Band 12
SAMURAI VON DEN STERNEN von Hanns Kneifel
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Band 12
SAMURAI VON DEN STERNEN von Hanns Kneifel
Alle Rechte vorbehalten © 1998 by VPM Verlagsunion Pabel Moewig KG, Rastatt Redaktion: Klaus N. Frick Titelillustration: Rüdiger W. Wick Druck und Bindung: Ebner, Ulm Printed in Germany 1998 ISBN 3-8118-1511-3
Nach wie vor liegt der Arkonide Atlan auf dem Planeten Gäa in einer Klinik, doch seine nahezu tödlichen Verletzungen sind so gut wie ausgeheilt. Auf dem langen Weg zurück ins Leben gibt sein Extrahirn immer wieder Erinnerungen preis, die seit Jahrtausenden verborgen waren. Es sind Erinnerungen an die rund 10.000 Jahre, die der relativ Unsterbliche auf der barbarischen Erde verbringen musste. So war Atlan, dank eines Zellaktivators relativ unsterblich, nicht nur im Japan der beginnenden Neuzeit aktiv und wirkte zur Zeit des französischen »Sonnenkönigs«. Der Arkonide wurde auch an jenen Stellen der irdischen Geschichte tätig, an denen er den in immer neuen Masken auftauchenden Nahith Nonfarmale vermutete – bei diesem handelt es sich um einen mysteriösen Außerirdischen, der offensichtlich Gefallen an den Kriegen und Auseinandersetzungen der Menschen findet… Ein Roman zwischen Science Fiction und historischem Abenteuer!
Vorwort Die Erzählungen des Arkoniden Atlan, dessen Überleben in der Intensivstation des Planetaren Krankenhauses auf Gäa, im Neuen Einsteinschen Imperium der Provcon-Faust-Dunkelwolke, nunmehr endgültig gesichert zu sein scheint, sprechen von Geschehnissen in den Jahren von siebzehnhundert bis zum Ende des achtzehnten Jahrhunderts unserer Geschichte. Fast unmerklich scheint die Zeit, in der Atlan (mit der Hilfe von ES, dem Gönner der Menschheit) seine Rolle als Paladin der Barbarenwelt Larsaf III verinnerlicht hatte, dem Ende entgegenzugehen. Aber ändern sich die Zeiten wirklich? Der Chronist kann für dieses Kapitel der ANNALEN die Mehrzahl von Atlans Zeitabenteuern folgenden Selbstzeugnissen entnehmen: dem Taschenbuch 104: Samurai von den Sternen, veröffentlicht im Jahr 1972; dem Taschenbuch 313: Atlan und die Selbstmörder aus dem Jahr 1989 sowie den Taschenbüchern 108: Der Arkonide und der Sonnenkönig aus dem Jahr 1972, Nummer 317: Der Bruder des Roboters, veröffentlicht im Jahr 1989; dazu, neben vielen kurzen und längeren verbindenden und erklärenden Texten, die gestraffte, bearbeitete Version einer Story aus dem Perry Rhodan-Taschenbuch 175: Unternehmen Psi, von Johannes Fiebag, Die PsiFalle von 1978, sowie aus den Taschenbüchern 321: Die Königsmörder aus dem Jahr 1989 und einigen Seiten von Nummer 325: Das Buch der Kriege von 1990. Wir, die Freunde des weißhaarigen Arkoniden und Leser oder Chronisten seiner einzigartigen Zeitabenteuer, wissen, wie eng das kosmische MegaWesen ES und der Einsame der Zeit, Atlan, mit dem terranischen und galaktischen Kosmos der Perry Rhodan-Saga verbunden sind: Bis der Arkonide und Perry Rhodan, der Erbe des Universums, im Jahr 2040 aufeinander treffen, geschieht viel Aufregendes, Seltsames und scheinbar schwer Verständliches – auch jenseits der direkten Kommunikation mit dem Hüter der Menschheit hilft ES den Bewohnern des Planeten Erde/Larsaf III, zwischen denen unbemerkt oder auffällig Angehörige eines Sternenvolkes zu überleben versuchen, deren Motivation und Ziel in ferner Zukunft liegen. Ferne Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sind, ohne dass es Atlan bewusst wurde, in einem bizarren Netzwerk miteinander verknotet. Atlan, abgeschnitten von den Nachrichten der drei
Arkonwelten, ist nicht in der Lage, die Vorkommnisse richtig zu deuten; sein Chronist auf Gäa, viele Jahrhunderte später, versteht die Zusammenhänge auch nur, weil er viele Sekundärinformationen in seine Analysen einbeziehen kann. Erst spät und noch nicht völlig im 12. sondern erst im letzten, 13. Kapitel der ANNALEN DER MENSCHHEIT erschließt sich uns Zeitabenteuer-Lesern der Zusammenhang zwischen vielen einzelnen Vorgängen während Atlans Erlebnissen
und dem großen Rahmen des Konzeptes, in das ES die Menschheit einbezogen hat. Die Fülle und Dichte von Querverweisen, Zusatzinformationen, zeitlichen Einordnungen und Korrekturen früherer, von Atlan gemachter Ausführungen – die zugleich Hinweise darauf sind, dass sich die Handlung des Rhodan-Universums zunächst vage mit den Erlebnissen des Zeitabenteurers Atlan zu verbinden beginnt – überfordert bisweilen nicht nur Professor Cyr Aescunnar, sondern auch den zeitgenössischen Chronisten: Sein tiefer Dank für präzisierende Unterstützung richtet sich an Rainer Castor für Recherchen-Kontrolle und Beratung, Klaus N. Frick für jede Art selbstloser Lektoratsunterstützung und Heiko Langhans für das Ausrichten eines neuen, faszinierenden Blickwinkels. Hanns Kneifel
Prolog Während Cyr Aescunnar gähnend darüber nachdachte, aus welchen Quellen er Informationen über Fartuloon den Bauchaufschneider und über einen Gegenstand namens Omirgos-Kristall schöpfen könnte, richtete er den Blick seiner geröteten Augen auf die Ziffern der Zeitangabe; Atlans erste Worte hatten ihn am 31. Januar 3562 um 00.54 Uhr aus dem Schlaf gerissen. Auf einem Monitor, den er auszuschalten vergessen hatte, rotierte langsam ein Modell der ESWelt Wanderer; aus zahllosen Computerbildern wurde eine Halbkugel zusammengesetzt und um zahlreiche Details bereichert, deren äquatorialer Schnitt das perfekte Abbild einer Scheibenwelt war. Babylonier, die Griechen des klassischen Altertums, selbst noch viele Gelehrte des Römischen Weltreiches und Wissenschaftler des europäischen Mittelalters waren von diesem Weltbild überzeugt gewesen: Ein gletscherhafter Eiswall umgab den Weltkreis, in dessen Lücken sich die Ozeane wie Katarakte stürzten, waghalsige Schiffer mit sich reißend, über den Rand der Kreisebene ins Unendliche. Die Brandung entlang der äußersten Grenzen des zerklüfteten Landes markierte den Ur-Ozean, den Okeanos, und Mittelmeer und Pontos Euxeinos, das Schwarze Meer, lagen im Mittelpunkt der Scheibe. Die Umrisse der Kontinente und Inseln waren denen der Erde nicht unähnlich, wenn Cyr mit einiger Phantasie die Gliederung und die Positionen der scheinbaren Pole entzerrte. Aus der Küche ertönte das Signal der robotischen Mokkamaschine. Cyr stemmte sich aus dem Sessel hoch, aktivierte einige Aufzeichnungsgeräte und brummte: »Hat sich etwa ES von Atlan und der Menschheit verabschiedet? Schon so früh vor dem nächsten, überzeugenden Zusammentreffen?« Der Chefhistoriker der Chmorl-Universität tappte vorbei am Lesepult und entlang überfüllter Wandregale zur Küche. »Kaum zu glauben. Ich sollte mir die Scheibe der halben Welt als Szenerie unzählbar vieler irdischer Projektionen vorstellen, als Bühne für Versuchsanordnungen,
möglicherweise als Modell für die Vorstellungen der frühen Barbaren…?« Starco/Riv-Lenks epochale Chronik lag aufgeschlagen auf dem Pult: AUFSTIEG UND NIEDERGANG DES ARKONIDISCHEN IMPERIUMS. Im Vorbeigehen zupfte Cyr an einem Lesezeichen und sagte sich, dass in dieser bibliophilen Kostbarkeit, die 2114 n.Chr. aus dem Arkonidischen übersetzt worden war, einige jener Informationen zu finden waren, die er suchte. Er füllte einen großen Becher mit dem heißen Mokka, tat Zucker und Sahne hinein und sah, während er sich vor seine Arbeitsplatte setzte, Atlan zu; die holografische Projektion aus der keimfreien Zone der Intensivstation beherrschte seit Monaten die Wand über seinem Arbeitsbereich. Der Arkonide hatte vor einer Stunde seine
schweißtreibenden und isometrischen Übungen in den Kraftmaschinen beendet, hatte sich selbständig geduscht und leichte Kleidung angelegt – Cyr wusste, dass der innerste Hof der Klinik, der von einer Energiekuppel geschützt war, ausschließlich für Atlan vorbereitet wurde. Jetzt streckte sich Atlan in einem Massagesessel aus, dessen Kopfteil sich senkte, worauf der Arm der modifizierten SERT-Haube lautlos herumschwenkte und arretierte. Atlan hob die Hand und winkte zu den Linsen und Mikrophonen hinüber. Um seinen Unterarm lag, statt vieler Elektroden und Schlauchenden, ein Diagnoseband. Lautlos glitt die SERT-Haube herunter, schob sich goldglänzend über Kopf und Schultern des kurzhaarigen Arkoniden. Atlan schlug die Beine übereinander, holte tief Luft und sagte, losgelöst vom Zwang kaum unterbrochener Selbstschilderungen: »Selbstverständlich hat der Chronist recht, wenn er denkt, dass ich nicht immer zeitgleich mit angesehen, mitgehört und mitgedacht habe, wenn ich Vorgänge nicht in der ersten Person Singular schildere; Ricos Spionsonden und andere Beobachtungsgeräte waren ebenso tüchtig und gründlich wie der Robot mit den vielen Masken, wenn er für mich überraschend komplette Zusammenfassungen und wahrheitsgetreue Analysen schuf.« Schweigend nickte Cyr Aescunnar und schaltete den Rest seiner Geräte ein; zu keinem Zeitpunkt hatte er eine andere Möglichkeit in Betracht gezogen. Auf der Printplatte erschienen Buchstaben und gliederten sich zu Wörtern: Atlan begann zu berichten. Der einsame Mann, der seit einiger Zeit beobachtete, wie sich die Wellen vor ihm am Strand brachen und überschlugen, saß in der Höhlung eines Steines. Jahrtausende wechselnder Gezeiten hatten diesen Stein gerundet und jene Höhlung in ihn hinein geschliffen. Die Sonne brannte auf den Sand des Strandes, der sich hinter einem Felsen in einem Halbmond verlor und perspektivisch zum Wasser, zum Horizont und in den blauen Himmel überging. Sie beleuchtete auch die schwarzen Felsen, die hervorstachen, als wären sie Finger, die ein Riese von unten her durch den weißen Sand gebohrt hatte.
Der Mann regte sich nicht; er betrachtete nachdenklich das Spiel der Wellen. »Hier bin ich also«, murmelte er nach einer Zeit, die einem Beobachter lange vorgekommen sein mochte, für ihn aber höchst untergeordnete Bedeutung hatte. War für den großen, weißen Vogel dort Zeit ein relevanter Begriff? überlegte der Fremde und zuckte mit den Schultern. Er stand am Anfang einer gewaltigen Aufgabe, so groß, dass er an ihr zerbrechen konnte. Doch er durfte nicht zerbrechen, denn er war der einzige, der sein Volk retten konnte. Name: Nectrion Munenaga. Größe: mehr als fünfeinhalb Fuß. Heimat: Planet Drocer
Usnea – siebzigtausendmal so weit entfernt, wie das Licht in einem Jahr dieser merkwürdigen Welt hier zurücklegte. Auftrag: Er musste den Kampf und das Töten lernen. Nectrion Munenaga stand auf, warf den leuchtenden Umhang ab, streifte die Stiefel von den Füßen und stieg aus der Hose. Seine Haut war bräunlich; ein anderes Braun als das, das von langem Aufenthalt in der heißen Sonne herrührte. Einem Beobachter wäre die ausgeprägte Muskulatur aufgefallen. Nectrion war zweifellos sehr stark. Als er sich bewegte, konnte man erkennen, dass er dies in einer Art unbewusster Harmonie tat. Keine Bewegung war überflüssig, aber seinen Bewegungen haftete dennoch nichts Unnatürliches, nichts Abgehacktes an. Er lief in einem kurzen Anlauf auf das Wasser zu und hechtete, als er bis zum Nabel im Wasser war, nach vorn. Er schwamm auf den Felsen zu, der sich in dreihundert Metern Entfernung aus dem Wasser erhob. Schließlich warf er sich herum. Seine Hände griffen nach dem scharfkantigen Felsen, und er ließ sich von einer Brandungswelle hochtragen und sprang auf eine natürliche Plattform. Er lehnte sich voll gegen den nassen, warmen Felsen und betrachtete nachdenklich die Uferlinie. Von hier aus überblickte er rund fünftausend Schritte vom Norden der Insel. Vor rund vierundzwanzig Stunden dieses grünen, goldenen Planeten war er hier gelandet. Sein Raumschiff hatte sich eine Stunde nach dem Aufsetzen verändert und die Mimikry-Färbung angenommen, desgleichen die Struktur seiner Außenhülle verändert. Mitten zwischen den Felsen stand nun ein schlanker, unregelmäßig aussehender Spitzkegel, einfach mit einem Felsen zu verwechseln. Sogar die Akustik spielte bei dieser Tarnung mit: Wenn man gegen den Rumpf schlug, klang es nach massivem Fels, nicht nach Metall. Nectrion holte tief Atem und sprang ins Wasser, schwamm schnell an den Strand, lief lange nordwärts und zurück; als er neben seinen Kleidungsstücken anhielt, atmete er nur ein wenig schneller und flacher. Sein Körper war trocken – die Bewegungen und die Anstrengung taten wohl nach der lange eingeengten Bewegungsfreiheit auf dem Flug von Drocer hierher.
Nectrion murmelte: »Dort beugt sich ein Mann – beglückt über eine zitternde Blume.« Er betonte auf seltsame Art. »Was aber will er denn mit dem großen Schwert? Von Mukai Kyorei. Also ein Mijikauta, ein Kurzgedicht. Sie nennen es auch Uta oder Tanka. Und wenn die erste Zeile fünf, die zweite sieben und die letzte wieder fünf Silben hat, ist es in der neuen Form ein Hokku.« Er dachte nach, betrachtete die Möwe und murmelte: »Und Haikai heißt es, wenn der Inhalt scherzhaft sein soll.« Ebenso wie die Kenntnis der Tsuba – Stichblätter der Samuraischwerter
mit einem oder drei Schlitzen für Klingen und deren Befestigungen – war auch das richtige Zitieren der Hokkus wichtig. »Siebenhundert oder eintausend Tage Lernen… das wird ein hartes Stück Arbeit, Raumfahrer!« Er ging, die Stiefel in der linken Hand, zum getarnten Schiff und sah, wie sich der weiße Vogel mit angelegten Schwingen ins Wasser stürzte und mit einem zappelnden Fisch daraus hervorkam. Der Fisch glänzte silbern, wenn Sonnenstrahlen darauf fielen. »Die Ausrüstung!« sagte der Fremde. Er hatte in den vergangenen Wochen, während er im geostationären Orbit über der Insel geblieben war, die Sprache gelernt. Er sprach und schrieb dieses Idiom mit bemerkenswerter Sicherheit; sein Leben war einer Funktion untergeordnet: dem Lernen, Begreifen, Überleben. Auch sein Körper war modifiziert worden. Selbst die schrägen Lider seiner dunklen Augen waren das Ergebnis einer entscheidenden Operation. Während Nectrion seine linke Hand gegen ein flaches Stück »Felsen« legte und wartete, sah er, wie der Vogel den Fisch fallen ließ und suchend näher kam. Dann hatte die Apparatur die Wärme des Handtellers und die Kennlinien identifiziert. Automatisch öffnete sich ein ovales Stück verwitterten, tangbewachsenen Felsens und klappte nach außen. Eine Leiter mit wenigen Sprossen schob sich nach unten und hielt inne, als sie den Sand erreichte. Der Vogel kippte über den Flügel weg und raste dicht über das Wasser dahin. Dabei furchte der Schnabel die Wasserfläche in langen, tiefen Rillen. Die Vergänglichkeit dieser Linien erinnerte Nectrion an seinen Auftrag und die Milliarde Risiken, die er einging. Sein Auftrag: Er musste lernen, wie sein Sternenvolk überleben konnte. Seine Masken: Es gab drei Alternativen. Alle waren schwierig für den Träger der Masken, und zwei davon waren für ihn fast tödlich. Nectrions Ziel: Alles, was er erfuhr, würde an die Computer seines Schiffes weitergegeben werden müssen. Sie wandelten es in Funkimpulse um und jagten diese nach Drocer Usnea. »Mein Weg führt nach Süden!« sagte Nectrion, als er im Inneren des Schiffes verschwand. Munenaga, ein relativ junger Mann, wirkte
wie ein etwa fünfunddreißigjähriger Einwohner der lang gestreckten Insel im Westen des größten Kontinents dieses Planeten; einer der wenigen Männer seines Volkes, die nicht der totalen Degeneration anheim gefallen waren. Jedermann, der über die existentiellen Probleme Usneas nachdachte, erkannte genau: Die Degeneration war keine Folge von Mutationen, sondern eine Reihe von Modifikationen, die sich rückgängig machen ließen. Der Beweis wurde angetreten, als man in einem Langzeitprogramm dreißig Knaben aussuchte, die nach dem Ermessen der Wissenschaftler alle Voraussetzungen
mitbrachten, der großen Aufgabe würdig zu werden und bei dem Versuch nicht zu sterben. Diese dreißig Jungen wurden darauf trainiert, fremde Planeten aufzusuchen und zu lernen, wie ein Volk sich binnen relativ kurzer Zeit aus tiefster Erniedrigung erheben konnte. Fünf Knaben versagten während des erbarmungslosen Trainings und schieden aus. Einer davon brachte sich aus Scham über sein Versagen um – was planetenweite Aufregung hervorrief, denn seit geschichtlicher Zeit hatte es dies nicht gegeben: dass ein Planetarier von Usnea Hand an sich legte. »Und fünfundzwanzig blieben übrig«, sagte Nectrion, während er aus den Staufächern die Teile seiner Ausrüstung hervorsuchte, sie methodisch überprüfte und zur Seite legte. Eines war schon jetzt sicher. Nectrion setzte sich in das Kunstleder des Pilotensitzes und sagte laut, nur um den Klang seiner Stimme zu hören: »Ich habe viele technische Hilfsmittel, aber ich werde die wenigsten davon benutzen.« Warum? Er gab sich die Antwort: »Dieser Planet ist menschenleer – darunter verstehe ich, dass es außer mir kein wirklich intelligentes Wesen gibt. Die Naturvölker haben viele Fähigkeiten, aber niemand von ihnen kann einen Stern von einem Planeten unterscheiden. Und deshalb werde ich darauf verzichten, künstliche mechanische Helfer mitzunehmen. Nur das, was ich selbst erfassen kann, zählt.« Abgesehen davon, dass solche Roboter störungsanfällig waren und ihn verraten konnten – denn in dieser erstarrten, formalistischen Kultur war fast alles, was sich nicht dem Gesetz des Konformismus unterwarf, verdächtig und störend, lebensgefährlich und fremd. Er sah aus wie ein Eingeborener, sprach und schrieb wie ein solcher; aber er dachte noch immer wie ein Mann von den Sternen. Wenn die Zeit, in der er alles lernen und weitergeben musste, vorbei war, würde er denken und handeln wie ein Eingeborener. Entweder er lernte es, oder er starb vor der Beendigung seiner Aufgabe. »Das wird eine verdammt harte Sache«, sagte er halblaut und schnürte seine Habseligkeiten zusammen. Die Gegenstände waren von den Maschinen des Raumschiffes gebaut worden; identisch mit jenen, die hier benutzt wurden, aber ungleich widerstandsfähiger
und besser. Mimikry war für ihn das halbe Leben. Oder das ganze, wenn er es recht bedachte. Er suchte seine Kleidung zusammen und schob die nachgeahmten, dennoch echten Münzen in die Verstecke. Teile des Landes, das er durchwandern würde, waren noch immer unsicher, trotz der Verwaltung des Tokugawa-Shogunats. Einige Gegenstände, die er noch brauchen würde, konnte er im Schiff nicht herstellen. Er musste sie erwerben, herstellen lassen oder sich schenken lassen. Aber auf einen Gegenstand war er besonders stolz – er zeigte, dass
die Jahre des Trainings nicht umsonst gewesen waren und dass er, Nectrion, geschickt war: die Ahnenrolle. Er betrachtete sie mit dem zurückhaltenden, fragenden Lächeln, das für ihn charakteristisch war. Eine Rolle, auf der untereinander alle seine Ahnen und Vorfahren standen. Diese Rolle führte jeder Krieger dieses Volkes mit sich, der sich »Samurai« nannte. Die Rolle war, wenn er die Kontaktplatte zum letzten Mal schloss, der einzige Schlüssel, um ins Schiff hineinzukommen, gleichzeitig wichtiger Baustein der Funkverbindung, durch die sich ein Strom Informationen in die Computer ergießen sollte. Schließlich, als drei Bündel im Sand lagen und dieser Vogel zusammen mit einem Artgenossen noch immer Fische mit silbern glitzernden Bäuchen jagte, verließ Nectrion Munenaga das Schiff. Die Leiter zog sich nach innen. Nur ein einziges Energieaggregat würde laufen und die Computer sowie die Hypersendeanlage in Betrieb halten. Dann schloss sich langsam die Luke und dichtete das Schiff ab. Auch eine Flutwelle würde diesen Felsen nicht umwerfen oder zerstören können. Nectrion vergewisserte sich, dass der Schlüssel, die Ahnenrolle also, in seinem Stoffgürtel steckte, und drehte die Kontaktplatte um hundertachtzig Grad. Sie rastete mit einem hörbaren Klicken ein und ließ sich nicht mehr bewegen. Die Rückreise war ihm nur gesichert, solange er lebte – andernfalls war sie barer Unsinn. Starb er, löste sich der Schlüssel in Glut und Feuer auf: Der Datenstrom riss ab. Das war die Situation, als Nectrion seinen langen Weg nach Süden antrat. »Mindestens siebenhundert und maximal eintausend Tage muss ich überleben«, sagte er im Rhythmus seiner Schritte. Er ging entlang des Strandes und kam gut voran. »Und Überleben bedeutet, dass ich lernen und kämpfen werde. Nichts anderes.« Er hatte nach einer zermürbenden Suche diesen barbarischen Planeten gefunden, auf dem Schnellsegler und Reiter, von Rauchschwalben abgesehen, die schnellsten Dinge waren. Nach einer ebenso aufreibenden Suche hatte er sich für ein umrissenes Gebiet entschieden. Eine Insel war ideal, weil Störungen und Verbindungen gering sein würden; auch war die Wahrscheinlichkeit
groß, dass innerhalb des Gebietes dieser Insel ein Kulturkreis mit einer einzigen Sprache und mit einheitlicher Schrift herrschte. Er durfte sich seine Aufgabe nicht noch zusätzlich erschweren. »Es gibt viele Vögel hier«, sagte er sich. »Und einige davon sind besonders neugierig.« Er hatte alles, was er brauchte. Seine Einschränkung auf ein Mindestmaß überlegener Mikrotechnik war bewusst getroffen worden. Er besaß einen hervorragend trainierten Körper, einen schnell reagierenden, vorurteilslosen Verstand, ausgeglichene Ruhe der Gedanken und
blitzschnelle Reflexe. Er hatte genügend Geld bei sich, um ein Fürstentum kaufen zu können; jetzt lag es nur an ihm, was er daraus machte. Er rechnete offen damit, dass alle anderen versagten und dass dadurch seinen Informationen lebenswichtige Bedeutung zukam. Drocer Usnea wartete darauf, dass er etwas sah, lernte, erlebte und kommentierte. Einige Millionen degenerierter Artgenossen auf der Oberfläche eines leeren Planeten. Sein Auftrag: Er musste sie retten. Seine Überlegung: Niemand und nichts durfte ihn davon abhalten. Und wenn er zum tausendfachen Mörder würde – seine Mission musste erfüllt werden. Als er nach zwei Tagen Marsch die Felder und, weiter hügelanwärts, die Terrassen der Reiskulturen sah, wusste er, dass er einen Schritt vorwärts gekommen war. Er traf eine Frau am Brunnen, einen Knaben, der Zugochsen weidete; er traf einen schmächtigen Bauern und ließ sich als Knecht einstellen und lernte, wie ein Volk auf kleinstem Raum geradezu ungeheuerliche Ernten hervorbrachte, lernte, dass der Anblick eines Schmetterlings mit zitternden Flügeln ein Mittagessen ersetzen konnte. Er lernte auch, dass man hart arbeiten musste, um satt werden zu können. Er begriff, nachdem er vier Tage lang schwer gearbeitet hatte, warum man beim Betrachten einer Blume das Schwert abzulegen hatte. Das Schwert war es, das die Ordnung der Dinge empfindlich störte. Und: Es gab viele neugierige Vögel auf dieser Insel.
1. Aus: Dr. Ayala D’Antonelli: Zahlen, Ziele und Zeugnisse – aus der Arbeit des Historischen Korps der USO; Sonderdruck, Pounder City, Mars/Sol, Herbst/Winter 2425 Abgesehen von zufälligen Begegnungen während interstellarer Kongresse traf ich Lordadmiral Atlan zum zweiten Mal in einer warmen Frühlingsnacht, wieder in Terrania City, nahe dem Kybernetischen Turm in Atlan Village. Schlagartig wurden intensive Erinnerungen wach. Atlan betrachtete schweigend japanische Ausstellungsstücke in einer Reihe von Vitrinen; Plastiken, Bilder, Waffen und Gegenstände der Teezeremonie. Ich saß nichts ahnend da, las in einem Modemagazin; der Arkonide kam auf mich zu und lächelte. Einst hatte er mich »Katya« genannt, in jener Phase, in der er von seinem Verstand gezwungen wurde, seine Erinnerungen preiszugeben. »Sollten wir es schaffen«, sagte er und setzte sich, »zwischen damals und heute eine Brücke zu schlagen?« »Damals« bedeutete eine lange Erzählung aus der Steinzeit: Atlans Erinnerungen als Bruder stählerner Wölfe. Atlan bestellte Getränke und sagte: »Zurück, Doktor D’Antonelli, von irgendwelchen Grabungen auf irgendwelchen Planeten?« »Ich leitete eine große Gruppe und förderte eine Menge Funde zutage.« Ich hob mein Glas. »Du scheinst unruhig zu sein, Atlan. Darf ich den Grund erfahren?« »Ich hab’ die uralten japanischen Exponate zu lange angesehen. Ich nähere mich dem Punkt, sagt der Extrasinn, an dem ich wieder gezwungen werde, mich zu erinnern. Noch kann ich gegen die Erinnerung ankämpfen.« Ich sah mich um. Das kleine Cafe war von den Schaufenstern und Glaskästen einer Kunstgalerie umgeben, in der offensichtlich eine Vernissage stattfand. Aus den Eingängen ertönte japanische Musik. Schon einmal hatte ich Atlan während eines solchen Anfalles helfen
müssen. Er sah über die Köpfe der Menge hinweg und zitierte leise Tseng-kuang: »Schwimmt ein Drache im flachen Wasser, werden die Krebse über ihn spotten; kriecht ein Tiger auf dem Boden, wird ihn bald auch ein Hund misshandeln. – Würdest du mir helfen, Ayala-Katya?« »Selbstverständlich. Dein Gleiter ist in der Tiefgarage? Noch immer oder schon wieder der silberne Lockheed Lambdai?« Er nickte, Schweißtropfen auf der bleichen Stirn. Ich folgte der Richtung seines Blickes und sah die Plastik des galoppierenden Samurai, der einen Sumibogen ausspannte. Atlan starrte den Krieger an und zuckte zusammen, als ich ihn, nachdem ich gezahlt und ausgetrunken hatte, am Arm mit mir zog. Atlan murmelte: »Der letzte Impuls traf mich. Versuche, mich in eine neutrale Umgebung zu bringen.« Ich wusste, welch aussichtslosen Kampf er kämpfte. Sein Körper lehnte schwer an mir, als wir die Stufen hinabwankten. Erst als er
plötzlich starr stand und keuchte, begriff ich, was sich vor uns abzuspielen begann. »Ich muss ihm helfen!« Fast lallte Atlan. Drei Männer hatten einen vierten umzingelt, Waffen blitzten im Licht. Es kam zum Handgemenge, ein Schuss krachte. Schnell zog ich Atlan die Treppe hinunter und schob ihn auf ein schräg nach unten führendes Laufband, das uns vom Schauplatz fortbrachte. Vom Kampf bekam ich kaum etwas mit, hörte nur Atlans Flüstern: »Sie verfolgen mich…« Er befand sich in jener Zwischenzone, die zwischen physischem Zusammenbruch und dem Punkt lag, an dem er völlig im Bann der Erinnerungen war und berichten musste. Nur ein Rest Selbstbeherrschung hielt Atlan noch auf den Beinen. Ich achtete nicht auf das Erscheinen eines Polizeiroboters, sondern drängte den Arkoniden weiter, schleppte ihn schnell zum Gleiter und raste über die Gleiterpiste am Kybernetischen Turm vorbei zum Goshunsee. Atlan fragte stammelnd: »Du bist nicht Tairi No Chiyu?« Ich schüttelte den Kopf. Er keuchte und sprach weiter: »Es war eine Zeit, an die ich mit Schaudern zurückdenke. Das Jahr siebzehnhunderteins n. Chr. Ein Fremder landete mit einem winzigen Raumschiff.« Wir erreichten den Schutz einer Baumgruppe am Seeufer. Ich schaltete die Scheinwerfer aus und öffnete das Verdeck. Nachträglich wurde mir heiß und kalt. Wer waren die Männer gewesen? Wie kam Atlan darauf, dass sie ihn verfolgt hätten? Ein fehlgeschlagener Angriff auf ihn? Ich verstand die Zusammenhänge nicht, machte mir auch keine weiteren Gedanken. Atlan begann zu erzählen, der bordeigene Recorder lief mit, und so erfuhr ich, erfuhr die irdische Geschichtswissenschaft von Atlans erstem tiefen Kontakt mit der eigentümlichen Kultur des ehemaligen Zipangu. Mit einem Zitat von Kaga No Chiyu begann der gequälte Arkonide seinen Bericht: »Schimmernder Mond über dem Sand. Ich ging auf dich zu und ging und ging – und kam dir doch nicht näher.« Atlan begann zu zittern, brachte sich wieder unter Kontrolle und sagte: »Dieser Nectrion Munenaga wurde von einer robotischen
Späher-Möwe beobachtet; am einsamen Strand führte er Selbstgespräche. Heute ahne ich, welchem Sternenvolk er entstammte. Damals… Nun, er war genmanipuliert und hatte sich kosmetischen Veränderungen unterzogen. Er sah aus wie ein zu groß geratener Japaner. Aber – ich muss mit dem Anfang beginnen…« Kurze Zeit nachdem ich zu mir gekommen war, schob sich eine aberwitzige Illusion in mein Blickfeld. Eine große, wohlgeformte Frau mit lackschwarzem Haar, gekleidet in einen halb durchsichtigen Kimono, trippelte auf mein Lager zu und rezitierte mit kehliger Stimme: »Bald fühle ich Erbarmen mit den Menschen, bald sind sie mir verächtlich. Und also
betrachte ich mein eigenes Leben auch mit Ekel und Erbarmen.« Ich versuchte zu sprechen, brachte aber nur ein röchelndes Lallen hervor. »Eine schöne Art, mich unter den Lebenden zu begrüßen. Warum bin ich geweckt worden – und wer bist du?« »Du kennst mich als Lilith«, sagte die unechte Frau aus Zipangu, drehte sich um und trippelte davon. Die Schärpe des Kimonos in ihrem Rücken sah aus wie ein Schmetterling mit bebenden Flügeln. Ricos Schädel tauchte auf; meine müden Augen hatten noch nicht wieder gelernt, Dinge richtig zu erkennen. »Ein Raumschiff ist in Zipangu gelandet, Atlan«, sagte er. »Entspanne dich. Mehr erfährst du nach der nächsten Schlafpause.« Ich schloss die Augen und entspannte mich. Nacheinander schwebten die Maschinen heran und leisteten ihre Beiträge dazu, meinen halb eingefrorenen Körper mit stumpfen Sinnen und gefühlloser Haut wieder lebendig zu machen. Medikamente durchfluteten meinen Kreislauf, flüssige Nahrung wurde eingeführt, verschiedene Wellen und Strahlungen durchdrangen Haut und Knochen. Die zellregenerierende Strahlung des Aktivators, der golden und schimmernd auf der Haut über der Brustknochenplatte lag, breitete sich aus. Schrittweise löste ich mich aus der Erstarrung und war endlich in der Lage, eine Reihe von Szenen auf dem Bildschirm zu betrachten, die Ricos Robotspione aufgenommen hatten. »Auf der großen Hauptinsel, Gebieter, am westlichen Rand des großen Kontinents. Dort steht es, vorzüglich getarnt, auf dem Strand zwischen den Felsen. Ein Mann, der den Eingeborenen der Insel täuschend ähnlich sieht, hat das Schiff verlassen. Er scheint, ähnlich wie du, eine Wanderung durch diese Kultur unternehmen zu wollen.« Rico trug ein Tablett voller farbiger Becher. Ich griff danach und trank die süßlich schmeckende Nährflüssigkeit. »Du hast mir etwas zu sagen? Warum deklamiert es nicht deine falsche Geisha?« Er winkte ab und sagte: »Ich habe Hochrechnungen vornehmen lassen. Die Wahrscheinlichkeit ist überzeugend: Der Fremde will die
Kultur kennen lernen. Er hat sich bei einem Bauern einstellen lassen und studiert den Reisanbau – vielleicht mit dem Ziel, eine Invasion vorzubereiten.« »Hat sich Nonfarmale gezeigt?« »Nur einmal kurz, jenseits des Landes am südlichen Pol. Als nächstes habe ich die Strukturerschütterung des Schiffes angemessen, das sich scheinbar in einen Felsen verwandelt hat. Willst du, dass Lilith als weiblicher Samurai dich begleitet?« »Der einzige Robot, dem ich traue – das bist du«, sagte ich. »Du hast alles, was ich brauche, vorbereitet?« »Selbstverständlich.« Ich fühlte, wie unendlich langsam die Beeinträchtigungen nach zweieinhalbjährigem Biotiefschlaf wichen; bald würde mein Verstand wieder mit gewohnter Klarheit
arbeiten. Ich dachte darüber nach, ob es nötig war, Monique aufzuwecken oder einen robotischen Begleiter mitzunehmen. Die Möglichkeit, mich mit dem fremden Raumfahrer zu einigen, bestand. Rico hatte Spionsonden zum betreffenden Gebiet der japanischen Hauptinsel gesteuert, und ich musste versuchen, jede Einzelheit der nahezu unverständlich komplizierten Kultur, der Bräuche und Verhaltensweisen, zu lernen und zu verinnerlichen. Ich betrachtete stundenlang die Bilder, Holographien, Schemata, dann benutzte ich den Transmitter und kräftigte meinen Körper auf der Insel im Südmeer, in der winzigen Geistersiedlung, die wir errichtet hatten. Lilith bediente mich, und ich lag stunden- und nächtelang unter den Kegeln der Hypnosonden. Selbst der Logiksektor bekräftigte: Du musst mit einem Minimum technischer Hilfe auskommen, Arkonide. Ich durfte ebenso wenig auffallen wie der Fremde. Während ich mich Stück um Stück in einen japanischen Eingeborenen verwandelte, erfuhr ich mehr über den Zustand des kleinen Reiches. Mein Haar wurde gefärbt und gekürzt, meine nun dunklen Augen wurden von schweren Oberlidern bedeckt, und ich merkte erleichtert, dass viele Dagor-Kampftechniken fast identisch mit denen der Samurai waren. Eines Nachts rief mich Rico. »Du störst nicht ohne Grund mein robotisches Zusammensein mit einer grünäugigen Lautenspielerin«, sagte ich. »Was gibt’s?« »Die Spionsonden haben den Fremden verloren. Er muss nachts die Maske gewechselt haben. Er ist verschwunden.« Ich streifte die Kopfhörer ab und zwang einen leichten Anflug der Panik nieder. »Such weiter. Schließlich kennen wir seinen letzten Aufenthaltsort. Er wird dir ebenso auffallen, wie er mir auffallen würde. Ich brauche noch Tage, ehe ich kräftig genug bin.« »Noch etwas. Der Transport-Gleiter nähert sich dem Landeplatz des Fremden.« »Finde ein Versteck, schalte Schutzschirm und Deflektor ein und justiere den Transmitter«, sagte ich. »Ich komme, wenn ich mich der Aufgabe gewachsen fühle, zur Schutzkuppel.« Ich trennte die Verbindung und begann, da in dieser Nacht nicht mehr an Schlafen zu denken war, zur Musik meiner europäischen
Lieblingskomponisten über die vergangenen Jahre nachzudenken, über ES und die kommende Aufgabe. Elf Tage später stand ich in der Kleidung eines japanischen Fischers im Abstrahlraum der Transmitter. »Wenn du verworren, unruhig und unglücklich bist«, sagte ein Sprichwort dieser Insel, das die Robotspione oft gehört hatten, »so gehe in die Einsamkeit, sieh den Mond an, denke nach und sprich mit dem alten, weisen Mann.« Nicht viel anderes blieb mir. Ich stand neben dem gerundeten Stein, in dessen Höhlung der letzte Rest salzigen Wassers verdunstete. Auf
diesem Stein hatte Nectrion gesessen, als das Raumschiff sich geschlossen hatte. Jetzt lag mein Gleiter hier, und auslaufende Wellen leckten an seinem Kiel. Ich drehte mich um und sah hinauf zu der Möwe, die ihre Flugbahn zog: Dieser Vogel beobachtete mich und die Umgebung. Außerdem waren Robotspione unterwegs, um den Fremden zu finden. Sein Name Nectrion sagte mir gar nichts. Ebenso wie Nectrion war ich am Anfang eines verworrenen Weges. Aber im Unterschied zu dem Fremden trug ich einen großen Sumibogen, der aussah, als bestünde er aus Bambus – fast armlange Pfeile konnte ich damit verschießen. Die Maschinen hatten Kopien hergestellt, die sich von den Originalen nicht unterschieden – außer in der Güte und Ausgewogenheit. Ich ging zu dem spitzkegelig geformten Felsen, berührte ihn und war verblüfft und überrascht. Selbst meine empfindlichen Fingerspitzen wurden getäuscht. Dieses Metall sah nicht nur so aus wie Stein, es war Stein, schwarzer, glatter Basalt mit winzigen Rissen und abgesplitterten Kanten. Ich fuhr über die Risse und Flächen und versuchte mir vorzustellen, wo sich der Eingang befand. Ich kannte die Aufnahmen und verglich die Bilder mit der Wirklichkeit. Ich konnte trotz intensiver Suche nicht einmal einen haardünnen Riss feststellen. Dafür erkannte ich die Kontaktplatte und fand die Öffnung, in die jener Schlüssel hinein geschoben werden musste. Sollte ich es versuchen? Ich besaß genügend Energiemagazine, um immerhin den Versuch unternehmen zu können, den Eingang aufzuschweißen, aber… Versuch es nicht! Mit Sicherheit sind Schutzmechanismen eingebaut! Ich wagte keinen Versuch. Das Resultaht dieses Entschlusses: Ich kam ohne die Hilfe des Fremden nicht in das Schiff hinein, ohne das Risiko einzugehen, das Beförderungsmittel zu einem anderen Planeten zu vernichten. Die Alternative, die sich mir stellte, hieß, einen langen Weg zu gehen. Über mir krächzte die Möwe. »Ans Werk, Atlan!« sagte ich laut, öffnete das Verdeck des Gleiters und zog meine Sandalen hervor, in deren Sohlen gewisse Einbauten und Verstecke waren, die Hose, die Jacke und den konischen Hut aus nachgeahmtem Reisstroh, der als Filter, Sonnenschutz, Wassergefäß und für einige andere Zwecke dienlich war. Ich
versenkte meine »Ahnenrolle« in den Gürtel, packte meine beiden Bündel, in denen medizinische und hygienische Artikel verborgen waren. Einige Armbänder, unauffällige Knöpfe, Geschirr und andere Kleinigkeiten waren Verstecke für Funkeinrichtungen und winzige Hilfsmittel. Der Bogen und der Köcher waren voller Pfeile – weitere Pfeile waren im Laderaum des Gleiters. Ich musste ihn verstecken und suchte, bis ich eine genügend kleine Höhle fand, die ich durch eine Mauer verschloss.
»Und nun, Arkonide, beginnt dein langer Weg nach Süden!« sagte ich mir. Ich war allein; ich hatte nicht die Absicht, mir Freunde zu suchen, die mich begleiteten. Hier war nicht die Welt zwischen Pol und Binnenmeer, hier war alles anders; viel kleiner. Ich setzte den Sonnenschutz auf, band die Sandalen, schulterte Köcher und Bogen und hob die Stange, an deren Enden die Bündel hingen. Sämtliche Höhenbilder und Karten dieser Insel hatten sich unauslöschlich in meinem Gedächtnis festgebrannt. Ich wusste, wohin ich gehen musste; ich kannte auch einen Teil von Nectrions Weg. Die vier großen und eine Anzahl kleinerer Inseln dieses »Reiches« lagen größtenteils innerhalb des Monsungebietes des Ostens; das gesamte Klima wurde durch die starken Meeresströmungen gemildert. Gewaltige Temperaturunterschiede traten nicht auf – trotzdem hatte das Land kaum Ähnlichkeit mit Landschaften, die ich kennen gelernt hatte. Das Land, von dem etwa fünfzehn Prozent für den Anbau von Früchten und Obst geeignet waren, besaß die Größe Frankreichs. Die Einwohner nannten die Inseln »das Land der üppigen Reisähren«. Die naturbedingte Isolation und eine ertragreiche Basis der Agrarwirtschaft waren die Gründe für die merkwürdige Kultur. Ein Ehrenkodex ohnegleichen trieb erwachsene Männer in den Selbstmord, und andererseits scheute man sich, einen Schmetterling zu zertreten. Ausgerechnet hier hatte ich den Fremden zu suchen. Nun, ich fand mich in vielen Situationen zurecht und hatte begonnen, in der Sprache dieser Inseln zu denken – was konnte mir passieren? Seit etwa siebzehnhundert Jahren war aus Einwanderern vom Festland und den südlich gelegenen Inseln ein homogenes Volk geworden. Die Menschen hatten Ähnlichkeit mit den Asiaten; die Kultur war nicht identisch. Ich wanderte den ganzen Tag lang, Schritt um Schritt nach Süden, suchte nach Spuren, und je mehr ich mich von der Küste entfernte, desto tiefer betrat ich Kulturland. Es wurde seit Jahrhunderten bearbeitet. Mich faszinierte, wie jede Handbreit Boden ausgenutzt war. Die Terrassen der Reisfelder entlang der Hügel, durch Steinwälle und komplizierte Kanalsysteme
voneinander getrennt, waren Beweis dafür, dass jeder Grashalm und jeder Pflaumenbaum wichtig schienen. Offensichtlich betrat ich einen Landstrich, der im Frieden dalag. Du willst den Einsiedler besuchen! erinnerte der Logiksektor. Ich vergegenwärtigte mir die Karte: noch drei Tagesreisen bis zu dem Tempelchen, vorbei an Dörfern und einzelnen Gehöften. Bisher hatte ich niemanden getroffen. Vor rund einhundert Jahren hatte die Zeit Tokugawa begonnen, die auch Edo genannt wurde; die letzten Jahre hieß man allgemein die Genroku-Ära. Kyoto und Osaka waren die Hauptstädte. Ich
hatte keine Ahnung, wohin und wie weit mich meine Suche nach dem Mann führen würde, den die Robotgeräte verloren hatten. Als es dunkelte, suchte ich mir einen Platz unter den hoch liegenden Wurzeln eines großen Baumes. Ich suchte Steine, umherliegendes Holz, Zweige und Äste und machte ein kleines Feuer, fand eine Quelle und kochte drei Handvoll Reis. Ich erhitzte Fett in einer langstieligen Pfanne, hackte Kräuter, schnitt das mitgebrachte Fleisch in Würfel und würzte es. Dann briet ich Fleisch und Reis und fabrizierte eine Soße, die ich behutsam abschmeckte. Ein Schluck Reiswein aus der großen Flasche beschloss das Essen, dann ging ich zur Quelle und wusch das Geschirr mit Sand und viel Wasser aus. Ich häufte die Reste der Mahlzeit auf ein großes Blatt und wickelte es zusammen; später würde ich es in die erkaltende Asche legen. Ich breitete eine Decke aus, schaltete an meinem Armband einen Kontakt und konnte sicher sein, dass die Möwe mich bewachte und jeden Näherkommenden mit höllischem Geschrei ankündigen würde. Bogen und Köcher lagen griffbereit da. Ich schlief ein und erwachte mit dem ersten Sonnenstrahl. Kurz nachdem ich gegessen und mich gewaschen hatte, begann die Möwe zu schreien, schwang sich in die Luft, und ich wusste, dass jemand die Rauchfahne des Feuers gesehen hatte. Ich wartete, Bogen und Pfeile in der Hand. Meine Bündel waren geschnürt. Kurze Zeit später hörte ich das Trappeln von Pferdehufen auf der Straße nahe dem Wäldchen. Ich war zu lange Zeit allein gewesen; ich dürstete nach einem Gespräch, nach der Nähe von Menschen. Die Hufgeräusche wurden lauter; ich trat aus dem Schutz des Stammes heraus. Dreißig Schritte schräg unterhalb meines Standortes ritt ein Mann vorbei, der einen Sumibogen und ein Schwert an der Hüfte trug. Das Pferd war ein Schecke, alt und abgemagert. »Meister des Bogens!« rief ich und hob die Hand. Der Mann schien im Sattel geschlafen zu haben. Er schreckte hoch und griff nach dem Schwert.
»Es ist unwürdig, einen Schlafenden zu wecken, dessen Verstand im Hirn des Pferdes ist!« Er zog am Zügel. »Was willst du, Mann der Pfeile?« »Ich sterbe, wenn ich nicht ein gutes Gespräch führen kann!« rief ich. Der Mann – ein Samurai? – wandte sich in meine Richtung und dirigierte das Pferd, das ebenso müde war wie er, den Hang hinauf. »Ich sterbe, wenn ich nicht jemanden finde, der mir eine Handvoll Reis gibt«, sagte er. »Hast du Reis, Fremder?« »Beherrschst du die Regeln eines guten Gespräches?« Ich lachte. Sein Gesicht zeigte einen verdrossenen Ausdruck; ein altes Gesicht, das ein Maß natürlicher Klugheit zeigte, das mich erstaunte. »Ja, aber erst nach dem Essen!« sagte er. Wir starrten uns
an. Ich musterte jeden Zoll des Mannes und des Pferdes und spähte nach Merkmalen aus, die mir mehr verraten konnten. Nicht viel zu holen. Seine Augen blickten kühl und analytisch. Er hingegen schien meine Körpergröße anzustaunen, schwang sich ächzend aus dem Sattel, schob das Schwert zurück und sah mich aus großen, dunklen Augen an. »Herr«, sagte er. »Du bist ein Fremder?« »Sie nennen mich den schweigenden Wanderer, der nach Weisheit und einem Freund sucht.« Wir verneigten uns voreinander, und der Mann starrte das Bündel an. Ich sagte: »Der Edle ist, sagt das Kung-tse, in der Armut nicht unwürdig!« Müde, hungrig knurrte der Reiter: »Und er ist auch im Reichtum nicht hochmütig. Ich hoffe, du hast deinen Magen gut gefüllt? Es ist eine schlechte Gegend für Samurai! Ich fürchte, es bleibt mir nichts anderes übrig, als seppuku zu begehen.« Er meinte die abartige Form, in der ein Samurai aus dem Leben schied: Er öffnete sich mit dem Schwert die Bauchhöhle und verblutete mit hervorquellenden Gedärmen. Ich hob die Hand, legte Bogen und Pfeile auf die Erde. »Es ist nicht viel, was ich habe, aber ich teile es gern.« Während ich ein Bündel öffnete, Reiskuchen und Fleisch, Fett und Obst hervorholte, sagte der Fremde: »Noch nie hast du so billig einen Freund gefunden. Allerdings wird ein halbverhungerter Freund keinen rechten Kampf fechten können.« »Besser ein verhungerter Freund als keiner«, sagte ich. Wir setzten uns auf meine Decke. Ich sah zu, wie der Fremde schweigend und fast zu hastig aß; hin und wieder erinnerte er sich an seine Würde und kaute langsamer. Als er mehr als ein Drittel meiner Vorräte gegessen hatte, bot ich ihm Reiswein an. Er nahm einen Schluck, der drei Schlangen hätte töten können, wischte sich über die Lippen und sagte: »Jetzt hast du einen Freund. Wohin gehst du?« Er sah plötzlich viel lebendiger aus. Ich deutete nach Südwesten. »Zum Einsiedler im Tempelchen. Ich habe viele Fragen, und ich suche viele Dinge. Unter anderem einen bestimmten Mann. Und viele Erkenntnisse.«
»Ich bin Samurai. Yodoya Mootori heiße ich. Ich bin einer der armen, wandernden Samurai ohne Familie, ohne Herrn, ohne Amt in der Tokugawa-Regierung. Ich suche nicht nur einen Herrn, sondern auch vieles andere. Sage ein Wort, und ich verlasse dich wieder, aber sage ein anderes Wort, und ich begleite dich.« Ich sagte leise: »Ich bitte dich, mich zum Einsiedler zu begleiten. Ich bin begierig, die Weisheit des Konfuzius zu hören. Ist dies das andere Wort, Yodoya?« Er nickte. »Ich begleite dich. Wenn die Bauern unseren ärmlichen Aufzug sehen, jagen sie uns von den Feldern.« Ich deutete auf den Bogen. »Nicht so leicht, denn ich kann mich wehren.« Als ich aufschaute, sah ich, dass er
eingeschlafen war. Er hockte auf dem Boden, hatte die Beine unter sich gekreuzt und schlief mit sattem Lächeln. Sein Haar war an allen Seiten des Kopfes nach oben gezogen und dort in einer Art Ring zusammengefasst. Er sah aus wie ein müder Fünfzigjähriger, aber als ich den abgewetzten Holzgriff des Schwertes sah und die Ahnenrolle im Gürtel, wusste ich, dass er kein Stümper war. Immerhin konnte er mir Fragen beantworten; ich hatte sehr viele Fragen. Tsunayoshi, der Shogun der Samurai-Regierung, hatte offensichtlich viele Straßen anlegen lassen. Auch diese Wege waren in die Natur integriert; sie führten dort entlang, wo sie kein kostbares Land berührten. Jetzt, nach Mittag, war die gesamte Natur erwacht. Vförmige Formationen von Wildgänsen begleiteten unseren Weg. Ich hatte meine Packen hinter den Sattel des Pferdes geschnürt, hielt mich mit einer Hand am Sattel fest und ging neben dem Pferd einher. Yodoya kratzte sich hinter dem Ohr und sagte: »Du bist ein Wanderer, Ataya. Was aber willst du wirklich?« Ich überlegte und erwiderte: »Nichts anderes suche ich als einen Beruf, der mir gute Bezahlung und große Unabhängigkeit sichert. Und Zeit für meine Studien.« Der Samurai meinte: »Dann musst du Samurai werden, Ataya Arcohata. Wie kommt es, dass du so viel größer bist als ich und die anderen?« Ich hatte mir eine plausible Erklärung zurechtgelegt und sagte: »Mein Vater war Japaner, meine Mutter Portugiesin. Ich bin in Wirklichkeit der Sohn einer berühmten Familie, aber wegen meiner Größe erkennt mich niemand an. Ich habe mich entschlossen, allein durch die Welt zu gehen.« »Ich verstehe. Ein Los, das bitter und süß ist – du kannst gut kämpfen?« Ich nickte. »Sowohl mit dem Schwert als auch mit der Klugheit deiner Rede?« Ich dachte an die Hunderte von Schwert- und Degenkämpfen, die ich siegreich bestanden hatte, und sagte deutlich: »Ich bin ein ausgezeichneter Bogenschütze, kann lesen und schreiben und
zeichnen, kämpfe mit allem, was zum Kampf zu gebrauchen ist, auch mit den Explosivgewehren. Ich bin recht geschickt, sagen sie von mir.« Der Samurai neigte sich aus dem Sattel. »Dann musst du versuchen, Samurai zu werden! Kaufe eine Ausrüstung und verdinge dich bei einer Familie, die dich ernährt und die du schützen musst. So ist das.« Unser Ziel war der kleine Tempel mit dem flachen Haus daneben, umgeben von einem Föhrenwäldchen. Wir kamen an Bauernhöfen vorbei, die verlassen schienen. Alle Menschen arbeiteten auf den Feldern. Ich erhielt langsam ein Gefühl der Landschaft; ich fand mich zurecht, würde Gefahren erkennen. Tiefe Unsicherheit blieb. Ich war hier so fremd wie noch nie zuvor in einem Land. Die Straße, gesäumt von Ahornbäumen,
wand sich entlang eines Hügels, machte einige Kurven, schwang sich über eine grazile Brücke aus Stein. Wir waren bisher nur Bauernfamilien begegnet, die Nahrungsmittel zum Markt trugen. Ich hatte ihnen etwas abgekauft, dann waren wir weitergezogen. Noch immer befand ich mich auf der Spur Nectrions. »Kuge Yodoya!« sagte ich schließlich. »Ich höre, Wanderer!« sagte er. »Ich bin kuge, ich bin ein Samurai. Ich habe eine Ahnenrolle, die so lang ist wie die Straße nach Kyoto, und ich habe das Recht, einen zweiten Namen und ein zweites Schwert führen zu dürfen.« Er schwieg daraufhin; ich wusste nicht, aus welchem Grund. Ich hatte vorgesorgt. Nur noch ein kleiner Rest höfischer Familien lebte in Kyoto; es waren Samurai, aktive Führer der Gesellschaft. Sie bildeten eine selbstbewusste Militäraristokratie und übten die Zivilverwaltung aus. Einen Posten in Kyoto konnte ich mir aus dem Kopf schlagen – ich würde ihn nie bekommen, selbst mit meinem Gold nicht. Wir Samurai besaßen unter anderem das Recht, kirisutegomen genannt, einen nicht genügend ehrerbietigen Mann auf der Stelle zu töten. Wir waren die oberste Schicht dieses Landes. Unter uns standen die chonin, die Priester, Stadtbewohner, Bauern, Handwerker und Kaufleute, und die eta und die hinin, die Parias. Aber es wurden nur wenige Unterschiede zwischen einem Paria und einem verarmten, abgerissenen Samurai gemacht – wir beide boten nicht gerade das Bild von Angehörigen der Herrscherkaste. Wenn uns aufgebrachte Bauern erschlugen und verscharrten, würde niemand nach uns suchen. »Warum dann dieser Aufzug, warum der lange Weg zum Tempel?« fragte Mootori nach einer Weile. Ich erwiderte: »Ein Gelübde. Ich habe einen Gegner verfehlt, und ich suche ihn überall. Er hat Aussehen und Namen gewechselt. Wenn ich ihn finde, werden wir entweder Freunde, oder wir töten einander.« »Alles ist rätselhaft, aber am rätselhaftesten ist die verwundete Seele des Menschen.« Der Samurai pflichtete mir bei. »So ist es!« Wir erreichten am Abend die kleine Stadt Honganji; eine runde, mauerbewehrte Anlage zwischen Feldern, Hügeln und einem
Wasserlauf, der sich wie eine zornige Schlange krümmte. Etwa fünftausend Menschen wohnten hier. Eine Tagesreise jenseits der Stadt lag der Tempel mit dem weisen Mann. Nectrion war durch diese Stadt gekommen, hatte Einkäufe getätigt und hatte sich im Hinterland bei einem Bauern verdingt. Die Spur lief aus. »Bruder zweier Schwerter«, sagte Yodoya. »Mit deinem Geld können wir Zimmer in einem ryokan, einem Gasthaus, nehmen. Ich werde dir, finde ich Arbeit, den Dienst am Freund vergelten, wie es angemessen ist.« Ich lachte und erwiderte: »Wir steigen im besten Haus ab. Die Ehre des
Schenkenden wächst mit jedem Kupferstück.« »Und der Beschenkte krümmt sich weiter dem Boden entgegen. Er wird reich, aber zum Wurm.« Ich meinte trocken: »Ich hatte nicht vor, Bruder, dich zu beschenken, bis du vor Gold zusammenbrichst.« Wir lachten uns an. Die Persönlichkeit dieses Mannes erschloss sich mir nur langsam, aber zweifellos steckte mehr in Mootori, als ich im Augenblick ahnte. Wir erhielten Einlass, fragten nach dem ryokan und kamen an einen kleinen Park, dessen Anblick mich entzückte. Dies war ein Gasthaus nur für kuge. Ich verlangte Platz für das Pferd, zwei Zimmer und alle Dienste, die man uns hier erweisen konnte. Mir war, als träte ich in eine andere Welt ein. Zuerst fielen mir die Ruhe und die Gemessenheit der Bewegungen auf. Alle Menschen, die mich anblickten, hatten ihr Erstaunen über meine Körpergröße nicht verbergen können. Mootori sagte: »Wir werden gemeinsam essen, Bruder?« »Ja. Und ich habe abermals viele Fragen an dich, Yodoya.« Park und Garten des Gasthauses gingen ineinander über. Auch hier war die Natur manipuliert worden. Eine Sandfläche, in der verschieden große Steine unterschiedlicher Färbung und Äderung lagen, zeigte die Parallelspuren sorgfältiger Rechenarbeit, die dekorativen Charakter hatte. In einem offenen Rechteck gliederten sich um einen runden Teich mit Seerosen die einzelnen Zimmer. »Die Zimmer!« sagte ich. Ein Diener führte Yodoya und mich in die Zimmer. Wir kamen durch einen Gang, der mit einem Reisstrohteppich ausgelegt war. Kupferne Holzkohlenschalen standen da, niedrige Tischchen mit Gebinden sorgfältig gesteckter Blumen und Reiser. Bilder an den Wänden zeigten Kraniche, Wildgänse und Kirschbaumzweige mit Blüten. Ich betrat mein Zimmer, einen Raum, dessen Grundmaß aus dem Vielfachen eines Rasters bestand, der so groß war wie eine Matte. Der Diener setzte das Gepäck ab, verbeugte sich mehrmals und schloss die Holztür. Ich sah mich um. Nur die wichtigsten Einrichtungsgegenstände waren sichtbar. Alles atmete den Geruch von Frische und Sauberkeit aus. Ich zog mich aus und sah hinter den Türen und Vorhängen nach. Ich fand
ein Bad, einfache Schränke, verschiebbare Flächen aus schwarzem Holz und milchigem Reis-Wachs-Papier. Kein Stuhl, kein Sessel, nur ein dick mit Reisstrohmatten ausgelegter Boden. Ich legte mich auf eine Matte, bettete meinen Kopf auf das Nackenkissen und schloss die Augen. Ich musste mich in einen Samurai verwandeln. Ich ahnte, dass ich die damit verbundenen Regeln und Hindernisse entscheidend unterschätzte. Ich schlief eine Stunde, anschließend wuschen mich die Dienerinnen. Ich ließ mir einen Kimono aus meinem Gepäck bringen, zog mich an und traf mich mit
Mootori im Speiseraum des Gasthauses. Wir saßen uns an einem niedrigen Tisch gegenüber; lange hatte ich das Unterschlagen der Beine üben müssen. Selbst jetzt schliefen mir die Gliedmaßen manchmal ein. Wir aßen und tranken schweigend, dann machte ich meinen Vorschlag: »Wir werden zu den Handwerkern gehen«, sagte ich. »Dort kaufen wir, was wir brauchen, auch zwei Pferde. Morgen oder übermorgen reiten wir zu dem Weisen.« Mootori erschrak und fragte heiser: »Und ich? Wie soll ich jemals meine Schuld zurückzahlen? Ich werde es niemals können.« »Man wird empfangen, wie man gegangen kommt«, zitierte ich. »Kommst du im Schmuck einer Rüstung und auf einem feurigen Pferd, so wirst du bald eine Stelle in der Regierung erhalten. Dann werde ich einen Schuldner brauchen – schließlich will ich dir und mir helfen und nicht nur dich beschämen. Lass die Einwände und berate mich.« Er trank eine Schale Reiswein, ließ nachfüllen und trank abermals. »Deine Geisteshaltung ist edel und zweifellos die eines Samurai«, sagte er endlich. »Aber du bist merkwürdig. Wie ein Weiser, der einen Teil seines Wissens und Könnens verloren hat.« Ich stimmte ihm zu. »So oder ähnlich ist es auch! Komm und nimm dein Schwert mit.« »Ich folge!« sagte er. Wir tranken Reiswein, dann verließen wir die Gaststube und gingen einen kiesbestreuten Pfad entlang. Hinter den Föhrenzweigen erschien ein bleicher Vollmond, über dessen Scheibe die Ketten der Wildgänse zogen. Wir gingen in die Stadt, in das Handwerkerviertel; dort begann die nächste Schwierigkeit. Kaum ein Teil der Ausrüstung, die wir kauften, war so groß, dass sie mir passte. Wir sagten den Handwerkern und Waffenschmieden, was wir brauchten. Sie versprachen, die meisten Gegenstände einen Tag später zum Gasthaus zu bringen. Wir kauften drei Pferde, und eines davon war tatsächlich so groß, dass ich eine leidlich gute Figur darauf machte und nicht zu fürchten brauchte, dass das Tier unter mir zusammenbrach. Zwei Tage später verließen wir ausgerüstet die Stadt und machten uns auf den Weg zum weisen Mann im Tempel.
In leichtem Trab ritten wir nach Süden. Wir befanden uns auf der Straße, die am Meeresufer entlang führte. Rechts von uns waren Hügel voller Wälder, in denen es Füchse gab, Wildschweine, Hasen und viele Vögel. Dahinter befanden sich vegetationsarme Täler, die mit flachen Stränden oder abgerissenen Steilküsten ins Meer mündeten. Links, im Sonnenschein des Vormittags, lagen bebaute Täler und ebene Flächen, in denen wir die Bauernhäuser sahen. »Du suchst einen Mann, Ataya?« fragte Yodoya halblaut. Wir ritten nebeneinander. Das Packpferd befand sich am Ende einer langen Leine, die von meinem Sattel ausging. »So ist es. Ein Mann, der
eine Maske trägt, damit ich ihn nicht erkenne. Er ist schuld daran, dass ich nicht im Schutz meiner Familie lebe. Ich weiß nur, dass er auf dieser Insel ist, nicht aber, wo er sich aufhält. Früher oder später werde ich ihn finden.« Er meinte: »Das also ist der Grund, warum du mit dem Weisen sprechen willst. Gebete im Tempel, Gespräche über Dinge und Menschen und vieles, stilles Überlegen?« »Nichts anderes habe ich vor. Morgen früh werden wir dort sein.« Ich musste Nectrion finden. Dann erst konnte ich herauszufinden versuchen, was er hier suchte. Gelang es mir überdies, seine Freundschaft zu gewinnen, konnte ich daran denken, ihn wegen des Raumschiffes anzusprechen. Hoch über uns kreiste die Möwe; bisher hatte der Fremde noch kein Wort über Funk mit dem Gerät des Raumschiffes gewechselt – Rico würde es mir mitgeteilt haben. Inzwischen waren wir fast am Ende der Spur angelangt, die er hinterlassen hatte. Vielleicht konnten uns die Bauern verraten, wohin er sich gewandt hatte. Was wurde aber, wenn der Fremde von den Sternen anders reagierte, als ich es mir vorstellen konnte? »Deine Gedanken sind dunkel und schwer«, sagte der Samurai neben mir und zügelte sein Pferd. »Dein Gesicht, Freund, ist düster.« »Es ist das Gesicht eines Mannes, der Sorgen hat!« sagte ich. »Sind die Straßen sicher?« Er zog die Schultern hoch und berührte die weißen Stellen seines schwarzlackierten Schwertgriffes. »Was ist schon sicher?« antwortete er nachdenklich. »Es gibt gute und schlechte Menschen, solche mit Ehre und viele ohne jede Ehre.« Ich entgegnete: »Dann bereiten wir uns am besten auf jene Menschen vor, die keine oder wenig Ehre besitzen!« »Ohne Zweifel wäre es besser«, meinte er versonnen. Die Sonne verschwand hinter den Hügeln. Wir ritten in das Bett eines sich schlängelnden Baches; die Hufe der Tiere traten in Kies, auf Moospolster und rutschten von grünbewachsenen Felsen und Steinen ab. Einige hundert Schritte weiter, hügelaufwärts, fanden wir eine Mulde, die gegen Westen von einem dunklen Felsen
geschützt war. Einige verbrannte Kreise auf dem Boden bewiesen, dass hier öfter Wandernde Halt machten. Wir stiegen aus den Sätteln. Mootori schlug vor: »Ich kümmere mich um die Pferde und um Holz. Du machst das Essen – ist das in deinem Sinn?« Ich schaute hoch und sah, wie sich die Möwe auf einen Felsen setzte, ihre künstlichen Federn aufplusterte und den Schnabel auf der Brust verbarg. Ich nahm Bogen und Köcher aus dem Gepäck. Unsere neuen Helme und Rüstungen, Stiefel und Schwerter staken in den Packsätteln. »Ja. So werden wir es halten!« Wir arbeiteten schnell und sicher zusammen. Die Pferde waren an langen Leinen angepflockt und weideten;
die Sättel befanden sich dicht hinter uns. Wie Yodoya erklärt hatte, war in der heutigen Zeit dem Frieden und der Ruhe nicht zu trauen. Wir unterhielten uns leise, und der Behälter mit dem kalten Reiswein wechselte hin und her. Nachdem wir gegessen hatten, säuberten wir Töpfe und Pfannen, verstauten sie und breiteten unsere Decken aus. Das Feuer bildete nach kurzer Zeit einen Gluthaufen, dessen Wärme unsere Füße erreichte. Gegen den Nachthimmel hoben sich die Zweige der Bäume ab, die Sterne funkelten, und mit schlechtverhohlener Niedergeschlagenheit dachte ich an Arkon. Keine müßigen Gedanken, Atlan-Ataya! sagte mein Extrahirn. Denke an deine Aufgaben! »Habe ich welche?« fragte ich mich leise. Der Samurai, der eingenickt war, schreckte hoch und starrte mich an. Sein erster Reflex war der Griff nach dem gekrümmten Schwert. Dann schüttelte er den Kopf und fragte: »Sagtest du etwas leise, oder dachtest du nur laut?« »Ich dachte laut«, sagte ich und blickte auf die Möwe zwischen den Felsen. Der Vogel rührte sich nicht. Was mich in dieser Sekunde stutzig machte, war das Schweigen des Fremden, denn alles, was meine Spione hatten erkennen können, deutete darauf hin, dass er mikrominiaturisierte Funkgeräte bei sich trug. Also würde er sie benutzen wollen. Ich legte mich zurück, tastete nach dem Bogen und den Pfeilen und schlief ein. Die Zweige der Bäume zitterten leicht, als der Mond sich über den Horizont schob. Irgendwo bewegte sich ein kleines Tier, ein Vogel schrie im Schlaf; ein Ästchen knackte. Im ersten Grauschimmer des Morgens schrie die Möwe laut. »Ein Vogelschrei oder mehr?« flüsterte Yodoya. »Ich weiß es nicht!« Ich warf den Köcher auf den Rücken und lief auf den weichen Sohlen meiner wadenlangen Stiefel zum Felsen, kletterte daran hoch und presste mich zwischen zwei Vorsprünge. Mootori huschte vom Feuerkreis zu den Pferden. Der Samurai hielt seine Ahnenrolle und sein Schwert fest und kauerte sich zwischen den Büschen nieder.
Wir warteten. Die Möwe spreizte ihre Flügel, schlug sie klatschend zusammen und entfernte sich nach rechts. Dorther also kamen Besucher. Ich presste mein Ohr gegen die Felsen und hörte ganz fern das Trappeln von Pferden. Ich machte eine Geste, mein schweigsamer Freund verstand. Als ich den Kopf bewegte, hörte ich auch von links das Geräusch von Pferdehufen. Steine kollerten, Wasser spritzte. Dann das Schnauben eines Pferdes. Unser Packtier antwortete mit gedämpftem Wiehern. Die Gruppe der Besucher hatte sich geteilt. Yodoya hob sein Schwert mit beiden Händen und machte die Bewegung eines Ausfalls; eine Art, die ich noch nie gesehen hatte. Dann tauchte hinter der Biegung, halb verdeckt von einigen feuchten Baumstämmen,
ein Reiter auf. Die Hufe des scheckigen Pferdes ließen die Tautropfen von den gebogenen Spitzen der Grashalme spritzen. Der Mann sah sich um und dirigierte sein Pferd mit den Knien; in den Händen hielt er einen halbgespannten Bogen. Er sah weder Mootori noch mich, hielt den Pfeil am Bogenschaft fest und winkte nach hinten. Wieder Huftritte; drei Reiter waren an seiner Seite. Der Anführer, der einen kupferfarben glänzenden Helm trug, auf dessen Vorderseite eine silberne Mondsichel befestigt war, hob den Arm und senkte ihn. Im gleichen Augenblick kamen rechts und links Reiter aus dem Wald und galoppierten scharf auf das Lagerfeuer zu. Es war die Stunde, in der die Gegenstände noch verschwommene Bilder ihrer selbst waren; es gab im dämmerigen Wald keine scharfen Konturen außer den weißen Flecken des Tierfells. Mitten in die Bewegung der Tiere und Menschen, mitten in die Geräusche, die durch die Stille schnitten wie Schwertklingen, sagte Yodoya Mootori ruhig, aber unüberhörbar laut: »Es sind Banditen, Ataya!« Ich stellte meinen Fuß vor, spannte den Bogen und schoss dem Anführer einen Pfeil durch den Oberkörper. Gleichzeitig wirbelte der Samurai wie ein wahnsinniger Tiger zwischen den Büschen hervor. Sein Gesicht war eine Maske konzentrierter Anspannung. Ich legte den zweiten Pfeil auf und schoss einen Reiter, der aus dem Sattel nach unserem Gepäck griff, in den Rücken. Dann war Yodoya heran. Sein Schwert bewegte sich in streng abgezirkelten, ruckweisen Schlägen. Der dritte Pfeil traf einen Reiter, der die Fesseln der Tiere durchtrennen wollte; sein Pferd bäumte sich auf und überschlug sich, als er aus dem Sattel stürzte. Mit einem Schlag des Samuraischwertes durchtrennte Yodoya eine Lanze, die ein heransprengender Reiter auf ihn anlegte, und im Aufwärtsschlag spaltete die Schwertspitze den Kopf des Mannes vom Kinn bis zur Schädeldecke. Mootori rollte sich unter den Hufen des Pferdes hinweg und griff einen Reiter an. Ein Funkenbündel sprang auf, als sich zwei Schwerter trafen, dann wurde der Arm des Angreifers bis zum Schulterblatt aufgeschnitten. Mootori drehte sich blitzschnell – mein Pfeil heulte über ihn hinweg und traf einen Reiter, der sein Pferd
hochriss und neben dem Getroffenen vorbei auf mich zupreschen wollte – und stach mit dem Schwert zu, durchbohrte den Unterleib eines Reiters, dann setzte er mit einem gewaltigen Sprung zurück in den Schutz eines Baumstammes. Vier Reiter waren übrig. Einer versuchte, sein Pferd anzutreiben, der Kopf des Tieres war blutüberströmt; er hatte sich neben einem Opfer von Yodoyas Schwert befunden. Yodoya hielt sich mit einer Hand am Sattel eines durchgehenden, reiterlosen Tieres fest, sprang
wie ein Wiesel von Stein zu Stein und schwang sich in den Sattel, als das Pferd auf gleicher Höhe mit dem Reiter war. Die Klinge beschrieb einen blitzenden Drittelkreis; der Kopf des Mannes rollte durch das Gras. Die letzten Männer retteten sich durch Flucht. Ich kletterte kopfschüttelnd und schwer atmend von den Felsen herunter. Eine Kampfmaschine! Du hast noch nie einen Menschen so kämpfen sehen! sagte mein Extrahirn. Ich sagte heiser: »Yodoya – hat dich ein Blutrausch überkommen?« Er reinigte sein Schwert sorgfältig an dem Mantel eines Toten und schüttelte den Kopf. Dann sah er mich voll Verwunderung an. Seine dunklen Augen schlossen sich halb. Es wurde heller. Die Möwe kam zurück und setzte sich in einen Baum. »Wir haben gesiegt, weil kein Samurai unter ihnen war«, sagte er. »Es war Gesindel, unzivilisierte Räuber – kurz: eta, Parias!« »Du hast gewütet wie ein Wahnsinniger!« sagte ich verblüfft und nahm den Köcher ab. Einige Pferde standen mit hängenden Köpfen neben unseren Tieren. Ich ahnte Ricos Eingreifen; es waren ungewöhnlich kräftige Tiere. Eines trank im Wasser des Baches. »Du schießt gut«, sagte Yodoya leise, »aber nicht wie ein kuge, der die Zen-Bogenkunst kennt und gelernt hat.« Ich spannte den Bogen auf andere Weise, schoss auch nicht über das untere Drittel des Bogens, sondern meine linke Faust halbierte die Krümmung. Ich warf den Bogen hin und ging zu den Pferden, um sie einzufangen und anzubinden. Systematisch machte sich der Samurai daran, die Satteltaschen und die Kleidung unserer Gegner zu durchsuchen. Das Eigentum der Erschlagenen gehörte ihm. War dies auch ein Bestandteil des Ehrenkodex? »Ich kenne diese Kunst nicht«, sagte ich, »und im Schwertkampf würde mich auch jeder Samurai-Schüler töten.« Er nickte gelassen: »Das würde unzweifelhaft geschehen. Du musst lange von den Inseln entfernt gelebt haben, dass du diese Künste verlernen konntest.« »So etwa ist es«, gab ich zu. »Und eines Tages, wenn ich meinen Mann gefunden habe, werde ich dir alles berichten.«
»Ich warte auf diesen Tag. Meine Neugierde ist groß«, sagte er, so gut wie völlig gleichgültig. Wir hatten sieben Pferde und Sättel, sieben komplette Ausrüstungen, Waffen und die Beute von sieben Räubern erbeutet – was mich betraf, konnte ich wenig davon brauchen. Nur den Proviant packte ich um. Yodoya sagte laut: »Wir werden dem Weisen Geschenke machen. Die Tiere geben wir in der nächsten Stadt ab; der Mann der Tokugawa wird uns danken, dass wir so viele Banditen getötet haben. An Schlaf ist nicht zu denken, wie?« »Nicht mehr. Aber an Essen!« Mir war mehr nach einem gewaltigen Schluck Reiswein, denn nach den Erlebnissen fühlte ich mich schwach in den Knien. Noch mehr:
Ich sah mit erschreckender Deutlichkeit, dass ich haarscharf dem Tod entgangen war. Wenn jemand gegen mich mit einer Technik kämpfte, die ich nicht beherrschte, war ich so gut wie wehrlos; bei einem solchen Überfall ist der Bogen eine Waffe, die nur für kurze Dauer hilft. »Und an einen tiefen Schluck, Ataya Arcohata!« sagte der Samurai und band seinen Gürtel neu. Dann setzte er sich auf seinen Sattel und starrte mich schweigend an. Ich packte die Toten an ihren Gürteln, schleppte sie in den Wald und legte sie nebeneinander. Dann brachte ich die Flasche und Schalen für den Reiswein. Mir war alles andere als wohl zumute; angesichts der Vorkommnisse schmolz meine Selbstsicherheit dahin. Ich setzte mich auf einen Sattel, schlug die Schöße des Mantels zurück und reichte Yodoya eine Porzellanschale. Gluckernd lief der Reiswein in die Schalen. Nach dem dritten Schluck, jedes Mal war es eine Schale voll, sagte Mootori leise: »Ich weiß nicht recht, Freund Ataya, ob ich dir glauben kann. Aber das ist nicht wichtig – wenn du aber ein Samurai sein willst, musst du denken und handeln wie ein Samurai. Und kämpfen.« Er hat dich durchschaut, sagte der Logiksektor. Ich erwiderte: »Ich muss es lernen, Yodoya. Ich habe dich nicht belogen, aber ich bin eine ganz besondere Art von kuge. Eines Tages wird sich alles aufklären.« »Alles«, sagte Mootori nachdenklich, »klärt sich eines Tages auf.« Ich betrachtete ihn genau. Er war, wie alle Männer dieses Inselvolkes, klein und gedrungen, mit kurzem Hals und einem massigen, runden Schädel. Sein Haar war von allen Seiten nach oben gezogen und dort zusammengefasst; das Gesicht zeigte Altersspuren und einige verheilte Narben. Ein schmaler Mund, große, schnell bewegliche Augen, Falten und Altersflecken – das Gesicht strahlte eine Art fatalistische Weisheit aus, die Klugheit eines Mannes, der in seinem Leben viele Schwierigkeiten gemeistert hatte. Der Rat, den mir Yodoya gab, war zweifellos wichtig. Ich hatte keine andere Wahl: Ich musste ihn befolgen. »Wo lerne ich, was ich lernen muss?« fragte.ich halblaut.
»Ich bringe die Pferde in die Stadt, fasse eine Meldung ab und komme zum weisen Mann und zu dir. Dort werden wir darüber reden.« »Das ist sicherlich das beste!« sagte ich. Wir aßen eine Kleinigkeit, luden die Toten auf ihre Pferde, banden sie in den Sätteln fest und ritten aus dem Tal auf die Straße. Als die Sonne aufging, sahen wir von fern den Tempel auf der Kuppe des Hügels. Yodoya verabschiedete sich von mir, als es früher Morgen war; er versprach, spätestens in der Nacht wieder bei mir zu sein. Ich wendete mein Pferd und ritt den gekrümmten Weg hügelan. Gegen Mittag erreichte ich das Haus des
Einsiedlers. Als ich kurz vor einer altersschwachen Brücke anhielt und mich umsah, summte das Funkgerät, das in dem Lederschutz des linken Armes verborgen war. Ich schrak zusammen. »Rico?« sagte ich, nachdem ich den Arm angewinkelt und einen Kontakt gedrückt hatte. »Gebieter«, sagte der Roboter, »ich habe vor wenigen Minuten den Funkkontakt des Fremden mit seinem Schiff anmessen können.« Ich war nicht überrascht; schließlich hatte ich tagelang auf diese Mitteilung gewartet. »Du hast Nectrion orten können?« »Ja. Er befindet sich auf dem Gutshof einer Samurai-Familie nahe Kanazawa.« Das war eine Burg-Großanlage, gleichzeitig Hauptstadt einer Provinzregierung. Ich kannte die Anlage von den Luftaufnahmen. Etwa zwanzig, dreißig Tage entfernt. Ich sagte: »Hast du herausfinden können, was er sagte?« »Ich habe Aufnahmen gemacht«, erwiderte der Robot aus der Tiefseekuppel, »aber er benutzt eine fremde Sprache.« Ich sagte: »Ich werde die Möwe dorthin schicken und ihr Suchgerät aktivieren. Wenn er zu senden beginnt, findet der Vogel ihn.« »Das ist richtig. Brauchst du genaue Angaben?« »Nein«, erwiderte ich. Die Verfolgung schien in ein entscheidendes Stadium einzutreten. »Ich melde mich, sobald sich etwas an der Situation ändert.« Rico trennte die Verbindung. Ich schob den Armschutz den Arm hinauf und nickte: Ich sah ein, dass ich mich zu schlecht ausgerüstet auf die Spur des Fremden gesetzt hatte – mein Mangel an Ausrüstung war keineswegs technischer Natur. Der Fehler lag in mir selbst und darin, dass ich versucht hatte, meine Maßstäbe auch in diesem rätselhaften Land anzuwenden. Ich nahm einige Schaltungen vor; die Möwe raste davon, suchte Nectrion. Fünfzig Schritte vor dem kleinen Haus des Einsiedlers stieg ich aus dem Sattel und ging zwischen den Balken des Tores hindurch, das ohne Zaun in der Landschaft stand; zwei weiße Balken waren in den Boden gerammt, darüber lagen quer zwei Bohlen. Als ich den nackten Felsbrocken
erreichte, kam ein alter Mann aus dem Haus und rief: »Bringst du den Krieg, Mann der zwei Schwerter?« Ich hob die rechte Hand bis in Schulterhöhe und rief: »Ich bringe meine eigene Verwirrung, kluger Vater, und ich werde dir nichts anderes wegnehmen als deine Ratschläge.« Er lächelte und krümmte die Schultern. »Unter diesen Umständen – du bist willkommen, riesiger Krieger!« Es war, als ich in ein anderes Land. Hier vereinigten sich Stille und Beschaulichkeit, Selbstgenügsamkeit und Introvertiertheit, Sonne, Gewächse, Garten und Bauwerke zu einer Synthese, in der ein unruhiger Geist wie meiner Ruhe finden konnte. Ich nahm den Pferden die Sättel ab, trug das Gepäck unter das vorspringende Dach und erklärte dem Einsiedler, warum ich hier sei. Er nickte schweigend,
dann lächelte er.
2. »Ja«, sagte der alte Mann leise. »Jetzt verstehe ich. Ich weiß, dass es solche Länder gibt, Schiffe und vieles andere – aber die Seele der Menschen ist überall gleich.« Ich hatte ihm berichtet, welche Probleme ich hatte, hatte mich, ohne unsere – Nectrions und meine – wahre Herkunft, das Raumschiff, die kulturelle Überlegenheit und die Maske zu erwähnen, eng an die Wahrheit gehalten. Vier Tage lang hatte ich mit Vater Katayama gesprochen. Alle Probleme waren von ihm in eine Anzahl einzelner Schritte zerlegt worden. Ich wurde von Stunde zu Stunde niedergeschlagener; der Verstand dieses einfachen Mannes konnte erfolgreich mit Ricos Rechnern und der Ausbildung zur ARK SUMMIA konkurrieren. Dann lag alles klar vor uns. »Die Lösung deiner Probleme, Freund Ataya, ist weniger schwer, als du heute noch denkst!« sagte der Samurai. »Ich warte auf Erklärungen«, entgegnete ich. Wir saßen auf weichen Matten in der Mitte des größten Raumes. Zwei Türen waren zurückgeschoben worden. Zwischen uns standen kleine Öllampen, vor uns Tische, darauf Speisen und Getränke. Viele Töpfe befanden sich auf einem metallenen Rechen über einem Glutkorb; Kupfer mit Holzkohle. Es war der Abend des fünften Tages. »Erstens«, sagte der alte Mann, »glaubt dir niemand, dass du ein Samurai bist. Was deinen Reichtum betrifft, deine klugen Gedanken, deine Kraft und Klugheit der Sprache – hai. Aber du kennst nicht die Sitten dieser Kaste.« »Richtig!« Ich nickte. Jedes Wort war wichtig. Yodoya, der jetzt das Geheimnis meiner Verfolgungsjagd kannte, mischte sich ehrfurchtsvoll in das Gespräch. »In zehn Tagen wirst du sie kennen, wenn ich dich unterweise«, sagte er leise. »Ob du sie begreifst und richtig anwendest, ist deine Sache. Nur ein Kluger vermag dies.«
Wir hoben die Schalen mit dem würzig riechenden Reisschnaps. »Dann«, sagte der Alte, und sein weißer Bart zitterte dabei etwas, »musst du jemanden haben, der dich anstellt, um die Ehre seines Hauses zu schützen.« Es war das zweitemal, dass ich Yodoya Mootori lächeln sah. »Der Überfall war genau das, was wir brauchten«, sagte er leise und verbeugte sich aus einem mir unerfindlichen Grund. »Als ich Meldung über die Räuber machte, schickte es sich, dass auch ein Herr Daimyo Shokokuyij anwesend war. Er suchte drei Männer, die über seinen Besitz wachen. Er ist fett und habgierig, aber er will uns ronin bezahlen!« »Er sucht Samurai?« fragte ich. »Ja. Und er bat dich, ohne dich zu kennen, und mich, dessen Beute er sah, zu sich in die Burg. Du wirst also gut untergebracht werden«, sagte Yodoya. Der weise Mann sagte: »Yamaga Soko, einer der drei größten Samurai unter den Tokugawa, hat den Kodex der Samurai, den ›Bushido‹,
den Pfad des Kriegers, geschrieben. Und nahe der Burg des Herrn Shokokuyij ist eine Zen-Schule. Dort lehrt mein Freund. Du siehst, Ataya, dass sich die Dinge immer wieder wenden, und siehst du sie in Ruhe an, so ist das Muster ein Zeichen der Freude!« Meine Finger zitterten, als ich Reisschnaps eingoß. Ich begriff augenblicklich meine Chance: Für den neuen Herrn war ich ein Samurai. Wenn ich Glück hatte, brauchte ich nicht zu kämpfen. Aber während der Zeit, die ich dort verbrachte, lernte ich, was ich brauchte – den »Bushido« ebenso wie das Zen-Bogenschießen und den Schwertkampf. Und Yodoya würde mich unerbittlich schulen. Dann erst konnte ich wagen, mich dem Fremden von den Sternen zu nähern. Aber… welche Rolle hatte er inzwischen eingenommen? Ich wusste nur ungefähr, wo er war. »Ein Zeichen der Freude!« wiederholte ich. »Es ist wirklich so. Wie gut, dass ich dich getroffen habe, Freund Yodoya.« Er nickte nur. Seit er meine Probleme kannte, verstanden wir uns besser. In den Tagen, in denen wir den Brennstoffvorrat des alten Mannes ergänzt, seinen Garten gepflegt, Reis angepflanzt, den Zierteich gesäubert und den Boden umgebrochen hatten, seit das Dach geflickt, das Holz gefirnißt und die Reispapierfenster neu ausgefüllt waren, hatte ich viel gelernt; ich sah ein, dass ich, würde ich weiterhin allein reisen, tatsächlich mit meinem Leben spielte. Und ich würde stets gefunden werden, wenn ich floh – jeder Samurai konnte mein letzter Gegner sein, weil ich nicht im mindesten begriff, wann ich ihn tödlich kränkte. »Ich werde dir wie ein sehr strenger Vater sein«, versprach er. »Und trotzdem stehe ich tief in deiner Schuld.« »Meine Schuld wird so hoch wie der Fuji sein, der feuerspeiende Berg mit der Schneekappe, wenn ich den ersten Scheinkampf gegen dich führe!« versprach ich. Yodoya lachte kurz und schob den Tisch von sich weg. Wir waren angenehm satt und gut erholt. Katayama strich seinen Bart und sagte leise: »Ja. Es ist glückliche Fügung. Aber du wirst einen schweren Weg vor dir haben, Freund Ataya. Ein Samurai lernt sein ganzes Leben. Merke also: zuerst der Dienst bei Herrn Shokokuyij, dann die Zen-Bogenschule, dann die
Regeln des Schwertkampfes und die des ›Bushido‹. Und dann wirst du auch deinen seltsamen Feind finden.« Ich erwiderte langsam: »Es geht nicht anders, und ich werde mich freuen, wenn ich den Brief an den Zen-Lehrer habe.« »Ich verspreche es!« sagte der Weise. Während der langen, intensiven Gespräche, in denen ich viel über die Geschichte des Landes erfuhr und über die Zeiten und Umstände, die letztlich die herrschenden Sitten hervorgebracht hatten, waren sowohl der Tempel als
auch das Wohnhaus von uns instand gesetzt worden. Die Möwe suchte noch immer nach dem Fremden, da sie nur über eine grobe Peilung verfügte. Sie ging empirisch vor und verglich alle Menschen, die sie sah, mit den »Erinnerungen« an den Fremden. Ich hatte nichts von ihr gehört. Immer mehr wuchs ich in Sprache und Geräusche hinein. Einerseits langweilte ich mich, weil kaum etwas geschah, andererseits wusste ich, dass zu rasches Vorgehen tödlich sein konnte. Yodoya unterwies mich in den Sitten der Samurai, der alte Mann erläuterte mir die Grundzüge des Zen; die Tage verstrichen. Schließlich bedankten wir uns, und ich wusste, dass Katayama die Goldstücke finden würde, die ich irgendwo versteckt hatte. Mit diesem Geld war sein Leben auf Jahre hinaus gesichert. »Denk daran, Ataya!« Katayama warnte mich, als ich neben dem Pferd die Packen festschnallte. »Wer laufen will, muss zuerst gehen lernen. Und gerade die ersten Schritte sind die schwersten. Hier ist der Brief!« Ich verbeugte mich; wieder fiel mir der Unterschied zwischen meiner Länge und derjenigen beider Männer auf. Ich fiel überall auf – ich war ein Riese. »Ich danke dir!« sagte ich. Wir wechselten viele Abschiedsworte, dann schwangen wir uns in die Sättel und ritten davon. Das Packpferd trug eine Ausrüstung, die für mich fast wertlos war. Die erste Station würde die Burg sein, nichts anderes als ein gewaltiges Herrenhaus, umgeben von Bauerndörfern, Feldern und Wäldern: der Sitz der Familie Shokokuyij. Je mehr wir nach Süden kamen, desto reicher wurde das Land. Wir trafen mehr Menschen. Und schließlich: die Burg. »Dort!« sagte Yodoya. »Ich glaube, dass es schwer sein wird, unseren neuen Herrn zu überzeugen, dass du keine Missgeburt bist, sondern ein vollwertiger Mann.« »Wir werden es versuchen!« Ich dachte daran, meine Verteidigungswaffen einzusetzen, falls ich scheiterte. Mit einem Gefühl zwischen Neugierde, Spannung und Unsicherheit ritten wir weiter. Die Burg mit moosbewachsenen, altersdunklen Mauern kam näher. Die Eindrücke voll stiller Poesie, die uns begleitet hatten, verschwanden. Die Burg sah drohend, kalt
und abweisend aus. Sie war ein Symbol der Macht – und aus diesem Grund begann ich, mir ins Gedächtnis zurückzurufen, was mich Yodoya gelehrt hatte. Natürlichkeit ist die am meisten überzeugende Art! sagte der Extrasinn. Wir kamen an das Burgtor, das Paradebeispiel einer Falle, in die jeder Feind hineingehen musste. Yodoya fragte leise: »Erkennst du die Anlage? Siehst du, wie sie wirkt?« Ich nickte und erwiderte: »Jeder Angreifer, der zum Tor der Burg vordringen will, muss einen Hohlweg aus unangreifbar glatten Mauern passieren. Von oben können wenige Bogenschützen fünfhundert anstürmende Gegner
vernichten.« Das Tor, eine Reihe senkrecht stehender Balken, mit schwerem Metall beschlagen und von mächtigen Angeln gehalten, besaß noch ein kleineres Tor. Dort öffnete sich eine eiserne Klappe, und ein bärtiger Posten unter einem schwarzglänzenden, flachen Helm fragte: »Kuge? Was wollt ihr?« Yodoya sagte: »Zwei der drei Männer, die Leben und Besitz des Herrn schützen werden, sind eingetroffen. Führe uns zu Shokokuyij, Mann!« Er musterte uns eine Zeitlang, dann rief er Befehle. Das kleine Tor schwang auf, und wir ritten hindurch. Vor uns, jenseits eines steinernen Ganges, breitete sich ein großer Hof aus, in drei Ebenen angelegt. Hier auf dem Hügel schien das Sonnenlicht schwächer zu werden. Wir wurden über den Hof geführt, unsere Pferde wurden weggebracht, und dann begann ein Irrmarsch durch hochliegende Verbindungsgänge, leere Kammern, in deren Wänden sich mit gespenstischer Lautlosigkeit Türen aufschoben, über gewachste Dielenbretter, wieder durch Korridore; schließlich schloss sich hinter uns die letzte Tür. Wir befanden uns in einem fast leeren Raum, der fünfzehn zu fünfzehn Schritte maß und höher als zehn Ellen war. Ich murmelte: »Was jetzt?« »Warten!« sagte Mootori leise. Er verschränkte die Beine unter sich und schloss die Augen. Wir warteten also. Unterwegs hatten wir viel über den Mann erfahren, für den wir notfalls kämpfen sollten. Er war ein Despot, klug und gerissen. Wenn er Zwangsmaßnahmen gegenüber seinen Bauern anwandte, geschah dies, um den Ertrag zu steigern. Offensichtlich musste er alles, was er unternahm, übertreiben: Er galt als großer Liebhaber der Frauen, starker Trinker und Raufbold. Als eine Tür aufgeschoben wurde, zwei Männer sich rechts und links davon aufstellten, ließen wir uns auf die Knie nieder und berührten mit den Ellenbogen den Boden. Eine rauhe Stimme sagte schroff: »Steht auf! Ihr also seid die Samurai, die ich bezahlen werde?« »So ist es, Herr Shokokuyij«, erwiderte Yodoya. »Wir sind begierig, in Euren Dienst zu treten. Was ist unsere Arbeit?«
Der dicke, kleine Mann mit unruhigen Augen und grauem Haar ließ sich auf einer Matte nieder, ordnete sorgfältig die Falten seines prächtigen Kleides, schlug die Füße übereinander und erwiderte: »Ihr sollt nicht in der Burg bleiben, sondern durch das Land reiten. Ich habe viele Bauern, viele Sklaven. Ihr sollt nachsehen, ob überall Ordnung herrscht. Überall werdet ihr erhalten, was ihr fordert, hier im Haus bleiben Zimmer für euch frei. Du, Riese!« Ich richtete mich auf und sah in seine Augen. »Herr?« »Warum bist du so groß?« »Meine Mutter war größer als mein Vater«, sagte ich, »und ich wuchs zu lange.« Der kleine Mann mit der unangenehmen
Stimme sagte leise: »Eine meiner vielen Töchter hat dasselbe Leiden. Sie wuchs und wuchs, und ich werde nie einen Mann für sie finden! Nun, vielleicht verkaufe ich sie an die Portugiesen oder an einen Jesuiten.« Eine Pause trat ein. Unser Herr starrte uns an, und wir gaben den Blick zurück. Er wedelte mit einer fetten Hand, deren Finger voller prächtiger Ringe waren, und deutete auf zwei Kissen. »Nehmt Platz!« sagte Shokokuyij scharf. »Es sind harte Zeiten. Räubertrupps sind unterwegs. Piraten vom Festland machen die Küste unsicher. Und wir liegen in einer Art Krieg mit der Familie des Herrn Tawaraya, der unser Land begehrt. Davor müsst ihr mich schützen.« Ich sagte: »Wir werden Tag und Nacht unsere Augen offen halten und umherspähen. Tawaraya wird nicht wagen, Euer Gebiet anzugreifen.« »Du sprichst laut und sicher, riesiger Mann«, sagte der Schwarzgekleidete. »Du bist noch nicht lange kuge?« Wahrheitsgemäß entgegnete ich: »Nein. Aber mein Mut ist groß, und ich lerne von Tag zu Tag mehr. Ich werde alles tun, um Freude in Euer Gesicht zu bringen.« »Das«, sagte Shokokuyij scharf und stand auf, »wird ziemlich schwierig sein, Ataya Arcohata.« Er hob die Hand, wir verneigten uns, und er verschwand aus dem Raum. Die Diener führten uns in unsere Zimmer, und je mehr wir von der Burganlage sahen, desto mehr erkannten wir, dass sie praktisch nichts anderes darstellte als eine Fortsetzung der Landschaft hinter einer massiven Mauer. Wir sahen Teiche und Gärten zur Zierde und zum Anbau von Würzkräutern. Große Häuser mit schrägen Dächern standen zwischen den Bäumen und waren durch hölzerne Stege miteinander verbunden. »Dort drüben, dieses kleine Haus – das sind die Räume für die kumi und den kumigashira. Du bist Yodoya?« fragte mich ein Diener. Ich verbeugte mich in Richtung auf meinen Freund und erwiderte: »Ich bin Ataya. Dieser kuge ist Yodoya Mootori, Mann der zwei Schwerter.«
»Dann bist du der kumigashira, Yodoya«, sagte der Diener. »Der Herr hat es so bestimmt.« »Wir gehorchen«, sagte Mootori. Wir überquerten einen kreisrunden Platz, kamen an Silberweiden vorbei und an einem Teich, in dem Kraniche stolzierten. Tauben flogen von Dächern auf. Ein Gong erschallte. Diener und Dienerinnen bewegten sich geräuschlos durch die Szene. Ich wurde den Eindruck nicht los, Betrachter eines Bildes zu sein, das mich nichts anging, von dem ich kein Bestandteil war und niemals sein würde. Wir kamen in unser Haus, und sämtliches Gepäck, alle Waffen und die Sättel waren bereits hergeschafft worden. Dann waren wir allein. Yodoya sagte leise: »Hai! Über den ersten Bachlauf bist du gesprungen, Freund! Und jetzt kommt, als nächster Sprung, der über einen breiten Strom.« Ich lachte
und sagte: »Auch ein Strom ist nichts anderes als Wasser. Ich kann schwimmen.« Wir ließen uns baden, einölen und massieren. Die Dienerinnen kicherten, als sie mich sahen. Nach einer kurzen Ruhepause packten wir unseren Besitz aus und richteten uns in den Zimmern häuslich ein. Ich vergewisserte mich, dass ich unbeobachtet war, und stellte eine Verbindung zur mechanischen Möwe her. Auf dem Sichtschirm, dem verkleideten Spiegel, sah ich die Bilder, die die Linsen des Vogels aufnahmen. Er suchte ununterbrochen; ich bemerkte, dass die Möwe nur rund sechzig Meilen von meinem Standort entfernt war. Sie umkreiste einen ähnlichen Besitz wie den des Herrn Shokokuyij und musterte die Gesichter der Männer. »Nichts!« knurrte ich und schaltete die Anlage aus. Es klopfte an der Tür; ich streckte mich aus und rief: »Herein, Yodoya.« Der Samurai setzte sich neben mein Lager, fasste an den Stoff des Kimonos, den ich übergeworfen und geschnürt hatte, und sagte: »Wir reiten in zwei Tagen zum Lehrer der Bogenschule. Ich habe einen Boten losgeschickt.« »Einverstanden. Bist du mit meinen Fortschritten zufrieden?« »Bis jetzt, ja. Du hast alles begriffen. In den nächsten Wochen wirst du mehr Übung bekommen.« Die Einführung des Zen-Gedankens, einer philosophischen Betrachtungsweise, in das Denken dieses Landes hatte die Ausbildung einer militärischen Disziplin und eines mittelalterlichen Ritter-Ehrenkodex gefördert. Im neukonfuzianischen Einfluss dieser Zeit erreichte dieser Kodex seine größte Strenge. Das Handwerk der Samurai wurde mit eiserner Disziplin und Ausbildung durchgeführt – vielfältige, differenzierte Abstufungen des gesellschaftlichen Benehmens waren die Folge. Ich musste viel mehr lernen. Solange ich Nectrion nicht gefunden hatte, besaß ich dafür genug Zeit. »Hast du einen Plan? Was unternehmen wir morgen?« erkundigte ich mich. Ich war müde. »Morgen früh reiten wir auf ausgeruhten Pferden los und sehen uns die Grenzen des Besitzes an.« »Einverstanden. Was für die Pferde gilt, ist für uns nicht falsch. Ist der dritte Samurai schon eingetroffen?«
Yodoya schüttelte den Kopf. »Nein. Unsere Mannschaft, kumi, besteht nur aus zwei Männern. Aus dir und dem kumigashira, dem Anführer. Er heißt Yodoya.« Ich schlief bald ein und erwachte in der Morgendämmerung, band den Gürtel des Kimonos fest, schob eine Wachspapiertür auf und blieb auf den Brettern der Terrasse stehen. Vor mir breitete sich ein Teil des Ziergartens aus. Ich sah den grauen Schimmer am Himmel, und die Fläche des Teiches, über dessen engste Stelle eine zierliche Brücke führte, war unbewegt. Ich lehnte mich an den doppelten Türpfosten und atmete die Morgenluft des Frühsommers. Achtung! sagte der Extrasinn. Ich
verlagerte mein Gewicht auf den anderen Fuß und sah mich um. Was hatte das zu bedeuten? Irgendetwas ging hier vor; ich konnte nichts feststellen. Dann fiel mein Blick auf den Wasserspiegel des Teiches. Er zeigte ein wirres Muster von Ringen, die sich schnitten. Ein Schauer von Blüten war von einem Baum gefallen, obwohl nicht der mindeste Wind wehte. Ich kniff die Augen zusammen, stieß mich vom Pfosten ab und blieb stehen. »Was, bei den ewigen Sternen, ist das?« murmelte ich verblüfft. Links neben mir hing eine Zierschale an einer feinen Kette vom Balken des Dachbinders. Die Schale begann zu schwanken, pendelte hin und her. Nun spürte ich die Bewegung ebenfalls; das Haus erbebte, die Waagrechte verschob sich nach links und rechts. Ein Erdbeben! sagte der Logiksektor aufgeregt. In den nächsten Sekunden schien es, als suche ein unhörbarer Sturm die Landschaft heim. Bäume und Büsche schüttelten sich, Blätter regneten zu Boden. Ich schwankte und stemmte mich gegen die Bewegung. Das Haus ächzte und knirschte in allen Verstrebungen. Laut rissen die papierenen Fenster. Irgend etwas polterte durch den Korridor, in den Ställen wieherten die Pferde. Vögel erhoben sich kreischend in die Luft. Und als ich mich, an einen Pfeiler geklammert, aufrichtete, summte die Anlage, die mich mit der Möwe verband. »Verdammt! Ausgerechnet jetzt!« rief ich. Menschen rannten verzweifelt hin und her. Ich stolperte in den Raum, riss meinen Spiegel aus einem Fach und schaltete die Verbindung ein. Das Bild kam. Ich sah, dass auch dort, wo sich der Fremde befand, die Erde bebte. Während ich mich verzweifelt bemühte, das Gleichgewicht zu halten, starrte ich auf den Bildschirm. Dort sah ich, wie der Vogel in der Luft schwebte und das Chaos betrachtete. Aus einem Haus sprang ein Mann – das Gesicht! Ich erkannte Nectrion, im Kleid eines Samurai. Er hatte ein Kind auf den Armen, rannte zu einer Rasenfläche und legte das Kind ab, vorsichtig, mit sicheren Bewegungen, wich einem Balken aus, der von einem Vordach stürzte, und rannte zurück ins Haus. Hier wie dort brach Panik aus. Tiere und Menschen flohen ins Freie. Das Wasser des Sees schien zu kochen, der Teppich der Seerosen warf Wellen.
Balken knirschten, Insekten kamen aus den Ritzen und rannten hin und her. Während das Haus um mich herum schwankte, während ich umhergeschleudert wurde, hielt ich den Spiegel fest und starrte das Bild an. Nectrion, einen bewusstlosen Mann über der Schulter, ein Kind unter dem Arm und an der Hand ein junges Mädchen, spurtete über den Hof und hielt an, als er den Baum und den Rasen erreichte. Die Möwe schoss aus der Luft herunter, die Optiken stellten sich ein, und ich sah in das
Gesicht des Fremden. Er war es! Inzwischen hatte ich erkannt, dass es der Hof des Herrn Tawaraya war, auf dem sich Nectrion aufhielt. Ein Tisch schlitterte über den Boden heran und traf mit der Kante meinen Oberschenkel. Ich warf mich herum und wurde in der Bewegung vom nächsten Erdstoß umgeworfen. Der Spiegel rollte aus meinen Fingern. Ich kam auf die Füße, rutschte auf einer Strohmatte aus und warf mich nach vorn. Ich ergriff den Bildschirm, wurde abermals durchgeschüttelt und sah hinein. Nectrion war stehen geblieben, machte eine abwehrende Bewegung und wollte die Möwe, die ihn in engen Schleifen umkreiste, vertreiben. Das Tier kam näher. Der Samurai von den Sternen schien zu begreifen, dass dies eine untypische Möwe war. Er griff zum Schwert; plötzlich konkurrierten positronische Relais mit blitzschnellen Bewegungen. Der Vogel wich zurück und stieg senkrecht in die Höhe. Mit einem schnellen Schlag traf Nectrion den Flügel des Tieres. Die Möwe fing sich wieder, schwenkte in der Luft herum, das Bild geriet ins Zittern und Schwanken, dann sah ich, wie das Samuraischwert mit fürchterlicher Wucht den Körper des Tieres zerschnitt. Das Bild flirrte, Störungen traten auf, dann wurde die Scheibe grau. Ich sprang ins Freie. Dann atmete ich tief durch. Staub und Rauch waren in der Luft, unterirdisches Grollen durchlief den Boden, alle Pflanzen und Gebäude schwankten, dann war alles still. Ich sah mich um. Über das Land breitete sich jetzt tiefes Schweigen aus. Ich ging über die unzerstörte Brücke in den Park. Eines jener merkwürdigen Götter-Tore war zusammengebrochen, und ich sah die roten Balken im Gras und zwischen Zierpflanzen liegen. Dann kniff ich die Augen zusammen und sah das schleierartige Gewand, das sich über dem Gras ausbreitete. Ein weißer, nackter Fuß… Ich beschleunigte meine Schritte und sah kurze Zeit später, dass offensichtlich das zusammenstürzende Tor ein Mädchen getroffen hatte. Ich fasste zu, hob den rissigen Balken hoch und schleppte ihn zur Seite. Dann sah ich schwarzes Haar, das strahlenförmig auf dem Kleid lag. Ein abgebrochener Kamm steckte halb im Haar. Als die Sonne sich einen Weg durch Nebel, Rauch und Staub gebahnt hatte,
leuchtete das Haar auf, als läge ein blauer Schimmer darüber. Ein schönes Mädchen lag vor mir. Ich kauerte mich auf die Hacken, schob meine Hände unter den Körper und drehte ihn um. Eine schnelle Prüfung ergab, dass nichts gebrochen schien, nur an der Schulter und am Hinterkopf erfühlte ich geschwollene Stellen. Sie atmet schwach! sagte der Extrasinn. Ich hob den Körper hoch, wunderte mich, wie leicht das Mädchen war, blickte in ein schmales Gesicht mit mandelförmigen,
geschlossenen Augen und haarfein ausgezupften Brauen. Der Kamm fiel herunter, als ich mich durch die Zierpflanzen zum Kiesweg bewegte. Ich sah zum Herrenhaus und stellte fest, dass in das Chaos eine gewisse Ordnung gekommen war. Yodoya gab den Knechten Anordnungen. Auch der Herr in einem weißen Kimono schrie Befehle. Langsam ging ich auf ihn zu. Mitten in einem langen, gebrüllten Satz erstarrte er, riss den Kopf herum und starrte mich an. Ich sagte: »Ich fand dieses Mädchen im Park. Das Göttertor hat es niedergeschlagen!« Herr Shokokuyij klatschte in die Hände, winkte und schrie: »Hierher! Nehmt dem Samurai das Mädchen ab! Bringt sie in…« Er sah genauer hin und schrie aufgeregt: »Das ist Tairi!« »Eure Tochter?« fragte ich. Die Lider in dem Gesicht an meiner Schulter zuckten leicht, wie die Flügel eines Schmetterlings. »Ja. Die missratene Tochter. Die Riesin… Bringt sie in ihre Zimmer! Holt den Mann, der…« Vier Dienerinnen nahmen mir das bewusstlose Mädchen ab und schleppten es ins Haus. Ich hob die Hand, als Yodoya herübersah, und der kleine, dicke Mann mit der schrillen Stimme sagte nach einer Weile: »Ich danke, Ataya. Dieses Beben war kurz und wenig heftig. In einigen Tagen sind alle Schäden beseitigt – ihr könnt zu den Grenzen reiten.« »So werden wir es halten!« sagte ich. »Ich gehe in unser Haus und helfe bei den Arbeiten.« »Ja, das ist das beste!« Shokokuyij wandte sich mit neuer Energie seinen Dienern zu. Das Areal, rund um die Spitze eines sanften Hügels gebaut, verziert durch einige dunkle Felsen, war nur unwesentlich geschädigt worden. Die massiven Mauern hatten keinen Schaden genommen, nur die Häuser hatten gelitten. Ich räumte Holz und Äste von den Wegen, schleppte Balken zur Seite und registrierte, dass die Vögel begannen, ihre zerstörten Nester auszubessern. Gegen Mittag hatten wir auch das kleine Haus instand gesetzt, in dem wir wohnten. Mehrere Türen wurden weggeschleppt, um ausgebessert werden zu können. Am frühen Nachmittag brachen wir auf, mit Briefen und Karten ausgerüstet und mit dem Befehl,
überall auf Ordnung zu achten und den Bauern einen kleinen Teil der Abgaben nachzulassen, weil auch sie unter den Folgen des Bebens litten. Und das Problem des Fremden war akut geworden. Hat er gemerkt, dass die Möwe ein Robot ist? flüsterte der Extrasinn. Er kennt dich nicht! Du kannst dich in seine Nähe wagen. Wie hießen meine nächsten Pläne? Für die Sicherheit der Bauern sorgen, versuchen, das Zen-Bogenschießen zu begreifen, und die Regeln des Samurai kennen, als wäre ich damit geboren worden. Ich bemerkte, als wir im Galopp den Hügel hinunterstoben und in die Ebene voller Reisfelder eindrangen, wie Yodoya mich aufmerksam ansah. Am elften
Tag unserer Reise durch kleine Dörfer, entlang an Bächen und verkümmerten Straßen, durch Wälder, Moore und Bambusdickichte, hatten wir die Schule erreicht. Der Brief und der Umstand, dass Yodoya ein ehemaliger Schüler war, machten es mir möglich, als Schüler aufgenommen zu werden. Wakadoshiyori war mindestens neunzig Jahre alt. »Das Kloster des Shojuku-ji in Hakata hat uns gesagt, wie das Zen wirkt«, sagte er mit einer faszinierend bestimmten Bewegung der Finger. »Myoan Eisai ging nach China, um die Lehre der Meditation zu studieren. Aus dem Wort Ch’an wurde Zen. Nimm den Bogen, Ataya!« Seit drei Tagen befand ich mich hier. Yodoya war weitergeritten und erledigte unsere Aufträge. Ich nahm einen der langen Sumibögen. Neben mir saß der alte Mann auf einem harten Kissen. Wir befanden uns in einem Pavillon inmitten eines Parks, dessen Bäume mein Lehrer gepflanzt haben mochte, als er ein Knabe war. Mehr als fünfzig Schritte entfernt befand sich, durch Gräser, einen Teich und Zierpflanzen von der Terrasse getrennt, ein Häuschen, in dem ein buntbemalter Krieger stand; eine Figur aus Stroh, Filz und Stoff. Der Hintergrund bestand aus gepreßtem Reisstroh, würfelförmig in schwarzen Filz eingeschlagen. Ich hielt den Bogen schräg über meinen Kopf. »Spanne ihn! Und dann… Atmung, Gedanken, innere Ordnung! Nicht du lässt den Pfeil schwirren, sondern das Zen lässt es geschehen. Es schießt!« Die Stimme war beruhigend. Ich hielt den Bogen im unteren Drittel, legte einen Pfeil auf die Sehne und hakte den Daumen mit dem Lederschutz um die Sehne. Mit Zeige- und Mittelfinger hielt ich den Pfeil fest. Dann stellte ich mich in Position; die linke Schulter wies zum Ziel. Dies war etwa der fünfhundertste Versuch. Quälende, langwierige Übungen hatte ich absolviert; mein Ziel war, in völliger Dunkelheit ein fünfundsiebzig Schritte entferntes Objekt genau zu treffen. Ich hielt es für unmöglich, es spottete sogar der Erfahrung. Du triffst, wenn du glaubst! Der Extrasinn half dem Zen-Lehrer. Ich ließ meinen linken Arm bis in die Waagrechte gleiten, gleichzeitig
zog ich hoch über dem Kopf die Sehne aus. Beide Bewegungen verliefen in vollkommener Harmonie. Dann stand ich schießbereit da. »Warte auf das Satori!« Der Atemrhythmus war ebenso wichtig wie das völlige NichtDenken. Ich stand da und wartete, schloss die Augen. Sekunden, Minuten glitten vorbei. Ich würde, schoss ich in herkömmlicher Weise, schon längst einen Muskelkrampf gehabt haben: nicht so bei diesem Versuch. Es vergingen etwa zehn Minuten. Ich war halb bewusstlos, hielt die Augen geschlossen und lauschte in mich hinein. Ich dachte nicht einmal ans Ziel. Alles war gleichgültig. Ich wusste,
dass ich irgendwann die Sehne lösen und schießen würde und – treffen. Die Worte des Alten, ständige Variationen und Wiederholungen eines Themas, beruhigten meinen Verstand und schufen die Voraussetzungen für das Satori, die plötzliche Erleuchtung. Nach abermals einer Zeitlang sagte Wakadoshiyori leise: »Öffne die Augen und löse die Sehne.« Ich öffnete die Augen. Mein Wille hatte sich gegen die Leidenschaften verhärtet; Unwesentliches verschwand, Wesentliches wurde undeutlich, das Ziel trat klar und deutlich hervor. Ich stellte den Daumen gerade und sah den fernen Krieger an. Er war nur irgend etwas. Kein Ziel, unwichtig. Nur der Knopf auf seiner Brust füllte meine Gedanken aus, während die Bogensehne den langen Pfeil nach vorn riss und gegen den Armschutz schmetterte. Ich sah nach vorn – der Pfeil stak in der Mitte des schwarzen Knopfes. Wakadoshiyori sagte in kritischem Ton: »Gut. Vier Schüsse, eine Stunde. Ein Ergebnis, das für Fürsten gut sein mag, nicht aber für tüchtige kuge.« »Nun habe ich es mir in den Kopf gesetzt, Meister des Zen, ein tüchtiger kuge zu werden«, sagte ich und atmete mehrmals durch; es war ein Teil der Joga-Übungen, die mit dem Zen einhergingen. Lebenskraft, Energie und Wille feierten im Zen, im Idealfall, wahre Triumphe. Es wurde zu einer Schule des Stoizismus für die Ritter dieses Landes. Vielleicht begriff ich so schnell, weil die Schriften des Seneca zu meiner Lieblingslektüre zählten; auch meine DagorAusbildung half. »Dann lerne weiter!« sagte er. »Eine Schale Tee, eine Stunde Meditation – und wir fahren fort, wenn es dunkel ist. Nicht mehr als fünf Schüsse heute; dein Geist hat sich dem Satori noch nicht voll geöffnet.« Erst wenn ich so schnell und sicher schoss, wie ich es auf »europäische Art« gewohnt war, konnte ich zufrieden sein. Was die Treffer in völliger Dunkelheit betraf… plötzlich weigerte ich mich nicht mehr länger, an diese Möglichkeit zu glauben. Tee wurde eingegossen, ich setzte mich auf das zweite Kissen, und meditierend genossen wir den Tee und einen Sonnenuntergang, der alles in
unwirkliches Licht tauchte. In langen Reihen standen Bögen und Pfeile an der Wand des Pavillons. »Du bereitest dich auf einen Kampf vor?« fragte der alte Lehrer irgendwann. Ich schüttelte den Kopf. Je länger ich mich in diesem Land, unter solchen Umständen, aufhielt, desto mehr glichen sich Denken und Aussehen der Norm an. Auch ich trug mein schwarzgefärbtes Haar in der Art der Samurai hochgesteckt. »Nein. Ich werde versuchen, den Samurai mit Worten zu besiegen. Das Schwert ist nur der letzte Ausweg.« »Recht so«, sagte er. »Einem Ritter ziemt es, sich des Verstandes zu bedienen.« Langsam fiel
die Nacht. Über dem Park sahen wir die Sternarchipele inmitten des Himmels. In dieser von Sümpfen umgebenen Zone hatte das Beben, eines von vielen jährlich, kaum Schäden angerichtet. Nachdem der Geruch des Tees von der Nachtluft aufgesogen worden war, sagte der Lehrer: »Der erste von fünf Versuchen, Ataya!« »Ich gehorche!« erwiderte ich. Ich nahm einen anderen Bogen, denn da ich nicht wirklich schoss, sondern »Es« schoss, war es gleichgültig, mit welcher Waffe ich es versuchte. Ich nahm, ohne hinzusehen, einen Pfeil und machte die vorgeschriebenen Atemzüge. Dann hielt der Lehrer seine Hand vor die Kerzenflamme; der Raum wurde dunkel. Ich sah das Hüttchen mit dem Ziel nur undeutlich und schloss, während ich den Bogen spannte, die Augen. Ich fühlte den unerbittlichen analytischen Blick des Lehrers, während ich mich in eine Art vorübergehender Trance versetzte. Dann, nach einer Zeit, deren Dauer ich nicht bestimmen konnte, sagte der Lehrer: »Löse die Sehne!« Ich hörte einen dumpfen Aufschlag. Der Lehrer nickte mir zu, als ich mich entspannte. Ich ging die wenigen Schritte, nahm einen zweiten Pfeil, stellte mich in Position. »Versuche es!« Es fiel mir nicht auf, dass die Stimme des uralten Mannes zufrieden geklungen hatte. Kein Muskel des Gesichtes rührte sich. Noch vor wenigen Tagen hatte ich gedacht, dass ich wohl niemals Zugang zu der Kultur bekommen würde. Jetzt wusste ich: Ich wurde immer mehr Teil dieser Kultur. »Löse die Sehne!« Der Schuss löste sich. Das Geräusch brach mit einem dumpfen Einschlag ab. »Hole deinen eigenen Bogen und drei der eigenen Pfeile!« ordnete der Lehrer an. Ich legte den Bogen zurück, verbeugte mich und gehorchte. Binnen kurzer Zeit war ich mit dem Bogen aus nachgeahmten Bambusfasern da und mit drei der maschinell ausgewuchteten und ausgespinten Pfeile. »Versuche es wieder!« Der dritte Schuss. Der vierte. Und schließlich, bei völliger Dunkelheit, der Lehrer hatte die Kerzenflamme ausgeblasen, der
fünfte und letzte Schuss. Ich hatte noch das Geräusch des Einschlags in den Ohren, ordnete meine Gedanken und verneigte mich. Der Meister griff nach meinem Bogen, stellte sich hin und schoss einen Pfeil in die Richtung des Zieles. Alles geschah in völliger Dunkelheit. Dann sagte Wakadoshiyori leise: »Komm!« Wir verließen den Pavillon. Wie Schatten erreichten wir das Haus, ich nahm eine Fackel und entzündete sie am Holzkohlenbecken. Langsam schritten wir durch den Park. Ich schaute vorschriftsmäßig zu Boden, bis wir davor standen und ich eine verblüffte Stimme hörte: »Sieh her! Hebe die Fackel!« Ich traute meinen Augen nicht. Die fünf Schüsse, in völliger Dunkelheit abgegeben, hatten getroffen. Mehr als das: Der erste Pfeil mit der weißen
Markierung saß im rechten Auge der Puppe und die anderen ringsherum. Ein Pfeil hatte einen vorher eingeschlagenen Pfeil der Länge nach angeritzt. Ein Bündel aus fünf Pfeilen steckte im Ziel, das nicht viel größer als mein Daumennagel war. Der Schuss des Meisters stak neben meinem ersten Treffer im schwarzen Knopf auf der Brust der Puppe. Der Lehrer lehnte sich gegen das Häuschen, starrte mich an und beruhigte sich. Dann verbeugte er sich so tief, dass sein Kopf beinahe meine Knie erreichte. Er sagte feierlich: »Ich habe einige hundert Schüler gehabt. Einige von ihnen brauchten Monate, die meisten Jahre. Aber keinem von ihnen ist geglückt, was du fertigbrachtest. Nach sechs Tagen Übungen beherrschst du die Kunst der Ritter – das Zen-Bogenschießen.« »Ich freue mich, dass ich ein guter Schüler eines hervorragenden, einmaligen Lehrers sein durfte«, sagte ich betroffen. Stets waren Pädagogen Schmeicheleien zugänglich; hier stieß ich auf schroffe Ablehnung. »Ich war nur das Werkzeug«, sagte er. »Der Fluss, auf dem die Boote des Verstehens schwimmen. Zen ist die Quelle, und du warst der Unterlauf.« Ich erwiderte: »Das Meer enthält mehr Wasser als der breiteste Strom. Ich freue mich, aber ich misstraue auch. Wir wollen morgen die Versuche wiederholen.« Ich fühlte mich ein wenig abgespannt, und ganz hatte ich noch immer nicht begriffen, dass ich einen weiteren Schritt geschafft hatte. Wir zogen vorsichtig die Pfeile aus der Puppe und gingen ins Haus. In dieser Nacht schlief ich unruhig, denn meine Gedanken waren beim Raumschiff, bei Nectrion und bei Tairi No Chiyu, die ich bewusstlos gefunden hatte. Das Pferd und auch der Mann im Sattel machten einen abgehetzten Eindruck. Ich sah den flachen Helm mit dem langen Nackenschutz und flatternden Bändern an den silberfarbenen Luchsschädeln als Silhouette auftauchen, als ich den letzten Schuss ins Ziel jagte. »Wer kommt?« fragte der Lehrer, ohne seine Haltung zu verändern.
»Yodoya!« sagte ich, machte die Atemübungen und stellte den Bogen zurück. Dann verbeugte ich mich vor dem Meister und setzte mich. Der Hufschlag kam näher. Nach einem Aufenthalt von weniger als fünfzehn Tagen in der Bogenschule kam Yodoya von seiner Mission zurück. Er versorgte sein Pferd und kam durch den Garten, verbeugte sich mehrmals vor dem Meister und setzte sich, als ihm eine Schale Tee angeboten wurde. Dann löste er den Helm, breitete die Schöße des ledernen Rockes aus und sagte: »Rundherum ist alles ruhig und meist zufrieden. Aber um den Zankapfel, einen riesigen Bauernhof mit Obstgärten, viel Reis und Hühnern, wird es Kampf geben.« »Bist du in eine Lage gekommen, in der ich dir hätte helfen können?« Er zeigte in einem raubtierhaften
Lächeln seine Zähne und erwiderte: »Ich lebe und bin unverwundet. Hat der Schüler einige Fortschritte gemacht, Meister Wakadoshiyori?« Der Lehrer verneigte sich gegen mich und erklärte bündig: »Es gibt nichts, was ich ihn noch lehren könnte.« Auf Yodoyas Gesicht zeichnete sich maßloses Erstaunen ab. »Alles hätte ich gedacht, aber das auf keinen Fall!« Der Meister und ich schwiegen höflich. Yodoya berichtete, was er entdeckt und erfahren hatte. »Seit Generationen geht ein Streit zwischen den beiden Herren, deren Landesgrenzen aneinander stoßen, um diesen fruchtbaren Hof voller fleißiger Menschen. Jeder beansprucht Menschen, Land und Ernte für sich. Und immer wieder trafen sich die Kämpfer und fochten gegeneinander. Sechsmal in der Geschichte besiegte die Familie Tawaraya die Männer des Herrn Shokokuyij.« »Ihr seid Männer dieses Herrn Shokokuyij?« fragte der Lehrer. »Wir sind seine einzigen Samurai«, erwiderte ich. Der alte Mann erklärte: »Seit Jahrhunderten ist immer wieder um dieses Gehöft Streit entbrannt. Der Hof ist kraft Gesetzes von Iemitsu, dem dritten Shogun, zum Land der Familie Tawaraya geschlagen worden. Mag sein, dass die Wirren der Zeit und des Shimabara-Aufstandes die Dokumente vernichtet haben, aber jeder weiß, dass es so ist. Ihr beide kämpft nicht auf der Seite dessen, der das Recht hat.« »Noch ist kein Kampf angesagt!« meinte der Samurai. Der Lehrer winkte ab und sagte heiser: »Noch ist nicht Ernte. Früher oder später werden sie wieder um den Besitz streiten. Es wird als nicht sehr ehrenvoll angesehen, auf Seiten von Shokokuyij zu sein, meine Freunde.« »Deswegen also besitzt er keine eigenen Samurai«, sagte Mootori trocken. »Ich gebe euch den Rat, dem Herrn den Dienst zu kündigen, ehe ihr in einen Streit verwickelt werdet, der ehrlos ist!« sagte der Lehrer mit Bestimmtheit. »Nichts anderes hätte euch der Weise Mann im Tempel gesagt, hätte er von dem Gutshof gewusst.«
Wir verbeugten uns und sagten: »Wir danken dir für diesen Rat. Und, Vater, wo kann ich die Schwertführung lernen?« fuhr ich fort und blickte ihn an. »Ich werde dir einen Brief an den Leiter der Samuraischule geben. Er wird darin lesen, wie talentiert du bist, Ataya!« »Ich danke dir!« In Edo war einst eine Verschwörung gegen den Shogun entdeckt worden, und seit dieser Zeit war man allerorten bemüht, die ronin, die nichtansässigen und armen Samurai, in Verbände kleiner Gruppen einzugliedern. In dem starren Kastensystem war dies schwer möglich, und so gab es eine Reihe Samurai, die von Herrn zu Herrn zogen, sich verdingten, den Dienst verließen oder getötet wurden. Auch brachten sich viele gegenseitig um, weil einer den anderen beleidigt hatte. Arzt,
Lehrer oder Priester oder wandernder Samurai – das waren die beruflichen Möglichkeiten, die Männern wie uns blieben. Aber wie hatte es Nectrion geschafft, als Samurai in jene Familie aufgenommen zu werden? Einige Zeit später sagte Mootori: »Wir müssen weiterreiten, Ataya, sobald du hier entlassen wirst. Es ist viel zu tun. Streit muss geschlichtet werden, und die Abgabenschätzung wird uns sehr lange aufhalten.« Der Lehrer sagte: »Bald ist der Brief geschrieben. Bald weißt du, wohin du reiten musst, wenn du die Samuraischule erreichen willst. Und… sie ist nahe der Burg der Familie Tawaraya.« Yodoya und ich wechselten einen bedeutungsvollen Blick. »Wir haben verstanden.« Noch einen Tag lang verbrachten wir in gutem Gespräch mit dem Lehrer und mit der Pflege von Tier und Waffen, dann ritten wir weiter. Je mehr technische Möglichkeiten ich verlor, desto mehr persönliche Erkenntnisse und Kenntnisse sammelte ich. Aber noch immer focht ich mit dem Schwert wie ein britannischer Ritter mit Dagor-Schulung. Nach einigen Tagen erreichten wir ein kleines Dorf, das aus einer Anzahl eng beieinanderliegender Häuser bestand. Hier wurden Baumwolle und Tee angebaut, Hanf und Zuckerrohr, Maulbeerbäume für die Zucht von Seidenraupen, Tabak und Pflanzen zur Gewinnung des Farbstoffes Indigo. Dafür gab es weniger Reisfelder, aber schon als wir über die Grenze des Nebenhofes geritten waren, konnten wir erkennen, dass auch hier mustergültige Ordnung herrschte – kein Quadratfuß Boden war vergeudet oder unbearbeitet. Eine Herde schöner, gepflegter Pferde befand sich in einem Pferch. Ich zügelte mein Pferd und wartete, bis Yodoya an meiner Seite war. »Was haben wir hier zu tun?« fragte ich. »Wir müssen die Ernte schätzen, damit der Herr die Abgaben festlegen kann!« sagte der ronin. Wir ritten ins Dorf. Von überall her hörten wir Arbeitsgeräusche. Goningumi nannte man die fünf verantwortlichen Familien, deren Vorsteher gleichzeitig shoya war,
der Dorfschulze. Wir ritten zum prächtigsten Haus am Platz und banden die Zügel an einer Barriere fest. Dann blieben wir stehen und warteten. Der shoya kam aus seinem Haus, verneigte sich und begrüßte uns. »Die Ernten stehen nicht zum besten, Freunde!« Yodoya lachte; seine Verachtung für den Stand der Bauern und Handwerker war nicht geringer als die aller Samurai. Er sagte kurz: »Unsere Augen sind scharf, und das Wetter ist günstig. Lasst uns einen Rundgang machen!« Wir verbrachten zwei Tage im Dorf; man stellte uns ein Haus zur Verfügung. Yodoya holte einen Tuschestab aus seinem Gepäck, eine Schale und einen in Bambus gefassten Pinsel. Er verrieb Tusche mit Wasser und schrieb auf, was wir erfahren hatten. Diese Leute waren fleißig und genügsam.
Verglichen mit der Pracht, die in der Hügelburg herrschte, lebten sie in der Nähe des Existenzminimums, aber schienen sich wohl zu fühlen. Wir beendeten unsere Arbeiten und wurden zum Abschied vom shoya bewirtet. Als wir zum Hügel ritten, sagte Yodoya: »Hast du gemerkt, wie karg das Abschiedsessen war?« »Ja. Er wollte uns damit zeigen«, meinte ich, »wie arm sie sind. Beutet Shokokuyij seine Bauern aus?« Der Samurai hob die Schultern und entgegnete nach einer Weile: »Seine Steuern sind zu hoch. Er hat unter den Bauern nur wenige Freunde. Und… ich habe mich entschlossen, Ataya!« »Wozu?« Er machte eine Pause, dann erwiderte er: »Ich werde meinen Dienst bei Shokokuyij kündigen. Ich bin freier ronin; ich kämpfe nicht mit Unrecht Seite an Seite. Ich bin arm, aber besser arm als ohne Ehre.« Da ich die Regeln kannte, nach denen Samurai lebten, verstand ich ihn. »Was wirst du tun, nachdem der Herr dich entlassen hat?« »Ich weiß es nicht.« »Willst du nicht mit mir kommen?« fragte ich laut. »Ich werde ebenfalls kündigen, dann gehe ich in die Samuraischule.« »Auf alle Fälle begleite ich dich dorthin!« sagte er bestimmt. Wir ritten am Tag und rasteten in der Nacht, meist in Bauernhäusern, die sich im Besitz des Herrn befanden. Am vierten Tag erreichten wir die schwarze Burg und wurden eingelassen. Es war Nacht. Wir saßen auf Kissen, zwischen uns standen Tische und große Kerzenleuchter. Geräuschlos bedienten uns junge Dienerinnen. Wir hatten uns von der Reise erfrischt und verneigten uns vor Shokokuyij, ehe wir die Rollen mit den langen Kolonnen aus Tuscheschrift hervorzogen. »Wie steht es um meinen Besitz?« fragte er scheinbar desinteressiert, als Sake in flachen Schalen gereicht wurde. Yodoya und ich erklärten, was wir festgestellt hatten; die Wahrheit, denn unsere Ehre verpflichtete uns dazu. Wir schilderten die Lage der Bauern, die Zerstörungen durch das Beben, den Stand der zu
erwartenden Ernte und die wenigen Nachlässe, die wir in seinem Auftrag gewährt hatten. Eine riesige Menge Abgaben stand am Ende unter dem Strich. Schließlich fragte der Herr: »Und das Gut des Koryusai? Was wird es bringen? Wie stehen dort die Ernten?« Ich verneigte mich und erwiderte: »Euer unwürdiger Diener hat dieses Gut nicht betreten. Da es nicht Euch gehört, Herr, wagten wir nicht, die Ernte zu schätzen.« Shokokuyijs Augen funkelten, er machte, eine unwillige Bewegung und verschüttete Sake. Dann sagte er, lauter und drohender: »Du hast es nicht gewagt? Ich bin gewiß, dass ich einen entsprechenden Befehl gegeben habe!« Das Schweigen begann unbehaglich zu werden. Yodoya sagte mit bewundernswerter Ruhe: »Wir hatten den Befehl, verehrungswürdiger Herr. Aber wir Samurai dürfen
nicht zulassen, dass Unrecht geschieht. Wir verteidigen das Recht, und unter dieser Bedingung sind wir auch bei Euch in den Dienst getreten.« Wir saßen starr da. Nur die Kerzenflammen flackerten. Der Herr zwang sich zur Ruhe und richtete eine weitere Frage an mich. »Ich will nicht, dass Unrecht geschieht. Aber dieser Gutshof gehört seit Jahrhunderten zu meinem Besitz. Er ist mir abgabenpflichtig.« Ich erwiderte gemessenen Tones: »Der dritte Shogun selbst, der gottähnliche und bewunderungswürdige Iemitsu, hat mit einem Gesetz bestimmt, dass der Hof von Koryusai zum Land des Herrn Tawaraya gehört. Ihr wisst es wie wir unwürdigen Diener.« Yodoya verneigte sich abermals und fuhr fort: »Verlangt nicht von uns, dort die Ernte zu schätzen. Und wenn Erntezeit ist, werden wir auch nicht mit Euch gegen Tawaraya kämpfen, denn es ist Unrecht. Seht dieses Unrecht ein, Herr, und wir bleiben in Eurem Dienst. Sonst verlassen wir Euch – noch heute.« Die Unterhaltung wurde in normalem Tonfall geführt. Selbst Shokokuyij, von starker Erregung gepackt, sagte mit heiserer Stimme: »Ataya! Was hast du meiner Tochter gesagt? Welche verabscheuungswürdigen Worte hast du ihr ins Ohr geflüstert?« Ich richtete mich auf und legte die Hand an den Schwertgriff. Die wachsamen Augen meines Freundes beobachteten mich. Yodoya rührte sich nicht, aber ich wusste, dass er blitzschnell handeln würde, wenn es notwendig war. Ich sagte liebenswürdig: »Herr, Eure Tochter war, als ich sie unter dem Göttertor hervorzog, bewusstlos. Ihr Geist weilte bei den Ahnen. Ich habe kein einziges Wort zu ihr gesagt, weil sie es nicht gehört hätte. Eure Gedanken, Herr, sind wohl vom Pfad der Vernunft abgewichen, sonst würdet Ihr mich nicht in dieser Form beschuldigen.« Er fuhr zurück, schüttete sich Sake ein und murmelte: »Ich kann es nicht ändern. Lasst euch von dem Mann an meiner rechten Seite den Lohn auszahlen, sattelt eure Pferde und verlaßt mich. Ich brauche keine Samurai, die Befehle verweigern und den Töchtern Dinge versprechen, die sie nie einlösen können.« Yodoya beherrschte sich mustergültig, ich begriff, dass wegen weitaus geringerer Kleinigkeiten Schwertkämpfe stattgefunden
hatten. Nur der Umstand, dass wir in seinem Dienst standen, rettete Shokokuyij das Leben. Wir verneigten uns und gingen, die Hand am Schwertgriff. Die Dienerinnen wichen vor uns zurück, und als ich vor einer Schiebetür stehen blieb, fühlte ich, wie eine junge Dienerin mir einen Papierstreifen in die Hand drückte. Ich nickte ihr zu und folgte Yodoya, der aus dem Herrenhaus ging. Seine Erregung zeigte sich dadurch, dass er schneller ging und wuchtiger auftrat als sonst. Die Situation hat sich zu
euren Gunsten geklärt! flüsterte der Extrasinn, als wir über die kiesbedeckten Wege in unser Haus gingen. Wir blieben im Schutz des heruntergezogenen Daches stehen; ich sagte: »Wir reiten zur Samuraischule, Yodoya?« »Ja«, sagte er bitter. »Ich glaube, ich brauche einige Wochen Unterweisung im Zen. Ich hätte mich in meiner Wut beinahe vergessen und den Herrn niedergeschlagen.« Wenn er wütend gewesen war, hatte ich davon nichts gemerkt. »Wir gehen!« sagte ich. »Während ich in der Schule bin, wird sich für dich ein Ort finden, an dem du angenehm wohnen kannst.« Er starrte mich an, nickte und meinte: »Wir packen. Je eher wir diese Burg verlassen haben, desto weniger wird unsere Ehre angetastet.« Eine Stunde später ritten wir mit vier Tieren durch die Schlucht zwischen den Mauern hinaus, galoppierten drei oder vier Stunden, bis wir uns der Grenze des Gebietes unseres ehemaligen Herrn näherten. Die Sterne begannen zu verblassen, als wir unser Lager aufschlugen. Wir entfachten ein unauffälliges Feuer. Dann zog ich den Papierstreifen aus dem Gürtel und rollte ihn auf. Ich begann zu lesen. Bisher, verehrungswürdiger Samurai Ataya, hat noch nie die Hand eines Mannes meinen Körper berührt. Ich runzelte die Stirn. Niemals werde ich den Morgen nach dem Beben vergessen und dich, wie du mich ins Haus getragen hast. Ich weiß, dass du gehst, aber ich glaube daran, dass unsere Wege sich einmal treffen werden. Tairi No Chiyu. Yodoya schaute auf und fragte: »Die Tochter? Die Riesin, wie sie genannt wird?« »Ja«, sagte ich und warf den Streifen ins Feuer. Das Papier verbrannte und segelte als Rußflöckchen in die Höhe. »Dann hast du es also auch erfahren«, sagte der Samurai. »Verehrungswürdiger Freund«, sagte ich und grinste. »Die Tochter des Mannes, der uns entlassen hat. Ich, ein ronin, der sich niemals mehr dort sehen lassen kann, soll dieses Mädchen… etwa heiraten?« Er musste den Unterton von Entsetzen aus meiner Stimme herausgehört haben, denn er lachte schallend. Er warf mir die Sakeflasche zu und lehnte sich zurück.
»Niemand kennt den Weg, den er geht«, sagte er leise und beschwörend. »Sie ist eine Schönheit, obwohl ich friere, wenn ich ihre Größe sehe. Sie ist nicht dumm; die Dienerinnen sagen, dass es ihr schwerfällt, die Sitten einzuhalten. Es wird sich niemand finden, der sie heiratet, und aus diesem Grund würde ich an deiner Stelle warten.« »Du meinst, dass sich unsere Wege kreuzen könnten?« fragte ich und wusste, dass es wohl kaum der Fall sein würde. »Auf dieser Welt ist fast nichts unmöglich.« »Meinethalben«, sagte ich. »Die Gedanken an Tairi werden mir die bitteren Stunden in der Samuraischule versüßen wie
der Saft des Zuckerrohres.« »Der, wie wir wissen, klebrig ist.« Er lächelte. Wir schliefen bis in den Mittag, aßen ausgiebig und ritten weiter, der Stadt im Süden entgegen, in der die Samurai ausgebildet wurden. Dort sollte ich meine letzte Schulung bekommen. Ich ahnte nicht, was mich erwartete. Ich stieg aus dem Sattel und murmelte: »In guten Zeiten soll man schlechte Tage nicht vergessen; in Friedenszeiten aber soll man an den Krieg denken, sagt Yang-Hu.« Schon als wir in der Schule ankamen, machte ich die erste schlechte Erfahrung. Wir stellten uns vor, zeigten die Empfehlungsschreiben und legten unsere Ahnenrollen vor, wurden befragt und begutachtet; schließlich verlangte man mein Schwert. Ich zog es aus dem Gürtel und hielt es, wie es vorgeschrieben war, dem Lehrer hin. Er wog es in der Hand, lachte verächtlich und streckte mir das Schwert entgegen, den Griff voran. »Zieh es aus der Scheide, Ataya!« sagte er. Ich zog das gekrümmte Schwert mit dem sauber gearbeiteten Griff heraus und blieb abwartend stehen, in der Grundhaltung, die ich von Yodoya gelernt hatte. Der Lehrer sagte: »Führe einen Schlag gegen mich!« Ich gehorchte und schlug zu, bemühte mich, einen richtigen Schlag schnell anzubringen. Noch ehe ich die Bewegung ausgeführt hatte, war der Lehrer mit einem Sprung zurückgewichen und lachte. Seine Augen hatten keinen Sekundenbruchteil lang die Hinge und mein Handgelenk losgelassen. Dann sagte er fast verständnisvoll: »Mit diesem Schwert, das, zugegeben, einen schönen Griff besitzt, könnte nicht einmal ein Meister umgehen. Es taugt nichts.« Demut gegen den Lehrer, Verständnis für alles, was er sagt! warnte das Extrahirn, aus dem Buch der Samurai zitierend. »Meister«, ich verbeugte mich wieder, »ich habe dieses Schwert um guten Lohn von einem Schwertschmied gekauft.« Der Lehrer sagte: »Das Schwert ist die Verlängerung des Armes und der Hand. Einen Arm oder eine Hand, Schüler Ataya, kauft man nicht. Man entwickelt sie in langsamer Arbeit zu einem
Kunstwerk. Wir werden, während wir Schwertkampf und vieles andere lernen, ein Schwert nur für dich schmieden. Denke an die hinderliche Länge deines Körpers und deiner Arme – was du brauchst, ist ein anderes Schwert, nicht eine solche Stümperarbeit.« Ich begriff. In den nächsten vierzig Tagen kam ich kaum zum Denken. Ich wurde gründlich trainiert, trat gegen dreißig Gegner an; wir fochten mit hölzernen Schwertern. Auch Yodoya blieb und ließ sich schulen; ich zahlte für beide. Ich half dem Schmied: Ich trug Kohle und trat den Blasebalg, ich schmiedete an meinem Schwert, schliff und polierte es an den Schleifsteinen, ich half überall. Immer mehr bekam ich das Gefühl,
dass das Schwert mein verlängerter Unterarm war. Zen-Schwertkampf unterlag ähnlichen geistigen Prinzipien wie das Bogenschießen. Wenn man sämtliche Schläge und Varianten aller Schläge richtig ausführen konnte, wenn man auf sämtliche Angriffe des Gegners richtig reagieren konnte, nur dann konnte man einen Schwertkampf gewinnen. Auf diese Art wird dem Samurai die Todesangst genommen. Er kennt, wenn er kämpft, keine Angst. Denn er kämpft ja nicht, sondern »Es« kämpft! Ich empfing achtmal einen Funkanruf von Rico. Noch immer wohnte der Fremde auf dem Hof des Herrn Tawaraya. Noch immer übermittelte er seinem Raumschiff lange Texte einer unbekannten Sprache. Schließlich erfuhr ich, dass Nemuro Munenaga kurz nach seiner Ankunft Schüler dieser Schule gewesen war… Ich kam nicht dazu, diesen Gedanken lang auszuspinnen, denn ich musste lernen. In der Schule des Herrn Katsura Kaishu herrschte unerbittliche Disziplin. Ich schien den Schwertkampf einigermaßen zu beherrschen, als mein Schwert fertig geschmiedet und poliert war. Ich bekam es, zusammen mit einer Scheide und dem Gehänge. Der Griff war pechschwarz lackiert, mit Golddraht verziert. Die Waffe wog fast nichts in meiner Hand, aber ich wusste, welch tödliches Instrument ich besaß. Mit meiner Technik und diesem Schwert hätte ich einen Zug Hunnen aufhalten können. Den ersten »richtigen« Kampf verlor ich; ich kämpfte eine halbe Stunde lang gegen einen Lehrer, dann fintierte ich falsch und fühlte einen Sekundenbruchteil später, wie die Spitze des anderen Schwertes vom Magen aus schräg über die Brust bis zur linken Schulter einen haarfeinen Schnitt verursachte – hätte mein Gegner etwas mehr ausgelegt, wäre ich tot gewesen. Der Lehrer verbeugte sich und sagte: »Schüler Ataya, du solltest dein Perlmutt-Amulett nicht auf der Brust tragen. Es ist hinderlich.« »Wenn ich dieses Amulett verliere«, sagte ich und wusste, dass ich zumindest nicht zu den hoffnungslosen Fällen gehörte, »bin ich tot! So oder so. Ich werde es weiter tragen.« Einen vollen Monat später – ich absolvierte dreihundert Kämpfe mit verschiedenen Gegnern und siegte meist, obwohl wir uns
bemühten, uns gegenseitig nicht zu verwunden – trat ich gegen den Lehrer an, der die Schule führte, gegen Katsura Kaishu. Er begrüßte mich und sagte, sein Schwert in der Hand: »In drei Monaten hat bisher nur ein einziger Mann den Schwertkampf und alle Tugenden, die dazu führen, beherrschen gelernt. Es war ein fremder Samurai…« Er machte eine Pause, und ich ahnte, welchen Namen er erwähnen würde. »… Nemuro Munenaga. Du bist ein hervorragender Bogenschütze; wir werden sehen, ob dein Talent zum Schwertkampf ebenso gut ist wie zum Bogenschießen.«
Wir, das waren sämtliche Schüler und Lehrer. Sie bildeten einen Kreis an den Wänden der Halle, saßen übereinander auf flachen Bänken und blickten in den Mittelpunkt der ausgespannten Matte, auf der wir rangen oder waffenlosen Angriff und Verteidigung übten. Dort standen wir uns gegenüber. »Es wird mir schmeicheln, ehrwürdiger Lehrer«, sagte ich und zog das Schwert samt Scheide aus dem Gürtel, »von Euch besiegt zu werden.« Wir verbeugten uns abermals. Dann zogen wir die Klingen blank, warfen die Scheiden hinter uns und nahmen die Grundstellung ein, führten schnelle, konzentrierte Schläge, und die Schreie der Entspannung, die dem Zen und der richtigen Versorgung des bewegten Körpers mit Sauerstoff dienten, hallten von den hölzernen Wänden zurück. Das Tappen unserer bloßen Füße, das Zischen der Klingen, die Schreie, das Atmen und das nervenzerreißende Geräusch, das erklang, wenn die Klingen aufeinandertrafen, waren die einzigen Geräusche. Die Zuschauer wagten nicht, laut zu atmen. Niemand sprach. Unsere Körper bedeckten sich mit Schweiß. Klassische Schläge wurden mit klassischen Verteidigungsschlägen beantwortet. Die sechste Variation eines fintierten Schlages forderte die siebente Variation der Verteidigung heraus. Unsere Körper prallten zusammen und trennten sich. Vom Tsuba, dem Handschutz der Waffe Kaishus, splitterte ein Stück ab. Stoff zerriss knirschend, als unsere Gewänder von den Klingen getroffen wurden. Dazwischen die Entspannungsschreie! Hieb und Schlag, Stoß und Rückzug wechselten sich ab. Der Kampf wurde schneller, und beide Gegner hofften, durch die Schnelligkeit des Kampfes würde die ununterbrochene Konzentration unterhöhlt werden. Auf keinen Fall bei Katsura. Auch nicht bei mir, denn ich kämpfte nicht wirklich. Ich stand neben mir und sah zu, wie ein anderer Atlan-Ataya kämpfte, wie dessen schweißüberströmter Körper pausenlos in Bewegung war. »Es« kämpfte an meiner Stelle, und »Es« kämpfte ausgezeichnet. Eine dreiviertel Stunde dauerte der Kampf. Hier und da kam Murmeln unter den Zuschauern auf. Einmal sah ich in das Gesicht Yodoyas und erkannte dessen Freude – er war, was mein
Vermögen, diese Lehre zu verarbeiten, betraf, mindestens so skeptisch wie ich selbst. Irgendwann sah ich eine Unsicherheit im Schritt des Lehrers. Ich setzte nach und brachte ihn mit zwei variierten Schlägen in Bedrängnis. Ein winziger Fehler, der nicht binnen der nächsten drei Schläge gutgemacht wurde, vergrößerte sich von Schlag zu Schlag. Und endlich: Seine Klinge kam senkrecht von oben, zielte auf meine Stirn, ich wehrte ab und sprang nach rechts. Dorthin folgte mir die Bewegung der geschwungenen Waffe, aber ich sprang schnell nach vorn, nach links zurück und wieder nach rechts.
Während dieser Manöver beschrieb meine Waffe einen doppelten Kreis und zwei Parabeln, eine Tangente – dann warf die Hebelwirkung die Waffe des Lehrers in die Luft. Als er sprang und nach ihrem Griff langte, stach ich zu und führte den Stich zwischen Körper und angewinkeltem Arm hindurch. Die Klinge wäre, hätte ich sie nicht im letzten Moment abgelenkt und hätte Katsura nicht begriffen, mit verblüffender Schnelligkeit drei Handbreit durch seinen Körper gegangen, trotz der vielen Scharten, die sie hatte – oder gerade deswegen. Wir brachen den Kampf ab. Ich hatte gesiegt. Katsura verbeugte sich. Wir waren schweißüberströmt, und der Lehrer, einer der fünfzig besten Schwertkämpfer des Landes, sagte leise keuchend: »Wer noch wagt, Euch als Schüler zu bezeichnen, Ataya, der begeht einen Bruch des Ehrenkodex. Ihr seid ein Meister!« Ich lächelte zaghaft und fragte: »Besser als Munenaga?« »Ja. Ihr seid besser als ich – Ihr habt gelernt, die Größe Eures Körpers richtig einzusetzen. Ich habe dies nicht für möglich gehalten.« Ich sagte, ehrlich überrascht und stolz auf meine Leistung: »Niemals wäre es mir gelungen, Meister, Euch zu besiegen, wenn ich nicht von Euch und Euren Lehrern alles gelernt hätte. Ich bin tief in der Schuld dieses Hauses, dieser Schule. Ihr gestattet, dass ich Euch, alle Männer in diesem Raum, zu einer feierlichen Teezeremonie einlade? Es wird mein Fest sein und meine Ehre!« Er nickte. Auch die Zuschauer kamen auf mich zu, beglückwünschten mich und sagten, sie würden sich gern einladen lassen. Die Freude darüber, dass ich alles konnte, was ein Samurai brauchte, war so groß, dass ich noch andere Einladungen ausgesprochen hätte. Meine Lehrzeit war zu Ende. Es wurde ein langes, sehr lustiges Fest, in dessen Verlauf eine Menge derber, auch raffinierter Gedichte, mijika-uta oder tanka, verfaßt wurden, jene drei-, fünf- oder siebenzeiligen Reime, die ohne Pointe nicht denkbar waren. Ihr Sinn war wesentlich tiefer, die Bedeutung viel doppelsinniger, als die einfachen Worte und Silben
auf den ersten Blick vermuten ließen. Schließlich war ich an der Reihe, und nach kurzer Überlegung sagte ich zögernd: »Ein weißer Schmetterling auf der blanken Schneide des Schwertes. Er sagt, was er vom Kämpfen hält.« Der Beifall erklang erst nach einiger Zeit; Lehrer und Schüler hatten die Bedeutung dieses tanka erkannt. Wir aßen und tranken lange, dann legten wir unsere Schwerter ab und besuchten das RoteLaternen-Viertel der kleinen Stadt. Drei Tage später war ich unterwegs zum Hof des Herrn Tawaraya. Yodoya blieb in der Schule und versprach, dass sein Weg meinen Weg bald kreuzen würde. Die letzte Phase brach an. Ich war fast ohne technische Unterstützung. Nur
mein Aktivator, die Funkgeräte, kosmetische Artikel, die ich zur Tarnung brauchte, Salben, Binden und Medikamente und die ungefüge, ebenfalls getarnte Schusswaffe begleiteten mich. Und die Rüstung eines Samurai, eines Zwei-Schwerter-Mannes. Ich bewegte mich nicht in der Maske eines kuge, sondern ich war kuge, ein Samurai. Ich hatte elf Tage zu reiten. Und erst jetzt konnte ich an Tairi No Chiyu denken, die junge Frau mit der weißen Haut, den blauschwarzen Haaren und dem schutzlosen Gesicht. Zwei Stunden nach Sonnenaufgang näherte ich mich dem entscheidenden Schritt meiner Mission. Wie würde Nectrion reagieren? Auf alle Fälle würde er misstrauisch und abwehrend sein. Hinter der Biegung des Weges, auf dem ich in leichtem Trab ritt, tauchte ein Weiher auf. Trotz der Fragwürdigkeit meines Vorhabens fühlte ich mich frei und selbstsicher. Es gab nur wenige Menschen in diesem Land, Nectrion ausgenommen, die mehr Fähigkeiten besaßen als ich. Die Fläche des Weihers war schwarz und von den Blüten der Seerosen und Wasserlilien bedeckt. Ein Frosch, der, vom Geräusch der Pferdehufe aufgeschreckt, in den Tümpel sprang, vertiefte den Eindruck des Schweigens. Es war deutlich, dass dieses Gebiet besonders intensiv bewirtschaftet wurde. Alle Wege und Felder waren in bestem Zustand; ich sah vielerlei neues Gerät. Nectrions Einfluss? fragte ich mich. »Halt, kuge!« rief jemand. Ich zügelte die Pferde und hob die Hand. Auf einer niedrigen, sorgfältig aus behauenen Steinen gebauten Mauer saß ein junger Mann, sah mir entgegen und hielt sich mit einer Hand in den Zweigen einer Trauerweide fest. »Du willst zum Haus des Herrn Tawaraya?« fragte er mich, als ich neben ihm aus dem Sattel sprang. Mein Pferd schnappte nach den Blättern des Baumes. »Ja. Ich bin ronin, wandernder Samurai. Ich möchte mich bis zum Frühling bei dem Herrn in Dienst stellen.«
Der Mann baumelte mit den Beinen, grinste und sagte: »Wir haben den besten Samurai zu unserem Schutz, kuge, den wir kriegen konnten.« Ich erwiderte: »Er wird kämpfen müssen für zwanzig Männer, wenn es um Ernte und Abgaben geht.« Er zuckte zusammen und sprang von der Mauer. »Du bist dieser riesige Mann, der ein guter Schwertkämpfer sein soll«, sagte er leichthin. »Habe ich recht, kuge?« »Du hast recht, Bauer«, sagte ich. »Ich bin Ataya, der Bogenschütze und Schwertkämpfer. Und ich weiß, dass Herr Shokokuyij die Abgaben beanspruchen wird.« Der junge Mann klopfte den Hals meines Pferdes ab und betrachtete mich von oben bis unten. Besonders schien er sich für meine Ausrüstung zu interessieren, die ich mit Hilfe der Handwerker in der Schule verbessert hatte. »Schon wieder dieser dicke Narr«, sagte der junge
Mann. »Komm, wir gehen ins Haus. Ich bin der Sohn von Herrn Tawaraya.« »Ich verstehe«, sagte ich. »Gehen wir also ins Haus. Ein guter Mann, euer Samurai?« In seine Augen kam ein begeistertes Leuchten. Er lief um die Mauer herum, band sein Pferd los und schwang sich in den Sattel. Im Gegensatz zu anderen Menschen dieser Insel war er offen und zeigte seine Empfindungen. Wir kamen auf einen gepflasterten Weg, zwischen dessen Steinen Gras wucherte. Die Pferde wurden angebunden; der junge Mann sprang ins Haus. Ich stieg ab, nahm den Sonnenschutzhut und schob ihn auf den Rücken. Dann stieg ich die wenigen Stufen auf die Holzterrasse hinauf und wartete. Zwei Männer kamen aus dem Gebäude, und ich erkannte in demjenigen, der rechts ging, den Fremden. Der Mann neben ihm blieb stehen; er schien, wenn dieser Vergleich möglich war, weniger typisch für dieses Volk zu sein. Er trug ein offenes Hemd, wie ein Bauer, aus besserem Stoff, einen breiten Gürtel, enge Hosen und wertvolle Stiefel. Er blieb überrascht stehen, als er mich sah, dann verbeugte er sich und fragte: »Mein Sohn sagte mir, du würdest versuchen, hier Arbeit zu finden?« Auch ich machte meine Ehrenbezeigung und entgegnete leise: »Deswegen bin ich hier hergekommen, Herr Tawaraya. Noch vor einigen Wochen war ich im Dienst des Herrn Shokokuyij. Ich ging, weil er die Hand gegen meine Ehre ausstreckte.« Tawaraya nickte. »Ich bin verständigt worden. Gerüchte eilen schnell wie rote Füchse durch das Land. Bald wird Ernte sein, und das bedeutet Kampf. Ich bin sicher. Ich frage dich…« Nectrion oder Nemuro unterbrach höflich, aber bestimmt den Hofherrn: »Woher kommst du?« Ich lächelte und sagte deutlich: »Aus der Schule des ehrwürdigen Lehrers Katsura Kaishu, den ich besiegen durfte.« Nemuro runzelte die Stirn und stemmte die kräftigen Arme mit langen, unbehaarten Fingern in die Seiten. Auch er war japanisch gekleidet; unverkennbar umgab ihn eine fremdartige Atmosphäre, eine exotische Aura. Ich hingegen war, verglichen mit ihm, angepasst. Er lachte ungläubig auf, runzelte die Stirn.
»Besiegt? Katsura Kaishu? Das ist unmöglich.« Ich verbeugte mich und sagte: »Zen half mir, das Unmögliche möglich zu machen. Ich besiegte ihn. Bis zum Frühling möchte ich in Euren Diensten bleiben. Habt Ihr Arbeit und Reis für mich, Herr Tawaraya?« Der Herr des Hofes nickte und sagte: »Bleibe hier, Samurai. Du wirst, denke ich, ein schönes Zimmer drüben finden, neben Munenaga.« Wir verbeugten uns mehrmals voreinander, und Nemuro half mir, die Pferde in die Ställe und das Gepäck ins Haus zu bringen. Alle Gebäude sahen aus, als stellten sie ein Provisorium dar. Und als ich die Tür zum Park aufschob,
erkannte ich den Grund. Vorher war der Hügel durch Bäume und Hausdächer meinen Blicken verborgen gewesen. Jetzt erkannte ich den befestigten Sitz der Familie Tawaraya. Lautlos war Nemuro neben mich getreten und sagte: »Was willst du wirklich hier, Freund?« Ich sah ihn lange an, dann deutete ich hinaus auf die schwarzen, schartigen Mauern, die von vielen Belagerungen zeugten. Ich erwiderte nachdenklich: »Ich bin auf einer langen Reise durch das Land, durch die Zeit. Ich suche Erkenntnis. Und da die Erkenntnis nur den Lebenden kommt, Lebende zu essen brauchen, muss ich mich verdingen, um etwas zu verdienen. Ich hatte einmal ein Erlebnis, kurz vor dem Beben.« Er hörte konzentriert zu. Seine Augen suchten meine Ausrüstung ab, und ich wurde misstrauisch. Hatte er mich mit der zerstörten Möwe in Verbindung gebracht? Ich hatte den Vorteil, dass er niemals wissen konnte, wer ich war. »Ein Erlebnis? Einen Traum?« fragte er verwundert. Er wirkte angestrengt und unsicher. Ich ging in die Mitte des Zimmers und begann, meine Habseligkeiten auszupacken und in die Wandschränke zu verstauen. Stück für Stück kam aus den Packen und wurde säuberlich zur Seite gelegt. Er sah mir zu; ich beantwortete seine Frage. »Vor dem Beben«, sagte ich, »träumte ich einige Nächte davon, dass mich eine Möwe verfolgte. Und eines Tages sah ich die Möwe. Sie blickte mich an, als wäre sie eine verwunschene Seele. Ich nahm mein Schwert und schlug nach ihr, aber sie war schneller, als es je eine Möwe war. Ich verfehlte sie auch mit meinem Pfeil.« Er starrte mich schweigend an. Ich sah förmlich, wie er nachdachte. Er sah zu, wie ich meine Ahnenrolle sorgfältig auf den Tisch neben dem Lager ablegte und meine Waffen an hölzernen Knöpfen an der Wand befestigte. »Es war eine Möwe?« sagte er verwundert. Diese Erzählung musste seine Aufmerksamkeit hervorgerufen haben. Ich packte seelenruhig weiter aus und fragte: »Du scheinst verwundert, kuge?«
»Ich bin verwundert«, sagte er, »denn während des Bebens griff mich eine Möwe an; ich erschlug sie. Allerdings war sie verschwunden, als ich nach dem Beben nach ihr suchte.« Ich winkte ab und meinte achtlos: »Vielleicht war es wirklich nur eine Seele, die keine Ruhe fand. Wer wird sich darüber aufregen?« »Niemand!« sagte er. »Kann ich dir helfen, Bruder?« »Ja«, sagte ich. »Du kannst mir alles zeigen. Ganz besonders interessiert mich diese Burg dort oben. Ich kenne die Burg des Herrn Shokokuyij, und ich glaube, sie ist besser als diese Anlage.« »Ich lasse Tee bringen. Dann können wir darüber reden. Komm mit mir, ich zeige dir alles. Du hast einen neuen Freund gefunden – den Sohn des Herrn. Er will unbedingt so groß
werden wie du!« Wir lachten höflich, dann verließen wir das Haus, das ein wenig abseits stand. Wir besichtigten jeden Winkel des ordentlichen Gehöftes, wurden von Mägden und Knechten neugierig angestarrt, und schließlich ließen wir uns Pferde bringen und ritten zur Burg. Sie war halb verfallen, und ich sah, dass jemand stümperhaft versucht hatte, sie auszubessern. Das ist eine Arbeit für dich! Du kannst binnen kurzer Zeit die Burg so instand setzen, dass sie einem Ansturm Shokokuyijs standhält! warf mein Extrasinn ein. »Wenn ein Angriff erfolgt«, sagte ich bestimmt, »dann wird jeder, der sich hierher flüchtet, sterben müssen!« Wir ritten durch das Tor hinaus und den Hügel abwärts. »Du kennst solche Anlagen?« fragte Nemuro unsicher. Ich musste daraus schließen, dass dort, wo er herkam, Burgen eine unbekannte Einrichtung waren. Folglich auch die Notwendigkeit, solche Bauwerke für die gleichen Zwecke aufzurichten. »Ich kann sie bauen«, sagte ich. »In der Zeit, da ich die Inseln verlassen hatte, lernte ich viel!« Glaubte mir der Fremde? »Du wirst bei Tawaraya offene Türen eintreten!« versprach er. Wir trafen uns, als es Abend wurde, im großen Haus. Dort aßen wir gemeinsam; ein kräftiger Umtrunk besiegelte mein Dienstverhältnis. Aber ich merkte bald, dass jedes meiner Worte zwar Tawaraya freute, den Fremden aber mit wachsendem Misstrauen erfüllte. Er war unsicher. Warum? Ich wusste es nicht. Aber es genügte mir vorerst, dass ich neben ihm arbeitete und dass ich ihn nötigenfalls verfolgen konnte, wenn er versuchte, von dieser Insel und diesem Planeten zu starten. Wir verabschiedeten uns und gingen zurück in das Haus. Ich zog mich aus, badete mich ausgiebig und legte mich in meinem weichsten Kimono auf die Matte, zog die Decke über mich und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. Im Teich schlug ein Kranich mit den Flügeln, ein Regenpfeifer rief. Der Vollmond sah mir ins Gesicht; langsam beruhigten sich meine Gedanken. Ich wendete die Übungen des Zen an und hatte mich innerhalb kurzer Zeit unter Kontrolle. Jetzt konnte ich mit meinen Überlegungen beginnen.
Was hinderte mich daran, durch den Korridor ins Zimmer des Fremden von den Sternen zu gehen? Was hielt mich davon zurück, ihm zu sagen, wer ich war und wie meine Heimatwelten hießen? Warum fragte ich ihn nicht, ob er mich von Larsaf III wegbringen konnte? Warum nicht? Ich dachte lange nach und fand die Lösung. Was wusste ich von der Lage außerhalb dieser vergessenen Ecke der Milchstraße? Ich ahnte nicht, aus welchem Sektor der Milchstraße dieser Sohn einer unbekannten Sonne kam. Vielleicht gehörte sein Planet zu einer Sonne aus einem Sternarchipel, das mit Arkon verfeindet war? Ich musste erst
wissen, ob er mich mitnehmen würde. Der Zeitpunkt für den ersten Kontakt war heute ungünstig. Und hätte ich dies nicht alles geahnt und im verborgenen gewusst, würde ich die Mühsal der langen Ausbildung nicht auf mich genommen haben. Ich hatte den Verdacht, als würde ich Tairi No Chiyu wieder sehen. Ich wusste nicht, worauf sich meine Sicherheit in diesem Punkt stützte, aber ich rechnete fest mit dem Starrsinn meines früheren Herrn. Er würde den Mechanismus einer Familienfehde wieder in Gang setzen. Ich würde versuchen müssen, alles zu unterbinden. Ich schlief ein. Ein fades Morgengrauen ging vorüber, und beim ersten Schein der Sonne klopfte jemand an meine Tür. Ich bewegte mich nicht und rief: »Komm herein!« Die Tür ging auf, ich drehte den Kopf und sah Nemuro im hellen Kimono. Er verbeugte sich, kam bis in die Mitte des Zimmers und blieb stehen. »Ja?« murmelte ich schläfrig. »Du hast recht«, sagte er und betrachtete mich, als habe ich drei Beine oder einen Drachenkopf. »Meistens. Was meinst du in diesem Fall?« erkundigte ich mich, richtete mich auf und stützte mich auf die Ellbogen. »Ein Mann, der die Pferde hütet, kam soeben«, sagte der Samurai, der von den Sternen kam. »Für einen riesigen Schwertkämpfer hast du erstaunlich gut die Gabe der Hellsichtigkeit. Es befinden sich offensichtlich Spione des Herrn Shokokuyij in unseren Feldern.« Ich setzte mich auf und erklärte: »Eigentlich habe ich sie schon früher erwartet. Es erschien mir ganz klar, dass er versuchen wird, die schwachen Stellen auszukundschaften. Es war niemals falsch, mein Freund zu sein, kuge Nemuro. Übrigens… sage es bitte allen: Wenn sie einen Samurai treffen, der zwei Luchsköpfe am Helm trägt und auf den Namen Yodoya hört – dieser Mann war mein Kampfgefährte.« »Er wird in Ehren aufgenommen, wenn wir ihn sehen!« versprach Nemuro, unzweifelhaft die rechte Hand des Herrn Tawaraya. Er kauerte sich nieder und nahm eines der schweren, ledernen, mit Stahlscheiben beschlagenen Armbänder in die Hand, die ich
während der Nacht abgelegt hatte. Er drehte es unschlüssig zwischen den Fingern und fragte: »Du und ich sollen versuchen, die Männer zu fangen. Ich habe unsere Pferde satteln lassen, auch ist Essen bereit. Kommst du?« »Ich komme«, sagte ich, »aber vorher reinige ich mich. In kurzer Zeit vor dem großen Haus?« »Wir bitten darum.« Die Atmosphäre war hier heiter und gelöst. Der Einfluss des Fremden war wohltuend und hatte die starren Konventionen etwas gelockert. Alles war höflicher, unbefangener, heller und gemütlicher. Vermutlich profitierte Tawaraya vom Streit zwischen ihm und dem anderen Herrn. Ich wusch mich sorgfältig, duschte mit Hilfe eines riesigen Kruges und legte meine Kleider an. In leichter
Rüstung, den Helm unter dem Arm, Bogen in der Hand und Handschuhe an den Fingern, ging ich zum Haupthaus. Dort aßen wir, dann saßen wir auf und sprengten davon. Die Kühle eines sommerlichen Morgens wehte in unsere Gesichter, als wir in die Richtung des umstrittenen Gehöftes ritten. Ich holte Nemuro ein und rief: »Wo sind die Männer gesichtet worden?« »Hinter dem Moor, neben dem Bambuswald. Aber sicherlich sind sie inzwischen an anderer Stelle.« Bis zu dem Gebiet des reichen Bauernhofes waren es rund zehn Meilen; er lag an der Grenze der beiden Großgebiete. Wir sprengten im vollen Galopp über eine Brücke. Wir ritten scharf weiter und näherten uns einem Holzzaun, der eine Weide von einem Kräutergarten abgrenzte. Wir sprangen über den Zaun und galoppierten den Hügel aufwärts. Ich musste grinsen, als ich Nectrions Helmzier sah; es war eine Mondscheibe, auf der einzelne Krater angedeutet waren. Wer sonst als ein Außerirdischer wusste, dass es auf dem Mond oder den meisten Monden Meteoritenkrater gab? Wir erreichten die Kuppe des Hügels und hielten an. Die Pferde bäumten sich auf, senkten die Köpfe und zerrten an den Zügeln. »Dort hinten«, sagte Nemuro. »Dort wurden sie gesehen.« Die breiten Metallringe auf seinem Hemd glänzten in der Sonne. Die Pfeile in seinem Köcher klapperten leise, als er sich im Sattel aufrichtete und die Augen mit der Hand bedeckte. »Wann?« »Vor mehr als einer Stunde!« sagte er ärgerlich. »Aber sie waren nicht beritten. Wenigstens sagte dies der Pferdehirte.« Ich zog mein Fernrohr aus der Gürteltasche. Es enthielt Hochleistungslinsen und sah aus, als sei es von den Portugiesen eingehandelt worden. Ich suchte systematisch die Gegend ab, sah eine Menge arbeitender Bauern in den Reisfeldern, aber keine verdächtigen Bewegungen. Nemuro zuckte zusammen, als er das Glas erblickte. »Was ist das?« fragte er, obwohl er es genau kannte.
»Ein Fernglas. Es besteht aus einer schwarzen Röhre und gläsernen Dingen, wie Linsen geformt. Man sieht weiter als ein Raubvogel.« In der Ferne, unsichtbar im Dunst, hinter den bewaldeten Kuppen, lag die Burg des Shokokuyij. Zwischen der Burg und dem Punkt, auf den ich durch das Glas blickte, befanden sich die Spione. Zwar änderte der Umstand, dass sie gefangen wurden, nichts an Shokokuyijs Habgier, aber wir konnten ihn dadurch warnen. Niemand wollte einen Kampf in der Erntezeit, wo ein Brandpfeil eine kleine Hungersnot bedeuten konnte. »Siehst du etwas?« fragte er. »Nein«, gab ich zur Antwort. »Wir reiten hinunter und sehen nach!« »Was tun wir, wenn wir sie finden?« fragte ich laut. Nemuro lachte und setzte durch ein niedriges Gebüsch. »Ich weiß nur, dass sie als Reisbauern verkleidet
sind«, sagte er. »Wenn es Männer aus der Burg sind, wirst du sie vielleicht kennen. Wir verpassen ihnen einen Denkzettel, schicken sie zurück. Eine deutliche Warnung.« Wir ritten aus dem Wäldchen hinaus und vorbei an einem winzigen Buddhatempel. Der Weg ringelte sich zwischen Reisterrassen entlang, führte über Brücken, die Wasserkanäle für die Felder überspannten; eine abwechslungsreiche Miniaturlandschaft. »Hier wurden sie gesehen!« sagte Nemuro, als wir an einer Pferdekoppel vorbei ritten. Ich betrachtete ihn. Es gab zwei Möglichkeiten, weswegen er hier war: Wollte er sich nur verbergen, würde er auf diesem Planeten genug einsame Plätze finden. Die Anwesenheit des getarnten Raumschiffes bewies, dass er wieder starten wollte. Entweder war es Abenteuerlust, die ihn hergebracht hatte, oder es handelte sich um eine Notwendigkeit. Ich starrte, ohne die Geschwindigkeit herabzusetzen, in sein Gesicht. Abenteuerlust… Er blickte angestrengt und gesammelt drein, als ob er eine Aufgabe wahrnehmen würde. Vielleicht leistet er ein Arbeitspensum? Denke an die Mitteilungen, die er an das Schiff funkt! sagte der Extrasinn. »Warum bist du so verbissen?« fragte ich laut, als wir über eine Reihe abgegraster Weiden galoppierten. »Es ist meine Aufgabe, die Männer zu finden«, rief er über die Schulter zurück. »Deine Aufgabe ist es auch.« »Aber ich lache, wenn ich reite!« rief ich. »Ich lache, wenn die Aufgabe gelöst ist!« gab er zur Antwort. Aufgabe. Lösung. Anstrengungen und Mitteilungen. Inzwischen hatten meine Maschinen einen Teil des Textes dechiffriert, und es stellte sich heraus, dass Nectrion eine Schilderung dessen abgab, was er erlebte, wie er was lernte, wie er Techniken anwandte, wie er es anschickte, zu überleben. Und wie er lernte, zu kämpfen und einen Menschen zu töten. Ich erfuhr, dass er eine Erklärung für das Element des Zen gefunden hatte, die universell anwendbar war. Eine Stunde lang ritten wir schweigend. Manchmal kam er mir trotz seines Alters und der größeren Reife vor wie ein Musterschüler, ängstlich darauf bedacht, alles, was er tat, richtig und vorbildlich zu tun. Dann, ganz überraschend, wurde er normal,
entkrampfte sich und ritt, als mache ihm diese Beschäftigung Freude – so wie mir. Anschließend fiel er zurück in seine selbstgewählte Rolle. Plötzlich hielt er an. Ich wurde schneller und holte ihn ein. Er sagte scharf und angespannt: »Dort vorn gehen zwei Männer, die so aussehen, als wären sie nicht von hier. Wir reiten hin, ja?« Ich stimmte zu. Kurze Zeit später hielten wir neben den Männern an. Ich hatte gesehen, wie sie sich umgedreht hatten. Schlechtes Gewissen? Sie waren unverkennbar Bauern, aber sie führten kein Arbeitsgerät
mit sich. »Halt, Fremde!« sagte ich. Sie blieben stehen und verbeugten sich; mir schien, als sei ihr Erstaunen zu stark aufgetragen. Kein Bauer und kein rechtloser eta brauchte sich vor Samurai in neuer Rüstung zu fürchten. Ich ritt eine enge Kurve und blieb vor ihnen stehen, versuchte, ihre Gesichter zu erkennen, aber sie senkten die Köpfe und hielten ihre Bündel an den Bambusstangen fest. Drohend fragte Nemuro, während er die Hand an den Schwertgriff legte: »Wer seid ihr? Woher kommt ihr? Seht mir ins Gesicht, Schelme!« Zögernd hoben sie die Köpfe. Ich nahm den Bogen in die Hand und legte einen Pfeil auf die Sehne. Ich starrte sie an, und sie blinzelten, weil hinter mir und Nemuro die Sonne stand. Dann sagte ich schneidend: »Ihr seid von der Burg des Herrn Shokokuyij. Ich erkenne dich, Nishi. Du bist der Mann, der mein Pferd sattelte. Uns wurde gemeldet, dass sich hier Spione aufhalten. Du weißt, was mit solchen Kreaturen geschieht?« Nemuro sagte entschuldigend: »Es genügt, wenn wir einem die Ohren und dem anderen die Zunge abschneiden. Dann kann einer hören, was der Herr flucht, wenn der andere ihm berichtet, was geschehen ist.« »Wir wollen zuerst unsere zitternden Freunde hören«, meinte ich. »Warum seid ihr hier?« Sie ließen ihre Bündel fallen und fielen selbst auf die Knie. Dann sagte einer, dass der Herr sie geschickt habe, um festzustellen, wann geerntet werde und wann der Hof unbeaufsichtigt wäre. Sie sollten sich merken, was sie sahen, besonders die Menge der Samurai und der Arbeiter und Diener, die nötigenfalls kämpfen konnten. Ich sagte barsch: »Steh auf, Nishi!« Der Angesprochene sah unschlüssig von mir zu Nemuro und schlotterte an allen Gliedern. Der andere Samurai zog, während er sich die Lippen leckte, das Schwert aus der Scheide und beugte sich vor, um Nishis Ohren besser sehen zu können. Gerade die Ruhe machte die Spione ängstlich. Ich fand, dass der Fremde zu dick auftrug; er wirkte auf mich unglaubwürdig.
»Herr! Ich kann nichts dafür! Shokokuyij straft uns, wenn wir nicht gehorchen, und wenn wir gehorchen, dann straft Ihr uns!« Ich schüttelte den Kopf und sagte: »Angsthasen! Lauft, so schnell ihr könnt, zur Burg. Sagt dem Herrn, ich bin hier, und ich werde verhindern, dass er auch nur ein Reiskorn stiehlt. Sollte er es wagen, schicken wir einen Boten zum Shogun und greifen seine Burg an. Das ist unsere Botschaft. Und lasst euch hier nicht mehr sehen, sonst kommt ihr nicht mehr vollständig zurück.« Wieder fielen sie in den Staub und bedankten sich überschwänglich. Nemuro sah verblüfft zu mir; ich beschwichtigte ihn wortlos. Er zuckte mit den Schultern und stieß das Schwert zurück in die Scheide. Die Diener rissen
ihre Bündel hoch und rannten los. Als sie in der Nähe eines Baumes waren, zog ich die Sehne aus, schoss Nishi den Hut vom Kopf und nagelte das spitze Ding aus Reisstroh an den Baumstamm. Nemuro wendete sein Pferd, ritt an mich heran und sagte: »Warum so nachsichtig, Bogenschütze?« »Es gibt zuviel Armut und Not auf dieser Welt. Shokokuyijs Ärger, wenn wir ihm Spione verstümmelt zurückschicken, hält sich in Grenzen. Diese armen Menschen können nichts dafür. Es ist sinnlos und eines Samurai unwürdig, sie für ihren Herrn stellvertretend zu bestrafen.« Ich wollte den Bogen wieder über die Schulter werfen, als Nemuro sagte: »Du scheinst passabel schießen zu können. Triffst du auch?« Ich lachte sarkastisch und sagte: »Such ein Ziel aus, das im Süden liegt und hoch. Ich werde beweisen, dass ich nicht nur große Worte reden kann.« Er drehte sein Pferd ruckartig herum, suchte mit den Augen ein Ziel und senkte den Kopf, so dass er nicht in die Sonne blicken musste. Dann deutete er auf einen Vogel, der vor einer abgesplitterten Stelle einer Lärche hockte und in unsere Richtung zu blicken schien. »Der Vogel!« sagte er. »Dem Herausforderer der erste Schuss!« sagte ich und zog einen Pfeil aus dem Rückenköcher. Er nahm den Bogen, legte einen Pfeil auf und blieb im Sattel sitzen. Dann zog er die Sehne aus, über dem Kopf, wie alle Samurai es taten, zielte kurz und schoss. Er nagelte den Flügel des Vogels an den Stamm, drehte sich ausatmend um. Ich sah nicht, dass er die vorgeschriebenen Atemzüge machte, also schoss er womöglich nicht nach der Zen-Methode. Ich spannte die Sehne bis hinters Ohr, regelte meine Gedanken und atmete tief, zielte länger als er, konzentrierte mich auf das Erreichbare, wartete auf die Erlösung des Moments, und als eine fremde Hand meinen Daumen bewegte, wusste ich, dass ich treffen würde. Die Entfernung betrug rund hundert Schritte. Mein Pfeil schlitzte den Pfeil Nemuros auf, zerschnitt die Schwungfeder des Vogels; das kleine Tier flatterte davon, gewann zusehends mehr Sicherheit und verschwand. Ich verstaute den Bogen und machte die
Atemübungen. Dann sagte ich streng: »Du bist ein unglaubwürdiger kuge, Freund Munenaga. Hat man dich nie gelehrt, dass der Samurai Ehrfurcht vor den kleinen Dingen zu haben hat, vor Vögeln, der Schönheit an sich oder einer Tuschelinie?« Ich ritt an und fügte hinzu: »Sicher werden deine Fähigkeiten auf anderen Gebieten größer sein. Wenn du Fragen oder Probleme hast, komme zu mir.« Er überholte mich und rief: »Willst du mich wütend machen? Warum bringst du mich gegen dich auf?« »Ich habe nichts Derartiges beabsichtigt, Freund. Ich sprach nur die Wahrheit. Auch über uns die Sterne sind Wahrheit.
Sie sind wichtig, weil sie wahr sind wie das Leben dieses Vogels.« »Ich beginne dich zu verstehen!« sagte er. »Der Rückweg wird weniger schnell vor sich gehen. Wir können noch einen Teil der Wälder abreiten und kontrollieren.« »Dasselbe wollte ich vorschlagen!« sagte ich. Wir nahmen die Helme ab, wischten uns den Schweiß ab und setzten die Strohhüte auf. Bei der Quelle stiegen wir ab, ließen die Pferde trinken und tauchten die Köpfe ins Wasser. Deutlich fühlbar hatte sich die Spannung zwischen uns vertieft. Zuerst die Möwe, dann die Sterne, das Fernrohr, der weitaus bessere Schuss… Würde aus ihm ein Freund oder ein Gegner eines Arkoniden werden? Wir kamen am späten Abend an und meldeten dem Hausherrn, was geschehen war. Er fragte mich, wie schnell die Burg instand gesetzt werden könne, und ich sagte ihm, das hinge von der Menge der Arbeit, der erwarteten Sicherheit und der Anzahl der Arbeiter ab, die man kurz vor der Ernte abstellen konnte. Daraufhin wurde ich beauftragt, einen Plan zu zeichnen. Holzkohle und Papier würde man mir bringen. Ich sagte zu. Unter dem Öllämpchen lag ein gefaltetes Stück Reispapier. Ich faltete es auseinander und las den Hokku von Han S’Hans: Obwohl ich weiß, dass ich dir nie mehr begegnen werde auf diesem Weg, gehe ich ihn immer wieder und glaube, es wird dennoch geschehen. Ich runzelte die Stirn und wusste, dass sich nachts unbemerkt jemand ins Zimmer geschlichen hatte. An diesem Morgen hatte mich ein Hahnenschrei geweckt. Im Geäst der Eibe hämmerte ein Specht. Eine Spinne an langem Faden senkte sich vor der Öffnung der zurückgeschobenen Außentür. Ich verspürte seltsame Unruhe. Hatte ich zu intensiv an Tairi gedacht? Selbst der Extrasinn schwieg beharrlich. Ich stand auf, warf einen Blick auf meine Pläne und sah, während ich mich wusch, draußen die lange Reihe der Arbeiter, die sich mit ihren Werkzeugen auf den Weg machten. Sie schleppten Steine und Balken, trugen Erdreich ab und stampften Lehm, verblendeten Mörtel, machten die Mauerkrone höher und verringerten die Möglichkeiten, diese Burg einzunehmen. Vor einigen Jahren hatte der gierige Herr Shokokuyij mit mehr als
einhundert Männern angegriffen – aber seither war kein Angriff mehr erfolgt. Er hatte sich damit begnügt, Teile der Ernte zu stehlen. Schreiben an den Shogun waren unbeantwortet geblieben. In zwei, drei Tagen war die Burg instand gesetzt und mit Abwehrvorrichtungen versehen. Ich ließ mir Essen bringen und überlegte, dass es unter Umständen besser war und weniger arbeitsaufwendig, wenn ich ein Angreifen erschwerte. Das erleichterte gleichzeitig den Verteidigern die Arbeit. Ich hatte die Schlucht zwischen den beiden Mauern vor dem Eingang
vertiefen lassen, die Mauern höher gezogen; an den Ansatzpunkten saßen sie auf nacktem Fels auf. Wir hatten fast um die ganze Linie des Mauerringes Felsen weg geschlagen – die Angreifer mussten einen Hang hinaufreiten und sahen sich senkrechten Mauern mit Schießscharten gegenüber, von gedeckten Häusern mit Wehrgängen gekrönt. Das Geflecht aus Stroh für die Dächer war mit Lehm brandsicher gemacht, der unterirdische Gang, vom Herrenhaus in die Burg ausgebaut und mit Fallen versehen worden. Als ich das Zimmer verließ, rannte ich beinahe in Herrn Tawaraya hinein. Wir entschuldigten uns mehrmals, dann sagte der Herr: »Ich rechne mit einem Angriff, Ataya. In zwei Tagen beginnen wir an vielen Stellen mit der Ernte.« »Wir werden fertig!« versprach ich. »Wir haben nur noch Erde zu bewegen und das Notlager anzulegen. Sammelt alle Hilfskräfte, Herr, und schickt sie uns. In zwei Tagen brauche ich niemanden mehr.« Er lächelte kurz und sagte sorgenvoll: »Das höre ich gern. Wenn dieser Narr angreift, werde ich genötigt sein, das Problem ein für allemal aus der Welt zu schaffen!« Ich fragte zurück: »Ist das nicht ein Fall für das Shogunat?« Er lachte bitter: »Der Shogun sitzt in Edo, weit weg, auf der östlichen Seite der Insel. Bis der Shogun eingreift oder Truppen schickt, sind wir tot oder ehrlos. Diese Fehde muss zwischen uns beiden Daimyo ausgetragen werden. Das Recht hat in diesem Fall der Überlebende.« Ich hob die Schultern und fragte mich, ob das klug war, aber im Augenblick sah ich keine andere Möglichkeit. Siegte die Unvernunft, gab es Kampf. Wurde gekämpft, musste ich mit Tawaraya kämpfen. Wir gingen zur Burg, die einen Durchmesser von etwas mehr als fünfzig Schritten hatte; eine kleine, aber wohldurchdachte Anlage. Wir räumten auf dem Hügel die Erde weg, verstärkten mit ihr die Mauern von innen und schufen einen ebenen Platz. Beherzte Männer reinigten den Brunnen, der vor vielen Jahrzehnten gebohrt worden war. Der Hügel bestand aus Felsen, und dazwischen lagen Geröll und Erde. Nach zwei Tagen
ließen wir probeweise mehrmals das Tor öffnen und schließen; ich war überzeugt, dass es schwer war, in diese Festung einzudringen. Wir schlossen die Arbeiten ab und wandten uns anderen Dingen zu. Ich hatte bemerkt, dass Nectrion oder Nemuro jeden Handgriff, jede Zeichnung und jede Überlegung von mir bewunderte, als sei sie eine kulturelle Großtat. Entwickelte ich meine Überlegungen weiter, drängte sich mir die Vermutung auf, dass er hier war, um zu lernen. Gewissheit hatte ich keine, aber in der folgenden Nacht summte mein Funkgerät. Ich nahm es auf, schlüpfte in die Stiefel und machte einen Spaziergang im Park. Rico teilte mir mit,
dass Nectrion eine Funkbotschaft an sein Schiff durchsagte; ich beschloß, ihn unsicher zu machen. Vielleicht verriet er sich etwas. Ich schaltete ab und näherte mich geräuschvoll dem Fenster seines Zimmers. Ich hörte ihn murmeln. Ich wartete, klopfte gegen den Rahmen. Sofort brach das Murmeln ab. Nectrion bewegte sich hastig in der Dunkelheit. »Wer ist da?« Nectrion riss die Tür auf und hielt sein Schwert in der Hand. Ich hob den Arm und sagte ruhig: »Ich bin es, Ataya. Du bist auch unruhig?« »Ja.« »Ich konnte nicht schlafen. Ich dachte, als ich mich im Park erholen wollte, es wäre gut, mit dir Sake zu trinken. Dann hörte ich dich murmeln; verrichtest du nachts Gebete?« fragte ich leichthin. Er ging ins Zimmer zurück, schob im Licht des halben Mondes das Schwert in die Scheide und entzündete eine dicke Kerze. »So etwas Ähnliches«, gab er unwirsch zur Antwort. »Nein, dies sind die Nächte im Sommer, in denen man schlecht schläft. Das Blut ist zu heiß, und man denkt an Frauen und allerlei unnütze Dinge.« Ich lachte und schaute mich nach dem Sake-Behälter um. Dann meinte ich gutgelaunt: »Ich bin nicht der eifrigste Verehrer einer schlanken Hand oder einer Haarflechte, aber dass Frauen unnütze Dinge sind, höre ich heute zum ersten Mal – von einem Mann jedenfalls.« Er goss den Sake ein und meinte versonnen: »Für jeden Wanderer sind Frauen ein Hemmschuh und eine Barriere dazu. Du bist ein Wanderer und nicht verheiratet. Ich bin auch ein Wanderer. Ich werde irgendwann in den Norden gehen.« Zum Raumschiff! sagte der Extrasinn. Wir setzten uns an die offene Tür, lehnten uns an die Türpfosten und tranken. Die Nacht war von zauberhafter Milde; man konnte fast die roten Mohnblätter zu Boden sinken hören. Über uns funkelten die Sterne. Ich sah Nemuro in die Augen und fragte leise: »Du bist nicht von hier, Nemuro. Die Leute sagen, du kommst aus dem Norden, so wie ich.« »Ich komme aus dem Norden«, sagte er. »Aber manchmal kommt es mir vor, als käme ich aus einer anderen Welt. Ich kann manches
und habe Tawaraya helfen können, aber viele Dinge kenne ich nicht.« Ich trank eine Schale Sake und erwiderte: »Es ist wie beim KabukiTheater: Nicht alles, was es gibt, kann deutlich werden. Es ist keine Schande, nicht zu wissen, wie man eine Burg befestigt. Wenn ich dich betrachte, scheint es, als wärest du ein völlig Fremder und versuchst, eine Rolle zu spielen.« »Letzten Endes«, er spielte nachdenklich mit der Sakeschale, »sind wir alle Schauspieler hinter einer glatten No-Maske. Wir handeln, in Wirklichkeit werden wir umher geschoben wie Steine auf einem Spielbrett.« Wir schwiegen. Ich wartete auf ein Zeichen, etwa auf eine Erklärung, wie ich sie gegenüber
einigen Menschen abgegeben hatte, die mich fragten, woher ich wirklich käme und wer ich tatsächlich sei. Nichts dergleichen tat Nectrion. Er war zweifellos ausgesetzt worden, um diese Kultur zu studieren. Aber dafür hätte eine raumfahrende Gruppe auch Maschinen einsetzen können, die Informationen wertfrei übermittelt hätten. Er selbst konnte nur Dinge berichten, die durch die Filter seines Verstandes gegangen waren und daher mit Vorurteilen und perspektivischen Verzerrungen gespickt sein mussten. Der Sake machte angenehm schläfrig; schließlich stand ich auf und sagte: »Ab morgen werden wir die Augen offen halten müssen. Wir glauben, dass der fette Mann einen Überfall wagt.« »Um Arbeit und schmerzende Rücken werden wir uns nicht zu sorgen brauchen«, erwiderte Nemuro. Wir verbeugten uns, tatsächlich schliefen wir kurze Zeit später. Ich erwachte am frühen Vormittag und fand, als ich ausgerüstet zum Herrenhaus hinüberging, zwei frische, gesattelte Pferde vor. Außerdem schienen so gut wie alle Diener und Dienerinnen bei der Ernte zu sein. Der junge Sohn Tawarayas kam mir entgegen und sagte: »Ich werde das Haus beschützen, Samurai Ataya. Nemuro bittet dich zu Tisch – das Essen wartet.« »Ich danke dir.« Auch Nemuro hatte, von einigen behindernden Panzerteilen abgesehen, seine Rüstung angezogen. Er begrüßte mich und sagte: »Die gefährlichen Tage beginnen!« »Ich denke es auch. Haben wir genug Proviant?« Er wies auf zwei flache, längliche Pakete und zwei große Wasserflaschen auf einem niedrigen Tisch. Zwischen der Ernte und den großen Märkten würde Shokokuyij angreifen – falls überhaupt. Ich sagte leise: »Es wird das beste sein, wenn wir einige Tage fortbleiben. Wie verständigen wir uns mit Tawaraya?« Der Junge sagte aufgeregt: »Nemuro hat ein System herausgefunden. Jeder Bauer und alle Diener sind eingeweiht. Eine Nachricht wird von allen Gebieten als Stafette weiterlaufen. Wenn jemand etwas mitteilen will, entzündet er ein rauchendes Feuer. Das ist das Signal!«
Wir sahen unsere Ausrüstung durch; als Nemuro das Feuerrohr erblickte, erstarrte er. Seit 1575 bei den Kämpfen um Nagashiro zum ersten Mal diese schweren Büchsen verwendet worden waren, hatte die Waffe wenig Verbesserungen erfahren. Mein Exemplar war kürzer, verschoss modifizierte Geschosse und besaß Strahler und Lähmungswaffe. Munenaga schüttelte den Kopf und brummte: »Ich liebe diese Waffe nicht. Sie ist laut, verrät den Schützen vorzeitig und ist eine Waffe für Feiglinge.« Im Gegensatz zu gestern Nacht wirkte er entschlossen und selbstsicher. Ich entgegnete: »Nicht jeder, der vor einer Übermacht flieht, ist ein Feigling. Du wirst deine Träume aufgeben müssen, wenn dich jemand erschlägt. Ich ziehe es vor,
weiterhin an die Sterne zu denken, und deshalb verwende ich, manchmal, diese Waffe.« Er grinste und zog das Kinnband seines Helmes zu. »Schon gut. Vielleicht rettet mir dein Donnerrohr das Leben. Dann sage ich nichts mehr.« Wir setzten unsere Stiefel in die Steigbügel und ritten nach Nordwesten. Hinter den Hügeln, nahe den Klippen des Meeresufers, begann die Grenze zwischen den Besitztümern der verfeindeten Familien. Nur selten benutzten wir eine reguläre Straße. Überall arbeiteten Menschen aller Altersgruppen, gebückt und mit riesigen, spitzkegeligen Strohhüten gegen die Sonne geschützt, an der Ernte. Es würde nach der Hungersnot vor rund zwei Jahren, eine ausnehmend gute Ernte werden. Selbst die Seidenraupen, sagte man, wären in diesem Jahr fieberhaft fleißig gewesen. »Der erste Tag verlief friedvoll«, sagte Nemuro. »Es ist besser, wir wachen.« Wir rasteten am Fuß eines kleinen Hügels. Ein Felsen, der sich wie ein gekrümmter Zeigefinger aus der Seite des Hügels hervor schob, deutete nach Osten. Überall wuchsen Erlen, Ahornbäume und vielerlei Büsche. Ich sagte: »Nach dem Essen übernehme ich die erste Wache. Einverstanden?« »Ja. Etwa drei Stunden.« Wir hatten die Grenze erreicht und auf diesem Weg jeden Arbeiter, den wir getroffen hatten, befragt. Niemandem war etwas aufgefallen, das auf einen Überfall schließen ließ. Dann ritten wir entlang der markierten Grenze. Weiße Steine waren in den Boden gerammt, andernorts deuteten Zäune, Mäuerchen oder Pfähle die Grenze an. Keine Rauchsäulen, keine aufgeregten Bauern oder Arbeiter. Wir packten die Reste der Mahlzeit in die Satteltaschen und brachten Holz für das Feuer, das hinter einem Flechtschirm aus Zweigen brannte. Nur ein winziger roter Lichtschein verriet unsere Anwesenheit. Ich nickte dem Samurai zu, nahm meinen Bogen und bahnte mir einen Weg zur Spitze des Hügels. Dort erkletterte ich den Felsen und setzte mich auf die Spitze. Eine Decke schützte mich, ich warf mir den Mantel um die Schultern und ordnete die Falten.
Dann zog ich das Fernrohr aus dem Gürtel und fragte mich, ob Nemuro in meine Falle gehen würde. Ich hatte meine Ahnenrolle am Sattelknauf festgebunden und ein winziges Siegel angebracht. Dann wartete ich. Nach mehr als einer Stunde unterbrach das leise Summen des Empfängers im Unterarmschutz meine Gedanken. Ich schaltete das Gerät ein und meldete mich leise. »Gebieter.« Ricos Stimme. »Zwei Dinge sind geschehen. Soeben hat der Fremde die unterbrochene Sendung fortgesetzt. Nachdem er geendet hatte, sendete das Raumschiff über einen leistungsstarken Hypersender. Es war eine Flut verschlüsselter, komprimierter Daten. Die Sprache des Fremden ist analysiert. Er lernt überleben, kämpfen,
ringen mit der Natur.« »Hierin hätte auch ich ihn unterweisen können«, brummte ich. »Ist das alles?« »Ja. Ich habe alles gespeichert und bereite die letzte Analyse vor. Hast du besondere Wünsche?« »Nein. Ende!« Nemuro trug seine Ahnenrolle, den Schlüssel zum Raumschiff, stets in seinem Gürtel. Der abnehmende Mond wanderte über den Himmel. Unmerklich vergingen die Stunden. Als ich mich ablösen lassen wollte, hörte ich hinter mir kollernde Steine – ich rief den Schatten an, der den Fels heraufkletterte: »Nemuro?« »Ich löse dich ab, Ataya. Hast du etwas sehen können?« »Nein«, sagte ich. »Und hoffentlich siehst du auch nichts, denn ich bin müde. Du willst mein Fernrohr?« Ich konnte es ihm beruhigt überlassen; die Maschinen hatten das Metall und die Linsen derartig bearbeitet, dass es einer Prüfung standhalten würde. Er nahm mit spitzen Fingern die ineinander verschiebbaren Rohre und gähnte. Ich machte mich an den Abstieg, sah nach den Pferden, stieß das glühende Holz in die Glut und wickelte mich in Mantel und Decken. Kein Überfall erfolgte; auch Herr Tawaraya galoppierte mit zweien seiner Diener, gerüstet und bewaffnet, in der Nähe der Grenze durch Felder und Baumkulturen. Ich füllte die Flasche an einer Quelle, wusch unser Geschirr und meine Hände, als Nemuro in die Nähe des Feuers stolperte und zwischen den Zähnen hervorstieß: »Feuer mit weißem Rauch. Nicht weit entfernt, im Südosten!« »Ich habe begriffen. Sollte nicht heute die Tabakkarawane abgehen?« »Ja. Schnell!« Wir löschten das Feuer, schlangen ein paar Bissen hinunter, packten und schnallten die Sättel fest. Unsere Pferde waren ausgeruht; wir jagten mit losen Zügeln hügelan, wichen einigen Krüppelkiefern aus und hielten an der Hügelkuppe. »Dort! Siehst du?«
Ich rief mir die Einzelheiten des Geländes in Erinnerung zurück. Dort vorn wand sich eine gepflasterte Straße durch das Gelände. Wir kniffen die Augen zusammen und prägten uns den Weg ein; Sternenlicht und schwacher Mondschein riefen eine helle Herbstnacht hervor. Das Feuerzeichen leuchtete in der Nähe der Straße, bei einer Brücke, die durch unübersichtliches, bambusreiches Gelände führte. Wir sahen uns an, nickten und gruben den Tieren die Hacken in die Weichen, sprengten den Hügel hinunter, durch einen Wald und über Trenngräben. Wir kamen auf ein abgeerntetes Reisfeld. Die Pferde keuchten, Schaumflocken traten auf ihre Mäuler. Wir beugten uns über die Hälse der Tiere und versuchten, den Weg zu erkennen. »Weiter!« Mein Helm begann zu rutschen; ich biss auf das Kinnband und hielt den flachen Helm fest. Der Wolfsschädel darauf leuchtete schwach in der Dunkelheit; die Augenhöhlen strahlten stärker. Die Ahnenrolle
war geöffnet worden; jetzt steckte sie wieder im Gepäck; einige Stunden lang war mein Kampfgefährte unsicher gewesen. Wir erreichten ein Kiesfeld, das ringsum von kultivierten Flächen umgeben war, die in die Kiesfläche hineinwuchsen. Büsche und Nußbäume standen darin. Wie Nachtgeister jagten wir rasselnd über den Kies, preschten durch die Büsche und sahen einen flachen Bachlauf. Dahinter erkannten wir die senkrechte Spur des Rauches. »Geradeaus, Ataya!« Wir sprengten in den Bach hinein, in Schauer aus Tropfen und Gischt gehüllt. Dann setzten die Pferde aus dem Bach und kletterten das Ufer hinauf. Wir wandten uns nach links und galoppierten auf dem grasbedeckten und ginsterbewachsenen Boden dahin. Ich hatte einen Pfeil auf die Sehne gelegt und lenkte das Tier mit der rechten Hand. Die Spitze des Bogens schleifte fast im Gras. Der Wald wurde dichter. Irgendwo schrie klagend ein Käuzchen. Ein jagender Falke antwortete. »Hier!« Nemuro war erschrocken; ich merkte es am Klang seiner Stimme. Er riss sein Pferd auf die Hinterhand zurück. Mitten auf der Straße lag in einer Blutlache ein Körper. Ein Bauer, der Kleidung nach zu urteilen. Sein Schädel war gespalten. Das Pferd des Samurai drehte sich, ich drückte mit einem Finger auf einen verborgenen Kontakt. Aus den Augenhöhlen des Wolfskopfes schossen zwei Lichtstrahlen. Langsam drehte ich den Kopf. Ein Pferd, mit Tabakballen schwer beladen, stand am Waldrand. Jemand zerrte am Zügel; als er das Licht bemerkte, versuchte er zu fliehen. Nach drei Sätzen brach er mit einem Pfeil im Rücken zusammen; Nemuro hatte geschossen, während sein Pferd sich aufbäumte. Das Licht kreiste und erhellte die Szene. Verwundete lagen auf der Straße und wimmerten. Die Packpferde wurden von Bewaffneten, die zum Teil beritten waren, an den Zügeln davon gezerrt. Ich prägte mir das Bild ein, ritt weiter und atmete tief ein und aus. Dann hielt ich mit Kniedruck mein Pferd an, zog die Sehne bis hinter das Ohr und schoss. Ein Schrei. Mein Pferd wurde unruhig, aber ich hielt es auf der Stelle fest. Wieder konzentrierte ich mich auf die Übungen des Zen, wieder schlug ein Pfeil in völliger Dunkelheit
ein. Von vorn hörte ich Schreie. Ein Pferd wieherte qualvoll. Ich schoss noch einen Pfeil ab, warf den Bogen über die Schulter und holte die Donnerwaffe aus der Lederscheide. »Ataya! Vor dir!« rief Nemuro laut. »Ich sehe es!« rief ich, gab das Pferd frei, ritt geradeaus und sah im fahlen Dunkel die Bewegungen undeutlicher Gestalten. Pferde schlugen aus, Tabakballen fielen herunter und wurden hinterher geschleift. Wieder schaltete ich kurz das Licht ein. Ich gab schnell drei Schüsse ab. Einer traf einen Bewaffneten, der schwertschwingend
auf mich losgaloppierte, in die Brust und warf ihn rückwärts aus dem Sattel. Der zweite schlug einem Reiter in den Arm; er riss das Pferd herum, schrie und jagte davon. »Sie fliehen, die Schurken!« schrie Nemuro. Der dritte Schuss jaulte als Querschläger davon. Drei feurige Zungen hatten das Dunkel der schluchtähnlichen Passage erhellt. Ich schaltete das Gerät um und feuerte fünf lange Schüsse aus der Lähmwaffe ab. Dabei drehte ich das Pferd in einem halben Kreis und zielte schräg nach unten. Rings um mich fielen Menschen und Tiere um. Ich steckte die Waffe zurück und entzündete umständlich eine Fackel. Zuckendes Licht flackerte auf. Keuchend hielt Nemuro sein Pferd neben mir an. »Was war das für ein Licht?« rief er und stieg aus dem Sattel, legte die Hand an den Schwertgriff und musterte mich. Ich hielt die Fackel hoch über den Kopf. Nur ein Pferd keuchte und schlug mit den Hinterläufen aus. »Und wie hast du so schnell nachladen können?« Ich sagte: »Das hat Zeit. Ich weiß nicht, woher die Blitze kamen. Kümmern wir uns um die Karawane.« Sieben Schwerbewaffnete, von denen ich fünf wieder erkannte, hatten die wehrlosen Bauern überfallen. Zwei Bauern waren umgebracht, drei verwundet worden. Die Bauern hatten einen der Männer bewusstlos geschlagen mit ihren Knüppeln. Einige Pferde hatten die Lasten abgeworfen und waren durchgegangen, andere lagen gelähmt auf der Straße, andere hatten sich im Dickicht verfangen. »Verdammt! Sie haben kräftig zugeschlagen – fast der ganze Tabak dieser Ernte«, sagte Nemuro grimmig. »Ich glaube Tawaraya wird nicht froh sein über das, was wir ihm melden.« Ich öffnete die Tasche, in der ich die Medikamente aufbewahrte. Der Samurai machte sich daran, die Pferde zusammen zutreiben und die Ladung wieder zu befestigen. Ich rammte die Fackel in den Boden und versorgte den ersten Bauern. Ich gab ihm einen Schluck eines aufgelösten Medikaments, und dann bat ich ihn, dem Samurai zu helfen.
»Ja, Herr kuge«, sagte er. »Ihr seid gnädig! Helft Ihr auch den anderen?« »Selbstverständlich!« sagte ich. Nach einer Stunde hatten wir die Tiere neu beladen. Wir banden die gelähmten und toten Bauern über die Lasten und sagten den Männern, dass sie sich schnell zum Hof durchschlagen sollten. Ein fahler Schein am Horizont zeigte den Morgen an. Wir lehnten uns müde an den Sattel des Pferdes. Nemuro schob seinen Helm in den Nacken, und ich sah die tiefen Falten über der Druckstelle des Helmrandes. Dann drehte er den Kopf, sah der Karawane nach und blickte auf die verkrümmten Körper auf der Straße. »Wir nehmen einen der Männer, binden ihn auf einen Gaul und schließen die anderen Pferde zusammen. Sie finden von selbst zurück.«
»Das ist die beste Idee«, sagte ich. Wir waren eine halbe Stunde später fertig; ich sagte dem Bewaffneten, dass der nächste Überfall die Zerstörung der Burg des Shokokuyij nach sich ziehen würde – er solle dies ausrichten: Nur deswegen hatten wir sein Leben geschont. Der Zug setzte sich in Bewegung; lahme Pferde, Tote und Verwundete. Wir aßen und tranken in der Morgendämmerung, tränkten unsere Pferde und saßen auf. Nemuro sagte erbittert: »Das war die Kampfansage! In den nächsten Tagen werden viele brave Bauern sterben, weil der fette Herr sie zwingt, für ihn zu kämpfen. Vielleicht stirbt er selbst – dann ist dieser Zankapfel aus der Welt geschafft.« Ich sagte vorsichtig: »Schon immer, verehrungswürdiger Freund Nemuro, habe ich Männer geschätzt, die der Situation angemessene Bemerkungen machen können.« Ich deutete auf einen Hügel, der sich vor den Strahlen der Sonne hinter der nebligen Kulisse des Waldes hochschob. Von dort würden wir im Licht des Morgens einen Ausblick nach allen Seiten haben. Wir ritten den Hügel hinauf, fanden die Reste des Feuers und einen Mann, der sich mit Streifen aus seinem Mantel verbunden hatte – er war geflohen, als die Bewaffneten kamen, und hatte das Feuer angezündet. Wir gaben ihm etwas von unseren Vorräten. »Herr«, sagte er und hielt sich an meinem Sattel fest. »Ich habe, als die Reiter auf uns Losritten, gehört, dass auch die Seidewagen überfallen werden sollten. Ein Mann sagte: ›Zuerst der Tabak, und später nimmt sich der Herr auch die Seide.‹ Wollt Ihr nicht eingreifen?« Nemuro und ich wechselten einen schnellen Blick. Die prächtigen Figuren an seinem Helm wurden vom Sonnenlicht getroffen. »Beim Vollmond!« rief er. »Seide! Sie ist in Gefahr; die Wagen sollten heute morgen losgeschickt werden.« Ich setzte mich im Sattel zurecht und lockerte die Zügel. »Woher kamen die Wagen?« »Nicht weit von hier!« sagte Nectrion. »Deswegen wird der Fette die beiden Überfälle gewählt haben. Das Kostbarste und was man am leichtesten wegschleppen kann. Los, mir nach, Ataya!«
Er riss das Pferd herum, setzte die Hacken ein und galoppierte den Hügel hinunter. Ich folgte ihm. »Eine Stunde!« schrie er, als wir unten angekommen waren. »Welche Richtung?« »Geradeaus. Das Dorf beim Bambuswald! Dort, wo die Maulbeerbäume sind!« Wir jagten in gestrecktem Galopp über die abgeernteten Felder, vorbei an rotem Mohn, vorbei an Gruppen von Männern, die mit der Arbeit begannen. Der Herr hatte gesagt, dass er ein wachsames Auge auf die Seide haben wollte; vielleicht war er aufgehalten worden. Die Pferde gaben ihr Letztes her. Als wir das kleine Dorf erblickten, sahen wir, dass es ruhig war. Wir sprengten in den ersten Hof hinein, und Nemuro bog sich aus dem
Sattel und packte einen Jungen am Genick, der ihm über den Weg lief. Ich parierte das Pferd und wartete, den Bogen in der behandschuhten Linken. »Die Wagen mit der Seide? Wo sind sie? Wann fuhren sie ab?« stieß Nemuro aufgeregt hervor. Der Junge wand sich in seinem harten Griff und stotterte: »Sie sind… noch nicht weit… Herr Tawaraya ist gekommen… dann fuhren sie, ehrwürdiger…« Den Rest hörten wir nicht mehr. Wir stoben aus dem Gehöft, ritten durch eine Schar auseinanderstiebender Gänse und gewannen das freie Feld. Bei uns zahlte es sich aus, dass wir Luftbilder des Gebietes gesehen hatten. Wir kannten die Straße und alle Abkürzungsmöglichkeiten. Wir ritten wie die Besessenen; ich begann zu ahnen, dass jenes Sternenvolk einen seiner fähigsten Vertreter ausgeschickt hatte, um in einem barbarischen Land Überleben und Kampf zu lernen und – das Töten. Sein Gesicht, ich sah es nur im Profil, war verschlossen und hart. Er schien jede Unebenheit des Bodens vorauszuahnen und richtete sich danach. »Die Brücke! Dort müssen wir zurück auf die Straße. Sie führt durch einen morastigen Streifen!« »Ich reite hinter dir, Nemuro!« rief ich zurück. Während wir dahinsprengten, beobachteten wir konzentriert die Landschaft, suchten Anzeichen für einen Überfall. Entweder war Shokokuyij gewarnt worden, oder er hatte sich für seinen Überfall eine andere Stelle ausgesucht. Urplötzlich kam mir eine Idee. Ich ritt schärfer, setzte mich an die Seite von Nemuros Pferd und rief drängend: »Die Wagen fahren dort vorn! Wir sollten einen Bogen schlagen und ihnen entgegenreiten. Der Fette wird sie überfallen, wenn sie im Sumpf sind. Dann hat er es leichter!« »Weiter! Dort hinüber – ausgezeichnet gedacht, Ataya!« Natürlich meinte er, dass ich nicht genau wusste, wie es hier aussah. Ich kannte die Straße und wusste, dass sie nach dem Sumpfstreifen durch Reisfelder führte. Dort aber war kein Versteck möglich. Wir bogen nach links, ritten hintereinander, ich führte. Wir bewegten uns im Halbkreis um das tieferliegende Gelände herum, und da wir auf einem Hügelrücken dahingaloppierten, mussten wir
uns gegen das Sonnenlicht als Silhouetten abheben. Wir kamen höher; schließlich sahen wir die versteckten Angreifer. Ich deutete nach rechts. »Dort lauern die Schufte! Ich glaube, auch der Fette ist dabei!« Ich erinnerte mich seines mühsam beherrschten Gesichtes und der Briefe seiner Tochter. »Ich versuche zu zählen!« Man hörte den Hufschlag unserer Pferde nicht. Die Hügelkette lief ins Tiefland der Reisfelder aus. Ich konnte zehn versteckte Männer zählen, die alle beritten waren. Noch fünfhundert Sprünge trennten die Wagen von der Stelle des Überfalles. Wir jagten in die Reisfelder,
und diesmal hatten wir keine Zeit, uns auf den Dämmen zu bewegen. Wir sprengten mitten hindurch, den geraden Weg nehmend, der uns auf die Straße bringen sollte. »Schneller, Ataya!« keuchte Nemuro. Riesige Wirbel aus Wasser und schwarzem Schlamm umgaben uns. Der Schlamm spritzte nach allen Seiten, legte sich wie eine Schutzschicht über unsere Gewänder und machte Panzer und Platten stumpf, spritzte in die Augen, bedeckte das glänzende Metall der Helme und der Platten auf den Handrücken ebenso wie das Fell der schnaubenden Tiere. Dann sprengten wir in gewaltigen Sätzen auf die Straße und wandten uns nach rechts. »Nicht zu schnell!« sagte ich. »Sie warten auf festem Boden im Sumpf. Wir müssen in dem Augenblick auftauchen, in dem sie angreifen. Die Gebüsche werden uns ebenso verbergen wie sie.« Wir fielen in schnellen Trab zurück und hielten uns am Straßenrand. Ein idyllischer Morgen war angebrochen; unsere schweren Atemzüge wurden untermalt vom geradezu aufdringlich gutgelaunten Geschmetter vieler Vogelkehlen. Langsam ritten wir an die Biegung der Straße heran, zügelten die Pferde, machten uns Schussbereit und warteten. Die schwerfälligen Ochsen zogen die Wagen, deren Naben entsetzlich knarrten. Die breiten Felgen mahlten auf dem Boden. Die Wagen waren schwerer als die Last, die sie trugen. Hufschläge wurden laut, und schließlich hörten wir das Schwirren einer Bogensehne und heisere Kommandos. »Halt!« Nemuro legte einen Pfeil auf die Sehne. Undeutlich sahen wir wippende Grashalme, zurückschnellende Buschzweige, das Fell von Pferden, die rücksichtslos durch das Gestrüpp und die Nesseln getrieben wurden. »Los!« sagte ich. Wir gaben die Zügel frei. In genügendem Abstand galoppierten wir mit anfeuernden Schreien auf den Zug zu. Rechts und links vor uns brachen die fremden Reiter aus dem Morast. Vermutlich sahen wir aus wie Ahnengeister, mit Schlamm besudelt. Wir schossen im Reiten. Mit der Gleichmäßigkeit eines Metronoms gab Nemuro seine Schüsse ab; dieses Mal kannte er keine Gnade. Seine Pfeile trafen. Reiter stürzten aus dem Sattel. Ein Pferd rammte
im Galopp einen Ochsen; als der Reiter kopfüber durch die Luft flog, traf ihn in der Bewegung mein Pfeil. Der Samurai neben mir, schwarz und schmutzig, sprengte in hartem Galopp heran, beugte sich schräg, wie auch ich, aus dem Sattel. Seine Linke hielt den Bogen, die Rechte lag angewinkelt hinter dem Ohr. Ein Zischen, ein harter Schlag, und der Pfeil wurde erst sichtbar, als er einen der Männer traf. »Zurück! Wir sind umzingelt!« schrie jemand. Ich erkannte die heisere Stimme meines früheren Herrn, legte an und feuerte einen Pfeil ab, aber ich hatte mich verrechnet. Tawaraya griff den Fetten mit gezogenem
Schwert an, und als dieser auswich, fuhr mein Pfeil zwischen beiden Männern hindurch und blieb im Holz eines Wagens stecken. Die Ochsen waren weitergetrottet. Wir rasten an den kämpfenden Parteien vorbei. Der Schwung trug uns weiter. Dann rissen wir die Pferde herum und sprengten den gleichen Weg zurück. Wieder schlugen Sehnen, zischten Pfeile. »Er flieht!« schrie Tawaraya. Außerhalb der Reichweite unserer Pfeile floh der Fette und hatte sich fast aus dem Sattel gleiten lassen. Ich hielt mein Pferd an, wendete es auf der Hinterhand und feuerte, während es tänzelnd vorn hochstieg. Der Pfeil traf Shokokuyij in den Oberschenkel, rutschte von einer Stahlplatte ab und bohrte sich durch das Fleisch in den Sattel. Ein weiter Schuss, fast gleichzeitig von Nemuro abgegeben, zischte eine Handbreit über dem Hals des Pferdes vorbei. Mein letzter Pfeil tötete einen Reiter, als dieser mit einem Satz von bewundernswerter Weite über einen Nußstrauch setzte und durch das Moor zu fliehen versuchte. Ein Bauer hockte auf der Straße und hielt sich seinen rechten Knöchel – er war von unserer Seite das einzige Opfer. Wir ritten langsam auf den Zug zu. Jetzt erst rissen die Bauern an den Nasenringen der Zugochsen; die Stille, nachdem das Geräusch der Räder aufgehört hatte, war wohltuend. Um uns herum lagen Leichen. Herr Tawaraya ritt auf uns zu und hob die Hand. »Ich habe zu danken, kuge!« Er deutete auf die Leichen. »Wir sind in Eurem Dienst, Herr«, sagte Nemuro. »Wir erfuhren fast zu spät von dem Überfall.« Wir nahmen die Helme ab und versuchten, uns den Schmutz aus den Gesichtern zu reiben. Er trocknete, begann zu jucken und zu beißen. Ich sagte: »Der Fette wird seine Niederlage nicht vergessen. Ich glaube daran, dass er eine neue Truppe zusammenstellen und uns angreifen wird.« »Wie lange dauert die Ernte noch?« erkundigte sich der Samurai. Tawaraya gab zur Antwort: »Einige Wochen. In einer Woche haben wir das Wichtigste hinter uns. Wir werden uns in die Burg zurückziehen. Oder ist es klüger, wenn wir gleich angreifen?«
»Shokokuyij wird nichts anderes tun. Ich kenne ihn. Er wird auf Rache sinnen!« erwiderte ich. Die Bauern hatten die Pferde eingefangen. Die Toten wurden ihrer Kleidung und Ausrüstung beraubt und in den Sumpf geworfen. Es waren elf Pferde, also hatte die Gruppe der Angreifer zwölf Männer betragen. Der Zug setzte sich lärmend in Bewegung, der Bauer mit dem gestauchten Knöchel wurde auf einen Wagen gesetzt und jammerte leise vor sich hin. Heute würde niemand mehr wagen, einen von uns anzugreifen. Die Männer, die uns überfallen hatten, waren entweder tot, verwundet oder geflohen. Der Fette hatte nicht mit einem solchen Misserfolg gerechnet. Ich
atmete tief durch und sagte laut: »Ich glaube, Herr, wir sind jetzt überflüssig. Wir sollten heimreiten und unsere Rüstung putzen. Und wir werden die Burg vorbereiten!« Er nickte gedankenschwer. Seinem Gesicht war nicht anzusehen, was er dachte. Er verbeugte sich vor uns; wir ritten voraus. Am frühen Abend waren wir in der vertrauten Umgebung und brachten unsere müden Pferde in den Stall, ließen uns von den Mägden waschen und massieren und gingen daran, unsere Ausrüstung vom ärgsten Schmutz zu befreien. Unsere Kleider wurden von den Dienerinnen gewaschen, aber für die Waffen waren wir verantwortlich. Wir waren müde. Schon bei Sonnenuntergang schliefen wir. Am nächsten Tag traf Tawaraya ein – und mit ihm kamen Gerüchte. Sie stammten von Pilgern, die zum Shinto-Schrein kamen, von einem Mönch, der den Buddhatempel besuchen wollte, von Wanderern und Landarbeitern. Wenn es stimmte, was sie berichteten, trieb Shokokuyij seine Leute mit mörderischer Hast an, die Ernte einzubringen. Gleichzeitig wurde die Burg gerüstet. Überall suchten seine Diener nach ronin, die er für diesen Kampf bezahlen wollte. »Die Lage ist bedrohlich. Die Kämpfe werden sich in den Winter hineinziehen!« meinte Tawaraya, als wir gemeinsam aßen und tranken. Vor den Fenstern hörten wir, wie die Bauern beratschlagten, ob es besser sei, die Ernte zu vergraben oder alles auf die Burg zu schleppen. »Es ist sicher, dass Shokokuyij angreifen wird?« erkundigte ich mich. »Ich habe einen berittenen Boten zum Shogun geschickt. Vielleicht wird er Truppen schicken oder das Ehrengericht einberufen. Auf alle Fälle rechne ich damit, dass der Fette brennend und plündernd hierher ziehen wird, um die Burg zu belagern.« Ich setzte mich auf und sagte: »Ich bin Samurai. Mein Beruf ist der des Kriegers, der für seinen Herrn und für sich kämpft. Aber es ist sinnlos und verbrecherisch, wegen eines solchen Streites eine Belagerung durchzuführen, bei der viele Menschen sterben werden. Ist der Kampf nicht aufzuhalten, Herr Tawaraya?«
Er schüttelte traurig den Kopf. »Ich habe schon so oft versucht, mich mit dem Fetten zu versöhnen, ihm seine Habgier auszureden. Alles war vergebens. Ich habe keine Macht, ihn von dem Versuch abzuhalten. Ich kann nicht mehr versuchen, als ich getan habe – der Bote an den Shogun.« So kam es also auf uns zu. In den nächsten Wochen mussten wir uns darum kümmern, dass wir alles für eine lange Belagerung und einen harten Kampf auf die Burg schafften. Allen Bauern aus der Umgebung musste die Möglichkeit offen bleiben, sich in diese Fluchtburg zurückzuziehen. Wir brauchten Nahrung, Wasser, Waffen; genauso dringend wie Bewaffnete, um die Belagerer zurückschlagen zu können.
Sollte ich Rico anrufen und überlegene Arkon-Technik einsetzen? Ich musste alles gut überlegen. Wir tranken in dieser Nacht Sake, entwickelten einen Plan, der uns helfen sollte, den kommenden Angriff zu überstehen. Vielleicht aber handelte der Shogun im fernen Edo rechtzeitig, und der Kampf unterblieb. Aber ich blieb pessimistisch: Ich hatte zu viele Kämpfe gesehen in diesen Jahrtausenden und wusste, dass sie meist aus nichtigen Anlässen heraus entstanden. So auch hier. Wenn diese selbstzerstörerische Rasse einst Raumschiffe bauen sollte, würde sie keine Gelegenheit versäumen, sich mit dem umgebenden Universum in einen Kampf einzulassen. Dieser Gedanke brachte mich zurück zu meinen Problemen mit Nectrion. Ich zog mich in die karge Atmosphäre meines Zimmers zurück und zermarterte meinen Verstand, um eine Lösung zu finden.
3. Tawaraya, Nemuro und ich standen auf dem Erker des Hauses, das auf der Mauerkrone ruhte. Es war ein Mittag im Herbst, und wir hatten bis heute vergebens auf eine Reaktion des Shogun aus Edo gewartet. Und jetzt nahm der Kampf seinen Lauf. Tawaraya schüttelte den Kopf und sagte bitter: »Alles wird in Tod enden. Und um den Tod zu erleiden, zieht der Fette durch das Land und brennt nieder, was er findet.« Er deutete nach vorn. Wir waren in unsere schweren Rüstungen gekleidet. Außer uns befanden sich mehr als hundertfünfzig Mann hier oben, alle ausgezeichnet bewaffnet. In der Richtung, die etwa die Luftlinie zwischen der Grenze und diesem Bezirk darstellte, sahen wir die Rauchwolken brennender Scheunen und Wohnhäuser. Sie kennzeichneten den Weg der Truppe von Shokokuyij. Die fernen Rauchsäulen waren dünn und verschwanden; vor ihnen sahen wir frische Feuer. Der Feind kam näher. Aus allen Teilen des Landes strömten Flüchtlinge heran, trieben Vieh mit, schleppten schwere Lasten an federnden Bambusstangen, die über ihren Schultern lagen, und die Frauen
trugen die Kinder. Nemuro zog sein Schwert halb heraus und stieß es hart zurück in die Scheide; er sagte wütend: »Der Kampf muss schnell vorbei sein. Die Menschenmenge… wir können nicht lange für ihre Sicherheit garantieren.« Nachdenklich betrachtete Tawaraya die Bambuskörbe voller langer Pfeile hinter den Zinnen. »Das ist meine Überlegung, Samurai. Wir müssen den Fetten schnell besiegen.« Ich dachte an den geheimen Gang und an die Möglichkeit, mit einigen mutigen Männern einen Ausfall zu wagen. »Er kommt unbarmherzig näher. Warum haben wir uns ihm nicht in einem offenen Kampf auf den Feldern gestellt?« fragte Tawaraya. Ich hatte diese Frage schon zu oft gehört und entgegnete: »Weil der Verteidiger meist im Vorteil ist. Keine Sorge, Herr – wenn jemand den Kampf übersteht,
werden wir es sein.« Die Geschwindigkeit des Heerzuges, den wir nicht sehen, aber deutlich ahnen konnten, war gering. Wenn sie so weitermarschierten, würden sie beim Morgengrauen hier eintreffen, eine Gasse der Zerstörung hinter sich. »Hoffentlich habt ihr Samurai recht!« meinte der Herr zweifelnd. »Ihr wisst, was Tseng-kuang sagt: Der Zuschauer sieht klarer als der Beteiligte – aber: wer unrecht tut, schadet sich selbst!« Ich betrachtete stumm die Ansammlung der Krieger. »Wir sind davon überzeugt«, sagte Nemuro. »Dort, wo wir herkommen, hat man mit dieser Taktik stets Erfolg gehabt.« Ich sah ihn von der Seite an. Sollte dies ein Hinweis gewesen sein? Seit er meine Rolle geöffnet hatte, waren wir nicht mehr dazu gekommen, miteinander anderes als sachbezogene Unterhaltungen zu führen. Und er selbst trug seine Ahnenrolle noch am Körper. Dreimal hatte er zum Raumschiff gesendet, zweimal hatte das Schiff Hyperfunksendungen abgestrahlt. Im Grunde hatte sich nichts geändert. »Obwohl man dort, woher wir kommen«, warf ich ein, »fast vergessen hat, dass es Menschen gibt, die Menschen umbringen wollen. Aber dies ist eine andere Geschichte.« Tawaraya schloss: »Wir werden uns jetzt zur Ruhe begeben. Andere Männer können Wache halten. Morgen früh bereiten wir dem Fetten mit dem durchlöcherten Schenkel einen heißen Empfang.« Wir zogen uns in unsere winzigen Räume zurück, die wegen der Brandgefahr aus möglichst viel Stein und in Essig getränktem Holz bestanden. Papier gab es hier keines; Herbstwind pfiff durch Vorhänge aus Holzstäbchen, deren Klappern unseren Schlaf begleitete. Gegen Mitternacht waren die letzten Flüchtlinge gekommen. Wir schlossen das Tor, schoben die eisenbeschlagenen Riegel vor und zogen entlang der gesamten Rundung Posten auf, beobachteten scharf jede Bewegung unter uns, aber blieben unsichtbar. Die
Häuser waren fast völlig leer geräumt, und aller wertvoller Besitz befand sich hier. Es waren etwa zweihundert Männer. Sie waren bewaffnet und beritten. Viele von ihnen ohne Sättel, also hatten sie auch unsere Pferde gestohlen. Sie bildeten einen Ring um die Burg. Der Fette verschwand im Herrenhaus, und die Pferde begannen, im Park zu weiden. Als Tawaraya dies sah, knirschte er mit den Zähnen. »Keinen Laut!« schärfte ich ihm ein. Wir warteten. Stundenlang, regungslos, beobachtend. Am Vormittag bliesen die Hörner. Schwere Trommeln wurden geschlagen. Schrill ertönten die Flöten. Etwa fünfzig Mann auf Pferden sprengten heran, an ihrer Spitze befand sich der Fette. Er trug eine schwarze Rüstung, und seine Männer hatten Stäbe im Rücken, am unteren Ende im Gürtel befestigt, durch Schnüre an den Schultern gehalten; daran waren im rechten
Winkel Bambusstangen, die ein Zeichen hielten. Jeder Soldat führte eine solche kleine »Flagge« bei sich. Nemuro flüsterte: »Shokokuyijs Zeichen: Blitz und Flamme.« Unsere Männer würden ihre Zeichen tragen, wenn wir die Burg des schwarzgekleideten Mannes angriffen. Der Schwarze ritt bis an den Hügel heran, nahm einen Anlauf und ritt mit seinen Leuten hügelaufwärts. Dort zügelte er sein Pferd, hob die Hand und schrie aus Leibeskräften: »Ich fordere deinen Kopf, Tawaraya! Ich habe nicht mehr verlangt als mein Recht. Deine kuge haben meine Männer getötet. Komm heraus, stelle dich, kämpfe gegen mich!« Hinter mir senkte Nemuro den Arm. Fünfzig Bogensehnen wurden ausgezogen, und fast gleichzeitig schlugen fünfzig Pfeile ein. Ich machte meine Zen-Übungen, sah den Pfeilschauer und schickte einen einzelnen Pfeil hinterher. Er traf die Brust des Dicken und blieb stecken, aber die einzige Reaktion war, dass Shokokuyij zurückfuhr und mit der Faust den Pfeil abbrach. Aber dreißig seiner Männer waren verwundet worden. Ein weiter Schuss vertrieb sie von der Burg. Wir zählten mit. Sie trugen zwanzig Männer wie tot davon. Und dann begann der Sturm auf die Burg. Wir hatten unseren Männern eingeschärft, nur zu schießen, wenn sie sicher waren, zu treffen. Die Angreifer rückten unter großen Bambusschilf-Schilden an, die mit Kuhhäuten bespannt waren. Sie bildeten eine Art lebenden Pilz, unter dem sich viele Beine bewegten. Hin und wieder sah man eine kleine Lücke, in die sofort einer von uns schoss. »Herankommen lassen!« sagte ich. Die Angreifer, etwa achtzig Mann, füllten den Tunnel zwischen den Mauern aus. Sie versuchten es im direkten Ansturm, brachten Reisig und Balken, die an der Spitze mit Stahl verstärkt waren. Mit wenig Verlusten erreichten sie das Tor und stapelten dort Reisig auf. »Die Steine!« sagte ich. Wir hatten Geschütze konstruiert, die, von federnden Bohlen hochgerissen, Steine und Felsbrocken fast senkrecht in die Luft schleuderten. Die ersten Geschosse wirbelten hoch, sich überschlagend, verharrten einen Augenblick im Scheitelpunkt ihrer Bahn, dann stürzten hin herunter und zerschmetterten Schilde und Männer, die darunter waren. Aber
schon züngelten Flammen aus dem Reisig. Wir schrien, während andere Männer Steine mit den Händen schleuderten, nach Wasser. Es wurde in ledernen und metallenen Gefäßen gebracht; Frauen und Männer bildeten eine Kette vom Brunnen her. Ströme von Wasser ergossen sich auf das Reisig, auf das immer neue Bündel geworfen wurden. Gleichzeitig arbeiteten die Schleudern. »Jetzt kannst du deine Waffe einsetzen!« sagte Nemuro verächtlich und deutete auf mein Donnerrohr. Ich musste vorsichtig sein. »Ich werde sie benutzen!« versprach ich, stieg
in einen Wachraum, legte die Waffe auf den Sims eines Fensters und feuerte Schuss um Schuss auf die Angreifer. Ich bemühte mich, die Männer nur kampfunfähig zu schießen, wechselte auf den Lähmstrahler über und betäubte einen nach dem anderen. Schließlich, nach Stunden, flohen die letzten Angreifer. Der bittere Rauch und das verbrannte Harz reizten die Augen. »Geht hinunter!« schrie ich. »Öffnet das kleine Tor! Nehmt ihnen die Waffen und Rüstungen ab! Schnell!« Kurze Zeit später drangen unsere Bewaffneten vor und plünderten die Männer, die wie tot dalagen. Als der Morgen kam, war der Großteil der Bewusstlosen geflohen; einige krochen aus der Schlucht heraus. Der Schock für den Fetten war gewaltig, aber er schien außer an Habgier auch an unangebrachtem Starrsinn zu leiden. Er ließ einen Turm bauen, mit dem er die Mauern erreichen wollte. Als der Turm nach einigen Tagen fast fertig war, setzte ich in einem Augenblick, wo Tawaraya und Nemuro schliefen, den Strahler ein und verwandelte den Turm in ein Gerüst aus brennendem Holz. Der Starrsinn war bemerkenswert. Immer wieder versuchten Gruppen, ölgefüllte oder harzige Brandpfeile zu schießen. Sie wurden, wenn sie die Mauer überflogen, augenblicklich gelöscht. Und die Männer, die diese Pfeile geschleudert hatten, starben oder wurden verwundet. Am siebenten Tag trafen wir uns wieder. »Heute Nacht machen wir einen Ausfall!« sagte ich. »Nur wenige Männer; die besten Kämpfer.« »Einverstanden!« Herr Tawaraya nickte. »Bis jetzt haben wir den Angriff gut überstanden. Zwei neugeborene Kinder, drei verstauchte Handgelenke und Brandwunden. Das ist alles.« »Ataya ist ein bewundernswerter Samurai!« Nemuro grinste schief. »Ich werde in meiner Heimat berichten, wie viel ich von ihm gelernt habe.« Ich erwiderte ruhig: »Wir alle wissen, dass du hier bist, um zu lernen und deinen Freunden berichten zu können. Es ist nichts, was zu tadeln wäre.« Als ich mich höflich verneigte, sah ich Betroffenheit in seinem Gesicht. Er hatte also noch nicht gelernt, sich meisterhaft zu beherrschen und sein Antlitz eine Maske werden zu lassen, wie ich.
Wir sprachen den Plan durch. Gegen Mitternacht hatten wir zwölf mutige Kämpfer gefunden. Ich führte den Trupp an. Wir verschwanden lautlos, nur mit Kerzen ausgerüstet, im Treppengang zwischen Felswänden und abgestürztem Erdreich nach unten. Schweigend gingen wir durch den engen Gang; dann waren wir unter dem Teepavillon im Park. Jeder wusste, was er zu tun hatte. Wir ließen die Klappe herunter, ich schob meinen Kopf hinaus und suchte die Umgebung ab. Drei Handbreit über meinem Helmsymbol begannen die Tragebalken und die Bretter des Bodens jenes Häuschens. Ich winkte nach hinten – langsam krochen
wir hervor und robbten lautlos über das Gras. Um uns waren Park und Hof. Nur einige Fackeln brannten. Irgendwo schnarchte ein Posten. Wir versteckten uns zwischen Büschen und sahen uns um. Wachen kamen, Fackeln in den Händen, von den Ställen her. Die Pferde bewegten sich unruhig, als der Lichtschein über ihre Körper huschte. Ich hob vier Finger und deutete auf den Pferch. Vier Männer nickten, fassten ihre Schwerter und die bunten, mit Pulver gefüllten Behälter. Nemuro winkte vier Männer zu sich und deutete auf die Scheune. Dort schliefen viele Männer, und die Scheune stand genügend abseits, um den Hof nicht zu gefährden. Langsam glitten die Gruppen durch den Park und verschmolzen mit der Dunkelheit. Ich richtete die Lähmwaffe auf die Posten, drehte an einer Schraube und stellte die geringste Intensität ein. Zweimal knackte die Waffe scharf. Dann brachen die Posten zusammen. Zwei meiner Männer hasteten hinüber, hoben die Fackeln auf und gingen weiter, als wären sie Soldaten des Feindes. »Ins Herrenhaus!« sagte ich leise. Wir schlichen davon. Die weichen Sohlen unserer Stiefel drückten Gras und Moos nieder. Wir hatten die schweren Röcke ausgezogen und waren nur in Hosen und Brustpanzern. Wir kamen in den dunkelsten Winkel des Herrenhauses, blieben stehen und horchten. Auf der Terrasse saßen drei Posten; einer von ihnen war unruhig geworden und stand auf. Dreimal knackte meine Waffe, und wir erschraken; das Poltern der fallenden Körper musste die anderen aufwecken. Im Innern des Hauses rührte sich etwas. Wir kletterten auf die Terrasse und gingen auf die Eingangstür zu, öffneten sie geräuschlos und traten in das Dunkel des Hauses. Ich kannte hier jeden Fußbreit Boden. Wir verteilten uns, zündeten Kerzen an und gingen durch die Korridore, die ein Bild der Verwüstung boten. Zeichnungen und Rollen waren von den Wänden gerissen, Stellschirme umgeworfen, Blumen in den Schalen verwelkt. Dann ertönten von draußen Schreie. »Los!« sagte ich. Eine Reihe knatternder Explosionen! Die Pferde durchbrachen das Gatter, die Tore des Pferchs flogen auf; fast alle Pferde der Angreifer rasten mit weißen, rollenden Augen, zu Tode erschreckt, davon. An den Schweifen einiger Tiere
hatten die Soldaten Knallkörper befestigt. Gleichzeitig schlugen an vier Enden der Scheune Flammen empor. Wir rissen unsere Schwerter heraus und schoben die Türen auf. Ich schaltete die Lampen in der Helmzier ein und durchsuchte die Räume. Jeder Mann, der sich mir entgegenstellte, wurde von mir bewusstlos geschlagen; Arbeiter, Diener und Bauern, die von ihrem Herrn in den Krieg gezwungen worden waren. Ich suchte den Fetten um ihn in Ketten zum Shogun zu schicken. Ich
wirbelte durch die Räume, sprang über Truhen und Bewusstlose, riss eine weitere Tür auf, zerschnitt einen Vorhang und suchte. Ein beispielloses Durcheinander brach los. Die Männer, die vom Pferdepferch zurückkamen, krochen in den unterirdischen Gang zurück. Zwei von ihnen blieben mit gespannten Bögen neben dem Teehaus stehen. Die Gruppe um Nemuro rannte durch den Park, drang von der anderen Seite mit erbarmungsloser Wut in das Herrenhaus ein und schlug nieder, wen sie antraf. Aus einem anderen Teil des Hauses brüllte Nemuro: »Ataya? Hast du ihn?« Ich rannte in den Essraum hinein und sah, dass hier schon jemand gewesen war. »Nein! Ich habe ihn nicht gesehen!« schrie ich und schaltete das Licht aus. Wir trafen zusammen, als zwei unserer Männer mit Fackeln aus anderen Zimmern kamen. Als wir nachfragten, ob ein Raum übersehen worden war, hörten wir von draußen rasendes Hufgetrappel. Ein Reiter sprengte von dem kleinen Haus, in dem Nemuro und ich gewohnt hatten, quer durch den Park, über eine Mauer und entfernte sich. Düster murmelte Nemuro: »Zurück! Ich glaube, das war Shokokuyij. Wir sind fertig -- er ist geflohen.« Ich nickte. »Gehen wir zurück zur Burg. Morgen, wenn es hell ist, sehen wir mehr.« Wir zogen uns vorsichtig zurück. Überall rannten Männer herum, stolperten übereinander und suchten ihre Pferde, ihre Waffen. Einige erkannten uns und griffen an, aber unsere Bögen wehrten sie ab. Pfeile schwirrten durch die Nacht, die vom lodernden Feuer erhellt war. Einer nach dem anderen verschwand unter den Bohlen des Teehauses und kroch durch den Stollen zurück. Nemuro war der letzte, der die Klappe schloss und, als wir genügend weit voran gelaufen waren, am Seil riss. Die Abstützung des Tunnels brach auf einer Länge von zehn Ellen zusammen, das Teehaus bebte, und der Gang war von Steinen, Felstrümmern und Erdreich versperrt. Kurze Zeit später waren wir in der Burg und berichteten Herrn Tawaraya, was geschehen war.
»Es gibt zwei Möglichkeiten«, schloss Tawaraya. »Entweder flieht er und greift nie wieder an, verlangt auch niemals wieder Abgaben von diesem verdammten Bauernhof – oder er kommt mit einem gewaltigen Heer zurück.« Ich erwiderte: »In der Scheune sind große Mengen Waffen, Kleider und Panzer verbrannt. Auch Shokokuyij ist nicht so unermesslich reich, dass er ununterbrochen neue Heere aufstellen kann.« Wir machten einen Rundgang durch die Burg; überall, wohin wir kamen, konnten wir sehen, dass sich unsere Vorbereitungen auszahlten. Wir konnten in guter Ruhe abwarten, was der Gegner unternahm. Du musst versuchen, endlich Kontakt zu Nectrion herzustellen! drängte der Extrasinn, als ich mich auszog, mit meinem spärlichen Wasservorrat
wusch und zur Ruhe legte. Aus einem Baum an der Unterseite des Hügels rief ein Kuckuck. Die Blumen im Park des Herrenhauses waren wie bunte Muster im Grün, weiße Wolken segelten über den tiefblauen Herbsthimmel. Die Sonne schien die Gegend verwandelt zu haben und machte aus dem halbzerfallenen, schwarzen Gerüst einen Kubus filigraner Linien. Ein poetischer Rauchschleier erhob sich aus den Trümmern der Scheune. Nemuro, Tawaraya und ich standen vor einem Fenster im höchsten Giebelhaus unserer Burg. Kühler Wind kam von Osten und brachte den Geruch von Leichen mit sich. Tief unter uns waren Bewegungen zu sehen und Kommandos zu hören. Ein Reiter kam die Straße entlanggesprengt und schrie auf die Gruppe der Männer ein. Nemuro nahm seinen Helm ab und legte ihn auf die Brüstung. »Sie ziehen ab!« sagte er. Plötzlich keuchte Tawaraya erschrocken auf und stammelte: »Dort! Das Feldzeichen! Der Reiter kommt nicht von Shokokuyij. Es ist ein kuge aus Edo!« Um den Reiter bildete sich eine Gruppe aus Bauern und Dienern. Als der Mann seinen Helm aus der Stirn schob, fielen sie vor ihm in den Staub und verneigten sich ununterbrochen. Er zog eine Schriftrolle hervor und las etwas, deutete nach Osten und schlug immer wieder zornig mit der Faust auf seinen gepanzerten Schenkel. Die Bauern erhoben sich und zogen sich schrittweise zurück. In der nächsten Stunde sahen wir zu, wie sich die »Truppen« des Fetten sammelten und den Hof verließen. Sie blieben auf der Straße. Wenige von ihnen ritten, die meisten gingen zu Fuß. Schließlich, als der Hof geräumt war, hob der Samurai seine Hand in unsere Richtung und ritt auf die Burg zu. Tawaraya stürzte aus dem Raum und schrie: »Zieht das Tor auf! Der Shogun hat eingegriffen! Der Krieg ist aus!« Minutenlang schrien und jubelten die Menschen in der Burg wild durcheinander. Dann wurden die mächtigen Tore aufgestoßen, Männer strömten hinaus, um den Samurai zu begrüßen und die
Leichen fortzuschaffen. Es stellte sich alsbald heraus, dass der Shogun Boten zu Shokokuyij geschickt hatte, die ihn aber nicht mehr angetroffen hatten. Der oberste Herrscher über die Inseln hatte sich beraten lassen und beschlossen, den Fetten festzunehmen und zu bestrafen. Mit einem Minimum an Verlusten war dieser Krieg beendet worden. Aber der Samurai, ein kleiner Mann mit hageren Gesichtszügen und einer verstümmelten linken Hand, blieb skeptisch. Ehe er zurück ritt, sagte er: »Der verehrungswürdige Shogun weiß, dass sich Shokokuyij nicht ergeben wird. Er hat darum Truppen ausgehoben und hierher geschickt. Sie werden die Burg belagern und den fetten Mann fortbringen. Es ist der Wille des Herrschers, dass ihr den Truppen helfen sollt. Ein Bote
wird euch und eure Männer abholen.« Tawaraya schloss: »Wir werden mit Freuden gehorchen, da das Recht auf unserer Seite ist.« Nach dem Besuch des Boten kehrte alles wieder zum normalen Leben zurück. Die Bauern zerstreuten sich und nahmen ihr Vieh mit. Einige Handwerker blieben und beseitigten die Schäden im Park und an den Gebäuden. Die Pferde waren rasch eingefangen; langsam glitt der Herbst in den Winter über. Und eines Tages erschien der Bote des Shogun. Der fahle Herbstmond stand am grauen Himmel, über den tiefhängende Regenwolken trieben wie die Brandung des Ozeans. Hin und wieder regnete es; der Sturm, der unsere Pferde vor sich hertrieb, jagte die Regentropfen waagrecht durch die Luft. Herbstlaub fuhr vor uns in Wirbeln über die Straße. Die Körper der Pferde und der Zugochsen dampften und waren dunkel vor Nässe. Wir waren noch einen Tag von der Burg des dicken Shokokuyij entfernt. »Dreihundert Samurai hat der Shogun aufgeboten«, sagte der Bote und zog fröstelnd die Schultern hoch. Ich hob die Arme; die Tropfen liefen an meinem Mantel ab, sammelten sich und durchnässten einen Stiefel. Der Wind drückte den Stoff gegen den Rücken und zerrte an dem Hut aus lackierten Bambusfasern, der fast den halben Oberkörper bedeckte. Ich sagte: »Vermutlich hat er sparen wollen, denn wer führt schon mitten im Winteranbruch einen Krieg gegen einen verbrecherischen Daimyo?« »Wir!« sagte Nemuro. »Es ist kalt. Ich friere. Nach dem Winter werde ich in meine Heimat zurückkehren.« Ich spürte, wie mein Herz heftiger zu schlagen begann. Die anderen Männer, Tawaraya eingeschlossen, ritten hinter uns und konnten nicht hören, worüber wir sprachen. Ich sagte: »Warum bist du eigentlich auf die Inseln gekommen, Nemuro?« »Ich habe lernen müssen. Viel lernen. Das, was ich lernte, erstreckte sich auf fast alle Bereiche des Lebens.« Ich musste versuchen, ohne ihn zu erschrecken, ihm näher zu kommen. In der letzten Zeit hatte ich Anzeichen feststellen müssen,
die mich alarmierten. Der Fremde von den Sternen wurde unsicher. Offensichtlich war er an der Grenze seiner Aufnahmefähigkeit und Leistungsfähigkeit angelangt. »Wozu hast du das alles gelernt? Bogenschießen, Zen und Schwertkampf, die Regeln des Samurai und vieles andere?« Er schwieg. Offensichtlich beschäftigten ihn seine Probleme. Dann meinte er mürrisch: »Ich muss das Wissen weitergeben. Die Menschen meines Stammes haben all das verlernt, was ich hier suchte und fand.« »Es geht um ihre Existenz?« fragte ich halblaut. Er nickte, dann sah er mich überrascht an, zwinkerte misstrauisch mit den Lidern und wischte sich das Wasser aus dem Gesicht. »Ja. Es geht um ihr Weiterleben!« sagte er. Wieder ließ ich eine
Pause verstreichen. In der Ferne konnten wir, undeutlich hinter den Regenschleiern und den treibenden Nebelfetzen, die Burg des Shokokuyij erkennen. Die Soldaten des Shogun hatten ihr Lager dort aufgeschlagen. »Sind auch andere Männer unterwegs, um in anderen Kulturen zu lernen?« Ich war bemüht, meiner Stimme einen gleichgültigen Ton zu geben. »Ja. Einige hundert Männer!« sagte er. Schließlich wagte ich es. Ich ritt näher an ihn heran und sagte: »Warum hast du meine Ahnenrolle geöffnet?« »Arkon« war mehrmals erwähnt, aber für jeden Einwohner der Insel würde er nur ein Begriff ohne Bedeutung sein. Nicht so für einen Raumfahrer. Er schien die Frage schon erwartet zu haben und antwortete: »Ich wusste nicht, wer du warst. Ich war misstrauisch, denn unser Volk hat viele Feinde.« »Und jetzt glaubst du, dass ich nicht dein Feind bin?« »Ich glaube es«, sagte er und spürte wohl, dass die Unterhaltung in eine schwierige Phase eintrat. Wir hatten uns bis jetzt gegenseitig belauert. »Das freut mich«, sagte ich, »denn ich bin ein Raumfahrer wie du, der nichts sehnlicher wünscht, als von diesem Planeten fort zukommen.« Ich drehte mich um und beobachtete ihn scharf, während ich die letzten Worte aussprach. Seine Reaktion war interessant und aufschlussreich. Er zuckte zusammen, griff zum Schwert, kontrollierte sich und drehte den Kopf. Sein Gesicht war beherrscht, aber in den Augen sah ich Unruhe und panischen Schrecken. »Raumfahrer?« »Ich bin Arkonide, Nectrion!« sagte ich. Er atmete schwer und fragte: »Daher also die Möwe, die ich erschlug? Daher das Licht im Wald, die merkwürdige Waffe, die Größe deines Körpers. Was willst du auf diesem Planeten?« »Ich bin seit langer Zeit verschlagen auf diese Welt«, sagte ich und überlegte mir, wie ich ihn von der Harmlosigkeit meiner Absichten überzeugen konnte. »Letzter Überlebender eines Raumschiffes, Teil einer Flotte, die diesen Planeten besuchte. Ich habe dein Schiff
gesehen, deine Spuren verfolgt, habe ebenso alles gelernt, bis ich in deiner Nähe war. Jetzt bin ich hier und bitte dich, mich mitzunehmen.« Er nickte. »Ich kenne deinen Planeten nicht«, sagte er. »Arkon, nicht wahr? Ich sah diesen Namen oft in der Rolle. Deine Möwe hat mich beobachtet.« »So war es. Ich wusste nicht, ob dein Volk ein Feind meines Volkes ist – ich war unsicher. Ich will nicht mehr, als von hier wegzukommen, weg von diesem barbarischen Planeten. Wir sollten es versuchen, sobald die Burg gefallen ist. Ich habe ein Fahrzeug, das uns innerhalb von Stunden zu deinem Raumschiff bringen kann; ein Meisterwerk an Tarnung, das Schiff.« »Wir beherrschen die Technik«, sagte Nectrion. »Aber wir sterben, weil wir die Natur und alles, was sich in ihr abspielt, nicht
kennen.« Ich verstand. Der Name des Sonnensystems und des Planeten, den er mir nannte, sagte mir nichts. Als die Zelte des kleinen Lagers auftauchten – sie waren schwarz und verstärkten die düstere Stimmung, die über allem lag –, verdrängte ich meine Überlegungen. Ehe wir mit den Samurai des Shogun zusammentrafen, sagte ich zu Nectrion: »Wir tun hier unsere leidige Pflicht, kuge, dann hole ich mein Fahrzeug, und wir verlassen diesen Planeten. Vorher könnten wir Ferien machen, an einem der tausend idyllischen Plätze, die ich als ewiger Wanderer kenne.« Wir wechselten einen harten Händedruck. Die Kanten der stählernen Schutzplatten schnitten in die Haut. »So sollten wir es halten, Ataya Arcohata!« sagte er. Dann nahm das Lager uns auf. Über uns im Regen, der in langen Fäden vom Himmel strömte, lag die Burg des Shokokuyij. Hinter Schutzschirmen brannten Feuer mit viel Qualm. In kurzer Zeit würden mehr als dreihundert ausgebildete Männer, deren Beruf der Krieg war, die Burg belagern – es würde ein Gemetzel werden. Vielleicht verriet ich mein Inkognito, wenn ich mit überlegenen Waffen eingriff. Tawaraya und seine Männer wurden in die Pläne eingeweiht, und zusammen mit dem Heerführer machte ich, triefend nass und frierend, einen Ritt um die ausgedehnte Anlage. Wir schlugen unsere Zelte auf und stellten Glutkörbe aus Kupfer auf, mit Holzkohlen gefüllt. Daran trockneten wir unsere Kleidung; denn die Teile aus Metall begannen bereits zu rosten. Der Regen verwandelte sich in nassen Schnee, als der Sturm begann. Wir vermieden die Falle vor dem Tor. Die Soldaten drangen zu Pferd im Schutz ihrer schweren Schilde bis zu der niedrigsten Stelle der Mauer vor. Dort wurden Dreiecke aus Baumstämmen zusammengesetzt und mit eisernen Klammern verbunden. Die Hälfte der Soldaten arbeitete an der Rampe, die andere Hälfte schirmte sie ab und erwiderte das Feuer von den Mauern. Hin und wieder ritt ich hinter der Linie vorbei und gab Schüsse aus meinem Donnerrohr ab. Bei der Gelegenheit lähmte ich einige Verteidiger.
Die Rampe wuchs von Stunde zu Stunde. Das Holz war triefend nass; Brandpfeile schlugen ein und erloschen zischend. Über besonders wichtige Stellen wurden Schirme aus Flechtwerk errichtet, an denen Steinbrocken, Lanzen und Pfeile abprallten. Dann errichteten die Samurai eine Art Treppe, deren verlängerte Holme nach unten wiesen. Flaschenzüge wurden an ihnen befestigt. Ich hatte den Baumeistern bei der Konstruktion geholfen. Als die Treppe senkrecht stand, erfolgte ein Scheinangriff gegen das Tor. Die Taktik war durchsichtig, aber sie zog auf alle Fälle Verteidiger von dieser Stelle der Mauer ab. Dann bliesen die Hörner. Die Samurai saßen ab und sammelten sich. Alles verlief
in unheimlichem Schweigen. Je mehr der Tag vorrückte, desto weißer färbte sich die Landschaft. Die Trittspuren malten schwarze Tuschemuster in den hellgrauen Schnee. Eiskalter Wind wehte. Die Pferde wurden in die Nähe des Burgtores geführt und warteten. Abermals ertönte das Signal. Zur gleichen Zeit erfolgte ein Angriff mit allen Mitteln. Langsam begann sich die Treppe zu senken. Die Verteidiger schleppten Stangen und Bohlen herbei, um die Treppe zurückzustoßen, aber die Männer an den Seilwinden drehten unbarmherzig die Plattform mit den Trittflächen zur Mauer hin. Schlingen und Wurfanker wurden um die Stangen geworfen und zogen sie von der Mauerkrone. Nicht ein Mann sprach oder schrie – die Wut der Angreifer wurde durch die Lautlosigkeit ihres Vorgehens noch erschreckender. Nectrion lief auf mich zu. »Da ist ein Samurai, der nach dir gefragt hat; ronin Yodoya!« »Ich werde ihn später treffen. Ich muss einen Massenmord verhüten!« sagte ich und reihte mich in die erste der stürmenden Gruppen ein. Vor Minuten hatte ich durch Funkbefehl meinen Gleiter abgerufen und die Fernsteuerung so eingestellt, dass die Maschine mit eingeschaltetem Abwehrfeld sich mir bis auf fünfzig Schritte nähern würde; ich kalkulierte unliebsame Zufälle ein. Die Treppe berührte die Mauerkrone. Ein letztes Signal. Der Sturm begann mit lautloser Wucht. Zuerst schossen wohl einhundert Samurai einen Hagel von Pfeilen über die Mauer, und viele Verteidiger fielen. Dann machten sich die Gruppen auf. Je zwei Mann trugen einen schweren Schild, der binnen kurzer Zeit mit Pfeilen und Lanzen gespickt war. Wir arbeiteten uns Schritt für Schritt die schräge Fläche hinauf. Ich hatte mein Donnerrohr auf der Schulter. Der Bogen lag im Zelt – jetzt war er nutzlos. »Hinauf! Tod dem, der sich der Entscheidung des Shogun entgegenstellt!« schrie gellend ein Anführer. Auf unseren Rücken zitterten die Stangen mit den Zeichen des Shogun. Wir erreichten die Mauerkrone und sprangen von der Treppe. Die Männer mit den Schilden bildeten in Blitzesschnelle einen Stoßkeil, der nach wenigen Schritten nach den Seiten auseinander glitt und den Weg freimachte. Neben mir kämpfte Nemuro. Wir ließen die Schilde
fallen und zogen die Schwerter. Pausenlos drückten hinter uns Soldaten in die Burg hinein. Die Aktion splitterte sich in Hunderte Einzelkämpfe auf. »Zum Tor, Ataya!« rief Nectrion und schlug, nachdem er die Lanze eines Bauern abgewehrt hatte, den Mann mit der flachen Klinge bewusstlos. Ich schob das Schwert in die Scheide, während ich mich nach vorn warf und durch diese Bewegung das Donnerrohr über die Schulter rutschen ließ. Dann feuerte ich ununterbrochen, mich im Halbkreis drehend,
auf die Bauern, die gegen ausgebildete Krieger keine Chance hatten. Sie sanken gelähmt zu Boden und blieben wie tot liegen. Schnee setzte sich auf ihnen ab. Wir rannten zum Tor – etwa vierhundert Sprünge. Nemuro hetzte neben mir her und schlug mit dem Schwert um sich; er schien in eine Art Rausch zu geraten. Vermutlich verwirrte ihn das Getümmel. Wir schlugen uns durch kämpfende Gruppen hindurch. Nirgendwo sah ich den Fetten. Dann erreichten wir die hölzerne Anlage vor dem Tor. Nemuro zitterte wie im Fieber. »Die Tore auf!« rief ich. Über uns feuerten Wachen Pfeile ab. Ich blieb stehen, schaltete auf den Strahler um und verwandelte fünfzig Schritte Wehrgang in eine Wand aus Flammen und Rauch. Die Wachen flohen. Wir erreichten das Tor, ich feuerte um mich und schrie: »Ich gebe dir Deckung, Nectrion! Öffne das Tor!« Er stemmte sich, während ich die Umgebung beobachtete, gegen die Riegel und schob sie auf. Von außen drückten die Samurai des Shogun dagegen. Die Detonationen von Schüssen klangen auf, dann das Heulen des Lähmstrahlers. Knirschend bewegten sich die Türflügel. Pfeile schwirrten um unsere Köpfe. Ich schoss, solange das Tor noch nicht offen war, an gefährdeten Punkten mit dem Strahler und entfachte starke Brände. In einer Wand aus Dampf und Rauch, durch das Schneetreiben, donnerten einhundert Pferde herein, von berittenen Samurai an den Zügeln geführt. Ich winkte Nectrion, wir schwangen uns in die Sättel, galoppierten mit den anderen hügelaufwärts; wo immer sich ein Shogun-Samurai befand, warfen wir ihm die Zügel zu. Die Reiter, die die Pferde herbeigebracht hatten, schossen im Galopp Pfeile auf die sich wehrenden Bauern und Diener ab. »Ins Herrenhaus!« schrie ich. »Dort ist ein Mädchen…« Nemuro hob die Hand. Seite an Seite jagten wir, die Pferde hetzend, geradeaus ritten Kämpfende nieder, sprangen über Mauern, durchbrachen eine beschneite Hecke und galoppierten über die Mauer hinweg, unter dem Tor hindurch, über die Brücke und durch den Ziergarten; am Teepavillon vorbei zur Terrasse des Herrenhauses. Ich hörte aus meinem Armband einen Summton – der Gleiter war angekommen.
Eine Reihe Samurai folgte auf unseren Spuren. Sie sprangen im Galopp aus den Sätteln, schlitterten über nasse Bretter und schlugen die Rahmen der dünnen Fenster in Fetzen. Wir drangen von zwei Seiten in das Haus ein. »Tairi!« schrie ich, dachte an die Zeilen dieses verhaltenen Liebesbriefes. Ich warf einen Blick neben mich. Dort rannte Nemuro durch die Räume, mit verzerrtem, schweißüberströmtem Gesicht. Er schüttelte sich, als er sah, wie ein Samurai mit einem Schwerthieb einem Diener, der sich uns in den Weg stellte, den Schädel spaltete und das Schwert
aus der Brust herauszog. Ich schluckte und rannte weiter. Ich wusste, wo die Zimmer der Frauen waren. Einen Samurai, der schneller war als ich, brüllte ich an: »Das ist meine Rache, kuge! Hinweg!« Irgendwo in einigem Abstand schwebte der Gleiter, Symbol der Möglichkeit, diesem Inferno zu entkommen. Häuser wurden angezündet oder brannten aus Unachtsamkeit. Vor uns kreischten Frauen. Eine Greisin, deren Arm abgeschlagen war, rannte mit seelenlosem Blick vorbei und brach hinter uns zusammen. Irgendwo weinte ein Kind. Ein Samurai schleifte ein junges Mädchen an den Haaren mit sich; ich drehte die Waffe und feuerte ihm eine Kugel zwischen die Schulterblätter. Das Mädchen floh hinaus in den Schnee und verschwand. Ich schloss die Augen und sprang durch eine geschlossene Tür aus Papier und schwarzen Holzrahmen. Mit drei Schlägen der schweren Waffe befreite ich mich aus dem Wirrwarr und sah mich um. Neben mir übergab sich Nemuro. Ich schlug ihm mit der flachen Hand zwischen die Schulterblätter und schrie: »Nimm dich zusammen, Raumfahrer! Halte die Augen offen! Hier siehst du das Leben der Barbaren!« Ich war in den Frauengemächern. Suchend drehte ich mich um. Ein Samurai, der drüben eindrang, rannte auf eine Gruppe Mädchen zu, in deren Mitte ich Tairi No Chiyu erkannte. Sie war um mehr als einen Kopf größer als die anderen Frauen. Ich lähmte den Mann; er brach über einem Tisch mit Salbentiegeln und Duftfläschchen zusammen. Das Zeug kollerte über den Boden. »Tairi! Hierher!« rief ich. Die Gruppe Scob auseinander. Überall im Haus wurde geplündert. Frauen und Mädchen wurden hinausgetrieben; vermutlich hatten die Krieger eindeutige Absichten, obwohl sich das kaum mit den Regeln der kuge vereinbaren ließ. Tairi lief auf mich zu, ich schob den Helm in die Stirn und sagte, ruhiger geworden: »Ich bin es, Ataya. Ich bringe dich hier heraus, Tairi. Nimm mit, was du brauchen wirst!« Hier herrschte – noch! – Ruhe. Ich drehte mich, den Schussbereiten Lähmstrahler in den Händen. Tairi ließ sich helfen und schnürte ein Bündel. Nemuro richtete sich auf, sein Gesicht war schneeweiß. Schweiß strömte an den Schläfen und zwischen den Brauen
herunter. Er flüsterte mit gebrochener Stimme: »Ich bin krank. Ich kann dieses Morden nicht mehr sehen! Ich werde wahnsinnig!« »Keine Sorge. Bald ist alles vorbei!« erwiderte ich und fing einen Mantel auf, den mir eine ältere Frau zuwarf. Ich hüllte Tairi in den schweren Stoff und rief: »Hinaus!« Tairi hing halb an mir. Dicht neben mir stolperte Nemuro aus dem Zimmer. Als wir einen Korridor erreichten, der das Haus in zwei Teile schnitt, sahen wir umherliegende Leichen und einen kleinen Hund, dessen Kehle aufgeschlitzt
war. Wir rannten durch den Korridor und kamen auf die Terrasse. Neben mir traf ein Pfeil in den Türpfosten; ich schob den Samurai zur Seite. »Dort drüben ist der Gleiter!« sagte ich deutlich und wies zwischen die Bäume am Rand des Stallviertels. Nemuro schwankte hin und her, und als ich ihn am Arm ergriff, sah er mich verständnislos an. Tairi schwieg; ich fühlte, wie sie zitterte. Wir rannten los, unsere Füße hinterließen Spuren im Schnee. Nur an wenigen Stellen wurde gekämpft, aber ich sah mich ständig um, obwohl Nemuro und ich durch die Kampfzeichen des Shogun ausgewiesen waren. Ich erkannte die stumpfe Schnauze des Gleiters zwischen den Baumstämmen, die wie schwarze Linien hinter einer milchigen Wand erschienen. Um uns wirbelten Schneeflocken; alle Sekunden jagte ein Windstoß zwischen den Häusern hindurch und jagte Schnee zur Seite, ließ ihn in Wirbeln tanzen. Ich ließ meinen Griff um Tairis Schultern los, fasste sie um die Hüften und hob sie an – sie war noch immer so leicht, wie ich sie in Erinnerung hatte. Die ersten Baumstämme umgaben uns. »Wir haben es geschafft!« sagte ich. Ich ließ Tairi und Nemuro los, rannte vorwärts, schaltete mit der Fernsteuerung das Schutzfeld des Gleiters aus und öffnete die Tür. Ich rannte zurück, nahm Tairi auf die Arme und hob sie in den Gleiter. Ich sagte scharf, um sie von unüberlegten Handlungen abzuhalten: »Bleibe sitzen und bewege dich nicht, sonst stirbst du.« »Ich gehorche, Verehrungswürdiger…«, flüsterte sie erschrocken. Als ich mich umdrehte, sah ich, wie Nemuro davonrannte. In seiner Panik suchte er sein Heil in der Flucht. Nur floh er in die falsche Richtung. Sein Verstand und vermutlich noch mehr sein Gefühl drohten ihn in eine Krise zu stürzen. Noch eine Krise! Hol ihn zurück! befahl der Extrasinn. Ich rannte los. Außerhalb der Bäume holte ich ihn ein und riss ihn an der Schulter herum. Er starrte mich an und schien mich nicht zu erkennen. Ich fühlte, wie mir der kalte Schweiß ausbrach. Ich rief schneidend: »Nectrion! Los, komm mit mir! Wir sind in einer Minute in Sicherheit. Alles ist vorbei!« Er murmelte: »Ich bin Samurai! Ich muss mich wehren! Ich muss zurück zum Schiff! Ich darf nicht versagen!«
Mit einer blitzschnellen Bewegung hatte er sein Schwert herausgerissen und führte einen Schlag gegen mich. Meine Reflexe waren schnell genug; ich brachte mich mit einem gewaltigen Satz rückwärts in Sicherheit, rutschte auf dem schneebedeckten Gras aus, wirbelte mit den Armen und fand das Gleichgewicht wieder. Dann zog auch ich mein Schwert. Aus den Augenwinkeln glaubte ich zu sehen dass einige Samurai des Shogun uns anstarrten – fünfzig und mehr Schritte entfernt, halb verdeckt von den
treibenden Schneeflocken. »Ich bin Ataya!« schrie ich verzweifelt. »Ich bin dein Freund, Raumfahrer!« Er schüttelte den Kopf, wie um seine quälenden Gedanken loszuwerden, drang mit drei klassischen Schlägen auf mich ein, und ich parierte sie mit der entsprechenden Verteidigung. Er wimmerte und weinte, während er focht; ich wich zum Gleiter zurück. Vielleicht konnte ich meine Waffe auf dem Fahrersitz ergreifen und ihn lähmen. »Nectrion! Hör auf! Du bist wahnsinnig!« schrie ich. Der Anblick des Gemetzels schien seinen Verstand, der ein Jahr lang unter Hochspannung gearbeitet hatte, ruiniert zu haben. Ich ging Schritt um Schritt rückwärts, während er gegen mich kämpfte. »Ich muss mich retten! Ich muss mein Wissen retten! Mein Volk…«, murmelte er, während er mich angriff. Funken sprühten von den Schneiden unserer Schwerter. Schlag folgte auf Schlag; ein absolut sinnloser Kampf. »Hör auf!« schrie ich. Es sah aus, als würde er wahnsinnig. Ich wich seitwärts aus und fühlte an der Schulter das Metall des Gleiters, hörte das erschrockene Atmen Tairis neben mir. Ich wechselte das Schwert nach einem schnellen Angriffsschlag, der ihn zurückweichen ließ, in die linke Hand und suchte nach der Waffe – ich durfte nicht hinsehen: Ich war in Lebensgefahr. Ich ertastete das kalte Metall, hob die Waffe heraus und warf sie in die Höhe, um den Abzug zu finden. Nectrions Gesicht verwandelte sich in eine Maske des Irrsinns und der Panik. »Kämpfe, du Schuft!« Er schluchzte und drang auf mich ein. Ich musste die Schläge mit dem Schaft der Donnerbüchse abwehren. Ich bewegte mich vom Gleiter weg und versuchte verzweifelt, den Abzug des Lähmstrahlers zu finden. Endlich fühlte ich ihn. Mit der Linken schlug ich zu – weniger gut als mit der anderen Hand. Ich richtete das Rohr auf den Mann, der wieder auf mich losstürmte. Plötzlich hörte ich ein vertrautes Geräusch, und zwischen den Platten seines Brustpanzers schoss eine blutige
Pfeilspitze heraus. Nectrion brach in die Knie. Sein Schwert wirbelte durch die Luft und prallte gegen den Gleiter. »Ataya!« sagte er. »Ich… ich habe versagt.« Seine Augen sahen mich an. Der Blick war wieder völlig klar. Das Schwert und die Waffe fielen aus meinen Fingern. Ich erkannte die Konsequenzen; die Erkenntnis lähmte mich. Im Schneegestöber tauchte ein Samurai auf und rannte auf mich zu, schwenkte seinen langen Bogen und rief: »Ataya! Freund! Bist du unverletzt?« Ich hob den Kopf, ging in die Knie und sah sofort, dass Yodoya Mootori hervorragend gezielt und getroffen hatte. Nectrion starb vor meinen Augen. Er versuchte, mit seiner Hand unter seine Kleider zu greifen, versuchte, mir etwas zu sagen, aber mitten in seiner Anstrengung starb er.
Yodoya blieb stehen und sagte: »Ich sah Kämpfende. Ich erkannte dich, Ataya. Ich half dir?« Ich sagte sarkastisch: »Du hast mir mehr geholfen, als es nötig war, Freund Yodoya. Ich wäre sehr unglücklich gewesen ohne deine Hilfe.« Yodoya merkte, dass ich nicht meinte, was ich sagte. Er senkte den Kopf und warf den Bogen in einer einzigen unbeherrschten Bewegung zu Boden. Dann fielen unsere Blicke auf Nectrion oder Nemuro. Yodoya stammelte: »Er… er verbrennt! Himmel! Götter! Er verbrennt, Ataya! Ataya! Ist denn alles wahnsinnig geworden?« Dort, wo sich die Ahnenrolle befunden hatte, erschien ein weißes, lautloses Feuer. Die schweren Schneeflocken, die den Zusammengebrochenen zudeckten, verwandelten sich in Dampf. Die Ahnenrolle, der Schlüssel zum Raumschiff, verbrannte. Ich stand da, unfähig, mich zu rühren. Ich hatte wieder einmal verloren. Ein stechender Schmerz, der von der Magengrube ausstrahlte, begann von meinem Körper Besitz zu ergreifen. Kalter Schweiß sickerte zwischen den Schulterblättern in den Gürtel und vermischte sich mit der Nässe meiner Kleidung. Ich sah auf den Mann von den Sternen hinunter, der noch einmal zuckte. Das Feuer erlosch. Mein Funkgerät summte. Ich schaltete es an. Die Stimme Ricos sagte: »Gebieter! An der Stelle, an der wir das Raumschiff geortet haben, habe ich einen starken Energieausbruch geortet. Eine gewaltige Energiemenge ist plötzlich, aber nicht explosiv frei geworden.« Ich winkelte den Arm an und sprach in das Mikrophon: »Das war das Raumschiff, das mich nach Arkon bringen sollte. In letzter Sekunde wurde meine Flucht vereitelt.« Der Roboter schwieg einige Zeit, dann sagte er: »Ich verstehe. Benötigst du meine Hilfe?« »Nein«, sagte ich leise und fühlte, wie sich die Erstarrung löste. »Ich melde mich, sobald ich etwas brauche. Ende.« Ich schaltete ab. Yodoya kam auf mich zu, legte seine Hand auf meine Schulter und sah mir in die Augen. Sein Helm war zur Hälfte mit Schnee bedeckt.
Wasser tropfte von den Rändern. »Ich habe etwas falsch gemacht, Ataya?« fragte er. Ich schüttelte den Kopf und sagte: »Du hast mir das Leben gerettet, Freund Yodoya. Dafür danke ich dir, wie ein Mensch einem anderen Menschen danken kann. Aber gleichzeitig hast du mich in eine besondere Form der Verbannung zurückgeworfen. Dieser tote Mann hätte mich aus der Verbannung herausbringen können. Yodoya – ich muss jetzt gehen, und du wirst es verstehen.« Er sagte leise: »Ich wusste, dass du kein ronin, kein kuge, warst, Ataya Arcohata. Ich ahnte, dass du ein streifender Gast, ein wandernder Wolf warst. Ich weiß, dass du jetzt gehen musst. Nimmst du Tairi mit – sie ist Waise und hat nichts mehr. Die Burg verfällt dem Shogun.«
»Ich nehme sie mit. Hast du einen Wunsch, Yodoya?« Er schloss die Augen und schwieg. Ich bückte mich, hob mein Schwert auf und streifte mit zwei Fingern Schnee und Wasser von der Schneide. Dann nahm ich das Donnerrohr und wartete. Yodoya sagte leise, fast bittend: »Die schönste Zeit meines langen Lebens, Ataya, war das Reiten mit dir. Wir waren gute Männer, gute Freunde. Wohin gehst du?« Ich hatte eine Vision: Sand. Sonne. Hitze, die jene Gedanken aus der Seele verbannte, wie sie die Haut verbrannte, bis sie in Schuppen abfiel. Hitze und Sonne, die so müde machten, dass der Tag zwischen Wachen und Trinken, Lieben und Dahindämmern, zwischen Schwimmen und Jagen verstrich – ohne besondere Ereignisse, ohne Probleme, ohne Anstrengungen und Disziplin. Ohne die Gedanken an das Scheitern in letzter Sekunde. Ein Platz an der Oberfläche dieses verfluchten, geliebten Planeten. Eine Zone des Friedens und der vollkommenen Ruhe, wo der Schrei eines Wasservogels eine Störung war. Ich öffnete die Augen und sagte: »Ich gehe dorthin, wo das Herz eines Mannes Ruhe findet. Dorthin, wo es leicht ist, zu leben.« Yodoya nickte und murmelte bitter: »Es ist unglaublich schwer, ein Mann, ein Samurai und ein Mensch zu sein.« Ich erwiderte: »Und nur wenige Männer überstehen dieses Leben, ohne innerlich zu sterben. Komm mit, Yodoya. Schnell! Entscheide dich!« Er nickte. »Ich komme. Mit diesem räderlosen Wagen? Und mit der Frau?« »Und mit mir!« sagte ich. Wir stiegen in den Gleiter. Yodoya holte seinen Bogen und verschwand im Schneegestöber. Als er mit zwei Packen zurückkam, musste ich lächeln. Er hatte zusammengerafft, was er im Herrenhaus gefunden hatte – größere Mengen nützlicher und unnützer Dinge darin. Ich half Yodoya in den Gleiter, er warf die Bündel auf die Ladefläche und zwinkerte nicht einmal, als ich die Türen zuschlug und startete. Ich sagte: »In den nächsten Stunden, Freunde, werdet ihr verblüfft und verwundert sein. Aber nicht alles, was ein Mensch nicht kennt, ist ein Wunder. Die meisten Dinge sind zu erklären.«
Yodoya Mootori sagte: »Ich vertraue dir, Freund Ataya, so, wie ich während der Sommermonate an dich geglaubt habe.« Zum ersten Mal schaute mich Tairi an. Jetzt, da ihr Gesicht von dem weißen Puder befreit war, als es Angst und Verwunderung zeigte, war die Starre von ihr gewichen. Sie war hübscher und größer, als ich sie in Erinnerung hatte; vielleicht half mir ihre Gegenwart, die Bitterkeit des Misserfolges, des Versagens in letzter Sekunde, zu überwinden. Ich steuerte den Gleiter höher, bis wir aus den treibenden Wolken hervorstießen, in den Bereich der Sonne gerieten und nach Westen flogen. Ich drehte die Schnauze des Gleiters, bis sie nach Süden
zeigte. Der Archipel jenseits des Äquators. Die glücklichen Inseln, die ich besucht hatte, während ich vor Magellan segelte: Sonne, Palmen und Lagunen. »In wenigen Stunden sind wir in einer fremden Welt. Dort werden wir alles vergessen, was uns schmerzte.« Tairi lächelte. Sie verstand kaum etwas von dem, was um sie vorging, aber sie klammerte sich in naivem Vertrauen an mich und meine Gegenwart. Sie schien mit dem kreatürlichen Instinkt der Frau zu spüren, dass ich das, wovon ich redete, kannte und verstand. Einige Stunden später schwebte der Gleiter über »meiner« Südseeinsel. Die erste Nacht schliefen wir im warmen Sand, und die Wärme und die Umgebung machten uns müde und erwartungsvoll zugleich. Während Cyr in seiner positronischen Mediothek suchte und blätterte, hörte Atlan zu sprechen auf. In einer holografischen Projektion drehten sich in leuchtenden Farben und strahlendem Metall zwei Dutzend uralte Samurai-Tsubas; die Schwertstichblätter, deren Durchmesser kaum größer als 80 Millimeter war, zeigten sich als Miniatur-Meisterwerke, die seinerzeit die Hand des Samurai vor der schweren Verletzung der gegnerischen Klinge schützen sollten. Sie waren unbezahlbar wertvoll. Längst zu Staub zerfallene Künstler hatten die durchbrochenen Scheiben graviert und mit Farben ausgelegt. Zweifellos hatten Atlans zwei Schwerter solche Tsubas geziert; Aescunnar fügte das Bild dem Fundus seiner ANNALEN DER MENSCHHEIT bei und lehnte sich abwartend zurück. Die SERTHaube hatte sich nicht gehoben. Nach einigen Atemzügen sagte Atlan: »Unmerklich reiht sich Tag an Tag. So bist du entstanden – Vergangenheit! Mit diesem Hokku oder Haiku von Buson begrüßte mich Doktor Ayalay D’Antonelli, nachdem ich die Erzählungen von Nectrion Munenaga, Yodoya Mootori und Tairi No Chiyu beendet hatte. Ich erfuhr von ihr, dass wir fast in einen Kampf verwickelt worden wären oder dass die Männer, von denen ich mich verfolgt gefühlt hatte, mich vielleicht hatten entführen wollen – nun, die
Ereignisse am darauf folgenden Tag, dem zehnten April 2425, sind eine andere Geschichte… Yodoya Mootori, Meister der Anpassung, lebte lange auf dem Inselchen. Tairi und ich verließen das Eiland nach knapp zweihundert Tagen, bereit für einen Tiefschlaf von unbestimmter Länge. Tairi? Sie war reizend, völlig aus der Art der Zipangu-Leute geschlagen. Sie lebte auf unter den Sonnenstrahlen der Insel; ihre weiße Haut färbte sich, sie lernte erstaunlich schnell und blieb eine reizvolle Person zwischen ungelenkem, fohlenhaftem Mädchen und reifer Frau, raffiniert, gewohnt, auf Nuancen zu achten. Nach ihrer Miniaturwelt hatte sie nicht einmal Heimweh. Wir schliefen Mitte siebzehnhundertzwei ein…«
Die SERT-Haube hob sich. Atlan schlief mit tiefen Atemzügen; das Programm der Ärzte sah vor, dass er bald zum ersten Mal den Pool und die Wege des Krankenhausparks benutzen konnte, um seinen Körper zu trainieren. Cyr wartete einige Minuten, dann sagte er sich, dass ihm genug Zeit blieb, Fragen zu stellen, Antworten zu suchen und Querverweise zu sichten. Einige Arbeitsgruppen der Historischen Fakultät der ChmorlUniversität hatten versucht, den Fragenkatalog ihres Professors zu bearbeiten. Cyr rief in schweigender Konzentration nacheinander die Stichwörter auf: Zwischen Merlin Laurin und Dietrich von Bern (einschließlich aller seiner Namensvarianten) gab es keinen beweisbaren Zauber-Magier-Deflektor-Zusammenhang außer dem, dass sie, im Gegensatz zu Nonfarmale, Gestalten aus Sagen und Legenden waren. Erstmals war 1176 in Cardigan/Wales ein Bardenwettstreit ausgerufen worden. Zu Earl Guye of Llandrindod gab es einen bemerkenswerten Querverweis: Als im April 2042 ES’ Kunstplanet von einer Druuf-Überlappungsfront überrollt wurde und Wanderer nur mit Mühe betreten werden konnte, begegnete Atlan zu seinem größten Erstaunen dem Earl, ohne dass klar wurde, ob es sich um die zeitversetzte Originalperson oder um eine von ES erzeugte Projektionsgestalt gehandelt hatte. In jedem Fall aber musste von einem Eingreifen ES ausgegangen werden, und Cyr fragte ich unwillkürlich, ob dieses kaum zu begreifende Geschöpf unter Umständen auch andere Personen als »Paladin« verpflichtet hatte. Wenn ja, zählte Guye of Llandrindod zu den Hauptkandidaten. »Und Nonfarmale?« Abgesehen von den »Götternamen« auf dem goldenen Schild ergab nur der Begriff CYNO einen Sinn. »Sollte er etwa auch ein Cyno wie Nostradamus alias Michael de Notre Dame gewesen sein?« brummte Cyr. »Tatsächlich? Wir werden es wohl erst später erfahren.« Bildvergleiche hatten ergeben, dass – bewusst oder zufällig? – die Cheborparner für viele Teufels- und Satansdarstellungen Modell gewesen waren; sie mussten die Erde mehrmals seit etwa 450 n. Chr. besucht haben, kamen aber erst 3441 n. Chr. auf die galaktische
Bühne zurück. An diese Auskunft schloss sich eine lange Liste Stichworte an, die wenig für die ANNALEN bedeuteten: Teufelstanz, schwarze Messen, Teufelsanbetung, Blocksberg, Hexenverbrennungen, Incubus, Succubus… Dann eine Reihe Begriffe aus dem Portugiesischen/Lusitanischen: indiano = indisch, aus Indien, indianos = Plural v. Inder, indio, indios = Indianer, sing, und plur. (zum Themenbereich um Kolumbus und seinen Seeweg nach »Indien«). Und andere kryptographische Aufzeichnungen. Cyr sortierte sie und schlug die Seiten der uralten arkonidischen Chronik auf. Er las auf Seite 09: »… Sohn des Imperators Gonozal VII. und der Imperatrix Yagthara,
Kristallprinz Mascaren Gonozal, wurde am 35. Dryhan 10.479 (= 8045 v. Chr. terranischer Rechnung) als designierter Nachfolger des Imperators geboren. Erst später erhielt er auf Wunsch seiner Mutter den Namen Atlan. Fünf Jahre später, nach der Ermordung des Vaters Gonozal durch dessen Bruder Orbanaschol III. rettete Fartuloon, der sog. Bauchaufschneider des Imperators, den jungen Prinzen, sorgte dafür, dass er offiziell ›Atlan‹ genannt wurde, und löschte den Namen Mascaren aus den Speichern des Robotgehirns der Kristallwelt. Fartuloons intensive Schulung des jungen Prinzen gipfelte im dritten Grad der ARK SUMMIA auf der Prüfungswelt Largamenia…« Cyr blätterte, sah seine handschriftliche Korrektur – Upoc von Gonozals Herrschername lautete Gonozal VII. nicht III. –, lächelte und betrachtete eine weitere Passage: »… in den ersten Jahren auf Gortavor, Fartuloons ›Exilplanet‹, Endpunkt der Flucht, übernahm Imperatrix Yagtharas jüngere Schwester Merikana Atlans Erziehung. Über ihr Schicksal existieren keinerlei Aufzeichnungen; als 10.496 der Blinde Sofgart auf Gortavor erscheint, lebt Merikana nicht mehr auf diesem Planeten…« Plötzlich, ohne dass sich die SERT-Haube bewegte, begann Atlan zu reden. Seine Stimme war klar, er öffnete die Augen, legte die Fingerspitzen an die Schläfen und sagte zu Cyrs Erstaunen, der angesichts des unerwarteten Synchronismus schauderte: »Der treue Fartuloon war es, der am ungewissen Ende früher Abenteuer einen exotisch glitzernden Kristall hervorzog und an meine Stirn drückte. Der kleine OMIRGOS zwang mich dazu, vieles zu vergessen, aus einem anderen Blickwinkel, in anderem Licht zu sehen. Noch heute glaube ich, dass ich trotz der inneren Zwänge nicht jedes Abenteuer geschildert habe oder nicht richtig oder mit falschen Daten. Oder ich finde andere Visionen im Niemandsland der Erinnerungen, fremde, scheinbar parallel ablaufende Ereignisse. Manipuliert mich noch immer ES, der andere Hüter der Menschheit?« Er machte eine Pause, die SERT-Haube senkte sich. Der nächste Bericht begann.
4. Rico hatte mich geweckt. Ich sah weder Monique noch Tairi und entsann mich mühsam der Jahreszahl. Nectrion Munenaga war 1701 gelandet. Während der Roboter Lilith, der wieder aussah wie eine »europäische« Schönheit, mir während des Aufwachens aus dem Biotiefschlaf half, hörte ich japanische Musik und sah die Wiederholung unserer Flucht von Zipangu und des Aufenthaltes auf dem umgestalteten Inselchen. Das Aussehen des Eilands hatte sich verändert, aus Schrößlingen waren Bäume geworden. Die Wärme und die Umgebung, Brandung und Lagune trösteten mich über den Umstand hinweg, dass ich abermals vor einem zerschmolzenen Sternenschiff gestanden
hatte. Am Ende der Erholungsphase flog ich Yodoya zu einer bewohnten Nachbarinsel, bugsierte den reichlich ramponierten Gleiter in sein Versteck auf dem namenlosen Inselchen und rief Ciron. Der Transmitter brachte Tairi und mich in die Überlebensstation. Der Schlaf, aus dem ich abermals mühsam erwachte, hatte der Erholung gedient, mehr derjenigen des Verstandes als des Körpers. Ich erkannte andere Zahlen: Anno Domini 1704. Als die Kameras in die Ausrüstungsmagazine überblendeten und ich die Sättel, Kleidung, Rüstungen, Perücken und Waffen sah, die wir von Beauvallon nach Zenta und von dort aus nach Serajewo geschleppt hatten, verstand ich auch den Hinweis des Roboters: »Feldmarschall Prinz Eugen hat dreimal laut und vernehmlich gerufen: ›Hätte ich dich nur, Atlan, und Cari Nocra an meiner Seite!‹ Ist das ein Grund, dich zu wecken?« »Höchstwahrscheinlich«, antwortete ich. »Not am Mann?« »Große Not für Eugen und für einen großen Teil der Barbaren. Dir die Zusammenhänge dieses wirren Machtspiels zu erklären ist noch zu früh. Dein Verstand würde leiden.« Tairi und Monique schliefen. Ich unterdrückte das Gefühl, dass ich mich eigentlich wie ein Schurke zu fühlen hatte, kräftigte meinen Körper mit Aufbaunahrung und studierte den Fleckenteppich der europäischen Landkarten. Nach einer Reihe von Bataillen, meist in Italien, stand Eugen vor einer wahrhaft herkulischen Aufgabe: Nach dem Tod des zweiten Karl von Spanien stritten sich mindestens vier Länder beziehungsweise potentielle Erben um den Thron. Natürlich brachen wieder Kriege aus. Besonders oft, gern und verlustreich kämpfte die größte Militärmacht in Europa, die des vierzehnten Ludwig, in diesen Jahren. Ein Gegengewicht zu der Habgier des Franzosen bildete die »Große Haager Allianz«, die am siebenten September 1701 gegründet wurde. England, Holland und Österreich, Preußen, Hannover und Portugal stellten sich gegen die Franzosen. Später traten auch das Deutsche Reich und Savoyen dem Bund bei. Gegen Österreich probte Ungarn den Aufstand, und dass die Franzosen mit den Spaniern und den Osmanen unter einer löchrigen Decke steckten, begriff selbst ein schlaftrunkener
Arkonide. Denke daran, dass das spanische Erbe auch aus Gebieten in Italien besteht, in den Niederlanden, in Amerika und auf den Inseln Philipps, wies mich das Extrahirn zurecht. »Das ist dein Stützpunkt, Atlan.« Cari zeigte mit sichtlichem Stolz die Bilder. »Unweit eines alten arkonidischen Magazinspeichers.« In der Mitte Europas, im deutschen Sprachgebiet, genauer im Land der Bajuwaren, war im vergangenen Winter ein stumpfer Turm entstanden, aus Blöcken des Tuffgesteins dieser Gegend. Er erhob sich auf einer Felsnase, die am Rand eines Flusstales
als Ausläufer des riesigen Gebirges stehen geblieben war. »Ich rechne damit, dass du mich begleitest«, sagte ich leise. »Alles ist vorbereitet.« Im Schneesturm und in der Dunkelheit hatte Cari die Bäume – Tannen, Fichten und zerzauste Laubbäume – im großen Kreis mit Traktorfeldern und mitsamt der Wurzelballen ausgegraben. Das alles geschah im Schutz eines Tarnfeldschirms. Gleichzeitig mit den Desintegratorarbeiten, die im Fels einen zylindrischen Schacht aushoben und das Aushubmaterial in Quader zerschnitten, erfolgte an dessen oberem Rand der Aufbau eines Rundturms. In den Mauern, die hinter den dunklen Bäumen hochgezogen wurden, entstanden Fenster und Einflugschneisen. Die oberste Plattform wurde mit Erdreich aufgefüllt, die Bäume wieder eingesetzt. Dann entstanden zehn Decks unterschiedlicher Höhe, und die sichtbaren Außenseiten des Turmes wurden mit Felstrümmern verkleidet, erhielten Nischen, in denen die geländetypischen Pflanzen eingesetzt wurden. »Die Gegend scheint menschenleer zu sein?« wollte ich wissen. »Es gibt nur wenige verstreute Weiler und kleine Dörfer.« Der Fluss – er wurde Lech genannt – bildete im Süden des Felsens viele Schleifen in einem kiesigen Überschwemmungsgebiet. Ich hatte an klaren Tagen einen Anblick von faszinierender landschaftlicher Schönheit, etwa dreißig Meilen weit über hügeliges Gebiet. Dieser Kreis wurde von einer Straße durchzogen, die, soweit ich mich entsann, einer Römerstraße folgte. »Der Turm wird nur aus der Luft und über Transmitter betreten werden können«, schilderte der Roboter. Das aktuelle Bild, das Jahr war etwas mehr als dreißig Tage alt, schilderte mir Schneefall und Stürme. Selbst der Fluss war zugefroren und lag unter einer Schneedecke verborgen. »Gut gemacht«, lobte ich. »Ein Platz von strategischer Güte.« Das Steinmaterial war während des Endausbaues einer KristallfeldIntensivierung unterzogen worden, blieb dadurch praktisch unzerstörbar und widerstand innerhalb vernünftiger Grenzen sogar Desintegratorbeschuss. Ich wandte mich von den Bildschirmen ab.
»Zurück zu Prinz Eugen. Wo liegt das Problem?« sagte ich. Der alte Yodoya war eines Tages mit seiner kleinen Familie wieder vor der Insel aufgetaucht. Zusammen mit braunhäutigen Söhnen und Töchtern blieb er der Hüter unserer Insel, nachdem Ciron/Rico/Cari Tarnfelder und Schutzfelder vorübergehend desaktiviert hatte. Sie hatten ein glückliches, sorgenfreies Leben in der riesigen Lagune; kam ich dorthin, fand ich Freunde am Strand. »Er braucht einen raffinierten Freund, der die Verbindung mit dem verbündeten englischen Heer übernimmt.« »Der Grund?« »Vor wenigen Tagen griff Kurfürst Maximilian von Bayern die Österreicher, also ein Allianzmitglied,
an. Passau an der Donau wurde besetzt.« »Im Winter?« rief ich. »Seit wann kämpft man im Schneegestöber?« »Ehrgeiz kennt keine Jahreszeiten. Wien ist bedroht, und Eugen musste an mehreren Fronten kämpfen.« »Verrückte Barbaren.« Der Roboter, der jede Idee aufgriff und auf Durchführbarkeit prüfte, die ich in nachdrücklichen Gesprächen äußerte, bereitete mir eine weitere Überraschung. Das leichte Geschütz, das wir bei der Belagerung von Orleans mitgeführt hatten, war umgebaut worden. Lafette und Kastenwagen bestanden aus zwei Dutzend Elementen, die durch jeden Transmitter passten und schnell zusammenzuschrauben waren. Das Rohr verschoss Schockgranaten, diente als Psychostrahler, schützte sich selbst durch Pressfelder und diente als ausrichtbarer Paralysator. »Zuerst beziehen wir den Turm«, entschied ich. Zwischen Beauvallon, der Südseeinsel, der Unterseekuppel und dem Turm in Bayern bestand ein Transmitternetz. Ein neuer Gleiter, an dessen Einzelteilen unsere Kuppelmaschinen gearbeitet hatten, war fertig gestellt worden; breiter und schwerer als die vorhergehenden Modelle. »Und vorher maskieren wir uns«, fügte ich nach einer Weile hinzu. Die Herren Grafen Atlan und Cari Nocra verzichteten aus höchst praktischen Gründen auf abnehmbare Perücken im Stil der Zeit. Wir trugen unser langes weißes Haar in eigenwilliger Mode; in dichten Röllchen am Kopf und mit einem koketten Zöpfchen im Nacken. Cari hatte sein Gesicht etwa um jene Zeitspanne altern lassen, die seit dem letzten Zusammensein mit Eugen vergangen war. Ich ließ ebenfalls einige winzige kosmetische Veränderungen über mich ergehen; nachdem die Solarlampen abgeschaltet waren, meinte der Robot unbewegt: »Das wird dir auch Eugen mit seinen scharfen Augen bestätigen: Du siehst immer wie ein vierzigjähriger Arkonide aus. Plus oder minus weniger Jahre.« »Und wenn ich dieses Chaos betrachte«, erwiderte ich, wohl vorbereitet auf unsere Mission, »fühle ich mich wie ein Tausendjähriger.«
»Das ändert sich, wenn sich dir die Schönen Wiens an den Hals werfen.« Wir verließen die Kuppel mit wenig Gepäck. Der Rest befand sich im Turm über dem Lechtal. Draußen riss und rüttelte der Schneesturm an den Bäumen und heulte ums Gemäuer. Dicke Isolierung schützte das Innere vor Kälte. Eine Pumpe hob das Quellwasser zweihundertneunzig augsburgische Ellen hoch. Ich schaute mich in den Wohnräumen um, kontrollierte die einfache, robuste technische Ausstattung und schaltete die Bildschirme ein, die mir Prinz Eugen zeigten und das Heer in Passau. Einige Tage lang studierte ich das Verhalten und, soweit möglich, die Persönlichkeit der Beteiligten, dann verließen wir den Turm durch die Gleiterschleuse und nahmen direkten Kurs
auf Wien. Wir trafen an der Pforte von Eugens Stadtpalais zu einer Zeit ein, in der unser Prinz sein Frühstück einzunehmen pflegte. Minuten später breitete sich helle Aufregung über alle Stockwerke aus. Eugen begrüßte uns, als hinge sein Leben von uns ab. Stolz zeigte er uns sein prunkvolles Haus, jagte die Bediensteten hin und her und wies uns riesige, stuckgeschmückte Zimmer zu, die mehr einer Kunstausstellung glichen als einem gemütlichen Wohnraum. »Ihr müsst wissen«, klärte er uns beim Frühstück auf, »ich bin reich geworden durch viele Siege. Aber dafür arbeite ich auch fünfzehn Stunden am Tag. Österreich über alles.« »Wir haben Überlegungen angestellt«, meinte ich, »wie die zahlreichen Feinde der Monarchie in ihre Schranken gewiesen werden können. Dazu brauchst du den Engländer. Marlborough.« »Ich wechselte viele Briefe. Aber ich kenne ihn nicht. Willst du, Atlan, wollt ihr beide in meinem Auftrag mit ihm verhandeln? Ich weiß, dass ihr rasend schnell reist. Nur gleichzeitige Operationen versprechen Erfolg. Zu gleicher Zeit mit verschiedenen Heeren alle Feinde angreifen.« »So ähnlich, denken wir, wäre der Erfolg unvermeidbar, mein Freund.« Bald waren wir über Landkarten gebeugt, bewegten verschiedenfarbige Figuren hin und her; ein rasch herbeigeholter Schreiber, der Winkler Wolfi, schrieb mit raschelnder Feder sehr viel auf teures Papier. »Auch der kaiserliche Gesandte in London, Graf Wratislaw, will John überreden.« John Churchill, Earl of Marlborough, vom englischen Herrscher Wilhelm als Oberbefehlshaber und Botschafter in den Niederlanden bestellt, sollte die Niederländer vor den Franzosen schützen. Leopold der Erste musste Ludwigs Truppen vermutlich zunächst in Italien bekämpfen. Kein Staat konnte einen solchen Mehrfrontenkrieg überleben; die Allianz zeigte sich zögerlich. Nach Stunden, in denen auch der Markgraf von Baden mitredete und plante, hatten wir – nach arkonidisch-logischen Gesichtspunkten
und mit vollpositronischer Rechenkunst und Wahrscheinlichkeitshochrechnung! – unser Vorgehen abgesteckt. »Der erste Schritt sollte sein, die alliierte Armee in den Niederlanden, die sich wegen ihrer Schutzfunktion kaum bewegt, gegen die Franzosen in Bewegung zu setzen.« Ich stand auf und blickte in die Gesichter der Versammelten. »Und deshalb werde ich im Sinn unseres Feldmarschalls Geheimdiplomatie betreiben.« Es gibt noch eine Mühle, in der ein Transmitter versteckt ist, sagte der Logiksektor. »Ich danke dir.« Prinz Eugen packte meine Hand. »Wie steht es, ich vergaß zu fragen, mit deinem Englisch?« Ich dachte an Bacon, Shakespeare und Cromwell und entgegnete: »Ich werde mich verständlich machen können, sei gewiß.« Die erste Aufgabe würde sein, die in den Niederlanden
gebundenen Heere zur Donau zu führen. Fühlten sich die neuen Herren von Passau bedroht, würde der Franzosenherrscher ihnen ein Heer zur Unterstützung schicken. Marschierte dieses Heer, konnte Eugen von Wien dagegenhalten. Ich ließ mir umfangreiche, mehrfach gesiegelte Ermächtigungen ausfertigen und hoffte, dass Marlborough von derselben Entschlusskraft war wie Prinz Eugen. Le petit prince, »Herkules des Krieges und Apoll der schönen Künste zugleich«, der stets versuchte, seine Siege durch vernünftige Verträge zu sichern, war klug und reich: Gewann er, floss des Kaisers Bezahlung geradezu maßlos. Nach dem Sieg bei Zenta erhielt Eugen fast das ganze Drau-Delta; 33 Hundertstel der gesamten Kriegsbeute bekam vertragsgemäß er. Verlor er, gab es nichts. Eugens Agenten und Spione saßen überall in ganz Europa – ich hatte ihn von diesem Netzwerk überzeugt. Ich wusste, dass er mit den wichtigsten Männern seiner Zeit korrespondierte, ein unermüdlicher Bauherr war, Schätze und antike Statuen sammelte, Bücher, Handschriften, Karten und Kupferstiche in großer Menge und sogar eine Menagerie besaß, in der sich Rentiere des Schwedenkönigs ebenso tummelten wie ein Tiger oder die Wisente des Preußenkönigs. J. Bernhard von Fischer und J. Lukas von Hildebrand errichteten mit mehr als tausend Bauarbeitern und Helfern Eugens prächtiges Stadtpalais und bauten am Schloss Belvedere in Wien. Kein Gulden des vielen Geldes war unrechtmäßig in Eugens Besitz gekommen; als seine lieben Gäste lebten wir in Prasserei und in künstlerisch überquellender Umgebung. Am zwanzigsten Februar ritten der Earl und ich, völlig allein, entlang der niederländischen Marschen. Der Vierundfünfzigjährige hatte sich zum Schutz gegen den kalten Nieselregen in einen dicken Pelz gehüllt. Das bartlose, ovale Gesicht des Mannes drückte Liebenswürdigkeit und wache Intelligenz aus. Er glaubte meinen Dokumenten, und meine Berichte über gemeinsame Waffentaten gegen die Türken überzeugten ihn völlig von meinen Absichten.
»Ich selbst«, sagte er ernsthaft, »bin von jedem Punkt der Vorschläge überzeugt. Dass wir von Holland aus an dieses Flüsschen, die Mosel, ziehen werden, ist eine leichtere Übung.« »Inzwischen halten vierzigtausend Mann, Franzosen und Bayern, die Donau zwischen Ulm und der Grenze Österreichs besetzt.« »Bevor sie auf Wien vordringen, brauchen sie Verstärkung.« Auch vor seinem inneren Auge erschienen Landkarten, über die verschiedenfarbene Balken krochen, sich verknoteten und gegenseitig auswichen, neue Ziele ansteuerten. »Die Nachwelt wird von unseren Absprachen nichts erfahren«, drängte ich. »Weder Ihr, Earl, noch Eugen sind unabhängig. Jeder braucht hundert Erlaubnisse.« »Nichts erfährt
die Nachwelt«, antwortete er zuversichtlich. »Wenn es der Markgraf von Baden nicht schafft, die Franzosen unter Tallard davon abzuhalten, zu den Bayern vorzustoßen, sieht die Lage schon besser für unsere Sache aus.« »Tut einfach so, als ginge es gegen die Mosel«, schlug ich vor. Wir ritten langsam, redeten viel, berücksichtigten jeden Aspekt dieses verwirrenden Spiels. Und hier sprach ich wieder einmal mit einem wirklichen Europäer, der davon überzeugt war, dass zwischen Atlantik und Ural in Wirklichkeit nur eine politische Kraft herrschen sollte, auch wenn sie zwanzig Sprachen redete. Aber er wusste ebenso gut wie ich, dass diese Vision schiere Utopie war – wie Bacons Bildungsbericht von glücklichen Inseln. Jetzt lachte Marlborough dröhnend. »Ihr seid ein schlauer Fuchs, Atlan of Arcoyne. Das dachte ich in meinen schlafarmen Nächten schon oft. Habe ich Erfolg, behalte ich recht. Nach Punkt A marschieren und dann nach Punkt B abschwenken.« »Mit guten Karten kann ich Euch dienen«, schlug ich vor. In wenigen Tagen reiste er zurück nach England. In den nächsten drei Monaten fand sicherlich keine große Offensive statt, aber wenn der Schnee geschmolzen und die Straßen passierbar geworden waren, würden sich zahlreiche Heere in Bewegung setzen. Ich erbat seine Anschrift in England und versicherte ihm, ihn zu besuchen. »An guten Karten bin ich stets interessiert«, entgegnete er. Prinz Eugens dichtgeknüpftes Netz von Informationen und Spionen lag tatsächlich über ganz Europa ausgebreitet und lieferte ständig Neuigkeiten. »Ihr bekommt sie noch morgen.« Wir hielten unsere dampfenden Pferde an und wendeten sie langsam. »Jetzt ist noch zu klären, was ich, in aller Diskretion, versteht sich, Prinz Eugen ausrichten soll«, sagte ich. »Das klären wir bei einem guten Abendessen. Ihr kennt, denke ich, das Lebenswasser noch nicht, das die Schotten Uisge Beatha nennen?« Ich nannte ihm die Namen einiger Brennereien. Er lachte wieder und war nun auf den Verlauf des Abends eingestimmt. Wir brachten es trotz des einen oder anderen Glases fertig, die
wichtigsten Züge abzusprechen; vieles blieb dem Zufall überlassen. Und dem Waffenglück, wie es damals hieß. Nach einem kurzen Aufenthalt im Turm – ich kontrollierte die Spionsonden und dachte über viele Informationen nach – reiste ich weiter nach Wien. Der kleine Prinz hörte aufmerksam zu, was ich ihm berichtete. Während er die Überlegungen nachvollzog, rückte er die Figuren auf dem Kartenblatt hin und her. »Du hast ihn überzeugt?« »Marlborough ist überzeugt«, antwortete ich ruhig. »Er wird unternehmen, was man ihm ermöglicht, aber so, wie wir es abgesprochen haben. Abgesehen davon, dass unsere kühnen Einfälle sehr viel mit der Wirklichkeit
zu tun haben.« »Bis jemand den ersten Schritt unternimmt«, schloss er nachdenklich, »werde ich versuchen, die Soldaten des Kaisers auszurüsten. Graf Cari Nocra hat ein überzeugendes Konzept vorgelegt.« »Wenn er darüber nachdachte«, brummte ich, »dann ist die Konzeption absolut richtig.« Wir schüttelten uns die Hände, und ich zog mich in meine Wohnung in Eugens Palast zurück. Tag um Tag verging mit weiteren Schritten, von denen jeder einzelne näher auf einen gewaltigen, tödlichen Zusammenstoß zuführte. Wahrscheinlich kam Nonfarmale dazu und genoss es. Anfang Mai erhielt Marschall Tallard im Elsaß den Befehl, eine französische Armee zu den bayerischen Truppen zu führen. Der Markgraf von Baden versuchte es zu verhindern, aber rund zehntausend Mann drangen durch den Schwarzwald vor. Ich wurde von der Meldung überrascht, als ich im Obergeschoss der herrlichen alten Mühle saß und englisches Landleben samt Regen genoss. Die Antwort ließ, wie abgesprochen, nicht lange auf sich warten. Wieder geriet eine der Farbsäulen in Bewegung. Am neunzehnten Mai fing Earl Marlborough an, die Armee der Allianz aus den Niederlanden nach Süden zu führen. Auf dem Marsch schlossen sich dem Heer Dänen, Truppen des Deutschen Reiches und Niederländer an. Die Nachricht erreichte blitzschnell die äußersten Grenzen Europas. Marlborough ging bei Koblenz über den Rhein, blieb entlang des Flusses bis Wiesloch, dann schwenkte er ab und zeigte, dass die Donau sein Ziel war. Wratislaw und Prinz Eugen, von Cari begleitet, trafen gleichzeitig mit mir im Hauptquartier Marlboroughs ein, am Abend des zehnten Juni; in Mundelsheim, in der Nähe des Neckars. Die Herren, die einen endlosen Strom von Briefen getauscht hatten, lernten sich kennen und fanden einander auf Anhieb sympathisch. Prinz Eugen war neun Jahre jünger und dementsprechend aufgeregter. Militärische Ehren, ein Bankett, eine lange Konferenz schlossen sich an, und jeder in der Runde erkannte das große Maß der Verantwortung.
Am nächsten Tag paradierten englische Kavalleristen in einem Ort, der Groß-Heppach hieß. Die Aufgabe, ein Heer zu führen, das halb so groß war wie die französische Armee von sechzigtausend Mann, die ihn an der Donau erwartete, übernahm Prinz Eugen. Sein Mut war erstaunlich. Wieder fingen Armeen zu wandern an, wieder verging Zeit, abermals wurden gewaltige Energien und Kosten für strategische Züge verpulvert. In Ungarn breitete sich Rebellion aus. Das französische Heer und die Bayern überquerten die Donau, verschanzten sich bei Blindheim und Sonderheim, bis hinüber nach Lutzingen. Ihre Anzahl betrug rund sechsundfünfzigtausend Mann, verteilt auf eine etwa vier Meilen breite Front. Ein Bach, Sümpfe und die Donau deckten
es gegen Angriffe ab. Rechts von Schwenenbach, hinter der Stelle, an der Eugen beabsichtigte, seine Infanterie aufzustellen, versteckten wir unser Geschütz hinter hastig aufgeworfenen Wällen und Palisaden, die Cari einer Kristallfeld-Intensivierung unterzog. Die besten Kanoniere Eugens, vier weitere Langrohrgeschütze, kamen mit uns. Beide Heere würden sich in Nordwest-Südost-Richtung gegenüberstehen, wenn die Alliierten endlich in Stellung gegangen waren. Ich sorgte dafür, dass Prinz Eugen meine Reiterpistole am Brustgurt führte. Am Zwölften ritten Cari und ich in der kleinen Eskorte, die Marlborough und Eugen begleitete. Eugen trug mein Fernrohr bei sich; wir erreichten mehrfach Geländepunkte, von denen aus wir jenseits des Baches die feindlichen Stellungen, Palisaden, Verschanzungen erkennen konnten. Achtundsiebzig Bataillone und hundertfünfunddreißig Schwadronen standen uns gegenüber. Am Ende der Rekognoszierung sagte Marlborough zu Eugen: »Generalangriff im Morgengrauen?« »In zehn Stunden, Sir.« In der Nacht betete der Earl, Eugen verfaßte Depeschen, wir schliefen oder befanden uns bei den Geschützen. Der Gleiter wartete im Versteck. Um drei Uhr früh setzten sich die Alliierten in Marsch; als sich der Nebel hob, sahen Bayern und Franzosen, wie aus dem Nordwesten das Heer kam. Die Offiziere waren sicher, dass der Feind vor ihrer Übermacht nach Nördlingen fliehen würde. Eugens Truppen bezogen die rechte Seite, standen dem linken Flügel der anderen gegenüber. Erst am Morgen, weit nach sieben Uhr, ließen der Earl und Eugen zum Angriff blasen. Die eigenen Geschütze waren längst eingerichtet und feuerten ruhig und gezielt. Unsere Pferde waren geschützt; drei Kanoniere, Cari und ich bedienten das schlanke Rohr, das wie Bronze aussah und herrliche Metallintarsien trug. Aus den Schanzen bei Blindheim und den Gräben Oberglaus schlug den Angreifern wütendes Musketenfeuer entgegen. Ich aktivierte das Schutzfeld für unseren kleinen, tapferen Freund, der an der Spitze oder mitten unter seinen Leuten zu finden war.
Rauchwolken hüllten uns ein. Die Infanterie unter Lord »Salamander« Cutts versuchte, die Palisaden vor Blindheim zu durchbrechen. Unser Geschütz schwenkte herum, und während die braven Kanoniere putzten, stopften und luden, feuerten wir quer zur Angriffslinie. Der Desintegrator verwandelte eine Fläche von hundert Schritt in Rauch, und die Verteidiger sanken paralysiert um. Im Zentrum holten die Franzosen mit neun Bataillonen aus. Irische Söldner, die man wegen ihres gellend schnatternden Angriffsgeschreis die »Wildgänse« nannte, bildeten die Spitze des Keiles. Der Keil drohte durch das Zentrum zwischen dem Earl und Eugen durchzubrechen. Eine Brigade Eugens
schwenkte nach einem Notruf herum und packte die Wildgänse von der Seite. Kurz nach Mittag hatte sich die Schlacht in unzählbare einzelne Gefechte aufgelöst. Zwischen Oberglau und Blindheim gab es eine große, ebene Fläche abgeernteter Felder. Weder Graben noch Hecken unterbrachen die kleine Ebene. Noch erfüllte sie ihren eigentlichen Zweck nicht, für den Eugen und Cari sie bestimmt hatten. Zwischen den Ruinen der Bauernhäuser detonierten Pulverfässer. Zwischen Bäumen und Büschen züngelten Flammen und stiegen Rauchwolken schräg in die Höhe. Tote Pferde lagen über das Gelände verstreut. Herrenlose Tiere rasten schrill wiehernd hin und her und trampelten Menschen nieder. Immer wieder erschienen, scheinbar aus dem Nichts, Detonationen und Krater, riesige Fontänen aus Metallsplittern, Dreck und Rauch, die in ihrem Umkreis Mensch und Tier niedermähten. Meldereiter standen in den Sätteln oder duckten sich im Hagel von Geschossen. Eine Kanone, die zu stark geladen war, explodierte und zerriss ihre Bedienungsmannschaft. Fahnen knatterten, Trommeln schlugen; unentwegt ertönte das ohrenschmerzende Schmettern der Trompeten. Bis fünf Uhr am Nachmittag hatte sich das Schlachtfeld mit Toten und Sterbenden gefüllt. Der Kampf ging hin und her; an dieser Stelle errangen die Österreicher einen Vorteil, dort die Bayern, da wurden die Engländer zurückgeworfen, dort die Franzosen. Durch die Staubwolken blitzten Säbel und Bajonette. Es war niemandem gelungen, in die Nähe unserer kleinen Geschützbatterie zu kommen. Cari und ich griffen nur dort ein, wo es galt, den Earl oder Eugen direkt zu schützen. Schon zweimal wäre Eugen erschossen oder zumindest schwer verletzt worden, wenn er nicht durch das Feld geschützt gewesen wäre. Um fünf Uhr gab Marlborough das erwartete Signal. Seine Kavallerie, die weit vorgeprescht war und sich wieder versammelte, nachlud und Waffen ersetzte, auch Pferde wechselte, rückte vor. Sie galoppierten über das flache Stoppelfeld und überrannten die Franzosen. Hinter den Reitern drängten sich die kleinen Blöcke der
Infanteristen zusammen und näherten sich unaufhaltsam dem rechten Flügel des Gegners, dem Ort Blindheim und der breiten, rasch fließenden Donau. Während ich mich auf die Lafette aufstützte, um das Fernrohr ruhig halten zu können, sagte ich: »Zielt besser, Männer. Höher das Rohr!« Die Kanoniere, die bisher bemerkenswertes Geschick bei Fernschüssen gezeigt hatten, sahen mich verblüfft an. Zu Cari sagte ich: »Viele Soldaten werden die Nacht nicht mehr erleben.« »Vielleicht lehrt es den Franzosen, in seinen Grenzen zu bleiben«, meinte Cari, packte eine Paralysegranate und lud sie in die Kammer des Geschützes, als niemand hinschaute. »Vergiss
diese Hoffnung«, brummte ich und sah, dass die Wirkung des Zusammenpralls mörderisch war. Die Franzosen begannen zu flüchten. Der Widerstand im Zentrum des Gegners schien gebrochen. Unser Geschoss ließ einige Hunderte Fußtruppen aus dem bayerischen Heer bewusstlos zusammenbrechen, uns gegenüber. Sie waren von österreichischen Reitern umzingelt worden. Wer sich nicht mehr wehrte, überlebte die Schlacht. Die französischen Truppen hinter den zusammenbrechenden Palisaden und zwischen den zerschossenen Mauern Blindheims wurden umzingelt. Reiter stoben in heilloser Flucht auf durchgehenden Kampfrössern über die Uferkanten und in die Donau hinein. Pferde überschlugen sich in gischtenden Wasserfontänen und schleuderten ihre Reiter in den schweren Rüstungen aus den Sätteln. Unzählige ertranken jämmerlich; diejenigen, die sich ans Ufer zu retten versuchten, wurden von den eigenen Leuten nieder geritten. An unserem Abschnitt der Front schienen der bayerische Kurfürst und General Marsin einzusehen, dass sie ihr Leben und viele andere retteten, wenn sie die Schlacht verloren gaben. Sie zogen sich rasch zurück. Die Wirkung der Musketen war zu vergleichen mit den Sprenggeschossen der Geschütze. Große Bleibatzen, aus Rohren mit abenteuerlichem Durchmesser abgefeuert, wirkten auf kürzere Entfernung wie ein Detonator. Der Getroffene verblutete oder starb nach kurzer Zeit am Wundbrand oder an der Operation des Feldschers. Ein Reiterpanzer wurde durchschlagen; wenn das Metall nicht riss, drückte die Wucht des Aufpralls dem Soldaten den Brustkorb ein. Aus dem wütenden Feuer der Pistolen und Musketen war ein ungeordnetes, ruhiges Feuern geworden; wer jetzt noch schoss, hatte Zeit, nachzuladen. Aber es wurden weniger von Minute zu Minute. Nach drei Kavallerieattacken sprang Prinz Eugen aus dem Sattel, feuerte über die Köpfe zweier Soldaten, die offensichtlich nicht wussten, wo der Gegner und wo die eigenen Leute waren.
»Infanterie vor. Folgt mir!« schrie Eugen. Während jeder Soldat Marlboroughs, Niederländer oder Engländer, der noch laufen und eine Waffe handhaben konnte, der eigenen Kavallerie hinterher rannte, während leichte Feldgeschütze aus den Stellungen gezogen und näher zum Feind gebracht wurden, während sich mit jedem Schritt und jedem Schuss das Schicksal der Franzosen erfüllte, sich Soldaten ergaben, andere erschossen, erstochen oder niedergehauen wurden, ein entschlossenes Kommando General Tallard gefangen nahm, ertranken andere in der Donau. Die Abenddämmerung verwandelte Staub, Rauch und Pulverdampf in seltsam irisierende Wolken. Ein melancholisches Licht breitete sich aus. Seite an Seite flüchteten Franzosen und Bayern nach Südwest, in die Abendsonne
hinein. Sie wateten durch die Rinnsale bei Sonderheim, verloren ihre Waffen bei der Flucht nach Hochstädt und versuchten, einen Teil des Trosses zu erreichen, den sie in Steinheim und an den Straßen zwischen diesen Orten zurückgelassen hatten. Unzählige Soldaten schwärmten aus, um die Toten und Verwundeten zu finden und zusammenzutragen. In den Kontobüchern des Todes wurde subtrahiert und addiert. Die Lagerfeuer spiegelten sich in den gebrochenen Augen von Männern, mit denen man am Morgen noch den letzten Bissen geteilt hatte. Unsere Abteilung schirrte beim Licht von Caris knisternden Riesenfackeln die Pferde ein, räumte die Stellung und verbrachte die Geschütze zum Sammelplatz. Dort waren Wasser und Heu vorbereitet. Unser Zelt und den Verpflegungswagen hatte niemand angerührt. »Vorbei«, sagte ich müde und sicherte Teile der Ausrüstung in den Satteltaschen. »Wieder einmal hat unser kleiner Prinz gegen eine Übermacht gesiegt.« »Vermutlich hat er Österreich davor gerettet, überrannt zu werden.« »Morgen wissen wir mehr«, vertröstete ich. »Erst einmal das Nahe liegende.« Wir hatten ausgemacht, dass wir uns nur um einen Teil der Artillerie kümmern würden. Waschzuber wurden aufgestellt, ein Feuer loderte schon, auf den heruntergeklappten Wänden des Wagens standen Becher mit kühlem Bier und Rotwein. Helme und Panzer fielen klappernd auf einen Haufen. Feldstühle knarrten. Männer steckten geschwollene Füße ins Wasser und spielten wohlig grunzend mit den Zehen. Binnen kurzer Zeit war unser Lagerteil, dessen zwei Seiten durch die Geschütze, Rad an Rad, eingezäunt waren, überlaufen. Noch immer waren in den Wolken aus Rauch und Pulverdampf nur wenige Lücken, durch die einzelne Sterne schimmerten. Die Nacht schrie förmlich nach einem Gewitter. »Zu Eugen?« fragte Cari, der Brot in dicke Scheiben schnitt und aus einem Kessel heiße Würste fischte. Ich schüttelte den Kopf. »Nein. Morgen ist für alles Zeit.«
Wenn mehr Ruhe einkehrte, hörte man aus dem westlichen Quadranten das qualvolle Stöhnen und Wimmern der Verletzten beider Lager. Weitere Feuer flammten auf. Die geflüchteten Bauern kamen misstrauisch zurück und versuchten zu retten, was sie konnten; ihre Scheunen verwandelten sich in Schlafsäle und Feldlazarette. Noch vor Ablauf der ersten Stunde, nachdem ich mich mit einigen Dagorübungen entspannt hatte, winkte ich Cari heran. »Wir sehen nach«, sagte ich leise und deutete in die Dunkelheit des Schlachtfelds. Cari schob zwei getarnte Hochdruckspritzen hinter den Brustgurt und nahm Fackeln aus dem Vorrat. »Verstanden«, antwortete er knapp. Ich lehnte mich gegen ein Wagenrad, leerte den Humpen und wischte Bierschaum von den Lippen. Dann stand ich ächzend auf, Cari folgte
mir mit einer Fackel, die er an der Feuerglut anzündete. Fünf Stunden lang bewegten wir uns im Zickzack über das Schlachtfeld. Gleich uns irrten auch viele andere Fackelflammen durch das Gelände. Ab und zu hörte man aus größerer Entfernung einen Schuss peitschen. Wir fanden Leichtverletzte, halfen ihnen auf die Füße, gaben ihnen einen Schluck Branntwein zu trinken und schickten sie in die Richtung der Feuer. Noch mehr Männer lagen im Staub, die schwer verletzt waren. Wieder fauchte die Hochdruckspritze auf. Wir spritzten ein kombiniertes Präparat, das schmerzunempfindlich machte, aufbaute und einschläferte. Ich verlor nach dem ersten Dutzend der einschlägigen Verletzungen den Schrecken vor den schauerlichen Wunden. »Viele werden nicht mehr aufwachen, Atlan«, murmelte Cari. »Für die meisten ist es eine Erlösung«, erwiderte ich. »Vielleicht lernt man daraus. Die Soldaten sollten jeden, der sie in die Schlacht schickt, vorher totschlagen. Wirklich jeden, meine ich.« Aber warum sollte es ausgerechnet auf diesem Barbarenplaneten Vernunft geben? Zwischen den raumfahrenden Rassen im Weltall wüteten die gleichen Kämpfe und Kriege; nirgendwo zählte das Sterben zur Erfüllung des Lebens. Schließlich wankte ich erschöpft zu den Kanonen zurück. Ich schlief in einer Hängematte zwischen zwei Geschützrohren. Als ich am Morgen in meine Stiefel fahren wollte, sah ich, dass die silbernen Sporen gestohlen worden waren. Während ich mich mit einem blütenweißen Handtuch abtrocknete, näherte sich ein Reiter. Als ich aufblickte, stieg Prinz Eugen aus dem Sattel. »Dreißigtausend Mann und mehr: Tote, Verletzte, Gefangene. Aber die Niederlage hat weitreichende Bedeutung. Wie schon so oft, mein Freund – ich kann dir nur meinen größten Dank aussprechen. Wenn du mir hilfst, so wird es Osterreich nützen.« »Weitreichende Bedeutung, besonders für die Toten«, erwiderte ich. »Dir ist dieser Kampf aufgezwungen worden.« Er ergriff meine Hand. Ich setzte mich und schaute in seine Augen.
»Könnte ich Kriege abschaffen«, meinte er und ließ sich von einer Ordonnanz frisches Bier bringen, »würd’ ich’s tun. Muss ich kämpfen, versuche ich zu gewinnen.« »Ich weiß es. Wie viele Männer hast du verloren?« »Zusammen mit den Opfern des Earls sind es zwölftausend.« Ich wusste, was er meinte. Die unschlagbare Armee des vierzehnten Ludwig war gedemütigt worden. Englands Ansehen war gestiegen, Wien war gerettet. Eugen konnte, wenn der alte Sonnenkönig wirklich begriff, was er hatte hinnehmen müssen, die Türken angreifen und endgültig zurückwerfen. »Wir kommen nicht mit nach Wien«, sagte ich. Er runzelte die Stirn. »Ganz Wien wird uns zu Füßen liegen«, meinte er. »Wohin reitet ihr? Du und Cari, ich brauche solche unbestechlichen,
treuen und klugen Männer. Kommt mit, bitte.« »Unsere Grafschaften brauchen einen Herrn. Erntezeit, Eugen. Schlafe dich aus und heirate eine junge, dralle Wienerin.« »Heiraten hieße, meine Rechte halbieren und meine Pflichten verdoppeln, Atlan.« »Männer werden ohne Frauen dumm, Frauen ohne Männer werden welk«, erwiderte ich. »Du denkst an die nächste Eroberung eines Serails?« »Unter anderem. Nun wird es, hoffentlich, einen langen Frieden geben.« Ich schlang das Handtuch um meine Schultern. Leichengeruch kam vom Schlachtfeld, Bauern pflügten einen verwüsteten Streifen mit Gespannen aus Beutepferden. »Wir sehen uns noch, bevor du zurückreitest«, versprach ich. »Cari ist hier irgendwo oder hilft den Feldschern.« »Ich werde ihn finden. Aber die Einladung zu einem Festbankett, ihr nehmt sie an?« »Mit Freuden, mein Prinz.« Mich traf ein nachdenklicher Blick, ehe Eugen in den Sattel kletterte und davonritt, von seinen Männern umjubelt, wo immer er auftauchte. Ich trocknete mich ab und zog ein sauberes Hemd an, dessen frischer Geruch den der Leichen vorübergehend verdrängte. Ohne große Anteilnahme betrachtete ich, den Stiel des Weinpokals drehend, die Bildschirme. Cari fragte: »Der Transmitter in der englischen Mühle?« »Desaktiviert. Die Mühle ist verlassen, herrenlos.« »Unsere Kanone ist zerlegt und verstaut. Was ordnest du an?« »Zuerst einige Tage Ruhe.« »Und danach? Le Sagittaire? Beauvallon?« Ich sah mein Gesicht im unruhigen Spiegel des Weines und erwiderte halblaut und nachdenklich: »Ich bin anscheinend so müde, dass ich mich nicht einmal bis zum Einschlafen wach halten kann. Weinernte und Jagd in Beauvallon.« »Was denkst du über Nonfarmale?«
»Es gibt nichts Wichtigeres, eigentlich.« Ich gähnte und nahm einen herzhaften Schluck. »Ich denke daran. Vielleicht suchen wir nächstes Jahr die Kämpfer aus.« »Für die Insel?« »Jede Planung kann umgeworfen werden. Wenn ich mich entschließe, dann muss ich drei Jahre warten. Oder zweieinhalb. Und zwar ununterbrochen.« Wir gingen nebeneinander auf eine kleine Terrasse. Sie hing wie ein Schwalbennest an der Außenseite des überwucherten Turmes. Ich schob die Zweige zur Seite und hatte einen Ausblick von einmaliger Schönheit auf das Lechtal. »Du hast die Mühle, Beauvallon, die Insel, diesen Turm und noch ein paar Stützpunkte zur Auswahl. Auch die Kuppel. Wahrscheinlich müssen wir dort längere Zeit nach Nonfarmale suchen.« Ich schwieg und hing meinen Gedanken nach. »Monique oder Tairi? Wen soll ich wecken? Ich denke, wir lassen die Damen schlafen.« »Sei großzügig. Denke an deinen tödlichen Gegner«, empfahl er. »In menschlichen Beziehungen hat Großzügigkeit einen höheren Preis als tausend Wahrheiten«, philosophierte ich. »Oder zehntausend
Halbwahrheiten. Die Wahrscheinlichkeit, dass Nonfarmale in den nächsten sechsunddreißig Monaten von uns gesehen wird und dass wir ihn angreifen können, ist ungewöhnlich hoch.« Adler kreisten über den Felsschroffen. Mauersegler jagten mit gellenden Schreien. Irgendwo gurrten Wildtauben. Aus den Wäldern drangen kühle Windstöße; weiße Wolken trieben über den blauen Himmel. Ich heftete meinen Blick auf den Roboter und murmelte: »Lass mich ausschlafen und nachdenken. Spätestens in Beauvallon werde ich mich entscheiden. Aber ich ahne schon, wofür. Hast du die Pferde schon versorgt?« »Sie stehen im Felsenstall und warten darauf, dass wir dort unten über Kiesinseln und durch den seichten Fluss galoppieren und einen fetten Bock schießen oder Forellen angeln.« Ich grinste müde. »Morgen.« Ich leerte noch ein paar halbe Pokale des trockenen Beauvalloners, hörte eine Stunde lang Musik aus Henry Purcells »Fairy Queen« und schlief siebzehn Stunden tief und traumlos. Nach einem langen Frühstück hatten sich meine wirbelnden Gedanken geklärt. Ich wusste, was zu tun war, wenigstens in meinen Überlegungen und weitreichenden Plänen. Wenn Nonfarmale dem gleichen Sternenvolk entstammte wie andere Besucher dieser Welt, so besaß er ein fernflugtaugliches Raumschiff. Es befand sich zweifellos in seiner Nähe. Fand ich ihn und seinen Aufenthaltsort in einer der »Jenseitswelten«, hatte ich auch sein Schiff gefunden. Aus Gründen, die ich aus leidvoller Erfahrung kannte, durfte ich nicht mit einem schnellen Erfolg rechnen. Keinesfalls. Aber ich sah wieder ein Ziel! Und bis zu diesem Zeitpunkt handelte ich weiter, wie ich es mir geschworen hatte: Hüter und Paladin der Menschheit, ratgebender Begleiter auf dem mühevollen Weg zum Mond, zu den Planeten und zu den Sternen. Und… nach Arkon.
Als der Stichwortcluster JENSEITSWELTEN usw. zum zweiten Mal in Atlans Erzählungen aufgetaucht war, hatte Cyr Aescunnar über die Vermittlung MASTERCONTROLS in den Archiven der ENZYKLOPAEDIA TERRANIA gesucht, einen Hinweis auf die überarbeitete Version und eine Handvoll Querverweise gefunden. Wieder hatte ihm eine projektgebundene Arbeitsgruppe seiner Studenten einen längeren Abriss dazu geliefert. Der Text lag in phonetischer und der Monitorversion vor. In Griffweite zwischen Holowürfeln, Stiften, Folienstapeln und anderen Bestandteilen des gemäßigten Chaos fand der Geschichtswissenschaftler einen Ausdruck auf gelber Schreibfolie. Er las, während Atlan von seinen vorläufigen Überlegungen berichtete, die Nonfarmales Raumschiff betrafen: Aus: ENZYKLOPAEDIA TERRANIA, überarbeitete Ausgabe von 3460 n. Chr. entwickelte Prof. Dr. Arno Kalup im Jahr 2090 die Hypothese einander paralleler Universen… Aufgrund
seiner Kenntnisse von der Ausdehnung und Massebelegung des Standarduniversums gelangte der Hyperphysiker zu dem Schluß, dass es so viele Universen geben müsse wie Möglichkeiten, die riesige, aber begrenzte Anzahl von Elementarteilchen, die ein Universum ausmachen, miteinander zu kombinieren – etwa 1080-Fakultät (= Produkt aller Zahlen von 1 bis 1080). In einem weiteren Schritt wies Kalup jedem der Universen einen bestimmten Betrag an sechsdimensionaler potentieller Energie zu und postulierte, dass der Übergang von einem in ein anderes Universum nur dann möglich sei, wenn das übertretende Objekt den auf seine Masse zugeschnittenen Differenzbetrag an potentieller Energie entweder absorbierte oder abstrahlte – je nachdem, ob das benachbarte Universum energetisch höher oder tiefer lag…
»Parallele Universen«, sagte Cyr, hob den Blick und sah zu, wie sich Atlan auf die nächste Kurzschlafperiode vorbereitete; die Mahlzeit, die er schweigend zu sich nahm, hatte nichts mehr von künstlicher Ernährung. Atlan aß mit sichtlichem Appetit und trank viel biologisch wertvolle Flüssigkeiten: honiggesüßte Milch, verschiedene vitaminreiche Säfte, einschläfernden, entschlackenden und blutreinigenden Tee in großen Mengen. »Das Erzählen wird ihn doch nicht etwa dehydrieren? Wo war ich stehen geblieben…? Bei Gedanken an Wanderer. Von dort kamen die Androiden, mit denen es Atlan zu tun hatte, per distanzlosen Schritt, wie wir heute wissen; vielleicht auch jene Drachen, gegen die jene Ritter kämpften, von denen Atlans Wachträume berichtet hatten. Gab es raum-zeitliche Anomalien wie die zwischen Terra und Nonfarmales Drachenhorst? Was schreibt das kluge Buch?« (Zusatz, aufrufbar nur von Autorisierten… Nebeneffekt des Projekts ANTI-NUG am 20. August 3456 ff. – beeinflusst durch die Auseinandersetzung zwischen ES und ANTI-ES – war die Versetzung der MARCO POLO in eine solche parallele universale Bezugsebene, bei der neben verblüffenden Ähnlichkeiten auch gravierende Unterschiede bestanden. Zitat Professor Geoffry A. Waringer: »Von jeder Person, die wir kennen, schien es auf dieser Bezugsebene ein exaktes Duplikat zu geben – in physikalischer Hinsicht; mental gab es dagegen eine Art Umpolung. Rhodan II beispielsweise war jedenfalls ein ebenso großer Kotzbrocken, wie unser Rhodan ein Sympathieträger ist. Inwieweit es sich bei dieser parallelen Bezugsebene um ein von ANTI-ES geschaffenes oder beeinflusstes Szenario handelte, ist eine müßige Frage… «) Doktor Ghoum-Ardebil signalisierte Professor Aescunnar in dessen Arbeitsraum, dass für Atlan eine vierzehnstündige
Schlafphase vorgesehen sei. Cyr dankte, räumte seine riesige Schreibplatte flüchtig auf und genoss die Gewissheit, selbst einige Stunden ungestört schlafen zu können. Er wurde
nur dreimal unterbrochen: Zweimal schreckten ihn wüste Träume von kämpfenden Samurai, monströsen Flugwesen, einem schwarzen Diskusschiff und riesigen rötlichen Energieblasen im Weltraum auf; zuletzt weckte ihn seine Lebensgefährtin mit dem lockenden Hinweis auf das späte Abendessen. Zwei Stunden nach dem letzten Glas Rosewein begann Atlan wieder zu sprechen – Für Cyr Aescunnar begann die nächste Nachtwache. Im dünnen, kalten Herbstregen saß Mitsukuni Kona auf der Terrasse des Innenhofs, unter dem schützenden Dach, das weit vorsprang. Mit knurrendem Magen eingeschlafenen Gelenken und, was noch viel bedrückender war, keinerlei Aussicht auf eine ehrenvolle, dem bushi entsprechende Zukunft würde auch dieser Tag sein schmähliches Ende finden. Seine Schulden beim Kaufmann hatten eine Höhe erreicht, die Mitsukunis trostlose Gedanken lähmten. Er flüsterte: »Ugoka-zaru yama no gotoshi. Unbeweglich wie der Wald. Und genauso kalt und leer.« Mitsukuni stand in einer mühelos erscheinenden Bewegung auf. Er trug keine Waffen. Noch hatte er Waffen und Rüstung nicht verpfänden müssen. Als er auf den Beinen stand und den Arm in den Regen hinaushielt, spürte er die Schwäche, die von seinem Hunger herrührte. »Maruyama wird helfen.« Der Samurai kannte den Shogun nicht; niemals hatte der Herrscher ihm einen Befehl erteilt. Müßiggang breitete sich auf den Inseln aus, die Samurai verarmten von Monat zu Monat mehr, auch wenn sie keinen ausschweifenden Lebenswandel führten. Sie durften kein Gewerbe betreiben; die meisten von ihnen hatten auch niemals etwas Derartiges gelernt. »Nicht einmal ein Schluck Sake«, brummte der Samurai. Mitsukuni, knapp dreißig Jahre alt, hatte seinen gesamten Reislohn längst gegen bares Geld eingetauscht. Viele Freunde hatten so handeln müssen. »Bestimmt hat Maruyama einen Schluck.« Und der Shogun Tsunayoshi tat nichts. Die Bauern wehrten sich, wenn die Samurai übermütig wurden. Es gab Kämpfe; Mitsukuni
und seine wenigen Freunde hielten nichts von diesen sinnlosen Räubereien. Es war unter ihrer Würde. Aber es gab auch keine Kämpfe, keine Verteidigung, nichts war da, was sich zu erobern lohnte. Der Samurai schob die Tür auf und betrat sein winziges Zimmer. An der Wand, in Fächern, auf Haken und auf einer strohgefüllten Puppe lagen und hingen Waffen und Ausrüstung; Zeichen einer besseren Zeit, die in der Vergangenheit versunken war. Mitsukuni langweilte sich. Sein Magen knurrte lauter. Regungslos blieb er stehen, betrachtete den Köcher voller Pfeile und den langen Bogen, die Teile der Rüstung, die er immer wieder polierte. An Frauen brauchte er schon gar nicht mehr zu denken; er konnte nicht einmal seinen Freunden eine Schale Tee anbieten. Nicht einmal
das Fluchen lohnte sich. Er zog die dünne Ölhaut über, löschte sorgfältig die winzige Flamme des winzigen Lämpchens und schlüpfte auf den polierten Brettern der Terrasse in die Sandalen. Dann tappte er, ohne seine Spuren in den sorgfältig geharkten, jetzt nass verschwimmenden Sand zu setzen, über die Treppe hinaus in den Regen. Maruyama wohnte nicht weit entfernt; trotzdem würde er nass werden. Damit war auch dieser Abend oder diese Nacht nichts anderes als eine Ansammlung verlorener Stunden. Seit vierundvierzig Tagen ahnte der weißhaarige Samurai, dass unsichtbare Augen ihn verfolgten, über viele Stunden des Tages hinweg. Yamazaki Ansai ließ das Schläfen- und Hinterkopfhaar durch die Pomade gleiten, band es mit der Kyyori-Kordel zusammen und formte die fingerdünne Rolle. Er bog sie bügelförmig über den Scheitel nach vorn und reinigte seine Finger. Während des Tages hatte er seine Selbstbeherrschung zu erhalten versucht und sich mit Schönschrift, Geschichte und Ethik beschäftigt. Denn auch er suchte eine Aufgabe, einen Zweck für sein Leben, dessen einziges, schönstes und sinnvollstes Ziel es war, für den Lehnsherrn zu sterben. Wo gab es eine Aufgabe, für die es sich zu sterben lohnte? Yamazaki litt, im Gegensatz zu vielen seiner Freunde, nicht unter Armut. Er hatte heute abend Atsutane Kamo eingeladen, einen Mann, der drei Jahre jünger war und hervorragend die nachgebauten Feuerrohre abschießen konnte. Auch Atsutane hungerte, und er trank gern; man konnte über Vergangenes reden. Vielleicht fand Atsutane heraus, woher diese Dämonenaugen starrten. Er klatschte in die Hände. »Alles bereit? Genug Sake da? Kommt Atsutane?« »Alles wartet, Herr«, antwortete der Diener. »Wird Herr Atsutane bei uns schlafen?« Der Samurai lachte kehlig. »Das hängt davon ab, wie lange wir Sake trinken. Mag sein. Er soll zu mir kommen.« »Ich führe ihn zu dir, Herr.« Eisenbecken, in denen Holzkohle glühte, verbreiteten trockene Hitze. Die Öllampen brannten mit ruhigen Flämmchen. Der lautlose
Ruf, der an Yamazakis Gedanken zerrte, würde ihn von seiner Heimat wegführen, in neue Länder der Abenteuer und des guten Kampfes. Es würde zwangsläufig bedeuten, dass es einen neuen Herrn gab, neue Beziehungen und Verpflichtungen auf dem »Pfad des Samurai«, dem Bushido. Er wartete, »ruhig wie der Wald«; Shidzuka-naru hayashi no gotoshi. Erinnerte ich mich an die zweihundertvierundfünfzig Tage der drei Jahreszeiten, dann waren sie durch die silbernen Schläge und die emsig kreisenden Zeiger der kleinen, kostbaren Planetenuhr geprägt. Sie versuchte, einen bestimmten Rhythmus in die Tage und Nächte und die Wochen an verschiedenen Schauplätzen zu bringen.
Nachdem einmal mein Entschluss feststand, handelten wir mit der nötigen Schnelligkeit. Wir fanden heraus, welche Probleme die Samurai während der Herrschaft des »Hunde-Shoguns« hatten. Wir fanden nahe Kagoshima am Meer auch einen Samurai, von dem wir annehmen konnten, dass er die neue Aufgabe bewältigte. Yamazaki Ansai sollte die Mitglieder der Gruppe finden und auf den Weg bringen. Yamazaki stand unter dem Einfluss eines milden Psychoprogramms. Die Vision zeigte ihm, von Tag zu Tag leicht variiert, eine willkommene Möglichkeit, aber sie beeinflusste seinen Willen nicht. Ich kontrollierte den ersten Teil des Programms vom Turm aus, während ich mich bemühte, mit Ciron zu Pferd die Umgebung kennen zu lernen. Tag um Tag fanden wir einen anderen Weg, meist waren es Wildpfade. Weit außerhalb des Urwalds, der das kesselartige Tal umgab, dehnten sich die ersten Felder aus und die Weiden, auf denen Rinder und Schafe zu sehen waren. Selbst das Wetter war während des Holzmondes und in den Weinmond hinein freundlich. Ab und zu besuchten wir die Dörfer, kauften frische Milch und fetten Käse und anderes, und dann verschwanden wir wieder wie das scheue Wild zwischen Tannen und Buchen. Je länger ich die drei langen Straßen in Japan beobachtete, desto genauer vergegenwärtigte ich mir die Ereignisse von damals. Ich sollte vielleicht die Insel besuchen. Während wir zwischen Beauvallon und dem Turm pendelten, zeigte sich Nonfarmale nicht. Ich war keineswegs »Toki kòto kaze no gotoshi«, schnellen Entschlusses wie der Wind. Ich ließ mir Zeit und entwickelte die technischen Voraussetzungen für die Samurai und die Ninja. Ciron benutzte den Gleiter, um zu den Inseln zu fliegen und in der Nähe Kagoshimas, im Süden der Bucht, einen fernschaltbaren Transmitter zu installieren, mit sämtlichen Nebenaggregaten. Während er arbeitete, beobachtete ich die vielen Schaltstellen unserer Welt, an denen wir etwas zu sagen hatten. Mit anderen Worten: Ich begann mich ernsthaft zu langweilen.
Matsudaira, der Unsichtbare, hatte die Außenbezirke der Stadt hinter sich gelassen und bewegte sich auf dem schmalen Damm zwischen zwei Reisfeldern. Das Seinin-Ki, das Buch der Wunder und Erfolge, kannte er auswendig. Der Ninja trug den großen, strohgeflochtenen Hut, um sein Gesicht zu verdecken. Es war die Zeit zwischen Nacht und Morgen. Der enganliegende Tarnanzug ließ die schmale Gestalt tatsächlich unsichtbar werden. Die Schritte waren unhörbar, denn Matsudaira hatte seit fünfzehn Jahren das Gehen geübt und sich, getreu dem strengen Geheimnis, auch die Sandalen selbst geflochten. Aus den wenigen Spuren, die er hinterließ, würde niemand die Richtung seiner Schritte bestimmen können. Seine Füße blieben,
während er in die Richtung des südlichen Strandes strebte, leicht auswärts gestellt. Der Ninja war, soweit er dies hören und sehen konnte, allein in dieser Zone. Das lange Samuraischwert trug er an einer langen, mehrfach geknoteten Kordel auf dem Rücken. Niemand näherte sich, weder zu Fuß noch zu Pferde. Die Nacht war, bis auf die vielen gewohnten Geräusche, ruhig. »Dieser Fremde. Riesengroß. Ein Portugiese, der sich in unser Land gewagt hat?« Er würde es herausfinden. Das war der Auftrag, den sie sich selbst erteilt hatten, er, Akizane und der starke Toyotomi. Toyotomi war der Unterführer, der Chunin, und die beiden anderen gehörten zu den Genin, den Kämpfern. Es war ein Zufall, dass sie sich kannten; es war unüblich. Aber in diesen verworrenen, hoffnungslosen Zeiten war alles möglich. Während Matsudaira nach Süden lief, zwischen den Bäumen verschwand, während er immer wieder nach allen Richtungen sicherte, rief er sich die Gestalt des Fremden ins Gedächtnis, so, wie er sie einmal, wenige Augenblicke lang, gesehen hatte. Zwei Kopf größer als er, in Gewänder gekleidet, die denen eines Samurai glichen, aber gänzlich von anderem Stoff und anderem Schnitt waren, hell wie der Sand des Strandes. Er lehnte an den geschnitzten Pfosten des hölzernen Göttertors auf dem grasbewachsenen Hügel. Als er ahnte, dass der Ninja ihn beobachtete, verschwand er plötzlich mitsamt dem Tor und einem Teil der Bäume. Erst zwei Tage später tauchte alles aus einem dichten Nebel auf. Dieser Nebel kam nicht aus dem Uferwald auch nicht von der Brandung her, sondern entstand im Nichts. Die Fremden waren listenreiche Teufel, und sie brauchten solche Geheimnisse, um das Gebot des Shogun zu umgehen. »Ich finde dich, Langnase«, flüsterte der Ninja in seinen Gedanken und blieb stehen, als er vor sich die Linie zwischen Baumschatten und Mondlicht sah. Zehn Bogenschüsse weit vor ihm, jenseits der dunklen Felstrümmer, fing der sichelförmige Strand an. Er war einen Stundentrab lang. An seinem Ende begannen Hügel, Felsen,
Waldstücke, kleine Dünen und die Überschwemmungszone eines Baches. Akizane und Toyotomi näherten sich dem Göttertor auf anderen Wegen, in anderen Masken. Aber in dieser Nacht würden sie den Fremden belauern. Nach einiger Zeit war der Nebel um das Tor weggeblasen worden. Das Tor stand unversehrt da. Aber der Fremde war verschwunden. Ob er Spuren hinterlassen hatte – Matsudaira würde sie finden, wenn es welche gab! –, zeigte sich erst bei Tageslicht. Einen sehnsüchtigen Moment lang gab sich Matsudaira dem Gedanken an Sake hin. Als die Menschen im Sake-Rausch noch mit den Göttern reden konnten, gab es schon das warme Seelengetränk in Schalen und weit offenen Flaschen,
die wie durchscheinender Stoff aussahen und doch nur aus den getrockneten Körpern von Tintenfischen hergestellt worden waren. Sake! Ein großer, warmer Schluck in dieser kalten Nacht. »Es gibt keinen Sake. Heute nicht.« Sofort vergaß der Ninja diese Gedanken. Er rief sich streng zur Ordnung. Lautlos und unsichtbar wich er noch innerhalb des Schattens aus, trat zur Seite und verlor sich im Gewirr von Felsnadeln, von Büschen, die der Wind schräg zugeschliffen hatte, von feuchten Flechten und Moosbüscheln. Auf dem Strand würde er auffallen. So sicher wie der einsame Fischer in der Bucht, der im Heck des Bootes ein winziges Licht gesetzt hatte und langsam nach West getrieben wurde, während er seinen kümmerlichen Fang einholte. Draußen auf dem Wasser war es weitaus ungemütlicher, obwohl es bis jetzt kaum Wind gab. Warum war dann das Licht von links nach rechts gewandert, auf den südlichen Strand zu? Ruderte der Fischer? Zog ihn die Strömung? »Weiter.« Das Hakenseil? Er trägt es um den Körper geschlungen. Taschenschreibzeug? Er hatte es. Stahl und Feuerstein? Niemals würde ein Ninja das Feuerzeug vergessen. Tenugui-Handtücher, um das Gesicht zu verhüllen, als Filter für Trinkwasser? Ja. Die InròArzneischachtel? Das Langschwert spürte er auf seinem Rücken, als er sich geräuschlos durch das Gestrüpp aufwärts bewegte. Nicht ein Blatt rührte sich, als er den Hang erkletterte und, weil die Gräser und die Felsen nass und kalt waren, an den Zehen zu frieren begann. Aber wenn sie den Fremden fingen, winkte reiche Belohnung; dann bekamen sie nicht nur Reis und Sake, sondern auch ehrenvolle Aufträge, in denen sie all ihr Können zeigen durften. Matsudaira, einundzwanzig Jahre alt, mit fingerbreit kurzem Haar und großen, dunklen Augen, war schnell wie die Schlange und kräftig wie ein Büffel. Er sprang, kletterte, kroch und rannte am oberen Ende des Hanges vor den harzig riechenden Stämmen der Nadelbäume entlang, hoch über dem Strand, außerhalb des Mondlichts und so leise, dass er nicht einmal die Vögel erschreckte. Nach weniger als einer Stunde lag er auf dem Felsen, von derselben
Farbe wie der nasse Stein. Der dunkle Hut wirkte wie ein zackiger Vorsprung. Mehr denn je entsprach der junge Mann einem wirklich Unsichtbaren. Er wartete mit der ausdauernden Geduld eines Anglers. Einen Fingerbreit nach dem anderen wanderte das Mondlicht den Hügel aufwärts, vom Strand her, auf das Göttertor zu. Der Vollmond warf eine breite Bahn silberner Punkte und Sicheln auf das Meer. Unentwegt zitterten die Spiegelungen im Wechsel der kleinen Wellen. Der Fischer näherte sich außerhalb dieser Bahn trügerischer Helligkeit. Der Ninja zwang sich, seinen
Körper nicht die Kälte des Steins spüren zu lassen; ein Mann, der an einem Tag fünfundsechzigmal die Strecke zurücklegte, die ein rascher Fußgänger in einer Stunde bewältigte, vermochte noch mehr, ohne zu leiden. Matsudaira zählte seine Herzschläge und wartete eine halbe Stunde. Er sah und hörte weder Akizane noch Toyotomi. War er der erste an diesem Treffpunkt? Zugleich mit der Kälte schlichen Spannung, Neugierde und düstere Furcht heran und bemächtigten sich des Spähers. Gegen hellere Felsflächen hoben die Balken und die schräg geschwungenen Querhölzer des Tores sich undeutlich ab. Es schien, als zeigte sich die Maserung des Holzes in dunkler, nahezu unsichtbarer Glut. »Wo sind die anderen?« Er drehte den Kopf. Unter dem Rand des stumpfkegeligen Hutes hervor erforschten seine Augen die Umgebung. Eisiger Schrecken schien seinen Herzschlag anhalten zu wollen. Wo war das Licht? Der Fischer schien verschwunden zu sein. »Unmöglich.« Matsudaira zog an der Kordel, bis der Griff des schwarzumkleideten Schwertes über seine Schulter herausragte und der Tsuba-Griffteller gegen den Hals drückte. Dann löste er sich von dem Felsen, schwang sich um die Barriere und setzte die ersten Schritte auf den schmalen Pfad, den er ausgespäht hatte. Er konnte sich in der Finsternis, von hinten kommend, dem Tor nähern. Er brauchte länger als eine Viertelstunde, obwohl das Tor nicht weiter als einen Bogenschuss über ihm aufragte und einen Ausschnitt des Sternenhimmels verdeckte. Jeder Atemzug steigerte die Unruhe; es wurde schwerer, sie zu unterdrücken. Er wagte nicht, das Schwert aus der Scheide zu ziehen, denn sowohl das Geräusch als auch das Aufschimmern des Stahls konnten ihn verraten. Ein weiterer Gedanke: Kam ein Fremder an Land, was ihn das Leben kostete, dann müsste einer der drei Ninja am Strand eine Spur entdecken, einen Hinweis, wann er gekommen war, ob er schwer trug oder nicht. Matsudaira verschmolz mit dem Geäst und den Blättern einer Krüppelkiefer. Der Busch stand in einem Büschel wilden Grases und war die letzte mögliche Deckung. Nur das Rauschen der Brandung
unterbrach die Stille. Der Kundschafter rührte sich nicht. Sein Herzschlag dröhnte wie eine Trommel. Er musterte mit angespannter Konzentration jede Handbreit des gewachsten, lackierten, bemalten und geschnitzten Holzes. Schwach bewegten sich ausgefranste Seidenbänder. Es war, als würde das Holz von tief innen heraus glühen. Stets, wenn er genauer hinblickte, um die Wahrheit zu finden, verging dieser Eindruck wieder. Ein fremdes Geräusch! Der Fischer steuerte sein Boot durch die letzte Welle und sprang aus dem Heck. Als er über den Strand ging, durchquerte er das Mondlicht.
Er hielt inne, schob den rechten Arm in einer gewissen Bewegung seitlich schräg nach unten und spreizte drei, zwei und vier Finger. Matsudairas Flüstern war laut genug, um am Strand verstanden zu werden. »Hier bin ich, Toyotomi.« Er schob vor sich die Blätter zur Seite, trat aus dem Schatten und zog das Schwert, lief um die Holzsäule herum, zeigte sich im Licht und vollführte eine Reihe ebensolcher geheimer Fingerzeichen; die lautlose Sprache, in der die Ninja verkehrten. Jetzt nannte auch Toyotomi seinen Namen. Noch einmal blickte Matsudaira zum Tor. Der Raum dazwischen war leer. Er lief ohne Eile zum Strand und legte seinem Anführer kurz die Hand auf die Schulter. »Ich habe nichts und niemanden gesehen, keinen Fremden, kein Dämonenwerk«, wisperte er. »Ich auch nicht, im Boot. Kein Schiff, kein Floss. Und doch bin ich sicher, den Fremden und den Nebel hier gesehen zu haben.« Beide hielten die Schwerter in den Händen. Im Geflecht des Hutes steckten jeweils sieben Shuriken, die stählernen Wurfnadeln. Mit dünnen Fäden waren auf den Schultern die Wurfsterne befestigt, von denen mehrere vergiftete Spitzen aufwiesen. Binnen eines Atemzugs konnten sich die Männer in todbringende Wurfmaschinen verwandeln. »Auch Akizane ist nicht hier«, stellte Toyotomi leise fest. »Er wird kommen, sei gewiß.« »Ich bin gewiß. Sehen wir nach.« Sie näherten sich in weitem Abstand voneinander dem Fuß des Hügels. In Schlangenlinien stiegen sie aufwärts. Als sie sich den Säulen von den Seiten näherten, blieben sie stehen, als habe sie ein Schlag getroffen. »Hier bin ich, Freunde.« Akizane saß, das Schwert auf den Knien, zwischen den Holzbalken und schob den Hut aus der Stirn und in den Nacken. Er verbeugte sich tief. Jeder verbarg seine Überraschung. Sie gingen zur Seite und bildeten eine Gruppe. »Was nun, Chunin Toyotomi?« hauchte Matsudaira. Der Chunin hob die Schultern. Das Mondlicht war heran gekrochen; das volle Gestirn schob sich hinter dem Felsen hervor
und kletterte an den Säulen aufwärts. »Ich weiß es nicht. Das beste ist, wir warten.« Sie blieben zehn Schritt vom Göttertor stehen, vor den Bäumen und dem Buschwerk. Gleichmäßig kam und ging brausend und zischend die Brandung. Als das gesamte Tor im kalkigen Licht stand, ertönte vor ihnen ein nie gehörter Laut. Blitze züngelten, lautlos, aber blendend, zwischen den Säulen. Die Ninja handelten, wie sie es gelernt hatten. Blind, mit wirbelndem Feuer vor den Augen, sprangen sie in drei Richtungen. Ihre Körper überschlugen sich in der Luft. Einen Atemzug später befanden sie sich mehr als vierundzwanzig Schritt vom Tor entfernt. In der Rechten hielten sie die Schwerter, zwischen den Fingern der anderen Hand steckten
die Wurfnadeln. Ihre Augen – obwohl sie sie beim ersten Lichtschein geschlossen hatten – gewöhnten sich nur langsam an die veränderten Umstände der Helligkeit. Sie erkannten im dunkelgelben Licht, das von nirgend woher kam, den Samurai zwischen den Säulen. Es gab einen flachen, weißen Sockel, drei auf drei Schritt groß. Darauf lag ein runder Teppich; auf diesem Stoff, der ein unbekanntes Muster zeigte, saß mit untergeschlagenen Beinen der Samurai in der bedrohlichen Haltung des Iaido-Kämpfers. Die Ninja fürchteten sich nicht, aber sie wussten die Haltung richtig zu deuten. Versunken in tiefste Zen-Konzentration saß der Mann da, gekleidet in Halbrüstung und Kampfkleidung; völlig starr. Zu irgendeinem Zeitpunkt würde er aufspringen, das Schwert aus der Scheide reißen, es im Kreis über sich schwingen und schneller zuschlagen, als sie ihre Shuriken oder Shaken schleudern konnten. Der Tod war ihnen sicher. Aber dann geschah etwas Unglaubliches. Toyotomi würgte die Worte förmlich aus seiner heiseren Kehle. »Das… das ist der riesenhafte Samurai. Ich habe es gehört. Der Mann, der mit Yodoya Mootori kämpfte. Beide verschwanden mit einem Himmelswagen.« Die Stimme des Fremden, der endlich die Augen öffnete, war dunkler und klang anders, als jeder Japaner sprach. Aber seine Sprache war von seidenweicher und stählerner Klarheit, geschliffen wie das Katana, das Kampfschwert. »Ich bin der Riese, von dem du sprichst, Ninja. Dein Name?« »Toyotomi, Herr.« Noch ehe sie einen Schritt näher gekommen waren, sprang der Riese auf. Er bewegte sich unfassbar schnell. Er führte nacheinander drei Hiebe aus: den Kamitatewari, den Spalthieb von oben durch den Kopf, den Karigane, die Wildgans, den Schlag durch den Oberkörper, und das Doppelrad Ryo kuruma, den Hieb durch die Hüfte. Als er wieder saß und hinter sich langte, steckte das Schwert wieder in der Scheide, und die Scheide steckte richtig im Gürtel, neben dem Kurzschwert. Etwas klapperte, und der Fremde stellte vier Sakeschalen vor sich hin und einen Sakekrug.
»Es ist schon einige Zeit her«, erklärte der Fremde, ohne schwer zu atmen, »seit ich mit Samurai und auch Ninja trank. Yodoya schickte mich hierher, weil er wusste, dass er hier Männer findet, die nichts fürchten.« Zögernd kamen die Ninja heran. Als Sake in die Schalen lief und seinen herbsüßen Geruch verströmte, fuhr der Fremde fort: »Solltest du, Toyotomi, irgend etwas aus Stahl in meine Richtung schleudern wollen, so tu’s. Mittlerweile habe ich auch das gelernt.« Es war weniger Absicht als ein Reflex. Matsudaira schleuderte seinen Pfeil. Der Arm des Fremden wurde, da er sich zu schnell bewegte, unsichtbar, es klirrte, und die lange Nadel surrte durch die Dunkelheit davon. »Unbeherrschter
Angriff führt oft zum eigenen Tod«, meinte der Fremde. »Setzt euch zu mir, trinkt, und dann werde ich euch die Botschaft Yodoyas ausrichten.« Matsudaira spürte, wie die Scham ihm das Blut ins Gesicht trieb. Er fing zu schwitzen an. Gleichzeitig erkannte er wie seine Freunde, dass dieser Samurai einer der gewaltigsten Kämpfer sein musste, den die Insel kannte. »Kommt. Ich will euch nicht vergiften.« Er hob die Schale. Drei Schalen hatte er halb gefüllt. Es war Sitte, nie sich selbst einzuschenken. Toyotomi als der Erfahrenere nahm die Tonflasche und füllte die Schale des Fremden. Ehrfürchtig betrachteten sie, als sie sich auf den vorderen Rand der weichen Plattform kauerten, die kostbaren Teile der Kampfausrüstung. »Dank«, erklärte der Samurai. Wo sie saßen, galt die Nachtkälte nicht mehr. Die Haut fing zu prickeln an. Sie hoben die Schalen und tranken den ersten Schluck. »Ich bin, vielleicht erzählte es euch jemand, Ataya Arcohata, der Riese. Ich bin weiß geworden, mittlerweile, durch viele Kämpfe. So wie Yodoya, der mein Freund und Lehrmeister ist und jetzt das glücklichste aller Leben führt.« Sie nahmen den zweiten Schluck und lauschten der Stimme, die solch wichtige Worte sprach. Sie hörten zu und unterbrachen Ataya nicht ein einziges Mal. »Auf dieser Welt erscheint, wann immer er will, ein Dämon, der gewaltige Schuld auf sich geladen hat. Er hetzt grundlos Menschen gegeneinander und lebt davon, dass sie leiden und sterben. Grausame Kriege wurden geführt, weil er es so wollte. Er handelt ehrlos und verbrecherisch, weil er selbst nicht kämpft. Er ist einmal hier, einmal in einem anderen Teil der Welt, und nur ich kann ihm folgen – und vielleicht auch ihr. Wir müssen warten, ihn verfolgen und ihn töten. Dann gibt es Friede, in dem jeder, der seinen Lebenseid geschworen hat, leben und sterben kann, wie er es für richtig hält.« »Danke, Herr Ataya«, sagte Akizane, nahm die Schale entgegen und fuhr leise fort: »Ich bin Akizane. Heute Nacht sind wir nur drei.
Keine Bedeutung hat das Leben. Handeln bedeutet alles. Der ehrenvolle Tod ist das zuhöchst Erstrebenswerte.« Ataya Arcohata nickte und starrte sie aus hellen, graugrünen Augen an. Der Sake erwärmte Schlund, Magen und Gedanken. »So denkt ein Ronin. Aber es gibt unzählige Menschen, ohne die auch ein Samurai verhungern müsste, und wenn sich alle Samurai bekämpft haben, am Ende einer Zeit, dann ist die Welt leer. Denkt darüber nach und hört weiter zu.« Sie flüsterten gleichzeitig: »Wir hören, Herr Ataya.« »Yodoya Mootori, der Lehrer, lebt mit seiner Familie auf einer herrlichen Insel in einem warmen Teil des Meeres. Die Insel ist reich und fruchtbar. Er wartet mit mir und meinem Freund,
der schneller kämpft und stärker ist als ich, mit Hikyaco Sagitaya, auf dieser Insel.« Nach einer Weile und einem weiteren Schluck fragte Toyotomi, in heiserem Tonfall, der seine Fassungslosigkeit verriet: »Auf uns, Herr?« »Auf drei Ninja und sechs Samurai.« »Um diesen Halbdämon zu töten?« »Nach langer Vorbereitungszeit. Denkt in Ruhe darüber nach. Ich, Ataya, bin ein Herr, der seinen Männern so treu ist wie sie ihm. Ihr würdet ein gutes Leben führen. Die Insel ist eure Heimat. Dorthin könnt ihr Frauen mitnehmen und Diener. An anderen Stellen kämpfen wir. Ich zeige euch Landschaften und Reichtümer, Bilder, die ihr nie gesehen habt, und alle Gefahren, in denen wir kämpfen, sind tödlich wie Erdbeben.« Er fügte hinzu: »Ich kenne die Not, die über viele tapfere Männer im Land gekommen ist, seit Tsunayoshi, der Hunde-Shogun, das Töten von Lebewesen verbot und seine eigene Macht selbst bricht.« »Wie wahr«, sagte Akizane. Im »Jahr des Hundes« geboren, abergläubisch und kinderlos, bestrafte er Menschen, die Hunde schlecht behandelten, mit dem Tod. Alle Hunde wurden geschützt, herrenlose Hunde fing man schonend ein und pflegte sie. Die Qualität der Münzen hatte sich verschlechtert, da die Silberminen erschöpft waren. Sein Lebensstil konnte schwerlich noch aufwendiger gestaltet werden; jedermann wusste es, die Belastung für das Volk war kaum mehr zu ertragen. »Ich habe Vorschläge zu machen. Nur durch ein Vertrauen, das noch größer als bushi ist, kommen wir zusammen. Toyotomi kommt mit mir. Ich bringe ihn zum verehrungswürdigen Yodoya Mootori. Sie können über mich reden, und wenn du überzeugt bist, Chunin Toyotomi, dann kehrst du zurück und sprichst mit diesen deinen Freunden.« »Ich denke laut darüber nach«, antwortete der Ninja. »Wer laut nachdenkt, dem stiehlt man seine Gedanken«, war die Antwort. »Immer um Mitternacht, einen jeden siebten Tag, ist dieses Tor ein Weg zu Yodoya. Gehe geradeaus, von hier oder dort«, Ataya
deutete mit dem Daumen über die Schulter, »und du bist auf der Insel.« »Wie lange?« »Eine Stunde lang, ab Mitternacht. Diese Botschaft geht nur an euch.« Noch einmal goss der Samurai die Schalen voll. Der Chunin füllte die Schale von Ataya. Die Männer dachten nach. Toyotomi war sechsundzwanzig, und im Kampf handelten sie besser und schneller als jetzt, da es um ihr eigenes Weiterleben ging, um versprochene wunderbare Jahre und endlose Abenteuer, in denen sie beweisen konnten, was sie gelernt hatten. »Du hast von Samurai gesprochen?« fragte schließlich Matsudaira. Er vertraute Ataya, aber er hatte Sake getrunken. »Von sechs Samurai, die der ehrenwerte Yamazaki Ansai anführen soll. Ich denke, er wird schweigen, wenn
er angesprochen wird und meinen Namen hört. Wenn er aber entschlossen ist, hierher zureiten, dann könnt ihr ihn, reitet er zurück in sein Haus, fragen. Er wird die Wahrheit sprechen.« Toyotomi verbeugte sich, bis seine Stirn beinahe den Teppichrand berührte. »Für mich spreche ich«, flüsterte er heiser. »Nicht für meine Freunde.« Vor dem letzten Wort zögerte er kaum wahrnehmbar. »Ich werde um diese Stunde, in sieben Nächten, von heute, hier sein. Sage Yodoya, dass ich komme.« Er versenkte seine dunkelbraunen Augen in das Bild, das ihn aus der polierten Sakeschale anstarrte. »Dieser Entschluss hat nichts mehr mit mir zu tun, der als Chunin diese zwei Männer anführt. Er hat auch nichts mehr mit unserer Heimat zu tun. Ich entbinde euch von der Pflicht des Gehorsams.« »Du bist klug«, sagte Ataya. Seinem Ton war nicht zu entnehmen, ob er zufrieden war. »Dass du gut bist, sah ich, als ich auf euch wartete.« Nach einiger Zeit hatten sie verstanden, was er hatte ausdrücken wollen. Es dauerte hundert Atemzüge lang, bis Matsudaira erklärte: »Ich werde mit dir kommen, Toyotomi. Aber nicht mit Frauen und Gepäck.« »Um zu reden«, bestätigte der Samurai. »Denkt daran, dass ihr nicht nur euer Land verlaßt, sondern auch einen Teil der Regeln. Sie ändern sich, weil sich die Welt ändert. Eure Ehre wird nicht angetastet.« »Wir sind drei, in sieben Nächten«, murmelte nun auch Akizane. »Und du, Samurai, Kuge Ataya, bist unser Fürst?« Ataya nickte und entgegnete: »Oft wird auch Hikyaco Sagitaya sagen, was zu tun ist. In diesem Fall ist er mein Stellvertreter; mein Milchbruder war er einst, denn eine vollbrüstige Amme säugte uns beide, so, wie uns Yodoya vieles lehrte.« Der Samurai leerte seine Schale und stand auf. Er überragte sie um zwei Köpfe. Jetzt lachte er kurz, dann verbeugte er sich. Er deutete in die Richtung des Strandes. »Mein Kommen und Gehen und die Eigenschaft des Tores, das ein Tor zur Insel sein wird und wieder zurück, sind keine Wunder. Ihr
werdet lernen und begreifen. Tretet zurück, sonst seid ihr wieder geblendet.« Sie nahmen den letzten Schluck. Er bedeutete ihnen, die Schalen zu behalten, und schenkte ihnen den Krug. Verwirrt stellte Akizane fest, dass er voll war. Sie bewegten sich rückwärts. Noch einmal verbeugte sich der Samurai vor ihnen. Er drehte sich um, tat zwei Schritte und verschwand. Nach ihm verschwanden das Podium und der Teppich. Das Licht verringerte seine Kraft und erlosch. Das Holz des Tores knackte, dann stand es wieder im weißen Mondlicht da. Die Ninja sahen einander an, und gleichzeitig merkten sie, dass sie zitterten. Aber sie hatten ihr Wort gegeben. Lange Zeit später brach Toyotomi das Schweigen
und meinte: »Hinter den Felsen ist es windstill. Wir werden ein Feuer anzünden. Im Boot habe ich Essen und Decken. Es gibt viel zu reden.« Akizane streckte die Hand aus. Die Finger und die Sakeschale zitterten wie im Fieber. Auch die Flasche zitterte, als der Chunin eingoß. »Und viel zu schweigen, den anderen gegenüber«, flüsterte der Jüngere. Das Tor schien zu schwanken und stürzen zu wollen. Aber nur die Nachtwolken, die vor dem Mond vorbeizogen, schufen diesen Eindruck. Erst im ersten Morgenlicht schliefen die Ninja ein, und auch die folgenden Tage bewegten sie sich wie Schlafwandler. Der alte Samurai, braungebrannt, kerngesund und völlig kahl, wischte die Tränen aus den Augenwinkeln. Ciron und ich blickten taktvoll aufs Meer hinaus, dessen Wellen sich im ersten Fahlgrau des Morgens in eine Schicht bewegten Rauches verwandelten. Langsam löste Hikyaco, mein fast identisches Ebenbild, die Rüstung und fragte: »Ich denke, ich war einigermaßen überzeugend?« Yodoya erwiderte: »Hätte ich geahnt, dass du einen solchen Freund hast, Ataya… nein. Ich wüsste nicht, was ich gedacht und getan hätte.« Vor seinen Augen zog der Roboter, nachdem er die Teile meiner Rüstung völlig abgelegt und auf der Puppe drapiert hatte, die Folie mitsamt dem weißen Haar von seinem Kopf. Darunter kam Ciron zum Vorschein, so, wie der alte Freund ihn kennen gelernt hatte. »Der Grund ist«, erklärte ich zum zweiten Mal, »dass er schneller ist als ich. Der aufgefangene Pfeil beweist’s.« »Ich weiß, dass du es ernst meinst, Ataya.« Ich blickte in die braunen, listigen Augen des einzigen echten Samurai auf der Insel. Ein Netzwerk aus Falten und Fältchen umgab sie. »Tödlich ernst, Yodoya.« »Sonst würde ich bei eurem Spiel nicht mittun.« »Auch das weiß ich«, bekannte ich. »Und es gibt zwischen den Sternen keinen Grund, dich anzulügen.«
Diesmal nickte er voller Verständnis. Wir waren allein in dem niedrigen Haus, das mehr als nur ein Nachbau eines japanischen Wohnhauses war. Die Familie schlief einen Bogenschuss weit entfernt in einem Haus, das wiederum eine Mischung zwischen dem spitzgiebeligen, reich geschnitzten Stil der Inseln und starkem japanischem Einfluss darstellte. Verwirrend, aber logisch. Zwischen vielen Kerzen, Ölflammen, Lacktischen und Tatamis standen Weingläser und Teeschalen, Sakeschalen und benutztes Geschirr. Ich beugte mich hinüber und griff nach Yodoyas Unterarm. Er duldete – nur von mir – diese Zurschaustellung freundschaftlicher Gefühle. »Ich bin froh, dass es dich gibt, Yodo.« Unsere Beziehung, in Wirklichkeit nie recht unterbrochen in jenen tausend Jahren, war seltsam: Shin-shi und Kyo-dai und auch Ho-yu; Vater und Sohn, älterer und jüngerer Bruder und Freund
zu Freund. Wie es das siebzigste Gesetz des Tokugawa Jyeyasu befahl. Sie sollen unzertrennlich sein wie Wasser und Fisch. »Es war der schönste Tag in meinem langen, an Abenteuern arm gewordenen Leben, als du und dein Freund hier zwischen den fremden Bäumen auf mich zugekommen seid. Aber schon immer geschehen in deiner Nähe die wunderbaren Dinge. Ich weiß es inzwischen und erschrecke nicht mehr.« »Du hast die drei Ninja gesehen«, meinte ich und hob den Weinbecher. »Du wirst mit ihnen alles besprechen können?« Er senkte schweigend den Kopf. »Ich werde Yamazaki Ansai in Würde gegenübertreten.« Er hatte seine Rüstung behalten. Die Schwerter hatte er nie richtig aus der Hand gelegt. Alle Teile sahen sehr schäbig aus. Ich deutete darauf und versprach: »Ich nehme sie zu meinen Handwerkern mit. In drei oder vier Tagen sind sie prächtiger denn je.« »Zu viele Geschenke.« Ich lachte laut. Der erste rosenfarbene Streifen erschien im Osten. Die Schiebetüren waren weit geöffnet, die Terrasse sprang über geharktem Kies, wuchtigen Steinen und der Umrandung des ZenGartens zur Lagune hin weit vor. »Geschenke, bah. Schließlich musst du Yamazaki gegenüber eine Welt der großen Aufgaben präsentieren. Um mein Blech sorge ich mich selbst. Wir werden prächtiger sein als der Shogun. Wetten wir, dass Ansai wahrscheinlich im Sattel und mit der Fahne seines Geschlechts auf dem Rücken und am Helm hier über den Strand galoppiert?« »Gegen dich wette ich nicht mehr, Ataya.« Die zurückliegenden Tage hatten Yodo und ich damit verbracht, in der Lagune zu baden und zu fischen. Ich erzählte ihm alles über Nonfarmale, was ich wusste, mit den notwendigen Einschränkungen, die ihn sonst hoffnungslos verwirrt hätten. Er verstand, gegen welchen mächtigen Gegner wir angetreten waren, und er bestätigte, dass nur die Todesphilosophie eines Samurai, wenn überhaupt etwas, Nonfarmale besiegen konnte. »Wer durch das Tor des Todes geht, geht in das wahre Leben ein«, die erkannte völlige Bedeutungslosigkeit des Irdischen, dies zu erreichen, war
das Ziel. Dass der Kampf gegen Nonfarmale diese Kriterien erfüllte, stand außer Zweifel. »In sieben Nächten kommen die Ninja.« »Und sieben Nächte später kommen sie, denke ich, für immer.« »Gibt es für sie ein Zurück?« »Wenn sie es wünschen, selbstverständlich. Falls sie überleben.« »Aber sie bleiben auf der Insel?« »Nein.« Ich wehrte ab. »Sie werden eine Zeitlang bleiben und üben. Nicht lange. Es gibt bessere Plätze, an denen sie warten können. Mag sein, dass ihre Frauen Heimweh bekommen. Dann sollen sie zurückgehen. Ich werde für alles sorgen.« Du hast eine makabre Phantasie, kommentierte der Logiksektor meinen Gedankenblitz. Ich hatte mir vorgestellt,
wie sechs Samurai und drei Ninja, auf kräftigen Pferden, mit Donnerrohr und Sumibogen bewaffnet, zusammen mit uns und Prinz Eugen gegen die Türken anritten. Der Logiksektor hatte recht. Aber es gab auf diesem Planeten genügend Steppen und Ebenen, in denen selbst Nonfarmale oder meine Spionsonden ein Dutzend Männer, die nicht in diese Kultur passten, vergeblich suchen würden. Ich stand auf und fragte Hikyaco: »Haben wir etwas vergessen?« »Nichts Wesentliches, Ataya.« »Dann werde ich ein paar Stunden schlafen und anschließend mit Yodo einen dicken Fisch für das Mittagessen fangen. Das Kochen hast du nicht verlernt, Freund?« »Nein. Aber mir fehlen oft bestimmte Zutaten.« »Gib den Ninja etwas Silber, und sie schleppen es körbeweise herbei. Wasabi-Meerrettich oder Takuan, Ochazuke, Reis… was du brauchst.« »Danke für den Rat. Wo ist Silber?« »Hier.« Hikyaco zog runde und längliche Plättchen aus dem Gürtel. »Danke. Der Sake, den ihr mitgebracht habt, reicht für ein Jahr.« »Für ein glückliches Jahr ohne Tsunami«, schloss ich gähnend und ging in Kimono und Sandalen hinunter zum Strand, bewunderte die Dämmerung und streckte mich im Zelt aus. Inari, der Reisgott, lächelte an diesem Abend. Der Koch, der schwitzende Itamae, der vor dem Hackbrett stand, schwang sein Messer. Abalone gab es, mit Takuan und Wasabi. Zuerst hatten Yamazaki und sein Gast getrocknete Haifischflossen und solche vom Fisch Fugu geknabbert, mit Seetang-Fächern verziert, dann hoben sie die flachen Sakeschalen. Atsutane Kamo sagte nach einigem Zögern: »Schlimme Zeit, Yamazaki. Wie gut, dass wir uns noch gegenseitig ein wenig helfen können.« »Alles kein Ersatz für ein richtiges Leben«, brummte der Bogenschütze. »Ich sage dir etwas, Atsutane.« »Ja? Ein anderer Fürst? Eine Anzahl neuer Kämpfe?«
»Träume. Seltsame Dinge. Ich habe dich eingeladen, weil ich mit jemandem darüber sprechen muss. Schließlich haben wir zusammen gekämpft und gut gesiegt.« »Wahr. Und noch ein paar andere waren dabei.« »Ein Fisch nach dem anderen. Ich glaube nicht an Dämonen. Aber da sind Augen in der Dunkelheit, die mich beobachten. Ich spüre einen Drang, in den Sattel zu steigen und loszureiten. In eine Welt, in der die Sonne kocht und strahlt. In eine fremde Welt.« Seine Augen leuchteten. Atsutane beugte sich weit vor und ließ sich anstecken. Neue Speisen wurden serviert. Es war, trotz des kalten Regens, hier angenehm warm und trocken. Erinnerungen an wilde Ritte und vernichtende Kämpfe tauchten aus dem Dunst des Sake auf. »Hai!« rief Atsutane. »Was unternehmen wir?« »Ich weiß es nicht.« Sie verloren sich, als Sojakeime, Tofu und Sashimi gereicht wurden, in wilde Spekulationen über geheimnisvolle Erzählungen, die auf den
Inseln kursierten, über die fremden Weltenteile, von denen die Langnasen erzählt haben sollten, denen das Betreten der Inseln bei Todesstrafe verboten blieb. Riesenhafte Samurai-Reiter zwischen den Wolken, fremde Kämpfer in den Nächten, vielerlei Beobachtungen aus allen Teilen der Inseln. Vieles mochte Legende sein, einiges ließ sich nicht erklären. »Ein anderes Land, Yamazaki?« fragte Atsutane. »Es waren viele Träume. Auch am Tag richten sich meine Gedanken auf ein großes Tor, das in ein Land führt, in dem ein mächtiger Fürst uns aufgibt, sich für ihn zu opfern.« »Wo ist das Tor?« Schmale Streifen rohen Fisches auf gebräunten Reisbällchen, Garnelen und Seeigel wurden gebracht. Die Ess-Stäbchen tauchten in den Wakame-Tang. Die Samurai aßen und tranken, schließlich war vor ihren Augen eine Welt voller Seltsamkeiten, angefüllt mit vernichtenden Gefahren, durchdrungen von klaren Herrschaftsstrukturen, entstanden. Eine Welt, in der jeder Samurai in völligem Frieden mit sich selbst und dem Universum aus Menschen und Göttern die Fesseln des Seins ablegen konnte. Zwei Gäste wurden gemeldet, als die Eßschalen weggebracht waren. »Die Herren Mitsukuni Kona und Maruyama To.« »Herein mit ihnen. Alte Kampfgenossen.« Yamazaki senkte die Stimme. »Mitsukuni ist arm dran. Wahrscheinlich freut er sich, wenn ich ihn zum Essen zwinge.« Es war Schande, über Hunger zu klagen; es verdiente Lob, einen Freund zu beschenken. Nach einer längeren Begrüßung, in der Gemütsbewegungen mit der Erziehung und Erfahrung von mehr als zwei Jahrzehnten nicht gezeigt wurden, wurde ein zweites Mal Essen aufgetischt. Sake floss reichlich, und die Gesichter Mitsukunis und Maruyamas entspannten sich, in die Augen trat, als Yamazaki wieder von seinen Träumen berichtete, ein schwärmerisches Leuchten. »Erging an dich ein Ruf, Yamazaki?« fragte Mitsukuni begierig. »Nein. Aber, so seltsam es klingt, ich warte darauf.« »Wenn du dieses Land entdeckst – brauchst du Kampfgenossen?«
Keiner der vier war älter als dreiunddreißig Jahre. Sie hatten viele Kämpfe hinter sich, in denen sie jede Stunde ihrer Ausbildung und sämtliche Waffen gebraucht und siegreich angewendet hatten. »Woher, Freund, soll ich das heute wissen?« »Und wenn es so ist«, fragte Maruyama und roch genießerisch am warmen Reiswein, »würdest du dem Fürsten des fremden Landes über deine Freunde berichten?« »Hai«, sagte der Bogenschütze rauh. »Von wem sonst, Herr To?« Mit gemessenem Lächeln verbeugten sie sich voreinander. Zischen und Brodeln ertönten aus der Küche. In vorbildlicher Gemütsruhe, die Fächer schwenkend, sahen Kamo und Ansai zu, wie es den Freunden schmeckte. »Unruhe!« stieß Maruyama hervor und riss den Kopf in die Höhe.
Sein längliches Gesicht mit den schmalen Lippen war von zwei Narben und vielen scharfen Linien gezeichnet. »Niedergeschlagenheit. Gedanken an Harawo Kiri. Armut und Elend. Der Stahl der Schwerter rostet. Der Leim der Pfeile löst sich. Schlimme Zeit, Freunde. Mich beispielsweise hält vor dem kleinen Schwert nur noch eine solche Erzählung wie die von Freund Yamazaki zurück.« Vor ihrem inneren Auge erschienen Landschaften: von greller Sonne überstrahlt, voller schwarzer Schatten, Hügel aus kurzem Gras und rote Felsen zwischen fremden, nach Frische riechenden Bäumen. Seltsame Tiere sprangen darin herum; Wolken, weich wie Schnee, warfen dunkle Schatten über rote Erde. »Bevor wir unsere Freunde bitten, uns beim Seppukku beizustehen«, schlug der Bogenschütze ungerührt vor, »sollten wir ins Teehaus oder zum Blumenviertel gehen.« »Dort finden wir, mit einiger Sicherheit, auch Azumamaru Kada und Tawaraya Kan«, brummte Atsutane. Einige Atemzüge später – in Wirklichkeit eine halbe Stunde – hoben die Samurai ihre Köpfe und starrten einander betroffen und verstört an. »Du auch?« fragte Mitsukuni heiser. Maruyama nickte. »Wir alle!« bestätigte Yamazaki grinsend. Gleichzeitig hatten sie Bilder von erregender Schönheit gesehen. In prächtigen Sätteln auf feurigen Pferden, in breiter Reihe galoppierend, in voller Rüstung, das knatternde Mon-Wappen an der Sashimono-Stange im Rücken, dem mächtigsten Feind entgegen, den viele Welten je gesehen hatten. Yamazaki senkte den Fächer, klappte ihn zusammen und sah zu, wie auf seine Handbewegung hin Sake in die Schalen floss. »Gehen wir zum Blumenviertel«, schlug er vor. »Wo findet man gewöhnlich den Mann des Feuerrohrs?« »In der ›Jadeblüte‹, denn dort stehen Preis und Gebotenes in Harmonie«, gab Maruyama zurück. Eine seltsame Stimmung hatte von ihnen Besitz ergriffen. Es war nicht die Wirkung des Sake; davon vertrugen sie mühelos das Vierfache. Sie sahen in einer großen Wolke einen hellen Spalt, der sich nicht schloss, sondern vergrößerte. Sie legten ihre Kleidung an und liefen über schlammige Wege, vorbei an ruhig leuchtenden
Laternen nach Westen, hinaus zu den Gärten vor den Feldern. Nasse Füchse schnürten als glücksbringende Zeichen mit leuchtenden Augen über den Weg. Krähen schrien im Geäst. Zwischen den Kiefernzweigen schimmerten rote Lichter. Die wenigen Menschen, die noch um diese späte Zeit unterwegs waren wichen aus und verbeugten sich tief vor den vier Männern, die ihre Schwerter trugen und so zielstrebig waren, als zögen sie in einen Kampf. Der volle Mond schob sich hinter den Wolken hervor, der Wind orgelte über dem Meer, als die Samurai über die schmale Brücke stapften und auf die Gruppe der Häuser zuliefen,
hinter deren quadratischen Türfeldern Wärme, Helligkeit und Gelächter hervordrangen, vermischt mit Klängen der dreisaitigen Samisen und dem Kichern der Geishas.
5. Rico und seine beiden Artgenossen – ich nannte sie Boog und Lilith; er stattete sie in jedem weiteren Jahrzehnt mit anderen Namen aus – überwachten die Herstellung von drei Dutzend Robotmaschinen, deren Programmierung nur geringfügig von den Verhaltensmustern meiner schützenden und helfenden Robottiere abwich. Dieses Baumuster war eine fliegende Schutzeinrichtung, wendig und feuerstark, von Schutzfeldern und Deflektorfeldern beziehungsweise deren Projektoren starrend. Unsichtbar und hochgradig unangreifbar sollten sie mich begleiten, wenn ich zu gefahrvollen Missionen aufbrach. Mit leichtem Schaudern betrachtete ich das erste fertige Exemplar. Es glich einer alptraumhaften Kreuzung von Flugechse, Harpyie, Jagdfalke und Hornisse, trug ein dunkles Kleid aus Arkonstahl-Gefiederblättchen, dornenscharfe Greifkrallen, Facettenlinsen und verschiedene Strahlenprojektoren; zusammengeklappt passte es in einen Plastramwürfel von einer Elle Kantenlänge. »Durch die Herstellung dieser feuerstarken Kuscheltiere«, sagte Rico leichthin, »kann ich die Werkstätten unserer Schutzkuppel beschäftigen und gleichzeitig Boogs und Liliths Fähigkeiten testen. Ich werde jedes Mal, wenn du dich in wenig friedvolle Zonen des Planeten wagst, dir einige davon als Gepäck mit auf den Weg geben.« »Mögen deine Positronen weiterhin in verantwortungsvollen Bahnen schwirren«, antwortete ich nachdenklich. »Glaub mir, robotischer Meister vieler Masken: Ich weiß deine Vorsorge zu schätzen.« »Dein Lob ölt meine Gelenke.« Er deutete auf einen Monitor, auf dem sich zwei aeronautische Kampfmaschinen ein zerstörungsfreies Duell lieferten. Ab und zu stießen sie grauenvolle Schreie aus; unverwechselbare Signale, wenn sie unsichtbar über mir kreisten.
Eine mittelgroße, emsige Maschine arbeitete Tag und Nacht, hob aus der roten Erde eine viereckige Grube aus und verwandelte das Material – Steine, Erdreich, Pflanzenreste und weißgeglühte Knochen – in große Blöcke, die sie seitlich ausspie. In weitem Umkreis war das Land menschenleer; noch nie hatte sich in den Sand oder ins Gras je ein menschlicher Fuß eingedrückt. An anderen Stellen summten Maschinen über die Ebenen und die Hügel und schnitten den größten Teil der Vegetation, meist war es scharfhalmiges Gras, eine Handbreit über dem Boden ab. Große Haufen verrotteten in Gruben und verwandelten sich langsam in gutes Erdreich. An anderen Stellen wurden Bäume mit Desintegratornadelstrahlen gefällt und zu kantigen Balken, Brettern und Schindeln verarbeitet. Überall in der Nähe der Mächtigen Grube wuchsen Materialstapel in die Höhe. Vom Strand
her, der sieben Pfeilschüsse weit entfernt war, gruben andere Geräte eine zungenförmige Bucht. Der Aushub wurde dazu verwendet, Löcher und Gräben an anderer Stelle zu füllen. Innerhalb eines begrenzten, aber großzügigen Teils dieser Welt entstanden Geländeformen, die einer anderen Kultur entstammen mochten. Als die Grube tief genug war, schwebten Strahler heran und verwandelten den Boden in eine glatte Fläche, die wie geriffelter Auswurf eines Feuer speienden Berges aussah. Fundamente zeichneten sich ab. Auch in den Nächten summten und dröhnten Maschinen. Sie brauchten nur wenig Licht. Aus Blöcken wuchsen Mauern aus dem Loch. Eine Rampe führte hinaus aus einem Bauwerk, das eine große Halle zu werden versprach. Abseits dieser Baustelle entstand vom neuen Strand – das Meer reichte mittlerweile bis fast an diesen Ort – eine gekrümmte, oft verzweigte Straße. Zwischen dieser Anlage, die in gewisser Weise einem Baumstamm mit Ästen glich, und den Verzweigungen entstanden Hügel, Gräben, Röhren aus verglastem Gestein, eckige Plattformen und ähnliches; die uralten Bäume, in deren Geäst die schwebenden Maschinen mit heulenden Sägen und klappernden Scheren arbeiteten, blieben zwischen den Hügelchen stehen und unangetastet. Nur hin und wieder bewegte sich in Eile eine menschliche Gestalt zwischen den vielen Maschinen. Sie sprach nicht ein einziges Wort und schien dennoch alle Tätigkeiten zu leiten. Gespenstische Dinge geschahen. An sechs Dutzend Stellen zeigten sich Veränderungen in rasender Schnelligkeit. Versteckte Maschinen transportierten Wasser herbei. Ein Fesselfeld entnahm riesige kugelförmige Massen Flusswasser und transportierte sie in große Höhen. Seit zehn Jahren regnete es in diesem Gebiet wieder, drei Tage später bedeckte ein Teppich aus farbenfrohen Blumen und sattem Grün weite Teile des aufgewühlten, veränderten und begradigten Geländes. Vogelschwärme fielen ein und pickten nach Samen. Honigsauger und Bienen summten mit rasenden Flügeln. Auf den Hügeln entstanden aus den Bohlen fünfundzwanzig Häuser, Scheunen und Schuppen. Wie aus dem Nichts erschienen
lange Platten, die sich auf die Mauern der Baustelle legten und von kochender Hitze zu einer Schicht verbunden wurden. Wieder regnete es Erdreich und Gestein, bis an dieser Stelle ein wohlgerundeter Hügel die Anlage bedeckte. Während die Häuser im Rohbau gezimmert und gefügt wurden, zogen die Maschinen Gräben, schütteten Böschungen und Ufer auf und gruben nach einem genauen Plan tiefe Löcher. Abermals gingen künstliche Regenschauer über dem gesamten Gebiet nieder. Ein Bachlauf, der seit einem Jahrhundert kein Wasser mehr gesehen hatte, wurde in die Arbeiten einbezogen. Im Norden
hob sich scharf der Urwald ab, mit blauen Bergen und schwarzen Tälern. Auch auf dem großen Hügel wurden Gewächse gepflanzt. Die Vorderseite verschlossen die Maschinen mit hölzernen Toren, auf die Folie gespannt wurde. Binnen weniger Tage war das Gebäude nahezu unsichtbar und wirkte mit seiner Verkleidung, als habe es sich schon immer hier befunden. Niedrige Brandungswellen schlugen an einen Steg. Halbmondförmig breitete sich die unfertige Siedlung um die Bucht aus. Traktorstrahlen und Antigravfelder transportierten junge Bäume aus dem Nordwestteil des Geländes herbei und versenkten sie in die Löcher. Der Regen hatte die Halbwüste an vielen Stellen zu einer grünen Fläche werden lassen. Quellen, denen niemand ansehen konnte, daß sie das Ergebnis langer Rohrleitungen waren, rieselten zwischen riesigen Steinen, aus der näheren Umgebung herangeschleppt. Noch ein Dutzend solcher Regenfälle, und das Land ringsherum hatte sich völlig verwandelt. In die Nischen, die allerorten von der Vegetation gebildet wurden, nisteten sich seltsame Tiere ein. Die Bäume waren voller Vögel. Am Strand jagten Möwen. Eine Maschine nach der anderen verschwand von der Baustelle. Nur in der Ferne, wo von dem einzigen Fluss ein gewundener und verschlungener Kanal, schmal und mit Altwassern an beiden Ufern, aus dem Boden gefräst wurde, erhoben sich noch Wolken schwarzen und roten Erdreichs als Staub in die Höhe, vermischt mit den Samen der Pflanzen, die jahrzehntelange Trockenperioden überdauerten. Zwanzig Tage nachdem die letzte der großen Maschinen zu arbeiten aufhörte, zerlegt wurde und durch den leuchtenden Rahmen der Transmitterschenkel verschwand, lag die unfertige Siedlung, still und menschenleer, unter der heißen Sonne. Nur kichernde Vögel schwirrten umher. Ich sah zu, wie die Baugeräte in den Notsilo unter den Hügeln von Arcanjuiz zurückkamen. Die Zeit drängte. Ich war allerdings noch nicht zu blitzartigen Entscheidungen gezwungen.
»Wieder holen wir weit aus, um hart zuschlagen zu können«, sagte ich. »Aber der zu schlagende Gegner lässt auf sich warten.« »Er taucht auf, wenn wir es am wenigsten erwarten«, antwortete der Robot. »Solltest du nicht bei Yodoya sein?« »Es wäre an der Zeit«, gab ich zu. Die Samurai-Rüstungen befanden sich schon auf der Insel. Yodos Rüstung war repariert und erneuert, meine war prächtiger geworden, und für Hikyaco Sagitaya existierte eine dritte. Noch waren die Pferde nicht in das leere Dorf der Japaner gebracht worden. Dort fehlten allerdings noch viele andere Zutaten, Vorräte und Einrichtungen. Der Extrasinn erklärte: Dein Versuch ist viel versprechend. Es kann sein, daß die Hilfstruppen, die du mit Sorgfalt
ausgesucht hast, jahrelang warten. Diese Gefahr hatten wir deutlich gesehen. Der Turm im Alpenvorland war geräumt und versiegelt. Der Robot und ich genossen den Frühling in Beauvallon. Das heißt, ich genoss ihn, und Rico arbeitete mit den anderen Robots ununterbrochen an drei Projekten gleichzeitig. Wir kannten Strukturöffnungen von Nonfarmales jeweiliger Jenseitslandschaft. Aber noch waren wir nicht soweit, daß wir einen solchen Riss mit eigener Technik erzeugen konnten. Wir arbeiteten daran. Das Raumschiff war wieder zerlegt worden. Noch fehlte die Einrichtung der Schiffswerft im Larsaf-Niemandsland. Und da waren die Ninja, die Samurai, die Insel Yodoya Mootoris und die logistischen Probleme, wenn schätzungsweise zwei Dutzend Kämpfer und deren Helfer das Dörfchen bevölkerten. »Die Psychostrahler-Programme? Alles erledigt?« fragte ich. »Neun Testpersonen kennen die Bilder der neuen Landschaft. Ihre Hemmschwelle, durch ein Transmittertor zu gehen, ist nahezu beseitigt.« »Dann sollten wir wirklich diesem bogenschießenden Reiter entgegentreten.« »Übermorgen Nacht wäre, entsprechend zeitverschoben, der Zeitpunkt, um zu Yodoya zu springen.« Prinz Eugen schlug sich mit den Möglichkeiten der europäischen Politik herum. Er brauchte uns nicht, aber wir hörten, wie er oft von mir sprach. Während in der Kuppel unsere Maschinen Ausrüstungsgegenstände produzierten und die Saaten in Beauvallon sprossen, transportierte der Robot einen Teil Ausstattung in die leere, unterirdische Halle und einen anderen Teil zur Insel. Wir ließen dort ein Zelt aufbauen, eines der prächtigen aus der osmanischen Beute bei Zenta. Am frühen Abend waren wir auf der Insel. Ich dachte an die Haremsmädchen, deren Duft noch zwischen der Zeltleinwand und den Seidenvorhängen schwebte. Auf der bizarren Ebene verwandelten mehr als fünfzig helle Lichter die Südseeinsel und einen Teil des lagunennahen Strandes in einen Bereich geheimnisvoller Farben und Bewegungen. Das große Gegengerät war zwischen Palmen dergestalt aufgebaut, daß
Yamazaki auf uns zureiten musste. Dem Tor gegenüber erstreckte sich eine Plattform; Sitzkissen, Fackeln, die zahlreiche Familie Yodoyas im Festtagsschmuck saß links von uns. Wir warteten im Schmuck der zeremoniell wertvollen, aber durchaus gebrauchsfähigen Rüstungen. Das Bild glich nicht gerade einem Palast, aber es war überzeugend und voller Würde. »Er wagt es«, meinte Hikyaco, der falsche Samurai, und deutete auf den Bildschirm. »Du hattest recht. In vollem Prunk.« »Ich habe es nicht anders erwartet. Er darf sein Gesicht nicht verlieren«, meinte Yodoya. Die drei Ninja hatten ihn besucht, nächtelang mit ihm gesprochen und packten die Gegenstände ihres Besitzes
in Körbe und Flechtkisten. Von Yodoya hatte der Robot ihre nicht sonderlich lange Wunschliste bekommen, gespeichert und an die Kuppelgeräte weitergegeben. Wir warteten geduldig. Wenige Minuten nach Mitternacht sprang ein schmalschultriger Hengst mit weitem Satz durch den Transmitter, machte zwei Galoppsprünge und stieg mit wirbelnden Hufen in die Höhe. Herr Ansai hatte sich wie für einen Kampfeinsatz ausgerüstet. Hinter seinem Helm flatterte sein Banner. Wir standen auf, er zügelte sein Pferd. Mein photographisch genaues Gedächtnis produzierte klassisches Japanisch: »Willkommen, Herr Yamazaki Ansai«, sagte ich. »Ich bin Fürst Ataya Arcohata. Dein Pferd ist kräftig und wild, Rüstung und Waffen sind von beneidenswerter Güte. Und wenn wir auf zwei Drittel der höfischen Formalitäten verzichten, wird unsere Ehre nicht leiden.« Wir verbeugten uns mehrmals. Er schwang sich aus dem Sattel und kam breitbeinig näher. Ihn anzuziehen hatte zwei Mann eine halbe Stunde gekostet. Die Stimme des zweiunddreißigjährigen Bogenschützen war rauh, aber sie verriet keine Unsicherheit. »Fürst Ataya!« Wieder einige Verbeugungen von allen Seiten. Das Saburo-Helmvisier glich einer schnurrbärtigen Halbfratze. Der glockenförmige Helm, schwarz mit fünffach gegliedertem Nackenschutz, trug an der Stirnseite eine aufwärts gebogene Mondsichel und darin einen Vogelkopf. »Ich danke für den Empfang. Ich spreche mit der Stimme von fünf Samurai, den Tapfersten von vielen.« »Das weiß ich, Herr Ansai, denn deshalb bist du hier.« Er nahm umständlich den Helm ab und hängte ihn an den Sattelknauf. Er kniete vor uns im Sand, bis ich ihn aufhob. Andere zeremonielle Reden und Gesten schlossen sich an. Schließlich deutete ich auf meine Begleiter und nannte ihre Namen. »Bin ich in dem fremden Land, in das du mich gerufen hast, Fürst?« »Nicht ich habe dich gerufen. Es hat dich gedrängt, hierher zu kommen«, erklärte ich, als wir endlich saßen und er begriffen hatte, daß jeder von uns zwei Schwerter trug, wir also dem höchsten Adel
angehörten. »Diese Insel ist eine von drei Stufen. Dort drüben siehst du die Familie des Herrn Yodoya Mootori. Seine Gattin bringt uns Sake.« Für eine vollendete Teezeremonie besaß keiner genug Erfahrung. Wir legten die Schwerter ab, wobei jeder peinlich darauf achtete, nicht gegenseitig die Scheiden zu berühren, sie nicht im Gürtel umzudrehen, nicht mit den Spitzen auf den anderen zu deuten oder sie aus der Scheide zu ziehen – lauter tödliche Beleidigungen. Es dauerte endlos, bis Yamazaki fragte: »Du willst, daß ich den Treueschwur auf dich ablege, Fürst?« »Es ist dein freier Wille. Freier Wille von sechs tapferen Männern. Wenn du es tust, werde ich an deiner Seite
kämpfen, wenn auch mit anderen Waffen. Dir sind Länder voller Wunder und Gefahren versprochen worden. Es ist die Wahrheit.« »Wann beginnen die Kämpfe?« Ich werde diese Zen-Philosophie niemals begreifen! wisperte der Logiksektor verwirrt. Lauter lebende Selbstmörder. »Wenn der Gegner sich zeigt. Aber das ist nur zu verstehen, wenn wir wie Freunde im Teehaus lange miteinander reden. Es wird, denke ich, ein Kampf, in dem viele sterben.« »Auf gute Art?« »Auf die beste, wie du bald erfahren wirst.« »Wann muss ich zurück?« Er zeigte auf das Tor. Ich erwiderte: »Wann immer du willst. In einer Stunde, in zwei Tagen…« Wir tranken Sake. Die höfische Starrheit wich. Die Herren Sagitaya und Mootori mischten sich in das Gespräch. Worte flogen hin und her, dann die ersten rauhen Scherze. Schließlich legten wir Teile der Rüstung ab, obwohl sie nicht mehr als fünfundzwanzig Pfund wog. Wieder füllten sich die Schalen. Yodoya berichtete von unserer Zeit in Japan. Hikyaco sprach von dem Dorf, das auf sie wartete, von der Ausstattung und solcherlei praktischen Dingen. Ich schilderte Nonfarmale. Bei den Angehörigen einer Kriegerkaste, die ihr Schwert an lebenden Mitgliedern niedrigerer Kasten ausprobieren durften, brauchte es eine Menge Dialektik, sie von der Gefährlichkeit eines solchen Halbdämons zu überzeugen. Das war das Stichwort: Als er begriff, daß er nicht nur gegen einfache Menschen, sondern gegen einen Angehörigen der Dämonenwelt zu kämpfen hatte, sagte er aufgeregt: »Dafür wollen wir sterben. Ich leiste gern den Eid.« Der Fürst stellte Essen und Wohnung, Diener und Geld beziehungsweise Waffen oder Handwerker. Er war für den Samurai verantwortlich bis zu dessen Tod. Bevor es ernst wurde, erklärte ich ihm, daß für sechs Samurai und drei Ninja nicht die Bevölkerung eines Landstrichs arbeitete, sondern daß es in kleinerem, aber nicht bedeutungsloserem Rahmen zuging. Besondere Leckereien würden fehlen, dafür gab es anderes, ebenso Nahrhaftes, wenn nicht Besseres. An karge Mahlzeiten auf Kriegszügen gewöhnt, sagte er immer nur »Hai!« und glaubte uns.
Schließlich sprach Yodoya als der Älteste die Formel; wir beschworen sie mehrfach und unterzogen uns willig allen weiteren Zeremonien. Ich tauschte einige Tropfen Blut, und gegen Morgen ritt Yamazaki zurück. Fast jede Einzelheit war abgesprochen. »Jetzt werden die Ninja mit ihm einiges zu reden haben«, meinte Hikyaco. »Und ein Strom von Köchen, Kurtisanen und Kimonos ergießt sich in das leere Dorf.« Einen Monat hatte es gedauert, bis sich das Dorf mit Leben füllte. Handwerker, deren Erinnerung gelöscht wurde, beendeten die Häuser. Aus allen Teilen des Planeten kamen Vorräte an. In Käfigen wurden
Pferde herangeschafft. Ich war froh, daß wir beim Einladen nach dem Kauf nicht ertappt wurden. Ein Strom von Schalen und Töpfen, Gewürzen und Tatamis, Vasen und tausenderlei Kleinkram, Hunderte von Körben und Kisten, Waffen und Sätteln ergoss sich. Die Frauen und Mädchen hatten nicht gezögert, mitzukommen. Sie waren zu absolutem Gehorsam erzogen worden. Das Durcheinander von fünftausend Waren und ebenso vielen Fragen und Antworten lichtete sich erst, als jeder seinen Platz gefunden hatte – streng nach Alter und Tüchtigkeit gestaffelt – und wir Männer uns auf Yodos Insel versammelten, um zu baden, zu fischen, zu reden und zu trinken. Der Sake widerte mich schon an; ich blieb beim leichten Rose aus Beauvallon. Immer wieder verschwand einer von uns in der Kuppel und suchte Nonfarmale, arbeitete an Programmen und Geräten weiter und hoffte, daß er nicht gerade jetzt erscheinen würde. Die Pferde wurden verteilt und zugeritten. Für die Samurai und die Ninja bedeuteten sie wahre Wundertiere, weil sie größer, kräftiger, schneller und ausdauernder waren. Die Männer beschäftigten sich wochenlang mit ihrer Ausrüstung und den Tieren. Die Diener und Frauen erlebten die neue Umgebung. Was noch fehlte, holten wir nachts von ihren Heimatinseln. Dafür waren die Unsichtbaren die geeigneten Leute, die das, was sie stahlen, mit Silberplättchen »bezahlten«. Das Gerät, mit vielen Antennen und Linsen, mit dessen Hilfe wir die Strukturöffnungen in eine Art Parallelplaneten – oder waren es Teile von Wanderer? – schneiden konnten, sah seiner Fertigstellung entgegen. Die Schwierigkeit würde sein, von der Parallelwelt zurückzukommen. Lebend, wenn möglich. Wir merkten gar nicht recht, wie die Monate vergingen. Reiten und Scheinkämpfe, Jagden und Training mit den Nachbauten portugiesischer Musketen, deren Gewicht, Wirkungsweise, Magazine und Zielvorrichtungen von dem Robot und den Maschinen grundlegend verändert worden waren, Arbeiten in der Kuppel und wenige Tage der Erholung bei Yodoya oder in Beauvallon, Probeläufe des Strukturöffners, Warten auf Nonfarmale, Informationen der Spionsonden… Die kleine Truppe war motiviert,
hervorragend trainiert und wartete auf den Einsatz, wie immer er ablaufen würde. Wie lange noch? Jetzt war ich es, der das Erscheinen Nonfarmales herbeisehnte. Eine perverse Situation. Am dreizehnten August Anno Domini 1705 traf der erste Messimpuls in der Zentrale der Tiefseekuppel ein. Er kam von Cassano an der Adda in Oberitalien. Dort öffnete sich für Nonfarmale ein Zugang zu seiner Jenseitswelt. Unsere Antennen fingen den Dauerimpuls auf, analysierten ihn und stellten fest, daß er sich im Verhältnis zur Planetenoberfläche nicht
bewegte. Die Botschaft und die Daten wurden vom Robot augenblicklich an mich weitergeleitet. Ich übte mit den Ninja den richtigen Gebrauch der Deflektorfelder und mit den Samurai den Einsatz der körpereigenen Schutzfelder, als mich die Meldung erreichte. »Verstanden«, sagte ich in das Mikrophon des Armschutzes. Dann hob ich den Arm und rief: »Legt die Rüstungen an! Holt die Waffen! Unser Todfeind hat sich aus dem Versteck gewagt.« »Sattelt die Pferde!« schrie Yamazaki seinen Freunden zu. Ich rannte zu meinem Zelt und sah, daß der Transmitter von Hikyaco ferngesteuert aktiviert worden war. Minuten später erschien der Roboter. »Was geschieht dort in Italien?« fragte ich. »Prinz Eugen?« »Jawohl, Ataya. Marschall Vendome versucht, unseren Prinzen daran zu hindern, sich mit den Truppen des Herzogs von Savoyen zu vereinigen und die Stadt Turin zu befreien.« »Kämpfen sie schon?« »Nein. Es wird wohl noch einige Tage dauern. Nonfarmale trug, als er sichtbar wurde, eine Art Winterkleidung. In seiner Jenseitslandschaft ist es vermutlich kalt. Du kannst die Bilder auf den Schirmen sehen. Ich versuche, unsere Geräte richtig zu schalten.« »In Ordnung. Vielleicht haben wir diesmal mehr Glück.« Die Samurai waren in den Häusern verschwunden. Von den Ställen her drangen Hufschlag und Wiehern an unsere Ohren. Ich schnallte meine Waffe um, während ich die überspielten Aufnahmen betrachtete und mich zur Ruhe zwang. Wieder ritt Nonfarmale im Sattel eines Fabelwesens und hielt seine Armbrust. Das Tier sah wie eine riesenhafte Libelle aus, von schwarzem und gelbem Fell bedeckt, mit großen Facettenaugen und einem Stachelschwanz am Ende des skorpionähnlichen Körpers. Mit blitzenden Mandibeln und den Mundschlitzen wirkte es ebenso drohend wie sein in Schwarz und Silber gekleideter Reiter. »Du beobachtest Prinz Eugen und aktivierst nötigenfalls sein Schutzfeld?« erkundigte ich mich über das Funkgerät. »Selbstverständlich, Atlan.«
Der kurze Aufenthalt von Amiralis Thornerose hatte einwandfrei bewiesen, daß Nonfarmale die gleiche Atemluft brauchte wie wir. Befand er sich in einer Parallelwelt, würde die Stelle, an der er hinausgeflogen war, von unserer Strukturlücke oder besser: von dem transmitterähnlichen Tunnel weit entfernt sein; vermutlich so weit wie Norditalien von der Insel, auf der das Samuraidörfchen stand. Ich rannte zu den Ställen und sattelte mein Reittier. Ich überlegte, ob es sinnvoll war, das große Kuppel-Schutzfeld über unserer Siedlung zu aktivieren, aber das konnte der Robot besser entscheiden. Auf der Savannenfläche im Osten des Lagers, weit von der Raumschiffshalle entfernt, stand der Gleiter, in dem Hikyaco hantierte. Ich wandte mich an Yamazaki und erklärte: »Wir reiten;
ihr werdet mir zunächst folgen. Es wird ein Tor entstehen, das ähnlich wie eine Höhle aussieht. Durch dieses Tor betreten wir die Welt des Feindes. Er ist so groß wie ich, alles in allem sieht er mir sogar ähnlich.« »Hai.« Als ich in den Sattel kletterte, stiegen Ninja und Samurai auf ihre Pferde. Die Gesichter der neun waren ernst und entschlossen. Sie schienen schon jetzt damit zu rechnen, ehrenvoll zu kämpfen und zu sterben. »Er erwartet uns?« fragte Mitsukuni rauh. »Nein. Aber unbekannte Gefahren erwarten uns. Dessen bin ich sicher.« »Dann ist es gut, Fürst Ataya.« Ich senkte den Arm. Wir trabten an. In der Sonne glänzten die hellen Teile unserer Waffen. Schwarz ragten die Feuerrohre in die Luft. Der Robot sah uns kommen, winkte; dann entstand innerhalb roter Staubwirbel eine schlauchförmige Energieröhre, deren Umrisse und Durchmesser sich eine Weile lang veränderten. Schließlich verlor sich das Ende des Unsichtbaren, und die Mündung des konischen Gebildes öffnete sich vor uns. Ich drehte mich im Sattel, legte warnend den Finger vor die Lippen und gab die Zügel frei. Der Hengst galoppierte los, der Hufschlag trommelte dumpf, zuerst auf der Straße, dann über das Gras, schließlich in die Halbwüste hinein. Meine Stimmung schwankte zwischen Angriffslust, Erleichterung und Selbstzweifel. Ein Dutzend Tests hatten bewiesen, daß unsere Feldprojektoren leistungsfähig waren. Natürlich waren ein weiter und dritter Satz vorhanden. Möglicherweise konnte ich auch mit Rico in ständiger Funkverbindung bleiben. Unsichtbar folgten uns vierundzwanzig stählerne Falkenflugsaurier. Hintereinander galoppierten wir auf den schimmernden Ring des Feldes zu. Innerhalb der Röhre herrschte ungewisses Zwielicht. Ich duckte mich, obwohl der Durchmesser etwa doppelt so groß wie nötig war. Kühle Luft, frisch nach der Hitze des Nachmittags, schlug mir entgegen. Ein Windstoß wehte aus dem fremden Universum zu
uns heraus. Dann hatte ich den schimmernden Ring passiert, befand mich im Innern und galoppierte weiter. Ich sah nichts. Das Keuchen der Pferde und der Hufschlag bildeten hallende Echos. Der Lärm verstärkte sich, als Toyotomi, der junge Ninja, in die Röhre einritt. Schweigend folgten wir dem Energiepfad und warteten auf die ersten Blicke in eine fremde Welt. Etwa dreißig Sekunden vergingen. Dann schienen sich die Wände der Röhre, die größer und dünner geworden waren, aufzulösen. Ich richtete mich im Sattel auf und hörte deutlich den Hufschlag meines Schecken. Plötzlich sah ich die Landschaft. Himmel und Boden hatten dieselbe Farbe wie das Energiefeld; ein schmutziges Braunweiß. Ich blickte in einen Schneehimmel, in dem eine trübe gelbe Sonne hinter Hochnebel und
Wolken einen verwaschenen Lichtfleck bildete. Der Boden war mit Schnee bedeckt. Als ich mich umdrehte, sah ich die Männer, die fächerförmig auseinander ritten, nachdem sie die fremde Ebene betreten hatten. Ich zählte und ritt langsamer weiter. Akizane ritt heran und bewegte den Arm. »Eine solche Ebene habe ich noch nie gesehen. Nicht einmal in bösen Träumen. Wie ein Meer so glatt.« Er stützte seine Hand auf den großen Wasserbehälter am Sattel. Auf diesen plötzlichen Aufbruch hatten wir uns tagelang vorbereitet. »Du hast recht. Ich kenne auch keine solche Fläche.« Wir sahen uns schweigend um. Matsudaira stieg aus dem Sattel und rammte zwei Stangen tief in den Boden. Dass er sich auf schmutzig scheinendem Schnee bewegte, schien ihn nicht zu verblüffen. Dann vergrub er in einiger Entfernung zwei flache Dosen. Jemand konnte die Markierungen herausziehen; dann blieben uns noch immer die magnetischen Hinweise, Sender und Rauchzeichen. Als der Ninja auf dem Pferd saß, zog ich mein Fernrohr und suchte den Horizont ab. »Nichts. Nur schräg geradeaus«, ich gab das Glas an Yamazaki weiter, »scheint ein niedriger, bewachsener Hügel zu liegen. Einige Tagesritte entfernt, schätze ich.« Die Ebene war tatsächlich wie eine stille Meeresfläche, schien kein Ende zu haben. Nicht eine einzige Erhebung außer dem dunklen Fleck voraus unterbrach die trostlose Weite. Es war nicht sehr kalt; der Atem der Menschen und Pferde bildete weiße Dampffahnen. Aber es war kalt genug, daß der Schnee nicht schmolz. Der Bogenschütze gab das Glas an Atsutane weiter. In einer weit auseinander gezogenen Linie ritten wir nebeneinander weiter. Ich rief: »Das Ziel liegt dort. Schont eure Pferde. Es wird lange dauern, bis wir den Hügel erreichen.« »Hai.« Der Boden unter der fingerdicken Schneedecke war nicht stark gefroren. Ob wir hintereinander ritten oder nebeneinander, war völlig bedeutungslos. Ich hoffte, daß wir den Hügel, die einzige Deckungsmöglichkeit, eher erreichten, als Nonfarmale
zurückkehrte. Auf dieser Ebene würde man selbst einen Fuchs meilenweit sehen müssen. In schnellem Trab entfernten wir uns von den farbigen Markierungsstäben. »Dorthin müssen wir wieder zurück, wenn wir ihn besiegt haben«, Maruyama deutete mit dem Daumen über die Schulter. »Dort fängt der Tunnel an, der uns zu euren Kurtisanen und Frauen zurückbringt«, antwortete ich. »Denkt daran, was ich euch über Nonfarmale erzählt habe.« »Wir haben nichts vergessen«, bestätigte Toyotomi. Eine siebzig Fuß breite, farbige Linie vergleichsweise riesiger Eindringlinge näherte sich, im ungewissen Licht keine Schatten werfend, dem Hügel. Wir waren so gut angezogen, daß wir nicht froren. Überdies enthielten
die Satteltaschen nicht nur Konzentratnahrung, sondern auch gefaltete Isolieranzüge. Während Nonfarmale seinen Blutdurst stillte, überlegte ich, aus welchem Grund er sich diese öde Welt ausgesucht hatte. Oder war sie nur in dem Abschnitt so bretteben, den wir zufällig betreten hatten? Aus dem Lautsprecher kamen nur winselnde und gurgelnde Laute. Aufgeregt blinkte die Funktionsanzeige. Du hast es ahnen müssen, bestätigte der Logiksektor. Keine Funkverbindung. Mehr um mich zu beruhigen, rief ich: »Herr Hikyaco Sagitaya wird auf uns warten, und wenn es Jahre dauert. Er verlässt seinen Posten nicht.« »Sagitaya ist ein Mann wie ein Baum«, bekräftigte Azumamaru Kada. Ich grinste hinter dem schwarzen Kinnschutz und erwiderte: »Ich nenne ihn ›Bonsai‹, im Scherz.« Durch die lange Reihe ging ein kurzes, dröhnendes Gelächter. Unsere Augen suchten den Himmel ab, die scheinbar unendliche Fläche, aber außer der schwarzen Kugelkalotte gab es nichts, an dem sich der Blick festhaken konnte. Stunde um Stunde verging, während wir möglichst kräfteschonend weitertrabten und hin und wieder den Pferden eine Pause gönnten. Die zweite Hälfte des Tages brach an, denn die Sonne hatte ihren höchsten Stand verlassen und sank. Irgendwo rechts von dem Hügel, der nur unwesentlich größer geworden war, würde sie unter den Horizont sinken. Vier Stunden später, als ich mit einer neuen Schilderung fertig war, zeigten sich im Glas die Einzelheiten deutlicher; doch ein Raumschiff suchte ich vergebens. »Der Hügel ist bewachsen. Viele große Bäume«, stellte Tawaraya Kan zufrieden fest. »Blätter, denke ich.« »Bedeutet für uns Deckung, Fressen für die Pferde«, rief Atsutane Kamo. »Und vielleicht Früchte, Wild, ein Lagerfeuer«, knurrte der Ninja Akizane. Jeder Samurai beherrschte eine Waffe besonders gut. Aber auch an jeder anderen Waffe war er geübt. Ich hatte mit ihnen trainiert und wußte, daß jeder eine Kampfmaschine war und ein Meister des Tötens. »Trotzdem wird sich ein Nachtlager im Schnee nicht vermeiden lassen«, meinte Maruyama To später.
»Es sei denn, wir bleiben im Sattel und reiten auch im Dunkeln«, rief Matsudaira. »In dieser Ebene können die Pferde nicht einmal stolpern.« Ich hatte noch dreimal, auf verschiedenen Wellenbereichen, mit dem Robot Kontakt aufzunehmen versucht. Vergeblich. Diese Hoffnung musste ich vergessen. Wir ritten, bis das Licht hinter dem Schneehimmel zu unserer Rechten am Horizont versank. Die fahle Dämmerung dauerte ungewohnt lange. Schließlich mussten wir einsehen, daß es sinnlos war; wir verloren das Ziel aus den Augen; wir konnten nicht riskieren, in Schlangenlinien oder im Kreis zu reiten. Wir saßen ab, ließen die Pferde aus einem Helm Wasser saufen, fütterten
sie mit einigen Handvoll Hafer und hockten uns im Kreis auf unsere Deckenbündel. Wir setzten einen Kocher in Gang, bereiteten eine dicke Suppe und löffelten sie aus handgroßen Schalen. Bald roch es wieder nach Sake. Vor dem Kampf gehörte Sake zum Ritual, hatte ich gelernt. Wir dösten und schliefen im Sitzen. Die Pferde standen geduldig da und scharten sich um das rotglühende Feuer des Kochers. Erstaunlich schnell für uns ging die Nacht vorbei. Die letzten zweitausend Schritte ritten wir in scharfem Galopp. Die Tiere schienen Quellwasser und frisches Futter zu wittern und waren von selbst in schnellere Gangart verfallen. Dann erreichten wir den Rand des Waldes. Sämtliche Ranken, Gräser, Büsche und Bäume wiesen Formen und fahle Farben auf, die fremdartig wirkten, obwohl der Unterschied zu den Gewächsen unserer Welt wahrscheinlich gering war. »Seid sehr vorsichtig«, warnte ich und zog das Desintegratormesser aus der Stiefeltasche. »Der Wald kann voller Fallen sein.« Ich sprang aus dem Sattel, hielt den Zügel fest und streckte die Hand aus. Das Desintegratormesser schnitt eine sieben Fuß breite Schneise ins Unterholz. Dicht über dem Boden kappte ich alle Gewächse. Sie waren ineinander verfilzt. Die Männer räumten die Reste weg und schichteten sie so auf, daß es aussah, als wäre hier niemand eingedrungen. Im Näher kommen hatte sich der scheinbar niedrige Hügel als ausgedehnter Wald gezeigt, offensichtlich kreisförmig gewachsen, der einen Berg von etwa fünfhundert Ellen Höhe bedeckte. Es gab innerhalb unseres Sichtfelds keinen zweiten Berg dieser Art. Nur eine endlos scheinende Ebene. Die Schneedecke war dünner geworden; die Kälte hatte abgenommen während der letzten Stunden. »Was tun?« fragte Matsudaira. »Wir gehen und suchen den Mittelpunkt.« »Einen anderen Rat kann ich auch nicht geben«, antwortete ich. Nacheinander, mit äußerster Vorsicht, drangen wir ins Gebüsch und zwischen die Stämme ein. Sie waren glatt wie Marmor und glänzten in dunklen Farben. Die Ninja gaben die Zügel der Tiere ihren Kameraden, zogen die Schwerter und waren nach drei Schritten
verschwunden. Wir hörten nicht einmal ihre Schritte. Im Bereich des Waldes, aus dem keinerlei Geräusch oder Tierstimmen zu hören waren, sah der Boden der fremden Welt ganz anders aus: riesige Steine, modernde Pflanzen, gelbe Pilze und verdorrte Blüten, knorrige Wurzeln, Risse und Gräben – eine unnatürliche Umgebung zeigte sich im Halbdämmer unter den belaubten Kronen und den fast handlangen Nadelbüschen über uns. Einen Pfeilschuß weit, an einer Stelle, an der eine winzige Quelle zutage trat, schlugen wir unser Lager auf, sattelten die Pferde ab und stellten fest, wie eine Gerade verlief,
die uns zum Mittelpunkt führen sollte. Wenn der Hügel und der Wald einen Kreis bildeten, hatte er einen Durchmesser von etwa drei Meilen. Mit Desintegratormessern und wenigen Schwerthieben kappten wir Zweige und breiteten Decken aus. Wir tranken kalten Tee und frisches Wasser. »Ich halte die erste Wache«, sagte der Bogenschütze. »Wir schlafen zwei Stunden. Dann sind die Ninja wieder zurück.« Ich gähnte. »Gut. Wir haben es nötig. Bleibt wachsam, Freunde«, brummte ich und streckte mich auf der Unterlage aus trockenem Laub und Nadeln aus. Ich war fast augenblicklich eingeschlafen. Drei Stunden später rüttelte mich Akizane an der Schulter. Es herrschte pechschwarze Nacht. Nur zwei Öllampen hingen an den Ästen und ließen Umrisse erkennen. »Fürst! Es ist erstaunlich. Ein Loch, riesengroß, hinter den Bäumen.« »Ja, weiter…« »An der höchsten Stelle des Waldes dehnt sich ein kreisrundes Loch aus. Vom Rand aus haben wir Türen und Fenster gesehen. Ganz tief unten ist Wasser. Bäume stehen dort. An der untersten Stelle ist der Durchmesser kleiner.« »Wie tief?« »Dreimal so tief wie die hohen Bäume am Rand. Keine Lichter, auch keine Krieger.« Ich überlegte, dann sagte ich langsam: »Wahrscheinlich haben wir die Behausung Nonfarmales gefunden. Wir schlafen bis kurz vor Sonnenaufgang.« Die Ninja rollten sich in ihre Decken. Keiner hatte sie hören können, sagten die Samurai am nächsten Morgen. Die Wahrscheinlichkeit, daß wir das Hauptquartier Nonfarmales gefunden hatten, war groß. Aber es konnte auch nur eines seiner Verstecke sein. Zwischen Wachen und Schläfrigkeit versuchte ich unser Vorgehen durchzudenken. Eines war sicher: Wir griffen an, sobald es möglich war. Über der Frage, wie lange der Marsch zum Rand dieses Bauwerks dauerte – es erinnerte mich in der
Schilderung an arkonidische Trichterhäuser –, schlief ich wieder ein. Teegeruch weckte mich. Zwei Stunden nach Sonnenaufgang erreichten wir die höchste Stelle des Hügels. Als wir zwischen den Bäumen an den Rand des Kraters heraustraten, sahen wir, daß sich das Aussehen des Himmels verändert hatte. Hellgraue Wolken trieben dahin. Sonnenlicht überschüttete den jenseitigen Waldrand. Das Grün schien zu leuchten. »Und es ist auch wärmer geworden«, murmelte Azumamaru. »Und heller.« Ich entdeckte weder Projektoren für ein Schutzfeld noch Anzeichen dafür, daß dieses Bauwerk gesichert war, auch keinen Hinweis auf einen Raumschiffslandeplatz. Ein negativer Turm erstreckte sich in die Tiefe, voller Terrassen, Pfeiler, Treppen und Rampen. Ich sagte zu Yamazaki: »Schieß zur Probe ein paar Pfeile in verschiedene Richtungen.« Er stellte sich auf den breiten Rand, auf dem nur Moosbüschel wucherten. Dann zog er den ersten Pfeil aus dem Köcher, spannte
den großen Bogen und jagte in rasender Folge fünf Pfeile weit in die Räume zwischen den Säulen hinein. Zweimal hörten wir aus der halben Tiefe das Klirren berstender Gegenstände. »Seile.« Die Ninja rissen die Hemden auf und wickelten die Knotenseile von ihren Oberkörpern. Schlingen legten sich um die nächsten Baumstämme. Ich hatte die schwere Waffe gezogen und wartete lauschend. Nichts rührte sich. Matsudaira blickte mich an, ich nickte. Die Ninja kletterten blitzschnell bis zum Ende des Seiles, stießen sich ab und schwangen nach außen, dann sprangen sie lautlos etwa dreißig, fünfunddreißig Ellen tiefer auf die Terrassen. »Leer!« kam es von unten. Wir folgten langsamer. Die Ninja sicherten nach den Seiten, als wir nacheinander, die schweren Waffen auf den Rücken, hinunterturnten. Offensichtlich war der Bau tatsächlich ohne Bewohner. Achte auf deine Schritte, sagte der Logiksektor. Wahrscheinlich ist Nonfarmale im Anflug. »Wir versuchen, nach unten zu kommen. Dort sind Maschinen, die sein Haus mit Wasser und Wärme versorgen«, erklärte ich. Auf der Terrasse rannten wir auseinander, bis wir etwa einen Drittelkreis der Anlage ausfüllten. Sie war mit einiger Meisterschaft aus den Felsen herausgemeißelt worden; die Oberflächen glänzten in auffälligen Strukturen und Maserungen. Ich gab ein Signal, indem ich mit einem Schuß der Hochenergiewaffe eine Scheibe zerfetzte und in den Raum eindrang. An mehreren Stellen dröhnten die Feuerrohre der Samurai auf. Echos rollten donnernd durch den Innenraum. »Nach unten!« »Hai.« Wir versuchten, Treppen und Rampen zu finden, und stolperten von einem Stockwerk zum nächsttieferen. Wenn ich Gegenstände sah, die etwas mit Technik zu tun hatten, feuerte ich hinein und hatte eine grimmige Freude, wenn sie in tausend Trümmer barsten. Plastiken an den Wänden, Einrichtungsgegenstände aller Art, Stoffe und Teppiche – überall zuckten Feuerstöße, fingen Gegenstände zu brennen und zu qualmen an. Aus dicken Kabeln schlugen knatternde Funken. Zehn Angreifer verloren sich im großen
Bauwerk, aber sowohl von ganz unten als auch von der gegenüberliegenden Seite verrieten krachende Geräusche, daß sich die Japaner austobten. Aus Fensteröffnungen schlugen Flammen, Rauch stieg in die Höhe. Ein furchtbares Kreischen mischte sich in den Zerstörungslärm. Ich rannte quer durch einen Raum und vernichtete die Geräte mit großen Bildschirmen. Es hagelte Scherben einer glasähnlichen Masse. Auf der gegenüberliegenden Terrasse, fast ganz oben, brannte es. Ein wild flatterndes Etwas mit einem Schlangenkopf hatte Toyotomi mit Adlerkrallen gepackt und schob ihn, halb fliegend und halb hüpfend, über den Stein und an das Geländer. Der Ninja
schlug mit dem Schwert silberne Halbkreise, als er hochgerissen wurde. Die Flügel, von denen die Federn davon schwirrten, schlugen einen rasenden Wirbel und rissen beide, das Tier und den Ninja, schräg in die Höhe. Mit einem weiteren Schlag trennte Toyotomi einen Fuß des Wesens ab, dann zuckte das rasiermesserscharfe Schwert in die andere Richtung und traf den Kopf hinter dem Auge. Der Kopf hing nur noch an einem Knochenstück, als die Bewegungen des Riesenvogels aufhörten und beide in einem Federregen senkrecht fielen und auf die steinerne Umfassung eines Brunnens krachten. Toyotomi rührte sich nicht mehr, als der Vogel mit den Flügeln zuckte und verendete. Ich senkte den Kopf; war es für den Ninja ein ehrenvoller Tod gewesen? Als ich meinen Blick hob, erkannte ich neben mir Akizane, der ein gefasstes Lächeln zur Schau stellte. »Starb er, wie er es sich wünschte?« fragte ich gepresst. Weiterhin dröhnte aus den unteren Geschossen der Lärm. »Er starb glücklich«, versicherte Akizane. »Ein guter Tod. Aber wo kam dieses Vieh her?« »Vielleicht haben wir einen Käfig geöffnet.« Wir nickten einander zu und rannten weiter. Ich ertappte mich dabei, wie ich nach oben blickte. Ich erwartete tatsächlich Nonfarmale auf seiner Hornissenlibelle. Die Flammen und der dicke Qualm waren an einer Hälfte des konkaven Innenraums wie ein wegwehender, halbrunder Vorhang. Es stank mörderisch; Hitze zog den Rauch gurgelnd ins Freie. Zwischen den Bäumen musste jetzt eine mächtige Rauchsäule hochsteigen. »Weiter.« Überall rannten Männer, feuerten und kamen immer tiefer hinunter. Die Räume hinter den Fenstern reichten nicht sonderlich tief in den Fels hinein, jeweils nicht mehr als siebzig Schritt. Ich hakte einige Sprengkörper vom Schultergürtel, stellte die Zeitzünder ein und schob sie unter die kantigen Blöcke von Geräten, die sicherlich der Energieerzeugung dienten oder ähnlichen wichtigen Zwecken.
»Mitsukuni«, schrie ich, als der Samurai mit waagrecht gehaltenem Fernrohr in die Halle stürzte. »Wieder hinauf. Auf einem anderen Weg. Sag es den anderen.« »Hai. Wir zerstören es gründlich, wie?« »Hai! Sehr gründlich. Nonfarmale wird toben, wenn er kommt.« »Ich hoffe, daß er uns nicht überrascht.« Wir erspähten eine andere Rampe und rannten aufwärts, liefen auseinander und in einen Teil des negativen Turmes, der noch nicht brannte. Einige Atemzüge später ertönte irgendwo hinter uns wimmerndes Kläffen. Ich sah nichts und Scob feuernd weiter. Als ich wieder auf eine der Terrassen hinauslief und das Brüllen der Flammen hörte, entdeckte ich Atsutane Kamo, der mit dem Feuerrohr am besten umzugehen wusste. Er lehnte, das lange Kampfschwert gesenkt, das kürzere in der Linken,
an einem Pfeiler. Mindestens hundert Bestien, eine schauerliche Kreuzung aus Kaimanen und Hunden bedeckten in einem Halbkreis den blutüberströmten Boden. Sie waren von Schwerthieben enthauptet, gespalten. Das Feuerrohr lehnte, im unteren Drittel geschmolzen, an einer Säule. Atsutane war tot; er hatte vergessen oder absichtlich versäumt, sein Schutzfeld einzuschalten. Ich stieg über die zerstückelten Körper und nahm ihm Schwert und das Gerät ab. Er war von furchtbaren Bissen förmlich zerfetzt. Aber sein Gesicht trug ein stolzes, kaltes Lächeln. »Zwei Männer tot«, flüsterte ich. Schweiß rann über meinen Körper. Die Flammen brausten und knatterten. Wir waren gründlich gewesen, und noch stellte sich uns niemand entgegen. Azumamaru und Akizane rannten eine Treppe hoch und zerhieben mit spielerisch scheinenden Schlägen wertvolle Sitzmöbel, gläserne Tische, Bildschirme und andere Geräte. Matsudaira kam mir entgegen und brüllte: »Ich fand einen Ausgang in den Wald. Kommt.« Wir folgten ihm. Ich sah schattenhaft andere Samurai, rußgeschwärzt, mit heiteren Gesichtern. Sie schienen keine Erschöpfung zu spüren und kamen auf mich zu. »Toyotomi und Atsutane hatten gute Tode«, sagte ich. »Aber wir wollen noch eine Weile leben. Gut gemacht, Freunde.« Eine schmale Treppe führte durch verwüstete Räume und endete in einer Schleuse, deren Tore offen standen. Nacheinander kletterten wir über Stahlbügel ins Freie. Ich zählte. Wir waren acht Krieger. »Und jetzt, Fürst?« fragte der Bogenschütze. »Solange wir im Schutz des Waldes sind, haben wir Deckung. Reiten wir zurück, kann uns Nonfarmale sehen. Ich erwarte ihn jeden Augenblick zurück. Vielleicht ist er schon da.« Ich hatte ihnen während des Rittes von seinem seltsamen Flugwesen erzählt. Im Wald schien ein Sturm zu wüten. Der aufsteigende heiße Rauch sog von allen Seiten Luft an, die durch die Stämme orgelte. Es stank, als wir abwärts stolperten. Wir liefen nach rechts und fanden den Pfad, den wir selbst gebahnt hatten. »Zurück? Der Kampf hat noch nicht einmal angefangen«, schrie Maruyama. Die Samurai waren wie im Rausch, sie hatten sich
während der Zerstörung ausgetobt und suchten jetzt den wirklichen Gegner. »Erst einmal zu den Pferden. Wir haben zwei Tagesritte bis zum Tunnel. In dieser Zeit kann uns Nonfarmale ein paar Mal umbringen – und wir ihn«, antwortete ich. »Etwas Sake!« »Etwas Essen.« »Einen guten Feind.« »Hai«, sagte ich. »Vermutlich haben wir noch mehr als das, in wenigen Atemzügen.« Wir kamen an die Quelle, tranken, reinigten uns mit nassen Tüchern und kontrollierten die Waffen. Ich ging vorsichtig durch die Schneise und schob die Büsche zur Seite. Als ich die Ebene sehen
konnte, zuckte ich zusammen. Der Logiksektor versuchte eine Erklärung: Wechsel der Jahreszeiten, Arkonide. Der Schnee war völlig verschwunden. So weit ich sehen konnte, spross aus dem Boden junges, frisches Grün. An einigen Stellen schien es dichter zu sein als in der weiten Ebene. Die Sonne stand hoch im Mittag und brannte von einem wolkenlosen Himmel; ein Stern, der in dunklerem Gelb strahlte als Larsafs Stern. Kopfschüttelnd ging ich zurück zu den essenden Samurai und berichtete, was ich gesehen hatte. »Hast du Nonne-Falle-Mahle gesehen?« fragte Azumamaru erregt. »Nein.« »Dann warten wir, bis er kommt und sein zerstörtes Haus sieht. Dann wird er Lust zum Kampf haben«, meinte Matsudaira hoffnungsfroh. »Hier sind wir halbwegs sicher«, sagte ich. Wir aßen und tranken. Eine Hälfte der Truppe schlief, die anderen striegelten die Pferde. Der Brand wütete weit hinter und über unserem Lager; aus der Luft rieselten große Ascheflocken. Als ich aufwachte und mich an der Quelle erfrischte, kam Matsudaira, der Ninja, in unseren Kreis und hob die Hand. Sofort hörte die leise Unterhaltung auf. »Es sind wieder Wolken. Wahrscheinlich kommt ein Gewitter«, sagte er halblaut. »Die Vögel fliegen, große und kleine.« »Sehen wir nach.« Wir blieben im Schatten der Bäume und schauten unter den Kronen aufwärts. Ich entdeckte, daß auch die Büsche und Bäume winzige hellgrüne Triebe zeigten. Ein kräftiger Wind war aufgekommen, und der hellblaue Himmel hatte sich mit Wolken gefüllt. An der Stelle des Sonnenuntergangs hob sich ein Wolkenturm, dunkelgrau, mit schwefligen Rändern. Zwischen den Wolken kreisten Wesen, die Vögeln glichen. Ich schaute lange durch das Fernrohr, dann gab ich es weiter. »Sie kommen aus einer anderen Gegend der Welt«, sagte ich. »Hier im Wald wohnen sie nicht.« Die meisten bildeten kleine Schwärme, nicht viel zahlreicher als drei Dutzend. Die anderen Wesen waren so groß, daß sie Nonfarmale als Reittier hätten dienen können; allesamt
Ausgeburten einer überreizten Phantasie. Glücklicherweise waren die Schauerlichkeiten noch nicht deutlich zu erkennen. Uns hatten sie bisher nicht als Jagdbeute ausgemacht. »Wenn wir zum Tunnel reiten, überfallen sie uns«, stellte Mitsukuni trocken fest. »Nicht, wenn wir nachts reiten«, brummte ich. »Noch drei Stunden bis zum Sonnenuntergang.« »Wir warten auf den großen Töter«, entschied Yamazaki. Akizane hielt Wache. Ich gab ihm das Fernrohr und schärfte den Männern ein, daß nur das Schutzfeld beziehungsweise die wirkliche Unsichtbarkeit ihr Leben schützen konnte. Dann warteten wir wieder. Das Gewitter kam näher, Blitze zuckten, der Donner grummelte in der Ferne. Wir ruhten aus und reinigten die Rüstungen vom Ruß. Die Rauchsäule
zeigte sich nur noch als dünne graue Spirale, die der Wind verwehte. In dieser Nacht sahen und hörten wir nichts von Nonfarmale, nur ein höllisches Gewitter mit warmen Regengüssen zog über uns hinweg und ließ von den Enden der Blätter schwere Tropfen in unsere Gesichter fallen. Ich ertappte mich, wie ich auf den Lärm eines Raumschiffsmotors lauschte – nichts! Yamazaki hatte die Morgendämmerung Wache gehalten. Er stapfte breitbeinig ins Lager und sagte kehlig: »Der Töter reitet durch die Luft. Jetzt kämpfen wir.« Augenblicklich verwandelte sich der Lagerplatz in ein wohlgeordnetes Durcheinander. Pferde wurden gesattelt und angeschirrt. Die Samurai erleichterten sich hinter den Büschen. Tee wurde gereicht, Sake floss in Schalen. Ausrüstung und Satteltaschen, Waffen und Helme – binnen weniger Minuten befand sich alles und jeder an seinem Platz. Nur ich nicht. Ich stand vor dem Waldrand und starrte Nonfarmale durch die Linsen an. Er kam von seinem Beutezug zurück und steuerte zwischen den Heeren der fliegenden Alptraumwesen auf seinen Horst zu; mich erfüllte wilde Freude. Wir hatten wirklich seinen Schlupfwinkel zerstört. Er umkreiste in großer Höhe den Hügel und die Ebene, auf der das Gras eine Handbreit hoch stand. Eben hatte sich der untere Rand der Sonne von der Linie des Horizonts gelöst. Nonfarmale glitt tiefer und schien nicht glauben zu können, was er sah. Zweimal überflog er den Wald, dann sah ich ihn nicht mehr. Ich rannte zurück, fand meinen Hengst gesattelt und stieß hervor: »Er wird wohl anfangen, uns zu suchen. Wir haben nur mit den Feuerrohren, vielleicht mit dem Bogen, eine Möglichkeit, ihn zu töten. Er wird keinen nahe genug fürs Schwert heranlassen. Er ist allein, will töten und überleben.« »Wir haben die Feuerrohre.« Wir führten die Pferde bis zum Waldrand. Die Flugbestien benahmen sich, als wären sie rasend. Ich testete meinen Abwehrschirm und zog mein Feuerrohr aus der dünnen Schutzhülle. Die Muskete stellte ein kleines Geschütz dar. Ich hatte nur drei Magazine, obwohl ich viel Energie brauchte. Ich befahl in
ausschließendem Ton: »Wir reiten kämpfend zum Tunnel. Einzeln sind wir verloren. Ich befehle es.« »Hai, Fürst Ataya.« Die Hähne der Musketen wurden gespannt. Ich entsicherte mein Gerät. Wir verharrten eine Viertelstunde regungslos unter den Bäumen, die nach Blüten rochen. Dann kam Nonfarmale auf seiner Hornissenlibelle in etwa dreißig Ellen Höhe heran und blickte sich suchend um. Die Armbrust, jetzt gespannt, lag wie eine Turnierlanze in seiner rechten Ellenbeuge. Fast gleichzeitig bewegten sich sechs Feuerrohre, zielten auf ihn, dann keuchte Yamazaki: »Tötet.« Die Strahlen röhrten aus trompetenartig aufgestülpten Mundstücken.
Sie trafen das Reittier, verbrannten die Libellenflügel und zerschnitten fast den Körper. In einer schrägen Flugbahn stürzte das Tier ab. Nonfarmale kam aus unserem Sichtbereich, und wir schwangen uns in die Sättel. Ich schaltete jetzt mein Schutzfeld ein. Die beiden Ninja galoppierten wild an mir vorbei und wurden nach fünf Sprüngen unsichtbar. Sie haben begriffen, sagte der Logiksektor. Du solltest auch, Arkonide. Ich ritt als dritter ins Freie hinaus, schaltete das Armbandgerät ein und schaute auf den Indikator. Dann schlug ich die Richtung auf unseren Tunnel ein, zwei schnelle Tagesritte entfernt. Hinter mir rasselten die fünf Samurai aus dem Wald. Ich wandte den Kopf und sah, daß Nonfarmale vom sterbenden Tier abgesprungen war und auf ein größeres Flugtier derselben Gattung kletterte. Gehorsam war die Libelle gelandet und stieg mit flirrenden Flügeln wieder auf. In vollem Galopp feuerte ich auf Nonfarmale. Rings um ihn verwandelte sich der Boden in Krater und glühendes, spritzendes Material. Ein Strahl heulte an seiner Schulter vorbei und wurde abgelenkt. Auch er trug ein solches Feld. Das Reittier summte schräg davon. Die Schüsse der Samurai verloren sich wegen der wachsenden Entfernung. Ich galoppierte geradeaus und erkannte die schmalen Spuren der Ninjapferde im Gras. Zuerst schienen es nur wenige kleine Vögel oder Flugwesen zu sein, die sich mit Schnäbeln, Krallen und messerscharfen Federn auf uns stürzten. Es wurden von Atemzug zu Atemzug immer mehr. Ich sah, wie die Samurai die Bestien mit blitzenden Schwertschlägen aus der Luft holten und töteten. Gleichzeitig spornten sie die Pferde und galoppierten hinter mir her. Ich verstellte den Strahl der Waffe. Mit einem Spitzkegel aus vernichtender Energie fegte ich vor und hinter mir die Luft frei. Nonfarmale schwebte unerreichbar für einen gezielten Schuß über uns und schien zu überlegen, wie er uns töten konnte. Wieder versuchte ein Samurai, ihn mit dem Feuerrohr zu treffen. Die kleineren Bestien wurden von größeren abgelöst, die wie Adler mit Reptilienköpfen aussahen und deren Größe erreichten. Sie stießen ein hohles Heulen aus und ein seltsam fauchendes Keckem. Und sie griffen selbstmörderisch an.
Eine halbe Stunde lang war es ein Ritt durch rasende Massen dieser Wesen. Ununterbrochen schwirrten die Schwerter, donnerten die Waffen, fielen brennende, zerstückelte Tiere zu Boden. Ich sah flüchtig, wie die Grasbüschel sich bewegten, wie sie über das Gefieder krochen und die Tiere zu zerschneiden schienen. An den Stellen, an denen Kadaver lagen, schien der Boden zu kochen. Über uns ertönten aus unterschiedlichen Richtungen die grellen Kampfschreie der unsichtbaren Flugroboter.
In das Kreischen der angreifenden Vögel mischten sich pausenlos die Geräusche der feuernden Projektoren. Aus dem Himmel fielen Kadaver, schwebten Federn, regnete es Bluttropfen. Unser Weg war markiert durch eine breite Spur toter und zuckender Leiber, und immer wieder scheuten die Pferde, wenn nahe genug einer meiner Falkensaurier schrie. Nur zweimal drehte ich mich um: Die Bodengewächse schienen die Kadaver zu verschlingen. Azumamaru Kada ritt als letzter, focht unermüdlich und blitzschnell. Sein Pferd lenkte er mit den Schenkeln, handhabte Feuerrohr und Schwert gleichzeitig. Aber sein Tier war von Schnabelhieben und Krallenrissen schwer gezeichnet. Das Blut auf dem Fell schien noch mehr Tiere anzulocken. Das Pferd bäumte sich auf, stolperte und überschlug sich. Zwei Haufen bildeten sich: Das Gras wollte den Pferdekadaver fressen, obwohl das Tier auskeilte. Dann aber war es binnen Augenblicken von Hunderten dieser Bestien bedeckt. Auch der Samurai, der zu stolz gewesen war, das Schutzfeld einzuschalten, wurde von einigen Dutzend der Tiere angegriffen. Ich zog an den Zügeln und wich seitlich aus, um ein paar Schüsse abzugeben. Ich verschaffte ihm nur vorübergehend Erleichterung. Als sich eine doppelt mannsgroße Flugbestie auf ihn stürzte, wichen die kleineren Wesen zurück. Er warf das Feuerrohr weg und packte sein Schwert mit beiden Händen. Er lieferte sich mit diesem Bündel aus Hakenschnabel, Sichelfedern und Krallen, lang wie Messer, einen tödlichen Kampf. Beide starben zur gleichen Zeit, aber als das vogelartige Tier über ihm zusammenbrach, brach auch er in die Knie. Aber beide Schwerter steckten im Körper des Gegners. Und schon brodelte wieder die Erde, schienen die Halme ihn zu verschlingen, ihn und seinen Gegner. Wir ritten weiter. Die Ninja führten an, nur durch die Spuren zu erkennen. Ich folgte, hinter mir in Linie mit Abständen ritten die Samurai. Wir achteten nicht darauf, daß wir uns in großer Geschwindigkeit vom Waldrand entfernten. Mitsukuni Kona verlor sein Pferd, feuerte sämtliche Magazine seiner Feuerwaffe leer und stellte sich drei großen Reptilvögeln zum Kampf.
Er tötete zwei von ihnen. Der dritte sank flügelschlagend über dem Kopf des Samurai herunter, packte den Mann und flog mit krachenden Flügelschlägen auf. Er schleppte den Samurai in die Luft. Am Ende des wilden Kampfes befanden sich beide in einer Höhe von einer halben Meile. Wir sahen nicht alles genau. Aber der Hieb, der den Kopf des Wesens mit einem Schlag abtrennte, als der Schnabel nach dem Samurai hackte, war einzigartig. Sie fielen, aneinandergeklammert, wie schwere Steine zu Boden, und der Mann brach sich sämtliche Knochen. »Schaltet eure unsichtbaren
Schilde ein, ihr Verrückten!« schrie ich, so laut ich konnte. Sie antworteten nicht, führten weiterhin ihre meisterlichen Hiebe aus, hielten ein grässliches Gemetzel unter den Angreifern ab und ritten weiter, langsamer als am Anfang des Rittes. Nonfarmale schwebte, immer noch zu hoch, von hinten auf uns zu. Tawaraya Kan wandte ihm den Rücken zu. Ich hielt mein Pferd an, schaltete das Deflektorfeld an und zielte, als ich mich unsichtbar wußte, mit dem Hochleistungsstrahler. Ich wartete und hoffte, daß Nonfarmale nicht zählte, wie viel Gegner er noch hatte. Ich hielt genau auf seine Brust. Als er seine Armbrust herumschwenkte und auf den Samurai richtete, befand ich mich in guter Schussentfernung. Ich drückte ab und hatte den Strahl nadelscharf gebündelt. Fast gleichzeitig feuerte hinter mir Akizane oder Matsudaira. Der Schutzschirm des Töters flammte auf, verwandelte sich in einen Ball verschiedenfarbigen flüssigen Feuers. Ich sah nichts mehr, aber hoffte, daß wir den Schirm durchstoßen konnten. Nonfarmales Tier brach nach links aus, verlor an Höhe, wurde schneller und raste tief über dem Boden fort. Ich konnte noch sehen, daß er im Sattel oder auf dem Rücken schwankte, daß irgendetwas an seiner Kleidung brannte. »Weiter«, schrie der Unsichtbare. »Wir haben ihn verwundet.« Wir drei trabten im Schutz der Unsichtbarkeit weiter. Ich desaktivierte das Feld, als Yamazaki beinahe in mich hineingeritten wäre. »Warum wollen die beiden durch dieses fliegende Gesindel sterben?« fragte ich den Bogenschützen. »Ich weiß es nicht, Fürst.« Er hatte sein Schutzfeld eingeschaltet. Die Sonne hatte den höchsten Stand erreicht. Mit wenigen Galoppsprüngen holten Tawaraya und Maruyama auf. »Wenn ihr gegen den Töter selbst kämpft, dann schaltet den unsichtbaren Schild meinetwegen ab«, sagte ich streng. »Und jetzt: einschalten. Sonst müssen wir noch alle Flugbestien einzeln umbringen und haben für den wichtigen Gegner keine Zeit mehr.« »Wir haben verstanden.« Wir waren noch sechs Männer und ritten im Schritt weiter. Auch die Ninja kehrten in die Welt des Sichtbaren zurück. Eine Flasche
ging von Hand zu Hand. Aufgeregt berichtete Matsudaira, daß der Töter verwundet worden war. »Wenn er nicht halb tot ist«, schränkte ich ein, »dann wird er mit doppelter Wut zurückkommen.« »Ich habe seinen Bogen gesehen«, staunte Yamazaki. »Eine ungewöhnliche Waffe.« »Alles ist hier ungewöhnlich.« Wir ritten, einmal langsamer, einmal schneller, bis zum Abend. Die Bestien griffen uns nur noch halbherzig an und prallten von den Schirmen ab. Ich kontrollierte die Richtung. Dort vorn lag der Tunnel, aber wir sahen die Markierungen noch lange nicht. Der Kampf hatte uns erschöpft, wir hingen
in den Sätteln und dösten. Kurz vor Einbruch der Dunkelheit legten wir noch einmal einen Galopp ein, dann entschieden wir, ein Lager aufzuschlagen. Die Sonne verschwand hinter einer Gewitterfront, einzeln erschienen Sterne. Ich versuchte, bekannte Konstellationen zu entdecken, gab es aber erfolglos auf. Wir versorgten die Pferde, die Ninja kochten Suppe, wir aßen Brotfladen und Aufbaunahrung, die wie Bohnenpaste schmeckte. Dort, woher wir gekommen waren, gab es noch immer kein Licht. Wir hörten mehrmals über uns das Rauschen riesiger Schwingen und mussten die scheuenden Pferde beruhigen. Immer wieder schlief einer von uns auf dem warmen Boden ein und zerdrückte die Blüten zwischen den Gräsern, die in der Dunkelheit völlig harmlos waren. Noch ehe die Sonne aufgegangen war, ritten wir weiter. Gegen Mittag wimmelte die Ebene von Insekten. Aus dem Grün war ein Meer aus vielen Farben geworden. Einzelnstehende, kniehohe Büsche wuchsen überall. Wir blickten uns überrascht um; ich sagte mit rauer Kehle: »Zwei Tage Winter, ein Tag Frühling und jetzt hoher Sommer. Mit etwas Glück erreichen wir heute unser Schlupfloch.« Ächzend stiegen wir in die Sättel und ritten an. Im Trab ging es geradeaus. Ich suchte die Umgebung mit dem Fernrohr ab und wartete auf die nächsten Angriffe. Zwei Stunden später tauchten einzelne Flugwesen auf und verfolgten uns in großer Höhe. Andere stießen hinzu. Im Licht der steigenden Sonne erschienen große Wesen, deren Federn und Körper in wilder Farbenpracht schillerten. »Der Töter kommt nicht!« rief Tawaraya zornig. »Und unser Ritt sieht nach Flucht aus.« »Du bist voreilig«, antwortete ich. »Der Tag hat erst angefangen.« Unsere Waffen waren neu geladen und durchgesehen. Wir hatten die Schutzschirme noch nicht eingeschaltet. Die Müdigkeit, die wir spürten, verhinderte lange Unterhaltungen. Ich versuchte, die Markierungen auszumachen, aber in dem Farbenrausch der Ebene war nichts zu erkennen. Der Hügel und der Wald waren zu winzigen Flecken am Rand der Ebene geworden. Gegen Mittag näherte sich von dort ein Schwarm großer Punkte. Sie wurden rasch größer und entpuppten sich als Wespenlibellen.
»Es geht los«, sagte Matsudaira. »Schaltet die Schilde ein!« befahl ich. Die Pferde spürten unsere Unruhe und wurden schneller. An der Spitze ritt diesmal ich, und an der Spitze des Keiles riesiger Flugwesen ritt Nonfarmale. Ich sah seine Waffe aufblitzen; er näherte sich ohne Eile. Als er, eine Viertelmeile hoch und eine halbe Meile hinter uns, zu einem Sturzflug ansetzte, riss Maruyama sein Pferd herum, zog das Schwert und schaltete das Feld ab. Er galoppierte auf den Schatten Nonfarmales zu und schrie gellend, der Töter solle sich zum
Kampf stellen. Er sei ein Feigling, ein Auswurf, ein Ehrloser… Nonfarmale legte seine Armbrust an und feuerte. Wir hörten das Heulen des Pfeiles. Der Samurai und sein Pferd vergingen in einer riesigen Feuerkugel. Von der Spitze des hochgereckten Samuraischwertes zuckte ein Blitz in die Höhe. Das Magazin des Feuerrohrs detonierte mit einem harten Schlag und in einer Druckwelle, die Blüten umherwirbelte. Als Yamazaki und ich auf Nonfarmale zielten, stiegen über dem Wald Rauchwolken in die Höhe. Wieder hüllte das Feuer aus unseren Waffen den Töter ein. Einige seiner Begleiter starben in den höllischen Gluten. Die Ninja machten sich unsichtbar, als Nonfarmale abdrehte und flüchtete; sein Tier war verletzt. Er selbst trug um die Schultern so etwas wie einen Verband. Wir schickten ihm lange Feuerstöße hinterher. Yamazaki riskierte es, einen Pfeil abzuschießen, der in einer weiten Flugbahn den Schirm zu durchschlagen schien. Dann erst kam der Donner der schweren Explosionen an unsere Ohren. Meine Sprengsätze hatten gezündet und das Untergeschoß des Turmes in ein Inferno verwandelt. »Ein guter Tod. Hast du das Schwert gesehen?« ächzte Tawaraya ehrfürchtig. »Es war bemerkenswert und – überflüssig«, wandte ich ein, aber ich fand kein Verständnis. Dann griffen die Riesenbestien an. Während wir trotzdem in »unsere« Richtung ritten, bekämpften wir sie mit dem Feuer aus unseren Geräten die Energiemagazine leerten sich beängstigend schnell. Das Gras verschlang auch die Kadaver dieser Flugwesen. Schließlich, bei einem niedrigeren Sonnenstand, sah ich die beiden Pfähle. »In drei Stunden liegen wir im heißen Bad«, sagte ich und setzte mich im Sattel auf. Wir kamen, noch vor der Abenddämmerung, während die Blütenblätter und die Blumen zu verdorren schienen, vor den Stäben an. »Wir haben zwei Möglichkeiten«, sagte ich. »Hier auf Nonfarmale warten.« »Oder zurückkehren.«
»Richtig. Wir haben seinen Besitz zerstört und ihn zweimal verwundet«, meinte ich. »Nur noch fünf sind wir. Eine kleine Schar. Gehen wir zurück.« »Wenn du befiehlst.« »Nonfarmale ist klug«, sagte ich leise. »Er wird in unsere Welt kommen und uns dort bekämpfen.« »Dann warten wir dort, wo wir jeden Stein kennen«, antwortete der Bogenschütze, ritt an und galoppierte genau zwischen beiden Stangen durch den Tunnel, der ihn aufnahm und verschluckte. Dann folgte Tawaraya, schließlich wurde Akizane sichtbar und ritt an mir vorbei. »He. Wo ist Matsudaira?« rief ich. »Ich weiß es nicht, Fürst.« Ich holte Luft und schrie: »Ninja Matsudaira! Komm her. Es geht zurück in unsere Welt.« Keine Antwort. Akizane verschwand im Tunnel. Ich suchte den Boden nach Spuren ab, aber ich fand keinen Hinweis darauf,
daß sich der Unsichtbare in der Nähe aufhielt. Schließlich hörte ich, weit entfernt, schnellen Hufschlag und wußte, daß der Ninja seinen letzten Kampf suchte. Ich würde ihn vergeblich rufen. Er wollte nicht, daß wir ihn fanden. Ich riss meinen Hengst herum und galoppierte an. Kurze Zeit darauf ritt ich in die Grelle der Sonne und in rötliche Staubwolken hinein. Die vertraute Umgebung breitete sich aus. Kinder liefen auf die Samurai zu, die ich noch nie gesehen hatte. Ich schaute mich nach dem Robot um, als mein Armband summte. »Ich bin beim Gleiter. Abschalten?« »Ja«, sagte ich. »Schalte ab. Vier Mann, das ist alles. Alle anderen sind tot.« »Der nächste Schock ist rätselhafter Natur, aber ungefährlich… gewesen«, meinte Hikyaco. Der rötlich leuchtende Kreis verschwand. Die Natur dahinter zeigte sich wieder. Meine Unruhe wuchs, als der Robot mit dem Gleiter näher schwebte. »Welcher Schock?« »Wir schreiben den 7. Juli 1708. Ihr habt fast drei Jahre in Nonfarmales Welt verbracht!« Ich schüttelte den Kopf und ritt neben dem Gleiter auf das Dorf zu, das Jubel und Trauer kennen lernte. »Deine Positronen sind durcheinander, Rico«, sagte ich. »Mehr als zweieinhalb Jahre?« »Ja. Ich war hier, auf Yodos Insel, in Beauvallon, in der Kuppel, überall. Eine hektische Zeit.« Ich stieg ab und löste den Sattelgurt. Ich musste in Ruhe über alles nachdenken. Ich war nicht geschockt, aber jetzt verstand ich, daß dieser rasend schnelle Wechsel der Jahreszeiten mich eigentlich hätte warnen müssen. Als ich das Pferd in den Stall und den Sattel ins Magazin gebracht hatte, den Gleiter verstaut, die Samurai in ihren Häusern, bei Frauen und Familien waren, meinte der Roboter: »Ich habe nicht geglaubt, daß du tot bist. Aber ich errechnete die höchste Wahrscheinlichkeit für schlimme Erlebnisse. Was habt ihr erreicht?« Ich berichtete es ihm. Er hörte schweigend zu und verarbeitete die Tatsachen. Ich goss einen zu großen Pokal Wein voll und trank
gierig. Im Innern meines Zeltes, das auch Altersspuren zeigte, eröffnete mir Rico eine weitere Überraschung. »Tairi ist geweckt worden und wartet auf dich bei Yodoya.« Jetzt starrte ich ihn wirklich fassungslos an. Schließlich murmelte ich: »Zuerst muss ich im Dorf hier Ordnung schaffen. Vielleicht wollen die Samurai oder ihre Leute zurück. Das alles wird genau geprüft werden. Aber ich werde sie bald sehen.« »Tairi freut sich auf dein Kommen.« Nonfarmale verletzt, vielleicht sogar schwer. Sein Unterschlupf auf wenigstens einer Jenseitswelt hoffnungslos zerstört. Er würde sich rächen, soviel war klar. Blieb er auf dieser Welt, hatten wir viele Jahre Ruhe vor ihm. Wir? Die Barbaren dieses Planeten. Ich leerte den
Pokal, duschte lange und schlief erst einmal. Dann begann ich einen Rundgang durch die Häuser unseres Dörfchens. Nach zwei Tagen und vielen Gesprächen stand fest, daß sie – vorläufig – alle hier weiterleben wollten. Ich willigte ein. Wie wird es weitergehen, Arkonide? fragte der Logiksektor. »Es geht immer weiter. Ich werde eine Zeitlang mit Tairi und Yodoya zusammen verleben. Sie kennen einander gut, die beiden. Wenn Nonfarmale uns sucht, dann weder hier noch auf Yodos Insel.« Und dein kleiner, tapferer Prinz? »Vielleicht helfe ich ihm bei einer seiner vielen zukünftigen Schlachten. Kein anderes lebendes Wesen hilft den Barbaren so viel und seit so langer Zeit. Und was halten sie davon? Nicht viel. Sie ziehen es vor, sich weiterhin gegenseitig umzubringen, statt auf den Weg zu den Sternen wenigstens zu kriechen.« Du bewegst dich bis zu deinem Einschlafen zwischen tapferen Männern und schönen Frauen. »Soll ich Feiglinge und hässliche Alte wählen? Ich habe Jahre auf Nonfarmale gewartet. Jetzt werde ich das tun, was ich tun will. Und du wirst mich nicht daran hindern.« Wie könnte ich? Geh zu Tairi. Eines Tages gehst du wieder freiwillig in dein Schlafgefängnis. So, wie ich es vorhatte, handelte ich. Wir verlebten sonnige Monate, dann suchte ich Prinz Eugen auf, um ihm bei Malplaquet entscheidend zu helfen und wieder ein paar Mal sein Leben zu retten. Später kehrten wir in die Kuppel zurück. Das nächste Erlebnis war so traurig und grotesk, daß ich von einer solchen Möglichkeit nicht einmal zu träumen wagte. Aber das ist eine andere Geschichte.
6. Es gelang dem Historiker auch in den folgenden drei Tagen nicht, sämtliche Zusatzinformationen des umfangreichen elften und des Anfangs des zwölften Großkapitels der ANNALEN in klarer Folge und im richtigen Zusammenhang zu verarbeiten und einzufügen, aber er kam gut voran. Er delegierte einen Teil seiner Arbeit an die verschiedenen Semester der Historischen Fakultät und widmete sich
Oemchen Orb. Während der Arkonide zuerst nur Viertelstunden, dann halbe, schließlich ganze Stunden unter den Solarlampen im großen Pool der Klinik schwamm und mitunter am künstlichen Sandstrand der Anlage schlief, während er über die Sandbahnen und entlang der schattigen Pfade lief und rannte und Dagorübungen vollführte, unternahmen Cyr und Oemchen eine Zweitagesreise auf Gäa; vorübergehend besserte sich Aescunnars psychosomatisches Chiasma opticum, die Fehlfunktion der Kreuzung beider Sehnerven, die am Orientierungspunkt an der Vorderseite des Hypothalamus jene einzigartigen Effekte hervorrief: Cyr sah halbe Tage lang keinerlei Signale aus dem Innenleben technischer Geräte. Sie waren rechtzeitig wieder
in Cyrs großem Appartement, der Außenstelle der Historischen Fakultät. Atlan, erschöpft, aber zufrieden von seinen Körperübungen, hatte ausgeschlafen und setzte seine Erzählungen fort. Offensichtlich an einer ungewöhnlichen Stelle seiner Vergangenheit… Ich hatte das Gefühl, mich durch einen intensiven Traum zu bewegen. Von der Einschlagstelle des Rätselhaften Meteoriten führte der kaum erkennbare Pfad durch eine weite, hügelige Grasebene. Die Siedler nannten sie Oudrys Vast; aber in Wirklichkeit war kaum etwas von einer Wüste zu erkennen. Der Weg schlängelte sich über kleine Sandflächen, die kurz vor dem Gewitter stumpf unter dem Licht der Sonne lagen. Ausgewaschene Felsen, die Wellen der Brandung, die ununterbrochen gegen den Stein hämmerten, die schwarzen Wolkentürme und die Sträucher und Büsche der Macchia nahmen einen unwirklichen Glanz an. Alle Kanten und Linien schienen vor dem Ausbruch des Gewitters funkelnde Ränder in allen Farben des Spektrums zu zeigen. Selbst von der Windschutzscheibe und den Armaturen des Gleiters gingen diese eigenartigen Elmsfeuer aus. Reynolds Stern IV verschwand hinter den Wolken. Der Schatten fiel über die Landschaft und verstärkte das Gefühl, eine phantastische Welt betreten zu haben. Ich legte wieder beide Hände an die Steuerung der Maschine. Zweihundertsechzig Kilometer etwa lagen zwischen mir und dem Schiff, und ich hatte es keineswegs eilig. Ich wollte das Gefühl, das mich angesichts dieser faszinierend fremdartigen Landschaft befallen hatte, länger auskosten. Wir hatten Zeit, nach dem Fehlschlag der fast detektivisch abgelaufenen Sucharbeit. »Ein merkwürdiges Land…!« murmelte ich. Wir hatten den Meteoriten verfolgen wollen, aber er war schneller gewesen, als die Schiffsmannschaft des Explorers ausgerechnet hatte. Das Schiff der USO kam gleichzeitig mit dem Meteoriten vor dem Planeten an. Das kosmische Geschoß begann bereits in den dünnen atmosphärischen Schichten aufzuglühen. Nichts hatte dem Aufprall widerstehen können. Kein Stein der seltsamen Ruinen, keine der in
Weltraumkälte erstarrten Brücken und abbröckelnden Mauern, kein Rest der unbekannten Kultur. Die Aufschlagenergie vernichtete, was den Sturz durch die dichteren Schichten der Lufthülle von Reynolds Einzigem Planeten überstanden hatte. Der Gleiter schwebte drei Handbreit über dem Boden. Der Pfad wich nach links aus, zum südlichen Ufer. Wieder zuckte im Westen ein Blitz; durch das Summen der Maschinen hörte ich nach einigen Sekunden das Grollen des Donners. Ich bremste ab, als der Gleiter auf der Kuppe eines Hügels schwebte. Wieder blitzte es, wieder krachte der Donner. Die Wellen jenseits der Bucht bekamen weiße Schaumkronen. Ich nickte
und bemerkte weit draußen, auf einer Halbinsel, wie ein gekrümmter Zeigefinger, ein Haus mit Funkantenne und hohem Kamin. »Das Gewitter wird verdammt gefährlich!« stellte ich fest und schob die Steuerung vor. Der Gleiter setzte sich in Bewegung und glitt den Hügel hinunter. Einige Minuten später befand ich mich im Zentrum des Unwetters. Rings um mich zuckten lange Blitze, unaufhörlich schmetterten Donnerschläge. Die Felsen schienen zu beben. Noch nicht ein einziger Tropfen war gefallen. Ich schaltete sämtliche Scheinwerfer des Gleiters ein und versuchte, den Weg zu erkennen. Inmitten dieses Infernos aus zuckender, kalkiger Helligkeit, die mich blendete, und dem entfesselten Lärmen des Donners begann es zu regnen. Zuerst sah ich auf einer ausgetrockneten Schlammfläche winzige Explosionen von Staub. Dann schlugen die Tropfen auf das Verdeck des Gleiters. Es klang wie Kies oder winzige Meteoriten, schließlich rauschte ein dichter Vorhang aus Wasser vom Himmel. Schlagartig nahm die Sichtweite ab. Im Licht der Scheinwerfer und in den kurzen Intervallen der mächtigen Blitze sah ich die Bahnen der Regentropfen. Hin und wieder glaubte ich weit vor mir ein Licht aufblitzen zu sehen – das Haus der Siedler? »Ich sollte, glaube ich, dorthin steuern!« Die Traumlandschaft war zu tosendem Leben erwacht. Aus der Dunkelheit schälten sich die Umrisse von Fabelwesen und surrealistischen Bauwerken, Felsen, Bäumen, Buschgruppen hervor. Ein geheimes Leben erfüllte sie. Dort! Das Licht! Ich schob die Steuerung in die Richtung, und der Gleiter näherte sich dem Rand einer Plantage, die zum Schutz gegen größere Tiere mit einem leuchtenden Schwach-Energiezaun umgeben war. Dahinter leuchtete helles Licht durch eine große Glasscheibe. Ich lächelte. Meine einzige Angst war gewesen, die Richtung nicht einhalten zu können. Plötzlich freute ich mich auf die Geborgenheit eines Raumes, auf die Gesellschaft von Menschen, schwebte durch das Gewitter, sah einen breiten Kiesweg zwischen Mauern aus Naturstein, die in ihrer Exaktheit nur von Robotern errichtet sein
konnten. Ein Namensschild leuchtete auf, als die Scheinwerfer die Steintafel streiften. SU MARINERI war zu lesen – was immer es bedeutete. »Langsam wird es ungemütlich!« sagte ich. Mein Extrasinn meldete sich: Das Gewitter ist eine Gefahr für dich! Es ist eine Schlüsselsituation – du musst in die Nähe von Menschen kommen! Schlüsselsituation? Das konnte nur bedeuten, daß mein unbestechliches Extrahirn in Verbindung mit meinem photographisch genauen Gedächtnis herausgefunden hatte, daß Erinnerungszwang auftreten würde, wenn ich noch länger durch dieses Chaos schweben würde. Ich nickte; dieses Risiko ging ich freiwillig nicht
ein, ich beschleunigte das Fahrzeug und kam in den Bereich der Windschatten weit ausladender Bäume. Das rasende Hämmern der Regentropfen auf das Verdeck des Gleiters ließ nach. Ich passierte einen Wachstrahl, unterbrach die optische Schranke und hielt neben dem Eingang. Der Gleiter senkte sich auf den knirschenden Kies. Neben der Tür begann eine Art Pergola aus Balken und Stahlelementen, über und über von Pflanzen bewachsen, deren Blätter im Licht der Scheinwerfer vor Nässe glänzten. Ich schaltete die Scheinwerfer ab, verließ mit einem Sprung den Gleiter und drückte mich in den Windschatten der Pergola. Zehn Meter entfernt öffnete sich eine breite Tür. Hinter der Silhouette eines Mannes sah ich das Glühen eines Feuers. »Willkommen!« rief der Mann und schaltete die verborgene Beleuchtung in den Bohlen der Pergola ein. Ich rannte durch den Regen und blieb neben dem Mann stehen. »Ich kenne Sie. Sie sind Atlan, Lordadmiral der USO, ja?« Ich grinste mein Gegenüber an, während sich die schwere Tür schloss. Wir standen in einer großen Halle, die vom Licht aus einem gewaltigen Kamin schwach ausgeleuchtet wurde. Ein Blitz und der augenblicklich folgende Donnerschlag unterbrachen das Gespräch. Ich steckte die Finger in die summenden Ohren und erklärte: »Ich bin privat hier. Wir versuchten, den Meteor einzufangen, aber wir hatten kein Glück. Sie haben den Erdstoß gespürt?« Jetzt erst, als wir uns dem Zentrum der Halle näherten, sah und begriff ich mehr von meiner neuen Umgebung. Zuerst hörte ich Musik aus unsichtbar eingebauten Lautsprechern, dachte sekundenlang nach, dann hatte ich die Musik identifiziert. Ich hatte sie schon einmal gehört. Nein. Mehrmals natürlich, damals, als sie in Paris aufgeführt worden war, Medee, von Marc Antoine Charpentier, dem Kirchenkapellmeister von Paris. »Möchten Sie sich nicht setzen und einen Schluck von unserem Wein trinken?« erkundigte sich mein Gastgeber. »Ja, danke!« murmelte ich und folgte dem Mann. Die Halle maß mehr als fünfzehn zu fünfzehn Meter und war nicht höher als drei Meter. Weiße, unregelmäßig verputzte und von
Altersspuren übersäte Wände. Möbel in modernen Formen, aber in klassischen Materialien. Holz, schwere Stoffe, Leder und Glas. Vor dem Feuer standen drei besetzte und ein leerer Sessel, dazwischen niedrige Tische. Verlasse dieses Haus! Es ist eine Gedankenfalle! tobte der Extrasinn. Die Erinnerung wird dich einholen! Türen und Fenster, Durchgänge und Mauern waren bewusst unregelmäßig gearbeitet worden. Eine Wendeltreppe führte in höher gelegene Räume. In schwere Glassitplatten verschweißt, loderten intensiv farbige Grafiken an den Wänden. Der Duft von harzigen Scheiten und schwerem rotem Wein durchzog
den Raum. »Mein Name ist Francisco Doyen«, sagte der grauhaarige Mann und blieb hinter einem Sessel stehen. »Das ist unser Gast, Lordadmiral Atlan. Gabrielle Doyen, meine Frau, Antoinette, ihre Mutter, und das ist Le Rond d’Alambert, mein Assistent.« Ich begrüßte die Personen; Francisco reichte mir einen Pokal voll würzig riechenden Weines. »Sie machen einen überarbeiteten Eindruck, Sir!« sagte Doyen. Die Musik war lauter geworden. Medees Klage hallte durch den Raum. Der Donner und die Blitzschläge umrahmten die Barockarie. Wieder zerrte die Erinnerung an meinen Nerven. Ein Windstoß ließ die Flammen des Kaminfeuers heller auflodern, und ich erkannte die Gesichtszüge der vier Personen deutlicher. Die Frau, nicht viel jünger als hundertfünfzig Jahre, saß regungslos im Sessel und sah mich an. Auch ihr Gesicht weckte Erinnerungen. »Ich bin nicht überarbeitet«, stellte ich fest und hob den Pokal. »Aber dieses Gewitter, diese Umgebung – sie wecken Erinnerungen in mir, denen ich nicht ausweichen kann.« »Gute oder schlimme Erinnerungen?« erkundigte sich der Assistent. »Wenn jemand so alt geworden ist wie ich«, bekannte ich und setzte mich in den Sessel, den Francisco Doyen herangeschoben hatte, »dann sind auch die bittersten Erinnerungen zu weniger schlimmen geworden.« Das Gewitter zog weiter nach Osten. Die Blitze waren weniger grell und schlugen ferner und hinter den Hügeln ein. Die Donnerschläge ließen an Lautstärke nach. Aus dem hagelartigen Regen war ein milder Schauer geworden, der das trockene Land bewässerte. Von außen drang durch kleine Fenster das Rauschen herein. Der Geruch des Feuers wurde abgelöst von dem frischen Windzug, der durch die Halle wehte. Nur der Wein roch noch unverändert süß. Die Barockoper erfüllte den Raum mit ihren Klängen. Die Umgebung schien listenreich wie eine Falle aufgebaut worden zu sein, eine vollkommene Kulisse für Erinnerungen. Ich fühlte, wie der untergründige Zwang von mir Besitz ergriff. Noch einige Minuten in der Zone, und du musst reden! Der Regen lässt nach –
verlasse dieses Haus! schrie der Extrasinn. Ich schüttelte den Kopf, fühlte mich müde, zerschlagen. Noch konnte ich aus der Gedankenfalle fliehen, aber die Umgebung, das Feuer, der Wein und die Musik bannten mich in den Sessel. Ich begann zögernd, nachdem ich einen langen Schluck genommen hatte: »Das alles kommt mir bekannt vor. Ich bin einst in einem wütenden Gewitter in ein Haus gekommen, das Ihrem Haus sehr ähnlich war. Allerdings kam ich nicht allein, sondern mit einem Mädchen mit blauschwarzem Haar. Warum ist Ihr Haus so gebaut, Francisco?« Doyen sagte ruhig: »Es ist der Stil der Gegend. An dieser Küste werden Früchte
und Wein angebaut. Die unterirdischen Robotfabriken verarbeiten sie weiter. Wir haben uns entschlossen, den Bautrupps diese Formen und diese Materialien einzuprogrammieren. Die Bauten sind in die Landschaft integriert.« »Ich verstehe«, sagte ich und sah in die Flammen des Feuers. »Und warum spielen Sie diese uralte Musik?« Du rennst mit offenen Augen weiter! tobte das Extrahirn. Du provozierst deine Erinnerungen. »Weil uns diese Musik gefällt!« sagte Antoinette Doyen. Sie blickte mich an. Mir schien es, daß sie mich erkannte. Zwischen dieser Frau und mir bestand plötzlich eine Verbundenheit, die unbegreiflich war. Ihr Gesicht, die Art ihrer kontrollierten Bewegungen… das alles kannte ich, obwohl es unmöglich war. Leise fragte die junge Frau: »Sie erinnern sich also, ausgelöst durch Umgebung, Gewitter und Musik, an eine bestimmte Zeit Ihres langen Lebens?« »Meines langen Lebens auf dem Planeten Erde«, sagte ich. »Ich habe die Wahl. Entweder verlasse ich fluchtartig dieses Haus und beleidige meine Gastgeber, oder ich falle in Trance und berichte aus dieser gewissen Zeit.« Noch ein Schluck Wein! Noch zehn Takte Musik von Charpentier! rief der Extrasinn. Und du musst berichten! Die Kulisse der Gedankenfalle schloss sich wie Protoplasma um mich. Die Wände schienen näher zu rücken. Vom Kamin ging eine schwache Glutwelle aus. Stimmen und Gesichter, Gerüche und Klänge verbanden sich zu einer gewaltigen Woge, die mich mit sich wirbelte. Schweiß trat auf meine Stirn, meiner Stimme war anzuhören, daß ich mich zur Konzentration zwang: »Ich werde Sie mit dieser Erzählung belästigen müssen. Ich kann nicht mehr anders.« Ich befand mich in der unsicheren Zone zwischen Bewusstsein und Trance. Noch hatte der Extrasinn in Verbindung mit dem perfekten Gedächtnis und der Erinnerung nicht die Herrschaft über mich übernommen, aber das wache Bewusstsein wurde mehr und mehr zurückgedrängt.
»Es wird zweifellos keine Belästigung sein!« sagte der Gastgeber. »Können wir Ihnen irgendwie helfen?« »Ich glaube nicht!« Ich schloss die Augen und sank zusammen. Unmerklich entspannte ich mich, atmete tief und schwer, hob den Pokal und trank ihn leer, dann lösten sich meine Finger, und der Metallgegenstand rollte über meine Oberschenkel und Knie zu Boden. Es gab ein schepperndes Geräusch. Dann riss mich die Welle der Erinnerung fort. Doyen schaltete das Band ab, die Musik erstarb. »Es war nach dem Abenteuer mit den Samurai. Ich wurde geweckt, als der Absolutismus in Europa seinen Höhepunkt erreicht hatte. Ein Raumschiff war in der Gegend von Paris gelandet. Und ich hatte ein Mädchen bei mir, Tairi No Chiyu, eine junge Japanerin.« Die Augen der alten Frau hingen an
meinem Gesicht. Antoinette Doyen schien zu ahnen, daß auch sie nichts anderes war als eine Schachfigur auf einem Brett unbekannter Größe. So wie ich. Jemand schob uns hin und her. »Versailles?« fragte Antoinette. Ich nickte. Dann wurde mein Blick wieder klar. Mein Körper gehorchte meinem Extrahirn und dessen Einflüssen. Ich begann zu sprechen. Es waren vier Personen, und sie schienen in kein Schema hineinzupassen. Jedenfalls hatten sie an allen Plätzen des Kosmos, den sie kannten, bemerkenswert wenig Glück gehabt. Dié saß an der Steuerung des Schiffes, als die gelbe Sonne sich deutlicher auf dem Vorausschirm abzuzeichnen begann. »Vielleicht können wir auf dieser Welt Nyder helfen. Oder Hilfe bekommen. Sofern es eine solche ›Welt‹ in diesem System überhaupt gibt.« Troy widersprach, nachdem er die Sonne aufmerksam studiert und eine sorgfältige Analyse angefertigt hatte. »Erfahrungsgemäß haben Sonnen dieses Typs Planeten an sich gebunden. Hier ist der Beweis. Gravitationsschwankungen größeren Ausmaßes.« »Danke«, sagte Dié und richtete den Kurs ein, so daß das Schiff in kurzer Zeit innerhalb der Ekliptik in den normalen Weltraum gehen würde. »Landen wir endlich?« Nyder stöhnte. »Geduld!« mahnte Dié und schickte das Schiff zurück in den Überraum. Sie hatten eine lange, verworrene Geschichte hinter sich. Sie waren kosmische Wanderer, die sich nichts sehnlicher wünschten als einen Platz, an dem sie landen und irgendwann sterben würden. Die Hälfte ihrer voraussichtlichen Lebensdauer war abgelaufen, und wenn es nicht gelang, ein bestimmtes Blutplasma zu bekommen, endete Nyders Leben hier im Schiff. Es wäre ein Glücksfall, hier einen Planeten zu finden, auf dem es denkende Wesen ihrer Art gab. Da war die Sache mit den Fischmenschen auf Erathmus, Pant Kyrrus II. Dié, die aktivste von allen vier »Wanderern«, dachte nach, während das Schiff sich durch die körperlosen Schleier des
Unsichtbaren Universums bohrte. Sie hatte genaue Vorstellungen von dem Planeten, den sie suchten. Eine Welt, die sich in einer Phase von Kultur und Zivilisation befand, die unterhalb derjenigen ihres Heimatplaneten lag. Wasser und Land, Sauerstoffatmosphäre und Wesen, die ihnen glichen. Nicht solche wie die Fischmenschen von Erathmus. Aufrechtgehende, denkende und redende Menschen. Solche, die gern tranken, gern Geschichten erzählten und noch lieber solche hörten, die Musik kannten und Bauwerke errichteten. Etwas Handfestes – etwas Wesentliches. Die Geschichte der beiden Paare war lang und erlebnisreich. Wollte Dié sie auf einen Nenner bringen, würde die Formulierung ähnlich lauten: Wo auch immer sie sich aufgehalten hatten, welche Arbeit sie annahmen, welche Konditionen sie forderten – überall
stellten sie nach kurzer Zeit fest, daß sie ausgenutzt wurden, daß niemand ihre Begabung erkannte. Die Begabung wurde nicht gebraucht. Sie bestand bei allen vieren darin, daß sie versuchten, die ernsthaften Aufgaben ihres Lebens mit einer größtmöglichen Menge an Spaß, Humor und Freude zu erledigen. Damit gingen sie jeder anderen Gruppe auf die Nerven. Würde es auf diesem Planeten auch so sein? »Dié – wie liegt der Kurs?« stöhnte Nyder. Er lag mit gebrochenem Arm und einem schwer verstauchten Knöchel des rechten Fußes hilflos in der Körperformliege. Vor einigen Tagen war er die Treppe vom Steuerraum hinuntergestürzt, als er die Maschinen nachsehen wollte. Nun, das Schiff war ohnehin nicht mehr viel wert… Diesen Teil der Milchstraße würden sie auf keinen Fall mehr verlassen können. »Noch einige Sekunden, dann sind wir auf der Bahn des vierten Planeten!« sagte die junge Frau. Sie fragte sich zum hundertsten Mal, ob ihre Schönheit auf einem der Planeten, auf dem sie gelandet waren, ein Hindernis gewesen war oder ein Vorteil. Jedenfalls war sie fest entschlossen, auf der nächsten viel versprechenden Welt zu landen und – zu bleiben. Verga kam aus der Kombüse. »Hat jemand Appetit? Ich habe die letzten tiefgekühlten Lebensmittel in den Herd gesteckt. Wir werden in diesem System Proviant aufnehmen müssen.« »Bring mir etwas. Ein Stück Braten, einen Schluck von diesem gelben Algenwein von Erathmus, ja?« bat Dié. »Mir das gleiche!« sagte Nyder. »Und eine Schmerztablette.« Er musste sich sehr schlecht fühlen, wenn er um ein Medikament bat, dachte Troy, der zweite Mann der Gruppe. Sie hatten Nyder nicht die ganze Wahrheit gesagt. Auf Erathmus, unter den sengenden Strahlen der Sonne und des radioaktiven Satelliten, hatte sein Körper mehr gelitten als die Körper der anderen kosmischen Vagabunden. Wenn er nicht bald in eine bessere Umgebung kam, würde er noch vor Verlassen des Schiffes sterben. »Achtung«, sagte Dié. »Wir verlassen den Überraum.« Sekunden später schwang sich das Schiff in einer Folge knirschender, knisternder Geräusche in den Normalraum. Dié
drosselte die Geschwindigkeit und aktivierte eine Serie kleiner, ungewöhnlicher Geräte. Vor ihnen tauchte ein roter Planet auf. Troy murmelte: »Der vierte Planet dieses Systems – nach den Aussagen unserer Detektoren?« »So ist es.« »Schaltet die Spürsonden ein! Ich will endlich aus dieser Stahldose raus!« rief Nyder. »Keine Sorge. Dein Wunsch deckt sich mit unserem Vorhaben!« sagte Verga, die mit einem Tablett voller Essen den Pilotenraum betrat. Das schlanke Raumschiff ging in eine Kurve. Es hatte sich in einer Geraden der Sonne genähert und wich seitlich aus, raste auf den roten Planeten zu, wurde langsamer und schwenkte in eine
Kurve ein. Die Kugel wuchs an, die sterile Oberfläche wurde deutlicher. Eine Reihe von Tests wurde durchgeführt; schließlich, als ein Summer ertönte, erschienen auf einem Schirm die Daten des ersten Analysedurchganges. »Nichts. Tot!« sagte Dié traurig. »Wie steht es mit den äußeren Planeten?« wollte Nyder wissen. »Negativ!« Dié drehte sich halb herum. »Sie sind außerhalb der ökologischen Zone. Kalt und unwirtlich.« »Bleiben Nummer eins, zwei und drei!« stellte Troy fest. »Nicht Nummer eins!« schränkte Dié ein. »Wir haben nur zwei Planeten zur Auswahl. Ich werde den dritten Planeten anfliegen.« »Einverstanden!« sagten Troy und Verga. Das Schiff verließ auf einer Tangente den Flugkreis um den roten Planeten. Wieder arbeiteten die Massedetektoren und suchten den interplanetaren Raum ab. Das Auge der gelben Sonne leuchtete stärker. Eine gespannte Atmosphäre begann sich in der geräumigen Pilotenkanzel auszubreiten. Niemand sprach. Nyder: dessen Fähigkeiten sich nicht genau umreißen ließen, eine Naturbegabung. Ein abenteuerliches Leben hatte ihn dazu gebracht, daß er ununterbrochen gelernt hatte. Er vermochte zwar nicht, die subminiaturisierten Geräte zu reparieren, aber er konnte ebenso gut schweißen wie mit einem harkyanischen Degen fechten. Gab man ihm eine Explosionswaffe in die Hand, traf er, was er wollte. Seine Überlegungen stimmten in neunundneunzig von hundert Fällen. Musik und phantastische Geschichten liebte er; jetzt würde er sterben, wenn in der Nähe der gelben Sonne nicht ein geeigneter Planet seine Bahn zog. Verga: Sie liebte Pflanzen, Ordnung und Bauwerke. Es gab nur wenige Erkenntnisse, die sie nicht verwerten konnte – sie hatte eine Lawine von Wissen auf allen Planeten gesammelt, die dieses Team besucht hatte; mehr als zwei Dutzend. Sie war schlank, groß und schön. Für Männer wie Troy und Nyder zweifellos nichts Ungewöhnliches, aber auf den Welten, auf denen sie adäquate Völker getroffen hatten, war Vergas Schönheit stets Gegenstand vielfältiger Bewunderung gewesen. Sie konstruierte leidenschaftlich
gern Maschinen – ohne Rücksicht darauf, ob diese Geräte nützlich waren oder nicht. Als sie versuchte, einen Volksstamm, der in einer sturmdurchtosten Wüste lebte, mit windgetriebenen Wasserpumpen auszurüsten, klagte man sie der Blasphemie an und jagte sie hinaus in die stellare Einöde. Was erwartete sie von dem Planeten, der ihrem Weg am nächsten lag? Nichts anderes als alle anderen: Ruhe und Frieden. »Wann kommen wir endlich in die Nähe dieses verdammten Planeten?« schrie Nyder. »Wir wissen nicht einmal, ob es einen geeigneten Planeten gibt. Und, wenn es ihn gibt, ob er so ist, wie wir ihn uns wünschen. Und wir können nicht
einmal ahnen, ob es dort vielleicht auch nur mehr als ein einziges lebendes Wesen gibt.« Er winkte ab und brummte: »Schon gut!« Troy: eine Art Wissenschaftler für vier verschiedene Disziplinen. Er beherrschte sämtliche Kriegskünste, war ein hervorragender Geschichtswissenschaftler, kochte geradezu meisterhaft und mit Hingabe und beherrschte die Einrichtung des Schiffes von der Radarnase bis zu den Heckdüsen. Er war der Lustigste und zugleich der Trinkfesteste. Er schien den Alkohol, den Nyder testete, mit der gleichen Hingabe zu lieben wie das Komponieren von exquisiten Gerichten. Seine körperliche Zähigkeit, Stärke und Ausdauer waren bemerkenswert. Das Schiff näherte sich dem dritten Planeten. »Ein gutes Bild!« sagte Dié. »Ein hoffnungsvolles Bild. Und so verdammt rund!« knurrte Nyder. Sie sahen den blauen Planeten, nachdem das Schiff eine Kurve geschlagen hatte. Er war fast völlig von der Sonne angestrahlt, und das spiralige Muster der weißen Wolkenstrukturen begeisterte sie. »Detektoren an, Mädchen!« Troys Gesicht mit den scharfen Zügen glühte vor Erwartung und Konzentration. »Detektoren eingeschaltet!« sagte Dié, die Jüngste und Schönste der Gruppe. Dié: Sie war eine der besten Pilotinnen. Mit Maschinen aller Art schien sie geradezu verwachsen zu sein. Alles, was flog, fuhr oder tauchte – Die besaß ein intuitives Verhältnis dazu. Und sie litt von allen am meisten unter dem Mangel an Gesellschaft, an einer Umgebung, in der sie ihre Talente entfalten konnte. »Und was sagen diese kleinen Spürdinger?« Troy beugte sich vor, eine dicke, heiße Bratenscheibe zwischen Brotstücken in der Hand. »Sie sagen zunächst, daß die Luft für uns atembar ist. Warten wir die Analyse ab…« Dié sah zu, wie sich auf dem Schirm die Symbole und die Zeichen ordneten. Während das Raumschiff sich dem Planeten näherte, erkannten die vier kosmischen Vagabunden, daß die Atmosphäre des dritten Planeten die Spezifikationen aufwies, die sie zum Leben brauchten. Das schloss ungeachtet anderer Testergebnisse die
Annahme ein, daß auch die übrigen Konditionen entsprechend waren. Etwa eine Stunde später starrten sich Dié und Troy an. Dié sagte nachdenklich: »Es scheint, daß wir einen Glückstreffer gezogen haben. Dort können wir landen und leben.« Verga meinte langsam: »Trotz der Bestätigung, daß es dort unten Spuren intelligenter Wesen gibt, schlage ich vor, daß wir in einem Gebiet landen, in dem es Nacht ist. Die Dunkelheit ist die Freundin vorsichtiger Besucher.« »Ich bin deiner Meinung. Nur… landet bald!« stöhnte Nyder. Das Schiff schlug eine Umlaufbahn ein. Sie gingen tiefer und kamen in die Zwielichtzone, die in vierundzwanzig Stunden etwa einmal um diese Welt wanderte. Meere tauchten
auf, Küsten und Wälder und die mäanderartigen Bänder von breiten Flüssen. Vergrößerungen wurden geschaltet, und man sah Siedlungen, Straßen und Brücken. Schweigend bereiteten sie sich auf die Landung vor. Sie kamen in die Nähe des westlichen Randes des größten, in der Linie des Äquators verlaufenden Kontinentes in eine günstige Position und schalteten einige tausend Mannslängen über dem Boden die geräuscharmen Antischwerkrafttriebwerke an. Summend senkte sich das Schiff. Dié steuerte einen Platz an, der die optimalen Bedingungen bot. Es gab Wasser und frische Luft, die jenen abgestandenen, aseptischen Luftstrom ablösen würde, der aus den Exhaustoren kam. Es gab Wasser, in dem man Fische fangen würde, Wald, in dem jagdbares Wild und Vögel zum Braten gefunden werden konnten. Und die nächste Siedlung – ein kleines Dorf mit einem Wegesystem und einem schlossähnlichen Gutshof – war nicht sonderlich weit entfernt. »Wie steht es mit Virentest und Bakterienanalyse?« erkundigte sich Troy leise. »Die Geräte laufen.« Neben Dié standen Troy und Verga. Sie blickten die Schirme an, die ein Infrarotbild der Landschaft wiedergaben. Eine ruhige, nicht zu hügelige Gegend breitete sich um sie aus. Langsam sank das Schiff auf die Teller der Landebeine, federte ein. Das Summen der Maschinen erstarb im selben Moment. »Wieder ein Versuch. Hoffentlich ist es der letzte!« Nyder ächzte. Sie dachten alle dasselbe: Wenn dieser Planet und diese Bevölkerung unsere Begabung brauchen können und uns in angemessener Art entlohnen, bleiben wir hier und vergessen die Weiten des Kosmos. Als die Luken aufglitten, die Laderäume entlüftet wurden und die kühle, frische Luft ins Schiff strömte und von den Ventilatoren in die Pilotenkabine gedrückt wurde, sagte Dié: »Wir werden einen Planetarier fangen und sein Blut untersuchen. Und dann gehen wir daran, Nyder zu helfen.« »Vergesst die Sprache nicht!« meinte Nyder und versuchte einzuschlafen. Die Tests waren erfolgreich verlaufen. Das Schiffsmetall kühlte sich ab. Hier Würden sie bleiben können. Ob sie bleiben durften, würde sich erst herausstellen. Man brachte Nyder
in seine geräumige Kabine und verließ, bewaffnet und mit großer Vorsicht, das Schiff. Noch in dieser Nacht entdeckten Dié, Troy und Verga das Landschloss und das Dorf. Sie waren unweit von der Hauptstadt eines Landes gelandet, das sich Frankreich nannte. Hier wuchs Wein, wurde geerntet, gab es Pferde. Der Reiter, der an ihrem Versteck vorbeikam, diente als Testobjekt: Ein Lähmschuss fauchte auf, gleichzeitig sprang Troy dem Pferd in die Zügel. Sie entnahmen dem Mann Blut, setzten die Sonden an und entnahmen seinem Verstand, der sich nun nicht mehr wehren
konnte, eine Menge Daten. »Wir haben Plasma, und wir haben die Sprache«, sagte Troy, als sie zum Schiff zurückflogen. »Und haben ihn in einer Verfassung zurückgelassen, die ihn glauben lassen wird, er sei vom scheuenden Pferd gefallen.« Sie verwendeten die nächsten Tage dazu, sich anzugleichen. Dié Arbeit des Integrierens dauerte rund eine Woche. Dann waren sie bereit – dieses Verfahren hatten sie oft genug praktiziert; sie beherrschten es bis zum Überdruss. Sie bemerkten jedoch bei allen ihren Ausflügen die kleine Kugel nicht, die ihnen in angemessenem Abstand folgte. Das Schloss. Kleidung und Sitten. Die Arbeit der Bauern und Schankwirte, der vielen Handwerker und des Scharfrichters. Gebäude, Bücher und Gedanken. Diskussionen und Überlegungen. Die Beziehungen der Menschen untereinander. Nach sieben oder mehr Tagen war Nyder fast gesund. Nach dieser Zeit beherrschten die vier kosmischen Vagabunden die Sprache. Nur noch winzige Einzelheiten würden sie verraten. Aber dagegen gab es Mittel und Methoden. Sie erfuhren alles. Und der Robotspion erfuhr, was sie entdeckten. Er meldete alles einer unbekannten Instanz. Schließlich rüsteten sich die vier Vagabunden aus und wagten den ersten Vorstoß in die Zivilisation des fremden Landes. Ihr Ziel war der frühe Abend im Schloss. Dort, hatten sie erfahren, würde ein Fest gegeben werden. Sie meldeten sich nicht an, aber sie würden als Gäste aus einem fernen Land erscheinen. Man würde sie aufnehmen wie exotische Freunde. Sie kamen aus dem großen Reich im Osten. Selbst die Einzelvorgänge einer Routine können immer wieder aufregend sein. Ich sah den Kopf meines Roboters Rico; gleichzeitig mit der Fähigkeit, nach einem Tiefschlaf sehen zu können, schienen auch meine Gedanken erwacht zu sein. Ich begann meinen Körper zu spüren und sah, wie sich meine Brust mit dem Zellaktivator hob und senkte. »Gebieter!« Rico und Lilith hantierten mit den Apparaten der Erweckungsanlage. Auf einem riesigen Schirm zogen die Bilder aus der Inselwelt der Südsee vorbei. »Ich habe dich wecken müssen.«
»Ist… ist ein Schiff gelandet?« Ich krächzte. »Ja. Ein Schiff mit vier Insassen. Sie scheinen menschlich zu sein. Ich habe alles mit den Spionsonden aufgenommen.« Ich sah die letzten Bilder; das Haus, in dem ich mit Tairi gewohnt hatte, den alten, klugen Samurai und die Palmen. Langsam verblassten Bilder und Geräusche. Sie hatten mich in der ersten Zeit nach dem Aufwachen davor bewahrt, wahnsinnig zu werden – der Anschluss an erlebte Abenteuer war hergestellt. Und auch der Anschluss an meine bitteren, resignierenden Gedanken. »Wo ist es gelandet?« Mein Kehlkopf kam langsam unter die Kontrolle der Nerven und
Muskeln. Ich fühlte mich zerschlagen und unausgeschlafen, versuchte mich aufzurichten, aber die Armmuskeln begannen zu zittern. Ich war noch zu schwach… Plötzlich erinnerte ich mich, daß neben mir Tairi schlief, die junge Japanerin. »In einer Kulturlandschaft, die du kennst. Nahe der Hauptstadt Paris.« Ich zwinkerte. Durch meinen Kreislauf flossen belebende Medikamente. Die Batterie vertrauter Geräte, die meinen Start in die Wirklichkeit dieser Welt erleichtern würden, waren von Rico um mein Lager aufgebaut worden. Tairi schlief, als sei sie tot – sie würde erst nach mir aufgeweckt werden. »Paris?« »So ist es!« sagte Rico. »Sie scheinen bemerkenswerte Persönlichkeiten zu sein. Du wirst sie sehen können, sobald du für neue Eindrücke aufnahmefähig bist.« Wieder einmal würde ich versuchen, was mir zahlreiche Male missglückt war. Angesichts dieses neuen Problems erfassten mich eine Menge verschiedener, zum Teil widersprüchlicher Überlegungen. Ich ahnte, daß es auch diesmal einen Rückschlag geben würde, der mich hierher zurücktrieb. Aber die Chance war ebenso groß wie die Wahrscheinlichkeit, daß ich nach vielen Jahrtausenden qualvollen Wartens endlich mein Ziel erreichte. Menschen und Ideen, List und Kämpfe, Reisen und Erfindungen… das erwartete mich. Und, wenn ich viel Glück hatte, ein Raumschiff, das mich in meine Heimat brachte, die sich vermutlich drastisch verändert haben würde. »Welche Zeit haben wir?« fragte ich und suchte das Datum auf den Schirmen. Rico hatte es ausgeblendet. »Nur wenige Monate nach deinem letzten Abenteuer!« erwiderte der verlässliche Robot. »Mai siebzehnhundertzehn.« »Masken?« »Dieses Mal wirst du in einer Maske auftreten müssen«, sagte Rico. »Wir sollten uns in einigen Tagen darüber unterhalten. Bleib liegen – ich arbeite weiter am Stärkungsprogramm.« Während mein Körper von den Maschinen fit gemacht wurde, senkte sich die Haube der Hypnogeräte über meinen Kopf. Ich
begann, die »neue« Sprache des Frankreichs zu lernen, das ich mehrmals schon besucht hatte. Es gab nicht sehr viele Unterschiede. Viele Stunden vergingen, dann konnte ich mich wieder bewegen und etwas anderes essen als diese flüssige Nahrung, mit der ich gefüttert worden war wie ein Säugling. Als ich, in einen schweren Mantel aus flauschigem Stoff gehüllt, durch die warmen, in Musik und Farbenspiele gebadeten Räume meines stählernen UnterwasserGefängnisses wanderte, beendeten die Maschinen das Programm, mit dem sie die große, schlanke Japanerin aufweckten. Sie würde mich als exotische Schönheit begleiten. Paris! Ein neues Zeitalter war in Europa angebrochen. Ich erlebte die wichtigsten Stationen auf den Bildschirmen mit. Wieder lernte ich. »Ataya!« Ich setzte mich neben die junge Frau. Tairi
war so, wie ich sie vor dem Einschlafen verlassen hatte – nach dem Schönheitsideal des Samuraistaates war sie hässlich, aber bei mir und in den Ländern um das Binnenmeer würde sie als exotische Schönheit gelten. Ich strich über ihr blauschwarzes, langes Haar und sagte leise: »Die Maschinen, die dir geholfen haben einzuschlafen, werden dich auch wiederherstellen. Die Frühlingssonne wird noch mehr helfen. Wir werden eine Zeit voller Musik und schöner Dinge erleben. Du und ich.« Frankreich: noch immer regiert vom vierzehnten Ludwig, dem Sonnenkönig, wie man ihn nannte. Unsere Ausrüstung wurde von den Maschinen hergestellt: zwei Jagdhunde, vollrobotisch, groß und von exotischem Aussehen. Ich würde die Maske eines Edelmannes aus der Neuen Welt annehmen, aus dem südlichen Amerika. Die kosmischen Vagabunden, die nahe Paris Gäste eines Schlossherrn waren, kamen angeblich aus Russland, dem riesigen Staat im Osten, der von einer despotischen Familie beherrscht war. Waffen wurden überprüft; Kleidung, Münzen und Sättel – wir mussten einen prunkvollen Rahmen um uns entwerfen, damit wir glaubhaft wurden. Tairi fragte, als sie wiederhergestellt war: »Was ist unser Ziel, Atlan?« »Wir versuchen, diese vier Menschen zu überreden, mit ihrem Schiff in meine Heimat zu fliegen; ich erklärte dir die Zusammenhänge auf der Südseeinsel, als unser Samurai-Freund zuhörte. Dann kommt für diese Welt eine neue Zeit. Aber bis zu diesem Ziel ist es weit; ich weiß nicht, ob wir es überhaupt erreichen.« »Sie wissen nichts von uns?« fragte sie. Die Reitkleidung der Maschinen passte ihr hervorragend. Sie schien ihre Persönlichkeit verändern zu können; als sie nackt unter den ultravioletten Lampen gelegen hatte, war sie eine Mischung zwischen Japanerin und einer Perlentaucherin der Südsee. Jetzt verwandelte sie sich in eine schwarzhaarige Europäerin. Die Monate meiner Erziehungsversuche schienen also Wirkung gezeigt zu haben. »Nein. Sie kennen uns nicht. Aber wir kennen sie.«
Mein Gleiter wurde beladen. Die Erfahrungen solcher Abenteuer lagen in den Programmen der Maschinen. Die Grundausstattung war jedes Mal fast identisch. Medikamente und ärztliche Hilfsgeräte, Artikel des täglichen Bedarfs, Nahrungsmittel und eine Masse scheinbar nutzloser Geräte, die ebenfalls getarnt waren. Dieses Mal würde ich nicht mitten in eine barbarische Kultur hineinstolpern; in Frankreich war bereits die erste Rechenmaschine erfunden worden. »Du hast wunderbare Sachen, Atlan. Sie haben mich viele Dinge und eine neue Sprache gelehrt!« Tairi strahlte mich aus ihren dunklen, mandelförmigen Augen an. »Vergiss nicht«, schränkte ich ein, »daß wir niemandem zeigen dürfen, wer wir wirklich sind.
Vielleicht den fremden Gästen – nur dann, wenn sie nicht erschrecken.« »Ich verstehe!« sagte sie. Nach etwa zehn Tagen waren wir bereit. Wir nahmen den Gleiter und stiegen durch die Dunkelheit des Wassers auf, flogen hoch über den Wellen und kamen nach vielen Stunden in die Nähe des bewussten Schlosses. Wo war das Raumschiff? Noch wußte ich es nicht. An einem herrlich klaren Frühlingsmorgen versteckten wir den Gleiter in der Nähe des Städtchens Moretsur-Loing im Süden von Paris. Tagelang waren Robotspione zwischen diesem Ort und Paris und Versailles umhergeschwirrt und hatten wichtige Beobachtungen gemacht. Wir waren keine fünf Meilen von dem Schloss entfernt, in dem sich die kosmischen Gäste aufhielten. Zunächst aktivierte ich die Robotjagdhunde Hector und Castor. »Für mich sind das unbegreifliche Wunder, Atlan«, sagte Tairi und schmiegte sich an mich. Sie sah im Reitkostüm hinreißend aus. Ihr langes Haar war hochgesteckt und unter einem frechen Jägerhütchen festgesteckt. »Es ist immer so, wenn jemand ein Gebiet betritt, das er nicht hundertprozentig kennt. Vorsicht, List und Deckung. Heute ist großer Markt in Moret.« »Was willst du kaufen?« »Pferde und eine Kutsche. Als Besucher aus einem fernen Land müssen wir prunkvoll auftreten.« Nur von unseren Hunden begleitet, Reiterpistolen in den breiten Ledergürteln mit den Geheimfächern, gingen wir den ausgefahrenen Feldweg auf das große Dorf zu. Die Glocken von Notre-Dame begannen zu läuten. Auf den Feldern arbeiteten Bauern, aber wir sahen mehr und mehr kleine Gruppen, die sich von allen Seiten näherten. Einige trieben Vieh mit sich, andere trugen Käfige mit Tauben, wieder andere ritten oder saßen auf Ochsenkarren, deren Räder knarrend die Ruhe des Vormittags zermahlten. Die Sonne war stark und kräftig. Überall roch es nach blühenden Pflanzen. Wir begannen uns wohl zu fühlen. »Du hast Geld? Und du verstehst etwas von Pferden?« Tairi wedelte sich mit dem langen Reithandschuh Luft zu.
»In meinem langen Leben haben mich schon so viele Rosstäuscher zu betrügen versucht, daß ich fast einer der Ihren sein könnte. Und mit den Goldstücken, die ich bei mir habe, können wir uns ein Schloss bauen lassen.« Sie lachte laut. Wir erreichten die Befestigung, wurden eingelassen, aber neugierige Blicke folgten uns. Die Geräusche der Karrenräder und der Hufschläge hallten in der engen, aufwärts führenden Gasse wider. Eine Stadt, die noch im Mittelalter zu sein schien. Aber die Bäume, das Rauschen des Flüsschens über ein Wehr, die Kleidung der Menschen und die herumrennenden Hunde riefen einen helleren Eindruck hervor. »Hier versammelt sich an Markttagen wohl das ganze Land?« fragte Tairi halblaut. »Es ist eine
der wenigen Gelegenheiten, Nachrichten auszutauschen. Man erzählt und hört zu, man spricht über alles – so verbreiten sich die Neuigkeiten, die in Wirklichkeit uralt sind.« »Bleiben wir länger hier?« fragte Tairi und blickte sich neugierig um. »Ja. Wir suchen einen kleinen Gasthof, in dem wir gut essen und ohne Angst vor Ungeziefer schlafen können!« erwiderte ich. Langsam gingen wir durch Moretsur-Loing. Das Städtchen wimmelte von Leben. Fahrende Musikanten spielten; Vieh brüllte, und Geflügel gackerte und schrie aufgeregt. Am Marktplatz erkannte ich das Schild; einen Krug mit hervorquellenden Reben in einem grünen Kranz. Es schien ein hübscher, ruhiger Gasthof zu sein, genügend weit entfernt vom Wasser. Der Platz davor und vor den Kirchenstufen war ein Gewimmel von Ständen und Brettern. Ein junger Bursche näherte sich uns; Hector und Castor blieben stehen und sahen sich mit Robotaugen sichernd um. »Ja?« fragte ich. »Herr«, sagte der junge Mann und zog seine Kappe. »Ihr geht umher und scheint etwas zu suchen. Kann ich Euch helfen?« Ich blickte ihn prüfend an. Sein Gesicht zeigte einen pfiffigen Ausdruck. Vielleicht konnte er uns helfen. »In welchem Gasthof können wir am besten schlafen?« fragte ich und gab ihm ein kleines Goldstück. »Dort, im Krug der goldenen Trauben«, sagte er. »Heute ist Markttag. Morgen wird eine Spielgruppe hier sein. Ich weiß, daß es dort noch einige Zimmer gibt. Sie haben guten Wein.« Wir schlenderten durch das Gewimmel. Zwischen den Mauern des Pfarrgartens und einem kahlen Wäldchen waren viele Pferde angepflockt. Der Handel schien lustlos in Gang zu kommen; nur wenige Gruppen redender Bauern und Händler standen herum. »Braucht Ihr Pferde, Herr?« »Ja. Und eine Kutsche. Wir haben viel Gepäck. Wenn du uns hilfst, wenn wir nicht betrogen werden – es gibt noch mehr Gold!« Er nickte grinsend und versicherte fröhlich: »Ich kenne die Rosstäuscher alle. Und ich kenne den Wirt des Kruges. Haltet Euch an mich, Herr.«
Zuerst betraten wir die Herberge, deren Gaststube sich mit Bauern und Landleuten gefüllt hatte. Sie tranken Wein und grüßten uns mit mehr Ehrerbietung, als ich für angebracht hielt. Der Wirt führte uns in zwei Zimmer im ersten Stockwerk, deren Fenster auf den Marktplatz hinaussahen. Wir erkundigten uns, ob wir unsere Pferde unterstellen konnten, und nahmen die Zimmer. Dann ließ ich Tairi im Schutz eines Hundes zurück und ging mit Castor und dem jungen Mann zu den Pferdehändlern. Zwei Stunden später war ich Besitzer von starken Reit- und Kutschpferden, einer Kutsche und Herr eines Kutschers; der junge Mann ging fort, um sich eine Livree schneidern zu lassen. Gold wechselte seinen Besitzer, und der erste Teil der Ausrüstung
gehörte mir. Ich ließ die vier Pferde einspannen, schwang mich auf den Kutschbock und löste die Bremse. Dem Rosshändler und dem Kutschenmacher, die mir geholfen hatten, rief ich zu: »Ich werde eine Fahrt unternehmen. Wehe Euch, wenn Ihr mir schlechtes Zeug verkauft habt!« Sie versicherten einmütig lautstark, daß dies keineswegs der Fall sei, und ich verließ Moretsur-Loing. Als ich zurückkam, wurden die Sättel auf der Kutsche festgeschnallt und unsere sämtliche Ausrüstung in den Kisten verstaut. Der Gleiter blieb im Versteck, durch Funk abrufbereit. Die Kutsche hielt vor dem Gasthof, in dessen Stall die Pferde standen. Der Wirt kam heraus und hob die Arme. »Ich sehe jetzt, Ihr seid ein hoher Herr aus einem anderen Land!« rief er und starrte die großen, kostbaren Wappen an den Kutschentüren an; im Versteck angeschraubt. »So ist es«, sagte ich und warf ihm die langen Zügel zu. »Und ich strafe mitleidlos, wenn ich bestohlen werde. Aber ich bin nicht geizig – bringt gutes Essen für drei Leute auf mein Zimmer, und wenn der Kutscher Jean kommt, schickt ihn hinauf.« »Es wird alles nach Eurem Willen geschehen, Herr!« rief der Wirt. Während ich die knarrende Treppe hinaufstieg, dachte ich über die letzten Stunden nach. Wir mussten uns Schritt um Schritt in diese Welt hineintasten, aber diese Einzelschritte sollten selbstbewusst sein und uns schnell in die Nähe der vier Fremden bringen. Ich würde vorsichtig sein – niemand konnte sagen, wie die kosmischen Vagabunden reagierten, wenn sie ein gestrandeter Raumfahrer anredete. Die Geräusche des Marktes, der sich gefüllt hatte, Gerüche und Lärm ringsum wurden weniger deutlich, als ich die Tür zu unseren Zimmern schloss. Tairi lehnte sich an mich und sagte in ihrem charmanten Französisch, das sie mit einem undefinierbaren, aber reizvollen Akzent sprach: »Ich habe alles mit angesehen. Wir haben Pferde und eine prachtvolle Kutsche. Wann reisen wir?« »Morgen früh. Ich werde ein Mittel gegen Ungeziefer heraufbringen. Aber zuerst essen wir, Tairi.«
Es war gegen fünf Uhr abends, als sich der Platz zum Teil wieder geleert hatte. Wir aßen mit Jean und fragten ihn aus. Er kannte jeden Weg ringsum und gab mir wichtige Hinweise. Unser nächstes Ziel war der Gutshof, in dem die kosmischen Vagabunden nach ihrer Landung Aufnahme gefunden hatten. »Jean«, sagte ich. »Einer meiner Hunde, Hector, wird die Kutsche bewachen. Der andere bleibt bei uns. Wirst du dich um die Pferde und die Sättel kümmern?« »Ja«, sagte er. »Ich werde im Stall schlafen. Soll ich Euch morgen wecken?« Ich nickte. Nach einem ausgezeichneten Frühstück schnallten wir die Kisten fester, und Tairi setzte sich in die Kutsche. Ihr Pferd, prächtig gezäumt und gesattelt,
wurde an der hinteren Achse angebunden. Der Wirt verabschiedete sich mit vielen Verbeugungen und rief mir zu, als ich mich in den Sattel des Rappen mit der Stirnblesse schwang: »Gebt acht, Herr. Heutzutage sind die Straßen unsicher. Allerlei Gesindel lauert auf reiche Beute.« Ich zog eine Reiterpistole aus dem Sattelfutteral, schlug auf den Knauf der Waffe, die ich im Gürtel trug, und schob meinen Degen nach hinten. »Ich bin keine leichte Beute, Wirt. Dank für die Warnung.« Die Peitsche knallte, die Pferdehufe trappelten über das grobe Pflaster, die Räder mahlten auf dem Stein, und die vier Pferde zogen an. Wir umrundeten den Marktplatz, und ich zog mir zum Schutz gegen die Sonne den Hut tiefer in die Stirn. Jean konnte hervorragend mit den Pferden umgehen. »Alors!« rief ich und ritt neben der Kutsche her. Tairi winkte aus dem Fenster. Wir verließen die Stadt und schlugen am Kreuzweg die Richtung nach Melun ein. Hector rannte weit vor der Kutsche einher, der andere Hund sicherte unseren Rücken. Hinter uns erhob sich eine Staubwolke, die schnell nach Osten abtrieb. Ein Teil der Nervenspannung fiel langsam von mir ab; ich richtete meine Gedanken auf die bevorstehenden Geschehnisse. »Herr Atlan de l’Arcon?« Jean rief vom Kutschbock und knallte mit der Peitsche. Ich ließ mich von der Kutsche überholen und ritt neben ihm dahin. »Wir sollten gegen Mittag rasten. Ich weiß einen schönen Platz im Schatten, nahe einer Quelle!« »Einverstanden«, rief ich und wich einem halb umgestürzten Baum aus, duckte mich auf den Hals des Pferdes. »Dort rasten wir!« Wir kamen durch eine schöne Kulturlandschaft. Es war angenehm warm, überall sah man hellgrüne Felder. Kleine Wälder wechselten mit Hügeln voller Reben ab. Arbeiter auf den Feldern winkten, und wir winkten zurück. Kurz nach dem höchsten Sonnenstand bog Jean vom ausgefahrenen Weg ab und brachte die Pferde unter den ausladenden Ästen eines Baumes zum Stehen. Auf einem moosüberwucherten Sockel erhob eine zierliche weiße Marmorfigur
ihren Arm. Die Pferde scharrten und prusteten. Jean zog die Bremse an und kletterte mit steifen Muskeln vom Bock. »Hier sind wir, Herr Atlan«, sagte er. »Soll ich den Proviant auspacken?« »Ich helfe dir, Jean!« Tairi ließ sich von mir aus der Kutsche heben. Wir schickten die Hunde aus, die das Lager umkreisten. Die Pferde wurden an die Quelle geführt. Auf dem Deckel einer Truhe breitete Tairi das Essen aus. Wir setzten uns auf Steine, die schon seit Jahrhunderten an dieser Stelle als Sitzplätze fungierten, und streckten die Beine aus. »Heute Abend, vielleicht heute nacht erst, können wir bei dem Gutshof des Herrn von Droyden sein«, sagte Jean mit vollen Backen.
»Was sucht Ihr dort, Herr?« »Freunde. Genauer: Fremde. Vier fremde Adelige, die ich treffen muss. Ich muss mit ihnen wichtige Gespräche führen.« »Ich verstehe. Die Pferde sind frisch. Ich werde mein Bestes tun!« erwiderte Jean und trank den Wein in kleinen Schlucken. Ich sah mich aufmerksam um und suchte mit den Augen die Hunde. Der Extrasinn meldete sich. Wenn diese Quelle seit langer Zeit Rastplatz ist, so kann dies ebenso gut ein Treffpunkt für Halunken und Räuber sein! Ich ging hinüber zu meinem Rappen und zog die Mehrzweckwaffe aus dem wasserfesten Futteral. Die Pferde zupften an den sprossenden Grashalmen und scharrten ungeduldig. Die Robothirne der Hunde, dachte ich, hatten zwar die Programme ihrer demontierten oder zerstörten Vorgänger, aber sie mussten noch einige hundert Stunden des Lernprogramms über sich ergehen lassen. Ich ließ mir von Jean den Becher noch einmal füllen und fragte: »Und die Räuberbanden? Verhalten sie sich ruhig?« Jean hob die Schultern und grinste, zog sein Gesicht in bekümmerte Falten und erklärte nachdenklich: »Ich habe wenig von Überfällen gehört, Herr Atlan. Aber wir hatten einen langen, harten Winter; es kann sein, daß die Räuber sehr arm und daher hungrig sind.« Ich wühlte in der Truhe und brachte eine zweiläufige Waffe zum Vorschein. Sie sah aus wie eine Vorderladerpistole, wie ein kleines Terzerol, verschoß aber auf den beiden Läufen jeweils fünfzehn Schuß. Ich erklärte Jean, wie die Waffe funktionierte, und er begriff sehr schnell. »Wir werden vermutlich nicht angegriffen und überfallen!« »Hoffentlich!« schloss Tairi. Sie war nachdenklich geworden, schien mir. Für einen Menschen dieses Planeten, der innerhalb kurzer Zeit viermal seine Umgebung wechseln musste, war eine neue Umwelt ein strapaziöses Abenteuer. Sie war aus dem japanischen Gutshof geflohen, hatte sich am Strand der Südseeinsel aufgehalten, war mir in die Höhle der blitzenden Maschinen gefolgt, und jetzt erlebte sie das Frankreich des frühen achtzehnten Jahrhunderts.
Beeile dich! Ein Aufenthalt im Freien ist gefährlich. Sieh zu, daß ihr den Gutshof erreicht! flüsterte der Logiksektor warnend. Ich trank aus und stand auf. »Los! Weiter. Vielleicht haben wir heute Abend ein festes Dach über uns!« Der Himmel hatte sich mehr und mehr bewölkt; aus den kleinen weißen Wolken war eine große graue Wolke geworden, die den westlichen Horizont berührte. Die Luft des frühen Nachmittags schien mit Elektrizität geladen zu sein. Zwei Stunden lang folgten wir der Straße. Wir kamen an primitive Wegweiser, auf denen lange, zusammengesetzte Ortsnamen standen. Irgendwo stand das schwarze Gerüst eines Galgens; am Seil baumelte ein Körper, von Raben umflattert. Am frühen Abend hob Jean den Arm
und rief: »Herr! Kommt bitte zu mir!« Ich wendete mein Pferd und preschte zurück. »Dort vorn ist ein Hohlweg.« Jean zog den Kopf zwischen die Schultern. »Wir müssen hindurch, weil eine der wenigen Brücken über die Seine dahinter ist. Seid auf der Hut!« Ich nickte grimmig und schnippte mit den Fingern. Hector und Castor stoben heran und blieben vor dem Pferd stehen. Sie hoben die Köpfe und sahen mich an. »Rennt voraus!« sagte ich. »Wenn ihr Menschen in der Nähe des Einschnittes seht, kommt zurück.« Sie bellten scharf auf. Nach wenigen Sekunden waren sie verschwunden. Ich bedeutete Tairi, hinter mir zu bleiben. Das gelbe Band der Straße schlängelte sich in wirren Linien bis zu einem kleinen Wald und wurde hinter den Büschen unsichtbar. Ich hob die Waffe, entsicherte den Lähmstrahler und sah mich aufmerksam um. Keine Vogelschwärme kreisten über dem Wäldchen, keine Tiere flüchteten. »Langsamer!« rief ich leise. Ich wußte nicht, was es war, aber etwas machte mich stutzig. Schräg hinter mir ritt Tairi. Dann kam einer der Hunde aus dem Wald zurück gerannt und bellte dreimal. Gefahr! rief der Extrasinn. Wir verließen die letzte Biegung der Straße. Neben uns erschienen die ersten Büsche und Bäume. Es wurde zusehends dunkler. Unsere Augen versuchten die Düsternis zu durchdringen. Ich setzte die Sporen ein und galoppierte schräg den Abhang hinunter. Weit vor mir hörte ich das Gebell der Hunde. Dann einen Aufschrei. Ich zügelte das Pferd, wandte meinen Kopf und sah, wie Jean die Kutsche vorsichtig durch die Kurve lenkte, Tairi ritt neben ihm. Ich sprang über einen Graben, setzte über einen gefallenen Stamm und schnitt den Weg ab. Ich sah noch immer nichts. Nur das wütende Gebell der beiden Robothunde. »Verdammt! Was soll das?« fragte ich mich und ritt im Zickzack zwischen den Stämmen hindurch. Der Hohlweg wurde tiefer und schmaler. Ich ritt am rechten Rand der Schlucht. Hinter mir erschien jetzt das dunkle Dach der Kutsche. Aus dem Augenwinkel sah ich die weiße Feder am Hut Tairis. Weiter. Zweige schnellten zurück und schlugen gegen meine Schenkel. Noch immer sah ich nichts.
Das Gebell hatte aufgehört. Ich ritt schneller und brach mir rücksichtslos Bahn durch Büsche und hohes, wippendes Gras. Der Wagen rollte, schneller werdend, den Hohlweg hinunter. Die Holzklötze rieben sich kreischend an den Eisenreifen der Felgen. Als ich den Kopf hob und den Himmel zwischen den schaukelnden Baumwipfeln erblickte, musste ich erkennen, daß die graue Wolke ihre Farbe in tiefes Schwarz verändert hatte. Die Peitsche knallte. Wieder machte der Weg eine Krümmung. Ich sah zwischen den Stämmen ein Stück farbige Kleidung. Es bewegte sich. Ich bückte
mich im Sattel, riss das Pferd herum und galoppierte in einem Halbkreis auf die Stelle zu. Rechts neben mir sprang ein Mann auf. Ich zielte über den Hals des Pferdes und schoss ihm eine krachende Ladung des Lähmstrahlers in die Brust. Aus seinem Hals löste sich ein lang gezogenes, krächzendes Gurgeln. Ein angerosteter Degen fiel aus seiner Faust. Ich ritt weiter. Jemand hob ein Gewehr und feuerte. In der gleichen Sekunde verschwand er hinter der Wolke aus Pulverrauch. Ich zielte in seine Richtung, ins Zentrum der Wolke, und als ich schoss, zuckte der erste Blitz herunter. Ein fernes Donnergrollen folgte, als ich an dem niederstürzenden Mann vorbeisprengte… Auf der anderen Seite des Hohlweges entdeckte ich eine Gruppe von Männern, drei oder vier, die um einen Baum herumstanden. Einer hob gerade eine Axt, um einen dicken Ast zu kappen. Der zweite kämpfte mit dem schlanken Jagdhund. Ich schoss zweimal, die Axt flog, sich überschlagend, im Bogen davon. Jetzt überholte mich die Kutsche, hinter der Tairi ritt. Jean stand mit federnden Knien auf dem Kutschbock, hielt sich mit einer Hand fest und feuerte hintereinander dreimal mit der kleinen Waffe. Dann erkannte er die Gefahr. »Schneller!« schrie ich. Der andere Hund kam in gewaltigen Sprüngen durch den Hohlweg. Jean steckte die Waffe zurück, schlug auf die Pferde ein und löste die Bremse. Schlingernd und schneller werdend, jagte die Kutsche die abschüssige Straße herunter. Tairi ritt hinter der Achse in einer Wolke aus Staub, Nadeln und hoch geschleudertem Laub. »Vorsicht! Der Baum!« brüllte ich aus Leibeskräften. Der Mann, mit dem der Hund kämpfte, trat mit dem Fuß wuchtig gegen den Ast. Der Baum begann an der gekappten Stelle knirschend zu brechen und neigte sich langsam. Ich schoss den Wegelagerer bewusstlos. Jean und Tairi schauten hoch und erkannten die Gefahr. Der Baumstamm würde in den Hohlraum stürzen. Seine Äste mussten die Kutsche zerschmettern und die Menschen verletzen. Ich saß wie erstarrt im Sattel und sah zu, wie sich der fallende Baum und die Kutsche einander näherten. Als die ersten Äste meine Sicht versperrten, sah ich noch, wie Tairi ihr Pferd spornte und die Kutsche überholte.
Schneller! schrie mein Extrahirn. Tairi ritt dicht neben den großen Rädern. Ein Fehltritt des Pferdes würde ihr die Füße brechen, sie abwerfen und unter die Räder schleudern. Mein Herzschlag raste, der kalte Schweiß brach mir aus. Dann krachte der Baum herunter. Seine Zweige peitschten auf das Dach der Kutsche. Äste krachten und brachen splitternd. Dumpfe Geräusche waren zu hören. Eine Staubwolke wallte auf. Als ich mein Pferd herumriss und nach unten starrte, konnte ich
sehen, wie die Kutsche und die Reiterin aus der Wolke hervor schossen und in die nächste Kurve des Hohlweges hineinrasten. »Das war verdammt knapp!« murmelte ich und fühlte, wie meine Knie zu zittern begannen. Ich ritt langsam weiter, bis der Hang weniger steil wurde, und zwang den Rappen hinunter auf die Straße. Wieder schlug ein Blitz in der Nähe ein Sekundenbruchteile später schmetterte der Donner. Alle sechs Pferde scheuten wiehernd. Der Himmel war von tiefer Schwärze. Unablässig zuckten Blitze. Der Donner krachte, aber es regnete nicht. Die Kutsche näherte sich der Brücke und fuhr auf eine Scheune mit einem vorspringenden Dach aus Holzschindeln zu. Der gekalkte Stein des Sockels leuchtete im Schein der Blitze auf. Ich überholte das Gespann, ritt an das Pferd Tairis heran und fasste nach ihrer Hand. »Ich bin erschrocken«, sagte sie mit unsicherem Lächeln und setzte sich im Sattel zurecht. »Aber dann habe ich erkannt, was ich zu tun hatte.« Ihre Stimme war hoch und zitterte. Ich legte den Arm um ihre Schultern und zwang die Pferde, langsamer zu werden. Die ersten dicken Tropfen fielen. Überall erschienen kleine Fontänen aus Staub. Die Kutsche polterte über eine lange Brücke aus Stein und Holzbalken und fuhr auf die verlassene Scheune zu. Unter dem Vordach hielt Jean die Pferde an, zog die Bremse und stieg mit zitternden Gliedern vom Kutschbock herunter. Ich half Tairi aus dem Sattel und zog sie an mich. »Die Männer, die uns überfallen haben«, sagte ich leise und nahm ihr den staubbedeckten Hut vom Kopf, »sind arm. Sie rächen sich für die Ausbeutung durch den Adel, indem sie die Adeligen überfallen.« Jean hielt die Pferde und sah mich an. »Aber sie überfallen auch andere Menschen, die nicht adelig sind. Warten wir das Gewitter hier ab?« »Es wird das beste sein«, entgegnete ich. »Wie weit ist es noch bis zum Hof derer von Droyden?« »Etwa zwei Stunden«, sagte Jean.
Wir warteten rund eine Stunde. Zuerst tobte sich das Gewitter über uns aus, dann zog es weiter. Als wir losfuhren, regnete es nur noch leicht. Wir saßen in der Kutsche, sahen aus den Fenstern, und Jean hatte sich in meinen wasserdichten Mantel mit dem eingewebten Wappen gehüllt. Die Reitpferde waren an den Seiten des Gepäckbrettes angebunden, die Hunde liefen vor und hinter der Kutsche. Die Straße schlängelte sich zwischen den regennassen Feldern dahin, kam an eine Abzweigung, der wir folgten. In verwitterten, alten Lettern stand dort: Droyden. Die Fremden werden weitergezogen sein, aber sicher erhältst du wichtige Aufschlüsse über sie, flüsterte der Extrasinn. Als ich heute, kurz vor der Landung des versteckten Gleiters, meine Robotsonden abgefragt hatte, waren
die Vagabunden noch im Haus Droyden gewesen. Inzwischen mochte sich einiges geändert haben. Wir betraten einen Staat und ein Land, das unter der Herrschaft eines Königs »von Gottes Gnaden« stand. Die Unterschiede waren überall deutlich sichtbar gewesen: Was aus der Ferne wie ein Pittoreskes Dorf aussah, wurde bei näherer Betrachtung zu einer Ansammlung von Armenhäusern. Gewaltige Steuern, Abgaben und Dienstleistungen flossen in die Taschen der Landbesitzer und in die Staatskasse. Diese Gelder und Leistungen hielten eine dünne, aber rücksichtslose Schicht an der Macht. Sie verkörperte die Kultur und den Fortschritt und hielt beides gleichermaßen auf, indem sie alles für sich beanspruchte – aber auch das konnte ich nicht ändern. Ich musste mich anpassen, wenn ich mein Ziel erreichen wollte. Und ich würde tun, was ich konnte, um in meiner Umgebung das Los von Unterdrückten zu erleichtern. Der Regen hörte auf, kurz nach Sonnenuntergang. Als wir das Kläffen von Hunden hörten, wurde es Nacht. Wir waren vor dem ausgedehnten Gutshof angekommen. »Werden Sie uns aufnehmen, Atlan?« fragte Tairi besorgt. »Ich hoffe es«, sagte ich. Eine Tür öffnete sich. Eine Silhouette hob sich gegen den Hintergrund ab. Eine kraftvolle Stimme rief über den Hof: »Wer seid Ihr, Fremder?« Ich stieg aus der Kutsche, führte Tairi neben mir auf den Lichtschein zu und erkannte einen hochgewachsenen, schlanken Mann mit breiten Schultern und langem Haar bis zu den Schultern. »Mein Name ist Atlan de l’Arcon. Ich suche die vier Fremden, die Eure Gäste sind, Herr von Droyden!« erwiderte ich. Er trat zur Seite und musterte uns prüfend. Dann lächelte er, wobei er schlechte Zähne zeigte. »Willkommen«, sagte er. »Aber die Fremden sind auf dem Weg nach Melun.« »Dürfen wir eintreten?« fragte Tairi mit ihrem akzentuierten Französisch. »Seid bitte meine Gäste!« antwortete Herr von Droyden. Seine Familie zeigte sich gastfreundlich, aufgeschlossen und
gesprächsbereit; Tairi und ich vertieften unsere Kenntnisse von Land und Leuten, von sozialen Strukturen und dem Hof zu Versailles. Und von den vier Fremden. Nach kurzer Zeit kannten wir die Namen. Die nannte sich Gabrielle Doreau. Verga war zu Beatrix Vergaty geworden. Nyder hatte seinen Namen in Diannot d eJara geändert, und Troy war Roy er Arcola. Und: Ihr Ziel war Versailles. Sie wollten den Großen König, den Sonnenkönig, kennen lernen. Es gefiel ihnen unvorstellbar gut hier, hatten sie gesagt. Am Morgen erwarteten uns strahlender Himmel, ausgezeichnetes Essen auf der Terrasse des schlossähnlichen Gutshofes, eine Reihe angenehmer Gespräche und eine erstaunliche Person, eine etwa sechzigjährige Frau mit klugen Augen, Antoinette Droyden, die Großmutter des Hausherrn.
Auch sie wollte den Sommer in unmittelbarer Nähe von Versailles verbringen, eingezwängt in das starre Reglement des höfischen Zeremoniells. Mach sie zu deiner Freundin, flüsterte eindringlich der Logiksektor. Du wirst dann am Hof des Königs eine Verbündete haben, die dich beraten kann!
7. Wir waren reisefertig. Von der Terrasse sahen wir, wie die Diener und Knechte die Pferde anschirrten und unser Gepäck festschnallten. Verglichen mit allen anderen Menschen, die ich in den wenigen Tagen kennen gelernt hatte, war Antoinette Droyden geradezu universal gebildet. »In diesem Jahr wird die Schloßkirche von Versailles fertig«, sagte Madame de Droyden. »Und dann werden wir Lullys, Charpentiers und vielleicht auch die Werke des Deutschen Bach dort hören können. Wussten Sie, Herr Atlan, daß ein Philosoph versucht hat, die Spaltung der christlichen Kirchen wieder aufzuheben?« »Nein«, sagte ich. »Aber wer immer es war – er dürfte damit gescheitert sein!« Sie nickte und wedelte mit ihrer schlanken Hand vor meinen Augen. »So ist es. Leibniz ist gescheitert. Lest seine Theodicee; ein bemerkenswertes Buch. Auch wenn es für meine Augen ein klein wenig zu eng gedruckt ist.« »Die nachlassende Güte Ihrer Augen, Madame«, sagte Tairi und lächelte graziös, »wird von deren Schönheit in den Schatten gestellt!« Antoinette warf ihr einen überraschten Blick zu. »Artig, mein Kind«, sagte sie. »Sehr artig, das Kompliment. Ihr werdet am Hofe Aufsehen erregen. Gebt gut auf sie acht, Atlan. Die Kavaliere werden sich um sie duellieren.« Auch diese Gefahr sollte nicht unterschätzt werden! warnte der Extrasinn. »Ich werde sie in ein dunkles Zimmer einschließen«, versicherte ich lachend. »Und nur hin und wieder herauslassen.«
Die vergangenen Tage hatten mir gezeigt, wie schwer es für mich sein würde, mein Ziel zu verfolgen und gleichzeitig anonym in die Geschehnisse dieses Landes einzugreifen. Seit der Jahrhundertwende waren in allen Teilen der Welt bemerkenswerte Dinge geschehen, die in ihrer Gesamtheit höchst widersprüchlich waren: Halley hatte Magnetfeldkarten für die Schifffahrt gezeichnet, aber in Deutschland wurden unverheiratete Frauen besteuert! Leibniz wollte die Preußische Akademie der Wissenschaften gründen, gleichzeitig hielten »Chemiker« noch das Wasser für in Erde umwandelbar. Huygens hatte die Entfernung des Sirius oder Hundssterns – ich kannte diese Sonne als Sepedet aus dem Alten Reich Ägyptens – aus seiner Helligkeit geschätzt; aber überall in Europa diente die Sänfte als Transportmittel für vornehme Menschen. Der Begriff der »chemischen Elemente« wurde präzisiert. Wahrscheinlichkeitsrechnung, Integralrechnung und Differentialrechnung waren bekannt, und Halley hatte
sogar die Wiederkehr des nach ihm benannten Kometen berechnet. Leibniz führte den Begriff des »Unbewussten« ein, warf aber gleichzeitig dem großen Isaak Newton Plagiat vor. In Versailles und an vielen anderen Stellen um Paris wuchsen Prunkschlösser aus dem Boden, Aquädukte wurden gebaut, doch am Los der einfachen Menschen hatte sich nicht das geringste geändert. Die Armen blieben arm, unwissend und krank, und die Reichen wurden reicher. In Europa schien sich ein gigantischer Strudel zu drehen, der über die Jahrhunderte hinweg schneller wurde und irgendwann zu einer echten Gefahr werden konnte. Deutlich wurde mir in all diesen Tagen, wie wichtig es wurde, daß ich Arkon erreichte. Meine Denkanstöße hatten selten die Wirkungen gehabt, die ich beabsichtigte. »Madame«, sagte ich leise, »ich bin sicher, daß wir uns in wenigen Wochen in der Nähe von Versailles wieder treffen werden. Ich beabsichtige, mich dem Sonnenkönig als Erfinder und Ingenieur anzubieten.« Wir verabschiedeten uns voneinander. Ein neuer Abschnitt der Reise begann. Es schien den Fremden auf Larsaf III gut zu gefallen… Peitschenknallend und mit ausgeruhten Pferden zogen wir seineabwärts davon. Als wir uns ein wenig später dem Städtchen Sceaux näherten, kam Hector bellend auf mich zu gerannt. Er gab ein Signal. Jemand nähert sich euch! sagte der Extrasinn. Wir drei waren guter Dinge, bewegten uns durch eine schöne Landschaft, und je mehr wir uns Paris näherten, desto dichter war das Land besiedelt. Schlösser, Gutshöfe und kleine Siedlungen wurden zahlreicher und schöner, gepflegter. »Was hat Hector gewollt?« fragte mich Tairi. Wir ritten nebeneinander weit vor der Kutsche dahin. »Ein Reiter kommt auf uns zu!« erklärte ich. Wir sahen ihn ein wenig später. Dicht vor uns zügelte er seinen Schimmel und hob grüßend die Hand. Ein junger Mann, nach dem Wappen auf seiner Jacke im Dienst eines Adeligen. »Herr! Ihr seid nicht Atlan de 1’Arcon?« »Doch, der bin ich«, sagte ich. »Habt Ihr etwas für mich?«
Er griff in seinen breiten Ärmelaufschlag und zog einen versiegelten Brief hervor. »Eine Botschaft für Euch, von meinem Herrn, Vicomte de Fleury!« Ich hielt meinen Rappen an und brach das Siegel auf, faltete das dicke Papier auseinander. In einer Schrift, die eine harte, ungeschulte Hand geschrieben haben mochte, stand zu lesen: Herr Atlan de l’Arcon, Euch die besten Grüße. Ihr und Eure entzückende Freundin seid mir von Madame Antoinette de Droyden empfohlen worden. Ich weiß, Ihr seid auf dem Weg nach Versailles. Ich möchte Euch einladen, bei mir Aufenthalt zu nehmen; eine Jagd in meinen Forsten und ein Fest mit höfischer Musik werden Euch den Aufenthalt verschönern.
Bitte, folgt dem Boten, wenn Ihr nichts Dringenderes zu tun habt. Willkommen in meinem Schloss zu Sceaux. Nicolas, Vicomte de Fleury Ich nickte. »Wir folgen Euch, junger Mann«, sagte ich. »Ihr habt noch andere Gäste?« Meine kurze Freundschaft mit der alten Dame hatte erste Früchte getragen. Meine Erzählungen aus einem Land, das niemand so recht zu kennen schien, mussten eine Empfehlung gewesen sein. »Andere und ebenso weitgereiste Gäste!« sagte der Bote. »In drei Stunden sind wir im Schloss. Bitte, reitet mir nach!« Er hob wieder die Hand und ritt voraus. Ich gab Jean genaue Anweisungen und setzte die Sporen ein. Nach kurzer Zeit wichen wir von der Straße am rechten Seineufer ab, kamen auf einen nur angedeuteten Weg, der in verwirrenden Kurven und Schleifen am Waldrand vorbeiführte. Endlich erweiterte sich die Landschaft, die Bäume traten zurück und machten einer Schneise Platz. In der Mitte der Schneise lief das doppelte Band zweier Kanäle entlang. Im Wasser spiegelte sich die Vorderfront eines kleinen Schlosses. Es sah ausnehmend idyllisch aus. Tairi schien hingerissen zu sein. Sie strahlte den Boten und mich an und erklärte, sie habe noch niemals so etwas Schönes gesehen. »Das Schloss des Herrn von Fleury«, rief der Bote. »Es sieht wunderbar aus!« stimmte ich zu. Eine gewisse Beklemmung beschlich mich. Wahrscheinlich würde ich in kurzer Zeit den Fremden gegenüberstehen. Sie waren in weit geringerem Maß als ich oder wir belastet: Ihnen schien nicht viel daran gelegen zu sein, den Planeten zu verlassen. »Es ist wunderbar! Voller schöner Dinge. Und heute voller Gäste aus der Umgebung… die Jagd und das Fest, Herr!« Wir bogen nach rechts ab und kamen an Blumenbeeten vorbei, die Farben und Formen von Ornamenten zeigten. Zwischen ihnen befanden sich Wege aus weißem Kies. Die Natur war hier in einem Maß manipuliert worden, das ich nicht ganz begriff: War es der Versuch, die Natur den erfundenen Stilelementen unterzuordnen? Oder sollte sich hier eine höhere Ordnung zeigen? Entlang der
Bäume, deren Wipfel ausschließlich gerade Kanten zeigten, Scob eine Gruppe von Reitern. »Ihr werdet erwartet, Herr!« sagte der Bote laut. Wir fuhren durch den Wald, über kleine Brücken, durch eine Ansammlung zierlicher Häuschen, in denen, wie mir Jean erklärte, die Diener und Gärtner wohnten, in einem großen Bogen auf den kiesbedeckten Platz vor dem Portal zu. Eine breite Treppe führte hinauf, von steinernen Geländern und schmiedeeisernen Leuchten flankiert. Diener warteten und liefen auf uns zu, als wir herankamen. »Der Herr von Fleury.« Der Bote zog seinen Hut und deutete auf einen mittelgroßen Mann in der Tracht dieser Zeit. Er sah aus wie ein Landedelmann, dessen einzige Interessen die Jagd, das Trinken
und die Frauen waren. Nicolas, der Vicomte von Fleury, kam die breiten weißen Treppen herunter und eilte auf Tairi zu. Er verbeugte sich halb galant, halb hölzern und sagte: »Ihr müsst jenes schönste Mädchen sein, von dem Antoinette mir berichten ließ! Willkommen!« Sie ließ sich von ihm aus dem Sattel helfen. Diener brachten Kutsche und Pferde weg. Wir drei standen auf dem Platz vor der Freitreppe. Langsam sah ich mich um und bemerkte: »Euer Besitz ist eine Perle der Landschaft, Herr. Ein wahres Kleinod!« »Ihr schmeichelt!« erwiderte er lachend. »Meine Freundin, Antoinette de Droyden, sagte mir, Ihr könntet wilde, abenteuerliche Geschichten aus dem Land erzählen, aus dem Ihr kommt. Das wird die Kaminrunde bereichern!« Wir tauschten eine Reihe Artigkeiten aus, während uns Fleury zu den weit geöffneten Torflügeln hinaufführte. Das Schloss war von ausgelassenen Menschen erfüllt; von überall her hörte ich Flüche und Gelächter, Klirren von Gläsern und Pokalen, Schritte und einzelne Takte barocker Musik. Wir traten ein und wurden abermals begrüßt. Es schien mir, als ob alle die kleinen Landedelleute miteinander wetteiferten, um die Lebensart am Hofe von Versailles in ihren Schlössern nachzuahmen. Wir wurden mindestens siebzig Menschen vorgestellt; ein Querschnitt des Adels zwischen Paris und Nemours. Dann geleitete man uns in unsere Zimmer im ersten Stock. Ein breiter Balkon verlief vor den hohen, schmalen Fenstertüren und zeigte einen Ausblick in den Park. Tairi lehnte sich neben mir an die Brüstung und sah in den Park, in dem einzelne Gruppen spazierten. »Sie gleichen Figuren auf dem Schachbrett. Diese Frau dort neben dem Sockel mit der Urne darauf… sie ist sehr schön.« Fünfzehn Meter schräg unter uns lehnte eine schlanke, hochgewachsene Frau. Das ausgeschnittene Kleid, das sie trug, brachte Hals, Schultern und Dekollete deutlich zur Geltung. Das Haar von einem eigentümlichen Hellbraun war hochgesteckt. »Sie ist schön. Sie besitzt die Schönheit, die aus der Fremde kommt«, sagte ich leise. »Es ist Die, die sich jetzt Gabrielle Doreau nennt. Die Fremden sind also hier.«
»Ich verstehe«, flüsterte Tairi. »Das Spiel hinter den Kulissen beginnt.« »Jetzt und hier!« sagte ich. Vorsicht! Du weißt, was für dich auf dem Spiel steht! warnte der Logiksektor. Im selben Augenblick hob Gabrielle den Kopf und sah uns auf dem Balkon stehen. Ich zog meinen Hut und vollführte eine komplizierte Geste der Höflichkeit. Sie nickte lächelnd, dann wurde ihre Aufmerksamkeit von Tairi gefesselt. Beide Frauen wechselten einen langen, intensiven Blick. Tairi sagte so leise, daß nur ich es hören konnte: »Sie hat mich erkannt, Atlan!« Ich lächelte und erwiderte:
»Niemand kennt uns. Niemand weiß, wer wir sind. Nur ich kann unterscheiden, wer Bewohner dieses Planeten ist und wer aus dem Weltraum kommt.« Endlich drehte Dié-Gabrielle wieder den Kopf und winkte einem Diener, der ein Tablett mit gefüllten Pokalen trug. Der letzte Blick der Außerirdischen hatte meinem schulterlangen weißen Haar gegolten; ich trug blaugrau gefärbte Haftschalen, um die rötliche Farbe meiner Augen zu tarnen. Diener brachten unser Gepäck. Der Hausherr erschien mit seiner Frau, einer derben bäuerlichen Schönheit, die sich in Kleider gezwängt hatte, die ihr nicht standen. Sie ordneten an, scheuchten die Bediensteten herum und ließen uns schließlich allein. Wir waren eingeladen, in einigen Stunden am Abendessen teilzunehmen. Unten stimmten Musiker ihre Instrumente. »Es ist nur eine Station auf dem Weg zum königlichen Hof, nicht wahr?« fragte Tairi, während ich ihr half, die Reitstiefel auszuziehen. »Ja. Nicht mehr, aber auch nicht weniger wichtig«, sagte ich nachdenklich und warf meinen Hut auf einen Sessel. »Hier werden wir einige Freunde kennen lernen. Auch die Fremden wollen nach Versailles. Je eher ich mit ihnen Kontakt bekomme, desto besser.« Die Nacht fiel mild. Der Park des Schlosses wurde vom Mondlicht übergossen. Nachdem Tairi und ich in dem riesigen Prunkbett hinter den heruntergelassenen Vorhängen einige Zeit geschlafen hatten, zogen wir uns um. Ich hatte es befürchtet: Die hygienischen Anlagen waren mehr als nur dürftig. Aus unserem reichhaltigen Gepäck suchten wir Kleidung hervor, die dezent, aber wertvoll war. Auf alle Fälle würde unser Geschmack Aufregungen verursachen. Im Park war es still geworden; nur Windlichter brannten und schufen winzige Inseln der Helligkeit. Die Glut im Kamin strahlte wohltuende Wärme aus, Kerzen flackerten in einem leichten Luftzug. Unter uns schien sich das gesamte Haus auf das Essen vorzubereiten.
»Warum gehst du nicht einfach auf die Fremden zu, sagst ihnen, wer du bist und was du willst?« Tairi zog sich einen Schuh mit hohem Absatz an. Ich hauchte das Leder des Waffengehänges an, polierte es mit dem Ärmel und erwiderte: »Ich habe immer wieder die Erfahrung gemacht, daß in diesen Fällen der direkte Weg der schlechteste ist. Ich muss den einmaligen, günstigen Augenblick abwarten. Die, Troy und ihre Freunde würde meine Eröffnungen für einen dummen Scherz halten.« »Ich verstehe. Der Weg zum Raumschiff führt also sicher über Versailles?« »So ist es!« sagte ich. Größte Skepsis ist angebracht! sagte mein Extrahirn. Du kennst die Fremden gut, aber nicht gut genug. »Diener werden uns zu Tisch bitten«, sagte Tairi. »Gibt es etwas, worauf ich besonders achten muss?« Ich schüttelte den Kopf.
In allen diesen verworrenen Stunden und Tagen waren Frauen wie Tairi ein Lichtblick und eine Erholung. »Nein. Verhalte dich natürlich und abwartend, und alles ist klar!« sagte ich und schob eine Haarsträhne von ihrem Ohr nach hinten. Tairi sah hinreißend aus. Ihr Kleid war zugleich raffiniert und einfach; der beherrschenden Mode angeglichen und dennoch fremdartig. Für meine Kleidung galt dasselbe. Die künstlichen Jagdhunde lagen vor dem Kamin. Wieder ergriff mich ein Gefühl der Unruhe und der Unsicherheit. Wie sollte ich vorgehen? Ich hatte es mit vier Raumfahrern von erstaunlicher Begabung zu tun. »Wie das klingt – alles ist klar!« sagte das Mädchen. »Wenn ich diesen Planeten verlassen kann, um mit einer Flotte zurückzukommen, hat sich jeder Einsatz gelohnt!« antwortete ich. Wir kamen in einen Korridor und betraten an dessen Ende ein prächtiges Treppenhaus. Von unten drang Lärm herauf; ein Geruch schwelenden Holzes und aller möglichen Speisen schlug uns entgegen, als wir die letzten Stufen in den großen Saal hinuntergingen. »Ihr seht weitgereist und fremd aus, Herr Atlan, aber Eure Begleiterin ist eine Augenweide!« Herr von Fleury stand vor uns, einen Becher in der Hand. Hinter ihm drängten sich die Gäste. Ich lächelte und sah mich um. Schon bald konnte ich die kosmischen Vagabunden erkennen. Ihre schlanken Gestalten überragten die übrigen Gäste. Die Adeligen entstammten der gesamten Umgegend; einfache Menschen, deren Lebensinhalt die Jagd war, das Trinken und jede Form der Unterhaltung. Nur die wenigsten konnten schreiben und lesen, und die Anzeichen einer hohen Kultur, die ich festgestellt hatte, waren auf wenige Personen beschränkt. Um Paris ebenso wie an vielen Stellen dieses Planeten. Der Lärm des Essens und der Gespräche übertönte mühelos die Musik. Irgendwann an diesem Abend, nachdem die Tische abgeräumt waren, begaben Tairi und ich uns in die Nähe der Fremden. Dié-Gabrielle sah uns kommen, nickte Verga zu und machte drei Schritte in unsere Richtung.
»Sieh an«, sagte sie in tadellosem Französisch, »der Gast mit dem exotischen Haar und der fremdartigen Freundin.« Ich küsste ihre Hand, stellte Tairi vor und erwiderte: »Eure Schönheit, insbesondere die Eures Schwanenhalses«, sagte ich und versuchte, nicht allzu sarkastisch zu wirken, »ist so auffällig, daß wir danach hungern, Euch kennen zu lernen.« »Die weite Reise aus dem Land, in dem es Menschen mit weißem Haar gibt, scheint Eure Rede gewandt gemacht zu haben.« »Gewandtheit der Rede kann körperliche Schönheit selten aufwiegen und schon gar nicht ersetzen!« sagte ich. »Woher kommt Ihr? Ich hörte, daß Eure Gruppe aus vier Personen besteht?« »Wir kommen
aus einem Reich weit im Osten. Russland. Wir sind hier, um die Sitten am Hof des mächtigsten Königs zu studieren.« »Das fügt sich wunderbar«, meinte ich begeistert. »Auch wir wollen nach Versailles. Ich möchte mich bei Hof als Erfinder und Mann für alle Gelegenheiten vorstellen.« Sie zuckte zusammen. Die drei anderen Personen schlenderten heran und sahen mich ebenso prüfend an. Tairi nahm meinen Arm, und ich winkte einem Diener, der Weinbecher auf einem Tablett vorbei trug. Vorsicht! Sie versuchen dich zu analysieren. Du bist für sie ein Exot! warnte der Extrasinn. Wir bildeten eine kleine, stille Gruppe inmitten des Trubels. »Ihr seid Erfinder? Was erfindet Ihr für gewöhnlich?« erkundigte sich Gabrielle. »Dies und jenes. Maschinen und kühne Gedanken, neue Techniken und alles, was den Menschen hilft, besser zu leben und ihre Welt schneller und gründlicher zu erkennen. Nur bin ich kein Zauberer!« »Wer ist das schon!« sagte Nyder schläfrig. Wir sahen einander im Licht des flackernden Kaminfeuers an. Ein Diener kam und stellte einen Leuchter auf einen niedrigen Tisch mit geschwungenen Füßen. Sie trauten mir nicht, die Leute aus dem Weltraum. Auch ihre Kleidung war stilvoll und teuer, aber im Schnitt und in den Verzierungen unverkennbar exotisch. Eine gute Tarnung – ebenso gut wie meine. »Dann werdet Ihr Euch mit Royer Arcola duellieren müssen!« sagte Gabrielle, und ihre Augen leuchteten auf. »Warum?« fragte Tairi. »Weil auch Royer ein Erfinder ist«, sagte Verga. »Er will dem König zeigen, wie man kühnere und bessere Paläste bauen kann.« »Ich werde nicht konkurrieren!« versprach ich. »Es wäre vielleicht nicht unersprießlich, zusammen zu reisen. Ich schätze, Ihr seid fröhliche Menschen, und ich lache auch gern!« sagte ich. »Euer Wohl, schönste Gabrielle.« Sie lächelte mir über den Rand des Pokals hinweg zu, aber ihre Augen blieben ernst. »Dort, woher Ihr kommt – gibt es viele Menschen wie Euch?« fragte Diannot de Jara.
»Nein«, erwiderte ich. »Nur wenige. Und davon wiederum trauen sich nur ein paar, lange Reisen zu machen. Auf welchem Weg seid Ihr gekommen?« Sie schwiegen verblüfft, dann warf Royer ein: »Zu Schiff. Und dann auf dem Landweg.« Ich nickte. Im gleichen Augenblick stellte sich mir die Frage, ob ich sie auf das Raumschiff ansprechen sollte, das zwischen uralten Bäumen verborgen war. Lange würde es nicht unentdeckt bleiben. Sollte ich, sollte ich nicht? »Das ist der übliche Weg. Auf ihm kamen auch wir«, sagte Tairi. »Wenn ich unhöflich bin und Vergleiche anstelle… die Gäste dieses Hauses sind ein gewisser Gegensatz zur Baukunst und der Ausstattung. Sie benehmen sich wie reiche Bauern in einem Königsschloß. Sie sind ihrer selbst nicht
sicher, und aus diesem Grund soll, wie ich hörte, auch das Zeremoniell in Versailles entworfen worden sein. Und es sind kaum kluge Menschen unter ihnen. Außer uns natürlich.« Ich musste gewaltsam einen Lachanfall unterdrücken, als ich die erstaunten Gesichter der kosmischen Vagabunden sah. Sie hatten Tairi unterschätzt und wunderten sich. Etwas wie Staunen und Respekt kam in die Gesichter von Die und Verga. Troy beziehungsweise Diannot bückte sich, hob meinen Degen an und sagte: »Eine erstaunlich gute Waffe. Überhaupt ist die Waffenkultur in diesem Land sehr hoch.« Ich zog den Degen und bewegte vorsichtig die Schneide. Lichtreflexe huschten über den fein bearbeiteten, ziselierten Arkonstahl. Troy sah mich fast neidisch an und murmelte leise: »Ein schönes Stück. Woher habt Ihr sie?« Ich dachte an die drei Ersatzklingen in meinem Gepäck und antwortete: »Von einem Schmied in meiner Heimat. Ein schlanker Mann mit weichem Gesicht und geschickten Fingern.« »Darf ich sie sehen?« »Gern.« Die Gruppe ging in die Nähe des Leuchters und bewunderte die Waffe, die leichter und besser war als aller Stahl in Frankreich. Plötzlich durchzuckte mich ein fast unvernünftiger Gedanke. Ich sagte: »Ihr könnt fechten, Herr von Jara?« Diannot wandte sich um und machte einige Scheinausfälle in die Richtung des Kamins. Ich sah an seinen Bewegungen und an der erstklassigen Handhabung der Waffe, daß er ein guter Fechter sein musste. »Leidlich. In der letzten Zeit etwas außer Gewohnheit!« erwiderte Verga an seiner Stelle. Ich warf ruhig ein: »Mir geht es nicht anders. Ich schlage eine Wette vor. Wir fechten eine Runde, versuchen, uns nicht gegenseitig umzubringen – und wenn Ihr siegen solltet, schenke ich Euch eine dieser Klingen.« Diannot deutete auf Royer und sagte achselzuckend: »Ich muss passen. Mein Bein ist schlecht verheilt. Aber Royer wäre ein würdiger Gegner. Warum tut Ihr dies, Atlan de l’Arcon?«
Ich schnallte den Waffengurt ab und legte ihn vorsichtig auf eine Sitzbank. »Vielleicht nur, um Euch zu beweisen, daß ich mehr von Eurer Art bin als von der unserer Gastgeber.« Die warf spitz ein: »Ist dieser Beweis nötig, Eurer Meinung nach?« Ausnahmsweise dachte ich, ehe ich einschlief, war mein Aufenthalt nicht von Kriegen und Kämpfen bestimmt, verlief der lautlose Kampf nicht im Getümmel von Schlachten, sondern in Schlössern und Gutshöfen. Und das Spiel in den Kulissen würde sich im Bannkreis des vierzehnten Ludwig abspielen. Die Jagdhörner weckten uns. »Es ist ein Bild, das jahrelang meine Träume bevölkerte, Atlan.« Gabrielle legte ihre Hand leicht auf meinen Arm. »Ist es nicht ein Fest für die Augen?« »Ja. Und in gewisser Weise auch für
die Ohren«, stimmte ich zu und beruhigte Tairis Pferd. Wir bildeten eine Gruppe aus sieben Personen. Der Hausherr und sechs Fremde. Die Jagdteilnehmer standen auf der Terrasse, die meisten tranken zum Aufwärmen heißen, gewürzten Wein. Unten bewegten sich unruhig die gesattelten Pferde, vom heiseren Hecheln und Bellen der Hunde erschreckt. Meine zwei Jagdhunde lagen ruhig neben den Pferden unserer Gruppe und starrten mich an. Die Jäger bliesen in gekrümmte Hörner. Das zweite Signal: Überall hantierten die Jäger an ihren ungefügen Flinten. Saufedern und Hirschfänger wurden ausgeteilt. Gewaltige Unruhe herrschte auf der Treppe und zwischen den wartenden Reittieren. Die Federn der Hüte, die Farben der Jagdkleider, das Blitzen der ersten Sonnenstrahlen auf blanken Metallen – es ergab ein Bild, das seinesgleichen suchte. Der Hausherr trat an die Treppe und rief laut: »Wir treffen uns alle am Mittag, wenn die Sonne am höchsten steht. An der Biegung des Baches haben wir Zelte aufgeschlagen. Dort werden wir essen.« »Eure Träume, Gabrielle«, sagte Tairi leise, aber mit einer gewissen Schärfe, »habt Ihr in Eurem Land keine solchen Jagden?« »Wir haben ein solches Bild noch nie gesehen. Und wir sind herumgekommen!« meinte Diannot. Royer half ihm in den Sattel. Die Pferde dampften in der morgendlichen Kühle. Die Jagd wurde nach einem mir unbekannten Zeremoniell abgewickelt. Aber ich kannte die einzelnen Schritte. Die Teilnehmer der chasse schwangen sich in die Sättel. Die Kälte des Morgens und der Wein vom vergangenen Abend ließen die letzten Hornsignale heiser und falsch erklingen, aber es störte niemanden. Ich sah nur, wie Tairi ihr Gesicht verzog. Die Hunde kläfften wie besessen. »Waidmannsheil!« schrie jemand. Der Ruf wurde aufgenommen und weitergegeben. Die ersten Reiter preschten los. Kies Scob unter den Hufen der Tiere auf, die Pfoten der Hunde scharrten im alten Laub. Nacheinander verließen einzelne Gruppen den Vorhof und ritten zum Wald. Es waren ungefähr fünfzig Reiter. Aus den Gesichtern sprachen Lebenslust und Aufregung; es befanden sich nur wenige Frauen in der Jagdgesellschaft. »Los!« Ich setzte mich im Sattel zurecht. Ich trug beide Reiterpistolen und die Nachahmung eines der ungefügen Gewehre.
Tairi und Gabrielle ritten neben mir, Beatrix und die beiden Männer folgten. Kurze Zeit darauf war der Schlosshof leer, nur eine einzelne Feder schwebte langsam zu Boden. Es sollten Rotwild und Schwarzwild gejagt werden. Royer Arcola schrie von hinten, als wir in einem halsbrecherischen Galopp über einen verwahrlosten Ackerrain preschten: »Dieses Gefühl! Im Sattel, bei diesem Licht, den Klang der Hörner im Ohr und vor
uns die Abenteuer einer Jagd. Ich möchte ewig hier bleiben!« Gabrielle rief lachend: »Niemand hindert uns daran. Nur sollten wir die Entscheidung verschieben. Noch kennen wir Versailles nur aus Bildern. Wir werden das herrlichste Leben führen! Mit unserem Wissen und unserer Begeisterungsfähigkeit. Ich bleibe hier!« Gabrielle bewegte ihren Kopf unruhig im kühlen Wind. Die Erregung, die Vorfreude setzte sich wellenförmig fort und griff auf die gesamte Jagdgesellschaft über. Jemand feuerte aus Begeisterung seine Flinte ab. Ein Vogelschwarm Scob aus den Zweigen auf, verängstigte Hasen rasten hakenschlagend aus dem Unterholz, und die Hunde gebärdeten sich wie rasend. Dann kamen die ersten Stämme näher; ein Wald aus Nadelhölzern und blätterabwerfenden Bäumen. Überall sah man frisches Grün. »Ich werde in Eurer Nähe bleiben, Beatrix«, rief ich und wandte mich im Sattel. Meine Hunde liefen vor meinem Pferd und stöberten durch das Unterholz. »Warum? Könnt Ihr Eure Augen nicht von mir losreißen?« rief sie, riss sich den Hut vom Kopf und schwenkte ihn. »Das auch. Aber ich will verhindern, daß Ihr und Euer Pferd Euch die Beine brecht!« »Sehr lobenswert. Ich könnte schreien vor Vergnügen!« rief sie zurück. Tairi bewies, was sie in ihrem ersten Leben gelernt hatte. Sie saß im Sattel wie ein im Kampf ergrauter Samurai und preschte neben mir her. Wir rissen die Pferde im Zickzack zwischen den Baumstämmen hin und her, sprangen über Gräben; die Gruppen zogen sich auseinander, nur wir sechs blieben beieinander. Die Pferde liefen, als wären sie von unserer Erregung und Freude angesteckt, galoppierten durch den Hochwald; von allen Seiten drang das Kläffen der Jagdhunde. Auch unsere Gruppe bildete eine Reihe und sprengte in das Dunkel des dichteren Forstes hinein. Diese Lebensfreude ist auffällig! flüsterte mißtrauisch der Extrasinn. Ich mochte nicht daran denken. »Ich habe dich selten so aufgeregt und vergnügt gesehen!« rief mir Tairi zu. Sie hatte quer über dem Rücken unser leichteres Jagdgewehr. »Nicht anders fühle ich mich!« gab ich zurück.
Wir ritten nach Süden. Die Sonne schimmerte durch die Stämme, und der schnelle, rhythmische Wechsel von Hell und Dunkel verwirrte. Dann erreichten wir ein Waldgebiet, das mit Sicherheit selten betreten wurde. Kein Pfad war zu erkennen, aber schon nach dem ersten Bellen Hectors schoss ein großer Hirsch mit prachtvollem Geweih aus den Büschen und setzte in riesigen Fluchten davon. Ich hielt mein Pferd an und sah bewundernd die eleganten Sprünge des Tieres. Gabrielle riss am Zügel; dicht neben mir und Tairi stieg ihr Pferd in die Höhe. »Welch eine Welt!« sagte Gabrielle leise. Sie atmete schwer, ihre Wangen waren gerötet.
Das Blitzen ihrer Augen verriet, daß sie sich ebenso über dieses elegante Bild freute. Sie schien ähnliches noch nie gesehen zu haben. »Wir bekommen noch genug Wild!« rief Tairi. »Nicht schießen!« Wir ritten weiter, als das rotbraune Tier zwischen den Stämmen verschwunden war. Das Wiehern, die seltsam hoch klingenden Schüsse und das Hundegebell Wurden immer leiser. Die Jagd war angebrochen. Irgendwo schmetterte ein Horn. »Weiter! Schneller!« schrie Diannot de Jara. Er schien in seinem Bein keinerlei Schmerzen mehr zu fühlen, als wir hintereinander einen schmalen Wildwechsel hinauf ritten. Der kaum erkennbare Pfad schlängelte sich zwischen riesigen Baumwurzeln, tauchte in morastige Gräben, wurde in der Nähe knorriger Eichen unsichtbar. Die Wühlspuren im Boden ließen erkennen, daß es hier Schwarzwild gab. Ich nahm die Flinte von der Schulter, als wir uns einer Zone näherten, die aus verfilztem Gebüsch bestand. Frische Zweige und altes Geäst, zusammengewehtes Laub und ein halbes Geweih breiteten sich vor unseren Augen aus. Wie Blitze schossen die Jagdhunde in die dunklen Öffnungen zwischen den Sträuchern und Dornen. Sekunden später ertönte ein ärgerliches Grunzen, dann quiekende Schreie. Sie sind unberechenbar, wenn man sie reizt! sagte das Extrahirn. Royer zügelte sein Pferd, das offensichtlich die Witterung der Schwarzkittel aufgefangen hatte und nervös tänzelte. Er fragte laut und etwas unsicher: »Wildschweine, de l’Arcon?« »Ja. Ohne Zweifel. Nehmt die Saufeder – sie ist besser als diese monströsen Flinten!« »Danke. Vom Pferd aus?« Ich lachte ihm ins Gesicht und rief: »Ich weiß, daß es in Russland mehr Wildschweine als Bauern gibt. Wißt Ihr nicht, wie man solches Wild jagt?« Er blinzelte und sah mich starr an. Ein mißtrauischer Ausdruck glitt über sein Gesicht mit den scharfen Falten. »Ich weiß es«, sagte er. »Aber ich fürchte, die russischen Wildschweine sind zahmer als diese hier. Hört nur!« Mit Knien und Zügeln hielt ich mein Pferd auf der Stelle. Tairi wich zurück. Die Fremden verteilten sich in einem Halbkreis um das runde Gebüsch. Darinnen schien ein erbitterter Kampf zu toben.
Einmal sah ich zwischen den Ranken, wie Castor in die Luft geworfen wurde, sich überschlug und mit den Läufen hilflos ruderte. Dann fiel er herunter und geriet aus meinem Gesichtsfeld. Ein wütender Schrei, fast ein Trompeten. Dann folgte ein drohendes Grunzen. Der Eber, der spitze, nach oben gebogene Hauer besaß, schoss aus einer der Öffnungen heraus und auf das Pferd von Beatrix zu. Hector hing in seinem Nacken und hatte sich in einem Ohr verbissen. Jetzt grunzte der Eber, warf den Kopf hin und her und stürzte sich auf das Pferd, das auszukeilen und
zu scheuen begann. Ich bändigte mein Pferd, hielt mich steif im Sattel und schwenkte mit dem Lauf der Flinte herum. Im gleichen Moment, als ich den Zeigefinger krümmte, peitschte hinter mir ein Schuß auf. Tairi hatte die Reiterpistole abgefeuert und verschwand in der Pulverwolke. Beatrix’ Pferd überschlug sich fast. »Hilf ihr!« schrie Tairi. Sie hatte getroffen. Aber da alle Pferde scheuten, war unsere Gruppe gelähmt. Jeder hatte zu tun, um nicht aus dem Sattel geschleudert zu werden und sein Pferd zu bändigen. Ich sah den langen, blutigen Streifen der Wunde, die quer über die Keule des Tieres ging. Der Schmerz machte den riesigen Eber wahnsinnig. Er wurde von zwei Hunden angegriffen, die sich in seinem Fell verbissen. Die Hufschläge des scheuenden Pferdes trafen ihn im Nacken und an der Schnauze. Ich visierte das Blatt an und krümmte den Finger. Der Rückstoß der Waffe traf meine Schulter. Das Tier kreischte und rannte wie wild im Kreis herum. Aus dem Maul lief Blut. Ich hielt die Waffe in der linken Hand, riss mein Pferd herum und sprengte auf Beatrix zu. Ihr Tier hatte Schaum vor dem Maul, wieherte dunkel und rollte angstvoll die Augen. Dann riss es sich los und machte einen gewaltigen Sprung. Als ich mich vorbeugte, sah ich Diannot, der in vollem Galopp mit gefällter Saufeder – einer Stichwaffe, so lang wie eine Hellebarde, mit glänzend geschliffener Spitze – auf den Eber zuritt, ihn rammte und förmlich aufspießte. Ich setzte über einen großen Busch, rammte meinem Pferd die Sporen ein und wurde schneller. Beatrix schwankte wie betrunken im Sattel vor und zurück; ihr Pferd wurde immer schneller. Wir ritten dicht nebeneinanderher, aber es gelang mir trotz angestrengter Bemühungen nicht, die durchhängenden Zügel des Pferdes zu ergreifen. Wir sprangen in rasendem Galopp über Wurzeln, setzten über Gräben, ritten haarscharf an Baumstämmen vorbei. Beatrix hatte die Augen geschlossen. Ihr Gesicht war leichenblass, Schweißtropfen glänzten auf der Stirn und auf der Oberlippe. Als wir eine Lichtung überquerten und ein Rudel Rehe aufscheuchten, stellte ich mich in den Steigbügeln auf. »Festhalten, Beatrix!« schrie ich, schnellte mich aus den Steigbügeln, sprang und hielt mich am Hals ihres Pferdes fest. Das
Gewehr wirbelte durch die Luft und schlug krachend in die Büsche, als meine Stiefel den Boden berührten. Mit der anderen Hand griff ich hinter dem Kiefer des Pferdes in die Zügel und riss hart daran. Nach drei weiteren Sprüngen stand das Pferd. Seine Flanken zitterten, es roch durchdringend und atmete keuchend. Ich schüttelte den Kopf, tätschelte das Tier am Hals und murmelte beruhigend. Dann schlang ich den Zügel um einen Baumast und
atmete tief durch. Meine Kleidung war schmutzig und zerfetzt. »Ich… ich kann nicht mehr!« Beatrix schloss die Augen. Sie schwankte und fiel; ich sprang zurück, um sie aufzufangen. Langsam kippte sie aus dem Sattel und in meine Arme. Ich stand einige Sekunden lang regungslos da, dann setzte ich sie auf einen Baumstamm und schrie: »Tairi! Royer! Hierher!« Ich hörte einen rasenden Hufschlag. Kurz darauf tauchte meine Freundin auf, dicht gefolgt von Royer. Sie folgten dem Pfad, den unsere Pferde getrampelt hatten, und erreichten den Rand der Lichtung. Ich wartete, bis Royer aus dem Sattel gesprungen war, dann hielt er die junge Frau fest. Von Tairis Sattel schnallte ich die lederumhüllte Flasche ab, ging zu Beatrix und bog ihren Kopf zurück. Ich hielt ihr die Nase zu; als sie den Mund öffnete, flößte ich ihr einen Schluck des starken Alkohols ein. Sie erwachte von dem Hustenanfall, der sie schüttelte, als das scharfe Zeug ihre Kehle hinunterlief. Sie öffnete die Augen, sah Tairi an, dann mich, schließlich Royer – dann sagte sie schwach: »Danke. Ich fürchte, ich habe die Contenance verloren! Kurzfristig, aber gründlich.« Sie erholte sich in verblüffend kurzer Zeit. Nachdem ihr Husten nachließ, griff sie nach meiner Flasche und trank einen bemerkenswert großen Schluck. »Nochmals Dank. Ist der Eber…« »Atlan de l’Arcons Schuß und meine Saufeder haben das Tier getötet«, sagte Royer ruhig. »Aber ich bin dafür, daß wir uns in der Gesellschaft von Damen weniger gefährliches Wild aussuchen.« Tairi ritt näher. Sie führte Beatrix’ und mein Pferd an den Zügeln. Royer half Beatrix in den Sattel. »Das ist auch meine Ansicht!« sagte ich. »Reiten wir weiter? Aber langsamer.« Royer und Beatrix nickten. Ich fand nach kurzer Suche meine Waffe, lud durch; dann ritten wir auf die Stelle zu, an der Gabrielle und Diannot den Eber mit zusammengebundenen Läufen an einen abgehackten Ast gebunden hatten. Sie sahen auf, als wir ankamen, deuteten auf die Hunde, die schweifwedelnd neben dem toten Eber standen. Diannot sagte: »Eine gefährliche Aufregung. Genau das, was wir nach der langen, ereignislosen Reise brauchten.«
Plötzlich brachen sie in ungehemmtes, fröhliches Gelächter aus. Ich kannte sie nicht genug, aber eines stand für mich fest: Sie schienen auch der größten Gefahr noch lustige Seiten abgewinnen zu können. Ich schüttelte den Kopf und unterbrach sie. »Nun freut es mich wahrlich, meine Freunde«, sagte ich und tastete unwillkürlich nach meinem Zellschwingungsaktivator unter dem Jagdwams, »daß nichts geschehen ist und daß Ihr alle sehr lustig seid. Aber es hätte leicht geschehen können, daß sich Beatrix de Vergaty an einem Baumstamm den Schädel zerschmettert hätte. Was dann?« Beatrix warf
mir einen nachdenklichen Blick zu. »Dann… dann hätte ich nicht mehr die Musik und die Feuerwerke in Versailles erleben können. Und die Duelle der Männer, die sich um mich streiten. Und die vielen anderen Dinge, die das Leben so angenehm machen. Ich sollte, fürchte ich, in Zukunft etwas vorsichtiger sein.« »Was Eurer Allüre«, meinte Tairi ironisch, »sicherlich nicht schaden würde, liebste Freundin.« Ich versuchte, die Szene zu entwirren, musste mir eingestehen, daß ich diese kosmischen Vagabunden nicht verstand. Sie kamen mir vor wie Menschen oder, da ich weitestgehend in arkonidischen Begriffen dachte, wie Arkoniden, die mit ihrem Leben abgeschlossen hatten. Jede neue Stunde schien ein Gewinn zu sein, den man mit der Intensität von Todkranken genoss. Die Form war entscheidender als der Inhalt. Woher kamen sie? Welche Lebensauffassung vertraten die kosmischen Vagabunden? Und wie konnte ich ihnen sagen, was ich von ihnen brauchte? Ich wußte es nicht. Minutenlang überfiel mich Niedergeschlagenheit, schon jetzt, auf dem ersten Drittel der Wegstrecke, versagt zu haben. Behalte deinen analytischen Verstand! wisperte der Logiksektor. »Meine Allüre?« fragte Beatrix, als wir anritten und uns nach Geländemerkmalen umsahen, anhand deren wir unsere Beute wieder finden würden. »Allüre? Ich glaube nicht, daß es noch viele Dinge gibt, die mich für lange Zeit aus der Fassung bringen.« Ich ritt hinter ihr und sagte kurze Zeit später: »Ohne Zweifel kommt Ihr alle aus einem Land oder besser aus einer Welt, die für Euch wenig Freude hatte. Vorsicht! Die Farben eines Paradieses blenden, die Klänge täuschen und sind rasch verhallt, und mitten zwischen den blühenden Rosen hebt die giftige Natter ihren Kopf.« Ich hatte so laut gesprochen, daß jeder der Vagabunden mich hören musste. Ich erntete tiefes, betretenes Schweigen. Als es warm zu werden begann und wir nichts mehr von den anderen Jägern hörten außer ab und zu einem Hornruf oder einem Schuß, sahen wir ein Rudel Rehe von links nach rechts wechseln. Zweimal krachten die Flinten; zwei Rehe schlugen mit den Läufen und sackten im flüchtenden Sprung zusammen. Wir banden sie an
einen starken Ast, merkten uns die Umgebung und ritten weiter. Schließlich kamen wir an den breiten Bach, der sich in wirren Linien durch den Wald schlängelte. Wir sahen hoch wucherndes Unkraut an den Ufern; die Hunde stöberten Ketten von Fasanen auf, unscheinbare Wachteln und Wildenten. Ein See schien nicht fern zu sein. »Ich kann mich erinnern«, rief Gabrielle fröhlich, »daß der Vicomte bat, viel Geflügel zu schießen. Hier ist der beste Platz dafür!« »Atlan, Eure Hunde sollen sie uns zutreiben!« sagte Diannot. Ich schnippte mit den
Fingern. Hector und Castor kamen herangesprungen und blieben vor mir stehen. Nur ich wußte, daß in ihren Schnauzen starke Projektoren verborgen waren. Aber die Waffen wurden nur ab einer gewissen Gefahrenklasse verwendet; wenn Tairi oder ich in Lebensgefahr schwebten. Ich deutete auf das Schilf und das Unkraut, die Nesseln. Dann sagte ich: »Aufscheuchen! Dort hinüber!« Die Hunde bellten fast synchron. Ihr Fell war noch vom Blut des Ebers bedeckt. »Sie gehorchen aufs Wort!« rief Beatrix verwundert. »Eine Folge langer Dressur, Beatrix!« erwiderte Tairi leise. »Auch Hunde verstehen, was man von ihnen will. Im Gegensatz zu Menschen weigern sie sich selten.« Ich grinste innerlich: Hin und wieder sagte dieses erstaunliche Mädchen Dinge, die es nicht von mir hatte. Soviel über deine Gedanken, daß Tairi das Produkt deiner pädagogischen Bemühungen ist, sagte das Extrahirn überaus sarkastisch. Wir stiegen ab und banden die Pferde fest. Dann, in lockerem Gespräch, gingen wir an die Stellen, die uns geeignet erschienen. Die Hunde warteten am Rand des Grüngürtels auf meinen Befehl. Als wir dastanden, die Büchsen in den Händen, rief ich leise: »Hector! Castor! Sucht!« Die Hunde senkten die Köpfe und sprangen in das grüne Wirrwarr. Wir warteten gespannt. Abermals überlegte ich nicht ohne Spannung, wie sich die Fremden verhielten. Hatten sie ihre eigenen Waffen getarnt, so wie ich? Oder verwendeten sie tatsächlich die Gewehre des Hausherrn, jene schlecht funktionierenden, keineswegs treffsicheren Geräte? Tairi neben mir hatte die Flinte schussbereit an der Schulter. Ihr schmales Gesicht mit den großen, schrägen Augen glühten vor Konzentration. »Tairi«, sagte ich leise. »Langsam schießen. Sie werden sonst mißtrauisch, wenn die Schüsse zu schnell aufeinander folgen. Wir wollen warten, wie sie sich verhalten.« »Verstehe. Aber… wann willst du ihnen sagen, wer du wirklich bist?« Ich zuckte mit den Schultern.
»Keiner weiß den rechten Zeitpunkt«, flüsterte sie und nahm die Augen nicht von der Zielvorrichtung. »Vielleicht ist es am besten, wenn wir zusammen von Sceaux nach Versailles reiten.« »Das ist zweifellos sinnvoll!« gab ich zu. »Dann solltest du sie fragen. Ich schlage vor, du unterhältst dich mit Die… sie ist am meisten aufgeschlossen.« Kaum hatte das Mädchen das letzte Wort gesprochen, erhob sich ein Schwarm Wildenten mit klatschenden Flügelschlägen aus dem Schilf. Tairi schoss. Wir besaßen keine Schrotladungen; ich staunte, als die zweite Ente in der Luft zusammenzuckte, in einer steilen Kurve nach unten fiel und im Wasser der Bachbiegung aufschlug. Dann feuerte Royer und schoss vorbei. Ich schoss ebenfalls, aber ich zielte auf einen
Fasan, der mit langen Schritten und flatternden Schwingen aus einer Senke aufflog. Ich traf ihn und merkte mir den Ort, an dem er gefallen war. Sechs Jäger feuerten in Minutenabständen. »Getroffen!« schrie Diannot von rechts. »Gefehlt«, knurrte ich und lud durch. Die Pferde schienen sich an das Knallen gewöhnt zu haben, denn sie zupften am frischen Gras. Wir erlegten etwa zehn verschiedene Vögel, Wildenten, Fasanen oder andere Vögel, die ich nicht mit Namen kannte, dann sagten wir uns, daß es reichte – schließlich gab es außer uns andere Jäger; wer sollte das alles essen? »Die Hunde!« Ich deutete nach vorn. »Habt Ihr sie dressiert, de l’Arcon?« erkundigte sich Gabrielle. »Nein. Ich kaufte sie dem Züchter ab!« log ich. Castor und Hector suchten die getöteten Vögel und trugen sie zusammen. Wir hatten dreizehn Vögel getroffen und machten daraus ein Bündel, indem wir ihre Füße zusammenbanden und die Beute an einem Sattel befestigten. Gegen Mittag erreichten wir mehr durch Zufall und unserem Gehör folgend das Lager. Die Mehrzahl der anderen Jagdteilnehmer war eingetroffen – und von ihnen war die Hälfte bereits stark betrunken. Man hatte Zelte aufgeschlagen, Feuer mit Bratspießen und Rosten angelegt, Wein herbeigeschafft, Bauern mussten diese Arbeiten tun. Die Pferde wurden ausgeschirrt, und die Teilnehmer der fürstlichen Jagd setzten sich auf Bänke, auf Teilstücke von Bäumen und auf Steine sowie auf Decken und Kissen. Pokale wurden herumgereicht, und am frühen Nachmittag waren drei Viertel aller Jäger satt, betrunken und hemmungslos. Einige Pärchen verschwanden im Dickicht, und häufig war Kichern zu hören. An den Gesichtern der Diener und der Bauernmädchen konnte ich erkennen, wie die Verhältnisse wirklich lagen. Das farbensprühende Bild war eine Kulisse, hinter der es gärte. Irgendwann würde eine blutige Revolution alle diese Missstände hinwegfegen. Tairi und ich waren so gut wie nüchtern. Tairi, die mich jeden Tag mehr verblüffte, setzte sich neben mich auf den Baumstamm. »Ich frage mich manchmal«, sagte sie leise und lehnte sich an meine Schulter, »in welche Welt wir gekommen sind.«
»Wir haben sie nicht ausgesucht, Liebste«, sagte ich ebenso leise und legte meinen Arm um sie. »Aber das alles ist falsch. In meinem kleinen Reich, auf der Insel, war alles getrennt, festgelegt, in der Form erstarrt, aber durch Jahrhunderte hindurch erprobt. Hier gibt es zu viele Bruchstellen. Aber das ist nicht unser Problem. Ich glaube, daß sich die Kultur nur auf diese hinterhältige, gewalttätige Weise errichten lässt.« Ich murmelte: »Vergiss nicht, daß es Männer wie Cyrano de Bergerac gab, die eine Reise zum Mond beschrieben haben. Wir haben einen Mann namens
Tasman, der in deiner Heimat eine wichtige Seefahrtspassage entdeckt hat. Wir kennen Kartenzeichner wie Matthäus Merian, der diesen Planeten in ein Gradnetz einzeichnet, auch wenn er zuwenig Informationen für ein perfektes Bild besitzt. Denk an Rembrandt, an Johann Arnos Komenski, den sie Comenius nennen; er hat pädagogisches Neuland betreten und Ideen verbreitet, die revolutionär sind.« Sie meinte trocken und ohne Begeisterung: »Alles Dinge, die einem klugen Menschen schon längst eingefallen sein müssten, mein Geliebter. Ob sich der Mann Cromwell nennt und ein Diktator ist, ob er Lully heißt und Musik schreibt, die von äußerstem Wohlklang ist – er bereichert die Farbigkeit der Kulisse. Das eigentliche Wesen wird davon nicht berührt. Denk an die Schule der Samurai. Dort lerntest du, den Dingen auf den eigentlichen Grund zu gehen.« Ich streichelte ihre Wange. Sie hatte sich in ein Feuer hineingesteigert, das mich überraschte. Und ich konnte mit einiger Berechtigung annehmen, daß ich kaum noch zu verblüffen wäre. Nach einer Weile, in der mich das Schnarchen eines dicken Mannes störte, sagte ich nachdenklich: »Ich bin nicht der Herr des Kosmos, Tairi No Chiyu. Ich kann dafür sorgen, daß es dir gut geht, kann versuchen, deine Wunden zu heilen – die des Verstandes oder des Gefühls, die des Körpers. Aber ich kann nicht die Entwicklung großer Reiche ändern. Ich muss mich selbst dazu zwingen, meine Gedanken auf das Vorhaben zu konzentrieren. Und dieses Vorhaben heißt, das Sternenschiff zu nehmen und nach Arkon zu fliegen. Mit dir, mit den vier Vagabunden. Wenn ich mit einer Flotte zurückkommen kann, habe ich berechtigte Hoffnungen, die miserablen Zustände auf dieser paradiesischen Welt ändern zu können. Sonst nicht… und nicht eher.« Sie küsste mich und erwiderte: »Das weiß ich. In spätestens zwei Tagen ist es soweit. Ich sage dir: Halte dich an Gabrielle. Sie interessiert sich für dich. Aber werde mir nicht untreu bei diesem Versuch.« »Nein!« murmelte ich versonnen. Der Rest des Tages verging damit, daß die Bauern das Lager abbrachen, die Bestandteile auf Wagen verluden und in Richtung zum Schloss davonfuhren. Die
Jäger, die Diener und Knechte sattelten die Pferde und suchten die Strecke zusammen, die Menge des erlegten Wildes. Bei Einbruch der Dunkelheit waren alle Gäste im Schloss versammelt, und fast alles geschossene Wild wurde auf dem Schlosshof ausgelegt. Ein bacchantisches Mahl wurde gerüstet: Braten und Wein, Brot und Delikatessen, Salate und Soßen, Früchte und Zuckerzeug, Musik, Kerzen, Kaminfeuer und Kleider – eine gewaltige Menge Privilegierter aß sich satt, betrank sich, lauschte der Musik, riss Zoten, torkelte umher und benahm sich reichlich schlecht. Sie kannten es
nicht anders. In der Nähe der Musiker saßen »Fremde«. Ich hörte, wie Gabrielle leise zu Beatrix sagte: »Merkwürdig. Verwandte Geister scheinen sich immer schnell zu treffen. Wir haben, scheint es, die rechte Einstellung. Genuss im Übermaß schadet.« Die jungen Frauen, Beatrix und Gabrielle, wurden heftig und auf rührend plumpe Weise von gutaussehenden Männern umworben. Diannot und Royer saßen neben Mädchen, deren Herkunft sie nicht kannten. Diese Mädchen waren hingerissen, bewegten sich förmlich in Trance. Gegen alle anderen männlichen Gäste stachen Roy er d’Arcola und Diannot de Jara heraus wie Kometen. Als sich das Fest verlief, symbolisiert durch das Fehlen der flackernden Kaminflammen, während sich das Holz in rote Glut verwandelte, saßen nur Gabrielle und ich vor dem Kamin. Irgendwann sagte sie: »Wo ist Eure Freundin, Atlan? Ich bewundere Euch: Diese Frau ist erstaunlich.« Langsam entgegnete ich: »Royer und Diannot, Beatrix und Ihr, Tairi und ich… wir sind Außenseiter, kommen aus einer Welt, die anders ist. Wir denken anders, großzügiger, gleichzeitig exakter und eingeengter. Meine Freundin war müde, sie legte sich zum Schlafen.« »Und Ihr?« »Wie könnte jemand, der neben Euch sitzt, müde sein?« sagte ich ironisch. »Es wäre eine Sünde wider den guten Geschmack. Ein Verstoß gegen die Allüre, liebste Freundin.« Sie lachte nervös. »Warum seid Ihr weiß?« Sie deutete auf mein weißes Haar. »Ich sah zuviel. Ich regte mich zu oft und zu sehr auf. Das gab meinem Haar einen silbernen Schimmer.« »Es gefällt Euch hier?« erkundigte sie sich. »Mit Maßen. Ich kenne zuviel. Mein Ziel und mein Ende – das Ende einer langen Reise durch die Welt, durch die Zeit – liegen nicht hier in Versailles.« »Wo?« Unsere Unterhaltung hatte ein Stadium erreicht, in dem es nur zwei Möglichkeiten gab: Entweder enthüllte ich mich rücksichtslos,
oder ich bog die Diskussion auf ein harmloses Gleis ab. Ich entschloss mich, ohne mich zu besinnen, für die letzte Möglichkeit. »An anderer Stelle. An einem Punkt, den ich vielleicht einer alten, liebenswerten Dame erklären kann. Nicht Euch. Ihr seid zu jung, kennt die Sterne nicht, nach denen ein Mann greift. Ihr kennt nicht die geheimen Reiche, die Inseln der Wünsche und Gedanken, die ein Mann wie ich hat.« Wir schwiegen sehr lange. Dann sagte sie: »Es ist alles eine Frage der persönlichen Beziehung zu den Dingen. Seht Ihr – ich und meine Freunde sind Wanderer. Vaganten. Troubadoure meinetwegen oder fahrendes Volk. Wir kennen viele Welten, viele Dinge, viele Sterne. Überall wurden wir verstoßen, mehr oder minder abgelehnt. Und jetzt sind wir in einem Land, wo wir etwas gelten. Wo man unsere Freundschaft oder unsere Bekanntschaft sucht. Ohne Hintergedanken. Wir alle fühlen uns
in einem Maß wohl, das wir bisher in unserem Leben nicht gekannt haben. Das ist die aller Illusionen entkleidete Wahrheit.« »Seid Ihr sicher?« fragte ich, nur um etwas zu sagen. Nein, ich wollte es wirklich wissen. »Wir alle sind sicher. Die letzte Entscheidung fällt in Versailles. Reitet Ihr mit uns?« »Mit Vergnügen!« stimmte ich zu. Sie sah mich an, durchbohrte mich förmlich mit ihrem Blick. Dann trank Die nervös, mit zitternden Fingern den letzten Schluck Wein aus ihrem Pokal. Sie sagte: »Versailles. Ein Wort wie ein Symbol. Ein Bild wie ein Traum. Ich glaube, daß wir im Bannkreis des Großen Königs… ich glaube, daß ich Euch verführen werde, Atlan de Parcon. Für eine Nacht. Und wir werden daran denken, bis wir sterben.« Ich stand auf und verbeugte mich. Mit einem Rest kalter Vernunft sagte ich: »Gedanken sind unhörbar. Aber ich weiß, was jemand denkt, der hinter einer Kulisse die Wahrheit erfährt. Ich bin nicht so sicher wie Ihr, Gabrielle. Ich kann Euch keine Antwort geben. Warten wir, den Montag beginnend, den Abend des Sonntages ab. Die letzten Stunden. Erst wenn man gestorben ist, kann man sagen, daß man gelebt hat.« Ich reichte ihr meine Hand. Sie erhob sich in einer graziösen Bewegung aus dem Sessel. »Ich werde Eure Maske durchstoßen!« »Ihr werdet verblüfft sein«, erwiderte ich. »Kaum. Dort, wo ich herkomme, lässt man sich nicht verblüffen!« »Die Geschehnisse, die ich miterlebt habe, rechtfertigen meine Maske. Ich bin nicht der, für den Ihr mich haltet, Gabrielle«, sagte ich. »Ich halte Euch für mehr – und zugleich für weniger – als Royer und Diannot«, sagte sie leise. Es war fast ein Flüstern. »In Versailles zeige ich Euch, wer ich bin!« sagte ich. Wir gingen die Treppen hinauf. Als ich sicher war, daß sie so reagieren würde, wie ich es wünschte, fügte ich hinzu: »Die.« Ihr Gesicht werde ich niemals vergessen. Sie glaubte, sich verhört zu haben. Zugleich sagte ihr Verstand, daß sie das, was sie gehört
hatte, sich eingebildet haben musste. Atlan de l’Arcon konnte ihren Namen nicht ausgesprochen haben. Ein Spuk? Ein lauter Gedanke? Der verdammte Wein! Sie betrat ihr Zimmer. Meine Aufregung wich erst, als ich den Körper Tairis neben mir spürte. Das Zimmer wurde von einer einsamen Kerze beleuchtet. Die Nacht, in der wir uns liebten, war eine jener Nächte, in denen sich schärfste geistige Klarheit unbarmherzig und im Grunde trostlos mit der Beschwingtheit der Trunkenheit mischte. Ein bemerkenswerter Zustand. Zwei Tage später waren wir auf dem Weg nach Versailles. Das zweite Drittel des lautlosen Kampfes begann. Als wir nach Westen ritten, die vollbeladene Kutsche hinter uns, beschlich mich wieder jenes alte Gefühl
der Unruhe und drohenden Gefahr. »Liegt es an Versailles, am Schloss des Sonnenkönigs?« Ich wußte weitaus mehr über diesen Bau und die Umstände, die dazu geführt hatten, daß dieser Hof mit seinem strengen Reglement ein Vorbild für die halbe zivilisierte Welt darstellte. Aus einem Jagdschlösschen des dreizehnten Ludwig wurde vom Jahr 1661 an dieser Prunkbau. Der Aufenthalt am Hof war kostspielig. Nur Menschen mit viel Geld konnten es sich leisten, in der Nähe des Königs zu sein. Andererseits bot diese Nähe eine große Menge Chancen und Möglichkeiten, emporzukommen. Wurde der König auf einen Künstler aufmerksam, so schien dessen Glück gesichert zu sein. Aus diesem Grund strebten die kosmischen Vagabunden nach Versailles – und ich mit ihnen. Wir näherten uns auf Umwegen dem Schloss von der Parkseite her. Ich kannte die breiten Gittertüren von den Aufnahmen der Robotsonden her; es würde Stunden dauern, bis wir ankamen. Gabrielle Doreau wandte sich im Sattel um und hob die Hand. An ihrem Finger funkelte ein riesiger Ring über dem Reithandschuh. »Bald wird uns die königliche Reiterei entgegenkommen. Unser letzter Gastgeber hat einen Boten geschickt. Noch immer unter der Wirkung von Alkohol, Diannot?« »Keineswegs, Schönste«, rief de Jara. »Mein Entschluss steht fest. Und wenn ich es bereuen muss: Ich bleibe in diesem Land, ich bleibe hier…« Versailles lag südwestlich von Paris. Ich war neugierig, wie sich die Stadt seit meinem letzten Besuch verändert hatte. Dachte ich an den Großen König, konnte ich sicher sein, daß Paris gewaltig gewachsen war. Sie bleiben hier! sagte der Extrasinn. Das bedeutet, daß sie das Raumschiff nicht mehr brauchen! Ich ritt schneller, hielt mich neben Tairi und fragte: »Ihr bleibt hier, Diannot? Bedeutet das, daß Ihr nicht mehr in das Land zurückkehrt, aus dem Ihr gekommen seid?« Royer Arcola erwiderte: »Das heißt es wohl. Aber wir warten mit unserem Entschluss noch, bis wir Versailles selbst kennen. Und den König.«
»Es wäre eine leicht herbeizuführende Möglichkeit, wenn man den alten König verschwinden lassen und in seiner Maske auftreten würde. Eine Möglichkeit, das Leben noch eindrucksvoller und abwechslungsreicher zu gestalten.« Er lachte verlegen auf, als er die erschrockenen Gesichter der anderen sah. Ich konnte nicht glauben, daß er es auch nur entfernt ernst gemeint haben mochte. Gabrielle meinte: »Wir sind Gäste. An uns liegt es, zu gerngesehenen Gästen zu werden. Solche Ideen solltest du nicht einmal in Gedanken haben, Diannot!« Ich bemühte mich, sie nicht erkennen zu lassen, daß ich das verräterische Du gehört hatte. Wir ritten weiter, geschützt von den Hunden, mit Vorräten beladen; ich ahnte, daß wir uns spätestens in Versailles
trennen würden. »Auch ich bin dafür, daß wir uns endgültig hier einrichten«, meinte Verga oder Beatrix. »Mein Entschluss steht auch fest.« »Ich verstehe Euch nicht recht«, sagte Tairi laut. »Ihr überlegt seit Tagen, ob Ihr Weiterreisen oder hier bleiben wollt. Was ist das Problem, Royer?« Er erklärte es ihr. Hörte man die ungesagten Worte, dachte man nach und ging man von richtigen Voraussetzungen aus, dann schienen sie an diesem Punkt des Planeten gefunden zu haben, was sie ein Leben lang gesucht hatten. Sie wollten hier bleiben. Als ich dies erkannte, beruhigte ich mich. Aber ich musste mißtrauisch bleiben: Entschlüsse, die nicht spontan getroffen wurden, konnten noch in letzter Sekunde umgeworfen werden. Auf den Wegen hatte der Verkehr zugenommen. Viele Wagen und Gruppen von Reitern und Fußgängern strebten, wie auch wir, auf das Schloss zu. Plötzlich stieß Hector ein schauerliches Heulen aus. Er rannte dreihundert Schritte vor uns dahin. Ein Signal. Eine größere Gruppe Menschen kam auf uns zu. »Was hat das Tier?« fragte Tairi. »Wir bekommen Besuch!« sagte ich. »Vermutlich wird uns Ludwig in feierlichem Zug entgegenkommen.« »Er weiß noch nicht einmal, wer wir sind, was wir wollen – und daß wir auf sein Schloss zureiten!« versicherte Diannot grimmig. »Außerdem scheint er alt und gebrechlich zu sein.« Hinter der Wegkrümmung sprengte jetzt eine Gruppe von etwa zwanzig Reitern hervor. Die Männer waren in Uniformen und Hüte der königlichen Palastwachen gekleidet und ritten ausnahmslos auf Rappen. Sie stoben auseinander, bildeten Reihen und kamen auf beiden Seiten auf uns zu. Ich sah flüchtig das Gesicht des Anführers; kühl und beherrscht. Holten sie uns ab? Wir rückten enger zusammen, als die Reiter uns erreicht hatten. Sie hielten an, drehten die Pferde und eskortierten uns. Der Anführer ritt auf mich zu, weil ich, hinter Gabrielle, offensichtlich den Eindruck machte, für unsere Gruppe verantwortlich zu sein. »Ihr seid, Damen und Herren, die Freunde von Vicomte Fleury?« fragte er ohne besondere Betonung.
»So ist es!« versicherte Gabrielle. »Wir reiten zum Schloss und werden versuchen, eine Wohnung in der Nähe des Hofes zu bekommen.« »Antoinette de Droyden und der Vicomte haben geschrieben. Sie empfehlen Euch. Wir sind hier, um Euch in die Quartiere zu bringen. Es ist gut, Freunde am Hofe zu haben!« Der Anführer ritt neben mir und musterte, ohne daß es besonders auffiel, unseren fremdartigen Aufzug. Er schien einen Blick für Qualität zu haben, denn er nickte zufrieden. Trotzdem blieb in seinen Augen der Ausdruck von Misstrauen. »Was habt Ihr vor, Herr?« fragte ich. »Antoinette de Droyden genießt die Gunst des Königs. Majestät geruhen, sie einst als Vertraute gehabt
zu haben. Sie bat ihn um eine kleine Gunst, und so kommt es, daß ich ein kleines Haus am Rande des Parks weiß, in das ein Herr Atlan de l’Arcon mit seiner Freundin einziehen soll. Das Haus gehört zur Hälfte der Dame de Droyden.« »Ich bin de l’Arcon«, erwiderte ich, nicht ohne Verblüffung. »Und ist in ähnlich rührender Weise auch für meine vier Freunde gesorgt worden?« Er nickte. »Ja. Wir haben Order, sie in einem anderen Haus unterzubringen. Es ist nicht so schön, auch weniger schön eingerichtet, aber es ist näher am südlichen Flügel des Schlosses.« Seit einiger Zeit ritten wir durch den gepflegten Park. Jetzt kamen wir in die Nähe des Einganges. Soldaten exerzierten, Kommandos wurden ausgestoßen, und vergoldete Kutschen rollten an uns vorbei. Die Anlage schob sich in unser Blickfeld – allein wären wir hier untergegangen und hätten nichts gefunden. Aber der Anführer des Reitertrupps hielt vor einem der Häuser, die neben der äußersten Umgrenzung des Schlosses standen. »Hier hat der Vicomte ein Haus gemietet. Er überlässt es seinen Besuchern!« Der schwarzhaarige Anführer schob einen Zettel zurück in seinen Ärmelaufschlag. Unsere kleine Karawane hielt an. »Das ist erstaunlich… in einigen Tagen wissen wir mehr!« Gabrielle betrachtete die efeuüberwucherten Hauswände und den Park, der mit der Riesenanlage des Schlosses verschmolz. Überall sahen wir Gruppen spazierender Menschen und einzelne Reiter. In der Ferne blies ein Jagdhorn. Seit meinem letzten Besuch hatten sich Pracht, Größe und Aussehen deutlich verändert. »Wir müssen uns einrichten und Schritt um Schritt die Umgebung erforschen!« sagte ich. »Ich weiß noch nicht, wo wir wohnen. Ich besuche Euch, wenn wir eingerichtet sind. Dann sehen wir weiter.« Unbemerkt hatte ich Hector programmiert. Schon seit einiger Zeit umschmeichelte er Gabrielle, auch jetzt, als ich ihr vom Pferd half. Er rieb seinen Kopf an ihren Knien. Sie tätschelte seinen Hals; ich bemerkte leise: »Er mag Euch, Gabrielle. Behaltet ihn – vorläufig. Seid gut zu ihm; er ist ein wertvolles Tier für die Jagd.« Sie nickte lächelnd und sagte: »Gut. Ich danke Euch, Atlan. Wir sehen uns bald?«
»So bald wie möglich!« bestätigte ich. Einige Reiter waren aus den Sätteln gesprungen und halfen den Fremden, Kisten und Taschen aus unserer Kutsche abzuladen und ins Haus zu tragen. Ich merkte mir die Lage und sah dem Treiben vor den Mauern des Schlosses zu, hinter schwarzen Gittern mit schimmernden Spitzen. Die Reiter saßen wieder auf. Wir ritten und fuhren auf die Stadt zu. Unweit des Bassin de Saturne hielt der Anführer an. »Hier ist es!« Das Haus lag halb versteckt an einem schmalen Wasserlauf. Bäume breiteten ihre dicken Äste
über das Holzschindeldach aus. Kleine Fenster, eine geschnitzte Tür und weiße Steinfiguren zwischen Büschen und verwilderten Blumenbeeten. Auch hier roch es nach den Lieblingsblumen des Großen Königs, nach Jasmin, Hyazinthen, Tulpen und Tuberosen. »Es ist sehr schön. Kommt die Gräfin de Droyden nach?« »Ja. Wenn es wärmer ist, schrieb sie, und wenn die Nässe ihre Gicht nicht schlimmer macht. Sie wird hier wohnen. Das Haus ist ziemlich groß.« Wir banden die Pferde an dem steinernen Zaun an und gingen ums Haus. »Gefällt es dir?« fragte Tairi. »Bis jetzt, ja. Aber ich habe ein schlechtes Gefühl, wenn ich an unsere Freunde denke. Deshalb habe ich auch Gabrielle den Hund aufgedrängt. Er wird für uns beobachten.« »Richten wir uns erst einmal ein«, meinte sie, als die Männer der Palastwache dem Kutscher Jean halfen, die Kisten ins Haus zu bringen. Es dauerte mehr als einen Tag. Am nächsten Abend klappte ich den Deckel der Schmuckschatulle des Mädchens auf, schaltete den Bildschirm ein und aktivierte die Beobachtungseinrichtung des Roboters. Der Hund lag vor dem Kaminfeuer, drehte den Kopf. Ich sah nur Gabrielle, die ausgestreckt in einem Sessel schlief, eine Decke über den Knien. Die anderen hatten offensichtlich das Haus verlassen. »Nichts!« sagte ich. »Die Unruhe bleibt.« Die Nacht war ungewöhnlich warm. Tairi und ich gingen Arm in Arm durch den aufgeräumten Garten zwischen dem Haus und dem Rand der Schlossanlage. Wir hatten, ohne daß wir darüber gesprochen hatten, das Gefühl, daß wir an einem entscheidenden Punkt angelangt waren. »Was willst du tun? Ich schlage vor, du gehst einfach zu ihnen und sagst, was du willst.« »Ich glaube, es ist das beste«, erwiderte ich. »Sie sind entschlossen, hier zu bleiben.« Sie können das Schiff ferngelenkt starten und im Orbit kreisen lassen, sagte der Extrasinn. »Wann sprichst du mit ihr?«
»Morgen!« sagte ich. »Ich verspreche es.« Wir gingen zurück ins Haus. Jetzt befanden wir uns offiziell im Bannkreis dieses ungewöhnlichen Mannes und dessen noch ungewöhnlicheren Regierungssitzes. Mehrere tausend Adelige aus dem ganzen Land lebten in Versailles. Zugleich war in Versailles die Elite des Landes: Männer wie Racine arbeiteten hier. Jean schlief in einem der acht Zimmer des Erdgeschosses, und wir hatten es uns in den drei Zimmern des oberen Geschosses bequem gemacht. In einigen Tagen würden Handwerker kommen; neue Vorhänge, Teppiche; ein Teil der Möbel musste ersetzt werden. Das Kaminfeuer brannte, neben der Tür lag wachsam der Robothund. Als erstes hatten wir das Badezimmer gesäubert und die Einrichtung überholt – jetzt brannte unter dem Kessel ein Feuer; es war überall gemütlich warm. Die Gegenstände unseres
persönlichen Besitzes schufen um uns herum eine Atmosphäre der Behaglichkeit. Ich freute mich auf das duftende Bad. »Noch niemals bin ich der Passage zu den Sternen so nahe gewesen, wenn ich vom goldenen Schiff absehe«, sagte ich. »Ich bedaure, Versailles verlassen zu müssen. Ich hätte hier viel lernen und viel lehren können.« Aus der Richtung des Bettes her erwiderte Tairi: »Das alles kannst du, wenn du mit einer Flotte zurückkommst. Nimmst du mich mit?« »Selbstverständlich!« Das Volk, das den Hof um den König bildete, war keineswegs als elegant oder degeneriert zu bezeichnen; meist Leute vom Land, die schlechte Manieren besaßen und an Widrigkeiten des Daseins gewöhnt waren. Alle Untertanen, die gut angezogen waren, wurden zur Audienz eingelassen und konnten mit der Majestät sprechen. »Morgen Nacht ist ein Feuerwerk angesagt. Und Reiterspiele auf dem Hof!« Tairi begann zu schwärmen. »Wir sehen uns das Spektakel an, Liebste!« versprach ich. Wir lagen auf den weichen Matratzen des Prunkbettes. An der Decke und in den Vorhängen flackerten die Flammen. Über dem Schloss und der Umgebung lag unirdische Ruhe. Nur leichter, warmer Wind spielte mit den Blättern. Morgen würde ich versuchen, mit Gabrielle zu sprechen. In Gedanken versuchte ich mein Anliegen zu formulieren und meine Argumente zurechtzulegen, aber dann lenkte mich Tairi ab, die sich mit aufgelöstem, schulterlangem Haar über mich beugte. An diesem späten Abend schienen Tausende auf den Beinen zu sein. Tairi und ich hatten unsere besten Kleidungsstücke herausgesucht. Wir sahen fremdartig, dennoch modisch aus. Ich trug meinen Degen und eine der Waffen. Nur wenige Männer, an denen wir vorbeikamen, drehten sich nicht nach Tairi um oder machten entsprechende Bemerkungen. Die mehr als vierhundert Schritte lange Fassade des Schlosses war erleuchtet, Kerzen standen hinter jedem Fenster. Einhundert Statuen, mehr als mannsgroß, schimmerten in diesem milden Licht auf. Die Flüsse und Ströme Frankreichs, in Bronze von hervorragenden Künstlern ausgeführt,
Umständen das Wasserparterre und die beiden Kabinette, schienen die flanierenden Gäste anzusehen. Man hatte Plattformen aufgeschlagen, auf denen Musiker saßen, die Noten von Windlichtern beleuchtet. »Solche Feste wechseln sich das ganze Jahr über ab…«, hörte ich jemand sagen. »Deswegen bin ich hier!« Wir lächelten Menschen zu, deren Gesichter wir zu kennen schienen. Die Namen kannten wir nicht. Es ertönte ein scharfer Ruf. Ein Trommelwirbel, dann zerschnitten die Töne der Fanfaren die Stille. Ein dreisätziges Stück, dessen hauptsächlich verwendete Instrumente Fanfaren, Pauken und Trommeln waren wurde gespielt. Zwei Orchester und zwei Gruppen
von Solisten saßen sich gegenüber, durch mehr als einen Pfeilschuß Entfernung getrennt – die Echowirkung war verblüffend und höchst reizvoll. Als der letzte Ton verklang – die Menge war inzwischen verstummt –, stieg am Ende des großen Kanals die erste Rakete in die Luft, zerteilte sich und entfaltete sich wie eine Blume aus Feuer und Farben. Die Menge stieß bewundernde Rufe aus. Die Musiker packten ihre Instrumente zusammen und warteten. Dann eine Kette von Donnerschlägen und gewaltigen Blitzen. Ein künstliches Gewitter tobte am anderen Ende des Parks. Es erinnerte mich an etwas. Der Extrasinn murmelte drängend: Denk an die primitiven Geschütze, die Explosionen der Pulverfässer, an Schrapnells… im Dreißigjährigen Krieg. An das Schiff… »Es ist prächtig. Unvorstellbar schön!« sagte Tairi neben mir. Ich hörte ihre Stimme, aber ich vergaß, was sie sagte. Das Schiff damals! Eine Gedankenkette lief ab. Die vier Fremden hatten davon gesprochen, die Brücken hinter sich zu verbrennen. Das war etwas Unwiderrufliches. Verbrennen – das konnte bedeuten, daß sie das Schiff zerstörten, weil sie es nicht mehr benötigten, denn sie wollten auf dieser Welt bleiben und sterben. Das war die Möglichkeit, an die ich nicht gedacht hatte. Nur diese Ahnung, seit dem ersten Zusammentreffen. Sie hatte mich nicht verlassen. Und jetzt erkannte ich, welchen Fehler ich gemacht hatte. Ich wartete zu lange. Ich fühlte mich unsicher und wartete. Was konnte ich tun? Es ist noch nicht zu spät! drängte der Logiksektor. Vor uns, in einem weiten Halbkreis, brannte das Feuerwerk ab. Vögel flatterten erschreckt durch Blitze und Flammen. Überall spiegelte sich das zuckende, farbige Licht in den hellen Wolken der Pulvergase. Es begann durchdringend zu riechen, und der Nachtwind trieb dicke Schwaden nach Osten. Ich stand starr da und sah die Detonationen und das Feuer vor mir, in denen das drachenflügelige Raumschiff unterging, auf jener Lichtung, in jenen Jahren des langen Krieges. »Was hast du?« fragte Tairi und zog an meiner Hand. »Gefällt es dir nicht?« Ich sagte starr: »Ich muss Gabrielle finden! Sofort!«
Tairi sah mich beunruhigt an und verstand nur die Hälfte. Ich wiederholte, was ich gesagt hatte, dann packte ich sie bei den Schultern und stieß hervor: »Du gehst ins Haus. Schnell! Warte dort. Und wenn du einen der Fremden sehen solltest, sage ihm, es geht um Leben und Tod. Ich laufe zu ihrem Haus auf der anderen Seite des Parks!« »Aber…« »Sie sprengen das Schiff. Vielleicht!« sagte ich. Sie begriff. Entsetzen kam in ihre Augen; sie atmete schwer. Ich nickte ihr zu, schob zwei Männer zur Seite und rannte los. Die Sohlen der Stiefel knirschten auf dem Kies.
Ich lief zum Südparterre, schlug eine andere Richtung ein und kam am Geländer der Orangerie vorbei, sprang im Zickzack die hundert Stufen hinunter und kam an das Gitter. Es war offen, und ich raste hindurch. Ich konnte Unrecht haben, und sie beratschlagten noch. Meine Skepsis siegte. Ich stellte mir vor, wie einer der vier Fremden, vermutlich Nyder, auf das Gerät der Fernzündung drückte. Ich rannte weiter. Vorbei am Großen Wasserbassin, auf die fernen Lichter der Häuser zu. Schweiß trat auf meine Stirn, sickerte durch die Brauen und brannte in den Augen. Mein Herzschlag raste. Ich lief über den Kies, sprang auf den Rasen und wurde schneller, stolperte über ein Liebespärchen, als ich durch einen gestutzten Teil einer Hecke sprang. Ein steinernes Geländer; ich flankte hinüber. Jede Sekunde war kostbar, sagte mir eine furchtbare Ahnung. Ich rannte und stolperte weiter und hielt krampfhaft meine Schußwaffe fest. Weiter. Schneller. Die ersten Häuser tauchten hinter der Kulisse der Büsche und Bäume auf. Eine kostbar verzierte Kutsche ratterte in rasender Fahrt quer über meinen Weg. Der Kutscher drosch auf die Pferde ein, die in jagendem Galopp dahinsprengten. »Endlich, das Haus!« keuchte ich mit dem letzten Atem, warf mich gegen die Tür und drückte die schwere Klinke nach unten. Wohlgeölt glitt die Tür auf. »Gabrielle! Die!« schrie ich und stürzte in die Halle. Niemand… nichts… nur Asche im Kamin und eine heruntergebrannte Kerze im prunkvollen Leuchter. »Nyder! Diannot!« schrie ich und wandte mich zur Treppe. Niemand antwortete. Ich rannte die Treppe hinauf. Genau neunzehn Stufen, registrierte ich, blieb eine Sekunde auf einem kleinen Absatz stehen und sah die Kerzen im Leuchter. Dann öffnete sich vor mir die Tür. Ich flüsterte keuchend und schwitzend: »Gabrielle! Ich muss euch sprechen. Alle!« Sie schienen nur kurze Zeit vor mir hereingekommen zu sein. Der Hund kam an ihre Seite, sah mich mißtrauisch an und senkte dann den Kopf, wedelte mit dem langen Schwanz. »Warum, Atlan?« fragte sie. Sie ahnte nicht, weswegen ich hier war. Sag es ihr! Schnell! schrie der Extrasinn. Ich sagte dumpf:
»Ich muss euch sprechen. Es ist wegen des… des Raumschiffes.« Sie zuckte zusammen, schloss ihre Augen zu schmalen Schlitzen und sah mich lange schweigend an. Ich wischte den Schweiß aus meinem Gesicht und beruhigte mich. Dann fielen ihre Schultern nach vorn. Sie drehte sich um, zog die ‘ Handschuhe aus und ging ins Zimmer. Mindestens dreißig Kerzen brannten in riesigen Leuchtern. Die holte einen silbernen Krug, einen Pokal, goss Wein hinein und drehte sich um, kam auf mich zu und drückte mir mit einer resignierenden Bewegung den Pokal in die
Hände. »Trink, Atlan!« sagte sie. »Den größten Schluck deines Lebens.« Ich ahnte es! Ich hatte es geahnt! Verloren. Ich gehorchte und setzte dann den Pokal ab. »Das Raumschiff also. Du weißt es. Wer bist du?« fragte sie tonlos. »Ein seit langer Zeit gestrandeter Raumfahrer. Ich suchte eure Nähe, weil ich von diesem barbarischen Planeten weg muss.« »Weißes Haar. Vermutlich rötliche Augen hinter den Kontaktlinsen. Du bist Arkonide?« Ich wagte nicht zu denken und zu atmen. »Ja.« »Das Schiff wurde versteckt. Du hast es also beobachtet. Und etwa jetzt sind Nyder und Verga am Schiff und laden aus, was wir brauchen. Das heißt, sie haben es schon auf die sechs Gespanne verladen, die wir gemietet haben. Das Schiff wurde gestartet und jagt ferngesteuert in die Sonne.« Ich fühlte, wie meine Knie weich wurden. Wieder trocknete mein Mund aus. Ein weiter Schluck Wein. Er wirkte, und so konnte ich das Furchtbare ertragen. Der Alkohol hüllte meine Gedanken in einen silbrigen Nebel. Ich ging schleppend zu einem Sessel und fiel schwer hinein. »Ich habe einen schnellen Gleiter«, sagte ich rückhaltlos. »Kann ich noch etwas ändern? Ist noch Zeit?« Ich wurde lauter, erregter. Schließlich sprang ich auf, ein Funken Hoffnung glühte auf wie die Holzkohle des Kamins. Ich schrie: »Kann ich noch etwas ausrichten, wenn ich den versteckten Gleiter abrufe und in die Richtung des Schiffes fliege?« Sie schüttelte ihr Handgelenk. Der Blick, mit dem sie mich ansah, war voller Mitleid. Ihre großen Augen wurden dunkel. Über ihren Unterarm rutschte ein schweres Schmuckstück herunter. Sie drückte auf ein Glied des dicken Armreifens, und ein Rubin sprang aus seiner Halterung. Darunter befand sich eine winzige Uhr. Sie starrte die Ziffern an und schüttelte den Kopf. »Tut mir leid. Wirklich. Es ist zu spät, Arkonide.« »Warum?« fragte ich keuchend. »Das Schiff ist längst entladen und gestartet. Wir haben die dreißigjährige Wanderschaft satt.«
Ich saß da wie erstarrt. Wieder einmal hatte ich versagt. Aber… ich begann schon jetzt nach Entschuldigungen zu suchen. Die schaute auf mich herunter, dann ging sie nach kurzem Zögern zu einem der Fenster und öffnete eine doppelte Tür. Ich sah das zierliche Geländer eines winzigen Balkons. »Komm!« sagte sie leise. Ich ging diagonal durchs Zimmer und trank den Pokal leer, stellte ihn auf den Kaminsims und ging auf den Balkon. Sie lehnte sich an die Mauer. Efeublätter raschelten unter ihren Schulterblättern. »Dort!« Ihr Arm hob sich; sie deutete auf den oberen Rand der Wolke, die vom Schloss zu uns herüber trieb. Das Licht des Vollmondes zeichnete die Ränder der Rauchschwaden in einer feinen, silbernen Linie nach. Darüber schwebte
die Mondscheibe. Und zwischen den Kronen der mächtigen Bäume und den ersten Sternen sahen wir beide den fast geraden Strich. Kondensstreifen. Oder das Feuer der Düsen, sagte der Logiksektor. Das Raumschiff war aus seinem Versteck gestartet, raste durch die aufflammende Lufthülle und befand sich schon auf einem Kurs zur Sonne. Rund acht Lichtminuten war Larsafs Stern entfernt; le soleil würde man sie hier nennen. Die Sonne. Die erbarmungslose Sonne, die wohltuend die Haut bräunte und Raumschiffe fraß, ohne sich zu verändern. »Steuert Nyder das Schiff vom Boden aus?« fragte ich. Als Die zur Antwort ansetzte, hörte ich das Geräusch des Schiffes. Es war beachtlich laut. Als sie gelandet waren, schienen sie andere Aggregate eingesetzt zu haben. Ich fühlte, wie sich der harte Klumpen in meinem Magen auflöste. Übelkeit begann, von meinem Körper Besitz zu ergreifen. »Nein. Er programmierte den Kurs, stellte die Startautomatik ein und verließ das Schiff.« Ich erkundigte mich trotzdem: »Gibt es keine Möglichkeit, das Schiff anzufunken und zur Kursänderung zu bringen?« »Glaube mir«, sagte sie, während das Geräusch des Überschallknalls sich mit dem Platzen der letzten Pulverhülsen mischte, »ich hätte es unternommen. Alles, nur um dir zu helfen. Wir brauchen das Schiff nicht, und einen Flug nach Arkon hätte es auch noch überstanden.« »Also keine Chance für mich?« »Nein. Es tut mir leid, Arkonide. Versuche, alles zu vergessen. In einigen Stunden hat sich das Schiff in glühendes Gas verwandelt.« Ich flüsterte: »Alles war umsonst! Alles. Ich wollte euch heute Abend bitten, mir eine Passage zu ermöglichen.« »Und du bist zu spät gekommen. Seit wann bist du hier?« fragte sie und bedeutete mir, aus der nach Pulvergasen riechenden, feuchtkalten Luft ins Zimmer zurückzugehen. »Seit Jahrtausenden!« sagte ich. Ein Rest Vernunft funktionierte noch. Da ich niemandem mein unterseeisches Versteck verraten wollte, fügte ich hinzu: »Wenigstens fühle ich es so.« »Also, zu lange.«
»So ist es!« sagte ich. Wir sahen uns an. Zwei auf diesem Planeten gelandete Raumfahrer. Sie fühlte sich im Augenblick nicht besonders wohl; ich konnte kaum einen vernünftigen Gedanken fassen, lehnte mich im Sessel zurück und schloss die Augen. Ich erinnerte mich noch an das innere Training des Zen und versuchte, die Herrschaft über meinen Verstand und meinen Körper wiederzuerlangen. Schließlich schenkte ich mir einen Pokal voll Wein und sagte: »Die oder Gabrielle Doreau – ich habe meine Chance vertan. Ihr wollt hier bleiben?« Sie nickte und versicherte: »Bis zu meinem Tode. Das wollen wir alle, und deshalb starteten wir nach reiflicher Überlegung das Schiff. Was wir aus den Lagerräumen geborgen haben,
wird uns ein behagliches Leben garantieren. Außerdem können wir unsere Träume nachspielen. Für Wesen wie uns ist dieser Planet eine Art Sandkasten: Wir können versuchen, alle unsere Träume wahr werden zu lassen. Willst du dich anschließen?« »Vielleicht!« sagte ich dumpf. »Ich muss erst über die Enttäuschung hinwegkommen. Aber wie ich mich kenne, wird das nicht lange dauern. Wir sollten uns in einigen Tagen treffen und alles diskutieren.« Sie legte das Schmuckstück ab und warf es achtlos auf ein Tischchen mit geschwungenen Beinen. »Dieses Mädchen Tairi. Weiß sie…?« Ich nickte. »Sie weiß alles. Fast alles. Ich habe sie von einer Insel fern im Osten mitgenommen. Sie wird von Tag zu Tag klüger, und das ist etwas, das man von den wenigsten Bewohnern dieser Welt sagen kann.« »Richtig. Wir werden bemerkenswerte kulturelle Anstöße geben können. Und du, Atlan – was wirst du tun?« Ich lachte bitter auf. »Nichts anderes. Was bleibt mir übrig? Und eines Tages habe ich alles satt und verschwinde so schnell und ungesehen, wie ich gekommen bin.« »Wohin?« fragte sie flüsternd. »Irgendwohin!« sagte ich. Wir schwiegen. Nach einer Stunde kam Verga oder Beatrix de Vergaty; in wenigen Sätzen berichtete ihr Gabrielle, was geschehen war und wen sie vor sich hatten. Ich nickte nur und trank weiter. Endlich hatte ich die Kraft, aufzustehen und zu sagen: »Meine Damen – ich bedauere, daß ich mich gehen ließ. Aber die Enttäuschung warf mich um. Ich gehe jetzt in dieses kleine Haus, betrinke mich und werde meinen Rausch ausschlafen. Dann reden wir über alles, über unsere Pläne zur Verschönerung des menschlichen Verstandes und dieses Planeten. Ich gehe.« »Gute Nacht!« sagte Verga und blieb sitzen. Auch sie war mehr als verblüfft. »Ich bringe dich an die Tür«, meinte Gabrielle und half mir die Treppe hinunter. Sie küsste mich zum Abschied auf die Stirn und schloss die Tür hinter sich. Ich war allein mit dem Kies unter meinen Sohlen und mit meiner Enttäuschung. Langsam wanderte ich durch
den Park, umging den Kanal und war erschöpft, als ich unser Häuschen erreichte. Ich sah Licht hinter den Scheiben und eine Silhouette. Tairi No Chiyu erwartete mich. Mit Hilfe Jeans, den sie weckte, schleppte sie mich die Treppen hinauf und zu unserem prunkvollen Bett. Sie zog mich aus, löschte die Kerzen und wartete, bis ich schlief, in alkoholischem Nebel versunken. Der Schlaf löschte einen Teil der Bitterkeit in mir aus. Als ich wieder erwachte, fühlte ich mich schlecht, unausgeschlafen und schmutzig. Vier Tage später: Nyder, Troy und ich hatten ein ausgezeichnetes Frühstück eingenommen und spazierten durch die Gärten von Versailles. Jeden Tag entdeckten wir etwas Neues, einen überraschenden
Ausblick, ein Bassin oder eine andere Gruppe aus Steinfiguren oder Bronzeplastiken. Wir merkten, daß sich der Frühling zum Sommer wandelte. »Ich sehe, Atlan, daß du den Schock einigermaßen gut überstanden hast.« Nyder sah mich von der Seite an. Sein Gesicht war scharf, und ich ahnte, daß ihn ununterbrochen die Möglichkeiten beschäftigten, die er zu haben glaubte – dieser Mann hielt sich für ein halbes Genie, für einen technischen Heilsbringer dieses Volkes. »Es blieb mir nichts anderes übrig«, meinte ich verdrossen und beobachtete ein Eichkätzchen, das über den Weg huschte, uns neugierig und ohne Scheu ansah und einen Stamm senkrecht hinaufturnte. »Ich betrank mich zweimal, kurierte zweimal einen Kater aus und überließ mich dem Selbstmitleid. Tairi schaffte es, mich zu trösten.« »Wie schön, daß es Frauen gibt«, meinte Troy. »Und hier, am Hof, sind die schönsten Frauen versammelt, die ich je gesehen habe. Sie sind besonders den Komplimenten von Raumfahrern außerordentlich aufgeschlossen.« »Wie schön für dich«, sagte ich sarkastisch. »Hoffentlich habt ihr genügend Medikamente gegen alle möglichen Ansteckungsgefahren?« Er winkte ab. »Genügend. Nun erhebt sich unter uns die große Frage, was wir tun. Abgesehen davon, daß wir uns wohl fühlen, daß jeder Tag, den wir erleben, ein wahr gewordener Traum ist. Was sollen wir tun?« Ich hob die Hand und deutete auf eine Gruppe Gärtner, die eine seltsame Arbeit verrichteten. Sie versetzten die blühenden Pflanzen. Der vierzehnte Ludwig sah an fast jedem Morgen ein anderes Bild, wenn er aufstand und seinen Park betrachtete. Die Pflanzen und Blumen wuchsen in Töpfen, die man ins Erdreich versenkte. Dadurch, daß man die Behälter schnell ausgraben und immer wieder umgruppieren konnte, veränderte sich die barocke Ornamentik immer dann, wenn es der greise Sonnenkönig wünschte. »Was soll der Hinweis, Atlan?« fragte Troy.
»Ich wollte damit sagen, daß diese Gärtner eine Arbeit tun, die sie gelernt haben oder gern ausführen. Ein jeder von uns sollte zwei Dinge versuchen.« Langsam spazierten wir weiter. Damen zu Pferde, von einem Gardisten der Schloßwache gefolgt und wohl auch beschützt, ritten an uns vorbei und sahen sich nach uns um. »Welche, Atlan?« Ich zögerte. Verglichen mit diesen Raumfahrern war ich ein hoffnungsloser Skeptiker. Wo in ihnen ein inneres Feuer zu brennen schien, dachte ich an die Kette meiner Versuche und der daraus resultierenden Mißerfolge. Nachdenklich führte ich aus: »Jeder sollte seine Interessen und seine Begabungen prüfen. Dann sollte er einen Plan aufstellen, was ihm besonders liegt, was er ›erfinden‹ will, was er ergründen möchte. Mit dieser Aufstellung gehen wir zum König
und versuchen, seine Unterstützung zu erhalten.« Ärgerlich knurrte Nyder: »Warum dieser Umweg? Warum nicht gleich Erfindungen unters Volk werfen? Außerdem scheint dieser Greis eine rechte Bremse zu sein. Er hält die Kultur auf. Nicht zuletzt durch seine Kriege.« Ich lachte und sagte: »Werde Heerführer und besiege die Holländer. Vielleicht ist es das, was du besonders gut kannst!« Er grinste, wurde nachdenklich und murmelte: »Ich werde über diese Idee nachdenken. Aber du hast die Frage nicht beantwortet. Warum der Umweg, wenn der direkte Weg möglich ist?« Ich erwiderte mit ungewöhnlicher Schärfe: »Wir leben unter einer absolutistischen Herrschaftsform. Der Buchdruck ist schon erfunden. Aber ich kann mir denken, daß ein König, der sein Volk weiter auszubeuten geruht, eine derart aufklärerische Erfindung gar nicht gern sieht.« Wir blieben stehen und betrachteten einen alten Mann, der in außerordentlich kostbare Kleidungsstücke gehüllt war. Er saß auf einer steinernen Bank und warf Brotbrocken ins Wasser eines Kanals. Gab es dort tatsächlich Fische? Es schien so. Ich sprach weiter. »Und dieser bewusste Erfinder kann schneller, als es ihm lieb ist, vor ein Tribunal geschleppt, verurteilt und aufgeknüpft werden. Viele Erfindungen und Erfinder sind solche beschwerlichen und jäh endenden Wege gegangen, meine lieben Freunde.« Troy meinte nach kurzer Überlegung: »Du scheinst nicht unrecht zu haben, Atlan. Und für welchen der möglichen Wege wirst du dich entscheiden?« Lange Überlegung! Verrate nichts – du bist freiwillig der Wächter dieses Planeten! sagte der Extrasinn unüberhörbar. Ich lachte. »Warum lachst du?« fragte Troy. Ich sah den alten Mann genauer an und verglich das Gesicht und die Gestik mit den Informationen, die ich durch meine Robotspione eingeholt hatte. Ich wußte, daß dort, nur dreißig Meter von uns entfernt, der König saß und die Fische fütterte. Nicht einmal die emsigen Gärtner schienen ihn erkannt zu haben.
»Ich lache aus gutem Grund«, erwiderte ich. »Ich werde versuchen, mich mit allen Geistesgrößen dieser Zeit in Verbindung zu setzen und mit ihnen zu sprechen. Sie werden mich einiges lehren können. Vielleicht kann ich eine Menge umstürzlerischer Gedanken der Aufklärung und eines kommenden Zeitalters der Vernunft auf diese Weise aussäen.« Nyder grinste mich an und machte eine verwegene Geste. Die Bewegung war umfassend und barock. Er sagte: »Ich spiele noch mit dem Gedanken, den alten König zu ersetzen. Wäre ein Mann von unserer Klugheit und Bildung König von Frankreich, könnte er alle seine Vorhaben durchführen. Dieses Volk würde dann in wichtigen Dingen die Herrschaft über den Rest dieses Kontinents antreten können. Auch über Russland,
von dem wir nicht mehr wissen, als daß man dort Russisch spricht und die Zaren die Leibeigenschaft kultivieren bis zum Exzeß.« »Vergiss deinen Traum, Nyder. Wir sind dagegen!« sagte Troy hart. »Vergiss ihn schnell, für immer.« »Es wird mir schwer fallen.« Er schien von dieser unvernünftigen Idee besessen zu sein. Macht schien Nyder zu faszinieren. Ich war mit der Analyse seines untypischen Verhaltens noch lange nicht fertig, im Gegensatz zu seinen Freunden, die ihn sehr genau zu kennen schienen. »Ein Beruf oder vielmehr ein Schicksal, in dem du saufen, mit allen Frauen etwas anfangen, dich austoben und sogar deinen Intellekt einsetzen kannst. Das würde ich an deiner Stelle versuchen.« Nyder starrte Troy an und begriff langsam. »Du hast Recht. Ich werde meine Bemühungen darauf konzentrieren, in der französischen Armee den Haarbeutel einzuführen. Ich muss nur darauf achten, einige besonders wichtige Schlachten eines der vielen Kriege zu gewinnen. Und schon ist mein Ruhm gesichert.« »Manchmal redest du ungewöhnlich dummes Zeug!« sagte Troy ärgerlich. »Im Ernst, Atlan. Was willst du tun?« Ich meinte es ernst, als ich entgegnete: »Ich werde alle die viel versprechenden Talente dieses Landes und auch anderer Länder besuchen und mit ihnen sprechen, werde darauf achten, daß die Ergebnisse dieser Gespräche den Menschen dieses Planeten helfen, ein würdigeres Leben zu führen. Das meine ich im Ernst, auch wenn ich die Erfolge durchaus skeptisch beurteile.« Ich steuerte unsere Gruppe unauffällig auf die Gestalt des Königs zu. Als ich mich umsah, bemerkte ich den Hauptmann der Palastwache, der auf seinem Rappen saß und den König bewachte. Die Hand des jungen Mannes lag auf dem runden Kolben seiner schweren, mit Gold eingelegten Reiterpistole. Ich hob kurz die Hand, der Mann erkannte mich und nickte. Nyder sagte kurz: »Troy hat recht. Ich scheine tatsächlich für eine Art militärischer Karriere geschaffen zu sein. Vielleicht reformiere ich die französische Artillerie. Vielleicht erfinde ich ein Schnellfeuergeschütz.«
Ich lachte und sagte: »Das hat ein anderer Mann schon erfunden. Leonardo da Vinci. Die Idee war von mir. Aber sie setzte sich nicht durch. Kalkuliere eine gehörige Portion Misserfolg ein.« Wir standen vier Schritte von der Steinbank entfernt. Ich hielt die Raumfahrer zurück und sagte leise: »Der König.« Und etwas lauter: »Guten Morgen, Majestät.« Der alte Mann mit der langen weißen Perücke hob den Kopf und sah uns schweigend, mit scharfen Augen an. Irgendwie ähnelte er einem alten Geier. Er nickte, lächelte knapp und sagte mit brüchiger, befehlsgewohnter Stimme: »Ich kenne Euch, und ich kenne Euch auch wieder nicht. Ihr dort,
mit dem weißen Haar des Greises und dem Gesicht des jungen Mannes – Ihr seid der Freund von Antoinette de Droyden, nicht wahr?« Ich beugte ein Knie, nahm den Hut ab und vollführte eine lange Bewegung. »So ist es, Majestät«, sagte ich. »Ich bin Atlan de l’Arcon. Und ich versuche seit einiger Zeit, das Wohlwollen Eurer Majestät zu erregen.« »Was den Stil Eurer Kleidung betrifft, so habt Ihr es bereits«, sagte Ludwig. Ich mochte mich dagegen wehren, aber der Eindruck blieb stark und lebendig. Vor mir hatte ich einen Mann, der zum Herrschen geboren worden war und der seit seiner Kindheit geherrscht hatte. Eine gewisse Aura der Macht umgab ihn. Es war, als würde die Luft um ihn herum flimmern – das dachten die meisten seiner Untertanen. Für uns war er ein alter Mann mit griesgrämigem Gesichtsausdruck, um den herum alle Menschen vor seiner Macht schauderten und nicht zu atmen wagten. »Ihr habt nicht von uns gehört?« Troy machte ebenfalls eine Gebärde der Ehrfurcht. »Wir sind Fremde, Reisende aus fremden Ländern, und wir staunen über die Schönheit, den Stil und die Pracht der Bauten. Und über die Klugheit des Herrschers.« Der König betrachtete uns schweigend. Einige Sekunden lang hatten wir alle drei das Gefühl, als ob uns seine Augen durchbohren wollten. Er schien gute Menschenkenntnis zu besitzen, denn er deutete mit seinem Stock auf Nyder und sagte: »Ihr seid Herr Diannot de Jara?« »So ist es, Majestät!« sagte Diannot. »Und Ihr wollt mir erzählen, daß Ihr ein guter Reiter, ein meisterlicher Schütze und ein Mann seid, der das Schicksal von Schlachten beeinflussen kann. Und Ihr habt besonders den Damen eine Reihe phantastischer Geschichten erzählt, gegen die ein Mann wie Voltaire verblasst?« Diannot gestattete sich ein halb verlegenes, halb trotziges Lachen und sagte leise:
»Ihr habt recht, Majestät. Dieser Mann bin ich. Ich suche eine Beschäftigung, in der ich freie Hand habe. Und ich glaube, Ihr habt diesen Posten für mich.« Der König nickte mehrmals, schob seine Perücke nach hinten und stieß seinen Stock heftig auf den Boden. »Ich habe Hunderte Männer, die mir in den Ohren liegen und versuchen, eine Stellung zu bekommen, habe Künstler reich gemacht, habe Bildhauer gefördert ich habe Mansart zu einer Berühmtheit werden lassen. Ich warne Euch, Diannot de Jara.« »Wovor?« Jetzt merkten wir, wie viel Energie noch in dem über Siebzigjährigen steckte. Seine Stimme war lauter und fester geworden. Jedes Wort, das er aussprach, schien er zuvor auf seine Wirkung untersucht zu haben. Ich zwinkerte überrascht und sah, daß der Hauptmann der Wache unruhig zu werden begann und zu uns heranritt. »Wenn Ihr mir gute Pläne und gute Vorschläge vorlegt,
werde ich Euch fördern. Wenn nicht, bleibt Ihr ein Staubkorn in der Masse, ein Grashalm auf königlichem Rasen. Überlegt genau, was Ihr wollt – und dann kommt zu mir.« Diannot beugte ein Knie, hob den Kopf und schien beeindruckt zu sein. Er sagte nach einigen Sekunden: »Ich danke Euch, Majestät. Ich werde mich an diese leuchtende Stunde erinnern. Vielleicht erinnert Ihr Euch auch daran. An diese Stunde, an mich und an meine beiden Freunde. Und an die schönen Frauen, die mit uns waren.« Der König sah zu Boden und schien die Kiesel zu zählen. Wir blieben stehen und sahen uns einige Minuten lang verblüfft an. Der Hauptmann erkannte, daß wir für seinen Herrn keine Gefahr darstellten, und zügelte sein Pferd. Ich entsann mich des ersten Auftritts Nonfarmales in goldener Rüstung, damals, als die Gärten angelegt wurden. Dachte auch der alte König an den lächelnden Verführer? Dann, mit einer ruckhaften Bewegung, schaute Ludwig auf und sah uns nacheinander in die Augen. Jetzt besaß er den müden, resignierenden, aber ungebrochenen Blick eines klugen alten Mannes. Ich korrigierte meine Überlegungen: Es war ein Blick voller Weisheit. Leise sagte er: »In drei Wochen gebe ich ein Essen. Nur wenige Menschen, erlesene Speisen. Wir werden bei der Musik des Michel-Richard Delalande soupieren. Er schrieb einige hübsche Melodien. Ich lade Euch alle ein – nach dem Essen werden wir im kleinen Kreis diskutieren können. Auch meine Ratgeber werden dabei sein.« Ich sagte mit echter Begeisterung: »Die Güte Eurer Majestät ist bekannt. Aber Ihr übertrefft Euch selbst. Wir sind mehr als geehrt.« Er nickte, deutete mit dem Stock auf den Weg und sagte leise, müde, als habe ihn die Unterhaltung erschöpft: »Bitte, lasst mich allein. Ich bin ein alter Mann, und das Geräusch Eurer Stiefelsohlen stört mich beim Nachdenken. Selbst ein König muss ab und zu denken.« Wir verbeugten uns abermals und gingen. Einige Minuten lang sagte keiner von uns ein Wort. Dann erklärte Troy: »Noch nie hatten wir eine solche Chance, Nyder. Wir sollten wie die Wahnsinnigen
durch den Park rennen und zu Hause überlegen, welche Ideen wir haben sollten.« »So ist es«, meinte ich. »Vorausgesetzt, Nyder gibt seinen bemerkenswerten Einfall auf, Frankreich in der Maske des vierzehnten Ludwig regieren zu wollen.« Nyder zuckte nur mit den Schultern. »Gehen wir«, sagte ich. »Heute Abend bin ich bei Euch zu Gast, edle Herren. Und wir werden versuchen, unsere Ziele klar zu definieren. Wenn sechs Hirne zusammenarbeiten, dann sehe ich tatsächlich eine Möglichkeit, den Frieden herbeizuführen und das Los der Menschen zu verbessern, ohne daß wir deswegen zu Eiferern werden müssen. Jede Arbeit,
die einen mit Befriedigung erfüllt, ist gut. Auf heute abend, Nyder? Troy?« »Bis heute Abend.« Ich sah ihnen nach, als sie in Richtung des Hauses gingen, dessen Miete sie nun bezahlten. Es war inzwischen von oben bis unten gereinigt und durchgesehen worden. Die Gegenstände aus dem Raumschiff verteilten sich auf fünfzehn prächtige Räume und fielen nicht sonderlich auf, weil sich, die kosmischen Vagabunden hervorragend tarnten. Nyders Lächeln gefiel mir nicht: Achte auf ihn! Er wird alles versuchen, um Macht zu bekommen. Er will sich nicht persönlich bereichern, weil er weiß, daß seine Zeit befristet ist. Er liebt die Macht um der Macht willen, drängte der Extrasinn. Es war gut, daß ich die meisten meiner Vorteile nicht preisgegeben hatte. So befand sich Hector, der geschenkte Jagdhund, noch immer im Haus der Vagabunden. Ich würde ihn benutzen, um Nyder zu überwachen. Beim ersten Anzeichen dafür, daß er Ludwig ermorden und sich an seine Stelle setzen würde, musste ich eingreifen. Da diese Welt noch lange auf die Aufklärung durch die Angehörigen einer erfahrenen Rasse warten würde, durften Eingriffe und Denkanstöße eine bestimmte Größenordnung nicht übersteigen. Ich würde nicht zusehen, wenn in die hierarchischen Strukturen brutal eingegriffen wurde. Besaß Nyder einmal seine Macht, würde sie ihn korrumpieren. Und dann war er nichts anderes als ein Tyrann. Das darf nicht geschehen! sagte der Logiksektor. »Es wird nicht geschehen!« sagte ich, während ich meinem Haus entgegenstrebte und mich darauf freute, am Nachmittag mit Tairi auszureiten. Meine Gedanken wirbelten. Das Feuer der Hoffnung und der halben Gewissheit, endlich diesen Planeten verlassen zu können, war erloschen. Die Hoffnung, mit anderen Wesen als mit beschränkten Menschen verkehren zu können. Diese Hoffnung in der Sonne aufgeflammt. Jetzt kamen Tage und Wochen der Besinnung. Meine Mission war gescheitert und nur vor mir allein, bestenfalls mit dem Roboter Rico als Zeugen. Wächter über das Wohl dieses Planeten! Ein Wächter, dessen Einfluss nicht weiter reichte als sein Arm. Aber ich musste es aus
dieser selbstgewählten Verpflichtung heraus immer wieder versuchen, musste aus der roten Glut wieder ein Feuer entfachen. Nicht zu lebhaft, nicht zu hell und nicht zu heiß. Aber dauerhaft. Atlan von Gonozal, Kristallprinz und Flottenadmiral, schickte sich im Zentrum des Absolutismus an, Aufklärung zu betreiben. Ich begann bitter zu lachen. Als ich das Haus erreichte, sah ich die Kutschen und die Gespanne. Meine kluge und ausnehmend geistreiche Freundin, Madame de Droyden, war angekommen. Vielleicht wurde es doch ein gutes Jahr? Ich ertappte mich, wie ich schneller
ging und auf das efeuüberwucherte Haus zulief. Castor kam auf mich zugeschossen und lief vor mir her. Das Stichwort: Symphonies pour les Soupers du Roy – die Tafelmusik von Delalande. Mein Ziel hieß: Versuch, aus einer verfahrenen und hoffnungslosen Situation das Beste für uns und für möglichst viele Menschen zu machen. Ich musste sarkastisch lachen und blieb am Eingang zum Garten stehen. »Warum lacht Ihr, mein weißhaariger Freund?« fragte Antoinette de Droyden die in der Halle stand. Ich erwiderte: »Weil ich gezwungen bin, statt des kurzen, einfachen den langen und überdies beschwerlichen Weg zu gehen.« Sie lächelte mich an und glich heute mehr denn je einer kleinen, sorgsam geschnitzten und dekorierten Figur aus altem Elfenbein. Schließlich erwiderte sie leise: »Ihr seid undankbar, Atlan. Ihr habt mehr als alle Menschen, die Ihr kennt Ihr solltet froh sein, daß Ihr die Möglichkeit habt, überhaupt einen Weg gehen zu können.« Ich kapitulierte vor der Klugheit dieser Frau. Ich küsste ihre zerbrechlich aussehende, gelbe Hand mit den Altersflecken und sagte: »Wir freuen uns, Antoinette, daß Ihr hier seid. Es wird ein gutes Jahr für alle werden.« Sie nickte und schloss: »Weil ich das ahnte, kam ich her. Ich wünschte, Tairi wäre meine Tochter. Oder ich wäre jung genug, um Euch verführen zu können.« »Madame werden frivol!« sagte ich und trug sie die Treppe hinauf. Sie war leicht wie ein Kind. Eine Handvoll Menschen, eine Handvoll Schicksale. Ein kurzer Moment hatte uns zusammengeführt. Einige Zeit verliefen die Wege dieser Personen parallel zueinander, dann trennten sie sich und gingen fächerförmig nach allen Richtungen. Wieder versuchte ich, über mich hinauszuwachsen und mit der Hilfe weniger Menschen und meiner viel zu geringen Kenntnisse etwas zu bewegen, zu verändern. Nach Möglichkeit zum Guten. Meine Hilfstruppe bestand aus einer alten Frau, deren Tod ich durch einige geriatrische Medikamente hinauszögern würde und dadurch, daß ich ihr einige Stunden lang den Zellaktivator umhängen würde. Aus einer Frau,
die mir auf jede nur denkbare Weise half, aber von der ich nicht erwarten konnte, daß sie ein Raumschiff konstruierte oder das kaum existierende Bildungswesen reformierte. Und aus vier anderen Wesen, deren Herkunft nicht genau zu bestimmen war und die vier verschiedene Wege einschlagen würden, zwei Robothunden und einem Haufen technischer Hilfsmittel, die, beim unbarmherzigen Morgenlicht besehen, bestenfalls dem eigenen Schutz dienten. Es war schwer, nicht zu resignieren. Aber die scheinbar sinnloseste Tätigkeit in Versailles war immer noch viel versprechender als die Flucht in das stählerne Gefängnis unter
den Wellen des Meeres. Ich würde also Atem holen und arbeiten müssen. Ich war es gewohnt. Millionen Menschen dieses Planeten ging es wesentlich schlechter als mir. Es ist keine Schande, zu Boden zu fallen, sagte der Extrasinn in einer Phase kasuistischer Logik. Aber es ist eine Schande, wenn man nicht wieder aufstehen will! Sämtliche Fenster waren weit geöffnet. Von draußen drang das Rauschen der Bäume herein, die unruhigen Schreie der Enten im Schilf, das Zirpen der Grillen und der Geruch der Pflanzen. Es wurde jeden Tag wärmer; schon die Nächte ließen erkennen, daß der Sommer nicht mehr fern war. Antoinette legte den zierlichen Handspiegel weg und sagte: »Wenn eine Frau wie ich so oft in den Spiegel schaut, ist es nicht mehr Eitelkeit, sondern Tapferkeit. Trotzdem – nach deiner Behandlung, Atlan, fühle ich mich um zwanzig Jahre jünger. Sogar meine Gicht ist verschwunden.« »Er ist schon ein talentierter junger Mann!« stellte Beatrix fest. »Wir mögen ihn deshalb.« »Danke«, sagte ich, gab dem Diener einen Wink. Er füllte die Pokale auf und reichte das Tablett mit den Leckerbissen herum. »Das gefährlichste aller berauschenden Gifte ist der Erfolg«, sagte ich dann. »Wir leben seit einigen Wochen im Schloss und haben eine Audienz beim König vor uns. Wie stehen die Pläne?« Antoinette de Droyden hatte die unteren Räume des Hauses bezogen. Tagelang waren die Handwerker beschäftigt gewesen. Jetzt leuchtete der große Salon in neuen Farben. Erlesene Kostbarkeiten befanden sich in den Schränken, schwere Vorhänge hielten die feuchte Nachtluft ab. Wir hatten uns versammelt, um über unsere Pläne zu diskutieren. »Ich habe mein Konzept fertig«, sagte ich. »Ich werde überall, wo ich meine Finger dazwischenzwängen kann, Verbesserungen einführen.« Royer lachte. »Der Jammer mit den Weltverbesserern ist, daß sie nicht bei sich selbst anfangen. Wo ist eigentlich Diannot?« »Er ließ sich entschuldigen. Er hat irgend etwas im Schloss zu tun. Die Handwerker brauchen ihn.«
Im gleichen Augenblick kam der Jagdhund vom Kamin her, zupfte mich vorsichtig am Ärmel und schaute unverwandt zur Treppe. Ich verstand und nickte ihm zu. Niemand hatte diesen Zwischenfall bemerkt. Während sich die anderen über ihre Pläne ausließen, entschuldigte ich mich kurz und ging in unsere Räume hinauf. Sekunden später hatte ich die Tür von innen abgeschlossen, klappte die Schatulle auf und aktivierte den Bildschirm. Noch immer beobachtete der Hund die Fremden. Ich legte den Schalter um, der die akustische Verbindung freigab. Zuerst sah ich kaum etwas, hörte aber eine Kette merkwürdiger Geräusche. Es klang, als versuche jemand, eine Stimme nachzuahmen. Dann drehte der Hund
den Kopf und visierte auf meine lautlosen Kommandos das Ziel an. Ich murmelte verblüfft: »Verdammt! Diannot de Jara!« Er stand vor einem Spiegel in seinem prächtigen kleinen Zimmer. Er hatte sich verändert. Ich sah genauer hin und drehte an der Scharfabstimmung. Dann erkannte ich, daß er andere Kleider angezogen hatte. Ich runzelte die Stirn, dachte nach, verglich die neuen Informationen mit Erinnerungen und sah, daß de Jara Rock, Hose und Stiefel des Königs trug. Oder identische Kopien. »Nachts geht es nicht… zu viele Wachen… wohin mit dem Körper…?« verstand ich undeutlich. Der Empfang war ausgezeichnet, aber Diannot hatte seine Stimme drastisch verändert. Er bemühte sich, jemanden nachzuahmen… Wen? Er zündete Kerzen an, stellte die Leuchter vor dem Spiegel auf und zog sich die Perücke über den Kopf. Dann lachte er kurz. »Niemand wird es merken. Niemand.« Er unternahm einen Rundgang durch das Zimmer, wobei er sich auf den Stock stützte. Von hinten und im Profil war er nun tatsächlich mit der Majestät zu verwechseln. Und ich war überzeugt, daß er auch ein Mittel finden würde, sein Gesicht derart zu verändern, daß er selbst die nächste Umgebung des alternden Monarchen täuschen würde. »Zuerst lasse ich… verschwinden!« flüsterte er. Er lieferte mir eine faszinierende Studie. Er schien in den Tagen seit unserer Quartiernahme den König beobachtet zu haben. Sein Verhalten war derart verblüffend, daß es fast wie eine Parodie wirkte. Verblüffender als das Original, dachte ich. Ich lachte kurz und sagte mir, daß ich nicht nur das Attentat auf den König verhindern musste, sondern daß auch gleichzeitig nichts auffallen durfte. Ertappte man Nyder in dieser Maske, starb er. Und mit ihm seine Freunde. Also starben auch wir. Im selben Atemzug wußte ich, daß ein gezielter Schuß nicht die richtige Lösung war. Brauchte ich Vertraute? Es schien besser zu sein. Eine halbe Stunde sah ich zu, wie Diannot den Gesichtsausdruck und die Gestik des Königs vor dem Spiegel einübte. Dieser Mann besaß ein unheimliches Talent zur Kopie, zum Nachahmen anderer Menschen. Jetzt fehlten nur die Runzeln und Falten, die
charakteristische Nase und der mürrische Gesichtsausdruck. Langsam trottete der Hund näher an Diannot heran. Als der kosmische Vagabund die tappenden Pfoten hörte, drehte er den Kopf und starrte das Tier an. Auf meinem Bildschirm erschien in Großaufnahme das Gesicht des Mannes. Ich zuckte zusammen. »Unfaßbar! Unglaublich!« flüsterte ich. Der alte König sah mich an. Die Täuschung war fast perfekt: Ohne jedes Hilfsmittel war es ihm gelungen, die Gesichtszüge zu kopieren. Fügte man noch einige Narben, Falten und eine andere Augenfarbe hinzu, würde jeder Mensch in Frankreich
Diannot für den vierzehnten Ludwig halten. »Nun«, sagte Diannot mit der Stimme des Monarchen und in dessen Diktion, »es beliebt dir, Hund, mich anzustarren. Keine Sorge, ich habe mich nur verändert. Ich bin der alte Diannot.« Der Hund riss das Maul auf und gähnte. Dann schüttelte er sich, klemmte den Schwanz zwischen die Beine und schlich zurück. »Und eines Abends, wenn sich der Herrscher im Park ergeht, werde ich ihn auswechseln!« sagte Diannot mit seiner normalen Stimme und richtete sich auf. Er zog die Perücke ab und verstaute nacheinander die Kleidungsstücke in einem Schrank, dessen Schlüssel er abzog. Ich wartete noch einige Sekunden, dann schaltete ich die Verbindung aus. »Das hatte ich nicht erwartet!« sagte ich grimmig und versteckte meine Ausrüstung. Jetzt wußte ich, was ich zu tun hatte. Wir schienen uns in Nyder getäuscht zu haben. Ich ging hinunter in den Salon und fand dort die vier Frauen in eine angeregte Unterhaltung vertieft. Es ging darum, Antoinettes Meinung festzustellen: Sie gab Beatrix, Tairi und Gabrielle Ratschläge und Hinweise, was ihrer Ansicht nach das Volk brauchte, um besser leben zu können. Vieles davon war altbekannt, einiges war selbst mir neu. Seit ich Antoinette mehrere Tage hindurch jeweils einige Stunden lang den Aktivator umgehängt hatte, schien sie sich auf wunderbare Weise verjüngt zu haben. Sie sah zwar nicht jünger aus, aber ihr Körper war gesünder als je zuvor in den letzten Jahrzehnten. »Ihr habt wichtige Dinge nicht gehört, Atlan!« sagte Madame de Droyden leise. »War es wichtig, was Ihr in Eurem Zimmer tatet?« Ich nickte und versicherte wahrheitsgemäß: »Es war sehr wichtig. Außerordentlich wichtig. Wir werden uns nachher darüber unterhalten.« Sie warf mir einen neugierigen Blick zu und hob den Pokal. »In zwei Tagen ist das Gastmahl des Königs«, sagte Royer. »Wir werden dort erscheinen und unsere Gedanken vortragen.« »Ich lasse mich überraschen. In der Zwischenzeit können wir Unterricht bei Madame de Droyden nehmen. Niemand kennt die komplizierten Tischsitten!« Tairi lächelte mir zu.
»Das ist eine gute Idee. Wo die Überzeugungskraft nicht ausreicht, springt hilfreich die Etikette ein.« Gabrielle stand auf und sah Royer und Beatrix an. »Wir gehen?« fragte Beatrix. Ich hob die Hand und sagte leise, aber in bestimmtem Tonfall: »Mit Euch, Gabrielle, muss ich sprechen. Es ist wichtig, aber ich werde es kurz machen. Bleibt noch einige Zeit hier, bitte.« Wir verabschiedeten uns von den Freunden. Als nur noch wir vier vor dem Kamin saßen, berichtete ich Gabrielle, was ich herausgefunden hatte. Allerdings stellte ich es so dar, als ob ich selbst Diannot belauscht hätte. Das Mädchen war starr vor Verwunderung und schwieg lange Zeit. Dann
flüsterte sie: »Was schlägst du vor?« »Vergesst nicht, daß er Euer Freund ist!« meinte Antoinette leise. »Keineswegs. Ich schlage vor, daß wir ihn auf dem Weg zu seiner dummen, unbedachten Tat stellen. Wir alle. Greifen wir vorher ein, kann er uns entschlüpfen und sein Vorhaben wahr machen. Wenn wir zu spät losschlagen, sterben wir, weil uns die Palastwache bis über die Grenzen des Landes verfolgt.« »Wann wollte er den König verschleppen? Und wohin?« erkundigte sich Tairi besorgt und stand auf. Sie begann eine unruhige Wanderung durch den Raum. »Ich weiß es nicht. Wir müssen ihn ständig beobachten. Am besten wechseln wir uns ab!« sagte ich. »Einverstanden. Wird er es heute wagen?« fragte Die. »Nein. Er versteckte die Teile seiner unwürdigen Maskerade!« sagte ich. »Aber von morgen oder übermorgen an wird es gefährlich.« »Die Vorsicht und die Raffinesse, mit der er uns angelogen hat und es weiter versucht, sind eigentlich ein Kompliment für uns!« sagte Gabrielle nachdenklich. »Dieser Narr! Er ist nicht schlecht, Atlan – aber er wird übermütig, wenn er keinen Widerstand spürt. Und die letzten Jahre haben ihn in einem Maß frustriert, daß er jetzt alles nachholen will.« »Weil ich das alles berücksichtige, möchte ich auch nicht, daß mehr davon wissen als wir!« meinte ich. »Du findest allein zu eurem Haus?« »Ja. Mein Pferd ist draußen. Jean hat es versorgt.« Sie verabschiedeten sich, dann waren wir allein. Wir schwiegen, in unsere Gedanken versunken. Voltaire hatte über den König geschrieben: »Sosehr man ihm auch sein kleinliches Gehabe, seinen allzu großen Hochmut gegenüber den Fremden in den Stunden seines Erfolges, seine Schwäche für viele Frauen, seine allzu große Strenge in persönlichen Angelegenheiten und die leichtsinnig entfesselten Kriege vorwerfen mag, behalten seine großen Vorzüge und seine Taten das Übergewicht über die Fehler.« In zwei Tagen würden wir wissen, ob diese Charakterisierung zutraf. Dann erst konnte ich versuchen, meine Enttäuschung zu vergessen und in
nutzvolle Arbeit zu verwandeln. Aber dadurch verschwand das Problem Diannot de Jara nicht. Delalande sorgte für die musikalische Unterhaltung während des Essens seines hohen Gönners. Die Stücke Pour les Soupers du Roy, die heute gespielt wurden, dirigierte der Komponist selbst – es war ein ausgesprochen intimes Essen, an dem nur dreißig Personen teilnahmen, die von etwa zwanzig Dienern umschwirrt wurden. Der König thronte am Kopfende der Tafel; wir wurden der Reihe nach vorgestellt. Man reichte uns zierliche Gläser mit gelbem, aromatisch riechendem Wein. Verglichen mit den übrigen Anwesenden und selbst mit dem König boten wir einen ausgesprochen glanzvollen Anblick: Wir waren
einfach, aber kostbar gekleidet. Selbst unsere Waffen funkelten im Sonnenlicht wie geschliffene Diamanten. Mappen mit den Vorschlägen und Anregungen lagen auf niedrigen Tischen abseits der Tafel. »Die Musik ist klar und wird meisterlich gespielt!« Tairi schaute fasziniert dem kleinen Orchester zu. Jedes Instrument war nur einmal vertreten, und die Musiker schienen wahre Virtuosen zu sein. Kein Vergleich zu dem Gefiedel, das wir in Sceaux gehört hatten. Wir wurden aufgefordert, uns zu setzen. Die Etikette am Hofe war deswegen so ausgefeilt und zwingend, weil sie das einzige Mittel war, mit dem sich der König Intrigen und Bevorzugungen, Schmeichler und Unwürdige vom Hals halten konnte; eine Kombination bäuerlicher Sitten und verfeinerter Lebensart. Zwar speiste man von edelstem Tafelsilber, aber noch immer glich der Tisch nach einigen Minuten einem kleinen Schlachtfeld. Der König hob sein Glas, sah mißtrauisch den Wein an und trank einen Schluck. Atemlose Stille trat ein. Majestät beliebten zu sprechen. »Ich habe heute sieben bemerkenswerte Freunde eingeladen. Zuerst Antoinette de Droyden, eine meiner ältesten, Pardon, längsten Vertrauten. Die anderen sechs, die uns fremd erscheinen mögen, sind ihre Freunde. Ich habe beschlossen, sie zu fördern, wenn sie es verdienen.« Gedämpfter Beifall wurde gespendet. Die Höflinge verglichen ihren König mit Apoll und versinnbildlichten sein Wirken mit den überaus segensreichen Strahlen der Sonne. »Lasst uns zuerst speisen!« sagte der vierzehnte Ludwig. »Dann werden wir uns unterhalten.« Die Speisen wurden aufgetragen. Man begann mit dem Servieren beim König und endete am anderen Ende der Tafel. Alles, was ausgeteilt, vorgelegt, eingegossen und aufgetragen wurde, war erlesenste Küchenkunst; eine Freude für jeden Gaumen. Indes war dieses Essen fettreich und lag schwer im Magen. Trotzdem aßen wir große Portionen und tranken ausgezeichneten Wein. Leise Tischgespräche bahnten sich an. Die Musik schaffte es, die steife Atmosphäre aufzulockern. Wir erfuhren, daß der König eine Menge
seiner Ratgeber eingeladen hatte. Sie sollten uns prüfen und unsere Ideen unter die Lupe nehmen. Ich bemerkte mehrmals, wie Diannot den König studierte, auf die Bewegungen eines jeden Fingers achtete. Gabrielle und ich wechselten einen viel sagenden Blick. Sie hatte verstanden, was ich meinte. Man reichte uns Dessert, dann als überraschende Neuheit eine Tasse bitteren Kaffees, eine besondere Delikatesse für diese Zeit – dann trugen die Diener das Geschirr hinaus. Die Gäste standen auf, als der König sich erhob. Ich näherte mich dem Monarchen und sagte eine Spur lauter, als es nötig war: »Wenn Ihr diese Blumen vor den Fenstern seht, Majestät,
dann habt Ihr sicher den Wunsch, jemand möchte den Eindruck für die Ewigkeit festhalten.« Er sah mich mißtrauisch an, zwinkerte und brummte: »So ist es. Fahrt fort, de l’Arcon.« Ich lächelte verbindlich und sagte: »Wenn ein Gemälde entsteht, so ist es einmalig. Zwar können es viele Menschen sehen, aber es ist eine Kostbarkeit. Wenn es nun gelänge, von diesem Bild einen Druck herzustellen? Einen Druck, der alle Farben wiedergibt und in Kupferplatten auszuführen ist? Tausende Bilder, jedes so schön wie ein Gemälde und wertvoll wie die Natur selbst, können entstehen. Sie gleichen sich wie ein Ei dem anderen.« Mansarts Schwager Robert de Cotte und Coypel, die das Deckengemälde der königlichen Kapelle gemalt hatten, horchten auf. »Das ist bis jetzt niemandem gelungen. Und ich zweifle daran, daß es Euch gelungen ist, Arcon!« sagte Coypel. Ich lachte ihm ins Gesicht und versicherte leise: »Niemand will Eure Kunst lästern. Dort drüben habe ich Zeichnungen. Ihr werdet sehen können, daß mit nur drei Farben jede andere Farbe und Farbnuance darzustellen ist. Denkt Ihr an die ungeahnten Möglichkeiten dieses Verfahrens?« Nachdem ich meine Zeichnung ausgebreitet und erklärt hatte, wussten fast alle im Raum, was diese Erfindung wert war. Gewonnen. Sie sind interessiert! sagte triumphierend das Extrahirn. Der König sagte nach einer Weile: »Ein Mann namens Le Blon arbeitet schon lange an diesem Verfahren. Bisher schaffte er es nicht. Ich bitte Euch, ihm zu helfen. Und was soll dieses Bild zeigen?« Ich erklärte es ihm. In den nächsten drei Stunden waren wir ununterbrochen beschäftigt. Unsere Vorschläge und Schilderungen der verschiedensten Erfindungen – darunter der Dampfmaschine – rissen den König und dessen Ratgeber in ihren Bann. Am Ende der Unterhaltung wurde uns großzügigste Unterstützung zugesichert. Jeder hatte seine Vorschläge gemacht, und jeder, abgesehen von Antoinette, würde binnen kürzester Zeit in der Stufenleiter des Erfolges bis in die Nähe des Thrones gelangen können. Nur Diannot wollte das Verfahren drastisch abkürzen.
Gegen Abend entließ uns der König. Fast alle Pläne waren gebilligt worden und fanden überaus großen Anklang. Wir hatten vermieden, darauf hinzuweisen, daß die meisten Verbesserungen bestehender Techniken und Erfindungen neuer Verfahren, so zum Beispiel des Porzellans, dem Volk mehr nützten als dem Königshof. An diesem Abend feierten wir ein großes Fest im Haus der Vagabunden. In meiner Erinnerung blieben die folgenden Tage und Wochen bestehen, eine schöne, ruhige Zeit. Aus dem späten Frühling wurde Sommer. Die Schönheit des Parks, eines Systems geometrischer Formen, entfaltete sich jetzt vollkommen. Das Rauschen der Wasserkünste, die unzähligen
Figuren und das Wild, das in einigen Gebieten des Parks frei umherlief, die gut angezogenen Menschen, eine Menge pikanter oder tragischer Geschichten. Und dann die vielen Nachmittage und Abende, in denen ich mit Tairi eingeladen war oder selbst Einladungen gab. Die künstlerische Elite und die besten Handwerker, allesamt beinahe Künstler, versammelten sich. Behutsam streute ich meine Informationen aus. Rico rief Informationen aus den Speichern der unterseeischen Rechenmaschinen ab. Ich bekam sie übermittelt, kopierte die vielen Bilder und reichte diese Informationen an die Gäste weiter; behutsam, in kleinen Dosen und stets nur solche Dinge, die sie verarbeiten konnten. Auf diese Art und Weise verhalf ich ihnen zu Erkenntnissen, die sie niemals erfahren würden, weil eine Reise an den betreffenden Ort, in die betreffende Schule oder Werkstatt kaum zu bewältigen war. Architektur und Malerei, neue Techniken in vielen Gebieten, Tricks für den Guß von Bronzefiguren, Materialkunde, einfache physikalische Gesetze und deren Anwendung… das waren meine ersten Beiträge zur Kultur und Zivilisation. Niemand behinderte unsere Zusammenarbeit. Nur einmal, als völlig unvermittelt der König selbst erschien, in Begleitung des jungen Gardisten, wurden wir nervös. Ludwig aber setzte sich in einen Sessel und sagte: »Fahrt fort. Ich höre Euch zu, und ich weiß zu schätzen, was hier geleistet wird. Wenn wir alle einst nicht mehr sind, wird man unsere Zeit als eine große Zeit bezeichnen müssen.« Am wenigsten schien ihn die Erfindung der Dampfmaschine zu interessieren. An einem solchen Abend, die Freunde waren inzwischen gegangen, wurde ich müde und schlief vor den Zeichnungen ein, den Kopf auf die Tischplatte gelegt. Ich träumte unruhig, und zugleich mit dem Jaulen des Hundes trat Tairi ein. »Da ist etwas, Liebster«, sagte sie. »Der Hund… Ich bin ganz aufgeregt.« Du hast das Programm entwickelt! Der Hund will dich warnen! drängte der Logiksektor. Ich sah aus dem Fenster. Die Abenddämmerung brach an, zugleich färbte die Glut eines prächtigen
Sonnenunterganges die Baumwipfel rot. Der Hund! Dort drüben, durch die Breite des Parks von uns getrennt, überwachte der Jagdhund Diannot de Jara. Mein Programm sah vor, daß beim nächsten Anzeichen für ein Attentat die Hunde sich gegenseitig verständigten. Ich musste eingreifen. Ich suchte den Lähmstrahler und steckte ihn ein, schnallte den breiten Gürtel mit dem Degen um und schrie hinunter: »Jean! Zwei Pferde satteln! Meinen Rappen zuerst!« Der ehemalige Bauernbursche hatte schreiben und lesen gelernt und sich zu einem hoffnungsvollen jungen Mann entwickelt. Er rief zurück: »Sofort, Herr!« Ich fühlte, daß sich die Entscheidung näherte.
Das Signal hatte bedeutet, dass der kosmische Vagabund sich anschickte, seine wahnsinnige Idee in die Tat umzusetzen. Ich fasste Tairi an den Schultern und sagte leise: »Hör zu! Du musst hinüber zu Gabrielle und den anderen reiten. Sieh zu, daß du die drei Freunde allein sprechen kannst. Sie sollen ihrem Jagdhund folgen. Er wird sie in die Nähe einer Stelle bringen, an der ich versuche, Nyder aufzuhalten. Sie sollen sich beeilen. Ich reite sofort los.« Sie wußte, um welche Dinge es ging. Gelang es Nyder, den Platz des Königs einzunehmen, war alles verloren. Wir liefen die Treppe hinunter. Der Jagdhund folgte mir, schnell, auf lautlosen Pfoten. Er kannte seine Befehle: Das positronische Programm sorgte dafür. Ich rief unterdrückt: »Castor! Du wirst mich an die Stelle bringen, wo sich Nyder aufhält. Funk deinen Zwillingsbruder an! Schnell!« Ein kurzes Bellen zeigte mir, daß der Robotmechanismus des Hundes gehorchen würde. Ich rannte um das Haus herum, nickte Jean dankend zu und verneinte, als er mich fragte, ob er mir helfen könne. Dann schwang ich mich in den Sattel und ritt rücksichtslos über den Rasen. Ein flacher Sprung, und der Rappe setzte über die steinerne Brüstung. Wir verschwanden zwischen den geometrisch angelegten Reihen der Büsche und Sträucher. Castor lief vor dem Pferd und steigerte seine Geschwindigkeit, sobald wir schneller wurden. Ich setzte die Sporen ein und donnerte in halsbrecherischem Galopp einen Kiesweg hinunter. Zahllose Gedanken schossen mir durch den Kopf, als ich mir Mühe gab, niemanden über den Haufen zu reiten. Der Rapphengst griff weiter aus, als wir einen Rasenstreifen erreichten und die Hufe nicht mehr im Kies ausrutschten. Vermutlich wollte Nyder den König mit einem Lähmstrahler niederschießen und wegbringen. Wohin konnte er seinen Gefangenen bringen? Nyder war kein Mörder; er spielte nur seinen Traum von Macht und Einfluss durch. Für ihn war das alles ein Spiel mit hohem Einsatz. Wie wollte er vorgehen? Dachte er ernsthaft, mit seinem bewusstlosen Gefangenen in dieser Nacht Paris oder Versailles verlassen zu können? Wahnsinn! Wir galoppierten durch den halben Park und kamen in eine Zone, die weniger gepflegt war. Ich sah vor mir vier schwache Lichter und
erkannte, als wir heransprengten, die kleine königliche Kutsche. Die Lakaien saßen auf den Trittbrettern und schienen zu schlafen. Ich ritt vorbei und blinzelte in der halben Dunkelheit. Vor mir bog Castor nach links ab und Scob in gewaltigen Sätzen unter den Bäumen hindurch. Schattenhaft sah ich weit rechts eine Gestalt! Es musste der König sein, der offensichtlich mit einer männlichen Statue ein unhörbares Zwiegespräch führte. Also hatte Nyder
noch nicht zugeschlagen. Ich atmete erleichtert auf und zügelte das Pferd. »Castor!« flüsterte ich zischend. »Wo ist Nyder?« Der Hund verhielt und sah sich suchend um. Ich wußte, auch er korrespondierte lautlos mit dem anderen Robottier. Ich wandte mich um. Hat dich der König bemerkt? Auf keinen Fall erkennt er dich! sagte der Extrasinn. Ich hielt neben einem knorrigen Stamm. Über mir streckten sich die Äste aus. Der Rappe und ich verschmolzen mit der Dunkelheit. Nur die offenen Rasenflächen lagen im ungewissen Zwielicht. Der Hund stand starr da, als wittere er Wild. Dann riss er den Kopf hoch und bellte dreimal unterdrückt, sah sich nach mir um und sprang vorwärts. Verhalten überquerte er den Rasen, huschte am Sockel einer halbnackten Diana aus Stein vorbei und versteckte sich zwischen runden Büschen, die mit weißen und gelben Blüten übersät waren. Ich folgte ihm, lenkte das Pferd zwischen die Zweige des Verstecks und zog den Zügel an. Das Pferd stand regungslos. Ich nahm den Hut ab, band ihn am Sattelknauf fest, entsicherte die Waffe, die einem Damenterzerol nachgebildet war, und wartete. Meine Ohren begannen, sich an die Stille zu gewöhnen. Nichts… Dann ungewisse Geräusche von links, aus der Richtung der Avenue de Sceaux. Zweige knackten, dann Hufschlag auf einem Kiesweg. Ich versuchte, die Dunkelheit zu durchdringen. Jetzt blickte ich in die Richtung, aus der die Geräusche kamen. Ich nahm undeutliche Bewegungen wahr, ein kurzes, erschrecktes Wiehern, als Nyder sein Pferd herumriss und auf den Rasen hinaufgaloppierte. Jetzt sah ich ihn deutlich. Seitlich von ihm duckte sich ein kleinerer Schatten gegen einen Baumstamm. Der andere Hund. Büsche bewegten sich, Zweige schnellten zurück, als Nyder, links an mir vorbeiblickend, die Statue und die Gestalt daneben erkannte. Er musste herausgefunden haben, in welcher Gegend des Parks sich der König bewegte. Ich ließ ihn bis auf fünfzehn Schritte herankommen und winkte dem Hund, mich zu sichern. »Halt, Chevalier de la Nyder!« sagte ich sarkastisch. Er parierte sein Pferd durch und erschrak. Er fasste sich schnell. Seine Hand
hob sich, ohne daß ich die Bewegung sah, und er feuerte. Ein gedämpftes Krachen ertönte, und ein fahler Blitz zischte zwischen mir und dem Hals des Pferdes hindurch und traf den Baumstamm. Dann sprang Castor in drei Sätzen heran, wirbelte herum, als Nyder sein Pferd spornte, und sprang in die Höhe. Ich sah einen getigerten Schatten durch die Luft segeln. Das Tier schnappte nach der Hand des Mannes. Kunststoffzähne klirrten auf Metall, dann krachte ein weiter Schuß. Ich hörte, wie der Hund auf den Boden sprang und die Waffe fallen
ließ. »Zum Teufel mit dir, Atlan!« knurrte Nyder und ritt auf mich zu. Ich hörte, wie er seinen Degen zog. Er trug die Kleidung des Königs. Sogar einen überaus prächtig bestickten Mantel, dessen Säume aufglänzten. Als ich auswich, scheute mein Pferd vor dem wehenden Mantel und stieg in die Höhe. Ich stieß gegen einen Ast, hob die Hand und verfing mich in den Zweigen. Als ich das Pferd unter Kontrolle hatte, wirbelte ein zurückschnellender Ast die kleine Waffe aus meiner Hand. »Du bist ein Narr und ein Anfänger, Nyder!« knurrte ich. Er hatte mich fast erreicht. Mein Rappe machte einen Satz. Ich presste mich auf den Hals des Pferdes, und der mit scharfer Präzision geführte Degenstich traf ins Leere. Er bringt dich um! Wehre dich! tobte das Extrahirn. »Aus dem Weg! Halte mich nicht auf!« rief er unterdrückt, in höchster Wut. Ich zwang mein Pferd, sich auf der Stelle zu drehen und sich aufzubäumen. Gegen die wirbelnden Hufe kam Nyder nicht an, er parierte durch und ritt an mir vorbei. Ich ließ mich aus dem Sattel fallen, rollte mich ab und zog den Degen. Ich blieb stehen, und als Nyder mich sah, lachte er triumphierend auf und ritt auf mich zu. Ich warf mich dem Pferd in die Zügel, riss seinen Fuß aus dem Steigbügel und wehrte zwei seiner Schläge ab. Als ich den Zügel losließ, sprang das Pferd vorwärts, und ich richtete mich blitzschnell aus der gebückten Haltung auf. Die Muskeln meines linken Armes spannten sich. »Verdammt!« schrie Nyder auf. Die Klinge zischte dicht über meinen Kopf. Im gleichen Augenblick warf ich Nyder nach rechts aus dem Sattel, sprang zurück und sah, daß beide Jagdhunde hinter mir standen und warteten. Ich hatte den Degen in der Hand und blieb stehen. »Ich weiß alles, Nyder. Ich werde verhindern, daß du den alten Mann umbringst.« Er kniete mit einem Bein nieder und hob den langen, glänzenden Stahl der Waffe aus dem feuchten Gras auf. Dann richtete er sich auf und kam mit steifen Knien auf mich zu. »Du weißt… woher?« Ich machte mich auf einen plötzlichen Angriff gefaßt. Inzwischen war es noch ein wenig dunkler geworden.
»Alle wissen es«, sagte ich. »Niemand hat etwas gegen deine Spiele – aber wir werden verhindern, daß du den König umbringst.« Er knurrte zwischen den Zähnen: »Nur du stehst zwischen ihm und mir. Und das nicht mehr lange!« Ich hob den Arm mit dem Degen und warnte leise: »Ich werde es verhindern. Und glaube nicht, daß ich zögere, dich zu töten oder schwer zu verletzen!« »Das glaube ich dir sogar, Arkonide.« Plötzlich griff er an. Wir kämpften nicht nach klassischen Regeln des Degenfechtens. Ich hatte zu viele andere Techniken gelernt; das gleiche galt für Nyder. Den ersten Schlag parierte
ich, schlug die Waffe zur Seite und drang vor. Ich versuchte, ihn zu umgehen und zu zwingen, in die Richtung zurückzuweichen, aus der er gekommen war. »Los! Wehr dich, Nyder!« zischte ich, schlug gezielt nach der anderen Klinge. Der Arm und dahinter der Mann waren nichts anderes als Schatten, die mit dem Hintergrund verschmolzen. Nur der blanke Stahl der Waffen war sichtbar. Alle anderen Vorteile fielen weg. Nyder kämpfte fast besser als Royer; und ich erinnerte mich an die Worte eines alten, fast dürren Fechtmeisters, mit dem ich vor einigen Tagen ein paar Stunden geübt hatte. »Kein Gefühl beim Waffengang, de l’Arcon. Keine Wut, kein Triumph, keine Angst – nur kalte Berechnung. Nur so kann man siegen.« Nyder hatte es geschafft, seinen Hass auf den Mann, der sich zwischen ihn und die Erfüllung seines Traumes geschoben hatte, zu unterdrücken. Er focht locker und gelöst – und tödlich gefährlich. Seine Waffe wirbelte vor mir umher, ich wehrte drei rasend schnell geführte Stiche ab und sprang zur Seite. Er gönnte mir keine Atempause. Ich stand mit dem Rücken zu der Statue, neben der sich Ludwig der Vierzehnte aufhielt. »Angst, Atlan?« »Nein«, sagte ich leise. »Ich habe nur davor Angst…« Ich drang auf ihn ein, schlug seine Deckung auseinander und brachte ihm eine tiefe Wunde am rechten Oberarm bei. »… daß ich dich töten muss. Dieser Preis ist zu hoch, mein Freund.« Nyder warf seinen Mantel ab und bewegte sich nach rückwärts. Ich folgte und hielt sicheren Abstand. Als der Mann in seinem Rücken die Nähe von Büschen und den Säulen einer zierlichen Kolonnade spürte, blieb er stehen. Ich erkannte meinen Vorteil, einige Sekunden lang war Nyder unschlüssig. Er presste das Handgelenk gegen den Arm, gegen die Wunde. Als ich mich mit ausgestreckter Waffe näherte und mit der Spitze des Degens auf seine Brust deutete, sprang er zurück auf die Stufen und wehrte den Stich ab. »Du hast mich noch nicht!« sagte er und verschwand hinter einer Säule. Ich stieß mich von derselben Säule ab und führte eine Reihe schneller Angriffe auf beiden Seiten dieses Verstecks. Nyder sprang
hin und her, schlug mit seiner Klinge meine Waffe nach oben und unten, sprang mit einem Satz drei Stufen hinauf und lehnte sich gegen einen viereckigen Sockel. »Komm her!« flüsterte er. Ich bereitete mich auf eine selbstmörderische Aktion des Mannes vor. Wir versuchten beide einige Finten, aber wir waren zu gut ausgebildet. Wieder warf sich Nyder nach vorn und hieb um sich, kontrollierte jeden Schlag und stach nach etwa zwanzig blitzschnellen Angriffen zu. Ich hechtete zur Seite, aber die Spitze des Degens durchbohrte mein ledernes Wams und fuhr zwischen Arm und Brust
hindurch. Ich fühlte einen brennenden Schmerz unter der linken Schulter. Nyder riss die Waffe zurück, setzte neu an und stach abermals zu. Mein Handgelenk bewegte sich, die zischende Klinge schlug seine Waffe zur Seite. Gleichzeitig trat ich zu und traf mit der Stiefelspitze sein Schienbein. Ich hörte, wie er die Luft einzog und dann etwas murmelte. Ich ging zurück, Schritt um Schritt näherte ich mich dem Zentrum der runden Anlage. Zwischen den Säulen gab es kleine Wasserbecken, von denen Strahlen in die Luft schossen und in silbernen Tropfen in die Schalen zurückfielen, über die Ränder flossen und aufgefangen wurden. »Du kannst nicht siegen!« sagte ich. »Und wenn du flüchtest, greifen dich meine Hunde an. Komm herunter und kämpfe weiter.« Wo blieben die anderen? Hatte Tairi sie nicht erreicht? Oder befanden sie sich gar nicht im Haus, und meine Freundin musste sie erst finden? Ich wagte nicht daran zu denken, daß es im letzten Augenblick noch einen Misserfolg geben konnte. »Auch du wirst nicht siegen!« Nyder kam drohend die Stufen herunter. Wir standen uns im Zentrum der Anlage gegenüber. Um uns bildeten die Wipfel einen Ausschnitt gegen den Himmel – wir konnten einander erkennen, deutlich genug, um weiterkämpfen zu können. Wieder griff er an. Er hatte eindeutig die Absicht, mich niederzustechen. Mein Aktivator begann mit seiner Arbeit; er schloss die Wunde und linderte den Schmerz. Ich wehrte den kalten Stahl ab und schlug zu. Ich traf ihn am linken Handgelenk, setzte nach und verwickelte ihn in einen Kampf, in dem wir unsere Klingen pausenlos dicht vor den Körpern kreuzten. Dann gelang es mir, mit der Spitze des Degens zwischen Korb und Parierstange hindurch zufahren. Nyder schrie leise auf, dann riss ich meine Waffe hoch, verkantete das Handgelenk und riss seinen Degen aus der verletzten Hand. Die Waffe wirbelte, sobald sie sich von meiner Klinge gelöst hatte, durch die Luft und blitzte auf. Als sie klirrend auf den feuchten Stein fiel, hörten wir Hufschläge von drei oder mehr Pferden. Ich erkannte, als das erste Tier mit einem jähen Satz zwischen den Sträuchern hindurch schoss, daß Die
an der Spitze ritt und eine Fackel in der Hand hielt. Das Licht war zu hell für eine normale Fackel – ich zwinkerte; offensichtlich ein Gegenstand aus dem Raumschiff. Als das Pferd rutschend und scheuend über die Stufen, zwischen den Säulen und den Wasserstrahlen hindurch, auf den Boden der Anlage sprang, erfüllte das grelle Leuchten das Innere des offenen Tempels. »Die!« murmelte Nyder fassungslos. Sie schwang sich, ohne ihn aus den Augen zu lassen, aus dem Sattel. Tairi, Troy und Verga kamen näher, stiegen aus den Sätteln und näherten
sich uns. Nur ihre Schritte, unser keuchender Atem und das Plätschern des Wassers waren zu hören. Langsam atmete ich ein und aus und zwang mich zur Ruhe. Noch immer deutete die geschliffene Spitze auf Nyders Brust. »Bewege dich nicht!« sagte Die. Wir erkannten ihre Stimme nicht mehr. Sie war fast tonlos, aber von eisiger Kälte, die mich schaudern ließ. Blitzartig erhellte sich ein weiterer Teil ihrer erstaunlichen Persönlichkeit. »Ihr… ihr seid alle gegen mich!« stieß Nyder hervor. »Wir sind für dich, du Narr!« fauchte Die. »Sonst wären wir nicht hier.« Sie blieb neben ihm stehen. In der Hand trug sie eine unscheinbare Waffe, die genauso aussah wie meine getarnten Strahler und Patronenwaffen. »Ich gebe nicht auf!« murmelte Nyder, sah nach links und rechts, bewegte sich wie ein Wild, das sich in die Enge getrieben fühlte. Schweigend kamen die anderen die Treppe herunter und blieben stehen. Ich bemühte mich, das Zittern meiner Hand zu unterdrücken, und beobachtete Nyders Augen. »Du wirst aufgeben, Nyder, sonst sind wir nicht mehr deine Freunde. Wenn bekannt wird, was sich hier abspielt, wandern wir ins Gefängnis, wenn uns nicht vorher die Flucht glückt. Du Narr hast uns das alles eingebrockt. Vergiss ein für allemal deinen Traum von der Alleinherrschaft; du kannst nicht die geringste Erfahrung für diese Position mitbringen. Gib auf. Widme dich allen anderen Dingen, aber versuche niemals, den Thron eines absolutistischen Herrschers zu erklettern.« Die hatte unbeteiligt gesprochen, als ginge sie das alles nicht das geringste an. Sie blickte Nyder unverwandt ins Gesicht. »Niemand versteht mich. Niemand hilft mir. Und wir sind jahrelang durch das All gerast, von Niederlage zu Niederlage. Wir waren auch auf Arkon, Atlan. Dort fanden wir Weichlinge, lauter Träumer… Aber was langweile ich dich damit? Ihr…« Plötzlich reagierte Nyder. Noch ehe ich zustoßen und ihn verwunden konnte, sprang er nach rechts und lief auf die Stufen zu. Die zuckte nicht mit einem Muskel ihres beherrschten Gesichtes, als
sie den Zeigefinger krümmte und feuerte. Zwei peitschende Entladungen hallten durch das steinerne Rondell. Nyder zuckte zusammen, bäumte sich auf, knickte in den Knien ein und brach nach zwei Schritten zusammen. Seine Schulter schlug schwer auf den Stein. Ich senkte meinen Degen und sagte zu Gabrielle: »Das musste wohl sein. Bringt ihn weg – ich kümmere mich um den König. Wir sollten versuchen, Nyder aus Versailles wegzubringen. Ich werde mit Ludwig reden – falls ich ihn dort drüben noch antreffe, in dreihundert Schritt Entfernung.« Ich drehte mich halb herum, um mit dem Kopf der Fackel nicht das Dach der Kutsche in Brand zu stecken.
»Gut. Verlasst Euch auf mich. Euer Wunsch soll erfüllt werden – ich bin sicher, daß Ihr es zu würdigen wisst!« Ich verneigte mich und antwortete: »Mein Dank gebührt Euch, Majestät.« Ich schloss die Tür und sah zu, wie die Lakaien auf den Bock kletterten und sich auf ein Brett über der hinteren Achse stellten. Die Pferde zogen an, die Laternen brannten heller, plötzlich tauchte aus dem Dunkel der Anführer der Wache auf. Seine Augen richteten sich auf mich. Er lächelte und fragte leise: »Ihr habt einen guten Kampf gehabt, Atlan de l’Arcon? Aber nur Ihr wisst, wo Ihr die Schläge und Finten gelernt habt. Nicht in Südamerika und auch nicht hier in Paris.« Sein Pferd und er wirkten wie eine der bronzenen Gestalten rund um die Bassins. »Ihr mögt recht haben«, sagte ich. »Aber dies ist wohl nicht der Ort und die Stunde, darüber zu sprechen. Ich bringe Euch, Chevalier, gern meine Finten bei.« »In Ordnung. Schlaft ruhig.« »Dasselbe wünsche ich Euch!« Die Kutsche und der Gardist verschwanden in der Dunkelheit. Ich winkte meine Hunde heran, stieg in den Sattel und ritt, solange die Fackel noch Licht gab, zurück zum Haus, wo Tairi und Antoinette auf mich warteten. Das Attentat auf den vierzehnten Ludwig war vereitelt worden. Würde der Gardist schweigen? Im Augenblick war es mir gleichgültig. Jean und ich sattelten das Pferd ab, rieben es trocken und führten es zu den anderen Tieren in den Stall. Müde und zerschlagen ging ich in den Salon, trank eine Tasse heißen Tee und wartete darauf, daß mir ein heißes Bad bereitet wurde. Ich schlief bald ein… und erwachte nach einem Traum, der mich schüttelte und erschrocken aus dem Schlaf hochfahren ließ. Ich sah Tairi und mich in ein System eingegliedert, das mich – nicht nur im Traum – mit Schrecken erfüllte. Ich fühlte mich abscheulich allein und verwaist; ein einzelner Mann inmitten dieses barbarischen Planeten, dessen winzige Zonen der Zivilisation nichts anderes als Oasen in einer gewaltigen Wüste waren. Drei Frauen und zwei Männer, die versuchten, aus ihrer Lage das Beste zu
machen – für sich und für diesen Planeten. Es war wenig genug, denn das Gesetz der großen Zahl arbeitete gegen uns. »Kann ich dir helfen? Du bist unruhig, hast im Schlaf gestöhnt!« Ich setzte mich auf und lehnte mich gegen den Gobelin. Tairi wischte meine Stirn ab und zündete ein paar Kerzen an. Sie sagte flüsternd: »Was hast du geträumt, Liebster?« Mondlicht sickerte durch die Fenster. Ich hatte es bis zur heutigen Nacht geschafft, mühsam die Enttäuschung zu überwinden, die mich tagelang geschüttelt hatte. Das Raumschiff, die vorläufig letzte Chance für eine Rückkehr, war in der Sonne verglüht. Die und Verga, Nyder und Troy fühlten sich wohl;
ich wußte nicht, was ich tun sollte. Ich resignierte, ich fühlte mich überfordert und unsicher. War es noch immer meine Aufgabe, diese Welt zu fördern, den Barbaren zu zeigen, wie sie dereinst den Anschluss an galaktische Zivilisation finden konnten? »Alles mögliche. Lauter Dinge, die mich erschreckten«, sagte ich und streichelte ihre Schulter. Nach einer Weile sagte sie: »Wir sollten so leben, wie wir es schon einmal taten. Versuche, hier zu tun, was du kannst – dann fliegen wir davon und leben irgendwo in der Sonne und kümmern uns um nichts anderes als uns selbst.« »Vielleicht ist es das beste«, sagte ich und ließ mich zurücksinken. Als ich drei Tage später mit neuen Plänen vorsprach und an der Tafel des Königs speiste, erfuhr ich zu meiner Überraschung, daß Diannot mit einer Kutsche und einem ausführlichen Begleitbrief, vom König unterzeichnet, unterwegs war, um Ludwig zu helfen, den Krieg gegen die Holländer zu beenden. Ich ließ mir nichts anmerken, als mich Dié anblickte. Mitten im Sommer verließ uns Verga; völlig unbemerkt. Sie lernte einen hochgewachsenen Franzosen kennen, dessen Eltern offensichtlich unbegrenzte Geldmittel besaßen. Nicolas war für sein Alter erstaunlich weit gereist, und er schien sogar das Geheimnis um seine schöne, ungewöhnliche Freundin zu begreifen… Jedenfalls respektierte er es und verbarg sein regelmäßiges Erstaunen über die Klugheit und das Können seiner Freundin. Am letzten Abend, ehe sie eine lange Reise antraten, war Beatrix de Vergaty bei uns. Sie machte trotz ihrer Aufgeregtheit einen bedrückten Eindruck. »Was wirst du tun, Verga?« fragte Dié in einem Ton, als wisse sie genau, daß sie den Namen Verga zum letzten Mal aussprechen würde. »Wohin geht die lange Reise mit Nicolas?« Vorsichtig nippte Verga an der Kaffeetasse. Schließlich erwiderte sie: »Wir wollen alle Länder um das Mittelmeer besuchen. Nicolas ist unabhängig; er wird mir alles zeigen. Auf diese Weise schaffe ich es, Tausende von Informationen zu verstreuen. Vielleicht geht einiges von dieser Aussaat auf und entwickelt sich. Wer weiß?«
»Richtig. Wer weiß es?« meinte ich. »Die ersten Züge auf einem riesigen Schachbrett werden unternommen. Die Auflösung beginnt, die Aufsplitterung…« Behutsam, um die Abschiedsstimmung nicht zu zerreißen, meinte Antoinette de Droyden: »Diannot soll beim Marschall eingetroffen sein. Wie ich in den Wandelgängen hörte, scheint sich die Entscheidungsschlacht zu nähern. Irgendwo bei Denain; ich kenne diesen Ort nicht.« Und ich hatte gern darauf verzichtet, Nyder mit Hilfe der Robotsonden von Rico beobachten zu lassen. Wir waren sicher, daß er mit Marschall de Villars den Sieg erfechten und, wie sich Ludwig ausdrückte,
»die Ehre des Landes retten« würde. »Das spricht für ihn – und für uns, schließlich mussten wir ihn überzeugen, daß es ein irrsinniger Traum war«, sagte Dié. Sie war gelöst und etwas melancholisch. Auch ihr schien der Abschied nahe zu gehen. Sie hob das Glas, in dem Branntwein leuchtete, gegen die Kerzenflammen und drehte es in den schlanken Fingern. Gedankenverloren sagte sie: »Musik und Malerei, du wirst ein hinreißendes Modell sein. Sie haben dir viele Namen genannt. Nimm alle Unterlagen mit dir und sage den Männern, was du weißt. Das ist dein Beitrag. Dein Gastgeschenk an diesen Planeten. Und du bist sicher, daß du nie mehr unsere Hilfe brauchen wirst?« Verga hob die schmalen Schultern und murmelte: »Ich habe das Funkgerät, als Schmuckstück getarnt. Vielleicht bekommen Nicolas und ich in den Jahrzehnten, die mir Günstigenfalls noch bleiben, Kinder, die unser Erbe weiterführen können! Wenn nicht, auch gut: Ich werde jeden Tag, den mir diese Welt noch schenkt, genießen – wie die Zeit hier in Versailles und in Paris, der Stadt des Lichts.« Plötzlich schien sie sich zu besinnen. Sie musterte Antoinette, dann Tairi und mich. Sie schwieg lange und fragte schließlich: »Und ihr, Atlan und Tairi?« Ich hob die Schultern und schüttelte den Kopf. »Auch wir werden irgendwann zu reisen beginnen«, sagte Tairi an meiner Stelle. »So, wie ich Atlan kenne, erst dann, wenn er alles, was er weiß und was sie begreifen, hier gelehrt und weitergegeben hat. Nicht eher.« Antoinette nickte zustimmend, lachte leise und schloss: »Das ist es wohl. Und von den Menschen in dieser Welt bin ich die einzige, die ahnt, woher ihr wirklich kommt, ihr fünf erstaunlichen… Menschen. Und ich werde das Geheimnis mit ins Grab nehmen.« Verga ertrug die Stimmung nicht mehr und stand auf. »Bleibt hier. Bleibt bitte sitzen«, sagte sie und kämpfte gegen die Tränen an. »Die wird mich zum Wagen bringen. Nicolas wartet schon, und morgen früh werden wir Versailles hinter uns gelassen haben. Richtung Süden.« Der Abschied war sehr kurz. Keiner von uns erfuhr je, was die beiden Frauen auf dem Weg vom Haustor bis zur Kutsche
gesprochen hatten. Jedenfalls kam Dié mit beherrschtem Gesicht zurück und schwieg, bis sich die kleine Versammlung auflöste. Zwei Figuren waren vom Schachbrett verschwunden. Vier blieben übrig, um ihren selbstgewählten Auftrag zu erfüllen und um zu überleben. Möglichst gut zu überleben. Dié und Troy, Tairi und ich. Und, irgendwo, unerreichbar für uns, Nyder, der hitzige Träumer. Übrigens, um es vorwegzunehmen: Tatsächlich wurde mit dem Frieden von Utrecht, zu dessen Feiern der große George Friedrich Händel 1713 in London das Tedeum schrieb, der lange Krieg zwischen dem Reich
König Ludwigs des Vierzehnten und Holland beendet. Aber wir hörten nie wieder etwas von Nyder oder von einem Mann namens Diannot de Jara, auch nichts von Verga oder Beatrix de Vergaty. Auch nichts von einer Madame Nicolas de Perrault. Die Zurückgebliebenen leisteten mehr, als sie sich vorgenommen hatten. Aber wir arbeiteten dergestalt, daß niemand in der Zukunft unsere Spuren erkennen konnte. Alles geschah an der Seite fähiger Männer und Frauen, deren Namen für die Erfindungen standen. Berkeley entwickelte eine neue Theorie des Sehens, nichts anderes als einen Vorläufer einer modernen Sinnesphysiologie. Ich legte einen Keim, der in späteren Jahren eine Menge naturwissenschaftlich-medizinischer Erkenntnisse bringen sollte… Johann Friedrich Böttger, ein verkrachter Alchimist, arbeitete mit dem »Physiker« von Tschirnhaus zusammen. Eines Tages erschien Troy bei ihm, veranstaltete eine Menge erstaunlicher Experimente und entwickelte so nebenbei die Technik des modernen Porzellans, August der Starke, der später Versailles besuchte, gründete mit der Hilfe und der Unterstützung der drei Männer die Meißener Porzellanmanufaktur. Gold hatte er gesucht oder auf dem Umweg über den Stein der Weisen herstellen wollen, und als Erfinder des Porzellans ging Böttger in die Geschichte ein. Troy verschwand, als alle Widerstände beseitigt waren, von Böttgers Seite und wandte sich neuen Erfindungen zu… Tairi vollbrachte ein Meisterstück weiblicher Diplomatie. Ohne daß sie etwas tat – alles löste sie durch Gespräche, durch zielstrebiges Fragen und durch Hinweise, die sie in Fragen und Diskussionen einfließen ließ – , erreichte sie, daß Pourfour du Petit eine wissenschaftliche Erkenntnis ersten Ranges publizieren konnte. Du Petit fand heraus, daß die linke Hirnhälfte die Bewegungen der rechten Körperhälfte steuerte – und natürlich umgekehrt. Tairi wies ihm auch den möglichen Weg zur empirischen Erforschung dieses erstaunlichen Effekts, und als er, überglücklich, von seinen bislang mißtrauisch und abweisend reagierenden Kollegen gefeiert wurde, zog sie sich abwehrend zurück. Trotzdem konnte nicht vermieden werden, daß der Name dieser klugen Studentin bekannt wurde…
Längst arbeiteten andere Männer als Le Blon mit dem DreifarbenKupferdruck, mit dem ich uns bei Hof eingeführt hatte… Die Charite im deutschen Berlin wurde gegründet… Wer hatte die ersten Denkanstöße zu dieser medizinischen Einrichtung gegeben, deren Beispiel schnell Schule machte? Einer von uns… Christofen verbesserte sein Hammerklavier: Hier war Dié am Werk gewesen und hatte ihm Handzeichnungen geliefert und Pläne gezeichnet. Sie war es auch, die das neue Instrument zum ersten Mal der Öffentlichkeit vorstellte. Keine Chronik vermerkte den
Umstand, daß sie ein kompliziertes Volkslied spielte. Dieses Lied war sie in ihrer Kindheit gelehrt worden. Zum ersten Mal erklangen auf Larsaf III Melodien eines fernen Planeten… Mit Leibniz führte ich lange Gespräche; aber er missverstand mich. Das Ergebnis dieses geradezu furchtbaren Missverständnisses sollte, viel später, eine »Monadologie« werden, die jahrhundertelang die Philosophie befruchtete und die Gedankenmuster der europäischen Philosophen in eine Richtung lenkte, die ich niemals beabsichtigt hatte. Aber so entstehen aus gutem Willen, ehrlicher Absicht zur Aufklärung und dem Wunschdenken, das andere nicht nachvollziehen konnten, entscheidende Fehler. Allerdings… noch kein Philosoph hat die Weltgeschichte entscheidend verändert. Es waren in ihrer Art Empiriker, deren Gedanken und Bücher nicht die mögliche Zukunft behandelten, sondern an der Vergangenheit anknüpften… Mit Cassini sprach Troy – Giovanni Domenico Cassini, der italienische Astronom, erfuhr kurz vor seinem Tod genau, was er eigentlich beobachtet hatte. Troy legte ihm gestochen scharfe Aufnahmen der Ringe des Saturn vor, in denen die Cassinische Trennung genau zu sehen war. Die vier Saturnmonde, die der Mann des Fernrohres entdeckt hatte, entpuppten sich für ihn als Monde innerhalb eines größeren Systems. Auch die Natur des Zodiakallichtes verriet Troy ihm. Aber wir schafften es nicht, bessere Fernrohre zu konstruieren – wir hatten außerhalb der Kuppel weder die Zeit noch die Fachleute dazu. Als Ergebnis unserer Arbeit begann ein Mann mit Namen Henry Mill sogar eine Schreibmaschine für Blinde zu konstruieren und beantragte darauf ein Patent… Wir lachten uns halb tot, als wir erfahren mussten, daß E. Orffyre mit seinem »Perpetuum mobile« sogar Gelehrte täuschte. Niemand konnte ihm beweisen, daß seine Konstruktion ein ausgemachter Schwindel war und daß ein »immerbewegliches System« günstigstenfalls im schwerelosen Raum funktionierte. Wir wussten, daß dies nur scheinbar so war, daß es keinen schwerelosen Raum
gab, daß das Gesetz von der Erhaltung der Energie ganz andere Voraussetzungen hatte, aber wie sollten wir das erklären können…? Voltaire schrieb an der Tragödie »Oedipus«; wir sahen Watteau zu, wie er »Einschiffung nach der Insel Cythera« begann… Wir verbesserten die ersten Dampfmaschinen und mussten auf halber Strecke aufgeben, weil wir keine geeigneten Materialien fanden und niemand, der sich dafür interessierte, sie zu entwickeln. Aber die Maschinen nach Papin – dessen erster Dampfkochtopf beim Schaukochen die Perücken der anwesenden Wissenschaftler verbrüht hatte – und Newcomen liefen lärmend, mit zu hohem Energieverbrauch und mit zu schwacher Leistung… Wir
sahen Vorführungen des »Vaudeville«-Theaters, diskutierten die Idee der Pockenschutzimpfung so lange, bis man entsprechende Versuche mit der Übertragung von erkrankten auf gesunde Menschen wagte… mit unterschiedlichem Erfolg. Aber wir waren auf dem richtigen Weg. Vielmehr die Menschen, die unsere Ideen und Vorschläge aufgriffen und zu experimentieren begannen. Wer lehrte Halley, die Bewegungen der Fixsterne zu diskutieren? Wer war an der Idee zur Gründung der Porzellanmanufaktur in Wien beteiligt? Und wer vertrat wie William Kent die Idee des Gartens, der wie eine natürliche Landschaft wirkte? Wer regte den Druck der ersten Banknoten an, die jene abgegriffenen Münzen ersetzen konnten? Tairi »erfand« die Geburtszange. Zwei Passagen der »Artemise« von Voltaire wurden von mir geschrieben; er veränderte nur wenige Zeilen, die ihn sprachlich störten. Und vieles andere mehr… Es waren wundervolle Jahre, geprägt vom Lachen der Vagabunden, die auf dieser Welt den Endpunkt ihrer Sternenreise gefunden hatten. Strahlenförmig, mit Versailles im Zentrum, breiteten sich unsere unsichtbaren Spuren aus. Manchmal war der Kontakt nur lose oder brach für Wochen ab. Die Wintermonate verbrachte ich meist mit Tairi auf der Südseeinsel, in der Ernte- und Herbstzeit zog es uns nach Beauvallon. Und natürlich besuchten wir Eugen, den kleinen, tapferen Prinzen von Savoyen-Carignan, und standen ihm zur Seite, als er 1714 vom Kaiser beauftragt wurde, die Friedensverhandlungen von Rastatt und Baden zu führen. An einer Teilnahme am dann folgenden Türkenkrieg war ich nicht interessiert, aber Rico behielt Eugen im wachsamen Spionsondenauge. Auch in anderer Hinsicht beruhigten Ricos sporadische Nachrichten: Es gab keinen Hinweis auf Nonfarmale! Als am ersten September 1715 König Ludwig der Vierzehnte starb, verließen wir Versailles. Schon einige Zeit vorher hatten wir ein Schlösschen an der französischen Mittelmeerküste gekauft. Troy reiste dorthin, um es für uns einzurichten. Die Auflösung ging weiter…
Ein trauriges Ende hat der absolutistische Herrscher über ein 21Millionen-Volk genommen, dachte Cyr Aescunnar und studierte den Abriß über Louis XIV. Demütigende Niederlagen in den Kriegen, ein klimatisch katastrophales Jahr 1709, Epidemien, Tod des einzigen legitimen Sohnes durch Pocken – 1711/12 -; neben dem Grand Dauphin starben auch die beiden Enkel, die Herzöge von Burgund und Berry, schließlich der älteste der Urenkel. Nur der 1710 geborene Herzog von Anjou, klein und gebrechlich, blieb übrig. Noch sechs Tage vor dem Ende gab der Sonnenkönig ein öffentliches Diner, ordnete alle Einzelheiten der Nachfolge und der Beisetzung und sagte jedermann in seiner Umgebung adieu; er starb
am Morgen in königlicher Würde. Der fünfzehnte Louis, eine Waise von fünf Jahren, folgte auf den Thron; der Herzog von Orleans übernahm die Regentschaft. 41 Jahre alt, kultiviert, beredt und tapfer – aber auch faul und von einem völligen Fehlen moralischer Prinzipien gekennzeichnet. Cyr seufzte leise. »Armes Frankreich! Vorbei die prächtigen Feuerwerke! Vorbei die Musik Rameaus, Lullys, Danican-Philidors und Delalandes! Und woher kamen die kosmischen Vagabunden? Welchem Sternenvolk gehörten sie an?« Da sie absolut menschenähnlich waren, so sehr, daß selbst der Arkonide damals keinen Unterschied hatte feststellen können, glaubte Cyr, daß es Bewohner von Lemurer-Planeten waren; zweifellos wussten die Arkoniden seinerzeit vieles über die »Lemurer«, denn der Krieg zwischen diesen und den Halutern war Teil des Kollektivgedächtnisses. War dies der Grund, warum Atlan es nicht für nötig fand, über die Herkunft der Terra-Besucher zu spekulieren oder sie zu fragen? Wieder bedauerte Cyr, Atlan nicht direkt, während seiner Erzählungen, befragen zu können. Er zuckte mit den Schultern und schrieb eine weitere Frage in sein positronisches Notizbuch. Ein scheinbar namenloser Ort am Mittelmeer. Früher Herbst. Das Licht durchdrang die Luft und erfüllte die Anlage des natürlichen Hafens. Eine doppelte Bucht, die aussah wie ein eingestürztes und seit langem von Humus gefülltes und von Bäumen überwuchertes griechisches Theater. Auf einem vorspringenden Felsen kauerte das Haus; es war eingerichtet, als der Gleiter mit dem Rest unseres Besitzes und mit dem Hund Castor landete. »Seit einem halben Jahr ist Troy hier. Er hat alles eingerichtet oder einrichten lassen und, wie ich ihn kenne, auch bezahlt«, sagte Gabrielle. »Aber wo ist er?« Wir hatten seit vier Monaten nichts von ihm gehört. Ich trat an den Rand einer Terrasse, die von den Kronen mächtiger Bäume überschattet war. Man hatte die Bäume hier hinaufgeschleppt und in Mauerröhren, mit Erdreich und Steinen gefüllt, eingepflanzt. Troy war in allem, was er tat, sehr gründlich.
»Er wird sich melden, wenn er merkt, daß wir hier sind.« Die sah Tairi an und entgegnete schroff: »Ich habe unzählige Male das Funkgerät betätigt. Er hätte sich melden müssen.« Ich deutete nach unten. Dort sah ich ein Stück eines vorspringenden Felsens; dort war mit Hilfe von Steinen und schweren Balken, deren Anordnung unverkennbar Troys Handschrift trug, eine kleine Badeplattform geschaffen worden. Hin und wieder schlug eine Brandungswelle gegen die Felsen und zerstäubte zu Nebel. »Die Fischer, Bauern und die wenigen Handwerker können uns sagen, wo Troy ist, falls sie ihn gesehen haben. Wenn nicht…«, ich zögerte und fuhr dann etwas
gemäßigter fort, »… dann will er nichts mehr von uns wissen. Oder er ist dort ertrunken.« »Er ist ein ausgezeichneter Schwimmer!« »In einem unbekannten Gewässer!« sagte ich zu Gabrielle. »Und uns bleibt nichts anderes übrig als das Warten. Packen wir aus!« Jean und wir drei. Das Haus füllte sich mit einem schläfrigen Leben. Die ersten Wochen taten wir nichts anderes als sonnen und baden, schwimmen und fischen. Wir schufen um uns Zonen der Ruhe. Die Bauern verkauften uns, was wir zum Leben brauchten. Wir wurden freier und unbekümmert. Und ich wagte sogar, die Bänder der Maschinen unter dem Meer abzuspielen, und erfüllte das Haus mit Musik aus vielen Kulturepochen. Troy kam nicht wieder. War er ertrunken? Eigentlich hatte ich es schon gewußt, als ich kurz nach dem Start des Raumschiffes den Funkanruf von Rico bekommen hatte. Der Robot rief mich und teilte mir in lakonischer Diktion mit, daß die einzige Möglichkeit, nach Arkon zu kommen, nicht mehr existierte. Daraufhin entfielen alle weiteren Schritte, sich dieser Aufgabe zu widmen. Ich war in gewisser Weise blockiert oder fast ausgeschaltet. Während die vier kosmischen Vagabunden ihr Schiff vernichteten, weil sie sich hier wohl fühlten, hatte ich nur die Wahl zwischen verantwortungsvollem Handeln, das die Menschheit wieder einige kleine Schritte bis zu dem Punkt weiterbrachte, an dem sie ihr erstes Raumschiff bauen konnte – oder der Rückkehr in mein stählernes Gefängnis. Wir hatten getan, was wir konnten. Mehr wurde nicht begriffen, und für viele andere Entwicklungen war die Zeit nicht reif. Verga war verschwunden, desgleichen Nyder. Auch Troy schien sich entschlossen zu haben, seine Freunde zu verlassen. Ich konnte es verstehen, denn so entgingen sie der Versuchung, eine isolierte Gruppe zu bilden. Vier oder drei Personen gingen in der Masse der Bevölkerung ohne Spuren auf. Und was unternehme ich jetzt? fragte ich mich. Zurückkehren und warten. Dein Leben wird durch den Zellaktivator gesichert, und du kannst nicht erwarten, einige Jahrtausende Geschichte direkt beeinflussen zu
können! sagte der Logiksektor. Er hatte, wie meist, vollkommen recht. Das Boot wiegte sich leicht in den Wellen. Die Sonne brannte fast senkrecht herunter. Wir trieben jenseits der felsigen, dicht bewaldeten Vorsprünge dahin, von denen der Naturhafen vor Villa Franca eingeschnürt wurde. Kein Lüftchen regte sich Tairi und ich lagen dösend auf dem Boden des Fischerbootes, dessen Segel sich schlaff am Mast scheuerte. Es war ein altes Boot und roch nach Fisch. Ein Tag im frühen Herbst in einem langweiligen Jahr, nach dem Tod des vierzehnten Ludwig. Hier am Mittelmeer, in dieser abgeschiedenen Gegend, hörte man nichts
von der Politik, die in Versailles gemacht wurde, auch nichts von der Verschwendung, die dort betrieben wurde. Wir waren wie abgeschnitten. »Eigentlich wollten wir ein paar große Fische für das Abendessen heimbringen«, sagte Tairi schläfrig und spielte gedankenlos mit der Kette des Aktivators. »Eigentlich wollten wir«, sagte ich und gähnte. Unsere Körper glänzten vom Öl und vom Schweiß. Die mörderische Hitze lähmte uns. Sogar die Gedanken schienen zu schlafen. »Keine große Anstrengung«, sagte sie. »Wir hängen die Angeln einfach über Bord und…« Ich setzte mich auf und wischte den Schweiß von der Stirn. »Ich komme um. Ich muss ins Wasser, sonst werde ich verrückt!« murmelte ich. Den Aktivator legte ich in die Hand des Mädchens, stellte mich auf das Brett im Heck des Bootes und sprang ins Wasser. Ich schwamm einige Runden um das Boot, tauchte auf und blieb am Bootsrand. »Du schwimmst nicht?« fragte ich. Das Wasser hatte mich nur ein wenig erfrischt; ich würde etwas tiefer tauchen. »Ich werfe die Angeln aus!« sagte sie. Längst hatte ich beschlossen, sie abermals in das Tiefseegefängnis mitzunehmen. Tairi war weder jene ägyptische Prinzessin noch die unvergleichbare Alexandra; sie war etwas anderes und mehr zugleich. Ich liebte sie. Sie vereinte die Vorzüge vieler Frauen in sich, die ich gekannt und geliebt hatte, und sie besaß fast keine Nachteile. »Gut. Es gibt massenhaft Fische. Ich sah sie, als ich tauchte!« sagte ich und wartete. Sie befestigte die Köder, band die Schäfte der biegsamen Ruten fest und legte den Aktivator auf die heißen Felle. Dann schwang sie sich ins Wasser, tauchte lange und kam neben mir prustend hoch. Ihr Haar klebte an den Schultern und der Brust. »Warm!« sagte sie. »Warm und salzig. Komm, tauchen wir hinunter, erschrecken wir die Fische.« Wir badeten den Nachmittag, fingen vier große Fische. Das Schwimmen hatte uns müde gemacht; wir breiteten das schlaffe Segel aus, dessen Stoff mürbe knisterte, schufen so eine Schattenbahn und schliefen ein. Schlagartig erwachten wir, als das
Boot wild zu schaukeln anfing und eine Welle über Bord schlug und uns mit salzigem Wasser überschüttete. Ich taumelte, als ein weiter Brecher das Boot fast umwarf. Dann bückte ich mich, ergriff den Aktivator und hängte ihn mir um. Tairi setzte sich auf und begriff sofort. »Ein Sturm, Atlan! Wir müssen zurück!« »Nichts anderes habe ich vor«, rief ich und sprang mit einem Satz ins Heck, riss das Ruder herum und wartete, bis sich das Boot, das vom Wind quer zu den Wellen abgetrieben wurde, fast zu langsam herumdrehte. Plötzlich schien es eiskalt geworden zu sein. Der Himmel hatte sich zur Hälfte bezogen, nur weit im Süden gab
es einen schmalen Streifen in drohendem Rot. Der Sturm nahm zu und kam in scharfen, kurzen Böen. Das Boot lag jetzt vor dem Wind. Das Segel schlug und knatterte gegen den Mast. Ich half Tairi ins Heck. Sie klammerte sich an ein Seil, dann fiel sie, als das Boot sich abermals hob und senkte, schwer gegen mich. »Halte das Ruder! Geradeaus in die Bucht!« rief ich. »Das kann ich nicht!« »Nur festhalten! Wir dürfen nicht kentern, Mädchen!« rief ich. Schneidender Wind umheulte uns, als ich mich zum Mast vorkämpfte und versuchte, das Segel zu belegen. Der durchnässte Stoff rutschte aus meinen Fingern. Das Tauende schlug gegen meinen Hals, ehe ich es zu fassen bekam und hastig belegte. Der Wind fing sich im Segel, blähte es, das Schlagen und Knattern hörte auf. Das Fischerboot hob seinen Bug und schnitt durch eine Welle, dann tauchte es hinunter. Kniehoch stand das Wasser zwischen den Bordwänden. Das Boot wurde schneller und glitt durch die Passage zwischen den beiden Landzungen. »Atlan! Wir müssen an Land!« rief Tairi. Ich hielt mich fest und kroch gebückt zu ihr zurück. Der Wind wurde stärker. Die Wellen türmten sich. Ich sah mich um und versuchte einen Punkt zu entdecken, an dem wir landen konnten. Bis zu unserem Haus oder dem kleinen Hafen von Villa Franca war es zu weit, denn das Boot war nicht mehr in der Lage, uns dorthin zu bringen. Wir hatten nicht einmal etwas, um das Wasser auszuschöpfen. Ich hielt mit einem Arm Tairi fest, mit der anderen Hand steuerte ich. »Wir gehen unter!« Das Boot war schneller geworden, durchschnitt die hohen Wellen, von deren Köpfen der weiße Schaum weggerissen wurde. Wieder schlug Wasser ins Boot. Ich stemmte mich mit aller Kraft gegen die Pinne des Ruders. Langsam, unwillig gehorchte das tief im Wasser liegende Boot. Ich blickte nach Backbord; dort schlug die Welle einer gewaltigen Brandung gegen die Felsen. Sie lief an den rostroten Steinen entlang und opferte ihre Energie in einer Serie schwerer Schläge. Wasser wurde zu Schaum und zu Nebel, den der Sturm wegriß. Der Himmel war schwarz geworden; irgendwo donnerte es.
Dorthin konnten wir nicht, weil das Boot und wir an den Felsen zerschmettert werden würden. Ich spähte durch den Nebel und die Gischt und sah jenseits der Felsen, etwa siebenhundertfünfzig Schritte entfernt, eine sandige Bucht, auch sie von der hereindrängenden Brandung überflutet. Aber dort konnten wir aufsetzen und durch das Wasser aufs Festland flüchten. »Dorthin! Die Strecke müssen wir schaffen!« schrie ich gegen den Sturm. Ich kannte andere Stürme und höhere Wellen, aber ich hatte sie mit besseren Schiffen abgeritten. Das Segel spannte sich prall, aber die Fasern begannen sich voneinander
zu lösen. Tauwerk und Holz knirschten, der Mast bog sich, aber das Boot schoss in einer Zickzacklinie auf die bezeichnete Stelle zu. »Ich fürchte mich!« rief Tairi und klammerte sich an meinen Arm. Ich sah zum Himmel, betrachtete das aufgewühlte Meer und die Bäume, die sich unter der Wucht des Sturmes bogen. Der runde Hafen ließ den Wind im Kreis herumgehen; hier dicht unter Land blies er aus verschiedenen Richtungen. Ich musste immer wieder das Ruder herumlegen und versuchen, den Kurs einigermaßen zu halten. Wieder hob sich das Boot. Die mächtige Welle ließ es halb umschlagen, ehe es sich schwerfällig aufrichtete. Ich hatte keine Angst, bis zu der relativ geschützten Bucht zu schwimmen – aber Tairi… ich musste einfach dorthin. Bewahre Ruhe! Es sind nur dreihundertfünfzig Ellen! schrie der Extrasinn. Das Boot hob und senkte sich gefährlich. Jetzt erschien am Rand des Segels ein kleiner Riss. Er ging von einem Auge aus, durch das ein Tau lief, wurde breiter, ich konnte die Fäden erkennen. Riss das Segel, waren wir verloren. Die Welle, die unser Boot auf ihren Kamm gehoben und dort bange Sekunden lang balanciert hatte, erreichte jetzt die Felsen und lief daran entlang nach Norden. Ein Nebel aus Wassertröpfchen hüllte uns ein und blendete uns, als er in die Augen schlug. Tairi war starr vor Schreck. Die kleine Bucht kam näher. Ich registrierte, daß zwei kleine Felsbuckel zwischen ihr und dem Boot immer wieder aus dem Wasser stießen. »Was hast du vor?« rief Tairi mit seltsam heller Stimme. »Bis zur Bucht. Die letzten Ellen schwimmen oder an Land waten!« schrie ich. Der Wind riss uns die Worte von den Lippen. Es gelang mir, mit wütenden Ruderbewegungen das Boot um den ersten Felsen zu steuern. Als wir daneben vorbei glitten, sank das Boot nach unten, und die brechende Welle, die am Stein zerstäubte und in Gischtfahnen wegwehte, schlug voll ins Boot. Einer der geangelten Fische schwamm mit toten Augen zwischen den Brettern und drehte uns seinen weißen Bauch zu. Das Boot trieb mit zum Bersten gespanntem Segel und knisterndem Mast auf den zweiten Felsen zu. Auf einen Felsen? Wo war er? Ich machte mich bereit, mit
einem Hechtsprung unterzutauchen und Tairi notfalls zu betäuben. Wo war der Felsen? »Hier…«, murmelte ich, als ein furchtbarer Schlag das Boot erschütterte. Planken brachen krachend auseinander, als die Welle das Boot mitten auf die Nadel aus Stein fallen ließ. Der Felsen tauchte zwischen Mast und Heck auf, das Boot brach auseinander wie Zunder. In derselben Sekunde riss das Segel quer auseinander. »Halte dich fest!« rief ich und ließ mich nach hinten fallen, Tairi im Arm. Ich holte, während ich mich halb überschlug,
hastig Luft und bekam den Mund voll Wasser. Dann war ich untergetaucht. Hier war das Wasser nicht so stark bewegt. Ich berührte mit den Fersen den Felsen, stieß mich ab und schwamm, nur mit dem rechten Arm und den Füßen. Ich tauchte etwa zwanzig Züge, dann schwemmte mich die See nach oben. Vor mir lag die Bucht, nur noch der Felsabfall neben mir war im Weg. Der Kopf Tairis bewegte sich wild. Sie schnappte mit geschlossenen Augen nach Luft, gurgelte und stöhnte. Ich schwamm mit allen Kräften auf die Bucht zu, blieb wassertretend auf der Stelle und versuchte, unter meinen Füßen Grund zu finden. Schneller! Sie ist halb tot vor Angst! Eine Welle schlug über meinem Kopf zusammen und drückte mich unter Wasser. Ich sah mit offenen Augen unter mir den Sandboden aufsteigen; scharfkantige Felsen lagen darauf. Sekunden später richtete ich mich auf und kämpfte gegen den Sog des Wassers, das mit einem Schwall aus der Bucht strömte. Meine Füße fassten Grund. Ich hob Tairi hoch und schüttelte sie, während ich mich vorankämpfte. Dann traf mich eine Welle im Rücken und schleuderte mich nach vorn. Der Körper rutschte aus meinen Händen. Ich drehte mich halb um, griff nach Tairi, dann fasste ich im Wasser nach einer langen Strähne ihres Haares. Ich ballte die Finger zur Faust. Zu spät. Ich sah aus dem Augenwinkel, wie die nächste aufschäumende Welle heranraste. Sie schleppte Trümmer mit sich. Ein Holzstück, so groß wie der Mast und mit einigen fliegenden Seilen, drehte und überschlug sich. Das lange Ende wirbelte herum, dann traf es mich. Ich sackte bewusstlos, von einem Hieb in den Nacken getroffen, ins seichte Wasser und blieb liegen… Es waren höchstens Stunden, die ich bewusstlos war. Als ich mich aufrichtete, raste der Schmerz aus dem Nacken durch den halben Körper und machte mich wach. Ich öffnete die Augen und sah über mir einen strahlend blauen Himmel. Als ich vorsichtig zu atmen begann, fühlte ich kühle, frische Luft. Die jenseitigen Ufer waren vom Licht der untergehenden Sonne überflutet, Bäume und Felsen schimmerten unnatürlich im Licht der mediterranen Sonne. Ich
stützte mich ab und stand endlich auf zitternden Füßen. Der Aktivator! In einer Reflexbewegung griff ich an den Hals, an die Brust. Das lebenswichtige Gerät hing nicht mehr dort! Mich überfiel lähmender Schrecken. Ich merkte, wie meine Haut eiskalt wurde. »Tairi!« murmelte ich und spuckte Salzwasser aus, nahm mich zusammen und versuchte meine Gedanken zu klären. Der Sturm musste unmittelbar nach dem Kentern des Bootes aufgehört haben, sonst würde ich noch Wolken am Himmel sehen. Nichts. Ich ging auf den Rand der Sandfläche zu, die jetzt mit Treibgut übersät war. Blätter und Tang, einige Fische,
Bretter und Teile des Bootes. Ich suchte den Boden ab, fand aber keinen einzigen Fußabdruck. Eine dumpfe Ahnung, über die ich nicht nachzudenken wagte, breitete sich in mir aus. Tairi… wo war sie? Sie hatte unmittelbar neben mir den Boden der Bucht unter den Sohlen gefühlt. Ich umrundete die Bucht und begann zu frösteln. »Wo ist dieser verdammte Aktivator!« knurrte ich, um mich abzulenken, ging wieder zurück. Das Gerät war schwerer als Wasser und würde auf keinen Fall weit fortgeschwemmt worden sein, nachdem es die Kraft der Wellen mir vom Hals gerissen hatte. Die Kette konnte nicht gerissen sein; sie war so gut wie unzerreißbar. Ich suchte den Boden ab und fühlte, wie mir übel wurde. Mein Magen revoltierte gegen das geschluckte Salzwasser. Eine halbe Stunde lang wanderte ich hin und her, wobei ich darauf achtete, meine Spuren dicht nebeneinander zu setzen. Aber unter den Zehen und Sohlen und den suchenden Fingerspitzen fand ich immer nur feuchten Sand, Steine und Muschelschalen. Ich watete so weit hinaus, wie ich konnte, und suchte die Ränder der Felsen ab. Ich sah nichts. Langsam watete ich zurück und sah im selben Moment den schwarzen Vögel, der an etwas zerrte, das unter dem Treibholz versteckt lag. Ich zwinkerte und fühlte den Schmerz in jedem Muskel. Als ich näher kam, starrte mich der Vogel mit schräg gestelltem Kopf an, wippte mit dem Schwanz und flog zwei Ellen weit fort. Ich rannte die letzten Schritte und hatte die Kette des Aktivators in den Fingern. Wieder schwindelte mir. Ich setzte mich auf den zersplitterten Mast und übergab mich würgend. Als der Aktivator meine Haut berührte, spürte ich die Wellen, die von ihm ausgingen und mich beruhigten; langsame Schwingungen, die nach einiger Zeit verschwunden sein würden. »Tairi…«, flüsterte ich. Ich ahnte, daß sie ertrunken war. An keiner anderen Stelle dieses Bereiches der Küste hätte sie an Land kommen können. Überall waren steil abfallende Felsen. Und diese Bucht hatte sie nicht verlassen, sonst hätte ich ihre Fußabdrücke sehen müssen. Ich entschloss mich und kletterte keuchend hinauf bis zum Kamm der Felsen. Von dort oben, wo ich mich gegen einen feuchten Baumstamm stützte, hatte ich einen Ausblick, der es mir erlaubte,
Felsränder und Wasser abzusuchen. Ich suchte, bis die Sonne den Horizont berührte. Dann machte ich mich auf den Weg und erreichte das Haus gegen Mitternacht. Jean und Die erwarteten mich; als die Frau meinen Gesichtsausdruck sah, begann sie zu weinen. Zwei Tage später fand Jean unweit unserer Badeplattform den angeschwemmten Körper Tairis, von unzähligen Wunden bedeckt, ihr Gesicht halb zerschmettert. Das lange Haar tropfte, als Jean den Körper auf seinen
Armen über die steile Treppe hinaufschleppte. Wir begruben sie auf dem kleinen Friedhof der Siedlung. Tagelang geschah überhaupt nichts, als sei das Leben in dem weißen Haus auf der Klippe völlig erstorben. Jean huschte verstört schweigend umher, bereitete das Essen und besorgte, was wir brauchten. Ich verkroch mich in meinen Räumen und versuchte, mit diesem Schlag fertig zu werden. Und eines Tages oder besser, eines Nachts, geschah, was Die und ich geahnt hatten. Ich saß in meinem Sessel, starrte in die Flammen des Feuers und dachte nach. Ich war dieses Lebens überdrüssig; dieses makabre Spiel von Hoffnung und Niederlage, Resignation und kleinen Siegen machte mich krank. Ich hätte mich längst daran gewöhnt haben müssen, aber selbst mein Verstand unterlag der Erinnerungsverklärung. Die Dinge verloren nach einigen Jahrhunderten Schlaf ihren eigentlichen Stellenwert und wurden zu Abenteuern. Nur ein Aufenthalt hatte mich bisher derartig niedergeschmettert, daß ich mich nicht einmal unter mentalem Zwang daran erinnern wollte; die Zeit im »klassischen« Rom unter Nero. Hinter mir hörte ich ein Geräusch. Ohne nachzudenken, wußte ich, daß es Die war. Sie trat an die Lehne meines Sessels und legte mir die Handrücken gegen die Wangen. »Sprich nicht«, sagte sie leise. Ihre Stimme war ganz dunkel. »Ich verstehe alles.« Ich nickte zögernd. Ihre Nähe zeigte mir, daß ich nicht allein war. »Ich halte es nicht mehr aus!« sagte ich. »Und ich erkenne keinen Grund. Warum musste sie sterben?« »Wir alle sind Schachfiguren. Jemand spielt mit uns. Nimm es hin und versuche, deinen klaren Verstand zu behalten.« Sie zog einen zweiten Sessel heran, stellte den Weinkrug und die Pokale auf den Tisch und goss ein. »Vielleicht tröstet es dich, daß ich mich in dich verliebt hätte, wenn nicht Tairi gewesen wäre!« sagte sie. Sie schaffte es, mich aus meinen trübseligen Gedanken herauszureißen. Hastig trank ich einen Schluck und erwiderte: »Wenn… ich kann dieses Wort nicht mehr hören.« Plötzlich fühlte ich mich eingeschlossen, eingesperrt. Ich nahm meinen Pokal hob ihren auf und sagte mit einer Bewegung des
Kopfes: »Gehen wir auf die Terrasse. Ich muss atmen können. Und die Sterne ansehen. Sonst werde ich wahnsinnig.« Wir standen nebeneinander an der Brüstung. Die setzte sich und betrachtete mich, als sähe sie mich zum ersten Mal. Dann sagte sie mit Härte: »Der große Arkonide erstickt am Selbstmitleid. Sieh an. Wenn du es schaffen würdest, ohne den selbstsüchtigen Schleier vor deinen Augen in einen Spiegel zu sehen, würdest du darin erkennen, was dich erschreckt.« Ich setzte den Pokal ab, nachdem ich einen langen Schluck genommen hatte. »Du siehst aus wie ein Mann zwischen
fünfunddreißig und vierzig, hast dieses Amulett, das dir offensichtlich Gesundheit und langes Leben garantiert…« »Zu langes Leben…« »Unsinn. Du kannst dich selbst umbringen, wenn dies eine Lösung sein sollte. Weiter: Du hast alle Möglichkeiten, die ein Mann auf dieser Welt haben kann. Du bist klug und schnell. Du kannst Frauen bezaubern, mit Männern um die Wette saufen; kannst fast alles. Und ich bin überzeugt, daß noch mehr solcher positiver Möglichkeiten in deinem unbekannten Zufluchtsort warten. Du hast nicht den geringsten Grund, mehr angewidert zu sein als jeder andere denkende Mann auf dieser Welt. Ich respektiere den Schmerz um Tairi, aber ich will nicht auch die letzten Illusionen verlieren, indem ich dir zusehe, wie du selbstvergessen versuchst, dir dauernd selbst leid zu tun.« Sie hat völlig recht! kommentierte der Extrasinn. »Du hast völlig recht.« Ich versuchte ein schwaches Lächeln. »Aber ich verliere den Kontakt zur Wirklichkeit. Ich habe alles schon zu oft erlebt und durch gestanden. Ich bin in gewissen Stunden besonders anfällig.« Sie sagte rau, während sie ihre Finger in meine Hand schob: »Du wirst Tairi vergessen; früher oder später, und vielleicht kann ich dir dabei helfen, sie zu vergessen. Du vergißt, weil du vergessen musst; ein kosmisches Gesetz. Halte mich fest, Atlan; ich bin ebenso einsam wie du.« Ich schüttelte den Kopf, als ich ihr Haar an meiner Wange spürte. Sie lehnte an meiner Schulter. Wir blickten auf den Kessel des Naturhafens, auf dem sich der Mond spiegelte, in Tausende sichelförmiger Blitze zerrissen. »Männer in Versailles haben sich um dich duelliert!« »Ich weiß«, sagte sie. »Und ich habe sie nicht anders betrachten können als… ich weiß es nicht. Sie waren uninteressant. Entweder klug, häßlich und ungepflegt oder fast zu schön, geistlos und hervorragende Jäger.« Sie lachte leise und streichelte meinen Nacken. »Auch du bist nicht mein Typ, Arkonide. Ich habe dich lange analytisch beobachtet. Du bist irgendwie verrückt. Du kommst mir vor wie der Atlas, von dem du uns erzählt hast, dieser
Atlas aus der griechischen Sage. Du versuchst, dich gegen die Drehung dieses Planeten zu stemmen; ein sonderbarer Mann reserviert und kühl. Und geradezu besessen, wenn du handelst. Du bist sonderbar stark und schwach zugleich. Ich glaube, wenn man dich zum Handeln zwingt, bist du in deinem Element und glücklich. Ruhe lähmt dich.« Wir diskutierten bis tief in die Nacht. Alles, was wir sagten, endete immer wieder in der Nähe des zentralen Themas. Wie konnte man als denkender, intelligenter Mensch auf einem Planeten wie diesem leben. Natürlich küßten und liebten wir uns in dieser Nacht. Nur in dieser Nacht, denn unser erster Kuß war das
Signal zum letzten Akt der Auflösung gewesen. Am nächsten Morgen schienen wir Fremde zu sein, die sich zufällig in diesem Haus getroffen hatten. Aber alles hatte sich verändert. Als ich auf die Terrasse hinausging, am frühen Vormittag, sah ich mitten in der Bucht ein Segelschiff ankern; einen Frachter, der offensichtlich Wasser aufnehmen wollte. Die Fischer des Dorfes ruderten mit ihren Booten zu dem weißgestrichenen Schiff und fingen die Taue auf, die von Bord geworfen wurden. »Eine Sensation für diese Siedlung!« bemerkte Die, die lautlos neben mich getreten war. »So ist es. Sollen wir das Schiff besuchen? Vielleicht lernen wir interessante Leute kennen.« »Vielleicht!« erwiderte sie lustlos. Es schien so zu sein. Man brachte Fässer zu Wasser und schleppte sie nach Villa Franca. Zwei Tage lang wickelte sich ein reger Verkehr von Fischerbooten zwischen dem steinernen Kai und dem Handelsschiff ab. Man zog verschiedene Flaggen auf, und als ich am dritten Tag aufwachte und mich bewegte, rutschte das breite, silberne Armband von meinem Kissen. Ich kannte es: Das Funkgerät war eingebaut. Augenblicklich begriff ich, was vorgefallen war. Die, von der beschaulichen Ruhe gelangweilt oder erschreckt, hatte die allerletzte Verbindung abgeschnitten. Ich erwartete, wenn ich auf die Bucht hinausblicken würde, daß das Schiff verschwunden war. Ich ließ das Band vor meinen Augen hin und her baumeln. »Sieh an. Die hat sich diskret entfernt.« Ich ging auf die Terrasse. Die Bucht von Villa Franca war so leer wie die Monate zuvor. Nur ein Fischerboot mit dreieckigem Segel kreuzte im glatten Wasser. Die hatte auch Jean mitgenommen. Von allem, was mit Versailles in Verbindung zu bringen war, besaß ich noch die Pferde und die Kutsche, einen heruntergekommenen Robothund mit abgeschabtem Fell und einige Kisten Kleinkram. Ich war wieder allein auf dieser Welt. Mein einziger Begleiter war der Robothund. Ich hatte nichts mehr zu tun, also fiel mir die Wahl nicht mehr schwer. Ich betätigte die Fernsteuerung meines Gleiters
und packte alles zusammen, was ich besaß. Dann setzte ich mich auf die leere Terrasse und wartete. Ich fühlte es genau: Dieser Aufenthalt ging zu Ende. Wir alle hatten getan, was wir konnten. Für mich war es ein weiteres Glied einer Kette der Nutzlosigkeit. Wieder hatte ich nichts erreicht. Ich war dazu verdammt, auf diesem Planeten zu leben und zu warten, mit der Sehnsucht nach Arkon im Herzen. Sorgfältig dachte ich über alle Schritte nach, vom Aufwachen bis zum heutigen Tag. War etwas ausgelassen worden? Nein, flüsterte der Extrasinn. Du hast dein Programm, in Versailles entworfen, fast mustergültig erfüllt. Konnte
ich noch etwas tun? Kaum. Du hast zusammen mit den vier kosmischen Vagabunden die Welt um eine Menge wissenschaftlicher Erkenntnisse bereichert. Konnte ich noch jemandem helfen – selbst wenn es darum ging, mich abzulenken? Suche Antoinette de Droyden auf und hilf ihr, leicht zu sterben. »Ja«, sagte ich entschlossen zu mir. »Das werde ich tun. Und zwar sofort.« Ich ging in die Siedlung und schenkte das Haus dem Geistlichen. Er begriff nicht gleich, was ich wollte, aber dann setzten wir eine Urkunde auf und unterschrieben sie. Mein wichtiges Gepäck hatte auf der Ladefläche des Gleiters Platz. Ich verließ nach Einbruch der Dunkelheit das Dorf und das einsame Schlösschen auf den Klippen. Der Gleiter schwebte regungslos über den Bäumen der Bucht. Ich nahm Abschied von dieser Landschaft. Sie lag geisterhaft leuchtend unter dem Licht des vollen Mondes. Eine kaum wahrnehmbare Brise kräuselte das Meer. Ich fühlte mich erschöpft und ausgelaugt wie ein Läufer nach einer erbarmungslosen Strecke. Mir blieb das Glück verwehrt, auf die Ergebnisse meines Handelns stolz sein zu können. Schließlich blieb nichts übrig als die Erinnerung, die unverändert frisch und schmerzlich sein würde… die nächsten Jahrhunderte lang. Das fröhliche Lied, die Gespräche und das Klirren von Gläsern, das wirkliche Leben, waren verhallt. Nur meine Stimmung war unverändert resignierend. Ich drehte den Gleiter und orientierte mich nach den kalten Sternen und dem Kompass. Stunden später landete ich den Gleiter in der Nähe des Gutshofes der Familie von Droyden. Die Hunde schlugen an, als ich auf den Eingang zuschritt. Die Tiere erkannten mich und blieben in meiner Nähe, scheu und bereit, anzugreifen. Es war ziemlich spät geworden. Ich hämmerte gegen die Tür. Es dauerte einige Zeit, bis eine alte Dienerin öffnete und eine Laterne hochhielt. »Herr von Arcon!« flüsterte sie und schlug die Hand vor den Mund. »Ich erkenne Euch. Niemand hat geglaubt, daß Ihr…« Sie brach ab, ein trockenes Schluchzen kam aus ihrer Kehle. »Ich möchte meine alte Freundin besuchen, Nicolette«, sagte ich. »Lebt sie noch?«
Wir gingen durch die leere Halle. Es roch nach kaltem Rauch, Wein und feuchtem Hundefell. Vertraute Gerüche. Die Dienerin sagte stockend: »Madame liegt oben. Sie wird sterben. Oh, es geht ihr gar nicht gut. Sie hat oft von Euch gesprochen!« Ich sagte, nachdem ich meinen Mantel und den Gurt mit Pistolen und Degen abgelegt hatte: »Bring mich zu ihr, Nicolette. Und dann hole mir einen kleinen Becher Wein, etwas Braten und ein Stück Brot mit Butter.« »Ja. Ich tue alles für Euch!« Wir gingen leise die Treppe hinauf, einen Korridor entlang und blieben vor einer Tür stehen. Vorsichtig wurde
die Klinke hinuntergedrückt, knarrend ging die Tür auf. Eine einzelne Kerze brannte auf dem Tisch, durch einen kleinen Holzschirm abgeblendet. In dem Bett lag eine zusammengeschrumpfte Gestalt. Als wir eintraten, öffnete Antoinette de Droyden die Augen. Sie wirkten in dem faltigen, ausgezehrten Gesicht riesengroß. Der Blick war verstört. »Atlan!« flüsterte Antoinette. Die Dienerin begann wieder zu weinen, stellte die Laterne ab, nahm den Kerzenhalter und verließ das Zimmer. Ich näherte mich dem Bett; ich merkte, daß die Freundin nicht mehr lange zu leben hatte. »Ich bin noch einmal gekommen«, sagte ich leise, setzte mich auf einen Stuhl neben das Bett und ergriff ihre Hand, »um mich von Euch zu verabschieden, Antoinette. Es ist ein wehmütiger Abschied.« Den Aktivator, du Narr! schrie mein Extrasinn. Ich begriff und lächelte. Daran hatte ich nicht gedacht. Vielleicht konnte ich ihr die letzten Stunden erleichtern. Ich öffnete mein Hemd, zog den Aktivator über den Nacken und hängte ihn der alten Frau um. »Es wird der letzte Abschied sein!« sagte sie nach einer Weile. Das Gerät schien ihr Befinden in verdächtiger Eile zu bessern. Der rasselnde Atem beruhigte sich, die bläuliche Farbe der Lippen wich, die Todkranke richtete sich auf. »Wie geht es den vier Freunden?« erkundigte sie sich nach längerem Schweigen. Ich berichtete ihr vom Verschwinden Diannot de Jaras, der über die Holländer gesiegt hatte, von der geplanten langen Reise Beatrix’, vom spurlosen Verschwinden Royer Arcolas und davon, wie Tairi gestorben war und mich auch Die zusammen mit Jean verlassen hatte. »Nun bist du allein, Atlan!« sagte sie und atmete freier. Der Aktivator wirkte. Trotzdem würde er ihren Tod nicht aufhalten können. »Ein Wunder, dieses Amulett«, sagte sie später. »Ich fühle mich ohne Schmerzen, als ob ich fliegen könnte.« Wir unterhielten uns über Versailles und den neuen König, dessen hervorstechende Merkmale seine Verschwendungssucht und eine Ebbe in Frankreichs Kassen waren. Die alte Frau wurde müder.
»Ich werde jetzt schlafen«, sagte sie. »Du gehst zurück in dein Versteck?« »Ja«, entgegnete ich ruhig. »Ich werde auch schlafen, Antoinette. Länger als Ihr. Aber nicht so tief.« Ich küsste sie zum Abschied auf die Stirn. Sie schlief ein. Als ich nach einer Stunde keinen Pulsschlag mehr spürte, nahm ich den Aktivator von ihrem Hals und schob ihn unter mein Hemd. Auch die letzte Verbindung zu diesem Land und zu den Menschen war gerissen wie ein dünner Faden. Ich stand auf, nahm das Tablett mit dem Essen und die Laterne und verließ das Zimmer. Inzwischen warteten in der Halle die Familienmitglieder. Wir unterhielten uns bis zum Morgen. Erst nach dem Frühstück sagte ich ihnen,
daß Antoinette tot war. Mein Abschiedsgeschenk an Herrn von Droyden waren die kleine Waffe und eine Menge Patronenmunition. Dann trat der Gleiter seinen letzten Flug an. Auch die Rückkehr im frühen achtzehnten Jahrhundert war nicht anders als ein Dutzend ähnlicher Geschehnisse. Rico empfing mich, und wir packten alle »Andenken« aus und stellten sie in das improvisierte Museum. Die gewonnenen Erkenntnisse und mein persönlicher Bericht wurden auf die Bänder der Maschinen gesprochen, desgleichen die vielen Musikstücke, die von den ausgezeichneten Mikrophonen der Robotspione aufgenommen worden waren. Bilder und Zeichnungen meiner »Erfindungen« wurden gespeichert. Als ich die Aufnahmen von Tairi sah, hatte ich es plötzlich eilig, in den biologischen Tiefschlaf zu fallen. »Du wirst warten müssen, Gebieter«, sagte Rico mit seiner unmodulierten Stimme. »Lange warten. Bis die Barbaren ein eigenes Raumschiff bauen können werden Jahrhunderte vergehen.« »Und es ist zweifelhaft, ob in dieser Zeit wieder jemand hier landet. Diese kosmischen Vagabunden… sie haben ihr Schiff zerstört, weil es ihnen hier so gut gefiel. Das werde ich niemals begreifen können.« Und wieder lief das Programm der Vorbereitungen an. Die Maschinen bereiteten mich vor, entkleideten mich, legten mich auf die flache Liegestatt und schläferten mich endlich ein. Das Abenteuer Versailles war zu Ende, der Tiefschlaf begann am 8. Oktober 1715. Aus: Dr. Gabrielle Doyen: Paraphenmlien, Dokumente und Varia zur Familiengeschichte, Verlag Der Kleine Planet; Reynolds Einziger Planet, Revnolds Star, (c) 2430 by G. Doyen. Atlan fühlte sich zweifellos, als er seine Umgebung wieder wahrnahm, als sei er aus einem tiefen Traum erwacht, einem
Alptraum, der ihm nicht die Erholung des Schlafes gegeben, sondern ihn ausgelaugt und erschöpft hatte. »Sie sind erschöpft, Lordadmiral Atlan!« sagte mein Vater. »Was können wir für Sie tun?« Langsam drehte Atlan den Kopf und sah in Vaters Augen. Er kam offenbar von seinen Erinnerungen nicht los, so als befände er sich noch immer in der Halle des Gutshofes, in dessen oberen Räumen die tote Freundin lag. Atlan versuchte ein zögerndes Lächeln und brachte eine Grimasse zustande. »Nicht viel, Mister Doyen«, murmelte er schwach und atmete tief durch. »Eine heiße und kalte Dusche, ein kräftiges Frühstück – und schon sind Sie mich und das Raumschiff der USO los. Hat sich der Funker noch einmal gemeldet?« Ich nickte und erwiderte leise: »Ja. Ich bin hinausgegangen zum Gleiter und habe die Besatzung beruhigt. Sie warten auf Sie, aber sie sagten, Sie müssten sich beeilen. Der Strand sei zum Sonnenbaden und Schwimmen bestens geeignet.« Atlan
stand auf und bewegte seine Schultermuskulatur. Sie war hart und verkrampft und schmerzte wohl vom Holz des Sessels. »Haben Sie jemals von den kosmischen Vagabunden etwas gehört? Vielleicht später, bei einem anderen Einsatz?« fragte meine Mutter, Antoinette Doyen. Ihre Knie waren von einer großen farbigen Decke verhüllt. »Nein!« sagte Atlan. »Niemals wieder. Und die Vorstöße, die ich in späteren Jahren unternahm – sie verstärkten nur noch meinen Horror vor solchen Unternehmungen.« »Bis auf die Erlebnisse in Rom!« sagte Mutter. Ich begriff: Ihre Augen, ihr Gesicht, der Tonfall… alles entsprach fast dem der echten Antoinette Droyden. Eine verblüffende, fast phantastische Ähnlichkeit. Atlan schüttelte sich und sagte: »Die Erlebnisse, die Erinnerung an jene Zeit, ich habe sie so stark verdrängt, daß es höllisch schwer sein dürfte, meine Erinnerungen anzusprechen. Lassen wir das. Wo finde ich die Dusche, Mister Doyen?« Vater deutete zur Decke. Flammendes Morgenrot breitete sich über der Bucht und den Baumkulturen aus, das Licht ließ die Körper der Roboter aufschimmern. Atlan schien an das Schiff und an die nächsten Missionen auf dieser Reise zu denken. Die Suche nach dem Merkwürdigen Meteor war ähnlich ergebnislos verlaufen wie sein Abenteuer in Versailles. »Ich zeige Ihnen alles. Wenn Sie sich erholt haben, wartet ein ausgezeichnetes Frühstück auf uns alle!« Eine dreiviertel Stunde später kam Atlan herunter. Er hatte geduscht und fühlte sich wesentlich besser. Der Druck in den Schläfen sei vergangen, sagte er. »Das Frühstück wartet draußen«, sagte Mutter, die offensichtlich auf ihn gewartet hatte. »Danke«, erwiderte Atlan. »Ich habe eine Frage, die Sie sicher verblüffen wird.« Als sie ihn anlächelte, erschrak er abermals. Ich ahnte: Es war das Lächeln der Frau, die auf einem anderen Planeten längst vermodert oder zu Staub zerfallen war. Völlig identisch.
»Sie möchten sicher eine Frage stellen, die sich auf die Ähnlichkeit zwischen jener Antoinette und mir bezieht, nicht wahr?« fragte Mutter, deren Alter Atlan auf etwa hundertfünfzig Jahre schätzen musste. »So ist es!« sagte er voller Verwunderung. »Ich empfehle es Ihnen, Lordadmiral: Lassen Sie alle müßigen Überlegungen zu diesem Thema. Ich weiß mehr, als Sie jetzt vermuten, aber zu wenig, um etwas erklären zu können.« Sie war kleiner als er. Sie gingen nebeneinander durch ein System von Türen und winkligen Korridoren, alle weiß gestrichen, hinaus auf die Terrasse. Diese bestand aus einer Anordnung von Glasplatten, die versenkt werden konnten. Jetzt bildeten sie noch einen Schutz gegen die Kühle des Morgens, aber wenn die ersten Sonnenstrahlen kamen, würden sie nicht mehr
gebraucht werden. »Ich ahne manches«, sagte Atlan. »Aber glauben Sie nicht, daß ich ein Recht auf Wahrheit habe? Schließlich habe ich Ihnen einen wichtigen Abschnitt meines Lebens und der terranischen Geschichte berichtet.« Mutter bemerkte in leichtem Konversationston: »Es sind nur meine Träume. Auf diesem Weg besteht eine enge Verwandtschaft zwischen mir und der Vergangenheit. Aber bitte schweigen Sie jetzt. Ich möchte nicht darüber sprechen.« »Einverstanden!« sagte Atlan. Der Geruch starken schwarzen Kaffees erfüllte die Terrasse. Das Licht verscheuchte die lastenden Schatten der Nacht; selbst ich spürte, wie die Beklemmung und die Verkrampfung langsam abfielen wie die trockene Haut einer Schlange. Eine Stunde später lehnte sich Atlan zurück und gestattete sich, vom Hausherrn eine lange Zigarette anzunehmen und langsam und mit Genus zu rauchen. »Ich danke Ihnen allen«, sagte er leise. »Ich sah vorhin, daß Sie ein Bandgerät laufen ließen. Darf ich die Aufzeichnung behalten?« Mutter Antoinette lächelte ihn mit ebensoviel Charme an wie ihre ferne Zwillingsschwester. »Aber nur, wenn Sie uns mit nächster Post eine Kopie schicken. Ihre Berichte, Lordadmiral, passen ausgezeichnet zu der Musik von Lully und Charpentier.« »Einverstanden.« Zwei Stunden später hielt der Gleiter unter den Landebeinen des Schiffes. Das kleine Kommando der United Stars Organisation verließ diesen Planeten, der scheinbar nichts mit der Geschichte der Erde zu tun hatte. Ob Atlan fühlte,’ daß zwischen den Träumen einer alten Frau und der Zeit in Versailles mehr Zusammenhänge bestehen konnten, als er jemals erfahren würde? Dachte er an die Zeit zwischen Versailles und dem ersten Kontakt mit dem jungen Perry Rhodan? Das Schiff verließ die Lufthülle, und der Planet blieb als leuchtende Kugel hinter ihnen zurück. Jetzt herrschten wieder die unveränderlichen Gesetze unserer Gegenwart.
Das Dokument, ein Beitrag aus der Chronik des Kolonialplaneten, war auf unbekanntem Weg zu Cyr Aescunnars Unterlagen gelangt; er glaubte, daß es von einem USO-Angehörigen über Atlans Privatbibliothek zu Tifflors Administration und von dort in die Universitätskeller gekommen war, wo es emsige Jungbibliothekare herausgesucht und für die Informationen der ANNALEN gescannt hatten. Seit einer Stunde schwamm und tauchte Atlan im Hospitalpark. Cyr hatte Zeit, sich auf die nächsten Erzählungen vorzubereiten und einen kleinen Teil der ständig eintreffenden Berichte, Notizen, Hinweise und Bilder, Karten und Diagramme zumindest in ein grobes Schema einzugliedern. Er arbeitete schnell, schweigend und konzentriert wie meist und merkte nicht, wie schnell die Zeit verging.
8. Auf einem Pult lag, bernsteinfarben aufglühend
im Tiefstrahlerlicht, die Wüstenrose. Scheinbar gleichmütig glitt der Blick positronischer Linsen darüber hinweg; blattförmige Gipskristalle, entfernt einer Rosenblüte ähnlich, durch eingelagerte Mineralien verfärbt. Amiralis Thornerose hatte sie in der bizarren Wüstenei gefunden. Im schwarzen Felsen, der die Verwüstung der Jahrhunderte überdauert hatte, war das Venusschiff versteckt gewesen. Sie hatte es ausgegraben wie ein Archäologe. Jetzt aber zeigten die holografischen Bildschirme die Gegenwart. In dieser leeren Landschaft nahm niemand Notiz von der hochgewachsenen Gestalt. Es gab niemanden, der den Fremden sehen konnte – außer den Tieren, die an keiner anderen Stelle des Planeten existierten. »Weiter. Schneller. Höher hinaus. Tiefer hinunter.« Unter der bräunlichen Haut der Schenkel und Schultern spielten auffallende Muskeln. An den Füßen trug der schlanke Mann, dessen Gesichtsausdruck seltsam leblos blieb, fast kniehohe Stiefel. Rötlicher Staub, Schnitte der scharfen Gräser, Dornenstiche und Pflanzenreste bedeckten die Stiefel ebenso wie den Körper, der trotz der infernalischen Hitze keine Spuren von Schweiß zeigte – kein verkrustetes Blut in den kleinen Wunden. Die Sonne brannte fast senkrecht, als der Mann eine schräge Felsplatte hinaufhastete, an ihrem höchsten Punkt stehen blieb und die Landschaft absuchte. »Ich lese nur wenig. Was ich lese, schreibe ich mir selbst.« Heißer Wind riss die Worte fort. Die Sprache des Mannes, scharf akzentuiert und von einer dunklen Stimme vorgetragen, hörte niemand. Aber der Klang schien bis zum Fuß des Felsens und weit darüber hinaus zu reichen, denn ein Schwarm buntgefiederter Vögel flatterte auf und flog bis zu einem nahen Baum. Das Geschrei der Tiere klang wie menschliches Gelächter. Am Horizont stieg, kaum wahrnehmbar, dünner Rauch in einem grauen Faden auf. »Meine Existenz scheint erfüllt. Nur wenig Zeit bliebt. Deshalb sind meine Sätze so kurz.« Regungslos spähte der Mann in der kurzen Hose, die von einem überbreiten Gürtel gehalten wurde, zum Feuer hinüber. Direkt unter ihm, in die Felswand, waren große Tiere, Vögel und Linien eingeritzt. Sie bestanden aus Vertiefungen im Gestein, die erst bei
einem bestimmten Sonnenstand durch das Spiel von Licht und Schatten stark hervortraten. Jede Linie war doppelt und dreifach nebeneinander eingehämmert; die Wesen starrten blicklos in eine Traumzeit oder eine Jenseitswelt. Die Mulde im Felsen setzte sich in einer Höhle fort, die nicht einmal Tiere zu betreten wagten. »Um erträglich zu wirken, sollte ich in einen Zerrspiegel schauen.« Kristallklares Wasser füllte einen großen, ovalen Steintrog vor der Höhle aus. Rund um die Felswand, zwischen
riesigen Steinen und Felstrümmern, breitete sich in einem unregelmäßigen Halbkreis saftiges Grün aus und bildete eine Oase zwischen zwei Steinnadeln hindurch spannte sich eine unsichtbare Gerade von den heiligen Bildern bis zum Feuerchen der Eingeborenen. »Hierher kommen die Vögel zum Schwimmen.« Der Fremde hatte sein Spiegelbild im Wasser angesehen. Jetzt richtete er seine farblosen Augen auf das ferne Feuer und die sehnigen Gestalten. Sie trugen Schmucknarben und farbige Streifen um die Oberkörper und in den Gesichtern. Die Frauen saßen abseits und kauten Fellstücke weich. An den Spitzen der Wurfspeere waren blattförmige Steinsplitter mit Lederschnüren befestigt. Über der Glut stank an einem schmorenden Ast ein Fleischstück, aus dem ein Knochen hervorsah. Innen war es roh, außen verbrannt. Die Männer mit weißem Haar und verfilzten Barten summten mit rauen Stimmen klagende Melodien. Zerzauste Matten aus Pflanzengeflecht lagen neben Knochen, Fellstücken, einem Tierschädel ohne Augen und einem Haufen Faustkeilen im Sand. Kinder spielten, ohne zu lachen, im Schlamm eines nahen Wasserlochs und zerbissen Heuschrecken. Der Fremde schien diese Szene mit höchster Aufmerksamkeit in sich aufzunehmen. Ob sie für ihn Bedeutung besaß, blieb ungewiß. Er drehte sich, rannte leichtfüßig die Felsplatte hinunter und lief in seiner eigenen Spur eine Stunde weit entlang eines leeren Flussbetts. »Plagiate, noch nicht entdeckt, nenne ich Originale.« An einer Stelle, wo sich Wasser staute, steckte ein Spaten mit auffallend großem Blatt im Boden. Er benutzte das Werkzeug, um einen voll geschwemmten Kanal freizulegen, der in einen sorgfältig aus Stein gemauerten Trichter mündete. Auch diesen Trichter reinigte er, dann schulterte er das Werkzeug und rannte weiter. Hinter ihm lief Wasser in unsichtbare Röhren. Am Rand einer Wildnis, die inmitten des weiten, leeren Landes wie eine sorgfältig inszenierte inselartige Dekoration lag, hielt er an. »Passwort: Korrektur der Vergangenheit.« Er passierte eine nahezu unsichtbare Barriere, die wie Glas schimmerte. Dahinter erstreckten sich gepflasterte Wege im Schatten uralter Bäume, mehrere Häuser mit geschwungenen Dächern
standen auf kleinen Hügeln, deren Gras von Schafen kurz gehalten wurde. Zierliche Brücken, wohlgestaltete Gärten, Teiche voller Fische und Stelzvögel sowie Hecken erstreckten sich zwischen den Gebäuden. Es gab Spuren, daß die Siedlung vor vielen Jahren größer gewesen war; jetzt lebte kein Mensch mehr darin. Der Fremde begann mit schnellen, zielsicheren Schritten einen Rundgang durch die Anlage. Eine eindringliche Stimme war plötzlich an jeder Stelle des versteckten Dorfes
zu hören. »Sorgfältige Kontrolle aller Einzelheiten. Der Hangar ist besonders wichtig.« Der Fremde hatte ab und zu eines der kantigen Elemente an seinem Gürtel geöffnet, einen Gegenstand herausgenommen und manipuliert und ihn danach wieder verstaut. Jetzt setzte er ein kompliziertes brillenförmiges Gerät auf und trabte weiter. Vorsichtig wischte er einige große Schmetterlinge von seiner Schulter und näherte sich einem Hügel, auf dem ein Wald wucherte. Gebüsch breitete sich auf einem rampenförmigen Gefälle bis zu einer senkrechten Fläche aus; die Gestalt schlüpfte, nachdem sie den Himmel schweigend abgesucht hatte, durch eine fast unkenntliche Dreifachtür, aktivierte einen Kontakt und blieb, nachdem Licht aufgeflammt war, neben der erstaunlichen Konstruktion des Raumschiffs stehen. Ein aufmerksamer Besucher hätte den Eindruck haben können, daß dieser breitschultrige Mann bei jedem größeren Schritt bewusst lernte und neue Eindrücke verarbeitete. Jetzt umkreiste er die Tragflächen, das Seitenruder, die von schwarzen Folien verschlossenen Abstrahlöffnungen, Ansaugstutzen und Luken, Optiken und Sensoren. Das schlanke, lang gezogene Gerät mit der scharfen Bugspitze war äußerlich unbeschädigt. Nicht einmal Nagetiere oder Insekten hatten ihre Spuren hinterlassen. »Geh in die Kontrollkammer und benutze wieder den Transmitter«, hallte der nächste Befehl. Die Gestalt nahm die Brille ab, verstaute sie und blieb vor einer spiegelnden Fläche im Hintergrund stehen. Einen Moment lang studierte der Fremde sein glattes, wenig ausdrucksvolles Gesicht und wischte Staub vom schimmernd kahlen Schädel. Der Spiegel löste sich auf, der Mann trat in einen Raum voller technischer Einrichtungen und bewegte sich zielstrebig auf das Podium zu. Er trat zwischen die Transmittersäulen und verschwand. »Eine eindrucksvolle Demonstration, Graf Ciron«, sagte eine Stimme hinter dem Robot. Er hatte Monique kommen gehört und drehte sich höflich um.
»Nun«, antwortete er nachdenklich, »mich hat’s noch lange nicht überzeugt. Aus diesem Grund verbergen wir das Maschinchen in den Werkstatträumen einer sehr tiefen Ebene.« Der Roboter desaktivierte der Reihe nach einen Großteil der Anlagen, die nicht zur Sicherheit und zum Erhalt der drastisch verkleinerten Siedlung auf der antipodischen Seite des Planeten gehörten. »Die Samurai und ihre Familien…?« fragte Monique und erinnerte sich an einige Bildsequenzen. »… sind wieder in ihre Heimat zurückgekehrt. Dort leben sie gut und in Ehren.« »Braucht Atlan dieses Dörfchen als Stützpunkt?« Monique de Beauvallon erinnerte sich an die Mühle in England, an Arcanjuiz, an andere Orte und an eine bestimmte Insel. Sie deutete auf das Venusschiff
und schob mit beiden Händen ihre rote Haarflut in den Nacken. »Möglicherweise, teuerste Gräfin. In den vergangenen Jahren haben wir die LARSAF ZWEI-DREI ein paar Mal umgebaut, getestet, verbessert, auseinander montiert und zusammengesetzt. Wenn der Herr Graf von Beauvallon de Fraconnard et Villeneuf wieder bei Kräften ist, wird er seine Pläne schmieden.« »Zweifellos.« Das dreidimensionale Abbild von Atlans einzigartiger »Planetenuhr«, das sich langsam auf einem Bildschirm drehte – im Halbdunkel des Kontrollraumes sah es aus, als schwebe sie in der Luft – , zeigte den ersten Dezember des Jahres 1755. Vorläufig wußte nur Rico, warum er zuerst Monique, dann seinen arkonidischen Gebieter geweckt hatte. »Ich sehe nach ihm«, sagte Monique. Rico hielt ihr Handgelenk fest und schützte den Kopf. »Nein. Warte. Er macht gerade eine besonders schwierige Phase durch; die optischen und akustischen Erinnerungen während des Aufwachens haben eine gewisse Dramatik erreicht.« Das Programm, das der Arkonide gerade erlebte, durfte Monique nicht gezeigt werden. Aber es handelte nicht von Prinz Eugen, von Amiralis oder Nonfarmale und auch nicht von der furchtbaren Schlacht von Malplaquet. Antoinette de Droyden war tot. Desgleichen Tairi No Chiyu. Auch die kosmischen Vagabunden, die ihr Schiff im Feuerwerk über Versailles in die Sonne ferngesteuert hatten. Während ich die Brandung betrachtete, die Spur vom Strand bis zum Haus Yodoya Mootoris: Auch er war tot; seine Familie auf der Insel im Osten, die kleine Anlage bestand noch zu einem Drittel. Nonfarmale war zumindest verletzt und kurierte seine Wunden; wenn der ungleiche Ablauf der Zeit ein Faktor war, brauchte er dazu ein halbes Jahrhundert. Prinz Eugen war tot. Jeder, den ich während der vielen Stunden des mühseligen und schmerzvollen Reanimationsprozesses erlebt hatte, existierte nur als Impulsblock der zentralen Positronik. »… Nur ich nicht. Ich scheine zu leben!« Ich verstand meine ächzende Stimme. Eine andere Stimme hallte wie durch eine
Spinnwebengruft. Der Logiksektor: Du lebst. Vier Jahrzehnte nach deinem letzten Abenteuer im Park von Versailles, sechsundvierzig Jahre nach Malplaquet, nach deinem verheerenden Kampf gegen Nonfarmale. »Wer lebt noch, außer mir?« Die Bilder auf den Schirmen wirbelten vor meinen müden Augen. Schläfrigkeit umfing mich wie dicker Nebel. Ich hörte gerade noch die Antwort des Extrahirns: Monique. Rico. Und Millionen Barbaren. Ich schlief wieder. Als ich nach einer unbestimmbaren Zeitdauer, ein wenig kräftiger, wieder zu mir kam, versuchte ich erst gar nicht, mich aufzurichten, sondern hielt meine Augen geschlossen und dachte nach. Der Roboter hatte mich und vermutlich auch Monique geweckt,
also gab es einen wichtigen Grund. Ich kannte nur einen, der Saurokrator aus einer seiner Jenseitswelten, der Amiralis umgebracht hatte und die meisten Kämpfer aus meiner Ninjatruppe und die Samurai mit ihren Wunderschwertern und dem Selbstmordkodex. Erschien Nonfarmale, ballten sich auf dem Planeten Heere zusammen. Ich öffnete die Augen und hob mit schmerzenden Muskeln den Kopf. Die Bildschirme waren leer. Nur leise Musik eines mir unbekannten Komponisten war zu hören. Ich befand mich also wieder an einem Punkt, der John Lockes tabula rasa entsprach, einem völligen Neubeginn. »Hikyaco Sagitaya.« Ich stöhnte leise mit tauber Zunge. Rico, wieder – oder noch immer? – in der Maske als mein BeauvallonMilchbruder, sagte: »Nicht der Samurai, Gebieter. Um dich zu beruhigen: Nonfarmale ist nicht gesichtet worden.« Ich sackte vor Erleichterung zusammen. »Warum hast du mich geweckt? Oder uns beide?« »Euch beide.« Der Robot war sehr bestimmt. »Es gab am ersten November ein Planetenbeben größerer Stärke. Die Stadt Lisboa ist zerstört worden. Man spricht von mehr als dreißigtausend Toten in den Trümmern.« Ich zuckte in heißem Erschrecken zusammen, versuchte aufzuspringen und fühlte mich von Ricos Händen aufgefangen. »Richtig. Unser Versteck zitterte und bebte. Wassereinbrüche, zum Glück winzig, an fünf Stellen; schon wieder repariert. Die Kuppel verwandelte sich in das Innere einer Trommel, auf die Kinder mit Hämmern einschlagen. Ich konnte nicht mehr allein entscheiden. Gerade noch konnte ich die beschleunigten Verfahren abschalten, sonst wärest du schon längst wach. Die Nachbeben richteten keine Schäden mehr an.« Er lächelte verträumt. »Ich spürte positronische Angst. Soll ich den Vorgang wieder rückgängig machen?« »Nein. Ich stelle mich dem Winter in Beauvallon. Oder besser, auf der Insel Yodoyas. Was ich auf morgen verschieben kann, ist auch auf übermorgen zu verschieben.«
Sein Grinsen war absolut menschlich. »Ich verstehe«, sagte er, »du bist völlig wiederhergestellt. Ich schicke dir Monique mit dünnem Wein der letztjährigen Lese.« Kurze Zeit später saß ich in einem riesigen Sessel, dessen Vibrationen in Zusammenarbeit mit dem Zellschwingungsaktivator meine Lebensgeister wohltuend beschworen. Trotzdem tropfte Wein aus dem Pokal auf den dicken flauschigen Mantel. Monique strahlte mich an, schöner und reifer, als ich sie in Erinnerung hatte. »Die Frau ist das einzige Geschenk«, sagte sie und trank, in aufreizende weiße Seide mit Silberstickerei gekleidet, unvermischten Wein, »das sich selbst verpackt. Nur für dich, Capitaine des siecles.« »Oder nicht mehr ganz Einsamer der Zeit«, sagte ich und nahm einen Schluck. »Du bist der schönste Anblick in dieser
Kuppel. Was würdest du antworten, wenn wir den französischen Winter auf einer sonnigen Insel verbringen, von Rico versorgt, weit von jedem anderen Barbaren entfernt?« »Ja.« »Sage es Rico. Yodoyas Insel. Er soll alles vorbereiten. Dort werden wir herausfinden, an welcher Stelle und in welchen Masken wir uns unter das Volk mischen.« »Ja. Sofort.« Ich wartete, bis ich völlig Herr über meinen Körper und den Verstand war. Dann erst betrachtete ich die erschütternden Bilder des zerstörten Lisboa. Noch während ich mit fadem Aufbaubrei ernährt wurde, machte ich mich mit den Gründen dieses Bebens vertraut. Ein Bruchstück fügte sich zum anderen. An vielen Stellen Europas hatten sich seltsame Vorgänge ereignet, und die Insel Sao Miguel befand sich in einer Position, die mir zunächst angst machte. Wieder schlug silbern die kostbare Planetenuhr, und ich wurde unruhig wie die dünne Kruste von Larsaf III. Erst als ich in der Lage war, den uralten Calvados des Edlen Gilles de Gouberville (er betrieb eine der ersten richtigen Destillieranlagen) zu genießen, fühlte ich mich stark genug, die Transmitterverbindung einschalten zu lassen. Eine Stunde nach Sonnenaufgang befanden wir uns auf Yodoyas Insel und am Beginn herrlicher Tage. Ein milder Sukhovey raschelte mit den Palmwedeln. Auf der Terrasse hatte Rico den Tisch gedeckt. Es war das erste richtige Essen, das ich vertrug. Und unwillkürlich dachte ich kurz an den Sonnenkönig, der dieses Vergnügen wohl nie gekannt hatte. Auf dem langen Weg von der Küche bis an seine Tafel verlor selbst die heißeste Sauce, der heißeste Braten auf den goldenen und silbernen Platten jegliche Wärme. Das Metall leitete die Wärme schnell ab und wenn der Vorkoster sein Werk beendet hatte, war alles kalt und schmeckte wie Sohlenleder oder feuchtes Brot; aber immerhin wußte jeder, daß er nichts Vergiftetes zu sich nahm. Ich schüttelte mich, wartete den Lärm der Brandungswelle ab und sagte: »Selbst ein Zen-Erleuchteter ist außer sich vor Freude über einen solchen Tag.«
Zuerst tranken wir Mokka mit Sahne aus Beauvallon und Zucker, dazu einen mächtigen Schluck Uisge Beatha, schließlich Saft von unbekannten Früchten und Kokosmilch. Bittere, gefahrvolle Monate würden nicht ausbleiben – bewusst verscheuchte ich jeden Gedanken daran und ignorierte die bissigen Kommentare des Logiksektors. Wir lagen im warmen Sand, über uns strahlte die »Bet al dschausa«, die Beteigeuze. Mit dem Donnern der Brandung, die über das Korallenriff der Lagune brach, wetteiferte G. F. Händels Musick For The Rooyal Fireworcks. »Nichts gegen deine Mühle in England«, sagte Monique. Wir hatten lange Tage in der Sonne gelegen, geschwommen und waren um die Insel
herumgerannt. Ich hatte den gesamten Strand gesäubert und Treibholz mit dem Ultraschallmesser geschnitten. »Nein. Nichts dagegen. Aber?« meinte ich. Monique bewegte sich in meinen Armen. Sie sagte: »Auch nichts gegen einen späten Frühling in Beauvallon oder Arcanjuiz.« »Sondern?« Tagsüber studierten wir zahllose Bilder, die in der Vergangenheit von den Spionsonden eingesammelt worden waren. Mittlerweile wussten wir einigermaßen genau, wie es zwischen den vielen Ländern und Herrschaftszentren der Welt aussah. »Ich möchte eine Weile zwischen vielen Menschen gehen«, sagte sie. »Gelächter, wirkliche Musik, Tänze und allerlei.« Ich überlegte. Wenn es um Vergnüglichkeiten ging, zog ich die Nachkommen der Römer den Welschen vor, die Italiener und die Franzosen waren gleich oberflächlich, aber die Italiener waren dabei sehr viel lustiger. »Carnevale in Venezia!« sagte ich schließlich. »Das wird dir gefallen. Eine ganze Stadt hält sich und andere zum Narren. Außerdem findet sich in den venezianischen Palazzi weniger Dreck und Ungeziefer als andernorts. Einverstanden? Verbringen wir einen Teil des Jahres dort.« Sie küsste mich. Wir waren allein auf Yodoyas Insel. Rico kümmerte sich um Beauvallon und andere Aufgaben. Unsere Körper waren gleichmäßig braun geworden; ich hatte Fett und Schwammigkeit vieler Jahre verloren. Mein Haar war weiß, mehr als schulterlang. Den Unglücklichen von Lisboa konnten wir nicht mehr helfen, den Toten des österreichischen Erbfolgekrieges ebenso wenig wie denen vieler Seegefechte und Scharmützel in aller Welt. »Ich freue mich schon!« rief Monique. Wir sprachen darüber, welche Seltsamkeiten die Entwicklung hervorbrachte. Musiker wie Bach und Händel, Baumeister wie Lukas von Hildebrand oder Balthasar Neumann, Maler wie Tiepolo oder Boucher. Immerhin trieb man Handel mit China und machte Porzellan und Lackarbeiten zur Mode. »Hast du schon eines der schwebenden Augen und Ohren in Venezia?« »Noch nicht.«
Ich dachte an Nonfarmale und daran, was die überlebenden Kämpfer ihren Söhnen berichtet haben mochten. Tawaraya Kan, Yamazaki Ansai und der Ninja Akizane würden wohl Ataya Arcohatas Kampf auf der fremden Welt bis zu ihrem Tod nicht vergessen haben. Behielt ich recht mit meinen Überlegungen, dann erholte sich Nonfarmale von seinen Verletzungen, baute seinen verwüsteten Wohnsitz auf und besuchte meinen Planeten unsichtbar und von irgendeiner anderen Jenseitswelt aus. Ich streichelte Moniques Hüften und flüsterte: »Es ist verblüffend, wie heiter man wird, wenn man Erwartungen aufgibt.« »Du hast Kämpfe erwartet?« »Ja. Gegen den Schlächter unzähliger Menschen. Nicht, daß ich mich vor ihm fürchte. Aber daß er so lange nicht auftauchte,
irritiert mich.« »Die Geschichte der Menschen ist kein Fundament für verlorene Gelegenheiten«, sagte sie und erwiderte meine Zärtlichkeiten. Später kam mir ein Bild in den Sinn, das die Zukunft der LarsafBarbaren bezeichnend schilderte: Pythia, das Orakel, saß auf dem Schemel, schrieb dunkle Prophezeiungen auf lose Blätter, die der aufsteigende Dampf davonwirbelte und über die Welt verstreute, wo niemand sie lesen konnte. An einem kühlen, nebligen Morgen stieg ich in den Sattel. Der Tavernenwirt gähnte und sagte: »Ein altes, verfallendes Haus. Man sagt, es spukt dort, Geister sollen ein- und ausgehen. Seid vorsichtig, Comte.« »Ich fürchte weder Geister noch Ruinen«, sagte ich und ritt durch die enge Gasse zum Stadttor. Bauern arbeiteten auf den feuchten Feldern. Unsichtbar schwebte über mir die Spionsonde, mit der Rico die Umgebung des maroden Schlösschens erkundet hatte, nachdem er einen einzigen Funkanruf, von einem leistungsschwachen Gerät, empfangen und grob eingepeilt hatte. Die Frauenstimme bat mich dringend um einen Besuch und nannte Ort und Gutshof; ich war einigermaßen sicher, daß der Notruf von einer Überlebenden der kosmischen Vagabunden kam. Von Die? Oder Verga-Beatrix? Unsere Rückrufe wurden nicht beantwortet, und so befand ich mich im Süden von Paris auf einer staubigen Landstraße und fragte während des langen Rittes mehrmals nach dem Weg. Am frühen Abend sah ich das Haus, und der Logiksektor knurrte: Ein Deja-vuErlebnis, Arkonide. Ich nickte, während ich im Rauschen des Abendwindes und im Quietschen eines Fensterladens durch ein verwahrlostes Grundstück ritt: Solcherlei halbe Ruinen gehörten fest zu meinen Erinnerungen. Niemand war zu sehen. Ich band den Zügel des Rappen an einen Pfahl, schulterte die Satteltaschen und aktivierte das Körperschutzfeld. »Ist jemand zu Hause?« rief ich. »Man erwartet mich angeblich!« Niemand antwortete. Ich stieß die große Eingangstür auf; ein rostender Riegel klirrte auf die zerbrochenen Bodenfliesen. Eine Treppe, deren Geländer zur Hälfte fehlte, wand sich in einen Keller
und in den ersten Stock. Ich zog den Handscheinwerfer aus dem Gepäck und ging mit steigendem Unbehagen, ohne daß der Extrasinn warnte, durch die Halle und auf eine Tür zu. Ich öffnete sie, die Angeln knarrten, und im breitgefächerten Lichtstrahl sah ich im trostlos leeren Raum nur hinein gewehtes Laub. Zögernd trat ich auf die knarrenden Holzdielen, prüfte deren Sicherheit – plötzlich knirschten die Bretter, der Boden gab nach, und ich fiel durch das morsche Holzwerk. Im nächsten Moment spürte ich den Schmerz des Aufpralls; mannshoch über mir schlug die Falltür gegen die Wand. Ich richtete mich fluchend auf, leuchtete die Umgebung an
und begann zu ahnen, daß mir eine Falle gestellt worden war: Ich befand mich in einem Kellergewölbe, einem breiten Gang, dessen Wände tropfnass waren. Ich hörte ein Geräusch, konzentrierte mich, versuchte es zu lokalisieren und zu deuten – nirgendwo war die Quelle des Geräusches zu entdecken. Plötzlich hörte ich ein schauriges Gelächter, weder von der Öffnung über mir noch aus den Tiefen des Gewölbes. Als ob ES mit mir sprechen würde, oder der Extrasinn zu unmäßiger Lautstärke angeschwollen wäre, hörte ich das Gelächter in meinem Kopf, in meinem Verstand. »Atlan, der große Arkonide! In meiner Gewalt! Es ist lustig und makaber!« Ich taumelte unter der Flut telepathischer Impulse, deren Deutlichkeit schmerzte. Flammen schienen sich entlang meiner Nerven in Wellen auszubreiten. Ich fragte laut: »Wer bist du?« »Das tut nichts zur Sache. Wichtig ist, daß ich dich habe!« »Was willst du? Was soll diese Falle?« Ich gewann in winzigen Schritten wieder Gewalt über mich. Nicht Die hatte mich gerufen; es war ein fremdes Wesen, und langsam schlich sich Furcht in meine Gedanken. »Weißt du es nicht, Arkonide? Hast du deinen Extrasinn im Schutzzylinder zurückgelassen? Gibt er keine Antwort?« Dieser Fremde wußte, wer ich war. Etwa Nonfarmale? Die Furcht wurde stärker, gerann in schärfere Konturen. Vorsichtig erhöhte ich meine innere Abwehr gegen einen fremden Willen. Die lautlose Stimme schrie atemlos weiter. »Ich kenne dich besser, Arkonide, als du glaubst. Wer du bist, warum du hier bist, selbst dein größtes Geheimnis kenne ich. Du bist naiv, Atlan: Warum habe ich dich hierher gelockt? Weißt du es immer noch nicht? Du bist im Besitz des Geheimnisses, das alle Magier, Zauberer und Alchimisten vergebens suchten! Nur ich fand diesen Stein der Weisen – deine Unsterblichkeit!« Der Schrecken gewann noch mehr Kontur: Der Fremde hatte es auf meinen Zellschwingungsaktivator abgesehen. Die Art der telepathischen Impulse hatte sich verändert; sie waren härter geworden, entschlossener, und selbst wenn der Fremde verrückt war, würde er kämpfen. Ich schwieg, seine nächsten Worte hallten in meinem Verstand wider.
»Ich habe dich. Du bist in meiner Gewalt. Von hier entkommst du nicht.« Wie sah die Falle wirklich aus? Noch war ich nicht unmittelbar bedroht. Ich holte tief Luft und rief: »Wie hast du die Nachricht an mich übermittelt?« »Unterschätze mich nicht. Mir stehen Mächte bei, von denen du nur träumen kannst.« Er begann sich zu verraten. Ich versuchte, eine Art Dialog in Gang zu bringen. Ich musste Zeit gewinnen. Ich hörte: »Ich habe die Mächte der Finsternis beschworen und mir Untertan gemacht. Durch sie und dein Gerät, Arkonide, werde ich zum
mächtigsten Mann der Welt werden.« »Du bist wahnsinnig«, sagte ich laut. »Du wirst niemals in den Besitz der Unsterblichkeit kommen.« Ich wußte, daß an vielen Stellen des Barbarenplaneten Scharlatane versuchten, mit parapsychischen Phänomena zu hantieren, und sie richteten allerlei Unheil an. Mein unbekannter Feind war mit solchen Kräften nicht gerade ärmlich ausgestattet. Ich hatte seiner starken Kraft nichts Gleichwertiges entgegenzusetzen. Wieder das Gelächter, dann die selbstbewußte Stimme: »Ich brauche dich nur hier verhungern zu lassen. In einem halben Monat bist du tot. Dann hole ich mir das Gerät von deiner Brust. Dass du um dein Leben kämpfen wirst – nichts anderes erwarte ich. Aber der Kampf gehorcht meinen Regeln. Du hast nicht einmal eine Waffe; ich befehle den Mächten der Finsternis.« Ich tastete nach Strahler, Desintegrator und Schockklingen: Ich fand sie nicht. Meine ängstliche Unsicherheit nahm zu. »Ich habe dich unbewaffnet herkommen lassen. Deine Waffen sind am Sattel deines Pferdes. Ich befahl dir, die Waffen abzulegen.« Er oder sie war dumm, erkannte ich und grinste. Er hätte es einfacher haben können, indem er mir befahl, den Zellaktivator an die Türklinke zu hängen und fortzureiten. Aber jetzt schrie er: »Der Kampf beginnt, Arkonide. Kämpfe! Suche einen Ausweg!« Wieder das Gelächter, und die fremden Impulse wichen aus meinem Verstand. Offensichtlich glaubte mein Gegner, alle Vorteile zu besitzen. Ich stand im kalten, feuchten Gang, ließ den Strahl der Lampe kreisen, leuchtete den glatten Schacht unter der Falltür an und entschloss mich, nach rechts zu gehen. Nach wenigen Schritten fühlte ich, daß die Wände vibrierten, Staub und Wassertropfen fielen von der Decke, das vage Zittern wurde zu dumpfem Dröhnen. Ich blieb stehen. Erdbeben in dieser Gegend? Sand sickerte aus Mauerfugen, die Quader ächzten, lautes Pochen drang durch den Stollen und bildete dröhnende Echos. Ich wich zurück, stellte mich unter die Öffnung und sah, daß sich im Gemäuer Risse bildeten, daß einzelne Steine heraus brachen, und sich das Geröll im Gang häufte. Das Dröhnen war unerträglich laut, Sand und Staub erfüllten die Luft, und ich stieß hustend hervor: »Je mehr Risse und
Spalten, je mehr Quader auf dem Boden, desto leichter fällt das Hinausklettern!« Ich schaltete die Lampe aus; der dichte Staub verschluckte alles Licht. Die Wände wankten, der Boden wölbte sich, die Decke schien sich zu senken, als die Mauern sich aufeinander zuschoben. Das zermalmte Gestein knirschte infernalisch. Ich stolperte, rollte zwischen zwei Felsbrocken, blieb liegen, versuchte mich zu orientieren und meine Furcht niederzukämpfen – alles gleichzeitig.
Durch die Staubwolken sah ich über mir den Einstieg, der zugleich mit der Decke malmend näher kam. Kalte Tropfen fielen in mein Gesicht. Ich stemmte mich hoch, nach Atem ringend… und plötzlich löste sich das Chaos auf. Ich war allein in einem feuchten, unzerstörten Gewölbe. Der Extrasinn sagte lakonisch: Du warst Opfer einer mentalen Täuschung! Ich beruhigte meinen Atem mit einer schnellen Dagorübung und drehte mich herum. Der Fremde sagte in meinem Verstand: »Nicht schlecht, Arkonide. Es war ein guter Spaß. Jetzt wird es ernst – so stirbt Atlan von Arkon.« Mir wurde jede Entscheidung augenblicklich abgenommen. Aus dem linken Teil des Gewölbes kamen Lichtschein und verzerrte Schatten, die sich an den schwarzen Wänden bewegten. Fackeln und Schwerter kamen näher; die Wesen waren nicht weniger schattenähnlich und menschenähnlich, aber als ich sie genauer sehen konnte, gewahrte ich vermodertes Fleisch an bleichen Knochen, gierige gelbe Augen in tiefen Höhlen, rasselnde Gerippe mit Teilen rostiger Rüstungen. Ich beschwor mich selbst und wußte, daß es telepathischer Spuk war, wich aber trotzdem vor den Gerippen zurück und ging rückwärts in den anderen Teil des Ganges hinein. Die Untoten aus unbekannten Gräbern der Phantasie begannen zu laufen, schwenkten die Waffen, und auch ich wurde schneller. Sie jagten mich, ich wich aus; ein Schwerthieb zerschnitt meinen Ärmel und die Haut, und ich erkannte, daß auch das Schutzfeld versagte. Ich rannte keuchend bis zu einer glatten Mauer, an der jene Gruft endete, wirbelte herum und richtete den Lichtstrahl auf die Verfolger. Die Horde der lebenden Toten raste heran und hielt ein paar Schritte vor mir an. Es war ein Wall schieren Horrors. Gespenstische Ruhe überfiel die Szenerie. Ich bereitete mich auf einen Ausfall vor, mit dem ich ein Schwert erbeuten würde: Der letzte Kampf stand bevor. Mein Gegner sprach oder lachte nicht. Die gräßlichen Gestalten wurden durchscheinender, lösten sich auf, und klirrend, scheppernd und rasselnd fielen die Waffen und die Fackeln zu Boden. Waren sie real? Ich sprang über den schwelenden, blakenden
Wall, hob ein Schwert und einen Dolch auf und rannte zurück zur Öffnung. Aus dem Loch, das ich kletternd zu erreichen versuchte, schaukelte eine Strickleiter. Ich leuchtete die Gestalt an, die langsam herunterkletterte, einen Mann mittleren Alters in reich verzierter Kleidung. »Kommt herauf, Chevalier«, sagte er ruhig. Sein Gesicht drückte Lebenserfahrung und Selbstsicherheit aus. »Der Übeltäter ist unschädlich gemacht.« Ich ließ die Waffen fallen und folgte ihm. Am Ende der Leiter zog er mich an der Hand herauf. Wir standen uns neben der Falltür im Licht des Scheinwerfers gegenüber. Ich begriff,
daß dies nicht mein Gegner war, glaubte aber auch zu wissen, keinen einfachen Franzosen vor mir zu haben. Ich sprach zuerst. »Mein Name ist Atlan d’Arcon. Wem verdanke ich meine Rettung?« »In der Tat Rettung kurz vor der Entscheidung, cher ami«, sagte mein Gegenüber mit weicher Stimme. »Wenig fehlte, und Ihr wart getötet worden. Euer Gegner war gefährlich; ein Segen, daß er nicht mehr lebt.« »Tot? Und, mit Verlaub, wer seid Ihr?« »Ich lehrte ihn vor vielen Jahren manche Geheimnisse der Natur. Im Grunde seines Herzens war er schlecht, böse… aber daß er so weit gehen würde? Er konnte die Vergangenheit so sehen wie wir die Gegenwart und konnte den Menschen Dinge vorspiegeln, die es vielleicht nur in ihren Erinnerungen gab. Statt zum eigenen Wohl und dem Wohl anderer zu wirken, verschrieb er sich den Mächten der Finsternis.« »Also seid Ihr ein Magier?« Ich desaktivierte das Schutzfeld und tastete, diesmal erfolgreich, nach meinen Waffen. Er betrachtete mich mit schwer deutbarem Lächeln. »So könnte man’s nennen. Ich habe viele Namen, darin ähnle ich Euch. Vor jener Riesenwelle, die man Sintflut nennt, kam ich auf diesen Planeten. Ich diskutierte mit Sokrates und lehrte Salomon die Klugheit. Ich komme und gehe, bin alterslos, bin ein Pendler zwischen den Zeiten. Nennt mich Cagliostro.« Ich war einen Schritt zurückgewichen und starrte ihn an. »Euren Namen hörte ich ein paar Mal. Ein Zeitreisender also?« »Nicht mit Maschinen, über die ich nicht verfüge. Ihr würdet es vielleicht bewusste Wiederkehr nennen.« »Unmöglich. Das gibt es nicht.« Ich sah, daß er sich zum Gehen wandte. Sein Lächeln war das eines uralten Weisen; er sagte: »Ausgerechnet Ihr sprecht von Unmöglichkeit? Nur wenige Menschen haben die Gabe, sich zu erinnern, wann und wo sie gelebt haben. Ich bin einer von ihnen – ein bekannter Mann in dieser Zeit. Eines Tages sterbe ich, eines anderen Tages werde ich wieder erscheinen und leben. Vielleicht auf einer anderen Welt? Ich warte auf ein Ereignis, das einen Teil der Sterne verändern wird, aber dies
mag weit in der Zukunft liegen. Es ist möglich, daß wir einander noch einmal begegnen.« Wir standen in der Mitte der Halle. In drei Wandhalterungen steckten helllodernde Fackeln. Ich prägte mir Cagliostros Aussehen genau ein und überdachte schweigend, was ich gehört hatte. »Vielleicht werdet Ihr dann mehr über mich zu wissen glauben. Denkt daran, daß nicht einmal Ihr und ich die volle Wahrheit kennen. Werdet Ihr mir glauben, wenn wir uns in hundert oder tausend Jahren wieder begegnen?« Ich nickte stumm. Er deutete auf die offene Eingangstür. »Verlasst das Haus und reitet zur Taverne zurück. Keiner meiner Schüler wird euch jemals mehr
belästigen.« »Ich danke euch, Magister Cagliostro«, sagte ich. Er eilte zur Tür, ohne daß ich ihn aufhalten konnte, und verschwand in der Dunkelheit. Die Fackeln erloschen gleichzeitig und lautlos. Ich verließ das Gebäude und schnallte die Satteltaschen fest, lehnte mich schwer gegen die Flanke des Pferdes. Es war kein Traum gewesen, auch kein Hilferuf einer vertrauten Person. Ein Scherz von ES? Ich würde lange brauchen, mir selbst zu erklären, was ich erlebt hatte. Das Gesicht würde ich niemals vergessen. Ich führte das Pferd zum Trog, wusch mich und saß auf; in der beginnenden Morgenröte ritt ich langsam und mit vielen Aufenthalten zurück zum Gleiterversteck und flog, den schweren Hengst im gepolsterten Käfig, ungesehen zurück zu Monique und Rico. Die Lagunenstadt schien in diesen Jahren ein delikates Pflaster zwischen Kanälen zu sein: Über der Stadt thronte der Doge, darunter herrschte der Senat der Dreihundert, ihm waren der »Erhabene Rat der Zehn« und die Staatsinquisitoren, die Inquisitori di Stato, untergeordnet. Sie füllten viele Akten für das Sondergericht und die Verfolgungsbehörde. Die Staatsräson war ausgezeichnet, denn drakonische Strafen drohten bei jedem Verstoß. Dennoch trieben es die Reichen farbenfroh, laut und ohne Hemmungen. Wir fanden ein schmales, sauberes Haus westlich des Punta della Dogana, nahe der Kirche Maria di Salute; jedes ein- und auslaufende Schiff und die Einfahrt des Canale Grande lagen vor den Fenstern. Nachdem wir das wenige Gepäck in den Zimmern verteilt hatten, baute ich den Transmitter auf. Ein Strom waren, Gegenstände und Roboter ergoss sich in das Haus in der Calle Bastion – das Haus wurde gereinigt, instand gesetzt, ausgetrocknet, mit vielerlei Einrichtungen versehen. Ich ließ Türen und Schlösser ersetzen, während wir in der Barca saßen und der Ruderer seine Lieder, barcarole, trällerte. Die Kleidung entsprach dem teuren Zeug, das hier getragen wurde; unseren Schmuck, halb gefälscht, hatten wir schon in Paris bewundern lassen.
»Es wird schwer sein«, sagte ich, »in die richtigen Häuser und zu den wichtigen Festen eingeladen zu werden.« Unsere Gondel fuhr den großen Kanal in westlicher Richtung. Ein prächtiges Haus nach dem anderen glitt vorbei. »Deine Begabung, dir schnell Freunde zu machen, unterschätze ich keineswegs.« Ich wandte mich an den Gondoliere. Ich war gewohnt, das klare Italienisch der Toscana zu sprechen. Hier stolperte ich über einige Handvoll Eigentümlichkeiten. »Wir sind fremd«, sagte ich. »Ein Goldscudo für die neuesten Gerüchte, für etlichen Klatsch und die richtigen Namen.« »Für eine solche Münze, die man nicht alle Tage sieht, erfahrt Ihr alles, was ich weiß.« »Fang
an.« Bis wir das Viertel – Sestiere, das Sechstel, genannt – Santa Croce erreicht hatten, kannte ich die gegenwärtige Lage, hundert Namen und Adressen, die besten Weine, Ristorante, Keller und Ausflugsziele. Wir kehrten um und sagten dem geschwätzigen Marco, das Boot solle uns am späten Abend wieder abholen. Der Extrasinn meldete sich und klärte mich in aller Schärfe auf. Marco wird, was er von euch erfuhr, sofort den Inquisitori berichten. Ihr werdet ständig beobachtet werden. Nicht, wenn ich mich hinter einem arkonidischen Deflektorschirm verstecke, dachte ich. Der lautlose Warner schwieg. Immerhin: Rund zwölftausend Gondelfährleute stellten ein schönes Heer von Spitzeln und Informanten dar. Außerdem gab es für uns keinen Grund, uns zu verstecken. Ich sprach das Kodewort für das Türschloß, und schon im untersten Geschoß sahen wir die Ergebnisse der Arbeit von vielen kleinen Spezialmaschinen. »Fenster und Türen sind abgedichtet. Die Versorgung mit kaltem und warmem Wasser arbeitet, alle Risse in den Wänden sind ausgefugt«, sagte Cirro di Beauvallone. »Die Bausubstanz ist gut; es fehlt nur eine Bearbeitung der Fassade.« »Nicht übertreiben«, meinte ich. Die Balken des Dachstuhls krachten, als sie trockneten. Es roch nach Frische und Sauberkeit, Lack und neuen Wandbespannungen. Feuer brannte in den Kaminen, die Mauern waren durch kleine Aggregate erwärmt und strahlten Feuchtigkeit ab. Teppiche bedeckten die gleichmäßig abgehobelten Dielen; auf die Oberflächen der Stoffe hatten unsere Maschinen scheinbar unersetzbar teure Muster geprägt. »Ausgezeichnet«, lobte ich nach dem ersten Rundgang. »Die Vorratskammern sind auch gefüllt.« »Was fehlt, kaufen wir morgen auf dem Markt und lassen es hierher bringen.« Selbst die Möbel waren, so gut es ging, repariert und verschönert. Der Februar, kühl und feucht, dauerte noch fünfundzwanzig lange Tage, und in der Küche jagten die Roboter Ratten, Mäuse und Ungeziefer.
Cirro deutete auf die Tapetentür neben dem Kamin der Wohnhalle. »Dahinter ist ein Transmitter. Ich habe ihn zum Turm über dem Tal der Lechschleife geschaltet, jenseits der Alpen. Ein Fluchtweg für alle Fälle.« »Wie lange bleibst du hier, Cirro?« »Etwa eine Woche.« Cirro war ebenso kostspielig herausgeputzt wie wir. »Der Carnevale beginnt zwölf Tage vor Aschermittwoch, dem ersten Tag der 40-tägigen Fastenzeit vor dem Fest Pasqua, das bekanntlich…« »… Ostern heißt«, beendete Monique seinen Vortrag. Bald hatten wir Merlot und Cabernet-Weine, genügend Gläser aus Murano, die Schränke füllten sich. Vom Dach und dem kleinen Balkon gab es einen herrlichen Blick bis hinüber zum Markusplatz mit dem Palast und dem Glockenturm. »Schiffe und Boote, viele Menschen, Musik aus
den Häusern – mir gefällt’s außerordentlich.« Monique breitete die Arme aus und tanzte in einer Folge schneller Schritte durch den großen Raum. »Die Wirklichkeit sieht ein wenig anders aus. Leider«, sagte ich. »Und ihr wisst es.« In den Seerepubliken Genova und Venezia herrschte der vergnügungssüchtige Adel. In Venedig wurden Mengen von Luxusgütern hergestellt und in alle Teile Europas verkauft. Die Bedeutung dieser Industrie nahm jedoch ab, die Stadt wurde zu einem Treffpunkt von harmlosen Gästen, von Glücksrittern und dubiosen Abenteurern. Das dekadente Leben, das andererseits viele Handwerker und Bedienstete gut verdienen ließ, herrschte auf den Kanälen und in den Palazzi. Auch an Land, der terra firma, gab es viele lose Sitten und wenig Moral. »Morgen versuchen wir, die Stadt zu Fuß kennen zu lernen, nicht in der Gondel«, schlug ich vor. »Heute Abend essen wir im Cafe Florian.« »Herrlich. Venezia bei Nacht.« Das Haus, das im Wesentlichen aus fünf übereinander liegenden Ebenen und einem Treppenhaus bestand, sollte immerhin für ein halbes Jahr unsere sichere Wohnung sein. Der Aufwand war nötig, hielt sich aber in Grenzen. Ich schob die Vorhänge zur Seite und schaute hinaus. »Bis wir hier Gäste empfangen können, braucht es noch Zeit und Verbindungen. Sehen wir, was zu Erfolg in Venezia führt.« Die Stadt und das Wasser leuchteten in der Februarsonne, und über der Isola San Michele stieg eine Gewitterwolke in die Höhe. Avvocato Bernardo Passará wedelte mit einem parfümierten Tüchlein durch die Luft. »Man muss die Zeit nutzen, Cavaliere«, sagte er. »Die Zeit ist gut, solange man reich ist und jung genug.« Wir saßen, etwa ein Dutzend Männer und junge Frauen, an einem runden Tisch unter dem Licht vieler Kerzen. Cabernet del Piave leuchtete in Gläsern und Pokalen. Ich erwiderte nach einer
entsprechenden Geste: »Kartenspiel, Amouren und lose Streiche sind sicherlich ein reines Vergnügen. Aber was bleibt für die alten Tage, wenn das Podagra beißt?« Brüllendes Gelächter antwortete mir. Die Edelleute stocherten in ihren egato alla veneziana, die tiefdekolletierten Frauen kreischten. Der Kellner brachte einen fruchtigen roten Marzemino, der besser schmeckte als die Weine Beauvallons. »Das Alter? Es ist so weit weg wie das Jüngste Gericht.« Sie schienen wirklich nichts anderes als Vergnügen im Sinn zu haben. Monique genoss jede Stunde dieses Abends, die unzähligen Kerzen, die Wärme, die Musik und die vielen gutgekleideten und gutaussehenden Menschen. »Er ist verrückt!« rief Louisa. Der Advokat verneigte sich. »Ich bin Satiriker, weil die Menschheit so verrückt ist«, sagte er. »Und Ihr, Cavaliere Atlan di Arcone?« »Ich mag Wasser nicht. Lieber würge ich meinen
Raboso trocken hinunter.« »Er ist Erfinder und Ingenieur, weit gereist und klug.« Es beeindruckte nicht. Nur über meinen Scherz lachten sie. Passará deutete durch das beschlagene Fenster hinüber und sagte bedauernd: »Da schmachtet er. Er hat es uns allen vorgeführt, wie man leben muss.« »Wer ist dieser ›er‹?« wollte ich wissen. »Der arme Giacomo Casanova, Dottore der Jurisprudentia. Man hat ihn wegen Atheismus fünf Jahre unter die Bleidächer gesteckt.« »Wann?« »Am sechsundzwanzigsten Juli des vergangenen Jahres.« »Wer war er?« Wir hörten aufmerksam zu, was der wortgewandte Avvocato und seine Freunde unter viel Gelächter berichteten. Offensichtlich war Dottore Giacomo ein sehr gebildeter Mann, der fließend Latein sprach und sogar als junger Abate von der Kanzel gepredigt hatte. Auch war er Orchestermusiker gewesen und der Erfinder vieler loser Streiche. Seine Kumpane scheuchten nachts die Bürger aus den Betten und schrien »Feuer! Brand! Schändigung!«, sie ließen Geburtshelferinnen in die Häuser ehrbarer Jungfrauen schicken, Priester, die zur letzten Ölung herbeieilten, fanden kerngesunde Venezianer vor. Ganz Venezia krümmte sich vor Lachen. Sein tollstes Stück: Ein griechischer Gewürzhändler, der nachts immer wieder nach seiner weggezogenen Bettdecke griff, packte schließlich einen Leichenarm, den Casanova einem frisch Begrabenen auf dem Friedhof abgetrennt hatte. Am nächsten Morgen fand man den bewussten Demetrio, schockiert, teilnahmslos und unter Krämpfen, den Leichenarm und die Bettdecke in den Fingern. »Was tat Casanova?« Selbst Monique lachte über diesen drastischen Scherz. »Er reiste nach Paris, fluchtartig. Aber erst, nachdem er ausgelacht hatte.« Dieses Cafe war ohne Zweifel ein Treffpunkt, an dem junge Damen einen Ehemann suchten und Ehemänner, Liebesbedürftige und Freier eine junge Dame. Ein ständiges Kommen und Gehen sorgte dafür, daß immer wieder frische Luft durch die Türen hereindrang.
»Man ist also schnell verhaftet und vor Gericht in Eurer schönen Stadt, oder habe ich Euch falsch verstanden?« sagte ich. Aus Perücken und Zöpfen stieg Puder auf wie Rauch aus dem Feuer. Ungeniert kratzten sich Männer und Frauen an jeder denkbaren Körperstelle: Wanzenstiche und Flohbisse waren der Grund. Aus unseren Kleidern vertrieben Schallgeneratoren die Plagegeister. »Bei allzu dreisten Verstößen gegen die Lehre der Kirche hat man Grund, sich zu fürchten«, meinte Bernardo Passará. »Übermorgen, in meinem Häuslein? Ihr kommt?« Zwar war Passará ein Angehöriger einer Patrizierfamilie, denen der Umgang mit Repräsentanten ausländischer Staaten verboten war. Wir hatten uns als Reisende aus Frankreich eingetragen und besaßen keinerlei offizielle
Funktion, außer, möglichst viele Zechinen in der Stadt zu lassen. Unsere ersten Einkäufe sollten unangebrachtes Misstrauen erst gar nicht entstehen lassen. »Mit Vergnügen kommen wir.« Ich bedankte mich und bestellte einige Flaschen moussierenden Cartizze. »Welchen Grund hat die Einladung? Was feiert Ihr?« »Das Fest der heiligen Apollonia. Dein Fest, Geliebte.« Bernardo streichelte die nackten Schultern seiner Begleiterin, wischte Schweiß, Puder und Fett in seinen Rockschoß und schnäuzte sich ins Tischtuch. »Die Liebe lebt von liebenswürdigen Kleinigkeiten«, sagte er und leerte seinen Pokal. »Deshalb das Fest. Nichts Großes, nur zwölf Dutzend lud ich ein.« Wir erfuhren, daß der Dogenpalast voller geheimer Gänge und Kammern sei, daß die technisch raffiniert befestigte Hängedecke des Großen Saales, die Sala Tre Capi, Bildnisse des Hieronymus z’ Hertogebosch von bestürzender Schönheit aufwies. Messergrande Varutti, der Oberste der Polizia, hatte Casanova selbst inhaftiert und in die Kammer über diesem Saal eingekerkert. »In einer wirklich schönen Stadt kann man auf die Dauer nicht leben«, sagte Monique leise in mein Ohr. »Sie treibt mir alle Sehnsucht aus. Aber ich halte durch, keine Sorge.« »Wir kennen weder die Stadt noch das Umland«, sagte ich. »Ihr sagtet, daß Giacomo Casanova ein Stoiker sei?« Senecas Monologe helfen dir in Venezia nicht weiter, sagte der Logiksektor warnend. »Nun ja. Unter den Bleidächern wird man zum Stoiker. Und weit und breit kein Weib.« Die Tischrunde erging sich in Erzählungen und Vermutungen, mit wem es der wackere Giacomo getrieben hatte oder auch nicht. Je länger wir zuhörten, desto beeindruckender wurde die Aufzählung. »Und dabei wissen wir nicht, wie viele Damen er im Ausland zu sich genommen hat«, scherzte der Avvocato. »Er braucht keine Bäume. Ihm reicht, sagte er, der Wald.« Ich grinste. Der Mann imponierte mir. Er verstand darüber hinaus etwas von Übersetzungen, Alchimie und Fechtkunst, verkehrte mit Wissenschaftlern und kannte den Dichter Ariost auswendig.
»Ich glaube, ich werde ihn in seiner Zelle besuchen und fragen, ob er wirklich ein derart bemerkenswerter Sohn Eurer herrlichen Stadt ist«, sagte ich nach einer Weile. »Ist es gefährlich, nachts einen Spaziergang zu machen?« Passará wies auf meinen Degen und die zierliche Pistole, deren Griff aus der Rocktasche lugte. »Haltet Euch dort auf, wo Fackeln und Lampen leuchten. Zur Zollwache ist es nicht weit.« »Wo Licht ist, gibt’s viel Schatten«, sagte Monique. »Ich bin idealistisch gestimmt. Ich liebe Schatten.« »Ein Idealist geht glatt, ohne zu stolpern, durch Mauern«, hatte der Anwalt ein vielbelachtes Bonmot parat, »und stößt sich an der Luft wund.« Ich ließ die Rechnung bringen.
Auch das befremdete die Gäste; offensichtlich ließen sie anschreiben und zahlten nach Belieben. Ich zahlte sofort, in glänzenden Scudi und Zechinen aus Gold. Der Wirt tat, als habe er solche Münzen nie gesehen. Wir verabschiedeten uns, vereinbarten neue Treffen und gingen hinaus in die feuchte, kalte Februarnacht. Die langen Mantelumhänge hielten uns warm. Ich hielt Monique um die Schultern, in der anderen Hand lag der Griff der Waffe. Gondeln fuhren hin und her, legten an, legten ab. Der approdo, der Anlegeplatz vor dem Palazzo Passará, war hell beleuchtet, in allen Fenstern standen Lampen. Aus dem Innern des Hauses erschollen Gelächter, Musik und undefinierbare Geräusche. Frauen lachten schrill, Katzen schrien, Hunde kläfften wie rasend. Das Fest schien schon ohne uns angefangen zu haben. »Es ist nicht die innige, stille Art der Fröhlichkeit, die hier gepflegt und genossen wird«, sagte Monique und polierte einen falschen Ring am Seidenärmel. »Schwerlich.« Ich umfaßte den stattlichen Palazzo mit argwöhnischen Blicken. »Sie lieben’s drastisch und laut, derb und unmißverständlich.« Während wir uns hier zu vergnügen beabsichtigten, forschte der Robot Rico mit seiner kleinsten Spionsonde nach dem eingekerkerten Giacomo Girolamo Casanova. Wir wurden von festlich gekleideten Dienern in die Vorzeigeetage geleitet, den piano nobile; eine gekrümmte Prunktreppe aufwärts. Das Gebäude, dessen Wände und Winkel den Reichtum ausstrahlten, der in einem halben Jahrtausend angesammelt worden war, barst schier vor Musik und Menschengedränge. »Si vede«, meinte Monique. »Man wird sicherlich viele Angriffe auf meine Tugend unternehmen, geliebter Messer Arcone.« »Du wirst dich zu wehren wissen«, sagte ich lachend. »Nötigenfalls hast du deine Schockringe.« »Und deinen Degen, Cavaliere.« Sie schaute sich ebenso fasziniert und neugierig um wie ich. In dem mächtigen Kamin loderten krachend riesige Scheite. Funken sprangen in die Röcke und schmorten in Perücken. Auf der obersten
Stufe stand ein Buckliger und rezitierte mit hallender Stimme Verse von Goldoni. »Diese Stadt mit ihren hundertsiebzigtausend Bewohnern ist ein Spiegel der Gesellschaft des reichen Adels«, sagte ich einige Minuten später. »Eines nicht allzu fernen Tages wird das Volk ihnen allen die Köpfe abhacken. Allerdings nicht heute oder morgen.« Spielverderber, ächzte der Logiksektor. Monique freut sich. Avvocato Bernardo Passará kam mit ausgebreiteten Armen auf uns zu. Wir überreichten unser Geschenk, ein altes italienisches Buch mit echten Inkunabeln, »aux Presses de l’Abbaye de la Sant’iago«, ein frühes juristisches Werk. Er warf einen Blick auf das Frontispiz, warf Monique überschwenglich einen Kuß zu und schrie durch das
Lärmen: »Später wird’s ruhiger. Alles hier ist nur für meine Gäste – lasst Euch erheitern.« »Nichts anderes haben wir vor!« Wir bewegten uns, Hand in Hand, durch mehrere große Säle und sahen uns um. Zehntausend Freudenmädchen waren offiziell in der Stadt registriert; die schönsten befanden sich hier. Die Musiker versuchten mit Leibeskräften, gegen Gelächter, Geschrei und Unterhaltungen anzukämpfen. Mit grimmigen Mienen verrichteten sie ihr flötendes, fiedelndes Geschäft. Ein Hund jagte zwischen den Beinen der Gäste zwei Ratten. Auf den Prunkrahmen der Bilder huschten Mäuse hin und her, Brotkrusten in den spitzen Zähnen. Aus den Kaminen kamen Hitze und Rauchschwaden, wenn irgendwo eine Tür oder ein Fenster geöffnet wurde. Hinter einem samtgefütterten Sessel übergab sich eine ältere Frau. »Alles auf der Welt kommt zusammen, aber selten die richtigen Paare!« schrie jemand. Wir hörten verblüfft das Geräusch schallender Ohrfeigen. Selbstvergessen tanzten zwei Paare, sehr junge und sauber gewaschene Menschen, inmitten der umherquirlenden Gäste. »Befremdlich, aber lustig«, sagte Monique. »Ich habe, wenn nicht Hunger, so doch einigen Appetit«, erwiderte ich und zog sie zur Längswand des Saales. Ein Glas zerbarst klirrend. Dunkler Wein färbte den Teppich wie eine Blutlache. Wieder Scob aus einem der Kamine ein Funkenschauer. Kleine Affen, deren breite Halsbänder an langen goldenen Ketten befestigt waren, schwangen sich über den Köpfen der Gäste von den Kanten der hohen Schränke. In den Käfigen flatterten und zwitscherten die Vögel, als gehe die Sonne auf. Ein älterer Signore verbeugte sich vor einer Dame, hob seine Perücke zwei Handbreit über seinen kahlen Schädel und erklärte in einem ruhigen, überlegten Tonfall: »Männer sind in den besten Jahren, wenn sie feststellen, daß ihre Jugendfreunde die Haare verlieren.« Die Antwort der Dame verstanden wir nicht mehr. Ein Diener jagte einem Hund hinterher, der einen unterarmlangen Braten in den Zähnen hatte, den er gerade noch wegschleppen konnte. Jetzt spielten sie ein Andante von Vivaldi.
»Einen Grappa, Signorina?« Ein Diener verbeugte sich tief. Er trug eine Flasche, auf dem Tablett standen kleine Gläser. »Wein vom Monte Grappa?« Monique bewies, daß wir fremd waren. Der Diener schüttelte den Kopf und rief: »Lebenswasser!« »Brauchen wir immer«, sagte ich und nahm zwei klobige Gläser, in die Golddraht eingeschmolzen war. Das Destillat roch scharf, aber es schmeckte ausgezeichnet und brannte in der Kehle. »Meine Frau«, erzählte hinter meinem Rücken ein Diener seiner Nachbarin »der Doge schütze sie, sie sieht aus wie ein Pferd und arbeitet auch wie eines.« »Wie schön für dich«, bemerkte die andere Stimme schnippisch. »Und
wer näht das Zaumzeug?« Wir blieben vor langen Tischen stehen, hinter denen Köche schufteten und den Gästen auf die Teller häuften, was immer sie wünschten. Neben uns leerte ein Mann mit Bedacht ein volles Glas Refosco rosso in den wogenden Ausschnitt seiner kichernden Begleiterin. Monique und ich, wir starrten einander tief in die Augen. Ich fühlte mich, als sei ich Bestandteil eines Bildes von Hieronymus Bosch. »Ein schönes Fest«, sagte Monique. »Und erst eine Stunde alt.« »Die Köche sind nicht adelig. Was sie bereiten, ist ohne Tadel.« Wir sahen in der Schar der Gäste niemanden, der ein kirchlicher Würdenträger hätte sein können. Aber vielleicht erschienen sie auf diesen Treffen ohne ihre Amtskleidung. Wir ließen unsere Teller mit Köstlichkeiten füllen und suchten in einer Ecke ein stilles Plätzchen. Auf einem Podium fanden wir nebeneinander Platz und konnten, während wir aßen, in das Gewimmel der Gäste hinuntersehen. Der Tag war neblig und schwül gewesen. Hinter den Vorhängen zuckte plötzlich kalkige Helligkeit auf. Blitze schmetterten in die Lagune, und Sekunden später bebte das Gebäude unter dem Ansturm des Donners. Wind heulte auf, und die Kamine spien Flammen, Funken, Rauch und Aschespiralen zwischen die Gäste. Ein rotgesichtiger, schwitzender Mann stützte sich schwer auf unseren Tisch, zwinkerte Monique an und stellte mit gepreßter Stimme eine Frage. »Trug Leonardo aus Vinci eine Brille?« »Ja«, sagte ich und versenkte meinen Löffel in den duftenden Risotto. »War er weitsichtig oder kurzsichtig?« »Weitsichtig.« »Woher wißt Ihr dies so genau, Messer Atalante?« »Weil ich ihm stets die Brille geputzt habe«, lautete meine Antwort. »Ich war Leonardos Brillenputzer.« Kopfschüttelnd entfernte er sich. Monique lachte vergnügt. Inzwischen tanzten im Takt der krachenden Donnerschläge mindestens dreißig Paare. Der wilde Lärm war zurückgegangen, wir konnten in Ruhe essen.
»Im Carnevale geht es noch wilder zu«, sagte ich. »Alles geschieht dann im Schutz von Masken.« »Und wärmer ist es dann wohl auch«, meinte meine schöne Begleiterin. Diener brachten die leeren Teller und Schalen weg. Das Gewitter tobte unverändert weiter und bildete die donnernde Kulisse zu diesem Fest im Palazzo der Familie Passará. Wir versuchten, im Gewitterlärm den Gastgeber zu finden, und durchstreiften die hell beleuchteten Räume. Tausende Kerzen verströmten Helligkeit und Hitze. Bei jedem Windstoß flackerten die Flammen. Wachs tropfte herunter, auf Perücken, Schultern, den Boden und in Weinpokale. Die Frauen kreischten auf, wenn das heiße Wachs sie traf. Jedes Mal sprangen die Affen wie die Rasenden durch die Luft, die Vögel stimmten ein heilloses Gezeter an. Eine Frau, einst eine
Schönheit, jetzt fehlte ihr die Hälfte der Zähne, und die Schminke verlief auf der schwitzenden Haut und ließ die Spuren eines verwüsteten Lebens erkennen, hielt mich am Handgelenk fest. »Ihr seid nicht aus der Stadt, Cavaliere.« »Ich bin Gast aus einem anderen Land«, sagte ich. »Was kann ich für Euch tun?« »Ihr seid reich. Fünfhundert Scudi, Herr.« »Wofür?« »Ihr wollt eine Jungfrau? Dreizehn Jahre? Oder einen Knaben?« Sie zeigte auf zwei Gestalten, halb in der Dunkelheit eines Treppenwinkels verborgen. Ich blickte genauer hin: Die beiden Kinder waren verwahrlost, aber sie starrten mich erwartungsvoll an, halb frech, halb resignierend, ungepflegt und wenig reizvoll. Ich schüttelte den Kopf und gab der Frau fünf Zechinen. »Weder die Jungfrau, Gevatterin, noch den Jungen. Kauft etwas zu essen dafür.« Von ihren Segenswünschen verfolgt, eilten wir die Stufen weiter aufwärts. Wieder einmal schauten wir uns lange in die Augen. »Auch das, teuerste Gräfin«, sagte ich und zog die Schultern in die Höhe, »ist ein Teil des heiteren Treibens in den Häusern der Reichen. Und nicht nur in Venezia.« »Versuchen wir, zwischen den Nachtschatten das Fröhliche zu entdecken, Liebster.« »Genau das wollte ich vorschlagen.« Das Gewitter schien nicht enden zu wollen. Wir kamen an Tischen vorbei, an denen hoch gespielt wurde. Frauen und Männer schienen ausnahmslos von Puder und Schminke, Duftwässern und Schönheitspflastern weitaus mehr zu halten als von Wasser und Seife – auch das war uns nicht unbekannt. Ein Schnallenschuh flog im hohen Bogen durch den Raum. Ein Betrunkener stolperte und schleuderte einen Teller voller Pasta nera, Nudeln mit Tintenfischsaft, auf ein lachendes Paar, das ihm entgegenkam. Wir wichen dem Durcheinander in einer scharfen Kehrtwendung aus. Ein schönes Fest, sagte der Extrasinn vorwurfsvoll.
Es gelang uns immerhin, bis Mitternacht noch einige Gespräche zu führen. Avvocato Bernardo stellte uns andere Gäste vor – reiche Grundbesitzer, Leute vom Theater, Würdenträger der Stadt. Einige Paare verließen kichernd die hellen Räume und vergnügten sich in dunklen Ecken, von denen es viele gab. Wir schlossen uns den Tanzenden an und waren bei diesen Versuchen die Besten; alle anderen Tänzer litten unter dem Einfluss des Weines und des Grappas. Aber für jeden Tag bis zum Anfang der »wirklichen Feste« hatten wir etwa drei Einladungen. Nicht etwa deswegen, weil wir neuartige Gedanken hätten – unter den Gästen hatten wir niemanden gefunden, der Unternehmungsgeist zeigte –, sondern aus durchaus vordergründigen Absichten. Die Männer wollten die schöne Fremde verführen, die Frauen warfen mir brennende Blicke zu, und wieder andere versprachen
sich Glück beim betrügerischen Spiel. Monique ließ sich in einen hochlehnigen Sessel fallen. »Genug getanzt«, sagte sie und zwinkerte. Ihre Zehen im dünnen Schuh bewegten sich. »Das Gewitter ist vorbei.« »Es tobt sich über dem Meer aus«, antwortete ich und sah zu, wie Rauch und Dunst in trägen Spiralen aufwärts zogen und durch die Ritzen der Fenster und Türen verschwanden. »Wollen wir gehen?« »Nach einem letzten Grappa.« Wir fanden, als wir uns verabschieden wollten, den Avvocato im nächsthöheren Stockwerk, schnarchend und halb angezogen auf dem Bett. Neben ihm schlief eine junge Frau; nicht diejenige, die uns als seine Gattin vorgestellt worden war. Das Gewitter hatte die Luft gereinigt, aber es war viel kälter als in der letzten Nacht. Eine Gondel brachte uns den Canale Grande hinunter in die Ca’ Bastion. Im Schutz der Dunkelheit und eines Deflektorschirms beendeten die Roboter ihre Arbeit an Dachunterkante und Fassade des Palazzo. Frische Farben und gereinigte Steinquader leuchteten, als sei das Haus erst vor wenigen Tagen erbaut worden. Die Gondoliere sahen es zuerst, dann starrten alle, selbst von der anderen Seite des Kanals, das Haus an: Niemand hatte jemals ein Gerüst gesehen oder einen Arbeiter an den Mauern. Monique und ich verließen den kleinen Palazzo fast jeden zweiten Tag. Wir versuchten, nicht nur die gewaltigen Schätze der Stadt kennen zu lernen, sondern auch die Umgebung. In Kutschen und im Sattel gemieteter Pferde durchstreiften wir das Land von San Dona di Piave im Norden bis Valle di Brenta im Süden der Lagune. Das Land, die vielen kleinen Paläste und die großen Gutshöfe begeisterten uns; unzählige arme Bauern und Pächter arbeiteten auf den Feldern, Äckern und Weinbergen. Der Februar ging vorbei, und über die Transmitterverbindungen kontrollierte ich den Turm über dem Flusstal, den Hangar des Venusschiffes, Yodoyas Insel und Le Sagittaire in Beauvallon. Rico versorgte uns mit Informationen. Nonfarmale wird sich zeigen, warnte der Logiksektor. Eure Wachsamkeit darf nicht nachlassen. »Früher oder später. Sicher.«
Je mehr sich der Anfang der Feste näherte, die offensichtlich in aller Welt berühmt waren, desto größere Aufregung erfaßte jeden Bewohner Venezias und jeden Gast. Die kleinen und wenigen großen Plätze wurden geschmückt und dekoriert. Es war nicht schwer, in dieser Stadt aufzufallen, aber ich glaubte zu merken, daß mich weitaus mehr Leute auf seltsame Weise musterten, als zu erwarten war. Mitten auf der Piazza San Marco traf ich Avvocato Passará. In äußerster Höflichkeit zogen wir unsere Hüte. »Ein Glück, Ihr seid schon der zweite prominente Gast, den ich treffe.« Verkaufsstände wurden unter den Arkaden aufgebaut. Girlanden
schwangen von Haus zu Haus, und die Handwerker hämmerten am Dach einer großen Tribüne herum. »Prominent sein bedeutet, zuerst ins Gespräch zu kommen und dann ins Gerede«, sagte ich. »Wie steht’s, Messer Passará?« »Wie immer. Alles verdreht die Augen und denkt an Carnevale. Nur die Spitzel der Polizei, die halten ihre tausend Augen offen.« »Sollen sie«, sagte ich. »Ein herrlicher Tag. Wir sehen uns heute im Florian?« »Ohne Zweifel. Bringt Eure verehrungswürdige Freundin mit.« »Sie wird mitkommen, schon allein Euretwegen.« Wir tauschten noch einige artige Komplimente aus und gingen in unterschiedliche Richtungen auseinander. Ich dachte an die Bilder, die ich von Giacomo Casanova und den anderen Gefangenen hatte. Wenn die Sonne noch kräftiger wurde, würden sie unter den Bleiplatten des Daches schmoren. Ob sie überlebten, war fraglich. Ich erledigte meine Einkäufe, beobachtete meine Umgebung so genau wie immer und gelangte zu dem festen Entschluss, noch vor Ostern, vielleicht mitten im größten Trubel der Feste, die Stadt zu verlassen und Beauvallon zu besuchen; das Schlösschen Le Sagittaire stand bereit. Am Morgen des achtundzwanzigsten Februar, noch vor dem ersten Sonnenstrahl, öffnete sich geräuschlos die schmale Tür. Rico kam in den Salon, lief die Treppen zum Schlafraum hinauf und flüsterte: »Die Staatsinquisitoren, Atlan. Sie werden gleich an die Tür hämmern.« Das Transmittersignal hatte mich geweckt. Ich grinste und sagte: »Du kümmerst dich um Monique und unseren Besitz. Alles nach Beauvallon. Ich denke, man wird lange von meiner Verhaftung sprechen.« Seit mir Marco, der Gondoliere, berichtet hatte, die Agenten des Rates würden meine Goldstücke in einem Alchimistenstübchen untersuchen lassen, war ich auf einen ähnlichen Augenblick vorbereitet. Ich beruhigte Monique, schob einige wenig kostbar aussehende Ringe über meine Finger und befestigte den breiten
Gürtel an der Hose. Noch während ich verschiedene andere Maßnahmen traf, ertönte Lärm vom Approdo herauf. »In spätestens drei Tagen holst du mich heraus, Rico«, sagte ich, bevor ich die Stufen hinunterlief. »Mit Vergnügen und entsprechendem Nachdruck«, antwortete er und schob Monique in die Transmitterkammer. Ich ließ mir Zeit, die schweren Riegel zurückzuziehen, und sah mich sechs Gerichtsbütteln, einem jungen Offizier und Messergrande Varutti gegenüber. Wir kannten uns von mehr als fünfzehn Einladungen. »Ihr kommt zu früh zum Frühstück, Messergrande«, sagte ich verbindlich. »Noch haben die Diener nichts vorbereitet.« »Die Diener, deren Nichtvorhandensein halb Venezia wundert?« fragte der hochgewachsene Mann mit ernstem Gesicht zurück. Er war in graues Tuch gekleidet. »Ich muss Euch bitten, Graf Arcone, mir
zu folgen.« Ich deutete auf Hemd und Hose und fuhr über mein Kinn. »Sicher seid Ihr so freundlich, mir den Grund zu erklären?« Es schien ihm kein Vergnügen zu bereiten, mich einzukerkern, aber es gehörte zu seinen Pflichten. Ich bat ihn und seine Leute, die ihre Finger um die Pistolengriffe und die Griffe der Degen gelegt hatten, ins Haus. »Euer Gold ist besser als das der Republik. Wie durch ein Wunder entsteht die Fassade dieses Palazzos wie neu über Nacht, ohne daß je eine Hand sich rührte. Ihr verliert nicht beim Spiel. Mischt man Euch Schlafmittel ins Essen spaziert Ihr munter weiter.« Die Fassade war ein großer Fehler gewesen. Der Zellaktivator hatte die Wirkung des Schlaftrunks neutralisiert. Ich verstand ein paar andere Seltsamkeiten während sich die grauen Augen des Inquisitors auf mich richteten. »Es nützt wohl nichts«, sagte ich bedauernd, »wenn ich Euch von der Haltlosigkeit der Vorwürfe hier und jetzt zu überzeugen versuche?« Er schüttelte den Kopf. Erst gestern hatten wir uns beim Wein über den Sinn und Unsinn von Fahndungsakten unterhalten. »Das werdet Ihr vor dem Tribunal des Rates der Zehn tun können. Avvocato Bernardo Passará hat versichert, Euch auf das Trefflichste verteidigen zu wollen.« »Der Donner ist schneller als der Blitz.« Ich lachte. »Vorzüglich. Eine Stadt der Wunder, Euer Venezia. Zum Dogen-Palazzo?« »Im Auftrag des Tribunals.« Ich nickte. Ich spürte nicht einen Hauch Furcht. Mit meinem versteckten Arsenal konnte ich ein längeres Gefecht überstehen, und zwar siegreich. »Ich darf mich rasieren und anziehen, Messergrande? Wollt Ihr oben warten?« »Natürlich.« Ich überlegte: Je mehr ich mitnahm, desto weniger würde man mir in der Zelle lassen. Ich rasierte mich ohne Eile, zog eine dicke Jacke über und faltete eine Decke zusammen. Die Szene entbehrte nicht einer starken pikanten Note. Ich packte einige Toilettengegenstände in einen Lederbeutel und fragte Varutti, was denn in der Zelle
erlaubt und was verboten wäre. Er hatte nichts gegen meine Notausrüstung. Schließlich setzte ich den Dreispitz mit der albernen Feder auf und warf den Mantel über meine Schultern. »Ich bin bereit«, sagte ich. Er schien meine Kaltblütigkeit zu bewundern. »In den Palazzo?« »Ganz recht. Die Dame des Hauses ist nicht beunruhigt?« »Nicht im mindesten«, erwiderte ich und zog die Brauen in die Höhe, »zumal sie einen sonnigen Tag, hoffe ich, in Treviso zu verbringen sich gerade jetzt anschickt.« Er zuckte zusammen. Offensichtlich war nicht beobachtet worden, wie Monique das Haus verlassen hatte. Wir gingen. Ich schloss das Portal, und als ich schwer bewacht in der Gondel saß, hörte ich, wie Rico die Riegel mit der Impulssteuerung blockierte.
Wir überquerten den Canale Grande, legten bei der Riva degli Schiavoni an und marschierten bis zu einem der vielen Eingänge. Dann verloren sich Bewachter und Bewacher in einem labyrinthischen System von Treppen und Gängen, bis hinauf zum Dachboden des Gebäudes. Ein vierschrötiger Mann, der sauer nach Wein stank, rasselte mit dem Schlüsselbund. »Lorenzo Basadonna«, sagte Varutti. »Kerkermeister. Er wird dafür sorgen, daß Ihr zu trinken und zu essen bekommt und daß Ihr gesund dem Tribunal vorgeführt werdet.« Er schloss eine Zelle auf; ein verdrecktes Gelass. Ratten, fast so groß wie Kaninchen, stoben durch den Raum. In einem Lichtstrahl, der durch eine Mauerritze fiel, sah ich zweierlei: Die Sonne war aufgegangen, und Flöhe sprangen umher. Ich wurde flüchtig durchsucht, ebenso mein Gepäck. Basadonna nahm, wie erwartet, das Rasiermesser und eine Pillendose mit. Dann schloss sich die eisenbeschlagene Tür. Ich faltete Mantel und Decke wieder zusammen, legte beides auf den Rand der Pritsche und musterte das Luftloch in der Tür. Der Durchmesser war knapp handgroß. Noch bevor ich mit einiger Klarheit darüber nachdenken konnte, wie ich möglichst elegant die nächste Zeit überstehen konnte, fing der Stundenschlag von San Marco an. Ich hielt mir die Ohren zu; das Dach und der Boden schienen zu wanken. »Arkonide, deine Karriere ist an einem neuen Höhepunkt angelangt«, sagte ich, mäßig gelaunt, zu mir, dann aktivierte ich einen Ring und unterhielt mich leise mit Rico. »Ich räume alles Wichtige aus dem Palazzo und deponiere es in Le Sagittaire«, wisperte seine Stimme aus dem winzigen Lautsprecher. »Deponiere mit einer Sonde ein Antigravgerät auf dem Dach, lass im Palazzo ein Fenster offen und den Transmitter in Funktionsbereitschaft.« »Verstanden. Ende.« Die Ratten störten mich. Ich lähmte sie, tötete etwa zwei Dutzend mit dem sirrenden Strahl eines winzigen Desintegrators und schob sie durch das Luftloch. Die Oberkante der Tür reichte ein paar Fingerbreit über meine Hüfte, mit dem Kopf stieß ich an die Decke. In der Ecke stand ein Fäßchen für die Notdurft. Es stank erbärmlich
in dem Gefängnis, das viermal vier Schritt im Quadrat maß. Angewidert zog ich den rechten Handschuh aus und überlegte. Morgen in der Nacht würde ich verschwinden; vorher hoffte ich noch einige Worte mit dem armen Giacomo wechseln zu können. Ich spähte durch das Türloch. Vor den Zellen, auf dem Dachboden, bewiesen Schleifspuren, daß die Gefangenen Gelegenheit zu einem Rundgang bekamen. Ich untersuchte das Schloss, zog dünnes Werkzeug aus der Kante der Schuhsohlen und öffnete es probeweise. Ich drückte mit der Faust gegen die schmierige Decke. Sie bestand tatsächlich aus Blei.
Jetzt war die Fläche beschlagen, und braune Tropfen fielen in den Dreck des Bodens. Ich wartete, öffnete die Tür und schaltete das Deflektorfeld ein. Ich blickte durch jedes Türloch und versuchte, die Gefangenen in den Zellen zu sehen. Jedesmal flüsterte ich: »Casanova? Giacomo Casanova?« Bei der sechsten Zelle hatte ich Glück. Eine Stimme antwortete ebenso flüsternd: »Hier. Ihr seid ein Neuer?« »Ja. Wann ist Rundgang?« »Wenn dieser Cretino es will.« »Ihr wollt ausbrechen? Allein?« flüsterte ich. Ich lauschte auf Schritte auf der Treppe, die an der Folterkammer vorbei zum Treppenhaus führte. »So bald wie möglich.« »Nur durchs Dach«, schlug ich vor. »Habt Ihr Werkzeug, Dottore?« »Einen spitz geschliffenen Riegel.« »Ich werde Euch etwas zustecken. Allein in der Zelle?« »Nicht mehr lange. Mir hilft Balbi, ein Somasker-Padre. Wer seid Ihr?« »Graf Arcone. Schweigt über alles, Casanova. Ich muss zurück.« »Ihr habt keinen Wein?« »Nein.« Ich schlich auf Zehenspitzen zurück in die Zelle. Ich hatte gesehen, daß über der Zellendecke das eigentliche Dach lag; darunter befand sich ein schräger Hohlraum. Ich versteckte das Werkzeug in Bodenritzen, bewegte langsam das rostige Innere des Schlosses und setzte mich wieder. Dann riss ich vom Mantelsaum ein Stück Stickerei ab, schob mit dem Fuß das Faß zur Seite und presste den Stoff gegen zwei flache Ziegel. Ich wartete und blickte auf die Zeiger der Ringuhr. Als die Glocken um acht Uhr zu dröhnen anfingen, zündete ich die Ladung, die knisternd und fauchend ein handgroßes Loch in die Wand brannte. Ein leichter Durchzug verbesserte die Atemluft. Wieder funkte ich den Robot an. »Ich höre.« »Lass sechs Flaschen Wein, nur leicht verschlossen, und zwei Becher im Schlafraum zurück. Ich brauche sie heute Nacht.« »Ich frage nicht, zu welchem Zweck. Sie werden dastehen, gut verpackt.« Der Luftzug brachte den Geruch nach schmorendem Horn und verbrannter Haut aus der Folterkammer. Der einzelne
Sonnenstrahl wanderte langsam über den Boden. Ich riskierte es, mich auf dem Mantel über der Pritsche auszustrecken, fand eine erheiternde Variante in meinem Ausbruchsversuch und grinste in mich hinein. Etwa um Mittag herum brachte Lorenzo, der Schmutzige, Näpfe eines Essens, das den Namen gerade noch verdiente. Ich aß ein Drittel und stellte den Napf auf den Boden. Das Ungeziefer stürzte sich darauf. Zwei Stunden später wurden die Zellen aufgeschlossen, und im Halbdunkel durften wir im Kreis herumgehen. Ich winkte Giacomo verstohlen zu, einem Dreißigjährigen mit scharfer Nase, so groß wie ich, und der Kerkermeister stemmte die Arme in die Seiten, als er den Berg ausgebluteter Ratten sah, den ich auf der
obersten Treppenstufe deponiert hatte. Wir konnten förmlich hören, wie es in seinem Schädel knarrte, als er überlegte, wie die Kadaver an diese Stelle geraten waren. Ich blieb stehen, zeigte darauf und erklärte mit einem heiteren Lächeln: »Die Einsamkeit, Messer Lorenzo, ist die einzige Freundin, die ich noch ertragen kann, nachdem ich Eurer Gastfreundschaft begegnete. Ich habe sie totgebissen und dorthin geworfen. Vielleicht kocht Eure Gattin ein Ragout zur Pasta?« Selbst Casanova musste lachen. Der Kerkermeister beschimpfte mich und trieb uns mit gezogenem Degen in die Zellen zurück. »Für diese Lästerung«, schrie er und fuchtelte mit dem Degen herum, »bekommt ihr heute nichts mehr! Verfaulen sollt ihr in eurem Dreck!« »Kann ich mich darauf verlassen?« fragte ich laut durch das Guckloch. Er stieß, während er die Stufen abwärts polterte, herrliche Flüche in schauerlichem venezianischem Dialekt aus. Ich wartete und zählte die donnernden Stundenschläge. Der Lichtstrahl verschwand, die Decke kühlte sich ab. Zehn Uhr nachts. Ich schnitt drei tiefe Kerben in die Unterdecke der einzigen freien Zelle neben der Treppe. Ich arbeitete langsam und würde Lorenzo betäuben müssen, wenn er noch einmal nach seinen Schäfchen sah. Ich stemmte mich gegen Holz und Blei, vertiefte die Schnitte und durchtrennte schließlich die letzte Gerade von Kante zur Kante. Das schwere Stück sackte herunter; ich ließ es auf die Pritsche gleiten und verwendete den Rest der Energieladung der Gürtelschnalle dazu, ein gleichgroßes Viereck in das eigentliche Dach zu schneiden. Flüssiges Blei tropfte auf die Bohlen. Frische Luft drang herein, als ich die schwere Platte in vier breite Streifen zerschnitt und beiseite stapelte. Achte auf Geräusche, warnte der Extrasinn. Ich huschte hinaus und lauschte. In den Tiefen des Gebäudes war es ruhig; morgen, am Sonntag, blieb der Palazzo wohl weitestgehend leer. Ich ging zurück in meine Zelle, schnürte ein Bündel aus meinen Habseligkeiten und verschloss ohne Eile meine Zellentür. Auch die Tür der leeren Zelle schloss ich von innen, stellte mich auf die Pritsche und zog mich ins Zwischengeschoß hoch, dann aufs Dach.
Zwei Schritt weiter blinkte das kleine Gerät. Ich breitete den Mantel über das Loch. Das Dach war teuflisch glatt und nass. Ich robbte über die schräge Fläche, schaltete das Gerät ein und schob die Beine durch die Schlaufen. Als ich drei Ellen über dem Dach schwebte, schaltete ich den Deflektor ein und schaute hinunter auf die hellen Lichter aus dem Cafe Florian. Langsam und unsichtbar schwebte ich über den Kanal, stieß das Fenster auf und sah im Licht einer einzelnen Kerze die Flaschen. Die Decke warf ich in die Kaminglut,
wo sie mitsamt den Flöhen verschmorte. Die Becher in den Rocktaschen, das Antigravgeschirr besser befestigt, und die Multifunktionswaffe im Gürtel, schwebte ich wie ein Gespenst wieder zurück und schlug den Mantel zur Seite. Durch das Loch glitt ich in die leere Zelle hinunter. Ich wartete, alle Sinne angespannt. Dann drehte ich den dünnen, stählernen Hebel, und knirschend öffnete sich das Schloss. Wieder verschloss ich die Tür. Es war denkbar, daß Basadonna nachsah. Ich glitt durch die Finsternis zu Casanovas Zelle und wisperte: »Giacomo. Hier sind Wein und Becher.« Nacheinander wurden mir sechs Flaschen und die Becher abgenommen. Nach einer Weile – ich leuchtete mit der Lampe im Knauf des Dolches – fragte ich: »Ihr wollt nicht mit mir fliehen? Jetzt gleich?« In langen Zügen trank Casanova aus der Flasche, verschluckte sich und hustete. Dann keuchte er: »Nicht ohne Padre Balbi.« »Ihr seid ganz sicher?« Ich schaltete die Lampe aus und sprach meine Ansicht über die nächsten Monate aus: »Wenn man meine Flucht entdeckt, wird man jeden und alles durchsuchen. Niemand ist je aus den piombi geflohen, also hält man meine Flucht geheim, löscht alles aus den Akten.« Casanova, dem der Wein zu Kopf stieg, flüsterte stockend: »Ich schaffe es selbst, Graf Arcone. Danke für alles – vielleicht sehen wir uns noch einmal. Und wenn es sieben Monate dauert, ich schaffe es mit dem Padre. Mein Zellendach, die Decke, ist nämlich unversehrt. Der Padre kratzt von oben.« Ich sagte drängend: »Genau über Eurer Zelle werde ich das Blei so einkerben, daß man es nicht bemerkt, wenn wir etwas Glück haben. Kratzt entlang der Falze und geschmolzenen Nähte.« »Ich habe verstanden. Danke für den… Wein.« Er war leicht betrunken. Vermutlich war er ausgemergelt und ohne Kraft, und ein paar Schluck Wein warfen ihn binnen kurzer Zeit von den Füßen. Noch bevor mich der Logiksektor warnte, hörte ich Türenschlagen und raues Gelächter irgendwo im riesigen Haus.
Ich sah ein, daß er ebenso unglücklich wie betrunken und starrköpfig war Ich leuchtete den Durchlass der Tür an und schob den knapp handlangen Dolch hindurch. »Hier, zum Abschied. Ein Messer für schnellere Arbeit. Lebt wohl, Giacomo Casanova. Und: Ihr wißt von nichts, habt mich nicht gesehen, klar?« Er lallte unverständliche Worte. Wie er das Vorhandensein des Weines erklären würde, war nicht mehr meine Sache. Vermutlich versteckte der Padre die Flaschen – leer natürlich – in der Zwischendecke. Ich tappte zurück zu der Ausbruchzelle, hörte irgendwo auf Steinfliesen Glas zerklirren und ließ, als ich mich nach oben schwang, die Zellentür weit offen. So wurde Lorenzo wenigstens für eine kurze Zeit abgelenkt.
Ich schwebte hinüber zum Campanile und verbog die Hebel des Glocken-Schlagwerks. Daraufhin schnitt ich die Glockenseile durch, schlang einen Knoten in die Seile oberhalb des Loches im Boden und schwebte zurück in den verwaisten, leergeräumten Palazzo. Ich aktivierte den Transmitter und wartete, einen Zinnbecher voll Merlot del Piave in der Hand. Als die Schenkel des Geräts glühten, trank ich aus und ging durch den Transmitter. Ich stand im Gewölbe des Castellets. Sekunden danach schaltete sich die Selbstzerstörungsanlage ein. Die technische Einrichtung des Geräts verschmorte, und es blieb nur eine ausgeglühte Stahlkonstruktion übrig, um die sich Messergrande Varutti kümmern mochte. »Graf di Arcone«, sagte ich und füllte den Becher aus einem Fässchen, das zwanzig Schritt vom Sagittaire-Transmitter entfernt war, »das Kapitel Venezia ist beendet. Aus Carnevale wurde ein übler Aschermittwoch.« Ohne Eile ging ich die steinernen Treppenstufen hinauf. Je näher ich den oberen Stockwerken kam, desto wärmer wurde es. Der Geruch der Zelle im Dogenpalast wurde überlagert von besseren Gerüchen. Schließlich hörte ich Musik, eine Aufnahme des Messias von Meister Händel. »Wieder daheim, Arkonide«, sagte ich und klopfte an die Tür des Schlafzimmers. Moniques Füße liefen über die Teppiche und die Felle. Ich hörte ein Scheit im Kamin knacken. Die Tür wurde aufgerissen, und ich umarmte Monique. »Dein nächster Tanz wird etwas bäuerlicher ausfallen«, sagte ich lächelnd und schloss die Tür mit einem Fußtritt. »Wenn du wirklich lachen willst, dann sieh morgen die Gegend um den Markusplatz an.« Sie zog mich zu den Sesseln am Kamin. Langsam entledigte ich mich der verschmutzten Kleidungsstücke und schlüpfte in den bequemen Umhang. »Ich habe tatsächlich um dich gezittert«, sagte Monique. »Rico hat es nicht fertig gebracht, mich zu beruhigen.« »Ich habe bis jetzt ganz gut überlebt«, entgegnete ich und streichelte ihr Haar. »Ich sterbe nur, wenn ich nicht bald in einem
heißen Bad versinke. Die Republik Venezia geht lausig um mit ihren Gefangenen.« Ich bemerkte auf der geschnitzten Truhe eine kleinere Truhe, in deren Deckel ein Bildschirm leuchtete. »Wo steckt er?« »In der Kuppel. Er wartet auf ein gutes Wort von dir. Er fühlt sich nicht gut.« »Wegen der auffälligen Fassade des Palazzos«, sagte sie lachend. »Wir sind froh, dass du wieder hier bist. Dass wir wieder in Beauvallon sind.« »Glaube mir. Ich bin´s auch«, sagte ich nahm sie in die Arme und sprach mit Rico.
9. Nachdenklich betrachtete ich die Einzelheiten auf Piranesis Kupferstich. Ich kannte die Kupferplatten-Ätzungen des Künstlers, auf denen er Roms antike Ruinen verewigt hatte. Schaudernd
sah ich seine halbvisionäre Darstellung der Ruinen von Lisboa nach dem furchtbaren Beben. Über Bodenspalten, Trümmern, Kratern, Rauch und Leichen schwebte auf einem geflügelten Fabelwesen, halb Drache, halb Adler, ein Reiter. Aus dem schmalen Gesicht des Mannes im Sattel strahlte das zufriedene Lächeln, das ich hassen gelernt hatte. War Piranesi in Lisboa gewesen? Hatte er dort Nonfarmale gesehen? Eine Vision? Ich polierte mit dem Ärmel einen Fingerabdruck von der Glassitabdeckung des Piranesidrucks. Der Logiksektor flüsterte: Falls deine Barbarenwelt überlebt, werden deine Mitbringsel zu unbezahlbaren Schätzen! Dieser Umstand änderte nichts daran, daß etliche Jahrtausende nicht genügten, aus den Barbaren ein Volk auf dem gemeinsamen Weg zu den Sternen entstehen zu lassen. Aus dem Mittelmaß unzählbarer Begabter ragten nur wenige Wissenschaftler und Techniker heraus, die ihren Namen wirklich verdienten. »Vor zwanzig Jahren starb Prinz Eugen«, sagte Monique. »Und sein Loblied ist zum Gassenhauer geworden.« »Auch Dave Fletcher von der Carundel-Court-Mill hat sein letztes Mehl gesiebt.« Ich hob die Schultern. »Und in Frankreich herrscht der Urenkel des vierzehnten Ludwig. Der fünfzehnte Louis also. Preußens weiter Friedrich prügelt sich mit den Habsburgern herum. England und Frankreich führen Krieg um die Kolonien. Gute Zeiten für Nonfarmale. Wo finde ich ihn?« »Er scheint sich zurückgezogen zu haben«, sagte der Robot. »Unsere Sonden sind an den wichtigsten Punkten postiert.« »Wie weit sind die Vorbereitungen?« Ich deutete auf die Bildschirme, die Ansichten des verkleinerten japanischen Dorfes und den unterirdischen Hangar zeigten. Eine ununterbrochene Masse schneeweißer Wolken zog über den Himmel der größten Insel des Planeten. Von den dunkelhäutigen Ureinwohnern, die auf der Stufe der Steinwerkzeug-Gebraucher lebten, sahen wir nichts. »Der Aufbruch ist für morgen früh geplant«, rief Rico die Daten des Sonnenstands auf der antipodischen Seite des Planeten ab. »Für uns in vierzehn Stunden.«
Das Gefühl der Unsicherheit, das mich stets befiel, wenn ich an das Raumschiff dachte, hielt an. In der Abgeschiedenheit dieser unentdeckten Insel wollten wir riskieren, die LARSAF ZWEI-DREI zu testen. Vielleicht konnte das Schiff Monique und mich wirklich auf den Weg nach Arkon bringen. »Einverstanden«, sagte ich. Wir waren im Spätherbst aus Beauvallon für kurze Zeit in die Kuppel zurückgekehrt. »Das Gepäck hast du schon durch die Transmitter geschickt, wie ich sehe.« Nachdenklich glitten meine Blicke zwischen den ArcimboldoGemälden hin und her; ich hatte Die Kieselsteine und Bleiches Wurzelwerk seit 1560 in meinem Besitz. Manchmal glaubte ich im Wurzelwerk Nonfarmales Gesicht
zu erkennen. »Auch die Vorräte und die letzten Teile der Ausrüstung.« Wenn meine Informationen zutrafen, schwitzte und fror Giacomo noch immer unter dem Bleidach in Venezia. Der Rat der Stadt hatte die Glockenseile sehr schnell erneuert und das Dach ausgebessert, um zu vertuschen, daß ich geflüchtet war. Offensichtlich hatte tatsächlich in der Stadt der Gerüchte niemand von meiner Flucht und den Begleitumständen erfahren. Ich war enttäuscht; ich hatte mir so viel Mühe gegeben, die Inquisizione zu ärgern. Das Netz unserer aktiven und stillen Stützpunkte wurde von Rico kontrolliert; die Mühle, der Turm, Yodoyas Insel, Beauvallon und ein Schwarm von Spionsonden an wichtigen Orten. Der Test würde abgebrochen werden, wenn sich Nonfarmale zeigte. »Ich werde noch ein paar Stunden schlafen«, sagte Monique nach einem langen Blick auf die Schirme. »Oder brauchst du mich, Atlan?« Ich schüttelte den Kopf. »Danke, nein. Ich kümmere mich mit Rico zusammen um gewisse Vorfälle und Absonderlichkeiten unserer Barbaren.« Ich setzte mich und aktivierte die Kontrollen in den Armlehnen des riesigen Sessels, der mit französischem Leder ausgeschlagen worden war. In den folgenden Stunden sah und hörte ich die Fortsetzung vieler Vorgänge, die wir in Beauvallon, in der kühlen Ruhe von Le Sagittaire, schon beobachtet hatten. Die Zentralpositronik speicherte und verarbeitete die Informationen. Die Planetenbewohner zeigten weiterhin ein hohes Maß an Unvernunft und ahnten nicht, daß sie kostbare Zeit, Arbeitskraft und viele gute Überlegungen vergeudeten. Überall herrschte das gleiche Maß an Chaos. Arme blieben arm und ungebildet, Reiche wurden reicher, die Macht benutzte man, um andere zu unterdrücken. Standesunterschiede und bizarre Äußerlichkeiten waren wichtiger als Vernunft. Und das sollte ich zu ändern versuchen? Du würdest es nur mit einer zahlenmäßig eingeschränkten Gruppe schaffen, warnte mich der Logiksektor. »Ich spanne gerade meine Muskeln«, sagte ich laut, »um den ersten Schritt dazu zu riskieren.«
Ich schaltete schließlich einen Bildschirm nach dem anderen ab und wandte mich an Rico: »Ich bin fertig. Wir können uns um das Raumfahrzeug kümmern.« »Ich weiß es, die großen Positroniken haben es durchkalkuliert, und du weißt es auch, Atlan«, sagte Rico mit schwer deutbarer Gestik. »Was meinst du?« Als einziges Bild war auf den Schirmen der Blick in den Hangar zu sehen. Alle anderen hatte ich desaktiviert. Das Raumschiff mit dem Aussehen eines stilisierten Zaubervogels, schillernd und funkelnd und auf seltsame Art mit großen stumpfschwarzen Federn verziert, stand im Licht der Tiefstrahler. Ricos Mehrzweckrobots räumten unsere Ausrüstung ins Labor und in die Häuser.
»Der erste Flug nach dem Zusammenbau und der Test der Ferntriebwerke sind von selbstmörderischer Qualität.« »Viele meiner Missionen entsprechen dieser Charakterisierung.« »Du hast Recht. Es wurden mehrfache Sicherungen eingebaut.« »Davon bin ich überzeugt.« Mit leichtem Gepäck passierten wir einige Stunden später die Transmitter. Als wir den kühlen Hangar verließen, schlug uns die trockene Hitze des Insellands entgegen. Die Sonne strahlte unerträglich grell; selbst Rico pegelte die Empfindlichkeit seiner Sehlinsen neu ein. Das leise Rauschen der Brandung klang seltsam und kühl. Suchten wir einen jener entlegenen Stützpunkte auf, war es dank Ricos positronischer Fürsorge, als beträten wir ein anderes, wohliges Zimmer in einem großen Haus. Allerdings waren die Blicke durch die jeweiligen Fenster surrealistisch: Stets sah man eine andere Landschaft. An einer Wand des Hangars hingen die beiden arkonidischen Raumanzüge, die ich aus dem Magazin des Stützpunkts unter den Wolken der Venus mitgenommen hatte. Daneben zwei Transport- und Schutzanzüge aus der Schutzkuppel. Ich hatte zwei Tage lang sämtliche Systeme des Fluggeräts getestet – am Boden. Die ausgedruckten Listen der Langzeit-Belastungstests, die Rico und seine Subrobots durchgeführt hatten, erbrachten in meinen Überlegungen die Überzeugung, daß das Raumfahrzeug jede denkbare Belastung aushielt. Bleibe skeptisch! warnte unüberhörbar der Logiksektor. Ich blieb skeptisch, denn die Alternative würde mich in einen Freudentaumel versetzen und auf dieser Welt eine traumhafte Evolution einleiten. Ich zog mich am Rand des Schwimmbeckens in die Höhe und setzte mich auf die heißen Steine. Aus dem Haus ertönte, weithin hörbar, Musik des Deutschen Johann Sebastian Bach: Concerts avec plusieurs Instruments. »Zufrieden, Liebster?« »Bisher war ich jeden Abend zufrieden.« Ich spritzte Wasser gegen ihren Rücken. »Es ist kaum denkbar, daß dieses Sternenschiff uns in
meine Heimat bringt. Morgen werde ich den ersten Flugversuch unternehmen.« Monique setzte sich neben mich und hängte ihre langen Beine ins Wasser. »Du hast ein gutes Gefühl?« Ich hob die Schultern. Meine Gefühle waren durchaus zwiespältig. Aber ich war sicher, daß meine Arbeit dadurch nicht beeinflusst wurde. Der Start war jederzeit möglich. »Es geht weniger um den Flug durch den Raum zwischen den Sternen«, sagte ich und versuchte eine Erklärung, die sie verstand. »Es stellt sich für mich nur eine einzige wichtige Frage.« »Nämlich?« »Wenn Tausende meiner Freunde mit einigen tausend Robotern und vielen Raumschiffen hier landen, nachdem sie mir auf diese Welt folgten, werden einige Handvoll Millionen Barbaren zwangserzogen. Ich denke, daß die wirklichen Schritte
zu technischem und wissenschaftlichem Höchstmaß von den unvernünftigen Barbaren selbst kommen sollten. Ich helfe ihnen so oft bei den Gehversuchen. Vertagen wir den Versuch tieferer Einsichten auf morgen.« »Ein Strandspaziergang?« Sie zog mich in die Höhe. Blutrot zitterte die Sonnenscheibe über dem Meer. Ich zog den Bademantel über die Schultern und sagte: »Nicht heute. Setzen wir uns nach dem Essen in eine gemütliche Ecke.« Die schier endlose Weite der riesigen, von den Schiffen der Europäer nicht entdeckten Insel, war der einzig richtige Platz für unser Vorhaben. Von hier aus konnte ich mit dem Raumschiff starten. Ein Ort unter einer Energiekuppel, den Nonfarmale nie finden würde. Es gab nur wenige Plätze, an denen wir uns unbeobachtet fühlen konnten. Hier existierten nur nomadisierende Eingeborene, die alle Vorfälle, die sie nicht verstanden, für ein Werk ihrer Götter hielten. Zu den wadenhohen Thermostiefeln trug ich einen eng anliegenden Schutzanzug, darüber einen Raumanzug, und an mehreren Gürteln befanden sich Antigraveinheiten, Behälter mit einem Luftvorrat für zweimal vierundzwanzig Stunden, Deflektor, Schutzfeldgenerator und eine Auswahl ähnlicher Ausrüstungen. Zwei breite Gurte hielten mich im Sitz des Pilotenabteils. Die LARSAF war über die Rampe aus dem Hangar hinausgerollt und stand, in der Sonne eines wolkenlosen Vormittags gleißend, auf einer Fläche aus kurzem, saftig-grünem Rasen. »Ist alles so, wie es sein soll, Liebster?« Die Gesichter Moniques und Ricos waren auf zwei handtellergroßen Monitoren zu sehen. Sämtliche Instrumente, Uhren, Skalen und Anzeigen zeigten die richtigen Werte und Farben, Sichtscheiben und Bildschirme ein Rundumbild. Das Schiff vibrierte leicht. »Bis jetzt perfekt«, sagte ich. Der Helm des Raumanzugs lag auf dem zweiten Sitz. Die Innenversorgungen beider Anzüge arbeiteten. »Du und deine Helfer, ihr habt hervorragend gearbeitet.«
»Das Berechnen war schwieriger, die Arbeit ist zu vernachlässigen«, sagte der Roboter mit dem Gesicht eines Gascogner Reiters. »Start frei, Atlan.« Sie saßen vor den Kontrollgeräten im hinteren Teil des Hangars. Auch wenn das Triebwerk detonierte, waren sie geschützt. Ein Schalterdruck: Die äußere Schleuse schloss sich, ein weiter für die Innenverriegelung, dann lief die Umwälzanlage an. Ich sprach in zwei Mikrophone; eines befand sich im starren Ring an der Helmfassung, im Halsteil des Anzugs. Die Anzüge und das gesamte Raumfahrzeug funkelten, als kämen sie neu aus einer arkonidischen Fabrik. Nur ich sah mein angespanntes Gesicht in einer spiegelnden Fläche. »Start frei!« Ich schaltete die Leistung des Antigravtriebwerks ein, regelte sie höher, und die LARSAF stieg in einer
roten Staubwolke empor. Dann kippte ich die Hebel des Geschwindigkeitsreglers; ein vorsichtiger Steigflug nach Westen begann. »Alles in bester Ordnung.« Ich beruhigte meine Zuschauer und mich selbst, als das Schiff schneller wurde und höher stieg. Die Energiekuppel war für die Dauer des Fluges desaktiviert. Die LARSAF schlug einen engen Kreis ein. Ich schob die Regler noch mehr nach vorn. Um die Tragflächen heulte der Fahrtwind, in der Kurve kippte das Schiff nach Steuerbord. Natürlich genoss ich nach so langer Zeit die Herrschaft über ein Raumschiff, auch wenn es winzig war. Die Kurve weitete sich, die Höhe und die Geschwindigkeiten nahmen zu. Sorgfältig beobachtete ich die Anzeigen. Zum ersten Mal sah ich aus größerer Höhe die Schönheit des Landes, des Ufers und der Schattierungen des riesigen Korallenriffs. Ich raste bis in eine Höhe von drei Meilen hinauf, beschleunigte und vergrößerte den Radius der Kurve. Das Schiff jagte, nachdem es schneller als der Schall durch die dünnere Luft fegte, in einer sich vergrößernden Spirale über den wolkenlosen Himmel. Nach Arkon? Das Transitionstriebwerk hatte eine viel zu geringe Reichweite; ein gefährlicher Dilatationsflug dauerte rund 34.000 Jahre! »Neunzig Prozent der jetzt erreichbaren Geschwindigkeit«, sagte ich und grinste in die Richtung der Bildschirme. »Dreifach schneller als der Schall!« »Gleiche Anzeigen auch bei uns«, bestätigte Rico. Ich verbrachte die nächste Stunde damit, die LARSAF unter den Bedingungen eines Atmosphärenflugs zu testen. Ich stieß fast senkrecht nach oben, raste in abenteuerlichen Kurven dahin, wurde schneller und langsamer, erreichte siebzehn Meilen über dem Boden und versuchte in den folgenden Viertelstunden, entlang der Grenzen der Insel, durch weiße Wolkentürme hinuntertauchend und durch die letzten Reste der Lufthülle stoßend, den Weltraum zu erreichen. Ich drehte das Schiff und blickte hinunter auf die Insel. Aus dieser Höhe hatte ich sie erst zweimal in ihrer ganzen Ausdehnung sehen können. Ein halbmondförmiger Kranz weißer Bewölkung umgab sie von Nord bis Süd im westlichen Teil. Um
mich herum herrschte das scheinbare Dunkel des Weltraums. Die Sterne schienen ihre Anzahl verzehnfacht zu haben. Der Planet zeigte sich als helle Halbkugel in den Farben Blau, Weiß, Braun und Grün in allen Schattierungen. Ich kippte den Schalter, der den Autopiloten aktivierte, und versuchte mich zu entspannen, während die Positronik das Raumschiff zurücksteuerte. »Bis jetzt ist nicht ein System ausgefallen«, sagte ich nach einiger Zeit, kontrollierte mit größter Gewissenhaftigkeit erneut jede Anzeige und brummte schließlich: »Gut gearbeitet, Rico.« Noch immer war der Transmitter eingeschaltet, dessen Projektorrahmen
gleichzeitig den Durchgang zu den winzigen Kabinen und den Triebwerken und Tanks bildete. Das Gerät war mit dem Transmitter des Kontrollraums zusammengeschaltet und diente als Rettungsgerät, das ich mit einem Satz erreichen konnte – falls das Raumschiff explodierte. »Die redundanten Systeme arbeiten zufrieden stellend?« »Absolut«, sagte ich sarkastisch. »Der Weg nach Arkon liegt klar und deutlich vor mir.« »Du klingst alles andere als begeistert, Atlan«, sagte Monique. »Und dein Gesicht bestätigt diese Vermutung.« »Ich werde nach der Landung darüber sprechen.« Ich drosselte die Geschwindigkeit und überprüfte in der Schwerelosigkeit des Weltraums die Versorgungseinrichtungen, belastete sie bis zum Äußersten und programmierte eine Störung nach der anderen. Die Oberfläche des Planeten kam näher, und unter den Wolkenwirbeln und -spiralen zeichneten sich die Ränder der namenlosen Insel ab. »Ich glaube, zwei lebende Wesen würden irgendwann tatsächlich lebend in Arkon ankommen«, sagte ich und las die Werte der jaulenden Luftumwälzung, der Wasseraufbereitung, der Klimageräte und anderer Versorgungseinrichtungen ab. Trotz der simulierten Überlastung um fast hundert Prozent arbeiteten die Hilfssysteme zuverlässig. »Und dabei würden sie es auch noch bequem haben können.« Ich hatte jeden einzelnen Aspekt dieses Wagnisses zwar tagelang durchdacht, war aber immer noch nicht in der Lage, einen klaren Entschluss zu fassen. »Du bist vom Peilstrahl eingefangen worden«, sagte Monique begeistert. »Alles klar bei dir?« »In einer halben Stunde lande ich.« Ich ließ mich von der Automatik bis zum südlichen Rand der Insel bringen, schaltete auf Handsteuerung um und flog, langsam abbremsend, eine Spirale, während das Raumschiff sachte wie ein Gleiter tiefer sank. Vor dem Hangar hielt ich die LARSAF in der Luft an und ließ sie senkrecht abwärts schweben, bis die Räder einfederten. Die Systeme und auch der Transmitter wurden
abgeschaltet, dann öffnete ich die Schleuse und kletterte über die schmale Leiter in den roten Staub. Aus dem Hangar rannten Rico und Monique auf mich zu. Schwerfällig stapfte ich ihnen entgegen und spürte plötzlich wieder das Gewicht der Ausrüstung. Monique lächelte und zog mich in die Kühle des Hangars. Am frühen Abend, unter dem Sonnensegel, beim Gurren der Schopftauben, blies ich den weißen Schaum vom Bier und sagte: »Während des nächsten Fluges wird die LARSAF einen weiten Sprung durchzuführen versuchen.« »Ziel und Start?« Rico schien diese Wahrscheinlichkeit errechnet zu haben. »Sicher nicht Arkons Planeten?« Ich streckte mich auf den kühlen Polstern aus und ließ meinen Blick über die Blütenpracht zwischen dem Haus und der Baumreihe bis hinaus zur
Brandung gehen und meinte: »Ich will nicht übertreiben und dein Meisterwerk nicht überfordern, Rico. Die kürzeste denkbare Strecke.« Rico roch an Moniques leerem Becher, ehe er aus der Küche frisches Bier holte. Monique zeigte auf die Mondsichel, die am Abendhimmel hochkletterte. Ich lächelte breit und hob die Hand. »Erst dann, wenn auch der erste lange Flug ohne die kleinste Panne verläuft, traue ich mich über kosmische Entfernungen. Das All lässt nicht mit sich spaßen. Und meine Heimat ist sehr weit entfernt.« »Ich weiß, daß du mich erst mitnimmst, wenn du völlig sicher bist«, sagte Monique leise. »Wenn überhaupt«, antwortete ich. »Ich meine, daß jedes Risiko so klein wie möglich gehalten werden muss. Es geht um dein Leben.« Sie schwieg. Auch darüber hatten wir uns lange unterhalten. Es gab eigentlich nichts mehr zu fragen oder zu antworten. Bis zum Zeitpunkt einer endgültigen Entscheidung blieb die Stimmung in diesem zauberhaften Dorf, im weiträumigen Haus der Samuraifamilie, bedrückt. Die LARSAF flog lautlos auf den Endpunkt der Ellipse zu. An Steuerbord jagten Spalten, Krater und Maria des Mondes vorbei. Tiefschwarze Schatten modellierten die riesigen Narben auf der Fläche des Gestirns. Das Ticken des Autopiloten war kaum zu hören; ich setzte den Helm auf, verschloss ihn und stellte die Anschlüsse her. Zahlen rasten, sich ständig verändernd, über Leuchtfelder. Optische Signale in einem Dutzend greller Farben zeigten, daß das Raumschiff eine Transition aus der Mondbahn heraus durchführen konnte. Der Transmitter glühte auf. Ich schaltete die Innenversorgung ab und sagte leise: »In vierzig Sekunden müsstest du mich anmessen können, Rico.« In der letzten Sekunde brach ich den Versuch ab. Ein Transitionsschock innerhalb des Sonnensystems war ebenso riskant wie der Versuch, ihn nach Erreichen der Lichtgeschwindigkeit außerhalb der Neptunbahn einzuleiten – versagte das Raumschiff, war ich fern der Sonne ausgesetzt. Ich drosselte die Steigerungsrate der Geschwindigkeit herunter und sagte: »Ich breche den Versuch ab. Ich erkläre es später.« Sekunden später, durch die Funkwellen verzögert, hörte ich: »Verstanden. Wir warten.«
Bis auf die Servomaschinen der aerodynamischen Steuerung, den Impulsantrieb, die Antigravblöcke und den verdeckt eingebauten Satz der chemischen Raketen für die Notverzögerung schaltete ich sämtliche Anlagen ab. Krater und Staubflächen, Klüfte und verzweigte Spalten, die wie ausgetrocknete Flüsse wirkten, rasten auf den Bildschirmen vorbei. Hinter der Krümmung des Mondhorizonts ging die Erde auf. Fünfundzwanzig Sekunden. Ich vergewisserte mich, daß sämtliche Rettungsmittel in Bereitschaft waren. Dann nahm ich die Hände von den schweren
Griffen der Steuerung und lehnte mich zurück. Ich wartete, aber es schienen Stunden zu vergehen. Plötzlich kam aus den Lautsprechern des Raumanzughelms Musik. Einige Takte von Bach, aus der Matthäuspassion. Eine Altstimme sang. Eine Halluzination? Mit unwiderstehlicher Ausschließlichkeit packte mich ein Wachtraum, eine Vision, eine Lähmung. Die – wirklichen oder eingebildeten – Klänge wirbelten mich, völlig entrückt, aus der Wirklichkeit hinaus: Ich saß im Sattel, die Sporen blitzten, und wir ritten über eine Ebene. Ein Dutzend Männer folgte mir. Wir ritten in einem langsamen Galopp, mit wehenden Mänteln und Federn als Helmzier, auf einen weißen Turm am Horizont zu. Ich hörte, daß die anderen Ritter auf mich einredeten. Sie hatten die rostigen Visiere ihrer Helme hochgeschlagen. Ich sah, daß sich ihre Lippen bewegten, aber ich war wie taub: Ich verstand kein Wort. Aber ich schien selbst mit ihnen zu sprechen, als sich eine fordernde Stimme in meine Gedanken drängte. Es gibt kein Geheimnis. Also ist keines zu enträtseln, Arkonide! Die Ritter galoppierten an mir vorbei. Sie schienen mit meiner Antwort zufrieden zu sein. Geheimnisse oder Templer? Sie ritten, um den Schatz des Wissens zu finden und zu enträtseln. Meine Augen brannten vom beißenden Wind. Der wuchtige Turm aus weißem Stein wurde deutlicher. Ich hörte mich lachen; den Schlüssel zum Turm besaß ich, und weil ohne mich niemand an die Schätze herankam, war ich noch am Leben. Jetzt hörte ich mein eigenes Flüstern. »Fliege! Fliege! Hinweg!« Das Pferd war darauf zugeritten worden, Ricos kybernetische Besonderheiten als Teil des Galopps anzusehen. Aus meinem rasenden Galopp wurde ein flugähnlicher Zustand. Die Ritter fluchten und brüllten zornig und hoben die Fäuste. Ihr Gebrüll hallte wie ein Windstoß, verfolgte mich, als wir durch den Transmitter sprangen und wieder auf den Boden einer Insel hinuntersanken. Ein weiter Wirbel versetzte mich zurück in die Realität der Raumschiffkabine. Blitzartig erfaßte ich den Zustand der Maschinerie. Diesmal sprach ich wirklich: Ich stieß einen arkonidischen Fluch aus. An einem Dutzend Stellen flackerten grellrotorange Warnlichter. In einer spiraligen Flugbahn stürzte das Schiff auf irgendein Meer des Planeten zu. Aus dem flüchtigen Eindruck Bachscher Musik wurde Ricos Stimme. »Atlan! Die LARSAF gerät außer Kurs.« »Ich weiß. Ich versuche sie abzufangen.« Das Impulstriebwerk kam wieder auf Hochtouren. Aus den Fugen zwischen den Geräteblöcken stieg grauer Rauch auf. Ich blickte auf den Höhenmesser, zog an der Steuerung und brachte die Nase der LARSAF mit Mühe wieder in die Höhe. Vor den Luken schien die Küste einer Insel aus
dem Meer zu steigen. Wolken rasten auf mich zu. Das Schiff schüttelte sich, bockte und schlingerte. Ich erkannte den westlichen Rand der Insel, auf der ich gestartet war. Der Rauch wurde stärker, das Flackern der Gerätewarnanzeigen war in stechendes Rot übergegangen. Ich versuchte, die Antigravprojektoren einzuschalten und hochzufahren. Sekunden später stabilisierte sich die Lage des Schiffes, aber die Geschwindigkeit nahm viel zu langsam ab. Scharf zeichneten sich die Brandungswellen ab, als ich die LARSAF wieder in die Höhe reißen konnte. Ich legte das Schiff in eine scharfe Linkskurve. Über den Tragflächen kreischte der Wind. Ein hartes Schütteln: Ich flog langsamer als der Schall. Die Landschaft um unser Dörfchen tauchte auf, ich raste darüber hinweg und nach rechts in die Höhe. Die Tragflächen sind groß genug für eine aerodynamische Landung! rief der Logiksektor. Ich steuerte das schlingernde Gerät in einer riesigen Kurve wieder auf den Hügel zu. Die Antigravanlage fiel aus, als ich durch den Rauchschweif aus dem Impulstriebwerk hindurchjagte und viel zu schnell und in einem viel zu steilen Winkel fiel. Es gelang mir, mit einem halben Dutzend überzogener Steuerungszustände das Schiff in der Luft zu halten und auf die einigermaßen ebene Wüste im Westen unserer Anlage zuzusteuern. Als ich die Bremsraketen zündete, lachte ich. Die Landeklappen waren bis zum Äußersten ausgefahren. Der Boden kam näher, und ich riss am Fahrwerkshebel, drückte gleichzeitig den Notknopf. Die Hydraulik, die Verstrebungen und die dicken Reifen wurden explosionsartig aus den Rumpfschächten herausgeklappt. »Atlaaan!« Ich hörte Moniques Schrei. Ich hob die Vogelschnabelnase des Schiffes. Ich konnte nur noch mit dem Höhenleitwerk steuern. Nacheinander schalteten sich die Warnlichter aus. Im Monitor sah ich, daß hinter mir eine orkanartige Sandwolke aufgewirbelt wurde. Vor mir, unter mir, rasten Büsche und Sandflächen, rote Erde, Felsbrocken und struppiges Gras hinweg nach hinten. Die Räder berührten den Boden, der Rumpf schüttelte sich, noch mehr Staub wirbelte auf. Die LARSAF machte einen weiten Sprung, kam mit den hinteren Räderpaaren auf und zitterte, krachte, vibrierte, kippte nach links und rechts, und dann senkte ich behutsam die Nase. Das Gelände raste weniger schnell unter dem Schiff vorbei, das Bugräderpaar berührte den Boden, und gerade voraus sah ich die charakteristische Gruppe weit ausladender Bäume unweit des Hangars. Hoffentlich überschlug sich der Apparat nicht. Es war wie Wellenreiten auf Kreuz- und Grundseen, nur schneller. Die Räder holperten, sprangen und schlugen. Ich trat vorsichtig in die mechanischen Bremsen. Die Geschwindigkeit nahm
weiter ab; hinter mir verdunkelte die Sandtrombe die Sonne. Steine und Spalten zerfetzten die Reifen. Die LARSAF rollte auf kreischenden Felgen durch ein Grasfeld. Metalltrümmer knallten gegen die Unterseite des Rumpfes. Ich hörte den schmetternden Doppelknall, als mitten in einem Kiesoval beide Reifen der Bugräder explodierten. In einer Wolke aus Blätterfetzen, Grasstücken, Staub und prasselndem Sand und Kies brach, kurz vor dem Stillstand, der Federarm der Bugräder ab. Die Nase der LARSAF sank fast behutsam nach vorn. Ich langte nach vorn, meine Finger erreichten den Hebel der Hauptschaltung. Mit einem deutlichen Knacken rastete er in die Aus-Stellung. »Das war’s, Arkonide«, sagte ich zu mir selbst. Eine Heiterkeit, die mich selbst überraschte, erfüllte mich. Ich lebte. Die LARSAF war äußerlich intakt. Die Entscheidung des Fluges nach Arkon war in stellarweite Ferne gerückt. Ich löste die Gurte, tappte mit weichen Knien zur Schleuse und ließ mich an den Leitersprossen in die Staubwolke hinunter gleiten. Rico stand neben dem Raumschiff. Ich schaute mich um und erkannte, daß ich keine zweihundert Schritt von der Rampe zum Hangar zum Stehen gekommen war. Ein Schwarm rosa Kakadus schimpfte laut aus dem Baum. »Die gute Nachricht ist«, sagte Rico, nachdem ich den Raumhelm abgenommen hatte, »daß fast der gesamte Flug absolut perfekt vonstatten ging. Ich habe sämtliche Meßwerte.« »Wirklich eine gute Nachricht«, antwortete ich. »Zur Strafe musst du den roten Staub aus der Schleuse saugen.« Ich ging lächelnd auf Monique zu, die kopfschüttelnd, mit sichtbarer Erleichterung auf mich zukam. Die riesige Staubwolke senkte sich und hüllte alles ein: Monique, mich, Rico und das Schiff, das seine Nase in einen großen Busch mit gelben Blüten gebohrt hatte.
Die LARSAF stand im verschlossenen Hangar. Rico und seine Roboter stellten Messungen an und bauten die funktionsuntüchtigen und beschädigten Teile aus. Wichtige Reparaturen konnten nur in den Werkstätten des Schutzzylinders durchgeführt werden. Monique und ich beobachteten die Bildschirme, steuerten Spionsonden und betrachteten das chaotische Durcheinander, das die meisten Gebiete des Planeten erfüllte. »Preußen«, sagte ich eines Tages verblüfft. »Der zweite Friedrich! Er hat ein kürzeres Schwert als sein Gegner, aber er bringt es schneller aus der Scheide. Er fällt in Sachsen ein und plant, Böhmen zu erobern.« Ein ärmliches deutsches Staatswesen – in dem aber Religionsfreiheit herrschte, Zensur nicht stattfand, die Bevölkerung das Heer durch hohe Steuern finanzierte, aber wenigstens nicht unmittelbar unter dem Krieg litt – ballte die Muskeln. Ich versenkte mich in die Beobachtung
dieses kleinwüchsigen, klugen und sarkastischen Königs. Auf jeden Fall hatte Friedrich das Heer der Österreicher gegen sich, allerdings nicht mehr von Eugen von Savoyen geführt. Russland und das Frankreich des fünfzehnten Ludwig würden sich ebenfalls gegen den todesmutigen Zyniker Friedrich stellen. »Eine Situation, die Nonfarmales Blutdurst stillen könnte«, murmelte ich. Das Gefühl, sein Auftauchen erwarten zu können, wuchs und wurde schärfer. Drei Tage später entdeckte ihn eine Sonde. Voller Verwunderung, staunend und schaudernd zugleich, sagte Monique: »Ein faszinierendes Bild. Grauenhaft, aber voller Eleganz.« Spionsonden überwachten Nonfarmale, der über der verschneiten Landschaft im mittleren Teil Deutschlands schwebte. Nonfarmale von der Insel Sarpedon im Meer von Karkar war aus seiner Jenseitslandschaft hervorgekommen und ritt auf dem Rücken eines Fabelwesens, das entfernt an einen zweiköpfigen Adler erinnerte. Riesige Schwingen, deren Schwungfedern silbern schimmerten. Ein Adlerschwanzfächer, aus dem drei lange Saurierschwänze sich im Wind wellten, gefiederte Beine, aus denen neun Krallenfinger wuchsen, mit blutroten Krallen, die aussahen, als wären sie aus Metall – ein riesiges, fast weißes Tier. Über den Augen trugen die Köpfe Helme oder Kappen aus Metall, von deren Spitze sichelförmig eine Art Säge mit spitz zulaufenden Zähnen hochschwang. Nonfarmale trug eine silberne und schwarze Rüstung aus Fell und Metall. Diesmal fehlte die Armbrust. Er hielt die Doppelzügel in weißen Stulpenhandschuhen. Das aufgeklappte Visier seines Helmes bestand aus einer seltsamen Apparatur, die insektenäugige Linsen und konkave Antennen erkennen ließ. In einer Höhe von zwei englischen Landmeilen kreiste er über dem dünnen Rauch aus Kaminen. Bäume schienen mit blattlosen Ästen nach ihm greifen zu wollen. Zwischen den Rändern einer Pelzkapuze sah das schmale Gesicht hervor; von der linken Schläfe, über die Nasenwurzel und die rechte Wange bis zum Unterkiefer zog sich eine breite Narbe. Stammte sie etwa vom Schwert eines der selbstmörderischen Samurai? Oder hatte ich die Wunde verursacht? Ich winkelte den Arm an, drückte eine Taste und sagte: »Rico! Nonfarmale zeigt sich. Ich glaube, daß unsere schönen Tage vorbei sind.« »Ich komme sofort.« Alles wurde aufgezeichnet. Die Spürgeräte meldeten sämtliche Informationen in die Schutzkuppel. Abgesehen von einer Höhle weiter im Norden war der Turm über der Talkrümmung des Lechs ein Stützpunkt, von dem aus ich Berlin und die Oderbrücke am schnellsten erreichen konnte. Schweigend betrachteten wir die Darstellung des Gegners. »Er wirkt, als sei er ein Heerführer, der die Aufstellung der Truppen abreitet«, sagte Monique schaudernd. Ich
zog sie an mich und fühlte, daß sie zitterte. »Du kannst sicher sein: Er fühlt sich ebenso stark und überlegen«, sagte ich. Ohne daß er seine Hände gebrauchte, glitt das Visier herunter. Nun sah er aus wie ein Roboter, wie jemand, der die Bilder unter sich in allen denkbaren optischen Bereichen absuchte. »Es mag sein«, überlegte ich, »daß er mit diesen Geräten auch einen Deflektorschirm erkennen kann, Infrarot, Wärmestrahlung und verschiedene andere Teile des Spektrums.« Rico trat ein und richtete seine grüngrauen Linsen auf die Bildschirme. Schweigend musterte er die Bewegungen der Adlerschwingen und die weiten Kreise, die Nonfarmale über dem Land zog, das zwischen Warschau im Osten und Hannover im Westen lag. Nach einer Stunde verschwand Nonfarmale durch ein unsichtbares Tor. Der Roboter sagte: »Ich schlage vor, daß wir alle Geräte bis auf den Rumpf abbauen und in die Kuppel bringen. Von dort aus zum Felsenturm, mit aller Ausrüstung.« Ich wandte mich an Monique: »Ohne dich, meine Liebe. Ich werde versuchen, den Ort kennen zu lernen, an den er sich zurückgezogen hat.« »Ich habe nicht den Ehrgeiz, gegen einen Feind zu kämpfen, gegen den ich nicht die geringste Chance habe«, erwiderte sie. »Ich bleibe im Turm oder in der Kuppel und zittere um dein Leben.« Wieder war eine Entscheidung getroffen worden, ohne daß ich das geringste dazu getan hätte. Während Rico und seine Roboter die Einzelteile des Raumschiffs und einige Ladungen technischer Ausrüstung durch die Transmitter bewegten, während Habichtsfalken jagten, versuchten wir den Abend und die Nacht auf sinnvoll entspannte Weise zu verbringen. Wir leerten das Bierfäßchen, schwammen, ließen uns von den abendlichen Strahlen der Sonne trocknen und liebten uns bei Kerzenlicht. In den Zweigen der mächtigen Baobabs stimmten die Vögel ihr markerschütterndes Gelächter an.
Im Februar heulte der warme Wind die Nordhänge der Berge hinunter und schmolz viel Schnee, Funkenschauer fuhren durch den Kamin des kreisrunden Arbeitszimmers. Von den Felstrümmern des Fenstersturzes hingen Eiszapfen, so lang wie mein Arm. Das Innere des Turmes glich einer Werkstatt, einer Nachrichtenzentrale, nur nicht einem stillen Refugium für einen Einsamen der Zeit. Auf dem langen Tisch, zwischen Essensresten und Gläsern, lagen Waffen und Geräte, die meinem Schutz dienten. Jeder Gegenstand war doppelt vorhanden. Die Meßergebnisse ließen erkennen, wo die Strukturöffnungen in Nonfarmales Versteck zu finden waren. Auch unsere Projektoren waren auf diese Werte eingestellt. Sie unterschieden sich kaum von denen, die auf jene seltsame Ebene geführt hatten. »Ein bißchen viel Aufwand, den deine idäischen Daktylen getrieben haben, oder beabsichtigst
du mit zufliegen?« Rico schüttelte den Kopf. Er und seine »Fingermännchen«, die kleinen Roboter, hatten zwei Gleiter präpariert. Ich beabsichtigte, in Nonfarmales Jenseitslandschaft einzufliegen, wenn er selbst sich auf der Barbarenwelt aufhielt. »Wir treiben Stollen in eine Jenseitslandschaft, aber nicht in den Berg Ida auf Kreta.« Ich nahm die Belehrung zur Kenntnis. »Alberich, Perkeo und meine Heinzelmänneken verhindern, daß ich wegen Überlastung ineffizient arbeite.« »Schon gut, Milchbruder«, sagte ich. »Der Lärm hilft mir nicht gerade, mich zu konzentrieren.« Ich musste allein nach dem Raumschiff suchen und gegebenenfalls gegen Nonfarmale kämpfen. Die Rückkehrmöglichkeiten waren ebenso wichtig wie das Überleben. Ob ich den Kampf gewann, konnte nicht einmal die Zentralpositronik errechnen. Ich hatte nicht die Absicht, mich auf Samurai-Art zu gefährden. Alles war überlegt und vorbereitet worden. Ich war bereit. »Es dauert nicht mehr lange.« Ich kontrollierte noch einmal meine Ausrüstung und war einigermaßen sicher – offensichtlich bedeuteten die Größe des Planeten, die Umlauf- und Umdrehungsgeschwindigkeit und andere kosmische Konstanten nichts –, daß mich ein kurzer Flug vom Turm bis zu Nonfarmales Wohnanlage bringen würde. Von den Stiefeln bis zum Helm lag alles bereit, als ich einen Schluck Wein trank und die Sessellehne zurückklappte. Ich wartete; ich wurde schläfrig, und vor meinen Augen wechselten die Bilder auf den Schirmen. Der Sturm hörte nach sechsunddreißig Stunden auf, und schneidende Kälte breitete sich aus. Stunde um Stunde tröpfelte dahin; die Zeit dehnte sich endlos. Als schließlich an einem Morgen Nonfarmale wieder über dem Land schwebte, zog ich mich mit Hilfe Ricos an und merkte, als ich mein kleines Arsenal einsteckte und umhängte, daß es von jedem Gegenstand nur noch ein Exemplar gab. »Der Gleiter ist startfertig«, sagte Rico und lief vor mir die Stufen hinunter. Auf einer der unteren Ebenen des Turms standen vor der Schleuse zwei Gleiter nebeneinander. Einer war besetzt; ich drehte mich halb herum und blickte dem Insassen ins Gesicht, in die Augen. Es war mein Gesicht, es waren meine Augen. Dein Doppelgänger, sagte der Extrasinn. Ich starrte den Fremden schweigend an. Dann richtete ich meinen Blick auf Rico. Meine Gedanken überschlugen sich, und zahlreiche Überlegungen stritten miteinander. Schließlich brachte ich mit rauer Stimme hervor: »Wer ist das? Was soll dieser Mummenschanz?« »Ich darf untertänigst vorstellen«, sagte er unbetont, »dein Bruder, Gebieter Atlan, der Roboter. Deine Chancen, von Nonfarmale nicht verwundet oder getötet zu werden, haben sich verdoppelt. Atlan Zwei ist – fast! – so leistungsfähig wie ich. Nur mit
der sinnvollen Anwendung eines größeren Sprachschatzes hapert es noch. Ich hätte zur Fertigstellung noch ein paar Jahrzehnte gebraucht.« Ich kicherte und konnte noch immer nicht recht glauben, was ich sah. Der Doppelgänger grinste mich voller Selbstbewusstsein an und sagte mit meiner Stimme: »Es gibt unerläßliche Sünden und lässliche ebenso. Ich gehöre zur ersten Gruppe.« Ich stöhnte auf und kletterte in den Sitz meines Gleiters. »Wie verkehre ich mit ihm?« »Wie mit mir, nur auf einer sprachlich niedrigen Ebene.« Ich versuchte mich zu fassen. Eine Atlan-Kopie würde neben mir gegen den Fremdling kämpfen. Ich hörte auf, meinen Kopf zu schütteln, und sagte: »Dein Name? Wie spreche ich dich an, Doppelgänger?« An seiner Stelle antwortete Rico, während er das Doppeltor des Hangars aufgleiten ließ. »Der zutreffende Begriff für das Arbeitsmodell war stets Synonymus Eins.« »Also Syno. Los. Alle Kommunikationssysteme eingeschaltet?« »Man sollte nichts auf morgen verschieben«, sagte Syno und schob den Geschwindigkeitshebel nach vorn, »was schon im vergangenen Jahrhundert hätte erledigt werden können.« Nebeneinander schwebten die Gleiter in die Morgendämmerung hinaus, zwischen wippenden Tannenzweigen, die ihre Schneelast abstäubten, über schneebedeckte Baumkronen, hinunter zum Oval der Flussschleife. »Du kannst selbständig kämpfen, handeln, dich verstecken und so weiter?« fragte ich, als zwischen überhängenden Felsen und verschneiten Bäumen die ersten Schneeflocken zur Seite wirbelten. »Ja. Die meisten Synonyma tun eines nach dem anderen. Die Vorzugsmodelle tun eines vor dem anderen.« »Ich verstehe«, sagte ich. »Das wird ein fesselndes Abenteuer.« »Das Glück der Jagd gehört dem Geduldigen«, sagte er. Seine Antwort überraschte mich. Aber je mehr ich über die Erfindung eines Doppelgängers nachdachte, desto vernünftiger fand ich Ricos Vorhaben. Zumindest ein Gegner ließ sich täuschen. Vor uns entstand im dünnen Wirbel der Schneekristalle ein Ring, der sich ausdehnte und die Flocken zur Seite fegte, dann den Eingang eines Energietunnels bildete. »Die Jagd beginnt«, sagte ich ins Mikrophon, das vor meinem Kinn wippte. Aus einem Fach des Gleiters wurden winzige Kugeln ausgeworfen. Sie sollten auf der Stelle schwebend als Funkrelais dienen. Vielleicht konnten wir auf diese Weise eine Verbindung zwischen der realen Welt und der Jenseitswelt aufrechterhalten. »Verstanden. Ceterum censeo, Nonfarmale esse delendam«, sagte der Atlan-Roboter. Ich war zu aufgeregt, um mir an die Stirn zu greifen; hintereinander jagten die Gleiter durch den gewundenen Energiekorridor, der sich spiralig drehte und, während der Durchmesser sich ausdehnte, nach oben zu führen schien.
Vor uns wurde ein bronzefarbener Schimmer heller und heller. »Syno! Du operierst unsichtbar und lautlos, und zwar so lange, bis ich dir einen klaren Befehl gebe. Verstanden?« »Verstanden.« Die Strukturschleuse erweiterte sich wie ein Schlauch. Die beiden Gleiter fauchten aus der Trichtermündung hinaus. Vor uns breitete sich eine violette Fläche aus, von unregelmäßigen weißen Streifen durchzogen. Ein gewalttätiger Himmel, in dem eine kupferne Sonne hing, riesengroß und mit gräulichen Flecken. Die Gleiter jagten über die Wellen eines Meeres dahin, das von tiefblauer Farbe war. Ich betätigte einen Schalter; der Deflektorschirm schloss sich um meinen Gleiter. »Deflektor ein«, sagte »meine« Stimme in den Helmlautsprechern. »Perge, Atlantus.« Rico schien den Speicher eines Lehrprogramms in Latein eingespeist zu haben. Perge bedeutete: weiter, fahre fort! »Halt’s Maul und sieh dich um! Schalte die Aufzeichner ein!« befahl ich. Die Gleiter hatten Höchstgeschwindigkeit erreicht und befanden sich etwa zweihundert Schritt über den großen Wellen, von denen nur wenige weiße Schaumkronen zeigten. Vor mir hob sich aus dem Meer eine Felswand; da ich die Entfernung nicht kannte, vermochte ich Größe und Ausdehnung nicht abzuschätzen. Sie ist gigantisch, sagte das Extrahirn. Ich ließ die Maschine höher steigen und schaute mich um. Die weißen Wolkenstreifen nahmen alle ihren Ursprung hinter dem Horizont, den ich als Westen begriff. Die Sonne stand entweder im Vormittag oder im frühen Nachmittag. Ihr dunkler, intensiver Glanz schuf auf den Wellen einen Schimmer, der exotischer war, als ich es ausgerechnet hier vermutet hatte. Die Felswand wuchs in die Breite und in die Höhe, und je näher ich herankam, desto heller wurde das Gestein. Ich hob den Kopf. Über uns drehten große zweiköpfige Vögel mit weißem Gefieder ihre lautlosen Kreise. Es schienen einige Dutzend zu sein. Vor der riesigen Klippe erstreckte sich jetzt ein Archipel niedriger Inseln; ein unregelmäßiges Muster in der riesigen Wasserfläche. Ich ließ das letzte Funkrelais aus dem Fach rollen und versuchte, Rico zu erreichen. »Geht nicht. Ereifere dich nicht über einen Schrecken, den du erst in drei Stunden haben wirst«, sagte Syno. Er wirkte völlig unbeteiligt. Rico musste wirklich noch weiter an diesem Modell arbeiten. Ich versuchte es trotzdem. Es gab, wie erwartet, keine Verbindung zwischen der Erde und der Jenseitswelt. »Dann eben nicht.« Ich brummte verdrossen und sah, daß die Inseln dicht bewaldet waren. Die Brandung brach sich an Klippen und rauschte auf den kleinen Stränden aus. Im Vorbeirasen zählte ich neun Inseln, verteilt über einige Dutzend Quadratmeilen. Im schrägen Winkel stieg der Gleiter aufwärts und zielte auf die Mitte der
Felswand. Sie war von außergewöhnlicher Höhe. Schon jetzt verloren sich die Seiten in den Weiten des violetten und weißen Horizonts. Als ich die Größenverhältnisse abschätzen konnte, stellte ich fest, daß die Klippe aus geädertem, hellem Gestein mindestens fünf englische Landmeilen aufragte. Noch immer kreisten die Vögel, etwa auf der Höhe des oberen Drittels. Hin und wieder raste einer mit zusammengefalteten Schwingen abwärts und tauchte ins Meer. Sekunden später arbeitete er sich, ein heftig zuckendes Krakenwesen in den Fängen, aus den Wellen und flog schwerfällig auf, während die Schnäbel der beiden Köpfe das silbrige Wesen mit den peitschenden Armen zerfleischten. Spalten und Simse, aus denen Bäume wucherten, zerteilten die fast senkrechte Fläche der Felswand. »Wasser hat keinen festen Wohnsitz«, sagte Syno leise. Ich blickte nach rechts. Aber noch immer war es unsichtbar. Ich verringerte die Geschwindigkeit der Maschine und bog nach links, stieg schräg entlang der Felswand. Was ich für kümmerliche Büsche gehalten hatte, die sich in Felsritzen festklammerten, waren in Wirklichkeit riesige Bäume, wie jene Baobabs im Dörfchen der großen Insel. Höhlen und Risse, überhängende Kanzeln, Einschüsse von Gestein anderer Farbe, glattgeschliffene Brocken und zerklüftete, in Platten und Würfeln abblätternde Teile, einige Höhlen und im letzten Viertel und inmitten einer nahezu völlig glatten Wand, sah ich die ersten Spuren einer planvollen Bearbeitung. Desintegratoreffekte, sagte der Logiksektor. Unter einer Terrasse, die sich weit in den Fels hinein fortsetzte und aus zierlichen runden Säulen und Spitzbögen bestand, ging es bis zur Brandung mehr als vier Meilen hinunter. Der Schaum des zerstäubten Wassers war nur ein haardünner Strich am Fuß der Felswand. Es passte alles zusammen: Die Pseudoadler, die Klippe und das Meer und Nonfarmales Horst in der dritten Jenseitslandschaft, die ich kannte. Ich schwebte zur Seite, hielt mehr Abstand und betrachtete genau, was sich im Fels zeigte. Sechs übereinander liegende Reihen von Terrassen, Fenstern, Kanzeln und Baikonen, unzählige Säulen und Bögen und auf dem Fels dazwischen archaische Verzierungen: Kriegergesichter, Waffen, dämonische Fratzen und Ranken voller abscheulicher Schimären. Breughel und Hieronymus Bosch fielen mir ein. Einige große Glasfenster warfen das Licht der Sonne zurück. Ich fasste einen Plan und sagte: »Ich dringe ein. Du patrouillierst vor dem Felsen und warnst mich, wenn Nonfarmale zurückkommt.« »Ja. Im Schatten der Väter sonnen sich gern die Söhne.« »Womit habe ich dich verdient?« Ich murmelte einen Fluch und steuerte einen Punkt an, der etwa in der Mitte der verschiedenen Stockwerke ganz rechts lag. Die
Spuren, die Nonfarmales Reittiere hinterlassen hatten, befanden sich eine Ebene tiefer. Ich ließ die Tür des Gleiters offen. Mit dem Desintegratormesser sägte ich zwei Steinbrocken ab und legte sie als Markierung rechts und links neben die Türöffnung. Der Wind, der vom Meer kam, hatte jeden Staub weggeblasen. Als ich meinen Schatten über die Säulen wandern sah, schaltete ich mein körpereigenes Deflektorfeld und, nach kurzer Überlegung, auch das Schutzfeld ein. Wieder befand ich mich in der Wohnstätte des Seelensaugers. Ich zog die Kombiwaffe und ging entlang der Wände tiefer in die Höhlung hinein, die einem Kreuzgang nicht unähnlich war. Vor mir lag ein steinernes Labyrinth, ein System von Kammern und Verbindungsgängen, Sälen und Zimmern, die allesamt aus dem Fels herausgeschnitten worden waren. Ich trat lautlos auf und hinterließ keine Spuren. Im hinteren Teil der Kreuzgang-Terrasse, im Bereich des Sonnenlichts, standen einige Möbel, die ich aus dem letzten Domizil Nonfarmales kannte. Ich ging an Türen vorbei, die rechts und links ins Innere des Berges führten, und näherte mich einer breiten Doppeltür aus dickem Glasmaterial, die vor mir zur Seite und in den Fels glitt. Die Luft roch und schmeckte frisch und salzig. Die Temperatur war angenehm; aus dem Innern schlug mir kein Modergeruch entgegen. Als ich vier Stufen aufwärts gegangen war, sah ich mich einem Saal gegenüber, dessen Einrichtung auf fünf verschiedenen Ebenen stand, durch Rampen miteinander verbunden. Bilder an den Wänden ließen erkennen, daß sie kein irdischer Maler geschaffen hatte. Die Rahmen bestanden aus der narbigen Haut von Tieren. Ich nahm aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahr, fuhr herum und hob die schwere Waffe. Jemand kam hinter einem Wandschirm hervor, blickte direkt in meine Richtung und sah mich nicht. Ein Mensch! Der Extrasinn schrie. Ich huschte zwanzig Schritte nach rechts, lief die Rampe hoch und sah mich um. Etwa sieben Schritt vor mir stand eine große, vollschlanke Frau, fast nackt, nur mit Schnüren und breiten Schmuckbändern bedeckt. Ihr blauschimmerndes Haar war in einem kühnen Dreifachwirbel hochgedrechselt. Im indirekten Licht aus Hunderten kleiner Quellen funkelten die Steine und das Metall unerträglich. Die Frau blickte mit großen, stark umschminkten Augen über meine linke Schulter ins Nirgendwo; sie bewegte sich wie eine Marionette. Unausgesprochene Ahnung wurde zur halben Wahrheit. In den langen Fingern voller Ringe hielt die Frau ein gläsernes Gefäß, in dem eine schwarze Flüssigkeit schwappte. Sie bewegte sich zwischen Sesseln und Tischen hindurch, ging eine Rampe hinunter, eine andere hinauf und stellte das Gefäß auf einen Tisch, dessen platte höher
als die der anderen lag. Sie ließ sich zwischen die Polster einer Sitzbank gleiten und drapierte ihre Glieder in einer aufreizend sinnlichen Weise, als ob sie sehnsüchtig ihren Geliebten erwartete. Ihr schönes Gesicht war leer; ich meinte, Schwermut und tiefe Hoffnungslosigkeit zu erkennen. Entlang der geglätteten, verzierten Felswand schlich ich mit angehaltenem Atem auf meinem Rundgang durch Nonfarmales Reich weiter. Es nützte mir und den Barbaren der Erde nicht, wenn ich auch diese Anlage sprengte. Wichtiger war es, mehr über Nonfarmale selbst zu erfahren. Die vielen Bilder, ausgeführt in einer mir unbekannten Technik, vertieften meine Überzeugung. Nonfarmales Verstand war nicht verdrehter als der vieler Barbaren. Die Bildnisse strahlten ausnahmslos eine deutliche heroische Komponente aus, einen barbarischen Geschmack und düster leuchtende Farben. Auf jedem zweiten Bild war ein diskusähnliches, großes Raumschiff abgebildet. Düster waren auch die Möbel; prunkvoll, wuchtig, wie aus der Vorzeit irdischer Kulturen. Ich schlich weiter, wechselte nach links und näherte mich einer Rampe, die aufwärts führte. Ein Murmeln menschlicher Stimmen schlug an meine Ohren. »Ich bin der Erste und der Letzte, und der Lebendige. Ich war tot…« Eine zweite, kummervoll klingende, heisere Stimme fuhr fort, in schlechtem Latein: »… und siehe, ich bin lebendig von Ewigkeit zu Ewigkeit. Ich habe die Schlüssel der Hölle…« »… und des Todes.« Meine Erinnerung arbeitete zuverlässig. Worte aus der Offenbarung des Johannes auf der Insel Patmos. Zwei hagere Gestalten, in schwarze Lumpen gehüllt, tappten die Rampe aufwärts. Sie wechselten einander in einem traurigen Sprechgesang ab, stierten in die Luft, und jetzt sah ich auch, daß ihre Lumpen in Wirklichkeit wertvolle Kleidungsstücke darstellten; die Löcher und Risse hatten goldene Säume. »… vierte Gestalt war gleich einem fliegenden Adler…« »… und es ward ein Hagel und Feuer, mit Blut gemengt, und fiel auf die Erde…« »… der dritte Teil der Sterne verfinstert ward, und ich hörte und sah einen Adler fliegen und mit großer Stimme sagen…« »… weh denen, die auf der Erde leben.« Ich wich ihnen aus; sie setzten ihren leiernden Gesang ebenso fort wie ihren Gang durch Nonfarmales Räume. Ich zuckte mit den Schultern. Es wurde gespenstisch. Mit wenigen Sprüngen war ich am Ende der Rampe und schaute in einen Raum hinein, von dem Gänge und Zimmer abzweigten. Hier fühlte sich Nonfarmale wohl, mit Gästen, Sklaven oder willenlosen Geschöpfen, die er von der Erde geholt hatte. War es so? Um einen niedrigen Tisch entdeckte ich etwa zwei Dutzend Wesen, die in fieberhafter Schnelligkeit arbeiteten. Sie waren fischhäutig, haarlos
und knapp halb so groß wie ich und setzten Geräte aus vielen Elementen zusammen, die auf dem Tisch in Kisten klapperten. Ihre hellen Augen starrten nur auf die langen, weißen Finger; ich ging näher heran; sieben Finger und jeweils zwei gegenständige Daumen. Diese Wesen kamen aus einer anderen Welt, vielleicht aus dem Meer dieser Landschaft? Sie schufteten wie die Roboter aber sie erschienen nicht unglücklich. Ich erkannte nicht, was sie da bastelten, aber es schien für die Versorgung des Unterschlupfes wichtig zu sein. Auf zwei Tafeln sah ich etwas, das einem Schaltplan nahe kam. Weiter. Ich rannte hinauf zur obersten Ebene im Fels. Prunkvolle Schlafzimmer, in denen sich Frauen und Mädchen befanden und mit leerem Blick so taten, als würden sie sinnvolle Tätigkeiten ausführen. Zuerst war ich verwundert gewesen und hatte meine Befürchtungen bestätigt gefunden. Jetzt sah ich Sklaven, von der Erde geholt, die offensichtlich nicht einmal das Recht hatten, sich zu wehren, auch wenn es zu ihrem eigenen Schaden wäre. Seine Peitsche war subtiler; niemand spürte sie wirklich. Er umgab sich mit willfährigen Puppen. Noch ein Grund, ihn nicht hier anzugreifen, sagte der Logiksektor. Ich fragte mich, während ich einen Raum nach dem anderen durchstöberte und die Schönheit der Frauen registrierte, ob der Tod für diese Marionetten besser war als dieses Leben. Ich sah weder Marterinstrumente noch Folterkeller. Gestalten in grüner Kleidung, die dryadenähnlich auf dünnen Gliedmaßen herumliefen und mit Spinnenfingern fuchtelten, schienen Ärzte zu sein. Ihre Köpfe glichen versteinerten oder hölzernen Blumen und Blüten. Ihre Sprache war wie das Rascheln trockener Blätter. Sie befanden sich in hellen Räumen, voller Anlagen und Geräte, die auch in einer Arkon-Klinik hätten stehen können. Bei meinem Eindringen in sein vorheriges Domizil hatte ich diese Geräte kurz gesehen. Nonfarmale hielt sich Raubtiere als Spielgefährten. An goldfarbenen Ketten und mit handbreiten, von Edelmetall und Steinen strotzenden Halsbändern waren sie an Säulen festgehalten, gähnten faul und reckten sich: Geparden, Leoparden und riesige Hunde. Zwischen ihnen rasten kleine Tiere umher und reinigten die Felle der Raubtiere. Es waren igelartige Wesen mit lockigen Stacheln in vielen Farben und mit nervösen Gliedmaßen, mit denen sie die Felle kämmten und streichelten. Kopfschüttelnd verließ ich die oberste Ebene und suchte weiter. In mir stritt Wut mit Unsicherheit. Den Plan, seine Behausung zu verwüsten, musste ich aufgeben. Sonst brachte ich Menschen um. Andererseits: Waren sie noch zu retten? Ich durchstreifte Raum um Raum. Auf der untersten Ebene waren die Horste seiner Reitadler in den Fels geschnitten.
Halbdunkle Kammern mit großen Öffnungen zum Meer hinaus, ausgestattet mit Tränken, getrocknetem Tang als Nestmaterial. Es befand sich kein Vogel innerhalb dieser Nisthalle; für ein Dutzend war Platz. Ich sah zertretene Eierschalen und zerbrochene Federn. Ich wandte mich um und rannte aufwärts. Die Räume in den verschiedenen Ebenen hatten die Ausdehnung eines Palasts; ein Bewohner würde jede Woche in einem anderen Zimmer wohnen können – ein Jahr lang. Bis jetzt hatte ich jedes Bild gefilmt und etwa dreißig fremde Wesen gezählt. Jetzt befand ich mich, für alle Insassen der Höhlen unsichtbar, in der Halle, die ich zuerst betreten hatte. Die Frau lehnte hingegossen in den seidigen Kissen. Ich lief hinaus auf die Terrasse und lehnte mich über das steinerne Geländer. Ratlos, Arkonide! Entscheide dich. Tu etwas Sinnvolles! rief der Logiksektor. »Leichter gesagt als ausgeführt«, sagte ich grimmig und glitt zwischen Säulen und Bögen zum Gleiter. Ich setzte mich in den Pilotensitz. Mein erstes Problem, die wahrscheinliche Differenz der beiden Zeitabläufe. Auf dem Planeten hier verstrich die Zeit – wahrscheinlich – langsamer. Der Umstand war weder für Nonfarmale noch für mich lebensentscheidend, aber er blieb sehr wichtig. Zweitens: Was konnte ich für die Sklaven tun? Ich kannte die Stollen und Tunnel nicht, die der Energieversorgung dienten, und ich war sicher, daß es viele Kammern gab, die ich während des oberflächlichen Rundgangs zwangsläufig übersehen hatte. Tötete ich Nonfarmale, musste ich mich um die Sklaven kümmern. Wohin sollte ich die fischhäutigen Wesen bringen? »Syno?« Ich bog den Bügel des Mikrophons hoch. »Aye, Sir?« »Wo bist du?« »Der Gleiter kreist über den Öffnungen im Fels. Kein Zeichen von Nonfarmales Rückkehr.« »Fliege zurück, lasse dir von Rico Zeit und Datum geben, kontrolliere die Strukturöffnung und komm zurück! So wenig Funkverkehr wie möglich.« »Certainement, Monsieur.« »Hau ab.« Unsichtbar wie ich schwebte er davon. Die Geräte hatten auch jede Flugbewegung aufgezeichnet. Das Programm musste rückwärts durch den Autopiloten laufen, dann fand Syno ohne Schwierigkeiten zurück. Ich hielt die Waffe in der Hand und betrachtete sie nachdenklich. Die Sklaven stellten für mich keine statistische Größe dar; ich hatte in die entleerten Gesichter geschaut. Tötete ich den Seelensauger, schuf ich ein unlösbares Problem. Die beiden Sklaven, die in schwarze Edellumpen gehüllt waren, begannen eine langsame Wanderung entlang der Wände der Terrasse. »… da der Drache gesehen hatte, daß er auf die Erde geworfen war, verfolgte er das Weib…«, verstand ich. Ich zwängte mich aus dem Gleiter, lief zu den ausgemergelten Männern
hin und hielt sie an den Armen fest. Sie blieben stehen, ihr Singsang riss ab. »Ihr, hört mich!« sagte ich laut und scharf betont. »Ihr müsst von hier fliehen.« Sie bewegten suchend ihre Augen und drehten die Köpfe. Sie hörten mich, verstanden aber den Sinn der Worte nicht. Ich versuchte es mit einem direkten Befehl. »Geht hinein zu den anderen. Sagt allen, daß sie frei sind.« »Ja, Herr.« »Ihr sprecht miteinander?« Offensichtlich akzeptierten sie alles, was laut gesprochen wurde, als Befehl. »Wenig, Herr.« »Los. Schnell. Sagt es den anderen. Sie sollen sich entscheiden.« Ich ließ sie los. Obwohl ich glaubte, alle Grausamkeiten der Barbarenwelt zu kennen, spürte ich Erregung, Mitleid und ohnmächtigen Hass auf Nonfarmale. Ich ließ die armseligen Gestalten los und schaute ihnen nach, wie sie der Stimme des Unsichtbaren gehorchten und davon tappten. Unter ihren knochigen Zehen flappten dünne Sandalen – mit goldenen Schnallen. Ich ging entlang der Brüstung zurück zum Gleiter und blickte hinaus auf das Meer und den Himmel. Was, bei der ewigen Finsternis der Galaxis, sollte ich mit diesem Schurken und seinen Opfern anfangen? In den Lautsprechern knackte ein Störimpuls. Die Stimme meines Doppelgängers sagte: »Nonfarmale kommt.« »Verstanden.« Ich wirbelte herum und starrte in die Richtung, in der ich ihn vermuten musste Die Sonne war um zwei Handbreit tiefer gesunken. Das Streifenmuster des Himmels färbte sich dunkler und wurde intensiver, die Ränder der weißen Streifen begannen zu irisieren. Noch immer jagten die riesigen Adler über dem Meer. Das Bild war so phantastisch, daß ich glauben musste, es in anderer Form, anderen Farben, schon gesehen zu haben. Unter den vielen Riesenvögeln konnte ich Nonfarmale nicht entdecken, aber ich musste annehmen, daß sich Syno in seiner Nähe durch die Luft bewegte. Auch wenn sich herausstellte, daß mein Entschluss falsch war; ich entschied mich. Sekunden später sah ich den Gleiter, aktivierte sämtliche Maschinen und schwebte zwischen den Säulen aus der Steinhöhle hinaus. Wie ein Pfeil raste der Gleiter in gewaltiger Höhe durch die Luft. Auch ich hatte den Autopiloten eingeschaltet und fegte einem winzigen Punkt entgegen, der Nonfarmale sein konnte. Das Waffenarsenal war geschärft. Ich war bereit. Die Vergrößerung des Vorausbildschirms zeigte mir das Bild, das ich erwartet hatte. Nonfarmales Gesicht und seine Körperhaltung sprachen davon, daß er satt war und zufrieden. Hoffentlich besaß er keine technischen Möglichkeiten, Syno oder mich zu sehen. Ich verringerte die Geschwindigkeit des Gleiters und löste, während ich die Gurte befestigte, die Kuppel über den Sitzen auf. Nonfarmale kam näher, seine Harpyie hatte die riesigen Schwingen
ausgebreitet und beide Köpfe hoch aufgereckt. Die Schwungfedern, die wie die Enden von Schwertern aussahen, wippten elegant, und der stählerne Kopfschmuck bewegte sich, als bestünde er aus Federn oder Horn. Nonfarmale lehnte entspannt im Sattel und hatte die Stiefel aus den halbkugeligen Steigbügeln gezogen. Ich packte die Rändelschraube des Desintegrators, bündelte den Strahl und zielte, während ich schräg über Nonfarmale in einen Kreis steuerte. Es sollte für ihn keine Warnung geben; ich feuerte mit der größten Energieleistung direkt auf den Oberkörper des Saurokrators. Mit donnerndem Röhren lösten sich Energieblitze aus dem Projektor. Fast gleichzeitig feuerte Syno von der anderen Seite. Die Blitze schlugen in den Schutzschirm Nonfarmales ein, die Energie verteilte sich und flutete vielfarbig, in wilden Schlieren und knatternden Blitzen, um die kugelförmige Schutzhülle. Nonfarmale zuckte zusammen, duckte sich und klammerte sich am Zaumzeug fest. Seine Beine ruderten sekundenlang durch die Luft, dann bekamen sie Halt in den Steigbügeln. Der Adler schrie aus zwei Kehlen wie mißtönende Posaunen. Wieder krachten Schüsse, an zwei Stellen durchschlug die Energie den Schirm. Das Gefieder der Harpyie schmorte. Das Tier schlug rasend schnell mit den Schwingen und schoss förmlich dem Felsenhorst entgegen. Dünne Rauchfäden hingen hinter dem Adler in der Luft. Nonfarmale war wachsam geblieben; er hatte gelernt, sich zu schützen. Aus dem Bug des Gleiters jagten Projektile heraus, schwirrten heulend durch die Luft und trafen den Energieschirm. Eine mörderische Kette von harten Detonationen warf Vogel und Reiter hin und her, aber die Kraft der Flügel riss den Vogel schneller auf die Felswand zu. Ich fluchte lautlos, hörte den Donner der Explosionen und dazwischen das Geschrei des zweiköpfigen Adlers. Nonfarmale hatte eine armlange Waffe vom Sattel losgemacht und schaute sich suchend um. Wieder beugte ich mich aus der Gleiterkanzel und schoss so lange, bis das Magazin leer und der Projektor kochend heiß war. Der Schutzschirm des Fremden hielt den Dauerbeschuß auf, aber im Innern des kugelförmigen Gebildes breiteten sich Rauch und Flammen aus, die aus den Metallteilen züngelten. Der Abstand zwischen uns und dem Horst schrumpfte schnell zusammen. Jetzt feuerte Nonfarmale zurück. Zuerst traf er den Abwehrschirm um meinen Gleiter. Ich kippte, während die Energie grell um den Gleiter waberte, einen weiteren Schalter und schaltete den schweren Energieprojektor ein. Syno kreiste über den langen Schwanzfedern des Adlers und feuerte aus sämtlichen Waffensystemen. Er zielte und traf besser als ich, aber der Schirm widerstand fast allen Energieströmen. Wir
näherten uns der aufragenden Wand, und aus allen Richtungen flatterten die Raubvögel heran. Mein Gleiter schüttelte sich und bebte unter den Abschüssen aus dem Projektor. Jede zweite Entladung durchschlug den Schirm und verwandelte die Luft in Nonfarmales Nähe in kochendes, brennendes Gas. Ein weiter Adler raste heran, kam zwischen Nonfarmale und meinem Gleiter in die Schußbahn und fing augenblicklich die volle Energie auf. Das Gefieder brannte. Kreischend und in einer Spirale aus fettem Rauch stürzte der Adler dem Meer entgegen. Nur noch zwei Pfeilschüsse weit war Nonfarmale von der rettenden Felswand entfernt. Die Adler kreisten und flatterten rund um uns und vor den Felsen. Ein Glutstrahl schlug in den Felsen ein, schmolz einen Krater und schmetterte Gesteinsbrocken auseinander. Nonfarmales Vogel, von Schmerzen gepeinigt, mit schmorendem Gefieder, schoss zwischen den Säulen des Horstes hinein, spreizte die Krallenfüße ab und landete. Ich griff in die Steuerung und drehte ab. Der Energieschirm rammte zwei Adler, die schreiend zur Seite flatterten. Ein anderer Vogel raste in höchster Geschwindigkeit gegen die Felswand. Ich hörte, wie die Knochen brachen. Wieder trudelte ein Vogel abwärts, schlug gegen Felsvorsprünge und krachte mit zerschmetterten Gliedern in die Brandung. »Verdammt«, murmelte ich. »Er ist wieder entkommen. Abdrehen, weg vom Felsen!« Unsichtbar schwebten wir von der Klippe weg. Vor den Löchern und Terrassen wirbelte ein Schwarm von zwei Dutzend Adlern. Sie schienen ihren Herrscher schützen zu wollen. Ich schaute schweigend die Felswand an, sah zwischen den gefiederten Körpern, wie Nonfarmale aus dem Sattel sprang und mit brennenden Teilen der Kleidung, in glühender Rüstung, ins Innere der Anlage rannte. Der Adler schien im Horst unter einem Wasserschwall zu stehen. Er schlug kreischend mit den Schwingen und tanzte auf den Krallenfüßen. Ich wischte den Schweiß von der Stirn und fragte mich, ob ich wieder in den Bau eindringen und Nonfarmale verfolgen sollte. Die Entscheidung wurde mir abgenommen. Vor der Anlage breitete sich von außen nach innen, kreisförmig, eine Energieschicht aus. Sie wirkte wie polierter Stahl und schloss nacheinander sämtliche Vorsprünge und Eingänge, Fenster und Bögen. »Zurück«, sagte ich ins Mikrophon. »Schnell.« Unsere Gleiter rasten dem Strukturtunnel entgegen. Ich war enttäuscht und schwieg, während wir über die Wellen flogen und die Maschinen summten. Vielleicht hatten wir Nonfarmale verletzen können, aber einen entscheidenden Erfolg konnte ich diesen Luftkampf nicht nennen. Sowohl seine Sklaven in der Klippe als auch die Bewohner der Erde würden weiterhin unter seinem Blutdurst leiden. Die
Autopiloten steuerten die Maschinen zuverlässig in den Tunnel hinein. Als wir hindurchschwebten, schaltete ich das Deflektorfeld ab und sagte: »Hast du mit Rico gesprochen?« »Ja. Die Zeit vergeht in unterschiedlicher Geschwindigkeit.« Also hatten Monique und Rico länger als nur einen knappen halben Tag warten müssen. Ich hoffte, daß es nicht wieder Jahre sein würden, so wie beim letzten Versuch. Auch Synos Gleiter wurde wieder sichtbar. Ich drosselte die Geschwindigkeit und schloss die Kuppel. Am Ende der Strukturöffnung schwebten wir in die verschneite Landschaft ein. Ich desaktivierte den Autopiloten und holte tief Luft. Über der Flussschleife hing riesengroß ein gelber Mond. Ein Funkbefehl ließ die Schleusentüren des Gleiterhangars aufgleiten. Helles Licht strahlte in die eisige Nacht. Nebeneinander sanken die Gleiter auf die Kufen, und ich kletterte ächzend aus dem Sitz. Rico ließ die Stahltore zugleiten und sagte: »Wir haben dreizehn Tage gewartet, Atlan.« »Also ein Verhältnis von rund einer Stunde zu zwei Tagen. Lass dir vom Doppelgänger berichten, wie erfolglos wir waren.« »Ich habe den Inhalt seiner Speicher schon überspielt«, erklärte Rico. »In jedem Fall werden wir vor ihm eine Weile Ruhe haben. Wir und die Barbaren.« »Das ist sicher«, sagte ich. »Bevor wir dort wieder eindringen, sollten wir einen besseren Plan ausgetüftelt haben – aber nicht heute.« Mein Doppelgänger stieg aus und blieb wartend stehen. Ich hob die Schultern und zog die Verschlüsse der Anzüge auf. »Dein Modell war recht brauchbar«, sagte ich. »In den entscheidenden Augenblicken verhielt sich Syno richtig.« »Es ist alles bereit, was du brauchst, Atlan. Monique wartet.« Rico deutete zur Decke. Ich ließ mich aus dem Anzug schälen und stieg die Stufen empor. Auf halbem Weg kam mir Monique entgegen. Ich breitete die Arme aus und zog sie schweigend an mich. Ich lag im warmen Wasser, das nach Auszügen französischer Pflanzen duftete. Auf dem steinernen Rand standen Gläser und eine bauchige Flasche aus einem Abteikeller aus Hautvilliers an der Marne. »Natürlich traue ich mir zu, wieder in die Klippe einzudringen. Aber was fangen wir mit den Opfern an?« »Ich kann dir auch keinen Rat geben. Wenn er sie nicht mehr braucht, wird Nonfarmale diese Sklaven töten«, sagte Monique. Aus dem Gerät kam leise Musik von Händel, etwas aus dem Messias-Oratorium. »Er wird sie, denke ich, an die Adler verfüttern«, sagte ich und kostete von dem herben, perlenden Wein. »Ich wühle schon seit dem Kampf in meinem Gedächtnis. Aber es ähnelt gegenwärtig mehr einem Sieb als einer gefüllten Truhe.« »Es wird sich eine Lösung finden.« Monique reichte mir ein großes Handtuch mit meinen BeauvallonInitialen.
Während ich im Badewasser lag, würde Nonfarmale seine Brandwunden versorgen. Ich rief mir den Anblick seines Gesichts in die Erinnerung zurück. Die furchtbare Narbe hatte er nicht beseitigen lassen. Sicher hätte er die Möglichkeit einer solchen Operation gehabt. Plötzlich half mir das Extrahirn. Schicke Synonymus zu Nonfarmale. Mit Spionsonden. Er soll beobachten und ständig pendeln. Ich trocknete mein Haar und grinste. Dann lachte ich Monique an. »Mir ist etwas eingefallen. Es bringt uns einen Schritt weiter.« »Du fliegst zurück zu dieser Riesenklippe?« »Nein. Ich lasse fliegen«, sagte ich und fühlte, wie ein Teil meiner Sicherheit zurückkam. »Deinen Doppelgänger also.« Ich griff nach dem Signalarmband, rief Rico und erklärte ihm, wie Synonymus vorzugehen hatte. Rico meinte, daß in drei Stunden mein Doppelgänger starten würde. Die Gefahr allerdings bestand, daß Nonfarmale die Strukturöffnung oder sogar den Atlan-Roboter entdeckte. Dass die eine oder andere Spionsonde in seinen Fallen hängen blieb, hielt ich für selbstverständlich. Immerhin wußte Nonfarmale, daß seine Angreifer nicht von diesem Planeten kamen. Technik, wie er sie heute erlebt hatte, gab es nicht auf der Barbarenwelt. »Wir werden lange warten müssen«, meinte Monique, nachdem Rico und ich sämtliche wichtigen Punkte noch einmal durchgesprochen hatten. »Und du weißt nicht, zu welchem Handeln dich Nonfarmale zwingen wird.« »Genauso ist es.« Wir richteten uns auf einen langen Winter im Land der Bajuwaren ein, jener Findelkinder der Völkerwanderung.
10. Julian Tifflor, der den Prätendenten des NEI, Atlan, vertrat, war auf dem Holo-Visiphon zugeschaltet. In Cyrs Studio hatten sich außer Oemchen Orb Sarough Viss, der Pilot, Djosan Ahar und dessen Freundin, Mucy Drigene und Professor Gianni Rajgur Krishnaman, der Fachmann für Atlans Zellregeneration, eingefunden. Vor den Linsen und Mikrophonen der Reinstraum-Überlebenszelle, neben dem leeren Becken des Überlebenstanks, stand Doktor Ghoum-Ardebü neben Roger Chavasse. »Ich wiederhole für Sie alle«, sagte der uralte Ara. »Diese Übertragungsstrecke wird in wenigen Minuten abgeschaltet. Wir demontieren die Hälfte der Geräte, reinigen die Überlebenszelle und führen sie wieder nicht-arkonidischen Zwecken zu. Sie werden, Herr Kollege Historiker, Ihre verständliche wissenschaftliche Neugierde anders organisieren müssen.« Tifflor hob die Hand: »Unterschätzen Sie die Administration nicht, Doc. Schon alles geregelt. Wenn Atlan sich dazu in der Lage sieht, zieht er ins Apartment von Miss Eymundson um; auch dort kennt man die
Segnungen großer Wasserbecken. Meine Flottentechniker schalten gerade für die Historische Fakultät neue Übertragungskanäle. « »Vorzüglich. Also lassen wir weiterhin
Atlan in seinen Aufenthaltsräumen mit Cyr korrespondieren. Haben Sie in Scarrons Apartment eine SERTHaube?« »Selbstverständlich«, sagte Tifflor. »Aus schierer Begeisterung, daß Atlans Heilung so weit fortgeschritten ist, arbeiten die Flottentechniker schneller, besser und machen Überstunden. Wird meine Kompetenz noch gebraucht?« »Immer wieder, Sir«, antwortete Aescunnar. »Im Augenblick scheinen alle Probleme gelöst. Wann kann ich wieder mit einer neuen Erzählphase rechnen, Doktor?« Ghoum-Ardebil sah auf die Uhr. »Nicht vor zwei Tagen.« »Danke.« Tifflor und Chavasse trennten die Verbindung. Die Linsen und Mikrophone schalteten sich auf den anderen Kanal. Die Verbindung zwischen Atlans Schlaf- und Aufenthaltsraum, in dem die SERT-Haube zwischen einem Dutzend Kraftmaschinen stand, bestand zwar, aber der Raum war abgedunkelt; ein Paravent schützte den schlafenden Arkoniden vor neugierigen Blicken. »Jetzt hat es unser Freund wohl tatsächlich und endgültig geschafft«, sagte Sarough Viss und ließ sich schwer in einen Sessel fallen. Er war vor zwei Tagen mit der KHAMSIN von einem Fernflug zurückgekommen und hatte sich von einem Pedolotsen nach Gäa leiten lassen. »Für mich völlig neu, diese Entwicklung. Er rennt, springt und schwimmt wie ein Dreißigjähriger.« »Aber noch immer steht er unter dem Zwang der Katharsis.« Cyr Aescunnar machte den schwachen Versuch, seine Unterlagen zu ordnen. »Zwar weiß er, dass er berichtet und was er erzählt, weiß auch, daß wir an den ANNALEN arbeiten, aber er scheint sich ein Ziel für das Ende der Berichte gesetzt zu haben.« »Zweifellos das Zusammentreffen mit Rhodan«, meinte Oemchen. »Warum bleibt ihr nicht einfach hier? Ich mach uns etwas zu essen, und vor lauter Arbeit kommt Cyr nicht dazu, seinen Wein allein zu trinken.« »Ein guter Vorschlag.« Djosan Ahar zog Drigene an sich und deutete auf die große Holoprojektion, die nur die dunklen Umrisse der Einrichtung eines lichtlosen Raumes zeigte. »Wir bleiben. Wie geht es deinen einzigartigen Augen, Cyr?« Cyr winkte ab und baute einen Stapel Lesechips auf. »Die Effekte werden unbegreiflicher, die medizinischen Fachausdrücke dafür erreichen den Höchstgrad der Unverständlichkeit, und je dichter dieses Kapitel wird – zu viele Menschen, Kriege, Staaten in Atlans Zeit –, desto mehr ignoriere ich’s.« Klappernd fiel der Stapel zusammen. Cyr drehte seinen Sessel herum und knurrte: »Ich geb’s auf.«
Während ein Mann namens Dollond das erste farbfehlerfreie Linsenfernrohr vorstellte, warteten wir im Turm auf die Nachrichten des Roboters und die Aktionen Nonfarmales. Am 11. Januar 1757 trat Russland der österreichisch-französischen Allianz gegen den zweiten Friedrich von Preußen bei. Sein Heer war bereit. In zwei
Monaten konnte er angreifen. Französische Truppen marschierten im März über die deutsche Grenze. Wir erhielten unsere Informationen schubweise. Innerhalb von rund neunzig Tagen verwandelte sich Nonfarmales Felsenversteck schrittweise in ein Schlachthaus. Die fischhäutigen Helfer befanden sich in heller Aufregung, rannten durch sämtliche Räume, sprachen zischelnd und mit Lauten, die an das Platzen kleiner Blasen erinnerten. Aus den vielen Einzelteilen, bei deren Montage ich sie beobachtet hatte, waren ebenso seltsame Geräte geworden, die sie an vielen Stellen der Einrichtung befestigten und anschlossen, zumeist aber an den großen Bildern der Wohnräume. Die Sonden hatten Geräusche und die wenigen Worte aufgefangen, die Nonfarmale an seine Sklaven richtete. Die menschlichen Sklaven bewegten sich weniger hastig. Die Frauen behandelte er, als wären sie dekorative Gebrauchsgegenstände, benutzte sie für erotische Spiele. Er verhielt sich wie ein lüsterner Satyr, und die willenlosen Schönheiten gehorchten. Er schien Frauen aus allen Teilen der Welt geraubt zu haben. Ein Leopard und ein Gepard zerrissen ihre Ketten und sprangen die zwei Mönche an. Dieser Vorfall wurde uns in der vierten Sequenz gezeigt, die Synonymus aufgefangen hatte. Mit rasenden Prankenhieben zerfleischten sie die Menschen. Gleichmütig schaute die Frau zu, der ich zuerst begegnet war. Nonfarmale nannte sie Yann oder Zyorjen. Als das Gemetzel vorbei war, kamen die Tiere, von denen das Fell der Raubkatzen gesäubert wurde. Sie beseitigten auch die blutigen Überreste der Opfer. Nonfarmale trug an mehr als zwei Dutzend Stellen seines schlanken, von harten Muskeln starrenden Körpers Binden, Pflaster und Flächen aus Kunsthaut. An drei Stellen hatte er sein hellgraues Haar schneiden lassen, weil es versengt gewesen war. Er trank eine rötliche Flüssigkeit aus zylindrischen Bechern. Niemals sahen wir ihn feste Nahrung zu sich nehmen. »Grausig und seltsam«, sagte ich. »Er führt ein wenig vergnügliches Leben, verglichen mit uns.« »Er sieht aus wie ein Mensch, aber er kommt aus einer fremden Welt.« Rico versuchte eine Erklärung. Wir sahen keinen Hinweis darauf, daß Nonfarmale auf dieser Welt ein Raumschiff verbarg. Die Raubtiere rannten frei herum und bewegten sich fast durch alle Räume. Die dryadenhaften Mediziner mit der borkigen Haut versorgten Nonfarmales Wunden. Sein Gesicht trug den Ausdruck kalten Hasses und gärender Unruhe. Ein Leopard und die großen Hunde hatten sich um den Körper der Reitharpyie versammelt und fraßen das Aas. Während die fischhäutigen Arbeiter Sattel und Zaumzeug entfernten, wirbelte der Wind die Federn durch die Horste. Vor den Fenstern kreisten die jagenden
Riesenvögel. Ein Mädchen lag leblos auf den Fellen vor einem Kamin. Ihr Gesicht trug denselben Ausdruck wie das von Amiralis Thornerose. Ihr Körper war vertrocknet und ausgesogen. Eine neue Schilderung nach einer längeren Pause: Adler fielen auf die Terrasse ein, schlugen die Krallen in die jaulenden Hunde, zerschmetterten die Wirbelsäulen mit den mörderischen Schnäbeln und trugen die Beute aus dem Felsversteck in die Luft. Irgendwann saßen sie wie satte Geier auf den Klippen und Simsen und säuberten das blutbedeckte Gefieder. Die bleichen Arbeiter waren verschwunden, mit ihnen die Hälfte der Dryaden. Jene igelgroßen Allesfresser wieselten über die Teppiche und stöberten Abfall aus den Ecken. Yann-Zyorjen gab sich mit geschlossenen Augen und aufgerissenem Mund der Leidenschaft Nonfarmales hin. Ich war sicher, daß sich auch in der Einrichtung etwas verändert hatte. »Diese großen Bilder«, sagte ich nachdenklich. »Abgesehen davon, daß sich an den Rahmen jene Geräte befinden – die Farben scheinen leuchtender geworden zu sein. Als ob daraus langsam Holografien entstünden.« »Wir sollten darauf achten«, sagte Monique, deutete und schrie leise auf. Ein großbrüstiges, breithüftiges Mädchen ging durch den Wohnraum, trank aus einem Pokal eine Flüssigkeit, die wie dunkelroter Wein aussah, und verschüttete viel davon auf den Fliesen. Sie schritt die Rampe hinauf, bewegte sich zwischen den Säulen zur Brüstung und stellte den Pokal ab. Sie blickte lange auf die blaugrünen Inseln hinunter, nahm einen letzten Schluck, ließ den Becher achtlos fallen und stürzte sich, während aus ihrer Kehle ein dumpfes Wimmern drang, über die Brüstung. Ihr Körper fiel, sich langsam überschlagend, gegen die Felsen und nach einer endlos scheinenden Weile in die Brandung. Kreischend stürzten sich die Adler auf die Beute. Nonfarmale bewegte sich tatsächlich so vorsichtig, als leide er unter den Verbrennungen. Er trug nur dünne Stiefel und einen Lendenschurz, an dem schwere Stickereien und edle Steine funkelten. Er sah ausgemergelt und hungrig aus. Wahrscheinlich brauchte er die Lebensströme verwundeter, sterbender Menschen. »Bald bricht er wieder auf«, sagte ich. Wieder waren in seiner Zeitebene zwei Tage vergangen. Die Spionsonden zeigten die Intervalle durch Sonnenlicht oder Kunstlicht an. Die Sonnenuntergänge über dem Meer waren von einer betäubenden Schönheit: Die Sonne färbte sich golden, die weißen Streifen zeigten nacheinander alle Farben des Spektrums. In der Nacht standen nicht viele, aber sehr helle Sterne am Himmel. Zwischen ihnen zuckten ständig die Bahnen aufleuchtender Meteoriten. Einen halben Tag lang feuerte Nonfarmale aus einer ungewöhnlichen Armbrust Explosivpfeile
auf die jagenden Adler ab. Wir sahen nicht, daß er jemals einen Vogel traf; sie wichen blitzschnell aus und schienen die Detonationen und den Rauch nicht zu fürchten. Vielleicht war es ein Training, das den Wirkungen irdischer Feldgeschütze entsprechen sollte. Monique, die jede Einzelheit mit angesehen hatte, fasste schaudernd ihre Überlegungen zusammen. »Nonfarmale verhält sich mehr als seltsam. Er sieht, wie um ihn herum alles stirbt. Und er läuft geistesabwesend herum und handelt nicht.« »Wahrscheinlich ist er dieses Leben gewöhnt«, widersprach ich. »Ihm bedeuten fremde Leben nicht mehr als Nebensächlichkeiten. So wie wir Fliegen und Mücken töten.« »Anders kann’s wohl nicht sein«, sagte sie leise. »Aber… Verständnis für ihn brauche ich nicht aufzubringen?« »Keinesfalls. Es gibt kein Verständnis.« »Nur Kampf und Tod.« Die nächste Episode zeigte veränderte Umstände. Nonfarmale war in einen weißen Kampfanzug gekleidet und trug einen dünnen Helm mit Gesichtsschutz. Auf der obersten Terrasse kämpfte er mit dem letzten Raubtier, einem schwarzen Leoparden. Nonfarmale trug in jeder Hand ein Messer, dessen Schneide aufblitzte. Ein Kampf auf Leben und Tod fand zwischen den Säulen und auf verschiedenen hohen Ebenen statt. Er war gesund; er bewegte sich schneller und geschickter als der Leopard, wich aus, duckte sich, griff an und zog sich zurück. Das Tier verfehlte ihn, der nächste Satz trug den Leoparden durch die Luft und an Nonfarmales Kehle. Das Tier grollte und fauchte wütend; mit gellenden Schreien feuerte der Fremde sich selbst und seinen Gegner an. Die Messer blitzten. Angreifer und Gegner bewegten sich rasend schnell. Die Krallen des Raubtiers rutschten am glatten Material des Anzugs ab. Im herrlichen Fell erschienen als Folge fast unsichtbar schneller Messerstöße große Wunden. Der Leopard wurde immer gereizter, Schmerzen und Blutgeruch ließen ihn immer wieder angreifen. Nonfarmale wurde zu Boden geworfen und kam schneller als der Leopard wieder auf die Füße, warf sich auf die Raubkatze, stach zu und rannte davon. Dann wirbelte Nonfarmale herum, stellte sich dem nächsten Angriff und tötete das Raubtier mit wenigen gezielten Stichen. Der Logiksektor flüsterte: Ob du auch so geschickt kämpfen könntest? Die vorläufig letzte Serie Aufnahmen zeigte nächtliche Dunkelheit über Meer, Inseln und Klippe. Nonfarmale saß mit Yann-Zyorjen inmitten der strahlenden Bilder, benutzte ihren Körper und trank. Außer den beiden Wesen und zwei Adlern auf dem steinernen Bau des Horstes, die Köpfe unter die Flügel gesteckt, schien sich niemand und nichts mehr im Felsenversteck zu befinden, zumindest keine Lebewesen aus fremden Welten. Ich rief Rico an, der in den Werkstätten
arbeitete. »Ist Syno hier?« »Er wird auf den nächsten Einsatz vorbereitet.« »Wartet«, sagte ich. »Mir ist eingefallen, wie wir erfolgreicher vorgehen können.« »Ich warte, Monsieur Comte.« Der zweite Friedrich zog mit seinem Heer in die Richtung der Stadt Prag. Major Seydlitz führte die Kürassier-Reiterregimenter. Wir hatten zugesehen, wie hervorragend die Reiterei geschult worden war. In zwölf Tagen, schätzten wir, würde der Kampf um Prag ausbrechen. Nonfarmale, der dieses Vorhaben ebenso intensiv beobachtete wie ich, wenn nicht sogar gieriger, würde diese Gelegenheit nicht versäumen. In einem Nebenraum seiner Schlafgemächer hatte ich sie gesehen, die verschiedenen Rüstungen, Anzüge und Verkleidungen des Saurokrators. Ich wandte mich an Monique, die in einem windstillen Winkel in der Aprilsonne lag. »Wir werden auf Nonfarmale warten. Diesmal entkommt er uns nicht«, sagte ich entschlossen. »Und dazu kommt die Tatsache, daß er alle Sklaven weggeschickt hat. Oder sie sind geflüchtet. Jedenfalls ist sein Versteck leer.« »Bis auf Yann und die Adler.« »Und bald wird auch er die Klippe verlassen. Das sagt mir meine Erfahrung«, sagte ich. »Wenn die Schlacht um Prag tobt, schlagen auch wir los.« »Viel Glück.« Monique blinzelte in der tiefstehenden Sonne. »Ich muss nicht aufspringen und dein Gesicht zur Tarnung schwärzen?« »Nein. Nicht meines. Wir werden Syno verändern.« Ich ging in tiefere Geschosse des Turmes, in dem die Gleiter, die Maschinen und Versorgungseinrichtungen warteten. Und die beiden Roboter: Rico und »mein Bruder«.
Am sechsten Mai 1757 griff Fridericus Rex die Stadt Prag an der Moldau an. Während Nonfarmale in den Wolken über dem Schlachtfeld kreiste, schien das Glück vergangener Eroberungsschlachten den König von Preußen zu verlassen. Synonymus Eins und ich schwebten mit dem Gleiter durch die Strukturschleuse. Rico wußte, daß er unter allen Umständen diesen Energieschlauch stabil halten musste, ganz gleichgültig, wie lange wir ausblieben. Während ich die Maschine über das Meer und unter dem gestreiften Himmel auf die Klippe zusteuerte, dachte ich über die wirkliche Bedeutung jener Szenen nach, die wir beobachtet hatten: Das private Leben des Seelensaugers. War er nur so fremd, daß meine Vorstellungskraft nicht reichte, ihn verstehen zu können? Oder handelte er bewusst? Blutgierig, bösartig, menschenvernichtend? »Wenn wir kämpfen, Syno, schaltest du in kurzen Intervallen dein Deflektorfeld ein und aus. Nonfarmale soll dich sehen, dich aber nicht treffen können. Verstanden?« »Die antike Tragödie hat sich in die Wohnräume verlagert. Der Schurke trägt Lendenschurz.« Die Sonne befand sich halb hinter der Klippe und blendete mich. In der Luft
kreisten weniger Adler als sonst. Die Streifen des Himmels schienen heller und wirkten weniger gefahrenausstrahlend. Die Felswand lag im Schatten und ragte wie eine dunkelgraue Barriere aus den Wellen einer weit ausschwingenden Dünung. Als wir näher kamen, konnte ich erkennen, daß das Energiefeld vor den Eingängen abgeschaltet war. »Als wir los flogen«, ich kontrollierte, ob alle Deflektoren voll aktiviert waren, »kreiste unser Gegner über dem Schlachtfeld. Das Versteck sollte leer sein.« »Es sollte. Bis auf die Dame des Hauses.« Ich grinste. Der Gleiter stieg im flachen Winkel auf einen Punkt zu, der rechts von den Eingängen lag. Ein Sims, auf dem Baumriesen ihre Wurzeln in die Spalten krallten. Ich verringerte die Geschwindigkeit, flog entlang des Felsens und hielt neben den Eingängen und Brüstungen der obersten Ebene an. Niemand war zu sehen, kein Raubtier, kein Dryadenwesen bewegte sich in den Zonen unterschiedlich dunkler Schatten. »Hinein. Du hältst dich, bis ich etwas anderes befehle, hinter mir«, sagte ich leise. »Klar?« »Ja. Zum wahren Gentleman gehört es, mit Würde zu stolpern.« »Das ist es«, brummte ich, steuerte den unsichtbaren Gleiter in einen Winkel, aus dem heraus ich den Einstieg schnell finden und ebenso schnell starten konnte. Wir stiegen aus und bewegten uns ins Innere des steinernen Systems, die Waffen in den Händen. In den Räumen herrschte Todesstille. Nur wenige Lichter verbreiteten ungewisse Helligkeit, als wir die Rampen hinuntergingen. Ich untersuchte die Plattformen, öffnete Türen und schaute in unzählige Räume. Sie waren unbewohnt. Als ich die Erinnerungsbilder miteinander verglich, erkannte ich, daß Nonfarmale bestimmte Gegenstände daraus entfernt hatte. Der Logiksektor sagte: Er will diese Jenseitswelt verlassen. Während ich das Versteck so gründlich wie möglich durchsuchte, lauschte ich. Es gab keinen Hinweis darauf, daß sich der Seelensauger näherte. Auch Synos Systeme waren eingeschaltet. Er würde mich warnen. Während ich einen Raum nach dem anderen betrat und verließ, stiegen meine Unruhe und Anspannung. Was ich sah, ergab keinen rechten Sinn. Als ich etwa zwei Stunden später in den riesigen Wohnraum der mittleren Ebene zurückkam, saß Yann in einem wuchtigen Sessel und schaukelte langsam vor und zurück. Ihr Blick war auf eines der verbliebenen Bilder gerichtet, dessen Fläche sich in ein leuchtendes, dreidimensionales Landschaftsgemälde verwandelt hatte. Ich ging, ohne den Deflektor abzuschalten, auf die Frau zu und sagte: »Du wartest auf Nonfarmale?« Sie sprach mit schleppender, rauchiger Stimme in einem arabischen Dialekt. »Ich warte auf ihn.« »Warum? Gibt es keinen anderen?« »Ich muss warten. Ich
kann nicht anders.« »Was wirst du tun, wenn er dich zurücklässt?« fragte ich und versuchte, in ihrem Gesicht und ihrem Verhalten das Wirken eines eigenen Willen zu entdecken. »Ich werde sterben«, sagte sie unbetont. »Was sonst?« Ich spürte Verstörtheit, Zorn und Fassungslosigkeit. Nonfarmale hatte diesen Verstand hoffnungslos zerstört. Ich flüsterte, während ich mich ein paar Schritte in Richtung auf die Terrasse entfernte: »Du bleibst neben dem Kamin stehen. Wir warten, bis er kommt.« »Verstanden«, sagte Syno und entfernte sich unhörbar auf die angegebene Stelle zu. Nonfarmale besaß also viele Helfer aus anderen Jenseitswelten, deren Willen er gebrochen hatte. Sie arbeiteten für ihn und richteten ihm die Verstecke ein. Welches System des Ortswechsels Nonfarmale betrieb, konnte ich nicht einmal ahnen. Tatsache blieb, daß er auf dem dritten Planeten von Larsafs Stern sein Unwesen trieb und für hunderttausendfaches Leid und Tod verantwortlich war. Ich bezweifelte zudem, daß diese Zahl reichte. Rico und ich wussten längst nicht alles. Ich setzte mich auf eine Stufe in der Nähe der Terrasse. Ich würde Nonfarmale hören. Der große Raum lag vor meinen Augen. Yann stand auf und ging in einen anschließenden Raum, um ihren Pokal wieder zu füllen. Ihre Körperbewegungen waren eine einzige laszive Herausforderung. Wenn Nonfarmale mit ihr fertig war, würde sie ihre reife Schönheit verloren haben. Wir warteten. Viel zu lange, wenn ich daran dachte, daß »draußen« die Zeit anders verlief. Der Kampf um Prag musste längst vorüber sein. Es verging ein halber Tag. Die Sonne wanderte in den Westen, und ihre Strahlen fielen schräg durch das Gitterwerk aus Traversen und Säulen der Terrasse. Ich hörte den heiseren Schrei eines Adlers, richtete mich auf und entsicherte die Waffe. Als ich den Kopf drehte, sah ich gerade noch, wie Nonfarmales Reitvogel die Schwingen einfaltete, um im Horst zu landen. Es gab die erwarteten Geräusche; schließlich kam Nonfarmale auf der entgegengesetzten Seite des Raumes die Rampe aufwärts und sah sich um. »Yann!« rief er. Die Frau strich das lange, gelockte Haar aus dem Gesicht; ein schwarzer Vorhang glitt über kunstvoll angebrachter Schminke zur Seite. Ich hielt mit der linken Hand mein rechtes Handgelenk umklammert und zielte auf seinen Kopf. Ich wartete, bis er etwa in der Mitte zwischen Syno und mir stand. Mein Zeigefinger krümmte sich. Seine hellgraue Rüstung flirrte und flimmerte an der Oberfläche der vielen beweglichen Teile. Sein Gesicht war von herausfordernder Gesundheit, seine Augen blitzten. Er war wie berauscht und zog den rechten Handschuh aus, um nach Yann zu greifen. Sie war aufgestanden, wiegte sich in den Hüften
und hielt ihm den Pokal entgegen. Im selben Augenblick zeigte sich Syno für einen Sekundenbruchteil. Wahrscheinlich hatte Nonfarmale erwartet, daß seine Gegner ihn belauerten. Trotz der aufgesogenen Emotionen ließ seine Wachsamkeit nicht nach. Er wirbelte herum und zog aus dem Brustgurt eine funkelnde Waffe. Er feuerte genau dorthin, wo Syno eben gestanden hatte. Gleichzeitig schob ich meine Hand vor und zog den Abzug durch. Nacheinander verließen zwölf fingerlange Projektile das Magazin der Waffe. Sie rasten kreischend durch die Luft und trafen den Emotiosauger. Einige Sekunden lang war sein gesamter Körper in den unerträglichen Glanz von Explosionen getaucht. Syno schoss von der gegenüberliegenden Seite des Raumes und wechselte ständig seinen Standort. Wieder zeigte er sich; ein Hüne in einer phantastischen Rüstung und mit einer schwarzgoldenen Maske. Die Abwehrschirme flammten und loderten. Blitze peitschten durch den Raum und fuhren in Decke und Boden. Teppiche, Kissen und Polster begannen zu schwelen. Yann-Zyorjen schrie auf, ließ den Pokal fallen und brach vor ihrem Sessel zusammen. Sie versuchte gleichzeitig ihre Ohren zuzuhalten und die Hände vor das Gesicht zu schlagen. Ihr Schrei ging in dem Lärm unter. Ich steckte die Waffe zurück und hob den Desintegrator. Nonfarmale sprang zur Seite. Seine Rüstung bestand aus einem System von Energiefeldern, die offensichtlich den Beschuß ausgehalten hatten. Seine Hand schlug gegen eine Verzierung, dann sprang er mit einem Satz über einen Tisch, schoss auf Syno. Er stieß einen Schrei rasender Wut aus und einige Worte, die ich nicht verstand. Seine Waffe warf purpurne Blitze aus und verwüstete drei Ellen über dem Boden die gesamte Wand des Raumes, schlug Krater und Risse in den Fels, vernichtete zwei Bilder und mehrere wuchtige Möbel und hinterließ einen Hagel glühender Tropfen, surrender Splitter und brennender Gase, die sich als schwarzer Rauch niederschlugen. Der Felsen schien zu beben. Wieder schaltete Syno seinen Deflektor aus. Ein oder zwei Schüsse trafen ihn, ehe er unsichtbar wurde. Ich feuerte hinter Nonfarmale her, der im Zickzack den Schüssen auswich und auf einen weißen Nebel zusprang, der aus der größten Nische des Raumes kam. Dort hing das leuchtende Bild, das eine Landschaft aus Felsen und moosartigen Flächen zeigte. Schluchten hatte ich gesehen, einen hellen Himmel voller roter Sterne, Wasserläufe, die sich terrassenförmig herabstürzten und grüne Seen bildeten. Ich traf Nonfarmale. Der Nebel leuchtete auf, als die Energiebalken hindurchheulten. Das Bild schob seinen Rahmen auseinander, wurde größer, wuchs aus der Nische und füllte den Raum aus. Nonfarmale sprang in das Bild
hinein, durch den Nebel, auf einen blauschimmernden Felsquader mit zerfurchten Kanten, der sich aus dem wabernden, brennenden Nebel herauf schob. Er lachte laut. Seine Waffe beschrieb einen Halbkreis. Ich sah alles nur noch undeutlich, feuerte aber ununterbrochen, schmolz den Stein unter seinen Füßen und schoss an ihm vorbei, in eine andere Bezugsebene hinein. Aus seiner Waffe schlug ein Blitz. Er zerfetzte Yann, den Sessel und die Umgebung, ein weiter Schlag traf mich und warf mich gegen die Steinbrüstung. Dann turnte Nonfarmale über die Stufen einer Steintreppe aus dem Bild. Der dicke, weiße Rauch schlug sich nieder und verwehte. Das Bild, eine Art Transmitter, verschwand mit einem furchtbaren Donnerschlag, der zwei Säulen zerstörte und Felsbrocken herunterhageln ließ. Ich kam fluchend auf die Füße und sah eine leere Felswand in der Nische. »Jäger fremder Invasoren«, sagte ich und ging durch die Verwüstungen, Trümmer und rauchenden Flächen hinüber zu Syno. Der Roboter war defekt, aber er schaltete seinen Deflektor noch immer ein und aus. Ich sah, daß er sich gegen die Wand lehnte. Der Bewegungsapparat war in der Höhe des Gürtels zerstört. »Als Jäger taugst du wenig, Arkonide.« »Du verstehst mich?« fragte ich laut. In meinen Ohren summte und klingelte der Explosionsschock. Es stank nach den verbrennenden und schmorenden Gegenständen und nach Ozon. »Kannst du gehen? Wir müssen zurück.« »Nein.« »Auch noch das«, sagte ich, hakte das Antigravgerät vom Gürtel und befahl’ »Schalte Deflektor und Schutzschirm ab! Schnell!« Die Felder wurden desaktiviert. Ich klinkte den Haken des Geräts ein, schaltete es auf mittlere Leistung und sah zu, wie Syno in die Höhe schwebte. Seine Laufwerkzeuge und sein Oberkörper hingen herunter wie bei einem Menschen mit zerschlagener Wirbelsäule. Ich packte sein Handgelenk und zog ihn hinter mir her, über Rampen und durch verrauchte Räume, bis zum Gleiter. Über der Ladefläche ließ ich ihn hinunter, setzte mich in den Pilotensitz und flog mit eingeschalteten Schutzschirmen, aber für alle jagenden Adler sichtbar, auf die Strukturlücke zurück. An einem hellen Junimorgen schwebte ich wieder in den Turm ein. »Mein Bruder, der Roboter, hat zwar ebenso wacker gekämpft wie ich«, sagte ich zu Rico, während ich den Schutzanzug auszog, »aber Nonfarmale war besser, und er war vorbereitet.« »Es wird genug Zeit geben, Synonymus wiederherzustellen, besser und schöner als je zuvor«, versicherte Rico. »Hoffentlich kannst du ihm auch einen vernünftigen Sprachgebrauch anzüchten«, sagte ich grimmig. »Sollte Nonfarmale sich in der nächsten Zeit zeigen, dann kommt er aus einer Jenseitswelt voller Felsen, Wasser und Dampf oder Nebel. Dorthin
verschwand er, kaum geschädigt und satt von toten Preußen und Österreichern.«
Obwohl ich während der langen Zeit der Beobachtungen viel darüber nachgedacht hatte, blieb ich ratlos. Was konnte ich jetzt unternehmen, da mich der Gegner verlassen hatte? Wieder einmal steuerte ich einer existentiellen Grenzsituation zu. Beauvallon? Frankreich und Paris? Die große oder die kleine Insel? Zurück in die Kuppel, in den tiefen Schlaf?
Castellet le Sagittaire: Bis hierher waren die Folgen des Lisboaer Erdbebens spürbar gewesen. Von den Verwüstungen der sechsunddreißig Ellen hohen Flutwelle, einem vernichtenden Tsunami, von den insgesamt 60.000 Toten, wußte niemand in Beauvallon. Auch nicht, daß Monique im Tiefschlaf lag, und woher ich kam, wohin ich ging. Nachdem ich vor Jahren – jetzt sah ich die Erfolge – Mister James Watt bei der Konstruktion einer Dampfmaschine geholfen, das Schäffersche Holzpapier (mit Hilfe meiner Erinnerungen aus Chinas früheren Zeiten) entwickelt und Glucks Musik bewundert hatte, wachte ich abermals auf. Diesmal hatte ich Rico das Datum genannt, an dem er mich wieder auf die Ereignisse der Barbarenwelt vorbereiten sollte: Den 1. März 1768.
Gabo Djang, so nannten die steinzeitlichen Eingeborenen eine Zone der großen Insel zwischen dem unsichtbaren Dorf und dem flachen Sandstrand. Ort, an dem grüne Ameisen träumen. Tatsächlich kletterten große, grüne Ameisen auf die wenigen Bäume und sprangen auf die hüpfenden Säugetiere hinunter, denen die Köpfe der Jungen aus den Bauchbeuteln blickten. Wenn man die grünen Kerbtiere störte, sagten die Eingeborenen, würden sie riesengroß, und ihr Anführer, die ganz große grüne Ameise, würde die gesamte Menschheit umbringen. Ich umging diese Gefährdung, indem ich, wenn ich sonnen und in der hohen Brandung schwimmen wollte, einen anderen Weg nahm. Ich kontrollierte die Reparaturarbeiten an der LARSAF, während ich meinen Körper kräftigte. Der Siebenjährige Krieg der Preußen war beendet. Jean Philippe Rameau, dessen Musik ich in den Kirchen und am Hof des fünfzehnten Ludwig so oft gehört hatte, hatte seine letzten Noten gesetzt, Krieg drohte zwischen Russland und den Türken. Nonfarmale? Verschwunden, als habe es ihn nie gegeben. Ich wollte allein bleiben. Es gab im Umkreis von sieben Tagesmärschen keine Frau, kein Mädchen, nur viele hellgrüne Sittiche. Aber die Bildschirme lieferten Informationen wie immer. Ich brauchte nicht lange, um einen Entschluss zu fassen, den ich hoffentlich nicht bedauerte. Eine Reise durch einen Teil Frankreichs, von Beauvallon de Franconnade aus bis nach Paris. Allein. Aber von Rico beschützt. Siebzehn Tage danach sattelte ich in Beauvallon mein
Pferd und schnallte die Traglast auf dem Rücken des zweiten Tieres fest.
In den meisten Ländern Europas war es einfach für einen bewaffneten Reiter, der genügend Geld hatte, über Land zu reiten. Vorausgesetzt, gewisse unsichtbare Einrichtungen schützten vor Straßenräubern, vor Fallen oder Betrügern. Vorausgesetzt, der Reisende durchschaute schurkische Wirte und wacklige Brücken, verschloss seine Nase vor dem pestilenzartigen Gestank der Städte, vertraute nicht allzu sehr den Schilderungen des Lawrence Sterne, der »Joricks empfindsame Reise durch Frankreich und Italien« geschrieben hatte. Kurzum, ich musste viele Überlebenstechniken anwenden, und im Heu der Bauern schlief es sich noch immer am saubersten. Von Lyon ritt ich die Rhone abwärts, durch ein herrliches, fast menschenleeres Land. Die Straßen waren überraschend gut, aber es verkehrten wenige Reisende. Mein nächstes Ziel war Aix in der Provence. Ich fand außerhalb der Stadtmauern ein wenig verfallenes Bauernhaus mit einem Stall; binnen weniger Tage rissen sich Zimmerleute, Maurer und Bauern darum, einige Louisdors zu verdienen. Ihre Armut, der Dreck, in dem sie lebten, die Willkür, der sie ausgeliefert waren, sie trafen mich tief. Der Adel sog sie aus… wie Nonfarmale. Nachts halfen meine Allzweckroboter. Ich besaß bald ein helles, freundliches und trockenes Zuhause mit allem, was ich brauchte. Erst dann wagte ich mich in die Stadt. Ich ritt durch große Haine von Oliven- und Mandelbäumen, hielt Ausschau nach der altehrwürdigen Universität, bewunderte die Kirchen, die aus den verwinkelten Gassen und dem Kot der Straßen aufstiegen. Aquae Sextiae hatten es die Römer genannt; heute fehlte der Stadt jeder Glanz. Ich hielt meinen Rappen an, schaute mich um und band die Zügel neben der Tür einer Apotheke an. Meine Kleidung ließ niemandem im Zweifel: Ich war ein reicher, reisender Graf. »Ich bin neu in der Stadt«, sagte ich herablassend und scheinbar gelangweilt. »Ich wünsche mit den gelehrten Männern von Aix zu disputieren.« Ich sah in den Regalen schöne Flacons und blickte sie voller Interesse an. »Dann müsst Ihr den Marquis d’Argens treffen.« Der Apotheker kratzte sich und stellte ein Dutzend der schönsten Salbtöpfe und Duftwasser-Behälter auf den Tisch. »Er ist ein Freund des preußischen Königs.« »Des Großen Frederic?« »Ein Schriftsteller, Marquis de…?« »Beauvallon. Abgesehen von der Geistlichkeit: Wen müsste ich noch kennen lernen?« »Den genialen Grafen Cagliostro und seine bezaubernde Frau. Und einen Italiener, der alles kann. Er nennt sich Graf Casanova de Seingalt, oder so ähnlich.« Giacomo Casanova, der Mitgefangene im Carnevale, bemerkte der Logiksektor. Ich kaufte für Monique zwei Duftwässer
und eine milde Lotion für die Haut, hauptsächlich der hübschen Gefäße aus Porzellan und Glas wegen. »Wo finde ich diesen Casanova?« Der Apotheker beschrieb mir den Weg zu einem der besten Gasthöfe der Stadt. Ich ließ die Behälter einpacken, schwang mich in den Sattel und ritt zu der angegebenen Stelle. Der Gasthof war nicht besser oder schlechter als viele andere. Der Hausknecht starrte die Münze an, dann mich, und schließlich rannte er davon und kam mit einem Beil zurück. »Niemand wird Euer Pferd auch nur anstarren, Herr Marquis. Ich scheuche auch die Fliegen weg.« »Recht so.« Ich stieß die Tür zur Gaststube auf und setzte mich auf eine Tischkante. »Ein kühles, schäumendes Bier«, verlangte ich. »Und eine Auskunft, wenn’s beliebt!« »Zu Gnaden, der Herr.« Beim Namen Graf Cagliostro war ich innerlich zusammengezuckt, konnte nicht recht glauben, was ich hörte. Ich hob die Schultern und wappnete mich gegen unangenehme Stunden. Nach dem alptraumhaften Erlebnis mit dem zeitenpendelnden Magister Cagliostro hatten Rico und ich uns kundig gemacht; Gerüchte, Erzählungen, Flugblätter und Zeitungen boten einiges Erhellendes. Wer war Cagliostro wirklich? Ich erinnerte mich perfekt an das fast asketische Gesicht meines selbsternannten Retters, der mit Sokrates diskutiert haben wollte. 1743 war er als Giuseppe Balsamo in Palermo geboren und im Kloster der Barmherzigen Brüder zu Caltagirone mit fragwürdigem Erfolg zum Novizen erzogen worden; er wurde zum hochbegabten Diener der Klosterapotheke und half bei Mischungen und Experimenten mit Tinkturen, Essenzen und Pulvern, eignete sich medizinische Kenntnisse an. Er sollte ein Zeichner und Schönschreiber von höchsten Graden sein, sagte man. Wir erfuhren mehr aus seinem Leben: Dieberei, Zuhälterei, Teufelsaustreibungen und Geisterbeschwörungen – alles ohne großen Erfolg. Er trug verschiedene Namen: Alessandro di Cagliostro, Graf Harat, Graf Fenix, Marquis von Anna. Man war von ihm fasziniert, denn er, der Wunderheiler, stammte, 300 Jahre alt, von einer weißen ägyptischen Maurenfamilie ab; viele Zeitungen hatten über den Scharlatan geschrieben. Vor mehr als einem Jahr hatte er in Rom ein auffallend schönes Mädchen geheiratet, Lorenza Feliciani. Begehrenswert und völlig ruchlos, also die richtige Partnerin, diese »Gräfin Serafina«. Darüber hinaus wußte ich nur, daß das Glücksjäger-Pärchen betrog, bezauberte, täuschte, viel Geld und Geschenke einnahm und noch mehr ausgab – dieser Cagliostro schien nicht die entfernteste Ähnlichkeit mit jenem Magister zu haben. Der Logiksektor bemerkte spitz: Bald wirst du ihm bewundernd gegenüberstehen, Arkonide. Ich lachte laut, aber mir war nicht ganz wohl. Offensichtlich waren
auch in diesem Land alle Wirte von einem Aussehen und Betragen, die mich an Briganten und Schmierfinken erinnerten. Dieser hatte wenig Zähne, stank und schielte. Das Bier allerdings schmeckte ausgezeichnet. »Monsieur Casanova wohnt in Eurem Haus, Herr Wirt?« Bedauern überzog sein Gesicht wie eine Regenwolke den Himmel. »Er liegt in seinem Bett. Eine schwere Krankheit hat ihn gezeichnet, Herr Marquis.« »Bringt mich zu ihm!« Rußgeschwärzte Balken, knarrende Treppenstufen, schmale Gänge und dünne Wände, ein Geruch, der nur durch Abbrennen des Hauses zu vertreiben war, zogen an mir vorbei. Der Wirt klopfte; von innen antwortete eine helle Frauenstimme. Ich wurde hineingebeten, nachdem ich mich als Freund des Kranken vorgestellt hatte. »Giacomo Casanova, Doctor der Rechte, Ihr seid weit herumgekommen seit 1756. Warum seid Ihr nicht mit mir zusammen geflohen?« Er starrte mich an wie einen Geist. Die Krankenwärterin zog sich bis zur Wand zurück. Ich sah einen knapp fünfundvierzigj ährigen, kranken Mann mit Hakennase, eingefallenen Wangen und fiebrigen Augen. Auf dem Tischchen neben einem leidlich sauberen Bett lagen und standen Medizinen, mit denen man vermutlich ein Dorf entvölkern, kaum aber jemand heilen konnte. Langsam dämmerte das Erkennen; er keuchte und stieß hervor: »Cavaliere Atlan di Arcone! Der Wein. Sechste Zelle. Das eingekerbte Dach.« »Ich habe Euch nicht gesucht, aber gefunden«, sagte ich, nickte und knöpfte meine Jacke auf. »Wie lange liegt Ihr schon hier?« »Fast zwei Monate. Es wird und wird nicht besser.« Ich verbeugte mich vor der hübschen jungen Frau, zog einige Münzen aus dem Gürtelversteck und bat: »Sagt dem Wirt, das beste Zimmer mit Fenster zum Baumgärtlein, ein paar Flaschen Schaumwein von Perignon, ein frisch bezogenes Bett und in einer Stunde ein heißes und kaltes Bad für diesen Gast. Kommt morgen wieder, dann wird er Euch schon schöne Augen machen.« Sie nahm verwirrt das Geld und huschte hinaus. Ich setzte mich, nachdem ich einen wackligen Sessel abgeräumt hatte. »Was fehlt Euch, Giacomo, außer der Gesundheit, wie zu sehen ist?« »Die Syphilis, wieder einmal, Freund Atlan. Eine schlimme Erkältung, Podagra und die Folgen von einem Leben, das im Galopp geführt wird.« Der Zellschwingungsaktivator glich einem eisernen Wappenschild. Ich zog ihn über den Hals, hängte ihn Casanova um und beschwichtigte ihn, als er abwehren wollte. »Ihr habt genug Geld?« fragte ich. Casanova nickte. Er war ein gutaussehender Mann gewesen, mit hellbraunen Augen; die Stirn wich weit zurück, das Haar lag schweißnass am Kopf. Ich stand auf und riss die Fensterflügel auseinander. »Vorläufig genug Geld. Ich war reich und arm, gewann viel und verlor noch mehr.«
»Im
Spiel?« »Und mit den Frauen. Es ist ein Vergnügen, Euch zu sehen. Ich bin geflohen und viel gereist, kenne Paris, Dünkirchen, Holland, Köln, Stuttgart und Zürich.« »Ihr werdet alles erzählen, wenn Ihr wieder bei Kräften seid, Giacomo. Ich wohne außerhalb der Stadt, aber ich werde oft nach Euch sehen«, versprach ich. »Was habt Ihr getrieben seit der Flucht?« »Mancherlei. Viel geschlafen«, sagte ich lachend. »Deswegen bin ich, im Gegensatz zu Euch, gesund.« »Ich war in Solothurn, Avignon, Marseille, Toulon, Antibes, Nizza und Genua, Florenz und Rom.« »Ich sehe, daß Ihr kein Heim habt, wo Ihr Euch ausruhen könnt«, bemerkte ich und sah, daß der Aktivator zu wirken begann. Seine Haut färbte sich. Der Blutkreislauf wurde kräftiger. Aber Giacomo wurde müde. Als der Wirt kam, um zu versichern, alles sei bereit, trugen wir ihn ins Badehaus. Ich zog Jacke und Hemd aus, ließ mir die Satteltasche bringen und schrubbte ihn, bis er am ganzen Körper rot war, wusch seine Haare und verwendete meine unfehlbaren Salben und Sprühflüssigkeit, nachdem ihn der Schock des kalten Wassers wieder geweckt hatte. In ein frisches Nachthemd gewickelt, todmüde und gähnend, trugen wir ihn in das geräumige Zimmer, legten ihn auf frisches Leinen; ich deckte ihn zu, öffnete das Fenster und ließ den schäumenden Wein in die Gläser zischen. »Vergesst den Arzt und die Medizinen. Ihr werdet tief und lange schlafen«, sagte ich. Das Schlafmittel wirkte eine Stunde später. Ich wartete bis zum frühen Abend, dann nahm ich ihm den Aktivator ab und ritt zurück in mein gemütliches Heim, das sich in einem verwahrlosten, herrlich blühenden Garten und unter den riesigen Ästen voller rauschender Blätter befand. Ich war sicher, daß ich von Casanova eine Geschichte erfahren würde, die viele Stationen eines verwirrenden Zeitalters schildern würde. Am nächsten Vormittag war er viel kräftiger, auch die hingebungsvolle junge Frau war bei ihm. Ich bekam schon bald ernsthaften Streit mit dem Arzt, der sich übergangen fühlte. Casanova, dem es von Tag zu Tag besser ging, drückte dem grimmigen Mann schließlich einen Beutel in die Hand und begleitete ihn ebenso höflich wie bestimmt vor die Tür. Sie war verriegelt, ehe der Verdutzte recht wußte, wie ihm geschah. Casanova füllte Becher und lachte plötzlich. »Das waren überaus köstliche Späße rund um unsere Fluchten aus den piombi, den Bleikammern«, sagte er. »Zuerst hab’ ich auf die Glockenschläge gewartet; später erfuhr ich, daß ein ruchloser Unhold das Schlagwerk verbogen hatte. Etwa Ihr, d’Arcone? In der Nacht zum ersten November, neblig war’s, nach fünfzehn Monaten in der Zelle, bin ich ausgebrochen; ich dachte an die Schlussverse
von Dantes Inferno, vierunddreißigster Gesang – E quindi uscimmo a rimirar k stelle; und dort floh’n wir zum Wiederseh’n der Sterne…« Ich lehnte mich zurück: »Berichtet, Giacomo!« »Blutend und zerkratzt war ich. Euer Dolch und eine zugespitzte Eisenstange haben geholfen, ebenso wie der gute Wein. Mit dem Öl im Salat hab’ ich ein Lichtlein betrieben. Im August hatte ich den Boden meiner Zelle durchbrochen, aber Lorenzo quartierte mich um. Marino Balbi, der schlotternde Mönch, half mir und schließlich kamen wir an Eure Kerben im Bleidach. Da hockten wir nun. Ich und Balbi kletterten mit Hilfe einer alten Leiter hinab, kamen durch unverschlossene Fenster in die Kanzlei des Herzogs. Als wir die Haupttür nicht öffnen konnten, stellten wir uns ans Fenster, und ein paar Spaziergänger dachten, man habe Adelige versehentlich eingeschlossen.« Er fing zu lachen an und schüttelte sich. »Der Pförtner schloss auf, wir liefen die Stufen hinunter, dann geraden Weges zur Porta della Carta, dem Prachttor des Dogenpalastes, über die Piazzetta bis zum Ufer, wo ich die erste beste Gondola bestieg. Von Mestre nahmen wir eine Kutsche nach Treviso! Ich war frei – dank Eurer List.« »Ich hatte gehofft, daß es Euch eher gelänge.«
»Vernunft«, Casanova führte eine flatternde Bewegung der Finger aus, »kommt von ›vernehmen‹, was bedeutet, daß man zuhört und begreift, wenn ein anderer klug spricht. Aber das menschliche Verhalten ändert sich nicht. Ich bin das beste Zeugnis dafür.« »Große Verwandlung? Durch Gesetze der Menschen beeinflussen? Bedeutet mehr Wissenschaft zugleich mehr Fortschritt?« fragte Joseph Balsamo, angeblich Graf Cagliostro. »Ist eine Kopie, die ich herstelle, weniger wertvoll als das Original, obwohl sie ebenso gut oder meist noch besser ist?« Wir saßen im Salon. Casanova schrieb einen Empfehlungsbrief und versah ihn, wie er mir vorher versprochen hatte, mit geheimen Zeichen. Cagliostro, der vorgab, daß ich ihm bekannt erschien, lächelte seiner Frau zu. »Ich weiß es nicht«, antwortete Casanova. »Menschen haben die Macht über die Welt in den Händen. Können Menschen diese Macht verwalten? Konnte ich mein Geld zusammenhalten?« »Würde mehr Vernunft herrschen, ginge es allen gut«, sagte ich und nahm einen Schluck Schaumweins, »und die Bürger würden nicht eines Tages den Adel aus seinen Palästen jagen.« »Bis zu diesem Tag ist es noch lang hin«, sagte Cagliostro. Er schien den Ruhm eines Abenteurers, der ihm nach Aix vorausgeeilt war, zu genießen. »Eine Revolution hat nur die Anzahl unnützer Esser verringert und das Gedränge vermindert. Stets war es so.« Cagliostro hatte uns eine Zeichnung von Rembrandt gezeigt. Der Meister hätte sie für echt gehalten. Natürlich
hatte Cagliostro sie gefälscht. »Eines Tages werden die Bauern begriffen haben, daß sie Menschen sind«, sagte ich. »In meiner Grafschaft verwüstet das Wild aus meinem Wald kein Feld meiner Bauern.« »Ihr seid zu gütig, Comte.« Cagliostro rollte den Brief zusammen und steckte ihn ein. »Ihr seid sicher, daß wir uns nicht kennen?« »Von Euch, Graf Alessandro di Cagliostro, habe ich gelesen und gehört. Ich bezweifle, daß wir uns jemals, auch nicht in einem überfüllten Saal, von Person zu Person getroffen haben.« Ich grinste und hob den Becher. »Aber es kann sein, daß ich Anno Domini 1469 bei Eurer Geburt nicht fern war.« Cagliostros Gesichtsausdruck zeigte seinen Unmut über meine Bemerkung, er selbst wollte sein Publikum glauben machen, er sei dreihundert Jahre alt. Dennoch sagte er: »Auch Gräfin Serafina ist der Meinung, wir hätten einander getroffen und über die Heimstatt der Geheimnisse gesprochen, über die Loge der Freimaurer.« Er lachte selbstgefällig und stand auf. »Man trifft mich stets in schwierigen Lagen und undurchschaubaren Umständen. In zwei Stunden werde ich Euch, meine Herren, überraschen.« Er verbeugte sich und verließ den Raum. Casanova, durch Sauberkeit und gutes Essen, Pflege und meinen Aktivator, durch meine Salbe, die ich in die Salbe des Arztes gemischt hatte, wieder zu Kräften gekommen und fast gesund, hob das Glas. »Ich brauche eine feste Anstellung. Nutzlos sind alle meine Talente«, erklärte er. »Dazu kommt das Heimweh nach Venezia.« »Vergesst es. Man ist rachsüchtig.« »Aber wenn ich eine falsche, verleumderische Chronik der Stadt neu und richtig schreibe, wird man mir Pardon erteilen.« Er lachte voller Hoffnung. Ich hatte inzwischen jeden Winkel von Aix und die Umgebung kennen gelernt und wollte meine Reise fortsetzen. Ein herrlicher Sommer hatte angefangen. »Viel Glück.« Er schien unschlüssig; ich fragte ihn. »Wohin wollt Ihr reisen?« »Zuerst nach Marseille. Torino oder Lugano heißt das Ziel.« »Wann werdet Ihr abreisen?« »Nach etlichen ergreifenden Liebesnächten mit einer Schönen, die der Stadthauptmann freihält«, sagte er fröhlich. »Anfang Juni, denke ich.« Sein Hang zu amourösen Abenteuern war wieder erwacht. Die junge Frau war, ohne Namen und Spuren zu hinterlassen, eines Tages verschwunden, niemand wußte, wohin. Casanovas Leben und Lieben als verworren oder abenteuerlich zu bezeichnen, wäre die Untertreibung des Jahrhunderts gewesen. An mir hing er, verblüffender weise, mit fröhlicher, uneingeschränkter Freundschaft. Als Cagliostro zurückkam, zeigte er Casanova den Brief und sah mich lauernd an. »Das ist der Brief, den ich geschrieben habe.« Cagliostro legte den zweiten Brief auf den Tisch. Casanova griff danach.
Die Briefe waren identisch. Cagliostro sagte, daß er in das Original einen Knick gekniffen habe. »Ihr besitzt ein gefährliches Talent, mein Lieber«, sagte Casanova in plötzlichem Ernst. »Ihr könnt es weit bringen mit Eurer Kunst.« »Das nehme ich wohl an.« »Ihr könnt es sogar bis zum Galgen bringen, wenn Ihr unvorsichtig seid. Eine Warnung, Graf Cagliostro. Wollt Ihr nicht unglücklich enden, so setzt nie den Fuß auf den Boden Roms.« »Warum nicht? Sie haben auch nur zwei Augen, die Römer.« Als Cagliostro sich verabschiedete, reichte er mir seine Hand. Er strahlte eine seltsame Klugheit aus, obwohl sein Charakter das krasse Gegenteil bewies. Magister Michel de Notre Dame, Nostradamus, hatte eine gleichartige Wirkung in meinem Inneren hervorgerufen, damals am Louvre-Königshof in Paris. Ich blickte ihm schweigend nach, verglich sein Aussehen und Verhalten mit jenem Zeitenpendler meiner Erinnerung und schüttelte den Kopf.
»Eine richtige Beurteilung, Kristallprinz«, sagte Cyr Aescunnar und las in der synoptischen Analyse des Ehepaares Cagliostro, deren Kenntnis den römischen Prozeßakten zu verdanken war. Guiseppe Balsamo, 8. Juni 1743 bis 26. August 1795, gestorben im Gefängnis von San Leo, unweit Rimini. 1786: Prozeß in Paris (siehe: Halsbandaffäre) und Einkerkerung in die Bastille. Stationen des Lebensweges: Loreto, Bergamo, alle europäischen Stadt- und Hofkulturen, Barcelona, Madrid, Lissabon, London, Paris. Gräfin Serafina prostituiert sich, eine Freimaurerloge »Experance« nimmt C. auf, der zum grausigen Lebemann mutiert. C. spielt virtuos mit kulturellen und psychologischen Reizen kryptischer Freimauerei in deren Geheimnisse jedermann aufgenommen werden möchte. Im sog. »Memoire« nimmt er, als Prophezeiung, die Schrecken der franz. Revolution vorweg. Beim Versuch, röm.-kath. Christenheit und Freimaurertum auszusöhnen und zu vereinen, Anklage und Verurteilung (wg. Häresie, Zauberei und Freimauerei). Papst Pius VI. verwandelt Todesurteil in lebenslange Haft; nach 4 Jahren, 4 Monaten und 5 Tagen stirbt C. am Schlagfluss. Eine Flut von Gerüchten setzt ein, darunter »bezeugte, beglaubigte Aussage«, er habe sich im Tod in eine Säule verwandelt, die keinen Schatten warf. Literarische Aufarbeitung: E.T.A. Hoffmann, Alexandre Dumas, auch ohne Namensnennung: J.W. Goethe und Th. Mann. »Ich kann’s verstehen«, sagte Cyr leise, »daß Atlan recht schnell geahnt hat, daß er es mit zwei verschiedenen Cagliostren zu tun gehabt hatte. War vielleicht der falsche ein Schüler des Zeitpendlers? Und dieser selbst? Wer war er wirklich? Ein Cyno wie Nostradamus alias Imago Zwei?« Er zuckte mit den Schultern, rief ein weiteres Dokument auf und lächelte.
Giacomo Casanova, Geschichte meines Lebens, Vierter Band, Sechzehntes Kapitel: … Ungeachtet des Nebels waren alle Gegenstände so ziemlich zu erkennen. Auf allen vieren kriechend, packte ich mit fester Hand meinen Spieß, stieß ihn schräg in die Fuge zweier Bleiplatten und packte dann mit vier Fingern den Rand der von mir hochgebogenen Platten. So kam ich allmählich bis an den First des Daches. Der Mönch, der mir folgte, hielt sich mit vier Fingern seiner rechten Hand an meinem Hosenbund fest. So befand ich mich in der unangenehmen Lage eines Lasttiers, das gleichzeitig ziehen und tragen musste, und noch dazu auf einem abschüssigen Dach, das von einem dichten Nebel schlüpfrig geworden war… Nachdem wir mit außerordentlicher Anstrengung über fünfzehn oder sechzehn Platten hinaufgeklettert waren, kamen wir auf dem First an. Hier setzte ich mich bequem rittlings hin, und Pater Balbi machte es so wie ich. Wir saßen mit dem Rücken zur kleinen Insel San Giorgio Maggiore und hatten auf zweihundert Schritte vor uns die zahlreichen Kuppeln der Markuskirche, die zum Dogenpalast gehört…
Atlans Erzählung riss Cyr aus den Hintergrundrecherchen; die Stimme des Arkoniden klang kräftig. »Nach der Verabschiedung von Giacomo sattelte ich das Pferd, belud das Saumtier und machte mich auf den Weg nach Paris. Die Reise dauerte lange; ich sprach mit vielen Menschen aller Klassen und Stände, lernte deren Lebensumstände, Gedanken und Sehnsüchte kennen und fand am Ende jenes alles in allem vergnüglichen und weiterbildenden Rittes im Nordwesten der Stadt ein Häuschen. Der Gestank von Paris reichte nicht bis zu diesem dörflichen Idyll. Das Häuschen war etwas größer und nicht so verfallen wie mein Dornig] bei Aixen-Provence; es erforderte weniger Zeit und Mühe, es bewohnbar und ebenso sicher zu machen…«
Mitunter dachte ich an das Sternenvogeltal, die Schule am Hang der unbesiedelten Insel Sao Miguel und an den Plan der geheimen Arkon-Umversität; flüchtige Überlegungen des leichten Bedauerns, das mit der zeitlichen Entfernung einherging. Ich fühlte mich »extra muros« von Paris wohl. Trotz aller Notwendigkeit und auch der Freude an Tarnung und Maskierung war es mitunter grotesk, unter welchen Umständen ich, der Paladin der Menschheit und Schirmherr oder Hüter des Planeten, lebte. Sicherlich gab es in der langen arkonidischen Geschichte keinen Kosmonauten, Hochenergie-Ingenieur, Kosmopsychologen und Kosmokolonisations-Infrastrukturplaner, der in einem Landhäuschen außerhalb einer Welt-Hauptstadt wohnte und Briefe schrieb, Roboterzeichnungen faltete und in alle Welt verschickte – und sich über jede Antwort freute. Mit dumpfem Schlag schloss sich das Buch. Staub
wirbelte auf. Ich nickte anerkennend, obwohl die Feststellungen von Herrn Titius, die Abstände der Planeten von der Sonne betreffend, widerlegt werden würden. Die Wissenschaftler hatten schon recht genaue Meßmethoden gefunden, und einige ihrer Ideen schienen selbst für arkonidisch-kosmische Ansprüche bemerkenswert zu sein. Wieder andere waren absolut hirnrissig und komisch: Sie wussten es noch nicht besser. »Es ist zu hoffen«, sagte Ricos Stimme vom Bildschirm, »daß deine Tage fröhlich bleiben. Größere Probleme stehen nicht an.« »Ich leiste Kleinarbeit«, gab ich zurück. »Hast du die Zeichnungen für Mister Hargreaves fertig?« »In einer Stunde bekommst du die Kopien.« Im Gebälk über mir, dessen Bohlen abgekratzt und gekalkt waren, hing eine Spionsonde. Ich hatte mich mit Bildschirmen umgeben, die in Truhendeckeln getarnt waren, und steuerte selbst drei winzige Sonden. An meinem Tisch saß ich unter dem Sonnensegel und nachts beim Licht vieler Kerzen und verfaßte Schreiben an Gelehrte. »Gut. Wie weit bist du mit der LARSAF?« »Es dauert noch Jahre, bis wir wieder an einen Test denken können!« »Nonfarmale?« »Weiterhin unsichtbar«, sagte Rico. »Ich arbeite an deinem robotischen Bruder.« Ich grinste. Um mich waren die Geräusche des Dorfes: Hühner gackerten, Hähne schrien, Ziegen meckerten. Auf dem Dach gurrten die Tauben. »Bis er deine Kapazität erreicht, diese fürsorgliche Klugheit, die ich in Jahrtausenden zu schätzen gelernt habe, dauert es wohl noch Jahrzehnte.« »Das mag sein. Ich stelle fest, daß du zufrieden bist«, sagte der Roboter. Jetzt lachte ich laut. »Nur mit dir, Milchbruder.« Ich stand unter seiner Beobachtung und unter seinem Schutz, auch wenn ich mich in die Stadt hineinwagte. Nachdem ich festgestellt hatte, an wie vielen Stellen einzelne Menschen oder Gruppen an Erfindungen arbeiteten, die der geistigen und wirtschaftlichen Weiterentwicklung dienen konnten, war es nicht schwer, den Männern zu richtigen Einfällen zu verhelfen. Ich beendete den Brief an James Hargreaves und wartete auf Ricos Konstruktionszeichnungen. Auch Josiah Wedgwood experimentierte mit einer Art Porzellan, das er Steingut-Pottery nannte; an ihn war das nächste Schreiben gerichtet; auch in diesem Fall arbeiteten die Zentralrechner an den Zuschlagstoffen und dem Mengenverhältnis in Abhängigkeit von der Brenntemperatur. Die Lehne des Sessels knarrte, als ich mich zurücklehnte und die Absätze der weichen Stiefel auf die Tischkante legte. Die Sonne stand hoch; ich wartete auf das Essen und frisches Brot. Ein Sperling flatterte herbei und stolzierte am anderen Ende des Tisches über den Papierstapel. »Und Richard Arkwright wartet auch auf meine Einfälle für seine wassergetriebene
Spinnmaschine«, sagte ich brummend. Es waren Abenteuer in der Stille, denen ich mich unterwarf. Nicht nur in Paris erlebte die Menschheit einen Aufschwung der Künste, des Theaters und der philosophischen und höchst entdeckungsfreudigen Wissenschaft. Kühne Ideen wurden gedacht. Ob sie durchführbar waren, würde eine ferne Zukunft zeigen. Um den dicken Stamm der Kastanie bog Lisa. Weil sie stets so lief, als treibe sie ein Wind vor sich her, nannte ich sie Cephyrine. Sie trug in beiden Armen einen großen Korb, über den ein Tuch gedeckt war. »Monsieur le Comte!« rief sie fröhlich. »Das Essen. Wie immer vor dem Fenster?« »Setz dich dazu!« rief ich. »Hast du mit dem Schmied gesprochen?« »Er holt am Nachmittag die Pferde, Herr.« Cephyrine war zweifellos das hübscheste Mädchen im Umkreis von fünf Meilen. Mit Hilfe des Psychostrahlers und eines alten, bewährten Programms hatte sie gelernt, sich zu waschen; ihre Sprache war verbessert worden, nach und nach begriff sie, worauf es in meiner Nähe ankam. Inzwischen waren ihre Fingernägel, die sie abgebissen hatte, nachgewachsen. Ich hörte das Klappern von Geschirr und Besteck im Innern der hellen Räume. Als die Musik aus unsichtbaren Geräten wieder einsetzte, erschrak Cephyrine nicht einmal. Ein zwölfjähriger Wiener, Wolfgang Mozart, spielte eigene Stücke auf einem Cembalo. »Wann reitet Ihr wieder nach Paris, Herr?« rief das Mädchen. Obwohl alle Burschen hinter ihr her waren, hatte sich die braunhaarige Zwanzigjährige für keinen entscheiden können. Ich wußte, warum. »Übermorgen. Mit den Briefen«, sagte ich. »Nehmt Ihr mich mit? Ihr habt es versprochen.« »Kannst du reiten?« »Auch ohne Sattel, Monsieur.« »Ich nehme dich mit. Aber du wirst erschrecken, wenn der Gestank in dein Näschen steigt.« »Ihr seid ja dabei. Da erschrecke ich nicht mehr«, meinte sie lachend. Sie war der gute Geist des Hauses. Wenn ich etwas brauchte, ob es eine Näherin war oder jemand, der das wuchernde Gras mähte, genügten eine Frage und ein paar kleine Geldstücke, und schnell war alles erledigt. Sie ließ auch nicht zu, daß ich betrogen wurde. »Du wirst dich wundern.« Inzwischen war ich im Dörfchen als seltsamer Gast bekannt. Was ich wollte und nicht wollte, vertrat ich mit Härte. Meine harmlose Freundlichkeit schien die Bauern zu erschrecken. Wenn ich ihnen half, standen sie fassungslos da. Und daß ich hin und wieder Besuch von adeligen, gutgekleideten Personen erhielt, passte auch nicht in ihr karges Weltbild. Ich versuchte sie in kleinen Schritten zu schulen und teilte hin und wieder Werkzeuge aus unseren Magazinen aus, die sie noch an folgende Generationen vererben konnten. Allzu viel würde auffallen, wußte ich, und auf mich zurückgeführt werden können. Ich wollte
keine Scherereien. »Kommt Ihr, Monsieur? Habt Ihr keinen Hunger?« »Sofort.« Ein weißes Tuch über der Tischplatte, Blumen aus dem Garten hinter dem Haus, Teller und Tassen, ich hatte sie aus der »Königlich Preußischen Porzellan-Manufactur«, neu gegründet in Berlin vom zweiten Friedrich, und Brot, Butter, Würste und Pasteten aus Frankreichs Küche: Es war immer ein Vergnügen. Wir aßen und tranken hellroten, spritzigen Wein und streuten den Sperlingen die Brösel auf die Fußbodenplatten. Der Geruch frisch gemähter Wiesen wehte mit dem Mittagswind durch das Haus. »Man munkelt im Dorf, Monsieur, daß Ihr weder Frau noch Mätresse habt«, erklärte Cephyrine nach dem dritten Becher. »Ihr wäret ein seltsamer Angehöriger des Adels.« Wenn ich daran dachte, wie sie noch vor einem Monat gesprochen hatte, konnte ich gewisse arkonidische Erfindungen nur uneingeschränkt loben. »Möglicherweise bin ich anders als der Adel, der sein Unwesen rund um Versailles treibt«, sagte ich zufrieden. »Seltsam? Nun ja, ich schreibe und bekomme viele Briefe von klugen Männern. Sie versuchen, das Leben der Menschen auf ihre Weise zu verbessern. Oder ist es schlecht, an einem solchen Tisch zu sitzen?« Cephyrine schüttelte den Kopf. Ihr Haar wirbelte hin und her. Ihre Zähne blitzten; im Gegensatz zu den meisten Leuten hier fehlte ihr nicht ein einziger. Ich senkte einen langen Blick in ihr Mieder und hob den Becher. »Deine Leute werden sich schon an den Kauz im strohgedeckten Häuschen gewöhnen.« Am meisten hatten sie gestaunt, als ich eine Ecke aufmauern, mit Abtritt, Rohren und Graben, einer großen Wanne und einem Becken für die Hände, mit einem Spiegel und gemauerten Wandbrettern versehen ließ. Tage später, nachdem ich den Raum mit einer wassersicheren Farbe gestrichen hatte, standen die Handwerker da, als hätten sie ein Wunder erlebt. Badetücher und Handtücher und weiße Schaffelle auf dem Boden hatten sie sich auch nicht vorstellen können. Es widersprach dem Zustand, den sie aus der Stadt Paris kannten, dem ehemaligen Lutece. Ich schnitt eine Scheibe vom luftgeräucherten Schinken ab und sagte: »In Paris werde ich Stiefel, Kleider und einige andere Dinge für dich kaufen, Cephyrine. Darin wirst du schöner sein als die Damen in Versailles.« »Ihr macht Euch lustig über ein armes Bauernmädchen, Herr.« »Nicht im mindesten«, sagte ich in gespielter Strenge. »Wart’s nur ab.« Alle Beobachtungen durch die Spionsonden zeigten es mir. Rico in der Kuppel bestätigte es: Ich saß hier in vergleichsweise idyllischer Ruhe, aber stets hatte ich das Gefühl, als braue sich eine Gefahr zusammen. Tatsächlich gab es nicht das geringste Anzeichen dafür. Ich goss Wein in unsere Becher und meinte:
»Trink, Mädchen! Alter Wein an einem jungen Tag. Es gibt kaum etwas Schöneres.« »Vater schlägt mich, wenn ich betrunken heimkomme.« »Du bleibst hier; ich spreche mit ihm. Abends spürst du nichts mehr vom Wein.« Solange sie sich im Haus befand, stand sie unter dem Einfluss der Psychoprogramme. Sie trank aus und säuberte das Geschirr, während ich mir kluge und überzeugende Formulierungen überlegte, von denen selbst Euler in Petersburg zu überzeugen war. Mathematische Formeln lieferten die Zentralrechner am Meeresgrund.
Der erste Eindruck, der die Pferde scheuen ließ, waren die Dunstschwaden der Abdeckerei von Faubourg Saint-Marcel. Je mehr wir uns der Stadt näherten, desto schlimmer waren Kot, Dreck und Gestank. Tief unter den Abfällen, die an diesem heißen Tag verfaulten, lag das Straßenpflaster. Die Luft nahm uns den Atem; die Pferde galoppierten hindurch bis zu einer winzigen Baumgruppe. Als wir anhielten und uns umdrehten, sahen wir den Dunst zum Himmel flimmern. Ich lenkte das Pferd bis zu dem Eingang zu einem Salon und achtete, wohin ich trat. Ich hob Cephyrine aus dem Sattel, führte sie hinein und registrierte, daß der Gestank im Innern des Hauses nicht mehr lebensbedrohend war. »Madame«, sagte ich zu der bleichen, verblühten Schönheit mit der abenteuerlich aufgetürmten Haarpracht. »Ihr könnt heute Euer Meisterinnenstück abliefern.« »Für Euch, Monsieur le Comte, stehen alle meine Kenntnisse bereit.« Während sich das Mädchen neugierig umsah und schließlich in einen Sessel genötigt wurde, erklärte ich genau, was zu tun war. Ich stieß auf Unglauben, denn fest alles widersprach dem Schönheitsideal aus den Kolonnaden des Hofes. Ich beharrte streng auf meinen Forderungen und zückte die pralle Börse. Dieses Argument überzeugte am schnellsten. Ich schloss: »Wenn ich nicht bewusstlos aus dem Sattel falle, bin ich in drei Stunden wieder da. Ihr wißt, was zu tun ist, Madame?« Sie lächelte mich kokett an. »Eh bien«, sagte ich. »Nicht mehr, nicht weniger. Die junge Schönheit wird nicht zur Hochzeit des Thronfolgers eingeladen. Bemüht Euch nicht.« Paris stank schlimmer denn je. Ich wußte von Studenten, die von den fauligen Ausdünstungen der Organe, die sie sezierten, nach drei Tagen qualvoller Krankheit umgebracht worden waren. Die Anzahl der Opfer, die sich im nächtens kaum beleuchteten Paris in die Sickergruben des Quartier Montfaucon verirrten, war noch. Dort erstickten sie an Fäkalien wie Wanderer in einem Sumpf. Auf meinem lebensbedrohenden Ritt durch einen Teil der Stadt begegnete ich immer wieder Lumpensammlern; sie glichen buchstäblich wandernden Misthaufen. Im Durcheinander der stechenden Miasmen waren Fisch von Mauerschwamm, Fäkalien von beißendem Rauch nicht
mehr zu unterscheiden. Mein Hengst hatte Schaum vor den Lefzen. Wie es in Krankenhäusern aussah und roch, hatte ich noch nicht erlebt. Wo sich fünf Menschen einen Strohsack teilten, war es ein Wunder, wie lange diese Leute lebten. Ich erledigte meine Besorgungen und schaffte es noch, Denis Diderot zu besuchen. Ich schaute ihm bisweilen, wenn er an der »Enzyklopädie« arbeitete, über die Schulter. Jeder weitere Schritt beleidigte meine Augen und meine Nase. Nur eine Seine-Überschwemmung konnte den Dreck wegschwemmen. Paris war zu neun Zehnteln tatsächlich eine einzige, riesige Kloake. Ich ritt, ein essenzgetränktes Tuch vor Nase und Mund, zum Salon zurück. Zunächst erkannte ich Cephyrine nicht wieder. Aber dann sah ich die neuen Kleider, die Stiefel, den Haarschnitt und das geschminkte Gesicht, Schmuck und etliche andere Veränderungen. Ich dachte mir mein Teil, zahlte und ließ einpacken, was ihr und mir gefiel. Als das Mädchen, einen kecken Federhut auf dem Kopf, wieder im Sattel saß, meinte ich: »Nach einem Gewitterregen oder einem langen Bad werden wir sehen, ob sich die Arbeit gelohnt hat.« »Es war wie in einem Traum, Monsieur«, sagte sie und griff nach den Zügeln. »Ein absonderlicher Traum.« »Noch ist heller Tag.« Nebeneinander trabten wir durch die Rue Neuve-Saint-Medard, und jeder weitere Atemzug ließ uns erkennen, daß wir dem Unheil entkamen. »Morgen früh sehen wir den Erfolg.« Die Luft hielt sich zwischen den feuchten Hausmauern, drehte sich in diesem Labyrinth und schien in der Sonnenhitze zu brodeln und zu kochen. Urinbäche rannen quer über die Straßen. Im Galopp sprengten wir über eine schmale Brücke und ließen Paris hinter uns. Der Gestank, der sich im Haar und in der Kleidung festgesetzt hatte, begleitete uns bis zu meinem Haus. »Die Welt lebt von Unterschieden«, sagte ich, während ich absattelte. »Brennt das Holz noch im Kamin?« »Ja, Herr. Du willst baden?« »Wir werden baden«, bestimmte ich. »Und zuerst kümmere ich mich um die armen Pferde.« Ich weigerte mich, die Barbaren zu verstehen. Während sie aufbrachen, um die Inseln ferner Meere zu finden, während der Blitzableiter Franklins auf die ersten Leuchttürme gesetzt wurde, galt sonnengebräunte, saubere Haut als Kainsmal, Körperwaschung als Grund für Geisteskrankheiten und Blässe unter der Dreckkruste als das Zeichen der Aristokratie. Der Begriff Barbaren – nie war er zutreffender als in diesen Jahren.
Im Wetterleuchten waren die Fledermäuse manchmal zu sehen. Sie huschten und zuckten ums Haus. Die Luft schien zu zittern wie die Kerzenflammen an meinem Bett. Ich warf einen Blick durch das kleine Giebelfenster. Jenseits der Weiden und Äcker, am Waldrand, zog über die Straße nach Vald’-Oise Nebel
auf Cephyrine lag, den Kopf auf meiner Schulter, und spielte mit dem Zellaktivator. »Und… von wo kommst du wirklich, Herr Graf d’Arcoyne?« flüsterte sie. In den Bäumen schrien Käuzchen. Insekten raschelten, und Tauben gurrten im Schlaf – Fast unhörbar war das Donnern eines Gewitters. Ich griff in ihr Haar. »Aus Hyperborea«, sagte ich versonnen. »Aus dem untergegangenen Land Atlantis. Die Atlantiden sind meine Schwestern. Du hast sie schon oft gesehen.« »Du lachst mich aus, Atlan.« »Sie stehen am Himmel, die Sterne der Plejaden. Alkyone und Merope, Elektra Sterope, Taygete und Kelaino. Und zuletzt die goldhaarige Maia. Siebengestirn, mein grünäugiger Stern«, sagte ich. »Eines Tages wird jemand, ein Okkultist, denke ich, von einem anderen untergegangenen Land erzählen, von Lemuria.« »Wann musst du zurückgehen in dein untergegangenes Atlantis?« Im Juli roch es nach trockenem Heu. Eine Maus huschte über den Deckenbalken, ihre Knopfaugen funkelten im Kerzenlicht. Motten und Falter stießen gegen den Stoff der bespannten Fenster. Cephyrine lehnte sich über mich und griff nach dem Weinbecher. Zwei Tropfen fielen auf meine Brust. »Im Winter? Nächsten Sommer? Wenn ich einen Brief bekomme, der mich zurückruft? Ich weiß es nicht.« »Und wohin reitest du wirklich?« »Nach Beauvallon. In der Dauphine. Ein Dorf von siebenhundert Seelen«, sagte ich. »Wir hatten einst viele fleißige Hugenotten. Sie wanderten ins Land des zweiten Friedrich von Preußen.« »Das ist alles so weit weg wie Atlantis.« »Du sagst es.« Der Donner wurde lauter, und der Nebel schob sich vor die Kulisse des Waldrands. Die Schwüle begann unerträglich zu werden. Auf unserer Haut glitzerten winzige Schweißtropfen. Ich hob den Kopf und nahm Cephyrine den Becher aus den Fingern. »Da ist etwas«, sagte ich. »Stimmen.« »Nicht im Dorf, Atlan.« »Still.« Wir hielten den Atem an. Ganz leise hörte ich Hufgetrappel, knirschende Felgen, Hundegebell und aufgeregte Stimmen. Die Luft vor dem Gewitter trug weit, aber die Geräusche blieben, obwohl deutlich, ungewöhnlich leise. Dann peitschten in schneller Folge drei Schüsse auf. Ich setzte mich auf und spähte aus dem Fensterchen. »Wahrscheinlich Räuber, auf der Straße«, flüsterte ich, zog Hose und Stiefel an und griff nach dem breiten Gurt. Ich zog eine kleine, zweiläufige Pistole aus dem Futteral und drückte sie dem Mädchen in die Hand. »Du weißt, wie du damit umgehen musst«, sagte ich. »Die Opfer werden nur gelähmt. Ich bin so schnell zurück wie möglich.« »Ich fürchte mich nicht. Du willst ihnen helfen?« »Ich sehe nach«, sagte ich, warf den Gurt über die Schultern und packte eine Fackel. Bis zur Straße hatte ich etwa eine halbe Meile zu laufen. Ich aktivierte
am Türrahmen den Schutzschirm, holte tief Luft und rannte auf das Licht schwankender Fackeln los, das im dünnen Nebel zitterte. Als ich dreißig Schritte zurückgelegt hatte, hörte ich den gellenden Schrei einer Frau. Der Logiksektor flüsterte warnend: Du solltest, wenn du dich einmischst, vorsichtig sein. Ich lief mit langen Schritten über die abgeweidete Wiese. Das Stimmengewirr wurde lauter, Pferde wieherten schrill, und wieder schrie die Frau. Überfälle waren in der Umgebung der Stadt häufig; nur Narren reisten nachts. Wenn es wichtig war, begleiteten Soldaten oder bewaffnete Knechte den reisenden Kaufmann oder Boten. Ich hielt die Fackel wie eine Keule in der Hand, hatte aber den Zünder noch nicht betätigt. Aus dem Bodennebel schob sich eine Kutsche hervor, von vier Pferden gezogen. Sie lag halb auf der Seite. Ein Rad war zerschmettert. Vor den blakenden Fackeln bewegten sich Gestalten wie Schattenrisse hin und her. Ich nahm die Fackel in die linke Hand, betätigte die Zündung und hob den Stab über meinen Kopf. Mit der Rechten fand ich den Kolben der schweren Reiterpistole und kippte die Sicherung, schaltete den Lähmstrahler auf volle Leistung und verengte den Abstrahlkegel. Mit einem Satz sprang ich über die Brennesseln eines Grabens. Ein Mann, vermutlich der Kutscher, lag mit zerschossenem Schädel blutend im Staub. Zwei Männer hielten eine Frau an den Armen fest, während ein dritter ihr das Kleid aufriß. Sie bemerkten den kreideweißen, strahlenden Lichtschein der Fackel zu spät. Dreimal fauchte der Lähmstrahler auf. »Hier kommt Hilfe!« schrie ich und hastete weiter. Ein Reiter versuchte sein Pferd herumzureißen. Ich schoss ihm mit dem gebündelten Strahl in die Brust. Das Pferd stieg wiehernd in die Höhe und warf ihn ab. Ein Mann, der Koffer und Truhen aus dem hinteren Teil der Kutsche losband und auf die Straße warf, wirbelte herum und wurde vom zuckenden Licht geblendet. Trotzdem griff er nach seinem Messer und versuchte es in meine Richtung zu schleudern. Wieder fauchte der Projektor, riss ihn von den Beinen und warf ihn durch die Luft. Hinter der Kutsche – die Frau war halb ins Innere hineingefallen und ruderte mit den Armen – schienen Männer miteinander zu kämpfen. Die Pferde standen schwitzend, Schaumflocken am Hals, mit hängenden Köpfen da. Ich rannte um die Kutsche herum und sah einen hochgewachsenen Mann, der sich mit einem Degen und einer leer geschossenen Pistole gegen zwei Strolche wehrte, die mit fußlangen Knüppeln auf ihn eindrangen. Die Waffe in meiner Hand spie zwei lange, fahle Blitze aus. Sie trafen die Rücken der Wegelagerer. Die Breite der Straße war grell ausgeleuchtet, als ich näher kam und mit der Stiefelspitze
einen Knüppel in den Graben trat. »Guten Morgen, Seigneur«, sagte ich und schwenkte die Fackel. »So spät noch unterwegs? Ein böser Unfall, dünkt mir.« Er senkte den Degen und blickte ungläubig die beiden bewegungslosen Körper an. »Dreifaches Unglück«, sagte er keuchend und schwitzend. Er war so alt wie ich aussah. »Das Rad, die Pferde erschöpft, und dann sechs oder sieben Schurken.« »Zu Diensten«, erwiderte ich und schob die Waffe zurück. »Graf Atlan d’Arcoyne von Beauvallon. Konnte ich ein wenig zur Hand gehen?« Er lachte ungläubig. »Herr! Ihr habt die Nacht gerettet. Mehr als Ihr ahnt, denn die Dame ist glücklicherweise nicht meine Frau. Armand-Frederic de Tourville. Der Kutscher ist wohl nicht mehr Herr seiner Sinne, wie?« »Er ist, mit Verlaub, seiner sämtlichen Sinne ledig«, sagte ich. »Ihr habt es noch weit?« »Paris.« De Tourville betrachtete das Arrangement mit wahrer Seelenruhe. Dann ging er mir dankbar zunickend und lächelnd, um den Wagen herum und versuchte, seine schluchzende Mätresse zu beruhigen. Ich sah, daß die Kutsche über ein fünftes Rad verfügte, und überlegte, was zuerst zu tun sei. Der Schweiß lief über meinen Körper; am Horizont zuckten die ersten Blitze. »Ihr seid, Graf de Tourville, kräftig und geschickt, meine ich?« wagte ich zu fragen. Seine Freundin sammelte die Schmuckstücke aus dem Staub, als das Licht der Fackel die andere Seite der einsamen Straße beleuchtete. »Mitunter, d’Arcoyne. Was gilt es?« »Es gilt, den Wagen hochzustemmen und ein heiles gegen ein zerbrochenes Rad auszuwechseln. Dann mögt Ihr, die Zügel sicher in den Händen, Euer Ziel erreichen, bevor das Unwetter losbricht.« »Parbleu. Ihr seid ein Mann schneller Entschlüsse.« »Eine meiner Tugenden«, sagte ich und löste die Riemen der Reservedeichsel, die unter dem Wagenkorb angebracht war. Mit dem Kolben der Waffe schlug ich den Splint aus der Nabe, schob die Deichsel unter die Achse und zeigte dem Grafen, wie einfach es war, das Rad zu wechseln. Sowohl er als auch seine Mätresse rochen nach ungewaschener Haut, muffiger Kleidung, Schweiß und aufdringlichen Riechwässern. Ich stemmte mich gegen das äußerste Ende des langen Hebels. »Geschafft!« rief er. Die anderen Fackeln schwelten im Straßenstaub und erloschen. »Wie kann ich Euch danken, d’Arcoyne?« Mit Riemen und Stricken, die wir in der Kiste unter dem Kutschbock fanden, fesselten wir die Wegelagerer an die Deichsel, die wir zuerst an den Straßenrand geworfen hatten. »Das ist einfach«, antwortete ich und sah zu, wie er der jungen Frau in die Kutsche half. »Bei der ersten Herbstjagd ladet Ihr mich auf einen Schluck Wein ein. Ich hause in der Verkleidung eines schreibenden Schäfers in dem Haus unter den drei
Kastanien. Merkt Euch den Meilenstein.« Im Lichtschein ragte schräg und halb überwachsen ein Stein mit Pfeil, grob gemeißeltem Stadtwappen und einer Meilenangabe aus dem Straßenrand. Mehrere Blitze züngelten in die Wolken, der Donner klang schärfer. Ich hob die Fackeln auf, entzündete sie an der heißen Flamme meiner Fackel und streckte de Tourville die Hand entgegen. »Nehmt die Fackeln. Ohne Licht ist schlecht fahren.« Er steckte sie in die Lampenhalter neben dem Kutschbock. Die Straße war voller gefährlicher Schlaglöcher und Querfurchen. Ich half ihm, die Kisten und Truhen im Innern zu verstauen. Schweigend und darauf bedacht, sich in Schönheit und unberührt von den Ereignissen zu präsentieren, sah uns die Frau zu. »Ihr werdet rasch von mir hören, d’Arcoyne«, sagte der Graf, ein Mann von guten Umgangsformen. Er wirkte wenig verspielt. »Für heute, ehe sich die Straße in einen Morast verwandelt – habt allen Dank.« »Es war mir ein Vergnügen.« Ich hob die Fackel. »Unter den gegebenen, misslichen Umständen, Madame!« Ich lüpfte einen nicht vorhandenen Hut und wartete, bis der Graf auf den Kutschbock geklettert war, Zügel und Peitsche aufgenommen hatte und in unerschütterlich guter Stimmung rief: »Eilt Euch, Graf! Regen mag gut für die Felder sein, nicht für unsere Haut.« »Ihr werdet nicht vermeiden können, das jährliche Bad zu nehmen«, gab ich voll Schadenfreude zurück. Die Pferde rissen die Köpfe hoch, die Peitschenschnur fuhr über ihre Kruppen und Rücken, dann ruckte die Kutsche an und entfernte sich mit mahlenden Felgen und in einer Wolke aus Staub und üblem Geruch. Ich bückte mich und zog den toten Kutscher von der Straße. Dann trabte ich zurück, wusch den Schweiß und den Staub von meinem Körper und setzte mich, das Tuch um die Hüften gewickelt, unter das Vordach. Nur mit einem meiner dünnen Hemden um die Hüften gewickelt, kam Cephyrine zu mir und sah zu, wie die Fackel nieder brannte. Der Donner rollte um uns herum, aber noch immer blieb die Luft drückend heiß und unbeweglich. »Er war von überströmender Dankbarkeit«, sagte ich. »Und Mademoiselle geruhten zu schweigen. Welch ein Land!« »Du bist zurück, und dir ist nichts passiert«, flüsterte sie und umarmte mich. »Schau, jetzt ist die Fackel ausgebrannt.« Im gesamten Haus leuchtete nur noch eine Kerze. Die Blitze zuckten und knatterten metallisch scharf. Ein erster Sturmstoß ließ die Blätter aufrauschen und trieb Gras, Heu und Nachtfalter an uns vorbei. Aber ich war sicher, daß Graf de Tourville auf dem Kutschbock so nass wurde wie seit langer Zeit nicht mehr.
Gepriesen seid ihr, Töchter Galliens! Besonders die jungen, grünäugigen und wohlgerundeten unter ihnen. Die Sommertage waren voll stiller Heiterkeit,
die Nächte, auch die des Herbstes, füllte verschwenderische, unschuldige Leidenschaft. Dazwischen blieb viel mühsame Arbeit. Ich korrespondierte mit mehr als drei Dutzend Forschern und Wissenschaftlern, Tüftlern und Erfindern. Keiner besaß den Rang eines Leonardo, aber sie legten, ohne viel Aufhebens zu machen, einige große Schritte auf dem Weg der Vernunft zurück. Vier Tage nach dem Zwischenfall auf der Landstraße hörte ich dumpfen Hufschlag. Ein Reiter ritt quer über das Feld, mitten durch die arbeitenden Bauern. Ich erwartete ihn, an den Tisch gelehnt, mit verschränkten Armen. »Monsieur le Comte d’Arcoyne?« rief er und schwenkte den Hut. »Ihr erkennt mich wieder, zweifellos.« »Ich erkenne einen Adeligen, der ohne Rücksicht durch das Korn reitet, das ihn ernährt. Bauern sind auch Menschen, Graf de Tourville.« »Seit wann? Ich bin hier, um mich bei Tageslicht zu bedanken.« Er schwang sich aus dem Sattel und band die Zügel an den Ring neben der Tür. »Einen Becher Wein?« fragte ich. »Kommt in den Schatten.« ArmandFrederic schaute sich aufmerksam um. Er versuchte zu erkennen, mit wem er es zu tun hatte. Ich schenkte Wein in Pokale und deutete auf die einfache Einrichtung. »Ich arbeite hier«, sagte ich. »Für Prunk gibt es keine Notwendigkeit.« »Große Praktiker reden nicht, sie handeln, wie?« »Und sie schreiben«, sagte ich. »Die junge Dame ist unbeschädigt heimgebracht?« »Mitunter ist es besser, wenn niemand etwas weiß. Ihr Liebhaber würde rasen. Ihr lebt allein hier?« »Eine reizende junge Frau hilft mir«, sagte ich. »Zum guten Stil bei Hofe gehört auch die Fähigkeit, sich mit Würde betrügen zu lassen. Ihr lebt in Paris?« »In beengten Umständen. Mein Besitz liegt in der Champagne. Und dorthin wird mich auch der König zurückschicken, wenn ich zuwenig oder zuviel Ehrgeiz erkennen lasse.« Wir setzten uns. Achtlos zerkratzten die Sporen seiner Stiefel die Bodenplatten. »Es ist also nicht einfach, in Paris und Versailles, ohne Binde um die Augen, für das Vaterland zu arbeiten? Warum seid Ihr nicht auf Eurem Besitz und seht dort nach dem Rechten? Nicht, daß ich es besser verstünde, Herr Graf?« Die meisten oder jedenfalls sehr viele Adelige waren Schmarotzer. Sie zahlten keine Steuern und wurden für Ämter bezahlt, die sie schlecht ausfüllten. Die Lage ihrer Bauern war ihnen gleichgültig; ich kannte jedes einzelne Problem von Beauvallon her. Und hier buhlten sie um die Gunst des Königs, der mißtrauisch darüber wachte, daß sie nicht fernab von Paris den Umsturz planten. »Wozu habe ich Verwalter, Dorfschulzen und Sekretäre?« fragte er zurück und schwenkte den Wein. »Ihr habt mich gesehen oder gehört in dieser schlimmen Nacht? Oder
was hat Euch auf meine mißliche Lage aufmerksam werden lassen?« »Ich habe Schüsse und Schreie gehört. Der Rest war einfach zu erraten.« Im ganzen Land wurde geerntet. Rund um Paris erstreckten sich riesige Wälder, große leere Flächen und unzählige einzelne Dörfchen, von Weiden und Ackern umgeben. Die Straßen waren am Tag meist sicher, viele waren gut ausgebaut und befestigt. Aber in den Wäldern hauste nicht nur viel Wild, das nur vom König und seinen Adeligen gejagt werden durfte. Immer wieder wurden Wanderer, Reiter und Kutschen überfallen. Selbst die Bauern in ihren schäbigen Hütten waren nicht sicher. »Die Herbstjagden in der Champagne, ich weiß nicht, ob es möglich ist. Der Hof; von der Wahrheit kann man sich schwerlich ernähren, aber sie würzt ungemein. Der König ist alt, und Berry, der ihm wohl auf den Thron folgen wird, leidet an schwerer Krankheit. Ich will meinen Dank auf andere Weise abstatten, Graf D’Arcoyne.« Ich lachte in sein gerötetes Gesicht unter der staubigen Perücke. »Macht Vorschläge, de Tourville. Ich höre.« »Seid unser Gast im Salon. In Paris. Ihr werdet viele Leute kennen lernen, die höchst geistreich zu plaudern verstehen.« Wir unterhielten uns über den Siebenjährigen Krieg, über die Lage der rund fünfundzwanzig Millionen Franzosen, die Lage der Kolonien in Übersee und den Einfluss der französischen Kunst und Kultur auf alle Länder im Umkreis Frankreichs. De Tourville sah keinen Grund, Änderungen herbeizuführen, obwohl er alles andere als dumm war. »Ich fürchte nur, Armand-Frederic, daß unzufriedene Menschen, und davon gibt’s in Paris mehr als andernorts, den Adeligen ein unwürdiges Ende bereiten werden. Gleiche Rechte für alle, und durchaus verständlich, auch gleiche Steuern für Arme und Reiche. Das wird ihre Forderung sein. Und dann rollen Köpfe, Graf. Unsere Köpfe.« »Unsinn: Der Pöbel hat noch nie gewußt, was er will. Ihr seht das alles viel zu schwarz. Wenn es hin und wieder Unstimmigkeiten gibt… wir haben einen starken König, wir haben Soldaten, Gendarmen, und wir haben den Hunger, der sie hindern wird, sich zu sammeln.« »Ich wünsche nicht, daß ich recht behalte«, sagte ich. »Aber vielleicht solltet Ihr mehr als nur darüber nachdenken. Ich besuche Euch in Paris, wenn ich wieder in der Stadt bin.« »Ihr kennt die Stadt?« »Ich kenne sie. Und sie gefällt mir nicht an allen Stellen.« Wir leerten die Pokale und verabschiedeten uns. Er ritt diesmal nicht querfeldein, sondern benutzte den Pfad, auf dem auch die Bauern zu ihren Feldern gingen. Ich blickte ihm nach und hatte kein gutes Gefühl. Aber der Himmel war voller weißer Wolken, und kein Gewitter zog herauf.
Ich schob den letzten Brief in ein schweres Kuvert, siegelte es und legte es
zu den übrigen. Jedem Mann, von dem ich erfahren konnte, hatte ich weiterzuhelfen versucht. Wenn auch nur die Hälfte aller Erfindungen, mit denen sich die Wissenschaftler beschäftigten, ob Maschinen oder ein System zur Klassifizierung von Pflanzen und Lebewesen, über ein bestimmtes Stadium hinausgelangte, konnte ich mich freuen. Und die Barbaren führten einen großen Schritt durch. Ich schob die Briefe in die Posttasche und dachte darüber nach, ob es sinnvoll war, noch heute nach Paris zu reiten; ich verschob es auf den nächsten Tag und hörte Cephyrine mit Geschirr klappern. Langsam ging ich in den hinteren Teil des Hauses, klappte die Truhe auf und aktivierte die Funkverbindung mit Rico. »In einer halben Stunde hätte ich mich gemeldet, Atlan«, sagte der Roboter. »Nun, ich war schneller. Schlimme Nachrichten?« Seit unserem letzten Kontakt waren neunzehn Tage vergangen. Eine solch lange Zeitspanne hatte mich beunruhigt. Ich sah, daß sich Rico in der Maske, in der er in Beauvallon auftrat, im großen Kontrollraum befand. »Wir arbeiten weiter am Raumschiff.« »Das habe ich erwartet. Monique?« Sein Gascognerschnurrbart sträubte sich. »Schläft tief. Dein Doppelgänger ist noch nicht wiederhergestellt. Die grobmotorischen Reflexe arbeiten zufriedenstellend.« »Höchst erfreulich«, sagte ich und winkte Cephyrine zu, die ein spätes Frühstück aufgetischt hatte. »Und was willst du mir über Nonfarmale sagen?« »Ich habe ihn aufgespürt.« »Ich höre.« Rico begann zu erklären, während er eine Folge von Aufnahmen überspielte. Ich sah das Bild einer hochfliegenden Spionsonde. Unter den Objektiven lag eine frühherbstliche Landschaft, die ich nicht wieder erkannte. Breite Flüsse, steppenartige Gebiete und Wälder. Das Bild schien aus dem Osten oder Südosten des Kontinents zu stammen. »Du weißt, daß die Türken gegen die Russen kämpfen. Oder umgekehrt. Es sind bereits Kämpfe ausgebrochen. Aus diesem Gebiet stammen die Bilder. Es war ein Zufall, daß die Sonde diesen Weg flog.« Die Heere der deutschstämmigen Katharina gegen die »yeni ceri«, die Janitscharen? Ihre Krummsäbel kannte ich. Ich hatte sie an der Seite von Prinz Eugen gesehen. Ich versuchte auf den Bildern die Gestalt des Drachenreiters zu erkennen, aber ich erkannte nur die kleinen Heerhaufen. Die Sonde sank tiefer, wurde langsamer, das Bild stabilisierte sich und zeigte verschiedene Ausschnitte. Auf einem steilen Hügel, dessen Vorderkante jäh abbrach, stand eines der charakteristischen Rundzelte. Vor dem Eingang, der sich nach Westen öffnete und von einem großen Sonnensegel überspannt war, stand ein muselmanischer Kämpfer. »Ich konnte schwache Hochenergieimpulse anmessen«, sagte Rico und erklärte so, warum
die Sonde sich auf diesen einzelnen Türken konzentriert hatte. Das Bild wurde größer und deutlicher. Der Mann, von den Zehen bis zur Spitze des Helmes außerordentlich prunkvoll gekleidet, stemmte die Arme in die Seiten und blickte über das zukünftige Schlachtfeld zu seinen Füßen. Hinter dem Zelt war halbkreisförmig die Ausrüstung zu sehen: Geschütze, Lafetten, Pferde und Sklaven, andere Janitscharen, Stapel und Verschanzungen. »Das ist Nonfarmale, zum ersten Mal ohne eines seiner exotischen Reittiere«, sagte ich verwundert. Ein Meister der Masken, flüsterte der Logiksektor. Er sah aus wie ein Mensch mit dunkel gefärbtem Gesicht und schwarzem Schnurrbart, dessen Enden herunterhingen. Aber ich erkannte seine eisigen Augen unter dunkel gefärbten Brauen und ebensolchem Haar. Zwischen der Donaumündung und Polens Südgrenze, am Nordufer des Asowschen Meeres schien sich Russland auf Kosten der Türken ausdehnen zu wollen. Dass ein erbitterter, langer Krieg bevorstand, verdankten die Menschen nicht nur ihrer Kaiserin, sondern zu einem großen Teil auch dem Psychovampir. »Das ist er.« Ich wartete, bis die lange Sequenz beendet war. Ich sagte Rico, daß ich mir in ein paar Stunden seine anderen Informationen sehr genau ansehen würde. Eine Erkenntnis fiel mir leicht: Nonfarmale befand sich, schwer zu finden, mitten in großen Menschenmassen. Wie sollte ich ihn jagen? »Die Fliegen fressen den Schinken und die Eier, Atlan. Und die Schokolade wird kalt!« rief Cephyrine. Ich warf einen letzten Blick auf meinen Feind und stand auf. »Habe ich dich geärgert, Atlan?« fragte die junge Frau erstaunt. Ich schüttelte den Kopf. »Nein. Nicht du. Ich werde es dir später erklären, denn ich muss selbst noch herausfinden, was die Botschaft wirklich bedeutet.« Sie musterte mich mit ihren schönen Augen. Mit ihrer unverdorbenen Menschenkenntnis wußte sie, daß mich eine Überlegung heimsuchte, die auch ihr Leben betraf. Wir aßen schweigend. Meine psychomathelogischen Kenntnisse schienen ernsthaft gefordert zu werden. Ich musste, mehr noch als sonst, mich in das seltsame Wesen Nonfarmale hineindenken können. Und dazu brauchte ich mehr als nur Ruhe. Nach dem Essen setzte ich den Hut auf, steckte meine Waffen ein und sagte, daß es eine Handvoll Tage dauern würde, bis ich zurück war.
11. »Das Sternenvogeltal hat sich als Idee offenbart, die um einige Jahrhunderte oder mehr zu früh kam und scheitern musste. Von unserer kleinen Universität im Hang des Sao-Miguel-Vulkans gibt es nur noch unkenntliche Fundamentreste, Atlan.« Ricos Finger glitten über Programmiertasten. Die großen Monitoren füllten sich mit Bildern, die ich kannte und solchen, die für mich völlig
neu waren. »Und nun, seit länger als einem Jahrzehnt, habe ich deinen Wunsch ein gutes Stück vorangebracht.« »Diesen Berg… ich kenne ihn. Afrika, nicht wahr?« sagte ich. Rico produzierte Ausschnitte und Vergrößerungen. »Der Kilimandscharo. In der Suahelisprache der Eingeborenen heißt er ›Berg der Dämonen‹. In den Kilimandscharo haben deine Truppen einen der sieben Silos gebaut.« »Ich verstehe.« Flottensilos waren nahe Konstantinopel, unter dem Hügel von Arcanjuiz, nahe einer fernöstlichen Inselpassage, in der Thar-Wüste Indiens, in Südamerika und, als Magazinspeicher, nahe des Lechturms, gebaut worden. »Also eine neue Arkon-Universität. Deshalb sehe ich Lilith und Synonymus Eins-Boog so selten.« »Sie überwachen und dienen dort als Relaisstationen. Hier, die ersten Bilder. Dieser Landstrich ist fast menschenleer, die Lage unserem Zweck dienlich.« Das kleinere Silo hatte etwa die gleiche Form und war auf die gleiche Art im halbvulkanischen Gestein des Kilimandscharo verankert wie unsere Schutzkuppel. Subrobots teilten die Decks in Vorlesesäle, Werkstätten, Gemeinschaftsräume und Zimmer ein; die »Universität« hatte in einigen Stollen, Höhlen und Kavernen sogar Tageslicht und war für etwa hundertfünfzig »Studenten« angelegt, die sich selbst versorgen mussten. Die geheime Anlage versteckte sich in fünfzehnhundert Metern Höhe und schien fast fertig zu sein. Ich nickte zufrieden. »Wann können wir an die ersten Lehrer und Studenten denken, Rico?« »In weniger als fünf Jahren, wenn wir zügig weiterarbeiten.« Ein schwer zu bestimmendes Gefühl hatte mich veranlasst, einige Tage lang die Schutzkuppel aufzusuchen. Es war weder Unruhe noch Misstrauen, sondern etwas wie Verantwortungsgefühl. Ich ließ mich von Rico bedienen, betrachtete andere Teile der Welt durch die Augen der Spionsonden und Teile des Sternenhimmels durch die Optiken der drei Satelliten. Ich wollte herauszufinden versuchen, ob Nonfarmale kosmische Effekte ausnutzte oder auch Herrscher der Dimensionstore und ringförmigen Transitionsöffnungen war. »Ich werde ein Stündchen schlafen«, sagte ich nach zwei Stunden, in denen ich mit Rico die Ausstattung der Universität bestimmte. »Wie Tomas de Torquemada, der Generalinquisiteur sagte: Alle Dinge werden in Wahrheit niemals besser oder schlechter – nur eben anders.« »Über einige andere Dinge kann ich mich lange mit dir unterhalten, Atlan. Manche Probleme lösen sich von selbst, wenn man ihnen Zeit dazu gibt.« »Zeit haben wir genug.« Ich gähnte. »Nachher will ich deine letzten musikalischen Bearbeitungen hören.« »Monteverdi? Mozart? Bach?« »Bach, Rico. Gut und laut. Es hilft beim Denken.«
Es war nicht schwer, jene Erscheinungen mit verirrten Nordlichtern zu verwechseln.
Aber unsere Satelliten hatten gleichermaßen optische und energetische Anomalien oder kosmische Phänomene aufgefangen. Rico hatte ihr Auftauchen mit dem Erscheinen Nonfarmales verglichen und erstaunliche Daten-Übereinstimmungen festgestellt. Ich ließ von einem Subrobot zwei Silberpokale und zwei Flaschen Schaumwein aus der Champagne in den Schaltraum bringen, setzte mich vor den Hauptterminal und schaltete mich in den Zentralrechner ein. Rico hatte sämtliche Beobachtungen, Berechnungsversuche, Stellarphotos und Parameter eingespeist; aus den Kuppellautsprechern ertönte Bachs Passion des Hl. Matthäus, vom kunstsinnigen Robot in sämtlichen Stimmen mehrfach verstärkt und tonal »verbessert«, denn Meister Johann Sebastian hatte mit kleinen Orchestern und unterbesetzten Chören vorlieb nehmen müssen – Ricos Positroniken kannten keine solchen Einschränkungen. »Wenn vor langer Zeit, meinetwegen im galaktischen Zentrum, mehrdimensionale Vorgänge stattgefunden haben, wird ihre Wirkung ebenso wie das Licht einer Nova oder Supernova auch dieses abgelegene Sonnensystem erreicht haben«,sagte ich. Rico spürte dem Aroma der Kohlensäure nach und nickte. Er sagte: »Ich habe mit Streuungseffekten gerechnet und mit allen Energiespektren, die wir bisher anmessen konnten.« »Und das waren nicht wenige.« Ich war noch immer davon überzeugt, daß ES wirkte; ohne Gelächter, ohne Aufforderungen und Befehle. Ich glaubte an sein Eingreifen in die Entwicklung der Menschheit, ohne Spuren zu hinterlassen. Ich glaubte auch fest, daß es eine Anzahl Planeten gab, deren Bewohner bis auf die letzte Zelle mit den Barbaren von Larsaf III identisch waren, aber seit Jahrtausenden über die Kenntnis der Sternenschifffahrt verfügten. Ich selbst kannte mindestens ein halbes Dutzend, angefangen bei den WANDERER-Androiden und aufgehört bei Kosmischen Vagabunden und Zeitpendlern. Die Barbaren und jene Besucher schienen gemeinsame Vorfahren gehabt zu haben; vielleicht jene, die vor unendlich langer Zeit gegen die… gekämpft hatten – ich hatte den Begriff vergessen. Plötzlich, als die Computer rechneten und Formeln für Strukturrisse, Dimensionstunnel, Materie und Antimaterie ausdruckten, öffnete sich ein Riss in der massiven Wand vor einem Teil meiner Erinnerungen. Eine Frau… Varganin… Ischtar?… der Anti-Materie-Komet im Larsaf III-System… vor so langer Zeit, daß alles undeutlich war… sie vernichtete den Kometen. Ein Strukturriss entstand, wie bei jeder solchen Explosion… ein rötliches Wabern, später pulsierendes, stellares Dunkelrot. Der Strukturriss schuf den Durchbruch zu einem anderen Universum… und der zweite Effekt war vergleichbar mit dem eines Transmitters. Ich griff zitternd zum Champagnerpokal. In meinem Verstand öffnete sich jäh ein Strukturriss:
Ich erinnerte mich! Ich schloss die Augen und genoss den seltsamen Schmerz des Vorganges. Ich stöhnte vor dem Untergang von Atlantis… meine… … Erinnerungen. Szenen aus meiner Jugendzeit. Kraumon, unser Versteck vor Orbanaschols Schergen. Der Barbar Ra begann plötzlich zu sprechen, als er Farnathia sah; er hielt sie für Ischtar. Ganz deutlich sah ich sein fleckiges Gesicht, hörte sein Schreien: »Ischtar, die Sternengeborene, die ihrem Liebsten die ewige Jugend verheißt. Ischtar, die gewaltige Jägerin. Ischtar, die ewig junge Göttin…« Und dann begann er zu berichten, so eindringlich, voller Inbrunst und Zärtlichkeit, daß alles um mich herum verschwamm und Ras Heimat, von kleiner gelber Sonne beschienen, scheinbar zu Leben erwachte. Ischtar hatte in dem Sonnensystem einen Antimateriekometen entdeckt, der unweigerlich mit Ras Heimatwelt kollidieren würde. Auf Ras Flehen entschloss sich die Frau, das gefährliche Gebilde durch einen Gravitations-Zyklon aus dem Kurs zu drängen. Der Raumtorpedo fand sein Ziel, und ein gewaltiger Lichtblitz dehnte sich aus. Dann war das grelle Leuchten unvermittelt verschwunden. An seiner Stelle gab es ein rötliches Wabern vor dem sternenerfüllten Weltall: Ein gezacktes Gebilde, unregelmäßig, pulsierend. Die Schiffspositronik gab leidenschaftslos Meßergebnisse durch: »… haben einen Strukturriss in das übergeordnete Kontinuum geschaffen… die Erschütterungen des Raum-Zeit-Kontinuums können mit unseren Mitteln über mehr als zwei Millionen Lichtjahre hinweg wahrgenommen werden. Wir müssen mit hoher Wahrscheinlichkeit annehmen, daß andere raumfahrende Rassen auf dieses Sonnensystem aufmerksam werden. «
Ein unerwarteter Sprung, neue Erinnerungen. Wir standen am Rand des Raumhafens von Atlopolis, der Kurierkreuzer MATONI war soeben gestartet, als ein Beiboot der TOSOMA zur Landung ansetzte. Die Kugel torkelte, schlug dicht neben meinem Flaggschiff auf den Boden. Drei Landebeine knickten ab, heiße Druckwellen fauchten über uns hinweg. Ein Beinahe-Absturz! Während Bergungsroboter ausschwärmten, hüllte schwarzer Qualm die TO-4 ein. Überlebende wurden geborgen, unter ihnen Kehene, der Kommandant des Beiboots; schweratmend sein Bericht: »… kam plötzlich das Loch im freien Raum! Es war so, Erhabener! Es sah aus wie ein riesiger Trichter, dessen Öffnung sich mehr und mehr erweiterte. Es geschah mit etwa zehn Prozent der Lichtgeschwindigkeit. Wo die Ausdehnung geschah, verschwanden die Sterne. Sie wurden von einem tiefroten, hier und da schwärzlichen Leuchten überdeckt. Unsere Schockwellen-Meßgeräte registrierten kurze Strukturerschütterungen…« Erst Ricos Worte rissen mich aus der Versunkenheit, beendeten den Schub aus Bildern und Geräuschen. Ich
achtete nicht darauf, sondern hob den Arm und keuchte: »Jetzt versteh’ ich’s! Erst jetzt versteh’ ich es!« »Atlan?« »Als Ischtar damals den Antimaterie-Kometen vernichtete, entstand ein Strukturriss. Er muss die erste Verbindung zur Welt jener geschaffen haben, die mit ihren Relativfronten Larsa und Larsaf bedrohten! Atlantis ging unter… In dieser anderen Welt war auch der Zeitablauf anders; laut Eigenzeit beanspruchte unser letzter Vorstoß knapp fünfundsechzig Minuten. Auf Larsaf vergingen dagegen neun Tage! Rico, das ist der gleiche Effekt wie bei den ›Jenseitswelten‹!« »Richtig. Bei den Überlappungsfronten« – Der Roboter reagierte steif, war nun das perfekte positronische Geschöpf, bar aller Emotion – »scheint es sich um die Verbindung zwischen zwei oder gar mehr UNIVERSEN zu handeln. Ich verweise auf die früharkonidischen Formeln der Dimensionsgeometrik: Ein dem Hyperraum übergeordnetes Kontinuumsgefüge, in das fünfdimensionale Strukturen akausal eingebettet sind. Nur theoretisch erörtert, niemals praktisch zur Anwendung gebracht…« Ich seufzte, der Extrasinn reproduzierte Gleichungen und flüsterte den Inhalt wissenschaftlicher Essays, vor einer Ewigkeit bei Vorlesungen der Galaktonautischen Akademie von Iprasa gehört. »Arkoniden waren und sind Pragmatiker«, sagte ich müde und wedelte mit der Hand, als sei das aufdringliche Flüstern auf diese Weise abzuschalten. »Theoretische Erörterungen waren kleinen und exklusiven Kreisen vorbehalten. Die Frage ist, wie wir dem Phänomen begegnen können – jetzt, da wir die grundsätzliche Natur erkannt haben.« Ricos künstliches Gesicht zeigte einen zerknirschten Ausdruck. »Ich fürchte, zur exakten Berechnung ist die Kuppelpositronik nicht geeignet, weil überfordert.« Die Barbaren kannten rund die Hälfte der Fläche des Landanteils ihrer Welt, weniger als achtzig Prozent der gesamten Larsaf-III-Oberfläche. Bald würde James Cook auch Terra Australis gefunden haben, »meine« große Insel. Während kluge Köpfe die Fall- und Pendelgesetze entdeckt hatten, Planetengesetze, Lichtbrechung und Gesetzmäßigkeiten sowie Natur der Gase, die Lichtgeschwindigkeit errechnet, der Blutkreislauf bestimmt und das Mikroskop erfunden worden war, zerfleischten Streitigkeiten und Kriege die Menschheit. Astronomische Fernrohre, Spiegelteleskope, Quecksilberbarometer und sogar die Einteilung in Celsiusgrade; überall steckte ein Teil meines Wirkens. Es gab eine Addiermaschine ebenso wie Bleistifte, Dreifarbendruck oder gegossenen Mahl. Eisenwalzwerke, Hinterlader und analytische Geometrie schienen auf seltsame Weise zu wetteifern mit fehlender Hygiene und Volksbildung, der Unfähigkeit, Vernunft anzuwenden, und der Bereitschaft, rücksichtslos den eigenen Vorteil zu sehen. Hatte sich seit der Sintflut
von Euphrat und Tigris wirklich nichts geändert? Was zuerst wie ein klug eingefädelter Versuch Nonfarmales ausgesehen hatte, drohte zu einer ernsten Gefahr zu werden. Es war einfach, ein Wesen auf einem fliegenden Saurier als Fremden zu erkennen. In der Maske eines Larsaf-III-Eingeborenen würde Nonfarmale gewissenlos seine blutige Machtpolitik betreiben können; innerhalb gewisser Grenzen, denn er würde sicherlich keinen Eingang in die ineinander verknäuelten Herrschergeschlechte finden, ob sie nun Wittelsbacher, Bourbonen oder Habsburger heißen mochten. Andererseits: Wagte er sich zu weit aus der Tarnung hervor, war er zu identifizieren. Zarenmord war denkbar, trotz seiner technischen Möglichkeiten, die teilweise so gut waren wie meine eigenen. Ich ging über die Felder und winkte geistesabwesend den Bauern zu, sah die Flugmanöver der Taubenschwärme, roch trockene Pflanzen und den kühlen Hauch aus dem Wald. Das war die eine Seite der Münze. Wie sah es auf der abgewandten Seite aus? Nonfarmale lebte auf Inseln im Meer von Karkar. Die Inseln waren andere Planeten; kein Zweifel. Er hatte nur die Verstecke geschaffen, nicht aber die Planeten. Die Existenz der Helfer bewies, daß er sich die Talentiertesten seiner »Jenseitswelten« unterworfen hatte. Wie viele Planetenverstecke, Jenseitswelten, gab es? Ich kannte einige davon. Sie waren erdähnlich. Von dort kamen seine Reittiere, die ihm einen Vorteil verschafften, solange die Barbaren nicht über Flugapparate oder Gleiter verfügten. Er würde immer wieder in die Jenseitswelten zurückkehren, zumal er wegen der unterschiedlich ablaufenden Zeit offensichtlich einen Vorteil hatte. Läuft es auf einen Kampf Mann gegen Mann hinaus? Höchstwahrscheinlich. Zwei Meister der Masken inmitten von Millionen und aber Millionen Menschen? Nicht anders. Denke an deine eigenen Überlegungen über dieses Land. Ich unterbrach den lautlosen Dialog mit dem Extrahirn. Der plötzliche Schreck ließ mich taumeln. Ich setzte mich auf einen Feldstein und wischte kalten Schweiß von der Stirn. »Es muss ein Angriffskrieg um Geländegewinn sein«, murmelte ich. Nein. Andere Gesetzmäßigkeiten fielen mir ein. Auch eine gewaltsame Veränderung innerhalb des Systems aus Klassen zwischen absoluter Armut und Rechtlosigkeit und dem angeblich gottgewollten Herrscher, eine vertikale Machtverteilung! Sie konnte nur schauerliche und blutige Folgen haben. Frankreich! Nahezu jedes Land auf diesem Planeten war gefährdet. Überall schwebte unsichtbar jene Pyramide über den Menschen, ganz oben der König, die Basis bildete das mehr oder weniger rechtlose Volk. Nonfarmales Blutdurst stand der ganze Planet zur Verfügung. So viele Emotionen brauchte er nicht, konnte er nicht schaffen.
Schwacher Trost, Arkonide. Nicht jeder größere Krieg war von ihm angezettelt worden. Kleinere Auseinandersetzungen interessierten ihn nicht; überdies war der Planet zu groß für einen einzelnen. Ich wußte es besser. Jeder große Umsturz ein Werk von Nonfarmale? Nein. Denn er musste die menschlichen Werkzeuge erst überzeugen, ausrüsten und unterstützen. Er selbst würde sich gefährden, wenn er als Usurpator auftrat, würde stets der zweit- oder drittwichtigste Mann bleiben. Ich streckte die Beine aus und sagte laut: »Deine Zeit mit Cephyrine, Atlan, nähert sich dem Ende. Der Abschied ist nicht fern. Du entscheidest, wann du an die Schaltknöpfe der Kuppel zurückkehrst, wenn du alle Informationen des Roboters hast.« Ich ging, bedächtig einen anderen Weg wählend, zurück zum Weiler Pierrefitte. Ein Bauernjunge striegelte die Pferde und bewachte das Haus. Ich gab ihm einige Münzen, und er sagte: »Herr, sie kommt am Abend wieder. Sie hilft auf dem Feld.« »Danke«, sagte ich. »Ich warte. Ich bin im Haus. Wenn du einen Schluck Wein willst, klopf an die Terrassentür.« »Danke, Herr«, stammelte er. Er war völlig überrascht. Ein gutes Wort aus dem Mund eines Adeligen war selten. Das erleichterte solchen Kreaturen wie Nonfarmale das Hantieren mit menschlichen Schicksalen.
In schweigender Wut betrachtete ich den falschen Janitscharenführer. Seine Ausstattung war makellos und von blendender Schönheit. Hinter seiner Stirn schienen Vorstellungen abzulaufen, die mich erstarren ließen. Die Narbe war ein dünner, weißer Zickzackstrich; er schien mit der Wahl seines Aussehens, seiner Stellung und der bevorstehenden Kämpfe zufrieden zu sein. Ich holte aus Cephyrines Schrank einen Becher, den ich mit Marc aus der Champagne füllte, einem Tresterbrand, den Armand-Frederic de Tourville mit dem Hauptmann der Gendarmerie geschickt hatte, als die Wegelagerer im nächsten Morgengrauen mitsamt der Wagendeichsel abgeführt worden waren. »Rico. Hier bin ich wieder«, sagte ich und roch an dem farblosen Brand. »Ich als Optimist glaube, daß ich auf dem besten aller möglichen Planeten hause. Du als Pessimist befürchtest, daß das stimmt. Zeige mir, was du über Nonfarmale weißt. Ich bin auf das Schlimmste vorbereitet.« »Sofort, Graf d’Arcoyne.« Ich blickte in Ricos gefärbte, »menschliche« Sehlinsen. »Nonfarmale entdeckte das Innere des afrikanischen Kontinents«, sagte der Roboter. »Dort fühlt er sich wohl, denn die Eingeborenen fürchten sich noch sichtlich vor fliegenden Dämonen.« Dann überspielte er die nächste Folge optischer Beobachtungen. Die Spionsonde überflog einen See, kurvte über eine hellbraune Savanne und strich entlang des Waldrands. Zwischen dem Wald und weit in den See hinein
erstreckten sich Reihen kleiner Hütten. Manche standen auf hölzernen Stelzen. Aus Löchern in den Dächern ringelten sich Rauchfahnen in den Himmel. Fischerboote wurden auf dem See gepaddelt; auf kleinen Feldern arbeiteten Frauen. Die Sonne strahlte senkrecht durch große, weiße Wolken, die von Westen heranwalzten. Die Szenerie strahlte Frieden aus. Einige Dutzend Minuten lang setzte die Sonde ihren lautlosen und unbeobachteten Flug fort. Ich sah eine Karawane weißgekleideter Reiter, die schwarze Sklaven mit sich führte, sah kleine Jägergruppen in der Savanne, fliehende Tiere, riesige Herden, die auf Wanderschaft waren. Und dann sah ich Nonfarmale; sein Reittier war ein riesiger Geier, der einem afrikanischen Geier ähnlicher war als jedem anderen Aasfresser. Graue, weiße und braune Federn, ein weißer Halskranz, ein muskelstarrender Hals mit struppigem Gefieder, dicke Muskelstränge, weit ausgespannte Schwingen, zwischen denen Nonfarmale in einem hochlehnigen Sattel saß, boten einen schreckenerregenden Eindruck. Der kantige Schädel mit großen Augen und dem Schnabel, der wie eine metallene Doppelsichel blitzte, war weit vorgereckt. Der Geier spähte nach unten und suchte Opfer. Sein Fächerschwanz zuckte während der Steuerbewegungen unaufhörlich. Die schmutzstarrenden Federn der langen Ständer und die knochigen Vogelzehen zitterten wie in mühsam unterdrückter Gier. Die Krallen ähnelten dem mörderischen Sichelhakenschnabel. Der Riesengeier stieß keuchende Schreie aus, während er über den See flog und den warmen Aufwind ausnutzte. Weit unter dem drohenden Gespann begannen die ersten Signaltrommeln zu rasseln. »Nonfarmale hat sich, wie zu sehen ist, geschickt kostümiert«, sagte Rico »Die Wahrscheinlichkeit, daß er sich zuvor über die Ansprüche seiner neuen Opfer informiert hat, ist sehr groß.« »Wie auf den ersten Blick zu erkennen ist. Wie alt ist die Aufnahme?« »Dreizehn Tage.« »Er ist verdammt schnell.« Nonfarmale trug als Helm einen Leopardenkopf. Die Kiefer mit gekrümmten Zähnen klafften zwischen Kinn und Stirn. Die Augen des Schädels, von dem die Hälfte der Haut fehlte, warfen funkelnde Blitze. Nonfarmales Haut war nicht schwarz, aber dunkler als sonst. Er trug faszinierende Streifen und Muster in verschiedenen Farben auf der Brust, und über dem Leopardenfell über Schulter und Rücken wehte ein weißer Mantel. Der Seelensauger trug eine weite Hose, offensichtlich aus dünnem Leder, darunter lange Stiefel. In seinem doppelt handbreiten Gürtel mit einer runden, goldschimmernden Schließe steckten Messer und Dolche. »Und sein Waffenarsenal«, sagte ich fast bewundernd, »ist auch landestypisch gewählt.« Einige Fischer blickten zum Himmel, rissen die Arme in die Höhe und schirmten
die Augen gegen die Sonne ab. Sie sahen den Geier und Nonfarmale, die in weiten Kreisen sich immer mehr der Siedlung näherten. An der linken Schulter trug er einen mehr als halbmannslangen Schild, oval und aus einem Fell in nie gesehenen Farben und Mustern. Das fratzenhafte Gesicht, aus den Strukturen gebildet, war weithin zu erkennen, obwohl es an die Phantasie des Betrachters gerichtet war. In einem Köcher am Sattel befanden sich viele Wurfspeere mit langen Klingen, ein großer Bogen und ein Pfeilköcher hingen rechts, und in den Händen hielt Nonfarmale ein Beil mit doppelter Klinge. An den Handgelenken sah ich breite Bänder aus Perlen, Gold und Ebenholzstäbchen. Ein Halsschmuck, sichelförmig, bestand aus denselben Materialien. Er bot einen überaus prächtigen Anblick; seine Haltung strahlte königliche Macht aus. »Und was fängt er mit dieser Macht an?« fragte ich mich. Der Geier schwebte in Kreisen über den See, sank tiefer und kam auf die Siedlung zu. Das Rasseln der Trommeln wurde lauter, ebenso die Schreie der Frauen. Kinder flüchteten in den Schatten der Bäume. In dieser Stunde entstanden wieder neue Sagen und Legenden. Kopfschüttelnd trank ich einen Schluck des stark riechenden Getränks. Nonfarmale betrachtete seine Opfer ebenso eindringlich wie ich ihn. Jetzt näherte sich der Geier mit erschreckendem Geschrei zum ersten Mal den Hütten, die am weitesten im See standen. Zwei Kanus verschwanden pfeilschnell in einem Sprühregen, von den Paddelblättern hochgeworfen, unter den Plattformen. Unruhe kam in den Takt der kleinen Trommeln. Die Eingeborenen, ohne Ausnahme hochgewachsene Menschen mit schmalen Köpfen, starrten, von Schrecken gelähmt, in die Höhe. Im grellen Sonnenlicht war jede kleinste Einzelheit des Geiers und dessen nicht weniger bedrohlichen Reiters zu erkennen. Der Geier raste über die Siedlung hinweg und verschwand hinter den Wipfeln der moosbehangenen und von Flechten bedeckten Riesenbäume. Die Trommeln schwiegen. Ich hörte, wie die Luft durch die Schwungfedern des Geiers pfiff und rauschte. Ich bildete mir ein, den stechenden Geruch des Tieres in der Nase zu spüren. Nonfarmales Lächeln war besitzergreifend, als das Tier wieder über die Savanne glitt, über das Seeufer und ein zweitesmal auf die Hütten zu. Kreischend rannten Eingeborene in den Schutz der Dächer und Vordächer. Sie klammerten sich aneinander; jetzt war der Bann des Schreckens gebrochen, und sie bestaunten den Segler mit seiner königlichen Last wie einen Mächtigen, wie eine Gestalt aus ihren Träumen. Der Geier schwebte in einer Höhe von zwei Pfeilschüssen entlang dem Ufer. Nonfarmale zog einen Wurfspeer aus dem Köcher, wog die Waffe prüfend in der
Hand und schleuderte sie fast senkrecht nach unten. Ein Blitz zuckte auf, ein mächtiger Donnerschlag ertönte. Dann bohrte sich der Speer in den Boden, eine Fußbreit neben den kleinen Wellen, die an den Strand schlugen. In einer Stichflamme, einer schmetternden Explosion und einer Rauchwolke verwandelte sich das Geschoß in ein Zeichen. Dampf breitete sich aus, zuerst weiß, dann feuerrot. Im Innern einer pilzförmigen Wolke erschienen zuckende Punkte. Ein weiter Speer, einhundert Schritt weiter östlich einschlagend, erzeugte mit beachtlichem Aufwand eine gelbe Pilzwolke. Jedes Mal kam aus der Siedlung ein lang gezogener Schrei aus einigen hundert Kehlen. Die Paddler wussten nicht, ob sie ans Ufer oder auf die Weite des Sees hinaus flüchten sollten. Sie steuerten ihre Boote angstvoll in verschiedene Richtungen. Der dritte Wurfspeer zischte ins Wasser und rief eine kleine Flutwelle hervor, die sich kreisförmig ausbreitete, ein Boot kentern ließ und zwischen den Stelzen ausrauschte. Völlig überraschend, schien Nonfarmale die Lust an seinem Spiel verloren zu haben. Zufrieden lachend griff er in die Zügel. Der Kopf des Geiers wurde hochgerissen. Das Tier peitschte die Luft mit den Schwingen und drehte ab. Nonfarmale lenkte den Aasvogel in größere Höhe und auf den See hinaus, über die angsterfüllten Fischer hinweg. Als er für die Augen der Eingeborenen nur noch ein kleiner Punkt war, verschwanden Geier und Reiter lautlos. »Sehr eindrucksvoll«, sagte ich. »Er kehrt vermutlich in jene Landschaft zurück, die ich im letzten Versteck sehen konnte. Felsen, Moos und Wasserfälle abseits der Wüste.« »Der distanzlose Schritt, den er ausführte, ist beendet. Kein Anzeichen für das Vorhandensein einer Strukturöffnung«, antwortete Rico. »Wie sehen deine Pläne aus? Hast du schon darüber nachgedacht?« »Noch nicht bis zum Ende.« Ich zuckte mit den Schultern. »Hier sind noch verschiedene Entwicklungen zu einem guten Ende zu führen. Bereite dich darauf vor, von Beauvallon aus mit einem Transmitter hier zu erscheinen. Oder schicke einen Subrobot. Es könnte sein, daß ich ganz schnell verschwinden muss.« »Verstanden.« Ich klopfte mit dem Zeigefinger gegen den Bildschirm. »Hast du noch weitere Berichte über Nonfarmale?« »Ja. Sein vorläufig letzter Auftritt.« Ich versuchte, mit einem weiteren Schluck meinen Ärger zu betäuben. »Wie alt?« »Drei Tage ist es her. Gleichzeitig mit so vielen Sonden zu suchen und jede davon zu kontrollieren, geht an die Grenzen meiner Kapazität. Da ist für Synonymus und die LARSAF nur wenig Zeit.« »Unwichtig. Zeige mir den Schurken.« Der Herbst löste den langen heißen Sommer ab. Das friedliche Leben war wohl vorbei.
Ob ich an die Südwestgrenze Russlands flog, um dort Nonfarmale zu suchen, wußte ich nicht. Es wäre vermutlich sinnlos, ihn inmitten von Tausenden aufspüren zu wollen. Wenn er sich geschickt versteckte, fiel ich schneller auf als er selbst. Ich warf einen Blick auf die Tasche voller Briefe und auf den Mohn, der vor der Tür verwelkte. Prächtige Schmetterlinge gaukelten zwischen den letzten Blüten des Sommers. Eine neue Bildfolge. »Außenbezirk von Moskau«, erklärte Rico. »Achte auf die Reiter.« Etwa zwei Dutzend schwerbewaffnete Reiter galoppierten zwischen den letzten großen Häusern und den ersten elenden Katen eine Straße entlang, die schmaler und schlechter wurde. Es hatte geregnet; dreckiges Wasser spritzte aus den Pfützen. Die Offiziere der Zarin waren ebenso prachtvoll gekleidet und ausgerüstet wie die Janitscharen, die Pferde wohlgenährt und voll überschüssiger Kraft. In Viererreihen donnerten die Reiter in südliche Richtung, an einem Galgen vorbei, an dem ein Gehenkter schaukelte, von einem Schwarm Raben umflattert. Ein Windstoß trieb goldenes Laub über die Straße. Hinter der Reiterschar wirbelten Kies und Lehmbrocken durch die Luft. Lanzen reckten sich in die Höhe. Auf den Rücken der Reiter, Offizieren mit pelzgeschmückten Helmen, schaukelten lange Musketenrohre. Das Leder glänzte, das Silber der vielen Beschläge blitzte mit den Waffen um die Wette. Die Sonde, die bisher in mittlerer Höhe hinter den Reitern geschwebt hatte, überholte sie und zeigte die Schar von vorn. An der Spitze ritt mit verhängten Zügeln der Saurokrator. Er saß vorbildlich im Sattel des schwarzen Hengstes. Sein Gesicht ließ erkennen, daß er sich auf die bevorstehenden Kämpfe freute. Die Reiter schrien sich raue Bemerkungen zu. Ich verstand kaum etwas, aber es waren keine Minnelieder. Die zaristischen Offiziere trieben ihre Pferde rücksichtslos an. Der Mann an der Spitze, dessen Schnurrbartspitzen sich angriffslustig hochreckten, verwendete Peitsche und Kandare auf eine Weise, die dem Tier scharfe Schmerzen bereitete. Blut tropfte von den Sporen. Der Hengst gab sein Bestes; aus den Nüstern stoben lange Atemwolken. Schaum flockte von der Trense, das Tier rollte die weit aufgerissenen Augen und hatte die Ohren flach angelegt. Wieder klatschten die Peitschen. Das Hufgetrappel war ein dumpfer Wirbel. Längst waren die Reiter aus der Stadt hinaus und über Bauernland geritten. In der Abendsonne glühten die Kuppeln von Moskaus Türmen. Die Straße, noch schmaler und schlechter, wand sich zwischen abgeernteten Feldern und Äckern aus langen, schwarzen Furchen dahin. Jetzt waren die Reiter gezwungen, zuerst in Zweierreihen, schließlich hintereinander zu reiten.
Die Wimpel unter den Lanzenspitzen knatterten. Diesen Ritt und noch mehr das, was bevorstand, genoss der Seelensauger. Seine Augen waren halb geschlossen; träumte er von Blutorgien und Schlachtenlärm? »Sie werden ihre Pferde zuschanden reiten«, murmelte ich, als die Sonne hinter schwarzen Wolken verschwand. Düsternis legte sich wie ein Tuch über die melancholische Landschaft. In weiter Ferne leuchteten Lichter aus den Fenstern eines massigen Hauses. Der wilde Ritt ging weiter. Ein schwerbeladener Wagen, dessen Fahrer auszuweichen versuchte, kippte in den Straßengraben. Johlend Scob die Schar vorbei. Die Dunkelheit kam schnell, aber die Reiter schafften es, den Gasthof zu erreichen, ehe sich die Umrisse des Landes in der Schwärze auflösten. Es gab Geschrei. Knechte stürzten hinaus und schwangen Fackeln. Die Pferde wurden in die Scheune geführt und abgesattelt. Die Offiziere schlugen die Reitpeitschen über die Rücken der Bediensteten, weil es ihnen nicht schnell genug ging. Knarrend schlossen sich die Tore der Scheune, und als letzter stand Nonfarmale vor dem Eingang der Relaisstation, stemmte die Arme in die Seiten und lachte. »Ich verschaffe dir einen Transmitter, den du nach Beauvallon oder in die Kuppel schalten kannst.« »Recht so. Wenn es Probleme gibt, melde ich mich auf der Frequenz des Funkarmbands.« Ich nickte kurz. Der Bildschirm wurde grau. Ich schaltete ihn ab und klappte die Truhe zu. Die fast leergeräumte Fläche des Arbeitstisches war nach den vielen Briefen ein ungewohnter Anblick. Ich hob den Becher und legte die Fersen auf den Tisch. So fand mich Cephyrine, als sie am frühen Abend müde von der Feldarbeit kam. In Paris expedierte ich die Briefe und hoffte, mit einiger Aussicht auf Erfolg, daß ihre Empfänger mit meinen Ratschlägen ihre Ideen besser, schneller und erfolgreicher weiterentwickeln würden. In der Stadt hatte sich nichts geändert. Ich besuchte Armand-Frederic de Tourville und störte ihn während einer wichtigen Besprechung. Nach langer Suche fand ich die Abtei, der das Land in Pierrefitte gehörte, und mietete das Häuschen für fünfzig Jahre. Ich ließ in die Dokumente den Namen von Cephyrines Vater und auch ihren eintragen. Sie würden ihre Heimat behalten können; niemand durfte sie vertreiben. Ein Robot brachte einen Transmitter und schwebte nach Beauvallon. Ich wartete und wußte nicht genau, worauf; das Warten war nicht unangenehm.
Schneeregen prasselte um das Haus. Die dicken Mauern hielten die Wärme des Kaminfeuers, wenige Kerzen flackerten. Fenster und Türen waren von dicken Decken verhängt. Über einer Schale voller Glut, die langsam erkaltete, stand ein Krug voller heißem Würzwein, mit Honig gesüßt und mit dem Geruch
nach Orangen aus Beauvallon. Glucks herrliche Musik füllte den Raum ebenso wie die Gerüche der Äpfel auf den Balken, des Lavendels und des trockenen Rauches. Eine letzte Fliege summte irgendwo träge durch den Raum. »Weißt du, Atlan…« Cephyrine lehnte in den Kissen an der Wand und tat so, als müsste sie ihre Finger an dem Weinbecher wärmen, »ich weiß, daß du weggehen wirst. Ich weiß es seit dem ersten Tag, seit der ersten Nacht.« »Ich bin immer noch da«, sagte ich leise, und als ich die linke Hälfte ihres Kopfes im Licht sah, erwachte vage eine Erinnerung. »Und, bevor ich es vergesse: Dieses Haus mit allem, was darin ist, gehört für fünfzig Jahre deinem Vater und dir. Ein Vertrag liegt in der Abbaye.« »Aber du wirst weggehen, nicht wahr?« »Wenn man mich ruft«, bestätigte ich. Ich schob meine Finger in ihr langes Haar und drehte es zu einem turbanartigen Wirbel zusammen. Die Erinnerung an ein Bild in Türkis und Azurblau, Stahlblau und Orange wurde kräftiger. »Das dauert noch, Cephyrine. Wie lange, das weiß ich nicht.« »Ich verstehe nicht, warum du das tust. Ein hoher Herr, ein Graf, der einem Bauernmädchen ein Haus bezahlt.« »Du bist kein Bauernmädchen mehr«, sagte ich. »Du bist nicht gezwungen, dich mit einem Kerl zusammenzutun, bloß, um nicht zu verhungern. Du wirst vielleicht krank werden, aber du wirst nicht hungern müssen und auch nicht in Paris deinen Körper verkaufen. Hier bist du sicher.« »Sicher, an diesen Gedanken muss ich mich erst gewöhnen.« Eines Nachts goss ich eine wohldosierte Menge Schlafmittel in Cephyrines Wein. Als ich mit ihr auf den Armen aus dem Transmitter trat, stand die Sonne schon zwei Stunden über dem weißen Strand und der Lagune unserer kleinen Insel. Ein Subrobot hatte Yodoyas Haus für uns vorbereitet. Selbst für mich war der Temperaturunterschied ein Schock. Ich öffnete alle Türen, um die Seebrise durch die Räume wehen zu lassen. Sie waren ein wenig muffig geworden. Dann, solange Cephyrine noch schlief, langte ich in den Salbentopf und versah die Haut unserer Körper mit einem sonnenschützenden Film. Auf dem niedrigen Tisch hatte ich die Bestandteile eines Frühstücks ausgebreitet und serviert, das in Versailles Aufsehen erregt hätte. Cephyrine kam in einem bodenlangen Kimono aus dem Bad und richtete ihren Blick auf mich. Sie war verstört, erschreckt. Ich zog sie an mich und sagte: »Nimm es wie einen Traum. Wir sind durch ein Tor in einen Traum hineingegangen. In Wirklichkeit liegen wir in Pierrefitte unter einer dicken Decke und schwitzen.« Es dauerte Stunden, bis sie sich gefaßt hatte. Aber dann überwältigte sie der Anblick der Brandung, das zischende Salzwasser über dem Sand, die Fische
und die Wärme, die den Schrecken vor dem Wasser vergehen ließ. »Ein herrlicher Traum, Atlan.« Wir standen bis zu den Schultern im warmen Wasser der Lagune. Zwischen den Zehen quoll der Sand. Fische berührten unsere Knie. »Nicht alle Träume sind gut. Dieser bleibt so schön, wie er angefangen hat«, sagte ich. »Und jetzt werde ich dir beibringen, wie die Fische zu schwimmen.« »Das kann ich nicht!« »Morgen kannst du’s«, versicherte ich, hielt sie fest und zeigte ihr im seichten Wasser, wie es möglich war, daß ein Mensch im Salzwasser des Ozeans nicht unterging und elend ertrank. Sie begriff mit der Schnelligkeit, mit der sie sich auch an andere Seltsamkeiten gewöhnt hatte. An den Nachmittagen zog sie sich in einen dunklen Raum zurück und schlief. Bald waren wir so braun wie die dürren Palmenwedel. Der Turm stand unverrückbar. Es hatte keine Eindringlinge gegeben, von Spinnen und Mäusen abgesehen. Langsam liefen die Bauarbeiten rund um die LARSAF weiter. Die meisten Einbauten befanden sich in den Werkstätten der Kuppel. Synonymus Eins, inzwischen wieder durchaus menschlich anzusehen, half Rico. Ununterbrochen speicherte der Robot weitere Programme und Verhaltensweisen. Nach der großen Reparatur konnte er nur besser sein als zuvor. Wahrscheinlich würde ich ihn brauchen. »Keine Nachrichten von Nonfarmale?« fragte ich später. »Er ist unauffindbar, Gebieter«, antwortete Rico. »Du kannst euren Traum verlängern.« »Dann besteht die Gefahr, daß aus dem Traum Wirklichkeit wird«, meinte ich. Le Castellet und Beauvallon: Im Dörfchen war, so gut ich es von hier aus feststellen konnte, trotz einer hohen Schneedecke alles bestens. Die Dächer waren dicht, auf dem Eis des Weihers spielten Kinder; viel fettes Vieh stand in den Ställen. Hin und wieder drehte ich den Kopf und sah über die Korallenriffe aufs Meer. Es war denkbar, daß ein Kapitän wie James Cook ausgerechnet jetzt hier Anker werfen wollte, um seine Forschungen und Messungen zu betreiben. Es wäre uns nicht recht gewesen. Ich trainierte meinen Körper für einen bevorstehenden Kampf, mochte er bald oder in sehr langer Zeit stattfinden. Es war mehr ein Ritual, um mein Nichtstun zu rechtfertigen. Wir schwammen um die Wette; oft ließ ich Cephyrine gewinnen, die so tat, als glaube sie mir. Als ich merkte, daß aus der glücklichen Stimmung dieser unbeschwerten Tage Melancholie zu werden begann, beendete ich unseren Traum auf dieselbe Weise, wie ich ihn angefangen hatte. Die junge Frau wachte wieder im Häuschen auf, von Schnee umgeben und vor einem Feuer aus wuchtigen Kloben, das seit zwölf Stunden loderte. Sie fuhr mit den Fingern über ihre gebräunten Schultern. »Ein schöner, langer
Traum war es, Atlan. Vorbei?« Ich nickte und schwieg. Ein Teil meiner Ausrüstung befand sich schon in Ricos Gewahrsam. Sie stand auf und kam barfuss über Matten, Felle und Decken zum Feuer. »Sag es mir nicht, wenn du weggehst«, wisperte sie. »Versprichst du’s?« »Ich versprech’s.« Sie hüllte sich in meinen Reitermantel und hielt die Füße in die Nähe der Flammen. Ihre Blicke glitten über die Einrichtung des Hauses, als würde auch sie verschwinden, wenn sie von Sonnenstrahlen getroffen wurde. »Meinen Leuten sage ich, wir waren in Paris.« »Das ist eine Erklärung, die sie verstehen werden«, antwortete ich. »Bevor das Jahr endet, muss ich in meine Grafschaft und dort einen Gegner besiegen, der schlimmer ist als alles, was du dir ausdenken kannst.« Sie zählte die Tage an den Fingern ab und fing lautlos zu weinen an. »Bis zum letzten Tag… wir bleiben zusammen, Liebster?« Es war das erste Mal, daß sie mich so nannte. Ich konnte es ihr versprechen, ohne lügen zu müssen. In der letzten Nacht, die leidenschaftlich begann und zärtlich endete, als Cephyrine tief schlief und das Gesicht zur Wand gedreht hatte, zog ich mich an, packte die Reste meiner Ausrüstung und schaltete den Transmitter ein. Alles Geld, das ich noch besaß, lag in einer Schüssel zwischen Zwiebelringen, Honig und Tassen in Cephyrines Schrank. Ich spürte ein deutliches Gefühl der Schäbigkeit; bevor ich mich selbst als Schuft bezeichnete, passierte ich den Transmitter, der sich anschließend selbst desaktivierte. Nicht einmal die kühnste Phantasie hätte mir einflüstern können, ob ich sie je wieder sehen würde. Es war ein stiller Abschied; einer von der bösen Art. »Die Überlegung, ob ich vor den Toren von Paris warten soll oder hier, ich kann dazu nichts Geistvolles sagen«, erklärte ich, als ich in dem Ledersessel vor den großen Holobildschirmen saß. »Aus einem abseitigen Grand fühle ich mich hier am richtigen Ort.« »Ich bin in weitaus größerem Maß beruhigt«, sagte Rico, ohne sich umzudrehen. »Die Überlegung sollte heißen: Willst du wach bleiben oder schlafen? Warten müssen wir so oder so.« »Ein entschiedenes Jein, Rico.« »Ich errechne, daß du eine Zeitlang in der Kuppel wach bleiben und, wenn dich endgültig die schlechte Laune packt, tiefschlafen wirst.« Die Bilder wechselten einander ab. Zeitgenössische Musik schien im Zentrum der Schalttechnik fehl am Platz zu sein, aber sie klang selbst hier wohltuend. »Darauf läuft es hinaus.« Rico schaltete die Gesamtansicht eines Werkstattraums auf den Schirm, zeigte mit ausgestreckten Armen darauf und sagte: »Dann solltest du, Gebieter d’Arcoyne, den unwissenden Robotern helfen, das Sternenschiff raumflugtauglich wiederherzustellen.« »Auch das beabsichtige
ich zu tun.« In den nächsten Tagen archivierte ich sämtliche Erinnerungsstücke, die aus der Barbarenwelt stammten. Einige Proben übergab ich den Maschinen zur Analyse. Ich stand lange an dem transparenten Sarg, in dessen Schutz Monique schlief. Bevor ich mich dem Schutz der Maschinen überantwortete, jagten der Robot und ich, unterstützt von meinem Doppelgänger, sämtliche Spionsonden kreuz und quer über die Landmasse des Planeten. Unzählige erstaunliche Informationen boten sich uns. Aber nicht eine über Nonfarmale. Noch während ich spürte, wie der Schlaf des Nichtvergessenkönnens über mich kam, dachte ich an den Psychovampir. Er würde wiederkommen. Zur Unzeit, wie ich ahnte. Aber wann war die Zeit richtig für jene Kreatur, den nur der Paladin der Menschheit mit einiger Aussicht auf Erfolg bekämpfen konnte?
12. »In demselben Jahr, in dem die Erste Encyclopaedia Britannica auch in Paris in drei dicken Bänden das Licht der Welt erblickte«, sagte Cyr. Als er die Flut der Informationen betrachtete, die er nach Atlans ScheinErklärung und dem Erinnerungs-Rückfall in die Zeit vor Untergang von Atlantis angefordert hatte, begann er vor Verzweiflung zu schwitzen. Alles über Jenseitswelten, Parallelwelten, Materie-Antimaterie-Effekte, Transmittertechnologie, Strukturphysik und -rissgrenzwerte, Lemurer, Rotes Universum, Gravitationsschock, Druuf, die verschiedenen Namen und Begriffe aus Atlans »Jugend«, die günstigenfalls nur das Archiv der United Stars Organisation und das Flottenarchiv liefern konnten, beide in Tifflors Administration untergebracht. Roger Chavasse, der Computerspezialist und ein Vertrauter Tifflors, Major Dr. Amparo Abdelkamyr, waren unterwegs zu Cyrs Studio. Er würde, wenn Atlan seine Erzählungen beendet hatte, mit ihnen diskutieren und versuchen, eine verständliche Kurzfassung aller jener Überlegungen zu erarbeiten, die den Themenkreis um Nonfarmale, WANDERER und die WeltentorVerbindungen zwischen den unbekannten Planeten und Terra betrafen. Cyr seufzte; für die ANNALEN stellte dieses Thema eine fast unzumutbare Schwierigkeit dar – von all diesem verstand er selbst vielleicht nur zwei Prozent. Aescunnar hatte jedes Stichwort mit einer Kodenummer versehen und las sie in den Zwischenspeicher ein. Zwei Vorgänge oder Erkenntnisse waren jetzt schon für ihn wichtig: Nonfarmale, zweifellos ein Cyno wie Nostradamus und der echte Magister Cagliostro, deren Sternenvolk beauftragt worden war, den Schwarm zu lenken; Nonfarmale von der Insel Sarpedon schuf nicht etwa jene Strukturtunnel zwischen der Erde und seinen Welten, sondern benutzte sie nur. Und zweitens: Der Arkonide Atlan hatte zum ersten Mal, wenn auch für einen kurzen Abschnitt, Zugriff auf seine
Erinnerungen vor dem partiellen Auslöschen durch Fartuloons OMIRGOS-Kristall!
Protokoll (1): Mehr als ein halbes Jahr nach ihrem ersten geglückten Versuch, im Juni des Jahres 1784, wiederholten die Gebrüder Montgolfier den Aufstieg ihres Heißluftballons. Die so genannte Montgolfiere hob nahe dem Schloss von Versailles ab. Als sich das erste bunte, mit Girlanden und Bildnissen reich geschmückte Luftgefährt erhob, registrierte die Spionsonde einen schwer zu erklärenden Vorgang: Zwei vorbereitete Ballonhüllen verschwanden plötzlich. Es schien, daß zusätzlich sich auch einige Zuschauer des Spektakels in Luft aufgelöst hätten. Die farbigen Hüllen wurden vermisst; trotz der Aufregung der mutigen Aeronauten wurde der Vorfall niemals aufgeklärt. Ballons und Zuschauer blieben verschwunden. Die Zentralpositronik der Überlebensstation registrierte diesen Vorgang und speicherte ihn unter dem betreffenden Stichwort. Protokoll (2): Guiseppe Balsamo, der so genannte Graf Cagliostro, gehörte zu den lautesten Ratgebern einer Gruppe, die Kardinal Rohan zu einer Transaktion mit verheerenden Folgen überredete. Rohan war jener Ratgeber und Kirchenfürst, der Königin Marie-Antoinette als capra demens, blöde Ziege, titulierte! Mit Hilfe gefälschter Unterschriften und unter dem Einfluss einer Abenteurerin mit mangelnder erotischer Moral, im Interesse geldhungriger Juweliere kaufte der Kardinal im Namen der Königin eine nahezu unbezahlbar teure Halskette. Der Skandal war gigantisch. 1785 wurde so die Krise der »Halsband-Affäre« heraufbeschworen. Das Königshaus war belastet, die Macht des sechzehnten Ludwig abermals erschüttert, sein Ansehen ramponiert. Kardinal Rohan ging zunächst ins Staatsgefängnis, die Bastille. Wenig später zelebrierte er dort ein Diner für zwanzig ausgesuchte Freunde. Obwohl er durch allzu nachsichtige, der Volksmund sagte: bestochene Richter freigesprochen wurde, ebenso wie Graf Cagliostro, zwang der Skandal den Kardinal in die Verbannung der Abtei La Chaise-Dieu. Cagliostro und andere Beteiligte veröffentlichten über diesen Betrugsfall memoirenhafte Schmierartikel. Diese Vorgänge wurden analysiert und vom Zentralrechner abgespeichert. Protokoll (3): Die Bastille hatte berühmte Gefangene in ihren feuchten Mauern gesehen: Nicolas Fouquet, Finanz-Surintendant, den Hochstapler Vaux-le-Vicomte, der Madame de Pompadour eine beträchtliche Summe abschwindelte, den Dichter Mirabeau, den Marquis de Sade, der bemerkenswert obszöne Traktate verfasste, und selbst ein Voltaire fand dort genug Ruhe und Stille; er beendete seinen »Oedipus« zwischen Ratten und stinkendem Stroh. Die Mauern und die acht Wehrtürme, jeder mehr als vierzig Ellen hoch, sollten
eigentlich längst geschleift worden sein. Man plante, eine Place Louis XVI. zu schaffen, in deren Mitte sich auf einer Basis aus Trümmern ein Standbild des Königs erheben sollte. Der gallische Volkszorn, der unter den rund fünfundzwanzig Millionen Franzosen gärte, war beträchtlich. Eine entscheidende Wende schien bevorzustehen; jedermann fürchtete eine Kette von Gemetzeln. Aber der Zorn schien keine Möglichkeit zu haben, sich zu artikulieren und zu formieren. Aufzeichnung: 13. Juli 1789. Protokoll: Die Mauern und Zolltore von Paris wirkten in der warmen Jahreszeit wie eine dame-jeanne, eine strohumflochtene Zwanzig-Liter-Weinflasche; im trüben Brei bildeten sich Gase, die am Entweichen gehindert wurden. Druck baute sich auf. An einem Tag, der schwerlich zu berechnen sei, würde der Druck den Korken wie ein Geschoß aus der Mündung schleudern. So formulierte es Reniard Rotsace, einer der vielen Chronisten dieser Zeit. »A la Bastille!« schrien die Pariser und versammelten sich in ihren stinkenden Gassen. Die militärische Bedeutung des steinernen Bollwerks an der Rue de St.-Antoine, der »kleinen Bastion«, war stets gering geblieben. Sieben Belagerungen seit 1382 überstand sie aus unerklärbaren Gründen unbeschädigt; sie ergab sich sechsmal. Der Druck der berauschenden Gase in der dame-jeanne wurde unerträglich groß. Am dreizehnten Juli rotteten sich in der Stadt die Menschen zusammen. Zwischen ihnen standen bezahlte Schreihälse und riefen mitreißende Parolen. Die Stadt, hieß es, sei von königlichen Truppen umstellt, die jeden Versuch einer Veränderung in Bächen von Blut ersticken würden. Der Korken flog aus der Flasche. Der Morgen des vierzehnten Juli war da. Tausende rotteten sich zusammen, einige hundert Pariser entschlossen sich. Aber sie hatten keine Waffen. »A la Bastille!« schrien die bezahlten Revolutionsagenten. Der Sturm begann. Sechshundert aufgebrachte Pariser vermuteten, daß sie in dem Waffenarsenal der Bastille Gewehre und Säbel finden würden. Sie versammelten sich unterhalb der Mauern und forderten die bedingungslose Kapitulation der Besatzung. Sie wollten das Waffenarsenal. Dreißig Schweizer und rund achtzig Invaliden früherer Kriege bildeten eine Gruppe, die zur Verteidigung denkbar ungeeignet war. Einige Kanonen feuerten auf die schreiende Menge. Achtzig Tote und fünf Dutzend Verletzte verleideten den Stürmenden zunächst einen weiteren Angriff. Unter der lärmenden Anteilnahme unzähliger Schaulustiger verhandelten Verteidiger und Angreifer. In den feuchten, von Ungeziefer und Ratten wimmelnden Gelassen der Bastille »darbten« insgesamt sieben Gefangene. Am Nachmittag rückten dreihundert Mann einer regulären Truppe an. Ihre adeligen
Offiziere schienen geflohen zu sein oder waren ebenfalls Anhänger der neuen Ordnung. Jedenfalls fanden aufregende Szenen der Verbrüderung zwischen Straßenpöbel und Militär statt. Gouverneur de Launey, der Kommandant, starrte längere Zeit nachdenklich in die rußigen Mündungen der Kanonen, verlangte schließlich freien Abzug seiner kleinen Gruppe und übergab, als seine Wachmannschaft sich gesammelt hatte, die Festung. Monsieur Desnot, ein Koch, schnitt dem Gouverneur noch am selben Abend auf der Place de Greve den Kopf ab. Auch die Offiziere und einige Invaliden wurden von den betrunkenen und marodierenden Anhängern der Freiheit niedergemacht. Die Nachrichten verbreiteten sich mit der lichtschnellen Geschwindigkeit von Gerüchten. Im Triumphzug wurden die befreiten Gefangenen durch die Stadt geführt. Man bewunderte die vier Falschmünzer – sie verschwanden am nächsten Tag in einem anderen Gefängnis. Ein Geisteskranker namens Maleville kam frei. Seine Familie wollte nicht, daß er im Irrenhaus bewahrt werde und hatte ihn deshalb in die Bastille verbringen lassen. Der Comte de Solange, dessen Familie eine sehr hohe Summe gezahlt hatte, blickte strahlend in die Julisonne: Seine abseitige Neigung, sich als Ziel hitziger Amouren ausschließlich die weiblichen Angehörigen der eigenen Familie auszusuchen, hatte ihn in die Gewölbe gebracht. Nachdem die Erzeuger unbrauchbarer Währung ihre allzu kurze Freiheit genossen hatten, schleppte man den Irren ins Charenton-Irrenhaus und den Graf zu seiner Familie. Fröhlich grinsend packte er seine jüngere Schwester, die kreischend zu flüchten versuchte. Die männlichen Angehörigen warfen sich über ihn. Das Volk besichtigte schaudernd die leere Bastille. Nur Tavernier, der jener Gruppe angehörte, die das Attentat auf den fünfzehnten Louis ausgeheckt und ausgeführt hatte, blieb frei. Schließlich hatte er das Undenkbare nicht nur gedacht. Königsmord. Die Zwingburg des Despotismus dessen Erstürmung schwerlich Platz in einem Fachbuch von Prestre de Vauban gefunden hatte, schien das Fanal einer Revolution zu werden. An diesem Punkt der Wahrscheinlichkeitsrechnung, dessen Unbekannte Aufruhr, Mord, Kämpfe, Verletzte und Verwundete, Sterbende und Tote waren weckte mich Rico auf.
In der Regierungszeit von Louis XVI. und Marie-Antoinette war von politischer Krankheit ebenso oft die Rede wie von Armut, Rebellion und Lungenschwindsucht. Eine Revolution der Aristokratie, größere Steuergerechtigkeit, Erstarkung und Revolte der Parlamente, chaotische Wahlen mit ebensolchen Folgen und die Forderungen der »Versammlungen« an den König höhlten dessen Macht in winzigen Schritten aus. »Ich bin Rico Traveille«, sagte der Roboter. »In Paris, in ganz Frankreich, sind weder Schwertadel,
Geldadel noch Verdienstadel gefragt. Böse Zeiten für Graf und Marquis.« »Ich sehe, daß du immens fleißig warst. In welcher Maske trete ich auf?« »Du bist Adlar Arcaud. Wir sind reisende Büchsenmacher und Kanonengießer und reparieren Pistolen.« »War schon immer mein Berufswunsch«, sagte ich. »Und welche Rolle hast du Monique zugedacht?« Rico wartete fünf Minuten mit seiner Antwort. Für mich waren es Minuten zunehmender Unsicherheit. »Monique ist tot«, sagte er. »Ihr Grab ist in Beauvallon.« Der Schock traf mich in dem Augenblick, als wieder ein Strom regenerativer Wellen, ein Wärmestoß des Zellschwingungsaktivators und intravenöse Nahrung meinen Körper überschwemmten. Ich schlief ein und nahm die Trauer in meine Träume mit…
Im Frühling des Vorjahres zeichnete sich ab, daß große Teile Frankreichs unter Missernten leiden würden. Nicht alle Provinzen waren von dem Katastrophenwetter betroffen. In Beauvallon stand es nicht gut. Monique und Rico hatten sich darüber verständigt, daß sie eingreifen würden, wenn die Bauern ernsthafte Schwierigkeiten hätten. Im März 1788 betrat Monique, Gräfin von Beauvallon und Fraconnade, das Castellet Le Sagittaire. »Es sieht nicht gut aus, Rico«, meldete sie, nachdem das Innere des Schlösschens wieder wohnlich und die ersten Rundgänge beendet waren. »Wieder einmal fehlen tausend verschiedene Einzelheiten. Zuerst Zugpferde und Reitpferde.« »Soll ich Atlan wecken?« hatte er zurückgefragt. Sie hatte abgewehrt. »Nein. Das schaffe ich ohne ihn. Ich brauche nur dich selbst ein paarmal hier, und viele Werkzeuge, Saatgut und das Übliche. Du weißt schon.« »Ich verfüge über sämtliche Listen und Details.« Der Roboter schickte über die Transmitterverbindungen Werkzeuge und die vielen Kleinigkeiten des täglichen Lebens. Während der letzte Schnee schmolz, erfuhr Monique mehr Einzelheiten: Es wurde in Frankreich zuviel Wein hergestellt, der nicht verkauft werden konnte. Die Preise verfielen, die Bauern wurden arm. Der Brotpreis stieg; innerhalb von wenigen Wochen schaffte Rico Korn herbei, konnte der Müller mahlen, der Bäcker wieder backen. Jagden wurden organisiert und brachten Fleisch in Pfannen und Töpfe. Wieder einmal begann unter den siebenhundert Seelen des Ortes eine halb erzwungene Waschung der Menschen und der Kleidung. Schuhwerk und Kleidung kamen aus unseren Magazinen. Die Pacht war gestiegen: Monique zahlte in der nächsten Stadt mit gutem Gold. Rinder, Schafe und Pferde wurden über die gewundenen Pfade in das abgeschlossene Tal getrieben. »Schöpft die Dunggruben leer. Verdünnt die Jauche und schüttet sie auf die Felder!« befahl die rothaarige Gräfin. Die Bauern gehorchten. Die erste Aussaat konnte eingebracht werden. Zuerst
vermehrten sich Hühner, Gänse und Enten wie erwünscht. Das Dorf hallte wider von Gegacker und Geschnatter. Der nächste Sturm vom Meer her verwandelte die Landschaft binnen fünfzehn Tagen in junges Grün. Erbarmungslos trieb Monique Bauern und Handwerker an. Eingestürzte Dächer, Zäune und Abflusskanäle, Fachwerk und Ziegelmauern wurden repariert. »Treibt die Schafe auf die Weiden. Dann müsst ihr sie nicht mähen«, ordnete Monique an. In einigen Nächten erschienen Rico und seine Robotschar und fällten Bäume, zersägten und bearbeiteten die Stämme, setzten die wichtigen technischen Anlagen instand. Mit dem Steigen der Sonne, mit zunehmender Wärme und im klaren Licht zwischen den Bergen und Hügeln stieg auch die Zuversicht der Menschen. Monique notierte, daß die Bauern selbständiger, gesünder und »reicher« geworden waren, aber nur ständiges Bemühen und die straffe Führung des Landherrn garantierten Erfolg; sie erfuhr, daß die Versammlungen, Volksparlamenten vergleichbar, das Verlangen nach einer Staatsreform laut forderten. Die Willkür der Regierung sollte durch eine Verfassung begrenzt werden. Diese Verfassung sollte für jeden gelten, auch für die Bauern. Anfang Juli spürte sie zum ersten Mal den Schmerz in der rechten Hälfte des Bauches. Zwei Stunden später war der Roboter bei ihr und presste bakterientötende Medizin, ein arkonidisches Antibiotikum, in ihren Kreislauf. »Sei vorsichtig«, mahnte er. »Wenn der Schmerz wieder auftritt, musst du unter die Geräte in der Kuppel.« »Ich versprech’s.« Die Obstbäume wurden kupiert und aufgepfropft. Die Halbwüchsigen reinigten den Mühlenteich und die Wehre. Es gab genug Fisch. Jeder Schritt musste mit viel Arbeit erkauft werden; hätten die Bauern im letzten Jahr viele kleine Anstrengungen unternommen, so würden sie jetzt nicht schuften müssen. Zu beginn des achten Monats ritt Monique mit kurzgeschnittenem Haar, als Mann verkleidet, nach Clermont, um über Steuern, Abgaben und Bezahlung zu sprechen. Rico steuerte eine Spionsonde hinter ihr her. Monique hatte wenig Schwierigkeiten, denn man war um jeden einzelnen Grafen froh, der freiwillig seine Steuern zahlte. Monique packte Proviant in die Satteltaschen und ritt zurück. Am Mittag des zweiten Tagesritts biss der Schmerz wieder zu; als sie ihn zu ertasten versuchte, fand sie einen Punkt zwischen Nabel und dem Ansatz des Schenkels im Schritt, genau in der Mitte. Eine Übelkeit hinderte sie daran, in der nächsten Pause etwas zu essen. Sie trank nur verdünnten Wein und schaute sich nach der Spionsonde um. Sie dachte an Ricos Warnung und ritt schneller, aber die Schmerzen griffen nun auch auf das rechte Bein über. Sie ritt, bis die Dunkelheit die Straße
verschluckte. Am Rand eines Weihers rastete sie und kühlte ständig ihre Haut mit Wasser. Am nächsten Morgen, nach einem kurzen Schmerzanfall um Mitternacht, hatte der bohrende Schmerz nachgelassen, und sie näherte sich in schnellem Trab der nächsten Abzweigung. Als die Spionsonde sie wieder einfing, winkte sie mit selbstbewusstem und sorglosem Lächeln in die Optik. Sie saß entspannt im Sattel, das Pferd war frisch. Sie schlief lange und gut in dieser Nacht, aß wenig und schwang sich wieder in den Sattel. Sie spürte nur, daß ihr Atem kürzer und härter ging. Sie war sicher, das käme von der Anstrengung des Rittes: Noch eineinhalb Tage bis zum Castellet. In dieser Nacht schlief sie unruhig. Immer wieder schreckte sie aus tiefem Schlaf auf, und als sie ihren Bauch betastete, war der dumpfe Schmerz in ihr Inneres gewandert. Sie hatte nur noch ein Ziel: Le Sagittaire, der Transmitter und der Schutz der kühlen Kuppel. Selbst das Reittier schien zu spüren, daß es der Herrin nicht gut ging. Der Wallach nahm seine letzten Kräfte zusammen und galoppierte über die schmale Straße, als wären Wölfe hinter ihm her. Die Schmerzen krochen in Moniques Körper hin und her, auf und nieder. Sie keuchte und röchelte mit kurzen, harten Atemzügen. Vor ihren Augen drehten sich die Bilder. Sie versuchte sich mit dem letzten Wein zu beruhigen, den Schmerz zu betäuben. Ihr Körperinneres brannte. Sie fegte an den Pinien und Zypressen vorbei, die den Weg ins Tal hinunter säumten, an schroffen Felsen und den kalkweißen Blöcken. Sie schien zu glühen, ihr Herz hämmerte, ihre Haut hatte sich rot gefärbt. Röchelnd und qualvoll arbeitete ihre Lunge. Sie hing im Sattel. Jeder Stoß, jeder Galoppsprung, ließ sie vor Schmerz aufstöhnen. Sie preschte durchs Dorf und fiel aus dem Sattel, raffte sich auf und taumelte auf die Treppe zu. Von drei Seiten rannten die Bauern heran. Rico erschien am oberen Ende der Treppe, raste die Stufen hinunter und hob Monique auf. Sie flüsterte, während er wie ein Rasender durch die Gänge und über die Treppen des Schlösschens Scob, dem Transmitter im Gewölbe entgegen. Noch während er rannte, versuchte er eine Analyse, aber seine Speicher kannten den genauen Grund nicht. Er errechnete, daß er mit hohen Dosen von antibiotischen Flüssigkeiten helfen musste, aber als er die medizinische Station der Kuppel erreichte, war Monique aus dem Koma in den Tod hinein geglitten.
»Ich versuchte alles, was Speicher und Medoeinrichtungen wussten« sagte er zu mir. »Sie wollte, daß sie in Beauvallon begraben werde.« »Es gibt keinen schöneren Ort«, sagte ich. »Neben dem Kirchlein. Sie ist wieder in der Erde ihres Landes.« Rico blieb neben mir stehen, als
sei er aus Stein gehauen. Ich hatte sieben Tage Zeit gehabt, Monique zu betrauern: Ein weiter Kreis, lang an Jahren, hatte sich seit dem Tag geschlossen, an dem wir sie im Gebüsch abseits der Straße nach Orleans gefunden hatten. Um ihr Grab hatten sich alle Bewohner des Ortes versammelt. Es war ein kochendheißer Tag, schwül, und dem Pfarrer floss der Schweiß über das Gesicht, als er zu schildern versuchte, was die Gräfin für das Tal getan hatte. Rico hatte mit Vibrosägen und Desintegratoren einen Findling bearbeitet. Die Namen und Zahlen, die ich las, bewegten sich hart an der Grenze des Glaubwürdigen. »Sie starb jedenfalls nicht nach einem grauenhaften Angriff Nonfarmales«, sagte ich heiser. »Mir ist es kein Trost.« Im Trubel und Durcheinander der Vorbereitungen und in der Flut von Beobachtungen und Entscheidungen hatte ich gar keine andere Wahl. Ich musste die Trauer um meine Gefährtin tief in meinem Innern verbergen und, wieder einmal, warten. Jahrtausende zogen in einzelnen Abschnitten an mir vorbei. Von allen Mädchen und Frauen, die ich umarmt hatte, blieb sie länger in der Erinnerung derer, die sie geliebt hatten. Ich entsann mich nicht, je einen Grabstein gesetzt zu haben, nicht einmal für Tairi No Chiyu.
Rico berichtete: Während der Monate, in denen die Subrobots innerhalb der Universitätsräume des Kilimandscharo arbeiteten, reparierten Boog-Synonymus Eins und Lilith unter seiner Leitung in den Werkstätten des Überlebenszylinders die LARSAF – es wurde ununterbrochen gearbeitet. Unsere Theorien über das wenig durchschaubare Gefüge zwischen tastenden Kraftlinien aus der Tiefe der Galaxis, Parallelwelten und deren Zugänge, der regellosen und unberechenbaren Phasen des Öffnens und Schließens, der unterschiedlichen Zeitabläufe und der zweifelhaften Absichten Nonfarmales hatten sich nur wenig erhärtet; es fehlten zusätzliche Beobachtungen und Messungen. Der Logiksektor fasste Überlegungen und Vermutungen zusammen, als ich nach der Aufweckphase wieder klar denken konnte: Auch Nonfarmale ist von dem unberechenbaren Rhythmus der Strukturöffnungen abhängig! Er bestimmt sein Erscheinen nur innerhalb der »Offen«-Phase selbst. Deshalb auch seine prächtigen Bauwerke und die Raubzüge, von denen er Erdenmenschen mitbringt. Ich murmelte mit tauben Lippen: »Dies ist mir ein schwacher Trost. So lange er die Barbaren terrorisiert, brauche ich an einen Flug nach Arkon nicht zu denken, und auch nicht an einen ernsthaften Versuch dazu.«
Sorgfältig musterte und verglich ich vor dem Spiegel mein Aussehen und unsere Maske. Die Iris meiner Augen war rot, und in der weißen Umgebung sah ich winzige rote Äderchen. Die Injektion hatte noch nicht gewirkt und die Augenfarbe
verändert. Meine Haut hatte ihre samtbraune Färbung nicht wieder erreicht.
August 1789: In Paris überschlugen sich die Ereignisse. Jeder einzelne Vorgang war gefährlich. Ich hatte beschlossen, mit dem Gleiter von Beauvallon aus zu starten. Vielleicht gelang es mir, das Gemetzel, das auch ohne die Mitwirkung Nonfarmales drohte, zu verhindern; er sollte nicht über Paris kreisen oder sich maskiert wie ich, inmitten der Bevölkerung bewegen. Der Karren kroch auf der Straße von Choisy-le-Roi auf die Stadt zu. Die Zugpferde, abgemagerte Klepper, schleppten sich dahin. In dem kastenförmigen Gefährt zwischen zwei halb mannshohen Rädern stapelten sich Truhen und Kisten. Die Räder wickelten schlangenförmige Spuren in Sand und Schotter. Ich saß müde auf dem Brett über der Deichsel. Mit dem Peitschenstiel deutete ich auf die Bauern, die ihre Felder abernteten. »Eine stärkere Gleichheit der Steuer verlangen sie. Und Zugang zu öffentlichen Ämtern.« »Die Bauern?« fragte Rico. »Keinen Denier gäbe ich dafür, daß sie jemals ihr Recht bekommen.« »Nein. Versammlungen, Generalstände, Kammern. Verschiedene Begriffe für einen zögerlichen Beginn früher Volksherrschaft.« Zukünftiges Chaos begann sich abzuzeichnen. Der Versuch, eine Verfassung zu erstellen, würde zunächst im Eigennutz ersticken. Die absolute Monarchie verlor ihre Macht. Wir waren auf dem Weg vielen Menschen begegnet, aber noch keinen Emigranten. Vielleicht stahlen sie sich nur nachts aus den Städten und aus dem Land; die Anhänger des Königs flüchteten aus dem Heer und aus den Verwaltungsposten. Wir hatten zwei Schlösser gesehen; eines war geplündert worden, ein Teil des anderen brannte noch jetzt. Manche Bauern hatten sich zu Banden zusammengerottet und zahlten den Herren heim, was sie von ihnen jahrzehntelang erduldet hatten. »Auf keinen Fall dürfen wir innerhalb der Zollmauern wohnen«, meinte ich nachdenklich. Auf der letzten Strecke des staubigen Weges hatten wir Beobachtungen machen können, die uns warnten. »Du hast, wie ich ahne, schon die beste Möglichkeit herausgefunden.« »Ja. Ein leeres Haus.« Die Annäherung an die Probleme ging auf die gleiche Art vor sich, wie ich sie fast immer anwandte. Am Abend hatten wir ein Haus gemietet, das an einer Straßenkreuzung stand, uns gleichermaßen guten Überblick, genügend Raum und Fluchtwege bot. Wir entluden den Karren, beseitigten den größten Dreck und schleppten die Kisten ins Haus. Über den Eingang nagelte ich das vorbereitete Schild, das auch solchen, die nicht lesen konnten, unsere Profession erklärte. In der Nachbarschaft fand ich eine Reihe Handwerker, Läden und Händler, deren Erzeugnisse und Dienstleistungen fürs tägliche Leben
wichtig waren. Ich ging von einem zum anderen und stellte mich vor; sie blieben mürrisch, aber hier würde ich die besten Informationsquellen finden. Besser, aber volkstümlicher als die Spionsonden, flüsterte der Logiksektor. Die Häuser standen in einem verwahrlosten, ruhigen Quartier. Für eine Livre, also zwanzig Sols Kupfer, fanden sich ein paar Männer, die den Keller ausräumten und die zerkleinerten Abfälle verbrannten. Wir rissen die Fenster und Türen auf, Rico schleppte Wasser. Es war einfach, aber mühevoll, das Haus in einen bewohnbaren Zustand zu versetzen. Am Nachmittag sagte Rico: »Geh in die Stadt. Sieh und hör dich um. Wenn du zurück bist, sieht es hier anders aus.« »Einverstanden«, antwortete ich. »Vielleicht entdecke ich die wahren Menschenrechte auf dem Platz der Bastille.« »Das ist durchaus wahrscheinlich.« Wir trugen gute, einfache Kleidung und wirkten wie hart arbeitende Citoyens. Während ich in nördliche Richtung schlenderte, merkte ich mir jede Einzelheit. Sie konnte lebensrettend sein. Nach einer langen Wanderung, über den Fluss, an Notre-Dame vorbei, im Nordosten der inneren Stadt, fand ich den verhältnismäßig kleinen Bau, umgeben von einer dreimal mannshohen Mauer, die an einigen Stellen zusammengebrochen war. Reiter, Fuhrwerke, Kutschen und viele Menschen, meist barfuss, schlecht gekleidet oder in Lumpen, oft verwahrlost, füllten den staubigen Platz. Eine Schlange bewegte sich auf das Portal der Bastille zu, am Tor über die Straße des heiligen Antonius vorbei. »Muss man Eintritt zahlen?« fragte ich eine dicke Frau, die nach altem Fisch stank. Sie stieß ein schrilles Gelächter aus, schüttelte den Kopf und antwortete: »Wenn du willst, führe ich dich durch die Keller. Für eine Silberkrone.« »Gevatterin«, sagte ich lächelnd, »deine Gesellschaft ist mir einiges wert. Aber für den Preis führt mich Marie-Antoinette.« »Diese österreichische Schlampe«, keifte die Alte. »Sie ist daran schuld, daß es unser guter König so schwer hat.« Die Schlange bewegte sich langsam vorwärts. Wir näherten uns dem Eingang. Der Hof war übersät von der Hinterlassenschaft der Plünderer. Hin und wieder schleppten Männer Mauerquadern der Umfassung weg. Ich ließ mich von einer aufgeregten, schlecht riechenden Menschenmenge in das ehemalige Gefängnis schieben. Die neu geschaffene Commune-Miliz sah dem Treiben ungerührt zu, so wie niemand hatte verhindern wollen, daß der Pariser Bürgermeister Flesselles, der Finanzintendant Foulion und dessen Schwiegersohn Bertier de Sauvigny erschlagen und niedergestochen worden waren. »Hierher kamen die Unglücklichen«, erklärte jemand abseits des Torbogens, »die der König mit einem ›lettre de cachet‹ eingesperrt hat.« »Pfui!« schrien
die Umstehenden, und: »Nieder mit dem König.« »Geht endlich weiter.« »Wir wollen auch hinein, schneller.« Ich brauchte zwei Stunden, um so gut wie alle Räume zu sehen. Gitter und Ratten, der pestilenzartige Gestank des kotgetränkten Strohs, die Ketten und Gewölbezellen, und immer wieder Ratten, selbst in den Räumen hoch über dem Boden des Platzes. Ich hatte kaum etwas anderes erwartet; mit den Händen in den Taschen stand ich an einem der schießschartenartigen Fenster des Turmes. Mir wurde bewusst, daß die Eroberung der Bastille für das Volk einen starken Symbolcharakter hatte. Ich wandte mich an einen Nationalgardisten. »Was wollt ihr mit dem Gemäuer anfangen? Wieder ein Gefängnis?« fragte ich. Er zuckte mit den Schultern und spähte an mir vorbei ins Mieder einer jungen Marktfrau. »Wird abgerissen, denke ich. Die Steinbrocken sind wertvoll.« »Danke, Sergeant«, sagte ich und tastete mich die Stufen abwärts. Sie waren glitschig von Schmutz und hereingewehtem Regen. Immer wieder fingen meine Ohren Bemerkungen auf, die meine schlimmen Erwartungen zur Gewissheit werden lassen mussten: Wenn nicht in den nächsten drei Monaten, so doch in den nächsten Jahren würde das Chaos seine Herrschaft antreten. Alles deutete darauf hin. In einem Torweg – die meisten Straßen erkannte ich wieder; es war an dieser Stelle nicht viel neu gebaut worden – betätigte ich die Nietenknöpfe des imitierten Lederarmbands und sagte leise: »Rico. Ich gehe ins Cafe Procop. Dort soll heute ein Revolutionär eine Rede halten. Möglicherweise erfahre ich etwas von den Zielen der Revolutionsanführer.« »Stadtplan gespeichert«, erwiderte er. »Dein Heimweg wird überwacht.« Ich schaltete ab und ging voller trauriger Gedanken zum angegebenen Ziel. Nicht, daß ich die absolute Monarchie schätzte; es gab keine Gründe. Aber die Herrschaft des Chaos und von vielen Barbaren, die weder ein vernünftiges Ziel vor Augen hatten noch den Weg dorthin vorzeichnen konnten, war das größere Übel. Die Passanten zeigten aufgeregte Gesichter, aber sie wirkten nicht weniger sorgenvoll. Ihre Stimmung passte zu der Lähmung, die mich wie ein hauchdünner Dunst einhüllte und meine Gedanken beeinflusste. Ich handelte mechanisch, aus Gewohnheit und Übung, und der Zustand würde nur durch den nächsten Schock geändert werden. Ich kannte mich. Der Logiksektor spottete: Noch lange nicht, Arkonide! Ha! Ich setzte mich im Cafe neben eine Säule, lockerte den Lähmstrahlerdolch und bestellte Kaffee und Obstbrand. Ich fragte die Bedienung, ob Georges Jacques Danton, der Anwalt des Rechts, schon gekommen sei. Sie wies auf einen runden Tisch, an dem sieben Gestalten saßen. Keine davon erregte mein Wohlwollen. Ich lehnte mich zurück und musterte die Männer an dem bewussten Tisch. Bald
fiel mir Danton auf; er schien seine mitreißenden Reden zuerst an wenigen Zuhörern auszuprobieren und unterstrich seine Worte mit wirkungsvollen Handbewegungen. Obwohl er recht gut gekleidet war, wirkte er schmuddelig. Er hatte, erfuhr ich aus längeren Wort- und Satzfetzen, den Club der Cordeliers gegründet. Was immer sich dahinter verbarg – der Sturm auf die Bastille war auch sein Werk. Am späten Abend, das Cafe hatte sich gefüllt, kämpfte sich Georges Danton langsam durch das Stimmengewirr. Je länger er sprach, desto weniger laut war er. Seine Rede riss die Anwesenden mit; ständig unterbrach jubelndes Geschrei die Ausführungen. Die Sätze wirkten wie zündende Funken. Danton wußte für alles einen Ausweg, seine Phantasie überstieg die Kenntnis des Machbaren um mehrere Ebenen. Als er wieder einmal von dem »neuen Menschen« sprach, den die Revolution hervorbringen würde, wußte ich, was ich von ihm zu halten hatte. Dass Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit erstrebenswerte Ziele waren, wußte ich besser als er. Aber der Weg dorthin war lang und reich an Opfern. In zweihundert Jahren, wenn die Barbaren auf dem Weg zu den Sternen sein konnten, würde noch immer Ungleichheit zwischen lernenden, klugen Barbaren und solchen, die ungebildet und chancenarm blieben, auch höchst unbrüderliches Verhalten unter den Planetariern herrschen. Die Menschen, ein krummes Holz, so hatte Immanuel Kant die Sache trefflich charakterisiert. Ich hörte die Rede bis zu ihrem Ende an, das in schierer Begeisterung ertrank. Dann zahlte ich und ging. Alle Fenster und Türen, außer der Haustür, waren weit aufgerissen. Aus dem Kamin ringelten sich Rauch und Funkenschauer. Vom Dachgiebel bis zum Erdgeschoß hatten Ricos Maschinen, die mit Ausrüstungsgegenständen aus dem Transmitter quollen und teilweise wieder den Rückweg angetreten hatten, das Innere des Hauses gereinigt, entwanzt, geputzt, gescheuert und ausgestattet. Es roch geradezu aufreizend nach Reinigungsmitteln und Sauberkeit. »Unser Geschäft wird zu einer guten und schönen Adresse«, sagte ich und bemerkte die Sicherheitseinrichtungen der Haustür und der getarnten Holzrahmen aus Stahl. »Gut gemacht. Die Werkstatt?« »Halb fertig, Atlan«, sagte Rico und nahm einer Maschine die erneuerten, frisch gestrichenen und geölten Läden ab, um sie wieder vor die Fenster zu hängen. »Du rechnest mit einer langen Anwesenheit?« »Zweifellos! Aber sicher nicht Tag für Tag an diesem Ort.« Die Maschinen hatten ausgezeichnete Kopien hergestellt. Ein großer Teil kam aus einem Magazin, das ich aktiviert hatte. Wir würden nicht dadurch auffallen, daß sich um uns eine exotische Ausstattung ausbreitete. Nur mein Badezimmer
und, wenn man das halbe Haus abriss, die unsichtbaren Leitungen, sie würden selbst Phantasten wie Danton stutzig werden lassen. »Denkst du an unsere anderen Verpflichtungen?« Der Turm über der Lechschleife, Carundel-Mill in England, die zwei Inselstützpunkte, Beauvallon, Le Sagittaire. Ich nickte, während ich die verstaubten Stiefel von den Füßen trat. »Ich bemühe mich, an alles zu denken. Und du bist sicher, alle Küchenschaben, Wespen, Flöhe, Wanzen, Ratten, Krankheitskeime, Urinspuren und Schlimmeres aus dem Haus gejagt und entfernt zu haben?« Rico deutete auf das Kaminfeuer. »Neunundneunzig von hundert sind ausgerottet. Das gilt selbst für den Verputz an den Wänden.« Ich schlief mit offenen, durch haarfeine Gitter geschützten Fenstern. Die beiden Flöhe, die Ricos Razzia überlebt hatten, fanden mit untrüglicher Sicherheit ihren Weg zu meiner Haut. Am nächsten Morgen veranstalteten wir eine Jagd auf die zurückgebliebenen Quälgeister, nachdem ich die Stiche desinfiziert hatte. Zwischen acht Uhr und Mittag kamen die Händler und luden ihre Waren ab. Die Regale der Küche füllten sich. Bastille hin oder her, die Lebensmittel aus gallischen Provinzen rochen gut, sahen gut aus, schmeckten hervorragend und kosteten nicht viel. Es gelang Rico, den Karren und die Mähren für einen symbolischen Preis loszuschlagen, was uns das Wohlwollen der beiden nächsten Nachbarn sicherte. Ich notierte die Liste für die nächsten Tage: Kloakengrube, einen Stall für zwei Reitpferde, ein kleiner Garten, mehrere Bäume, Pflasterarbeiten, ein kleines Fest für die Nachbarn, damit sie unseren Ruf als tüchtige Feuerwaffen-Schmiede verbreiteten, eine Partie Dachdecker und ein zweites Versteck für einen Wassertank mit Aufbereitungsfilter, direkt aus dem Inventarverzeichnis eines arkonidischen Fernraumschiffs. An den Abenden betrachtete ich die Aufnahmen der Sonden aus sieben verschiedenen Weltgegenden. Du denkst an so vieles, erinnerte mich das Extrahirn. Denkst du auch an Nonfarmale? »Mitunter«, sagte ich laut. »Und es sind keine fröhlichen Gedanken.« Wegen der »Handvoll bedauerlicher Überschreitungen«, wie es Monsieur Docteur Danton auszudrücken beliebte, bemühte sich der Psychovampir nicht nach Paris. Seine Stunde würde noch kommen.
Der braune Hengst mit den weißen Vorderläufen und der Stirnblesse musterte mich aus großen Augen und schnaubte wohlig, als ich ihn abseifte, wusch und striegelte. In seinem Futter waren Kraftnahrung und einige Medikamente. Er knabberte an meinem nackenlangen, leicht gewellten Haar von der Farbe seines Felles. Als ich den Kamm durch seine verfilzte Mähne zerrte, schlug er aus und drosch die Stalltür ins Schloss. »Wahre Schönheit muss leiden, mein Guter«,
sagte ich und nestelte Zecken und Schmutzklümpchen aus Mähne und Schweif. »Bald flattert deine Mähne wie eine Flagge im Wind.« Bruno knabberte jetzt an meinem Gürtel. Ich kniff ihn ins Ohr, und er hörte damit auf. Ich striegelte und rieb ihn trocken, er grunzte wohlig. Als ich seine Hufe säuberte, sah ich, daß zwei Eisen bald erneuert werden mussten. Ich grinste und tätschelte seinen Hals, als ich ihm das neue Zaumzeug und die Trense anlegte. »Ich kannte einen guten Hufschmied«, sagte ich und holte den Sattel, der mich schon so viele Jahre, so lange Ritte begleitet hatte, »und jetzt wirst du mich dort hinbringen, wo er seinen Hammer schwang.« An der Vorderseite und der Rückseite des Hauses und auf dem Dach arbeiteten geräuschvoll die Handwerker. Der Hauswirt hatte die Hände über seinem behäbigen Bauch gefaltet und sah sehr zufrieden zu, da wir den Werterhalt seiner Wanzenfestung bezahlten. Ich zog den Sattelgurt straff und sagte zu Rico: »Verbindung über Armbandfunk. Ich reite nach Norden. Wenn ich heute Nacht zurückkomme, brauche ich Essen. Und viel Wein.« »Verstanden. Ich helfe den Arbeitern.« »Und ich helfe mir selbst«, erwiderte ich. »Alle einschlägigen Waffen habe ich bei mir.« »Das tröstet mich. Ich erwarte nichts anderes.« Hoffentlich, dachte ich, als ich mich vor die gefüllten Packtaschen in den Sattel schwang, kommen bald ein paar Kunden. Es bedeutete für Rico Arbeit, aber es half unserer Maskierung. Bis jetzt zeigten sich keine Risse in unserer Handwerker-Fassade. Im Schritt und leichtem Trab ritt ich auf vertrauten Straßen in einem Viertelkreis zwischen der Stadt und Versailles hindurch und registrierte die Veränderungen. Irgendwo hoch über mir schwebte eine Robotsonde. Eine »Erklärung der Menschenrechte«, Vorsatzstück der zukünftigen Verfassung, war verabschiedet worden. Souveränität der Nation, individuelle Freiheit und Gleichheit aller Bürger, jegliche Meinungsfreiheit und Schutz des privaten Eigentums sollten garantiert sein. Die flüchtenden Frauen und Kinder und die rauchenden Ruinen mancher Schlösser… sie passten nicht recht zu diesen sehr hehren Zielen. Die Landschaft entlang der Straße kannte ich. Je näher ich kam, desto vertrauter wurde die Umgebung von Pierrefitte. Ich hielt an einem Bach mit klarem Wasser und ließ Bruno saufen, kühlte meine Hände, wusch mein Gesicht und ritt weiter. Die Kastanien, das Haus, das winzige Dörfchen; es gab sie noch. Aus Nussbäumen und Buchen waren stattliche Bäume geworden. Ich spürte meinen Herzschlag, die Unsicherheit wuchs. Es gab eine neue, brusthohe Mauer, dahinter ein lieblich verwilderter Garten. Ich stieg aus dem Sattel und band die Zügel des Hengstes an einen Balken. Meine Sohlen
knirschten auf weißem Kies. Jede Ecke, jedes Stück Mauer und Holz erkannte ich wieder. Alles war gepflegt, wenn auch alt. In einem Lehnstuhl unter dem Vordach, von dem schattenspendendes Geflecht schnurartig herunterhing, saß eine Frau und hatte einen Folianten auf den Knien. Über der Lektüre war sie eingeschlafen. Ich trat ins Gras und kam leise näher, schob die Schnüre auseinander und blieb stehen. Lisa-Cephyrine schien sich nicht verändert zu haben, schien nicht älter geworden zu sein. Schmerzliche, zärtliche, widerstrebende Erinnerungen wirbelten durch meine Gedanken und Empfindungen. Ich ging über die Platten, die ich selbst verlegt hatte, fünf Schritt weiter. Natürlich war sie älter geworden. Als ich sie kennen gelernt hatte, war Cephyrine angeblich zwanzig gewesen. In einer der letzten Nächte hatte sie mir gestanden, daß sie erst achtzehn war; ihr Vater erinnerte sich nicht mehr, und sie hatte im Taufregister der Pfarrei nachgesehen, als sie gebeichtet hatte. Jetzt war sie achtunddreißig. Und noch schön. »Entschuldigt, daß ich störe, Madame«, sagte ich leise. »Als einst ich Euch vorgelesen habe, seid Ihr nicht dabei eingeschlafen.« Sie blinzelte, öffnete die Augen und schaute mich an. Ich wechselte meinen Platz, weil die Sonne hinter mir sie blendete. Sie hob den Kopf, legte das Buch zur Seite und erstarrte. Ihr Gesicht wechselte die Farbe. Sie atmete schwer, als sie aufstand und, als sähe sie ein Gespenst, auf mich zukam. »Du bist es«, flüsterte sie, als habe sich der letzte Traum bestätigt. »Du bist es wirklich. Die Stimme… Atlan.« Ich lächelte. »Jetzt Adlar Arcaud, ein Waffenschmied, Madame.« Ihr Haar war kürzer. Ein paar grausilberne Strähnen mischten sich ins Braun. Das Gesicht war breiter geworden, Falten um die herrlichen grünen Augen zeigten, daß zwanzig Jahre vergangen waren. Sie kam näher und streckte die Hände aus, als sei sie blind und wolle mich ertasten. »Nicht zu leidenschaftlich«, sagte ich leise. »Dein Mann wird eifersüchtig.« »Merde, Mann!« sagte sie. Ich erkannte die Stimme wieder. »Kein Mann. Nur du. Ich glaube es nicht.« Sie lachte und weinte, schluchzte und stöhnte, alles gleichzeitig, als sie die Arme ausbreitete und mich umarmte. Sie roch noch so wie damals. Ich zog sie an mich, bis uns beiden die Luft ausging. »Nach so langen Jahren. Du bist wiedergekommen, Atlan.« »Ich bin hier«, sagte ich. »Und du bist jung geblieben. Ich habe dich sofort erkannt. Das Haus natürlich auch. Geht es dir gut?« Sie nahm meine Hände und zog mich ins Haus. »Ja. Ich bin allein übrig von den Menschen, die du gekannt hast. Zwei Männer gab es. Ich hab’ sie abgewiesen, weil… ich konnte nicht anders. Das Geld, damals, ich habe es gut angelegt. Im Haus durfte ich wohnen,
und ich bin alt und hässlich geworden.« Sie lächelte, während sie weinte, schüttelte fassungslos den Kopf. »Immer hab’ ich geträumt, daß du wiederkommst, Atlan. Aber ich habe gewusst, daß das nicht sein kann. Und jetzt bist du wirklich da.« »Warum ich wiedergekommen bin, das ist eine lange Geschichte. Seit sieben Tagen bin ich in Paris.« »Graf d’Arcoyne. Hier ist ein Pokal Wein. Du erkennst ihn wieder?« Ich hatte mich umgesehen. Ich erkannte das meiste in diesem Haus wieder. Wieder einmal fühlte ich, als sei ich heimgekehrt. Jeder einzelne Gegenstand war mit unendlicher Liebe und Mühe gepflegt worden. Auch die Pokale hatte ich gekauft, damals. Cephyrine bewegte sich, als wäre nur ein Jahr vergangen. Ich trank einen Schluck Wein und sagte: »Als ich gehen musste, war ich ebenso traurig wie du, Cephyrine. Heute bin ich ebenso fröhlich wie du. Es ist heute nicht mehr so wie vor zwanzig Jahren. Es ist anders. Aber vielleicht ist es besser.« Sie setzte sich auf meine Knie und küsste mich hungrig, dann flüsterte sie: »Ich liebe dich noch immer. Vielleicht anders. Vielleicht besser.« Ich erwiderte ihre Liebkosungen und Küsse, während ich ein Drittel des Weines verschüttete. Cephyrine presste sich an mich, als könnte sie mich mit ihrem Körper aufsaugen. Ich flüsterte ein wenig später atemlos: »Die so genannte Revolution… sie lassen dich in Ruhe?« »Was sollten sie von mir wollen?« »Auch richtig. Hast du für heute Nacht einen Platz für einen braven braunen Hengst und für seinen Reiter?« »Du weißt, daß ich Platz habe. Für dich? Immer.« Sie war reifer geworden, aber jetzt verhielt sie sich wie damals. Nach einer Stunde, während der wir versuchten, die vertraute Nähe wiederherzustellen, was überraschend schnell geschah, stand ich zögernd auf und meinte: »Ich versorge das Pferd. In den Satteltaschen sind Essen und Wein. Du bist sicher, daß du mich noch haben willst?« Sie warf mir einen funkelnden Blick zu und schüttelte ihr Haar in den Nacken. »Das weißt du genau. Und wenn du’s nicht weißt, dann musst du es spüren. Hol den Wein, sonst reicht er nicht die ganze Nacht!« Gedankenvoll ging ich hinaus, sattelte das Pferd ab und ließ es in der Wiese grasen. Sattel und Satteltaschen schleppte ich ins Haus. Ein wenig von dem Nebel, in dem ich herumruderte, löste sich auf. Ich verständigte Rico und erfuhr, daß die Hälfte der Handwerker fertig war und ein erster Kunde mit rostiger Pistole sich eingestellt hatte. Schweigend ging ich durchs Haus, schaute Erinnerungsstücke an und strich mit den Fingern über Balken und Bretter. Ich sah, daß die Vorhänge ausgeblichen waren, daß nichts fehlte, und das, was dazugekommen war, seine eigene Schönheit besaß.
Zierliche Dinge, lange ausgesucht, nicht teuer, aber vertraut, als habe ich sie selbst gekauft. Oder besser: Als hätten wir sie zusammen irgendwo gefunden und uns darüber gefreut. Cephyrine beobachtete mich schweigend, während sie den Wein umschüttete und auf demselben Tuch von damals, über derselben Tischplatte, einen Imbiss ausbreitete. Schließlich sagte sie, verwundert über sich selbst: »Es ist, als wärest du vor einer Woche weggegangen, Liebster.« Ich lächelte und spürte einen feinen Schmerz, wie einen Nadelstich. »Wenn wir beide dasselbe denken, schwindeln wir vielleicht der Welt und der Zeit ein paar glückliche Tage ab.« »Tage und Nächte«, sagte Cephyrine, und ihre Augen funkelten. »Warte nur, bis es dunkel geworden ist.« Sie fragte nichts. Sie freute sich nur. Ihr gesamtes Wesen hatte sich nicht wirklich verändert, aber weder an ihrem Verstand noch an ihrem Körper waren die Jahre ohne Spuren vorübergegangen. Melancholische Zärtlichkeiten und frühherbstliche Leidenschaft hielten uns die ganze Nacht wach. Kurz bevor wir eng umschlungen einschliefen, flüsterte ich in ihr Ohr: »Wenn es die Zeit erlaubt, Cephyrine – eine Handvoll Tage auf der kleinen Insel?« »Versprich nichts, was du nicht halten kannst.« »Es ist möglich. Wann? Weiß ich nicht.« Sie fuhr mit allen Fingern durch mein Haar. »Von der Insel, von unseren Nächten und Tagen dort, davon hab’ ich so oft wie von dir geträumt, Atlan.« Ich hob meine Hand und spreizte die Finger. »Wenn es möglich ist, wenn nichts und niemand dadurch in Gefahr gerät, dann wirst du bald im Meer schwimmen. Leider verlierst du das bisschen an Speck, das deine Hüften so unendlich begehrenswert macht. Aber das ist wohl das geringste Übel.« Sie blickte in meine Augen und schüttelte den Kopf. Ihr Haar kitzelte meinen Hals. Eine einzige Kerze brannte, und es roch nicht nach heißem Würzwein. Aber sonst fühlte ich mich, als sei ich nie fort gewesen.
Nach halbstündigem Ritt, am zweiten Morgen nach dem Wiedersehen, hielt ich am Waldrand an, sprang unter einer Buche zu Boden und schnallte den Sattelgurt enger. Gräser und Büsche bewegten sich am Rand des Blickfeldes. Ich warf einen schnellen Blick in die Richtung, sprang hinter das Pferd und zog die Pistole. Wieder raschelten die Blätter eines Busches. Ich pirschte mich in einem Halbkreis auf den Waldrand zu und glitt zwischen den Stämmen auf die Stelle zu. An mehreren Wurzeln und im Waldboden sah ich Eindrücke und Schleifspuren. Ich hörte ein leises Stöhnen, schob mich zwischen einer Buche und einem modernden Stamm hindurch und kam auf das Buschwerk zu. Ich folgte einer tief eingegrabenen Spur. Ein Körper lag zusammengekrümmt im niedergetrampelten Gras. Ich sicherte
nach allen Seiten, aber der Mann schien allein zu sein. Ich schob Äste und Laubwerk zur Seite und beugte mich über den Körper. Wieder stöhnte er. Der Mann trug die Kleidung der Adeligen. Die Perücke hing im Busch. Ich schob meinen Arm unter die Schultern und hob ihn vorsichtig hoch. Er öffnete seine Augen, starrte mich an und ächzte. »Seid Ihr verletzt, ich meine, könnt Ihr aufstehen?« »Die Lumpen… haben mich verprügelt. Helft mir.« »Bin schon dabei«, sagte ich und drehte ihn auf den Rücken, dann streckte ich ihn aus. Es hatte ihn ziemlich böse erwischt: Schnitte, Prellungen und viel Blut, das sah ich durch die aufgerissene Kleidung, am ganzen Körper. Ich versuchte, ihn hochzuziehen. »Könnt Ihr gehen? Nur ein paar Schritte.« Er klammerte sich an mich, knickte zweimal in den Knien ein und ließ sich dann von mir bis zum Wassergraben schleppen. Ich lehnte ihn gegen einen Grenzstein, feuchtete ein Tuch an und reinigte sein Gesicht. Dann holte ich ein kreislaufstützendes Aufbaumittel aus der Satteltasche und setzte die getarnte Hochdruckspritze an der Ellenbeuge des Überfallenen an. »Wer hat Euch so übel zugerichtet?« »Straßenräuber, Bauern, ein Invalide war dabei. Sie haben mich ausgeraubt. Alles weg.« »Ihr wohnt in Paris?« »Ja. Aber… es ist gefährlich für einen Grafen. Entschuldigt. Ich bin Louis-Eugene Carpeaux.« Ich stellte mich vor, gab ihm einen Becher Wein und sagte schließlich: »Kommt erst einmal in mein Haus. Wenn wir Euch ein wenig verändern, dann glaubt euch keiner mehr den Grafen. Die Perücke ist hin, sie liegt im Gebüsch.« »Verdammter Pöbel«, keuchte er. Graf Carpeaux, etwa fünfzig Jahre alt, hatte sich gegen die Wegelagerer schlecht verteidigen können. Er war wohlbeleibt und kein kräftiger Mann. Er breitete die Hände aus und murmelte: »Börse, Degen, Pferd und Sattel… alles haben sie gestohlen.« Ich zeigte auf seine Kleidung und sah zu, wie er sich weiter zu säubern versuchte. »Zieht die Strümpfe aus, wir schneiden die goldenen Schnallen von den Schuhen, und wenn die Jacke nicht geputzt wird, sieht Euch niemand an, wer Ihr seid.« »Zu zweit? Auf eurem Sattel?« »Ja«, sagte ich. »Bis zu meinem Haus wird’s Bruno nicht zusammenbrechen lassen. Seid Ihr den Wegelagerern irgendwie aufgefallen? Haben sie sich für etwas gerächt?« »Keine Spur davon, Monsieur Arcaud. Sie haben’s auf mein Geld abgesehen.« »Besser das Geld und das Pferd als das Leben. Schlimme Schmerzen?« »Es ist wohl nichts gebrochen. Dank Eurer Medizin. Diese Verrückten! Sehen so die neuen Menschenrechte aus?« »Ihr werdet nicht der letzte sein.« Ich zog ihn vorsichtig zum Pferd, wo er sich am Sattelknauf festhielt, wrang das Tuch aus und säuberte seine Stirn von geronnenem Blut.
»Reiten wir«, sagte Carpeaux und spie blutigen Speichel ins Gras. »Ich bin Euch Dank schuldig, Monsieur. Nun, das Zeug ist weg. Ich muss mich in den Verlust schicken.« Ich stemmte ihn in die Höhe, und er setzte sich hinter mich und hielt sich mit den Armen an meiner Brust fest. Wir ritten langsam auf die Stadt zu, die Sonne blendete mich. Ich rückte meinen Degen zurecht und sicherte die Pistole im Brustgurt. »Seid Ihr für den König?« fragte mich Louis-Eugene. Ich zuckte mit den Schultern und antwortete: »Ich bin für ein Staatsoberhaupt, ob ein König oder eine Gruppe, die vernünftige Gesetze macht und dafür sorgt, daß sie befolgt werden, und zwar von allen.« »Der König zögert, die Beschlüsse der Versammlung zu bestätigen. Ihr wißt, daß die Privilegien der Kirchen, Zünfte, des Adels und aller anderen gestrichen werden sollen?« »Ich weiß es. Und Ihr werdet mir sicher recht geben, wenn ich sage, daß sich allzu lange Zeit sehr viele Menschen bereichert haben, und zwar auf Kosten des Staates.« »Ich nicht. Ich kann’s mir nicht leisten, goldene Uhren zu sammeln oder Ländereien aufzukaufen.« »Ich meinte nicht Euch«, sagte ich. »Und den König zu töten, ist auch keine Lösung.« »Mich zu überfallen, die zweitschlechteste«, grollte Carpeaux. »Ich sage Euch: Danton und seine Bande werden nichts zuwege bringen als Unordnung, Gewalt, Tod. Die Seilmacher, die Cordeliers, Marat und Hebert. Was sie wollen, stürzt alle Ordnungen. Und die Jakobiner, diese Propagandaplärrer, sie erzählen von einer Welt, die es nicht einmal im Märchen gibt.« »Es wird eine Revolution geben«, sagte ich. »Oder die Soldaten töten jeden, der nach Freiheit und Gleichheit ruft. Dann wäre es ruhig im Land, aber lebenswert wäre es wohl nicht mehr. Nein, Monsieur, zu lange haben die hohen Klassen die niedrigen ausgebeutet. Das rächt sich jetzt.« »Ich hab’s gemerkt«, knurrte der Beraubte. »Ich wohne im dreizehnten Arrondissement. An der Place Choisy.« »Dann habt Ihr es nicht weit bis zu eurem Haus.« »Nochmals Dank, Monsieur«, sagte er nach einer Weile. »Was meint Ihr, wie wird es weitergehen?« »Das weiß ich nicht. Auf keinen Fall friedlich, Herr Graf.« Vor der Stalltür kletterten wir vom Pferderücken. Während Rico das Reittier abschirrte, zog ich LouisEugene Carpeaux in meinen Arbeitsraum und untersuchte ihn gründlich, versorgte seine Wunden und Prellungen und gab ihm zwei Pastillen gegen den Schmerz und für tiefen Nachtschlaf. Er dankte mir noch einmal und versprach, seine Pistolen nachsehen zu lassen; in diesen unruhigen Zeiten würde er nicht noch einmal ohne Waffen ausreiten.
»Um mit deinen Worten zu sprechen, tüchtiger Radschlossfräser Adlar Arcaud, der Gärfaktor in Paris und Umgebung ist hoch.
Aber es gibt, um eine Detonation auszulösen, noch zu wenig Gas aus der Flasche. Noch wird geredet, nicht zwanghaft gehandelt.« »Du meinst«, sagte ich und sortierte Werkzeuge auf einer großen, zerschrammten Werkbank, die wir als Tisch vom Bäcker, drei Häuser weiter links, gekauft hatten, »daß meine Anwesenheit in Paris die Revolution weder günstig noch ungünstig beeinflusst?« »Dafür habe ich große Wahrscheinlichkeiten errechnet«, sagte Rico ruhig. »Überdies bist du, wenn es sein muss, innerhalb einer Stunde wieder hier.« »Stimmt. Es steht also nichts einem Urlaub entgegen?« »Nichts, was ich errechnet hätte.« In den vergangenen Tagen hatten wir an allen Plätzen mit unseren Sonden nachgesehen, ob wir Nonfarmale finden konnten. Wenn er sich zwischen den Opfern des russisch-türkischen Krieges tummelte, war er so gut wie unsichtbar. Als Reiter von Drachen, Adlern oder Geiern hatte er sich an keinem der sorgfältig ermittelten Orte gezeigt. Die Pariser Bevölkerung litt unter Nahrungsmittelmangel; die Unruhe schwelte weiter. »Ich bin auf Yodoyas Insel. Natürlich mit Cephyrine«, sagte ich. »Natürlich. Ich werde die nötige Ausstattung besorgen.« Ein reizvoller Gedanke, den französischen Herbst und den Winter in Beauvallon und auf der Insel zu verbringen. Die Transmitterverbindung ermöglichte einen blitzschnellen Wechsel des Schauplatzes. Vorläufig sah ich keine Möglichkeit, in die Verwirrung zwischen den alten und neuen Organen des Staates einzugreifen. »Ich werde von der Insel aus die Entwicklung sehr genau beobachten. Und du reparierst in der Zwischenzeit Lunten- und Steinschlosswaffen.« »Unter anderem.« Die ersten Adeligen der Stadt hatten ihre Häuser, so gut es ging, von Wertgegenständen leer geräumt und verschlossen. Dann waren sie geflohen; nach Preußen, auf ihre entlegenen Besitzungen, nach England und in andere Richtungen. In Paris kursierten nicht nur Feststellungen und Gewissheiten dieser Art, sondern viel mehr Gerüchte und Druckschriften. Jede Woche gab es andere, vielfach absonderliche Forderungen und Enthüllungen. Königliche Geheimnisse und Nachrichten, die man für enthüllend hielt, drangen ans Licht der Öffentlichkeit. Menschenmengen, die grölend durch die Straßen zogen, vergrößerten die Unruhe und verscheuchten die Gäste der Stadt. Manchmal gab es Brot, manchmal keines. Die Nachrichten davon, daß in Frankreich die Zeit der gottgewollten Monarchie sich dem Ende zuneigte, gingen in alle Welt und riefen die erwarteten Reaktionen hervor. Einige Nachbarstaaten warteten auf den Moment des größten Durcheinanders, um einzugreifen und sich ein Stück der fetten französischen Pastete abzuschneiden.
Einige Tage, nachdem Marat seine Zeitschrift »L’Ami du Peuple« auf die Gassen warf, besuchten
Rico und ich die Ausstellung des Jacques Vaucanson. Rico stand lange Zeit vor den drei Automaten. Ich grinste in mich hinein. Eine Ente, die Wasser trank, quakte und sogar verdaute, wurde von einem Federwerk, vielen Zahnrädern und Pleueln in Bewegung gehalten. Ein erster Versuch der Barbaren, so etwas wie einen Roboter zu konstruieren, zeigte zwei weitere Seltsamkeiten. »Das könnte einer deiner archaischen Vorfahren sein, Milchbruder«, sagte ich leise zu Rico. »Sieh genau hin.« Sein Nicken wirkte tiefsinnig. Ein Mann, etwa menschengroß, sah aus, wie sich der Puppenmacher einen Wilden vorstellte. Er spielte elf unterschiedliche Melodien auf einer Querflöte. Ich dachte, es sei nur ein amüsantes Spielzeug und ein Meisterstück der Uhrmacherkunst, aber die Philosophen, die Gruppe um einen gewissen LaMettrie beispielsweise, behaupteten allen Ernstes, daß auch der Mensch nur eine Maschine sei. Dies zog polizeiliche Verfolgung nach sich. Die dritte Gestalt stellte einen Hirten dar, der flötete und die Trommel schlug. Die Neugierde der Besucher war groß. »Der Versuch, das Verhalten der Planetarier auch nur in groben Zügen abzuschätzen, ist schon sinnlos«, meinte Rico nach einer Weile. Wir schoben uns durch die Menschenmenge und strebten dem Ausgang zu. »Da gibt es Völker, die über den Gebrauch von Faustkeilen nicht hinausgekommen sind, und mitten in der Revolution bauen sie derlei Spielzeug. Selbst die zentrale Positronik versagt bei einer Analyse.« Wieder grinste ich. »Wir sind auf unsere eigenen, schwachen Kräfte angewiesen. Bisher haben wir uns der jeweiligen Aufgabe recht gut entledigt«, sagte ich und schaute mich wachsam um, ehe ich die letzten Stufen zur Unrat übersäten Straße hinunter stieg. »So ist es, Meister Arcaud«, erwiderte Rico melancholisch. Eine Ordnung der Welt, die von den Barbaren begriffen wurde, wäre ihnen unerträglich, dachte ich. Gesetzmäßigkeiten, die sie nicht verstanden, akzeptierten sie ohne grundlegende Einwände. »In diesen Tagen und Monaten«, sagte ich, als wir unsere Pferde aus dem Mietstall holten, »geht es mir mit Paris und Frankreich nicht anders als im so genannten Römischen Reich.« Rico schwang sich in den Sattel und bückte sich tief unter dem Querbalken des Tors. »Du mochtest Rom nicht, und du magst Frankreich nicht«, stellte er fest. »Nicht so«, sagte ich entschieden. Wir entschlossen uns, auf einem Umweg durch die innere Stadt heimzureiten. Selbst auf den breiten Straßen herrschte ein aufgeregtes Durcheinander. Statt im sinkenden Abend ihren Beschäftigungen nachzugehen, redeten die Menschen miteinander, bildeten Gruppen, rannten auseinander und versammelten sich an anderen Stellen. Dumpfe Erregtheit erfüllte sie alle. Wir sahen keinerlei
Gewalttaten; die Stimmung war mehr ratlos als revolutionär. Die Schlangen vor den leeren Bäckereien hatten sich längst aufgelöst. Als wir über die Place de la Bastille ritten, hielt ich mein Pferd an und deutete auf das Bauwerk. »Sie fangen tatsächlich damit an, das Bauwerk abzutragen!« Rico wußte mehr. Er antwortete: »Ein Monsieur Palloy hat die Oberaufsicht. Er tat sich als Revolutionär ebenso hervor wie als Bauunternehmer.« »Wohin bringen sie die Brocken?« Rico lachte und sah einem Fuhrwerk nach, das zwei mächtige Quader abtransportierte. In einigen Häusern brannten schon Kerzen und Öllampen. »Man will eine Brücke über die Seine bauen. Pont de la Concorde. Damit das Volk die Steine der Bastille mit den Füßen treten kann, verwendet man die Quader der Zwingburg dazu.« Wir ritten langsam weiter. »Wahrscheinlich werden nur Vertreter der neuen Menschheit die Brücke benutzen«, sagte ich grimmig. »Wenn die Barbaren fürs Übertreiben bezahlt werden würden, wären sie reicher als jeder König.« Ohne Eile trabten wir in die Richtung, in der unser Heim lag. Die Dämmerung legte sich über die Vorstädte. Ich dachte an Cephyrine und die mittelmäßig gute Ernte in Beauvallon. Etwa eine halbe Stunde später sagte Rico leise, aber in unüberhörbarer Schärfe: »In der Nähe unserer Straße gibt es Kampflärm, Atlan.« »Reiten wir schneller und helfen wir den Unterlegenen«, schlug ich halb scherzhaft vor. Tatsächlich krachten kurz nacheinander drei Musketenschüsse. Wir kitzelten unsere Pferde mit den Sporen und preschten im Galopp durch eine dunkle, gewundene Gasse. Als wir zwischen den letzten Häusern auf die freie Straße und den Brunnenplatz hinausgaloppierten, sahen wir zwei Männer, die rückwärts eine Treppe hinaufstolperten, von sieben Gegnern angegriffen. Rico erkannte schneller, um wen es sich handelte. »Das sind Leibgardisten des »Regiment Flandern«, und zwar Anführer. Die anderen? Leute aus dem Volk.« Zwei Männer luden ihre Musketen nach. Alle anderen schlugen mit Degen, Mistgabeln und Knüppeln auf die Gardisten ein, die sich mit ihren Degen wehrten, aber vor einer Überzahl zurückweichen mussten. Ich rief unterdrückt: »Hinauf zur Treppe. Die Städter dürfen uns nicht erkennen, Rico.« »Schon verstanden.« In diesem Quartier waren wir ebenso bekannt wie unsere Pferde. Durch die zunehmende Dunkelheit hetzten wir die Tiere hinter einem Mäuerchen den Hang aufwärts, rissen die Masken aus den Satteltaschen und zogen sie über die Köpfe. Ich glitt aus dem Sattel, warf Rico die Zügel zu und sagte scharf: »Wenn’s zu gefährlich wird, setzt du den Lähmstrahler ein.« Ich zog den Degen, griff mit der Linken um die Kugel, die den Eckpfeiler der Treppenbrüstung
krönte und schwang mich herum. Als ich die Stufen hinunter sprang, rief ich: »Hier kommt der Retter, meine Herren Offiziere.« »Danke. Zur rechten Zeit«, ächzte einer, parierte mühsam die geschleuderte Forke und sprang zurück. »Könnt Ihr fechten, Monsieur?« »Leidlich«, sagte ich, griff zwischen ihnen einen narbengesichtigen Hünen an und merkte, daß er mit seinem Knüppel recht gut focht. »Wenn Euch der Name Florio de Liberi etwas sagen sollte…?« »Nie gehört.« Wie Brüder oder Soldaten aus demselben Regiment fochten wir auf den Treppenstufen. Ich durchschlug eine Parade, drückte auf den verborgenen Knopf und berührte die Schulter des Angreifers. Ein Lähmstrahl, wenig lauter als das Klirren des Metalls, knatterte auf und warf den Vierschrötigen auf die Treppe. »Habt Dank. Wer war dieser Liberi?« »Ein Fechtmeister aus Italien«, gab ich zurück. Beinahe hätte ich hinzugefügt: Ihr könnt Euch bei Cyrano de Bergerac erkundigen, dem ich so manche Finte zeigte. Aber wir trieben jetzt die Angreifer die Stufen hinunter. Rico näherte sich uns und hob die Fackel in dem Augenblick hoch über seinen Kopf, als das grell zuckende Licht aufloderte. Wieder arbeitete der Lähmstrahlprojektor in der Degenklinge. Der Angreifer mit der schussbereiten Muskete brach zusammen. Die Szene war in unerträglicher Grelle ausgeleuchtet. Die Angreifer wurden geblendet, und die beiden Offiziere brauchten nur einige Atemzüge lang, um die Männer zu verwunden und in die Flucht zu treiben. Ich sicherte meine Waffe und schob sie in die Scheide. »Warum wollten Sie Euch ans Leder?« »Wir sind königstreu. Das genügt in diesen Tagen. Man hat sie aufgehetzt.« »Ihr verschwindet am besten«, sagte ich und rannte mit Rico die Treppe wieder hinauf. »Weit weg, meine Herren. Nach Möglichkeit in ein warmes Ausland.« »Nach Versailles schlagen wir uns durch«, antwortete der Offizier, als ich die Maske in die Jacke schob. Wir wechselten kurze Händedrücke. »Dort sind die anderen. Nie wieder gehen wir mit Mädchen aus der Vorstadt.« »Sie sind nicht schlechter als die Mädchen in der Stadt«, sagte ich und rannte, während Rico seine Fackel wieder löschte, zu den Pferden. Wir ritten in einem weiten Bogen im Trab auf die Straße zurück, ich pfiff scheinbar fröhlich vor mich hin. »Das Gerücht stimmt wohl«, erklärte Rico nach einer Weile, als wir das Licht vor unserem Schild sehen konnten. »Die Frauen von Paris versuchen es auf ihre Weise. Dieses Mal konnten wir noch ein wenig am Rädchen einer schlimmen Geschichte drehen.« »Wir sind nicht beobachtet worden. Du kannst ruhig schlafen«, sagte Rico halblaut. »Ich habe, bevor die Gefahr bestand, zwei Zuschauer gelähmt.« »Gut so.« Wir versorgten
die Pferde, sicherten die Tore und Türen und schlossen die Schlagläden. Ich zog Stiefel und Kleidung aus, in denen noch der Geruch der Stadt hing. Dann sprachen wir die Einzelheiten ab, die in den nächsten Tagen wichtig waren. Ich musste nach Beauvallon; die Menschen dort mussten den Winter überstehen. Dass sie genug zu essen hatten, dafür konnte ich garantieren. Ich kannte die Ernte. Aber wenn der Funke der Revolution auch sie erreichte, würde etwas Entscheidendes getan werden müssen. Aber ich wußte nicht, was ich unternehmen konnte.
Das Kaminfeuer Le Sagittaires prasselte laut. Ich saß im wuchtigen Lehnstuhl, hatte die Beine auf die Tischplatte gelegt und dachte schweigend nach. Cephyrine hatte ich nicht nach Beauvallon mitgenommen. Es gab manche Punkte, die für Le Sagittaire und das Dorf wichtig waren. Wollten die Bauern – was ich nicht unterstellte, aber für denkbar halten musste – das Schlösschen stürmen und plündern, so wie es die Bewohner von Paris und anderen Städten mit etlichen Kirchen, Klöstern und Stadtpalästen getan hatten, dann fanden sie hier keine Schätze. Die Einbauten verliefen tief in den Mauern, das Mobiliar war zu ersetzen und das scheinbar Wertvollste waren die Weinfässer in den Gewölben. Der Transmitter zerstörte sich, wenn er irrtümlich eingeschaltet wurde, von selbst. Aber niemand würde ihn finden. Ebenso wenig wie die verschiedenen getarnten Geräte, die wir mitnehmen oder unauffindbar verstecken mussten. Aber soweit würde es nicht kommen. Das Land gehörte längst den freien Bauern von Beauvallon. Wenn sie etwas brauchten, würden sie ohnehin zu uns kommen und fragen. Als wären meine Gedanken ein Signal gewesen, klopfte jemand an der Haupttür. »Herein! Kommt zum Kamin!« schrie ich. Die Tür knarrte und schlug wieder zu, schwere Schritte waren auf der Treppe zu hören. Alain Guillemett und seine beiden Freunde, der Pfarrer und der Lehrer, kamen herein. Die Kerzenflammen flackerten in der Zugluft. »Setzt euch«, sagte ich. »Wein und Becher sind dort drüben.« »Danke, Herr Graf.« Die Männer setzten sich und hoben die Becher. Ich grinste und wartete ab, was sie zu sagen hatten. Natürlich hatten die Gerüchte und einige zutreffende Nachrichten auch das Dorf erreicht. »Ich habe euch berichtet, was die Leute in Paris tun. Große Änderungen stehen bevor.« Der Pfarrer nahm einen Schluck und sagte: »Unsere Bauern werden weder die Kirche noch die Pfarre plündern. Selbst wenn sie es wollten, würden sie schwerlich etwas Wertvolles finden.« »Dasselbe gilt für das Schlösschen«, sagte ich. »Und ich hoffe, ich darf euch auch noch nächstes Jahr mit Saatgut aushelfen. Goldschätze sind hier nicht versteckt.« Guillemett schüttelte den Kopf und
hob beide Arme. »Herr Graf!« rief er. »Jeder weiß, was die Gräfin und Ihr für Beauvallon und die Umgebung getan habt. Wir würden uns nie an Eurem Eigentum vergreifen. Und nicht einmal den Zehnten müssen wir abliefern.« Ich nickte. Aber mittlerweile lebte hier eine ganz andere Generation, die kaum mehr als legendenhafte Erinnerungen an die Erschließung dieses Landes hatte. »Ihr und ich, wir müssen unsere Heimat erhalten. Die Felder und der Wald gehören euch, und ich will nichts anderes als im Schlösschen wohnen können.« »Das versteht sich von selbst, Herr Graf.« »Bald werdet ihr mich nicht mehr ›Graf‹ nennen können oder dürfen. Es wird wohl ein großes Morden unter den Grafen und Marquis’ geben, und ein Plündern und Brennen von Abteien, Kirchen und Schlössern.« »Nicht, solange ich etwas zu sagen habe«, versicherte Guillemett. »Wir haben nichts zu gewinnen, Graf.« »Nur zu verlieren hättet ihr etwas«, sagte ich leichthin, »wenn alle Steuern von euch bezahlt werden müssen. Wenn ich dran denke, wie es aussah, als ich im Frühjahr hierher kam? Von den Flöhen bis zu den neuen Sicheln brauchten wir alles. Woher kam es?« »Der Herr Graf und sein Freund haben alles mitgebracht und gekauft«, erklärte der Pfarrer und schenkte sich nach. »Nicht anders war es«, brummte ich. Die ersten schweren Herbststürme fauchten und heulten ums Gemäuer. Die Tiere drängten sich in den Ställen, der Wein gärte ebenso stark, aber weitaus angenehmer als die Revolution. In den Rauchfängen hingen Schinken vom Wildschwein und von zahmen Schweinen. »So soll es auch bleiben, weil es gut so ist«, sagte der Bürgermeister und hob beschwörend die Hand mit zwei ausgestreckten Fingern. »Meinetwegen.« Wir hatten die Dokumente und Unterlagen, die Monique zurückgebracht hatte, Stück um Stück studiert. Der Lehrer, der bisher schweigend zugehört hatte, war Zeuge für die Tatsache, daß den Bauern das Land überschrieben worden war. Du hast Arbeit und Ärger mit dem Land, aber keinen Besitz daran, sagte der Logiksektor. Ich hob die Schultern. Ich brauchte kein Land; ich hatte genug davon, wenn ich es brauchte, fast überall auf dem Planeten. »Und wie soll es weitergehen, Herr Graf?« fragte Charlot, der Lehrer nach langem Schweigen. »Ich verstehe nicht. Was meinst du, Magister?« »Mit Frankreich, meine ich.« Der Pfarrer füllte unsere Becher und zwinkerte. »Wenn es wirklich eine Revolution gibt, dann wird im schlechten übertrieben. Vieles Schöne wird zerstört werden; es kostet Menschenleben. Was Künstler geschaffen haben, wird zertrümmert, Recht und Ordnung werden umgestürzt, und Soldaten töten ihre eigenen Freunde. Das böse Durcheinander wird, wenn ihr alle euch nicht aufhetzen lasst, unser
Dorf zuletzt erreichen. Diejenigen, die dem König die Treue halten wollen, werden von den Jakobinern und den Cordeliers angegriffen – und umgekehrt. Und vielleicht einigen sich unsere Nachbarstaaten und überfallen das angeblich kraftlos gewordene Frankreich.« Der Magister nahm einen langen Schluck, atmete tief und sagte sorgenvoll: »Wir ducken uns wie die Wachteln ins Gras. So können wir überleben.« »Anders können wir nicht überleben«, sagte ich. »Und wundert euch ja nicht, wenn ich dann nicht mehr Graf von Beauvallon bin, sondern einen anderen Namen trage und einen Beruf habe. Vielleicht Büchsenmacher.« Sie starrten mich mit großen Augen an. Ich nickte und wiederholte: »Ich will nicht von irgendwelchen Aufrührern erschlagen werden. Und ich will nicht, daß Le Sagittaire von verlausten Revolutionären bewohnt wird. Du, Schulmeister, wirst mit deinen Kindern dort einziehen, wenn es soweit kommen sollte. Versprichst du’s?« »Ich verspreche es, Herr Graf und Büchsenmacher.« Überleben war für beide Teile, für mich, Rico, mögliche Gäste und für die Bauern der einzige Aspekt für die nahe Zukunft. Die Art, in der wir uns schützten, würde vermutlich auffallen, wenn es zu entscheidenden Auseinandersetzungen käme. Ich stieß, als ich neuen Wein holte, ein dickes Scheit in die Flammen und sah den Funken zu, die durch die Essen wirbelten. »In Paris ist es verhältnismäßig ruhig«, sagte ich. »Im Winter, da bin ich ganz sicher, haben wir nichts zu befürchten. Wenn im Frühling ein Heer kommen sollte, bin ich hier und helfe euch.« »Das höre ich gern. Ich werde es allen sagen«, versicherte der Bürgermeister. Mit Befehlen kam ich höchstwahrscheinlich in Zukunft nur dann weiter, wenn in Beauvallon wirkliche Not herrschte. Ich war also als Ratgeber gefragt, aber auch der Bürgermeister wußte, daß es ohne meinen Rat und Ricos Hilfe nicht immer vorwärts ging. Ich lächelte voller Vorfreude und sagte: »Und wenn ich nicht mehr euer Herr bin, werdet ihr alle Steuern und Abgaben selbst zahlen müssen. Aber die Revolutionäre wollen – und das glaube ich ihnen auch wirklich – eine gerechte Besteuerung für alle einführen. Und eintreiben, natürlich.« »Steuern fordern, das können sie alle«, beschwerte sich Guillemett. »Das lernen sie mit der Muttermilch.« »Stimmt.« Im Sturm prasselten Regentropfen gegen die Läden. Die Bauern hatten es rechtzeitig geschafft; bis auf den letzten Apfel war die gesamte Ernte unter Dach und Fach. Durch die heimeligen Geräusche war das Schlagen des Mühlrades zu hören. Ich verabredete mich mit Guillemett und versprach, morgen einen Kontrollgang am Waldrand und durch die Weinberge mit ihm durchzuführen. Dann konnte ich beruhigt zur Insel Yodoyas
springen, zusammen mit Cephyrine.
Meine Zehen wühlten sich in den nassen Sand. Im Schatten meines Körpers, der durch das klare Wasser bis auf den Sand der Lagune fiel, schwammen vier silberne Fische mit roten Streifen und schleierartigen Flossen. Ich blickte zum Horizont, als könne ich dort Nonfarmale auftauchen sehen. Die Sonne überschüttete das Eiland mit gleißendem Licht. Durch das Rascheln der Palmwedel und das donnernde Krachen der Brandung hörte ich das Plätschern. Cephyrine rannte durch das kniehohe Wasser auf mich zu. »Damals war es ein Traum, und von diesem habe ich so oft gesprochen. Lautlos, nur zu mir. Und jetzt ist es wieder Wirklichkeit.« Ich lächelte sie an und sagte: »Wenn es immer so einfach wäre, aus Träumen die Wirklichkeit zu machen, hätte es die Welt leichter.« Seit drei Tagen und Nächten befanden wir uns hier. Wärme tränkte unsere Körper und vertrieb ein wenig die garstigen Gedanken ans winterliche Frankreich. Ab und zu hatten mich Bilder von Vandalismus und Plünderei erreicht, die von Ricos Sonden stammten. Ich betrachtete sie allein, um Cephyrines gute Laune nicht zu verderben. »Bleiben wir lange hier?« »So lange wie irgend möglich«, antwortete ich und ertappte mich tatsächlich bei dem Gedanken, daß der arme Roboter in der Werkstatt schuften musste, während wir uns hier vergnügten. Ich war schon mehr Barbar, als mir lieb sein konnte. »Oder willst du schon wieder zurück?« Sie strich über ihre nackten Hüften und kniff die Haut zusammen. »Um Gottes willen. Nein! Ich bin zu fett geworden. Das Schwimmen tut dem Körper und der Seele gut.« Ihre grünen Augen blitzten. Ihr reifer Körper troff vor Schutzöl und Wasser. Ein Windstoß brachte den Geruch mit sich, den ich so liebte: Salzwasser, Tang und trocknendes Treibholz, und etwas von der herrlichen Weite des unruhigen Planeten. »Dann schwimm dich müde«, sagte ich und spritzte mit beiden Händen Wasser nach ihr. Sie rannte kichernd davon und sprang ins warme Wasser der Lagune. Auf den kleinen Wellen funkelten blendend unzählige Sonnenreflexe. Der Allier-Wein in großen Flaschen stand kühl im Sand neben der Terrasse. Unentwegt beschäftigte ich mich in Gedanken mit einer Handvoll Fragen und Vorhaben; die rechte Reihe hatte ich noch nicht gefunden. Ich zählte eine Weile lang die Wellen der Brandung, dann rannte ich über den feuchten Sand, bis ich keuchte und schwitzte. Dann sprang ich ins Wasser und schwamm Cephyrine hinterher.
13. Im April trugen alle Laubbäume hellgrüne Triebe. Nur an wenigen Stellen, in den Spalten und Gräben der Nordhänge, lagen noch Schneereste im Gebiet der Lechschleife. Die Wolken, die der Südwind über das Land trieb, sahen gänzlich anders aus
als die mächtigen weißen Gebirge über dem Meer und den Inselchen. Ich schloss den letzten Saum des eng anliegenden Kampfanzugs und kontrollierte die Ausrüstung. Cephyrine wartete auf Yodoyas Insel; Nonfarmale schien die Blutspur in der Ile de France aufgenommen zu haben. Wieder begann ein Abschnitt meiner verzweifelten Jagd nach ihm und seinem Raumschiff. Rico hatte, stets absolut perfekt, sämtliche Einzelheiten vorbereitet. Unsere Geräte hatten die Charakteristik des Strukturloches analysiert. Die Projektoren öffneten einen Zugang in Nonfarmales neue Jenseitswelt. »Ich bleibe nicht lange, Rico«, sagte ich und schloss den Riemen des Helmes. »Ich sehe mich erst um. Wie jenes pays de chimere beschaffen ist.« Rico hatte den Einstieg des schnellen Gleiters geöffnet und aktivierte die Aufnahmegeräte. »Wenn du über Synonymus Eins verfügen willst, rüste ich auch ihn aus.« Ich schüttelte den Kopf. »Noch nicht. Ich versuche es allein. Nachher wissen wir mehr.« »Viel Glück.« Noch versteckte sich die Sonne hinter dem Wald des Prallhangs. Vögel schossen um den Felsen und kreischten, als die getarnten Portale fast geräuschlos aufglitten und der Gleiter herausschwebte. Ich ließ die Maschine an der kantigen, von Kiefern, Fichten und Tannen bewachsenen Klippe heruntersinken und näherte mich dem grünmilchigen Schmelzwasser des hochgehenden Flusses. »Die Funkverbindung«, sagte ich leise, »wird höchstwahrscheinlich wieder zusammenbrechen.« »Ich erwarte nichts anderes«, stellte Rico fest. »Ich warte hier.« »Gut. Ich passiere die Schnittlinie.« Der Tunnel mit seinen konturlosen Energiewänden klaffte dicht über der strudelnden, schäumenden Wasseroberfläche. Die Schnauze des Gleiters schob sich durch den dünnen Nebel. Ich komme, Nonfarmale, dachte ich. Aber diesmal gibt es keinen Kampf in deiner Behausung. Weder Rico noch ich hatten ihn selbst gesehen. Nonfarmale befand sich in der Gegend von Paris. Dort betrat und verließ er den Planeten, den ich zu schützen hatte. Der Trichter weitete sich, und ich sah die roten, stechenden Lichter in einem hellen Himmel. An diesen Anblick erinnerte ich mich genau, das transmitterähnliche Wandbild in der Klippe, das sich plötzlich zu einem Fluchtweg vergrößert hatte, war während der letzten Sekunden des mörderischen Kampfes aufgeflammt. Langsam schwebte der Gleiter auf eine Gruppe von Felsenriffen zu. Über ihre Flanken brachen Wasserfälle. Riesige Polster moosähnlicher Pflanzen nisteten in Spalten und Schründen. Ich lenkte die Maschine zwischen den gigantischen Türmen hindurch und hörte das feine Summen der verschiedenen Aufzeichnungsgeräte. Das Leuchten der stechend scharfen Punkte über der Landschaft schien schwächer zu werden. »Bist du auf dieser
Jenseitswelt, auf antichtona, ganz allein, mein Feind?« Der Gleiter bog nach rechts. Ich steuerte ihn unter eine Felsbrücke, die wie ein Torbogen über einer großen Höhle aussah, wendete und betrachtete das Panorama, das sich vor mir bis zu einem diesigen Hintergrund erstreckte: Der Himmel war hellgrau. Wolken zeichneten sich nur durch dunklere Ränder ab. Die Lichtpunkte jenseits des Dunstes schienen tatsächlich Sterne zu sein, obwohl mir dieser Effekt physikalisch unmöglich vorkam. Ich konnte keine Vögel sehen, nur Tiere, die wie missgestaltete Libellen aussahen, und riesige Schmetterlinge. Sie flatterten zwischen den Moospolstern hin und her, und die Libellen beschrieben rasend schnell ihre Zickzackkurse. Ich zwang mich zur Ruhe und beobachtete weiter. Ich befand mich, wohl zufällig, in großer Höhe über einem offenen Talkessel. An der Stelle, an der ich eingedrungen war und die Nonfarmale als Ausgang seiner Welt gewählt hatte, reckten sich Felsen, Schroffen und Zinnen am höchsten und, wie es schien, am meisten zerklüftet in die Höhe. Es gab jede erdenkliche Form verwitterten Steines und einige, die keine Phantasie ersinnen konnte. Türme, Bögen und Riffe, die wie Korallengewächse aussahen, steinerne Labyrinthe, Höhlen und Formen, wie Schwämme geformt. Manches sah aus, als sei es von Giganten nach vorgegebenen Schemata gemauert, vieles war sicher ein Produkt einer schnellen, scharfen Verwitterung. Der annähernd runde Kessel war nach Süden offen. Die Höhe der Felsen nahm im Südwesten und Südosten ab. Hinter dem Hochnebel schien eine weißgelbe Sonne zu hängen. Ihr Leuchten bildete zwischen den roten Punkten halbhoch im Süden eine Lichtinsel. Den hügeligen Boden des Tales sah ich hingegen deutlich. Ich beugte mich vor und studierte die Einzelheiten. Zwischen dicht bewachsenen Hügeln mäanderten Bäche und Flüsse. Der Boden war mindestens drei englische Meilen von meinem Standort entfernt. Ich sah kleine Seen und Kiesflächen, einzelne Baumriesen und eine schier endlose Fläche von gesprenkeltem Dunkelgrün. »Und wo ist das Versteck?« fragte ich mich, hob das schwere Feldglas an die Augen und suchte die zerklüfteten Fronten und Vorsprünge ab. Während ich nach einer Spur des Seelensaugers suchte, überzog ein Schatten die Szene. Ich schaute in die Höhe. Von Norden her, über die Felsbarriere in meinem Rücken, schob sich eine schwarze Schicht waagrecht über meinen Kopf hinweg nach Süden, bedeckte die obersten Spitzen und Zacken der Felsbarriere und drang überraschend schnell vor. Die Schicht wirkte, als bestünde sie aus einer dicken Glasplatte. Ich sah keine Wirbel und keinerlei Zusammenballung, als sie begann, das Blickfeld auszufüllen
und sich in fast gerader Linie über das Tal spannte. An beiden Seiten verschwanden die Felsen in der schwarzen Schicht. Sie löschte nacheinander die roten Punkte aus und erreichte die Stelle, an der sich das Gestirn befand. Noch während die seltsame Wolke weiterwanderte und sich dem gegenüberliegenden Horizont näherte, begann es zu regnen. Einzelne Tropfen schlugen auf die Kuppel und die überdeckte Ladefläche des Gleiters, zerstäubten auf den Felsen und schlugen die dicken Halme des Mooses nieder. Es prasselte immer lauter; die Tropfen schienen absolut senkrecht herunterzuhämmern. Dann verwandelte sich die Wolke, die das Sonnenlicht auslöschte, in einen einzigen Sturzbach. Regen rauschte und verdeckte die Sicht. Nach wenigen Augenblicken sah ich an den Felsen in meiner unmittelbaren Nähe nur noch Bäche und Wasserfälle, die sich schäumend vereinigten und abwärts stürzten. Wenige subjektive Minuten später herrschte völliges Dunkel. Gerade voraus konnte ich noch einen schmalen, helleren Streifen erkennen, der rasch ausgelöscht wurde. Dann befand ich mich endgültig im nassen Inferno. Der Gleiter bewegte sich rückwärts, bis das Heck die Felsen berührte. Das Lärmen des Regens ließ ein wenig nach. Ich wartete und flüsterte: »Nonfarmale, inmitten tenebras!« Seine Welt schickte die Finsternis in den Talkessel. Wenn jene schweren Sturzregen häufiger niedergingen, und alles sprach dafür, daß sie eine regelmäßige Naturerscheinung darstellten, war die starke Erosion der Felsen verständlich. Ich zwang mich zu entspannen, während ich darauf wartete, daß Sturzregen und Finsternis vorbeigingen. Bisher waren die »Rosengärten« und Jenseitswelten Nonfarmales offensichtlich unbewohnt gewesen; jedenfalls hatte ich in der kurzen Zeit der Kämpfe nicht feststellen können, daß intelligente Wesen die Planeten besiedelten. Auch dieser alter orbis wirkte unbewohnt, aber keineswegs leer. Während ich sinnierte, verlor der Sturzregen seine Wucht und löste sich in einzelne Schauer auf. Das Hämmern auf den Gleiter wurde leiser. Ich wischte einen Teil der beschlagenen Scheiben trocken und spähte aus dem sicheren Schutz der Kabine hinaus. Die Wolke war weitergezogen. Ich sah ihren jenseitigen Rand. Über ihr erschienen, als zöge man einen Vorhang auf, einzelne Lichtpunkte: Sterne funkelten in völlig klarer Luft. Ich schüttelte den Kopf und versuchte ohne rechten Erfolg, mir die kosmischen Absonderlichkeiten dieses Vorgangs vorzustellen. Der Regen hörte völlig auf. Ich steuerte den Gleiter fünf Schritte weit nach vorn, öffnete die Kanzel und atmete kühle Luft ein, die nach erhitztem und jäh abgekühltem Gestein und betäubend nach exotischen Blüten roch. Auf den Uhren des Gleiters
war eine Stunde vergangen. Über mir funkelten und leuchteten die Sterne. Ich sah einen Sternenschleier, der vielleicht dem sichtbaren Ausläufer des Sternensystems entsprach, den die Barbaren auf Larsaf III »Die Milchstraße« oder »Galaxie« nannten, der früher »Götterweg« und ähnlich hochtrabend geheißen hatte. Ich schwenkte die Aufnahmegeräte und hielt die Bilder des gestirnten Himmels fest. Eine Art Dämmerung schob sich über das Land. Während die Wolke weiter glitt, die Sterne zahlreicher und der Regen schwächer wurde, zeichnete sich ein Streifen über mir ab, der das Tal überspannte und heller wurde. Dann schob sich hinter der Wolke wieder die Sonne herauf; als die Lichtflut heranbrandete, verschwanden die Sterne und machten einem rötlichen Firmament Platz. »Das ändert alles nichts an der misslichen Tatsache«, sagte ich zu mir, »daß ich Nonfarmales Behausung nicht gefunden habe.« Ich hatte auch nicht entschlossen genug danach gesucht. Als er aus dem Adlerhorst floh, war er über eine Steintreppe aus dem Bild geklettert. Wo fand ich sie? Der Gleiter schwebte vorwärts, und als ich genügend weit von den Felsen entfernt war, schaltete ich das Deflektorfeld auf halbe Stärke und ließ die Maschine senkrecht hochsteigen. Weit im Süden ballten sich Wolken, Halbdunkel und letzte Regenschleier zusammen und machten den wahren Horizont ebenso unsichtbar wie mich. Die Schnauze des Gleiters drehte sich nach Norden. Ich erschrak fast vor dem Anblick des Landes. Jetzt verstand ich, woher der Regen und die riesige Wolke gekommen waren. Das Halbrund der riesigen Felsbarriere entsprach dem Absturz einer Hochfläche, deren Ende ich nicht sehen konnte. Ein mächtiges Plateau, das an den Rändern leicht abfiel, erstreckte sich im Rücken des steinernen Walles. Von den Felsen, über denen ich schwebte, war das dahinter liegende Gelände durch eine zerklüftete, breite Schlucht getrennt. Die Felsen waren einst der senkrechte Hang dieser Platte gewesen, denn die Abstürze auf der gegenüberliegenden Seite der Schlucht zeigten die gleiche Art Gestein; ebenso bizarr zerklüftet und zerrissen. Von der Hochfläche stürzten sich ein Dutzend breite Flüsse in die Schlucht. Aus ihrer Tiefe wirbelte Wasserstaub auf. »Atlan«, murmelte ich, »deine Suche wird lange dauern.« Ich zeichnete auf, was ich sah, dann schwebte ich entlang der Felsen über dem Talkessel nach Westen. Ich blickte nach rechts und suchte den Unterschlupf. Der Viertelkreis der Felsen schwang mindestens fünfzehn Meilen nach Westen und später nach Süden. Langsam patrouillierte ich in mittlerer Höhe an den Felsformationen entlang und wurde mir bewusst, daß mir nur ein Zufall zeigen würde, was ich suchte.
Hin und wieder blickte ich zum Boden, etwa eine Meile unter dem Kiel. Aus einem kleinen, rötlich schimmernden See stiegen mächtige Blasen auf. Durch Felsentore im Steinwall brodelte ein Teil des Flusses, der in der Schlucht verlief, in den Talkessel und stürzte über viele Stufen aus verschiedenfarbigem Gestein. So schnell wie möglich und so gründlich wie nötig pirschte ich in der Luft entlang der Felswände. Ich sah weder Terrassen noch Höhlen, die zu einem Versteck führten. Andererseits: Nonfarmale war ohne Flugtier geflüchtet. Vielleicht hatte er das Felshalbrund etwa an der gleichen Stelle betreten wie ich mit dem Gleiter? Noch vor dem Stück, an dem die Felsen, weitaus stärker erodiert, in hügeliges und von Wald bewachsenes Land übergingen, in Moor und große Flächen aus binsenartigen Pflanzen mit feuerroten Kolben, drehte ich um und hatte die Sonne rechts von mir. Ich flog zurück zum Mittelpunkt des Kreises. Eine riesige Blase erhob sich aus dem See. An ihrem unteren Ende baumelten tentakelähnliche Fortsätze. Als das Ding das Ufer des Tümpels erreicht hatte, sank es abwärts und stakste über den Boden. »Eine Landqualle?« Jetzt konnte ich auch erkennen, daß es andere Flugwesen gab als jene, die ich als Insekten bezeichnete. Vögel mit stark farbigem Gefieder flatterten in Bodennähe umher. Aber nicht einmal die größten Exemplare wagten sich mehr als ein paar Schritte über die höchsten Baumwipfel hinaus. Ich schwebte auf den höchsten, mittleren Teil dieses erstaunlichen Gebirges zu, dessen Formen ebenso gewalttätig waren wie Nonfarmale. Ein Signal flackerte im Armaturenbrett. Ich kam an der Stelle meines Eindringens vorbei, drosselte die Geschwindigkeit und ließ meine Blicke über die Oberfläche des Gesteins gleiten. Bisher hatte ich neun Geländeformationen gesehen, die wie geschwungene Steintreppen wirkten; jedes Mal endeten sie blind an einem senkrechten Absturz. Der Logiksektor schrie: Halt. Links oben. Ich wendete den Gleiter und stieg höher. Zwischen einer Gruppe farbiger, zerklüfteter, ausgehöhlter Felsnadeln entdeckte ich eine Terrasse, deren Ränder sich in wirren Krümmungen den Flanken der Umgebung anpassten. Die Flächen waren glatt und geschwungen, schienen mit einem Desintegrator aus der Umgebung herausgemeißelt worden sein. Zu der ebenen Fläche, von der noch durch Speigatten Regenwasser ablief, führte die bewusste Treppe. Nur die untersten Stufen der verzerrten Spirale, die zwischen den Nadeln und Türmen verschwand, waren bearbeitet. Der Rand der Terrasse war bepflanzt, Moos, kleine Bäume und Büsche, deren Blätter nass im Sonnenlicht glänzten und glitzerten, markierten den Rand der Terrasse. Ich schwebte im Zickzackkurs
entlang der linken Wand und blieb über den Flächen, Stufen und Gewächsen. Am Ende der Terrasse, etwa hundert Schritt lang, wölbten sich die Felsen dachartig über einer Eingangsfront, die mich mehr an einen Tempel des Nillands erinnerte als an alle anderen Formen barbarischer Architektur. »Immer auf guten Stil bedacht, du Mörder«, flüsterte ich. Die Hitze trocknete das Wasser auf dem Stein der Terrassenfläche sehr schnell. Die kantigen Säulen, in die unverständliche Zeichen und Buchstaben, Zeichnungen und Figurinen eingegraben waren, warfen Schatten gegen den zurückspringenden Fels. Ich sah Grasflächen glitzern. Schwere Vorhänge bewegten sich, als ich näher glitt, mich umsah und den Gleiter schließlich an einer Stelle knapp über dem Boden schweben ließ, die ich wieder finden würde. Ich aktivierte das körpereigene Deflektorfeld und huschte mit angehaltenem Atem hinaus, blieb stehen und lauschte. Es gab möglicherweise aus größerer Höhe noch einen besseren Blick auf das Panorama. Während ich mich umschaute, überzog sich der Himmel wieder mit jenem milchigen Dunst, der die rötliche Färbung schluckte und die stechendroten Sterne erahnen ließ. Aber von seiner Terrasse aus und aus den schießschartenähnlichen Fenstern hatte Nonfarmale einen Ausblick von einmaliger Großartigkeit. Entlang der Wand näherte ich mich den Eingängen. Aus dem Innern des Felsverstecks schlugen mir Stimmengewirr und Musik entgegen. Musik? Ich unterschied verschiedene Trommeln, Flöten und Rasseln. Verwirrt schob ich mich durch den Eingang, vorbei an zusammen geschobenen Vorhängen, die nach außen weiß, nach innen vielfarbig waren wie afrikanische Malerei. Durch Schächte, Spiegel und Prismen wurde Sonnenlicht in den Raum geleitet. Ich ging vom Eingang weg zur Seite und versuchte, das Bild zu erfassen und richtig zu verstehen. »Verrückt!« war der einzige Kommentar, der mir einfiel. Vor mir erstreckten sich schätzungsweise hundertfünfzig Säulen zwischen dem glatten Boden und halbkugelförmig ausgehöhlten Deckenteilen. Jede einzelne Säule schien einen anderen Durchmesser zu haben. Die zierlichsten konnte ich mit beiden Händen umspannen, und die dicksten erinnerten an mächtige Bäume. Die Deckenhöhe wechselte ohne jeden erkennbaren Sinn für Systematik. Lichtstrahlen zuckten aus allen Richtungen durch den großen Raum. Etwa fünf Dutzend Menschen bewegten sich zwischen den Säulen. Irgendwo im Hintergrund bearbeiteten Musiker ihre Instrumente. Die Echos zerfaserten in der seltsamen Akustik des unterteilten Steinraumes. Nonfarmale schien Afrika, den schwarzen Kontinent, ausgeplündert zu haben; die Menschen waren braunhäutig, aber nicht schwarz, schienen Mischlinge zwischen Afrikanern
und Arabern zu sein. Ich sah sogar helle Augen und braunes Haar. Einige Männer standen vor den Säulen und verzierten sie mit Bildnissen, die ich auch vor dem Eingang hatte bewundern können. Ihre Hämmer und Meißel folgten dem Takt der Trommeln. Die Blicke der Menschen waren weniger leer und seelenlos als die der Opfer im letzten Schlupfwinkel. Ich entdeckte keine Kinder und keine alten Menschen. An anderen Stellen malten Männer und junge Frauen die Wände und Säulen mit grellen Farben und in maskenhaften, stark stilisierten Bildern an. Zwischen den arbeitenden Gruppen stolzierten Frauen hin und her und brachten den Künstlern Essen und Getränke. Ich ließ meinen Blick von einem zum anderen gehen und hatte das gleiche Gefühl wütender Hilflosigkeit wie im Adlerhorst. Die Opfer trugen viel bunten, glitzernden Schmuck und nur ein Minimum an Kleidung. Sie bewegten sich zwar nicht wie willenlose Sklaven, aber Nonfarmale hatte ihre Gehirne manipuliert. Ich suchte einen Weg ins Innere und wich immer wieder schnell summenden und tänzelnden Schönheiten mit blauschwarzem Haar und großen, dunklen Augen aus. Auch ihren eigenen Leuten gegenüber verhielten sich die Opfer so, als wären sie kaum vorhanden. Eine merkwürdige Fremdheit herrschte; alle schienen auf ihren Herrn zu warten. Unter den Braunhäutigen befanden sich keine Wesen von anderen Welten. Ich sah Stühle, Sessel und Tische, die ebenfalls so aussahen, als kämen zumindest ihre Formen und Materialien aus den Werkstätten nordafrikanischer Handwerker. Außer Prismen und Spiegeln fand ich keine technischen Einrichtungen, aber sie verbargen sich wohl hinter den Felswänden, wie im Adlerhorst. Plötzlich warnte mich der Extrasinn: Nonfarmale wird nicht lange auf sich warten lassen. Du solltest deinen Vorstoß abbrechen. Ich schlich zwischen den Säulen und der bilderstrotzenden Rückwand des Raumes entlang. Hundertfünfzig Schritte hatte ich über die gesamte Breite zurückgelegt, als ich mich umwandte und mich zwischen den Malenden, Meißelnden und Umherschlendernden zum Eingang bewegte. Die Mädchen und Frauen waren von Nonfarmale zweifellos nach ihrer körperlichen Schönheit ausgesucht worden. Ob er nur männliche Künstler von der Erde mitgebracht hatte, konnte ich nicht beurteilen. In diesem Raum befanden sich nur künstlerisch tätige Männer in mittleren Jahren. Keiner von ihnen schien die aufreizende Schönheit wirklich wahrzunehmen. Die rhythmischen Klänge der Instrumente hallten in meinen Ohren nach, als ich auf die Terrasse hinaus schlich. Kopfschüttelnd näherte ich mich der Stelle, an der mein Gleiter versteckt war. Über mir ertönte ein scharfes Rauschen. Eine Wolke von Gestank erfasste mich. Ich sprang zur Seite und dachte nicht
daran, daß ich für jedermann unsichtbar war. Als ich den Kopf in die Höhe riss, sah ich im Sonnenlicht den riesigen Geier, auf dem Nonfarmale sich gezeigt hatte. Er kam im Segelflug über die höchsten Felsentürme, jagte über die Terrasse hinweg und glitt zur Ebene. Hinter ihm folgte eine weitere Bestie, die noch einen schlimmeren Geruch verströmte. Die Schatten der riesigen Tiere huschten über die Terrasse. Ich ertastete die Kuppel über der Gleiterkabine und duckte mich in den Einstieg. Während die Geier auf die Hügel und Seen der Tiefebene zujagten, stießen sie gellende, misstönende Schreie aus. Als ich mich im Pilotensitz ausstreckte und nach dem Griff der Tür langte, bemerkte ich noch einen weiteren Schatten am Rand des Blickfeldes. Ich entsicherte den schweren Strahler, den ich schon in der Hand hielt. Ich zuckte zusammen, als ich Nonfarmale erkannte. Leichtfüßig tänzelte er, ein sattes Lächeln ausstrahlend, die Stufen hinunter und schritt über die Terrasse. Er trug die Kleidung eines französischen Bourgeois’, hatte sein langes Haar zu einem Nackenzöpfchen geflochten und ging auf den Eingang des Verstecks zu. Die Narbe war noch zu sehen. Sie schien dünner und weniger rot zu sein; vielleicht hatte er sie überschminkt. Ich hielt den Atem an, bis er an mir vorbei war und vor dem Eingang stand. Aus einiger Entfernung hätte man ihn mit mir oder Rico verwechseln können, wenn wir uns in Paris aufhielten und dort der getarnten Tätigkeit nachgingen. In diesem Aufzug wäre es ein glücklicher Zufall, ihn in Paris zu entdecken, es sei denn, er würde sich bewusst aus seiner Deckung hervorwagen. Nonfarmale war stehen geblieben. Ich hob die Waffe und überlegte, ob ich ihn niederschießen sollte, oder ob es besser war, ich könnte ihn betäuben und danach alles aus ihm herauskriegen, was ich wissen wollte. Er blickte in meine Richtung, in meine Augen. Ahnte er, daß ich hier saß? Oder daß er von wem auch immer, beobachtet wurde? Als ich das Flimmern des Schutzfelds vor seinem Körper sah, ließ ich die Waffe wieder sinken. Nonfarmale wirbelte herum und verschwand zwischen den Säulen. Ein Vorhang wehte zur Seite. Der Herr des Felsenverstecks wurde mit fröhlichem Geschrei empfangen. Wenigstens glaubte ich Begeisterung aus den Rufen herauszuhören. Ich hatte mich umgesehen, der Massedetektor am Bug des Gleiters und die Ortungsgeräte der Sonden hatten weder ein Raumschiff gesehen noch eine größere organisierte Metallmasse anmessen können. Dass Nonfarmale sein Diskusschiff auf der antipodischen Seite dieser Welt – oder der anderen, die ich schon kannte – verborgen hatte, spottete jeder Logik. Ich fragte mich, warum er sonst auf seinen abgerichteten Fabeltieren
erscheinen musste. Für die Barbaren hatte der Anblick eines schwarzen Diskus den gleichen erschreckenden Effekt: In jedem Fall glaubten sie an ein Wunder oder eine Erscheinung aus höllischem Teufelswerk. Noch einmal kontrollierte ich die Instrumente. Der Logiksektor bemerkte: Kein Raumschiff, Atlan! Ich schloss die Tür, ließ den Gleiter in die Höhe steigen und schwebte entlang der Felsen davon. Gelang es mir, Nonfarmale in Paris von seiner Jenseitslandschaft abzuschneiden? Ich fand mit Hilfe des Autopiloten den Strukturtunnel, schwebte in mäßiger Geschwindigkeit hindurch und fand mich nahe des Lechturmes wieder: Über dem Fluss und den Kiesbänken ging ein mittäglicher Gewitterregen nieder. »Du kannst dein Besorgtheitsmodul abschalten, Rico«, sagte ich ins Mikrophon. »Ich bin heil der Jenseitswelt entkommen.« »Wie viel Stunden hast du in jenem Zeitsystem zugebracht?« fragte der Roboter. Ich steuerte den Turm an, der fast unsichtbar zwischen Felsen und Bäumen aufragte. Nach einem Blick auf den Kurzzeitmesser sagte ich: »Etwa sechs Stunden.« »Hier sind fast zwölf Tage vergangen«, antwortete Rico. Ich schaltete die Deflektor- und Schutzfelder aus und schwebte in die Gleiterhalle. Vom Gleiter tropfte das Regenwasser und bildete, als ich ausstieg und meinen Helm herunterhob, kleine Lachen auf den Bodenplatten. »Also eins zu etwa achtundvierzig«, murmelte ich und deutete auf das Armaturenbrett. »Du wirst verblüffende Aufnahmen finden. Diesmal konnte ich Stellaraufnahmen machen. Vielleicht schaffen es die Zentralrechner, den Standort seines Verstecks herauszufinden.« »Solltest du wieder Yodoyas Insel besuchen, werde ich in der Kuppel die Analysen vorbereiten.« »Möglichst auch durchführen. Neues aus Frankreich?« »Noch mehr Chaos. Eine kollektive Psychose, die ›Große Angst‹ genannt, verbreitet sich in vielen Dörfern. Der König ist praktisch Gefangener im Schloss der Tuilerien. Die Nationalversammlung tagt in Versailles. Und die Revolutionäre halten Reden von bemerkenswerter Eloquenz. Wusstest Du, daß Danton für sein umstürzlerisches Amt hervorragend bezahlt wird?« Ich zwängte mich aus meinem Anzug und dachte an Cephyrine und das warme Wasser der Lagune. »Von Ludwig Philipp, Herzog von Orleans, sagt man.« »Und wahrscheinlich auch mit englischem Geld.« »Wann bist du wieder in der Werkstatt?« fragte ich und schnürte die Kampfstiefel auf. »Noch heute?« »Morgen ist geplant. Die vielen Pistolen und Musketen werden gerade in der Kuppel repariert.« »Kluger Kopf, Rico. Ich denke in der schäumenden Brandung darüber nach, wie Nonfarmale zu fassen ist.« Rico nahm mir die Ausrüstung ab und verstaute sie mit der gewohnten Sorgfalt. Ich ging in den Wohnraum,
ließ die letzten Informationen überspielen und war froh, vorübergehend Rico alle Arbeiten überlassen zu können. In Beauvallon hatten sich in der Zwischenzeit keine Probleme gezeigt. Ich konnte mit ruhigem Gewissen die Transmitterverbindung zur Insel benutzen. Aber meine Ruhe blieb fragwürdig, solange Nonfarmale sein Unwesen trieb. Ich kam am Morgen in der Wärme und im Sand des Inselchens an und weckte Cephyrine.
Das Jahr zog sich in die Länge. Statt richtigem Geld benutzten die Franzosen so genannte Assignaten. Spekulanten erwarben riesige Vermögen, und das Land wurde – ein Vorgang der Logik inmitten der Wirrnis! – in dreiundachtzig klar begrenzte Departements eingeteilt, was irgendwann die Verwaltung Frankreichs ungemein erleichtern würde. Offensichtlich machte sich die Akademie der Wissenschaften in Paris daran, einheitliche Maße und Gewichte einzuführen. Die Enteignung der Kirche ging in großem Rahmen weiter. Unsere Stationen waren die Werkstatt in Paris, Cephyrines Haus in Pierrefitte, Beauvallon und Isle de Yodoya. Mit Rico durchstöberte ich die Stadt auf der Suche nach Nonfarmale. »Du willst diesen Mann töten, nicht wahr?« »Ich will ihn nicht ermorden«, antwortete ich. »Das würde ich nicht schaffen, denn er ist darauf gefasst, sich in jeder Sekunde des Tages schützen und wehren zu müssen.« Rico, unsere Spionsonden und ich konnten zu keiner Zeit und unter keinen Umständen die gesamte Stadt planmäßig nach einem einzigen Menschen absuchen. Wir vermochten nur einen Ausschnitt zu überwachen. Wenn sich Nonfarmale in der Stadt befand, dann versteckte er sich hervorragend in der Menge. Da es aber bisher erstaunlich ruhig blieb, abgesehen von Reden, Demonstrationen, langen Versammlungen und ziellosem Aktivismus, nahm ich an, er würde sich in der Jenseitswelt aufhalten. Hier fand er gegenwärtig kaum ein Opfer. »Wenn er nicht in Paris ist, oder irgendwo außerhalb der Stadt«, fragte Cephyrine, stärker beunruhigt, »wo willst du ihn dann suchen und finden?« »Das ist die große Frage. Irgendwo auf dieser Welt gibt es immer Grausamkeiten und Tod. Aber die Welt ist zu groß für Rico und mich.« Natürlich konnte ich, mit oder ohne Synonymus Eins, auch in seiner überholten, verbesserten und leistungsfähigeren Version, wieder in das Felsenversteck eindringen und Nonfarmale einen Kampf aufzwingen. Er würde enden wie der letzte Versuch: Feuer, Explosionen, massenhafter Tod von Unschuldigen und die geglückte Flucht des Seelensaugers. Auch mit den Luftkämpfen waren wir nicht erfolgreich gewesen. Außerdem zögerte ich mehr und mehr, wie ein bezahlter Mörder vorzugehen. Aber das war ein weniger wichtiger Punkt der langen Auseinandersetzung. Die Welt war tatsächlich zu
groß für eine gezielte Überwachung. Während ich in der Nachmittagssonne lag und Cephyrine ein milchiges Öl aus Grasse, der Stadt vieler Wohlgerüche, auf meinen Schultern und dem Rücken verrieb, dachte ich über unsere Probleme nach. Larsaf III, dieser herrliche Planet, entzog sich seit jeher durch die Größe seiner Landoberfläche einer Beobachtung, die jeden wirklich wichtigen Vorfall registrierte. Natürlich waren die allermeisten bedeutungslos. Geschichtliche Langzeitbeobachtungen und eine vernünftige Analyse entstanden dadurch, daß wir seit so langer Zeit, aus unzählbar vielen Orten, in vielen Sprachen und aus der unmittelbaren Nähe der Herrschenden Informationen in allen Darstellungsformen gesammelt, kombiniert und analysiert hatten. Dies alles, vermischt mit Irrtümern und Fehldiagnosen, ergab die Geschichte des Planeten. Den Ausschnitt bestimmten die Zentralen Rechner und zu einem guten Teil der Zufall, am meisten jedenfalls die Mächtigen des Barbarenplaneten und die Menge der Opfer ihrer Kriege die leider keineswegs »ultima ratio« der Kirchen und Könige waren. »Und wie lange willst du diesen Seelenfresser jagen?« Ich setzte mich auf und blinzelte in Cephyrines Katzenaugen, »Ich fürchte, das wird lange dauern, und ich weiß nicht, wie lange. Einen solchen Gegner oder Feind kannte ich bisher nicht.« Der lange Aufenthalt in Wasser und Sonne hatte Cephyrine sichtlich wohlgetan. Obwohl ich die grauen Strähnen in ihrem Haar liebte, hatte Rico ihre Wünsche erfüllt und ihr die ursprüngliche Farbe mit einer Tinktur zurückgegeben. Selbst Salz und Sonne hatten die Farbe kaum bleichen können. Ihr Körper war nicht mehr der einer Achtzehnjährigen, sondern gefiel mit den reifen Formen einer Vierzigjährigen. Einige Medikamente, kurze Behandlungen unserer Medorobots und die pflegenden Substanzen, der Aufenthalt auf Yodoyas Insel hatten ihre Haut glatt bleiben lassen. Cephyrine wußte, daß ihr Leben eine Folge von Ereignissen war, die außer ihr und uns niemand erleben durfte. Schließlich hatte das lautlose Wispern der Psychostrahler gleichermaßen ihre Sinne und ihr Wissen erweitert. »Er weiß nicht, daß du ihn verfolgst?« fragte Cephyrine. Ich massierte Öl in die Haut ihrer Oberarme. »Nein. Er darf es auch nicht erfahren«, sagte ich. »Denn, wenn er seinen Gegner kennen würde, würde er zuschlagen. Ich weiß, er würde dich töten. Du würdest auf elende Weise sterben. Ich werde nicht zulassen, daß die Frau, die ich liebe, von Nonfarmale umgebracht und ihre Seele ausgetrunken wird wie ein…« »Ich wußte nicht«, flüsterte Cephyrine, »daß der Kampf so erbarmungslos ist. Warum hasst er dich so?« »Nonfarmale hasst mich nicht«, erwiderte ich ruhig. »Er ist ein Wesen, eine Art Tier,
das sich vom letzten Atem der Sterbenden und den Schreien der Verwundeten ernährt. Es gibt genügend Mord, Kampf und Elend auf der Welt; er sorgt dafür, daß es noch mehr wird. Deswegen, meine schöne Geliebte, kämpfe ich gegen ihn.« Ich strich das feuchte Haar aus ihrer Stirn und lächelte sie aufmunternd an. »Weißt du schon, wie es weitergeht?« »Nein«, sagte ich. »Es ist wie beim Schachspiel. Ich warte auf den nächsten Zug.« »In Paris?« »Wahrscheinlich in der Stadt«, sagte ich. »Ein Funke genügt, und aus den gärenden Volksmassen wird ein Mob, der mordet, niederbrennt, plündert und zerstört. Auf diesen Tag wartet Nonfarmale.« Wir schauten uns in die Augen und schwiegen. Wir wussten, daß dieser Tag bald kommen würde. Der Kampf, den wir beobachteten, fand zwischen den vielen Parteien statt, den Jakobinern, Cordeliers, den Königstreuen, den bezahlten und freiwilligen Revolutionären, dem ratlosen Volk, den Gruppen aus den Stadtvierteln, den führungslosen Truppenteilen und den Männern, die unterschiedliche Forderungen vertraten: Orleans, La Fayette, Danton, Brissot, Robespierre und anderen. Noch gab es keine organisierten Kämpfe; von einer Organisation war nirgendwo im Land etwas zu merken. Der Brotpreis erreichte astronomische Höhen, desgleichen die Wut der Hungernden. Ende Juni 1791 wagte die königliche Familie mit Unterstützung des Axel Graf von Fersen die Flucht nach Osten. Königstreue Truppen warteten dort. Im rettenden Ausland würde ein Heer zusammengestellt, das die Revolutionäre hinwegfegen sollte. Zwei Kutschen ratterten durch Paris. Die Familie passierte mit russischen Pässen den Schlagbaum von Saint-Martin; der Posten feierte Hochzeit. Einen Tag später, gegen acht Uhr abends, hielten die Kutschen am Schlagbaum oder Posthaus von Sainte-Menehould an, um die Pferde zu wechseln. Postmeister Drouet lieferte elf frische Pferde aus, von Postillons aus Paris verständigt, versuchte er sich herauszureden. Nur drei Wegstunden entfernt warteten hundert Reiter auf den König, um ihm sicheres Geleit zu geben. Drouet, der sicherer Bestrafung entgegensah, sprang in den Sattel und hetzte nach Varennes. Man hielt, obwohl niemand die Familie erkannte, die Reisenden fest. Die Sturmglocke läutete. Die Husaren, total verwirrt, griffen nicht ein. Als die Königsfamilie das Posthaus Drouets auf dem Rückweg nach Paris passierte, wurde der Postmeister bereits als Held der Revolution gefeiert. Der König war in den Tuilerien gefangen. Am 18. Juli feuerte La Fayettes Nationalgarde auf dem Champ-de-Mars in die Menschenmenge. Fünfzig Menschen starben, und die Reiterei trieb die übrigen auseinander. Irgendwo in der Stadt wanderte Nonfarmale umher. Wir
hatten den Strukturriss in einem Kloster der Jakobiner angemessen, desselben Klosters, nach dem sich Brissot und Condorcets Gefolgsleute nannten. Cephyrine saß sicher in ihrem Bauernhäuschen in Pierrefitte. Rico und ich streiften durch Paris. Unweit der Stufen zum Hauptportal von Notre-Dame stießen wir auf eine Gruppe Offiziere. Viele von ihnen zählten zum Adel; auch diese sieben Männer wirkten nicht wie einfache Leute. »Ein verdammter Vogel müsste man sein«, sagte ein breitschultriger Mann mit verdrossenem Gesichtausdruck. »Dann wäre es keine Kunst, nach Koblenz oder zu den Österreichern abzuschwirren, meiner Seel´!« »Indem sie den König demütigen, verurteilen sie uns zum Tod«, meinte sein Kamerad und legte die Hand an den Degengriff. »Königstreu, das ist so wie aussätzig.« Rico und ich wechselten einen langen Blick. »Ihr habt Probleme mit Aussatz?« fragte ich, während wir näher schlenderten. Sie drehten sich herum. Wir wirkten harmlos, aber keineswegs sahen wir wie aufgebrachte Fleischhauer oder Bauarbeiter aus. Unsere Waffen waren prächtig genug, um die Offiziere zu überzeugen. »Wir haben ganz andere Probleme«, sagte der Rothaarige. »Uns geht es an den Kragen, wenn wir nicht unser Vaterland verlassen. Alles fällt auseinander, wenn wir nicht dem König helfen.« »Das wird fast unmöglich sein«, widersprach ich. »Die Nationalversammlung hat ihn entthront.« »Und wir haben keine Soldaten, denen wir befehlen können, den König zu verteidigen.« »Niemand gehorcht uns.« »Offizier, das ist heute fast so schlimm wie halbtot.« Die Männer waren ratlos. Als erfahrene Soldaten sahen sie ein, daß sie gegen ein paar hundert aufgebrachter, mordlustiger Pariser kaum eine Überlebenschance hatten. Versuchten sie, über die Grenzen zu flüchten, so konnte es gut ausgehen oder nicht. Jede Nachricht mochte richtig oder falsch sein. »Wohin würdet Ihr flüch… emigrieren, wenn Ihr könntet?« fragte Rico mit derselben Stimme und einer Betonung, die jeden glauben machte, auch er würde mit dem Gedanken an Flucht spielen. »Nach Koblenz, in Allemagne«, schlug der Rothaarige vor. »Oder zum König von Preußen«, meinte der Breitschultrige. »Oder zum Bruder der Königin, zum zweiten Leopold.« »Nach Nantes, sagen sie.« Ich setzte mich auf die Stufe und führte eine erklärende, schwungvolle Geste aus. »Zuerst werden die Herrscher in den Ländern rund um Frankreich, oft auch Feinde des Landes, dem Aufruhr der unteren Stände wenig Beachtung geschenkt haben. Jetzt, da der König gefangen ist, kennen sie die Gefahren. Wenn die Zeit der von Gott gesandten Herrscherin Frankreich vorbei ist, denken sie, wird es auch sie bald treffen.« »Das ist richtig. Und wir marschieren ein und retten den
König.« »Ich bin dabei, Euch zu helfen, Freunde.« Ricos Stimme ließ keinen Zweifel an dem zu, was er sagte. »Wenn Ihr, fremde Truppen anführend, ins Land marschiert, werdet Ihr Eure eigenen Landsleute schlachten. Ein Blutbad wird die Folge sein. Bürgerkrieg. Fünfundzwanzig Millionen Franzosen schlagen aufeinander ein.« »Nach Lothringen gehen wir!« schlug ein Mann vor, den sie Noel nannten. »Wie könnt Ihr helfen, Seigneurs?« »Indem wir Euch, einzeln und verschwiegen, außer Landes schaffen«, sagte Rico. »Einzeln. Sucht einen Ort aus. Wenn Ihr ihn gefunden habt, schickt einen von Euch zu uns.« »Wohin?« Wir erklärten ihnen den Weg zu unserer Werkstatt. Dann fragte ich: »Wie viele von Euch, Herren Offiziere, werden es wohl sein, die das Land verlassen werden?« Sie redeten wild durcheinander. Dann antwortete Matthieu Faure: »Die wir kennen, es werden wohl fünf, sechs Dutzend sein.« »Gut. Entscheidet Euch, dann schickt Ihr den Boten zu uns. Das Kennwort ist Koblenz.« »Einverstanden. Aber wir müssen vorsichtig sein. Ihr nicht weniger als wir«, meinte Noel. Ich lachte kurz. »Das kann ich Euch versprechen. Wir sind harmlose Büchsenmacher, und Ihr bringt uns die Waffen zum Durchsehen und Reparieren.« »So halten wir es.« Wir schüttelten uns die Hände. Die Offiziere waren voller neuer Hoffnung, aber tief unsicher. Sie wussten selbst nicht, was sie unternehmen sollten. Niemand wußte das genau. Aber wenn sie im Land blieben, wenn die Revolution weiterging, dann würde man sie einsperren und anklagen und vermutlich ohne Verhandlung aufknüpfen. Aufknüpfen? Ich winkte ihnen zu und murmelte: »Das gemeine Volk ist bisher gerädert worden, gepfählt oder gehenkt, gevierteilt oder noch auf andere Weise zu Tode geschunden worden. Obwohl Robespierre am Anfang des Aufstands die Todesstrafe abschaffen wollte, einigt man sich, so scheint’s, auf ein gleiches Verfahren für alle.« Wir wandten uns in die Richtung, in der unser Quartier lag. »Du meinst die vortreffliche Maschine, die in der Academie erfunden wurde?« »Ja. Vom Vorsteher, dem Chirurgen Docteur Louis. Die Machine de Gouvernement.« »Das nenne ich Demokratie, Sache des Volkes. Diese Wahnsinnigen!« sagte Rico. Wir fanden auch an diesem Tag keine Spuren von Nonfarmale. Aber Rico jagte eine Sonde los, um in der Nähe von Koblenz einen Ort zu finden, an dem ein Transmitter nicht auffallen würde. Als nach dem ersten Oktober die neue, unerfahrene, aber sehr laute Verfassungsversammlung zusammentrat, wurden sofort scharfe Maßnahmen gegen Emigranten und widerspenstige Kleriker gefordert. Die Girondisten, die
Gruppe um Brissot, sprachen von der demaskierenden Wohltat eines allgemeinen Krieges, in dem sämtliche Völker
ihre Herrscher vertreiben sollten. »Der König fügte sich diesem Vorhaben«, meinte Cephyrine, die ebenso wie wir die Gerüchte und die Botschaften reitender Melder hörte, »weil er meint, daß dadurch alle Soldaten seiner Armeen sich der Disziplin unterwerfen würden.« »Das meint er«, antwortete ich. »Und er täuscht sich sicher. Wie alle anderen.« Ich ritt durch die Stadt und suchte den Seelensauger. Rico suchte nach den Energieimpulsen der Strukturlücke. Cephyrine und ich saßen in Pierrefitte. Im Kamin loderte ein Feuer, und weingefüllte Becher standen zwischen uns. »Im Winter wird nicht gekämpft. In der Kälte schlägt nicht einmal ein Heer von Verrückten seinen Gegner.« Cephyrine nickte. Dünner Regen fiel seit einigen Tagen. Die Wirtschaft des Landes war heillos zerrüttet. Die Ernte war schlecht, die Nahrungsmittel wurden teurer und teurer. Die Bauern plünderten die Märkte. Elend und Arbeitslosigkeit griffen um sich, man hörte von Metzeleien. Im Massif Central wurden die Schlösser von protestantischen Milizen geplündert. Je abgelegener eine Siedlung war, desto ruhiger blieb es. »Beauvallon gehört dazu.« Ich erwähnte nicht, daß nur unsere Transmitter das Dorf vor einer schlimmen Hungersnot bewahrt hatten. Korn und Mehl kamen aus Carundel Mill. »Deine Bauern kommen ohne dich aus? Kannst du ruhig hier sitzen?« fragte Cephyrine aus der Küche. Es roch nach saftigem Schinken aus der heißen Pfanne und nach schmorenden Zwiebeln. »Noch kann ich es. Im Winter wird sie niemand belästigen.« Das Armbandgerät summte. Ich meldete mich und hörte zu, was Rico zu sagen hatte. »Heute nacht schleusen wir drei Mann zu den Deutschen.« »Nicht mehr?« »Es sind, sagen sie, fast die letzten. Viele sind zu Pferde geflüchtet.« Im Kellergewölbe war ein Transmitter versteckt. Rico hatte die grellsten Lichteffekte abschirmen können. Stets kamen am Nachmittag fünf oder sechs Männer, und nachts verließen nur noch vier das Haus. Den Nachbarn, die entweder von unstillbarer Neugierde waren oder sich auf Versammlungen und in grölenden Rotten in der Stadt herumtrieben, schien nichts aufzufallen. »Viel Glück«, antwortete ich. »Melde dich wieder, wenn alle Spuren beseitigt sind.« Einzeln führten wir die Männer, die meist nur ein kleines Bündel bei sich trugen, die dunklen Kellertreppen hinunter. Türen öffneten und schlossen sich. Dann stolperte der Flüchtling durch einen dicken, hölzernen Rahmen und fand sich in einer muffigen Höhle wieder. Über eine breite Spur Kies und raschelndes Laub ging es abwärts, aus der Höhle unweit der Stadt Koblenz hinaus. Auf diese Weise hatten allein während meiner Anwesenheit siebzehn Offiziere Paris verlassen. Was sie über ihre Rettung erzählten, war so unglaubwürdig,
daß ich mir keinerlei Sorgen machte. Als wir beim Essen saßen und der Regen mit einem kalten Wind aus Nordwest zugleich stärker und lauter gegen die Läden prasselte, erklärte Rico, daß es sieben Mann gewesen waren, und daß die Gruppe der Eingeweihten sich bis auf den letzten Mann nach Deutschland gerettet hatte. Er schloss: »Über Moral und Zweckmäßigkeit ließe sich streiten. Tatsache ist, daß wir dreiundsechzig Männern das Leben gerettet haben.« »Für kürzere oder längere Zeit«, entgegnete ich. »Sie werden sich in die nächste Schlacht stürzen.« »Aber erst im Frühjahr«, schloss Rico voll skeptischer Klugheit. Ich fragte mich, warum ich nicht längst wieder im Schutz meiner Maschine tief und traumlos schlief. Die Antwort lautete: Nonfarmale.
Ich entführte Cephyrine in das Dörfchen der großen Insel, während Rico und ich die neuen Geräteblöcke und deren Einbau in den Rumpf und die Pilotenkanzel der LARSAF überwachten. Die Frau glaubte zu träumen, als sie die hüpfenden Tiere mit den Jungen im Bauchbeutel und die Vögel sah, die ihr hässliches Gelächter von den Baumkronen schmetterten. Als Rico-Riancors Gemahlin erschien sie in Le Sagittaire und half uns, alle Voraussetzungen für ein viel versprechendes Jahr zu schaffen. Das Dorf beherbergte seit Januar 1792 zwei geflüchtete Priester aus dem Westen, die aus Freude, noch am Leben zu sein, auf dem Feld mithalfen. Als wir von Yodoyas Inselchen zurückkamen, planten Rico und ich, vom Turm aus wieder einen Vorstoß ins geheime Reich Nonfarmales zu unternehmen. Synonymus Eins war mittlerweile so zuverlässig, daß er einige der Kontrollaufgaben durchführte, die sonst Rico in der Kuppel aufgehalten hätten. Sein Sprachvermögen und sein Wortschatz waren auffallend verbessert. Am zwanzigsten April erklärte Frankreich den Krieg gegen den König von Böhmen und Ungarn. »Jedermann erwartet, daß Flandern sich gegen Frankreich erheben wird«, sagte Cephyrine. »Dorthin soll die neu gebildete Armee vorstoßen.« »Und dort werden wir auch Nonfarmale finden«, sagte Rico. Er schien es errechnet zu haben; mir sagte das Gefühl, daß ich ihn bald treffen würde. Robespierre, offensichtlich unbestechlich, aber nicht weniger fanatisch als Danton und die anderen Eiferer, wollte die Ideale der Revolution retten. Der Krieg, den auch er unterstützte, begann mit dem erwarteten Chaos; der Meldung, daß die Armee die Grenzen Flanderns im Norden Frankreichs erreicht, und daß Nonfarmale abseits des Geschehens einen Strukturtunnel geöffnet hatte. Auf dem Bildschirm im Wohnbereich des Turmes über dem deutschen Fluss tauchte für wenige Sekunden Nonfarmale im gepanzerten Sattel des Riesengeiers auf. Nach sieben Sekunden verschwand der
Alien. Er hatte sein Unsichtbarkeitsfeld aktiviert und entzog sich jeder Möglichkeit, ihn zu beobachten. »Das war das Signal, Cephyrine«, sagte ich. »Rico bleibt bei dir. Ich muss es versuchen.« Sie küsste mich; ich spürte deutlich, daß sie sich um mich sorgte. »Werden wir miteinander sprechen?« Ich war schon dabei, den Kampfanzug anzulegen und dachte an den rasend schnellen Flug, der vor mir lag. »Ja. Wenn ich schweige, bedeutet es, daß ich beschäftigt bin, oder daß es mir gut geht.« Theobald Dillon, bislang nach unseren Informationen keineswegs als kluger Heeresführer aufgefallen, kommandierte die französischen Truppen. Neunzig Minuten nach Sonnenaufgang verließ ich den kleinen Gleiterhangar, ließ die Maschine steil aufsteigen und raste mit Höchstgeschwindigkeit nach Nordwesten. Auf den halbautomatisch gesteuerten Flug brauchte ich mich nicht zu konzentrieren. Ich dachte an die Revolution, die nicht mehr länger eine Angelegenheit des französischen Volkes war. Die Stunde der Alleinherrscher hatte längst geschlagen – die Monarchen weigerten sich, das Signal zu verstehen. Gleiches Recht für jeden Bürger, das war eine Forderung, die ich uneingeschränkt unterstützte, obwohl die wenigsten Barbaren auf den Genuss einer Freiheit, die sie nicht kannten, und die neben Rechten auch Pflichten hatte, vorbereitet worden waren. Danton und andere würden nicht verhindern können, daß der Feudalismus im Blut ertrank. Es gab bessere Wege, aber die Macht würde auch Cordeliers, Jakobiner und Girondisten verführen. Aus Männern mit akzeptablen Ideen würden tollwütige Wölfe werden. »Gibt es neue Beobachtungen, Rico?« fragte ich, versteckt zwischen sonnendurchstrahlten und dunkelgrau brodelnden Wolken. »Nonfarmale bleibt unsichtbar. Quievrain und Tournay solltest du ansteuern. Dort ist der Vormarsch der Franzosen zum Stocken gekommen.« »Verstanden. Überblende die betreffende Karte.« »Sollte schon auf dem Monitor stehen.« Ich verglich die Karten. Im Augenblick jagte der Gleiter über den Rhein, etwa in der Nähe von Speyer. Unsichtbar kreisten Nonfarmale und sein Reittier weit vor mir über den Heeren. Sein Verhalten entsprach wieder dem Gewohnten, sagte ich mir fast ein wenig erleichtert. Der Gleiter beschrieb südlich der Grenze Frankreichs eine Kursänderung nach West; ich überflog Koblenz und die Mosel. Hinter den Wolken stieg die Sonnenscheibe dem bleichen Mond entgegen; im April und in den ersten Maitagen hatte sich viel versprechendes helles Grün auf Feldern und auf den Bäumen ausgebreitet. Fahlsilbern leuchteten Bäche und Seen. Diese Revolutionäre: Sie übertrieben wieder einmal, typisch für die Barbaren. Sie wollten nicht nur den neuen Menschen erschaffen, sondern
auch alle Werte, Bezeichnungen und Namen ändern, damit sich der Neue in seiner geänderten Umwelt zurechtfand. Der Jahresanfang, gleichbedeutend mit der Herbst-Tag-und-Nachtgleiche am zweiundzwanzigsten September, begann mit dem Vendemiaire, der Brumaire und der Frimaire folgten, lauter Monate mit dreißig Tagen, jede Jahreszeit umfasste drei Monate. Nivose, Pluviose und Ventose bildeten den Winter, der Frühling zerfiel – nach dem neuen Jahresbild – in Germinal, Floreal und Prairial; im Sommer schrieb man Messidor, Thermidor und Fructidor. Eine neue Zeit sollte aufgehen die »Zeit der Rhea«, und folgerichtig nannten sie die Kirche von Notre-Dame, die zum Nahrungsmitteldepot profanisiert worden war, »Tempel der Vernunft«. Und glaubten sogar an diesen Unsinn! Ich verringerte die Geschwindigkeit des Gleiters, stieß durch die Wolken und schaltete das Deflektorfeld ein. Ein Unsichtbarer belauerte einen anderen Unsichtbaren. Je länger Nonfarmale sein Unwesen trieb, desto geschickter verhielt er sich und desto schwieriger würde es sein, ihn zu töten. Ich suchte, unschlüssig umherkurvend, die Städte auf der Karte und auf dem Boden zwischen Nebel, riesigen Flächen von Sonnenlicht und Regenschauern. Gegen Mittag fand ich, östlich von Lille, am Flüsschen Scheide, den Ort Tournay. Schon während des Anflugs hörte ich das krachende Donnern der Feldgeschütze und der schweren Artillerie, die von den Mauern und aus den Gräben heraus antwortete. Das Land um Tournay war wenig bergig. Ich schwebte in engen Kreisen näher, orientierte mich und erkannte auf den ersten Blick die Unordnung der französischen Linien. Ihre Geschütze feuerten wild durcheinander. Häufig feuerten zwei oder drei auf ein und dasselbe Ziel. Die Verteidiger von Tournay schossen planvoll und gezielt zurück. Zwischen den französischen Stellungen sprangen immer wieder feurige Blitze und Fontänen aus Splittern, Dreck und Rauch in die Höhe. Soldaten wurden wie Puppen durch die Luft geschleudert. Der Gleiter schob sich über einem menschenleeren Hügel zwischen die Wipfel von Bäumen mit bauchigen Kronen und bemoosten Ästen. Durch das schwere Glas studierte ich die Vorgänge. Ich wartete. Von mehreren Stellungen aus wurden die Vorwerke der Stadt belagert. Lange Reihen aus Zelten und Trossfahrzeugen erstreckten sich in sichtbarer Unordnung weit hinter den Feldschlangen. Die Soldaten ritten und liefen planlos hin und her. Träge zogen die grauen und schwarzen Wolken verbrannter Pulvergase in die Höhe und wälzten sich in östliche Richtung. Eine Straße, die sich durchs Gelände wand, war nicht nur an den Rändern übersät von zusammengebrochenen Karren und Männern, die auf einen Befehl warteten. Niemand löschte die brennenden Zelte und die Heuladungen
für die Pferde. »Sie wissen nicht, wofür sie kämpfen«, sagte ich leise. Vogelschwärme flatterten aufgeregt über den Feldern, der Stadt und den Waldrändern. Die Sonne verschwand wieder zwischen den Rauchwolken und dem Pulverdampfgebrodel. Häuser und Scheunen der Stadt waren in Flammen aufgegangen. Die Bewohner bildeten Ketten und reichten gefüllte Eimer von Hand zu Hand. Dampf stieg auf und verwehte. Unablässig dröhnten die Geschütze. Das heulende Schnarren der Geschosse erfüllte die Luft. Ein durchgehendes Gespann Pferde wurde von einer scharfen Petarde getroffen. Das gehackte Metall zerfetzte die Tiere. Die Franzosen wagten nicht anzugreifen, die Verteidiger riskierten keinen Ausfall. »Und es gibt niemanden, der klare Befehle erteilt«, sagte ich eine halbe Stunde später. Oder gehorchten die Soldaten ihren Anführern nicht? Schliefen die Generäle? Oder waren sie zu feige, um anzugreifen? Die zahlenmäßige Übermacht der Franzosen war augenfällig, nicht nur für mich. An einer Stelle des französischen Lagers breitete sich seltsame Unruhe aus. Die Geschütze hörten zu feuern auf, die Bedienungsmannschaften rannten auf den Mittelpunkt des Lagers zu. Offiziere prügelten auf ihre Leute ein. Musketen und Pistolen wurden abgeschossen. Ich hörte durch das dumpfe Grollen der schweren Geschütze das peitschende, trockene Knallen der kleineren Waffen. Die Panik war völlig grundlos. Kein Verteidiger hatte sich dem Lager genähert. Mir schien es, als ob die aufgebrachten, verstörten Soldaten ihre eigenen Anführer niederschlugen oder erstachen. Als die Batterien der Verteidiger zwischen die Geschütze der Angreifer schossen, wirbelten Räder, Achsen, Speichen und Lafettenteile durch die Luft. Die Rohre der Geschütze stellten sich steil in die Höhe. Pulverfässer wurden von umherschwirrenden Bruchstücken getroffen und platzten auf. Feuer flackerte hier und dort. Wieder taumelte ein langes Bronzerohr wie ein Kreisel und deutete zum Himmel. Dann erreichten die Flammen das Pulver. Es brannte und rauchte, die Flammen breiteten sich aus und erfassten Lunten und das Pulver in den Zündlöchern. Ich schüttelte den Kopf und starrte gespannt auf den Schauplatz des seltsamen Geschehens. Die Rohre der zertrümmerten Geschütze entluden sich nacheinander in acht scharfen Detonationen. Die Geschosse, meist Explosivkugeln oder Metallschrot, fuhren schräg in die Luft. Noch ehe mich der Krach der Explosionen erreichte, sah ich, was die Geschütze angerichtet hatten. Genau zwischen der Stadt und dem heillosen Durcheinander des Lagers schwebte Nonfarmale. Es schien, als ob jeder Metallbrocken den Körper des Großgeiers getroffen hätte. Plötzlich wurden das Tier und der Reiter sichtbar.
Vermutlich achtete außer mir niemand darauf. Federn flogen auseinander. Blut tropfte und spritzte aus zahllosen Wunden. Der Geier stieß einen Schrei aus, der im Lärmen der Geschütze unterging, und schlug krampfhaft mit den Schwingen. Nonfarmale schwankte im Sattel. Ich riss die Fensterapparatur des Gleiters auf und packte die schwere Zweihandwaffe. Die Ereignisse überschlugen sich. Das Tier sackte einen Steinwurf weit tiefer, glitt schräg auf die Stadtmauer zu und gehorchte dem Zügel nicht mehr. Ein Fuß war halb abgerissen, durch die Luft perlte Blut. Das Gefieder hatte sich rot gefärbt, der Schnabel war halb zerfetzt. In den breiten Schwanzfedern klafften große Lücken. Nonfarmale hantierte fieberhaft an dem Sattelhorn, warf seine Armbrust auf den Rücken und ließ die langen Zügel los. Durch den Körper des Geiers liefen krampfhafte Zuckungen. Er flog nicht mehr, er taumelte, während er seine Federn verlor. Ich zielte auf Nonfarmales Rücken und schob mit der linken Hand den Fahrthebel vor. Langsam setzte sich der Gleiter in Bewegung. Der Geier raste über die Stadt hinweg und auf die Schleife der Scheide zu. Seine Bewegungen wurden immer kraftloser; erstaunlich helles Blut lief in langen Fahnen aus den grässlichen Wunden. Plötzlich zerriss eine weitere Detonation den Körper des Geiers fast in zwei Teile. Der Sattel schwebte über dem blutigen Rücken des Tieres. Nonfarmale ruderte mit dem linken Arm, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren, und als der Geier in Todeszuckungen dem Wasser der Scheide entgegenstürzte, verschwand Nonfarmale. »Merde«, fluchte ich. »Was jetzt?« Der Gleiter näherte sich der Stelle, an der die Metallsplitter den Geier getroffen hatten. Ich sah, wie das blutüberströmte Bündel aus Federn und Gebein schwer ins Wasser schlug, versank und inmitten von rasch auseinander laufenden Ringen und Wellen wieder hochkam, sich drehte und lautlos unterging. Augenblicklich meldete sich Rico. »Ich habe alles beobachtet, Adlar. Die Strukturöffnung zu Nonfarmales Jenseitswelt wird instabil.« »Er zieht sich also zurück«, sagte ich erbittert. »Wie soll ich… verdammt!« Gegenüber der Biegung des Flusses hatten sich drei Reihen Reiterei aufgestellt. Sie verhielten sich ebenso unschlüssig wie der Rest der französischen Armee. Weit und breit gab es keine Brücke; die Scheide war an dieser Stelle viel zu tief, als daß die Husaren eine Furt gefunden hätten. Direkt vor ihnen erschien aus denn Nichts ein blutiges Bündel aus Federn und Krallen, das gellende, krächzende Todesschreie ausstieß und sich mehrmals überschlug. In einem Regen feuchter Federn stürzte diese seltsame Erscheinung ins Wasser. Ein großer roter Fleck bildete sich und löste sich
in Schleiern und Schlieren auf. Die Pferde scheuten vor den Vogelschreien. Langsam drehte sich der Körper in den Wellen und wurde stromabwärts gerissen. »Der Strukturtunnel wurde aufgelöst«, erklärte Rico. »Er ist also wieder einmal spurlos verschwunden«, antwortete ich. »Um einige Minuten zu früh.« Ricos Auskunft schuf völlige Klarheit. »Nonfarmale hat den Schauplatz verlassen. Ich empfange keine Impulse der Öffnung mehr.« »Ich bin einigermaßen ratlos«, sagte ich. »Es wird am besten sein, ich warte, denn dieser Bastard wird sich das bevorstehende Gemetzel nicht entgehen lassen.« »Mit hoher Wahrscheinlichkeit kommt er wieder zurück.« »Ich suche einen Platz, an dem ich mich verstecke«, sagte ich. »Die Belagerung der Stadt ist eine Farce, und vermutlich sterben die Verteidiger, weil sie sich über die Truppen der neuen Menschen totlachen.« »Hierfür ist die Wahrscheinlichkeit eher gering«, sagte Rico. »Willst du meine Hilfe oder die von Synonymus Eins?« »Nein.« »Du kommst, wie meist, allein zurecht.« Ricos Stimme ließ nicht erkennen, ob er mein Verhalten billigte. »Ich bleibe weiterhin mit allen Geräten und Antennen dabei, Nonfarmale zu überwachen.« »Gut so. Einverstanden.« Ich steuerte den Gleiter im weiten Kreis über das Gelände. Ich bemühte mich, jede Einzelheit nicht nur wahrzunehmen, sondern auch richtig zu deuten. Den Verteidigern schien es bitter ernst zu sein, aber das Heer der Franzosen bewegte sich ziellos. Nichts hatte sich in den vergangenen Stunden geändert. Ich suchte ein Versteck, in dem ich die nächsten vierundzwanzig Stunden lang auf Nonfarmale warten konnte – und auf den Fortgang dieses denkwürdigen Kriegsanfangs. Ein Teil des Wäldchens auf dem Hügel, auf dem ich zuerst gewartet hatte, war verwildert; Stämme und moderndes Holz lagen, vermischt mit Steinen, abgestorbenem Laub und gelblichen Pilzen zwischen Moosbüschlein, wild durcheinander. Ich schob den Gleiter durch das dichte Gebüsch, ließ ihn am Rand einer winzigen Lichtung aufsetzen und schaltete sämtliche Systeme bis auf den Deflektorschirm ab. Ich stieg aus und bahnte mir mühsam einen Weg durch das Unterholz. Als die Baumstämme und die dicken Äste größere Abstände erkennen ließen, aktivierte ich das winzige Antigravgerät, schwebte schräg aufwärts und hockte mich am Rand des Waldes in eine Astgabel. Von hier aus war mein Blick über Stadt, Fluss und Vorfeld noch besser als zuvor.
Seltsame Nachrichten erreichten Paris: Die Armee, die einen Aufstand in Flandern verhindern wollte, löste sich auf. In völlig grundloser Raserei töteten die Truppen den Anführer Theobald Dillon. Am 6. Mai 1792 desertierte das Regiment »Royal Allemand«, sechs Tage später
ritten die Husaren des Regiments »Sachsen« geradewegs zum Feind. Sie liefen über; schließlich konnte Porrentruy von Marschall Custine erobert werden. Generäle, Soldaten und Offiziere glaubten einander nicht ein Wort. Niemand kannte das Ziel. Die Motivation war nicht erkennbar – ich wartete auf die Folgen. Neunmal vierundzwanzig Stunden lang wartete ich darauf, daß sich Nonfarmale zeigte. Viermal, in langen Abständen, konnte Rico einen Strukturriss in eine Parallelwelt anmessen, aber der Seelenfresser blieb unsichtbar. Ich flog in unterschiedlichen Höhen wirre Kurven, voller Wut und Verzweiflung, über viele Orte entlang der Nordgrenze des Landes, sah grausame Szenen und scheinbaren Frieden dicht beieinander, aber fand nicht eine einzige Gelegenheit, auch nur in die Nähe des Fremden zu kommen. »Ich bin kurz davor, zu resignieren.« Hinter Ricos schweigendem Abwarten hörte ich aus den Lautsprechern die unruhigen Atemzüge Cephyrines. »Er ist da. Ich spür’s. Du bestätigst es. Aber er zeigt sich nicht, und er bietet mir keinen Zugriff.« »An einer anderen Stelle, zu einem späteren Zeitpunkt wirst du ihn wieder stellen können«, sagte der Roboter. »Ich bin sicher, daß wir ihn in Paris fassen können.« »Also zurück in die Büchsenmacherwerkstatt?« sagte ich keineswegs erleichtert. »Und ins Häuschen in Pierrefitte«, sagte Cephyrine. »Auch für dich ist es müßig, sinnlosen Aktionen hinterherzulaufen.« Ich beugte mich aus dem Gleiter und betrachtete die Landschaft. »In ein paar Minuten bin ich auf dem Weg zum Turm.« »Du hast recht, Liebchen«, sagte ich. Gib es auf, sagte der Logiksektor. Ich nickte. Dann machte ich eine wegwerfende Geste. Schließlich schob ich den Geschwindigkeitsregler bis zum Anschlag durch, ließ den Gleiter steigen und schaltete den Autopiloten ein. In rasendem Flug jagte ich zurück zum Turm, und von dort aus nahmen wir innerhalb kurzer Zeit wieder jene Stellung ein, die vor der Eröffnung dieses grausigen Spieles aufgebaut worden war: Waffenschmiede am Rand von Paris.
Irgendwo zwischen dem Gebälk hatte ich den Summer versteckt. Jetzt gab er einen scharfen Ton von sich. Ich unterbrach das Schaukeln im knarrenden Sessel, winkelte den Arm an und fragte: »Was gibt es? Gefahr?« Synonymus Stimme klang noch immer angestrengt. Leise, nur für mich verständlich, flüsterte er: »Ein Mensch hat den Sicherheitsabstand durchbrochen. Offensichtlich ein kleiner Mensch. Ein Mädchen oder Junge nähert sich der Terrasse. Ich sehe: ein Halbwüchsiger.« »Du weißt, was zu tun ist, wenn ihm Bewaffnete folgen. Durchlassen«, sagte ich. »Jawohl, Gebieter.« Noch war es nicht völlig dunkel. Der Roboter versteckte sich zwischen Büschen und Mauern im Garten und bewachte
unsere Sicherheit, während Rico in unserer Werkstatt arbeitete. Gerade kam Cephyrine aus der offenen Küche zur Terrasse, die von Windlichtern auf dem großen Tisch ausgeleuchtet wurde. Ich zog die kleine Pistole aus dem Gurt, der über der Stuhllehne hing, und legte sie griffbereit zwischen Weinpokale und die verstreuten Bücher eines Stapels, der vor wenigen Minuten umgefallen war. »Wir bekommen Besuch«, sagte ich leise zu meiner schönen Freundin. »Ein junger Mann, der müde durch das Gras stolpert.« An die schweigende Anwesenheit des »Freundes von Rico«, den wir als jungen Diener ausstaffiert hatten, konnte sie sich nur schwer gewöhnen. Sie begriff aber, daß in diesen Monaten und Jahren nur äußerste Aufmerksamkeit und nötigenfalls schlagkräftige Verteidigung unser Leben im Bannkreis von Paris sicherten, dieser durchrostenden Büchse der Pandora, durch deren Löcher und Risse Verderben sickerte. »Ich bin neugierig, was er will; erwarten wir jemanden?« »Nein.« Ein etwa fünfzehn Jahre alter Bursche taumelte schwer atmend und schweißüberströmt in die Helligkeit. Er hielt sich an einem Teil des Vorhanges aus Schnüren und großen Holzperlen fest und riss ihn beinahe ab. Aus großen Augen blickte er mich an, wankte näher und flüsterte heiser: »Ihr müsst Monsieur Marquis d’Adlan sein.« »Und wenn du dich irrst?« Ich wich aus. Kleidung, Sprache und das reichlich ramponierte Aussehen bewiesen, daß er Kind von Adeligen war. »Mein Vater«, sagte er und griff mit zitternden Fingern nach dem Becher voller kuhwarmer Milch, den ihm Cephyrine entgegenhielt. »Mein Vater ist Armand de Tourville.« Ich erinnerte mich ohne Mühe. Im Küchenschrank stand noch immer der prächtige Krug. »Er schickt dich?« fragte ich. Immerhin bewegte ich mich im fragwürdigen Schutz eines anderen Namens. »Er soll in den nächsten Tagen sterben.« Der Junge war blond, schlank und völlig erschöpft. Seine Schuhe und die weißen Kniestrümpfe ließen erkennen, daß er durch Wiesen und über staubige Wege, durch Dornen und Gestrüpp gerannt war. »Hat er dich geschickt?« Ich deutete mit der offenen Hand auf einen Stuhl. Der Junge fiel in den Sitz. Die Hitze der frühen Julinacht hing lastend zwischen den Gebäuden und unter den mächtigen Kastanien. Der abnehmende Halbmond schien sich durch die Silhouetten der Äste bohren zu wollen; hin und wieder zuckte eine Fledermaus pfeilschnell über seine narbige Sichel. »Ja, Monsieur. Bauern und Männer aus der Stadt sind gekommen, haben alles verwüstet und durchsucht. Mein Vater und einige Freunde haben sie mitgenommen. Sie werden auf Wagen nach Paris gebracht.« »Wann? Jetzt? Heute Nacht?« sagte Cephyrine aufgeregt. »Also, es war so.« Der Junge beruhigte sich langsam und
wischte den Schweiß aus dem Gesicht und vom Hals. »Unser Schlösschen wurde überfallen. Von Milizen aus der Stadt. Auch unsere Nachbarn haben sie verhaftet. Ein paar Männer von unserer Familie haben fliehen können. Morgen früh bringen die Städter etwa ein Dutzend Gefangene, auch meinen Vater, in die Stadt.« Ich wußte, daß sich die Gefängnisse der Stadt Paris mit Mitgliedern des Adels füllten. Das Vaterland sei in Gefahr, erklärten die Cordeliers und die Jakobiner, und jeder Adelige sei bis auf weiteres verdächtig, dem Volk geschadet zu haben. »Und dich schickte dein Vater, ehe sie ihn einsperrten? Du sollst mich um Hilfe bitten?« fragte ich und betrachtete den erschöpften Jungen. Er nickte heftig. »Ihr seid der einzige Mann«, sagte er, »der helfen könnte, meint mein Vater. Er hat sich erinnert, daß Ihr hier gewohnt habt.« »Da hat er hoch gespielt und trotzdem Glück gehabt«, sagte ich leise. »Du meinst, wir können ihn befreien?« Wieder nickte er. In seinem Gesichtsausdruck konnte ich Hoffnung und Angst erkennen. »Sie haben in der Eile und auch, weil sie ihre Gefangenen nicht selbst kannten, einige Männer übersehen«, sagte der Junge. »Ich bin Phelip de Tourville, Marquis. Diese Verwandten sammeln sich und werden dem Gefangenentransport einen Hinterhalt legen. Mein Vater, Armand-Frederic de Tourville, hatte die Stadt mit uns, seiner Familie, schon lange verlassen und meinte, er sei außer Gefahr.« Cephyrine und ich setzten uns zu Phelip. Noch immer atmete der Junge schwer. Er schien eine ungewöhnlich lange Zeit gerannt zu sein. Aber er konnte schon wieder zusammenhängend sprechen und trank den zweiten Becher Milch in kleinen Schlucken leer. »Morgen früh werden die Gefangenen nach Paris gebracht«, sagte er. »Und wo sind sie gefangen?« »Im Val-d’Oise, in Roissy-en-France.« »Und wo sammeln sich deine Freunde?« »Bei Le Thillay. Es liegt alles im Norden. Ich habe einen Bauernwagen angehalten. Dann musste ich laufen.« »Kannst du reiten?« »Selbstverständlich, Marquis d’Arcon.« »Wie viel Männer werdet ihr zusammenbringen können? Verstehen sie zu kämpfen?« Er lächelte zuversichtlich. Er holte tief Luft und antwortete halblaut: »Ich denke, ein Dutzend von gut bewaffneten Brüdern, Onkeln und getreuen Dienern wird bei Le Thillay warten. Ich kenne den Ort. Eine alte Kapelle.« »Lasse mich nachdenken«, murmelte ich und ging hinaus zu Syno Eins. Er zwinkerte mit seinen leuchtendblauen Augen. Ich rief Rico und sagte: »Ich brauche dich, und zwar gegen Mitternacht bei der Kapelle von Le Thillay im Norden. Du kennst die Stelle. Ein junger Mann und ich reiten dorthin; Syno muss
zu Fuß hinfinden. Wir überfallen einen Transport von Gefangenen. Angehörige der Familie de Tourville gehören zu
ihnen. Du kümmerst dich um die Transmitterverbindung nach Koblenz.« »Du willst, daß ich irgendwo in der Kapelle das Gerät aufstelle?« erkundigte sich Rico. »Und darüber hinaus sollst du Straßen, Umgebung und beide Gruppen genau überwachen.« »Verstanden. In dreißig Minuten reite ich los.« »Wir treffen uns nahe der Kapelle«, meinte ich. »Jeder von unserer Gruppe muss unerkannt bleiben.« »Du reitest deinen Braunen. Hat der Junge ein Pferd?« »Wenn du eines finden solltest, samt Sattel, wäre es hilfreich«, sagte ich. »Alles klar, Rico Traveille?« »Klar, Meister Adlar.« Ich wandte mich an Syno, als ich das Schaltgeräusch aus dem Lautsprecher hörte. Der Roboter hatte alles mitgehört und bestätigte, das Problem in voller Tragweite verstanden zu haben. Ich sagte kurz: »Wegen des Weges und des Zieles verständigst du dich mit Rico. Du gehst jetzt los und sicherst die Straßen. Wir folgen in ein paar Stunden. Vorher sattelst du Bruno.« »Selbstverständlich, Marquis d’Arcoyne.« Mitunter verwechselte er selbst die Namen meiner vielen Masken. Aber immerhin hatte sich de Tourville an den richtigen Namen einer anderen Zeit erinnert. Ich hatte niemals daran gedacht, mit ihm wieder etwas zu tun zu haben, zuckte mit den Schultern und ging ins Haus zurück. Der junge de Tourville hatte sich inzwischen gewaschen und eine Kleinigkeit gegessen. »Vielleicht finden wir unterwegs eine Gelegenheit, ein Pferd zu stehlen oder zu leihen«, sagte ich. »Kannst du mit einer Pistole umgehen, Söhnchen?« »So gut wie mit dem Degen, Monsieur.« »Nimm diese hier. Sie schießt zwei Dutzend Mal«, sagte ich und erklärte ihm die Handhabung der Waffe, die lange Feuerstrahlen und zugleich Lähmenergien ausspie. Er begriff schnell; ein aufgeweckter, keineswegs verzärtelter Junge. Ich deutete auf das Pferd, das Syno heranführte und zu satteln begann. »Warte dort. Du wirst im Sattel hinter mir sitzen. Wir haben es nicht eilig, Phelip.« Ich ging hinüber zu Cephyrine und nahm ihr Gesicht in beide Hände. Leise sagte ich: »Morgen früh sind wir wieder hier. Wir werden nicht jeden einzelnen Adeligen Frankreichs retten können. Aber hier retten wir ein paar Leute, die keine Volksschädlinge waren. Du bist im Haus sicher; du kennst den Hebel, Liebste.« »Du musst es tun, Atlan«, flüsterte sie. »Das ist nur der Anfang eines großen Tötens. Hilf ihnen.« Ich zog eine dunkle Jacke aus Leder an, verstärkt durch verwobene Arkonstahldrähte. Die Waffen lagen bereit; ich schloss die schweren Schnallen mit den vielen Einbauten und überlegte schweigend, ob meine Ausrüstung vollständig war. Ich nickte Cephyrine zu; sie gab mir einen Becher Wein und lächelte aufmunternd. Dann stieg ich in den Sattel
und zog Phelip in die Höhe. »Wir treffen uns spätestens Mitternacht an der Kapelle.« »Sehr wohl, Euer Gnaden«, erwiderte Syno und verbeugte sich. Dann warf er die Muskete über seine Schulter und setzte sich erst in Bewegung, als wir den Lichtschein aus dem Fenster des Hauses verlassen und durch das Tor hinausgetrabt waren. Schweigend ritten wir eine Stunde lang, bis wir auf der Straße zwischen Ecouen und dem Wäldchen von Le Thillay waren, einem breiten Weg für Bauernfahrzeuge. Der Himmel war klar, wir sahen vereinzelte Lichter und einen fahlen Dom aus ferner Helligkeit über der Stadt im Süden. Der Weg und die Straßen erstreckten sich als Bänder unterschiedlicher Breite in der Dunkelheit der Felder. Es roch nach reifendem Korn und Feldblumen. Aus dem Wäldchen kamen klagende Käuzchenschreie. »Bis jetzt hatten wir kein Glück mit deinem Reittier«, sagte ich und hoffte, daß über uns eine Spionsonde schwebte und daß sich Rico von rechts oder aus Süden näherte. »Das tut nichts zur Sache. Vielleicht bringt mein Onkel ein Pferd mit.« Der schwere Hengst trug das Gewicht zweier Reiter ohne Mühe. Das Tier schwitzte nicht einmal. Wir ritten abwechselnd Schritt und Trab. Vier Augen durchsuchten die Dunkelheit. Die Straße war gespenstisch leer. Um uns nur gewohnte, unverdächtige Geräusche: Hundegebell, Nachtvögel, Hufschlag und das Plätschern kleiner Bäche. Ein warmer Wind raschelte mit den Ähren und ließ die Blätter zittern. Im Nordosten leuchtete Feuerschein durch breite Lücken eines Waldes. Phelip spähte neben meiner Schulter nach vorn und sagte heiser: »Das könnte die Stelle sein, Monsieur. Haltet darauf zu.« »Noch nie hat mehr Vorsicht geschadet. Deine Leute scheinen einen Überfall für ein lustiges Nachtlager zu halten.« Er antwortete nicht. Ich entdeckte links von uns dichtes Gebüsch und bemerkte zufrieden, daß die Laute des Hufschlags unverdächtiger wurden, als Bruno vom Pfad auf weichen Grasboden wechselte. Der flackernde Schein eines auflodernden Holzfeuers, das, den Flammen und dem Geruch des Rauches nach zu urteilen, noch nicht lange brannte, zog unsere Blicke an und schien uns durch das Farbspiel einlullen zu wollen. »Deine Freunde? Sie haben einen Braten auf dem Feuer«, murmelte ich verblüfft. Sie schienen auch vom Braten nicht viel zu verstehen; in den hohen Flammen schmorten Haut und Borsten. »Der Schimmel dort; es sind meine Freunde«, rief Phelip unterdrückt. »Haltet an, Monsieur. Ich laufe zu ihnen und sage, daß Ihr gut Freund seid.« »Recht so.« Ich zog den Zügel straff. Bruno schnaubte und blieb stehen, Phelip glitt aus dem Sattel; ich setzte mich bequem zurecht. Er rannte auf die Gruppe von Pferden und Männern zu, die
zwischen einem dichteren Waldstück und einer mannshohen, moosbedeckten Mauer standen und miteinander redeten. Der strenge Duft eines Ferkels, das auf einem Spieß gebraten wurde, der ätzende Gestank des Fettes, das zwischen die Flammen tropfte, kamen auf mich zu. Ich zog den getarnten Lähmstrahler und ritt unentdeckt auf das Feuer zu. Die Nacht, sternenklar, ließ gerade noch die Sterne einer Figuration erkennen, die von vielen »großer Wagen« genannt wurde. »Gut Freund«, rief ich, als sich mir etwa neun Gesichter zuwandten. »Man sieht den listig angelegten Hinterhalt schon von Notre-Dame aus.« Noch einige Schritte, ich sprang aus dem Sattel, deutete eine Verbeugung an und stellte mich mit dem Namen vor, den de Tourville kannte. Dann führte ich aus: »In unsicheren Zeiten ist es besser, weniger auffällig angezogen zu sein und einen anderen Namen zu verwenden. Nennt mich Meister Adlar.« Ich schüttelte Hände und merkte mir ein Dutzend Namen. Jemand rückte das Ferkel aus den Flammen und stocherte mit dem Degen zwischen den Holzkloben. Die Flammen wurden kleiner. »Sie wollen die Gefangenen morgen früh nach Paris überführen«, sagte Graf Anxiome, ein breitschultriger Hüne. »Wir haben genug Zeit. Daher der Imbiss.« »Habt Ihr Wachen aufgestellt?« Einige Musketenschuss weiter östlich verlief die Straße nach Süden, nach Paris. »Nein. Sollten wir?« »Unbedingt. Wer weiß, was passieren kann? Die Nacht hat viele Augen.« Ich ergriff die Initiative. Die Pferde wurden versteckt, das Feuer verkleinert. An den Seiten des Wäldchens und im Turm der Kapelle stellten sich Posten auf, um die Straße und jeden, der über die Felder kommen mochte, sehen zu können. Rauch, wirbelnde Funken und der Geruch versengten Fleisches nahm ab, die Flammen blendeten nicht mehr. Wein gluckerte in Becher. »Wie fangen wir es an?« fragte d’Arbanville brummig. »Blitzschnell«, antwortete ich. »Mein ungemein starker und wendiger Gärtner und Waffenschmied Rico stoßen bald zu uns. Wir tauchen rechts und links der Straße auf. Wir drei, die eben Erwähnten und ich, betäuben die Kutscher und die Männer, die vor dem Wagen reiten…« Ich wies jedem der Männer einen Platz in dem Unternehmen zu. Schließlich hockten wir auf Holzkloben und Steinen, die aus der Mauer gefallen waren. Mein Blick wanderte zwischen den Baumwipfeln weiter. Ich suchte den Polarstern. Ein Gedanke zuckte durch meine Überlegungen; die unzählbaren Lichtjahre konnte ich nicht überbrücken. Noch war ich ein Gefangener des Planeten, der lenkend in die Geschichte der Menschheit eingriff und versuchte, sie vor Scheusalen wie Nonfarmale zu bewahren. Und davor, daß die Barbaren ein seltsames Vergnügen
daran fanden, sich gegenseitig abzuschlachten. Phelip drehte geschickt den Braten und bestreute ihn mit Salz, tröpfelte aus einer Flasche Bier über die bräunende Kruste. Ich winkte d’Arbanville und Anxiome zu mir. »Von den Männern, die den Transport begleiten und sichern, darf nicht ein einziges unserer Gesichter erkannt werden. Auch auffallende Waffen, Kleider und Pferde dürft Ihr nicht zeigen. Was meint Ihr, kommt der Gefangenenwagen noch während der Dunkelheit?« »Das bezweifeln wir. Es wird anderer Verkehr auf der Straße sein, Graf d’Arcoyne.« »Eure Freunde müssen sofort in die Kapelle gebracht werden«, sagte ich und registrierte, daß sich die Männer an meine Hinweise hielten. Sie spürten, daß ein Mann sprach, der von der Sache etwas verstand. Ich zog d’Arbanville zwischen den Baumstämmen ins freie Gelände hinaus und zeigte ihm eine bestimmte Stelle der Straße. »Ihr alle werdet fliehen müssen?« fragte ich. Er nickte voller Sorgen. Der laue Nachtwind trug uns das Wiehern eines Pferdes zu. Es kam aus beträchtlicher Ferne. Gleichzeitig hörte ich das leise Signal, das Rico ausstrahlte. Meine Gefährten zuckten zusammen, ihre Körper erstarrten, sie lauschten hinaus in die Finsternis. »Es sind unsichere Zeiten«, sagte ich leise. »Es wird Traveille sein, mein Freund. Er kämpft wie ein Berserker.« Einige Männer griffen zu den Waffen, duckten sich hinter Grabsteine und schienen im Gebüsch zu verschwinden. Gestalten huschten zum Feuer und schoben Sand und Erde in die Flammen. Sie erloschen fast ohne Rauchentwicklung; nur in der Mitte schimmerte stechend rote Glut. Ich rief leise: »Keine Panik, Freunde. Ihr verderbt den Braten.« »Merde!« schimpfte jemand vom Eingang der Kapelle her. Die Tür hing in den rostigen Angeln, das Holz war morsch und zersplittert. Ich konnte den schmalen Mann in der roten Jacke gut verstehen: Wer wollte schon unter dem Beil des Henkers enden? Beißender Geruch stieg in meine Nase. Ein Teil des Ferkels verkohlte zwischen den Glutresten. Phelip sprang hinzu und packte den Spieß, um den halbgaren Braten zu retten. Es wäre schade um den weichen, braunkrustigen Braten gewesen. Manchmal musste ich glauben, daß diese Welt aus nichts anderem bestand als aus kriegerischen Auseinandersetzungen – oder aus der Erwartung solcher Kämpfe. Und diese Barbaren nannten sich selbst »zivilisiert«! »Der Braten ist heil«, stellte Phelip fest und schabte, während kleine Flammen am Rand des Glutkreises in die Höhe züngelten, Asche und verbrannte Kruste mit seinem Dolch von der gekerbten Kruste. »Marian! Wollt Ihr den Ausguck ausprobieren?« fragte ich, griff in die Tasche und zündete eine Spezialkerze am Feuer an. Die Flamme war grell, größer als gewohnt
und nicht einmal von einem Sturm auszublasen. »Ich sehe nach, ob die Treppen oder Leitern noch nicht völlig verrottet sind«, sagte Marian und schob die Tür mit der Schulter auf. »Dort ist Rico«, sagte ich und zeigte zur Straße. Der Büchsenmacher ritt in gemütlichem Trab näher und schwenkte, als er die Posten erkannte, nachlässig seinen Hut. »Und Synonymo«, rief ich beruhigend, »nähert sich aus der Richtung, aus der wir kamen.« »Wir haben bis zum Morgengrauen noch fünf Stunden Zeit. Seid gegrüßt, Ihr Herren«, sagte Rico und stieg ab. »Lasst mir einen Schluck Wein übrig.« Ich zählte. Mit Syno waren wir sechzehn Männer. Phelip drehte den Braten; wir bildeten, nachdem wir die beste Stelle des Überfalls festgelegt hatten, einen großen Kreis um das Feuer, redeten, tranken und aßen Brot und Braten. Es gab nicht viele Gesprächsthemen, über die man scherzen konnte. Die Posten gingen, als die Bratenreste im Feuer verschmorten, gähnend an ihre Plätze. »Wie soll das enden, Graf d’Arcoyne?« fragte d’Arbanville mit bitterem Tonfall. »Blut und Tod«, sagte ich. »Wenn Ihr könnt, packt Eure wertvollen Besitztümer und flüchtet. Lieber heute als morgen. Die Revolution, ein sicheres Zeichen jeder Veränderung, ist nicht kontrollierbar. Nehmt die Familien und flüchtet – so wie die Gefangenen, die wir befreien.« Rico arbeitete leise, aber mit gewohnter Schnelligkeit in den Gewölben der Kapelle. »Muss es denn sein? Die Besten des Landes werden umgebracht oder vertrieben?« »Es sind die Schmarotzer, sagen die Cordeliers, die Jakobiner und die Deputierten des Konvents. In vielen Fällen haben sie, mit Verlaub, auch recht.« D’Arbanville kratzte sich und schmierte Speichel auf einen Flohstich. Ich grinste und sagte: »Die Flöhe, ›Perlen der Armut‹, wie sie Franz von Assisi liebenswürdig nannte. Das Tun der Revolutionäre, und vorher die Kriege der Könige, es waren weit mehr als Flohstiche und Wanzenbisse. Blutige Wunden hat der Mensch dem Menschen geschlagen, unaufhörlich, seit Anfang der Geschichte.« »Warum muss so viel getötet werden?« stöhnte d’Arbanville. »Die Ideale der Aufrührer in einer Revolution, die aufschäumt, erzeugen Flammen, Hitze und Schweiß. Nach den Schweißorgien der Ideale wird, viele Jahre und viele Tote später, die Vernunft eine heilsame Erkältung sein.« »Was soll aus unserem Vaterland werden, Graf?« »Mich schaudert, wenn ich an die nächsten Jahre denke.« »Sind das nicht Eure Vorurteile?« fragte er bekümmert. Ich lächelte melancholisch. »Ein Vorurteil erkannt man daran, daß man sich ereifert, wenn man es begründen soll. Ich spreche mit Ruhe, ich weiß aus der Geschichte und aus vielen anderen Ländern, wie es endet.« Er stierte eine Weile lang in die Glut, die sich mit
löchriger Schwärze überzog. »Haltet Ihr Wacht, Graf?« sagte er. Ich nickte und deutete zum Himmel. »Ja. Legt Euch zwei Stunden zwischen die Büsche. Dann beziehen wir Stellung.« »Gut. Danke. Ich werde dreinhauen, stechen und schießen, um meine Freunde zu befreien.« Ich ging aus dem rötlichen Feuerschein und schlich durch das hohe Gras, am Kornfeld vorbei und zur Straße. Unsere Pferde schliefen im Stehen. Bisher hatte kein einziger Mensch die Straße benutzt; es schien, als führe der Weg durch ein abgelegenes Stück der Welt. Aber aus allen Richtungen drangen leise die gewohnten Geräusche an meine Ohren; Hundegebell, das Säuseln des Windes, Rindergebrüll und das Bimmeln winziger Ziegenglocken. Auf Zehenspitzen schlich ich zu Rico. Die Tür der Kapelle oder ihre zusammen geschraubten Reste öffneten sich fast lautlos in gefetteten Angeln und zeigten mir den Waffenschmied, der den Transmitter so gut wie unsichtbar installiert hatte. Rico führte eine komplizierte Geste aus und sagte: »Du musst unbedingt dafür sorgen, daß möglichst viele Männer, alle, wenn deine Überredungskunst ausreicht, einfach nacheinander in die Kapelle kommen. Sag ihnen, daß sie ihre Freunde wieder sehen werden.« Ich nickte und musterte das ärmliche, von Mauerschwamm und Moder gezeichnete Innere der Kapelle, das im Licht von kerzenähnlichen Brennkörpern lag. Sie standen auf den Resten des Altars und sollten die Eintretenden einige Sekunden lang blenden. »In Koblenz.« »Richtig. Sie sind in Deutschland, aber am Leben.« »Verlass dich darauf. Ich jage sie einzeln durch diese Tür«, antwortete ich und ging hinaus in die Dunkelheit. Zwischen den Bäumen hing der stechende Geruch des kalten Rauches. Ich sah, daß die Posten nicht schliefen, daß die ersten Sterne flackerten. Als ich zu den Pferden hinüber schlich, hob Syno den Arm und winkte mir. »Du kannst die Gefangenen von den Angreifern unterscheiden?« »Ich habe mir die Charakteristika aller Männer genau eingeprägt«, erklärte Syno. Er ließ nicht erkennen, ob es seine Positronik traf, daß ich ihm noch immer misstraute. Von seiner Leistungsfähigkeit war ich noch immer nicht überzeugt; trotz des Umstands, daß er bisher keinen Fehler gemacht hatte. »Du wirst im Kreis um den Ort unseres Überfalls herumrennen und jeden, der flüchtet, sofort betäuben. Klar?« »Verstanden, Adlar.« Die Sterne verschwanden. Das Morgengrauen kündigte sich an. Ich tränkte Bruno, zäumte den Hengst und schnallte den Sattelgurt fest. Aufgeregt spielten die Ohren des Pferdes. Als Rico und d’Arbanville zwischen den Büschen und Stämmen hervorkamen und ihre Pferde bestiegen, verständigten wir uns kurz mit dem Posten und ritten
weitab der Straße in nördliche Richtung. Das knirschende Mahlen der Felgen hörten wir schon, als sich der Wagen, von vier Pferden gezogen, noch vor den letzten Häusern befand. Zwischen den Feldern an beiden Seiten der Straße und unserer Kapelle betrug die Entfernung mehr als zwei Meilen. Ich hielt d’Arbanvilles Arm fest und sagte hart: »Merkt Euch! Niemand darf Euch erkennen!« Er zupfte am Tuch, das er um den Hals verknotet hatte. Ich nickte. »Wir haben jeden Revolutionär im ganzen Land gegen uns«, warnte ich. »Und: Ich gebe das Zeichen.« »Das erwarten wir, Monsieur le Comte. Ihr habt die meiste Erfahrung, sagt man.« »Das ist die Wahrheit.« Wir ritten in gleicher Geschwindigkeit einen Musketenschuss weit links des Wagens. Im Käfig aus eisernen Stäben saßen, kauerten und standen mehr als zwei Dutzend Männer in schmutzigen Hemden, auf denen ich durch das Fernglas Blutflecken erkannte. Außer den Kutschern und drei bewaffneten Milizionären, die auf dem Wagen hockten, begleiteten sieben Männer zu Fuß und acht Berittene den Wagen. Die Sättel ihrer Pferde stammten aus den Beständen der königlichen Husaren. Die Pferde vermutlich auch. Die Bewacher wirkten ebenso müde wie die Gefangenen. Am östlichen Horizont zeichnete sich ein gelblich-hellroter Streifen ab. Die Gestalten wurden deutlicher, und wir sahen auch unsere eigenen Leute, die nacheinander das Wäldchen verließen, klein wie Ameisen, und sich an die ausgesuchten Plätze begaben. Im leichten Trab zogen die Pferde den Wagen über die einsame Straße. In den Morgenhimmel hoben sich an wenigen Stellen die Rauchfäden aus Bauernfenstern. Die Bürger und ihre Gefangenen schienen nicht im Entferntesten mit einem Zwischenfall zu rechnen. Vor dem Gespann überquerte eine Schafherde die Straße. Der Schäfer schlief im Dahintrotten, die Hunde umkreisten die blökenden Tiere und trieben sie in eine struppige Weide. Irgendwo brüllten Rinder. Erste Sonnenstrahlen zuckten über die Landschaft. Die Hufe unserer Pferde erzeugten auf dem weichen Boden dumpfe Laute, die von den Leuten des Fuhrwerks nicht gehört werden konnten. »Rico. Du packst die Zügel der Pferde und bringst das Gespann zur Kapelle«, sagte ich. »Mais oui, Comte«, sagte er. »Hinter der Pappelreihe, da greifen wir sie?« »Wenn der letzte Mann hinter den Büschen verschwunden ist, und wenn nicht plötzlich der Pöbel von Paris den Gefangenen entgegen rennt«, antwortete d’Arbanville. Unsere Leute, zu Fuß oder im Sattel, waren gut versteckt. Nur wir erkannten sie. Gespann und Begleitung bewegten sich im ersten Tageslicht auf den ausgesuchten Punkt zu. Wir rissen unsere Pferde nach links und tauchten im Schutz eines sumpfigen Grabens unter. Nach dreihundert
Schritten kamen wir zwischen einem brachliegenden Acker und dem Kornfeld zum Vorschein. Ich hob den Arm, senkte ihn und deutete auf die Pappeln. Wir preschten außer Sicht der Bewacher, hinter der Krümmung der Straße, auf den Treffpunkt zu. Jeder zog das Tuch bis unter die Augen und packte seine Waffe. »Ihr schießt die Kutscher vom Bock, d’Arbanville. Euer Wort?« sagte ich entschlossen. »Ihr gebt die Befehle.« Die Zeit schien sich wieder unerträglich zu dehnen. Langsam wie eine Schnecke kroch das Gespann durch den hauchdünnen Frühnebel. Die Spitzen der Kirchtürme und die höchsten Wipfel färbten sich gelbgolden. Wir hatten unsere Positionen eingenommen; ich spannte den Hahn meiner Pistole und lenkte Bruno hinter die knorrigen Wurzeln und die ausblühenden Schäfte der Pappeln. Die Felgen klangen wie das Mahlen des sprichwörtlichen Schicksals. Und plötzlich war der richtige Augenblick da. Ich feuerte auf den Mann, der, aus Langeweile vermutlich, mit seiner Muskete hantierte. Der Lähmschuss zog eine feurige Spur; ein harter Knall zerriss die friedliche Stille. Gleichzeitig trieben wir die Pferde an. Schreie, Schüsse, Wiehern und der Hufschlag auf dem harten Untergrund der Straße vermischten sich zu einem erschreckenden Geräusch. Von drei Seiten drangen rennende Männer und Reiter auf die Gruppe ein. Armlange Feuerzungen fuhren durch die kühle Helligkeit des Morgens. Zwei Männer kippten aus ihrem Sitz. Rico ritt an das rechte vorderste Zugpferd heran, packte die Zügel, schrie gellend und riss die Tiere mit sich, ein kurzes Stück der Straße entlang. Degen und Säbel klirrten. Halbvermummte Männer sprengten heran und hieben die Fußsoldaten nieder. Zwei Pferde prallten im Galopp gegeneinander und warfen die Reiter aus den Sätteln. Ich ritt auf der linken Seite entlang und zielte auf die Milizionäre und Revolutionäre, die das Gespann begleiteten. Die Kutscher lagen bewegungslos im Staub der Straße. Die Gefangenen schrien und duckten sich, erschrocken oder voller neuer Hoffnungen. Meine Lähmwaffe spie Feuer, Rauch und Strahlung, die einen Mann nach dem anderen zusammensacken ließ. »Bringt die Schufte um!« »Es ist gut, euch zu sehen!« »Macht die Hundesöhne nieder!« »Für Frankreich.« »Für den König und – uns!« Die auffordernden Schreie hallten wild durcheinander. Am Ende des Zuges sah ich Syno, der wie ein Wettläufer um diesen Teil der Straße herumrannte und aus den Projektoren seiner Fingerspitzen auf die wenigen Männer zielte, denen es gelungen war, in die Gräben zu springen und zu flüchten. Sie brachen mit hochgerissenen Armen zusammen und überschlugen sich im hohen Gras. In halsbrecherischem Galopp rissen die stämmigen Pferde den Wagen,
der schlingerte und zu kippen drohte, über die ausgekerbten Spuren des Bauernwegs im Halbkreis um das Wäldchen herum. Rico hing im Sattel, riss an den Zügeln und feuerte die Halbblüter mit kreischendem Geschrei an. Die Tiere dampften und hatten gelben Schaum um die Lefzen und die Nüstern. Aber sie folgten dem schreienden Reiter und zerrten den Wagen hinter sich her. Ein Mann würgte einen anderen zu Tode. D’Arbanville galoppierte auf mich zu. Ein Pferdetritt traf einen Bewusstlosen mitten in die Brust. Zwei Männer fochten miteinander, bis ein peitschender Schuß aus Synos verborgener Waffe den Richtigen umwarf. Ich parierte Bruno durch und schrie: »Vorbei! Zur Kapelle, Freunde.« Alle »meine« Männer trugen noch die dunklen Tücher und hatten ihre Kopfbedeckungen tief in die Stirn gezogen. Ich sah rauchende Pistolen, verbogene Musketenläufe und mehr als fünfzehn Regungslose, die etwa zweihundertfünfzig Schritt der Straße säumten. »Es ist aus«, brüllte d’Arbanville. »Weg mit euch. Los. Schnell.« Die Männer rannten in die Richtung des Wäldchens. Andere hielten sich an Steigbügeln und Sätteln fest und ließen sich von den Reitern mitziehen. Zwischen d’Arbanville und mir, die wir in gerader Linie auf das Tor der zusammengebrochenen Mauer des Gottesackers zusprengten, rannte Syno und hielt sich an den Sattelhörnern fest. Ich stellte mich in den Steigbügeln auf und drehte mich herum. Die Straße lag im ersten Sonnenlicht kalkig weiß und leer. Die dunklen Körper bedeckten das gewundene Band in einer Musterung der Zufälligkeit. Soeben rammte die Nabe des rechten Hinterrades einen Stamm und ließ Rindenstücke hoch wirbeln, ehe sie auf dem schmalen Weg schleuderte. Die weißen Strahlen und Funken bewiesen mir, daß Rico einen Teil der Schlösser oder Eisenstäbe zerschnitt, die Aufregung und Unachtsamkeit der Gefangenen ausnutzend. Dann hielten die Pferde an, rutschten schier auf den Hinterbacken auf die Pforte des Gebäudes zu. Ich hörte Ricos Stimme, die unmissverständliche Befehle brüllte. Die Reiter und jene Adeligen, die zu Fuß rannten, versammelten sich in der Nähe des Feuers. Aber schon liefen zwei Männer auf die Tür der Kapelle zu, Rico feuerte sie an. Ich sprang aus dem Sattel, als ich das Zentrum des Wäldchens erreicht hatte, band die Zügel an einen Ast und rannte, neben mir den Jungen, auf de Tourville zu, dem ein anderer Mann die Handfesseln durchtrennte. »Ihr?« Er schrie es fast. »Ja. Ich«, sagte ich. »Euer Söhnchen suchte und fand mich. Danke für den Traubenbrand. Vielleicht sehen wir uns in Koblenz wieder.« Selbst ich mit meinem perfekten Erinnerungsvermögen hatte einige Mühe, in dem aschfahlen, unausgeschlafenen, geprügelten Adeligen jenen Mann wieder zu erkennen, der
einst achtlos über die Kornfelder schwitzender Bauern galoppiert war. »Schneller, Freunde!« brüllte Rico, während er die Pferde ausschirrte und davon trieb. Ein Mann nach dem anderen, von uns geschickt aufgehalten, rannte auf den Eingang der Kapelle zu. Er stemmte die Tür auf, sah sich vielen Kerzenflammen gegenüber – die ihn beruhigten und von allen anderen Seltsamkeiten ablenkten – und stolperte weiter, durch die Schenkelbögen des Transmitters, über den zeit- und distanzlosen Schritt bis zum Geröll der Höhle außerhalb der deutschen Stadt. Ich kümmerte mich um die Freunde, die an meiner Seite die Gefangenen befreit hatten. »Geht in die Kapelle«, forderte ich sie auf, packte sie an den Armen und schob sie in die Richtung. »Helft ihnen, ehe die Revolutionäre kommen und uns töten.« Verwirrung und Angst ließen sie – in meinem Sinn – richtig handeln. Eine Stunde später waren fast vierzig Personen einzeln durch die Transmitterfalle gestolpert und in einem fremden Land gelandet. Als sich die Sonne über die Wipfel hob, zog Rico das Tuch von seiner Nase und sagte: »Einundvierzig, insgesamt. Soll ich die Anlage abbauen?« »Lass dir von Syno helfen. Ich reite zu Cephyrine, schlafe ein wenig und bin morgen in der Werkstatt. Syno kommt zum Häuschen und wacht über unsere Freundin.« Wir schnallten den Pferden die Sättel ab, lösten das Zaumzeug und trieben die Tiere ins Freie. Syno, Rico und ich plünderten die Satteltaschen, schichteten die Sättel auf einen Haufen und waren, als sich auf der Straße der erste wirkliche Verkehr sehen und hören ließ, auf dem Weg zu den verschiedenen Verstecken. Der Logiksektor zog ironische Bilanz. Einundvierzig Leben gerettet, Arkonide. Eine vernachlässigbare Anzahl für einen Raumadmiral. Leise antwortete ich mir: »Auch für die französischen Barbaren bedeutet die Anzahl wenig oder nichts. Viel mehr werden sterben müssen. Aber für meine Seelenruhe sind es einundvierzig Gewichte in der Waagschale, die verdammt schwer wiegen.« Das Extrahirn schwieg. In gestrecktem Galopp ritt ich zurück zu Cephyrines Haus in Pierrefitte und war etwa eine halbe Stunde eher dort als Syno. Bruno stand vor vollem Futtertrog im Stall, als ich die Schritte des Roboters hörte; ich lag im warmen, nach Grasse-Kräuteressenzen riechenden Badewasser, hielt einen Becher in der Hand und freute mich auf einen erholsamen Schlaf an Cephyrines Seite.
14. Es wäre, musste ich mir sagen, unangebracht oder vermessen, den Maßstab eines zellaktivatorbewehrten Arkoniden auf Sterbliche dieses Planeten anwenden zu wollen. Meine grünäugige Freundin war, verglichen mit den meisten weiblichen Bewohnern der Welt mit weniger als vierzig Jahren, eine junge Frau. Dass sie sich nicht älter fühlte, verdankte
sie dem Zellschwingungsaktivator und den förderlichen Möglichkeiten, die nur Rico, die Maschinen der Überlebenskuppel und ich ihr bieten konnten. Kurzum: In diesem Jahr war und blieb sie von der strahlenden, gesunden Schönheit einer Frau von… soviel Jahren, wie andere Frauen mit dreißig nicht zeigen konnten. Ich ertappte mich dabei, daß ich meinte, sie besäße den Verstand und die Erfahrungen einer Vierzigjährigen und den reifen, sinnlichen Körper einer fünfundzwanzigjährigen Frau. Was ich selbst über meinen Körper und meinen Verstand dachte, war in diesem Zusammenhang unwichtig. Cephyrine und ich – wir waren glücklich und zufrieden. Unter anderem deshalb, weil sich Nonfarmale nicht zeigte. Ich nahm als Zuschauer die Wirren der Revolution wahr, bewegte mich unangefochten durch Paris, blieb meiner Tarnung als Büchsenmacher gerecht und hörte, sah und spürte die chaotischen Auswirkungen der manipulierbaren, manipulierten Volksmassen. Ich blieb in Paris, weil ich auf Nonfarmale wartete. Er zeigte sich nicht. Die Wochen und Monate bildeten in der Erinnerung ein Kaleidoskop aus ruhiger Arbeit in Beauvallon und kurzen Intervallen, während denen wir auf der Insel Yodoyas schwitzten, schwammen oder in den Häusern der fast bis zur Unkenntlichkeit zugewachsenen Samurai-Siedlung arbeiteten. »Wieder hat ein neues Jahr angefangen«, sagte ich, während wir durch die zischenden Schaumwellen der Brandung stampften. »Und ich habe in Wirklichkeit nichts erreicht, Gespielin des Nachtwinds.« »Die Gefängnisse sind voll. Nicht nur in Paris«, antwortete Cephyrine. »Seit dem August, seit der Schlächterei in den Tuilerien.« Freiwillige aus Marseille hatten, während sie zum Sturm aufforderten, das Lied der »Rheinarmee« gesungen. Der Komponist Rouget de l’Isle hätte sich nicht träumen lassen, daß man sein Lied »die Marseillaise« nannte. Der König war seiner Rechte beraubt; er und seine Familie schmachteten als Gefangene. »Ich meine, wir sollten wieder in Paris nach dem Rechten sehen«, sagte ich. »In einigen Tagen sind wir hier fertig.« »Der Funken von Paris wird bald auf andere Länder überspringen.« »Wenn ich es kann«, versprach ich, »werde ich einige der Funken austreten.« »Du musst es tun.« Zwischen riesigen Wolkenfeldern senkte sich die Sonne dem Meereshorizont entgegen. Leise sagte ich: »Allons, enfants de la patrie… kehren wir zurück in die wirkliche Welt.« Ende August bewachte Synonymus wieder das Häuschen in Pierreritte, und ich arbeitete mit Rico in der Büchsenmeisterwerkstatt.
Der königliche Architekt Claude-Nicolas Ledoux hatte die riesige Zollmauer um Paris gebaut; er und zwei seiner berühmten Kollegen bezeichneten dieses Bauwerk und ihre größenwahnsinnigen
Pläne als »Revolutionsarchitektur«. Ich bewunderte die Zeichnung einer riesigen Kuh, eine Amphore zwischen dem Gehörn, etwa dreißig Mannslängen hoch: ein Stall für Rinder des Neuen Menschen. Eine gigantische Kugel, eingefasst in ein Zylinderfragment mit gewölbten Aussparungen, hundertzwanzigmal höher als ein Mensch oder noch riesiger, wurde als »Newton-Mausoleum« bezeichnet und stammte von Etienne-Louis Boullee. Eine Vision, die mit zeitgenössischen Mitteln nicht zu errichten sein würde. Die anderen Entwürfe, auch jene von Jean-Jacques Lequeu, blieben vom Schicksal der Zollmauer verschont, die schon vor dem Eindringen in die Bastille abgerissen worden war. Niemand würde sie je bauen. Die Seele des Bürgers wollten die Architekten durch die Wirkung ihrer Monstrositäten läutern. Wie sollte das ein ohrmuschelartiges Bauwerk, der »Tempel der Wahrsagekunst«, wohl schaffen? Ich klappte gegen Mitternacht die Mappe voller seltsamer Entwürfe zu, musterte Rico und die vielen reparierten, gesäuberten, funkelnden Schusswaffen auf dem Verkaufstisch. »Es gärt, Atlan«, sagte Rico warnend. »Die Sonden zeigen, daß Marat die Bevölkerung aufhetzt.« »Hinrichtungen? Tötungen ohne Gerichtsverhandlung?« »Danton organisiert die Verteidigung gegen die Preußen und die Emigranten, die sich um Prinz Conde scharen.« »Longwy und Verdun sind schon in der Hand der Truppen, die den König retten wollen.« »Und Docteur Louis Köpfungsmaschine, mittlerweile von Docteur Joseph Ignace Guillotin offiziell als Hinrichtungsgerät durchgesetzt, soll auf dem Platz der Revolution aufgebaut werden.« »Das bedeutet, daß die Maschine auch benutzt werden soll.« »Zweifellos.« Ich merkte es selbst: Mit den Verrätern im Innern des Staates sollte abgerechnet werden, wie Marat und Robespierre predigten. Aber noch war das Chaos nicht vollkommen. Ich sagte: »Wir sollten es den Gefangenen in den stinkenden Revolutionskerkern etwas gemütlicher machen, Rico.« »Mit Psychostrahler und Transmitter?« »In Richtung Koblenz.« »Einverstanden. Heute Nacht?« »Morgen. Und bestens geplant.« Ich nickte und sortierte in Gedanken die Ausrüstung, die wir mitten in der Stadt des Aufruhrs und zwischen Tausenden blutgieriger Bürger brauchen würden. Monsieur George Stras aus Straßburg betrieb einen kleinen Laden, in dem er herrlichen, funkelnden Schmuck verkaufte – vergleichsweise billig, denn die Kreationen bestanden weder aus edlen Metallen noch aus edlen Steinen. Ich kaufte einen Halsschmuck für Cephyrine. Dann gab ich Rico das Signal. In einem stinkenden, dunklen Torweg schalteten wir die Deflektoren ein und waren unsichtbar. Lautlos näherten wir uns den Posten, die vor den Gittern, Mauern und Toren des Gefängnisses
herumschlenderten, miteinander sprachen, um die Feuer hockten und Wein tranken. Rico hatte von einigen seiner Projektoren die Fingerkuppen abgezogen, ich hielt den schweren Lähmstrahler in der Linken. »Dort entlang?« Ich hörte Ricos Stimme im Ohrlautsprecher. Er befand sich vor mir. Hin und wieder ertönte ein helles, scharfes Summen. Aus dem Innern der vernichteten Schlösser stiegen ätzende graue Rauchwölkchen auf. »Ja. Die Stufen abwärts.« Es stank, und es war dunkel. Ölfunzeln und schwelende Fackeln zeigten uns die von Unrat übersäten, ausgetretenen Stufen. In den Winkeln schliefen zwei Posten, die Musketen in den Armen. Wir schlichen weiter abwärts und sicherten nach allen Seiten. Ich flüsterte: »Keine Hast. Wir haben die ganze Nacht lang Zeit.« Auf dem tiefsten Punkt der Gewölbe erstreckte sich nach links und rechts ein breiter Gang. An beiden Seiten sahen wir viele rostige Gitter. Der Gestank war kaum erträglich. Auf Pritschen lagen Wachen; ein paar Männer spielten und tranken an einem runden Tisch. Ich folgte Rico und schlich bis zum Ende des Korridors. Nebenräume, Gewölbe, Treppen und verschlossene Kammern bildeten das Ende des dunklen Ganges. In Zellen lagen und kauerten Kinder, Frauen und Männer. Funzeln kämpften hoffnungslos gegen die Dunkelheit an. Von überall her hörte ich Wimmern und Stöhnen, keuchendes Atmen und Schnarchen, Klagen der Kinder, das Geschrei eines Säuglings. Rico flüsterte: »Ich installiere das Gerät in der hintersten Kammer.« »Ich versuche, hier ein wenig Ordnung zu halten«, erwiderte ich und schlich, während Rico fast geräuschlos Riegel, Schlösser und Zuhaltungen auftrennte, zurück zur Treppe. Ich drehte an der Rändelschraube und fächerte die Abstrahlkegel des Projektors auf. Dann zielte ich und feuerte vierzehnmal nacheinander. Noch ehe die Wachen begriffen, daß etwas Ungewöhnliches vor sich ging, sackten sie zusammen, warfen den Wein um und stürzten von den Pritschen. Ich ging einige Schritte rückwärts und schaute die Stufen hinauf. Oben herrschten Ruhe und Düsternis. Die Spieler im anderen Teil des Gewölbes, halb durch einen von Mauerschwamm löchrig zerfressenen Pfeiler verdeckt, schienen nichts gehört zu haben. Ich zog das schwere Desintegratormesser aus dem Stiefelschaft und sägte die Riegel der ersten Zellentür auf. Mit knirschendem Geräusch sackte das Schmiedeeisen schwer durch; ich fing den Riegel auf, ehe er auf den Stein klirren konnte. Ich desaktivierte das Feld, das mich unsichtbar gemacht hatte. Mit einem weiteren Schritt war ich in der Gruppe von vier Männern, die zugesehen hatten, wie sich die Gittertür ohne menschliches Zutun öffnete. Ich sagte unterdrückt, aber im Befehlston:
»Geht bis zum Ende des Gewölbes. Dort wartet ein Freund. Er schiebt Euch durch einen steinernen Torbogen in einen Geheimgang. Schnell.« »Aber…« »Keine Fragen. Nehmt Eure Familien mit. Leert die Zelle.« Ich wartete und sah, daß die gefangenen Edelleute von der Haft und den Bedingungen in diesem stinkenden Verlies so zermürbt waren, daß sie auch unverständlicheren Anordnungen gehorcht hätten. Selbst im schwachen Licht war zu erkennen, daß jeder Gefangene verdreckt, abgerissen, halb verhungert, krank und todmüde war. Die erste Zelle leerte sich. Ich zählte neun Personen. Als der letzte, ein grauhaariger alter Mann, hinkend an mir vorbei war, warf ich einen langen Blick in die Richtung der Wärter und setzte die sirrende Klinge an den nächsten Eisenstab. Leise heulend schnitt die Waffe das weiche Eisen durch. Gegen das Gitter drängten sich sieben Gefangene. »Hinter ihnen her. Dorthin. Schnell«, sagte ich. »Oder wir sterben alle.« »Ja, sofort, Monsieur.« Auch diese Zelle leerte sich schneller, als ich erwartet hatte. Jeder half seinem Nachbarn. Verwirrt stolperten die erschöpften Leute auf das Ende des Gewölbes zu und wurden von Rico mit Nachdruck durch die Türöffnung in den Transmitter geschoben. Etwa zwei Dutzend Zellen befanden sich in diesem Teil des Gefängnisses. Ich öffnete sie nacheinander. Es waren etwa zweihundert Personen, die ich aus den Zellen befreite und vor der Guillotine rettete; viel zu wenige, wie ich ahnte. Zwei Stunden nach dem ersten Schuß des Lähmstrahlers gab es in diesem Teil der unterirdischen Anlage keinen Gefangenen mehr. Ich lief auf Zehenspitzen zu Rico. »Du bleibst mit dem Ding da«, sagte ich. Die Energiekontrolle leuchtete zuverlässig. »Wenn ich hinten, im anderen Teil angekommen bin, gehst du am besten bis zur Treppe und sicherst.« »In Ordnung.« Ich knurrte: »Und anschließend sollten wir diesen Rattenstall in Flammen setzen. Aber das würde halb Paris einäschern und Unschuldige treffen.« Rico nickte nachsichtig. »Aber es wäre äußerst leicht zu bewerkstelligen.« Ich lachte grimmig, dann murmelte ich: »Ans Werk, Traveille. Bringen wir’s hinter uns. Der Gestank macht mich betrunken.« Wir aktivierten unsere Deflektorfelder und schlichen in die entgegengesetzte Richtung. Die Wachen entlang der Treppe und hinter dem Absatz über den Stufen bemerkten nichts. Rico kontrollierte den Kreuzungspunkt, während ich die Verriegelung der Käfigtüren zerstörte. Die erste Gruppe setzte sich in Bewegung. Rico nahm die Hand einer jungen Frau und zog sie mit sich. Ein Gefangener nach dem anderen wurde von Rico durch den Transmitter geschoben; Väter und Mütter trugen ihre Kinder auf den Armen. Zwei weitere Stunden später war alles vorbei.
Ich winkte dem Roboter, der in gewohnter Eile den Transmitter abbaute und sich die schweren Einzelteile über den Rücken warf. »Deflektorfelder an«, bestimmte ich. »Und hinaus hier. So schnell, wie es geht.« »Es geht nicht schneller, als ich gehe.« Rico grinste und legte seine Hand auf meine Schulter. Wir rannten das Gewölbe entlang, die Stufen aufwärts und, unsichtbar, auf das letzte Tor am Ende des Eingangsbereichs zu. »Wohin?« fragte Rico und aktivierte den Psychostrahler. Alle Personen in weitem Umkreis des Gefängnisses verspürten den Drang, bei der Schlägerei am Ende der Straße einzugreifen und zu schlichten. »Du gehst zur Werkstatt.« »Und du nach Pierrefitte?« »Später.« Die Gasse war leer, bis auf ein paar streunende Hunde. Wir wandten uns nach rechts und liefen über das glitschige Steinpflaster bis zur nächsten Abzweigung. Dann wurden wir zu zwei Handwerkern, die nach einem langen Arbeitstag auf dem Heimweg waren, erreichten unser Haus und waren froh, den Revolutionären wieder einmal eine lange Nase gedreht und Menschenleben gerettet zu haben.
Am zweiten September hatte die sinnlose Wut des Pöbels ihren Höhepunkt erreicht. Nirgendwo in Paris erfuhr man, was wirklich vor sich ging. Ich ritt in meinem schlechtesten Sattel, auf einem Pferd, das ich nicht gestriegelt und mit Staub eingerieben hatte, langsam durch die Gassen und Straßen der inneren Stadt. Eine fast greifbare Stimmung hing zwischen den schwitzenden Mauern und schien aus den Fugen der Quader zu sickern. Unzählige Feuerchen, Kienspäne, Lampen und Fackeln bewegten sich in der Dämmerung. Die Menschen rannten umher wie aufgescheuchte Ameisen. In meinem Ohr wisperte die Stimme des Roboters. »Drei Spionsonden schweben durch die Stadt. Ich kann nicht sagen, was sie planen.« »Bei Cephyrine alles in Ordnung?« fragte ich und spähte um mich. Ich blickte in Gesichter, aus denen Erregung strahlte. »Die Bürger wissen es selbst nicht, Rico.« Noch immer feierten die Anhänger der Revolution die Erfolge ihrer Generäle bei Valmy. Das revolutionäre Land konnte die Angriffe der Monarchien zurückschlagen, die einmütig gegen Frankreich angetreten waren; ein Sieg, der militärisch eine Farce war. An einem Brunnen, dessen gemauerte Wände eine Hausecke umschlossen, hielt ich Bruno an und ließ ihn saufen. Die Menschen drängten sich achtlos aneinander vorbei. Von einem Platz jenseits der Steigung hörte ich undeutlich die Worte einer anfeuernden Rede. Die Stimme des Redners überschlug sich. Nach jedem zweiten Satz brachen die Bürger in rasenden Beifall aus. Johlen und Geschrei widerhallten von den Wänden. Ich rückte am Zügel und sagte zu Rico: »Eine aufgeheizte Menschenmenge schiebt sich durch die Stadt.« »Heute
ist es schwül und trocken.« Der Hengst schüttelte prustend den Kopf und trabte weiter. Ich hob den Arm und suchte den Rand der Dächer, die Balkone und die tiefen Schatten zwischen den Säulen und Bögen ab. Natürlich dachte ich selbst in dieser dampfenden Stimmung an Nonfarmale. Es musste ein Festschmaus für ihn sein, sich ebenso unerkannt wie ich durch die Stadt zu bewegen. Sie bildete den Brennpunkt der Geschehnisse. Ich wußte es genau, desgleichen Rico und Cephyrine. Alle anderen, Zehntausende, ahnten es. Langsam ritt ich weiter, die Hand am Griff der Vielzweckpistole. Ich kam auf einem runden Platz heraus, von schmalen, mehrstöckigen Häusern gesäumt. Überall flackerten Lampen. Aus der Menge formierte sich eine Art Keil. Die Menschen trugen Waffen. Der Redner fuhr fort, gegen die Feinde der Revolution zu wettern. »Das wird kein guter Abend, Atlan«, sagte ich zu mir, lenkte Bruno entlang der Mauern und hatte halb den Platz umkreist, als ich anhielt und wieder die Menschenmenge schräg unter mir betrachtete. Die Bewaffneten schienen zahlreicher geworden zu sein. Sie traten unruhig von einem Fuß auf den anderen. Die ersten Männer hatten den Eingang zu einer schmalen Gasse erreicht, die in die Richtung der Seine führte. Hinter ihnen schoben sich andere Gruppen zusammen. Auf den Schneiden der Waffen brachen sich funkelnd die Reflexe der Flämmchen. »Nichts erhält ein Gesetz so wirksam«, schrie der Redner, »wie seine Anwendung gegen Adel und hochgestellte Persönlichkeiten. Schon Tacitus wußte es, unser römisches Vorbild.« »Er hatte den Vorteil, nicht hier wohnen zu müssen«, brummte ich verdrossen und bemühte mich, jedes einzelne Gesicht genau anzusehen. Da ich mich außerhalb der Menschenmenge aufhielt, beachteten mich die Bürger nur flüchtig oder gar nicht. Ich erinnerte mich an das Dankesgestammel der gefangenen Adeligen in den Kellern. Weinende Frauen, schluchzende Halbwüchsige, Männer, die mir ihre unverbrüchliche Freundschaft antrugen. Einige erkannten mich wieder; ich verbot ihnen, meinen Namen zu nennen. In besseren Tagen hatten sie ihre Pistolen bei uns durchsehen lassen. Vorbei, sagte der Logiksektor. Dankbarkeit lässt sich nicht speichern. Größere Probleme sind zu lösen. Einige Männer schwangen Degen und Säbel und verließen den Platz. Noch gingen sie mit zögerlichen Schritten, dann fing der erste zu rennen an. Etwa zwei Dutzend Leute schlossen sich den Rennenden an. Wieder formierte sich ein Keil, der sich in eine Schlange verwandelte, sich auseinander zog und verklumpte, auflöste und im Halbdunkel der Gasse verschwand. Ich hielt den Zügel straff und redete leise in die aufgeregt zuckenden Ohren des Hengstes. Schweiß troff aus seinem
Fell ebenso wie von meiner Stirn. Mein Blick ging quer über den Platz. In einer Mauernische lehnte ein Mann mit auffallend hellem Haar. Ich zuckte zusammen und konzentrierte meine Blicke auf den Fremden. War er es wirklich? »Verdammter Hurensohn«, knurrte ich. Der Fremde trug sein Haar straff an den Kopf gezogen und im Nacken zu einem Zöpfchen geflochten. Ich versuchte die Narbe zu erkennen, sah aber nur ein schmales Gesicht, das ein träges, sattes Lächeln erkennen ließ. Ich gab den Zügel frei und ritt unter den Arkaden am Rand des Platzes entlang. Der Lärm der aufgeregten Stimmen war angeschwollen, obwohl inzwischen die Hälfte der Bürger in Gassen, über Treppen und die kleine Brücke verschwunden war. Unterbrochen von den Augenblicken, wenn ich hinter einem Pfeiler entlang ritt, hielt ich meinen Blick auf Nonfarmale gerichtet. Ich war sicher, daß er es war. Was konnte ich tun? Schaltete ich den Deflektor ein, fiel das reiterlose Pferd auf. Feuerte ich aus den Energiewaffen, zeigte ich mich dem Seelensauger. Ich ritt weiter, unschlüssig und voller Anspannung, griff in den Stiefelschacht und zog das Messer hervor, wog es in der Hand. Der Platz leerte sich zusehends. Einige Männer rissen Fackeln aus den Mauertüllen und schwenkten sie durch die stickige Luft. Funken prasselten auf das schmutzübersäte Pflaster. Ich lenkte das Pferd nach links und spannte meine Muskeln. Als ich den Kopf wandte, um meinen Feind ins Auge zu fassen, war die Nische leer. Ich ließ die Hand sinken, schaute mich um und sah nur die letzten Bürger den Platz verlassen. Träge lehnten einige Frauen aus den weit geöffneten Fenstern. Verschwunden. Unsichtbar? sagte der Logiksektor. Ich ließ den Hengst drehen und rückwärtsgehen, machte ihn unruhig und ritt dann wie unbeabsichtigt auf die leere Fläche zwischen den Pfeilern zu. Bruno bäumte sich auf, seine Hufe schlugen ein paar Mal gegen die Steine. »Weg«, sagte ich völlig enttäuscht. Ich ritt quer über den Platz zurück, drehte mich mehrmals um und suchte in den Schatten. Offensichtlich war Nonfarmale den waffenschwingenden Bürgern gefolgt. Rico meldete sich aus der Werkstatt. »Nonfarmale hat im Stadtgebiet eine Strukturöffnung errichtet. Ich arbeite daran, sie zu lokalisieren.« Ich flüsterte ins Mikrophon: »Also doch. Ich war sicher, ihn ein paar Schritte vor mir gesehen zu haben. Jetzt ist er verschwunden.« »Das war zu erwarten. In der Stadt scheinen ungeheuerliche Dinge vorzugehen.« »Sie können nur etwas mit Blut und Tod zu tun haben«, sagte ich. »Es kann sein, daß ich ihn heute Nacht finde.« »Ich teile dir mit, wenn ich schärfere Messungen erhalte.« »Gut. Ich reite hinunter zum Seineufer.« Die Hufe klapperten auf Steinpflaster und
dröhnten im Morast und Dreck der Straße. Aus unterschiedlichen Richtungen hallten Schreie durch die Nacht. Metall klirrte gegen Stein. Zwischen den Mauern hallte lang gezogenes Stöhnen wider. Zahllose Menschen schrien in nackter Angst. Was ging in Paris vor? Brachten sie sich gegenseitig wieder einmal um, diese Barbaren? Ich kitzelte den Braunen mit den Sporen und setzte mich im Sattel zurecht. Hinter Hauskanten und Säulen brannten Feuer, Rauch schwelte in die Höhe, und das rote, flackernde Glühen der Flammen breitete sich, von der Schwärze der davor stehenden Mauerstücke scharf abgeschnitten, zungenförmig aus. Vor dem Licht huschten Gestalten hin und her. Wieder ein Schrei, dann lautes Fluchen von irgendwoher, entfernt und undeutlich. Ich versuchte, Einzelheiten zu sehen und zu hören; alles passierte hinter den Mauern oder in tiefen Gewölben. In keiner der vielen Gestalten, die ich sah, konnte ich Nonfarmale wieder erkennen. Noch nie hatte ich die Stadt nachts in einem solch fiebrigen Zustand erlebt. Die Ahnung, daß schreckliche Dinge geschahen, wurde deutlicher, je mehr ich mich der Brücke näherte. In Paris wütete ein mörderisches Gespenst: Nonfarmale hatte seine Jenseitslandschaft verlassen, um inmitten der Greuel herumzuspazieren und sich satt zu trinken an den freiwerdenden Emotionen zu Tode gebrachter Menschen. Ekel kam in mir hoch. Ich hielt an, als ich die Brücke erreicht hatte und die vielen Dächer sah, die sich gegen den weniger dunklen Himmel abzeichneten. Ich hatte sogar den Gestank vergessen, der zwischen den Häusern hervorquoll wie Nebel. Wo sollte ich ihn suchen? »Verdammnis über dich und deinen Blutdurst«, sagte ich erbittert. Die erzwungene Handlungsunfähigkeit machte mich halb krank. Paris war für uns beide zu groß, aber die Stadt bot einem einzelnen mehr Verstecke, als ich mir vorstellen konnte. Ich würde Nonfarmale nicht finden, außer durch einen Zufall oder… »Der Strukturriss hat sich geschlossen«, sagte Rico aus dem winzigen Lautsprecher in meinem Ohr. »Er ist in die Jenseitswelt zurückgegangen.« »Dann habe ich hier auch nichts mehr zu suchen«, gab ich zur Antwort und ließ den Hengst antraben. Eine Stunde später lag die Stadt, die zuletzt in todesartige Starre verfallen war, in meinem Rücken. Ich führte Bruno in den Stall, sattelte ab und versorgte das Tier. Eine Menge einander widerstrebender Gedanken schossen durch meinen Kopf. Der Handwerker Adlar Arcaud und sein Werkmeister waren nicht gefährdet, aber in diesem Hexenkessel der Gewalt konnte Nonfarmale kommen und gehen wie in einem Theater. Aus Gerüchten, Gesprächen und Mitteilungen von Kunden erfuhren wir, was sich am zweiten,
dritten und vierten September, meist in den Nächten, zugetragen hatte, Paris wisperte von den »Morden des Septembers«; tausend Gefangene waren angeblich in den Gefängnissen abgeschlachtet worden: Kinder, Frauen und Männer waren erschlagen oder erstochen worden. Einige hatten die rasenden Angehörigen, die angeblich den dritten Stand verkörperten, mit bloßen Händen erdrosselt. Sagte man. Rico versicherte mir sofort nach diesen Erkenntnissen, daß Syno meine Freundin zuverlässig bewachte, und daß sie sich keine Sorgen zu machen brauchte. »Aber ich mache mir Sorgen«, sagte ich, »und deswegen bin ich in einer Stunde bei ihr.« »Hast du an den Einsatz von Psychostrahlern gedacht, Atlan? An einen massierten Einsatz?« »Öfters, als du es berechnen konntest«, antwortete ich und zog die schwere Haustür ins Schloss. Wärme und Behaglichkeit unseres Hauses empfingen mich. Ich ließ mich in einen Sessel fallen und zerrte die Stiefel von den Waden. Dantons Bild erschien in meiner Vorstellung. Gedrungen, rot- und rundgesichtig, mit Wulstlippen, blondgrauem Haar und wasserblauen Augen, der Knollennase und dem durchdringenden Geruch, den er verströmte – und den Forderungen nach der Verwirklichung hehrer Ziele, die er unaufhörlich ausspie: Gleichheit auch im Morden? Wenigstens wußte ich jetzt, wo ich ihn bei seinem nächsten Besuch erwarten würde. Wahrscheinlich hatte er die Bürger nicht einmal zum sinnlosen Morden anzustiften brauchen. Ich besprach, ehe ich den Transmitter nach Pierrefitte benutzte, mit Rico die Einzelheiten. Er errechnete eine beeindruckend hohe Wahrscheinlichkeit für einen Erfolg. Ich blickte ihn, während ich mich umzog und den Geruch der Stadt aus dem Gesicht wusch, skeptisch an. »Große Wahrscheinlichkeit dafür, daß Nonfarmale sich satt trinkt?« »Dafür, daß du ihn würdig und erfolgreich bekämpfen kannst, und zwar mitten in den Tuilerien.« »Ich habe da meine Zweifel.« Der Brotpreis – in Paris buk und verbrauchte man unglaubliche Mengen weißen Brotes – war in schwindelnde Höhen gestiegen. Obwohl es an der schlechten Ernte lag, machte man den Klerus und den Adel für den Mangel verantwortlich. Ich nickte Rico zu. »Wir bleiben in Verbindung. Gegen Mittag bin ich wieder hier. Wenn nicht Nonfarmale schneller ist.« »Das erfährst du von mir und meinen Spionsonden.« Ich lief die Stufen zum Gewölbe hinunter und befand mich wenige Atemzüge später in der Gemütlichkeit des Hauses unter den Kastanien. Cephyrine schob dünne, lange Brote in den Ofen und schenkte wortlos, als sie meinen Gesichtsausdruck richtig deutete, einen Becher voll. »Du hast einen Schluck nötig«, sagte sie ernst. »Paris? Nonfarmale?« Ich setzte mich in den Schaukelstuhl vor den gedeckten
Tisch und berichtete, was ich erlebt hatte. Sie hörte zu und bereitete das Essen vor. »Es wird ein Tag kommen, oder eine Nacht«, sagte sie mit Bestimmtheit, »da wird es dir gelingen, ihn zu töten.« »Nicht heute Nacht«, antwortete ich. »Heute töten die Franzosen ihresgleichen. Und es werden immer mehr.« »Dabei ist es hier friedlich wie immer«, sagte Cephyrine und deutete zum Fenster. »Der Freund Ricos ist ebenso wachsam wie anspruchslos.« »Und er schläft nie, wie unsereiner«, erwiderte ich und leerte den Becher.
15. Die Bewegung, mit der Scarron Eymundson die Beine übereinander schlug, war fast provozierend, aber Cyr Aescunnar achtete kaum darauf. Sie saß ausgestreckt in Cyrs zweitgrößtem Sessel, drehte ein halbleeres Weinglas in den Fingern und beugte sich vor. Ihre Blicke trafen Cyr und bohrten sich in seine Augen. Leise und nachdenklich sagte sie: »Ich habe oft zugehört und selbstverständlich alles gelesen, was du freigegeben hast. War ja auch genügend Zeit in meinem einsamen Apartment, und zum Nachdenken auch. Abgesehen von solch phantastischen Überlegungen, daß Nonfarmales Saurier die Drachen der Jasonsage und der furchtlosen Ritter hätten sein können – mein genesender Freund hat damals, Jahrhunderte lang, ein ernsthaftes psychologisches Problem gehabt, ohne es zu erkennen.« »Ich ahne, was du sagen wirst – es spricht weder für ARK SUMMIA noch für die Grand Ecole der Arkonplaneten.« Cyr lächelte grimmig. »Bald hören wir beide mehr darüber.« Scarron strich das Haar über dem Ohr zurück, nippte am Wein und sagte: »Er hätte auf der Venus – Planet Parsa – direkt Arkon anfunken können. Hyperfunk! Er hätte, ehe sein Gerät zerstört wurde, das Robotgehirn anstrahlen und den Notruf absetzen lassen können. Atlan nahm das Raumschifflein und hätte wissen müssen, daß er damit nicht viel weiter kommt als bis jenseits der Plutobahn oder ein paar Lichtjahre, meinetwegen, weiter. Ständig haben er und die Robots an der LARSAF herumgebastelt, obwohl jeder Flugversuch nach Arkon den Piloten umgebracht hätte. Er wußte das alles, zweifellos, er wollte es nicht wahrhaben. Er wich der Erkenntnis aus. Er testete die LARSAF, obwohl er mit ihr höchstens die Neugierde hätte befriedigen können: Wie sieht die Mondrückseite aus, oder hat sich seit der Invasion damals die Anzahl der Saturnringe vergrößert? Es kämpften also in seinem unbewussten Pflichterfüllung und Heimweh miteinander.« »Und das taten sie Jahrhunderte lang.« Aescunnar nickte und füllte bedachtsam die Gläser. »Und das zeichnet ihn – abseits Freudscher oder Adlerscher Erkenntnisse – als besten Beuteterraner, Hüter und Paladin der Menschheit und so weiter aus.« »Sein Verstand sagte
ihm, daß es unmöglich war.« Scarron zuckte mit den Schultern. »Unbewusst versuchte er, sozusagen, dem Schicksal zu trotzen. Seine Gegenwart half den Barbaren, und die Arkonflotte hätte ihnen auch geholfen. Er entschied sich, zu bleiben, gewissermaßen unter Protest; schließlich trug das Erscheinen des Cynos Nonfarmale dazu bei, daß er ausharrte – und als Entschuldigung blieb ihm die Suche nach Nonfarmales Diskusschiff.« »So sehen wir alle den wirklichen Tatbestand.« Cyr stand auf, als das Türsignal summte. »Atlan ist sich heute natürlich längst darüber klar, aber er befindet sich gegenwärtig in sehr weit zurückliegenden Zeiten.« Cyr öffnete und geleitete den ersten Gast herein, eine hochgewachsene, rothaarige Frau in lindgrüner Flotten-Ausgehuniform. Er machte sie mit Scarron bekannt: »Major Doktor Amparo Abdelkamyr. Machen Sie es sich gemütlich – Rotwein, Weißwein oder etwas Kräftigeres?« Amparo deutete auf die Gläser und sagte mit dunkler, kehliger Stimme: »Ich schließe mich Ihnen gern an. Rot. Danke.« Sie öffnete eine flache Dokumententasche, zog einige zusammengeheftete Folien heraus und reichte sie Aescunnar. Bevor er zu lesen begann, füllte er die Gläser aus der Weinkaraffe und sah schweigend zu, wie die Frauen einander abschätzten, schweigend, lächelnd; er sagte leichthin: »Diese Universitäts-Außenstelle ist der Treffpunkt des so genannten Karthago-Zwei-Teams. Sicherlich wissen Sie, Major, daß der Prätendent seine schweren Verletzungen auf dem Mucyplaneten davontrug. Wir konnten in letzter Sekunde flüchten.« »Ich weiß Bescheid, Professor«, sagte Amparo. »Haida Khar hat mir die ganze Geschichte erzählt, als ich vor einem Monat mit ihm flog.« Sie nickte, hob das Glas und prostete ihm und Scarron zu.
Atlan hatte achtundvierzig Stunden lang kein Wort gesprochen. Er trainierte seinen Körper im Park, im Schwimminpool und an den Kraftmaschinen, aß Aufbaunahrung und schlief außerhalb der Intensivstation des Planetaren Krankenhauses. Sämtliche Einrichtungen, die für den langsamen Übergang ins normale Leben sorgen sollten, waren in Scarron Eymundsons Wohnung installiert, einschließlich der SERT-Haube und der Übertragungsstrecke zu Cyrs Apartment. Das Ärzteteam war zwar noch nicht aufgelöst worden, hielt sich aber nur in Bereitschaft. Aescunnars Studenten und die Arbeitsgruppen recherchierten und bereiteten Sekundärinformationen vor: Die letzten Kapitel der ANNALEN DER MENSCHHEIT gestalteten sich schwieriger als die vorhergehenden; in kürzeren Abständen und in einer von Jahrzehnt zu Jahrzehnt komplizierteren Welt durchlebte der Arkonide mehr Abenteuer – und zugleich schwierigere. Cyr Aescunnar schlug das Deckblatt des gelben Folienstapels auf und las schweigend
die Zeilen der Überschrift. Aus: Vorlesungen am TERRANIA INSTITUTE OF TECHNOLOGY (TIT), Hyperphysikalische Fakultät, Prof. Dr. G. A. Waringer; Wintersemester 3458/59. Auszug: WELTBILDER IM WANDEL – Vielweltenkosmos, Alternativwelten, Parallelebenen und andere Phänomena. »Geoffry Abel Waringer hat eine Vorlesungsreihe gehalten«, sagte Major Abdelkamyr. »Im Text finden sich einige Erklärungen für die Ereignisse, von denen Atlan gesprochen hat. Julian Tifflor übergab mir die Unterlagen; ich soll Ihnen helfen, beim Leser der ANNALEN zu erklären, was sich damals – höchstwahrscheinlich – abgespielt hat.« »Roger Chavasse hat sich angesagt«, sagte Scarron und deutete auf die Dokumentenmappe. »Vielleicht sollten wir auf ihn warten. Mir wäre es lieber, von Ihnen eine weniger unverständliche Darstellung zu bekommen.« »Angefangen bei der Detonation eines Anti-Materie-Kometen.« Cyr ließ den letzten Schluck Wein im Glas kreisen. »Denn nach Atlans Erinnerungen sind, unter anderem, Nonfarmales Erscheinen und die seltsamen Jenseitswelten eng damit verbunden.« Wieder summte das Türsignal. Roger Chavasse, der uralte Computerfachmann, kam mit schnellen Schritten herein, begrüßte die Damen und sagte zu Cyr: »Ihre Jenseitswelt, Professor, verfügt sicherlich über Champagner oder Single Malt? Nicht dieser langweilige Rotwein. Welche Sorgen haben Sie alle? Kann ich helfen?« »Champagner also.« Aescunnar grinste, holte einen Aschenbecher und den Liquitainer aus dem Kühlschrank. »Hören Sie zu, Roger, was Major Abdelkamyr uns berichtet.« Amparo blickte auf ihre Notizen, die auf hellblauer Folie standen, leerte das Glas und begann zu sprechen: »Ausgehend von Einzelheiten in Waringers Vorträgen müssen wir uns eine Art Kanal vorstellen. Eine großdimensionierte Energiebrücke, in diesem Fall zwischen der Erde oder einem beliebigen Abschnitt ihrer Bahn um die Sonne – und einem Punkt in der Tiefe der Galaxis. Nehmen wir als sicher an, daß die Varganin Ischtar innerhalb des Solaren Systems jenen Anti-Materie-Kometen vernichtet hat. Dabei entstand ein Strukturriss zwischen den Dimensionen, dessen Erschütterungen weit zu spüren und anzumessen waren; ungefähr zwei Millionen Lichtjahre sind ein durchaus realistischer Wert. Damals hätte ein Beobachter ein rötliches Wabern sehen können, danach pulsierende Felder und Linien von dunklem Rot. Wir meinen, daß mit diesem Strukturriss ursächlich der Durchbruch zum Universum der Druuf verbunden war.« Roger und Cyr nickten einander zu; auch Roger kannte mittlerweile den Wortlaut von Atlans Erinnerungen. »Kurz darauf begannen sich Überlappungsfronten zu bilden. Ihre Wirkungen waren unter anderem für den Untergang von Atlantis verantwortlich.« Major Abdelkamyr stieß einen seltsamen
Laut aus und fuhr fort: »Heute sind wir viel klüger als Atlan seinerzeit. Die Überlappungsfronten erreichten ihren Höhepunkt in den Jahren 2041 bis 2043 in einer Entfernung von ungefähr 14.000 bis 15.000 Lichtjahren von der Erde. Zu den Zweiteffekten gehörte eine Wirkung, die mit den Charakteristika von Transmittern identisch war. Waringer schreibt wörtlich:… wenn das Transportfeld im Hyperraum auf besondere Bedingungen stößt. Solche Bedingungen sind die Explosionen von Supernovae, die ungeheure Mengen an Energien höherer Ordnung erzeugen, die Überlagerung galaktischer Teilfelder, Gravitationsschocks und ähnliche Effekte. Später haben wir herausfinden können, daß sich durch den Strukturriss uralte lemurische Gerätschaften am Boden des Pazifik reaktivierten. Das Sonnensystem und besonders der Planet Erde wurden dadurch zu einem Gegenpol des galaktozentrischen Sonnensechseck-Transmitters. Die so genannte Kontaktspur, die sich ausbildete, blieb breit gestreut. Sie streifte mit ihren Ausläufern viele andere Sonnensysteme, unter anderem auch das später so genannte G.R.A.L.System; es ist zu bezweifeln, daß der Arkonide beim Untergang von Atlantis und Absinken des Schutzzylinders auch nur annähernd über all diese Vorgänge Bescheid wußte. Waringer hat errechnet, daß ab minus 8027 die Überlappungsfront zum so genannten Roten Universum langsam weiterwanderte. Dabei blieb eine Kontaktspur zwischen Erde und G.R.A.L. bestehen, verharrte aber im neutralen Status, in rein potentiellem Zustand.« »Es fällt mir schwer, das alles ohne vielfarbige Zeichnung zu verstehen«, sagte Cyr. Er hatte die große Champagnerflasche fast geräuschlos geöffnet und wartete ab, bis sich der Schaum in Roger Chavasses Glas aufgelöst hatte. Chavasse sagte fröhlich: »Mir nicht. Und was ist mit diesem Reiter exotischer Fabeltiere?« »Mit Nahith Nonfarmale von Sarpedon Due. Welche Rolle spielte er in diesem hoch- und multienergetischen Durcheinander?« fragte Scarron. »Und was ist Groll« »Es ist schwer vorstellbar«, meinte Major Abdelkamyr verbindlich, »daß ihm dieses Potential entging. Er richtete seinen Hauptstützpunkt auf Sarpedon ein. Vielleicht hat er auch das Entstehen der Kontaktspur miterlebt? G.R.A.L.? Warten wir ab, was Atlan darüber berichtet.« »Wenn es etwas mit den Erlebnissen in seiner Jugend zu tun hat«, sagte Cyr, »ist es fraglich, ob er im jetzigen Stadium etwas darüber weiß. Fartuloon hat seine Erinnerungen mit dem OMIRGOS-Kristall manipuliert. Zumindest sind sie ebenso teilweise blockiert wie durch ES. Immerhin: Einmal hat Atlan die Sperre in die frühe Vergangenheit schon durchbrochen.« Major Abdelkamyr las einige Passagen aus dem Vortrag Waringers vor, Roger und Cyr diskutierten darüber; schließlich
sprach Scarron, die schweigend zugehört hatte: »Ich gehe davon aus, daß die geschilderten Wege zwischen der Erde und den Jenseitswelten, also Planeten, deren Position unbekannt bleibt, weniger durch ein Gerät Nonfarmales geschaffen, sondern als vorhandene Kanäle benutzt werden.« Amparo Abdelkamyr nickte langsam. »Trotzdem scheint Nonfarmale über eine Technik zu verfügen, die diese distanzlosen Schritte ermöglicht?« Wieder nickte die Flotten-Physikerin. »Rico konnte das rötliche Wabern anmessen. Aber können diese hyperphysikalischen Kraftlinien und all das Zeug nicht auch die Besucher angelockt haben? Die mit dem goldenen Raumschiff, jene, die den Kontinent des Krieges betraten, die Vagabunden, die Cynos und viele andere, aus den ersten Jahrtausenden der Wartezeit?« »Durchaus vorstellbar«, sagte Roger. »Und wer waren diese Besucher? Woher kamen sie?« »Weder Arkoniden noch Fabelwesen«, entgegnete der weibliche Major. »Innerhalb der USO und der terranischen Flotte, damals, als der große Aufbruch ins All stattfand und man ununterbrochen auf neue Sternrassen stieß, spätestens aber nach der Entdeckung der vielen lemurischen Hinterlassenschaften auf dem Pazifik-Meeresgrund, waren Astronomen und Xenobiologen sicher, daß es sich um Welten handelte, die vor oder während des Lemurer-Haluter-Krieges entdeckt und bevölkert worden waren. Letztendlich also auch Besucher aus der tiefen Vergangenheit.« »Gibt es Beweise für diese These?« fragte Cyr. Diesmal schüttelte Amparo den Kopf. »Es werden noch viele andere – entdeckt und nicht entdeckt – kleine Widersprüche, Rätsel, Geheimnisse und Ungenauigkeiten übrig bleiben. Ich maße mir nicht an, die unwiderrufliche, endgültige Wahrheit gehört zu haben.« Cyr sprach völlig ernst und füllte wieder die Gläser. »An unzähligen Stellen hat Atlan unsere Sicht der irdischen Geschichte verändert oder präzisiert. Und wahrscheinlich werden wir wieder Äußerungen von ihm finden, die nichts oder wenig mit seinen späteren Erzählungen zu tun haben.« »Und die auch nur einen Teil der Wahrheit wiedergeben«, murmelte Scarron. »Ich wünschte, das alles wäre vorbei, und Atlan würde endlich dort schlafen, wohin er eigentlich gehört.« »Du meinst dein Apartment«, stellte Cyr sachlich fest. »Zuerst meine Wohnung, dann, am Schluss, seine eigene.« »Ophir, Shangri-La oder Shamballah – ich wette, daß Atlan seine Kilimandscharo-Universität, voll gestopft mit Hightech, der schönen Lilith und den Betten der arkonidischen Silos so oder ähnlich nennen wird. Neugierig bin ich auch, wie lange er seine geheime Hochschule betreiben kann, ohne entdeckt zu werden.« »Ich bin ebenso neugierig wie Sie, Roger.« Aescunnar aktivierte den Küchenrobot und tippte ein Programm. »Diese Erzählungen kommen
dann direkt aus Scarrons Wohnung.« Der Robot schwebte summend mit frischen Gläsern und neuen Flaschen heran und räumte den Tisch ab. Major Amparo Abdelkamyr suchte sämtliche Duplikate aus ihrer Mappe hervor und übergab sie Aescunnar; sie sagte: »Ehe wir zum privaten Teil des Abends übergehen – mit Grüßen von Tifflor und vielen seiner Mitarbeiter: Hier finden Sie alle Informationen, die wir seit Ihrer Bitte gefunden haben. Es ist viel; hoffentlich ist für Ihre ANNALEN genügend dabei.« Cyr nahm einen vier Finger dicken Stapel entgegen, wog ihn einen Augenblick prüfend in der Hand und legte ihn zur Seite. »Meinen Dank an Tekener und Tifflor! Von morgen an habe ich genügend Zeit zum Durchlesen. Was wichtig ist, kommt in die ANNALEN. Das weniger wichtige wird meiner Erkenntnis dienen.« Als die Maschine das letzte Glas gefüllt hatte, drehte sie in der Luft und verschwand summend. Scarron Eymundson hob das Glas und sagte: »Auf Atlans baldige, vollkommene Gesundung!« Sie stießen an und hörten lächelnd die Klänge der unterschiedlich hoch gefüllten Gläser.
Am fünften Februar 3562, dem Tag der Hl. Agatha, als 506 n.Chr. der Gotenkönig Alarich II. die Lex Romana Visigothorum veröffentlichen ließ, begann Atlan wieder zu berichten. Sein Aufenthaltsort hatte sich ebenso wenig verändert wie sein Standpunkt; er befand sich nach wie vor nahe Paris; die Umgebung des Dörfchens war von herbstlicher Natur umgeben.
Am fünften September dämmerte der Tag blutrot; durch das kleine Giebelfenster sah ich lang gestreckte Wolkenbänke, jagende Mauersegler und das Heu auf einem vorbeischwankenden Wagen. Das Knarren der Räder und das Mahlen der Felgen hatten mich geweckt. Cephyrine schlief. Zwischen ihren Brüsten lag der Zellaktivator, dessen Wirken sie ihre einwandfreien Zähne und die ausgezeichnete Gesundheit verdankte. Ich stützte mich auf die Ellbogen, tastete nach dem breiten Lederarmband und flüsterte. »Ist deine Nachricht wichtig, Rico?« »Dreimal hat Nonfarmale versucht, eine Strukturöffnung zu schaffen. Es war jedes Mal im Jardin des Tuileries. Im Augenblick rührt sich nichts. In der Stadt ist es ruhig, wie immer in diesen Stunden.« »Ich warte, daß du mich benachrichtigst. Lege alle Waffen zurecht. Der Gleiter ist bereit!« »Vielleicht solltest du Syno mitbringen. Ich melde mich, wenn sich Nonfarmale entschieden hat.« Ich schaltete das Gerät ab und lehnte mich zurück. Cephyrine war wach geworden und duftete nach Essenzen aus Grasse, der Stadt der Wohlgerüche. Ich nahm sie in den Arm, zog sie an mich und sagte leise: »Wenn ich ihn heute nicht endgültig aus Paris und dieser Welt vertreiben kann, gebe ich auf«, versprach ich. »Auf uns warten schönere Teile der Welt
und schönere Nächte.« »Und die Revolution?« »Zum Töten und Hinrichten brauchen sie weder dich noch mich.« Ich begann darüber nachzudenken, auf welche Weise und an welchem Ort ich den Seelensauger stellen und vernichten konnte. Aber bis mich Rico wieder rief, gegen Mittag, wußte ich nicht viel mehr als am Morgen. Ich entschied mich dafür, Syno zum Schutz Cephyrines in Pierrefitte zu lassen und bestieg, wieder in Paris, den Gleiter. Im Schutz der Unsichtbarkeit schwebte ich in die Richtung der Stadt und wartete über den Dächern des Louvre-Palasts auf meinen Feind. Auf den Bildschirmen zeigten sich in veränderten Farben Totalansichten und entsprechende Vergrößerungen des Geländes. Am Nachmittag bildete sich zwischen den Schatten großer Bäume, über den zertrampelten Rasenflächen, nur für mich zu sehen, ein kleiner Wirbel. Er bog sich nach oben, tanzte hin und her und blieb waagrecht in der Luft stabilisiert. Der Trichter vergrößerte sich und berührte mit seinen Rändern die Sockel von Standbildern, denen das Volk Tafeln umgehängt hatte. Die Steine waren von farbigen, Hand beschriebenen Zetteln bedeckt, deren Ränder herunterhingen. Während ich in steigender Ungeduld wartete, wuchs meine Wut. »Er lässt auf sich warten, Rico«, sagte ich leise. Unter mir schienen alle Bewohner der Stadt gleichmütig ihren täglichen Beschäftigungen nachzugehen. Langsam drehte ich mich und betrachtete, immer wieder mit Blicken zurückkehrend zur Öffnung des Strukturtunnels, das Panorama der Stadt. Die Bastille war längst geschleift worden; selbst Vicomte de Beauharnais und der Dichter Beaumarchais hatten die Spitzhacke geschwungen. König Louis XVI. bedeutete keine politische Größe mehr. Am Ostrand der Stadt wütete ein Brand. Die Sonnenstrahlen verwandelten den Rauch in dunkelrote Glut, die zum Himmel brodelte. Über die seitlichen Terrassen des Prunkgartens näherte sich ein auffallend gut gekleideter Mann, ging zielstrebig auf die Coustousche Diana-Nymphe zu und lehnte sich gegen den Sockel. Ich konzentrierte mich auf die Vergrößerung. Dieses Gesicht kannte ich! Damals… der Mann war jünger gewesen und hatte weniger verbraucht ausgesehen. Das Extrahirn half mir. Giuseppe Balsamo aus Palermo, genannt Alexander Graf Cagliostro. Angeblich stammte er aus Ägypten und war drei Jahrhunderte alt; unverschämte Lügen! Aber wenn Cagliostro auf Nonfarmale wartete, wenn sie gewisse Gemeinsamkeiten haben sollten… es taten sich abenteuerliche, gefährliche Vermutungen auf. Was sagte man über Cagliostro? Was war falsch, wo lag das sprichwörtliche Körnchen Wahrheit? Zusammen mit Kardinal Rohan war Cagliostro wegen der Halsbandaffäre in die Bastille gesperrt worden. Über ihn schrieb ein deutscher Theaterdichter ein Schauspiel namens
»Geisterseher«; ich kannte es nicht. Er selbst bezeichnete sich als Geisterbeschwörer, Magnetiseur und Alchimist, lebte von Betrügereien und von den Summen, die er einnahm, wenn er seine Frau prostituierte, stellte Schönheitswässer und Gold (!) her und verkaufte, als preußischer Offizier maskiert, Lotterietabellen. Er war Freimaurer in England und hatte in Lyon die »Große Mutterloge zur triumphierenden Weisheit« gegründet; seine Frau, angeblich siebzig Jahre alt, war noch keine Dreißig. Wenn Nonfarmale einen Partner nach seinem Geschmack suchte, hatte er ihn in Cagliostro gefunden. Noch warteten Cagliostro und ich. Wie war der Italiener hierher gekommen? Sollte ich sie beide vernichten? Ich hatte mich wieder einmal viel zu tief in die Belange der Barbaren eingemischt und war aus diesem Grund mehr als missgelaunt. »Rico? Eine Frage. Hast du irgendwelche Informationen über diesen falschen Grafen, Cagliostro?« »Negativ, Adlar. Nur Messungen, von denen die Strukturschleuse bestätigt wird.« »Ich sehe sie auch und warte darauf, daß sich Nonfarmale zeigt.« Eine halbe Stunde verging. Cagliostro wanderte in der Nähe des Standbildes umher, und aus dem Strukturloch, das nur meine Geräte zeigten, kam schließlich der Fremde. Nonfarmale trug die wenig auffallende »Einheitskleidung« des niedrigsten Standes, aber nach fünf Schritten, in der Deckung eines Baumstammes, aktivierte er sein Unsichtbarkeitsfeld. Mit bloßem Auge konnte ich keinen Unterschied feststellen, aber die Geräte des Gleiters zeigten mir einen leicht irisierenden Schatten, der etwa wie eine schlanke Säule aussah. Diese Säule bewegte sich auf Cagliostro zu. Der Graf hatte Nonfarmale nicht gesehen. Ich beobachtete beide. Jetzt verengte sich der Durchmesser der Strukturlücke noch mehr, schrumpfte und verschwand. Hinter Cagliostros Rücken wurde Nonfarmale wieder für normale Augen sichtbar. Ich legte meine Hand auf die Griffe der Steuerung und zog die Schultern hoch. Cagliostro und Nonfarmale kannten sich. Sie sprachen leise und, wie es an den Lippenbewegungen und den Gesten deutlich zu erkennen war, viel miteinander. Dann wandte sich Nonfarmale in östliche und Cagliostro in westliche Richtung. Der falsche Graf schien auf die Seinebrücke zuzugehen, während Nonfarmale auf meinen Standort zukam. Der Gleiter verließ den Schutz der Dächer und Kamine, schwebte schräg abwärts und zog zwischen den Baumwipfeln einen Halbkreis. »Was hat er vor?« fragte ich mich und bedauerte in diesem Augenblick, im Gleiter zu sitzen und nicht hinter ihm herschleichen zu können. Ich blieb einen Musketenschuss schräg hinter ihm und schwebte so langsam zwischen den Dächern entlang, wie er sich unter mir in den Straßen bewegte.
Abgesehen davon, daß ich laut darüber gesprochen hatte – der Eindruck, daß sich meine letzte Jagd auf Nonfarmale dem ersten Höhepunkt näherte, verstärkte sich auch in meinen Gedanken und Empfindungen. Nonfarmale hatte es nicht im geringsten eilig, sah sich um, betrachtete die Waren hinter den kleinen Fenstern, musterte das Angebot an Nahrungsmitteln auf den Schragen der Händler; die Reste, die noch nicht verkauft waren. »Ich sollte ihn einfach niederschießen«, brummte ich, aber das war angesichts der Umstände unmöglich und eine viel zu milde Strafe für den Psychovampir. Nonfarmale sprach nur mit wenigen zufällig des Weges kommenden Bürgern. Er war unauffällig bewaffnet, aber der Umstand, daß seine Finger auf der großen Gürtelschnalle lagen, sagte mir, daß er über ebenso viele Verteidigungsmittel verfügte wie ich. Lautlos folgte ich ihm, über Gassen und breite Straßen hinweg, über Rampen und Treppen, durch das Gewirr schmalbrüstiger Häuser und bis zu einem kleinen, eckigen Platz, der nicht viel mehr war als eine Kreuzung von vier staubigen Straßeneinmündungen. Von allen Seiten kamen Bürger auf den Platz zu. Unter ihnen herrschte die gleiche Spannung wie an den Tagen, an denen ich sie nachts beobachtet hatte, und an denen sie die Gefangenen gemordet hatten. »Ich muss zu ihnen hinunter.« Dreimal umkreiste ich in geringer Höhe den Platz, dann fand ich einen geeigneten Ort, um den Gleiter abzusetzen. Ein Bauwerk war zusammengebrochen oder abgetragen worden. Jetzt lehnte ein schräger Hügel aus Trümmern auf einem kantigen, turmartigen Rest. Ich senkte den Gleiter in einer Spirale ab und setzte ihn in sieben Mannslängen Höhe so leise wie möglich auf die Ziegel. Dann desaktivierte ich einen Teil der Geräte, öffnete die Tür und turnte vorsichtig über Ziegel und Quader, zwischen modernden und zersplitterten Balken und Gerümpel abwärts, in einen verdreckten Innenhof und durch zwei Mauerbögen bis zum Rand des Platzes. Zwei Drittel lagen schon im Schatten. Die Füße der Menschen wirbelten Staub auf, der sich ätzend auf Lippen und Zunge legte und in den Augen biss. Ich ließ, während ich über die Bruchstücke balancierte, Nonfarmale nicht einen Augenblick lang aus den Augen. Er ging zwischen den Franzosen hin und her, hörte ihnen zu, sprach dann und wann ein kurzes Wort und lächelte, wenn er sah, daß jemand einen Säbel zog oder das Bajonett am Ende der Muskete in die Höhe stach, als wolle er Rauchschwaden aufspießen. Ich schaltete, als ich den Rand des Platzes erreichte, den Deflektor ein und blieb auf einer niedrigen Mauer sitzen. Eine Katze blickte in meine Richtung, streckte den Schwanz in die Höhe und machte fauchend einen Buckel. Dann sprang sie davon.
»Sehr entgegenkommend bist du nicht«, meinte ich und schaute dem Tier nach, das mit gesträubtem Fell davon hetzte. Auch heute während des sinkenden Abends brauchte niemand die Bürger zusammen zutreiben. Sie kamen von selbst. Der Mittelpunkt dieser freien Fläche schien sie von überall her wie magisch anzuziehen. Vielleicht hatte, ohne daß sie es merkten, die Persönlichkeit Nonfarmales etwas mit ihrem Drang zu tun, sich zusammenzurotten. Ich hielt es für wahrscheinlich. Wenn von Nonfarmale eine solche Aura ausging, so spürte ich sie nicht. Aber ich war auch mentalstabilisiert. Als ich den Platz betrat, waren auf ihm nicht mehr als drei Dutzend Menschen versammelt. Jetzt war ihre Anzahl schon doppelt so groß. Die nächsten Bürger brachten brennende Fackeln mit. Einige Minuten später, als die Schattenlinien die Dachtraufen der Häuser erreicht hatten, schien sich der Platz fast gefüllt zu haben. Ich konnte von meinem erhöhten Standort gerade noch den Fremden erkennen. Ich saß da, überlegte fieberhaft und suchte seine verwundbare Stelle, glitt von der Mauer und ging zwischen den Bürgern hinüber zur anderen Seite, wo sich Nonfarmale gerade aufhielt. Immer wieder wich ich mit ruckartigen Bewegungen aus, schlängelte mich zwischen unruhigen Männern durch und registrierte, daß etwa ein Viertel aller Versammelten Frauen waren. Sie schienen am meisten von der mordgierigen Aufregung angesteckt worden zu sein. Ihre Sprache und ihr Gelächter waren ebenso übersteigert schrill wie ihre anfeuernden Schreie. »Friede den Zimmern der Bürger!« »Reißt den Pfaffen die Goldstücke aus den Truhen.« »Und wer bezahlt das Brot?« Abenteuerliche Meinungen, seltsame Aufforderungen und ein nicht überhörbarer Hass auf jeden, der nicht so dachte wie die Versammelten, ließen sich aus den Worten und Gesten entnehmen. Es war die Stimmung, die Nonfarmale so liebte: Er schlich vor mir durch die umherquirlende Menschenmenge und lauschte verzückt. Ich ging hinter ihm her und machte ebenso ziellose Schritte. Vom Fluss her kamen Geräusche von Hufeisen auf Pflaster. Ein Schuß krachte. Das Echo hallte zwischen den Mauern. Plötzlich war Nonfarmale verschwunden. Ich zog mich zur Mauer zurück, kletterte hinauf und wartete, in welche Richtung sich der Pöbel entfernen würde. Als die Reiter unter einem halbrunden Torbogen erschienen und hell lodernde Fackeln schwangen, ging ein kollektives Stöhnen durch die Gruppen der Bürger. Es hatten sich inzwischen dreihundert oder mehr Leute hier zusammengefunden. Die Reiter wendeten, schrien einige Worte, die ich nicht verstand, dann trabten sie im rechten Winkel zu der Richtung davon, aus der sie gekommen waren. Die Männer und die kreischenden Frauen rannten hinter ihnen her. Ich war lange
Augenblicke völlig gelähmt von der Welle des Hasses, der sich auf diesem Platz fing; er war wie giftiger Nebel, der sich durch einen Ausfluss dicht über dem Boden dorthin entleerte, wohin die Leute liefen. Der Augenblick der Paralyse ging schnell vorbei. Ich holte tief Luft und folgte den Nachzüglern. Bevor sie wieder wehrlose Opfer umbrachten, würde ich sie mit der schweren Waffe lähmen, versprach ich mir schweigend und achtete darauf, wohin ich meine Sohlen setzte. Die Bürger schienen die Reiter überholen zu wollen, sie wurden schneller und bildeten schließlich in einer schmalen, gewundenen Gasse einen lang gezogenen Schlauch, der aus Türen und Seitenausgängen Zustrom erhielt und verhinderte, daß sich von hinten jemand dazwischendrängen und womöglich an die Spitze setzen konnte. Wildes Geschrei erfüllte die Gasse. Als ich – inzwischen war die Dunkelheit hereingebrochen – den Hufschlag wieder hören konnte, hatten sich Hunderte Pariser Bürger durch irgendwelche Tore geschoben. Eiserne Gitter knallten gegen Mauerwerk. Angeln und Schlösser kreischten. Wieder peitschte ein Schuß auf. Der Lärm schien nicht nur meinen Schädel sprengen zu wollen. Plötzlich waren sie alle verschwunden. Ich stand vor der heruntergekommenen Front eines breiten Hauses. In einigen Nischen brannten blakende Ölfunzeln. Die Feuer, die neben den Eingängen gebrannt hatten, waren ausgetreten, die schwelenden Scheiter zur Seite gewirbelt worden. An einigen Stellen brannten kleine Flammen. Ich ging weiter, zog den Strahler und stolperte eine Treppe hinunter. Wieder schlugen mir Schreie entgegen, die nur bedeuten konnten, daß Menschen umgebracht wurden. Am Tag hatte ich die Leichen auf den Wagen gesehen, jetzt tastete ich mich durchs Halbdunkel und suchte Bürger, die sich in Mörder verwandelt hatten und irgendwo im Innern des Gefängnisses die Gefangenen abschlachteten. Ich wandte, als ich auf dem tiefsten Punkt stand, verwirrt den Kopf. Hier unten verzweigten mehr als ein halbes Dutzend Gänge. Schemenhaft sah ich drängende und stoßende Körper. Das Schreien der Lebenden übertönte das Wimmern der Sterbenden. Ich feuerte auf eine Gruppe rasender Frauen, die an den Kleidern einer blutüberströmten Toten rissen. Niemand hörte das helle Summen der Strahlen, die in die Körper fuhren und die Revolutionäre zu Boden schmetterten. Wo war Nonfarmale? Ich lief nach rechts, suchte ihn und fand im Halbdunkel nur rennende Menschen und zusammen gekrümmte Leichen. Sie sahen aus, als wären sie von Metall zerfetzt worden. Ich fühlte, wie sich in mir eisige Kälte ausbreitete. Wieder schoss ich Männer nieder, die etliche Leichen plünderten; bewusstlos sackten sie
zusammen. Aus schmalen Türen, hinter Gittern, deren Stäbe wie rostige Glocken dröhnten, kamen Menschen mit blutigen Waffen heraus. Ich schaute in unzählige Gesichter, sah aber Nonfarmale nicht. Ich rannte hin und her wie eine aufgestöberte Ratte. Blutgeruch mischte sich mit dem Gestank von faulendem Stroh und Exkrementen. Überall dort, wohin ich kam, fand ich nur Tote und Plündernde. Ich verlor das Zeitgefühl und erreichte, nachdem ich mich viermal fast in den Kavernen verirrt hatte, über die besudelte Treppe den Ausgang. Obwohl ich viele Frauen und Männer gelähmt hatte, konnte ich den massenhaften Mord nicht verhindern. Die Wahnsinnigen kannten die Stellen, hatten die Schlüssel, waren schneller gewesen. Die rauchgeschwängerte Luft vor dem Eingang schien kühl und köstlich zu sein. Ich rannte zweihundert Schritt dorthin zurück, woher ich gekommen war, dann schob ich die Waffe zurück und lehnte mich keuchend, von Ekel überwältigt, an die Mauer. Ich hörte, wie meine Stimme fauchte und gurgelte. »Rico?« »Ich höre dich. Bist du in Gefahr?« »In Gefahr, verrückt zu werden. Besteht der Strukturriss noch?« »Er berührt die Stelle gerade noch. In den letzten Stunden hat sich nichts verändert.« »Sind Sonden dort?« »Selbstverständlich«, sagte Rico. »Ich bin in kurzer Zeit auch dort und versuche Nonfarmale zu töten«, sagte ich hart und ging weiter. Wieder wanderte ich durch Verlassenheit und die Ruhe des Todes. Dieses Mal fand ich meinen Weg ohne Schwierigkeiten, wusch Gesicht und Hände an einem Brunnen und erreichte den Fuß des Schutthügels. Ratten zuckten pfeifend davon, als ich, ohne den Deflektorschutz und hinter dem grellen Lichtkegel des Scheinwerfers hinaufkletterte. Ich ertastete den Einstieg und ließ mich in den Sitz fallen, schloss die Tür, schwebte in die Höhe und nahm Kurs auf den Park. »Bringst du dich in Gefahr? Brauchst du Hilfe?« fragte Rico. »Zweimal nein.« Wieder überschlugen sich meine Gedanken und bildeten zusammen mit unkontrollierbaren Empfindungen einen Mahlstrom, der klare Überlegungen unmöglich machte. Die ARK SUMMIA half mir; mit Hilfe des Extrahirns erreichte ich, als ich seitlich am Statuensockel anhielt, eine Dagorruhe, eine zufrieden stellende Form kühler Handlungsbereitschaft. Nonfarmale würde an dieser Stelle seine Jenseitslandschaft betreten und zu seinen singenden, tanzenden Braunhäutigen zurückkehren. War ich ein Paria, der nichts anderes zu tun hatte, als unter den Auswirkungen im Vorfeld der Evolution zu leiden? Hatte ich diese Barbaren gezeugt und erzogen? Ich griff über die Lehne nach den Kanistern, in denen das hochraffinierte Öl für unsere »zeitgenössischen« Lampen und für viele mechanische Zwecke gluckerte. Vor wenigen Tagen hatte Rico sie aus der Kuppel
holen lassen. Ich sprang aus dem Gleiter und postierte die Kanister aus dünnem Kunststoff dort, wo sich während der Rückkehr des Seelenvampirs die Öffnung erweitern würde. Ich schaute mich um; niemand beobachtete mich in der Finsternis. Auf dem Sitz des Kopiloten legte ich das Sortiment meiner Waffen aus, versteckte den Gleiter hundert Schritt entfernt in einer ungepflegten Buschreihe, schleppte mein Arsenal zurück und setzte mich, das Warngerät eingeschaltet, auf den warmen Stein. Auf dem Bildschirm im Schutzband am Handgelenk war die miniaturisierte Darstellung des Gleitermonitors zu sehen. Wenn sich der Eingangstrichter vergrößerte, sah ich es hier, einen guten Steinwurf entfernt. Der Sockel würde mich schützen, wenn es Nonfarmale vorzog, nicht zu flüchten. Minute um Minute verging. Ich dachte an Cephyrine, den Herbst in Beauvallon, den Winter im heißen Sand der Inseln, an CarundelMill. (Mir fiel ein, daß ich Rico dorthin schicken musste. Er sollte einen neuen Vertrag aushandeln, nötigenfalls Steuern zahlen und Reparaturen überwachen. Der erste Stock des Gebäudes sollte dem Hausgespenst Lilith vorbehalten sein, das von Zeit zu Zeit spuken würde. Immerhin befand sich dort noch ein Transmitter, der schon lange nicht mehr aktiviert worden war.) Ich spürte, daß ich mich beruhigte. Fing ich an, jedesmal zusammenzuzucken, wenn ein Barbar einen anderen umbrachte, würde mich lebenslang Weinkrampf schütteln. Die winzigen Linien auf dem Schirm bewegten sich. Ich stand auf und zog die Hochenergiewaffe, behielt die Granaten in der linken Hand und winkelte den Arm an. Ich war unsichtbar, das Dunkel schien vollkommen; Nonfarmale zeigte sich nicht. Ich hielt den Atem an und hörte Sekunden später das Knirschen von Schritten auf dem Kies, aber ich sah ihn nicht. Aber die Schritte wurden lauter. Er näherte sich der Stelle, an der ich stand. Dann rissen die Geräusche ab. Ich hatte tief Luft geholt. Nonfarmale rannte weiter. Ich schrie: »Nahith Nonfarmale. Ich werde dich töten, du verfluchter Blutsauger.« Gleichzeitig feuerte ich. Das knatternde Donnern der Waffe scheuchte die Vögel aus den Zweigen. Die Hochenergie traf seinen Abwehrschirm und zeigte mir eine verformte Kugel, darinnen eine schattenhafte Gestalt. Ich behielt den Finger am Abzug, lief hinter Nonfarmale her und hielt inne. Als er den Rand des Tunnels erreicht hatte, riss ich die Waffe zur Seite und gab einen Feuerstoß auf den ersten Kanister ab. Der Kunststoff schmolz innerhalb eines Sekundenbruchteils. Das erhitzte Gemenge detonierte und bildete eine fächerförmig auseinanderspritzende Glutwolke, in die Nonfarmale hineinrannte. Ich ließ die Waffe fallen, nahm eine Explosivkapsel nach der anderen in die rechte
Hand und schleuderte sie in den lohenden Schlund des Tunnels. Die Flammen wurden zusammen mit Rauch und allem anderen nach innen gesaugt und versengten nicht einmal die untersten Blätter der Bäume. Drei Detonationen, jede folgende eine Spur leiser als die vorhergehende, dröhnten über die Stadt hin und machten mich fast taub. Ich erreichte den anderen Kanister, hob ihn hoch und schleuderte ihn in den schwachen Sog des Tunnels. Ich glaubte, eine menschliche Gestalt zu sehen, die an allen Gliedern brannte. Dann zog ich an der Arkonstahlkordel, fing den Detonator wieder auf und jagte den letzten Schuß auf den Kanister. Ich traf den eckigen Behälter, der halbwegs schwerelos, sich drehend und überschlagend, durch den Tunnel davon schwebte. Binnen Sekunden schloss sich der Strukturriss; vorher erhaschte ich noch einen Anblick, der mich beruhigte. Der Inhalt des Kanisters war detoniert und bildete eine Flammensäule, die nach unten schwer durchsackte. Dann erlosch auch der letzte Rest Helligkeit. Nur noch auf den Netzhäuten meiner schmerzenden Augen zeichneten sich die letzten Bilder ab. Ich wußte, daß Nonfarmale die steinerne Treppe zu seiner Terrasse abwärts geflohen sein musste. Unter bestimmten Umständen drangen die brennenden Partikel durch einen Energieschirm. Ich hoffte aus vollem Herzen, daß der Seelensauger langsam, qualvoll starb. In meinen Ohren klingelte es noch, als ich Wurfmesser, Lähmstrahler und die Projektilwaffe aufhob und mich zum Gleiterversteck zurücktastete. »Nonfarmale ist verschwunden«, sagte ich ins Mikrophon. »Wenn ich gut gezielt habe, ist er verschmort. Aber wir können nicht sicher sein.« »Ich habe deinen Warnruf gehört.« »War auch laut genug«, sagte ich und ließ die Maschine senkrecht in die Höhe steigen. »Ich beabsichtige weiterhin nicht mehr, die Toten von Paris zu zählen oder mehr als indirekter Zuschauer der Revolutionsfortentwicklung zu sein.« »Daraus darf ich zweierlei schließen. Erstens: Du übernachtest heute bei deiner Freundin.« »Stimmt. Und zweitens?« Ich jagte mit Höchstgeschwindigkeit und eingeschaltetem Autopilot zur Werkstatt zurück. »Dass die Tage unserer Existenz als Büchsenmacher gezählt sind?« »Ebenfalls zutreffend. Aber ich denke nicht an plötzlichen Aufbruch.« Mein Sieg, auch wenn es nur ein halber Erfolg gewesen sein sollte, machte mich weder übermütig noch fröhlich. Wenn Nonfarmale noch lebte, würde er unter der gewaltigen Energiemenge der Waffe zwangsläufig gelitten haben. Nerven und Muskeln wurden geschädigt, wenn genügend Energie durch den Schirm absorbiert und nicht nur nach außen abgelenkt wurde. Dazu kamen Sauerstoffmangel, Flammen und Hitze der brennenden Gase. Er würde schwerer gezeichnet sein
als durch die Narbe der Samuraikämpfer. Vielleicht war er wirklich tot. Aber das würden wir erst erfahren, wenn wir wieder eine Strukturlücke anmessen konnten, oder wenn ich in seinen Rosengarten eindrang. Damit rechnet er, wenn er noch lebt, klärte mich der Logiksektor auf. Ich sah voraus das Licht hinter den halb geöffneten Läden in den Fenstern der Dachgauben und nahm die Geschwindigkeit zurück. »Er kann ja zurückkommen und sich bei Cagliostro ein Schönheitswässerchen kaufen.« »Mit wem sprichst du?« fragte Rico. Ich kurvte ums Haus und lenkte den Gleiter in die Scheune. »Mit meinem schlechteren Ich«, sagte ich und kippte einen Schalter nach dem anderen. Hinter mir hörte ich das Rumpeln der Torflügel und das Klirren der schweren Riegel.
Am siebenten Nivos, also am siebenundzwanzigsten Dezember, verließen Cephyrine und ich, begleitet von Rico, das Schlösschen von Beauvallon. Syno, weitaus wortkarger als Rico, aber unverkennbar sein Zwillingsbruder, hauste abwechselnd in Pierrefitte und der Werkstatt. Der Gleiter blieb wohlverwahrt in den Gewölben von Le Sagittaire. Eigentlich hätten wir nach »Terra Australensis« fliegen sollen, denn je weiter wir uns von Marat, Danton und Robespierre entfernten, desto leichter wurde es Cephyrine ums Herz. Ich warf einen Blick zu den Regenwolken und blickte die nasse Mauer und die tropfenden Gewächse am Türmchen des Castellets an. »Wir hinterlassen, wie immer, eine vorbildliche Ordnung.« Das neue Verhältnis der Geistlichen zum Staat hatten wir berücksichtigt. Unsere Priester konnten sich in Beauvallon keineswegs bereichern. Es gab nichts, von wenigen Leuchtern und Ähnlichem in der Kirche abgesehen, was das Plündern lohnte. »Die Ernte war hier nicht so schlecht wie an anderen Orten«, sagte Cephyrine. »Und wenn es nicht ununterbrochen regnet oder meterhoch Schnee vom Himmel kommt, sehen sie einer viel besseren Ernte entgegen.« »Genau das haben wir in den letzten Monaten besorgt«, sagte Rico und zwirbelte die Enden seines Schnurrbarts. Es war das Gewohnte: Die Bäche und das Flüsschen waren gesäubert, der Mühlenteich voll klarem Wasser und Fischbrut, die Jagden hatten zahlreiche Beute gebracht. In den Rauchfängen hingen fette Schinken und rußige Würste. Das Vieh in den Ställen war gesund, und an den Wetterseiten der Häuser stapelten sich die Kloben bis unter die Firstbalken. In weitem Umkreis gab es einen gesunden, durchmischten Wald, denn wir hatten nur die kränkelnden Stämme ausgelichtet. »Ein paar von ihnen«, Cephyrine zeigte zum Dorf, »schlafen noch den Rausch der letzten Festtage aus.« »Sollen sie’s«, sagte ich und winkte großmütig. »Bald werden sie wieder hart arbeiten müssen.« Alte Menschen waren gestorben, Kinder geboren worden.
Einige Männer arbeiteten in den Städten, andere waren Soldaten geworden, etliche spurlos verschwunden. Die hübschesten Mädchen heirateten Handwerker oder Bauern aus der Umgebung. Noch immer war unser Tal von wirklichem Elend und von den Schrecknissen der Revolution verschont geblieben. Ich konnte nur hoffen, daß es lange unentdeckt bleiben würde, dieses natürliche Versteck am Ausläufer des Massif Central. »Bier? Wein? Tresterschnaps oder schottisches Lebenswasser?« fragte ich. Rico nickte lachend. »Wenn ich einmal eine Liste zusammengestellt habe und weiß, wo sich Atlan aufzuhalten wünscht, finden sich dort volle Speisekammern.« »Wohlgetan«, erwiderte ich. »Was hält uns noch?« »Geht durch die Transmitter. Ich lösche die Feuer und blase die letzten Kerzen aus«, sagte Rico. Im selben Moment wehte ein Schauer dicker, eiskalter Regentropfen über die Terrasse. Wir rannten hinter den Schutz der bodentiefen Fensterflügel und die Stufen zum Gewölbe hinunter. Cephyrine und ich erreichten die Häuser der Samurai. Rico materialisierte zuerst in der Schutzkuppel. Dann kamen er und seine Werkstattroboter mit umfangreichem Gepäck im Hangar an, wo die LARSAF stand und darauf wartete, daß wir sie fernflugtauglicher ausrüsteten und Probe flogen. Hitze, Salzwasser, Brandung und der flirrende Sternenhimmel schoben die Erinnerung in die Ferne. Die Bilder aus dem blutigen Paris wurden so klein, daß wir sie nicht mehr erkannten und glauben mussten, sie wären verschwunden.
Cephyrine wurde durch die Segnungen des Zellschwingungsaktivators weder jünger noch schöner, aber sie blieb aufregend, begehrenswert und heiteren Wesens. Jetzt schlief sie, am Fuß eines leeren Rotweinglases und unter dem feinen Gespinst des Stechmückenvorhangs. Rico, wie ich in einen hauchdünnen Kimono gehüllt, kam auf nackten Sohlen herein, aktivierte vier Bildschirme und sagte leise: »Die richtige musikalische Untermalung dafür, was ich dir zeigen muss, Gebieter.« Durch den Raum flutete der Psalm 129 De Profundis von Marc-Antoine Charpentier, der die Greuel nicht mehr hatte sehen müssen. Er war 1704 gestorben. Ich drosselte die Lautstärke. »Ernste Mitteilungen?« Rico nickte wieder. »Sehr ernst. Am einundzwanzigsten Januar haben 387 zu 334, die Deputierten des Nationalkonvents, den ›Bürger Capet‹, den sechzehnten Ludwig, auf der Place Louis XL mit der Guillotine vor einigen tausend Zuschauern geköpft.« Ich zuckte zusammen, griff nach dem Glas und sah schaudernd die Bilder. Auch in der Provinz, erfuhr ich, wüteten die Köpfungsmaschinen. Wie durch einen rauschenden Wasservorhang hörte ich Synonymus Kommentar: »In den Nächten wurden in den Gefängnissen fast vierzehnhundert Menschen umgebracht,
Bürger Atlan.« Ich ließ abermals eine lange Reihe von Schreckensbildern an mir vorüberziehen. Rico öffnete zwei Türen. Kühle Nachtluft wehte in den Raum und wirbelte den Geruch des Whiskys durcheinander, vertrieb aber nicht den Wortlaut meiner Frage: »Nonfarmale?« »Blieb verschwunden. Bis auf den heutigen Tag.« Ehe er die letzten Bildersequenzen startete, sagte der Roboter: »Ich holte die letzten Informationen auf wenig herkömmliche Weise ein. Eine Spionsonde sprach im finsteren Gefängniskeller mit Guilelmons Familie als Geisterstimme.« Ich machte eine schwache Geste der Verwirrung. Im Februar hatte das Direktorium dreihunderttausend Mann zum Revolutionsheer einberufen. Einige Städte rebellierten dagegen. Daraufhin verwandelte General Francois Westermann den Unterlauf der Loire in Blut. In Nantes wurden Hunderte Gefangener mitleidlos ertränkt. Unsere Schätzung belief sich auf mehr als dreihunderttausend Tote. »Wer ist Guilelmon?« »Hier!« Ich sah die Frau eines Gefangenen, eine schlanke Schönheit mit schwarzem Haar und der Olivenhaut der Südfranzösinnen. Einen Sohn, eine Tochter, etwa zwölf und zehn Jahre alt. Etwas im bartlosen Gesicht des Mannes kam mir bekannt vor; eine Szene drängte sich aus einer Ebene der Erinnerung hervor, die schon unter anderen Schichten lag. »Einst hast du den Vater eines Mädchen namens Madeleine überredet, dem Schulmeisterlein seine Tochter zur Frau zu geben. Der Lehrer war Anguerond. Heute nennt sich die Familie d’Anguerrond.« »Du musst ihnen helfen. Ich kenne sie gut«, sagte Cephyrine. Sie war eingetreten, ohne daß ich sie gehört hatte. Bis auf ein dünnes Tuch um den Körper war sie nackt. An ihrem Hals funkelte der prächtige StrassSchmuck. Rico hielt die Bilder und die Tonwiedergabe an. Ich zog Cephyrine an mich. »Woher kennst du Guilelmon d’Anguerrond?« »Das ist eine lange Geschichte, Liebster.« Sie griff nach meinem Glas und berichtete. Während der langen Abwesenheit, in der Rico sie hin und wieder besucht und mit ihr geplaudert hatte, war eine halbe Meile nördlich von Pierrefitte ein Gespann durchgegangen. Die Pferde rissen sich los, zerbrachen die Deichsel, die Kutsche rollte durch ein Gebüsch, ins Feld von Cephyrines Bruder und gegen einen Baum. Die Dörfler hatten die bewusstlose Frau aus dem Gefährt gezogen, den Arm des Grafen geschient und die Kinder, weil es sich gerade anbot, zu unserem Häuschen gebracht. Cephyrine kümmerte sich nicht nur um die Kinder, sondern versorgte die junge Frau – sie hieß, wie zu erwarten, ebenfalls Madeleine-Agnes –, und die Frauen wurden Freundinnen. Ich nahm die Flasche, goss drei Finger hoch goldgelbes Lebenswasser in frische Gläser und schaute in Cephyrines große, grüne Augen.
Dann musterte ich den Robot. Er zeigte, im Gegensatz zu meiner schönen Geliebten, keine Verwirrtheit. »Ich Trottel«, sagte ich inbrünstig und hob das Glas. »Ich hätte es sehen, spüren und wissen müssen. Während ich von nichts träumte, bist du mit dem Ei des Lebens«, ich griff nach dem Aktivator und ließ ihn pendeln, »nach Pierrefitte gereist. Daher, meine Schöne, bist du so jung wie du bist. Wer hat das programmiert?« »Speicher unter Adresse ›Lernfähigkeit‹. Dein Programm.« »Wie oft?« »Zahlen im Speicher. Zugriff erst später möglich«, antwortete Rico und zeigte wieder auf die Bilder. Cephyrine lachte und sagte: »Ich bin sicher, es ist dir nicht unangenehm. Mir nicht.« Sie schielte durch das große Glas hindurch. »Also. Wir wurden gute Freundinnen. Ich besuchte sie weniger oft als sie mich. Madeleine badete sogar… und ich weiß, daß sie auf ihrem Besitz den Bauern sogar die Dächer decken ließen. Es sind gute Menschen. Natürlich erkenne ich sie wieder.« Nach dem Intermezzo mit Ullana-Thornerose musstest du damit rechnen, daß der Roboter selbständiger ist, als du ahnst, sagte der Extrasinn betont sachlich. Immerhin ist dir kein Schaden entstanden. Wenn Rico mit dem Zellaktivator verunglückte, würde ich wenigstens nicht merken, wenn ich elend zugrunde ging, sagte ich mir und lächelte, noch etwas gezwungen, Cephyrine an. »Das bedeutet, sie sollen aufs Schafott?« fragte ich. »Ja. In wenigen Tagen. Deswegen störte ich dich heute Nacht.« Wahrscheinlich hatte er auch dafür gesorgt, daß Cephyrine im richtigen Moment aufwachte und hierher schlich. »Einverstanden«, sagte ich. »Mehr Einzelheiten.« Bis zu sechzigmal an einem Tag fiel das schräge Fallbeil durch die Rillen und köpfte einen Menschen – in Paris. Nach dem Terror in Paris wütete die Maschine des Gouvernements überall im Land, und nicht einmal die Ermordung Marats hielt das Sterben auf. »Wir setzen den Psychostrahler großräumig ein, holen die Leute vom Henkerskarren oder vom Blutgerüst und schieben sie durch den Transmitter, noch in derselben Minute«, erklärte Rico. »Wir werden unmöglich jeden retten können, denn nicht alle Gefängniszellen sind mir bekannt. In Toulon, beispielsweise, rollten an einem Tag sogar fast zweihundert Köpfe.« Ich sagte entschlossen: »Bereite alles vor. Cephyrine bleibt hier. Wir operieren von der Werkstatt aus.« Die Anklage gegen den Nachfahren jenes Hugenotten, den sich selbst nach Beauvallon geflogen hatte, war ebenso absonderlich und wenig stichhaltig wie viele andere Beschuldigungen. Denunziation genügte, die Todesurteile schienen von Analphabeten unterschrieben worden zu sein. Und wenn man die Gefangenen zum Schafott fuhr, grölte die Menge: »Kopf oder Zahl, Bürger Marquis?«
Oder: »Kopf hoch! Du hast nur einen, Verräter.« Selbst Geistliche, die sich weigerten, dem Zwang zur Heirat zu gehorchen, wurden geköpft. »Wir könnten schon morgen aufbrechen«, sagte ich. »Ich habe nicht vor, als unsichtbarer Wohltäter des Französischen Adels in die Geschichte der Seltsamkeiten einzugehen. Aber wir werden ein paar Stunden lang Menschenleben retten. Wahrscheinlich sind’s nicht nur Unschuldige. Dieses Risiko trage ich gern. Hat man Cagliostro verhaftet?« »Nichts bekannt.« Die Revolutionäre hatten verbreitet, daß in den Gefängnissen des Landes vierhunderttausend Leute auf ihre gerechte Strafe warteten. Ich roch an dem edlen Getränk und ließ von Rico sämtliche Einzelheiten berechnen. Hoffentlich vergaßen wir nichts. Es würde ein tödlicher Fehler sein. August in Paris. Fünftes Jahr der Revolution. Gern kauften die Bürger handliche Nachbildungen der Köpfmaschine, mit denen dann ihre Kinder spielten. In einem zweiten Gleiter schwebte Syno über uns, nachdem ich mich überzeugt hatte, daß die Sender des Psychostrahlers auf einen genügend großen Radius justiert und das Programm ausreichend war. Wir hatten es in einem Marktflecken südlich der Stadt zweimal geprüft. Auf der Ladefläche des schweren Fluggeräts war der Transmitter aufgebaut. Das Gegenstück befand sich in der Nähe eines Bauernhofs in Südengland. Die Place Louis XV. jetzt in Place de la Revolution umbenannt, füllte sich auch an diesem Nachmittag mit überraschender Schnelligkeit. Fast in der Mitte war das Gerüst des Fallbeils aufgebaut. Soldaten der Miliz, Reiter, der Henkersgehilfe, der die Gleitschiene ölte und das Beil schliff, Priester und eine Menschenmenge, die sich benahm, als würde ein Volksfest gefeiert. Bettler, Dirnen, Kinder und Hunde tappten und rannten durch die Versammelten. Ein Trommelwirbel zermahlte das Stimmengemurmel. »Was hältst du davon, Bürger Rico?« fragte ich. »Danton, der Prediger der Brüderlichkeit. Die Septembermorde, jene Nonfarmale-Scheußlichkeiten, er hat sie gebilligt und zugelassen.« »Der Anwalt des Staates, Fouquier-Tinville, schickt die Menschen hierher«, er deutete auf die Treppe zum Schafott. Noch war der Henkerskarren nicht zu sehen. »Sein Name steht für Willkür und Fanatismus. Jeder von denen rechnet mit persönlichen Gegnern und Feinden ab«, erwiderte ich. Das Summen der Unterhaltungen begann den Platz zu füllen. Klugheit, Kraft, Gerechtigkeit und Friedensliebe umgaben als allegorische Figuren den Sockel, auf dem der alte König noch vor kurzem hoch zu Pferde im antiken Kostüm über den Platz hinweggeschaut hatte. »Fangen wir an?« »Hoffentlich gibt es niemanden, der unserer Psychostrahlung widerstehen kann.« »Das wäre höchst unwahrscheinlich.«
Rico sprach lautlos mit Syno. Die Psychostrahler wurden eingeschaltet. Die Wirkung, so waren wir überzeugt, würden jeden Beteiligten – außer den Geretteten – vorspielen, daß die Wiederholungen von Hinrichtungen die Wirklichkeit waren. Wir hatten genügend unterschiedlich verlaufende Enthauptungen aufgefangen, in eine andere Reihenfolge gebracht und sendeten jetzt diese Eindrücke. Nach und nach wurde der psychologische Druck der hypnotisierenden Strahlung verstärkt. Ich konnte, wenn ich ein Kodewort aussprach, die gesamte Menschenmenge durch die Psychostrahler in Starre versetzen. Aber ein so genanntes Wunder konnte nur den Revolutionären Auftrieb geben. Der Lärm verstärkte sich. Einige Zuschauer kletterten auf die nahe gelegene Statue der Stadt Brest und hatten somit die besten Plätze in diesem Spektakel fallender Köpfe und sprudelnder Halsschlagadern. »Eingeschaltet und in Betrieb«, sagte Rico leise. Wir schwebten in einem engen Kreis im freien Raum über den Köpfen der Menge. Bis zur Einmündung jener Straße, von der die Henkerskarren kamen, bildete sich eine mehrfach gestaffelte Reihe von Milizionären. Noch entsprachen die Handlungen der Personen auf der Plattform einem vernünftigen Vorgehen. Sägemehl und Korb waren bereit, das Brett, auf dem der Körper des Delinquenten festgeschnallt wurde, bewegte sich in geölten Scharnieren. Obwohl man das Holz geputzt und gescheuert hatte, ging von der Konstruktion ein stechender Geruch aus. »Es ist unfassbar. Sie haben sich an das Schauspiel gewöhnt«, sagte ich. Taschendiebe plünderten die Zuschauer aus. Essensverkäufer und solche, die Wein und Leckereien feilboten, kämpften sich durch die stoßenden und drängenden Besucher. Kommandos hallten von den Mauern wider. Noch ein Trommelwirbel. Die Soldaten bildeten eine Doppelreihe und drängten die Zuschauer zurück. Die Reihen der Absperrung schwankten hin und her. Eine Welle des Gelächters durchlief die Menge. Ich beobachtete die Veränderungen und fand, daß sie in der richtigen Sekunde stattfanden: Der Wagen, auf dem sieben Hinzurichtende standen, hatte tatsächlich den Rand des Platzes erreicht. D’Anguerronds Familie befand sich nicht auf diesem Gefährt. Zwischen den Milizionären bildete sich eine schmale Gasse, die langsam breit genug wurde, um den Wagen durchzulassen. »Es geht seinen gewohnten Weg«, sagte ich leise. »Alles bereit, Rico?« »Alles. Ich kontrolliere ständig.« Auf dem Umweg über Spionsonden konnte Cephyrine zusehen. Uns sah sie nicht, sie wurde auch nicht von den Psychostrahlern beeinflusst. Die eisernen Felgen rasselten über die Steine, schweigend starrten die Gefangenen auf die Stelle hinter ihnen, an der sie den Henkerskarren unserer hypnotischen
Illusion sehen mussten. Der Karren hielt neben dem Schafott an. Die Wächter öffneten den Verschlag und führten den ersten Verurteilten die schmale Treppe hinauf. Der Mann, zweifellos ein Adeliger, war seltsamerweise nicht gefesselt. Er blieb zwischen den Personen stehen, die auch daran gewöhnt waren, daß es Männer gab, die völlig gelassen in den Tod gingen. Der Franzose griff mit beiden Händen an seine Schläfen. Der Gleiter hing, leise summend, neben der Bretterplattform. Ich blickte ins unrasierte, schmutzstarrende Gesicht des Unbekannten. Er nahm seine zerzauste Perücke ab, überlegte nicht lange und legte sie in die Hände des Scharfrichters, der ihn aus den Löchern der Kapuze hervor überrascht ansah. »Was soll ich damit?« verstand ich undeutlich. Der Adelige sagte mit einer Stimme, deren Festigkeit mich überraschte: »Sie darf nicht beschmutzt werden.« »Warum?« »Ich brauche sie noch. Pass gut auf, Bürger Scharfrichter.« Verwirrt nickte der Scharfrichter. Ich stieg auf die Plattform, packte den Adeligen am Oberarm und schob ihn in die Richtung der Ladefläche. Rico übernahm ihn, schob ihn auf den Transmitter zu und drückte ihn, die flache Hand zwischen den Schulterblättern des Delinquenten, durch die Säulen des Geräts. Er verschwand. Als ich mich wieder umdrehte, sah ich eine Abfolge von Handlungen, die mich erstaunt hätten, wenn ich unvorbereitet gewesen wäre. Ein Unsichtbarer wurde auf dem Brett festgeschnallt. Das leere Brett kippte in die Waagerechte. Der Scharfrichter zog an einem Seil, die Sperre rastete aus. Zischend fuhr die glänzende Schneide herunter. Ein unsichtbarer Kopf fiel in den Korb. Frauen drängten sich heran und tauchten ihre Taschentücher in das stoßweise sprudelnde Blut, das es ebenso wenig gab. Während das Fallbeil hochgezogen und das Brett zurückgeklappt wurde, während Männer den nicht vorhandenen Körper schleppten, brachte man den zweiten Insassen des Henkerskarren auf das Blutgerüst. Ich holte auch ihn herunter; meine eigentümliche Rolle, die ich während dieser Jahre gespielt hatte, weitete sich ins Bizarre aus. Eines fernen Tages würden die Barbaren die Wahrheit über diese Kette der Grausamkeiten erfahren. Vielleicht lernten sie dann, wie gesellschaftliche Missstände zu ändern waren, ohne Blutbäder und den Verlust zahlloser Menschen, die eigentlich ihrem Land wertvolle Hilfe hätten leisten können. Die Perücke des optimistischen Nichtgeköpften hing noch immer am Geländer des Blutgerüsts. Dort hing sie, von allen vergessen, auch noch, als der letzte Mann dieses Gefangenentransports längst durch den Transmitter gegangen war und wir auf die nächste Gruppe Unglücklicher warteten. Das Volk war überzeugt, sieben
Hinrichtungen beigewohnt zu haben. Auf dem letzten Henkerskarren dieses Tages befand sich die Familie d’Anguerrond. Bei ihr, an die Schulter von Madeleine-Agnes geklammert, eine schlanke, auffallend große Frau, noch fast ein Mädchen. »Ich kenne sie nicht«, erklärte der Robot leise. »Auch nicht ihren Namen.« »Wir werden es erfahren.« Inzwischen wussten wir, daß jeder Franzose auf diesem Platz an die Illusion glaubte. Sie war überzeugend in jeder Einzelheit. Schließlich hatten die Bürger die Impulse für die Hypnostrahlung selbst geliefert. Ich stützte mich auf die Balken des Gerüsts und blickte den Gefangenen entgegen. Ihre Stimmung schwankte zwischen Verzweiflung und Hoffnung. Todesfurcht und der feste Wille, zu verstehen und gerettet zu werden, so wie es die Geisterstimme versprochen hatte, spiegelten sich in den fünf Gesichtern. Der leere Wagen, auf dem scheinbar fünf kopflose Leichen lagen, entfernte sich durch die tatsächlich existierende Gasse. Ich ignorierte weiterhin den Lärm rund um uns und wartete, bis man Guilelmon d’Anguerrond zur Guillotine zerrte. Ich packte ihn, näherte meine Lippen seinem Ohr und flüsterte: »In wenigen Augenblicken trinkst du roten Wein aus der Hand Cephyrines, Freund Wilhelm.« Er riss die Augen auf und wollte schreien. Ich presste ihm die Hand auf den Mund und schob ihn weiter. Rico nickte mir zu; der Transmitter war neu justiert. Der Mann verschwand. Auch Madeleine zuckte zusammen und wollte schreien, aber ich wirbelte sie herum und stieß sie in Ricos Arme. Dann schleppte man die Kinder auf die Guillotine zu, die wieder in Betrieb gesetzt wurde: Sie waren stumm vor Schreck und zitterten. Wieder bewegten sich die Henker, Priester und Gehilfen in einem seltsamen Ballett ohne Hauptdarsteller. Die Kinder sahen sich unsichtbaren Kräften ausgesetzt, unsichtbare Finger griffen nach ihnen. Stimmen aus dem Nichts versuchten sie zu beruhigen. Sie stolperten hilflos hierhin und dorthin, während krachend die Schneide heruntersauste und die Luft des Augustabends zerschnitt. Zuerst verschwand das Mädchen, dann der Junge. Die Frau, die mit ihnen auf dem Karren gesessen hatte, stand allein und verloren auf den Brettern neben dem leeren Korb, in den immer wieder einer hineingriff, das Nichts packte und an den Haaren in die Höhe hob. Viel älter als fünfzehn war das schlanke Mädchen nicht. Ich machte drei Schritte, nahm sie behutsam an den Schultern und hob sie hoch, während ich sie herumdrehte und, reglos und starr wie sie war, wie eine Statue zum Gleiter trug. »Wie heißt du, Schönste?« fragte ich flüsternd. »Joelle«, sagte sie tonlos. Ich stolperte, als ich auf die Ladefläche des Gleiters trat. Der Robot deutete mit ausgestrecktem Arm
auf den leuchtenden Transmitter und sagte: »In wenigen Stunden habe ich die Werkstatt aufgelöst und bin wieder bei euch und der LARSAF.« »Verstanden. Wir warten.« Zusammen mit Joelle passierte ich den Transmitter. Cephyrine wartete im Nebenraum des Hangars. Die d’Anguerronds standen noch unter dem Schock der seltsamen Rettung und dem Wunder der räumlichen Versetzung. Ich nahm den Becher, setzte ihn an Joelles Lippen und sah zu, wie Cephyrine die Handfesseln des Mädchens mit dem kleinen Samuraischwert durchtrennte, das wir in der Hinterlassenschaft der ehemaligen Bewohner gefunden hatten. Wir lächelte uns an; ich wandte den Kopf und sah, wie die Familie, eng aneinander geklammert, auf das offene Tor zuging, durch das die grelle Sonne hereinstrahlte. »Um den Schock zu mildern«, sagte ich, während meine Freundin mit dem Mädchen der Familie nach draußen folgte, »werden wir die Träume der fünf in unsere Hände nehmen.« Ich blieb zurück, trank nachdenklich und stellte mir vor, wie Rico und Synonymus Eins zur Werkstatt flogen, alle vorbereiteten Gepäckstücke auf den Gleiter verluden, die Transmitteranlage abermals neu justierten und mit Hilfe der Subrobots einen Teil der Ausrüstung in die Kuppel, einen anderen Teil nach Beauvallon, einige Überflüssigkeiten ins Häuschen Cephyrines transportierten. Die Pferde waren weggebracht worden, die Sättel verschwunden; nur noch Röhren und Drähte verbargen sich in den Mauern des Hauses. Das Schild, das auf unseren Beruf hinwies, löste sich aus den Ringen und krachte zu Boden, als das Haus sich endgültig geleert hatte. Spät nachts, als die Ordnung der Dinge wiederhergestellt war – was unsere seltsame Tätigkeit in Paris und Umgebung betraf –, betrat Syno in der Maske eines alten Gärtners und Hausknechts Cephyrines Häuschen und nahm seinen lautlosen Wachdienst auf. Fünf Tage und Nächte, nachdem die d’Anguerronds in dem überwucherten und zugewachsenen Dörfchen aus vier unterschiedlich großen Häusern eingetroffen waren, schaltete ich die Hypnogeräte ab. Die Schulung überforderte sie sonst, jene fünf Adeligen aus Paris, die ihre eigene Hölle hinter sich gelassen hatten. Ein neues Leben in einer anderen Welt hatte für sie angefangen. Die Kinder schwammen nackt, mit dem ersten Sonnenbrand ihres Lebens, im seichten Wasser zwischen Brandung und Sand. Madeleine, Guilelmon und Joelle befanden sich in der nebligen Zone des Begreifens, nahmen plötzlich Sauberkeit und Hygiene wichtig, verstanden Dinge, die sie nicht gekannt hatten, bedienten einfache Geräte mit schöner Selbstverständlichkeit und hatten ihren Verstand vor jenen Vorkommnissen verschlossen, die sie sonst in Verwirrung gestürzt hätten. Die Kinder nahmen fast alles als selbstverständlich hin;
für Michelle und Rene-Laurent war buchstäblich alles ein Teil irgendwelcher Träume, die wahr geworden waren. Mittags, zur Zeit der größten Hitze, hatten wir uns alle unter dem Dach getroffen. Aus winzigen Öffnungen strömte kühle Luft in den Raum zwischen den filternden Energiewänden. Ein großes Bild an der Stirnwand des Raumes zeigte, ohne Ton, dreidimensionale Bilder einer ruhigen, frühherbstlichen Welt. Wir alle, so hatten es die Programme der Hypnoschulung vermittelt, befanden uns auf dem fernen Besitz des Freundes Cephyrines, von dem sie damals so viel erzählt hatte. Wo sich dieses Paradies versteckte, wurde weder gesagt, noch fragten sie. Dass der Zustand des sonnendurchglühten Dolcefarniente irgendwann enden würde, wußte selbst Joelle de Corny. Guilelmon hob sein Glas. »Zum ersten Mal habe ich begriffen, daß ich nicht ertrinke, wenn ich schwimme«, sagte er. »Wo sind die Weinberge, aus denen dieser edle Tropfen kommt?« Ich sah zu, wie der Schaum des bitterschwarzen Bieres zusammenfiel und erwiderte: »Sie sind dort, wo ihr alle leben sollt, wenn ihr wollt. Dort.« Mit mehr oder weniger großer Neugierde hatten sie immer wieder die Bilder angeschaut, die Riancor – jetzt hieß Rico wieder so – in Beauvallon auffing. Ich zeigte hinüber. »Dort sollen wir leben?« Madeleine-Agnes hob ihre gebräunten Schultern. Das leichteste war die Gewöhnung an neue Kleidung und Gebräuche, die in meinem Umkreis zu beachten waren. Cephyrine und Riancor hatten zwei Tage lang Läuse aus dem Haar gekämmt und viele andere kosmetische Ratschläge gegeben. Die fünf waren so gesund wie nie zuvor. »Es gibt dort ein Schlösschen; nichts Aufwendiges. Le Sagittaire. Als d’Anguerrond seid ihr gestorben. Mit neuen Namen, ohne die Attribute des Pariser Hofadels, erwartet euch dort ein arbeitsreiches und sorgenarmes Leben.« Madeleine und Guilelmon begriffen; ihre Verwunderung stieg, als Riancor eine wuchtige Platte voller kleiner Leckerbissen aus der Küche heranschleppte und in die Mitte des Steintisches stellte. »Ich brauche einen Verwalter, einen Vertreter, ein Mitglied der Familie. Ein Dorf freier Bauern, reicher Grundbesitzer, etwa siebenhundert Seelen groß, wartet. Beauvallon. Die Bilder beweisen, daß es tatsächlich ein schönes Tal ist, wenn auch versteckt. Dort überlebt ihr die folgenden vierzig Jahre.« Eigennütziger Altruist, spottete der Logiksektor. Ich grinste, holte weit aus und fuhr fort: »Von Zeit zu Zeit besucht euch Riancor und sieht nach dem Rechten. Auch Cephyrine wird dort ein Häuschen bauen. Und, wenn ich meine langen Reisen unterbreche oder einen Schlaf, den ich mehr als nötig habe, bin auch ich dort und verlange Rechenschaft. Ihr könnt tun und lassen, was
ihr wollt, Freunde. Ihr seid Ratgeber, Verantwortliche, Arbeiter, Jäger und Bauern, Müller und Holzfäller. Aber nur unter folgenden Bedingungen…« Joelle hatte bisher geschwiegen und uns aus großen, grauen Augen angestarrt. »Das ist in Frankreich«, flüsterte sie ein wenig abwesend. »Im Süden. Weit weg von der Stadt, in der wir beinahe getötet worden wären. Hat es eine Schule dort, gibt es einen Docteur, der Wunden heilt?« Ich nickte. Sie schien sich entschlossen zu haben. »Wenn du willst – aber darüber können wir später in allen Einzelheiten lange sprechen – , wirst du ausgebildet und kannst alle Kinder unterrichten, so wie der Urgroßvater Guilelmons, der in dieses Dorf flüchtete und die Tochter des Bürgermeisters heiratete. Ein Kreis, der sich, vielleicht, schließt.« Guilelmons Gesichtsfarbe wechselte. Zuerst wurde er leichenfahl, dann feuerrot. »Ist das wahr, Atlan?« keuchte er auf. Wieder nickte ich fröhlich. Michelle und Rene stopften sich Käsewürfel, Schinken und Würstchen in den Mund. »Kommt alles aus Beauvallon und Fraconnade«, sagte ich. »Lecker, nicht wahr?« »Oui, Monsieur Atlan«, antworteten sie zweistimmig und wohlerzogen. »Ich brauche dort tatkräftige Leute, auf die ich mich verlassen kann. Nur deswegen, weil wir uns immer nachgiebig und klug verhalten haben, ist dem Dorf niemals etwas wirklich Schreckliches passiert. Geld gibt es hier reichlich. Wenn ich komme, bin ich ein Herr, kein vorübergehender Gast. Ihr also habt die eigene Wahl.« »Was ist die andere… Möglichkeit, Atlan?« fragte Guilelmon leise. »Ich bringe euch nach England oder Allemande. Dort seid ihr auf euch angewiesen. Allein. Aber lebendig.« »Wie lange haben wir Zeit, alles zu besprechen?« fragte Madeleine-Agnes und betrachtete ihre Kinder, die von den Bildern hingerissen waren und am hellroten Wein nippen durften. »Ein paar Tage«, erwiderte ich leichthin. Cephyrine hob die Hand. »Mein weißhaariger, braungebrannter Geliebter sagt die Wahrheit, aber er hat nicht alles gesagt. Ich kenne Beauvallon. Wenn es notwendig werden sollte, in die nächste Stadt zu reiten oder eine größere Reise zu unternehmen, wird uns Riancor helfen. Wenn wir ihn rufen, ist er wenige Tage später da. Wenn ihr lernt, Freunde, euer Leben und das Schicksal mehr selbst zu bestimmen, können wir dort alle uralt und weißhaarig werden. Ich weiß, wovon ich spreche, glaubt mir.« Guilelmon stotterte. »Ist es möglich, zuerst zu sehen und dann zu entscheiden?« Ich berührte den Rand seines Glases mit meinem. Verwirrung leuchtete aus seinem Gesicht. Dann lachte ich schallend und antwortete: »Wir können ein paar Tage bei der Ernte helfen. Du, Cephyrine und ich. Dann kennst du die Grenzen Beauvallons.«
Er stürzte den Inhalt des Glases herunter und murmelte: »Und auch meine Grenzen. Hier, meine Hand. Bring mich dorthin, und ich sage dir, was wir tun.« Riancor schenkte nach. Einige Sekunden später entspannte sich der knapp Vierzigjährige und flüsterte: »Ah. Eigentlich ahne ich schon, wie unsere Antwort lauten wird. Aber – nichts überstürzen. Wo ist die Sichel?« Ich starrte ihn verständnislos an. »Sichel? Wozu?« »Zum Abschneiden der Halme, aus denen die Körner kommen, die das Mehl für Weißbrot geben.« Ich lehnte mich im kühlen weißen Leder zurück und betrachtete lange ein Gesicht nach dem anderen. »Ich merke«, sagte ich schließlich und stöhnte auf, »daß ihr alle noch unendlich viel lernen müsst. Sicheln! Mittlerweile sind selbst die Bauern in der Picardie auf bessere Geräte gekommen. In einem Monat sind wir alle klüger.« »Und ausgeschlafener«, sagte Madeleine und zeigte beim Lächeln gleichmäßige weiße Zähne, die regelmäßig geputzt wurden. »Die Kleinen müssen ein paar Stunden schlafen. Hast du noch etwas von der Creme für die rote Haut, Cephyrine?« »Natürlich.« Cephyrine und Madeleine packten die Kinder und gingen in die Richtung des Häuschens, das die Gäste bewohnten. Ich nickte dem Robot zu. Riancor schaltete die Fortsetzung der Hypnoprogramme ein. Ich war sicher, die Antwort der Familie zu kennen. Wenn sie Le Sagittaire zum ersten Mal betraten, wussten sie viel mehr als heute und hatten neue Namen.
Mittagsnachrichten des 07. Februar 3562: »Die wichtigste und beste Nachricht dieses Vormittags kommt aus den Presseabteilungen des Planetaren Krankenhauses und der Administration des Prätendenten des NEI, Lordadmiral Atlan, der seit dem 25. August des vergangenen Jahres von Solarmarschall Julian Tifflor vertreten wird. Der Prätendent konnte heute zum ersten Mal das Gelände des Krankenhauses verlassen. Nach Informationen aus der Gruppe der behandelnden Ärzte hat Atlan seit Wochen selbständig seine körperlichen und geistigen Kräfte trainiert; einer noch unbestätigten Meldung zufolge ist er vor einer Stunde in das geräumige Apartment seiner Lebensgefährtin eingezogen, eine Penthouse-Wohnung im Antares-Zwei-Wohnkomplex. Die Hochhauswohnung verfügt über einen eigenen großen Swimming-Pool und sämtliche Einrichtungen, die der Genesende braucht. Lordadmiral Atlan, der bekanntlich in den letzten Stunden der Selbstzerstörung des Multi-CyborgPlaneten Karthago Zwei schwerste Verletzungen, Brüche und Verbrennungen davontrug und in einem rasend schnellen, riskanten Raumflug des Kreuzers KHAMSIN unter Leitung von Kapitän Haida Khar und dem Piloten Sarough Viss nach Gäa gebracht und hier in der Obhut eines Ärzteteams unter der Leitung des Ara Doctors Ghoum-Ardebil notoperiert und
versorgt wurde, verbrachte rund fünf Monate in einem flüssigkeitsgefüllten Überlebenstank und konnte erst in den letzten Wochen die Intensivstation verlassen. Über den Fortgang der Genesung werden wir Sie auf dem Laufenden halten und bitten um Verständnis für die anschließenden Minuten der Werbung…«
Während Winterstürme und der Herbst-Mistral durch das Tal heulten und Regen gegen die Läden Le Sagittaires warfen, knirschte unter unseren Zehen der warme Sand. Ich hatte meinen Arm um Cephyrines Hüfte, sie ihren um meine Schulter gelegt. Links donnerte gischtend die Brandung, rechts drang mattes Licht aus den Rastern von Türen und Fenstern; über uns spannte sich der Sternenhimmel. »Als du das erste Mal von dieser Möglichkeit sprachst, Liebster, wußte ich, wo ich einmal begraben sein werde«, flüsterte sie. »Bis dahin«, sagte ich, »ist es eine lange Zeit. Was an mir liegt, tue ich, damit sie schön bleibt.« Cephyrines Häuschen zwischen dem Castellet und dem Dorf war längst fertig. Ihr alter Gärtner Syno arbeitete dort. Pierrefitte stand leer, auch der Transmitter war abgebaut. Wechselnd zwischen Beauvallon und der Kuppel, die sie schlafend erreichten und ebenso verließen, lernten die Neulinge alles, was sie brauchten, aber nichts von den arkonidischen Geheimnissen dieses Planeten. »Eine Frau mag nicht stets glücklich sein mit dem Mann, den sie liebt«, meinte Cephyrine. »Aber sie ist immer unglücklich mit dem, den sie nicht liebt. Dich habe ich immer geliebt.« »Ich tue nichts, um das zu ändern«, versicherte ich. »Aber der Winter ist hier besser zu ertragen als in Beauvallon. Lassen wir die Familie Sagittairond allein. Sie müssen mit so unendlich viel Neuem fertig werden.« Überdies arbeiteten Riancor und ich wieder an der LARSAF ZWEI-DREI. Bisher waren die neuen Bewohner Le Sagittaires mit den Dörflern gut ausgekommen. Die erste Bewährungsprobe stand noch aus, aber wir hatten Abwehrmaßnahmen: Syno, die Transmitter, die Verstecke im Berg unter den Gewölben des Schlösschens. Ich watete ins Wasser und sagte: »Schwimmen wir ein wenig. Wir müssen mit uns selbst fertig werden.« »Und das ist mitunter auch nicht leicht.« Cephyrine lachte schon wieder. Ich wußte nicht, wann die Tage und Nächte in diesem herrlichen Versteck endeten. Sie würden enden, ohne Zweifel. Dann ging ich zurück in den langen Schlaf, und Cephyrine würde eine reizende Dame sein, rüstig bis ins hohe Alter, voller Erinnerungen an einen Fremden, der sie aus dem Mahlstrom der Revolution herausgezogen hatte. Die Revolution? Sie verschlang inzwischen jene, die Gewalt über Recht gestellt hatten: Keiner starb friedlich oder würdevoll.
16. Das Läutwerk der Planetenuhr erklang. Der
Nachhall der Schläge zweier fast identischer Uhren war wie das Zirpen silberner Grillen. Ich hob den Blick und konnte meine Überraschung nicht laut äußern: Noch arbeiteten meine Stimmbänder nicht. Zwei jener Kunstwerke standen auf dem Sims; das zweite Maschinchen zeigte deutlich Zifferblätter von arkonidischer Übersichtlichkeit. Ich lauschte dem letzten Schlag hinterher und erkannte mühsam eine denkenswerte Zahlenkombination: 9798. Ich blinzelte, verwirrt wie immer, wenn ich aus dem langen Schlaf geweckt wurde. Rico schob sich in den Bereich meiner verschleierten Blicke. »Es ist«, sagte er, »die Anzahl der Jahre, die wir seit der Katastrophe hier verbringen. Seit dem Untergang von Port Atlopolis.« Ich gab einen undeutbaren Laut von mir. »Nein. Du bist nicht allein wegen dieses einzigartig traurigen Jubiläums geweckt worden.« Wieder blinzelte ich. Die Zeiger schienen doppelt über die bizarren Symbole der vielen Zifferblätter zu torkeln. »Der Roboter baute die Uhr. Wir haben damit das taktile Feingefühl und die Feinstmotorik seiner Finger geübt.« Rico meinte offensichtlich seine Schöpfung, jenen sprachverwirrten Roboter namens Synonymus Eins. »Überdies schreibt diese Welt heute den Jahrestag der Erdolchung von Gaius Julius Caesar.« Der Logiksektor stotterte: Die Ideen des Martius, der fünfzehnte März. Ich verrechnete mich heillos, als ich das Jahr zu bestimmen versuchte. Zeiger und Ziffern der Uhren schienen sich förmlich zu verknoten. Die Zifferblätter lösten sich vor meinen Augen zu breiig verlaufenden Ovalen auf. Rico half mir mit der richtigen Jahreszahl. »Anno Domini 1798.« Noch immer begriff ich die Bedeutung der Bilder nicht, die dreidimensional vor den Schirmen entstanden waren. Ich schloss die Augen. Wieder überkam mich unwiderstehliche Müdigkeit. Das Licht erlosch. Ich blinzelte nach einem Schlaf, der mich wenig erfrischt hatte, in die Sehzellen des Roboters. »Große Aufgaben warten auf den Paladin der Menschheit«, sagte Rico. »Aber du musst noch warten. Ich bereite alles vor.« Ich versuchte, von dem weichen Lager und aus dem Bereich der Reanimationsschwingungen zu springen. Rico drückte meine Schultern sanft, aber nachhaltig zurück. »Du bist, trotz Zellaktivator, ein halsstarriger Patient.« Ich versuchte ein Lachen. »Der Ruf geht mir seit langem voraus und hinterher.« »Tatsächlich?« »Selbst der Leibarzt von Julius Caesar, dem angeblich göttlichen Römer, bezeichnete mich als das widerborstigste all seiner Opfer.« Rico verzog sein Gascogner-Gesicht nicht; er wirkte starr, als er sagte: »Eine Lüge, selbst wenn du sie ständig wiederholst, wird nicht zur Wahrheit. In unseren Speichern ist ein solcher Kontakt…« Ich winkte ab. »Vergiss es. Kannst du
mich über die Lage informieren?« Bevor eine neue Welle der Erschöpfung einsetzte, verengte sich mein Blickfeld zu einem Tunnel. Überlegungen und Empfindungen wurden schal und sinnlos. Eine Gestalt schob sich vor das trübe Bild, das meine Augen sahen. Diesmal glaubte ich mich an die junge Frau deutlich zu erinnern. Die Stimme des Roboters wurde zu einem unergründlichen Murmeln; er sagte: »Joelle sortiert Inkunabeln. Sie ist unser Gast und unterzieht sich gewissen Hypnoschulungen.« Ich begriff dumpf. Revolution. Dann schlief ich wieder ein und wachte irgendwann auf. Diesmal war ich bewusster und fühlbar gestärkt. Sämtliche Schirme zeigten holografische Informationen, alle Lautsprecher gaben Geräusche, Lieder, Schreie und Ausschnitte von bekannten Reden wieder. Maximilien-Francois de Robespierre erklärte kalt: »Wer zittert, ist schuldig! Kopf ab!« Antoine Quentin Fouquier, Vorsitzender des Revolutionstribunals, begründete schreiend sein Urteil gegen einen Wissenschaftler: »Die Republik braucht keine Gelehrten und keine Chemiker. Aufs Schafott!« Rico sagte: »Robespierre ist tot, enthauptet am zehnten Thermidor oder achtundzwanzigsten Juli.« Schriftblöcke entstanden und erinnerten mich mit schmerzlicher Eindringlichkeit an die Jahre des wahnsinnigen Tötens: »Die Guillotine ist heilig«, sagte Jacques-Rene Hebert. Marat tot, Charlotte de Corday, Gräfin Du Barry, Lavoisier Friedrich Freiherr von der Trenck, der Dichter Chenier – alle tot. Abbe de Fenelon, Astronom Bailly, Prinzessin Grimaldi, A.Q. Fouquier selbst, auch Danton, alle geköpft. Zusammen mit mehr als zwanzigtausend anderen Opfern der Hinrichtungsmaschine. Und zwar zur selben Zeit, als die Französische Akademie endlich ein logisches, weil »metrisches« System durchgesetzt hatte. Natürlich mussten die Revolutionäre in ihrer für Barbaren typischen Übertreibung auch den Tag- und Nachtwechsel, die Mondphasen, den Jahresablauf und den Gang der Gestirne in das Korsett des Dezimalsystems zwängen. »Fast niemand hat überlebt«, sagte Rico leise. »Jetzt scheint aus dem Wirrwarr ein bemerkenswerter Mann den Ausweg erkannt zu haben. Es ist zu errechnen, daß er seinen Weg zu gehen weiß.« Ich beschränkte mich aufs Zuhören und auf ernsthafte Versuche, die Bilderflut richtig einzuordnen. »Die Schreckensherrschaft der Revolution«, sagte plötzlich eine helle, frische Stimme voll distanzierter Anteilnahme, »verschlang sich selbst, voll hungriger Gier, bis sich dieses ungeheuerliche Töten selbst erschöpfte.« Ich wandte den Kopf. »Joelle?« Sie tänzelte heran, einen Stapel Einzelblätter eines Wiegendrucks in den Händen. Ihr braunes Haar lag eng am Kopf, prüfend betrachteten mich ihre grauen Augen, Joelle Corny, inzwischen zweiundzwanzig Jahre jung, wenn
ich richtiggerechnet hatte, trug einen Pagenanzug und sah entzückend normal und fröhlich aus. »Du fühlst dich offensichtlich wohl in unserer Höhle?« fragte ich heiser. »Ich lerne und verstehe jeden Tag mehr von euch«, antwortete sie lächelnd. »Praxis tou Periplanomeni, lese ich hier. Über dich oder Rico?« Die Taten des wandernden Mannes, übersetzte mein Extrasinn aus dem Griechischen. Die Blätter aus der Frühzeit des Buchdrucks sahen aus wie handgeschrieben, mit Zeichnungen und Bordüren ausgeschmückt. Ich schüttelte mit schmerzenden Muskeln den Kopf. »Über wirklich wichtige Männer«, meinte ich. Joelle bewegte sich völlig unbeeindruckt von meiner hinfälligen Erscheinung. »Für mich seid ihr die wichtigen Männer«, sagte sie. »Kommt ihr nach Beauvallon? Es ist später Frühling dort.« »Wir kommen«, versprach ich. »Lies nicht zuviel in den Drucken, denn auch das Wissen lag damals in den Windeln, in der Wiege. Es gibt viele neue Kenntnisse.« »Ich weiß, Kometensegler!« rief sie und tänzelte davon. Die revolutionäre Bewegung hatte den letzten Rest Vernunft weggeschwemmt und unschätzbare Kulturstätten vernichtet: Abtei Cluny, Fontenoy, Saint Wandrille! Die Kirche St. Jacques in Paris, etwa hundert Klöster, das Seminar von St. Sulpice, das Schloss Marly! Baudenkmäler endeten als Steinbruch oder verschwanden stückweise in den Kalkbrennöfen. Von Notre-Dame in Paris wurden fast drei Dutzend Königsstatuen von den Sockeln gestürzt, obwohl es »archaische Könige aus dem Morgenland« waren; Abbe Gregoire bezeichnete das eifernde Wüten als »Vandalismus«. Die Provinzen versanken in kulturelle Abenddämmerung. Rückständigkeit breitete sich wieder dort aus, wo Colbert sie einst mit seinen Manufakturen hatte bekämpfen wollen. Die Bilanz unserer unvollkommenen Analysen war erschütternd. Noch bevor ich die entscheidende Frage stellen konnte, sagte Rico: »Unsere Geräte konnten keine Anwesenheit Nonfarmales aufspüren. Vielleicht hast du ihn wirklich besiegt.« »Ich bleibe skeptisch.« Ich ahnte, daß weder die Folgen der Revolution überwunden noch Nonfarmale wirklich ausgeschaltet worden waren. »Misstrauen ist angebracht«, sagte der Roboter. »Es ist der reine Symbolismus, der mich veranlasst hat, dich zu wecken. Die drei Buchstaben N, die Jahreszahl auf der Uhr, die Sorge um Beauvallon und viele Entwicklungen, die mehr vernünftige Dynamik versprechen als je zuvor.« »Welche drei N?« »Nelson, Napoleon und Nonfarmale.« »Wer hätte das je erwartet«, stöhnte ich. »Ein abergläubischer Roboter!« »Das sagte auch schon Amir Darcy Boog. Du wirst dich wundern, wenn du den einstigen Synonymus Eins siehst: Große Fortschritte! Auch bei den letzten Tests des Raumschiffes.« »Ich bin noch nicht in der Lage.« Ich gähnte mit krachenden
Kieferknochen. »Aber ich bin immerhin auf dem Weg, meinen Körper bewegen zu können.« »Am fünfzehnten April beherrschst du wieder sämtliche Techniken der ARK SUMMIA und deiner Dagorausbildung.« Rico sprach mit Überzeugung. Ich dachte an Yodoyas Inselchen, an die Rieseninsel der hüpfenden Beuteltiere und an den reifenden Rotwein in Le Sagittaires Kellern. Ich schlief wieder ein und überließ mich den emsigen Reanimationsgeräten. Nur mühsam fand ich in das Jahr 1798 hinein; mir half die Musik, die durch einige Säle des Schutzzylinders hallte: Johann Sebastian Bach, Lully, Charpentier oder Rameau, von Ricos Sonden aufgenommen und positronisch bearbeitet, gefiltert und verstärkt. Oder Wolfgang Amadee Mozart. Der Robot hantierte an den Überlebensmaschinen und sagte: »In einigen Tagen kannst du wieder feste Nahrung zu dir nehmen. Joelle leistet dir dabei gern Gesellschaft. Lilith wird euch bedienen.« »Ausgezeichnet.« Ich murmelte Zustimmung. »Habe ich richtig gesehen? Marco Polo hat tatsächlich ein Buch über seine Erlebnisse an Kublai Khans Hof geschrieben und – sogar! – veröffentlicht?« »Er schrieb beziehungsweise diktierte es im Gefängnis; nach einem Seegefecht zwischen Genova und Venezia war er vier Jahre lang gefangen. Ein gewisser Rusticiano schrieb das ›Buch der Wunden. Zunächst mochten ihm die Landsleute nicht recht glauben. Mittlerweile zählt der Bericht zu den Klassikern.« Ich stand auf und dehnte meine Muskeln. Längst hatte meine Haut ihr ungesundes Aussehen verloren. Ich fühlte mich stark genug, Rico um Wein zu bitten. Joelle brachte einen unserer kostbaren Pokale, halb gefüllt mit Wein aus Beauvallon. »Die Kerzen am Esstisch brennen«, sagte sie und strahlte mich an. Ihren doppelt handlangen Zopf zierte eine blaue Schleife im Nacken. »Dreißigtausend Bienen brauchen ein Jahr, um zwei einfache Kerzen herzustellen, jedenfalls das Wachs dazu.« Ich nahm zögernd einen Schluck und sagte: »Irgendwann hat Rico diese mühsame Rechnung bewältigt, und jetzt erzählt er es stolz jedem, der es nicht hören will.« »Amir Darcy hat nachgerechnet und bestätigt.« Joelle wirbelte herum und deutete auf eine holografische Kunstlandschaft, in deren Zentrum der Tisch und die Stühle aufgebaut waren. »Wie schmeckt dir dein Beruf in Beauvallons Schule?« wollte ich von ihr wissen. Die junge Corny war in den wenigen Jahren zu einer hübschen, selbstsicheren Frau herangewachsen, und ihre Antwort, wenn sie ernst gemeint war, bestätigte meine Vermutungen und Ricos Bemühungen, und augenscheinlich nicht nur seine. »Ich meine, die Kinder kommen gern zu mir, und sie lernen freiwillig und viel. Mitunter wissen und können sie mehr als die Eltern.« »Wie schön.« Du wirst demnächst die Berichte
aus Beauvallon sehen können, sagte der Extrasinn. In den Tagen, die ich brauchte, um wieder völlig über meine körperlichen und geistigen Kräfte verfügen zu können, beschäftigte ich mich mit dem Korsen Napoleone Buonaparte aus Ajaccio, der jetzt als Oberbefehlshaber der französischen Armee mit dreißigtausend Mann nach Ägypten ziehen und dort die Türken schlagen sollte, und mit dem Admiral Horatio Nelson, dessen Schiffe die Flotte Frankreichs zu den Fischen schicken sollten. »Wir haben, wie du weißt, am Äquator Afrikas eine Universität gegründet und erbaut. Die Anlagen sind fertig, aber noch menschenleer«, sagte der Roboter. »Boog und Lilith in allerlei pädagogischen Masken sind als Lehrer vorgesehen; bis auf Ausnahmen stammt das Unterrichtsmaterial aus unserem reichhalten Fundus. Die Frage der Ernährung ist noch nicht völlig geklärt – aber du bist wach, und wir können überlegen und entscheiden.« »Die Schule soll ein arkonidisch gesteuertes Studium generale vermitteln und zugleich einige Hundertschaften naturwissenschaftlich, moralisch und politisch einwandfrei handelnder Barbaren pro Jahr entlassen. Dann wären die entsetzlichen Greuel und die Toten der Revolution nicht sinnlos gewesen. Die ›neuen‹ Barbaren könnten wie Hefe im Teig wirken«, sagte ich. Am vorletzten Tag in der Kuppel fehlte uns Joelles Fröhlichkeit. Wenigstens fehlte sie mir. Rico und Amir Darcy Boog, der wie ein glattrasierter Seemann aussah, hörten zu, wie ich meine skeptischen Gedanken entwickelte. »Aber wahrscheinlich wird jeder, der den anderen zu klug ist, totgeschwiegen oder totgeschlagen. Trotzdem halte ich meine Idee nicht für völlig sinnlos.« »Eine weitere Barriere ist die ungeheure Sprachenvielfalt dieser Welt«, warf Rico ein. »Diese Auserwählten müssten zunächst ein Dutzend Sprachen lernen.« »Mit den famosen Psychostrahlern, der Hypnoschulung und den vielen Programmen unserer Speicher«, Boog sprach flüssig und ließ erkennen, daß er unermüdlich an seiner Ausbildung gearbeitet hatte, »ist dieses Problem leicht zu lösen.« »Es besteht ein Unterschied zwischen der gemischten Schulklasse Beauvallons und einer so genannten Universität«, sagte ich. »Du bist sicher, daß deine wohlmeinende Unterstützung Joelles keine Schäden anrichtet, keine unkontrollierbaren Folgen hat?« Rico schien alles berechnet und durchanalysiert zu haben. Er schüttelte kurz den Kopf und erklärte: »Es werden nur Grundkenntnisse aller Berufe vermittelt, die in und um Beauvallon gebraucht werden. Aus Beauvallon kommt sicher kein weiter Anton Laurent Lavoisier; Chemiker und guillotiniert. Aber wie sollen die Kinder sonst gründlich das neue System der dezimalen Maße lernen und anwenden?«
»Dein Name wird auf der Liste der Menschheits-Wohltäter in goldenen Lettern stehen«, sagte Boog. In seinem »sonnengebräunten« Gesicht zeigten sich Sommersprossen. Seine Hände waren groß und kräftig, fast derb. Zur gascognerischen Eleganz Ricos bildete Amir Boog einen wohldosierten Gegensatz; er war Arbeiter der Faust. Ich deutete auf die Bildschirme und befahl: »Du wirst in einer stillen Stunde mögliche Standorte für unsere Universitäten heraussuchen.« »Selbstverständlich.« »Ich brauche eine Maske, um Nelson und Napoleon kennen zu lernen. Entwickle alles Notwendige.« »Sofort.« »Ich nehme Boog mit zur großen Insel, zum Raumschiffhangar. Ob ich weibliche Gesellschaft haben will, entscheide ich nach sorgfältiger Musterung der Barbarentöchter.« »Verständlich.« Dank meinem Zellschwingungsaktivator und den Besuchen Ricos in Le Sagittaire waren alle Krankheiten von Lisa-Cephyrine ferngehalten worden. Mit Wehmut betrachtete ich sie auf dem Holoschirm: Sie war zu einer entzückenden alten Dame gereift. Wir würden gern und oft über vergangene Zeiten sprechen können, im Schatten des Schlösschens, unweit der Wassermühle. Joelles Eltern hatten, so gut ich es beurteilen konnte, ihre Arbeit auf das beste erledigt. Beauvallon sah gesund, reich und ruhig aus. Der Ort erstrahlte im Grün des späten Frühlings. Der Vent du Midi, feuchtwarm aus Süd, strich durch das Tal. »Ich bereite mit Boog die Häuschen beim Hangar vor«, sagte Rico. »In zwei Stunden gehen wir durch die Transmitter.« »Einverstanden. Ich kann mich hier recht gut allein unterhalten«, sagte ich. Ich saß, gestärkt und ausgeruht, satt und mit einem Glas Uisge beatha, schottischem Lebenswasser, in der Hand, vor den Speicheranlagen und rief Informationen ab, steuerte Spionsonden und versuchte, einige exotische Schauplätze zu entdecken und auch in Gedanken wieder Kontakt mit den bizarren Verhaltensmustern der Barbaren zu erlangen. Die zahllosen Reflexe des Sonnenlichts verwandelten die Landschaft jenseits des menschenleeren Strandes in eine Zone, deren Anblick in den Augen schmerzte. Die schneeweiß glitzernden Ränder der Tümpel und der winzigen Lagunen wechselten ab mit stacheligem Gras, mit Röhricht, den Massen getrockneten Schlamms, die von der letzten Überschwemmung der Rhone übrig geblieben waren. Flamingoschwärme färbten die Luft rosa. Der Mistral, den sie Seelenfresser nannten, wirbelte feinen Sand und salzigen Gischt bis hinüber nach Aigues-Mortes. Die Ebene, die schilfüberwucherten Süßwassersümpfe und die kleinen Wälder wurden für lange Augenblicke unsichtbar, und aus dem Staubwirbel tauchte ein Reiter auf. Vor der stechend gelben Morgensonne flog ein Entenschwarm auf. Ich blickte schärfer hin: Der mächtige Schimmelhengst schäumte, das
Fell war schweißüberströmt. Im Sattel saß eine Frau mit wehendem schwarzem Haar. Wenn das Tier über Felsbrocken, Schwemmholz oder Gräben sprang, stand die Frau in den Steigbügeln. Ihre Kleidung war zerrissen, ihre dünnen Stiefel ebenso voller Dreckspritzer wie die Läufe und der Bauch des Pferdes. Immer wieder riss die Frau, sie war zwischen fünfundzwanzig und dreißig Jahren alt, den Kopf herum und sah sich nach Verfolgern um. Ich konnte durch die Optik der Sonde keinen Verfolger erkennen, aber als das Gerät höher stieg und nach Osten abdrehte, bemerkte ich eine weit auseinander gezogene Kette von etwa zwanzig Reitern, die ihre Pferde durch die flache Einöde hetzten, durch schlammige Tümpel und an kleinen Wäldern vorbei. Ich bemerkte, wie die Flüchtende ihren Apfelschimmel im weiten Bogen auf einen lehmigen Damm lenkte, der in das flache Wasser der Petit Rhone vorsprang. Am anderen Ufer breitete sich die gleiche grandiose Einsamkeit aus. »Eine verteufelt schöne Frau«, murmelte ich und roch an dem Alkohol. »Warum flieht sie?« Die Gesichter und das Aussehen der Verfolger zogen auf dem Schirm an mir vorbei. Halunken, Halsabschneider! sagte der Logiksektor. Schartige Waffen. In rasendem Galopp sprengte die Frau über die Landzunge. Lehmbrocken wirbelten von den Hufen des Tieres in die Luft, Wasser spritzte wie ein Vorhang um die Frau. Ihr Gesicht zeigte Angst, der Ausdruck blieb aber gefasst. Die Frau war ungewöhnlich hochgewachsen und schlank; an ihrem Hals und den Handgelenken sah ich kostbar wirkende Schmuckbänder. Sie preschte durch das Kiesbett des Flusses und schien auf die versandenden Seen zureiten zu wollen. Ihr Pferd war wohlgenährt und ausgeruht, der Hengst zeigte keine Ermüdungserscheinungen. Die Reiterin geriet in tieferes Wasser. Der Hengst schwamm, aber die Verfolger rückten auf. »Man sollte ihr helfen«, brummte ich; von der Frau war ich fasziniert. Die Strömung der Kleinen Rhone packte das Pferd und riss es mit sich. Der Versuch zu flüchten wurde ebenso entschlossen durchgeführt wie die Verfolgung. Ich überlegte kurz, dann sprang ich auf. »Rico!« schrie ich. »Ich brauche den Gleiter und Ablenkung in Beauvallon. Schnell!« Rico befand sich im Gewölbe von Le Sagittaire. Nach dem Einsatz auf der Insel der Antipoden sah er bei den Bauern nach dem Rechten. Er antwortete, während ich mich anzog und ausrüstete. »In fünf Minuten kannst du starten.« »Übernimm in der Kuppel die Sonde Vier. Gib die Bilder an mich im Gleiter zurück. Ich helfe einer Frau im Löwengolf.« »Verstanden. Ich warte auf dich.« Der Hengst hatte es geschafft, das andere Ufer zu erreichen, und stapfte triefend durchs Wasser. Die Verfolger schrien Flüche und Drohungen
hinter der Frau her, die sich im Sattel zurechtsetzte und deutlich hören musste, welches Schicksal ihr drohte. Ich schob die Pistole ein, lief zum Transmitterraum und stopfte Ausrüstungsgegenstände in einen großen Lederbeutel. Dann kontrollierte ich die Einstellung des Transmitters, tauchte im kühlen Keller des Schlösschens auf und startete den kleinen Gleiter durch eine Nebelwand auf die Schneise zu, an der Mühle vorbei und zwischen den Felsen des Tales nach Südwest. Erst jetzt aktivierte ich den Deflektor, pegelte das Bild ein und hörte, was Rico aus der Kuppel berichtete. Der Gleiter flog Höchstgeschwindigkeit. Ich konzentrierte mich auf die Bilder, die die Sonde weiterhin einfing. Während die Frau nach Westen ritt, galoppierten die Verfolger in bedrohlicher Nähe durch seichtes Wasser, entlang des Ufers und über staubtrockene Kiesbänke. Die Sonne kletterte höher, die Schatten waren kürzer; der Mistral heulte in den Zweigen und legte das Schilf flach. Ich erreichte den Lauf der Rhone und jagte über Arles hinweg, als es fast Mittag war. Als ich wieder das Bild auf dem Kontrollschirm anstarrte, bemerkte ich den Schimmelhengst, der ohne Reiterin lief und schließlich am Rand einer Moorfläche stehen blieb und müde den Kopf senkte. Abgeworfen oder abgesprungen? fragte der Logiksektor. Der Gleiter senkte sich, wurde langsamer und schwebte in einer engen Kurve auf einen Punkt zwischen dem reiterlosen Pferd und den Verfolgern zu. Auch die Reiter rissen ihre Pferde auf die Hinterhand und schauten sich suchend um. Ich verfolgte die einzelne Hufspur so weit zurück, wie ich konnte. Der Sturm riss und rüttelte am Gleiter. »Wo bist du, Unbekannte?« fragte ich leise. Tümpel, Morast, Schwemmsand, eine breite Bahn niedriger Büsche, Schilf und Unmengen kleiner Vögel, die zusammen mit Möwen und Falken gegen den Sturm und den Sand kämpften; anderes sah ich nicht. Die Frau verbarg sich offensichtlich zwischen den Büschen. Von rechts und links sprengten die Reiter heran. Durch das schneidende Heulen des Windes, der die Männer zwang, sich in den Sätteln gegen den Andruck zu stemmen, hörte ich die Flüche. Ich entnahm dem Geschrei, daß die Frau aus einer seltsamen Art Gefangenschaft geflohen war, daß sie Wertsachen an sich gebracht hatte und nicht hielt, was sie versprach – überdies war sie offensichtlich für den Lebensunterhalt dieser wenig französisch wirkenden Männer verantwortlich oder wichtig. Hier feiert man die Pelerinage de Sara, flüsterte der Extrasinn. Ich begriff: Es waren Zigeuner, von denen die Frau verfolgt wurde. Während der Gleiter über den durchgerüttelten Büschen und Binsen seine Kreise zog, blickte ich direkt nach unten. Die langhaarigen,
meist dunkelhäutigen Männer zwangen ihre Reittiere in die wellige Fläche hinein, zwischen die dornigen Ranken und die schneeweiß gebleichten Treibholzreste. Einige Minuten später sah ich die Frau. Sie bewegte sich wie ein Wiesel zwischen knorrigen Wurzeln, durch Schlick und über Sand, durch dunkelbraunen Schlamm und gewundene Rinnen, in denen schmutziges Wasser stand. Sie war am Ende ihrer Kräfte, aber sie kroch weiter, in die gleiche Richtung, in der auch ihre Verfolger ritten. Ich zog den Lähmstrahler, bündelte den Strahl und feuerte auf diejenigen Männer, die, auf ihre Pferde einprügelnd, der Frau gefährlich nahe gekommen waren. Nacheinander kippten sieben Männer aus den Sätteln, blieben in den Zügeln oder den Steigbügeln hängen und wurden von den durchgehenden Tieren durch das Gestrüpp gerissen. Der Gleiter sank abwärts, ich öffnete die Tür neben dem rechten Sitz. Sekunden später befand ich mich zwei Meter über der Schwarzhaarigen. Sie bewegte sich auf Knien und Ellbogen weiter, schob sich durch Wasser und glitt in den Schlick. Ihr Oberkörper versank über die rechte Schulter. Sie stieß einen leisen Schrei aus, bewegte sich hastiger und zog die Beine an. Der Morast war zäh, hielt ihre Glieder gepackt und zog sie tiefer. Ich wandte mich um. Die anderen Verfolger waren zurückgeblieben und versuchten, ihren bewusstlosen Kumpanen zu helfen. Die Frau hatte gemerkt, daß sie festsaß, daß sie langsam in dem salzigen Brei versank. Ich hielt den Gleiter über ihr an, kletterte zum Nebensitz und senkte den Kiel der Maschine, bis ich direkt über den Schultern und dem Kopf war. Es ging nicht anders. Ich packte das nasse, schmutzige Haar, wickelte es zweimal um meine Faust und zog. Gleichzeitig summten die Antigravprojektoren lauter. Der Körper löste sich widerstrebend aus dem stinkenden Schlick. Salznebel wehte durch die Luft, als ich den Körper über die Kante des Einstiegs zog, einen Arm packte, über die Schultern legte und mich zurückstemmte. Die Frau merkte nicht, was wirklich vor sich ging, starrte mich aus weit aufgerissenen Augen an, ohne mich wirklich zu sehen, und als sie halb über dem Sitz hing, zuckte sie zusammen und verlor die Besinnung. »Willkommen, unbekannte Reiterin«, sagte ich, ließ den Gleiter steigen und zog die Tür zu. »Sonderlich beeindruckt bist du nicht gerade.« Der Gleiter raste, vom Autopiloten gesteuert, in die Richtung Beauvallons. Ich verständigte mich kurz mit Rico, wusch das Gesicht der Geretteten mit einem nassen Tuch, setzte die Hochdruckspritze an und injizierte ein Kreislaufmittel und eine Medizin, die Infektionen zu verhüten half. Gleichzeitig aktivierte ich den Hypnostrahler, der das Basisprogramm
sendete. Ich kippte aus der Flasche einen Becher voll Wein, und als die Frau aufwachte, hielt ich ihn an ihre Lippen. »Ich bin Atlan«, sagte ich halblaut. »Ich habe dich aus dem Sumpf gezogen und vor den seltsamen Freunden gerettet.« »Amoustrella«, flüsterte sie. »Danke.« Ihr Körper war übersät von Blutergüssen, Rissen und Schnitten. Ihre Erschöpfung ließ sie nur noch murmeln. Während sie trank wirkte das Medikament; als der Gleiter über die römische Arena von Arles fegte, schlief sie. Ohne den Deflektor abzuschalten, bugsierte ich den Gleiter in die versteckte Kammer von Le Sagittaire. Ich nahm Amoustrella auf die Arme, passierte die Transmitter und ließ die Schlafende von den Medorobots behandeln. Zehn Stunden später lag sie in einem der Betten des Dörfchens.
Amir Darcy Boog servierte schweigend das Essen. Amoustrella hatte bewiesen, daß sie mit sämtlichen Einrichtungen umgehen konnte, die Ausstattung in den richtigen Fächern fand und das Psychoprogramm richtig gewirkt hatte. Ihr Haar glänzte und war zu einem lockeren Zopf geflochten. Zum ersten Mal sah ich, daß sie graue Augen mit goldenen Pünktchen hatte. »Es sind Gerichte aus der Provence und aus dem Massif Central«, sagte ich mit einer einladenden Geste. »Nach einem solch langen Schlaf wirst du hungrig sein.« »Nicht hungrig genug«, sagte sie mit dunkler, leicht heiserer Stimme, »denn ich muss wissen, wer du bist, wo ich bin, wie alles mit allem zusammenhängt.« Ich bemerkte, daß sie keinerlei Schwierigkeiten hatte, mit der Ausstattung des Tisches unter dem Vordach umzugehen. Ich aß und trank und antwortete mittendrin: »Es wird, denke ich, eine lange Geschichte. Ich sah zufällig, wie du im Galopp geflüchtet bist, wie dich deine Verfolger suchten, ich hörte, was sie dir versprachen; es war wenig angenehm. Ich hielt sie zurück, führte sie in die Irre und zog dich aus Dornen und Sumpf. Und nun bist du, umwickelt von meinen Binden, in einem meiner Betten ausgeruht, mit Kleidung aus meinem Besitz… du bist mein Gast.« Amoustrella hatte eingesehen, daß guter Appetit eine Unterhaltung förderte. Sie aß wie eine hungrige Löwin. Gleichzeitig huschten ihre Blicke in alle Richtungen, registrierten die Unterschiede, musterten immer wieder mich. »Wo sind wir?« »Auf einer riesengroßen Insel, sehr weit von Salin-de-Giraud weg. Nicht nahe Aigues-Mortes. Wenn du darauf beharrst, bringe ich dich zur Rhone zurück.« Sie gefiel mir immer besser. Sie war nur drei Finger weniger hochgewachsen als ich. Keineswegs hatte ich es mit einer ahnungslosen, eingeschüchterten Barbarin zu tun. Sie bewegte sich, als sei sie Reiten und körperliche Anstrengungen ebenso gewöhnt wie das Verhalten in fürstlichen Schlössern. »In die Camargue
zieht mich nichts mehr«, sagte sie und griff nach dem Weinglas. »Die Kerle, die hinter mir her waren, es sind wandernde Bärenführer, Kesselflicker und Wäschediebe. Sie haben einige Reiche erstochen und wollten, daß ich ihrem Sippenältesten ins Bett folge. Unter anderem. Ich sollte den Lockvogel spielen.« »Wie kamst du an sie?« »Sie kauften mich einem Sklavenhändler aus Ceuta ab. Piraten haben ein Schiff aus Nantes, der Vendee, überfallen. Meine Familie flüchtete vor dem Gemetzel. Mein Vater rüstete in der Werft Schiffe aus. In drei Jahren habe ich mehr erlebt als andere in zwei Leben.« »Sie sprachen von geraubtem Schmuck.« Amoustrella deutete auf ihre leeren Handgelenke und den Hals. »Ich nahm ihnen meinen eigenen Schmuck wieder weg und den meiner Mutter. Im Gürtel…« »Ich habe ihn gefunden und reinigen lassen. Vor dem Spiegel deines Häuschens. Welche Pläne für den weiteren Lebensweg«, fragte ich ein wenig sarkastisch, »hattest du, als dich das Pferd abwarf?« »Nur entkommen, und dann irgendwie durchschlagen. Eigentlich wollte ich zu Admiral Nelson und ihm zeigen, was mich Vater lehrte.« »Dies wäre nachzuholen«, sagte ich. »In meiner Begleitung.« In der Vendee waren, so hörte Rico, vierhunderttausend Menschen getötet worden. Amoustrella war durch ihre Erlebnisse nicht heruntergekommen, sondern schien daran gewachsen zu sein. Sie wirkte beherrscht und schien die veränderte Umgebung zu akzeptieren, als wäre sie lediglich in einer anderen Landschaft Frankreichs aufgewacht. »Wie lange dauerte die Reise hierher?« »Du hast drei Tage geschlafen«, sagte ich. Eine bewusste Lüge. »Die Salben und Tinkturen meiner eigenen Hexenküche haben deiner Haut nicht geschadet. Wenn du im Meer schwimmen willst – dort draußen ist der Strand. Ich komme gern mit, denn hier gibt es eine Brandung wie vor Brest.« »Vielleicht. Da sind flüsternde Gedanken in meinem Kopf. Die Stimmen schweigen, wenn ich erfahren will, was sie sagen.« »Es ist die Stimme deines besseren Ichs«, erklärte ich. »Sie sagen, daß du unter meinem Schutz stehst. Boog wacht über unsere Sicherheit. Du hast keinerlei Verpflichtung außer gutem Benehmen.« Ich lächelte. Von Stunde zu Stunde gefiel sie mir besser. Ihre Alpträume schienen, je länger sie schlief, schwächer zu werden. Ihre Finger waren auffallend lang und schlank. Ich lehnte mich zurück und drehte den Stiel des Weinglases. »Wenn du willst: Du kannst dich hier erholen. Ich habe zu arbeiten. Frage, wenn du etwas wissen willst oder etwas nicht verstehst. Wir sind allein. Wenn du krausköpfige Braune siehst, sie sind harmlos und scheu. Der Strand ist ungefährlich, aber schwimme nicht zu weit hinaus.« »Ich bin satt und müde.« Sie ließ sich von Amir Darcy
Wein nachgießen. »Ich kann wirklich tun und lassen, was ich will?« Ich nickte. Sie hob ihre Schultern und gähnte hinter vorgehaltener Hand. »Nach ein paar Tagen wird es mir langweilig werden. Gehst du zur Jagd?« »Nein.« »Niemand außer uns wohnt hier?« »Niemand.« »Und was tust du hier, Atlan…« »Atlan Arcoyne. Ich repariere seltsame Maschinen und hoffe, daß sie fliegen können.« »Ich bin recht geschickt. Wenn du willst, gehe ich dir zur Hand.« Sie sprach ernst, war nicht einmal erstaunt! Wieder nickte ich, zurückhaltend. »Und da sind noch ein paar andere Tätigkeiten, denen ich nachgehen muss. Ich verfolge einen bestimmten Mann mit bösartigem Charakter, bin Lebensherr oder besser Schlösschenbesitzer in Beauvallon nahe des Allier, helfe bedrängten Schönheiten, möchte den Engländer Nelson und den Franzosen Bonaparte kennen lernen und, wenn erwünscht, beraten. Ich komme weit herum, und meine Reisen gehen schnell vor sich.« »So wie im Ballon der Montgolfiers, aber schnell wie eine Rauchschwalbe?« »Ähnlich. Du hast alles, was du brauchst, in deinem Häuschen?« »Wahrscheinlich weit mehr, als ich brauche«, sagte sie. »Darf ich Spazierengehen? Zeigst du mir das Dörfchen?« »Natürlich. Komm. Es ist nicht mehr so heiß wie gegen Mittag.« Wir benutzten die schmalen Wege durch mein kleines Reich, gingen bis dicht vor die Grenze der Energiekuppel durch die verwilderten, aber geschnittenen Gärten auf den Hügel, unter dem sich der LARSAF-Hangar verbarg, zum Strand und bis zu den Felsen, dem Flussbett und den Ebbetümpeln. Amoustrella blickte fassungslos jenen hüpfenden Beuteltieren nach, denen die Eingeborenen den Namen »Da-springt-es-hin« gegeben hatten, was so ähnlich wie »Kaengaru« klang. Ich versuchte sparsame Erklärungen, während die Wellen den Sand zwischen unseren Zehen heraus wuschen. Wenn ich ihre Fragen als Interesse und ihr Schweigen als Klugheit deutete, war sie keineswegs dumm und ungebildet. »Es lässt sich hier trefflich aushalten«, sagte sie in ihrem rauen Französisch. »Allerdings sieht alles so aus, als hättest du es vorher gezeichnet.« »Es fällt mir schwer, dies zuzugeben.« Ich blinzelte in die Sonne, die sich zwischen Wolkenbänken ihren Weg zum Horizont suchte. »Aber genau so war es.« Als wir zurückgingen, legte sie ihre Finger auf meinen Unterarm. Unbewusst? Während sie schlief, ging ich zum Hangar und fing an, die Systeme des Raumschiffchens zu testen.
Unser kleines Netzwerk aus Funkkanälen und Übermittlungsfrequenzen arbeitete zuverlässig. Aus den Rechnern und Speichern der unterseeischen Kuppel überspielte Rico mir sämtliche Einzelheiten und
Analysen unterschiedlicher Entwicklungen. Nonfarmale war einmal aufgetaucht; zu kurz, um wertvolle Beobachtungen
einholen zu können. Er trug eine Maske, wie seinerzeit der angebliche Zwillingsbruder des Königs. Du hast ihn verletzt, aber nicht getötet, erklärte der Extrasinn. Er bleibt eine Bedrohung. Jener Leutnant, der bei der Erstürmung der Bastille zugesehen und später am Massaker der Schweizergarde in den Tuilerien mitgewirkt hatte, schien, nach der Gründung der Cisalpinischen Republik, das Land Frankreich wieder stark und gesund sehen zu wollen. Jedenfalls handelte er entschlossen und mit raffinierter Klugheit. Aber auch er kannte einen ebenbürtigen Gegner. Was Napoleons Truppen auf dem Land leisteten, vermochten die Schiffe des Admirals Nelson auf See; damit die Republik Frankreich erhalten bleibe, so sagten die einflussreichen Männer, müsse sich England geschlagen geben. Der Rhein als Frankreichs natürliche Grenze war für das Inselvolk nicht zu akzeptieren. Also wieder Krieg. Wieder Blutgeruch und Todesschreie. »Napoleon Bonaparte entspricht in den meisten Charakteristika dem bekannten Barbaren-Typ des kriegerischen Imperators«, sagte Rico kommentierend. »Wenn es ihm gelingt, vernünftig zu bleiben, könnte er Frankreich und auch andere Länder einen riesigen Schritt weiterbringen bei der Evolution zu einem Staat und dessen Staatsvolk.« »Man wird sehen«, gab ich zurück. Das Raumschiff schien intakt zu sein. In wenigen Tagen wollte ich die ersten Flüge außerhalb der Lufthülle riskieren. Die Europäer nannten ihren Planeten mittlerweile nach dem Boden, der sie ernährte; Erde. »Wir haben unser Interesse auf Bonaparte gerichtet«, sagte der Roboter mit Entschiedenheit. »Ich versuche den günstigsten Zeitpunkt zu ermitteln, an dem er deine Ratschläge brauchen wird.« »Gut. Weiter so.« Drei Stunden nach einer bunten Abenddämmerung saß ich im Arbeitszimmer und schaltete von einem Bildschirm zum anderen. Das Bild der Welt im Frühjahr 1798, die Bilder und der Zustand meiner kleinen Welten, Ausschnitte eines verwirrenden Riesenorganismus, konnten meine ausgeglichene Stimmung nicht beeinflussen. Nächstes Thema: Beauvallon und Franconnade. Das Tal, die Felder und Weinberge wurden ausgezeichnet von Guilelmon Anguerrond, seiner Frau Madeleine-Agnes und der Lehrerin Joelle verwaltet; der Junge Rene-Laurent war knapp achtzehn. Boog und Rico unterstützten die Entwicklung; niemand schien krank zu sein, das Vieh war fett, die Hütten und Häuser – deren Anzahl zugenommen hatte – ließen ausgezeichneten Zustand erkennen. Ricos Besuche galten Cephyrine, meiner ehemaligen Geliebten. »Nimm Platz«, sagte ich und hob den Weinkelch. »Ziehst du eine andere Musik vor?« Amoustrella war hereingekommen. Durch den Raum schwebten die Akkorde der »Zauberflöte«, die Ouvertüre des Amadee Mozart,
jung gestorben, ein begnadeter Kompositeur. Amoustrella schüttelte den Kopf. Sie trank bedachtsam und sagte leise: »Die Musik ist schön. Dieser Teil der Welt ist herrlich. Du bist ein seltsamer Mann.« Ich wußte, was sie meinte. Vermutlich erwartete sie von mir, was viele Männer ihr angeboten hatten. Ich war in den vergangenen Tagen zu ihr freundlich gewesen, höflich und zurückhaltend. Tausend Fragen hatte ich beantwortet, weitere fünfhundert Auskünfte hatte sie von Amir Darcy bekommen und natürlich wußte sie, daß ich sie begehrenswert fand. Ich irritierte sie, das war es. Wenn die Männer wüssten, hatte mich Cyrano de Bergerac gelehrt, was die Frauen denken, wären sie doppelt so draufgängerisch. »Warum seltsam? Sollte ich in der Küche stehen und Brot schneiden?« »Nein. Du hantierst mit Dingen, die für mich Wunder sind; für dich ist alles alltäglich. Wir sind wie auf der Spitze eines schönen, hohen Berges. Ich bin so zufrieden, daß ich fast meine, ich wäre glücklich.« »Dir fehlt also noch etwas, um aus Zufriedenheit Glück werden zu lassen. Glaubst du, man findet es hier?« »Ich weiß es nicht, und deshalb reden wir«, sagte sie. Amoustrella hatte viel Zeit und Mühe darauf verwendet, sich auf diese Unterhaltung vorzubereiten. Ihr Haar schimmerte in einer Hochfrisur, sie trug schweren Schmuck; das tief ausgeschnittene Kleid kam aus dem Fundus der Kuppel. An den schlanken Füßen steckten Sandalen, ihre sonnengebräunte Haut schimmerte, und bis hierher roch ich Essenzen aus Grasse und Paris. In ihren Augen spiegelten sich Kerzenflammen. »In einem Monat verlassen wir, wenn nichts Dramatisches geschieht, dieses kleine Paradies der Zufriedenheit«, sagte ich. »Ich meine, wir sollten nach England reisen und mit Horatio Nelson sprechen. Willst du mit mir kommen? Vielleicht begleitet uns Rico. Das ist noch nicht sicher.« »Ich spreche nur schlecht die Sprache der Engländer.« »Du wirst sie bald gelernt haben.« Ich füllte die Becher. Die Laute von Insekten, Vögeln und raschelnden Bodentieren mischten sich in das Grummeln der Brandung. »Würde es dich glücklich machen?« Mittlerweile wußte ich viele Einzelheiten ihres bisherigen Lebens. Sie war achtundzwanzig und von so vielen Erfahrungen geprägt, daß ihr Misstrauen gerade dann, wenn es grundlos schien, stärker wurde. Ich musste lachen. »Die Reise wird bestimmt herrlich und aufregend«, sagte Amoustrella zweifelnd. »Ändert sie etwas zwischen uns?« »Wir sind die besten Freunde«, sagte ich. »Du fühlst dich bei mir wohl, ich genieße deine Anwesenheit, alles ist friedlich, du wirst schöner von Tag zu Tag, meine glühenden Blicke verfolgen dich, und draußen steigt die Flut. Was sollten wir ändern?« »Meine Erfahrungen…«, begann
sie. Ich grinste. »Kluge Menschen suchen sich selbst die Erfahrungen aus, die sie zu machen wünschen. Ein Teil der Entscheidung liegt bei dir, Amou.« »Und was tust du?« »Ich habe meine Entscheidung getroffen«, sagte ich. »Wenn ich die Frauen verstehen könnte, ginge viel von ihrem Zauber verloren.« Sie schnippte mit den Fingern. »Wer von der Hoffnung lebt, wird wenigstens nicht fett.« »Wenn ich enttäuscht bin«, sagte ich nachdenklich, »ist meine Enttäuschung nicht kleiner oder weniger schmerzlich als deine. Die Fähigkeit, glücklich zu sein, liegt in uns. Zwecklos, woanders zu suchen. Es ist besser, noch einmal in guter Ruhe alles zu überschlafen, ehe ein böser Fehler gemacht wird.« »Du tust, als hättest du den Stein der Weisen!« Ich stand auf, füllte mit dem Rest Wein die Kelche nur halb und erwiderte: »Es ist nur ein winziger Kiesel, schönste Amoustrella. Kometensegler haben derlei an sich, ob’s stimmt oder nicht. Ich wünsche uns eine wirklich gute Nacht.« Ich trank aus, verbeugte mich und küsste ihre Fingerspitzen. Verblüffung, Trotz, aufkeimendes Gelächter und plötzliches Verstehen spiegelten sich in Amoustrellas Gesicht. Ich schloss leise die Schiebetür zu meinem Schlafzimmer, zog das kühle Laken bis zum Kinn und hörte das Sirren der Stechmücken außerhalb der Energiefelder, bis ich einschlief.
Ein Arm lag über meiner Brust, Haar kitzelte mich am Hals. Das Extrahirn hatte keine Gefahren erkannt und mich nicht geweckt. Ein Stern dicht über dem Horizont blinzelte mich gelblich an. Etwa eine Stunde bis zum Sonnenaufgang. Amoustrella flüsterte neben meinem Ohr. »Verrückt und seltsam, das bist du. Jeder andere hätte sich längst auf mich gestürzt. Jetzt…« »Seit einigen Jahrtausenden«, murmelte ich und zog die Schulter und den linken Arm der Frau an mich, »bemühe ich mich, nicht wie jeder andere zu sein.« »Wenn du willst, daß ich dich hasse, musst du mich auslachen, verletzen, lächerlich machen«, flüsterte Amou und richtete sich halb auf. Ich kämmte mit den Fingern durch ihr Haar und schüttelte den Kopf. »Ich lache nur dumme, reiche, machtgierige Männer aus. Aber ich darf dich anlachen, ja?« Sie küsste mich. Ihre Lippen waren abwartend und kühl. Ein früher Vogel schlug mit feuchten Schwingen über dem Haus. Ihr Körper drängte sich an mich, ehe unsere suchenden Finger alle Ziele gefunden hatten. Wir sahen die Sonne nicht, weil sich die Scheiben automatisch verdunkelten. Sie stöhnte: »Lachen ja, auch zusammen ernst sein. Ich bin fest entschlossen, mit dir glücklich zu sein.« Ich vermochte nur noch undeutlich zu murmeln. »Ein schönes Ziel, dem wir gemeinsam zusteuern werden. Würdest du dein spitzes Knie woanders hineinbohren?« Sie zischte in gespielter
Wut: »Ich habe keine spitzen Knie, Hakennasiger.« Unser Lachen erstickte. Ich verzichtete an diesem Tag darauf, die LARSAF DREI-ZWEI einer weiteren Inspektion zu unterziehen.
17. Nur Rico und ich wussten, daß die weißgekleidete Lehrerin ein Robot war. Ein weiblicher Robot? fragte ich mich, als wir drei die Sicherheitseinrichtungen passiert und das Unterirdische System der OphirUniversität betreten hatten, ohne von der robotischen Anlage abgewiesen und in eine wenig gastliche Umgebung transportiert worden zu sein. Wohlgerüche und einschmeichelnde Klänge, flutende Lichtschleier und holografische Bilder, die sich ständig veränderten, empfingen uns in der stählernen Vorhalle. Amoustrella blieb vor dem Steinblock stehen, in den alle bekannten Längenmaße eingraviert waren – die Gudea-Elle von Lagash (495 mm), die Nippur-Elle (518 mm); die Handbreite (67 mm), der Fuß zu 16 Zoll (26,5 cm), die neuen französischen Maße, und zahllose andere Maßeinheiten –, strahlte Lilith an und bewunderte die schwebenden Ausstellungsstücke. »Herrlich!« Sie schwärmte. »Es wird eine helle Freude sein, hier lernen und studieren zu dürfen!« »Das wird sich zeigen.« Rico stand mit Lilith in lautloser Verbindung. Sie kam näher, makellos vom Scheitel bis zu den hohen Absätzen. Ihre Stimme gurrte, als sie uns anstrahlte und sagte: »Ich bin Lilith, Magistra D.E.L.A.U.D. Also: Die Einzigartige Liebenswerte Allwissende Unnahbare Dozentin.« Im Kunstlicht schimmerte ihre Haarpracht golden. Ich brach in schallendes Gelächter aus, und Lilith führte uns ungerührt durch den Wohnbereich, vorbei an gefüllten Kühlkammern und leeren Sälen, in denen Anschauungs- und Unterrichtsmaterial für Chemiker, Physiker, Sprachforscher, Mechaniker, Strahlenforscher und Metallbearbeiter vorhanden war. Ich sah die versteckten HypnostrahlungsProjektoren ebenso wenig wie Speicher und Sender der Langzeit-Lehrprogramme. Das Innere der Station zeigte sich als unwirkliche, heiterschöne hermetische Welt; die Ausgebildeten würden von goldenen Regenbogenträumen schwärmen, wenn sie sich wieder in ihrer gewohnten Umgebung zurückfanden. »Sechzig Studierende. Ein Team aus Köchen, Bäckern, Fleischhauern, Bierbrauern und Weinküfern et cetera«, sagte Rico. »Wir dachten uns, es wäre sinnvoll, stets eine gleichsprachige Gruppe hierher zubringen. Aber das Konzept der Universität hast du zu bestimmen, Gebie… Atlan.« »So ist es.« Ich sah Sicherheitsschotts aus Arkonstahl, die versteckten Öffnungen in den Berghängen, die Wirtsstube, Krankenstation, Apotheke; alles diente dazu, einen Barbaren staunen und nachdenklich werden zu lassen, ihn unablässig anzuregen, ihm die Möglichkeiten der Welt zu zeigen. Holografisch kreisten
neun Planeten und sechzig Monde im künstlichen Sternhimmel der Eingangshalle. »Ich werde gebührend lange darüber nachdenken. Auch das scheint mir keine Gewähr zu sein, daß die Barbaren bald zu den Sternen aufbrechen.« »Schwerlich, Magnifizenz und Spiritus Rector.« Lilith lächelte mit schneeweißen Zähnen. »Aber hier werden sie von den Sternen zu träumen lernen – und von einer besseren, klügeren Welt.« »Gut gesagt«, meinte Amoustrella. »Sicherlich wird es Rückschläge geben. Was dein Plan bewirken wird, capitaine des siecles, wirst du überprüfen können.« Wir hatten hier, sagte ich mir am Ende des zweiten Rundganges in der Bibliothek, die idealen Voraussetzungen geschaffen. Was die lernenden Barbaren aus ihren Einsichten und Kenntnissen machen würden, blieb dahingestellt; ich war skeptisch. Wir alle verließen die Ophir-Schule durch den Transmitter und kehrten zur Überlebensstation zurück.
Langsam rollte das Raumschiff in den unerträglichen Glanz des Sonnenlichts. Ich legte kurz meine Rechte auf Amoustrellas Arm und sagte: »Die Reise im schnellen Ballon beginnt. Keine Angst. Was du heute sehen wirst, kennen die Adler schon seit undenkbar langer Zeit.« Ein Hypno-Spezialprogramm aus Ricos Speichern hatte Amoustrella Gramont auf die Eindrücke vorbereitet. Langsam stieg das Schiff schräg nach Norden. Ich zog das Fahrgestell ein und schob den Geschwindigkeitsregler nach vorn. »Ohne prahlen zu wollen, Atlan«, sagte Amou. »Ich habe keine Angst. Und wenn mich jemand in diesem Aufzug sieht?« »Die bewussten Adler, Geier und Albatrosse sind den Anblick gewöhnt.« Ich sagte ihr nicht, daß ich in wenigen Minuten den Deflektorschirm einschalten und das Risiko, entdeckt zu werden, mindern würde. Die LARSAF stieg weiter, wurde schneller und wandte sich nach Nordwest. Ich kurvte um ein Gebirge aus schneeweißen Gewittertürmen herum. Amou schrie vor Entzücken. Zwischen den Bodenantennen und denen auf Sao Miguel zuckten telemetrische Informationen hin und her. Der Bordrechner testete ununterbrochen die Funktionen sämtlicher Geräte. Grünes Licht auf allen Anzeigen. Wir trugen leichte Druckanzüge mit einigen Sicherheitseinrichtungen, die Helme waren zurückgeklappt. »Die Wüste. Nicht ein einziger Baum. Scheinbar regungslose Einsamkeit«, sagte ich und raste in siebentausend Metern Höhe über Grund auf den östlichen Rand des großen eurasischen Kontinents zu. Staunend, den Mund geöffnet, betrachtete Amou die Landschaften aus Wasser, Stein und Wald, aus mäandernden Flüssen und Buchten, die unter uns hinzogen. Ich flog die ersten gewagten Manöver, und das Schiff gehorchte der manuellen Steuerung ebenso gut wie dem Autopiloten. Ich warf einen Blick zu meinem einzigartigen
Fluggast. Amoustrella schien tatsächlich keine Furcht zu kennen. Sie beobachtete wie ein begeistertes Kind die Oberfläche des Planeten und die vielen Kontrollanzeigen. Als sie meinen Blick bemerkte, drehte sie den Kopf und lächelte mir zu. »Mon dieu! Dass die Welt so riesengroß sein kann«, sagte sie kopfschüttelnd, »das habe ich nicht einmal geträumt. Mit den Augen der Adler sehen… auch das nicht.« »Du wirst andere Gegenden sehen. Voller Menschen und ohne jedes Lebewesen.« »Herrlich. Einmalig. Ohne dich würde ich es nie sehen.« Sie war hinreißend. Ich stellte mit heiterer Verwunderung fest, daß ich auf dem besten Weg dazu war, mich zu verlieben. Sie war wie eine Vision, ein Traum, der sich der Wirklichkeit annäherte, oder die Wirklichkeit der Welt unausgesprochener Vorstellungen. Für einen skeptischen Arkoniden eine unerwartete Situation. Misstraue den Blitzschlägen deines Gefühls, warnte das Extrahirn. Das war mein Problem. Ich verschob den nächsten Versuch einer Lösung und griff in die Steuerung. Die LARSAF tanzte durch die dünne Luft, erreichte vorläufige Höchstgeschwindigkeit, wurde scharf nach unten gedrückt und riskant wieder hochgerissen. Die beruhigende Stimme Ricos, der die Reaktion der Bauelemente testete, summte in meinen Ohren. Ich leitete einen weiteren Steigflug ein und sagte leise: »Ich kreise über unserer Insel.« »Verstanden. Ich kann das Schiff einwandfrei anmessen.« Die Farbe des Himmels änderte sich, als wir höher stiegen und ich den neuen Kurs programmierte. Ich wollte noch keinen Flug riskieren, der uns vom Planeten zu weit entfernte. Vielleicht die Umkreisung des Mondes. Seit dem Unfall traute ich dem Schiff nicht recht. Als ob die LARSAF mich vom Gegenteil überzeugen wollte, verhielten sich trotz höchster Belastung sämtliche Systeme wie die eines alt gedienten arkonidischen Kreuzers. Ich lehnte mich zurück, studierte Amoustrellas schönes Profil und meinte schließlich: »Wir werden in knapp einer Stunde Frankreich und die Camargue überfliegen. Allerdings in großer Höhe. Willst du etwas Bestimmtes sehen?« »Nein, danke. Mich zieht nichts dorthin. Ich will bei dir sein.« »Ich habe nicht das geringste dagegen«, sagte ich. »Links, das ist das Mittelmeer.« Die »Säulen des Herakles« tauchten auf. Ich drosselte die Geschwindigkeit und hörte in den Lautsprechern der Steuerkabine ein scharfes Knacken. Ricos Stimme klang alarmierend scharf. »Nimm Kurs auf Toulon, Atlan. Dort versammelt sich eine riesige Kriegsflotte. Über ihr tauchte vor Sekunden Nonfarmale auf.« »Verstanden«, sagte ich, aktivierte sofort den Deflektorschirm und bog nach links ab. Über Katalonien änderte ich den Kurs, raste über die Wellen
des Meeres in Richtung auf Marseille. Ich drosselte die Geschwindigkeit und fragte: »In welcher Höhe schwebt der Saurokrator?« »Etwa eintausend Meter«, antwortete Rico augenblicklich. »Ich orte eine ungewöhnlich große Menge Metall.« »Ich sehe nach«, sagte ich. Wir waren so gut wie unbewaffnet. Aber bis auf den Umstand, daß sich kleinere und größere Heeresgruppen in Frankreich nach Süden bewegten, wußte ich von keiner bevorstehenden Schlacht. Was suchte Nonfarmale in der Nähe von Toulon? »Clair d’anne, du wirst unter Umständen gleich einen schrecklichen Tyrannen sehen. Erschrick nicht, ich erkläre dir alles in Ruhe. Er kommt aus dem Anderswann, aus einer von vielen grausigen Welten, und er ist schuld an furchtbarem Elend. Er reitet auf irgendeinem unglaublichen Biest, das nicht weniger scheußlich ist als er selbst. Mein Todfeind. Der Feind aller Menschen.« Ihr Blick wurde wachsam. Sie überlegte lange, ehe sie antwortete. »Es hört sich an, als hättest du viel Respekt vor ihm. Wie heißt er? Nonfarmale? Du fürchtest ihn, und du hasst ihn. Ich sehe es an deinem Gesicht und an deinen Fäusten.« »Das ist richtig. Ich habe einige Male gegen ihn gekämpft und ihn nicht töten können. Ja, ich fürchte seine Verschlagenheit.« Rico sagte: »Dreihundert Meter unter deiner Flughöhe, siebzigmal tausend Meter Nordnordost.« »Klar. Sind Sonden unterwegs?« »Zwei Stück. Ich bezweifle, ob sie rechtzeitig an Ort und Stelle sind.« Das Raumschiff flog in die angegebene Richtung. Ich ging tiefer und drehte an den Schaltern des Monitors. Endlich tauchte ein dunkler Punkt auf, eine Vergrößerung erschien, und ich raste auf das Ziel zu. »Nonfarmale. Saurokrator.« Meine Stimme wurde leise und schneidend. »Aus einer Welt, von der man dieselben Sterne sieht wie von unserer Welt. Aus dem Anderswann, aus einer Jenseitslandschaft, aus dem pays de chimere, umgeben von willenlosen Opfern, an deren Leiden er sich weidet. Er kommt, um vom Tod, von Qualen, von Angst und Furcht zu leben. Für ihn ist das wie Wein.« »Ich kenne viele Namen für solche Ungeheuer. Einige habe ich getroffen. Von anderen haben sie erzählt«, antwortete Amoustrella. »Aber ich werde auch erschrecken.« Auf dem Bildschirm und vor der Scheibe des Schiffes, das viel langsamer flog, war deutlich Nonfarmale zu sehen. Ich war vorbereitet; dennoch erschrak ich. Sein Reittier schien ein Parasaurier zu sein, aber Haut und Schwingen sahen aus, als bestünden sie aus Platten eines stumpfen Metalls, mit Nieten an Lederflächen und biegsamem Glas befestigt. Ein riesiges Tier, schuppig und voller Runzeln, Warzen und moosig-grünen Flecken, mit mächtigen Fledermausschwingen, einem Kopf wie ein Doppelhammer,
voller eiserner Beschläge, Stangen, Ringe und Ketten. Ein fliegendes Reittier mit einem Sattel aus narbigem Leder und löchrigen Metallgestängen, würdiges Transportmittel für einen wie Nonfarmale, ein Wesen voller schwarzer Rätsel. »Grauenhaft«, flüsterte Amoustrella. Unter der Bräune war sie fahl geworden. Ihre langen Wimpern senkten sich, als sie den Kopf drehte, meinen Gesichtsausdruck studierte und sich zwang, den Psychovampir anzusehen. Nonfarmale blickte hinunter zu den Schiffen, die im Hafen und auf der Reede von Toulon lagen. Fast fünf Dutzend. Er trug eine schlichte Uniform, die nur auf den ersten Blick einfach wirkte. Die Nähte schienen aus Kettengliedern zu bestehen, die Maske vor seinem Gesicht strahlte silbern und grau, an den Stiefeln drehten sich handtellergroße Sporen. Das Aussehen der Armbrust hatte sich verändert, und als ich seine Hände und die Handgelenke sah, bemerkte ich Narben, die Spuren verbrannter Haut, dazwischen die Sehnen und Muskeln, die unter einer Schicht wie Pergament lagen. In der Maske befand sich ein vier Finger breiter Schlitz, durch ein durchsichtiges Oval verschlossen. Ich glaubte, daß trotz der Wolkenkette, die über der Schnittlinie zwischen Wasser und Land in die Höhe perlte, Nonfarmale seinen Blick auf uns richtete. Ich hatte ihn anders gesehen, kannte ihn in anderer Ausstattung – aber ich fröstelte. Es war, als sähe ich zum ersten Mal das eindeutige Symbol der Gefahr. »Er sieht uns nicht«, sagte ich heiser. »Er wartet darauf, daß etwas in Verbindung mit den Schiffen passiert.« Von Bord der Kriegsschiffe wirkte der Saurier wahrscheinlich wie ein Geier, der von Saedegna oder Corsika herübergeflogen war. »Worauf warten die Schiffe?« fragte Amoustrella. »Keine Ahnung. Ich erfahre es bald. Wahrscheinlich nehmen sie Kurs auf Nelsons Flotte. Oder sie bringen ein Heer irgendwohin. Kampf bedeutet Leben für Nonfarmale.« Die Bestie schlug träge mit den Schwingen. Der Schwanz, der in eine kleine Flosse auslief, peitschte die Luft. Ziellos fuhren Krallen, so groß wie meine Hand, hin und her und schlossen sich gierig. Aus dem Schlund des Sauriers sickerte eine dünne Schleimspur, verteilte sich entlang des Halses und tropfte in die Wolken. Amou schüttelte sich vor Ekel, während die Linsen der ersten Spionkugel und der Aufzeichnungsgeräte der LARSAF filmten, was ich sah. Mit wilden Rucken an den Kettenzügeln dirigierte Nahith seine zusammengestückelte Echse hinaus übers Meer und tauchte in eine schneeweiße Wolke hinein. Er kam nicht mehr daraus hervor. Rico bestätigte, was ich vermutete: »Nonfarmale ist verschwunden.« »Ich weiß«, brummte ich. »Demnächst deponiere ich eine Arkonbombe in seiner Wohnwelt.« »Hätten wir
ein solches Zerstörungsmittel«, sagte der Roboter, »würde es helfen.« Ich ließ die LARSAF steigen, erhöhte die Geschwindigkeit und ging auf Kurs nach Osten. »Das beendet mehr oder weniger unseren Aufenthalt zwischen den glücklichen Beutelhüpfern?« meinte Amou. Ich nickte. Der Turm über dem Lechtal kam mir in den Sinn, Beauvallon schied aus, weil die Einsamkeit nicht gesichert war. Aber wir konnten auch vom Dorf der Samurai aus operieren. Nein. Die Entfernung war zu groß, und ich durfte das Raumschiff nicht gefährden. Der Logiksektor sagte knapp: Die Welt, aus der dein Feind kommt, muss so gewalttätig sein, wie der Drache aussieht. Dies waren Teile meiner Überlegungen, als wir vom Bordrechner zum Hangar zurückgebracht wurden. Auf dem Flug tastete ich nach Amous Hand. Zum ersten Mal suchte ein Arkonide bei einer jungen Frau dieser Welt nach Sicherheit, Schutz und Mitgefühl; und als sie nach der Landung ihren Arm um meine Schulter legte und wir unter den blütenübersäten Ästen mächtiger Bäume zurückgingen, fühlte ich Stärke und Beruhigung. Wir schwiegen. In die Idylle war der Schrecken eingebrochen. Mitten in der Nacht nahm Amou mein Gesicht in beide Hände, blickte mich mit ihren schönen Augen an und flüsterte: »Du wirst siegen, Kometensegler.« »Wenn du ihn nicht töten kannst, wirst du ihn wieder für lange Zeit verjagen. Ich bin bei dir.« Ich nickte; wahrscheinlich hatte sie Recht.
Für lange Stunden legten sich die Ruhe und der dörfliche Frieden, der im Mai über Schlösschen und Dorf lag, auch über mich. Cephyrine schob die Brille auf ihre Nasenspitze und lächelte zuversichtlich. »Ich irre mich nicht, mein junggebliebener Geliebter. Du wirst niemals aufhören, entschlossen und mutig zu handeln und zu kämpfen.« »Danke.« Ich lächelte schmerzlich. »Ich weiß nicht warum, aber ich habe das Gefühl, daß der nächste Kampf härter wird und mich vielleicht tötet, Cephyrine.« »Du überlebst ihn wie jeden anderen. Kluge Vorsicht ist deine zweite bewunderungswürdige Eigenschaft.« Sie hatte nicht aufgehört, mich zu lieben. Ihr Glaube schien wie die Felsen des Tales. Sie goss starken Kaffee in eine riesige Tasse, fügte Zucker und frische Sahne dazu, nahm den Korken aus der Calvadosflasche. Bienen stürzten sich auf den Zucker. Ich wedelte über dem Geschirr aus Colberts Manufaktur und zuckte mit den Schultern. »Ich überlege lange, sicher«, sagte ich. »Und du? Du genießt die Ruhe? Es ist dir nicht langweilig? Du siehst aus wie das berühmte blühende Leben.« Rico versorgte sie mit Büchern, Musikwürfeln, Gesundheit und allem, was sie brauchte. Cephyrine schüttelte den Kopf. Ihr schulterlanges silbergraues Haar flog. »Es sind Jahre, in denen ich wunschlos bin, bis ich neben deiner
Monique liege.« Sie deutete zum Kirchlein hinüber, das einen arroganten Turm erhalten hatte. »Es könnte mir nicht besser gehen, Kometensegler. So sagt Joelle zu dir, nicht wahr?« »Sie hat noch keinen wirklichen Kometensegler gesehen. Sie ist tüchtig und beliebt, ja?« Cephyrine nickte lächelnd und trank den höllisch starken Kaffee. Der Schluck des Normannenschnapses, den sie hinterher goss, zeigte ihre Gesundheit noch deutlicher. »Es sind gute Leute, die wir ausgesucht haben. Das Dorf wird reich.« »So soll es sein«, sagte ich. »Ich muss zurück in den düsteren Turm, um meine Rüstung zu schmieden. Napoleon geht in Toulon auf die Schiffe, um Ägypten zu erobern. Das wird nicht ohne Leichen und Verstümmelte abgehen, und so geht auch nach der Revolution das Töten munter weiter.« Ich leerte mein Glas, trank die Tasse aus und küsste meine alte Freundin auf beide Wangen. Ohne aufgehalten zu werden, benutzte ich den Transmitter und war am späten Mittag im Turm über der Lechschleife. Amou, Rico und Boog warteten. »Es wäre auffallend, aber wenig zweckmäßig, Atlan, den Seelensauger auch auf dem Rücken eines Sauriers bekämpfen zu wollen«, sagte Rico. Amoustrella zog die Brauen hoch. »Ein solches Tier habe ich noch nie gesehen. Auch das Wort kenne ich nicht.« »Vor Millionen Jahren gab es ähnliche Riesenechsen auch auf unserer Welt«, sagte ich. »Echsen; die Griechen nennen sie ›Sauros‹… ein Parasaurier ist eine Mit-, Bei- oder Nebenechse, Logosaurier wäre eine Echse der Vernunft, und ein Diplosaurier eine Doppelechse. Worauf Nonfarmale reitet, vermag ich nicht zu sagen.« »Es gibt eine verschlungene Wahrscheinlichkeitslinie«, sagte Amir Darcy gelassen. »Erinnerungen an das Nilland. Perfekte Kenntnisse des Landes zwischen Mittelmeer und den Katarakten von Khartoum. Vertraut mit den Sitten der Eingeborenen, dem Klima und den Dünen, der Wüste und dem fruchtbaren Dreieck, aus dem einst das Papyrus kam. Wenn beispielsweise ein Scheich Atlan ben Aracon, gehüllt in einen prunkvollen Burnus, im Sattel eines feurigen Hengstes, den zukünftigen Herrscher aller französischen Waffen erwarten würde?« Ich nickte und fand langsam Gefallen an diesem Vorschlag. Immerhin kehrte ich an die Stellen meines früheren Wirkens zurück. »Dann würde Scheich Atlan augenblicklich die höchste Beachtung des Korsen finden«, sagte ich. Rico sprach weiter. »Kämen dann noch gewisse Erzählungen, das überlegene Wissen, die gefürchteten Scherze und bestimmte Kunstfertigkeiten der Waffenführung und der Feldartillerie hinzu, wäre Scheich Atlan unentbehrlich binnen weniger Tage.« »Einverstanden, Freund Rico. Bereitet alles vor. Indessen fragt sich Scheich Atlan, ob er in seinen Frauenzelten noch eine fadenscheinige,
verwanzte Decke für Amoustrella hat?« »Wenn ich in deiner Nähe sein darf«, Amoustrella senkte übertrieben demütig den Kopf, verneigte sich und lispelte leise: »schlafe ich auch im heißen Wüstensand.« »Es wird sich ein Mindestmaß an Komfort finden lassen«, sagte ich. »Immerhin wird Napoleon von einem riesigen Heer umgeben sein. Und vermutlich wird er mich, uns alle, in seiner Nähe haben wollen. Er quetscht Menschen aus wie reife Früchte.« Leise, aber sehr bestimmt, sagte Amoustrella: »Ich habe dich anders kennen gelernt, Atlan. Du wirst für den nötigen Abstand sorgen.« »Das ist für mich und dich überlebenswichtig«, sagte ich. »Und aus diesem Grund wird der Korse mich nicht vereinnahmen.« »Auf zu den Pyramiden«, sagte Amir Darcy. »Allons, enfants de la patrie! Das wird auch dort der Korse seinen Grenadieren zurufen.« »Die Marseillaise wird die Soldaten zu unglaublichen Leistungen aufpeitschen, auch gegen die Türken«, sagte ich, deutete auf Darcy Boog und befahl: »Du wirst uns begleiten. Als somalischer oder nubischer Diener für jeden Zweck.« »Mit Vergnügen, Effendi.« Es würde noch einige Zeit dauern, bis Napoleon an der Spitze seiner Truppen an Land ging; denn sie waren jetzt damit beschäftigt, die Insel Malta zu belagern; sein Wahlspruch schien zu heißen: »Wer aufhört, besser sein zu wollen, hat aufgehört, gut zu sein«, wie Oliver Cromwell oft gesagt hatte. Das Heer Bonapartes ergoss sich aus zweihundertachtzig Transportern und fünfundfünfzig Kriegsschiffen. Achtunddreißigtausend Soldaten, dazu ein Schwarm von Schriftstellern, Gelehrten, Künstlern und Hilfskräften gingen nahe der Stadt Alexandria – der Leuchtturm, dessen oberste Plattform ich so oft erklettert hatte, war längst zusammengebrochen – in mustergültiger Ordnung und in unerwarteter Schnelligkeit an Land. Ebenso wie vor Mailand marschierte auch die so genannte Orientarmee blitzartig gegen Kairo vor. Augenscheinlich war der Korse ein exzellenter Organisator. Klar geordnet, mit überraschend wenig Ausfällen, setzte sich die Armee in Bewegung. Die reitenden Boten der Mamelucken galoppierten davon, erschreckt von der Zielstrebigkeit der Fremden. Ich erwartete die Vorhut auf einem winzigen Hügel, im faserigen Schatten von Palmen. Sattel und Zaumzeug meines Schimmelhengstes funkelten; silberne und goldene Verzierungen flirrten im Sonnenlicht. In meinem Ohr wisperte Ricos Stimme, die mir berichtete, was seine Sonde sah. Ich drehte mich um; gerade noch konnte ich zwischen dem Ufer des Moeris-Sees und den Ausläufern des Wüstengebirges die Spitzen meiner Zelte erkennen. Das Heer kam auf der westlichen Seite des westlichen Delta-Nilarms entlang. Der Logiksektor wisperte: Durch den Westlichen Harpunengau,
an Sais vorbei, durch die Westmark. Du entsinnst dich? Nur zu gut. Damals war es in dieser fruchtbaren Zone weniger kriegerisch gewesen. Als ich sicher war, daß mich die Späher entdeckt hatten, hob ich den Arm, gab die Zügel frei und kitzelte den Hengst mit den goldenen Sporen. Mein Auftritt war sorgfältig berechnet; im Glanz des Sonnenlichts funkelte und flirrte die Goldstickerei. Der lange Mantel flatterte, als ich auf die Gruppe der französischen Späher zugaloppierte. Der Schweif des Pferdes wirbelte ebenso wie die Mähne, und ich hob grüßend den rechten Arm. Sie sahen, daß ich gut bewaffnet war, meine Finger sich aber nicht in der Nähe der Waffen befanden. Bonaparte ritt an der Spitze der zweiten Gruppe. Ricos Sonden hatten jede erdenkliche Information geliefert. Mir reichten die Beobachtungen aus weiter Hand nicht. Die Franzosen starrten mich an. Für die uniformierten Reiter musste ich wie eine Gestalt aus einem orientalischen Märchen wirken. Als ich in Rufweite war, riss der Hengst seinen Schädel hoch und wieherte grell. Ich rief in gestochen klarem Französisch: »Willkommen, Truppen des großen Korsen. Ich, Scheich Atlan ben Aracon ibn Gonazael, begrüße euch an den Ufern des Nils. Ich weiß, daß der große Heerführer einen Wegekundigen braucht.« Ich zügelte den Hengst dicht vor ihnen. Die Reiter umringten mich und musterten wild durcheinander redend meinen prunkvollen Aufzug. Ich zog das seidene Tuch übers Kinn herunter und lächelte in jedes einzelne Gesicht. »Ihr kommt aus Paris? Aus dem Rhonegebiet? Aus der Ile de France?« Ich breitete die Arme aus, als wollte ich sie alle umarmen. »Es waren herrliche Jahre, als ich an der Academie studierte.« Der Anführer ritt scharf an mich heran, schien die Ringe an meinen Fingern zu zählen und die Glieder der dicken Goldkette. Er sagte im Dialekt der bretonischen Küste: »Wir sind aus allen Teilen des Landes, Fremder. Und hier kennen wir kaum ein Sandkorn. Du hast wirklich an der Universität in der Hauptstadt studiert?« »Viel zuwenig«, antwortete ich und nannte einige Namen aus den Jahren vor der Revolution. »Aber es zog mich zurück ins Meer aus Sand, Citoyens.« »Du lebst hier, und wie heißt du, Scheich?« »Ich bin Atlan, Sohn des Aracon, Enkel des Gonazael. Ich kann euer Heer an jeden Platz führen, an dem euch die Mamelucken einen Kampf liefern werden.« »Warum verrätst du dein Volk?« wollte ein Späher wissen. Ich schüttelte mit einem kühlen Lächeln den Kopf. »Du irrst. Ich und diese dort – uns trennen Jahrtausende einer bösen Geschichte. Mein Volk lebte schon hier, als Allahs Prophet noch nicht einmal gezeugt war. Es sind die Feinde des Nillands.« »Dann bist du ein Ägypter?« »So kann
man es ausdrücken.« Der Anführer entschloss sich schnell. Er rief ein paar scharfe Befehle. Die Männer rissen ihre Pferde herum. »Wir geleiten dich zu Bonaparte!« rief der Mann, den sie Terray nannten. »Wo stehen die Truppen des Sultans?« Meine Geste wies vage in die Richtung des Nils. »Sie versuchen sich zu sammeln. Noch habt ihr nichts von ihnen zu befürchten als vielleicht einen gelegentlichen Überfall auf die Nachhut.« Napoleon hatte möglicherweise eingesehen, daß eine Invasion in England, mit Schiffen und Booten über den Kanal, der von Nelsons Flotte kontrolliert wurde, sinnlos war. Um England entscheidend zu treffen, wollte das Pariser Direktorium die Kolonien Britanniens angreifen. Der Sultan, das sagten meine Informationen, zog seine Hauptarmee in Syrien zusammen, aber bis diese Heere auf Napoleons Armee trafen, verging wohl noch lange Zeit. Wir trabten über eine fast unkenntliche Straße, zwischen Dünen und den Ausläufern des Fruchtlands, nach Norden. Terray wandte sich an mich. »Sind alle Wüstenreiter so reich wie du? Deine Ausrüstung, die Waffen… sie zeugen von Reichtum.« »Der Vorteil des Reichtums besteht darin, daß man keine so genannten guten Ratschläge mehr zu hören bekommt«, sagte ich. »Nein. Nur Männer wie ich, die weit reisen und ihr Können richtig einsetzen, verfügen über genügend Geld und Einfluss.« »Wir kennen wundersame Geschichten vom heiligen Nil. Kennst du die Wahrheit, Atlan, Sohn Aracons?« »Selbstverständlich.« Das Heer würde mindestens noch eine Woche brauchen, um den Nil zu erreichen. Jetzt, vor der Nilschwemme, war er ein schlammiges Rinnsal. Die Fellachen, Bauern, denen es gleich war, ob sie von Pharaonen, Janitscharen, Mamelucken, Franzosen oder einem Heer auf dem Marsch nach Indien beherrscht wurden, warteten auf das Ansteigen des Flusses mit der gleichen unerschütterlichen Gelassenheit, mit dem Fatalismus, der sie seit den Tagen des Menes, Narmer oder Skorpion befallen hatte. »Wie weit ist es nach Kairo?« »Etwa sieben Tage«, sagte ich. Natürlich kannte Napoleon die Marschroute seines maßlosen Vorgängers, des Großen Alexander. Das Direktorium, auch davon musste er überzeugt sein, schickte ihn außer Landes, weil es seine Person als Drohung erkannt hatte. Zwischen den reitenden Soldaten des Korsen wirkte mein strahlender und prunkvoller Aufzug mehr als provozierend; zugleich schuf ich dadurch einen klaren Abstand zu den Eindringlingen. Nach wenigen Minuten zügelten wir unsere Pferde vor der nächstfolgenden Gruppe. Terray machte seine Meldung, Bonaparte und ich musterten einander schweigend. Im Sattel gab der »kleine« Korse eine gute Figur ab. Er schien wesentlich größer zu sein, als man spöttisch von ihm
behauptete. Zwischen den Bildern der Spionsonden und der Wirklichkeit gab es, wie nahezu immer in solchen Momenten, deutliche Unterschiede: Ehrgeiz, kluge Schnelligkeit der Überlegung, äußere Disziplin – diese Eigenschaften waren vordergründig. Er legte die Hand an die Mütze und sagte: »Du willst meine Expedition begleiten? Du kennst die Wege?« »Fast jeden, Feldherr«, sagte ich. »Bestimmt aber die Pferde, auf denen dein Heer nach Kairo ziehen will.« »Ziehen wird«, verbesserte er mich. »Welche Bezahlung? Vermutlich bist du teuer?« »Vielleicht, Sire, verdirbt Geld den Charakter. Auf keinen Fall hat je der Mangel an Geld den Charakter verbessert. Ich zöge es vor, so angesprochen zu werden, wie es einem Fürsten der Wüste entspricht, Sire.« Er lächelte plötzlich und ließ erkennen, wie schnell er sich einer neuen Lage anzupassen in der Lage war. »Verzeiht meine Unhöflichkeit, Effendi. Oder nennen Sie Euch Scheich Atlan?« »So wurde ich stets genannt«, sagte ich. »Wie lautet Ihre Planung, General?« »Ein berittenes Heer von sechzigtausend Mann mit fünfzigtausend Kamelen und zehntausend Pferden, das für fünfzig Tage Lebensmittel und Munition und für sechs Tage Wasser mit sich führt, kann in vierzig Tagen vom Nil aus den Euphrat erreicht haben. Vier Monate später wird es am Indus kampieren.« »Ein Vorhaben, eines makedonischen Alexanders würdig«, gab ich zu. »Um England in Indien zu besiegen?« »Wer weiß. Ich darf Sie bitten, Scheich, uns auf dem vernünftigsten Weg und schnellstens nach Kairo zu führen. Und in der Tat. Alexander kann für mich nur ein Vorbild sein.« »Er starb ein wenig früh für das Ausmaß seiner Vorstellungen«, antwortete ich und ritt langsam an Napoleons Seite. »Die Stunde, in der Sie die Mamelucken zu züchtigen versprochen haben, ist noch nicht da. Ich habe von Ihrer Proklamation gehört.« Kurz nach der Landung des riesigen Expeditionskorps nannten die Franzosen den Ägyptern den Grund ihres Eindringens. Es hieß: Seit vielen Jahren schon beschimpfen die Herren Ägyptens das Ansehen Frankreichs. Die Stunde ist gekommen, sie zu züchtigen. Allah, von dem alles abhängt, hat gesagt: Die Herrschaft der Mamelucken ist zu Ende. Den Fellachen und Nilschiffern bedeutete diese fadenscheinige Kriegserklärung nichts, auch den eigenen Soldaten konnte Bonaparte den Sinn dieser Unternehmung nur schwer verständlich machen. In mir schien er den geeigneten Führer gefunden zu haben. Er nahm den Hut ab, wischte den Schweiß von der Stirn und schob sein dunkelbraunes Haar mit den auffallenden Stirnfransen zurück. »Alexander starb nur einmal«, sagte er entschieden. »Nicht zweimal. Der zweite Tod wäre das Vergessenwerden. Er ist unvergessen.« »Aber von seinem
Weltreich blieb arg wenig übrig«, wagte ich einzuwenden. »Ich bin sicher, daß sich die Mamelucken Ihnen zwischen den Pyramiden und dem Nil, nahe bei Kairo, entgegenstellen werden. Die Art der Reiter, Krieg zu führen, ist veraltet, aber sie glauben, unbesiegbar zu sein.« Der General lächelte. »Jedes Heer behauptet dies von sich. Und doch gibt es stets einen Verlierer.« »Oder mehrere. Die Ägypter jedenfalls unterstellen den Franzosen, daß sie ebensolche Ausbeuter sind wie die Krieger von Murd Bey.« »Wir bleiben nicht lange«, sagte Napoleon. »Und wir werden ihnen Kultur und Zivilisation bringen. Im Troß habe ich Fachleute für jede erdenkliche Entwicklung dieses Landes.« Ich verzichtete auf eine Antwort. Wer hatte, vor undenklich langer Zeit, dem Schreiber des Zweiten Ramses so viel von Planeten erzählt, daß sie sogar an den Wänden seiner Grabkammer zu finden waren, dreißig Meter tief im Kalkstein am westlichen Nilufer? Bonapartes Augen schienen alles zu sehen, sein Blick alles zu durchdringen. Sie waren hell, fahlblau; für einen etwa Dreißigjährigen schien er tatsächlich ebenso hochbegabt wie ehrgeizig und entschlossen zu sein. Ein Sohn des Kriegsglücks, ein Nachfahre Karls des Kühnen, Gustav Adolfs, Wallensteins? Alexanders Enkel oder gar besser als Hannibal, den ich bewunderte, weil er die Römer so oft und so vernichtend geschlagen hatte? Sicherlich der Mann, der das Direktorium hinwegfegt und zu weitaus größeren Unternehmungen ansetzt. Der Prototyp des kommenden Diktators, flüsterte der Logiksektor. Ich griff in den Burnus und zog eine Rolle heraus. Als Napoleon, sein Pferd nur mit Schenkeldruck dirigierend, die Landkarte auseinander zog, sah er sämtliche Dünen, Wasserstellen und Pfade bis zu den Pyramiden und den Türmen der Minarette von Kairo. Er nickte. Ich deutete nach Westen und erklärte: »Meine Zelte stehen dort. Sie sehen es am schwarzen Punkt der Karte, General Bonaparte. Ich empfehle, heute Mittag um Punkt eins zu kampieren.« »Wasser? Schatten? Essen?« »Das Heer wird bestens versorgt. Die Fellachen sind, in ihren eigenen Grenzen der Armut, gastfreundlich. Ich empfehle Ihnen, sie besser zu behandeln, als sie es gewöhnt sind.« »Ich habe Dolmetscher mitgenommen.« Tatsächlich würde Napoleon wenig Widerstand finden. Die Mamelucken heirateten keine Frauen des Landes. Sie kauften junge Christen aus den armen Familien des Kaukasus. Islamische Krieger waren sie, mit Waffen, deren Verzierungen schwerer waren als der Stahl. Trotzdem würden sie sich begeistert in jeden Kampf stürzen, denn nur darin sahen sie den einzigen Zweck des Mannes. Ich streckte Napoleon die Hand entgegen. »Das Lager ist hinter der Reihe aus Palmen und Tamarisken, westlich des Dammes. In ein
paar Tagen steigt der Nil. Ich bin abends wieder bei Ihnen, zusammen mit einer Frau aus meinem Harem.« Während wir ritten und sprachen, hatte sich der Heerwurm mehr als eine Stunde lang auf die Spitze des Niltals zugewälzt. Die Erinnerung an meine Aufenthalte am Ufer des Hapi, wie Jotru, der Fluss, einst genannt worden war, hatte mich schon seit Tagen heimgesucht. Ich hielt meinen Hengst an. »Ich darf mich verabschieden, Sire?« »Ich wäre erfreut, wenn Sie und Ihre Freundin heute Abend Gäste in meinem Zelt wären.« »Mit Vergnügen«, versprach ich und ritt, nach allen Seiten grüßend, in westliche Richtung. Während die Hufe des Tieres Sandfontänen in die heiße Luft schleuderten, stellte ich mich in den Steigbügeln auf und federte die Stöße der Galoppsprünge ab. Aus dem Lautsprecher im Agal, dem Band, das um das Kopftuch geschlungen war, kam Amoustrellas Stimme. »Ich habe alles verstanden, Herr der Dünen. Welchen Eindruck hat Bonaparte auf dich gemacht?« »Er ist einer der kommenden Männer – wenn er überlebt«, sagte ich. »Ist der Wein kühl genug?« »So kühl wie meine Haut«, sagte sie. »Sieht er gut aus, der Held von Malta?« »Er ist zwar seit zwei Jahren mit Madame de Beauharnais verheiratet«, erwiderte ich und galoppierte durch das unfruchtbare Niemandsland abseits der grünen Ausläufer. »Aber durchaus beeindruckend.« Noch bevor ich die Zelte erreichte – seit die Wassertanks gefüllt waren, umgab ein Kreis aus Gräsern, Blüten und Blumen die reflektierenden Folien –, sprach Rico mit mir: »Die englische Flotte, eine erhebliche Anzahl von Linienschiffen, nähert sich der Bucht von Abukir. Ich habe Admiral Nelson auf einem der bestbewaffneten Schiffe gesehen. Vor Abukir liegen die Schiffe der Franzosen.« »Nimm die Bilder der Seeschlacht auf«, wies ich ihn an. »Daran hat Napoleon offensichtlich nicht gedacht. England will ihm den Rückzug abschneiden.« »Die Wahrscheinlichkeit, daß Nelson hart zuschlägt, ist sehr groß.« »Es ist erstaunlich, daß Nelson die Flotte überhaupt finden konnte. Brueys, Napoleons Admiral, sollte in den Hafen von Alexandria einlaufen, wie mir ein Offizier sagte.« »Ich übermittle dir die Aufnahmen, wenn du im Zelt bist, Atlan«, sagte der Roboter, der in der Kuppel seine Sonden dirigierte. »Und Nonfarmale dürfte wohl auch seine Stunde wittern.« »Ich warte auf ihn.« Die Zelte waren in einem offenen Kreis angeordnet. Boog nahm den Hengst in seine Obhut und führte ihn ins Stallzelt. Ich stapfte durch den glühendheißen Sand und schlug den schweren Vorhang zurück. Die Mamelucken hatten mit sich selbst und den Vorbereitungen genug zu tun, und ich erwartete bestenfalls einen Boten des Korsen. Auch er würde vom falschen
Prunk beeindruckt sein. Amoustrella gab mir lächelnd ein Glas hellroten Weines. Ich zog die langen Gewänder aus und bewegte die Zehen in den weichen Stiefeln. Leise klirrten die Sporen. Nach dem ersten, tiefen Schluck sagte ich: »Ich denke, er wird seinen Weg gehen. Wenn er erst einmal weiß, wohin er seine Schritte richtet…« »Wenn seine Vorgesetzten mit ihrem Latein am Ende sein werden, müssen sie Französisch mit ihm reden.« Amous Antwort war ein wenig zweideutig. »Seine Worte wirkten, als wollte er ein großes Reich gründen, zwei von dieser Sorte oder noch mehr.« »Je kleiner der Körper«, ich küsste ihre Fingerspitzen, »desto größer der Ehrgeiz. Wir werden ihn einige Haltepunkte seines Lebens weit begleiten.« Unser Lager konnte innerhalb einer Stunde abgebrochen und an anderer Stelle wieder aufgebaut werden. Amoustrella hatte einen kleinen Imbiss zubereitet. Zusammen mit dem schwarzhäutigen Amir Darcy Boog wirkten wir tatsächlich wie reiche Nomaden. Mein Haar war halblang und blauschwarz gefärbt. Langsam drang die Kühle durch den dünnen Stoff und erreichte meine Haut. »Heute Abend werden wir wohl mehr über die Franzosen erfahren«, sagte ich und nahm den nächsten Schluck. »Mir scheint, daß vorläufig das Direktorium und Napoleon das revolutionäre Chaos nicht nur verlängern, sondern auch in andere Länder verschleppen.« »Für einen Bewunderer jenes Mannes, von dem du mir berichtet hast, dem kleinwüchsigen Makedonen, ist dieses Vorhaben selbstverständlich«, sagte Amoustrella. Ich befahl Boog, das Lager in der Zeit, in der wir Gäste des Korsen waren, weiter nach Süden zu verlegen. Der nächste Punkt war bereits bestimmt.
Auf dem Heimweg leuchteten Sterne und Mond die Spuren von Gazellen und Schakalen aus. Erst spät entzündete ich die grellen Fackeln. Der Wein, mit dem uns Bonaparte bewirtet hatte, schien auf dem Transport gelitten zu haben; mein Zellschwingungsaktivator kämpfte gegen einen stechenden Kopfschmerz. Als Amoustrella sprach, fiel sie in einen schauerlichen Dialekt aus der Bretagne. »Bei allen bretonischen Heiligen, bei Saint Guirec, Briac, Duzec, Quai, Avoye, Cadu und Pabu…« »Bis du sie alle aufgezählt hast, haben wir Gibraltar erreicht«, unterbrach ich sie ächzend. Sie lachte und fuhr fort: »Fast jedes Genie verursacht augenblicklich eine Allianz der Mittelmäßigen. Auch und gerade unser brillanter Gastgeber. Er bekommt, was er will, und er will vieles, fast alles. Auf seine Art ist er ebenso ein Ordnungsfanatiker wie du, Wüstenfalke.« »Ich betreibe meine Ordnungsliebe allerdings ohne größere Kriegszüge.« Ich atmete die kalte, frische Luft tief ein. Langsam wichen die Schmerzen unter der Schädeldecke. »Wenn er fünfzig Jahre alt wird, liegen zwei spannende Jahrzehnte vor Napoleon
und jedem, der mit ihm zu tun hat.« Wir ritten langsam. Die Pferde fanden ihren Weg ohne Zügelhilfe. Über uns spannte sich der herrliche Sternenhimmel der libyschen Wüste. Wenn ich an die Vorhaben, die weit gespannten und teilweise undurchführbaren Einfälle und Visionen des Korsen dachte, wurde mir schwindelig. »Aber du willst ihn nicht zwei Jahrzehnte lang begleiten«, meinte Amou. »Eine wenig ersprießliche Vorstellung, Liebster.« »Völlig absurd«, sagte ich. »Mir graut, wenn ich an die Konsequenzen denke. Ich werde von Rico mehr Berechnungen und Einschätzungen verlangen. Dann treffe ich eine Entscheidung.« »Auch Napoleon hat keine große Eile, wie mir scheint.« Wir ritten den sanften Hang einer Düne und in die Ebene hinunter. Das Lager war schwach beleuchtet. Die Zeltwände wirkten wie die Flanken winziger Pyramiden. Längst stand Sirius vor Sonnenaufgang am östlichen Himmel, jener Stern, der als Sepedet den Bewohnern des Landes sagte, daß im Süden der Regen fruchtbare Erde von den Hängen wusch und mit dem steigenden Nil anschwemmte. Wir erreichten den Rand des Impulsfeldes, und Boog schaltete die Sicherheitsanlagen für wenige Sekunden ab. Wir fielen müde in die knarrenden Sessel, und ich schloss die Augen. Amou massierte mit zärtlichen Fingern meine Schläfen, während der Aktivator seine Schwingungen aussandte.
Vor den Spitzen meiner Stiefel raschelten unsichtbare Insekten zwischen den Sandkörnern. Die Feuchtigkeit aus unseren Schlauchsystemen zauberte seltsame Gerüche aus dem Sand. Während ich meinen Umhang dicht um meine Schultern zog, versuchte ich, Ricos Wahrscheinlichkeitsberechnungen zu interpretieren, richtig zu interpolieren. Es waren nicht etwa Visionen, die mich folterten, sondern die Erinnerungen an viele andere Versuche, die Welt zu beherrschen. Von den phönizischen Kaufleuten über die Legionen Roms, von persischen Heeren, makedonischen Reitern, Hunnen, Mongolen, Kreuzrittern oder den wilden Reitern unter der Flagge Mohammeds. Auf der einen Seite der Waage: England. Dort hatten meine unzähligen Anregungen im Lauf langer Jahre zu technischem Fortschritt geführt. Die Kaufleute, die Schiffe, die Kolonien – schon heute sprach man an weitaus mehr Stellen des Planeten Englisch. Nicht Französisch. Am Ende einer technischen Weiterentwicklung stand zwangsläufig der Versuch, die Planeten und die Sterne zu erobern. Auch die fünfte Berechnung, ausgeführt mit der vollen Kapazität aller Rechner meiner Kuppel, jede der vielen Analysen ließ erkennen, daß nicht die Sprache Racines oder Voltaires sich ausbreiten würde, sondern die Sprache Shakespeares. In der anderen Waagschale: Frankreich. Das Land, das die wirren Triebe einer fragwürdigen Revolution zugleich mit dem
akzeptablen, aber viel zu spät »erfundenen« metrisch-dezimalen System in alle Richtungen reckte. Nach Indien marschieren, um England in Kolonien zu bekämpfen, die es noch gar nicht gab? Möglicherweise waren feine Lebensart und einzelne Bestandteile der französischen Kultur schmackhafter als ein englisches Frühstück, und auch der Calvados konnte sich mit Whisky aus Schottland messen, aber auch die Hofhaltung bei Dareius in Persepolis hatte das Ende seines Reiches nicht hinauszögern können. Schritte knirschten im Sand. Ich drehte mich nicht um und spürte die Finger Amous auf meinen Schultern. »Wenn du allein und schweigend die Sterne zählst«, flüsterte sie, »ist es vielleicht gefährlich, dich in schweren Überlegungen zu stören, o en to chrono siton.« Sucher zwischen den Zeiten, übersetzte der Logiksektor. »Du störst nie«, sagte ich leise. Sie setzte sich auf meine Knie und schlüpfte unter den Mantel. »Du hast gesehen und mit angehört, was Rico meint.« »Frankreich oder England.« Es war eine knappe Feststellung. Ich nickte; ihr Haar kitzelte mich an der Wange und am Hals. »Eine schwere Wahl?« »Eine wichtige Entscheidung«, sagte ich. »Ich sehe vor meinem inneren Auge, wie sich die Waagschale langsam senkt. Auf ihr steht geschrieben: Britannien.« »Wenn du deine Entscheidung an Personen knüpfst?« »Nelson oder Napoleon. Und nicht zu vergessen, Nonfarmale.« »Was bedeutet dies für die nächsten Tage?« Ich glaubte, eulenartige Vögel vor dem riesigen Kreis des nächtlichen Gestirns zu sehen. Sie jagten Wüstenmäuse. »Beobachten, was Napoleon unternimmt. Ob er siegt. Ob seine Kultur, von der wir heute einen Ausschnitt erleben konnten, das Nilland beeinflusst.« »Nun ist Frankreich meine Heimat. Die Revolution? Du weißt, wie ich darüber denke. Napoleon, das Direktorium – auch Robespierres Herrschaft war nur von kurzer Dauer. Du, ich, wir… die Gründe, Nelson zu unterstürzen, wiegen wahrscheinlich nicht nur auf deiner Waage schwerer.« »Wir lassen die nächsten Monate entscheiden. Rico zeigt uns, was an anderen Orten geschieht, Licht des Jahres«, sagte ich und zog sie an mich. »Nelson und England, Napoleon und Frankreich, es gibt beides noch länger und – Nonfarmale.« »Keiner der drei ist ewig«, sagte Amoustrella in mein Ohr. »Nicht einmal ich.« Ich hob Amou auf und stapfte ins Zelt. Amir Darcy Boog umkreiste, irgendwelche erfundenen Sinnsprüche murmelnd, schützend das Lager.
Professor Dr. Cyr Aescunnar schüttelte tief beeindruckt den Kopf. Sein Blick wanderte vom narbigen Gesicht Ronald Tekeners hinüber zu der einzelnen Gestalt, die in der Mittagssonne auf der Terrasse langsam hin und herging. Die Witterung Gäas, des achten Februars über Sol-City,
war noch winterlich; Batterien von Solarlampen verbreiteten unter der transparenten Energiekuppel Helligkeit und sommerliche Hitze. Sämtliche medizinischen Beobachtungsgeräte arbeiteten nach den Impulsen, die Atlans schmales Armband übermittelte. Leise sagte Tekener: »Atlan, mein alter Kampfgefährte und Vorgesetzter – alles erlebt er zweimal. Oder gar dreimal.« Er deutete auf den Arkoniden, der mit halb geschlossenen Augen am Rand des langen Pools stehen geblieben war. »Und, wie wir mittlerweile wissen, in der absolut gleichen, schauerlichen Intensität.« Der Geschichtswissenschaftler sagte tonlos: »Er ist mit Amoustrella in Ägypten. Dort, wo so vieles begann; in jenem Land Tameri, das er so liebte. Südlich von Mennefer, das später Memphis genannt wurde.« Tekener nickte Aescunnar zu. Sie standen hinter den verdunkelten Scheiben des Wohnraumes und blickten hinaus. Scarron Eymundson füllte Wein aus einer Flasche in eine Glaskaraffe und bereitete aus Aufbaunahrung und wenigen anderen Zutaten ein Essen für den Arkoniden. Atlan hatte, seit er aus dem Gleiter und dem Lift gestiegen war, seine Umgebung augenblicklich erkannt und völlig natürlich reagiert. Je länger Cyr und Tekener ihn beobachteten, desto sicherer waren sie, daß sein Verstand keinerlei Schäden zurückbehalten hatte – für alle Freunde und Teilnehmer dieses schrecklichen Fluges und alle Beobachter der langen Zeit danach ein Grund, eine Freudenfeier abzuhalten. Bei diesem Treffen wäre der Arkonide ein Außenseiter. Tekener sagte: »Er scheint wirklich gesund zu sein. Weiß er, daß er sich noch in der Katharsis befindet?« »Ja.« Cyr nickte lächelnd und deutete auf den Sessel mit den Gerätschaften, von denen die modifizierte SERT-Haube gesteuert wurde. »Ghoum-Ardebils Team hat ihn vor zwei Tagen mit pedantischer Gründlichkeit stundenlang untersucht. Zu meiner Beruhigung sagte er mir, daß er in einzigartig guter körperlicher Kondition sei. Die tiefe Bräune und das kurze Haar mögen optisch darauf hinweisen. Ob sich sein Verstand völlig aus dieser Explosion der Emotionen wird lösen können, ist abzuwarten.« »Werden Sie ihm, nachher, gezielte Fragen stellen, Cyr?« Der Historiker zuckte mit den Schultern. »Ich habe eine lange Liste zusammengestellt. Ob es mir gelingt, ist ebenso fraglich wie die Überlegung, ob Atlan die Fragen beantworten kann. Er sah, erlebte und wußte nicht alles – aber das brauche ich nicht zu betonen.« Scarron war wie verwandelt. Atlan befand sich wieder in ihrer unmittelbaren Nähe, und sie konnte mehr tun als nur zuzuhören, was eine holografische Projektion, halb unter der goldmetallischen Haube verborgen, einer anonymen Zuhörerschaft erzählte. »Dass die intensive, fast ununterbrochene Vergegenwärtigung der
vergangenen Ereignisse verhindert, daß der Arkonide erfolgreich und ohne Störungen in die Wirklichkeit zurückfindet, ist immerhin denkbar.« Scarron trug ein Tablett mit schweren Kaffeebechern. Cyr und der Smiler bedienten sich. »Aber sein Verhalten enthebt uns vieler Überlegungen.« »Ich bin zuversichtlich.« Tekener grinste kühl. »Glaub mir, Mädchen, einen wie den alten Arkoniden muss man ein Dutzend Mal umbringen, und selbst dann hat er noch faire Überlebenschancen. Siehst du nicht, daß er nicht die geringsten Schwierigkeiten mit seiner Umgebung hat? Befürchtest du, daß er Schwierigkeiten mit dir hat – oder umgekehrt?« »Ja«, sagte Scarron. »Das befürchte ich.« »In drei Tagen bist du klüger«, murmelte Tekener. Atlan sprang gestreckt ins Wasser, schwamm ein Dutzend Mal hin und her und stieg aus dem Becken. Er trocknete sich ab, zog den Bademantel an und kam in den Wohnraum. Er lächelte, umarmte Scarron und nickte beiden Männern zu. Seine Stimme war völlig klar, als er sagte: »Keine Sorge.« Auch sein Gesichtsausdruck war entspannt. »Ich bin in besserer Verfassung als je zuvor. Bis ich mit der ganzen Geschichte fertig bin, verkrampfe ich mich ein wenig. Sie brauchen nicht zu fürchten, Professor, daß Ihre famosen ANNALEN nicht fertig werden.« »Das sind weitaus mehr Ihre ANNALEN«, sagte Cyr. »Und die der guten alten Erde, die durch den Kobold-Sonnentransmitter verschwunden ist. Mitsamt Rico und der Universität.« »Richtig. Bis zu diesem Zeitpunkt ist noch viel Zeit«, sagte Atlan und gähnte. »Genauer: Es war viel Zeit, und es waren viele Erinnerungen. An einige erinnere ich mich, andere werden Sie erfahren – und für mich werden sie dann auch neu sein. Gönnen Sie mir ein Stündchen Schlaf?« »So viel Sie brauchen«, sagte Cyr und hob grüßend den Arm. »Ohne schlechte Träume, Prätendent!« »Ich versuche mein Bestes«, murmelte Atlan und schloss die Türen des Schlafraums hinter sich und Scarron. Tekener murmelte: »Er versucht sein Bestes, so wie immer.« Er packte Cyr auffordernd am Oberarm und bugsierte ihn aus Scarrons Apartment. Tekener brachte Aescunnar mit seinem Gleiter zu Cyrs Arbeitsraum, wünschte viel Erfolg bei der Weiterschrift der ANNALEN und der detaillierten Zeittafeln, schenkte ihm ein aufmunterndes Grinsen und Scob mit der schweren Maschine davon.
ENDE