L. SPRAGUE DE CAMP UND FLETCHER PRATT
Am Kreuzweg der Welten The Incomplete Enchanter
ERICH PABEL VERLAG • RASTATT (B...
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L. SPRAGUE DE CAMP UND FLETCHER PRATT
Am Kreuzweg der Welten The Incomplete Enchanter
ERICH PABEL VERLAG • RASTATT (BADEN)
hier nun die Fortsetzung und der Schluß des Artikels AMERIKANISCHE WISSENSCHAFTLER ENTDECKEN DAS ANTI-DEUTERON. „Seit der britische Mathematiker Dirac 1928 zur relativistischen Theorie der Elektronen und zur mathematisch ermittelten Notwendigkeit eines positiv geladenen Elektrons kam, des Positrons, folgten bald die Hypothesen über die Denkbarkeit von Antimaterie. 1932 wurde das Positron experimentell nachgewiesen. In den vergangenen Jahren sind Dutzende von Elementarteilchen vorausgesagt und auch gefunden worden. Amerikanische Physiker haben jetzt unter gewaltigem Energieaufwand den ersten zusammengesetzten Atomkern aus Antimaterie hergestellt, das Antideuteron, also den Kern des schweren Wasserstoffes Deuterium, aber aus einem Neutron spiegelbildlich umgekehrter Struktur und einem negativ geladenen Proton. Die Lebensdauer betrug nur den winzigen Bruchteil einer Sekunde. Wo Antimaterie und Materie zusammentreffen, lösen sie sich in reine Energie in Form von Licht, Strahlung oder Wärme auf. Der Nachweis von Antimaterie auch in komplizierterer Struktur eines zusammengesetzten Kerns hat die Vorstellung einer A n t i w e 1 1 aus Atomen, Molekülen und höheren Organismen, die der unseren gleich ist, nur in den elektrischen Ladungen spiegelbildlich verkehrt, zu einem unentbehrlichen Erfordernis der Theorie gemacht. Wollen wir sie uns vorstellen, müssen wir die Konfrontation, den Zusammenstoß mit unserer Welt denken. Da ergibt sich
aus Einsteins Formel, wonach bei der Umwandlung von Masse in Energie die Summe der Energie gleich dem Produkt aus Masse und dem Quadrat der Lichtgeschwindigkeit ist, eine Macht, die alle Vorstellungskraft übersteigt. Wer Antimaterie erzeugen und meistern könnte, was freilich auf dieser Erde der Materie wiederum unausdenkbar schwierig sein muß, der könnte die Schöpfung rückgängig machen, insgesamt oder in Teilen. Albert Einstein soll nach Mitteilung eines Verwandten, die von dem amerikanischen Physiker Dr. Szilard glaubhaft gemacht wurde, vor seinem Tode erklärt haben, er werde angesichts des Gebrauches, den die Politik in Form von Bomben mit der Kernenergie gemacht habe, eine wichtige Erkenntnis aus dem Grenzgebiet von Mathematik und Physik, die ihm 1950 gekommen sei, weder aufschreiben noch irgendeinem Menschen anvertrauen. Sollte er nun doch vergeblich geschwiegen haben?“ Sehr interessant, nicht wahr? Sie sehen also, welche Gefahr Antimaterie für die Erde bedeuten kann, eine noch größere Gefahr beispielsweise, als ein außer Kontrolle geratenes E-Gehirn, das für das Wohl eines ganzen Staates verantwortlich ist. Über DIE GRÖSSENWAHNSINNIGE ELEKTRONIK erzählt Ihnen Garry McDunn in unserem nächsten Utopia-Band 530. Dieser Thriller aus der Welt von morgen wird Sie fesseln. Mit herzlichen Grüßen Ihre Utopia-Redaktion
1. Kapitel Drei Männer und eine Frau waren im Raum. Die Männer hatten ganz alltägliche Gesichter, und zwei von ihnen waren auch alltäglich gekleidet. Der dritte trug Reithosen, halbhohe, derbe Stiefel und eine Wildlederjacke mit Schottenfutter. Ihm gehörten auch noch ein extraleichter Polomantel und ein sportlicher, brauner Filzhut mit grüner Feder, die neben ihm auf einem Stuhl lagen. Der Besitzer dieser theatralischen Ausstattung war weder ein Filmstar, noch ein reicher, junger Müßiggänger, sondern Psychologe und hieß Harold Shea. Dunkel, etwas größer und hagerer als der Durchschnitt, hätte man ihn als gutaussehend bezeichnen können, wäre seine Nase etwas kürzer gewesen, und hätten seine Augen etwas weiter auseinandergestanden. Die Frau – eigentlich das Mädchen – hatte rötlichblondes Haar und war Oberschwester am Garaden Hospital. Sie hörte auf den Namen Gertrude Mugler, mochte ihn aber nicht sonderlich. Die anderen beiden Männer waren, wie Shea, Psychologen; sie gehörten der gleichen Arbeitsgruppe an. Der älteste, der Vorgesetzte der anderen, hieß Reed Chalmers und hatte einen buschigen Haarschopf. Er hatte gerade Shea gefragt, was es, zum Teufel noch mal, bedeuten sollte, in einer solchen Aufmachung zur Arbeit zu kommen. „Ich möchte reiten“, antwortete Shea, „Wenn ich nachmittags weggehe. Ehrenwort.“ „Hast du denn schon jemals auf einem Pferd gesessen?“ fragte das vierte Mitglied der Gruppe, ein schläfrig drein-
schauender junger Mann namens Walter Bayard. „Nein“, gab Shea zu, „aber es ist höchste Zeit, daß ich’s lerne.“ Walter Bayard schniefte verächtlich. „Eigentlich hättest du sagen müssen, du gingest zum Reiten, damit du eine Entschuldigung dafür hast, daß du wie aus dem Esquire entsprungen aussiehst. Angefangen hat’s bei dir damit, als du dir den überspannten englischen Akzent zugelegt hast; dann hast du’s mit Fechten probiert, und im letzten Winter hast du alles mit deinem norwegischen Patentskiwachs vollgeschmiert, bist aber nur zweimal beim Skilaufen gewesen.“ „Na und?“ erwiderte Shea. „Harold, laß dich deiner Kleidung wegen nicht ärgern“, riet Gertrude Mugler. „Danke, Gert.“ „Ich persönlich bin der Meinung, daß du damit einfach süß aussiehst.“ „Hm.“ Sheas Miene drückte recht wenig Dankbarkeit aus. „Aber daß du reiten willst, halle ich für ausgesprochenen Wahnsinn. Da es schließlich Autos gibt, ist das doch absolut überflüssig.“ Shea hob beschwichtigend die Hand. „Dafür habe ich meine Gründe, Gert.“ Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr und stand auf. „Ich muß zum Dienst. Mach keinen Unsinn, Harold Vergiß nicht, daß du mich heute zum Abendessen eingeladen hast.“ „Ah – mhm …“
„Getrennte Kasse, selbstverständlich.“ Shea zuckte zusammen. „Gert!“ „Also dann auf Wiedersehen“, sagte Gertrude und raschelte in gestärkter Baumwolle weg. Walter Bayard kicherte. „Welch ein Mann! Getrennte Kasse!“ Shea versuchte, mit einem Lachen darüber hinwegzugehen. „Ich hab mir solche Mühe gegeben, ihr abzugewöhnen, in der Öffentlichkeit darüber zu sprechen. Jedenfalls verdient sie mehr als ich, und wenn es ihr lieber ist, viermal in der Woche auf eigene, statt zweimal auf meine Rechnung auszugehen – warum nicht? Sie ist ein nettes Mädchen.“ „Sie hält dich für einen besinnlichen Menschen, Harold“, meinte Bayard. „Sie sagte, das Abendessen …“ „Ich verstehe nicht, Harold“, warf Chalmers ein, „weshalb Sie sich – hm – mit einer jungen Frau abgeben, die Sie so herausfordert?“ Shea zuckte die Achseln. „Ich glaube, sie ist die einzige vom ganzen Personal, bei der es mir unmöglich erscheint, irgend etwas Unwiderrufliches zu tun.“ „Und inzwischen wartest du auf das Traummädchen?“ spöttelte Bayard und grinste. Shea zuckte wieder nur mit den Achseln. „Aber das ist es nicht“, fuhr Bayard fort. „Der wirkliche Grund, Doktor, ist der, daß sie sich psychologisch auf ihn gestürzt hat, als er sie zum erstenmal ausführte. Und jetzt hat er Angst, sie aufzugeben.“ „Ich hab gar keine Angst“, widersprach Shea heftig. Er stand auf und fuhr mit überraschend energischer Stimme
fort: „Und außerdem, Walter, kann ich absolut nicht einsehen, was dich das angeht …“ „Na, na, Harold“, begütigte Chalmers. „Mit solchen Temperamentausbrüchen gewinnen Sie gar nichts. Sind Sie denn mit Ihrer Arbeit hier nicht zufrieden?“ fragte er besorgt. Shea beruhigte sich wieder. „Weshalb denn nicht? Wir tun doch ungefähr nur das, was uns, verdammt noch mal, Spaß macht, dank dem Vermächtnis des alten Garaden zugunsten der psychologischen Abteilung dieses Hospitals. Natürlich könnte ich mehr Geld brauchen, aber das geht doch keinem anders.“ „Das ist nicht der Kern der Sache“, erwiderte Chalmers. „Ihre Posen und Ihre Temperamentausbrüche weisen auf einen inneren Konflikt hin, auf eine mangelhafte Anpassung an Ihre Umgebung.“ Shea grinste. „Nennen Sie’s einen unterdrückten romantischen Sinn. Darauf bin ich schon lange selbst gekommen. Schauen Sie, Walt verwendet seine Zeit damit, das Tennisas des Mittelwestens zu werden. Und was hat er davon? Und Gert verbringt Stunden und Stunden in einem Schönheitssalon, um wie eine gestürzte russische Gräfin auszusehen; dafür ist sie aber nicht gebaut. Auch ein romantischer Komplex. Ich ziehe mich lieber an. Na und?“ „Das ist ja ganz in Ordnung“, gab Chalmers zu, „solange Sie Ihre Einbildung nicht selbst ernst nehmen.“ „Wie zum Beispiel die, daß es Traummädchen tatsächlich gibt“, warf Bayard ein. Shea warf ihm einen schrägen Blick zu. „Na schön“, fuhr Chalmers fort, „lassen Sie’s mich wis-
sen, wenn Sie – hm – unter Depressionen zu leiden beginnen. Und jetzt kommen wir zum Geschäftlichen.“ „Weitere Tests mit Säufern?“ fragte Shea. „Nein“, antwortete Chalmers. „Jetzt werden wir über unsere letzten Hypothesen der neuen Wissenschaft sprechen, die wir Paraphysik nennen, und sehen, ob wir das Stadium noch nicht erreicht haben, wo weitere experimentelle Ergebnisse und Bestätigungen möglich sind. Ich habe Ihnen doch schon gesagt, wie ich meine Prämisse nachgeprüft habe, nach der die Welt, in der wir leben, aus Eindrücken, die wir durch unsere Sinne aufnehmen, zusammengesetzt ist. Aber es gibt eine unendliche Zahl möglicher Welten, und wenn es uns gelingt, unsere Sinne auf verschiedene Reihen von Eindrücken einzustellen, müssen wir unfehlbar zu dem Ergebnis gelangen, daß wir in verschiedenen Welten leben. Und hier bin ich nun zu meinem zweiten Ergebnis gekommen, hier, an diesem Hospital, bei meinen Untersuchungen an – hm – Blödsinnigen, in der Hauptsache Paratonikern. Sie“ – er nickte Bayard zu – „haben mich auf die richtige Spur gebracht; es war dieser Bericht über den Patienten mit der Korsakovschen Psychose. Der nächste Schritt wäre der, die theoretischen Daten ins Experiment zu übertragen: das heißt, zu bestimmen, wie Personen und Gegenstände von einer Welt in die andere überwechseln können. Unter den Irren sind die Versuchsobjekte zum Teil unfreiwillige, und mit denen kommt man, psychisch gesehen, zu verheerenden Resultaten. Wenn …“ „Einen Augenblick, bitte“, unterbrach Shea. „Glauben Sie, daß eine vollständig gelungene Übertragung auch den Körper
eines Menschen in eine dieser anderen Welten verschiebt?“ „Sehr wahrscheinlich“, gab Chalmers zu. „Der Körper registriert und verarbeitet alle Eindrücke, die der Geist aufzunehmen fähig ist. Um zu wirklich eindeutigen Ergebnissen zu kommen, wäre es nötig, einen Versuch zu machen; ich weiß aber nicht, ob ein mögliches Resultat das einzugehende Risiko wert ist. Diese andere Welt könnte Gesetze haben, die eine Rückkehr unmöglich machen.“ „Wollen Sie damit sagen“, fragte Shea, „daß, zum Beispiel, in einer Welt der klassischen Mythologie die Gesetze der griechischen Magie statt die der modernen Physik Geltung haben könnten?“ „Genau. Aber …“ „He!“ meinte Shea. „Dann schließt also die neue Wissenschaft der Paraphysik alle Gesetze dieser verschiedenen Welten ein, und was wir ‚Physik’ nennen, ist nur eine einzige Gegebenheit der Paraphysik …“ „Nicht so voreilig, junger Mann“, warnte Chalmers. „Für den Augenblick, denke ich, wäre es weiser, den Aussagewert des Wortes ‚Paraphysik’ auf den Zweig unseres Wissens zu beschränken, der die Beziehungen dieser verschiedenartigen Welten untereinander betrifft. Sie werden sich doch zweifellos daran erinnern, daß der zu großzügige Umgang mit dem Wort ‚Metaphysik’ nur dazu geführt hat, daß man diesen Begriff mit ‚Philosophie’ gleichsetzte.“ „Die“ – führte Shea aus – „von einigen Menschen als Wissenschaft, von einigen anderen als jenseits wissenschaftlicher Erkenntnisse stehend, betrachtet wird, von einigen weiteren jedoch als unwissenschaftlich und keiner Kenntnisnahme wert.“
„Sehr genau ausgedrückt“, bestätigte Chalmers und zog ein kleines, schwarzes Notizbuch aus seiner Tasche. „E. T. Bell hätte das nicht präziser formulieren können. Diese Feststellung über den Status der Philosophie werde ich in meinem nächsten Buch festhalten.“ „He“, fuhr Shea auf, „und ich kriege dafür nicht einmal eine Provision?“ Chalmers lächelte milde. „Mein lieber Harold, es steht Ihnen doch völlig frei, selbst ein Buch zu schreiben; ich möchte Sie sogar ausdrücklich dazu ermutigen.“ Bayard grinste. „Harold zieht es vor, Cowboy zu spielen. Perlen wirft man ja auch nicht wahllos in der Gegend herum. Ich warte, bis ich sie in Druck legen und dafür Geld kassieren kann. Aber um auf unser Thema zurückzukommen – wie würden Sie diese Übertragung vornehmen?“ Chalmers legte die Stirn in nachdenkliche Falten. „Dazu komme ich noch, wenn Sie mir Zeit lassen. Wie ich die Dinge sehe, besteht die Methode darin, den Geist mit allen greifbaren Erkenntnissen und Vermutungen dieser Welt auszufüllen. Nun, und welches sind die grundsätzlichen Erkenntnisse unserer Welt? Offensichtlich doch die der wissenschaftlichen Logik.“ „Wie, zum Beispiel …“, fiel Shea ein. „Ach, der Grundsatz der Abhängigkeit, zum Beispiel. ‚Jeder Umstand, bei dem allein schon ein Fall des Auftretens eines gegebenen Phänomens sich unterscheidet von dem Fall seines Fehlens, ist ursächlich auf dieses Phänomen zu beziehen.’“ „Au weh!“ meinte Shea. „Das ist ja beinahe genauso schlimm wie Freges Definition der Zahl.“
„Die Anzahl von Dingen in einer gegebenen Klasse …“, dröhnte Bayard. „Hör auf, Walter, du machst mich verrückt!“ „…, ist die Klasse aller Klassen, die ähnlich der gegebenen Klasse sind.“ „Hm“, machte Chalmers. „Wenn die Herren mit ihren Späßen fertig sind, werde ich fortfahren. Wird eine dieser unendlich vielen anderen Welten – die, wie man auch heute noch behauptet, nur in einem logischen, nicht aber empirischen Sinn bestehen – von den Gesetzen der Magie regiert, so könnte man damit rechnen, daß der Grundsatz der Abhängigkeit nicht völlig intakt bleibt, daß hingegen die Grundsätze der Magie, wie zum Beispiel das Gesetz der Ähnlichkeit, gültig werden.“ „Und wie lautet das Gesetz der Ähnlichkeit?“ fragte Bayard interessiert. „Das Gesetz der Ähnlichkeit kann etwa so fixiert werden: Wirkungen gleichen den Ursachen. Für uns hat es keine Gültigkeit, aber primitive Völker glauben fest daran. Sie glauben, um nur ein Beispiel zu nennen, daß es regnen wird, wenn sie mit einem angemessenen Simsalabim Wasser auf den Boden gießen.“ „Ich wußte gar nicht, daß Sie die Grundsätze der Magie fixiert haben könnten“, bemerkte Shea. „Aber sicher“, erwiderte Chalmers feierlich. „Die Medizinmänner arbeiten nicht ausschließlich mit Hokuspokus. Sie glauben, daß sie mit Naturgesetzen arbeiten. In einer Welt, in der jeder fest an diese Gesetze glaubt, das heißt, in der alle Gehirne darauf abgestellt sind, die entsprechenden genauen Eindrücke aufzunehmen, bringen die Gesetze der
Magie auch wahrnehmbare Wirkungen hervor, wie man aus den Beschwörungen der Hexenärzte des heutigen Afrika schließen darf. Frazer und Seabrook haben einige dieser magischen Gesetze ausgearbeitet. Ein weiteres Gesetz ist das der Übertragung: Dinge, die einmal miteinander in Kontakt standen, wirken auch auf Distanz nach ihrer Trennung weiter. Wie ihr …“ Shea schnalzte mit den Fingern. „Eine Sekunde, Doktor. In einer Welt, die Sie sich vorstellen, müßten also die Gesetze der Magie wirksam sein, weil die Menschen an sie glauben; oder glauben die Menschen an sie, weil sie wirksam sind?“ Chalmers setzte jenes Lächeln auf, das immer seine intellektuellen Genickschläge begleitete. „Diese Frage, Harold, ist, nach Russells unsterblichem Satz, ein sinnloses Getöne.“ „Nein, das meinen Sie ja gar nicht“, antwortete Shea. „Das ist die Lieblingsausrede aller modernen Erkenntnistheoretiker. Stellt man ihnen eine Frage, die sie nicht beantworten können, dann sagen sie lächelnd, sie sei sinnloses Getöne. Ich glaube aber, daß die Frage vernünftig ist und eine vernünftige Antwort verdient.“ „Oh, aber sie ist wirklich sinnlos“, beharrte Chalmers. „Wie ich sehr leicht demonstrieren kann, entspringt sie Ihrem Versuch, Ihre – äh – begriffliche Struktur auf eine absolute, statt auf eine relative Basis zu stellen. Aber darauf komme ich später noch zurück. Ich möchte nun gern mit meinen Ausführungen fortfahren. Wie ihr wißt, läßt sich eine logische Folge fast auf jeder Reihe von Annahmen aufbauen …“
Bayard öffnete seine halbgeschlossenen Augen und schoß eine scharf gezielte Frage ab: „Hat diese Struktur nicht gewisse Schwächen, Doktor? Mir scheint, Ihre Hypothese würde eine Übertragung in die Zukunft ermöglichen. Wir müßten dann Naturgesetze erkennen, die noch nicht entdeckt, Erfindungen, die noch gar nicht gemacht wurden. Aber natürlich würde die Zukunft unsere Methoden der Übertragung nicht kennen. Deshalb könnten wir mit einer ganzen Liste von Erfindungen in die Gegenwart zurückkehren. Diese in die Gegenwart herübergebrachten zukünftigen Erfindungen wären ein Vorgriff auf die Zukunft und würden sie allein durch diesen Vorgriff ändern.“ „Eine sehr intelligente Überlegung, Walter“, gab Chalmers zu, „aber ich fürchte, Sie haben dabei etwas übersehen. Es könnte tatsächlich möglich sein, eine Übertragung in eine Zukunft zu bewirken, aber es müßte nicht unbedingt die Zukunft sein, die unserer empirisch-positiven Welt entspricht. Man braucht einen geistigen Rahmen für die Zusammenhänge und Beziehungen. Das heißt, wir brauchen eine vollständige Begriffsreihe jener physikalischen Welt, welche die vom Geist empfangenen Eindrücke zu Begriffen verarbeitet. Die Begriffe der Zukunft werden aber das Produkt zahlreicher Faktoren sein, die wir jetzt noch nicht kennen. Das heißt …“ „Ich verstehe“, fiel Shea ein. „Der Rahmen der Begriff und Beziehungen der tatsächlichen Zukunft ist noch nicht gebildet, während die Rahmen der Begriffe aus allen vergangenen Welten bereits festliegen.“ „Genau. Ich würde sogar noch weitergehen. Die Übertragung in eine Welt mit einem derart feststehenden Muster
ist möglich, aber sie ist auch wirklich nur auf solche Welten beschränkt. Das heißt, man könnte sich in jede von H. G. Wells zahlreichen Zukunftswelten übertragen lassen. Dazu brauchen wir nur eine Reihe grundsätzlicher Annahmen auszuwählen. Was aber die tatsächliche Zukunft betrifft – hier kennen wir diese grundsätzlichen Annahmen nicht. Aber spekulative Schlüsse aus den uns vorliegenden spärlichen Tatsachen haben uns – äh – schon halbwegs nach Wolkenkuckucksheim geführt. Wir wollen deshalb lieber in unsere Zeit und Umgebung zurückkehren und uns mit der Entwicklung einer experimentellen Technik befassen, die das Problem der Paraphysik – besser: die Probleme – zu lösen vermag. Denken wir uns sozusagen ein Fahrzeug aus, das uns von einer Welt in die andere versetzt, so sehen wir uns vor die schwierige Aufgabe gestellt, die grundsätzlichen Annahmen und Begriffe der Welt, zum Beispiel die der Ilias, herauszuziehen und sie in eine logische Form zu bringen …“ „Mit anderen Worten“, fiel Shea ein, „wir müssen streng logische Folgerungen in Bewegung umsetzen?“ Einen Augenblick lang sah Chalmers verblüfft drein und lachte dann. „Eine sehr prägnante Ausdrucksweise, Harold. Sie machen viel zu wenig Gebrauch von Ihren Talenten, solange Sie nicht mehr veröffentlichen, das habe ich Ihnen schon oft gesagt. Trotzdem schlage ich vor, den Ausdruck ,streng logische Folgerungen in Bewegung umsetzen’ im Augenblick nur innerhalb unseres Kreises am GaradenInstitut zu verwenden. Ist die Zeit erst reif dafür, unsere Kollegen von der Psychologie von der Wichtigkeit der Pa-
raphysik zu überzeugen, dann könnte eine etwas genauere Ausdrucksweise wünschenswert sein.“ * Harold Shea lag auf seinem Bett, rauchte und dachte nach. Er rauchte die teuren englischen Zigaretten nicht deshalb, weil er sie besonders gern mochte, sondern ganz einfach, weil er seinem Hang zum Ungewöhnlichen frönte. Nun dachte er über Chalmers Ausführungen nach. Zweifellos konnte es gefährlich werden, hatte Chalmers gewarnt. Aber Shea fand das Leben unerträglich langweilig. Chalmers war sicher sehr fähig, aber verstaubt. Könnte man Scharfsinn und Stumpfheit in einer Person vereinigen, dann wäre Reed Chalmers die ideale Kombination. Theoretisch waren alle drei Mitglieder des Instituts Forscher: praktisch aber trugen die beiden Untergebenen nur die Tatsachen zusammen und überließen dem gelehrten Doktor das Vergnügen, sie auszuwerten und in eine Formel zu bringen. Natürlich, überlegte Shea, hatte er selbst auch einigen Spaß an seinen kleinen Verschrobenheiten, aber sie waren nur ein armseliger Ersatz für wirklich aufregende Dinge. Zwar liebte er es, in Reithosen und Stiefeln herumzulaufen, aber das Reiten selbst war eine recht beschwerliche Angelegenheit. Er hatte sich vorgestellt, wie herrlich erregend es sein müßte, in einer Reiterschar zu traben, aber als einziges Ergebnis blieb die Tatsache, daß seine sämtlichen Bekannten ihn für einen Gecken hielten. Laß sie, dachte er, mir macht das nichts aus.
Aber er war ein viel zu guter Psychologe, um sich auf die Dauer selbst darüber hinwegtäuschen zu können. Natürlich lag ihm etwas daran, tiefe Eindrücke zu hinterlassen, aber er gehörte zu jenen Unglücklichen, die mit ihren Methoden genau das Gegenteil von dem erreichen, was sie vorhaben. Zum Teufel, dachte er, es hat doch keinen Sinn, in mir selbst herumzuwühlen und mich zu verzetteln. Chalmers behauptet, es sei zu machen. Diesem alten Langweiler fehlt das Feuer, genau wie damals, als er versuchte, die Putzfrau zu psychoanalysieren; und sie hatte geglaubt, er mache ihr einen Heiratsantrag. Das lag allerdings mehr an einer fehlerhaften Technik, nicht an der Theorie selbst. In der Theorie war Chalmers perfekt, und er hatte auch auf die Gefahren der Anwendung dieser Theorie hingewiesen. Ja. Wenn er behauptete, man könne sich mit einer Formel an einen anderen Ort, in eine andere Zeit versetzen, dann stimmte das auch. Das wäre eine vollkommene Flucht aus – na schön, aus der Bedeutungslosigkeit, gab Shea vor sich selbst zu. Er wäre der Kolumbus einer neuen Art zu reisen! Harold Shea stand auf und begann im Zimmer herumzulaufen; seine Gedankengänge erregten ihn. Die Welt – sagen wir mal – der Ilias zu erforschen! Gefahr: die Möglichkeit bestand, daß man nicht mehr aus ihr zurückkehren konnte, besonders dann nicht, wenn man zufällig zu jenen Söldnern gehörte, die zu Tausenden unter den schimmernden Mauern Trojas starben. Also nicht die Ilias. Das slavische Zwielicht? Nein, zu angefüllt mit menschenfressserischen Hexen und Werwöl-
fen. Irland! Das war’s! Das Irland Cuchulinns und der Königin Maev. Auch hier flog genug Blut, aber, zum Teufel, Abenteuer erlebte man nicht, wollte man jedes Risiko ausschließen. Ein Mensch mit offenen Augen konnte die Gefahren erkennen und mit ihnen fertig werden. Und die Mädchen dieser Welt waren, wie man so hörte, einfach überwältigend. * Es ist durchaus nicht erwiesen, daß Sheas Kollegen eine Änderung in seiner etwas ausgefallenen Art feststellten. Sie hätten wohl kaum etwas dahinter gesucht, daß er seinen Havelock gegen einen Ulster vertauschte, und daß er sich mit Fenier und seinen Legendenzyklen beschäftigte, um sich auf den beabsichtigten „Ausflug“ vorzubereiten. Hätte einer von ihnen plötzlich sein Zimmer betreten, dann hätte er auf seinem Tisch eine Liste mit vielen Radierstellen gefunden; auf dieser Liste waren unter anderem verzeichnet: eine Taschenlampe, eine Pistole und Quecksilberchrom; sie hätten höchstens vermutet, daß Shea eine etwas ungewöhnliche Campingreise vorhabe. Und Shea machte ein viel zu großes Geheimnis aus seinen Absichten, als daß er auch nur einem Menschen die von ihm gewählte, Ausrüstung vorgeführt hätte: einen 38er Colt, reichlich Munition, ein Jagdmesser aus rostfreiem Stahl – derartiges Metall müßten „sie“ auf jeden Fall anerkennen, sagte er zu sich selbst –, eine große Schachtel Zündhölzer, die ihm den Ruf eines Wunderwirkers einbringen sollten, ein Notizbuch, ein gälisches Wörterbuch
und schließlich noch ein Pfadfinderhandbuch, Ausgabe 1926, das einfachste Nachschlagewerk für einen, der in einer primitiven Gesellschaftsform ein Leben im Freien zu führen gedachte. Nach einem ermüdenden Tag, ausgefüllt mit Fragen an Neurotiker, ging Shea nach Hause und nahm ein gutes Abendessen ein. Er zog seine fast neuen Reithosen an und befestigte über seinem Polomantel einen Schulterriemen, der sein Gepäck festhalten sollte. Dann stülpte er den Hut mit der grünen Feder auf den Kopf und setzte sich an seinen Schreibtisch. Dort lagen, auf verschiedenen Blättern festgehalten, die logischen Gleichungen mit ihren kleinen Hufen, umgekehrten „T’s“ und Identitätszeichen. Seine Kopfhaut zog sich zusammen, als er sich die Formeln ansah. Aber, zum Teufel, stell dich dem Abenteuer, der Romantik! Er beugte sich darüber, konzentrierte sich auf die Formeln, versuchte die Konzentration auf einen einzigen Punkt zu vermeiden und sich statt dessen auf das Ganze zu verlegen, es in sich aufzunehmen. „Ist P nicht gleich Q, dann bedeutet Q auch nicht P; das ist gleichbedeutend damit, daß man entweder P oder Q sagt, oder keines von beiden, aber nicht beides zusammen. Wenn aber P nicht Q gleicht, dann ist die Formel der Gegengleichung …“ Es gab nichts als die sechs Papierblätter, nur sie, und sie lagen vor ihm in zwei sauberen Reihen von je drei Blatt, mit je einem Fingerbreit Abstand dazwischen. Zwischen ihnen müßte eigentlich ein Stück des Tisches zu sehen sein; aber da war nichts, gar nichts. „Der volle Beweis besteht also in einem in Bewegung
umgesetzten logischen Doppelschluß, dessen Grundlagen nicht auf bloße Annahmen gestützt sind, wenn auch die untergeordneten Voraussetzungen auf nichtaristotelischen Kettenschlüssen beruhen können oder auch nicht beruhen …“ Noch immer lagen die sechs Papierblätter da, wenn auch über den weißen Rechtecken jetzt dünne Farbtupfer wirbelten. Er bemerkte, daß alle Farben des Spektrums vertreten waren, wenn auch, wie er im halben Unterbewußtsein feststellte, violett ausgesprochen deutlich hervortrat. Sie tanzten rund herum, rund herum, rund herum, rund … „Trifft nun P zu oder Q oder (Q oder R), dann ist entweder Q richtig oder (P oder R) ist falsch …“ Rund herum, rund herum. Er konnte überhaupt nichts mehr hören. Er hatte keine Wahrnehmungsmöglichkeit für Hitze oder Kälte oder für den Druck des Stuhlsitzes gegen seinen Körper. Es war absolut nichts mehr da als Millionen und Millionen wirbelnder Farbtupfen. Ja, jetzt konnte er wieder Temperaturen fühlen. Es war kalt. Auch ein Geräusch hörte er, ein aus ziemlicher Entfernung kommendes Pfeifen oder Sausen, ähnlich dem Fauchen des Windes in einem Kamin. Die Farbtupfen verblaßten in ein durchgehendes, einheitliches Grau. An seinen Fußsohlen verspürte er jetzt eine Art Druck. Er streckte die Beine aus – ja, er stand auf irgend etwas. Aber alles um ihn herum war grau – und bitter kalt. Ein scharfer Wind wirbelte seine Mantelschöße in die Höhe. Er warf einen Blick hinunter. Seine Füße waren ganz in Ordnung – hallo Füße, freut mich, euch wiederzusehen. Aber sie staken in einem gräulich-gelben Schlamm, der zu kleinen Graten um sie herum aufgequollen war. Der
Schlamm gehörte zu einer Art Weg, der kaum zwei Schritte breit war. Zu dessen beiden Seiten erkannte er graugrünes, welkendes Gras. Auf dem Gras lagen wie Schuppen verstreut einzelne Schneeflocken. Immer mehr Flocken tanzten als dunkelgraue Flecken vor dem Hintergrund wirbelnder Nebelfetzen in langen, schrägen Linien herab, wurden größer und größer und landeten mit einem winzigen, zischenden Geräusch auf dem Weg. Dann und wann traf eine Sheas Gesicht. Er hatte es geschafft. Die Formel hatte gewirkt! 2. Kapitel „Willkommen in Irland!“ murmelte Harold Shea vor sich hin. Er dankte dem Himmel, daß die in Bewegung umgesetzte logische Schlußfolgerung nicht nur ihn selbst, sondern auch seine Kleidung und Ausrüstung hierhergebracht hatte. Schließlich wäre es ja ziemlich unerfreulich gewesen, hätte er sich nackt in dieser froststarrenden Landschaft wiedergefunden. Diese undurchsichtige Trübe war nicht allein eine Folge des Schneetreibens; es herrschte auch ein kalter, undurchdringlicher Nebel, der die Sicht auf weniger als hundert Yards beschränkte. Vor ihm verlief der Pfad nach links um die Rundung eines kleinen Hügels, an dessen Flanke sich ein Baum gegen den Wind stemmte. An den Zweigen hingen noch ein paar einsame Blätter, ebenso grau und entmutigend wie die Landschaft selbst. Der Baum war das einzige Objekt in dieser Wildnis von Schlamm, Gras und Nebel. Shea ging darauf zu. Die gezackten Blätter trugen die Merkmale der nordischen Buscheiche.
Aber die wächst doch nur in arktischen Gebieten, überlegte er. Als er sich noch mal darüberbeugte, um sie genauer in Augenschein zu nehmen, hörte er das klopp-squasch von Pferdehufen auf dem schlammigen Pfad hinter sich. Er drehte sich um. Das Pferd war sehr klein, kaum größer als ein Pony, sehr zottig, mit einem langen, üppigen Schweif, der um seine Flanken wehte. Auf dessen Rücken saß ein Mann, der sehr groß sein mochte, wenn er sich aufrichtete, denn seine Füße berührten fast den Boden. Aber er hatte sich vor dem eisigen Wind zusammengeduckt, der ihn von hinten her anfauchte. Vom Sattel bis zu den Augen war er in einen verblichenen blauen Mantel gehüllt. Ein formloser Hut war tief ins Gesicht gezogen; den grauen Vollbart des Mannes konnte er aber nicht ganz verbergen. Shea tat ein halbes Dutzend rascher Schritte an den Straßenrand und sprach den Mann mit jenem Satz an, den er sich für den ersten menschlichen Kontakt in der Welt irischer Mythen zurechtgelegt hatte: „Den schönsten guten Morgen für Euch, mein guter Mann, ist es noch weit zur nächsten Herberge?“ Eigentlich hatte er mehr sagen wollen, aber er hielt verwirrt inne, als der Mann auf dem Pferd ein stolzes, ernstes Gesicht zu ihm aufhob, dessen linke Augenhöhle leer war. Shea lächelte verlegen, nahm dann seinen ganzen Mut zusammen und wagte es, fortzufahren: „Ihr habt aber einen ziemlich kalten Dezember hier in Irland.“ Der Fremde sah ihn mit etwa derselben klinischen Sachlichkeit an, die er selbst für einen interessanten Fall von Schizophrenie aufgebracht hätte und antwortete langsam mit tiefer Stimme: „Ich kenne weder Herbergen noch Ir-
land. Und der Monat ist nicht Dezember. Wir sind im Mai, und dies ist der Fimbulwinter.“ Ein kleiner, prickelnder Schrecken faßte nach Harold Shea, wenn er auch das letzte der Worte nicht kannte. Weit weg und verschwommen registrierte sein Ohr einen Laut, ähnlich dem Heulen eines Hundes – vielleicht eines Wolfes. Als er nach Worten suchte, verspürte er eine flatternde Bewegung. Zwei große, schwarze Vögel, die wie ausnehmend große Krähen aussahen, glitten mit dem Wind vor ihm herab und ließen sich auf dem trockenen Gras nieder. Ein paar Augenblicke lang sahen sie ihn aus hellen, intelligenten Augen an und hoben sich wieder in die Luft. „Nun, wo bin ich dann?“ „Auf den Schwingen der Welt, nahe Midgards Grenze.“ „Wo, zum Teufel, liegt die denn?“ Die tiefe Stimme klang ein wenig angewidert. „Für alle Dinge gibt es eine Zeit, einen Raum, eine Person. Nichts von diesen dreien gibt es aber für törichte Fragen und leere Scherze.“ Er wandte Shea eine blauverhüllte Schulter zu, klatschte seinem Pony auf den Rücken und schickte sich an, langsam weiterzureiten. „He!“ schrie Shea. Er war hundemüde und der Wind ließ seine Finger und Wangenmuskeln schmerzen. In dieser arktischen Wüste war er verloren, und dieser alte Bock schien einfach davonreiten und ihn hier zurücklassen zu wollen; das würde er nicht überleben. Er tat einen Satz vorwärts und pflanzte sich vor dem Pony auf. „Was soll dieses Benehmen? Wenn ich eine höfliche Frage stelle …“ Das Pony blieb stehen; sein Maul berührte fast Sheas Mantel. Der Mann auf dem Rücken des Tieres richtete sich
plötzlich auf, so daß Shea nun sehen konnte, daß er wirklich sehr groß war, ja geradezu ein Riese. Bevor er aber noch Zeit hatte, weitere Einzelheiten zu bemerken, war er fast körperlich spürbar und mit zwingender Kraft von dem einen Auge festgenagelt. Ein Strahl durchdringender, brennender Kälte schien ihn zu durchbohren; sein Gehirn schien von einem Eiszapfen aufgespießt zu sein. Er fühlte eher die Stimme, als daß er sie hörte: „Mich versuchst du aufzuhalten, du Kümmerling?“ Und wäre es um sein Leben gegangen, Shea hätte nichts bewegen können als seine Lippen. „N-nein“, stammelte er. „Das heißt, ich überlegte mir nur, ob Ihr mir nicht sagen könntet, wie ich irgendwohin käme, wo es warm …“ Das Auge blinzelte nicht und hielt ihn für Sekunden fest. Shea fühlte, wie es seine innersten, geheimsten Gedanken erforschte. Dann ließ sich der Mann etwas zusammensinken, so daß die Krempe den eisigen Glanz verbarg, und die tiefe Stimme klang gedämpft. „Ich werde heute abend im Haus des Bauern Sverre sein, das an den Kreuzwegen der Welt liegt. Du magst mir folgen.“ Der Wind fuhr in eine Falte seines blauen Mantels, und Shea vernahm ein leises Blätterrascheln, das aus dem Mantel zu kommen schien. Ein Blatt blieb einen Moment lang an Sheas Mantel hängen. Mit vor Kälte tauben Fingern fing er es, und er sah, daß es ein Eschenblatt war, zart und von frischem Frühlingsgrün – und das in dieser heulenden Wildnis, wo nur die arktische Buscheiche wuchs! *
Shea ließ das Pony an sich vorbeigehen und hielt sich, den Kopf geduckt, den Kragen aufgeschlagen, die Hände tief in die Taschen vergraben und die Augen vor den tanzenden Schneeflocken zugekniffen, dicht hinter ihm. Er versuchte zwar, klar zu denken, aber ihn fror so sehr, daß es ihm kaum gelang. Die logischen Formeln hatten ihn sicher in eine andere Welt versetzt, aber niemand hätte ihm zu versichern brauchen, daß es nicht Irland war. Irgend etwas mußte in seinen Kalkulationen durcheinandergeraten sein. Konnte er zurückkehren und sie nochmals überprüfen? Nein, denn im Augenblick hatte er nicht die entfernteste Ahnung, was auf diesen sechs Blättern gestanden hatte. Ihm blieb nichts anderes übrig, als das Beste aus der gegenwärtigen Situation zu machen. Aber in welche Welt war er getaumelt? In eine kalte, abweisende, die von kleinen, struppigen Ponys und grimmigen, alten, blaugekleideten Männern mit einem bemerkenswerten Auge bevölkert war. Vielleicht war es die Welt der skandinavischen Mythologie. Davon wußte Shea sehr wenig, außer daß der wichtigste der Burschen Odin, Woden oder Wotan hieß, und ein anderer Gott namens Thor existierte, der mit Schmiedehämmern nach Leuten warf, die er nicht leiden konnte. Sheas wissenschaftliche Schulung ließ ihn daran zweifeln, daß diese Götter auch wirklich als Götter auftreten würden und mit übermenschlichen Kräften ausgestattet seien; oder daß er einige Ungeheuer der Fabel zu sehen bekäme. Jedoch forderten der kalte Eiszapfen in seinem Gehirn und die Handvoll Eschenblättchen eine Erklärung. Natürlich könnte dieser Schmerz in seinem Kopf auf eine be-
ginnende Lungenentzündung hinweisen, und der alte Graubart mochte die Gewohnheit haben, Eschenblätter in seinen Taschen herumzutragen. Aber trotzdem … Die beiden riesigen, schwarzen Vögel kreisten über ihnen. Sie schienen sich weder zu fürchten, noch machte ihnen das unangenehme Wetter etwas aus. Es wurde allmählich dunkler, wenn auch Shea nicht hätte sagen können, ob in dieser aus nassem Löschpapier zu bestehen scheinenden Landschaft die Sonne untergegangen war. Der Wind fauchte heftig. Der Schlamm auf dem Pfad erstarrte allmählich, gefror aber noch nicht. Er hatte sich in gelben Klumpen an seinen Stiefeln festgesetzt. Shea hätte schwören mögen, daß jeder einzelne seine dreißig Pfund wog. Außerdem sickerte an den Nähten Wasser ein. Feuchte Socken erhöhten sein Mißbehagen. Ein regelmäßig klikkendes Geräusch, das nach Kastagnetten klang, ließ ihn aufhorchen, bis er feststellte, daß es seine Zähne waren, die aufeinander schlugen. Ihm schien es, als sei er schon seit Tagen- unterwegs, obwohl er wußte, daß es sich nur um Stunden handeln konnte. Widerwillig zog er eine Hand aus der Tasche und sah auf seine Armbanduhr. Sie stand auf 9 Uhr 56. Das konnte nicht stimmen. Als er sie an eines seiner taubgefrorenen Ohren hielt, bemerkte er, daß sie stand. Er schüttelte sie, zog sie auf; es nützte nichts. Er dachte schon daran, seinen Weggefährten nach der Zeit zu fragen, machte sich dann aber klar, daß dieser wahrscheinlich ebenso wenig Ahnung habe, wie er selbst. Er überlegte, ob er fragen sollte, wie weit sie noch zu gehen hätten, aber gegen den Wind anzubrüllen war gar nicht
so einfach, und der alte Bursche lud absolut nicht zu Fragen ein. Sie trotteten weiter. Der Schnee fiel nun dichter im dämmerigen Zwielicht. Shea konnte kaum mehr die Gestalt vor sich erkennen. Der Pfad sah genauso eintönig grau aus wie alles andere. Nun wurde es auch kälter. Die Schneeflocken wurden zu eisigen Nadeln, die ihn stachen und brannten. Ab und zu fing ein plötzlicher Windstoß eine Wolke über dem Moor ein und wirbelte sie Shea ins Gesicht. Dann kniff er die Augen zusammen, und wenn er sie wieder öffnete, bemerkte er, daß er vom Pfad abgekommen war. Dann mußte er wieder hinter dem Alten herrennen, damit er ihn nicht verlor. Licht. Er holte den Packen von seinem Rücken und suchte nach dem eiskalten Metall der Taschenlampe. Er fand sie, zog sie heraus und knipste am Knopf. Nichts passierte; auch Schütteln, Schlagen und wiederholtes Knipsen blieb ohne Wirkung. In wenigen Minuten würde es so dunkel sein, daß er den Alten und sein Pony überhaupt nicht mehr sehen konnte. Wenn er ihn nicht verlieren wollte, mußte er ihn fragen – ob es ihm nun paßte oder nicht –, ob er sich an einem Zipfel seines Mantels festhalten durfte. Gerade in dem Augenblick, als er diesen Entschluß faßte, drückte etwas im Trott des Pferdchens aus, daß es einen Stall witterte. Einen Moment später trabte es, und Shea stolperte und rutschte auf dem frischen Schnee hinter ihm her, um mit ihm Schritt zu halten. Seine Ausrüstung wog Tonnen, und er schnappte nach Luft, als sei er, statt einen ebenen Pfad entlangzutrotten, einen steilen Hügel hinaufgerannt.
Dann erschien ein dunklerer Fleck in dem eintönigen Grau. Sheas Gefährte hielt das Pony an und glitt herab. Eine rohbehauene Holztür tauchte aus dem wirbelnden Schneetreiben auf, und der Alte schlug mit seinen Fäusten dagegen. Sie öffnete sich, und eine Flut gelben Lichtes ergoß sich über den Schnee. Der alte Mann trat unter die Türöffnung; sein blauer Mantel schimmerte hell. Shea, der hinter ihm geblieben war, krächzte „he!“. Es gelang ihm gerade noch, seinen Fuß in den Spalt der sich schließenden Tür zu klemmen. Sie schwang auf, und ein Mann in einer weiten, derben Tunika lugte heraus. Sein Gesicht war ganz von einem kräftigen Bart eingerahmt. „Was ist los?“ „D-d-darf ich he-hereinkommen?“ „Mpf!“ machte der Mann. „Komm ‘rein, komm doch! Steh doch nicht da und laß die ganze Kälte ‘rein!“ 3. Kapitel Shea stand in einer Art Diele und ließ die köstliche Wärme in sich eindringen. Das Vestibül war etwa sechs Fuß tief. An seinem Ende hatte man einen Fellvorhang zurückgeschoben, um dem alten Mann, der vor ihm herging, den Durchgang zu ermöglichen. Der Bauer Sverre – Shea vermutete, daß er sein Gastgeber war – schob ihn noch weiter auseinander. „Herr, seht es als Euer Haus an, jetzt und für immer“, murmelte er in der geschäftigen Eile eines Mannes, der seinen Begrüßungsspruch herunterschnurrt: Nett, Sie kennenzulernen. Der Erforscher des Universums duckte sich unter den
Fellen und kam in eine lange, mit dunklem Holz getäfelte Halle. An einem Ende prasselte in einer im Boden eingelassenen und in Kniehöhe mit einer Ziegelmauer umgebenen Feuerstelle ein Feuer. Darum gruppierte sich eine Anzahl von Tischen und Bänken. Shea warf einen kurzen Blick auf eine Wand, an der Waffen hingen: ein riesiges Schwert, fast so groß wie er selbst; ein halbes Dutzend kleiner Speere oder Spieße, deren scharf ausgezogene Spitzen im Licht der in Wandarmen steckenden Fackeln aufglänzten; ein drachenförmiger Schild, in verschlungenen Mustern mit Metall ausgelegt … Es war nur ein flüchtiger Blick. Sverre hatte seinen Arm gepackt und führte ihn nun durch eine andere Tür. „Aud! Hallgerda!“ schrie er. „Dieser Fremde ist halb erfroren. Macht den Dampfraum fertig! Jetzt, Fremdling, kommt mit mir.“ Über einen Durchgang erreichten sie einen kleineren Raum, wo der bärtige Mann ihm befahl: „Zieht Eure nassen Kleider aus. Fremdartiges Gewand tragt Ihr da. So viele Knöpfe und Schnallen hab ich mein ganzes Leben lang noch nicht gesehen. Wenn Ihr einer der Söhne von Muspellheim seid, dann geb ich Euch Herberge für die Nacht. Aber ich warne Euch: Morgen werden nicht weit von hier Männer sein, die Euch lieber mit einem Schwert statt mit Handschlag begrüßen würden.“ Er sah Shea aus zusammengekniffenen Augen prüfend an. „Seid Ihr von Muspellheim?“ „Was veranlaßt Euch zu der Vermutung?“ entgegnete Shea. „Diese leichte Kleidung so weit im Norden, die, welche
den roten Bären jagen“ – er machte eine komische Handbewegung, als schleudere er einen Speer durch die Luft – „brauchen warme Felle ebenso nötig wie starke Herzen.“ Wieder sah er Shea durchdringend an, als wolle er ihm irgendein Geheimnis entreißen. „Wir haben doch jetzt Mai, oder nicht?“ fragte Shea. „Ich verstehe ja, daß Ihr ziemlich weit nördlich wohnt, doch der Kälteeinfall müßte eigentlich bald vorüber sein.“ Der Mann Sverre hob seine Schultern in einer Geste der Verblüffung. „Vielleicht, vielleicht auch nicht. Die Menschen sagen, das sei der Fimbulwinter. Und ist er das wirklich, dann werden wir recht wenig Wärme erleben, bis die große Trompete bläst und die Söhne des Wolfs aus dem Osten heranreiten, wenn die Zeit kommt.“ Shea hätte nun selbst gern einige Fragen gestellt, aber Sverre drehte sich verdrießlich um. Statt dessen stieg er aus seinen klammen Hosen. Als er sich umsah, bemerkte er, wie Sverre seine Armbanduhr in die Hand nahm. „Das ist eine Uhr“, erklärte er sehr freundlich. „Ein Zauberding?“ Wieder blickte ihn Sverre prüfend an, und diesmal teilte ein verstehendes Lächeln das Bartgestrüpp, als er sich auf die Knie schlug. „Ja, natürlich. Das hätte ich wissen müssen. Ihr seid mit dem Wanderer gekommen. Ihr seid schon in Ordnung. Einer von den Zauberern aus dem Süden.“ Er brachte eine Decke von irgendwoher und hüllte die nackte Gestalt Sheas darin ein. „Jetzt hier durch“, befahl er. Shea folgte ihm durch etliche Türen zu einem weiteren kleinen Raum, der so dick mit Holzrauch angefüllt war, daß er husten mußte. Er begann seine Augen zu reiben und
erwischte gerade noch rechtzeitig den Zipfel der Decke. Zwei Mädchen standen neben der Tür, und keine der beiden glich auch nur im entferntesten jenen irischen Mädchen, die er zu finden gehofft hatte. Beide waren blond, hatten Apfelbäckchen und waren ziemlich massiv gebaut; sie erinnerten ihn unangenehm an Gertrude Mugler. Sverre stellte sie vor: „Das hier ist meine Tochter Aud. Sie ist ein Schildmädchen und wird mit Polarbären ihres Gewichtes fertig.“ Shea, der sich die stämmige Maid besah, pflichtete ihm schweigend bei. „Und das hier ist Hallgerda. Na schön, geht hinein. Das Wasser ist bereit.“ Im Mittelpunkt des kleinen Raumes war ebenfalls eine in den Boden eingelassene Feuerstelle; darüber lag eine Menge etwa kartoffelgroßer Steine. Zwei große, hölzerne Bottiche voll Wasser standen neben dem Herd. Die Mädchen gingen hinaus und schlossen die Tür. Shea hatte das seltsame Gefühl, als habe er all das schon früher einmal erlebt. Das muß ein Teil der automatischen Anpassung des Geistes an die Gegebenheiten dieser Welt sein, sagte er zu sich selbst und hob einen der Bottiche auf. Schnell schüttete er das Wasser auf das Feuer und leerte anschließend den zweiten Bottich aus. Zischend füllte sich der Raum mit heißem Dampf. Das hielt Shea aus, solange er konnte – vielleicht eine Minute lang –, dann tastete er blind nach der Tür und stürzte hinaus. Sofort traf ihn ein Schwall eisigen Wassers ins Gesicht. Keuchend und nach Luft schnappend stand er da und stöhnte wie ein Ertrinkender, da traf ihn ein zweiter Schwall auf die Brust. Er ächzte und rang nach Atem, bis es ihm schließlich gelang, „hp – aufhören – es reicht!“ zu stöhnen.
Irgendwo in dieser wäßrigen Welt hörte er zwei Mädchen kichern. Erst als er wieder deutlich sehen konnte, wurde ihm klar, daß es die beiden waren, die ihn fast ertränkt hätten, und daß er ohne jede schützende Hülle zwischen ihnen stand. Sein erster Impuls war der, wieder in den dampferfüllten Raum einzutauchen; aber eine von den beiden hielt ihm ein Handtuch hin, und es schien ein Akt der Höflichkeit zu sein, es anzunehmen. Sverre kam mit irgendeinem Gefäß auf ihn zu; er schien völlig unbesorgt zu sein. Na schön, dachte Shea, wenn’s denen nichts ausmacht, mir soll’s recht sein. Er entdeckte sogar, daß nach dem ersten fürchterlichen Augenblick seine Angst verflogen war. Ruhig trocknete er sich ab, während Sverre ihm das Gefäß hinhielt. Die klinisch anmutende Gleichgültigkeit der Mädchen seinem Körper gegenüber, erinnerte ihn mehr denn je an Gertrude. „Heißer Met“, erklärte Sverre. „Den kriegt Ihr ihm Süden drunten nicht. Aud, hol die Decke des Fremdlings. Wir wollen doch nicht, daß er sich erkältet.“ Shea nahm einen großen Schluck von dem Met und entdeckte, daß er ein bißchen nach Bier, aber auch nach Honig schmeckte. Zuerst blieb ihm das klebrigsüße Zeug in der Kehle stecken, aber tapfer schluckte er, um sein Gesicht zu wahren; denn vor diesen Menschen wollte er den Trunk unter keinen Umständen wieder ausspucken müssen. Er rann auch richtig hinunter, und der zweite Schluck war gar nicht mehr so übel. Allmählich fühlte er sich wieder als Mensch. „Wie ist Euer Name, Fremdling?“ fragte Sverre.
Shea mußte nachdenken. Diese Leute kannten vielleicht gar keinen Familiennamen; deshalb sagte er einfach „Harold.“ „Hug?“ Shea wiederholte, diesmal deutlicher. „Oh“, sagte Sverre, „Harald“. Es klang ein bißchen fremdartig. Als er sich, bis auf die Stiefel, wieder angezogen hatte, setzte er sich auf die Bank, die Sverre ihm zugewiesen hatte. Er sah sich in der Halle um. Neben ihm hockte ein riesiger Mann mittleren Alters mit rotem Haar und Bart, dessen Aussehen ihn an Sverres Wort vom „roten Bären“ erinnerte. Sein dunkelroter Mantel war zurückgeschlagen und enthüllte einen Gürtel mit goldenen Verzierungen. Daneben saß ein anderer Rotkopf, eher sandfarben, feindgliedrig und mit einem Fuchsgesicht und raschen, huschenden Augen. Das Gegenüber des Fuchsgesichts war ein blonder, junger Mann, etwa von Sheas Größe und Figur, dessen Gesicht mit goldenem Flaum bedeckt war. In der Mitte der Bank standen zwei Säulen aus schwarzem Holz, die vom Boden zur Decke reichten, so nah am Tisch, daß sie fast eine Sitzbreite einnahmen. Neben ihnen saß der graubärtige, einäugige Mann, dem er auf dem Pfad gefolgt war. Sein Schlapphut lag vor ihm auf dem Tisch, und er beugte sich um die Säulen, um mit einem anderen großen, blonden Mann zu sprechen, einem stämmigen Burschen, dessen Gesicht einen gutmütigen, jetzt aber etwas besorgten Ausdruck hatte. Neben diesem lehnte die Scheide eines Schwertes. Sie war so riesig, daß sie zu jenem passen konnte, das Shea an der Wand bemerkt hatte. Die Augen des Forschers schweiften den Tisch entlang
und hefteten sich auf einen schlanken, jungen Mann. Dieser nickte, stand auf, ging um den Tisch herum und lächelte schüchtern: „Wollt Ihr einen Tischgenossen haben?“ fragte er. „Ihr wißt, wie Havamal sagt: Sorge zerfrißt dir das Herz Wenn du nicht kannst enthüllen einem anderen deine Gedanken.“ Er sang diese Zeilen fast, so daß diese reimlosen Verse seltsam anziehend wirkten. Er fuhr fort: „Wenn die Zeit kommt, wird es mir guttun, mit einem einfachen Menschen sprechen zu können. Es macht mir nichts aus, zuzugeben, daß ich mich sorge. Mein Name ist Thjalfi.“ „Und meiner Harald“, antwortete Shea; er sprach ihn so aus, wie Sverre es getan hatte. „Ihr seid mit dem Wanderer gekommen, nicht wahr? Seid Ihr einer von den ausländischen Zauberern?“ Zum zweiten Male hatte man Shea danach gefragt. „Ich weiß gar nicht, was ein Zauberer ist, ehrlich“, antwortete er, „und ich bin auch nicht mit dem Wanderer gekommen. Ich habe mich verirrt und bin ihm nur hierher nachgelaufen, und jetzt möchte ich endlich herauskriegen, wo ich überhaupt bin.“ Thjalfi lachte und nahm einen großen Schluck Met. Shea überlegte, was es da zu lachen gab. „Keine Beleidigung, Freund Harald“, sagte der junge Mann. „Es ist nur unheimlich komisch, wenn ein Mann behauptet, er habe sich an den Kreuzwegen der Welt verirrt. Haha, so was hab ich noch nie gehört.“ „Wo, habt Ihr gesagt?“ „Na sicher, an den Kreuzwegen der Welt! Ihr müßt von
hinter dem Mond herkommen, daß Ihr das nicht wißt. Hei! Ihr habt Euch eine schlechte Zeit ausgesucht, mit all denen hier.“ Er zeigte auf die vier bärtigen Männer. „Na schön, ich würde an Eurer Stelle nichts davon verlauten lassen, daß Ihr keine Macht habt. Ihr wißt doch, was Havamal sagt: Zu den Schweigenden und Weisen Kommt selten die Sorge, wenn sie Gast eines Hauses sind. Ihr werdet wahrscheinlich schön in der Klemme stecken, wenn die Wirren beginnen und Ihr nicht den Schutz jener habt, aber solange sie glauben, daß Ihr ein Zauberer seid, wird Onkel Fuchs Euch helfen.“ Er deutete auf den zartgliedrigen Mann mit den scharfen Zügen und fuhr fort: „Oder seid Ihr ein Held? Wenn ja, dann kann ich den Rotbart überreden, Euch in seinen Dienst zu nehmen, wenn die Zeit kommt.“ „Welche Zeit? Sagt mir, was das alles …“, begann Shea, aber in diesem Augenblick erschien Aud mit einem anderen Mädchen, und sie trugen hochbeladene Holzplatten herbei. „Hei, Schwesterchen!“ rief Thjalfi fröhlich und versuchte, dem zweiten Mädchen ein Stück Fleisch vom Teller zu stibitzen; das Mädchen, das Shea noch nicht gesehen hatte, versetzte Thjalfi einen gutgezielten Tritt ans Schienbein und setzte den Teller vor den Nachzügler. Die Mahlzeit bestand aus verschiedenen Fleischsorten, dazu gab es Brot. Gabel oder Messer waren nicht zu sehen, und so etwas wie Gemüse gab es auch nicht. Selbstverständlich haben sie kein Tafelsilber, überlegte Shea. Er
brach ein Stück von dem Brot ab und biß hinein; es schmeckte besser als es aussah. Das Fleisch, das er vorsichtig aufpickte, stammte anscheinend vom Schwein, war gut gekocht und kräftig gewürzt. Als er den zweiten Bissen in den Mund steckte, bemerkte er, daß Aud, das Schildmädchen, noch immer neben ihm stand. Er sah sich um; Aud knickste und sagte schnell: „Herr, mit diesem Mahl und allem übrigen sind Eure Wünsche unser Gesetz. Habt Ihr noch irgendeinen Wunsch?“ Einen Augenblick lang zögerte Shea, denn er überlegte blitzschnell, daß das eine Höflichkeitsformel war und er nun eigentlich das Essen loben müßte. Aber er hatte auf leeren Magen ziemlich viel Met getrunken. Die normalen Eßgewohnheiten eines Amerikaners ließen ihn zur Tat schreiten. „Wäre meine Bitte unbescheiden, wenn ich frage, ob Ihr etwas Gemüse habt?“ bat er. Einen Moment lang sahen das Mädchen und Thjalfi ihn entgeistert an, dann brach Gelächter aus ihnen heraus. Aud ließ sich an die Wand zurückfallen und Thjalfi legte den Kopf auf die Arme. Shea errötete verwirrt und hielt das halbgegessene Stück Fleisch in der Hand, kaum daß er bemerkte, wie die vier bärtigen Männer gegenüber ihn anstarrten. „Gut ist die Rede“, brummte der große Rothaarige, „wenn die Kinder der Menschen vor den Äsir lachen! Nun, Thjalfi, du wirst uns erzählen, was dir das Herz so leicht macht.“ Thjalfi war noch immer vom Lachen geschüttelt, doch gelang es ihm endlich, stöhnend und keuchend ein paar
Worte zu stottern: „Der – der Zauberer – Zauberer Harald will eine Rübe essen!“ Sein neuer Lachanfall ging im dröhnenden Gelächter des Rotbarts unter, der sich zurücklehnte. „Oh, hohoho!“ röhrte er, „Harald Rübe, hohoho!“ Das Gelächter war so ansteckend, daß die drei anderen, selbst der blaugewandete Wanderer, ihren Teil dazu beitrugen. Als sie sich etwas beruhigt hatten, wandte sich Shea an Thjalfi. „Was habe ich denn getan?“ fragte er. „Schließlich …“ „Ihr habt Euch selbst den Namen Harald Rübe gegeben! Ich fürchte, Ihr habt damit die Möglichkeit verspielt, unter des Rotbarts Banner zu stehen, wenn die Zeit kommt. Wer braucht schon einen Helden, der Rüben aß? In Asgard mästet man Schweine damit.“ „Aber …“ „Ihr wußtet es nicht besser. Nun, Eure einzige Möglichkeit ist Onkel Fuchs. Ihr könnt mir dafür dankbar sein, daß ich sagte, Ihr seid ein Zauberer. Auch liebt er einen guten Scherz; ich sage immer, er ist der einzige Witzbold hier. Aber Rüben essen – hahaha, das ist der größte Witz, den ich gehört habe, seit der Riese versuchte, den Hammerwerfer zu heiraten!“ Shea war nun ärgerlich und völlig verwirrt und schickte sich an, eine Erklärung zu verlangen. Aber bevor er noch ein Wort sagen konnte, klopfte jemand an die Tür. Sverre führte einen großen, blassen, blonden und bartlosen Mann herein; er hatte ein stolzes, vornehmes Gesicht und trug ein riesiges, goldenes Horn auf dem Rücken. „Hier ist noch einer von ‚ihnen’“, flüsterte Thjalfi. „Das ist Heimdall. Ich bin neugierig, ob sich alle zwölf hier treffen.“
„Wer, zum Teufel, sind ‚sie’?“ „Seht!“ * Die vier bärtigen Männer nickten dem Neuankömmling einen Gruß zu. Mit edler Anmut nahm er den Platz neben dem Wanderer ein und unterhielt sich sofort mit dem Älteren, der ihm aufmerksam zuhörte und nickte. Shea verstand einige Worte. „… feurige Pferde, aber es hat keinen Sinn, Euch das zu sagen, wo doch der Überbringer schlechter Botschaften anwesend ist.“ Er machte eine geringschätzige Kopfbewegung zu Onkel Fuchs hinüber. „Man erlebt es oft“, erwiderte letzterer und erhob ein wenig seine Stimme, wandte sich aber an den Rotbart, als wolle er ein unterbrochenes Gespräch fortsetzen, „daß Lügner weniger Lügen erzählen, wenn die zugegen sind, welche die Wahrheit sehen.“ „Oder es kann sein, daß ich etwas zu sagen habe, was ich nicht durch den überbringenden Gefährten an unsere Feinde weitergegeben haben möchte“, parierte Heimdall und sah dabei Onkel Fuchs an. „Es gibt sogar welche“, fuhr letzterer gleichmütig fort, ohne Heimdall weiter zu beachten, „die, da sie selbst keinen Charakter haben, den andere zerstören, indem sie deren guten Ruf töten.“ „Lügner und Dieb;“ schrie Heimdall böse und schlug mit der Faust auf den Tisch. Shea sah zu seinem Erstaunen, daß seine Vorderzähne aus Gold waren. „Nun“, knurrte der große Rotkopf, im Versuch, zu
schlichten, „in der Gegenwart Sterblicher laßt uns doch den Zorn der Äsir bezwingen!“ „Und laßt uns auch“, fauchte der kleinere Mann, „die Beleidigungen aus dem Mund …“ „Alle Beleidigungen sind unwahr“, erklärte Heimdall. „Ich stelle Tatsachen fest.“ „Tatsachen! Rar sind die Tatsachen, die aus diesem langen, wackelnden Kinn kommen. Tatsachen wie die Geschichte, man habe neun Mütter, oder die Prahlerei mit dem Horn und welchen Lärm es mache – er soll sich hüten, daß keine Mäuse darin nisten, und es nicht einmal einen Ton von sich gibt!“ „Wenn die Zeit kommt, wirst du meine Trompete schon hören, Vater der Lügen. Und ihr Klang wird dir dann nicht gefallen.“ „Manch einer würde sagen, das muß mit dem Schwert gerächt werden.“ „Versuch es doch. Hier ist die Klinge, die deinen stinkenden Leichnam zerstückeln wird.“ „So, du …“ Das Fuchsgesicht und Heimdall waren aufgesprungen und bellten einander an. Ihre Stimmen waren so laut, daß Shea erschreckt blinzelte. Auch die anderen drei Bärtigen erhoben sich und brüllten. Über ihren Köpfen zogen die zwei schwarzen Vögel, die den Wanderer begleitet hatten, erschreckte Kreise und krächzten aufgeregt. Gerade, als es so aussah, als wollten die beiden Streitenden einander an die Kehle fahren, packte der große Rotkopf den kleineren an der Schulter und drückte ihn auf seinen Sitz. „Setz dich!“ donnerte er. Der Wanderer rief mit hallender, würdevoller Stimme: „Das ist schändlich! Wir
werden unsere ganze Achtung einbüßen. Ich befehle euch beiden, zu schweigen!“ „Aber …!“ rief Heimdall gellend. Der Wanderer gebot ihm mit einer Geste Schweigen. „Nichts, was du auch sagen magst, wird gehört. Spricht einer von euch den anderen vor Schlafenszeit an, dann habt ihr meine ernsteste Mißbilligung zu gewärtigen.“ Heimdall gab nach und zog sich in eine Ecke zurück; er starrte das Fuchsgesicht an, der starrte zurück. „So geht es immer zu“, flüsterte Thjalfi dem erschrockenen Shea leise zu, „wenn drei oder vier von ihnen zusammenkommen. Sie sollten uns eigentlich ein gutes Beispiel geben, aber Ihr habt sie jetzt nur als eine Bande betrunkener Berserker kennengelernt.“ „Ich weiß immer noch nicht, wer ‚sie’ sind.“ „Ihr wißt es wirklich nicht?“ Thjalfi sah ihn ehrlich erstaunt an. „Dann muß also doch was dran sein. Ich hätte es nie geglaubt, wenn Ihr nicht nach Rüben gefragt hättet. Nun, der eine, der mit Heimdall stritt, ist Loki. Der große Rotbart neben ihm ist Thor. Der alte Mann, der Wanderer, ist Odin, und der Dicke ist Frey. Habt Ihr’s jetzt begriffen?“ Shea warf Thjalfi einen prüfenden Blick zu, aber in dessen Gesicht stand nichts zu lesen als absolute Ehrlichkeit. Entweder war er mittels der Formel in einen unfaßbaren Traum geraten, oder man trieb irgendeinen Spaß mit ihm, oder die fünf waren skandinavische Häuptlinge, die sich aus einem ihm unerfindlichen Grund nach den alten nordischen Göttern nannten. Die noch verbleibende Möglichkeit – daß es sich wirklich um Götter handelte – war zu unwahrscheinlich, als daß er sie in Betracht hätte ziehen kön-
nen. Und doch – diese Vögel – der Blick Odins – und er wußte, daß man Odin immer als Einäugigen beschrieb … Thor stand auf und ging zu dem Paar hinüber, das Thjalfi als Odin und Frey bezeichnet hatte. Sie steckten die Köpfe zusammen und flüsterten miteinander. Schließlich stand Odin auf, stülpte seinen Schlapphut auf den Kopf, schlug den blauen Mantel um sich, nahm einen tüchtigen Schluck Met und schritt zur Tür hinaus. Als sie hinter ihm zufiel, erhoben sich Loki und Heimdall. Sofort sprangen Thor und Frey auf. „Schluß!“ rief Thor. „Spar deine Schläge, Sohn des Asgard, für die Zeit! Oder wenn du unbedingt Püffe austeilen willst, dann mit mir!“ Er hob eine Faust von der Größe eines kleinen Schinkens, und beide beruhigten sich wieder. „Zeit zum Schlafen. Komm mit, Loki. Du auch, Thjalfi.“ Der erhob sich widerstrebend. „Morgen werde ich bei Onkel Fuchs ein Wort für Euch einlegen“, flüsterte er zum Abschied. „Es ist kein Spaß, für die Äsir zu arbeiten. Sie sind eine störrische Gesellschaft, aber ich glaube, wir sind mit ihnen besser dran als ohne sie, wenn die Zeit kommt. Ihr wißt, was Ulf, der Dichter, sagt: Nackt ist die Brust Ohne den Schutz des Banners Wenn die Helden Waffen tragen Zum Verderben der Welt. Gute Nacht.“ * Shea war noch gar nicht davon überzeugt, daß er als Zauberer für Loki arbeiten wollte, ganz gleich, was dahinter
stecken mochte. Der Mann hatte etwas Schlaues an sich, etwas, das Unbehagen ausbreitete. Der anmutige und aufrechte Heimdall hatte ihn trotz seines Mangels an Humor viel mehr beeindruckt. Sverre steckte seinen Kopf durch die Tür, sah sich um und verschwand wieder. Von den fülligen jungen Frauen hatte er nichts mehr gesehen, seit sie die Teller abgeräumt hatten. Alle im Haus schienen zu Bett gehen zu wollen, aber Shea fühlte sich nicht im mindesten schläfrig. Es konnte doch kaum neun Uhr vorbei sein. Aber in einer Welt, die keine andere Beleuchtung als Fackeln kannte, würde man wohl mit der Sonne aufstehen und sich schlafen legen. Ob er sich daran gewöhnen würde? Vielleicht – wenn es ihm nicht gelang, wieder in seine eigene Welt zurückzukehren. Das war ein aufregender Gedanke. Aber, zum Teufel, dieses Risiko war er mit offenen Augen eingegangen, und wenn es auch nicht die Welt war, in der er zu landen erwartet hatte, so war es doch eine, in der ihm die Errungenschaften des zwanzigsten Jahrhunderts einige Vorteile verschaffen mußten. Er hatte noch genügend Zeit, darüber nachzudenken, wenn … „He, Rübenmann“, ließ sich Heimdall plötzlich aus seiner Ecke vernehmen. „Fülle ein paar Krüge und bring sie hierher, willst du?“ Shea fühlte Zorn in sich aufsteigen; das war ein diktatorischer Befehl. Aber was oder wer Heimdall auch immer sein mochte, es sah so aus, als könne er Gehorsam erzwingen. Jedenfalls hatte seine Stimme nicht unfreundlich geklungen. Also gehorchte er. „Setz dich“, sagte Heimdall. „Man nennt dich Harald.
Stimmt das?“ „Ja. Man sagte mir, Ihr seid Heimdall.“ „Das ist die Wahrheit. Man kennt mich auch als den Wächter, den Sohn der Neun Mütter, das Kind des Zornes und den Goldenen. Ich ziehe die Titel vor.“ „Nun, schaut mal, Heimdall, was soll das alles …“ „Die Kinder der Menschen verwenden die Titel oder nennen mich ,Herr’“, gebot Heimdall streng und ein wenig pompös. „Tut mir leid, Herr.“ Heimdalls Blick glitt seine große Nase entlang; er gewährte ihm ein Lächeln, das seine goldenen Zähne enthüllte. „Eine gewisse Vertrautheit ist mir nicht unangenehm, denn man nennt mich auch Freund der Menschen. Aber das gefällt dem Herrn von Asgard nicht.“ „Ihr meint Odin?“ „Keinen anderen.“ „Der alte Bursche – Verzeihung, ich meinte den älteren, einäugigen Herrn.“ „Du weißt gut Bescheid.“ „Ich bin gestern im Moor auf ihn gestoßen und ihm hierher gefolgt.“ „Das blieb mir nicht verborgen. Ich sah dich.“ „Wirklich? Wo wart Ihr denn?“ „Viele Meilen östlich. Ich hörte auch, was du zu ihm sagtest. Du hast Glück gehabt, daß er dich nicht erschlug.“ Beinahe hätte Shea gesagt ,ach, nimm mich doch nicht auf den Arm’, aber gerade noch rechtzeitig fiel ihm der eisig-stechende Blick Odins ein und er hielt den Mund. Erst mußte er wissen, was überhaupt los war, welchen Gesetzen
diese Welt unterlag, in die er sich versetzt hatte. Heimdall beobachtete ihn und lächelte amüsiert. „Ich hörte auch, wie du Thjalfi sagtest, du seist kein Zauberer, aber du weißt nicht, was das bedeutet. Du mußt von weither kommen. Jedenfalls“ – er lächelte wieder, als er Sheas verblüffte Miene bemerkte – „einigen tut das sehr leid. Ich werde dein Geheimnis bewahren. Ein Scherz für den Meister des Betrugs, hohoho!“ Er trank. „Und jetzt, du Kind einer unwissenden Mutter, muß ich erkennen, daß du einige seltsame Dinge weißt. Ich schlage vor, wir vergnügen uns mit einem Fragespiel. Jeder wird dem anderen sieben Fragen stellen, und jener, der sie am besten beantwortet, gewinnt. Frage, Sterblicher!“ Sieben Fragen. Welche sollte er stellen, um soviel wie möglich zu erfahren? „Wohin ist Odin gegangen?“ fragte er schließlich. „Eins“, sagte Heimdall. „Er ist zu den Pforten der Hölle gegangen, um eine Frau aus ihrem Grab zu rufen, die seit Jahrhunderten tot ist.“ „Sagtet Ihr wirklich ,Hölle’?“ fragte Shea. „Daran ist nicht zu zweifeln.“ „Na schön.“ Shea versuchte, seinen Unglauben und seine Verwirrung nicht zu zeigen. Dieser Mann – Gott – war schwieriger zu behandeln als jeder Psychopath, den er je ausgefragt hatte. Für die nächste Frage nahm er seinen ganzen Verstand zusammen. „Und weshalb tut Odin das?“ „Zwei“, erwiderte Heimdall. „Die Zeit kommt. Baldur stirbt und die Äsir brauchen Rat. Der Wanderer glaubt, daß die an den Pforten der Hölle begrabene Seherin uns sagen
kann, was wir wissen müssen.“ Die ziemlich nebelhaften Redensarten von der Zeit, die kommen sollte, zerrte an Sheas Nerven. „Und was bedeutet die Feststellung, daß ,die Zeit kommt’?“ fragte er. „Drei. Ragnarok, wie alle Menschen wissen. Alle, außer dir, du tauäugiger Unwissender.“ „Was ist Ragnarok?“ „Vier. Das Ende der Welt, du Kind im Körper eines Mannes.“ Heimdall schien ihn nicht ernst zu nehmen und das paßte ihm nicht; er hielt es auch nicht für fair, seine letzte Frage zu zählen, war sie doch nur eine Bitte um Erklärung eines ihm unverständlichen Ausdrucks. Aber im Garaden-Institut hatte er noch viel unvernünftigere Antworten bekommen, und deshalb unterdrückte er seinen Ärger. „Und wann wird das alles geschehen?“ „Fünf. Weder die Menschen, noch die Götter, ja nicht einmal die Alleswissenden oder die Zwerge kennen den Zeitpunkt, aber es wird bald sein. Der Fimbulwinter, der Winter im Sommer, der Ragnarok vorausgeht, ist schon über uns.“ „Alle sagen, es wird einen Kampf geben. Wer wird gewinnen?“ Auf diese Frage war Shea stolz; sie schloß sowohl die kämpfenden Parteien als auch das Ergebnis ein. „Sechs. Götter und Menschen wären froh, wenn sie die Antwort wüßten, Jüngling, denn wir müssen uns dem Volk der Riesen stellen. Im Augenblick kann nur eines gesagt werden: unsere Aussichten sind alles andere als gut. Wir haben vier Waffen von großer Gewalt: Odins Speer, Gungnir; Thors Hammer, genannt Mjöllnir; Freys Schwert, die
Zauberklinge Hundingsbana; und mein eigenes gutes Schwert, das den Namen Haupt trägt.“ Er klatschte auf den Griff seines Schwertes, das an seiner Seite hing. „Aber einige der Riesen, wie und wer wissen wir nicht, haben sowohl den großen Hammer als auch Freys Schwert gestohlen. Werden sie nicht gefunden, dann kann es geschehen, daß Götter und Menschen zusammen den Tod trinken.“ Voll Angst begriff Shea, daß die Welt, von deren Zerstörung Heimdall in so nüchternen Worten sprach, jene war, in der er, Harold Shea, körperlich lebte. Er war der Gnade einer Reihe von Ereignissen ausgeliefert, denen er nicht entgehen konnte. „Was kann ich tun, um nicht im Getriebe zermahlen zu werden?“ fragte er. Heimdall sah verständnislos drein. „Ich meine“, fuhr er deshalb fort, „Wenn die Welt in Trümmern geht, wie kann ich mich da heraushalten?“ Heimdall hob die Brauen. „Ragnarok ist über uns; kein Gott kann die Dinge aufhalten, und du, Sohn der Menschen, denkst an Sicherheit! Die Antwort ist: nichts. Und das war deine siebente Frage; jetzt bin ich an der Reihe.“ „Aber …“ „Kind der Erde, du verdrießest mich.“ Er sah Shea in die Augen, und wieder spürte der einen Eiszapfen, der sein Gehirn durchbohrte. Aber Heimdalls Stimme war ruhig. „Von welcher der neun Welten kommst du, Fremdling der Fremdlinge, mit Kleidern, die ich noch nie gesehen habe?“ Shea überlegte. Die Frage klang fast so wie: Hast du endlich aufgehört, deine Frau zu schlagen? „Welche neun Welten?“ fragte er deshalb vorsichtig. Heimdall lachte. „Ho, ich dachte, ich sei an der Reihe zu
fragen. Aber da ist der Wohnsitz der Götter, Asgard genannt, und das ist die eine Welt; die Heime der Riesen sind Jötunheim, Muspellheim, Niflheim und die Hölle – fünf Welten. Dann ist da Alfheim, wo die Zwerge leben und Svartalfheim und Vanaheim, die wir nicht sehr gut kennen, obwohl es heißt, die Vanen werden bei uns stehen, wenn die Zeit kommt. Und als letzte Midgard, die von solchen Würmern, wie du einer bist, überrannt wird.“ Shea gähnte. Met und Wärme taten nun ihr Werk. „Um Euch die Wahrheit zu sagen, ich komme aus keiner dieser Welten, sondern von außerhalb eures Weltensystems.“ „Eine seltsame Antwort ist das, doch nicht so seltsam, daß sie nicht wahr sein könnte“, antwortete Heimdall nachdenklich, „denn ich sehe vor mir die neun Welten, aber in keiner eine Person wie dich. Sag nichts davon zu den anderen Äsir, besonders nicht zum Wanderer. Er würde es übel aufnehmen, daß es eine Welt gibt, über die er keine Macht hat. Nun meine zweite Frage: Welche Männer oder Götter regieren deine Welt?“ Wieder gähnte Shea. Er war zu müde für Erklärungen und antwortete ausweichend. „Nun, einige behaupten, die eine Klasse, andere sagen, deren Gegner. Die wirklichen Herren sind die Verkehrspolizisten. Sie nageln einen fest …“ „Sind das eine Art Krebse?“ „Nein, sie halten einen auf, wenn man zu schnell fährt, während Krebse einen erwischen, wenn man sich zu langsam bewegt.“ „Aber es sind doch sicher Seegötter wie mein Bruder Agir. Und über welche Macht verfügen sie?“ Ein neuer Gähnanfall überwältigte Shea. „Tut mir leid,
ich glaube, ich bin schläfrig“, entschuldigte er sich. „Geht Ihr nicht bald zu Bett, Goldener?“ „Ich? Hoho! Selten hat man an den Kreuzwegen der Welt solche Unwissenheit gesehen. Ich bin der Wächter der Götter und schlafe niemals. ,Der Schlaflose’ ist auch wirklich einer meiner Namen und Titel. Aber du, Jüngling, kannst zu Bett gehen, denn ich habe das Fragespiel gewonnen.“ Beinahe wäre Shea wegen dieser Feststellung, er habe verloren, böse geworden; gerade noch rechtzeitig erinnerte er sich des eisigen Blickes. Aber Heimdall schien seine Gedanken zu lesen. „Was, du willst mit mir streiten? Zu Bett! Aber erinnere dich unseres Paktes gegen den Bringer der Zwietracht. Hinfort bist du Harald Rübe, der kühne und geschickte Zauberer.“ Shea stellte noch eine Frage. „Und was, bitte, ist ein Zauberer, Herr?“ „Hoho! Kind einer anderen Welt, deine Unwissenheit ist größer als ein Berg und tiefer als ein Brunnen. Ein Zauberer ist ein Hexenmeister, ein Verwünscher, der Weber von Beschwörungen; er erhebt die Herzen. Gute Nacht, Harald Rübe.“ Der Schlafraum hatte eine Schiebetür und war kaum größer als ein Schlafwagenabteil, nur hatte er keine Ventilation. Die Halme des Strohsacks stachen ihn, er fand alles äußerst unbequem. Nachdem er sich eine Stunde lang ruhelos umhergewälzt hatte, war er wacher als zuvor. Er dachte an dies und jenes, bis ihm einfiel, daß er ja ein Experiment zu bestehen hatte und die schlaflosen Stunden dazu benützen konnte, dessen Ergebnisse zu überdenken. Und worin bestanden sie?
Nun, erstens mußte er sich entweder in der Gleichung selbst oder in ihrer Anwendung geirrt haben: deshalb hatte er sich in die Welt skandinavischer Mythologie oder Geschichte versetzt. Er neigte dazu, die erste Möglichkeit anzunehmen. Diese Leute sprachen so überzeugt von ihrem Ragnarok. Er als Psychologe mußte ihre Lauterkeit anerkennen. Odins und auch Heimdalls eisiger Blick war auch etwas, das über jede normale menschliche Erfahrung hinausging. Vielleicht eine Art Hypnose? Jedoch zweifelte er daran, ob deren Technik, ja selbst die Idee an sich, diesen alten Wikingerhäuptlingen bekannt war. Nein, an ihnen war entschieden mehr als nur Menschliches. Trotzdem hatten sie genug menschliche Eigenschaften an sich. Ein erfahrener Psychologe sollte eigentlich in der Lage sein, sie analysieren und die Ergebnisse anzuwenden. Odin? Nun, er war unterwegs zu den Pforten der Hölle, und Shea hatte kein Bedürfnis, ihm dorthin zu folgen. Aus ihm war nicht viel herauszuholen; allerdings – seine Würde blieb. Loki? Er hatte eine ätzend scharfe Zunge, und die wies auf einen scharfen Geist hin, vielleicht auch auf eine gewisse Bosheit. Onkel Fuchs, wie Thjalfi ihn nannte, hatte angeblich Sinn für Spaße. Shea sagte sich allerdings, daß sie manchmal ziemlich makaber sein dürften. Es mußte schwierig sein, für ihn zu arbeiten, aber Shea lächelte in sich hinein, wenn er daran dachte, wie er einen Gott mit etwas so Einfachem wie einem Zündholz verblüffen könnte. Frey hatte er kaum bemerkt, und Thor war anscheinend nicht viel mehr als ein großer, gutmütiger Raufbold; Thjalfi
dagegen konnte man praktisch in jeder Kleinstadt antreffen, nur daß er statt der Bibel die Edda zitierte. Heimdall war ein völlig anderer Charakter. Sicher hatte er nicht Lokis Humor, aber auch nicht dessen Bosheit. Darüber hinaus besaß er einen gewissen Sinn für Würde; Beweis: er bestand auf seinen Titeln. Aber es schien, als akzeptiere er auch die Verantwortung seiner Stellung, werfe Herz und Seele in die richtige Waagschale und dazu noch einen guten Kopf; das konnte man von Loki nicht unbedingt behaupten. Vielleicht haßte er Loki deshalb auch. Und Heimdall hatte unter seiner würdigen Schale eine gewisse Herzensfreundlichkeit. Man konnte auf ihn zählen. Er entschied, daß er Heimdall am liebsten mochte von allen; mit diesem Gedanken schlief er ein. 4. Kapitel Shea erwachte mit pelziger Zunge und fürchterlichen Kopfschmerzen, die ihm das Gefühl vermittelten, in seinem Gehirn tropfe eine Wasserleitung. Vielleicht war der Met daran schuld, vielleicht aber auch der Eiszapfenblick von Heimdall und Odin. Er wußte es nicht. Jedenfalls beschloß er, nach Möglichkeit alle drei zu meiden. Als die Schiebetür seines Schlafraumes zurückglitt, hörte er Stimmen in der Halle. Thor, Loki und Thjalfi saßen beim Frühstück und arbeiteten mit Messern und Fingern an Steaks von der Größe eines Konversationslexikons. Der fuchsgesichtige Loki begrüßte ihn freudig: „Heil, du Held der Rübenfelder! Will Eure Herrlichkeit uns die Ehre erweisen, mit uns zu frühstücken?“
Er schob einen Holzteller mit gewaltigen Fleischbrocken vor Shea und ließ ihm einen gefüllten Krug folgen. Sheas Mund war trocken, aber trotzdem schauderte ihn, als er beim ersten Schluck feststellte, daß es Bier war, noch dazu saures. Loki lachte. „Lächerlich ist es“, sagte er, „die Kinder der Menschen zu sehen, die keine festen Sitten haben, wie unbehaglich sie sich fühlen, wenn die Sitten ihrer Umgebung sich ändern. Harald von den Rüben, ich habe gehört, du seist ein bemerkenswerter Zauberer.“ Shea blickte auf seinen Teller. „Ach, ich kenne ein paar Tricks“, gab er zu. „Ein Held von solch ungewöhnlicher Macht ist gewöhnlich bescheiden. Nun, es muß gesagt werden: Ein Mann fährt schlecht in Ragnarok, wenn er nicht an seinem Platz steht. Willst du einer von meinen Männern sein, wenn die Zeit kommt?“ Shea schluckte. Die Geschichte von dem bevorstehenden Kampf und dem Ende der Welt hatte ihn noch nicht überzeugt, aber er konnte ja im Strom mitschwimmen, solange er es schaffte. „Ja, Herr, und ich danke Euch“, sagte er. deshalb. „Der Wurm geruht, auf den Schwingen des Adlers zu reiten. Dank, gnädigster aller Würmer. Dann will ich dir sagen, was du zu tun hast. Du mußt mit uns nach Jötunheim, und das wird eine harte Fahrt sein.“ Shea erinnerte sich der Unterhaltung mit Heimdall vom Abend vorher. „Leben dort nicht die Riesen?“ „Die Frostriesen, um genau zu sein. Dieser lügenhafte Schlaflose behauptet, irgendwo dort in der Burg Thors
Hammer summen zu hören, und für uns alle wird es gut sein, diese Waffe zu finden. Aber für diese Aufgabe brauchen wir alles an Stärke und Zauber, was wir auftreiben können – wenn nicht du, Herr Rübenesser, glaubst, du kannst ihn ohne unsere Hilfe entdecken.“ Wieder schluckte Shea. Sollte er mit ihnen gehen? Abenteuer wollte er zwar erleben, aber was zuviel war, war zuviel. Was ist Abenteuer? erinnerte er sich irgendwo gelesen zu haben, und die Antwort lautete: wenn jemand tausend Meilen weit weg eine höllisch eklige Zeit hinter sich bringt. Nur … Thjalfi kam um den Tisch herum. „Schaut mal, flüsterte er, „meine Schwester Röskva bleibt hier an den Kreuzwegen, denn der Riesentöter glaubt, Jötunheim ist kein Platz für Frauen. Dann bleibe ich allein mit diesen Äsir und einer schrecklichen Menge von Riesen. Ich wäre Euch unendlich verpflichtet, wenn Ihr es möglich machen könntet, mir Gesellschaft zu leisten.“ „Das werde ich“, sagte Shea laut. Dann überlegte er, daß seine Voreiligkeit ihn in allerhand Schwierigkeiten bringen konnte. Waren Loki und Thor nicht überzeugt, daß sie den Hammer selbst entdecken konnten, mußte das Unternehmen auf Schwierigkeiten stoßen. Aber weder die Äsir noch die Riesen wußten etwas von Zündhölzern oder einem Revolver. Die würden zum Zaubern genügen – bis ihm besseres einfiel. „Ich habe schon mit dem Herrn des Ziegenwagens gesprochen“, erklärte Thjalfi. „Er würde sich freuen, wenn Ihr mitkommen wolltet; aber er sagt, Ihr solltest ihn nicht entehren, indem Ihr Rüben eßt. Außerdem wäre es besser,
für andere Kleidung zu sorgen. Diese hier ist zu leicht für unser Klima. Sverre wird Euch etwas leihen.“ Sverre nahm mit Vergnügen den Polomantel als Sicherheit für einige ausgebeulte nordische Kleidungsstücke an. Shea, nun ähnlich gekleidet wie seine Umgebung, ging hinaus. Eine niedrigstehende, blasse Sonne schien über den blendendweißen Neuschnee. Shea war froh über die etlichen Yards rauher Wolle, in die er gewickelt war. * Das Ziegengefährt stand bereit. Es war so groß wie ein Heuwagen, hatte aber nur zwei Räder. Unter dem goldenen Rand waren schwarze Runen eingeritzt. Der Aufbau trug rotgoldene Malerei. Aber die Ziegen waren außerordentlich bemerkenswerte Geschöpfe. Eine war schwarz, die andere weiß, und sie hatten die Größe von Rössern. „Die hier heißt Zähneklapperer und die andere Zähneknirschen’, erklärte Thjalfi. „Freund Harald, ich wäre Euch sehr verbunden, wenn Ihr mir helfen würdet, das ganze Zeug herauszubringen.“ Shea hatte keine Ahnung, was das „Zeug“ war und folgte Thjalfi nach drinnen, wo dieser auf eine riesige Eichentruhe deutete. Das, erklärte er, sei die Habe der Äsir. Thjalfi hob das eine Ende an einem Bronzegriff an, Shea packte den anderen und dachte, damit hätte er es geschafft. Aber die Truhe rührte sich nicht. Er sah Thjalfi an, aber der hielt sein Ende immer noch angehoben, anscheinend ohne jede Mühe. Also nahm Shea den Griff mit beiden Händen und strengte sich gewaltig an; das Ding schien mit Bleibarren
beladen zu sein. Endlich stolperte er hinter Thjalfi durch die Tür. Die Arme brachen ihm fast ab, aber er hielt aus, um sein Gesicht nicht zu verlieren. Am Wagen angelangt, ließ Shea sein Ende in den Schnee fallen, und beinahe wäre er zusammengebrochen. Die eisige Luft stach in seine angestrengten, keuchenden Lungen. „Gut“, sagte Thjalfi ruhig, „Ihr hebt hier an, damit wir das Ding hinaufkriegen.“ Shea zwang seinen unwilligen Körper, zu gehorchen. Endlich hatten sie das vordere Ende auf dem Wagen und schoben den Rest hinterher. Shea war es unangenehm, daß Thjalfi drei Viertel der Arbeit getan hatte, aber der Rauhe schien das gar nicht zu bemerken. Shea lehnte sich an den Wagen und wartete darauf, daß sein Herz sich wieder beruhigen möge, die Schmerzen in Armen und Brust wieder nachließen. „Nun ist bewiesen“, sprach eine Stimme, „daß Thjalfi wieder einen Sterblichen überredet hat, seine Arbeit zu teilen. Thjalfi paßt das wohl.“ Es war der fuchsgesichtige Loki, und wie üblich spöttelte er. Shea wurde böse. Thjalfi war ganz in Ordnung, aber Loki stellte es so hin, daß Shea für dessen schmutzige Arbeit ausgenützt wurde. Plötzlich erinnerte sich Shea Lokis Titel, „Bringer der Zwietracht“, und Thjalfis Warnung vor Lokis Scherzen. Onkel Fuchs hätte sicher seinen Spaß daran, wenn sich zwei Sterbliche in die Haare gerieten, aber das mußte er, Shea, zu seinem eigenen Besten vermeiden. Jemand zupfte ihn am Mantel; er drehte sich um. Zähneknirscher hatte den Saum seines Gewandes zwischen den Zähnen und versuchte, es wegzuziehen. „He!“ schrie Shea und zog seinerseits daran. Die riesige
Ziege schüttelte den Kopf und zog kräftiger an, während Loki mit den Händen an den Hüften dabeistand und schallend lachte. Er rührte keinen Finger, um Shea zu helfen. Thjalfi rannte zu Hilfe und zog aus Leibeskräften; endlich gab das Gewebe nach, und die beiden Sterblichen flogen nach rückwärts in den Schnee. Zähneknirscher kaute auf dem abgerissenen Stück und verschluckte es. Shea zog ein finsteres Gesicht und sah den vor Lachen roten Loki an. „Sagt mal“, begann er ärgerlich, „was, zum Teufel, ist denn da so spaßig dran?“ In diesem Augenblick packte ihn Thjalfi von hinten und riß ihn mit sich, als sei er ein kleines Kind. „Haltet den Mund, Dummkopf!“ rief er. „Wißt Ihr denn nicht, daß ein einziger Blick von ihm Euch zu Zunder verbrennen kann?“ „Aber …“ „Nichts aber! Das sind doch Götter! Ganz gleich, ob sie ,buh’ zu Euch sagen oder Schlimmeres. So ist das eben.“ „Okay“, brummte Shea und überlegte, daß alle kleinen Leute dieser Welt ein wenig zu schnell mit ,so ist es eben’ bei der Hand sind. Aber sollte sich einmal die Gelegenheit ergeben, würde er es diesem Loki schon heimzahlen. „Und nehmt Euch vor den Ziegen in acht“, warnte Thjalfi. „Sie sind bösartig und fressen fast alles. Vor zwei Wochen haben wir fünf Männer gefunden, die im Moor erfroren waren. Ich sagte, wir sollten sie ihrer Sippe bringen, damit sie beerdigt werden könnten. Als wir zu dem Haus kamen, wo wir bleiben wollten, erlaubte der Bauer nicht, daß wir sie mit hineinnahmen. Sie müßten draußen bleiben, weil sie sonst so stark riechen würden. Deshalb haben wir sie im Hof aufgestapelt – wie Feuerholz. Ob Ihr es glaubt
oder nicht, am nächsten Morgen hatten sich die Ziegen darübergemacht und sie aufgefressen. Nur die Schnallen waren noch übrig.“ Thjalfi kicherte in sich hinein. Shea versuchte noch immer, diese Art nordischen Humors zu verdauen, da hörte er den Ruf: „Vorwärts, Sterbliche!“ Er kam von Thor, der in den Wagen geklettert war. Er schnalzte den Ziegen zu, die sofort kräftig anzogen. Die Räder kreischten und begannen, sich zu drehen. „Beeilt Euch!“ schrie Thjalfi und rannte hinter dem Gefährt her. Mit einem riesigen Satz war er schon droben als Shea erst zu laufen begann. Keuchend versuchte er das Gefährt zu erreichen und sich hinaufzuschwingen, aber seine von der Kälte klammen Finger rutschten ab, und er fiel, mit dem Gesicht voran, in den Schnee. Er hörte Lokis gellendes Lachen. Als er wieder auf die Beine kam, dachte er mit Bitterkeit daran, daß er diese Reise unternommen hatte, um der Eintönigkeit und Unausgeglichenheit seines früheren Lebens zu entrinnen. Ihm blieb nichts anderes übrig, als hinter dem Wagen herzulaufen. Thjalfi zog ihn endlich hinauf. „Nächstens sucht Ihr Euch besser einen sicheren Griff, bevor Ihr zu springen versucht“, riet er. „Ihr wißt doch, was Havamal sagt: Es ist besser, zu leben, Denn eine Leiche zu sein. Nur der schnelle Mann Erreicht den Wagen.“ Thor, der vorn im Wagen saß, rief den Ziegen etwas zu; sie fielen vom Trott in einen flotten Galopp. Shea klammerte sich am Wagenrand fest und bemerkte, daß das
Fahrzeug keine Federung hatte. Er versuchte, die Stöße mit dem Körper aufzufangen. Loki beugte sich grinsend zu ihm herüber. „He, Harald Rübe, laß uns fröhlich sein!“ Shea lächelte gequält. Die Stimme des Gottes schien zwar freundlich zu sein, aber dahinter konnte ein boshafter Trick stecken. „Sei fröhlich, solange du kannst“, fuhr Loki fort. „Diese Bergriesen, zu denen wir gehen, haben keinen Humor. Hehe, ich erinnere mich eines Zauberers namens Birger. Er hat einen Zauber auf einen der Bergriesen gelegt, und der hat statt eines Mädchens eine Ziege geheiratet. Der Riese schlitzte Birger auf und band das eine Ende seiner Eingeweide um einen Baum. Dann jagte er ihn herum. Hehe!“ Appetitlich war diese Geschichte nicht, und außerdem schaukelte das Vehikel in einem solchen Höllentempo, daß Shea um sein Frühstück fürchtete. „Ihr seht schlecht aus, Freund Harald“, meinte Thjalfi, „ganz grün. Wollt Ihr etwas zu essen haben?“ Shea focht wie ein Held mit seinem Magen, aber das Wort „essen“ entschied den Kampf. Er lehnte sich zum Wagen hinaus. Loki lachte. Thor drehte sich um und deckte Lokis Gelächter mit seinem Röhren zu. „Hahahaha! Wenn du mir mein Gefährt verdirbst, Rübenharald, dann mußt du es auch wieder saubermachen!“ Das klang aber wesentlich gutmütiger als Lokis Gelächter. Endlich beruhigte sich Sheas Magen wieder; er setzte sich auf die Truhe und sehnte den Tod herbei. Vielleicht war der Sitz zu unbequem, denn er stand bald wieder auf und zwang sich zu einem Grinsen. „Jetzt geht’s mir wieder
ganz gut. Diese Geschwindigkeit bin ich nur nicht gewöhnt.“ Thor drehte sich wieder um und lachte. „Du glaubst, das sei schnell, du Springinsfeld? Du hast noch nicht erlebt, was Geschwindigkeit ist. Gib acht.“ Er pfiff, die Ziegen streckten die Köpfe und legten nun erst richtig los. Das Gefährt schien die meiste Zeit zu fliegen; ab und zu krachte es mit einem gewaltigen Schlag über eine Querfurche und flog wieder weiter. In Todesangst klammerte sich Shea fest. Er schätzte das Tempo auf etwa sechzig bis siebzig Stundenmeilen … Das war natürlich nicht viel für ein modernes Automobil auf einer Betonstraße, auf einem ausgefahrenen, schneebedeckten Pfad und in einem ungefederten zweirädrigen Vehikel aber eine ganze Menge. „Hohohoho!“ schrie Thor, angefeuert von seinem eigenen Vergnügen an der Fahrt. „Festhalten, es kommt eine Kurve!“ Statt die Ziegen ein wenig zu zügeln, nahm Thor mit unverminderter Geschwindigkeit die Kurve; der Wagen wurde in die entgegengesetzte Richtung geschleudert. Shea schloß ergeben die Augen. So ging es ungefähr noch zehn Minuten weiter, bis Thjalfi einen Imbiß vorschlug. Auch Shea verspürte Hunger, wenn ihm auch beim Anblick einiger Stücke offensichtlich angesengten Leders der Appetit verging. „Hupt – was ist das?“ „Geräucherter Salm“, erklärte Thjalfi. „Ihr steckt ein Ende in den Mund, so. Dann beißt Ihr ab. Dann schluckt Ihr. Hoffentlich könnt Ihr schlucken?“ Shea versuchte es. Wie konnte ein Fisch nur so zäh sein? Aber als er darauf herumkaute, entdeckte er, daß er köst-
lich schmeckte. Wenn ich zurück bin, überlegte er, muß ich sehen, daß ich so was kriege. Das heißt, falls ich zurückkomme … Im Laufe des Nachmittags wurde es etwas wärmer, und gegen Abend spritzten von den Rädern ganze Schlammfontänen auf. Thor röhrte „Wog!“ und die Ziegen blieben stehen. Sie waren an einer Senke zwischen zwei Hügeln angelangt; da und dort schauten zwischen Schneeflecken Büschel dunklen Grases heraus. Es war grau in der Mulde, und einige dürftige Nadelbäume standen wie schwarze Schatten im Zwielicht. „Hier kampieren wir“, sagte Thor. „Ziegenbraten wäre ein Festessen, hätten wir nur Feuer.“ „Was meint er damit?“ flüsterte Shea. „Das ist eine von des Donnerer Zauberkünsten“, erklärte Thjalfi. „Er schlachtet eine der Ziegen, und wir lassen nur Haut und Knochen übrig. Dann erweckt er sie wieder zum Leben.“ „Feind der Würmer“, sagte Loki zu Thor, „es ist ungewiß, ob mein Feuerzauber hier wirkt. Im Land der Bergriesen steht Beschwörung gegen Beschwörung. Was ist mit deinem Blitz?“ „Er kann etwas zerschmettern oder erschlagen, nicht aber zünden in dieser Nässe hier“, brummte Thor. „Aber du hast doch einen neuen Zauberer. Warum bringst du ihn nicht an die Arbeit?“ Shea wühlte nach seinen Zündhölzern. Er fand sie, und sie waren auch noch trocken. Jetzt hatte er eine Chance. „Das ist ganz leicht“, meinte er, „ich mache mit einem Fingerschnippen Feuer. Ehrlich.“
Thor sah ihn mißtrauisch an. „Wenige der Weichlinge wirken Werke“, sagte er nachdrücklich. „Ich sage immer, Stärke und Mut muß der Mann haben. Aber ich will nicht bestreiten, daß meine Brüder gelegentlich anders denken, und vielleicht kannst du tun, wie du sagst.“ „Es gibt auch noch die Klugheit, Herrscher von Mjöllnir“, bemerkte Loki. „Selbst dein Hammerschlag bleibt wirkungslos, wenn du nicht weißt, wohin du schlagen mußt. Und vielleicht kann dieser Ausländer uns etwas Neues zeigen. Ich schlage einen Wettkampf zwischen uns und dem Zauberer vor. Wer zuerst Feuer macht, darf allen anderen eine ‘runterhauen.“ „He!“ widersprach Shea. „Wenn Thor mich zerschmettert, werdet Ihr Euch einen neuen Zauberer suchen müssen.“ „Das wird nicht schwierig sein.“ Loki grinste und rieb sich die Hände. Shea glaubte zwar, daß der schlaue Gott sogar am Begräbnis seiner Mutter Freude hätte, aber er grinste zurück und glaubte, in Onkel Fuchs’ Augen so etwas wie Anerkennung zu sehen. Shea und Thjalfi trampelten durch den Schlamm zu den mageren Fichten. Er zog sein rostfreies Messer heraus und stellte zu seiner Enttäuschung und Betrübnis fest, daß es eine ganze Anzahl rotbrauner Flecken aufwies. Wie ein Wilder hackte er Äste und Zweige ab und häufte sie auf einen schneefreien Fleck, der aber auch vor Nässe feucht war. „Wer versucht es zuerst?“ fragte Shea. „Seid nicht dümmer als Ihr sein müßt“, wisperte Thjalfi, „natürlich der Rotbart zuerst.“
Thor ging zum Reisighaufen und streckte seine Hände darüber. Bläuliches Licht spielte um seine Finger und prasselnde Blitze fuhren von ihnen zum Reisig. Der Haufen bewegte sich ein wenig und ein paar Dampfwölkchen stoben auf. Thor fürchtete die Brauen in Konzentration; wieder zuckten die Blitze – ein Feuer entzündeten sie jedoch nicht. „Das Holz ist zu feucht“, knurrte Thor. „Nun, Schlauer, wirst du’s versuchen.“ Loki streckte die Hände aus und murmelte etwas so leise, daß Shea es nicht verstehen konnte. Ein rosavioletter Schimmer ging von seinen Händen aus und tanzte über den Zweigen. Das seltsame Licht erhellte Lokis sandroten Schopf, die hohen Wangenknochen und schrägen Brauen; es sah gespenstisch aus. Seine Lippen bewegten sich fast lautlos. Das Reisig dampfte ein wenig, entzündete sich aber nicht. Loki trat zurück. Der magische Schimmer verglomm. „Die Arbeit einer Nacht“, seufzte er. „Jetzt laßt uns sehen, was unser Zauberer vollbringt.“ Shea hatte ein paar Zweige ausgesucht, die er an seinen Kleidern trockenrieb; damit baute er eine Art Indianerzelt; sie waren zwar noch immer noch feucht, aber er vertraute darauf, daß sie genügend Harz enthielten, um Feuer zu fangen. „Jetzt“, kündigte er ein wenig großspurig an, „gebt acht. Das ist großer Zauber.“ Er fingerte in der Schachtel herum, bis er ein gewöhnliches Küchenzündholz fand. Seine drei Gefährten hielten den Atem an. Er rieb das Hölzchen an der rauhen Fläche. Nichts geschah. Er versuchte es noch mal. Wieder nichts. Er warf das
Zündholz weg und probierte ein anderes, ebenso erfolglos. Er nahm zwei auf einmal. Er schob die Küchenzündhölzer in die Tasche und holte die Schachtel mit den Spezialsicherheitshölzchen heraus; aber das Resultat war auch nicht besser. Es gab gar keinen ersichtlichen Grund, weshalb sie nicht zündeten. Er stand auf. „Tut mir leid“, sagte er, „aber irgend was ist nicht in Ordnung. Einen Augenblick noch, ich muß mal in meinem Zauberbuch nachsehen.“ Das Licht reichte noch aus, daß er in seinem Pfadfinderbuch nachsehen konnte, was er tun mußte; vielleicht Holz aneinanderreihen. Er schlug es auf, lugte hinein, blinzelte, schüttelte den Kopf und sah noch mal hinein. Aber die schwarzen Zeichen, die doch eigentlich gedruckte Sätze sein müßten, waren völlig sinnlos. Ein paar Buchstaben kamen ihm bekannt vor, aber die Worte verstand er nicht. Er blätterte das Buch durch – überall dasselbe. Selbst ein paar Diagramme ohne Text begriff er nicht. Mit offenem Mund stand Shea da und wußte nicht, was jetzt tun. „Nun, wo ist das Zauberfeuer?“ murrte Thor. Loki kicherte. „Vielleicht zieht er ungekochte Rüben vor.“ „Ich – tut mir leid, Herr“, stammelte Shea. „Ich fürchte, es geht nicht.“ Thor hob seine riesige Faust. „Es ist höchste Zeit, mit einem lügenhaften und schwachen Kind, das unsere Hoffnungen weckt, zu Ende zu kommen; es hat uns zu kaltem Salm verdammt.“ „Nein, Bezwinger der Riesen“, erwiderte Loki, „halte dich zurück. In diesem melancholischen Land ist es immer
gut, etwas zum Lachen zu haben. Vielleicht kann ich ihn dort brauchen, wohin wir gehen.“ „Die Verantwortung liegt bei dir“, knurrte Thor und ließ seinen Arm sinken. „Ich bin nicht unfreundlich zu den Kindern der Menschen, aber Lügner mag ich nicht. Wenn ich behaupte, ich kann etwas tun, dann tue ich es.“ „Bitte Herr“, ließ sich Thjalfi vernehmen, „dort drüben ist etwas Dunkles.“ Er deutete zum Ende des Tales. „Vielleicht finden wir dort Obdach.“ Thor brummte Zustimmung. Sie stiegen in den Wagen und fuhren auf die dunkle Masse zu. Shea schwieg; die finstersten Gedanken gingen ihm durch den Kopf. Er hatte seine Stellung als psychologischer Forscher am GaradenInstitut aufgegeben, um auf Abenteuer zu gehen, oder vielleicht nicht? Einer Stellung wollte er entrinnen, die ihm untergeordnet und langweilig vorkam. Nun ja, hier war er überhaupt nichts und dazu von der Welt abgeschlossen. Warum hatte er aber versagt? Es gab keinen vernünftigen Grund, daß die Zündhölzer nicht brannten, daß das Buch voll unverständlicher Kritzelei war – oder daß seine Taschenlampe am Abend vorher versagt hatte. „Beim Bart Odins“, flüsterte ihm Thjalfi zu, „ich schäme mich Euretwegen, Freund Harald. Weshalb habt Ihr versprochen, Feuer zu machen?“ „Ich dachte, ich könnte es, wirklich“, erwiderte Shea düster. „Nun, vielleicht ist es so. Der Donnerer ist sehr böse auf Euch. Ihr könnt Onkel Fuchs dankbar sein, er hat Euch das Leben gerettet. Er ist nicht so schlimm, wie manche Leute denken, das sage ich immer. Wenn einer in der Klemme ist
– er hilft einem heraus.“ Der dunkle Fleck entpuppte sich als seltsam geformtes Haus. Das Dach war gerundet und das vordere Ende fast offen. Zu seiner Überraschung stellte Shea fest, daß Fußboden, Wände und Decke aus einem linoleumähnlichen Material bestanden. Es schien nur einen einzigen, breiten, niederen Raum ohne Licht und Möbel zu enthalten. Am anderen Ende entdeckten sie fünf Korridore, die im Kreis um den Hauptraum standen, aber niemand machte sich die Mühe, sie zu erforschen. Thjalfi und Shea zogen die schwere Truhe vom Wagen und entnahmen ihr Decken. Zum Abendessen gab es geräucherten Salm. Thors buschige Brauen waren ärgerlich gefurcht. „Ich glaube“, sagte Loki schließlich, „unser feuerloser Zauberer hat die Geschichte deines Fischzuges noch nicht gehört, Sohn des Jörd.“ „Oh“, meinte Thor, „diese Geschichte ist nicht unbekannt. Aber es ist gut, wenn die Menschen sie hören und von ihr lernen. Laß mich nachdenken …“ „Odin bewahre uns!“ flüsterte Thjalfi in Sheas Ohr. „Ich hab sie schon millionenmal gehört.“ „Ich hatte den Riesen Hymir zu Gast“, dröhnte Thor, „und wir ruderten weit in die blaue See hinaus. An meiner Angel hatte ich einen ganzen Ochsenkopf, denn ich wollte den Fisch fangen, der eines Mannes Stärke wert ist. Sofort wußte ich. daß ich den größten Fisch hatte, die Midgardschlange, denn seine Kraft war ungeheuer. Drei Wale konnten nicht so ziehen. Neun Stunden lang spielte ich mit der Schlange, bevor ich sie hereinzog. Als ihr Kopf über
die Bordwand kam, versprühte sie in vergeblichem Zorn Gift. Es fraß Löcher in meine Kleidung. Ihre Augen waren so groß wie Schilder und ihre Zähne so lang.“ Er breitete im Dämmerlicht die Hände aus. „Ich zog, aber auch die Schlange zog. Ich war mit Stärke gegürtet, und meine Füße bohrten fast Löcher in den Boden des Schiffes. Fast hatte ich das Ungeheuer schon an Bord – ich spreche die Wahrheit –, da bekam Hymir Angst und schnitt die Leine durch! Das größte Tier, das je ein Fischer fing – und es entkam! Aber Hymir schlug ich so zusammen, daß er es nie vergessen wird“, fügte er düster hinzu. „Nur, die Trophäe, die ich an die Wände von Thrundvang hängen wollte, habe ich nicht bekommen.“ Thjalfi sang Shea ins Ohr: „Ein Mann soll nicht weinen Über den Fisch, der entfloh, Oder den Bären, den er nicht traf. Größer sind sie als jene, Deren Köpfe in der Halle hängen. So sagt wenigstens Atlis Draper.“ Loki kicherte; er hatte es gehört. „Es ist wahr, Jüngling. Hätte ein anderer als unser Freund und großer Beschützer die Geschichte erzählt – ich würde sie bezweifeln.“ „Du willst sie nicht glauben?“ murrte Thor. „Willst du meine Faust spüren?“ Er holte aus, Loki duckte sich. Thor lachte gutmütig. „Zwei Dinge bezweifeln Götter und Sterbliche: Geschichten vom Fischen und die Tugend der Frauen.“ Er legte sich auf seine Decken zurück, holte zweimal tief Atem und begann zu schnarchen. Auch Loki und Thjalfi schwiegen.
Shea konnte nicht schlafen und dachte über den Tag mit seinen Ereignissen nach. Er hatte sich ziemlich blamiert. Das war enttäuschend, denn allmählich konnte er diese Leute ganz gut leiden, selbst den unnahbaren und polternden Thor. Der Bursche war ganz in Ordnung. Man konnte sich auf ihn verlassen, sogar in Situationen, die allen Mut erforderten. Recht und Unrecht trennte bei ihm eine haarscharfe Linie, Recht war weiß, Unrecht schwarz. Wenn andere sich schwach zeigten, war er enttäuscht. Was Loki anging, war er sich nicht im klaren. Onkel Fuchs hatte ihm zwar das Leben gerettet, aber sein eigenes Interesse spielte dabei eine wesentliche Rolle. Loki wollte sich seiner bedienen – nicht nur als Ziel seiner Spaße. Dieser scharfe Geist hatte zweifellos erfaßt, welch ungewöhnliche Ausrüstung Shea aus dem zwanzigsten Jahrhundert mitgebracht hatte und rechnete damit, daß er Nutzen daraus schlagen könnte. Aber weshalb hatte seine Ausrüstung versagt? Weshalb konnte er ganz gewöhnlichen englischen Druck nicht mehr lesen? War es überhaupt Englisch? Shea versuchte, sich Geschriebenes vorzustellen. Das war leicht, und es bewies, daß er nicht zum Analphabeten geworden war. Aber Moment mal: was hatte er sich vorgestellt? Er konzentrierte sich auf die Zeile, die er vor sich sah: Er buchstabierte daran herum. Das waren doch nicht die Lettern des lateinischen Alphabets? Er machte noch einen Versuch. „Mann“ sah so aus:
Irgend etwas stimmte da nicht. Aber dann wurde ihm plötzlich klar, was geschehen war. Chalmers hatte völlig recht gehabt. Sein Kopf war angefüllt mit den Grundlagen seiner neuen Welt. Als er sich von seinem sicheren Institut des Mittelwestens in diese heulende Wildnis versetzte, hatte er automatisch die Sprache gewechselt. Wäre es anders, dann wäre auch die Übertragung nur eine teilweise, er wäre ein Idiot – geisteskrank. Aber die Übertragung war eine vollständige. Er sprach und verstand die altnordische Sprache, kannte die alten nordischen Götter, aß altnordische Nahrung. Deshalb war es ganz natürlich, daß er die Leute verstand. Aber gleichzeitig war es selbstverständlich, daß seine Kenntnis des Englischen geschwunden war. Wenn er an das Wort „Mann“ dachte, sah er vor sich ausschließlich die Form der Runen: Er konnte sich nicht einmal mehr vorstellen, wie die Runen in andere Buchstaben zu übertragen wären. Und er konnte das Handbuch der Pfadfinder nicht mehr lesen. Klar, daß seine Gebrauchsgegenstände versagen mußten. Er lebte in einer Welt, die nicht von den physikalischen Gesetzen des zwanzigsten Jahrhunderts regiert wurde. Zündhölzer oder Taschenlampen hatten hier keinen Platz, ebensowenig wie rostfreier Stahl. Diese Dinge wären jedem seiner Umgebung unverständlich gewesen; deshalb existierten sie nicht – oder nur als wertlose Spielereien. Nun, dachte er schläfrig, jedenfalls brauche ich mich nicht zu schämen, weil ich vor ihnen eine so« schlechte Figur machte. Jetzt bin ich so tief gefallen, daß es noch tiefer gar nicht geht. Ach, zum Teufel …
5. Kapitel Shea erwachte vor Tagesanbruch und fror entsetzlich. Die Temperatur lag zwar noch über dem Gefrierpunkt, aber es wehte ein scharfer Wind, und die graue Landschaft lag hinter einem Vorhang strömenden Regens. Er setzte sich auf, gähnte und drapierte die Decke um sich herum wie ein Indianer. Die anderen schliefen noch; er versuchte, über seine Lage nachzudenken. Diese Welt, in der er jetzt lebte, hatte ihre eigenen Gesetze. Aber welcher Natur waren sie? Etwas hatte die Versetzung in diese Welt ihm nicht rauben können: seinen modern geschulten Geist, der nach allgemeinen Regeln jeden einzelnen Vorfall studierte und zerlegte. Es mußte ihm doch möglich sein, die Gesetze seiner jetzigen Welt zu analysieren und festzuhalten – und sie anzuwenden; das war etwas, wovon sich der rauhe Thjalfi überhaupt keine Vorstellung machen konnte. Bis jetzt hatte er nur ein einziges Gesetz festgestellt: daß die Götter über ungewöhnliche Kräfte verfügten. Aber darüber hinaus gab es sicherlich noch andere Regeln. Thors Schnarchen ging in ein keuchendes Rasseln über. Der rotbärtige Gott rieb sich seine Augen, setzte sich auf und spuckte aus. „Auf, ihr Männer von Äsir!“ rief er. „Ah, Harald von den Rüben, du bist ja schon wach. Da dein Feuerzauber versagt hat, gibt es nur kalten Salm zum Frühstück.“ Er sah, wie Shea sich versteifte. „Na, na, sei nicht gleich beleidigt. Wir Äsir sind nicht unfreundlich zu den Sterbli-
chen, und ich habe noch viel größere Versager als dich gesehen, die sich dann doch noch ganz gut machten. Werde ein Mann, Jüngling. Paß auf, was ich tue, und mach es mir nach.“ Er gähnte, und dann verzog sich sein Gesicht zu einem strahlenden Lachen. Auch die anderen rührten sich. Thjalfi brachte geräucherten Salm. Das Zeug schmeckte ja wirklich köstlich, aber drei dieser Mahlzeiten nacheinander waren doch ein bißchen zuviel. Sie begannen gerade daran zu nagen, als sie von draußen ein schweres Trampeln hörten. Im Regen türmte sich eine riesige Gestalt auf, bei deren Anblick Sheas Kopfhaut zu prickeln begann. Sie sah wie ein Mann aus, war aber mindestens zehn Fuß hoch und hatte massive Säulenbeine. Es war ein Riese. Der bückte sich und lugte unter das schützende Dach. Sheas Herz klopfte zum Zerspringen; er drückte sich an die Wand und tastete nach seinem Jagdmesser. Das Gesicht, das da hereinschaute, war ebenfalls riesig, hatte graue, blutunterlaufene Augen, einen eisengrauen, struppigen Bart und sah beileibe nicht ermutigend aus. „Ungh“, knurrte der Riese und zeigte gelbe Hauer. Seine Stimme lag um etliche Oktaven tiefer als der tiefste menschliche Baß. „Tschuldigen die Herren, aber ich suche meinen Handschuh. Wie wär’s mit einem kleinen gemeinschaftlichen Frühstück, he?“ Shea, Thjalfi und Loki sahen Thor an. Der Rote Gott stand mit weit gespreizten Beinen da und sah minutenlang den Riesen prüfend an. „Gut ist es“, erklärte er schließlich,
„auf einer Reise Gastfreundschaft zu gewähren. Wir bieten geräucherten Salm an. Was hast du?“ „Ich heiße Skrymir, mein Söhnchen. Ich habe Brot und getrocknetes Drachenfleisch. Sagt, seid Ihr nicht Thor Odinsson, der Hammerwerfer?“ „Da hast du nicht unrecht.“ „Junge, Junge, ist das vielleicht nichts?“ Der Riese verzog sein Gesicht zu einem schauerlichen, doch freundlich gedachten Grinsen. Er griff nach einer Tasche, die auf seinem Rücken hing, setzte sich vor ihrem Obdach auf den Boden und öffnete sie. Shea konnte ihn nun besser sehen, aber der Eindruck wurde dadurch nicht günstiger. Das lange graue Haar des Ungetüms war zu einem Schopf zusammengewickelt, der von einem Knochenspieß festgehalten wurde. Er war gänzlich in Pelz gekleidet, und sein Mantel mußte vom Großvater aller Bären stammen, war aber nicht im mindesten zu groß für ihn. Skrymir brachte einen Fladen nordischen Brotes von Matratzengröße zum Vorschein und einen Brocken lederiggrauen Fleisches. Das alles klatschte er vor den anderen Reisenden auf den Boden. „Laßt was von eurem geräucherten Salm sehen, he?“ Thjalfi reichte ihm ein Stück davon, und der Riese machte sich geräuschvoll ans Werk. Er schmatzte, wischte sich ab und zu mit dem Rücken seiner riesigen Tatze über das Gesicht und verschmierte sich so gründlich mit Fischfett. Shea mußte das Brot mit dem Messergriff bearbeiten, so hart war es. Mit dem Drachenfleisch hatte er weniger Schwierigkeiten, nur mußte er es tüchtig kauen, und seine
Kinnladen schmerzten noch von der Arbeit der letzten vierundzwanzig Stunden. Das Drachenfleisch schmeckte scharf, etwas nach Knoblauch, den er nicht besonders mochte. Während Shea kaute, sah er eine Laus von der Größe einer ausgewachsenen Küchenschabe aus Skrymirs schwarzpelzigen Beinen kriechen und sich durch den Dschungel unter des Riesen Knie schlängeln; dann kroch sie zurück in ihren Unterschlupf. Shea verschluckte sich fast. Sein Appetit ließ plötzlich zu wünschen übrig, kehrte aber bald zurück. In letzter Zeit hatte er soviel durchgemacht, daß eine Laus nicht lange sein Interesse am Essen beeinträchtigen konnte. Was, zum Teufel, war schon eine Laus? Loki grinste. „Hast du Rüben in deiner Tasche, Haariger?“ fragte er schlau. Skrymir rümpfte die Nase. „Rüben? Nein. Was wollt ihr denn mit denen?“ „Unser Zauberer“ – er deutete mit dem Daumen auf Shea – „ißt sie.“ „W-wa-as? Keine Späße!“ rumpelte der Riese. „Ich hab von Kerlen gehört, die Käfer essen und Kuhmilch trinken, aber von einem, der Rüben ißt, hab ich noch nie gehört.“ „Davon bekomme ich meine Zauberkräfte“, behauptete Shea und lächelte gequält; er hatte sich damit, wie er glaubte, ganz gut aus der Affäre gezogen. Skrymir rülpste; es glich fast einem Erdbeben. Shea hielt die Luft an, bis die Erschütterung wieder abebbte. „Sagt, wie kommt es, daß ihr nach Jötunheim reist?“ fragte der Riese. „Der beschwingte Thor reist dorthin, wo er will“, erwi-
derte Loki leichthin, aber mit einem Seitenblick. „Schon recht, schon recht, aber du brauchst noch lange nicht schnippisch zu werden. Ich hab nur gedacht, daß ein paar Verwandte von Hrungnir und Geirröd auf Thor passen. Die möchten ganz gern mit ihm abrechnen, weil er diese Riesen vermöbelt hat.“ „Wenige werden erfreuter sein“, dröhnte Thor, „als ich, sie zu treffen.“ Aber Loki unterbrach ihn. „Vielen Dank für die Warnung, Freund Skrymir. Gut ist es, Gäste zu haben, wenn sie freundlich sind. Wir wollen es dir gern bald vergelten. Willst du noch Salm?“ „Nein, ich bin satt.“ „Wäre es unverschämt zu fragen“, fuhr Loki seidenglatt fort, „wohin Eure Riesenheit sich begibt?“ „Ach, ich bin auf dem Weg nach Utgard. Utgardaloki gibt ein großes Essen für alle Riesen.“ „Groß und glorreich wird dieses Fest sein.“ „Da hast du verdammt recht, es wird ein großes Fest. Alle Bergriesen und Frostriesen und die Feuerriesen auf einem Fleck beisammen – ob das nichts ist?“ „Es wäre ein großes Vergnügen für uns, es zu sehen. Wenn wir als Gäste eines so berühmten Riesen, wie du einer bist, mitkämen, dann würde doch keiner von Hrungnirs oder Geirröds Freunden Krach machen, oder?“ Skrymir verzog den Mund zu einem erfreuten Grinsen. „Die Knülche? Ha, die täten gar nichts!“ Er stocherte nachdenklich mit Daumen und Zeigefinger in den Zähnen. „Ja, ich glaub schon, daß ihr kommen könnt. Der große Chef, Utgardaloki, ist ein feiner Kerl und
ein Freund von mir. Ihr kriegt keinen Ärger. Wenn ihr jetzt aus meinem Handschuh ‘rauskommt, können wir aufbrechen.“ „Was?“ fragten alle vier auf einmal. „Ja. Mein Handschuh. Ihr habt drinnen geschlafen.“ Diese Feststellung war so alarmierend, daß die vier Reisenden sofort ihre Habseligkeiten zusammenpackten und in fieberhafter Eile aus ihrem Obdach herauskrochen – der mächtige Thor nicht ausgenommen. * Der Regen hatte etwas nachgelassen. Gewundene Nebelschlangen, perlig-grau vor dem dunkleren Grau der Wolken, krochen über die Hügel. Die Reisenden warfen einen Blick zurück auf ihr Obdach. Es gab gar keinen Zweifel mehr, daß es wirklich ein Handschuh war. Skrymir packte mit der Linken den oberen Rand der Öffnung und schob seine Rechte hinein. Shea konnte nicht genau erkennen, ob der Handschuh inzwischen zusammengeschrumpft war, damit er paßte, oder ob er nicht plötzlich verschwunden und durch einen kleineren ersetzt worden war. Gleichzeitig bemerkte er, daß er bis auf die Haut durchnäßt war. Bevor er aber noch Zeit hatte, darüber nachzudenken, fauchte ihn Thor an, er solle das Gefährt beladen helfen. Als er zusammengekauert auf der Truhe hockte und im Takt des Wagens schwankte, flüsterte Thjalfi ihm zu: „Ich wußte, Loki würde mit dem Haarigen zurechtkommen. Wenn man Klugheit braucht, kann man sich auf Onkel
Fuchs verlassen. Das sage ich immer.“ Shea nickte schweigend und nieste. Hoffentlich brachten ihm diese nassen Kleider nicht eine Erkältung ein. Die Landschaft war noch wilder und kahler als am Tag zuvor. Vor ihnen trampelte Skrymir, die Tasche auf seinem Rükken schwang im Rhythmus seiner Schritte, und der Geruch seines Schweißes wehte über den Wagen hin. Nasse Kleidung? Warum? Der Regen hatte aufgehört, als sie ihr Handschuhobdach verließen. Mit dem war es doch eine komische Sache. Die anderen, selbst die beiden Götter, hatten ohne zu zögern die Tatsache geschluckt, daß der Riese doch viel größer war, vielleicht auch viel mächtiger, als es schien. Er war zweifellos ein Riese, aber doch auch wieder kein so unermeßlich großer. Obwohl Shea vermutete, daß die Gesetze dieser Welt nicht mit denen seiner früheren übereinstimmten, gab es für ihn doch keinen Grund, sich vorzustellen, daß sich die Gesetze der Illusion geändert hätten. Er hatte lange genug Psychologie studiert, um die Standardmethoden zu kennen, wie sie von Bühnenzauberern angewandt wurden. Andere, denen Methoden und Techniken moderner Gedankengänge fremd waren, konnten nicht daran denken, tatsächliche Beobachtungen mit purer Logik zu zerpflücken. Deshalb würden sie nicht im Traum daran denken, beobachtete Tatsachen in Frage zu stellen … „Wißt Ihr“, flüsterte er Thjalfi zu, „ich habe mir gerade überlegt, ob Loki so gerissen ist, wie er glaubt, und ob Skrymir nicht schlauer ist, als er zu sein vorgibt.“ Der Diener der Götter warf ihm einen erstaunten Blick zu. „Ihr führt eine seltsame Rede. Weshalb?“
„Nun, sagtet Ihr nicht, daß die Riesen gegen die Götter kämpfen würden, wenn es zum großen Krach kommt?“ „Wirklich das tat ich: Schläge teilt Heimdall aus Das Horn ist erhoben; Die Asche wird zittern Und die Reifriesen reiten Auf den Wegen der Hölle … So sagt Voluspö, die Seherin.“ „Ist Skrymir nicht reichlich freundlich zu jenen, mit den er kämpfen wird?“ Thjalfi lachte schallend. „Ihr wißt wenig von Oku-Thor. Dieser Skrymir mag groß sein, doch Rotbart trägt den Gürtel der Stärke. Er könnte schnipp-schnapp diesen Riesen hier umlegen.“ Shea seufzte. „Aber schaut mal“, fuhr er fort, „habt Ihr nicht bemerkt, daß wir alle plötzlich naß wurden, als Skrymir seinen Handschuh anzog?“ „Ja, jetzt, da Ihr es sagt.“ „Ich glaube, daß da überhaupt kein Riesenhandschuh vorhanden war. Es war nur eine Illusion, ein Zauber, um uns zu erschrecken. Ohne es zu wissen, haben wir im Freien geschlafen und wurden naß. Aber gleichgültig, wer uns verzaubert hat, es war gut gemeint; wir fühlten die Nässe nicht, bis der Zauber gebrochen und der große Handschuh verschwunden war.“ „Vielleicht ist es so. Aber was beweist das?“ „Das beweist, daß Skrymir nicht von ungefähr auf uns traf. Das war geplant.“ Der Rauhe kratzte sich verwirrt den Kopf. „Mir scheint,
Freund Harald, Ihr habt zuviel Phantasie.“ Er warf einen Blick in die Runde. „Ich wollte, wir hätten Heimdall bei uns. Er kann im Dunkeln auf hundert Meilen und mehr sehen, und er hört die Wolle auf dem Rücken der Schafe wachsen. Aber es geht nicht, daß er und Onkel Fuchs beisammen sind. Thor ist der einzige der Äsir, der mit Onkel Fuchs fertig wird.“ Shea zitterte. „Sagt, Freund Harald“, bot Thjalfi an, „wie wäre, es, ein paar Schritte zum Aufwärmen zu rennen?“ Shea machte bald die Erfahrung, daß Thjalfis Vorschlag, sich aufzuwärmen, nicht darin bestand, hinter dem Gefährt herzutrotten. „Wir rennen dort hinüber zu diesem Hügel und wieder zurück“, sagte er. „Fertig, los!“ Bevor Shea noch, wolleumweht, die ersten Schritte tat, hatte Thjalfi schon die Hälfte der Strecke zurückgelegt, und seine Kleider flatterten um ihn wie eine Flagge unter steifer Brise. Als er auf dem Rückweg an Shea vorbeizog, grinste er ihn breit an. In seiner früheren Welt hatte sich Shea immer als guten Läufer betrachtet, aber gegen diese menschliche Antilope war er eine lahme Schnecke. Gab es denn gar nichts, worin er diesen Menschen überlegen war? Thjalfi half ihm, wieder auf den Wagen zu klettern, „Ihr seid ein wenig besser als die meisten Läufer, Freund Harald“, meinte er überlegen. „Aber ich dachte, Ihr habt vielleicht von meinen Läufen noch nichts gehört und ich wollte Euch überraschen. Aber“ – jetzt flüsterte er – „laßt Euch mit Onkel Fuchs in nichts ein. Er wettet und kassiert dann sogar Eure Haut. Da müßt Ihr scharf aufpassen.“ „Was ist mit Loki überhaupt los?“ fragte Shea. „Ich hörte Heimdall sagen, er könnte beim großen Kampf auf der
anderen Seite stehen.“ Thjalfi zuckte die Achseln. „Hier wird das Kind des Zornes wegen Loki etwas voreilig. Er wird schon auf der richtigen Seite auftauchen, aber er ist ein Dickkopf. Immer führt er etwas im Schild, manchmal Gutes, manchmal Böses, und keiner kann ihn beeinflussen. Über ihn gibt es einen Vers in der Lokasenna, wißt Ihr: Ich sage den Göttern Und den Söhnen der Götter Was meine Gedanken schärft; An den Brunnen der Welt Hat keiner die Macht, mich Unter seinen Willen zu zwingen.“ Das stimmte genau mit Sheas Meinung über den rätselhaften Onkel Fuchs überein. Gerne hätte er weiter mit Thjalfi darüber gesprochen; obwohl er über Themen, wie verzögertes Erwachsensein, Superego und Sadismus fachmännisch sprechen konnte, fand er zu jenem Thema keine Worte. Wollte er in dieser Welt als Psychologe tätig sein, mußte er eine völlig neue Terminologie für diesen Zweig der Wissenschaft finden. Wieder mußte er niesen; die Erkältung wuchs sich aus. Seine Nase tropfte und die Augen tränten. Die Temperatur sank allmählich; ein eisiger Wind. hatte sich aufgemacht und trug zu seinem Unbehagen bei. Sie aßen, wie am Tag vorher, während der Fahrt. Als die Pfützen sich mit einer Eisdecke überzogen, versuchte Shea vergeblich, seine Hände etwas zu wärmen. Thjalfi sah ihn mitleidig an. „Ist Euch wirklich so kalt, Freund Harald? Wir haben doch kaum Frost. Vor ein paar Jahren hatten wir
einen so eisigen Winter, daß die Flammen stocksteif gefroren, wenn wir im Freien Feuer machten. Ich habe einige Stücke davon abgebrochen, und den ganzen Winter hindurch zündete ich damit Feuer an, wenn ich eines brauchte. So was käme mir heute ganz recht. Mein Onkel Einar hat etwas davon als Bernstein verkauft.“ Das war so ernst vorgebracht, daß Shea nicht sicher war, ob er verulkt wurde. Nun, in dieser Welt konnte alles passieren. Endlich verging auch dieser gräßliche Nachmittag. Skrymir stapfte erhobenen Hauptes vor ihnen her und deutete auf einen dunklen Fleck am Hang eines Hügels. „He, Burschen, da ist eine Höhle“, brüllte er. „Was sagt ihr dazu, wenn wir dort kampieren, eh?“ Thor sah sich um. „Es ist noch nicht zu dunkel, um unsere Fahrt fortzusetzen.“ „Das ist wahr, Mächtiger“, pflichtete ihm Loki bei. „Jedoch ich fürchte, unser Zauberer wird bald stocksteif gefroren sein. Wir sollten ihn in Reisig packen, damit er nicht in Stücke fällt, haha!“ „Oh, ib badd ed audhalteb“, schnüffelte Shea. Vielleicht konnte er es wirklich ertragen; jedenfalls mußte er dann nicht die Truhe den halben Hügel hinaufschleppen. Er wurde überstimmt; die Truhe brauchte er aber trotzdem nicht zu tragen, denn als das Gefährt am Rand einer Schneewehe anhielt, packte Skrymir das schwere Stück unter einen Arm und führte die Gesellschaft den steinigen Hang zur Höhle hinauf. „Kannst du Feuer machen?“ fragte Thor Skrymir. „Na klar, Kamerad.“ Skrymir stampfte ein paar kleine
Bäume um, zog sie an den Wurzeln heraus und brach sie über dem Knie zu Feuerholz. * Shea streckte den Kopf in die Höhle. Zuerst sah er nichts als den dunkel schimmernden Fels. Dann schnüffelte er. In den letzten Stunden hatte er gar nichts mehr gerochen, nicht einmal den Riesen, aber jetzt drang ein Gestank sogar durch den Panzer seines Schnupfens. Ein bekannter Geruch – Chlorgas! Was … „He, du!“ röhrte Skrymir hinter ihm, „geh mir aus dem Weg!“ Das tat Shea. Der Riese senkte den Kopf und pfiff; es klang fast wie eine Luftschutzsirene. Ein kleiner Mann von etwa drei Fuß Größe, mit einem langen Bart – er sah aus wie ein winziger Nikolaus – erschien am Höhleneingang. Er hatte eine spitze Kapuze auf, und den Bart hatte er in den Gürtel gesteckt. „He, du“, sagte Skrymir, „gib uns Feuer. Aber dalli!“ Er deutete auf den Holzhaufen vor der Höhle. „Ja, Herr“, antwortete der Zwerg. Er hastete zum Holzhaufen und zog einen wie Kupfer aussehenden Stab aus seiner Jacke. Shea sah ihm interessiert zu, aber Loki schob ihm einen Eiszapfen ins Genick, und als Shea ihn wieder herausgezogen hatte, brannte das Feuer und die feuchten Zweige dampften und krachten. „Ihr wollt doch hier nicht euer Nachtlager aufschlagen?“ fragte der Zwerg mit Fistelstimme. „Ja, das tun wir“, antwortete Skrymir.
„Oh, aber ihr dürft nicht …“ „Mund halten!“ brüllte der Riese. „Wir kampieren, verdammt noch mal, wo es uns paßt!“ „Ja, Herr. Danke, Herr, sonst noch was, Herr?“ „Nein. Verschwinde, bevor ich dich zertrete!“ Der Zwerg verschwand in die Höhle. Sie lagerten sich um das Feuer, das allmählich größer wurde. Die untergehende Sonne brach für einige Augenblicke durch die Wolken und tauchte sie in schimmernden Glanz. Für Shea verwandelten sich die Wolken in apokalyptische Ungeheuer. In der Ferne war das Heulen eines Wolfes zu hören. Thjalfi sah mißtrauisch auf. „Was ist das für ein Lärm?“ „Welcher Lärm?“ fragte Thor. Dann sprang er auf und wirbelte herum. „Hei, du Kluger, unsere Höhle ist bereits bewohnt!“ Langsam zog er sich zurück. Aus den Tiefen der Höhle kam ein Zischen wie aus einer lecken Dampfleitung, dann folgte ein greller, metallener Schrei. „Ein Drache!“ kreischte Thjalfi. Ein Schwall gelben Gases brachte alle zum Husten. Ein Paar gelbe Augen, groß wie Suppenteller, warfen den Schein des Feuers zurück. Die Äsir, der Riese und Thjalfi schrien mißtönend, und jeder packte etwas, das als Waffe dienen konnte. „Id wedde schob bid ihd feddib!“ rief Shea und zog den Revolver heraus. Als das riesige, schlangenähnliche Haupt den Lichtkreis des Feuers erreichte, zielte er auf eines der Augen und drückte ab. Es passierte nichts. Wieder und wieder versuchte er; es machte nur klickklick. Das Untier öffnete sein Maul und hüllte sie in eine Wolke von Chlorgas. Shea taumelte zurück. Thor tat einen Satz vorwärts und
landete einen rechten Haken, der einen Stier zerschmettert hätte. Knochen krachten, als die Faust das Reptil am Kopf traf. Mit dem grauenhaften Stöhnen eines aufgeschlitzten Pferdes verschwand der Kopf des Untiers in der Höhle. Thjalfi fing Shea auf. „Jetzt versteht Ihr vielleicht“, meinte der Diener der Götter, „weshalb Skrymir sich lieber nicht mit dem Herrn der Ziegen anlegt.“ Er kicherte. „Der Drache wird bis zum nächsten Frühjahr seine Zahnschmerzen nicht loskriegen – falls es überhaupt noch einen Frühling gibt, bevor die Zeit kommt.“ Der Zwerg lugte vorsichtig heraus. „Hei, Skrymir!“ „He?“ „Ich wollte dich warnen, daß das Feuer den Drachen aus seinem Schlupfwinkel lockt. Aber du hast nicht auf mich gehört. Du meinst, du bist sehr schlau? Jahaha!“ Der Westentaschennikolaus machte ein paar Bocksprünge und drehte dem Riesen eine lange Nase. Als Skrymir einen Stein aufhob, verschwand er. Der Riese verschwand in die Höhle und sah sich um. „Den kleinen Feuerspeier finden wir jetzt doch nicht. Die haben ihre Höhlen überall im Berg“, bemerkte er düster. * Schweigend verzehrten sie ihr Abendessen, und Shea fühlte sich einigermaßen unbehaglich, weil er dieses Schweigen auf sich bezog. Ich hätte es, überlegte er, eigentlich wissen müssen. Und tatsächlich hätte er sich auf eine solche Expedition nicht einlassen sollen. Abenteuer! Romantik! Quatsch.
Quatsch genauso wie die Vorstellung seines Traummädchens, das er einmal Walter Bayard beschrieben hatte; jene Frauen, die er in diesem elenden Sumpf gesehen hatte, waren alles Ringkämpfergestalten. Wären ihm nur die Formeln zur Rückkehr bekannt, er würde noch im gleichen Augenblick aufbrechen. Aber das konnte er nicht. Für ihn existierten die Formeln nicht mehr. Nichts gab es mehr als eine nackte, hügelige Wildnis, den übelriechenden Riesen, die beiden Äsir und ihren Diener, die ihm ihre Abneigung zeigten. Und er konnte nichts dagegen tun … „Na, na, Shea, nur immer schön langsam“, sagte er zu sich selbst. „Du steigerst dich in eine Melancholie hinein, die, wie Chalmers einmal bemerkte, weder von philosophischem, noch von praktischem Wert ist.“ Zu schlimm, daß der alte Doktor nicht da war; er hätte sich so gern an seinem reifen Intellekt und seiner zivilisierten Gesellschaft gelabt. Aber er durfte nicht der Vergangenheit nachweinen, er mußte mit der Gegenwart leben. Ihm fehlte ganz einfach die körperliche Konstitution Thors, die diesen mit allen Problemen fertigwerden ließ. Aber Lokis beißendem, intelligentem Humor konnte er sich irgendwie nähern. Und wenn schon Intelligenz: hatte er nicht beschlossen, die Gesetze dieser Welt kennenzulernen und sich ihrer zu bedienen? Mußte er nicht die Regeln seiner früheren Welt aufgeben, da seine jetzige ihnen nicht entsprach? Er drehte sich plötzlich zu den andern um. „Hat dieser Zwerg nicht vorhin gesagt, daß das Feuer den Drachen aus seinem Schlupfwinkel lockte?“ fragte er.
Skrymir gähnte. „Ja. Und was willst du damit sagen, du Rotznase?“ „Das Feuer brennt doch noch. Und wenn nun er oder ein anderer während der Nacht herauskommt?“ „Dann wird er dich vielleicht auffressen, und damit hat er ganz recht.“ Er kicherte, aber es klang wie ein Rumpeln. „Der Schwächling spricht wahr“, sagte Loki, „wir müssen uns am besten ein anderes Lager suchen.“ Der verächtliche Unterton in Lokis Stimme ließ Shea zusammenzucken. „Aber das brauchen wir doch gar nicht zu tun, Sir, oder?“ fragte er. „Es friert, und es wird kälter. Wenn wir den Schnee hier in die Höhle stopfen, kann doch der Drache kaum herauskommen.“ Loki klatschte sich aufs Knie. „Vernünftig und gut gesagt, Rübenmann! Du und Thjalfi, ihr werdet euch dranmachen. Ich nehme an, daß du nicht ganz unnütz bist; denn seit du bei uns bist, hast du einigen Witz entwickelt. Wer hätte je daran gedacht, einen Drachen mit Schnee aufzuhalten?“ Thor grunzte nur. 6. Kapitel Als Shea am nächsten Morgen erwachte, rann seine Nase noch immer, aber sein Kopf hatte wenigstens wieder sein normales Gewicht. Vielleicht hatte das Chlorgas, das er vergangene Nacht eingeatmet hatte, als Medizin gegen seine Erkältung gewirkt. Vielleicht war aber auch seine Entschlossenheit, sich seiner Umgebung anzupassen und das Beste daraus zu machen, der Grund dafür, daß er sich wohler fühlte.
Nach dem Frühstück machten sie sich wieder auf den Weg, und Skrymir trampelte vor ihnen her. Der Himmel war bleifarben vor Kälte. Der scharfe Wind rüttelte an struppigen Bäumen und trieb gelegentlich eine Schneeflokke vor sich her. Manchmal glitten die Ziegen auf Flecken gefrorenen Schlammes aus. Es ging bergauf, die Hügel wurden höher; sie waren etwas dichter mit Tannen und Fichten bestanden. Es mußte auf Mittag zugehen – Shea konnte die Zeit nur schätzen –, als Skrymir sich umwandte und auf den höchsten Berg deutete, den sie je gesehen hatten. Der Wind verwehte die Worte des Riesen, aber Thor schien sie verstanden zu haben. Die Ziegen zogen kräftig an und rannten auf den Berg zu, dessen Gipfel von Wolken verhüllt war. Eine gute Stunde später erhaschte Shea einen Blick auf einen dunklen Umriß auf dem kahlen Gipfel, der aber sofort wieder hinter Nebelschwaden verschwand. Endlich waren sie nahe genug, um ein Haus zu erkennen, das dem des Bauern Sverre ähnelte. Es war nur roher gebaut, bestand aus dicken ungeschälten Baumstämmen und war um vieles größer – ungefähr so groß wie ein hauptstädtischer Bahnhof. „Das ist die Burg Utgärd“, flüsterte ihm Thjalfi ins Ohr. „Ihr werdet Euren ganzen Mut zusammennehmen müssen, Freund Harald.“ Des jungen Mannes Zähne klapperten – aber nicht vor Kälte. Skrymir stapfte auf die Tür zu und schlug mit seiner Faust dagegen. Eine lange Minute stand er da, und der Wind zerrte an seinem Pelz. Schließlich öffnete sich ein viereckiges Loch in der Tür und sie schwang auf. Sie klet-
terten vom Wagen herunter, streckten ihre erstarrten Glieder und folgten ihrem Führer. Die Tür schlug hinter ihnen zu. Sie standen in einem dunklen Vorraum, ähnlich dem in Sverres Haus, nur wesentlich größer. Außerdem roch er nach ungewaschenen Riesen. Ein enormer Arm schob den Ledervorhang zur Seite, und ihnen bot sich der Anblick züngelnder, gelber Flammen und sich drängender, schreiender Riesen. „Haltet Eure Augen offen, Harald“, riet Thjalfi leise. „Thjodolf von Hvin sagt: Alle Wege Die nicht ins Freie führen, Prüfe nachdenklich der Mann. Ungewiß ist es, ob Unfreundliche sitzen Auf der Bank neben dir.“ Das Haus war eine unordentliche Karikatur von dem Sverres. Der Grundriß war der gleiche, es gab dieselben Bänke, die gleichen schäbigen, mit Essenresten bedeckten Tische. Von dem Feuer im Mittelpunkt des Raumes zogen Rauchschwaden in die Höhe unter die Deckenbalken. Dikkes, schmutziges Stroh lag auf dem Boden. Die Bänke und der Durchgang dahinter waren gedrängt voll Riesen, die aßen, tranken und aus Leibeskräften schrien. Sechs davon, mit eisengrauen Scheitelschöpfen und struppigen Bärten – ähnlich wie Skrymir – rangen miteinander. Einer schwang seinen Arm zurück und trank einen Krug Met, den ein verdrossen dreinsehender Mann trug, offensichtlich ein Leibeigener. Der Met ergoß sich über einen anderen Riesen, der eine Schüssel mit Essen
vom Tisch nahm und dem Mann an den Kopf warf. Kreischend ging der zu Boden, und Skrymir gab ihm in aller Ruhe einen kräftigen Fußtritt, um ihn seinen Gästen aus dem Weg zu räumen. Die sechs Riesen brachen in kollerndes Gelächter aus, schlugen einander auf Schultern und Rücken und hatten ihren ganzen Streit vergessen. „Hei, Skridbaldnir!“ Skrymir packte einen anderen Riesen am Arm. „Wie geht’s dir? Kumpel, ich möchte, daß du ein paar Freunde von mir kennenlernst. Dieser Bursche ist Asa-Thor.“ Skridbaldnir drehte sich um. Shea bemerkte, daß er schlanker war als Skrymir, aschblondes Haar, rosafarbene Albionaugen und eine lange, rote, von Geschwüren bedeckte Nase hatte. „Er ist ein Frostriese“, flüsterte Thjalfi, „und diese Bande dort sind fünf Feuerriesen.“ Mit einer zitternden Hand wies er auf eine Gruppe Individuen, die wie sehr große, aufrechtgehende Gorillas aussahen und einander anbrüllten. Sie waren etwas kleiner als die anderen Riesen und nur etwas mehr als acht Fuß lang. Sie hatten wuchtige Kiefer und grobes, schwarzes Haar überall dort, wo der Körper nicht bedeckt war. Ununterbrochen kratzten sie sich. Etwa in der Mitte der Halle saß der größte der Bergriesen in einem riesigen Stuhl, dessen Füße und Armstützen geschnitzte Schlangen zierten. Seine Aufmachung unterschied sich von jener der anderen Riesen dadurch, daß die Knochenspieße in seinem Haarschopf an beiden Enden mit goldenen Knöpfen verziert waren. Einer seiner unteren Schlangenzähne ragte ein ganzes Stück über die Unterlippe heraus. Er sah Skrymir an. „Hei, Kumpel, ich seh, du hast
ein paar Kinder bei dir. Keine gute Idee, Kinder zu unserem Festessen mitzubringen. Sie lernen nur schlechte Redensarten.“ „Das sind keine Kinder“, belehrte ihn Skrymir. „Es sind ein paar Menschen und zwei Äsir. Ich hab ihnen gesagt, sie könnten mitkommen. Richtig, Boß?“ Utgardaloki schneuzte sich mit den Fingern und wischte sie an seiner speckigen Lederjacke ab. „Ich glaub schon. Aber der mit dem roten Bart ist doch Asa-Thor?“ „Du hast nicht falsch geraten“, antwortete Thor. „Na, was du nicht sagst. Ich hab immer gedacht, Thor wäre ein großer, stämmiger Kerl.“ Thor streckte die Brust heraus und sah finster drein. „Es ist nicht gut, mit den Äsir zu scherzen, Riese.“ „Hoho, ist er nicht der netteste kleine Kerl?“ Utgardaloki unterbrach sich, um ein kleines Tier zu fangen, das aus seiner linken Augenbraue krabbelte. Er sah es kurz an und zerbiß es dann. „Eine feine Sache“, flüsterte Loki Shea ins Ohr. „Sie leben auf ihm; er lebt von ihnen.“ „Aber was tut ihr hier, ihr da?“ fuhr Utgardaloki fort. „Das ist ein respektables Fest, versteht ihr, und ich will keinen Krach haben.“ „Ich bin meines Hammers Mjöllnir wegen gekommen“, erklärte Thor. „Ha? Warum? Glaubst du, daß wir ihn haben?“ „Bezweifle nicht das Wachstum des Baumes, noch die Weisheit der Götter. Willst du ihn mir freiwillig geben, oder muß ich dich erst schlagen?“ „Ach, sei doch nicht so, Öku-Thor. Ich würd dir gewiß
deinen kümmerlichen Nußknacker geben, wüßt ich nur, wo er ist.“ „Nußknacker! Was; du …“ „Nur ruhig!“ Shea hörte Lokis Wispern. „Sohn des Odin, sei stark gegen die Starken, und die Lügner belüge.“ Er wandte sich an Utgardaloki und verbeugte sich spöttisch. „Chef der Riesen, wir danken dir für deine Höflichkeit und werden dich nicht lange stören. Nehmen wir dein Wort für wahr, wenn wir vernehmen, daß Mjöllnir nicht hier ist?“ „Soviel ich weiß, ist er nicht da“, erwiderte Utgardaloki, spuckte auf den Boden und wischte ein wenig unbehaglich mit seinem bloßen Fuß darüber. „Könnte er nicht ohne dein Wissen hierhergebracht worden sein?“ Utgardaloki zuckte die Achseln. „Wie, zum Teufel, soll ich das wissen? Ich hab doch gesagt, soviel ich weiß. Das ist schon eine ganz verdammte Art, mit seinem Gastgeber umzugehen.“ „Du hast offensichtlich keinen Einwand dagegen, sollte uns der Wunsch ankommen, hier danach zu suchen?“ „Ha? Du hast verdammt unrecht, ich hab etwas dagegen! Das ist mein Haus und ein Fremder hat hier nichts herumzuschnüffeln.“ Loki lächelte ihn gewinnend an. „Größter der Jötun, dein Einwand ist nur natürlich bei einem, der seinen eigenen Wert kennt. Aber die Götter sprechen nicht vergebens. Wir glauben, daß Mjöllnir hier ist, und wir sind gekommen, friedlich danach zu fragen. Das ist uns lieber, als in Waffen zu kommen, mit Odins Speer in deinem Kopf, mit Heim-
dall und seinem großen Schwert, mit Ullrs tödlichem Bogen. Und jetzt laß uns nach dem Hammer suchen, oder wir gehen und kehren mit ihnen zurück, um euch ein Fest zu bereiten, an das ihr noch lange denken werdet. Wenn wir ihn aber nicht finden, gehen wir in Frieden von hinnen, mein Wort darauf.“ „Und das meine!“ schrie Thor und furchte die Brauen. Shea bemerkte, daß Thjalfis Gesicht die Farbe geronnener Milch annahm und staunte über sich selbst, daß er gar keine Angst verspürte. Aber vielleicht kommt das daher, dachte er, weil ich die ganze Situation nicht verstehe. Utgardaloki kratzte sich nachdenklich. „Ich sag euch was“, meinte er schließlich. „Ihr Äsir seid sportliche Herren, oder nicht?“ „Es kann nicht geleugnet werden“, antwortete Loki vorsichtig, „daß wir den Sport lieben.“ „Ich mache euch einen sportlichen Vorschlag. Ihr haltet euch für große Athleten. Na schön, wir haben da auch ein paar ganz tüchtige kleine Kinder. Wir machen ein paar Wettkämpfe, und wenn ihr uns wenigstens in einem davon schlagt, dann dürft ihr suchen. Verliert ihr, dann verschwindet. Aber ganz schnell!“ „Welche Art von Wettkämpfen?“ „Zum Teufel, Kleiner, alles was du willst.“ Thor sah nachdenklich drein. „Ich bin als Ringer nicht ganz unbekannt“, bemerkte er. „In Ordnung“, stimmte Utgardaloki zu. „Wir finden schon einen, der dich auf den Boden legt. Sonst noch was?“ Nun meldete sich Loki zu Wort. „Ich nehme es mit eu-
rem Besten zu einem Wettessen auf, und unser Mann Thjalfi ist zu einem Wettrennen bereit. Und Asa-Thor wird seine Stärke gegen jeden einsetzen.“ „Großartig. Ich glaub, diese Wettkämpfe sind reines Kinderspiel, versteht ihr? Aber für ein paar aus meiner Bande wird es ein Riesenspaß sein, euch auf den Boden zu legen. Hei! Bringt Elli her. Da ist ein Bursche, der raufen will.“ Mit Geschrei und einigem Durcheinander räumten sie schließlich einen Platz in der Nähe der Feuerstelle. Thor stand da, stemmte die Fäuste auf die Hüften und wartet auf den Champion der Riesen. Was da herankam, war kein Riese, sondern ein großes, altes Weib. Sie hatte mindestens hundert Jahre auf dem Buckel, war ein dünnes, gebücktes Knochengestell mit fast durchsichtiger Haut und so verhutzelt wie ein vorjähriger Apfel. „Was soll der Witz, Utgardaloki?“ schrie Thor. „Es war nicht ausgemacht, daß Asa-Thor mit Frauen ringt.“ „Ach, denk dir nichts, Kleiner. Sie rauft gern, die Elli. Oder vielleicht nicht?“ Die Greisin entblößte zahnlose Kiefer. „Jawohl“, antwortete sie mit zittriger Stimme, „und ich hab schon viele kräftige Männer auf den Boden gelegt, hehe.“ „Aber …“, wandte Thor ein. „Hast du Angst, daß dein guter Ruf flöten geht?“ „Ha! Thor und Angst haben? Das bringt keiner der Riesensippe zustande.“ Thor warf sich in die Brust. „Jetzt muß ich die Regeln erklären.“ Utgardaloki legte jedem der beiden Kontrahenten eine Pranke auf die Schultern und flüsterte mit ihnen.
Shea wurde in den Arm gekniffen. Er blickte um und sah in Lokis helle Augen. „Groß und böse ist der Zauber an diesem Ort“, flüsterte Onkel Fuchs, „und ich zweifle nicht daran, daß man einen üblen Trick mit uns vorhat, denn ich habe niemals von einem solchen Kampf gehört. Aber vielleicht sind ihre Zauberworte nur gegen die Götter gerichtet und nicht gegen die Augen der Menschen. Ich aber habe einen Zauber gegen den Zauber, und den Spruch wirst du sprechen, wenn der Wettkampf vor sich geht.“ Er reichte Shea ein Stück sehr dünnen Pergamentes, das mit spinnenzarter Runenschrift bedeckt war. „Erst vorwärts, dann rückwärts, dann wieder vorwärts, und stelle dir dabei immer den Gegenstand vor, den wir suchen. Vielleicht entdeckst du dann an einer der Wände den Hammer.“ „Können ihn die Riesen nicht verstecken?“ „Nicht mit ihrer ruhmredigen und prahlerischen Art. Es …“ „Gut“, sagte Utgardaloki laut. „Los!“ Thor brüllte wie ein Löwe und packte Elli, als wolle er ihren Kopf auf dem Boden zerschmettern. Aber Elli blieb wie festgenagelt stehen. Das morsche Gestell rührte sich nicht vom Fleck. Thor verdrehte den Arm des Skelettes, umklammerte den knochigen Körper, wurde dunkelrot im Gesicht vor Anstrengung; die Riesen murmelten beifällig. Shea las das Pergament, das Loki ihm gegeben hatte. Die Worte waren gut zu erkennen, schienen jedoch aus sinnlosen Silben zu bestehen: „Nyi-Nidi-Nordri-Sudri, Austri-Vestri-Alt-jof-Dvalinn.“ Gehorsam wiederholte er sie den Weisungen entsprechend und sah dabei fest den unge-
heuren Prügel an, der an der Wand hing. Dann warf er einen Blick auf die Ringkämpfer. Thor ächzte vor Anstrengung, und auf seiner Stirn standen Schweißperlen. „Hexe!“ brüllte Thor schließlich und versuchte, ihr den Arm zu verdrehen. Elli packte ihn mit ihrer freien Hand am Nacken. Füße scharrten, Thor taumelte und fiel auf ein Knie. „Genug!“ bestimmte Utgardaloki und trat zwischen die beiden. „Der Kampf wird als verloren betrachtet. Elli gewinnt. Ich glaub, da hast du Glück gehabt, daß du mit keinem von den großen Burschen hier gerauft hast, was, Thor, du großes Kind?“ Die anderen Riesen röhrten zustimmend, und Thors Grollen ging in dem Getöse unter. „So, und jetzt zurück!“ befahl Utgardaloki. „Zurück, sag ich, oder ich laß den Blutadler auf euch los! Als nächstes kommt ein Wettessen. Logi soll herkommen. Er kriegt einiges zu futtern.“ Ein Feuerriese schlurfte durch das Gedränge. Sein schwarzes Haar schimmerte rötlich, und seine Bewegungen waren rasch wie die eines Tieres. „Noch nicht Essenszeit?“ schnarrte er. „Die drei Elche zum Frühstück haben mir erst Appetit gemacht.“ Utgardaloki erklärte dem Gegner die Spielregeln. „Freut mich, dich kennenzulernen“, sagte Logi. „Ich mag Burschen gern, die was Gutes zu schätzen wissen. Wir haben einen Koch hier, der einen Wal prima röstet. Er nimmt dazu Holzkohle und Bärenfett.“ „Schon recht, Logi. Du bringst den Burschen nur dazu, über die Mahlzeiten zu reden, die er schon hinter sich hat, und dann redet er, bis die Zeit kommt.“
Shea wurde von den herandrängenden Riesen zur Seite geschoben, als eine Prozession Sklaven hereinkam. Sie trugen zwei riesige Holzteller, und auf jedem von ihnen lag ein ganzer gerösteter Elchschenkel. Shea stellte sich auf die Zehenspitzen. Er sah, wie Utgardaloki die beiden Teller auf den Tisch stellte, an dessen beiden Enden die Gegner saßen; er selbst nahm seinen Platz an der Mitte des langen Tisches ein. Er lugte einem verhältnismäßig klein geratenen Riesen über die Schulter, der dafür um die Mitte herum recht umfangreich war. Eine zerzauste, grauweiße Haarbürste bedeckte seinen Kopf. Was Shea verblüffte, als der Riese ihm das Profil zudrehte, um die Wettesser zu beobachten, war der Umstand, daß unter dem Haargestrüpp zwei blaue Augen leuchteten. Da stimmte etwas nicht. Feuerriesen hatten, wie er wußte, schwarze, Bergriesen graue oder schwarze Augen, Frostriesen rote. Natürlich konnten die Riesen auch eine Spur fremden Blutes in sich haben, aber diese lange Nase mit dem hohen Rücken kam ihm irgendwie vertraut vor, auch der Haarschopf. Heimdall! Hinter der vorgehaltenen Hand flüsterte Shea ihm zu: „Wie viele Mütter hattest du, Riese mit dem ungekämmten Schopf?“ Er hörte unterdrücktes Kichern. „Dreimal drei, Mann einer unbekannten Welt! Aber du brauchst nicht zu schreien, ich vernehme das leiseste Flüstern, sogar deine halbgedachten Gedanken.“ „Ich glaube, man wendet üble Tricks gegen uns an“, fuhr Shea fort. Das heißt, er sagte es nicht einmal, er dachte es
nur und bewegte dazu seine Lippen. „Das war zu erwarten, und deshalb kam ich auch hierher. Aber ich kenne den Zauber noch nicht.“ „Man hat mich einen Zauberspruch gelehrt“, erklärte Shea, erinnerte sich aber Heimdalls Haß auf Loki und seine Taten und vermied, dessen Namen zu nennen. „Vielleicht nützt uns der in einem solchen Fall.“ „Dann benütze ihn doch“, erwiderte Heimdall, „während du zusiehst.“ „Seid ihr soweit, ihr zwei?“ fragte Utgardaloki. „Los!“ Die Riesen brüllten. Shea heftete seine Augen auf Loki und wiederholte: „Nyi-Nidri-Nordri-Sudri.“ Der schlaue Gott hüpfte auf seinem übergroßen Stuhl, als er seine Zähne in den Elchschenkel versenkte. Das Fleisch verschwand in Brocken von der Größe einer ausgewachsenen Männerfaust, zwei Brocken pro Sekunde. So etwas hatte Shea noch nie gesehen und wunderte sich, wo Loki das unterbrachte. Er hörte Thjalfis Stimme, zart in dem bassoprofundo-Lärm der Riesen: „Häng dich hinein, Sohn des Laufey!“ Der Knochen von der Größe eines Baseballkorbes war sauber. Loki ließ ihn auf den Teller poltern und lehnte sich mit einem Seufzen zurück. Die versammelten Riesen heulten. Shea sah, wie Loki beinahe die Augen aus dem Kopf fielen. Utgardaloki ging zum anderen Tischende. „Logi gewinnt!“ brüllte er. Shea drehte sich um und sah zum Gegner hinüber. Aber sein Kopf knallte so heftig auf den Ellbogen eines Riesen, daß Sterne vor seinen Augen sprühten und Träume ihm die Sicht nahmen. Für den Bruchteil einer Sekunde sah er dort
keinen Logi, sondern nur eine große, züngelnde Flamme. Ein Lidschlag, und die Träne verschwand – und mit ihm das Bild. Logi saß zufrieden an seinem Tischende. Loki schrie: „Er wurde auch nicht früher fertig als ich!“ „Ja, mein Sohn, aber er hat auch den Knochen und den Teller mit aufgegessen. Ich sage: Logi gewinnt!“ röhrte Utgardaloki. „Heimdall!“ Shea sagte es so laut, daß der Gott warnend die Hand hob. Zum Glück ging sein Ruf im allgemeinen Getöse unter. „Es ist wirklich ein Trick, eine Illusion. Logi ist eine Flamme.“ „Nun ja, viel Glück für deine Augen, Nichtzauberer und Zauberer. Warne Asa-Thor und benütze deinen Zauberspruch für alles, was du sehen kannst, denn es ist ungeheuer wichtig, den Hammer zu finden. Sicher, diese Tricks und Betrügereien müssen bedeuten, daß die Zeit näher ist als wir denken, und die Riesen wünschen diese Waffe nicht in der Hand des Rotbarts zu sehen. Geh!“ Utgardaloki stand am Tisch, wo das Wettessen stattgefunden hatte und dirigierte die Räumung eines Teiles der Halle. „Jetzt kommt ein Wettlauf an die Reihe“, brüllte er. „Du, Knirps“ – er deutete auf Thjalfi – „wirst gegen meinen Sohn Hugi laufen. Wo ist denn der junge Dummkopf? Hugi!“ „Da bin ich, Papa.“ Ein hochaufgeschossener Riesenjüngling quetschte sich vor. Er hatte wenig Stirn und noch weniger Kinn und dafür jede Menge Pusteln von Spielmarkengröße. „Ich soll gegen ihn rennen? Hehehe!“ Hugi drückte sein Kinn auf die Brust, als er lachte.
Shea duckte sich und drängte sich zu Thor durch, der seine Stirn in konzentrierte Falten legte, als er die Vorbereitungen zum Rennen beobachtete. Thjalfi und der lange Hugi stellten sich an einem Ende der Halle auf. „Los!“ schrie Utgardaloki, und sie rannten zum anderen Ende, gut dreihundert Yards entfernt. Thjalfi lief wie der Wind, aber Hugi ging wie ein Geschoß los. Als Thjalfi diese Strecke zurückgelegt hatte, war sein Gegner schon auf dem halben Rückweg. „Hugi gewinnt auf Anhieb!“ brüllte Utgardaloki und übertönte das Röhren der anderen. Shea stand nun neben Thor und Loki. „Hei, Rübenharald“, brummte der Rotbart, „wo warst du denn?“ „Wahrscheinlich hat er sich wie eine Maus unter einem der Tische versteckt gehalten“, bemerkte Loki, aber Shea barst fast vor Neuigkeiten und bemerkte den Spott nicht. „Sie versuchen schmutzige Tricks an Euch – an uns“, platzte er heraus. „Diese ganzen Wettkämpfe sind Illusionen.“ Thor schürzte die Lippen. „Dein Zauberer sieht tiefer in einen Mühlstein hinein als die meisten“, brummte er Loki böse an. „Nein, wirklich“, beteuerte Shea. Hugi kam gerade zum zweiten Durchgang an ihnen vorbei; auf der anderen Seite der Halle brannte das riesige Feuer. „Schaut mal ihren Läufer an“, sagte Shea, „er wirft keinen Schatten.“ Thor sah hin, verstand und wurde purpurrot. In dem Augenblick rief Utgardaloki gerade „los!“ und das zweite Rennen begann. Es verlief haargenau wie das erste. Utgar-
daloki übertönte den allgemeinen Jubel und verkündete, Hugi habe gewonnen. „Jetzt muß ich es mit ihrer verdammten Katze aufnehmen“, knurrte Thor. „Aber wenn sie wieder einen ihrer Tricks anwendet, werde ich …“ „Nicht so laut“, mahnte Loki flüsternd. „Langsam und leise wird auch der schlaueste Fuchs gefangen. Nun, Thor, jetzt beschäftige dich mit der Katze, als sei damit alles in Ordnung. Aber Harald, der ihrem Zauber höchstens halb unterliegt, weil er ein Sterblicher und furchtlos ist, soll nach Mjöllnir suchen. Jüngling, du bist unser Halt und unsere Hoffnung. Nun, benützte den Zauberspruch, den ich dir gegeben habe.“ Utgardalokis Katze war angekommen, ein riesiges Tier, grau und von der Größe eines Puma. Aber sie sah doch nicht so groß aus, als daß Thor sie nicht hätte heben können. Mißtrauisch beäugte sie Thor und fauchte. „Ruhig, du!“ brummte Utgardaloki. „Hast du denn keine Manieren?“ Die Katze beruhigte sich, und Thor durfte sie sogar hinter den Ohren kraulen, wenn es ihr auch kein sonderliches Vergnügen zu bereiten schien. Shea fragte sich, wie er die Illusion beim Wettessen erkannt haben könnte. Ah, eine Träne im Auge! Mußte er sich noch mal den Kopf anrennen, damit ihm wieder die Augen tränten? Er schloß sie, öffnete sie wieder und sah Thor zu, wie er den Arm um den großen Katzenkörper legte und ihn anhob. Keine Träne. Der Körper der Katze hob sich, aber die vier Pfoten blieben fest am Boden – wie angenagelt.
Wie konnte man eine Träne erzeugen? Auf dem Tisch stand ein Metkrug. Er steckte seinen Finger in die Flüssigkeit und träufelte einen Tropfen in ein Auge. Der Alkohol brannte und stach; er schüttelte den Kopf und öffnete wieder das Auge. Durch einen Tränenschleier – er murmelte dazu „Sudri-Nordri-Nidi-Nyi“ – sah er, daß Thor nicht eine Katze hob, sondern den Mittelteil einer Schlange von der Dicke eines Fasses. Kopf oder Schwanz waren nicht zu sehen; das sichtbare Schlangenstück war von gleichmäßigem Umfang, ging zur einen Tür der Halle herein und zur anderen hinaus. „Loki“, sagte er, „das ist keine Katze. Es ist eine Riesenschlange!“ „Mit eigenartigem schwärzlichem Schimmer auf den Schuppen?“ „Ja. Kopf und Schwanz sind nicht zu sehen.“ „Nun, deine Angaben sind recht gut, Rübenesser! Das ist nichts anderes als die Midgardschlange, die sich um die Erde windet. Wir sind von bösen Dingen umgeben. Beeile dich, den Hammer zu finden, denn der ist nun unsere einzige Hoffnung.“ * Shea wandte sich ab und bemühte sich verzweifelt um Konzentration. Er sah den nächstliegenden Gegenstand an, einen Auerochsenschädel auf einer Säule, tropfte wieder Met in das Auge und wiederholte die Beschwörungsformel vorwärts, rückwärts und vorwärts. Kein Ergebnis. Der Schädel war und blieb ein Schädel. Thor ächzte und ver-
suchte noch immer, die Katze vom Boden zu heben. Nun versuchte es Shea mit einem am Gürtel eines Riesen hängenden Messer. Kein Ergebnis. Dann nahm er sich einen Köcher mit Pfeilen an der Wand gegenüber vor. Der süße Met verklebte seine Augen, und er fürchtete, Kopfschmerzen zu bekommen. Der Köcher verschwamm, als er die Worte aussprach. Und dann sah er einen Schmiedehammer mit kurzem Griff an einer Lederschlinge hängen. Thor hatte seine Bemühungen um die Katze aufgegeben und trat keuchend zurück. Utgardaloki grinste ihn mit der Nachsicht an, die man einem Kind bezeigt. Die Riesen standen in kleinen Gruppen beisammen und riefen nach Met. „Willst du noch was, mein Söhnchen?“ höhnte der Häuptling der Riesen. „Ich glaub, du bist doch nicht so verdammt gut, wie du meinst, he?“ Shea zupfte Thor am Ärmel, als dieser vor Zorn errötete und eine böse Antwort geben wollte. „Könnt Ihr Euren Hammer zurückrufen?“ flüsterte er. Der Riese hörte das. „Ruhe, Knecht“, befahl er. „Wir haben Geschäfte zu erledigen, und es paßt mir nicht, wenn sich ein naseweiser Sterblicher da einmischt. Nun, AsaThor, willst du noch andere Wettkämpfe?“ „Ich …“, begann Thor. Shea klammerte sich an seinen Arm. „Könnt Ihr?“ drängte er. „Ja, wenn er zu sehen ist.“ „Ich hab gesagt, du sollst dich ‘raushalten!“ brüllte Utgardaloki, und sein Gesicht zeigte keine Spur von Gutmü-
tigkeit mehr. Er hob einen Arm so groß wie ein Baumstamm. „Deutet auf diesen Köcher mit Pfeilen und ruft!“ schrie Shea. Er duckte sich hinter Thor, als der Arm des Riesen niedersauste. Der Schlag ging daneben. Er verdrückte sich zwischen die herumlungernden Riesen und stieß mit dem Kopf an den Knauf eines Schwertes. Utgardaloki röhrte hinter ihm. Er duckte sich unter einen Tisch und kroch an ein paar faulig riechenden Feuerriesen vorbei. Dann hörte er ein metallisches Klirren, als Thor die Eisenhandschuhe anzog, die an seinem Gürtel hingen. Nun erhob sich die Stimme des rotbärtigen Gottes über das Getöse, und selbst Utgardalokis Stimme klang nur noch wie ein Flüstern: „Mjöllnir, der Mächtige, Zerschmetterer der Bösewichte, komm zu deinem Herrn, Thor Odinssohn!“ Ein paar atemlose Sekunden lang lag schweigende Spannung über der Halle. Vor Shea stand ein Riese, dessen Mund weit offenstand; sein Adamsapfel hüpfte auf und nieder. Dann klickte etwas. Mit einem tiefen Summton flog der Hammer, der ein Köcher mit Pfeilen zu sein schien, in Thors Hand. Die Riesen rannten durcheinander, und Shea wurde fast von ihnen zerdrückt. „Ich bin Thor, der Donnerer, hoho-ho!“ Die Stimme übertönte den Tumult. Er wirbelte den Hammer um seinen Kopf und blaue Blitze zuckten und tanzten um ihn. Betäubender Donner erschütterte die Halle. Die Riesen kreischten und drängten zur Tür. Dann flog der Hammer an Utgardalokis Kopf, zerschmetterte ihn und kehrte in Thors Hand zurück. Zum Glück war Shea so zwischen die Riesen
eingekeilt, daß er nicht fallen und zu Tode getrampelt werden konnte. Und nun krachte Thors Hammer unablässig auf Riesenköpfe. Es schien dem Mjöllnirschwinger mächtig Spaß zu machen. Mit den flüchtenden Riesen wurde Shea nach draußen geschoben. Endlich stolperte er über einen Felsblock und nun warf er einen Blick auf Utgard. An einem Ende des Daches gähnte schon ein Loch. Der First splitterte. Ein blaugrüner Blitz schoß himmelwärts, und im Nu begann das ganze Haus an allen vier Ecken zu brennen. Die Riesen rannten den Hügel hinab, und Shea wurde mitgerissen. Einer fiel zu Boden und Shea stolperte über seine Beine. Nun haben sie mich, dachte er und drehte sich um. Aber sie waren nicht an ihm interessiert. Der Riese, über dessen Beine er gefallen war, entpuppte sich als Heimdall. Seine Perücke war verrutscht und enthüllte eine Strähne goldenen Haares. Das Stroh, mit dem er sein Gewand ausgestopft hatte, quoll heraus. Er bemühte sich, aufzustehen, aber einige Feuerriesen packten ihn an den Armen, traten und stießen ihn und hielten seine Beine fest. Dazu brüllten sie alle durcheinander. Käme er durch, überlegte Shea, dann könnte er wenigstens Thor von Heimdalls Misere berichten. Er versuchte, hinter eine Baumwurzel zu kriechen, aber das war falsch. „Da ist einer!“ brüllte ein Feuerriese. Shea wurde von einigen gorillaähnlichen Kreaturen gefangen, in die Höhe gezogen und genau betrachtet. Es machte ihnen besonderen Spaß, ihn an Haaren und Ohren zu reißen. „Ah“, sagte einer von ihnen, „das ist kein Ase. Schmeiß ihn weg und schauen wir, daß wir weiterkom-
men.“ Einer riß sein Messer aus dem Gürtel. Jetzt bekam Shea Angst. Aber der größte – anscheinend ihr Führer – röhrte: „Hände weg von ihm! Der gehört dem gelbhaarigen Stümper, und vielleicht können wir ihn noch brauchen. Darüber hat Surt zu bestimmen. Wo, zum Teufel, sind denn die Pferde?“ Im gleichen Augenblick führten etliche Feuerriesen die Pferde herbei. Sie waren glänzend schwarz und unwahrscheinlich groß. An jedem Fuß hatten sie drei Hufe. Die Augen glühten wie rote Kohlen, und von ihrem Atem mußte Shea husten. Wie er sich erinnerte, hatte Heimdall einmal von „Feuerrossen“ gesprochen. Einer der Riesen zog Lederriemen aus seiner Tasche. Shea und Heimdall wurden roh gebunden und auf eines der Pferde geworfen; je einer von ihnen hing an einer Seite herunter. Die Riesen schwangen sich auf ihre Rösser und suchten das Weite. Hinter ihnen rollte noch immer Thors Donner; das Licht zuckender Blitze warf lange Schatten auf ihren Weg. Der Rotbart hatte offensichtlich Vergnügen an der Geschichte. 7. Kapitel Sheas Erlebnisse in den nächsten Stunden hinterließen wenig Eindrücke, waren aber alles andere als angenehm. Dunkelheit, halsbrecherische Geschwindigkeit und die straff angezogenen Fesseln – das war’s. Manchmal erkannte er ein Gebüsch, geisterhaft erhellt von den feurigen Pferdeaugen, oder einen Felsblock. Sein Magen zog sich zusammen, und wenn er den rechten Fuß streckte, um auf
eine imaginäre Bremse zu treten und so die Geschwindigkeit herabzusetzen, dann schmerzte er entsetzlich. Als der Himmel endlich wieder seine trübsinnige Löschpapierfarbe annahm, wurde es etwas wärmer; ein dünner Regen tröpfelte hernieder. Sie waren in einer Gegend, die Shea völlig unbekannt war. In einer endlosen Ebene erhoben sich Türme und Blöcke schwarzer Felsen; manche von ihnen rauchten, und aus den Spalten des Basalts wehten Dampffahnen. Der Pflanzenwuchs bestand vornehmlich aus palmenähnlichen zerdrückten Farnbäumen. Die Pferde trabten nun über alte Lavaflüsse. Ab und zu sonderten sich einige Feuerriesen ab und schlugen einen anderen Weg ein. Endlich scharten sich die restlichen um das Pferd mit den Gefangenen und ritten auf einen besonders großen Felsen zu, aus dessen Wänden Rauchfedern in den Regen wehten. Für Shea sahen alle Feuerriesen fast gleich aus, aber es fiel ihm nicht schwer, jenen herauszufinden, der seine Gefangennahme veranlaßt hatte. Vor dem Felsen hielten sie an; die Riesen stiegen ab und führten ihre Pferde durch eine Öffnung. Die Huftritte hallten in dem felsigen Gang, der plötzlich nach rechts abbog. Shea hörte metallisches Klirren und das Kreischen rostiger Angeln. „Was wollt ihr?“ rief eine Stimme. „Wir kommen von Jötunheim zurück und haben einen der Äsir und einen Sterblichen erwischt. Melde es Surt.“ „Und wie ist’s in Utgard gewesen?“ „Lausig. Thor ist gekommen und hat seinen Hammer entdeckt, der elende Hund. Er hat ihn zurückgerufen und alles um sich herum damit zerschlagen. Ich glaub, der fuchsschlaue Loki war’s, der ihn gefunden hat.“
„Und was ist mit den Söhnen der Wölfe? Sie hätten gewußt, daß sie mit dem alten Rotkopf fertig werden.“ „Die waren nicht da. Wahrscheinlich kommen sie erst, wenn die Zeit da ist.“ Die Pferde trampelten an dem Türhüter vorbei; da bemerkte Shea, daß dieser ein Schwert in der Hand hielt, an dem gelbe Flammen züngelten; dicker Rauch kräuselte davon auf. Der Gang senkte sich. Der Unterschlupf schien ein riesiger, unterirdischer Bau zu sein. Gelbes Licht und dunkle Schatten spielten zwischen den Säulen. Es roch nach Schwefel. Der Gang mündete in einen anderen. „Bringt die Gefangenen zu Surt“, befahl eine Stimme, „er möchte sie aburteilen.“ Ein Riese klemmte sich Shea unter den Arm. Diese Fortbewegungsart war ihm höchst unangenehm, denn er hing mit dem Kopf nach unten. Vor seinen Augen hatte er nur Stein und huschende Schatten. Außerdem stank es bestialisch. Eine Tür öffnete sich und Shea wurde auf die Beine gestellt. Er stand in einer heißen, von Fackeln erhellten Halle. Die Feuerriesen johlten, tranken und deuteten auf ihn. Aber er sah sie kaum an, denn genau vor ihm saß, von zwei Wächtern mit brennenden Schwertern flankiert, der größte und dickste aller Riesen, sozusagen ein Riesenzwerg. Er war elf Fuß groß, hatte aber die O-Beine, kurzen Arme und den übergroßen, halslosen Kopf der Zwerge. Sein struppiges Haar hing um das häßlichste Grinsen, das Shea je gesehen hatte. Seine Stimme hatte nicht den tiefen Baß der Riesen, sondern ein dünnes, spaßiges Falsett. „Willkommen, Herr Heimdall, in Muspellheim! Wir
sind außerordentlich erfreut, dich zu sehen“, quiekte er. „Ich fürchte, die Götter und Menschen werden ohne deine Trompete zu spät zum Kampf antreten, hehehe. Aber du kriegst einen sehr bequemen Kerker, sogar eine Weidenpfeife, wenn du Musik brauchst, hehehe. Einen so tüchtigen Musikanten wird man schon in allen neun Welten hören.“ Er kicherte. Heimdall bewahrte seine Würde. „Rauh ist deine Sprache, Surt, aber du mußt erst beweisen, wenn du auf Vigrids Ebenen stehst, daß sie deinen Taten entspricht. Vielleicht habe ich wenig Macht gegen euch vom Muspellheimblut, aber mein Bruder Frey wird dein Meister sein, wenn er dir von Angesicht zu Angesicht gegenübersteht.“ Surt steckte zum Zeichen seiner Verachtung zwei Finger in den Mund. „Hehehe, du dümmster der Götter, es heißt, Frey ist machtlos ohne sein Schwert. Willst du wissen, wo eure Zauberklinge Hundingsbana ist? Schau hinter dich, Heimdall!“ Shea folgte Heimdalls Blick. An der Wand hing ein riesiges Zweihandschwert, dessen Klinge hell blitzte; der Knauf glänzte von Gold und Edelsteinen. „Solange es da ist, einfältiger Äsir, bin ich in Sicherheit, hehehe. Warum haben deine scharfen Augen es nicht schon vorher gesehen? Wir in Muspellheim haben die Zaubersprüche gefunden, die einen Heimdall machtlos machen.“ Heimdall ließ sich nicht beeindrucken. „Thor hat seinen Hammer wieder“, bemerkte er leichthin. „Nicht wenige der Feuerriesen können es bezeugen – falls du sie wiederfinden kannst.“ Surt sah finster drein, aber seine piepsende Stimme
klang genauso spöttisch wie vorher. „Du bringst mich auf eine Idee. Vielen Dank, Heimdall. Wer hätte schon gedacht, daß er von einem Äsir etwas lernen kann? Hehe. Skoa!“ Ein Riese mit Schaufelohren stolperte herbei. „Was’s los, Surt?“ „Reite zu den Pforten von Asgard. Sag ihnen dort, daß wir den Horntuter hier haben. Wir schicken den Gecken gern zu seinen Verwandten zurück, aber dafür möchte ich ihr Schwert, das sie ,Haupt’ heißen, hehehe. Ich sammle nämlich Götterschwerter, und dann sehen wir schon, Heimdall, ob du ohne das deine mit den Feuerriesen fertig wirst.“ Er grinste über das ganze Gesicht, und die Feuerriesen im Hintergrund klatschten auf die Knie und brüllten durcheinander. Surt sah Heimdall und Shea an und genoß das zustimmende Gejohle seiner Leute. Heimdall war blaß geworden. „Bringt das Ungeziefer in den Kerker, bevor ich mich totlache“, befahl Surt und machte eine scheuchende Handbewegung. Wieder wurde Shea unter einen Arm geklemmt und genauso wie vorher weggetragen. * Durch spukhaftes Halbdunkel ging es abwärts. Endlich erreichten sie einen Gang, zu dessen beiden Seiten Zellen lagen, durch deren Gitterstäbe sie von anderen Gefangenen angestarrt wurden. Der Gestank wurde immer schlimmer.
„Halt!“ schrie ein Riese. „Stegg!“ In einem fensterlosen Loch am Ende des Ganges rührte sich etwas; heraus kam ein schuppiges Wesen von ungefähr fünf Fuß Höhe mit übergroßem Kopf, einer Kartoffelnase und langen, spitzigen Ohren. Statt Haar und Bart hatte er am Kopf wurmartige Auswüchse. „Ja, Herr“, brüllte das Wesen. „Hab ein paar Gefangene für dich. Sag mal, was stinkt denn da so?“ „Bitte, Herr. Sterblicher tot. Fünf Tage schon.“ „Du Schwein! Und den hast du da drinnen gelassen?“ „Nein, Herr, hier. Snögg sagt ,nein’, muß erst Befehl vom Herrn haben …“ „Du verdammter Dummkopf! ‘raus mit ihm und begrab ihn! He, wart mal, versorg erst die neuen Gefangenen! Mit den Äsir dürfen wir nichts riskieren!“ Stegg zeigte sich sehr geschickt, als er Shea und Heimdall fesselte. Shea fürchtete sich nicht einmal. In letzter Zeit hatte er soviel Außergewöhnliches erlebt, daß ihm alles unwirklich erschien. Außerdem würde ein gut geschultes Hirn auch mit den Schwierigkeiten eines solchen Ortes zurechtkommen. „Herr“, sagte Stegg, „muß sie in die Zelle von dem Toten stecken. Sonst nichts frei.“ „In Ordnung, Kleiner, bring sie ‘rein.“ Der Riese versetzte Shea einen Puff, der ihn beinahe umwarf, ihn aber jedenfalls die Richtung zu jener Zelle wies, die Stegg aufgeschlossen hatte. In dem entsetzlichen Durcheinander suchte er vergeblich nach einem Platz zum Hinsetzen. Das einzige Möbelstück war ein Eimer, dessen Zweck nicht
klar zu bestimmen war. Heimdall folgte ihm; er trug noch immer seine Miene unzerstörbarer Würde zur Schau. Stegg packte die Leiche, schleppte sie hinaus und knallte die Tür zu. Der Riese machte sich am Gitter zu schaffen. Es gab weder Schloß noch Riegel daran, aber die Tür war fest verschlossen. „Hohoho!“ grölte er, „schaut der Schlaflose nicht goldig aus? Wenn wir mit den anderen Äsir fertig sind, kommen wir wieder, und dann gibt’s einen Wirbel! Viel Vergnügen einstweilen!“ Er trampelte davon. Zum Glück war es warm, so daß Shea den Verlust seiner Oberkleider nicht besonders zu bedauern hatte. Außer einigen aufklatschenden Wassertropfen und einer gelegentlichen Bewegung der anderen Gefangenen rührte sich nichts im Kerker. Gegenüber von Shea rasselte eine Kette. Eine ausgezehrte Gestalt mit schrecklich verwildertem Bart rüttelte an den Stäben. „Yngvi ist eine Laus!“ schrie er und schlurfte weg. „Was meint er?“ rief Heimdall. Von rechts kam eine gedämpfte Antwort. „Das weiß niemand. Er sagt das jede Stunde mal. Verrückt ist er, und das werdet ihr auch bald sein.“ „Freundliches Plätzchen“, bemerkte Shea. „Wirklich“, pflichtete ihm Heimdall bei. „Ich habe noch schlechtere gesehen, nur war ich dort nicht eingesperrt. Für einen Sterblichen, Rübenharald, hast du einigen Witz. Dein Benehmen sagt mir sehr zu.“ „Danke.“ Shea hatte noch nicht ganz vergessen, daß ihm Heimdalls gönnerhaftes Benehmen nicht besonders zusagte, aber er fand den Schlaflosen weit interessanter als den
cholerischen, etwas beschränkten Thor oder den sarkastischen Loki. „Wenn es Euch nichts ausmacht, Goldener, daß ich Euch eine Frage stelle, möchte ich wissen, ob Ihr nicht Eure Macht dazu benützen könntet, hier herauszukommen?“ „Alles hat seine Grenzen“, entgegnete Heimdall, „und zwar bezüglich Größe, Macht und Dauer. Lang ist das Leben eines Gottes. Jedoch auch Götter werden alt und sterben. Und gemessen an den Feuerriesen und ihrem Häuptling Surt, dem schlimmsten aller Lebenden, habe ich nicht viel Kraft. Wäre mein Bruder Frey hier, oder wären wir bei den Frostriesen, könnte ich den Zauber dieser Tür brechen.“ „Wie meint Ihr das?“ „Sie hat kein Schloß. Aber sie öffnet sich nur, wenn der dazu Befugte mit der Absicht, sie zu öffnen, daran zieht. Schau mal“ – Heimdall drückte gegen die Gitterstäbe, ohne daß etwas geschah – „und wenn du jetzt eine Weile ganz still bist, werde ich versuchen, hier herauszukommen.“ Der Schlaflose lehnte sich an die Wand und seine Augen schweiften unruhig herum, sein Körper zitterte vor Anstrengung. „Ich sehe nicht allzu gut“, meinte er nach wenigen Minuten. „Es herrscht soviel Zauber hier – Feuerzauber, der böse und schwierig ist – daß mich der Kopf schmerzt. Aber etwas sehe ich ganz klar: um uns herum ist Fels, und er hat nur den Eingang, durch den wir gekommen sind. Jenseits ist ein Gang, der von Trollen bewacht wird. Pf, ekelhafte Kreaturen.“ Der Goldhaarige schüttelte sich. „Und könnt Ihr darüber hinaus etwas sehen?“
„Ein wenig. Hinter den Trollen ist über einem See geschmolzener Schlacke ein Sims, genau am Eingang der Halle, wo die Flammenschwerter sind. Und dann“ – er legte die Stirn in Falten und seine Lippen bewegten sich – „und neben dem Schlackensee sitzt ein Riese. Mehr kann ich nicht sehen.“ Heimdall verfiel in brütendes Schweigen. Shea fühlte großen Respekt und einige Zuneigung, aber es ist schwierig, das einem Gott in einer Gefängniszelle zu zeigen. Er vermißte Thjalfis warmherzige Menschlichkeit. Stegg kam wieder zurück. Einer der Gefangenen rief ihm zu: „Guter Stegg, bitte, ein wenig Wasser, ich verdurste!“ „Es gibt bald zu essen, Sklave“, antwortete Stegg. Der Gefangene schrie den Troll zornig an, aber der trottete zu seiner Höhle zurück und ließ nichts als vollkommene Gleichgültigkeit erkennen. Dort stemmte er sich auf eine Stuhlruine, ließ das Kinn auf die Brust sinken und genehmigte sich ein Nickerchen. „Netter Kerl“, stellte Shea fest. Der Gefangene von gegenüber schlurfte ans Gitter. „Yngvi ist eine Laus!“ schrie er wieder. „Der Troll schläft nicht“, sagte Heimdall. „Ich kann seine Gedanken hören, denn er gehört einer Rasse an, die nicht denkt, ohne die Lippen zu bewegen. Aber ich verstehe sie nicht. Harald, du siehst etwas Ungewöhnliches: daß ein Äsir bekennt, geschlagen zu sein. Aber das mußt du wissen: für Götter und Menschen wird die schlechteste aller Zeiten kommen, werden wir hier festgehalten.“ „Und warum?“
„So fest ausgewogen ist die Stärke der Götter wie der Riesen, daß alles, was geschehen wird, sobald die Zeit kommt, an einem Faden hängt. Kommen wir zu spät aufs Schlachtfeld, verlieren wir den Kampf. Und ich bin hier – hier, in dieser Zelle – und mit meiner Gabe der Sicht könnte ich sie warnen. Ich bin hier, und Gjallarhorn, die schallende Trompete, die Götter und Helden zum Schlachtfeld ruft, ist in Sverres Haus.“ „Warum greifen die Äsir die Riesen nicht an, bevor diese zum Kampf bereit sind? Sie wissen doch, daß es diesen Kampf geben wird?“ Heimdall sah ihn an. „Du kennst nicht die Gesetze der Neun Welten, Harald. Wir Äsir können die Riesen nicht angreifen, bevor die Zeit kommt. Menschen und Götter unterliegen den Gesetzen; sonst wären sie nichts als Riesen.“ Ruhelos, die Stirn gefurcht, schritt er auf und ab. Aber selbst in diesem Augenblick setzte der Schlaflose, wie Shea bemerkte, sorgfältig einen Fuß vor den anderen, um die Leichtigkeit seines Ganges darzutun. „Sicher fehlt Ihr ihnen“, bemerkte Shea. „Aber können sie nicht andere Wachen aufstellen, um die Riesen zu beobachten, oder …“ Er sah das düstere Funkeln in Heimdalls Auge und fügte lahm hinzu: „… oder sonst irgend was?“ „Die Gedanken eines Sterblichen, ach!“ lachte Heimdall bitter. „Andere Wachen da und dort! Höre Rübenharald, Harald der Narr. Von uns allen ist Frey der beste, der einzige der Äsir, der ohne Waffen vor Surt bestehen kann. Aber die Welten sind so gemacht, daß es eine Rasse gibt, die Frey fürchtet, und wir können sie nicht ändern. Über
die Frostriesen hat er keine Macht. Nur ich, ich und mein Schwert Haupt, können mit ihnen fertig werden. Könnte ich meine Schar gegen die Frostriesen führen, müßte ich nicht hiersein, dann könnten wir hernach lange glücklich und in Frieden leben.“ „Tut mir leid, Herr“, sagte Shea. „Ach, macht nichts. Komm, spielen wir ein Fragespiel. Wenig und schlechte Gedanken entspringen dem Brüten.“ * Stundenlang fragten sie einander über die Welt des anderen aus; die Zeit maßen sie nur an den Schreien ihres Gegenübers, „Yngvi ist eine Laus!“ und an den Mahlzeiten. Nach dem achten Schrei kam Stegg aus seiner Höhle und brachte einen Stapel Schüsseln, die er vor den Zellen absetzte. Zu jeder Schüssel gehörte ein Löffel. Gegessen wurde anscheinend durch die Gitterstäbe. Sie bekamen eine Art Haferbrei, in dem kleine Fischstückchen schwammen. Das Zeug schmeckte sauer. Die Gefangenen erhoben lautstarke Klagen über Qualität und Quantität der Mahlzeit, aber darauf achtete Stegg nicht, sondern kletterte auf seinen Stuhl, bis es Zeit war, die Schüsseln wieder einzusammeln. Zur nächsten Mahlzeit erschien ein anderer Troll; er war noch häßlicher als sein Vorgänger. Seine Nase war von so ungeheurer Länge, daß sie fast zwei Spannen aus dem Gesicht ragte. Er bewegte sich mit katzenhafter Geschmeidigkeit. Die Gefangenen stellten sofort ihr Lärmen ein. „Ihr Neuankömmlinge?“ knurrte er vor Sheas Zelle. „Ich bin Snögg. Ihr seid gut, dann nichts passieren. Wenn böse,
dann tztztz.“ Mit den Fingern machte er eine Geste, die besagte, man würde ihnen sonst den Hals abschneiden. Dann schritt er die Zellen ab und lugte in jede hinein. Shea hatte noch nie im Leben auf einem Steinboden geschlafen; deshalb war er erstaunt, als er eine unendliche Zeit später erwachte und feststellte, daß er es nun ein erstes Mal getan hatte. Er war stocksteif davon. „Wie lange habe ich eigentlich geschlafen?“ fragte er Heimdall und streckte sich. „Das weiß ich nicht. Unser Mitgefangener, der eine Abneigung gegen einen gewissen Yngvi hat, hörte zu schreien auf.“ Der langnasige Gefängniswärter ging noch immer herum. Shea war dessen Name entfallen. „He, du mit der langen Nase!“ rief er, „wie lange ist’s noch bis zum Frühst…“ Der Troll fuhr herum. „Wie du mich rufen? Du stinkender Wurm! Ich tztztz!“ Zornbebend rannte er zu seinem Loch, holte einen Eimer Wasser und goß ihn Shea ins Gesicht. „Du Balg!“ kreischte er, „ich dich rösten auf langsames Feuer! Ich bin Snögg und Herr. Du richtigen Namen sagen!“ Heimdall lachte in sich hinein. „Auf diese Weise kommt man zu einem Bad“, murmelte Shea. „Ich glaube, unser Freund Snögg ist wegen seiner Nase recht empfindlich.“ „Das sieht man“, pflichtete ihm Heimdall bei. „Hei! Wie viele Schwierigkeiten könnten die Kinder der Menschen sich ersparen, wenn sie die Fähigkeit der Götter hätten, die Gedanken zu lesen, die hinter den Lippen liegen. Ich wette, die Hälfte allen Ärgers.“
„Wenn schon vom Wetten die Rede ist, Schlafloser, ich habe eine Idee für ein Wettrennen, damit uns die Zeit schneller vergeht.“ „In diesem engen Käfig? Was tust du? Ich vertraue darauf, daß du kein Wettessen mit diesen Schaben hier veranstalten willst.“ „Nein, sondern ein Rennen mit ihnen. Hier ist die Eure. Sie ist an einem abgebrochenen Fühler zu erkennen.“ „Es ist kein feuriges Roß“, gab Heimdall zu bedenken, nahm aber das Insekt. „Trotzdem nenne ich es nach meinem Pferd Goldpfeil. Wie heißt das deine, und wie soll das Rennen vor sich gehen?“ „Meines heißt Krieger, nach einem berühmten Pferd meiner Welt.“ Er glättete den Staub auf dem Boden und zog mit dem Finger einen Kreis. „Und jetzt setzen wir unsere Renner in den Mittelpunkt des Kreises, und das Tier, das zuerst den Rand erreicht, gewinnt.“ „Ein guter Sport. Und was soll der Preis sein? Eine Krone?“ „Wir haben doch alle kein Geld. Weshalb dann nicht hoch setzen? Fünfzig Kronen?“ „Fünfhundert, wenn du willst.“ Krieger gewann das erste Rennen. Snögg bemerkte, wie angeregt man sich in der Zelle unterhielt. „Was ihr tun?“ fragte er. Shea erklärte es ihm. „Oh“, schniefte der Troll, „das könnt ihr tun. Nicht zuviel Lärm. Wenn ja, verbiete ich.“ Er stakste davon, kam aber bald wieder zum Zusehen. Goldpfeil gewann das zweite Rennen, Krieger das dritte und vierte. Shea sah auf und unterdrückte die Versuchung, die fußlange Nase des Trolls
zu zwicken, die dieser durch die Gitterstäbe steckte. Snögg wurde dann wieder von Stegg abgelöst, der keine Notiz von dem Schabenrennen nahm. Shea fragte ihn, ob er vielleicht eine kleine Schachtel oder einen Korb oder Eimer haben könnte. „Wozu brauchen?“ fragte der Troll. Shea erklärte ihm, er brauche sie, um die Schaben aufzuheben. Stegg hob die Brauen. „Viel zu groß für sie“, erklärte er und stapfte davon. Shea hob etwas von seinem Frühstück auf, benützte es als Köder und fing zwei frische Schaben. Nach ein paar weiteren Siegen für Shea begann Heimdalls Tier ständig zu siegen. Schließlich schuldete er dem Gott etwa dreißig Millionen Kronen. Das erweckte nun seinen Verdacht. Er beobachtete den Goldenen Gott beim nächsten Rennen. „Das ist aber nicht fair!“ rief er, „Ihr behext meine Schabe mit Eurem glitzernden Auge, damit sie langsamer läuft!“ „Wie, Sterblicher! Du wagst es, einen Äsir zu beschuldigen?“ „Ihr habt verdammt recht, ich wage es! Wenn Ihr weiter Eure Spezialkräfte gebraucht, spiele ich nicht mehr mit.“ Über Heimdalls Gesicht huschte ein Lächeln. „JungHarald, du bist ehrlich und hast Verstand. Ich habe tatsächlich deinen Renner gestoppt. Ein Äsir darf nicht von Sterblichen geschlagen werden. Aber komm, machen wir weiter. Wir werden mit anderen Tieren neu beginnen, denn ich glaube, dein Renner wird nie mehr derselbe sein.“ Es war leicht, neue Schaben zu fangen. „Ich nenne die meine wieder Goldpfeil, es ist ein Glücksname. Hast du
denn kein Lieblingspferd gehabt?“ „Nein, aber ein Auto, ein vierrädriges Fahrzeug. Es hieß …“, begann Shea. Wie hieß sein Auto eigentlich? Er versuchte sich zu erinnern. Nyrose? Nein. Neelose? Auch nicht. Nerosis …? Etwas klickte in seinem Gehirn; stückweise fielen die Einzelheiten an ihren Platz. „Heimdall!“ schrie er plötzlich, „jetzt weiß ich vielleicht, wie wir hier herauskommen!“ „Das wäre die beste aller Nachrichten“, antwortete der Schlaflose zweifelnd, „wenn die Tat dem Gedanken entspricht. Aber ich habe diesen Ort jetzt so genau gesehen, daß wir Hilfe von außen brauchen. Ein Riese wird uns kaum helfen, jetzt, wo die Zeit so nahe ist.“ „Auf wessen Seite werden die Trolle stehen?“ „Man sagt, sie seien neutral. Aber es wäre seltsam, wenn wir einen von ihnen dazu verleiten könnten, uns zu helfen.“ „Trotzdem hat mir etwas, was Ihr vorher sagtet, zu denken gegeben. Erinnert Ihr Euch? Ihr sagtet, die Götter könnten die Gedanken lesen, die hinter den Lippen liegen.“ „Ja.“ „Ich bin – ich war einer, dessen Beruf es ist, die Gedanken der Menschen aus ihnen herauszufragen, zu erforschen, was sie heute denken und daraus zu schließen, was sie morgen unter anderen Umständen denken werden, sie sogar dazu herauszufordern, etwas Bestimmtes zu denken.“ „Das könnte sein. Es ist aber, Sterblicher, eine ungewöhnliche Kunst und es gehört eine große Geschicklichkeit dazu. Und was weiter?“ „Nun, ich denke, mit diesem Stegg kommen wir nicht weiter, den Typ kenne ich. Er ist ein – ach, ich erinnere
mich nicht daran, aber er lebt in seiner eigenen Vorstellungswelt, in der er König ist, und wir sind seine Sklaven. Ach, jetzt weiß ich: ein Paranoiker. Mit diesen kommt man nicht in Kontakt.“ „Sehr vernünftig gedacht, Harald. Das ist, wie ich weiß, mehr als wahr.“ „Aber Snögg ist anders. Mit ihm können wir etwas anfangen.“ „Ich bedaure, es sagen zu müssen: Snögg ist noch feindseliger als sein häßlicher Bruder.“ Shea grinste. Endlich konnte er sein Wissen einmal anwenden. „Das sollte man meinen. Aber ich kenne viele von der Sorte. Er hat nur einen – einen Minderwertigkeitskomplex. Seine Nase! Wenn ihn jemand davon überzeugen könnte, daß er schön ist …“ „Snögg und schön, hoho! Das wäre was für Loki.“ „Seht, bitte, Herr Heimdall. Ich sage, was er am meisten wünscht, ist schön zu sein. Wenn wir – eine Art Zauber auf seine Nase anwenden könnten, wenn wir ihm sagten, sie sei viel kleiner geworden, und wenn wir die anderen Gefangen dazu bringen könnten, mitzuspielen …“ „Ein kluger Plan! Du hast dich also mit Onkel Fuchs zusammengetan? Aber verkaufe die Bärenhaut nicht, bevor du den Bären gefangen hast. Wenn du dir Snögg soweit gewogen machst, daß du ihm einen Vorschlag unterbreiten kannst, dann wird sich beweisen, ob die Gefangenschaft deinen Verstand geschärft oder ihn verwirrt hat. Aber, Jüngling, was willst du tun, daß Snögg seine Nase nicht befühlt und den Betrug merkt?“ „Ach, wir brauchen ihm gar nicht zu garantieren, daß die
ganze Überlänge verschwindet. Er ist bestimmt schon für ein kleines Stück dankbar.“ 8. Kapitel Als Snögg am Abend seinen Dienst aufnahm, hörte er aus Sheas und Heimdalls Zelle deren Anfeuerungsschreie für ihre Renner. Er ging zur Zelle und vergewisserte sich, daß nichts im Gange war, was gegen die Gefängnisordnung verstieß. Shea grinste ihn an. „Hallo, Freund Snögg! Gestern schuldete ich Heimdall dreißig Millionen Kronen, aber heute verliert er, und sein Gewinn ist auf dreiundzwanzig Millionen zusammengeschrumpft.“ „Was du meinen?“ knurrte der Troll. Shea erklärte es ihm. „Warum spielst du nicht mit? Wir fangen eine Schabe für dich. Es muß doch recht langweilig sein, wenn man die ganze Nacht vor sich hat und nur das Schnarchen der Gefangenen hört.“ „Hm, hm“, machte Snögg, wurde aber plötzlich wieder mißtrauisch. „Du machst Trick, daß die anderen Gefangenen entkommen, ich tztz!“ Wieder machte er die Geste des Halsabschneidens. „Herr Surt sagt’s.“ „Nein, nein. Du kannst jederzeit zum Nachschauen gehen. Seht, jetzt hab ich eine.“ „Eine was?“ fragte Snögg, und seine Stimme klang nicht mehr ganz so feindlich. Shea zeigte ihm die Schabe in seiner Faust. „Wie soll sie denn heißen?“ Snögg strengte sein kleines Trollgehirn an, denn er be-
griff nicht, warum ein Gefangener so freundlich zu ihm war. „Ich heiße ihn Fjörm, ist ein Fluß, der schnell läuft“, sagte er schließlich. „Stammst du dorther?“ „Jawohl.“ „Man sagt, Freund Snögg“, fiel Heimdall ein, „daß es im Fjörm die besten Fische aller Neun Welten gibt, und das glaube ich, denn ich sah sie.“ Der Troll sah geschmeichelt drein. „Wahres Wort! Ich dort fischen, früh am Morgen, hoho! Ich hineinwaten – schnapp! Forelle kommt herauf. Schlage sie flopflop. Eine erinnere ich mich, jage ins Seichte.“ „Du und Öku-Thor“, sagte Shea, „ihr solltet zusammen fischen gehen. Der Fjörm mag die besten Fische haben, aber Thor ist der größte Fischer der Neun Welten.“ Snögg kicherte. „Ich diese Geschichte kennen. Thor kein Fischer, braucht Haken und Leine. Nur Trolle wissen, wie anständig fischen. Wir benützen Hand. So.“ Er beugte sich hinunter, sah konzentriert drein, machte eine haschende Bewegung. „Ah!“ schrie er, „Fisch! Ich liebe ihn! Komm, wir machen Wettrennen.“ Die drei Schaben wurden in den Kreismittelpunkt gesetzt und angeschoben. Snöggs Fjörm kam, zu des Trolls unverholenem Vergnügen, als Sieger an. Das Derby ging weiter. Ab und zu mußten sie neue Renner fangen. Snögg heimste so viele Siege ein, daß es allen Gesetzen der Wahrscheinlichkeit widersprach. Das bemerkte der Troll aber nicht. Shea und Heimdall gewannen jedenfalls oft genug, um seinen schlummernden Verdacht nicht zu wecken. Als der Morgen anbrach, hatte Snögg
Spielguthaben in Höhe von über zwanzig Millionen Kronen. Shea streckte sich zum Schlafen aus und war sehr befriedigt vom Erfolg seiner Tätigkeit. Er erwachte, bevor Snögg wieder seinen Dienst antrat. Heimdall lief ungeduldig auf und ab und beklagte sich wegen der Verzögerung ihrer Pläne. Mittlerweile ritt Surts Botschafter, um das Schwert Haupt als Lösegeld zu holen. Aber es wurde schnell offenbar, daß ihr Feldzug nicht beschleunigt werden konnte. „Hast du denn niemals Heimweh nach deinem Fluß Fjörm?“ fragte Shea, als der Troll zu ihnen kam. „Ja, schon“, antwortete er, „oft. Ich liebe den Fisch.“ „Wirst du dorthin zurückkehren?“ „Nicht bald.“ „Warum nicht?“ Snögg wimmerte ein wenig. „Lord Surt harter Herr.“ „Oh, er wird dich gehen lassen. Ist das der einzige Grund?“ „N-nein. Ich liebe Trollmädchen Elvagevu. Aber, was rede ich Privatsachen mit Gefangenen? Schluß, wir rennen.“ Shea wußte, daß er nun mit seinen Fragen aufhören mußte. Als Snögg gegangen war, bemerkte er zu Heimdall: „Da haben wir aber Glück. Ich kann mir zwar nicht vorstellen, wie man sich in ein Trollmädchen verlieben kann, aber er ist offensichtlich …“ „… aus einer anderen Welt, wie du richtig meinst. Ich konnte seine Gedanken gut lesen. Diese Trollfrau Elvagevu hat ihn seiner Nase wegen abgewiesen.“ „Ah! Dann haben wir also tatsächlich etwas! Nun, heute abend …“
* Als das Derby abends wieder begann, richtete es Heimdall so ein, daß Snögg einige Rennen nacheinander verlor. Dann folgte eine lange Reihe von Siegen, und Snögg schnippte vor Vergnügen mit den Fingern, kicherte und konnte sich kaum mehr fassen. „Freund Snögg“, begann Shea behutsam, „du bist gut zu uns gewesen. Wenn es etwas gibt, was wir für dich tun können, dann sag es. Zum Beispiel könnten wir das Hindernis für deine Rückkehr zu Elvagevu beseitigen.“ Snögg hüpfte auf und sah mißtrauisch drein. „Nicht möglich“, stellte er bekümmert fest. Heimdall sah zur Decke hinauf. „Große Wunder wurden von Gefangenen bewirkt“, sagte er, „wenn sie die Hoffnung hatten, frei zu kommen.“ „Surt ein sehr rauher Mann, wenn böse“, entgegnete Snögg. „Stimmt“, bestätigte Heimdall. „Doch Surts Arm ist nicht lange genug, um in das Land der Trolle zu reichen und einen zurückzuholen, der dorthin ging, um mit seiner Trollfrau zu leben.“ Snögg legte den Kopf auf die Seite, so daß er wie ein langschnabeliger Vogel aussah. „Hart ist es, Surts Arm zu entkommen. Zuviel Gefahr.“ „Aber“, wandte Shea ein, „wenn das Gesicht verändert ist, weil irgendein besonderes Merkmal wegfällt, muß es doch viel leichter und einfacher sein. Niemand würde dich erkennen.“
Snögg rieb seine enorme Nase. „Zu groß. Du machst Spaß mit mir“, meinte er mißtrauisch. „Absolut nicht“, widersprach Shea. „In meinem Land hat mich ein Mädchen einmal abgewiesen, weil meine Augen zu nahe beisammenstehen. Frauen haben einen komischen Geschmack.“ „Das sehr wahr.“ Snögg nickte. „Du machst klein meine Nase“, flüsterte er, „und ich euer Mann. Ich tu alles für euch.“ „Ich möchte vorher nicht allzuviel versprechen“, meinte Shea. „Aber ich glaube, ich kann was für dich tun, auch wenn ich meine Zaubergeräte nicht bei mir habe.“ „Du alles kriegen, was nötig“, versprach Snögg und hatte es plötzlich sehr eilig. „Ich muß mir erst überlegen, was ich brauche.“ Am folgenden Tag, als Stegg die Schüsseln eingesammelt hatte, fragten sie die anderen Gefangenen, ob sie bei ihrem Fluchtplan mittun würden. „Natürlich“, antworteten sie, „wenn wir davon keinen Nachteil haben.“ Oder: „Aber ihr müßt versuchen, auch für mich etwas zu tun, wenn ihr es unauffällig machen könnt.“ In Gedanken formulierte Shea eine Beschwörung, die einigermaßen überzeugend klang; er erinnerte sich dessen, was Chalmers über die Gesetze der Magie gesagt hatte. Schade, daß er nicht besser dabei aufgepaßt hatte. Da gab es das Gesetz der Übertragung – nein, es war nicht anwendbar; aber das Gesetz der Ähnlichkeit? Das mußte es sein. Der Troll, selbst vertraut mit Beschwörungen und Zauber, würde die Bemühungen erkennen, dieses Gesetz entsprechend den allgemeinen Regeln der Zauberei anzu-
wenden. Dazu gehörte dann noch ein gewisser Hokuspokus, um Snögg glauben zu machen, es handle sich um einen Spezialzauber. Wenn dann die anderen Gefangenen in bewundernde Rufe ausbrachen, wie schön Snöggs kleine Nase sei, wäre es geschafft. „Wen soll man bei einer Beschwörung dieser Art am besten anrufen?“ fragte Shea Heimdall. „Gering ist meine Kenntnis von der Sterblichen Zauberei“, erwiderte Heimdall. „Der Böse Geselle könnte dir alle Arten von Zaubersprüchen und solchem Tand geben. Aber ich würde sagen, daß die Namen der Vorfahren aller Zauberei in einem solchen Fall einige Kraft hätten.“ „Und wie heißen sie?“ „Der Urvater aller Hexen heißt Witolf; jener der Zauberer ist Willharm. Svartkopf war der erste der Zauberdichter, und bei den Riesen war es Ymir. Snögg zuliebe und um das Glück zu beschwören, könntest du noch die Namen zweier noch Lebender hinzufügen – Andvari, des Königs der Zwerge, und den der Alten von Eisenholz, der Herrscherin aller Trolle. Sie ist eine schreckliche Kreatur, aber nicht für ihre Untertanen.“ Als Snögg seinen Dienst antrat, hatte Shea die Beschwörungformel fertig. „Ich brauche ein Stück Bienenwachs“, sagte er, „und ein kleines, schon brennendes Holzkohlenfeuer; dann ein Stück Holz, schon zersägt. Die Stücke dürfen nicht größer als dein Daumen sein. Ferner ein Pfund grünes Gras und ein Gestell, auf das man ein Brett auflegen kann. Es muß über dem Holzkohlenfeuer aufgebaut werden.“ „Die Zeit kommt sehr bald“, sagte Snögg. „Riesen rü-
sten sich. Wann du brauchen alles?“ Heimdall stöhnte entsetzt, als er Snöggs erste Bemerkung hörte, aber Shea sagte: „So schnell du es herbeischaffen kannst.“ „Vielleicht morgen nacht. Machen wir Rennen?“ „Nein – ja“, antwortete Heimdall. Im trüben Licht sah sein mageres, scharfes Gesicht überanstrengt aus. Shea ahnte, wie die Ungeduld an ihm fraß; Pflichtgefühl und persönliche Verantwortung quälten ihn. Das Schicksal der Welt, der Götter und Menschen hing, nach Heimdalls eigenen Worten, an diesem Trompetenschall. Auch Sheas Schicksal hing daran, ein Gedanke, der ihm immer wieder einen Schock der Unwirklichkeit versetzte. Aber nicht einmal dieser Gedanke konnte ihn aus seinem Fatalismus herausreißen. Die Welt, aus der er gekommen war, konnte er wenigstens als Ganzes überdenken. Sie war greifbar, wenn auch uninteressant. Seine früheren Mißerfolge auf der Reise nach Jötunheim hatten in ihm ein Gefühl der Hilflosigkeit erzeugt, das auch dann nicht schwand, als er die Illusion in den Wettkämpfen mit den Riesen und Thors Hammer entdeckt hatte. Loki und selbst Heimdall hatten danach seine Furchtlosigkeit gerühmt. Ha, wenn sie wüßten! Nicht Mut war es, was ihn beseelte, sondern das Gefühl, in ein seltsames, verzweifeltes Spiel verstrickt zu sein, bei dem es darauf ankam, so geschickt wie möglich zu spielen. Soldaten mußten in einer Schlacht ähnlich fühlen, denn sonst müßten sie alle davonlaufen, und es gäbe gar keine Schlacht … Seine Gedanken schweiften ab zu dem Ereignis in der Halle von Utgard. War es Lokis Zauberspruch oder die
Träne in seinem Auge gewesen, die den Erfolg herbeigeführt hatte? Oder war er das Ergebnis seines geschulten Intellektes? Vielleicht Letzteres. Sein Verstand wehrte sich gegen die Wirksamkeit des Zaubers, aber rein physikalisch ließ er sich doch nicht erklären. Das hieß also, daß er, wie jeder andere, mit der richtigen Formel zaubern konnte. Heimdall, Snögg und Surt verfügten über besondere Kräfte, aber die würden ihm – Shea – nichts nützen. Er war, dem Himmel sei Dank dafür, weder ein Gott, noch ein Troll oder Riese. Aber er konnte wenigstens eine gute Schau aufziehen. Aber wie? Was würde ein Zauberer tun? Sein normales Benehmen mußte Snögg in jeder Beziehung eigenartig genug vorkommen. Die Nacht verging, und Stegg begann seinen Dienst. Am nächsten Abend lauschte der Troll, bis Steggs Schritte verklangen, und huschte dann wie eine riesige Ratte davon. Kurz darauf kehrte er mit all dem zurück, das Shea verlangt hatte, ließ es auf den Boden des Felsganges fallen und öffnete Sheas Zellentür. „Lösche alle Fackeln bis auf eine“, gebot Shea. Er ging an die Arbeit. Das Bienenwachs hielt er über das Holzkohlenfeuer, bis es weich genug war, eine Nachbildung von Snöggs Nase zu formen. „Jetzt“, flüsterte er dem Troll zu, „bring den Wassereimer. Wenn ich dir’s sage, schüttest du das Wasser in das Feuer.“ Er blies die Glut an, die Kohlen leuchteten auf. Er nahm einige der Holzschnitzel und warf sie auf die Glut. Kleine Flammen tanzten über ihnen. Shea hockte sich auf die Fersen und begann seinen Spruch:
„Witolf und Williharm, kommt, Freunde! Andvari und Ymir, steht mir bei! Alte von Eisenholz, hilf mir; Beim Geist von Svartkopf, wirke, Zauber!“ Das Wachs auf dem Brett über dem Feuer war weich. Die Nase verlor ihre Form, fiel zusammen. Durchsichtige Tropfen rannen über den Rand des Brettes und verzischten gelb aufleuchtend im Holzkohlenbecken. Shea sang: „Hexen und Zauberer, tut euch zusammen, Laßt Snöggs Nase schmelzen wie Wachs im Feuer!“ Das Wachs war nun nur noch ein faustgroßer Klumpen; Tropfen nach Tropfen fiel ins Feuer, und der Widerschein der gelben, züngelnden Flammen spiegelte sich in den Augen der atemlos zusehenden Gefangenen. Shea stopfte eine Handvoll Gras ins Feuer. Dicke Rauchschwaden füllten das Gewölbe. Er wedelte mit den Armen und verschränkte die Finger. „Alte von Eisenholz“, rief er, „ich rufe dich an im Namen deines Untertanen!“ Vom Wachs war nur noch ein Winkes Klümpchen übrig. Shea nahm es und formte daraus eine Nase von normaler Größe und Form. „Jetzt schütte das Wasser auf!“ schrie er. Swusch! machte es, und die Zelle war von einer undurchdringlichen Dampfwolke erfüllt. In kleinen Bächen rann Shea der Schweiß über die Haut; er krabbelte wie Insekten. „Jetzt“, sagte er, „kannst du die Fackeln wieder anzünden.“ Die nächsten paar Sekunden würden zeigen, ob sein Zauber gewirkt hatte. Taten die anderen Gefangenen mit …
Snögg zündete die Fackeln an. Als er durch das nun hellere Licht zur Zellenwand ging, um die Fackel in den Halter zu stecken, fiel Shea in die erstaunten Rufe der Mitgefangenen ein. Snöggs Nase war nicht mehr größer als die eines normalen Menschen. „Kopf ist ganz komisch“, bemerkte Snögg beiläufig. 9. Kapitel Mit zittriger Hand tätschelte der Troll seine Nase. „Guter Zauber“, kicherte er und tat ein paar Tanzschritte. „Hei! Elvagevu, du liebst mich jetzt!“ Fassungslos stand Shea da. Das einzige, was ihm einfiel, war „na, so etwas!“ Heimdalls Hand lag auf seiner Schulter. „Du hast gut gezaubert“, sagte der Schlaflose. „Es wird gut sein für uns. Jedoch ich warne dich, Zauberer: es ist nicht richtig, die Götter zu belügen. Weshalb sagtest du an den Kreuzwegen der Welt, du habest keine Geschicklichkeit zum Zaubern?“ „Ach“, meinte Shea bescheiden, „ich wollte vor Euch nicht angeben, Herr.“ „Schön bin ich!“ quiekte Snögg und hüpfte herum, „schön bin ich!“ Shea hielt es für sinnlos, laut auszusprechen, daß er Snögg immer noch für das häßlichste Wesen hielt. „Und wie bringst du uns jetzt heraus, Snögg?“ fragte er statt dessen. „Wird gemacht“, antwortete Snögg. „Jetzt gehe in die Zelle. Ich bringe Waffen und Kleider.“ Shea und Heimdall sahen einander an. Sie mußten dem
Troll vertrauen; wenn sie auch sehr ungern in ihren Kerker zurückgingen. „Jetzt werden wir ja sehen, ob er uns betrügt“, meinte Heimdall. „Wenn er …“ „Dann überlegen wir uns, was wir mit ihm anfangen“, grinste Shea. Der gelungene Zauber ließ seine Zuversicht himmelwärts stürmen. „Ein Zauberer wie du“, bemerkte Heimdall düster, „könnte seine Füße auf den Kopf der Schlange stellen.“ „Vielleicht“, antwortete Shea. An den Gedanken, zaubern zu können, hatte er sich noch nicht gewöhnt. Er verstieß gegen alle physikalischen, chemischen und biologischen Gesetze. Jetzt unterlag er denen der Zauberei, und sein Zauberspruch hatte genau das bewirkt, was Chalmers erklärt hatte. Zufällig kannte er dieses Gesetz, das Sterbliche, Götter und Trolle sonst nicht kannten. Hätte er sich nur mehr damit beschäftigt, statt Zündhölzer, Schießwaffen und Taschenlampen mitzunehmen. Ein leises Pfeifen holte ihn aus seinen Gedanken zurück. Es war Snögg, der, immer noch strahlend vor Freude, ein großes Kleiderbündel mit etwas Langem darin brachte. „Hier, Kleider, Herren“, grinste er, und die fühlerartigen Auswüchse auf seinem Kopf zitterten vor Erregung. „Auch Schwerter. Ich tragen, bis wir draußen sind, ja?“ Er hob eine leichte Kette auf. „Ihr legt das um Hände, ich euch führen, ja? Wenn jemand anhält, dann sagen, gehen zu Surt.“ „Beeil dich, Harald“, drängte Heimdall, als Shea sich in die ungewohnten Kleider zwängte. „Es dämmert zwar schon, aber vielleicht erreichen wir die anderen Äsir noch, bevor sie mein Schwert weggeben.“
Shea war angekleidet. Er und Heimdall nahmen die Kette, während Snögg das andere Ende in seinen Gürtel schob und mit einem riesigen Schwert in jeder Hand wichtigtuerisch vor ihnen herschritt. Die Schwerter waren so groß wie Hundingsbana, nur waren die Klingen rostig und die Knäufe nicht verziert. Snögg öffnete die Tür am Ende des Kerkergewölbes. „Jetzt ganz leise“, riet er. „Ich sage, ich bringe euch zu Surt. Schaut sehr kläglich zu Boden.“ „Viel Glück, Freunde, und vergeßt uns nicht“, rief leise einer der Gefangenen hinter ihnen her. Dann waren sie draußen und tappten durch den dunklen Tunnel. Shea bemühte sich, die Schultern einzuziehen und so entmutigt wie möglich dreinzusehen. * Sie kamen an vier Trollen vorbei. Einer von ihnen rief etwas in der Trollsprache. Snögg antwortete etwas und fügte hinzu: „Surt braucht sie.“ Der andere sah ihn zweifelnd an. „Ein Wächter nicht genug. Vielleicht sie werden entkommen.“ „Nein. Zauber auf dieser Kette“, erklärte Snögg und rasselte mit ihr. „Goinn almsorg thjalma.“ Damit schien der Troll zufrieden zu sein. Die drei stolperten weiter und kamen zu einem in den Fels gehauenen Raum, der von Licht und lärmender Bewegung erfüllt war. Shea tat einen Satz, als eine Stimme schrie: „Nein – nein – nein!“ Er warf nur einen kurzen Blick auf das, was da vorging, aber der reichte ihm: es stülpte ihm fast den Magen um.
Der Gang endete an einem See geschmolzener Lava, daneben saßen Riesen mit Flammenschwertern. „Gefangene zu Surt“, meldete Snögg. „Ja, sag mal, Snögg, was ist denn mit deiner Nase passiert?“ fragte einer der Riesen. „Ich die Alte von Eisenholz angerufen. Hat sie geschrumpft“, erklärte Snögg grinsend. Sie stolperten weiter. „Hahaha!“ johlte der Riese hinter ihnen. „Du gib acht“, knurrte Snögg, „du Gefangene hineinstoßen, dann dich Surt auch hineinwerfen.“ Sie erreichten einen anderen Tunnel, von dem Seitenstollen abzweigten, und kamen an einem Waffensaal vorbei, der im flackernd roten Licht unendlich groß aussah. Er schien mit puppenkleinen, huschenden schwarzen Schatten ausgefüllt zu sein. „Das sind die dunklen Zwerge von Svartalfheim; hier war weder Gott noch Mensch, soviel ich weiß“, sagte Heimdall leise. Links, rechts, hinauf. Vor ihnen näherten sich düster glimmende Lichter, ähnlich einer Lokomotive, die eine Kurve nimmt. Um die Ecke kam ein Trupp Riesen mit flammenden Schwertern. Die drei drückten sich an die Wand. Der letzte der Riesen drehte sich um. „Gefangene zu Surt“, erklärte Snögg. Der Riese nickte und spuckte aus, Shea gerade in den Nacken. Es war ekelhaft. Sie hatten nun den oberen Teil der Festung erreicht und bewegten sich durch einen Wald von Säulen. Snögg legte den Finger auf den Mund, huschte von Säule zu Säule, die anderen beiden hinter ihm drein.
„Gebt mir die Kette“, wisperte Snögg und rollte sie zusammen. ,,Hierher“, flüsterte er. „Warten, bis Gang leer. Dann gehe ich. Ihr rennt so schnell ihr könnt. Dann – ssst! Hinlegen, schnell!“ Sie drückten sich an die Wand. Der Boden dröhnte unter den Tritten der Riesen. Shea schloß die Augen. Als sie vorbei waren, schlichen sie auf Zehenspitzen weiter. Snögg lugte um die Ecke, reichte Shea und Heimdall je eines der Schwerter und lugte noch mal. „Wenn Riesen mich jagen“, flüsterte er, „dann schnell rennen. Außen dunkel, dann verstecken!“ „Wie findest du uns wieder?“ fragte Shea. „Ich euch schon finden, ganz bestimmt“, antwortete Snögg und grinste. Dann war er verschwunden. * Shea und Heimdall lauschten. Sie hörten eine dröhnende Anschuldigung und Snöggs gezwitscherte Antwort. Eine Kette rasselte. Füße trippelten in die Nacht hinaus, jemand rief. Sie rannten zum Tor hinaus, das weit aufschwang. Draußen war es schwärzer als im Magen einer Kuh; nur unter den Spalten mit den Rauchfedern glomm rötliches Licht. Shea tappte durch die Dunkelheit. Hinter ihnen verschwand Surts Unterschlupf in der Nacht. Dann hörte er plötzlich ein leises Zischen und roch Snöggs fischigen Körpergeruch. Wie eine Katze bewegte sich der Troll. „Hab dem Riesen die Kette auf die Nase geschlagen“, ki-
cherte er, „solltest sein Gesicht sehen, hahaha!“ „Wohin führst du uns, Troll?“ fragte Heimdall. „Wohin wollt ihr gehen?“ Heimdall überlegte. „Am besten zu Sverres Haus an den Kreuzwegen der Welt. Oder zu den Pforten der Hölle, wo wir den Wanderer finden könnten. Er muß bald erfahren, was wir gesehen haben. Zu Fuß ist es ein Weg von vierzehn Tagesreisen, aber wenn ich in ein kaltes Gebiet komme, wo die Feuerriesen keine Macht haben! kann ich mein Pferd Goldpfeil zu mir rufen.“ „Aufpassen“, warnte Snögg, „Riesen kommen.“ Er verschwand spurlos in den Schatten, Shea und Heimdall klemmten sich in eine Spalte des Lavaflusses. Riesenfüße trampelten über den Basalt. Flammenschwerter schwangen hin und her. „He, das ist aber eine Wildnis!“ schimpfte einer. „Fünfzig Gefangene können sich da verstecken.“ „Ich glaub, wir müssen die ganze Nacht hier herumkrauchen“, brummte eine andere Stimme. „Ich mein, die sind sowieso nicht in die Richtung gegangen.“ „Du sollst nicht denken“, antwortete die erste Stimme. „He, Raki! Lauf nicht zu weit fort!“ „Ich seh die anderen schon nicht mehr“, klagte Raki. „Ist gleich. Wir müssen zusammenbleiben. Autsch!“ Das letztere war ein Aufschrei, gefolgt von einem Plumps. „Wenn ich den Kerl finde, dann kriegt er’s heimgezahlt.“ Das Licht eines Flammenschwertes kroch näher und näher. Shea und Heimdall preßten sich an den Felsen. Jetzt stand der Riese am Rande des Lavastromes, hielt das Schwert hoch, ging langsam weiter und lugte in jede Höhle. Näher, immer näher kam das Licht; es wusch über She-
as Stiefel, erhellte Heimdalls goldene Mähne. „He, Raki, Randver! Ich hab sie! Schnell!“ brüllte der Riese. Einer von den beiden kam aus dem Nichts angerannt und schwang sein Schwert. „Nimm den, Zauberer!“ rief Heimdall und deutete mit seinem Schwert auf den ersten. Er sprang mit einem Satz auf den Rand der Spalte und ging auf den zweiten los. Shea schwang sein Schwert mit beiden Händen. Es hatte ein ungeheures Gewicht. Aber Angst? Nein, Angst hatte er nicht. Weshalb auch, zum Teufel? Der Riese schwang sein Schwert in einer Acht über dem Kopf, um den kleinen Mann auf den ersten Streich zu erlegen. Aber Shea schlief nicht. Er wußte nicht, wie es geschah, aber als er das Schwert hob, war es leicht wie ein Weidenast. Mit einem Klirren, das wie ein Schrei klang, schnitt Sheas Schlag die Klinge des Flammenschwertes entzwei, und die Spitze segelte in einen Busch, den ein Funkenregen umknisterte. Ohne daß Shea überlegte, hieb das Schwert in weitem Schwung dem Riesen die Kehle durch. Mit einem blubbernden Quietschen krachte dieser zu Boden. Shea drehte sich um. Heimdall war gerade mit seinem Gegner beschäftigt, dem der dritte der Riesen zu Hilfe kam. Shea rannte, aus Leibeskräften brüllend, auf sie zu. Der Riese schlug einen Haken und nahm Shea an. Der parierte sofort den ersten Hieb. Der Riese zögerte verwirrt. Das war Sheas Chance. Er machte einen Ausfall, schlug das Flammenschwert ab und stieß die Spitze seiner Waffe mit solcher Wucht in den Magen des Riesen, daß er beinahe über den zusammenbrechenden Koloß fiel. „Hoho!“ schrie Heimdall. Er stand über seinem gefalle-
nen Gegner, dessen blutende Wunden im Licht des am Boden liegenden Flammenschwertes düster glommen. „Bei Thors Hammer, Zauberer Harald“, rief Heimdall, „ich hatte nicht erwartet, daß du so tüchtige Hände hast. Ich habe die gesehen, die sich Berserker und Helden hießen, und sie waren nicht halb so geschickt wie du.“ Er lachte, warf sein Schwert in die Höhe und fing es am Knauf wieder auf. „Du kommst zu meiner Schar, wenn die Zeit da ist. Aber wenn ich das Schwert sehe, das du hast, wundert mich nichts mehr.“ Es war wieder so schwer wie vorher und zog Sheas Arm in die Länge. „Schaut wie ein ganz gewöhnliches Ding aus“, antwortete er. „Absolut nicht. Das ist Freys unüberwindliches Zauberschwert Hundingsbana, es wird eines Tages Surt töten. Hei, Götter und Menschen rufen nach diesem Tag, denn die letzte der Kriegswaffen der Äsir ist gefunden! Aber wir müssen uns eilen. Snögg!“ „Hier“, antwortete der Troll und kroch aus einem dicken Baumfarngebüsch. „Hab vergessen, zu sagen. Ich habe Trollzauber auf das Schwert gelegt, daß Licht von der Klinge nicht scheint und den Riesen zeigt, wo wir gehen. In zwei Tagen Zauber vorbei.“ „Kannst du mir sagen, wo hier ein hoher und kalter Berg ist?“ fragte Heimdall. „Ja, einer viele Meilen im Norden, heißt Steinberg. Drei Tage Fußmarsch.“ „Wir müssen zu den Pforten der Hölle und den Wanderer dort suchen. Morgen müßte er dort sein. Viel hängt davon ab.“
Shea dachte fieberhaft nach. Wenn er genug wußte, um zaubern zu können, weshalb sollte das Wissen ungenutzt bleiben? „Könnte ich irgendwo ein paar Besen bekommen?“ fragte er. „Besen? Du hast seltsame Wünsche, Zauberer einer anderen Welt“, antwortete Heimdall. „Zu was brauchen Besen?“ fragte Snögg. „Vielleicht kann ich damit zaubern.“ Snögg überlegte. „Zwei Meilen Ost, vielleicht sind im Knechthaus Besen. Knecht ist gestorben.“ „Führe uns“, bat Shea. Wieder stapften sie durch die Dunkelheit. Da und dort glomm ein Licht durch die Nacht, denn die Riesen suchten noch immer nach den Flüchtlingen; aber sie kamen nicht in die Nähe. 10. Kapitel Die Tür der aus Basaltblöcken gebauten, armseligen Hütte hing schief in den Angeln. „Snögg“, bat Shea, „kannst du den Zauber von diesem Schwert nehmen, damit wir ein wenig Licht haben?“ Snöggs Hand glitt über die Klinge, er murmelte ein paar Worte. Goldener Schimmer, in dessen Licht sie ein paar in der Ecke lehnende Besen erblickten, umspielte sie. Einer war ziemlich neu, der andere nur noch ein Fragment aus ein paar einzelnen Weidenruten. „Jetzt brauche ich eine Vogelfeder, möglichst von einem schnellfliegenden Vogel. Es müßte doch eine zu finden sein.“
„Auf Dach, denke ich“, sagte Snögg. Er glitt hinaus, kletterte grunzend aufs Dach und war gleich darauf mit einem Büschel Federn wieder da. Shea hatte sich inzwischen den Zauberspruch überlegt. Er legte die Besen auf den Boden und strich mit den Federn behutsam darüber. „Schnelle Vögel des Südens Leiht uns eure Schwingen Erweckt die Besen zum Leben, Vögel, Daß sie schnell fliegen und leicht wie ihr“, sang er. Er warf eine Feder in die Luft, blies nach ihr, und sie schwebte, ohne niederzufallen. „Verdfölnir, größter der Falken, ich rufe dich an!“ schrie er, fing die Feder, steckte sie in den Besen, kniete hin und rief: „Auf, erhebe dich, trag uns fort, Wir müssen in die Berge vor dem neuen Tag.“ „Jetzt“, sagte er, „werden wir bald am Steinberg sein.“ „Du fliegen darauf durch die Luft?“ fragte Snögg und deutete auf den Besen, der sich leise bewegte. „Ja, ganz leicht. Willst du mitkommen? Der neue Besen trägt uns beide.“ „Nein, nein“, wehrte Snögg ab, „ich lieber bleiben auf fester Erde. Ich gehe zu Elvagevu mit Füßen. Ich bin schön, ich nicht zerbrechen. Nicht bekümmern, ich weiß Weg.“ Er winkte zum Abschied und verschwand. Shea trug die Besen hinaus. Den Himmel färbte erster Dämmerschein. „Jetzt wollen wir mal sehen, wie die Besen flie-
gen“, sagte Shea. „Wie wird das gemacht?“ fragte Heimdall. Shea hatte keine Ahnung. „Macht es nur mir nach“, antwortete er, steckte Hundingsbana durch seinen Gürtel, setzte sich rittlings auf den Besenstiel und sang: „Eiche, Asche, Besen, vor die Nacht gewesen, Sind wir auf Steinbergen, auf dem First der Welt.“ Der Besen hob sich so steil in die Luft, daß er seinen Reiter beinahe abwarf. Shea klammerte sich an; immer steiler zog er nach oben. Er schlang die Beine um den Stiel und drehte sich um, mit dem Erfolg, daß der Besen ins Trudeln kam, Loopings schlug und hin und her taumelte. Dann fiel er steil ab. Die Erde kam immer näher, und gerade im letzten Augenblick gelang es ihm, ihn wieder steil nach oben zu ziehen. Wieder trudelte er, gerade über dem schwarzen Felsen von Muspellheim. Shea war ganz benommen davon. Das war noch schlimmer als Thors Karren! Sheas Magen revoltierte, und er bestreute Muspellheim mit den Resten seiner letzten Mahlzeit. Allmählich kam er darauf, daß der Besen in Höhe und Länge ebenso reagierte wie ein Flugzeug, und endlich gelang es ihm, ihn zu dirigieren. „Haaaaraaaald!“ schrie Heimdall hinter ihm. Auch er kämpfte mit seinem Besen, der unermüdlich trudelte und Kapriolen schlug. Shea flog einen weiten Kreis auf Heimdall zu. Der schien einen Zusammenstoß zu erwarten, aber in letzter Sekunde wich ihm Shea aus. Heimdalls goldenes Haar wehte hinter ihm her, als er sich um seine eigene Achse drehte. „Nach rechts lehnen!“ schrie Shea. „Wenn er nach unten
taucht, dann zurücklehnen!“ Heimdall gehorchte, aber seine Bemühungen endeten in einer neuen Serie von Loopings. Shea rief ihm zu, er solle sich nach vorn lehnen, sobald der Besen den niedrigsten Punkt erreicht habe. Aber Heimdall übertrieb, oder begriff Sheas Anweisungen nicht ganz. „Wir werden niemals zu Odin kommen“, klagte er und deutete nach unten. „Schau, Surt mit seinen Leuten ist auf dem Weg zu Ragnarok!“ Shea lugte nach unten. Tatsächlich, in endlosen Reihen glommen die Flammenschwerte. „Wo ist denn der Berg?“ rief er. Heimdall deutete nach links. „Dort, in jener Richtung, denke ich. Der Feuerzauber ist noch etwas zu stark; ich sehe ihn nicht klar.“ „Wir müssen über die Wolken. Fertig?“ Shea lehnte sich ein wenig zurück. Graues Dunkel griff nach ihnen; es hellte sich zu perligem Schimmer auf. Dann hatten sie einen unendlichen See von Wolken unter sich, den die aufgehende Sonne vergoldete. „Dort ist der Steinberg!“ Heimdall deutete. „Beeilen wir uns.“ Shea sah nichts als eine Wolkenwand, vielleicht eine Spur dunkler als die anderen. Sie flogen darauf zu. „Wie hält man denn das Ding an?“ fragte Heimdall. Dreimal hatten sie schon versucht, auf dem Gipfel zu landen, und immer waren sie mit atemberaubender Geschwindigkeit darüber hinweggeschossen. „Ich muß einen Zauberspruch sagen“, erklärte Shea und flog in einer Kurve zurück. „Eiche, Asche, Tau,
Wir sind auf Steinbergen, Lande sanft und leicht“, sang er. Der Besen senkte sich und Shea schwebte langsam ein. Heimdall folgte, aber er landete in einer tiefen Schneewehe. Er wühlte sich heraus, und auf seinem schneegesprenkelten Gesicht lag ein strahlendes Lachen. „Zauberer gab es viele, Harald, aber keiner war so wie du.“ „Wenn ihr diesen Besen nicht mehr braucht, nehme ich ihn“, erwiderte Shea, „er ist besser als der alte. Ich kann ihn gut verwenden.“ „Natürlich, nimm ihn. Aber jetzt wirst auch du etwas erleben.“ Er legte beide Hände an den Mund und schrie: „Joho! Joho! Goldpfeil, dein Herr ruft, Heimdall Odinssohn ruft dich!“ Eine Weile geschah nichts. Dann gewahrte Shea einen vielfarbigen Strahlenglanz in der Luft. Ein Regenbogen formte sich. Die Farben verdichteten sich, sein Glanz löschte Berg, Schnee und Felsen um sie herum aus. Ein riesiges weißes Pferd trabte den Regenbogen herab; seine gelbe Mähne flatterte. Das Tier trat vom Regenbogen und beschnüffelte Heimdalls Brust. „Komm“, forderte Heimdall Shea auf, „du kannst mit mir reiten, aber du mußt hinter mir sitzen. Stich ihn nicht mit Hundingsbana.“ Shea kletterte mit Besen und Schwert hinauf. Das Pferd stieg auf den Regenbogen, und lautlos, mit weit ausholenden Sprüngen galoppierte es dahin wie auf einem Federbett. Der Wind pfiff um Sheas Ohren mit einer Geschwindigkeit, die abzuschätzen ihm schwerfiel. Nach etwa zwei Stunden drehte Heimdall sich um.
„Sverres Haus liegt unter den Wolken, ich sehe es.“ Der Regenbogen neigte sich und verschwand in grauen Wolken; aber das dauerte nicht lange, denn der Regenbogen, jetzt zwar dünner, aber immer noch ziemlich kompakt, endete genau an Sverres Hoftor. Goldpfeil blieb stehen und schüttelte den Schnee ab. Heimdall sprang ab und eilte zur Tür, wo ein paar stahlbewehrte blonde Männer Wache hielten. „He“, rief Shea hinter ihm her, „kann ich was zu essen kriegen?“ „Keine Zeit!“ rief Heimdall zurück, verschwand durch die Tür und kehrte im nächsten Augenblick mit Horn und Schwert zurück. Er sagte etwas zu den Männern an der Tür, die sofort ums Haus rannten und ihre Pferde holten. „Helden von Walhall“, erklärte Heimdall. „Sie bewachten Gjallarhorn während der Verhandlungen wegen meiner Freilassung.“ Er nahm das Horn und sprang in den Sattel. Der Regenbogen hatte nun seine Richtung geändert und lag gerade vor ihnen. Goldpfeil fiel wieder in einen schlanken Trab. „Könntet Ihr nicht Euer Horn blasen, ohne Odin gesehen zu haben?“ fragte Shea. „Nein, Zauberer Harald, nicht ohne des Wanderers Erlaubnis. Aber ich fürchte, wir kommen zu spät. Meine Ohren hören, daß der Hund Garm frei ist, dieses Ungeheuer.“ „Weshalb braucht Odin solange, um zur Hölle zu kommen?“ „Er reitet nur ein ganz gewöhnliches Pony, wie du auf dem Moor gesehen hast. Die Seherin Grua stammt aus dem Geschlecht der Riesen. Sie würde es ablehnen, ihm zu ra-
ten, oder ihm falschen Rat geben, erkannte sie ihn als einen der Äsir.“ Goldpfeil flog auf dem endlosen Regenbogen dahin. Shea überlegte sich, wie viele Steaks dieses riesige Tier hergäbe. Pferdefleisch hatte er zwar noch nie gegessen, aber er war so hungrig, daß er es jetzt versucht hätte. Die Sonne stand schon tief am Himmel, als sie wieder aus der Wolkenbank schossen, mitten in ein dichtes Schneetreiben hinein. Es war eine rauhe, zerklüftete und düstere Landschaft, die sie umgab. Plötzlich endete der Regenbogen, und sie waren auf einem steinigen Pfad, der sich um ragende Felsblöcke wand. Sie erreichten eine große Schlucht mit riesigen Felspfeilern zu beiden Seiten. Schneeflocken tanzten in der unbewegten Luft und deckten das spärliche Moos zu. Es war schneidend kalt. Überall hingen Eiszapfen, groß wie die Stoßzähne von Elefanten. Kein Laut war zu hören, nur der gedämpfte Hufschlag des Pferdes und sein schneller Atem. Kleine Dampfwolken hingen um seine Nüstern. Es wurde noch kälter, noch dunkler. „Ist Eure Hölle kalt?“ flüsterte Shea. „Die kälteste der Neun Welten“, erklärte Heimdall. „Reich mir das große Schwert, damit wir unseren Weg erleuchten.“ Das tat Shea. Tiefste Dunkelheit umschloß sie. Als er seine Hand ausstreckte und die Wand der Schlucht streifte, zuckte er zurück; die Kälte verbrannte seine Finger wie Feuer. Vor sich sah er im Feuerschein des Schwertes Goldpfeils nickende Ohren. Endlich bogen sie um eine Ecke; spukhaftes, blaugrünes
Licht tanzte durch das unheimliche Dunkel, und Shea erkannte die hohe Gestalt des Wanderers im Schlapphut mit dem Pony daneben. Eine dritte Gestalt in schwarzem Kapuzenmantel sah er, doch war deren Gesicht nicht zu erkennen. Odin sah ihnen entgegen. „Hei, Muginn brachte mir Botschaft von eurer Gefangennahme und Flucht. Die zweite Nachricht war die bessere“, sagte die tiefe Stimme. Heimdall und Shea stiegen ab. Der Wanderer warf dem Sterblichen einen scharfen Blick zu. „Bist du nicht jener Verirrte, den ich an den Kreuzwegen der Welt getroffen habe?“ fragte er. „Kein anderer“, antwortete Heimdall, „und ein mächtiger Zauberer, der geschickteste Mann mit dem Schwert, dem ich je begegnete. Er gehört zu meiner Schar. Wir haben Hundingsbana und Haupt. Ist dir gelungen, was du vorhattest?“ „Fast ganz. Ich werde mit Vidarr vor den Söhnen der Wölfe, diesen Ungeheuern, zu stehen haben. Thor soll den Wurm bekämpfen, Frey den Riesen Surt. Ullr und seine Männer kämpfen gegen die Bergriesen, und du stellst dich gegen die Frostriesen, wie ich weiß.“ „Allvater, du wirst gebraucht. Der Hund Garm ist frei, und Surt trägt seinen Riesen das Flammenschwert voran. Die Zeit ist da!“ „Aiehhhh!“ kreischte die schwarze Gestalt. „Jetzt kenne ich dich, Odin! Wehe meiner Zunge …“ „Schweig, Alte!“ donnerte der Wanderer. „Blase denn, mein Sohn, rufe unsere Männer, denn es ist Zeit.“ „Aiehhhh!“ plärrte die Alte wieder. „Verschwindet, Ver-
fluchter, dorthin, woher ihr kamt!“ Eine Hand streckte sich aus, und schaudernd bemerkte Shea, daß es eine Knochenhand war. Sie scharrte ein wenig Schnee zusammen und warf ihn auf Odin. Er lachte. „Verschwindet!“ kreischte die Seherin und bewarf nun Heimdall mit Schnee. Der setzte das Horn an die Lippen und holte tief Atem. „Verschwindet!“ krächzte sie noch mal. Shea erhaschte einen Blick unter die Kapuze; es war ein schauerlicher Anblick. Sie hob die dritte Handvoll Schnee. „Zurück zu dem verdammten Ort, von dem ihr stammt!“ Die Trompete ertönte und füllte das All mit metallener, triumphaler Musik. Die Felsen wankten, die Eiszapfen brachen klirrend ab, und Shea sah die dritte Handvoll Schnee aus den fleischlosen Fingern Gruas fliegen … * „Na schön“, meinte der Detektiv, „tut mir leid, daß Sie mir nicht weiterhelfen können, Dr. Chalmers. Wir müssen eben seine Leute in St. Louis benachrichtigen. Meistens finden wir ja die Vermißten. Sie packen doch seine Sachen zusammen, nicht wahr?“ „Aber gewiß“, antwortete Reed Chalmers. „Ich mache mich jetzt an die Papiere.“ „Gut. Vielen Dank. Miß Mugler, ich schicke Ihnen dann meinen Bericht und die Rechnung.“ „Aber ich brauche keinen Bericht’, sagte Gertrude Mugler, „ich will Shea haben.“ Der Detektiv grinste. „Sie haben mich für den Bericht
bezahlt, ob Sie ihn wollen oder nicht. Sie können ihn ja wegwerfen. Wiedersehen, alle zusammen.“ Die Tür schloß sich hinter ihm. „Warum sagten Sie ihm nicht, was wirklich passiert ist?“ fragte Bayard. „Es wäre – sagen wir mal – schwer zu beweisen. Ich will mich ja nicht lächerlich machen.“ „Das war nicht anständig, Doktor“, erklärte Gertrude. „Schließlich …“ „Hehe“, lachte Bayard. „Wer hat denn immer abgestritten, als der Detektiv danach fragte, daß er vor seinen Heiratsaussichten davonlief?“ „Erstens war’s nicht so“, fauchte Gertrude, „und zweitens geht ihn das verdammt wenig an. Drittens meine ich, ihr zwei könntet wenigstens zu mir halten, wenn ich den Kerl schon bezahle.“ „Meine liebe Gertrude“, warf Chalmers ein, „ich hätte ihm meine Hypothese erklärt, wenn ich es für nützlich gehalten hätte; er hätte sie nur nicht geglaubt.“ „Da ist was dran“, bestätigte Bayard. „Beweise gibt es nur nach einer Richtung, nach der anderen nicht. Wenn Shea nicht zurückkommt von dort, wohin er gegangen ist, dann kann der Detektiv auch nichts ausrichten.“ Er seufzte. „Ach, ohne Harald wird’s hier ein bißchen komisch sein.“ Wammm! machte es. Der Luftzug von draußen warf Chalmers fast um, riß ein Bild von der Wand und wirbelte das Papier durcheinander. Aber niemand nahm von weiteren kleinen Schäden Notiz, denn in der Mitte des Zimmers stand der Gegenstand ihrer Unterhaltung, eingewickelt in unzählige Yards grober Wolle. Sein Gesicht war gebräunt
und etwas rissig. In seiner Linken hielt er einen Besen aus Weidenruten. „Heia!“ brüllte Snea und grinste. „Habt ihr drei schon gegessen? Ja? Nun, ihr könnt mitkommen und zusehen, wie es mir schmeckt.“ Er warf den Besen in eine Ecke. „Andenken an meine Erlebnisse. War ganz nützlich, aber ich fürchte, hier werde ich damit nicht viel anfangen können.“ „A-aber“, stammelte Chalmers, „Sie werden doch in dieser Aufmachung nicht in ein Gasthaus gehen?“ „Zum Teufel, ja. Ich bin hungrig.“ „Was werden die Leute denken?“ „Ist mir doch gleich.“ „Gott rette meine Seele!“ rief Chalmers und folgte Shea.
Utopia-Zukunftsroman erscheint wöchentlich im Druck- und Verlagshaus Erich Pabel GmbH & Co. 7550 Rastatt, Pabel-Haus. Einzelpreis 0,80 DM. Anzeigenpreise laut Preisliste Nr. 18. Die Gesamtherstellung erfolgt im Druck- und Verlagshaus Erich Pabel GmbH & Co. 7550 Rastatt. Verantwortlich für die Herausgabe und den Inhalt in Österreich: Eduard Verbik; Alleinvertrieb und -auslieferung in Osterreich: Zeitschriftenvertrieb Verbik & Pabel KG – alle in Salzburg, Bahnhofstr. 15. Nachdruck, auch auszugsweise, sowie gewerbsmäßige Weiterverbreitung in Lesezirkeln nur mit vorheriger Zustimmung des Verlegers gestattet. Gewerbsmäßiger Umtausch, Verleih oder Handel unter Ladenpreis vom Verleger untersagt. Zuwiderhandlungen verpflichten zu Schadenersatz. Für unverlangte Manuskriptsendungen wird keine Gewähr übernommen. Printed in Germany 1967. Scan by Brrazo 05/2007. Copyright 1967 by Autor; Copyright 1940 by Street & Smith, Inc. Copyright 1941 by Henry Holt and Company, Inc.