Freder van Holk Atlantis steigt auf
SUN-KOH-Taschenbuch erscheint monatlich
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Freder van Holk Atlantis steigt auf
SUN-KOH-Taschenbuch erscheint monatlich
im Erich PabeL Verlag KG, Pabelhaus, 7550 Rastatt
Neu bearbeitet von Heinz Reck
Copyright © 1981 beim Autor und Erich Pabel Verlag, Rastatt
Agentur Transgalaxis
Titelbild: Nikolai Lutohin
Alle Rechte vorbehalten
Vertrieb: Erich Pabel Verlag KG
Gesamtherstellung: Clausen & Bosse, Leck
Verkaufspreis inklusive gesetzliche Mehrwertsteuer
Unsere Romanserien dürfen in Leihbüchereien nicht verliehen
und nicht zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden:
der Wiederverkauf ist verboten.
Alleinvertrieb und Auslieferung in Österreich:
Pressegroßvertrieb Salzburg, Niederalm 300,
A-5081 Anif
Abonnements- und Einzelbestellungen an
PABEL-VERLAG KG, Postfach 1780, 7550 RASTATT,
Telefon (0 72 22) 13-2 41
Printed in Germany
Januar 1981
Scan by Tigerliebe 03/2006 Bearbeitet von Brrazo
ERSTES KAPITEL
Die Gier lebt von dem, was man selbst nicht hat – die Eitelkeit von dem, was andere nicht haben. Gier und Eitelkeit waren die Bauherren des Hotels der tausend Wunder, an der Grenze der Vereinigten Staaten auf mexikanischem Boden. Gier nach Alko hol, den es in den Staaten nicht geben durfte, wäh rend er in Mexiko ungehindert floß, sicherte die Fi nanzierung des Riesenbaus inmitten der Felsen einöde. Und als das berauschende Öl des Friedens über den Prohibitionskrieg hinwegfloß, da sorgte die Ei telkeit dafür, daß jenes merkwürdige Hotel nicht zur Ruine wurde. Nirgends in ganz Amerika konnte man seinen Cocktail teurer trinken als in der Marmorhalle jenes Hotels, nirgends mußte man mehr für eine Schale Mokka bezahlen als auf der exotisch überwucherten Terrasse, nirgends spielte man teurer Golf oder Ten 5
nis als auf den mit Millionenaufwand angelegten Plätzen jenes Wunderhauses – Gründe genug für ei nige Dutzend Millionäre, das einsame Hotel zu ihrer Stammkneipe zu machen und damit einwandfreier als durch Bankausweise zu belegen, daß man zu den oberen Viertausend gehörte. Ganz nebenbei pflegte man in diesem Haus auch wichtige Besprechungen abzuhalten. Es hatte man ches für sich, fern von jedem Berichterstatter in zwangloser und unauffälliger Form über Angele genheiten zu verhandeln, die das Wochenende loh nend machten. Die kleine Sitzung, die in einem der schalldichten Klubzimmer stattfand, wirkte wahrhaftig zwanglos genug. Es waren nur vier Herren, die sich zusam mengefunden hatten, aber sie repräsentierten einen hohen Anteil der amerikanischen Hochfinanz und konnten mit Genugtuung von sich behaupten, daß ihre Namenszüge zu den teuersten der Welt gehörten. »Tja«, meinte Person, der diese Versammlung ein berufen hatte. »Die Angelegenheit ist nun einmal schwieriger, als wir vorausgesetzt hatten. Unsere Er folge sind gleich Null. Unsere Maßnahmen waren nicht wirksam genug. Schuld daran trägt natürlich letzten Endes unser Mangel an Überzeugung. Ich hoffe jedoch, daß in der Zwischenzeit die Zweifel, die damals aufgeworfen wurden, beseitigt sind.« Das war eine Äußerung, die durch Kopfnicken be 6
stätigt wurde, so daß Person fortfahren konnte: »Es steht fest, daß das A-Syndikat augenblicklich die stärkste Finanzgruppe in den Staaten ist. Es ist selbst für unsere Gruppe so gut wie aussichtslos, gegen das A-Syndikat anzugehen. Im Gegenteil, wir müssen froh sein, daß man uns nicht zu einem Kampf zwingt. Es steht weiter fest, daß zum A-Syndikat ei ne Reihe von Brudersyndikaten in England, Frank reich, Mexiko und Brasilien gehören, die unter den verschiedensten Namen laufen. Es sind Dachgesell schaften für Finanz- und Wirtschaftsgruppen, die alle zusammen eine Macht verkörpern, wie sie bisher noch nie bestanden hat. Diese Macht liegt letzten Endes in der Hand eines einzigen Mannes, und dieser Mann heißt Sun Koh.« Person legte eine Pause in seine nüchternen Dar legungen, dann sprach er weiter. »Wir haben uns über den Mann schon unterhalten. Man hat mir eine ganze Menge über ihn erzählt, trotzdem weiß ich nicht viel, da er sich nicht in der Öffentlichkeit zeigt. Es ist jedenfalls auch nicht mehr zu bezweifeln, daß er zu allen finanziellen und wirt schaftlichen Machtmitteln auch noch über technische Mittel von hervorragender Bedeutung verfügt. Seine Ziele sollen dahin gehen, eine Schlüsselstellung zwi schen Amerika und Europa einzunehmen und alle weißen Völker zu einer Einheit unter seiner Führung zusammenzufassen, also einen weißen Block im Ge 7
gensatz zu dem gelben Block der Japaner und Chine sen oder dem schwarzen Block der afrikanischen Völker zu bilden. Den Mittelpunkt dazu will er auf den Azoren beziehungsweise auf einem neuen Erd teil, der aus dem Atlantik steigen soll, schaffen.« »Verrückt«, murmelte einer der Zuhörer. »Gewiß«, stimmte Person etwas lebhafter zu, »das klingt phantastisch genug. Anderseits wäre es fahr lässig von uns, einen Mann für einen harmlosen Phantasten zu halten, der sich in wenigen Jahren eine derartige Macht aufbaute. Mein Gewährsmann versi cherte mir nachdrücklich, daß dieser Sun Koh alles andere als ein Phantast sei, sondern über einen sehr klaren Kopf verfüge und genau wisse, was er wolle. Doch das ist ja auch nebensächlich. Für uns genügt das Bestehen dieses A-Syndikats, um Stellung zu nehmen. Das A-Syndikat ist eine ständige Bedro hung für uns. Früher oder später werden die Leute von sich aus den Kampf gegen uns aufnehmen, zu einem Zeitpunkt und unter Umständen, die für sie günstig sind. Die Frage ist, ob wir so lange warten wollen. Ein Kampf an der Börse ist ausgeschlossen, aber es gibt ja andere Mittel und Wege.« »Haben wir doch schon versucht«, kam es mißver gnügt. »Ja, aber ohne den nötigen Nachdruck. Über den einzuschlagenden Weg hätten wir dann zu sprechen, wenn ich meinen Gewährsmann zugezogen habe. 8
Bevor ich diesen rufen lasse, scheint es mir jedoch nötig zu sein, eine grundsätzliche Klärung herbeizu führen. Wir müssen unter Umständen gewisse An strengungen machen, deshalb müssen wir uns ein deutig entschließen, ob wir die Angelegenheit laufen lassen oder ob wir sie bearbeiten.« »Überflüssige Frage. Wenn das A-Syndikat eine Gefahr für uns geworden ist, dürfen wir nichts un versucht lassen.« Die beiden anderen drückten ihre Meinung mit ähnlichen Worten aus, so daß Person zusammenfas send sagen konnte: »Wir sind uns also im Haupt punkt einig. Wenn es Ihnen recht ist, rufe ich nun Mr. Garcia.« Niemand widersprach. Person telefonierte, dann beantwortete er eine Frage, die einer der Anwesen den stellte. »Mr. Juan Garcia ist Mexikaner, früher einer der reichsten Grundbesitzer des Landes. Sein Bruder hat ihn wohl um alles gebracht, und sein Bruder steht in den Diensten dieses Sun Koh. Mr. Garcia kennt den Mann sehr genau und haßt ihn fanatisch.« »Dann wird er ein brauchbares Werkzeug sein.« »Gewiß«, meinte Person, »aber lassen Sie ihn um Gottes willen nicht merken, daß Sie ihn für ein Werkzeug halten. Er ist sehr eitel, verfügt aber auch über einiges Geld und betrachtet uns als seine Hand langer.« 9
Juan Garcia trat ein, elegant vom Scheitel bis zur Sohle, in jeder Bewegung und Haltung überlegen und sicher. Tiefschwarz hoben sich Haare und strich dünner Schnurrbart von der bleichen Haut des drei eckigen Gesichts. Person machte die Herren bekannt und leitete dann sofort zur Hauptsache über. »Wir sind entschlossen, mit allen Mitteln das ASyndikat unschädlich zu machen. Da sich darin unse re Absichten decken, bitte ich Sie, offen über alle Möglichkeiten zu sprechen.« Garcia deutete eine Verneigung an. »Ich freue mich, daß die Herren die Gefahr er kannt haben, und bedauere nur, daß das nicht früher geschah, als uns noch mehr wirksame Maßnahmen zur Verfügung standen. Heute liegen die Verhältnisse leider schon so, daß eine Bekämpfung Sun Kohs von außen her so gut wie ausgeschlossen ist. Ihre finanzi elle Macht, meine Herren, reicht nicht einmal aus, um das A-Syndikat ernstlich zu gefährden.« »Hm«, brummte einer, »das wäre nicht der erste Riese, der auf tönernen Füßen steht. Vielleicht führt der Versuch zu einem überraschenden Ergebnis.« »Der Riese steht auf goldenen Füßen«, wider sprach Garcia spöttisch. »Sie können den Versuch eines Börsenkampfes nur dann wagen, wenn Sie sich vorher an den Gedanken gewöhnt haben, Ihr Vermö gen zu verlieren.« 10
»Wir haben die Regierung in der Hand«, gab ein anderer zu bedenken. »Das ist vielleicht schon ein Irrtum«, erwiderte Garcia dürr. »Die Zeiten sind vorbei, in denen man den Präsidenten durch die Senatsmitglieder zu allen möglichen Dingen veranlassen konnte. Aber selbst wenn es der Fall wäre, nützte uns das Eingreifen der Regierung nichts. Ausnahmegesetze gegen das ASyndikat sind undenkbar. Würden sie aber wirklich erlassen, so hätte sich das A-Syndikat bestimmt schon umgestellt. Dieser Sun Koh wäre durch eine Regierungsmaßnahme keinesfalls zu treffen. Wir ha ben ja den Versuch gemacht und sogar bewirkt, daß man Kriegsschiffe, Flugzeuge und Geheimagenten gegen ihn aufbot, aber wir haben keinen Erfolg ge habt. Wie ich Ihnen schon sagte, gibt es bei dem heu tigen Stand der Dinge überhaupt keine Maßnahmen von außen her, durch die man diesem Mann ent scheidend schaden kann. Außerdem steht zweifellos fest, daß es wenig Wert hat, gegen eine seiner Orga nisationen anzugehen. Wenn man ihm beikommen will, muß man ihn selbst stellen und ihn selbst ver nichten. Mit dem Tod Sun Kohs verlieren seine Or ganisationen den inneren Zusammenhalt. Deshalb laufen alle Überlegungen in einem Punkt zusammen – Sun Koh muß überwältigt werden!« »Hm«, räusperte sich Person. »Glauben Sie wirk lich, daß Sie durch die Beseitigung dieses Mannes 11
die ganze Organisation zerschlagen können? Es wer den sich genug andere finden, die an seine Stelle tre ten.« »Der Einwand ist nicht ganz unberechtigt«, gab Garcia zu. »Deshalb ist noch ein Zweites erforder lich. Es muß jemand von uns in die Zentralleitung des Gegners eindringen und die ganze Organisation von innen her zur Auflösung bringen.« Persons Nachbar lachte auf. »Leicht gesagt!« Garcia zuckte mit den Schultern. »Ich halte Ihnen keine theoretischen Vorträge, sondern entwickle meine Pläne. Ich selbst werde die se Aufgabe übernehmen.« »Donnerwetter«, murmelte Person, »meinen Sie das im Ernst?« »Durchaus, ich habe die Absicht, in die Zentrale dieses Sun Koh einzudringen, die Führung an mich zu reißen und Sun Koh selbst außer Gefecht zu setzen.« »Donnerwetter«, murmelte Person noch einmal voller Hochachtung, »aber wie wollen Sie das schaf fen?« Garcia grinste. »Ich sehe meinem Bruder täuschend ähnlich. Ich muß ihn beseitigen und seine Rolle spielen. Die Hauptschwierigkeit wird sein, heranzukommen.« »Sie meinen die Zentrale auf Yukatan?« »Ja.« 12
»Wäre es nicht einfacher, sie mit Bomben anzu greifen?« »Das halte ich für unmöglich«, wies Garcia kurz ab. »Sie wissen ja, daß man sie noch nicht einmal hat finden können. Ich kenne aber einen Zugang auf ei nem der unterirdischen Ströme und hoffe, daß dieser nicht allzu scharf bewacht wird.« »Sie haben Mut«, anerkannte einer der Millionäre. »Die persönliche Gefahr ist für Sie ziemlich groß.« In Garcias Augen glühte es auf. »Gefahr? Pah, das ist das einzige Mittel, um Sun Koh zu vernichten. Die Gefahr muß ich auf mich nehmen.« »Sie hassen ihn?« Juan Garcia lachte häßlich auf und gab keine Ant wort. Person griff wieder ein. »Na schön, uns kann es recht sein. Sie wollen also die Sache selbst übernehmen. Aber – wozu brauchen Sie dann eigentlich uns?« Juan Garcia lächelte wieder spöttisch. »Fürchten Sie, zu kurz zu kommen? Keine Sorge, ich brauche Sie. Als einzelner kann ich dort auf Yu katan auf die Dauer nicht viel ausrichten. Sie müssen meine Tätigkeit von außen her unterstützen. Dabei handelt es sich um zweierlei. Einesteils wird es nötig sein, die technischen Machtmittel der Organisation rasch und wirksam zu vernichten. Da diese vermutlich 13
auf Yukatan zusammengefaßt sind, würde ich emp fehlen, zum zweitenmal Bombenflugzeuge dorthin zu schicken. Diesmal würde ich aber dafür sorgen, daß man die Sonnenstadt wirklich findet und sie mit Bomben zerstören kann. Es ist Ihre Sache, zu veran lassen, daß ich die Flugzeuge jederzeit abrufen kann.« »Aha.« Person begriff. »Aber können Sie die Zer störung nicht wirksamer von dort aus vornehmen, etwa durch eine Explosion?« »Verlassen Sie sich darauf, daß das geschieht, wenn sich die Möglichkeit bietet. Das läßt sich aber noch nicht beurteilen, meine Maßnahmen muß ich für alle Fälle treffen.« »Das setzt voraus, daß wir in Verbindung blei ben.« »Das wird mit Hilfe eines Kurzwellensenders ge schehen. Sie müssen eine besondere Nachrichten stelle einrichten. Es kann ja auch sein, daß ich von Yukatan aus noch andere wichtige Anweisungen zu geben habe. Unsere Zusammenarbeit hat ja für mich vor allem die Bedeutung, mir eine wirksame Hilfe in den Staaten zu verschaffen.« »Sie erwähnten, daß Sie unsere Unterstützung noch in anderer Hinsicht brauchen.« »Ja, natürlich vor allem für Maßnahmen, die in Ih rem eigentlichen Arbeitsbereich liegen. Ich halte es für ausgeschlossen, daß wir uns die bestehenden Or ganisationen wie das A-Syndikat einfach dienstbar 14
machen können, da sie von Leuten verwaltet werden, die auf Sun Koh eingeschworen sind. Ich muß die Organisation von innen her so unauffällig wie mög lich liquidieren und in andere, in Ihre Hände über führen. Das wird die Gründung einer Reihe von Scheingesellschaften sowie sonstige Maßnahmen nötig machen, die Sie übernehmen müßten. Wir wer den dann im einzelnen darüber sprechen, ich möchte aber schon jetzt betonen, daß mit äußerster Vorsicht gehandelt werden muß, damit Sun Kohs Anhänger nicht vorzeitig mißtrauisch werden.« »Sie halten es für möglich, von Yukatan aus das A-Syndikat zur Auflösung zu bringen?« »Natürlich. Wir haben es doch nicht mit einer Ak tiengesellschaft zu tun. Wenn eine Zweiggesellschaft des Syndikats von Yukatan die Anweisung erhält, ihr Vermögen auf sonstwen zu überschreiben, dann ge schieht das selbstverständlich und ohne Zögern. In der Hinsicht haben wir nichts zu befürchten.« »Nicht schlecht«, bemerkte einer. »Wenn alles gutgeht, könnten wir dann bald um die Milliarden des Syndikats reicher sein.« »Gewiß«, erklärte Garcia, »wenigstens um einen entsprechenden Anteil. Wir kommen wohl noch zu einer schriftlichen Vereinbarung, durch die meine Rechte an dem Erfolg gesichert werden. Zunächst möchte ich Sie jedoch bitten, von dieser Aufstellung Kenntnis zu nehmen. Sie finden hier die wichtigsten 15
Maßnahmen verzeichnet, die sofort einzusetzen hat ten, wenn ich Ihnen die Mitteilung übersende, daß mir das Eindringen in die Zentrale des Gegners ge lungen ist.« Er reichte einen Bogen an Person. Damit ging die Besprechung auf Einzelheiten über. ZWEITES KAPITEL Einige Wochen später. Juan Garcia lag am Rand der Lichtung, auf der das große Blockhaus seines Bruders stand, und wartete auf seine Gelegenheit. Es war ihm gelungen, auf den unterirdischen Strom zu gelangen. Die Hauptmündungsarme wur den zwar bewacht, aber den kleinen, schon vorher abzweigenden Nebenarmen schenkte man so wenig Aufmerksamkeit, daß er eindringen konnte. Tagelang war er mit seinem winzigen Motorboot dann den Strom aufwärts gefahren, der wie viele solcher Strö me auf Yukatan dann und wann ans Tageslicht tauchte und eine Art See bildete, meist aber unter der nassen, glitschigen Felsenwölbung dahingurgelte. Juan Garcia hatte unangefochten die Stelle er reicht, an der ein offener Seitenarm in den Strom und in die Nacht einmündete. Hier hatte sich Manuel ein Haus gebaut, hier 16
schien er sich öfter aufzuhalten. Nirgends konnte es leichter gelingen, seine Stelle einzunehmen, als hier. Juan Garcia wartete also. Dann und wann ging einer der Angestellten zu ei nem der Nebengebäude. Einer öffnete das Tor eines Hangars, in dem zwei Flugzeuge standen. Juan Garcia entnahm aus der Anwesenheit von zwei Maschinen, daß sich Manuel im Haus befand. Endlich kam er. Er trat ins Freie und schlenderte dann zum Fluß hinunter. Der gute Manuel mußte kindisch geworden sein. Er starrte lange auf das Wasser, dann tänzelte er auf einer Klippe vor, die ein Stück in den Fluß hinein sprang. Und plötzlich stieß er einen leichten Schrei aus, griff sich zum Herzen, wankte und schlug hart in das Wasser hinein. Die Strömung riß ihn unverzüglich mit. Juan Garcia reckte sich in atemloser Spannung. Manuel war ein guter Schwimmer. Wenn er nur ei nen Fehltritt getan hatte, würde er sich deshalb nicht so treiben lassen. Oder hatte er einen Herzschlag erlitten, einen Krampf, einen Ohnmachtsanfall? Jetzt wurde der dunkle treibende Körper in die schwarze Wölbung hineingezogen. Juan Garcia atmete tief auf. Wer dort hineingeriet, kam so leicht nicht wieder heraus, vor allem nicht, wenn er nicht Herr seiner Sinne war. 17
Juan Garcia handelte intuitiv. Er lief gedeckt zum Fluß hinunter, zog sich die Sachen vom Leib, warf sie in die Strömung und stürzte sich selbst hinein. Dann schrie er laut und gellend auf. Der Schrei wurde gehört. Einige Männer stürzten aus dem Haus. Sie fanden Juan Garcia, wie er gegen die Strömung ankämpfte, sich nicht hinabziehen zu lassen. Auf keinem Gesicht regte sich ein Zweifel, daß dieser Mann nicht Manuel Garcia sein könnte. Die Leute sprangen hinein, griffen zu und holten ih ren Herrn aus dem Wasser. »Ich wollte wieder einmal schwimmen«, ächzte Garcia, als er, gestützt von seinen Leuten, ans Land taumelte. »Die Sachen sind fortgespült worden.« Halb ohnmächtig ließ er sich ins Haus schleppen. Eine halbe Stunde lang noch fühlte sich Juan Gar cia unruhig und unsicher. Insgeheim fürchtete er, jeden Augenblick könne Manuel wieder auftauchen. Doch dann machten Sicherheit und Ruhe schnelle Fortschritte, und schließlich war er davon überzeugt, daß der Austausch schlechthin vollkommen geglückt war. »Señor, wünschen Sie, daß das Flugzeug wie ge wöhnlich bereitgestellt wird?« fragte eine Stimme im Raum. Juan Garcia zuckte herum, unmittelbar darauf är gerte er sich über die Bewegung. Eben hatte er seine Vorsätze gefaßt, und nun ließ er sich überrumpeln. 18
Die Stimme kam natürlich aus einem Schalltrichter. Für eine Antwort war irgendein Knopf zu bedie nen, denn es war ausgeschlossen, daß dieses Zimmer dauernd von außen überhört werden konnte. Nicht weit von seinem Kopf befanden sich einige winzige Kippschalter. Einer von diesen mußte der richtige sein. Aber welcher? Juan Garcia kippte entschlossen alle fünf Schalter herunter. Daraufhin glühten versteckte Leuchtkörper auf, Musik schwang durch den Raum, die Tür öffnete sich ganz weit, und ein Ventilator begann zu sum men. »Das Flugzeug wie gewöhnlich«, erwiderte Juan Garcia. »Wer hat denn den Radioapparat – ach so, ich bin an den Schalter gekommen.« Er kippte den ersten Schalter hoch, worauf sich die Tür schloß. Der zweite bediente das Licht. »Wünschen Sie selbst zu fliegen?« »Heute nicht. Ich will mich noch ausruhen, sagen Sie mir aber rechtzeitig Bescheid.« »Jawohl, Señor.« Der dritte Schalter diente jedenfalls der Sprech verbindung, denn erst auf die Betätigung der beiden anderen Schalter hin verstummte die Musik, und der Ventilator lief aus. Etwa eine Stunde später teilte man ihm mit, daß es Zeit zum Abflug sei. Das Flugzeug brachte ihn in Minuten zur Sonnen 19
stadt. Trotzdem wunderte sich Garcia über die Ent fernung, die beträchtlich größer war, als er ange nommen hatte. Der Luftabstand betrug mindestens fünfzig Kilometer. Noch mehr wunderte er sich über das, was er sah. Vor Jahren hatte er die Sonnenstadt zum letzten mal gesehen. Damals hatte sie aus einer Reihe Rui nen, geborstener Säulen und zusammengerutschter Terrassen bestanden. Heute lag dort unten eine gewaltige Lichtung, die sich viele Kilometer weit nach allen Seiten ausdehn te. Dort standen gewaltige Hallen mit flachen Dä chern, dort schwebten an den Ankertürmen vier rie sige Luftschiffe von den gleichen phantastischen Ausmaßen, die schon einmal in der Zeitung genannt waren. Da schnitten zierlich wirkende Brücken über weiße Straßenbänder, auf denen in zahlreichen Strängen Röhren und Leitungen entlangliefen. Dort bauchten sich weißleuchtende Behälter neben massi gen Türmen. Links standen mannshohe Isolatoren in langen Reihen, rechts standen Gruppen merkwürdig geformter Apparate unter dem freien Himmel. Es gab viel zu sehen, aber die Zeit war kurz. Schon setzte das Flugzeug auf einem der ausgedehn ten Dächer neben anderen Flugzeugen auf, die dort ungeschützt standen. Juan Garcia stieg aus. Niemand schien sich um seine Ankunft zu küm 20
mern. Das war gut und auch wieder schlecht. Ir gendwo in diesem Riesenbetrieb wartete man auf ihn. Wegweiser gab es wohl kaum hier, und doch mußte er den Weg finden, ohne Verdacht zu erregen. Er vertrat sich die Beine und entdeckte inzwischen den Niedergang. Über eine Treppe gelangte er in ei nen weiten Flur, der auf die Straße führte. Die Stille wirkte peinlich. Gab es denn hier überhaupt keine Menschen? Noch nicht einmal der Pilot, der oben geblieben war, machte sich bemerkbar. Garcia öffnete eine der glatten Türen. Eine weite Halle tat sich vor ihm auf. Hohe Säulen von mehre ren Metern Durchmesser, die sich fast berührten und nur einen schmalen Mittelgang frei ließen, füllten sie aus. Kein Laut, keine Bewegung war zu vernehmen. Achselzuckend trat Garcia ins Freie. Die Straße bestand aus glattem Beton. Fünfzig Meter weiter wurde sie von einer anderen Straße ge kreuzt. Als Garcia an die Kreuzung kam, heulte ein kurzer Summton auf, dann flitzte aus der Nebenstraße ein Mann in die Kurve. Er lief nicht, sondern stand auf einem winzigen Fahrzeug, das aus einer länglichen Trittplatte bestand, auf die man zur Not zwei Füße setzen konnte. Diese hing vorn und hinten an zwei etwa dreißig Zentimeter hohen Rädern. Über dem 21
Vorderrad stand auf einer Gabel eine Stange mit ei nem kleinen Steuerrad, auf dem einige Hebel befe stigt waren. Juan Garcia konnte diese Einzelheiten jedoch erst wahrnehmen, als der Mann seine überraschend hohe Geschwindigkeit mäßigte und herankurvte, wobei er freundlich winkte und rief: »Nanu, Mr. Garcia, seit wann machen Sie Spaziergänge durch das Werk? Warum nehmen Sie nicht einen Flitzer? Haben Sie hier in der Gegend noch zu tun, oder kommen Sie mit?« Juan Garcia stellte zunächst aufatmend fest, daß der Mann englisch sprach. Er hatte auch in diesem Punkt mit Schlimmerem gerechnet, doch anschei nend hatte er Glück. »Ich wollte mir die Beine ein bißchen vertreten. Ich habe die neumodischen Flitzer nie leiden können. Aber ich komme natürlich mit, wenn Sie eins von den Dingern zur Hand haben.« Der andere, offenbar ein Deutscher, lachte. »Drüben an der Tür lehnt eines ohne Besetztzei chen.« Juan Garcia ging auf den Apparat zu und spürte plötzlich gallenbittere Laune, da er nun mit diesem unbekannten Apparat losfahren sollte. Garcia drehte den Apparat auf die Straße zu. Er stellte sich auf das Trittbrett und behandelte den He bel mit genügender Vorsicht, und siehe da, das trotz 22
seiner Kleinheit schwere und tiefliegende Fahrzeug setzte sich in Bewegung. Der Deutsche drehte immer mehr auf, Garcia folg te wohl oder übel. Er hielt sich jedoch immer etwas hinterher, um sich unauffällig führen zu lassen. Mit mindestens dreißig Kilometern Stundenge schwindigkeit jagten sie die glatte Straße entlang. Der Vordermann drückte den Knopf auf der Mitte des Lenkrades. Der betätigte die Sirene, Garcia stell te das an seinem eigenen Fahrzeug fest. Dabei hätte er um ein Haar übersehen, daß das Zeichen der Kur venfahrt galt. Nur mit Mühe brachte er sein Fahrzeug herum und wäre dabei fast heruntergefallen, weil er seinen Körper nicht richtig angepaßt hatte. Juan Garcia wartete auf die Kurve, sah aber keine, sondern nur das breitgelagerte, mehrstöckige Haus, das die Straße abriegelte. Der Deutsche verlangsamte seine Fahrt und hielt kurz vor dem Haus an. Garcia raste mit voller Ge schwindigkeit darauf los. Er riß zwar den Fahrthebel zurück, aber das verminderte das Tempo nicht genü gend. Wenige Meter vor der Hauswand sprang er ent setzt ab und überließ das Fahrzeug seinem Schicksal. Er selbst schlug hin und rutschte bis an die Wand vorwärts. Verdreckt und zerschunden richtete er sich müh sam hoch. 23
»Meine Güte«, sagte sein Begleiter bestürzt. »War um haben Sie denn den Bremshebel nicht bedient?« »Er versagte«, ächzte Garcia. »Es ist nicht weiter schlimm, ich habe mir wohl nur den Knöchel aufge schlagen. Wenn Sie mich etwas stützen würden, bis ich in meinem Stuhl sitze.« »Aber selbstverständlich«, erklärte der andere so fort und griff zu. Juan Garcia konnte nun an sein Ziel gelangen, ohne einen weiteren Fehler befürchten zu müssen. Das Ziel war ein recht nüchterner Arbeitsraum, dessen Hauptmobiliar aus einem rohen Holztisch be stand, auf dem Stöße von Papieren und Büchern la gen. An der einen Seite befand sich ein Aufbau mit einer Reihe von Knöpfen, davor stand ein Stuhl. Garcia ließ sich bis zum Stuhl bringen, dann ging sein Begleiter hinaus. Juan Garcia klopfte sich nun den Schmutz von der Kleidung und sah sich dann den Raum etwas genauer an. Der Teufel mochte wissen, was in den vielen Pa pieren alles stand. Es klopfte. »Herein!« Hal Mervin stand schon im Zimmer. Garcias Ge sicht verzerrte sich. Ausgerechnet Hal Mervin. Er konnte diesen jungen Mann ebensowenig leiden wie Sun Koh, in mancher Hinsicht sogar noch weniger. Und dieser Bursche besaß scharfe Augen. 24
»Nanu!« wunderte sich Hal und schlug Garcia herzhaft auf die Schulter. »Ich denke, Sie wollten ein paar Tage ausspannen. Nun höre ich, daß Sie doch gekommen sind und auch noch versucht haben, das Haus über den Haufen zu rennen.« Juan Garcia grinste mühsam. »Du hast gut lachen. Wäre ich nur geblieben, aber ich dachte mir, es würde alles drunter und drüber ge hen, wenn ich nicht käme.« »Natürlich«, rief Hal, »ich habe ja auch nicht recht daran geglaubt, daß Sie ausspannen wollen. Dazu sind Sie viel zu eingebildet, mein Lieber. Das haben Sie von dem Idioten, Ihrem Bruder Juan.« Garcia räusperte sich. Es schien ihm, als läge in Hals Augen scharf prüfendes Mißtrauen. »Hm, reden wir nicht von ihm. Ich bin jedenfalls da und habe zu tun.« »Das heißt, mach, daß du rauskommst, nicht wahr? Na schön, ich gehe schon. Aber ich werde Ihnen Pi storius, den neuen Helfer aus Ihrer C-Abteilung, schicken. Er wollte Sie gern sprechen. Es kann nichts schaden, wenn Sie ihn anhören.« Garcia nickte. »Ich werde das tun.« »Nett von Ihnen«, sagte Hal grinsend und ging.
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DRITTES KAPITEL
Juan Garcia hatte sich viel vorgenommen und trotz aller Wenn und Aber nie ernstlich daran gezweifelt, daß er eine große Rolle zu spielen hatte. Er war sogar darauf gefaßt, unter Umständen kämpfen und sein Leben einsetzen zu müssen. Trotzdem fühlte er sich jetzt schon unsicher. Die große Linie beherrschte er, aber in den hun dert kleinen Schwierigkeiten drohte die Zermürbung. Da sah er einige Dutzend Knöpfe vor sich. In den unteren Reihen waren sie mit Buchstaben und Zahlen versehen. Juan Garcia schloß, daß ihre Betätigung Sprechverbindungen mit den verschiedenen Abtei lungen des Betriebs schaffte. Es blieben aber noch mehr als ein Dutzend Knöpfe, deren Bestimmung ihm unbekannt war. Jede falsche Bedienung aber konnte zur Entdeckung führen. Aber das war noch unbedeutend. Wie viele Men schen gab es wohl hier, die er eigentlich kennen mußte und doch nicht kannte? Er wurde sich jetzt erst bewußt, daß er sich bei seinen Überlegungen die Sonnenstadt eigentlich immer noch so vorgestellt hatte, wie sie damals gewesen sei. Wie sollte er diesen Riesenbetrieb unauffällig kennenlernen? Wie sollte er seine Unwissenheit ver decken? 26
Schwerwiegende Fragen stürzten plötzlich auf Ju an Garcia nieder. »Señor Garcia?« Gerade noch rechtzeitig fing sich Juan Garcia ab, um nicht erschrocken herumzufahren. Die Tür hatte sich nicht geöffnet, also sprach jemand über den Sprechapparat zu ihm. Und dieser Jemand war Sun Koh. Garcias Blick flatterte über die Knöpfe. Welcher stellte die Verbindung her? »Ich spreche von A 5«, gab Sun Koh schon die Er klärung, die nötig war. Garcia drückte den entsprechenden Knopf. Dann fuhr Sun Koh fort: »Guten Morgen, Señor Garcia. Sie hätten sich nach den letzten Tagen wirklich ein mal ausruhen sollen. Wie ich hörte, haben Sie auch schon einen kleinen Unfall gehabt.« »Hat nichts zu sagen. Wie geht es Ihnen?« »Gut«, erwiderte Sun Koh freundlich, »aber war um drehen Sie mir so hartnäckig den Rücken zu?« Juan Garcia fuhr herum, dann verkrampfte sich sein Gesicht unter dem Schreck, der durch seinen Körper jagte. Die Wand hinter seinem Rücken war nicht mehr zu sehen. Er blickte in einen Raum, in dem bis zur Decke hoch in langen Regalen Ballonflaschen und Kanister standen, während in der Mitte auf einer großen Arbeitstafel Retorten, Gläser, Schalen, Mi 27
kroskope und allerlei unbekannte Apparaturen blitz ten. Vor dem Tisch aber, greifbar und lebensecht, als sei er nur wenige Meter entfernt, stand Sun Koh und wunderte sich. »Warum erschrecken Sie denn so, Señor Garcia? Ist Ihnen nicht wohl?« Juan Garcia riß sich zusam men. »Doch, ich wollte Ihnen nur nicht meine zer schundene Vorderseite zeigen.« »Ach so«, sagte Sun Koh. »Sie hätten eben doch ausspannen sollen. Wenn Sie aber hierbleiben, dann möchte ich Sie bitten, einige Worte anläßlich der kleinen Feier Ihrer Abteilung zu sprechen. Sie wissen Bescheid?« »Gewiß«, würgte Juan Garcia hervor. Er spürte ei nen leichten Schwindel. »Ich danke Ihnen«, sagte Sun Koh zu ihm. »Übri gens – Sie sehen, daß ich gerade auf meinem Rund gang bin. Ihr Mitarbeiter Brecht sagte mir vorhin, daß Sie die Kulturen weiter vermehren. Setzen Sie eine verminderte Wirksamkeit der Humus-Bakterien an, oder wollen Sie Vorsorge über die eingesetzten hunderttausend Quadratkilometer hinaus treffen?« Juan Garcia hatte keine Ahnung. »Das letztere, das letztere«, murmelte er. »Sie glauben also nicht, daß die Wirksamkeit durch die Dauer der Lagerung beeinträchtigt wird?« »Nein.« 28
»Ich muß gestehen«, sagte Sun Koh nachdenklich, »daß ich immer von neuem diese Reinkulturen der Humus-Bakterien für eine der größten wissen schaftlichen Taten halte, weil sie eben für die Menschheit ein Geschenk an fruchtbarer Erde be deutet. Es ist ein überwältigender Gedanke, sich vor zustellen, wie man diese Bakterien über wüstes Land ausstreut, wie sie blitzartig zu wuchern beginnen und Felsen oder Sand, Schlick oder Schlamm in dauernder milliardenfacher Vermehrung durcharbeiten und verwandeln, so daß nach einem Jahr bereits die fruchtbare Humuserde einen halben Meter tief zur Aufnahme der Saat bereit ist, die dann den Verwand lungsvorgang auf ein gewöhnliches Maß herabsetzt. Wahrhaftig, ohne diese Bakterien wäre uns Atlantis kaum etwas nütze, denn dann müßte die neue Erde Jahrhunderte liegen, bevor sie Frucht tragen und Menschen ernähren könnte. Aber – ich sehe, daß Sie so in Gedanken versunken sind, als arbeiteten Sie an einem neuen Problem. Ich will Sie nicht weiter stö ren. Vergessen Sie also Ihre Rede nicht.« »Ich werde daran denken«, sagte Garcia und schal tete schleunigst ab. Jetzt konnte ihn niemand sehen, jetzt konnte er erst einmal das Gesicht verzerren und die Fäuste schütteln. So weit waren sie schon, diese Kerle. Aber er wür de schon ihre Pläne vernichten, in die Luft sprengen, wenn er erst das entscheidende Wort… 29
Er sank zusammen. Richtig, eine Rede sollte er heute nachmittag halten. Dabei wußte er nicht, wor über er reden sollte, noch nicht einmal, wo und vor wem er reden sollte. Es stand jedenfalls fest, daß er vorläufig keine Nachricht nach Amerika geben konnte. Erstens war es ihm technisch unmöglich, weil er überhaupt noch keine Sendemöglichkeit hatte und noch nicht einmal wußte, ob er vom Wohnhaus aus senden konnte, und zweitens hatte es ja gar keinen Sinn. Was sollte er schon berichten? Es würde lange dauern, bevor er in der Lage war, die Sperrungen über diesem Werk zu beseitigen, so daß der Platz von Bombenfliegern ge funden werden konnte. Es klopfte. Juan Garcia griff schnell nach dem nächsten Blatt. »Herein!« Ein junger Mann trat ein. »Guten Morgen«, grüßte er höflich. »Ich bin Ri chard Pistorius und möchte Sie gern wegen einer Verbesserung sprechen, die ich mir ausgedacht ha be.« Garcia spürte eine leichte Verlegenheit bei dem andern. Das machte ihn sicher. »Bitte«, sagte er kurz und wies auf den Stuhl, der an der Wand stand. »Sprechen Sie aber englisch, das ist mir lieber. Was haben Sie denn?« Pistorius holte sich den Stuhl und breitete eine Pa 30
pierrolle aus. »Es handelt sich um die elektrischen Anlagen in unserem Musterhaus«, erklärte er, während er mit dem Finger über die Zeichnung fuhr, die sich auf der Papierrolle befand. »Mir scheint da eine kleine Un zweckmäßigkeit in der Verteilung der Leitungen vorzuliegen, die sich leicht beheben läßt. Das hier ist die Türwand des Hauses mit den Kabelsträngen E, F, G und H. Sie sind im Entwurf im gleichen Abstand über die ganze Fläche verlegt worden, was für alle Kabel des Hauses gilt. Das ermöglicht zwar kürzere Verteilungsleitungen, vermindert aber die statische Festigkeit der Wand und erschwert vor allem die serienmäßige Herstellung. Ich habe hier die Be rechnungen angestellt, aus denen sich ergibt, daß durch die in dieser Skizze angedeutete Führung der Kabel unter Zugrundelegung der Leistungsziffern der Lieferwerke eine Beschleunigung um fast zwanzig Prozent, also ein Zeitgewinn von mehreren Monaten, eintreten kann. Das schien mir wichtig genug, um den Verbesserungsvorschlag zu machen.« Juan Garcia räusperte sich. »Hm, wieso einige Monate?« »Es ist natürlich dabei die Gesamtzahl der zu lie fernden Häuser in Höhe von einer Million angesetzt worden. Sie wissen, daß die Häuser einschließlich der erforderlichen Nebengebäude für die Million Bauerngüter, mit denen Atlantis besetzt werden soll, 31
fabrikmäßig hergestellt werden sollen. Es wäre ja sonst auch so gut wie unmöglich, eine schnelle Be siedlung des Neulandes in solchem Ausmaß vorzu nehmen. Die Häuser werden in Plattenkörpern, die man an Ort und Stelle nur zu verbinden braucht, in der Fabrik erzeugt. Der Gedanke ist alt, unsere An wendungsform jedoch insofern gänzlich neu, als die Konstruktion irgendwelche Kosten des elektrischen Stroms nicht zu berücksichtigen braucht und deshalb in hohem Maß mit allen elektrischen Einrichtungen versehen wird. So, wie wir in der Küchenwand einen elektrischen Herd einbauen, so sehen wir auch gleich die Ventilatoren, Staubsauger, Raumheizungen und indirekten Lichtquellen vor.« »Lampen?« murmelte Juan Garcia sachverständig. »Lampen natürlich nicht«, widersprach Pistorius. »Wir nützen die Möglichkeiten des elektrischen Lichtes aus. Unsere Musterhäuser erhalten natürlich alle indirektes Streulicht aus eingebauten Lichtquel len. Wir haben innerhalb eines solchen Hauses, die Nebengebäude eingerechnet, 142 Zweigstellen für die verschiedensten Zwecke vorzusehen.« »Wieviel?« fragte Garcia unbedacht. »142«, wiederholte Pistorius leicht erstaunt. »Die Lage der einzelnen Zweigstellen ist unveränderlich, da sie durch eingehende Untersuchungen und Fest stellungen in der Praxis ermittelt wurde. Ebenso liegt die Lage des Empfangsapparates, der den Strom auf 32
das Haus übernimmt, fest. Es handelt sich nur noch um die verbindenden Kabelleitungen. Bei der jetzi gen Lage würden wir drei Jahre Lieferfrist ansetzen müssen, bei einer Zusammenfassung und Umleitung nach meinem Entwurf nicht viel mehr als zweiein halb Jahre, da dann die großen Felder der Hausflä chen aus einem Stück eingesetzt und hergestellt wer den könnten. Ich möchte Sie bitten, meine Vorschlä ge zu prüfen, damit die Pläne entsprechend fertigge stellt werden können.« Juan Garcia nahm die Papiere selbst in die Hand. »Hm – na ja, ganz nett«, murmelte er anerken nend. »Ich werde mir die Sache selbstverständlich näher ansehen. In einer Woche gebe ich Ihnen dann Bescheid.« Pistorius riß die Augen auf. »In einer Woche? Ich dachte, Sie könnten gleich eine…« Juan Garcia erinnerte sich, daß er eigentlich Ma nuel Garcia war. »Wie denken Sie sich denn das, junger Mann? Ich habe noch mehr zu tun.« »Gewiß, aber…« Garcia fühlte eine gelinde Wut in sich. Der Mann erwartete anscheinend irgendwelche sachverständi gen Äußerungen von ihm, die er nun einmal nicht geben konnte. Er fixierte ihn. »Keine Einwendungen!« unterbrach er schroff. 33
»Sie erhalten Bescheid. Glauben Sie etwa, daß ich mich gleich über Berechnungen stürze, die irgendein Angestellter des Betriebs zusammengebaut hat? Und nun verschwinden Sie!« Pistorius hob die Schultern und ging hinaus. Juan Garcia hatte wieder einmal das Gefühl, falsch gehandelt zu haben. Zwei Stunden später trat Hal Mervin bei ihm ein. »Hallo, verehrter Señor, kommen Sie mit essen?« Juan Garcia vermutete, daß Manuel essen gegan gen wäre, deshalb nickte er. »Ich komme mit.« Bevor sie das Zimmer verließen, hielt Hal ihn am Ärmel fest und sagte ernst: »Übrigens, Señor Garcia, solche Witze wie mit Pistorius dürfen Sie nicht wie der machen. Der arme Kerl war ganz verstört. Er sagte, erst hätten Sie sich so angestellt, als ob Sie von nichts eine Ahnung hätten, und dann wäre Ihr Be nehmen gewesen, als fühlten Sie sich als Generaldi rektor irgendwelcher Werke. Mir brauchen Sie nichts vorzuspielen. Sie wissen genausogut wie ich, daß hier jeder gleichwertig ist. Als Pistorius Ihnen seinen Vorschlag brachte, war er nach unseren ungeschrie benen Gesetzen erster Mann am Platze. Sie hätten die Prüfung sofort vornehmen sollen, denn nun kann er ja nicht weiter, bis Sie ihm die Pläne zurückgeben. Aber das wissen Sie ja alles und sind sicher schon mit der Prüfung fertig. Sie sollten einen neuen Mit 34
arbeiter lieber nicht derartig ins Bockshorn jagen.« Juan Garcia spürte kalte Schauer auf seinem Rük ken. Jetzt wußte er, welche Fehler er begangen hatte. »Nette Standpauke«, krächzte er mühsam. »Aber es ist natürlich alles fertig. Ich wollte nur sehen, wie sich der junge Mann benimmt.« »Natürlich«, meinte Hal grinsend, »aber je älter der Mensch wird, um so saurer geraten seine Witze. Kommen Sie!« Sie fuhren auf Flitzern durch die Werkstraßen. Das Ziel lag ziemlich am Waldrand. Dort befand sich au ßerdem noch eine weite Sportanlage, auf der ein paar Dutzend junge Leute sich in verschiedenen Gruppen sportlich betätigten. Garcia stellte wie Hal seinen Flitzer beiseite und betrat den Saal des Gemeinschaftshauses. Hal setzte sich an den Tisch, an dem noch einige Stühle frei waren. Juan Garcia tat das gleiche. Die beiden Männer, die schon saßen, nickten ihnen zu, ließen sich sonst aber nicht stören. Juan Garcia musterte möglichst unauffällig seine Umgebung. Die Männer gehörten fast alle dem glei chen Schlag an, die meisten waren sicher nicht älter als dreißig. Viel geredet wurde nicht. Ein Mann in weißer Jacke setzte vor jeden einen vollen Teller zu dem vorhandenen Besteck hin. Grüne Bohnen mit Hammelfleisch. Juan Garcia hatte derartiges noch nie in seinem 35
Leben gegessen, aber er zeigte sich wohl oder übel tapfer, zumal Hal keinen Zweifel daran ließ, daß es sich um einen der ganz großen Genüsse des Lebens handelte. »Vergessen Sie übrigens Ihre Rede heute nachmit tag nicht. Kurz, aber würdig. Wissen Sie noch, wie wir ihn heute vor drei Jahren in die Erde gesenkt ha ben? Das war eine feierliche Stunde. Weiß der Him mel, damals haben mir wahrhaftig die Tränen in den Augen gestanden. Wenn ich bedenke, was er alles für uns bedeutete.« Juan Garcia nickte mit einem Anflug von Schwer mut. Immerhin wußte er nun wenigstens, daß es sich um eine Art Trauerfeier zur Erinnerung an das Be gräbnis irgendeines bedeutenden Menschen handelte. Damit ließ sich schon einiges anfangen. »Ja«, sinnierte Hal weiter, »es war eine schwere Stunde. Sie können in Ihrer Rede nichts Besseres tun, als ihrer zu gedenken.« VIERTES KAPITEL Juan Garcia blieb wieder sich selbst überlassen. Er verbrachte die Zeit damit, sich eine Rede auszuden ken. Darüber hinaus bedachte er alle möglichen Zwi schenfälle, die noch eintreten konnten, und ver suchte, sich schon im voraus darauf einzustellen. Wenn die verdammte Rede nur erst vorüber wäre! 36
Er hatte fast so etwas wie Lampenfieber. Dann trat Hal wieder ein. »Na, wie steht’s? In zehn Minuten beginnt die Feier.« Juan Garcia zuckte weise mit den Schultern und ging mit. Unten auf dem Gang lag eine rotüberkreuzte Plat te. Juan Garcia beachtete sie kaum und fand auch nichts dabei, daß er einen halben Meter vor Hal ging. Ahnungslos setzte er den Fuß auf die Platte. Er war höchst peinlich überrascht, als er beim Vorschwingen des nächsten Fußes in die Höhe flog, mit den Schultern und mit dem Kopf an die Decke stieß und dann erst langsam, die letzten zwei Meter aber sehr schnell und unsanft wieder herunterfiel. »Du lieber Himmel!« rief Hal bestürzt, aber mit einem verdächtigen Grinsen. »Sind Sie denn heute blind, daß Sie die schwerefreie Platte übersehen ha ben? Hoffentlich ist Ihnen nichts passiert?« »Nichts«, seufzte Garcia, »ich…« »Tja, das ist nun einmal so, die Herren Erfinder kennen ihre eigenen Erfindungen nicht mehr. Es ist doch klar, daß Sie nach oben fliegen mußten, wenn Sie unter Ihren plötzlich fast gewichtlosen Körper Ihre gewöhnliche Muskelspannung setzen. Sie haben natürlich das rote Kreuz nicht gesehen.« Garcia wischte sich über die Stirn. »Hä – in der Tat, ich habe nicht darauf geachtet.« Juan Garcia vertraute seinen leicht zusammenge 37
stauchten Körper wieder einem Flitzer an. Das Erdgeschoß des Gemeinschaftshauses war jetzt wieder in einzelne Räume gegliedert. In einen dieser Räume ließ sich Juan Garcia führen. Man hatte die Tische hufeisenförmig gruppiert, sie weiß gedeckt und Blumen darauf gestellt. Von einer Trauerstimmung war freilich nichts zu spüren. Die zwanzig Männer, die sich in dem Raum befanden, zeigten auch kein der Stunde angepaßtes Gebaren. Sie unterhielten sich, manche zeigten recht vergnügte Gesichter, und einige lachten sogar laut. Juan Garcia kam nicht zu weiteren Überlegungen. Er brauchte seine Geistesgegenwart. Ein paar Leute reckten ihm die Hand hin und machten Bemer kungen, auf die er antwortete, so gut es ging. Dann stand er vor Sun Koh. Sun Koh nickte ihm zu und sah ihn dabei an. Gar cia hatte plötzlich das knieerweichende Bewußtsein, daß es unmöglich war, diese durchdringenden, star ken Augen zu täuschen, und daß Sun Koh ihm bis auf den Grund der Seele sah. Der verwirrende Eindruck ging schnell vorüber, da Sun Koh nur flüchtig von seiner Anwesenheit Kennt nis nahm und sich dann einem der Männer zuwandte. Pest und Hölle. Das war gutgegangen. »Da haben Sie den zerstreuten Gelehrten«, klang Hals Stimme hinter Garcia auf. »Anstatt seine abge arbeiteten Nerven gründlich zu erholen, tritt er wieder 38
an und gefährdet aus lauter Überarbeitung sein Leben.« Juan Garcia wandte sich schon bei den ersten Worten um. Joan Martini stand vor ihm. Sie war schöner denn je, und ihr Anblick betäubte Juan Garcia förmlich. Immer wieder hatte er sie be gehrt und versucht, sie sich zu eigen zu machen. Im mer wieder vergeblich. Und nun stand sie unmittel bar vor ihm. Die Probe war wirklich hart. »Sie sollten wirklich lieber ausspannen, Señor Garcia«, sagte sie leise. »Nichts ist gefährlicher, als wenn man seine eigenen Grenzen nicht erkennt.« »Sehr fürsorglich«, entgegnete Juan Garcia. »Wenn ich so viel Schönheit zu bewahren hätte wie Sie, würde ich mich auch mehr pflegen.« Joan Martini schüttelte nur den Kopf und wandte sich Sun Koh zu, der eben herantrat. Dieser unter hielt sich leise mit ihr, dann wurde allgemein Platz genommen. Juan Garcia kam zwischen Sun Koh und Hal Mervin zu sitzen. Als es still geworden war, erhob sich Sun Koh und sagte: »Ich habe Sie zu einer kurzen Stunde der Er innerung zusammengebeten, liebe Kameraden. Es sind alle versammelt, sie sich vor drei Jahren hier in der Sonnenstadt befanden und sich durch Handschlag Treue gelobten. Nur Peters fehlt, da er jetzt nicht aus Deutschland fortkann. Er wird der Feier in der Ferne 39
beiwohnen. Ich habe Señor Garcia als den, der an je ner Stunde stärksten Anteil besaß, gebeten, das in Worte zu fassen, was uns damals alle bewegte. Bitte.« Garcia erhob sich und begann: »Sehr geehrte An wesende!« »Liebe Kameraden!« fauchte Hal von unten hoch. Sofort verstand Garcia und spürte sogleich die Schweißtropfen auf seiner Stirn. Ein Glück, daß die se Leute sich der Stunde gemäß benahmen und mit ernsten, starren Gesichtern auf ihre Hände blickten. »Liebe Kameraden!« begann Garcia erneut. »Wir haben uns heute zu einer ernsten Gedenkstunde zu sammengefunden, um den zu ehren, den wir vor drei Jahren gemeinsam in die Erde senkten. Erinnert ihr euch noch des wehen Schmerzes, der in unserm In nern wühlte, als wir den hinabsenkten, der uns so lieb und teuer gewesen ist?« »Verrückt!« zischelte Hal von unten hoch. Juan Garcia nahm willig das Stichwort auf. »Ihn hatte ein schweres Schicksal getroffen. Das Klima trübte seinen Geist und riß ihn von uns. Seit drei Jahren ruht er nun in der kühlen Erde, aber sein Geist ist ständig bei uns gewesen.« »Der Stein!« keuchte Hal mit rotem Gesicht. Juan Garcia verstand nicht ganz, aber er hielt den Einwurf für eine Anregung. Übrigens schien seine Rede auffallend stark auf diese Männer zu wirken. Es gab niemand, der nicht den Kopf tief gesenkt hielt 40
und erschüttert mit den Schultern zuckte. »Ein Markstein«, nahm Juan Garcia Hals Bemer kung auf, »ein Markstein war jener Tag trotz der tie fen Trauer, die wir alle empfanden. Der Tote, den wir in die Erde senkten…« Irgendwer quietschte stöhnend auf. Und dann ge schah das Unfaßbare. Plötzlich warfen alle Männer den Kopf in den Nacken und lachten, lachten laut und brüllend. Juan Garcias Hände suchten am Stuhl Halt, seine Knie zitterten. Man lachte ihn aus – inmitten einer Trauerfeier. Dieses Lachen bescheinigte einen Fehler, der so ungeheuer groß sein mußte, daß man ihn scho nungslos bloßlegte. Alles war verloren. »Mensch!« keuchte Hal Mervin. »Menschenskind, Garcia, alter Freund, was haben Sie nur wieder an gerichtet! Vor drei Jahren wurde doch nicht ein Toter in die Erde gelegt, sondern der Grundstein zu diesen Werksbauten!« Juan Garcia begriff die Größe seines Reinfalls. »Liebe Freunde!« rief Sun Koh lächelnd durch den Raum. »Señor Garcia ist leider das Opfer eines be dauerlichen Irrtums geworden. Der Fehler liegt bei mir, ich hätte ihn bei seiner Überarbeitung nicht noch damit belasten dürfen. Wahrscheinlich ist ihm der Zweck der Feier nicht gegenwärtig gewesen, und er hat an eine 41
Totenfeier gedacht. Nicht wahr, Señor Garcia?« Garcia konnte gerade noch nicken, dann sank er auf einen Stuhl. Trotz allem spürte er eine ungeheure Erleichterung. Man lachte zwar über ihn, durch schaute ihn aber nicht. Teufel noch mal, die Gefahr war gar nicht so groß, er durfte nur nicht ständig die Beherrschung ver lieren. Aber das sollte ihm nicht wieder unterlaufen. Er war noch bei seinen Vorsätzen, als sich in der Seitenwand, die er übersehen konnte, die Tür öffnete und ein neuer Mann eintrat. Juan Garcia ruckte hoch. Sein Hände krampften sich um die Armlehnen, sein Rücken preßte sich ge gen das starke Holz. Mit entsetzten Augen in dem verzerrten Gesicht starrte er auf den Ankömmling. Das war Manuel Garcia, sein Bruder. Der Tote. Im Raum war es vollkommen still. Die Augen gin gen zwischen den beiden Garcias hin und her. Jetzt deutete Manuel mit dem Finger. »Ach, wie ich sehe, ist mein Platz schon besetzt. Sollte ich aus Versehen doch schon vorher gekom men sein, oder sollte sich etwa mein lieber Bruder Juan dort breitmachen? Oder – sollte ich meine Wet te gewonnen haben? Jedenfalls pfeife ich auf eine Versammlung, in der ich zweimal vertreten bin. Mahlzeit!« Die Tür schloß sich wieder hinter ihm. Juan Garcia war halb tot. Nun war es endgültig aus. 42
»Donnerwetter«, sagte jemand laut, »allerhand!« Garcia sah ein paar Köpfe nicken, die Blicke der meisten lagen jedoch mit erbarmungsloser Neugier auf ihm. »Ist Ihnen schlecht?« erkundigte sich Sun Koh be sorgt. »Hoffentlich war der Scherz nicht zuviel für Sie. Das war natürlich Kelling, mit dem Sie die Wet te abgeschlossen haben, daß es ihm nicht gelingen würde, Ihre Erscheinung täuschend nachzuahmen. Ich glaube, er hat die Wette gewonnen. Die Ähnlich keit war wirklich erstaunlich.« »Großartig«, stimmten die Anwesenden mehrfach zu. »Ganz überraschend. Er wirkte fast echter als Se ñor Garcia selbst.« »Sehen Sie«, sagte Hal schadenfroh, »nun müssen Sie Ihre Taler blechen. In Ihrem Alter sollte man aber auch nicht mehr wetten, liebwertester Manuel.« Da sank Juan Garcia zum erstenmal in seinem Le ben in Ohnmacht. * Als er erwachte, befand er sich in einem anderen Raum auf einem Liegesofa. Neben ihm saßen Sun Koh und Hal Mervin. »Sie müssen unbedingt einige Tage ausruhen«, sagte Sun Koh. »Ich befehle Ihnen, sich mindestens drei Tage lang nicht im Werk sehen zu lassen.« 43
Garcia nickte. »Na schön, wenn Sie es unbedingt wollen, dann will ich mich ausruhen.« »Es ist besser so. Ich habe Ihr Flugzeug bereits be stellt. Sie können dann gleich nach Hause fliegen. Hal wird Sie hinbringen. Nützen Sie die drei Tage. Ich würde Sie gern länger ausspannen lassen, aber ich brauche Sie dringend. Byler ist krank geworden und muß entlastet werden.« »Ach«, murmelte Garcia und wünschte sich, er hätte eine Ahnung, wer jener Byler sei. Doch Sun Koh gab ihm schon Bescheid. »Byler hat bekanntlich die gesamte Finanzver waltung unter sich. Er ist unser Schatzmeister, zu gleich aber auch der kaufmännische Oberleiter für alle Zweiganstalten. Seine jetzige Krankheit hat ihre Ur sache zweifellos in einer Überarbeitung. Wir müssen ihn entlasten und ihm wenigstens die Oberleitung der großen Gesellschaften abnehmen, vor allem die des A-Syndikats in den Vereinigten Staaten. Sie sind nun der einzige, der schon einmal die Oberleitung dieses Syndikats gehabt hat, wenn auch nur aushilfsweise. Da Ihre eigene Abteilung jetzt ziemlich selbständig läuft, wollte ich Sie bitten, wenigstens für einige Zeit noch einmal diesen Posten zu übernehmen.« Juan Garcia hustete. »Ah, ich soll also wieder das A-Syndikat überneh men?« 44
»Ganz recht«, sagte Sun Koh, »wenigstens für ei nige Wochen oder Monate. Wenn Sie sich drei Tage lang ausgeruht haben, werden Sie hoffentlich ein springen.« »Natürlich – natürlich nur, wenn es unbedingt nö tig ist.« »Es ist nötig.« »Tja, da wird mir wohl nichts anderes übrigblei ben«, entschied sich Garcia mit gutgespielter, wider williger Fügsamkeit. »Ich werde das A-Syndikat übernehmen.« »Ausgezeichnet«, lobte Sun Koh. »Und nun wün sche ich Ihnen gute Erholung. Hal wird Sie zum Flug zeug bringen, wenn Sie sich kräftig genug fühlen.« Er nickte Garcia zu und ging hinaus. Garcia stand auf. »Gehen wir.« Der Weg dehnte sich zwar zu Fuß, aber Garcia be kam auf diese Weise eine ganze Menge zu sehen. Und der geschwätzige Hal bot ihm zahlreiche Hilfen zum Verständnis. Juan Garcia hütete sich, viel zu sagen, weil er kei nen Fehler begehen wollte. Hal Mervin stieg mit ihm in das wartende Flug zeug, brachte ihn in das einsame Blockhaus zurück und flog dann wieder zur Sonnenstadt. * 45
In der Sonnenstadt saßen am gleichen Abend Sun Koh, Hal Mervin und Manuel Garcia zusammen. »Ha«, rief er, »ich hätte meinen Bruder wahrhaftig für gescheiter gehalten. Er glaubte es ohne weiteres, daß ich so mir nichts, dir nichts ins Wasser fiel und ihm Platz machte. War ja auch gar nicht so einfach, seinetwegen das Leben aufs Spiel zu setzen.« »Bilden Sie sich keinen Lorbeerkranz ein«, warnte Hal lachend. »Das bißchen Wasser konnte Ihnen nichts schaden. Wir lagen ja gleich an der Einmün dung und haben Sie aufgefischt. Und außerdem sind Sie doch selbst an dem ganzen Theater schuld. Wenn es nach uns gegangen wäre, hätten wir ihn einfach beim Wickel genommen und kaltgestellt.« Manuel Garcias Gesicht war jetzt ernst. »Juan ist mein Bruder. Ich hoffe immer noch, er wird zur Einsicht kommen und daraus die Folgerun gen ziehen.« »Das glauben Sie doch selber nicht. Wenn einer Ihren Bruder für unverbesserlich gehalten hat, dann sind Sie es gewesen.« Garcia grinste wieder. »Ich habe die Hoffnung eben doch noch nicht auf gegeben.« »Na gut. Es war ja auch ganz nett, wie Sie heute Ihre Wette ausgespielt haben, aber ist die Geschichte nicht zu gefährlich?« 46
Manuel Garcia tippte ihm auf die Brust. »Angst, mein Lieber? Der gute Juan wird nicht ge fährlich werden, darauf kannst du dich verlassen. Ich denke, daß er heute überhaupt nicht mehr gewußt hat, wo ihm der Kopf stand.« »Das stimmt schon, aber wenn er nun irgendwann eine Waffe erwischt und Sun Koh niederknallt?« »Er wird eben keine Waffe in die Hand bekom men.« »Du mißverstehst die Lage noch, Hal«, sagte Sun Koh. »Du bist bis vorgestern unterwegs gewesen und kennst unsere eigentlichen Gründe nicht. Juan Garcia wird nichts gegen mich unternehmen, wie du es be fürchtest, selbst wenn du ihm die entsicherte Pistole in die Hand drückst. Er hat bestimmte Aufgaben zu erfüllen, innerhalb derer ich erst verhältnismäßig spät an die Reihe kommen soll. Er beabsichtigt nämlich nicht mehr und nicht weniger, als unsere gesamte Organisation von innen heraus zu vernichten. Das setzt aber voraus, daß er sich hier erst gründlich und mit allem vertraut macht. Er ist klug genug, um zu wissen, daß es nicht genügt, mich zu überwältigen. Das soll erst zu dem Zeitpunkt geschehen, in dem er die Leitung übernehmen oder entscheidende Schläge gegen die Organisation unternehmen kann.« Hal starrte verblüfft. »Ja – und nun wollen wir ihm die Möglichkeit da zu bieten.« 47
»Nein«, widersprach Sun Koh, »aber eine gewisse Bewegungsfreiheit wollen wir ihm schon lassen, nicht um seinet-, sondern um unsertwillen. Hör zu. Du weißt doch, daß unser A-Syndikat immer noch mit Schwierigkeiten zu kämpfen hat?« »Natürlich, vor allem durch Person.« »Person bedeutet heute eine ganze Gruppe von Leuten, die eine starke Macht innerhalb der Staaten und weit darüber hinaus verkörpern. Diese ganze Gruppe ist hauptsächlich gegen das A-Syndikat aus gerichtet und bedeutet eine ernsthafte Gefahr. Die Person-Gruppe wagt trotzdem keine offene Ausein andersetzung, weil sie den Ausgang fürchtet, wir können sie aber auch nicht wagen, weil unsere Kräfte anderweitig zu stark gebunden sind. Deshalb ist es besser, die Person-Gruppe zu schwächen oder zu sprengen.« »Das ist mir klar. Aber was hat Juan Garcia damit zu tun?« »Juan Garcia ist der Mann«, sagte Sun Koh ruhig, »der letzten Endes die Person-Gruppe zusammen gefügt hat. Wir wußten ja schon lange, daß er der unbekannte Gegner sein mußte, der aus dem Ver borgenen heraus gegen uns arbeitete. Er hat die Leu te, auf die es ankam, überzeugt, daß wir beziehungs weise das A-Syndikat ihre Existenz bedrohen. Du kennst die verschiedenen Versuche, die daraufhin unternommen wurden, um unsere Arbeit zu stören. 48
Juan Garcia hat sich nun zur Verfügung gestellt, um im Auftrag Persons den entscheidenden Schlag zu tun. Es gelang unseren Leuten nach vieler Mühe, Garcias Aufenthalt zu ermitteln und ihn unter Beob achtung zu stellen. Damit wurde es möglich, eine Besprechung abzuhören, die er mit den wichtigsten Leuten der Person-Gruppe vor einigen Wochen hatte. In dieser Besprechung vereinbarte man, daß Juan Garcia sich hier einschleichen solle – als Manuel Garcia –, daß er versuchen solle, die Sichtsperre zu beseitigen, so daß Bombenflugzeuge die Werke zer stören können, daß er mich unschädlich machen solle und anderes. Die für uns bedeutsamste Vereinbarung betraf das A-Syndikat. Juan Garcia sollte im Verlauf seiner Maßnahmen und möglichst noch vor einer aufsehenerregenden Handlung das A-Syndikat in die Hände der Person-Gruppe spielen. Man dachte sich das so, daß er nur von der richtigen Stelle aus An weisungen an die Leiter unserer Zweiggesellschaften zu geben brauchte, um diese zu gewissen, von Naivi tät triefenden Maßnahmen zu veranlassen. Das aber kam uns gerade recht.« »Wieso?« »Nun, es wäre denkbar einfach gewesen, Juan Garcia gefangenzunehmen. Dann hätte sich an der bestehenden Lage so gut wie nichts geändert. Wenn Juan Garcia aber als Leiter des A-Syndikats von hier aus Anweisungen geben kann, dann leistet er uns un 49
schätzbare Dienste. Wir drehen nämlich den Spieß um. Juan Garcia wird nicht uns, sondern der PersonGruppe schaden.« »Das verstehe ich noch nicht ganz.« »Er wird von hier aus Anweisungen geben, eines teils an unsere Zweigstellen, andernteils an Person. Daß unsere Leute die Anweisungen nicht beachten, dafür werden wir sorgen. Person aber wird die An weisungen recht genau befolgen, sobald sie seinen ge wiß gut ausgeklügelten Kontrollen standhalten. Er wird zu spät erfahren, daß diese Anweisungen in Wirklich keit von Byler und nicht von Juan Garcia kommen.« Jetzt begriff Hal. »Donnerwetter, Sie wollen ihn mit seinen eigenen Waffen schlagen.« »Darum handelt es sich. Juan Garcia wird unser Werkzeug sein, deshalb geben wir ihm den Spiel raum. Ich habe ihm die Leitung des A-Syndikats übergeben, er wird auch genügend Möglichkeiten haben, um sich mit Person in Verbindung setzen zu können. Dann mag er zu unserm Schaden handeln – wir können seine Sendungen jederzeit unauffällig sperren beziehungsweise einschalten und seine Ab sichten ins Gegenteil verwandeln.« »Aber das könnten wir auch ohne ihn.« »Später vielleicht, jetzt noch nicht. Wir kennen nämlich die vereinbarten Kontrollen nicht. Wir müs sen ihn erst arbeiten lassen, damit wir sein System 50
finden. Es wird auch nichts schaden, wenn wir Per son zunächst einen kleinen Erfolg gönnen.« »Aber die Leute werden auch vorsichtig sein, nicht wahr?« »Gewiß, aber sie werden ihr Spiel haben. Der Hauptkampf wird sich an der Börse abspielen. Ich kann mir zum Beispiel denken, daß die PersonGruppe auf eine entsprechende Anweisung hin Pa piere des Syndikats aufkauft, soweit sie überhaupt zu haben sein werden. Es ist denkbar, daß man sich da mit weitgehend festlegt und dann sehr betroffen ist, wenn sich die teuer gekauften Papiere als völlig wertlos erweisen. Aber die Einzelheiten dieses Bör senkampfes wollen wir Byler überlassen. Ich wollte dir nur zeigen, daß es für uns wichtig ist, Juan Garcia vorläufig in seinem Glauben zu lassen.« FÜNFTES KAPITEL Wochen später. Juan Garcia hatte sich in der Sonnenstadt einge lebt. Was ihm am ersten Tag fast unmöglich erschie nen war, hatte sich doch verwirklichen lassen. Er saß mitten in der Zentrale des Feindes als Manuel Gar cia, lernte die Geheimnisse dieser Sonnenstadt ken nen und kam mehr und mehr in die Lage, Sun Koh und seiner Organisation den entscheidenden Schlag zu versetzen. 51
So meinte er wenigstens. Er hatte die Oberleitung über das A-Syndikat übernommen. Niemals zuvor hatte er sich vorgestellt, daß damit so viel Arbeit verbunden sein könnte. In der ersten Zeit saß er von früh bis spätabends über den Unterlagen und studierte die Einzelheiten dieser Organisation, mit denen er sich nun einmal vertraut machen mußte, bevor er etwas unternehmen konnte. Er arbeitete durchaus ernsthaft und schwer, bis er sich wenigstens in den großen Linien sicher fühlte. Er betrachtete es als ein Glück, daß ihm eingearbei tete Mitarbeiter zur Verfügung standen, die die lau fenden Angelegenheiten bewältigen konnten. Im üb rigen arbeitete ja das A-Syndikat sehr selbständig, man erwartete von ihm nur im Notfall grundsätzliche Entscheidungen. Und dieser Notfall trat einstweilen nicht ein. Ganz nebenbei und allmählich schaffte sich Garcia etwas Spielraum, um auch einen Einblick in das Werk selbst zu gewinnen. Er hielt Augen und Ohren offen und wagte auch Rundgänge. Im Lauf der Wochen lernte er vieles kennen, das meiste allerdings nur so weit, daß er ungefähr die Bedeutung begriff. Eines gelang ihm freilich nicht – er konnte sich trotz mancher Vorstöße nicht mit dem Geheimnis der Sichtsperre vertraut machen und auch nicht in die 52
Werksgebäude eindringen, von denen aus sie in Tä tigkeit gesetzt wurde. Dafür besaß er aber eine ausgezeichnete Verbin dung mit der Außenwelt, vor allem mit Person, sei nem Auftraggeber. Sowohl in seinem Blockhaus wie in seinem Arbeitsraum im Werk stand ihm ein Kurz wellensender zur Verfügung, den er ohne Inan spruchnahme der Funkzentrale benutzen konnte. Den Sender im Werk benutzte er allerdings nicht, sondern nur den Sender im Blockhaus, um sich mit Person ins Einvernehmen zu setzen. Er sendete immer nur auf der einen vereinbarten Welle, nachdem er festgestellt hatte, daß sie sonst von hier aus nicht benutzt wurde. Zu Anfang war er sehr vorsichtig. Er begann mit harmlosen und vollkommen unverfänglich klingen den Chiffresendungen. Tagelang wartete er ab, um festzustellen, ob man die Welle überwache. Als sich niemand rührte, wurde er kühner und gab – natürlich wieder chiffriert – die ersten wichtigen Meldungen über seine Beobachtungen durch. Keine Ahnung, kein dunkles Gefühl warnte ihn. Er glaubte sich völlig sicher. So weit reichten seine technischen Kenntnisse doch nicht, um festzustellen, daß er auf einer ganz anderen Welle sprach, als das Wellenband angab. Er glaubte, die vereinbarte Welle zu benutzen, in Wirklichkeit sendete er auf einer ganz anderen. 53
Und er glaubte, mit Person, seinem Verbündeten, zu sprechen. In Wirklichkeit sprach er mit einem Mann, der einen gleichlaufenden Sender und Emp fänger in der Sonnenstadt bediente. Nicht anders erging es Person. Er sendete zwar auf der richtigen Welle, doch die wurde im Werk aufgefangen und zurückgeschickt, während Juan Garcia infolge seines falsch abge stimmten Apparates sie gar nicht empfing. So erfuhr Person etwas ganz anderes als das, was Garcia ihm meldete, und Garcia bekam etwas zu hö ren, was sich von Persons Mitteilungen wesentlich unterschied. Immerhin – eins wurde ihm, da es unvermeidlich war, ziemlich genau übermittelt. Person begann zu drängen. Er fand die Berichte zwar ganz bedeutungsvoll und wesentlich, aber da ihm nun einmal vor allem an der Vernichtung des ASyndikats lag, wollte er darüber nähere Anweisungen haben. Juan Garcia vertröstete zunächst, weil er sich noch nicht genügend eingearbeitet hatte und noch keinen Weg sah, um mit dem A-Syndikat zugleich auch das Werk zu vernichten. Person wartete die angesetzte Frist ab, dann dräng te er von neuem. Er schlug unter anderem vor, zu einem vereinbarten Zeitpunkt einige Flugzeuge über Yukatan zu schicken. Wenn Juan Garcia das Werk 54
verließe, könne er sich leicht mit den Flugzeugen in Verbindung setzen und sie an die richtige Stelle füh ren, so daß eine Beseitigung der Sichtsperre nicht erst abgewartet zu werden brauchte. Juan Garcia bekam diesen Vorschlag zu hören. Er zögerte trotzdem. Es war etwas Merkwürdiges an diesem Zögern. Einesteils lag für Garcia ein klar umrissener Grund vor. Er wollte nämlich die Sonnenstadt in Begleitung Joan Martinis verlassen. Andernteils spielten dunkle Unterströmungen in ihm mit, die er selbst nicht zu fassen wagte und vermochte. Jahrzehntelang war seine einzige Richtschnur die Selbstsucht gewesen wie bei allen anderen Men schen, mit denen er zusammengekommen war. Jetzt befand er sich plötzlich wochenlang unter Männern, die die Selbstsucht überhaupt nicht kannten, sondern mit jedem Wort, mit jeder Tat Gemeinschaftsempfin den und Kameradschaft zum Ausdruck brachten. Darin lag eine starke, formende Kraft. Und Juan Garcia war nicht in der günstigen Lage, sich in einen stillen Winkel verkriechen und diesen Leuten aus dem Weg gehen zu können, sondern er mußte mit ihnen zusammen arbeiten, essen und fei ern, er traf sie stündlich und täglich. Das hatte seinen Haß gemildert. Hier lagen die letzten Wurzeln seines Zögerns. Es war ein verhängnisvoller Tag für ihn, als er das 55
erkannte, denn an diesem Tag verätzte er die leichten Ansätze der Besserung mit der scharfen Lauge der Selbstverspottung, richtete die Mauern der Selbst sucht neu auf und schürte seinen Haß. An diesem Tag sendete er Person die erste Anwei sung zum Schaden des A-Syndikats. Und der Verbindungsmann gab sie wortgetreu an Person weiter, denn die Person-Gruppe brauchte ei nen Teilerfolg, um ohne Mißtrauen alles auf eine Karte zu setzen. Es bereitete Juan Garcia ein grimmiges Vergnü gen, als er erfuhr, wie seine Anweisungen gewirkt hatten. Person war sehr zufrieden und drängte nun zum großen Schlag. Juan Garcia wollte zwei Wochen warten. Es schien ihm nötig, erst eine gewisse Beruhigung ein treten zu lassen. Außerdem hatte er ja außer der Ver nichtung des A-Syndikats noch andere Absichten. Person erhielt trotzdem bereits nach acht Tagen die entscheidenden Anweisungen. * Unmittelbar nach Eröffnung der Börse in der Wall street begannen die ersten Gerüchte aufzuschwirren. »Haben Sie gehört? Das A-Syndikat soll in Auflö sung begriffen sein!« »Das A-Syndikat? Neuer Witz?« 56
Plötzlich wurde ein Paket Syndikatspapiere aus geboten, fünfzig Stück auf einmal, so viel, wie man hier an der Börse noch nie auf einmal zum Angebot bekommen hatte. Noch nie waren in der Wallstreet mehr als fünf Stück Syndikat auf einmal angeboten worden. Man notierte die Papiere, handelte sie aber kaum. Und Syndikat stand nicht auf hundert, sondern auf vier hundertzweiundsechzig an diesem Morgen. Für vier hundertfünfzig wurden sie angeboten, das bedeutete bald eine Viertelmillion Dollar. Fünfzig Stück Syndikat! Und kein Mensch kaufte sie. Feste Order schien nirgends vorzuliegen. Tausend Stück Syndikat! Die Börse hielt den Atem an. Aus den Telefonzellen quollen die ersten Bestäti gungen. Das A-Syndikat befand sich tatsächlich in Auflösung. Amtlich wurde eine Umgruppierung ge meldet. Einige Teilgruppen sollten ausscheiden. Wer kaufte schon Syndikat zu vierhundert, wenn sie morgen vielleicht noch hundert wert waren? Fünftausend Stück Syndikat! Drei, vier Makler waren auf einmal da, die Syndi kat ausboten. Syndikat in unbegrenzten Mengen! Oder steckte mehr hinter diesem Angebot als ein plumper Ausverkauf? 57
Syndikat fiel, fiel in harten Rucken. Dreihundertfünfzig – dreihundert – zweihundert fünfzig. Ein ungeheurer Sturz. Sollte er ins Bodenlose ge hen? Syndikat – zweihundert. Jetzt kam der Schlachtruf. Ein kleiner Makler, der bis dahin wie viele andere mit den Schultern gezuckt hatte, eröffnete den Kampf. »Ich kaufe!« Damit begann der Hexenkessel eines großen Ta ges. Plötzlich begann alles aufgeregt zu drängen, zu rufen und zu schreien. Syndikat wurde von einem kleinen Mann gekauft. Nun begann es sich auch in der Gruppe zu regen, die bisher flüsternd zusammengestanden hatte. Sie löste sich auf, bezog ihre gewöhnlichen Plätze. »Ich kaufe ebenfalls Syndikat!« Mechanisch wurden die Hüte zurückgeschoben. Der Mann, der jetzt Syndikat kaufte, war kein Unbekann ter. Man wußte, daß er gewöhnlich für Person stand. Ah – da zerriß aller Nebel. Ein Großkampf. Person und seine Gruppe gegen das Syndikat. Und das Syndikat hatte mit einer schweren Schlappe ein gesetzt, bevor der Kampf überhaupt begonnen hatte. Jetzt ließ man sich mitreißen. Syndikat wurde ge kauft. 58
Da waren ein paar Mann, die offenbar für Person kauften, da waren einige andere, von denen man nicht wußte, für wen sie kauften, da waren wieder andere, die vorsichtig ihre hundert oder fünfzig Stück wagten. Die Kurse zogen an. Zweihundertfünfzig – dreihundert. Syndikat wurde in Riesenmengen gekauft. Doch es wurden auch Riesenmengen angeboten. Das Syn dikat schien sämtliche Papiere auf den Markt werfen zu wollen. Als die Kurse über dreihundert hinaufschnellten, stoppten vier Makler gleichzeitig ab, die vier Makler, die man für Leute der Person-Gruppe halten mußte. Nur die beiden Außenseiter kauften noch mäßig, hör ten dann aber auf. Das Angebot jedoch ging weiter. Fünftausend Syndikat! Die Kurse glitten zögernd zurück. Die Mitläufer bekamen es mit der Angst zu tun. Sollten sie auf den Papieren sitzenbleiben, die sie zu dreihundert gekauft hatten? Der Ausgang dieses Kampfes war nicht ab zusehen. Bis zweihundertfünfzig fiel Syndikat, dann be gannen die Person-Makler von neuem zu kaufen. Die meisten Mitläufer schlugen ihre kleinen Sätze schleunigst ab und begnügten sich mit kleinen Ge winnen. 59
Syndikat wurde gekauft, angeboten, gekauft, an geboten… Syndikat fiel, stieg, fiel, stieg, immer zwischen zweihundert und dreihundert. Ganz klar schieden sich die beiden Gruppen. Hier die Verkäufer, die offenbar für das Syndikat tätig waren, dort die Käufer der Person-Gruppe. Völlig klar sah aber nur ein Mann, der wie ein Feldherr die große Schlacht leitete. Er bestimmte die Angebote und übernahm die Käufe seiner Deckleute, um sie sofort wieder in das Angebot umzuleiten. Mit diesen Käufen hielt er die Kurse und brachte zu gleich das Wunder fertig, immer wieder Syndikat anbieten zu lassen. Es war eine Riesenschlacht. Und plötzlich, noch mitten in der Börsenzeit, riß sie ab. Syndikat ausverkauft. Es gab keine Papiere mehr, kein Angebot erfolgte. Ernüchtert, mit leeren Augen blickte man sich an. Vorbei. Die Person-Gruppe hatte ein ungeheures Vermögen verdient, denn morgen würden die Kurse bestimmt wieder auf fünfhundert hochklettern. Und außerdem hatte sie so viel gekauft, daß sie die Mehr heit besitzen mußte. Das war ein Schlag. Das A-Syndikat in Persons Hand. Aber… 60
Draußen schrien die Zeitungsjungen die Mittags blätter aus. Irgendwer kam mit einer Zeitung her eingestürzt. Minuten später befanden sich Dutzende von Zeitungen im Saal. Aller Augen liefen über eini ge fettgedruckte Zeilen. Das A-Syndikat war tatsächlich umgruppiert wor den. Keine Einzelheiten, keine Ausführungen, aber die Umgruppierung war nicht mehr zu bezweifeln. Das bedeutete? Das bedeutete, daß das A-Syndikat seine Papiere auf den Markt geworfen hatte, um sie noch günstig loszuwerden. Das bedeutete, daß die Person-Gruppe an diesem Vormittag ein ungeheures Vermögen ver loren hatte. Hundert Millionen! Dieser Schlag würde ihn nicht umwerfen, aber – wie standen Person-Aktien? Über zweihundert! Wür den sie morgen noch so stehen? Ein Rückgang war unvermeidlich. Vorsichtig wurden die ersten Bündel Papiere der Person-Gruppe zum Verkauf angeboten. Sie wurden nicht gekauft. Da staute sich plötzlich ein Riesenangebot. Die Kurse fielen und fielen. Was nicht in Persons Hand lag, wurde hier ausge boten. Doch dann, bei hundert ungefähr, erfolgten die er sten Käufe. Persons Makler rührten sich, Person 61
selbst stützte seine Papiere. Würde es ihm gelingen? Dann platzte die Bombe. * Person selbst befand sich in New York und leitete von seinem Quartier in der Nähe der Wallstreet die Schlacht. Er befolgte die Anweisungen, die aus der Sonnen stadt kamen, befolgte sie ohne Mißtrauen und mit Nachdruck, weil sie letzten Endes seinen eigenen Anregungen entsprachen. Die Form dieses Kampfes war seine Form. So hatte er manchen Gegner nie dergerungen. Das Syndikat gruppierte sich um, befand sich in Auflösung. Person wußte genau, daß es nicht stimm te, aber er sorgte eifrig dafür, daß dieses Gerücht sich auswirkte. Er deckte die Verkäufe des Syndikats, machte sie verständlich und schreckte gleichzeitig die kleinen Leute und Außenseiter ab, ihm die wert vollen Papiere vor der Nase wegzukaufen. Das Syndikat warf die Papiere auf den Markt. Selbstverständlich, das war ja seine eigene Anwei sung. Ein tüchtiger Kerl, dieser Juan Garcia, daß er es fertigbrachte, die Syndikatspapiere auf die Börse zu werfen. Wie vereinbart, kaufte Person zwischen zweihun 62
dert und dreihundert jeden Posten. Man konnte ge trost zu zweihundertfünfzig kaufen, da die Papiere ja morgen wieder auf vierhundertfünfzig stehen wür den. Vierzigtausend Aktien wollte Garcia zur Verfü gung stellen, vier Fünftel des sorgfältig gehüteten Bestandes, das bedeutete einen Gewinn von heute auf morgen von rund achtzig Millionen Dollar. Achtzig Millionen Dollar! Person bekam einen Schwindelanfall davon, er fühlte sich bombensicher. Es machte ihm nichts aus, seine Reserven anzugreifen und seine eigenen Fonds zur Verfügung zu stellen. Person kaufte an diesem Vormittag vierzigtausend Syndikatsaktien zu einem Durchschnittskurs von zweihundertfünfzig, er legte sich also mit hundert Millionen Dollar fest. Als die Schlacht zu Ende war, lehnte er sich wie ein siegreicher Feldherr zurück. Ein Riesenvermögen verdient und die hohe Mehrheit im A-Syndikat. Das war ein Tag, der alles krönte. In seinen Triumph hinein gellten die Zeitungs jungen. Wenig später schob einer der Sekretäre die Notiz unter seine Augen. Umgruppierung des A-Syndikats. Was sollte das? Person stutzte zunächst, doch dann lachte er auf. Da brachte ein Eifriger schwarz auf weiß das Ge rücht, das seine Leute ausgestreut hatten. Zu spät, 63
mein Lieber, zu spät. Heute morgen wäre es eine ganz nette Hilfe gewesen. Ein Sekretär schob sich heran. »Zwei Herren wünschen Sie sofort zu sprechen.« Person las die Namen auf den hingehaltenen Kar ten. »Dietel? Ist das – das ist doch nicht der Leiter des A-Syndikats? Und – was, zum Teufel! – Garcia? Worauf warten Sie, zum Teufel? Lassen Sie doch die beiden Herren eintreten!« Der Sekretär eilte. Hatte Garcia diesen Dietel ge kauft und kam mit ihm, um sich seinen Lohn zu ho len? Aber was machte Garcia hier? Er mußte doch unten in Yukatan sitzen! Mit ausgestreckten Händen trat er auf den eintre tenden Garcia zu. »Das nenne ich eine freudige Überraschung, Mr. Garcia. Wahrhaftig, Sie haben mir zu dem größten Tag meines Lebens verholten. Ich irre wohl nicht, wenn ich annehme, daß Mr. Dietel…« Garcia übersah die ausgestreckten Hände. »Sie irren durchaus, Mr. Person«, stellte er spöt tisch fest. »Vor allen Dingen bin ich nicht Juan Gar cia, sondern dessen toter Bruder Manuel Garcia. Das will nicht besagen, daß ich wirklich tot bin, nur Sie glaubten es wohl ebenso wie mein lieber Bruder. Ich hoffe, daß Ihnen mein Besuch trotzdem eine freudige Überraschung ist.« 64
Person begriff nur, daß etwas nicht in Ordnung war, und sagte ratlos: »Ja – Manuel Garcia – ich ver stehe nicht…« »Vielleicht setzen wir uns«, schlug Garcia höflich vor. Person setzte sich ziemlich mechanisch. »Ja – natürlich – bitte Platz zu nehmen.« »Danke«, sagte Garcia grinsend. »Sie haben wohl nichts dagegen, wenn wir gleich zur Sache kommen. Sie kennen meinen Bruder Juan, nicht wahr? Er hat sich etwas Neues ausgedacht. Augenblicklich lebt er auf Yukatan und gibt sich für mich aus. Er hat sich dort als Finanzminister etabliert und gibt durch Kurz wellensender an sehr ernsthafte Leute Ratschläge. Sie wissen Bescheid, nicht wahr? Sehen Sie, wir wissen auch Bescheid. Worüber? Nun, wir wußten zum Bei spiel, daß er die Papiere des A-Syndikats billig auf den Markt werfen und Sie veranlassen wollte, sie zu kaufen. Sie können sich denken, daß wir sofort Ge genmaßnahmen ergriffen haben. An dem Plan selbst konnten wir nichts mehr ändern, aber wir hatten die Möglichkeit, das Syndikat umzugruppieren und zu entlasten, also gewissermaßen so weit zu entwerten, daß keine Verluste entstehen konnten. Und nun kommen wir zu Ihnen, um Sie zu warnen.« »Mich zu warnen?« echote Person. Garcia nickte. »Ich meine, das ist man sich unter ehrenwerten Leuten schuldig, selbst wenn man sonst in entgegen 65
gesetzten Lagern steht. Man wird sich als ehrlicher Mann nicht eines Schuftes bedienen, um einem an deren zu schaden. Deshalb halten wir es für unsere Pflicht, Sie aufzuklären und Ihnen zu sagen, daß es nicht ratsam ist, Syndikatspapiere zu kaufen.« Jetzt erst begriff Person. Sein Oberkörper schwankte vor. »Ist das«, stieß er heiser heraus, »ist das Tatsache, daß Sie das Syndikat umgruppiert haben?« »Gewiß«, bestätigte Garcia ernst. »Wir haben so gar eine sofortige Veröffentlichung in den Zeitungen veranlaßt.« Person sank zusammen. Er zweifelte nicht mehr. Er hatte nicht achtzig Millionen gewonnen, sondern… »Meine Güte«, stöhnte er matt, »ich habe heute vormittag vierzigtausend Papiere des A-Syndikats gekauft, durchschnittlich zu zweihundertfünfzig.« Jetzt ergriff Dietel das Wort. Er sprach kurz und kühl. »Also doch. Ich muß gestehen, daß Sie mir nichts Neues sagen, da ich den Börsenverlauf beobachtet habe. Wir kommen in Wirklichkeit nicht, um Sie zu warnen, sondern um Sie über den wahren Stand zu unterrichten. Bitte achten Sie genau auf meine Wor te, Mr. Person. Die vierzigtausend Stück Papiere wa ren mein persönliches Eigentum. Den Nachweis dar über finden Sie in diesen Papieren, um deren Ein sicht ich Sie bitte.« 66
Er hielt einige Papiere hin, aber Person starrte nur mit leeren Augen darauf. Er wußte schon, was das bedeutete. Dietel fuhr fort: »Die Papiere sind ord nungsgemäß auf Grund einer entsprechenden Dek kung gehandelt worden. Ich bitte Sie nunmehr, mir den Gegenwert von rund hundert Millionen Dollar baldigst zur Verfügung zu stellen. Ich hoffe, daß Sie dazu imstande sein werden, selbst wenn sich die ge kauften Papiere als wertlos herausstellen sollten.« »Ja – natürlich«, murmelte Person rauh. »Was glauben Sie denn? Sie werden den Kaufpreis erhal ten.« Dietel erhob sich sofort. »Danke. Sie erlauben, daß wir uns verabschie den.« Person rührte sich nicht, als die beiden hinausgin gen, aber sein Gehirn rechnete schon wieder. Eben das hatte ihn groß gemacht, daß er in jeder Lebens lage zu rechnen verstand. Hundert Millionen sofort flüssigmachen. Das gab einen ernsthaften Knacks, eine Klemme, die den to talen Untergang bedeuten konnte. Hundert Millionen. Es war nicht schwer, die Dek kung war da, wenn seine eigenen Papiere stehen blieben. Aber seine eigenen Papiere würden fallen. Sie waren ja schon gefallen. Und – Himmel und Hölle! – seine Makler kauften 67
ja dauernd seine eigenen Aktien, gingen über die vorhandene Deckung hinaus und raubten ihm millio nenweise die flüssigen Mittel. Plötzlich wurde Person wieder lebendig. Retten, was zu retten war. Und wenn er nur eine einzige Mil lion aus dem Zusammenbruch rettete – damit ließ sich leben und neu anfangen. Person gab telefonische Anweisung an seine Mak ler, keine Person-Papiere mehr zu kaufen, sondern sie sich selbst zu überlassen. Während er telefonierte, kam ihm ein verzweifel ter, aber noch glücklich scheinender Einfall. Noch wußte die Börse nichts Genaues, noch hielt man sei ne Stellung für stark, noch war das Schicksal des ASyndikats unbestimmt. Wenn er nun jetzt, in der letzten Börsenstunde, die Syndikatspapiere wieder freigab, wieder auf den Markt warf? Er würde schwer verlieren und nur einen Teil absetzen, aber es gab Dumme an der Börse, und jedes Tausend dieser Papiere bedeutete eine Million. »Sofort die Syndikatspapiere verkaufen! Ich stelle vierzigtausend zur Verfügung.« Auf der Börse platzte ein Bombe. Person Aktien wurden weiterhin angeboten und sanken immer tiefer. Daneben tauchten aber erst bescheiden, dann in schnell wachsenden Mengen Syndikatspapiere wie der auf. Diesmal wurden sie von Persons Leuten 68
ausgeboten. Die Folgen wunderten niemand. Syndikat rutschte und rutschte von dreihundert auf hundert, auf fünfzig und darunter. Man durchschaute Person vollkommen. Er befand sich in verzweifelter Lage und versuchte, an barem Geld zu bekommen, was er noch bekommen konnte. Er kaufte sich selbst aus, um ein Trinkgeld zu behalten. Syndikat stürzte. Person stürzte. Riesenmengen standen zur Verfügung. Als beide weit unter pari standen, wurde von ver schiedenen Maklern gekauft, ganz schnell, ganz un auffällig. Bevor die Börse recht begriff, was geschah, hatten einige kleine Makler sämtliche vierzigtausend Syn dikatspapiere zu einem Schundpreis erworben, dazu ein gutes Drittel aller Person-Papiere, nämlich alle, die freistanden. Und als man begriff, was vorgefallen war, ver kündeten die Gongschläge den Schluß der Börse. Ein ungeheurer Tag. Das Ergebnis konnte man erst in den nächsten Ta gen allmählich übersehen. Zunächst stellte sich heraus, daß die Umgruppie rung innerhalb des A-Syndikats völlig belanglos war und daß Person den zweiten großen Fehler begangen hatte, als er die Papiere wieder abstieß. Syndikat kletterte in den nächsten Tagen sprung 69
haft auf über fünfhundert und wurde das weitaus bestnominierte Papier. Das Syndikat hatte einen Riesengewinn zu ver zeichnen. Person bekam zwar durch den Verkauf etwas Luft, aber es genügte gerade, um seine Käufe zu decken. Er brachte die hundert Millionen auf, aber dabei be fanden sich seine sämtlichen Anteile an PersonPapieren. Da er ein Drittel in der Hand gehabt hatte und anderseits das Syndikat durch den rechtzeitigen Ankauf das andere Drittel an sich gerissen hatte, be saß nunmehr das Syndikat die Mehrheit in der Per son-Gruppe und konnte über sie verfügen. Person selbst rutschte zu einem der Kleinen ab, ließ zukünf tig die Finger von der Börse und stellte sich auf Landspekulationen um. Ein gewisser Byler, ein kleines, schmächtiges Männchen, hatte seine größte Börsenschlacht ge schlagen. Und Juan Garcia saß in der Sonnenstadt und glaubte, die Puppen zu führen. Dabei wurde niemand stärker vom Verlauf der Er eignisse überrascht als er. Bevor jedoch die Enthüllung über ihn kam, wurde er Zeuge eines Geschehens, das ihn zwar nicht un mittelbar etwas anging, ihn aber doch stark berührte. Es gab ihm vor allem Aufklärung über manche Zu sammenhänge, die er früher nicht beachtet hatte. 70
SECHSTES KAPITEL
Ein Ereignis trat in das Leben Sun Kohs, das ihn durch all die Jahre und Erlebnisse zurückführte zu den Anfängen seiner Abenteuer. Was an diesem Tag, an dem in New York die Bör se aus einer Erregung in die andere stürzte, in der Sonnenstadt geschah, berührte Juan Garcias Ge schick kaum. Es berührte nur das Schicksal Sun Kohs, das aber so sinngebend, daß es gerechtfertigt scheint, den Ablauf der Einzelhandlung zu unterbre chen. Sun Koh erhielt gegen zehn Uhr vormittags die Meldung, daß sich ein fremdes Flugzeug nähere. Er befahl, die Werke durch die Sichtsperre zu tarnen, und begab sich zusammen mit Hal in eine der Beob achtungsstationen, von denen man die Werke wie die Umgebung übersehen konnte. Das Flugzeug hielt schnurgerade auf die Sonnen stadt zu. »Ein ganz unbekannter Typ«, meinte Sun Koh. ernst. Unmittelbar danach klang eine Stimme im Raum auf. »Funkzentrale. Sun Koh wird dringend verlangt. Ich bitte, ihn zu benachrichtigen, wenn er sich in der Nähe im Freien befindet.« 71
Das war ein Ruf, der über die in jedem Raum ein gebauten Sprechanlagen zur gleichen Zeit durchs ganze Werk scholl. Sun Koh betätigte einen Knopf und stellte dadurch die Verbindung mit der Funkzentrale her. »Hier Sun Koh.« »Funkzentrale. Das Flugzeug, das sich dem Werk nähert, ruft auf unserer Welle und wünscht Sie zu sprechen.« »Auf unserer Welle?« fragte Sun Koh erstaunt. »Stellen Sie die Verbindung her.« »Sie können sprechen.« »Hier Sun Koh!« Von dem Flugzeug kam sofort Gegenmeldung. »Ryken. Hoffentlich entsinnen Sie sich noch mei ner, Mr. Sun Koh. Denken Sie an jene Zeit in Ara bien und Ägypten, die Sie als mein Gast verlebten.« »Mr. Ryken?« rief Sun Koh ebenso überrascht wie erfreut aus. »Ich erinnere mich sehr gut. Ist Mr. Hout auch bei Ihnen?« »Gewiß, er sitzt neben mir. Es ist ihm noch immer nicht gelungen, sich in Genever zu ertränken. Au ßerdem habe ich noch ein paar alte Freunde von mir und auch von Ihnen bei mir, zum Beispiel Professor Nicholson.« »Vom Südpol?« »Genau. Haben Sie etwas dagegen, wenn wir lan den? Wir wollen Sie nämlich besuchen.« 72
»Ich freue mich sehr, Sie wiederzusehen. Aber – es gibt hier manche Geheimnisse. Können Sie für die anderen Herren bürgen?« »Darauf dürfen Sie sich verlassen«, kam es ver gnügt zurück. »Dann will ich die Sichtsperre wegnehmen lassen. Landen Sie auf dem Dach der großen Halle, auf dem die anderen Flugzeuge stehen. Augenblicklich wer den Sie ja nichts anderes als Wald unter sich sehen.« »Was heißt Wald?« wunderte sich Ryken. »Wir sehen das ganze Werk unter uns. Oder dachten Sie, wir kommen ganz durch Zufall auf das Werk zuge flogen?« »Aber…« »Sie haben eben nicht alle gescheiten Köpfe für sich gepachtet. Den kleinen Apparat, mit dem man Ihre Sichtsperre durchbrechen kann, bringen wir Ih nen als Geschenk mit. Alles andere mündlich.« Sun Koh schickte nach dem Abbruch des Ge sprächs Befehle durch das Werk, dann eilte er zu sammen mit Hal auf den Landeplatz. Acht Männer mit charakterstarken Gesichtern stiegen aus dem Flugzeug. Drei von ihnen kannte Sun Koh recht gut, nämlich Ryken, Hout und Nicholson. Drei anderen war er schon einmal flüchtig begegnet, ohne mit ihnen nä her in Fühlung gekommen zu sein. Zwei hatte er überhaupt noch nicht gesehen. 73
Die Männer nannten ihre Namen, soweit sie nicht schon bekannt waren, und schüttelten Sun Koh wie Hal Mervin warm die Hände. Dann führte Ryken zu nächst das Wort. Ryken war, wie Hout, Holländer. Er besaß eine zierliche, aber trotzdem kräftig wirkende Figur. »Da wären wir also«, stellte Ryken vergnügt fest. »Sie sehen ausgezeichnet aus, lieber Freund. Das Klima scheint Ihnen gut zu bekommen. Und der Kleine ist mächtig ins Kraut geschossen. Fast ist man geneigt, ihn für einen Mann zu halten.« »Darf ich die Herren bitten, mir zu folgen?« sagte Sun Koh lächelnd. »Wo steckt denn eigentlich Garcia?« fragte einer der Ankömmlinge. Sun Koh zögerte. »Garcia ist im Werk, aber…« Ryken klopfte ihm auf die Schulter. »Er muß mit her, unbedingt, sonst sind wir nicht vollzählig. Wir wissen natürlich ganz genau, daß Manuel Garcia sich zur Zeit in New York befindet und daß es Juan Garcia ist, der hier seine Rolle spielt.« Sun Koh sah ihn groß an. »Mir scheint, Sie wissen sehr viel.« »Das scheint mir auch«, sagte Ryken grinsend. »Aber laden Sie Juan Garcia getrost mit ein. Er ge hört auch mit dazu. Wir werden uns schon dumm stellen.« 74
»Wie Sie wünschen«, erklärte Sun Koh. Er tat es, weil er Ryken vertraute, denn er war noch weit da von entfernt, diesen überraschenden Besuch innerlich zu verarbeiten. Hal bekam einige Aufträge und flitzte los. Sun Koh folgte mit den acht Herren. Sie gingen zu Fuß durch das Werk. Während sie durch die Werksstraßen zum Ge meinschaftshaus gingen, unterhielt sich Sun Koh mit seinen Gästen. Dabei fiel ihm vor allem auf, wie gut sie über die Einrichtungen des Werkes Bescheid wußten. Selbst Einzelheiten, die Juan Garcia in den letzten Wochen nicht kennengelernt hatte, waren ih nen vertraut. Sun Koh machte keine Bemerkung dar über. Einstweilen konnte er dieses ihm unbegreif liche Wissen nur hinnehmen. Am längsten unterhielt er sich mit dem Mann, der offenbar von allen anderen als Oberhaupt geachtet wurde. Er hieß Norkey oder Norke, soweit Sun Koh den Namen verstanden hatte. Norke war wohl der älteste von allen, aber seine hünenhafte Gestalt zeigte weder in Haltung noch in Bewegung Spuren des Verfalls. Sun Koh fühlte sich seltsam zu diesem Mann hin gezogen. Er hatte das Empfinden, neben einem Vater zu schreiten. Vor allem horchte er dem Klang dieser vollen und zugleich milden Stimme nach. Er hatte sie schon gehört und grübelte darüber nach, wo und un 75
ter welchen Umständen das gewesen war. Es fiel ihm nicht ein. Vielleicht lag das daran, daß er verwirrt und befangen war wie selten in seinem Leben. Im Gemeinschaftshaus hatte Hal inzwischen die nötigen Vorbereitungen treffen lassen. Die Gäste fanden einen bereits gerichteten Raum und Erfri schungen vor. Auch Juan Garcia war zur Stelle. Er besaß zu den Besuchern noch viel weniger Beziehungen als Sun Koh, aber er verhielt sich sehr geschickt. Er erfaßte sofort, daß ihn diese Leute als alten Freund betrach teten. Die Einzelgespräche verstummten bald. Norke er hob sich. Die Augen richteten sich auf ihn. »Liebe Freunde«, hob der Greis zu sprechen an, »vergönnt mir als dem Ältesten unter euch, zunächst zu sprechen. Wir haben uns heute in der Sonnenstadt der Maya zusammengefunden, wie es vor fünfund zwanzig Jahren vereinbart wurde. Elf Männer waren wir damals. Zwei von uns sind durch den Tod ver hindert worden, zu erscheinen.« Er machte eine Pause, dann fuhr er fort: »Die Son nenstadt hat sich gewandelt. Über den Ruinen der Vergangenheit sind die Werke der Zukunft entstan den. Was uns einst Experiment und vielleicht auch Spielerei erschien, hat sich verwirklicht. Sun Koh ist geworden, wozu wir ihn bestimmten. Es ist an der 76
Zeit, ihm das Wissen um seine Jugend zurückzuge ben und ihm zu erzählen, was vor fünfundzwanzig Jahren geschah. Mister Ryken, bitte.« Ryken erhob sich. »Zu elft fanden wir uns nach dem großen Krieg zusammen. Wir waren Menschen aus den verschie densten Lagern mit den verschiedensten Fähigkeiten, aber uns alle verband bereits ein starkes Gefühl der Freundschaft. Die meisten von uns besaßen schon einen Namen als Wissenschaftler, aber die meisten von uns hatten auch schon resigniert und wollten der Welt nicht mehr Sinnvolles zu sinnlosem Mißbrauch schenken. Wir waren ein Freundeskreis von Hoff nungslosen. Erinnert ihr euch an unsere langen Ge spräche, Freunde?« Verschiedene nickten. »Ich will keine unnützen Einzelheiten berichten«, fuhr Ryken fort. »Es geschah nichts Besonderes bis zu dem Tag, an dem wir die Ruinen dieser Sonnen stadt entdeckten. Damals wucherte hier der Urwald über weiten, eingesunkenen Terrassen, über gebor stenen Säulen und Gewölben. Wir durchforschten die Sonnenstadt mehr aus müßiger Neugier als aus ernsthaftem Forschertrieb, fanden die Zugänge zu dem unterirdischen Reich dieser Mayastadt, fanden die verborgenen Schatzkammern, die heiligen Tem pelräume und vor allem Menschen.« Wieder machte er eine Pause. 77
»Wir fanden drei Menschen – einen Greis, eine Frau und einen zwei- bis dreijährigen Knaben. Alle drei waren Maya, nicht Maya wie jene, die heute noch im Bergland leben, sondern reinblütige Nach kommen der alten Herrenschicht. Doch das erfuhren wir erst später. Die drei verbargen sich gut vor uns. Nur durch einen Zufall wurden wir auf sie auf merksam. Es dauerte lange, bevor wir uns mit ihnen verständigen konnten, und noch länger, bevor wir ihr Vertrauen gewannen. Als es soweit war, erfuhren wir durch den Greis manches über die Schicksale der drei. Nach seiner Darstellung waren sie die letzten Nachkommen des Königsgeschlechts der Maya, das wiederum seine Abkunft auf die atlantischen Könige zurückführte. Wir hörten damals fast alle zum er stenmal die geheimnisvollen Berichte vom Erdteil Atlantis, der im Meer versunken sein sollte. Der Greis wußte unendlich viel über die Geschichte sei nes Geschlechts. Er reihte Generation an Generation, ging die Jahrhunderte und Jahrtausende zurück, bis in die fernste Vergangenheit. Er ließ das blühende Reich auf Atlantis wieder lebendig werden, schilder te uns die Jahre des Untergangs und reihte Schicksal an Schicksal zu einer einzigen phantastischen Kette. Von Atlantis waren seine Vorfahren in jener Zeit des Untergangs geflüchtet und hatten neue Heimat ge funden, hatten auf dem ganzen Kontinent blühende Reiche geschaffen, die wieder versanken. Das könig 78
liche Stammgeschlecht hatte sich hier in der Sonnen stadt gehalten, auch als dieses Reich auf Yukatan zerbrach. Der Urwald legte eine schützende Mauer um diesen letzten Hort, in dem Jahrhunderte hin durch einige tausend Menschen der Erinnerung an eine große Vergangenheit und der schwachen Hoff nung auf eine größere Zukunft lebten. Die höchste Fürsorge dieses edlen Kerns eines großen Volkes galt aber der Erhaltung des Königsstammes, dessen Reinerhaltung allein nach allen Sagen und Prophe zeiungen die Zukunft verbürgte. Doch im Lauf der Generationen schmolzen die Maya immer mehr zu sammen. Aus Tausenden wurden Hunderte, aus Hunderten Dutzende, aus diesen einzelne. Die drei Menschen, die wir kennenlernten, waren die letzten Maya, der Knabe das letzte Reis am königlichen Stamm. Die Frau war seine Mutter, der Greis war sein Großvater. Der Vater war Monate zuvor durch stürzende Steinmassen erschlagen worden.« Norke gab Ryken ein Zeichen und erhob sich. »Der Knabe hieß Koh, wie alle Könige der Maya geheißen hatten. Du warst jener Knabe, mein Sohn!« »Ich weiß es, mein Vater«, erwiderte Sun Koh lei se und voll Bewegung. Ryken sprach auf ein neues Zeichen des alten Norke hin weiter: »Dies und vieles andere hörten wir von dem Greis, den wir wie die Seinen achten- und liebenlernten. Doch eines Tages mußten wir weiter 79
ziehen. Unsere Vorräte gingen zu Ende. Wir wollten noch eine andere Ruinenstätte in der Nähe aufsuchen und dann über die Sonnenstadt zurück zur Küste ge hen. Also verließen wir die drei und marschierten zunächst tiefer in den Urwald. Acht Tage später er reichten wir auf dem Rückmarsch von neuem die Sonnenstadt. Wir fanden die Frau erschossen vor, der Knabe war verschwunden, und der Greis lag im Sterben. Er konnte uns jedoch noch berichten, was sich ereignet hatte.« Die Augen der Männer gingen zu Juan Garcia. Dieser starrte vor sich hin. Seine Züge waren straff gespannt, als halte er sich gewaltsam unter Kontrolle. »Wir waren nicht die einzigen, die durch den Ur wald zogen. Auf unseren Spuren folgte eine Rotte Abenteurer, die in den Ruinenstädten Reichtum zu finden hofften. Sie standen unter der Führung Juan Garcias. Dieser hatte wohl seinem Bruder Manuel nachgespürt und war so auf die verborgenen Schätze Yukatans aufmerksam geworden. Die Abenteurer fanden die Sonnenstadt und fanden die drei Men schen. Der Greis hielt auch diese Ankömmlinge für Freunde, zumal sie von dem Bruder eines Mannes geführt wurden, den er zu seinen Freunden zählte. Er vertraute ihnen und zeigte ihnen die Schatzkammern und andere Geheimnisse. Aber die Abenteurer waren geldgierig, und Juan Garcia war ein Schuft. Er schoß den Greis nieder, um die Schätze und die Frau für 80
sich zu gewinnen. Als ihn einer seiner Kameraden daran hindern wollte, der Frau ein Leid anzutun, er mordete er sie. Nun wollte er den Knaben töten, aber jener Abenteurer Larsen, der sich ein anständiges Gemüt bewahrt hatte, nahm den Knaben in seine Obhut. Garcia zog mit Schätzen beladen ab. Den Greis ließ man für tot liegen. Er blieb aber am Leben, bis er uns berichtet und uns gebeten hatte, wir möch ten uns des Knaben annehmen. Er starb, nachdem wir ihm versprochen hatten, für das Kind zu sorgen und es so aufzuziehen, wie es des letzten Maya königs würdig sei.« Sekundenlang war es ganz still im Raum, dann be richtete Ryken weiter: »Wir folgten den Abenteu rern, aber wir konnten sie auf Yukatan nicht mehr erreichen. Jenen Larsen holten wir erst ein, als er sich schon in seiner Heimat befand. Gurab, unser verstorbener Freund aus Indien, nahm den Knaben und brachte ihn zu uns. Dann beschlossen wir über die Zukunft dieses Kindes. Erinnert ihr euch noch jener Tage, liebe Freunde?« Die Männer nickten leicht. Ryken lächelte zum er stenmal. »Wir waren Väter geworden. Jeder von uns liebte den Jungen, jeder von uns wollte ihn zu sich nehmen und aufziehen. Wir waren auf einmal seltsam ver wandelt. Es ging uns, wie es Vätern eben geht. Der Knabe sollte das vollenden, was wir uns einst er 81
träumt hatten. Und das war viel, sehr viel, denn kei ner von uns war ein Durchschnittsmensch. Es dauerte lange, bis unsere Wünsche und Absichten in vielen Unterredungen so weit geklärt waren, bis wir unge fähr wußten, was wir wollten. Wir waren so unbe scheiden und grenzenlos in unseren Zielsetzungen, wie es echte Väter sind. Und doch planten wir ander seits nüchtern und sachlich. Wir träumten nicht, son dern stellten unsere Mittel in Rechnung. Dabei entdeckten wir bald, daß das Schicksal die ses Kindes für uns eine Aufgabe bedeutete, die ab seits der eigentlichen Erziehungsarbeit lag. Sun Koh, wie wir ihn neu tauften, sollte unser Erbe sein. Wir verstanden, daß jedes Geschlecht eigentlich für das nächste lebte. Und wir zogen unsere Folgerungen daraus.« Ryken schöpfte Atem und setzte dann neu an: »Sun Koh wuchs heran und wurde mündig. Fast zwei Jahrzehnte lang hatte er in unserer Obhut ge lebt, nun wurde es Zeit, ihn auf eigene Füße zu stel len. Er sollte seine Zukunft nicht als Geschenk von uns übernehmen, sondern sie sich selbst erobern. Wir wollten zurücktreten in die Hilfestellung. Und er sollte seine Aufgabe selber ergreifen und selbständig aufbauen. Und schließlich, meine Freunde, hatten wir nur einen Teil von dem geschafft, was zu leisten war. Viel, sehr viel blieb übrig. Sun Koh mußte voll bringen, was wir nicht erreicht hatten. Gründe genug 82
für uns, um aus seinem Leben zu weichen, um ihn von uns zu lösen. Deshalb nahmen wir ihm vor Jah ren die Erinnerung. Wir legten eine hypnotische Sperre über sein Erinnerungsvermögen und setzten ihn in London aus. Damit begann sein eigenes Le ben. Entsinnst du dich, Sun Koh?« »Ja«, flüsterte Sun Koh. »Es war ein Versuch, der niemandem schwerer fiel als uns. Wir beobachteten natürlich dein Leben wei ter, aber wir mischten uns nicht ein, abgesehen von wenigen Fällen, in denen du in die Irre zu gehen drohtest. Einen von uns stellten wir dir allerdings zur Seite, der dich unmerklich beraten sollte und dem vor allem die Aufgabe zufiel, dir die Ergebnisse un serer Arbeit zugänglich zu machen. Der Mann war Manuel Garcia. Du hast ihn oft für einen genialen Zauberer gehalten, weil er die Erfindungen ge wissermaßen aus dem Ärmel schüttelte? Aber sein Leben hätte nicht ausgereicht, um sie alle zu machen. Es waren unser aller Ergebnisse, die er dir zugäng lich machte. Er war dein Berater und der beste Bera ter deiner Mitarbeiter, so konnten wir dich und deine Mitarbeiter beraten. Er gab andererseits uns alle Be richte über Vorgänge, die wir nicht unmittelbar beo bachten konnten. So waren wir ständig um dich und ließen dich doch dein eigenes Leben leben.« Abermals schwieg Ryken kurze Zeit, bevor er wei tersprach: »Die Zeit ist vorüber. Nach fünfund 83
zwanzig Jahren sind wir wieder in der Sonnenstadt zusammengekommen. Unsere Arbeit war gesegnet, deine Zukunft wird mit dem neuen und doch alten Land Atlantis aufsteigen, mit dessen Erhebung nun bald zu rechnen ist und als dessen zukünftiger Be herrscher du in Wahrheit ausersehen bist.« Ryken setzte sich. Norke stand auf. »Geht hinaus, Freunde«, bat er. »Ich will mit ihm al lein sein, wenn ich ihm die Erinnerung wiedergebe.« Die Männer erhoben sich, aber auch Sun Koh sprang auf. »Wartet, laßt mich erst noch ein Wort sagen«, bat er mit einer Stimme, die seine Erschütterung verriet. »Jetzt bin ich noch der Mensch, der nur die letzten Jahre seines Lebens überschaut. Als dieser möchte ich zu euch sprechen, bevor ich in die Vertrautheit meiner Jugend zurückkehre. Ich ahnte euch stets, ob gleich ich keine Erinnerung besaß. Ich – ich möchte euch danken – schon jetzt.« Stumm verließen alle den Raum. Norke und Sun Koh blieben allein. Sie sahen sich sehr lange an, ohne sich zu rühren. Und dann begann der Greis gedämpft zu sprechen. Sun Koh hatte das Empfinden, als stiegen aus dem Grunde seiner Seele plötzlich Stämme auf, die sich im Grund ver wurzelten und sich zugleich überreich tausendfach verästelten und mit zahllosen feinen Enden hinein wuchsen in das, was ihm bereits vertraut war. 84
Er sah und hörte und empfand hundert und tausend Dinge, die bisher in verschlossener Tiefe geruht hat ten. Norke schenkte ihm die Erinnerung. Er schenkte ihm die Vergangenheit zurück, bevor die Zukunft endgültig begann. * Die Zeit verging schnell. Ryken mußte nach einer Stunde mahnen, daß alle zum Gemeinschaftshaus zurückkehrten. Norke und Sun Koh erwarteten sie bereits. Jetzt erst begrüßte Sun Koh seine Freunde richtig. Er kannte jetzt den Namen des einzelnen, wußte von seinen Liebhabereien und Eigenheiten und entsann sich gemeinsam verlebter Zeiten. Nur einer stand außer Hal Mervin noch abseits, nämlich Juan Garcia. Hal stieß ihn an. »Na, Sie freuen sich wohl gar nicht, was?« Garcia zuckte zusammen. »Doch, doch.« Sie brachen später gemeinsam zu dem Haus auf, das inmitten stehengebliebener Urwaldriesen zwi schen dem Werk und der Ruinenstadt lag. Hier emp fing Joan Martini die väterlichen Freunde Sun Kohs. Sie war selbst höchst überrascht, daß sie die mei sten von ihnen schon kannte. Sie nannte sie beim 85
Namen und erinnerte sich mancher Gelegenheit, bei der sie dem einen oder dem anderen im Haus ihres Vaters begegnet war. Sun Koh wunderte sich. Norke löste ihm bald das Rätsel. »In der Tat, wir kennen Joan schon lange. Ihr Va ter war nämlich einer von uns elf. Er verheiratete sich sehr bald, als er nach London zurückkehrte – der einzige von uns, der geheiratet hat. Wenn wir nach London kamen, suchten wir ihn mit auf und schlossen dabei Freundschaft mit der kleinen Joan.« »So lag es in euren Absichten, daß ich sie treffen sollte?« Norke wiegte leicht den Kopf hin und her. »Ja und nein. Wir trafen Vorsorge, daß du sie ken nenlerntest, mehr aber nicht.« »Weiß Joan, in welchen Beziehungen ihr Vater zu meinem Schicksal stand?« »Nein, sie hat es nie gewußt. Selbst ihr Vater hat damals, als er dich in London sah, nichts Genaues gewußt. Er hatte dich seit zehn Jahren nicht mehr gesehen. Seiner Familie hat er bestimmt nichts von dir erzählt.« Sie hielten sich in Joan Martinis Haus nicht sehr lange auf. Norke drängte weiter. »Es ist nicht zuletzt die Erinnerung, die uns hier hergerufen hat«, sagte er zu Sun Koh. »Diese Werke sind Gegenwart und Zukunft, aber dort in den Rui 86
nen liegt die Vergangenheit. Wir kommen aus der Vergangenheit und wollen wie vor fünfundzwanzig Jahren an jenen Stätten stehen, die uns teuer ge worden sind.« Also wanderten sie durch die Ruinenstadt. Sie war aus der Umklammerung des Urwalds befreit worden, befand sich sonst aber noch im ursprünglichen Zu stand. Ernst schritten die Männer zwischen den steiner nen Tempelbauten hin, die sich über breiten Treppen und Terrassen pyramidenförmig aufbauten. Sie ver weilten vor den mächtigen Altären und den zahlrei chen Säulen, betrachteten gedankenvoll das starrende Maskenwerk der Kriegertempel, die drohenden Chac-Mol-Tiger, die langnasigen Gesichter, die gäh nenden Reptilrachen und die geflügelten Schlangen. Sie schwiegen. Nur manchmal fiel eine halblaute Bemerkung, ein Hinweis auf die Vergangenheit. Die Männer schritten ihre Erinnerung ab. Von jenem abgestürzten Sims war einer fast erschlagen worden. Dann wanderten sie durch den langen Gang in den unterirdischen Bereich der Sonnenstadt hinein. Hier stellte Sun Koh eine Frage: »Du sagtest, ihr hättet nur drei Menschen hier getroffen. Ich hörte aber von jenem Larsen, der mich damals nach London brach te, die Abenteurer hätten unter Garcias Führung noch gegen andere Eingeborene gekämpft. Einige sollen in diesem Gang getötet worden sein.« 87
Norke nickte. »Es widerspricht sich nicht. Außer dir und deinen Angehörigen lebten noch über ein Dutzend Maya in der Ruinenstadt, aber sie waren niederer Abkunft. Während unserer Anwesenheit hielten sie sich auf Befehl deines Großvaters verborgen. Daß Garcia mit ihnen zusammentraf, war seine Schuld, weil er böse Absichten zeigte. Wir selbst haben sie nie gesehen, auch nach unserer Rückkehr nicht. Noch nicht ein mal Tote haben wir gefunden; die, die am Leben blieben, müssen sie fortgeschafft haben.« Endlich standen sie alle in der Königshalle der Maya, in dem steinernen, schriftbedeckten Gewölbe, unter dem noch immer klar und unergründlich der Wasserspiegel die Mitte des Bodens bedeckte. Hier waren die letzten Angehörigen Sun Kohs getötet worden, hier hatte Juan Garcia geplündert, von hier war Sun Koh als Kind weggeführt worden. Die Männer schwiegen lange. Endlich sagte Norke mit lauter, widerhallender Stimme: »Hier haben wir begonnen, liebe Freunde. Hier hätten wir heute den Boden zuerst betreten sollen. Das war, das ist die Vergangenheit. Jetzt wollen wir wieder zurückgehen. Und wenn wir hinaustreten und die Bauten des Wer kes und diese jungen Menschen vor uns sehen, dann wissen wir, daß wir an unserem Ziel angekommen sind.« Also kehrten sie um. 88
SIEBENTES KAPITEL
An diesem Tag der Enthüllung, die auch für Juan Garcia Einblick in bisher noch unbekannte Zusam menhänge brachte, fühlte sich Juan Garcia unruhiger denn je. Die Erinnerung an jene Tat vor fünfund zwanzig Jahren, mit der seine verbrecherische Lauf bahn eigentlich begonnen hatte, erschütterte ihn zwar weniger, aber dafür kam ihm um so bedrückender zum Bewußtsein, welchen starken und planmäßig arbeitenden Mächten er gegenüberstand. Sobald es sich ermöglichen ließ, zog er sich in sei nen Arbeitsraum zurück, um über Mittel und Wege nachzudenken. Gegen vier Uhr nachmittags schaltete er wie ge wöhnlich auf Empfang, um die Börsenberichte aus New York abzuhören. Er lauschte zunächst mit halber Aufmerksamkeit, aber bald reckte er sich vor und folgte mit zuneh mendem Staunen und wachsendem Entsetzen den Worten des Ansagers. Die Vorgänge an der Börse waren außergewöhn lich gewesen. Der Sprecher beschränkte sich darum nicht darauf, trocken und nüchtern die Zahlen zu melden, sondern gab einen ausführlichen Stim mungsbericht, in den er den ganzen Verlauf des dra matischen Börsenkampfes einschloß. Er wußte auch 89
bereits von dem Ergebnis des Tages und schloß mit seiner Verkündung ab: »Wallstreet erlebte seinen größten Tag. Innerhalb von Stunden wurde einer der größten Männer der Staaten arm. Das Syndikat ge wann ein riesiges Vermögen und errang zugleich die Mehrheit des Person-Konzerns.« Juan Garcia schaltete mechanisch ab. Er empfand zunächst nur dumpfe Angst. Sie laste te auf seinem Nacken und hinderte ihn am Denken. Er hatte die Ereignisse leiten wollen, aber plötzlich waren sie ohne ihn da, groß, überwältigend, bedrük kend standen sie wie ein Naturereignis gegen ihn. Allmählich kehrte das Denkvermögen zurück. Ju an Garcia fühlte nicht nur, was diese Nachrichten bedeuteten, er begriff sie auch verstandesgemäß. Das Syndikat hatte gehandelt. Sun Koh hatte Per son überrannt. Und Person hatte wohl alles getan, was ihm von hier aus diktiert worden war. Oh, Juan Garcia begriff. Er hatte geglaubt, es sei ihm gelungen, sich in das Lager der Gegner einzuschleichen, aber in Wirk lichkeit hatte man ihn von Anfang an durchschaut. Sun Koh und seine Leute wußten, daß er Juan Garcia war. Er hatte geglaubt, mit diesen Leuten spielen zu können, aber sie hatten mit ihm gespielt. Nicht Per sons Werkzeug war er gewesen, sondern das Werk zeug Sun Kohs gegen Person. Man hatte seine Sen dungen überwacht und sie beantwortet. In techni 90
schen Dingen war man ja hier Meister. Er hatte mit sonstwem gesprochen, nur nicht mit Person. Welches Vergnügen mußte er diesen Leuten bereitet haben! Juan Garcia lachte auf, grell und irr. Man hatte ihn zum Narren gehalten und hielt es nicht einmal für nötig, ihn zu überwachen. Oder? Immer schneller hetzten sich die Gedanken. Was nun? Wie kam er heraus aus diesem Werk? Gab es eine Möglichkeit, sich zu retten? Vielleicht war der Weg zur Flucht noch offen? Auf dem Dach der großen Halle standen die Flug zeuge startbereit. Noch nie hatte sich jemand darum gekümmert, wenn er von seinem Piloten geholt wor den war. Noch nie hatte er etwas von einer Einrich tung bemerkt, durch die man die Flugzeuge hindern konnte, aufzusteigen. Er konnte selbst eine Maschine steuern. Wenn es ihm gelang, unauffällig die große Halle zu erreichen, wenn es ihm gelang, aufzusteigen und zu fliehen… Flucht! Juan Garcia fühlte nach dem kleinen Browning, den er in der Tasche stecken hatte. Er be saß eine Waffe. Bevor er sich endgültig ergab, bevor er auf die Freiheit verzichtete, wollte er wenigstens sein Ziel erreichen. Wenn er nicht fortkonnte, dann sollte wenigstens Sun Koh überwältigt werden. Er hatte die Pistole in einer Schublade unter den Sachen seines Bruders gefunden. Manuel sollte nach den Behauptungen seiner Angestellten nie Waffen 91
besessen haben. Es gab keine Schußwaffen im Blockhaus. Und dann hatte er doch eine gefunden, die versteckt worden war. Von dieser Waffe wußte auch Sun Koh wohl kaum etwas. Juan Garcia grinste, wenn er daran dachte, welche Überraschung diese Waffe bereiten konnte. Er beruhigte sich, zwang sich zu einem gleichgül tigen Gesicht, dann verließ er seinen Arbeitsraum. Niemand hielt ihn auf. Doch unten am Ausgang stand wie von ungefähr Hal Mervin. Er stand lässig an den Türpfosten ge lehnt und blickte auf die helle Werksstraße. »Hallo, Schluß gemacht? Haben Sie die Arbeit satt?« Juan Garcia riß sich zusammen. Er witterte den Doppelsinn hinter der Frage, aber er hütete sich, et was davon zu zeigen. »Zu heiß heute. Ich muß ein bißchen an die Luft.« »Ja, manchmal kann man eine Luftveränderung gebrauchen. Ich finde, Sie sehen nicht gut aus.« »Finde ich auch«, erwiderte Garcia heiser. »Ist ein Flitzer in der Nähe?« »Dort steht einer.« Juan Garcia fuhr auf dem winzigen Gefährt weg. Hal machte keine Anstalten, ihm zu folgen. Der Weg schien wirklich frei zu sein. Niemand kümmerte sich um ihn, als er durch die große Halle eilte und das Dach bestieg. Da standen die Flugzeuge 92
– unbewacht unversperrt wie gewöhnlich. Jetzt noch einige Minuten, dann war er gerettet. Er kletterte in eine der Maschinen, ließ die Tür hinter sich zurollen und schaltete den Fahrstrom ein. Er wollte es tun, er rückte die Hebel, aber der Strom blieb aus. Die Tragflächenschrauben rührten sich nicht. Er duckte sich wie unter einem Schlag zusammen, als der Strom wegblieb. Das war das Ende. Man ver sperrte ihm den Ausweg. Da kamen sie schon herauf, voran Sun Koh, dann Hal, dann jener Norke und seine Freunde. Schnell entsicherte Garcia die Waffe und steckte sie in die Rocktasche, in der er sie unauffällig in der Hand behalten konnte. Dann kletterte er heraus und ging den Männern ein Stück entgegen. Sun Koh trat bis auf wenige Schritte zu ihm hin. Ruhig und gemessen kam seine Frage: »Sie wollten fliehen, Juan Garcia?« Garcia lachte scharf auf. »Fliehen? Jawohl, ich wollte fliehen.« Sun Koh nickte leicht. »Also Flucht. Sie hörten die Berichte aus New York und erkannten, daß Ihr Spiel verloren war. Ich kann Sie nicht fliehen lassen, Juan Garcia, denn ich sehe in Ihnen den Mann, der meine Mutter und mei nen Großvater tötete. Die Verhältnisse ermöglichen mir nicht, mit Ihnen abzurechnen, aber ich werde Sie 93
wenigstens so verwahren, daß Sie kein Unheil mehr anrichten können.« Juan Garcia lachte wieder grell und spöttisch. »Sie nicht!« rief er, riß die Waffe heraus, richtete sie auf Sun Kohs Brust und drückte ab. Klick, klang es dünn durch die Stille. Die Waffe versagte. »Sie unterschätzen uns immer noch«, sagte Sun Koh jetzt ebenfalls spöttisch. »Diese Pistole fanden Sie, weil es uns ratsam schien, sie durch Sie finden zu lassen und dadurch zu verhüten, daß Sie im ent scheidenden Augenblick nach anderen Mitteln grif fen. Die Patronen sind selbstverständlich vorher ent fernt worden.« Die Waffe fiel auf den Beton des Daches. Die Schultern Juan Garcias sanken schlaff herunter. Da trat Norke vor. »Juan Garcia!« sagte er kalt und hart zu dem wie gelähmt Stehenden. »Juan Garcia, jetzt haben Sie es mit uns zu tun, mit den Männern, die vor fünfund zwanzig Jahren zur Sonnenstadt zurückkehrten und dort zwei Menschen getötet fanden, die uns lieb ge worden waren. Noch ist jenes Verbrechen nicht ge sühnt, aber…« »Spare dir deine Reden, alter Narr!« zischte Juan Garcia. »Ich weiß selbst, wann ich verloren habe.« »Sie haben es nie gewußt«, wies ihn der Greis zu recht. »Wer auf den Pfaden des Bösen wandelt, hat 94
von Anfang an verloren. Sie hatten stets verloren, schon damals. Doch Sie haben recht, für Ihre Begrif fe sind Sie jetzt am Ende.« Norke trat einen Schritt auf ihn zu und hielt ihm auf der flachen Hand eine Pistole hin. »Nehmen Sie die Waffe, Juan Garcia. Sie wissen, was wir erwarten. Diese Waffe ist geladen.« Garcia starrte auf das mattglänzende Metall. Das Grauen überlief ihn. »Ich – weigere mich!« keuchte er. Norkes Hand schloß sich um den Kolben der Waffe. »Dann, Juan Garcia, dann sollen Sie einstweilen noch leben. Niemand von uns will Henkersdienste leisten. Sie haben die größere Strafe gewählt, denn für Sie wird es schwerer sein, als Geschlagener zu leben, als zu sterben!« Juan Garcia erwiderte nichts, aber sein Herz schlug leichter. Leben bedeutete Hoffnung. Sun Koh sprach wieder. »Sie sollen leben«, sagte er, »so haben es meine väterlichen Freunde beschlossen. Sie sollen leben, wenn Sie sich weigern, sich selbst zu richten. Aber einsperren werde ich Sie, Juan Garcia. Vorwärts!« Garcia schielte aus zusammengekniffenen Augen, dann hob er die Schultern und schritt vor Sun Koh her auf den Niedergang zu. Er hatte Angst, daß ihn jemand von hinten her er schießen wollte. Seine Sinne waren mehr nach rück 95
wärts als nach vorwärts gerichtet. Und darüber hin aus hatten ihn die letzten Minuten doch stark mitge nommen. Nur so ließ es sich wohl erklären, daß er die erste Stufe, die in die Tiefe führte, übersah, daß er stolperte, keinen Halt mehr fand und die Treppe hinunterstürzte. Es war ein unglücklicher Sturz. Juan Garcia erhob sich nicht wieder. Minuten später hatte Hout die Un tersuchung vorgenommen. Seine Feststellungen wa ren ein klares Urteil. »Das Rückgrat ist gebrochen. Der Mann lebt nicht mehr lange.« Eine halbe Stunde später starb Juan. Er büßte in dieser halben Stunde sein Leben, weil jetzt die Furcht vor dem Tod über ihn kam und er einen guten Teil der Zeit noch Bewußtsein genug besaß, den Tod zu füh len. Und er gab sich letzten Endes selbst den Tod, als er in halber Bewußtlosigkeit eine Bewegung machte. Er starb auf dem Treppenabsatz. Das Schicksal be scherte ihm spöttisch eine Spielart der Fallgrube, für die er vielleicht bestimmt gewesen war. ACHTES KAPITEL Norke und seine Kameraden, die Sun Koh einst aus dem Urwald geholt und seine Jugend betreut hatten, blieben während der nächsten Tage in der Sonnen stadt. 96
Eines Tages sprachen Sun Koh und Norke auch von dem Troano-Manuskript, jenem von Le Plongeon entzifferten Maya-Pergament, das vom Untergang des Landes Mu berichtete. »Ich persönlich halte die Angaben für richtig«, sagte Norke auf eine diesbezügliche Frage Sun Kohs. »Die Genauigkeit der Angaben schließt Zweifel so ziemlich aus. Und das Land, das 8 060 Jahre vor Ab fassung der Schrift mit vierundsechzig Millionen Einwohnern versank, kann nur ein Landgebiet im Atlantik gewesen sein, also unser Atlantis.« Sun Koh nickte. »Und was hältst du von dem anderen Dokument, das Juan Garcia von hier fortnahm und dem Ge lehrten Evans in London zur Übersetzung gab?« »Es war ein Bruchstück des gleichen Buches, dem das Troano-Manuskript entstammt, infolgedessen war es ebenfalls echt.« »Obgleich es nicht die Vergangenheit, sondern die Zukunft schilderte.« »Trotzdem«, bestätigte Norke ruhig. »Der Schrei ber zeichnete ja letzten Endes nur ein Wunschbild. Die Vergangenheit eines Volkes ist nun einmal der wichtigste Schlüssel für seine Zukunft. Zeitangaben darf man freilich nie besonders tragisch nehmen.« »Aber sie waren gerade in diesem Dokument recht genau.« Norke lächelte. 97
»Kein Wunder. Bevor Juan Garcia einen Überset zer fand, bekam ich nämlich das Dokument und än derte einige Kleinigkeiten daran. Evans hatte nicht zu Unrecht einen leisen Verdacht auf Fälschung.« »Woher weißt du das?« »Er hat ein ausführliches Gutachten darüber ge schrieben.« »Hm, dann kann ich allerdings lange darauf war ten, daß auf meiner Brust eine Schrift erscheint.« Norke blinzelte schalkhaft. »Du suchst sie wohl jeden Morgen vor dem Spie gel?« Sun Koh lachte. Norke schüttelte den Kopf. »Auf deiner Brust erscheinen keine Tätowierun gen. Die Wahrheit ist die, daß Evans das Manuskript, das an diesen Stellen nicht geändert wurde, falsch übersetzte. Er war mit der Darstellung der Mayaspra che zu wenig vertraut, so daß ihm Fehler unterliefen. Er machte aus ›winkelrecht‹ einen ›rechten Winkel‹, übersah die gleichlautende Bezeichnung für die Son ne und den Königssohn und erfaßte vor allem nicht, daß er eine geographische Ortsbestimmung vor sich hatte.« »Eine Ortsbestimmung?« »Nichts anderes.« »Und welchen Ort bestimmt sie?« »Die Ortsbestimmung bezieht sich auf einen See. 98
Evans dachte bei seiner Übersetzung an einen rich tigen Spiegel, gemeint ist aber ein Wasserspiegel. Der See liegt genau auf dem gleichen Breitengrad wie die Sonnenstadt. Die zweite Bestimmungslinie hängt allerdings eng mit den Achsen eines Viertel kreises zusammen. Die Angabe steht im Manuskript zweimal. Evans hat beide gleichgesetzt. Um die eine zu verstehen, muß man die Bedeutung des Wende kreises für die Maya berücksichtigen. Eine Sehne zwischen dem See und der Stadt, das Lot auf der Mitte und den Schnittpunkt mit dem Wendekreis als Kreismittelpunkt angenommen, ergibt, daß der See in dem einen Achsenendpunkt des Kreises liegt, wäh rend die Sonnenstadt im andern liegt. Der erwähnte Wasserspiegel befindet sich im Innern des Popocate petl, des großen Berges der Stadt Mexiko, es ist der Kratersee dieses Berges. Da er immerhin noch von dreihundert Meter hohen Wänden umgeben wird, kann man schon vom Innern des Berges sprechen.« »Der Popocatepetl ist ein tätiger Vulkan.« »Warst du schon einmal oben?« »Allerdings nicht.« »Er ist nämlich nicht im üblichen Sinne tätig. Sein Krater ist nicht von heißen Lavamassen angefüllt. Der Popocatepetl raucht nur aus vielen Solfataren. Der See ist vorhanden.« Sun Koh blickte nachdenklich vor sich hin. »Hm, und in den See soll ich also sehen, wenn ich 99
achtundzwanzig Jahre alt bin? Evans erzählte aber von Zeichen auf meiner Brust. Wie kommt er auf die Übersetzung ›Brust‹? Das Wort ist so klar, daß eine Falschmeldung ausgeschlossen sein dürfte.« »Ja«, sagte der Greis, »das Wort ist klar, und er hat es auch richtig übersetzt. Aber es bezieht sich nicht auf deine Brust und steht außerdem in ganz anderem Zusammenhang als dem, den Evans dir angab.« »Nämlich?« »Du kennst den Iztaccihuatl, der unmittelbar ne ben dem Popocatepetl aufragt?« »Ja.« »Während der Gipfel des Popocatepetl einen re gelmäßigen Kegel darstellt, zeigt der des Iztaccihuatl deutlich die Gestalt einer liegenden Frau, die von einem weißen Tuch, nämlich der Decke des ewigen Schnees, verhüllt wird.« Sun Koh begriff. »Und die Sonne soll genau über die Brust dieser Felsengestalt hinweg einen Kratersee treffen, also Sonne, Felsform und See sollen in einer Linie stehen, wenn sich dem letzten Maya das Geheimnis dieses Sees offenbaren soll.« Sie schwiegen eine Weile, dann fragte Sun Koh: »Was erwartest du?« Norke hob leicht die Schultern. »Die Maya beherrschten einst ganz Mexiko. Die heutige Hauptstadt, sicher auch das jetzige Iuan des 100
Teotihuacan werden einst Städte der Maya gewesen sein. Die Tolteken werden ihre noch heute erhaltenen Kulturstätten über solchen der Maya errichtet haben, wie ja überhaupt die Kultur der Tolteken auf der der Maya aufgepfropft wurde. Als die Tolteken damals jene Städte eroberten, hat wohl irgendein Getreuer Dinge im Kratersee versenkt, die ihm besonders wichtig erschienen. Ich nehme an, daß es sich um Dokumente handelte. Als wir hierherflogen, haben wir den See im Vulkan von oben gesehen. Die Solfa taren rauchen nicht mehr.« Sun Koh ruckte auf. »Das ist ein bedeutsames Zeichen! Ich werde hin fliegen«, erklärte Sun Koh. »Aber ich kann jetzt nicht fort.« * Der nächste Tag begann wie viele andere. Sun Koh und Hal Mervin gingen nach Beendigung ihres Früh stücks in den Nebenraum, wo sich wenig später die väterlichen Freunde Sun Kohs um sie versammelten, Norke, Manuel Garcia, Ryken, Jan Hout und die an deren. Norke setzte feierlich einen größeren Kasten aus einem fast farblosen Stoff auf den Tisch. »Mein lieber Sun«, begann Norke leicht bewegt. »Dieser feierliche Morgenbesuch wird dich überra 101
schen. Dieser Tag hat nämlich für dich wie für uns besondere Bedeutung. Heute ist Sommersonnen wende, und du bist in den Tagen der Sonnenwende geboren, wie uns deine Mutter damals sagte, aber wir wußten nie den genauen Tag und legten auch keinen fest, weil wir keine Notwendigkeit dazu sahen. Von heute ab soll das anders werden. Selbst auf die Ge fahr hin, daß wir uns um einige Tage irren, bitten wir dich, den Tag der Sonnenwende als den Tag deiner Geburt anzuerkennen. Wir sind nun gekommen, um dir zu deinem achtundzwanzigsten und zugleich er sten Geburtstag von ganzem Herzen…« »Augenblick«, unterbrach Hal und ergriff schleu nigst Sun Kohs Hand. »Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Sir!« »… Glück zu wünschen«, beendete Norke lä chelnd. »Ich wollte zwar der erste sein, der die Glückwünsche ausspricht, aber gegen die Jugend ist nun mal kein Kraut gewachsen. Der Vorteil ist trotz dem auf unserer Seite. Wir bringen die üblichen Festgeschenke.« Sun Koh schüttelte die Hände, die ihm entgegen gestreckt wurden. »Liebe Freunde, lieber Sun!« fuhr Norke fort. »Der Worte bedurfte es wohl nicht zwischen uns. Es bedarf auch nicht der Geschenke. Trotzdem, mein lieber Sun, möchten wir den Tag nützen, um dir eini ge Kleinigkeiten zur Verfügung zu stellen, die wir 102
uns in letzter Zeit ausgedacht haben. Dieser Kasten enthält sie, nimm ihn samt Inhalt als Geschenk.« Sun Koh wollte antworten, als eine ruhige Stimme im Raum aufschwang. »Funkzentrale. Dringende Meldung, Sir.« Sun Koh beugte sich vor und gab den Kontakt. »Vermessungsstation zwei meldet soeben das Ein setzen schwerer Seebeben und das Durchstoßen eines Vulkans zwei Kilometer nördlich des Beobach tungspunktes. Der Meeresboden befindet sich unter dem Schiff in schnellem Steigen. Das Schiff hat ge mäß der vorhandenen Weisungen Fahrt nach Westen aufgenommen und hofft, noch rechtzeitig aus dem Bebengebiet herauszukommen.« Die Meldung war zu Ende. Kein Atemzug ging durch den Raum. Jeder der Männer wußte, was diese Nachricht bedeutete. Vermessungsstation zwei überwachte die kritische Stelle der großen Bruchlinie, an der sich die aufstei genden Landmassen ablösen mußten. Atlantis im Auftrieb! Sun Koh reckte sich mit einer harten Bewegung und löste damit den Bann. Mit beherrschter Stimme gab er erste Anweisungen: »Verständigen Sie die Einsatzmannschaft für die Funkzentrale. Die Reserveapparate werden in Betrieb genommen. Dann machen Sie das gesamte Werk frei für einen Rundspruch von hier aus. Ich warte.« 103
Dann trat er auf Norke zu. »Du weißt, was die Nachricht besagen kann. Bitte, laß mich jetzt allein.« Norke nickte. »Wir gehen.« »Hal, wo ist Manuel Garcia?« »Schon lange draußen, er wird sich auf seinem Po sten befinden.« »Du bleibst dann bei mir. Stelle inzwischen über den kleinen Sender fest, welche Schiffe sich auf dem Atlantik befinden, besonders im Sperrgebiet. Gib Rundspruch an die Häfen. Länger als zehn Minuten wirst du nicht Zeit haben.« »Wird geschafft!« Hal drängte sich mit den anderen hinaus. Joan Martini trat zur gleichen Zeit mit einem großen Blu menstrauß im Arm ein. Sie blickte ihn verwundert an. Bevor sie noch begreifen konnte, schloß Sun Koh sie in die Arme. »Du bist gekommen, um mir Glück zu wünschen? Ich danke dir, aber ich werde dich gleich bitten müs sen, mich zu entschuldigen. Soeben ist Nachricht eingetroffen, daß der Atlantik von schweren Seebe ben heimgesucht wird.« »Sun – bedeutet das – Atlantis?« »Vielleicht.« »Dann will ich dir erst recht Glück wünschen, Sun. Möge sich dein Traum verwirklichen!« Sie strahlten sich an, dann fanden sich ihre Lippen. 104
»Funkzentrale«, kam kühl und sachlich die Stim me aus der Ferne. »Die gesamte Belegschaft ist an geschlossen.« Sun Koh schob die junge Frau sanft von sich. »Ich muß gehen, Joan.« »Fährst du hinaus?« »Ja.« »Darf ich mit?« »Wenn du magst.« »Gern. Ich halte mich bereit.« Während sie den Raum verließ, schaltete Sun Koh auf Sicht. Jetzt konnten ihn alle Männer im Werk sehen und hören, als ob er nur wenige Meter von ih nen entfernt stünde. »Kameraden«, begann Sun Koh ruhig. »Eine unse rer Atlantikstationen meldet Seebeben und Vulkan ausbrüche. Damit tritt für alle Anweisung A in Kraft. Die Luftschiffe ›Greif eins‹ bis ›Greif zehn‹ rücken sofort aus, sie erhalten die Sonderanweisungen un terwegs. ›Greif zwölf‹ wartet auf mich. Ich verlasse mich darauf, daß jeder seinen Posten ausfüllt. Rück fragen bitte? Keine? Ich danke euch, Kameraden.« Sun Koh schaltete um. »Zentrale?« »Zentrale.« »Sämtliche Außenstationen, bitte.« »Sind bereits verständigt. Ich schalte um.« In allen großen Städten um den Atlantik herum 105
standen Männer mit höchster Aufmerksamkeit vor den Apparaten. Wieder sprach Sun Koh, gab die alarmierende Nachricht weiter und setzte bereits vorhandene An weisungen in Kraft. Als er fertig war, brachte Hal seine Liste. »Hier sind die großen Schiffe. Southampton will die kleinen nachmelden.« »Danke. Mach dich fertig, und bitte, bringe Miß Joan zu ,Greif zwölf. Wir fahren dann hinaus.« »Funkzentrale.« »Bitte.« »Vermessungsstation fünf meldet einsetzende Seebeben im Beobachtungsbereich. Fahrt nach Osten aufgenommen.« »Danke. Senden Sie die Karte.« An der Wand erschien eine Karte des Atlantik mit allerlei geheimnisvollen Zeichen und Vermerken. »Funkzentrale.« »Bitte.« »Vermessungsstation drei meldet ebenfalls Seebe ben. Station zwei sendet SOS.« »Geben Sie an Flugschiff zehn weiter. Ist die Zen trale genügend besetzt?« »Gewiß, Sir, wir schaffen das Zehnfache bequem. Schiffsmeldung aus Southampton.« »Später, mit Standort. Beeile dich, Hal. In fünf Minuten fliegen wir.« 106
»Wir sind zur Stelle«, sagte Hal und ging. »Standortmeldungen«, fuhr der Verbindungsmann der Zentrale schon fort. »Nur im angefragten Be reich: Dampfer ›Manhattan‹ auf siebenundvierzig Nord und neununddreißig West.« »Kaum gefährdet. Weiter.« »›Columbia‹ auf zweiunddreißig Nord und vier unddreißig West.« »Flugschiff neun zur Überwachung.« »Station sechs meldet bedeutende Hebungen des Meeresbodens, jedoch keine Anzeichen vulkanischer Tätigkeit. Beobachtungen werden fortgesetzt.« »Sollen abgebrochen werden. Vorläufig! Fahrt weiter nach Osten.« »Weitere Standortmeldungen. Dampfer…« Schlag auf Schlag folgten die Meldungen. »Sir?« mahnte Hal, der wieder erschien. »Gleich fertig. Luftschiff vier zur ›Julienne‹. Ver gewissern Sie sich bei unseren Zeitungen, ob sie sich bereithalten.« »Schon geschehen.« »Gut. Sobald ich einen Überblick habe, gehen die Nachrichten hinaus. Was melden die Azoren?« »Nichts Auffälliges. Die vorgesehene Warnung an die Bevölkerung ist trotzdem erlassen worden.« »Wir unterbrechen. Ich begebe mich zu Flugschiff zwölf. Dorthin alle weiteren Meldungen.« »Jawohl.« 107
Sie rannten hinunter und stiegen in den silber grauen Leib des mächtigen Luftschiffes, das dicht über der Erde hing und auf sie wartete. »Alles in Ordnung?« fragte Sun Koh den Führer des Luftschiffes, der ihn am Einstiegluk erwartete. »Alles in Ordnung!« »Dann vorwärts!« Das Luk glitt zu. Befehlshaber Jäger drückte einen Knopf. Irgendwo summte es auf. Dann schoß das Luftschiff mit zunehmender Geschwindigkeit schräg nach oben. NEUNTES KAPITEL Jeder Mensch durchlebt wohl Stunden oder Tage, in denen sich alles Unangenehme der Welt zu verdich ten scheint. Man stößt eigentlich nicht auf greifbare Widerwärtigkeiten und Schwierigkeiten, und doch sieht man die Welt durch seine Verstimmung hin durch grau in grau. Pierre Carouche wurde in dem Augenblick von ei ner bedrückenden Stimmung überfallen, als er sich von seinem Wagen wegwandte und auf das Boot zu schritt, das ihn auf seine vor St. Nazaire liegende Jacht ›Julienne‹ bringen sollte. Er war ohne ersichtlichen Grund verstimmt. Doch Pierre Carouche war nicht der Mann, der gleich ausspie, wenn ihm ein fader Geschmack auf 108
der Zunge lag. Er setzte sich still in das Boot und ließ sich zur ›Julienne‹ hinüberrudern. Die Jacht war seine große Liebhaberei. Sie kostete ihn sehr viel Geld, selbst nachdem er den Kaufpreis von einigen Millionen Francs bezahlt hatte, aber er dachte trotzdem nicht daran, sie aufzugeben. Kapitän Bayorne empfing wie gewöhnlich den Be sitzer der Jacht am oberen Ende der Treppe. Bayorne stammte aus der Normandie, war kräftig und breit gebaut und galt allgemein als tüchtiger, zuverlässiger Seemann. Als Gesellschafter zählte er wenig, da er meist ernst und schweigsam war. »Sind die anderen Herrschaften eingetroffen?« er kundigte sich Carouche ziemlich freudlos. »Ja«, bestätigte Bayorne, »sie befinden sich au genblicklich in ihren Kabinen.« »Dann können wir sofort in See stechen?« »Jawohl.« Carouche ärgerte sich über die knappe Antwort. Er wandte sich heftig ab und ging fort. Der Kapitän blickte ihm eine Sekunde nach, dann verließ er eben falls die Reling. Es war alles in Ordnung. Aber er konnte doch dem Besitzer nicht erzählen, daß er, der Kapitän, schlecht geträumt hatte und ein unbehagliches Gefühl nicht loswerden konnte, das ihn vor dieser Fahrt warnte. Wenn er der Besitzer gewesen wäre, hätte er die Jacht wahrscheinlich im Hafen gelassen. 109
Die Jacht trug insgesamt acht Gäste. Nur einer verdankte geschäftlichen Rücksichten seine Einla dung, nämlich John Biber, ein reichlich nüchterner Amerikaner. Alle anderen waren unter dem Ge sichtspunkt erwählt worden, daß Pierre auch Zer streuung brauchte. Carouche bewertete die Partner seiner Unterhaltung nach den Kriterien der alten Schule, nach Esprit und Charme. Das erklärte die in mancher Hinsicht eigenartige Wahl seiner Gäste. Für den Charme zeichnete Yvonne Millau verantwortlich, ein eben aufgehender Stern der Großen Oper. Sie war wirklich entzückend, was sie freilich nicht hinderte, die Vor- und Nachtei le einer möglichen Eheschließung mit Carouche säu berlich gegeneinander aufzurechnen. Alle anderen dienten mehr oder weniger geistigen Bedürfnissen. Man konnte da zunächst Henri Beaune erwähnen, der als ausgezeichneter Pianist galt. Außerdem be fand sich der Schriftsteller Charles Tülle an Bord. Tülle hatte sich durch Essays berühmt gemacht, die den Vorzug hatten, Ausdruck eigenen Erlebens zu sein. Claude Bery war seiner durchaus würdig. Man be zeichnete ihn als einen Philosophen. Sicher kam ihm der Titel zu, denn er drückte sich stets geheimnisvoll aus und brachte selbst banalste Behauptungen mit dem Anspruch auf Allgemeingültigkeit. 110
Als Gegensatz von ihm konnte bis zu einem ge wissen Grad Raoul Causse gelten. Er war nicht nur ein geistreicher Spötter, sondern auch vor allem ein Mann, der die Welt ohne jede innere Bezugnahme auf sich selbst erlebte. Das verführte ihn zu den abenteuerlichsten und phantastischsten Abschwei fungen. Ihm gegenüber fielen die beiden letzten Gäste et was ab. Eugen d’Aubrac stammte wohl aus einer alten Adelsfamilie, verfocht jedoch syndikalistische Ideen. Falsche Erziehung, Langeweile und die Gabe, viel zu reden, ohne viel zu sagen, hatten ihn dazu ge bracht. Der letzte der Gästeschar war Dr. Briare, eigent lich kein echter Gast mehr, da er an jeder großen Fahrt als Schiffsarzt teilzunehmen pflegte. Er war der einzige der Anwesenden, der sich einer tieferen Freundschaft mit Carouche rühmen konnte. Insgesamt gab die Auswahl der Gäste eine gewisse Gewähr dafür, daß diese Reise wie manche andere unterhaltsam werden würde. Und doch stand dieser erste Abend, der sonst ein verheißungsvoller Auftakt zu sein pflegte, unter einer leichten Bedrücktheit und Stumpfheit. Die Gespräche blieben matt. Die schöne Yvonne sprach es aus: »Ich weiß nicht, ob es an mir liegt, aber mir kommt heute alles so be drückend vor. Wahrhaftig, mein Lieber, wenn ich Ihnen die Teilnahme an dieser Fahrt nicht so fest 111
versprochen hätte, wäre ich wieder umgekehrt. Als ich die Jacht aus der Ferne sah, wurde mir so traurig zumute, daß ich fast wieder nach Hause gefahren wä re.« Pierre Carouche wurde seltsam von dem berührt, was Yvonne sagte. »Meine Güte«, stieß er unbedacht heraus, »welche Übereinstimmung! Es ging mir fast ähnlich!« »Mir auch«, knarrte der Amerikaner schlicht. »Ich muß gestehen«, offenbarte der philosophische Bery, »daß ich noch selten die absolute Einsamkeit des Individuums stärker empfand als heute beim An blick der Jacht.« »Ganz Ihrer Meinung«, pflichtete d’Aubrac bei. »Ich empfand eine ähnliche Bedrückung, nur schien es mir das soziale Gewissen zu sein, das sich da mel dete. Unsere Reise ist eine luxuriöse Flucht vor der Verantwortung gegenüber der Masse, dagegen sträubt sich unser besseres Selbst.« »Die Einschiffung war ein Erlebnis in Moll«, sin nierte der Musiker. »Aber Abschiede sind das wohl immer.« »Man kann nicht bestreiten, daß es Ahnungen gibt«, nahm Carouche nachdenklich Stellung. »Aber ich bestreite ernsthaft, daß unsere unglückliche flüchtige Stimmung eine echte Vorausahnung dar stellt. Es ist so gut wie unmöglich, daß uns auf dieser Fahrt etwas geschehen kann. Die Jacht ist vortreff 112
lich ausgerüstet, Unwetter sind nicht zu befürchten, wir fahren nur auf belebten Schiffahrtsstraßen, und in einem wirklich entstehenden Notfall können wir mit Hilfe der Funkapparate jederzeit Hilfe holen.« »Ausgezeichnet«, meinte Tülle. »Unser Gastgeber drückt das Wesentliche aus.« »Überdies«, dehnte Causse und schlug dabei wohl gefällig die Beine übereinander, »überdies schließen die beruhigenden Versicherungen unseres lieben Ca rouche natürlich trotzdem ein Unglück nicht aus. Es wird zum Beispiel auf die günstige Wetterlage hinge wiesen. Nun, die Aussagen unserer Wetterwarten in Ehren, aber sie lassen immer Lücken.« »Sie sind furchtbar«, seufzte Yvonne Millau, ließ aber eine kleine Bewunderung durchblicken. »Möglich«, gab Causse spöttisch zu. »Es wäre aber zum Beispiel auch denkbar, daß wir in eines dieser Seebeben hineingeraten, die in der letzten Zeit auf dem Atlantik beobachtet wurden. Oder setzen wir den Fall, daß ein ganzer Erdteil aus dem Meer auf steigt, während wir uns unterwegs befinden. Man munkelt ja gelegentlich davon, daß das alte Atlantis wieder emporsteigen solle. Wie hilflos würden wir einem derartigen Ereignis gegenüberstehen!« Tülle grinste. »Wie ich Sie kenne, werden Sie sogar den Fabel mann Sun Koh ins Gefecht führen, wenn es Ihnen nötig zu sein scheint.« 113
Causse lächelte niederträchtig. »Deswegen ist noch lange nicht alles Phantasie, was einem Menschen unbegreiflich erscheint. Der Aufstieg eines Erdteils liegt so wenig außerhalb des Bereichs der Möglichkeiten wie die logische Rich tigkeit gewisser Essays.« »Dieser Sun Koh lebt übrigens wirklich«, verkün dete Biber nun. »Der Mann ist kein Phantasieerzeug nis. Ich habe ihn vor zwei Jahren einmal in New York gesehen. Heute ist er der mächtigste Mann in den Staaten, vielleicht auch in Europa, nur laufen seine Gesellschaften eben niemals unter seinem Namen.« Carouche fühlte sich in einen drohenden, unheil vollen Ablauf eingeklemmt. Die objektiven Be trachtungen waren ihm peinlich und quälten ihn. Die anderen empfanden ganz ähnlich wie er, das war den Gesichtern anzusehen. Carouche wagte es daher, aufzustehen und zu sagen: »Ich bin recht abgespannt und bitte, mich zu entschuldigen.« Das war das Zeichen des Aufbruchs. Die anderen äußerten sich in gleicher Weise, wünschten sich eine geruhsame Nacht und zogen sich zurück. Causse und Dr. Briare waren die letzten, die den Raum verließen. Kurz vor der Schwelle hielt Causse den Arzt an, indem er ihm die Hand auf den Arm legte. »Auf ein Wort noch, mein Lieber. Sie sind ein ver nünftiger Mann und haben bessere Nerven als die 114
ganze leicht verschrobene Gesellschaft, die sich Ca rouche als Reisebegleitung ausgesucht hat – mich eingerechnet. Glauben Sie an Ahnungen?« Causse sprach jetzt ganz ruhig, ernst und ohne jeden Spott. Briare antwortete ihm auf gleiche Weise, wenn auch mit leichter Verwunderung. »Nein, höchstens an nervöse Verstimmungen. Ich habe die Erfahrung gemacht, daß Ahnungen ge wöhnlich erst nachträglich entstehen. Wenn ein Er eignis da ist, dann wollen es die Menschen schon lange geahnt haben.« Causse nickte. »Ich dachte es mir. Sie sind Mediziner und damit durch eine ausreichende Brille geschützt.« Briare blickte den andern aufmerksam an. »Sie wollen doch nicht etwa behaupten, daß Sie an Ahnungen litten?« Causse verzerrte die Lippen zu einem Lächeln. In seinem Gesicht lag in diesem Augenblick etwas Trostloses. »Käme Ihnen das so sonderbar vor? Dann haben Sie noch nie die Beobachtung gemacht, daß man ein Leiden um so heftiger bestreitet, je mehr man von ihm geplagt wird. Ich empfinde zum erstenmal die ausgesprochen beklemmende Ahnung eines Unheils. Und ich sage Ihnen, wenn Ahnungen sich bewahr heiten, dann lauert da draußen auf dem Meere schreckliches Unheil auf uns.« 115
Briare schüttelte den Kopf. »Sie machen sich unnötig Sorgen. Die Luftverän derung beeinträchtigt Ihr seelisches Gleichgewicht, das ist die Ursache Ihrer Bedrückung.« Causse schlug ihm auf die Schulter. »Sie sind ein vorzüglicher Mediziner«, erwiderte er in seinem alten, bissigen Tonfall. »Das sägte ich wohl schon. Leute Ihres Schlages laufen stets Ge fahr, die Erscheinungen der Welt durch ein Hand buch für Mediziner erschöpfend zu erklären. Schla fen Sie wohl.« Bevor Briare antworten konnte, ging er mit schnel len Schritten davon. ZEHNTES KAPITEL Dr. Briare behielt recht. Am nächsten Morgen war der ganze Spuk verflogen. Die Auswirkungen einer unruhigen Nacht verschwanden, und die Gäste wur den heiter. So blieb es auch in den nächsten Tagen. Es war ei ne wundervolle Fahrt. »Wunderbar«, hauchte die schöne Yvonne gegen Mittag des Tages, an dem die Jacht nördlich der Azo ren den dreißigsten Grad schnitt. »Unbeschreiblich schön! Ein Gedicht!« fanden die Herren pflichtschuldigst. Der Pianist stand abseits. Er starrte über das Meer, 116
dann tippte er Causse auf die Schulter und wies in einem spitzen Winkel zur Fahrtrichtung voraus. »Was bedeutet das, Monsieur Causse?« Die Blicke aller gingen zum Horizont. Die Sicht war ungewöhnlich gut. Ganz deutlich konnte man sehen, worauf Beaune hinwies. Die glatte Horizontallinie hatte plötzlich einen Buckel bekommen. Sie wölbte sich an der bezeich neten Stelle wie ein Hügel, dessen Flanken vollkom men gleichmäßig aufstiegen und eine stumpfe Spitze bildeten. »Nanu!« knurrte der Amerikaner als erster er staunt. »Haben wir denn Land vor uns?« fragte d’Aubrac. »Land?« Causse schüttelte den Kopf. »Ausge schlossen. Ich muß gestehen, daß mir dieses Phäno men unerklärlich ist.« Carouche klingelte nach dem Steward. »Vielleicht auch eine optische Täuschung?« mut maßte Bery nicht ohne hämischen Seitenblick auf Causse. Der Steward kam, und Carouche befahl: »Bitten Sie Kapitän Bayorne hierher!« Die Gäste tauschten leere Vermutungen aus, bis der Kapitän kam. »Sie wünschen mich zu sprechen?« machte er sich bemerkbar. »Ah, da sind Sie ja!« meinte Carouche etwas an 117
züglich. »Die Besatzung ist ja vorbildlich zurückhal tend, aber eigentlich ist es nicht richtig, daß die Fahrgäste den Ausguck ersetzen müssen. Was sagen Sie dazu?« Bayorne nahm die Spitze gelassen hin. »Ich beobachte den Wasserkegel schon eine ganze Weile«, erwiderte er. »Soeben wollte ich Sie von mir aus aufsuchen. Es handelt sich wohl um ein unter seeisches Beben, das zwar stark genug ist, um den Wasserspiegel hochzudrücken, aber ihn nicht durch stoßen kann. Es hat erst begonnen, wahrscheinlich werden wir in Kürze die aufsteigenden Gase bemer ken. Wir steuern ziemlich genau darauf zu. Ich woll te Ihnen gerade vorschlagen, den Kurs zu ändern.« »Glauben Sie, daß dazu ein Grund vorliegt? Hal ten Sie die Sache für gefährlich?« »Das läßt sich schwer sagen, da sich die Entwick lung nicht voraussehen läßt. Es kann sein, daß wir nichts mehr bemerken, wenn wir die Stelle passieren, es können aber auch Schlechtwetter und örtliche Wirbelstürme eintreten.« »Hm, augenblicklich sieht das Ganze aber noch recht harmlos aus, nicht wahr? Also, wir fahren einstweilen weiter«, entschied Carouche, »solange sich das Seebeben nicht weiterentwickelt, haben wir keine Veranlassung, den Kurs zu wechseln.« »Wie Sie befehlen.« Bayorne verneigte sich und ging nach vorn. 118
Die Jacht fuhr weiter. Die Fahrgäste holten sich ihre Ferngläser und be obachteten mit steigender Spannung den eigenartigen Wasserkegel. Es lebte eine dumpfe Besorgnis in ih nen, aber die Neugier hielt ihr vorläufig das Gleich gewicht. Bery wischte sein Glas ab. »Ganz beschlagen«, murmelte er. »Dunst liegt über dem Wasser«, stellte d’Aubrac fest. Es war, als stiege aus dem Wasser ein Vorhang auf. Die scharfe Horizontlinie verschwand in bleier nem Dunst, die Umrisse des Kegels verschwammen. Innerhalb von Minuten verwandelte sich das Blaß blau des Himmels in ein schmutziges, helles Grau, das vom Horizont aus immer stärker schieferfarbene Töne aufsog. »Allmächtiger!« keuchte unmittelbar darauf Bery und wies zur Seite. »Was hat denn das zu bedeuten?« Ruckhaft wandten sich die Köpfe. Dort lief noch verhältnismäßig deutlich sichtbar die Horizontlinie, aber sie hatte keine gleichmäßige Höhe mehr. An der Stelle, auf die Bery wies, bog sie deutlich nach oben aus. Sie setzte zu einer flachen Wölbung an, die sich fast über ein Viertel des Ge samthorizonts hinzog und erst dann wieder in nor male Höhe überging. Ihr höchster Punkt war der Wasserkegel, den man beobachtet hatte. 119
»Mon Dieu«, flüsterte Causse, »wir fahren ja ei nen Berg hinauf!« »Verdammt!« sagte der Amerikaner laut. »Es wird höchste Zeit, daß wir umkehren. Das Seebeben be schränkt sich nicht auf den Kegel, sondern betrifft dieses ganze Gebiet. Wir fahren über Stellen, unter denen in der nächsten Minute Ausbrüche erfolgen. Sprechen Sie mit dem Kapitän, Carouche.« Inzwischen hatte Kapitän Bayorne mit nicht ge ringerer Aufmerksamkeit und Sorge den Horizont beobachtet. Er fühlte sich in der Klemme. Als selb ständiger Kapitän hätte er auf das erste Anzeichen eines Seebebens hin einen weiten Bogen geschlagen, um sich gegen alle Fälle zu sichern. Er war jedoch Kapitän einer Privatjacht und unterstand als solcher den Wünschen des Besitzers, solange keine ernstli che Gefahr bestand. Bayorne alarmierte vorsorglich die Besatzung, um für den Notfall gerüstet zu sein. Einschließlich des Stewards und der Stewardeß waren es zweiund dreißig Personen, die seinem Befehl unterstanden. Rabault, den Maschinenoffizier, schickte er in den Funkraum. Die ›Julienne‹ besaß zwar einen eigenen Funk raum, wenn er auch nicht groß war, sie besaß sogar recht starke Apparate, aber keinen eigenen Funker. Den Funkdienst versah der Maschinenoffizier ne benbei mit. 120
»Besetzen Sie den Funkraum«, wies Bayorne sei nen Untergebenen an. »Sie werden so lange bei den Apparaten bleiben, bis ich Ihnen Gegenanweisungen gebe. Im Maschinenraum kann man sich ohne Sie behelfen. Versuchen Sie festzustellen, ob noch ande re Schiffe Wahrnehmungen über ein Seebeben mel den. Und – denken Sie daran, daß von Ihnen die Ret tung des Schiffes abhängen kann. Halten Sie bis zu letzt aus!« Rabault konnte seine Verwunderung nicht unter drücken. »Selbstverständlich! Aber – ist etwas zu befürch ten?« »Nichts – und alles«, erwiderte Bayorne rauh. »Gehen Sie!« Rabault beeilte sich. Er schaltete auf Empfang. Die Lampen glommen auf. Der Lautsprecher begann zu summen. »Ziep, zipp, zipp…« Die ersten Striche und Punkte zuckten dünn auf. Doch plötzlich schlug ein unerhört starker Sender krachend durch. Rabault prallte erschrocken zurück, als ihn die Stimme unvermutet wie eine Faust an packte: »Jacht ›Julienne‹! Jacht ›Julienne‹! Zum Donnerwetter noch mal, schlafen denn die Kerle im mer noch?« Eine kleine Pause, dann brüllte die Stimme wieder los: »Flugschiff ›Greif vier‹ an ›Julienne‹. Melden 121
Sie sich! Höchste Gefahr. Jacht ›Julienne‹! Sofort melden!« Rabault schaltete schleunigst um. Sein Finger drückte die Taste, die winzigen Kontaktfunken sprühten. »›Julienne‹ an ›Greif vier‹. Wir hören. Station war bisher unbesetzt. Haben Sie etwas von einem Seebe ben bemerkt?« Er schaltete auf Empfang, schon war die Stimme da: »Endlich! Sie fahren direkt in einen Bebenherd allergrößten Umfangs hinein. Sie befinden sich in größter Gefahr! Kehren Sie sofort um, und fahren Sie mit voller Kraft nach Osten zurück! Beeilen Sie sich!« Rabault stürzte schon hinaus. Kapitän Bayorne empfing eben die Meldung, daß sich die Fahrt trotz voller Maschinenleistung bedeu tend verringert habe. Er verstand, was vorging. Das Schiff arbeitete gegen eine scharfe Strömung, die ihren Ursprung in dem fernen Wasserkegel hatte. Jetzt hastete Rabault auf ihn zu. »Wir sind von einem Flugschiff angerufen wor den. Wir befinden uns in einem ausgedehnten See bebengebiet und können jeden Augenblick eine Ka tastrophe erleben. Man empfiehlt sofortige Umkehr in Richtung Osten.« Bayorne preßte die Lippen aufeinander. Dann trennten sie sich nur widerwillig, als er sagte: »Dan 122
ke. Geben Sie SOS. Bitte verständigen Sie sofort alle Schiffe in der Nähe.« Während Rabault zurücklief, hetzten die Befehle des Kapitäns an die Mannschaft durch das Schiff. Die Jacht wechselte den Kurs. »Wir kehren um«, meldete der junge Raymond, der auf der Jacht die Dienste eines Schiffsleutnants versah. »Die Jacht nimmt Kurs nach Osten. Der Ka pitän läßt die Herrschaften bitten, sich in die Kabinen zurückzuziehen.« Carouche spürte eine Neigung zum Widerspruch, weil man ihn offensichtlich überging. »Aber – ich…« »Kapitän Bayorne läßt Sie bitten, sich jeder An weisung an die Besatzung zu enthalten«, unterbrach Raymond mit Bestimmtheit. »Er übernimmt von jetzt an die volle Verantwortung.« »Es ist gut«, erwiderte Carouche tonlos. »Ich wer de ihn dann aufsuchen. Bitte, in die Kabinen, meine Herrschaften!« »Meinen Sie im Ernst, daß…«, setzte Tülle an. Carouche unterbrach ihn böse: »Gehen Sie hinunter, dort können Sie Essays wie noch nie schreiben. Hier oben können Sie nicht blei ben!« »Kommen Sie!« drängte Causse. Dr. Briare half nach. Das Deck wurde schnellstens geräumt. Nur Carouche und Biber blieben noch oben. 123
»Lassen Sie nur«, winkte Biber ab, als Carouche auch auf ihn eindrängte. »Ich habe noch bessere Nerven als Sie. Ich werde mir die Ereignisse von hier aus ansehen.« Matrosen liefen geschäftig hin und her und mach ten das Schiff dicht. Bevor sie den letzten Ausgang schließen konnten, schlüpfte Causse hinaus. Er brach te einige Stricke, die er irgendwo gefunden hatte. »Mir ist scheußlich zumute«, sagte er mit einem mißglückten Lächeln, »aber ich will den Blitz sehen, der mich trifft. Hier sind Stricke zum Anbinden.« »Unsinn!« fuhr Carouche ihn an. »Vorläufig be steht noch keine Gefahr. Ich will zu Bayorne.« Er eilte fort. Beruhigen konnten seine Worte nicht. Freilich, noch war nichts geschehen, aber die ganze Atmosphäre war jetzt ein einziger unheilbrütender Kessel. Im Funkraum hockte Rabault und funkte den Not schrei der Verlorenen hinaus. »SOS – SOS – Jacht ›Julienne‹ auf 29 West und 44 Nord am Rand eines großen Seebebens. Eine Ka tastrophe ist zu erwarten. Wir wenden nach Osten. Wir warnen alle Schiffe in der Nähe und bitten, Füh lung zu behalten. SOS – SOS.« Er schaltete auf Empfang, lauschte dem harten Zucken des Lautsprechers. Aus allen Richtungen kamen Notrufe. Rabault wollte wieder umschalten, als ein starker Sender oh 124
ne Kennzeichnen durchschlug: »SOS! Beenden Sie sofort alle Sendungen wegen SOS! SOS! Hören Sie mit Senden auf wegen SOS. Auf dem Gebiet zwi schen 25 und 35 Grad West und 30 bis 50 Grad Nord sind an verschiedenen Stellen große Seebeben aus gebrochen oder im Ausbruch begriffen. Wir raten allen Schiffen innerhalb der angegebenen Zone, sie sofort zu verlassen und die nächsten Häfen anzulau fen. Wir warnen alle Schiffe, die sich der Zone nä hern, die Fahrt fortzusetzen. Unsere Warnung gilt auch für alle Bewohner der amerikanischen und eu ropäischen Küstenstriche. Es ist mit Sicherheit mit gewaltigen Springfluten und verheerenden Stürmen zu rechnen. Die Bevölkerung der Azoren wird ange wiesen, ihre Häuser zu verlassen, da mit Erdbeben zu rechnen ist. Wir bitten alle Schiffe, die sich innerhalb der bezeichneten Zone befinden, sofort ihren Stand ort anzugeben, damit wir ihnen im eintretenden Not fall Hilfe bringen können!« Der Sender schwieg. Rabault schaltete. »›Julienne‹ an unbekannten Sender. Wir befinden uns auf 44 Nord und 29 West, haben soeben gewen det und fahren mit voller Kraft nach Osten.« Die Antwort kam unverzüglich: »›Greif vier‹ an ›Julienne‹. Ihre Position ist bekannt. Setzen Sie die Fahrt so lange wie möglich fort. Wir schicken Hilfe.« Anschließend lauschte Rabault wieder. Ein ande res Schiff, das sich bereits in Seenot befinden mußte, 125
gab seinen Standort. Dann funkten plötzlich eine ganze Reihe von Schiffen sowie die Landstationen auf einmal los. Es war ein wildes Durcheinander, bis der Starksender energisch Ruhe befahl. Und dann kam der harte und jähe Stoß, der Ra bault für einige Minuten die Besinnung nahm. ELFTES KAPITEL Kapitän Bayorne stand auf der Kommandobrücke. Die Jacht war glücklich umgelegt worden und fuhr nun mit voller Kraft durch den bleiernen Dunst nach Osten. Ihre Geschwindigkeit war bedeutend höher, als der Leistung der Maschinen entsprach, denn das Wasser befand sich selbst in starker Strömung. Bayorne hatte alle Vorsichtsmaßregeln getroffen. Das Ruder war doppelt besetzt worden, die Schotten waren geschlossen, die Aufgänge, Luken und Fenster gedichtet, die Schwimmwesten ausgeteilt. Alles vorbereitet – aber es geschah nichts. Neben Bayorne stand Raymond. Ein Stück abseits hatten sich Carouche, Biber und Causse aufgestellt, bereit, sich in der nächsten Sekunde anzuschnallen. Bayorne war ihnen grob gekommen und hatte sie in das Innere der Jacht gewiesen, aber Carouche hatte sich ernstlich widersetzt und war mit den beiden an deren geblieben. Diese fünf Männer starrten alle in eine Richtung, 126
nämlich nach rückwärts, zu der Stelle, an der sich der gesichtete Kegel befinden mußte. Von dort würde das Unheil aufspringen. Die Ruhe war furchtbarer als ein Sturm. Dann brach es los. In der Ferne schoß ein Feuerschein auf, ein fahles Wetterleuchten, das von der Erde zum Himmel schoß. Irgendwer schrie auf. Unmittelbar hinter dem kurzen Aufzucken raste ein schnell wachsendes, weiß durch den Dunst glü hendes Band zum Himmel hinauf. Die grauen Vor hänge zerrissen, der Blick wurde frei auf eine un begreiflich gewaltige Feuersäule, die wie ein wa bernder Turm auf dem Meer stand. »Ein Vulkanausbruch!« keuchte Carouche. Die Glut brannte in die Augen, die sich trotzdem nicht abwenden wollten. Sie wuchs. Die Feuersäule wurde stärker, schoß höher. Und dann heulte es auf, warf sich in unbeschreib lichen Tönen einer Urwelt auf. Und zugleich war der Orkan da. Das war kein Wind und kein Sturm, sondern ein unerträglich heißer Hammer, der von Westen her auf die Jacht und auf die Männer einschlug, eine riesige Faust, die waagerecht zustieß und nicht wieder los ließ. Die ungeheure Last des Luftdrucks preßte die 127
Jacht tief in das Wasser hinein, weit bis über die Wasserlinie. Das Heck wurde stärker gefaßt, der Bug tiefer gedrückt. Es war, als wollte das Schiffchen steil in die Tiefe schießen. Und es lag dabei seltsam schief, da der Druck nicht genau von hinten kam. Aber es blieb in dieser Lage und fuhr mit den strö menden Wassern wie ein Stück Holz, das willenlos mitgenommen wurde, nach Osten. Der Druck der Luft hielt es für längere Zeit gleichmäßig fest. Doch die Springflut, die schwarze Wand hinter der Jacht, war noch schneller. Sie wuchs, kam heran, drohte mit Millionen Tonnen Wasser das winzige Menschenspielzeug zu zermalmen. Vier Männer standen auf der Brücke und wußten nicht mehr genau, ob sie lebten. Der riesige Anprall hatte sie halb betäubt. Sie hielten die Körper starr verkrampft, keuchten den Atem fast aus gelähmten Lungen heraus, schrien verzweifelt gegen den Sturm, um überhaupt den Atem herauspressen zu können, fühlten die Stricke und die Eisenstangen als würgen de Bänder um ihre Leiber. Der fünfte Mann hing schräg mit vom Sturm weg gestreckten Gliedern in den Seilen. Es war Causse, der Mann, der sich vor dem Tod gefürchtet hatte und ihm nun doch hatte ins Auge blicken wollen. Er war nicht schnell genug gewesen. Die Riesenfaust hatte seinen Körper getroffen, bevor dieser sich zur Ab wehr stellen konnte. 128
Niemand achtete auf ihn. Jeder stand geduckt, ver krampft und angeklammert in verzweifelter Abwehr gegen den Tod. Das Ereignis war zu groß. Es gab hier nichts zu tun, zu helfen, zu schaffen und zu retten. So standen sie unbeweglich und starrten in die glühende Hölle hinein und auf die dunkle Wand des jagenden Wassers, die sich immer mehr in das Blick feld schob. Eine Feuersäule hatte erst dort hinten ge standen. Jetzt war es ein massiger Turm, über den senkrechte schwarze Streifen liefen. Sie starrten und sahen mit eindringlicher Deutlich keit und doch wieder wie durch tausend Schleier hin durch. Nichts zeichnete sich klar ab, Dunst und Rauch, Hitze und Wasserdampf verwischten die Umrisse. Hitze! Ja, die Luft glühte und dampfte vor Hitze. Die Gesichter der Männer waren rot und geschwol len, wie von innen her aufgedunsen und vom Fieber durchjagt. Und dann prasselte der Auswurf der Hölle über die Jacht. Ein großer feuriger Brocken zischte vor den Augen vorbei und schlug direkt in das Heck ein, so daß sich die Jacht dumpf gegen den lastenden Druck der Luft aufbäumte. Der Brocken traf gerade die äu ßerste Kante. Er plumpste in das Meer, aber das Heck war ein formloses, zersplittertes Chaos, aufge sprengt und aufgerissen bis zur Kettenkammer oder noch tiefer. 129
Dem Brocken folgte ein Hagel von größeren und kleineren Geschossen, die auf das Deck nieder schlugen. Man hörte ihn nicht, dazu war das hölli sche Brüllen bereits zu stark, aber man sah die schwarzen oder noch glühenden Steine und Stein chen aufprallen. Die Männer standen frei, der Hagel traf sie so gut wie das Deck. Was half es, sich noch mehr zusam menzuducken und die Köpfe einzuziehen? Carouche zuckte zusammen, als ein Stein bren nend heiß an seiner Schläfe vorbeischlug. Biber stöhnte wild auf. Er sackte zusammen, aber er fing sich wieder auf und klammerte sich fester an. Ray mond spürte einen Schlag zwischen Arm und Kör per, ahnte einen zerfetzten Rock, fühlte sich aber nicht schwer getroffen. Und Bayorne sah plötzlich seinen linken Ärmel baumeln und das Blut aus einer breiten Fleischwunde rinnen. Der Amerikaner war am schlimmsten dran. Doch sie hatten Glück, trotz allem. Keiner dieser Brocken traf tödlich oder verletzte schwer. Schon die kleinen Steinchen waren unangenehm. Sie schlugen wie große Hagelkörner auf, prellten Haut und Muskeln. Hinter ihnen kam die Asche. Man sah nicht, woher sie kam. Sie war da, legte sich grauweiß und schwärzlich auf das Deck. Und mit der Asche waren die Gasschwaden da, beißend, würgend und erstik 130
kend, als hänge man mit dem Gesicht über einem rauchenden Ofen. Vier Männer. Carouche war dem Ungeheuerlichen seelisch nicht gewachsen. Er hielt sich fest, wie ein Ertrinkender sich festhält – besinnungslos. Aber er starb innerlich in diesen Minuten. Die Schrecken er füllten ihn bis zum letzten Grund seines Wesens. Doch die anderen drei hielten stand. Ihre Wangen knochen blockten sich hart und scharf unter der auf geschwollenen Haut, in ihren Augen blieb der Funke am Leben. Sie sahen es herankommen. Unaufhaltsam rückte die dunkle Wand vor, schneller als das jagende Schiff. Unaufhaltsam glitt der Wasserberg hinter sei nem Opfer her. Zwanzig, dreißig, fünfzig Meter hoch – nie wieder würde die Jacht nach oben treiben. Aber sie waren Männer und wollten als Männer sterben. Das machte den Tod nicht schlimmer. Im Innern des Schiffes war nur ein geringer Bruchteil von all den Schrecken zu spüren. Man hör te das tosende Geheul der pressenden Lüfte, man hörte das Aufprasseln des Steinhagels, man roch die beißenden Gase und schmeckte die feine Asche. Aber es blieb alles gedämpft, nur eine Ahnung des Wirklichen. Kein Grund zur Panik. Man befand sich am Rande des Bebens, fuhr vor dem Ausbruch her und ent 131
fernte sich mit jeder Minute weiter von der Gefah renstelle. Also mannhaft. Wenn die Stewardeß ver stört in der Ecke hockte und vor sich hin murmelte, so konnte man darüber hinwegsehen. Doch im Salon hockte die Erbärmlichkeit. Dort hatten sich die Gäste zusammengefunden. Die bezaubernde Yvonne – wo war ihre Schönheit geblieben? – machte alles verrückt. Sie weinte, schrie und jammerte. D’Aubrac gab sich lange Zeit alle Mühe, sie zu be ruhigen, obgleich ihm selbst der Schrecken im Nak ken saß. Als alle seine Versuche fruchtlos blieben, schrie er sie wütend an, riß sich von ihr los und setzte sich in eine entfernte Ecke. Bery stand an der Rückwand in unmittelbarer Nä he der Tür. Er preßte den Rücken gegen die Wand und starrte mit verzerrtem Gesicht nach vorn, als käme alle Gefahr von dort. Beaune verhielt sich ganz ruhig. Er saß in einem tiefen Sessel und hielt die Hände an die Ohren ge preßt. Nur seine unruhig irrenden Augen verrieten die Erregung. Tülle befand sich in einem irren Fieber. Er hing mit einer Hand am Verschluß eines Bullauges, mit der anderen arbeitete er in wilden Gesten. Er redete, redete und redete, wahrscheinlich, ohne daß es ihm selbst bewußt wurde. Der einzige, der leidlich gelassen blieb, war Bria 132
re. Er hielt sich auch nur zeitweise im Salon auf, und dann lief er auf und ab, um durch das Gleichmaß des Schrittes das innere Gleichgewicht zu stärken. Meist ging er durch die Flure und sah, ob irgendwo seine Hilfe nötig war. Noch immer jagte die Jacht mit Höchstgeschwin digkeit voraus. Die beiden Männer am Ruder, ge schützt vor den fallenden Steinen und doch im Frei en, hielten die Hände um das Rad gelegt. Die Männer auf der Brücke sprachen ihr letztes Gebet. Die schwarze Wand war da. Plötzlich ruckten die Körper schmerzend nach vorn oder vielmehr zu rück. Der übermächtige Luftdruck ließ jäh nach, die Jacht krängte unruhig. Dann überholten die Wassermassen der Springflut das winzige Schiff, brachen über ihm zusammen, verschlangen es und eilten ungebrochen und unge schwächt weiter. Die Männer hielten sich für verloren. Der Instinkt veranlaßte sie, im letzten Augenblick noch einmal Luft zu holen und dann den Atem anzuhalten. Das rettete sie, denn die Jacht ging nicht unter. Sie knirschte und ächzte in allen Fugen, aber sie hielt stand und trieb sofort wie ein luftgefüllter Ball nach oben. Raymond schlug als erster die Augen wieder auf. Mühsam zerrte er sich aus der knienden Stellung hoch, in die ihn das stürzende Wasser gepreßt hatte. 133
Er krächzte, rang nach Luft, dann sah er Bayorne schief neben sich hängen. Er trat nach ihm, stieß mit dem Knie, weil ihm nichts anderes einfiel. Und Ba yorne kam taumelnd hoch und streckte sich. Sie schwammen oben. Dort lohte noch immer die Feuersäule, aber sie war nun schon weit entfernt. Der ungeheure Luftdruck hatte nachgelassen, was jetzt hinter ihnen herfegte, war ein Orkan, ein gewaltiger Sturm, den man wenigstens mit den Sinnen erfassen, gegen den man zur Not ankämpfen konnte. Gerettet? Wie bescheiden die Menschen doch werden, wenn sie aus größter Not kommen! Eben zerrte sich der Amerikaner hoch. Er hatte ebenfalls durchgehalten. Carouche und Causse rühr ten sich nicht. Zum erstenmal konnte sich der Kapitän wieder umsehen. Bayorne wies auf die Stelle, an der sonst neben dem Maschinentelegrafen das Telefon hing. Dabei beugte er sich seitlich an Raymonds Ohr und schrie ihm etwas zu. »Rudergänger – Freiwache…«, verstand Ray mond. Er band sich los, duckte sich nieder und machte sich auf allen vieren auf den Weg, um nicht von dem Orkan über Bord oder gegen ein Hindernis ge schleudert zu werden. Seine Hände griffen von ei nem Halt zum anderen. Als er ein Seil, das geblieben 134
war, erreichen konnte, ging es besser. Aufatmen konnte er erst einmal, als er das Vorschiff erreicht hatte und hinter den restlichen Aufbauten einiger maßen Schutz fand. Hier ließ sich auch eine Tür öff nen, ohne daß man befürchten mußte, sie nicht wie der schließen zu können. Die Freiwachen kämpften sich an Deck. Obwohl sie jede Bewegung gegen den Orkan schwer er kämpfen mußten, leisteten sie ihre Arbeit. Vor allem wurde das Ruder freigelegt. Der eine der beiden Ru dergänger hatte sich erholt und stand trotz mehrerer Schrammen zur Verfügung, der andere jedoch hatte sich den Arm gebrochen und mußte ersetzt werden. Die Freiwachen schafften auch Causse, Carouche und Biber weg. Jetzt erst wurde festgestellt, daß Causse tot war. Carouche lebte, er hatte nur ziemlich viel Wasser geschluckt. Und der Fuß des Amerika ners bereitete Dr. Briare schwere Sorgen. Rabault kam aus seiner Funkkabine heraus. Seine Apparate hatten einen schweren Stoß bekommen, und vor allem war die Antenne weggeflogen. Er mußte reparieren. Verbindung mit anderen Schiffen konnte er vorläufig nicht aufnehmen, aber er ver sprach, in einer halben Stunde fertig zu sein. Immer weiter fuhr die ›Julienne‹ nach Osten vor dem Sturm her und mit der Strömung des Wassers. Sie waren beide bereits so viel schwächer geworden, daß die Jacht den Bewegungen des Steuerrades wie 135
der folgte, aber sie machten immer noch die Arbeit der Maschinen überflüssig. Als Rabault endlich die letzte Verbindungsstelle gelötet hatte und auf Empfang schaltete, krachte es wie mit Hämmern aus dem Lautsprecher heraus, überlaut, dabei hetzend, wie unregelmäßig und hastig auf Stroh schlagende Dreschflegel. Rabault wunderte sich flüchtig, wie nahe dieser Sender sein und mit welcher Energie er arbeiten muß te, wenn man ihn derart hörte. Dann nahmen ihn die in rasendem Tempo gegebenen Zeichen gefangen. »… immer noch einige Schiffe in Fahrt nach We sten. Die Dampfer ›Bathurst‹, ›Romana‹ und ›Chap delaine‹ werden angewiesen, umzukehren. Von We sten her nähert sich ein Orkan von mindestens Wind stärke zwanzig. Eine Springflut von annähernd fünf zig Meter Höhe befindet sich in schnellem Vor marsch zwischen zweiundvierzig und fünfundvierzig Grad Nord auf fünfundzwanzig Grad West. Eine an dere zwischen achtundvierzig und fünfzig Grad Nord auf zwanzig Grad West.« Der Starksender schwieg für Sekunden, dann tickte es ein ganzes Stück schwächer: »An Jacht ›Julienne‹. Warum antworten Sie nicht? Bitte sofort melden!« Rabault schaltete schleunigst um und gab seine Zeichen. »Das wird aber Zeit! Hatten Sie Störung, oder las sen Sie den Sender unbesetzt? Warum fahren Sie 136
nicht nach Osten, wie Sie angewiesen worden sind?« Rabault schüttelte den Kopf und erwiderte: »Wir halten doch nach Osten.« »Sie halten nach Nordosten«, wurde er scharf ver wiesen. »Ihr Kompaß arbeitet infolge der Störungen nicht mehr einwandfrei. Die Nadel muß unter den augenblicklichen Umständen eben nach Südosten zeigen. Machen Sie sofort dem Kapitän Mitteilung!« Rabault arbeitete sich zur Kommandobrücke vor und gab Bayorne Bescheid. Der Kurs wurde sofort geändert. Die beiden Rudergänger stemmten sich mit voller Kraft, um das Ruder herumzudrücken. Die Maschinen kamen endlich wieder zu ihrem Recht. Das Schiff arbeitete sich jetzt schräg zu Strömung und Sturm weiter, halb überdrückt, dauernd von Bre chern überflutet, stöhnend und zitternd unter dem Druck der angreifenden Kräfte. Das Ruder hielt, die Maschinen taten ihre Pflicht. Bayorne war sich freilich klar darüber, daß sie trotz des veränderten Kurses unaufhaltsam nach Nord osten getrieben wurden. Sturm und Strömung nah men das Schiff mit. Eine halbe Stunde nach der Kursänderung rief der unbekannte Sender noch einmal an und erkundigte sich, ob die Jacht eine starke Stahltrosse an Bord ha be. Als Rabault bejahte, forderte man auf, die Trosse am Heck zu befestigen und so bereitzulegen, daß sie jederzeit abgeworfen werden könne. Gleichzeitig 137
wurde empfohlen, noch zwei Strich nach Süden ab zufallen. Rabault benachrichtigte Bayorne. Dieser entsprach unverzüglich den Wünschen des Unbekannten. Er grübelte nicht nach, wie jener zu seiner Weisheit kam, aber er vertraute. Die Erfahrung hatte ihm ge zeigt, daß es gut war, diesen Anweisungen Folge zu leisten. Am Heck konnte man die schwere Trosse, die erst unter vielen Anstrengungen aus dem Laderaum ge holt werden mußte, freilich nicht befestigen, wohl aber an den eisernen Pflöcken, um die beim Anlegen das Tau geschlungen wurde. Es war auch nicht mög lich, das Seil zu stapeln, da die Brecher es schnell hinunterwerfen mußten. So ließ man es nachschlep pen. Stunden vergingen, dann erhielt Rabault abermals Anweisung. »Nehmen Sie jetzt sofort Kurs auf Ost zu Nordost. Aus dieser Richtung kommt eine Springflut. Sie wird Ihnen nicht weiter gefährlich werden, da sie nicht sehr hoch ist. Wenn Sie die Frontwelle passiert ha ben, können Sie wieder auf den alten Kurs gehen.« Auch diese Anweisung gelangte zu Bayorne. Der Kurs wurde entsprechend geändert. Eine halbe Stun de später kam voraus ein schwarzer Strich auf, wuchs zusehends und überrollte dann die Jacht. Der junge Raymond lachte, als sie aus der nassen 138
Umarmung hochkamen. Diese Flut kam ihm harmlos vor, nachdem sie die erste überstanden hatten. Doch für das Schiff begannen nun erst die schwer sten Stunden. Es befand sich jetzt zwischen zwei Stürmen, die gegeneinanderprallten, zwischen zwei Strömungen, die sich mit gewaltigen Brandungen trafen. Und die Richtung, die es halten sollte, führte nicht aus dem gefährlichen Gebiet heraus, sondern schnitt es immer wieder. Der Orkan kam, wechselte dann unaufhörlich sei ne Richtung. Mal kam er von links, mal von rechts, mal schüttelte er in wilden Böen, mal drückte er gleichmäßig, dann heulte er in Wirbeln herum. Und ebenso änderte sich dauernd die Strömung. Bald von hier, bald von dort brachen die Wellenberge über die Jacht hin. Es war wirklich erstaunlich, wie das Schiff diese Belastung aushielt. Wahrscheinlich verdankte es sei ner Kleinheit, daß es immer wieder hochkam und unter dem Wüten nicht zerbrach. Bestimmt hatte Ca rouche für sein Geld den vollen Gegenwert erhalten. Die Jacht war vorzüglich konstruiert. Auf der Brücke stieß Raymond den Kapitän an. Seitlich lag ein unbestimmter Feuerschein. Vielleicht glühte dort irgendwo in der Ferne auch ein Vulkan. Wenig später wurde das Schiff von einer glatten Strömung vorwärts gerissen. Maschinen und Ruder waren, wie gewöhnlich in solchen Lagen, machtlos. 139
Da sich aber die Richtung der Strömung mit dem einzuhaltenden Kurs ziemlich deckte, hatte Bayorne nichts einzuwenden. Je schneller man aus dem ge fährlichen Gebiet herauskam, um so besser. Der Sturm half mit, die Jacht raste mit annähernd fünfzig Meilen voraus. Da wuchs es plötzlich auf, langgestreckt und schwarz. »Neue Flut!« schrie Raymond entsetzt auf, weil er wußte, was es bedeutete, wenn die Jacht jetzt seitlich gefaßt wurde. Hörte ihn Bayorne wirklich? Fast in der gleichen Sekunde stieß er Raymond an und wies backbords. Dort näherte sich ebenfalls die schwarze Wand. Bayorne drehte den Kopf. Seine dünnen, festen Lippen hatten sich etwas verschoben, so daß es fast aussah, als lächle er. Nie in seinem Leben hatte der Kapitän weniger an Lachen gedacht als in dieser Minute. »Land!« bellte er Raymond ins Ohr. Land! Ein eiskalter Schreck durchfuhr Raymond. Ja, das war Land. Die dunklen Wände bestanden aus Felsen. Und sie rasten darauf zu. Oder nein, die Fahrt ging in die Lücke zwischen den Felsen. Lieber Himmel! Da standen die Felsen links und rechts. Vielleicht hatte man Glück, vielleicht kam man durch. Wenn 140
nur nicht ein Riff dort unten lauerte, eine einzige schmale Felsenkante, die das Schiff aufschlitzen mußte wie ein scharfes Messer einen Fisch. Allmächtiger! Das war eine Durchfahrt von höchstens hundert Meter Breite. Die Jacht steuerte gerade auf die Mitte zu. Man würde durchkommen, würde nicht auf die Felsen jagen. Aber was lag dahinter? Weder Raymond noch der Kapitän hatten Zeit, sich darüber zu wundern, woher dieses Land kam. Schon fuhren sie zwischen den schwarzen Wän den. Die Enge nahm sie auf. Eine schäumende, to bende Enge, durch die der Sturm hindurchpreßte, während er sich in der Mitte deutlich sichtbar auf wölbte, so daß die Jacht wie auf einem Bogen hin fuhr. Durch! Nein, das war nicht das freie, offene Meer dahin ter. Wohl verbreiterte sich die Enge, aber rechts und links düsterten weiter dunkle Wände. Sie wichen zu rück, schnellten plötzlich wieder vor, schufen neue Engen und wichen wieder. Land ringsum, soweit man die grauen Hüllen durchdringen konnte. Bald war es flach und wurde vom Wasser überschäumt, bald schwang es sich in weichen Linien zu Hügeln auf, bald drohte es in spit zen Vorsprüngen und senkrechten Abstürzen. 141
Ein phantastischer Spuk, der die Nerven immer aufs neue zum Flackern brachte. Rabault tippte fieberhaft. »SOS – ›Julienne‹ an Unbekannt. Wir fahren zwi schen Landmassen, werden von einer Strömung vorwärts gerissen. Was sollen wir tun?« Schon kam die Antwort: »Nichts, halten Sie die Mitte der Strömung. Wir kommen.« Rabault stellte nicht um, er wartete. Da ging ein Ruck durch die Jacht, ein unheimli ches Ächzen folgte. Die beiden Männer auf der Brücke sahen mit Entsetzen, wie die Jacht aus der Strömung herausdrehte. Doch schon schwenkte sie wieder ein. Ein Hinder nis war überwunden. Eine Minute später jagte eine Stimme die Meldung in das Ohr des Kapitäns, daß die Backbordseite ein Leck haben müsse. Wasser dringe ein. Bayorne fragte beherrscht zurück. Dann kam die Erleichterung. Die Schotten hielten dicht, der Ma schinenraum war nicht bedroht. Die Jacht konnte trotz des Lecks noch lange schwimmen. Rabault wartete. Endlich kam der Sender. »Die Strömung mündet in einen Binnensee, der sich bereits fast ganz aufgefüllt hat. Warten Sie eine Viertelstunde, dann geben Sie volle Kraft zurück. Wir bleiben bei Ihnen.« 142
Rabault kämpfte sich zur Brücke. »Ein Binnensee und Land vor uns, Kapitän. In ei ner Viertelstunde sollen wir mit voller Kraft rück wärts fahren. Das Flugschiff will in unserer Nähe bleiben und weitere Anweisungen geben. Vielleicht wäre es gut, wenn Raymond die Verbindung mit meiner Kabine übernähme. Es dauert immer so lan ge, bis ich hierherkomme.« Bayorne ließ sich’s ins Ohr schreien, dann gab er Rabault einen Stoß und wies ihn zu seinen Appara ten. Raymond erhielt auch einen Stoß und Befehle, etwas später tauchten zwei Mann der Freiwache auf und schlossen die Verbindungskette zwischen Brük ke und Funkraum. Eine Viertelstunde. Noch einmal drängten sich die Felsen zur Enge zusammen, dann wichen sie zurück. Offenes Wasser ringsum, nichts mehr von Land. Of fenes Meer – oder ein Binnenmeer? Bayorne vertraute nicht nur den Unbekannten, sondern war auch Seemann genug, um festzustellen, daß jene Behauptung stimmte. Diese Wellen waren ein Kinderspiel gegen die Wogenberge auf dem frei en Ozean. »Volle Kraft zurück!« »Schraubenwelle gebrochen!« kam es dumpf von unten. »Was?« schrie Bayorne. »Schraubenwelle gebrochen!« kam die furchtbare 143
Bestätigung. Dann gnade uns Gott, dachte Bayorne, stieß aber im gleichen Moment schon den Matrosen an, der ne ben ihm stand. »Schraubenwelle gebrochen! Weitergeben! Ver haltungsmaßregeln!« Der Mann ließ sich vom Wind vortragen. »Soeben Schraubenwelle gebrochen!« hämmerte Rabault. »Die Strömung treibt uns weiter. Was ist zu tun?« Diesmal antwortete die Stimme nicht gleich, aber dann kam sie rasch und bestimmt wie immer: »Es ist zu spät für das, was wir ursprünglich woll ten. Legen Sie das Steuer hart Backbord. Alle Mann an Deck, auch die Verwundeten. In einer Viertel stunde spätestens fahren Sie auf Grund, wenn nicht schon früher. Wir nehmen Sie dann sofort auf.« Rabault war wie betäubt. Er gab die Anordnungen weiter. Bayorne ballte die Hände noch fester, als er sie er hielt, aber er befolgte sie. Seine Befehle jagten in das Schiff hinein. Die Männer kamen nach oben. Einige von ihnen setzten Bahren mit den Verwundeten auf das Deck und banden sie dort fest. Fünf Minuten. Zehn Minuten. Einer reckte den Kopf nach oben, die andern folg ten. 144
Ein Luftschiff! Grau und verschwommen in den Umrissen hing eine riesige Walze über der Jacht, ein naß schim mernder gewölbter Leib. Achtung! Da war er schon, der mächtige Ruck, der gewalti ge Stoß, der die gestrafften Handgelenke überdehnte, die Körper hart vorwarf. In das Heulen des Sturmes mischten sich das trockene Splittern von Holz und das dumpfe Krachen aufeinanderprallender Ge genstände. Fünf Mann über Bord, die andern fanden sich lie gend oder stehend noch auf Deck, als die Benom menheit von ihnen wich. Jetzt senkte sich das Luftschiff tiefer. Greifbar dicht hing es über den Köpfen, kaum noch fünf Me ter entfernt. Scheinwerfer blendeten auf, Übergossen die Jacht und das unruhig brandende Wasser mit weißem Licht. Luken öffneten sich, irgend etwas flog hinaus ins Wasser, in dem fünf Menschen verzweifelt kämpften. Ein Boot glitt wie ein Fahrstuhl herunter, setzte auf dem Wasser auf. Strickleitern fielen auf Deck, Seile hingen wie dünne Schnüre schräg im Sturm, Männer glitten herunter. Dann brüllte eine Stimme durch ein Sprachrohr: »Wer sich’s zutraut, benutzt die Strickleitern. Die anderen lassen sich mit den Seilen heraufholen.« 145
Ein junger Mann in einem grauen Schutzanzug tauchte neben Bayorne auf. »Sind Sie der Kapitän?« »Jawohl.« Bayorne nickte schwer. »Kapitän Ba yorne.« »Engelbert!« nannte der andere seinen Namen. »Vor allem meine Bewunderung für Ihr tapferes Ver halten während der ganzen Zeit. Haben Sie Schwer verletzte an Bord?« Bayorne strich sich über die Augen. »Ich – weiß nicht. Wir müssen Dr. Briare fragen.« Bayorne verließ mit dem Fremden die Brücke. Die meisten seiner Leute turnten bereits an den Strick leitern nach oben. Es waren die meisten. Ihnen als Seeleuten machte die luftige Kletterei nichts aus. Die anderen, vor allem die Verletzten und die Fahrgäste, wurden an Seilen hochgezogen. Dr. Briare über wachte diesen Transport und gab die erforderlichen Anweisungen, da nur er die Verletzungen kannte. Nach einer Viertelstunde befand sich niemand mehr auf Deck. Das Boot hatte die fünf Mann aufge fischt und schwebte gerade an den Seilen nach oben. Bayorne kletterte als vorletzter nach oben. Hinter ihm folgte nur der Leiter der Rettungsabteilung, jener Engelbert. Bayorne hörte noch, wie die Luken geschlossen wurden, dann taumelte er gegen die Wand des langen Ganges, in dem er sich befand. Jetzt, inmitten dieser 146
völligen Windstille und Ruhe, übermannte ihn die Erschöpfung. Aber bereits nach Sekunden hatte er seine Sinne wieder beisammen. Er überwand den Schwächeanfall, weil noch nicht alles getan war. Nicht anders ging es seinen Leuten. Einige hielten sich, aber die meisten wurden vom Rückschlag um geworfen. »Kommen Sie, Kapitän«, bat Engelbert, der ihn stützte, »ich führe Sie in Ihre Kabine. Dort können Sie ausruhen. Ihre Leute sind alle in Sicherheit.« Bayorne machte eine abwehrende Bewegung. »Noch nicht, ich möchte den Kapitän dieses Schif fes sprechen. Oder sind Sie selbst der…« »Natürlich nicht.« Das junge Gesicht lächelte. »Kommen Sie, Sie müssen sich an mir festhalten, da Sie unsere Beförderungsart kaum gewohnt sein dürf ten.« Sie glitten auf laufenden Bändern und in Fahr stühlen, dann stand Bayorne in einem ovalen Raum vor einem Mann mit kantigem Gesicht und hellen Augen, der ihm die Hand schüttelte. »Meine Bewunderung, Herr Kapitän. Ich freue mich, daß es uns gelungen ist, so tapferen Männern beizuspringen. Sie wollen zwar das Protokoll gleich abfassen, ich bitte Sie jedoch, damit zu warten und einstweilen auszuruhen.« »Ich wollte Ihnen vor allem für die Rettung dan ken«, erwiderte Bayorne. »Wie sie möglich war, be 147
greife ich allerdings noch nicht recht.« Der Kapitän des Flugschiffes lächelte. »Oh, das war kein Kunststück, nachdem Sie in ru higes Wasser gekommen waren. Wir rechneten sogar damit, die Besatzung mit Hilfe Ihrer Trosse über nehmen zu müssen. Doch – ich werde Ihnen später ausführlich berichten.« »Nur eine Frage«, bat Bayorne, der wieder gegen die Schwäche ankämpfen mußte. »Wo bringen Sie uns hin?« »Nach Frankreich zurück, sobald wir hier fort können.« »Und – was ist das für ein Land dort unten?« »Man wird es zukünftig Atlantis nennen«, kam ru hig die Antwort. Bayorne nickte geistesabwesend. »Ich dachte es mir. Bitte, zeigen Sie mir meine Kabine.« ZWÖLFTES KAPITEL Stunde um Stunde glitt das Flugzeug mit Sun Koh mit rasender Geschwindigkeit durch die Strato sphäre. Stunde um Stunde saß Sun Koh in einem kleinen Raum, fing die Nachrichten auf, die ihm ge sandt wurden, und gab Anweisungen. An der einen Wand hing eine große Karte des Atlantik. Hal Mer vin heftete Fähnchen an sie, malte Kreise und Kreu 148
ze, zog Pfeile und Linien, und Joan Martini saß still in einer Ecke und sah zu. Nur einmal ging sie hinaus und brachte später Erfrischungen herein. »Wir müssen abwarten«, sagte Sun Koh während einer Pause auf eine Bemerkung hin. »Noch läßt sich nichts sagen. Die Entwicklung scheint langsam vor zuschreiten. Es kann aber auch sein, daß es ein blin der Alarm war.« »Aber«, widersprach Hal verdutzt, »blinder Alarm? Dabei geht es doch wahrhaftig lebhaft genug zu, und die Vulkane sind allerorten aufgebrochen.« Sun Koh nickte daraufhin. »Diese Meldungen über die Vulkane bereiten mir Sorge.« »Na ja«, beruhigte Hal, »auf irgendeine Weise muß ja schließlich das Land hochkommen, nicht wahr?« »Das zukünftige Atlantis sollte eigentlich frei von Vulkanen sein. Seht, das ist doch eine feste Land scholle, die aus der weicheren Grundmasse wieder hochgedrückt wird, nachdem sie einen für die Erd geschichte sehr kurzen Zeitraum abgeglitten und festgeklemmt war. Dabei kann man wohl im Au genblick des Auftriebs mit einigen vulkanischen Ent ladungen rechnen, aber niemals damit, daß nun das ganze Neuland aus Vulkanen aufgebaut wird. Im Gegenteil, die Scholle gibt ja den unter ihr liegenden Massen Luft und Spielraum, sie muß also praktisch 149
frei von Vulkanen bleiben. Starke vulkanische Tätig keit ist nur an den Pressungsstellen, an den Widerla gern dieser Erdbewegung zu erwarten.« »Also an den Rändern des aufsteigenden Gebiets, nicht wahr, Sir? Sehen Sie doch, das trifft doch fast zu. Die gemeldeten Ausbrüche liegen in den Rand zonen.« »Ja, aber vor allem an den Widerlagern. Und die fehlen mir noch. Dem Auftrieb dieser atlantischen Scholle muß eine Senkung an anderer Stelle gegen überstehen, denn erst durch diese erfolgt ja die Auf pressung.« »Ach so, deshalb warten Sie auf Meldung von den Kanarischen Inseln und aus dem amerikanischen Westen?« »Ja, deshalb.« »Achtung«, kam die Stimme des Verbindungs mannes auf Yukatan wieder. »Lissabon meldet ge rüchtweise schwere Erdbeben, Vulkanausbrüche und Überflutungen auf Teneriffa. Eine Bestätigung war noch nicht zu erhalten.« »Da ist es ja!« rief Hal aus. »›Greif vier‹«, ging die Stimme weiter, »hat die Jacht ›Julienne‹ in Sicht bekommen und versucht, Verbindung aufzunehmen. Die Funkstation ist aber anscheinend nicht besetzt.« Allmählich trafen die Meldungen der zehn Luft schiffe ein, die dem »Greif zwölf« mit rund einer 150
Stunde Vorsprung vorausgeeilt waren. Sie brachten die genaueren Einzelheiten über den Stand der Er eignisse, soweit sich diese innerhalb des kritischen Gebiets abspielten. Abgesehen von kleineren Ausbrüchen war es an fünf Stellen zu vulkanischen Ausbrüchen größten Ausmaßes gekommen. Soweit dadurch beziehungs weise durch die Seebeben Schiffe in Gefahr geraten waren, mußte Sun Koh auf die Gunst des Schicksals vertrauen. Darüber hinaus wanderten jedoch in meh reren Stufen gewaltige Flutwellen nach Osten und Westen, die früher oder später die Schiffe und die Küsten außerhalb des eigentlichen Gefahrenbereichs treffen mußten. Das veranlaßte Sun Koh, sich nunmehr unmittel bar an die Öffentlichkeit zu wenden. Mit dem starken Spezialsender, der sich an Bord des »Greif zwölf« befand, durchschlug er das Gewirr von Anfragen und SOS-Rufen und machte Schiffe wie Küsten auf die herannahenden Flutwellen und Orkane aufmerksam. Dann fand sich Zeit für ihn, selbst zu beobachten. Das Luftschiff stieß schräg in die grauen Schichten hin ein. Die Stöße von Sturmböen und kreiselnden Wir beln liefen zitternd durch den Leib des Flugschiffes. »Tausend Meter«, meldete der Befehlsraum auf ei ne Anfrage hin. »Tiefer«, bat Sun Koh, »möglichst bis zur Sicht auf das Meer.« 151
Dunst und Wolken. Das Flugschiff rüttelte jetzt doch recht stark. Manchmal drehte es sich urplötzlich ein Stück um seine Mittelachse, als sei es auf einen Kreisel geraten. »Da!« schrie Joan Martini leicht auf. »Fünfzig Meter«, teilte der Kommandant mit. »Tiefer können wir bei diesem Wetter nicht gehen.« »Das nicht, aber die Böen und Wirbel greifen so heftig und oft gleichzeitig an mehreren Stellen an, daß sie nicht voll zur Geltung kommen können. Es ist gut. Bleiben Sie möglichst noch eine Zeit lang in dieser Höhe.« Viel tiefer hätte das Flugschiff auch kaum gehen können. Dicht unter ihm formten sich grünschwarz riesige Wogen. Sie sanken in tiefe Täler hinein, in die blitzschnell die Wolkenfetzen folgten, so daß es aussah, als fiele die Erde jäh zurück. Im nächsten Au genblick stellten dreißig, vierzig Meter hoch die Was serberge auf und griffen mit weißen, zerzausten Säu men nach dem fliegenden Riesen, der gelegentlich von einer Fallböe dicht auf sie heruntergedrückt wurde. Dann gab Sun Koh Anweisung, wieder die Höhe aufzusuchen. »Von Land war nichts zu bemerken«, bemängelte Hal. »Es kann noch lange dauern, bevor wir Land se hen. Der Hebungsvorgang kann Tage, aber auch Wochen und Monate in Spruch nehmen.« 152
»Wir müßten eben mal einen Vulkan ansteuern.« »Das werden wir bleibenlassen«, lehnte Sun Koh ab. »Gegen einen ausbrechenden Vulkan sind wir nicht gesichert.« Die Funkzentrale meldete sich. »Die Besatzung von Stationsschiff zwei ist glück lich gerettet worden. ›Greif vier‹ ist es noch immer nicht gelungen, die Besatzung der ›Julienne‹ aufzu nehmen. Die Jacht wird durch eine Strömung auf ein breites aufgetauchtes Landgebiet zugerissen.« »Danke. Ich rufe ›Greif vier‹ direkt.« »›Greif vier‹«, meldete sich das Luftschiff etwas später. »Sun Koh. Geben Sie Bericht!« »Wir befinden uns über aufgetauchten Landmas sen. Sie werden teilweise noch von flachem Wasser überflutet, zum Teil ragen Höhenzüge auf. Vulkane sind nicht zu bemerken. Die Jacht ›Julienne‹ befindet sich in einer scharfen Strömung, die in eine Senke zwischen den Landmassen hineinfließt und dort ei nen See auffüllen will. Wir haben dem Kapitän ge raten, zur gegebenen Zeit Gegenkraft zu geben, und hoffen, die Besatzung in dem ruhigen Seegebiet übernehmen zu können.« »Ihren Standort, bitte!« »Siebenundvierzig Grad vier Minuten Nord und sechsundzwanzig Grad sieben Minuten West mit rund hundert Stundenkilometern nach Nordwest fliegend.« 153
»Danke.« »Befehlsraum?« »Siebenundvierzig Grad Nord und sechsundzwan zig Grad West.« »Jawohl.« Hal Mervin merkte die Stelle auf der Karte an. »Das ist fast die gleiche Stelle, die Station drei un ter Beobachtung gehabt hat, Sir.« Sun Koh nickte. »Deshalb auch der schnelle Aufstieg. Die letzte Tiefenmeldung dieser Station betrug nur noch ein tausendzweihundert Meter.« »So stark hat die Hebung schon vorher einge setzt?« horchte Joan Martini auf. »Allerdings. Bewegungen des Meeresbodens fin den schon seit Monaten, wenn nicht schon seit Jah ren statt. Sie machten sich aber nicht weiter be merkbar, wenn man nicht die gesteigerte Tätigkeit der Vulkane in den Randgebieten berücksichtigen will. Derartige Naturereignisse kommen ja nicht wie der Blitz aus heiterem Himmel, sondern bereiten sich allmählich vor.« Nach einer knappen Stunde kam die Meldung von »Greif vier«, daß die Besatzung der ›Julienne‹ geret tet worden sei. Damit war endlich allen SOS-Rufen, die innerhalb der Bebenbereiche aufgeklungen wa ren, Genüge getan, denn die anderen Luftschiffe hat ten bereits den Abschluß ihres Rettungswerkes ge 154
meldet. Die meisten von ihnen rückten weisungs gemäß nach Osten beziehungsweise nach Westen vor, um dort einzugreifen, wo durch die Flutwellen Seenot entstand. Wenn auch die Schiffe durchgängig den Warnungen Sun Kohs und den Hilferufen der bedrohten Schiffe gemäß sich in schneller Rückfahrt zu den Küsten befanden, mußte doch ein Teil von den Stürmen und Flutwellen eingeholt werden. Die sen galt es beizuspringen. »Die angegebene Position ist erreicht«, meldete der Befehlsraum endlich. »Bitte, so tief wie möglich gehen.« Das Luftschiff stieß in das graue Meer hinunter. Die Orkane packten es, schüttelten und drehten es, ohne ihm etwas anhaben zu können. »Land!« »Land im Urzustand am ersten Schöpfungstag«, flüsterte Joan Martini, als sie das freudlose, drohende Land unter sich sah. Nackt und feucht starrten die Klippen nach oben, zwischen ihnen hügelten sich weite Strecken, die aus Schlamm geformt zu sein schienen. Sun Koh spürte, was in Joan Martini vorging. Er legte seine Hand auf ihren Arm und sagte beruhi gend: »Heute ist die Natur schrecklich, aber morgen wird sie Segen spenden. Die Sonne und die Arbeit der Menschen werden auch aus dieser meerüber spülten Einöde ein Paradies schaffen.« 155
»Das Land ist noch in Bewegung«, stellte Hal fest, »dort liegt auch ein kleines Schiff.« »Das muß die ›Julienne‹ sein.« Die Jacht hing schief zwischen zwei Bergspitzen, die hundert Meter hoch herausgestoßen waren. Es war ein majestätischer und zugleich erschrek kender Vorgang, den sie beobachten konnten. Ein Hügel stieg auf, wölbte sich empor, sprang wie unter einem scharfen Schnitt auf dem Rücken auseinander. Die beiden Hälften schoben sich in un gleicher Bewegung gegeneinander, überbrachen sich, um plötzlich zusammenzusinken, als fielen sie in ei nen gähnenden Abgrund hinein. Eine flache Scheibe stieg aus dem Wasser. Nach allen Seiten brandete das Meer schäumend und quir lend von der Mitte weg. Ein Stoß ging über die Ebe ne, nach Minuten stand auf der einen Seite eine schroffe, klippige Mauer, während die andere im neu heranstürzenden Wasser verschwand. Sun Koh gab den Befehl zum Aufstieg. »So wird es an vielen Stellen sein«, sagte er zu Hal und Joan Martini. »Das aufsteigende Land steht unter starken unregelmäßigen Pressungen.« »Wann denken Sie, daß wir das neue Land zum er stenmal betreten können?« fragte Hal. Sun Koh hob die Schultern. »Das läßt sich kaum sagen. Tage können noch ver gehen. Und wenn wir landen, wird es auch nur für 156
kurze Zeit geschehen, um der symbolischen Besitz ergreifung willen.« »Wir werden unsere Flagge aufrichten.« Sun Koh nickte. »Gewiß. Anerkennen wird man sie und unsere An sprüche freilich nicht deswegen. Erst die erfolgreiche Behauptung wird uns das neue Land sichern…« Er brach ab, weil die Funkzentrale mit dringenden Meldungen kam. DREIZEHNTES KAPITEL Sun Koh allein übersah das große Geschehen in sei nem Umfang und in seinen Auswirkungen. Fünf Tage und fünf Nächte lang flog er im »Greif zwölf« über dem Atlantik und gönnte sich nur die spärlichste Ru he. Bei ihm sammelte sich alles, was durch tausend Augen und tausend Ohren aufgefangen wurde. Seine Gedanken überkreisten das Meer und die Küsten Amerikas wie Europas und Afrikas. Zahllose Mel dungen nahm er in diesen Tagen auf, zahllose Anwei sungen gab er hinaus. Das Naturereignis verlief nach seinen eigenen Gesetzen – was aber ein Mensch tun konnte, um Millionen vor der Vernichtung durch das Naturereignis zu bewahren, das tat Sun Koh. Und was geschehen konnte, um an die Schrecken des unver meidlichen Ereignisses die Anfänge einer hoffnungs vollen Zukunft zu knüpfen, das tat er ebenfalls. 157
Am sechsten Tag war das große Geschehen vor über. Was nun noch kam, konnte am Gesamtbild nicht mehr viel verändern. An diesem sechsten Tag saß Sun Koh mit seinem Getreuesten, mit Hal Mervin, zusammen in der klei nen Kabine, die er in diesen Tagen kaum verlassen hatte. Sie blickten auf die große Karte, die über und über mit Zeichen und Fähnchen, Strichen und Punk ten übersät war. Auf die gleiche Karte blickten zur gleichen Stunde einige hundert Männer in den Staa ten rings um den Atlantik. Diese Männer sahen und hörten Sun Koh und Hal Mervin, denn der Raum war auf Sicht und Wort geschaltet worden. Sun Koh hielt mit seinen Getreuen in allen Län dern eine Sitzung ab. Er gab allen zugleich einen Überblick über die Gesamtlage. »Somit sind unsere Vermutungen ziemlich weit gehend durch den Ablauf der Ereignisse bestätigt worden«, sagte er nach einleitenden Worten. »Zwi schen zweiunddreißig Grad und fünfzig Grad Nord sowie zwischen dreiundzwanzig Grad und achtund dreißig Grad West sind zusammenhängende Land massen aufgestiegen. Die Höhe über dem Meeres spiegel wird durchschnittlich fünfzig bis hundert Me ter betragen. Von Nord nach Süd zieht sich ein Ge birgsrücken mit Höchsterhebungen bis zu zwei tausend Meter, auf ihn stößt fast rechtwinklig ein Gebirgszug mit Gipfeln von rund fünftausend Meter, 158
nämlich die ehemaligen Azoren. Die Küstengebiete des neuen Landes schneiden tiefe Buchten ein. Im allgemeinen kann man die Landmassen als ge schlossen bezeichnen. Vulkanische Tätigkeit wird auf ihnen nirgends mehr beobachtet. Der freie Felsen überwiegt bei weitem, jedoch wurden Schlick- und Sandstriche beobachtet, ferner einige größere Seen. Ein wesentliches Hindernis für uns, diesem jungen Land unseren Stempel aufzudrücken, sein Gesicht nach unserem Willen zu formen, wurde nicht ganz festgestellt.« Er legte eine kurze Pause ein und fuhr dann fort: »Auf drei Seiten steigt das Land ziemlich steil aus dem Meer auf. Es ist zu erwarten, daß die angren zenden Meeresgebiete beträchtliche Tiefen aufwei sen. Eine Ausnahme macht der Norden. Dort hat sich erwartungsgemäß kein Abbruch von der Bo denschwelle vollzogen. Die nördlichen Gebiete sind wesentlich gehoben worden, so daß hier das Land erst über ein Wattenmeer allmählich absinkt. Die größte Meerestiefe nach Europa hin dürfte nicht mehr als tausend Meter betragen. Das wird für die zukünftigen klimatischen Verhältnisse Europas von hoher Bedeutung sein, da der Golfstrom sich damit stärker auswirken wird. Der Golfstrom wird mit sei ner südlichen Hälfte unmittelbar gegen die Westkü ste des neuen Landes stoßen, mit seiner nördlichen gepreßter und dichter als bisher an der Nordküste 159
entlang seinen ursprünglichen Weg nehmen. Er si chert für die Nordgebiete des neuen Landes ein ver hältnismäßig mildes Klima. Für Europa dürfte mit einer Erwärmung zu rechnen sein, weil das neue Land den Strom schärfer zusammenhält. Für die süd europäischen Länder, vor allem für Frankreich, ist jedoch mit einer Temperaturminderung zu rechnen, weil sie zukünftig nicht mehr vom Golfstrom getrof fen werden. Doch das ist weniger wichtig.« Er hob die Stimme. »Wichtiger sind die landschaftlichen Veränderun gen in Europa und Afrika. Die Gebirgsmassive der Alpen, Spaniens und des nordafrikanischen Atlas sind im wesentlichen der Angelpunkt gewesen. Die Gebiete nördlich davon haben sich gehoben, die Ge biete südlich sind gesunken. Erwähnenswert scheint vor allem, daß die Nordsee fast völlig trockengelegt wurde, während die Ostsee auf einen bescheidenen Binnensee zusammenschrumpfte. Das bedeutet für die europäischen Länder einen Zuwachs an Land und Siedlungsgebiet, der für die wirtschaftliche, politi sche und kulturelle Entwicklung der europäischen Völker von ungeheurem Wert sein wird und sie aus der Enge ihres Raums für lange Zeit befreit. Die Senkung hat vor allem die westliche Sahara ge troffen. Der größte Teil der Westsahara ist zum Meer geworden. Das Wasser reicht bis an die Gebirgsmas sive des Hoggar heran. 160
Die ganze Wüste wird dank dieser Veränderung in Jahrzehnten zu fruchtbarem Land werden.« Die Augen gingen nun zur entgegengesetzten Küste. »Amerika ist trotz aller rechtzeitigen Warnungen an seiner dichtbesiedelten Ostküste hart getroffen worden. Die Pressungen, die erst im Felsengebirge ihr Widerlager fanden, haben zwar überraschen derweise zu wenigen Veränderungen geführt, im merhin aber sind die schmalen Küstenstreifen bis zu des Alleghenies überflutet worden. New York steht bis zum zehnten Stockwerk unter Wasser, die ande ren Städte wurde entsprechend betroffen. Mittel- und Südamerika haben allem Anschein nach eine leichte Hebung erfahren. Wir hoffen, daß sie genügt, um die großen Stromgebiete des Orinoko und des Amazonas so weit zu entwässern, daß diese Riesengebiete zu künftig für die Besiedlung in Anspruch genommen werden können. Insgesamt hat die Naturkatastrophe also außerordentlich günstige Aussichten eröffnet. Sie hat Opfer gekostet, besonders an Sachwerten, aber sie bietet für die Zukunft Gegenwerte, die alle Opfer turmhoch überragen.« Sun Koh legte wieder eine Pause ein, dann begann er über Einzelheiten zu sprechen und zugleich An weisungen an seine fernen Hörer zu geben, die be reits zukünftige Arbeit betrafen. Erst nach vier Stunden schaltete er ab. Nun senkte sich das Flugzeug aus seiner Höhe 161
herunter, durch die dünnen, leichten Wolkenschleier hindurch auf die neue Erde nieder. Auf dem Monitor tauchte eine weite Felslandschaft auf, ein leicht an steigendes Hügelland und ein kleiner, stiller See. Das Land war nackt und kahl, bar jeden Lebens, aber die Sonne lag bereits auf ihm, so daß es nicht mehr dü ster und erschreckend wirkte. Sun Koh atmete tief auf. »Unser Land, Hal. Wenn erst einmal unsere Bo denbakterien ein Jahr lang auf diesen Felsen gewirkt haben, dann wird sich um diesen See herum ein fruchtbarer Landstrich dehnen. Und nach einigen Jahren werden hier Kornfelder wogen und Wälder aufwachsen und Häuser stehen und Menschen und Kinder herumlaufen. Komm, wir wollen Miß Joan holen.« Minuten später lag der graue Leib des Luftschiffes unbeweglich über der meerentstiegenen Erde. Ein leichter Wind glitt zärtlich weich an seiner Hülle ent lang. An der Unterseite öffneten sich Luken, leichte Metalltreppen glitten nach unten, setzten auf und ver banden das Luftschiff mit der Erde. Die Männer des Luftschiffs standen in straffer Ordnung an den Luken. An der einen Luke stand Sun Koh mit Joan Marti ni, Hal Mervin und dem Führer des Luftschiffs. Es war nichts für diesen Augenblick der ersten Landung vorbereitet worden, aber es schien allen selbst verständlich, daß niemand das Schiff verließ, bevor 162
nicht Sun Koh als erster den Boden betreten hatte. Sun Koh stieg also als erster die Treppe hinunter. Als seine Füße die neugeborene Erde berührten, blickte er nach oben und lächelte. Da folgte Joan Martini. Sun Koh nahm sie bei beiden Händen und sagte ernst: »Du bist die erste Frau, die diesen Boden be tritt, Joan. Möge unser Geschlecht diesen Felsen fruchtbar machen und zu einem glücklichen Land gestalten – möge dieses Land unser Geschlecht über die Jahrtausende hinweg glücklich und stark werden lassen. Die Frau und die Erde – ihr beide seid gleich mütterlich und tragt die Zukunft in euch!« Sie löste ihre Hände und legte sie auf seine Schul tern. »Du warst der erste Mann, der dieses neue Land betrat. Ich wünsche uns in dieser Stunde, daß dieses Land und seine Frauen für alle Ewigkeit solche Männer zeugen mögen, wie du und deine Kameraden es sind.« Er zog sie an sich und küßte sie. »Ich danke dir, Joan.« Dann blickte er wieder hoch. Sofort kam Hal Mer vin in Sätzen herunter. Dank seiner Aufregung ver paßte er die letzte Stufe und landete gleich auf allen vieren auf dem neuen Land. Im Nu war er wieder oben und reckte triumphie rend die Arme. 163
»Das ist fester Boden«, schrie er, »meine Nase hat’s gespürt. Herzlichen Glückwunsch, Sir!« Sie schüttelten sich lachend die Hände. Der schlaue Hal hatte es wieder einmal verstanden, die Stunde um die feierliche Spannung zu betrügen. Der Sturz war nicht ganz zufällig. Der Befehlshaber be wegte nämlich allerlei Pläne in seinem Busen, die Hal durchaus mißbilligte. Er beeilte sich denn auch, eifrig nach oben zu winken und hinaufzurufen: »Al les in Ordnung, hier braucht niemand mehr Bange zu haben. Herunter mit euch auf die grüne Wiese! Jeder einmal in…« Er brach ab und wandte sich zwinkernd an Sun Koh. »Du lieber Himmel, wo denn? Vorläufig hat ja un ser Ländchen noch gar keinen Namen!« »Wir werden es gleich taufen«, lächelte Sun Koh. »Laß die Besatzung erst herunterkommen.« Der Befehlshaber des Luftschiffes war schon zur Stelle. Er sparte sich die Rede, die ihm vorgeschwebt hatte, nicht ungern und begnügte sich mit herzlichen Worten. Inzwischen füllte sich der Platz ringsum. Die Männer des Luftschiffs gaben sich mit ernsten oder heiteren Gesichtern dem Genuß der ersten Schritte auf ihrer neuen Heimat hin. Ein Zeichen Sun Kohs versammelte sie zu einem dichten Haufen. »Kameraden«, rief Sun Koh laut über sie hin, »wir 164
stehen nun als erste Gruppe der zukünftigen Be wohner dieses Erdteils auf dem neuen Boden. Dieses Land gehört uns und denen, die nach uns kommen. Es soll von nun an unsere Heimat werden, eine wirk liche Heimat für ein starkes Volk. Das neue Land soll den Namen tragen, der ihm aus seiner Ge schichte und Entstehung heraus zukommt. Es soll ›Atlantis‹ heißen!« Die Augen der Männer leuchteten ihm zu, die Lip pen murmelten den Namen der Zukunft: »Atlantis!« Damit endete die Geschichte einer phantastischen Hoffnung. Die Geschichte eines neuen Erdteils begann. ENDE
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Liebe Leser! Dies ist der letzte Band der Serie
SUN KOH die nun mit Band 37 komplett vorliegt. Fehlende Bände können Sie noch bei dem Buchversand Rastatt, Abteilung Kundenservice, 7550 Rastatt, Post fach 1760 bestellen. Als Alternative möchten wir Ihnen eine Serie vor stellen, die ebenso spannend und unterhaltsam ist:
MYTHOR MYTHOR ist die größte Fantasy-Heftserie, die je geschrieben wurde: spannende Romane, in denen Unglaubliches und Phantastisches wahr wird. MYTHOR, der Sohn des Kometen, verkörpert in unvergleichlicher Weise die Kräfte des Lichts. Aus gerüstet mit dem Gläsernen Schwert Alton und dem Helm der Gerechten, beginnt er den Kampf gegen die Angreifer aus der Schattenwelt. Sie werden diese Bände mit gleich großer Begeiste rung lesen!
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