Atlan - Die Abenteuer der SOL Nr. 584 Zone-X
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Atlan - Die Abenteuer der SOL Nr. 584 Zone-X
Aufbruch der Molaaten von Horst Hoffmann 100 000 Wesen im Kampf um eine neue Zukunft In den mehr als 200 Jahren ihres ziellosen Fluges durch die Tiefen des Alls haben die Besatzungsmitglieder des Generationenschiffs SOL schon viele gefährliche Abenteuer bestanden. Doch im Vergleich zu den schicksalhaften Auseinandersetzungen, die sich seit dem Tag ereignen, da Atlan, der Arkonide, auf geheimnisvolle Weise an Bord gelangte, verblassen die vorangegangenen Geschehnisse zur Bedeutungslosigkeit. Denn jetzt, im Jahre 3804 Solzeit, geht es bei den Solanern um Dinge von wahrhaft kosmischer Bedeutung. Da geht es um den Aufbau von Friedenszellen im All und um eine neue Bestimmung, die die Kosmokraten, die Herrscher jenseits der Materiequellen, für die Solaner parat haben. Und es geht um den Kampf gegen Hidden-X, einen mächtigen Widersacher, der es auf die SOL abgesehen hat und dessen Standort man inzwischen genau bestimmt hat. Dieser Standort ist das Flekto-Yn – und ihm gelten auch die Aktivitäten der Fünften Kolonne der Molaaten, die es schafft, Hidden-X Zehntausende von Sklaven abzujagen und somit einen wichtigen Sieg zu erringen. Nun aber, bevor man den Kampf gegen Hidden-X fortführen kann, gilt es, den befreiten Gefangenen den Start in eine neue Zukunft zu ermöglichen.
Dieser Start ist identisch mit dem AUFBRUCH DER MOLAATEN …
Die Hauptpersonen des Romans: Oggar - Das Multibewußtsein begleitet die Molaaten. Wuzgu - Sprecher der Molaaten. Drux, Pina und Filbert - Sie kämpfen um die Zukunft ihres Volkes. Jard Neru - Kommandant der MOSES. Blödel - Der seltsame Roboter macht eine wichtige Entdeckung.
1. Aufbruch »Noch ein Dunkelplanet«, sagte Hage Nockemann verdrießlich, »und unsere SOL platzt aus den Fugen.« Atlan sah ihn nur über die Schulter an. Die beiden Männer saßen allein in einem kleinen Kommunikationsraum und beobachteten über die Bildschirme den Zusammenbau des Containerträgers, von dem sie sich die Lösung wenigstens eines ihrer Probleme erhofften. Unzählige Roboter und Raumfahrer in Schutzanzügen arbeiteten unter SENECAS Anleitung an dem im Weltraum entstehenden Gebilde, das noch wie ein stählernes Skelett aussah – allerdings eines mit einer Länge von 320 und einer Breite von 120 Metern. Ebenfalls 120 Meter betrug die Gesamttiefe von der Bedienungsund Manövrierplattform bis zu den Containerabstützungen. Zwischen ihnen sollten in wenigen Tagen die in Montage befindlichen 'Transportwürfel Platz finden, und in diesen wiederum rund einhunderttausend Molaaten. Genau das hatte Nockemann mit seiner Bemerkung gemeint: Es gab inzwischen mehr Molaaten als Solaner auf der SOL. »Wenn es nicht zu lächerlich klänge«, murmelte Atlan, »sollte man meinen, Hidden-X gäbe uns die Zeit, seine wertlos gewordenen Sklaven abzuholen.« Nockemann lachte trocken. »Wenn es dir doch mitgeteilt hat, sein Flekto-Yn sei jetzt fertig, braucht es sie nicht mehr. Außerdem will es seine Rache an uns vollzogen haben. Davon spüren wir zwar
noch nichts, aber wenn sie plötzlich wirksam wird, kann es unserem Feind gleich sein, was wir in unseren letzten Stunden tun.« Atlan winkte ab. Natürlich kreisten auch seine Gedanken um die rätselhafte Äußerung von Hidden-X, die nur er, Bjo Breiskoll und Breckcrown Hayes empfangen hatten. Welchen Sinn hatte es aber, durch dauerndes Gerede darüber eine Hysterie heraufzubeschwören. Man tappte im dunkeln, und der einzige Anhaltspunkt, der vielleicht gegeben war, der Tod Tristan Bessborgs und die noch unerklärlichen Beschwerden vieler Buhrlos, betraf nur eine relativ kleine Gruppe an Bord. Daß Hidden-X' Rache mit der Gefangennahme der drei Molaaten Sanny, Oserfan und Ajjar identisch sein sollte, konnte sich niemand vorstellen. Also wurden die Erkrankungen der Buhrlos ernstgenommen. Es galt als sicher, daß die Seuche von Hreila Morszek an Bord gebracht worden war. Von der Buhrlo-Frau fehlte jede Spur. Sicher war nur, daß sie sich irgendwo in der SOL versteckte. Atlan stellte eine Verbindung zur Hauptzentrale her. Er konnte augenblicklich ebenso wenig tun wie Hage – nur warten und sich informieren lassen. Das Gesicht von Breckcrown Hayes auf dem Bildschirm war verkrampft und düster. Man sah dem High Sideryt an, daß er eine gehörige Portion Schlaf nachzuholen hatte. »Ich habe nichts gegen die kleinen Kerle«, sagte Hayes. »Aber ich zähle die Stunden, bis sie von Bord sind. Es gibt nichts Neues, Atlan. Kein Hinweis auf Hreila Morszek, keiner auf irgendwelche gegen uns gerichteten Aktivitäten von Hidden-X.« Daß Hidden-X nach wie vor präsent war, davon zeugte der unverändert starke mentale Druck, unter dem die Solaner zu leiden hatten, die Vorstöße in den Bereich der Zone-X unternahmen. Das Fernraumschiff selbst hatte sich aus der eigentlichen Zone zurückgezogen, um dem Mentaldruck auszuweichen. Die SOL stand nun exakt zwei Lichtminuten jenseits der imaginären Grenze. Oggars HORT war an sie angekoppelt.
Atlan und Hayes hatten die Inaktivität des Gegners dazu genutzt, um weitere Dunkelplaneten abzusuchen. Das Ergebnis bestand in den Molaaten an Bord. Man hatte sie gefunden und geborgen, jedoch keine technischen Einrichtungen, die ähnliche Funktionen ausübten wie der zerstörte Dimensionstransmitter auf Krymoran. Allerdings gab es Hinweise darauf, daß solche Geräte erst vor kurzem zerstört worden waren. Der Grund dafür lag auf der Hand. Hidden-X brauchte keinen Nachschub an »Kleinen Baumeistern« mehr und hatte noch weniger Interesse an einem zweiten Vorstoß seiner Gegner ins Flekto-Yn. Der Weg ins Hypervakuum war abgeschnitten, Hidden-X vollkommen vom normalen Universum isoliert. Die war die Situation am 20. Oktober des Jahres 3804. Der Einsatz der fünften Kolonne war als Teilerfolg und Teilniederlage zu werten. Von Sanny, Oserfan und Ajjar fehlte jedes Lebenszeichen. Das gleiche galt für Wajsto Kölsch, der nach Chail aufgebrochen war, um die Hilfe der Chailiden im Entscheidungskampf gegen Hidden-X zu erbitten. Atlan versprach sich von ihnen, daß sie mit ihren geistigen Kräften dem mentalen Druck entgegenwirken konnten. So beschränkten sich Atlans gegen Hidden-X gerichtete Bemühungen vorerst allein auf die Suche nach Unterlagen über ein Gerät, mit dessen Hilfe man in das ominöse Hypervakuum einzudringen hoffte. Einen Hinweis darauf, daß es solche Konstruktionspläne irgendwo in der SOL gab, hatte Sanny dem Logbuch des Schiffes entnehmen können. Das Stillhalten macht uns verrückt! hatte der High Sideryt kürzlich gesagt. Hayes hatte es nicht besser treffen können. Die Stimmung an Bord war gedrückt wie lange nicht mehr. »Wie lange wird der Bau des Containerträgers noch dauern?« fragte Atlan. Hayes zuckte die Schultern. »SENECA meint, drei Tage. Schließlich waren die wichtigsten
Baugruppen schon vorhanden, und außerdem läuft die Montage nach einem uralten Programm ab. Unser Träger ist dem Typ nachgeahmt, der früher einmal durch die Transmitterstraße zwischen dem Solsystem und Olymp geschickt wurde. Du mußt besser als ich wissen, wann das war. Du warst doch damals dabei, oder?« »3430«, nickte der Arkonide. »Das Solsystem mußte in die Zukunft versetzt werden, um einen Bruderkrieg der Menschheit zu vermeiden. Es war für die Angreifer einfach nicht mehr vorhanden. Und selbst, wenn man wußte, daß es noch existierte und wo, kam man nicht heran.« »Du meinst, wie wir nicht an Hidden-X herankommen. Aber es gibt einen Unterschied, Atlan. Wir werden dieses Hypervakuum knacken!« »Schwelgt ihr nur weiter in eurer Nostalgie«, versetzte Nockemann. »Falls mich jemand suchen sollte, ich bin bei den Buhrlos.« Atlan warf einen letzten Blick auf die Schirme, bevor auch er den Raum verließ, um die Suche nach den so wichtigen Plätzen zu forcieren. Drei Tage! dachte er. Er wünschte den Molaaten, daß sich ihre Hoffnungen erfüllten und sie eine neue Heimat in Bumerang fanden, jener der Zwerggalaxis All-Mohandot vorgelagerten Sternenballung, in der die Ysteronen so schrecklich gewütet hatten. Er konnte nicht ahnen, wie schwer und gefahrvoll der Weg nach Hause für die grünhäutigen Zwerge werden würde, wie hart und unbarmherzig der Kampf um eine neue Zukunft.
* Als Wuzgu in die Korvette stieg, die ihn und einhundert andere
Molaaten hinüber zur MOSES tragen sollte, bewegten ihn gemischte Gefühle. Da war die Dankbarkeit den Solanern gegenüber, die diesen ungeheuren Aufwand betrieben, um ihm und den Seinen die Heimkehr zu ermöglichen. Natürlich wußte er, daß dies nicht ganz selbstlos geschah, doch dafür hatte er Verständnis. Wuzgu beneidete die Menschen nicht um das, was vor ihnen lag. Es hatte ihn, der von seinem Volk zum vorläufigen Oberhaupt gewählt worden war, einige Mühe gekostet, einige tausend Molaaten davon abzubringen, gemeinsam mit den Solanern gegen die schreckliche Macht kämpfen zu wollen, die ihnen soviel Unheil gebracht hatte. Wuzgu selbst kam sich fast als Verräter vor, der die erst eben gefundenen Freunde im Stich ließ. Atlan war es gewesen, der diese Gewissensbisse beseitigen konnte. Und die Aufgabe, die auf Wuzgu zukam, tat ein übriges, um auch die letzten Bedenken zu verscheuchen. Da war die Erinnerung an den Aufenthalt auf den Dunkelplaneten. Sie war eingebrannt in den Bewußtseinen all derer, die einem grausamen Schicksal als Sklaven von Hidden-X nur um Haaresbreite entronnen waren. Wie viele andere Molaaten mochten im Flekto-Yn ihr Leben gelassen haben? Wie groß war der Prozentsatz derer, die durch Sannys Vorstoß gerettet werden konnten? Es ist vorbei! sagte Wuzgu. Er mußte den Blick nach vorne richten. Auf den Dunkelplaneten und im Flekto-Yn gab es keine Molaaten mehr – ausgenommen Sanny, Oserfan und Ajjar. Daß diese drei die Heimreise nicht mitmachen konnten, war bitter. Ein ganzes Volk machte sich auf den Weg ins Ungewisse, denn niemand konnte sagen, wie es in Bumerang inzwischen aussah. Zwar hatten die Ysteronen, die ihre Welten vor 12 Jahren zerstörten, den Molaaten Wiedergutmachung versprochen, doch war sie auch erfolgt? Wuzgu vergaß alle Sorgen in dem Moment, da sich das
Hangarschott in die Höhe schob. Neben ihm drängten sich die anderen zusammen, die sich auf dem gleichen Deck befanden. Die Korvette war eigens für den kurzen Transport leergeräumt worden. Überall gab es Monitoren, auf denen der Weltraum zu sehen war. Und was sie zeigten, war phantastisch. Behutsam wurde das Beiboot von Gravo-Feldern aus dem Hangar gehoben. Die mächtige Hantel der SOL ragte wie eine stählerne Wand hinter ihm auf. Wuzgu und alle anderen Molaaten an Bord aber hatten nur Augen für den Containerträger. Atlan hatte ihn MOSES getauft, was etwas mit der frühen Geschichte der Menschen zu tun hatte. Ein Mann namens Moses, so der Arkonide, hatte auch ein ganzes Volk in seine Heimat geführt. Er war sein Beschützer gewesen. »Und dieses Containerschiff wird uns beschützen«, flüsterte Wuzgu. »Du meinst seine Besatzung«, sagte Nanna, Wuzgus Lebensgefährtin. Die Gefühle, die sie vom ersten Augenblick an füreinander empfanden, hatte auch die geistige Beeinflussung durch Hidden-X nicht völlig unterdrücken können. »Und den HORT«, kam es von Tolip, neben Nanna Wuzgus zweiter Stellvertreter. »Oggar begleitet uns mit seinem HORT. Mit ihm haben wir keinen Gegner zu fürchten. Er wird erst zur SOL zurückkehren, wenn er davon überzeugt ist, daß wir in Sicherheit leben können.« Wuzgu teilte diesen Optimismus nicht ganz, aber er schwieg. Immer größer wurde die MOSES auf den Bildschirmen, ein mächtiger Quader mit insgesamt fünf Containern unter dem eigentlichen Schiff, von denen jeder rund fünfzig Meter Kantenlänge besaß. Die Oberfläche der MOSES wirkte mit ihren vielen Antennen und Aufbauten sinnverwirrend. Noch berauschender aber war der Anblick der Tausende von Molaaten, die durch den Weltraum auf die MOSES zuschwebten.
Wuzgu und seine engsten Mitarbeiter trugen Schutzanzüge wie sie. Daß sie sich von einem solanischen Schiff hinüberbefördern ließen, war nichts anderes als eine Geste, etwas, daß diesem Augenblick symbolhafte Bedeutung verlieh. Wuzgu brauchte sich nicht auf die Zehenspitzen zu stellen, um alles ganz genau zu verfolgen. Maßen die Molaaten durchschnittlich nur 53 Zentimeter in der Höhe, so durfte er für sich weitere sieben beanspruchen. Durch ganze Schwärme winzig erscheinender Überwechsler schob sich die Korvette. Die Molaaten wirkten wie Wolken von leuchtenden Insekten, von denen die ersten sich bereits überall dort an der MOSES festsetzten, wo Schotte und Luken offenstanden. Von Zugstrahlen erfaßt, verschwanden sie langsam einer nach dem anderen in den fünf Containern. Sie waren keine leeren Kästen, sondern in eine Vielzahl von Decks eingeteilt wie Raumschiffe. Etwa ein Viertel jedes Containers war mit Rohstoffen gefüllt, die den Molaaten in ihrer neuen Heimat die Schwierigkeiten der ersten Monate zu überbrücken helfen sollten. Die Korvette dockte an. Die Molaaten drängten zu den Schleusen. Wuzgu wußte, daß er jetzt etwas sagen mußte, aber ihm fielen keine Worte ein. »Nun komm schon!« Nanna stieß ihm die Ellbogen in die Seite und schob ihn auf das vorbereitete Podest. Plötzlich waren Kameras und Mikrophone auf Wuzgu gerichtet. Von vier Bildschirmen blickten ihm Hunderte von Molaaten entgegen, von einem anderen Atlan und Breckcrown Hayes. »Ich … ich …«, begann Wuzgu. Atlan lächelte und zeigte Einsehen in seine Nöte. »Heb dir die Reden für später auf, Freund«, sagte der Arkonide, dessen Stimme überall in der MOSES und in jedem Helmempfänger der Molaaten im Weltraum zu hören war. »Ich bedaure, daß wir euch nicht unter glücklicheren Umständen begegneten und euch nicht mit der SOL begleiten können. Wenn ihr Sorgen habt, wendet
euch an Jard Neru, den Kommandanten der MOSES. Er und seine Besatzung werden immer für euch da sein.« Atlan hob eine Hand zum Gruß. »Nun kommt gut nach Hause, und möge alles in Erfüllung gegen, was ihr euch wünscht.« Wuzgu spürte einen Kloß im Hals sitzen. Er schluckte mehrmals, bevor er endlich laut ausrief: »Das werden sie, Atlan, dank eurer Hilfe! Und solltet ihr jemals wieder nach Bumerang kommen, dann … dann besucht uns einfach!« Ohrenbetäubender Beifall brandete auf, Hochrufe auf Wuzgu und die Solaner. Mit etwas wackligen Knien stieg der Sechzigzentimetermann vom Podest und beeilte sich, zu einer der offenen Schleusen zu kommen. Zwei Stunden später nahm der Containerträger Fahrt auf. Jard Neru, als ehemaliger Pyrride einer der erfahrensten Beibootkommandanten der SOL, hatte in erster Linie die Aufgabe, ständiger Ansprechpartner der hunderttausend Molaaten zu sein. Das wirkliche Kommando über die MOSES hatte Oggar, dessen HORT nun neben dem Trägerschiff beschleunigte. Die Bildsprechverbindung mit der SOL blieb bestehen, bis der HORT und die MOSES synchron in den Linear-, beziehungsweise Hyperraum gingen. Sie würden nach einer zurückgelegten Strecke von drei Millionen Lichtjahren zugleich in den Einsteinraum zurückfallen und eine erste Orientierung vornehmen. Alle für den Flug nach Bumerang erforderlichen Daten waren von SENECA in das Mnemodukt gegeben worden. Kurs und die Länge der Überlichtetappen standen fest – doch es sollte alles ganz anders kommen, noch ehe die Hälfte der gewaltigen Entfernung von fast 40 Millionen Lichtjahren zurückgelegt war. In der Hauptzentrale der SOL starrte Atlan nachdenklich auf die Bildschirme, die nichts mehr zeigten als die Schwärze des Leerraums. Irgendwie fühlte er sich an den Exodus der Bordmutanten erinnert, die die SOL im Mausefalle-System verlassen
hatten. Plötzlich schauderte er unter düsteren Ahnungen. Er schrieb sie seinen eigenen Problemen zu und rief die Berichte der Gruppen ab, die nach den Bauplänen für das Gerät zur Durchdringung des Hypervakuums suchten. Das Kapitel Molaaten war zugeschlagen, sah man von den drei Verschollenen ab. Die finstere Stimmung blieb, zumal Atlan von den Suchgruppen wiederum nur negative Berichte erhielt. Wie sollte man nach etwas suchen, von dem man nicht einmal wußte, in welcher Form es gespeichert war? Fünf Stunden nach dem Aufbruch der Molaaten verließen zwei Leichte Kreuzer die SOL, um auch die rund achthundert gefundenen Roxharen zurück nach Roxha zu bringen. »Unser Schiff«, versuchte Uster Brick einen Scherz, »gehört damit wieder uns.«
* Insider starrte Oggar an wie einen Geist. »Etwas Fremdes?« fragte er überrascht. »Wer sagt, daß es etwas Fremdes in der MOSES gibt?« »Sternfeuer. Aber sie ist sich ihrer Sache nicht sicher. Sie glaubt nur, einmal ganz kurz fremdartige Impulse aus der MOSES empfangen zu haben.« »Und du hast nicht die Absicht, Neru darüber zu informieren? Beim nächsten Orientierungsaustritt, meine ich?« – Das Mischwesen winkte ab. »Wir werden weiter beobachten. Ein blinder Alarm würde die Besatzung nur unnötig verunsichern.« Oggar schwenkte seinen Sessel herum und wandte sich wieder den Instrumenten zu. Insider seufzte und warf dem Mnemodukt einen undefinierbaren Blick zu. Die acht Meter große Kugel schwebte etwa einen Meter über dem Zentralboden, und wie so oft
war Insider fast sicher, daß zwischen der Positronik und Oggar eine lautlose Unterhaltung stattfand, von der er ausgeschlossen blieb. Oggars Rache hatte sich noch nicht ganz erfüllt. Zwar lebte Hapeldan nicht mehr, doch der letzte der Pers-Oggaren würde nicht eher zur Ruhe kommen, bis auch Hidden-X zur Strecke gebracht war. Deshalb die Unrast – und deshalb der vielleicht verhängnisvolle Leichtsinn. »Neru sollte Bescheid wissen«, stellte Insider sich stur. »Wenn mit der MOSES etwas passiert, bist du schuld.« »Spar dir die Mühe«, kam es von Cpt'Carch. Insider bemerkte es am nur leicht veränderten Tonfall der Androidenstimme. »Ich protestiere ja auch, aber auf mich hört er auch nicht. Oggar ist und bleibt ein Dickschädel! Wenn ich erst richtig geboren wäre, machte er das nicht mit uns!« »Ich dachte, du wärest …?« »Ich bin jetzt sicher, daß ich's nicht bin.« Insider kannte dieses Thema zur Genüge. Er drehte sich um und verschränkte alle vier Arme vor der Brust. Er zeigte erst wieder Interesse, als der HORT und die MOSES in den Normalraum zurückstürzten. Die noch weit entfernten Galaxien waren nichts weiter als schwache Nebelflecken im unendlichen Dunkel des Leerraums. Die Lichter der MOSES ließen den Containerträger wie ein riesiges, funkelndes Insekt aussehen. Es war die zweite Unterbrechung des Überlichtflugs. In gut 28 Stunden hatten die beiden Schiffe die phantastische Strecke von zehn Millionen Lichtjahren hinter sich gebracht. Die nächste Überlichtetappe sollte über die gleiche Distanz führen. Die Unterbrechungen dienten weniger einer echten Orientierung als vielmehr der routinemäßigen Kommunikation zwischen der MOSES und dem HORT. Entsprechend gering war Oggars Interesse, als ein Bildschirm sich erhellte und Nerus schmales, dunkelbraunes Gesicht mit dem pechschwarzen Vollbart zeigte. Was sie sich mitzuteilen hatten,
würde nichts Weltbewegendes sein. Das dachte Oggar jedenfalls bis zu dem Augenblick, in dem Sternfeuers lautloser Schrei das Multibewußtsein zu sprengen drohte. Neru hatte noch kein Wort gesagt, als Insider den Androidenkörper in seiner blauen Kombination mit dem Sonnensymbol auf der Brust zusammenzucken und sich aufbäumen sah. Oggar fuhr aus dem Sitz auf, stand für Sekunden schwankend vor den Kontrollen und drohte zu stürzen. Insider, der etwas Ähnliches schon mehr als einmal erlebt hatte, erstarrte vor Schreck. Als er sich endlich dazu aufraffen konnte, dem Partner zu Hilfe zu eilen, sank Oggar schon wieder in den Kontursessel zurück. Für einen Moment saß er ganz still. Dann stieß er einen markerschütternden Schrei aus und erschlaffte. Nerus Augen waren weit aufgerissen. Der Solaner winkte andere Männer und Frauen herbei. Nicht schon wieder! dachte Insider entsetzt. Er darf mich nicht schon wieder alleinlassen! Erst jetzt hörte er Nerus Stimme. Langsam drehte er sich dem Bildschirm zu. »… eine Erklärung! Insider, wenn Oggar schon nicht antworten kann, sag du uns, was das zu bedeuten hat.« Der Zwzwko suchte nach Worten. Schließlich brachte er verzweifelt hervor: »Ich weiß es auch nicht, Jard! Aber ich fürchte, sein Geist ist wieder …« »Ich brauche keine Hilfe«, wurde er unterbrochen. Oggars Kunstkörper straffte sich. Der Pers-Oggare warf den Kopf in den Nacken und sah Neru durchdringend an. »Wir werden noch nicht wieder auf Überlicht gehen«, sagte er hart. »Ich komme zu euch herüber. Stellt jetzt keine Fragen, aber haltet die Augen offen. Es ist etwas Fremdes an Bord der MOSES.« Bevor Neru ihn mit Fragen bestürmen konnte, unterbrach Oggar
die Verbindung. Er drehte sich um. »Ich bin nur noch zwei, Insider.« Der Grünhäutige schüttelte verständnislos den Kopf. »Sternfeuers Bewußtsein ist wie erloschen. Es existiert weiterhin in mir fort, aber die plötzliche Intensität und die Art der fremden Impulse aus der MOSES haben es paralysiert. Sie brachten Carch und mich ebenfalls an den Rand des Abgrunds. Du hattest recht, Insider.« »Dann spürte sie es wieder, sofort nachdem wir zurückstürzten?« fragte er. »Nicht sofort. Sie esperte, ohne etwas entdecken zu können, das nicht in die MOSES gehörte. Dann explodierte das Fremde in ihr. Was sich dort drüben eingeschlichen hat, muß innerhalb von Sekunden erwacht sein – und auch nur für Sekunden. Ich weiß nicht, was Sternfeuer telepathisch miterleben mußte, aber es war mehr, als sie verkraften konnte.« Oggar erhob sich und machte sich bereit zum Überwechseln. Das Mnemodukt führte den HORT auf seinen Befehl hin ganz dicht an die MOSES heran. Als Oggar den Kombistrahler zu sich genommen und überprüft hatte und sich zum Verlassen des Schiffes anschickte, sagte er über die Schulter: »Es war so, als würde etwas erwachen und etwas anderes – oder jemand anderer – im gleichen Augenblick sterben.« Insider lief es eiskalt den Rücken herunter. Oggars Haut schimmerte nicht mehr wie normal weiß, sondern nur fahlrosa und grün. Er hatte sich durch einen Geistesbefehl unangreifbar gemacht.
2. Wer außer uns? Neben Wuzgu und seinen Freunden, Beratern und Vertrauten gab es unter den Molaaten eine zweite Gruppe, die immer sicher sein
konnten, überall ein dankbares Publikum zu finden. Bei diesen dreien handelte es sich um Drux, Filbert und ihre Gefährtin Pina – jene drei also, die zusammen mit Sanny und Oserfan von Atlan aus den Trümmern des Sonnensystems Heimat-11 gerettet worden waren, wo sie sich nach dem Abzug der nickelraubenden Ysteronen in einer luftdichten Höhle verstecken konnten, mitten in einem der Planetentrümmer. Die drei wurden, sehr zu Wuzgus Mißfallen, von ihren Artgenossen regelrecht vergöttert. Immer und immer wieder mußten Drux, Filbert und Pina von ihren Erlebnissen erzählen. Jeder von ihnen hätte leicht an Wuzgus Stelle treten können, aber danach stand keinem der Sinn. Sie waren inzwischen heilfroh, wenn sie einmal für Stunden Ruhe hatten. Dann jedoch kamen die Gedanken an Sanny und Oserfan. Den einzigen Ausweg aus dem Dilemma sahen sie schließlich darin, auf eigene Faust die MOSES zu erkunden. Natürlich waren sie dank ihrer langen Anwesenheit auf der SOL mit der solanischen Technik besser vertraut als jeder andere der hunderttausend Molaaten. So fiel es ihnen nicht schwer, die Wohnbereiche zu verlassen, wie die Container nun allgemein genannt wurden. Man nummerierte sie vom Bug ausgehend von eins bis fünf durch. Meist hielten sich die Freunde im Wohnbereich1 auf, wo auch Wuzgu residierte. Die Männer und Frauen der MOSES-Besatzung kannten sie inzwischen schon, denn als Drux, Filbert und Pina nun das Trägerschiff betraten, war es nicht das erstemal. Es war eine Mischung aus Zeittotschlagen und Neugier, die die drei die verschiedensten Räume der MOSES durchstöbern ließ. Und natürlich wollten sie noch lernen, solange sie die Gelegenheit hatten. Was sie von der Technik der Menschen begriffen oder erklärt bekamen, ließ sich bestimmt später nutzbringend verwenden, wenn es wieder galt, eigene Raumschiffe zu bauen. Drux war auf das Geländer der Galerie geklettert, die sich dicht
unter der Decke des gewaltigen Maschinenraums an den Innenwänden entlangzog. Von hier, aus einer Höhe von zwanzig Metern, ließ sich ein guter Teil der riesigen Ferntriebwerke überblicken, die aussahen wie gewaltige, gedrungene Raupen. Raumfahrer, die die Molaaten sahen, lachten und winkten ihnen zu. Drux winkte zurück und fiel fast vom Geländer. »Du wirst dir noch den Hals brechen, wenn du so weiterturnst«, schimpfte Filbert, der sich etwas ängstlich mit dem Rücken gegen die Wand drückte, um nur nicht zu nahe an den Abgrund zu geraten. Drux schob seine Beinchen über die oberste Begrenzungsstange und ließ sie herunterbaumeln. »Könnte dir doch nur recht sein, oder? Dann hättest du Pina ganz für dich allein.« »Drux!« rief das Molaatenmädchen. »Wie kannst du so etwas sagen!« »So lange sage ich das, bis du dich für einen von uns entschieden hast. Wir sind bald zu Hause, Schatzi, und brauchen Nachwuchs für unser Volk.« »Du sollst nicht immer Schatzi zu ihr sagen!« kreischte Filbert. Drux beeindruckte das nicht. Er wechselte das Thema. »Es ist phantastisch, oder? Wenn man überlegt, daß diese Triebwerke nach dem Austausch von bestimmten Baugruppen eine Reichweite von annähernd 85 Millionen Lichtjahren haben. Damit könnten wir von einem Ende Bumerangs bis zum anderen hin- und zurückfliegen, bis keiner mehr von uns lebt.« »Wir müssen erst einmal da sein«, dämpfte Pina seinen Überschwang. »Warum sollten wir nicht heil …?« »Weil wir für mein Gefühl schon viel zu lange darauf warten müssen, daß die MOSES wieder auf Überlicht geht.« Drux gab einen Seufzer von sich und kletterte von seinem Aussichtspunkt. Er legte Pina einen Arm um die Schulter und rieb
seine Nase an ihrer Wange. »Den Solanern geht eben nichts über die Sicherheit, Schatzi. Wir haben so lange gewartet, daß wir jetzt die Geduld nicht verlieren sollten.« Als er und Pina weit genug vom Geländer weg und in der sicheren Schleuse waren, schob Filbert sich zwischen die beiden und trennte sie ziemlich unsanft voneinander. »Aber ich verliere die Geduld, Drux! Noch einmal, Schatzi, und ich verhaue dich und rupfe dir dein Fell in Büscheln aus!« »Ach, Filbert«, seufzte Drux, »du solltest nicht soviel Kraftnahrung zu dir nehmen. Kommt, gehen wir weiter.« Sie schlenderten durch eine Reihe von Korridoren, Drux und Filbert vertrugen sich wieder und phantasierten über die Familie, die jeder von ihnen mit Pina gründen wollte. Pina dagegen blieb schweigsam und ernst. Die Zeit verging, und nichts deutete darauf hin, daß die MOSES wieder Fahrt aufnehmen sollte. Allmählich übertrug sich Pinas düstere Stimmung auch auf die Freunde. »Man sollte uns wenigstens den Grund der Verzögerung mitteilen«, spielte Filbert sich auf. »Schließlich sind die Solaner für uns verantwortlich und wir nicht für sie.« Er sah sich beifallheischend um. »Wozu haben wir einen Anführer gewählt? Warum ist Wuzgu noch nicht bei Jard Neru?« »Vielleicht ist er's schon«, meinte Drux. »Ich hätte gute Lust, in der Zentrale nachzusehen.« »Dann tun wir's doch!« Der Weg der Molaaten zum Bug der MOSES mit dem Kommandostand führte zurück durch die Triebwerkssektionen. Diesmal mußten sie um die drei gewaltigen, vorne und hinten abgerundeten Zylinder der Fernflugtriebwerke herumgehen. »Es ist so merkwürdig still hier«, flüsterte Pina. »Seht ihr einen Techniker?« Die vorhin noch bei der Arbeit beobachteten Solaner waren
tatsächlich verschwunden. Drux mußte schlucken. Plötzlich hatte er das Gefühl kommenden Unheils. Er schalt sich so lange einen Narren, bis Pina vor einem Montagegerät stehenblieb und die Händchen in die Seiten stemmte. »Da brauchen wir uns nicht zu wundern!« rief sie. »Seht euch das an! Da liegt doch tatsächlich so ein Kerl zwischen den Blöcken und schläft!« Drux hielt sie zurück, als sie auf den Solaner zugehen wollte, von dem gerade die Beine zwischen den beiden Metallbacken hervorschauten, über denen ein kleiner Laser angebracht war. »Laß mich«, flüsterte er. Drux ging vor den Füßen des Menschen in die Hocke, faßte an und rüttelte leicht an den Beinen. Als der Mahn sich nicht rührte, kroch er zwischen die Blöcke, bis er das Gesicht sehen konnte. Die Augen waren unnatürlich weit aufgerissen, die Haut kalt. Drux kämpfte gegen den Drang, sich zu übergeben. Er taumelte zurück und wurde von Filbert aufgefangen, als seine Knie nachgaben. »Er ist tot«, flüsterte er. »Und in seinen Augen …« Drux kämpfte den Schwindel nieder und nahm die Gefährten bei den Armen. Das Entsetzen verlieh ihm neue Kräfte. Er zog Filbert und Pina mit sich aus der Halle und ließ sie erst wieder los, als sie vor dem Eingang zur Zentrale standen. Erst jetzt begann er am ganzen Körper zu zittern. Filbert trug ihn auf beiden Armen durch das Schott, das Pina für ihn öffnete. Jard Neru brauchte einige Zeit, bis er Worte fand. Er sah Oggar an, als erhoffte er sich von ihm eine Initiative, dann wieder starrte er auf den Bericht, den er von Middja Swanson erhalten hatte, der Bordärztin. »Wer«, brachte er endlich hervor, »tut denn so etwas? Welcher Mensch ist zu so etwas fähig!« »Kein Mensch«, antwortete ihm Oggar, »und auch kein Molaate.« Ein Bildschirm zeigte den Toten unbekleidet auf einer
Antigravbahre, über die ein Energiefeld gelegt war. Der Mann war einer der Techniker, die die Ferntriebwerke zu warten hatten: David Calman, erst 35 Jahre alt und von SENECA für diesen Einsatz ausgewählt. Middjas erste Untersuchung hatte ergeben, daß ihm das Genick gebrochen worden war. An zwei Stellen des Halses befanden sich Würgemale. Aus Calmans starren Augen sprachen Entsetzen und grenzenlose Überraschung. »Wenn wir wüßten, was sie gesehen haben, würden wir seinen Mörder kennen«, sagte die Ärztin, immer noch kreidebleich. Außer dem Kommandanten, Oggar und Middja befanden sich sieben weitere Besatzungsmitglieder und die Molaaten Drux, Filbert und Pina in der Zentrale. Calmans' Leichnam war in einen Raum geschafft worden, zu dem nur Middja und Neru Zutritt hatten. Oggar hatte unmittelbar nach seinem Eintreffen, als die Katastrophe schon bekannt geworden war, den Befehl gegeben, vorerst über die grausige Entdeckung zu schweigen, um eine Panik an Bord zu vermeiden. Die Ärztin wandte sich an Oggar. »Wäre es jetzt nicht an der Zeit, uns aufzuklären? Du hast uns noch von deinem HORT aus vor etwas Fremdem gewarnt, sahst allerdings keine Veranlassung, konkreter zu werden. Vielleicht wäre David sonst noch am Leben.« »Vielleicht«, gab der Pers-Oggare zu, »aber ich bezweifle es. Sternfeuer muß gespürt haben, wie das oder der Fremde den Techniker angriff. Das war dieses Erleben des Todes, und ich bin jetzt sicher, daß es ihren Geist im Bewußtseinsverbund erlöschen ließ. Zeitlich konnte es mit dem Mord an Calman zusammenpassen.« Er berichtete über das wenige, das er von Sternfeuer in deren entsetztem Aufbäumen an Emotionen mitbekommen hatte – und das war nicht viel mehr als das, was er auch Insider mitgeteilt hatte. Denise Tomac, Funkspezialistin und Fremdvölkerpsychologin,
ergriff das Wort. Die 63 Jahre alte, weißhaarige, knochige Frau saß wie unbeteiligt mit übereinandergeschlagenen Beinen an ihrem Platz. »Ich denke, wir können es uns schenken, über die Kontrollen zu reden, die vor unserem Start getroffen wurden. Es bleiben nur zwei Möglichkeiten. Die eine ist, daß während des Zusammenbaus der MOSES ein Unbekannter aus dem Weltraum kam und sich in einem bereits fertigen Bauteil verbarg.« »So!« kam es von Neru. »Aus dem Weltraum, ohne Raumanzug oder mit?« »Ich halte es auch nicht für wahrscheinlich«, gab sie ruhig zurück. »Die zweite Möglichkeit besteht darin, daß das oder der Fremde mit uns von der SOL kam. Wie er dorthin gelangte, dürfte uns nicht zu interessieren haben. Er ist hier und kam entweder als einer von uns an Bord – oder als einer der Molaaten. Sonst hätte er keine der Kontrollen passiert.« Pina protestierte heftig. Middja Swanson fuhr Denise an: »Hör zu! Vielleicht ist in diesen Sekunden etwas in diesem Schiff hinter seinem zweiten Opfer her. Vielleicht erwischt es uns alle, bevor wir Bumerang auch nur sehen können! Und du sitzt da und erzählst Geschichten!« »Fällt irgend jemandem etwas Besseres ein?« fragte Denise in die Runde. Oggar beendete den Streit. »Neru, ich möchte, daß du unauffällig feststellst, wo sich welches Besatzungsmitglied jetzt befindet. Finde einen Vorwand, um jeden einzeln anzurufen. Auf diese Weise dürfte sich feststellen lassen, ob wir nur einen Toten zu beklagen haben. Middja, lassen die Würgemale eventuell Rückschlüsse auf ihren Verursacher zu?« »Kaum.« »Ich will es genau wissen. Untersuche die Haut. Ihr habt die Möglichkeiten selbst die winzigsten Spuren festzustellen.« Der Ärztin war anzusehen, wie sehr sie sich dagegen sträubte, zu
Calman hineinzugehen, aber sie gehorchte. Neru ließ sich in seinen Sessel fallen und schlug mit der flachen Hand auf die Ruftaste des Interkoms. Er begann, die einzelnen zur Zeit besetzten Abteilungen abzurufen. Oggar nahm die drei Molaaten zur Seite, die wie verloren zwischen den Solanern standen. Erst draußen auf dem breiten Korridor machte Pina ihrer ganzen Wut und Verzweiflung Luft, während ihre beiden männlichen Artgenossen einen ziemlich mitleiderregenden Eindruck machten. »Diese Frau verdächtigt uns Molaaten!« ereiferte Pina sich. »Oggar, was bedeutet das denn alles?« »Sie hat keinen von euch verdächtigt. Sie glaubt anscheinend, daß ein fremdes Wesen in der Gestalt eines Menschen oder eines Molaaten an Bord der MOSES kam. Nach dem, was Sternfeuer empfing, glaube ich, daß sie damit recht hat. Es gibt Wesen, die ihre Körperform der anderer Geschöpfe perfekt anzugleichen verstehen. Wir müssen wohl oder übel davon ausgehen, daß wir einen solchen Molekülverformer an Bord haben. Er kann jeden von uns nachahmen. Nur ist sein Vorgehen nicht logisch.« »Warum nicht?« fragte Pina tapfer. »Er hätte Calman verschwinden lassen müssen, wenn er einen bestimmten Zweck verfolgte, um als David Calman weiterzuarbeiten.« »Hör auf!« bat Drux. »Er hat ihn doch umgebracht! Das war sein Ziel! Er wird uns alle umbringen, jeden einzelnen, der Reihe nach.« »Sei still!« sagte Pina. Oggar beugte sich zu ihr herab, bis er die Hände auf den kahlen, runden Kopf legen konnte. »Wir werden ihn finden, das verspreche ich euch. Neru ist ja schon dabei, früher oder später verrät sich der Fremde. Was euch nun betrifft, so möchte ich, daß ihr nach unten zurückgeht und den anderen kein Wort von dem sagt, was hier geschehen ist. Ich werde bald eine Erklärung für die lange Flugunterbrechung geben. Kann
ich mich auf euch verlassen?« »Das kannst du«, versicherte Pina. »Nicht wahr, Drux, Filbert?« Drux versprach es. Filbert beeilte sich zu versichern: »Von mir erfährt keiner ein Sterbenswort!« Oggar sah ihnen nach, wie sie in den Antigravlift stiegen, der sie hinab zur Containerschleuse trug. Seine Gestalt straffte sich. In diesem Augenblick verband er sein Schicksal mit dem der Molaaten. Er war fest entschlossen, die ihm übertragene Aufgabe zu einem guten Ende zu führen – oder mit den Molaaten unterzugehen. Das meinst du nicht wirklich! wisperte Carchs Gedankenstimme in ihm. Du meinst das doch nicht wirklich so, oder? »Dich gebe ich vorher frei, keine Angst!« knurrte Oggar. Du meinst, ich hätte Angst vor dem Tod? Da irrst du dich aber! Wer kann den Tod fürchten, der noch nicht einmal richtig …? Ich will nichts mehr davon hören! Oh! giftete Carch. Weil du ja so überlegen bist! Dann wundere ich mich nur darüber, daß du hier herumstehst und nichts unternimmst! Wenn wir den Unbekannten finden wollen, müssen wir etwas über seine Motive wissen! »Du hast es wahrhaftig genau erfaßt, Partner!« Mit schweren Schritten kehrte das Mischwesen in die Zentrale zurück. Oggar kam gerade rechtzeitig, den vielstimmigen Aufschrei zuhören.
* Oggar konnte nichts von dem verstehen, was da durcheinandergerufen wurde, bis er sich mit einer energischen Geste Ruhe verschaffte und Neru zum Sprechen aufforderte. »Das ist heller Wahnsinn!« rief der Kommandant leidenschaftlich
aus. Er fuhr herum und deutete auf das Gesicht eines Mannes auf einem Bildschirm. »Sergey gehörte zu denen, die mit Calman zusammenarbeiten mußten. Er behauptet, eben noch mit ihm gesprochen zu haben!« »Das ist wahr«, bestätigte der Techniker. »Wenn mir jetzt einer erklären könnte, was das Ganze soll, dann …« »Wo ist Calman jetzt?« unterbrach Oggar ihn. Sergey sah über die Schulter in eine bestimmte Richtung. »Bei den Triebwerken, wo sonst?« »Du wartest, wo du bist!« wies Oggar ihn an. »Ich komme zu dir. Siehst du Calman von deinem Platz aus?« »Ja, aber …« »Behalte ihn in Auge und tue sonst nichts, verstanden?« Oggar wartete die Antwort nicht ab und rannte aus der Zentrale. Zwei Männer versuchten vergeblich, mit ihm Schritt zu halten. Im Laufen zog das Mischwesen den Strahler und schaltete ihn auf Paralysieren um. Er fand Sergey Dobrikow in einem kleinen Überwachungsstand inmitten von Wänden mit blinkenden und glühenden Lichtern, Skalen und Bedienungselementen. Eine geschwungene Treppe führte hinauf. Der Leitstand selbst ragte in einer Höhe von etwa zehn Metern in die Halle hinein. »Wo ist er?« fragte Oggar, als er außer dem Solaner niemand erblicken Konnte. »Wo ist Calman?« »Irgendwo zwischen den Ferntriebwerken. Ich rief ihn zurück, aber er hörte mich nicht oder wollte nicht hören. Du hast nicht gesagt, daß ich ihn zurückhalten soll.« Mit einem Fluch stürzte der Pers-Oggare aus dem Kontrollstand und ersparte sich den Weg die Treppe wieder hinunter. Er sprang einfach über das Geländer und kam federnd auf. Im nächsten Moment war er auch schon zwischen den beiden riesigen Zylindern. Aus den Augenwinkeln heraus sah er Raumfahrer aus der Zentrale in der Halle auftauchen. Auch sie waren bewaffnet.
»Calman!« rief Oggar. Er wußte, daß es so gut wie sinnlos war, denn wer auch immer jetzt in Calmans Gestalt herumlief, mußte wissen, daß sein Opfer entdeckt worden war. Um so überraschter war er, als er es von der Seite her hörte: »Was ist denn los? Ich bin hier!« Oggar hatte das Ende der Halle erreicht. Zwischen der dem Heck zugekehrten Wand und den Zylindern waren drei Meter freier Raum. Oggar winkte den nachrückenden Besatzungsmitgliedern, daß sie zurückbleiben sollten. Zögernd blieben sie stehen, Rücken an Rücken. Oggar ging langsam weiter in die Richtung, aus dem er Antwort erhalten hatte. Er hatte den Triebwerksblock noch nicht ganz umrundet, als er die Bewegung wahrnahm. Es war nur ein Schatten, und im nächsten Moment schoß der Strahl heran, der einen Menschen oder jedes andere Wesen aus Fleisch und Blut auf der Stelle getötet hätte. Die mörderischen Energien flossen von Oggars umgewandelter Haut ab und verbrannten nur die Kombination über der Brust. Oggar hörte einen wütenden Aufschrei, bevor er selbst feuerte. Mit einigen schnellen Sätzen war er dort, wo er den Schatten gesehen hatte. Er kam zu spät. Er konnte nur noch einen Schuß auf den hauchdünnen, graubraunen Fladen abgeben, der blitzschnell in einem Wandspalt verschwand. Als er die darüberliegende Abdeckplatte herausriß, blickte er in eine leere Vertiefung mit einer Reihe von Bedienungselementen auf drei breiten Leisten. In einer Ecke befand sich ein haarfeines Sieb. »Kommt her!« rief er den Männern und Frauen zu, die sich nur langsam näher wagten. »Weiß einer von euch, was darunterliegt?« »Nichts«, sagte eine Solanerin. »Leerer Raum zwischen zwei Stahlplatten. Das ist eine ganz normale Absaugvorrichtung für
giftige Dämpfe und was sonst noch in dieser Anlage entstehen könnte.« Sergey Dobrikow schob sich nach vorne. »Wo ist David denn nun?« wollte er wissen, vollkommen verwirrt und anscheinend zu verschüchtert, um noch einmal nach dem Grund der plötzlichen Unruhe zu fragen. »Tot«, antwortete Oggar. »Dein Kollege ist seit mindestens zwei Stunden tot. Was du gesehen hast, war sein Mörder – in der Gestalt des ersten Opfers.« »Wieso seines ersten?« war Nerus Stimme zu hören, der sich über den Interkom eingeschaltet hatte. »Weil der Schrei, bevor ich zurückschoß, der Schrei einer Frau war«, erklärte Oggar kurzangebunden. »Middja kann sich ihre Untersuchungen schenken, da wir nun wissen, womit wir es zu tun haben.« Er berichtete ebenso knapp von seiner Beobachtung. »Dieses Ding steckt nun irgendwo in der MOSES oder hat schon die Gestalt eines anderen Menschen angenommen. Stelle noch einmal fest, wer sich wo meldet, Neru. Von jetzt an darf niemand mehr allein bleiben. Alle Besatzungsmitglieder sind zu bewaffnen und bilden Paare. Aber mich interessiert im Moment etwas ganz anders.« »Was kann für uns wichtig sein außer dem … diesem Monstrum!« »Das Schiff, Neru. Oder hältst du es für einen Zufall, daß sich der Eindringling bis vorhin noch in Calmans Gestalt bewegte – und sich offenbar an den Triebwerken zu schaffen machte?« Neru pfiff durch die Zähne. »Gebe der Himmel, daß du unrecht hast, Oggar. Ich lasse das nachprüfen.« Oggar hatte nicht die Zeit, so lange zu warten. »Sergey, ich möchte, daß du die Triebwerke an allen Stellen überprüfst, an denen du den vermeintlichen Calman arbeiten sahst.« »Aber nicht allein«, wehrte der Techniker heftig ab. »Allein gehe ich nirgendwo mehr hin!«
Die Panik breitete sich wie ein Lauffeuer aus. Es war nicht mehr möglich und auch nicht mehr zu rechtfertigen, die Existenz eines Monsters vor den restlichen Mitgliedern der ursprünglichen vierundzwanzigköpfigen Besatzung zu verheimlichen. Eine Stunde später hatte sich Oggars böser Verdacht bestätigt.
* Jard Neru faßte die Hiobsbotschaft in wenigen Worten zusammen: »Wir können unsere Triebwerke vergessen. Sobald wir wieder in den Linearraum gegangen wären, hätte es die MOSES in einer gewaltigen Explosion zerrissen. Uns bleiben also nur die Austauschmodule.« »Womit die Reichweite der MOSES auf etwas mehr als vierzig Millionen Lichtjahre reduziert ist«, stellte Denise Tomac in ihrer fast provokativen Nüchternheit fest. »Das heißt, falls an ihnen nicht auch schon herummanipuliert wurde. Ich schließe diese Möglichkeit nicht aus, denn die Positronik brauchte eine halbe Ewigkeit, um die Sabotage zu entdecken, bei der noch nicht einmal ein Alarm ausgelöst wurde.« Das war für die Solaner ebenso unbegreiflich wie die Motive des Fremden. Was hatte er davon, das Schiff im Leerraum stranden zu lassen? »Dann nehmt den Austausch vor«, ordnete Oggar an, »unter schärfsten Sicherheitsvorkehrungen.« Er nahm kurz Verbindung zum HORT auf und unterrichtete Insider, daß er bis auf weiteres an Bord der MOSES bliebe. Anschließend entledigte er sich der unangenehmen Aufgabe, den Molaaten eine einleuchtende Lüge über den Grund der Flugverzögerung aufzutischen. Um von der MOSES abzulenken, gab er einen geringfügigen Defekt am Antriebssystem des HORTS an, der sich innerhalb einer weiteren Stunde beheben lassen würde.
Oggar rekapitulierte. Fest stand, daß mit den Reservemodulen die Entfernung von nunmehr noch rund 30 Millionen Lichtjahren bis nach Bumerang bequem zurückzulegen war – falls sich Denises Befürchtung nicht bewahrheitete. Das zweite Opfer des Unheimlichen war eine junge Technikerin namens Cynthia Swister, die ebenfalls zu Calmans Gruppe gehört hatte. Von ihrer Leiche fand man keine Spur. Offenbar hatte der Verformer aus seinem ersten Fehler gelernt. Außerdem bewies sein Angriff mit einer Strahlwaffe, daß er Oggar als Androiden erkannt hatte und wußte, daß er diesem Gegner mit reiner Körperkraft nicht beikommen konnte. Das hieß, daß Oggar von nun an jederzeit mit einem zweiten Anschlag zu rechnen hatte. Endlich kam die Meldung, daß der Austausch vorgenommen sei und bei wiederholter gründlicher »Durchleuchtung« der Module keine Spur eines Eingriffs feststellbar war. Oggar befahl den Weiterflug. Es waren bange Minuten, bis die MOSES in den Linearraum glitt. Aufatmen über das geglückte Manöver konnte niemand an Bord. Die Überlichtetappe war, wie vorgesehen, auf zehn Millionen Lichtjahre programmiert. Das Mnemodukt hatte die Kontrolle über den HORT übernommen. In der MOSES nahm das Unheil seinen Lauf.
3. Havarie »Allmählich«, sagte Sergey Dobrikow, »beginne ich wieder zu glauben, daß wir's schaffen können. Noch zwei Etappen, Michelle, und wir sind in Bumerang. Der Teufel soll mich holen, wenn ich nur noch eine Minute länger an Bord bleibe, nachdem die Molaaten abgesetzt sind.«
Michelle Depallier nickte nur, den Blick auf diverse Anzeigetafeln gerichtet. Lediglich dann und wann sah sie durch die Glasscheibe des Kontrollstands auf die sechs Bewaffneten hinab, die sich in Zweiergruppen in der Triebwerkshalle verteilt hatten. Sie selbst war Sergeys Schatten, seitdem die MOSES wieder Fahrt aufgenommen hatte, und er der ihre. Die Linearetappe war bisher ohne Zwischenfälle verlaufen. Sergeys Bemerkung drückte das aus, was alle dachten. Der Unheimliche schien sich nicht zu rühren, aber bei dieser Einschränkung blieb es. Die Stille der letzten sechzehn Stunden zehrte nur noch mehr an den Nerven der Männer und Frauen. Jeder wartete insgeheim darauf, daß etwas geschah. Die Molaaten verhielten sich ruhig, von einigen Anfragen Wuzgus abgesehen, die aber mehr Wichtigtuerei waren als echte Sorge. Drux, Filbert und Pina hatten ihr Versprechen gehalten. Da die MOSES nicht mehr zur Sol würde zurückkehren können, sollte die Besatzung den Rückflug an Bord des HORTS unternehmen. Unter anderen Umständen wäre Sergey ganz zufrieden mit seinem Los gewesen, Michelle zugeteilt bekommen zu haben. Sie war keine berauschende Schönheit, doch sie gefiel ihm, auch wenn sie einige Pfunde zuviel auf den Rippen hatte. Daß es eher Kilos waren als Pfunde, merkte er, als eine Naht ihrer Bordkombination platzte. Er registrierte es verwundert und tat so, als wäre es ihm entgangen. Manche Menschen verbargen ihre zu üppigen Formen gern unter einer möglichst engen zweiten Haut. Etwas seltsam wurde ihm erst zumute, als auch eine zweite, dann eine dritte und vierte Naht aufsprang, ohne daß Michelle sich entsprechend bewegt hätte. Zuviel gegessen oder getrunken hatte sie auch nicht, solange sie zusammen waren … Sergey sprang mit einem Schrei von seinem Sitz auf, als er die unheimliche Veränderung bemerkte. Michelle quoll am ganzen Körper auf wie ein Hefeteig!
»Du …!« brachte er stockend hervor, vor Entsetzen wie gelähmt. »Du bist … nicht sie!« Bevor er die Kontrolle über sich zurückgewann und nach dem auf seinem Pult liegenden Strahler greifen konnte, stand sie vor ihm, nun fast so breit wie groß, und richtete ihre Waffe auf ihn. »Ich konnte nicht ahnen, daß es so schnell geschehen würde«, sagte sie mit einer dunklen, schwankenden Stimme, die gar nicht mehr ihr zu gehören schien. »Es ist dein Pech, Sergey. Ich hasse euch Menschen nicht, und vielleicht hätte ich eine Möglichkeit gefunden, meine Aufgabe zu erfüllen, ohne daß auch zwei von euch sterben mußten. Die Umstände ließen mir keine Wahl. Sie tun es auch jetzt nicht.« Sergey begriff in dem Moment, in dem sie schoß. Sie paralysierte ihn. Der Techniker erlebte das Grauen. Er konnte keinen Finger mehr rühren, aber er sah, wie Michelles Körper sich auflöste und zerfloß, zu einer braungrauen, breiigen Masse wurde. Er wußte, was nun geschehen würde. Oggar hatte von einer Art Riesenamöbe gesprochen, als er davon berichtete, wie der Fladen vor ihm floh. Amöben vermehren sich durch Teilung! Von irgendwoher rief jemand nach ihm und Michelle. Es war das letzte, was der Solaner hörte. Der braungraue Klumpen schob sich auf ihn zu und schnürte sich in der Mitte ein. Er wuchs auseinander. Das neue Wesen bildete drei Pseudogliedmaßen aus, armdicke Tentakel, aus denen Finger wuchsen und sich um seinen Hals schlossen. Sergey starb schnell. Die beiden Amöben wuchsen vor ihm in die Höhe, atemberaubend schnell vollzog sich die Verwandlung. Michelle Depallier und Sergey Dobrikow packten gemeinsam an und versteckten den Leichnam in einem schmalen Wandschrank. Als die beiden Bewaffneten die Treppe heraufkamen und in den
Kontrollstand stürmten, schob Michelle die Reste ihrer aufgeplatzten Kombination mit einem Fuß unter ein Pult. Es waren nur die wenigen Fetzen, die sie nicht schnell genug in eigene Körpersubstanz hatte zurückbilden können, aus der auch die neue Bekleidung entstanden war. »Wir haben einen Schrei gehört«, sagte einer der Männer. »Er kam doch von hier.« Sergey lachte so, wie der echte Sergey Dobrikow angesichts der Situation gelacht hätte. Er hob eine Hand. »Natürlich. Das war ich. Du würdest auch brüllen, wenn du dir zwei Finger in diesem verdammten Wandschrank einquetschtest.« Er deutete hinter sich, wo die Leiche versteckt war. »Techniker!« sagte Michelle augenzwinkernd. »Sie können mit den Errungenschaften des vierten Jahrtausends umgehen, aber mit denen des zweiten tun sie sich schwer.« »Wir dachten schon …«, sagte der Solaner. »Ach, wir werden alle einen Urlaub verdammt nötig haben, wenn das hier vorbei ist.« Michelle und Sergey sahen ihnen nach, wie sie die Treppe hinunterstiegen. Wir müssen es jetzt tun! sendete das eine Wesen zum anderen. Wir lähmen die Menschen nur. Sie werden sich retten können, denn sie haben ihr zweites Schiff. Die Molaaten aber werden ihr Ziel niemals erreichen! Die erste Aktion hätte auch die Menschen vernichtet, kam es zurück. Und uns. Jetzt haben wir eine andere Möglichkeit. Sie standen auf und nahmen die Waffen. Die sechs Solaner in der Halle hatten keine Chance.
* Es geschah nur kurz vor dem Ende der Linearetappe, die die MOSES bis auf 20 Millionen Lichtjahre an Bumerang heranführen
sollte. Die Solaner und Molaaten wurden vollkommen überrascht, als das Chaos über sie hereinbrach und der Containerträger von den plötzlich einsetzenden Gewalten zerrissen zu werden drohte. Die Erschütterungen waren verheerend und schleuderten Besatzungsmitglieder und Passagiere wie Puppen durch die Räume. Die Schiffszelle bebte und ächzte in allen Fugen. Die Container drohten aus den Verankerungen gerissen zu werden. Schlagartig setzte die Beleuchtung aus. Detonationen erfolgten, Stichflammen schossen durch die Zentrale, die innerhalb weniger Sekunden in dichte, dunkle Rauchschwaden getaucht war, die nur allmählich abgesaugt werden konnten. Dann war alles still. Keines der vertrauten Schiffsgeräusche war mehr zu hören, nur die Schreie von Verletzten. Oggar stand inmitten von Raumfahrern, die sich entweder gerade wieder auf die Beine erheben konnten oder noch reglos dalagen. Die Notbeleuchtung setzte ein. Als Jard Neru und Denise Tomac den. Schrecken überwunden hatten, wußte das Mischwesen, was geschehen war. Lösch- und Räumungsroboter erschienen und nahmen ihre Tätigkeiten auf. »Wir sind in den Normalraum zurückgestürzt«, verkündete Oggar finster. »Das Kompensationsfeld ist zusammengebrochen. Die MOSES wurde aus dem Zwischenraum in ihre Dimension zurückgerissen.« »Was heißt das?« schrie Neru. Er packte Oggars Arme und versuchte, an ihm zu rütteln. Er wußte es selbst. Neru ließ von Oggar ab und stützte sich schwer auf eines der unversehrt gebliebenen Pulte. Einer der noch intakten Bildschirme zeigte das, was auch durch die Bugpanzerglasscheibe zu sehen war: das endlose Schwarz des intergalaktischen Leerraums. »Es heißt«, sagte Denise kühl, »daß hier Endstation ist. Unser ungebetener Gast hat es geschafft. Er brauchte das Schiff nicht
einmal zu vernichten. Wir erreichen Bumerang nicht mehr. Wir erreichen nichts mehr, wo Menschen leben könnten.« »So schnell gebt ihr auf?« fragte Oggar. »Der Verformer hat sich damit begnügt, das Kompensationsfeld zusammenbrechen zu lassen. Die Triebwerke sind schließlich nicht explodiert. Es reichte ihm auch vollkommen aus, denn jetzt haben wir keine Austauschreserven mehr.« »Das sind doch nur leere Worte!« Nerus Stimme ging in dem Chaos von Anrufen unter, die nun plötzlich hereinkamen. Eine Funktionsanzeige nach der anderen leuchtete auf. Die Bordpositronik aktivierte alle verfügbaren Notsysteme und gab auf einem Display einen Überblick über die irreparablen Schäden. Auch Middja Swanson war auf den Beinen und hielt sich den verletzten linken Arm. »Ich kümmere mich jetzt zuerst um die Mannschaft und dann um mich« sagte sie gepreßt. »Euch empfehle ich, den Molaaten ein paar Worte zu sagen.« Wuzgus Stimme im Interkom-Lautsprecher überschlug sich. Andere Molaaten schrien dazwischen. Oggar brauchte nicht viel Phantasie, um sich auszumalen, wie es nun unten in den Containern aussah. Oggar rief die Ärztin zurück. »Du wirst dich beeilen, Middja. In zehn Minuten brauche ich dich. Ich komme in deine Unterkunft.« Sie verschwand mit einem Fluch aus der Zentrale. »Was hast du vor?« fragte Neru unsicher. »Du bist doch kein Narr, daß du glaubst, an den Triebwerken noch etwas …« Oggar paralysierte ihn, danach Denise und alle anderen Solaner in der Zentrale. Dann überlegte er es sich anders. Auf die Verletzten durfte er unter den gegebenen Umständen keine Rücksichten nehmen. Es stand mehr auf dem Spiel, hunderttausendfach mehr!
Er brauchte nur die Ärztin, erreichte sie noch auf dem Korridor und mußte die sich heftig Wehrende auf der Schulter zurück in die Zentrale tragen. »Positronik!« Das Schiffsgehirn meldete sich mit sonorer Stimme. »Du hast die Möglichkeit, alle Räume der MOSES, ausgenommen die Zentrale und die Container, mit sofort wirkendem Narkosegas zu füllen?« »Das ist richtig.« »Dann tue es jetzt, sofort!« Das Mischwesen ließ Middja sanft zu Boden gleiten. Sie stand vor ihm wie eine Katze, die ihm am liebsten die Augen ausgekratzt hätte. »Weißt du, was ich fast glaube? Ich denke mir, daß du das Monster bist!« Oggar ertrug ihre Beschimpfungen, bis die Positronik verkündete, daß sein Befehl ausgeführt sei. »Jetzt«, sagte er zu der Ärztin, »werden wir beide gemeinsam von jedem Mann und jeder Frau eine Gewebeprobe entnehmen. Wenn sie erwachen, will ich wissen, wer von ihnen ein Mensch ist.« Sie bekam große Augen. »Jetzt verstehe ich. Du hast wirklich noch Hoffnung und willst völlig sichergehen, daß wir nicht noch eine böse Überraschung erleben. Es tut mir leid, was ich vorhin sagte, Oggar.« »Das ist gut. Dann wirst du auch verstehen, daß wir bei dir anfangen müssen.« Middja bewies, daß sie noch ganz andere Flüche auf Lager hatte. Schließlich fügte sie sich. Oggar begleitete sie in ihre kleine Medo-Station und ließ sie dort nicht aus den Augen, als er die Verbindung zu den Molaaten herstellte. Es dauerte etwa eine Minute, bis Wuzgu mit seinen Protesten- und Vorwürfen zu Ende war, und genauso lange hatte Oggar Zeit, um
sich zu überlegen, wie er seinen Schutzbefohlenen die ganze Wahrheit sagte.
* Fork war derjenige aus Wuzgus mittlerweile auf fünfzehn Molaaten erweitertem Beraterkreis, der von Anfang an gewarnt hatte. Als die kleinen Grünhäutigen nun in allen fünf Wohnbereichen Oggars Stimme vernahmen und nicht fassen konnten, was sie da hören mußten, als die inzwischen ebenfalls neugebildeten Bereichsleitergruppen alle Mühe hatten, eine Panik zu verhindern, sagte Fork nur: »Ich habe gewarnt und wurde verlacht. Nun seht ihr es selbst. Hidden-X hatte nie die Absicht, uns heimkehren zu lassen. Die böse Allmacht gibt nichts frei, das einmal in ihre Klauen geriet. Hidden-X hat uns dieses Ungeheuer geschickt.« »Erstens«, fuhr Nanna ihn an, »steht das noch lange nicht fest, zweitens kann es uns egal sein, ob das Monster von jemandem geschickt wurde, und drittens werden unsere Freunde die Situation bald in den Griff bekommen. Oggar ist an Bord der MOSES, und Oggar wird uns und die Solaner retten.« Sie drehte sich nach Wuzgu um, der zusammengesunken in seinem Thron saß, auf einem ein Meter hohem Podest in der Mitte eines großen Versammlungsraums. Jetzt schien er sich lieber im Boden verkriechen zu wollen. »Unsere Brüder und Schwestern erwarten von dir, daß du zu ihnen sprichst, Wuzgu«, sagte Nanna. Nur ihr, Tolip und einigen anderen Molaaten war es überhaupt zu verdanken, daß sich der Wohnbereich noch nicht in ein Tollhaus verwandelt hatte. Sie reagierten auf Oggars schreckliche Eröffnungen mit einem unglaublichen Willen zum Durchhalten. »Laß sie sich erst beruhigen«, flüsterte Wuzgu. »Jetzt hat es ja doch
keinen Zweck.« »Dann schweige! Gib dich deiner Angst hin, und es wird keine Stunde mehr dauern, bis wir einen neuen Anführer haben!« Nanna ließ ihn allein und bahnte sich einen Weg durch die Zusammengedrängten. Sie sah die Furcht in den Augen der Artgenossen, die tiefe Verzweiflung und Enttäuschung. Hunderttausendfache Hoffnung und Sehnsucht waren in einem einzigen Moment wie hinweggefegt worden. Ein Funke genügte, um doch noch ein Chaos auszulösen. Jeder klammerte sich an die anderen; jeder versuchte, nun tapfer zu sein. Doch wie es drinnen aussah, wußte Nanna nur zu gut. Als sie aus der Halle heraus war, blieb sie für einen Augenblick an eine Wand gelehnt stehen und schloß die Augen. Sie fühlte sich, als zöge ihr jemand den Boden unter den Füßen weg. Guter Allgeist! flehte sie stumm. Gib uns die Kraft und die Stärke! Führe uns heim. Wir alle haben genug gelitten! Der Gedanke daran, daß die Solaner oben in der MOSES nun Schlimmeres durchzustehen hatten, daß sie vielleicht ihr Leben aufs Spiel setzten, um sie, die Molaaten, nach Hause zu bringen, verjagte den Anflug von Resignation. Ihnen half keine höhere Macht, sie mußten selbst um die Zukunft kämpfen. Nannas Entschluß stand fest, als sie sich von der Wand abstieß und eine ganz bestimmte Richtung einschlug. Und sie hatte einen Plan. Er war einfach und ging vielleicht von falschen Voraussetzungen aus. Vielleicht aber versprach er gerade deshalb mehr Erfolg als die verzweifelten Bemühungen Oggars, den Eindringling zu finden und unschädlich zu machen. Die junge Molaatin mußte sich wieder Platz verschaffen. Immer mehr ihrer Brüder und Schwestern suchten Zuflucht in der Nähe von Wuzgu. Sie drängten in die Gänge des Wohnbereichs, unerschöpfliche Massen, die Nanna aufhielten und sie mit Fragen quälten. Erst jetzt wurde ihr das ganze Ausmaß der Verzweiflung bewußt – und die Tapferkeit, mit der sich die Artgenossen gegen
das scheinbar Unausweichliche stemmten. Sie sprach ihnen Mut zu, selbst den Tränen nahe. Sie erlebte erschütternde Szenen und büßte viel innere Kraft ein, bis sie endlich diejenigen fand, auf denen ihre Hoffnungen ruhten. Drux, Filbert und Pina waren, ähnlich wie Wuzgu, von Hunderten Molaaten umlagert. Alle kleineren Wohnquartiere waren verlassen. Niemand wollte allein sein. Im Gegensatz zu Wuzgu verbreiteten die drei eine Aura der Zuversicht um sich herum. Das war vor allem Pinas Verdienst. Die beiden Partner schienen eher nur das nachzuplappern, was sie ihnen vorsagte. Nanna kam an Pinas Seite und hatte das Gefühl, schon lange erwartet worden zu sein. Auch jetzt dachte Pina nicht daran, die Situation nicht für sich auszunützen. Sie forderte ihre Zuhörer sogar dazu auf, Wuzgu in diesen schweren Stunden nicht im Stich zu lassen. »Wenn du wüßtest, welche Jammergestalt unser Anführer ist«, flüsterte Nanna. Sie kam der unausgesprochenen Frage zuvor. »Ich habe ihn nicht im Stich gelassen und liebe ihn trotz seiner Feigheit. Pina, Drux, Filbert, ich muß allein mit einem von euch reden.« Drux und Filbert erklärten sich schnell dazu bereit, nicht dieser eine zu sein. Pina und Nanna mußten ganze Trauben von Molaaten regelrecht abschütteln, die ihnen folgen wollten. Dann waren sie endlich in einem kleinen Lagerraum allein. »Pina«, begann Nanna ohne Umschweife, »wir müssen nach oben, und ihr kennt euch dort aus. Wir können die Solaner nicht allein für uns ihre Köpfe hinhalten lassen.« »Das habe ich mir auch schon überlegt«, gab Pina zu. »Aber andererseits werden wir hier gebraucht. Wir haben Kontakt zu den Kerngruppen in den anderen Wohnbereichen. Von ihnen wissen wir, daß es beim Rücksturz in den Normalraum mehr als tausend Verletzte und zwölf Tote gegeben hat.« »Es wird noch mehr geben, wenn wir nichts unternehmen. Wir
müssen einfach davon ausgehen, daß die Triebwerke zu reparieren sind, sonst hat unsere Existenz jeden Sinn verloren. Hör zu, was ich mir vorstelle.« Und sie erläuterte ihren Plan, der auf der Annahme basierte, daß der Verformer ganz einfach durch sein Körpervolumen nur Menschen nachbilden konnte – nicht aber die viel kleineren Molaaten. »Oggar kann sich auf kein Mitglied der Besatzung mehr verlassen, auch wenn seine Maßnahmen jetzt ergeben, wer ein Mensch ist und wer keiner. Er wird nur Menschen finden, denn das Monster hat gezeigt, wie klug es ist. Aber es wird neue Nachbildungen geben. Nur uns kann Oggar vertrauen, Pina. Wir können ihm eine größere Hilfe sein als alle Solaner zusammen.« Pina war schnell überzeugt. Dabei bedachten sie beide nicht, was Sergej Dobrikow im Augenblick seines Todes erkannt hatte. Und sie konnten nicht wissen, daß sie im Begriff waren, den Unbekannten geradewegs in die Hände zu spielen. Nachdem alle Gewebeproben der Paralysierten und Narkotisierten gründlich analysiert waren, stand fest, was Oggar bereits dumpf geahnt hatte: von den ehemals 24 Besatzungsmitgliedern der MOSES lebten nur noch zwanzig – und die waren einwandfrei Menschen. Die Reihe der Opfer verlängerte sich um Sergej Dobrikow und Michelle Depallier. Diese beiden letzten – vielmehr ihre Nachbildungen – hatten die Katastrophe verursacht. Nun wurde auch deutlich, weshalb die inzwischen zwei Verformer darauf verzichtet hatten, das Schiff durch eine entsprechende erneute Manipulation zu vernichten. Auf eine unerklärliche Weise übernahmen sie nicht nur den Körper eines Getöteten, sondern auch dessen Bewußtseinsinhalt – und damit sein Wissen. Calman hatte ihnen die Möglichkeit noch nicht eröffnen können, die sie durch Sergej und Michelle fanden.
»Und das war ihr Fehler«, sagte Oggar zu dem aus der Paralyse erwachten Jard Neru. »Diego Santana, unser letzter noch lebender Techniker, hat mit Hilfe der Positronik und Testsysteme ganz klar ermittelt, daß der Schaden zu beheben ist und auch ein neues Kompensationsfeld aufgebaut werden kann. Allerdings beträgt unsere Reichweite nur noch rund neun Millionen Lichtjahre.« Neru lachte hysterisch. Der Mann war einem Nervenzusammenbruch nahe. »Aber das ist genauso, als könnten wir uns überhaupt nicht mehr von der Stelle rühren! Bis nach Bumerang sind es gut zwanzig Millionen!« »Es gibt eine Möglichkeit«, widersprach Oggar. »Jard, unsere Hauptsorge ist jetzt die, daß Santana mit allen Mitteln gegen die Verformer abgeschirmt wird. Im Augenblick wissen wir, daß alle Männer und Frauen noch Menschen sind. Die Verformer haben sich nur vorläufig in ihre normale Zustandsform zurückverwandelt und verborgen. Sie werden wieder zuschlagen. Der Techniker darf nicht ihr Opfer werden.« Der Begriff »Techniker« war etwas, das sich vereinfachend eingebürgert hatte. Santana gehörte – wie auch seine toten Kollegen – zu den fähigsten Spezialisten der SOL. »Jedes Besatzungsmitglied«, fuhr Oggar fort, »wird von nun an ständig von zwei Robotern begleitet, deren Videokameras auf es gerichtet sind. Santana wird noch zusätzlich bewacht. Er arbeitet bereits an den Triebwerken.« »Verdammt, wir können nur eine andere Position im Leerraum erreichen!« »Ich sagte, es gibt eine andere Möglichkeit, Neru. Während Hapeldans Verfolgung gelangten Insider und ich mit dem HORT in einen kleinen Kugelsternhaufen, der 11,7 Millionen Lichtjahre von Pers-Mohandot und 12,1 Millionen Lichtjahre von Bumerang entfernt ist. Die dort lebenden Dynurer nennen ihn nur die Sterne. Insider und ich schieden als Freunde von ihnen. Sie werden uns
helfen. Die Sterne liegen genau in unserem Kurs.« »Wir werden sie nie erreichen«, behauptete Neru. Oggar ging nicht mehr darauf ein. Er fühlte sich von Nerus Verhalten enttäuscht. Middja Swanson erschien in der Zentrale, von zwei Robotern begleitet, und ließ sich in einen Sitz fallen. Einer der fünf Verletzten, so hatte sie mitzuteilen, war an seinen schweren Verwundungen gestorben. Nach sechs Stunden meldete Diego Santana, daß die MOSES flugbereit sei. Nur zehn Minuten später ging sie in den Linearraum. Ich weiß, meldete sich Cpt'Carch nach langer Pause im Multibewußtsein, in dem die Komponente Sternfeuer nach wie vor schwieg, woran du denkst, Oggar. Aber du überschätzt ihre Möglichkeiten! Auch wenn die Dynurer zur Hilfe bereit sind, die Entfernung bis nach Bumerang können sie nicht mit Raumschläuchen überbrücken! Warte es ab! Für Oggar ging es um mehr als diese Hoffnung, die ihm selbst irreal erschien, aber das einzige war, an das er sich klammern konnte. Er hatte den HORT verloren, der die volle programmierte Strecke zurückgelegt hatte. Ein Anfunken über diese Distanz war unmöglich. So blieb nur die Hoffnung, daß Insider von sich aus auf den richtigen Gedanken kam und ebenfalls Kurs auf die Sterne nahm, denn es gab keinen anderen Anhaltspunkt im Nichts. Dort aber wartete Hapeldans Vermächtnis auf sie. Die beiden Molekülverformer verhielten sich aus Oggars Sicht abwartend, aber auch das schien nur so. Wie durch ein Wunder verlief der Überlichtflug ohne weiteren Zwischenfall für die solanische Restbesatzung. Als die MOSES nur wenige Lichtstunden von Dynur entfernt in den Normalraum fiel, schrieb man an Bord den 28. Oktober 3804. Es war auch für die SOL ein bedeutsames Datum.
4. Ein Brocken Terra-Erde Das über die Korridorböden der SOL klappernde, stangenförmige Etwas hätte kein Mensch, der Blödel zum erstenmal begegnete, für eine bewegliche Hochleistungspositronik gehalten. Der ehemalige Laborroboter Hage Nockemanns sah eher aus wie ein von Kindern ausstaffiertes und mit neuen Energiezellen versehenes Roboterwrack, mit einem zylinderförmigen Leib, einem neun Zentimeter großen Kopf und 34 Zentimeter langen Beinen, die wie die eingewickelten Füße einer Mumie anmuteten. Blödel hatte zwei dünne Tentakelarme, ein einziges Auge und Klappen für ausfahrbare Instrumente aller Art am Körper. Sein Prunkstück aber war der am Kinn klebende Schnauzbart aus grünen Plastikhaaren. Der Roboter litt vielleicht als einziger nicht unter seinem verrückten Aussehen und wurde auch nicht von grölenden Kinderscharen verfolgt, als er ein neues Deck betrat und einen der beiden Arme durch offene Türen ausfuhr wie einen Rüssel. Die Flüche der fast zu Tode erschrockenen Kabinenbewohner störten ihn nicht. Blödels Interesse war auf die Suche nach den Plänen für den Bau jenes Geräts gerichtet, mit dem sich eine Öffnung im Hypervakuum erzeugen lassen sollte. Er gehörte seit acht Tagen zu den überall im Schiff verstärkt eingesetzten Suchtrupps, und wie allen anderen, war auch ihm bisher kein Erfolg beschieden. Ganz nebenbei sollte er darauf achten, ob sich eine Spur von Hreila Morszek fand. Auch was die Buhrlo-Frau betraf, tappten die Verantwortlichen noch im dunkeln. Die Ansicht begann sich durchzusetzen, daß Hreila gar nicht mehr am Leben war. Doch dann müßte ihre Leiche zu finden sein. Weitere Buhrlos klagten über Schmerzen in der Haut. Hage Nockemann war keinen Schritt weitergekommen, was die
Stimmung an Bord nicht gerade zu heben vermochte – zumal Hidden-X ebenfalls weiter Zurückhaltung übte. Jeder wartete auf eine Aktivität des Gegners. In allen Köpfen spukte die Botschaft herum, daß die Rache von Hidden-X nun vollzogen sei. Besonders ängstliche Solaner glaubten anscheinend, eine Zeitbombe in ihrem Körper ticken zu hören. Die Mediziner der SOL jedenfalls hatten keine ruhige Minute mehr. Die schlimmsten Hypochonder verließen die Medo-Center erst gar nicht mehr. Das war nicht Blödels Problem. Er steckte den Kopf in jede Kabine und durchleuchtete jeden Schrank, jeden herumliegenden Gegenstand und jedes Stück Boden, Decke oder Wand. Seinen empfindlichen Wahrnehmungssensoren entging nichts, nicht einmal das Aktfoto in der nachträglich eingenähten Kombinationsinnentasche eines hundertjährigen Raumfahrers oder die Alkoholnotration, die eine ehemalige Ahlnatin hinter ihrem Wandspiegel versteckt hatte. Blödels Röntgenblick ging durch die dicksten Trennwände hindurch. Besser als jeder Mensch konnte er seine Chancen berechnen, das Gesuchte zu finden. Weiter als jeder Mensch war er aber auch davon entfernt zu resignieren. Lieber wollte er jedes Deck, jeden Maschinenraum und jeden Hangar einzeln absuchen. Blödel hatte die Kabinenflucht, der seine Aufmerksamkeit galt, etwa zur Hälfte inspiziert, als er den nächsten Öffnungsbefehl an SENECA funken mußte. Die verschlossene Tür tat sich auf. Der Roboter kannte Collinia Brackfaust natürlich seit den Abenteuern auf der Landschaft im Nichts, wenngleich er ihr nicht direkt begegnet war. Ebenso war er ihr kein Unbekannter. Vielleicht lag es daran, vielleicht auch an dem Umstand, daß sie sich gerade umzog, daß sie herumfuhr und ihn anfauchte: »Was willst du denn hier, du Karikatur von einem Robot? Scher dich raus! Wie kommst du überhaupt dazu, hier einzudringen?« Blödel bedeuteten die unübersehbaren weiblichen Reize der Einundzwanzigjährigen überhaupt nichts, aber auch mit diesen
Eigenarten der Menschen war er vertraut. Sie fühlten sich nicht wohl, wenn sie unbekleidet gesehen wurden – von gewissen Ausnahmen einmal abgesehen. Er sagte: »Ich bedaure sehr, Collinia, aber ich muß darauf bestehen, deine Kabine zu untersuchen. Es ist schnell vorbei. Es geht ja nur um die Pläne zum Bau eines …« »Die habt ihr immer noch nicht gefunden?« schnitt sie ihm wütend das Wort ab. »Sucht woanders, nicht bei mir. Ich wüßte etwas davon, wenn ich sie hätte!« »Du hast diese Unterkunft vor 277 Tagen bezogen«, leierte Blödel den Spruch herunter, der schon zur Routine geworden war. »Weißt du, was in den Wänden ist?« Sie seufzte, legte die Magnetverschlüsse der neuen Kombination aneinander und machte eine Geste der Resignation. »Damit es vorbei ist, einverstanden. Durchleuchte die Wände. Durchleuchte mich, wenn du magst. Aber dann verschwinde und laß mich in Ruhe.« Blödel begann mit seinem Werk. Collinia, ganz das Ebenbild ihrer Mutter Valara Brackfaust, die mit dem Bordmutanten die SOL im Mausefalle-System verlassen hatte, stellte sich mit verschränkten Armen vor einen Tisch, auf dem das lag, was sie gern als Vermächtnis Terranies bezeichnete – jener in ein zweifach kopfgroßes Energiefeld gehüllte Brocken, der angeblich ein Stück Heimaterde von Terra und vor Jahren das Heiligtum der TerraIdealisten an Bord gewesen war. Offenbar war es Collinias Absicht gewesen, sich der Betrachtung des Brockens wieder einmal hinzugeben, denn sonst hätte sie ihn nicht offen herumliegen gelassen. Dies, Blödels Neugier und die Art, wie Collinia sich geradezu provozierend vor den Brocken stellte, veranlaßte den Roboter dazu, seinen Röntgenblick zuerst auf das Stück angeblicher Terra-Erde zu richten. Er ließ sich nichts anmerken.
Er zeigte keine Reaktion, keinen Triumph. Er sah nur die Mikrospule in diesem Brocken, die Aufzeichnungen enthielt, die irgendwann einmal irgend jemand dort versteckt haben mußte. Es konnte sich natürlich um alles Mögliche dabei handeln, vielleicht sogar um längst vergessene Umsturzpläne der TerraIdealisten. Nicht nur die hochkomplizierten Symbolgruppen und Formeln sprachen dagegen. Die Spule enthielt ganz zweifelsfrei die Anleitung zum Bau von irgend etwas. Ob sie das so lange Gesuchte darstellten, würde erst eine Auswertung durch SENECA ergeben können. Für Blödel hieß das, er hatte nun ein ganz neues Problem. Ein Blick auf Collinia zeigte ihm, daß sie keine Ahnung von der Spule im Brocken hatte. Aber wie gaunerte er sie ihr ab?
* Blödel mußte schnell eine Lösung finden, denn schon kniff die Solanerin die Augen zusammen und machte eine Bewegung, als wollte sie den Roboter vom Tisch wegscheuchen. »Was starrst du den Brocken an, eh? Ich denke, du suchst diese Pläne und willst keine Zeit verlieren?« Es gab bestimmt bessere Einfälle, aber der, den Blödel jetzt hatte, war eben sein einziger, der Erfolg versprach. Er trat zurück und spielte den Bestürzten. »Collinia, ich bin erschüttert, daß man dir so übel mitgespielt hat!« »Was bist du? Ich war immer der Meinung, ein Ding wie du kann nur erschüttert über zu schlechtes Schmieröl sein. Hör zu, Blödel, ich erwarte jemanden und …« »Das«, schnitt er ihr das Wort ab, »ist nicht dein Brocken von der Erde, Collinia.« Sein rechter Tentakelarm wurde ausgefahren, bis
das Ende fast mit dem Energiefeld in Berührung kam. Gleichzeitig funkte er das Bild des Brockens an eine Robotfabrik und gab deren Positronik einen eindeutigen Befehl. »Es tut mir leid, daß ich dir das sagen muß, aber dieser Klumpen ist eine vollkommen wertlose Nachbildung.« Collinia starrte ihn an, drehte sich dann auf dem Absatz um und öffnete einen Schrank. Sie holte einen Strahler heraus und richtete ihn auf den Gast. »Du hast genau fünf Sekunden Zeit, um zu verschwinden«, drohte sie. »Aber es stimmt!« beharrte er. »Du kannst es selbst nachprüfen. Der Brocken ist hohl. Nimm die Energieglocke weg und hebe ihn hoch. Du kennst doch sein Gewicht – das des richtigen Brockens. Nimm diesen hier in die Hand, und du wirst sehen, daß ich die Wahrheit sage.« Sie wurde unsicher. »Damit du ihn mir stiehlst!« »Was hätte ich denn davon? Für mich ist euer Heiligtum wertlos, und diese Imitation erst recht. Aber bitte, wenn du mit diesem Ding glücklich bist und auch nicht wissen willst, wer dich betrogen hat …« Er tat so, als interessierte ihn der Brocken nicht mehr, und begann, die Wände zu durchleuchten. Vor allem mußte er Zeit gewinnen, bis das eintraf, was er in Auftrag gegeben hatte. Beeilt euch schon! funkte er. Es ging ihm ja nur darum, daß Collinia das Energiefeld abschaltete, aber das auch nicht zu früh. »Nehmen wir an, du hättest recht«, sagte sie langsam. »Du könntest mir helfen, den Dieb zu finden?« »Ich könnte eine Analyse des Brockens vornehmen und herausfinden, wo an Bord der SOL er hergestellt wurde, aber vergiß es.«
Nur Zeit herausschinden. Blödel verwünschte sich dafür, zu überstürzt vorgegangen zu sein. Er antwortete nicht, als Collinia ihm weitere Fragen stellte. Er drehte sich nicht um, als sie ihm sagte, sie würde das Feld jetzt abschalten. Er schritt die Wand ab, als sie am Schluß fast vor ihm auf den Knien lag und ihn beschwor, ihr zu helfen. Das änderte sich erst, als er die Nachricht empfing, ein Roboter sei mit dem Gewünschten unterwegs zu ihm. Gnädig ließ er sich erweichen. »Es hält mich zwar bei der Suche auf«, sagte er, »aber ich kann keinen Menschen leiden sehen. Ich will aber auch sicher sein, daß du mir nicht hinterher irgendeine Manipulation nachsagst.« Aha, der Bote war bereits draußen auf dem Korridor! »Ich öffne jetzt die Tür und rufe jemanden herbei, der bezeugen kann, daß alles mit rechten Dingen zuging. Dann kannst du den Brocken nehmen.« Er wartete ihren Protest nicht ab, ließ die Kabinentür auffahren und spähte in den Gang hinaus. »Da ist nur ein einfacher Montagerobot«, verkündete er. »Das ist sogar besser als ein Solaner. Menschen sind bestechlich, unsereins nicht.« Als Collinia die Waffe wieder hob und Blödel vor die Wahl stellte, die Untersuchung entweder allein mit ihr durchzuführen oder sich ein neues Bein anfertigen zu lassen, hatte ein Tentakelarm schon in den Korridor gegriffen und die in aller Schnelle angefertigte Imitation in Empfang genommen. Er verbarg sie hinter dem Rücken und schickte den Montageroboter fort. »Sehr vernünftig von dir«, meinte Collinia. »Dann komm jetzt her.« Als sie nach einem tiefen Atemholen die Projektoren im Rand der Schale desaktivierte, auf der der Brocken lag, öffnete sich fast unmerklich eine der kleinen Klappen in Blödels Rumpf. Als sich Collinias Hände vorsichtig um den Klumpen legten, flossen
unsichtbar schwache Antigravstrahlen aus dem Metallzylinder und
wirkten wohldosiert auf den Brocken ein. Collinia hob ihn hoch. Vor Schreck ließ sie ihn gleich wieder fallen. »Er ist nur halb so schwer wie …« »… wie der echte«, bestätigte der Roboter. »Siehst du nun, daß ich recht hatte? Du wirst das Original bald zurückhaben, wenn ich weiß, wo dieser hier hergestellt wurde und wer den Auftrag dazu gab.« Er streckte einen Arm aus, den anderen weiterhin auf den Rücken gedreht. Zögernd vertraute Collinia ihm das Prachtstück an. Blödel entwickelte ein schauspielerisches Talent, das ihn selbst überraschte, als er die Solanerin alle möglichen Untersuchungen mit chemischen und physikalischen Mitteln vorgaukelte. Er verwirrte sie schließlich so, daß sie nicht bemerkte, daß er ihr den Brocken mit dem anderen Arm zurückgab. »Achte gut auf ihn«, empfahl Blödel, bevor er sich nun eilig zurückzog, die Beute hinter dem Rücken. »In spätestens einer Stunde wissen wir, wer dich betrogen hat.« Er war verschwunden, bevor Collinia die Sprache wiederfand. Sie starrte auf die geschlossene Tür, dann auf den Klumpen auf dem Tisch. Irgend etwas stimmte hier nicht! Irgend etwas stimmte ganz und gar nicht! Collinia kam sich verschaukelt vor, ohne daß sie hätte sagen können, was Blödel denn nun mit ihr angestellt hatte. Sie nahm den Brocken noch einmal in die Hände. Er hatte das gleiche Gewicht wie zuvor, also nur das halbe des echten. Und wie sie noch so dastand und ihn betrachtete, bröckelte die Kruste ab wie Farbe von einer Wand. »Plastikguß!« rief sie entsetzt aus, als sie sah, was darunter zum Vorschein kam. Vor allem aber roch es ganz unverkennbar nach frisch gegossenem Plastik! »Blödel! Du verdammtes Blechstück! Dafür bezahlst du!« Sie stürmte auf den Korridor, aber der war leer.
* Collinia fand Blödel weder bei Hage Nockemann noch in der Hauptzentrale der SOL, in die sie wie eine Rachegöttin marschierte, als Hayes, Atlan, Brick und eine Reihe der anderen Stabsspezialisten gerade gebannt einer Auskunft von SENECA lauschten. Hayes brachte sie mit einer Geste zum Verstummen. Collinia übte sich in Geduld und hörte zu. Offenbar waren die Baupläne des Geräts endlich gefunden worden, mit dem man hoffte, Hidden-X zu Leibe rücken zu können. Das hätte auch früher geschehen können und ihr Blödels Besuch erspart. SENECA beendete seine Ausführungen mit dem Hinweis, daß er das Gerät – es war von einem Hypervakuum-Verzerrer die Rede – zwar nach den nun vorliegenden Unterlagen konstruieren könne, das Prinzip der Maschine aber nicht verstehe. Darin unterschied sich die Hyperinpotronik nicht von den Menschen. »Kann ich jetzt reden?« fragte Collinia heftig. Hayes nickte ihr geistesabwesend zu. Atlan und einige andere unterhielten sich aufgeregt. Collinia sprach ins Leere, bis der High Sideryt sich ihrer erbarmte. »Du kannst den Brocken noch nicht zurückhaben, Collinia«, sagte er. »Später.« »Wieso später? Ihr habt ihn also?« Er erzählte ihr etwas über diesen Hypervakuum-Verzerrer, über die Eile, die es mit seinem Bau hatte, und über eine Spule. »Was interessiert mich das?« fuhr sie ihn an. »Ich will mein Stück Terra-Erde zurück, keinen Plastikabguß! Was hat mein Brocken mit eurer Spule zu tun?« »Sie ist drin«, erklärte Hayes. »In deinem Heiligtum. SENECA
befaßt sich jetzt damit, und ich fürchte, das wird für eine Weile auch noch so bleiben.« Collinia brauchte einige Zeit, um das zu verdauen. »Ihr habt ihn auseinandergeschnitten, um an die Spule zu kommen!« rief sie anklagend aus. »Gebt es doch zu! Ihr habt dieses unersetzliche Stück Heimaterde einfach zertrümmert!« »Frage SENECA«, seufzte Hayes. »Falls es so ist, bekommst du natürlich eine Entschädigung.« Er lächelte etwas gezwungen. »Außerdem könntest du ruhig ein bißchen stolz auf dich und deine Mutter sein. Hättet ihr den Brocken nicht versteckt und behütet, dann würden unsere Suchtrupps noch in hundert Jahren vergeblich nach den Bauplänen stöbern.« Oh, du mit deiner verdammten Psychologie! dachte Collinia. Aber sie wirkte. Die Erbin Terranies war schon wieder halb mit dem Schicksal versöhnt, als sie sich setzte und der Diskussion zuhörte, die jetzt entbrannte. Weitere Stabsspezialisten trafen ein. Wenn sie schon ihren kostbaren Schatz hergeben mußte, wollte Collinia wenigstens auch erfahren, wie es nun weiterging. Vor allem Atlan drängte drauf, mit dem Bau des Verzerrers unverzüglich zu beginnen. Schließlich genügte der Hinweis auf die im Raum stehende Racheankündigung und die davon abhängige weitere Bedrohung durch Hidden-X und dessen Werkzeuge, um auch den letzten Skeptiker zu überzeugen. SENECA gab eine lange Liste aller Baugruppen und -stoffe, die für die Entstehung des Geräts benötigt wurden. Viele Rohmaterialien konnte die SOL nicht liefern. Es wurde in aller Eile beschlossen, Versorgungsschiffe zu Planeten der weit entfernten Galaxien zu schicken. Bis zu deren Rückkehr sollten die Roboterkolonnen und Techniker die aus den vorhandenen Materialien schon fertigstellbaren ersten Anlagen zusammenbauen. Es war wie ein Fieber, das nun in der ganzen SOL ausbrach. Es übertrug sich unweigerlich auch auf die junge Frau.
Vor allem faszinierte es sie, Atlan ganz in seinem Element zu sehen. Niemand vermochte sich seiner Ausstrahlung zu entziehen. Er ging in die Einzelheiten und überzeugte, ohne zu kommandieren. Er schien mit dem Schiff verwachsen zu sein, als er eine Station nach der anderen anrief und Anweisungen gab. Danach wirkte er ein wenig »geschafft«, längst aber nicht ermüdet. Im Gegenteil schien er lange auf diesen Tag gewartet zu haben. Collinia, bisher eher uninteressiert der Suche nach den Plänen gegenüberstehend, ahnte etwas von der ungeheuren Wichtigkeit des Projekts. Als Atlan auf sie zukam und fragte, ob sie nicht Lust hätte, mit ihm etwas zu essen (eine alte Gepflogenheit auf der Erde, wie sie sehr gut wußte), folgte sie ihm wie ein Teenager aus alten Zeiten, der in den Lehrer verliebt war. Sie brachte es sogar fertig, ihre Verabredung zu vergessen.
5. Das Ende der Hoffung Auf Dynur und den anderen bewohnten Planeten der Sterne hatte sich einiges verändert, seitdem Oggar und Insider von dem neuen Varser, Zytarr Wenk, und von dessen Freunden Abschied genommen hatten. Die korrupte Regierung Monzelback Hedhergins bestand nicht mehr. Die gefürchtete Geheimpolizei war aufgelöst. Im neugewählten Volksforum vertraten nun 22 Frauen und Männer die Interessen aller Dynurer, ganz gleich, auf welchem Kolonialplaneten der insgesamt 121 Sonnen sie lebten. Wenk hatte die 23. Stimme im Forum und war zur Integrations- und Symbolfigur all derer geworden, die eine neue, phantastische Zukunft für ihr Volk sahen. Man wußte nun, daß es nicht nur die Sterne gab, daß die schwachen Nebelflecken am Nachthimmel Galaxien bedeuteten, die Zusammenballungen von unvorstellbar vielen Sonnen. Man wußte,
daß dort andere Völker lebten, manche so fremdartig, daß ein Dynurer es schwer haben würde, sie als intelligentes Leben zu begreifen. Aber der brennende Wunsch war in den Herzen der Sternenbewohner, eines Tages den Abgrund zu überwinden, der sie von den anderen trennte. Niemand brauchte sich mehr verfolgt zu fühlen, wenn er sich dieser Sehnsucht hingab. Oggars Erscheinen hatte selbst dem größten Zweifler bewiesen, daß die Raumfahrt auch über den Abgrund hinweg keine Unmöglichkeit mehr darstellte. Das Wissen, jahrelang von einem Fremden in der Maske des Monzelback Hedhergin geführt worden zu sein, hatte die Dynurer gelähmt – aber auch als heilsamer Schock gewirkt. Oggars Abschiedsgeschenk, ein tragbares Hyperfunkgerät, war analysiert und zum Teil begriffen worden. Die uralten Raumschiffswerften wurden wieder instandgesetzt. Ein ganzes Volk stand an der Schwelle zu einer neuen Zeit und war entschlossen, die Fesseln der Einsamkeit abzustreifen. Chale Bennjyk und Takkar Sours, ohne deren Hilfe Hapeldans Entlarvung nie möglich gewesen wäre, leiteten die wissenschaftlichen Stäbe, die das Geheimnis des Hypersenders und damit der überlichtschnellen Raumfahrt vollends zu enträtseln versuchten. Sie waren es auch, die Oggars Spruch auffingen. Nur kurz darauf konnte Zytarr Wenk im Volksforum die Rückkehr des Retters und Freundes verkünden. Kameras übertrugen seine Botschaft überallhin. Durch die Raumschläuche wurde sie von Kurieren zu den Kolonialwelten getragen. Ganz Dynur geriet in einen Freudentaumel. Sie sind zurückgekehrt! Sie werden uns zu den anderen Sternen führen! Es gab fast keinen Pessimisten in diesen Stunden. Niemand erhob warnend seine Stimme, auch jene Gruppe im Volksforum nicht, die durchgesetzt hatte, daß die von Hedhergin auf vielen Planeten angelegten Festungsanlagen nicht zerstört wurden. Diese mit
furchtbaren Waffen bestückten Forts, so ihr Argument, sollten erhalten bleiben für den Fall, daß man nach der Überwindung des Nichts auf Intelligenzen stieß, die nicht so friedlich waren wie Oggar und Insider. Oggars zweiter Besuch stand von Anfang an unter keinem guten Stern. Die Dynurer im Regierungspalast, in der Halle des Volkes und vor den vielen Millionen Fernsehgeräten erlebten die erste Überraschung, als nicht das bekannte Doppeldiskusschiff über der Zentralwelt erschien, sondern ein riesiges, kastenförmiges Fahrzeug, das erst stark abbremste, nachdem es mit halber Lichtgeschwindigkeit die Bahnen der vier äußeren Planeten des CAM-Systems überquert hatte. Die zweite bestand darin, daß Oggar nun mitteilte, er könne erst landen, wenn dazu umfangreiche Sicherheitsvorkehrungen getroffen seien. Der neuangelegte Raumhafen sollte hermetisch von der Außenwelt abgeriegelt werden. Die dritte war die bestürzendste und sorgte dafür, daß die Euphorie der Dynurer mit einem Schlag vollends verflog. Noch hoch im Orbit, begann das Kastenschiff plötzlich zu feuern. Armdicke grüne Energiestrahlen zuckten aus dem Himmel herab und ließen Krater und Zerstörung überall dort zurück, wo sie trafen. Unter den Dynurern brach Panik aus. Die Bewohner der Hauptstadt verließen ihre Häuser, warfen sich zu Boden oder rannten schreiend durch die Straßen. Zytarr Wenk, Chale, Takkar und die anderen nun im Regierungspalast Versammelten konnten nicht fassen, was geschah. Wenk konnte die unzähligen einlaufenden Fragen nicht beantworten. Verzweifelt versuchte Chale, am Hyperfunkgerät eine neue Verbindung zu Oggar herzustellen. Das Raumschiff spie weiter sein schreckliches Feuer, und es gab nichts, das den Planeten vor diesen Strahlen schützen konnte. »Er hat uns verraten!« schrie eine Frau. »Zytarr, er kommt als
unser Feind zurück!« »Oggar würde niemals gegen uns kämpfen!« rief Takkar zurück. »Er muß selbst in Gefahr sein! Was sonst hätten seine Aufforderungen an uns zu bedeuten!« Niemand hörte mehr auf ihn, niemand auf Wenk, der nichts begriff und das Volk aufforderte, die Ruhe zu bewahren, was angesichts der Todesstrahlen aus dem Weltraum wie ein bitterer Hohn klang. Der Untergang Dynurs schien besiegelt, als das eintrat, womit niemals gerechnet werden konnte. Der falsche Varser Monzelback Hedhergin hatte auch auf der Zentralwelt ein Abwehrfort errichten lassen, dies allerdings unter so strenger Geheimhaltung, daß selbst jene, die beim Bau dabei gewesen waren, nach Hedhergins alias Hapeldans Flucht jede Erinnerung daran verloren. Dafür sorgte die posthypnotische Sperre, die in ihrem Bewußtsein verankert worden war. In einer grünen Ebene nahe dem Äquator brach der Boden auf. Die Oberfläche schob sich auseinander: Riesige Geschütztürme wuchsen aus der Tiefe und eröffneten nun ihrerseits das Feuer auf das Raumschiff. Da keine Funkverbindung mehr bestand, deuteten jene, die noch klar zu denken verstanden, den plötzlichen Rückzug Oggars als Flucht. Auch Wenk und seine Getreuen konnten sich dieser Ansicht nicht mehr verschließen. Chale und Takkar hielten sich bei den Händen. Unsichtbar flossen die Vitalenergien, die sie nun brauchten, um nicht zusammenzubrechen, von einen auf den anderen über. Was sie miterleben mußten, war zuviel, um von einem allein bewältigt zu werden. Mehr als jeder andere Dynurer litten sie unter dem Schrecklichen, dessen sie Zeugen wurden. Chale starrte aus ihren großen, tief schwarzen Augen auf den Videoschirm, der das fremde Schiff zeigte. Die kupferfarbene Haut der hochgewachsenen, zartgliedrigen Dynurerin zog sich zusammen. Takkar nahm die Gefährtin ganz fest an sich und strich durch ihr silbernes, bis auf die
Schultern reichendes Haar. In diesen Augenblicken waren sie wie ein Wesen, und zusammen darauf gefaßt, das Ende ihrer Welt, aller Hoffnungen und aller Sehnsüchte zu erleben. Dabei nahmen sie von dem um sie herum tobenden Chaos fast nichts mehr wahr. Es war nichts gegen die Gewalten, die nun draußen im Weltall tobten. Oggars neues Schiff hatte keine Chance, dem Untergang zu entkommen. Als es sich in die Schutzschirme hüllte, war es schon schwer genug getroffen worden, um jede weitere Flucht sinnlos werden zu lassen. Dort oben erfolgten Explosionen. Die Schutzschirme flackerten in allen Farben des Spektrums. Das Schiff machte einen Satz, doch nicht von Dynur weg, sondern wieder auf den Planeten zu. »Es stürzt ab!« schrie Wenk in Panik. »Bei den Sternen, es wird unsere Welt zerschmettern!« Als die Bewaffneten in den Palast eindrangen, als die tobende Meute die Schockwaffen auf das Oberhaupt richtete und Wenk und seinen Vertrauten blitzartig alle Vitalenergien entzogen, da wußte Chale Bennjyk, daß der sofortige Tod beim Absturz für Oggar und Insider das gnädigere Schicksal sein würde. Sie wünschte es ihnen, denn nie hatte sie Dynurer von seinem solchen Haß erfüllt gesehen wie nun den völlig außer Kontrolle geratenen Mob. Was hast du getan, Oggar war ihr letzter Gedanke, bevor sich das Dunkel um sie schloß.
* Jard Neru war ein zitterndes Nervenbündel. Er war niemals ein Kommandant, der eine Verantwortung übernehmen konnte, aber ein bei allen sonstigen Mängeln hervorragender Pilot. Darauf allein verließ sich Oggar, als er den Molaaten nachsetzte, die in die Zentrale eingedrungen waren und auf alles geschossen hatten, das
sie zerstören konnten, ohne einen Menschen direkt zu gefährden. Der Überfall war völlig überraschend gekommen – und gerade in dem Augenblick, in dem Oggar den überraschten Dynurern eine Erklärung für die gewünschten Vorsichtsmaßnahmen geben wollte. Und es waren keine Molaaten gewesen. Die Verformer nahmen keine Rücksichten mehr. Sie zeigten sich offen und konnten es sich erlauben. Oggar war davon überzeugt, daß es nicht nur die drei Pinas und Nannas gab, deren Namen er von einer Identifizierung durch die Bordpositronik her kannte, bevor auch sie schwieg. Neru mußte die MOSES ohne Unterstützung der ausgefallenen Positronik steuern. Er mußte das unmöglich Scheinende versuchen – eine Notlandung mit einem Raumschiff zu bauen, dessen Antigravantrieb nur noch phasenweise arbeitete und jeden Moment in die Luft fliegen konnte. Er brachte das Schiff nicht mehr in den Weltraum. Oggar vertraute einfach darauf. Neru mochte in diesen Minuten tausend Tode sterben, aber er mußte es schaffen! Auch was sie auf Dynur nun erwartete, war für das Mischwesen zweitrangig. Ihm ging es darum, die Gegner zu finden und zu vernichten, bevor sie in die Container gelangen konnten. Spätestens jetzt war die Absicht der mittlerweile mehrfach geteilten Verformer ganz klar. In ihrem Generalangriff hatten sie nicht nur sämtliche Funkanlagen unbrauchbar gemacht. Sie wollten das Ende der MOSES, die Vernichtung aller Molaaten und schienen auf geradezu schizophrene Weise die Solaner schonen zu wollen. Vor dem Antigravschacht warfen sich Oggar zwei Pinas entgegen. Ihr Feuer verbrannte die letzten Reste der in Fetzen herabhängenden, blauen Kombination, konnten aber dem Androidenkörper selbst nichts anhaben. Oggar schoß zurück und erlebte, wie sich die Molaatenkörper im Tod in ein Schleimiges Etwas verwandelten. »Wir können es schaffen!« hallte Nerus heisere Stimme durch den
Korridor. »Wir sind aus dem Feuerbereich des Planetenforts! Wenn der Antrieb nur noch …« Alles weitere verlor sich im Krachen einer weiteren Explosion. Du mußt mich freigeben! sendete Carch im Bewußtseinsverbund. Kümmere du dich jetzt nur um die MOSES! Ich springe zu den Molaaten und helfe ihnen! Oggar schwang sich in den Schacht und glitt abwärts. Hör auf mit dem Unsinn! Dein Körper liegt in der SOL! Mein Körper interessiert mich jetzt überhaupt nicht! Er ist nur eine unbedeutende Hülle! Spürst du es denn nicht, Oggar? Was? Oggar schwang sich auf dem Unterdeck aus dem Schacht und sah schon das geschlossene Einstiegsluk zum Container-1, als er in die Explosion hineinlief. Der Hochleistungsdesintegrator der MOSES war nie als Waffe gedacht gewesen, sondern als Werkzeug, um nach der Ankunft in Bumerang planetoide Trümmerstücke aus dem Kurs zu beseitigen. Was die Unheimlichen aus ihm gemacht hatten, war der letzte Beweis dafür, daß sie die MOSES nun durch und durch kannten – und beherrschen konnten. Oggar stieg aus den schwarzen Rauchschwaden, suchte nach Gegnern, fand sie nicht und war im Begriff, das Luk manuell zu öffnen. Es gab auch keine Verbindung zu den hunderttausend Molaaten mehr. Dort unten mußte die Hölle toben, wenn Oggars fürchterlicher Verdacht sich bestätigte. Gib mich frei! schrie es wieder in ihm, diesmal noch viel eindringlicher. Ich weiß nicht, wie lange es anhält, aber ich bin halb geboren! Ich bin dem Endzustand nahe! Gib mich frei, ich kehre in dich zurück! Dein Gejammere war nie unangebrachter! Oggar entriegelte das Luk und stemmte es in die Höhe. Er dachte: Wäre nur Sternfeuer wieder bei sich – anstatt dieses Verrückten! Ich kann deine Gedanken lesen, Oggar! Ich kann sogar Sternfeuers psionisches Restpotential erfassen! Vor allem spüre ich die fremden Impulse
zwischen den Molaaten! Sie werden einer nach dem anderen sterben, entweder durch den Absturz oder durch die unter ihnen Wütenden! Gib mich frei, oder ich muß dich neutralisieren! Vertraue mir einmal, und du wirst sehen! Du hast doch nichts außer mir zu verlieren! Dann verschwinde! Etwas veränderte sich im Multibewußtsein. Oggar, schon zum Einstieg bereit, blieb vor dem offenen Luk stehen, verunsichert und durch den plötzlichen Schwall von Impulsen gelähmt. Ich kann die Fremden nur zeitweise espern! klang es in ihm. Es ist wie ein Flackern, aber sie sind schon mehr, viel mehr! Ich habe soviel Kraft, Oggar, ich gebe einen Teil davon an Sternfeuer ab! Ich versuche es wenigstens! Im nächsten Moment fühlte das Mischwesen ein Ziehen, dann eine lähmende Leere in sich. Oggar verlor das Gleichgewicht und stürzte schwer, als ein Ruck durch die MOSES ging. Der stotternde Antrieb ließ das Schiff wahre Bocksprünge vollführen. Die Schwerkraftabsorber arbeiteten nicht mehr einwandfrei. Sternfeuer erwachte in Oggar. Sie war noch benommen, wie aus einem Zustand gerissen, der mehr mit dem Tod als mit einem Schlaf zu tun hatte. Doch unbewußt esperte sie schon – und was sie auffing, reichte für Oggar. Er zerstrahlte die angreifenden Monster in Molaatengestalt und wußte im gleichen Moment, wo er nach den restlichen Verformern zu suchen hatte, die sich noch in der MOSES befanden. Mehr noch – er kannte ihre Absichten! Sie hatten mit dem Desintegrator das Feuer auf Dynur eröffnet und damit den Gegenschlag provoziert. Sie hatten den Antigravantrieb so stark beschädigt, daß ein Entkommen nicht mehr möglich war. Bevor sie aus der Zentrale flohen, hatten sie das Schiff einen Satz auf Dynur zu machen lassen und fast noch im gleichen Augenblick an anderer Stelle die Schutzschirmprojektoren unbrauchbar gemacht, sie hatten geglaubt, alles zur Vernichtung der
MOSES getan zu haben. Jetzt mußten sie erkennen, daß Neru über sich hinauswuchs und den ein- und aussetzenden Antrieb so handhabte, daß der Absturz immer wieder kurz aufgefangen werden konnte. Wenn er kurz über der Oberfläche nur noch einmal die volle Leistung brachte … Sie wollten vollkommen sichergehen. Oggar rannte los und kam zu spät. Die fünf Container wurden aus den Verankerungen gesprengt, lösten sich vom Trägerschiff und stürzten mit glühenden Hitzeschilden in die dichter werdende Atmosphäre von Dynur. Jard Neru zog alle Register seines Könnens. Denise Tomac, unerschütterlich und scheinbar so gefühllos wie ein Roboter, stand ihm zur Seite und spornte ihn an, wenn er glaubte, nicht länger mehr durchhalten zu können. Vor der Bugpanzerglasscheibe waberten die Flammen der ionisierten Atmosphäre. Wo sie sich teilten, kam rasend schnell die Planetenoberfläche näher. Jard Nerus letzte Tat war es, im genau richtigen Augenblick den Antrieb um wahnwitzige Werte heraufzuschalten, den Fall der MOSES so zu mildern, daß das Schiff nicht Hunderte von Metern tief in die Kruste Dynurs hineinschoß und einen viele Male so großen Krater als letztes Zeugnis seiner Existenz hinterließ. Es war sein letztes Verdienst, den Containerträger von den erkennbaren Metropolen fortzusteuern und halbwegs sanft zu landen, auch wenn Explosionen und glühende Trümmer das Land ringsum in Brand setzten. Er starb, als er aus den Gurten gerissen und gegen den Kommandostand geschleudert wurde, in dem Bewußtsein, den anderen noch eine Chance zum Leben gegeben zu haben.
* Neun Menschen warteten auf einer Anhöhe neben dem Wrack, das
sich mit dem Bug tief in den weichen Boden gegraben hatte – ein stiller und toter Gigant. Nur aus dem Heck schlugen noch Flammen. Die MOSES würde sich nie wieder von hier erheben. Sie warteten auf Oggar und auf die Dynurer, neun Überlebende, desillusioniert und mutlos. Die meisten von ihnen standen noch unter der Schockwirkung. Einige hatten sich ins Gras geworfen und weinten hemmungslos. Andere saßen nur da und starrten mit ausdruckslosen Augen auf das Wrack und die Brände, die sich allmählich legten. Einzig und allein Denise Tomac stand breitbeinig und mit geballten Fäusten zwischen den teilweise verletzten Raumfahrern und suchte den Himmel nach einer Spur der Container ab. »Es kann nicht alles umsonst gewesen sein!« stieß sie endlich hervor. Sie, die ewig beherrscht Scheinende, machte ihrer Verzweiflung und ihrem Zorn Luft, zog einem der Herumliegenden die Waffe aus der Kombination und lief den leicht abfallenden Hang hinunter. »Was willst du denn noch hier?« rief jemand hinter ihr her. »Zu Oggar! Wir haben kein anderes Schicksal verdient, wenn wir ihn allein für uns kämpfen lassen!« Das Mischwesen wollte die letzten Verformer unschädlich gemacht haben, wenn die Dynurer erschienen. Es suchte in der MOSES nach weiteren Überlebenden. Es gab die Hoffnung nicht auf, wo jeder Sinn verloren schien. Denise mußte einen weiten Bogen um brennendes Land machen. Durch ein offenes Luk, gerade zwei Meter über der aufgerissenen Erde, stieg sie in die MOSES. Fast übergab sie sich, als ihr die Hitze und der Gestank verschmorten Plastiks entgegenschlug. Sie rief nach Oggar, ohne Antwort zu erhalten. Der erste Angriff erfolgte, als sie über Leichen und Trümmer hinweg über das kletterte, was einmal die Zentrale gewesen war. Die Verformer machten sich anscheinend nicht mehr die Mühe, in der Gestalt von Molaaten oder Menschen aufzutreten. Sie schonten
die Solaner auch nicht länger. Denise sah den graubraunen. Fladen im letzten Augenblick, als die schleimige Masse sich schon vor ihr von der Decke löste. Denise sprang zurück und schoß. Sie feuerte so lange, bis das Etwas vollkommen verbrannt war und in der Decke ein großes, dunkles Loch klaffte. »Oggar!« rief sie, so laut sie konnte. Sie rannte weiter in Richtung Heck. Risse und Trümmer erforderten immer wieder Umwege oder ließen sie in Sackgassen laufen. Denise wurde unsicher, Oggar galt zwar als unbesiegbar – aber warum antwortete er dann nicht! Sie fand ihn im Heckladeraum zwischen umgestürzten Kleincontainern und aufgeplatzten Kisten. Oggar drehte ihr den Rücken zu und war über einen Mann gebeugt, dessen Beine unter einem Bauelement eingeklemmt waren. Aber das war es nicht, was Denise entsetzte. Sie stieß einen heiseren Schrei aus, als sie die beiden Molaaten sah, die sich von hinten an Oggar heranschlichen. Blitzschnell riß sie den Strahler hoch, nahm ihn in beide Hände und zielte … Sternfeuers telepathische Sinne waren auf einen Punkt hoch in der Atmosphäre Dynurs gerichtet. Das Espern verlangte ihre ganze Konzentration. Die eigentliche Umgebung war uninteressant für sie geworden, denn es gab in der MOSES keinen lebenden Verformer mehr, der durch fortgesetzte Teilung aus dem Urorganismus entstanden war. Die Impulse des letzten waren aus der Zentrale gekommen und ganz plötzlich verstummt. Ebensowenig konnte sie hoffen, noch einen bewußtlosen Solaner aufzuspüren. Der Verletzte unter dem Bauelement mußte noch aus dem Schiff gebracht werden, dann hatte Oggar hier nichts mehr zu suchen. Nur so kam es, daß sich Denise unbemerkt nähern konnte. Erst ihr Schrei ließ Oggar herumfahren – und da war es schon fast zu spät. Das Mischwesen begriff und handelte in einem. Oggar stieß sich
blitzschnell ab und stürzte sich vor die Molaaten, als Denise auch schon schoß. Der Energiestrahl traf den Androidenkörper voll. Oggar nutzte den Augenblick ihrer Verwirrung, um sich der Solanerin entgegenzuwerfen und ihr die Waffe zu entreißen. »Fast hättest du sie umgebracht! Es sind echte!« Sie stand vor ihm und schüttelte den Kopf. »Sie wollten dich …!« »Sie kamen von einem Auftrag zurück. Sie sollten für mich etwas suchen, mit dem ich den Unglücklichen dort herausholen kann, irgend etwas, das ich als Hebel benutzen kann. Es sind die echten Pina und Nanna. Sternfeuer fand sie. Sie waren bewußtlos und in einen Raum eingesperrt, in dem sie elend gestorben wären, wenn ich nicht …« Er winkte ab. »Ich kann jetzt nicht alles erklären. Es war das Glück der beiden, daß die Verformer sie nicht gleich töteten, sondern ihnen ein grausameres Ende bereiten wollten. Denise, sind schon Dynurer aufgetaucht?« »Nicht, solange ich draußen war.« Sie fand sich kaum noch zurecht. Eines der Molaatenmädchen reichte Oggar jetzt eine Metallstange, mit der er das Bauteil endlich in die Höhe stemmen konnte. »Zieh den Mann vorsichtig heraus!« befahl er Denise. Dabei hatte sie den Eindruck, er sei gar nicht so richtig bei der Sache, als interessierte ihn etwas anderes viel mehr. »Seine Beine sind zerschmettert«, stellte sie fest, als der Solaner auf Oggars Armen lag. »Middja ist tot. Wer von uns soll ihm helfen?« »Keiner von uns. Ich hoffe, daß die Dynurer es tun.« »Ausgerechnet sie! Du weißt so gut wie ich, daß sie uns für den Überfall verantwortlich machen werden. Von den Katastrophen, die durch die abgestürzten Container entstanden sind, will ich lieber gar nicht reden.« Und nicht daran denken! Nicht an die hunderttausend toten Molaaten. Nicht ans eigene Versagen! Wie konnten nur Pina und Nanna so ruhig sein!
»Sie sind nicht abgestürzt«, hörte sie Oggar sagen, als sie die MOSES endgültig hinter sich zurückließen und den Hang hinaufschritten. Denise blieb vor Überraschung und Unglauben stehen. In diesem Moment war sie davon überzeugt, daß Oggar den Aufprall doch nicht so schadlos überstanden hatte. »Nicht … abgestürzt? Aber keiner der Container hat einen eigenen Antrieb oder Antigravprojektoren!« »Etwas hält sie alle fünf oben in der Atmosphäre zusammen. Sternfeuer steht mit ihm in Kontakt, obwohl sie es nicht mehr begreift.« Denise mußte laufen, um Oggar einzuholen, der die Anhöhe schon erreicht hatte und den Verletzten sanft ablegte. Als sie neben ihm stand und seinem Blick folgte, sah sie die anfliegenden Gleiter. »Ich hatte sie früher erwartet«, murmelte Oggar nur. Denise versuchte, ihn zu sich umzudrehen. »Mit was hat Sternfeuer Kontakt? Was begreift sie nicht mehr?« »Ich bin mir selbst nicht sicher, aber es kann nur Carch sein. Es kann nur bedeuten, daß er einen Zustand erreicht hat, von dem er selbst nie wußte, wie er aussehen und sein würde. Denise, kümmere dich jetzt um unsere Helden. Paß auf, daß sie keine Dummheiten machen. Ich versuche, den Dynurern klarzumachen, was wirklich geschehen ist – falls sie mir die Gelegenheit zum Reden geben.« Er vertraute darauf. Er hoffte, daß Zytarr Wenk selbst oder Chale und Takkar die ersten sein würden, die landeten. Er wurde bitter enttäuscht. Dutzende von Fluggleitern setzten in einem Kreis um die Solaner, Oggar und die beiden Molaaten herum auf. Bewaffnete Dynurer sprangen heraus und gingen in Stellung. Von Wenk war weit und breit nichts zu sehen. Die hochgewachsenen, schlanken und absolut menschenähnlichen Wesen mit der kupfernen Haut kamen näher, langsam und drohend.
Oggar hob eine Hand zum Gruß. Die Antwort war eine Salve aus den Entzugsschockern, und als diese Waffen keine Wirkung erzielten, tauchten in den Händen einiger Dynurer tödliche Energiestrahler auf. Entsetzt erkannte Oggar, daß diese wütende Meute nie die Absicht gehabt hatte, sich Erklärungen anzuhören. Das waren keine Gesandten des Varsers! Oggar begann zu ahnen, was in der Hauptstadt geschehen war – und wußte, daß nur ein Wunder die Solaner noch retten konnte. Sie und die Molaaten!
6. Halb geboren … Drux und Filbert hätten eher zum Monarchen eines ganzen Sternenreichs vordringen können als zu Wuzgu, der sich in seiner Wohnzelle eingeschlossen und außerdem dafür gesorgt hatte, daß um ihn in einem Umkreis von drei Korridorlängen eine Sperrkette aus Molaaten errichtet war. Nur die Vertrauten durften die Barriere passieren. Und selbst sie mußten sich jedesmal wieder aufs neue die Haut ritzen lassen. Erst wenn frisches Blut aus der Wunde quoll, gab man ihnen den Weg frei. Das war nun nichts, vor dem Drux und Filbert noch erschrecken konnten. Ihre Arme waren voll von kleinen Narben. Die »Blutprobe« stellte das einzige Mittel dar, um zu sehen, wer noch Molaate war und wer nicht. Dabei ließ sich nicht absehen, ob und wann die Ungeheuer eine Möglichkeit fanden, auch molaatisches Blut nachzubilden. Noch konnten sie es offenbar nicht, und allein das hielt die Zahl ihrer Opfer noch in Grenzen. Wuzgu hatte einmal in seinem Leben einen wirklich guten Einfall gehabt und gleich dafür gesorgt, daß seine Erkenntnis in die anderen vier Wohnbereiche gefunkt wurde. Diese Verbindung
bestand noch immer, wenn auch ohne Sichtkontakt. Man konnte nicht sehen, was jetzt in den anderen Bereichen vorging, aber schlimmer als im eigenen Container konnte es nicht sein. Dort war die Hölle. Wo sich Selbstschutzgruppen gebildet hatten, durfte man sich einigermaßen sicher fühlen. Einer beobachtete den anderen. Neuhinzukommende mußten die Blutprobe über sich ergehen lassen. Wer sie verweigerte, wurde erschossen und zerfloß. Die eigentlich für Rodungszwecke auf den neuen Heimatwelten bestimmten Handdesintegratoren waren die einzigen Waffen, die die Molaaten in den aufgebrochenen Laderäumen hatten finden können. Nur etwa jeder hundertste konnte damit ausgerüstet werden. Diese Molaaten waren dort, wo noch eine Ordnung möglich war, auf die Gruppen verteilt worden. Drux hatte mehr Elend gesehen, als er jemals für möglich gehalten hatte. Er und Filbert gehörten zu den wenigen Beherzten, die immer wieder Vorstöße dorthin unternahmen, wo das Chaos regierte. Molaatinnen lagen weinend in den Armen ihrer Gefährten. Junge und Alte saßen oder lagen in den Gängen und Hallen und schienen nur noch auf ein schnelles Ende zu warten. Verletzte wurden nur in den seltensten Fällen versorgt. Die Angst machte die Molaaten halb wahnsinnig. Und sie wuchs im gleichen Maß, wie neue Ungeheuer entstanden. Die Zahl der Toten ließ sich nur schätzen. Drux wollte nicht daran denken. Er kannte nun, nach einem weiteren Vorstoß ins Chaos, nur noch ein Ziel. Aber dazu mußte er durch Wuzgus Kabine in den Funkraum. Alle anderen Wege, die zu ihm führten, waren unpassierbar geworden. Filbert hielt sich tapfer. Seitdem vermutet werden mußte, daß die echte Pina in der MOSES von den Monstern gemordet worden war, erkannte Drux ihn nicht wieder. Filbert wirkte wie jemand, der nichts mehr zu gewinnen und nichts zu verlieren hatte – und auf eine erschreckende Weise gefühlskalt. Drux passierte die Sperre und lief zur Kabine, in der das
Oberhaupt jammerte und zitterte. Er richtete den Desintegrator auf das Schloß und war entschlossen, sich von Wuzgu nicht mehr hinhalten zu lassen. Filbert schirmte den Gang ab. Das war der Augenblick, in dem sich die Stimme zum zweitenmal in die Bewußtseine der Verzweifelten schob. Drux erstarrte. Ich weiß nicht, wie lange ich euch noch halten kann! Jeder vernahm die Botschaft der unheimlichen Kraft, die die Container umschloß. Es kann ganz plötzlich zu Ende gehen! Rettet euch jetzt, ich kann es nicht mehr! »Das werden wir tun, unbekannter Freund!« stieß Drux grimmig hervor. Er wartete ab, bis sich das blaue Leuchten im Gang verflüchtigte, das die Stimme auch schon beim erstenmal begleitet hatte. Dann brüllte er: »Wuzgu! Du machst uns jetzt auf, oder ich zerstrahle die Tür!« »Bist du das, Drux?« kam es verhalten zurück. »Geh weg! Geht alle fort! Ihr seid nicht ihr, ich weiß es!« »Tu es doch endlich!« zischte Filbert. »Bevor seine Leibwache erscheint!« Und Filbert würde in seinem jetzigen Zustand auf sie schießen. Drux schauderte. »Wuzgu, wenn ich einer der Verformer wäre, würde ich mich ganz flach machen und unter der Tür durchkriechen! Ich fordere dich zum letztenmal auf, jetzt …!« Als Antwort flog von innen etwas gegen das Metall, dann folgte ein hysterisches Lachen. Er verliert den Verstand! durchfuhr es Drux. Er schoß. Der grüne Strahl fraß sich in die Verriegelung, bis die Tür aufsprang. Drux stieß sie zur Seite und war mit wenigen Schritten bei Wuzgu, der ihn schreiend erwartete. Er kümmerte sich nicht weiter um ihn, sondern verschaffte sich Zutritt zum Funkraum. Filbert zerrte das halb wahnsinnige Oberhaupt in die Höhe und hielt Wuzgu wie einen Schild vor sich,
als die ersten Molaaten erschienen. Drux setzte sich hin, zog ein Mikrophon zu sich heran und stellte eine Rundrufverbindung zu den anderen vier Wohnbereichen her. Ebenso wurde er überall im Container-1 gehört. »Wuzgu ist bis auf weiteres abgelöst«, verkündete er. »Ich übernehme die Koordination aller nun erforderlichen Maßnahmen. Ihr habt die Geistesstimme gehört. Wir haben keine Hilfe von außen mehr zu erwarten. Jeder von euch hat den Raumanzug, in dem ihr von der SOL auf die MOSES überwechseltet. Legt ihn an und begebt euch in Gruppen zu den Schleusen. Wir werden die Wohnbereiche verlassen und mit Hilfe der Gravo-Aggregate auf Dynur landen.« Er duldete keine Zwischenfragen und gab weitere Anweisungen, konkrete Verhaltensmaßregeln, von denen er genau wußte, wie schwer sie sich in der Praxis einhalten lassen würden. Drux haßte sich dafür, sich vor allen seinen Artgenossen wie ein Diktator aufspielen zu müssen. Aber es gab keine andere Möglichkeit mehr. Was jetzt vonnöten war, war eine starke Hand, jemand, zu dem die Molaaten aufsehen, an den sie sich klammern konnten. Es gab keine Hoffnung mehr, Bumerangs Sterne noch einmal zu sehen. Doch nach Oggars knappen Ausführungen über das Reich der Dynurer existierten in ihrem Kugelsternhaufen noch genug unbesiedelte Welten. Eine davon konnte zur neuen Heimat werden. Drux gab sich nur für einen Moment diesen Gedanken hin. Nacheinander meldeten sich die anderen Wohnbereiche. Die Antworten der dortigen Gruppenleiter machten Drux schmerzlich klar, wie lange sie auf eine solche Entscheidung gewartet hatten. Von Zorn gepackt, schlug er auf die Kommunikationstaste. »Und ich will keinen von euch sehen, der sich nicht um die Verletzten und Schwachen kümmert! Wir nehmen sie alle mit! Ritzt ihnen die Haut, um festzustellen, ob sie Molaaten sind! Dann helft ihnen in die Raumanzüge! Unser Volk geht hier von Bord! Es soll keiner zurückbleiben!«
Wütend zerschlug er den Mikrophonkopf an einer Wand, stand auf und packte sich Wuzgu. »Ich nehme mich deiner an, um als gutes Beispiel voranzugehen, Oberhaupt!« Wuzgus Leibgarde ließ die Waffen sinken. »Wir kämmen alle Gänge und Räume durch!« befahl Drux. »Erst wenn wir den letzten Verzweifelten in einen Anzug gesteckt und zur Schleuse gebracht haben, steigen wir aus!« Beeilt euch! hallte es in seinem Bewußtsein. Wenn ihr leben wollt, zögert nicht länger! »Wir gehen alle zusammen!« preßte Drux hervor. Der Jubel, der ihm entgegenschlug, war alles andere als angebracht. Doch er bewies, daß die Molaaten endlich begriffen hatten. Von nun an halfen sie sich selbst – und führten den eigenen Kampf um die Zukunft. »Dir ist klar«, sagte Filbert, »daß mit uns auch die Ungeheuer auf Dynur hinabregnen werden.«
* Cpt'Carch spürte, wie das gewaltige Kraftpotential sich erschöpfte, das sich so überraschend in ihm aufgebaut hatte – doch wer war er? Eine energetische Blase, die die fünf Container mit schnell gebildeten Ausläufern nach dem Absprengen eingefangen hatte und nun zusammenhielt; eine Aura, in deren Innerem alle physikalischen Gesetze teilweise aufgehoben waren. Er konnte es steuern, konnte die natürliche Schwerkraft des Planeten neutralisieren, die auf die fünf Container wirkte, und gleichzeitig durch partielle Felder dafür sorgen, daß die Molaaten nicht schwerelos in ihren Behausungen durcheinandergewirbelt wurden. Es gab erschreckend viel andere Dinge, auf die er keinen Einfluß
hatte – und das war in erster Linie seine eigene Entwicklung. War dies nun der Endzustand? Das Ergebnis einer Metamorphose, von der er nicht wußte, wann sie überhaupt begonnen hatte? Was war er gewesen, bevor er seinen Bananenkörper erhielt? Carch konnte kein Glück empfinden. Er wußte, daß er einen Schritt getan hatte, der noch nichts Endgültiges darstellte, der das Ergebnis äußerer Einflüsse und eines unbewußten Aufbäumens darstellte. Er war verfrüht. Carch würde wieder in das Multibewußtsein zurückstürzen und vielleicht eine Erinnerung an eine andere Existenzform zurückbehalten, die nicht die letzte sein mußte! Weshalb sonst weigerte er sich, sie zu akzeptieren? Er »sah«, sah sich selbst und die fünf Kästen im Einflußbereich seiner neuen Kräfte. Sie begannen schon auseinanderzudriften. Beeilt euch! Die Zeit läuft ab! Er sah sich als flackerndes Licht, das durch die Reihen der Molaaten geisterte, nachdem er sich aus dem Multibewußtsein gelöst hatte. Er sah sich in die leicht zu espernden Verformer eindringen und sie auflösen. Er hätte sie alle aufspüren und vernichten können, wenn die Entwicklung an diesem Punkt aufgehört hätte. Die ersten Gruppen von Molaaten verließen die Container, stießen sich ab und stoben wie ein Schwarm von Insekten in die DynurAtmosphäre. Von den Wohnbereichen fort! sendete er. Die Kraft schwand schneller. Die Aura zog sich zusammen, konzentrierte sich auf ihn. Schon spürte er das Ziehen, das von Oggar ausging. Er versuchte verzweifelt, seinen Zustand nur noch für Minuten zu erhalten, wußte nicht, wovor er mehr Angst hatte: in Oggar zurückzustürzen oder einen weiteren Schritt zu tun, auf den er keinen Einfluß hatte. Was ist mein Leben?
Zum erstenmal erfaßte ihn fast panische Angst vor dem, was er so oft halb im Scherz als »Geborensein« bezeichnet hatte. Wolken von Molaaten trieben zwischen und neben den Containern. Und immer noch kamen neue hinzu. Carch kämpfte den Kampf seines jungen – oder alten? – Lebens, kämpfte um jede Sekunde. Die Container sanken langsam in die Tiefe. Das neutralisierende Feld bekam Risse und ließ die DynurSchwerkraft auf die fünf riesigen Kästen wirken. In einem letzten Aufbäumen wagte Carch alles, sogar seine eigene Existenz. Was man unten auf dem Planeten am Himmel sah, war etwas wie Wetterleuchten, ein kurzer Blitz in allen Farben. Dann war ein Pfeifen und Jaulen in der Luft. In glühenden Bahnen schossen die Container auf die Oberfläche zu, gewaltige Meteore – und flammende Bomben.
* Die Molaaten haben sich gerettet! Carch ist wie aus diesem Universum verschwunden! Ich spüre nichts mehr von ihm! Diese kurze Botschaft Sternfeuers machte Oggar den Weg frei zum blitzschnellen Handeln. Er begriff gerade soviel, wie er unbedingt wissen mußte – und würde keine zweite Chance bekommen. Die Dynurer, deren Energieschüssen die zehn Solaner mit Pina und Nanna schutzlos ausgeliefert gewesen wären, erstarrten vor Schreck und Entsetzen, als sie die Glut am Himmel ihrer Welt sahen. Für Augenblicke vergaßen sie ihre vermeintlichen Gegner. Oggar stürmte vor und war zwischen ihnen, bevor sie überhaupt wußten, wie ihnen geschah. Im Handumdrehen hatte er drei, vier Entzugsschocker erbeutet und warf sie Denise und den anderen zu, die wieder stehen und kämpfen konnten. Denise begriff sofort. Oggar und sie lähmten alle Dynurer, die Energiewaffen trugen,
dann die noch in den Gleitern sitzenden Piloten. Nach nur zehn Sekunden war der Kampf entschieden. Die Solaner schüttelten ihre Apathie endgültig ab, rissen den reglos am Boden liegenden Planetariern die Schocker aus den Händen und schossen, bis sich kein Dynurer mehr rührte. Irgendwo schlug einer der Container ein. Die Oberfläche bebte. Männer und Frauen verloren das Gleichgewicht, stürzten hin und blieben liegen, die Hände schützend um den Nacken gelegt. Ein weiterer Aufprall erfolgte mindestens eintausend Meter entfernt, doch die Wirkung war ebenso katastrophal wie beim ersten. Noch dreimal bebte das Land. Dann war alles vorbei. In der Atmosphäre tobten Stürme und zuckten Blitze, aber das verlor sich. Bevor die Orkane über Dynur sie erreichen würden, hatten Oggar und die Überlebenden der MOSES Zeit, sich über ihr Vorgehen klar zu werden. »Steht auf!« rief das Mischwesen den Menschen und Molaaten zu. Oggar sah die Verzweiflung und die Tränen in den Gesichtern von Pina und Nanna. Er wußte, was sie nun dachten, nahm sie hoch und stand für eine Weile schweigend vor den Trümmern einer so vielversprechenden Freundschaft. Die Molaatenmädchen lagen an seinen Schultern. »Eure Brüder und Schwestern leben«, sagte er endlich. »Sie konnten sich in den Raumanzügen retten und werden bald auf Dynur landen. Vorher müssen wir alle Mißverständnisse aus der Welt schaffen. Ich kann die Dynurer verstehen. Kein Haß ist schlimmer als der aus enttäuschter Erwartung, Liebe oder Sehnsucht.« »Und was tun wir?« wollte Denise wissen. »Wir nehmen die Gleiter und fliegen zur Hauptstadt. Die Technik der Maschinen ist leicht zu begreifen. Jeder von euch kann eine steuern. Die Dynurer bleiben vorläufig hier. Sie werden nicht sterben. Sobald ihre Vitalenergien durch Körperkontakt oder Geräte wiederaufgebaut werden, kommen sie zu sich.«
»So einfach stellst du dir das vor? Wir fliegen einfach zu einer Stadt, von der wir nicht wissen, wo sie überhaupt liegt, und klären alles auf, ja?« »Ihr braucht mir nur zu folgen.« Oggar sah wenig Sinn darin, jetzt weitere Erklärungen abzugeben oder sich auf lange Diskussionen einzulassen. Er nahm Pina und Nanna mit, hob sie in den erstbesten Gleiter und war schon im Begriff, in die Pilotenkanzel zu steigen, als Denise ihn zurückrief. »Was ist denn noch?« fragte er ungehalten. Sie hatte sich den Mann mit den zerschmetterten Beinen über die Schulter gelegt und stand bei einem Solaner, der sich nicht rührte. Im allgemeinen durcheinander war das vorher nicht aufgefallen. »Er reagiert nicht«, sagte Denise. Oggar murmelte eine Verwünschung und sah sich den Mann an, packte seine Schultern und rüttelte ihn leicht. »Als ob er paralysiert wäre«, meinte jemand. Ein phantastischer Gedanke schoß Oggar durch den Sinn. Die Entzugsschocker der Dynurer wirkten nicht auf Menschen. Ich weiß, was du denkst, Oggar, signalisierte Sternfeuer. Aber ich kann nichts espern. Wenn er ein Mensch ist, dann ist er tot. »Hat jemand ein Messer?« fragte Oggar. Kurz darauf war sein Verdacht zur Gewißheit geworden. Aus dem Schnitt quoll kein Blut, sondern eine schwarze Masse, die sich sofort kräuselte und verhärtete. »Jetzt brauchen wir den guten Willen der Dynurer noch nötiger als zuvor«, sagte der Pers-Oggare. »Es gab doch noch einen Verformer. Sie haben gelernt, ihre mentalen Ausstrahlungen vor uns abzuschirmen. Aber nun haben wir erstmals die Möglichkeit, sie unschädlich zu machen, ohne sie vorher telepathisch aufzuspüren.« »Diese Entzugsschocker?« erriet Denise. Oggar nickte. »Sie sind für sie tödlich. Die Molaaten sind immun wie wir. Wenn sie auf Dynur herabregnen, müssen wir zu ihrem Empfang bereit
sein.« Er legte den Kopf in den Nacken und sah die ersten winzigen Lichtpunkte am Himmel, die nur für seine hochempfindlichen Sehzellen erkennbar waren. Sie befanden sich noch zehntausend Meter über der Oberfläche. »Komm jetzt!« Oggar hatte keine Mühe, den Gleiter zu starten. Ein Mikrocomputer war darauf programmiert, von allen Punkten Dynurs aus den richtigen Kurs zur Zentralstadt auszuweisen. Neun Maschinen hoben ab und beschleunigten. Oggar flog voran.. Ich möchte wissen, was sie wirklich denken! sendete Sternfeuer. Was ich von den Verformern empfangen konnte, waren ja nur Eindrücke – Absichten, aber niemals klare Gedanken. Ich möchte wissen, warum sie das alles taten und die Molaaten so hassen. Jetzt denken sie gar nicht mehr! Sternfeuer erschrak vor Oggars Härte. Sie wußte aber auch, daß er die Fremden dafür verantwortlich machte, daß er den HORT verloren hatte – und mit ihm Insider. Das würde so bleiben, bis sein Schiff zwischen den Sternen erschien. Doch darauf deutete nichts hin. Oggar brauchte nicht mehr einzugreifen. Noch bevor die Stadt am Horizont auftauchte, erschienen wieder dynurische Fluggleiter. Als das Funkgerät ansprach und die Verbindung hergestellt war, blickte ein Gesicht von dem kleinen Bildschirm, das Oggar unter Tausenden wiedererkannt hätte. »Chale!« sagte er erleichtert. »Ich freue mich, dich zu sehen, Oggar«, antwortete die Dynurerin. »Und dies trotz allem, was geschehen ist. Niemand, der vor Angst nicht den Verstand verlor, glaubt an deine Schuld an dem Überfall und dem Bombardement aus dem Weltraum. Zytarr Wenk spricht in diesen Minuten zur Bevölkerung. Wir konnten nicht früher helfen, weil wir …« Sie winkte ab. »Jedenfalls kamen die Dynurer gerade rechtzeitig wieder zur Vernunft. Der überwiegende Teil
verhält sich jetzt abwartend, aber die Furcht und das Mißtrauen sind noch nicht ganz ausgeräumt. Wir mußten Tausende lähmen, Oggar. Wir glaubten nie, daß so etwas noch einmal nötig sein würde.« Oggar erinnerte sich nur zu gut an die bürgerkriegähnlichen Zustände vor Hapeldans Entlarvung durch Wenk. »Deshalb werde ich eine Erklärung abgeben, Chale.« »Wir wußten es. Wir sind gekommen, um euch sicher zum Regierungspalast zu bringen. Gibt es in der Zwischenzeit etwas, das wir für euch tun können? Wo ist überhaupt dein Freund Insider?« »Ihr könnt etwas tun«, überging Oggar die letzte Frage. »In kurzer Zeit werden viele tausend Molaaten auf Dynur landen.« Er rückte Pina in den Erfassungsbereich der Übertragungsoptik. »Unter ihnen werden sich Wesen befinden, die zwar wie Molaaten aussehen, aber in Wirklichkeit Ungeheuer sind, gnadenlose Mörder. Der Beschuß mit Entzugsschockern tötet sie – und nur sie. Chale, ich verlange zwar viel von euch, denn ich weiß, wie sehr ihr vor Gewalt zurückschreckt. Nicht nur wir sind durch die Fremden bedroht. Sie werden auch vor euch Dynurern nicht haltmachen, wenn wir sie nicht sofort nach der Landung aus den echten Molaaten herausfiltern. Stellt Trupps zusammen, die sie empfangen.« Über Chales zierliches Gesicht huschte ein Schatten. Sie senkte den Blick. »Diese Fremden haben uns vom Weltraum aus angegriffen?« »Ja.« »Wir stehen in deiner Schuld, Oggar. Wir werden tun, was du verlangst.« Sie schaltete sich aus. Sternfeuer machte dem Partner heftige Vorwürfe: Du willst, daß sie für uns töten! Sie können nicht töten, Oggar! Wenn du sie zwingst, raubst du ihnen … alles! Ich gebe ihnen etwas! Ich gebe ihnen die Chance zu leben! Und noch mehr, einen Weg aus dem Kugelsternhaufen heraus! Du glaubst immer noch …?
Ich werde die Molaaten nach Bumerang bringen! Sie wußten beide, daß dies nur mit Hilfe des HORTS möglich war, falls überhaupt. Und irgendwo war noch die Hoffnung, daß Cpt'Carch in den Bewußtseinsverbund zurückkehren würde.
* Die Gleiter erreichten die Stadt, die wie alle Metropolen Dynurs in wunderschöne Parklandschaften und Naturschutzgebiete eingebettet war. Ganz Dynur war ein Paradies – aber nun eines mit häßlichen Narben. Das ganze Ausmaß der Katastrophe würde sich erst später offenbaren. Diese Wunden werden heilen, bemerkte Sternfeuer. Takkar wartete vor dem Palast. Oggar und die Molaaten wurden unverzüglich zum Varser gebracht, der das Mischwesen vor den laufenden Fernsehkameras demonstrativ begrüßte. Von den Solanern war nur Denise Tomac dabei. Zytarr Wenk trat zur Seite und bedeutete Oggar, nun zu den Dynurern zu sprechen. Und sie erfuhren von der Mission der MOSES, vom Auftauchen der Verformer, von den hunderttausend Molaaten und all den Umständen, die das Schiff in die Sterne geführt hatten. »Ihr braucht nicht zu kämpfen«, beendete Oggar seine so knapp wie möglich gehaltenen Ausführungen. »Gebt uns nur genügend Waffen. Wir hassen das Töten ebenso wie ihr, aber der Gegner läßt uns keine Wahl. Wir müssen uns wehren, und ich verspreche euch, daß ihr in den Molaaten treue Freunde für alle Zeiten haben werdet, wenn dies vorbei ist. Ihr seid nicht mehr allein und werdet es niemals mehr sein – auch wenn es ein Opfer erfordert.« Danke! kam es von Sternfeuer. Danke, daß du ihnen diese Last abgenommen hast – aber nicht für ein Versprechen, von dem du nicht weißt, wie du es halten willst!
Er brauchte nichts zu entgegnen. Sternfeuer las seine Gedanken und wußte, daß er sich niemals damit begnügen würde, den Rest seines Lebens im Kugelsternhaufen zu verbringen, den er in Erinnerung an seine einstige Gefährtin »Auxonia« getauft hatte.
* Die Stimmung schlug so schnell wieder zugunsten der Besucher um, wie sich vorher Entsetzen und Panik breitgemacht hatten. Die Dynurer sahen das Unrecht, das sie ausgerechnet jenem Wesen getan hatten, dem sie soviel verdankten. Das führte dazu, daß sie in einer regelrechten Besessenheit, dies wiedergutzumachen, nicht nur die Solaner und Molaaten mit ihren Waffen ausrüsteten. Sie begleiteten sie in der Überzeugung, daß Geschöpfe, die soviel Leid und Verderben über andere Intelligenzen brachten, auch selbst das Recht auf Leben verwirkt hatten. Die Dynurer träumten den Traum von einem harmonischen Universum jenseits der großen Leere, von einer einzigen, großen Völkerfamilie, in der es keinen Streit, keinen Haß und keinen Neid auf den anderen gab. Das Schlimmste, das sie sich dabei vorstellen konnten, waren Zerstörer, Aggressoren, negative Mächte, die ihren Traum auslöschten. Oggar beneidete sie fast um ihre Naivität, um ihre Unschuld. Er wünschte ihnen, daß sich ihre Sehnsucht erfüllen möge. Die Molaaten fielen etwa fünfhundert Kilometer südlich von der Zentralstadt in einem Gebiet vom Himmel, dessen Ausdehnung nicht mehr als tausend Quadratkilometer betrug. Überall zwischen und unter ihnen tauchten die Gleiter auf. Die überraschten Molaaten mußten entsetzt sehen, wie sich Waffen auf sie richteten und ausgelöst wurden. Außer einem leichten Kribbeln im Hinterkopf spürten sie nichts. Die anderen aber, die in ihrer Gestalt auf Dynur ankamen, brachen
zusammen und blieben entweder für immer starr liegen oder veränderten sich noch im Sterben. Einige entgingen dem Tod dadurch, daß sie, durch den Anblick der verendenden Verformer gewarnt, sofort nach dem Aufsetzen ihre Gestalt veränderten und aus den Raumanzügen in den lockeren Boden flossen. Oggar konnte es nicht verhindern. Als auch der letzte Molaate gelandet war und den Schockbeschuß ohne Reaktion überstand, war immerhin die Spreu vom Weizen getrennt. In einer Blitzaktion brachten die Dynurer die Heimlosen in bereits vorbereitete Wohnquartiere in drei Städten. Wer darin keinen Platz fand, wurde in riesigen Zelten untergebracht. Sicherheitsvorkehrungen jeder nur denkbaren Art wurden getroffen, Verletzte gepflegt und behandelt. Schließlich wußte jeder einzelne Molaate über das Bescheid, was sich inzwischen auf Dynur ereignet hatte. Zytarr Wenk bot ihnen die Gastfreundschaft seines Volkes an und versprach, alles zu tun, um zu helfen. Drux höchstpersönlich setzte Wuzgu wieder als Oberhaupt der kleinen Kolonie ein. Er und Filbert waren überglücklich, als Pina bei ihnen erschien und ihnen um den Hals fiel. Doch das alles konnte kein Trost sein. Es hatte zu viele Opfer gegeben, und Bumerang schien unerreichbar weit weg.
* Früh am nächsten Tag erhielt Oggar einen genauen Überblick über das ganze Ausmaß der Katastrophen, die sich auf Dynur ereignet hatten. Außerdem hatte Wuzgu sich angesagt, um über die Verluste unter den Molaaten zu berichten. Er ließ auf sich warten, so daß Zytarr Wenk Oggar lange Filmaufnahmen über die schon aufgenommenen Arbeiten bei den fünf Einschlagstellen vorführen konnte.
»Wie durch ein Wunder«, sagte der Varser, »ist keine der Städte getroffen worden. Die Verwüstungen unserer Natur sind schlimm genug, doch zu beheben. Kein einziger Dynurer kam ums Leben.« Oggar sah beeindruckt die Aufräumkolonnen, die an den Kraterrändern die Wälle aus verdrängtem Erdreich mit Raupenfahrzeugen zusammenschoben. Andere Dynurer versuchten, aus den Containern noch zu retten, was zu retten war. Dies betraf in erster Linie natürlich die für den späteren Bau von Wohneinheiten vorgesehenen Bauteile. Zytarr erriet Oggars Gedanken. »Wir sind vorsichtig. Vor jedem Betreten der Würfel machen wir von den Schockern Gebrauch.« Aber was war aus den Verformern geworden, die der Vernichtung entkommen konnten? War das Gras, das dort wuchs, auch wirklich Gras? Kam es näher, lautlos, unerkannt, schnell? »Auch eure grünen Strahlen richteten weit weniger Schäden an, als wir im ersten Moment alle befürchteten«, fuhr Wenk fort. »Das Schlimmste war unsere eigene Angst.« Die Bilder wechselten. Der Desintegrator hatte tiefe und lange Gräben in die Oberfläche gefressen, doch zum Glück auch nur in unbewohnten Gebieten. Oggar wagte sich nicht vorzustellen, wie es auf einer dichter besiedelten Welt ausgesehen hätte. Auch hier waren die Planierraupen bei der Arbeit. Schließlich das Abwehrfort. Ihm galt Oggars größte Sorge für den Fall, daß der HORT zurückkehren sollte. Und auch in dieser Hinsicht konnte Wenk ihn beruhigen. Es war Spezialisten gelungen, die zentrale Steueranlage außer Betrieb zu setzen. Später sollten dieses und alle anderen Forts auf den Planeten der Sterne demontiert werden. Wenk gab einer Dynurerin ein Zeichen. Sie schaltete den Projektor aus und zog sich zurück. Die beiden Männer waren allein. »Du bist nicht zu uns gekommen, um die Molaaten auf unseren
Welten anzusiedeln, Oggar«, sagte der Varser. »Natürlich nähmen wir sie gerne auf, aber du denkst an etwas anderes.« »Ich denke«, bestätigte Oggar, »an einen Raumschlauch nach Bumerang.« Wenks kupferfarbene Haut verlor etwas von ihrem Schimmer, was dem Erblassen bei einem Menschen entsprechen mochte. Der Dynurer stand auf und blieb für eine Minute schweigend vor der dunklen Projektionswand stehen. »Wie stellst du dir das vor?« fragte er schließlich sehr leise. »Ein Raumschlauch kann zwei Planeten miteinander verbinden, aber keiner von ihnen ist mehr als 1,8 Lichtjahre von einem anderen entfernt.« »Keiner eurer Planeten, Zytarr. Ihr hattet nie die Gelegenheit, einen Versuch zur Überwindung größerer Entfernungen zu machen.« »Und wie weit ist es bis nach Bumerang?« »Mehr als 12 Millionen Lichtjahre.« Wenk fuhr herum und starrte sein Gegenüber fassungslos an. Allein der Gedanke an diesen kosmischen Abgrund schien ihn schwindlig zu machen. »Zwölf Millionen!« stieß er hervor. Oggar blieb ruhig. Hatte er eine andere Reaktion erwarten dürfen? »Wir können es schaffen«, gab er seiner Überzeugung Ausdruck. »Mit euren Raumschläuchen ist es so wie mit dem Überlichtantrieb unserer Schiffe, Zytarr. Beide machen sich ein übergeordnetes Medium zunutze, in dem Raum und Zeit keine oder kaum eine Rolle mehr spielen. Bumerang zu erreichen, ist demnach nicht eine Frage der Entfernung, sondern der erforderlichen Energiemenge. Vielleicht hat uns ausgerechnet Hapeldan hier die Möglichkeit gegeben, diese Energien zu erzeugen. Ich denke an die gewaltigen Anlagen in den Abwehrforts.« »Du hast alles schon durchdacht«, flüsterte Wenk. »Aber auch die andere Seite? Wie willst du einen Raumschlauch ohne Gegenpol aufbauen?«
Man nannte sie »Weltnabel«, jene unter großen Kuppeln gelegenen Ankunfts- und Abstrahlstationen, von denen es allein auf Dynur zwölf gab. Die Raumschläuche standen nicht immer. Sie wurden nach Bedarf geschaltet. Danach stellten sich die zu Befördernden auf eine Kontaktplatte und warteten ab, bis das charakteristische blaue Leuchten entstand und sich der Schlauch aus verfestigter Energie um sie bildete. Sie empfanden den Transport zur Zielwelt lediglich als kurzes Emporgerissenwerden in einen Zustand der Schwerelosigkeit, der von psychedelischen Farbmustern begleitet wurde. Fast ohne jeglichen Zeitverlust erreichten sie ihr. Ziel. Die Transportgeschwindigkeit betrug immer 54.471 Lichtjahre pro Sekunde, dividiert durch eine Schlauchkonstante. »Dazu brauche ich mein Schiff«, antwortete Oggar. »Sobald Insider mit dem HORT eintrifft, können von euren Wissenschaftlern alle zum Bau eines neuen Weltennabels erforderlichen Teile an Bord verladen werden. Wir werden sie nach Bumerang bringen, der HORT legt die Strecke dorthin in weniger als einem Tag zurück. Sind die zum Aufbau des Raumschlauchs notwendigen Anlagen erst einmal auf einem Planeten installiert, spielt die Energieerzeugung keine Rolle. Dazu genügt wahrscheinlich schon die autarke Kraftstation der SCHNECKE, meines Beiboots. Später werden sich andere Möglichkeiten finden lassen.« »War es das, was du gemeint hast, als du von Opfern sprachst und davon, daß wir nie wieder allein sein würden?« Oggar stand auf und legte dem von heftigen Gefühlen bewegten Dynurer eine Hand auf die Schulter. Wenk wollte es von ihm hören. »Können wir es verwirklichen«, versprach er, »dann werdet ihr den Weg aus den Sternen heraus gefunden haben. Es ist euer Verdienst, Zytarr, allein eure Leistung, denn ein Dynurer namens Auktan lieferte die theoretischen Grundlagen zum Bau der Weltennabel. Ihr werdet auch ohne Raumschiffe Bumerang erreichen – und von dort aus später vielleicht die anderen Galaxien.
Vorläufig aber werden euch Hunderte von Welten zur Verfügung stehen. Ihr könnt den Molaaten beim Aufbau ihrer neuen Zukunft helfen, und sie werden wieder Raumschiffe bauen, mit denen ihr dann gemeinsam Welt für Welt anfliegen und Weltennabel installieren könnt.« Wenks Blick schien auszudrücken: Machen wir uns nicht beide nur etwas vor? Wo ist dein HORT denn? Oggar wollte ihn seinen Gedanken überlassen, als vom Eingang her eine Stimme ertönte: »Ich habe alles gehört und bin einverstanden! Wir Molaaten würden hier leben können, aber nie glücklich sein wie dort, wohin wir gehören.« Oggar wirbelte herum. Er hatte Wuzgu nicht kommen gehört. Kein Dynurer war erschienen, um Wuzgu anzumelden. »Deinen Entzugsschocker, Zytarr«, flüsterte er dem Varser zu. »Ich habe sehr gute Ohren!« protestierte Wuzgu schrill. »Aber bitte! Ihr braucht das Ding nicht, seht her!« Er streifte den Ärmel seiner Kombination hoch und zog eine kleine Klinge aus der Tasche. Im nächsten Moment ritzte er sich den Arm.
7. Die letzte Etappe Vier Tage vergingen, ohne daß etwas geschah. Weder tauchte der HORT auf, noch deutete irgend etwas auf einen Angriff der Verformer hin. Man war schon bereit zu glauben, daß sie durch Mikroorganismen oder andere Einflüsse der dynurischen Natur umgekommen waren, als sich plötzlich Sternfeuer im Multibewußtsein meldete. Sie hatte sich bis dahin abgekapselt. Oggar wußte, daß sie unter der Trennung von Cpt'Carch litt, bei der es allmählich so schien, als sollte sie wirklich für immer sein. Carch war entweder tot oder hatte seine Erfüllung gefunden, worin auch immer sie bestehen mochte. Oggar selbst vermißte den seltsamen
Quälgeist mehr, als er zeigte. Er hoffte insgeheim noch auf Carchs Rückkehr. So wie er auf Insider und den HORT hoffte. So wie über 98.000 Molaaten hofften. 1888 der kleinen grünen Wesen waren ums Leben gekommen. Das war weniger, als zunächst angenommen werden mußte. Ich empfange etwas! sendete Sternfeuer. Es ist keine bekannte Ausstrahlung. Etwas kommt näher und denkt – aber noch zuwenig! Konkreter! Ich glaube, es will noch nicht, daß wir es … Das Bewußtsein der Solanerin schwieg für eine Weile. Dann waren seine Impulse intensiver: Es weiß, daß ich es entdeckt habe, Oggar! Es bleibt in der Nähe, als würde es warten. Aber es ist hier im Palast! Oggar bewohnte eine große Suite im Regierungsgebäude. Die neun Solaner von der MOSES waren wenige Stockwerke tiefer untergebracht. »Die Verformer«, murmelte der Pers-Oggar. »Du kannst mich zu ihnen führen?« Er nahm einen Entzugsschocker in die rechte, seinen Kombistrahler in die linke Hand. Ich kann es, aber warte! Es ist ein einziges Wesen, aber … anders! Ja, es sind die Verformer, die sich retten konnten, aber zu einem Ganzen zusammengeschlossen. Sie warten, weil sie uns etwas mitteilen wollen! Du irrst dich, Sternfeuer! Sie wollen immer nur eines. Warum sollte sich das jetzt geändert haben? Ich weiß es doch nicht! kam es fast flehend zurück. Aber du darfst nicht einfach gleich schießen! Höre dir an, was sie zu sagen haben. Sie sind nicht hier, um zu töten. Sie schließen ihre Gedanken noch vor mir ab, aber ganz kurz konnte ich etwas empfangen. Es war zuerst so vage wie bisher, dann aber wie ein Bild, wenn die Augen sich darauf eingestellt haben. Verstehst du? Vielleicht können auch sie uns erst jetzt verstehen und begreifen! Führe mich zu ihnen!
Oggar hatte nicht die Absicht, die Mörder zu schonen, und Sternfeuer spürte es. Sie wußte aber auch, daß er notfalls den ganzen Palast abriegeln und jeden Winkel durchkämmen lassen würde. Wenn du ihnen eine Chance gibst! Nur dann, Oggar! »Ich werde sie anhören, wenn sie es wollen«, sagte er wieder laut. Im nächsten Moment wußte er, wohin er sich zu wenden hatte. Er verließ seine Suite und schritt den nach dynurischem Geschmack eingerichteten, breiten und hohen Korridor entlang, an dessen Ende Treppen aus blau und grün schimmerndem Stein sich sanft nach oben und unten schwangen. Es war unheimlich still. Keine Stimmen waren zu hören. Kein Dynurer begegnete Oggar. Was Sternfeuer nicht voraussagen konnte, war, in welcher Gestalt der oder die Fremden auf ihn lauerten. Wozu immer sie sich zusammengeschlossen hatten, sie konnten nur gekommen sein, um Rache zu nehmen. Oggar rechnete mit einem parapsionischen Angriff. Wieder beschwor die Partnerin ihn, nichts zu überstürzen. War dies nun plötzliche, unangebrachte Sentimentalität? Falsches Mitleid oder aber die Intuition einer erfahrenen Telepathin, die mehr gefährliche Situationen durchstanden hatte als Oggar seit dem Verlassen seiner Welt? Wachsam. Jeden Schritt sorgsam wählen. Die zweite Treppe hinunter. Aber das war schon fast bei den Quartieren der Solaner! Sie sind wohlauf, Oggar! Denke jetzt nicht an sie! Wir sind ganz nahe! Der Palast ist von den Dynurern verlassen! durchfuhr es das Mischwesen. Sternfeuer konnte seinen bösen Verdacht weder bestätigen noch zunichte machen, denn schon beim ersten Aufenthalt in den Sternen hatte es sich herausgestellt, daß die Gedanken der Dynurer weder zu lesen noch anzupeilen waren. Nur wir und die Solaner!
Die Füße des Androidenkörpers berührten den dicken, weichen Teppich, der am Ende der Treppe begann. Oggar schritt weiter. Die Sehzellen suchten jeden noch so kleinen Winkel ab. Wenn das Ungeheuer jetzt tatsächlich in unmittelbarer Nähe war, wie Sternfeuer noch erregter behauptete, mußten sie es im infraroten Bereich erfassen. Oggar blieb in der Mitte des Ganges stehen. »Du hast dich entweder geirrt«, sagte er halblaut, »oder es kann dich beeinflussen.« Oggar, wir sind … wir müssen in ihm sein! Was folgte, war ein gedanklicher Aufschrei. Die Wärmestrahlung entstand und potenzierte sich so schnell, daß auch die Infrarotortung zu spät kam, um das in der Bauchhöhle sitzende Mnemodukt II rasch genug die Kontrolle über den Körper übernehmen zu lassen. Innerhalb von Sekundenbruchteilen zog sich das zusammen, was sowohl Oggar als auch Sternfeuer für einen Teppich gehalten hatte, warf Falten von einem halben Meter Höhe und kroch an Oggar empor. Der Androidenkörper war vollkommen eingeschlossen, bevor er auch nur einen Schuß abgeben konnte. Die fließende Masse erkaltete wieder und wurde so hart wie Stahl. Selbst die größten Kraftanstrengung vermochte den auf unglaubliche Weise lebenden Panzer nicht mehr zu sprengen. Du bist also nicht unbesiegbar! klang es vollkommen klar verständlich im Multibewußtsein. Wir wußten, daß wir einen Weg finden würden!
* »Und was jetzt?« fuhr Insider das Mnemodukt an. Diese Kugel konnte keine Gefühlsregung zeigen. Sie war eine
Positronik, ein Neutrum – ein verdammtes unnahbares Etwas, das Insider noch nicht einmal jetzt den Triumph gönnte. Wie lange hatte er darauf gewartet, einmal derjenige zu sein, der am Ende recht behielt! Nun, da es geschehen war, machte ihn selbst das nicht mehr froh. Der HORT raste mit halber Lichtgeschwindigkeit in die Sterne hinein. Es war keine Minute her, daß das Mnemodukt den blind abgesetzten Hilferuf seiner kleineren Ausgabe, des Mnemodukts II in Oggars Körper, empfangen hatte. Inzwischen bestand Funkkontakt mit den Dynurern, doch über die Gefahr, in der Oggar schweben mußte, wußten sie absolut nichts zu sagen. Im Gegenteil versicherten sie, er, die Molaaten und die Überlebenden von der MOSES seien gesund und gut untergebracht. Sie machten sich eher Sorgen um ihn. Insider warf einen Blick über die Schulter, bevor er sich wieder voll und ganz auf die Annäherung an Dynur und das bevorstehende Landemanöver konzentrierte. Das einmal aufleuchtende, dann wieder verblassende Etwas in der Nähe des Zentralausgangs erinnerte jetzt immer mehr an Cpt'Carch, so wie er einmal ausgesehen hatte und wie sein vom Bewußtsein verlassener Körper immer noch in der SOL liegen mußte. Carchs plötzliches Erscheinen im HORT war durchaus mit dem Einschlagen einer Bombe zu vergleichen gewesen. Noch jetzt litt Insider unter den Nachwirkungen des psionischen Überfalls. Carchs mentaler Aufschrei war eine einzige Warnung gewesen, ein einziges Drängen, sofort Kurs auf die Sterne zu nehmen. Dabei hatte Insider, nachdem er wieder einigermaßen bei sich war, das Gefühl gehabt, nur ein Teil von Carch spräche zu ihm, während der andere in ganz anderen Regionen schwebte. Das war noch in Bumerang gewesen, und das gab sich. Der Cpt'Cpt wurde von Stunde zu Stunde normaler – falls er jemals wirklich normal gewesen war. Insider nahm keine Fahrt weg, als er ins Sonnensystem CAM
eindrang, was in der Sprache der Dynurer soviel bedeutete wie »Unser Licht«. Erst nachdem die Bahn des neunten Planeten überquert war, bremste er den wahnwitzigen Flug ab. »Von wegen im Leerraum nach der MOSES suchen!« beschimpfte Insider das Mnemodukt weiter, das alle Vorwürfe geduldig über sich ergehen ließ. »Von wegen Hyperfunkrasternetz! Oggar hätte vor seinem Überwechseln auf die MOSES ausdrücklich festlegen sollen, daß ich allein hier zu bestimmen habe. Dann wären wir nicht nach Bumerang geflogen und hätten dort wertvolle Zeit vergeudet!« Ganz so war es nicht gewesen, aber davon wollte der Zwzwko jetzt nichts hören. Von Carch wußte er, was über Dynur geschehen war, und allein das hatte ihn zu interessieren. Im ersten kurzen Funkkontakt hatte Zytarr Wenk alle zunächst gehegten Befürchtungen aus der Welt geräumt. Seine Worte konnten das von Carch übermittelte Bild abrunden – aber sie standen in krassem Gegensatz zum Hilferuf des Mnemodukts II. »Mnemodukt, warum hat sich Oggar nicht selbst gemeldet?« Weil er es nicht mehr konnte und nicht mehr kann, beantwortete er sich die Frage selbst. Also die Verzweiflungstat einer Positronik. Das war verrückt! Insider war es jetzt gleichgültig, welche Stürme er in der Atmosphäre Dynurs entfesselte, als er den HORT mit viel zu hoher Geschwindigkeit in den Landeanflug brachte. Besonders ärgerte es ihn dabei, daß das Mnemodukt ganz offensichtlich mit seinen Manövern einverstanden war, denn warum sonst griff es nicht in die Steuerung ein? Der HORT setzte auf dem neu ausgebauten Raumhafen der Zentralstadt auf, nicht gerade sanft, aber er stand. Insider überließ es seinem speziellen, positronischen Freund, die Systeme auszuschalten. Er winkte Carch zu, jedenfalls wollte er das. Dort, wo sich das flackernde Etwas während des gesamten Fluges
von Bumerang bis hierher nicht von der Stelle gerührt hatte, war nichts mehr. Carchs Schnelligkeit war an Bord der SOL berühmt und berüchtigt. Insider hoffte inbrünstig, daß er auch jetzt flink genug war – und wenn als lichtschneller Impuls. Der Vierarmige versteckte seine Kombiwaffe in einer Falte der Bordkombination, um die Dynurer nicht unnötig zu erschrecken, die schon auf ihn warteten. In einer Halle des ebenfalls neuaufgebauten Verwaltungsgebäudes des Raumhafens erwarteten sie ihn mit Zytarr Wenk, Chale und Takkar an der Spitze. Unter anderen Umständen wäre es ein überschwengliches Wiedersehen geworden. Doch jetzt war dazu keine Zeit. Sie machten tatsächlich einen völlig ahnungslosen Eindruck, versicherten ihm, daß Oggar in Sicherheit wäre und sich auch sonst wohl fühlte – eben mit der Ausnahme, daß er sehnlichst auf ihn und den HORT gewartet hätte. Überhaupt schien hier jeder nichts anderes im Kopf zu haben als den HORT. Insider erfuhr nicht warum. Er wies alle Fragen zurück und fühlte sich miserabel, als er neben seinem Gleiterpiloten saß und den Mann immer wieder dazu anspornte, schneller zu fliegen. Insider sprang aus der Kanzel, kaum daß der Gleiter vor dem Palast gelandet war. Er rannte die Treppen hinauf und riß den Strahler aus der Kombination. Hinter ihm landeten andere Maschinen. Er beachtete sie nicht, stand in einer riesigen Halle und versuchte, sich zu orientieren. »Oggar!« schrie er. Er konnte nicht alle Räume durchsuchen. Vielleicht befand sich Oggar auch schon gar nicht mehr hier. Wenn Wenk sich in anderer Hinsicht irrte … »Das ist Insider!« rief jemand von einer Treppe. »Kommt her, Insider ist mit dem HORT gekommen! Jetzt können wir endlich nach Bumerang und dann zurück zur SOL!« Mit zehn, zwölf Sprüngen die Stufen hinauf war der Zwzwko bei
dem Rufer. Er kannte ihn nur vom Ansehen her. Weitere Solaner kamen hinzu. Insider wurde fast tätlich, um sich Gehör zu verschaffen. »Oggar!« schrie er. »Wo ist Oggar?« Betreten schweigend, deutete eine Frau auf die nächste nach oben führende Treppe hinauf, von den Solanern und den inzwischen aufgeschlossenen Dynurern gefolgt. Er fand etwas, das wie Oggar aussah, auf einem breiten Gang, dessen Boden feucht und glitschig war. Die Gestalt wirkte wie ein Modell des Androidenkörpers aus einem Teig, der auseinandergegangen war – schwarz und aufgequollen. Insiders Hand mit der Waffe zitterte. Er wagte es nicht, zu schießen. »Oggar?« rief er, dann lauter, verzweifelter: »Oggar, wenn du das bist, kannst du mich hören!« Insider machte zwei, drei Schritte auf das Etwas zu, bis er gegen eine unsichtbare Barriere stieß. »Seht!« hörte er die Stimme von Denise Tomac. Sie stand plötzlich neben ihm und streckte einen zitternden Arm aus. »Er löst sich auf!« Es sah wirklich so aus. Insider durchlebte furchtbare Sekunden. Er verwünschte sich für jedes Widerwort, das er Oggar jemals gegeben hatte, und spürte wieder einmal, wie sehr er schon mit diesem Wesen verbunden war. Für einen Moment sah es wirklich und wahrhaftig so aus, als sollte sich diese Statue in ihre Einzelteile auflösen. Dann aber platzte die Kruste ab, und zum Vorschein kam der Androidenkörper, von dem schwarze Brocken abfielen und sich atomisierten, bevor sie den Boden erreichten. Zurück blieb Oggar. Insider sah ihn taumeln. Die Barriere war nicht mehr vorhanden. Insider machte den sinnlosen Versuch, Oggar aufzufangen und zu stützen. Bevor er überhaupt an ihn herankam, hatte entweder das
Mnemodukt II oder das Multibewußtsein die Kontrolle über den Kunstkörper zurückerlangt. Oggar stand gerade und breitbeinig vor den völlig entgeisterten Dynurern und Solanern. »Wir haben einen furchtbaren Fehler gemacht«, sagte das Mischwesen.
* Die auf SOL-Zeit eingestellte Datumsanzeige in der Zentrale des HORTS wies den 7. November 3804 aus, als der Doppeldiskus mit Oggar, Insider und zehn dynurischen Spezialisten an Bord die Sterne verließ und Kurs auf Bumerang nahm. Mit dabei war auch wieder Cpt'Carchs Bewußtsein. Jeder Versuch Oggars und Sternfeuers aber, etwas über Carchs »Geburt« zu erfahren, scheiterte. Der Cpt'Cpt schwieg eisern, kapselte sich im Dreierverbund vollkommen ab. Daß er nichts von jenen Kräften zurückbehalten hatte, die die Molaaten retteten, war schon bei seiner Rückkehr deutlich geworden. Nicht er hatte das Ende der Lebensform herbeigeführt, über die sich nun Oggar und Sternfeuer ihrerseits ebenso hartnäckig ausschwiegen. Insider mochte bohren oder es mit List versuchen – er bekam keine Auskunft und zog sich schließlich wieder in seinen Schmollwinkel zurück. Irgendwie aber hatte er das Gefühl, daß Oggar erst selbst mit einem Erlebnis fertig werden mußte, das sich nicht so schnell verarbeiten ließ. Was jetzt zählte, war Bumerang und der Aufbau eines Raumschlauchs über 12 Millionen Lichtjahre Distanz hinweg. Alles zur Errichtung des Weltennabels Notwendige führte der HORT mit. Im Mnemodukt waren die Daten einer Reihe von Planeten gespeichert, die das Schiff in Bumerang angeflogen und auf
Tauglichkeit für eine Besiedelung durch die Molaaten geprüft hatte. Und das war Insiders Geschichte: Er hatte von vorneherein darauf gedrängt, die Sterne anzufliegen, nachdem der HORT ohne die MOSES in den Normalraum zurückgestürzt war und er einen Tag lang vergeblich auf einen Hyperfunkspruch gewartet hatte. Leider aber mußte er sich dem Mnemodukt beugen, das ganz andere Entscheidungen traf. Es führte den HORT in kleinen Etappen die Strecke zurück, die im Überlichtflug zurückgelegt worden war. Als sich auch dann keine Spur des Containerträgers fand, brachte es den Doppeldiskus nach Bumerang. Im nachhinein mußte sich Insider eingestehen, daß in dieser Maßnahme mindestens ebensoviel Logik gesteckt hatte wie in seinem eher gefühlsmäßigen Wunsch, den Raum der Dynurer anzufliegen. Er war der einzige Anhaltspunkt zwischen der SOL und Bumerang und mußte sich auch der MOSES angeboten haben – immer unter der Voraussetzung, daß sie noch linearflugtüchtig war. Aber wenn das nicht der Fall gewesen wäre, hätte sie Bumerang schon gar nicht erreicht. In der Zwerggalaxis Flatterfeld (oder All-Mohandot) vorgelagerten Sternenballung zeugten die neuen Planeten in den Molaaten-Sonnensystemen davon, daß die Ysteronen ihr Versprechen wahrgemacht und Wiedergutmachung für ihr Zerstörungswerk geleistet hatten. Sie hatten aus den Trümmern viele Welten neu geschaffen und die ersten fruchtbaren Inseln angelegt, von denen aus sich das Leben in den kommenden Jahrtausenden wieder über die Himmelskörper ausbreiten würden. Insgesamt zwölf Planeten besaßen bereits wieder eine funktionierende Ökologie mit Pflanzen, die die Atmosphäre mit genügend Sauerstoff anreicherten. Es gab Seen und Grüngürtel, ja sogar tierisches Leben. Für Insider war das auch jetzt noch unfaßbar. Er glaubte auch nicht, daß ein Mensch jemals ermessen konnte, wie groß der technische Aufwand gewesen war, den die Ysteronen auf
sich genommen hatten. Mit Lebenskeimen geimpftes Erdreich mußte beschafft worden sein. Was auf den neuen Planeten wuchs und kroch, war quasi importiertes Leben. Die Schaffung von intakten Atmosphären in einem unglaublich kurzen Zeitraum war mehr, als Insiders Verstand noch akzeptierte. Aber er hatte das Wunder mit eigenen Augen gesehen. Die Ysteronen waren wieder verschwunden, für immer in ihre Heimat zurückgekehrt. Nur eines hatten sie übersehen. Mehr als die Hälfte der neuen Welten waren voller Mikroorganismen, die die Molaaten innerhalb weniger Wochen dahingerafft hätten, wenn nicht … Insider warf dem Mnemodukt einen Blick über die Schulter zu. Die Kugel schien ihn anzugrinsen. Gerade dieses »wenn nicht« war es, das er so schwer verdaute. Es verdarb ihm die Genugtuung darüber, mit der MOSES und den Dynurern recht behalten zu haben. Der seiner Meinung nach unverantwortbar lange Aufenthalt in Bumerang war alles andere als umsonst gewesen. Dadurch, daß das Mnemodukt mit allen Mitteln des HORTS zwei Planeten nach allen möglichen Seuchenerregern abgesucht und Proben der Keime genommen hatte, war es jetzt überhaupt möglich, auf einem von ihnen zu landen und den Weltennabel zu errichten. Die auf Dynur wartenden Molaaten waren vor dem Aufbruch des HORTS gegen alles immunisiert worden, das ihnen nur irgendwie gefährlich werden konnte. Oggar war nun natürlich mit allen vom Mnemodukt getroffenen Entscheidungen hochzufrieden. Eigentlich hätte Insider es auch sein sollen, denn so blieben ihm Vorwürfe über das späte Erscheinen des HORTS über Dynur erspart. Es war zum Verzweifeln! Was er auch tat, diese Positronik war ihm einfach über! Am Ende erwartete sie sogar noch von ihm, daß er sich bei ihr bedankte.
Ich bekomme noch den Verfolgungswahn! dachte er, stand auf und begab sich zu den dynurischen Wissenschaftlern und Technikern. Mit ihnen konnte er wenigstens vernünftig reden. Und das tat er, bis der HORT zwischen den Sternen von Bumerang materialisierte. Oggar meldete sich aus der Zentrale. »Insider«, sagte er, »wir haben diese beiden Planeten zur Auswahl. Auf einem von ihnen werden wir den Weltennabel errichten und die erste molaatische Siedlung aufbauen. Suche ihn für sie aus!« Der Zwzwko mußte schlucken. War das nun Mnemodukt-Psychologie? Oder ein Versöhnungsangebot? Natürlich steckst du dahinter, Mnemodukt! dachte er grimmig. Du meinst, mich durch eine großzügige Geste deines Erfüllungsgehilfen Oggar beeindrucken zu können! Dann warte! Ich bin noch großzügiger! »Heimat-1«, verkündete er. »Wir landen auf Heimat-1. Ich gebe der Welt ihren Namen und das Mnemodukt dir die Daten.« Damit unterbrach er die Verbindung und versuchte, die leicht befremdeten Blicke der zehn Dynurer zu ignorieren. Er atmete auf, als sie sich auf den Weg in die Zentrale machten, um zum erstenmal den Planeten zu sehen, der auch für sie und ihr Volk den Beginn einer neuen Zeit bedeutete. Der HORT landete nach wenigen Stunden.
* Die Welt war ein künstlich geschaffenes Paradies, sah man von den zwei Dritteln der Festlandmassen ab, die sich die Natur erst noch erobern mußte. Der HORT stand in einem weiten, blühenden Tal, das von mächtigen Bergen umschlossen wurde. Aus Bauteilen, die das Schiff mitgeführt hatte, waren die ersten Wohnkomplexe für die
Molaaten errichtet worden – häßliche Baracken noch, aber das würde sich mit der Zeit ändern. Die gewaltige Kuppel des Weltennabels wölbte sich etwa zwei Kilometer außerhalb der Siedlung über einer riesigen Kontaktfläche zum Aufbau des Raumschlauchs. Was die Dynurer insgeheim niemals für möglich gehalten hatten, war Realität geworden. Von der Kraftstation der SCHNECKE gespeist, war die Anlage bereit zur erstmaligen Aktivierung. Der Aufbau hatte drei Tage in Anspruch genommen. Nun hielten die Dynurer und Insider den Atem an. Im übertragenen Sinn galt dies auch für Oggar, als er dem Leiter des Spezialistenteams das Zeichen gab. Der Mann zögerte, als die zartgliedrigen Finger sich schon um den Hebel geschlossen hatten. »Und wenn wir doch etwas übersehen haben?« fragte er. »Wenn wir unsere Möglichkeiten überschätzt haben?« »Wir werden es wissen, wenn du den Schlauch nach Dynur schaltest«, sagte Oggar. »Zytarr Wenk wird sich an unsere Absprache halten und zuerst weiteres Baumaterial aus den Containern herüberschicken. Erst wenn dieses hier unversehrt eintrifft, polt ihr den Raumschlauch um, und ich gehe nach Dynur, um mit den Molaaten zurückzukommen.« Der Wissenschaftler legte den Schalter um. Über der einhundert Meter durchmessenden Scheibe bauten sich Felder aus blau leuchtender Energie auf und stabilisierten sich. Die gewaltige Röhre entstand und schien die Decke der Kuppel aufzulösen. Oggar versuchte, sich bildlich vorzustellen, wie sich jetzt eine blaue Nabelschnur zwischen Heimat-1 und Dynur durch den intergalaktischen Leerraum spannte. Er mußte genau 153 Sekunden warten, bis die ersten Bauelemente materialisierten. Antigravfelder fingen sie sanft auf und trugen sie aus der Kuppel. Für Augenblicke waren die Dynurer wie gelähmt. Der Jubel, der
dann ausbrach, war nicht zu beschreiben. Insider fiel in ihn ein. Selbst Oggar konnte sich der ungeheuren Faszination dieses Moments nicht entziehen. Sein unbedingter Wille hatte über alle Rückschläge triumphiert. Die Mission stand vor dem glücklichen Abschluß. Dies war die Stunde Null einer neuen Geschichtsrechnung zweier Sternenvölker. Oggar wartete das Ende der ersten Sendung ab. Danach betrat er ohne ein Wort die Kontaktscheibe. Der Raumschlauch baute sich abermals auf. Oggar fühlte sich emporgehoben und wurde zum milliardenfach lichtschnellen Impuls. Eine geschlagene Stunde mußten Insider und die Dynurer warten, bis der blaue Schlauch sich wieder umpolte – dann noch einmal 153 Sekunden, bis Oggar und die ersten Molaaten wie aus dem Nichts über der Kontaktplatte erschienen. Zytarr Wenk war bei ihnen, und Chale und Takkar. Sie verließen den Schlauch durch eine Energiepforte, und bald marschierte eine endlose Reihe grüner Zwerge, angeführt vom stolzen Wuzgu, aus der Kuppel hinaus in ihre neue Welt. Nach viereinhalb Stunden war der Transport abgeschlossen. Mit den fast hunderttausend Molaaten waren viele hundert Dynurer gekommen, die ihnen beim Aufbau der ersten Städte helfen würden. Und eines Tages würden Raumschiffe in den Himmel steigen und andere Planeten finden. Als die Stunde des Abschieds kam, betrat Oggar den HORT in der Gewißheit, daß es zwischen Molaaten und Dynurern niemals Haß und Krieg geben würde. Es hatte Opfer gegeben – zu viele –, doch mußte er jenem Wesen, daß sich ihm erst im Tod offenbaren konnte, nicht dankbar dafür sein, daß es ihn gezwungen hatte, in den Sternen Hilfe zu suchen? »Bumerang kann zu einer Zelle des Friedens werden«, sagte er zu Insider und den neun Solanern, die ebenfalls durch den Raumschlauch gekommen waren. »Und wer weiß, vielleicht werden wir eines Tages sehen können, was Molaaten und Dynurer aus ihrer
großen Chance gemacht haben.« Er trug eine neue Kombination, als er noch einmal in ein offenes Luk trat und den unten versammelten Massen zuwinkte. Der Worte waren genug gewechselt. Was zurückblieb, als der HORT sich in einen tief grünen Himmel erhob, war tiefe Dankbarkeit, Hoffnung und unstillbarer Ehrgeiz. Es gab so vieles zu tun. Molaaten und Dynurer begannen gemeinsam damit.
* Am 14. November 3804 dockte der HORT an der Außenhülle der SOL an. Die neun Überlebenden der MOSES begaben sich bis auf weiteres in ihre Quartiere. Es war Oggars traurige Pflicht, Atlan und Hayes von den Verlusten an Menschenleben zu berichten, die seine Mission gefordert hatte. Insider war bei ihm, als er dem Arkoniden, dem High Sideryt und Hage Nockemann in einem Konferenzraum von SOL-City gegenübersaß. Der Zwzwko hütete sich, Oggar auch nur ein einzigesmal zu unterbrechen, bis der Partner mit der Schilderung der Ankunft der Molaaten auf Heimat-1 endete. Einen Punkt hatte er auch jetzt noch nicht angeschnitten. Wenn überhaupt jemals, so rechnete sich Insider jetzt Chancen aus, endlich die Wahrheit über die Verformer zu erfahren. Atlan kam ihm mit der Frage zuvor. Auch den Arkoniden konnte es nicht befriedigen, von scheinbar unmotiviert angreifenden Wesen zu hören. »Wer oder was waren sie, Oggar?« Wieder schien das Mischwesen einen inneren Kampf auszutragen. »Sie lebten auf einer Welt irgendwo in Pers-Mohandot«, begann er dann langsam. »Wie sie sich nannten, ob sie überhaupt Namen kannten, erfuhr ich nicht. Es ist auch ohne Bedeutung, denn der
letzte von ihnen starb im Regierungspalast von Dynur.« Er drehte sich abrupt wieder um und spreizte die Arme zu einer Geste der Hilflosigkeit von sich ab. »Es ist die bittere Ironie eines grausamen Schicksals, daß sie in den Molaaten die Mörder ihres Volkes sahen, denn im Grunde wurden sie das Opfer des gleichen Feindes.« »Hidden-X«, erriet Hayes. Oggar nickte. »Sie kannten keine Raumfahrt und lebten nur auf einem Planeten ihres Sonnensystems, als ein Hilfsvolk von Hidden-X, dem wir nie begegneten, sie überfiel und verschleppte. Bis zum letzten Individuum wurden sie in gewaltige Schiffe verfrachtet und hierher gebracht, in die Zone-X, zu den Dunkelplaneten. Hidden-X wollte, daß sie für es arbeiteten, doch bald stellte sich heraus, daß die paranormalen Fähigkeiten, die sie auf ihrem Planeten besaßen und die sie für das Monstrum im Flekto-Yn erst interessant gemacht hatten, versiegten. Der Mentaldruck von Hidden-X lähmte und tötete die Veränderlichen, bis nur noch einer von ihnen existierte. Ausgerechnet dieser eine benutzte die Landung eines eurer Schiffe dazu, sich mit den an Bord genommenen Molaaten hier einzuschleichen. Er hielt sie für freiwillige Helfer und setzte sie damit gleich mit den anderen, die seine Welt überfielen. So wuchs sein Haß von Tag zu Tag.« »Er war also nicht einfach böse?« fragte Insider ironisch. »Bestimmt nicht. Sonst hätte er wohl schon in der SOL zugeschlagen. Er sah in den Solanern zwar Freunde der Molaaten, gab ihnen aber deshalb nicht die Mitschuld am grauenvollen Ende seines Volkes.« »Wovon Calman und seine anderen Opfer nichts mehr haben.« »Aus seiner Sicht war es nötig, sie zu töten, aber auch nur des einzigen Zweckes wegen, den er seinem Leben noch gab. Er sah die Gelegenheit, den Molaaten mit gleichen Mitteln heimzuzahlen, indem er sie auslöschte, da er glaubte, sie wären mitschuldig am Schicksal der Seinen. Was weiter geschah, ist bekannt. Er mußte sich
teilen. Beim erstenmal war es eine für ihn ganz normale biologische Notwendigkeit, dann erkannte er den Vorteil ständig fortgesetzter Teilungen. Er beeinflußte seinen Metabolismus so, daß das natürliche Wachstum sich immens beschleunigte. Aus ihm wurden zwei, vier, acht, sechzehn, und so weiter. Und ganze neun konnten sich nach der Landung auf Dynur retten.« »Von denen nur einer zu dir kam?« fragte Hayes. »Einer und alle. Sie hatten sich vereinigt, besser gesagt: zurückvereinigt. Es entstand nicht das ursprüngliche Wesen, sondern etwas Stärkeres. Zum erstenmal spürte es wieder die verlorengegangenen Para-Fähigkeiten. Vorher konnte es zwar den auf technisches Wissen reduzierten Gedankeninhalt der Getöteten in sich aufnehmen, aber nie eine Telepathie ausüben, wie wir sie kennen. Das war nun anders. Es war entschlossen, die Molaaten abermals heimzusuchen – mußte nun aber feststellen, daß sie so unschuldig waren wie sein eigenes Volk. Mehr noch, es erkannte sie nun als Schicksalsgefährten. Der Schock darüber war so groß, daß es ihm unmöglich war, die Molaaten aufzusuchen und sie um Vergebung zu bitten.« »Für das, was seine Vorgänger ihnen angetan hatten«, nickte Atlan. »Es kam also zu dir.« »Nachdem es dafür gesorgt hatte, daß die Dynurer den Palast verließen. Es wartete auf mich und stellte sicher, daß ich nichts tun konnte, um mich zu befreien. Ich mußte zuhören, ob ich wollte oder nicht. Ich erfuhr die bittere Wahrheit und erlebte den Tod eines Individuums und gleichzeitig eines ganzen Volkes, das mit seiner schrecklichen Schuld nicht mehr leben konnte.« Oggar ließ sich in einen Sessel sinken und schwieg. Atlan, Hayes, Nockemann und Insider blickten sich betroffen an. »Wieder ein Punkt auf der Rechnung, die wir Hidden-X präsentieren werden«, knurrte Hayes. »Wenn das Ding fertig ist, das jetzt ein Lichtjahr von der Zone-X entfernt zusammengebaut wird«, meinte Nockemann. Seine Hand
berührte eine Kontaktfläche. Ein Bildschirm erhellte sich und zeigte das »Gerüst« des im Weltraum entstehenden HypervakuumVerzerrers. Viel war noch nicht zu erkennen. Niemand wußte, was schließlich dort stehen würde, denn bislang waren nur Einzelsektionen konstruiert. »SENECA schätzt ja, daß es noch vier bis acht Wochen dauern wird, bis sich ein Ergebnis zeigt. Zeit für uns, jetzt alle Reserven für die Suche nach Hreila Morszek zu mobilisieren.« Das brachte die Anwesenden in die Realität zurück. Die Buhrlo-Frau war noch nicht gefunden. Der Zustand ihrer erkrankten Artgenossen war unverändert schlecht, und inzwischen war auch SENECA der Ansicht, daß nur Hreila die angesagte Rache des Hidden-X verkörpern könne. Jeder einzelne Solaner beteiligte sich an der verzweifelten Suche. Im Grunde hatte sich nichts geändert. Ein Lichtschimmer zeichnete sich immerhin ab, als am Morgen des 15. November der erste Funkspruch von Wajsto Kölsch aufgefangen wurde, der mit der HAUDEGEN und dem Chailiden Akitar zurückkehrte. Wenige Stunden später standen sich Atlan und Akitar erstmals nach langer Zeit wieder gegenüber. Die Begrüßung war herzlich. Atlan erfuhr, daß die durchgeistigten Chailiden in Frieden lebten, ihren selbstgestellten Aufgaben nachgingen und den Roboter Y'Man stillgelegt hatten. Was Hidden-X jedoch anging, so zeigte sich Akitar überraschend kühl und sachlich. Er wollte sich selbst in der Zone-X umsehen, bevor er eine Entscheidung traf. Atlan sicherte ihm seine Begleitung zu. Als die ersten Vorbereitungen getroffen wurden, zogen sich Oggar und Insider in den HORT zurück. Jetzt, wo das Warten von neuem begann, hofften Oggar und Sternfeuer doch, Carchs Schweigen brechen zu können. Und wahrhaftig war der Cpt'Cpt nach einigem Drängen dazu zu bewegen, wenigstens etwas von dem preiszugeben, das ihm widerfahren war:
Ich war geboren, doch noch nicht stark genug. Ich weiß nun, wohin eines Tages das Ende meines Weges führen wird. Ich konnte sehen und den Stimmen der geborenen Cpt'Cpt lauschen, bis ich zu euch zurückkehren mußte. Irgendwann später werde ich frei sein und die Kraft wieder spüren. Dann trauert nicht, denn ich bin nicht tot, auch wenn es so aussieht. Mein Körper und mein Bewußtsein – beides sind schützende Hüllen, in denen die Frucht heranreift. Das war alles und eigentlich doch wieder gar nichts. Weitere Fragen der Bewußtseinspartner brachten nichts mehr ein. Oggar resignierte schließlich und gab Carchs Eröffnungen an Insider weiter. »Er war immer seltsam und wird es auch immer bleiben«, sagte der Zwzwko. »Als Banane war er mir jedenfalls lieber. Hoffentlich bleibt er uns so noch eine Weile erhalten.« »Was starrst du da eigentlich an?« erkundigte sich Oggar. »Das?« Insider reichte ihm die zerknitterte, kleine Folie, auf der handgeschrieben stand: Nochmals Dank für alles! Wenn ich Pina davon überzeugt habe, wer der bessere Partner für sie ist, werden wir unseren ersten Sohn Insider nennen. Filbert. »Stimmt etwas nicht?« fragte Insider, als Oggar in eine Tasche griff und eine ähnliche Folie zum Vorschein brachte. »Genau das gleiche schrieb mir Drux auf – nur daß er und Pina ihren Sprößling nach mir benennen wollen …« »Patsch-uuh!« stöhnte Insider.
ENDE
Während sich der Aufbruch der Molaaten vollzogen hat und die rund 100.000 ehemaligen Sklaven des Hidden-X den Kampf um eine neue Zukunft zu bestehen haben, ist man an Bord der SOL besorgt. Und das nicht ohne
Grund! Denn da steht die Rachedrohung von Hidden-X im Raum. Und dann erfolgt die Gen-Attacke – der ANSCHLAG AUF DIE ZUKUNFT … ANSCHLAG AUF DIE ZUKUNFT – das ist auch der Titel des AtlanBandes der nächsten Woche. Der Roman wurde von Peter Terrid geschrieben.