehnjährigen Jungen. Er hat sein ganzes Leben hier verbracht. Und plötzlich stellt er seltsame Dinge an.« »Wer sind Sie?«, fragte er mit rauer Stimme, die Au gen vor Angst geweitet. »Wie kommt es, dass Sie so viel darüber wissen?« »Mein Name tut nichts zur Sache«, sagte ich, »wichtig ist, dass ich ungefähr weiß, was hier vor sich geht. Und ich kann Ihnen helfen. Sie müssen mir aber vertrauen …« Wieder legte er einen zitternden Finger auf die Lippen, als er in die Dunkelheit spähte und mit den Blicken das Gelände um den Aussichtspunkt herum absuchte. »Ich bin der Einzige in Ramsey, der es genau weiß«, flüsterte er, »alle wissen zwar, dass hier etwas vor sich geht, das nichts mit Vandalismus zu tun hat, ich aber bin der Ein zige, der weiß, was wirklich los ist …« Er starrte immer noch ins Dunkle. »Sehen Sie etwas da draußen? Hören Sie etwas? Er könnte hier sein oder dort, überall.« Und an mich gewandt: »Wir gehen am besten zu mir nach Hause, wo wir vier Wände um uns haben. Es ist sicherer, sich dort zu unterhalten.« Er war nun wieder auf Draht, die Wirkung des Alko hols war verflogen, offensichtlich hatte ihn die Angst wieder nüchtern gemacht. Als wir uns aus dem Park her ausbegaben, stützte er sich jedoch auf mich und ließ mich auch dann nicht mehr los, als wir über den hölzernen Gehsteig am Ramsey Diner vorbei auf eine Gruppe mit dreistöckigen Mietshäusern zusteuerten. »Bowker Street«, sagte er. Kurz darauf stiegen wir die Zementtreppe zu dem Kel ler hinab, den er als Zuhause bezeichnete. Der Boden war mit Linoleum ausgelegt und eine Pritsche stand an einer Ziegelwand. Ansonsten gab es nichts, was auf eine Woh nung hingewiesen hätte. Kein Spülbecken, kein Herd, 316
kein Tisch mit Stühlen. Die schmalen Fenster waren mit Pappe vernagelt. »Sehen Sie nun, warum ich lieber im Freien übernachte«, sagte er mit einem Anflug von Hu mor, den ich von Anfang an bemerkt hatte. Er verriegelte die Tür hinter uns und kontrollierte den Raum mit misstrauisch zusammengekniffenen Augen, so wie er sich auch im Park umgesehen hatte. »Er ist nicht hier«, sagte ich. Ich war mir sicher, dass ich die Nähe meines Neffen überall wahrnehmen würde. Der alte Mann ließ sich auf der Pritsche nieder und ich beugte mich behutsam zu ihm herunter. Ich war erstaunt, dass er in einer Welt voll übler Gerüche leben konnte und es gar nicht mehr zu merken schien: im sauren Geruch von billigem Wein, im Geruch von Abfall, zu denen nun auch noch die feuchte und faulige Kellerluft hinzukam. »Erzählen Sie mir von ihm«, sagte ich. »Wie heißt er? Wo wohnt er?« Der alte Mann seufzte, griff nach der Flasche in seiner Tasche, zog sie heraus und blickte sie prüfend an. Kaum mehr als ein Bodensatz war übrig. Er sah der Flasche sehnsüchtig nach, als er sie in der Nähe der Pritsche auf den Boden stellte. »Er bringt mich um«, sagte er, »wenn er herausfindet, dass wir miteinander gesprochen haben. Und er kann es sehr leicht herausfinden. Er kommt und geht, wie es ihm passt. Als wir hereinkamen, habe ich einen Moment lang gedacht, dass er hier ist.« Ich sagte nichts darauf, wartete nur und überließ ihm das Reden, wollte ihn nicht zu sehr drängeln, weil ich befürchtete, dass er sich wieder völlig in sich zurückzie hen würde. »Wissen Sie, er war früher einmal sehr nett zu mir. Hat mir was zum Saufen gekauft, einmal sogar Scotch, 317
den ich aber nicht mehr vertrage. Hat mir auch Tricks gezeigt, die er beherrscht.« Er langte hinunter, um die Flasche zu berühren, so wie man eine Hasenpfote als Glücksbringer berührt. »Dann wurde er plötzlich fies. Fing an mir üble Streiche zu spielen. Schlug mich, hat mich umgeworfen. Kaufte mir nichts mehr zum Saufen. Hat auch angefangen, in der Stadt zu wüten.« Er sackte zusammen, lehnte sich an die Wand und ließ den Kopf auf die Brust sinken, schloss dann die Augen, sodass ich schon befürchtete, ihn an den Alkohol verloren zu haben. Bevor ich ihn wieder aufrütteln konnte, sagte er: »Dann dieser Stiefvater von ihm. Ein entsetzlicher Kerl. Hat das Kind grün und blau geschlagen. Das Kind und seine Mama. Leonard Slater mit Namen. Wurde vor ein paar Wochen mit einem Hammer erschlagen. Großes Rätsel hier in Ramsey, aber ich weiß, wer’s getan hat …« Auf Mord war ich nicht gefasst gewesen, obwohl ich es nach meinen Erlebnissen in Ramsey hätte sein sollen. Mord ist die schlimmste Art der Zerstörung und seit mei ner Ankunft in Ramsey hatte ich nichts anderes als Zer störung gesehen. Nun wollte ich von hier fliehen, aus dem Keller und aus der Stadt, weg von diesem erbärmli chen alten Mann und seiner grässlichen Geschichte. Bei nahe ein Leben lang hatte ich versucht, dem Ausblenden zu entkommen, hatte gedacht, ich hätte es geschafft. Doch nun erkannte ich, dass es nicht völlig zu vermeiden war. Wenn nicht in dieser Generation, dann vielleicht in der nächsten. In beiden Generationen hatte es Morde ge geben. »Wie heißt er?«, fragte ich. »Ozzie«, sagte er beinahe versonnen, »Oscar, aber niemand nennt ihn so. Im Grunde genommen ein armes Kind. Ozzie wohnt im Kloster. Bei den Nonnen. Ist erst 318
dreizehn, aber bei dem, was er tut, Herr, was er imstande ist zu tun, läuft es einem eiskalt den Buckel runter. Vie len Dank auch für den Stoff!« Er griff nach der Flasche und setzte sie an die Lippen, trank die letzten Schlucke, wie es sich gehört, ohne etwas zu verschütten. Diese letzten Tropfen waren unendlich kostbar. Wir hatten überhaupt nicht über das Ausblenden ge sprochen, obwohl es natürlich zwischen uns stand. Aber ich musste nun Gewissheit haben, musste alle Zweifel ausräumen, die noch zwischen uns waren. »Was meinen Sie damit, ›was er tut‹?«, fragte ich. »Sie wissen ganz genau, was ich damit meine.« »Nein, sagen Sie’s mir.« Er warf die Flasche weg, sah ihr nach, wie sie durch die Luft wirbelte, ohne zu zerbrechen an der gegenüber liegenden Mauer abprallte und auf dem Boden landete. »Er verschwindet«, rief er, »macht sich unsichtbar!« Zu mir gewandt sagte er: »Es ist unmöglich, was er tut, aber er tut es trotzdem. Er ›verduftet‹. Löst sich in Luft auf. Und, Herr, wenn er das fertig bringt, ist er zu allem fähig …« Völlig außer Atem brach er auf der Pritsche zusammen, als hätte er seine Kräfte überschätzt. »Wann haben Sie ihn zum letzten Mal gesehen?«, fragte ich. Sein Kopf sank nach vorn. Halb sitzend, halb liegend war er ganz still, schien in einer plötzlichen Lähmung erstarrt oder vielleicht sogar tot zu sein. Dann pfiff er beim Atmen durch die Nase und begann leise zu schnar chen. Ich schüttelte ihn sanft und rief seinen Namen: »Mr. Pinder … Mr. Pinder …« Keine Antwort. Sein Schnarchen wurde immer lauter 319
und tiefer, seine Brust hob und senkte sich während des Schnarchens, der Mund ging auf. Ich blieb noch eine Weile, horchte auf sein Schnar chen, blickte auf dieses gramzerfurchte Gesicht mit dem ausgebrochenen Zahn und dem Bluterguss herab. Ich zählte bis tausend, machte zwischen jeder Zahl eine Pau se und zählte dann noch einmal bis tausend. Schließlich verließ ich den Keller, den er als sein Zuhause bezeichne te. Wie hätte ich mir anmaßen können, den Frieden zu stören, den er im Rausch fand? Das Problem war, wen man zuerst töten sollte. Bull Zimmer hatte schon immer ganz oben auf der Abschussliste gestanden. Dann kam Miss Ball. Dann die anderen Kinder in der Schule. Die Stimme aber drängte ihn dazu, etwas anderes zu tun. Drängte ihn dazu, zuerst Schwester Annuntiata zu töten und dann den Fremden. Die Stimme verhöhnte und verfolgte ihn, sodass Ozzie manchmal am liebsten aufgeschrien hätte. Er sah ein, dass der Fremde zu viel wusste, wahr scheinlich sein Geheimnis kannte und wusste, dass er plötzlich weg sein konnte. Aber – aber, was? Er war sich nicht sicher. Noch nicht. Und wenn der Fremde nun sein leiblicher Vater war? Ozzie musste sich dessen ganz si cher sein, bevor er tat, was die Stimme von ihm verlang te. Mit Schwester Annuntiata verhielt es sich anders. Die Stimme wollte, dass Ozzie sie tötete, er selbst nicht. Sie zu töten wäre außerdem ein Problem. Die Polizisten würden wiederkommen, der listige Beamte in der grünen Schottenjacke, der ihn damals über den Tod des alten Heuchlers ausgefragt hatte. Und er wäre wahrscheinlich misstrauisch. 320
Dann lass ihn eben misstrauisch sein. Du machst es dir aber leicht. Er wäre mir gegenüber argwöhnisch, nicht dir gegenüber. Er kann mich sehen und nicht dich. Bist du doof? Er wird dich auch nicht sehen, wenn du es nicht willst. Du musst eben schlau sein und dich un sichtbar machen, wenn du sie umbringst, sodass es nie mand merkt. Und wie soll ich das machen? Ganz einfach. Du tötest sie in Anwesenheit der ande ren Nonnen, also vor Zeugen. Du machst dich unsichtbar und versetzt ihr einen kräftigen Schlag. Sie wird umfallen und auf der Stelle tot sein. Niemand wird bemerken, dass du es warst. Sie werden glauben, dass es ein Herzanfall war. Ich weiß nicht, ob ich sie töten soll oder nicht. Sie sieht dich scheel an, oder nicht? Nonnen haben übersinnliche Kräfte und wissen oft mehr als gewöhnli che Menschen. Was ist, wenn sie weiß, dass du deinen Vater umgebracht hast? Er war nicht mein Vater. In dem Augenblick kam Schwester Annuntiata den Korridor entlang und sah ihn, wie er aus dem Fenster blickte, den Schrubber in der Hand. »Träumst du mit offenen Augen, Ozzie?«, fragte sie, ihre Stimme war weich und sanft, beinahe wie die Stim me seiner Mutter. Spielte sie Theater, gab sie vor, weich und sanft zu sein? »Ich mache nur gerade eine Pause«, erwiderte er. »Du solltest dir ein paar Stunden freinehmen, Ozzie«, schlug sie vor. »Geh in die Stadt und kaufe dir ein Eis. Immer arbeiten und kein Vergnügen ist nicht gut für dich …« Und sie berührte seine Schulter. 321
Er musste alles sorgfältig abwägen, was Schwester Annuntiata nun sagte, musste auf ihre Worte achten und entscheiden, ob sie etwas anderes sagte, als sie in Wirk lichkeit meinte. »Geh in die Stadt, wenn du mit deiner Arbeit fertig bist!«, sagte sie und drückte seine Schulter wieder. Er fragte sich, ob sie ihm auf diese Weise etwas mitteilen wollte, das die Stimme nicht hörte. »Ja, Schwester«, sagte er und nahm seine Arbeit wie der auf, als sie weiterging, die Füße unsichtbar unter dem langen Rock, der über den Korridor schleifte. Er wischte den Boden vollends auf, hängte den Mopp an seinen Platz und zog sich dann in dem kleinen Raum bei der Küche um. Und was ist mit dem alten Mann? Was soll mit dem alten Mann sein? Er weiß zu viel … Ach, aber er mochte den alten Mann, vielleicht liebte er ihn nicht gerade, aber er hatte ihn doch gern um sich. Um ihn knuffen und hänseln zu können. In einer Seiten gasse in der Innenstadt hatte er einmal eine Katze mit einer Maus spielen sehen. Die Katze schubste die Maus herum. Die Maus war in einer Ecke gefangen, wo die Katze sie zuerst mit der Pfote bearbeitete, um sich dann plötzlich auf sie zu stürzen. Der alte Mann war Ozzies Maus. Er spielte mit dem Alten wie die Katze mit der Maus. Der alte Mann war aber auch nützlich. Er hatte ihm von dem Fremden erzählt, hatte den beschwerlichen Weg zum Kloster auf sich genommen und war früh am Morgen herausgekommen, obwohl er einen entsetzlichen Kater hatte, am ganzen Leib zitterte und ihm die Zunge vor Anstrengung wie ein Stück altes Leder aus dem Mund hing. 322
»Ein Fremder, der Fragen stellt«, sagte der alte Mann. »Was für Fragen?« Er wurde misstrauisch. Wie viel hatte der alte Mann dem Fremden erzählt? Der alte Mann machte einen unsicheren Eindruck. Dann nahm sein Gesicht einen listigen Ausdruck an. Oz zie erkannte, dass er abwägte, wie viel er preisgeben soll te, wie viel von der Wahrheit und wie viel er ihm vorlü gen sollte. »Fragen, die die Stadt betreffen«, erwiderte der Alte. »Ein Schriftsteller. Aus Massachusetts. Der angeblich über ehemalige Heilbäder schreiben will. Aber dann hat er mit den Fragen begonnen.« Mit einem dreckigen Fin gernagel kratzte er sich in seinem schmutzigen, stoppeli gen Gesicht. »Nach einem Dreizehnjährigen hat er ge fragt. Einem mit dreizehn, der über seltsame Kräfte ver fugt.« Der alte Mann blickte triumphierend. »Und sofort habe ich gewusst, mein Junge, dass er dich damit meint. Und da bin ich doch sehr vorsichtig geworden und hab meinen Grips gebraucht. Weil er mir was zum Saufen gekauft hat, hat er wohl gedacht, dass er mich ausquet schen kann, aber …« Ozzie gab ihm einen Kinnhaken. »Was, du hast seinen Fusel getrunken?« »Ja, ich habe aber nichts verraten.« Er taumelte zu rück, sah nun furchtbar aus. Verängstigt rieb er sich das Kinn, wo jetzt ein dunkelroter Fleck zum Vorschein kam. »Klar hast du!« Schlug ihn wieder, eine Ohrfeige, er vermied die Nase, weil er nicht wollte, dass hier auf der Veranda des Klosters Blut floss. Schließlich konnte Schwester Annuntiata jeden Augenblick nachsehen kommen, was hier vor sich ging. »Nein, Ozzie«, sagte der alte Mann mit Spucke in den Mundwinkeln und herabhängender Kinnlade, die immer 323
länger wurde. »Ich hab ihn reden lassen, den Fusel ge trunken und bin eingeschlafen. Ehrlich. Aber ich wusste, dass er nach dir sucht …« »Du hast ihm von mir erzählt«, sagte Ozzie, er wollte ihn nicht mehr schlagen, weil er so elend aussah. »Ich habe mir auf die Zunge gebissen«, sagte der Alte, und Ozzie sah das Blut darauf. »Was hast du ihm von mir erzählt?« »Nichts, nichts«, winselte der alte Mann nun so laut, dass ihn die Nonnen in der Küche hören konnten. »Wür de ich hierher kommen, um dich zu warnen, wenn ich so was gemacht hätte?« Ozzie rang sich dazu durch, dem alten Mann zu trau en. Schließlich hatte er doch den ganzen Weg hier heraus auf sich genommen, trotz seines Dursts und seines Kat zenjammers, um ihn vor dem Fremden zu warnen. Er befahl dem Alten: »Sprich nicht mehr mit dem Fremden, bleibe ihm aber auf den Fersen. Gehe ihm aus dem Weg, aber stelle fest, wohin er geht und mit wem er spricht. Und nimm ja nichts mehr zum Saufen von ihm an, lass dich nicht kaufen. Ich gebe dir was zum Saufen. Du bekommst das Geld dafür von mir.« Was Ozzie auch wahr machte, er nahm ein paar Dollar aus seinem Ver steck. »Ich komme dann später nach.« An diesem heißen Nachmittag im August, während der Staub vom großen Kehrfahrzeug der städtischen Straßen reinigung aufgewirbelt wurde, suchte Ozzie nach dem Fremden. Für niemanden sichtbar durchkämmte er die Straßen. Fand weder den alten Mann noch den Fremden, obwohl er viele Menschen sah. Ging in der ganzen Stadt herum. Blieb eine Weile vor dem Glenwood stehen, aber 324
niemand ging hinein oder kam heraus. Er schlich sich hinein, sah in der Eingangshalle nach und hing dort her um, aber niemand kam oder ging. Um vier Uhr erspähte er dann schließlich den Frem den, sah ihn die Straße vor Dempsey’s Drugstore über queren, den Kopf zur Seite geneigt, als ob er auf etwas horchen würde – Musik, Stimmen, irgendetwas, das sonst niemand hören konnte. Woher wusste Ozzie, dass dies der Fremde war, den er suchte? Er wusste es eben. Der Fremde war weder groß noch klein, weder fett noch mager. Mit zusammengekniffenen Augen las Ozzie in seinem Gesicht: ein Gesicht, das weder schön noch hässlich war, aber etwas Vertrautes an sich hatte. Wo hatte er dieses Gesicht schon einmal gesehen? Vielleicht in seinen Träumen? Und plötzlich traf es ihn wie ein Blitz, der in einen Baum einschlägt und ihn in zwei Teile spaltet. Ozzie wusste plötzlich, wer der Fremde war. Die Erkenntnis schien seinen Schädel in zwei Teile zu spalten und der Schmerz war so heftig, dass Ozzie laut keuchen musste. Der Fremde war plötzlich kein Fremder mehr. Ozzie wusste, wer er war. Ich wusste, dass er da war. Wieder dieses Vibrieren in der Luft, dieser ferne Klang wie verzerrte Disharmonien. Er musste irgendwo in der Nähe sein, ich wusste jedoch nicht genau, wo. Irgendwo über der Straße. Auf jeden Fall aber war er da. Den ganzen Tag hatte ich auf seine Ankunft gewartet, hatte mich für ihn bereitgehalten, damit er sich mir zu erkennen gebe. Ich konnte nicht wissen, ob er mich er wartete. Möglicherweise hatte der alte Mann meinen Neffen gewarnt und – unsichtbar – suchte er nun nach 325
mir. Auf meinen Streifzügen hatte ich den Alten den ganzen Tag über nicht mehr gesehen. Ich hatte auch kei nen dreizehnjährigen Jungen gesehen, der Ozzie Slater hätte sein können. Ich merkte, dass ich eine geistige Vor stellung von ihm hatte: der Sohn von Rose, der ihre dunkle Schönheit irgendwie widerspiegelte, vielleicht in seinen Augen. Trotz allem, was mir der Alte über ihn erzählt hatte, war der Junge mein Neffe, wir waren Blutsverwandte. Bevor er zu dem Schreckgespenst wur de, das der alte Mann beschrieben hatte, war er schließ lich Roses Sohn gewesen. Und die Gabe des Ausblen dens besaß er wahrscheinlich wider seinen Willen, wie Adelard oder ich. Der Junge, der in dieser Stadt so ent setzlich gewütet hatte, war vielleicht ein Opfer des Aus blendens, das Taten beging, die ihm sonst nicht im Traum eingefallen wären. Ich kehrte noch einmal im Ramsey Diner ein und machte mich dann auf den Weg zum Hotel, als mich die Gewissheit anhalten ließ, dass Ozzie Slater in der Nähe war. Seine Gegenwart erfüllte die Luft mit Spannung. Mein Blick wurde auf die andere Straßenseite gelenkt. Leute flanierten auf den hölzernen Gehsteigen. Ein Lehr junge putzte das Fenster im Spirituosengeschäft. Alles schien ganz normal zu sein. Doch ich wusste, dass er hier war, irgendwo ganz in der Nähe. Dass er mich beobach tete. Den Blick auf mich geheftet. Dann sah ich ihn. Das heißt, als Andeutung. Bei einem Durchgang neben dem Supermarkt auf der anderen Stra ßenseite sah ich im gleißenden Sonnenlicht die vagen Umrisse einer menschlichen Gestalt. Ich winkte ihr zu, dann lud ich sie mit einer Handbe wegung ein, zu mir zu kommen: Komm hierher, über die Straße, folge mir. Während ich winkte, verschwand die 326
Gestalt, und ich kam mir lächerlich vor, einfach ins Nichts hinein Zeichen zu geben. Hatten mich meine Au gen getrogen und mich nur sehen lassen, was ich sehen wollte? Nachdem ich eine Weile gewartet hatte, ging ich in die düstere Eingangshalle, die wie gewöhnlich verlassen war, und wartete dort in der Stille, wartete darauf, dass sich die Tür öffnete, wartete auf die Schritte. Ein paar Minuten vergingen. Nichts. In der Halle mit den zerbrochenen Fliesen auf dem Boden hallten keine Schritte wider. Ich ging zur Eingangstür, blickte durchs schmutzige Fenster und sah nichts Ungewöhnliches. Beim Zurückgehen hörte ich plötzlich eilige Schritte hinter mir. Als ich mich umdrehte, traf mich ein Schlag ins Gesicht und ich geriet ins Wanken. Ich taumelte, mehr aus Überraschung als von dem Schlag selbst. Mei ne Wange brannte vor Schmerz. Ich hob die Hände, um mich zu verteidigen und wurde von einem weiteren Schlag, der mich an der Schulter traf, zurückgeworfen. Ich fiel keuchend gegen die Wand und fühlte seine über wältigende Gegenwart. Ich hörte ein Glucksen, ein leises Gurgeln. Dann Tritte, die sich entfernten. »Warte«, schrie ich, »geh nicht weg!« Weil ich ihn un ter allen Umständen zurückhalten wollte, rief ich: »Lass dir von mir helfen!« Die Schritte hielten inne und kamen dann näher. Schaurig kam seine Stimme aus dem Nichts. »Wie sollten Sie mir denn helfen können?« Verach tung lag in der Stimme, ein Fauchen. Ich wollte unbe dingt das Richtige sagen und wusste doch nicht, was. Dann entschloss ich mich für die Wahrheit, für den direk ten Weg, ich wollte nichts aufs Spiel setzen, nichts ris kieren. 327
»Weil ich bin wie du!« Und wartete. »Niemand ist wie ich!« Die Stimme, rau und bitter, klang mir in den Ohren. Und ich fühlte seinen Atem im Gesicht. »Ich bin aber wie du. Ich kann tun, was du tust – mich ausblenden.« Sofort wurde mir bewusst, dass Ausblenden mein und Adelards Wort für unsere Gabe war, ein Wort, das meinem Neffen wahrscheinlich ungeläufig war. Ich verbesserte mich deswegen sofort: »Ich kann plötzlich verschwinden. Mich unsichtbar machen wie du …« Dann wieder Schweigen. Tief und niederschmetternd. Und dann: »Wer sind Sie?« Von der anderen Seite der Eingangs halle. »Mein Name ist Paul Moreaux. Ich bin Schriftsteller. Ich komme aus Massachusetts. Aus einer kleinen Stadt wie Ramsey namens Monument.« Ich sprach mit Engels zungen auf ihn ein, ich wollte ihn nicht verlieren, musste mir seine Aufmerksamkeit sichern. »Diese Sache mit dem Unsichtbarwerden, ich nenne sie Ausblenden. Wie sagst du dazu?« Ich wollte Zeit schinden und hoffte ihn zum Sprechen zu bringen. »Unauffindbar, unsichtbar«, sagte er plötzlich in sin gendem Tonfall, »so nenne ich das. Verschwunden.« Plötzlich war es die Stimme eines klugen, neugierigen Jungen. »Wie man es nennt, tut nichts zur Sache. Aber es ist etwas, das wir gemeinsam haben, du und ich. Etwas in unserem Blut, das uns gleichmacht …« »Wenn Sie es auch können, dann tun Sie es doch!« »Was?« »Tun Sie es!« 328
Seine Worte trafen mich wie Peitschenhiebe, waren ein Befehl, den ich nicht einfach ignorieren konnte. Aber ich konnte mich nicht einfach ausblenden. Ich musste mich an mein Gelübde halten, das ich Jahre zuvor abge legt hatte, als Bernard starb. Zu viel Schreckliches war passiert, wenn ich mich unsichtbar machte. »Zeigen Sie es mir!« Wieder die Stimme, herausfor dernd und bestimmt, offensichtlich hatte er mein Zögern gespürt. »Dann machen Sie sich doch unsichtbar, wenn Sie die Wahrheit sagen!« Ich sah die Falle, die ich mir selbst gestellt hatte. Und wusste, dass ich auf Zeit spielen, ihn hinhalten und hier festhalten musste. »Ich kann es nicht so ohne weiteres tun«, sagte ich, »ich brauche etwas Zeit …« »Wie viel Zeit?« »Wie lange brauchst du, um zu verschwinden?« »So lange«, erwiderte er und ich hörte, wie er mit den Fingern schnalzte. Es klang, als ob er mir nun ziemlich nahe gerückt wäre. »Tut es denn nicht weh?«, fragte ich. Eine lange Pause folgte. Ich wartete und fragte mich, ob mich mein Gesichtsausdruck verriet, ob er mir an den Augen den Trick ablesen konnte, den ich gebrauchte, um ihn hinzuhalten. »Der Schmerz kommt so schnell, wie er geht, man gewöhnt sich daran«, erwiderte er. »Es fühlt sich an, als würde man sterben«, hielt ich dagegen, »der Atem setzt aus und dann durchzuckt einen der Schmerz.« Ich redete so zwanglos wie möglich. Viel leicht wollte er ja mit mir über seine außergewöhnliche Gabe sprechen wie ich damals mit Onkel Adelard. »Dann wird einem bitterkalt.« 329
Schweigen. Dieses Mal wieder länger. »Bist du noch da?«, fragte ich. Staubpartikel bewegten sich in der Luft, als Sonnenstrahlen, durch das schmutzi ge Fenster gedämpft, in den Raum fielen. Mein Hemd fühlte sich auf dem Rücken feucht an und war unter den Achseln schweißnass. Ich spürte, dass er immer noch hier war, das Ausbleiben einer Antwort aber war ein schlech tes Zeichen. Wieder wurde ich von einem Schlag überrascht, dieses Mal traf er mich am Kinn, sodass mein Kopf nach hinten kippte. »Warum hast du das getan«, fragte ich ihn, »ich versuche dir doch nur zu helfen …« Das Gefühl seiner Nähe war überwältigend. Ich wuss te, dass er nur ein paar Zentimeter von mir entfernt war. In der Stille konnte man seinen Atem hören. Er atmete hastig und stoßweise. War er nervös, ängstlich? »Pass auf«, sagte ich, »ich bin nicht nur ein Schrift steller aus Massachusetts, ich bin auch …« Wieder ein Schlag, auf meine Wange. »Ich weiß, wer du bist!« Seine Stimme war rau und bitter. »Und deswegen sollte ich dich umbringen!« Die äußere Tür ging auf und als ich mich umdrehte, sah ich eine grauhaarige Frau, die eine Tüte mit Lebens mitteln an sich drückte, in die Eingangshalle kommen. Sie ließ die Tür hinter sich zufallen. In meiner Nähe geriet die Luft in Bewegung, teilte sich, Schritte, die sich entfernten, waren zu hören. Ich spürte seine Gegenwart nicht mehr. Ein Gefühl von Lee re, von Verlust war eingetreten. Er war weg. Du hättest ihn auf der Stelle töten sollen! Ich weiß. Du hattest deine Chance und du hast sie verpasst! 330
Ich musste doch noch mehr über ihn herausbekommen. Er hat geblufft. Er kann es nicht: plötzlich verschwin den, sich unsichtbar machen. Die alte Dame ist hereingekommen. Sonst hätte er es vielleicht getan. Er hat versucht, dich hereinzulegen. Vielleicht auch nicht. Vielleicht aber doch. Und immerhin – Was, immerhin? Ist er mein Vater. Mein richtiger Vater. Ich habe den Heuchler und Betrüger umgebracht, der mich und meine Mama verprügelt hat. Aber der hier ist mein richtiger Vater. Und ich wollte eine Zeit lang mit ihm zusammen sein. Ein wenig mit ihm sprechen. Er hat dich verlassen. Im Stich gelassen. Du warst es ihm nicht wert, dass er sich wie ein richtiger Vater um dich kümmerte. Warum ist er dann zurückgekommen? Er hat gesagt, er will mir helfen. Er sagt, dass wir uns gleichen. Worte. Worte. Er sagt … Aber hat er getan, um was du ihn gebeten hast? Nein. Er ist ein Heuchler. Er will dich nur ausnutzen. Darum ist er zurückgekommen. Wie könnte er mich denn ausnutzen? Weil er von deiner Gabe weiß und was du damit alles anfangen kannst, wenn du erst einmal hier rauskommst und in die Welt hinausgehst. Was du in all den Großstäd ten anstellen kannst. Schließlich kannst du kommen und gehen, ohne gesehen zu werden. Er weiß das. Deswegen ist er gekommen. Und deswegen musst du ihn töten. Ozzie rannte. Rannte der Stimme davon. Rannte ziel los durch die Straßen und achtete nicht darauf, ob man seine Schritte hörte oder ob die Passanten den Luftzug 331
spürten, wenn er an ihnen vorübereilte. Er rannte, bis er ein Stechen in der Lunge verspürte und die Beine vor Schmerz zitterten. Von der grellen Sonne taten ihm die Augen weh. Er wischte sich die Nase, die er nicht sehen konnte, am Ärmel ab, den er nicht sehen konnte. Er brach auf dem Boden zusammen und ruhte sich eine Weile aus. Später trieb er sich in den Straßen und in den Läden herum, hielt Ausschau nach dem alten Mann und fragte sich, ob er ihm mehr über den Fremden erzählen konnte. Immer wieder schaute er in den Verstecken des Alten nach – am Aussichtspunkt im Park, im Durchgang und bei den leeren Kisten hinter dem Ramsey Diner. Kein alter Mann weit und breit. Wo zum Teufel steckte er? Und fand ihn dann bei Einbruch der Nacht. Er kam gerade aus dem Glenwood heraus, torkelte ein wenig, war natürlich betrunken, sah sich nach allen Sei ten um mit diesem dämlichen Gesichtsausdruck, den er immer annahm, wenn er unter Alkoholeinfluss stand. Gewiss hatte der Alte den Fremden besucht, der sein Vater war, dieser Vater, der ihn in all den zurückliegen den Jahren im Stich gelassen hatte. Der Fremde hatte dem alten Mann wieder zu Saufen gegeben, um alles über dessen Freund, Ozzie Slater, zu erfahren. Ach, alter Mann, dachte Ozzie wehmütig. Es hatte ei ne geringe Chance bestanden, dass er den alten Mann verschonte. Sogar jetzt, als er ihn von der gegenüberlie genden Straßenseite aus dabei beobachtete, wie er beim Gehen die Balance zu halten versuchte – wie ein Seiltän zer auf einem unsichtbaren Seil, von dem er herabzustür zen droht –, tat er ihm beinahe Leid. Er konnte sich aber kein Mitleid leisten. Der alte Pinder war ein Verräter, der sterben musste.
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Er machte kurzen Prozess mit ihm, hielt sich nicht lange dabei auf, wie bei dem alten Heuchler, der sich für seinen Vater ausgegeben hatte. Er schlug nur einmal mit einem Stein zu, um dieses armselige Säuferdasein zu beenden. Merkwürdigerweise war er am Ende ganz traurig. Der alte Mann überraschte ihn durch seine Zähigkeit. Er hätte nicht gedacht, dass er den ersten Schlag, bei dem die rechte Gesichtshälfte völlig zerschmettert wurde, überle ben würde. Als er mit dem Stein wieder ausholte, öffnete der Alte noch einmal die Augen, entsetzliche, blutunterlaufene Augen, die sich mit Tränen gefüllt hatten, die ihm über die Wangen herabliefen. Und er blickte Ozzie direkt ins Gesicht. »Du hast mir keine andere Wahl gelassen, alter Jun ge«, sagte Ozzie, als er auf ihn herabsah. Er schlug ihn erneut, dieses Mal aber zögerte er ein wenig vor dem Schlag und empfand Mitleid, als er den alten Mann traf. Nun den Fremden! Er ist in seinem Zimmer. Klopf an die Tür. Tu es, wenn er aufmacht. Er wollte den Fremden nicht umbringen. Der Fremde war möglicherweise sein Vater, sein leiblicher Vater, und wollte ihm vielleicht wirklich helfen. Töte ihn! Er ignorierte die Stimme. Worauf wartest du noch? Dies ist die Nacht, um alle loszuwerden. Er trödelte vor dem Durchgang herum, niemand war auf der Straße, alle Fenster waren dunkel. Auch im Glenwood waren die Fenster dunkel. Gut, dann töte eben die Nonne! Er zog sich wieder in die Gasse zurück, wollte Zeit 333
gewinnen, brauchte Zeit zum Nachdenken, denn er muss te der Stimme immer um eine Nasenlänge voraus sein. Die Nonne wird dich verraten. An die Bullen. Du kannst der Nonne nicht trauen. Gut. Er hatte genug von der Stimme, genug von den Streitereien mit der Stimme. Dann tu es! Im Kloster. Jetzt! Ja, ja. Schön. Sehr schön! Ich war ausgeblendet und schauderte vor Kälte, als ich ein leises, nächtliches Geräusch hörte, das mich von mei nen Gedanken an Rosanna ablenkte. Oft, wenn mich das Ausblenden überkam, wie nun in diesem gottverlassenen Hotelzimmer in Ramsey, Maine, kehrten die alten, selbstquälerischen Gedanken an sie zurück. Ich hatte sie seit Jahren nicht mehr gesehen oder von ihr gehört und rechnete auch nicht mehr damit. Sie war aus meinem Leben verschwunden wie ich aus dem Leben von anderen Menschen. Das Ausblenden machte mich nicht nur unsichtbar, sondern isolierte mich von anderen Menschen, sogar von meiner eigenen Familie, es bewirk te, dass ich mich in einer Art von Ausblenden von ihr zurückzog. Ist aber nicht das ganze Leben so etwas wie ein Aus blenden? Die Liebe und das Gedächtnis werden schwä cher, das Verlangen verblasst. Warum heiratest du nicht, Onkel Paul?, bestürmen mich meine Nichten (die roman tischer sind als meine Neffen). Ich zucke jedes Mal mit den Achseln und mache mich darüber lustig. Ich hebe mich eben für eine von euch auf! Jahrelang hatte ich mich damit betrogen, diesem hübschen Gespenst, Rosanna, die Treue zu halten. Obwohl ich wusste, dass mich eigentlich 334
meine außergewöhnliche Gabe einsam und unzugänglich machte. Oder hatte ich das Ausblenden dazu benützt, um mich von den Menschen fern zu halten und ganz meinem Schreiben widmen zu können? In meinem Hotelbett ver suchte ich meinen Gedanken und Schuldgefühlen davon zulaufen und erkannte, dass das Leben keine Antworten bereithielt, nur pausenlos Fragen aufwarf. Ich vernahm wieder das leise Kratzen, das sich nach einem Nachttier anhörte, und richtete mich im Bett auf. Zugleich kündigte die Atemnot das Ende des Ausblen dens an und ich nahm all meine Kräfte zusammen, als mich der Schmerz durchzuckte und die Kälte verflog. Wieder das Geräusch, das ich nun als Kratzen an der Tür erkannte. Ich schlüpfte aus dem Bett und ging vorsichtig im Dunkeln zur Tür, verließ mich ganz auf mein Gefühl. Als ich das Ohr an die Tür hielt, hörte ich eine zitternde Stimme: »Bitte … machen Sie auf!« Ich öffnete langsam die Tür und sah den alten Mr. Pinder entsetzlich zugerichtet auf dem Boden liegen. Ein grotesker Anblick, wie sich der alte Mann auf einem Ell bogen abstützte! Das eine Auge sah mich hasserfüllt an, das andere war in seiner zu Brei geschlagenen, anderen Gesichtshälfte verschwunden. Sein Mund klappte wie ein Fischmaul auf und zu, ohne einen Laut hervorzubringen. Ich kniete nieder und wollte ihn anfassen, doch er schüttelte mit einer kaum wahrnehmbaren Bewegung verzweifelt den Kopf: »Nein«, keuchte er, »es tut … zu … weh …« Die eine Seite seines Kopfes war zertrümmert, sah aus wie eine Melone, die man aus großer Höhe hat herabfal len lassen. 335
»Wer hat das getan?«, fragte ich, eine Antwort war aber nicht nötig. »Wir müssen Sie ins Krankenhaus brin gen, zu einem Arzt …« Er schüttelte den Kopf, Blut trat ihm aus dem Mund, das eine Auge durchbohrte mich mit seinem stechenden Blick, während Pinder mit der Hand in der Luft herum fuchtelte und mich zu sich heranwinkte. Ich senkte den Kopf so, dass mein Ohr direkt vor seinem Mund war. Seine Stimme klang wie das Flüstern in einer Höhle, hallte wider, war rau und krächzend und von einer ent setzlichen Intensität: »Der Junge … sagt … die Nonne … ist als Nächstes … dran.« Sein Körper bebte und sein übel riechender Atem stieg mir in die Nase. Er stank nach Verwesung. Seine Arme begannen zu zucken, als er versuchte mich zu packen. »Gehen Sie!«, befahl mir der Alte und spuckte Blut, als hätte er die Worte aus dem dunklen, blutigen Abgrund seiner Seele gespien. Dann wurde er schlaff, brach in meinen Armen zu sammen, entglitt mir, der Kopf blieb ruhig in seiner Armbeuge liegen, das Auge war immer noch offen und starrte mich an, während sich sein übriger Körper vor der Welt verschlossen hatte. Der Schmerz und das Getrie bensein waren für immer vorüber. Ich wollte ihm den Puls fühlen, fand ihn aber nicht, wiegte ihn einen Augenblick lang in den Armen und drückte dann dieses entsetzliche Auge zu. Das Kloster ragte in die Nacht empor wie ein schlafendes Urtier, das sich vor dem in Mondlicht getauchten Him mel einer Sommernacht abzeichnete. Ich versteckte mich im Schatten der Ziegelmauer im Hof und blinzelte ins Mondlicht, das mir im Vergleich zu den Schatten so hell 336
vorkam wie Sonnenlicht. Ich suchte das Kloster nach Licht ab, sah aber nur ein einziges, das in einem der ho hen, schmalen Fenster in der Mitte des Gebäudes flacker te: Es musste die Kapelle sein, wo die Nonnen bei Tag und Nacht beteten. Ich überlegte mir meinen nächsten Schritt: Ob ich die Glocke läuten und Alarm schlagen sollte oder ob es dazu nicht schon zu spät sei. War es falsch gewesen, einfach so hierher zu kommen? Ich hatte die Polizei angerufen, ohne mich auszuweisen, und sie von der Leiche auf dem Flur des Glenwood benachrichtigt. Dann war ich über die Schnellstraße hierher gekommen, hatte mich in der Dun kelheit versteckt, wenn gelegentlich Autos vorbeifuhren. Mir war bewusst, dass dies ein verzweifelter, törichter Versuch im Alleingang war. Und doch war es mir ein Bedürfnis, selbst mit dem Jungen zu verhandeln. Wer außer mir konnte ihn verstehen, wer außer mir konnte mit dem Unsichtbarwerden zurechtkommen? »He, du!« Ich sprang überrascht auf, als mich die Stimme aus der Dunkelheit erreichte. »Wo bist du?«, fragte ich und blickte nervös um mich. »Bist du mein Vater?« Immer noch hatte er den sin genden Tonfall in der Stimme, die nun ebenfalls bebte. »Nein, ich bin nicht dein Vater. Sag mir, wo du bist!« »Hier«, sagte er, seine Stimme kam aus einer anderen Richtung. »Wer bist du dann?« »Dein Onkel. Deine Mutter ist meine Schwester. Du bist mein Neffe …« Er kam in Sicht, gebadet in Mondlicht, war nicht mehr ausgeblendet, sondern wirklich zu sehen, eine schmäch tige Gestalt mit einer schwarzen Haarlocke in der Stirn. Er fuhr mit der Hand über die Nase und schniefte. Sein 337
Blick, dem nichts entging, wanderte ruhelos hin und her. Er ließ die Hand wieder sinken und ich sah seine Nase. Sie war abstoßend, passte nicht zu seinem übrigen Ge sicht. Ich suchte bei ihm nach Ähnlichkeiten mit Rose oder Adelard oder sogar mit mir selbst. Entdeckte aber nichts dergleichen und dachte eine Schrecksekunde lang, dass alles ein Irrtum war: Dass ich hier nichts verloren hatte, dass mich dies nichts anging und ich den Dingen ihren Lauf lassen, wieder nach Monument zurückfahren und diesem Albtraum den Rücken kehren sollte. Er be wegte sich etwas. Als ich ihn nun in einem anderen Licht sah, entdeckte ich einen Zug der Moreaux’ in seiner Hal tung, seine Schmächtigkeit erinnerte mich an meinen Vetter Jules und der Ausdruck seiner Augen war weich und anrührend wie der von Rose – das ließ sich nicht leugnen. »Ich muss dich töten!«, rief er. Die Stimme klang wie seine Stimme und doch auch wieder nicht. Sie klang höher und verzerrt, hässlich und fremd, als ob sie aus dem Abgrund seiner Seele käme. »Du musst mich nicht töten«, sagte ich, »du musst nichts tun, was du nicht willst.« »Ich weiß … ich weiß …« Die Stimme war nun wie der seine eigene. Er war ein in die Irre gegangener Junge und ich sah sein zartes Kinn vor Angst zittern. Seine Nase begann zu laufen. Er wischte sie mit dem Handrücken ab. »Ich werde dich aber trotzdem umbringen«, sagte die schrille Stimme wieder, »und dann die Nonne!« »Und was dann?«, fragte ich und verbarg die Erleichte rung, die ich darüber empfand, dass die Nonne in Sicher heit war. Aber was hatte es mit dieser anderen Stimme auf sich? »Willst du alle Leute auf der Welt umbringen?« 338
»Ich will niemanden töten«, sagte er, und nun sprach wieder der kleine Junge aus ihm. »Gut, ich habe den al ten Heuchler umgebracht und das bereue ich nicht. Und ich würde es wieder tun für das, was er mir angetan hat«, er fasste sich an die Nase, »und was er meiner Mutter angetan hat, die keiner Fliege etwas zu Leide tun konnte. Ich bereue es nicht und würde es wieder tun …« »Und wie ist’s mit dem alten Mann?«, fragte ich vor sichtig und rückte dabei näher an ihn heran. Wenn ich ihn nur erreichen, berühren, in die Arme schließen und zeigen könnte, dass ich kein Feind, sondern ein Bluts verwandter war, einer aus der gleichen Sippe. »Der alte Mann hat dich zu uns geführt!« Es war wie der die hässliche Stimme. »Er musste sterben. Man muss te ihm das Gesicht zu Brei schlagen. Jetzt ist die Nonne dran.« Ich sah nun, in welch gefährlichem Wettstreit wir uns befanden, dass ich es gleich mit zwei Gegnern zu tun hatte. Nicht nur mit dem Jungen, sondern mit einem Monster, das in seinem Inneren hauste. Es war, als ob das Ausblenden in ihm Gestalt angenommen hätte – eine grausame Perversion. »Was hat denn die Nonne damit zu tun?«, fragte ich. »Warum willst du ausgerechnet ihr etwas tun?« Konnte man durch dieses andere Wesen in seinem Inneren mit dem Jungen in Verbindung bleiben? »Sie weiß alles«, erwiderte die Stimme drohend. »Sie tut nur so. Sie will einen glauben machen, dass sie gut ist, aber das ist nicht der Fall. Sie spioniert uns aus …« »Halt’s Maul«, schrie ich, »ich spreche nicht mit dir. Ich spreche mit dem Jungen, mit Ozzie Slater. Nicht mit dir!« Der Junge sah mich offen an und ich bemerkte, dass er 339
den Blick bis jetzt von mir abgewandt und an mir vorbei in die Ferne gestarrt hatte. Nun begegneten sich unsere Blicke. »Bist du wirklich mein Onkel?«, fragte er. »Ja«, erwiderte ich, »meine Schwester Rose ist deine Mutter. Du würdest sie bestimmt lieben, wenn du sie kennen würdest. Und sie liebt dich …« »Sie hat ihn weggegeben1.« Wieder die andere Stim me, hart und vorwurfsvoll. »Sie musste dich weggeben«, sagte ich sanft und ein fühlsam, versuchte die Stimme zu ignorieren und die Un terhaltung zwischen mir und dem Jungen weiterzuführen. »Sie hatte keine andere Wahl. Sie war jung und hatte ihr Leben zu jener Zeit noch nicht richtig im Griff. Sie war verzweifelt …« »Was ist das schon für eine Mutter, die ihr Kind weg gibt?« »Sie wollte, dass du lebst«, erklärte ich, »sie wollte, dass ihr Baby am Leben bleibt. Sie hätte eine Abtreibung haben können, dich in ihrem Schoß töten können. Statt dessen hat sie dich unter Schmerzen geboren, unter Schmerzen und Blut. Und sie hat dein Leben in die Hand der Nonnen gelegt, damit sie ein gutes Zuhause für dich finden. Hört sich das an, als ob du ihr völlig gleichgültig gewesen wärst?« »Wie ist sie? Ist sie hübsch?« »Sie ist sehr schön und sie liebt dich von ganzem Her zen. Sie hat mir auch von Ramsey erzählt. Ich wusste, dass ich irgendwo einen Neffen mit der Gabe des Aus blendens habe. Sie hat mich zu dir geschickt, mir von dir erzählt: Wie sie dich weggeben musste und wie traurig sie seither gewesen ist. Und ich habe die Spur zu dir auf genommen. Ihretwegen …« 340
»Was hast du mit mir vor?« Er war nun unverhohlen neugierig. »Wie ich gesagt habe, ich will dir helfen. Ich kenne die Macht, über die du verfügst, und wie diese Macht missbraucht werden kann. Ich habe dieselbe Gabe. Und vor mir hatte mein Onkel diese Gabe. Er hat mich aufge sucht, um mir zu helfen, wie ich dich nun aufsuche, um dir zu helfen. Das Wissen wird von Generation zu Gene ration vom Onkel zum Neffen weitergereicht.« »Du bluffst nur!« Die Stimme wieder, schroff und vor wurfsvoll. »Dieses ganze Gerede von Macht! Dabei sind wir im Besitz der Macht. Und du willst sie uns nehmen. Um sie für deine Zwecke zu nutzen. Deswegen bist du hier.« »Ich will überhaupt nichts«, sagte ich, »wenigstens nicht für mich, sondern nur für dich. Ich will dir nur hel fen …« »Wie kannst du … mir denn helfen?« Nun war es eine völlig andere Stimme, die Stimme eines kleinen Kindes, das nicht nur verloren und bestürzt, sondern auch noch völlig durcheinander war. Ein Kind, wie ich es vor einer Generation selbst hätte sein können. »Zuerst musst du mit dem aufhören, was du gerade vorhast«, sagte ich, »der Nonne darf nichts passieren. Du musst sie in Ruhe lassen. Komm mit …« »Zur Polizei?« »Nein, nicht zur Polizei. Zuerst einmal werde ich da für sorgen, dass du einen Arzt aufsuchst. Wir gehen fort von Ramsey und ich bringe dich in eine Klinik in Boston, die auf Fälle wie deinen spezialisiert ist. Und dann, ja, dann müssen wir zur Polizei. Es wird aber nicht so ablau fen, wie du denkst. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, diese Dinge zu regeln. Dich trifft keine Schuld für das, was du getan hast, du bist selbst ein Opfer …« 341
Leuchtete ihm ein, was ich sagte, drang ich überhaupt damit zu ihm durch? »Du bist ein Lügner!«, rief er, mit einer schnellen, plötzlichen Handbewegung fasste er an seinen Gürtel, ein Messer tauchte in seiner Hand auf, die Klinge glänzte im Mondlicht. Instinktiv sprang ich nach vorn und schlug ihm die Waffe aus der Hand. Beim Aufblicken sah ich, dass sich der Junge auflöste, so wie sich Rauch in Luft auflöst, und zwar so schnell, dass man kaum glauben konnte, ihn noch vor einem Augenblick gesehen zu haben. Als ich zurücktrat, fühlte ich die Mauer im Rücken, dieser Fluchtweg war also nicht möglich. Gleichzeitig sah ich das Messer, von seinen unsichtbaren Händen gehalten, vom Boden aufsteigen. Wie hypnotisiert sah ich dem Messer nach, das er wie ein Miniaturschwert durch die Luft schwang. Es blieb stehen, die Spitze auf mich gerichtet, und bewegte sich dann langsam auf mich zu. Eine gefährliche, tödliche Waffe. Ich duckte mich, machte mich auf alles gefasst, während es immer näher kam. Die Spitze des Messers zerfetzte mein Hemd, drang in meinen Körper ein und hielt vor dem todbringenden Stoß inne. Nichts geschah. Stattdessen geiles und lüsternes Gelächter: Triumph geheul. »Zuerst du, dann Schwester Annuntiata!« Ihr Name brachte etwas in mir zum Klingen, als ich mich an die Worte meiner Schwester Rose erinnerte – Schwester Annuntiata, klein, gebaut wie ein Feuerhyd rant-, mit der sie die Nonne beschrieb, die für die Adop tion ihres Sohnes alles in die Wege geleitet hatte und ihr die schwerste Zeit ihres Lebens überwinden half. 342
»Töte ihn!« »Warte!«, sagte der Junge. »Warum denn? Er muss doch sowieso sterben!« »Er ist mein Blutsverwandter. Mein Onkel …« »Er lügt!« »Er sagt, dass er die gleiche Gabe hat wie ich. Als mein Onkel muss er die Fähigkeit besitzen, sie liegt uns im Blut.« »Dann lass es ihn beweisen!« Das Messer war immer noch auf meinen Leib gerich tet, nur die Spitze steckte in mir, der Schmerz war erträg lich. Doch ich wusste, dass meine Lage bedenklich war, dass die Stimme dem Jungen jeden Augenblick befehlen konnte, das Messer tiefer hineinzustoßen. »Lass es ihn beweisen!«, befahl die Stimme. »Also gut!« Ungeduldig und unwirsch gab der Junge nach und wandte sich dann leiser an mich: »Beweis es«, sagte er, »beweis es der Stimme! Mach dich unsichtbar!« »Wer ist die Stimme?«, fragte ich im Flüsterton. So sinnlos es auch schien, versuchte ich das tödliche Spiel hinauszuzögern. »Ich weiß nicht«, erwiderte der Junge flüsternd und ging auf meinen Versuch ein, die Stimme auszuschalten. »Sie drängt immer und ich kann nichts dagegen tun. Ich bin nicht ich selbst, wenn das Drängeln beginnt.« Ich hörte ihn schniefen und fragte mich, ob er wohl wieder seine Knollennase abwischte, die wie die Nase eines ab getakelten Clowns aussah. »Mach dich bitte unsichtbar, beweise, wer du bist …« »Ich habe von meiner Gabe schon seit langem keinen Gebrauch mehr gemacht«, entgegnete ich, »vor vielen Jahren habe ich mir geschworen, auf sie zu verzichten, weil jedes Mal, wenn ich sie benutzte, etwas Schlimmes 343
passierte, jemand starb. Ich möchte nicht mehr, dass je mand meinetwegen zugrunde geht …« Ich dachte an meinen Bruder Bernard und an Rudolphe Toubert und an mich – den Mörder der beiden. »Du wirst sterben!« Die Stimme wieder, schroff und gebieterisch. Zur gleichen Zeit bohrte sich das Messer tiefer in mei ne Brust, und obgleich ich nur ein leichtes Zwicken be merkte, fühlte ich etwas Warmes aus der Wunde sickern und spürte meine Knie nachgeben. »Tu es!«, flehte mich der Junge an. Ich stemmte mich nach vorn gegen die unsichtbare Mauer, was ich seit Jahren nicht mehr getan hatte, und war mir nach dieser langen Zeit auch nicht mehr sicher, ob es funktionieren würde. Ich hatte jedoch keine andere Wahl. Zweifellos würde der Junge, der von diesem ande ren Wesen beherrscht wurde, zuerst mich töten, anschlie ßend die Nonne und dann …? Die Pause trat ein, der Schmerz durchzuckte mich, die Kälte durchdrang meine Glieder. Und ich war ausgeblendet. Ich hörte das grimmige Geflüster: »Nun ist er viel gefährlicher. Wir müssen ihn töten!« Das Messer fuhr blitzartig nach vorn wie bei einem Stoß mit dem Degen. Geistesgegenwärtig war ich aber ausgewi chen, als ob ich durch das Ausblenden nicht nur unsichtbar, sondern auch kräftiger und schneller geworden wäre. »Wo bist du?« Verwirrung und Ehrfurcht lagen in der Stimme des Jungen. »Hier«, rief ich und entfernte mich von dem Punkt, von dem aus ich gesprochen hatte. »Glaubst du mir nun?« »Ja«, sagte er.
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Er war verschwunden, der Fremde, der sein Onkel war. So mir nichts, dir nichts. Hatte sich in Dunst aufgelöst, in einen Nebelstreifen im Mondlicht, und dann war nichts mehr zu sehen. Beim Üben vor dem Spiegel hatte Ozzie es schon oft an sich selbst erlebt, aber nun war er scho ckiert, es bei jemand anderem zu sehen. Er war scho ckiert und verängstigt, weil er nicht mehr weiter wusste, das Messer hatte plötzlich kein Ziel mehr und war als Waffe überflüssig geworden. »Wo bist du?«, flüsterte er wieder, als ihn die Furcht beschlich. Er fühlte sich wehrlos und verwundbar. Keine Antwort. Trieb der Onkel sein Spiel mit ihm? War er in der Nähe oder weit weg, rechts oder links von ihm? So mach ihn schon ausfindig! Töte ihn! Wieder diese Stimme! Er würde lieber die Stimme tö ten, was er aber nicht konnte, weil er selbst die Stimme war. Du verschwendest nur deine Zeit! Plötzlich wurde ihm das Messer aus der Hand ge schlagen, der Schmerz in seinem Handgelenk war so groß, dass er am liebsten aufgeschrien hätte. Das Messer fiel vor seinen Füßen zu Boden. Heb es auf! Als er sich hinabbeugte, um es sich zurückzuholen, glitt das Messer, im Mondlicht glänzend, wie von selbst über den Boden, machte dann einen Satz in die Luft und fiel in seiner Nähe auf den Boden. Er hörte auch das Ge räusch von sich entfernenden Schritten. »Warte«, sagte er, »geh nicht weg!« Ein Augenblick des Schweigens, dann: »Ich bin genau hier.« Die Stimme seines Onkels kam ganz aus der Nähe. »Ich habe dir das Messer aus der Hand geschlagen, weil 345
wir mit einem Messer zwischen uns nicht reden können. Und ich muss mit dir sprechen. Mit dir, nicht mit der Stimme, die sich immer wieder zu Wort meldet. Diese Stimme bist nicht du, Ozzie. Es ist die Stimme eines Kil lers. Du musst von der Stimme getrennt werden. Du musst der Stimme widerstehen, sie abwehren, abhalten …« Siehst du, was er nun versucht! Er versucht, uns ge geneinander aufzuhetzen. Und er will dich in den Knast bringen. Lässt du dir das gefallen? Nein. Das will er aber. Du musst dich unbedingt von ihm be freien! Aber wie? Schnapp dir das Messer! Und gib ihm den Rest! Ich war erstaunt, die beiden Stimmen im mondhellen Klosterhof zu hören, als ich dem Jungen zuhörte, der mit sich selbst argumentierte. Die beiden Stimmen waren so verschieden voneinander, rau, fordernd und auf Zerstö rung ausgerichtet die eine, die andere jung und zart. Beim Zuhören befiel mich tiefe Traurigkeit, die Art von Traurigkeit, die von einem Verlust herrührt – und ich dachte an all die Menschen, die ich im Laufe der Jahre verloren hatte –, und nun war ich drauf und dran, diesen Jungen zu verlieren, meinen Neffen, der wie ich die Un heil bringende Gabe des Ausblendens besaß und in des sen Inneren ein entfesseltes Ungeheuer sein Unwesen trieb. Jetzt gleich! Ich vernahm den Befehl in all seiner widersinnigen Eindringlichkeit, ein Befehl aus zwei gehässigen Silben, und ich nahm eine Luftbewegung wahr wie von Zwei gen, die zerteilt werden, als ob sich jemand hastig be 346
wegte. Auch ich blieb nicht stehen, sprang auf das Mes ser zu, fiel beinahe hin und hechtete nach vorn. Das Messer schnellte in die Höhe, bevor ich es er reichte. Er hatte mich klar geschlagen, aber weil er das Messer in der Hand hielt, hatte er mir wieder einmal ver raten, wo er sich befand. Ich richtete mich auf und trat zu, zielte auf seinen Ma gen, wobei ich die ungefähre Höhe vom Boden aus ab schätzte. Ich traf mein Ziel und bohrte meinen Schuh tiefer in seine Magengrube, als ich beabsichtigt hatte. Er schrie vor Schmerz auf. Zugleich ließ er das Messer, das sich aus seinem Griff gelöst hatte, zu Boden fallen, und ich hechtete danach. In dem Augenblick, als ich es aufhob, erkannte ich meinen Fehler, wusste, dass ich wie er meinen Standort verraten hatte. Außerdem hatte ich ganz vergessen, wie schnell Jugend Schmerz überwinden kann, als er auch schon auf mich zu stürmte und mir seinen Kopf in den Bauch rammte, was mir den Atem raubte. Ich ließ das Messer fallen und schrie nun meinerseits vor Schmerz auf. Bevor ich mich davon erholt hatte, hielt er auch schon meinen Hals umklammert. Das waren nicht mehr die Hände eines dreizehnjährigen Kindes, sondern es war der stahlharte Griff eines geisteskranken Killers, den der Wahnsinn stark machte. Die Hände an meinem Hals packten fester zu, drückten mir den Adamsapfel in die Gurgel und schnitten mir damit die Luft ab – so war es also, wenn man erstickte … Ich konnte nicht einmal mehr laut schreien und schlug verzweifelt mit den Armen um mich. Als ich nach hinten fiel, versuchte ich mich ihm zu entwinden und landete mit einem dumpfen Ge räusch auf dem Boden. Rasender Schmerz durchfuhr mein Rückgrat. Ich streckte verzweifelt die Arme aus, 347
während ich mich wand und unter Aufbietung all meiner Kräfte kämpfte. Irgendwie gelangte ich wieder an das Messer. Ich bekam den Griff mit der rechten Hand zu fassen, merkte es kaum, spürte nur den Körper, der auf mir lastete, die schweißnasse Wange an meinem Gesicht und die Hände, die meinen Hals immer fester zudrückten. Ich spürte, wie ich immer schlaffer wurde und das Gefühl zu ersticken mich um all mein Verlangen, meine Gedan ken und meine Widerstandskraft brachte. Ich fühlte mich dahinschwinden, und es war nun nicht mehr das Eintau chen in die Unsichtbarkeit, sondern mein ganzes Dasein versank im Nichts. Stirb, du Dreckskerl, stirb! Als ich die raue Stimme hörte, flackerte mein verlö schendes Bewusstsein wieder auf. Ich wusste, dass ich den Wahnvorstellungen des Jungen widerstehen und ein letztes Mal versuchen musste, sie zu besiegen, ob ich nun wieder Luft bekommen würde oder nicht. Ich kämpfte gegen die Dunkelheit an, die sich um mich herum zu sammenzog und mich zu verschlingen und auszulöschen drohte, und konnte die Augen wieder öffnen. Durch den Schleier meiner schwächer werdenden Sicht sah ich das Messer aufblitzen, und ich entsann mich, dass sich das Messer in Wirklichkeit in meiner Hand befand. Ich muss te es nur diesem Monster, das mir die Kehle zudrückte und mich umbringen wollte, in den Leib stoßen. Das war alles und doch schien es unmöglich. Mir fehlte die Kraft dazu. Tu es, befahl ich mir selbst, so tu es doch! Nur noch dieses eine. Die Augen quollen mir fast aus dem Kopf, als ich mich in einer letzten Willensanstrengung auf das Messer konzentrierte. Wie es im Mondlicht blit zend über dem Wahnsinnigen schwebte, den ich nicht sehen konnte und der langsam das Leben aus mir heraus 348
presste, wurde das Messer zum Letzten, was mir von die ser Welt noch blieb. Ich wollte es niederfahren lassen und legte alle Willenskraft, die mir noch zur Verfugung stand, in diesen einen Wunsch. Und ich sah zu, wie das Messer zuerst langsam und dann immer schneller nieder stürzte. Ich war mir auch des Würgegriffs um meine Kehle, der Finsternis, die sich über mein Bewusstsein senkte, und des Stockens meines Atems nicht mehr be wusst; sie waren ein Teil von mir geworden. Ich wusste nur noch, dass das Messer immer weiter herabsank. Als es in seinen Körper eindrang, zerriss ein Schmerzens schrei die Stille. Er klang entsetzlich in seiner Seelen qual. Und gleichzeitig strömte wieder Luft in meine Lunge, balsamische Luft, die meine Lebensgeister weck te, als sich sein Griff lockerte, obwohl der Druck seiner Finger an meinem Hals weiter zu spüren war. Ich stieß immer wieder zu, konnte und wollte nicht aufhören, wur de nun meinerseits vom Wahnsinn ergriffen. Einen Au genblick lang klammerte sich mein Peiniger an mich und schluchzte: das Schluchzen eines Kindes, das sich bei Nacht in den Schlaf weint. Dann sackte er zusammen und rollte zur Seite. Von dem Augenblick an, als das Messer zum ersten Mal in ihn drang, noch bevor die anderen Stiche den Lebens nerv in seinem Inneren trafen, wusste er, dass er sterben würde. Er wollte nur noch loslassen. Die Stimme aber befahl ihm durchzuhalten. Was er gar nicht wollte. Zum Teufel mit der Stimme! Nicht loslassen! Also gut. Der Schmerz, dumpf und beharrlich, breitete sich wie Feuer in seinem Körper aus und verzehrte ihn. Mama, wimmerte er, Mama. Er fing an zu weinen, schlug die Augen auf, um zu sehen, ob sie da war, sah aber nur Blut, 349
Ströme von Blut, sein eigenes Blut. Kurz bevor er die Augen für immer schloss und sich der Dunkelheit über ließ, erkannte er, dass er die Stimme endlich überwunden hatte und hörte eine andere Stimme. Es war die seiner Mutter, die ihm etwas vorsang. Weil sie so weit weg war, konnte er weder die Worte noch die Melodie richtig ver nehmen. Er ging auf ihre Stimme zu. Der Dunkelheit entgegen. Dem Nichts. Der Junge tauchte wieder aus der Unsichtbarkeit auf. Allmählich nahm sein Körper im Mondlicht Gestalt an, so wie bei der Entwicklung eines Films alle Schichten langsam sichtbar werden. Meine Tränen waren die Ent wicklerlösung. Sein Körper war schlaff, wie es nach dem letzten Atemzug eines Lebewesens immer der Fall ist. Seine Züge waren gelöst und entspannt. In seiner Ruhe hatte das Gesicht beinahe etwas Liebliches an sich, als ob es von Zeit, Schmerz oder Verletzung unberührt wäre. Die misshandelte Nase, obwohl immer noch zerschun den, war nicht mehr abstoßend, sondern hatte nun etwas durchaus Edles an sich wie eine längst vernarbte Kriegs verletzung. »Ach, Ozzie«, sagte ich, schmeckte meine Tränen beim Sprechen und sah, wie im Kloster die Lichter an gingen. Als ich mich über den Jungen beugte, geriet etwas in meinem Inneren in Bewegung. In der Tiefe meines Un terbewusstseins gab etwas nach und ließ los. Als ich dort stand, fühlte ich, obwohl dies eigentlich unmöglich war, dass ich mich von mir selbst entfernte, von meinem Schmerz und meinem Verlust. Fühlte mich nicht ausge blendet, sondern auf eine andere Art nicht mehr vorhan den. 350
»Adieu«, sagte ich. Hörte aber meine Stimme nicht. Und wusste auch gar nicht, zu wem oder was ich Adieu sagte.
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Susan Natürlich handelt es sich um Fiktion: Das war das Urteil, zu dem ich mit Meredith am Ende meines Sommeraufenthalts in Manhattan gelangte. Das Wort wurde zu einer Art Rettungsanker, an den man sich klammern konnte. »Man muss schon etwas verrückt sein, um als literari sche Agentin zu überleben«, meinte Meredith. Dann deu tete sie auf das Manuskript und sagte: »Aber das Aus blenden ist selbst für mich unfassbar …« Und ich stimmte ihr zu. Damals. Verdammt. Ich muss jetzt zustimmen. Trotz dem, was ich in meinem Zimmer an die Pinwand geheftet habe und was ich immer wieder von neu em lesen muss. Obwohl es draußen erst November ist, herrscht in meiner Pension Winter. Mein Zimmer ist nicht gerade luxuriös und man kann es nicht richtig heizen, es ist aber auch keine Bruchbude. (Ein Zimmer in einem Wohnheim auf dem Campus zu bekommen scheint an der Boston Uni versity illusorisch zu sein. Ich kann von Glück sagen, wenigstens diese Unterkunft gefunden zu haben, von der aus ich, wenn ich mich aus dem Fenster beuge, ein Stück vom Charles River sehen kann.) So sitze ich also hier in Boston an der Schreibmaschi ne und schreibe, wie Paul Roget einst in Monument ge schrieben hat. Während er Romane und Kurzgeschichten verfasst hat, schreibe ich – ja, was eigentlich? Keine Ahnung. Ich versuche meine Gedanken zu ordnen. 352
Und ich versuche immer noch Professor Waronskis schriftstellerischem Anspruch gerecht zu werden, und das zwischen einer Seminararbeit, die ich jetzt anfangen müsste, wenn ich damit vor den Abschlussprüfungen im Dezember fertig werden will, und meinen Recherchen in der Bibliothek für ein Projekt in Politikwissenschaft. Hol’s der Teufel! Lassen Sie mich noch einmal auf meinen Aufenthalt bei Meredith in New York zurückkommen und wie wir uns über Pauls Manuskript geeinigt haben. Die meiste Zeit über war ich in den hektischen Betrieb von Broome & Company eingespannt, war zwölf bis 14 Stunden am Tag im Büro tätig, während Meredith ihr eigenes, hektisches Tempo hielt. Es vergingen Tage, an denen wir kaum miteinander sprachen, an denen ich abends um halb zehn völlig er schöpft ins Bett sank, während sie immer noch im Büro saß, bei einer Buchpremiere war oder eines ihrer endlo sen Telefongespräche im Fachjargon führte. Manchmal tauchten wir dann aus unserer Arbeit auf und kamen uns wieder näher. Als wir an einem strah lenden Sonntagmorgen vom Gottesdienst zurück kehrten, sagte Meredith: »Susan, Rose ist die Lösung.« Sie hatte das Thema völlig unvermittelt angeschnitten. »Wenn sie noch leben würde, könnte sie das Problem lösen. Hat sie nun später ein eheliches Kind bekommen oder nicht?« »Richtig«, sagte ich und fragte mich, ob einer von uns den Mut gehabt hätte, sie das zu fragen. Als wir eines Abends, nach einem hektischen Tag bei Broome und einem späten Mahl aus der Gefriertruhe, das wir kaum angerührt hatten, in der Wohnung zusammen 353
saßen, sagte sie in ganz förmlichem Ton: »Ich muss ein Geständnis ablegen, Susan.« Ich machte mich auf alles Mögliche gefasst und sagte nur: »Ja.« Ihre Müdigkeit war plötzlich verflogen, sie sah mir ins Gesicht und sagte: »Ausgeblendet!« Sie dehnte das Wort unnötigerweise in die Länge. Ich wartete darauf, dass noch etwas kam. »Ausgeblendet«, wiederholte sie. Dann: »Unsichtbar. In Nichts auflösen.« Nun wartete sie auf meine Reaktion, in ihrem Blick lagen Fragen, die ich nicht verstand. Als ich immer noch nichts sagte, ergriff sie das Wort: »Merkst du nicht, wie unmöglich sich diese Begriffe an hören? Wenn man sie zu Papier bringt, sind sie o. k. Wenn man sie sich durch den Kopf gehen lässt, sind sie auch noch o. k. Aber als ich gestern allein im Büro war, habe ich laut vor mich hin gesagt: ›Paul Roget hatte die Fähigkeit, sich selbst unsichtbar zu machen.‹ Und als ich das hörte, wurde mir sofort klar, wie unmöglich sie klin gen. Versuch es selbst einmal, Susan.« Und ich versuchte es: »Paul Roget blendete sich aus, wurde unsichtbar, löste sich in Nichts auf-« »Verstehst du, was ich meine?«, fragte Meredith. Ja, ich verstand es. Auf dem Papier, zwischen dem Anfang und dem Ende eines Manuskripts, ist alles möglich. In der Realität aber, in der die Sonne auf einen Teppich scheint, in der es Mö bel gibt, die man im Vorbeigehen berühren kann, Was serhähne, aus denen Wasser hervorsprudelt; in einer Welt, in der man unter Kopfschmerzen leidet und unter 354
Einsamkeit an Sonntagabenden, werden die Illusionen, die durch Substantive, Verben, durch Gleichnisse und Metaphern erzeugt werden, zu dem, was sie in Wirklich keit sind – nämlich Illusionen, Wörter auf einer Buchsei te. Und ausgeblendet wird dann zu einem Wort unter vielen. Als wir eng zusammengepfercht in der U-Bahn stan den, herumgeschubst wurden und uns krampfhaft an den Halteriemen festhielten, sagte sie dann: »Ich habe heute mithilfe einer Bekannten, die im Ar chiv von Time arbeitet, Nachforschungen angestellt. Wir haben unter Ramsey, Maine, nachgesehen und herausge funden, dass es den Ort nicht gibt. Und auch den Orden der Barmherzigen Schwestern gibt es nicht.« Sie schwenkte von mir weg, als der Wagen beim Einfahren in eine Station heftig zu schwanken begann. »Wir haben unter alten Heilbädern mit versiegten Heilquellen nach gesehen und sind auch da nicht fündig geworden.« Viel leicht konnte sie sich meine Antwort denken, weil sie sagte: »Das heißt nicht, dass es sie nicht woanders gibt.« »Warum hat er dann von einem realen Frenchtown zu einem fiktiven Ramsey übergewechselt?«, fragte ich, »von Paul in der ersten Person zu Ozzie in der dritten Person?« »Weil alles Fiktion ist«, sagte sie, »sein muss, Susan.« Ihre Stimme klang ziemlich verzweifelt. »Ich weiß«, sagte ich. Wir schauten einander lange in die Augen und wand ten dann die Blicke ab. Als ob wir in der überfüllten UBahn, die unter den Straßen von Manhattan durchfuhr, einen Waffenstillstand geschlossen hätten. In jenem Sommer sprachen wir nicht mehr über das Manuskript. In jener Nacht aber, als ich im Bett lag, dachte ich an 355
meinen Großvater und daran, was er mir damals in Mo nument erzählt hatte. Etwas, das ich weder Meredith preisgegeben noch mir selbst eingestanden hatte an dem Tag, als ich in ihrer Wohnung das Manuskript aufstöber te. Vor einem Jahr, an einem wunderschönen Tag im Okto ber – die Blätter fielen von den Bäumen – kam ich mit dem Zug in Monument an. Mein Großvater holte mich vom Bahnhof ab und fuhr mich in der Stadt herum, wo bei er mir Schauplätze zeigte, die Paul in seinen Roma nen und Erzählungen beschrieben hatte. Wir hielten auch vor der Stadtbücherei gegenüber dem Rathaus an. »Als Kinder haben Paul und ich dort ziemlich viel Zeit verbracht«, sagte er und zeigte auf das alte Steingebäude, das von Bäumen und Gebüsch umgeben war. »Paul ging dort ein und aus. Er sagte mir, dass er jedes Buch dort drinnen lesen würde. Ich frage mich, ob er das wirklich getan hat.« Er kicherte vor sich hin und schüttelte den Kopf. »Ich glaube, er kannte sich in der Bücherei besser aus als die Bibliothekare. Einmal beschuldigte ich ihn, ein Geheimzimmer im Gebäude zu kennen …« Weil ich eine Schwäche für Dramatik und Geheimnis se hatte, fragte ich ihn fröstelnd nach dem Geheimzim mer. Ganz wehmütig antwortete er mir: »Wir waren elf oder zwölf Jahre alt, als ich zu Weihnachten einen Werk zeugkasten für Detektive geschenkt bekam. Wir gingen wegen Büchern über Kriminalistik in die Bücherei und schlichen uns in die Erwachsenenabteilung, wo wir prak tisch auf den Zehenspitzen gehen mussten, weil es in den Bibliotheken in jenen Tagen sehr ruhig zuging. Ich ent deckte ein Buch über Fingerabdrücke und wollte nach 356
Paul schauen. Konnte ihn aber nicht finden. Ich suchte ihn im ganzen Haus. Es war, als ob er vom Erdboden verschwunden wäre. Schließlich tauchte er wieder auf, sah ziemlich schuldbewusst aus, war kreidebleich und fühlte sich schlecht. Ich warf ihm vor, dass er sich versteckt hätte – oder hatte er irgendwo ein Geheimzimmer entdeckt? Er versicherte mir aber, dass er sich nur schlecht gefühlt hatte, sich in einem der Bücherregale zusammengerollt hätte und in eine Art Schlaf gesunken sei. Es kam mir zwar merkwürdig vor, aber ich ließ es ihm durchgehen, weil er ein Jahr hinter sich hatte, in dem er ein- oder zweimal ohnmächtig geworden war, Gewicht verloren und unter Appetitlosigkeit gelitten hatte. Wachstumsstö rungen, wahrscheinlich durch die Pubertät bedingt, hatte der Arzt diagnostiziert und ihm alle möglichen Wässer chen verabreicht. Das war wohl zu einer Zeit, bevor es Vitamintabletten gab …« Damals hatte mir der Vorfall in der Bibliothek nicht be sonders imponiert und war zu einer Art Fußnote in mei nem Gedächtnis geworden. Bis ich an jenem Sommer abend in Merediths Wohnung Pauls Manuskript las … Warum hatte mein Großvater den Vorfall in der Bü cherei in seinem Bericht für Meredith nicht erwähnt? Hatte er sich geweigert, Pauls Verschwinden zu zugeben, weil es ihn zu Schlussfolgerungen geführt hätte, die er nicht akzeptieren konnte? Oder wusste er mehr, als er zugab? Und wusste Meredith mehr, als sie zugab? Hatten wir alle Geheimnisse voreinander? Schließlich hatte ich Meredith ja auch nicht von Pauls Verschwinden in der Bücherei erzählt.
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Vor zwei Wochen war ich zum ersten Mal seit meiner Rückkehr aus New York wieder in Monument und habe meinen Großvater schwach und hinfällig in einem Bett im Monument Hospital wieder gefunden, wo er sich von einer Operation erholte. »Dickdarmgeschwür«, sagte er, »mit Komplikatio nen.« »Was für Komplikationen?«, fragte ich und war ent setzt, diesen Mann, der mir noch nie wie ein Großvater vorgekommen war, plötzlich als alten Mann wieder zu sehen: sein ergrauendes Haar machte keinen gepflegten Eindruck mehr, sondern sah zerzaust und glanzlos aus, das Gesicht war aschfahl. »Sie haben es noch nicht herausgefunden«, sagte er müde, »das Alter als solches ist eine Komplikation, Su san.« »Du bist doch nicht alt«, sagte ich, »du bist noch nie alt gewesen!« »Kind, ich bin dreiundsechzig«, sagte er, »aber ein al ter Dreiundsechzigjähriger. Mehr als vierzig Jahre war ich bei der Polizei, dreißig davon bin ich bei Nacht schichten meine Runden gegangen, bevor ich Kriminal beamter in Zivil wurde.« Er seufzte, schloss die Augen und sagte: »Himmel, war das ein gutes Leben!« Er sprach in der Vergangenheit, als ob sein Leben schon vergangen wäre. Im Norden von Boston fand ich eine alte Kirche, die ich betrat, um eine Kerze für ihn anzuzünden, so wie es in seiner Generation früher Brauch war. In der Kirche gab es keine Kerzen, nur eine Reihe von kleinen Glühlampen in Kerzenhaltern. Die Glühlampen leuchteten auf, wenn man eine Münze einwarf. Ich steckte stattdessen einen 358
Dollar in die Sammelbüchse für die Armen und betete vor der Statue von St. Judas. Ich werde meinen Großvater wieder in Monument be suchen, aber keine Fragen mehr über Paul stellen. Meredith und ich bleiben miteinander in Verbindung. Wir schreiben uns kurze Briefe oder telefonieren spät in der Nacht miteinander. Hurra, sie hat mir sogar angebo ten, im nächsten Sommer wieder zu Broome & Co. zu rückzukehren. Vor zwei Tagen habe ich einen Brief von ihr bekommen, der lautete: »Hatte gestern ein langes Gespräch mit Walter Hol land von Harbor House. Er ist immer noch interessiert an einer Auswahl von Paul Rogets Werken und war wirklich Feuer und Flamme, als ich ihm von dem neuen Manu skript erzählt habe, so bruchstückhaft es auch ist. Komi sche Sache, Susan: Sowie ich es heute Morgen durch den Boten abgesandt hatte, überkam mich – ich weiß auch nicht so recht, wie ich es ausdrücken soll – ein Gefühl des Friedens? (nein, das ist vielleicht ein zu starker Aus druck), vielleicht das Gefühl, etwas geleistet zu haben? (was auch nicht ganz stimmt). Mir war, als hätte ich eine alte Schuld beglichen und für Paul eine Mission erfüllt. Verrückt? Vielleicht. Jedenfalls empfand ich danach nicht mehr diese Traurigkeit, die mich in all diesen Jah ren seit seinem Tod begleitet hat.« Paul Roget starb in einer Mietwohnung in der Second Street in Frenchtown am 3. Juni 1967 im Alter von 42 Jahren in seinem Bett. In einem Nachruf der New Tork Times hieß es, dass er eines natürlichen Todes gestorben sei. Mein Großvater sagte mir, dass Paul in seinen letzten Jahren an einer Reihe von Krankheiten gelitten habe. Er 359
hatte Zucker, verlor ziemlich viel Gewicht und erlitt zwei Jahre vor seinem Tod einen Herzanfall. In dieser letzten Zeit hatte er sich immer mehr zurück gezogen, hatte immer wieder die Wohnung gewechselt und sich geweigert, ein Telefon installieren zu lassen. Er hatte aufgehört zu schreiben (obgleich er Ausgeblendet in jener Zeit verfasst haben musste). Er ließ Besucher, die an seiner Tür vorsprachen, nicht immer hereinkommen. Obwohl er seine Neffen und Nichten nie abwies, nahm seine Begeisterung für sie ab. Als sie seine wachsende Gleichgültigkeit spürten, hörten sie auf, ihn zu besuchen. Mein Großvater traf ihn gelegentlich am Sonntag bei der Messe, sah ihn aber nie kommunizieren. Er schwand dahin, wurde nicht ausgeblendet wie in seinem Manuskript, sondern verging wie das Licht und die Farben des Tages, wenn die Nacht einsetzt. Er schien sein Manuskript auf eine Weise nachgelebt zu haben, die er nicht vorhersehen konnte. So wurde er also doch noch zu einem, der sich in Nichts auflöste. Das, so dachte ich traurig, ist das Ende dieser Ge schichte. Bis … Bis ich vor fünf Tagen, als ich den Boston Globe in die Hand bekam, die folgende Geschichte las, die ich an meiner Pinnwand befestigt habe: 75 MENSCHEN BEI MYSTERIÖSER EXPLOSION GETÖTET: ZWEITE TRAGÖDIE INNERHALB EINER WOCHE SHERWOOD, N. Y. (AP) – Einer rätselhaften Explo 360
sion in einer chemischen Fabrik fielen am Dienstag 75 Arbeiter zum Opfer, 23 wurden verletzt. Es war die zweite große Tragödie, die innerhalb einer Woche über diese Stadt von 11000 Einwohnern hereingebro chen ist. In der Nacht von Freitag auf Samstag starben 20 Studenten und drei Lehrer, als in der Turnhalle der Sherwood High School während des Abschlussballs ein Feuer ausbrach. Die Gründe für die Explosion und das Feuer konn ten noch nicht ermittelt werden. Polizeipräsident Herman Barnaby gab an, dass es sich in beiden Fällen vermutlich um einen Terrorakt gehandelt haben dürfte. »Wir stehen vor einem Rätsel«, gab Henry Tewksbu ry, der Direktor von ABC Chemicals, Inc. zu, »bei uns gelten die strengsten Sicherheitsmaßnahmen, weil sich unsere Chemikalien leicht verflüchtigen. Unsere Si cherheitsexperten sind der Ansicht, dass es völlig aus geschlossen ist, sich unerkannt an unseren Sicherheits einrichtungen vorbeizumogeln. Es sei denn, die Person wäre unsichtbar.« Genauso »unmöglich« waren nach Aussagen des Schulleiters Vito Andalucci die Umstände, unter de nen die Schüler und Lehrer in der Turnhalle umkamen. Ungefähr 100 Feiernde entgingen dem Feuer, die, die ums Leben kamen, waren in einem Gang eingeschlos sen und nicht in der Lage, die Tür zu öffnen, die ihre Rettung bedeutet hätte. »Diese Tür aber hat den ganzen Abend über unter meiner persönlichen Aufsicht gestanden«, äußerte der Schulleiter. »Die Vorsichtsmaßnahme war ergriffen worden, weil letztes Jahr einige Rowdys durch die Tür in die Turnhalle eindrangen und das Fest störten. Ich hatte mir geschworen, dass es dieses Mal nicht mehr 361
passieren würde. So unmöglich es auch sein mag, je mand hat den Öffnungsmechanismus blockiert. Als ich die Schüler und Lehrer zu diesem Notausgang schickte, habe ich sie in den sicheren Tod geschickt.« Polizeichef Barnaby weigerte sich, zu Presseberich ten Stellung zu nehmen, in denen die Rede davon war, dass die Stadt in letzter Zeit von Terrorakten heimge sucht wurde, die von Vandalismus in den Geschäften der Main Street bis zu einer Reihe von Einbrüchen in Privatwohnungen reichten. Der Chef der Bezirksfeuerwehr hat inzwischen eine Meldung verworfen, nach der ein Teenager kurz vor der Explosion in der Nähe der Fabrik gesehen wurde. Ein Bewohner von Sherwood, dessen Personalien noch nicht feststehen, sagte, dass sich der Teenager »in Luft aufgelöst« habe, als man ihn in der Nähe des Fabrikeingangs ausfindig machte. »Wir suchen nach handfesten Beweisen und können uns nicht mit Gerüchten abgeben«, sagte der Chef der Feuerwehr, Martin Peters. Ich sitze hier sicher und geborgen in meiner Wohnung in Boston und denke in diesem Augenblick an jeman den im Staat New York, an einen, der sich unsichtbar machen kann, wieder ein Neffe mit der unheilvollen Gabe des Ausblendens in einer neuen Generation, wie der so ein Verrückter, der auf die Welt losgelassen wurde. Es erscheint mir auch dann noch unmöglich, als ich mich bereits frage, ob ich nun den Grund dafür habe, wa rum Paul sein Manuskript bis zu diesem Jahr oder sogar darüber hinaus zurückstellen ließ. Wollte er, dass es mit dem Auftauchen eines weiteren Neffen, der wiederum 362
die Gabe besaß, zusammentraf – dass es als Warnung oder Botschaft diente? Weder auf diese noch auf ein paar andere Fragen weiß ich eine Antwort. Was ich damit sagen will, ist, dass ich hier sitze, an das Ausblenden und an den Zeitungsausschnitt an meiner Pinnwand denke und mich frage, ob ich wirklich so si cher und geborgen bin, wie ich meine. Ob es irgendeiner von uns ist. Und ich weiß nicht, was ich dagegen tun soll. Du lieber Gott, ich weiß es wirklich nicht!
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