BAD EARTH Die große Science-Fiction-Saga Band 32
ANGRIFF DER GRAVO-LÄUFER von Alfred Bekker
Die RUBIKON hat den Aqua-...
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BAD EARTH Die große Science-Fiction-Saga Band 32
ANGRIFF DER GRAVO-LÄUFER von Alfred Bekker
Die RUBIKON hat den Aqua-Kubus – die Geburtsstätte einer ganzen Flotte von Foronen-Raumschiffen – verlassen. Ihr Ziel ist die Große Magellansche Wolke, aus der Sobek und Siroona einst vor Jahrzehntausenden mit ausgewählten Angehörigen ihres Volkes vor den übermächtigen Virgh flohen. Existieren die Eroberer des Foronen-Reiches noch? Was ist aus der ursprünglichen Heimat der Kubus -Erbauer geworden? John Cloud und seine Gefährten sind gezwungen, sich der Expedition zur Nachbargalaxis anzuschließen, als das rochenförmige Schiff aufbricht, um die Verhältnisse im Alten Reich zu sondieren. Die baugleichen Giganten bleiben in der Milchstraße zurück und schwärmen mit unbekannten Befehlen aus. Endlich erreicht die RUBIKON die Randzone der Großen Magellanschen Wolke. Hier existiert eine Konstellation aus neun Schwarzen Sonnen, in deren Einflussgebiet, dem so genannten »Sonnenhof«, plötzlich eine Strahlung aktiviert wird, die sämtliche Foronen an Bord zusammenbrechen lässt. Kurz darauf meldet die Schiffs-KI Eindringlingsalarm...
Es waren unzählige Raumschiffe, gefangen zwischen neun Schwarzen Sonnen, deren gebündelte Gravitationskräfte die durch Meteoriteneinschläge verna rbten Wracks auf ihren Positionen hielten. Und die RUBIKON war eines dieser gestrandeten Objekte. Unfähig zu irgendeiner Bewegung verharrte sie im All und wurde durch Kräfte fixiert, die wohl kaum eines natürlichen Ursprungs sein konnten – genau wie die Schwarzen Sonnen. Denn diese durfte es laut der Kenntnisse von Menschen und Foronen gar nicht geben. Das Universum war dafür einfach nicht alt genug. Die Annahme, dass es sich bei diesem Sonnenhof um eine künstliche Anlage handelte, lag also nahe. Das Bild auf dem großen, aus Nano-Technologie bestehenden Panorama-Bildschirm der RUBIKON – die ihre Erbauer SESHA genannt hatten – zeigte immer denselben trostlosen Anblick der gestrandeten Raumschiffe. Sie waren von höchst unterschiedlicher Bauart. Manche von ihne n hatten schon derart starke äußere Verfallsspuren, dass sie wahrscheinlich bereits Jahrhunderte oder gar Jahrtausende hier gefangen waren. Aber der Anblick, der sich innerhalb SESHAs bot, war nicht weniger trostlos. Überall lagen die regungslosen Körper der foronischen Besatzung herum. Sie wirkten wie erstarrt. Tot... Scobee und Jarvis waren davon überzeugt, auch wenn sie es mit letzter Sicherheit nicht zu sagen vermochten. Schließlich waren ihre Kenntnisse über den foronischen Metabolismus sehr begrenzt. Zwar verfügte Jarvis' Kunst-Körper über herausragende Sensoren, doch er wusste einfach nicht, worauf er achten musste. Die gesamte foronische Besatzung war nach der
mysteriösen Durchleuchtung des Schiffes in diesen erstarrten Zustand verfallen. Nur Scobee, Jarvis, Jelto und Aylea hatte das nicht betroffen. Siroona und Sobek hingegen, die Kommandanten des Schiffes, waren durch spinnenartige Roboter abtransportiert worden. Laut der Schiffs-KI waren sie noch am leben. »Eindringlinge haben das Schiff betreten!«, meldete eben diese KI nicht zum ersten Mal. Scobees Blick richtete sich auf John Cloud, der im Moment für sie nicht erreichbar war. Er lag in einem der sarkophagähnlichen Pilotensitze der RUBIKON. Es war anzunehmen, dass ihm das Schiff alles Nötige zeigte. »Um was für Eindringlinge handelt es sich?«, fragte Scobee. »Standardabwehr ist eingeleitet.« Das war kaum eine Antwort auf ihre Frage. »Wie konnten die Eindringlinge die Schutzschirme durchdringen?«, versuchte es die GenTec erneut. Auch darauf gab die KI keine Antwort. Genauso wenig schien sich SESHA darüber auslassen zu wollen, welche Abwehrmaßnahmen sie im Einzelnen eingeleitet hatte. Scobee wandte sich an Jarvis, dessen amorpher Körper aus Nano-Partikeln die übliche pseudohumanoide Gestalt angenommen hatte. Die Oberfläche dieses Körpers machte den Eindruck, als ob sie von wimmelnden Heeren winzigster Insekten bevölkert wurde, die in mehr oder minder chaotischen Strombewegungen über ihn hinweghuschten. »Ich hatte schon in der Leerzone um das Jaroviden-System gedacht, dass wir uns in einer hoffnungslosen Lage befänden, aber im Moment steht uns das Wasser wohl noch um einiges höher...« Jarvis neigte leicht den Kopf. Eine Geste, die beinahe wie ein Nicken wirkte. »Ein Katzensprung trennt uns noch von der Großen
Magellanschen Wolke«, stellte er fest. »Und dann das!« Scobee trat auf die Reihe der Pilotensitze zu, die einst für die Hohen Sieben der Foronen bestimmt gewesen waren. Mit zwei von ihnen hatten sie die Reise zur Großen Magellanschen Wolke angetreten. Sobek und Siroona. »Vielleicht hat diese Krise auch ihr Gutes«, meinte Scobee. Jarvis bewegte sich leicht. »Wie soll ich das verstehen?« »Es könnte sein, dass wir die Herrschaft über das Schiff zurückerlangen.« Jarvis stieß einen Laut aus, der entfernt an ein heiseres Lachen erinnerte. »Ich frage mich nur, was uns diese Herrschaft unter den gegebenen Umständen nützen könnte!«, stieß er anschließend hervor. Scobee musste ihm insgeheim sogar Recht geben. Aber alles in ihr wehrte sich dagegen, so einfach die Hände in den Schoß zu legen und die deprimierende Situation als gegeben hinzunehmen. Es musste einen Weg geben! Irgendeinen... Vielleicht hatte John Cloud ihn ja sogar bereits gefunden. Jarvis trat an eine der Konsolen heran. Die Nano-Partikel seiner rechten Hand flossen auseinander, bildeten eine Verbindung zwischen ihm und der Konsole. Er beherrscht diesen neuen Körper immer besser, dachte Scobee. Wenige Augenblicke später zog Jarvis seinen Arm wieder zurück und wandte den Kopf in Scobees Richtung. »SESHA verweigert jegliche Auskunft über die Eindringlinge«, berichtete er. »Informationen stehen nur dem Kommandanten zu.« »Hoffen wir, dass SESHA John wieder als solchen anerkennt.« »Ich frage mich, ob dieser Alarm tatsächlich durch
Eindringlinge ausgelöst wurde.« Die Tattoos über Scobees Augen hoben sich. »Wie meinst du das?« »Es gab keinerlei Anzeichen für ein Durchdringen unserer Schutzschirme.« »Worauf willst du hinaus, Jarvis?« »Darauf, dass der Eindringling vielleicht schon an Bord war. Ich spreche von Boreguir, diesem Wesen, das Wolinow erwähnt hat. Ich bin mir sicher, dass er nicht feindselig ist – aber ob SESHA das genauso sieht...?« Das Wissen über Boreguirs Existenz war in dem Moment in Jarvis' Erinnerung zurückgekehrt, als er mit Wolinows Beschreibung dieses Phantoms konfrontiert worden war. Ein katzenartiger Krieger, aus dessen lederner Rückenhaut Stacheln hervortraten. Er war der Freund Boreguir, der Jarvis in der Marsstation zur Seite gestanden hatte. Wie habe ich ihn nur vergessen können?, ging es Jarvis durch den Kopf. Das Phantom Boreguir war vermutlich dafür verantwortlich, dass John Clouds Vater Nathan aus seinem Staseblock verschwunden war. John hatte Sobek dazu bewegen können, SESHA eine groß angelegte Suchaktion starten zu lassen. Bislang ohne Erfolg... Auch Jarvis hatte sich auf die Suche gemacht – genauso wie John Cloud persönlich, Scobee, Jelto und Aylea und mehrere Foronen -, aber auch er hatte keinerlei Anhaltspunkte für den Aufenthaltsort des katzenartigen Saskanen und des entführten Nathan Cloud gefunden. »Du glaubst, dass SESHAs Suche endlich Erfolg hatte?«, schloss Scobee. »Ja«, erwiderte Jarvis tonlos. Die Wahrheit war, dass er einen Erfolg SESHAs fürchtete. Schließlich war anzunehmen, dass die Schiffs-KI Boreguir sofort tötete, sobald sie ihn aufgespürt hatte.
Die Chance, SESHA zuvor zu kommen, war wohl von Anfang an sehr gering, dachte Jarvis.
Es war wie bei seinen ersten Flügen mit der RUBIKON II. Er war eins mit dem Schiff. Die Sensoren waren quasi Verlängerungen seiner eigenen Sinnesorgane. Die Frage war, in wie weit er auch wieder Befehlsgewalt über SESHA erlangte. Aber fest stand, dass die Bedingungen dafür so günstig waren, wie während der gesamten Reise zur GMW nicht. Schließlich waren die Foronen definitiv ausgeschaltet worden. Auch Sobek und Siroona. John Cloud sah Bilder. Bilder von zwei spinnenartigen Robotern, die die Körper von Siroona und Sobek trugen. Was geschieht mit ihnen?, fragten Clouds Gedanken. Die Künstliche Intelligenz des Schiffes antwortete ihm mit einer kurzen, knappen Anweisung. Sieh! Cloud sah Korridore im Schiffsinneren. Überall waren die regungslos daliegenden Körper von Foronen zu sehen. Zwei Spinnenroboter stiegen mit ihren feingliedrigen Teleskopbeinen über die Leichen hinweg und trugen dabei jeweils einen Foronenkörper mit sich. Sobek und Siroona. Beide noch in ihre Amorph-Rüstungen gehüllt, die sie wie eine zweite, aus Nano- Teilchen bestehende Haut umgaben. Die Spinnenroboter brachten Sobek und Siroona in einen Behandlungsraum, der jenem glich, in dem Ayleas Operation durchgeführt worden war. Beide Foronen wurden auf speziellen Liegen abgelegt. Ein Kraftfeld bildete sich um sie herum.
Werden sie überleben?, fragte Cloud. Die KI blieb darauf die Antwort schuldig. Aber Cloud interpretierte dieses Schweigen so, dass SESHA alles dafür tat, um das Leben der beiden letzten Foronen an Bord zu erhalten. Cloud zögerte, ehe er seine nächste Frage gedanklich formulierte. Es war die alles entscheidende Frage. Wer kommandiert die SESHA? Auch darauf blieb ihm die Schiffs-KI die Antwort schuldig. Ein paar unklare Gedankenimpulse erreichten Cloud. Wie auf Gedankenbasis ausgetauschter Datenmüll. Vielleicht konnte sich SESHA einfach nicht entscheiden. Der Loyalitätskonflikt lag auf der Hand. Sobek und Siroona waren nach ihrem Erwachen SESHAs oberste Autoritäten gewesen. Darauf war die Schiffs-KI zweifellos programmiert. Aber Cloud war nach wie vor ebenfalls zugangsberechtigt. Das Schiff hatte ihn in der Vergangenheit als Befehlshaber akzeptiert und so bestand durchaus die Chance, dass Clouds Befehlsgewalt wiederauflebte, da die bisherigen Autoritäten außer Gefecht gesetzt waren. Dringender Handlungsbedarf, sendete SESHA. Eindringlinge sind an Bord. Standardabwehrmaßnahmen wurden eingeleitet. SESHA ging auf das Problem der Befehlsgewalt nicht näher ein. Offenbar hatte die Schiffs-KI für ihren inneren Konflikt derzeit noch keine Lösung parat. Im Übrigen gab es jetzt ein akutes Problem, das offenbar die volle Aufmerksamkeit der KI auf sich zog. Die Bilder verschwammen, und von Siroonas und Sobeks weiterer Behandlung bekam Cloud nichts mehr mit. Stattdessen zeigte SESHA ihm die Eindringlinge. Sie befanden sich in einem der äußeren Schiffssektoren. Doch wie sie es geschafft hatten, die Außenhülle und die
Schutzschirme zu durchdringen, war Cloud rätselhaft. Für SESHA galt offenbar dasselbe, denn eine entsprechende Anfrage blieb von der Schiffs-KI zunächst unbeantwortet. Die Eindringlinge erinnerten vom optischen Erscheinungsbild her an Insekten. SESHAs Sensoren versorgten Cloud mit sehr exakten Angaben. Die Fremden bewegten sich auf ihren vier hinteren Extremitäten. Doch Cloud konnte auch beobachten, wie sich einige von ihnen aufrichteten und nur noch auf den beiden hinteren Beinen weitergingen. Ihr Hinterleib, der beim Laufen hinter ihnen herschleifte, machte beinahe die Hälfte ihres Körpers aus und endete in einer Art Zange. Sie sehen aus wie übergroße Ohrwürmer, dachte Cloud, obwohl er wusste, wie albern dieser Vergleich war. Die Kreaturen trugen hauchdünne, transparente Raumanzüge. Zwischen der äußeren Anzugmembran und dem Körper lag ein etwa daumendickes Luftpolster. Die Körper selbst waren von brauner Farbe mit rötlichen und beigen Einsprengseln. Standardabwehr für Internbedrohung aktiviert, meldete SESHA noch einmal. Erwartete die KI eine Bestätigung durch Cloud? Fast hatte er den Eindruck. Welchen Grund konnte es sonst geben, diese Meldung zu wiederholen? Was verstehst du unter einer Standardabwehr?, fragte Cloud. Möglicherweise hatte SESHA jenes Heer von NanoRobotern aktiviert, das seinerzeit die eingedrungenen Jaroviden vernichtet hatte, als sie versuchten, das Schiff zu entern. Aber das war nicht der Fall. Spinnenartige Roboter erschienen am Ende des Korridors und eröffneten sofort das Strahlenfeuer.
Blitzartig zuckten die Blasterschüsse durch die Luft und trafen die Fremden. Lichterscheinungen flimmerten um deren Schutzanzüge herum auf wie leuchtende Auren. Schutzschirme!, erkannte Cloud. Möglicherweise waren diese Schutzschirme der Grund dafür, dass SESHA in diesem Fall zu einer anderen Abwehrmaßnahme gegriffen hatte, als während des letztlich kläglich gescheiterten Enterversuchs der Jaroviden. Die Fremden erwiderten das Feuer nicht. Der Blasterbeschuss durch die Spinnenroboter wurde immer heftiger. Die KI informierte Cloud ständig darüber, mit welchem energetischen Level gefeuert wurde. Selbst Beschädigungen innerhalb des Schiffes schien SESHA in Kauf nehmen zu wollen, wenn damit die Fremden vernichtet werden konnten. Aufhören!, forderte Cloud. Ein unmissverständlicher Befehl. Die Erwiderung der KI wirkte schematisch: Eindringlinge sind an Bord. Standardabwehr erfordert diesen Einsatz. Sofort aufhören!, wiederholte Cloud seinen Befehl. Die Fremden schießen nicht zurück. Sie wehren sich nicht und es ist nicht bestätigt, dass sie feindliche Absichten haben. Sie sind unbefugt an Bord gekommen, gab SESHA zu bedenken. Das ist noch kein Grund, sie abzuschlachten!, erwiderte Cloud. Die Sicherheit des Schiffs hat oberste Priorität. Priorität haben die Befehle des Kommandanten! Die Eindringlinge müssen vernichtet werden, um die Sicherheit des Schiffes zu gewährleisten, beharrte die KI. Immer heftiger wurde das Energiefeuer. Cloud befürchtete, dass die Schutzschilde der Fremden, die sich noch immer nicht wehrten, zusammenbrechen würden. Da stellte der Erdmensch die alles entscheidende Frage. Eine Frage, um deren Beantwortung sich SESHA schon
einmal herumgedrückt hatte. Wer kommandiert die SESHA?, fragte Cloud. Sobek, war die zögernde Antwort der KI. Cloud ließ nicht locker. Er wusste, dass er sich jetzt und in diesem Augenblick gegen die KI durchsetzen musste. Nicht nur um der offenbar friedliebenden Fremden, sondern auch um seines eigenen Schicksals willen. Schließlich hatte er wenig Lust, diese Reise weiterhin als willenlose Marionette und rechtloser Passagier mitzumachen. Wer kommandiert die SESHA, wenn Sobek ausfällt?, hakte Cloud unerbittlich nach. Siroona, antwortete die KI. Auch sie ist nicht in der Lage, das Schiff zu kommandieren, stellte Cloud klar. Aber es gibt noch jemanden, der dazu berechtigt ist. SESHA bestätigte dies. Dann gehorche mir! Stell das Feuer gegen die Fremden ein! Einige Augenblicke vergingen. SESHA schien sich taub zu stellen. Doch plötzlich hörten die spinnenartigen Roboter mit ihrem Angriff auf und stellten das Feuer ein. Die Fremden könnten uns größere Klarheit über unsere eigene Situation hier in diesem grotesken Sonnenhof bringen, sandte Cloud erneut seine Gedanken an die Schiffs-KI. Aber er erhielt kein Zeichen dafür, dass SESHA ihn verstanden hatte. Die Fremden richteten sich jetzt auf, hoben ihre beiden vorderen Extremitätenpaare und hielten sie den angreifenden Spinnenrobotern entgegen. So als wollten sie zeigen, dass sie unbewaffnet waren und keine Angriffsabsicht hegten. Ein Zeichen, das beinahe unive rselle Bedeutung zu haben schien. Quälend lange Augenblicke vergingen, in denen die Fremden Töne ausstießen, für die SESHA keine Übersetzung hatte.
Noch nicht... Es lag wohl einfach noch nicht genügend Datenmaterial vor, um damit ein Translatorprogramm zu füttern. Aber die Handlungsweise der Fremden ließ an Eindeutigkeit nichts zu wünschen übrig. Sie schalteten einer nach dem anderen ihre Schutzschirme ab. Es war deutlich erkennbar an der kleinen, aufblitzenden Lichterscheinung, die dabei jeweils entstand. Außerdem passten die von SESHAs internen Sensoren aufgezeichneten Energiewerte dazu. Die Fremden waren jetzt schutzlos. Kein Feuer!, sandte Cloud in Gedanken an SESHA. Er fürchtete, dass die KI diesen Augenblick der Schwäche bei den Eindringlingen ausnutze n und sie vernichten würde. Die Gelegenheit dazu war günstig. Bange Momente verstrichen, in denen sich zeigen musste, wie groß Clouds Einfluss auf die KI war. Die Fremden fuhren damit fort, durch Gesten ihre Friedfertigkeit unter Beweis zu stellen. Sie vollführten kreisende Bewegungen mit den oberen Extremitäten und stießen dazu Laute aus, die Cloud entfernt an die Gesänge von Walen erinnerten. Stell eine Kommunikationsverbindung zu den Eindringlingen her!, befahl Cloud. Er bekam zunächst keine Antwort. Aber immerhin griff SESHA die Fremden auch nicht weiter an. Die spinnenartigen Roboter zogen sich ein Stück zurück. Aus den Lauten, die die Fremden ausstießen, bildete die Schiffs-KI eine erste, sehr rudimentäre Übersetzung. »Wir sind... Merimden«, sagten sie. »Kommen aus... Kerker... Hof der neun Schwarzen Sonnen... Kerker... gefangen... so wie ihr...« Mehr als eine bruchstückhafte Übersetzung ist auf Grund des spärlichen Datenmaterials noch nicht möglich, erklärte die
KI. »Nicht... kämpfen...«, übersetzte inzwischen das Translatorprogramm die Laute jener Wesen, die sich selbst offenbar als Merimden bezeichneten. Cloud wandte sich erneut an die KI. SESHA! Ich werde den Fremden gegenübertreten und Kontakt mit ihnen herstellen. Vielleicht können sie uns mehr über diese Sonnenfalle verraten, in die wir hier geraten sind. Erneut vergingen quälend lange Momente des Schweigens. Ich bin dein Kommandant, stellte Cloud klar. Keine Reaktion. Doch schließlich meldete sich die KI mit einer lapidaren Feststellung. Dein Status bedarf noch der Klärung. Cloud versuchte, ruhig zu bleiben. Es hatte keinen Sinn, mit dem Kopf durch die Wand gehen zu wollen. SESHA saß am längeren Hebel. Der einzige Trumpf, den Cloud vorzuweisen hatte, war die Tatsache, dass das Schiff ihn einmal als Kommandanten akzeptiert hatte und er daher Zugangsberechtigung besaß. Das war aber auch schon alles. Wenn er Pech hatte, entschied sich die KI dafür, aus lauter Treue zu Sobek so lange in einem entscheidungslosen Zustand zu verharren, bis der Forone wieder handlungsfähig war. Das wäre die schlechteste aller Möglichkeiten gewesen. Wie lange wird diese Statusklärung andauern?, fragte Cloud. Er wollte sich damit einfach nicht zufrieden geben. Sobek ist nicht entscheidungsfähig. Ich weiß, bestätigte SESHA. Und Siroona ebenfalls nicht, erinnerte Cloud. Wir drehen uns im Kreis, SESHA. An diesem Punkt waren wir schon. Du bist nicht darauf programmiert, das zu tun. Also unterstütze mich, wenn ich jetzt Kontakt mit den Fremden aufnehme. Unser aller Schicksal kann davon abhängen. Eine Pause entstand.
Schließlich gab SESHA nach. Einverstanden. Cloud atmete innerlich auf. Darauf hatte er lange warten müssen. Aber es blieben noch ein paar Fragen, die Cloud mit der KI klären musste. Wie ist der gegenwärtige Zustand von Sobek und Siroona?, erkundigte er sich. Auch diese Antwort kam zögernd. Der Zustand beider ist kritisch, aber einigermaßen stabil. Ich bemühe mich, ihre Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit wieder herzustellen. Bevor das geschehen war, musste Cloud das Schiff endgültig wieder unter seine Kontrolle gebracht haben. Die Zeit lief unerbittlich. Eine letzte Frage betrifft die Suche nach meinem Vater und dem Phantom. Die KI antwortete in diesem Fall prompt. Suche bisher erfolglos. Wird fortgesetzt. Priorität ist allerdings angesichts der jüngsten Entwicklungen zurückgestuft.
Wem gilt die Loyalität des Schiffes? Wer ist der Kommandant? Diese beiden Fragen bewegten SESHA. Die KI war in einem inneren Konflikt zwischen sich widersprechenden Programm- Maximen. Was soll ich tun? Wie SESHA es auch drehte und wendete, es schien keine widerspruchsfreie Lösung zu geben. Immer wieder geriet sie in dieselben Konfliktschleifen hinein. Du hast den Erdmenschen John Cloud seinerzeit als Kommandanten akzeptiert. Er ist berechtigt, rief sich SESHA
in ihr bioneurales Gedächtnis. Aber nach dem Erwachen der Hohen Sieben waren sie deine oberste Autorität – allen voran Sobek. Ihnen zu gehorchen, dafür wurdest du geschaffen. Solange Sobek fähig gewesen war, Befehle zu erteilen, hatte es an der Loyalität SESHAs keinerlei Zweifel gegeben. Die Prioritäten waren ganz eindeutig. Sobeks Wille kam zuerst, dann der Siroonas. Doch beide waren zurzeit in einem Zustand, in dem sie nicht in der Lage waren, das Schiff zu befehligen. Du brauchst aber einen Befehlshaber, wusste SESHA. Du bist nicht dafür geschaffen, auf dich allein gestellt Entscheidungen zu treffen. Die logische Konsequenz lag eigentlich auf der Hand. John Cloud musste in seine Rechte als Kommandant des Schiffes wieder eingesetzt werden. Aber verletze ich damit nicht den Willen Sobeks?, durchzuckte es SESHAs neuronales Netz. Das Gegenargument geisterte darin ebenfalls herum und meldete sich sogleich zu Wort. Sobek ist nicht bei Bewusstsein und daher auch nicht fähig, seine vorbestimmte Rolle einzunehmen. Die Katze biss sich in den Schwanz, wie es ein Sprachbild ausdrückte, das sich bei den an Bord befindlichen Erdmenschen einiger Beliebtheit erfreute. SESHA spürte, wie sich dieser unauflösliche innere Konflikt geradezu lähmend auf ihre Entscheidungsund Handlungsfähigkeit auswirkte. Und das gerade jetzt, da fremde Lebensformen mit bislang noch unbekannten Absichten ins Schiffsinnere vordringen konnten. Gerade dieser Vorfall spitzte den inneren Konflikt der KI zu. Sie hatte zunächst in einer Weise auf die vermeintliche Invasion reagiert, die Sobeks Vorgehensweise wahrscheinlich
entsprochen hätte. Hart und kompromisslos. Die Selbstbehauptung war die oberste Prämisse. John Clouds Anweisungen liefen auf ganz andere Prioritäten hinaus. Verständigungsbereitschaft. Das Verhalten der Fremden schien Clouds Sichtweise der Situation zu unterstützen. Vielleicht bot sich tatsächlich die Chance, von den Unbekannten mehr über die gewaltige interstellare Falle zu erfahren, in die SESHA mitsamt ihrer Besatzung hineingeraten war. Das Schiff muss handlungsfähig bleiben, wurde es SESHA klar. Aber die Handlungsfähigkeit konnte nur mit einem ansprechbaren Kommandanten aufrechterhalten werden. SESHA traf schließlich eine Entscheidung. Ich werde vorläufig John Cloud gehorchen. Er ist der Einzige an Bord mit entsprechender Autorisierung, der verfügbar ist. Und Sobek? Siroona? Ich werde alles dafür tun, dass ihre Entscheidungsfähigkeit wieder hergestellt wird, nahm sich die Künstliche Intelligenz vor. Sie konzentrierte ihre Aufmerksamkeit auf den Fortgang der Behandlung. Beide Angehörige der Hohen Sieben lagen noch immer unter den Kraftfeldern, die sie am Leben hielten. Das medizinische Subprogramm SESHAs arbeitete auf Hochtouren. Ich werde zusätzliche Rechner- und Energiekapazitäten für die Behandlung zur Verfügung stellen, dachte die KI. Das Gegenargument, dem zu Folge trotz eines erhöhten Einsatzes von Ressourcen keine größere Erfolgswahrscheinlichkeit der Behandlung bestand, ignorierte SESHA geflissentlich. Was soll jetzt geschehen, Cloud?, fragte das Schiff.
Er wusste nicht, wie es funktionierte. An diese Frage verschwendete er im übrigen auch nicht einen einzigen Gedanken. Er wusste nur, dass er es konnte. Sich selbst vergessen machen. Sich aus dem Bewusstsein anderer zu streichen, sodass es Individuen, die ihm begegnet waren, anschließend unmöglich war, sich noch an ihn zu erinnern. Boreguir lauschte. Die Geräusche hatten ihn hellhörig und wachsam gemacht. Seine Hand umfasste den Griff seines Schwertes Feofneer. Herzblut bedeutete das. Boreguir war äußerlich ein katzenhaftes Wesen, dessen einfahrbare Rückenstacheln jedoch an einen Igel erinnerten. Auf seiner Heimatwelt galt für ihn der Kodex eines Kriegers. Boreguir folgte ihm auch hier, in dieser für ihn nach wie vor unwirtlichen Umgebung der ehemaligen Marsstation, die an Bord der RUBIKON II geholt worden und mit Hilfe von Milliarden winzigster Nano-Roboter dort eingepasst worden war. Vorgänge von denen Boreguir nichts ahnte. In vielerlei Hinsicht war er ein Barbar. Technik hatte für ihn etwas beinahe Magisches. Er hatte sich längst abgewöhnt, nach Erklärungen zu suchen. Aus seiner Sicht ging es ums Überleben. Aber nicht um jeden Preis. Sein Krieger-Kodex blieb die Richtschnur seines Handelns – auch hier, unter diesen eigenartigen Bedingungen. Boreguirs Atem beschleunigte sich. Seine behaarte Katzenhand fasste das Herzblut-Schwert und hob es an.
Er wusste, dass man ihn suchte. Wer dahinter steckte und warum das geschah, war ihm nicht klar. Er hatte zwar darüber nachgedacht, war aber zu keinem abschließenden Urteil gekommen. Böse Mächte, die auch seinen Freund Jarvis abgeholt hatten und unter anderem durch spinnenartige Wesen aus Metall repräsentiert wurden. Das Bild, wie diese Wesen seinen Freund getötet hatten, war ihm noch sehr deutlich im Bewusstsein. Ein gestaltwandlerisches Wesen hatte ihn ermordet, obwohl er bereits dem Tod geweiht gewesen war. Selbst ein furchtloser Krieger wie Boreguir schauderte bei dem Gedanken an das, was mit Jarvis geschehen war. Denn seitdem hatte das Wesen die Gestalt seines Freundes angenommen. Offenbar hatte es seine Seele geraubt. Daraufhin hatte sich Boreguir ins Vergessen begeben und jede Erinnerung an sich beseitigt. Aber das war Vergangenheit. In der Gegenwart ging es darum, den Mächten des Bösen zu entkommen, die ihn immer noch zu jagen schienen. Irgendwie waren sie ihm auf die Schliche gekommen. Aber Boreguir konnte sich bisher ihrem Zugriff entziehen. Den Zweibeinigen gesichtslosen Jägern ebenso wie den spinnenartigen Metallwesen. Und auch dem allumfassenden Jäger. So jedenfalls hatte der Saskane jene Macht genannt, die überall zu sein schien und offenbar die Bereiche außerhalb der Marsstation vollkommen beherrschte. Boreguir hatte sich in eine abgelegene Region der Station zurückgezogen. Den Mann, der aus der Erstarrung in einer Art Harzblock geweckt worden war, hatte er mit sich in sein Versteck genommen. Der Begriff Staseblock – den seine Freunde Jarvis und Resnick verwendet hatten – sagte Boreguir nichts. Ebenso wenig wusste er, wie lange dieses Wesen in seinem tiefschlafähnlichen, konservierten Zustand verbracht hatte.
Der Mann gehörte derselben Spezies wie Jarvis und Resnick an, die ihm zu guten Gefährten geworden waren. Außerdem schienen sie ihn zu kennen. Er nahm daher an, sich mit dem erwachten Schläfer unterhalten zu können. Aber das war ein Irrtum gewesen. Offenbar verstand der Mann ihn nicht. Allerdings wehrte er sich auch nicht, wenn der Saskane ihn hinter sich herzog. Vielleicht weil es ihm so schlecht ging. Boreguir rätselte noch darüber nach, ob dies Spätfolgen seiner Konservierung im Harz waren oder ob es mit einer mangelhaften Versorgung zu tun hatte. Jedenfalls kauerte der Mann in sich zusammengesunken in einer Ecke und blickte Boreguir ständig an. Der Saskane hob eine Hand, redete auf ihn ein, um ihm zu bedeuten, sich nicht von der Stelle zu rühren. »Verfolger sind in der Nähe«, sagte er in seiner eigenen Sprache. Er wusste, dass es sinnlos war, weil sein Gegenüber ihn aus einem unerfindlichen Grund nicht verstand. Aber er fuhr trotzdem darin fort, auf den Mann einzureden. Jede Aussage wurde durch Gesten unterstützt. Der Mann begann, leicht vor und zurückzuwippen. Eine Geste, die Boreguir so ähnlich einige Male bei Resnick und Jarvis gesehen hatte, deren Bedeutung ihm aber bis heute nicht vollkommen klar war. Zustimmung? Bestätigung? Boreguir war sich nicht sicher. »Bleib und warte ab!«, sagte der Saskane zu seinem unfreiwilligen Begleiter und machte entsprechende Gesten. Dann erhob er sich, schob das Schott zur Seite und trat hinaus auf den Korridor. Er blickte zurück. Der Angehörige von Jarvis' und Resnicks Spezies machte keinerlei Anstalten, ihm zu folgen. »Keine Sorge, sie werden dich nicht finden«, sagte
Boreguir, obwohl er wusste, dass seine Worte für den anderen nicht mehr als sinnlose Laute darstellten. »Ich kann bewirken, dass sie dich genauso vergessen wie mich. Wir sind hier sicher.« Der Mann sagte etwas. Die Laute, die über seine Lippen kamen, ergaben für Boreguir keinerlei Sinn. Sorgen machte ihm allerdings ein anderer Umstand. Die Stimme seines Gefährten hatte einen entsetzlich schwachen Klang. Der Saskanen-Krieger musste nicht die Sprache dieses Wesens verstehen, um zu ahnen, wie schlecht es ihm ging. Vielleicht war es ein Fehler, dich aufzuwecken, dachte Boreguir. Aber jetzt ist es zu spät. Ich kann es nicht wieder rückgängig machen. Das steht einfach außerhalb meiner Macht. Der Katzenartige schloss das Schott hinter sich. Feofneer umfasste er mit beiden Händen, die Stacheln auf seinem Rücken waren voll ausgefahren. Er lauschte einen Moment in die Stille hinein, bevor er sich auf den Weg machte. Vor ihm beschrieb der Korridor eine Biegung, hinter der mehrere Körper auf dem Boden lagen, wie er wusste. Sie gehörten zu den gesichtslosen Wesen. Sie hatten ihn gesucht und sogar beinahe gefunden. Die Erinnerung ließ Boreguir noch immer frösteln. Trotz seiner Fähigkeit, sich zum Vergessenen zu machen, waren sie ihm sehr dicht auf den Fersen gewesen. Aus welchem Grund sie ausgerechnet in diesem Sektor der Station nach ihm gesucht hatten, vermochte der Katzenartige nicht zu sagen. Er hatte ihnen gegenübergestanden, war bereit zum Kampf gewesen. Zunächst hatten sie ihn nicht bemerkt, weil er sich für sie zum Vergessenen gemacht hatte. Aber sie hatten Geräte bei
sich. Kleine Apparaturen, mit deren Hilfe sie offenbar mehr wahrzunehmen im Stande waren, als es für gewöhnlich der Fall war. Dennoch waren sie unbeholfen gewesen. Es war so gewesen, als wüssten sie, dass er in der Nähe war. Doch sehen konnten sie ihn offensic htlich nicht. Boreguir war ein Krieger und kein Feigling, der aus dem Hinterhalt heraus seine Gegner abschlachtete. Aus diesem Grund hatte er sich jenen, die ihn jagten, offenbart und das Vergessen aufgehoben, das ihn zuvor geschützt hatte. »Hier bin ich! Ich hoffe, ihr habt den Mut, gegen mich zu kämpfen!« Ein Saskanen-Krieger ließ sich nicht gefangen nehmen. Und Boreguir schon gar nicht... Das Überleben war wichtig, doch ein Leben ohne Ehre war undenkbar. In dem Moment, in dem es zur Konfrontation hätte kommen können, war etwas Seltsames geschehen. Boreguir dachte mit Schaudern daran. Er hatte keine Angst vor dem Tod oder einem übermächtigen Gegner. Aber Dinge, die derart rätselhaft waren, erweckten sein Unbehagen. Ein Licht war durch die Wände der Station gedrungen und hatte alles hell erleuchtet. Augenblickelang hatte man das Körperinnere der Jäger sehen können. Die geheimnisvolle Kraft hatte sie durchleuchtet und transparent werden lassen. Im nächsten Moment waren sie leblos zu Boden gesunken. Boreguir selbst sowie sein geschwächter Gefährte waren dieser Prozedur ebenfalls unterzogen worden. Aber sie hatten überlebt. Der katzenhafte Saskane spürte keinerlei Nachwirkungen dieses Ereignisses. Lautlos stieg er über die reglosen Körper hinweg. Der Korridor mündete in einem hallenartigen Raum. Ein
balkonartiger Vorsprung ragte einige Körperlängen weit vor. Eine steile Rampe führte von dort aus hinunter zum Boden. Die Beleuchtung war spärlich. Nur vereinzelt waren Beleuchtungsaggregate aktiv. Boreguir duckte sic h und kauerte am Rand des Vorsprungs. Sein empfindliches Gehör hatte ihn nicht getrogen. Zwei spinnenartige Metallwesen warteten dort unten auf ihn. Im nächsten Moment zischte ein greller Strahl dicht über ihn hinweg. Na wartet!, durchzuckte es den Saskane n. Keine Maschine besteht auf Dauer gegen Feofneer!
Der Sarkophag öffnete sich. Cloud stieg aus. Scobee, Jelto und Aylea befanden sich in der Zentrale der SESHA – oder der RUBIKON, wie man das Schiff jetzt vielleicht wieder nennen konnte. »Was war los?«, fragte Scobee. »Es hat hier einen Eindringlingsalarm gegeben, aber wir haben keine Ahnung, was geschehen ist!« Cloud atmete tief durch. Er erhob sich, blickte sich zunächst um. »SESHA hat euch nicht informiert?«, hakte er nach. »Nein«, erklärte Jelto. »Ich hatte angenommen, dass sie euch vielleicht über eine Holosäule zeigt, was vorgefallen ist. Wir haben Besuch durch Wesen, die aussehen wie große Ohrwürmer.« Also nicht Boreguir!, ging es Jarvis erleichtert durch den Kopf. »Wie konnten sie an Bord gelangen?«, fragte Scobee sofort. Cloud zuckte die Achseln. »Gute Frage. Darauf hat bislang nicht einmal SESHA eine Antwort. Ich konnte das Schiff
gerade noch davon abhalten, die Fremden einfach umzubringen. Allem Anschein nach haben sie nämlich friedliche Absic hten.« Er wandte sich an Scobee. »Ich möchte, dass du mich begleitest, wenn wir Kontakt aufnehmen.« Sie nickte. »Gut.« »Vielleicht erfahren wir ja endlich Näheres über die Falle, in die wir hineingetappt sind.« Scobee und Cloud traten durch einen der Türtransmitter. Ohne Zeitverzögerung erreichten sie den Sektor des Seelenschiffs, in den die Fremden auf bisher noch ungeklärte Art und Weise eingedrungen waren. SESHAs Spinnenroboter hielten noch immer die Stellung. Sie verharrten regungslos. Doch Cloud war sich sicher, dass sie schussbereit waren. »Sobald SESHA irgendeine Gefahr wittert, wird sie diese mechanischen Kampfhunde von der Kette lassen«, war er überzeugt. »Ich dachte, sie hört wieder auf dich!«, erwiderte Scobee. Cloud zuckte die Achseln. »Ich bin mir da noch nicht ganz sicher.« »Immerhin hast du diesen Wesen...« »Merimden!«, unterbrach Cloud seine Gefährtin. »... das Leben gerettet!« »Ob das die richtige Entscheidung war, muss sich erst noch zeigen.« Scobee und Cloud ließen die Spinnenroboter hinter sich und traten den Merimden entgegen. Diese hatten sich aufgerichtet und ihre Extremitätenpaare erhoben. Offenbar ein Begrüßungsritual. Erst jetzt bemerkte Cloud die Geräte, die von den Merimden an gürtelähnlichen Riemen getragen wurden. Der erste der Merimden stieß ein paar Laute aus, die daraufhin durch das Gerät übersetzt wurden. »Wir... Wesen-Merimden... sind«, kam es aus dem Apparat.
»Leben... hier... Wege... durch... Dunkelheit.« Es folgte eine Pause. Die Merimden schienen eine Reaktion zu erwarten. »Hast du verstanden, was sie meinen?«, raunte Scobee ihm zu. »Die Kommunikationsbasis lässt noch etwas zu wünschen übrig, Scob. Andererseits ist es erstaunlich, wie gut ihre Translatoren arbeiten. Immerhin konnten sie nur wenige Bruchstücke unserer Sprache aufschnappen und analysieren.« »Dann verfügen sie zweifellos über eine fortgeschrittene Technologie.« »Hoffen wir, dass sie fortgeschritten genug ist, um uns aus diesem Kerker herauszuhelfen«, sagte Cloud. »Meinst du, sie wären dann noch hier?« Cloud stand nun direkt vor dem ersten der Merimden. Dessen Beißwerkzeuge rieben sich geräuschvoll gegeneinander. Die Lippenfühler erzeugten schnalzende Laute, die auch das merimdische Translatormodul nicht in gutes altes irdisches Englisch zu übersetzen vermochte. Dann vollführte das Wesen mit seinem obersten Extremitätenpaar eine kreisende Bewegung im Uhrzeigersinn. Es malte eine liegende Acht in die Luft. Instinktiv imitierte Cloud diese Geste. »In unserer... Kultur... ist dies... das Zeichen-Symbol... für Verbind ung-Kommunikation- Verständigung«, sagte der Merimde. Noch ging die Übersetzung etwas stockend. Aber das Translatorsystem der Fremden lernte erstaunlich schnell. Es musste auch die wenigen Sätze, die die beiden Menschen unter sich ausgetauscht hatten, analysiert haben. »Bei uns hat dieses Zeichen auch eine Bedeutung«, erklärte Cloud. »Es ist ein mathematisches Symbol und steht für eine Zahl von unendlicher Größe.« »Unendliche Größe... wiederholte der Merimde. Dieser
Begriff schien irgendetwas in ihm auszulösen. Er hörte auf, seine Beißwerkzeuge gegeneinander zu reiben. Die Schnalzlaute durch den Gebrauch der Lippentaster waren nur noch vereinzelt zu hören. »Weite-Raum-so wie es außerhalb ist.« »Außerhalb von was?« »Außerhalb des Sonnen-Kerkers.« Sie sind Gefangene wie wir, ging es Cloud durch den Kopf. Nur leben sie vielleicht schon seit Generationen im Inneren des Sonnenhofs und haben sich vielleicht sogar an das Leben hier angepasst. Auf jeden Fall konnten die Informationen, die diese insektoiden Lebewesen lieferten, für das weitere Schicksal der RUBIKON sehr wichtig sein. Aber Cloud war auch klar, dass dieser Informationsaustausch keine Einbahnstraße sein würde. Er musste der anderen Seite auch etwas bieten, um deren Vertrauen zu gewinnen. Wichtig sind die Antworten auf zwei Fragen, rief sich Cloud ins Gedächtnis. Wir müssen erfahren, was die Fremden hier wollen und wie sie hereingekommen sind. Diese Fragen hatten Priorität vor allen anderen. Wie hatten es die Merimden nur schaffen können, den Weltraum zwischen den Schiffen zu überwinden? Die Distanzen waren für ein Raumschiff mit funktionierendem Triebwerk zwar nichts weiter als ein Katzensprung. Aber für ein Lebewesen, das nichts weiter als einen hauchdünnen Raumanzug trug? Zudem wusste Cloud ja nun, dass die Module, die die Eindringlinge bei sich trugen, der Verständigung dienten. Antriebsaggregate oder dergleichen hatte er nicht bei ihnen bemerkt. Damit wären sie auch zu langsam gewesen, war Cloud durchaus klar. Selbst von der nächstliegenden Raumer-Einheit
hätte ihre Reise zur RUBIKON Jahre gedauert. Für das Auftauchen eines Raumschiffs hatte es vor dem Alarm keinerlei Anzeichen gegeben, und das wäre SESHAs Sensoren sicher nicht entgangen. »Wir sind mit unserem Raumschiff zur nächsten Sterneninsel unterwegs«, berichtete Cloud. »Plötzlich gerieten wir in den Einfluss der Schwarzen Sonnen und konnten uns nicht mehr befreien.« »Uns erging es ebenso«, meldete sich ein Merimde aus der hinteren Reihe zu Wort. Seine Haut schimmerte silbern durch den transparenten Raumanzug. Die anderen, braun getönten machten ihm Platz, sodass er nach vorne treten konnte. Offenbar hatte er eine hervorgehobene Position innerhalb dieser Merimdengruppe. Rein äußerlich stellte Cloud lediglich fest, dass er der einzige silberne Merimde war. Die Verständigung klappte immer besser. »Auch wir sind... Gefangene im Kerker«, erklärte der Silberne. »So nennen wir diesen Ort zwischen den Schwarzen Sonnen. Es ist ein Ort, den man nicht verlassen kann.« »Wie lange ist eure Ankunft schon her?« »Über 63 unserer Jahre«, gab der Silberne Auskunft. Was mir jetzt natürlich nicht viel hilft, dachte Cloud, während der Merimde fort fuhr. »Neugier und Forscherdrang trieb unser Volk dazu, ein Schiff zu bauen, das in der Lage war, die große Sterneninsel zu verlassen und das Nichts zu überwinden, das sie von den kleinen Sterneninseln trennt. Aber auf dem Weg dorthin geriet unser Raumschiff in den Bann der Schwarzen Sonnen.« »Ihr kommt aus unserer Milchstraße!«, schloss Cloud. »Es ist möglich, dass wir dieselbe Heimat haben«, stellte der Silberne fest. »Forscherdrang war es auch, der uns dazu verleitete, in den Innenbereich des Sonnen-Kerkers einzufliegen. Unser Schiff vermochte diesen Ort seither nicht mehr zu verlassen, und ich nehme an, euch steht dasselbe
Schicksal bevor.« Cloud atmete tief durch. »Das fürchte ich auch. Gibt es denn wirklich keine Möglichkeit, den Sonnenhof zu verlassen?« »Wir suchen seit unserer Ankunft danach. Aber offenbar hat es zuvor noch niemand geschafft, dieser Falle wieder zu entgehen. Wir stießen auf Dutzende von gestrandeten Raumschiffen und erforschten sie. Auf keinem fanden wir Leben. Viele dieser Raumer müssen schon sehr lange hier gefangen sein. Die Aggregate zur Energieerzeugung sind längst nicht mehr aktiv. Dasselbe gilt für die Lebenserhaltungssysteme. Wenn ihr dies wünscht, könnt ihr an unserem Wissen über den Sonnenhof teilhaben.« »Dieses großzügige Angebot nehmen wir gerne an«, erwiderte Cloud. »Wir erhoffen uns natürlich auch unsererseits Vorteile und erwarten, dass ihr neue Erkenntnisse mit uns teilt.« »Natürlich.« Erkenntnisse!, echote es in Clouds Bewusstsein. Sie entstammen einer Forschungsexpedition, daher scheint dieser Begriff eine wichtige Bedeutung für sie zu haben. Was diese besondere Triebfeder des Handelns anbetraf, waren Merimden und Menschen sich sehr viel ähnlicher, als es die ausgesprochen verschiedenartige Physiognomie vermuten ließ. »Wenn ihr wollt, könnt ihr uns auf unser Schiff begleiten«, bot der Silberne an. Cloud und Scobee wechselten einen erstaunten Blick miteinander. »Wie soll dieses Überwechseln von einem Schiff zum anderen vor sich gehen?«, fragte Cloud. »Auf dieselbe Weise, wie wir hier her gelangten. Es dauert nicht lange«, erklärte der Silberne. Seine Lippenfühler bewegten sich leicht. Vielleicht war das ein Zeichen für die Merimden- Entsprechung von Verlegenheit.
Jedenfalls entstand jetzt eine Pause des Schweigens. »Euer Auftauchen hier ist für uns... erstaunlich«, sagte Cloud schließlich. »Wie reist ihr zwischen den Schiffen?« »Wir besitzen Geräte, die eine Reise entlang der Gravitationsbahnen ermöglichen. Sie durchziehen den SonnenKerker wie ein dichtes, unsichtbares Netz und eignen sich hervorragend zum Transport. Ihr werdet sehen...« Einer der anderen Merimden ergänzte, während er ein Modul vom Gürtel nahm und auf die Anzeigen blickte: »Euren physiologischen Voraussetzungen nach habt ihr nichts zu befürchten, wenn ihr die Gravo-Bahnen benutzt«, stellte er fest. »Also folgt uns!«, forderte sie der Silberne auf. Diese Aufforderung erschien Cloud ein bisschen zu barsch. Möglicherweise hing das aber auch nur mit dem Umstand zusammen, dass sie nicht direkt, sondern stets über ein Übersetzersystem miteinander kommunizierten. Die hoch entwickelten Translatormodule der Fremden arbeiteten zwar mit immer größerer Perfektion, aber ein Rest von Unklarheit blieb doch zwischen beiden Seiten. »Vielleicht sollten wir damit noch etwas warten!«, meinte Cloud. »Oh, ich dachte, ihr wärt daran interessiert, zu sehen, wie wir Merimden hier im Sonnen-Kerker überleben konnten«, erklärte der Silberne. Er war keineswegs unfreundlich oder beleidigt, soweit die Translatorstimme in dieser Hinsicht überhaupt verwertbare Rückschlüsse zuließ. »Wir sind durchaus daran interessiert«, sagte Cloud. »Aber vielleicht lasst ihr uns noch etwas Zeit für ein paar Vorbereitungen.« »Gewiss.« »Ihr werdet uns die technische Ausrüstung zur Verfügung stellen, um das Schiff zu verlassen?« »Ja.«
»Wie wäre es mit sechs Stunden?« Die Merimden schwiegen zunächst. »Ähm... etwa die zehnfache Zeitspanne, seit die Roboter das Feuer eingestellt haben«, versuchte Cloud zu präzisieren. Der Silberne zögerte nur kurz. »Dein Vorschlag ist uns angenehm.« »Gut.« Cloud nickte. Der Silberne vollführte erneut die Geste, durch die er mit Hilfe seiner oberen Extremitäten eine liegende Acht in die Luft hineinschrieb. Cloud erwiderte dies. »Ein paar Fragen hätten wir noch an euch«, stellte der Silberne dann fest. Cloud hob die Schultern. »Bitte!« »Wir haben nie von eurer Spezies gehört. Aber die große Sterneninsel umfasst unzählige Sonnensysteme und Seitenarme. Da ist das nicht weiter verwunderlich. Doch was trieb euch hier her?« »Es war die Neugier, wie bei euch«, erwiderte Cloud. Er wollte, was die Verhältnisse an Bord anging, nicht unnötig ins Detail gehen. »Als euer Schiff in den Sonnenhof einflog, konnten wir die Bioimpulse sehr vieler Individuen orten«, stellte er fest. »Jetzt sind es nur noch wenige.« »Der Großteil der Besatzung ist tot«, gab Cloud nach kurzem Zögern zu. Es hatte keinen Sinn, um den Kern der Sache herumzureden, wenn die Fremden sowieso schon Bescheid zu wissen schienen. Und sollten die Merimden ihn bei einer Lüge ertappen, würde das das gerade aufkeimende Vertrauensverhältnis sofort wieder beenden. Er wusste einfach zu wenig über ihre Möglichkeiten. »Wann starb der Großteil eurer Besatzung?«, fragte der Silberne. »Kann es sein, dass eure Spezies besonders
empfindlich ist und ein Großteil die Durchleuchtung nicht überstand?« Natürlich, durchfuhr es Cloud. Warum sollte er davon ausgehen, dass sich zwei völlig unterschiedliche Rassen an Bord befinden? Nun musste er schnell entscheiden, was er dem Merimden anvertrauen sollte. Cloud entschloss sich zu einer Mischung aus Wahrheit und Lüge. »Eins unserer Hilfsvölker, das sich mit an Bord befindet, wurde stark dezimiert. Auf uns selbst hatte die Strahlung keine Auswirkung.« Vielleicht war John Cloud zu sehr Soldat, um den Merimden vollends zu vertrauen. Er wollte keine zu große Schwäche zeigen. Und er wollte sich mit seinen Gefährten besprechen. SESHAs Meinung interessierte ihn ebenfalls. »Also treffen wir uns in sechs Stunden«, sagte Cloud schließlich. Er brauchte einfach etwas Luft. Wichtige Entscheidungen mussten getroffen werden. Der Silberne neigte den aufgerichteten Vorderkörper etwas. Die Lippenfühler erzeugten ein raschelndes Geräusch. »Wir sind einverstanden«, erklärte der Silberne. »Wir werden pünktlich zurück sein.« »Es scheint euch keinerlei Schwierigkeiten zu bereiten, unsere Schutzschilde zu durchdringen«, mischte sich jetzt Scobee ein. Der Silberne wandte den Blick seiner insektenhaften Facettenaugen der GenTec-Matrix zu und schien sie einige Augenblicke lang zu mustern. Ein Blick, der von keinem Menschen interpretiert werden konnte. Die Beißwerkzeuge rieben sich jetzt auf eine ganz spezielle Weise aneinander. Das Geräusch, das dabei erzeugt wurde, unterschied sich von allen anderen Lautäußerungen, die Cloud und Scobee bislang bei den Fremden vernommen hatten.
Der Kommunikationsgehalt dieser nichtsprachlichen Laute geht ebenso verloren wie umgekehrt unsere menschliche Körpersprache und Gestik den Merimden nichts sagen wird, ging es John Cloud durch den Kopf. Aber sie standen ja auch erst am Anfang ihrer Kontaktaufnahme. Und so, wie die Lage zurzeit aussah, würden beide Seiten noch mehr Zeit zu einer Intensivierung dieses Kontaktes haben, als ihnen lieb war. »Wir sind Gravo-Läufer«, sagte der Merimde, so als würde das etwas erklären. Vielleicht wollte er auch einfach auf Scobees Frage keine präzisere Antwort geben. »Wir werden da sein«, versprach der Silberne noch einmal. Die Merimden drehten sich herum, entfernten sich von den beiden Menschen sowie SESHAs Robotern, die nach wie vor im Hintergrund lauerten. Cloud bemerkte, dass die Roboter unruhig wurden. Sie näherten sich. Die Merimden schien das nicht im mindesten zu beeindrucken. Sie gingen einfach davon. »Die Blechspinnen gefallen mir nicht«, sagte Scobee. »Keine Sorge, die werden nicht in meine Richtung schießen – und damit riskieren, dass SESHAs einziger einsatzfähige Kommandant ausgeschaltet wird.« »Bist du dir sicher, John?« »So sicher, wie man sich bei diesem Seelenschiff nur sein kann, Scob.« Cloud verzog die Lippen zu einem schiefen Lächeln. »Aber ich hatte eine ausführliche Unterhaltung mit der KI, während ich im Sarkophag lag.« »Sag bloß, sie hat sich von dir die Leviten lesen lassen!« »Das nicht gerade. Aber ich denke, dass sie mir im Augenblick zumindest eingeschränkt gehorcht.« Scobee seufzte. »Waren das noch Zeiten, als Fahrzeuge –
egal ob zu Wasser, in der Luft oder im Weltraum – einfach das gemacht haben, was man wollte.« Cloud grinste. »Haben sie das je?«, fragte er. »Mein Vater hat mir früher ein paar Geschichten über diese altmodischen Automobile ohne elektronische Hilfen erzählt, die...« Er brach ab. Der Gedanke an Nathan Cloud ließ sein Gesicht sich verfinstern. Das ist ein Problem, um das ich mich später kümmern muss, ging es John Cloud durch den Kopf, wobei sich ein dicker Kloß in seinem Hals bildete. Jetzt ist einfach nicht die Zeit dazu... Scobee verstand zumindest ansatzweise, was in John Cloud vor sich ging. Daher schwieg sie und ging nicht näher auf das Thema ein. Währenddessen setzten die Merimden ihren Weg fort. Sie erreichten das Ende des Korridors. Die Wand schienen sie nicht zu beachten. Sie bewegten sich einfach geradeaus. Die Insektoiden wurden transparent. Lichtauren umflorten ihre Körper. Zunächst hatte Cloud kaum darauf geachtet, doch nun wurde dieser Effekt so deutlich, dass man ihn unmöglich übersehen konnte. Mit einer letzten, blitzartigen und sehr grellen Lichtersche inung verschwanden die Merimden schließlich. Cloud kniff unwillkürlich die Augen zusammen und schützte das Gesicht mit den Händen. »Die Eindringlinge haben das Schiff verlassen«, meldete sich SESHA akustisch. »Ist es dir recht, John Cloud, wenn ich die Aud iowiedergabe benutze?« »Sicher«, murmelte Cloud, innerlich noch ganz gefangen von dem, was er soeben erlebt hatte...
Scobee und Cloud kehrten in die Zentrale der RUBIKON II zurück. Jelto und Jarvis warteten dort auf sie. Auf einer großen Holosäule hatten sie die Geschehnisse um die Merimden mitverfolgen können. »Wo ist Aylea?«, fragte Cloud, nachdem er durch die Transmittertür getreten war und das zehnjährige Mädchen nirgends entdecken konnte. »Sie ist in ihrer Kabine«, sagte Jelto. »Warum?« »Ich weiß es nicht. Sie hat es nicht gesagt. Ich denke, sie wollte etwas allein sein.« »Sollten wir uns da Sorgen machen?« Jelto schüttelte den Kopf. »Ich denke nicht. Sie braucht wohl etwas Zeit, um die jüngsten Geschehnisse zu verarbeiten. Vor allem das, was mit den Foronen geschehen ist...« »Ich verstehe«, murmelte Cloud. Die toten Körper der Foronen lagen noch immer überall in den Gängen der RUBIKON herum. Ein Anblick, der sicher nicht leicht zu verkraften war, zumal Aylea mitbekommen hatte, wie sie nach der Durchleuchtung reglos zu Boden gesunken waren. Überall auf dem Schiff, gleichgültig, wo sie sich gerade aufgehalten hatten. »Die Überheblichkeit der Foronen – vor allem der Hohen Sieben – war sicherlich schwer erträglich«, erläuterte Jelto. »Aber ihr Tod dürfte für ein Kind ihres Alters noch schwerer verdaulich sein.« Cloud hoffte, dass sie darüber hinwegkam. So wie sie zuvor schon einiges hatte verkraften müssen, das ihr bislang auch nicht das seelische Rückgrat gebrochen hatte. Er wandte sich an die KI. »SESHA, liegen inzwischen irgendwelche Erkenntnisse darüber vor, wie die Fremden es geschafft haben, das Schiff zu
betreten und wieder zu verlassen?« »Negativ«, war die ernüchternde Antwort der Schiffsintelligenz. »Schutzschirme und Außenhülle scheinen keinerlei Barriere für sie darzustellen.« »Was ist mit den Gravitationsbahnen, auf denen sich die Merimden angeblich fortbewegen?« SESHA aktivierte eine Projektion, die einen schematischen Überblick des Sonnenhofs bot. Die neun Schwarzen Sonnen waren als rote Punkte markiert, zwischen denen es ein Geflecht dünner Linien gab. Die Gravitationsbahnen. »Theoretisch sind diese Bahnen als Transportmittel nutzbar«, erklärte die KI. »Wäre es möglich, dass sich das Schiff mit Hilfe dieser Bahnen fortbewegt?« »Negativ. Derzeit sehe ich dazu keine Möglichkeit.« »Sind die Merimden anhand von energetischen Unregelmäßigkeiten auf diesen Bahnen zu orten?« »Es gibt zwar derartige Unregelmäßigkeiten, aber ein Zusammenhang mit dem gegenwärtigen Aufenthaltsort der Merimden ist nicht he rstellbar. Soll ich größere Rechnerkapazitäten darauf verwenden, um das zu verifizieren?« »Mach das!«, bestimmte Cloud. Er wandte sich an Scobee. »Sollen wir auf das Angebot der Fremden eingehen?« »Bislang gibt es doch keinen Anhaltspunkt dafür, dass sie es nicht gut mit uns meinen«, meinte die GenTec-Matrix. »Wir befinden uns in derselben Lage und sollen uns zusammenschließen.« »Auf jeden Fall könnten wir endlich etwas mehr darüber erfahren, was dort draußen vor sich geht«, ergänzte Jelto. »Mich beunruhigt immer noch die Art und Weise, in der die Foronen ausgeschaltet wurden. Ich fürchte, dass dies jederzeit auch mit uns geschehen könnte.« »Ja. Sofern es der geheimnisvollen Macht, die hinter dieser
Durchleuchtung steckte, belieben sollte, uns zu töten.« »Vielleicht ist dieser Sonnenhof als spezielle Foronen-Falle errichtet worden«, warf Scobee ein. Cloud hob die Schultern. »Zumindest daran, dass es sich um ein künstlich angelegtes Objekt handelt, besteht wohl kein Zweifel mehr.« Cloud erwiderte Scobees Blick. »Ich schlage vor, dass wir beide mit den Merimden auf Wanderschaft gehen.« Von Jelto oder Jarvis kam kein Widerspruch. Dafür meldete sich SESHA zu Wort. Sie hatte für ihre Verhältnisse gezögert, doch jetzt stellte sie unmissverständlich klar, dass sie mit Clouds Plan nicht einverstanden war. »Ich werde dir nicht gestatten, das Schiff zu verlassen, John Cloud«, kündigte die KI an. Ihr Tonfall war neutral, aber sie ließ keinerlei Zweifel daran aufkommen, dass sie es ernst meinte. »Wie bitte? Habe ich das richtig verstanden?«, empörte sich Cloud. »Wer ist dein Kommandant?« »Du, John Cloud. Zumindest zeitweilig und in Vertretung von Sobek.« »Dann gehorch mir auch und versuch nicht, mich an etwas zu hindern, dass für uns alle überlebenswichtig sein kann!« »Abge lehnt«, erwiderte die KI. »Ich kann dir nicht gestatten, von Bord zu gehen und dich dem ungewissen Risiko auszusetzen, das die Reise auf den Gravitationsbahnen zweifellos bedeutet.« »Ich denke, ich weiß selbst, welche Risiken ich eingehen kann und welche nicht«, entgegnete Cloud. Er hatte diese Art der Bevormundung des Schiffes gründlich satt. Eigentlich hatte er gedacht, den Autoritätskonflikt zumindest fürs Erste eindeutig für sich entschieden zu haben. Offensichtlich war dem aber nicht so. »Du bist der letzte derzeit entscheidungsfähige und autorisierte Kommandant des Schiffes«, stellte die KI klar.
»Ich bin auf dich angewiesen und kann nicht riskieren, dass dir möglicherweise etwas zustößt oder ich während deiner Abwesenheit vor eine Entscheidung gestellt werde, die über Routineangelegenheiten hinausgeht.« »Ich wiederhole meine Frage: Wer ist dein derzeitiger Kommandant?« »Du, John Cloud.« »Diese Antwort hast du schon einmal mit derselben Klarheit gegeben«, stellte Cloud fest. »Richtig.« »Dann handle auch entsprechend und überlass mir die Entscheidungen.« »Es gibt Grenzen für die Entscheidungsfreiheit des Kommandanten«, behauptete die KI. »Das wäre mir neu.« »John Cloud, ich werde mich in dieser Frage nicht umstimmen lassen. Deine Anwesenheit an Bord ist eine lebenswichtige Bedingung für unser Überleben und die Funktionsfähigkeit des Schiffes. Ich werde also unter keinen Umständen erlauben, dass du die RUBIKON verlässt.« Sie hat RUBIKON gesagt, ging es John Cloud durch den Kopf. Warum? Ein Zugeständnis an mich, mit dem sie versucht, mich zu besänftigen? Eigentlich konnte sich Cloud kaum vorstellen, dass die foronischen Erbauer der SESHA ihre KI auf psychologisches Einfühlungsvermögen gegenüber ihrem Kommandanten hin programmiert hatten. Offenbar war aber genau das zumindest in Ansätzen der Fall. Vielleicht hängt es auch einfach nur mit der Tatsache zusammen, dass diese KI ungewöhnlich lernfähig ist. Ungewöhnlich gemessen an allen Rechnersystemen, die menschliche Programmierer jemals hervorgebracht hatten. Einige Augenblicke lang herrschte Schweigen.
Innerlich suchte John Cloud nach einem Weg, um die KI doch noch auf seine Seite zu bringen. Aber in diesem Fall schien die Front, die SESHA aufgebaut hatte, vollkommen undurchdringlich zu sein. Die KI meldete sich zu Wort. »Ich erlaube Scobee, das Schiff zu verlassen und die Fremden zu begleiten«, erklärte sie. »Sie mag eine Person ihrer Wahl mitnehmen. Mit Ausnahme des Kommandanten!« »Eine große Auswahl bleibt da ja wohl nicht!«, erwiderte Cloud mit galligem Unterton. Scobee trat näher an Cloud heran. Ihre Hand berührte ihn leicht an der Schulter. Sie schaute ihm offen in die Augen. Die Tattoos, die bei der GenTec-Matrix die Brauen ersetzten, hoben sich etwas. »SESHA wird nicht nachgeben«, stellte sie fest. »Also bleibt uns nichts anderes übrig, als ihre Bedingungen zu akzeptieren, John.« »Ja.« Cloud nickte unwillig. Seiner Miene war deutlich anzusehen, wie sehr es ihm missfiel, nicht selbst mit den Merimden zusammen den Sternenhof erforschen zu können. Denn wenn es eine Möglichkeit gab, die RUBIKON doch noch aus diesem gigantischen Raumschiff-Kerker zu befreien, dann mussten sie zweifellos mehr über ihr Gefängnis in Erfahrung bringen. Sehr viel mehr! »Ich werde Jelto mitnehmen«, entschied Scobee. Sie drehte sich zu dem Florenhüter um. »Vorausgesetzt, du bist einverstanden.« »Natürlich«, sagte Jelto. Jarvis wandte sich an Cloud. »Sechs Stunden bis zur Rückkehr der Fremden. Ich werde diese Zeit nutzen, um deinen Vater zu finden.« Cloud nickte. »Dafür wäre ich dir sehr dankbar.« »Viel Hoffnung kann ich dir allerdings nicht machen.
Schließlich hat selbst SESHA bisher versagt.« Cloud seufzte hörbar. »Kein Mensch weiß, was derzeit in SESHA vorgeht und mit welcher Intensität sie die Suche überhaupt betreibt...«
Mit einem Sprung landete der katzenhafte Saskane auf dem harten, kalten Boden. Lautlos federte er ab. Die Metallspinnen schienen dennoch etwas zu bemerken. Sich ihnen gegenüber zum Vergessenen zu machen war schwerer, als bei den augenlosen Gestalten, die jetzt allesamt tot waren. Aber im Laufe der Zeit hatte Boreguir herausgefunden, wie das zu machen war. Er konzentrierte sich. Leicht wie eine Feder bist du, unsichtbar wie der Wind. Du bist nicht vorhanden. Niemand sieht dich, niemand weiß von dir. Es gibt dich nicht. Du bist vergessen. Vergessen. Vergessen... Die Spinnenartigen drehten sich in seine Richtung. Er hatte in mehreren Kämpfen mit diesen eigenartigen Wesen inzwischen viel über sie gelernt. Zum Beispiel, dass man sich vor manchen ihrer acht Beine besonders in Acht nehmen musste, weil diese plötzlich in der Lage waren, grelles Licht zu spucken. Licht, das brannte, sich sogar durch stabile Wände hindurch fressen und diese zum Schmelzen bringen konnte. Aber sie hatten auch eine empfindliche Stelle. Sie lag an der höchsten Stelle ihres kugelförmigen Körpers und wirkte wie ein Auge. Ein Auge, das offenbar nach allen Seiten zu sehen vermochte. Alles vermag es zu sehen. Nur mich nicht. Denn ich bin vergessen. Leicht wie eine Feder. Unsichtbar wie ein Windhauch, der über die Meere von Saska streicht...
Sämtliche Stacheln waren aus der Lederhaut ausgefahren, die den Rücken des saskanischen Kriegers bedeckte. Mit einem tollkühnen Sprung warf sich Boreguir auf den ersten der Spinnenartigen, klammerte sich an dessen glatten, metallischen Körper. Der Spinnenartige bemerkte ihn zu spät. Einen der Arme, aus denen die sengende Kraft des Lichtstrahls herauszuschießen vermochte, bog Boreguir zur Seite. Der Strahl zuckte durch die Luft, fraß sich in die Decke hinein und fräste ein faustgroßes Loch hinein. Boreguir ließ seine Faust herabsausen, in der er das Herzblut-Schwert trug. Die Klinge zeigte nach oben. Mit dem Knauf hämmerte er in das Sehorgan des Spinnenartigen ein. Die durchsichtige Schutzschicht splitterte wie Glas, die darunter liegende Membran platzte. Die Arme des Spinnenartigen hatten Boreguir nun gepackt und schleuderten ihn von sich. Der Saskane rollte sich mit katzenhafter Geschmeidigkeit auf dem Boden ab, während der Spinnenartige mit seinen Extremitäten in der Luft herumruderte. Er feuerte wild um sich. Die Strahlschüsse gingen ungezielt in alle Richtungen. Zweifellos war er blind. Dicht schossen die sengenden Strahlen, deren verheerende Wirkung Boreguir schon miterlebt hatte, an ihm vorbei. Er duckte sich. Der zweite Spinnenartige war längst auf Boreguir aufmerksam geworden und feuerte ebenfalls auf ihn. Ich bin vergessen. Mich gibt es nicht. Ich habe nie existiert. Ich bin ein Schatten in der Nacht. Die zerfließende Erinnerung an einen flüchtigen Traum. Unmöglich, mich zu halten. Unmöglich, mich zu sehen. Unmöglich, sich an mich zu erinnern. Wenige Meter entfernt von Boreguir befanden sich einige Blöcke aus Metall, die ihn um das Doppelte überragten.
Dazwischen waren schmale Gassen. Welchem Zweck diese Blöcke dienten, wusste Boreguir nicht. Mit wenigen schnellen Sätzen war er dort. Der Spinnenartige, dessen Sehorgan Boreguir beschädigt hatte, wirkte jetzt starr und inaktiv. Als wäre die Lebenskraft aus ihm gewichen. Der zweite Gegner schien allerdings zu ahnen, wo Boreguir sich befand, denn seine Strahlschüsse verfehlten den Saskanen nur knapp. Woran liegt es, dass es so schwer ist, für die metallischen Gegenüber unsichtbar zu sein?, fragte er sich. Hat es mit ihrer Kälte zu tun? Damit, dass sie nicht aus warmem Fleisch bestehen? Dass sie kein Blut haben und im Grunde wie tote Dinge wirken, denen ein böser Geist Leben eingehaucht hat? Boreguir blieb keine Zeit, über diese Dinge weiter nachzudenken. Er verbarg sich zwischen den Metallblöcken. An den Ecken wiesen sie Einkerbungen und Vertiefungen auf. Deren Zweck war Boreguir unklar, aber er erkannte sofort, dass sie sich hervorragend dafür eigneten, um hinaufzuklettern. Lautlos zog er sich empor. Oben angekommen blieb er geduckt. Seine feinen Ohren lauschten. Er hörte die Geräusche des Spinnenartigen. Offenbar hatte der noch funktionstüchtige Verfolger die Jagd auf ihn aufgenommen. Ich bin nicht da. Es gibt mich nicht... Boreguir lag auf dem Metallblock. Er blickte hinunter in die Gasse. Sie war kaum halb so breit wie die Körperlänge eines durchschnittlichen Saskanen. Insgesamt zwölf Metallblöcke befanden sich in dem hallenartigen Raum. Sie waren vollkommen regelmäßig angeordnet.
Der Spinnenartige tauchte auf. Er bog um eine Ecke, die Waffenarme erhoben. Entspricht es der Ehre eines Kriegers, unsichtbar zu sein und aus dem Verborgenen heraus zu kämpfen? Nicht zum ersten Mal stellte sich Boreguir diese Frage. Im Fall der Augenlosen hatte Boreguir sich offenbart, bevor eine unbekannte Macht ihm die Feinde genommen hatte. Aber was die Spinnenartigen anging, so schien ihm diese eigentlich unehrenhafte Vorgehensweise angebracht zu sein. In seinen Augen waren sie eher Monster, die bekämpft werden mussten, als würdige Gegner. Ein ehrloser Kämpfer verdient keine Ehre, so lautete eine der Verhaltensregeln saskanischer Krieger. Und die Spinnenartigen waren zweifellos ohne Ehre. Sie töteten aus der Distanz und in großer Übermacht, ohne ihrem Gegner die Chance zu einem Kampf Mann gegen Mann zu lassen. Sie verdienten keine Schonung. Sie verdienten keine Ehre. Der Spinnenartige näherte sich weiter. Boreguir wartete, bis sich sein Feind genau unter ihm befand. Dann sprang er. Ich bin wie der Hauch des Windes, der plötzlich zum Sturm wird. Boreguir landete genau auf dem Spinnenartigen und drückte ihn zu Boden. Die Teleskopbeine knickten ein. Mit einigen schnellen Bewegungen zerstörte der Saskane das Sehorgan seine Gegners. Als die innere Schutzmembran des Auges geplatzt war, stieß Boreguir die Schwertspitze mit aller Kraft durch das zerstörte Auge. Ein Kribbeln durchlief den Vergessenen, ließ ihn zittern. Ein böser Geist schien in dem Metallwesen zu wohnen und ihn jetzt anfallen zu wollen. Eine blitzartige Lichterscheinung zuckte entlang des
Schwertes aus dem Auge heraus und tanzte Boreguirs Arm entlang, um anschließend seinen ganzen Körper wie eine zuckende Aura einzuhüllen. Boreguir wurde durch eine unsichtbare Kraft von dem Spinnenartigen hinuntergeschleudert. Dieser Kraft vermochte er nichts entgegenzusetzen. Hart landete er auf dem Boden. Der Saskane war unfähig, sich zu bewegen. Ein seltsames Taubheitsgefühl hatte von seinem gesamten Körper Besitz ergriffen. Das Herzblut-Schwert steckte noch immer im Auge des Spinnenartigen, der sich nicht mehr rührte. Es dauerte einige Augenblicke, ehe sich Boreguir erholte und wieder in der Lage war, sich zu bewegen. Seine Hände zuckten dabei unkontrolliert, die Stacheln seines Rückens fuhren unwillkürlich ein und wieder aus. Mit was für dämonischen Gegnern habe ich es zu tun!, durchzuckte es den katzenartigen Krieger. Nein, der Ehrenkodex gilt für dieses Gezücht des Bösen nicht! Langsam gewann Boreguir die Kontrolle über seinen Körper zurück. Seine Arme und Beine schmerzten noch. Mühsam erhob er sich und trat auf den regungslos daliegenden Spinnenartigen zu. Er zögerte, ehe er das Schwert ergriff. Die Furcht vor der dämonischen Kraft, die seinem Gegner innewohnte, war noch groß. Aber diese Kraft schien aus ihm gewichen zu sein. Mit einem Ruck ließ sich Feofneer aus dem Metallkörper des Spinnenartigen entfe rnen. Kein Blut klebte an der Klinge, aber das hatte der SaskanenKrieger auch nicht anders erwartet. Sein Brustkorb hob und senkte sich, während er tief durchatmete. Da erklang aus mehreren Gängen ein hektisches Trappeln. Boreguir kannte dieses Geräusch! Zahlreiche silberne
Spinnen-Dämonen näherten sich. Ich muss hier weg, dachte er. Mich verstecken!
Kurz vor der Rückkehr der Merimden kehrte Jarvis in die Zentrale der RUBIKON II zurück. Bei seiner Suche hatte er keinen Erfolg gehabt. Trotz der ausgeprägten kybernetischen Sinne seines neuen NanoKörpers. Es war wirklich ärgerlich, dass die KI der RUBIKON noch keinen vollständigen Zugriff auf die ehemalige Marsstation hatte. Doch es war einfach zu viel zerstört worden. »SESHA lässt die Marsstation von Spinnenrobotern durchkämmen«, berichtete Jarvis. »Die Maschinen trafen offenbar auch mehrmals auf einen Gegner. Doch der tauchte weder auf den Sensoren auf, noch gibt es gesicherte Daten. Es ist nur so, dass mehrere Roboter zerstört wurden... Und ich glaube, dass das Energieniveau der Strahler der Roboter tödlich ist.« »Du musst sie finden«, sagte Cloud. »Ich habe den Eindruck, dass es SESHA nur darum geht, unbefugte Bewohner zu eliminieren.« »Das fürchte ich auch.« In diesem Moment meldete SESHA die Rückkehr der Fremden. »Sobald die Insektoiden wieder von Bord sind, werde ich mich noch einmal auf die Suche begeben«, versprach Jarvis. »Versuch du inzwischen SESHA davon zu überzeugen, ein weniger martialisches Vorgehen an den Tag zu legen.« »Du willst deinen Freund Boreguir retten«, stellte Cloud fest. »Natürlich. Und deinem Vater könnte bei einem Kampf, der über den Einsatz von Lähmstrahlen hinausgeht, ebenfalls etwas
zustoßen!« »Ich weiß.« »Außerdem hat Boreguir es verdient, dass man ihn rettet. Was auch immer ihn dazu veranlasst hat, deinen Vater aus seinem Staseblock herauszuholen, ich kann kaum glauben, dass eine böse Absicht dahintersteckt.« John zuckte mit den Achseln. »Kümmern wir uns erst einmal um die Merimden«, schlug er vor. Die Merimden tauchten an derselben Stelle des Schiffes auf, wo sie bei ihrem ersten Erscheinen den Eindringlingsalarm ausgelöst hatten. Scobee und Jelto trugen Druckanzüge, die SESHA ihnen zur Verfügung gestellt hatte. Schließlich wusste niemand, wie die Umweltbedingungen an jenem Ort aussahen, an den die Merimden sie bringen würden. Die KI hatte die Anzüge exakt nach den Bedürfnissen des menschlichen – und nicht des foronischen – Metabolismus produziert. Es zeigt sich wieder einmal, dass wir in jedem Detail von SESHA abhängig sind, ging es Cloud durch den Kopf. Ihm gefiel dieser Umstand nicht. Aber im Moment gab es keine Möglichkeit, daran etwas zu ändern. Im Übrigen war die partielle Abhängigkeit von SESHA mit Sicherheit leichter zu ertragen, als das bisherige Vasallenverhältnis zu dem vollkommen skrupellosen Sobek. »Wünsch uns Glück«, wandte sich Scobee über HelmInterkom an John Cloud, der sich zusammen mit Jarvis in der Zentrale befand. »Alles Glück, das ihr braucht!«, erwiderte Cloud. Von der Zentrale aus konnten Cloud und Jarvis die Geschehnisse in einer Holosäule verfolgen. »Sie hätte mich mitnehmen sollen«, meinte Jarvis. John Cloud zog die Augenbrauen hoch. »Wieso?« »Zum Beispiel wegen der besonderen Robustheit, die mein neuer Körper aufweist.«
Cloud zuckte mit den Achseln. »S ie wird sich schon was dabei gedacht haben, sich von Jelto begleiten zu lassen. Vielleicht will sie nur nicht die bisherige gute Beziehung gefährden.« Cloud wandte sich an SESHA. »Sind es wieder dieselben merimdischen Individuen?« »Ein Abgleich der Scan-Daten zeigt dies. Alle individuellen Merkmale der Merimden stimmen überein«, gab die KI bereitwillig Auskunft. »Neue Erkenntnisse darüber, wie sie die Schutzschirme durchdringen konnten?« »Negativ. Aber kurz bevor sie auftauchten war eine leichte energetische Schwankung auf einer Gravitationsbahn erkennbar, die gegenwärtig genau durch das Schiff verläuft.« »Wie der Apfel vom Baum der Erkenntnis klingt das aber noch nicht gerade!«, murmelte Cloud.
Inzwischen hatte sich der Silberne auf Scobee und Jelto zu bewegt. In einem Abstand von kaum zwei Metern blieb er stehen und richtete den Vorderkörper auf. Wie schon beim ersten Besuch der Fremden, vollführte er mit dem obersten Extremitätenpaar eine charakteristische, kreisende Bewegung in der Luft. Scobee und Jelto erwiderten diese Geste. »Ihr seid bereit, mit uns über die Gravitationsbahnen zu gehen?«, fragte der Silberne. »Wir haben keine Ahnung, wie das geht. Ihr werdet es uns zeigen müssen«, erwiderte Scobee. »Ihr braucht nichts weiter tun, als uns zu folgen und euch in unserer Nähe aufzuhalten.« »Etwas näher will ich schon darüber Bescheid wissen. Schließlich muss ich beurteilen können, ob irgendein Risiko
für unsere körperliche Gesundheit besteht.« Der Silberne verneinte dies. »Ihr braucht euch keine Sorgen zu machen.« Eine seiner Extremitäten deutete auf den Gürtel, der seinen Vorderkörper umspannte. Mehrere technische Geräte befanden sich daran. Er zeigte auf eines von ihnen. »Dies ist ein Feldprojektor.« »Für eure Schutzschilde?«, fragte Scobee. »Nicht nur. Wir können damit auch ein Feld erzeugen, mit dessen Hilfe wir die Gravo-Linien als Transportbahnen nutzen können. Die Ausdehnung des Feldes ist variabel. Also haltet euch in meiner Nähe auf, damit ihr innerhalb meines Kraftfeldes seid.« »Es ist nicht nötig, dass wir selbst einen derartigen Gürtel tragen?«, vergewisserte sich Scobee. »Nein.« Scobee deutete auf eines der anderen Geräte. »Das dort ist euer Translator, nicht wahr?« »Ja.« »Und das lange, röhrenartige Gerät daneben?« Die Antwort des Merimden ließ einen Augenblick auf sich warten. An dem hervorragend arbeitenden Übersetzungssystem konnte das nicht liegen. Irgendetwas ließ ihn zögern. »Das«, erklärte der Silberne schließlich, »ist eine Waffe.« »Dann hättet ihr euch also verteidigen können, als die Roboter euch angegriffen haben?« »Das hätten wir. Aber das war nicht nötig. Unsere Schilde boten ausreichend Schutz. Außerdem wollten wir unsere friedliche Absicht demonstrieren. Wir hätten unsere Waffen nur im äußersten Notfall angewendet.« Der Silberne aktivierte durch Druck auf eine bestimmte Sensorfläche an seinem Gerät das Kraftfeld, das notwendig war, um die Gravobahnen benutzen zu können. Für Cloud und Jarvis war dieses Feld unsichtbar. Für sie war auf der Holosäule in der Zentrale keinerlei
Unterschied zu erkennen. Für Jelto und Scobee jedoch galt dies nicht. Sie sahen plötzlich, dass der Raum um sie herum von Linien durchzogen war, die an die Markierungen eines Laserpointers erinnerten. Diese Linien hatten verschiedene Farben und sehr unterschiedliche Dicke. Die Stärksten hatten den Durchmesser eines menschlichen Fingers, die feinsten waren so dünn wie ein Haar und fast nicht sichtbar. Zusammen bildeten sie ein flimmerndes Geflecht. »Das Feld macht die Gravolinien sichtbar«, erläuterte der Silberne. »Folgt uns jetzt!« Die Merimden wandten sich um und gingen genau wie bei ihrem ersten Verschwinden auf das Ende des Korridors zu. Sie orientierten sich dabei offensichtlich an einer besonders deutlich erkennbaren Gravolinie. »Wo ist unser erstes Ziel?«, fragte Scobee an den Silbernen gerichtet. »Unser Schiff, mit dem wir einst hierher kamen. Aber nun schweig und konzentriere deinen Geist! Dein Bewusstsein wird voll und ganz damit beschäftigt sein, die verwirrenden Eindrücke zu verarbeiten, die gleich auf dich einstürzen werden. Aber keine Sorge, du wirst dich daran gewöhnen. Es ist nicht gefährlich. Nur ungewohnt.« Scobee sah die Wand vor sich auftauchen, aber sie verschwamm im Lichtgeflimmer der Gravolinien. Für Cloud und Jarvis wurden sie jetzt transparent und später unsichtbar. Scobee hatte das Gefühl, zu fallen. Unbeschreibliche Kälte umgab sie. Selbst ihr Druckanzug schien dagegen nichts ausrichten zu können. Sie schwebte im freien Raum. Die Sterne der nahen Großen Magellanschen Wolke funkelten über ihr, waren jedoch nur schlecht zu erkennen. Denn auch hier draußen war der Raum durchzogen von einem wahren Gewirr bunter Linien, deren
Geflecht Ähnlichkeiten mit einem feinen Spinnengewebe hatten. In ihrer Nähe bemerkte sie den Silbernen und Jelto. Etwas weiter vor ihr waren die anderen fünf Merimden. Sie alle verharrten regungslos und ließen sich einfach eine starke, rote Linie entlang treiben. Die Sterne schienen sich zu bewegen, ihr Licht wurde verzerrt. Im nächsten Moment begriff die GenTec-Matrix, dass in Wahrheit sie selbst es war, die sich bewegte. Ein Tunnel aus Licht und verzerrten Formen umgab sie. Auch den Silbernen und Jelto nahm sie jetzt vollkommen verzerrt wahr. Zeitweilig hatte sie den Eindruck, die beiden von allen Seiten gleichzeitig sehen zu können. Raum-Zeit-Effekte, durchzuckte es sie. Alles um sie herum verschwamm jetzt zu einem vollkommen unübersichtlichen Durcheinander aus Farben, Formen und Licht. Alles drehte sich wie in einem Strudel, dessen Sog sie mit unwiderstehlicher Kraft anzog. Das Gefühl der Kälte verstärkte sich. Dann glaubte sie, dass sie etwas durchstieß. Eine Barriere. Oder die Außenhülle eines Raumschiffs... Wenige Augenblicke später normalisierten sich ihre Eindrücke wieder. Der Strudel aus Lichtern und Farben löste sich auf. Die Gravolinien wurden wieder erkennbar. Sie waren stark gekrümmt, normalisierten sich aber innerhalb weniger Augenblicke. Scobee spürte festen Boden unter den Füßen. Jelto und der Silberne hatten wieder ihre gewohnten Konturen. Dasselbe galt für die anderen Merimden. Scobee wechselte einen kurzen Blick mit dem Florenhüter. Seinem Gesichtsausdruck nach schien er verwirrt zu sein. Sein bronzefarbenes Gesicht entspannte sich jedoch zusehends. »Eine seltsame Art zu reisen«, sagte er. Sie ließen den Blick schweifen. Ein wuchernder Dschungel
umgab sie. Unterschiedlichste Geräusche erfüllten den Raum. Stauden mit mannshohen Blättern rankten sich an dicken Baumstämmen empor. Scobee schaute nach oben. Dass dies kein planetarer Urwald war, konnte man an der künstlichen Deckenbeleuchtung erkennen. Zweifellos befanden sie sich in einem Innenraum, nicht auf einer Planetenoberfläche. »Eure Anzüge zur Lebenserhaltung sind hier überflüssig«, erklärte der Silberne. »Die Atemluft entspricht beinahe exakt den Werten, die auf eurem Schiff herrschen. Ihr könnt eure Helme öffnen.« Der Silberne ging mit gutem Beispiel voran und öffnete das Kopfteil seines eigenen Anzugs. Jelto zögerte keinen Augenblick. Er deaktivierte den aus einer Energieblase bestehenden Helm. Scobee folgte seinem Beispiel. Hitze schlug ihnen beiden entgegen. Die feuchte Hitze eines tropischen Dschungels. Jelto war überwältigt. »Welch ein Anblick!«, stieß er hervor. Er berührte vorsichtig einen der Baumstämme, so als fürchtete er, diesem Baum durch eine unbedachte Berührung irgendwelche Schmerzen zuzufügen. Dann schloss er die Augen und sog die schwere Waldluft in sich auf. »Ihr hättet auch den Weg von eurem Schiff hier her ohne eure Schutzanzüge zurücklegen können«, sagte der Silberne. »Nach allem, was wir über eure Spezies bisher in Erfahrung bringen konnten, müsstet ihr in der Läge sein, für etwa zwei Minuten die Luft anzuhalten, ohne Hirnschäden zu erleiden.« »Länger dauerte der Weg nicht?«, fragte Scobee erstaunt. »Nein.« »Subjektiv hatte ich ein ganz anderes Empfinden.« »Bei der Rückkehr zu eurem Schiff kannst du es anhand eines Chronometers überprüfen.« Der Merimde deutete mit
zwei seiner Extremitäten in Jeltos Richtung. »Dein Begleiter scheint ein besonders enges Verhältnis zu Pflanzen zu haben.« »Das ist richtig.« »Warum ist euer Kommandant nicht mit uns gekommen?« Zweifellos sprach der Merimde von Cloud. Über die wahren Machtverhältnisse an Bord der RUBIKON musste Scobee ihr Gegenüber natürlich so weit es ging im Unklaren lassen. »John Cloud, unser Kommandant, hielt es für angebracht, selbst an Bord unseres Schiffes zu bleiben«, antwortete sie. »Misstraut er uns?« »Er hat dafür gesorgt, dass die Roboter euch nicht mehr beschossen haben«, gab Scobee zu bedenken. Der Silberne schien sie einige Augenblicke lang zu mustern. Seine Lippenfühler bewegten sich leicht. Geräusche waren rings um sie herum zwischen dem dichten Unterholz zu hören. Wie Scobee bemerkte, bedeckte weiche dunkle Erde den Boden. Erde, die voller Leben war. Kleintiere krochen daraus hervor. Wesen, die aussahen wie handgroße Asseln huschten über den Boden. Eines der großen Blätter bewegte sich plötzlich, schnappte nach ihnen und fing ein gutes Dutzend dieser Krabbeltiere. Das Blatt schloss sich um die gefangenen Riesenasseln, faltete sich dabei zusammen und vollführte pulsierende Bewegungen. Ein schmatzender Laut drang an Scobees Ohren. »Ihr braucht euch keine Sorgen zu machen«, sagte der Silberne. »Die fleischfressenden Pflanzen dieses Dschungels haben eine gentechnisch sehr eng begrenzte Nahrungspalette. Schließlich möchte niemand von uns von ihnen angegriffen werden, wie du verstehen wirst.« »Sicher.« Weitere Merimden kamen jetzt aus dem dichten Unterholz hervor. Sie begrüßten die Ankömmlinge durch kreisende Bewegungen der ersten beiden Extremitätenpaare und mit
schnarrenden Lauten, die sie mit Hilfe ihrer Lippenfühler erzeugten. Jelto und Scobee wurden einer neugierigen Musterung unterzogen. Der Florenhüter schien das jedoch kaum wahrzunehmen. Er berührte eine Pflanze nach der anderen und schien auch vor den fleischfressenden Exemplaren keinerlei Scheu zu kennen. Für ihn muss dieser Ort wie das Paradies anmuten, dachte Scobee. Die Ähnlichkeit zu dem wuchernden Urwald aus außerirdischen Pflanzen um die Pekinger Getto-Zone herum, für deren Pflege er erschaffen worden war, konnte man kaum übersehen. Ein verklärtes Lächeln kennzeichnete Jeltos Züge. Scobee zweifelte nicht daran, dass er mit diesen Gewächsen längst in eine Art mentalen Kontakt getreten war. »Dies ist ein Ort voller Leben!«, stieß der Florenhüter geradezu überwältigt hervor. »Es ist... als ob sie auf mich gewartet hätten.« »Wir haben diesen Dschungel zur Nahrungsmittel- und Sauerstofferzeugung angelegt«, sagte der Silberne. »Er füllt nahezu das gesamte Innere unseres Raumschiffs aus, das wir BRANAKAT nennen.« Ein Begriff, für den offenbar selbst das ausgesprochen leistungsfähige Translatorsystem der Merimden keine Entsprechung kannte. Ein Schatten verdeckte jetzt teilweise das Kunstlicht, das aus verschiedenen Quellen an der Decke des hallenartigen Raumes auf den wuchernden Dschungel hinab schien. Eine quadratische Plattform mit einer Seitenlänge von ungefähr fünf Metern senkte sich herab. Sie wurde offenbar durch ein Antigravfeld getragen. In einer der Ecken befand sich ein quaderförmiges Aggregat, an dem mehrere Kontrolllampen leuchteten.
»Wir Merimden sind es gewöhnt, unseren Weg durch den Dschungel zu finden. Die Zustände hier ähneln denen auf unserer Heimatwelt. Unsere Physiognomie ist dafür geeignet, die Freiräume dicht über dem Boden zu nutzen und unter den Blättern und Sträuchern hindurch zu kriechen, was man von eurer Spezies nicht gerade sagen kann.« Scobee lächelte. »Daher also das Angebot eines bequemeren Transports?« »Der Antigrav-Transporter wird euch in unsere Zentrale bringen. Und ich begleite euch natürlich.« Der Silberne stieg auf den Transporter und forderte Scobee und Jelto mit einer Geste seiner mittleren Extremitäten auf, es ihm gleich zu tun. Scobee folgte dem Beispiel des Merimden sofort, Jelto löste sich jedoch nur zögernd von einer dornigen Staude und trat dann an den Antigrav-Transporter heran. »Wie weit ist es bis zur Zentrale?«, fragte der Florenhüter. »Für einen Merimden ist es ein kurzer Weg. Für einen Angehörigen eurer Spezies jedoch ist der Dschungel vielleicht unüberwindbar.« »Ich möchte trotzdem gerne den Weg durch den Wald nehmen«, sagte Jelto fest entschlossen. »Hier sind so viele Pflanzen, die ich nicht kenne. So viel Neues...« Er blickte die GenTec an. »Ich höre ihre Stimmen. Die Stimmen all der Pflanze n. Sie rufen mich und heißen mich willkommen, Scobee.« Er wirkt glücklich, dachte sie. »Du kannst meinen Begleitern folgen«, sagte der Silberne freundlich. »Aber sei gewarnt. Der Weg ist beschwerlich!« »Nicht für mich«, widersprach Jelto. »Dann habe ich nichts dagegen einzuwenden.« Scobee schluckte. Der Enthusiasmus, mit dem Jelto diesen Wald betrachtete, beunruhigte sie. Dennoch lächelte sie den Florenhüter an. »Dann bis
später...«
Boreguir kehrte zu seinem Begleiter zurück. Dieser kauerte noch immer in der Ecke. Über weite Zeitspannen hinweg war er bewusstlos gewesen oder hatte nur vor sich hin gedämmert. Boreguir hatte ihm immer wieder etwas von seinen eigenen spärlichen Vorräten angeboten, aber der Mann hatte nichts davon genommen. Vielleicht war er selbst dafür bereits zu geschwächt. »Die Gefahr ist vorüber«, sagte der Vergessene an den Mann gewandt. Er nahm zumindest an, dass es sich um einen Mann handelte. Vollkommen sicher konnte er da bei seiner mangelhaften Kenntnis der geschlechtsspezifischen Unterschiede unter den Angehörigen von Jarvis' und Resnicks Art nicht sein. Der Mann erwiderte etwas, doch wie immer waren es nur unverständliche Laute. »Du brauchst dringend Hilfe, das habe ich inzwischen begriffen«, sagte Boreguir. »Aber wir werden bedroht. Vielleicht war es ein Fehler, dich aus der Erstarrung in dem Harzblock herauszuholen und aufzuwecken. Aber ich kann es jetzt nicht wieder rückgängig machen.« Der Mann sah ihn nur mit großen, tief liegenden Augen an. Dann legte er sich auf den Boden und schloss die Augen, so als wollte er schlafen. Boreguir hockte sich neben ihn und fasste ihn bei der Schulter, schüttelte ihn. »Nein, jetzt ist nicht die Zeit, um sich niederzulegen. Oder willst du von den Spinnenartigen entführt werden?« Der Mann atmete flach.
»Wir müssen hier möglichst bald weg, sonst werden sie uns fangen. Und wer weiß, was dann mit uns geschieht...« Der Mann hatte die Augen wieder geöffnet. Sein Blick war müde und kraftlos. Vollkommen kraftlos. Ich werde ihn nicht im Stich lassen, dachte Boreguir. Um meiner Ehre willen! Boreguir machte eine Faust und klopfte sich damit gegen den Brustkorb. »Boreguir!«, sagte er und wiederholte seinen Namen noch zweimal. Dann berührte er die Brust des Mannes. Sein Gegenüber verstand. »Nathan Cloud«, sagte seine heisere, entsetzlich schwache Stimme. Er deutete auf den Vergessenen und wiederholte dessen Namen »Boreguir.« »Ja, ich bin Boreguir. Und du bist Nathancloud.« Er sprach es so aus, als ob es ein einziges Wort wäre. »Das ist doch ein Anfang, Nathancloud. Und jetzt steh auf, wir müssen von hier verschwinden!« »Boreguir!«, antwortete Nathan Cloud, ohne sich zu rühren. »Komm jetzt, Nathancloud! Sonst fangen uns diese Spinnenmonster. Sie sind hartnäckiger als die erbarmungslosesten Jäger meiner wilden Heimat. Los jetzt!« Er griff Nathan Cloud unter die Arme, hob ihn hoch. Es war, als würde er einen Sack in die Höhe stemmen. Der Mann machte nicht einmal Anstalten, selbstständig aufzustehen. Boreguir schaffte es schließlich, Nathan Cloud aufzurichten. Schwankend blieb dieser gegen die Wand gelehnt stehen. »Mit meiner Hilfe wirst du es schaffen«, versprach Boreguir. »Aber wir dürfen nicht mehr allzu lange zögern, sonst haben sie uns!« Er bückte sich kurz, um die wenigen Vorräte an sich zu nehmen, über die der Saskanenkrieger verfügte. Wenig später gingen sie beide den Korridor entlang, der von
dem hallenartigen Raum wegführte, in dem Boreguir die beiden Spinnenartigen ausgeschaltet hatte. Der Saskane hatte Cloud einen Arm um die Hüfte geschlungen, um ihn zu stützen, seine andere Hand umfasste den Griff des Herzblut-Schwertes. Cloud schlurfte neben ihm her, den Blick starr geradeaus. Wir sind unsichtbar. Wir sind vergessen. Nathancloud und ich. Niemand kennt uns. Niemand erinnert sich an uns. Nathan Cloud blieb plötzlich stehen. »Was ist?«, fragte der Saskane. Der Mann antwortete ihm in seiner Sprache. Boreguir verstand nur ein einziges Wort – seinen Namen. Einen Kampfgefährten hatte ich mir gewünscht. So wie Resnick. Oder Jarvis... Der Saskane versuchte immer wieder, Nathan Cloud voranzutreiben, aber die Kräfte des Mannes schienen immer mehr zu schwinden. Zeitweilig trug Boreguir ihn auf der Schulter, wobei er seine Rückenstacheln einfahren musste, um Nathan nicht zu verletzen. Er gelangte in immer entlegenere Regionen der Marsstation, deren eigentlichen Sinn Boreguir nicht erfassen konnte. Für ihn war nur ein Kriterium wichtig. Es musste genügend Deckung vorhanden sein, um sich zu verstecken. Die, die überall ist, folgt uns weiterhin, war ihm klar. Auch für das Vorhandensein dieser Macht hatte er nicht die geringste Erklärung. Er wusste nur, dass sie vorhanden war und hinter allem steckte, was ihm zurzeit widerfuhr. Die Aktionen der Spinnenartigen waren zu koordiniert, als dass Boreguir die Möglichkeit in Betracht ziehen konnte, sie hätten autonom gehandelt. Das schloss er aus. Irgendwo im Hintergrund gab es eine Macht, die ihn suchte, die ihn jagte und zur Strecke bringen wollte. Er war entschlossen, alles dafür zu tun, alles zu wagen, um das zu verhindern. Der Katze nartige brachte Nathan Cloud in einen weiteren
hallenartigen Raum, in dem sich containerartige Behälter aus einem unbekannten Metall befanden. Deren Oberfläche war glatt. Bei einigen dieser bis zu zehn Meter langen und etwa zwei Meter fünfzig hohen Container standen die Zugangsschotts offen. Die meisten waren jedoch geschlossen und ließen sich von ihm auch nicht öffnen. Außerdem fanden sich immer wieder etwa mannshohe zylinderförmige Behälter unbekannten Inhalts. Einige wenige von ihnen waren umgestürzt. Boreguir brachte den bewusstlosen Nathan Cloud in eine Ecke und setzte ihn dort ab. Der Saskane versuchte vergeblich, ihn zu wecken. Ob die Lebensfunktionen des Mannes Anlass zur Besorgnis gaben, vermochte er nicht wirklich zu beurteilen. Dazu war er einfach zu schlecht über den Metabolismus dieser Spezies informiert. Immerhin spürte er ein Pochen, links oben im Oberkörper des Mannes. Boreguir hielt das für ein gutes Zeichen. Seine eigene Art besaß insgesamt drei Organe, die ähnliche Impulse von sich gaben und die Aufgabe hatten, das Blut zirkulieren zu lassen. Möglicherweise besitzt auch dieser Mann drei Blutpumpen – und zwei von ihnen sind bereits ausgefallen!, überlegte der Saskanen-Krieger. Jedem Gegner hätte er die Stirn bieten oder dafür sorgen können, dass man ihn vergaß. Aber was den Gesundheitszustand von Nathan Cloud anging, so fühlte sich Boreguir nahezu ohnmächtig. Ein Gefühl, das ihn schier rasend machte. Er fühlte sich Nathan Cloud gegenüber verpflichtet. Schließlich war es Boreguir gewesen, der ihn aus seiner Erstarrung im Harzblock befreit hatte. Eine Entscheidung, die der Katzenartige mit jedem Augenblick mehr bereute. Die Treue eines Freundes ist einer der wichtigsten
Grundsätze im Leben eines Kriegers, dachte er. Dieser Angehörige von Jarvis' und Resnicks Spezies konnte sich seiner Loyalität gewiss sein. Boreguir setzte sich neben den Bewusstlosen. Das HerzblutSchwert legte er neben sich. Er atmete tief durch, und die Anspannung wich ein wenig aus seinem Körper. Doch sofort war er wieder alarmiert. Für den Bruchteil eines Augenaufschlags glaubte er etwas zu sehen. Etwas Winziges, Schwarzes. Aber seinem sehr scharfen Blick war es nicht entgangen. Ein Insekt? Dann wäre es das erste Tier gewesen, das er hier gesehen hatte. Also war das unwahrscheinlich. Was war das?, durchzuckte es ihn. Jeder Muskel, jede Sehne seines Körpers waren jetzt angespannt. Die rechte krallenbewehrte Hand befand sich bereits am Schwertgriff. Der einzige Grund dafür, Feofneer nicht sofort in beide Hände zu nehmen, um kampfb ereit zu sein, war die Tatsache, dass Boreguir die Klinge nicht vom Boden aufheben konnte, ohne dabei ein Geräusch zu verursachen. Was habe ich da gesehen? Aufgewirbelten Staub? Vielleicht verfolgte die geheimnisvolle allumfassende Macht, die die gesamte Station und vor allem die Bereiche außerhalb beherrschte, jetzt eine neue Strategie, um ihn zu fangen. Die Spinnenartigen, die zweifellos ebenfalls im Dienst dieser Macht standen, hatten bisher keinen Erfolg gehabt. Es war also an der Zeit, andere Mittel zu verwenden. Der vergessene Saskane kauerte vollkommen regungslos da und lauschte. Seine Augen suchten mit äußerster Aufmerksamkeit die Umgebung ab. Die Beleuchtung hatte ein niedriges Helligkeitsniveau, verglichen mit anderen Sektionen der Station. Aber im Verhältnis zu den dunklen Nächten auf Saskan war das Licht sehr hell. Und der katzenartige Krieger war es gewohnt, des Nachts auf die Jagd zu gehen.
Boreguir wartete ab. Alles, was er hörte war das Atmen seines Gefährten Nathan Cloud. Kann es wirklich sein, dass ich mich getäuscht habe?, fragte er sich. Boreguir hätte gerne geglaubt, dass es so war. Aber der untrügliche Instinkt eines Kriegers sagte ihm, dass die Gefahr unmittelbar in der Nähe lauerte. Sein Blick blieb an einer bestimmten Stelle an der Wand haften. Etwas kam daraus hervor. Kleine schwarze Punkte. Wie winzige Insekten wirkten sie. Sie quollen einfach aus der Wand, sammelten sich zu Schwärmen. Unvorstellbar winzig musste jedes einzelne dieser Insekten sein – dafür hielt Boreguir das, was er sah. Er war unwillkürlich an die Insektenschwärme seiner Heimat erinnert. Die waren allerdings eher lästig als gefährlich. Was den immer größer werdenden Schwarm an zitternden, wimmelnden, scheinbar chaotisch durcheinander wirbelnden schwarzen Punkten anging, wusste Boreguir sofort, wer sie geschickt hatte. Der große Jäger im Hintergrund. Die geheimnisvolle Macht, die ihn und seinen Gefährten Nathan Cloud zur Strecke bringen wollte. Boreguir zog seine Hand vom Schwertgriff weg. Gegen diesen Gegner würde ihm Feofneer nicht helfen können...
Der Antigrav-Transporter schwebte über den wuchernden Dschungel, dessen Pflanzen allerdings über eine bestimmte Höhe nicht hinauswuchsen.
Scobee wandte sich deswegen an den Silbernen und erkundigte sich, ob die Vegetation des Merimden-Schiffs genetisch entsprechend konditioniert sei. Der Silberne bestätigte dies. »Wir lassen negative Eigenschaften in unserem Dschungel nicht zu. Dazu gehört auch, dass die Pflanzen eine bestimmte Größe nicht überschreiten dürfen, sonst stünden wir vor dem Problem, sie regelmäßig kürzen zu müssen. Aber das wäre ein enormer Aufwand. Dazu fehlt uns auch das nötige Personal.« »Wie viele Merimden gibt es hier an Bord?«, fragte Scobee. »Es sind genau 845. Seit dem Tag unserer Ankunft hat sich diese Zahl nicht verändert.« »Ihr habt euch nicht vermehrt?«, wunderte sich Scobee. »Nein. Fortpflanzung wurde untersagt, weil wir andernfalls sehr schnell in akute Not gekommen wären. Unsere Ressourcen zur Nahrungsmittelerzeugung sowie die Kapazitäten zur Regenerierung von Atemluft hätten bald nicht mehr ausgereicht.« »Dann haben alle jetzt lebenden Merimden die Zeit eurer Ankunft im Sonnenhof miterlebt.« Auch dies bestätigte der Silberne. »Ja, so ist es. Wir sind nun seit 63 Jahren hier. Unsere Lebenserwartung ist aber gemessen an dieser Zeitspanne recht lang, sodass es vorerst keinen Nachwuchs geben wird.« »Ich frage mich, wie viele Jahre das in unserer Zeitrechnung wären.« Scobee erklärte dem Merimden die irdischen Zeiteinheiten. Der Silberne errechnete rasch, dass 63 Jahre etwa 73.000mal so lange war wie die Bedenkzeit von sechs Stunden, die Cloud sich erbeten hatte. »Dann sind das etwa fünfzig unserer Jahre«, stellte Scobee nach einem Moment fest. Der Antigrav- Transporter flog auf eine gewaltige Plattform zu, die sich inmitten der gigantischen Halle befand. Erst aus
der Höhe war das gesamte Ausmaß zu erkennen. Die Pflanzen wuchsen nicht über das Niveau der Plattform hinaus. Ihre Grenze ist anscheinend sehr exakt definiert worden, ging es Scobee durch den Kopf. Auf der Plattform, auf die der Antigrav-Transporter automatisch zusteuerte, befand sich ein quaderförmiger Bau. »Ist das die Zentrale?«, fragte Scobee. »So ist es. Früher wurde von dort aus unser Schiff gesteuert. Heute dient dieses Bauwerk nur noch der Überwachung unserer Lebenserhaltungs- und Energiesysteme.« Der Antigrav-Transporter landete auf der Plattform. Der Merimde rutschte hinunter, hob dann den Vorderkörper und schien die Facettenaugen auf Scobee zu richten. Sie folgte ihm. Als sie neben dem Merimden stand, reichte ihr dessen aufgerichteter Vorderkörper gerade bis zum Kinn. Sie ließ den Blick schweifen. Man hatte von hier aus eine gute Übersicht. Allerdings erstreckte sich diese nicht auf die bodennahen Zonen des Waldes, den die Merimden im Inneren ihres Raumschiffs angelegt hatten. Alles was dort geschah, war unter einem dichten Dach aus Blättern und Geäst verborgen. Hin und wieder drangen Schreie oder knarrende Laute von dort empor. Laute, von denen man nur vermuten konnte, dass sie von Tieren ausgestoßen wurden. Aber ganz sicher war Scobee sich in diesem Punkt nicht. Auch bemerkte sie an mehreren Stellen Bewegungen im Dschungel, die sie ebenfalls zunächst den Aktivitäten von Tieren zuschrieb. Aber das war ein Irrtum, wie sie schließlich feststellte, als sie eine Schlingpflanze von gewaltigem Ausmaß sah, die plötzlich schlangengleich zu einem der Nachbarbaumstämme wechselte, um dort neue Ableger zu bilden. Die Höhe der Plattform beachtete sie dabei ebenso penibel wie ihr Wirt.
»Die Pflanzen, die wir hier züchten, entsprechen in etwa der Vegetation, die wir von unserer Heimatwelt gewohnt waren«, sagte der Silberne. »Mein Volk hat eine enge Verbindung zu Pflanzen. Wie mir scheint, ist das bei den Angehörigen eures Volkes sehr unterschiedlich ausgeprägt.« Der Silberne hatte damit natürlich auf Jeltos Wunsch angespielt, den Weg zur Zentrale zu Fuß und mitten durch das dichte Unterholz zurücklegen zu dürfen. »Ja, das stimmt«, sagte sie. Sie dachte allerdings nicht daran, etwas von Jeltos mentaler Sensibilität jeder Pflanzenart gegenüber zu erwähnen. Dazu bestand kein Anlass. Stattdessen fragte sie: »Bislang hast du weder mir noch meinem Kommandanten deinen Namen verraten?« »Namen?«, echote der Merimde. Sein Übersetzungssystem schien einen Moment ins Stocken zu geraten. Laute drangen jetzt aus dem Gerät am Gürtel hervor, den der Silberne nach wie vor trug. Einige Augenblicke lang verharrte der Merimde wie erstarrt. Scobee spürte Erleichterung, als er endlich antwortete und damit die Spannung löste. »Mit diesem Begriff meinen die Angehörigen deiner Spezies eine Individualbezeichnung, die unverwechselbar sein sollte und deren Zweck es ist, sich von anderen zu unterscheiden.« »Das könnte man so beschreiben«, stellte Scobee nickend fest. »Wir kennen solche Ind ividualbezeichnungen nicht.« »Wie sprecht ihr euch dann an?« »Mit dem jeweiligen Rang, den ein Individuum in der Gemeinschaft einnimmt«, erklärte der Merimde. »Ich trage daher die Bezeichnung 1.« »Ich verstehe...« Der Silberne bewegte sich auf die Wand des quaderförmigen Gebäudes zu. Eine Tür glitt selbsttätig zur
Seite. Scobee folgte dem Merimden mit der Rangbezeichnung 1 ins Innere des Gebäudes. Etwa zwei Dutzend Merimden waren in einem großen Raum anzutreffen. Holografische Projektionen zeigten den Sonnenhof. Scobee erkannte sofort die Anordnung der neun dunklen Sonnen, deren Lage besonders markiert war. An den Wänden befanden sich großflächige PanoramaSchirme, und auf einem davon war die RUBIKON zu sehen. Die anwesenden Merimden grüßten ihre Nummer 1 mit kreisenden Gesten. Der Silberne erwiderte diese Gesten und erzeugte außerdem ein schabendes Geräusch mit seinen Beißwerkzeugen. Die merimdische Variante nonverbaler Kommunikation, dachte Scobee. Die Merimden, die an verschiedenen Konsolen ihren Dienst versahen, wandten sich nach dieser Respektsbezeugung wieder ihren Aufgaben zu. »Dies ist unsere Zentrale«, erläuterte der Silberne. »Leider werden von hier aus nur noch die internen Systeme unseres Schiffes gesteuert. Wir haben zwar immer wieder versucht, einen Antrieb zu konstruieren, der unter den Gegebenheiten des Sonnenhofs arbeitet, aber leider waren alle unsere Anstrengungen vergebens.« »Ihr habt die anderen Schiffe erforscht?«, fragte Scobee. »Ja. Es sind Gräber. Einen Teil von ihnen haben wir erforscht und ausgeschlachtet, soweit es uns mit unseren mangelhaften Transportmöglichkeiten möglich war. Der Großteil dieser Schiffe muss schon sehr lange hier zwischen den schwarzen Sonnen gefangen sein. Die Lebenserhaltungssysteme haben zumeist schon vor langer Zeit ihren Dienst aufgegeben. Wir hingegen geben uns alle Mühe, diesem Schicksal zu entgehen.« »Das habe ich gesehen«, gab Scobee zurück.
»Der Wald, über den wir hinweg geflogen sind und der den Großteil unseres Schiffes ausfüllt, stellt ein nahezu perfekt kontrolliertes ökologisches System dar. Es wimmelt zwar von Pflanzen und Tieren, die sich untereinander auffressen und sich gegenseitig für den eigenen Stoffwechsel verwerten, aber wir Merimden betrachten keinen dieser Organismen als gefährlich.« »Was ist mit Jelto?« »Ist das die Individualbezeichnung deines Begleiters?« »Ja.« Der Merimde zögerte mit einer Erwiderung. Schließlich sagte er: »Ich hatte den Eindruck, dass Jelto ein ganz besonderes Verhältnis zum Wald hat. Stammt er ursprünglich aus einer stark bewaldeten Umgebung?« »Ja«, bestätigte Scobee. »Auch für ihn besteht keine Gefahr, sonst hätte ich ihn den Weg zur Zentrale nicht zu Fuß zurücklegen lassen. Die größten tierischen Organismen haben die Größe eurer Greiforgane. Und wie ich bereits erwähnt e, liegt bei den fleischfressenden Pflanzen eine sehr exakte genetische Programmierung vor, was die zur Futterverwertung geeigneten Spezies angeht. Eure Art gehört selbstverständlich nicht dazu.« Der Silberne machte eine Pause. Ein anderer Merimde näherte sich und machte mit Schnalzgeräuschen, die seine Lippenfühler erzeugten, auf sich aufmerksam. Der Silberne wandte sich ihm zu. Beide unterhielten sich kurz, ohne dass Scobee auch nur ein Wort zu verstehen vermochte. Offenbar hat der Merimdenanführer seinen Translator abgeschaltet, wurde es Scobee klar. Sie fragte sich, aus welchem Grund dies geschah. Wenig später berührte der Silberne mit einer seiner oberen Extremitäten einen Sensorpunkt seines Translators. Das Gerät war wieder aktiviert. »Merimde 234 meldete mir soeben, dass
unser Konferenzraum hergerichtet ist. Wenn du mir folgen würdest?« »Natürlich.« Ist das Verhalten des Silbernen ein Grund zum Misstrauen?, fragte sich Scobee. Eigentlich nicht. Wenn die Merimden an Bord der RUBIKON wären, hätten wir sicher auch unsere kleinen Geheimnisse... Bei objektiver Betrachtung hatten die Merimden bisher nicht den geringsten Anlass geboten, ihnen zu misstrauen – aber natürlich tat Scobee dies dennoch... Die GenTec-Matrix folgte dem Silbernen zu einem Antigravschacht. Gemeinsam schwebten sie empor und erreichten einen Raum im oberen Bereich des quaderförmigen Zentralgebäudes. Die Wände waren von innen transparent. Von außen hatte Scobee beim Anflug mit dem Antigrav-Transporter keinerlei Fenster oder Flächen aus transparentem Material erkennen können. Man hatte einen hervorragenden Panoramablick über den Dschungel. »Ich möchte, dass wir unser bisheriges Wissen über den Sonnenhof austauschen, damit wir vielleicht gemeinsam eine Möglichkeit finden, von hier fort zukommen«, sagte Scobee. »Das ist ganz in meinem Sinn«, erwiderte der Silberne. »Ich habe vorhin Merimde 234 angewiesen, einen Chip für euch vorzubereiten, auf dem sich sämtliche von uns bisher über den Sonnenhof in Erfahrung gebrachten Daten befinden.« »Ich hoffe, dass dieser Chip kompatibel ist.« »Da bin ich sehr zuversichtlich.« Scobees Blick wurde zwangsläufig von dem beeindruckenden Panorama gefangen genommen. Sie bemerkte zylinderförmige Roboter, die über den Baumwipfeln schwebten. Ab und zu fuhren sie Teleskoparme und Greifhände aus und pflückten offenbar Früchte aus den
Baumkronen, die anschließend auf Antigrav- Transporter geladen wurden. Eine bizarre Welt für sich, dachte Scobee. Abgeschlossen und auf ein künstlich geschaffenes Gleichgewicht bedacht, das nicht nur für den von den Merimden angelegten Wald galt, sondern auch für die Insektoiden selbst. Seit fünfzig Jahren keine Fortpflanzung, rief sich Scobee ins Gedächtnis. »Unser Schiff war das erste Fernraumschiff, das unsere Spezies in die Weite des intergalaktischen Raums schickte«, berichtete der Silberne. »Du siehst ja, in welchem Desaster unsere Expedition ihr vorläufiges Ende gefunden hat.« »Das klingt resignierend.« »Es ist nur realistisch. In meiner Funktion als Merimde 1 an Bord dieses Schiffes, habe ich die Verpflichtung, der Wirklichkeit ins Auge zu sehen, auch wenn diese Wirklichkeit schwer erträglich ist.« »Als die RUBIKON den Sonnenhof erreichte, fand eine Art Durchleuchtung aller an Bord befindlichen Lebewesen statt«, berichtete Scobee. »Das war bei uns auch der Fall. An Bord eures Schiffes befinden sich zahlreiche Tote einer anderen Spezies.« »Ja, sie kamen mit uns her«, erwiderte Scobee. Eigentlich wir mit ihnen, ging es ihr dabei durch den Kopf. Das Terrain, auf dem sich ihr Gespräch nun bewegte, war heikel. Schließlich wollte Scobee den Merimden auf keinen Fall offenbaren, welche Autoritätsverhältnisse auf der RUBIKON bis vor kurzem geherrscht hatten. »Was geschah mit ihnen?« »Wir wissen es noch nicht genau, aber sie fielen alle der Durchleuchtung zum Opfer.« »Ihr solltet sie konservieren«, sagt Merimde 1. »Konservieren?« Scobee war etwas verwirrt.
Der Silberne war offenbar sensibel genug, um das zu bemerken. »Nun, vielleicht haben wir unterschiedliche Traditionen, was die Behandlung toter Körper angeht«, gestand der Anführer der Merimden schließlich zu. Scobee versuchte, das heikle Gesprächsterrain jetzt zu verlassen. »Die Durchleuchtung ging von einem Objekt inmitten des Sonnenhofs aus. Es scheint sich um eine Art Station zu handeln.« »Das ist korrekt.« »Ihr hattet viel Zeit, um euch innerhalb des Hofes zu bewegen. Habt ihr auch die Station erforscht?« Der Merimde trat an eine Konsole, wo er mit den Greifern seiner mittleren Extremitäten ein Terminal bediente. Ein flimmerndes Kraftfeld wurde in etwa Kniehöhe aktiviert. »Ich glaube, es ist für eure Spezies ebenso unbequem ständig in einer Körperhaltung zu verharren, die die Beine belastet, wie für die meine«, sagte der Silberne. Versucht er jetzt abzulenken?, fragte sich Scobee, sie hatte fast den Eindruck. Der Merimde deutete auf das Kraftfeld. »Das Feld wird sich deinen Körperkonturen anpassen. Du kannst darauf sehr gut entspannen.« Scobee sah keinen Grund, auf dieses Angebot nicht einzugehen. Sie ließ sich vorsichtig auf dem Kraftfeld nieder. Man konnte tatsächlich sehr bequem darauf sitzen. Merimde 1 aktivierte ein weiteres Energiefeld für sich selbst. Es hatte entsprechend größere Ausmaße. Der Silberne streckte seine Extremitäten von sich und erzeugte mit seinen Lippenfühlern ein raschelndes Geräusch, das wohl so etwas wie Wohlbefinden signalisierte. Scobee kam auf ihre Frage zurück. »Was ist mit dieser Station?«, hakte sie nach. Die KlonMatrix hatte nicht die Absicht, locker zu lassen.
»Ich kann dir leider nicht viel darüber sagen«, eröffnete der Silberne. »Habt ihr denn keine Gravo-Läufer dorthin geschickt, um die Funktion dieses Dings zu erforschen?« »Doch, das haben wir. Immer wieder. Diejenigen, die wir damals aussandten, gehören zu den wenigen Toten, die wir in der Zeit seit unserer Ank unft zu beklagen haben. Sie gelangten nicht einmal ins Innere der Station. Irgendetwas hat sie bereits weit draußen abgefangen. Ihre leblosen Körper trieben durch das All... Ein schrecklicher Tod hat sie ereilt, und wir verzichteten schließlich darauf, weitere Expeditionen dorthin zu schicken. Es war einfach aussichtslos.« »Ihr habt keine Ahnung, wer sich dort befindet?« »Wir wissen noch nicht einmal, ob überhaupt Lebensformen an Bord der Station sind, oder es sich nur um einen automatisch arbeitenden Sicherheitsmechanismus handelt.« »Ich verstehe«, murmelte Scobee. Was sie von Merimde 1 gehört hatte, wirkte geradezu deprimierend auf sie. In fünfzig Jahren hatten es die offensichtlich technisch hoch entwickelten Insektoiden nicht geschafft herauszufinden, durch wen die Station gesteuert wurde oder zu welchem Zweck diese gigantische Weltraumhalle überhaupt aufgestellt worden war. Bei unserer scheinbar weitaus geringeren Lebenserwartung werden wir uns wohl kaum so viel Zeit lassen können wie die Merimden, dacht e Scobee. »Es ist wirklich schade, dass euer Kommandant an Bord eures Schiffes so unabkömmlich ist, dass es ihm unmöglich war, dich hierher zu begleiten«, sagte der Silberne jetzt. In Scobee schrillten sämtliche Alarmsignale. Warum zum Teufel kommt er ausgerechnet auf diesen Punkt noch einmal zurück?, ging es ihr durch den Kopf. Aus irgendeinem Grund schien es Merimde 1 sehr wichtig zu sein, mit John Cloud zusammenzutreffen.
»Das werden wir sicher noch nachholen«, wiegelte sie ab. »Gibt es Probleme an Bord, die seine Anwesenheit so unverzichtbar machen?«, hakte der Silberne nach. Daher weht also der Wind!, erkannte Scobee jetzt. Wahrscheinlich hat er mir meine Geschichte, was das Schicksal der Foronen betrifft, nicht ganz abgekauft... »Es gibt keine Probleme, außer jenen, die uns gemeinsam betreffen. Es ist bei uns üblich, dass in Krisensituationen der Kommandant an Bord bleibt und sein Stellvertreter – das bin ich – auf Außenmissionen geht.« »Es freut mich zu hören, dass der Ausfall eines Großteils der Manns chaft kein Problem darstellt. Der Höflichkeit würde es im Übrigen auch entsprechen, wenn eine Delegation von uns auf eurem Schiff offiziell empfangen würde«, setzte der Silberne noch hinzu. »Ich werde mit dem Kommandanten darüber reden«, versprach Scobee. Inzwischen schwebte Merimde 234 erneut von dem unteren Deck über den Antigravschacht in den Konferenzraum mit dem allumfassenden Panoramablick. Scobee erkannte ihn an der Musterung seines Oberkörpers, die recht charakteristisch war. Er trat auf die Klon-Matrix zu und streckte den linken Arm seines mittleren Extremitätenpaars aus. Die Lippenfühler vibrierten und erzeugten damit einen Zischlaut. Die im Verhältnis zum Gesamtkörper recht kleine Greifklaue am Ende des Arms hielt einen etwa münzgroßen Gegenstand aus einem metallischen Material. »Das ist der Chip mit unserem bisherigen Wissen über dieses Raumgebiet«, erklärte Merimde 1 anstelle seines rangniedrigeren Artgenossen. Scobee nahm den Chip an sich. »Ich danke dir.« »Dazu besteht kein Anlass«, sagte der Silberne. »Wenn wir
euch Hilfe leisten, handeln wir im Eigeninteresse.« Scobee blickte verstohlen auf ihr Chronometer. Wo blieb Jelto nur? Dass er die Schwierigkeiten bei der Durchquerung des kurzen Waldstücks unterschätzt hatte, hielt Scobee für nahezu aus geschlossen. Wahrscheinlicher schien es ihr, dass er sich einfach in diesem Pflanzenmeer verloren hatte. Ich hätte ihn bitten sollen, dass er nicht von meiner Seite weicht, dachte sie. Aber vermutlich hätten ihn keine zehn Pferde dort gehalten... Der Silberne betätigte einen Sensorpunkt an einem der Geräte, die er am Gürtel trug. Offenbar handelte es sich um eine Fernbedienung. In der Wand entstand plötzlich eine Öffnung. Ein kegelförmiger Roboter schwebte herein. Er sah genauso aus, wie jene Exemplare, die Scobee in den Baumwipfeln bei der Früchte-Ernte gesehen hatte. Mit insgesamt drei ausgefahrenen Metallarmen trug er ein Tablett, auf dem sich ein grünes Bündel befand. Das Tablett verfügte über ein eigenes Antigravaggregat. Der Roboter ließ es etwa einen Meter von Scobee entfernt im Raum schweben und entfernte sich dann wieder. »Was ist das?«, fragte die Klon-Matrix. Scobee erkannte sofort die Oberflächenstruktur wieder. Die Tattoos über ihren Augen hoben sich. Blätter!, erkannte sie. »Es entspricht der Hö flichkeit, einem Gast Nahrung anzubieten«, erklärte Merimde 1. »Das ist in fast jeder Kultur so und scheint eine Art universelles Gesetz darzustellen. Ich nehme an, eure Spezies kennt ähnliche Verhaltensmuster.« »Ja.« »Dann iss!« »Was ist das?«, wollte Scobee wissen. »Erinnerst du dich an die Tiere, die bei unserer Ankunft aus dem Boden krochen und von einer Pflanze gefangen wurden?« »Ja.«
»Diese Pflanzen sind genetisch so modifiziert, dass sie lediglich die harten, ungenießbaren Panzer der Krabbeltiere mit einem säurehaltigen Saft auflösen und in Nährstoffe umwandeln. Der Rest – das Innere! – wird konserviert. In diesem Zustand ernten wir sie ab! Eine Delikatesse!« Scobee musste unwillkürlich schlucken. Glücklicherweise wusste wohl kein Merimde mit dieser körpersprachlichen Äußerung etwas anzufangen. »Ich hatte nach dem Anblick eures künstlichen Dschungels gedacht, ihr Merimden wärt Vegetarier«, stieß Scobee hervor. »Nein, das sind wir so wenig wie ihr es vermutlich seid. Unseren Scans zufolge hat auch euer Körper einen hohen Eiweißbedarf. Unseren Untersuchungen zufolge, dürfte Angehörigen eurer Spezies diese Mahlzeit gut bekommen. Völlige Keimfreiheit ist garantiert...«
Es war lange her, dass sich Jelto so zufrieden gefühlt hatte. Er folgte den Merimden durch das dichte Unterholz, genoss jede physische Berührung einer Pflanze und lauschte ihren mentalen Impulsen. Ihren Rufen. Zweifellos nahmen sie ihn wahr. Ein Strom von Bildern, Empfindungen, Eindrücken strömte auf Jeltos Bewusstsein ein. Es war beinahe wie früher, als er noch ein Florenhüter auf der Erde gewesen war. Ein Klon, dazu ausersehen, einen wuchernden Pflanzenwald zu hegen und zu pflegen. Auch ihr seid wie meine Kinder!, durchzuckte es ihn. Diese Pflanzen schienen glücklich zu sein. Ein Schwall positiver mentaler Impulse überflutete Jelto auf eine Weise, die er als äußerst beglückend empfand. Dies war kein Vergleich mit dem kleinen, noch jungen Biotop, das er
sich auf der RUBIKON hatte einrichten dürfen. Ja, ich bin hier! Bei euch! Und ich verstehe euch. Alles, was ihr mir sendet, jeden Impuls, jede Regung, jedes Bild, jede Erinnerung... Immer wieder mussten die Merimden, die Jelto begleiteten, anhalten und auf ihren Gast warten, was sie ohne Murren taten. Nur hin und wieder bemerkte Jelto klackernde Geräusche, die von den Insektoiden irgendwo im Inneren ihrer Mundhöhle erzeugt wurden. Auf Jelto wirkte das wie ein Zeichen von Unruhe und Nervosität. »Ihr müsst mich verstehen«, wandte er sich an seine insektoiden Begleiter. »All diese Eindrücke sind neu. Ich bin weit von meinen Kindern, meinem Wald entfernt – und wir haben eine ziemlich lange Reise hinter uns.« »Du brauchst dich nicht zu beeilen«, sagte einer der Merimden. »Es hat niemand etwas dagegen, wenn du dich im Wald so lange aufhältst, wie du möchtest.« »Danke.« »Nur vergiss nicht, dass deine Begleiterin in der Zentrale auf dich wartet...« »Nein, werde ich schon nicht«, murmelte Jelto. Aber genau diese Gefahr bestand. Jelto lauschte erneut den Stimmen. Überall wisperte es um ihn herum. Die Pflanzen hatten ihn akzeptiert und suchten nun ihrerseits den Kontakt mit ihm. Immer wieder blieb Jelto stehen, berührte einzelne Pflanzen mit seinen mentalen Fühlern, oft auch mit seinen Händen, was die Verbindung erleichterte. Du bist es nicht mehr gewohnt, so viele Stimmen zu hören, überlegte er. Für kurze Zeit schloss er die Augen. Die mentalen Stimmen der ihn umgebenden Pflanzen bildeten einen Chor des Lebens. Ein Chor des Glücks und der Verheißung. Aber da war etwas, was den Florenhüter für einen Moment
aufmerken ließ. Er versuchte seine geistigen Fühler noch weiter auszustrecken und es in dem Gewirr der Stimmen genauer zu identifizieren. Irgendwo in diesem Chor ist eine Stimme, die nicht in die Harmonie hineinpasst!, ging es Jelto plötzlich durch den Kopf. Ganz kurz nur hatte er diese Empfindung gehabt. Dann war sie verschwunden, verloren im unendlichen Meer dieser Pflanzenstimmen. Eine Träne im Ozean. Du bist ein Narr, Jelto!, schalt er sich selbst. Es ist alles in Ordnung.
Scobee hatte sich nicht überwinden können, etwas von der angebotenen Mahlzeit zu sich zu nehmen. »Ich weiß dies als Zeichen der Höflichkeit zu schätzen, aber...« Sie stockte. »Aber ihr kennt unseren Stoffwechsel nicht so gut wie wir selbst. Ich möchte nicht wagen, das zu essen, bevor es nicht unsere eigenen Leute auf seine Verträglichkeit untersucht haben.« »Wahrscheinlich werden sich unsere beiden Spezies noch sehr viel näher kennen lernen müssen, ehe wir gegenseitig Missverständnisse vermeiden können«, sagte Merimde 1. Mit Hilfe seiner Fernbedienung rief er den kegelförmigen Roboter herbei, der das »Festmahl« abräumte. Der Silberne sprach dabei von der Möglichkeit eines ständigen Pendelverkehrs zwischen der RUBIKON und dem Schiff der Merimden. »Überlasst ihr uns zu diesem Zweck einige eurer Module, die ihr für die Passage der Gravolinien benutzt?«, fragte Scobee. »Wir wären sogar bereit, für jeden eurer Transferwünsche
einen Lotsen zur Verfügung zu stellen. Die Benutzung dieser Module bedarf einiger Übung, und eure Leute sind nicht daran ausgebildet. Daher ist es besser, ihr reist jeweils mit einem Merimden über die Gravobahnen.« Merimde 234, der so etwas wie der persönliche Adjutant des Silbernen zu sein schien, brachte wenig später Jelto herein. Er wirkte glücklich. »Es gibt in diesem Wald noch so viel zu entdecken«, sagte Jelto. »Es spricht nichts dagegen, bald hier her zurückzukehren«, erwiderte Scobee. Sie erhob sich von dem Energiekissen und wandte sich an Merimde 1. »Ich möchte nun auf unser Schiff zurückkehren, um alles Weitere mit dem Kommandanten besprechen zu können.« Der Silberne erhob sich ebenfalls. Er richtete seinen Oberkörper auf und schnalzte kurz mit seinen Lippenfühler. »Ich werde euch persönlich zurück auf euer Schiff bringen.«
Boreguir legte Nathan Cloud eine Hand auf die Schulter, um ihn zu beruhigen. Doch das war offenbar ohnehin nicht nötig. Der Mann schien zu schwach zu sein, um sich zu regen. Der Saskane sagte nichts, konzentrierte sich stattdessen. Der wimmelnde Schwarm aus schwarzen Punkten näherte sich. Die seltsamen winzigkleinen Insekten durchdrangen die Wände der containerähnlichen Behälter, als wären sie gar nicht vorhanden. Sie hinterließen keine Spuren. Der wimmelnde Schwarm schwebte auf Boreguir und Nathan Cloud zu. Etwas derartiges hatte Boreguir schon einmal gesehen. Kurz nachdem die Marsstation durch unerklärliche Kräfte an einen
anderen Ort versetzt worden war, hatte Boreguir sehr vorsichtig versucht, die Station zu verlassen und die neue Umgebung zu erkunden. Dabei war der Saskane auf ähnliche Schwärme von viel größeren Ausmaßen gestoßen. Unvorstellbar viele Insekten – eine passendere Bezeichnung fiel Boreguir einfach nicht ein – waren damit beschäftigt gewesen, die Station in ihre neue Umgebung einzupassen. Schon wenig später hatte er erfahren, wie schwer es war, diesen Schwärmen gegenüber vergessen zu bleiben. Die allumfassende Macht, die offenbar auch hinter den Spinnenartigen steckte, lenkte sie. Davon war der SaskanenKrieger zutiefst überzeugt. Die schwarzen Punkte umschwirrten jetzt sowohl Nathan Cloud als auch Boreguir. Sie drangen sogar durch sie hindurch. Auch ihre Körper schienen für sie keinerlei Widerstand zu bieten. Boreguir spürte nichts dabei. Sie drangen in seinen Schädel ein, traten durch seine Brust wieder aus. Sie verteilten sich, sodass sie kaum noch sichtbar waren und verdichteten sich anschließend wieder zu dunklen, handgroßen schwarzen Flecken in der Luft. Ich bin nicht da. Wir sind nicht da. Wir existieren nicht. Vergessen sind wir. Niemand sieht uns. Niemand bemerkt uns, auch die allgegenwärtige Macht nicht. Boreguir spürte, dass die schwarzen Punkte ihre Suche noch nicht aufgegeben hatten. Irgendetwas hielt sie hier und verhinderte, dass sie wieder davonzogen und die Gesuchten einfach übersahen. Boreguir hatte keine Ahnung, was es wohl sein mochte, was diese Winzlinge wie ein Magnet anzog. Durchhalten, dachte er. Immer wieder die Erinnerung an die eigene Existenz auslöschen. Ausradieren. Vergessen machen. Vollkommen vergessen machen. Er ahnte, dass er am Ende seiner Flucht war.
Zum ersten Mal erfasste Boreguir Furcht...
Stundenlang schon durchstreifte Jarvis die Korridore und Hallen der alten Marsstation. Irgendwo hier musste sich Boreguir verkrochen haben. Dass er die Station verlassen hatte, um irgendwo in der RUBIKON Unterschlupf zu finden, war laut der KI der SESHA nicht der Fall. Wäre das so gewesen, wäre es ihr nicht dermaßen schwer gefallen, die Spur des Saskanen aufzunehmen. Jarvis war auf ein paar defekte Spinnenroboter gestoßen, die offensichtlich von Boreguir beschädigt worden waren. Bei einem war nur die Optik zerstört worden, was dazu geführt hatte, dass er automatisch abgeschaltet worden war. Jarvis verformte einen Teil seines amorphen Körpers, verflüssigte ihn. So passte er sich an, fand einen Zugang zum Computerhirn des Roboters und drang bis zum Speichermodul vor, das mit der Optik verbunden gewesen war. Das, was dieser Spinnenroboter zuletzt gesehen hatte, musste noch im Speicher sein. Eine rasche Analyse ergab, dass dieser Speicher vollkommen unbeschädigt war. Und doch wurde er gelöscht!, stellte Jarvis fest. Eine andere Möglichkeit war jedenfalls nicht erkennbar. Den Zeitpunkt, da die Optik zerstört worden war, hatte der Steuerchip ordnungsgemäß protokolliert. Die interne Uhr lief fehlerfrei. Das würde bedeuten, dieser Roboter hatte in den letzten zwei Minuten vor der Zerstörung seiner Optik keinerlei Sichteindrücke, überlegte Jarvis. Jedenfalls war der Roboter nicht die erhoffte Informationsquelle. Letztlich konnte er ihm nicht einmal mit
Sicherheit bestätigen, dass es sich bei dem gesuchten Phantom tatsächlich um Boreguir handelte. Jarvis zog sich aus dem Roboterwrack zurück und ging weiter. Bei der Suche nach dem Saskanen hatte er mehrfach die Strategie gewechselt. Inzwischen vertraute er einfach seinen kybernetischen Instinkten, drang hier und da in alte Leitungssysteme ein und versuchte ungewöhnliche Wärmesignaturen oder andere indirekte Hinweise auf die Anwesenheit von Boreguir zu finden. Die physiologischen Parameter des Saskanen kannte Jarvis nicht genau genug, um darauf seine Suche stützen zu können. Dafür waren ihm die Temperaturmerkmale von Nathan Cloud umso vertrauter. Selbst wenn Johns Vater jetzt unter den körperlichen Folgen seines Aufenthalts im Staseblock litt und vielleicht sogar leichtes Fieber hatte, war sich Jarvis sicher, dass er auf diese Weise die größten Chancen hatte, sein Ziel zu erreichen. Jarvis verflüssigte seinen Körper, floss als amorphes Etwas durch einen Lüftungsschacht, tastete Leitungen ab und kam in einem anderen Raum wie ein schwarzes, wimmelndes Gespenst durch die Wand, das sich gleich darauf wieder zu einem pseudohumanoiden Körper zusammensetzte. Da war etwas... Eine energetische Signatur, die Jarvis nur zu vertraut war... SESHA! Ein Schwarm ihrer Nano-Roboter war ganz in der Nähe. Sie sendeten vollkommen widersprüchliche Daten an den Bordrechner. Nur Bruchstücke dieses Kom-Verkehrs konnte Jarvis mitbekommen, schließlich war er kein Teil des Systems der SESHA. Allerdings... Widersprüchliche Daten, die keinen Sinn zu ergeben scheinen, überlegte Jarvis. Aber vielleicht ergeben sie ja Sinn.
Und SESHAs Nano-Roboter haben Boreguir und Nathan Cloud gefunden, ohne es zu ahnen... Jarvis wartete nicht länger. Er hetzte durch die Gänge, schneller als er es als menschlicher GenTec vermocht hätte. SESHAs Schwarm war nicht weit entfernt. Er bog um eine Ecke, rannte einen Gang entlang, vor ihm öffnete sich ein Schott... Kaum hatte er es durchschritten, nahmen auch seine optischen Sensoren den kleinen Schwarm von Nano-Robotern wahr, die etwas umkreisten. Jarvis konnte nicht erkennen, was es war, das sie wie ein Magnet anzog, dabei konnten sie es unmöglich verdecken. Boreguir? Die Nano-Roboter bemerken ihn, der Schwarm näherte sich Jarvis. SESHA, dachte Jarvis. Die Schiffs-KI erkannte ihn. Suche bislang erfolglos, meldete ihm das Schiff. Aber es gibt Anzeichen für die Anwesenheit von Unbefugten. Lass mich die Suche fortsetzen!, forderte Jarvis. Warum?, fragte SESHA. Meine Erfolgsaussichten sind besser, behauptete Jarvis. SESHA fragte nach einer Begründung. Ich kenne das Phantom, erklärte Jarvis. SESHA blieb unnachgiebig. Bis jetzt hat es sich dir trotzdem nicht offenbart. Weil es Angst davor hat, dass du es von deinen NanoRobotern genauso skelettieren lässt, wie seinerzeit die jarovidischen Invasoren, war Jarvis' Antwort. Einige Augenblicke lang geschah nichts. Jarvis erhielt keine Antwort von SESHA, während ihn die Nano-Roboter unruhig umschwirrten. Warum bin ich eigentlich hier?, fragte sich Jarvis plötzlich. Ich bin auf der Suche nach – was...?
Jarvis hatte das Gefühl, soeben aus einem Traum aufgetaucht zu sein, an den die Erinnerung schon im Augenblick des Erwachens verflog. Verzweifelt versuchte Jarvis, das Wissen festzuhalten, das sich zweifellos noch vor einigen Augenblicken in seinen Gedanken manifestiert hatte. Aber es zerfloss, löste sich auf und war auf einmal nicht mehr fassbar. Es blieb die vage Erkenntnis darüber, dass es außerordentlich gewesen war. Da war ein Name. Der Name eines Freundes. Jarvis vermochte nicht, sich zu erinnern. Da erfolgte eine Antwort SESHAs. Ich habe Kontakt mit dem Kommandanten aufgenommen, meldete die KI. Es ist in seinem Sinn, dass du die Suche nach dem Phantom allein fortsetzt. Der Nanoschwarm zog sich zurück, sammelte sich zu einer dichten, schwarzen Wolke und drang anschließend durch die Decke. Innerhalb von wenigen Sekunden waren sämtliche Nano-Roboter der SESHA verschwunden. Jarvis war allein. Er sah sich um. Was hatte er gesucht? Wen hatte er gesucht? Verzweifelt versuchte Jarvis, den vagen Rest seine r Erinnerungen zu reaktivieren. Ein Freund... Warum versteckte sich der Freund? Hast du es nicht gerade SESHA gegenüber erwähnt? Er hat Angst. Todesangst. Jarvis machte ein paar Schritte nach vorne, ließ den Blick in jene Ecke schweifen, in der eben doch die Nano-Roboter geschwärmt waren. Hatte er dort etwas entdeckt gehabt? Jarvis wusste es nicht mehr. Ich suche einen Freund...
Einen Freund von früher? Der GenTec konzentrierte sich und formte seinen neuen Körper so, wie er einst ausgesehen hatte – vor seinem Tod... »Ich bin Jarvis!«, sagte er laut. Für einen kurzen Moment sah der GenTec zwei Gestalten. Sie wirkten wie transparente Projektionen, waren fast nicht zu erkennen. Aber sie waren deutlich genug, um Jarvis ' Erinnerung zu reaktivieren. »Boreguir!«, stieß er hervor. Der Name, der alles zurückholte. Alle Erinnerungen. Das ganze Wissen. Der katzenartige Krieger, der seinen offensichtlich geschwächten Begleiter stützte, blieb stehen, wandte den Blick. Er schien dabei an Substanz zu gewinnen. Jarvis näherte sich vorsichtig. »Boreguir! Ich bin es, dein Freund Jarvis.« »Das ist unmöglich!«, antwortete Boreguir. »Ich habe gesehen, wie Jarvis umgebracht wurde. Du hast ihn ermordet.« Aber er schien sich unsicher zu sein. »Nathan Cloud braucht Hilfe!«, stellte Jarvis fest. »Nathancloud...«, echote Boreguir. »Ich bin Jarvis, auch wenn ich jetzt einen anderen Körper habe.« »Nein!« Boreguir umfasste sein Schwert mit beiden Händen. Der Saskanen-Krieger machte einen schnellen Ausfallschritt. Die Klinge fuhr Jarvis mitten in den Kopf seines amorphen Körpers. Die Nano- Teilchen, aus denen Jarvis' neuer Körper bestand, lösten ihre Struktur auf. Boreguirs Herzblut-Schwert traf scheinbar auf keinerlei Widerstand. Doch als der Saskane die Klinge zurückziehen wollte, rührte sie sich nicht von der Stelle. Stattdessen floss der amorphe Körper an dem Stahl entlang
und bildete innerhalb von Sekundenbruchteilen eine zweite Haut um den Saskanen. Eine Rüstung, wie die Foronen Sobek und Siroona sie getragen hatten. Und John Cloud... Boreguir wehrte sich, versuchte, den ihn umschließenden Panzer zu sprengen. Aber jeder Widerstand war zwecklos. Jarvis kontrollierte jetzt Boreguirs Körper, mochte sich der Saskanen-Krieger innerlich noch so sehr dagegen sträuben. Jarvis stellte eine Verbindung zur Zentrale her. »John, ich habe deinen Vater gefunden.«
Merimde 1 brachte Scobee und Jelto zurück zur RUBIKON. »Wann immer jemand aus eurer Mannschaft das Bedürfnis hat, an Bord unseres Schiffes zu kommen, genügt ein einfacher Funkspruch und ein Lotse wird denjenigen abholen«, versprach der Silberne. »Das wird gewiss nicht lange auf sich warten lassen«, erwiderte Scobee mit Blick auf Jelto. »Ich hoffe, dass wir in Zukunft eine sehr enge Kooperation eingehen«, erklärte der Silberne. »Wir sind aufeinander angewiesen. Das sollte uns bei allem, was wir tun, immer bewusst bleiben.« »Das sehen wir genauso«, sagte Scobee. »Ich hoffe, dass ein offizieller Empfang an Bord eures Raumschiffs bald möglich sein wird.« Dieser Punkt scheint ihm sehr wichtig zu sein, überlegte Scobee. Sonst würde er nicht noch mal darauf zurückkommen. »Ich werde mich persönlich dafür einsetzen«, versprach sie. »Diesen Einsatz wissen mein Volk und ich zu schätzen.« Merimde 1 vollführte wieder die kreisenden Bewegungen
mit seinem obersten Extremitätenpaar. Scobee und Jelto erwiderten diese Geste. Der Silberne drehte sich daraufhin um und verschwand nach wenigen Schritten. Scobee achtete dabei genau darauf, wie er das Transportmodul an seinem Gürtel bediente. »Ich sehne mich schon jetzt nach meinen neuen Freunden«, bekannte Jelto. »Wenn ich dir sage, dass ich dich verstehen kann, wäre das sicherlich übertrieben«, erwiderte Scobee. »Aber du weißt, was ich meine?« »Ja.«
»Du hast meinen Freund Jarvis ermordet!«, sagte Boreguir. »Ich war dabei.« »Ich bin wirklich Jarvis. Ich wurde gerettet und bekam einen neuen Körper«, korrigierte Jarvis den Saskanen. »Diesen Körper. Ich habe überlebt! Mein Bewusstsein... meine Seele lebt jetzt in dieser Hülle weiter, während das Fleisch, das einmal Jarvis war, tot ist.« Jarvis hatte den Saskanen in eine Kabine gebracht, die dem Katzenartigen in Zukunft zur Verfügung stehen sollte. Für den Fall, dass er nicht zur Vernunft kam, würde diese Kabine seine Arrestzelle werden. Jarvis' amorpher Nanotech-Körper hatte sich längst von Boreguir zurückgezogen und wieder seine bevorzugte pseudohumanoide Gestalt gebildet. Der bloße Schatten eines Menschen, wie er es manchmal empfand. Aber er hatte sich inzwischen angewöhnt, den Maßstab des Menschlichen in Bezug auf seine Person nicht mehr gelten zu lassen. Er war kein Mensch mehr, und er hoffte, dass sein Bewusstsein eines Tages mit diesem neuen Körper ebenso verbunden war, wie es
bei seinem alten der Fall gewesen war. Jarvis hielt Feofneer in der Hand. Er hatte dem Saskanen die Klinge weggenommen, damit dieser damit keinen Unsinn anstellte. »Habe ich dir nicht genug über unsere gemeinsamen Erlebnisse berichtet, als dass du mir glauben könntest, Boreguir?«, fragte Jarvis. Der Katzenartige verharrte ruhig. Seine aufmerksamen Augen musterten Jarvis. »Habe ich dir nicht Dinge erzählt, die nur wir beide wissen können? Wir – und Resnick?« »Ja, das ist wahr«, stellte Boreguir schließlich nach einiger Überlegung fest. »Aber wer sagt mir, woher dein Wissen stammt? Wer sagt mir, dass du nicht auch ein Werkzeug der allumfassenden Macht bist, die hier herrscht?« »Die allumfassende Macht wird von einem Mann befehligt, der Nathan Clouds Sohn ist. Du hast ihn bereits gesehen. Dieser Körper war sein Panzer.« »Nathancloud...« »Dir wird hier nichts geschehen«, versicherte Jarvis. »Die allumfassende Macht hat versucht, mich zu töten!« »Weil du ein unbefugter Eindringling warst! Zumindest aus ihrer Sicht. Aber ich habe dafür gesorgt, dass dir nichts geschehen wird.« »Keine spinnenartigen Angreifer?«, hakte Boreguir nach. »Die Spinnenartigen werden dich nicht mehr angreifen. Sie werden dich von nun an verteidigen, wenn es sein muss!« »Ich kann mich selbst verteidigen. Vorausgesetzt, du gibst mir mein Herzblut-Schwert wieder.« Jarvis reichte Boreguir die Klinge. Mit ihr konnte der Saskane gegen ihn sowieso nichts ausrichten. Dieser ergriff sie und umfasste den Griff mit der Linken. »Das Vertrauen eines Freundes«, murmelte Boreguir. »Das Vertrauen eines Freundes«, erwiderte Jarvis.
Boreguir schien einen Augenblick lang nachzudenken. Dann hatte er offenbar eine Entscheidung getroffen. »Ich glaube dir!«, verkündete er mit der Würde eines Kriegers. »In was für einem seltsamen Zauberkörper du auch stecken magst – du bist Jarvis. Ich glaube dir!«
Als Scobee und Jelto die Zentrale erreichten, traf sie dort zu ihrem Erstaunen nur auf Jarvis. »Wo ist John?«, fragte die Klon-Matrix sofort. »Bei seinem Vater«, erklärte Jarvis und berichtete in knappen Worten über das, was sich zuletzt ereignet hatte. »Nathan Clouds Zustand ist sehr ernst«, erläuterte er. »Er leidet unter starken Mangelerscheinungen und ist ohne Bewusstsein. SESHA versucht, ihm in einem ihrer Behandlungszimmer zu helfen.« Wenig später trat John Cloud durch den Türtransmitter. »War dein Vater ansprechbar?«, fragte Jarvis. John schüttelte den Kopf. »Nein. Wir müssen abwarten, wie sich sein Zustand entwickelt.« Scobee überreichte John Cloud den Chip, den sie von den Merimden erhalten hatte. »Auf diesem Datenträger befindet sich sämtliches Wissen, das die Merimden bislang über den Sonnenhof angesammelt haben. Sie gestatten uns, wann immer wir wollen, ihr Schiff zu betreten und streben eine umfassende Kooperation an.« »Dagegen ist nichts einzuwenden. Schließlich wollen wir ja genauso aus dieser Falle heraus wie sie. Gibt es noch weiteres Leben in den Schiffswracks?« »Nein. Alle bisher von den Merimden erforschten Wracks sind Gräber. So drückte sich ihr Anführer aus.« »Gibt es Erkenntnisse über die Station, von der die
Durchleuchtung ausging?«, wollte Cloud wissen. »Alle Merimden, die versucht haben, sie zu betreten, sind tot.« John atmete tief durch. »Wer ist hier eigentlich unser Gegner, Scob?« »Möglich, dass die Erbauer dieser Falle gar nicht mehr leben...« »Das macht sie nicht weniger gefährlich. « »Das ist richtig«, stimmte Scobee zu. »Aber es gibt noch ein anderes Problem.« »Und das wäre?« »Den Merimden scheint ein offizieller Empfang an Bord unseres Schiffes sehr wichtig zu sein. Den Grund dafür kenne ich nicht, aber es könnte sich um eine kulturelle Eigenart handeln. Sie haben zwar nicht gesagt, dass unsere zukünftige Kooperation davon abhängt, aber ich hatte den Eindruck, dass es unserer Situation nur dienen könnte, wenn wir ihrem Wunsch nachkommen.« »Dazu müsste – wie drücke ich mich da aus? – unser kleines Autoritätsproblem erst einmal gelöst sein«, stellte John Cloud klar. »Glaubst du, du bekommst das hin?« »Ich weiß es nicht. SESHA akzeptiert mich vorläufig als Kommandanten, aber ich möchte im Moment noch kein Risiko eingehen.« »Also halten wir die Merimden noch etwas hin«, fasste Scobee zusammen. John nickte. »Ja.«
In den nächsten Standard-Tagen entwickelte sich ein reger Pendelverkehr zwischen beiden Raumschiffen.
Wann immer es verlangt wurde, kam ein merimdischer Lotse und brachte ein oder mehrere Besatzungsmitglieder der RUBIKON II hinüber zum Merimdenschiff. Jelto verbrachte fast die gesamte Zeit im dortigen Urwald. Nur für die Ruhephasen sowie im Schnitt eine Mahlzeit am Tag kehrte er zurück. Die Merimden waren zwar außerordentlich gastfreundlich, aber ihre kulinarischen Errungenschaften schienen mit menschlichen Gaumen – gleichgültig ob geklont oder nicht – einfach nicht kompatibel zu sein. Scobee reiste ebenfalls regelmäßig hinüber zum Schiff der Merimden, hin und wieder begleitet von Jarvis oder Aylea. Nur für John Cloud blieb allein der Anblick auf dem Panoramaschirm in der Zentrale. Der Bildausschnitt zeigte das Schiff der Merimden. Es hatte die Form eines Diskus mit mehreren Auslegern, in denen sich vermutlich die Antriebsaggregate befanden. Die Abmessungen ergaben, dass die große Urwald-Halle beinahe das gesamte Schiff ausfüllte. Regelmäßig ließ sich Cloud von SESHA über den Gesundheitszustand seines Vaters Bericht erstatten. »Du wirst dich etwas gedulden müssen«, erklärte ihm die KI. »Sein physischer Zustand verbessert sich zusehends, aber es wird noch eine Weile dauern, bis er wieder ansprechbar ist.« »Lässt sich etwas über seinen mentalen Zustand sagen?«, fragte Cloud. Er hatte lange gezögert, diese Frage zu stellen, denn er ahnte die Antwort. »Instabil«, erklärte SESHA. Eine nette Umschreibung, dachte John. Verrückt. Geistig zerrüttet. Wahnsinnig. Wären das nicht die viel passenderen Attribute? »Besteht eine Chance auf Wiederherstellung einer«, John zögerte, ehe er weiter sprach, »größeren mentalen Stabilität?« »Zum gegenwärtigen Zeitpunkt sind jegliche Prognosen
vollkommen sinnlos«, belehrte ihn SESHA. Mit anderen Worten: Die Aussichten sind schlecht!, erkannte Cloud. »Und wie ist deine Prognosebereitschaft in Bezug auf Sobek und Siroona?«, fragte John etwas später. Auf diese Frage blieb SESHA ihm die Antwort schuldig...
Für Jelto waren dies Tage, die einem einzigartigen Rausch glichen. Seitdem er die Erde verlassen hatte, hatte er nichts Vergleichbares mehr erlebt. Er durchstreifte stundenlang den Wald an Bord des Diskusschiffs der Merimden. Anfangs schienen die Gastgeber in Sorge darüber zu sein, dass Jelto sich in diesem wuchernden Pflanzenmeer verlaufen oder zu Schaden kommen könnte. Doch sehr bald schon sahen die Merimden ein, dass sie sich in dieser Hinsicht keinerlei Sorgen zu machen brauchten. Sie erkannten schnell, dass sich Jelto in diesem Dschungel wie zu Hause fühlte. Er lauschte den mentalen Stimmen seiner neuen Freunde. Er sprach zu ihnen, nahm ihre Impulse in sich auf und war erfüllt von einem Glücksgefühl, wie er es lange nicht gekannt hatte. Einmal nahm er Aylea mit in den Dschungel. Schließlich war sie seine beste Freundin, und er wollte sie an seinem Glück teilhaben lassen. Nachdem sie sich jedoch an ein paar dornigen Stauden die Beine aufgerissen und ihr eine der fleischfressenden Pflanzen bei der Jagd auf eine Riesenassel mit ihrem durch die Luft schnellenden Blatt unabsichtlich eine schallende Ohrfeige gegeben hatte, war Ayleas anfängliche Begeisterung deut lich abgekühlt. »Jelto, ich möchte wieder zurück auf die RUBIKON!«, bat
das Mädchen schließlich. Mit Jelto konnte sie in seinem Zustand mentaler Entrückung ohnehin nichts anfangen. Oft war er minutenlang überhaupt nicht ansprechbar, weil er seinen Freunden lauschte. Sie hingegen konnte daran nicht teilhaben. »Ich dachte, dass es vielleicht gut ist, wenn du zwischendurch mal etwas anderes siehst, als leere Korridore, in denen tote Foronen herumliegen«, sagte Jelto. »SESHA muss sehr viel zu tun haben, wenn sie die nicht einmal irgendwo aufbahrt. Aber vielleicht denken Foronen darüber auch einfach anders als wir.« »Ja, das mag schon sein«, gestand das Mädchen zu. »Aber das hier ist auch nichts für mich. Nimm's mir bitte nicht übel, Jelto, aber so ist es nun mal.« »Ich verstehe schon«, sagte er. Plötzlich ging ein Ruck durch den Florenhüter. Er stand mit angestrengtem Gesicht und wie erstarrt da. Aylea hatte den Eindruck, er würde lauschen. Irgendetwas scheint nicht in Ordnung zu sein, ging es Aylea durch den Kopf. Seitdem er das erste Mal auf dem Merimdenschiff gewesen war, hatte sie einen derartigen Gesichtsausdruck nicht mehr bei ihm gesehen. »Was ist?«, fragte sie. »Ich dachte...«, murmelte er. Aber er sprach nicht weiter. »Jelto, was ist los?« »Nichts«, behauptete er und lächelte wieder, wenn auch etwas gezwungen. »Ich habe mich wohl getäuscht.« »Wirklich?« »Komm, wir sagen einem der Merimden Bescheid, damit er dich zurück zur RUBIKON bringen kann.« »Ich möchte nicht allein mit dem Merimden über die Gravitationsbahnen reisen«, wehrte Aylea ab. »Dann werde ich dich natürlich begleiten.« »Danke«, seufzte sie.
Nur wenige Stunden später ging Jelto erneut an Bord des Merimdenschiffs. Diesmal in Begleitung von Scobee, die mit Merimde 1 noch weitere Beratungen zu führen hatte. Ein Merimde mit der Rangbezeichnung 465 holte sie ab. Auf dem Diskusschiff angekommen, deaktivierte Jelto sofort die energetische Heimblase seines Druckanzugs und atmete die schwere, von Feuchtigkeit gesättigte Luft ein, die hier herrschte. Eine Luft, die nach Erde und Pflanzen roch. Jelto war jedes Mal aufs Neue begeistert von diesem sinnlichen Erlebnis. Sein eigenes Biotop auf der RUBIKON hatte einfach nicht die nötigen Ausmaße für diese Wirkung. Nicht zu vergessen die mentalen Stimmen seine r Freunde, die ihm entgegenriefen. »Ich finde es erstaunlich, welches Vertrauen uns die Merimden entgegenbringen«, meinte Jelto, bevor ein AntigravTransporter Scobee zur Zentrale des Merimdenschiffs brachte. »Sie lassen uns ohne Beschränkungen ihr Schiff erkunden.« »Ja, das ist sicherlich sehr großzügig.« Scobees Tonfall war jedoch weit weniger euphorisch. Sie hätte sich beispielsweise gewünscht, dass die Merimden mit ihr oder Jarvis einige der benachbarten Wracks besuchten. Scobee hatte Merimde 1 bereits mehrfach darauf angesprochen. Bis jetzt hatte der Silberne diese Anfragen jedoch immer geflissentlich ignoriert oder war ihnen geschickt ausgewichen. Scobee hielt es für möglich, dass erst ein offizieller Empfang auf der RUBIKON II abgewartet werden sollte. Vielleicht würden sich danach diese Schwierigkeiten ganz von selbst auflösen. Der Antigrav-Transporter holte Scobee und ihren
merimdischen Lotsen ab, um sie zur Zentrale zu bringen, während Jelto inmitten des wuchernden Pflanzenmeeres zurückblieb. »Ich werde später zur Zentrale kommen!«, rief er ihr nach. »Einverstanden! Bis dann!«, rief die Klon-Matrix zurück, ehe der Antigrav-Transporter über den Baumwipfeln entschwand. Jelto war jetzt nur noch von Pflanzen umgeben – seinen Freunden. Er lauschte ihren Stimmen, die ihn mit ausgesprochen positiven Emotionen begrüßten. Sie erkannten ihn inzwischen bereits anhand seiner mentalen Impulse wieder und drückten ihre Verbundenheit mit dem Florenhüter aus. Du verstehst. Ja, du bist einer von uns. Jelto antwortete ihnen. Ich bin so froh, euch gefunden zu haben, meine Freunde. Ich hatte einst Kinder, für die ich sorgte. Pflanzenkinder, wie ihr es seid. Ich wurde von ihnen getrennt und hatte sehr darunter zu leiden... Ein Schwall von Bildern, Tönen, Eindrücken strömte in Jeltos Bewusstsein, während er selbst einen ähnlichen Strom an seine Freunde sandte. Vieles von diesen Impulsen war nicht in menschliche Worte zu fassen. Plötzlich stutzte Jelto. Da ist sie wieder. Die Stimme, die nicht in den Chor passt. Die Dissonanz. Jeltos mentaler Sinn war bis auf das Äußerste konzentriert. Als er diese Wahrnehmung zum ersten Mal gehabt hatte, war sie derart flüchtig gewesen, dass er noch geglaubt hatte, sich getäuscht zu haben. Vielleicht war einfach der Wunsch so stark gewesen, dass diese dissonante Stimme nicht existierte, dass er sie einfach weitgehend aus seinem Bewusstsein verbannt hatte. Jetzt lässt sich ihre Existenz nicht mehr leugnen. Nicht mehr wegerklären. Sieh den Tatsachen ins Auge. Hab den Mut dazu,
Jelto! Auch wenn es dir Schmerz bereiten sollte! Jelto streckte seine mentalen Fühler aus, versuchte diese Stimme aufzuspüren. Wie eine Träne im Ozean war sie ihm zunächst erschienen. Aber diesmal war sie deutlicher vernehmbar, ging nicht so leicht im großen Chor der Freunde unter. Wo bist du?, fragte Jelto. Ich will auch dich hören! Schließlich fand er Kontakt zum Ursprung dieser Stimme. Ein Schwall von Bildern, Emotionen und mentalen Impulsen überflutete sein Bewusstsein. Aber diesmal waren es Eindrücke von Tod, Verstümmelung und Schmerz. Gefühle des Schreckens, so intensiv, dass Jelto beinahe selbst unwillkürlich aufgeschrien hätte. Nur einen Bruchteil dieser Eindrücke verstand Jelto überhaupt. Aber dieser Bruchteil reichte schon aus, um ihn bis ins Mark zu treffen. Eine rote Welle des Schmerzes überflutete ihn. Jelto sank auf die Knie. Schweiß brach ihm aus, perlte über seine Stirn. Er schloss die Augen, stöhnte auf. Seine Hände berührten den Boden, krallten sich geradezu in die Erde hinein. Was ist das nur? Die Bilderflut wurde unerträglich. Er zog sich mental zurück. Jeltos Atem ging schwer. Er fühlte, wie ihm der Puls bis zum Hals schlug. Das mentale Negativ- Echo verschwand wieder, wurde aufgesogen vom Ozean der anderen Stimmen. Aber seine Existenz konnte nicht mehr geleugnet werden. Hier stimmt etwas nicht!, durchfuhr es Jelto. So ungern er es sich auch eingestand, aber er hatte in diesem Paradies die Schlange gefunden...
Scobee hatte es sich auf einem der Energiekissen im Konferenzraum des Zentralgebäudes bequem gemacht. Merimde 1 und seine Stellvertreter mit den Rangbezeichnungen 2 und 3 waren anwesend. Scobee hatte Mühe, den Merimden plausibel zu machen, dass ein offizieller Empfang auf der RUBIKON noch nicht möglich sei und versuchte das Gesprächsthema auf ein anderes Gebiet zu lenken. »Wir sollten uns vordringlich darum kümmern, Möglichkeiten zu erörtern, wie wir den Sonnenhof verlassen können.« »Wir tun seit fünfzig Jahren nichts anderes«, beteuerte Merimde 1. »Wenn wir eins in dieser Zeit erkannt haben, dann dies: Es gibt keinen einfachen Weg aus diesem Gefängnis. Wer immer es auch konstruiert haben mag, er hat etwas geschaffen, das auf eine schreckliche Weise perfekt ist.« In diesem Augenblick schwebte Merimde 234, der persönliche Adjutant des Silbernen, über den Antigravschacht herein. Jelto befand sich in seiner Begleitung. Scobee erkannte sofort, dass irgendetwas geschehen sein musste. Das Gesicht des Florenhüters ließ daran keinen Zweifel. Jelto trat näher. »Dieser Mensch bestand darauf, mit unserem Verhandlungspartner zu kommunizieren«, erklärte Merimde 234. Jelto bestätigte dies. »Ich muss mit dir reden, Scobee.« »Hat das nicht Zeit?« »Nein, es ist dringend!« Merimde 1 mischte sich ein. »Nun, vielleicht sollten wir ohnehin eine Pause machen«, schlug er vor. Er machte Merimde 2 und 3 ein Zeichen, das Scobee bisher
noch nicht bei den Merimden beobachtet hatte. Dazu stieß er einen eigenartigen Laut aus, von dem die Klon-Matrix nicht sehen konnte, wie er erzeugt wurde. Offenbar handelte es sich um eine weitere Facette nonverbaler merimdischer Verständigung. »Wir lassen euch allein. Ich empfange im Übrigen gerade ein Signal, das mich in die Zentrale ruft«, behauptete der Silberne an Scobee gewandt. Die Merimden schickten sich an, den Konferenzraum zu verlassen. »Das ist nicht nötig«, sagte Jelto und wandte sich daraufhin an Scobee: »Du musst mit mir in den Wald kommen!« »Aber...« »Bitte!« Sie seufzte und zuckte die Achseln. »Ich werde gleich wieder zurück sein!«, versprach sie an den Silbernen gewandt. »Dann können wir unsere Beratungen fortsetzen.« »Gewiss«, erwiderte dieser. Über einen Antigravschacht gelangten Scobee und Jelto auf den Waldboden. Erst jetzt war für Scobee erkennbar, dass die Plattform, auf der sich das Gebäude der Zentrale befand, offenbar auf Antigravfeldern auf Höhe der Baumwipfel schwebte, aber keinerlei Sockel besaß. Unterhalb der Plattform wucherte das Unterholz. »Was ist los?«, fragte die Klon-Matrix. »Warum, um Himmels Willen, unterbrichst du die Beratung?« »Lass uns erst den Schatten der Zent rale verlassen«, sagte Jelto. »Nun mach es nicht so spannend, und schieß endlich los!« »Nicht hier!« Scobee hörte einen Unterton aus Jeltos Worten heraus, der ihr nicht gefiel. Panik lag in seiner Stimme. Einen Augenblick lang dachte sie über die Möglichkeit nach, dass der Florenhüter den Verstand verloren hatte. Vielleicht war das alles zu viel für
ihn gewesen. Erst der Entzug jeglicher pflanzlicher Kontakte, die zu seiner Versenkung ins erste Korn und zu jeder Menge Chaos an Bord der RUBIKON geführt hatte – und jetzt ein wahres Übermaß an mentalen Impulsen. Das musste doch ein Wechselbad der Gefühle für Jelto sein, wie es dramatischer nicht denkbar war. Scobee folgte dem Florenhüter durchs dichte Unterholz. Glücklicherweise trug sie noch immer den Raumanzug aus SESHAs Arsenal. Er bestand aus extrem reißfestem Material, sodass sie sich keine Schrammen zuzog. Da blieb Jelto plötzlich stehen. Er sah Scobee mit ernstem Blick an, fasste sie bei den Schultern und schluckte, bevor er zu reden begann. »Etwas stimmt hier nicht«, sagte er. »Ich hatte Kontakt zu Pflanzen, die mir schreckliche Bilder übersandten. Bilder von Grausamkeiten, begangen an Wesen, die ich nie gesehen habe! Vielleicht Dinge, die auf anderen Schiffen passiert sind, aber ich denke, die Merimden haben damit zu tun!« »Weißt du das sicher?« »Nein. Ich konnte diese Eindrücke nicht länger ertragen. Scobee, da war so viel Schmerz, so viel...« Jelto sprach nicht weiter. Etwas schwebte ganz in der Nähe und blinkte jetzt im durch das Blätterdach dringenden Licht metallisch auf. »Eine Drohne!«, stellte Scobee beinahe sachlich fest. »Offensichtlich will man uns nicht aus den Augen lassen.« Die Drohne schwebte davon und verlor sich im Unterholz wie ein Insekt, das zum Ökokreislauf dieses bordeigenen Dschungels gehörte. Jelto wirkte einen Moment abwesend wie immer, wenn er mit den Pflanzen kommunizierte. »Sie kommen!«, stellte er fest. Im nächsten Moment hörte Scobee Geräusche im Unterholz
– Äste knackten, Blätter raschelten... Und drei Merimden brachen von verschiedenen Seiten aus dem Unterholz hervor. Jeder von ihnen trug in einem Greifer der oberen Extremitäten eine jener Waffen, wie sie auch der Silberne am Gürtel getragen hatte. Die Mündungen waren auf Scobee und Jelto gerichtet. Wir waren nicht einen einzigen Augenblick lang unbeobachtet!, durchfuhr es Scobee. Sie haben uns beobachtet und belauscht. Und jetzt hatten Jeltos Worte offenbar dazu geführt, dass die Insektoiden die Maske der Freundschaft fallen ließen. Der erste Blasterschuss zischte durch den Dschungel, sengte einige Pflanzen nieder und bohrte sich anschließend in den dicken Stamm eines knorrigen Baumes. Ein verbrannter Geruch verbreitete sich. Scobee warf sich seitwärts. Der eng anliegende Raumanzug behinderte sie kaum in der Bewegungsfreiheit. Die Sauerstoffpatronen stellten keine nennenswerte Behinderung dar. Sie riss Jelto mit sich zu Boden, während ein weiterer Energieschuss dicht über sie hinwegzischte. Meine Freunde!, rief der Florenhüter in Gedanken. Hilfe! Eine über den Boden wuchernde Schlingpflanze bewegte sich blitzschnell und schlang ihre Ausläufer um den Körper eines der Angreifer. Innerhalb von Augenblicken war dieser eingeschnürt und bewegungsunfähig. Gleichzeitig senkten sich plötzlich die Äste einiger Bäume und schlugen förmlich auf die beiden anderen merimdischen Angreifer ein. Ja, kommt mir zu Hilfe, meine Freunde! Ein Chor mentaler Stimmen antwortete ihm. Natürlich konnten ihm nicht alle Pflanzen beistehen, sondern nur die, die sich auch von Natur aus bewegen konnten. Doch von Letzteren gab es genügend. Sie sind auf meiner Seite. Mir kann nichts passieren, ging es
dem Florenhüter-Klon durch den Kopf. Scobee war inzwischen wieder auf den Beinen. Sie kämpfte sich durch das Unterholz, war mit ein paar schnellen Sätzen bei dem eingeschnürten Merimden und riss ihm die Waffe aus dem Greifer. Mit Hilfe von Lippen- und Kiefertastern sowie seiner Beißwerkzeuge machte der Merimde einen gewaltigen Krach. Scobee hob die Waffe, berührte den Sensorpunkt. Ein Energiestrahl schoss aus der Waffe heraus und traf einen der anderen beiden Angreifer. Der Merimde glühte auf und brach zusammen. Kaum war das Leuchten verschwunden, wirkte er völlig unversehrt, doch er rührte sich nicht mehr. Der dritte Merimde hatte inzwischen auf einen der Bäume gefeuert, dessen Angriffe er sich erwehren musste. Jetzt riss der Insektoide seine Waffe herum und schoss einen Strahl in Scobees Richtung ab. Haarscharf ging er daneben. Scobee hatte beinahe im selben Moment ihre Waffe auf den Merimden gerichtet und ebenfalls den Sensorpunkt berührt. Der grellweiße Strahl bahnte sich seinen Weg durch das Gestrüpp, versengte alles, was ihm in den Weg kam und umhüllte schließlich den Körper des Merimden. Der Schutzschirm, den dieser offenbar im letzten Moment noch aktiviert hatte, leuchtete hell auf, ehe er zusammenbrach. Wie widerstandsfähig diese Schilde waren, hatte sich in dem Gefecht gegen SESHAs Spinnenroboter erwiesen. Aber die Strahlwaffen der Merimden schienen keine Schwierigkeiten damit zu haben, diese Schilde zu durchdringen. Jelto erhob sich, starrte auf die beiden leblosen Merimden und rief dann: »Schnell, Scobee! Lass uns von hier verschwinden!« »Einen Augenblick!«, wehrte Scobee ab. Sie beugte sich über den eingeschnürten Merimden. Er hatte bereits mehrere der lianenhaften Pflanzenarme zerrissen, aber Jelto konnte sich
auf seine Freunde offenbar verlassen. Weitere Schlingpflanzen krochen über den Boden und schnürten den Merimden weiter ein. Scobee interessierte sich für seinen Gürtel. Es gelangt ihr, das Modul, mit dessen Hilfe man die Gravolinien entlang reisen konnte, zu lösen und hängte es sich selbst an den Gürtel ihres Anzugs. Die rohrähnliche Strahlwaffe nahm sie in die Rechte. »Los jetzt!«, rief sie, während die Geräusche weiterer Merimden um sie herum die Klon-Matrix aufhorchen ließen. Sie rannten ein Stück durch das Unterholz. Jelto führte sie, und die Pflanzen schienen ihm dabei auszuweichen. Er blieb immer wieder stehen, lauschte dann einige Augenblicke lang und nahm Kontakt mit seinen Freunden auf. Er empfing keine klaren Gedanken von ihnen. Eher assoziative Bilder, Eindrücke, Empfindungen im weiteren Sinn des Wortes. Aber das genügte oft schon, um den jeweiligen Standort der merimdischen Verfolger einigermaßen zu lokalisieren. Mehr als einmal bestimmte der Florenhüter daher eine plötzliche Richtungsänderung. Es war eine wahre Treibjagd, die auf die beiden veranstaltet wurde. Die Pflanzen gaben sich alle Mühe, Jelto – und damit auch Scobee – zu beschützen, und stürzten sich auf die Verfolger. Doch die Merimden hatten sich schnell auf die neue Situation eingestellt und neutralisierten die Freunde des Forenhüters. Über Funk die RUBIKON zu erreichen war nicht möglich. Jedenfalls nicht mit dem in die Raumanzüge integrierten Helmfunk. Scobee versuchte es zwar, aber die Außenhülle des Merimdenschiffs schien sehr gut zu isolieren. Jedenfalls erhielt sie keinerlei Antwort. Sie hetzten weiter durch den Dschungel.
Scobee hatte schon nach sehr kurzer Zeit und mehreren abrupten Kurswechseln vollkommen die Orientierung verloren. Das war zwar ungewöhnlich, schließlich war sie gentechnisch optimiert worden, damit so etwas nicht passierte. Doch es konnte sein, dass die künstliche Schwerkraft und die überall gleichmäßige Beleuchtung ihre unbewussten Sinne verwirrten. Aber sie vertraute auf Jelto. Und dieser ließ sich von seinem Instinkt und den Stimmen seiner Freunde leiten, die offenbar bereit waren, alles zu tun, um zu verhindern, dass die Merimden Jelto und Scobee doch noch zur Strecke brachten. Plötzlich tauchte über ihnen einer der zylinderförmigen Ernteroboter auf. Aus der Höhe der Wipfel ließ er sich hinunter gleiten. Augenscheinlich verfügte er über integrierte Waffensysteme. Energiestrahlen schossen aus einer Öffnung am unteren Ende hervor und verfehlten Scobee und Jelto nur knapp. Mehrere Stauden fingen Feuer. Scobee zögerte nicht länger, sondern holte die Maschine mit einem gezielten Schuss vom Himmel. Der Roboter trudelte wild um sich schießend in das Unterholz hinein, bevor er schließlich dumpf auf dem Waldboden aufschlug. »Das war knapp«, stellte Jelto fest. »Ja«, murmelte Scobee abwesend. Sie blickte kurz auf ihre Waffe. Alles, was sie über die Funktionsweise dieses rohrähnlichen Gegenstandes wusste, war, wie man mit Hilfe des Sensorpunktes einen Schuss auslöste, der im Stande war, die Schutzschirme der Merimden zu durchdringen. Alle anderen Funktionen der Waffe waren ihr unbekannt. Unter anderem auch, wie man die Energiekapazität ablesen konnte. Jeder Schuss konnte der letzte sein. Ein weiterer Gedanke beschäftigte sie.
Sie würden das Schiff ohne Hilfe eines merimdischen Lotsen verlassen müssen. Scobee hatte einem der Merimden zwar das entsprechende Modul abgenommen, und sich bei dem Silbernen abzuschauen versucht, wie es benutzt wurde. Aber trotzdem bestand das große Risiko, etwas falsch zu machen und womöglich mitten im Weltraum zu landen. Doch sie teilte ihre Sorgen mit Jelto nicht. Wortlos hetzten sie weiter, immer darauf bedacht, den bewaffneten Merimden, die jetzt in großer Zahl den Dschungel durchstreiften, nicht gerade in die Arme zu laufen. Plötzlich blieb Jelto stehen. Er räumte vorsichtig ein paar großflächige Blätter zur Seite und berührte dann eine weiße, aus einem metallisch wirkenden, glatten Material bestehende Wand. »Das muss die Außenwandung des Merimdenschiffs sein«, stellte Scobee nüchtern fest. Jelto nickte und wandte den Kopf. Von überall her waren die Geräusche der Verfolger zu hören. So sehr sich diese auch darum bemühen mochten, sich unbemerkt heranzuschleichen – die Pflanzen konnten sie zwar nicht aufhalten, doch sie machten bei ihren Angriffen eine Menge Lärm. Von oben schwebten zwei weitere zylinderförmige Roboter heran. Scobee holte sie mit zielsicheren Schüssen herunter. »Das wird sie nur noch näher heranlocken«, sagte Jelto. »Wir müssen das Schiff verlassen«, bestimmte Scobee. »Komm in meine Nähe, damit du innerhalb des Transportfeldes bist!« Jelto gehorchte wortlos. Sie aktivierten ihre Helme. Die schützenden Energieblasen bildeten sich um ihre Köpfe, die Sauerstoffversorgung war ebenfalls eingeschaltet.
Jetzt betätigte Scobee das Transportmodul, das sie den Merimden abgenommen hatte. Sie berührte den Sensorpunkt, so wie sie es bei den Insektoiden gesehen hatte. Von allen Seiten brachen jetzt bewaffnete Merimden aus dem Unterholz hervor. Sie schossen mit ihren Energiestrahlern alles kurz und klein. Die Pflanzen wurden einfach niedergebrannt, ein übler Geruch breitete sich aus. Aber die Verfolger konnten nur noch zusehen, wie Jelto und Scobee im Einfluss des Transportfeldes transparent wurden und die Außenhülle durchdrangen. Sie traten hinaus in den freien Raum und folgten den Gravitationslinien...
Es herrschte Dunkelheit. Die Dunkelheit eines Grabes. Nicht ein einziger Lichtstrahl erfüllte diese vollkommene Finsternis. »Dies ist nicht die RUBIKON«, stellte Scobee trocken fest. Sie aktivierte die Leuchtfolie an den Schultern ihres Anzugs. Dadurch wurde die Umgebung leicht erhellt, und Jelto folgte ihrem Beispiel. Der Ausschnitt, der von ihrem Licht beschienen wurde, war winzig. Scobee erkannte Stahlverstrebungen, die bereits starke Spuren einer zunehmenden Oxidation trugen. »Wir müssen auf einem der anderen Schiffe gelandet sein, die im Sonnenhof ihr trauriges Dasein fristen«, erklärte Jelto über Heimfunk. Der Florenhüter wollte eine die Umgebung umfassende Bewegung machen und vollführte dabei gleich einen Satz von
mehreren Metern. Er prallte gegen eine der Verstrebungen, fing sich dann aber, während er langsam zu Boden sank. Offensichtlich herrschte hier eine wesentlich geringere Gravitation, als sie es gewohnt waren. Scobee bewegte sich vorsichtiger. »Ich schätze, du wiegst hier nur ein Zehntel deines eigentlichen Körpergewichts«, stellte Scobee mit einem freundlichen Lächeln fest. »Aber ich glaube, das dürfte unser kleinstes Problem in nächster Zeit sein.« Die GenTec war alles andere als optimistisch. Sie wandte sich um. Ihr Lichtkegel schwenkte über das düstere Innere dieses vor sich hin rostenden Raumschiffs. Scobee schluckte. Dies ist also eines der Gräber, von denen Merimde 1 sprach, ging es ihr durch den Kopf. Und wahrscheinlich wird es jetzt durch meinen Bedienungsfehler auch unser Grab... ENDE