Julia London
Anna und der Moorhund Irrlicht Band 416
Da sah sie ihn wieder, diesen geheimnisvollen Hund, der über da...
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Julia London
Anna und der Moorhund Irrlicht Band 416
Da sah sie ihn wieder, diesen geheimnisvollen Hund, der über das Moor gelaufen kam, als würde er nicht versinken können. Mit ungläubigem Blick sah sie zu dem Hund, der sie bereits geortet hatte. Der Hund zeigte auf einmal so ein eigenartiges gebieterisches Verhalten, so, als wollte er Anna auffordern, ihm zu folgen…
»Höh! Höh!« rief der Kutscher und ließ die Peitsche knallen, aber die beiden Pferde konnten nicht schneller laufen. »Ihr seid euer Fressen überhaupt nicht mehr wert! Ihr bewegt euch so lahm, als hättet ihr schon einhundert Jahre auf dem Buckel! Höh, höh, na los schon, bewegt euch, laßt die Beine schwirren, oder ihr kriegt gehörig die Peitsche zu spüren! Ein verdammtes Wetter ist das! Wenn das Gewitter uns einholt, sehen wir ganz schön miserabel aus!« Scharf pfeifend heulte die Peitsche durch die Luft und tanzte wild auf dem Rücken der wiehernden Pferde. »Bitte… hören Sie auf damit! Die Tiere geben doch ihr letztes!« schrie Anna Cobert, die in der offenen Kutsche saß und den Mann argwöhnisch beobachtete. Die Pferde taten ihr leid. Sie würde ein Pferd niemals so mißhandeln können. Aber der Kutscher machte schon am Bahnhof den Eindruck, die Gefühle anderer zu ignorieren. Er war der einzige gewesen, der sich dazu bereit erklärt hatte, sie, die charmante Anna Cobert, durch das Moor zu ihrem kranken Onkel zu fahren. Ihren Onkel mochte hier wohl niemand. Der „Mann mit den ungewöhnlich breiten Schultern und einem runden, unrasierten Gesicht, in dem eine rotbläulich verfärbte Knollennase saß, schaute sich hämisch lachend um. »Wer nicht gut arbeitet, der soll auch nicht fressen! Die Gäule taugen keinen einzigen Pfifferling mehr! Ich werde sie dem Roßschlächter übergeben müssen. Nur weiß ich dann nicht, wovon ich mir neue Pferde kaufen soll. In dieser öden Gegend gibt es nur einen Menschen, der sich neue Pferde anschaffen könnte, weil er reicher ist als wir alle hier zusammen!« Er spuckte in den Wind, der stärker und kühler geworden war, und guckte wieder nach vorn. Er ließ die Peitsche knallen. Anna Cobert fröstelte es. Sie rieb sich die Arme. Die harsch klingende Stimme des Kutschers hatte ihr Furcht eingeflößt.
Der Wind griff heulend in ihre Haare, und sie bedeckten ihr Gesicht. Ein eigenartiger Geruch wehte in ihre Nase; die unheilschwangere Atmosphäre drohte, ein Inferno zu entfachen. Der Himmel war mit dunklen Wolken sehr rasch zugezogen, und das einsame Moor, durch das sie nun eilends fuhren, hatte eine gespenstische Gestalt angenommen. Hier und dort schwirrten erregte Nebelfetzen über den Weg, und die eigenartig geformten Bäume schienen urplötzlich grauenvolle Gesichter und gierige Arme bekommen zu haben. Anna Cobert blickte sich immer wieder eingeschüchtert um. Sie wollte zu ihrem lieben Onkel Walter Cobert, einem Bruder ihres Vaters, um ihn für eine Weile zu pflegen, weil er krank geworden war. Zudem hatte Anna Cobert jetzt Semesterferien und war froh, einmal in Ruhe gänzlich ausspannen zu können. Sie studierte in Berlin Design und dachte sich, in der Moorlandschaft einige Zeichenstudien zu machen. Ihr Onkel würde sie ja sicher nicht Tag und Nacht benötigen. Doch wenn sie geahnt hätte, was sie Grauenvolles erwartete, dann wäre sie von Berlin aus nicht so frohgelaunt losgefahren. Schon die Ankunft im Dorf stimmte sie um. Als sie die Leute nach dem Weg zu ihrem Onkel fragte, wollte man ihr keine Antwort geben geschweige sie in das Moor bringen. Die Leute ließen sie kalt abweisend stehen und hatten es auf einmal auffallend eilig davonzukommen, worüber sich Anna Cobert sehr gewundert hatte. Schließlich traf sie den Mann, der jetzt die Pferde vorwärtstrieb. Er brauchte jeden Groschen und war offenbar froh darüber, einen Auftrag erhalten zu haben. Aber er war jeder Frage von Anna Cobert unwillig ausgewichen. »Höh! Höh! Macht, daß ihr weiterkommt, ihr Taugenichtse! Oder ich werde euch zu Tode schinden, damit ich euch kein teures Futter mehr einkaufen muß!« Er blickte zum Himmel, der immer bedrohlicher aussah. In den Wolken schien es zu brodeln.
»Nun schinden Sie die armen Pferde doch nicht so!« rief Anna. »Sie geben doch ihr Bestes. Das sieht doch jeder.« »Es sind die faulsten Gäule, die ich jemals durchgefüttert habe!« erwiderte der Kutscher unwirsch und ließ die Peitsche sirren. Er hatte Freude daran, die Tiere mit aller Gewalt voranzutreiben. An ihnen konnte er seine Enttäuschungen, die das Leben ihm reichlich schenkte, ausleben. »Halten Sie die Peitsche zurück!« rief Anna. »Die Pferde…« »Was die vertragen, bestimme einzig und allein ich!« maulte der Kerl, der nicht mal zu wissen schien, wie man eine junge Dame zu behandeln hatte. »Und nun seien Sie still, mein Fräulein. Gehen Sie in Deckung. Gleich wird das Gewitter über uns hereinbrechen, wie Sie es wohl noch nie erlebt haben!« Er lachte markig. Vor Gewittern hatte sich Anna schon immer gefürchtet. Als kleines Mädchen hatte sie sich entweder unter dem Tisch oder unter dem Federbett versteckt und geweint. Später hatte sie mal zufällig mit ansehen müssen, wie der Blitz zwölf Kühe erschlagen hatte. Angstvoll schaute sie zum Himmel, und der Wind, der sich zum Sturm steigerte, riß und zerrte an ihr und der Kutsche. Eine heulende Böe warf Zweige über sie hinweg, und die Pferde wieherten erschrocken, weil der erste Blitz aus den Wolken gezündelt war, worauf jetzt ein ohrenbetäubend dröhnender Donner über dem Moor erhallte, der die Erde erzittern ließ. Da zischte ein zweiter und dritter Blitz begierig zur Erde, gefolgt von gewaltigem Donnerndröhnen, das alle Lebewesen arg verschreckte. »Verdammt und zugenäht!« schimpfte der Kutscher. »Das Wetter habe ich falsch eingeschätzt! Die Wolken waren rascher hier als gewöhnlich.« Ekstatisch benutzte er die Peitsche; die Pferde rannten sich die Seele aus dem Leibe; mit stierem Blick sahen sie nach vorn. Der Kutscher hatte keine Lust, vom Blitz getroffen zu werden. Immerzu schrie er:
»Höh! Höh! Höh! Warum rennt ihr denn nicht schneller? Hat euch der Satan schon eingeholt?« »Mein Gott!« rief Anna in den Sturm, der in ihren Haaren zauste. »Sie bringen die Tiere um!« »Schweigen Sie!« Die Kutsche polterte knarrend und gefährlich ächzend über den holprigen Weg. Zusammengekauert beobachtete Anna immer wieder den Himmel und den Kutscher, der unentwegt die Peitsche über den Rücken der Pferde tanzen ließ. Insgeheim bereute er, diesen Auftrag angenommen zu haben. Zu beiden Seiten des Weges lag das einsame Moor in schwärender Ruhe, und tausend Geister schienen auferstanden zu sein, um den gewaltvollen Naturkräften freudig zu huldigen und sich daran zu berauschen, daß die Menschen, die mit der Kutsche fuhren, große Angst vor den Blitzen hatten. Und war da nicht auf einmal jenes eigenartige Heulen eines Hundes aus der Ferne des Moores zu vernehmen, jener leise, aber markerschütternde Gesang eines Hundes, der offenbar etwas verloren hatte, auf das ein Hund angewiesen war, nämlich seinen Herrn! Und sangen dazu nicht die Moorgeister diese schreckliche Melodie, oder war es nur der Sturm, und Annas Sinne waren viel zu erregt? Die Phantasie kann einem manchmal Streiche spielen. Aber Anna hatte weder Wein noch andere Getränke zu sich genommen, die ihre Sinnesschärfe hätten beeinträchtigen können. Mit wirrem Blick sah sie um sich, konnte aber nichts entdecken, was ihre Eindrücke bestätigt hätte. Die dahineilenden Nebelschwaden und die seltsamen Bäume in dieser gewitterumtosten Mooreinsamkeit Wollten ihr zwar etwas vorzaubern, aber woher kam dieser eigenartige Gesang? Ist wirklich ein Hund jetzt irgendwo im Moor? fragte sich Anna. Oder ist gar ein Mensch bei ihm? Bei diesem Wetter? O Gott, die Blitze werden ihn… Sie wagte nicht zu Ende zu
denken, und ein kalter Schauder rann ihr über den Rücken, nicht wegen der Kühle, die aufgekommen war, sondern wegen der Vorstellung, wie alles aussehen würde, wenn der Blitz sein Werk erledigt hatte. Ihr wurde ganz schummrig, und für einen Moment hielt sie die Hände vor ihre Augen. Über ihr zuckten unheilgierige Blitze, ließ der Donner die Angst beinahe unmeßbar ansteigen. Anna hatte bereits unzählige Gewitter erlebt, doch dieses übertraf alle vergangenen. Irgendwo schlug ein Blitz ein – mein Gott, der Krach war kaum auszuhalten. Die Kutsche schien augenblicklich auseinanderbersten zu wollen, so laut polterte sie durch die Schlaglöcher des Weges, die der Regen erzeugt hatte. Und auch jetzt kam Regen. Gewaltartig zerrissen die Himmelsschleusen, und Hagel und gigantische Wassermassen prasselten auf das Moor und den Weg hernieder. Das Wasser hatte kaum eine Chance, sich einen Weg zu suchen; wild schlug es um sich, alles mit- und niederreißend, was quer lag oder stand, und der Weg, über den die Kutsche daherraste, hatte auf einmal zahlreiche große Lachen, durch die man nicht mehr erkennen konnte, wie gefährlich tief manche Schlaglöcher waren. Daß die Kutsche diese Belastung überhaupt aushielt, empfand Anna jetzt wie ein Wunder. Immer noch hörte sie den Hund kläglich jaulen. Er schien näherzukommen, aber das konnte auch ein falscher Eindruck sein; der Sturm schleuderte die Schallwellen irrlistig über das Moor, zerschlug sie irgendwo ganz plötzlich, um sogleich neue mitzubringen, die einen anderen Klang hatten. Der Hund jaulte wie ein vom Leibhaftigen Gehetzter, als sei die Flinte bereits gegen ihn gerichtet. Die Kutsche raste in höchstem Tempo über eine schmale Holzbrücke, die bedrohlich knarrte, und kaum flogen sie über den vom Regen aufgeweichten Weg weiter, streckte ein
gewaltiger Blitz hinter ihnen einen mächtigen Baum nieder, der sich quer über den Weg legte. Mit weit geöffneten Augen blickte Anna hinter sich und seufzte: »Das hätte unser Ende sein können!« Sie sah zu den Pferden, sah ihre nassen Leiber, die dampften, und hörte ihr hocherregtes Schnaufen, das offenbarte, welch höllische Furcht sie ergriffen hatte. Doch der Kutscher hatte sie fest am Zügel und bestimmte die Richtung, wobei er immer wieder lauthals zeterte und die ganze Welt verwünschte. Anna war völlig durchnäßt. Sie hatte nicht damit gerechnet, von einem solchen Unwetter überrascht zu werden. Sie hatte zwar ausreichend Regenbekleidung mitgenommen; die war aber in ihrem Gepäck untergebracht, das vor ihren Füßen hin und her rutschte. Da entdeckte Anna ein Licht. Sie bemühte sich zu erkennen, ob es zu einem Haus gehörte. Das einzige Haus im Moor gehörte ihrem Onkel. Als sie zuletzt bei ihm gewesen war, war sie noch ein Kind gewesen. Das Unwetter hatte die Landschaft im Aussehen verändert, und Anna konnte sich nicht daran erinnern, jemals über diesen Weg gefahren zu sein. Wasser spritzte hoch. Die Achsen der Kutsche stöhnten hölzern. Die Pferde wieherten, und Blitz und Donner übertönten alles. Die Kutsche raste auf das Licht zu. »Ihr Onkel macht sich bestimmt schon große Sorgen um Sie!« rief der Kutscher mit kurzem Blick zu Anna, um zu sehen, inwieweit sie sich fürchtete. »Sie haben sich falsch gekleidet, mein Fräulein. Es könnte sein, daß Sie sich erkälten.« »Wer hätte ahnen können, daß ein Gewitter so rasch heraufzieht?« erwiderte Anna. In Strähnen klebte ihr schwarzes Haar an ihrer Haut.
»Hoffentlich ist es kein schlechtes Omen!« meinte der Kutscher. »Sind Sie abergläubisch?« »Meinen Glauben habe ich längst verloren. Das einzige, was ich noch glauben kann, ist, daß diese verdammte Erde, auf der ich ohne meinen Willen leben muß, einzig und allein dem Teufel gehört und daß derjenige, der ihm nicht dient, alle Leiden und Plagen bekommt, die man sich nur vorstellen kann.« »Und Sie dienen ihm?« »Ich bringe Sie nicht in dieses dreimal verteufelte Moor, um mich mit Ihnen über meinen Glauben zu unterhalten!« rief der Kutscher mit seiner markigen Stimme, die dem Wächter zum Tor zur Hölle hätte gehören können. »Ich mache es nur deswegen, weil ich das Geld, das ich dafür kriege, dringend benötige.« Er lenkte die Pferde in einen Weg, der von alten Bäumen umsäumt war, die mit ihren Kronen über dem Weg zusammengewachsen waren und somit ein langes Dach gebildet hatten. Das Gewitter zog über das Moor, blitzend, donnernd und unheimlich viel Regen mitbringend. Die Kutsche fuhr vor das alte Fachwerkhaus und hielt. Die Pferde wieherten und zeigten große Furcht. Unruhig tänzelten sie. Der Mann steckte die Peitsche in die seitliche Halterung und sprang vom Kutschbock. Er eilte zu Anna. »Kommen Sie, ich helfe Ihnen raus.« Er griff nach ihrer Hand, um ihr Halt zu geben. »Oh…«, rief Anna spitz und erhob sich mit ungelenken Beinen »Solch eine grauenvolle Fahrt habe ich noch nie in meinem Leben mitgemacht. Sie erspart mir in den nächsten Jahren jeden Besuch einer Geisterbahn.«
»Sie haben jedenfalls den Humor bewahrt«, sagte der Kutscher und half ihr beim Aussteigen. »Soll ich etwa weinen, nur weil ich fürchterliche Angst vor den Blitzen habe?« meinte Anna mit vibrierender Stimme. Sie bemühte sich, die Furcht im Zaum zu halten. »Ich bewundere Sie, Fräulein«, sagte der Kutscher, während er die beiden Koffer und die Tasche aus der Kutsche holte und zur Haustür des Fachwerkhauses brachte, in dessen Fenster Licht brannte. Der Kutscher bediente ruppig die Türglocke. Anna schaute mißtrauisch zum Himmel. Das Gewitter wanderte eilig weiter, und der Regen schwächte ab. Der Sturm verebbte. Aber die Pferde blieben nervös. Anna ging zu ihnen und tätschelte sie mit beruhigenden Worten. »Ihr Onkel scheint nicht zu Hause zu sein!« rief der Kutscher und blickte fragend zu Anna. Sie kam zu ihm. »Er muß aber da sein. Er liegt wohl zu Bett. Er ist nämlich krank, deswegen bin ich ja gekommen.« Sie griff nach der Klinke und drückte sie hinab. »Sehen Sie… mein Onkel weiß, daß ich auf dem Weg zu ihm bin. Er hat die Tür offen gelassen.« »Das hätte ich an seiner Stelle beileibe nicht getan!« meinte der Kutscher und guckte neugierig in das Haus hinein. »Hier in der Gegend treibt sich so allerhand undurchsichtiges Gesindel umher. Da kann man nie so recht wissen, was alles passieren kann.« »Sie mögen ja recht haben, guter Mann, doch wie Sie sehen, verirrt sich in das Moor offenbar selten ein Mensch.« Sie lauschte dem klagenden Gejaule des Hundes, das der Wind, der schwächer wurde, milde verwehte. »Warum er wohl heult?« »Irgend jemand hat ihn wohl zum Teufel gejagt. Oh, Verzeihung, gnädiges Fräulein, ich meinte, daß ihn sicher
jemand ausgesetzt hat, weil er ihn nicht mehr ernähren kann. So etwas ist heute keine Seltenheit.« »Schrecklich… ein herrenloser Hund wird nicht überleben.« »Was kümmert Sie das? Das Leben kommt und geht, und immer wieder bringt es denselben Ärger mit. Ich bin jedenfalls erleichtert, wenn ich irgendwann mal alles hinter mich gebracht habe und ewig schlafen darf. Sie müssen noch bezahlen, Fräulein.« Er hielt ihr die flache Hand hin. »Wollen Sie nicht noch einen Moment mit reinkommen und einen heißen Tee mit uns trinken? Sie sind ja so durchnäßt wie ich.« »Oh, vielen Dank, Fräulein, aber dazu habe ich wirklich keine Zeit. Meine Frau erwartet mich. Geben Sie mir das vereinbarte Geld, und ich mache, daß ich geschwind nach Hause komme. Das Gewitter zieht weiter, und Sturm und Regen haben spürbar nachgelassen.« Er blickte um sich und hob die Nase in die Luft, um tief einzuatmen. Dann sah er Anna wieder an. »Ich werde Sie nur stören, schöne Frau. Sie und Ihr Onkel haben sich bestimmt eine Menge Neuigkeiten zu berichten, zumal Sie aus der Stadt kommen. Ich war noch nie in Berlin. Ist sicher einmalig schön dort, nicht wahr.« Er stellte die Koffer und die Tasche in den Flur und wünschte dann übereilig, nachdem Anna ihn entlohnt hatte, eine gute Nacht. Annas Antwort hörte er scheinbar nicht; er schwang sich auf den Kutschbock, ließ die Peitsche knallen und trieb die Pferde durch die Allee und das geisterhafte Moor heimwärts. Es hörte auf zu regnen. Blitz und Donner tobten sich woanders aus. An einer Stelle öffnete sich zaghaft die dunkle Wolkendecke. Weiches Sonnenlicht ließ das Moor gelblich krank erscheinen. In der Ferne verhallten die polternden Geräusche der Kutsche.
Eine eigenartige Stille umfing Anna. Ihr Blick schweifte über den Vorgarten des Fachwerkhauses zu den vielen Blumen, die der Sturm niedergepeitscht hatte, und das Moor, in dem ein vielfältiges Leben auferstanden schien. Die Luft war noch geschwängert vom klaren reinen Duft des Regens, und immer noch rauschten hier und dort wilde Bäche und Rinnsale entlang, entgegen einem unbekannten Ziel; eine seltsame Stimmung herrschte, eine unendlich tiefe Einsamkeit, die einen merkwürdigen Hunger verströmte, und irgendwelche unsichtbaren Mächte schienen sich dem alten Fachwerkhaus zu nähern, um aus der Nähe zu betrachten, wer gekommen war. Und noch immer wehte der Klagegesang des Hundes über das Moor. Anna wurde seltsam zumute. Diese Stille war sie nicht gewohnt; jeden Tag verbrachte sie in der Hektik von Berlin, jener großen Metropole, in der das Leben nie endete. Nun nahm sie einen Teil der Ewigkeit wahr, jenes eigenartige Atmen des Moores, das so einen ganz anderen Klang und Rhythmus hatte als der Puls der großen Stadt. Das gespenstische Moor flößte Anna ein schwebendes Gefühl ein, das sie scheinbar forttragen wollte. Der Hund heulte. Anna wurde es unheimlich. Zuerst die abweisende Haltung der Bewohner im Ort, dann das fürchterliche Gewitter und nun diese geheimnisvolle Einöde und der nervenaufreibende Gesang eines Hundes, der durch das abendliche Moor lief. Sie hatte diese Gegend ganz anders in Erinnerung. Oder hatte sie dies alles als kleines Mädchen nur völlig anders wahrgenommen? Der Hund kam näher, was Anna schleunigst dazu bewegte, in das Haus einzutreten und die Tür hinter sich zu verriegeln. Erleichtert atmete sie auf. Aber sie hatte sich die Ankunft anders vorgestellt.
Onkel Walter muß doch kränker sein, als ich es wohl annahm. Warum hat er sich dann aber nicht besser in eine Klinik bringen lassen, in der er gute Ärzte und Pflegepersonal um sich hat? Sie ging langsam durch den Korridor. »Onkel Walter! Onkel Walter!« rief sie und lauschte konzentriert. Es blieb still. Anna schluckte beklommen und spürte, wie ihr Herz rascher zu pochen begann. Unruhe stieg jäh in ihr hoch. Aus der Ferne war ein Donnern zu hören. »Onkel Walter! Onkel Walter! So antworte mir bitte! Ich bin es. Anna, deine Nichte, die du zu dir gerufen hast, damit sie sich um dich kümmert.« Diese unendlich tiefe Ruhe begann an ihren Nerven zu nagen. Warum antwortete er nicht? wollte Anna erfahren. Wieder donnerte es in der Ferne. Das Gewitter entfernte sich immer weiter. Anna wagte sich einige Momente lang nicht zu bewegen. Überdeutlich nahm sie ihren Atem wahr, hörte sie ihr Herz schlagen, und ein Knacken in der hölzernen Decke über ihr ließ sie mit weit aufgerissenen Augen stumm zusammenfahren. Mein Gott! Ich habe Angst wie ein kleines Kind, das sich vor jedem Geräusch in die Hose macht! schalt sich Anna und raffte sich entschieden auf. »Onkel Walter! Anna ist da! Wo bist du? Ich bin gekommen, um dir zu helfen!« Sie öffnete die Tür zu ihrer Rechten. Es brannte Licht im Raum, das durch das Fenster nach draußen fiel. Anna betrat das Zimmer. Es war anders eingerichtet als damals. In einer Ecke stand ein verstaubtes Spinnrad, eine kunstvoll verzierte Kommode stand unter dem Fenster, auf dem Tisch mitten im Raum war eine gläserne Schale, die leer war. Ein alter Schrank stand an der Wand, die holzgetäfelt war. »Onkel Walter! So melde dich doch bitte! Ich habe sonst ein unheimliches Gefühl!« Anna zuckte zusammen. Sie hörte über
sich ein dumpfes Geräusch und irgend etwas dahertappeln. Vorsichtig blickte Anna zur Decke und verfolgte mit ihrem Blick die tappelnden Geräusche, dessen Ursache sie nicht kannte. Mein Gott noch mal! sagte Anna zu sich selbst. Warum gibt Onkel Walter mir denn keine Antwort? Ein heißer und dann eisiger kalter Stich raste durch ihr Herz, und Anna erstarrte. Ein schrecklicher Gedanke war ihr gekommen. Ist… Onkel Walter… etwa… tot? Sie konnte sich kaum noch bewegen, und der Atem wollte ihr versagen. Sie würde wahnsinnig werden, wenn sie an diesem ohnehin schon unheimlichen Abend Onkel Walter verstorben vorfinden würde. Das Tappeln über ihr verstummte. Anna lauschte einen langen Moment und wandte sich dann langsam um. Sie zog es vor, lieber keine Geräusche zu machen. Man konnte ja nicht wissen, wer außer ihr und ihrem Onkel noch im Haus war. Hatte der Kutscher ihr auf der Herfahrt nicht anvertraut, daß sich in dieser Gegend undurchschaubares Gesindel umhertreiben würde? Ein schockartiges Gefühl lähmte beinahe ihr bewußtes Denken. Anna bekam Mühe, ihre wild hochsteigende Angst unter Kontrolle zu halten. Sie erinnerte sich daran, wie sie in Berlin einmal in der Nacht belästigt worden war. Es hatte ihr vollkommen gereicht. Und nun auch noch das hier… Sie faßte sich an den Hals. Und wenn ich in einer Falle sitze! sinnierte sie beinahe wie im Fieber. Dann… dann… Oh, sie hätte im Boden versinken können. Niemand wird mich hören, wenn ich um Hilfe schreie! Sie ging zur Tür zurück und blieb stehen. Sie hatte das Gefühl, schwere Lasten auf ihren Schultern zu tragen. Sie lauschte. Im oberen Stockwerk, das unter dem Dach lag, herrschte eine atemlose Stille in der man eine Stecknadel hätte
fallen hören. Anna wußte, daß Onkel Walter sein Schlafzimmer damals oben gehabt hatte. Würde sie jetzt über die knarrende Treppe, die sie verraten würde, falls ein Fremder im Haus war, zu einem Toten emporsteigen? Ihr wurde heiß und kalt, und ihre Beine schienen weich zu werden. Welch ein Gefühl der Hilflosigkeit! Welch ein Abend, der so unerwartet anders war, als Anna sich ihn gewünscht hatte. Mit herzlicher Fröhlichkeit war sie in Berlin abgereist – nun war sie hier, eingeschüchtert vom Gewitter, von den Blitzen und dem Donner, den kalt abweisenden Bewohnern des Ortes, der Ruppigkeit des Kutschers. Angst beherrschte sie. Welch eine Ankunft! Anna würde sie nie vergessen. Draußen tropfte rhythmisch Regen vom Dach zu Boden. Plitsch, plitsch, plitsch… der Hund schien jetzt ziemlich nahe beim Haus zu sein. Unaufhörlich jaulte er. Welch ein Gesang, der die Phantasie erregte. Warum war der Hund hergekommen? Erhoffte er sich, hier etwas zu fressen zu erhalten? Anna atmete mehrmals tief durch und nahm all ihren Mut zusammen. Wie von einer unsichtbaren Macht vorwärtsgeschoben, stieg sie die knarrende Treppe hinauf. Jedes einzelne Knarren durchfuhr sie schreckensvoll. Und wenn nun jemand anders im Haus ist als Onkel Walter? sagte sich Anna im stillen. Was… passiert dann mit… mir? Mitten auf der Treppe hielt sie inne, zu schwach, um weitergehen zu können. Sie hätte am liebsten die Flucht ergriffen, und dabei war sie eigentlich kein feiger Mensch. Sie piepste: »Onkel Walter? Bist du oben in deinem Schlafzimmer?« Es war ihr schon klar, daß er, weil er krank war, nirgendwo anders sein konnte. Aber er hätte genausogut unten auf einem Sofa, zugedeckt mit wärmenden Decken, liegen können, damit man ihn direkt fände.
Da ertönte wieder dieses Tappeln, ganz rasch… und still wurde es wieder. Ich muß weitergehen! dachte Anna und stieg die letzten Stiegen empor. Oben angekommen suchte sie den Lichtschalter. Dabei stieß sie mit dem Fuß gegen einen hölzernen Kasten, und Anna erstarrte. Ihr Herz drohte, zu pochen aufzuhören. Doch nichts geschah. Die Stille schien immer größer und tiefer zu werden. Es gab nur zwei Türen, die Anna nun öffnen konnte. Sie entschied sich, mit der zu beginnen, die links von ihr war. Mit zitternder Hand drückte sie die Klinke runter und schob vorsichtig die Tür einen Spaltbreit auf. Verbrauchte Luft wehte ihr entgegen, ein eigenartiger süßlicher Geruch. Schwaches Licht brannte im Raum. Anna schob die Tür ganz weit auf. Da sah sie die schwarzweiß gefleckte Katze, die das tappelnde Geräusch machte, weil sie über die Dielen unter den Schrank floh. Anna sah ihren Onkel im Bett liegen, bis zum Kinn zugedeckt, völlig regungslos, wie tot. Seine Gesichtshaut war blaß. Anna eilte zum Bett. »Onkel Walter«, hauchte sie mit schwankender Stimme und betrachtete sein Gesicht. Wie unter Hypnose nahm sie seine Hand und fühlte nach dem Puls. Da entdeckte sie ihn, er ging langsam und gleichmäßig, und als Anna sich seinem Gesicht näherte, um zu prüfen, ob er atmete, schlug Walter Cobert plötzlich die Augen auf. »Onkel Walter!« sagte Anna leise und lächelte fürsorglich. Er erkannte nicht sogleich, wer da zu ihm sprach. »Onkel Walter, ich bin es, Anna, deine Nichte. Endlich bin ich bei dir.« Sie küßte ihm die Stirn. »Oh, Anna… ich… scheine unendlich tief geschlafen zu haben.«
»Nun bin ich bei dir und kann für dich sorgen, bis du wieder gesund bist.« »Ja, Anna, ich… habe dich bereits sehnsüchtig erwartet. Gut schaust du aus. Hattest du eine gute Reise?« »Bis auf das Gewitter, das gerade über uns weggezogen ist, ist alles glattgegangen. Und ich soll dir schone Grüße von zu Hause ausrichten.« »Vielen herzlichen Dank, Anna.« Da drang das Gejaule des Hundes zwischen sie. Anna blickte zum kleinen Fenster. »Hörst du ihn, Onkel Walter?« Er richtete seinen schwachen Blick auf das Dachfenster. »O ja, ich höre ihn.« Er blickte zur Decke. »Seltsam ist es…« Anna beobachtete seine Augen. »Was ist seltsam, Onkel Walter?« »Ich… weiß nicht, ob ich… es dir sagen soll.« »Du mußt mir von nun an alles anvertrauen, Onkel Walter. Schließlich will ich dich gesund pflegen, nicht wahr? Und dazu gehört auch, daß du dir alle deine Sorgen vom Herzen redest.« Er lächelte. »Aber bekomm keine Angst, Anna.« »Ich habe ja auch das furchtbare Gewitter heil überlebt.« »Ich habe mir im Antiquariat ein altes Buch gekauft und darin gelesen. Ich fand in ihm eine vergessene Sage über mein Moor. Ein solcher Hund soll früher immer dann aufgetaucht sein, der offenbar aus der Geisterwelt kommt, wenn ein Mensch ins Jenseits geholt werden soll. Dieser verdammte Köter treibt sich hier bereits seit drei Tagen herum.« »Eine Sage erzählt dies?« fragte Anna nach, um sich zu vergewissern, ob sie richtig gehört hatte. »Ja, so ist es. Ich habe sie früher einmal von meiner Mutter erzählt bekommen, sie aber nie ernst genommen. Ich wohne schon sehr lange hier, mein Kind, so lange ich atme, und niemals war dieser Hund aufgetaucht. Nun bin ich krank, und vielleicht zeigt es sich, daß die Sage stimmt.«
»Nein!« entgegnete Anna entschieden. »Es wird niemals wahr werden, weil ich dich mit der ganzen Kraft meiner Liebe gesundpflegen werde. Außerdem wird der Doktor mal nach dir schauen, um festzustellen, ob es überhaupt richtig ist, daß du hier liegst statt im Krankenhaus.« »Ach, dieser Quacksalber hat doch nicht viel Ahnung. Er war schon hier und hat mir diese Tabletten und den Saft gegen Fieber verschrieben.« Er deutete auf das Tischchen neben dem Bett. »Dieser Arzt hat mehr Kenntnisse vom Kartenspiel als von seiner Medizin. Er sitzt öfter im Wirtshaus als manch ein anderer aus dieser Gegend. Laß den mal bleiben, wo er ist. Den rufen wir jetzt nur noch, wenn es wirklich nicht mehr anders geht.« »Na ja, dann werde ich mich zunächst mal sehr liebevoll um dich kümmern. Und dieser Hund ist hoffentlich nichts anderes als ein davongejagter Hund, den sein Herr nicht mehr haben will. Sicher hast du jetzt einen großen Hunger, nicht wahr, Onkel Walter?« Er nickte. »Und du ziehst dich erst mal um. Du bist ja ganz naß.« »Ja, das mache ich!« sagte Anna und küßte ihm wohlwollend die Stirn, worauf sich ein schwaches Leuchten in Walter Coberts Augen zeigte. Anna hatte eine kräftigende Suppe gemacht. Sie hatte zudem festgestellt, daß sie am nächsten Tag erst einmal in das Dorf gehen mußte, um Proviant zu besorgen. Es fehlte nämlich allerhand, um einen ordentlichen Haushalt zu führen. Anna wollte doch einen guten Eindruck auf ihren Onkel machen. Sie hatte ihr Gepäck bereits in die Dachkammer gebracht, in der sie die nächste Zeit wohnen würde. Es war ein recht gemütlicher Raum, und durch das kleine Fenster in der Dachschräge konnte man auf das Moor hinunterschauen. Der Himmel hatte sich gelichtet, und der Mond warf sein fahles
Licht über die einsame Landschaft. Unzählige Sterne waren erglüht, und das schreckliche Unwetter schien vergessen. Anna hatte ihre nasse Garderobe nach unten in den Waschraum gebracht und dort auf die Leine zum Trocknen gehängt. Sie trug jetzt ihre Blue Jeans, die sie stets am liebsten anhatte, und eine weiße Seidenbluse, die ihr ausgezeichnet stand und ihre natürliche Schönheit betonte. Anna hatte eine zauberhafte schlanke Figur, um die sie von vielen anderen Frauen stets beneidet wurde. Ihr weiblicher Charme hatte eine angenehme Atmosphäre im Moorhaus verbreitet, den Walter Cobert tief in sich aufnahm. Er war wie Medizin, und der alte Mann spürte, was ihm schon lange fehlte: Eine Frau mit einem Herzen voller Liebe. Während Anna in der Küche hantierte, dachte Walter Cobert mit wehmütigem Blick an seine vor einigen Jahren verstorbene Frau und seine beiden hübschen Töchter, die bei einem Autounfall ums Leben gekommen waren. Sie fehlten ihm sehr. Wie vergnügt hatte er früher stets dem fröhlichen Kinderlachen gelauscht und seiner geliebten Frau bei der Hausarbeit zugeschaut, wenn er aus dem Wald oder dem Moor gekommen war. Die ausgedehnten Wälder um das Moor herum und das große Moor waren sein Eigentum. Er war der reichste Mensch in dieser sehr dünn besiedelten Landschaft, in der man rasch den Eindruck erhielt, daß die Zeit hier stehengeblieben schien. Anna brachte ihrem Onkel lachend eine Schale mit gut gewürzter Kraftbrühe. Schon der Geruch belebte Walter Cobert. »Danke, mein Kind«, sagte er, als er sich im Bett etwas aufrichtete. »Was würde aus mir wohl werden, wenn du nicht zu mir gekommen wärst.« Er lachte schwach. Der Kopf schmerzte ihm stark, und in den Augen schienen Drähte zu sein. Er hätte immer nur schlafen können. Es gab niemanden im Dorf, der sich dazu bereit erklärt hätte, ihn zu pflegen. Man
haßte ihn, weil er wesentlich mehr Besitz hatte. Man mied ihn, wo man nur konnte. Walter Cobert war seit dem Tode seiner Frau und seiner Töchter ein sehr einsamer Mann. Doch hatte er gelernt, in der Einsamkeit gut zu leben. Er verstand überhaupt nicht, warum sich andere Leute pausenlos darüber beklagten, wenn sie allein waren. Er konnte selbst der tiefsten Einsamkeit Wertvolles abgewinnen. Er liebte jene endlose Stille des Moores, und hätte er Philosophieschüler gehabt, dann hätte er ihnen unendlich viele geheimnisvolle Dinge aus der übersinnlichen Welt erzählen können. Er hatte schon viele Kontakte im Moor bekommen, die ihm einen Ausschnitt aus der metaphysischen Welt offenbart hatten. Seine Seele war dadurch sehr genährt worden, weil diese Kontakte seinen Glauben an den Herrn über alle Mächte gestärkt hatten. Aber er hatte auch zu spüren bekommen, daß es schlechte Mächte gab. Böse Geister und Dämonen, die es nicht nur einmal auf ihn abgesehen hatten. Seit vielen Jahren wußte er, daß er keineswegs allein im Moor zu Hause war. Mit der Zeit hatte er sich an die eigenartigen Erscheinungen gewöhnt, hatte sie einfach ignoriert, auch dann, wenn sie sich ihm gewaltsam aufzwingen wollten, und war stets seine eigenen Wege gegangen, obwohl die Irrlichter nicht damit aufhörten, ihn zu verführen. Welch ein Leben! Welch eine Nachbarschaft! Anna schenkte ihrem Onkel das herzlichste Lachen, zu dem sie fähig war. »Iß nur, Onkel Walter. Die Suppe wird dir guttun. Ich habe sie mit sehr viel Liebe zubereitet.« Umständlich begann er zu löffeln und schlabberte dabei. »Oh, warte, Onkel Walter, ich werde dir ein Tuch um den Hals binden.« Anna eilte in die Küche. »Wie ein Säugling, der essen lernt, benehme ich mich!« murrte Walter Cobert und zischte einen Laut aus. Er wollte nicht warten, bis Anna zurückkam, und löffelte weiter. Er hatte Hunger.
Anna kam geschwind zurück und band ihm das Tuch um. »Nun kann nichts mehr passieren, Onkel Walter. Ich wünsche dir einen gesegneten Appetit.« Sie setzte sich auf den Stuhl neben dem Bett und beobachtete ihren Onkel, wie er aß. Sie sah, daß er ziemlich schwach war. Im stillen dachte sie: Es ist üblich in der Familie, mit dem Kopf durch die Wand zu gehen. Selbst ihr Vater hatte die Eigenart, nur dann zum Arzt zu gehen, wenn er schon beinahe tot war. Mit eisernem Willen, Ruhe und der nötigen Pflege kommt ein Cobert stets wieder auf die Beine! An diese Worte erinnerte sie sich nun. Ihr Vater hatte sie nämlich unzählige Male ausgesprochen. Sie hatten sich tief in ihr Gedächtnis eingegraben. Ohne eisernen Willen erreicht man gar nichts, hatte es geheißen. Widerrede war zwecklos. Vater umzustimmen, war stets ein schier aussichtsloses Unternehmen. Also fügte man sich, was nicht immer leicht war. Anna betrachtete ihren Onkel ausgiebig. Seine Gesichtshaut wirkte im Licht des Raumes ein wenig gelblich, seine dünnen Lippen ziemlich blaß, und seine Augen sahen mitleiderweckend aus. Anna wagte nicht, noch einmal zu äußern, daß es wahrscheinlich doch besser gewesen wäre, in die Klinik zu gehen. Sie würde damit gegen eine Mauer rennen, ohne Aussicht, sie jemals zu überwinden. Draußen heulte plötzlich wieder der Hund diesen fürchterlichen, unheimlich langgezogenen Ton, der die Nerven unangenehm berührte. Anna horchte auf. »Da ist er wieder. Merkwürdig. Was will er hier?« Sie blickte zum Fenster. Walter Cobert hielt inne. »Er hat nichts anderes im Sinn, als mich zu holen. Diese Bestie soll sich dorthin scheren, wo der Pfeffer im Übermaß in die Höhe schießt. Ich werde ihm trotzen, damit er endlich begreift, daß man einen Cobert gegen
seinen Willen nicht holen kann. Ich werde diesem Teufelsköter etwas husten.« Er lachte schwach. »Seit wann gibt es denn die Sage, die von diesem Hund erzählt?« erkundigte sich Anna, während sie mit einem Ohr zum Fenster hin lauschte. »Ich würde sie selber gern lesen. Sie ist sicher interessant.« »Alles, was von bösen Geistern, Dämonen und vom Satan selbst kommt, ist nichts für schöne junge Frauen, wie du eine bist, mein Kind«, erwiderte Walter Cobert ächzend. Der Rücken schmerzte ihn, und er biß für einen Moment die Zähne stark aufeinander. »Ich werde dieses verfluchte Buch, in der sie steht, verbrennen, sobald ich wieder auf meinen Beinen laufen kann. Diese Sage bringt Unglück. Du siehst ja nun selbst, daß der verdammte Hund, an den ich niemals glauben wollte, jetzt gekommen ist, weil er ein Opfer wahrgenommen hat. Sicher schicken ihn diese schrecklichen Moorgeister, die ich jahrelang nicht beachtet habe. Sie tanzen wohl schon am liebsten um meine Leiche und freuen sich darüber…« »Onkel Walter!« sagte Anna mit erhobener Stimme. »Bitte… sprich nicht weiter. Das furchtbare Unwetter hat mir Angst genug gemacht. Und wenn ich nun auch noch daran glauben soll, daß sich hier ein Hund umhertreibt, der…« Sie stockte und wollte es nicht aussprechen. Walter Cobert schob den Löffel mit der Suppe in den Mund, schlabberte etwas und meinte dann: »Wer nicht wahrhaben will, daß es außer unserer sichtbaren Welt auch noch die unsichtbare Welt gibt, der muß sich nicht wundern, wenn er ihr urplötzlich begegnet.« Er blickte Anna in die Augen. »Du mußt stets darauf vorbereitet sein, mein Kind. Sonst schleicht das Unsichtbare heimlich in deine Seele und beginnt dich immer heftiger zu quälen, bis es Genugtuung an dir gefunden hat. Du mußt immer äußerst wachsam durch Tag und Nacht
wandeln, damit du dem Unsichtbaren nicht plötzlich unterliegst. Es kommt, ohne daß du etwas davon merkst…« Er aß weiter. »Aber… das ist doch nur die Phantasie, Onkel Walter. Wir leben in einer aufgeklärten Welt, die von der Wissenschaft regiert wird. Der Aberglaube ist doch ein Relikt der Vergangenheit.« »Ich hoffe, daß du ungeschoren davonkommst, Anna. Ich weiß es aus eigener Erfahrung. Du kannst es mir ruhig glauben. Und ich bin auch nicht verrückt, und Wahnvorstellungen habe ich noch nie gehabt. Hier im Moor leben Geister…« Anna wich seinem Blick aus. »Das ist unfair, Onkel Walter. Es gibt weder Geister noch irgendwelche Dämonen. Dies alles sind Erfindungen von Menschen, die über andere Leute Macht haben wollen.« »Das mag ja stimmen, mein Kind«, erwiderte Walter Cobert. »Und ich habe auch gar nicht die Absicht, dir Angst zu machen. Ganz im Gegenteil… ich bin glücklich, daß du endlich bei mir bist und für mich sorgst, bis ich gesund bin. Ich werde es dir nie vergessen. Aber du mußt damit rechnen, daß du plötzlich im Moor mit irgendwelchen übersinnlichen Mächten konfrontiert wirst. Beachte sie dann einfach nicht, so werden sie keine Macht über deine Gefühle bekommen. Haben sie die nämlich gekriegt, dann wirst du nichts mehr zum Lachen haben. Sie werden mit dir spielen wie der Sturm mit einem Sandkorn, welches er nach seinem Willen durch die Lüfte trägt.« »Ich will einfach nicht daran denken!« sagte Anna und nahm ihm die Schale ab. »Hm… hat ausgezeichnet geschmeckt, die Suppe«, bedankte sich Walter Cobert und putzte sich mit dem Tuch, das um seinen Hals gebunden war, die Lippen trocken. »Du mußt mir
noch die Tabletten geben, Anna. Dann werde ich wie im siebten Himmel des Glücks schlafen.« Er dehnte sich und legte sich lang. Er zog das Federbett bis zum Kinn. Anna brachte die Schale in die Küche und füllte ein Glas mit Wasser. Sie ging zu ihrem Onkel, reichte ihm das Glas und holte die Tabletten aus der Schachtel. Walter Cobert trank und schluckte. »Dieser Tunichtgut von einem Arzt kann nichts anderes, als bitterste Medizin zu verschreiben.« Anna legte ihre Hand an seine Wange. »Beruhige dich jetzt, Onkel Walter. Aufregung schadet dir nur. Du mußt nun schlafen. Du hast eine lange Nacht vor dir.« Sie beugte sich über ihn und schenkte ihm einen zärtlichen Kuß auf die Stirn. »Gute Nacht, Onkel Walter. Träume süß. Morgen früh, wenn du aufwachst, ist das Frühstück sicher bereits fertig.« »Bevor ich einschlafe, mein Kind… schließe bitte draußen die Stalltür zu, und die Haustür verriegele bitte auch.« Ein Schauder rann ihr über den Rücken. Sie schluckte. Der Gedanke, nach draußen in die Dunkelheit zu gehen, wo der Moorhund war, machte ihr Angst. Aber Anna zeigte sie nicht. Sie nickte und sagte leise: »Du kannst dich ganz und gar auf mich verlassen, Onkel Walter. Und nun schlafe gut.« Er lächelte gütig und versank innerlich. Anna löschte das Licht und machte die Tür zu. Im Korridor hielt sie inne. Sie hörte den Hund jaulen, in einem eigenartigen Rhythmus, der einem durch und durch ging und das Blut in den Adern gefrieren ließ. Sie bemühte sich, bei klarem Verstand zu bleiben, obwohl ihre Gefühle in einem leidenschaftlichen Orkan fortzubrausen drohten. O nein! sagte sich Anna und raffte sich auf. Für einen Moment machte sie die Augen zu und betete kurz. Dann stieg sie entschlossen die knarrende Treppe hinab, nahm eine Petroleumlampe und stand eine ganze Weile vor der Haustür, wobei ihr Herz rasend
schnell pochte. Ihre Augen hatte sie schon jetzt, bevor sie in die mondhelle Finsternis hinausgetreten war, unnatürlich weit geöffnet. Der Atem drohte ihr zu stocken. Mein Gott! dachte Anna. Ich habe noch nie so eine große Angst erleben müssen. Ein Kloß saß in ihrem Hals fest, der nicht herunterzuschlucken war. Ein grausames Gefühl hatte sie beschlichen. Anna blickte um sich. Sie suchte nach einem Gegenstand, mit dem sie sich würde verteidigen können. Sie entdeckte einen Wanderstab. Den nahm sie und öffnete die Haustür einen Spalt. Die frische Luft, die immer noch nach dem Regen roch, wehte ihr kühl entgegen. Die Nacht hatte ganz andere Düfte als der Tag. Wie seltsam das Moor nun wirkte. Eine geisterhafte Stille beherrschte die einsame, verträumte Landschaft, die irgendwie unwirklich erschien. Anna hatte beinahe das Gefühl, beobachtet zu werden. Konzentriert starrte sie in die Moorlandschaft, um zu erkunden, ob außer dem immerzu jaulenden Hund noch jemand anders da war, aber sie konnte nichts entdecken. Glühwürmchen schwebten verliebt durch die nächtliche Luft, und eigenartige Geräusche ertönten andauernd, und Anna merkte, daß es der schwere, gehaltvolle Atem des Moores war. Noch nie hatte sie jemals eine nächtliche Landschaft derart intensiv wahrgenommen. Das Moor schien tatsächlich eine Seele zu haben. Anna merkte aber nicht, daß sie zu zittern begonnen hatte, so sehr beeindruckte sie die nächtliche Atmosphäre. Wo der Hund nur genau ist! fragte sie sich im stillen und verengte die Augen zu Schlitzen, was ihre hohe Konzentration verriet. Das weiche Licht der Petroleumlampe war das einzige, was Wärme schenkte. Anna sehnte sich auf einmal, in den Armen eines großen, starken Mannes Schutz zu finden. Aber sie mußte um das Haus gehen, um den Stall zu verschließen. Die Hühner und der Hahn schliefen wohl schon. Die Stille war beängstigend.
Der an- und abschwellende Gesang des Hundes wühlte Annas Gefühle mächtig auf. Sie konnte kaum noch klare Gedanken fassen. Den Wanderstab hielt sie schlagbereit in der Rechten; sie ging eilig um das Haus. Wirr sah sie sich immer wieder um. Wenn der Hund plötzlich hinter mir oder… vor mir ist! glühte es durch ihren Kopf. Sie wagte nicht, tief durchzuatmen, sie konnte es einfach nicht. In ihr wurde die Hitze unerträglich, die durch die Angst erheblich gesteigert wurde. Der Ruf einer Eule ließ Anna hart zusammenzucken. Schon sah sie sich in den Fängen eines Moordämons, der sie verschleppen wollte. Schweiß perlte auf ihrer Stirn. Weitergehen! Du mußt weitergehen! schrie es in ihr, und Anna wußte nicht mehr, ob sie selber es war oder jemand anders. Der Klang der Stimme, die ihr immer wieder dasselbe befahl, klang keineswegs wie ihre. Mein Gott! durchfuhr es Anna schockartig. Ein Geist… muß mich erfaßt haben! Und das hemmungslose Gejaule des Hundes näherte sich. Oh, welch eine nervenaufreibende Musik, die nicht mehr zu ertragen war! Warum hörte sie denn bloß nicht auf? Warum klagte dieser Hund so unendlich lange; und Anna erhielt zunehmend das Gefühl, daß die Worte ihres Onkels wahr werden könnten. Sie hörte aus diesem aufkratzenden Gesang des Moorhundes die Botschaft: Komm mit! Komm mit in das Reich der Unterwelt! Komm mit! Wir brauchen deine Seele! Deine Seele! Deine Seele! Es wurde ihr heiß und kalt, und Anna wünschte sich, wieder in Berlin zu sein, in dieser herrlichen Stadt mit den abertausend Lichtern, die wenigstens Geborgenheit suggerierten. Anna konnte jetzt dringend solch einen süßen Traum der heilen Welt gebrauchen. Wenn sie doch nur im Boden hätte versinken können, um diesem Moorhund nicht
begegnen zu müssen. Mit ihrer ganzen Kraft hielt sie den Wanderstock umklammert. Wie in Hypnose ging sie um die Ecke zum Stall, in dem jetzt nur kurz ein Rascheln zu vernehmen war. Ein Huhn bewegte sich auf der Stange. Übereilig verriegelte Anna die Tür. Früher waren im Stall nicht nur Hühner und der Hahn gewesen, sondern auch Pferde und ein paar Schweine. Nun stand in ihm nur ein alter Traktor, der kaum benutzt wurde, und das Auto, mit dem Annas Onkel in das Dorf fuhr, wenn er etwas zu erledigen hatte. Warum mußte sie die Stalltür nur verriegeln? Gab es denn jemanden, der hier hätte eindringen können. Es soll sich Gesindel rumtreiben. Da war es wohl besser, auch im Moor, in dem sonst keine Menschenseele anzutreffen war, für Sicherheit zu sorgen. Als Anna die Tür endlich verriegelt hatte und sich blitzschnell umwandte, fiel ihr die Petroleumlampe aus der Hand. Anna stieß erschrocken einen leisen spitzen Schrei aus, denn sie hatte das Gefühl gehabt, als hätte sie etwas Unsichtbares gestreift, das ihr die Petroleumlampe aus der Hand geschlagen hatte. Das Licht ging aus. Finsternis umschlang Anna. Der Mond schien ein Geheimnis zu wissen, denn er schien süffisant zu schmunzeln. Hatte sich Anna getäuscht, und war es nur eine Einbildung gewesen, verursacht durch ihre Angst und das beklemmende Gejaule des Hundes? Spielte die Phantasie ihr einen Streich? Anna bekam schlagartig das Gefühl, innerlich unendlich weit aufgerissen zu werden und in ein tiefschwarzes Loch zu fallen, das keinen Boden hatte. Sie griff wild um sich und suchte Halt, aber das brauchte sie nicht dringlich, denn es war ihr Unterbewußtsein, das sich geöffnet hatte. Oh, diese unendliche Weite, in der geistig zu schweben ein so eigenartiges, neues Gefühl war, daß Anna jetzt hätte schreien können. Und seltsame Bilder wurden aus der Tiefe ihres Unterbewußtseins emporgeschleudert, um sie zu ängstigen, und Furcht hatte sie
ohnehin schon genug. Und nun auch noch das! Eine neue Dimension hatte sich in Annas Seele geöffnet, in die einzudringen sie jetzt beileibe nicht wagte. Sie floh vorwärts, verlor den Wanderstab und hechtete um die Ecke des Hauses. O Gott, wie erstarrte sie, als sie den Moorhund sah, zwanzig Schritte von ihr entfernt. Ein Biest von einem Hund, eine wahre Bestie mit großem Kopf und riesigem Maul. Eine Dogge mit langen, muskulösen Beinen. Anna glaubte, vor Schreck zu zerfließen, für immer zu vergehen und die nächste Minute nicht mehr zu erleben. Dieser Höllenhund konnte sie zerreißen wie nichts. Niemals würde sie sich gegen ihn wehren können. Wo ist der Stock? schoß es glühendheiß durch Annas Kopf. Ihre Hände waren leer. Ihr Herz drohte stehenzubleiben. Anna sah den Hund überdeutlich. Er starrte sie hechelnd an, und sie sah seinen Atem, der über seinem Kopf verwehte. Annas Mund wurde trocken, ihre Zunge konnte sich nicht mehr bewegen. Bitte! stammelte sie im Geiste. Bitte, tu mir nichts! Ich habe doch gar nichts getan! Wie gelähmt war sie, als hätte sie Gift getrunken, das nicht mehr aus ihren Adern weichen wollte. Ihre Beine schienen zu Stein geworden. Der Hund sah Anna unentwegt an. Er hatte aufgehört zu jaulen. Anna schloß für einen unendlich langen Moment die Augen und versuchte, ihre Gedanken wieder unter Kontrolle zu bekommen, was ungemein schwer war, denn ihre hochgeflammten Gefühle waren unbeschreiblich mächtig geworden. Da gelang es Anna aber, die Beine zu bewegen. Langsam, Schritt für Schritt, gleich einer tranigen Schnecke, schlich sie zur Haustür, den Hund eisern im Blickfeld, auf jede seiner Regungen achtend, das Schlimmste erwartend. Welch ein Gefühl! Unbeschreiblich! Verglühend und versteinernd zugleich.
Der Hund hechelte immer noch und folgte mit seinem Blick Anna. Endlich erreichte sie die Tür. Sie riß sie ruckartig auf und schlüpfte in das Haus, hinter sich die Tür zureißend. Da stolperte Anna und stürzte der Länge nach zu Boden. Atemlos lauschte sie. Sie hatte sich zum Glück nicht verletzt. Sie hatte sich nur ein bißchen das Knie gestoßen. Draußen blieb es still. Der Moorhund erhob sein Gejaule nicht mehr. Anna atmete erleichtert auf. Es dauerte ziemlich lange, bis sie sich vom Boden erhob, die Haustür zuschloß und eilig in ihr Zimmer hinaufging. Als sie dann im Bett lag, das Federbett bis zur Nase hochgezogen, konnte sie sehr lange nicht einschlafen. Im Geiste sah sie den Moorhund und hörte sein klagendes und forderndes Gejaule. Komm mit! Komm mit in die Unterwelt! Komm mit, komm mit, komm mit! Und Anna sah sein Maul… Hatte ihr Unterbewußtsein seine Botschaft entschlüsselt? Es war die grauenvollste Nacht, die Anna jemals erlebt hatte. Sie sehnte sich inbrünstig die ersten Sonnenstrahlen herbei. Und als sie dann endlich in einen sehr tiefen Schlaf fiel, stiegen furchtbare Bilder aus ihrem Unterbewußtsein hoch, die ihr immer wieder den Moorhund zeigten, und gräßliche Gesichter lachten höhnisch und voller Schadenfreude, und krüppelige Finger griffen nach ihr. Eine überaus dissonante Musik, die eigentlich keine mehr war, gemischt mit unregelmäßigen Rhythmen, ließ Annas Nerven heiß vibrieren, und schroffe Farben rasten auf sie zu, um sie zu ertränken. Welch eine grandiose Nacht, welch eine Reise, die Anna nie vergessen würde.
Walter Cobert wunderte sich. »Du sagst, daß er dich nicht anzugreifen versucht hat, und mit seinem Gejaule hat er auch
aufgehört. Alle Achtung! Er hat wenigstens Respekt vor einer jungen Dame. Das hätte ich von ihm nicht erwartet.« Anna hatte sich fertig gemacht, um in das Dorf zu fahren. »Er guckte mich nur an und bewegte sich nicht mal!« erklärte sie. »Merkwürdig.« Walter Cobert sinnierte angestrengt. »Dann muß er es tatsächlich auf mich abgesehen haben, fürchte ich.« Er schloß für einen Moment die Augen und seufzte. Das Sonnenlicht, das durch das Fenster hereinfiel, tat ihm gut. Die Wärme wirkte heilsam auf ihn. Walter Cobert sah Anna an. »Du… kannst nicht mit dem Auto in das Dorf fahren.« »Wieso?« »Der Motor ist defekt. Die Wasserpumpe geht nicht mehr. Ich habe durch die Krankheit noch keine Zeit gefunden, eine neue zu besorgen und sie einzubauen. Du mußt also mit dem Fahrrad in das Dorf fahren. Vor diesem Hund brauchst du dich nicht zu fürchten. Der Sage nach wird er stets nur dann auftauchen, wenn es dunkel geworden ist. Er scheut das Tageslicht wie der Satan das Weihwasser.« »Hoffentlich behältst du recht, Onkel Walter.« »Sicher, mein Kind. Das Fahrrad steht im Stall. Es ist noch gut in Ordnung. Auf dem Gepäckträger ist ein Drahtkorb befestigt, in den du die Sachen, die du im Dorf einkaufst, legen kannst. Und nun spute dich. Es wird Mittag werden, bis du zurück bist.« Anna überlegte kurz. Das unwohle Gefühl in ihrem tiefsten Innern verdrängte sie. Sie küßte ihrem Onkel die Stirn und verließ dann das Haus. Sie wunderte sich, daß hier in der Nacht tatsächlich so etwas Spukhaftes geschehen war. Sie bekam jetzt eher das Gefühl, geträumt zu haben. Der Sonnenschein und der farbenprächtige Glanz des Moores belebten ihre Sinne außerordentlich, und Anna spürte in ihrem Herzen so eine gewisse Freude aufkommen, ausgelöst von dem
schönen Tag, der sie die schreckliche Nacht vergessen lassen wollte. Anna holte das Damenfahrrad aus dem Stall, schaute nach allen Seiten, um sich zu vergewissern, ob sie in Sicherheit war, und schwang sich dann galant auf den Sattel. Kräftig trat sie in die Pedalen und folgte dem Weg durch die traumhafte Allee, durch das Moor zum Dorf. Oh, wie herrlich still war es; so richtig zum Erholen. Die Sonne hatte die Moorlandschaft angenehm verzaubert. Eine herrliche Farbenpracht hatte sich ausgebreitet und erfreute Anna, die alles, was zu beiden Seiten des Weges war, tief in sich aufnahm. Sie konnte nicht mehr daran glauben, daß es hier Geister und Dämonen und diesen schrecklichen Hund geben sollte. Vielleicht war es doch nur ein Traum gewesen, der so überaus heftig war, daß er für wahr gehalten wurde. Aber sie wußte, daß sie keineswegs phantasiert hatte. Den Hund hatte sie im Wachsein tatsächlich mit eigenen Augen gesehen. Wo er jetzt wohl ist? wollte Anna erfahren. Ein lebendes Wesen kann doch nicht nur in der Nacht leben und sich am Tage in Luft auflösen, um dann in der nächsten Finsternis abermals aufzutauchen. War es wirklich nur ein Geisterhund aus einer anderen Welt, und hatte das Unsichtbare ihn hierher geschickt? Anna war ganz in Gedanken versunken. Der Himmel war tiefblau, und kein einziges Wölkchen war weit und breit zu sehen. Von der grausamen Nacht mit dem Unwetter bei Annas Ankunft keine Spur mehr außer den Regenpfützen und den Ästen, die hier und dort auf dem Weg lagen, die vom Sturm von den Bäumen gerissen worden waren. Das Moor labte sich am herrlichen Sonnenschein. Ein unendlich tiefer Friede schwebte über der einsamen Landschaft. Welch eine Naturherrlichkeit! Die Schöpfung zeigte ihr schönstes Gesicht!
Es war ja so überaus schön, mit dem Fahrrad dem Weg zu folgen. Anna begann, ein fröhliches Liedchen vor sich hinzupfeifen. Sie wollte nicht mehr an die schreckhaften Erlebnisse denken. Sie wollte ihre Seele nicht vergewaltigen lassen durch dunkle Gedanken, die sie womöglich krank machen würden. Wie gern hätte sie jetzt einen Flirt gehabt, der ihr Herz erquickte. Anna befand sich in einem Alter, in dem sich junge Frauen nach der einen großen Liebe sehnen, die nie vergeht. Natürlich träumte Anna diesen Traum immerzu, ob bewußt oder unbewußt. Es wäre ja so aufregend schön, einen treuen Weggefährten zu haben, mit dem man durch dick und dünn geht. Anna seufzte, und ihr verträumter Blick schweifte über das Moor, das nun recht sympathisch aussah. Nichts war da, was ihr hätte Furcht einjagen können. Anna freute sich am Leben. Da entdeckte sie in der Ferne eine hochaufgeschossene Gestalt, die aus einem Pfad gekommen war, der durch das Moor zu einem Wald führte. Anna stutzte und kniff die Augen zu Schlitzen zusammen, um besser sehen zu können. Das Sonnenlicht war sehr grell und blendete sie. Wer ist dieser Mann? fragte sich Anna. Er ist recht groß und schlank, und breite Schultern hat er auch. Er trug ein kurzärmliges Polohemd und Blue Jeans. Sein hellblondes Haar leuchtete. Es war gebräunt. Anna sah, daß der Typ freundlich lachte. Er schien also keine Gefahr zu bedeuten. Anna atmete tief durch und raffte sich auf dem Sattel. Er sieht verdammt gut aus! durchfuhr es sie, und ein leises, angenehmes Gefühl beschlich sie, das ihr Herz sanft hüpfen ließ. Der Fremde hatte eine dezente erotische Wirkung auf Anna, die ihr jetzt aber nicht bewußt war.
»Hallo!« grüßte der Mann und sein strahlendes Lachen betörte Anna, die seinen sehr freundlichen Blick ebenso freundlich erwiderte. »Können Sie mir vielleicht sagen, wohin dieser Weg führt?« rief der Fremde ihr zu. Er blieb stehen und stemmte die Hände in die Seiten. Er musterte Anna interessiert. Sie gefiel ihm sofort. Er hatte einen guten Blick, was weibliche Qualität betraf. Anna bremste und glitt vom Sattel. »Sind Sie nicht von hier?« Ihr forschender Blick fuhr an ihm hinab und hinauf. Sein männlicher Charme gab ihr das, wonach sie sich im stillen sehnte. Sie hätte sich sogleich an ihn anlehnen können, um an der Brust eines starken Mannes Schutz zu finden. Seine Größe imponierte ihr. Er war mindestens einen Meter neunzig groß, und Anna selbst war entsprechend kleiner. Welch ein Mann! Hatte sie ihn nicht schon mal in ihren geheimen Träumen gesehen? Es tat ihr außerordentlich gut, ihm jetzt begegnet zu sein. Nach der grauenvollen Nacht nahm Anna den Charme des Fremden unendlich tief in sich auf, und auf einmal wurde ihr jäh bewußt, welche Sehnsucht in ihr geschlummert hatte. Dagegen wehrte sie sich. Rasch errichtete sie eine unsichtbare Mauer. »Nein, ich kam vorgestern hier an!« erklärte der Mann, dessen Augen sagten, daß er Anna äußerst sympathisch fand. Das beunruhigte Anna etwas, denn sie wollte nicht von ihrer Sehnsucht geleitet werden, sondern von ihrem Verstand. »Ich habe Quartier im Gasthaus ›Zum Moor‹ bezogen und will für die nächsten vier Wochen hierbleiben«, fuhr der Fremde fort. »Oh, genauso lange bin auch ich hier«, erwiderte Anna. Ihr Interesse an ihm steigerte sich. Ein eigenartiger Glanz erglomm in ihren schönen Augen. »Sind Sie von hier?«
»Nein, die Gegend wäre mir zu öde, um immer hier zu leben. Ich komme aus Berlin, wo ich Design studiere.« »Ah… Sie sind also in den Ferien hier, nicht wahr? Haben Sie Verwandte hier?« »Ja, meinen Onkel. Ihm gehören das Moor und die Wälder, und er wohnt mitten im Moor. Im Moment ist er krank, und ich pflege ihn.« »Oh, mitten im Moor zu leben, ist sicher sehr romantisch. Es beflügelt die Phantasie?« Er kam näher und blickte ihr konzentriert in die Augen. »Ja, daß es die Phantasie erregen kann, das glaube ich sehr gern«, antwortete Anna. Sie dachte an das Unwetter und den Hund. »Das Moor kann aber auch, je nach Wetterlage, sehr eigenartig wirken. Glauben Sie daran, daß Geister in einem Moor leben könnten?« Er schwieg einen Moment und wich ihrem Blick aus. »Es kommt ganz darauf an, wie Sie das meinen.« In seinen Augen lag plötzlich etwas Seltsames. »Na, Geister und Dämonen eben«, fuhr Anna fort und kicherte. »An Geister und Dämonen im herkömmlichen Sinne glaube ich natürlich nicht!« antwortete der Fremde. »Aber wenn Sie übersinnliche Mächte und Phänomene meinen, dann neige ich eher dazu, es zu glauben, denn daß es Mächte gibt, die wir bis heute immer noch nicht wissenschaftlich erklären können, ist fast jedem bekannt. Ich beschäftige mich schon seit längerem mit übersinnlichen Dingen. Ich bin Wissenschaftler und an einem Institut tätig, in welchem übersinnliche Erscheinungen erforscht werden, die sogenannten PSI-Phänomene. Es gibt sie in zahlreichen Formen. Von vielen Leuten und von den meisten Wissenschaftlern werden sie leider noch immer nicht ganz ernst genommen, weil sie eben nicht zu erklären sind. Was man nicht sehen und berühren, nicht wiegen und messen,
nicht verarbeiten und umwandeln kann, ist für einen seriösen Wissenschaftler eigentlich kein Thema. Dabei gibt es sehr fähige Forscher in fast allen Bereichen der Wissenschaft, die längst erkannt haben, daß unsere sichtbare Welt nur ein winziger Ausschnitt der absoluten Wirklichkeit ist. Die Welt des Geistes zum Beispiel ist eine unsichtbare Welt. Man kann ihn nicht sehen, nicht anfassen und auch nicht messen und wiegen, doch seine Auswirkungen kriegt fast jeder Mensch zu spüren. Wir wissen nicht, aus was Geist besteht, aber wir wissen, daß er da ist, ja, wir wissen um seine Wirkungen. Die Welt der Metaphysik liegt außerhalb unserer Wahrnehmung. Wir haben nur fünf Sinne, was leider allzuoft vergessen wird. Trotzdem wird jede Wissenschaft immer wieder mit einem Wunder der Natur überrascht, je tiefer man in den Stoff eindringt. Wie häufig kam es schon vor, daß Wissenschaftler daran glaubten, die allerletzte Erkenntnis darüber gefunden zu haben, was den Kosmos letztendlich bewegt, und dann müssen sie leidvoll erkennen, daß sich ganz plötzlich eine neue, unbekannte Dimension auftut, die für sie erst mal völlig unverständlich ist und ihr bisheriges Weltbild zusammenbrechen läßt. Die Wissenschaft der Parapsychologie, also übersinnliche Erscheinungen zu erforschen, ist ein noch recht junges Gebiet, was in der Menschheitserfahrung jedoch schon uralt ist. Irgendwann werden wir weiter sein und vieles erklären können, was man heute lieber zu verdrängen sucht. Zum Beispiel habe wir in jüngster Zeit die längst vergessenen Mathematik- und Physikformeln der Energieverwirbelung neu entdeckt. Die Lehre der Verwirbelung von Energie hatte man mit der Zeit zunehmend beiseite geschoben, doch haben wir Parapsychologen gerade in ihr einen Weg gefunden, bestimmte übersinnliche Erscheinungen wie Gedankenübertragungen zu erklären. Was uns fehlt, sind Beweise. Aber wie gesagt, unsere
Wissenschaft der übersinnlichen Phänomene ist relativ jung. Wir brauchen Zeit.« Anna empfand ein riesiges Interesse an diesem Mann, der neben seiner Intelligenz noch verdammt gut aussah. »Ach«, meinte sie. »Sie sind also hergekommen, um im Moor nach Geistern zu suchen.« Er lachte amüsiert. »Im Grunde ja und nein. Falls es hier solche Phänomene gibt, dann würden sie mich schon wissenschaftlich interessieren. Gibt es hier so etwas wirklich, oder ist es nur Gerede?« Anna wußte nicht so recht, ob sie sich ihm anvertrauen konnte. »Na ja«, sagte sie und schmunzelte vergnügt. »Die Leute hier erzählen sich aus Langeweile sicher einige Spukgeschichten. Aber haben Sie nicht mal Lust dazu, mich und meinen Onkel zu besuchen, sozusagen abends zu einer Tasse Tee mit Zucker und Sahne?« »Oh, das freut mich. Ich nehme Ihre Einladung herzlich gern an, falls Ihr kranker Onkel nichts dagegen hat.« »Er hat sicher nichts dagegen«, meinte Anna und schenkte ihm ein aufforderndes Lachen. Sie hatte ja selbst den Wunsch, sich in netter Geselligkeit ein bißchen unterhalten zu können. »Ja, dann ist ja alles in Ordnung. Wann ist es Ihnen recht?« »Vielleicht morgen abend, so um neunzehn Uhr, wenn sich das Moor zur Nacht rüstet.« »Gut, ich werde pünktlich sein!« »Dann fahre ich nun weiter, meine Besorgungen machen. Ich muß zum Mittag wieder zurück sein. Ach ja, Sie wollten wissen, wohin dieser Weg, auf dem ich herkomme, führt zu meinem Onkel. Er endet dort. Und nun leben Sie wohl.« »Genießen Sie den sonnigen Tag!« »Bevor ich weiterfahre, müssen Sie mir noch Ihren Namen verraten. Ich jedenfalls heiße Anna Cobert.«
»Oh… entschuldigen Sie meine Fahrlässigkeit. Ich vergaß doch gänzlich, mich Ihnen vorzustellen. Ich heiße Gottfried Sänger.« »Nun weiß ich es. Tschüß!« Anna schwang sich auf den Sattel und radelte fort. Gottfried Sänger sah ihr lange nach, bis sie aus seinem Blickfeld verschwunden war. Er war von Anna sichtlich fasziniert. Walter Cobert musterte Gottfried Sänger und bekam das Gefühl, daß hier wohl bald eine Liebe erblühen würde. So etwas spürte man doch, denn schon war da jenes Prickeln, was unterschwellig die Gemüter beeinflußte, um spezielle Wirkungen zu erzielen. Er trug einen Bademantel. Er war für zwei Stunden aus dem Bett gekommen, um sich ein wenig zu bewegen. Der Kreislauf benötigte Antrieb. Er hatte mit Anna gemeinsam zu Abend gegessen, und nun, nachdem der junge Wissenschaftler gekommen war und er ihn hatte begrüßen können, um sich zu vergewissern, wer es war, wünschte er einen gemütlichen, unterhaltsamen Abend und stieg in seine Kammer hinauf. Ächzend legte er sich in das Bett und versuchte, sich mit einem Buch abzulenken. Anna und Gottfried Sänger hatten es sich vor dem Haus gemütlich gemacht. Ein runder Tisch und zwei alte Stühle luden zum Verweilen ein. Anna hatte schwarzen Tee aufgebrüht und die Kanne auf ein Stövchen gestellt, in dem eine kleine Flamme brannte. Gebäck hatte sie auch auf den Tisch gestellt. Nun saßen sie sich gegenüber und tauschten sympathische Blicke aus. Sie tranken und knabberten das Gebäck und unterhielten sich zuerst über einige belanglose Dinge, rückten jedoch allmählich geistig näher, um zueinanderzufinden. Es war ein sehr lauschiger Abend, und die Luft war vom Duft der Moorgewächse reich geschwängert. Eine romantische Atmosphäre hatte sich unmerklich
ausgebreitet, die Annas Herz geöffnet hatte, und nicht nur ihres; Gottfried Sänger fand immer mehr Gefallen an Annas natürlichem weiblichen Charme, der ihn zunehmend gefangennahm. Ihre grazilen Bewegungen erzeugten eine unterschwellig wirksame Musik in seinen tiefsten Seelenschichten, deren Kraft ihn forttragen wollte, genau in Annas Arme. Welch ein verheißungsvolles Gefühl! Sie würde er lieben können. Aber er durfte es nicht zeigen. Er würde Anna sicher nur erschrecken, und er tröstete sich mit dem Gedanken, daß es nur seine Männlichkeit war, die ihm dieses Gefühl gab. Gottfried Sänger hatte gute Manieren, und Anna erinnerte sich an die vielen jungen Männer, die bereits heftig um sie geworben hatten. Einige von ihnen hatten furchtbare Manieren gehabt, und Anna hätte sich niemals mit diesen Burschen eingelassen, weil sie ihr noch viel zu flapsig gewesen waren. Doch Gottfried Sänger besaß jene Eigenschaften, die Anna sich bei einem Mann wünschte, vor allem, daß er sie führen konnte, ohne daß sie es bewußt merkte, und daß er ein guter Zuhörer und Unterhalter war. Anna unterhielt sich nämlich liebend gern über alles mögliche. Ihr Blickwinkel galt nicht nur ihrem Studium des Design, das schon anstrengend genug war, sondern auch ihrer Umwelt, die sie stets bewußt erleben wollte. Bücher las sie für ihr Leben gern, und gute Musik war stets ein besonderer Leckerbissen für sie. Obwohl Anna eine ziemlich selbstbewußte junge Dame war, verspürte sie unterschwellig immer wieder den Drang, sich an einen starken Mann anzulehnen, um letztendlich Liebe von ihm zu empfangen. Innerlich hatte sie sich an Gottfried Sänger bereits angelehnt, und sie wünschte sich, daß er dieselbe Sehnsucht hatte. Oh, welch ein fantastisches Gefühl mußte es sein, ihn hautnah zu spüren, von ihm leidenschaftliche umarmt und innig geküßt zu werden, bis einem die Sinne schwanden. Das
nächtliche, schreckhafte Ereignis hatte sie insgeheim ausgehöhlt; ihre Sehnsucht nach wärmender Liebe war gewachsen. Gottfried Sänger hatte eine positive Aura, die Anna längst schon unendlich tief aufgenommen hatte, um ihr Wohlbefinden zu steigern. Sie zeigte natürlich ein sehr großes Interesse an Gottfried Sängers wissenschaftlichem Beruf. Sie hatte eigentlich nie präzise gewußt, was im Bereich der übersinnlichen Forschung gemacht wurde. Als sie hörte, wie hochinteressant jenes Gebiet war, merkte sie nicht mehr, daß sie zunehmend in den Bann ihres netten Gastes geriet. Die Welt des Übersinnlichen ist also da! Sie ist Wirklichkeit wie die materielle Welt, die wir mit unseren fünf Sinnen zu erfassen vermögen. Anna staunte zeitweise, denn daß die Wissenschaft der übersinnlichen Phänomene so weit fortgeschritten war, hatte sie nicht glauben wollen, und als Gottfried Sänger von einem Haus erzählte, in das eine Familie eingezogen war und in dem es immer wieder spukte, rann ein unheimlicher Schauder über ihren Rücken, denn als dieser Fall, über den zunächst gelacht und gespottet wurde, wissenschaftlich untersucht wurde, kam eine versunkene Welt zum Vorschein, die unter dem Haus war, die Welt der Toten. Nachts hatte man Klagegesänge gehört, und Gesichter hatten sich im Marmorfußboden gezeigt, gräßliche Gesichter, die die Bewohner des Hauses anklagten, sie in ihrer ewigen Ruhe zu stören. Schließlich wurde der Fußboden aufgerissen, und man buddelte sich in die Tiefe, und tatsächlich wurde ein längst vergessener Friedhof gefunden mit Gebeinen. »Und dies ist wahr?« erkundigte sich Anna mehrmals, weil sie die Geschichte einfach nicht glauben wollte. »So wahr ich Gottfried Sänger heiße!« bestätigte der junge Wissenschaftler. »Es ist wissenschaftlich korrekt verbürgt, was ich gerade berichtet habe.«
»Unglaublich«, rief Anna mit einem eigenartigen Unterton. Sie dachte an den Hund. War er eine Geistererscheinung? Es fröstelte sie. Anna verschränkte ihre Arme. »Wie ist es denn nur möglich, daß Verstorbene nach vielen Jahren als Spukphänomene auftauchen können? Sie haben mich unendlich neugierig gemacht.« »Seit der Zeit der Aufklärung, in der die Ratio zum Gott erhoben wurde, hat man das Irrationale verdrängt. Es galt nur noch das, was man materiell sehen, anfassen, fühlen, riechen, messen und wiegen konnte. Es muß sehr viel Wissen verlorengegangen sein, was die Welt des Übersinnlichen betrifft. Es wurde ja seit der Aufklärung nicht mehr anerkannt und in die Hinterstuben abergläubischer Menschen verdrängt. So weiß die Esoterik aber seit jeher mehr über diese Welt. Seelen sind Energiefelder mit ‘ angereicherten Informationen, die unser Gehirn zeitweise transformieren, also zur intuitiven Entschlüsselung entziffern kann. Hier haben wir die Forschung angesetzt. Leider verderben uns allzu viele Scharlatane und Trickbetrüger das Arbeiten. Es gibt immer wieder eine Menge Leute, die sich hervortun müssen, um Beachtung zu finden, und da denken die sich so allerhand für aus.« Wieder dachte Anna an den Hund. Sollte sie es ihm sagen? Doch sie zögerte. Gottfried Sänger erzählte zwar überaus überzeugend, so daß man ihm einfach Glauben schenken mußte, aber Anna war betont verstandesgemäß erzogen worden. Für sie zählten nur rationale Tatsachen, Fakten und Zahlen. Als Designerin mußte sie ausschließlich logisch und konstruktiv denken; daher fiel es ihr nicht leicht, an Dinge zu glauben, die außerhalb der Welt waren, die ihr in Schule und Erziehung vermittelt worden war. Na gut, es gab Horrorfilme und dergleichen, die aber nur auf Geldgewinn ausgerichtet waren. Nun hörte Anna, daß die Welt des Geistes tatsächlich vorhanden war, und sie hatte stets geglaubt, daß der Geist
praktisch nur aus Worten oder Bildern bestand. O nein, er ist eine reale Welt und nur deswegen für viele Menschen nicht begreifbar, weil der Geist ein unsichtbarer und flüchtiger Stoff ist, der sich bis zum heutigen Tage der modernen Wissenschaft entzogen hat. Unsichtbar schleicht er durch die Welt und macht, was ihm beliebt, und kann alles, was ihm gefällt, auch das, was uns als irrational und unmöglich erscheint. Annas Neugier wuchs immer mehr. Sie wollte erfahren, ob jener Hund echt oder nur eine Erscheinung aus der Welt des Geistes war. Tief in ihr war ein unbekannter Forschertrieb geweckt worden, und Gottfried Sängers mündliche Ausführungen verstärkten ihn. Anna begann, innerlich über sich hinauszuwachsen. O ja, sie wollte nachts darüber wachen, ob der Hund wiederkäme. Wie stolz würde sie nachher sein, wenn sie ihre Furcht überwinden würde und Gottfried erzählen könnte, was sie wußte. Sie wollte warten, bis sie mehr herausbekommen hatte. Eine neue Dimension lockte sie, die unsichtbare Welt. Mit ihrer Intelligenz wollte Anna es wagen, sich dieser Welt zu stellen. Das bißchen Schaudern und Zittern würde sie schon überleben. Und ihr wurde bewußt, daß man ja eigentlich nur davor Angst hatte, was einem unbekannt war. »Bitte, trinken Sie doch den Tee«, forderte Anna ihren Gast freundlich auf. Sie tranken und schenkten sich ein betörendes Lächeln, was sanft reizte. Doch der Abend schritt rasch voran; die Zeit raste wie im Fluge dahin. Gottfried Sänger sagte, nachdem sein Blick über die abendliche Moorlandschaft geschweift war: »Es wird Zeit, daß ich mich auf den Weg mache. Wir haben fast schon zweiundzwanzig Uhr. Bis ich im Dorf bin, wird es stockduster sein.«
»Haben Sie denn keine Angst davor, einem Moorgeist zu begegnen?« scherzte Anna und sah ihm forschend in die Augen, um zu erkunden, inwieweit er daran glaubte. Er aber lächelte überlegen. »Nun, ich habe noch nie Furcht vor Geistern gehabt. Ich werde mich einfach ein bißchen mit ihnen unterhalten, um zu erfahren, was sie vorhaben und wie es in ihrer Welt aussieht.« »Hm…«, sinnierte Anna. »Und falls es ein Tier ist?« »Dann werde ich entscheiden, was zu tun ist. Jedenfalls werde ich keine Angst haben. Umherwandernde Seelen tragen häufig Botschaften mit sich. Man sollte ihnen zuhören.« Er stand auf, verabschiedete sich warmherzig von Anna und eilte fort. Sie schaute ihm nach, bis die Dunkelheit ihn verschluckte. Nur das Atmen des Moores war zu hören. Am Himmel glühten abertausend Sterne, und der Mond warf sein silbernes Licht herab. Glühwürmchen schwebten verliebt durch die Lüfte, und immer wieder gluckste unheimlich tönend, fordernd das Moor. Anna setzte sich auf die Bank am Haus und lauschte gedankenvertieft den Klängen des Moores, das begonnen hatte, eine geheimnisvolle Botschaft auszusenden. Schwere Düfte wanderten durch die nächtliche Atmosphäre. Sie dachte an Gottfried Sängers wissenschaftliche Erläuterungen, die sie zutiefst beeindruckt hatten. Sie betrachtete das Moor jetzt aus einer anderen Perspektive. Allmählich schärfte sie ihre Sinne, und ein drittes Auge in ihrer Seele schien sich auf einmal zu öffnen. Ein süßer Lockstoff reizte unmerklich ihre Sinne. Anna erhielt langsam das Gefühl, die Welt, in der sie real lebte, zu verlassen. Ihr war auf einmal so eigenartig zumute, als wollte ihre Seele ihren Körper verlassen, um über das Moor dahinzuschweben. Der Himmel streute eine verzauberte Musik
aus, die Annas Herz öffnete. Sie lauschte verträumt und fühlte sich fortgetragen. Und da sah sie ihn wieder, diesen geheimnisvollen Hund, der über das Moor gelaufen kam, als würde er nicht versinken können. Er jaulte aber nicht. Zwischen hohen Sträuchern hielt er inne und schaute zum Haus. Anna hatte sich von der Bank erhoben und war drei Schritte vorgetreten, um besser sehen zu können. Konzentriert, mit ungläubigem Blick sah sie zu dem Hund, der sie bereits geortet hatte. Warum klagt er heute nicht? wollte Anna wissen. Sie wunderte sich darüber, daß sie keine Angst verspürte. Gottfried Sängers Schilderungen über das Übersinnliche hatten ihr offenbar geholfen, das Wesen der Nacht mit anderen Augen zu betrachten. Sie hätte mit dem Hund am liebsten verbalen Kontakt aufgenommen, um zu erkunden, ob es ein Tier aus Fleisch und Blut oder ein Wesen aus der Geisterwelt war. Anna ging langsam weiter; ihre Sinne waren auf das höchste angespannt, und der süßliche Duft des Moores umwehte sie lieblich, um sie zu Taten zu verführen, die Anna sonst niemals unternommen hätte. Der Hund zeigte auf einmal so ein eigenartiges gebieterisches Verhalten, so, als wolle er Anna dazu auffordern; ihm zu folgen. Merkwürdig! dachte Anna. So etwas macht doch nur ein ausgebildeter Hund. Es sei denn, er stammte aus der Geisterwelt und war in Gestalt eines Hundes gekommen. Annas Neugier wurde schier unfaßbar. Wie unter magischer Führung ging sie weiter, entfernte sich zunehmend vom Haus, welches ihr Sicherheit bot. Der Hund beobachtete Anna, machte plötzlich eine sanfte, halbe Kehrtwendung und wartete, den Blick auf Anna gerichtet.
Mein Gott! durchfuhr es Anna. Ich muß verrückt geworden sein, in der Nacht einer fremde Dogge zu folgen, noch dazu durch das Moor, über dem nur der Mond schien und unzählige Sterne leuchteten, die unendlich weit weg waren. Die Dogge hat die Macht, mich zu zerreißen mit ihrem kräftigen Maul! sagte sich Anna im stillen. Aber da war jene eigenartige Kraft, die sie gewaltlos vorwärts schob und zu ermuntern schien weiterzugehen. Ihr Herz jedoch pochte rascher, und ihr Magen schien nicht mehr da zu sein. Je weiter Anna sich vom Haus entfernte, desto tragfähiger wurde jene geheimnisvolle Macht, die ihr suggerierte, furchtlos zu sein, weil es nichts gab, was zur Unruhe hätte veranlassen können. Anna vertraute jener unsichtbaren Macht, weil sie ihr Wärme schenkte, die ihr Sicherheit gab. Sie war jetzt ungefähr fünfzehn Schritte von dem Hund entfernt, als er bedächtig voranzueilen begann, immer wieder stehenblieb, sich umblickte, um zu kontrollieren, ob Anna ihm noch folgte, und weiterlief. Der schmale Pfad, über den sich Anna bewegte, schlang sich durch das nächtliche Moor. Irgendwo in der Ferne schrie mehrmals eine Eule und verkündete die aktuellen Nachrichten der Nacht. Glühwürmchen begleiteten Anna neugierig, schwebten auf- und abwärts, hin und her und glühten lieblich. Die Lichter der Nacht wollten ihr den Weg leuchten, damit sie nicht vom Pfad abkäme, denn das würde eine erhebliche Gefahr darstellen. Das Moor gluckste immer wieder, atmete unendlich tief durch und huldigte einer einsamen stillen Melodie, die unstet umherwanderte. Aber Anna nahm sie nicht in ihrem Herzen wahr, sie hatte nur Augen für den Hund, der in einen anderen Pfad einbog. Anna dachte jetzt nicht mehr darüber nach, ob man Angst haben mußte oder nicht. Sie war auch schon zu weit vom sicheren Haus weg. Zum anderen hätte der Hund sie längst
angefallen, wenn er diesbezüglich gefährlich gewesen wäre. Eigentlich war jetzt nur noch seine Gestalt furchteinflößend; eine Dogge ist ein äußerst starker Hund, dem ein Mensch kaum gewachsen ist. Aber Anna folgte ihm wie ein Lämmlein seiner Mutter. Sie fürchtete sich nicht. Eine unsichtbare Macht hielt eine beschützende Hand über sie. Nun war das Haus von Annas Onkel schon so weit hinter ihr, daß es nicht mehr zu sehen war. Anna folgte dem Pfad immer weiter in das Moor hinein. Da blieb der Hund fünfzig Schritte vor ihr stehen und wandte sich ihr zu. Seine majestätische Haltung beeindruckte Anna sehr, und auch sie hielt inne, stark hechelnd, erst jetzt merkte sie, daß sie immer schneller gelaufen war. Und sie nahm diese unendlich tiefe Ruhe war, in der nur das Gluckern und Atmen des Moores zu vernehmen war, jene geheimnisvolle, heiß schwärende Musik der moorigen Finsternis. »He!« wagte Anna zu rufen. »Wo hast du mich hingebracht?« Sie beobachtete den Hund, der nicht reagierte, sondern seinen Blick regungslos auf Anna gerichtet ließ. Sie schaute zum Firmament. »Und du, der mich hierhergetrieben hat, willst mir wohl auch keine Antwort geben, oder täusche ich mich?« Sie lauschte konzentriert. Die Stille war eigenartig. Stumm schwebten die Glühwürmchen um Anna. Doch es wurde Anna auf einmal unheimlich zumute. Die unsichtbare Macht schien fort zu sein. »Wo… wo… bist du?« fragte Anna. Ihr Herz bibberte. Sie erhielt keine Antwort. Die Stille begann, drückend und irgendwie messerscharf zu wirken. Die Melodie hatte sich verflüchtigt, und schlagartig, wie von einem eisigen Blitz mitten ins Herz getroffen, erinnerte sich Anna an die Worte ihres Onkels. Der Hund. Er stammte aus einer alten Sage. Wenn er auftaucht, dann will er
einen Menschen, der zum Tode bestimmt ist, in das Jenseits holen. Heiß und kalt wurde ihr, und Anna nahm die stehende Stille bewußt wahr. O mein Gott! stammelte sie innerlich. Bitte steh mir bei! Und ihr Herz schien glühend auseinandergerissen zu werden, und ihr Leben drohte zu entschwinden. Welch ein Gefühl! Die Hölle schien sich aufgetan zu haben! Anna hatte die Beklemmung, im Boden zu versinken. Sie blickte fieberhaft zu ihren Füßen. Nein, sie war nicht in das Moor getreten, welches sie verschlingen wollte. Sie stand immer noch auf dem festen Pfad. Aber das Moor bekam vielfältiges Leben, das Anna bedrängen wollte. Überall schienen Geister aus der Tiefe der Vergangenheit aufzusteigen, um ihr Unwesen zu treiben. Anna zuckte zusammen. Hat der Hund mich hergelockt, damit die Dämonen nun leichtes Spiel mit mir haben? Schweiß perlte auf ihrer Stirn, und Anna bedeckte mit den Händen für einige Momente ihr Gesicht. Ihre Sicherheit verflog, und sie war wieder sie selbst. Sie hatte das schreckliche Gefühl zusammenzuzucken und hilflos ausgeliefert zu sein. Da waren jene Geister aus der Unterwelt, die Forderungen stellen wollten, um ihr vergangenes Leben zu sühnen. Und der Hund erhob seine kraftvolle Stimme und begann, inbrünstig zu klagen. Welch ein markerschütternder Gesang, der Anna durch und durch ging. Mit blankem Entsetzen in den Augen schrie sie mit einer Stimme, die ihren wunderbaren Klang verloren hatte: »Du wahnsinnige Bestie hast mich getäuscht! Der Satan soll dich in die Hölle holen!« Mit einer heftiger werdenden Angst im Herzen machte Anna auf dem Absatz kehrt und eilt, so schnell es ihr möglich war, zurück. Aber sie hatte das Gefühl, verfolgt zu werden. Der Pfad war äußerst schmal. Sie durfte von ihm nicht abkommen. Sie würde bodenlos versinken.
Die Angst war kaum noch zu bremsen. Sie erhielt zunehmend Macht über Anna, die jetzt nicht mehr fähig war, einen klaren Gedanken zu formen. Das Entsetzliche war ja hinter ihr her, sie zu ergreifen, um sie in Besitz zu nehmen. Und Anna wurde belacht. Man bemühte sich tatkräftig, ihr Selbstbewußtsein völlig zu zerstören. Das Klagen des Hundes verfolgte sie, und Anna durchfuhr es eisig kalt: Mein Gott! Warum greift diese Bestie von einem Hund mich denn nicht an? Als wäre es die Erlösung aus der spitzstacheligen Umklammerung der Geister gewesen. Immer mehr Dämonen tauchten auf, und Anna hatte das Gefühl, als kämen sie aus einer unbeschreiblichen Tiefe, die in ihrem Selbst lag, und das war besonders fürchterlich. Ihr Hirn schien ein brennendes Inferno zu sein, nicht mehr in der Lage, die Situation zu beherrschen. Annas Blick war verzerrt, und die Perspektiven rissen umher; die Glühwürmchen schienen Blitze auszustoßen, die Annas Herz galten, und die Bäume hatten Arme, die Anna ergreifen und in das Moor werfen wollten, weil es eine tiefe Sehnsucht nach einer neuen Seele hatte, die der Veränderung preisgegeben werden sollte. Als flöge plötzlich Gift durch die Atmosphäre, das Annas Sinne betäuben sollte, damit sie neben den Pfad träte, wurde ihr matt im Kopf. Ihre Sehkraft schwand bedrohlich, und tausende flimmernde Farbflecken tanzten ekstatisch vor ihren Augen, und heiße und kalte Wellen durchflossen sie; Anna merkte nicht, daß sie sehr schnell lief. Eine, niederträchtige Faust schien ihr im Nacken zu sitzen, die nur eines wollte: vollstrecken! Der Gesang des Hundes wurde unerträglich, und Anna war kurz davor zusammenzubrechen. Doch die Beine trugen sie weiter, obwohl sie von einer eigenartigen Schwäche ergriffen waren; es waren die überstrapazierten Nerven, die äußerste Wachheit und Hellhörigkeit, die viel Kraft verbrauchten.
Anna ließ das Moor endlich hinter sich, stieß zum Haus ihres Onkels vor, riß die Haustür auf und glitt hinein, hinter sich die Tür zureißend. Anna fiel gegen die Tür und sackte innerlich zusammen. Sie schloß die Augen für einen Moment. Draußen jaulte der Hund. Da! Ein Knarren, ein ziehendes Quietschen! Anna riß die Augen weit auf und sah wirr um sich. Sie hörte ein keuchendes Atmen. Annas Herz wollte aussetzen mit Pochen. Mit starrem Blick äugte sie zu der Tür am Ende des Korridors, die sich langsam geöffnet hatte. »Ah… endlich habe ich dich gefunden, mein Kind!« äußerte Walter Cobert und hustete hinter vorgehaltener Hand. »Ich habe dich schon überall gesucht. Hast du den netten jungen Mann ein Stückchen des Weges begleitet?« Er wartete keine Antwort ab, sondern fuhr fort: »Ja, ja, meine gute Anna, so beginnt es meistens.« Er kicherte verschmitzt. »Die Liebe kommt, wohin sie will.« Anna hatte die letzten Worte kaum wahrgenommen, weil Walter Cobert sie sehr leise gesprochen hatte. Erleichtert darüber, nur ihrem Onkel gegenüberzustehen und nicht schon wieder irgendwelchen Geistern, atmete Anna ganz tief durch. »Hallo, Onkel Walter. Draußen ist der Hund. Hörst du ihn?« Walter Cobert kam schlurfend näher. »Nein… ich höre nichts.« Er legte den Kopf nach rechts, nach links, blieb stehen und lauschte konzentriert. »Ich höre keinen Hund, Anna. Du mußt dich geirrt haben.« Anna drehte ihren Kopf halb zur Seite. Tatsächlich! Die Bestie war verstummt. »Manchmal spielt einem die Einsamkeit arglistige Streiche, mein Kind. Hier im Moor muß man gehörig auf der Hut sein, um nicht irgendwelchen irrlichtigen Erscheinungen zu erliegen. Willst du mir jetzt nicht meinen Nachttee aufbrühen, damit ich besser durchschlafen kann? Meine Schultern
schmerzen schon wieder so schlimm. Kannst du sie mir gleich mit der Salbe einreiben?« »Aber selbstverständlich, Onkel Walter. Ich bin doch gerade deswegen zu dir gekommen.« »Gut, mein Kind. Ich gehe derweil, bis du den Tee fertig hast, hinauf und lege mich in mein Bett. Ich bin noch schwach und benötige sicher noch einige Tage, bis ich wieder einigermaßen zu gebrauchen bin.« Während er sich der Treppe zuwandte, die in seine Kammer hinaufführte, eilte Anna in die Küche. Draußen hatte sich eine schwere Ruhe ausgebreitet. Rasch zog Anna die Vorhänge am Fenster der Küche zu und seufzte schließlich erleichtert. Sie dachte an Gottfried Sänger. Wenn er wüßte, was sie erlebt hatte! Er würde alles erfahren wollen!
In den nächsten Tagen trafen sich Anna und Gottfried Sänger beinahe täglich zur Dämmerstunde, um sich angeregt zu unterhalten, aber sie verschwieg, was ihr widerfahren war. Die letzten Nächte waren relativ ruhig geblieben. Nur um Mitternacht hatte der Hund für eine geringe Dauer gejault. Und Anna hatte jedesmal lange wach gelegen und sinniert. Onkel Walter hatte ironisch gesagt, daß der Hund machen könne, was er wolle, er würde ihn jedenfalls nicht in das Jenseits kriegen, denn sein Lebenswille war groß. Walter Cobert war ohnehin ein ziemlich zäher Mann, den so schnell nichts umhauen konnte. Doch das Liegen im Bett behagte ihm nicht sonderlich, und er hatte längst damit begonnen, mit sich selbst herumzuzetern. Er war ein Mann, der immer in Bewegung sein mußte. Ruhe mochte er nicht. Er mußte stets irgend etwas schaffen. Passivität war ihm immer schon ein lästiges Greuel gewesen. Anna hatte er ganz besonders lieb, weil sie zu den aktiven Menschen gehörte. Was wäre die Welt
ohne die Leute, die stets arbeiten! hatte Walter Cobert gesagt; seine Lebensphilosophie machte ihn natürlich keineswegs bei allen Menschen beliebt. Er wußte das, aber es machte ihm nichts aus. Man kann nicht immer nur Freunde haben! dachte Walter Cobert. Ein guter Mensch hat auch Feinde! Walter Cobert war auf dem Weg der Besserung. Annas herzliche Wärme tat ihm sichtlich wohl, und er schimpfte fortwährend auf die bittere Medizin, die der Arzt ihm verschrieben hatte. An einem herrlichen sonnigen Tag kam der Doktor vorbei und erkundigte sich nach Walter Coberts Befinden. Er untersuchte ihn, aber der Patient brummelte nur unwillig. »Ihr Ärzte sucht hier und dort und findet doch nicht das, was einem wirklich fehlt«, quengelte Walter Cobert. »Oh, ich weiß ganz genau, was ich tue«, antwortete der Doktor. Er war ja einiges gewohnt in dieser öden Gegend, in die es ihn verschlagen hatte. Viele Leute wollten lieber an abergläubische Dinge glauben als an die Wissenschaft. »Und warum werde ich dann nicht gesund?« wollte Walter Cobert wissen. »Die beste Medizin ist meine Anna. Wenn sie nicht gekommen wäre, dann wäre ich sicher längst gestorben.« »Sie haben recht«, erwiderte der Arzt und lächelte amüsiert. »Eine schöne junge Frau kann wirklich sehr heilsam auf die Seele wirken. Jedenfalls haben Sie jemanden, der Sie fleißig versorgt.« Er ließ neue Medikamente da. »Ja, ja«, meinte der Arzt. »Wenn das Rheuma erstmal gekommen ist, dann ist es nicht leicht zu bekämpfen. Ich tue mein Bestes. Sie werden bald wieder obenauf sein.« Er verabschiedete sich und ging nach unten, wo Anna auf ihn wartete. »Ihr Onkel ist ein schwieriger Patient. Pflegen Sie ihn gut, und achten Sie darauf, daß er die Medikamente einnimmt. Sie werden ihm gut helfen.«
Anna wollte antworten, kam aber nicht dazu, weil der Arzt das Wort ergriff. »Sagen Sie mal…« Er blickte kritisch. »Ist hier bei Ihnen in den letzten Tagen vielleicht eine graubläulich gefärbte Dogge, die kein Halsband trägt, aufgetaucht?« Anna zuckte zusammen. »Eine… Dogge? Sie meinen also…« »Ja, ein Riesentier von einem Hund.« Anna wich seinem forschenden Blick aus. Unruhe stieg schlagartig in ihr hoch. Anna knetete ihre Finger. »Ja… ich habe so einen Hund gesehen.« Der Arzt hob interessiert seinen Kopf etwas an. »Aja… und wo?« »Direkt vor dem Haus!« Anna deutete mit dem Gesicht zur Tür. Es fröstelte sie, an den Hund zu denken. »Hm… Und was hat er gemacht? Wollte er Sie anfallen oder in das Haus eindringen?« »Nein, nichts von alledem. Er… jaulte nur so fürchterlich klagend, als… hätte er… Schmerzen oder so etwas Ähnliches.« Der Blick des Arztes wanderte zur Tür und wieder zu Anna zurück. In seinen Augen lag etwas Eigenartiges, so, als wüßte er irgend etwas Geheimnisvolles, was sein Interesse geweckt hatte. »Und Sie selbst waren also im Haus, als die Dogge…« »Nein, ich ging zum Stall, um ihn zu verschließen, als plötzlich die Dogge da war und klagend jaulte. Es war ein fürchterlicher Gesang. Aber der Hund griff nicht an, er… wirkte wie von irgend jemandem fortgescheucht.« »Seltsam«, murmelte der Arzt. »Ich rate Ihnen, im Haus zu bleiben und Ihrem Onkel nette Gesellschaft zu leisten, falls der Hund abermals auftauchen sollte. Wenn Sie Beistand benötigen, dann können Sie mich telefonisch verständigen. Wenn es meine Zeit als Arzt zuläßt, werde ich kommen.«
»Oh, das ist sehr nett. Aber sagen Sie mir doch bitte, wem der Hund gehört, damit man seinem Eigentümer sagen kann, daß er auf ihn besser aufpassen soll.« Der Arzt schwieg und blickte sinnierend zu Boden. »Ja, so könnte man es machen. Ich fürchte nur, daß der Hund keinen Besitzer hat.« »Dann muß ihn jemand ausgesetzt haben!« »Das wäre logisch gedacht vollkommen richtig.« Anna musterte ihn eindringlich. Sie ahnte Ungutes. »Sind herrenlose Hunde gefährlich für Menschen?« »Hunger wird ihn umhertreiben. Doch es könnte sein, daß er so etwas gar nicht kennt.« »Jedes lebende Tier hat Hunger, den es befriedigen will!« sagte Anna. »Es ist ein sonderbarer Hund. Wenn Sie möchten, dann können Sie mich zu jeder Nachtzeit anrufen, falls er wieder auftaucht und Sie belästigt. Es wird mich keineswegs stören zu kommen, gleichgültig bei welchem Wetter.« »Und das nicht nur, um uns beizustehen, nicht wahr?« Er lächelte. »Es ist besser, wenn Ihr Onkel sich durch das Gejaule nicht aufregt. Das würde seiner Genesung schaden. Ich will ja, daß er gesund wird. Ich… muß nun weiter. Es wartet eine ältere Frau auf mich, die untersucht werden muß. Leben Sie wohl, und lassen Sie sich von der Hitze nicht verrückt machen, die augenblicklich herrscht.« Er öffnete die Tür, schenkte Anna noch ein freundliches Lächeln und bestieg dann seinen Wagen. Während Anna ihm nachschaute und beim Wegfahren zuwinkte, dachte sie: Er hat auf einmal von meiner Frage abgelenkt. Warum hat er darüber nicht weiterreden wollen? Anna begann, tiefer nachzudenken.
»Anna! Anna!« tönte es aus dem oberen Stockwerk. »Ist der Quacksalber endlich fort? Dann bringe mir jetzt etwas zu essen, und Durst habe ich auch!« »Ja, Onkel Walter, ich fliege bereits in die Küche!« Daß durch das Fenster der herrlichste Sonnenschein hereinstrahlte, nahm Anna jetzt nicht mehr wahr. Ihre Gedanken hingen dem geheimnisvollen Hund nach. Es wird Zeit, daß ich mich Gottfried anvertraue! sagte sie sich im stillen. Anna und Gottfried Sänger wanderten durch das Moor, über dem der überaus schönstrahlende blaue Himmel kein einziges Wölkchen zeigte. Die Hochwetterlage animierte zum Träumen und Müßiggang. Annas und Gottfrieds Zuneigung zueinander war weiter gewachsen. Annas Herz hüpfte jedesmal freudig, wenn sie Gottfried in die Augen schaute. Auch er empfand das erquickende Glück ihrer Gegenwart als sehr kostbar und begann, sich danach zu sehnen, für immer mit Anna zusammenzusein. Sie paßte ausgezeichnet zu ihm, ja, sie ergänzten sich harmonisch. »Ist das Moor bei Tageslicht besehen nicht einzigartig?« erkundigte sich Gottfried bei seiner Begleiterin, die sich von der Hitze so gesättigt fühlte. »Ich liebe diese Landschaft, die mir so viel gibt, was mein Herz erfüllt mit neuen Gedanken und Gefühlen.« Er blieb stehen und sah Anna unendlich tief in die Augen. Anna erwiderte seinen zärtlichen Blick mit einem seltsamen Glanz in den Augen. Ein erregendes Prickeln quoll in ihr auf, das so angenehm war. Es erhob sie aus den Niederungen des Alltäglichen. Anna glaubte, neugeboren zu sein. Welch ein herrliches Gefühl, welches sie nicht mehr fortgehen lassen wollte.
Warum umarmt er mich nicht einfach und schenkt mir einen innigen Kuß? fragte sich Anna im stillen. Sie vernahm jene glimmende Sehnsucht tief in ihrem Herzen, die ihr die Kraft dazu gab, sich ihm vollends zu öffnen. Sie wollte Freundschaft, aus der wahre Liebe erwachsen konnte. Ein schöner Traum, der in Erfüllung gehen sollte. Anna hatte begonnen, Gottfried anzuhimmeln. Er war ja so nett, und seine männliche Nähe beflügelte sie. Es war ja so aufregend schön, sich schwerelos zu fühlen. Und die Sonne am blauen Himmel schenkte ihr Heiterkeit, die ihre Herzenswärme steigerte. Sie hatte so etwas Schönes zwar bereits empfunden, weil ihr in Berlin ja viele junge Männer den Hof machten, aber diesmal war es völlig anders, wesentlich erhebender, aufregender und bereichernd. Gottfried konnte ausgezeichnet auf sie eingehen. Mit seinem feinen Einfühlungsvermögen war er ein interessanter Begleiter, an den sich anzulehnen ein köstliches Erlebnis war. Anna ließ sich herzlich gern von ihm führen. Es war ja so unbeschreibbar herrlich, den Rhythmus seiner körperlichen Bewegungen zu spüren und sich davon anregen zu lassen. Oh, Anna fühlte sich so wohl, sie war befreit von der Angst der Nächte, in denen das Grauen zu ihr gekommen war. Daran wollte sie nun einfach nicht denken. Der sonnige Tag war zu schön. Aber sie erinnerte sich daran, was sie Gottfried heute anvertrauen wollte, und ein kaum wahrzunehmender Schatten huschte in ihren Augen vorüber. Ach! dachte Anna. Der Hund ist sicher nur eine Fiktion, eine Sinnestäuschung, reine Phantasie, die niemals bewiesen werden kann: Sie schüttelte bewußt ihren Kopf. »Was hast du auf einmal?« erkundigte sich Gottfried anteilnehmend. »Deine Augen haben plötzlich nicht mehr den schönen diamantenen Glanz.«
Sie blickte zur Seite. »Ach, Gottfried, es kam mir da ein Gedanke, der meine Seele betrübt.« »Oh, an dem heutigen Tag, der so wunderbar ist?« Er betrachtete sie aufmerksam. »Heute wollen wir nur glücklich sein und das Wetter genießen.« »Ja, das will ich wohl machen«, sagte Anna bereitwillig. »Aber der Gedanke, der mich gerade beschlich, trübt meine Freude.« »Dann muß er schrecklich sein.« Gottfried rückte näher. Er berührte Anna fast. Er spürte, daß sie unendlich feine Vibrationen aussandte, die ihn unruhig machten. »Am besten ist, du sprichst aus, was dein Herz bedrückt. Dann wird es dir wieder bessergehen.« Er blickte sie aufmunternd an. Anna holte Atem. »Ich… will dir den Tag aber wirklich nicht vergraulen. Sollen wir es nicht lieber sein lassen?« »Ich schenke dir mein Gehör sehr gern, wenn es dich erleichtert«, sagte Gottfried und lächelte zärtlich. Seine menschliche Wärme labte sie. »Na gut, aber beschwere dich nachher nicht, ja?« Er nickte. »Ich tue es herzlich gern.« »Oh, Gottfried…« Sie fiel an seine Brust und umschlang ihn hilfesuchend. »Es… es… hat mich so unaussprechlich scheußlich angeguckt, daß ich… beinahe… wahnsinnig geworden wäre. Du… mußt… mir… helfen.« An seiner Brust fühlte sie sich geborgen. »Was ist denn geschehen? Kommst du mit deinem Onkel nicht zurecht? Hast du Ärger mit ihm?« Gottfried umfaßte ihr Kinn und hob ihr Gesicht hoch. »Ich helfe dir auf jeden Fall. Du mußt jetzt nur anfangen zu reden, Anna.« Annas Zunge wollte sich kaum bewegen. Ihr Herz wollte sich zuschnüren und trotzdem weit öffnen. Hitzewellen befreiten sie innerlich, und Anna sagte leise: »Da… war dieser Hund in
der Nacht.« Mit geweiteten Augen sah Anna Gottfried anlehnungsbedürftig an. »Er… jaulte so fürchterlich und klagte, daß mir angst und bange wurde. Onkel Walter erklärte mir, daß der Hund eine Geistererscheinung sei…« »Ach, und das vertraust du mir erst jetzt an?« Aber es lag kein Vorwurf in seinen Worten. Ein brennendes Interesse war in ihm aufgelodert. »Du lachst mich gar nicht aus?« »Wieso sollte ich?« Sein Blick schweifte über das Moor. »Ich weiß davon, Anna. Ich habe ein altes Manuskript aufgetrieben, in dem von einem Hund berichtet wird, der danach trachten soll, irgendeinen Menschen in das Jenseits zu holen. Das ist der Sinn seines Auftauchens.« Anna spürte eine wesentliche Erleichterung in ihrem Herzen und ließ den Tränen, die kraftvoll aufsteigen wollten, freien Lauf, was Gottfrieds Fürsorge stark weckte. Er streichelte Anna zärtlich. »Oh, mein Liebling, weine dich nur aus. Danach wird es dir wieder bessergehen.« Er zeigte ein großes Einfühlungsvermögen, und Anna fühlte sich in seinen Armen ausgesprochen wohl. »Wir haben uns doch schon ausführlich darüber unterhalten, daß ich Wissenschaftler bin und mich außerordentlich stark für Phänomene interessiere, die uns irrational erscheinen.« Er drückte sie noch etwas fester an sich. »Aber laß hur, Anna. Manchmal wanke selbst ich, ob nicht auch wir, die sich ständig damit befassen, nur einem Spuk erliegen. Wir sind dazu erzogen worden, rational zu denken, und doch existiert die irrationale Welt. Wenn du willst, werden wir uns gemeinsam darum bemühen festzustellen, woher genau der Hund kommt. Und wohin er wieder verschwindet.« »Ist das überhaupt möglich?« Anna sah ihm abwehrend in die Augen. »Könnte es dann nicht auch passieren, daß der Hund uns in das Jenseits holen wird? Bei diesem Gedanken läuft mir
schon jetzt ein eisigkalter Schauder über den Rücken. Mein Onkel ist krank und bettlägerig, und er meint, daß der Hund aus dem Moor wegen ihm gekommen ist.« Gottfried verengte seine Augen, in denen ein reges Leben war. »Wir wollen hoffen, daß dein Onkel noch etwas bettlägerig bleibt. Versteh mich bitte nicht falsch, Anna. Sobald dein Onkel wieder gesund ist, wird der Hund nicht mehr auftauchen. Er wittert seine Chance, weil ein Kranker weniger Abwehrkräfte hat. Mit seinem Gejaule will er Angst erzeugen. Furcht schwächt die Heilungskräfte, und die Krankheit kann sich dadurch verstärken. Wir müssen im Dienste der Wissenschaft sehr rasch handeln. Sonst wird er womöglich für längere Zeit verschwinden. Ich will doch erfahren, was es mit ihm auf sich hat. Am besten warten wir heute nacht auf ihn und verfolgen ihn in das Moor.« »O Gott, ich bin ihm bereits nachgelaufen…« »Wirklich?« »Du kannst es mir glauben.« »Was hast du erlebt?« »Man kann es kaum beschreiben. Geister und Dämonen kamen aus dem Moor und tanzten furchterregend um mich herum. Sie hätten mich am liebsten getötet. Ich… will gar nicht mehr daran denken. Sonst graust es mich am hellichten Tag, wo doch die Sonne jetzt so wunderbar strahlt und die Natur in den schönsten Farben leuchtet.« »Und… was hat der Hund dir getan?« forschte Gottfried erregt. »Nichts. Er hat mich angestarrt und… dann hat er fürchterlich, so markerschütternd geheult, daß mir die Beine ganz weich wurden. Ich weiß nicht, was in jener Nacht eigentlich in mich gefahren war. Ich lief ihm hinterher, als sei er mein Spielkamerad, der mir etwas sehr Interessantes zeigen wollte. Eine übernatürliche Kraft schien mich
vorwärtsgetrieben zu haben, ohne daß es mir gänzlich bewußt wurde. Als ich dann endlich wieder zu mir kam, da versagte mir fast mein Herz. Ich habe nie zuvor eine vergleichbare, gräßliche Nacht erlebt. Ich werde sie niemals vergessen. Oh, Gottfried, es ist so schön, mit dir zusammenzusein.« Ihre Lippen bebten, und ihre Sehnsucht verstärkte sich. Er spürte es und konnte nicht glauben, daß Anna in seinen Armen lag. Sie war ja so aufregend schön. Und er konnte natürlich nicht anders, als ihr das zu geben, wonach ihr Herz leidenschaftlich verlangte. In der Glut eines Kusses zu versinken, in der Kraft eines eruptierenden Vulkanes das höchste Glück zu finden, war jetzt für Anna gleich einem überirdischen Ereignis, das sie für eine lange Zeit prägen sollte. Und Gottfried schenkte ihr den einen Kuß, der Annas Leben verändern sollte. Die Welt schien um sie herum zu versinken, und Anna genoß dieses heiße Gefühl, das ihre Sinne den Himmel der Liebe wahrnehmen ließ. Welch ein erhebendes Wunder! Die Welt schien überaus herrlich zu singen, zu jubilieren, daß es niemand übertreffen konnte, und die Sonne am strahlendblauen Himmel begann ekstatisch zu tanzen, so daß Anna ihre Augen zumachte und in der Glut ihres Herzens unterging. Völlig atemlos befreite sie sich schließlich, nach einer unendlichen Weile, und hauchte verklärt: »Oh… Gottfried… was hast du denn nur mit mir gemacht?« »Ich… glaube, daß es die Liebe ist!« antwortete er erstaunt. »So schnell kann das gehen?« »Wir haben es gerade erlebt!« Er freute sich wie ein Junge, der endlich zum Weihnachtsfest das langersehnte Schaukelpferd erhalten hat. »Ja, Gottfried«, fuhr Anna glücklich fort. »Der Himmel hat uns beiden ein großes Geschenk gemacht. Er hat uns zusammengeführt, mitten im Moor. Einfach unglaublich! Ich
könnte die ganze Welt umarmen, so wahnsinnig froh bin ich durch dich. Willst du mich noch einmal küssen, so werde ich wohl auch ja sagen zu dem, was du vorhast.« »Dann nehme ich die Chance sofort wahr!« erwiderte er. Auch der zweite Kuß dauerte beinahe eine Ewigkeit. Annas Herz schien riesengroß zu werden, und immer wieder jagten Hitzewellen der Erregung durch ihren schlanken, gut geformten Körper. Dann aber meinte Gottfried: »Komm, Anna, wir gehen jetzt zu der Stelle, zu der du dem Moorhund gefolgt bist!« »Und wenn die Bestie kommt?« »Nein, Anna, sie wird nur in der Dunkelheit zum Leben erweckt.«
Rotglühend versank die Sonne am Horizont. Fast schon war sie verschwunden. Anna und Gottfried saßen vor dem Haus ihres Onkels auf der Bank, vor sich auf dem Tisch jeder ein Gläschen Wein, und beobachteten das Moor, über dem die Nacht hereinbrach. »Ich habe es dir ja gleich gesagt«, flüsterte Anna. »Daß wir dort, wo der Hund mich hinführte, gar nichts finden würden, nicht mal seine Spuren. Wahrscheinlich war es doch nur meine Phantasie, die mir in dieser tiefen Einsamkeit einen üblen Streich gespielt hat. Manchmal steigen gerade in der Zeit der Dämmerung seltsame Bilder aus dem Unterbewußtsein empor, die unser Denken irritieren können. Für mich als zukünftige Designerin ist dies eine eher erfreuliche Tatsache, weil es schöpferische Impulse geben kann. Es hat mir bei einigen Arbeiten sicher geholfen.« »Und doch benötigen wir hauptsächlich unseren Verstand, um die richtigen Entscheidungen zu treffen.«
»Vielleicht«, versuchte sie ihn zu verunsichern. »Der Verstand steuert ja doch stets nur in die Richtung, die Vorteile verspricht, und dadurch kommt das Herz meist zu kurz. Man sollte wirklich viel mehr mit Instinkt denken. Er weist uns immer in die für uns persönlich richtige Richtung, was die Seele betrifft.« »Diese Weisheit hast du sicher von deinem Vater, oder irre ich mich?« Er blickte in ihre verträumten Auge, in denen schon wieder jene anziehende Glut zu sehen war, die ihn unterschwellig verrückt zu machen drohte. »Traust du mir Intelligenz etwa nicht zu?« »Eigentlich doch. Es wundert mich nur, daß eine so junge, dazu noch bildhübsche Frau solch einen Tiefgang zeigt. Die meisten jungen Frauen, die mir bisher über den Weg gelaufen sind, waren ausgesprochen oberflächlich und fast nur an glitzernden materiellen Dingen interessiert, die der Vergänglichkeit obliegen. Ich habe schon als kleiner Junge stets die Erscheinungen des alltäglichen Lebens hinterfragt. Gott sei Dank habe ich Eltern, die meinen Forschergeist tatkräftig und äußerst fördernd unterstützten, und so wurde ich schließlich das, was ich heute bin: Wissenschaftler der Parapsychologie. Für mich das interessanteste Gebiet überhaupt, wenngleich es selbstverständlich auch andere wichtige Fächer gibt. Doch die Welt des Geistes hat mich immer schon sehr fasziniert.« »Nun, meine Tätigkeit hat ja auch etwas mit Geist zu tun.« »Ja, Anna, Materie ist sichtbar gewordener Geist aus einer für uns unsichtbaren Welt. Worte sind Zeugnisse eines Geistes, alle Gegenstände, mit denen wir täglich hantieren, sind aus Gedanken geworden. Es war immer zuerst Geist gewesen, bevor alles andere kommen konnte. Am Anfang war der Geist, die Gedanken, die Worte, und dann kam die Materie, und der
Geist war schließlich Mensch geworden, und die Menschen haben ihn nicht erkannt.« »Wie poetisch«, seufzte Anna und kuschelte sich zärtlich an ihn. »Aber wahr«, bekräftigte Gottfried. Anna schaute ihn wißbegierig an. »Hast du das Manuskript, welches du erwähntest, gelesen, und woher hast du es?« »Ach, es ist nicht sehr umfangreich und hat gerade zehn handgeschriebene Seiten. Ich kam zufällig mit einer älteren Frau im Dorf in Kontakt. Als sie hörte, daß ich Wissenschaftler sei, wollte sie, daß ich zu ihr nach Hause käme. Naja, sie hatte mich neugierig gemacht. Sie hatte zwar keine Ahnung, in welchem Bereich ich tätig bin, aber sie erhoffte sich etwas von meiner Gegenwart. Also zeigte sie mir das alte Manuskript, das ihr Vater verfaßt hatte. Sie sagte, ich könne es ruhig mitnehmen. Sie bräuchte es nicht. Ich solle nur sehen, daß dieser Hund endlich verschwindet, der vor vielen Jahren ihre Tochter bedroht hätte. Sie glaubte offenbar, daß es ausreichen würde, einen Wissenschaftler damit zu beauftragen, einerlei, in welchem Fach er tätig ist.« »Eine naive alte Dame«, murmelte Anna und schenkte Wein nach. Als Anna sich wieder zurücklehnte, seufzte sie, und ihre Stimme hatte einen warmen erotischen Klang, der Gottfried angenehm berührte. »Ist der Abend nicht herrlich? Diese atemlose Stille? Und wie die Natur friedlich zu träumen beginnt? Und wir sitzen hier und warten auf diesen verdammten Hund, der meinen Onkel in das Jenseits holen will.« »Ja, ich kann mir auch etwas besseres vorstellen.« Vielsagend erwiderte er ihren sehnsuchtsvollen Blick. »Wie geht es übrigens deinem Onkel?« »Er schwankt zwischen Genesung und Rückfall. Er braucht noch ein paar Tage, bis er wieder gesund ist.«
»Dann wird der Hund also immer wiederkommen.« »Du hast mir aber noch gar nicht berichtet, was im Manuskript so alles geschrieben stand«, sagte Anna und schaute ihn auffordernd an. Gottfrieds Blick schweifte suchend über die im fahler werdenden Dämmerlicht versinkende Moorlandschaft und schwieg eine Weile, bevor er sagte: »Es wird darin berichtet, daß jedesmal ein Mensch im Dorf oder seiner Umgebung verstarb, wenn dieser Hund zuvor einige Nächte lang aufgetaucht war. Zuerst glaubten die Leute an Zufall, doch die Fälle häuften sich, und so wurde es zur Gewißheit. Es stehen die Namen im Manuskript, die der Hund angeblich in das Jenseits befördert hat, eine Liste seiner Erscheinungen, durch die nichts geschah, wo er nur klagend durch das Moor gegeistert ist.« »Wirklich sehr merkwürdig«, meinte Anna betroffen. »Ich habe schon versucht, meinen Onkel wegen des Hundes auszufragen, aber er meint, daß man ihn einfach nicht beachten sollte. So würde er sich nur selbst schädigen. Sobald man ihn beachten würde, so würde er vielleicht wirken können. Es könnte sein, daß Onkel Walter recht hat. Was nicht beachtet wird, fällt entweder in sich zusammen oder sucht sich neue Wege. Sollten wir nicht besser auch so handeln? Aber du interessierst dich ja von Berufswegen für die Bestie.« »Ja, natürlich, Geister erscheinen meist dort, wo es ungelöste Probleme gab oder gibt.« »Was heißt das?« »Nun, in der Vergangenheit muß hier irgend etwas geschehen sein, was niemals aufgeklärt wurde. Deswegen kommt der Hund. Es scheint mir so, als würde er irgend etwas rächen wollen oder darauf aufmerksam machen, daß irgendwann im Moor eine Greueltat stattgefunden hat, die bis heute nicht aufgeklärt wurde.«
»Du machst mich wahnsinnig neugierig, Gottfried.« Es blitzte in ihren Augen. »Du, Gottfried, da fällt mir ein, daß mich neulich der Arzt aus dem Dorf, der nach meinem Onkel geschaut hatte, nach dem Hund gefragt hat. Er hat mir Beistand angeboten, daß er kommen würde, wenn der Hund nachts zu dem Haus kommen sollte, weil er Onkel Walter holen will.« »Und was hast du ihm gesagt?« »Ich bedankte mich dafür.« »Er weiß also von dem Hund. Aber es wird in dieser Gegend ja sowieso jeder wissen. Aber daß er an ihn glaubt, wundert mich etwas. Die Erfahrung lehrt, daß gerade Mediziner nur schwer von übersinnlichen Angelegenheiten zu überzeugen sind. Sie müssen alles erklären können. Das Unfaßbare hat kaum Platz in ihrem Leben.« »Sollten wir ihn mal fragen?« schlug Anna vor. »Es wird das beste sein«, erwiderte Gottfried nachdenklich. »Es könnte sein, daß er mehr darüber weiß. Die ältere Dame, von der ich das Manuskript erhalten habe, war ohnehin nicht sehr gesprächig. Ich habe den Eindruck, daß man in dieser einsamen Gegend nicht sehr gastfreundlich ist. Die Leute reden kaum und scheinen sich überdies aus dem Wege zu gehen. Ihre Gesichter offenbaren eigentlich fast alles.« »Hier gibt es überwiegend Langeweile. Den Leuten fehlt die Kultur, durch die sie geistige Anregung erhalten.« »Sie können fernsehen.« . »Kultur muß man hautnah erleben. Sonst kriegt man doch nur die Information mit.« »Nun ja, das müßte zur Anregung genügen«, meinte Gottfried. »Es liegt sicher in der Geschichte dieser Gegend. Die Leute hier waren immer arm. Früher konnte man zwar ein bißchen Geld mit der Ausbeutung des Moores verdienen, aber diese Zeiten sind längst vorbei. Viele der älteren Frauen leben von
einer kargen Rente oder von unterbezahlter Heimarbeit. Der Wohlstand ist von hier fern geblieben. Die meisten jungen Leute sind deshalb fortgegangen, um ihr Glück in reicheren Landschaften oder in den Städten zu machen.« »Ja, so laufen manchmal die Entwicklungen«, sagte Gottfried. Er stutzte auf einmal und sah konzentriert in das Moor, in das das silberne Mondlicht fiel. Am klaren, wolkenfreien Himmel leuchteten Tausende von Sternen. Eine beängstigende Stille schwebte über dem Moor, in dem das Leben erwachte. »Was hast du?« Anna musterte ihn und blickte dann erwartungsvoll in dieselbe Richtung, ohne etwas erkennen zu können. Der Ausblick regte die Phantasie an. Die Sträucher und Bäume hatten scheinbar Seele gekriegt, die umherwandeln wollten. »Ich glaube, ein Irrlicht zu sehen«, antwortete Gottfried und blickte konstant konzentriert in das Moor. »Ich sehe nichts!« meinte Anna. Ihr Herz pochte rascher. Eine unterschwellige Spannung hatte sie lustvoll beschlichen. Aber es war eine eigenartige Form der Lust, die Anna so noch nie empfunden hatte. Der Hund hatte seltsame Empfindungen in ihr wachgerufen, Empfindungen, die Anna jetzt irritierten und die sie nicht erklären konnte, weil sie ihr fremd waren. Es war aber ein sehr starkes Gefühl, das sie gänzlich erfüllte. Welch ein Abend, an dem die Zeit unendlich langsam vorwärtskroch. Da tauchte jener Schatten im Moor auf, der sich rasch zwischen den Gewächsen entlang bewegte, und Anna rief ganz leise: »Da ist er, Gottfried! Er… kommt! Er wird wieder so fürchterlich jaulen, daß meine Nerven arg belastet werden.« Der Hund eilte immer weiter. Er schien sein Ziel genau zu kennen. Seine Erscheinung war schier furchteinflößend. Seine muskulöse bewegliche Gestalt sagte, welche Kraft er hatte.
Fasziniert beobachtete Gottfried ihn. »Phantastisch«, flüsterte er und sah Anna kurz mit Augen voller Begeisterung an. »Ich habe es wirklich nicht glauben wollen. Nun sehe ich ihn mit eigenen Augen. Ich hätte jetzt eine Kamera bei mir haben müssen.« Das Gefühl in Anna steigerte sich. Der Geisterhund schien besonders Fähigkeiten zu haben, denn Anna hatte den Eindruck, daß eine telepathische Botschaft in ihr Hirn eingedrungen war. Komm mit! Komm mit! Komm mit ins Jenseits! Anna fuhr zusammen. Heiß und kalt wurde es um ihr Herz. Er meint doch nicht etwa mich? fragte sie sich im stillen und fuhr mit ihren Händen beruhigend über ihre Arme. Es fröstelte sie. Oder fange ich nur die Gedanken des Hundes auf? Mein Gott! Ein Tier kann doch unmöglich wie ein Mensch denken! Ungläubig schüttelte sie ihren Kopf. Oder sind es meine eigenen Gedanken, weil ich weiß, was der Hund hier will? Alles in ihr schien auf dem besten Weg zu sein, völlig durcheinander zu geraten. In ihren Augen zeigte sich eine beinahe übernatürliche Kraft. »Er kommt näher, Anna«, raunte Gottfried ihr zu. »Verhalte dich jetzt ganz still.« »Ich werde mich bemühen!« Anna blickte wie hypnotisiert zu dem Hund, der schweigend zum Haus kam. Seine majestätische Haltung beeindruckte Anna. Er sah aus wie der Leibhund des Königs der Geister. Anna versuchte, tief und bedächtig durchzuatmen, um ihre aufgeflammten Gefühle unter Kontrolle zu behalten, was nicht einfach war. Sie hätte lieber schreien mögen, um ihre inneren Spannungen loszuwerden. Diese verdammte Bestie hat es geschafft, mich, die kluge Designstudentin, in das nächtliche Moor zu locken, um mir die Hölle heiß zu machen. Sie wird es nie wieder schaffen! Anna hatte ja Gottfried bei sich.
Der Hund war jetzt ungefähr dreißig Schritte vom Haus entfernt. Er blieb stehen. Auch Gottfried war von seiner imposanten Erscheinung sichtlich angetan. Ein Mensch, egal wie stark, konnte im Kampf mit diesem Hund nur verlieren. Und Gottfried staunte nun, daß Anna sich von ihm hatte in das Moor leiten lassen. Das konnte nur möglich gewesen sein, wenn noch andere höhere Mächte ihre Hände mit im Spiel gehabt hatten. Der Hund hob den Kopf und schnupperte, als wollte er Witterung mit dem Kranken im Haus aufnehmen. Mein Gott! dachte Anna. Und ich dumme Gans bin ihm tatsächlich gefolgt. Wenn ich nur sein großes Maul schon sehe… Ganz unheimlich wurde ihr zumute. Ein Schauder nach dem anderen rann ihr kalt über den Rücken. Aber eine eigenartige Neugier gab ihr Kraft und Zuversicht, das Irrationale zu überstehen. Der Hund begann, Laute auszustoßen, die seltsame Klagemuster hatten. Gottfried Sänger trat einen Schritt vor, weil er nicht glauben wollte, was er sah. Als Wissenschaftler mußte er kritisch bleiben. Unzählige Informationen wirbelten durch seinen Kopf. Der Hund sah lebendig aus; nichts deutete darauf hin, daß er ein Geisterhund war. Gottfried Sänger bekam leise Zweifel und ging einige Schritte weiter auf den Hund zu. Er schien leibhaftig aus Fleisch und Blut zu sein, und Gottfried Sänger neigte eher dazu, daran zu glauben, daß der Hund irgend jemandem gehörte oder daß er ein ausgesetztes Tier war, welches auf Futtersuche war. Doch diese merkwürdigen Laute, die der Hund ausstieß, konnten unmöglich von einem wirklichen Hund stammen. Anna sorgte sich um den Wissenschaftler. »Bitte, Gottfried, geh nicht zu nah an ihn heran! Wer weiß, was er dann macht!« Das hätte sie besser nicht so laut gesagt.
Gottfried war zusammengefahren und blickte kurz zu Anna. Er gab ihr ein Zeichen zu schweigen. Aber der Hund begann, fürchterlich zu jaulen, so daß Gottfried sich für einige Momente die Ohren zuhielt. Voller Erstaunen behielt er das klagende Wesen im Blick. Das Gejaule klang sehr eigenartig, und Gottfried identifizierte, daß es so wie Komm mit! Komm mit! Komm mit in das Jenseits! tönte. Unglaublich! Gottfrieds Interesse erglühte heftig. Wagemutig näherte er sich dem Hund. Er wollte versuchen, so nah wie möglich an ihn heranzukommen, ihn vielleicht sogar zu berühren, um festzustellen, aus was er bestand. Es waren ungeheuer aufregende Minuten, in denen Gottfried beinahe das Blut in den Adern gefror. Und Anna erging es genauso. Sie hatte ihre Augen unnatürlich weit geöffnet, sie zitterte am ganzen Körper, und Tränen waren in ihre Augen gestiegen, Tränen der Erregung und Furcht zugleich. Oh, Gottfried, komm bitte zurück! stammelte Anna innerlich und hätte die Worte am liebsten aus sich herausgeschrien. Die innere Qual wurde unerträglich, ja, brannte in ihrem Herzen wie ein vernichtendes Feuer, welches einmal mehr zu löschen vermochte. Ihr Herz zerriß ihr beinahe aus wildester Angst, die drohte, sie gänzlich zu lähmen. Oh, Gottfried, sieh doch nur das Maul der Bestie! Es wird dich gnadenlos zerreißen! Doch der Hund klagte jaulend, mit erhobenem Kopf, in majestätischer Haltung. Gottfried war jetzt ziemlich nahe bei ihm. Zwischen ihnen lagen nur noch sechs Meter, eine Distanz, die plötzlich unüberwindbar schien, denn irgend etwas Süßliches schwebte auf einmal in der Luft, das Gottfrieds Sinne zu betäuben strebte. Da machte der Hund jäh kehrt und lief zum Moor.
»He!« rief Gottfried ihm nach und winkte ihm. »Du willst mich doch ausgerechnet jetzt nicht verlassen? So warte doch, ich komme mit.« Er setzte ihm hinterher. »Gottfried!« schrie Anna mit ihrem ganzen brennenden Entsetzen. »Bleib hier, bevor ein Unglück geschieht!« Da wurde das kleine Fenster im oberen Stockwerk des Hauses aufgestoßen, wodurch Anna heftig erschrak, und schon krachte ohrenbetäubend laut ein Schuß durch die Nacht; Anna bedeckte schreiend ihr Gesicht und harrte der Dinge, die da kommen mußten. »Du elende Bestie wirst dein verdammtes Ziel niemals erreichen!« ertönte Walter Coberts Stimme. Abermals wurde die Nacht mit dem Krachen eines Schusses angereichert. Der Hund floh in das Dunkel des Moores. Gottfried blickte zu dem Fenster in dem Walter Cobert zum dritten Mal die Flinte anlegte. »Hören Sie auf! Es hat keinen Sinn! Einen Geist kann man nicht erschießen! Er wird immer wieder kommen!« Er eilte zu Anna. »Ob man einen Geist umlegen kann oder nicht, muß erst mal ausprobiert werden!« zeterte Walter Cobert über das Pech, daß der Hund ihm entwischt war. »Jedenfalls habe ich ihn in die Flucht geschlagen!« Er kicherte schadenfroh. Gottfried nahm Anna in die Arme, um ihr Geborgenheit zu geben. Anna schluchzte und befreite sich somit von den inneren Qualen, von denen sie gleich Nadelstichen heimgesucht worden war. Aber Anna konnte auch lächeln. »Da sieht man mal wieder, welche Zähigkeit mein guter Onkel besitzt. Er ist auf dem besten Wege der Genesung, wenn ihm das Herumhantieren mit seinem Gewehr wieder Freude verschafft.« Da tauchte eine Gestalt aus der Dunkelheit auf, die ein Fahrrad bei sich schob, ohne Licht.
»Es kommt jemand«, hauchte Anna zu Gottfried, der sich sofort umwandte. Die Gestalt hob die rechte Hand. »Bitte nicht schießen! Ich bin es, nur. Dr. Helmrath.« Er kam näher. »Sie?« rief Anna erstaunt. »Was um Himmels willen suchen Sie um diese Zeit hier im tiefsten Moor?« Dr. Helmrath erreichte Gottfried und Anna. Er sagte: »Nun, ich wollte nach Ihnen und Ihrem Onkel schauen, ob es ihm schon etwas bessergeht.« Er lächelte sanft und musterte beide interessiert. »Das ist aber sicher nicht ganz wahr, Dr. Helmrath!« erwiderte Anna entschieden. »Na ja, ich bin eigentlich auch deswegen gekommen, um mal diesen seltsamen Hund zu sehen, der neuerdings wieder diese Gegend unsicher macht.« »Dann sind Sie ja genau im richtigen Moment gekommen«, meinte Gottfried Sänger. »Nur fiel ein unerwarteter Schuß, der den Hund vertrieb.« »Ich hätte ihn treffen müssen!« fiel Walter Cobert dazwischen, als er in der Haustür erschien. »In dieser Finsternis bin ich leider kein guter Schütze. Aber ich werde der Bestie noch so zusetzen, daß sie es besser vorzieht, sich ein anderes Revier zu suchen. Das Moor gehört mir allein. Und wenn dieser riesige Köter meint, mich andauernd belästigen zu können, dann mache ich von meinem eigenen Recht Gebrauch, ihn mit der Flinte zu vertreiben, so lange, bis er begriffen hat, daß man mich nicht einfach in das Jenseits holen kann.« Er kicherte. »Wie ich sehe, bekommen Sie immer mehr neue Kräfte!« sagte Dr. Helmrath zufrieden. »Unkraut vergeht nicht, mein lieber Doktor!« erwiderte Walter Cobert. »Bevor ich von der Bühne des Lebens abtrete, muß noch einiges geschehen.«
»Naja, die Heilung schreitet jedenfalls eifrig voran«, antwortete Dr. Helmrath und seufzte. »Schade nur, daß ich nun umsonst gekommen bin. Ich hätte den Hund selbstverständlich zu gern aus nächster Nähe gesehen. Lediglich aus rein medizinischem Interesse, verstehen Sie. Schließlich glaubt man doch nicht an Geistererscheinungen, nicht wahr? Ich kenne wirklich kaum einen Menschen, der offen zugeben würde, an übersinnliche Dinge zu glauben. Über derlei lächelt man in der Regel mit etwas erhobener Nase. So ist es doch, nicht wahr?« »Ja, wir sind alle rational erzogen!« sagte Gottfried Sänger. Er stellte sich ihm vor. »Oh«, rief Dr. Helmrath erstaunt aus. »Wir müssen uns dann unbedingt mal zusammensetzen, um die Hintergründe der Geistererscheinung auszuleuchten. Gemeinsam kommen wir dem Phänomen vielleicht schneller näher.« »Ihren Vorschlag nehme ich herzlich gern an!« sagte Gottfried Sänger. »Ich erwarte Sie morgen nach siebzehn Uhr bei mir zu Hause!« entgegnete Dr. Helmrath.
Dr. Helmrath bewohnte ein kleines Haus am Dorfrand, das mit hohen, mächtigen Kastanienbäumen umstanden war. Das alte Fachwerkhaus war an einigen Stellen schon ein wenig windschief, schenkte zum Ausgleich aber eine wohltuende Atmosphäre. Dr. Helmrath führte Anna und Gottfried in den kleinen Garten, in dem zahlreiche hochaufgeschossene Sonnenblumen Freude für die Augen bereiteten. Der schwere Duft der vielen üppig blühenden Rosen verzauberte den Ort in ein Paradies, in dem man sich nur wohl fühlen konnte. In den Garten konnte man von außen kaum einsehen.
Sie setzten sich in eine romantisch anheimelnde Laube neben einer Vogelvoliere, in der viele Kanarienvögel lustig zwitscherten und die mit herrlichen roten, gelben und orangefarbenen Rosen eingezäunt war. Die lauschige Stimmung schenkte eine sehr schöne Behaglichkeit, die Anna tief in sich aufnahm. Tee wurde in die feinen Porzellantassen eingeschenkt, und Dr. Helmrath reichte englisches Teegebäck herum, welches ausgezeichnet schmeckte und Appetit auf mehr machte. Doch schnell kamen sie darauf zu sprechen, was sie zusammengeführt hatte. »Ich habe eigentlich nie in meinem Leben an sogenannte übersinnliche Erscheinungen wie Geister und dergleichen geglaubt«, erklärte Dr. Helmrath schmunzelnd. Um seine Lippen lag ein spöttischer Zug. »Ich habe gelernt, ausschließlich der Logik und wissenschaftlichen Analyse Glauben zu schenken. Doch seitdem ich hier in dieser Gegend bin, weiß ich, daß es eine unsichtbare übergeordnete Welt des Geistes geben muß. Ich habe da so einige Privatstudien betrieben diesbezüglich, die meinen früheren Glauben an das Dogma der Wissenschaft erschütterten. In der Einsamkeit der Natur, dort, wo kein Mensch mehr hingeht und wo nur die Natur allein wirkt, trifft man mit der Zeit auf allerlei eigenartige Phänomene, über die nachzudenken sich offenbar lohnt.« Auf Gottfried wirkte der Arzt sehr sympathisch. Anna lauschte konzentriert seiner Erzählung. Der Klang seiner Stimme öffnete tiefe Seelenschichten, die unterschwellig spüren ließen, daß an seinen Worten etwas dran war. »Ja«, sagte Gottfried und fuhr sich mit der Rechten über sein Haar. »Die Welt des unsichtbaren Geistes muß gigantisch sein, und sein Denken muß für uns Menschen trotz der Erkenntnis der Logik viel zu oft unverständlich erscheinen, weil das
Ausmaß einfach zu riesig ist. Leider will das kaum ein Mensch wahrhaben.« »Das Irrationale ist noch zu wenig erforscht«, meinte Dr. Helmrath und trank einen Schluck Tee, den er gut gesüßt hatte. »Erst seit jüngster Zeit hat man erkannt, daß selbst das Chaos innewohnende Strukturen aufweist, praktisch eine Gegenwelt zur Harmonie, und doch zeigt das Chaos bei näherem Hinschauen Gesetzmäßigkeiten. Ich habe erkannt, daß das Eindringen in das Irrationale eine hochinteressante Sache sein kann. Es freut mich daher außerordentlich, mich mal mit einem Wissenschaftler, der sich mit Parapsychologie beschäftigt, zu unterhalten, und hoffe, dabei neue Erkenntnisse zu bekommen, die mir weiterhelfen.« »Es ehrt mich, daß Sie mir so ein großes Vertrauen entgegenbringen«, erwiderte Gottfried. »Nun, ich habe ein gutes Gefühl bei Ihnen und glaube, daß wir die Angelegenheit mit dem Hund im Moor sicher bald lösen werden«, antwortete Dr. Helmrath und lächelte süffisant mit einem gönnerhaften Blick zu Anna, die ihn dankbar annahm. Sie sagte: »Es wird auch allmählich Zeit, daß Licht in das Dunkel hineingetragen wird. Den Rest meiner Sommerferien möchte ich schließlich in Frieden erleben, und einige wunderbare Zeichenstudien möchte ich wohl auch noch machen. Dieser Hundegeist soll endlich dort bleiben, woher er kommt.« »Geistererscheinungen sind ja gerade deshalb da, weil die Seele eines Verstorbenen keine Ruhe bekommt«, sagte Gottfried. »Kaum zu glauben. Was tot ist, ist doch tot und kann doch kein Leben mehr haben«, meinte Anna gestenreich. »Biologisch stimmt es auch«, bestätigte Dr. Helmrath. »Ein Toter hört und sieht nichts mehr. Er ist ohne jegliches
Bewußtsein. Aber diese berühmt gewordene Kirlianfotografie, mit der man das Energiefeld des Lebenden sichtbar machen kann, beweist ja geradezu die Seele. Sie ist flüchtige Energie. Wahrscheinlich mit eigenen Strukturen. Und unsere Physik besagt, daß Energie nicht verschwinden kann. Sie verwandelt sich nur. Selbst in der Heiligen Schrift wird berichtet, daß der Mensch mit einem silbernen Band mit dem Jenseits verbunden ist. Nun wird das silberne Band nicht näher erläutert. Aber es ist nachgewiesen, daß sich beim Tod eines lebenden Organismus etwas verflüchtigt, sozusagen aus ihm weicht. Das nannte man früher die Seele. Heute hat man dafür mehrere Begriffe. Aber alle meinen im Prinzip dasselbe. Das eigentliche Wesen, das im menschlichen Körper eingeschlossen ist, ist die Seele.« »Mir wird schon jetzt kalt, wenn ich daran denke oder mir bildlich vorstelle, daß, wenn man unterwegs ist, einen unsichtbare Seelen beobachten oder verfolgen oder gar plötzlich sichtbar werden könnten«, sagte Anna und genoß eilig einen Schluck Tee. »Aber der Hund, was hat er damit zu tun?« »Seine Erscheinung muß die Seele sein, die einst in seinem fleischlichen Körper gewohnt hat«, sagte Dr. Helmrath mit einem eigenartigen Blick, der Anna durch und durch ging. »Irgend etwas muß mit diesem Hund geschehen sein. Er will ja schließlich kranke Leute in den Tod holen. Wir müssen herausbekommen, ob hier mal irgendwann eine Dogge gelebt und wem sie gehört hat. Vielleicht können wir seiner Seele endlich den ersehnten Frieden verschaffen, indem wir aufklären, was mit diesem Hund passiert ist.« »Das klingt logisch«, murmelte Anna. Doch es schauderte ihr ein wenig. Sie sagte aber nichts davon. Sie hatte ja Gottfried, der sie beschützen würde.
»Erkundigen Sie sich doch mal bei Ihrem Onkel, er müßte eigentlich was wissen«, sagte Dr. Helmrath. »Ich bin mir da völlig sicher.« Anna bekam ein merkwürdiges Gefühl. Dr. Helmrath hatte seine Worte ziemlich bewußt gesetzt. »Ich unterhielt mich bereits mit ihm darüber, aber er meinte nur, daß dieses Thema nichts für mich sei und daß ich mich um anderes kümmern solle.« Dr. Helmrath nagte nachdenklich an seiner Unterlippe. »Vielleicht hat er etwas zu verbergen. Das Moor ist schon sehr lange im Besitz seiner Väter.« »Wollen Sie damit etwa behaupten, daß die Lösung im Hause meines Onkels zu finden ist?« Anna musterte ihn erstaunt. »Es könnte so sein. Jedenfalls sollten Sie Ihren Onkel noch mal auf den Hund ansprechen, falls das möglich ist«, sagte Dr. Helmrath. »Wir brauchen jeden Hinweis, der uns weiterführt.« »Ich will mein Bestes probieren«, antwortete Anna. Sie unterhielten sich noch gute zwei Stunden, bevor sie auseinandergingen. Gottfried brachte Anna durch das Moor nach Hause und wartete dort noch eine geraume Weile auf das Erscheinen des Hundes, aber er tauchte in dieser Nacht nicht auf. Also verabschiedeten sich Anna und Gottfried mit einem heißen Kuß, der ihnen durch und durch ging, und gingen seufzend, mit schweren Herzen auseinander.
»Dieser Quacksalber von einem Arzt scheint dir gehörig den Kopf verdreht zu haben!« zeterte Walter Cobert, während er Anna mißtrauisch im Blick behielt. Er hatte seine Augen zu Schlitzen zusammengekniffen. Sein Gesicht wirkte heute um einiges spitzer. Auch sah er bleich aus. Aber in seinen Augen war eine eigenartige Glut aufgelodert.
Anna bemühte sich, ruhig und gelassen zu bleiben. Sie wollte sich von der Erregung ihres Onkels nicht anstecken und sich dadurch die gute Laune verderben lassen. Sie wunderte sich im Grunde schon darüber, daß Onkel Walter so erbost reagierte, als Anna ihn nach dem Hund gefragt und erzählt hatte, daß sie mit Gottfried bei Dr. Helmrath gewesen war. Sein Verhalten war verdächtig. Hat er etwas Wichtiges zu verbergen, was mit dem Hund zu tun hat? fragte sich Anna nun. »Ich bin zu der Ansicht gekommen, daß Dr. Helmrath ein recht sympathischer Mensch ist, der gar nicht in diese öde Gegend paßt. Was hast du denn an ihm auszusetzen, Onkel Walter?« Er zischte: »Ich finde, daß er ein Quacksalber ist.« »Und wieso? Er ist immerhin Doktor der Medizin.« »Was heißt das schon?« schimpfte Walter Cobert und ließ sich ächzend am Küchentisch nieder. »Mit seiner Medizin kann er mir ja doch nicht helfen. Er soll sich seine ganzen Pillen und Salben gefälligst an den ehrenwerten Hut stecken. Mein Rheuma kommt immer wieder, und dieser Quacksalber von einem Landarzt weiß sowieso nicht, wie man mich kuriert.« »Und warum gehst du dann nicht mal in die Stadt zu einem tüchtigen Arzt oder in die Klinik?« erkundigte sich Anna freundlich bei ihm. »Ach, in der Stadt fühle ich mich nicht wohl«, erwiderte Walter Cobert und ließ seinen Blick umherschweifen. »Ich kann mein Haus unmöglich hier vereinsamt stehenlassen.« »Aus welchem Grund?« »Es treibt sich hier Gesindel herum!« »Ich habe davon noch gar nichts bemerkt, Onkel Walter. Ich war in den letzten Tagen andauernd mit Gottfried im und ums Moor herum unterwegs. Ich finde, daß es hier recht menschenleer und einsam ist. Das Gesindel, von dem du redest, hätte in dichtbesiedelteren Gebieten mehr
Möglichkeiten, sein Unwesen zu treiben. Was soll es hier schon im einsamen Moor, in dem nur ein einziges Haus steht und nur ein einziger Mensch lebt?« »Papperlapapp! Gesindel sucht sich stets den Weg, auf dem es am unbemerktesten Unheil anrichten kann!« Walter Cobert kauerte sich etwas zusammen. Lauernd beobachtete er Anna. »Daß du dich ausgerechnet mit diesem nichtsnutzigen Quacksalber zusammengetan hast, wundert mich sehr. Das muß ich dir mal ehrlich sagen. Und ich habe immer daran geglaubt, daß du ein intelligentes Mädchen bist mit einem klaren Blick für die Realität. Jeder merkt doch, daß dieser Arzt verschroben ist, ja, daß er ein bißchen verrückt geworden ist in dieser schweigsamen Einsamkeit, in der kaum jemand mit ihm spricht! Er ist ein Träumer geworden, ein Phantast, weil ihm diese Stille, diese öde Gegend nicht gut bekommen ist. Ich an deiner Stelle würde ihm lieber aus dem Weg gehen, bevor er dich auf Abwege bringt und du aus dem Ärger nicht mehr herauskommst!« Anna wurde nachdenklich. Ihr Onkel hatte eine seltsame Ausstrahlung, in die sie sich einzufühlen versuchte, um herauszubekommen, was wirklich in ihm vorging. Sie spürte aber, daß er vor ihr offenbar etwas zu verbergen hatte. Das steigerte ihre Neugier. Überdeutlich fühlte sie, daß sie irgendwie mitten ins Schwarze getroffen hatte. Welchen Grund hatte Onkel Walter, auf den Moorhund so überaus gereizt und abwehrend zu reagieren? Anna bemühte sich, ruhig zu bleiben. »Ich… habe von Dr. Helmrath aber wirklich einen völlig anderen Eindruck. Du stellst ihn dar, als habe er seine Promotion in einem Warenhaus gekauft und sie sich nicht erarbeitet. Ich jedenfalls bin davon überzeugt, daß Dr. Helmrath ein intelligenter Mensch ist. Er ist ziemlich sensibel und hat einen großen Sinn für Ästhetik. Eigentlich ist er in dieser Gegend fehl am Platz.
Die meisten Leute dieser Gegend sind dumm und grob und können nicht mal ein paar gute Gedanken äußern. Sie interessieren sich überwiegend für Essen und Trinken. Das ist doch primitiv.« Walter Cobert knurrte. »Darin magst du ja recht haben, mein Kind. In dieser einsamen Gegend gibt es nicht gerade viel Raum für kulturelle Werte. Aber du unterschätzt die Leute in ihrem Lebenswillen. Sie sind äußerst zäh und zielstrebig, wenn es darum geht, sich behaupten zu müssen.« »Sag doch gleich, daß sie hundsgemein sind und nur ihre eigenen Vorteile sehen«, erwiderte Anna. Walter Cobert schwieg. Langsam ging er hin und her, räusperte sich dabei mehrmals und beäugte Anna mißtrauisch. »Es paßt mir ganz und gar nicht, mein Kind, daß du dich mit diesem Dr. Helmrath an einen Tisch gesetzt hast. Er redet einfach zuviel. Er bringt nur Unruhe zu uns. Außerdem sinniert er über vieles, was ihn überhaupt nichts angeht!« »Er… will doch nur herausfinden, aus welchem Grund der Hund immer auftaucht«, erklärte Anna. Sie hatte das Gefühl, ihn nicht zu erreichen, was sie stutzen ließ. Ihr Onkel konnte sonst ein sehr guter Zuhörer sein. Daß er nun so vergrätzt war, mißfiel ihr. Es war nicht gut für seine Genesung. Anna versuchte ihn umzustimmen. »Sei doch froh darüber, Onkel Walter, daß Dr. Helmrath gewissenhaft nach dir geschaut hat und dich mit Medikamenten versorgte. Du weißt nicht, wie sonst deine Krankheit verlaufen wäre.« »Warum sagst du mir das?« brauste Walter Cobert auf. »Hast du dich etwa mit diesem Quacksalber heimlich gegen mich verschworen?« »Wie kommst du denn darauf?« »Das merkt doch jeder!«
»Bitte, Onkel Walter, sollen wir uns nun auch noch streiten? Ich habe geglaubt, daß ich hergekommen bin, weil ich dir helfen und dich betreuen möchte, bis du wieder fit bist.« Er murrte. »Ich rate dir, dich von Dr. Helmrath fernzuhalten. Er ist kein Umgang für dich.« Er blieb am Tisch stehen und stützte sich mit den Händen auf. »Ich will dir nur das eine anvertrauen, mein gutes Kind. Ich… habe vor, dir später mal mein ganzes Eigentum zu vererben.« Sie erschrak und sah ihn ungläubig an. »Aber ich will eine Bedingung stellen«, fuhr Walter Cobert fort. »Und die wäre?« »Daß du dich nicht mehr mit diesem Quacksalber Dr. Helmrath unterhältst. Du wirst dich von ihm fernhalten.« »Ist das nicht eine seltsame Forderung, Onkel Walter?« »Du mußt dich entscheiden, was dir lieber ist«, antwortete Walter Cobert. »Entweder der Kontakt mit Dr. Helmrath oder mein Besitz! Eine Alternative gibt es nicht.« Seine Augen funkelten. Anna atmete schwer, und ihr Blick wanderte nervös umher. Es fiel ihr nicht leicht, eine passende Antwort zu geben. »Du… willst mich also erpressen, Onkel Walter? Das verstehe ich nicht. Was ist denn nur in dich gefahren? Du bist ja plötzlich richtig aggressiv. Wieso, Onkel Walter? Habe ich etwas verkehrt gemacht?« Er wich ihrem fragenden Blick rasch aus. Seine Lippen bewegten sich. Die Finger seiner Hände hatten unruhig auf dem Tisch zu trommeln begonnen. Er strahlte eine eigenartige kalte Härte aus. Eine unerträgliche Spannung hatte sich zwischen Anna und Walter Cobert ausgebreitet. Annas Herz pochte stark. Sie spürte es bis zum Hals, und plötzlich schien ein Kloß in ihm zu
sein, der sich nicht herunterschlucken ließ, was ihre nervliche Anspannung verriet. »Nein«, sagte Walter Cobert leise und zischend gepreßt. »Ich will dir keine Fehler vorwerfen. Du bist schon in Ordnung. Aber hüte dich vor Dr. Helmrath. Er ist voll komischer Ideen und Phantastereien, die er anderen Leuten weismachen will. Ich will nur nicht, daß du nachher bereust, dich mit ihm eingelassen zu haben. Dr. Helmrath ist ein Spinner, auch wenn er einen akademischen Grad hat. Die Einsamkeit dieser Gegend hat ihn erheblich verändert. Das merke dir jetzt ein für allemal, mein Kind.« Er hustete. Er wirkte überanstrengt. Das Reden hatte ihn mitgenommen. »Oh…«, keuchte er und rollte die Augen. »Ich muß wieder ins Bett. Meine Beine werden weich wie Butter.« »Ich helfe dir, Onkel Walter!« rief Anna und eilte zu ihm. Sie stützte ihn, schenkte ihm ein ermunterndes, liebevolles Lächeln und begleitete ihn in das Obergeschoß, wo sie ihm in sein Bett half. Sie deckte ihn zu. »Brauchst du noch irgend etwas, Onkel Walter? Ich bin jedenfalls immer für dich da. Du hast doch hoffentlich nichts dagegen, wenn ich mich mit Gottfried treffe, oder?« »Nein«, keuchte Walter Cobert und atmete tief durch. »Dieser Bursche macht wenigstens einen ordentlichen Eindruck. Ich finde ihn recht sympathisch.« Er lächelte schwach. »Ich möchte jetzt schlafen, mein Kind. Störe mich bitte nicht. Wenn ich wieder wach bin und etwas benötige, so melde ich mich schon.« »Ist recht, Onkel Walter«, sagte Anna. Sie küßte ihm die Stirn, blickte freundlich in seine müden Augen und verließ dann das Zimmer. In der Küche setzte sie sich erst mal an den Tisch und sinnierte über das Verbot ihres Onkels. Er muß irgend etwas zu verheimlichen haben! sagte Anna sich. Ja, sie war davon
überzeugt. So wie Onkel Walter reagiert ein Mensch nur, wenn er sich vor etwas fürchtet. Was will er verheimlichen? fragte sich Anna und dachte: Ich muß sein Geheimnis aufdecken! Aber ich habe das Gefühl, daß es nicht leicht werden wird. Und Anna sagte sich im stillen: Dr. Helmrath muß etwas wissen, was Onkel Walter nicht ausgebreitet haben will. Annas Neugierde wurde grenzenlos. Sie begann, das Haus zu durchsuchen. Dabei achtete sie auf jedes Geräusch, um nicht überrascht zu werden.
»Dein Onkel muß ein Geheimnis hüten wollen«, meinte Gottfried Sänger, der seinen Arm um Annas Taille gelegt hatte. Sie wanderten durch das im Sonnenglast liegende Moor, über dem die Atmosphäre eigenartig flimmerte. »Dasselbe glaube auch ich, Gottfried. Onkel Walter hat sich auffallend verändert. Er beobachtet neuerdings jeden meiner Schritte, und ich habe ein merkwürdiges Gefühl dabei. Er will auch nicht, daß ich den Dachboden betrete.« »Dann muß dort etwas sein, was uns weiterführen könnte«, antwortete Gottfried und hielt inne. Anna schmiegte sich an ihn und schaute ihm trunken in die Augen. »Ich fürchte, meine Ferien werden mir nun gänzlich vergrault. Ich habe mir meine Anwesenheit bei Onkel Walter eigentlich anders vorgestellt. Ich bin gekommen, um für ihn zu sorgen, bis er wieder gesund ist. Und nun nörgelt er herum und will mir meinen Umgang vorschreiben. Das will ich mir nicht gefallen lassen. Ich bin ein freier Mensch und kann tun und machen, was mir gefällt.« »Vielleicht ist es ratsam, so zu tun, als akzeptierst du seine Anordnungen, damit er Ruhe hält«, schlug Gottfried vor und lächelte ermunternd. »Es wird sonst unnötige Spannungen geben.«
»Ich muß auf den Dachboden«, sagte Anna. »Ich muß schauen, ob es dort Hinweise zur Aufklärung der Erscheinungen des Hundes gibt. Es ist doch lächerlich, mir zu verbieten, den Dachboden zu betreten. So etwas geschieht doch nur dann, wenn jemand nicht sehen soll, was dort ist. Ich werde einfach in ihn eindringen, ohne daß Onkel Walter davon etwas merkt.« »Oh!« murmelte Gottfried. »Ich bewundere deinen Mut. Was machst du aber, wenn er dich dabei überrascht? Er wird sicher nicht zimperlich reagieren. Es wird zu einem heftigen Streit kommen, falls du irgend etwas dabei entdeckst, was deinem Onkel unangenehm ist…« Er atmete tief durch. »Ist es möglich, daß er dir ein Leid antun wird?« Er seufzte. »Ach, das wird er wohl kaum tun«, überlegte Anna und blickte nachdenklich über das Moor. Im tiefsten Innern fühlte sie, daß sie im Moor ertrinken würde. Niemand würde sie finden. Wen das Moor verschluckt hatte, der war für alle Zeiten verschwunden. Ein sehr unangenehmer Gedanke! Anna wurde unwohl zumute. Sie hatte auf einmal das Bedürfnis, sich Gottfried anzuklammern, um nicht in einen inneren Abgrund zu stürzen. Welch ein Gefühl! Es brannte auf eine geheimnisvolle Weise, die Anna unterschwellig Furcht einflößte. Eine eigenartige Unruhe hatte sie beschlichen, die immer mehr Gewalt über sie bekommen wollte. »Oh, Gottfried, du hast etwas ausgesprochen, was mich nun sehr nervös gemacht hat. Du willst doch nicht etwa sagen, daß Onkel Walter… zu einer Tat bereit wäre, die er nachher bereuen würde, nur weil er ein Geheimnis wohlbehütet wissen will?« In ihren Augen lag plötzlich ein flehender Blick. Ihr Gesichtsausdruck hatte sich sehr verändert. »Ich weiß nicht so recht«, erwiderte Gottfried nachdenklich. Er zog Anna fester an sich. »Ich denke nur, daß man so etwas nicht ausschließen kann. Ich habe da so einige seltsame
Ahnungen, die ich immer nur dann empfinde, wenn etwas…« Er zögerte und überlegte, ob er es aussprechen sollte. »Warum schweigst du?« fragte Anna und versuchte in seinen Augen zu lesen. Sie sah, daß ihn innerlich etwas bewegte. »Nun rede doch endlich, Gottfried. Ich halte diese Spannung nicht mehr länger aus, die plötzlich zwischen uns herrscht. Ich will wissen, was du denkst.« Ihre Stimme hatte stark vibriert. Ihr Klang drang tief in seine Seele ein. Gottfried wich ihrem Blick rasch aus und bemühte sich, ruhig weiterzuatmen. Er wollte Anna keine Angst machen, aber sein zutiefst wirksames Sicherheitsbedürfnis zwang ihn schließlich dazu, es doch zu ändern. »Anna… ich muß von nun an in deiner Nähe bleiben, um sofort eingreifen zu können, falls etwas Schreckliches geschehen sollte.« Anna schluckte. Sie spürte ihre Beklemmung als Zwangsjacke. »Du… meinst tatsächlich, daß… Onkel Walter Hand an mich legen könnte… daß er gegen mich… gewaltsam vorgehen könnte?« Er nickte. »Ich will es zwar nicht hoffen, doch… müssen wir es im Bereich des Möglichen sehen.« »Oh, Gottfried«, seufzte Anna. »Ich bin doch nicht hergekommen, um mich…« Sie wagte nicht, es auszusprechen. Tränen der Bedrängnis traten in ihre Augen, und Gottfried holte ein Taschentuch aus seiner Hosentasche. Liebevoll tupfte er ihre Tränen von ihren Wangen und aus ihren schönen Augen. »Oh, Anna, immer wenn ich in deine Augen schaue, habe ich das Gefühl, in den Himmel emporgehoben zu werden. Du mußt ein Engel sein, den man zur Erde gesandt hat, ein Engel der Liebe.« »Du schaffst es schon wieder, mich glücklich zu machen!« erwiderte Anna mit sanft klingender Stimme, in der eine eigenartige Erregung mitschwang, die tief in Gottfrieds Herz schlich, um ihn zu beeinflussen. »Wie willst du es denn
anstellen, stets in meiner Nähe zu sein? Onkel Walter wird deine Dauerbelagerung sicher nicht dulden.« »Er darf mich nicht sehen.« Anna lächelte. »Ja, das wird das beste sein. Aber es wird keineswegs einfach werden. Im Haus kannst du nicht andauernd bleiben. Onkel Walter würde rasch Verdacht schöpfen. Und abends… wo willst du dann bleiben? Der Hund könnte dich holen. Das würde ich nie verkraften.« »Nein, Anna, es wird ihm niemals gelingen, mich dorthin zu bringen, wo er mich zu gern haben würde«, antwortete Gottfried. »Der Hund ist schließlich kein leibhaftiges Wesen, sondern nur ein Geist. Seine Zähne werden also kaum etwas ausrichten können.« »Bist du dir ganz sicher?« Er schwieg eine Weile und wiegte Anna dabei langsam hin und her, um Ruhe in ihr wild pochendes Herz zu bringen. »Um es offen zu gestehen, nein, Anna. Ich erlebe zum erstenmal eine richtige Geistererscheinung. Sie hat mich, um ehrlich zu sein, innerlich ziemlich aufgewühlt. Mein Verstand ist auch weiterhin kritisch, aber meine Sinne haben es ja selbst erlebt und wahrgenommen.« »O ja, diesen Hund gibt es!« Sie legte ihren Kopf an seine Brust. Ihre Hände fuhren einfühlsam über seine breiten Schultern. Ihr Herz brannte lichterloh. Ihre Sehnsucht nach einem Kuß steigerte sich erheblich, und Gottfried spürte es. Die Gefühle, die Anna ihm schenkte, nahm er unendlich tief auf, und sie erregten ihn. Es dauerte nur einige Sekunden, bis er die Beherrschung verlor und Anna stürmisch küßte.
Am Abend zogen schwere Wolken auf, und der Wind wurde stärker. In der Natur regte sich eine umtriebige Unruhe. Das
Thermometer zeigte sinkende Temperaturen. Die Luft roch nach Regen. Anna, die mit Gottfried rauf der Bank vor dem Haus ihres Onkels saß, erhob sich und ging einige Schritte vor. Ihr skeptischer Blick schweifte zum Himmel, der sich durch die heraufziehenden Wolken rascher verfinsterte. »Es könnte sogar ein Gewitter kommen, Gottfried. Die letzten Tagen waren außergewöhnlich schwül. Die Atmosphäre ist spannungsgeladen.« »Aber es hat sich abgekühlt«, bemühte Gottfried sich aufrichtig, Anna zu beruhigen. »Trotzdem sieht der Himmel danach aus, als werde es bald schon ein fürchterliches Donnerwetter geben.« »Und dann wird die Sonne wieder scheinen und uns die Tage versüßen«, erwiderte er mit der Absicht, ihre Gedanken auf positiven Bahnen zu halten, denn sie hatten sich die vergangenen zwei Stunden ausgezeichnet unterhalten. Anna wandte sich um. Sie ging zu Gottfried zurück. »Ich mag diese Gewitter nicht, die nichts weiter als einen chaotischen Lärm mitbringen und Angst und Schrecken verbreiten.« »Sie reinigen aber die Luft«, antwortete Gottfried und schenkte ihr ein liebevolles Lächeln, das sagen sollte: Wir bleiben für immer zusammen! Welch eine wunderbare Aussage! Welch ein herrliches Gefühl! Anna setzte sich seufzend neben Gottfried und blickte auf ihre Füße. Sie dachte: Vielleicht bietet mir der Lärm des Unwetters die beste Chance, unbemerkt auf den Dachboden zu schleichen! Da tauchte Walter Cobert in der Haustür auf. »Anna, wo bist du denn? Ich habe Hunger. Ich muß dringend etwas zu mir nehmen. Ich falle sonst völlig in mich zusammen.«
»Wir sind hier, Onkel Walter«, rief Anna und sprang von der Bank. »Gottfried ist bei mir. Wir haben uns prächtig miteinander unterhalten. Schade, daß du die ganze Zeit über im Bett lagst. Du hättest dich sicher wohl gefühlt zwischen uns.« »Das mag ja sein, Anna. Aber meine Gelenke schmerzen fürchterlich. Ich möchte gleich wieder in das Bett, und schlafen will ich auch.« Er sah den Himmel und stöhnte: »O Gott, das hat mir gerade noch gefehlt. Wenn das Gewitter losbricht, werde ich kein Auge zubekommen.« Er spuckte aus und sah Anna auffordernd an. »Willst du mir eine leckere Kleinigkeit zu essen machen? Oder siehst du nicht, daß ich fast schon total erschöpft zusammenbreche?« »Ich bin ja bereits unterwegs!« entgegnete Anna und schenkte ihm ein freundliches Lächeln. Zu Gottfried sagte sie: »Warte auf der Bank. Ich öffne von innen das Küchenfenster.« Sie wartete keine Antwort ab, schob ihren Onkel in das Haus und sagte: »Geh du schon mal wieder ruhig in dein Bett. Das Essen kommt gleich. Hast du einen besonderen Wunsch?« »Ach, ich esse doch immer alles, mein Kind. Das weißt du doch. Du bereitest ja jede Speise mit sehr viel Liebe.« Er lächelte gönnerhaft und schleppte sich dann die knarrende Treppe hinauf. Anna eilte in die Küche, öffnete das Fenster und beugte sich lachend hinaus. »Hallo, Gottfried, nun kannst du wieder mit mir reden, falls du das möchtest.« »Ich habe dich schon vermißt!« rief er. Er lehnte sich in das offene Fenster, um Anna einen Kuß zu entlocken. »Erst muß ich ein Gericht für Onkel Walter zubereiten«, neckte sie ihn und lief zum Herd. »Oh, ein kleines Küßchen kannst du mir doch aber schenken«, quengelte Gottfried. »Nein, du mußt dich gedulden!« reizte sie ihn mit ihrem ganzen natürlichen Charme.
»Ich vergehe vor Sehnsucht. Hast du denn kein Mitleid mit mir, Anna? Siehst du nicht, wie sehr du mein Herz zum Glühen gebracht hast?« »Du machst es mir aber auch wirklich schwer«, antwortete Anna und lief zu ihm. Sie gönnte ihm einen flüchtigen Kuß, der Gottfried äußerst wohl bekam. »Bist du nun zufrieden?« wollte sie wissen. »Herzlichen Dank, Anna. Du hast mich vor dem Verglühen gerettet«, sagte Gottfried anerkennend. »Aber genug von deinen Küssen kann ich niemals kriegen. Sie schmecken ja nach mehr.« »Du schmeichelst mir, um noch mehr zu bekommen«, rief sie voller glücklicher Ergötzung. »Aber du mußt jetzt warten.« »Ist das ein Machtwort?« »Du kannst es verstehen, wie du willst«, meinte Anna. Er schmunzelte. Sie ist die beste Frau, der ich bisher begegnet bin. O ja, dachte er weiter. Sie ist eine Frau, die man unbedingt heiraten muß. Ja, man muß sie festhalten und an sich binden! Dieser Gedanke war ihm jäh in den Sinn gefahren. Er beobachtete Anna beim Zubereiten des Essens und weidete sich ausgiebig an ihren eleganten Bewegungen. Gottfried dachte daran, daß ihr womöglich ein Leid geschehen könnte, weil dieses Haus ein Geheimnis hatte. Unterschwellig nahm er die unsichtbaren Stacheldrähte wahr, die überall ausgelegt schienen. Im Haus hatte sich ein grauer Geist ausgebreitet, der auf dem besten Weg war, sich zu verdüstern. Welch ein aussichtsreicher Abend! Gottfried sinnierte darüber, wo er die Nacht bleiben könnte, um Anna helfen zu können, wenn es notwendig wäre. Er hatte da eine seltsame Ahnung, die ihn ermunterte, hier zu bleiben. Und falls nichts passiert, habe ich mir die Nacht vergebens um die Ohren geschlagen! sagte er sich im stillen und weiter: In den folgenden Nächten kann dasselbe geschehen. Ein endloses
Warten. Übermüdung würde die Folge sein. Aber Gottfried hatte sehr sensible geistige Antennen, die eigenartige Botschaften auffingen, die ihm sagten, bei Anna zu bleiben. Er würde für den Rest seines Lebens todunglücklich werden, wenn durch seine Nachlässigkeit Anna etwas Furchtbares zustoßen würde. Eine nagende Unruhe stieg in ihm hoch, die er mühsam zu unterdrücken suchte. Anna mußte beschützt werden! Anna hatte zwei Brotscheiben auf einen Teller gelegt, die sie mit guter Butter bestrichen hatte. Aus der Pfanne nahm sie die Rühreier und verteilte sie auf dem Brot. In die Tasse schüttete sie Kraftbrühe, die pikant gewürzt war. Anna verrührte sie mit einem Eigelb. Alles stellte sie auf ein Tablett, legte ein Besteck dazu und blickte zu Gottfried. »Ich bin gleich wieder da!« Schon eilte sie aus der Küche. Gottfried hatte ihr süffisant lächelnd nachgeschaut. Er war trunken von ihrer charmanten Schönheit. In der Nase hatte er Annas körpereigenen Duft. Gottfried machte die Augen zu und dachte: Oh, Anna, ich habe noch nie so starke Empfindungen einer Frau gegenüber gehabt wie bei dir. Mein Herz gehört nur dir. O ja, Anna, ich bin unsterblich in dich verliebt! Wie herzlich gern hätte er ihr diese Wort jetzt ins Ohr geflüstert, sie zärtlich an sich gezogen, immer fester, aber ganz sanft und sie dann leidenschaftlich geküßt, mit der Kraft seiner Männlichkeit. Welch ein herrliches Erlebnis würde es sein! Gottfried wandte sich vom Fenster ab und beobachtete den Himmel, der jetzt gänzlich mit dunklen Wolken bedeckt war, die zu kochen schienen, denn sie zeigten heftige Bewegungen in sich. Da zuckte in der Ferne der erste Blitz, doch der Donner ließ auf sich warten. Der Wind wurde noch stärker, er bewegte bereits die Zweige der Bäume, und die Sträucher beugten sich. Die Atmosphäre war unheilschwanger und dürstete offenbar danach, der Gewalt freien Raum zu geben. Im Moor breitete
sich eine angespannte Unruhe aus. Eigenartig tönende Stimmen verwehten im Wind. Ein hektisches Treiben suchte seinen Frieden, der jetzt nicht gewährt war. Gottfried ging um das Haus und entdeckte den Stall. Er öffnete die Tür und schaute in das Dunkle. Ein muffiger Geruch stieg in seine Nase. Hier könnte ich doch bleiben, sagte sich Gottfried. Er ging in den Raum. Na ja! dachte er. Ist zwar kein Luxushotel, aber auf seine Art gemütlich. Hier drinnen könnte sich es schon aushalten. Hauptsache, ich bin in Annas Nähe. Er verließ den Stall und schloß die Tür. Ein Windstoß zerzauste seine Haare. Gottfried ging zur Bank zurück und setzte sich; dabei behielt er den Himmel im Blick. Blitze zuckten in rascher Folge aus den Wolken, und der Donner grollte unheimlich tönend über dem Moor. Anna hatte ihrem Onkel das Tablett auf das Bett gestellt. Walter Cobert hatte den Oberkörper aufgerichtet. »Guten Appetit, Onkel Walter. Ich hoffe, es reicht dir, was ich zubereitet habe«, sagte Anna liebevoll. »Riechen tut es ja sehr gut«, erwiderte Walter Cobert und lachte schwach. »Wenn du wüßtest, welchen Hunger ich habe. Aber zu viel essen will ich auch nicht. Ich kriege nur Probleme mit der Verdauung, und dann werde ich kaum durchschlafen können. Außerdem ist ein Gewitter heraufgezogen. Ist Gottfried noch hier, oder ist er bereits nach Hause geeilt?« Anna hatte das plötzliche Gefühl einer Eingebung. Sie war für einen Moment irritiert. Stockend antwortete sie: »Ja, Gottfried ist schon aufgebrochen. Ich hoffe, daß er es schafft, vor den Blitzen in Sicherheit zu kommen. Es würde mich arg treffen, wenn ihm etwas passieren würde. Er wäre vielleicht besser hier geblieben.« »Hier ist kein Platz für ihn!« sagte Walter Cobert ein wenig harsch und gönnte sich schlürfend einen Schluck Kraftbrühe.
»Deine Gegenwart ist die beste Medizin für mich, mein Kind. Ich bin heilfroh, daß du zu mir gekommen bist.« Er kicherte. »Rühreier auf Brot mag ich für mein Leben gern.« »Das habe ich mir gedacht«, meinte Anna und freute sich. Aber ein Schatten lag in ihren Augen. »Wenn das Gewitter uns früher und schneller überrascht hätte, dann hätte Gottfried bei uns bleiben müssen.« »Soll er etwa in deiner Kammer übernachten?« fragte Walter Cobert mit argwöhnischem Blick. »Er ist ein junger Mann. Vergiß das bitte nicht. Und alle jungen Männer in seinem Alter haben stets nur das eine im Sinn!« »Nein, Onkel Walter. Gottfried ist anders. Ich bin mit ihm ja ständig zusammen. Er ist ein sehr anständiger Mann. O ja, er ist anders als andere Männer. Er weiß, was sich gehört. Er hat noch nicht probiert, bei mir…« »Ist ja schon gut, mein Kind. Irgendwann kommt immer der Augenblick, in dem ein Mann versucht, seinen Willen durchzusetzen.« Er blinzelte schelmisch. »Gottfried weiß jedenfalls, wie er sich mir gegenüber zu benehmen hat«, sagte Anna mit fester Überzeugung. »Kann ich jetzt wieder in die Küche runtergehen, Onkel Walter?« »Wie du möchtest, Anna. Das Essen wird wohl reichen, um mich zu sättigen. Vielen Dank dafür. Ich stelle das Tablett dann einfach auf den Stuhl hier und werde mich zum Schlafen legen, falls dieses verdammte Unwetter es zulassen wird.« Er schenkte ihr ein freundliches Lächeln und widmete sich den Broten mit den Rühreiern. Anna musterte ihn noch einmal, atmete tief durch und verließ das Zimmer, nicht ohne ihrem Onkel eine gute Nacht gewünscht zu haben. Draußen, im Korridor, blieb sie am Treppenabsatz stehen und lauschte. Sie seufzte dabei. Ich verstehe gar nicht, warum ich auf einmal die Unwahrheit gesagt habe! fragte Anna sich selbst. Sie schaute in sich und
empfand ihr Herz so groß. Es pochte stark. Hoffentlich merkt Onkel Walter nicht, daß Gottfried noch hier ist! Er wird mir sonst kein Vertrauen mehr schenken! Verdammt, warum bin ich denn nur in solch eine hundselende Situation geraten, die mir das Hiersein immer mehr vergrault? Sie ging langsam die knarrende Treppe hinab. Draußen zuckten neue Blitze über dem Moor, und ein ohrenbetäubender Donner ließ das Haus sachte erzittern. Anna fuhr zusammen und hielt sich die Ohren zu. Warum ausgerechnet heute schon wieder dieses gräßliche Getöse? schrie sie im stillen und eilte in die Küche zum Fenster. Leise schrie sie: »Gottfried! Gottfried! Wo bist du?« Sie lehnte sich hinaus. Im selben Moment züngelte gierig ein bizarrer Blitz aus den Wolken, dem gleich ein erderschütternder Donner folgte, der so gewaltsam krachte, daß man glauben konnte, die Welt ginge unter. Anna hatte das schreckliche Gefühl, daß ihr Herz augenblicklich zu schlagen aufhören würde. Da tauchte Gottfried auf. »Ist der Alte im Bett?« erkundigte er sich. »Das Unwetter wird dich schlagen!« sagte Anna. »Du darfst nicht länger draußen bleiben.« »Und wo soll ich hin? Zu dir in die Küche?« Anna preßte für einen Moment die Augen zu, um den Blitz nicht sehen zu müssen. Der Donner ließ alles erbeben. Der Wind spielte mit den Gardinen. »Du mußt in Sicherheit, Gottfried. Lauf um das Haus in den Stall. Dort wird dich niemand entdecken. Onkel Walter wird bald schlafen. Ich werde dann nach dir schauen. Bitte, Gottfried, spute dich, bevor ein Unglück geschieht!« Gierige Blitze schossen vom Himmel; und der atmosphärische Schlachtenlärm erzeugte Furcht in Anna, die kaum zu zügeln war. Rasch folgende Blitze verzauberten die Moorlandschaft in ein gespenstisches Nirgendwo, in dem es
kein Leben zu geben schien. Das himmlische Inferno drohte, die Welt zu zerstören. Welch ein atemberaubender Abend, der so wunderbar begonnen hatte und nun so dreist zerschnitten worden war! »Erst gibst du mir einen Kuß mit auf den Weg, damit ich die Trennung gut verkrafte!« erwiderte Gottfried und hielt ihr seine Lippen hin. »Du mußt wahnsinnig geworden sein!« rief Anna. »Ein Blitz kann tödliche Folgen haben! Bitte, Gottfried, rette dich in den Stall. Onkel Walter darf nicht merken, daß du noch hier bist. Ich sagte ihm, daß du bereits fort seiest.« »Erst den Kuß!« Blitze gleißten, der Donner verbreitete Angst und Schrecken. Der Wind, der noch immer heftiger wurde, rüttelte und zerrte an allem, was nicht niet- und nagelfest war. Er wollte alles zerstören und den Menschen großen Schaden zufügen. Eilig küßte Anna ihren Gottfried. »Und nun verschwinde endlich in den Stall. Und verhalte dich bitte ruhig.« Er lachte, machte kehrt und lief davon. Während schon wieder unheilankündigende Blitze über der Landschaft wild zuckten und der Donner grollend und tosend dahinfuhr, riß Anna aufschreiend das Fenster zu. Aufatmend sackte sie dann in sich zusammen. Ein Unglück kommt selten allein! sagte sie sich innerlich und bemühte sich, die Angst zu vertreiben. Es war ein furchtbarer Abend, der Annas Gemüt sehr belastete. Sie verwünschte heimlich das Haus und ihren Onkel, um die inneren Spannungen loszuwerden, aber das war gar nicht so einfach. Das Gedröhne des Unwetters hörte einfach nicht auf. Es krachte so laut, als würden jedesmal tausend Kanonen gleichzeitig abgefeuert. Das Inferno war völlig entfesselt. Die Natur spielte verrückt. Anna dachte an Gottfried. Sie spürte Sehnsucht in ihrem Herzen hochsteigen, die Sehnsucht, von ihm umarmt und
zärtlich geküßt zu werden. Es war jetzt kaum auszuhalten, von ihm getrennt zu sein und ihn doch so nahe zu wissen. Gerade durch das brüllende Unwetter hätte es nichts Schöneres geben können, als sich gegenseitig beruhigende Worte in die Ohren zu hauchen, sich dabei einfühlsam zu streicheln und in die Augen zu schauen. Auch Anna wurde bewußt, daß Gottfried der Mann war, nach dem sie sich in ihren geheimsten Wünschen immer gesehnt hatte. Obenbetäubender Donnerlärm raste über das Haus hinweg; Anna zuckte zusammen. Mein Gott, laß das Unwetter schnell vorübergehen! stammelte sie im stillen. Wenn ich doch nur in Gottfrieds Armen liegen könnte! Zum Stall kam man jedoch nur um das Haus herum. Also mußte Anna es nun aushalten. Rasch zog sie die Vorhänge am Fenster zu. So sah sie jetzt nicht die grellen Blitze, die ihre Nerven so schrill aufgepeitscht hatten. Die Zeiger der Uhr wollten einfach nicht vorrücken. Anna setzte sich an den Küchentisch und versuchte, sich mit einer Illustrierten abzulenken, was ihr aber nur schwer gelang. Sie zuckte jedesmal zusammen, wenn das Licht der Lampe zu flackern begann. Einige Male betete sie überstürzt. Doch das Gewitter dauerte diesmal ungewöhnlich lange. Auf einmal regnete es stürmisch, und der Wind rüttelte an den Fensterläden. Die Regentonne wurde umgerissen und fortgeschleudert. Anna war innerlich heillos aufgewühlt. Sie konnte kaum die Worte in der Illustrierten lesen. Immerzu hörte sie das fürchterliche Krachen, die grölende Stimme der Natur, die trunken geworden war.
Endlich hatte sich das Gewitter ausgetobt, der Wind war verebbt, und der Regen hatte aufgehört, die Wege zu
überschwemmen. Eine unendlich tiefe Friedhofsstille hatte sich schwermütig ausgebreitet. Der Himmel hatte sich gelichtet, und abertausend Sterne leuchteten; der Mond schien silbern milchig. Die Ruhe war beängstigend. Nach dem Getöse des Gewitters und des Windes wirkte sie nun tausendmal stärker. Das Moor hatte aufgeatmet, und die Stimmen der Nacht flüsterten sich neue erregende Nachrichten zu, um das Leben wieder angenehm zu machen. Anna war von ihrem Stuhl in der Küche aufgestanden, hatte sich bekreuzigt und lauschte dann konzentriert nach oben. Sie hörte nichts. Onkel Walter muß eingeschlafen sein! dachte sie und atmete erleichtert auf. Ihre innere Verkrampfung verflüchtigte sich. Ihr Herzschlag beruhigte sich. Anna schloß im Stehen die Augen und atmete mehrmals ganz tief durch. Dann öffnete sie das Küchenfenster und ließ frische Luft herein, die sie tief einsog. Es belebte Anna außerordentlich, und sie begann sich darauf zu freuen, Gottfried bald zu sehen. Anna ging leise in den Korridor, blieb stehen und hörte nach oben. Dort rührte sich nichts. Anna wartete einige Momente und ging dann, als es ruhig blieb, zur Haustür, die sie vorsichtig öffnete. Noch ein Lauschen, dann war sie mit einem Schritt draußen. Die Tür lehnte sie nur an. Anna schaute sich nach allen Seiten um. Es war nichts zu sehen. Das Moor hatte zu träumen begonnen, und die gereinigte Luft lud die zahlreichen Glühwürmchen dazu ein umherzuflimmern. Anna blickte zum Himmel und war wieder einmal begeistert, als sie die unendlich vielen Sterne leuchten sah und so weit in die Ewigkeit gucken konnte. Welch herrlicher Anblick! Dieses gigantische scheinbare Nichts, in dem doch unzählige Materieteilchen lichtjahrweit unterwegs waren, zusammenstießen und Energie hervorbrachten, die neue Wege in neue Dimensionen suchte. Wer hat das alles erschaffen? durchfuhr es Anna. Den Geist des Kosmos spürte
sie auf einmal so nahe, als wollte er in ihr Herz schlüpfen, um sie zu beschützen. Welch ein Gefühl! Anna ging zur Ecke des Hauses und blickte von dort zum Fenster im Obergeschoß, hinter dem ihr Onkel offenbar schon sehr tief schlummerte. Das Fenster war dunkel. Kein einziges Geräusch war zu hören. Nur von der Regenrinne, in der sich das Wasser staute, tropfte monoton Wasser zum Boden. In dieser unendlich tiefen Stille wirkte es überlaut. Anna schlich zum Stall und zog behutsam die Tür auf, sie achtete peinlich darauf, keine Geräusche zu machen, die Onkel Walter aus dem Schlaf hätten reißen können. Schon war sie im Stall. Im ersten Moment konnte sie nichts erkennen. Ihre Augen mußten sich an die Dunkelheit gewöhnen, obwohl durch ein kleines, vom Staub beschlagenes Fenster das Licht des Mondes hereinfiel, aber nur schwach. »Gottfried! Gottfried! Wo bist du?« rief Anna dezent. Sie hielt ihre Hände instinktiv beschützend vor ihre Brust. Es raschelte. »Hier bin ich, Anna. Ich habe eine recht gemütliche Ecke gefunden. Ich komme mir vor wie in einem guten Hotel.« Anna kicherte. »Oh, Gottfried, du bist ein Schelm!« Sie sah ihn unter dem kleinen Fenster auf einer alten Matratze liegen. Er hielt irgend etwas in beiden Händen. Anna eilte zu ihm und kniete sich nieder. »Endlich kann ich wieder bei dir sein, geliebter Gottfried!« hauchte sie und küßte ihm rasch die Stirn. »Es ist ja so schön, den Duft deiner Haut einzuatmen und die Wärme deines Körpers zu spüren und den Klang deiner Stimme in mich aufzunehmen.« Sie seufzte glücklich. Er legte die verstaubte Mappe beiseite und nahm Anna liebevoll in die Arme. Schon küßten sie sich beinahe bis zum Wahnsinn, der ihre Herzen stürmisch erglühen ließ. Gottfried streichelte Anna leidenschaftlich und entlockte ihr hauchende heiße Seufzer, die ihm durch und durch gingen.
Da befreite sich Anna aus der leidenschaftlichen Umarmung, denn ihre innere Hitze war kaum noch zu ertragen. Wie schön die Liebe doch ist! durchfuhr es Anna, und eine unsichtbare Macht wollte sie emporheben, um sie fortzutragen. Da sagte Anna, ergriffen von der Realität: »Onkel Walter darf uns um Himmels willen nicht erwischen. Es würde ein unvergeßliches Theater geben.« Sie blickte zur Tür und horchte, aber die Stille herrschte gebieterisch über dem Moor und dem Haus. Anna hätte erneut zerfließen mögen. Gottfried war sehr ruhig. Er lachte zufrieden. »Ich… habe da etwas sehr Interessantes gefunden, Anna«, sagte er triumphierend und griff nach der verstaubten Mappe. »Was ist das? Sieht ja völlig alt aus, und total vergilbt ist es auch!« »Ja, man bekommt staubige Finger, und das Papier riecht bereits modrig. Die Schrift…« Er schlug die Mappe auf. »… ist beinahe gänzlich verblaßt. An einigen Stellen kann man sie nicht mehr entziffern. Man muß raten. Dabei hilft mir aber die Logik.« »Du hast mich neugierig gemacht«, sagte Anna. »Was steht denn in der Mappe geschrieben? Wo hast du sie aufgestöbert?« Er deutete zur gegenüberliegenden Wand. »Die Mappe lag dort im Regal hinter den alten Einmachgläsern.« »Du hast hier also herumgeschnüffelt.« Anna stieß ihn liebevoll und augenzwinkernd an. »Und einen versteckten Goldschatz hast du nicht entdeckt?« »Leider nein«, antwortete Gottfried. »Einen Goldschatz würde ich selbstverständlich auch lieber finden als eine vergilbte Mappe aus Papier, das fast schon zerfällt. Aber in dieser Gegend wird so etwas sicher nicht zu finden sein. Hier gibt es nur das einsame Moor und…« »Und was?«
»Dich, Anna, die Frau, in die ich mich Hals über Kopf verliebt habe«, sagte Gottfried, und seine Augen sagten tausend stille Worte. »Oh, Gottfried. Wenn ich geahnt hätte, daß auch ich mich ausgerechnet hier in der Moorlandschaft verliebe, dann… Ach…«, seufzte sie strahlend wie vom Glück überhäuft. Sie umarmte ihn und kicherte. »Bitte, Gottfried, küß mich noch einmal so schön wie eben.« Er schenkte ihr, wonach sie sich inbrünstig sehnte. Eine himmlische Melodie machte sich in den Herzen der Liebenden bemerkbar, und eine ausgeprägte Geborgenheit steigerte das Glücksgefühl. Seufzend löste sich Anna schließlich aus der heißblütigen Umarmung. »Mein Gott, wir nähern uns dem Wahnsinn, Gottfried. Daß die Liebe so atemberaubend schön ist, übersteigt meine Erwartung. Ich bin ja so glücklich, Gottfried. Doch bedrückt mich, daß über uns ein Schatten schwebt, der finstere Ahnungen in mir erzeugt.« Gottfried machte für einen Moment die Augen zu. Tief im Herzen spürte er die Kraft der Liebe, die ihn vorwärtstreiben wollte. Er spürte aber auch, daß in dieser Nacht das Geheimnis des Hauses gelüftet werden würde. Er zeigte Anna die Mappe. »Schau her, Anna, hier ist ein Text, der etwas über den Hund des Moores erzählt. Der Urheber ist unbekannt, denn nirgendwo habe ich einen Namen gefunden. Wer könnte ihn wohl verfaßt haben? Vielleicht dein Onkel? Kennst du die Handschrift?« Annas Blick wanderte konzentriert über das vergilbte Papier. »Hm, sieht nicht danach aus, als hätte es Onkel Walter geschrieben. Die Mappe muß schon sehr alt sein.« »Ja, das könnte sein.« »Merkwürdig, daß so etwas ausgerechnet hier im Stall herumliegt«, flüsterte Anna. »Lies doch mal vor, was da drin steht.«
»Nun, ich war recht überrascht, als ich die verblaßten Zeilen las. Ja, ein leichtes Entsetzen ergriff mich. Mir lief sogar ein Schauder über den Rücken.« »Dann muß es ja grausam sein.« Anna las in seinen Augen. »Meine Neugier ist grenzenlos, Gottfried. Spann mich doch nicht so lange auf die Folter.« »Dein Onkel ist nicht gerade beliebt in dieser Gegend, nicht wahr? Hat er hier überhaupt Freunde?« »Ich weiß es nicht genau, Gottfried. Jedenfalls war während seiner Bettlägerigkeit und, seitdem ich hier bin, außer Dr. Helmrath noch niemand zu Besuch. Als ich im Dorf ankam und die Leute hörten, wohin ich unterwegs war, schlug mir ein ziemlich kalter Wind ins Gesicht.« »Ja, das deutet darauf hin, daß dein Onkel wohl nicht beliebt ist«, sinnierte Gottfried und seufzte. »Dieses Haus muß schon sehr lange unbeliebt sein. Weißt du irgend etwas darüber?« »Nein. Ich war bisher nur ein einziges Mal bei Onkel Walter. Das ist schon lange her, und ich habe alles in anderer Erinnerung. Heute betrachte ich die Welt natürlich mit ganz anderen Augen. Onkel Walter sagte mir, daß ich mal seinen Besitz erben soll. Ihm gehören das Moor und die Wälder rings umher. Aber er hat mich förmlich genötigt, ja nicht den Dachboden zu betreten. Ich wünschte mir eigentlich, nicht hergekommen zu sein.« »Heute nacht werden wir sicher erfahren, warum der Moorhund immer auftaucht.« Gottfried lächelte vielsagend. »Wir warten noch eine Weile, bis wir sicher sein können, daß dein Onkel tief schläft. Und du, Anna, wirst dann leise auf den Dachboden gehen.« »Oh, Gottfried, es wird mir schon jetzt eisig kalt im Herzen.« »Ich bin ja da.« Er streichelte sie, versuchte, sie mit seinen Händen zu beruhigen. »Ich werde sofort eingreifen, wenn
irgend etwas Unrechtes geschieht. Du brauchst also wirklich keine Furcht zu haben. Es kann nichts passieren.« »Trotzdem habe ich eine Gänsehaut«, sagte Anna. »Auf dem Dachboden wird es dunkel und gespenstisch sein, und ich werde dann immerzu Onkel Walters Warnung im Geiste hören, die meine Nerven zur äußersten Gespanntheit treiben wird. Ob ich das durchhalten werde, ohne schreien zu müssen? Ich bin mir nicht sicher. Vielleicht wird die Angst mich übermannen, und was geschieht dann?« Es fröstelte sie. »Und wenn dann dazu auch noch der Hund aus dem Moor kommt und wieder so fürchterlich jault? Onkel Walter wird dann bestimmt aufwachen…« Sie rieb sich sachte die Arme. Diese Nacht werde ich niemals vergessen! Und sie dachte an den Hund, der Unglück über sie bringen konnte. Welch ein Grauen! Welch eine zermürbende Ungewißheit! Schon jetzt waren Annas Nerven ziemlich stark angespannt. Würde sie die steigende Belastung ertragen? Eine eigenartige Unsicherheit breitete sich in ihrer Seele aus. Am liebsten hätte sie sich geweigert, auf den Dachboden gehen zu müssen, aber sie wußte, daß es besser war, das Geheimnis um den Hund aufzuklären. Die Zeit wollte einfach nicht verstreichen; und Anna sehnte sich inbrünstig nach den ersten Sonnenstrahlen. Doch bis zum Morgen war es noch lange. Anna und Gottfried warteten ungeduldig und besprachen ausführlich, wie Anna vorgehen sollte. »Wenn man einmal das Schlimmste in Gedanken durchgespielt hat, dann ist man besser gerüstet«, sagte Gottfried und ermunterte Anna mit einem optimistischen Lächeln. Und dann kam unaufhaltsam der Zeitpunkt, der Annas Herz kraftvoll pochen ließ. Sie mußte sich sehr beherrschen, denn ihre Gefühle wollten mit ihr durchgehen. Welch eine Stunde
der Veränderung! Anna hätte im Boden versinken können, um vor dem Grauen zu enteilen. »Gib mir noch einen Kuß!« hauchte Anna in Gottfrieds Armen. »Vielleicht… ist es der letzte, den ich jemals genießen darf.« »Ach, Anna, was soll denn passieren? In einem alten Dachboden gibt es wahrscheinlich nichts anderes als irgendein Gerümpel und sehr viele verstaubte Spinnweben und dazu einen überaus muffigen Geruch.« »Ja, Gottfried, es könnte sein, daß du recht hast. Aber wir haben jetzt die ganze Weile über alles mögliche geredet, und du hast mir immer noch nicht gesagt, was denn in der Mappe über den Hund geschrieben steht.« Er seufzte. »Ich habe dir keine Furcht machen wollen, Anna. Vielleicht würdest du dich weigern, auf den Dachboden zu gehen, wenn ich dir erzählt hätte, warum es wahrscheinlich diesen Hund gibt.« Sie blickte ihn mit großen Augen an. »Ich mache mich erst auf den Weg, wenn du es mir anvertraust. Ich habe keine Lust, unwissend in die Höhle des Löwen zu gehen. Na los, sag es mir!« »Anna«, sagte Gottfried. »Ich habe es dir sagen wollen. Das ist vollkommen richtig. Aber im Nachhinein befürchte ich, daß es falsch ist, dich den Inhalt der Mappe einsehen zu lassen. Du wirst nicht mehr auf den Dachboden gehen wollen, um herauszufinden, welches Geheimnis er birgt.« »Gottfried!« erwiderte sie energisch. »Ich bin eine erwachsene Frau und kein Kind mehr, das Angst vor Gespenstern hat. Oder hast du etwa vergessen, daß ich dem Geisterhund in das Moor gefolgt bin, mitten in der Nacht?« »Nein, ich habe es beileibe nicht vergessen. Ich bewundere sogar, wie mutig du sein kannst«, erklärte er aufrichtig. »Ich kenne wirklich keine andere Frau, die es gewagt hätte.«
»Na also… dann kannst du mir auch anvertrauen, was du gelesen hast!« Sie sah ihn herausfordernd an. Sie war zu allem entschlossen. Gottfried blickte zur Seite. Er überlegte hin und her, seine Finger begannen, nervös miteinander zu spielen. »Anna«, sagte er leise und zog sie fest an sich. »Ich… will es dir… also… sagen. Aber ich tue es nicht gern.« Er holte tief Atem. »Ich zerspringe vor Neugier!« Ihre Lippen bebten. Hitzewellen durchflossen sie. Ihr Blick war starr auf seine Augen gerichtet. »Es kann doch nichts mehr geben, was mich jetzt noch erschüttern kann!« »Ich fürchte doch«, antwortete Gottfried. »Der Hund… oder besser gesagt, die Geistererscheinung hat mit einem Verbrechen zu tun.« Anna schüttelte ungläubig den Kopf und glaubte, ihren Ohren nicht trauen zu dürfen. »Aber wieso denn das?« fragte sie mit trockener Zunge. »Ich habe es in der Mappe gelesen.« »Was?« »Daß ein Hund im Moor erscheint, sozusagen als Geist, und daß er einen Menschen in das Jenseits holen will…« Er zögerte weiterzureden. Er wich Annas forschendem Blick aus. »Um ein Verbrechen zu sühnen.« »Was ist denn passiert?« »Das habe ich aus der verblaßten Schrift leider nicht erfahren«, erklärte Gottfried nachdenklich. »Ich vermute, daß die Lösung einzig und allein auf dem Dachboden zu finden ist.« »Dann… werde ich mich jetzt aufmachen, um sie zu finden«, sagte Anna und atmete mehrmals ganz tief durch. Sie erhob sich. Ihr Herz raste. Anna schwankte, behielt aber die Kontrolle über sich. Der schwerste Weg ihres Lebens stand ihr
bevor. Es gab kein Ausweichen, und kein Zurück mehr. Es gab jetzt nur noch das eine Ziel: den Dachboden! Ein Kuß gab ihr Kraft und Zuversicht. Dann ein letzter Blick, und Anna schlüpfte aus dem Stall in die mondhelle Nacht hinaus. Sie eilte um das Haus zur Tür. Dabei blickte sie sich einige Male um. Es war nichts zu sehen, was ihre heiße Aufregung hätte ins Unerträgliche steigern können. Doch die friedvolle Stille war jetzt außerordentlich bedrückend. Anna sehnte sich nach dem Trubel ihrer Heimatstadt Berlin, der diese tiefe Leere ausgefüllt hätte. Aufblitzende Gedanken suggerierten ihr Beistand. Für einen Moment sah Anna mit ihrem geistigen Auge das herrliche Lichterspiel des Kurfürstendamms, der großen Berliner Prachtstraße. Doch dann merkte sie, daß eine gigantische Einsamkeit sie fest zu umschließen suchte. Das Nichts schien sie verschlucken zu wollen. Anna atmete erleichtert auf, endlich im Haus zu sein. Sie lehnte sich rücklings an die Tür und schloß für einige Momente die Augen. An Gottfried zu denken gab ihr die Kraft durchzuhalten. Anna lauschte. Onkel Walter schien tief zu schlafen. Langsam stieg Anna die Treppe hinauf und bemühte sich, so leise auf die Stiegen zu treten, daß sie nicht knarrten, aber das war fast unmöglich. Das kleinste Knarren ließ sie erstarren, und es dauerte jedesmal ein paar Sekunden, bis sie weitergehen konnte. Eine schwere Last schien auf ihren Schultern zu liegen, eine Last, die nicht loszuwerden war und die Anna niederdrücken wollte, doch Anna nahm all ihre Energien konzentriert zusammen und näherte sich der schmalen Tür, die zum Dachboden führte. Doch vor der Tür im Obergeschoß hielt Anna erst mal inne. Ihre Ohren waren die reinsten Radarschüsseln. Kein Geräusch durfte ihr entgehen. Dann öffnete sie behutsam
millimeterweise die Tür und schlüpfte in den dunklen Korridor, in dem eine schmale Wendeltreppe in den Dachboden hinaufführte. Ein muffiger Geruch schlug Anna in die Nase, und sie hatte große Mühe, etwas zu erkennen. Die Wendeltreppe war sehr steil. Noch zwei Stufen, und Anna befand sich im Dachboden. Durch drei winzige, verstaubte Fenster fiel das schwache silberne Mondlicht herein. Spinnweben hingen schleierhaft im Gebälk. Es war ein Ort, der nicht nur unheimlich aussah, sondern der auch Angst einflößte, denn schreckenerregende alte Masken hingen an den Dachbalken, Masken, die wie Wahnsinnige höhnisch lachten und sich offenbar am Bösen ergötzten. Welch ein Ort! Welch eine Atmosphäre, in der zu sein das Herz bedrohte. Da hing eine gräßliche Teufelsfratze an der Wand mit Augen, deren Blick hätte töten können. Welch eine bizarre Welt des Irren in Holz geschnitzt! Die schaurige Stimmung jagte Anna einige kalte Schauder über den Rücken. Sie hatte gar nicht geahnt, daß Onkel Walter afrikanische Schreckensmasken sammelte. Es roch nach Voodoozauber, Geisterbeschwörungen und Hexenkult. Anna hätte am liebsten kehrtgemacht, um zu Gottfried zu eilen. Doch jetzt war sie am Zielort, und nun mußte sie ihr Unternehmen zu Ende führen. Anna wagte kaum noch, tief durchzuatmen. Ihr war es auf einmal so, als hätten die schrecklichen Masken Leben erhalten, als wollten sie Anna anspeien, sie ergreifen und würgen. Annas Augen waren unnatürlich weit geöffnet. Sie wollte kein Geräusch überhören, um in kein Verhängnis zu schliddern. Der Boden unter ihren Füßen knarrte leise, und Anna zog den Kopf ein, als erwartete sie einen Überraschungsangriff. Wollten die Fratzen nach ihrem Leben trachten? Unmöglich! Sie waren nur aus Holz, und doch schienen sie lebendig geworden. In der Luft schien irgend
etwas Geheimnisvolles zu vibrieren; es wurde stärker und beunruhigte Anna. Ihr war es, als wollten Geister erscheinen. Mein Gott! durchfuhr es Anna. Ich… werde schreien müssen! Sie dachte an ihren Onkel. Ihr Herz überschlug sich beinahe. Es konnte kaum noch schneller schlagen. Ein Kollaps drohte. Vorsichtig ging Anna weiter; ihr forschender Blick schweifte fieberhaft umher. Sie hatte zu zittern begonnen, denn eine unerträgliche Spannung wollte ihr Herz zerreißen. Jedesmal, wenn Anna schluckte, spürte sie jenen Kloß im Hals, der so unangenehm war. Anna blieb vor einem Regal stehen und schloß für einen Moment die Augen. Sie lauschte in sich, hörte ihr Herz wild bibbern und stammelte im stillen ein Bittgebet. Dann machte sie die Augen wieder auf und sah im Regal ein in Leder gebundenes Buch liegen. Sie nahm es in ihre Hände, und instinktiv spürte sie, daß in diesem Buch die Lösung zu finden war. Ihre Erregung war ja so schwer zu ertragen. Mit zitternden Händen schlug Anna das alte Buch auf. Tagebuch, stand in kunstvoller Schrift gedruckt. Anna blätterte weiter und drehte sich etwas seitwärts, damit das Mondlicht auf die Seiten scheinen konnte. Anna sah die handgeschriebenen Zeilen. Die Tinte war verblaßt, und an einigen Stellen war das Papier bereits vom Vergehen der Zeit beschädigt. Aber der Text fesselte Anna sehr stark. Er war in altdeutscher Schrift, in Sütterlin verfaßt, und Anna war jetzt heilfroh darüber, aus Freude an der Sprache als Kind bei ihrer Mutter die alte deutsche Sütterlinschrift gelernt zu haben. Die Schrift hatte einen ausgesprochen graphischen Reiz. Anna versank in den Inhalt des Geschriebenen, welches scheinbar von ihrem Urgroßvater verfaßt worden war, und allmählich ergriff sie ein schieres Entsetzen. Ihr Urgroßvater mußte ein Tyrann gewesen sein, der die Leute erbarmungslos ausgenutzt und geschunden hatte.
Das, was Anna las, schockierte sie nicht nur, sondern sie verstand alsbald, warum ihr Onkel in dieser Gegend so unbeliebt war. Friedrich Cobert, der Urgroßvater von Anna, hatte fast nichts anderes im Sinn gehabt, als seine schwächeren Mitmenschen in den Ruin zu treiben, damit er ihren Besitz an sich reißen konnte. Er schien überhaupt kein gutes Herz gehabt zu haben, denn die von ihm handgeschriebenen Zeilen strotzten nur so von Menschenverachtung. Wenn er anderen half, dann nur mit Krediten, die überhohe Zinsen hatten, so daß der wirtschaftliche Zusammenbruch durch irgendwelche hinterhältig geplanten Aktionen nicht weit war. Dann folgten Zinseszinsen, und der Urgroßvater konnte den fremden Besitz schließlich übernehmen. Und Annas Großvater war nicht besser gewesen. Auch er war ein gemeiner Leuteschinder, der Feinde hatte wie Sand am Meer. Anna wußte jetzt, wie der große Besitz zustande gekommen war; durch Lüge und Betrug, durch raffinierte Intrigen und hinterhältige Aktionen, durch die ehrbare Menschen in die Armut getrieben worden waren. Da endlich stieß Anna auf die Zeilen, die den Hund, die Dogge, die heute als Geist erschien, zum Inhalt hatten. Mit höchster spannungsgeladener Erregung las sie Wort für Wort, manche Sätze wiederholte sie drei- bis viermal, weil sie das Geschriebene einfach nicht glauben wollte. Ihr Urgroßvater hatte eine Familie mit vier Kindern in den Ruin getrieben, ihren bescheidenen Besitz übernommen und die Eltern mit ihren vier Kindern davongetrieben. Doch die Familie hatte eine Dogge, die sich verzweifelt gewehrt hatte, als sie der Familie abgenommen werden sollte. Es war zu einem Kampf gekommen, denn die Dogge liebte ihren Herrn und die Kinder über alles. Mit einem Schuß aus dem Gewehr von Annas Urgroßvater war die Dogge mitten im Moor
niedergeschossen worden. Kurz darauf tauchte der Hund zum erstenmal als Geist auf, und er kam immer dann, wenn ein Kranker zu Bett lag, um ihn zu holen. Von da an haßte man alles, was den Namen Cobert trug. Schweiß perlte auf Annas Stirn. Wirr blickte sie um sich. Die Masken schienen zu sagen, daß Anna aus dem Dachboden nicht mehr lebend herauskäme! Schockartige heiße und kalte Blitze durchfuhren Anna. Sie hatte das Gefühl, daß ihr Herz augenblicklich stehenbleiben würde. Welch eine Nacht! Da jaulte der Hund los; dieses fürchterliche, langgezogene Jaulen, das Anna das Blut in den Adern gefrieren ließ. Mit glasigen Augen starrte sie zu den kleinen verstaubten Fenstern. Der Geisterhund lief um das Haus herum und jaulte schreckerregend. Mein Gott! Onkel Walter wird aufwachen und vielleicht nach mir rufen! dachte Anna und bemühte sich, ganz tief durchzuatmen, und sie hatte kaum noch die nötigen seelischen Energien, um ihre hochdramatisch aufgewühlten Gefühle unter der Kontrolle ihres Verstandes zu halten. Anna legte das in Leder gebundene Buch rasch in das Regal zurück. Sie hatte genug gelesen. Sie mußte auf dem schnellsten Weg nach unten. Mit leichten Schritten eilte Anna über die Holzdielen, an den skurrilen Fratzen vorbei, und plötzlich stieß sie gegen etwas Hartes und stürzte polternd bäuchlings zu Boden. Anna hatte sich nur das Knie gestoßen; sie hätte aber sterben mögen. Das Gejaule des Hundes war die reinste Todesmusik. Ein ächzendes Knarren ließ Anna erstarren. Sie wagte nicht, sich zu bewegen. Sie hörte schlurfende Schritte. »Hier bist du also!« Ein schweres Atmen. Anna versuchte, den Kloß in ihrem Hals herunterzuschlucken. Aber es ging nicht. Die Stimme ihres Onkels hatte eine große Macht über sie.
»Und ich habe tatsächlich daran geglaubt, daß du mein Verbot befolgst.« Er blickte zu dem Regal und merkte, daß das Tagebuch seiner Ahnen berührt worden war. Walter Cobert seufzte matt. »Nun hast du sicher gelesen, was hier einst geschehen ist, nicht wahr?« »Ja, Onkel Walter!« piepste Anna entsetzt. »Steh auf!« kommandierte er. Und Anna gehorchte, aber sie kam nur sehr schwer hoch. »Du hast gegen meinen Willen gehandelt!« sagte Walter Cobert frostig. »Ich weiß. Ich will das Erbe gar nicht haben! Nachdem ich jetzt erfahren habe, wie der Reichtum hier entstanden ist, will ich lieber ohne ihn leben. Ich… ich… will ihn nicht. Ich werde gleich morgen früh abreisen.« Da fuhr Walter Cobert zusammen. Er suchte nach Worten. Annas abweisender Blick hatte ihn zutiefst getroffen. Er schmolz innerlich dahin. »Nein, Anna, verlaß mich bitte nicht auf diese Art! Ich mag dich… Ich will, daß du bleibst!« Sie schüttelte den Kopf. »Aber nur, wenn du umgehend etwas machst, damit der Geisterhund endlich zu seinem Frieden kommt.« Anna weinte. Die Tränen rührten Walter Coberts Herz. »Wir wollen morgen darüber reden, Anna.« Er hustete und wünschte sich ins Bett. »Nein, Onkel Walter, du mußt sofort entscheiden!« verlangte Anna. Es dauerte eine lange Weile, bis Onkel Walter sagte: »Gut, mein Kind. Weil du mir so unendlich viel aufrichtige Herzlichkeit mitgebracht hast, will ich auf dem Land, welches einst armen Leuten abgenommen wurde, ein großes Kinderparadies errichten, in dem es viele glückliche Hunde geben wird.« Anna fiel ihm mit tränenerstickter Stimme um den Hals. Und als sie nach unten gingen, ließen sie Gottfried ins Haus und
erzählten ihm alles, und Onkel Walter war ihm auch nicht böse, daß er dageblieben war. Er wünschte Anna und Gottfried das größte Glück auf Erden; und alsbald erfuhren die Leute im Dorf, was Walter Cobert Gutes machen wollte, und als dadurch die Flamme der Freude allmählich erloderte, wurde der Geisterhund nicht mehr gesehen. Ein Herz voller Liebe hatte das Leben glücklich verändert.