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Das Mittelalter ist aus verschiedenen Motiven geschätzt und wieder vernachlässigt worden : Entdeckung der Poesie des Christentums, Verehrung der nationalen Vorzeit, Nostalgie nach dem alten Lateineuropa, von der gelehrten Leidenschaft für das Antiquarische ganz zu schweigen. Dem heutigen Leser wird in diesem Buch vorgeschlagen, das Bildungs- und Forschungsinteresse an der mittelalterlichen Literatur mit drei Gründen zu rechtfertigen : dem ästhetischen Vergnügen, der befremdenden Andersheit und dem Modellcharakter für gegenwärtige Erfahrung. Unter diesen Gesichtspunkten hat der Verfasser ein neues Fazit aus seinen Studien der Jahre 1956 bis 1976 gezogen. Die hermeneutische Forderung, in der »Alterität« dieser Literatur- ihrem Anderssein, das in der Kunst immer zugleich auf ein anderes, verstehendes Bewußtsein bezogen ist- sowohl einen Grund ästhetischen Vergnügens als auch das zu entdecken, was für unsere »Modernität« wieder exemplarisch werden kann, wird zumeist an Texten erprobt, die nicht in den Kanon der Weltliteratur eingegangen sind. Dabei fallt neues Licht auf die Tierdichtung als Schwelle zur Individuation, auf die allegorische Dichtung als Poesie des Unsichtbaren und auf die kleinen Gattungen des Exemplarischen als ein literarisch vermitteltes System der Kommunikation.
Wilhelm Fink Verlag
Hans Robert Jauß
Ästhetische Erfahrung und literarische Henneneutik
Was heißt ästhetische Erfahrung, wie hat sie sich in der Geschichte der Kunst manifestiert, welches Interesse kann sie fl.ir die gegenwärtige Theorie der Kunst gewinnen? Diese Fragen standen lange am Rande der ästhetischen Theorie und im besonderen der literarischen Hermeneutik. Sie blieben in der kunsttheoretischen Diskussion von Problemen verdeckt, die der Ontologie von Kunst und Natur, Schönheit und Wahrheit, und damit dem Werk in seiner Darstellungsfunktion den Vorrang über die Weisen seiner Erfahrung beließen. Demgegenüber stellt der Verfasser die Frage nach der ästhetischen Praxis in den Mittelpunkt, die alle manifestierte Kunst als hervorbringende, aufnehmende und vermittelnde Tätigkeit getragen hat. Er untersucht diese drei Funktionen problemgeschichtlich unter den Titeln Poiesis, Aisthesis und Katharsis Kategorien einer oft kryptischen Tradition, die in dieser Sicht ein überraschendes historisches Profil gewinnen - und fUhrt sie auf den ästhetischen Genuß als die fundierende Grunderfahrung zurück, die- definiert als »Selbstgenuß im Fremdgenuß« - das Ästhetische von anderen Funktionen der Lebenswelt spezifisch abzugrenzen erlauben-. Einzelstudien über das Komische und das Lächerliche, über Ebenen der Identifikation mit dem Helden und über Interaktionsmuster der Lyrik ergänzen den Aufriß dieser aktuellen ästhetischen Theorie, der in einem zweiten Halbband Studien zur literarischen Hermeneutik folgen werden.
JAUSS · ALTERITÄT UND MODERNITÄT
HANS ROBERT JAUSS
ALTERITÄT UND MODERNITÄT DER MITTELALTERLICHEN LITERATUR Gesammelte Aufsätze 1956-1976
WILHELM FINK VERLAG MÜNCHEN
Re~wn:}{dm.t~n17a
Register: Bnl1lhilde Wehinger .nd Maria Wittelt
IS> 1977 Wilhelm Fink Verlag, München Gesamtherstellung: Hain-Druck KG, Meisenheim/Glan ISBN 3-7705-1487-4 Kan. Ausgabe ISBN 3-7705-1488-2 Leinenausgabe
TECHNISCHE VORBEMERKUNG
Im Hinblick auf einen erschwinglichen Ladenpreis wurde für diesen Band das Verfahren photomechanischer Reproduktion gewählt. Deshalb konnte die Typographie der einzelnen Beiträge nicht vereinheitlicht werden. Dies gilt insbesondere für die Reproduktion der Bibliographien. Der Leser wird gebeten, für die Abhandlungen 11, V und X die im Anhang befindlichen Auszüge aus den Bibliographien der Untersuchungen zur mittelDlterlichen Tierdichtung und des Grundrisses der rorrumLrchen Literaturen des Mittelalters zu konsultieren. Für die Beiträge aus dem Grundriß ist darüber hinaus zu beachten, daß die Abkürzung vid. auf nicht reproduzierte Beiträge zu Band VI oder auf andere Bände des GRLMA verweist und daß sich mit Pfeil versehene Nummern auf den Dokumentationsteil von GRLMA VI (2. Halbband) beziehen. Dort finden sich in den jeweiligen Dokumentationen unter § 2 auch Titel zu Texten, die man im generellen Abkürlungsverzeichnis vermißt.
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INHALT
I.
Einleitung
(9)
Alterität und Modernität der mittelalterlichen Literatur
(9)
Zur Tierdichtung 11. 111. IV.
V. VI. VII. VIII.
IX. X.
XI.
(49)
Untersuchungen zur mittelalterlichen Tierdichtung Rainaldo e Lesengrino . Les enfances Renart .
[SO) [12S) [131 )
Zur allegorischen Dich tung
[ 1S3)
Entstehung und Strukturwandel der allegorischen Dichtung. Ernst und Scherz in mittelalterlicher Literatur Brunetto Latini als allegorischer Dichter . . Allegorese, Remythisierung und neuer Mythus
[1 S4) (219) (239) [28S)
Zur Theorie der Iitel'tlrischen Gattungen
(309)
Epos und Roman - eine vergleichende Betrachtung an Texten des (310) XII. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . (327) Theorie der Gattungen und Literatur des Mittelalters. . [3S9) Paradigmawechsel in der Rezeption mittelalterlicher Epik
Zur Literarälthetik XII. Die Defiguration des Wunderbaren und der Sinn der Aventüre im ,Jaufre' . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XIII. Die klassische und die christliche Rechtfertigung des Häßlichen in mittelalterlicher Literatur. . . . . . . . . . . . . XIV. Ästhetische Erfahrung als Zugang zu mittelalterlicher Literatur
[367] (368) [38S)
(411)
Dokumentarischer Anhang
(429)
Corrigenda et addenda . . . . . . . Abkürzungen (Auswahl aus dem GRLMA) Bibliographien Zu Abhandlung 11 Zu Abhandlung V Zu Abhandlung X Autoren- und Titelverzeichnis. Namenverzeichnis der Sekundärliteratur Nachweis der Erstveröffentlichungen
(430) [432]
[434] [43S)
(437) . (441) (446) (449)
7
Einleitung I. ALTERITÄT UND MODERNITÄT DER MITTELALTERLICHEN LITERATUR Issi ert le sage escrivein EI regne dei cel soverein, Qui de son tresor met avant Come proz e come savant Les velz choses eies noveles, Qui ensemble sont bones e beles. • Inhaltsübersicht: 1. Vorschlag zur Begründung des gegenwärtigen Interesses an mittelalterlicher Literatur (9); 2. Ästhetisches Vellnügen lßl mittelalterlichen Texten (11); 3. Einführung des hermeneutischen Begriffs der Alterität (14); 4. Alteritlt des mittelalterlichen Weltmodells (18); 5. Gegenwärtige Ansätze zu einer Erneueruna der Mediävistik (22); 6. Modernität in der Alterität als neues Fr.,einteresse (25); 7. Tierdichtung als SchweDe zur Individuation (26); 8. ADegorische Dichtung als Poesie des Unsichtbaren (28); 9. Die kleinen Gattungen des Exemplarischen als literarisches Kommunikationssystem (34).
1. VorachlDg zur Begründung des gegenwärtigen Interesses an mittelalterlicher Literatur Das Studium der Literatur des europäischen Mittelalters hat in gegenwärtiger Zeit einen eigentümlichen Vonug. Es hat seinen Rang im Bildungskanon eingebüßt und schlägt darum in Lehrplänen (vulgo: ,curricular') kaum noch zu Buche. Es stand lange abseits vom modemen Trend der Theoriebildung, begann seine Umorientierung fast unbemerkt und ist darum im universitären und öffentlichen Ansehen noch stärker angefochten als die benachbarten historischen Disziplinen. In der Nötigung. sein wissenschaftliches Interesse neu zu beglÜnden. kann man heute eher einen Vorzug als ein Unglück sehen, wie auch die folgende Präsentation von Arbeiten der Jahre 1957 bis 1976 zeigen soll. Begründung des Interesses ist für die Forschung wie für die Lehre von allen Forderungen der studentischen Protestbewegung und der institutionellen Hochschulreform der idealistischen Sechziger Jahre wohl diejenige, der am meisten zu wünschen wäre, daß sie die technokratische Regression des pessimistischen Siebziger Jahre überdauert. Wenn ich mich nun dieser Forderung stelle, gestehe ich gerne, daß meine Erfahrung mit mittelalterlicher Literatur weder einer ursplÜnglichen und konsequent durchgehaltenen Absicht entsprungen ist, noch daß ich sie für singulär halte. Die Gründe, die nach meiner Meinung auch heute noch das Interesse an diesem Studienweg und Feld der Forschung rechtfertigen, sind mir erst nach und nach aufgegangen, und gewiß nicht mir allein. Sie sind weithin Erkenntnisse eines noch unabgeschlossenen ,Paradigmenwechsels', • Guillaume le Clerc: Le Bestiaire. ed Reinsch, vv. 815-820. Im folgenden verweise ich mit römischen Ziffern (im Text) auf die in diesem Band vereinten Abhandlungen 11 bis XIV.
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der mir erst nach und nach bewußt wurde. Da mir vornehmlich daran gelegen ist, solche Einsichten einer Rückschau aufzugreifen, habe ich den Versuch einer neuen Auswertung meiner Erfahrungen vom jetzt erreichten Standort durchweg der Berichtigung und Vervollständigung früherer Ergebnisse vorgezogen. Dabei kam vielleicht die Antwort auf meine Kritiker zu kurz; soweit diese selbst an der Bemühung um eine Erneuerung der Mediävistik teilhaben, werden sie mir wohl einräumen, daß nicht die Wiederaufnahme fachesoterischer Polemik, sondern die Ausarbeitung neuer Fragestellungen das Gebot der Stunde ist. Angesichts der gegenwärtigen Situation, in der sich die klassischen Paradigmen der positivistischen Traditionsforschung wie auch der idealistischen Werkoder Stilinterpretation erschöpft und die angepriesenen modernen Methoden der strukturalen Linguistik, Semiotik, phänomenologischen oder soziologischen Literaturtheorie noch nicht paradigmenbildend verfestigt haben', schlage ich vor, das Forschungs- und Bildungsinteresse an der Literatur des Mittelalters mit drei Gründen zu rechtfertigen: dem ästhetischen Vergnügen, der befremdenden Andersheit und dem Modellcharakter mittelalterlicher Texte. Wie leicht zu erraten ist, liegt dieser Triade ein bewährtes Verfahren der literarischen Hermeneutik zugrunde. Die unmittelbare oder präreflexive Leseerfahrung, die implizit ja immer schon ein Erproben der Lesbarkeit einschließt, bildet die unentbehrliche erste hermeneutische Brücke. Die vermittelnde Leistung oder hermeneutische Funktion des ästhetischen Vergnügens erweist sich daran, daß es durch fortschreitende Einstimmung oder auch via negationis, durch ein eintretendes Mißvergnügen an der Lektüre, die erstaunliche oder befremdende Andersheit der vom Text eröffneten Welt gewahr werden läßt. Sich diese Andersheit einer abgeschiedenen Vergangenheit bewußt zu machen, erfordert das reflektierende Aufnehmen ihrer befremdenden Aspekte, methodisch ausführbar als Rekonstruktion des Erwartungshorizonts der Adressaten, für die der Text ursprünglich verfaßt war. Dieser zweite hermeneutische Schritt darf indes nicht schon das Ziel des Verstehens überhaupt sein, soll die so gewonnene Erkenntnis der Andersheit einer fernen Textwelt nicht bloß eine verschärfte, durch Horizontabhebung objektivierte Variante historischer Vergegenständlichung bleiben. Im Durchgang durch die Befremdung der Andersheit muß ihr möglicher Sinn für uns gesucht, die Frage nach der historisch weiterreichenden, die ursprüngliche kommunikative Situation übersteigenden Bedeutung gestellt werden. Oder in Gadamers Terminologie formuliert: die Horizontabhebung muß im Prozeß aktiven Verstehens zur Verschmelzung des vergangenen mit dem gegenwärtigen Horizont ästhetischer Erfahrung weitergeführt werden. Dabei ist es nicht von vornherein ausgemacht, daß die Horizontverschmelzung gelingt. Das anfängliche ästhetische Vergnügen am Text kann sich schließlich als ein naiv modernisierendes Vorverständnis enthüllen, das erste ästhetische Urteil der Nicht-Lesbarkeit sich auch noch am Ende als unüberwindbar erweisen. Dann fällt der Text als ein nur noch historisch interessantes Zeugnis aus der Kanonbildung gegenwärtiger ästhetischer Erfahrung heraus. Gewiß ist solches Sondern eine Entscheidung auf Widerruf, weil der für uns ästhetisch nicht mehr konkretisierbare Text ror spätere Leser vielleicht wieder 1 Siehe dazu XIV und die Einleitung zum Band 1 des Grundriß der TO".nilchen Literatu· ren des Mittelllltns (GRLMA), Heidelberg 1972, p. v-xii.
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Bedeutung zu erlangen vermag. Bedeutsamkeit, die durch ästhetische Erfahrung erschlossen wird, entspringt der Konvergenz von Wirkung und Rezeption; sie ist kein zeitloser, immer schon gegebener Grundbestand, sondern das prozeßhafte, nie abgeschlossene Ergebnis fortschreitender und anreichernder Auslegung, die das textimmanente Sinnpotential im Horizontwandel historischer Lebenswelten immer wieder neu und anders konkretisiert 2 • Diesen Prozeß der Bildung und Bewahrung, Umbildung und Verjüngung des ästhetischen Kanons zeigt gerade die so außergewöhnlich gebrochene Oberlieferungsgeschichte der mittelalterlichen Literatur auf exemplarische Weise: ihre Verdrängung durch den ästhetischen Kanon der Renaissance, ihr Weiterexistieren als ,Subliteratur' (Bibliotheque bleue, roman gothique) während der Aufklärung, ihre Wiederentdeckung als normgebender Anfang durch die säkular verspätete Ästhetik des Christentums in der Romantik, ihre gelehrte Erschließung durch den Historismus des 19. Jahrhunderts, ihre Vereinnahmung durch die Ideologien der Nationalliteratur, die gegenläufige Bewertung als Kontinuitä tsbrücke lateineuropäischer Tradition und zuletzt die noch einsamen Versuche von C. S. Lewis, Eugene Vinaver, Robert Guiette, Alfred Adler und Paul Zumthor, die Modernität der Literatur des Mittelalters aus ihrer ,Alterität' zu begründen. Wer die Erfahrung mittelalterlicher Literatur als Fachgelehrter und Liebhaber ihrer Texte für unersetzbar hält, vermag darum die Gebildeten unter ihren Verächtern heute gewiß nicht mehr durch Berufung auf den zeitlosen Kanon vermeintlich unverlierbarer Meisterwerke, sondern eher durch die Einladung zu überzeugen, daß sich die Literatur dieser eigentümlich· fernen und doch wieder exemplarischen Vergangenheit auch ohne Verpflichtung auf thesaurus oder tabula rasa, Kulturerbe oder Modernismus, in unsere Gegenwart übersetzen läßt, sofern der Leser wieder von seinem ästhetischen Grundrecht genießenden Verstehens und verstehenden Genießens Gebrauch macht.
2. ,A·sthetisches Vergnügen an mittelalterlichen Texten Damit kehren wir von der hermeneutischen zu der historischen Seite des Problems zurück. Inwiefern können die Schritte, die vom ästhetischen Vergnügen über die Rekonstruktion der Andersheit zum Erschließen konkretisierbarer Bedeutung führen sollen, sich gerade an mittelalterlicher Literatur bewähren können und Eigentümlichkeiten ihrer Textwelt vor den Blick bringen, an denen sich ein gelehrtes Interesse neu begründen und zugleich ein Liebhaberinteresse gewinnen läßt? Die epochenbedingten Züge, die einem modernen Leser, der den ästhetischen Reiz des Vergangenen noch empfindet, das Yergnügen an mittelalterlichen Texten oft erschweren, sind unübersehbar: Vorrang der Konvention über den Ausdruck, Unpersönlichkeit des Stils, Formalismus der Lyrik, 2 Der Ausdruck ,WirkungSBeschichte' entsteUt diesen Sachverhalt, wie H. Blumenberg bereits rur die Rezeptionsaeschichte von Mythen klarsteUte: "Bedeutsamkeit . . . ist ein Resultat, kein angelegter Vorrat: Mythen bedeuten nicht ,immer schon', als was sie ausgelegt und wozu sie verarbeitet werden, sondern reichern dies an aus den Konf"Jgurationen, in die sie eingehen oder in die sie einbezogen werden. Vieldeutigkeit ist ein Rückschluß aus ihrer RezeptioßSBeschichte auf ihren Grundbestand" (in: Poetik und He~neutik IV, hg. v. M. Fuhrmann, München 1971, p. 66).
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Traditionalismus der Epik, Vermischung des Poetischen mit dem Lehrhaften, schwer entschlüsselbare Symbolik 3 • So scheint es zunächst, daß sich ein unmittelbares ästhetisches Vergnügen heute nur noch bei Texten aus dieser Vergangenheit einstellt, die als Hervorbringungen einer aufblühenden Imagination solche Konventionen vergessen ließen und in der Tat auch durch die Jahrhunderte hindurch ,lesbar' geblieben sind - Abenteuerromane, Romanzen und Balladen. Was Ariost, Spenser und Tasso auf dem Höhenkamm einer Umerzählung für würdig fanden und was zugleich als Subliteratur alle Trivialisierung überstand, was in Hegels Bestimmung der Abenleuerlichkeil als Grundtypus des Romantischen eingegangen ist und in Wagners Lohengrin oder Parli!al so seltsam mythisiert wurde, geht zumeist - wie C. S. Lewis zeigte" - auf ein vorchristliches und nichtantikes Erbe (wie die matiere de Bretagne) zurück. So hätte sich ausgerechnet der am wenigsten orthodoxe Textbereich der Literatur des Mittelalters in der Rezeptionsgeschichte als der unverwelklichste erwiesen! Das elementare Bedürfnis nach einer Wunsch welt des Abenteuers und der Liebesbegegnung, des Geheimnisvollen und der Glückerfüllung mag den Erfolg dieser ,Evergreens' der mittelalterlichen Imagination erklären. Doch diese elementare Ebene erschöpft das unmittelbare Vergnügen an mittelalterlichen Texten keineswegs. Ästhetische Erfahrung ermöglicht auch noch auf anderen Ebenen einen Zugang, der einer Brücke historischen Wissens nicht bedarf. Robert Guiette, der den Reiz des Dunklen, noch nicht Aufgelösten ("symbolisme sans signifiance") als die primäre, vom mittelalterlichen Roman implizierte Einstellung beschrieb, hat auch den ästhetischen Reiz der "poesie formelle", die bewußte Freude an der Variation, wiederentdeckt. Seine Ansätze zu einer Rezeptionsästhetik der mittelalterlichen Literatur lassen sich zu einer Skala von Modalitäten ästhetischer Erfahrung zusammenstellen, die den Rezeptionsvorgang nach literarischen Gattungen aufgliedert und die für sie spezifische Einstellung erschließt (siehe XIV): a) liturgisches Drama kultische Partizipation b) geistliches Spiel Schaubedürfnis/Erbauung c) Legende Staunen/Rührung/Erbauung d) Chanson de geste Bewunderung/Mitleid e) symbolische Dichtung Entschlüsselung des Sinns o Roman Lust am Ungelösten (Dunklen) g) Fabliau (Schwank) Unterhaltung/Erheiterung h) höfische Lyrik Genuß der formalen Variation Es liegt auf der Hand, daß dem modernen Leser nicht jede dieser Einstellungen unmittelbar zu Gebote steht. Er kann sich schwerlich ohne die Brücke des katholischen Glaubens in die kultische Partizipation versetzen, die das liturgische Drama voraussetzt. Auch muß er die besondere Sensibilität für das Zeichenhafte, Unsichtbare und Übernatürliche erst wiedergewinnen, die dem mittelalterlichen Leser als "lecteur de symboles" selbstverständlich war. Doch 3 Den erheblich zusammengeschrumpften Katalog mittelalterlicher Texte, die heute noch ein mehr als spezialistisches Interesse finden, hat P.-V. Badel in seiner Kritik an Zumthon Pollique midihaie (in: Poltique Nr. 18, 1974, 259) analysiert und begründet, warum "la saveur qu'on gau te aux ,antiquailIes' .. immer noch ein besserer Zugang zur Literatur des Mittelalters sei als die neue Poetik der Ecriture. 4 The dilCtUded imllge, Cambridge 1964, p. 8/9.
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kann er sie bis zu einem gewissen Grade wiedererlernen, wenn er sich an den Anweisungen des Textes orientiert. Eben darin besteht die eigentümliche Rückwirkung der ästhetischen Verlockung, probehalber eine ungewohnte Einstellung einzunehmen und so den eigenen Horizont der Erfahrung zu erweitern. Für den modernen Leser, der gewohnt ist, an einem Werk das Neue zu bewundern, das es von der bisherigen Tradition abhebt, bedeutet es ferner eine Umkehrung seiner ästhetischen Erwartung, wenn ihm angesonnen wird, sogar endlose lehrhafte Abschweifungen nicht als langweilig abzutun: der mittelalterliche Leser konnte Texte gerade darum genußreich finden, weil sie ihm erzählten, was er bereits wußte, und weil es ihn zutiefst befriedigte, jedes Ding an seinem richtigen Platz im Welt modell vorzufinden'. Das ästhetische Vergnügen an solchem Wiedererkennen setzt freilich den Erfahrungshorizont der für uns nur noch rekonstruierbaren Lebenswelt des Mittelalters voraus. Dem modernen Leser kann es darum nicht ohne historische Vermittlung wieder vorstellbar werden. Bleibt ihm hier der Zugang des unmittelbaren Vergnügens am Text versagt, so gewinnt er doch auf der Ebene der Reflexion zweierlei: eine ästhetische Brücke zu der fremden Lebenswelt, die aus literarischen Quellen wieder zu ihm spricht und eher anschaubar wird als aus historischen Dokumenten, und andererseits die kontrastive Erfahrung, daß Wiedererkennen und nicht nur Innovation den Umkreis der ästhetischen Einstellung bestimmen und bereichern kann. Historisches Wissen hat im Bereich der Philologie indes nicht nur Rezeptionsbarrieren weggeräumt, sondern oft auch neue errichtet. Der Fall des Teso,etto von Brunetto Latini (siehe VII) zeigt beispielhaft, wie eine unerkannte ästhetische Vorentscheidung die historische Bedeutung wie die poetischen Qualitäten eines Gipfelwerks der allegorischen Dichtung verdunkeln, ja dieses überhaupt aus dem Kanon des Oberlieferungswerten ausschließen konnte. Positivismus und Idealismus, unter umgekehrten Vorzeichen der Erlebnisästhetik der Romantik und der Ächtung des Dialektischen verhaftet, teilten hier dasselbe Vorurteil gegen die Nicht-Poesie der allegorischen Darstellung, von deren Gerüst herab "der Verfasser all seine Kenntnisse wie einen Kartoffelsack über uni ausschütte"'. Vosslers Interpretation des Teso,etto erwies sich als ein Kehrspiegel des klassizistischen Geschmacks, interessanter durch das, was er suchte, als durch das, was er an dem vermeintlich hybriden Textgebilde auszusetzen fand: Reinheit des Stils, Einheitlichkeit der Handlung, einsichtige Harmonie zwischen Teil und Ganzem, Einheit von Form und Inhalt, Gestalt und Bedeutung. Der so geschmähte Text wird auch für einen modernen Leser wieder genießbar, wenn man die klassizistische Rezeptionsbarriere abbaut, sich auf die vom Text implizierte Erwartung einstellt und erkennt, in welche Richtung die von Brunetto abgewandelten Spielregeln der Gattung weisen. Dann tritt mit einem Mal das durchaus originelle ,kaleidoskopische' Prinzip der Stilisation, die ironische Position gegenüber der aus Frankreich importierten Allegorie der liebe und als übergreifendes Motiv die hier erstmals sich ankündigende Haltung der Curios;tas ans Licht - jene neue Würde eigenen Fragens, zu der sich das
5 Nach C. S. Lewis, op. eit., p. 200/203. 6 Siehe VII, p. 49.
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allegorische Ich befreit und in der es die Schwelle zur Renaissance überschreitet. Am schwierigsten ist gewiß ein ästhetischer Zugang zu den uns am fernsten liegenden literarischen Formen der mittelalterlichen Allegorese wiederzufinden. Der Verfasser, dereinst genötigt, dem GRLMA zuliebe sämtliche Stücke dieser Gattung im 12. und 13. Jahrhundert zu studieren, gesteht unumwunden, daß er diese Lektüre zeitweilig wie eine Bußübung empfand, für die ihn dann der alles überragende Roman de Itz Rose entschädigte. An ihm war zu entdecken, weicher eigentümliche poetische Reiz darin liegt, das Verhalten einer Dame zu entschlüsseln, deren Wesen hinter einer Folge von Personifikationen versteckt bleibt. Als erste ästhetische Brücke und Ergebnis dieser Sichtung kann man dem modernen Leser eine verkannte Perle wie den Roman de Itz poire oder die scherzhaften Spielformen der Gattung empfehlen (siehe VI). Sie machen es wie alle Parodie oder Travestie - durchaus vergnüglich, sich in die Spielregeln einzuüben und die Einstellung zu übernehmen, die eine nicht mehr vertraute Gattung erfordert. Sie führen uns unmerklich vor den tieferen ästhetischen Grund, der die allegorische Dichtung des Mittelalters, obschon durch kontrastive Erfahrung, auch heute noch oder wieder interessant zu machen vermag: die Anschauung einer inneren Welt, die alles, was für den modernen Leser Ausdruck subjektiven Empfindens ist, als Spiel und Konflikt objektiver Mächte vorstellt.
3. Einführung dn hermeneutischen Begriffs der Alterität Mit dieser Einstellung eines schon reflektierten ästhetischen Genusses, der ein Erkennen des Kontrastes zu moderner Erfahrung voraussetzt, sind wir bereits beim zweiten hermeneutischen Schritt, der Befremdung durch Alterität, angelangt. Dieser Begriff ist nicht zufällig in der Debatte über Paul Zumthors Essai de poetique medievale in den Mittelpunkt des Interesses getreten' . Ich folge in seinem Gebrauch zugleich der Sprachtheorie Eugenio Coserius, um im Blick auf das hermeneutische Problem der mittelalterlichen Literatur die eigentümlich gedoppelte Struktur eines Diskurses zu benennen, der uns als Zeugnis einer fernen, historisch abgeschiedenen Vergangenheit in befremdender ,Andersheit' erscheint, gleichwohl aber als ästhetischer Gegenstand dank seiner sprachlichen Gestalt auf ein anderes, verstehendes Bewußtsein bezogen ist, mithin auch mit einem späteren, nicht mehr zeitgenössischen Adressaten Kommunikation ermöglicht'. Eine Beschreibung dieser Alterität kann davon ausgehen, 7 Vor allem in der Kritik von Peter Haidu, aber auch bei Pierre-Yves BadeI, Wolf-Dieter Stempel und Eugene Vance, siehe Anm. 23. 8 C. Coseriu: Thesen zum Thema .Sprache und Dichtung', in: Beiträge zur Textlinguistik, hg. von W.-D. Stempel, München 1971, 187. Die Sprache mittelalterlicher Texte macht uns als vergangene die Alterität ihrer Welt ansichtig und zugleich, als poetische, über den Zeitenabstand hinweg auch wieder zugä"8lich. Der prinzipiellen übersetzbarkeit vergangener Dichtung steht nur scheinbar entgegen, was sich als Nuance poetischen Ausdrucks nicht getreu wiedergeben läßt. AUes übersetzen steht unter Bedingungen der una~ schließbaren Rezeption, d. h. der fortschreitenden Konkretisation von neuer Bedeutung, angesichts derer das Ideal der ,treuen' oder integralen Wiedergabe des BedeutungSiehaltes eines Textes in seiner vermeintlich vorgegebenen Totalität eine substantialistische Illusion darsteUt.
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daß uns die Literatur des Mittelalters schon darum fremder geworden ist als die der zeitlich ferneren Antike, weil die letztere bis zur Schwelle der Universitätskrise der Sechziger Jahre fast unangefochten den Kanon der herrschenden philologisch-humanistischen Bildung bestimmt hat. Zwischen der Literatur des christlichen Mittelalters und dem ästhetischen Kanon unserer Moderne besteht nur eine illusionäre Kette ,unzerreißbarer Tradition'. Wenn Ernst Robert Curtius ignorieren konnte, daß die Rezeption der aristotelischen Poetik und des ästhetischen Kanons der hinfort klassischen Antike durch den Humanismus der Renaissance fast alle Fäden zur Literatur und Kunst des Mittelalters durchschnitten hat, mag dies sein respektabler Versuch rechtfertigen, dem Einmaliskeitswahn des germanischen ,Dritten Reiches' ein Credo an die Kontinuität lateinischer Bildung des Abendlandes entgegenzusetzen. Die Alterität der mittelalterlichen Literatur ist durch eine ältere lUusion geschichtlicher Kontinuität noch mehr verdeckt worden: durch das evolutionistische GeschichtsmodeD des 19. Jahrhunderts, demzufolge in den volkssprachlichen Texten dieser Epoche Anfang und Wesen aDer späteren Entwicklung der europäischen Nationalliteraturen zu suchen sei. Gewiß fördern auch Vorverständnisse, die post festum als unbegründbar oder ideologisch durchschaubar werden, keineswegs nur ,falsche' Eraebnisse zutage. Das erweist sich daran, in welchem Maße der bisherige Befund einer Uminterpretation fähig ist, wenn sich ein forschungsorientierendes Paradigma material erschöpft hat. Die Chancen einer neuen Erkenntnis der eigentümlichen Bedeutung mittelalterlicher Literatur, die sich an den Kontinuitätsbrüchen dieser Epoche wie an ihrem C'harakter als einer archaischen, politisch wie kulturell ganz für sich stehenden geschichtlichen Welt erschließen kann, werden greifbarer, wenn man an die inhaltlichen Aspekte ihrer Alterität denkt, die das philologische Ideal und der Begriff autonomer Kunst in humanistischer Tradition verdeckt hat. Das philologische Ideal, im Zeitalter nach der Erfindung des Buchdrucks ausgeprägt, setzte unvermerk t literarische Tradition gleich mit geschriebener und gedruckter Überlieferung und hat darum die Existenz einer nicht-buchartigen Produktion und nicht-lesenden, sondern fast ausschließlich hörenden Rezeption weithin übersehen. Der Vorrang des Buchs verleitete nicht nur dazu, die Interpretation als Tätigkeit des lesenden Philologen mit der ursprünglichen Erfahrung des hörenden Publikums gleichzusetzen und damit die konkrete Bestimmung zu verfehlen, derentwegen die Texte verfaßt wurden. Das humanistische Vorbild des klassischen Texts machte das Buch auch zum Werk oder einzigartigen Produkt seines Schöpfers und zog Grundunterscheidungen nach sich, die der autonomen Kunst der bürgerlichen Epoche so selbstverständlich wie dem Literaturverständnis des Mittelalters unangemessen waren: die Unterscheidung von zweckbestimmt oder zweckfrei, lehrhaft oder fiktional, traditionell oder individuell, nachahmend oder schöpferisch. Eine Literatur, deren Texte nicht der klassischen und später der romantischen Einheit von Autor und Werk entsprungen waren und die von der überwältigenden Mehrheit der Adressaten nur hörend, also nicht in der selbstgenügsamen Kontemplation des Lesers aufgenommen werden konnten - diese Aspekte der Alterität des Mittelalters machen allererst deutlich, in wie hohem Maße unser modernes Literaturverständnis durch Schriftlichkeit der Überlieferung, Singularität der Autorenschaft und Autonomie des werkhaft aufgefaßten Textes geprägt ist.
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Die Mündlichkeit der literarischen Überlieferung ist zweüellos eine Erscheinung der Alterität des Mittelalters, die heute keine hermeneutische Anstrengung mehr voll zu gewärtigen vermag. Die Erfindung des Buchdrucks ist - mit Paul Zumthor zu sprechen - das Ereignis, welches mehr als jedes andere die Kultur des Mittelalters als "die Zeit davor" für uns verschlossen hat. Wer als Leser aufgewachsen ist, vermag sich nur mit Mühe vorzustellen, wie ein Analphabet die Welt ohne Schrift gesehen und Dichtung ohne Text aufgenommen und sich an sie erinnert haben kann. Auch wenn uns moderne Massenmedien der mittelalterlichen Erfahrung einer nicht durch das Buch vermittelten Dichtung wieder näher gerückt haben sollten, als es die einsame und stumme Visualisierung einer individuellen Lektüre tat', kann sich der moderne Hörer doch schwerlich in ein Bewußtsein zurückversetzen, das keine andere Wahl hatte, als hörend awzunehmen. Wohl aber vermag uns der Umgang mit mittelalterlicher Literatur ein Vergnügen an Texten wieder zu eröffnen (oder auch zu rechtfertigen, wenn es uns nicht verloren ging), das die humanistische Ästhetik unterschätzt, wenn nicht verpönt hat. Das Sich-Versenken des einsamen Lesers in ein Buch als Werk, das so selbstgenügsam ist, daß es ihm ,die Welt bedeutet', mag die eigentümliche Erfahrung der autonomen Kunst in der bürgerlichen Ära beschreiben. Doch dieses Verhältnis des Individuums zum auratischen Werk erschöpft die ästhetische Erfahrung am literarischen Text keineswegs. Das Vergnügen des Lesers kann heute wie schon beim mittelalterlichen Zuhörer einer Einstellung entspringen, die nicht ein Sich-Versenken in die einzigartige Welt des einen Werks, sondern eine Erwartung voraussetzt, die erst der Schritt von Text zu Text einlösen kann, weil hier die Wahrnehmung der Differenz, der immer wieder anderen Variation eines Grundmusters, Genuß bereitet. Für diese ästhetische Erfahrung, die für den modernen Leser von Kriminalromanen so selbstverständlich ist wie für den mittelalterlichen Zuhörer der Chansons de geste, ist also nicht der Werkcharakter eines Textes, sondern Intertextualität in dem Sinne konstitutiv, daß der Leser den Werkcharakter des Einzeltextes negieren muß, um den Reiz eines schon zuvor begonnenen Spiels mit bekannten Regeln und noch unbekannten Überraschungen auszuschöpfen. Ich habe diese Erfahrung anderenorts die Rezeptionsstruktur des plurale tantum genannt und an Beispielen aus verschiedenen Epochen und Gattungen erläutert·'. Formen einer nicht auf das klassische Werk ideal bezogenen ästhetischen Erfahrung begegnen vor und nach der klassischen Kunstperiode auf Schritt und Tritt. Sie begegnen in der Literatur des Mittelalters sogar in einem Maße, daß das Verhältnis zum Text als Werk sowohl auf der Ebene der Produktion wie auf der Ebene der Rezeption vielmehr die Ausnahme einer Regel darstellt, die einen wesentlichen Aspekt der Alterität dieser Literatur ansichtig macht.
9 EU/li de poItique mldilwlk, Paris 1972, p. 42: "Ia diffusion de I'imprimerie ... donne Je demier coup au vieil univers globalement per~ par tous les sens humains, le dissocie, Je reduit l une perception visuelle et lin6aire. La s~cation de 1'6criture se modifie." Von diesem Epochenwandelgibt die von Th. Gossen ersteUte SchätzullI eine Anschauung, daß am Ende des 15. Jhs. in Frankreich auf etwa 15 Millionen Einwohner etwa 40 000 kamen, die lesen konnten (ib. p. 38). 10 Der ü.r al, Instllllz einer neuen Ge,chichte der LitefGtur, in: Poetica 7 (1975) 341, woraus ich im f. einige Abschnitte übernehme.
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Beginnen wir mit einer alten Crux der romanischen Philologie, dem Problem der ,Einheit des Rolandslieds'. Hier mußte die lange vorherrschende Forschungsrichtung. die sich für streng positivistisch hielt, die ruinöse Kritik von Eug~ne Vinaver einstecken, der ganze Streit und Niederschlag von mehr als tausend Abhandlungen, die seit der Romantik über die Verfasserfrage geschrieben wurden, habe kein Fundament in der Sache, sondern sei die undurchschaute Folgeerscheinung einer implizit angewandten Ästhetik, die jeder französische Positivist seit seinen Schulstunden über Corneille mit sich herumtrage". In der Tat steht die alt romanische Epik in einer fließenden Oberlieferung, die nicht auf die geschlossene Gestalt von Werk oder Original und unreinen oder verderbten Varianten zurilckführbar ist und darum auch besondere Editionstechniken erfordert. Als Vortragsdichtung im ,style formulaire', die mehr oder weniger improvisierte, so daß jede Aufführung eine etwas verschiedene, niemals endgültige Gestalt des Textes hinterließ, wurde die tCll1lnlOn d~ geste in Raten mit FortsetzuDgsstruktur dargeboten 11. Die weiterwuchernde Zyklisierung tat noch ein übriges, die Werkgrenzen als beweglich und beiläufig erscheinen zu lassen. Als nicht endgültig konnte aber auch die epische Fabel selbst angesehen werden. Beim Zyklus des ROl7Uln de RenaTt stieß ich auf die merkwürdige Erscheinung, daß der Kern des Zyklus, die Fabel vom Hoftag des Löwen, nicht weniger als achtmal umerzählt wurde. Auf diese Weise wußte eine Reihe von Nacherzählern dem Gericht über den listenreichen Fuchs immer wieder einen anderen Anlaß und einen anderen Ausgang zu geben. Was die positivistische Forschung als eine Serie von ,verderbten Varianten' zu einem verloren gegangenen Original ansah, konnte vom mittelalterlichen Publikum als eine Folge von Fortsetzungen aufgenommen werden, die trotz ständiger Nachahmung ein immer wieder neues Spannungslement zu entfalten wußten (siehe 11, 111, IV). Dieses Prinzip, das dem humanistischen Verständnis von Original und Rezeption, Reinheit des Werks und Treue der Nachahmung, völlig zuwiderläuft, findet sich im Mittelalter nicht allein auf der Ebene der volkstümlichen Literatur des niederen Stils. Auch die großen lateinischen Werke des hohen Stils der philosophisch-theologischen Epik, die in der Nachfolge der allegorischen Tradition des Claudian und des Boethius im XII. Jahrhundert von der Schule von Chartres geschaffen wurden, De unil1e"itate mundi von Bernhard Silvestris, der Pillnctul Naturae und der Antic/Qudianul von Alanus von Lille, an welche im XIII. Jahrhundert der Rosenroman und schließlich Brunetto Latini mit seinem Teloretto anknüpfen, können nach dem Prinzip der Weiterführung in der Nachahmung erklärt und als Fortsetzungen der einen allegorischen Fabel interpretiert werden (siehe VII). Dabei erwies sich die Frage nach der Erneuerung des Lebens im Fortgang der Welt als das Movens der literarischen Reihe: sie konnte im mythischen Gewand der Klage der Natura immer wieder neu motiviert und gelöst, aber auch kritisch gegen einen Vorginger gewendet werden, um seine von ihm selbst nicht durchschaute Mythologie aufzudecken. 11 A '" Ttcherche d'lIlIe poltiqlle mldilWlle, Paris 1970. 12 Diese Einsichten verdankt die romanische Philologie lean Rychner, der mit seiner Pionierarbeit: lA ClullllOlI de Kate - Elllli "" l'tut Ipique des jo"6leun, Genf 1955, einen Paradigmenwechsel in der romanistischen Epenforschu. auslöste (siehe XI).
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Was das geistliche Spiel betrifft, braucht hier nur daran erinnert zu werden, daß es sein Telos nicht in der in sich selbst geschlossenen Ganzheit eines frei geschaffenen Werks, sondern in der Heilsgeschichte hatte, auf deren Ereignisse es sich kommemorativ in festlicher Wiederkehr bei jeder AuffUhrung bezog. Im Textbereich der volkssprachlichen Lyrik gehört nicht allein die Verbreitung in ,Liederblättern' oder die nach Spielregeln im öffentlichen Wettstreit improvisierte Tenzone, sondern sogar die schon zu den Anfängen autonomer Kunst zu rechnende poene formelle der Kanzone zu den Erscheinungen mittelalterlicher Intertextualität, sofern sie - wie noch das Fehlen einer definitiven Gestalt in der Textüberlieferung (Strophenumstellungen etc.) bezeugt - nicht werkhaft isoliert, sondern als plurale tantum mit dem ästhetischen Reiz der Variation von Text zu Text aufgenommen wurde (siehe XIV). J. Alles in allem bestätigen diese Beispiele einen schon von C. S. Lewis erhobenen Befund: "We are inclined to wonder how men could be at once so original that they handled no predecessor without pouring new life into him, and so unoriginal that they seldom did anything completely new.,,14 Das singulare Werk ist im mittelalterlichen Literaturverständnis gemeinhin weder als einmalige, in sich geschlossene und endgültige Gestalt, noch als individuelle, mit niemand anderem zu teilende Hervorbringung seines Urhebers anzusehen. Solche Kategorien der klassischen Produktionsästhetik hat erst die Renaissance proklamiert, nachdem der Werkcharakter der Dichtung eine neuartige Aura erlangt hatte - die Einmaligkeit des in ferner Vergangenheit verborgenen Originals, dessen reine Gestalt erst zu suchen, aus den Entstellungen seiner Benutzung durch die Zeiten hindurch zu rekonstruieren und vor künftiger Profanierung durch eine edirio ne varietur zu bewahren war. Wenn es sich bestätigen läßt, daß die klassische Gleichsetzung von Werk und Original überhaupt erst humanistischen Ursprungs ist, ließe sich daran eine Hypothese für die Entstehung des Begriffs der autonomen Kunst in der bürgerlichen Ära anschließen: hat hier die aufsteigende bürgerliche Klasse etwa geglaubt, sich in Abhebung vom Humanismus wie von der repräsentativen Kunst der Fürstenhöfe aus eigenem Vermögen Kunstwerke in Gestalt von gegenwärtigen Originalen schaffen zu sollen, die mit den vergangenen, nicht mehr vermehrbaren Originalen der Antike die Konkurrenz aufnehmen konnten'!
4. Alrerität des mittelalterlichen Welrmodells Eine weitere Herausforderung der literarischen Hermeneutik liegt in der Alterität eines Weltverständnisses, das C. S. Lewis so eindrucksvoll in seinen vorkopemikanischen Zügen vor Augen zu stellen wußte l s. Der historischen 13 Für den Prosaroman des 13. Jahrhunderts hat D, Poirion das Fehlen einer werkhaft fixierten Form ins Licht gerückt: die verschiedenen Unterteüunaen und Illustrationen der verschiedenen Manuskripte ergeben ebensoviele Interpretationen durch die Schreiber, und auch der praktische Gebrauch zeilt solche Bücher als "instrument qu'on manipule, feuillette, consulte, lit lentement jour apr~s jour" (Ro,""n en vers er ROmlln en prose, in: GRLMA Bd. IV/1, Heidelberg 1977). 14 TheDilc4rded Jmllge, Cambridlc 1964, p. 209. IS 'I1Ie Dilc4rded Jlflllge, op. cit., p. SI ff., ferner ImtlgiNltion and 'l'houghr in rhe Middle Ages, in: Studies in Medieval and Reruzisllmce Literature, ed. W. Hooper, Cambridse 1966,41-63.
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Rückschau erscheint die Situation des mittelalterlichen Menschen zugleich archaisch und traditionsbeladen, gleichweit entfernt von den Mythen und Ritualen primitiver Lebenswelten wie von den Systemen und Rollen der industriellen Gesellschaft, von elementarer Unwissenheit wie von modernem Wissen, das auf Beobachtung beruht. Genötigt, mit den Widersprüchen der antiken Bildung und des christlichen Glaubens fertig zu werden, die das Nicht-Unterscheiden der verschiedenen Wahrheitsansprüche von religiösen, poetischen oder philosophischen Texten noch verschärfte, hat die mittelalterliche Kultur ein Modell entwickelt, das erlaubte, ,die Phänomene zu retten' und die Widersprüche heterogener Autoritäten derart zu harmonisieren, daß man dieses Weltmodell des Mittelalters als sein größtes Kunstwerk der Summa von Thomas von Aquin und Dantes Divina Commedia an die Seite stellen kann. Entgegen einer romantischen Erwartung wäre der mittelalterliche Mensch weniger ein Wanderer und Träumer als ein Kodifikator und Systembildner gewesen, stets darauf bedacht, für jedes Ding einen Platz und den richtigen Platz für jedes Ding zu finden, und nicht eher befriedigt, bis auch Erscheinungen wie Liebe oder Krieg bis ins letzte kodifiziert waren. Es liegt auf der Hand, daß die Rekonstruktion dieses uns so fernen Weltmodells von der kollektiven Imagination des Mittelalters und damit von seiner poetischen Welterfahrung mehr zu erkennen gibt als der Höhenkamm der Ideengeschichte oder als der Unterbau seiner ökonomischen Verhältnisse. Der am meisten überraschende Befund bei C. S. Lewis ist wohl, daß der Platz des Menschen im Universum von der theologischen Lehre einerseits und der Kosmologie des Weltmodells andererseits verschieden bestimmt wird: für die erstere stand er in der Mitte, für die letztere am Rande des Raumes! 16 Folgt man der Anleitung von C. S. Lewis, sich einmal den vorkopernikanischen Blick auf den Kosmos auszumalen, so liegt die Alterität darin, daß der mittelalterliche Betrachter nachts in den Sternhimmel wie über die äußere Mauer in eine Stadt hinein- und hinaufblickt, wo wir hinausschauen, daß ihm das ganze Universum als eine begrenzte, schön gestufte und mit engelhaften Wesen bevölkerte Ordnung von Räumen erschien und von Licht wie von Sphärenmusik erfüllt war, wo wir angesichts des unendlichen, leeren, dunklen und stummen Weltalls Pascals Horror vor dem lilence eternel de ces espaces in/inu empfinden. Dazu gehört ferner, daß für ihn das Reich der Natur auf die Sphäre des Veränderlichen unterhalb des Mondes beschränkt blieb, was Natura für ihre erstaunliche Karriere im Platonismus von Chartres freigesetzt hat, während für uns das Naturgesetz zwar das ganze Universum beherrschen soll, die Natur selbst aber poetisch seit der Abdankung der imitatio naturae nichts mehr bedeutet. Der hierarchischen Stufung der Wesen in der Kosmologie und dem triadischen Prinzip, das zwischen Gott und Mensch, Seele und Körper, wie überhaupt zwischen allen Extremen, stets Instanzen der Vermittlung fordert, entspricht eine Vorstellung des Wandels der Dinge, die dem modernen Begriff der Evolution gerade entgegengesetzt ist: während es flir die mittelalterliche Kosmologie axiomatisch 16 "Their theology might be thoupt to imply an Earth whieh counted Cor a good deal in the universe and was central in dignity as weU as in space; the odd thina is that their eosmology does not, in any obvious sens, encourage this view", Inwgilultion lind Thought ... , op. eiL, p. 46.
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war, daß die vollkommenen Dinge allen unvollkommenen vorausgehen, gilt für die Entwicklungslogik der modemen Naturwissenschaft, daß das Anfängliche keinen ontologischen Vorrang über das aus ihm Hervol'legangene haben kann (,primitiv' hat nicht zufällig pejorative Bedeutung für uns angenommen)·'. Darum hatte auch der Gegenstand der Kunst für den mittelalterlichen Autor eine immer schon "in ihn eingebaute" Bedeutung; er brauchte sie nicht erst zu suchen, geschweige denn sie einer bedeutungsfremden Realität selbst zu verleihen l l • Er schrieb in der eigentümlichen humilitas des mittelalterlichen Dichters, um seinen Gegenstand zu ehren und weiterzureichen, nicht um sich selbst auszudrücken oder um seinen persönlichen Ruhm zu erhöhen". Die Einsichten in das Weltverständnis des Mittelalters, die wir C. S. Lewis verdanken, sind als hermeneutisches Instrument für die Interpretation der Dichtung wie der Lebensformen noch kaum ausgewertet. An die Seite von The ducarded image zu stellen wäre heute das Werk eines Historikers, der die vergilbten Kulturgeschichten durch eine sozialgeschichtliche Fragerichtung ersetzt und mittels strukturaler Interpretation zeitlich kontrastierter Quellen die kommunikative Seite sozialer Verhaltensweisen ans Licht gerückt hat: Amo Borsts LebefUformen im MitteIllIter ( 1973). Die von Lewis nur angedeutete Zwischenstellung des Mittelalters gegenüber der antiken Zivilisation, gegenüber seinen archaischen Verwandten wie gegenüber den neuzeitlichen Gesellschaftsformationen, wird hier in ihrer Alterität geradezu anschau bar herausgearbeitet. Den Literaturhistoriker im besondern geht die These Borsts an, es sei ein Kennzeichen mittelalterlicher Äußerungen, "daß sie lebendige Menschen in eingeübten Verhaltensweisen mit Vorliebe darstellen", so daß diese Epoche als paradigmatisches "Zeitalter verwirklichter und wirksamer Lebensformen" gelten könne, während ,,Lebensform in der Antike vorwiegend als ethische Forderung, in der Neuzeit zunehmend als belangloser Zustand verstanden wurde ll30 • Zur Unterbauung dieser These kann der Bereich von Literatur und Kunst gewiß noch mehr beitragen, wenn man sich nicht mit dem - oft geringen - Quellen· wert ihrer abbildenden Funktion begnügt U , sondern nach der Leistung mittel· alterlicher Texte und Kunstwerke für die Bildung, Übermittlung und Legitimation sozialer Normen fragt. Sobald sich die geschichtliche Betrachtung von der beengenden Ästhetik der Widerspiegelung befreit, die der Alterität dieser Epoche besonders unangemessen ist, tritt die latente Geschichte der ästhetischen Erfahrung ans Licht. Diese noch ungeschriebene Geschichte steht dem langsamen Wandel sozialer Verhaltensweisen gewiß näher als der großen Geschichte der Ereignisse und Handlungen. Sie dürfte darum gerade in der so fernen Lebenswelt des Mittelalters uns fremd gewordene Lebensformen erschließen. Ästhetische Erfahrung gewinnt diese hermeneutische Funktion nicht 17 T7r~ dllctUdtd imag~, op. eit. p. 220. 18 Ibid. p. 204. 19 Th~ dllCllnled imtlg~. op. eit., p. 211: ..For the aim is not selfexpression or ,creation'; it is to hand on the ,historial' matter worthily; not worthily of your own genius or of the poetie art but of the matter itself." 20 uMn,/orfMn im Mill~iIIlt~', Frankfurt/Berlin 1973. p. 20/21. 21 A. Borst bevorzugte darum Wort· und Sehriftquellen, unter Hinweis darauf, "daß mittelalterliche Kunstwerke die Lebensformen atmosphärisch illustrieren, sie aber nicht in dem Risiko ihres Vollzugs abbilden" (op. eit., p. 22).
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allein durch die idealisierende und bewahrende Leistung der Kunst, sondern auch als Medium der Antizipation und Kompensation. Eines der schönsten Beispiele für die antizipatorische Funktion ist die literarische Vorwegnahme der ehelichen Liebe seit Chretien de Troyes, die nach dem Zeugnis von Abaelardus und Heloissa im 12. Jahrhundert noch keine sanktionierte soziale Verhaltensweise war und erst im Spätmittelalter als Lebensform anerkannt wurde, als die neue Gemeinschaft der Hausfamilie die frühmittelalterliche Sippenfamilie abgelöst hatte u . Auf die Bedrohung des Lebens antworteten nicht allein die Religion und die Sicherheit verbürgenden Konventionen des Zusammenlebens, sondern auch die Erfahrung der Kunst. Sie vermochte das abstrakte Dogma wie das alles regulierende Welt modell zu verbildlichen, den Menschen vom Druck der Autoritäten zu entlasten und seinen Glücksanspruch noch in anderer Weise zu befriedigen als die Tröstungen und J enseitshoffnungen der Religion. Nicht erst Dantes Di..ina Commedill, schon die bescheidensten Texte der sich von der biblischen Exegese ablösenden religiösen Allegorie, Didaktik und Visionsliteratur , wie andererseits die konkurrierende höfische und weltliche Dichtung in der Volkssprache, die sich im 13. Jahrhundert der allegorischen Form bemächtigte, haben für ein breites Publikum das Symbo!system der mittelalterlichen Weltdeutung anschaubar gemacht (siehe V). Allegorie, für den modernen Leser kaum mehr als ein seltsam abstraktes, bald ermüdendes Operieren mit personüizierten Begrüfen, konnte für das mittelalterliche Publikum die Tugenden und Laster, aber auch die neu entdeckte innere Welt der Leidenschaften, die unsichtbare Stufenordnung religiöser Instanzen, aber auch die von der Troubadourpoesie verheißene und vom Rosenroman ins Bild gesetzte Glückswelt der LiebeserfUllung vergegenwärtigen. Was uns durch Unanschaulichkeit, katalogartige Exzesse und fehlende Spannung befremdet, ist nurmehr die Kehrseite einer Poesie des Unsichtbaren, die wohl den eigentümlichsten Zug der Alterität des Mittelalters bildet. Wie unangemessen, ja irreführend es ist, Literatur und Kunst dieser Epoche pauschal nach den modernen ideologiekritischen Kategorien von Affirmation oder Negation des Bestehenden zu beurteilen, kann unter anderem im Blick auf das kosmologische Weltmodell gezeigt werden. Die Dichtung und Allegorie der höfischen Liebe, die als poetisch vermittelte Lebensform mit den religiös sanktionierten Institutionen von Ehe und geschlechtlicher Liebe konkurrierte, ohne indes deren Normen ausdrücklich zu negieren, hat eine eigene Topographie entwickelt, die auf interessante Weise sowohl von dem theologischen wie von dem kosmologischen Weltmodell abweicht. An der Wende vom 12. zum 13. Jahrhundert kehrt die Minneallegorie das Modell der antiken Epithalamien gerade um: nicht mehr die Götter, Venus und Amor, erscheinen dem menschlichen Paar von außen kommend, sondern der Liebende selbst macht sich auf den Weg, um den Liebesgott in seinem Reich aufzusuchen. Dieses Reich aber, topographisch und ethisch mit seinen drei Jenseitsbereichen und der richtenden Funktion des Liebesgottes eine vollständige Kontrafaktur der christlichen Weltordnung, hat sein paradi,u, amori, im innersten Kreis und bildet damit eine 22 Nach A. Borst, op. eit., p. 65/70, und R. R. Grimm: Die PaTtldle,e,ehe. Eine erotüche Utopie des Mittelllltns, in: Fest,chrift W. Mohr, Göppilllen 1972, S. 1- 25.
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poetisch-mythologische Gegenfigur zum christlich-ptolemäischen Weltmodell, in dem das himmlische Paradies die äußersten, alles umfassenden Sphären einnahm (siehe V, Kap. S).
5. Gegenwärtige An.rätze zu einer Erneuerung der Mediävistik Entgegen der Erwartung, das symbolische System der mittelalterlichen Weltauslegung sei von einer Geschlossenheit, die alles Heteronome kategorisch - paien ont tort et chrestien ont dreit (Roland, v. IOIS) - als heidnisch, ketzerisch, böse und unwahr von sich weist, scheint also die Dichtung - Andreas Capellanus, der Theoretiker des tin amor ist hier keine einsame Ausnahme - durchaus die Lizenz zu Grenzüberschreitungen beansprucht zu haben. Zumthors provokative These: "La reference du texte, c'est la tradition. C'est par rapport a elle que se definit la signifiance" wird dieser transgressiven Leistung der ästhetischen Erfahrung nicht gerecht, obschon gerade seine Poetique medievale eine neue Brücke zwischen Alterität und Modernität des Mittelalters geschlagen hafu . Auch wenn die poetische Tradition als der immer schon vorgegebene Kode sich im Sprachspiel der Formen und ,Register' stets wieder an die Stelle erwartbarer Wirklichkeiten ("realites referentielles") setzt und die individuelle Stimme auf ein allgemeines grammatisches und anonymes Ich zurückgenommen wird, geht die lyrische Erfahrung gleichwohl über die affirmative Funktion, die Autorität des Weltmodells als einzigen Ursprung von Sinn nurmehr zu bestätigen, immer wieder hinaus. Nimmt man den Text - entgegen der neuen Metaphysik der Ecriture - nicht als ens causa sui, sondern als Vehikel der Kommunikation, so vermag das aufnehmende Subjekt sowohl im Genuß der formal~m Variation die Genese neuer Bedeutung zu entdecken, als auch der Differenz gewahr zu werden, die zwischen der poetischen und der nicht-poetischen Tradition, der Unbotmäßigkeit des Schönen und dem autoritativen Sinn des Weltmodells immer wieder, also nicht erst bei Zumthors letztem, auf Villon datierten Akt eines "ec1atement du discours" entsteht. Gerade weil der Text mittelalterlicher Lyrik - konträr zur Ästhetik und poetischen Praxis der modernen Ecriture - kein autonomes Werk oder copy-right beanspruchendes Original 24 , sondern ein plurale tantum, d. h. auf Variation und fortschreitende Konkretisation von Bedeutung angelegt ist, vermag hier der poetische Diskurs im Spiel mit dem Kode den Sinn des Kodes zu bereichern und damit zu übersteigen. Hätte Zumthor diesem verschiedenen Status des nicht-werkhaften Textes Rechnung getragen, so wäre die hermeneutische Differenz seinen Interpretationen zugute gekommen. die jetzt durch die unreflektierte Symbiose von mittelalterlicher und moderner ,Poetizität' noch um eine Dimension der Deu23 ESlai de po~/ique m~di~"ale, Paris 1972, p. 117; im folgenden nehme ich die kritische Debatte wieder auf, die gefUhrt wurde von: P.-V. Badei: Pourquoi une poItique mIdihaie? in: Po~tique 18 (1974) 246-264; P. Haidu: Making il (new) in Ihe Middle Ages - Towoms a problemtllics 0/ Allerily, in: Diacritlcs. summer 1974; E. Vance: The Modernily 0/ Ihe Middle Ages in the FUlure, in: The Romanic Review 64 (1973) 140-151; W.-D. Stempel, in: Archivf. d. Sludiumd. neueren Spr. u. Lil. 210 (1973) 445-452. 24 Siehe dazu E. Vance, op. cit. p. 147.
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tung verkürzt sind. Neue Einsicht in die Alterität des Mittelalters und neue Selbsterkenntnis unserer Modernität bedingen sich im hermeneutischen Zirkel gegenseitig. Die neue Poetique medievlIle zeigt sowohl die mittelalterliche wie die moderne Lyrik in neuem Licht: die erstere kann nunmehr in der "circula rite du chant", als Spiel der Sprache mit sich selbst und über sich hinaus, gewürdigt, die letztere damit konfrontiert werden, daß der mittelalterliche Dichter sich unversehens als noch moderner erweist, als es sich die Autoren der Editions du Seuil mit dem vermeintlichen Anonymat ihrer hypostasierten Texte träumen ließenU. Weist die implizite Hermeneutik Zumthors auf eine Vorentscheidung, derzufolge das Kontinuum einer unüberholbaren poetischen Tradition, alias: die Ecriture gegenüber der Pllrole, der Ursprung von Sinn ist, so läßt sich auch die Umkehrung denken, daß für die Vermittlung von Alterität und Modernität des Mittelalters ..die Disjunktion ... der Ort ist, an dem Bedeutung manifest wird". Diesen Ansatz hat unlängst Walter Haug in einer programmatischen Antrittsvorlesung durchgespielt 2l • Pate steht dabei die Ästhetik Bert Brechts, vertieft durch Walter Benjamins Hermeneutik der dialektischen Montage. Disjunktion wird in dreifacher Hinsicht behauptet: historisch als Augenblick, in dem Bedeutungsvermittlung abbricht (zwischen mittelalterlicher und neuzeitlicher Literatur z. B. mit der Verleumdung des Allegorischen im späten 18. Jahrhundert), hermeneutisch als phänomenologische Entsprechung ähnlicher ästhetischer Erfahrungen bei divergierenden Vorzeichen ( ..die Aktualität der Gegenwart wirft ihr Licht auf historische Korrespondenzen und kommt über diese als über ein Anderes zu ihrem Selbstverständnis")2'7 und für die Interpretation mittelalterlicher Texte selbst, als ..Widerspruch zwischen Bedeutung5einschuß und linearer Darstellung"u. Gegen die Begründung der ersten und der zweiten Disjunktion habe ich nichts einzuwenden, es sei denn, daß die für solche Korrespondenzen gebrachten Beispiele nicht eigentlich "phänomenologisch" sind, weil sie immer schon der Vermittlung durch moderne ästhetische Reflexion entspringen, so daß die präreflexive Ebene als unmittelbarer Zugang der ästhetischen Erfahrung verschenkt wird. Wohl aber scheint mir Haugs dritte Disjunktion das Verhältnis von religiöser und ästhetischer Erfahrung im Mittelalter eher zu verdecken als zu klären. In dieser Epoche ist die Brechung der Kontinuität keineswegs der für Dichtung spezifische Ort der Manifestation von Bedeutung. Vielmehr pflegt sich im Mittelalter eine gegenläufige Bewegung der ästhetischen Bedeutung zunächst und zumeist durch die Bildung und Vollendung von Kontinuität von religiöser Erfahrung abzusetzen, die ihrerseits gegen solche Selbstgenügsamkeit in der Bewährung des Humanen den evangelischen Appell zur weltverneinenden Umkehr richtet. Der Weg des Aventüre-Ritters wird nicht erst durch die Episode eines .. allegorischen Umbruchs" (Iweins Sturz in das eigene Schwert, Erecs Konfrontierung mit Mabonagrin) bedeutungsvoll; er ist schon von Anbeginn durch den Anspruch exemplarisch, sein 25 E. Vanee, op. eit., p. 146. 26 tJb~, die B~ICh4ftigu1l6 mit mltt~liIlt~rlichn Lit~",tu' ""ch ~in~, L~ktün dn üth~· tisch~" Schrlft~" Berthold Br~chtJ. in: Tübingr, Fonchll1l6D1 Nr. 78/79 (1974) 1-5 (Zitat p. 5 a). 27 Ib. p. 5 b. 28 Ib. p. 4 a.
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Wesen im Horizont des Außeralltäglichen von Zufall und Erwählung, rel adpentura und propidentia Ipeciali& zu erfUllen, also durchaus in Analogie zur Vita des Heiligen, aber gegenläufig durch das Telos einer innerweltlichen Identitätsfindung 2t • In solcher Gegenläufiakeit muß auch gesehen werden, was Haug als "Nachwirkung" von Denk- und Darstellungsmustem der biblischen und theologischen Exegese auf die weltlich-mittelalterliche Epik im Blick hat JO und mit modernen Verfremdungstechniken zu verrechnen sucht. Dabei ist ihm die hermeneutische Differenz der gerade entgegengesetzten Vorzeichen des Weltverständnisses völlig bewußt: "Dem Mittelalter (. .. ) ist die Disparatheit und Gebrochenheit der Phänomene vorgegeben; und so stellt sich hier gerade die Aufgabe, Kontinuität und Identität zu erreichen (. .. ) In einer historischen Position wie der von Brecht eingenommenen hingegen, von der aus eine dominierende Kontinuität von vorneherein als das Inhumane erscheint, bleibt nur die Möglichkeit, die Kontinuität aufzubrechen"ll. Die Ausgangsposition des Mittelalters läßt sich aber nur insoweit auf den Nenner der Disparatheit und Gebrochenheit bringen, als die Exegese die Glaubenswirklichkeiten von Fall, SÜl1de, Umkehr und Erlösung gegen alle immanente Kontinuität der Welt radikalisiert. Demgegenüber wäre dann auch schon das von C. S. Lewis rekonstruierte mittelalterliche Weltmodell mit seinen harmonisierenden Leistungen eine ästhetische Vergegenständlichung. Soweit zu gehen setzte indes einen reliaiösen Rigorismus voraus, der im Mittelalter eher bei Häretikern des evangelischen Lebens als im Schoße der Kirche und Lehrgebäude der Theologie zu suchen wäre, wo - nebenbei angemerkt - die Deutung der Welt auf einen heilsgeschichtlichen Sinn keineswegs quer zur Deutung auf exemplarisch-moralische Verhaltensweisen stehen mußte: die erstere pflegte die letztere als Legitimation zu überbauenu. Im übrigen zeigt gerade die an der Wende vom 12. zum 13. Jahrhundert von der Bibelexegese sich ablösende weltlich-allegorische Dichtung, daß die Art der Nachwirkung mehr und mehr eine Form der Konkurrenz annahm, greifbar im - selbstverständlich unausgesprochenen - Ehrgeiz der weltlichen Dichter, dort ästhetische Konsistenz herzustellen, wo die Exegese einen Umbruch der natürlichen Lebenseinstellung erforderte. Zwiespältig ist das Aufgreifen des Mitleid-Motivs im geistlichen Spiel. Man kann in Figuren wie Maria Magdalena oder Longinus, die zur Identifikation mit Mitfühlenden auffordern, auch schon eine ästhetische Grenzüberschreitung statt einer neuen Form religiöser Erfahrung sehen Jl • Denn die von Haus aus christliche Tugend des Mitleids bleibt dogmatisch ja an die gloria palsionis und an das göttliche ius talionil gebunden. Die Geschichte der Jenseitsvisionen bis zur Di,ina Commedill zeigt eine auffällige Entfaltung des Mitleid-Motivs, welches sich mehr und mehr aus der dogmatischen Bindung gelöst hat, wenn es Dante schließlich zu einem Grundkonflikt seines Jenseitswanderers ausgestaltet 29 Der Löwe im 1'I«/n (bei Haug p. 3 b), der beinahe Selbstmord begeht, kann auch als kontrastive Spiegeluna auf das Schuldbewußtsein seines Herrn bezogen werden, was die Komik zumindest ambivalent macht. 30 Ib. p. 2 b. 31 Ib. p. 3 b, 4 b. 32 Zu p. 2 a. 33 Zu Haul p. 3 c.
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(siehe XIII). Der dogmatische Satz: Qui vive la pieta quand' eben morta (lnf. XX, 28) kann diesen Konflikt nurmehr dogmatisch beheben; der Widerspruch, den die ästhetische Lizenz zwischen göttlicher Rechtsmetaphysik und menschlichem Mitleid aufdeckt, und nicht die dogmatische ,Lösung', ist das Movens zukünftiger Interpretation. Man kann diesen Fall durchaus dafür verbuchen, was uns im Lichte von Brechts Ästhetik (Die Stückeschreiber, die die Welt als eine veränderliche und veränderbare darstellen wollen, müssen sich an ihre Widersprüche halten. denn diese sind es. die die Welt verändern und veränderbar machen) an der mittelalterlichen Literatur wieder interessant werden kann J4 • Nur dürfte dieser hermeneutische Schlüssel, der vor allem Grenzerscheinungen einer überraschenden Modernität oder besser: historischen Korrespondenz zu greifen vermag, schwerlich genügen, um die Alterität mittelalterlicher Literatur in ihrer Mitte ansichtig zu machen - dort nämlich, wo es ihr darum geht, nicht die Widersprüche, sondern die Ordnung und verborgene Harmonie der Welt dazustellen. Auch in dieser Alterität steckt flir uns heute vielleicht wieder ein Stück Modernität, vorausgesetzt, daß nicht allein Veränderung, sondern auch Dauer ein Verständnis der Welt ermöglicht.
6. Modernität in der Alterität als neues Frageinteresse Die kritische Erörterung von Ansätzen zu einer Erneuerung der mediävistischen Literaturwissenschaft sollte über einigen Differenzen nicht das gemeinsame Frageinteresse vergessen machen. Auf die kürzeste Formel gebracht, ist es ein neuer Versuch, die Modernität mittelalterlicher Literatur in ihrer Alterität zu entdecken. Es bedarf kaum der Bemerkung, daß ,Modernität' dabei von den unkritischen Weisen einer Aktualisierung abzusetzen ist, die ein gegenwärtiges Interesse geradezu aus der Literatur der Vergangenheit bestätigt finden will. Gegenüber solchem Modernismus meint Modernität die Erkenntnis einer Bedeutung mittelalterlicher Literatur, die nur im reflektierten Durchgang durch ihre Alterität zu gewinnen ist. Der Modellcharakter, den das Feld dieser literatur für die gegenwärtige Theoriebildung und interdisziplinäre Forschung der Humanwissenschaften gewinnen könnte, läßt sich vorläufig wohl so beschreiben, wie ich es anderweitig im Blick auf den begonnenen Grundriß der romanischen Literaturen des Mittelalters schon einmal versucht habe. Das Mittelalter weist in seiner Literatur folgende Züge auf, die sich in gleich beispielhafter Ausprägung gewiß nicht häufig vereint finden: "das Modell einer in sich geschlossenen Kultur und Gesellschaft, in welcher Kunst und Literatur noch in der Praxis ihrer normbildenden Funktionen greifbar sind; der zugleich archaische und schulartig gebildete Charakter dieser Kultur, in der sich der Kosmopolitismus der lateinischen Schriftlichkeit mit der Alltagsfunktion der gesprochenen romanischen Regionalsprachen überkreuzt; der Konservativismus einer Literatur, die fern von aller Aristotelesrezeption ihr eigenes Nachahmungsprinzip und Literatursystem entwickelt und gegenüber der Antike und fremden Kulturen eine erstaunliche Aneignungskraft aufweist; das vorgeprägte, kaum veränderliche Ausdruckssystem dieser Literatur, die ihren eigenen Weg 34 Ausgangszitat von W. Haug, aus B. Brecht. GeStlmme/te Werke, Frankfurt 1967, Bel. 16, p. 960.
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vom Zeichen zum Symbol durchmißt und dabei doch eine bewegliche Ordnung von gattungshaften Mustern und ,Tönen' hervorbringt, an denen sich die kommunikative Leistung der Literatur einer sich formierenden Gesellschaft entfaltet ..... Wo die Interpretation mittelalterlicher Texte aus meiner Sicht ansetzen könnte, um Aspekte solcher Modernität näher zu bestimmen, die sich unserer Gegenwart über die Brücke ästhetischer Erfahrung eröffnen, möchte ich im Folgenden für die Gebiete kurz umreißen, die mir aus eigener Forschung vertraut sind.
7. Tierdichlung ab Schwelle zur Individuation Die Tierdichtung des Mittelalters stand in der Forschungsgeschichte bis zur Gegenwart wie kaum ein anderer Textbereich unter dem ungebrochenen Impuls des philologischen Paradigmas der deutschen Romantik. Während die Epenforschung die Krisen mehrerer Paradigmenwechsel durchlaufen hatte (siehe XI), repristinierte hier die letzte Auseinandersetzung zwischen Voretzsch und Foulet im Grunde immer noch die von den Brüdern Grimm entdeckte Unterscheidung von Volks- und Kunstpoesie. Das Vorverständnis der deutschen Forschung insbesondere beruhte auf dem romantischen Begriff einer Anfänglichkeit, die prähistorisch in der Ursprünglichkeit einer germanischen ,Tiersage' gesucht und ästhetisch in der schmucklosen Reinheit und Naivität der sogenannten ,Tiermärchen' gesehen wurde. Dem setzte die französische Forschung nach dem Vorbild Bediers die historisch bezeugte Entwicklung des Roman de Renart als einen literarischen Prozeß entgegen, der sich genetisch aus äsopischen Quellen und dem lateinischen Vorbild des Ysengrimus erklären sollte. Die Alterität mittelalterlicher Dichtung ist mir zum ersten Mal daran aufgegangen, daß sich die romantische Deutung der Tiermärchen - die Naturpoesie eines anfänglichen Einvernehme ns von Mensch und Tier - wie die antiromantische Auslegung des Tierepos - die satirisch ausgesponnene Fabel vom Hoftag des Löwen - auf ein nicht offen zutage liegendes Interesse der Verfasser und ihres mittelalterlichen Publikums zurückführen ließ. Es ist nicht das Leben der Tiere in der Natur, sondern es sind die nalurae el mores hominum, die im Spiegel der einfachen wie der literarischen Formen der mittelalterlichen Tierdichtung auf eine neue Weise entdeckt werden. Das Vergnügen an den Geschichten von Renart und Y sengrin war hintergründiger als die Freude über die einfachen Verhältnisse und natürlichen Eigenschaften der Tierwelt: es entsprang der ästhetischen, moralischen und am Ende auch politischen Reflexion über das, was das tierische Wesen von der menschlichen Natur zu erkennen gibt. Schon die äsopische Fabel kehrt in den typischen Konstellationen ihrer Tierfiguren die rollenhafte Determinierung menschlichen Verhaltens hervor und bereitet damit sowohl der christlichen wie der feudalen Rezeption dieses klassischen Erbes Schwierigkeiten. In der Blütezeit der höfischen Dichtung gewinnt eine neue Erfahrung der menschlichen Natur im Analogon von feudaler Gesellschaft und Reich der Tiere ihre eigentümlichste Gestalt: das Gesamtabenteuer Renarts führt in jeder Begegnung das exemplarische Sein ritterlicher Helden auf 3S Op. eil., p. xii.
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die unideale Natur des Menschen. seine unentrinnbaren Begierden und Schwächen. zurück und bringt als antiheldische Kontrafaktur der höfischen Epik zugleich eine vollendete. geschichtlichem Wandel entrückte Typenwelt von Charakteren zum Vorschein. die als fortwirkendes Muster menschlicher Selbstauslegung noch nicht hinreichend gewürdigt ist. Im Rückblick auf diese These verkenne ich keineswegs. daß sie die romantische Deutungstradition nicht einfach erübrigt. Nicht allein hat uns die Einsicht in Anonymat und mündliche Überlieferung der mittelalterlichen Epik Grimms Begriff der ,sich selbst erzählenden' Naturpoesie wieder verständlicher gemacht. Auch die Kategorie der Anfänglichkeit gewinnt neue Bedeutung. wenn man sie im Sinne von Gervinus entmythisiert und auf die Einfachheit der Darstellung der "allgemeinsten menschlichen Verhältnisse in stets gültiger Betrachtungsweise" bezieht; aus dem so verstandenen Grundmuster läßt sich dann auch die spätere historische Entfaltung des Potentials der Satire gegen die höheren Stände ableiten und interpretieren J6 • Selbst wenn man die Suche nach dem urtümlich Deutschen ("Das ganze Altertum kennt keine Freude an der Natur. und Freude an der Natur ist ein Grund dieser Dichtungen ... ") als eine der schönsten Projektionen der romantischen Waldeslust belächelt". bleibt doch eine von Grimm zuerst erkannte Unterscheidung zwischen antiker und germanischer. sagen wir besser: mittelalterlicher Tradition bestehen - die Erteiluni von Namen germanischer Herkunft. die aus den Antagonisten und Figuren des Zyklus singulare Wesen macht. Zwischen den Gattungsnamen der antiken Figuren der Fabel und den Eigennamen des mittelalterlichen Tierepos lielt eine Schwelle der Individuation. Was bedeutet diese Schwelle? Dieselbe Dichtung. die das ideale, geistige Sein des Menschen auf seine kreatürliche Natur reduziert und diese wiederum in einer Vielheit ethischer Charaktere entfaltet hat. verleiht ihren Figuren andererseits nicht allein durch Eigennamen, sondern auch durch die Spielregel. jede Tiergattung nur durch ein Exemplar vertreten zu lassen. den Anschein von Individualität. In diesem seltsam wiedersprüchlichen Befund sind wenigstens zwei Fragen offen geblieben, die eine Untersuchung im größeren historischen Kontext lohnend erscheinen lassen. Zum einen ist der Artcharakter, der den Tieren (nach H. lipps) gleichsam ins Gesicht geschrieben ist. nicht objektiv. sondern zweifellos in die Tiere vom Menschen nur eben hineingesehen" ; die ethischen Charaktere der Tierfiauren müßten also aus historisch sich wandelnden Motiven menschlicher Selbstau5legung interpretiert werden. Zum andern ist die Form der Individualität im Falle von Renart, Ysengrin, Brun, Noble usf. zwar ihrer literarischen Einzigartigkeit als Fuchs. Wolf. Bär, Löwe entsprungen und auch insofern nur ein Anschein von Individualität, als den Hauptfiguren des Tierepos nurmehr ein typisches Geschick zukommt, das sich in der Begegnung mit dem Schelmen Renart als das für ihre Natur typische Mißgeschick erweist.
36 Siehe den Abschnitt über Reinhan Fuch, in: Ge,chichte der poetischen Ntltio""UiteTG' tUT der Deut,chen, zitiert nach: G. G. Gervinus: Schriften ZUT Litetrltru, Berlin 1962, p. 191. 37 Ibid., p. 203. 38 G. Buck in seiner Rezension, RUlHrto Bd. 2S, p. 294.
Duo'"
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Gleichwohl ist dieser Anschein von Individualität doch wohl der (von mir unterschätzte) Anfang einer I ndividualisielUngJ9 . Obschon die Helden des Epos durch ihre Verstrickung in historisch-mythische Begebenheiten schon ein singulares Schicksal in der Kontingenz des Handeins verkörpern, erscheinen sie doch in ihrer exemplarischen Vollkommenheit einseitiger charakterisiert und ungleich weniger differenziert als ihre Kontrafaktur im Tierepos - als Renart, Ysengrin und ihresgleichen, die gleichsam durch ihre Unvollkommenheit exemplarische Bedeutung erlangen. Le beau n 'a qu 'un type, le laid en a mille: wandelt man diese kühne Behauptung Victor Hugos auf unseren Fall ab" o , so wäre das auf 1176/77 datierbare Werk Pierres de Saint Cloud als literarhistorischer Schritt zu einer neuen Gestalt von Individuation zu bestimmen. Das als ,unerhört' angekündigte Abenteuer Renarts spielt nicht allein die Vollkommenheit der heroischen Poesie und damit die personifizierten Ideale des Rittertums auf die unvollkommene Natur und alltägliche Erscheinung des Menschen herunter. Es charakterisiert ineins damit diese materielle Seite der menschlichen Natur in einer unerwarteten Vielfalt von Typen und Rollen. Diese literarische Schwelle fällt in eine Zeit, als persona nicht mehr nur das Vertauschbare (Maske, Rolle), sondern bei Otto von Freising zum ersten Mal auch die unvertauschbare individua!ita.r weltlicher Menschen bezeichnen konnte"· . Literarisch ist der Kanon des Allgemeinen nicht etwa im Textbereich der Biographie durchbrochen worden, für die noch lange die "vollständige Erfüllung der allgemeinen Norm (. .. ) als höchste Form der Individualität galt ..u . Den Bann der Idealität, und das heißt hier: die Vollkommenheit des Einen, Schönen und Guten, welche im Textbereich der volkssprachlichen Epik eine so monotone, durch und durch hieratisierte Gestalt angenommen hatte, zu brechen, setzte die neue lizenz voraus, menschliche Natur jenseits von Gut und Böse in ihrer unvollkommenen Durchschnittlichkeit dazustellen - eine lizenz, die offenbar über die Fiktion des Reiches der Tiere am ehesten zu erreichen war. Zu verfolgen, wie diese Typenwelt von Charakteren als Spiegel verschiedener gesellschaftlicher Formationen historisch umgewandelt wurde und über welche Schwellen in der fortschreitenden Neuzeit Individuen in ihrer Singularität an die Stelle der ethischen Charaktere traten, bis es keiner besonderen Lizenz mehr bedurfte, um individuelles leben ohne ein transzendentes oder gesellschaftliches Telos darzustellen, gehört gewiß zu den reizvollsten Perspektiven, die sich vom Mittelalter aus auf die Vorgeschichte unserer Modernität eröffnen.
8. Allegorische Dichtung als Poesie des Unsichtbaren Die allegorische Dichtung ist für das Mittelalter seit C. S. Lewis,
rur das Barock-
zeitalter seit W. Benjamin und für die literarische Hermeneutik seit H. G. Gadamer so überzeugend rehabilitiert worden, daß es sich nicht mehr verlohnt,
39 Siehe 11, p. 202. 40 Prl/ace de Cromwell, in: Romanische Tute Nr. 3, Berlin 1920, p. 19. 41 Nach A. Borst, Statement zu Poetik und Hermeneutik VI/I (erscheint in Kürze). 42 A. Borst. BarbaroUll1971. Vorlage zu Poetik und Hermeneutik VIII
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auf die Geschichte und Gründe ihrer Verleugnung zurückzukommenu. Ein anderes ist die Frage, ob bei diesem nach wie vor spröden Textbereich das wiedererweckte historische Verständnis auch wieder in ein ästhetisches Interesse umgesetzt werden kann. Eine bei weitem nicht ausgeschöpfte Perspektive sehe ich in der alten, noch von Winckelmann gebrauchten Grundbestimmung des allegorischen ,modus dicenci', die Vorstellung unsichtbarer, vergangen er und zukünftiger Dinge zu ermöglichen. Sie erschloß für meine Darstellung (siehe V) nicht nur eine formale Verwandtschaft zwischen so heterogenen literarischen Gattungen und Traditionen wie Allegorese, Personifikation, allegorische Fiktion, typologische Visionsliteratur, Psychomachie, Bestiarien, MinneaUegorie. Sie begründet auch einen inhaltlichen Zusammenhang vor dem Hintergrund dessen, was H. Blumenberg einmal die noch ungeschriebene "Geistesgeschichte des Unsichtbaren" genannt hat, jene "Hinter- und Oberwelt des Unsichtbaren, die für das Mittelalter zugleich die Sphäre der religiösen Instanzen war"44 • Da sich diese Sphäre nicht mimetisch, sondern nur allegorisch darstellen läßt, kann die Allegorie im Mittelalter als Poesie des Unsichtbaren interpretiert und ihre Geschichte unter diesem Titel neu geschrieben werden. Deren christlicher Ursprung läge dann in den paulinischen Sätzen, auf die sich die mittelalterlichen Verfasser ständig berufen: daß Gottes Wesen und Herrlichkeit unsichtbar, aber seit der Schöpfung der Welt an seinen Werken erkennbar sei (Rom. I, 20), daß der Mensch auf unsichtbarem Schauplatz den Kampf der Seele mit dem Leib bestehen müsse (Gal. 6, 17) und daß er ferner mit Mächten, die nicht von Fleisch und Blut sind, mit den unsichtbaren bösen Geistern unter dem Himmel, ständig zu kämpfen habe (Eph. 6, 12). In der fortschreitenden Verbildlichung dieser drei Sphären des Unsichtbaren: der verborgenen Schönheit des Gottesreichs, auf die uns die Sinnenwelt zeichenhaft zurückverweist, der transzendenten Zwischenwelt der religiösen Instanzen zwischen Himmel und Erde und der transzendenten inneren Welt des Seelenkampfes, sehe ich heute die schärfste Scheidelinie zwischen dem antiken und dem christlichen Kanon des Darstellungswürdigen und Darstellbaren in der Literatur des Mittelalters. Demgegenüber erscheint die Abscheidung einer genuinen Poetik des Christentums historisch weniger scharf: sie wird im Mittelalter durch den eigentümlichen Vorrang einer platonisch-neu platonischen Ästhetik überschattet, die sich in einem rigorosen "Kanon der Transzendenz" (M. Fuhrmann) niederschlug und den Neuansatz eines kreatürlichen, aus dem figuralen Geschichtsverständnis wie aus dem stilmischenden sermo humilis hervorgehenden ,Realismus' fast völlig aufgefangen hat. Daß es darum eine explizite Poetique du chriltianisme nurmehr nach einer denkwürdigen Verspätung, nämlich erst am Ende der Vorherrschaft der christlichen Religion, an der Schwelle der Aufklärung zur Romantik bei Hamann, Schelling, Chateaubriand, Jean Paul und Hegel gab (1. Taubes), davon hat mich die Diskussion: Gibl es eine ,christliche A'sthetik'? vollauf überzeugt45 • 43 Repräsentativ rur das gegenwärtige Interesse ist einerseits: Verbum et Signum - Bei· träge zur mediiivistischen Bedeutungslorschung, Festschrift rur Friedrich Ohly, ed. H. Fromm, W. Harms, U. Ruberg, München 1975, andererseits die Nr. 23 von Poltique, die dem Problem der Rhltorique et Hermlneutique gewidmet ist. 44 Go/ileo Galilei, Frankfwt 1965, p. 14 (Sammlung Insel, 1). 45 In: Die nicht mehr schönen Künste, ed. H. R. Jauß, München 1968, p. 583-610 (Poetik und Hermeneutik 111).
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Die Ergebnisse meiner Untersuchung zur klassischen und zur christlichen Rechtfertigung des Häßlichen (siehe XIII) wären heute unter der Perspektive einer Poesie des Unsichtbaren neu auszuwerten. Der polemische Ausgangspunkt dieser Untersuchung war der Versuch, die These aus E. Auerbachs Dantebuch (1929): "daß die Geschichte Christi die Vorstellungen von dem Geschick des Menschen und seiner Darstellbarkeit von Grund aus verändert habe"", gegen die apodiktische Ablehnung durch E. R. Curtius zu rehabilitieren, für den die substantielle, in einer Art von Naturgeschichte der Topoi vermeintlich anschaubare Kontinuität des klassischen Erbes allen Unterschied zwischen heidnischer und christlicher Antike im Mittelalter wesenlos machte4 ' . Dieses Interpretationsmodell hat in dem einflußreichen Werk die Alterität der christlichen literatur, Poetik und Kunst des Mittelalters so verdeckt, daß dem Credo an die abendländische Kontinuität sowohl unantike Erscheinungen wie der .rermo humilis, die Stilmischung im geistlichen Spiel oder die typologische Geschichtsdeutung als auch autochthone Hervorbringungen der mittelalterlichen Literatur wie die Lyrik der Troubadours zum Opfer fielen. Andererseits hat die Blickrichtung auf das ungebrochene Fortleben der Antike aber auch die befremdenden Aspekte in Gattungen wie der Chanson de geste verkennen lassen, die dem klassischen Muster der Aeneis allenfalls etwelche rhetorischen Muster und literarische Topoi verdankt. Wo diese im 12. Jahrhundert voll erblühte Gattung hingegen ohne die Rezeption eines spezifisch spätantiken Erbes, des besagten ästhetischen Kanons der Transzendenz, nicht zu denken ist, hat gerade die latent platonisch-neuplatonische Ästhetik auf mittelalterlichem Boden seltsame Blüten hervorgebracht, die aus der Kontinuität des lateinischen Erbes herausfallen. Die Chanson de geste hat auf der fraglosen Dichotomie von schön oder häßlich, gut oder böse. christlich oder heidnisch ein selten durchbrochenes Spielregelsystem ausgebildet, das als kaum überwindbare Schranke einer dogmatischen Alterität erklären dürfte, warum das christliche Epos des Mittelalters hinter der Schwelle zur Neuzeit zurückblieb. Die Stoffe des Karlszyklus wurden von dem erfolgreicheren Artusroman absorbiert und sind auf diese Weise völlig im romantischen Epos der Renaissance aufgegangen. Auf den späteren Leser. der sich nach dem Gipfelwerk des Rolandliedes an die fast vergessenen weiteren 90 Epen wagt. muß die Scheidung aller Personen der Handlung in vollkommene christliche Glaubenshelden einerseits und ins Böse konteridealisierte Feinde andererseits wenn nicht schlechthin abstrakt und fremdartig. so doch - angesichts der gegenwärtigen ErfolgsweUe der Comics oder des Asterix - monoton. allzu heroisch und darum reizlos wirken. Nichts scheint christlicher humilitas ferner zu stehen als das christliche Epos des Mittelalters mit seiner hyperkorrekten Trennung des heldenhaft Erhabenen vom alltäglich Praktischen und dem denkbar engsten aristokratischen Standesethos. das den niederen Stand nur am Rande und mit Attributen des häßlichen vilain zuläßt, um ihn am Ende ganz aus dem Solidaritätskreis der exklusiv Guten zu entfernen. Und doch ist zu ihrer Zeit an dem Breitenerfolg dieser Gattung, die von Jongleurs auf den Märkten vorgesungen wurde, nicht im mindestens zu zweifeln ... 41 46 Dante al, Dichter der inluchen Welt, Berlin u. Leipzig 1929. p. 20. 47 Siehe Europiiuche LitmztuT und lateinisches Mittelalter. Sero 1948, bes. p. 258. 48 Dafür ist am aufschlußreichsten (und ein Leckerbissen für die Ideologiekritik!) das Zeugnis aus Jean de Grouchy's De musica (Ende 13. Jh.): Cantru autem ute deHt
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Dieser paradoxe Befund des mittelalterlichen Epos übertrifft den platonischen Kanon der Transzendenz an unerwarteter Rigidität. Entspricht die Gegenbildlichkeit des Häßlichen und Bösen auch weithin seiner klassischen Bestimmung, nurmehr eine Privation des Schönen, Guten und Wahren zu sein und letzlich auf die unsichtbare Schönheit der göttlichen Ordnung zu verweisen, so fehlt doch in der epischen wie in der hagiographischen Tradition des Mittelalters - soweit ich sehe - die im Platonismus gleichfalls vorgegebene Zuordnung des Häßlichen zum Guten. Die nur mit dem inneren Auge wahrnehmbare Schönheit des häßlichen Sokrates hat auf die Heldenfiguren des christlichen Mittelalters offenbar nicht stilbildend gewirkt. Der interessanteste Fall einer umgekehrten Zuordnung des Schönen zum Bösen, die körperliche Schönheit des Verräters Ganelon im Rolandslied, bestätigt am Ende doch wieder nur den Kanon der Transzendenz, da Ganelon typologisch auf den Sturz Luzifers verweist. Hier rührt die Poesie des Unsichtbaren an das zeitlich fernste Ereignis, den Fall aus engelhafter Schönheit in die Häßlichkeit des (mittelalterlichen? ) HöllenfUrsten, vielleicht auch an die mythologische Vorstellung, daß die Natur selbst in den Sündenfall hineingezogen und damit häßlich geworden sei. Steht damit im Zusammenhang, daß die Chanson de geste so gut wie keine Naturbeschreibung kennt? Die Gefallenheit der Natur ist im Mittelalter literarisch offenbar nur am Menschen selbst, nicht aber an Deformationen der außermenschlichen Natur dargestellt worden; erst der Antinaturalismus einer nachromantischen Moderne hat nach dem Vorbild von Baudelaires Fleurs du Mal dieses Postulat der altchristlichen Tradition (Prudentius) praktisch verwirklicht" . Wohl aber findet sich in der Visionstheorie der Viktoriner eine Zuordnung des Häßlichen zum Erkennen des Guten, die man nach Uda Ebel als Schlüssel fUr die Visionsdichtungen ansehen kann JO • Der Sinn der Visionen, die Geheimnisse des Jenseits im irdischen Leben anschaubar zu machen (nach der Formulierung von Theophil), erforderte eine Hinführung von den visibilia zu den invuibilia, die nach Hugo von St. Viktor auf zwei Wegen erfolgen konnte. Beim ersten, aus dem sich die Dreistufigkeit der Visionstypologie erklären läßt, führen "die visibilia des Diesseits (. .. ) über die sensibilibussimilia des beschriebenen Jenseits zu den invisibilia, dem hinter den Erscheinungsformen des geschauten Jenseits oder in der Zukunft verborgenen Wesen Gottes"·'. Beim zweiten, mit dem sich die größere AusfUhrlichkeit der Beschreibung des Häßlichen in Hölle und Fegefeuer rechtfertigen läßt, wird dem analogischen Erkennen aus den dissimilia die höhere Bedeutung zugesprochen: während uns das Schöne an die Sinnenwelt zu fesseln pflege, wecke das Häßliche via negationis die stärkere Sehnsucht nach dem Vollkommenen. Daß diese mystische Poesie IIntiqua et civibus ltIbonzntibu, et ~diocribus mini,trrzri, donu nquie,cunt IIb opel't coruulte. ut tIUditi, miserlü et CQ/Qmitlltibu, IIlimum II1II, !lIcillu, ,u,tinunt et quillbet opu' SIIum IIIocrlu, aggredÜltur. kommentiert von D. Poirion, Chll1llOn de ge,te ou lpople? , in: 7)-IIWlUX de linguist;que etdeUttmtun, Universit~ de Strasbourg, vol. X. 2 (1972) p. 13. 49 Dazu im einzelnen Poetik und H~~neutik I/I, a. a. 0., p. 601/2. SO Die IItertl1'ilChen Fo~n der Jenmts- und Endzeitvilionen, in GRLMA VI/I, p.
184-189. 51 Ib. p. 186.
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des Unsichtbaren auch in weltliche Dichtung umgesetzt werden konnte, hat A. Adler an dem allerdings seltenen Fall des Jeu de la Feuillee entdeckt, wo der an seine Universität aufbrechende Studiosus beim Abschied seiner noch jung vermählten Frau auf die seltsame Weise huldigt, öffentlich den Verfall ihrer körperlichen Reize zu beklagen, und durch diese dissimilis similitudo insgeheim doch ihre Schönheit zu rühmen weiß S2 • Die schärfste Zuspitzung erhielt der ästhetische Kanon der Transzendenz dort, wo die Beziehung zwischen der Präsenz des Sichtbaren und der verborgenen Evidenz des Unsichtbaren die Möglichkeiten sinnfälliger Darstellung überstieg und an ein ,Nicht sehen und dennoch glauben' appellieren mußte. Die Verknüpfung des schockierend Grausigen mit dem Erbaulichen, die in der Hagiographie ständig begegnet und den modernen Leser wohl nur noch zu irritieren vermag, stand im Dienste der Glaubenslehre von der gloria passionis. Ihr zufolge muß Mitleiden mit der gequälten Kreatur den Heiden vorbehalten bleiben, die sehen ohne zu erkennen, während vom gläubigen Christen erwartet wird, daß er sich über das Gegenwärtige hinwegzusetzen und im Gedanken an die im voraus verbürgte Seligkeit der Heiligen und an die jetzt vielleicht noch verborgene Gerechtigkeit Gottes Erbauung zu finden vermag. Ich erwähnte schon, daß dieser dogmatische, in Märtyrerlegenden nicht selten bezeugte Rigorismus auf verschiedener Ebene einen gegenläufigen Prozeß der ästhetischen Erfahrung aufgelöst hat. In diesen Zusammenhang gehört nicht allein die Entfaltung des Mitleidmotivs, das in den populären Jenseitsvisionen gelegentlich auch verwunderliche Blüten treiben konnte. Hier sei nur an die Navigatio Sancti Brenclllni erinnert, wo der zu Tränen gerührte Heilige bei den Teufeln eine Verlängerung des Ruhetags .bis Montag früh' rur den die Woche über auf das gräßlichste geschundenen Judas erlangt. Schlägt in solchen Fällen die ästhetische Kompensation in eine Erscheinung dessen um, was Jean Paul die Poesie des Aberglaubens genannt hat, so zeigt das Gipfelwerk der mittelalterlichen Visionsliteratur, wie es ein großer Dichter verstand, sich den Kanon der Transzendenz auch auf andere Weise zunutze zu machen. Er legitimiert bei Dante die Darstellung eines bisher nicht rur darstellungswürdig erachteten Bereichs der Immanenz: die irdische Welt als Stätte geschichtlich handelnder und leidender Individuen. Die jenseitige Welt, in ihrer gestuften Ordnung höchster Gegenstand der Poesie des Unsichtbaren, verweist in der Divina Commedia über die Erinnerung eines halben Tausend von Personen auf die diesseitige Welt zurück, läßt aus dem Endschicksal der Verdammten, Büßenden und Seligen ein Fazit irdischer Geschichtlichkeit entstehen und gewinnt damit das große, schon ,moderne' Thema einer neuen Poesie des Sichtbaren. Die historisch gewiß nicht datierbare Epochenwende zwischen antiker und christlicher Literatur hat das grandiose Zitat aus Jean Pauls Vorschule der A·sthetik, von dem mein Abriß der Entstehung allegorischer Dichtung in romanischer Volkssprache ausging (siehe V), auf einen so schönen wie unausschöpfbaren Begriff gebracht: "Das Christentum vertilgte, wie ein Jüngster Tag, die ganze Sinnenwelt mit allen ihren Reizen, drückte sie zu einem Grabeshügel, zu einer Himmelsstaffel zusammen und setzte eine neue Geisterwelt an die Stelle. Die Dämonologie wurde die eigentliche Mythologie der Körperwelt, und Teufel 52 A. Adler, Sens er compos;tion du Jeu de /Q FeuiJlh, Ann ArOOr 1956.
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als Verführer zogen in Menschen und GÖUerstatuen; alle Erdengegenwart war zu Himmels-Zukunft verflüchtigt. Was blieb nun dem poetischen Geist nach diesem Einsturze der äußeren Welt noch übrig? - Die, worin sie einstürzte, die innere!" Aus der Negation der .. ganzen Sinnenwelt" ging die Verbildlichung der übersinnlichen anderen Welt hervor, aus der Negation aller .. Erdengegenwart" folgte die Vordeutung auf eine noch unsichtbare Zukunft und aus dem Einsturz der äußeren Welt entsprang die Entdeckung der inneren - so sah die romantische Ästhetik die Ursprünge und Möglichkeiten der ,Poetik des Christentums"! Für die christliche Poesie lag die Wahrheit des Darzustellenden hinfort im Unsichtbaren, so daß es der allegorischen (oder typologischen) Rede bedurfte, um in der Entsprechung von Gestalt (oder Ereignis) und Bedeutung immer auch ihre Differenz offen zu halten. Diese Differenz enthält rur den Angeredeten den Appell, sich vorzustellen, was die Evidenz des Sagbaren übersteigt. Wenn die Differenz von Gestalt und Bedeutung verschwindet, die bildhafte Gestalt nur noch vorgewußte Bedeutungen vergegenständlicht, verfällt die allegorische Rede in Erscheinungen der literarischen Automatisierung, von denen die Kombinatorik personifizierter Begriffe oder die abstruse Häufung von distinctiones, die bis zum substilsten Manierismus gesteigert werden kann, nicht wenig zum Verruf des allegorischen ,modus dicendi" beigetragen haben. Die Entdeckung der inneren Welt ließe sich in Schritten verfolgen, die von befremdlicher Unanschaulichkeit über die Formierung neuer Bildfelder bis zur Ausbildung geschlossener Landschaften der Seele reichen. Die Unanschaulichkeit der Psychomachill ergibt sich daraus, daß mit dem Kampf in der Seele zugleich ein Kampf um die Seele, mit dem Leib des Menschen zugleich der ganze Kosmos und mit der Situation des einzelnen Christen zugleich die Heilsgeschichte der Menschheit bedeutet sein kann. Die mittelalterliche Tradition der Gattung schafft neue Bildüberschneidungen, wenn nunmehr die bislang nicht figurierte Einzelseele in persona auf den Plan tritt, auf welchem Tugenden und Laster um sie kämpfen, wenn das träumende Ich des Amant im Rosenroman das stets unsichtbare Du der erwählten Dame aus dem Wandel ihrer Figurationen erkennen und der Leser daran die ideale Geschichte einer Liebe ablesen soll, und wenn schließlich ein schon historisches Ich, das eigene Fragen zu stellen weiß, im Tesoretto von Brunetto Latini aus dem Bannkreis der idealen Wesenheiten, die alle Erfahrung präfigurieren, heraustritt und ineins damit die Form der Gattung sprengt (siehe VII). Eine neue Topik allegorischer Dichtung, die sich um die Wende vom 12. zum 13. Jahrhundert breit entfaltet, läßt sich genetisch oft in bernhardinische und andere mystische Schriften zurückverfolgen; die Motive treten aus der Allegorese zu Bildfeldern oder Konstellationen von Personifikationen zusammen und bilden ein synchronisches Repertoire. Dieses hat nicht selten erst der geistlichen Dichtung gedient, um an die Situation des Menschtn zwischen Fall und Erlösung zu mahnen, und wurde dann von der weltlichen Dichtung usurpiert, um die innere Erfahrung des liebenden zwischen Einsamkeit und Erhörung auszulegen. Bevorzugte Bildfelder dieser Poesie des Unsichtbaren waren: die ,vier Töchter Gottes" die ,drei Feinde des Menschen", das castellum amoris, Weg und Pforte, der hortus conclusus des Paradieses, der ,Baum der Tugenden" die armatura Dei. Eine Geschichte der Entdeckung der inneren Welt würde in dieser Epoche immer wieder auf zwei Schwellen stoßen. Die erste wird durch die Feststellung von C. S. Lewis
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bestimmbar. daß Chr~tien de Troyes sich der inneren Welt der Leidenschaften nicht zuwenden könne. ohne zugleich in allegorische Rede zu fallen: wo immer der mittelalterliche Dichter ,psychologisch' wird. muß er auch .allegorisch' werden". Die zweite Schwelle tritt durch das epochale Ereignis ins Licht, daß Guillaume de Lorris mit dem ersten Roman de 111 rose die innere Welt und neue Erfahrung der höfischen Liebe, die in den personifizierten Leidenschaften und Normen der provenzalischen Dichter unanschaubar blieb. am Weg des Amant durch die allegorische Landschaft und die sich wandelnden Konstellationen des vergier d'amor verbildlicht hat und damit das verheißene, noch unsichtbare Paradies des Joy in anschau barer Gestalt aufscheinen ließ. Spätestens an dieser Stelle wird eine Grenze der verspäteten Rezeption der Poetik des Christentums durch die Romantik deutlich: Jean Paul hat zwar die "Dämonologie" oder neue .. Mythologie der Körperwelt", nicht aber - sit venia verbo - die 'paradisologie'ua oder neue Mythologie einer Glückswelt als Folge des Einsturzes der antiken Sinnenwelt erkannt! Aus dieser Erkenntnis folgt weiterhin. daß die Schwelle zwischen der mittelalterlichen und der nachmittelalterlichen Funktion allegorischer Dichtung am schärfsten bezeichnet werden kann, wenn man das Ergebnis dieser Betrachtung dem Befund von W. Benjamins Rehabilitierung der Allegorie gegenüberstellt. Die Allegorie im barocken Trauerspiel, .. die die Erfahrung des Leidvollen, Unterdrückten, Unversöhnten und Verfehlten. die Erfahrung des Negativen ausdrückt, widerstreitet einer positiv Glück, Freiheit, Versöhnung und Erfüllung vorspiegelnden und verschließenden symbolischen Kunst"". Es liegt darum ganz in der historischen Logik der Rezeptionsgeschichte der christlichen Poesie des Unsichtbaren, wenn einer der Stammväter unserer Modernität. Charles Baudelaire, seinen Widerspruch gegen die Erlebnisästhetik der symbolischen Kunstform praktisch auch dort eingelöst hat. wo er die subjektive Welt der Leidenschaften als paysage moral wieder mit einer objektiven Mythologie der Körperwelt, den majuskeltragenden Personifikationen des Spleen besetzt hat ss .
9. Die kleinen Gattungen des Exemplarischen als literarisches
Kommunikationssystem Die Theorie der literarischen Gattungen gehört zu den Gebieten der literaturwissenschaft, die in den Sechziger Jahren am ehesten wieder ein lebhaftes Forschungsinteresse gefunden haben. Hier ist dem philologischen Historismus die Herausforderung der neuen Linguistik wohl am besten bekommen. endlich Farbe zu bekennen, in welcher Hinsicht sein vermeintlich selbstverständliches
53 TIIe ABeKCWl' 0/ Lo~ - A Study 01 MedieNI TrtIdition, Oxford 1953, p. 30 und 113. S3a Ihr theologischer Urspruna üqt in den Genesisltommentaren, von deren - literarhistorisch erst noch auszuwertendem - Reichtum Reinhold R. Grimm: PtutldÜIU coelntil - PllrtldilUl toratrll - Zur AUIlegullglgelChlchte deI PtUtId~us im Alwnd· .nd, München 1977, jetzt die beste VorsteUußllibt. 54 Zusammenfas5ußl von J. Haberma5, in: Zw AktUDlitlit WIllte, Benjllmins, ed. S. Unseid, Frankfurt 1972, p. 182 (5tb. I SO). SS Dazu G. Hess, Die lIlndscluz/t In &zude/Qires ,Fleun du MIII', Heidelberg 1953, p. 69 ff. 34
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Instrumentarium, die literarischen Gattungen, auf ,Universalien' beruhe, nach Merkmalen definierbar, also auch mit exakteren Methoden ,operationalisierbar' sei und sich am Ende als ein System literarischer Kommunikation beschreiben lasse, das auch von Nachbardisziplinen mit einigem Gewinn benutzt werden könne. Die romanische Philologie des Mittelalters macht hier gewiß keine Ausnahme. Der hier fällig gewordene Paradigmenwechsel läßt sich kaum schöner erläutern als durch eine wissenschaftsgeschichtliche Anekdote. Die Herausgeber des GRLMA sahen sich angesichts der Schwierigkeit, eine starke Gruppe ihrer Mitarbeiter von der nicht nur chirnärischen Existenz literarischer Gattungen zu überzeugen, noch 1965 veranlaßt, gegen die herrschende individualistische Ästhetik Croces in einem Rundschreiben keine geringere Autorität als die des Papstes selbst ins Feld zu führen. Hatte doch Pius XII. in der Bulle Divino afflante spiritu die formgeschichtliche Methode der von der protestantischen Theologie entwickelten ,Literaturgeschichte der Bibel' als unentbehrliche Grundlage für das Verständnis der Heiligen Schrift empfohlen. Die Frage nach dem ,Sitz im Leben', oder im heutigen Sprachgebrauch: nach der gesellschaftlichen Funktion und kommunikativen Leistung der literarischen Gattungen war in der Tat für die mittelalterliche Literatur besonders lohnend und neu zu stellen S6 • Denn diese Epoche, gleichweit entfernt von den vorliterarischen Mythen einer archaischen Gesellschaft wie von den autonomen Kunstformen der bürgerlichen Ära, weist im Bereich der entstehenden volkssprachlichen literaturen eine Reihe von Eigentümlichkeiten auf, die sie für die Theorie der literarischen Gattungen interessant machen. Hier läßt sich ein literarisches Kommunikatonssystem in statu nascendi, aus ersten Anfängen und mit sukzessiven Einsätzen der verschiedenen Gattungen verfolgen. Hier steht die literarische Evolution weder im Bann einer autoritativen Theorie (wie z. B. die französische Klassik unter den dirigierenden Begriffen der aristotelischen Poetik) noch folgt sie dem Prinzip individueller Schöpfung (wonach Werk gegen Werk entsteht), so daß die Geschichte der Gattungen in der fortschreitenden Konkretisation historischer Normen betrachtet werden kann. Das vielbeklagte Fehlen normierter Gattungsbezeichnungen erweist sich in dieser Hinsicht als eine hermeneutisch durchaus kompensierbare Kehrseite der Medaille. Und da in diesem Prozeß noch kaum eine Kluft zwischen Produktion und Rezeption, der Intention der (meist anonymen) Autoren und der Erwartung ihres Publikums entsteht, ist auch die primär soziale und kommunikative Funktion literarischer Gattungen unmittelbar vorauszusetzen und prinzipiell rekonstruierbar, selbst wenn Zeugnisse aus der mittelalterlichen Lebenswelt dünn gesät sind. Vielleicht kann es heute schon als ein Ergebnis der Debatte über die Theorie literarischer Gattungen angesehen werden, daß der Platonismus zeitloser Wesensbestimmungen wie der Nominalismus historisch einmaliger Schöpfungen, die Erwartung ,reiner Formen' und konstanter Merkmale wie die Skepsis an der Theoretisierbarkeit des historischen Wandels überhaupt, kaum noch ernstlich vertreten wird. Es scheint sich vielmehr ein wachsender Konsens darüber abzuzeichnen, daß literarische Gattungen als historische Gruppen oder Familien nur 56 Siehe X und die vorangegangene französische Kurzfassung: thlorie des genres, in: PoltÜ/ue 1 (1970) 79-101.
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Lilt~rQture m~di~IIQle
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Allgemeinheit, nicht aber Universalität beanspruchen und darum auch nicht als Klassen nach Merkmalen definiert werden könnenS? Diese ihre ,mittlere Allgemeinheit' zwischen dem Universalen und dem Singularen entspricht sowohl dem Status der Normen im Sprachwandel, die nach E. Coseriu die idealen Möglichkeiten eines Sprachsystems historisch selektiv zu Mustern der Interaktion verfestigen Sl , als auch dem exemplarischen Charakter des ästhetischen Urteils, das nach Kant nicht dem Regel-Fall-Schema unterliegt, auf Beistimmung angelegt ist und als derart unbestimmte Norm durch jede neue Konkretisation weiterbestimmt werden mußSt. Mit dem Postulat, literarische Gattungen als historische Gruppen zu betrachten, wird ihre diachronische und synchronische Ermittlung keineswegs einer nur intuitiven Erfassung überantwortet. Ein historischer Bestand realisierter literarischer Gattungen läßt sich sehr wohl diachronisch wie synchronisch mit einer Heuristik beschreiben und interpretieren, die Universalien in Gestalt von textinternen und pragmatischen Komponenten vorgibt. Es darf dabei nur nicht erwartet werden, daß sich aus den möglichen Kombinationen solcher universaler Gattungskomponenten per se schon die Spezifität der historisch realisierten Gattungen selbst ableiten lasse: der Schritt zur Abgrenzung und Identifikation einer literarischen Konkretisation ist nicht ohne eine hermeneutische Aufklärung der Vorverständnisse des Erfahrungshorizontes zu leisten. Der sich leider immer mehr durchsetzende Begriff der ,Textsorten' verdeckt die Grenze zwischen universell definierbaren Textkomponenten und historisch bedingten Mustern der Realisation, die stets komposit sind und das Erkennen der jeweiligen systemindividualisierenden Dominante erfordern. Darum kann man W.-D. Stempel nur voll beipflichten, der 1972 aus einem Kolloquium über Textsorten das Fazit zog, "daß die Untersuchung von Textsorten zurückzustellen sei zugunsten einer Beschreibung der Komponentensorten der Textkommunikation und der Systematik ihrer Kombinationsmöglichkeltenh'o. Sein eigener Vorschlag geht von der Rede als Diskurs-Handlung, näherhin von verschiedenen Arten der Bezugnahme auf den Partner aus und erläutert Komponente~ wie direkte oder narrative Rede, aktuelle Darbietung (z. B. Rezitation, Aufführung), instrumentale Kodes der elocutio (modi dicendi), sozialsprachliche Kodes, allgemeine Komponenten des Inhalts und der Rezeption. Seither sind verschiedene Entwürfe zu einer Gattungstheorie von der Textgrammatik, Semiotik, linguistischen Pragmatik und Kommunikationstheorie veröffentlicht worden", mit Bezug auf mittelalterlicne Literatur vor allem der auf typologischen Diskursmerkmalen aufgebaute von P. Zumthor. Diese Versuche blei57 Siehe dazu den umfassenden Forschungsbericht von K. W. Hempfer: Gattungstheorie - Infomliltion und Synthese, München 1973 (UTB 133), mit dessen eigener Synthese ich in der Bestimmung von Gattungen als .. kommunikativen Normen", nicht aber in ihrer konstruktivistischen Begründung übereinstimme, wie aus dem Folgenden erheUt. 58 Synchronie, Diachronie und Geschichte - Das Problem des SpracJlwandels, München 1974. 59 Nach G. Buck: Kants Lehre 110m Exempel, in' Archiv für Begriffsgeschichte II (1967) 182. 60 Gibt es Textsorten? , in: Texlsorten - Differenzierungskriterien aus linguistischer Sicht, ed. E. Gülich und W. Raible, Frankfurt 1972. p. 180. 61 Siehe dazu K. W. Hempfer, op. eit., und das Heft: Les genres de /Q litterature populDire von Pottique (Nr. 19, 1974).
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ben zumeist vor der Aufgabe stehen, die angebotene Systematik von Komponenten der Textkommunikation auf ein historisches Repertoire von literarischen Gattungen anzuwenden. Am weitesten ist in dieser Hinsicht Zumthors Poetique medievale mit ihrem dreistufigen System von Typen (Ebene der topoi im Sinne von Curtius), Registern (Ebene der Auswahl und Kombination von Typen) und poetischen Gattungen (Ebene der modeles d'üriture) vorgestoßen. Statt einer erneuten Diskussion seines literarischen Systems der großen Gattungen, über das bereits von W.-D. Stempel, P. Haidu und P.-Y. Badel das Wesentliche gesagt wurde, möchte ich im folgenden noch auf einen Textbereich eingehen, den Zumthors Instrumentarium am wenigsten zu erfassen vermag, obschon er rur die Frage nach Alterität und Modernität der mittelalterlichen Literatur höchst aufschlußreich ist: die sogenannten ,einfachen Formen' im Sinne der Morphologie von Andre Jolles oder - schon im Blick auf das Mittelalter formuliert - der Bereich der kleinen literarischen Gattungen des Exemplarischen. Daß es möglich ist, hier ein mittelalterliches System von neuen Gattungen exemplarischer Rede abzugrenzen, möchte ich an Hand der stichwortartigen Übersicht (im Annex zu dieser Abhandlung) erweisen. Sie präsentiert Ergebnisse noch unabgeschlossener Forschungen 62 in provisorischer Gestalt, kann im einzelnen später ausgebaut und hier nur insgesamt im Blick auf die historische Eigenart der kommunikativen Normen erläutert werden. Nebenbei hoffe ich, damit auch zeigen zu können, was sich aus dem überwältigenden Angebot universeller (und vermeintlich universeller) Komponenten rur ein Modell der Textkommunikation übernehmen läßt, das in einem primär hermeneutischen Ansatz der Interpretation des Erwartungshorizontes einer vergangenen literatur dienstbar gemacht wird. Wenn Zumthor bezweifelt, daß sich die Theorie der einfachen Formen auf mittelalterliche Literatur anwenden lasse, weil diese Formen dort "nicht rein genug" repräsentiert seien", machen sich dabei sowohl die Grenzen seiner Poetik als auch Mißverständnisse geltend, die heute die verspätete Rezeption der Theorie von JoUes in Frankreich belasten'4. Die narrativen Kurzformen erscheinen im Mittelalter zunächst und zumeist als literarische Gattungen exemplarischer Rede; sie vermitteln eine religiöse Wahrheit oder eine profane Lehre und sind darum primär durch Komponenten der Kommunikation, der Bezugnahme auf Erwartungen von Adressaten, der Vermittlung von Wissen in verschiedenen modi dicendi und der implizierten Rezeptionsweisen konstituiert. Sie geben die schönste Anschauung dessen, was die so modisch gewordene ,Narratologie' vereinseitigt oder überhaupt unterdrückt, wenn sie Erzählen bei allen erdenklichen literarischen oder historiographischen Gattungen als einheitliche Matrix voraussetzt und sogleich nach Varianten oder Sequenzen der Handlung aufgliedert, die nicht selten nurmehr die aristotelischen Kategorien der Fabel (Anfang, Mitte und Ende) paraphrasieren. Die Auswahl und Bedeutung von Ereignissen fällt indes ganz verschieden aus, wenn nicht geradezu erzählt, sondern etwas zitiert, verkündet, ausgelegt oder bezeugt wird, wenn der 62 Ich stütze mich dabei auf noch unpublizierte Ergebnisse meiner Seminare, die ich im Juli 1976 am Centre d'Etudes mMilvales in Poitiers vortrug und auf Monographien meiner Schüler, die in den Anmerkungen zum Annex (Anm. 87) nachgewiesen sind. 63 Op. cit., p. 392. 64 Die französische Ausgabe der Formes simples erschien erst 1972 (Paris, Ed. du Seuil).
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Sprechende durch ein fingiertes Beispiel oder durch ein historia docet Einsicht wecken will, und wenn es schließlich ein Erzähler auf märchenhafte Unwirklichkeit, auf witzige Pointierung oder auf einen moralisch offenen Ausgang angelegt hat (siehe Annex, Sp. 1.2). Solche spezifischen Gattungsunterschiede müssen einer Poetik entgehen, die primär an den rein sprachlichen Komponenten des Textes interessiert ist und der poetischen Funktion der Sprache (alias: Selbstreferentialität) einen Vorrang einräumt, der alle übrigen Funktionen der Sprache nahezu auslöscht". Komponenten der Textkommunikation und der sozialen Funktion fehlen bei Zumthor sowohl in seiner Beschreibung der narrativen Funktionen des Lai (po 387-89) als auch in seinem generativen Modell rur das ganze Corpus der narrativen Kurzformen (p. 399-403). Das letztere arbeitet nur mit zwei Matrizen: dem linearen Aufbau der Handlung und dem Status der Personen im Text~ wo in diesem Bezugsnetz überhaupt merkmalhafte Unterschiede in den Blick kommen wie bei der Frage nach der Lehrhaftigkeit, wird diese vom Vorhandensein einer expliziten Moral abhängig gemacht und damit gerade die für diesen Textbereich spezifische Differenzierbarkeit nach der impl~ierten Lehre verschenkt". Unter solchen Prämissen kann es kaum noch überraschen, wenn gerade der markante Ausnahmefall, die Ch4telaine de Verrt, der "idealen Form" der Novelle am nächsten kommt (als "narrative Montage" eines Lieds bedarf sie keiner äußeren Referenz, p. 380 ff.), wenn nicht allein in den Lais der Marie de France (p.384), sondern sogar in den Fabliaux (p. 391) die "Rückwendung der Erzählung auf sich selbst" gefunden wird, wenn sich Exempel und Legende - trotz der Opposition von innergeschichtlicher und übergeschichtlicher Referenz! - "kaum unterscheiden lassen" (p. 392) und wenn am Ende alle historisch festgestellten Merkmale als bloße "Oberflächen merkmale" gegenüber einer ,,gemeinsamen Tiefenstruktur" wesenlos werden. Deren mehr als bescheidene Formel: "un discours narratif coMrent ä la fois dans son intention et dans sa structure" (p. 403) dürfte tUt manch einen die ungewollte Moral implizieren, daß Unterscheiden in letzter Instanz doch wohl seliger macht als Identifizieren, und sei es in generativsten Tiefen ... Die Mißverständnisse, die Jolles' Theorie der einfachen Formen durch ihre heute ilberschwenglich klingende - Terminologie nahelegt, hat H. Bausinger in einer Kritik aufgehellt, die den Stand der deutschen Forschung repräsentativ zusammenfaßt. Es sind dies: "die Annahme der Ubiquität der Einfachen Formen, ihre Gleichsetzung mit genetischen Urformen und im Zusammenhang damit die Hypothese einer eindeutigen Hierarchie der Formen"". Was Jolles suchte, waren einfache Formen, "die weder von der Stilistik, noch von der Rhetorik, noch von der Poetik, ja vielleicht nicht einmal von der ,Schrift' erfaßt werden", mithin vorliterarische Formen, die sich "sozusagen ohne Zutun 65 Einwände von P. Haidu (op. cil., p. 18) und von P.-Y. Badel (op. cit., p. 255). 66 Einwand von W.-D. Stempel, der dafl1r Beispiele gibt und aus seiner Kritik imlesaml das Fazit zieht: "Dessen wird man jedoch nur gewahr, wenn man die merkmalhaflen Unterschiede zwischen den einzelnen Texttypen nicht als ,Oberflächenunterschiede' abtut, die sich auf eine gemeinsame Tiefenstruktur zUlÜckfUhren ließen (... ). DeM entweder ist dann die Tiefenstruktur (•.. ) zu nichtssaaend auspwiesen, oder aber die Oberflächenunterschiede sind in Wirklichkeit solche der ,Tiefe' .. (Op. cit., p. 452). 67 Fomtttn der • Yo/~,;e', Berlin 1968, p. 60.
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eines Dichters in der Sprache selbst ereignen·.. •. Als solche liegen sie den historisch realisierten Manifestationen jeder literarischen Kultur voraus, doch nicht als Archetypen, die zu allen Zeiten aufweisbar sein müßten, sondern als Möglichkeiten, die je nach dem kulturellen Kode und gesellschaftlichen Zustand gewählt, realisiert oder auch nicht realisiert sein können. Methodisch gesehen haben sie den Status heuristischer Kategorien: nicht eine vermeintliche Ubiquität, sondern die jeweilige Auswahl und Art der Besetzung charakterisiert das Kommunikationssystem der einfachen Formen. Daß sie nicht als Ergebnis eines bewußten Wählens und Zutuns der Dichter entstehen, sondern sich .. in der Sprache selbst ereignen", darf wiederum nicht als eine Vorwegnahme der Selbstreferentialität moderner poetischer Sprache verstanden werden. Jolles meint damit zunächst einen der Sprachphilosophie wie der Wissenssoziologie durchaus vertrauten Befund: daß Einstellungen zur Wirklichkeit den Charakter eines Vorverständnisses haben, das sich aus vorgängiger Erfahrung niederschlägt, schon mit dem Erlernen der Muttersprache übernommen wird und darum primär nicht bewußten Selektionen entspringt. Es ist der große Vorzug der Theorie der einfachen Formen, daß sie erlaubt, den unausdrUcklichen Erfahrungshorizont solcher Einstellungen zur Wirklichkeit oder "Himmelsrichtungen'''' der Welterfahrung (wie Jolles einmal treffend formulierte) aufzuklären. Der idealistische Begriff der "Geistesbeschlftigung" für ein Weltverhältnis, mit dessen Horizont sich die Bedeutun,a der Dinge für den Be-troffenen Indert, kann darum heute unschwer durch "Subsinnwelt" ersetzt und ,operationalisiert' werden. Dieser Begriff, von William J ames flir den Seinsstil verschiedener Wirklichkeitsordnungen eingeführt, wird von der Wissenssoziologie gebraucht, um Realitätsbereiche geschlossener SiMstruktur zu erfassen, in die sich die subjektive Erfahrung der Wirklichkeit in allen Gesellschaften gliedert"o. Eine solche Subsinnwelt hat mit der "Geistesbeschäftigung" (occupatio) im Sinne von Jolles gemein, daß sie "nicht durch eine etwaige ontologische Struktur ihrer Objekte, sondern durch den Sinn unserer Erfahrung konstituiert (wird)", anders gesagt, daß "alle Erfahrungen, die zu einem geschlossenen Sinngebiet gehören, (. .. ) einen besonderen Erlebnis- bzw. Erkenntnisstil (aufweisen); mit Bezug auf diesen Stil sind sie untereinander einstimmig und miteinander verträglich""· . Hier wie dort kann sich der Übergang von einem Sinnlebiet zum anderen "nur durch einen Sprung", bzw. mit Hilfe einer Verwandlunasformel vollziehen (Jolles: "man stelle eine Prinzessin im Märchen neben eine Prinzessin in der Novelle und man spürt den Unterschied""). Wenn der "Realitätsakzent" einem bestimmten Sinnbereich erteilt wird, erscheinen die anderen Sinnbereiche nur als ..Quasi-Realitäten", die alltilliche Lebenswelt einbeariffen, die zwar den "Urtypus unserer Realitätserfahruni" darstellt, aber zugleich von der wissenschaftlichen Einstelluni oder von der religiösen Erfahruni her als Quasi-Realität lesehen werden kann". Da die Wissenssoziologie erst begonnen hat, eine 68 Eilllllch~ Fo".", HaUe 1929 (Darmstadl 3. Aufl. 1958) p. 10. 69 Siehe dazu Bausinaer, op. eil. p. 54. 70 Dazu jetzt A. !;chütz/Thomas LuekmaM: Strulctunll der ube,,~/t, Neuwied und Darmstadt 1975, bes. p. 42 71 Ibid., p. 43. 72 Etlllllch~ Formell, op. eil., p. 196. 73 Op. eil., p. 44.
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systematische Typologie der verschiedenen Sinngebiete mit ihren eigenen Erlebnis- und Erkenntnisstilen zu erarbeiten, stellt sich nunmehr das für beide Disziplinen interessante Problem, wie sich die großen, von A. Schütz, Th. Luckmann und anderen erforschten Subsinnwelten der alltäglichen Lebenswelt, der religiösen Erfahrung, der Wissenschaft, des Spiels oder der Phantasie zu den offenbar noch feiner gegliederten Subsinnwelten der einfachen Formen ästhetischer Erfahrung verhalten. Mit der Qualifikation "ästhetische Erfahrung"'"- soll J olles' Theorie dahingehend präzisiert werden, daß es sich bei seinen einfachen Formen um den Erlebnisstil einer Welterfahrung handelt, die zwar vorliterarisch ist, also noch vor dem Verhalten zur Kunst in Gestalt von ,Werken" liegt, aber doch insoweit schon ästhetischen Charakter hat, als sie ermöglicht, verschiedene Anspruche der Wirklichkeit zu thematisieren und zu bewältigen, so daß der Mensch mehr und mehr Abstand zu ihren Forderungen gewinnen und sich den Dringlichkeiten des pragmatischen Alltags entziehen kann. Methodisch gesehen läßt sich der für uns heute zumeist nicht mehr selbstverständliche Erfahrungshorizontder einfachen Formen ästhetischer Erfahrung mit Hilfe der Hermeneutik von Frage und Antwort rekonstruieren. Was überhaupt in den Erwartungshorizont eines Märchens fällt und was nicht, welche Art von religiöser Erfahrung die Legende ermöglicht hat, welcher Typus von Ereignissen für ein Exempel thematisch relevant sein konnte, findet man schwerlich über ein generatives Modell, wohl aber über das Wiedergewinnen der fundamentalen Frage, auf welche der einstige wie der heutige Leser von einem Text dieser Gattung eine Antwort erhalten kann. So antwortet das Märchen auf die Frage: ,Wie wäre die Welt, in der sich unsere Wünsche erfüllen?", die Legende auf die Frage: ,Wie kann Tugend in einem Menschen sichtbar werden?", das Exempel auf die Frage: ,Was lehrt mich das Vergangene für das Kommende?" undso fort (siehe Annex, Sp. 1.4). Damit ist natürlich nicht behauptet, daß sich der einstige Leser solcher Fragen bewußt war und daß sie der heutige Leser in dieser Formulierung erst stellen muß, um den Sinn eines Märchens, einer Legende oder eines Exempels zu verstehen. Für das Vorverständnis einer Gattung kommt es nur auf das Eintreten in die Fragerichtung an, die alle Ereignisse als ,stimmig", d. h. einer besonderen Subsinnwelt zugehörig erkennen läßt. Wohl aber muß die implizierte Fragerichtung durch hermeneutische Reflexion in einer expliziten Frage thematisiert werden, die an der Stimmigkeit der Antwort des Textes verifizierbar ist, wenn die Subsinnwelt des Märchens näherhin als Welt traumhafter Glückserfüllung, die der Legende als Welt des offenbar werdenden Heiligen oder die des Exempels als Welt der Erfahrung durch Geschichten (siehe Annex, Sp. 1.4) theoretisch unterschieden und bestimmt werden soll. Der Versuch, JoUes' Theorie der einfachen Formen auf ein historisches Repertoire der mittelalterlichen Literatur, die romanischen Literaturen des 12. und 13. Jahrhunderts, anzuwenden, hat den nurmehr heuristischen Wert des Systems der neun Formen: Legende' Sage' Mythe' Rätsel' Spruch' Kasus' Memorabile , Märchen' Witz bestätigt, wie auch kaum anders zu erwarten war. Die von JoUes selbst nicht rigoros vertretene Auffassung, es handle sich um ein 73a Hierzu kann ich auf meine ausfUhrlichere Begriindul1l in: A',theti,che Erfahrung und litemmche Hermeneutik (erscheint 1977 bei Fink/München) verweisen.
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selbstgenügsames System genetischer Urformen, aus denen sich literarische Gattungen organisch entfalten müßten, wird schon durch den ersten Blick auf ihre mittelalterliche Umbesetzung schlicht historisiert. Von den neun Formen sind in der Synchronie der volkssprachlichen Literatur des Hochmittelalters nur fünf: Spruch (als Sprichwort) I Legende! Märchen (als Lai) ! Witz (als Fabliau) und Kasus (selbständig und als Novelle) repräsentiert; vier andere, bei JoUes fehlende Formen: Parabel! Allegorie! Fabel! Exempel müssen hinzutreten, um das analoge Kommunikationssystem des Exemplarischen zu vervollständigen. An diesem historischen Befund ist für die Frage der Alterität des Mittelalters abzulesen, daß die einfachen Formen der romanischen Literatur dieser Epoche als schon literarisierte Gattungen des Exemplarischen auftreten, mithin erst auf dem Wege zu der Freiheit des Erzählens sind, die der fiktionale Versroman schon seit Chretien de Troyes erreicht hatte, die prosaischen Kurzformen hingegen erst mit der von Boccaccio geprägten Kunstform der Novelle in Anspruch nahmen. Aus dem historischen Befund ist ferner abzulesen, daß das von Jolles beschriebene System der neun einfachen Formen insgesamt erst in der Literatur der Neuzeit bezeugbar ist, mithin nur historische Allgemeinheit, nicht aber archetypische Universalität und Vollständigkeit beanspruchen kann. Das tut ihrem hermeneutisch ausgezeichneten Rang keinen Eintrag: gerade ihr Status einer ,mittleren Allgemeinheit', daß sie nicht zu jeder Zeit und nicht in allen Literaturen feststeUbar sind, sondern als eine nicht geschlossene Klasse von Möglichkeiten ergriffen, ausgeschöpft und wieder vergessen, neu konkretisiert, umbesetzt und erweitert werden können, erlaubt den Rückschluß von ihrer jeweiligen historischen Konstellation auf die Eigentümlichkeit des kulturellen Kodes einer Epoche und Literatur. So ist es zum Beispiel für die Antike bedeutsam, daß Pindars Siegeslied entgegen Jolles nicht die einfache Form Legende literarisiert, die erst in der christlichen Ära geschaffen wurde. Hingegen ist es keine schiefe Analogie, sondern erklärt eine provokative Säkularisation dieser Gattung der christlichen Transzendenz, wenn man den modernen Sportbericht mit JoUes der einfachen Form Legende zuordnet, da dieser - man denke an die Vita eines bekannten Fußballkönigs - gleichermaßen auf die Frage antwortet, wie sportliche ,Tugend' in einem Menschen sichtbar und an seinem ,Rekord' geradezu meßbar werden kann. So kennzeichnet es wiederum unsere Moderne, daß einfache Formen wie das Sprichwort, die Fabel, das Exempel oder das Märchen seit der Romantik Vergangenheitscharakter angenommen haben: sie wurden gesammelt, ediert, für Schulbücher bearbeitet, aber nicht mehr erkennbar weiterproduziert, von besonderen Anstrengungen abgesehen, die es kostete, sie gleichsam gegen den Strich auf dem Höhenkamm der Literatur als Kunstformen neu zu konkretisieren. Umso Wirkungsvoller war es dann nach längerer Karenz, die alten einfachen Formen im Zeitalter der Massenmedien und Subkulturen aus der Versenkung zurückzurufen, das Sprichwort als Werbeslogan zu 'plazieren, die Fabel als ,Denkmodell' in politische Rhetorik einzubauen, das Exempel als moderne Kalendergeschichte der Reflexion zu empfehlen oder die alte MärchenidyUe in neue Glückswelten umzuwandeln. Einer Untersuchung solcher Reprisen zeitweilig abgesunkener Gattungen wären die resistenteren, jederzeitlichen und doch am raschesten abnutzbaren Formen des Rätsels und des Witzes gegenüberzustellen. Andererseits müßte im Blick auf das gegenwärtige System
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einfacher Formen berücksichtiat werden, daß die Mythe, die im christlichen Mittelalter selten und nur als hochliterarische Form vorkommt, seit dem 19. Jahrhundert als neuer Mythus auf der Basisebene der Bildung und Legitimation politischer Identitäten eine erstaunliche Konjunktur erlebt hat. Das Memorabile schließlich, von Jolles nicht zufällig an einer Zeitungsmeldung demonstriert, lebt und wuchert heute im Fait divers wie in der zeitgeschiChtlichen Reportage. Es erlangte seinen höchsten literarischen Rang als Grundform der histoire particulii,e bei Saint-Simon und dann wieder in der didaktischen Geschichtsaufbereitung bei Johann Peter Hebel, reicht aber nicht hinter die Schwelle des neuzeitlichen Geschichtsverständnisses zurück: seine spezifische Subsinnwelt einer Faktizität, deren unauslotbarer Sinn am quereinschießenden, nicht subsumierbaren Detail zutage tritt, liegt jenseits einer Geschichtserfahrung, deren Konsistenz durch die Allmacht Gottes verbürgt warM. Wie sieht demgegenüber das mittelalterliche System einfacher Formen aus? Hier muß sich unsere Betrachtung notwendigermaßen auf das beschränken, was durch die Aufzeichnung bereits in literarischer, obschon noch nicht werkhafter Gestalt auf uns gekommen ist. Es wäre müßig, ex silentio die durchaus vermutbaren einfachen Formen des Rätsels oder des Witzes zu erschließen. Sie kommen im Textbereich der volkssprachlichen Literatur allenfalls in anderen Gattungen als Elemente einer Fabel vor, sind aber offenbar nicht als aufzeichnungswürdig angesehen worden". Hingegen ist das Nichtbezeugtsein der Mythe schwerlich anders zu erklären als durch die Unterdrückung der paganen Mythologie, nachdem die biblische Welt- und Heilsgeschichte alleiniae Autorität erlangt hatte. Das Verfahren der Unterdrückung war die allegorische Reduktion der GÖtlergeschichten auf das moralische Epitheton oder auf die Personifikation von Tugenden oder Lastern; die Allegorie bringt den Mythos zum Stillstand und setzt sodann den Betrachter als Wanderer durch die Stationen einer allegorischen Landschaft in Bewegung". Diese viatorisehe Struktur der allegorischen Handlung und ihre emanatistische Umkehrung (die Erscheinung eines himmlischen Wesens, das in den Weltprozeß eingreift), liegen als einfache Form den großen lateinischen Epen der Schule von Chartres zugrunde. Verhüllt durch das allegorische Gewand (sub ;ntegumentum) wurden hier neue Mythen auf christlichem Boden geschaffen, um die fundamentale Frage nach der Erneuerung des Lebens zu beantworten (siehe VIII). Gleichfalls nur als Substrat einer großen Gattung wird in der volkssprachlichen Literatur unserer Epoche die Sage faßbar. Auf sie als einfache Form weist die Chanson de gelte zurück wie andererseits der mit ihr konkurrierende Artusroman auf die einfache Form des Märchens (siehe IX). In der Sage nimmt ein historisches Ereianis die reduzierte, oft kaum noch kenntliche Gestalt an, in welcher es für die kollektive Erinnerung Bedeutung erlangte; meist ist es nur noch ein historisch bezeugter Ort oder Personenname, durch den die ChanIon de geste faktisch in der Geschichte wurzelt. Ihre Subsinnwelt ist eine ideale Vorzeit, das Herocnzeitalter der karolingischen Christenheit ("Ie pa. tcl qu'ü eOt dO ~trc"), nicht die Geistesbc74 Nach Tb. Holzapfl. der über diese Gattul1l eine Konstanzer Dissertation vorbereitet. 75 Zu einer esoterischen lyrischen Sonderform ,esteigert wurde das Rätsel im Provenzalischen devlNZlh, siehe dazu N. Pasero in: Cultura neollltina 28 (1968) 1- 34. 76 Nach H. Weinreich in: TemN und Spiel - Probleme der My thenrezeptlon , ed. M. Fuhrmann, München 1971, p. 611 (poetik und Hermeneutik IV).
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schäftigung, "in der sich die Welt als Familie aufbaut", woraus nach JoUes die nordischen Geschlechtersagen hervorgingen". Die Sage hat in romanischer Tradition keine selbständige kleine Form ausgebildet; das Korrelat zu der sogenannten Volkssage, die auf Erklärung historischer oder dämonischer Gegebenheiten zielt 71 , findet sich nur in lateinischen, zum Gebrauch der Prediger bestimmten Textsammlungen, von denen der DÜllogus m;,aculorum des Caesarius von Heisterbach eine gute Vorstellung gibt. In der Reihe der neun kleinen Gattungen, die nach meinen Feststellungen ein für das Mittelalter spezifisches System literarischer Kommunikation bilden, ist das Sprichwort die kürzeste Form. Sein ,Sitz im Leben' wird dort am besten faßbar, wo es im Kontext einer Handlung herbeigerufen wird, um die eingetretene Situation zu kommentieren. So wenn zum Beispiel Renart im Ziehbrunnen bei der Begegnung der beiden Eimer den wieder einmal getäuschten Gevatter Ysengrin mit dem ironischen Kommentar aufklärt: Quant li uns va, li autres vient, / C'est la costume qui av;ent (Roman de Renarr, IV v. 354). Die Erfahrung vom Lauf der Welt (Ia costume) ist unvorhersehbar und doch notwendig; die Weisheit des Sprichworts ist darum auch - in der unvergesslichen Formulierung von Jacob Grimm - "nicht der Ertrag einsamer Betrachtung, sondern in ihm bricht eine längst empfundene Wahrheit blitzartig hervor". Das verdeutlicht auf das schönste die dem Mittelalter eigentümliche Form der Proverbes au vilain: Souvent, si con moi senble, Ai mout veu ensemble Proudomes et mauvais; Mais eil qui mains valoit', C'iert eil qui plus jengloit; Pour rien ne fust en pais. Ad~s brtlit le pire ruee dou chtu, ce dit li vilains (Nr. 33).
Da hier der moralische Kommentar vorangestellt ist (umgekehrt zum Exemplum, das den erläuterten Lehrsatz oft voranstellt), bleibt dem "blitzartig hervorbrech~nden" Sprichwort ein Moment der Überraschung, das es seiner Rationalisierung überlegen macht". Führt das Sprichwort zur retrospektiven Einsicht in den unvermeidlichen Gang der Dinge, so durchbricht die Parabel alle pragmatische Dringlichkeit der Alltagswelt, um den Menschen zur Umkehr und Änderung seines Lebens zu bringen. Gerade diese appellative Funktion par excellence, derentwegen die Parabel als Prototyp der mit dem Neuen Testament geschaffenen literarischen Formen christlicher Verkündigung anzusehen ist, läßt sich in mittelalterlicher Tradition kaum auffinden. Mir ist aus den romanischen Literaturen nur ein Fall 77 Einfache Formen, p. 74. 78 Siehe H. Bausinger, op. cit., p. 178: "Die Sage ( ... ) sucht das Unerhörte und Unerklärliche, das die alltäglichen Normen übersteigende in die erklärenden Kategorien und Formen zu bannen, die vom Volksglauben und in überlieferten motivischen Mustern bereitgestellt sind. Das Unheimliche wird also in der Sage nicht nw erfahren, sondern auch beschworen und gebannt." 79 Cervantes hat den Grundwiderspruch zwischen reaelhafter Erfahrung und nie ganz einholbarer Lebenswirklichkeit am tiefsinnigsten im Verhältnis von Don Quijote und Sancho Pansa gestaltet, worauf ich an anderer SteDe zurückkomme (Ober den Grund des Vergrriigen, am komischen Helden, in: Poetik und Hermeneutik VII).
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bekannt, der dem neutestamentlichen Muster auch in der spezifischen Offenheit zum Angesprochenen nahekommt. Er findet sich in Joinvilles Histoire de Saint Louis, im Kapitel, das von der Situation berichtet, in der eine schwierige Gesandtschaft, von der die Befreiung Jerusalems abhing, zum Sultan von Damaskus unternommen werden mußte. Frere Yves wird dieser Gesandtschaft als Dolmetscher beigegeben. Vor ihrem Aufbruch ereignet sich folgendes: Tandis que il aloient de leur hostel a I'ostel du soudan, frere Yves vit une femme vieille qui traversoit parmi la rue, et portoit en sa main destre une escueUee pleinne de feu, et en la senestre une phiole pleinne d'yaue. Frere Yves li demanda: ,Que veus-tu de ce faire?' EUe li respondi qu'elle voulait du feu ardoir paradis, que jamais n'en fust point, ct de I'eau cstaindre enfcr, que jamais n'en fust point. Et il demanda: ,Pourquoy veus tuce faire? - Pour ce que ce je ne vueil que nulz face jamais bien pour le guerredon de paradis avoir, ne pour la peur d'enfer: mais proprement pour I'amour de Dieu avoir, qui tant vaut, et qui tout le bien nous puet faire.
Parabelartig sind die Züge aus der nächsten Alltagswelt (Wasserholen, Fackeltragen), die auf das Fernste (das ausstehende Reich Gottes) weisen, äer antidogmatische Einsatz (Ablehnung von Paradieseslohn und Höllenstrafe) und die appellative Offenheit (der Angesprochene muß sich das ungesagt Gebliebene selbst sagen). In der kommunikativen Situation spricht eine einfache alte Frau aus, was sonst nur die Autorität eines ,Meisters' sagen kann. Der Sinn ihrer Gleichnisrede fordert eine radikale Umkehr: würden alle Menschen weder in Erwartung zukünftiger Belohnung noch in Angst vor zukünftiger Strafe, sondern allein um der Liebe Gottes willen handeln, so wäre dieser Kreuzzug sogleich zu Ende und könnte das Reich Gottes auf Erden anbrechen. Daß es sich bei diesem denkwürdigen Fall mittelalterlicher ,Ideologiekritik' gattungsgeschichtlich wahrscheinlich um ein Unicum handelt, kennzeichnet die Alterität des Mittelalters wiederum nach der Seite ihres dogmatischen Überhangs. Die Subsinnwelt der religiösen Erfahrung extra ecclesiam ist in unserer Epoche fast ausschließlich in den kleinen Gattungen der Allegorie (Dit), der Legende und des Mirakels thematisiert. Die Tendenz, der Gleichnisrede den extravaganten Charakter'° durch allegorische Auslegung zu benehmen, um sie in direkte Lehre zu überführen, beginnt schon im Neuen Testament (z. B. Matth. 13. 18-23) und setzt sich im Mittelalter voll durch. Die autoritative Allegorie macht sich die undogmatische Parabel mit dem Verfahren botmäßig, die hislOria Zug um Zug nach vorgegebenen Normen der Bedeutung zu entschlüsseln, deren Sinn sich dem Hörer der Gleichnisrede erst von der Zuspitzung des Ganzen aus und nur ad personam erschloß. Gleichwohl war die Vorherrschaft der religiösen Allegorie nicht so absolut, wie oft angenommen wird: ihr dogmatisches Monopol auf Auslegung nach der duplex sententia wurde um die Wende vom 12. zum 13. Jahrhundert durch die weltliche Dichtung gebrochen (wovon schon die Rede war), und sie stand auch im Bereich der einfachen Formen des Exemplarischen von Anfang an neben konkurrierenden anderen Gattungen. Es sind dies vor allem das Exemplum und die Fabel, die in antiker Tradition schon literarisch vollentwickelt und auch Gegenstand der rhetorischen Theorie 80 So hat P. Ricczur die spezifisch biblischen Redeweisen der Metapher, eschatologischen Sprüche und sprichwortartigen Aussprüche mit ihrer Absicht charakterisiert, "den Zuhörer von dem Plan abzubringen, aus seinem Leben etwas Kontinuierliches zu machen", in: Evangelische Theologie, Sonderheft über Metapher, München 1974, p.67.
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waren. Hier sei nur an die aristotelische Lehre vom Paradigma (Rhet. 2, 20) erinnert. Ihr Fazit für die christliche Laienunterweisung läßt sich dahingehend zusammenfassen, daß das Exemplum wie die Fabel von der ästhetischen Evidenz des Anschaulichen zehrt, dem erdichteten Beispiel aber durch die höhere Kraft des Faktischen, als ein durch die Tat gegebenes Vorbild überlegen ist". Im christlichen Gebrauch konnten die Exempla gegen die heidnischen Philosophen und ihren Anspruch ausgespielt werden, daß allein dem begrifflichen Denken und seinen logischen Mitteln die Erkenntnis des Wahren vorbehalten sei. Die christliche Oberzeugung vom höheren Gewicht, das dem geschichtlich Bezeugten über das nur Gedachte, der ereignishaft anschaubaren Tat über das bloße Lehrgebäude zukommen müsse (Christus prima doeuit {aetis quam verbis), mag mit ein Grund darur sein, daß das Exemplum bei der Verbreitung der christlichen Lehre neuen Wert und literarischen Rang gewann. Anders verhielt es sich mit der äsopischen Fabel: sie wurde als Schulbuch rur den fibelartigen Gebrauch im Lateinunterricht verwendet. Daß sie gleichwohl nicht bruchlos in die Tradition des christlichen Mittelalters eingegangen ist, zeigt eine frühe Bearbeitung, der sogenannte Romulus Nilllnlinus, an den die .volkssprachliche Tradition seit dem Esope der Marie de France anknüpfteu. Der mönchische Verfasser war sich offensichtlich der Schwierigkeiten bewußt, die es mit sich brachte, äsopische Fabeln der christlichen Unterweisung dienstbar zu machen. Zwischen der essentiellen Welt der klassischen Fabel, in der alle handelnden Figuren unentrinnbar an ihre Natur gebunden und gerade durch die Unfreiheit ihrer Rollen paradigmatisch sind, und dem existentiellen Anspruch der christlichen Moral, die den Spielraum der Entscheidung zwischen Gut und Böse fordert, klafft ein Widerspruch, den hier ein naiver Rekurs auf die sokratische Lehre, daß niemand wissentlich Böses tut, überbrücken soll. Denn der fromme Verfasser unterstellt Äsop nicht allein die christliche Absicht: ostendi vias malorum, con/irmavi vias bonorum, sondern glaubt seine Weisheit auch darin zu erkennen, daß sie uns zeige, wie zwischen den humiles alque sapientes und den maUvolos et insipientes zu unterscheiden sei. So weit fallen Fabelhandlung und Moral in der späteren Tradition der Gattung nicht wieder auseinander. Doch bleibt das Spannungsverhältnis zwischen Handlungsmodell und Lehre der interessanteste Aspekt in der Rezeptionsgeschichte der antiken Muster, deren Umkreis im Mittelalter durch Aufnahme heterogener Stoffe erheblich erweitert wurde. Marie de France zum Beispiel hat nicht geringe Schwierigkeiten, die äsopische Fabel mit ihrer inhärenten "Lebenslehre rur Unterjochte" rur ein ritterliches Publikum auszulegen". Ihre Apologe geraten darum nicht notwendig zu gewaltsamen Umdeutungen der Fabel. Da sich Fabel und Apolog nicht wie Fall und Regel verhalten, nicht also in einem Verhältnis logischer Subsumtion, sondern in einem Verhältnis von anschau barem Modell und exempla-
81 Im folgenden übernehme ich ean;,e Sätze aus meinen Ausfuhrungcn über das Exemplarische in: Positionen der Neglltil'itit, ed. H. Weinrich. München 1976. p. 311 ff.
(poetik und Hermeneutik VI). 82 Im folgenden greife ich auf das erste Kapitel meiner Untenuchungen zur mittelDlter· lichen Tlerdichtung. Tübingen 1959. p. 24-55. zulÜck. 83 A. Schirokauer: Die Stellung ÄIOPI in der UtertllUT deI Mittelalters. an: Festschrift für W. Stammler. Berlin- Bielefeld 1953. 179- 191.
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rischer Norm des Handeins stehen, ist der Gattung selbst ein Spielraum eigen, den jede Fabel in der Geschichte ihrer Rezeption neu konkretisieren kann. Legende und Märchen stehen sich im System der kleinen Gattungen des Mittelalters darin konträr gegenüber, daß das Übernatürliche der Legende geglaubt sein will, während das Märchenwunder eine "suspension of disbelief", das Genießen der Unwirklichkeit des Geschehens voraussetzt. Von beiden Gattungen setzt sich wiederum der Schwank ab, der in der mittelalterlichen Gestalt des Fabliau sowohl die übernatürliche Wahrheit der Legende als auch die inner, weltliche Transzendenz des Märchens negiert und die Subsinnwelt der alltäglichen Wirklichkeit als Gegenstand des Lachens präsentiert. Der Beschreibung der Subsinnwelt der Legende als Welt des offenbar werdenden Heiligen, wie sie Jolles gab, und seiner Bestimmung ihres ,modus recipiendi' alslmitabile, durch welches Tugend tätig und meßbar wird, habe ich für den mittelalterlichen Bereich nur eine historische Bemerkung hinzuzufügen. Die Vollkommenheit des perfectus, der keiner Wandlung bedarf und über Furcht und Mitleid erhaben ist, ließ auf die Dauer der tätigen imitatio offenbar so wenig Raum, daß dem unerreichbar gewordenen Vorbild im 12. Jahrhundert die neue Norm eines Unvollkommeneren Helden gegenübergestellt wurde. Es war der fehlbare, alltägliche Träger des Marienmirakels, der dem Bedürfnis nach sympathetischer Identifikation mehr entsprach, welches dann aber auch leicht in ein sentimentales oder magisches Verhältnis (z. B. zum Heiligen als Nothelfer für alle Lebenslagen) abgleiten konnte. Hingegen ist das Märchen in der klassisch gewordenen Gestalt, die Jolles im Blick auf Grimms Märchen beschrieb, in der romanischen Tradition des Mittelalters nicht bezeugt. Es gibt zwar in der Fecunda Ratis des Egbert von Lüttich sogar ein mittelalterliches Rotkäppchen, und schon in dieser Version findet sich die Handlungsstruktur der märchenhaften Inversion, derzufolge der Held die Antwort schon weiß, bevor die Frage gestellt ist, was in diesem Fall besagt, daß das Mädchen die Gabe (ein rotes Taufgewand) schon besitzt, bevor sie ihre Bestimmung (als Instrument der Rettung vor den Wölfen) zu erkennen vermag 84 • Doch das erwartbare Märchenwunder erweist sich als ein göttlicher Eingriff (Mitigat inmites animos deus, auctor eorum, v. 485), den die spätere Tradition des Märchens denn auch als heterogenes Legendenwunder wieder beseitigt hat. Als ob die Subsinnwelt märchenhafter Wunscherfüllung nicht für sich selbst geduldet werden könne, überwebt sie der Lai, der von ihren Motiven lebt, mit Problemen der höfischen Liebe und rechtfertigt sie der Roman, der sie in der geheimnisvollen Aura der matiere de Bretagne entdeckt, durch den Anspruch, den Glücksweg der Aventüre als Erfahrung der Bildung durch Liebe zu interpretieren. Die neun kleinen Gattungen, die in meiner Zusammenstellung ein mittelalterliches Korrelat zu J olles' System der einfachen Formen bilden könnten, legen insgesamt eine Auswertung nahe, die einerseits die Formen und Pragmatik exemplarischer Rede und andererseits das allmähliche Hervortreten eines autonomen Erzählers in den Blick nimmt. Damit darf dann allerdings nicht die genetische Illusion genährt werden, als ob es sich um eine kontinuierliche 84 Formulierungen nach M.-L. Teneze, die damit die Märchenforschung um eine fundamentale Kategorie bereichert hat (Du conte merveilleux comme genre, in: Arts et traditions populaires 18, 1970, p. 11).
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Annex.; Übersicht über die kleinen literarischen Gattungen der exemplarischen Rede im Mittelalter"'
Exempel
Sprichwort
Parabel
Aßegorie
Fabel
1.1. Wer spricht? Zu wem wird gesprochen?
anonyme Autorität (man, wir), weitergebendes Sprechen (auch an sich selbst)
namhafte Autorität, zu Anhängern und noch Uneinsichtigen (J esus und seine Jünger)
schriftkundiger Exeget, zu Laienpublikum
Autorität eines Lehrers, ursprünglich der Redner zu Lernwilligen zur Versammlung; legitimiert durch den Weisen als Verfasser
1.2. modus dicendi
Zitieren eines Spruchs appellatives (antidog- Auslegen durch in bildhaft pointierter matisches) Verkünden Allegorese ( aliud verbis, aliud sensu einer Lehre Ein-Satz-Form ostendit)
Schwank
Novelle
Legende
Märchen
anonymer Zeuge, zu der Gemeinschaft der Gläubigen
anonymer Erzähler (Figur meist anonymer Erzähler, individuell und namffil.ft volkstümlicher Weisheit), zu Hörerkreis, der Unter- hervortretender Erzähnaiver Hörerkreis (Kette haltung sucht ler, zu lesendem Publikum von ,Alt' zu ,Jung')
1. Kommunikative
Situation
Überzeugen durch ein fingiertes Beispiel
Demonstrieren durch historischen Präzedenzfall
Bezeugen eines heiligen Lebens
Erzählen, als ob keine Begebenheit der Wirklichkeit gliche
auf witzige Pointierung angelegtes Erzählen
Erzählen in offener (Obüberhaupt) Spannung und nicht vorentschiedener Bedeutung
Reduktion der Kontingenz auf eirie Welt unter reinen Bedingungen des Handefus: konstante üinstände, bekannte (oft komplementäre) Charaktere (darum bevorzugt Tiere), vorhersehbare Rollen
in Raum und Zeit lokalisiertes factum probabile,
zeichenhaft beschränkt auf Ereignisse, die in der Relation: tätige Tugend - bestätigende Wunder stehen
vertrauter geschlossener vs. fremder äußerer Raum
alltägliche Umwelt in der Vielfalt menschlicher Tätigkeiten, doch in karikaturaler Optik
historische Konkretisierung von Ort und Zeit, neue Umständlichkeit und Lizenz auch ,Unschickliches' zu beschreiben
1.3. Subsinnwelt 1.3.1. Raum
meist bäuerliche Umwelt
Erfahrungsraum des Alltags (auch der Arbeit); das räumlich und zeitlich Nächste oft in Relation zum Fernsten
die Welt als Schauplatz der Heilsgeschichte, deren Ereignisse auf die gegenw!Utige Zeit bezogen
1.3.2. Zeit
naturhafte Abläufe
1.3.3. Aktanten
Lebewesen und Dinge Beziehungen zwischen der Mensch gegenMenschen, auch Vor- über Gott und den (ihre Gattung repräMächten der Welt gänge in der Natur sentierend)
1.3.4. Handlungsmodell
meist zweigliedrig pointiert (in kontrastiver Verbildlichung)
Durchbrechen des Wahrscheinlichen
Was sagt mit alltägliehe Erfahrung zu diesem Fall?
1.4. Botschaft (Antwort auf..• ) Sinnbereich
laudabile, memorabile,
namhafte, durch eine Tat namhafte heiliggesprochene Person, werdende Geexemplarische Person meinde vs. Ungläubige, Dualismus übernatürlicher Mächte
Details der Handlung auf unerhörte Begegenheit, Diskrepanz von Erwartung die einen moralischen und Erfüllung bezogen Kasus aufwirft
Wie wäre die Welt, in der sich unsere Wünsche erfüllen?
Wo kann sich der Vorgang Nach welcher Norm ist von der heiteren Seite dieses Ereignis zu werzeigen? ten?
Welt des offenbar werdenden Heiligen
Welt traumhafter Wunscherfüllung
Welt ohne höhere Wahrheit, als Gegenstand des Lachens
Welt in der autonomen Problematik zwischenmenschlicher Erfahrung
spezifisch erst in der Ära des christlichen Glaubens ausgeprägt; Substrat für politische Legende der Neuzeit
weit verbreitet in vollestümlicher Überlieferung; im MA nur als Substrat von Lai und Artusroman
als autonome literarische Form durch Verzeitlichung und Problematisierung älterer Gattungen (Exempel, Mirakel, Schwank, Vida) von Boccaccio geprägt
vs. Mirakel (mit unvollkommenen Heiligen), vs. Exempel (wo Tugend ein Willensakt)
vs. Sage (in kollektiver Erinnerung wurzelnd); vs. Legende (geglaubtes Wunder)
weit verbreitet in volkstürolleher Überlieferung; antik: Götterschwank, Apophthegma, Facetie; mittelalterliche Sonderform: die Schwänke im Tierepos im Gegensatz zum Symbolismus der geistlichen wie zum Idealismus der weltlichen Gattungen
Erkennen einer Regel des admirative Identifikation Handeins aus dem Präze- (vs. sympathetische im denzfall Mirakel)
Vergnügen an der anderen Welt der Fiktion
Verblüffung, Genuß der Pointe, lachendes Erkennen
Erstaunen und Reflexion
Modell zur anschauenden Details der Handlung auf Erkenntnis einer Regel zeitlos moralischen Typus bezogen (solum quod des Handeins facit ad rem est narrandum)
Was soll ich tun:, um das Wahre zu erfahren?
Was m'f ich tun, um vor!Gottes Geriebt Zl\ bestehen?
Was gehe ich ein, wenn ich diese Rolle übernehme?
Welt im ironischen Licht der Resignation: ,So ist der Welt Lauf!'
Reich Gottes als verborgener Sinn der Welt
Welt im Lichte des dogma~sch ausgelegten ~laubens
Welt des zweckrationalen Handeins
weit verbreitet in volkstümlicher ÜberIieferung, im MA auch eingebaut in Fabliau und Roman, kommentiert in den
ursprünglich appellative Funktion; im MA fast durchweg in allegorischer Unterweisung (Dit) aufgegangen
autochthon mittelalterliehe Gattung der Laienunterweisung (seit Ende des 12.Jhs.)
in der antiken Rhetorik unter den induktiven Beweisformen; im MA durch fibelartigen Gebrauch verbreitet
vs. präzeptive Sentenz vs. Sprichwort: bevorzugt die Ausnahme nicht die Regel; vs. Allegorie: nicht durch Schlüssel (oder Dogma) zu entziffern
Protest geistlicher Dichter gegen die Fiktionen der weltliehen (höfischen) Literat1JI
vs. Exempel, das historisehen Präzedenzfall benötigt
historische Authentizität vs. logischer Beweis vs. fingiertes Beispiel
Herbeirufen, um eine Nachfolge als Einheit eingetretene Situation von Erkennen und zu kommentieren Handeln
Erkennlm und Entschlisseln der
Aufnehmen einer Lehre
I
Held als Grenzüberschrei- typisierte Personen meist individuierte Personen in ter; Aktantenpaare (nach niederen Standes (geschie- gesellschaftlichen Rollen den durch List-und Torund Konflikten Propp und Greimas) heit) Geschehen unter dem Prinzip des Wunderbaren (,aventure' vs. episches Handeln)
menschliches Handein im heilsgeschichtliehen Rahmen von Fall und Erlösuqg
.
imaginäre Vergangenheit (,es war einmal')
typisiert in: Vorbestimmung, Krise (Bekehrung), Bewährung (Passion) posthume Wirkung
Was lehrt mich das VerWie kann Tugend in eigangene für das Kommen- nem Menschen sichtbar de? werden? Welt der Geschichten als - Schatz an Erfahrung
2. Verhältnis zur
Tradition 2.1, diachronisch
antik: mythisch-historisches Paradigma im rhetorischen Gebrauch; christlieh: Instrument der Laienunterweisung
(movere et probare)
Proverbes au Vilain 2.2. synchronisch
vom Idealismus der heroisehen Dichtung wie von der direkten Moral lehrhafter Gattungen abgesetzt
3. Sitz im Leben 3.1. modus recipiendi
per analogülm
duplex sententia (parole coverte parole (>verte)
3.2. Verhaltensmuster
Resignation oder Ironie
geforderte Umkehr Normen christ(,Du mußt dein Leben lieber ~ebensfiihändern!') rungen j(Tugenden vs. Las1er)
Sich-Erkennen in einer Rolle
Imitabile, das zur Tugend Imitabile, wo Tugend täermahnt oder vor Laster tig, meßbar, faßbar wird warnt
Entlastung von Zwang und Ernst des Alltags
Suspendierung der Normen und Tabus des verordneten Lebens
der Diskussion eines gebildeten Publikums anheimgestellte moralische Kasuistik
3.3. gesellschaftliche (ideologische) Funktion
vom Sprecher und Hörer geteilter Vorrat an Alltagserfahrung, die Welt zumeist pessimistisch einschätzt
Bildung oder LegitiBefestigung des mation einer religiöorthodoxen Glausen Gruppenidentität bens (parabolisch verborgene Rede schützt vor Unberufenen)
Aufklärung über Weltklugheit, oft aus der Sicht der Schwächeren formuliert
exempla maiorum in le-
Utopie einer Glückswelt, erweckt durch poetische Gerechtigkeit
nur kontrastiver ,Realismus', von Normen entlastend ohne sie in Frage zu stellen
Konversation als Form der "leidenschaftlichen Betrachtung des irdischen Lebens" und der Reflexion gesellschaftlicher Normen
gitimierender Funktion; historia docet in moralisierender Funktion von ästhetischer Identifikation abgesetzt
Ausbreitung und Bestätigung des Glaubens; praktisch: Anrufbarkelt von Heiligen (Namensheilige, Nothelfer)
· rische Evolution handle. Die exemplarischen Formen bleiben mit ihren .. d· b . d b t h . . d· lItera . h sta~ Subsinnwelten synchromsc Ig ne eneman er es e. en; sIe. wels~n lah nisch zwar interne Normveranderungen auf, doch reIchen dIese mcht an ~. rOSchwelle, mit der allererst das autonome Erzählen begonnen hat. Diese sl~welle ist im Anschluß an H.-J. Neuschäfers s als Verzeitlichung und ProbleCatisierung der älteren kleinen Gattungen bestimmbar: Verzeitlichung der maradigmatischen wie der fiktionalen Handlungsmuster (auch die schon erzähinden Gattungen des Märchens und des Schwanks werden damit transformiert), ;roblematisierung der normativ vorgegebenen Bedeutung (die exemplarischen Gattungen werden in die Kasuistik der Lebenspraxis hineingezogen und diskutiert). Gewiß fällt die spätere Novellenproduktion in ihrer Masse ständig in die alten exemplarischen und schwankhaften Muster zurück, deren lebensweltliche Funktion durch die Erfindung einer höheren Erzählgattung ja auch keineswegs abgegolten war. Die systemindividualisierende Dominante der Hochform der Novelle läßt sich gleichwohl auch heute noch nicht besser erfassen als durch Jolles' Hypothese von ihrem mittelalterlichen Ursprung in der einfachen Form des Kasus, die wir aus dieser Epoche ja auch in selbständiger literarischer Gestalt kennen". Damit endete unsere Betrachtung bei der Gattung, die unter den einfachen Formen die komplizierteste und durch ihre offene Form auch die modernste ist. Ich begann mit einem hermeneutischen Kasus, der für den modernen Betrachter kompliziert ist, für den mittelalterlichen indes noch keiner war. Wie das Motto besagt, war es für den sage escrivein noch selbstverständlich, daß die alten Dinge und die neuen / erst zusammen gut und schön sind. Warum sollten wir nicht auch in dieser Alterität des Mittelalters eine Seite seiner Modernität für uns wiederentdecken? 85 BocCQccio und der Beginn der Novellistik, München 1969. 86 Siehe P. Zumthor, op. eit. p. 403, zu den Arreu d'Amour von Martial d'Auvergne. 87 Für die folgende Übersicht kann ich hier nur wenige bibliographische Hinweise, aber keine erschöpfende Dokumentation geben, da sie auf eine Reihe von Seminaren zurückgeht, die vielleicht noch in einer umfänglicheren Darstellung ausgewertet werden sollen. Das literarische System der kleinen Gattungen in der Antike hat M. Fuhrmann im Heft 5 (Dez. 1975) der Zs. Der altsprachliche Unterricht umrißhaft beschrieben. Für die einzelnen Gattungen verweise ich auf die folgenden Arbeiten, denen ich zum Teil auch für Formulierungen verpflichtet bin: zum (Sprichwort) E. Rattunde: Li proverbes au vilain, Heidelberg 1966; (zur Parabel) W. Magaß: Zur Semiotik der signifikonten Orte in den Gleichnissen Jesu, in: Linguistica biblica 15/16 (1972) p. 3-21, ferner P. RiCCEur und E. Jüngel: Metapher - Zur Hermeneutik religiöser Sprache, in: Evangelische Theologie, Sonderheft, München 1974; (zur Allegorie) siehe V; (zur Fabel) H.-U. Gumbrecht: Eint. zu seiner Übersetzung von Marie de France: Esope, in: Klassische Texte des roTTlllnischen Mittelalters, Bd. 12, München 1973; (zum Exempel) R. Koselleck: H;storw TTIIlgistra vitae, in: Natur und Geschichte, Festschrift Karl Löwith, Stuttgart 1967, p. 196 ff., K. Stierle: Geschichte als Exemplum - Exemplum als Geschichte, in: Text als Handlung, München 1975, p. 14-48, und R. Honstetter, der eine Konstanzer Diss. zu dieser Gattung vorbereitet; (zur Legende) U. Ebel: Das altromanische Mirakel, Heidelberg 1965; (zum Märchen) M.-L. Ten~ze: Le conte merveilleux franc;ais, in: Ethnologie franc;aise, 11, 1-2, p. 97-106; (zum Fabliau) J. Beyer: Schwank und Moral, Heidelberg 1969, und R. Guiette: FablitJux, in: Questions de Littlrature, Bd. I, Gent 1960, p. 61-86; (zur Novelle) H.-J. Neuschäfer: BocCQcc;o und der Beginn der Novellistik, München 1969, ferner die immer noch unentbehrliche Studie von E. Auerbach: Zur Technik der Frührena;SSQncenovelie in Italien und Frank· reich, Heidelberg 1921.
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Zur Tierdich tung
11.
UNTERSUCHUNGEN ZUR MITTELALTERLICHEN TIERDICHTUNG
CtZr 116 RtglllJrl p«1111 011 glostr, PtlUtr, ulwJi,r, ",uur Plus qm sur loult rim qui soit.
Die literarische Besonderheit der mittelalterlichen Tierdichtung, die nicht zufaUig unter dem Namen des Fuchses ( Rellllrl, Reinelu) in die überlieferung einging und weit über das Mittelalter hinaus lebendig blieb, ist nicht erst rückblickend von der modernen Literarhistorie entdeckt worden. Sie war, wie durch die vorangestellten Verse aus dem Prolog zu RENART LB CoNTREFAIT, dem letzten. allegorischen Ausläufer des mittelalterlichen Tierepos, bezeugt wird, schon dem mittelalterlichen Verfasser und seinem Publikum bewußt, bei dem sich der ROMAN DE REN/oRT einer Beliebtheit erfreute, die nur noch vom ROMAN DE LA ROSE erreicht wurde 1). Der außer Amt gekommene Kleriker und ,epicier' aus Troyes, der im Jahre 1319 seine satirische Renan-Enzyklopädie begann, hat die Ankündigung seines Prologs im buchstäblichen Sinne erfüllt und seine Reflexion über das Wesen Renarts und seine Bedeutung für die Erkenntnis der Welt in einem monströsen Werk von mehr als 60000 Versen niedergelegt. Nicht weniger nachdrücklich bekundet sich die Unerschöpflichkeit des Gegenstandes in der langen Geschichte der ,gelehrten Fuchsjagd'; sie hat von Jacob Grimms R,inharl FUfhs (1834) bis zu Leo Spitzers Abhandlung über die VIII. Branche des ROll/an d, /Unarl (1940) die germanistische wie die romanistische Forschung beschlftigt und ist bis zum heutigen Tage in den wesentlichen Fragen nicht zu Ende gekommen. In der Geschichte dieser Forschung Z) bedeutet die Abhandlung. die Gaston Paris 1894/95 als Replik auf die Arbeit L. Sudres Lu SOllTltS du Ro11/l1li tU Rellllri (1893) im JO/lrnal du SlII/lIIIls veröffendicht hat, insofern einen Markstein. als hier zum erstenmal die Umwendung der Blickrichtung auf die historische und dichterische Sondererscheinung des mittelalterlichen Tierepos postulien wird: nCette part considerable de I'invention dans le ROII/IIII tU R,IIIlTd tel que nous rayons etait en dehors du cadre de M. Sudre;
il faudrait en tenir le plus grand compte si "on ecrivait non une etude de I) RCf 105-1°7; diese für die Wirkungsgeschichte der Renartdichtung so bedeutungsvolle Stelle hat schon TILANDER als Motto für seine Rt",tZrquts . .. benutzt. Die Zeugnisse für die Popularitit des RdR sind von FOULET im XX. Kapitel seines Buches (p. 496-U5) zusammengestellt worden. I) Hierzu kann auf die Darstellungen von FOULET (Kap. I und IV) und von VORETZSCH (Einl. zum RF) verwiesen werden.
[SO]
13
sources, mais une histoire de l'cpopee animale au moyen age. Cette histoire est a faire ... ce. 1) Gaston Paris sah diesen Anteil der ,invention', d. h. das, was das Tierepos zur .. a:uvre mcdicvale, fcodale et fran~aise" mache, vornehmlich in drei konstitutiven Elementen: in der Verleihung von Personennamen an Tierfiguren, die damit ihre Gattung ,individuell' darstellen, im Antagonismus von Fuchs und Wolf als zentralem epischen Thema des Zyklus und in der Ausgestaltung der Fabel vom Hoftag der Tiere zum ,Plaid de Renart" der der zyklischen Entwicklung einen krönenden Abschluß gibt I). G. Paris hat damit zum erstenmal die literarische Sonderstellung der mittelalterlichen Tierepik umrissen, obschon er noch nicht erkannte, daß die von ihm hervorgehobenen Aspekte der Originalität des ROMAN OE RENART das Problem, was an diesem Werk als spezifisch mittelalterlich anzusehen ist, nur erst anrührten und im einzelnen einer neuen Untersuchung aller Texte der mittelalterlichen Tierdichtung bedurften. Denn seine eigene Auffassung von der erst noch zu schreibenden Geschichte der mittelalterlichen Tierepik war von einer Reihe von Vorentscheidungen bedingt, mit denen er selbst noch dem Geist Jacob Grimms verhaftet blieb: der rigorosen Scheidung von volkstümlicher und gelehrter Tradition mit dem Primat der ersteren in den Ursprungsfragen, dem Leitbild der organischen Entwicklung mit dem Postulat hypothetischer Urund Zwischenstufen und der Höherbewertung des Archaischen, Schlichten, Naiven. kurz: der ,Naturpoesie', derzufolge das Element der Didaxis, Satire und Parodie von vornherein von der Betrachtung des Tierepos ausgeschlossen blieb. Die Spaltung der späteren Forschung in die bei den Lager der ,Äsopisten' und der ,Folkloristen' ist weitgehend darauf zurückzuführen, daß diese Vorentscheidungen nicht nur beibehalten, sondern darüber hinaus in einer einseitigen Weise, die G. Paris fern lag, zum Dogma erhoben wurden. Dabei ist zugleich die Einheit einer gemeinmittelalterlichen Betrachtung, wie sie Jacob Grimm als unerreichtes Vorbild verwirklicht hatte und auch G. Paris noch anstrebte, verlorengegangen. L. Foulet beschränkte sich in seiner antiromantischen, Bedier gewidmeten These auf eine Analyse und Geschichte der 28 Branchen des RdR, C. Voretzsch auf einen quellenkritischen Vergleich von RdR und REINHART FUCHS, auf den sich die germanistische Forschung verließ, ohne selbst jemals wieder auf die altfranzösische Parallelversion zurückzugehen. Der lateinische YSENGRIMUS
wurde von Foulet wie von Voretzsch nur vergleichsweise als ,Quelle' ausgebeutet, aber nicht eigens gewürdigt und auch von der niederländischen Forschung nur isoliert betrachtet; von dem flämischen REINAERT ganz zu schweigen, der fast ausschließlich der eingeengten Perspektive einer ,Nationalliteratur' anheimgegeben blieb. Dazu kommt, daß die kleinen Genera der Tierdichtung (Tierfabel. Tierschwank, Tiermärchen), die in den Um1) PARIS
Z)
PARIS
p. 4 1 3. p. 3S7, 396-397,411.
[SI]
14
kreis des Tierepos fallen. immer nur im Blick auf eine Ursprungstheorie herangezogen. nicht aber in ihrer eigenen Intention gesehen wurden. Auch hat die überhandnehmende monographische Forschung immer mehr den Blick darauf verstellt. daß die mittelalterliche Tierdichtung nicht im leeren Raum. sondern in weiteren literarischen Zusammenhängen steht, die die Entwicklung ihrer Formen mit bedingt haben. Dieser Stand der Forschungen macht verständlich, daß der Gegensatz der Auffassungen sich so sehr verfestigen konnte. daß die entgegengesetzten Theorien eines rein volkstümlichen (Voretzsch) und eines ausschließlich literarischen Ursprungs (Foulet) der mittelalterlichen Tierepik, sowie der höheren Altertümlichkeit des mhd. RF und der Priorität bzw. Ursprünglichkeit der ältesten Branchen des afrz. RdR noch immer unvermittelt einander gegenüberstehen. Eine Wiederaufnahme des ganzen Fragenkomplexes scheint darum gerechtfertigt und aussichtsreich, wenn sie von einer Revision der Grundlagen ausgeht. die in anderen Zweigen der Erforschung mittelalterlicher Literatur schon vorgenommen oder angebahnt wurde. und wieder auf eine gemeinmittelalterliche Basis gestellt wird. Der Revision bedürftig erscheint zunächst die prinzipielle Scheidung von volkstümlicher und gelehrter (literarischer) Tradition. Hier hat vor kurzem J. Rychner in seiner für die Epenforschung umwälzenden Arbeit: La (hanson dt gestt - Essai I/Ir !'art IpifJllt du jongltllr! (1955) I) einen Gesichtspunkt geltend gemacht, der auch für die mittelalterliche Tierepik von größter Bedeutung ist: "Puisque c'est decidement le caractere oral de cette litterature qui est au centre de son explication, je remplacerais volontiers avec Parry le terme de litterature populaire par celui, plus clair et plus objectif, de litterature orale, et, ajouterai-je, professionnelle. qui rappelle lcs circonstances positives donna nt acette litterature ses caracteres particuliers" I). Mit dem Vorschlag, den Begriff der Volksdichtung durch den der lillbatllrt oralt, d. h. der nicht an die Schriftlichkeit des Verfassens gebundenen, mündlich überlieferten und im Falle der Chanson de geste sogar mit jedem Vortrag neu gestalteten Literatur zu ersetzen. wird die Scheidung zwischen volkstümlicher und gelehrter Tradition von dem romantischen Gegensatz zwischen dichtender Volksseele und individuellem Verfassertum befreit und auf eine in der Gestalt und Darbietung der Texte selbst beruhende und nicht allein ihren Ursprung betreffenden Unterscheidung: die Schriftlichkeit oder Schriftlosigkeit des Verfassens, Oberlieferns
und Reproduzierens einer Dichtung zurückgeführt, deren fundamentale stützt sich dabei auf die Forschungen zur südslawischen Epik (M. Murko, M. Parry u. a. m.). die auch H. Fränkcl für seine Darstellung der homerischen Epik vergleichend herangezogen hat (Dithlll1lg lind Philolophit du frilhm Grittht"IIIIIIs, Frankfurt 19S1, bes. P.7-H). Die ThJre d'Elal, die Ariane de Felice im März 19H unter dem Titel: Euai lIIr IjIItlqllts IttJmiqllu Je I'art verbal Iradilionntl vor der Sorbonne verteidigt hat, war beim Abschluß dieser Arbeit noch nicht veröffentlicht (vgl. die Besprechung in u MOIllk, 27· 3· 57). 1)
RYCHNER
I) R YCIINER
[52]
p. I S8.
Bedeutung für die abendländische Literatur vor allem W. Bulst in seiner Kritik am Mittelalterbild von E. R. Curtius und anderweitig hervorgehoben hat 1). Der Vorwurf, den Rychner gegen die bisherige Epenforschung vorbringt: "N'appliquons donc pas aux produits de cet art profondement conditionne les criteres que nous employons dans la critique de la litterature ecrite et meditee, de la litterature de recherche" 2), ist auch gegen die Forschung zu unserem Gegenstand zu erheben. Denn die Frage, inwieweit die Art der Abfassung und Darbietung der mittelalterlichen Tierepen die Gestalt der auf uns gekommenen Texte bedingt haben kann, ist weder von den ,Folkloristen', noch von den ,Äsopisten' gestellt worden, da ihr Interesse einseitig auf den volkstümlichen oder gelehrten Ursprung der Tradition, nicht aber auf die Art der Tradierung gerichtet war. Dabei wurde stillschweigend die uns erhaltene Gestalt der Texte mit schriftlicher Überlieferung gleichgesetzt, von Foulet als primär betrachtet, weshalb er sich um ihre (fur ihn erst sekundäre) mündliche Verbreitung nicht mehr kümmerte, von Voretzsch hingegen als sekundär (d. h. als Produkt späterer Bearbeiter) angesehen und die von ihm als primär angesetzte, vorliterarische Überlieferung in den Bereich des Hypothetischen, nur noch zu Erschließenden verwiesen. Die Grenzlinie zwischen mündlicher und schriftlicher Überlieferung verläuft indes zum Teil sichtbar durch die uns erhaltenen Texte, von denen die einen die durch die Rezitation bedingte Gestalt einer Vortragsdichtung bewahren, während die andern als reine Buchredaktion auf uns gekommen sind, bzw. von vornherein als Leseliteratur konzipiert waren. Daß durch eine Berücksichtigung dieser Unterscheidung auf Abhängigkeitsverhältnisse wie das von RdR und RF, die bisher immer nur nach den Kriterien der schriftlich abgefaßten bzw. an einen fixierten Text gebundenen Leseliteratur beurteilt wurden, ein neues Licht fallen kann. liegt auf der Hand 3). Der Revision bedürftig erscheint ferner die Abgrenzung und Wesensbestimmung der verschiedenen Genera der Tierdichtung. Daß etwa in Voretzschs Einteilung, der hier die communis opinio repräsentiert, von vornherein der Blick auf seine Theorie von der Entwicklung des Tiermärchens zum Tierepos bestimmend war, wird aus seiner folgenden Darlegung am besten deutlich: 1) in: Wirluruks Worl 3 (195Z/n) p. 56ff.; ferner in seiner Abhandlung: Das DllIIitllpitl, in: Gtgt".,llrl;1II Gtirll, Fllilthrifl/;n. Rithar. B,"t (1954). p. 82fT. ') RYCHNER p. lU. ') SUCHIEIl zum Beispiel, der den volkstümlichen Ursprung der Tierepik so entschieden verfocht. lag der Gedanke. daß der auf uns gekommene RdR selbst die Stadien einer fließenden überlieferung bewahre, so fern, daß er abweichende Züge in Parallelversionen prinzipiell nicht der Variation eines Verfassers zuschreiben wollte - der Gedanke an freie Erfindung und damit auch an bewußte Variation wird a limine ausgeschlossen -. sondern aus dem Vorliegen verschiedener volkstümlicher überlieferungen, bzw. Varianten des ,Tiermärchens' erklärte (vgl.
p. u8,
Z31
f.).
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"Die beobachtung der tiere durch den menschen und seine innere anteilnahme an ihrem leben und treiben prägt sich dichterisch in den gattungen des tiermärchens, der tierfabel, des tierschwanks und des tierepos aus. Das tiermärchen gehört im wesentlichen der mündlichen überlieferung, die übrigen gattungen der geschriebenen literatur an. Indes sind tiermärchen schon sehr früh - z. B. bei den Indern - in der geschriebenen literatur verwertet worden. Eine reihe von einzelstoffen sind dem märchen und der fabel gemeinsam, so daß sich diese von jenem häufig nur durch die angefügte sittenlehre unterscheidet: das märchen will unterhalten, die fabel belehren. Märchen und fabel sind dit!Jenigen gattungen, welche uns am frühesten in der literatur begegnen. Der tierschwank ist in der regel ein in "erse umgesetztes tiermärchen, behandelt aber gelegentlich auch begebnisse zwischen mensch und tier ohne märchenhafte zutaten. Er tritt erst im mittelalter auf. Das tierepos ist in der antike im sinne des abendlän.dischen tierepos überhaupt nicht vorhanden, Pantschatantra und Batrachomyomachia tragen einen anderen charakter. Es entsteht wie das heldenepos durch die epische ausgestaltung einer einzelnen erzählung oder durch die verknüpfung mehrerer erzählungen zu einem geschlossenen ganzen. ce 1) Von der Problematik, ob sich gerade in der mittelalterlichen Tierdichtung eine innere Anteilnahme des Menschen am Leben und Treiben der Tiere ausprägt, einmal ganz abgesehen, ist an diesen Ausführungen zunächst auszusetzen, daß Tiermärchen, Tierfabel und Tierschwank wechselseitig voneinander abgeleitet werden, ohne daß die Eigenart des Tiermärchens, nach Voretzsch das ursprüngliche Element der ganzen Tierdichtung, irgendwie zum Vorschein kommt. Dieselbe Tiererzihlung kann demzufolge durch eine angefügte Moral zur Tierfabel, durch ihre Versifizierung zum Tierschwank werden; was sie zum Märchen macht, bleibt unerörtert, denn die "märchenhaften Zutaten", von denen einmal beiläufig die Rede ist, sind weder hier noch sonst in den Abhandlungen Voretzschs definiert, noch werden sie aus den Zeugnissen ersichtlich, die er für das frühe Vorhandensein eines einheimischen mittelalterlichen Tiermärchens anführt. Das Fehlen einer näheren Bestimmung des eigentlich Märchenhaften im sogenannten Tiermärchen ist nicht zufälligi). Voretzsch hatte diesen Begriff 189~ in seiner Abhandlung JI/coh Grim1lls Deliischt TiersIll.' lind die 1IIoderne Forschung von der aufkommenden Folkloristik übernommen, um damit die in Mißkredit geratene Grimmsche Tiersage zu retten I). Die vergleichende Märchenforschung ist seitdem dazu übergegangen, die verschiedenen Gattungen der volkstümlichen Erzählkunst schärfer zu trennen; Ein!. zum RF p. VI. 2) Daß die Tierfiguren mit ReJe begabt sind, ist ein traditionelles Element Jer äsopischen Fabel, also nicht dem einheimischen ,Tiermärchen' des Mittelalters eigentümlich, und \\"urJe in der FabcltraJition auch nie als ein Element des Wunderbar~n ausgegeben. 3) abgedruckt in: Preußische Jahrbücher 80 (1895), P.416-484. 1) VORETZSCII,
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Tiergeschichten und SchwAnke werden z. B. in einer 19'4 veröffentlichten Abhandlung von Jan de Vries schon gar nicht mehr in die Betrachtung des M1rchens einbezogen. weil nur dem .Wundermärchen" der Name .Milehen" im eigentlichen Sinne des Wortes gebühre 1). Daß die Tiergeschichten. die in das mittelalterliche Tierepos einverleibt werden. mit dem Wundermlrchen nichts gemeinsam haben. springt jedem Leser des RdR sogleich in die Augen. Die Frage nach der .einfachen Form". die allen epischen Bildungen und Organisationsformen der großen Tierdichtung zugrunde liegen soll. ist demnach neu zu stellen. zumal Voretzschs Theorie. das Tierepos habe sich aus dem einheimischen. Tiermirchen" entwickelt. auch stoffgeschichtlich so wenig stichhaltig ist. wie der Versuch der .Asopisten". du in der Mitte des 1 %. Jahrhunderts aufblühende Tierepos über die äsopische Fabel aus dem Traditionszusammenhang der lateinisch-christlichen Literatur abzuleiten. Denn zwischen den Formen der lateinischen Tierdichtung. die aus dem frühen Mittelalter bekannt sind (Tierfabel. Tierschwank. Tierepitaph. Tierallegorie) und der altfranzösischen Renartbranche. wie auch zwischen der antiken Form der Epenparodie und den Tierepen des Mittelalters besteht offensichtlich keine Kontinuität. und die wenigen Dokumente. die das Vorhandensein eines einheimischen .Tiermirchens" in karolingischer Zeit bezeugen sollen. reichen nicht entfernt aus. um eine vorliterarische Entwicklung der Tierepik vor dem 1%. Jahrhundert wahrscheinlich zu machen. Die Fragwürdigkeit des Leitbilds der .organischen Entwicklung". das als Erbe des 19. Jahrhunderts noch weit über Gaston Paris hinaus mit der Perspektive der .Vorstufen" und dem Postulat verlorener Zwischenglieder den Blick auf die selbständige Intention der einzelnen Werke verstellt hat. wird nicht allein im bisherigen Bild von der Vorgeschichte des mittelalterlichen Tierepos offenkundig. Sie macht sich auch in der Beurteilung der zyklischen Entfaltung der Renartdichtung geltend. die uns vom lateinischen YSENGRIMUS bis zu den letzten Ausliufern der volkssprachlichen Fuchsepen sichtbar vor Augen steht und deren Problematik L. Spitzer in der Frage zusammengefaßt hat: .. Ober das Warum dieser losen Anreihung von Erzählungen. die nur durch die Prinzipien des Genres der Tierdichtung und vielleicht durch die Zentralgestalt Renart geeint werden. spricht man sich im allgemeinen nicht aus: warum ist die Durchorganisierung nicht ebenso durchgeführt wie in einem Epos der Karlsgeste oder einem Roman des Artuszyklus?lIl) DIese Frage hatte sich weder Voreusch noch Foulet geslellt. Voretzsch war nach dem Vorbild der vergleichenden Märchenforschung von zuvor isolierten Tiererzählungen ausgegangen. um am Ende das Tierepos einfach auf eine Aneinanderreihung von ursprünglich selbständigen Episoden (= Kantilenen) zurückzuführen; Foulet hatte umgeI) B,trllthl""gell ~.'I'" MiJrtlN", bno"tkrr ill rei",,,, VtrhtJllllir tN Htltltllrtlgt 11114 Mylbor, Hclsinki 19'4. p. 7 (FF Communications Nr. 1'0). I) SPITZER p. Z H.
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kehrt die iltcsten Branchen des RdR (lI-Va), in denen er die einheitliche Konzeption eines vom YSENGRIMUS des Magister Nivardus beeinflußten Verfassers (Pierre de Saint-Cloud) aufdeckte, an den Anfang der zyklischen Geschichte des RdR gestellt und die Entwicklung der weiteren 16 Branchen nach den Regeln literarischer Nachahmung von dem Vorbild dieses einen Werkes abgeleitet. Die Einseitigkeit des Versuches der Folkloristen, .. d'expliquer l'cp0pCe par le conte"1), und seiner genauen Umkehrung durch Foulet, der alle Branchen des RdR von dem Epos Pierres de SaintCloud aus erklärt, kommt darin zum Vorschein, daß in beiden Fällen die Divergenz zwischen Tierschwank (Branche) und Tierepos übersehen wird. die fur die zyklische Entfaltung der Renartdichtung charakteristisch ist. Bei Voretzsch geht das, Tiermirehen' völlig organisch in das Tierepos über: .. Das tiermirchcn hat von haus aus die epische eigenart. welche das tierepos verlangt. Es hat auch die neigung zur gruppcnbildung oder zur bildung von märchcnkeuen, die naturgemäß auch dem tierepos eignet. Tritt nun hierzu im volk noch die benennung der tiere mit eigennamen, so ist die epische ausgestaltung des tiermlrchens vollendet." I) Hier wird deutlich, daß Voretzsch Grimms Begriff der .Tiersage' nur äußerlich durch den Begriff des, Tiermirchens' ersetzt. die Entwicklung des Tierepos aber nach wie vor analog zu der Entwicklung des Heldenepos gesehen hat. dem bei Grimm das anonyme Wachstum der Heldensage vorausliegt. Die Differenz zwischen Tierepos und Heldenepos ist Voretzsch denn auch nie zum Problem geworden. Sie bleibt auch bei Foulet so gut wie unerörtert, obwohl er das Werk Pierres de Saint-Ooud als erste Ausprägung einer neuen epischen Gattung, der ..ep0pCe heroi-comique", neben Chanson de geste. höfischen und antiken Roman stellen will. So verdienstlich andererseits auch seine Chronologie der Branchen des Renartcorpus ist. bleibt die Frage nach ihrer zyklischen Einheit doch erst noch von dieser neuen Grundlage aus zu beantworten. Denn Foulet, der an der Vorstellung vom anonymen und eigengesetZlichen Sich-Entwickeln eines Renart-, Zyklus' berechtigtt Kritik übte, hat sich, als er ihren Verfechtem entgegenhielt: ..ll n'y a pas un Roman de Renard, il y en a vingt-huit" S), zu schnell über die Frage hinweggesetzt, worin wohl die Nachfolger Pierrcs von sich aus den inneren Zusammenhang der 18 Renartbranchen sahen. der ihnen. wie schon die von ihnen selbst geprägte Gattungsbezeichnung .branche' zeigt. trotz des Fehlens einer kontinuierlichen epischen Fabel bewußt gewesen sein muß. I) In diesem Vorwurf gipfelt Foulets Kritik an der folkloristisch-genetischen Methode Sudres (FOULET p. ~ 38). I) VORETZSCII. Einl. zum RF p. XIX. Vgl. dazu seine Ausführungen von 189~ (Preuß. Jb. 80, p. 460ff.), die zu dem Resultat führen, daß dem Tiermärchen am Ende "zum Epos im landläufigen Sinn überhaupt weiter nichts mehr als die poetische Form fehlte, und daß somit das Tierepos des 12. Jahrhunderts als Gattung dem Tiermärchen weit mehr verdankt als der antiken Fabel" (p. 469-470). I) FOULET p. ~6S.
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Die Erwägungen. die L. Spitzer über die Prinzipien des .Genres· der Tierdichtung angestellt hat, laufen letzten Endes darauf hinaus. für die epische Zyklisierung der Tierschwänke die Kantilenentheorie bzw. den von Th. Frings für die europäische Heldendichtung postulierten Dreischritt: Lied - Kurzepos - Großepos geltend zu machen. Der RdR stellte danach eine Art von Rudimentärversuch der großen Epik vor Augen: ..er blieb im losen Aggregationszustand des Kurzepos (Branche VIII ist ein solches). wenn nicht in dem noch loseren Konglomeratzustand der zusammenkomponierten .Lieder' (etwa Br.III. die man bis zu gewissem Grade. . . mit dem lose angereihten PtltrilUlgt Je Chllrlt1llllgtlt vergleichen kann)." l) Daß der RdR nicht zum Stadium des Großepos gelangt ist, will Spitzer auf das Fehlen einer vereinheitlichenden. tragenden Gesinnung wie die der Glaubens- und Nationalbewegung der Kreuzzüge. aus der sich der Schritt vom Kurz- zum Großepos bei der Chanson de geste erkläre. bzw. auf die Verweltlichung des Begriffes der tllllllhirt zurückführen Z). Der Rekurs auf die Kantilenen- und Dreistadientheorie dürfte indes die Lösung des Problems der epischen Zyklisierung im Tierepos kaum fördern. ganz abgesehen davon, daß jene Theorie eine bloße Hypothese ist und daß auch ihr wieder die Vorentscheidung einer organischen Entwicklung zugrunde liegt 3). Daß der Tierschwank mit der Kantilene, die - gleichviel. was man heute unter ihr verstehen will ") - auf ein geschichtliches Ereignis bezogen sein und heroischen Charakter haben muß, nichts weiter gemein haben könnte als die Kürze der Erzählform. liegt auf der Hand und hitte auch Spitzer auffallen müssen. wenn ihm seine Rückwendung zu Jacob Grimm nicht den Blick auf das Schwankhafte der Fuchsabenteuer verstellt hltte. Wenn er in der losen Anreihung solcher Erzihlungen das Gestaltungsprinzip am Werk sehen will. das man für die Heldenepik so beharrlich leugnet: ..die Lieder werden zum Epos gereiht wie die Perlen zum Halsband" 6). ist damit über das Warum dieser Anreihung und den inneren Zusammenhalt der Episoden einer Branche noch nichts ausgesagt. Ob die Branchenbildung auf dem Wege über das (historisch fragwürdige) Kurzepos I) richtig zu fassen ist, I) SPITZER p. 235. ') ibid. p. 23S f .• 236 Anm. I. I) Vgl. dazu E. R. Curtius, OlNr tlil alljrant,öliltlJl Epik, in: ZRPh LXIV (1944). bes. p. 307ft'. '} hierzu kann auf die Erörterungen von Martin de Riquer, UI Calliartl tII gtlillfranltltl, Madrid 1952 (BibljDlttll RD11Idllita Hitpdllitll, EIIIIIliDIY EIISII.JDI t. 8), p. 39f1'., 5I fI'. verwiesen werden. l) SPITZER p. 234 f. I) Wie sich aus der Untersuchung von Ph. A. Bccker: V011l KId't/ittl t,1UII EJlDs (ZFSL LXIII, 1940, 299-341 und 385-444) ergibt, läßt sich für das Stadium des Kurzepos in der Entwicklung der Chanson de geste einzig GORMOND ET !sEMHARD heranziehen, das einzige Heldenlied, das zwar ein höheres Alter bemspruehen kann als das Rolandslied, uns aber nur aus einer spAteren Version (Hs. des '3. Jahrhunderts) erhalten ist. Die weiteren Zeugnisse, die Bccker anführt, sind
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macht gerade Spitzers Interpretation von Branche VIII wieder fraglich, in der er gegen die folkloristisch-genetische Methode die Einheitlichkeit einer künstlerischen Konzeption aufzeigen konnte, so daß man nicht mehr recht einsieht, warum diese durchkomponierte Branche (und das ist bei weitem nicht der einzige Fall) "im losen Aggregationszustand des Kurzepos" geblieben sein soll. Und ob es vornehmlich die mangelnde Durchorganisierung war, die den RdR nicht zum Stadium des Großepos gelangen ließ, wird sogleich zweifelhaft, wenn man den Blick vom RdR auf alle Hervorbringungen der Tierepik des 11. und 13. Jahrhunderts erweitert. Was den Verfassern des RdR nicht gelang oder besser gesagt: worauf es ihnen offenbar gar nicht ankam, ist Magister Nivardus, Heinrich dem GUchezAre und dem Verfasser des nell. Rm:NAERT offensichtlich geglückt: die Organisierung einer Vielheit von einzelnen Tierschwänken zu großen, in sich geschlossenen epischen Gebilden vom Format des Heldenepos, ohne daß man darum sagen könnte, hier sei die zyklische Renartdichtung zu einer Form gelangt, die sie mit dem Großepos gemeinsam habe. Die epische Zyklisierung des Tierschwanks, die neu geschaffene Form der ,branche' und die weitere Entwicklung der volkssprachlichen Fuchsepen läßt sich durch den Rekurs auf die hypothetische Entstehung der Chanson de geste und ihre epische Struktur bzw. auf ihre spätere Zyklisierung nicht befriedigend erklären. Andererseits ist aber die Eigentümlichkeit der neuen Tierdichtung, die von 11 SO bis 1190 sogleich mit drei großen Tierepen, dem lateinischen YSENGRIMUS, dem altfranzösischen ROMAN DE RENART und dem mittelhochdeutschen REINHART FUCHS, und mit der ersten volkssprachlichen Fabelsammlung, dem ESOPE der Marie de Francc, ins Dasein tritt, dadurch gekennzeichnet, daß diese Werke zu einem Zeitpunkt erscheinen, an dem die altfranzösische Heldendichtung gerade auf dem Höhepunkt ihrer Entwicklung steht. Das Reich der Tiere ist ohne die feudale Welt, der es wie das altfranzösische Epos entsprang, nicht vorstellbar; der Jongleur, der im Prolog zu Branche II des RdR zum erstenmal Renart und Y sengrin als die Helden seiner Geschichte ankündigt, setzt bei seinem Publikum Chanson de geste und höfischen Roman als bekannt voraus und läßt damit das Reich König Nobles vor dem Hintergrund derselben Welt erscheinen, die ihre geschichtliche Mitte in der verklärten Gestalt von Char/e.r /i reis und ihr neues höfisches Ideal in der Tafelrunde von König Artus hat. Die Frage, was das Tierepos im besonderen als ,Epos' bestimmt, impliziert daher das gattungsgeschichtliche Problem, inwiefern das Tierepos durch die Heldendichtung, die es auf dem Höhepunkt ihrer Entwicklung travestiert, auch schon in seiner Entstehung bedingt ist, und erfordert es, die verschiedenen Versuche, die Vielfalt der Tierschwänke in eine entweder hypothetisch (die nur noch erschließbare älteste Wilhelmsdichtung und die Anspielung auf ein Riaul-Lied) oder Sonderformen, die außerhalb der Entwicklung der Chanson dc geste liegen (die Epenparodie AUDJGIER und das Fabliau RICIIEUT). vgl. bes. p. 431-439.
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zyklische Einheit zu integrieren, im Blick auf ihr jeweiliges Verhiltnis zu den anderen Gattungen der Epik neu zu untersuchen. Die erstaunliche Beliebtheit des ROMAN DE RENART knüpft sich indes nicht so sehr daran, daß er als Kontrafaktur zur höfisch-ritterlichen Welt die heroische Literatur travestiert, die mit ihm dieser Welt entsprang. Sie rührt, wie die Zeugnisse seiner Aufnahme und die bildhaften Darstellungen allesamt dartun, vornehmlich von der Figur des einen Renart, der das Ethos der höfisch-ritterlichen Gesellschaft negiert und als Inkarnation des Schelms, der sich mehr und mehr von seiner heroischen Gegenwelt ablöst, im Bewußtsein seines Publikums lebendig bleibt. Wenn mit ihm die Tierfiguren, denen er seine Streiche spielt, den Niedergang der feudal-ritterlichen Gesellschaft überdauern, so darum, weil das Reich der Tiere nicht allein das Spiegelbild dieser Gesellschaft und ihrer heroischen Literatur, sondern zugleich auch eine Typenwelt von zeidosen Charakteren darstellt. Gerade darin, daß die Figuren der mittelalterlichen Tierdichtung die menschliche Natur in ihren beständigen Eigenschaften und Affekten zur Anschauung bringen, liegt ihre bleibende, weit über das Mittelalter hinaus wirksame Bedeutung. Denn damit gehören sie zu einem literarischen Erbe, das die Darstellung des Menschen - wie G. HeB gezeigt hat - bis ins 17. Jahrhundert bestimmt: noch Moliere entrückt seine Personen in eine Typenwelt von Charakteren, die La Bruyere eigens beschreibt und La Fontaine in seinen Figuren der Fabel satirisch endarvt 1), und "erst im offenen Horizont der Moderne sieht die Literatur die Gesellschaft, im Bewußtsein ihrer Geschichdichkeit, aus Individuen in ihrer Singularitlt gebildet"'). Daß die "allgemein bekannten und unveränderlichen Charaktere der Thiere die eigentliche Ursache sind, warum sie der Fabulist zu moralischen Wesen erhebt", ist schon von Lessing in seinen berühmten AbhanJ/lIIIg,,, iber di, Fab,1 erkannt und gegen Breitingers Theorie vom Wunderbaren vorgebracht worden; dort findet sich auch der lapidare Satz, der allen Versuchen, in der mittelalterlichen Tierdichtung schon ein spezifisch modemes Verhiltnis zum Tier (Naturbeobachtung, Einfühlung in die Tierseele) zu entdecken, von vornherein den Boden unter den Füßen entzieht: "Als ob man in den Fabelbüchern die Naturgeschichte studieren sollte I Wenn dergleichen Eigenschaften allgemein bekannt sind, so sind sie werth gebraucht zu werden, der Naturalist mag sie bekräftigen oder nicht." 3) Die Bedeutung und Geschichte der Tiercharaktere ist indes noch wenig erforscht 1) In diesen Zusammenhang ist auch die folgende Stelle aus den Rifltxio"l Jillt1'lti \"on La Rochefoucauld zu stellen: 11'y a oliloni M dilltrlU upitU d' bommu ,pli10M diHrJtI upJtU d'oNmOllX. tI In hommtl lonl. a"'gard MI olilru bommtl, tt lJIIe lu Jiflirtnltl upJttJ d'animoux mlrt tl/u tl Q /'igord lu UMI MI aulrn (Ed. de la PMiade, Paris 19S o, p. 373)' I) G. Heß, Wandlungt" MI GtStlllthofllbilMI i" der !ro"töRsthtn Liitroillr. in: DVjS. 29 (19SS). p. 14 z. I) S4mllitht Sthrifltn, cd. Lachmann-~Iuncker. Bd. 7. p. 4B, Stuttg. 18911.
so",
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zz worden. Eine Untersuchung, wie sie W. Marg über die Charaktertypen im Weiberjambos des Semonides angestellt hat I), liegt unseres Wissens weder für die äsopische Fabel, noch für die Romulustradition des Mittelalters. noch für die Fabel La Fontaines vor. Wenn wir uns hier darauf beschränken. die Charaktere der Tierfiguren unter einem historischen und prinzipiellen Gesichtspunkt, der Ausbildung einer neuen Typenwelt von Charakteren durch die Tierdichtung des IZ. Jahrhunderts und ihrer Differenz zu den Beispielfiguren des EsoPE zu untersuchen, sind wir uns bewußt, mit diesem Teil unserer Arbeit nur einen ersten Anfang für die Erforschung eines Gegenstandes gemacht zu haben, der im ganzen die Arbeitsmöglichkeiten des Einzelnen und die Kompetenz des Romanisten übersteigt. Daß allein die vollständige Erfassung einer Tierfigur wie Fuchs oder Wolf, deren epische Geschichte wir vam 8. bis zum 1 J. Jahrhundert verfolgt haben, eine eigene Arbeit erfordern und eine kunsthistorische Fachausbildung voraussetzen würde, zeigt die monumentale Monographie, in der H. W. Janson der überraschend reichen und bedeutungsvollen Geschichte der Tierfigur des Affen vom Mittelalter bis zur Renaissance nachgegangen ist '). Die Blickrichtung auf die Typenwelt der Charaktere in der neuen Tierdichtung des 12. Jahrhunderts, in der der erste Ansatz zu den vorliegenden Untersuchungen lag, hat auch die stoffliche Abgrenzung des Gegenstandes bestimmt. Die allegorische Tierdichtung der Physiologustradition wurde nur insoweit herangezogen, als sie für die Vorgeschichte des Tierepos gelegentlich Aufschlüsse bringt. Auf die neue Tierdichtung des 12. Jahrhunderts hat die typologische Allegorese der Bestiarien so gut wie gar nicht eingewirkt 3). Die Charaktere der Tierfiguren im EsoPE und im RdR haben mit der typol0gischen Bedeutung der Tiere, die im BESTIAIRE Philipps von Thaun und seiner Nachfolger die heilsgeschichtliche Situation des Menschen zwischen Gott und Teufel auslegen, nichts gemein. Der Fuchs, der im Tierepos zum Gegenspieler des Wolfes wird, hat damit aufgehört. ,figura diaboli c zu sein; das Reich König Nobles ist vom mythischen Horizont des Glaubens abgelöst und ohne Beziehung zu dem geschichtlichen Grund der epischen Wahrheit, die der Chanson de geste noch ganz fraglos zugesprochen und auch beim Artusroman erst allmählich und vereinzelt in Frage gezogen wird: mit dem Tierepos erscheint innerhalb der Literatur des Mittelalters zum erstenmal eine nur noch fiktive epische Welt. Dagegen bildet die erste volkssprachliche Fabelsammlung des Mittelalters. der EsoPE der Marie de France, den Einsatzpunkt unserer Betrachtung, weil hier die I) W. Marg, D" CharflJ:l" ill tkr SP'fltM tk, /rllhgrittbirtINII Ditblllllg (Semonides Homer Pindar), Diss. Kiel 1935 (Würzburg 19H). I) H. W. Janson, Apu flNl AJH Lort in IIN ",iJJlt Agts antilIN &1IIliSSfllltt, London 191 z (SluJitS o/IIN Warbllrg /IIslillilt, Vol. 20). I) Lediglich das eine Physiologus-~lotiv vom Fuchs, der sich tot stellt und damit Vögel überlistet, die auf ihm picken, findet sich in einem späteren Zusatz zu Branche V (BeM 60-80) und in der abschließenden Branche XVII (v. J 398 ff'.) des RdR als eine List Renarts.
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Umbildung der äsopisch-christlichen Fabeltradition im Sinne der neuen, spezifisch mittelalterlichen Auffassung der Tierfiguren besonders deutlich wird. Im Gang der fünf Untersuchungen, die von der Tierfabel über die Anfange der Tierepik zum Ursprung des volkssprachlichen Tierschwanks führen, das erste volkssprachliche Tierepos eigens vom lateinischen YSENGRIMUS abheben und sodann die zyklische Entfaltung der Fuchsepen verfolgen, dominiert eine gattungsgeschichtliche Perspektive; doch wurde im ganzen darauf geachtet, daß in der Folge der Einzeluntersuchungen und in der durchgängigen Betrachtung einzelner Themen, wie dem der ,sapientia' oder der Fortuna, der große historische Ablauf sichtbar bleibt. Die abschließende Untersuchung bezieht den mhd. REINH:\RT FUCHS und den ndl. REINAERT mit ein und führt bis zum Endpunkt der zyklischen Renartdichtung in Branche XVII, der ,processio Reinardi'; auf die allegorische Tierdichtung des Spätmittelalters, die traditionsgescbichtlich wieder in anderen Zusammenhängen steht, gedenken wir in einer selbständigen Darstellung zurückzukommen 1).
1) Kurz vor dem Abschluß dieser Arbeit erschien in der Reihe Conllllislantt du Itllrel (Bd. 49) eine Einführung in den R01llan M Rtnard von Robert Bossuat (Paris 19n). Da B. an keiner Stelle über die These von Foulet hinausgeht (5. meine
Besprechung, RJ VITI, Erörterung.
19~6-19S7,
p.
2~O
ff.), erübrigte sich hier eine weitere
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DIE TYPENWELT DER CHARAKTERE IM ALTESTEN ALTFRANZÖSISCHEN TIEREPOS UND IHR VERHÄLTNIS ZUR HELDENDICIITUNG
A. Pierre de Saint-Cload als Forbetzer des YSENGRIMUS Seigneurs, 01 avez maint conte Que maint conterre vous raconte, Conment Paris ravi Elaine, Lc mal qu'il en ot er la painc: De Tristan dont la Chievre fist 1), Qui assez bcllement en disr Et fabJiaus ct chancon de geste. Romanz de lui et de sa geste Maint autre conte par la terre. Mais onques n'olstes la guerre, Qui tant fu dure de grant fin, Entre Renart er Ysengrin, Qui moult dura et moult fu dure. Des deus barons ce esr la pure Que ainc ne s'entramerent jour. Mainte mellee et maint estour Ot entr'culz deus, ce est la voire. Des or commencerai I'estoire. Or oez le conmencemcnt Et de la noise et du content, Par quoi et por quel mcsestance Fu entr'cus deus la dcsfiance. (11 I-U)
Diese Verse. die nach Foulets überzeugendem Nachweis als Prolog zum lltesten Teil des ROMAN DE RENART. den Pierre de Saint-Cloud zugeschriebenen Branchen 11 und Va, anzusehen sind 2. betonen den Neueinsatz dieses Werkes so ausdrücklich. daß hier zunächst zu fragen ist. worauf seine Sonderstellung als Tierepos wohl beruht. die den Verfasser dazu veranlaßt I) JiJ,,1 nach Ms. B. (vgl. RdR cd. M. Roques v. Hn). In den anderen M55. findet sich tpD satt tJo"l; vgl. dazu FOULET p. 67: .. Lc vers Dt TrisIll" '110 la Chit"" fisl doit se lire: Dt Trisla1l que la Chinrt fisI." I) Siehe Kap. III, X, XI; vgl. dazu SUCHIER p. I SI, der gegen Foulets Chronologie der Branchen kein triftiges Gegenargument vorzubringen hat und zu der Datierung des Prologs von lI-Va nur anzumerken weiß, dieser lasse sich .. auch auf eine Volkserzählung beziehen".
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hat, es eigens von den um 1176 verbreiteten epischen Gattungen abzuheben. Daß Pierre ein bekanntes Schema der Exordialtopik: ,ich bringe noch nie Gesagtes'l) benutzte, hindert in diesem Falle nicht, seine Ankündigung flir bare Münze zu nehmen. Denn der Jongleur, der sich an einen Kreis von Zuhörern wendet, ihm aufzählt, was ihm an Stoffen schon altbekannt ist, um alsdann seinen Gegenstand als Neuheit anzupreisen, könnte, wenn er nur Bunkert, allzuleicht seiner Lüge überführt werden. Hier liegt die Neuheit offenbar sowohl in der Gattung der Erzählung (toll/e), als auch in ihrer Fabel, genauer: in einem noch nie gehörten Teil der Fabel, sofern man voraussetzen muß, daß die Zuhörer von vornherein über die angekündigten Haupthelden Bescheid wußten. In der Gattung der Erzählung: denn Pierre fUhrt in seiner Durchmusterung nicht nur Einzelwerke wie den Trojaroman (v. 3), die nicht auf uns gekommene Tristanversion eines gewissen La Chievre (v. s) und einen nicht mit Sicherheit zu identifizierenden Titel (v. 8) aufl), sondern hebt sein Werk überdies noch von den sogleich summarisch erwähnten erzählenden Gattungen des fablilJll und der thalltoll dt geslt (v. 7) ab. Daraus lißt sich Verschiedenes entnehmen. Das neue Werk soll sich von all den genannten Gattungen der altfranzösischen Epik unterscheiden: damit stellt sich die Frage, in welcher Absicht von dem ,unerhörten Krieg' der heiden Protagonisten gehandelt werden soll, wenn das Gedicht tatsächlich nicht mehr der Tradition des Heldenepos folgt. Ferner ergibt sich aus der Erwähnung des Fabliau, daß der afrz. Versschwank um 1176, zum Zeitpunkt 1) Siehe dazu CURTIUS p. 93.
I) Die von MARTIN (p. 34) und FOULET (p. 141) vorgeschlagenen Konjekturen befriedi~n keineswegs. Der erstere liest r011l0nz dOll Itll tl dt 10 btllt (nach Mss. KN) und sicht darin den Titel eines .. reeueil dc fables esopiques, qui comme cclui de Phedre eommen~ait par Ja fable du loup et de l'agneau", der letztere verbessert (wie schon Jonckbloct) IMi in lin, licst r011lQn du lin tl tk 10 bult und bezieht diesen Titel auf den COlljlitlll1 ollis tl lilli, ein Gedicht, das früher Hermannus Contractlls, neuerdings einem Winric von Trier (cf. A. van de Vyver und Ch. Verlinden, in: Revue beige de phil. et d'hist. 12, 1933, p. 59-81) zugeschrieben wurde. Dagegen spricht, daß im Unterschied zu Phädrus das mittelalterliche Romulus-Corpus fast ausnahmslos nicht die Fabel von Wolf und Lamm, sondern die vom Hahn und der Perle an die Spitze setzt (cf. THIELE p. XXI) und daß von einer volkssprachlichen Version des lateinischen Werkcs, das als rein didaktisches Streitgedicht auch dann noch schwerlich für volkstümlich genug angesehen werden könnte, um neben Troja- und Tristanroman in einem Jongleurmonolog zu erscheinen, nichts bekannt ist. Die Konjektur von M. Wilmotte (L'QIIltllT tkl broll,btS 11 tI VII tIM RtIItII'd tl Chri/itll tk Troytl, Rom. 44. P.258 Anm. I). der aus v.8 des Prologs eine Ziticrung von Chrcstiens Löwenritter herauslesen will, stützt sich auf die emendierte Lesart einer einzigen Hs. (0): ";lIIIill fur dulml I1 tk 111 bull. Dieser Vorschlag kann um so \\"cniger überzeugen, als W. für seine Behauptung, der Vf. von lI-Va müsse auch Chrestien gut gekannt haben, aus dem Text nur wenige wörtliche Anklänge beibringt, mit denen sich keine Filiation erweisen läßt.
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als Pierrc de Saint-Cloud (nach Foulet) mit dem ältesten afn. Tierepos hervortrat, bereits zum gängigen Repertoire eines Jongleurs gehört haben muß 1). Ob darüber hinaus die aufgeführten Gattungen: höfischer Roman, Chanson de geste. Fabliau. rUr den Erwartungshorizont des angekündigten ,conte' selbst noch irgendwie bedeutsam und nicht nur zuflllig gewählt sind. derart. daß sich die neue Fabel von Renart und Y sengrin in einer bestimmten Weise mit ihnen berührte. kann erst durch eine Textanalyse entschieden werden. In der Fabel der Erzählung: denn der Ankündigung des Prologs bleibt auch dann noch der Charakter einer Neuheit. wenn man die Fabel des lat. YSENGRIMUS als bekannt voraussetzt. gleichviel ob man dabei an das Werk des Magister Nivardus oder an eine etwaige volks sprachliche Version desselben denkt 2). Das deutet sich schon im Wechsel der Titelfiguren an. Während das lat. Tierepos unter dem Namen des Wolfes überliefert ist, werden im Prolog Pierres sogleich Fuchs und Wolf zusammen als Titelfiguren aufgeführt. Entscheidend ist dabei. daß die unauslöschliche Feindschaft der beiden Antagonisten unter einem Aspekt angekündigt wird, der für das Publikum, das mit der Fabel des YSENGRIMUS vertraut ist. eine überraschung birgt. Diese liegt weniger darin, daß die Feindschaft von Fuchs und Wolf zum erstenmal in die feudale Welt versetzt wird (Ja gllen"' .•• des dem barons, v. ]0, 14). als in der versprochenen Enthüllung, Par quoi et por qucl mesestance Fu ente'eus deus la desfiance. (v.
21-22)
Die Neuheit dieses Themas ist nach den vorangegangenen Ausführungen über das Motiv der Feindschaft zwischen Fuchs und Wolf in der Geschichte der Hoftagsfabel nicht mehr zu verkennen. Pierre de Saint-Ooud kündigt in seinem Prolog nichts Geringeres an als die endliche Aufklirung der von Paulus Diakonus bis zu Nivardus offen gelassenen Frage nach dem I) Foulet hat dieses Zeugnis offenbar übersehen. als er bei der Diskussion des Namens RichtIlI mit Bedier und Gröber den Anfang des afrz. Versschwanks um 1200 ansetzen wollte (cf. P.93). Demnach wäre die Angabe Bediers. der älteste Beleg für die Bezeichnung Fabliflll finde sich um 1180 in den Fabeln der Marie de France (Lu Fabliflllx, iI92S. P.40). zu revidieren und müßte das Hervortreten dieser erzählenden Gattung. die um 1176 bereits zum gängigen Re-
pertoire der Jongleurs gehöne, schon Mitte
12..
Jahrhundert angesetzt werden.
I) Sollte etwa der nicht mit Sicherheit identifizierte Titel Romallt tk Im I1 tk sa gull (v. 8) eine volkssprachliche Version des YSENGRIMUS meinen? Wenn Im in /ell zu emendieren wäre (so l\leon. RdR t. I v. 8, und MARTIN p. 34). ergäbe sich ein genaues Korrelat zur Fabel des YSENGRIMUS: ROllltIJIt tIM 11" tI tk sa gull = die Erzählung von Ysengrin und seiner .geste'. Doch gegen diese Auflösung spricht. von lautgeschichtlichen Bedenken einmal abgesehen. daß die beiden einzigen Mss .• die /ell statt /m bringen. den zweiten Teil des Verses zu el tk sa besl, geändert haben und darum nicht mehr auf die Fabel des YSENGRIMUS bezogen werden können.
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181 epischen Anfang der Geschichte von Renart und Ysengrin: worin ihre Feindschaft letztlich gründet und aus welchem Anlaß sie hervorgegangen ist. Damit sind die Ausgangsfragen für eine neue Untersuchung des Textes gestellt. der am Anfang der zyklischen Entwicklung des volkssprachlichen Tierepos steht und dessen Verhältnis zum YSENGRnlUs. in dem die lateinische Tradition der Fabel vom Hoftag des Löwen gipfelt. zu den umstrittensten Punkten der Kontroverse zwischen Foulet und Voretzsch gehört. Wenn sich unsere Beobachtungen am Prolog durch die Textanalyse bestätigt finden. dürfte sich - soviel wird hier schon deutlich - das Verhältnis des afrz. ROMAN DE RENART zu dem 2S Jahre älteren lat. YSENGRIMUS in einem neuen Licht darstellen. Dabei schließt der Nachweis. daß das Werk Pierres den Charakter einer Fortsetzung hat. nicht notwendig die Entscheidung der Frage ein. ob ihm die Fabel des YSENGRIMUS aus dem Werk des Magister Nivardus oder aus einer volks sprachlichen Version desselben bekannt war. Daß der schwierige lateinische Text schwerlich einem breiteren Publikum vertraut gewesen sein kann. spricht - wenn man von einer afrz. Version des Y SENGRIMUS einmal absieht - noch nicht unbedingt gegen die Annahme einer Fortsetzung. Pierre kann sein Werk auch im Blick auf den gebildeten Teil seines Publikums. der den lat. YSENGRIMUS kannte, als Fortsetzung geschaffen haben. was nicht besagt. daß es nicht auch ohne diese Voraussetzung verständlich und reizvoll genug war. um für sich selbst bestehen zu können. Wenn es sich ergibt. daß die Fabel von Branche lI-Va die Fabel des YSENGRIMUS unmittelbar aufnimmt und konsequent fortsetzt. kann die Frage nach einem afrz. Zwischenglied außer Betracht bleiben und gefolgert werden. daß dieses Zwischenglied in seiner Fabel nicht wesentlich von der des lat. YSENGRIMUS abgewichen sein kann. Dem Kenner des YSENGRIMUS. soviel ist sicher. mußte die Neuheit des angekündigten Themas sogleich in die Augen springen und dem Werk Pierres den besonderen Reiz derjenigen Art von Fortsetzung verleihen. die nicht nur ein neues Stück an eine bekannte Fabel ansetzt und als bloße Verlängerung mehr oder minder der Routine der Nachahmung zu verfallen droht. sondern - wie Rabelais' GARGANTUA - durch das Nachholen einer bisher als fehlend empfundenen Vorgeschichte auch einen engeren. notwendigen Konnex mit dem vorausliegenden Werk gewinnt. Damit aber muß auch Pierre de Saint-Ooud vom stümperhaften Bearbeiter 1) zum selbständigen Fortsetzer des YSENGRIMUS aufrücken und das älteste afrz. Tierepos losgelöst von dem einseitigen. das Verständnis auf eine vorweg festgelegte Bahn einengenden Abhängigkeitsschema den Rang eines eigenständigen Werkes gewinnen.
1) Diesen Vorwurf erhebt Voretzsch gegen Foulebl These. s. Einl. zum RF p. XXI: .. Will man mit Foulet den Roman de"Renart aus dem Ysengrimus herleiten. so sind die französischen Renartdichter allem anschein nach ziemliche stümper gewesen: kein einziger hat den Ysengrimus als ein ganzes mit seiner
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Es entbehrt nicht der Ironie, daß derselbe Foulet, dessen ganzes Buch die leidenschaftliche, im ganzen berechtigte und verdienstliche Polemik gegen das Bestreben der älteren Forschung durchzieht, in jeder Branche des RdR sogleich nur das Produkt eines ,remanieur' zu sehen und dahinter eine hypothetische ,ursprünglichere Fassung' zu suchen, seinerseits bei der Ableitung des RdR aus dem YS nicht anders verfährt, als handle es sich bei dem ersteren um ein ,remaniement' des letzteren 1). Um Voretzschs These zu widerlegen, die afrz. Renartdichtung sei volkstümlichen Ursprungs und in ihrer ältesten, vom RF am besten bewahrten Gestalt unabhängig von dem gelehrten Kunstepos des Nivardus entstanden, sucht er seine Gegenthcse: der RdR sei aus dem YS geschöpft und, wie überhaupt alle große volkssprachliehe Literatur des MA, ohne das Vorbild der lateinischen Dichtung nicht zu denken 1), einzig durch den Nachweis einzelner stoffgeschichtlicher und fonnaler Abhlngigkeiten zu erhirten. Da er sich auf einen einseitigen Vergleich beschränkte, bei dem der YS immer nur von Fall zu Fall als Quelle herangezogen wurde, hatten seine Kritiker leichtes Spiel, Lücken und Unstimmigkeiten in dieser Abhlngigkeit dagegen aufzurechnen I). Solange man allein auf der Ebene unmittelbarer Nachahmung und Entlehnung operiert und nicht Intention an Intention mißt, läßt sich der RdR in der Tat nicht schlüssig auf den YS zurückführen und behilt Voretzschs abschließendes Argument gegen Foulet sein volles Gewicht: "Hätte der YS von anfang an die Renartdichtung bestimmt, so müßte diese eine viel engereAnlehnung an jenen im ganzen wie im einzelnen zeigen ... ·) Der Kern des Problems liegt indes nicht darin, ob Foulet in seiner Annahme von Entlehnungen und Nachahmungen zu weit ging, sondern in der Frage, inwiefern der YS den Verfasser der iltesten Branche des RdR dazu bestimmen konnte, die Geschichte wieder aufzunehmen und aus den schon seit Nivardus bekannten Tierschwänken und neu aufgenommenen Stoffen (Renart und Tibert, Renart und Tiecelin, Plaid) eine neue Fabel zu komponieren. Unsere Hypothese, daß zwischen der Fabel des YS und der des RdR das Verhältnis einer Fortsetzung besteht, schließt demnach weder aus, daß Pierre de Saint-Cloud zum Teil Stoffe des YS wiederbearbeitet, noch daß er darüber hinaus Tiergeschichten, die in der mündlichen Erzähltradition im Umlauf waren, seinem Tierepos einverleibt hat.
kunstvoll geführten Handlung bearbeitet. kein einziger ein ähnliches. aus einer reihe von erzählungen bestehendes und doch einheidiches werk nach dem vorbild des Ysengrimus geschaffen I" I) Wie schon LEO beanstandet hat: .. Es ist bei Foulet ein eigentümlich widerspruchsvolles Verfahren zu beobachten: er will die Branchen als original herausstellen. baut aber zu diesem Zwecke oft sehr viel künstlichere Nachahmungavorginge auf als die Verfechter der .Vorlagen' tun" (p. 17). I) FOULET p. ,67. I) Siehe VOUTZSCH. Ein!. zum RF p. XXI-XXVI; SUCHIJlIl p. I , I ff. ') ibid. p. XXI.
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Wenn Foulet a limine abweist, daß das Publikum Pierres jemals von Renart und Ysengrin gehört habe 1), verkennt er sowohl die eigentliche Pointe des Prologs zu Br. lI-Va, als auch den Umstand, daß Renart und Ysengrin sogleich wie zwei altbekannte Helden eingeführt, dem Publikum also nicht mehr eigens vorgestellt werden. Schon Fauriel hatte I8p den Prolog zu Br. II so verstanden, daß Pierre sein Werk nicht als einen völlig neuen Stoff ausgebe, sondern sich als "renovateur ou continuateur" einer schon bekannten Fabel vorstelle I). Da Fauriel indes diese Fortsetzung nicht auf die Fabel des YS bezog und sich zudem durch die Anordnung der Edition Meon irrefUhren ließ, blieb es bei einer bloßen Behauptung, der seither nie wieder Bedeutung zugemessen wurde. Foulet setzte sich mit einer bloßen Gegenfrage darüber hinweg 3) und fand später eine geschickte Erklärung für die fehlende Einführung der Hauptfiguren : Pierre habe Renart und Ysengrin zunächst als Barone vorgestellt, erst allmählich merken lassen, daß es sich um Fuchs und Wolf handle und damit eben das seit Chrestien geläufige Verfahren angewandt, die Nennung des Namens bei den Hauptpersonen hinauszuzögern. Diese Erklärung vermag keineswegs zu überzeugen C), wie am besten aus der vergleichenden Analyse erhellt, die Büttner am RdR und am RF angestellt hat. Der mhd. Dichter, der offensichtlich nicht damit rechnen kann, daß der Stoff seinem Publikum durch eine vorgängige Tradition vertraut ist, sieht sich genötigt, eine ganze Reihe von Gegebenheiten erst zu erklären, die der afrz. Verfasser als schon bekannt voraussetzen kann. Diese Voraussetzungen beziehen sich im besonderen "auf die Namen der Tiere, auf ihr Wesen, ihre Stellung, ihre verwandtschaftlichen, freundschaftlichen oder feindseligen Beziehungen zueinander" 6). Hätte Pierre de Saint-Ooud seinem Publikum die Fabel von Renart. und Y sengrin zum erstenmal vorgesetzt, so wäre auch er nicht ganz ohne Erklärungen in der Art des RF ausgekommen. Gegen Foulet spricht ferner, daß die erste Namensnennung in Br. II nicht auf eine Enthüllung des Wesens von Renart und Ysengrin angelegt und darum mit dem Artusroman nicht vergleichbar ist. Von einem vorbereiteten Oberraschungseffekt kann schon allein darum nicht die Rede sein, weil die beiden ,Barone' von Anbeginn in der Welt der anderen, sogleich benannten Tierfiguren auftreten und ihre Rolle in der Ambivalenz von Held und Nichtheld. Rittertum und Tierheit mitspielen müssen, so daß für eine besondere Enthüllung I) FOULET p. 39. I) HiJ/oire lil/iraire tk la Fran", t.
XXII (18S2), P.909. ') "Fauricl aurait bien dü nous dire comment Pierre se serait exprime stil avait voulu se donner commc inventeur: nous ne voyons pas un mot dans son prologuc, qui puissc suggcrer meme de la fa~on la plus loi:1taine une renovation ou une continuation" (p ..n). t) Zu FOULET (p. 21 ~ f.) vgl. SUCHIER (p.226) und Huet in seiner Besprechung von Foulets Arbeit (Le moyen äge XIX, 1915, p. 88): "d'aucuns jugeront sa solution plus ingenieuse que satisfaisante." I) BÜTTNER II p. 42; zu den einzelnen Punkten vgl. p. 41-5 I.
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(Renart = Fuchs) kein Raum bleibt. Geht man statt dessen davon aus. daß Pierre seinem Publikum nicht mehr zu sagen brauchte. wer Renart und wer Ysengrin ist. so verlagert sich die Neuheit seines Werkes von den Hauptfiguren auf die neue Rolle. die sie als deNS barollJ in einem Kriege spielen sollen. den er als etwas noch nie Gehörtes ankündigt. Hier liegt ein Vergleich mit der Chanson de geste nahe: wie etwa in der Ankündigung des MONIAGF. GUILLAUME wird durch diesen Prolog die Erwartung geweckt, daß zwei wohlbekannte Helden in eine neue, .unerhörte' Lage gebracht werden. von der noch nie ein Erzähler zu berichten 'wußte. Mais onlJNtI n'ois/tl la gilt", ... - gerade diese Ankündigung hat der Forschung einiges Kopfzerbrechen bereitet. weil sich jeder Betrachter unvermeidlich vor die Frage gestellt sah. ob der Prolog nicht etwas ankündige. was nachher im Text dieser und der folgenden Branchen gar nicht einzutreten scheint. Schon G. Paris suchte. weil er den hier angekündigten Krieg im RdR faktisch nirgends dargestellt fand. nach einer verlorenen Branche. die ihn enthalten haben müsse. Eine diesbezügliche Anspielung glaubte er im Sündenregister Renarts (Br. I 1079-1093) gefunden zu haben. aus der er auf eine verlorene Branche schloß...qui. par son sujet meme. a dü contribuer beaucoup a donner au Roman de RtnarJ son caractere d'epopee et d'cpopee feodale. Ce rccit disparut devant I'invention plus ingenieuse de Ja plainte portce par Ysengrin devant le roi Noble"'). Demgegenüber hat Foulet auf dem rein burlesken Charakter dieser Anspielung sie steht in einer Schelmen beichte des Fuchses - insistiert und seinerseits den Krieg der heiden Barone als schon in Branche li-Va verwirklicht aufzeigen wollen: .. La ,,"erite est qu'il ne s'agit pas ici d'une guerre generale de souverain a souverain, mais d 'une guerre privl, entre deux vassaux. ce I) Nun ist zwar unbestreitbar die Transponierung der Feindschaft von Fuchs und Wolf in eine rein feudale Welt eine Eigentümlichkeit. durch die sich das afrz. Tierepos vom YSENGRIMUS grundlegend unterscheidet. und wahrscheinlich als eine persönliche Leistung Pierres anzusehen. der ja auch in seinem ganzen Werk ein auffälliges Interesse an der feudalen Gerichtsbarkeit bezeugte 3). Die Frage ist nur. ob wir seine Ankündigung einer gilt"" fant IN "IIT, d, grlllli fin (II lof.) für bare Münze nehmen dürfen und Branche li-Va mit Foulet so interpretieren können, als ob Pierre hier allen Ernstes eine Fehde zwischen Vasallen hätte darstellen wollen. Wie schon G. Paris hat auch Foulet stillschweigend eine Analogie zwischen Tierepos und .ep0pCe feodale' vorausgesetzt. ohne sich zu fragen. inwieweit sich das Tierepos mit der traditionellen Form der Heldendichtung überhaupt verträgt und wie anders sich die epische Welt im Spiegel der Feindschaft
,Ni
') PARIS
p. 313f.
I) FOULET p. 17 1•
I) .. L'inter~t quc montrc I·autcur pour tout cc qui cst legal. ne va pas sans
une secr~te admiration des formcs ct des procedes dc la justicc sodale. L'auteur cst une manierc de lcgistc cn gaite qui caricaturc sans amenume des institut ions qu'au fond iI respcetc" (FOULBT p. 207).
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von Fuchs und Wolf darstellen muß. Auch hier hat die Etiquette ,epopee heroi-comique' den Blick auf die Eigenheit der Renartdichtung eher verstellt als gefördert. Mit der Feststellung, daß hier und dort eine Darstellungsform der Olanson de geste parodiert wird und einzelne ritterliche Konventionen durch ihre übertragung auf Tierfiguren in eine komische Perspektive gerückt erscheinen. ist die tiefere Ironie in Pierres Werk noch nicht erkannt und gedeutet, die sich durchgängig in der Weise bekundet, wie der unheldische Renart Qui tant par fu dc males ars Et qui tant sot toz jors de guilc
(11 24 f.)
die epische Welt der Tierhclden durch sein Verhalten in Frage stellt und ihre heldische Verkörperung in der Gestalt Ysengrins zur Schwankfigur des tölpischen Hahnreis werden l16t. Betrachten wir nun das Verhiltnis von Branche lI-Va zum YSENGRIMUS im Hinblick auf den Aufbau, so würden sich, wenn man von Foulets Voraussetzung ausgeht, Pierre de Saint-Ooud habe sich bei seiner volkstümlichen ßcarbeitung des lateinischen Epos einfach an die Handlung, d. h. an die Abfolge der Schwankepisoden gehalten und alles Gelehrte und Satirische vernachlässigt 1), die von Suchier und Voretzsch vorgebrachten Schwierigkeiten ergeben I). Diese Einwände stehen und fallen indes allesamt mit der von Foulet nicht gestellten Frage, welches Kriterium der Auswahl Pierre dazu bestimmt haben mag, mit der Chantecler-Episode (a) zu beginnen (cf. YS IV 811- V 130), an die Episode mit der Meise (b)nach Foulet das Korrelat zu dem zweiten Teil der Geschichte von Fuchs und Hahn (YS V 131-316) - zwei Episoden anderer Herkunft, Renart und Tibert (c) und Renart und Tiecelin (d), anzufügen, sodann Ysengrimus im Kloster ganz wegzulassen, die Begegnung von Reinardus mit der Wölfin (YS V 701-820) zu zwei selbständigen Episoden, Besuch in der Wolfshöhle (e) und Vergewaltigung Herscntcs (f) auszubauen und all diesen Szenen schon mit dem ,Plaid' (g) und ,Escondit' (h) eine Konklusion zu geben, für die sich im YSENGRIMUS kein Vorbild findet J). Dem Parallelismus in der Abfolge der Szenen a b e f und den Entsprechungen im Detail, auf die sich Foulet stützt, stehen demnach nicht weniger wichtige Weglassungen, Nebenqucllen, Zusätze und, worauf wir besonders insistieren, der Umstand einer kleinen Auswahl aus dem Ganzen (es handelt sich nur um Teile aus dem IV. und V. Buch des YS) gegenüber, so daß es unter der Voraussetzung des positivistisch verstandenen Abhängigkeitsschemas nur :ru begreiflich ist, wenn Suchier zu dem Schluß kam, die Benutzung des YSENGRDruS als unmittelbare Quelle der Br. lI-Va sei durch 1) Siehe FOULET p. 144. I) Siehe SUCHIER. p. I J 1-1 J 3; VORETZSCH. EinJ. zum RF p. XXI-XXVI. I) Einteilung der Episoden in Br. lI-Va: a = 11 23-468; b = V.469-664; c = v. 665-842; d = v. 843-10.26; e = v. 1027-1210; f = v. 1211-1396; g = Va 247-962; h = v.963-1272.
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186
Foulet keineswegs erwiesen 1). Unter der Hypothese, daß Pierre de SaintOoud dem Werk des Nivardus eine Art von Fortsetzung, bzw. dem Thema der Feindschaft von Fuchs und Wolf eine neue Wendung geben wollte, läßt sich das Kriterium seiner Auswahl, die Foulet nicht hinlänglich begründen konnte, indes auf eine durchgängige Intention zurückführen. Der Verfasser von Br. lI-Va verlagert die Perspektive vom Wolf, dem Protagonisten des YSENGRIMUS, auf den Fuchs. Stand dort Ysengrimus allein inmitten einer Welt von Feinden, so tritt nun Renart in Opposition zunächst zu einzelnen kleineren Tierfiguren, dann zu dem ihm überlegenen Ysengrin und dem Bären (in Bruns Erzählung), schließlich zu dem Hoftag als Institution, die über ihn zu Gericht sitzt und deren Urteil er sich im ,Escondit' durch einen Meineid zu entziehen sucht (diese Opposition zu der Gesamtheit wird später in Br. I, wo sich Renart dreimal zum Hoftag fordern läßt, weiter gesteigert). Daraus läßt sich erklären, warum wohl die ,Wallfahrt der Tiere' und der ,Wolf im Kloster' nicht in Br. lI-Va eingegangen sind: Pierre de Saint-Cloud hat auf dem Schwank ,Fuchs und Hahn', der bei Magister Nivardus etwas aus dem Rahmen rallt, weil er der einzige ist, in dem Reinardus für sich ein Abenteuer zu bestehen hat, gleichsam ein neues, um den Fuchs als Protagonisten zentriertes Tierepos aufgebaut und zunächst durch eine Reihung weiterer Fuchsabenteuer in auffallender Parallelität zum YSENGRIMUS die Geschichte der Kalamitäten Renarts erzählt. Nach der Serie der Mißerfolge mit Hahn, Meise und Kater tritt dann der Umschlag mit der gelungenen überlistung des Raben um so wirkungsvoller hervor: hier zeigt sich Renart in der ihm eigensten Rolle des in seiner Rede (fatltlt, v. 620) unübertrefflichen Schelms. Dem Wechsel der Erzählperspektive vom Wolf auf den Fuchs entsprechend tritt nun auch Ysengrin nicht mehr selbständig in seiner alten Rolle des Wolfmönchs, sondern sogleich aus dem Blickwinkel seines erfolgreichen Nebenbuhlen und Gevatters in Erscheinung, in seiner neucn Rolle des zum ,cocu' gemachten Gatten und Familienhauptes, aus der sich seine Funktion ab Kläger auf dem Hoftag des Löwen (Br. Va) ergibt. Ist Pierre de SaintOoud in der Darstellung des ,Plaid' am weitesten über den YSENGRIMUS hinausgegangen, indem er die Schindungsfabel selbst ausspart und lediglich ihren Rahmen, den Hoftag der Tiere, für das Verfahren gegen den Ehebrecher Renart - seine eigenste Schöpfung - benutzt, so kehrt er ganz am Ende doch wieder zu dem Vorbild der Kalamitäten des Ysengrimus zurück. Denn ohne dieses Vorbild wäre der Ausgang des ,Escondit' (der Schlußszene mit dem Reinigungseid) nicht recht einzusehen, nachdem Renart aus dem Prozeß unverdient glücklich hervorgegangen ist und auch die List Rooncls rechtzeitig durchschaut hat: das Mißgeschick seiner Flucht nach Maupertuis. bei der ihm das Fell an mehr als 13 Stellen zerzause wird, erinnert deutlich an die Heimkehr des vielfach mißhandelten YSCßgrimus und weist auf die präludierenden Mißerfolge von Renarts Auszug I) SUCHIER p. 1 S3.
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zurück. bei denen er immer gerade noch mit einem blauen Auge davonkam: Toz jon est bien Renart choü, Mes or li est si mescoü: Ne Ii ourent mestier ses bordes, Que n'en volassent les palordes.
(Va u61-u64)
Wenn es uns gelungen ist. auf diese Weise den Aufbau des iltesten afrz. Tierepos von seinem Verhlltnis zum lat. YSENGRIIofUS aus zu erhellen. den es - die Erzlhlperspektive vom Wolf auf den Fuchs wechselnd - fortsetzt. bleibt noch die Frage zu beantworten. wie es sich erkliren mag. daß sich Pierre de Saint-Ooud nur auf den Stoff von Buch IV und V des YS gestützt hat. Darüber gibt uns wiederum der Prolog einen Aufschluß. in welchem von dem neuen Thema: Mais onques n'olstes la guerre, Qui tant fu dure de grant 6n, Entre Renart et Ysengrin, Qui moult dura et moult fu dure
(11 10-13)
f(Jtl"''''"-
zunächst nur der Beginn der Geschichte angesagt wird (Or DIt " ",,,,t, v. 19). nämlich jene Aufklirung über den ersten Anlaß der Feindschaft von Fuchs und Wolf. der ihrer Geschichte zum erstenmal den eigentlich epischen Anfang gibt. Wenn Pierre. der sein Epos mit demselben Teil der Fabel einsetzen lißt, der schon bei Nivardus den (nachgeholten) zeitlichen Anfang bildet I). den Stoff des YSENGIUYUS nicht weiter benutzt hat als von Buch IV zu Buch V (eventuell auch Buch TII für den .Plaid'). dürfte sich dies daraus erkli.ren, daß er seine Ankündigung. den Beginn der Geschichte zu erzihlen. mit dem ,Plaid' erfüllt und zugleich seinem Werk mit etwa 1400 Versen schon gut den Umfang einer epischen Vortragseinheit gegeben hat 1). Das schließt eine weitere Fortsetzung nicht aus, sondern impliziert sie geradezu I), auch wenn wir nicht wissen, ob der Verfasser von Br. lI-Va selbst weitere Branchen verfaßt hat und was in dem 1) wie FOULET (p. 144) mit Recht hervorhebt. Die Weglaasung der Wallfahrtsfabel, die im YS zeitlich am Anfang steht, dürfte sich indes durch die Verlagerung der Erzählpersepktive vom Wolf auf den Fuchs besser begründen lassen als durch die keineswegs so erhebliche Schwierigkeit, gleich acht Ticr6guren einführen zu müssen, mit der Foulet argumentiert. I) RYCHNER setzt als obere Grenze für eine zweistündige Vortragseinheit bis zu 2000 Verse an (p. 49), was bei Berücksichtigung der DiB'ercnz zwischen Zehnund Achtsilber dem Umfang von Br. li-Va annlbemd entspricht. Dieser Erzihlumfang steUt im RdR das größte, nur einmal überschrittene Format aller Vortragseinheiten dar (s. u. Kap. V p. 2S1 E.). I) Daraus leitet sich ja wohl auch der Verfasser von Br. I das Recht auf seine Fortsetzung ab. die den Antatz von Pwrol wiederaufnehmen, das vom VorgInger noch nicht Berichtete nachholen und damit die Fabel weiterführen loll (vgl. I 1-10). Zu dem überleitenden Ven: e, tlil r,sloirl ,1 pn_" Nrl (I 11). der sich möglicherweise auf eine gemeinsame Quelle von Br. li-V. und I bezieht, I. jetzt J. Frappier, ehr,sli", M TrYIJIs, Paris 19H, p. 90 Anm. z.
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auf uns gekommenen Corpus der Branchen von der ursprünglichen Reihenfolge der Fortsetzungen bewahrt ist. Der Ausdruck .Fortsetzungen" ist mit Bedacht gewihlt. Denn das älteste afrz. Tierepos ist nicht allein durch die äußere Begrenzung auf den Umfang einer epischen Vortragseinheit. sondern auch - wie schon aus dem Prolog hervorgeht - durch eine ihm wesenseigene Unabgeschlossenheit auf Fortsetzung angelegt und unterscheidet sich dadurch auch vom lateinischen Tierepos des Magister Nivardus. Dieser Unterschied in der epischen Struktur betrifft das Verhältnis von Anfang und Ende und läßt sich am besten verdeutlichen. 'wenn man von einer Definition ausgeht, die Ph. A. Becker dem Heldenepos gegeben hat: "Epos im allerstrengsten Sinne des Wortes ist ein Werk, wo aus einem geringen Anlaß eine unaufhaltsam wachsende Handlung entspringt. die in einigen Fällen zu einem wahren Untergang sich steigert. ce J) Das Tierepos des 11. Jahrhunderts kann mit dem so bestimmten Heldenepos zwar nicht das Moment der unaufhaltsam wachsenden Handlung. wohl aber den epischen Anlaß oder den epischen Ausgang gemein haben und ist selbst wieder in seiner epischen Struktur differenziert, je nachdem ob der Anfang oder das Ende oder beide zusammen der (am reinsten vom Rolandslied ausgeprägten) Form des Heldenepos entsprechen. Im YSENGRJMl'S. den Nivardus noch nicht aus einem .geringen ersten Anlaß" entspringen läßt, fehlt der Feindschaft von Fuchs und Wolf der eigentlich epische Anfang. Dafür erhält das Gedicht aber durch den Untergang des Wolfes ein episches Ende. das Ysengrimus vor allen Tieren auszeichnet und im besonderen zur epischen Person macht, der gegenüber seine im Verlauf der Handlung nie gefahrdete Gegenfigur Reinardus mehr als Verkörperung einer Wesenheit denn als epische Person erscheint. Insofern liegt es in der Konsequenz der epischen Struktur. wenn Ysengrimus für das Werk des Magister Nivardus zur Titelfigur geworden ist und der Titel mit den Namen der heiden Protagonisten sich in der Tradition nicht durchgesetzt hat. Im ROMAN DE RENART hingegen. in dem die Feindschaft von Fuchs und Wolf einem geringen ersten Anlaß entspringt und damit das Profil eines epischen Anfangs erhält, ist ein Ende der Feindschaft zwischen Renart und Ysengrin. IJIIe ai"t ", s',,,tramtr,,,1 JONr (11 1'). nicht abzusehen. Jede Niederlage bringt nur einen neuen Racheschwur. jeder Sieg die Erwartung einer neuen Vergeltung mit sich. und der Tod. mit dem die Feindschaft der unversöhnlichen Widersacher allein ihr Ende nehmen könnte, tritt auch in dcn späteren Renart-Branchen nicht ein, noch haben die Fortsetzer Pierres de Saint-Ooud jemals versucht, dem RO~fAN DE RENART mit dem Tod einer anderen Hauptfigur einen epischen Abschluß zu geben. In Renart und Yscngrin stehen sich. obschon sie als .zwei Baronc" angekündigt sind, nicht zwei endliche Helden gegenüber: das I) Ept"./rflgm (Aus den nachgelassenen Schriften Prof. Dr. Ph. A. Beckers. hrsg. von E. und H. Bccker). Wiss. Zschr. der Friedrich-Schiller-Univenitit Jena, Jg·4 (19S4/ss). p. z.
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afrz. Tierepos stellt das im YSENGRIMUS nicht gewahrte Prinzip der Unsterblichkeit der Tierfiguren wieder her und gewinnt, indem es zu keinem epischen Abschluß gelangt, den der Verfasser des mhd. REINHART FUCHS mit dem Tod König Vrevels wieder sucht, gerade durch seine Unabgeschlossenheit den Ansatz der zyklischen Form. Das epische Problem dieser Unabgeschlossenheit soll erst im Zusammenhang mit den verschiedentlichen Versuchen späterer Autoren, dem RdR eine Konklusion zu geben, weiter erörtert werden. Hier kommt es zunächst nur auf den einen Aspekt an, daß der für das älteste afrz. Tierepos konstitutive Fortsetzungskeim sich nicht allein in einer neuen, von vornherein auf Pluralität angelegten epischen Form, der ,branche', manifestiert, sondern auch in einer veränderten Auffassung des Geschehens geltend macht. Wie im großen gesehen die ,branche' erst durch den Hinblick auf ihre unvermeidliche Fortsetzung ,vollständig' wird, im Unterschied zum zyklischen Heldenepos also nicht erst aposteriori durch eine mögliche Weiterführung den Charakter eines Ausschnitts erhält, ist auch im kleinen gesehen der schwankhaften Episode eine Tendenz zur Reihung eigen, die dem Gerichtetsein auf ein Ende widerstrebt. Im Schritt vom YSENGRIMUS zum ROMAN OE RENART gewinnt der Tierschwank, den Magister Nivardus mit sichtlicher Mühe in die fatalistische Bahn seiner Fortuna-Auffassung einzwängte, den freien Spielraum jener Kontingenz, die der alltnIlIre Renarts ihre besondere Spannung verleiht.
B. Die Kontingenz des Geschehens und das Wesen der ave n t ure im ROMAN DE RENART
Dem Leser, der vom YSENGRIMUS herkommt, fällt zunächst auf, daß sich in Branche 11 alle diejenigen kontingenten Elemente, die Nivardus aus dem Geschehnisablauf entfernt hat, wieder einstellen. Der Vorgriff auf den Ausgang, der den Eintritt in die avtnlllrt bereits überschattet, die unsichtbare Hand Fortunas, welche Akteure und Dinge ad hoc in Szene setzt und wieder abtreten läßt, der Aspekt einer je schon zubereiteten, fatalen Konstellation, in den jede scheinbar zufällige Wendung des Geschehens rückt: all dies ist wieder im unverstellten Horizont des Möglichen aufgegangen, der sich nach jedem Ereignis wiederherstellt, die Verlockung des Risikos erneuert, ein unvorhersehbares Dilemma heraufführt und die Lösung zu einer Aufgabe ohne Präzedenzfall macht. Damit zieht das formale Schema der Aventürenreihung, wie es der höfische Roman soeben ausgebildet hat, in das afrz. Tierepos ein und rückt dieses strukturell von der Chanson de geste mit ihrer geschlossenen Handlungsentwicklung ab, was aber noch nicht besagt, daß die tlIItnlllT't Renarts mit der eines Artushelden zu vergleichen wäre. Diese Differenz gilt es zunächst genauer zu bestimmen. Das formale Schema der Aventürenreihung ist im Übergang von Schwank zu Schwank mit den herkömmlichen Wendungen angezeigt, die
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dem Eintreten des Neuen den Charakter einer anhebenden, noch nicht zu bestimmenden Begebenheit (li 1lII;'" (hose IJIIt Rellllrs . .., 11 23) oder einer unerwartet sich auftuenden Wendung des Geschehens (QIII '111';1 se ple;III M Itl 101mge, AIIIIII es 1101 lI1U ",tlll1ll! ... , 11 469-470) I) geben. Der übergang kann aber auch thematisiert werden: S'en est tornes a molt grant peine Si conme aventure le meine. (11 8.P-842)
Hier wird lIIIe"'lITe als abstracrum agens zum Subjekt des Geschehens, ohne daß man schon von einer allegorischen Personifikation sprechen könnte'); die Wendung artikuliert in diesem Zusammenhang nur den wiederhergestdlten Horizont des Möglichen nach überstandener Gefahr (Renart ist soeben aus der Falle entronnen, in die ihn seine .",IIllITe mit Tibert gebracht hat). Wo das Zusammentreffen zweier Tierfiguren als eine besondere Fügung erscheinen könnte, wie in der 4. Episode, wo der Rabe, um seinen Kise zu verzehren, ausgerechnet auf den Baum Biegt, unter dem Renart sich ausruht, wird diese Fügung als sdbstverstindlich hingestellt: Atant s'en torne et vient tot droit (lI 895-896) Au leu ou dans Renarz estoit.
Hier waltet kein Verhingnis, das bereits den Eintritt in die 1lIItII11IT1 überschattet; der Erz1hler hat aus der entstandenen Konstellation: Ajome furent a cel ore Renarz des os et eil desoure. Mes tant i out de dessevraille Que eil manjue et eil baelle (11 897-900)
nur einen heiteren Effekt geschaffen, indem er sie mit der gerichtlichen Vorladung (tJjOrlln' = ,assigner en justice')') auf eine Ebene des Vergleichs stellt und auch die Möglichkeit einer Verkehrung der Situation als eine Art von ausgleichender Gerechtigkeit (NIl l a i ; Dill M Mllnmu"e . ..) ironisch andeutet. Die vollendete IIIIIIIhIr, lißt bei Renart nichts zurück als Hunger und Müdigkeit: I) Mit derselben stehenden Wendung wird auch das Jagdabenteuer eingeleitet: GtlTM tI "';1 ", II1II ,.,. Ti,,"ll, lhal . .. (11 665 ff.) .
12", fII';1 s, pl.", M S'II",,""
•) Siehe R. Gbsscr, Abstrtllllllll 111'111 I11III AII,gori. illl 411"'" Prll"tisillb, ZRPh LXIX (1953) p.43-122. Wann tnmhln zum erstenmal als abstractum agens erscheint, läßt sich dort nicht fcststellen. Vielleicht im EllBc? Vgl. ed. M. Roqucs, SATF 80, Paris 1952, v. 5296.: Me! j'atant ancor meillor point, que Dcx greignor enor Ii doint que aventurc li amaint ou roi ou conte qui I'an maint. ') Siebe TILANDEIl (uxifll' unter IIjtmllr). Foulet hat den übertragenen Sinn von IIjtmllr übersehen; damit wird seine darauf aufgebaute Chronologie dei Fuchaabenteuers in Br. li-Va hinBllig, die für das Verständnis ohnedies belanglos ist {cf. p. 188 Anm.2}.
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N'cst merveille s'il est lassez. Car le jor out foI ascz. Si a trove mauves eür. Mais que chaut? ore est asoür,
(11 657-660)
sie bleibt in ihrer einmaligen Struktur unwiederholbar und wirkt weder auf der Ebene des Geschehens, noch auf der der Erfahrung auf die nachfolgende ein, so daß es im afrz. Tierepos zu keiner Verstrickung der Handlung, aber auch zu keiner Steigerung des ,Helden' durch die Reihe seiner Bewährungen kommen kann. Renart ist am Ende nicht vollkommener als er sich schon am Anfang zeigt. Seine Aventüren in Branche lI-Va lassen sich darum auch nicht in ein Entwicklungsschema hineinpressen, als ob er erst durch die Summierung seiner voraufgegangenen Erfahrungen zu dem Meisterstück der überlistung des Raben gelangt wäre. Die mißlungene Oberlistung Chanteclers war an sich nicht weniger schlau eingeflidelt (es handelt sich um dasselbe Schema),. die aufgewandte Rhetorik ebenso unwiderstehlich. Wenn der Betrüger am Ende von Chantecler selbst wieder betrogen wird und Anlaß hat, seine Dummheit zu beklagen (QIII fJlI'il SI pl,i,,1 JI sa IDsI"gl, v. 469), kann ihn die in seinen Selbstvorwürfen (11 445 ff.) wirksam gewordene Erfahrung keineswegs davor bewahren, in den folgenden Aventüren mit der Meise und mit dem Kater erneut zum betrogenen Betrüger zu werden. Die Erfahrung der tWI"tllTI in der Welt des Tierschwanks ist die retrospektive Weisheit des Sprichworts, sie bleibt auf den eiru:elnen Fall bezogen und ermöglicht lediglich ein ,klug für ein ander Mal', das sich nicht anwenden läßt, weil dieses andere Mal unter denselben Voraussetzungen nicht wieder eintrifft. Die Eiru:igartigkeit und Unwiederholbarkeit der tWI"tllTI hat im Tierepos die besondere Form einer isolierten, aus jeder Begebenheit neu entspringenden und für sich bestehenden Erfahrung und ergibt eine kompositorische Struktur, die man verkennt, wenn man sie als bloß äußerliche Episodenreihung kennzeichnet. Gewiß ist es denkbar, eiru:elne Aventüren untereinander zu vertauschen; doch darin einen Mangel zu sehen, setzt den inadäquaten Maßstab der Chanson de geste voraus, die in ihrer geschlossenen Handlungsentwicklung auf ein Ende gerichtet ist und darum auch in der Abfolge ihrer Episoden determiniert sein muß. Vertauschbar ist die tWI"tllTI im ROMAN DE IlENART indes nur hinsichtlich ihres Orts in der Abfolge; die in ihr beschlossene Erfahrung bleibt ihrem Wesen nach einmalig und insofern auch gerichtet, als jede wiederkehrende Schwanksituation aus der reinen, d. h. alle Wiederholung ausschließenden Kontingenz, die sich im Geschehnisablauf des Renartabenteuers darstellt, herausfallen muß, wenn ihr keine neue, die Situation verändernde Erfahrung entspringt. Das Fehlen motivierter übergänge ist dem Tierepos wesenseigen, Ausdruck seines unwiederholbaren Geschehens und nicht mangelnde Komposition. Die Isoliertheit der IIVI"IIITI im RdR schließt indes andere Möglichkeiten eines planvollen Aufbaus nicht aus, sie erfordert nur an Stelle der vorgängigen Einheit, die C. Lugowski als .. mythisches Analogon" in
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der Struktur der mittelalterlichen Epik und noch im Grundschema des Entwicklungsromans aufgedeckt hat 1). eine Einheit aposteriori. die der diskontinuierlichen Erfahrung dieser Illltn/lITt darin entspricht. daß sie ihre Episoden nicht in sich aufnimmt. sondern lediglich in ein anderes Licht setzt. Der kompositorische Zusammenhang des Gedichts von Pierre de SaintCloud. den Foulet in den zahlreichen Entsprechungen zwischen Br. II und Br. Va so überzeugend dargelegt hat I). ist darum auch nicht so zu verstehen, als ob der erste Teil nur darauf angelegt sei. eine .. preface necessaire aux longs developpements de la seconde partie" zu bilden I). Die Reihe der Kalamitäten, die Renart mit Chantecler, der Meise und Tibert widerfahren, erhält vom Hoftag aus so wenig ihren .letzten Sinn' wie vorher von der erfolggekrönten IllltnlllTt mit Tiecelin, noch findet der Schwank in der Wolfshöhle und seine Fortsetzung in der IlIItn/llrt ts/rllIIgt (11 1117) vor dem Fuchsbau, der den Fall für Isengrin so unentwirrbar kompliziert, in der Gerichtsszene die definitive Konklusion, welche die Schuldfragen klärte und das moralische Bewußtsein befriedigte. Die Verhandlung über den Ehebruch zwischen Renart und Hersent erweist sich damit letztlich als eine neue Episode in einer zweiten Reihe von Aventüren, die selbst wieder unbegrenzt fortsetzbar erscheint, wie die Scheinlösung des ,Escondito. bei welcher der Reinigungseid auf heiden Seiten der Beteiligten zur Farce wird. sogleich vor Augen führt. Der Hoftag in Branche Va rückt die Aventüren Renarts lediglich retrospektiv in der Einheit einer größeren Szene zusammen. insofern neben Ysengrin auch Tiecelin, Tibert und die Meise als Kläger von Brun aufgeführt werden (Va 753-764). bringt aber nichts hinzu. was noch fehlte. um ihren Motivationszusammenhang vollständig zu machen. Die Erzihlung Bruns fügt den Schandtaten Renarts eine weitere hinzu. bestätigt aber nur das bekannte Bild seines Wesens. Nicht Renart ist es. der hier in ein anderes Licht gesetzt wird. sondern die Hofgesellschaft im ganzen, die über den Abwesenden urteilen muß 1) Die For", '" INli"itlMa/iliJl i", &",an: Sllitlitn tollT inlln'm SlrllA:IIIT ' " frlihtn JelllJ(htn ProsMrt,iJhlllng, Berlin, 193Z (Neue Forschung Bd. 14). I) p. 186-18 9. Die Einwände Suchiers (vgl. p. 15 z) sind gegenstandslos, "'eil
er hier nur ein Mißverständnis Voretzschs wiederholt (die angebliche Unstimmigkeit in der Ehebruchsintrige, vgl. VORETZSCH, ZRPh XV 36S f., FOULET 199-z03 und unsere eigenen Ausführungen Kap. IV p. 129ff.); selbst wenn die an sich geringfügigen Unterschiede in Sprache und Reimp~axis einen zweiten Verfasser erfordern sollten, bliebe davon der von Foulet aufgewiesene äußere und innere Zusammenhang von Br. lI-Va unberührt. I) So FOULET p. Z 1 3; vgl. p. 187. Der Erzihler in Br. lI-Va hat erst die awnlure in der Wolfshöhle und vor dem Fuchsbau auf das Hofgericht als notwendige Konklusion hin angelegt; in den ersten vier Episoden weist die Erwähnung König Nobles in der Meisenepisode (11 49z) und die reimbedingte Benennung Ysengrin 11 tDnlUlabll (v. I036) noch nicht notwendig auf den bevorstehenden Hoftag vor. Auch werden Tiecelin, Tibert und die Meise in der Verhandlung selbst nur beiläufig erwähnt (cf. Va 7S4-76z); dabei fehlt auffalligerweise Chantecler, der erst in Br. J als Kläger auftritt.
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und darüber unvermeidlich in Parteien zerBllt: die IIIImIIlrt Renarts bringt die Brüchigkeit des feudalen Ordo und die verlorene Solidarität des ritterlichen Standes zum Vorschein. Damit sind wir in die Lage versetzt. die besondere Ausprägung, die der avt"'lITt im RdR verliehen wird. von der des höfischen Romans, mit dem das afrz. Tierepos das formale Schema der Aventürenreihung gemein hat, abzuheben und ihr historisches Verhältnis näher zu bestimmen. Wir stützen uns dabei auf die Untersuchungen, die E. Köhler dem geschichtlichen Wandel des avlfllllTt-Begriffs in der höfischen Epik gewidmet hat I). Mit dem Einsetzen des höfischen Romans, das historisch mit dem Übergang von der ersten zur zweiten feudalen Epoche (Mare Bloch) zusammenfillt, kündigt sich ein neuer ritterlicher Begriff des Geschicks an, mit dem der Weg ritterlicher Bewährung in die wesenhafte Einheit von Zufall und Bestimmung gestellt wird. Im .t"hIr,-Ideal. das Köhler soziologisch auf die eingetretene Differenzierung des ritterlichen Standes in Klein- und Feudaladel und seine Bedrohung durch die ökonomische Umwälzung des I z. Jahrhunderts zurückbezieht, richtet die höfisch-ritterliche Gesellschaft das Gesetz ihrer feudalen Ethik gegen eine Umwelt, die zu ihr in Widerspruch geraten ist, mit einem ständisch und zugleich universalistisch ,"erstandenen Führungsanspruch aufl). Die "Sinnerfüllung des Zufalls" in der aut"llIrt stellt sich danach nicht nur als Weg zur Perfektion des Einzelnen dar, die ihren alleinigen Antrieb in der Liebe hat. Der Weg zur individuellen Perfektion enthüllt zugleich die Rückbindung des entfremdeten Einzelnen an die von ihm abhängige Gemeinschaft, deren Bestehen sich mit jeder avt"llIT' neu entscheidet I) : Wesenssuche und Reintegration sind die heiden voneinander unablösbaren Aspekte der einen ritterlichen av,,,lllrt. Köhler hat den autnlllTt-Begriff bis zu dem Punkte verfolgt, an dem er entweder in den Bann des Spiritualismus gerät oder in die Fortuna-Vorstellung übergeht. Diese Wendung bahnt sich mit der Rezeption der Graal-Lcgende an: .. Mit Chrestiens Gralroman fällt der own/llrt-Bcgriff einer Fatalität anheim, die sein Aufgehen in eine der Providenz untergeordnete For/IIIIII erzwingt. Je schwächer in der späteren ritterlichen Dichtung der Glaube an eine gemeinstindische Sendung wird ( ... ) desto mehr tritt das verdrängte fatalistische Element der For/MIIIl- Vorstellung an die Oberfläche zurück und erfaßt auch den Olltlf/urt-Bcgriff, bis die in der Qlits/t tltl Soin/ Grool im radikalen Vorsehungsgedanken völlig mit For/lint identisch gewordenc: Ollm/llrl in der den großen I)
IMa/ IIIUI WirlUi,lJluil in tkr IJöjisthtn Epik, Tübingen 19S6 (Beihefte zur
ZRPh, 97. Hdt); zur Literatur über den oWIf/'II't-Bcgriff siehe ibid. p.66. ') Siehe KÖHLER p. 71: .. Indem die Ollm/llrl zum idealen Charakteristikum des ganzen Standes erhoben wird, reintegriert sich der Klcinadcl in eine der literarischen und höfischen Fiktion nach besitzindifferente, auserlesene Gemeinschaft. Darum erscheint das Abenteuer als ein Sicherproben ,ohne Auftrag, ohne Amt, ohne konkreten geschichtlich-politischen Zusammenhang' (E. Auerbach)." ') Skhe KÖHLER p. 67: "Der Mensch ist nicht mehr ausschließlich als Glied einer Kollektivität dem Schicksal verbunden, sondern als Einzelner, an dem sich das Geschick der Gemeinschaft entscheidet."
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Vulgatazyklus abschließenden Mari t/'Ar/II ganz vom tragischen Schicksal der zum Untergang verurteilten ritterlichen Welt des Artusrcichs geprägt wird." I)
Welche Stellung nimmt nun das um 1176 entstandene, also zur Zeit von Chrcstiens großen Romanen, aber noch vor dem CoNTE DEL G RAAL (nach 1181)1) anzusetzende afrz. Tierepos innerhalb der Geschichte des IIIIe"lllre-Ideals ein? Hier ist von dem oben erörterten Schritt auszugehen, der zwischen dem YSENG1UMVS und dem ROMAN DE RENART liegt. Wie die prästabilierte Harmonie der 1I",,,llI1'e im höfischen Roman von der heroischen Auffassung des Schicksals in der Chanson de geste, der das Rolandslied die beispielhafte Ausprägung gegeben hatte, so hebt sich auch das kontingente Geschehen der lIIIe"llI1'e Renarts vom unentrinnbaren Geschick des Ysengrimus ab, der bei Nivardus völlig der feindseligen Fortuna preisgegeben ist. In heiden Fällen schließt die Verlagerung des Schwerpunkts vom unausweichlichen Ende zur ruhenden Mitte eine Ästhetisierung der ritterlichen Welt ein: der höfische Roman versetzt sie in die verzauberte Landschaft des Märchens mit dem Artushof als idealer Mitte, der RdR in das fiktive Reich der Tiere mit dem Hoftag König Nobles als richtender Instanz. Bei aller Ähnlichkeit im feudalen Aufbau der fiktiven höfischen Welt zeigt sich aber sogleich in der Art ihrer Stilisierung ein tiefgreifender Unterschied an. Das Wunderbare des Märchens bleibt aus dem Reich der Tiere völlig ausgeschlossen, während es dem Artusroman wesenseigen und darum keineswegs als eine bloß phantastische, spielerische Zutat zu der ""''''lIre des Helden anzusehen ist, die - wie E. Eberwein gezeigt hat - in einer Wesensverwandtschaft zum Erlebnis der Heiligenbegegnung steht: "Der in diesem Weltbild lebendige ,Zufall' ist Wunder, Gnade, Offenbarung jenseitiger Krifte und diesseitiger Wahrheit und ist so jederzeit ,religiös' auch dort, wo er ,weltlich' ist." 3) In der lIlIenIllre Renarts hingegen hat nicht allein kein Wunderbares, in dem für den Artushelden Schicksal und Zufall zum Einklang kommen, mehr statt; hier bleibt die Begebenheit, die ganz in der Kontingenz des Geschehens beschlossen ist und keine Koinzidenz jenseitiger und diesseitiger Wahrheit mehr erfordert, zugleich an das Prinzip der Wahrscheinlichkeit gebunden: was Renart begegnet, ist nicht Zeichen einer Erwähltheit, sondern Bewährungsprobe natürlicher List, die allein am Widerstand der weltlichen Dinge und seiner überwindung mit natürlichen Mitteln evident werden kann. Daß die Tiere im RdR, wie schon immer in der Fabel, mit Rede begabt sind, wird längst nicht mehr als ein märchenhaftes Element empfunden, zumal die QJ1enlllrt im RdR auch das Element jenes Zaubers nicht enthält, gegen den der Artusritter in seiner lIIIen/llrt anzugehen hat t). Während der Artusritter I) ibid. p. 199. I) Zur Darierung der Werke Chrcstiens siehe J. Frappier, op. eit. p: 1%. I) Z" DtIIllIIIg ",illt/IJ/I"/i,h,,. Exisl'''t (Kölner Romanistische Arbeiten, 7. Bd.), Bonn und Köln 19H, p. 51. I) Vgl. KÖHLER p. 77: "Die Welt um den Arrushof ist eine verzauberte, dä-
monilierte Wirklichkeit, die sich als permanente Gerahrdung einer durch den
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19S
im Bestehen seiner tlIJtlllllT' immer zugleich eine Erlösungstat vollbringt, die eine Bestätigung seiner Erwähltheit einschließt, führt die ""'III11T' Renarts in ein Dilemma, das nur durch ein Verkennen, nicht auf übernatürliche Weise entstand und nur durch eigene List, nicht durch wunderbare Hilfe wieder gelöst werden kann. Bestätigt dort das Bestehen des Zaubers mit der Erwihltheit des Helden zugleich die ideale Ordnung der Welt, wie sie eigentlich sein sollte 1), so erweist hier die Lösung des Dilemmas, (fJlIt) pllU . .. "illlll lJIIt /0'" (11 618), daß dem Listigen, der den Lauf der Welt kennt und zu nutzen weiß, immer noch ein Ausweg offensteht, um den Ordnungen der Gesellschaft zu entschlüpfen: im Ausgang der (IIIIIIIIIT' treten Artusroman und ROMAN DE RENART wie Märchen und Antimärchen auseinander I). Pierre de Saint-Cloud, der den Eingang seiner Episoden mit Vorliebe in der Art einer anhebenden "","I11T' darstellt und die Begebenheit auch hiufig als IlMIIIIT' bezeichnet 1), hat einmal, in der ""'III11T"slrang' (11 1117), die der Wölfin vor dem Fuchsbau widerfährt, den Gegensatz von Märchen und Antimärchen thematisiert und den Umschlag der höfischen ,n"IIlllrl in die derbe Schwanksituation des Fabliau so explizit dargestellt (wir kommen in Abschnitt D darauf zurück), daß an der Intention einer ironischen Auflösung des ""'"I",.,-Ideals nicht mehr zu zweifeln ist. Für den geschichtlichen Wandel des IIIItlllllT,-Begriffs könnte man hieraus ablesen, daß der Spiritualisierung der IIIItlllllT' im CoNTE DEL GRAAL schon die literarische Infragestellung ihrer Verbindlichkeit vorausgegangen ist. Wenn Chrestiens YVAIN als Gipfelpunkt der höfischen ""'111"" betrachtet werden kann, so wäre die Position der fast gleichzeitig verfaßten ältesten Branchen des RdR (lI-Va) dadurch zu bestimmen, daß hier mit dem Augenblick, in dem die höfische "","II1r' ihren höchsten Begriff erfüllt und Chrestien den ritterlichen Helden als Instrument der Vorsehung erscheinen läßt C), auch schon die Parodie ihrer Form deren Ende anzeigt 6): im nächst-
,"gi"
Artushof rcpräsentienen idealen Ordnung erweist. Die aN"''''t, in die der jcwcils dafür auserwählte Ritter sich stürzt, bedeutet das immer wiedcr aufgenommcnc Angehen gegen einen Zauber und die stindig zu erneuernde Sicherung der Ordnung." I) Insofern entspricht dem Artusroman die ,Ethik des Geschehcns', wie sic JOLLES für du Märchen voraussetzte: "daß es in diesen Erzählungen so zugeht. wie cs unserem Empfindcn nach in der Welt zugehcn müßtc" (p. %39f.). I) Zum Begriff .Antimärchcn' vgl. JOLLES p. %4%, elcmens Lugowski. Wi,A:litblllil lI1IIl Ditbllllll: Ullltrllllbllll,tll t.l" Wi,lditbluillllll!!QSSIIIII Htinrich 11011 Kltisll, Frankfun 1936. bes. Kap. 11 (.Die frühe Form des Anti-Märchcnromans'). I) Vgl. Br. 11 66S. 842. 887. 1032. 1%17. 13%6. t) Siehe KÖIILER p. 80: "Erst im YNilf jcdoch scheint der a""lfl"'t-Begriff ganz entschieden auf eine •Vorsehung· hin verschoben. die nicht mehr auf dic Person des einzelnen allein zielt." I) Wir benutzen hicr eine Formulierung aus Waher Benjamins Abhandlung über den U'lprllllg Ju Mlilltbm T,lIIIIrlpitll: .. Im sterbenden Sokrates ist das Märtyrcrdrama als Parodie der Tragödie entsprungen. Und hier wie so oft zeigt die l'arodie einer Form deren Ende an" (Schriften Bd. I, Frankfun 19H. p. %34).
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folgenden Roman Chrestiens wird der Held (Perceval) erstmals vor der ihm bestimmten oven/ure scheitern 1). Die ausdrückliche Parodie der hötischen open/ure ist indes nur eine Teilperspektive der ältesten afrz. Renartdichtung, die als Antimärchen noch in anderer Hinsicht zum Märchenroman Chrestiens in Gegensatz tritt, wie sich weiterhin vom Begriff der oven/ure aus zeigen läßt. Während die arien/ure im Bannkreis der Artuswelt aus der Koinzidenz von Zufall und Bestimmung lebt, derart, daß in aller Willkür des Geschehens eine ,providentia specialis' waltet und den allein dafür ausersehenen Helden die oven/lm bestehen läßt, an der alle anderen notwendig scheitern, bildet der RclR eine neue Anschauungsform des Geschehens aus, bei der die open/ure gleichfalls die Mitte zwischen Zufälligem und Providentiellem hält, doch so, daß sie gerade erst durch den Ausschluß beider möglich wird. Wo über den Ausgang der einzelnen und aller Begebenheiten schon vorweg entschieden ist, so daß kein echtes Dilemma mehr entstehen kann, wie im YSENGRIMUS, kommt es so wenig zu einem Renartabenteuer im eigentlichen Sinn, wie wenn die Lösung des Dilemmas das bloße Resultat eines mechanischen Zufalls ist. Mit aus diesem Grunde ist z. B. das Abenteuer mit Tibert, in dem Renart einzig infolge des Fehlschlags eines, vilain' aus einer mole trope entkommt, die schwächste Episode in Branche 11 I). Will man das Renartabenteuer, insofern es auf kein transzendentes, die ,Sinnerfüllung des Zufalls' im Geschehen bewirkendes Prinzip mehr verweist 3). ,kontingent' nennen, so muß dabei die Einschränkung gemacht werden, daß damit nur die Art der Geschehnisabfolge, nicht aber die dargestellte Welt als solche getroffen ist. Die Welt der open/ure im RdR ist aufs Ganze gesehen der Kontingenz des Lebens nicht weniger entrückt als die verzauberte Märchenlandschaft des Artusromans. Denn jene Kontingenz des Lebens, dere!1 Auf und Ab in der ganzen Breite der gesellschaftlichen Wirklichkeit erst der pikareske Roman am Leber..sgang eines beliebigen, der Willkür Fortunas ausgelieferten Einzelnen darstellen wird, fällt hier einer ästhetischen Reduktion anheim, die die Vielfalt menschlicher Verhältnisse in eine in sich vollendete Typenwelt von Tiercharakteren überführt und dabei alle Kontingenz des Werdens, die Wesenssuche des Artushelden einbegriffen, ausschließt. ') Siehe KÖHLER p. 196. - Nach Fourrier hat Chrestien YVAIN und LANCELOT nebeneinander in der Zeit von 1177 bis 1179 (oder 1181) verfaßt, vgl. Frappier, a. a. O. p. 12. f) v. 809 ff.; man vergleiche dagegen etwa den Ausweg aus einem ähnlichen Dilemma v. 619ff., den Renart einem verblüffenden Einfall seinerf,"tlt verdankt. I) Insofern bedürfen die Ausführungen, mit denen SPITZER das "zwischenweltliche Genre des RdR" geistesgeschichtlich zu bestimmen suchte (vgl. p. 214 bis 221), einer Korrektur. Der Welt der im RdR, in dem kein Hauch von jener Idealität mehr geblieben ist, die nach Spitzer selbst noch in so unheroischen epischen Werken wie in der Karlsreise und in ANtQsrill I1 Nitoltllt spürbar wird (p. 214), fehlt jegliche "Durchdringung des Lebens mit der Transzendenz".
QU"'ur,
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Die flvenlllrl Renarts unterscheidet sich von der Wesenssuche des Artushelden zunächst darin t daß sich Renartt wie schon bemerkt, am Ende nicht vollkommener zeigen kann t als er es je schon ist, während sich das gleichfalls vorgeprägte aber erst noch latente Wesen des Artushelden durch den Weg der gesuchten und ihm zufallenden flvenlurl enthüllen und durch die am Ende vollzogene Reintegration in die Gemeinschaft des Artushofes erfüllen muß. Mit der Aufnahme in den Artuskreis vollendet sich die eigentliche Geschichte Erecs, Yvains und der anderen Ritter der Tafelrunde. Wenn sie hernach noch hier und dort in Erscheinung treten, so nur noch im Rahmen der flVIIIllITI eines anderen, die sich nicht mehr mit ihren Namen verbindet: sie sind vollendete Figuren geworden deren Geschichte nicht mehr fortgesetzt werden kann, weil sich ihrem enthüllten Wesen durch kein neues Abenteuer mehr etwas hinzufügen ließe. Hier reicht die: Artuswelt, der ohne die ständige Bestätigung durch einen immer neuen Helden nur noch das letzte Gesamtabenteuer ihres Unterganges(MoRTLERoI ARnl ) offensteht, an die Typenwelt der Charaktere im RdR heran, der von vornherein jener Zustand des Vollendetseins eigentümlich ist. Der zum Inbegriff einer höfischen Tugend und damit zur exemplarischen Figur gewordene Brec, Yvain, Gauvain, Keu nimmt am Ende dieselbe zeitlose Gestalt an wie Brichemer, Baucent, Brun, Cointereaus, jene vorgeprägten Tierfiguren, die am Hofe König Nobles sowohl nach ihren Funktionen als auch nach ihren Charakteren genau umrissene, ein für allemal festgelegte Positionen innehaben. Während nun aber dem vollendeten Helden im Artusroman auf Grund der Geschichte seiner avenlurt, in der sich sein Wesen in seiner Beispielhaftigkeit enthüllt hat, noch die Individualität eines Gewordenseins anhaftet 1), erscheinen die Tierfiguren im RdR von vornt
t
I) Daß dem vollendeten Artushelden noch die Individualität eines Geworden· seins anhaftet, besagt gerade nicht, sein exemplarischer Weg stelle eine ,individuelle Entwicklung' dar. Diese dem mittelalterlichen Denken völlig unangemessene Vorstellung ist bekanntlich ein Ergebnis der unkritischen Rückübcrtragung einer Anschauungsform des 19. Jahrhunderts - des Leitbilds vom organischen Werden der Persönlichkeit - auf eine Epoche. in der der Mensch in seiner Ganzheit auf die Gemeinschaft, deren Teil er ist, hingeordnet ist als auf sein Ziel: lprt lolur homo orJinall6, ul ad jintm, ad ,ommunilaltm ,lIiur tri parr (Thomas von Aquin, zitiert von P. Edelbcrt Kurz, InJi"itUmm und Gtmtinr,hafl btim HI. Thomar POn Aflllill, ~lünchen 1932, p. S6; diese: Untersuchung widerlegt im
Bereich der thomistischen SoziaJphilosophie die von Oe Wulf vertretene Auffassung vom ,Individualismus' des Mittelal~ers). Zum Problem der Individuation im MA sei auch auf G. Misch, (desputison d'amur, v. 23) vorgelegt, weil sie dessen Kompetenz übersc:hreite; seine Antwon unterscheidet zwar das irdische und das himmlisene Liebeslehen, misent aber in den Erläuterungen des Zeremoniells der Belehnung und der Lehnspflienten den weltlienen und den geistlienen Aspekt des seroice d' Amur immer wieder du reneinander. Schließlien ist hier noen die Allegorie Le corps humain )f 4020 zu erwähnen, ein anglonorm. Text, der das auen in antiker Tradition bekannte Schema von den Gliedern und der Einheit des Körpers im christlien-hierarchischen Sinne auslegt." Mit dem Körper wird die Kirene bedeutet, die naen v. 1241 sqq. mit dem Staat gleichzusetzen sei; dann wird Kopf, Hand und Fuß in einer dreifaenen Stufung auf den Klerus, das Rittenum und die Bauern (auen die Gewerbetreibenden) bezogen. Die Allegorese fühn die Aufgliederung der drei Hauptglieder ins Detail, besenreibt Reente und Pflienten der Stände, wobei Hand und Arm (li chevalers) dem chief untergeordnet, dafür aber den unteren Gliedern als strafende Gewalt vorgesetzt sind (vv. 679 bis 812), und stellt den Begriff der discrecioun in den Mittelpunkt der Tugendlehre. Betraenten wir nun die Texte, die christliene Unterweisung und religiöse Meditation in allegorisenen Formen darbieten, so stehen wir vor dem noc:n wenig erforsenten Phänomen einer lehrhaften Gattung, die seit ca. 1240 das volksspraenliene und volkstümliene Korrelat zum lat. Lehrgedient darstellt: der sog. Dit. Gustav Gröber hat den weiten Umkreis dieser Gattung wie folgt bestimmt und gegliedert: «Der Dit, ob nun moralisch belehrend, beschreibend, satirisen, mahnend oder erzählend, ernsthaft oder senerzhaft deduzierend oder exemplifizierend, ist Fortsetzer des lat. Lehrgedients des 12. Jhs, das schon in den unter Walter Maps Namen gehenden Gedienten Form und Farbe des frz. Dit hat.» Er hat gesehen, daß die eigentliene Blüte des Dit um die Mitte des XIII. Jhs einsetzt, daß sich dann auch namhafte Dienter wie Rutebeuf, Baudouin de Conde und Hue Archevesque mit Vorliebe dieser Gattung bedienen und sie zu einer literarischen Form ausprägen, ein der der Dienter über Zeit und Mitmenschen eine eigne, von seinen Zuhörern unabhängige Meinung geltend macht, sein Inneres aufsenließt und persönlich wird.» Und er hat dazu noch bemerkt, daß auch die Versgeschiente des Dit, der neben dem gepaanen Aentsilber vierzeilige Alexandrinerstrophen kennt und gerne lyrische Strophenformen benutzt, einer Dichtungsabsicht entspricht, «die auch in der Form persönlien sein will, wo sie es inhaltlich iSb. 11 Dieser klarsichtige Versuch einer Gattungsbestimmung des Dit behält seine grundsätzliche Bedeutung, auen wenn er heute im historisenen Bild korrigien werden kann. Die Korrektur ergibt sich aus der schon berührten Wortgeschichte von dit.1! Sie beleuchtet den Ursprung der Gattung insoweit, als sie zeigt, daß der Dit nicht in einem unmittelbaren Folgeverhältnis zum lat. Lehrgedicht, sondern in OpAnekdote der Fabel des Menenius Agrippa (Livius 2, 32). - Für Mitteilungen über das unveröffentlichte Ms. (Oxford, Douce 210) bin ich Herrn (and. phi!. H. Düwell/RS GieBen zu Dank verpßichtet. 11 GG, 11 1, 819 sq . .. VKl. supra p. 150 sq.
M
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C. [nfste/llmg und StrukturTDarulel der allegorischen Dichtung
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position zu der erzählenden, mithin fiktiven höfischen Dichtung entstand, mit der allegorischen Form den Anspruch auf Wahrheit rechtfertigte und darum auch nicht «erzählend., sondern lehrhaft, parabolisch oder meditativ war. Die allmähliche Ausweitung des Begriffs auf deskriptive Kurzformen der Didaktik einerseits und auf satirische cGelegenheitsdidttungen. andererseits setzt den Wahrheitsanspruch und die bekenntnishafte Intention des Dit als einer ursprünglich christlichen, einem antiliterarischen Protest entsprungenen Gattung voraus; die Vielfalt der um die Mitte des XIII. Jhs aufblühenden weltlichen Dit-Dichtung ist Zeichen für den Sieg der nonfable (vid. 4136, IA, v. 25) über die zur Fiktion gewordene Dichtung der höfischen Welt und bezeugt den Bildungsanspruch einer neuen, von laien bestimmten Gesellschaft. Die Wortgesdüchte zeigt nicht allein, wie mit dem Protest geistlicher Dichter gegen die Fiktion der weltlichen Literatur etwa zwischen 1190 und 1220 die literarischen Begriffe fable und conte (conter) durch die der Bibelexegese entnommenen Begriffe estoire und dit (dire) verdrängt werden." Sie bezeugt auch, daß dit schon vor der Erhebung zur Gattungsbezeichnung verwendet wurde, um mit der historischen Wahrheit einer Erzählung zugleich ihren allegorischen Sinn zu behaupten. Auf ein frühes Zeugnis für den übergang von der neutralen Bedeutung von dit als gesprochenes Wort, Spruch, Sentenz (lat. dictum) H zu der neuen, spezifisch christlichen Bedeutung hat Uda Ebel aufmerksam gemacht. 'T Es findet sich in Adgars Mirakel Comment nostre dame guari un elerc de son let qui trop griement estoi. malade (vid. V, ca. 1170-1180). Da ihm cunte als geläufiger Begriff der weltlichen Literatur für den Wahrheitsgehalt seiner Mirakel nicht mehr genügt, geht er dazu über, den erzählten Vorgang mit dreit (oder verraie) cunte oder aber durch die neue Verbindung von dit und estoire zu kennzeichnen: Quelque seit le dit u I'estoire, Maint prodhom I'aura en memorie."
Dabei schließt dit für ihn die doppelte Bedeutung von sensus litteralis und sene/iance ein, wie eine Stelle aus dem angeführten Mirakel bezeugt: Ki creit iceo par hone creance, Oe cellait crerat sam dutance; Dit dellait suvent senefie Misericorde en bone vie (vv. 121-124).
Als dit dei lait wird die berichtete Heilung des Mönches von der einfachen Ebene einer Erzählung auf die höhere Ebene eines allegorischen Vorgangs erhoben.
Derselbe Adgar, der hier für sein Mirakel dieselbe Wahrheit wie für die estoire der Bibel beansprucht, war auch der erste, der ein allegorisches Thema, die Visiol1
.. Cf. den Besllnt de Dieu ",4060. wo Guillaume le Clere seine aus der Bibel geschöpft. Dichtung (diz, v. 99) von der fole e 'Daine mlltire seiner früheren fables e contes abhebt. .. Zur älteren Bedeutung von dit cf. Brendllns Meerfllhrt ", 4430, v. 81 sqq.: Cil li must'lI, pli' plusurs diz, I beals ensamples e bons respiz. 17 U. E8EL, Das altromanisdte Mirakel, Heidelberg, 1965 (Studill romanieIl, VIII), 86 sqq. • N° 26, v. 157 sq.
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1. Die Ablösung der "olkssprachlimm Allegorie von der Bibele:regese
165
~er
Paradieseswiese mit 23 Arten von blühenden Kräutern, in das Mirakel einführte.'1 Die neue Bedeutung von dit wird zu Beginn des XIII. Jhs von religiösen Dichtem wie Guillaume le Clere, Reclus de Molliens oder den Verfassern des Dit des quatre SCEurs aufgenommen. Sie kennzeichnet dort den neuen modus dicendi der Doppelheit von parole coverte und parole overte, noch nicht aber eine eigene Gattung. Guillaume le Clere hat dieses Verfahren in den Trois mots "'4068 auf eine Formel gebracht, die dit nun auch in verbaler Bedeutung zeigt: Vus ai ces treis maz recitez En tele maniere enditez (v. 485 sq.).
Eine eigenständige Form, die erlaubt, vom Beginn einer neuen volkssprachlichen Gattung zu sprechen, bezeichnet Dit erst mit dem Dit de l'unicome '" 4040 oder auch mit Henri d' Andelis Dit du mancelier Philippe ("'5460, von 1237). In beiden Stücken findet sich die im Umfang auf einige hundert Verse beschränkte, um einen bedeutungsschweren Vorgang zentrierte, nicht aber erzählende, sondern Gegenstand und Deutung immer allegorisch aufeinander beziehende Darstellungsform, die hinfort für den Dit konstitutiv ist. Dabei prägt der Dit de l'unicome die objektive, d. h. parabolische Spielart der Gattung aus, während der Dit du mancelier Philippe mit seiner persönlichen Form der Totenklage am Anfang der bekenntnishaft meditativen oder satirischen Spielart steht. Hier ist nur die erste Gattungsentwicklung zu verfolgen, die das allegorisierende Verfahren mit den Mitteln der Parabolik, der Vergleichung und der Personifikation beibehält. Huon le Roi de Cambrai hat eine Parabel Des trois amis "'4096, die sichwie auch die Parabel des Dit de l'unicome - schon in Barlaam et Josaphat (vid. IV) findet, in seine Regrets de Notre Dame '" 916 eingebaut. Sie dient dort der Mahnung zur Vorbereitung auf die Schrecken des Jüngsten Gerichts. Der Lehnsherr des reichen Mannes (mit Bezug auf Lue. 16, 1-13) bedeutet Christus, die Aufforderung, vor ihm Rechenschaft abzulegen, den Tod, vor dem nur der letzte der drei Freunde: Leib, Hausstand (Weib und Gesinde) und barmherzige Liebe bestehen kann. Die Allegorisierung zerlegt den sinnfälligen Zusammenhang der Parabel in drei heterogene Vorstellungen, die sich dann aber im transzendenten Blickpunkt: I'aspre mort (str.1) wieder in dem zusammenfügen, was für das ewige Geschick des Menschen entscheidend ist. - Wie Huon (str. 45) spricht auch der Verfasser eines pikardischen D i t du roi qui racata le larron .1'4044 von seiner neuen Parabel (v. 55) als von einer grans matere (v. 44). Hier ist der Vorgang mit allen Details von vornherein auf das Erkennen des Sinns angelegt: der molt haut roi (v. 70) kann den Delinquenten kurz vor seiner Hinrichtung nur unter der Bedingung retten, daß dieser selbst die letzten drei Heller - d. h. confession, repentance und penitance - zu seinem Lösegeld beibringt. Die Parabel könnte im Zuge der Einführung der obligatorischen jährlichen Beichte entstanden sein.·' - Auf einen ganz bestimmten aktuellen Anlaß bezogen, .. N° 6: von den Kräutern tragen 22 je amt Blüten, das 23. deren sieben - ein Sinnbild des 118. und 53. Psalms, die der gottesfürchtige Mönm täglich sang; cf. U. EBEL, Opa eit., 87sqq . .. Cf. ed. BRAUNHOLTZ, p. 73, mit Hinweisen auf die Geschichte der Beichtpraxis im XIII. Jh.
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C. Entstehung und Strukturwandel der allegorismen Dimtung
nämlich die an den König von Frankreich, den Grafen Robert 11. von Artois und den Grafen Guido von Flandern gerichtete Mahnung, das heilige Land der Christenheit wiederzugewinnen, ist die berühmte Ringparabel in der frühesten Aufzeichnung einer pikardischen Version L e d i t du '1T ai a n n e a u '" 4048. Die Aktualisierung hat eine deutliche Nahtstelle hinterlassen: während sich die Auslegung der drei Ringe als das Gesetz der Sarazenen, Juden und Christen auf den Vorgang der Parabel beziehen kann, muß der historische Moment - Gefährdung (oder Verlust?) Akkons im Jahre 1291-durdt ein zusätzliches Detail gestützt werden, das erst in derExegese auftaucht: die feindlichen Brüder haben den jüngsten nicht allein seines Erbes beraubt, sondern auch den echten Ring, <dessen wahrer Stein Akkon war> (v. 351), verunstaltet. An der Grenze der allegorischen Form steht eine Gruppe von Dits, die nicht - wie die parabolische Gruppe - einen ganzen Vorgang, sondern nur ein einzelnes Element gleichnishaft auslegen. So wird etwa im Dit de la 'Digne "'4112 von Jean de Douai die Weinrebe zum Gleichnis der Beichte erhoben. Insbesondere hat Baudouin de Conde "'4620 in einigen seiner moralisierenden Dits dieses Verfahren weitergebildet, indem er meist gegen Ende «eine Vergleichung gewissermaßen als Pointe verwendet, auf die das Vorangehende vorbereitet».u Das Bildelement kann aus der Bestiaire-Tradition geschöpft sein wie der Pelikan im gleichnamigen Dit ,114004 oder wie der süße Atem des Panthers, der im Conte du gardecorps ,112736 darauf bezogen wird, wie treue Diener ihrem gütigen und freigebigen haut home (v. 55) zu folgen pflegen. Es kann aber auch dem alltäglichen Leben entnommen sein wie im Conte du pieu "'6148: wer auf einer male 'Doie ist, wie es die Schuldigen am Desaster von Tunis in ihrer moralischen Verderbnis waren, der glaubt, sich an einem morschen Pfahl halten und vor dem Schmutz bewahren zu können, und stürzt erst recht hinein (Ensi est il du mal usage, I Du on se tient et nuit et jour, I Tant que la mors 'Dient sans sejor, vv.392-394). Dabei darf nicht vergessen werden, daß für Baudouin solche nicht bloße Kunstrnittel sind. Sein Verfahren gründet vielmehr auf der überzeugung, qu'en tous les corps I dou monde se puet on mirer (vid. 4004, vv. 2-3, cf. vv.101-113), d. h. daß Gott alle Dinge um des Menschen willen geschaHen habe, dieser also sich selbst in allem wiederfinden und seine Situation bedenken könne. Es gibt Dits, die diese christlich-metaphysische Begründung der comparoison in der meditativen Form ihrer Komposition gleichsam vor Augen stellen. So beginnt der Dit Du triade et du 'Denin "'4176 mit dem Thema einer grant dis corde zwischen dem <Tier> Theriak (einem mittelalterlichen Allheilmittel) und dem Schlangengih und scheint dann diesen Gegensatz in ermüdender, in sich selbst kreisender Meditation immer wieder auf Tugend und Sünde, Christus und den Teufel auszulegen. Sieht man genauer zu, so zeigt sim indes eine Bewegung der Argumentation, die sich von der Ausgangsallegorie unter ständigem Ichbezug auf die Betrachtung der Welt im ganzen und die Verfechtung immer weiterer Glaubenswahrheiten ausrundet: Por le mont ai or tret cest ditelet avant: Li venins de pedtie nos va trop decevant. lasl je le di por moi, quar d'autrui ne me vaut, Ne sai s'onques Eis bien en tre5tout mon vivant (srr. 7) . .. G. GaÖBElI., GG, 11 1,840--841, wo noch weitere Textbeispiele (Olifant, Dragon) angeführt
werden.
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1. Die Ablösung der 'Dolkssprachlichen Allegorie 'Don der Bibele:cegese
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Das Gleichnis wird nach der Einführung der personifizierten Widersacher in verschiedene Richtungen gewendet: venin bedeutet allerlei Arten von Sünde, triade allerlei Arten von Tugend; dann leitet eine Zeitklage (str. 13) dazu über, das Gift der Sünde in allen Schichten der ständischen Welt aufzusuchen; die folgende Erläuterung der Qualitäten des triade führt zu dem Satz: Diex est li vrais triades 014 ainz n'ot amertume (str. 45), und am Ende findet die eingangs gestellte Frage: Comment pOTToient estre icil dui compagnon (str.6) die Lösung, qu'entre Dieu et en/er n'aura ja nul moien (str. 69). Der letzte Text zeigt aber auch eine Eigentümlichkeit, die seit der Mitte des XIII. Jhs in der allegorischen Dit-Dichtung und in anderen Gattungen zur Blüte gelangte: die personifizierende Manier. Der Gebrauch von Personifikationen war an sich in der erbaulimen Uteratur wie in der Minneallegorie durchaus traditionell; insbesondere gewann die Debat-Form aus der traumhaften Ersdteinung zweier Wesenheiten, aus der allegorisierenden Beschreibung ihrer Gestalt, Kleidung und Insignien, und aus dem dramatischen Verlauf der Wechselreden eine eindringliche Wirkung, wie in dieser Epoche etwa die Desputoison de la Sinagogue et de Sainte Eglise eines gewissen Clopin l" 2554 bezeugt. Doch ist über diesen traditionellen Gebrauch hinaus in der Zeit nach den Dichtungen des Reclus de Molliens und des Rosenromans eine üppige Wucherung personifizierender Darstellung und neuer allegorischer Figuren zu verzeichnen, die an eine cModeersmeinung> denken läßt. Der so persönlich wie aktualitätsbezogen dichtende Rutebeuf ist ihr weniger verfallen als andere Dit-Dichter,U von denen hier zunächst einer hervorgehoben sei, dessen Werk zeigt, wie sich aus der personifizierenden Manier eine neue Untergattung der Allegorie abgelöst hat. Im Dit de dame Guile von Sauvage l"4164 wird das Laster des Betrugs als eine Dame beschrieben, deren Macht über Artois, Flandern, Frankreich und allmählich über die ganze Welt reicht (Romenie, outre mer, en toz lieus, vv. 15-18), deren Wesen an ihrer Gestalt, ihrem Schmuck und ihrer Kleidung sichtbar wird, während Leautez barfuß und nackt ist und sich verstecken muß. Auch der normannische Dichter H u e Are h e v es q u e l" 4080 verwendet dieses allegorische Schema, für das charakteristisch ist, daß nun einzelne Personifikationen aus den Tugend- und Lasterkatalogen herausgenommen und in ihrer Macht über die Welt beschrieben werden. Sein Dit de largesse et de debonnaireM l" 4088 leitet diese beiden der corteisie gleichgesetzten Tugenden aus der Passion Christi her; seine Puissance d' amour l" 4084 bringt dazu ein weltliches Pendant, in dem die Mamt der Uebe daran erwiesen wird, wie Amor alle Verhältnisse verkehren kann. u Der Gipfel des Genres ist sein Dit de la mort de Largesse l" 4080, eine biographism eingeleitete Zeitklage, die der Dichter mittels eines Traums in allegorische Handlung umzusetzen weiB: lArguece und Avarisce, in schöner und häßlicher Erscheinung beschrieben, geraten in einen Disput, der in Kampf übergeht und nam einem vergeblichen Versuch des Dichters, der enterbten Larguece zu Hilfe zu kommen, damit endet, daß diese von ihrer Widersacherin stranguliert und vom Fels•• Außer der Bataille des 'Dices et des 'Dertus l" 4704 ist hier von Rutebeuf wohl nur die allegorisierende Complainte l"6256 und der Dit d'hypocrisie l"7228 zu erwähnen . .. Sein Dit de la dent l" 4076 ist nach dem bei Baudoin de Cond~ festgestellten Verfahren der allegorischen comparoison geschrieben (wie der Schmied am Amboß Zähne zu ziehen weiß, so kann der Geizige durch Angst freigebig werden).
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C. Entstehung und Strukturwandel der allegorischen Dichtung
ufer ins Meer gestürzt wird. Von den neu ersmeinenden allegorischen Figuren sei hier noch das «Geld. erwähnt, das ein virtuoser D i t d e dan Den i er ,;t 4028 personifizien. Hier ist das allegorische Sdtema in einer Steigerung zu greifen: die Aufzählung der schlechten, aber aum der nützlimen Dinge, für die man seine deniers ausgeben kann, geht aus dem harmlosen Plural in den numinosen Singular: Dez bon conte I De dan denier qui si haut mon te (vv. 19-20) über, womit die Wesenheit simtbar in die Szene tritt, um am Ende die ganze Welt in ihren Bann zu smlagen: Denier ale mont en prison I Tout sanz noisier (vv. 154-155). In den letzten Jahrzehnten des XIII. Jhs tritt schließlim aum Fortuna aus der seit Boethius nie abreißenden, aber immer wieder zum Gemeinplatz absinkenden Darstellung" simtbar zu neuer allegorismer Größe heraus. Gleim mehrere Dichter geben ihr oder der Allegorie des Glüdtsrads nun wieder Gestalt: Baudouin de Cond~, in dessen Prison d' amour ,;t 4620 das Rad Fortunas zum ersten Mal in der Minneallegorie Funktionen Amors übernimmt, Jean de Meun, bei dem Raison dem Liebenden ihre Freundsmah unter der Bedingung anbietet: Et ne priseras une prune I Toute la roe de Fortune I A Socrates seras semblalles (vid. 4672, v. 5844 sqq.), Adam de la HaBe, der auf dem Höhepunkt seines Jeu de la feuillee die Feen das Rad der für Verdienste blinden Fortuna erläutern läßt (vid. XII B1, v. 772 sqq.), der Verfasser des Miroir du monde ,;t 2389, der die Gesmähe dieser Welt mit Spinnweben an den Flügeln einer Windmühle vergleimt, die der erste Windstoß Fortunas zunichte mame," oder Jacquemart Gielee, der seinen Renart le nouvel .1'7300 damit beendet, daß er Renan von Fortuna krönen, d. h. das eigens für ihn stillgelegte Rad besteigen läßt. Nicht weniger eindrudtsvoll ist die literarische Resonanz auf ein gleichzeitiges Ereignis, das im allegorismen Dit seinen Niedersmlag gefunden hat. Pierre de la Broce, ein aus kleinem Adel zu höchsten Würden gelangter Minister und Günstling Philipps des Kühnen, der zur Freude seiner Neider, aber offenbar vom Volk bemitleidet (nom Dante bewegte der Fall so sehr, daß er Pierre zur Remtfertigung ins Purgatorium [VI, vv. 19-24] versetzte) unter der Anklage des Hochverrats 1278 ohne Prozeß an einem gemeinen Galgen hingerimtet wurde, hat durm seinen spektakulären Aufstieg und Sturz offenbar der zum erbaulimen l.ehrgut verblaßten Allegorie der Roue de Fortune .1'4160 die Ursprünglichkeit einer schockierenden Erfahrung zurückgegeben. Das Ereignis, das aum die zeitgenössismen Chroniken im Zeimen Fortunas darstellen,·' wird in einer Complainte de Pie"e de la Broce (vid. 11), einem Dit de Fortune von Moniot de Paris ,;t 6216 und einem Debat De P. de B. qui dispute a Fortune par devant Raison .I' 6304 untersmiedlim reflektien. Die lyrische Complainte ist ein Pierre de la Broce in den Mund gelegtes Sdtuldbekenntnis, das ~on Hiob ausgeht, mit dem er sim nimt vergleimen dürfe, im weiteren mit Convoitise, Envie .. Uteratur zu Fortuna im Mittelalter ist bei E. LoMMATZSCH, Beiträge zur älteren iral. Volksdichtung, Berlin, 1951, 11 65 sqq., zusammengestellt; cf. H. R. PATCH, The Goddes. Fortuna in mediaeval literature, Harvard Univ. Press, 1927, und id., The tradition oE Boethius, New York, 1935; zur Bedeutung Fortunas für die Auffassung der säkularen Geschichte zuletzt F. P. PrCltEltfNC, Notes on fate and fortune, in: Mediaeval German Studies presented to F. Normen, London, 1965,1-15 . .. Cf. E. BuYn, R 79 (1958) 21 . .. Cf. F. E. ScHNEECANS, R 58 (1932) 526-529.
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1. Die Ablösung dn 'Oolks"'Tachlichm Allegorie 'Oon deT Bibelexegese
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und AvoiTS die eigenen Sünden anklagt und in erbaulicher Reue endigt. Im Dit bringt ein Jongleur - vermutlich im Blick auf eine bildliche Darstellung (v. 18) - dasselbe Geschehen unter die Enthüllung: Or vous ert de Fortune ci la veritez dite (v. 17). Zwar habe er Fortune nie (kommen oder gehen>, (singen oder tanzen> sehen, sie sei keine corporel creature und doch eine unentrinnbare Macht (v. 13 sqq.), wie das Beispiel eines Hochgestellten zeige, den sie erst neulich von mehr als Kirchturmhöhe habe herabstürzen lassen. Im Debat klagt Pierre selbst Fortuna des Betrugs an, die sich in ihrer Verteidigung auf ihr (Gesetz> beruft (Qu'en ma roe s'a un tel art, I Qu'il i cotJient so droit seoir I Que il ne pende nule part, v. 151 sqq.); nun muß er am Ende den ihn verurteilenden Schiedsspruch von Raison entgegennehmen. Die befremdliche Erfahrung des Glückswechsel wird hier moralisch mit der Lehre aufgefangen, daß Fortuna nach Verdienst entlohne, im Gegensatz zu Jean de Meun oder Adam de la Halle, die sie für bUnd und gleichgültig halten. - In diese Problematik wird erst Dante eine neue Wendung bringen, wenn er die Allegorie des Rades durch die Idee ersetzt, daß Fortuna die der sublunarischen Sphäre zugeordnete (Intelligenz> sei und die irdischen Güter nach einem der menschlichen Weisheit verborgenen Prinzip verteile (InE. VII, vv. 73-96). Die anderen romanischen Literaturen haben an der offenbar nur für Frankreich charakteristischen Gattungsentwicklung des Dit nicht teil. Soweit die Texte der religiösen oder erbaulichen Allegorie schon zu übersehen sind, stehen sie in anderen Formtraditionen. Das provo Lehrgedicht: EI romans des quatre vertutz cardenals .I' 4024 von Da ude de Pradas ist eine Paraphrase der Formula honestae vitae des Martin von Braga. Die vier Kardinaltugenden, die Christen wie Juden und Heiden haben sollten (v. 124sqq.), werden allegorisch mit dem Gleichnis der vier Richtungen eingeführt, in denen der mit amic angeredete Mensch auf der Hut zu sein hat. - Eine seltsame Blüte der Allegorese ist die provo Versepistel .1'4124, die Ma tfre Ermengau seiner Schwester zu Weihnachten schrieb. Hier werden die brauchtümlichen Festgeschenke spirituell auf Christus gedeutet: der Met auf sein Blut, die Honigkuchen auf seinen Leib, der gebratene Kapaun auf den Gekreuzigten, d. h. auf den uns zuliebe am Kreuze (Gebratenen> und mit der Lanze Durchstochenen (v. 27 sqq.). Die Grenze zum Grotesken wird, wenn nicht schon hier, so gewiß dort überspielt, wo die gleichen interpretamenta nun auch auf die Inkarnation bezogen werden (Estas neu las pastec sans esperitz 1 Ins el ventre de la verge Maria, etc., v. 30 sq.). In der spanischen Literatur des· XIII. Jhs ist die religiöse Allegorie nur durch das eine große Beispiel der Einleitung in die Milagros de nuestra Senora vertreten. Gonzalo de Berceo (vid. V) hat die aus der lat. Hymnik bekannte Vergleichung der Jungfrau Maria mit einem Garten erzählerisch wirkungsvoll ausgebaut und alsdann in einer wohlverketteten Allegorie gedeutet. 47 Der immergrüne Lustort, in den der Pilger Berceo überraschend gelangt, wird erst nach der Beschreibung ausdrücklich prado egual de paraiso (str. 14) genannt; die Ankündigung, das so klar Geschilderte sei palabra oscura (str.16), schafft neue Spannung auf die unerwartete Exegese, die in n Daß für die allegorische Einleitung der Milagros noch keine unmittelbare Quelle gefunden wurde, könnte vieUeicht auch für eine gewisse Selbständigkeit Berceos in der Ausführung der Allegorie spremen. Cf. Agusrln dei CAMPO, RFf 28 (1944) 15, n. 1.
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C. Entstehung und StruktuT1Dandel der allegorischen Dichtung
den Einzelauslegungen fast unmerklich den Bogen von der Virgin Gloriosa als Ruhepunkt der Pilgerschaft zum Lobpreis ihrer Person, ihrer Namen und ihrer Taten, der san tos miraclos, und damit zur Rechtfertigung des begonnenen Werkes spannt. Aus italienischer Tradition seien hier noch die Carmina de mensibus "'2488 von Bon ve s i n da la R i v a als ein Beispiel dafür angeführt, wie ein bekanntes didaktisches Schema des debat zur Allegorie ausgerundet werden konnte. Es handelt sich um ein in lateinischer wie in lombardischer Version vorliegendes Stüdc, das an die Tradition des Streitgedichts vom Typ Conflictus 'Oeris et hiemis anknüpft, nun aber den Aufstand der Monate gegen ihren müßigen, vom Schweiß der andern lebenden Herrn Januar behandelt. Der Kampf, zu dem die 'Oillani mit allegorischen Waffen antreten, wird von dem segnor insuperabil im ersten Ansturm beendet. Die Allegorie gibt Anlaß zu einer Rechtfertigung der Alleinherrschaft und zu mancherlei moralischen Betrachtungen über die Symbolik des Jahresreigens. Bonvesin, der die Form der dramatischen Contrasti besonders gepflegt hat, repräsentiert mit seinem Libro delle tre scritture '" 4518 auch die figurale Tradition allegorischer Dichtung, die an anderer Stelle zu behandeln ist (vid. cap. 3). Zur religiösen Dichtung in allegorischer Form gehören in Italien ferner noch die in der Tradition der Psychomachia und der Duae ci'Oitates stehenden Texte, auf die wir noch zurüdckommen (vid. cap. 4).-
2. REZEPTION UND POETISIERUNG DES PHYSIOlOGUS
Das populärste Werk der didaktischen christlichen Literatur, das an breiter Wirkung im ganzen Mittelalter nur noch der Bibel selbst nachstand: der Physiologus, ist bald nach seiner ersten Rezeption in romanischer Volkssprache aus der religiösen Vorstellungswelt in neue Formen weltlicher Dichtung umgesetzt worden. In diesem Schritt liegt die selbständige Leistung der romanischen Autoren, die darum auch im Mittelpunkt einer Geschichte der Bestiarien zu stehen hat. Da der andere Zweig. christlicher Lehrdichtung, die Lapidarien, sich außerhalb der typologischen Tradition entwickelte, auch nicht unmittelbar in Formen weltlicher Dichtung übergegangen ist, sondern mehr und mehr in Traktaten der mittelalterlichen Naturgeschichte Platz fand und dort mit dem enzyklopädischen Wissen verschmolz, wird die Gattung der Lapi-' darien nicht hier, sondern unter dem Aspekt der Didaktik behandelt. 1 Ausgangspunkt der Betrachtung ist der Physiologus in der Gestalt, an die seine ersten romanischen übersetzer anknüpften. Es ist der lateinische Physiologus des XII. Jhs, der Blütezeit des theologischen, biblischen und kosmischen Symbolismus, in der die Entdeckung der sidttbaren Natur und die symbolische Darstellung ihrer spirituellen Bedeutung in Didttung und bildender Kunst Hand in Hand ging.· Symbolische Tierfiguren und cnaturalistische> kleine Szenen mit Tieren und Menschen .. Meine Darstellung der Gattung Dit geht auf Materialien zurütk, die Frl. Helga Wölfel gesammelt hat. I Vid. B Sa; doch werden einzelne Stütke der lapidarien auch in diesem Kapitel erwähnt werden, soweit sie für die Entwitklung und Form der allegorischen Exegese wichtig sind. I Nach ümru °64,21-30, und (ap. 7: La mentalite symbolique; ferner W. VON DEN STEINEN, Altchristlich-mittelalterliche Tier.ymbolik, in: Symbolon 4 (1964) 218-243, und V.-H. DEBIDOUI., le bestiaire sculpre du moyen ige, Grenoble, 1961.
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2. Rezeption lind Poetisierung des Physiologlls
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finden sim nebeneinander an den Kapitälen der Kathedralen, obschon sie der Intention nam so weit voneinander geschieden sind wie der Fums der äsopismen Fabel von der gleimnamigen figura diaboli der Bestiarien. Daß man die Tiere des f.sope mit anderen Augen sah als die symbolismen Figuren des Physiologlls, bezeugt aum der Umstand, daß die verschiedenen literarischen Traditionen säuberlim getrennt blieben: Bestiaire-Figuren haben keinen Eingang in das Reich der Fabel oder das des Tierepos gefunden, und umgekehrt braumte es fast zwei Jahrhunderte, bis in italienischen Ausläufern der Gattung avianisme Tierfabeln auftaumten und der moralisatio des Bestiariums unterzogen wurden. Die Sdteidung von .spirituellen. und -natürlichen. Tiemguren war aum schon durm die Fabelwesen und die seltsamen Züge bedingt, die der mystischen Zoologie des Physiologus eigen sind. Als cVolksbum., das im Unterrimt wie in der Predigt Verwendung fand und später der Erbauungslektüre cJiente,1 verdankte es seine Beliebtheit nimt allein seinem dogmatischen Inhalt, sondern gewiß aum dem Element des Wunderbaren und Fremdartigen, das die Neugier auf so vielfältige Weise befriedigte. Darauf zielte wohl die bekannte Kritik, die Bemhard von Clairvaux an der ridicula monstruositas bildlimer Darstellungen der Tiersymbolik übte: man lese in Klöstern lieber in marmoribus als in codicibus, verbringe seine Tage im Staunen über die Vielfalt dieser Erscheinungen, statt über das Gesetz Gottes zu meditieren.· Bernhards Beispiele enthalten nimt nur Fabelwesen wie monstruosi Centauri oder !iemi-homines, die man am Ende des xv. Jhs als grottesche bezeimnen und neu bewerten wird, sondern aum Symbole des Physiologus (immundae simiae, leri leones, maculosae tigrides), die hier ohne Ansehen ihrer spirituellen Bedeutung für die verführerisme Mamt der mira T1arietas diversarum lormarum stehen. Eine neue Vielfalt an Symbolen kennzeimnet in der Tat aum die Gestalt des lat. Physiologus, von dem die romanismen Bearbeitungen ihren Ausgang nahmen. Es ist ein Zweig der Version B, der in die herkömmlimen 36 bzw. 37 cap. zahl reime Erweiterungen aus den Etymologiae (lib. XII: De animalibus) des Isidor von Sevilla aufgenommen hat. Zu den Beispielen, die in den alten Versionen des Physiologus meist aus der Bibel angefühn wurden, treten in der von McCulloch mit B-Is bezeimneten Version I naturkundlime Details, die auf Quellen wie Plinius, Solinus, Gregor zurückgehen und - vermittelt durm Isidor - in die typOlogisme Deutung einbezogen werden. Damit beginnt eine Entwicklung, in der die ursprünglim rein typologische Deutung: Congrue igitur Physiologus n"turas animalium contulit et contexuit intelliCf. LAUCHUT °692, 65 sq., 163 sqq.; GOLDSTAUB-WENDm-rO °652, 7; MALE °144, I 39, der nachwies, daß die Darst~llung von Ereignissen des NT in Tiemguren des Physiologus oft durch den Speculllm ecclesiae des Honorius von Autun, einer predigtsammlung für alle Feste des Jahres, vermittelt war. - Alt Hauptquelle für Bibelsloseen über Tiemamen ist Hugues de Fouilloy: De natura lR1illm zu nennen (CJmru °64, 163). Auf den Charakter eines ErbauUß8Sbuches deutet die Form der Anrede: fradeUi et snore mii carisimi im Proömium des Libro della natura degli animali ",4212. • Tam mllita deniqlle, tamqlle mira diversarum /ormarum Ilbiqlle 'Darietas appartt, Ilt magis iegere libtat in marmoribus, qllam in codicibll', totumqlle diem occupare .ingultJ ista mirando, ,,"am in lege Dei meditando (Epilt. ad G"illelm. Abbat., ap. XII), cf. LAuCHERT °692, 208. • McCULLOCH °704, 2~30. I
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C. Entstehung und Struktunoandel der allegorismm Dimtung
gentiae spiritualium smpt.. rarum· mehr und mehr von Moralisationen zu den Tiereigenschaften überwuchen wird und 3m Ende einer rein praktischen Tendenz Platz macht, die in der ausgeschöpften Tiersymbolik vornehmlich noch Exempla für die redtte christliche Lebensführung sucht. 7 Noch im XII. Jh. hat die fortschreitende Erweiterung der alten Sammlungen neue Systematisierungen zur Folge, denen die universale, die Natur in der Ordnung ihrer Wesen repräsentierende Anlage der älteren Versionen zum Opfer fällt. Vogel-, Tier- und Steinbücher treten in verschiedenen Traditionen auseinander; in den Büchern De bestiis et aliis rebus des Hugo von Folieto S kommt hinzu, daß die Fülle neuer, aus Solinus, Ambrosius u. a. gezogener Exempla nach dem Vorbild von Isidor (Etym. XII) bereits cwissenschaftlich. klassifizien und diese Gliederung mit Kapiteln über den Menschen (De hominis membris ac partibus und De aetatibus hominis, eap. CVII et CV1II) beschlossen wird. Während im alten Physiologus der Mensch nur erst figürlich, auf die Heilsgeschichte zugeordnet, zwischen den figurae Christi, diaboli und ecclesiae erschien, wird nun die natura hominis (eap. CVl) selbst deutungswürdig und zugleich dadurch ausgezeichnet, daß die Reihe der symbolischen Wesen im Menschen gipfelt. Demgegenüber stellt die erste romanische Version des Physiologus, der nach 1121 entstandene Bestiaire von Phi Ii pp e d e T ha 0 n J' 4224 noch die älteste Stufe dieser Entwicklung dar. Der anglonormannische Text ordnet die Vögel nach den Tieren als Gruppe zusammen und schließt mit den Steinen, so daß eine Dreigliederung entsteht, die den ganzen Bereich der Natur repräsentiert. Denn Philipp, der auch innerhalb der drei Gruppen die Tiere ganz selbständig nach Typen ihrer spirituellen Bedeutung ordnet, sah in der Anordnung seiner Version offenbar ein Symbol der Schöpfungsordnung - die Stufenleiter des Strebens zu Gott: Tiere, Vögel und Steine entsprechen dem Wesen der puerizia, der homines caelestia meditantes und des Deus ineffabilis (Prol.), insofern·das zur Erde geneigte Tier den weltverhafteten, der emporfliegende Vogel den Gott zugekehnen Menschen und der in sich ruhende Stein den vollendeten Weisen bedeute (vv. 3179-90). Das Werk ist Aelis von Louvain, in einem späteren Ms. aber Alienor von Aquitanien gewidmet, in deren Umgebung - nach Rita Lejeune - ein Trobador, Rigaut de Berbezieux, lebte, der als erster die geistliche Symbolik der Bestiarien in weltliche Lyrik umgesetzt und damit eine literarische Manier begründet hat, die bei provenzalischen wie später auch bei italienischen Dichtem große Nachfolge fand. ' B,~. CARMODY, Paris, 1939, 27. Zu dieser Entwidc.lung cf. GOLDSTAUB-WENDJUND °652,4. 332. 434 sqq. • PL, CLXXVJI. früher Hugo von St. Viktor zugeschrieben, cf. ZllTDlER. ZRPh 78 (1962)
• Physiol./at. 'Oersio 7
404. • Vid. 11 B. a 421 - Zum Problem der Identifikation und Datierung von Rigaut de Berbezieux cf. BDITON °616, 584, ZllTDlER, ZRPh 78 (1962) 395. R. lEJwNI, MAgt 68 (1962) 331-377. A. VnvAJto, MAge 70 (1964) 377-395; auch M. BRACCINI. der R. Lejeunes Datierung nicht annahm (~., 126sqq.), spricht doch Rigaut de B. die Urheberschaft an der Mode der Tiersymbole in der Lyrik nicht ab (ib.• 113), für die ja auch die reiche Ms.-Tradition und der Nachruhm des Dichters zeugt. Cercamon kann hier keine Priorität zugesprochen werden, d. ZnTDlD, op. cit., 396. Ob der Be.tiaire des Philippe de Thaon die Quelle war, aus der Rigaut de B. seine Tiersymbole geschöpft hat, ist nicht nachweisbar. weil don or50 und tigre fehlen, und auch weil R. de B. die übernommenen Tierbeschreibungen verkürzt und neu ausgelegt hat.
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2. Rezeption und Poetisie"mg des Physiologus
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Zwar findet sich sdton in der Tenzone Cercamon-Guilhalmi ;t 5880 das berühmte Bild vom Schwan, der vor seinem Tode singt. Doch hier verrät noch nichts, daß der Vergleich die lyrische Situation mit der Exegese der Tiemguren eines Bestiariums in Beziehung setzt. Der neue Stil der similitudines de bestias e d' auseis e d' omes, als dessen Schöpfer Rigaut audt in seiner Vida gerühmt wird, ist dadurch zu kennzeidtnen, daß mit dem allegorismen Sinn der Tiemgur zugleich das Verfahren der Exegese in die lyrische Situation übertragen wird. Rigaut gebraucht einzelne Tiersymbole wie den Löwen, der sein totgeborenes Junges mit wildem Gebrüll wieder zum Leben erweckt (AtTessi com 10 leos, n° 1) oder die Tigerin, die mit Hilfe eines Spiegels von den Jägern getäusdtt und gefangen wird (nO 5), nicht einfach zur Erläuterung einer vorgegebenen lyrischen Situation. Das Symbol wird vielmehr selbst vorangestellt und dann mit überraschender Sinnverlagerung auf eine Situation des lyrisdten Ich bezogen: Si com la tigr' d mirador que per remirar son cors sen obUda si e son tunnen, aissi quan vei lei cui ador oblit mos mals e ma dolon es mendre.
(nO 5, vv. 25-29)
Das Exemplum ist vor Rigaut in der Form überliefert, daß die Tigerin im Spiegelbild ihr Junges wiedergefunden zu haben glaubt, den Spiegel umschlingt, ihn dabei zerbricht unci sich getäuscht sieht. 10 Rigaut hat die Beschreibung auf die Spiegelszene verkürzt und die Täusdtung neu motiviert: nun vergiBt die Tigerin ihren Kummer im Anblidt ihres sdtönen Körpers; er bezieht das neugefaßte, narzißtische Symbol sodann in paradoxer Zuspitzung auf sich selbst als liebenden: wie die Tigerin durch ihr Spiegelbild, so sei er durch ihren Anblidt gefangen worden (cf. v. 31: qui m'a a
serf conquis). Solche Freiheit im Umdeuten der geistlichen Tiersymbolik nahm sich Rigaut auch sonst, wie vor allem seine berühmteste zweite Canzone: AltTesi con r orifans zeigt. Für die zweite Strophe hat Rigaut aus dem langen Exemplum des Elephanten nur die eine natura herausgesdtnitten: Altresi con I'orifanz que quant mai no·s pot levar tro li autre ab lor eridar de lor voz 10 levon sus, et eu woill segr' aquel uso (vv. 1-5)
In der Tradition der Bestiarien bedeutet der Elephant Adam; er kann sich dort von seinem Fall erst wieder erheben, wenn ihm ein kleiner Elephant, allegorice: der inkarnierte Christus, zu Hilfe kommt. Rigaut hat hier gleich in die Beschreibung ein neues Detail hineingebracht, um seine eigene Exegese vorzubereiten: nur die lials amadoTS am Hof von Puy (en Velay, nach R. Lejeune) könnten ihn ab lOT cridar witder erheben. Die heilsgeschichtliche Situation, auf die das Tiersymbol zurückweist, 11
Zur Tradition der Tigerin, die auf Ambrosius (Hallern. VI 21) zurüd des Artusromans voraussetzt. Mit der veränderten Topographie des neuen paradisus amoris erseneint auen die Rolle der Liebesgötter in einem anderen Lient. Nient mehr Venus, der seit Statius im Epithalamium der höenste Rang zugekommen war, sondern ihr Sohn Amor hat die hierarenische Spitze im Reien der Liebe inne; die Liebesgöttin tritt nur gelegentlien in Szene, mit dem allegorisenen Attribut der lodernden Fackel, das ihre intervenierende Rolle zumeist auf eine Phase des Gesenehens, das Entbrennen der Leidenschah, besenränkt. Vor allem aber ändert sien das episene Senema: statt der Reise, die Venus und Amor von Zypern aus unternahmen, um das Paar zu vereinigen und seine Hochzeit zu sanktionieren, begibt sien jetzt der Liebende selbst, der miles in De amore wie auen Plzillis und Flora, auf den Weg, um den Liebesgott in seinem Reien aufzusuenen, in seinen Dienst zu treten oder seinen Rat einzuholen. Das mittelalterliene Reich Amors ist nur - wie die (Andere Welt) der Artusromane - über eine Jenseitssenwelle zu erreienen, die durch traditionelle Motive wie: Verirren im Walde, seltsame Brücke, Pforte in einer Mauer, oft aber auen nur duren einen Traumübergang bezeiennet ist. 1II Das Innere des paradisus amoris entsprient in vielen Zügen dem antiken loeus amoenus der bukolischen Dientung oder der Schilderung der elysischen Gefilde,11 weist aber nient weniger deutlien auen auf enristliene Traditionen der Paradiesbesenreibung zurück.' 7 Genetisen ist der Anteil beider Traditionen kaum zu entwirren, zumal der Motivund Wortbestand des antiken Lustortes senon früh von enristlienen Dientern verwendet wurde, um das biblisene Paradies als Senauplatz für das eonubium des ersten Mensenenpaares auszuschmücken. IB Doch zeigt die Geschichte der Minneallegorie von Andreas Capellanus bis Jean de Meun, wie das Paradies der höfischen Liebe in Anlehnung an enristliche Vorstellungen der te"a beata gebildet und mehr und mehr zu ihrer Kontrafaktur ausgebaut wurde. Der paradisus voluptatis der Genesis (2,8-17) hat im hönsenen paradisus amoris sein genaues Seitenstück: es ist ein umgrenzter Garten 18 oder Hain mit blühenden und Früchte tragenden Bäumen, hier wie dort mit
I.
generis et animi pildidtate). Die französismen Bearbeitungen von Drouan la Vame 1'3184 und Enanmet 1'2680 stammen vom Ende des XIII. Jhs, zwei ital. aus dem XIV. Jh.,
d. TRoJn, ed., pp. xiü-xx. Zum Streit zwismen miles und c1ericus cf. W. T. H. JACKSON, ZDA 85 (1955) 293-303; zu den romanismen Versionen der Altercatio Phillidis et florae cf. FAUL °76, 191-303, ferner vid. B 3 . •• Bei Catull, Cann. 61, blieb Venus noch dem Hymenaeus untergeordnet. I1 Cf. De amore, ed. eit., 92, 298, und Roman de la rose .1'4664, vv. 497-630; in der Altercatio ist die Jenseitssmwelle vielleimt durm die wunderbaren Reittiere (str. 44-57) bedeutet. II 17
I1 lt
Curtills, cap. 10: Die Ideallandsmaft. J. DAHItlOU, Tene et paradis mez les ~res de l'eglise, E.ranos-]ahrbum 22 (1953) 433 bis 472. So bei Avitus, De spiritllalis historiae gentis, cf. R. GRUENTER, Der paradisus der Wiener Genesis, E.uphorion 49 (1955) 119-144, bes. p. 129. Der hortlls conc1usus, mit dem in Cant. 4. 12 die Sponsa vom Sponsus verglimen wird, ist g1eidtfalls ein Ausgangspunkt für die Tradition des allegorischen Gartens im Mittelalter. Cf. W. STAMMl.ER, Der allegorische Garten, in: (id.) Won und Bild, BerUn, 1962, 107, und D. W. ROBERTSON, The doctrine of Charity in mediaeval Iiterary gardens, 5 26 (1951) 24-49.
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228
c.
Entstehung und Struktunoandel der allegorischen Dichtung
einer Quelle, H die der aqua refectionis des 22. Psalmes, eschatologisch der fons "itae des neuen Jerusalem (Apoc. 21, 6; 22, 1) entspricht, und mit einem Baum inder Mitte, der als lignum "itae, aber auch als lignum scientiae bon i et mali zu deuten ist.11 Bei Andreas Capellanus hat das Reich Amors den Charakter eines vollständigen Weltmodells: der Palast des Liebesgottes mit seinen vier Pforten, Allegorie der verschiedenen Einstellung zur Liebe, befindet sich in medio mundi (p. 89), sein Thron neben Quelle und Baum im Innersten von drei konzentrischen Kreisen: amoenitas, humiditas und siccitas, die als Totenreich in vollendeter Kontrafaktur zu den drei christlichen Jenseitsbereichen das Endschicksal der , das in mittelalterlicher Tradition hödtst selten ist und später von Brunetto Latini kritisch gegen die höfische Liebe geridltet wird,3. findet sich hier zum ersten Mal in provenzalischer Dichtung! Für eine Entlehnung aus antiker Tradition spricht auch, daß Guiraut - im Widerspruch zur provo Minnedoktrin - Amors mit Zügen der Fortuna ausstattete: an ihrem Hof herrscht nicht Recht, sondern plana voluntat (v. 7), vor ihrem Palast befindet sich ein für alle erdenklichen Spiele eingerichteter Tisch (str. 5), und in den Erweisen ihrer Gunst ist sie launisch (str. 6). Guirauts Allegorie erstreckt sich nur auf menor tertz d'amor (v. 4), d. h. auf die sinnliche Liebe, von der wir nicht wissen, wie sie auf das .zweite> und auf das .hödtste Drittel> zugeordnet war." Der Kommentar von G u ir au tRi q u i e r (vid. 11 B 248, 46) bringt in seiner antihöfischen Tendenz (descortes, aber 'Der, v. 254 sqq.) den allegorischen Sinn in einem Zempiegel: die moralisierende Deutung benutzt wohl immer wieder einen ursprünglichen Schlüssel (z. B. für die drei Metalle, v. 297 sqq.), bereitet dabei aber schon die abschließende
'0
11 U
Vid. IJ B, h 234; cf. H. KOLB, op. eit., 360 sqq. Oie Allegorie der eine portals (v. 26) meint wohl die Eünl Sinne, die der quatre gral entspricht einer allgemein verbreiteten Auffassung von den Stufen des Uebesdienstes, cf. DAWMANH, 73-76; am weitesten ausgeführt ist die Allegorie des Palastes im ClIStel d'amor
1'4628. U
11
Die Geschichte des amor eaecus in antiker Tradition hat V. BUClUlIIT, Classica tt Medievalia 2S (1964) 129-137, geklärt und den Zusammenhang mit dem fortuna-BUd aufgewiesen. Guiraut de Calanson bringt das Motiv auch schon in Fadet joglar 1'2756 (vv. 205-207: e no ve re, I mllS /er t,op be I ab sos dartz). Zu BruneHo Latini cf. JAUSS 0668, 78. Hier ist vor allem an die Weise zu erinnern, wie in Andreu Capellanus, De amore (p. 207 sqq.) du Verhiltnäs von pars inferior und superior bei den solatia amoris erörtert wird.
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5. Die Minneallegorie als esoterische Form einer neuen ars amandi
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Verwerfung des amors camals vor, der vor amors naturals (Verwandtenliebe) und amor celestials, den (vv. 109-133) weist, da es in der Vagantendidttun, nicht vorgegeben ist, wahrscheinlich auf die provo Tradition UauEre Rudel, vid. 11 B) zurück .. Spitzer, 664-682 . .. M. DI PJNTo (1959), 74. Zum weiteren d. JAUSS °672. 17
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.lj,j
5. Die Minne411egorie
4" esoterische
form einer neum aft amandi
233
songe rimeier, v. 31) und des personifizierenden Verfahrens der Psychomachia ein Werk hohen Ranges geschaffen worden, das als Anfang und nicht wieder erreichter Gipfel der Minneallegorie des Mittelalters vor den Augen der Nachwelt steht. Der Roman de la rose ist zunächst eine vollständige und abschließende Summa aller Konventionen der höfischen Liebe und darin Oe amore zu vergleichen. Aber an einen Traktat erinnern hier nur noch die 300 Verse der comandemenz Amor (vv. 2268 bis 2576). Guillaume de Lorris hat das Verhältnis von lehrhafter und poetischer Form umgekehrt. Während Andreas C~pellanus seinen Traktat an zwei Stellen durmbram, um den praecepta und regulae Amoris durch den allegorischen Doppelsinn der mythologischen Erzählung eine besondere Dignität zu geben, ist hier der Art d'Amors fast vollständig in allegorische Handlung umgesetzt; direkte Lehre findet sich nur noch einmal in dem der Konvention entsprechenden Monolog des Liebesgottes. Der Roman de la rose ist als allegorische Dichtung durchgängig auf Entschlüsselung angelegt und darin eine Kontrafaktur der geistlichen Allegorie und 5chriftexegese: der leser muß den sensus litteralis der Handlung ständig auf den verborgenen sensus allegoricus beziehen, die Fabel des Traumgeschehens im Blick auf die verite, qui est coverte (v. 2073) auslegen. Insofern dieser allegorischen Fabel aber eigentümlich ist, daß hier - wie zuerst G. Paris sah - die personifizierten Wesenheiten nicht mehr nur «symbole de leurs rapports constants. sind, sondern als «manieres d'etre passageres. und caspect de la personnalitelt erscheinen, ist der Roman de La rose schließlich auch die am weitesten geführte Umbildung des christlichen helium intestinum in prudentianischer Tradition... Guillaume de Lorris hat seine höfische Psychomachie völlig von dem heilsgeschichtlimen oder mythologischen Grund abgelöst, in dem sie bei seinen Vorgängern noch wurzelte. Hinter seinen Personifikationen stehen keine Beispielfiguren mehr, die den Kampf ~er Tugenden und laster bei Alanus und noch bei Huon de Mery vor einen weltgeschichtlichen Hintergrund rücken ließen. Guillaumes allegorische Welt gibt sim zum ersten Mal als eine reine Fiktion, die für sich selbst bestehen kann, unberuhn davon, daß die höfische Dichtung für seine Zeitgenossen - wie Huon de Mery bezeugt - schon die Vorstellung vergangener Größe erweckt hat. An die Stelle des Schlachtfelds und der epischen Handlung der Psychomachia ist hier der imaginäre Ganen Amors, an die Stelle der äußeren Aventüre der höfischen Romane ein traumhaftes Geschehen getreten, das mit den Figurationen der Rosenallegorie allein noch die innere Geschichte von amant und dame: die Entfaltung ihrer liebe verbildlicht. In der vielfach variierten Darstellung seiner Figurationen hat Guillaume die klassische Form der prudentianischen Allegorie kunstvoll überboten. Im Roman de La rose ergibt sich die allegorische Fabel nicht mehr aus einer übergeordneten Reihenfolge gegensätzlicher Paare von Wesenheiten. Hier ist die Abfolge der in vier Zehnergruppen erscheinenden Personifikationen 4. vielmehr der besonderen Aventüre untergeordnet, die dem Dichter in seinem Traum von der Rose widerfähn. Die Beziehung zwischen den höfischen Tugenden und lastern wird nicht mehr durch polare Zuordnung vorgegeben, sondern durch den Weg des träumenden Ichs selbst hergestellt . .. G. PARIS, La Iitterature Er. au m. I., Paris, 11890, § 111. 4. Zur Zahlmsymmetrie und Funktion der Personifikation cf. IAuss °664, 202-205.
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C. Entstehung und Struktunoandel der allegoriscnen Dimtung
Der amant geht an der Mauer mit den zehn Porträts von Lastern, die von der Aufnahme in den Solidaritätskreis der höfischen Gesellschaft ausschließen, vorüber. Nachdem ihm Diseuse, die Personifikation der höfischen vita contemplativa, die Pforte aufgetan und den Paradiesgarten erklärt hat,41 wird er von Cortoisie zur Teilnahme an der carole der höfischen Tugenden eingeladen. Nach dem Tanz, allegorice: der erlangten übung in den allgemeinen Normen der höfischen Bildung, beginnt der besondere Weg des amant und tritt auch Amor aus dem Kreis gleichberechtigter Figuren heraus (v. 1304 sqq.). Das nun folgende singulare Geschehen der erwachenden Liebe und Erwählung der Rose bildet sich beim Blide des amant in die Fontaine d' Amors schon vorweg in seiner idealen Bedeutung ab. Die deus pierres de cristal auf ihrem Grund spiegeln alle Dinge senz cotlverture (v. 1557): erst den gesamten vergier de Deduit, als Abbreviatur der Welt (speculum mundi), dann den Rosenhag, der das Verlangen wedet, eine Knospe zu erwählen. In dieser Abstufung geht die Idee der Liebe ihrer Erfahrung voraus. 43 Das mistere der Quelle, das Guillaume erst am Ende auflösen will (v. 1600sqq.), dürfte darin liegen, daß die bei den Kristalle auch die Augen der Dame bedeuten. Diese Lösung setzt voraus, daß - wie E. Köhler zeigte-Guillaume de lorri~ den antiken Mythus von Narziß gerade in den gegensätzlichen Sinn umgekehrt hat: die fons mortis wird nun zur fons vitae, der amant findet in der Narzißquelle nicht mehr sein eigenes, ihm den Tod bringendes Bild, sondern die Augen als Spiegel der Seele seiner Geliebten und als Ursprung seiner Liebe. 44 Die Dame, die zunächst nur in normativen, durch die Pfeile Amors verbildlichten Eigenschaften bezeichnet ist, wird auf dem Höhepunkt der Handlung in personhaften Zügen sichtbar. Ihr Verhalten spiegelt sich wiederum in einer Konstellation von zehn Personifikationen (vv. 2823 sqq.). Doch nun wird das Wann, Wo und Wie ihres Erscheinens und Wiederverschwindens für das figurierte, nur erratbare Verhalten der Dame gleichermaßen bedeutsam wie das zeitlose Wesen, das Bel acueil und Dangier, Male Bouche, Honte und Peor als Träger ihrer Namen verbildlichen. 45 Guillaumes Allegorie von der Rose erreicht dabei eine Spiegelung des Singularen, die über die allegorische Konvention des Mittelalters hinausweist: da die widerstreitenden Neigungen der Dame nicht mehr objektiv in Gegensatzpaaren, sondern subjektiv als wechselnde Aspekte aus der Sicht des amant erscheinen, bleibt die innere Geschichte der Dame unvorhersehbar, ihr Wesen in seiner substantiellen Ganzheit bis zum Ende verborgen - als ein Geheimnis, das auch der für das Ende versprochene Schlüssel der Allegorie nicht ganz hätte enthüllen können. In die Jahrzehnte zwischen Guillaume de lorris und JeandeMeun (ca. 1237/1277) fallen vermutlich drei erzählende Minneallegorien kürzeren Umfangs, die formal das •• In ähnlicher Gestalt (Attribut des Spiegels) und verwandter Funktion (Zugang zumparevis teTTestre) wie Diseuse erscheinen Lea und Matelda in Dantes Divina commedia, Purg. XXVII bis XXXI, d. E. KÖHlER, ZRPh 78 (1962) 464-469 und H. KOLB, GRM 46 (1965) 139-149. .. Nach FRAPPIER °636, 1St. •• KÖHLER °684, 95 sqq. ta Zum Verhähnis von Bel Acueil und Dangier als Aspekten personenhaften Verhaltens cf. JAUSS ° 664, 204.
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5. Dit Minntalltgorit als tsottrismt Form tintT ntum ars amandi
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mythologische Schema von De amOTe und Phillis et Flora: den Weg zum Hof des Liebesgotts, an dem über den Fall der Liebenden befunden wird, fortsetzen. Zwei strophische Stücke pikardischer Herkunft, (Fablei) Du die ud'am 0 ur ;t 4656 und dessen Nachahmung De V mus la deesse d' amour ;t 4712 zeigen, wie populär die Gattung inzwischen geworden sein muß. Denn die Verfasser haben aus offenbar beliebten Episoden wie der Szenerie der Paradieslandschaft, des Vogelstreits über Kleriker oder Ritter als Liebhaber,·' der Erscheinung Amors und seines Palastes einfach eine neue Allegorie zusammengesetzt und sie im Jongleurton vorgetragen, ohne sich viel um allegorische Deutung zu kümmern. Interessant sind die z. T. unverstandenen Mythologeme: im ersten Text bekommt der Phönix die Sphinxen rolle eines Türwächters (str. 74 sqq.), und Amor muß die entfühne Dame einem Drachen abjagen; im zweiten erscheint Venus mit einem (antiken) Gefolge von Vögeln, unter denen der Namtigall die Rolle des Sekretärs und Liebeshelfers zufällt, und wird vom Autor offenbar für die Gemahlin Amors gehalten (str. 236 sqq.). Die Verschmelzung heidnischer und christlicher Elemente erreicht hier überdies einen Gipfel an Naivität: die widerspenstige Dame wird im Brief der Nachtigall unter Berufung auf Li deu d'amor e lhesu Crist mit Höllenstrafen bedroht, wenn sie dem Amant weiterhin ihre Gunst verweigert. U - Von höherem Niveau, obschon im selben Genre ver faßt, ist eine allegorische Co m pI ai n ted' a m 0 u r ;t 4644. Der Autor benutzt die Quellenepisode aus Chretiens Yvain, um den übergang in das Jenseitsreich Amors zu motivieren; der Weg zu dessen Palast erinnert in seinen Stationen (Bestrafung der mesdisanz und f~ux amanz an öden Orten, überquerung einer gefährlichen Brücke, Paradies der Liebenden, auch der paarweise vereinten Fische und Vögel) an De amore; am Ende gibt Amor selbst eine vollständige Auflösung der Allegorien (mes secrez, v. 1260) des Weges, auf den er den amant zu seinem Heil gebracht hatte. Auf das neue Muster des ersten Rosenromans weist zuerst der Roman de Ia poire eines unbekannten, literarisch sehr gebildeten und Paris verbundenen" Messire T h i bau t ;t 4708 zurück. Doch geht das geistvolle Werk in der Komposition wie in der Auffassung der Liebe durchaus eigene Wege. Den Anlaß zur estoire, in die nur einmal eine kurze Traumvision (Erscheinung Amors mit der Dame) eingeschaltet ist, gibt eine quasi-biographische, auf die Verführung Adams anspielende Situation: eines Tages reicht die unter einem Birnbaum sitzende Dame dem Dichter heimlich eine Frucht, von der sie selbst erst einen Bissen nahm. Die allegorische Handlung schildert - zum Teil in einem fingierten Dialog mit dem Leser - die Annäherung des schüchternen amant, der sich seines Romans als eines salut d' amour (vv. 293 und 2220 sqq.) und am Ende der Nachtigall als Liebesbotin bedient, die den eifersüchtigen Ehemann täuschen soll. Die Entlehnungen aus dem Roman de la rose erscheinen allesamt unter veränderten Vorzeichen: nicht Bel Acueil, sondern der amant selbst wird hier von Amor in einem Turm belagert, der ihm sein Herz abfordert und dann selbst .. Im Vogelsfreit wird nun auch die These vertreten, daS jeder darm wahre Liebe corloi5 werden kann (.tt. 31-34) . • 7 Amor und Venus arbeiten auch SODlt mit ChristDI und Maria Hand in Hand, cf. str. 159, 277,315 . •, Cf. vv. 1324-1385 Thibaut. originelle Huldigung an Paris, die Stadt, in der Amorgeboren wurde, die Menschen heiterer und die Damen schöner .ind als anderswo.
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C. Entstehung und Struktunoandel der allegorismen Dimtung
für ihn die Geliebte wählt; Raison spielt eine helfende, nic:ht mehr von der liebe abratende Rolle; die Dame, nicht der amant, wird hier von einem Pfeil getroffen und muß in einen Tausch der Herzen einwilligen, mit denen die liebenden dann Zwiesprache halten. Besonders originell und reizvoll ist der Einfall, der Minneallegorie eine Reihe von Porträts berühmter liebespaare: Cliges und Fenice, Tristan und Isolde, Piramus und Tisbe, Paris und Helena voranzustellen und diese Reihe, die Amor und Fortuna einleiten. mit der Huldigung an die eigene Dame zu besc:hlieBen. Die Frage, welcher Platz Jean de Meun "'4672 in einer Geschichte der Minneallegorie zukommt, war für die ältere Forschung rasch beantwortet. Dem Fortsetzer Guillaumes, der den Faden des Roman de la rose mit der eomplainte des abgewiesenen liebhabers wieder aufnahm (v. 4059 sqq.) und mit dem Erringen der Rose zu Ende führte, wurde vorgeworfen, daß er kein Allegoriker sei, daß er die Grenze zwischen Didaktik und Dichtung aufgehoben, die allegorische Fiktion durch endlose Abschweifungen durchlöchert und als «Aufklärer» oder libertin das höfisc:he Ethos parodistisch in sein Gegenteil verkehrt habe. Der zweite Roman de la rose wurde als cAnti-Guillaume» verstanden und bezeichnete in der Geschichte der höfischen liebe den Punkt des Umschlags vom Idealismus zum Zynismus.·' Gegen diese Deutung spricht sowohl das Weiterblühen der Gattung als auch die große historische Wirkung des Werks von Jean de Meun. In dem Maße, wie seit C. S. lewis die Vorurteile eines klassizistischen Gesc:hmacks abgebaut und die falsche Perspektive einer Aufklärung avant la lettre durch eine genauere Kenntnis des Averroismus ersetzt wurden, trat auch die literarische leistung Jeans mehr ins licht. Der Mangel an poetischer Einheit, das Mißverhältnis der wuchernden Digressionen und die VeräuBerlichung der allegorischen Fabel erwies sich mehr und mehr als die bloße Kehrseite eines Werkes, das den überkommenen Mirouer aus Amoureus (v. 10651) kritisch in dtön gröBeren Rahmen einer laienenzyklopädie stellte und die Summe antiken Wissens auf eine bisher nie versuchte Weise der aktuellen Erfahrung zu vermitteln wußte. An dieser Absicht gemessen erscheint Jean de Meun als ein Genie enzyklopädischer Darstellung, dem die verschiedensten Gattungen und Tonalitäten zu Gebote standen: der philosophische Traktat, das Gewand der Satire und Travestie, das lehrgedicht im Stil der Schule von Chartres, ja sogar der Ernst mystischer Betrachtung." Formal betrachtet hat Jean de Meun die allegorisc:he Fabel seines Vorgängers mit vier wiederaufgenommenen Szenen (Dialog des amant mit Raison, mit Amis, mit Amours; Eingreifen der Venus), einer freien Nac:hahmung des Planetus Naturae (Szenen mit Nature und Gmius) und einem erwartbaren Schluß, der Einnahme des Schlosses der JalousieJfortgesetzt. Diese Kompositionsform, die ihm in der thematisch erweiterten Reprise die Korrektur Guillaumes ermöglic:hte, ist so wenig als bloßer Mangel an «Erfindung» abzutun, wie auch die Veräu.Berlic:hung der allegorischen Darstellung Jean nicht einfach als eine persönliche Schwäche zur last zu legen ist. GewiB ersc:heint die Fortsetzung an der vollendeten Kunst des Allegorikers Guillaume .. Cf. GaöIU, GG. 111, 737Iqq., und noch Curtius. ap. 6, § 3; zum cAnti-Guillaume. cf. FAUL °76 und PAd °176, 3201q . .. LEWlS °696. 142-156.
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5. Die Minneallegorie als esoterische Form einer neuen ars amandi
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gemessen wie ein bloßes, auf lange Strecken überhaupt aufgegebenes callegorisches Schattenspiel» : 111 an die Stelle der beziehungsvoll nebeneinander geführten Fäden der allegorismen Fabel ist häufig eine einsinnige, romanhafte Intrige getreten, die Personifikationen entspremen in ihren Reden oft nimt mehr der Bedeutung ihres Namens oder werden zu auswechselbaren Schemen,5I der amant fällt zu Beginn des tournoiement wieder in die Rolle des bloßen Zusmauers zurück (v. 15111) und Bel Acueil, bei Guillaume nur einer unter anderen Aspekten der vielfältig figurierten Dame, verkörpen bei Jean nUnmehr allein das Wesen der Geliebten - eine (ironisme?) Verkürzung, der am Schluß aum die direkte Auflösung der Allegorie vom .Pflücken der Rose. entsprimt. Dom wäre hier aum zu beamten, daß Guillaume in der Kunst, einen seelismen Vorgang vollkommen figurativ darzustellen, von kaum einem seiner Namahmer erreimt wurde, daß zur Zeit, als Jean sdtrieb, die klassische Fonn allegorismer Dimtung schon in abstraktere Spielformen übergegangen war und daß die neue Tendenz seines Werkes ein ~mbrechen der von Guillaume geschaffenen, in sim selbst besdtlossenen Konvention der Minneallegorie erforderte. Gerade die Reprisen aus dem ersten Teil lassen die kri tisme Tendenz Jeans erkennen. Wenn er Raison wieder die Warnung vor fole amour vorbringen läßt, folgt nun eine Ermahnung, daß es aum nom andere natures d' amours wie Freundschaft, Nämstenliebe, Mutterliebe und Liebe zur Weisheit gebe, die der amant bisher verkannt habe (v. 4663 sqq.). Dem folgt eine erschöpfende Erläuterung der Kunst der Verführung und der käuflimen Liebe, erst in ovidianismer Manier aus dem Munde des Amis, sodann das Gegenstück aus der Simt der ihr Leben erzählenden Vi elle, beide Male also in komödienhaften Rollen, die man übersehen hat, als man den dort am schärfsten ausgespromenen Antifeminismus kurzerhand für die Meinung des Autors halten wollte. 61 Aum die berümtigte Empfehlung des erotismen Kommunismus (v. 13875 sqq.) kann nimt geradezu gegen die Liebesauffassung Guillaumes ausgespielt werden. Jeans neuer Liebesspiegel geht weder in einer zynischen Umkehrung der höfismen Liebesdoktrin auf, nom ist er nur als eine enzyklopädische Vervollständigung der Art d'Amors des ersten Teils zu verstehen. U Jeans Fortsetzung sdtließt in der Tat eine Kritik am Werk des Vorgängers ein, dom nimt als bloße Negierung, sondern insofern, als sie die Minneallegorie Guillaumes als autonome Fiktion in Frage stellt, die Grenzen ihrer für sim bestehenden Welt durmbrimt, in die Reihe der idealisierten Figuren des Ja,din de Deduit Verkörperungen von Mämten der gesdtimtlimen Welt (Faux Semblant, Abstinence-Contrainte) einmismt und so den Aussdtließlimkeitsansprum der höfischen Liebe zunimte mamt. Der Platonismus der höfischen Liebe Guillaumes wie sein Gegenteil, der erotisme Kommunismus der Vielle, werden gleimennaBen von der Erscheinung der Nature und ihres Priesters Genius überbaut, mit denen Jean de Meun die Philosophie Alains von lilIe erneuert und möglimerweise dem Averroismus gewisser Universitätskreise angenähert hat. Die Verehrung der Nature als vicai,e e conestable I a l'empereeu, pardurable Cf. GaöBU, op. eit., 739. Cf. LEWIS 0696, 140sqq., und GaÖBu, op. eit., 738sq. 11 Cf. L J. FIUEDMAN, MPh 57 (1959/1960) 13--23. .. So A M. F. GtOOf (1952), der die Einheit der heiden Teile in einer Art von Bildungsroman (.progress of Youth to maturity», 276-294) sehen will.
11
B
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C. Entstehung und Strukturwandel der allegorischen Dichtung
(v. 19505 sqq.) läßt Jean sdUießlich zu einem höchsten Bild greifen, das zugleich den Anspruch der höfischen Liebe am entschiedensten in seine Grenzen zurückweist: die mystische Parallele von mensdUicher und göttlicher Liebe, irdischem und himmlischem Paradies. Im Vergleich zu dem parc dou champ joli, der den Getreuen im Heer Amors, die das Gebot der Nature erfüllen, von Genius verheißen wird (v. 19538), ist der /ardin de Deduit Guillaumes nur ein vergängliches, in allen Dingen unvollkommeneres Abbild. Denn zwischen dem ,Park der guten Weide> und dem Paradies der höfischen Liebe liegt der ganze Abstand von Wahrheit und bloßem Schein (de T1eir a fable, v. 20288). Und wenn am Ende der amant seine Rose erringt, so daß es scheint, als ob die Allegorie im Sinne Guillaumes schließe, läßt dieser Schluß im Sinne Jeans noch eine tiefere, den Vorgänger ein letztes Mal korrigierende Deutung zu. Denn der Augenblick, in dem sich mit der Erhörung des amant das individuelle Schicksal seiner Liebe und Bildung erfüllt, bestätigt aus der Sicht Jeans doch wieder nur eine Guillaume verborgen gebliebene List der Natur, wie die (apokryphen?) Schlußverse andeuten: Explicit li Roumans de la Rose, Ou I' An d' Amours est toute endose. Nature rit, si com moy samble, Quant hic et hec joignent ensamble. 65 Der Roman de la rose hat gerade in seiner Zwittergestalt, als doppelter Gipfel der Minnedichtung und der «scolastique courtoise», der allegorischen Dichtform zum Sieg verholfen, die zwei Jahrhunderte lang der Entwicklung verschiedener literarischer Formen das epochale Gepräge gab. Er hat dabei - wie Huizinga zeigte - im Spätmittelalter «nicht allein die Formen der aristokratischen Liebe vollkommen beherrscht, sondern ist darüber hinaus durch seinen enzyklopädischen Reichtum (... ) die Schatzkammer geworden, aus der sich gebildete Laien das lebendigste ihrer geistigen Entwicklung holten. Es kann nicht wichtig genug genommen werden, daß so die herrschende Schicht einer ganzen Epoche ihre Kenntnis des Lebens und ihre Erudition im Rahmen eines ars amandi bezog». 58 Von dieser Wirkungsgeschichte ist hier nur noch der Anfang im Rahmen der Minneallegorie des späteren XIII. Jhs zu behandeln. In Frankreich ist für die Gesmichte der Gattung in dieser Zeit eigentümlich, daß einige aus dem Roman de la rose bekannte Motive wie die prison d' amour oder der Kampf um die Minneburg 57 zu neuen Werken weitergesponnen wurden. Dabei kehrte auch das dort fallengelassene Thema vom Hofstaat und Gericht Amors wieder und wurde verschiedentlich mit der nun offenbar modischen Form des salut d' amour 55
11 S7
Cf. E. LANGlOIS (1910), 46. Zur weiteren Tradition des Themas .Natur und Liebe, d. G. RAYNAUO OE LAGE, Natura et Genius chez Jean de Meung et chez Jean Lemaire de Belges, R 58 (1952) 125-143, und A. D. ScAGUONE, Nature and Love in the late Middle Ages, Berkeley und Los Angeles, 1963. J. HUIZINGA, Herbst des Mittelalters, 5tuttgan, 71953, 112. 50 im Roman du TJerger et de l'arbre d'amour ,;t 3246, der die ursprünglich mythologisa.en Elemente des jardin de Deduit erst rein beschreibend allegorisien (der geistlichen Tradition des arbor TJirtutum folgend) und sodann den TJerger d'amour von den /in amant gegen seine Widersacher (mesdisant, maris, jaloux, aber auch Bettelmönche und Beguinen) in einer allegorischen Schlacht verteidigen läßt, die in einem jugement durch zwei adlige Damen endet.
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5. Die Minneallegorie als esoferisme Form einer neuen ars amandi
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versdunolzen. Neu ist die Zusammenordnung von Amor und Fortuna, in der sich etwas von der seit Jean de Meun schwindenden Selbstherrlichkeit Amors anzeigt. Das mythologische Schema von De amore kehrt mit der allegorischen aventure in der foreste de longue pensee wieder, die Richart de Fornival in einen Traktat Co n sei I d' a m 0 u r ;t 3240 eingelegt hat, um die Bekehrung eines Verächters der Liebe zu motivieren. Die Beschreibung des Besuchs am Hof des Liebesgotts bringt gegenüber Andreas CapelIanus die Neuerung, daß hier nicht mehr nur die Frauen, sondern auch die Männer den Strafen im Jenseitsreich Amors unterworfen sind. Das Gericht Amors hat nach 1280 Phi I i P P e deR e mi (Sire de Beaumanoir) mit dem Thema der prison verbunden und in den eleganten Rahmen eines Salut d' amour ;t 4692 gebracht. Für den Verfasser der Coutumes du Beauvaisis steht auch hier das Interesse an dem gerichdichen Verfahren im Mittelpunkt. Der amant, in das Gefängnis Pensee geworfen, weil er während der Carole seine Dame mit der Hand berühn hat, wird vor das Gericht der Dame Amours gebracht, die zwischen den beiden agierenden Parteien höfischer Tugenden und Laster eine auffallend schwache Position einnimmt (cf. vv. 319-322). Obschon der amant das Opfer einer Intrige von Traison geworden ist, kann doch der einmal gefällte Spruch nicht widerrufen, sondern nur gemildert werden (v. 812 sqq.): er muß seine zehn Strafen so lange verbüßen, bis die Dame selbst sie ihm erläßt. - Auf neue Weise und in einer sehr persönlichen Manier, die in lyrische Tonalitäten übergehen kann, wußte Philippes Zei tgenosse Bau d 0 u i n d e Co n d e ;t 4620 das Thema seiner Prison d' amour zu gestalten. Hier ist ganz auf die konventionelle Fabel des Weges zu Amor oder der Traumerzählung verzichtet und dafür eine neue Auflösung der Frage angekündigt, quels la prisons d'amors puet iestre (v. 4). Baudouin verfährt dabei so, daß er seine Minneallegorie in häufig abschweifenden Meditationen allmählich aus der zu erläuternden comparizon (vv. 17, 458, 1773) erstehen läßt. Während sonst die beschreibende Allegorese vom vorgegebenen Ganzen durch Zergliederung zur Deutung der Teile gelangt, baut sich hier umgekehrt das allegorische Bauwerk von den Teilen zum Ganzen, d. h. von der Erläuterung des Fundaments, des Turms, seines Zugangs und seiner beiden Stockwerke, die das Glücksrad verbindet, zum welthaften Sinnbild auf. Fortuna hat nun fast unmerklich Funktionen Amors übernommen, versetzt die Liebenden in das untere Stockwerk der maux d' amors und läßt einige nach oben, zu den hautes joies dei palais (v. 2754) gelangen, die dem Dichter bisher versagt waren. 58 Daraus gewinnt Baudouin den Ansatz, die Minnedoktrin wieder in die lyrische Situation des Werbenden umzusetzen, spielt immer wieder mit dem Gedanken, daß er ohne die notwendige Erfahrung nicht weiterschreiben könne, und steigert dieses durchaus reizvolle Spiel bis zum Argument des Ruhms, den sich die Dame verscherzen könnte (Car en cest lai demorra vis lEt en hOlmorable memore, v. 2869 sq.). An besonderen Motiven reich ist der Dit de la panthere d' amour von Nie 0 I e d e M ar gi val ;t 4680. Der um die Wende zum XIV. Jh. hervortretende, mit Drouan la Vache befreundete Autor hat eine symbolische Tierfigur der Bestiarien in die Sze18
Zu Fortuna cf. vv. 839sqq. und 2493 sqq., wo die Wendung des Rads nach oben mit dem Pfeilschuß Amors gleichgesetzt ist; die erwanbare, aber in Baudouins Konzeption nicht passende Wendung, die das Glütksrad wieder nach unten nehmen müßte, wird nicht erwähnt.
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C. Entstehung und StruktunDGndel du Gllegorismm Dimtung
nerie der Minneallegorie vom Typ des Dieu d' amour gestellt, die von der Panthere verkörpene Dame mit Personi6kationen in der Art des Roman de la rose umgeben und seine Traumerzählung mit verschiedenen lyrischen Einlagen, darunter Liedern von Adam de la Haie, in die äußere Form eines salut d' amour gebracht. Amor erscheint hier zu Pferde, um den amant aus seiner grant meraneolie zu erlösen, in die er verfiel, weil er die signi/ianee der Pantherallegorie nicht begriff (v. 148). Aber die Macht Amors und seiner Gemahlin Venus reicht hier nicht mehr aus, dem amant zu seiner Dame zu verhelfen; sie müssen ihn bald an eine höhere Instanz, an Fortuna, verweisen (v. 1924 sqq.). Im Ostel Fortune, dessen gegensätzliche Teile von den Dienern Eürs und Meseürs gehütet werden, gerät der Dichter in die Hälfte der Adversite; nun bedarf es eines Eingreifens von Graee und Pitie, um die Panthere zu Merei zu bewegen und - in allegorisch ungeklärter Analogie - Fortune umzustimmen. Und wenn am Ende der amant in der anderen Hälfte des Palastes, der Prosperite, wohnen darf, ist damit der glückliche Ausgang des Traums bedeutet, zugleich aber auch das Haus der Fortuna, aus deren Bannkreis der Weg des Träumenden nimt mehr hinausfühn, zum umgreifenden Sinnbild der ganzen Welt erhoben. Die Herrschaft Amors erscheint auch in anderen Texten nicht mehr fraglos souverän. Ein pikardischer Epigone, der sonst unbekannte M a h i eu I e Po i r i er ,;t 4676, bringt in einer Art von Trilogie die herkömmliche Kasuistik des liebeshofes in den allegorischen Rahmen einer Niederlage, Emigration und Wiederkehr Amors. Dieser, der als grand bailli dem Hof der douze pairs vorsitzt und Liebesfragen entscheidet, wird von Envie in seinem Schloß belagert und dann gezwungen, sich in den Himmel in Sicherheit zu bringen. Zu diesem ersten Teil, der Court d'amour, bildet der ebenso betitelte dritte Teil das Gegenstück: die schlechte Regierung der Envie läßt die Sehnsucht nach der alten Herrschaft Amors groß werden, ein König von Friesland, dem Amor zuvor eine widerspenstige Schäferin als Gattin zugesprochen hatte, wird zu Hilfe gerufen und erobert das chastel, in das der Vertriebene sodann wieder einziehen kann. Der Erzähler, Augenzeuge des ganzen Geschehens, rückt im zweiten, als Bindeglied gedachten Teil, dem Jeu de la capete Martinet, selbst mit seinem Liebeskasus in den Mittelpunkt. Er betrachtet erst <melancholisch> (v. 12) das Blinde-Kuh-Spiel von Kindern, in dem er ein Gleichnis des Verhaltens seiner Geliebten sieht. Dann treten fünf Damen und ein Jüngling durch ein Pförtchen in den Garten Amors, aus dem eine sechste ausgeschlossen bleibt: Desesperee, die Widersacherin von Esperanche, von welcher dem Liebenden Aufschluß und neue Ermutigung zuteil wird. Die Szenerie und Konstellation der Figuren verrät das Vorbild des Roman de la rose, aus dem der Autor die Rolle der Esperanche zu einer Allegorie für sich herausgesponnen hat. - Auch in einer anglonorm. Minneallegorie Bi e n es t raiSon et droiture ,;t4624 derselben Zeit kehrt das Motiv vom Rückzug Amors wieder. Nachdem er seine grant seignurie überall eingebüßt hat, findet er in einem festen, auf dem Fels Loialte gebauten Turm Zuflucht; seine Feinde greifen zu einem besonderen engyn: einem Katapult, der den Spiegel der Gelousie hochschleuden, so daß Amor seine Burg nicht verlassen kann (vv. 854-1(07). Wie dieses bizarre Motiv in der epigonenhaften Fabel, so zeigen auch besondere Züge in der Gestalt Amors die Feme der klassischen Minnekonventionen an: der Liebesgott sprimt selbst von seiner Blindheit als einem viee, das viel Schaden angerichtet (v. 385 sqq.), am Ende
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5. Die MinneGllegorie Gis esoterische form einer newen ars amandJ
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aber doch in der Verbindung von Liebenden versdUedener Stände das Gute habe überwiegen lassen (Plus ayt lait mounter que descendre, v. 414), und er trägt einen Ring, um mit diesem christlichen Symbol zu bedeuten, daß sich die höfische Liebe in der Ehe erfülle (vv. 641-701). Als ein erster Widerhall auf die &lJl2IÖsische Tradition der Minneallegorie sind in Italien vielleicht die Cinque sonetti antichi .I' 4632 einer Wiener Handschrift anzusehen, die nach ihrer Sprache ~d guittonianischen Form eine emilianische oder aretinische Herkun& vermuten lassen. Die heterogene Gestalt des ersten und der vier folgenden Sonette erklärt sich wohl am einfachsten so, daß ein rechtskundiger Verfasser das erste schon vorliegende Sonett durch einen zusammenhängenden kleinen Zyklus ergänzt oder kommentien hat: schildert das erste Sonett in mythologischer Verhüllung den Beginn der liebe (Begegnung mit einer dea, deren Kuß der anwesenden Gesellschaft unsichtbar bleibt und den Dichter wie der dardo de l'amore trifft, so daß an Venus gedacht werden kann), so wird ihr Fongang in den folgenden vier Sonetten in die allegorische Tradition des iudicium amoris umgesetzt. Die als dea terrena eingeführte Dame verweigen im liebesganen die Gunst der kirlanda di l'amore (n02), der Dichter erinnen an die Situation Adams im Paradies (n03), ein Bote zitiert die Dame vor den Hof Amors (n04) und sie wird don dazu veruneilt, -unter Erstattung der Kosten> des Dichters Geliebte zu werden (n05). In der Toscana, der literarischen Landschaft Italiens, in der vor allem die allegorische Dichtuhg wie später auch der Dolce stil nuovo zur Blüte gelangt ist,al fand auch der Roman de la rose den stärksten Widerhall. B run e tt 0 La tin i, der mit seinem Tesoretlo .I' 4534 das allegorische Epos der Schule von Chanres nach Italien brachte, läßt seinen Wanderer nach dem Reich der Natura und der Vertute auch in das Reich Amors gelangen. Doch hier, wo Brunetto möglicherweise das Werk von Guillaume de Loms vor Augen stand, verdichtet sich seine auch sonst bekundete Kritik an den Idealen des amour courtois" zur Gebärde der ausdrücklich vollzogenen Abkehr: im Widerspruch zu aller Tradition der Minneallegorie verläßt der Wanderer das Reich des blinden Amors durch eine rettende Flucht und muß in Montpellier erst eine Beichte ablegen, um seine allegorische Reise bis zum Berg Olymp fortsetzen zu können. - Die gleiche Gegenposition zum Ethos der höfischen Liebe macht sich auch in der eine Generation später entstandenen italienischen Version des Roman de la rose geltend. Im Fiore hat ein toskanischer Dichter, der nicht identifizierte Se r 0 ur an te .1'4660, in dem zuletzt G. Contini wieder den jungen Dante Alighieri erkennen wollte, das gesamte Werk aus seiner heterogenen Doppelgestalt in die wirkungsvoll gekürzte und neu pointierte Form eines Zyklus von 232 Sonetten umgegossen. Die antihöfisc:he Tendenz des Verfassers zeigt sich gleich darin an, daß er die allegorische Handlung im Fiore mit dem Pfeilschuß Amors einsetzen, mithin den vorbereit~den Weg der höfischen Erziehung wegfallen läßt: eine ars amandi wird im Flore nur noch rein pragmatisch in den zynischen, mit drastischer Sprache gewürzten Ratschlägen des Amico und der Vecchia, nicht mehr im Geiste der id~alisierenden Minnedoktrin von Guillaume de Lorris dargeboten. Da der Kürzung .. Cf. StoriGS, 353/354. .. Cf. JAUSS °668, 74-79.
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C. Entstehung und Strukturwandel der allegorisaaen Diaatung
Durantes ferner die ganzen Natura- und Geniusepisoden anheimgefallen sind, tI fehlen nun auch die mystischen Parallelen und der metaphysische Rahmen, die bei Jean de Meun den erotischen Naturalismus rechtfertigten. So kann der italienische Rosenroman geradezu als eine blasphemische übersteigerung U und Entmystifizierung der höfischen liebes religion gelesen werden, die am Ende darin gipfelt, daß die Allegorie der Rose in eine kaum noch verhüllte Beschreibung des Aktes der Deflorierung umschlägt (nOI 229-230). - Im D e t tod' A m 0 re ;t 4652 ist die Rosenallegorie in anderer Weise aufgegeben. Dieser Text, vom selben Durante möglicherweise als virtuose übung in einer schwierigen Reimform verfaßt, behandelt die Unterwerfung des Dichters unter den liebesgott, die Anfechtungen des fedele d' Amore durch Ragione, Gelosia und Ricehezza und - als mutmaßliches Ende - seine Belohnung (vv.17-22); die Dame wird nicht mehr in den verschiedenen Aspekten ihres Wesens figuriert, sondern geradezu in ihrer Gestalt (eom' eil e ben partita I e di eors e di membra, v. 163 sqq.) nach dem Schönheitskanon der Zeit beschrieben. Kommt man von den ital. Rezeprionsformen des Roman de la rose zur ersten eigenständigen Minneallegorie, der dem Chronisten Dino Compagni immer noch nicht mit Sicherheit zugewiesenen In te 11 i gen z a ;t 4668, so wird augenfällig, in welchem Maße die neue Generation des Dolce stil nuovo eine Respiritualisierung der Liebe herbeigeführt hat. Der Verfasser, der formal die mit Brunettos Tesoretto eröffnete Tradition einer kosmologischen Allegorie fortsetzt, erinnert nur noch mit der Szenerie einer Eingangsstrophe (Ed io stando presso a una fiumana I In un 'Derziere all'~mbra d'un bel pino, I Aveavi d'acqua 'Diva una fontana, str.3) an die franz. Minneallegorie. Der traditionelle Schauplatz und Frühlingseingang motiviert sogleich den Augenblick, in dem der Dichter beim (ersten Blick) von liebe zu einer Dame von altremirabile bieltate ergriffen wird (str. 4-7). Im Vergleich zum allegorischen Schema des Roman de la rose ist hier eine dreifache Reduktion festzustellen. Zwischen dem Dichter und seiner zur figura angeliea erhöhten Dame steht allein noch fin Amore, als erster gnadenhafter Anfang und als Instanz des Herzens (prima Ja i euor gentil ehe vi dimori, str. 5), nicht mehr jene Zwismenwelt von Personifikationen, die in der Allegorie von der Rose das Wesen und Verhalten der Geliebten figurierten. Ferner ist die handlungshafte Allegorie aufgegeben: während sich dort mit dem Weg des amant und seinen Stationen die Summe des höfismen Wissens zu einer autonomen Welt entfaltete, verbindet sim für den ital. Dimter alles Besdareibungswürdige und Beispielhafte mit der Gestalt der Madonna, ihrem Diadem der 60 Steine und ihrem Palast mit seinen zwölf Gemämern. Dieser Palast bildet nun die Mitte der Welt (e fu storato a 10 mezzo dei monda, str. 60) und ersetzt die Porträts zeitloser Wesenheiten an der Mauer des iardin de Deduit durch eine Bilderfolge in der (Kammer des Gedämtnisses., wo die antiea storia (str.62, 303) des Triumphs der Liebe und sodann der Heldentaten Cäsars, Alexanders, Trojas, der Table Ronde, mithin eine Abbreviatur der Weltgeschichte vor Augen gestellt ist. Und .. Auf die Naturphilosophie lean de Meuns bzw. seinen mutmaßlichen Averroismus weisen im Fiore lediglich die Sonette 39, 40 und 183 zurüde. I. Blasphemische Stellen wie in den Sonetten 5, 17, 34 oder 227 sind nicht per se unchristlich. sondern übersteigern den Autonomieanspruch der höfischen Uebesreligion in satirischer Absicht.
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5. Die Minneallegorie als esoterisme form einer neuen ars amandi
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während so die Beschreibung kosmologisch zu der Enthüllung aufsteigt, daa mit der
Madonna im Kreise der sieben Königinnen letztlich die (averroistische) Universalintelligenz bedeutet sei (str.309), vollendet sich allegorisch zugleich die Verinnerlichung der Liebe: die Intelligenza, die den Engeln die erste Bewegung von Gott aus vennittelt, ist die gleiche Krah, die in das Herz des Liebenden gekommen ist, um als Geist im cPalast des Körpers) zu residieren (str. 301). Die Dichter des D 0 I ces t i I n u 0 t1 0 können hier nur in einem Ausblitk auf ihre neue allegorische Sprache ErWähnung 6nden, da sie primär als eine Epoche der ital. Lyrik zu behandeln sind (vid. II G). Sie führen die Tradition der erzählenden Minneallegorie nicht einfach fort; das lyrische Schema ihrer neuen Allegorie setzt vielmehr eine ausdrütkliche Abkehr vom literarischen Kanon der hö6schen Liebe und damit auch vom Vorbild des Roman de la rose voraus. Diese Abkehr wird - wie schon gezeigt - von Brunetto Latini im Tesoretto allegorisch thematisien, zur gleichen Zeit aber auch von dem konvertierten Guittone d' Arez.zo ausgesprochen. Seine geistliche Verurteilung Amors war möglicherweise der Anlaß, auf den sich Guido Guinizelli in seiner programmatisenen Canzone polemisch bezog." Der Dolce stil nuot1o rechtfertigt die hohe Liebe, indem er eine neue, philosophisch und theologisch begründete AmorlehreN an die Stelle der traditionshah abgeschlossenen Mythologie und Topographie der höfischen Minneallegorie setzt und seine Dichtung im Gewand einer neuen Allegorie entfaltet. Mit der Verinnerlichung der /in'amor bauen die italienischen Dichter von Guinizelli bis Dante die bildhahe Erscheinung der allegorischen Welt des Roman de la rose Zug um Zug ab: den Schauplatz des Paradiesganens, die personifizierten Wesenheiten der höfischen Psychomachia, die verkörperte Erscheinung der Geliebten und die sinnbildlichen Stationen ihrer Erringung. Die neue allegorische Sprache des Dolce stil nuOt1o entspringt einer vollkommen veränderten Figuration des Unsichtbaren. Guinizelli verlegt in seiner Canzone: AI cor gentil ripara sempre amore (vid. 11 G) den. Herrschaftsbereich Amors in das Herz des Liebenden, was auch so zu verstehen ist, daß Amor gleich ursprünglich mit dem cedlen Herzen) geschaHen wurde und in ihm als seiner neuen Stätte ins Dasein tritt. In der Lehrcanzone von G u i d 0 Ca val c a n ti: Donna me prega (vid. 11 G) ist die Stätte der Wirkung Amors noch näher durch memoria bestimmt; hier wird auch der Schritt von der objektiven Personifikation zeitloser Wesenheiten zur subjektiven Personifikation nicht mehr körperhaher Seelenkrähe (spiriti) vollzogen." Indem für Paor ein pauroso spirito d'amore, für Leece ein spirito ehe ride, für Tristece ein spirito dolente eintritt, verschwindet der allegorische Horizont überpersönlicher, meist antagonaler Normen und spielt sich das Schitksal der liebe vornehmlich in dialogischen Szenen zwischen den inneren Stimmen der Krähe des Ich ab. Diese Verinnerlichung kommt einer Zuordnung der überpersönlichen Mächte und Wirkungen auf eine neue Polarität von Nach S. SAHTANGELO, La scuola poelica siciliana, in: Saggi crilici, Modena. 1959, 251. Die letzte, die Summe der bisherigen Forschung ziehende Darstellung der Amorlehre des Dolce stil "uova und der Vita nuOtJa gab H. FRJmlllCH 088, 58-66, 109 sqq. .. In der Lyrik 0 i no Fr e 5 co baI dis (vid. 11 G) stehen die alten Personifikationen und die neue Konvention der spiriti noch nebeneinander, cf. L F. BENtDETTO, ZRPHB 21 (1910) 151 sqq. 11
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C. Entstehung und Strukturw"ndel der "llegori,men Dichtung
üebendem und Amor gleich, bei der die Herrin nurmehr auslösendes Medium und transzendenter Zielpunkt des Geschehens ist. Während ihre spiritualisierte Figur in eine bildlose Idealität entrückt wird, nimmt Amor als wirkende Potenz in den Visionen der inneren Welt neue Züge bildhafter Erscheinung und wechselnder Gestalt an, die den Stufengang der Erfahrung und Läuterung des Liebenden symbolisieren. Amor ist in dieser Epoche seiner allegorischen Rezeption transzendente Person und verkörperte Innerlichkeit zugleich. Er befindet sich im eedlen Herzen. als ruhende Potenz, die erst durch die Schönheit der Herrin gewedtt werden muß und dann auch von außen in Erscheinung treten kann: 10 mi send' svegliar dentro a 10 core un spiriro amoroso ehe dormia: e poi vidi venir da lungi Amore aIlegro sl, ehe appena il conoscia.
Dan te (vid. VII A 2), der mit dieser Verknüpfung von innerer Wirkung und äußerer Erscheinung die Amorlehre des Dolce stil nuO'Oo exemplarisch verbildlidu, hat im Kommentar zu den gleichen Versen (Vita nuot:Ja, XXIV) die personifizierende Darstellung des liebesgottes nur noch ästhetisch, als poetische Lizenz gerechtfertigt: Amore non e per se si come sustanzia, ma e uno accidente in sustanzia (ib., XXV). Der Hinweis auf das eals ob. der poetischen Fiktion (si come fosse sustanzia corporale) beantwortet die traditionelle Frage, ob Amor ein Gou oder nur wie ein Gott sei," in einer Weise, die ihre Alternative ganz aufhebt und damit zugleich die naive Einstellung der vergangenen Minneallegorie zum Amormythus bewußt madu. Die Grenzüberschreitung von der Allegorie als Denkform zur allegorischen Kunstform ist aber gewiß nicht zufällig in der Vita nuOt:Ja ausgesprochen - in dem Werk, das auch in anderer Hinsicht eine Schranke allegorischer Darstellung durchbrach. Die Herrin der Vita nuot:Ja ist für Dante weder nur eine reine Allegorie, noch allein die historische Beatriee Portinari, sondern - nach E. Auerbach - eine Inkarnation der Offenbarung und irdische Person zugleich.·7 Ihre Gestalt bedeutet insofern einen Wendepunkt in der literarischen Tradition des Mittelalters, als hier zum ersten Mal eine profane, wirkliche Person zur allegorischen Figur erhoben wird, ohne darum ihre geschichtliche Wirklichkeit einzubüßen. Die geschichtliche Person löst sich in Dantes Allegorie nicht mehr ganz auf, wirkliche Gestalt und transzendente Bedeutung treten im libro de la mia memoria in ein figurales Verhältnis, das man mit der Begrifflichkeit des Co n t:J i t:J i 0 (11, I, 3-4) als eine Anwendung der eAllegorie der Theologen'· auf profane Dichtung bezeichnen könnte und das dann in der Dit:Jina commedia dazu dienen wird, in der Allegorie des status animarum post mortem die Geschichte und Individualität historischer Personen zu bewahren .
.. Cf. H. FIlIEDRlCB °88, 109. 11 Cf. E. AUERBAeH, Neue Dantestudien (Istambuler Schriften Nr.S), Istambul, 1944. 68-71. U Cf. A. VALLom, 5tudi su Dante medievale, Firenze. 1965, 32 sqq.
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VI.
ERNST UND SCHERZ IN MITTELALTERLICHER LITERATUR
In einem 1953 erschienenen Aufsatz: Chdtiments infernaux et peur du diable d'apres quelques textes franfais du Xllle et du XIVe sieeie hat Jean Frappier seine Leser damit überrascht, daß er sein Thema auf eine neue Frage erweiterte. Wie mag es sich wohl erklären, daß die religiöse Literatur des Mittelalters nicht allein die Angst vor dem Teufel, die Häßlichkeit der Sünde und die Schrecknisse der Hölle dargestellt, sondern auch - im Gegensatz zu dem vom christlichen Glaubensbekenntnis geforderten frommen Ernst - die Gestalt eines komischen Teufels hervorgebracht und sich nicht gescheut hat, den Zustand der Verdammten gelegentlich auch einmal scherzhaft zu behandeln? Frappiers Interpretationen erklären diese Erscheinung aus einem vitalen Bedürfnis der frommen Autoren, der ständigen Obsession des inkarnierten Bösen und des unentrinnbaren Gerichts durch eine literarisch am ehesten erfüllbare Kompensation zu entgehen : « L'arme employee contre le terrorisme du Diable a ete celle du comique. ( ... ) un degre de plus a ete franchi par quelques auteurs dans cet effort, plus ou moins conscient, de liberation relative; ils ont cherche a egayer l'enfer, en exploitant la veine de l'humour, en imaginant pour les damnes des supplices d'une teile cocasserie qu'il est bien difficile de les prendre tout a fait au serieux. Ces supplices ne sont pas seulement horribles, ils sont aussi horrifiques, avec la nuance de plaisanterie qu'a le mot chez Rabelais et dans le style marotique. » I Die von Jean Frappier behandelte Frage läßt sich mit einigem Gewinn auch für die allegorische Dichtung des Mittelalters aufwerfen. Denn auch im Bereich ihrer Gattungen erscheint der Ernst einer lehrhaften oder erbaulichen Intention, der ihrem Ursprung aus Formen der Bibelexegese gemäß war, völlig selbstverständlich. Man wird darum kaum erwarten, in der allegorischen Welt personifizierter Wesenheiten, die mit ihren Attributen für den mittelalterlichen Leser vermutlich etwas von der Würde des Numinosen bewahrten, auf Scherz, Ironie oder Komik zu stoßen. Die Forschung ist denn auch der Frage nach scherzhaften Formen der Allegorie m.W. bisher nicht
I. In : Cahiers de l'AssOCÜltion Internationale des Etudes Fran,aises, 1953,
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BANS ROBBllT JAVSS
nachgegangen; sie hat diese nicht selten sogar verkannt, weil sie - gewohnt, das ehrwürdige Verfahren der Allegorik und ihren Anspruch auf Enthüllung einer verborgenen Wahrheit ernst aufzufassen - nicht gleich an Scherz dachte, wenn ein Dichter mit diesem Verfahren sein Spiel trieb oder die höhere Wahrheit der Allegorie ironisierte. Die Suche nach solchen Fällen erbrachte aus dem Bereich der romanischen Literaturen bis zum Ende des 13. Jahrhunderts eine gewiß unvollständige, aber doch wohl repräsentative Reihe von Texten, die der folgende Beitrag vorstellen und im Blick auf das Verhältnis von Ernst und Scherz interpretieren soll. Dabei kann gezeigt werden, daß im Bereich der Allegorik, die sich von der existentiellen Obsession des Bösen schon bald gelöst und ein eigenes Idealreich christlicher oder höfischer Wesenheiten ausgebildet hat, auch die Befreiung vom didaktischen Ernst eine andere Richtung nahm. Hier zielen Scherz, Ironie und Komik weniger auf die Substanz einer Lehre als auf das Verfahren der Allegorie in ihren gattungsbedingten Formen und Spielregeln. Insofern liegt ein Hauptinteresse dieser Untersuchungen in der Feststellung, wie durch die Verkehrung von Ernst und Scherz in unseren Texten der Kanon der Gattung überspielt und zugleich ihre ungeschriebenen, nicht kanonisierten Voraussetzungen und selbstverständlichen Spielregeln ans Licht gerückt werden. So spiegelt sich gerade in den Scherz- und Spielformen der historische Prozess, in dem die objektive Evidenz und geglaubte Realität der Allegorie einer Poesie des Unsichtbaren Raum geben muß, die sich der konventionellen Fabeln und Figuren für den neuen Zweck einer literarischen Fiktion bedient. Da die Wahrnehmung der scherzhaften Intention einer allegorischen Dichtung nach dem Vorgesagten stets eine gewisse Vertrautheit mit der Tradition der Gattung voraussetzt, wurde die Auswahl und Gliederung der Texte so getroffen, daß die Interpretationen eine Perspektive auf drei Hauptgattungen der mittelalterlichen Allegorie eröffnen. Nicht berücksichtigt wurde die scherzhafte Behandlung der Allegorese, da es sich hier um eine bloße Technik der Deutung handelt. die nicht an gattungsbedingte Strukturen gebunden ist. an beliebige Stellen eines Textes angeknüpft werden kann und angesichts ihrer Häufigkeit eine eigene Darstellung verlohnen würde'. 2. Als ein typisches Beispiel für die scherzhafte Behandlung der Allegorese
sei hier der Dit du boudin (ed. P. MEYER, ROP7'UUlUl, 40, 1911, 76-80) angeführt, der sich auf die Buchstabenallegorese bezieht. ihr Verfahren auf drei Bestandteile der Blutwurst anwendet und sich dabei auf eine Lehre der vielle gramaire stützt. derzufolge neun Buchstaben alles Wissen in sich schließen. Weitere Beispiele hat E. ILvoNEN in : Parodies de th~mes pieux dans la po~ie franpme du Moyen Age. Helsingfors, 1914, ediert. - In manchen Fällen ist die Grenze zwischen Ernst und Scherz schwer zu ziehen. So im Falle der provenzalischen Versepistel, die Matfre Ermenpu seiner Schwester zu Weihnachten schrieb (ecl. K. BARTSCH, Denkmäler der provenzalischen Literatur, Stuttgart, 1856, 81-85). Hier werden die brauchtümlichen Festleschenke spirituell auf Christus ledeutet : der Met auf sein Blut, die Honiakucben auf seinen Leib. der sebratene Kapauu
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BRNST UND SCIIBRZ IN IIlnBI.ALTBRLICBBR AU BOORIB
I. Wohl die ehrwürdigste Gattung der allegorischen Dichtung des Mittelalters ist der' Kampf der Tugenden und der Laster'. Die von Prudentius geprägte und von Bemhard von Clairvaux erneuerte Form der Psychomachia ist in romanischer Tradition nicht allein verschiedentlich nachgeahmt und umgebildet worden 3. Sie hat im 13. Jahrhundert auch einen Abkömmling bervorgebracht, der erlaubte, den Ernst des Seelenkampfes hintanzusetzen und auf dem allegorischen Schlachtfeld noch andere, mehr oder weniger ernst zu nehmende Widersacher gegeneinander auszuspielen: die allegorische Bataille 4. Das berühmteste Stück dieser Art, die Bataille de Caresme et de Charnage, führt die aus dem Streitgedicht bekannten Gegner an der Spitze grotesker Heerscharen von Fasten· und Fleischspeisen ins Feld und travestiert dabei den epischen Vorgang der Chanson de Geste. Hier soll indes nicht von der Komik solcher allegorischer Schlachtszenen die Rede sein, die unmittelbar dem Gegensatz der personifizierten Gegnerpaare - Käse gegen Rochen, Würste gegen Aale entspringt. Uns interessiert vielmehr eine andere scherzhafte Behandlung dieses Musters, die den Ernst der Allegorie selbst ironisch anzurühren wagt: die Bataille des vins von Henri d'Andeli '. Der profilierte, Philipp dem Kanzler verbundene Verfasser, der als erster aktualitätsb~zogene Dichtung (Dit) in franz. Volkssprache geschaffen hat, erprobte seinen Witz und seine hohe literarische Bildung darin, daß er in der gleichen Gattung der Bataille zwei im Ton grundverschiedene Stücke schrieb. Während er in seiner Bataille des sept arts die Allegorie zur Satire wendet, um im Streit der Schulen von Paris und Orleans Position zu beziehen, gefällt er sich in seiner Bataille des vins darin, mit dem allegorischen Verfahren der Personifikation selbst sein Spiel zu treiben. Segnor oies une grant fable Qui avint iadis sor la table deI bon roi qui ot non Felipe Qui volontiers moilloit sa pipe Do bon vin qui estoit do blanc (vv. 1-S)
auf den Gekreuzigten. d.h. auf den UDS zuliebe am Kreuze ' Gebratenen' und mit der Lanze Durchstochenen (v. XI sqq.). Die Grenze zum Grotesken scheint dem modemen Leser wenn nicht schon hier. so gewiß dort überspielt zu sein, wo die Bleichen mterpretammta nun auch noch auf die Inkarnation bezoaen werden (Estas neulas pasec sems uperitt / Ins d "mtre de '" "eree Mari4, v. 30 sq.). 3. Hierzu sei auf meine DarstellWlI in vol. VI, tome 1. cap. C 4, des Gnm4rl~ är romaniscMn Uteraturen du MitteWters, He1de1bera, 1968, venviesen. 4. Eine Zusammenstellung von Stücken dieser Gattung, die genetisch auch als eine Erweiterung der Form des Streitgedichts (duputoison, d~bat, conflit) erklärt werden kann. bringt G. LozINUI in seiner Einleitung zur Ed. La bataille de Carume et de Chamaee, Paris. 1933 (BEHE. fase. 262), 85-90. 5. Ed. F. AUGUSTIN, Marburg. 1886 (AA, XLIV).
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- was hier hyperbolisch als grant fable angekündigt wird und die Stilhöhe eines Epos erwarten läßt, zeigt sich gleich in den nächsten Versen im Gewand eines alltäglichen Vorgangs. Der bon roi Philipp 11. August, ganz unehrerbietig in seiner Neigung für einen guten Tropfen vorgestellt, veranstaltet eine Weinprobe. Gemäß der angekündigten grant fable stellt sich diese Weinprobe im ersten Hinblick dann aber als eine allegorische Bataille dar; die Weine werden vom König wie Vasallen entboten, halten in einem conroi (v. 41) ihren Einzug, tragen ritterliche Namen, die sie oft auch schon qualifizieren (Dant Mauvais, v. 51; Dant Petart de Chalons, v. 53), rühmen sich ihrer Vorzüge, geraten in Streit (Oui la veist vins estriver... , v. 151 sqq.), gebärden sich wie Ritter in der Schlacht (s'enfuirent tomant les resnes, v. 74) und werden - von hier an folgt der Verfasser dem Muster des Streitgedichts - von einer höheren Instanz, verkörpert durch einen trinkkundigen englischen Priester, in ihrem Rang erprobt und gerichtet. Der aufmerksame Leser wird indes bald gewahr, daß dieser epische Anblick der Bataille noch nicht den vollen Sinn des Textes erschließen kann. Denn die allegorische Darstellung ist mit Signalen durchsetzt, die neben der Allegorie vom< Streit der Weine> an das Weiterbestehen der alltäglichen Realität erinnern und so immer wieder die Grenze zwischen allegorischer und wirklicher Welt bewußt machen. In der konventionellen Form allegorischer Dichtung bleibt diese Grenze unsichtbar, nachdem eingangs - zumeist mit Hilfe eines entrückenden Traums - der übergang von der vertrauten Wirklichkeit in die andere Welt der Allegorie einmal vollzogen ist; ,uch wenn dort der Leser den Schlüssel der möglichen Auflösung schon vor dem Ende errät und den verborgenen Sinn sukzessive richtig deutet, bleibt dabei die Geschlossenheit der allegorischen Szene und die Evidenz der Erscheinung allegorischer Wesenheiten von der umsetzenden Deutung unangetastet. Henri d'Andeli, der in seiner Bataille des vins nunmehr Allegorie und Realität nebeneinander treten läßt, hebt gerade die Selbstverständlichkeit allegorischer Präsentation auf: die transzendente Realität der Bataille wird bei ihm zur fable (v. 1), die übersinnliche Erscheinung personifizierter Wesenheiten zur kunstvollen Fiktion. Signale. die den allegorischen Vorgang als Fiktion enthüllen, finden sich im Text zunächst in ambivalenten Formulierungen, die sich sowohl auf die alltägliche Realität als auch auf die allegorische Fabel beziehen lassen. Wenn der König Boten entsendet mit dem Auftrag, die besten Weine aufzubieten, kann der Vers: Primes manda le vin de Cipre (v. 15) im Doppelsinn von: < er ließ Wein von Zypern bringen> oder< er entbot den (personifizierten) Wein von Zypern> verstanden werden. Wenn die Ankunft der Weine als ein feierlicher Aufzug: trestot vinrent en un conroi geschildert wird, weist gleich der nächste Vers mit seiner genauen Lokalisierung: sor la table devant le roi (v. 42) die Blickrichtung des Lesers von der episch-allegorischen Ebene wieder auf die Alltagsebene hinab. Und wenn der englische Priester die Stola nimmt, um die
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schlechten Weine zu exkommunizieren, so kann man an den Scherz eines Witzbolds (qui molt avoit la teste fole, v. 50) auf dem Gelage, aber auch an ein bedeutungsvolleres Element der allegorischen Fabel denken. An einer späteren Stelle aber wird der Leser eindeutig aus der allegorischen Fiktion herausgestoßen, se vin eussent pies et mains je sai bien qu'i1 s'entretuassent ja por le bon roi no laissassent (vv. I~S8) Hier hebt der Verfasser eine unausdIÜckliche Spielregel der personifizierenden Allegorie: daß sich die - von ihrem numinosen Ursprung her begründete - Erscheinung personhafter Wesenheiten von selbst versteht, für einen Augenblick auf, mißt die Wahrheit allegorischer Figuration an ihrer Unwahrscheinlichkeit und macht so den Kunstcharakter seiner Bataille sichtbar. Eine andere Konvention allegorischer Dichtung hat Henri d'Andeli dort durchbrachen, wo er sich selbst namentlich als Tischgenosse erwähnt: le vins saint Jehan d'Angeli si dist a Henri d'Andeli qui Ii avoit creves les eus (vv. 123-26) par sa force tant estoit prex. Der Witz dieser Stelle entspringt daraus, daß Henri zunächst von der in der allegorischen Traumerzählung herkömmlichen Ichform abgesehen hat, um sich dann überraschend doch noch in die allegorische Szene mit einzusetzen. Da dieses plötzliche Auftauchen weder auf der allegorischen Ebene der Bataille, noch auf der alltäglichen Ebene der Weinprobe des Königs motiviert ist, kann man nur folgern, daß sich der Dichter diese Lizenz herausnahm, um eine witzige Erklärung seines Augenleidens zu bringen I. Und da sonst die Person des Dichters in der Allegorie nur insoweit gerechtfertigt ist, als sie ein allgemein menschliches Schicksal vertritt, hier aber nur ein wenig rühmlicher, rein privater Defekt im Spiele ist, ironisiert Henri mit dem • quereinlaufenden Detail • 7 seiner biographischen Abschweifung zugleich den didaktischen Ernst der Allegorie. Ähnliches gilt für den Schluß der grant fable. Nachdem erst die wahrhaft epischen Mühen des priesterlichen Schiedsrichters bis zu dem Punkte geschildert werden, an dem er vor Erschöpfung in einen dreitägigen Schlaf versinkt, und dann vom König der Richtspruch in denkbar ehrwürdiger Form, durch Errichtung einer doppelten Hierarchie der Weine analog zu den höchsten geistlichen und weltlichen Würden, verkündet ist, begibt sich der Dichter am Ende augenzwinkernd wieder auf die Alltagsebene zuIÜck und tröstet alle, die an dieser höheren Rang6. Cf. La bataille du tUts, v. 125. 7. Zum Begriff des « quereinlaufenden Details -, den Lessina im 70. Stück der Hturrbur,ischen Dramatur,ie leprägt bat, cf. Nachahmun, lDId Illusion, ed. H. R. JAUSS, München, 1964, p. 241 sqq.
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ordnung der Weine nicht teilhaben können, mit der sarkastischen, der höheren Wahrheit der Allegorie zuwiderlaufenden Weisheit des Sprichworts: Oui miex ne puet si n'a pas tort ades 0 sa vielle se dort soit vin moien per ou persone (vv. 201-4) buvons tel vin com dex nos done. II
Ein zweites großes Muster der mittelalterlichen Allegorie ist der Stationenweg der Jenseitswanderung. Die letztere hat eine doppelte Wurzel in den klassischen Traditionen des Somnillm Scipionis, der Nuptiae des Martianus Capella und der UnterweJtsfahrt in der Aeneis, wie andererseits in den christlichen Visionsberichten, von denen die Visio Pauli an erster Stelle als Vorbild volkssprachlicher Darstellungen zu nennen ist '. Die hier interessierende Untergattung, in der die Stationen der Wanderung allegorisiert sind, findet sich in romanischer Tradition zum ersten Mal um 1200, also wenig später als die allegorischen Epen von Bemhardus Silvestris und Alanus, in der Voie d' Enter von Raoul de Houdenc. Das Gipfelwerk dieser Form, der Tesoretto von Brunetto Latini, hat auch Elemente der< anderen Welt > des Artusromans und der Minnea1legorie, die als konkurrierende Gattungen eine profane Jenseitswanderung entwickelt hatten, in sich aufgenommen'. Das allegorische Schema des Stationenwegs eignete sich zu didaktischen Exkursen. aber auch zur Satire, wie das Werk Raouls zeigt, der den Lasterkatalog zur Satire umkehrte, indem er den Wanderer von den Sündern seiner eigenen Zeit berichten ließ. Derselbe Dichter hat sich für die Szene des Höllenbanketts so groteske Qualen ausgedacht, daß man geneigt ist, seine < Speisekarte> pikant zugerichteter Missetäter für ein frühes Zeugnis des < humour noir> zu nehmen 10. Ein Unicum der Gattung stellt das Fablel de Niceroles eines um die Mitt~ des 13. Jahrhunderts im Vagantenton dichtenden Clerc de Voudoi dar U. Hier wird der Ernst der allegorischen Wanderung dadurch in Scherz aufgelöst, daß der Verfasser die Misere seines eigenen Schicksals am Leitfaden allegorischer Stationen ironisiert. Er gibt sich als ein fahrender Schüler aus, der sein ganzes Vermögen im Glücksspiel verlor und sich nun für das Vorgetragene eine milde Gabe erbittet (Or taites bele chi~re, v. 71). Diese Situation wird allegorisch verbrämt durch den Bericht von der bone escole (v. 7), die er durchlief, als er die Stadt der Einfältigen (Niceroles) betrat. In dieser Stadt ist der Einfältigste (v. 25),
8. Siebe dazu GRLMA, vol. VI, tome 1, cap. C 3 (cf. Anm. 3). 9. Cf. H. R. JAUSS, Bnmetto Latini als allegorischer Dichter, in : Formen· wandel - Festschrift für Ptud Böck1PUl1ln, HambW"l. 1964, pp. 47-92. 10. J. FRAPPIER, op. eit., p. 93. 11. Ed. A. JUBI!W., CEuv,es compl~tes de Rutebtzuf, Paris, 1875, vol. 111, 352-54.
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mon seignor saint Nissart genannt, Bischof. Von hier nahm ein überall verbreiteter Mönchsorden seinen Ausgang, dessen sich der Dichter nach dem Verspielen einer bone rente würdig erwies, bis er schließlich, als der Winter einbrach, von Taverne zu Taverne, allegorice: Trambloi, Vile-poime, Froidure, Poverte und Famine, immer tiefer in Verderbnis geriet. Wie in diesem Fablel wird auch in einem florentinischen Text derselben Epoche die Auszeichnung, die nach der Konvention der Gattung der allegorische Weg und das auf ihm Erschaute für den Wanderer bedeutet, einem Unwürdigen zuteil. Es ist der Detto dei gatto lupesco, dessen Deutung in einer Kontroverse stecken geblieben ist. C. Guerrieri-Crocetti sah in ihm zuletzt (1952) die ernst gemeinte Allegorie einer Wanderschaft von tieferer religiöser Bedeutung: c che il pellegrino... possa essere l'uomo, la povera creatura terrena, ehe, armata di ferocia (Iupo) e di astuzia (gatto), compie il suo viaggio su questo misero mondo (il gran deserto), ove ciascuno vede nell'altro un nemico dal quale difendersi -; er nahm das Ziel des Kreuzes für das letzte Symbol einer Wahrheitssuche und glaubte, gestützt auf die Szene, in der seltsame Tiere dem Wanderer den Weg verstellen, von einer ersten Gestaltung der durch den Anfang von Dantes Inferno berühmt gewordenen Allegorie des camino della mia vita sprechen zu können 12. Dagegen hat Leo Spitzer geltend gemacht, daß dem Text eine durchgehend humoristische Absicht eigen sei, die es erübrige, nach einem verborgenen allegorischen Sinn zu suchen 11. Offen ist auch noch die Frage nach der Gattung, da der Detto zwar an einen vanto giullaresco denken läßt, den bekannten Stücken solcher Prahl reden aber nur stellenweise ähnlich ist 16. Unser Deutungsvorschlag bringt keine dritte Lösung, sondern sucht Spitzers Interpretation anders zu begründen. Sie stieß vornehmlich darum auf Kritik, weil Spitzer die humoristischen Züge der Darstellung auf eine psychologisch modernisierende Erklärung des Zwitterwesens gatto lupesco und dessen subtiler « Selbstanalyse - zugeordnet hatte 15. Was Spitzers Interpretationskunst im Kontext als Elemente eines versteckten Humors sichtbar zu machen wußte, bedarf indes nicht notwendig der Bezugsmitte einer freudianischen Bewußtseinsstruktur. Die von ihm gesehene humoristische Tonlage und Kompositionsform des Detto dei gatto lupesco wird vielmehr gerade dann 12. Gionrale ital. di fililogia 5 (1952) 19-32; die friihere Abhandlung findet sich in : R4ssegna bibI. delll2 leU. itl2lÜlnl2 22 (1914), 202-210. 13. 11 • Delto dei Gatto Lupesco -, in : RomaniscM Literaturstudien 1936-1956, Tübingen, 1959, 488-507. 14. G. CoNTIHI, nach dessen Ausgabe wir zitieren (Poeti dei Duecento, 11, 285-93, Milano/Napoli, 1960), wies zu Recht darauf hin, daß es sich um keinen \'a"to giullaresco im engeren Sinn, wie etwa dem von Ruggieri Apugliese, handeln könne und dachte eher an • una sarta di fatra.sie 0 di frottola (0 anche si pensi aUa filastrocca di Peire Cardinal Sei que fes tot cantes) fettolosamente risacita da un minimo fiJo di affabulazione - (ib., p. 284). 15. Cf. CoNTIHI, op. eit., p. 286; G. FOl.IINA, Rlzssegna del14 leU. ital., 61 (1957),
26>268.
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plausibel, wenn man den Befund seiner Beobachtungen in den Erwartungshorizont eines mittelalterlichen Lesers oder Zuhörers zuriickstellt. Dann läßt es sich erweisen, daß der Humor des Erzählers nicht freischwebend oder ichbezogen, sondern auf eine bestimmte Erwartung gerichtet war - auf das, was sich der Zuhörer nach seiner literarischen Kenntnis von der angekündigten und sodann unter verschiedene Vorzeichen gestellten Reise des gatto lupesco versprechen konnte. Und da der Erzähler diese Versprechen nicht erfüllt, vielmehr die Konventionen der Gattung spielerisch verkehrt, ist der Detto wenn nicht die Parodie einer uns unbekannten allegorischen Reise, so doch eine scherzhafte Behandlung oder Travestie der KompoDie so sitionsform und der berühmtesten Motive dieser Gattung. gegensätzlichen Interpretationen Guerrieri-Crocettis und Spitzers erscheinen in dieser Sicht nicht mehr ganz unvereinbar. Die erstere beschreibt den Horizont der allgemeinen, durch die Gattung bedingten Erwartungen des Zuhörers und gibt damit - sieht man von der Verwechslung von Erwartung und Erfüllung ab - den Rahmen zum historischen Verständnis von Spitzers Stilanalyse. Spitzer übersah bei seiner berechtigten Kritik an der Manie allegorisierender Interpretation lediglich, daß der Verfasser des Detto letztlich mit dem < verborgenen Sinn > der Reiseallegorie selbst sein Spiel getrieben hat. Die Erzählung des gatto lupesco ist durchgängig dadurch bestimmt, daß sein Weg unter Anzeichen einer transzendenten Bedeutung gestellt wird, die sich gegen die Erwartung oder überhaupt nicht erfüllen. Die Eingangsszene hat die konventionelle Funktion, den Aufbruch zur Reise und auch schon den Schritt in die andere Welt des allegorischen Wegs zu schildern. Anders als die namhaften Wanderer und Visionäre hat der gatto lupesco keinen Grund, eigens zu einem andare per 10 mondo aufzubrechen. Er ist weder ein kühner Ritter auf der Suche nach aventure, noch ein schuldbeladener Pilger, sondern bewegt sich durch seine Welt si com' altr' uomini vanno (v. 1). Er erscheint selbstzufrieden (trastullando, v. 5), während er - immer noch alltäglich - d'un mio amor gedenkt. Und wenn der nächste Vers das erste Signal einer bedeutungsschweren Wendung bringt: e andava a capa chino (v. 7), kann der Zuhörer noch glauben, daß diese berühmte Gebärde, die auch der Wanderer im Tesoretto angesichts des Desasters seiner Heimatstadt einnimmt (ib., v. 186 sqq.), hier noch von der Erinnerung an < eine seiner lieben> ausgelöst ist. Doch das Signal trügt nicht: der zunächst namenlose< Held> weicht gleich danach vom gewohnten Weg ab und gerät über den obligaten sentiero der profanen wie auch der geistlichen Aventüre unversehens aus seiner Jedermann-Situation in eine andere, heroische Welt! Bei der nun folgenden Evokation der Welt des Artusromans erinnert Spitzer zu Recht an die Episode des Perceval, in der die Erscheinung der fünf Ritter in dem Knaben das Verlangen erweckt, 16. Sm'zI!:R, ap. eil., p. 494.
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selbst Ritter zu werden 16. Doch diese bekannte Szene wird hier nur < zitiert>, um die traditionellen Rollen auf burleske Weise zu vertauschen. Denn während sonst der Neuling der Suchende ist und nach der Konvention des Ritterromans auch seinen Namen erst durch die Bewährung in der Aventüre finden kann, stellt sich unser < Held> gerade umgekehrt als einer vor, der seinen Namen selbst ausspricht, für seinen dunklen Sinn gleich eine Erklärung parat hat und damit prahlt, daß er die andem sofort durchschaue (Spitzer: , cogliere in flagranti '), wenn sie ihm nicht die Wahrheit sagen: Quello k'io son, ben mi si pare. 10 sono uno gatto lupesco, ke a catuno vo dando un esco, k.i non mi dice veritate. (vv. 14-17) Der gatto lupesco hat es offenbar nicht mehr nötig, für sich selbst die Wahrheit zu suchen, wie es die beiden Ritter taten, die von einer vergeblichen Suche nach dem verschwundenen König Artus (invenire / la veritade di nostro sire, v. 29 sq.) zurückkehren. Ein versteckter Spott über die Unglaubwürdigkeit der hinabgegangenen Artuswelt ist hier nicht zu verkennen. Die Ritter quittieren so viel Prahlerei denn auch damit, daß sie den überschlauen Ser gatto Gott empfehlen und den zweiten Namensteil (lupesco: ' ungestüm und abenteuerlustig wie der Wolf') ironisch unterschlagen (wenn Spitzers Deutung der Verse 35/36 nicht zu weit geht). Was aber mag unseren < Helden> dazu bewegen, seinen Weg fortzusetzen? Auf das profane folgt das geistliche Abenteuer. Mit der Erscheinung des Einsiedlers nel gran deserto (v. 45) rückt der weitere Weg unter das Vorzeichen einer veränderten allegorischen Landschaft, die am Ende durch das Kreuz als Ziel der Pilgerschaft des Lebens überhöht wird. Der gat to lupesco fügt sich indes mitnichten in die erwartbare Rolle des Pilgers. Er benimmt sich vielmehr wie ein neugieriger < Tourist>, wie schon Spitzer zeigte. Spitzers treffender Analyse des < Reiseprogramms > der Orte und Personen, über das sich der Pseudopilger vor dem Einsiedler verbreitet, haben wir nur das eine hinzufügen, daß der Effekt dieser Prahlrede nicht allein der überzeitlichen Komik jener< interessanten Punkte> der Weitsicht des Touristen entspringt. Der humoristische Effekt - sieht man die Szene im Kontext der Handlung - rührt nicht zuletzt auch daher, daß sich der gatto lupesco gerade da wie ein Tourist aufspielt, wo er sich nach der Konvention der benutzten Gattung wie ein Pilger verhalten müßte. Während sich sonst die Begegnung mit dem Einsiedler gemeinhin in der Reihenfolge: Einkehr, Lebensbericht mit SÜDdenbekenntnis, Absolution oder Buße und Wegweisung abspielt, geschieht im Detto nichts von alledem. Hier ist es vielmehr der pilgernde gatto lupesco, der die Rollen umkehrt, von sich aus den Einsiedler beim Abschied Gott empfiehlt, der erst auf Befragen vom Ziel seiner Reise berichtet und der schließlich, aber doch nicht ganz frei von Angst vor seiner eigenen Courage 17, auf einem eigenen, nur 17. Das zejgt auch der Umschlag aus der ehrfürchtig mitfühlenden Wiedergabe der Legende vom ' Ewigen Juden' in den furchtsamen Ausruf cosi ·cci gUllrdi Dio di guerra (v. 80; nach SPITZER, p. 498 sq.).
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der Katze zugänglichen Weg: per un sportello k'avea la porta (v. 85), sein Heil auf der weiteren Wanderung finden will. Doch die via scorta, der für am sichersten gehaltene eigene Weg, führt ins Dunkel, versetzt ihn in Angst, so daß er als uomo pauroso nunmehr zerknirscht zum Einsiedler zurückkehrt und ihn demütig um den rechten, d. h. den allgemeinen Weg fragt. Hier mündet die Erzählung in die christliche Allegorie von den zwei Wegen ein, die auch dem ersten Gesang von Dantes Inferno zugrundeliegt. Nun scheint sich der gatto lupesco ganz in die Pilgerrolle zu fügen: er folgt dem Weg onde va catuno pelegrino (v. 104) und muß ein diserto aspro e dura (v. 110) durchqueren, um zwn Kreuz, dem vom Einsiedler gewiesenen Ziel zu gelangen. Der gewitzte Zuhörer, der sich fragt, wie lange wohl der unheroische Held die ihm auferlegte Rolle durchzuhalten vermag, braucht indes nicht lange zu warten. Gleich die nächste allegorische Station, die Begegnung mit den symbolischen Tieren, die in hagiographischer Tradition oft die Nähe heiliger Stätten anzeigen, löst in dem frommen Pilger eine unerwartete Reaktion aus. Obschon ihr Anblick ganz dazu angetan wäre, selbst ein heroischeres Gemüt zu erschüttern (ke tutte stavaro aparechiate / per pugliare ke divorassero, / se alcuna pasfura trovassero, vv. 114-116), packt den gatto lupesco nurmehr eine hier ganz unangebrachte, unfromme Neugier und artet seine Schilderung in eine neue, dem< Reiseprogramm > ähnliche Prahlrede aus. Die komischen Effekte dieser< Schau> hat Spitzer schon in einer unübertrefflichen Analyse beschrieben 11. Stellt man seine Deutung in den Erwartungshorizont der allegorischen Reise, so gewinnt sie wiederum eine noch schärfere Pointierung: wo der Wanderer angesichts der symbolischen Tiere die Verkörperung von Lastern erkennen und auf seinen sündigen Zustand beziehen sollte 1', hat er nur Augen für die Sensation ihres Anblicks und gefällt sich darin, in seiner Erzählung unter die apokalyptischen Tiere in bunter Reihe selbsterfundene oder durch keine Tradition geheiligte Tiere einzumischen·. Ed io ristetti per vedere, per conoscere e per sapere ke bestie fosser tutte queste ke mi pareano molte alpestre.
(vv. 117·20)
Was unseren gatto lupesco dazu vermochte, sich auf den ungewöhnlichen Weg der Aventüre zu begeben, obschon er als unheroischer Held und unfrommer Pilger dazu keineswegs disponiert war, ist 18. Op. cit., p. 492 sq., 500 sq. 19. GUERRIERI-CROCEm (Filoloeilz rOmlUllG 3, 1956, p. 117) führt als ein Zeupis aus der schon auf die Bibelexeaese ZUlÜcklehenden Tradition dieser Allecorie Fazio decli Uberti, Ditt. 111, w. 19 sqq., an : il mondo l come un bosco I pien di serpenti e di fieri tuaimGli I e ci4.scun JIOrtG iswari4to tosco. 20. Cf. SPITZER, op. cit., p. 493 : • Si pub dunque dennare ehe i1 poeta si dilettava nella creazione verbale di nomi di animaJi fantastici ehe metteYa ciocosamente sul piano delle bestie apoc:a1ittiche tradizionali .•
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weder die religiöse Suche nach der Wahrheit noch das profane Verlangen eines andare per andare, sondern - wie sich erst am Ende enthüllt - die pure Neugier. Und da diese Neugier im Wesen des durch den gatto lupesco verkörperten < durchschnittlichen Menschen> ihre Grenze hat, weiß sie dem Schicksal ein Schnippchen zu schlagen, bevor es zum Schwure kommt: c la poesia che aveva cominciato con uomini vanno... per il mondo finisce con un borghese tomai a 10 mi ostello (questa era la sua maestria) .11. Aber auch diese Umkehr mit dem abrupten Schluß, bei dem der Erzähler seinen Zuhörern die angekündigten Sensationen seiner Reise ironisch vorenthält, gewinnt noch eine letzte Pointe, wenn man sie auf den erwartbaren Ausgang der Reiseallegorie bezieht. Die Allegorie der zwei Wege impliziert an sich das Erkennen des falschen Wegs und die Entscheidung für den rechten, der den Pilger nach der Bewährung oder inneren Einkehr vor den symbolischen Tieren zum Kreuz als Ziel seiner Pilgerschaft hätte fiihren müssen. Die Umkehr des gatto lupesco aber betrügt seine Zuhörer nicht allein um den erst am Ziel ganz enthüllbaren Sinn der Allegorie (meint das Kreuz nach der Legende vom Baum der Versuchung und Kreuzholz Christi das irdischt: Paradies ?). Sie ironisiert auch den allegorischen Sinn der beiden Wege. Der Christ muß sich auf seiner Pilgerschaft durch das Leben für den Weg zur Verdammnis oder für den Weg zur Seligkeit entscheiden. Tertium non datur. Nicht so für den Erzähler des Detto dei gatto lupesco, der uns augenzwinkernd versichert, er sei durch eigenes Geschick noch einmal davongekommen (Ma·ssl vi dico, per san Simone, / ke mi partii per maestria, vv. 138-139), und der es sich herausnimmt, seine Reise ganz unallegorisch an dem Punkt enden zu lassen, ke ·ffa bello.
III Mit der Minneallegorie haben die romanischen Literaturen des Mittelalters gewiß ihre originellste Schöpfung in der Tradition allegorischer Dichtung hervorgebracht. Die Minneallegorie tritt um 1200 gleichzeitig mit der ersten kodifizierten Minnelehre, De amore von Andreas Capellanus, in den Versionen der Altercatio Phillidis et Florae und in der allegorischen Canzone von Guiraut de Calanson hervor. Sie entfaltet im 13. Jahrhundert das Thema von der neuen Herrschaft des Liebesgottes in vielfältiger Gestaltung des paradisus amoTis, das Elemente der antiken Epithalamien in sich aufnahm, zugleich aber auch als eine Kontrafaktur des biblischen Paradieses und der christlichen Liebesmystik anzusehen ist. Im Gipfelwerk der Gattung, dem Rosenroman von Guillaume de Lorris, wird die Didaktik des tin' amor vollständig in eine poetische Welt inkarniert: der Traum des Dichters macht die innere Welt der Liebe, die in den personifizierten Leidenschaften und Normen der provenzalischen Lyrik unanschaubar blieb, 21.
SPITZER,
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als allegorisches Geschehen im Vergier d'amor sichtbar. Die esoterische Doktrin der höfischen Liebe fand in der duplex sententia der Allegorik aber nicht allein das Medium ihrer Poesie des Unsichtbaren, sondern auch - das gilt in noch höherem Maße für die spätere AmorTheologie des Dolce stil nuovo - die esoterische Fonn einer SelbstdeutWlg, die sie vor Wlberufener Kritik zu schützen Wld die beanspruchte Dignität ihrer autonomen Ethik sinnfällig zu machen vermochte. Aus diesen Vorbedingungen der GattWlgsgeschichte 11 mag es sich erklären, warum sich in diesem Bereich zwar gelegentlich ein filigranartiges Element der lronisierung, aber keine vollständige Auflösung des Ernstes in Scherz, keine Travestie oder Parodie findet. Die Ironie rührt in den wenigen Beispielen, die hier zu behandeln sind, nie an die Substanz der Minneallegorie - an den spielerischen Ernst, den eine verfeinerte Gesellschaft für ihre Stilisierung der Frauenliebe forderte. Wo immer der Ernst dieses sublimen Spiels offen in Komik umschlägt, wird stets auch der Bannkreis der Gattung verlassen und kommt die primitive Fonn der Erotik unverhüllt, in der zynischen Ostentation des Fabliau-Tons, zum Vorschein -. Auch der bedeutendste Kritiker der Minneallegorie von Guillaume de Lorris, sein Fortsetzer Jean de Meun, hat sich nie des Mittels der travestierenden Komik bedient. Er hat vielmehr die Grenzen des tin 'amor nur durchbrachen, um die platonische Fiktion der Minneallegorie wie auch den erotischen Kommunismus der Vielle mit den gewiß ernst gemeinten Mythen und Mysterien der neuen Metaphysik der Natura zu überbauen. Und wenn es sein italienischer Nachahmer Ser Durante darauf anlegt, im Fiore die Entmystifizierung der höfischen Liebesreligion zu einem Endpunkt zu bringen, zeigt die Weise, in der er am Schluß die Allegorie der Rose in eine kaum noch verhüllte Beschreibung des Aktes der Deflorierung umschlagen läßt, daß dem Zynismus die Waffe der Komik versagt ist. Zu den ironisierten Motiven der Minneallegorie gehört vor allem ihr Eingang. Er hat seit Guillaume de Lorris meist die Gestalt eines im Frühling spielenden Traums; die Vision rechtfertigt zugleich den Anlaß des Dichtens, wenn nicht Amor selbst als die inspirierende 22. Siehe dazu GRLMA, vol. VI, tome 1, cap. C S (cf. Anm. 3.). 23. Wenn man mit P. NUROG im Fabliau seiner Funktion nach ein burlesk verkehrtes « ,enre courtois • sehen will, ist auff"älliJ, daa dort die schwankhafte Verkehrung von Situationen der höfisch idealisierten Liebe offenbar vor der Möglichkeit einer Travestie der Minneallegorie halt gemacht hat. Die Allegorie wird im Fabliau nur gelegentlich als partielles Stilmittel zur Verhüllung des Obszönen (metaphora continua), nicht aber als Darstellungsform verwendet. Eine gewiße Ausnahme bildet das Fahliau du C., des Jongleurs Gautier le Leu, ein virtuoses, schon auf den späteren sermon joyeux vorweisendes Stück, das dem gewitzten Leser eine scherzhafte Allegorese zumutet und ihn so schon lange vor der Enthüllung des Namens Conebers erraten läßt, was mit der Allegorie des allverehrten FeudaJherrn, seinen mirakulösen « Heilunaen ., seinem Kult, seJnem c Palast. Conin4e usw. semeint ist (cf. u jongleur Gt:wtier le Leu, ed. Ch. H. LIvINGS1ON, Harvard Univ. Press, 1951, 233-249). I
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Macht in Anspruch genommen wird. Der schon erwähnte Clerc de Voudoi hat es sich herausgenommen, das konventionelle Inspirationsmotiv in witziger Weise abzuwandeln. Sein nur in einem Bruchstück des Anfangs erhaltenes Fablel du dieu d'amour, d'ete et de mai 14 preist erst die Neuheit dieses Werkes an : es sei kurzweiliger als die zum überdruss gehörten Romane, Schwänke und Chansons de geste (Assez avez oy et contes et fabliaus / Et de cites abatre et de penre chatiaus, vv. 1-2) und besser als sein eigenes Fablel de Niceroles. Er sei auf ganz besondere Weise dazu inspiriert worden (vv. 9-12): Enz ou fons d'un hanap, a Provins, a la foire, Vit Ii elers mai escrit, si com iI voloit boire; I but tretot le vin, ce est parole voire, Puis a leues les letres qui li monstrent I'estoire. Der Topos der an ehrwürdiger oder versteckter Stelle gefundenen Quelle wird hier mit dem Dictum: in vino ventas vertauscht, die im Wein gefundene Wahrheit vorgeblich dem einem clerc zu Gebote stehenden Verfahren allegorischer Wortexegese unterzogen. Nach diesem vielversprechenden Anfang und in Analogie zum Fablel de Niceroles darf man wohl vermuten, daß der Verfasser auch weiterhin aus dem allegorischen Ernst in seinen scherzhaften Ton zuriickgefallen ist; sein hyperbolisches Versprechen: de dire un tel fablel DU nus ne s'aparelle (v. 14) könnte auch in diese Richtung weisen. Das neue Muster des ersten Rosenromans hat ein sonst unbekannter, literarisch geschulter und höchst origineller Autor, Messire Thibaut, in seinem Roman de la poire mit der seit der Mitte des 13. Jahrhunderts offenbar modischen Form des salut d'amour kombiniert %I. Das zu Unrecht vergessene Werk zeichnet sich durch eine Reihe von Besonderhei ten aus: eine dreifache Einleitung, in die eine Reihe von Portraits berühmter Liebespaare (Cliges und Fenice, Tristan und Isolde, Piramus und Tisbe, Paris und Helena) eingerückt ist, die Gegenüberstellung von Amor und Fortuna, Motive wie der Herzenstausch der Liebenden und die Nachtigall als Liebesbotin, und nicht zuletzt der Einfall, Paris als der Stadt zu huldigen, in der Amor geboren wurde, die Menschen heiterer, die Bürger frei und höflich und die Damen schöner seien als andeswo (vv. 1324-1385). Der Verfasser wußte auch den konventionellen Eingang der Minneallegorie glücklich abzuwandeln: erster Beweggrund seiner Liebe, der die ganze estoire zur Folge hatte, sei der Augenblick gewesen, als seine spätere Dame während einer Gesellschaft im Garten unter einem Birnbaum saß, eine Frucht ergriff, von ihr abbiß und sie ihm dann heimlich reichte. Diese Umdeutung des paradiesischen Sündenfalls bringt die unnahbare höfische Dame in die so unangemessene wie reizvolle Rolle der verführerischen Eva - ein heiter-ironisches 24. Ed. G. RAYNAUD, Ronumia, 14 (1885), 178-79. 25. Ed. F. S11OO.ICH, Halle, 1881.
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Abschweifen von der Norm, das in der sodann erst einsetzenden Fabel an mancherlei allegorischen Hindernissen natürlich erst wieder abgebüßt werden muß. Zeigten die bisherigen Beispiele, wie der allegorische Ernst in Scherz überführt oder von Ironie umspielt werden kann, so ist nun auch ein Fall zu erörtern, in dem Ernst und Scherz nebeneinander bestehen hlieben und nur durch Fäden einer Allegorese aufeinander bezogen wurden. Wir denken an die kastilische Razon de amor aus der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts, deren Sonderstellung in der Minneallegorie wohl daraus zu erklären ist, daß sie an Traditionen der lateinischen Vagantendichtung anknüpft -. Der Autor, ein escolar, der auch juglareske Töne anzuschlagen weiß, hat eine Begegnung im Liebesgarten (amorosa visione) und einen Dialogus inter vinum et aquam kunstvoll miteinander verknüpft. Dem Scholaren kommt während der Stunde der Siesta unter dem ölbaum an der Quelle eine doncella entgegen, die ihn schon aus der Feme liebte; he mach belauscht er ein Streitgespräch zwischen Wasser und Wein, die sich schon zuvor im Garten befanden, während der Begegnung von Scholar und doncella auf übernatürliche Weise über der Liebesszene schwebten und - nach der Deutung von L. Spitzer - ihren höheren Sinn enthüllen sollen, nachdem eine Taube beim Trunk aus dem Wasser dieses mit Wein vermischt und den Streit der beiden Wesenheiten ausgelöst hat. Welchen höheren Sinn? An dieser Frage hängt die alte Crux der Forschung, ob der Text als eine mehr oder weniger geschickte Kompilation zweier Dichtungen, die unabhängig voneinander entstanden und der Gattung nach grundverschieden waren (amorosa visione und debat) oder aber als « un tout artistique complet » (Spitzer, p. 667) anzusehen ist. Nach Don Ram6n Ment~ndez Pidal, der auf die Einheit von Ort (Garten) und Zeit (Stunde der Siesta) hinwies, hat ,vor allem Spitzer versucht, die Einheit der Komposition an einem verborgenen Symbolismus zu erweisen. Der übergang von der amorosa visione zum debat sei Schritt für Schritt symbolisch motiviert: im Thema des Durstes, der buchstäblich und metaphorisch (Verlangen nach Liebeserfüllung) zu verstehen sei, in der Erscheinung der bei den Gefäße, die den Streit von Wein und Wasser präfigurieren und zugleich die Liebesszene umrahmen, in der Mischung von Wein und Wasser, mit der die Taube den Willen der duena dei uerto (d.h. der Venus) bekunde, « que les deux principes, l'eau (= chastet~) et vin (= jouissance), se melent » (p. 675) und schließlich im gleichlautenden Sinn des debat, der zur Einsicht in die Vereinbarkeit beider Prinzipien führe: « En tout cas, l'harmonie des contraires est retablie ici comme lla fin du premier ~pisode » (p. 678). Dagegen hat Mario 26. Ed. R. ~ Pmu., RH 13 (1905), 602~18, und ed. M. 01 PlN'IO, Pisa, 1959 (Studi e Testi, 17); dazu J. H. HANFORD, The me4i1uval debate betwtum Wiru and Water, in Modem Laneuaee AssocÜJtion, 28 (1913), 31~7; A. JACOB, Hispanic Review 20 (1952), 282-301, und L SPITZER, op. eit., 664-682.
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di Pinto mit guten Gründen geltend gemacht, daß Spitzers Interpretation zwar den verborgenen Sinn des ersten Teils aufdecke, nicht aber die durchgängige Einheit einer allegorischen Intention rechtfertigen könne. Vor allem deshalb nicht, weil der Ausgang des debat keineswegs die Mischung von Wdn und Wasser empfehle, sondern bei der Moral der lateinischen Vorlage Denudata veritate verbleibe: non sociari debent, immo separari, quae sunt adversaria (p. 72). Gleichviel, ob man den Debat mit Menendez Pidals als eine Digression der amorosa visione, oder ob man mit J. H. Hanford die letztere als einen Einschub in die Vorgeschichte des debat betrachte (wozu er selbst neige), bleibe doch eine Diskrepanz zwischen den beiden Teilen bestehen, für die er nur eine pragmatische Erklärung habe: « Per logica deduzione, iI contrasto che segue potrebbe accettarsi come una glossa, una reminiscenza richiamata dalla situazione preceden te : a proposito dell'acqua edel vino, il giullare conosce anche quest'altro componimento e 10 dice all'uditorio » (p. 74). Der Einwand von M. di Pinto enthält einen unerkannten Ansatz, die Einheit der Razon de amor neu zu begründen, nicht im modemen Sinn einer Kontinuität der symbolischen Motivation, dafür aber im mittelalterlichen Sinn der Beziehung von Text und Glosse, die durchaus eine Inkonsistenz der Motivation zu überbrücken vermag. Wenn sich amorosa visione und debat wie Text und Glosse verhalten, ist die letztere keineswegs an den literalen Sinn des ersteren gebunden. Vielmehr ist es die Aufgabe der Glosse, das Verständnis des Textes durch die < Unterscheidung > des verschiedenen Wortsinns (distinctionesJ, bzw. durch die allegorische Interpretation der proprietates einzelner Dinge zu bereichern. Im Falle der Razon de amor erfordert der Text geradezu eine Glosse, weil sein Literalsinn Elemente von dunkler Bedeutung enthält: wer ist die unsichtbar bleibende duena des Gartens? wer ist ihr Freund, dem sie das Gefäß mit Wein zubereitet hat? warum kann der Scholar im Garten nicht selbst zwischen den bei den Gefäßen wählen? was bedeutet die Taube, die ein geheimnisvolles Attribut - eine kleine goldene Schelle, die ihr an den Fuß gebunden ist - auszeichnet ? Diese Fragen betreffen allesamt die allegorische Szenerie, die die Liebesbegegnung von Scholar und doncela mit Zeichen einer übernatürlichen Welt umrahmt. Die beiden Sphären sind offensichtlich so aufeinander bezogen, daß die übernatürliche Erscheinung einen Schlüssel für das auch unmittelbar verständliche Geschehen der amorosa visione enthält. Der Verfasser hat abweichend von der Konvention der erst am Ende entschlüsselten Allegorie sogleich Fabel und Deutung nebeneinander gestellt, ihre Beziehung ironischerweise aber doch wieder offen gelassen, so daß sein Publikum zunächst nur Mutmaßungen anstellen kann. Eine widerlegbare Mutmaßung Spitzers bestätigt aber, daß die beiden Sphären bis zum debat streng geschieden bleiben. Spitzer wollte auch der doncela eine allegorische Bedeutung zuerkennen, indem er sie als Trägerin einer Mission, wenn
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nicht gleich als Emanation der Venus, auslegte". Diese Auslegung stößt sich indes an dem Umstand, daß der Scholar in der doncela eine aus der Feme geliebte amiga erkennt, der er schon lange vor der Begegnung im Garten Geschenke zugeschickt hatte. Sie erscheint nicht als allegorische Figur (der man schwerlich Handschuhe und ein neues Hütchen schenken könnte ... ), sondern wird als eine durchaus irdische, an Liebespfändern erkennbare amiga (vv. 116-125) eingeführt, die der Scholar ohne höfische Hindernisse in die Arme schließen kann. Dieses Ereignis steht im ironischen Kontrast zu der höfischen Tradition der Minneallegorie. Denn weder die Absicht des von seiner Siesta erfrischten Scholaren: e quis cantar de tin amor (v. 55) noch auch die cantiga des Mädchens, das erst noch seine Liebe aus der Feme beklagt, lassen erwarten, daß gleich die erste Begegnung aus der Idealität des fin'amor und amor de lonh in die sinnenhafte Realität der Liebesvereinigung umschlägt. Dieser ironische Umschlag korrespondiert nun aber gerade mit der Art und Weise, wie der Verfasser von der Episode mit der Taube zum debat zwischen Wein und Wasser übergeleitet und diesen als Glosse auf die amorosa visione bezogen hat. Das Publikum, das auf die Lösung der offenen Fragen gespannt ist und von dem nun einsetzenden übernatürlichen Geschehen die Enthüllung des allep rischen Sinns erwartet, wird zunächst durch einen Wechsel des Tons überrascht. Der ironische Dichter, darin ein echter Nachfahre des übennütigen Geistes der tamilia Goliae, hat für die Deutung der im feinsten höfischen Stil erzählten amorosa visione eine Glosse gewählt, die den derbsten Ton einer « buffonerfa callejera. anschlägt, so daß der erwartete höhere Sinn der Allegorie nunmehr gerade im unangemessenen Gewand eines niederen und burlesken Stils ausgesprochen wird. Dem ironischen Umschlag des Tons folgt eine nicht weniger ironische Lösung des Gegensatzes von Wein und Wasser, Sinnengenuß und Keuschheit. Während auf der natürlichen Ebene der amorosa visione die Liebesbegegnung von Scholar und doncela den Gegensatz der beiden Prinzipien praktisch aufhebt, vollzieht sich auf der übernatürlichen Ebene des debat der umgekehrte Prozeß. Die Lösung der Liebenden, durch die Taube auf der höheren Sinnebene reproduziert, bringt dort den Streit über das höhere Recht von Wein und Wasser erneut in Gang, der im debat erst in der alltäglichen, dann in der sakralen Sphäre durchgespielt wird, ohne ein Ende zu finden. Auch wenn wir nicht wissen. was in der Lücke des Manuskriptes nach Vers 259 stand -, ist doch kaum daran zu zweifeln, daß TI. Op. eil., p. 673 mit Anm. 2.
28. Meine Interpretation würde nicht entscheidend beeinträchtigt, wenn in dieser Lücke nur eine Fortsetzung des d~bQt, nicht aber die Lösung der noch otfengebliebenen Fragen zur amoroSQ visione gestanden hätte. Denn es sc:beint mir mit M. DI PINlO unzweifelhaft, daß der Verfasser zwei heterogene Vorlqen oder Gattunpmuster kombiniert bat, nach meiner MeinUDI mit einipm Witz, was Diebt ausschlie~t, dall er sieb um den unaelösten Rest der AIleaorie Diebt mehr kümmerte.
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der debat keine Lösung zu Gunsten von Wein oder von Wasser allein bringen konnte, sondern ihre beiderseitige Autonomie gegen ihre Mischung und damit gegen die einfache Lösung der Liebenden wiederherstellen mußte. Wenn es sich so verhält, bringt die Glosse in diesem Fall eine ironische Korrektur des Textes, die der Dichter am Ende aber selbst wieder in die Schwebe bringt, wenn er implizit zu verstehen gibt, daß er angesichts des unentscheidbaren Konflikts zwischen Wein und Wasser, Sinnengenuß und Keuschheit, für seine Person indes Wein dem Wasser vorziehe: Mi razon aqui la fino, e mandat nos dar vino. Qui me scripsit scribat, semper cum Domino bibat, (vv. 260-64) Lupus, me fecit, de Moros. Als letztes Beispiel für nicht mehr leicht erkennbare Ironie in allegorischer Dichtung des Mittelalters sei noch ein letzter Ausläufer des Bestiaire d'amour angeführt 21. Die geistliche Tradition der Bestiarien ist schon früh als Beispielrepertoire für die Lyrik ausgeschöpft worden. Es war vor allem der Trobador Rigaut de Berbezieux, der mit seiner berühmtesten Canzone Altresi con l'orifans das Muster einer neuen literarischen Manier geschaffen hat, die bei provenzalischen wie später auch bei italienischen Dichtern große Nachfolge fand. In der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts verschmolz Richart de Fornival die geistliche und die profane Tradition zu seinem Bestiaire d'amour, einem Werk, das die philologische Kritik bis zu der jüngsten. den Zugang erschließenden Würdigung durch C. Segre für abstrus hielt, obschon ihm eine erstaunliche Nachwirkung beschieden war. Richart hat den allegorischen Gehalt, aber auch den poetischen Reiz der so seltsam vielfältigen matire des geistlichen Bestiariums zum ersten Mal vollständig der weltlichen Liebeskasuistik dienstbar gemacht: die 57 Exempla stellen in einer ständigen Verkettung von geistlichem Symbol und lyrischer Exegese die Beziehung von Dichter und Dame als eine mögliche Minneaventüre dar. Wird schon hinter dieser allegorischen Maskerade immer wieder die versteckte Ironie des literarisch hochgebildeten cancellarius von Amiens spürbar, der mit dem Zeremoniell der abgelebten höfischen Konventionen sein Spiel treibt lO, so gilt das in noch höherem Maße für das formal und inhaltlich ungewöhnliche Gedicht 11 mare amOTOSO eines unbekannten Zeitgenossen Chiaro Davanzatis und Brunetto Latinis SI. Es ist von V. Cian als Satire oder Parodie der Manier der Tiersymbole, von G. Bertoni hingegen als < formulario amoroso > und Beispiel einer ars dictandi verstanden worden. Das Werk ist indes weder ausdrücklich satirischen noch rein didaktischen 29. Siehe dazu GRLMA, vol. VI, tome 1, ap. C 2 (cf. Anm. 3). 30. Cf. C. SIIGRB, ed. Richart de Pornival : u butiaire d'amou,., Milano/Napoli, 1957. p. xiv sq. 31. Ed. G. CoNTINI, Poeti dei Duecento, I. 483-500; dort die weitere Literatur.
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Charakters, wie wiederum L. Spitzer zeigte. Seine Deutung erläutert den poetischen Effekt der bunten Verkettung von Tiersymbolen, von Exempla und Romanzitaten am Prinzip des Kaleidoskops : im unaufhörlichen Wechsel der heterogenen Bilder gehe die Vorstellung der geliebten Dame immer neue Beziehungen mit den Dingen des Universums ein, deren summa werde zum Spiegel ihrer Vollkommenheit, die Gesamtbewegung in der strophenlosen Versgestalt zum Ausdruck der Idee des Unendlichen einer Liebe, ehe tanto eresee ehe non truova fine (v. 315) a. Diese poetische Grundidee hat Spitzer indes übersehen lassen, daß der hohe Ernst der Liebesallegorie (. e chiaro che iI tono dei Mare amoroso e seriissimo -. p. 511) immer wieder durch Stilmittel der Ironie gebrochen wird. Dazu gehört die oft ins Groteske umschlagende Hyperbolik der Vergleiche. wie etwa dort, wo der Dichter von der Geliebten sagt. sie wisse ihn mit ihren Armen in einen so sicheren Kreis einzuschließen, daß er sich fühle ehe I' negromante al eerehio de la spada (v. 129). Dazu gehört ferner die burleske Oberbietung, wenn er etwa angesichts der Schönheit seiner Dame erst wie ein Schmetterling in der Flamme verbrennen, dann aber - in genau umgekehrter Assoziation - wie der Salamander Tag und Nacht im Feuer leben will und darauf gleich wieder des Narziss gedenkt. den ihr Anblick gewiß davon abgebracht hätte, sich in sein eigenes Spiegelbild zu versenken (w. 76-89). Dazu gehören schließlich die Beispiele einer spielerischen Profanierung der mystischen Liebe: daß er wie der Sünder sein Paternoster Tag und Nacht bete: Piu v' amo, dea, ehe "on faecio Deo, / e son piu vostro assai ehe non son tneo (w. 44-47) oder daß er schwört, er wolle, wenn sie ihn nicht gnadenvoll anblicke, eine fellonia si erudele begehen. daß Himmel, Sterne und Sonne mit allen Anzeichen des Jüngsten Gerichtes zusammenstürzen würden (w. 302-310). Gewiß ist Spitzer nicht zu bestreiten, daß die bloße Häufung von Vergleichen berühmter Herkunft auf den mittelalterlichen Leser nicht komisch habe wirken müssen~. Wenn aber diese Vergleiche ihre Vorbilder ständig ins Unglaubliche überbieten und wenn ihre Abfolge die summa der für sich vollkommenen Dinge des Universums in einer bizarren Verkettung erscheinen läßt, muß auch der lyrische Ernst als ein virtuos gespielter Ernst wirken, den der moderne Leser mit den Versen des Mephistopheles aus Goethes Faust zu kommentieren versucht ist: So ein verliebter Tor verpufft Euch Sonne. Mond und Sterne Zum Zeitvertreib dem Liebchen in die Luft. Für den mittelalterlichen Leser. der den Text vor dem Hintergrund einer noch aktuellen literarischen Tradition sah, dürfte 11 mare amoroso eher noch reicher an ironischen Beziehungen gewesen sein. 32. Op. eil., ~S34. 33. Op. cit., p. 511.
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Denn der Dichter ist noch einen Schritt über Richart de Fornival hinausgegangen und hat eine ausdrückliche Voraussetzung der Gattung Besliaire d'amour: die Partizipation des Liebenden an der höheren Bedeutung der Tierfiguren, in Zweifel gezogen. Wie wenn sich das Staunen des Lesers über die bizarre Verkettung der alles Herkömmliche überbietenden Vergleiche schließlich auf ihren Urheber übertragen würde, läßt der Dichter nach der Evokation der Barke Merlins - in der man den Gipfel des Werks sehen kann - das lyrische Ich zum ersten Mal eine Frage stellen, die seine lyrische Situation von der höheren Welt der Symbole abrückt, als handle es sich um eine nur geträumte, unel'reichbare Realität: Ma poi eh'i' non mi senlo tal natura, ehe faraggio? (v. 234). Mit dieser Frage, die noch zweimal wiederkehrt (vv. 263 sq., 274), ändert sich für den Leser das Vorzeichen des Verstehens. Er wird von nun an im Mare amoroso nicht allein die von Spitzer herausgehobene poetische Idee des amore ehe ~lon truova fine sehen. Er wird von nun an auch ihre ironisch signalisierte Unwirklichkeit begreifen und dann in den letzten Vergleichen zugleich den Ton des höchsten lyrischen Ernstes und seine groteske Entwirklichung genießen können: im Untergang des Dichters auf dem ' Meer der Liebe', der seiner schuldigen Geliebten a simiglianza di Giuda giudeo für immer den Namen Giudea einbringen müsse und der für den agIlisa di Thomas vielleicht ungläubigen Leser durch ein Epitaph bezeugt werden könne (vv. 316-334). So erscheint 11 mare amoroso nicht allein als ein letztes, ironisches Echo der Kasuistik des Bestiaire d'amour, sondern zeigt mit seiner neuen, nach dem bisherigen Gesetz der Gattung illegitimen Frage und mit der praktisch vollzogenen Auflösung der allegorischen Sageweise in poetische Fiktion auch schon einen anderen Begriff von Dichtung an, der der Allegorie als spezifisch mittelalterlicher Denk- und Stilform ein Ende setzen sollte.
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VII.
BRUNETTO LATINI ALS ALLEGORISCHER DICHTER
Das Werk, das die große epische Form der Allegorie von Frankreich nach Italien brachte, das platonische Gedankengut der Schule von Chartres weitertrug und in der Toscana eine neue Tradition lehrhafter Dichtung in allegorischem Gewand eröffnet hat: der zwischen 12.61 und 12.66 entstandene Tesoretto des im französischen Exil lebenden Florentiner Notars Brunetto Latini, fristet in der literarhistorischen Forschung immer noch ein SchattendaseinI. Das ist zunächst gewiß darauf zurückzuführen, daß der Nachruhm Brunettos als Verfasser des Livres dou Tresor, einer Enzyklopädie im französischen Volgare, die das Wissen der Zeit zum erstenmal ausdrücklich an Laien vermittelte, und als sommo maesuo der Rhetorik, der die Florentiner nach dem Zeugnis Giovanni Villanis zuerst in der Kunst der öffentlichen Rede, des höheren Kanzleistils und der politischen Theorie unterwies~, die Bedeutung seiner allegorischen Dichtung fast ganz verdunkelt hat. Die neuere Forschung hat diese Ruhmestitel eines cominciatore nur bestätigen können, indem sie zeigte, daß Brunetto Latini in der Tat den in der Kanzlei Friedrichs 11. ausgebildeten stilus altus in Florenz einführte, die Lehre der öffendichen Rede und der Staatsschrihen mit dem Unterricht in der Politik und Ethik verband und sowohl durch die Vulgarisierung von Reden Ciceros und seiner Schrift De inventione wie auch durch eine aIS dictLUninis im Volgare und vor allem durch seine weitverbreitete Summa des Tresor, die statt der Theologie nunmehr die für das politische Leben der Commune wichtigen Wissensgebiete in den Mittelpunkt stellte, den ersten Grund für eine höhere und selbständige Bildung der Laien gelegt hat3• Wenn demgegenüber Brunettos Leistung als cominciatore der allegorischen Dichtung in italienischer Sprache verblaßte, ist daran das erste Zeugnis seines Ruhms, Dantes Huldigung an seinen "väterlichen Freund und Lehrer.. im 15. Gesang des Inferno. nicht unbeteiligt. 47
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Denn die letzten Worte, die Dante dem für immer scheidenden ser Brunetto in den Mund legte: siete raeeomandato il mio Tesoro nel qual io vivo aneora, e piu non eheggio Iv. II9- I2O) lassen für uns die Frage offen, ob mio Tesoro das frühere lursprünglich von Brunetto selbst so benannte) allegorische Versgedicht oder das spätere Idort als gran Tesoro angekündigte) enzyklopädische Prosawerk bezeichnete, das zur Zeit Dantes auch in der italienischen Obersetzung bekannt geworden war, oder ob mio Tesoro - was nicht von vornherein ausgeschlossen werden darf - etwa beide Werke ITesoretto und Tresor) meinte, als zusammengehörige oder aufeinander bezogene Teile einer nur für uns nicht mehr evidenten Einheit. Sicher ist, daß dem Versepos erst in späterer Tradition der neue Titel 11 Tesoretto gegeben wurde, um es als .. kleinen Schatz .. vom .. großen Schatz .. des weitaus berühmteren, in mehr als 40 Handschriften auf uns gekommenen Tresor Ibzw. Tesoro) zu unterscheiden4 • Die Diminutivform des neuen Titels konnte in der Folgezeit leicht als von Brunetto selbst beabsichtigter Rangunterschied mißverstanden werden und hat wahrscheinlich dazu beigetragen, daß der Tesoretto heute vielfach als eine bloße Vorstufe, als poetischer Kommentar oder italienischer Auszug des Tresor angesehen wirds. Dem Verständnis des Textes, der bisher immer nur zu Vergleichen herangezogen, aber noch nicht selbständig untersucht wurde, standen indes noch andere Vorurteile der modemen Kritik im Wege. Der Tesoretto geriet seit De Sanetis 11870) in den Verruf eines hybriden Gebildes zwischen Wissenschaft und Poesie, das dem plumpen Ver-. such entsprungen sei, einen Berg unverarbeiteten Wissens geradezu in Verse umzusetzen (Quella sua encic10pedia non e che prosa rimata6 ). Auch die scheinbar objektive Methode des Quellenvergleichs gelangte zu keinem günstigen Ergebnis: gemessen an der schon so verfeinerten Kunstform des Roman de la Rose erschien F. Benedetto (1910) der Tesoretto als eine unbeholfene Nachahmung, die alle Schwächen eines ungenialen Dichters verrate7 • Noch weniger hielt der Tesoretto den Vergleich mit der Jenseitswanderung in der Divina Commedia aus: auch dort, wo man das Vorbild Brunetto Latinis ernstlicher als eine mögliche Quelle der Inspiration Dantes erwog, wurde dem problematischen »Vorläufer .. vorsorglich bescheinigt, daß er ·kein schöpferischer Geist und sicher ein schlechter Dichterer gewesen sei8• Die schärfste Kritik an dem mediocrissimo poeta9 findet sich in Vosslers
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Dante-Buch I~I92.51. Sie sei hier ausführlicher ZIttert, weil sie die Voraussetzungen und Folgen einer älteren, darum aber keineswegs schon .. überwundenen .. wissenschaftsgesdlichtlichen Position in beispielhafter Klarheit vor Augen führt und damit wohl am besten die Notwendigkeit einer Revision der bisherigen Urteile einsichtig machen kann: »Aber es waren nicht die Guittonianer allein, die den Unterschied zwischen Kunst und Wissenschaft, Poesie und Prosa verwischten. Dantes Lehrer selbst: Brunetto Latini, der Florentiner Notar, tritt uns als erschreckendes Beispiel einer unbekümmerten Stillosigkeit entgegen. Er preßt den wissenschaftlichen Inhalt seiner französischen Enzyklopädie in einförmige italienische Verse. Was nicht in den Reim paßt, läßt er in Prosa liegen. Man kann sich schwerlich ein roheres Durcheinander von Kunst und Wissenschaft vorstellen als Latinis Tesoretto. Die allegorische Einkleidung ist nur Vorwand, ist ein eilfertig errichtetes Holzgerüst, von dessen Höhe der Verfasser all seine Kenntnisse wie einen Kartoffelsack über uns ausschüttet. Er will, gleichviel auf welche Art, seine Wissenschaft los werden. Guittone und dessen Schule verraten wenigstens in ihrem Ringkampf mit der Sprache und in ihrer Jagd nach neuen Ausdrucksmitteln einen ehrlichen Willen zur Kunst. Brunetto dagegen entlehnt, durchaus gedankenlos, sein poetisches Gewand aus der großen allegorischen Maskengarderobe des Mittelalters. Bald holt er den Schmuck seiner Personifikationen aus der Consolatio des Boethius, bald aus dem Planctus Naturae ad Deum und aus dem Antic1audianus des Alain von Lille, bald aus dem Rosenroman des Guillaume de Lorris, und dazwischen hinein mengt er, ohne übergang, ohne Vermittlung, ohne ersichtlichen Grund, seine eigenen Erlebnisse und vorzugsweise seine politischen überzeugungen. Sein Bestes hatte er in dem großen französischen Tresor gegeben. Nun leiert er wie ein zerstreuter Schulmeister das Wichtigste seiner Kenntnisse in gereimter Vergröberung vor einem weniger gebildeten toskanischen Leserkreis ab. Es scheint ihm selbst so wenig an der Sache gelegen zu sein, daß er sie nicht einmal zu Ende führt 'o ... Es liegt auf der Hand, daß die Kriterien, nach denen Vossler den Tesoretto als ein .. elendes Machwerk .. abfertigte, weder der erklärten Absicht und gewählten Form des Werkes noch der Kunstauffassung und Lehre von der Zweckbestimmung des Schönen einer Epoche entsprechen, der die Scheidung von poesfa und non-poesla wesensfremd war". Auf die historischen Gründe, warum Vossler (und bis heute noch die Croce-Schulel diese Unterscheidung für zeitlos gültig halten konnte, ist hier nicht einzugehen; es genügt, darauf hinzuweisen, daß sie als unerkannte Vorentscheidung selbst wieder eine historisch be-
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stimmte Kunstauffassung: die Erlebnisästhetik der Romantik und die Ächtung des Didaktischen durch das L' Art pour l' Art, methodisch verewigt und bezeichnenderweise auch schon - wie aus den zitierten, fast gleichlautenden Urteilen Oe Sanctis und anderer hervorgeht - von der nationalen Literaturhistorie und vom Positivismus vorausgesetzt wurde. Positivismus und Idealismus in der Literaturwissenschaft teilen hier dasselbe Vorurteil gegen die Kunstauffassung und den Stilbegriff des Mittelalters! Die Berechtigung seiner Frage nach dem ästhetischen, besser gesagt: literarischen Rang des Tesoretto soll Vossler indes nicht bestritten werden. Zu bezweifeln ist nur, ob die Maßstäbe seiner Kritik überhaupt die Gestalt des vorliegenden Textes fassen und nicht vielmehr eine Erwartung beschreiben, die dieser Text nicht erfüllen konnte. Aufschlußreich ist an dieser Kritik nicht so sehr, was Vossler im Tesoretto an -Stillosigkeiten.. auszusetzen fand, sondern das, was er suchte: Reinheit des Stils, Einheitlichkeit des Stoffes, einsichtige Motivation der Fabel, Wahrung eines harmonischen Maßes in den Proportionen der Darstellung, vor allem aber Einheit von Form und Inhalt, Gestalt und Bedeutung. Der Tesoretto in Vosslers Beschreibung ist ein Zerrbild des Ideals klassischer Kunst: er illustriert hier gleichsam, wohin es führen müsse, wenn ein Dichter gegen das klassische Prinzip verstößt, daß -die Form den Stoff vertilgen solle... Die AllegOrie im besonderen widerspricht, da sie auf der Inkongruenz von Gestalt und Bedeutung beruht, dem klassizistischen Kunstgeschmack, der hier ganz unverkennbar als uneingestandene Voraussetzung der ästhetischen Unterscheidung zwischen Poesie und Nicht-Poesie, interesseloser Kunst und belehrender Literatur zum Vorschein kommt. Für die folgende Betrachtung ergibt sich daraus die methodische Folgerung, von solchen Erwartungen abzusehen und zu untersuchen, ob die gerügte Stillosigkeit nicht in einem anderen Lichte erscheinen und vielleicht auch der Tesoretto .. ästhetisch .. genießbarer werden kann, wenn man gerade umgekehrt die allegorische Unterscheidung zwischen Gestalt und Bedeutung, Erscheinung und Wesen zum Maßstab des Urteils erhebt. Für diese Absicht erscheint es zweckmäßig, den Gang der Untersuchung in eine stilistische und eine historische Perspektive zu teilen, d. h. erst einmal Eigenart und Sinn der allegorischen Form des Tesoretto zu beschreiben, um von der Grundlage eines neuen Textverständnisses aus sodann die Frage nach Vorbildern und Selbständigkeit Brunetto Latinis wieder anzuschneiden. Der Leser des Tesoretto steht bald unter dem Eindruck, der sich bis zum Ende des Textes noch verstärkt und auch durch ein vertieftes Studium nur bestätigt werden kann, daß sich die wechselnde allego-
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rische Szenerie offenbar nicht zu der anschaubaren Einheit und gestuften Ordnung einer allegorischen Landschaft zusammenfügen will. So kehrt etwa der Wald, obwohl er als Durchgangsort zum Jenseits im Mittelpunkt der Darstellung steht, mehrfach in topographisch unersichtlichem Zusammenhang wieder, so daß man sich nicht vorstellen kann, wie sich das Ganze der Jenseitslandschaft durch diese übergänge gliedern soll und ob es sich am Anfang und am Ende noch um denselben Wald handeltu. Der Eindruck unvermittelter übergänge wird durch das Durcheinander realer IRoncevaux, MontpellierJ und irrealer Örtlichkeiten noch verstärkt. Nicht selten verschwindet auch die Vorstellung eines Ortes der Handlung überhaupt, wie etwa beim Abschied seI Brunettos von NatuIa'J oder während der Belehrung durch die vier höfischen Tugenden. Allein die Figur des Wanderers bleibt in dem kaleidoskopartigen Wechsel der Szenen konstant. Das läßt vermuten, daß sich für seI Brunetto alles Geschaute in einem besonderen Sinne verbindet, der für uns nicht sogleich offen zutage liegt. Diese noch verborgene Verbindung stiftet aber gewiß keine anschaubare räumliche Einheit. Die Figur des Wanderers vermag durch ihren Weg allein den fehlenden, besser gesagt: nicht beabsichtigten Zusammenhang einer Landschaft der .. anderen Welt" nicht herzustellen. Der Tesoretto ist nicht schon, wie Georg Hees, verführt durch trügerische Parallelen, im vorläufig letzten Versuch eines Vergleichs erweisen wollte, .. eine Jenseitsreise im Sinne der Divina Commedia" 14. Das wird am besten deutlich, wenn man das Bild der Reise und die Figuration des Weges durch den Text hindurch verfolgt. Vom Weg des Wanderers ist ausdrücklich an fünf Stellen des Textes die Rede. Es sind zugleich die Wendepunkte der allegorischen Fabel: I. Nachdem ser Brunetto in der Ebene von Roncevaux die Unglücksnamricht von Montaperti ereilt hat, verliert er in seiner Benommenheit den gran cammino und gerät a 10 tlaversa in einen seltsamen Wald Iselva diversa, V.I90)·
Als er das Reich der Natura verläßt, bringt ihn seine göttlime Lehrmeisterin mit ihren Absdliedsworten offensichtlim wieder auf den .. rechten Weg-: guarda ehe 'I gran cammino non tomi esta semmana, ma questa selva piana, ehe tu vedi a sinestra, cavalcherai a destra.
2.
Ivv.
I I 34-11 38)
Der weitere Weg soll zunächst redlts an einem Wald vorbeiführen, der als selva piana offenbar unter einem der früheren selva divelsa entgegengesetzten Vorzeimen steht. Natula weist aber aum smon auf besondere Mühen dieses Weges hin Iv. 1139), warnt vor der Unsimerheit der PortuD4 Ich.! non ha certa via, v. lISI) und stattet ihn für die bevontehenden duri
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passi Iv. I I 62.1 mit einer Art von Amulett aus. In welcher Beziehung aber steht selva piana zu dem angekündigten mühevollen Weg~ Und was hat es zu besagen, daß der Wanderer sodann statt des erwarteten gran cammino einen sdunalen Pfad lun sentielO stretto, v. II841 vorfindet, der sich in eine weglose, völlig leere Einöde verliert Idov'io non trovai eerta I n~ stracUJ n~ sentero, vv. II9Q-l.I911, aus welcher er am dritten Tag wie durch einen Zufall durch ein dunkles Tal in das Reich der Tugenden gelangt~ 3. Um schließlich das Reich Amors zu erreichen, schlägt ser Brunetto wieder .. den Weg nach rechts .. Iv. :1182.1 ein, der dieses Mal - in erneuter Entgegensetzung zu dem paese felO Iv. 11911 vor dem Reich der Tugenden nun aber durch eine Mailandschaft führt. 4- Die Flucht aus dem Reich Amors stellt sich so dar, als ob ser Brunetto durch die Kunst Ovids erst wieder seinen Weg gefunden hätte Isi eh'jo trovai la via I com'io mi trafugai, vv. 2.392.-2393!. Wo aber soll er ihn verloren haben? Davon war nirgends ausdrücklich die Rede. Und warum verläuft der wiedergefundene Weg nun plötzlich durch eine reale Landschaft und ausgerechnet nach Montpellier Icf. vv. 2.394, 2.S41!? s. Nach abgelegter Beichte kehrt seT Brunetto auf seinen Weg zurück Iv. 2.881 sq.1. als ob es ihm freistünde, die Reise nach seinem Belieben fortzusetzen, das Programm der NatuTa abzukürzen lauf die zunächst vorgesehene Station der Portuna legt er nach der Beichte keinen Wert mehr, v. 2.891 sq.1 und den Wald - man sieht nicht wo - selbst aufzusuchen, den er dieses Mal geradezu bis zum Berg Olymp durchquert Iv. 2.893 sq.!.
Obschon Brunetto Latini den sonst immer allgemein Ivia mit bestimmtem Artikel!l verstandenen Weg schon einmal ausdrüddich lmit possessivuml als einmalige Reise bezeichnet Icontar mio viaggio, v. 11971, unterscheidet sich der Tesoretto sehr auffallend von den vergleichbaren Traditionen der Jenseitswanderung. Im Espurgatoire Saint Patrice oder im Songe d'Enfer und seiner Fortsetzung, dem Songe de Paradis, macht der Weg des Wanderers die jenseitige Welt kontinuierlich in ihrer Stufenordnung anschaubar. Auch in der höfisch-weltlichen Allegorie des Roman de la Rose geht die Vorstellung nie verloren, daß der amant das Reich Amors auf einem gerichteten, an keiner Stelle zufälligen Weg durchmißt, dessen Stationen IFluß, Mauer, Pforte, Garten, Narzißquelle, Rosenhagl zugleich für die Geschichte seiner höHsmen Bildung und Einweihung in den amour courtois bedeutsam sind. Im Tesoretto hingegen erscheint der Weg ser Brunettos diskontinuierlich und - wie schon aus der Abänderung der von Natura angekündigten Stationenfolge erhellt - nicht notwendig gerichtet: er wird nur an den übergängen in einen anderen Bereich sichtbar und gibt den Reichen der Natura, der Vertute und Amors eine Art von Umrahmung. Diese besondere Figuration eines Weges, der nur in fünf Stücken, nicht aber im Ganzen anschaubar ist, wird auch nicht durch das in christlicher wie in vergilischer Tradition vorgegebene Thema der Führung durch die -andere Welt.. zusammengehalten und
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überhöht. Anders als in manchen geistlichen Visionen, in denen der Pilger von einem Engel oder Heiligen geleitet wirdis, geht Maestro Brunetto seinen Weg allein! Gewiß erscheint ihm zu Beginn Natura, folgt er später eine Weile dem bel cavalero Iv. 13671, der sich von den vier höfischen Tugenden unterweisen läßt, zeigt ihm Ovidio maggiore Iv. 2.3591 wieder den im Reich Amors verlorenen Weg und wendet er sich schließlich an Ptolemäus Iv. 2.932.1, um sich die vier Elemente erklären zu lassen. Doch der Versuch von G. Hees, aus diesen Gestalten eine Folge von .. Begleitern .. zu machen, die der gestuften Führung Dantes durch Virgil, Beatrice und den hl. Bernhard vergleichbar sein SOÜl6, erweist sich am Text als ein täuschender Rückschluß vom späteren auf das frühere Werk: die erwähnten Gestalten begleiten ser Brunetto gar nicht, sie bilden vielmehr Stationen, zu denen der Wanderer selbst gelangt, um sich von großen Lehrmeistern unterrichten zu lassen. Im Anhören der Lehren von Natura. der vier höfischen Tugenden, von Ovid und Ptolemäus kommt die Reise jedesmal zum Stillstand; wenn sie wiederaufgenommen wird, bleibt der Lehrmeister zurück und muß sich der Wanderer auf eigene Faust seinen Weg suchen. Sehen wir zunächst noch von der Frage nach dem verbindenden Motiv ab, das diese einsame Suche zu einer aventure neuen Stils macht, so wäre jetzt vor allem aufzuweisen, daß den bisher nur im negativen Aspekt erfaßten Eigentümlichkeiten der Komposition des Tesoretto in der Tat auch eine positive stilistische Funktion zukommt. Die Kehrseite der bisherigen Analyse tritt sogleich zutage, wenn man erkennt, daß der Weg ser Brunettos in seiner Zusammenstückung zwar die Erwartung einer Beschreibung der Weltordnung im ganzen nicht erfüllt, dafür aber in seinen kontrastierend ausgeführten Teilen den Blick auf verschiedene Bereiche oder Anblicke des Kosmos eröffnet. Die Figuration des Weges im Tesoretto erhält ihre Bedeutung weniger durch das, was sie beschreibt, als durch das, was sich durch sie ankündigt. Sie ist, wie die allegorische Landschaft überhaupt, dem Stilprinzip der variatio. des immer wechselnden Modus der Darstellung, unterworfen, wie nunmehr an den vier Hauptteilen des Werkes: der Erscheinung des Reiches der Natura Ivv. 191-11811, der Vertute Ivv. 1183-2.1801, Amors Ivv. 2181-2.3951 und - nach der Episode La Penitenza (vv. 2427-2.892.1 - der Begegnung mit Ptolemäus auf dem Berg Olymp Iv. 2.893 sq.I, gezeigt werden soll. Die Erscheinung der Natura wird durch das traditionelle Motiv der Verirrung im Walde eingeleitet, das im französischen Ritterroman, aber auch in Visionsgedichten vorgegeben ist l7 • Der Leser kann nach dem ..Stichwort« der selva diversa Avenruren in der Art des Artus53
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Zauberwaldes erwarten; doch im Abirren des leiderfüllten Wanderers von dem gran cammino zeigt sich auch der Anfang einer Entrükkung an, die einer Jenseitsvision vorherzugehen pflegt. Die geheimnisvolle Ambivalenz löst sich auf, als der Wanderer im Anblick eines Berges wieder zu sich selbst findet. Der Berg ist mit einer großen Schar verschiedener Geschöpfe besetzt: Menschen, Landtiere, Wassertiere, Vögel, Pflanzen und Steine IVV.194-2081. Die Aufzählung ist vollständig und auch hierarchisch gestuft, mithin ein Abbild des Ganzen der gottgeschafienen irdischen Welt. Dem Schauenden zeigt sich diese Ordnung der Geschöpfe sodann in der unaufhörlichen Bewegung ihres Lebens, Vergehens und Wiederentstehens: Ma tanto ne so dire: eh'io le vidi ubidire, finire e comineiare, morire e 'ngenerare e prender lor natura, si come una figura eh'i' vidi, eomandava. IVV.109-1I 51 In der ßguza, die hier erst in der Art ihres Regiments, dann als numinose, bis an den Himmel ragende Erscheinung Iv. 216 sq.1 und schließlich in der vollkommenen Gestalt weiblicher Schönheit dargestellt ist, erkennt ser Brunetto mehr und mehr, bis sie sim - kunstvoll verzögert - am Ende selbst mit Namen nennt Iv. 2981, die Göttin Natura. Der Darstellungsweise dieser Vision ist eigentümlich, daß Brunetto mit dem Bild des hierarmischen Berges erst das Ganze der von Natura regierten Welt vor den Blick bringt, bevor er sie selbst in persona erscheinen läßt. Hier geht die Wirkung der bewirkenden Kraft, der Anblick des Ganzen der Beschreibung seiner einzelnen Aspekte und Bereiche voraus! Auch weiterhin wird das Reim der Natura nimt mehr durch einen Weg durchmessen. Der Wanderer, der in ehrerbietiger Haltung vor sie tritt Iv. 245), hört die große Rede seiner Lehrmeisterin, sieht sie dazwischen wieder in der Ausübung ihres Amtes IVV.503-5181 und wird sodann aufgefordert, er möge nun Flüsse und Meer .. besuchen« lehe sanza dimoranza / vo1esse visitare/ e 1i fiumi e 10 mare, vv. 930 sq.). Dieser Vorschlag erfüllt sich im folgenden indes nicht durch eine Fortsetzung des Weges, sondern durch eine Folge von neuen Visionen. Maestro Brunetto erblickt erst die vier dem Paradies entsprungenen Flüsse Tigris, Phison, Euphrat und Genon te . Dann sieht er sich an, wie 54
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Natura die Länder des Orients mit Edelsteinen und Gewürzen versieht (plOvide per misura, v.990), wie sie für Tiere aller Art sorgt Imise in asetto loco, v. 1006) und wie sie smließlich in einer großartigen Gebärde ihre Hand zum Ozean jenseits der Säulen des Herkules ausstreckt, der alles Land umsmließt und dem Schauenden in seiner ewigen Bewegung von Ebbe und Flut vor Augen steht:
Poi vidi immantenente la regina piagente ehe stendi!a la mano verso 'I mare Uciano, quel ehe einge la terra e ehe la eerehia e serra
Ivv. 102.7 sq.) Die immer wiederkehrende Gebärde des Scbauens und Staunens unterteilt auch die folgende Beschreibung des Mittelmeers von Gibraltar bis zu den Dardanellen, bis hin zu einem letzten Blick, der noch einmal da~ ständige Hervorgehen, Gestaltwerden und Vergehen aller \Vesen umgreift l9 • Mißt man diese Darstellung an der Aufgabe, Kosmogonie und Weltbeschreibung der Schule von Chartres in ein neues allegorisc:hes Gedic:ht einzubringen, so kann man wohl kaum bestreiten, daß Brunetto den lehrhaften Gegenstand gesmidc.t und wirkungsvoll in immer wieder neue Anschauung umzusetzen verstand - wirkungsvoller als Alanus selbst, in dessen Planctus Naturae die Gebärde des Sc:hauens fehlt und der eintönige Monolog der Natura lediglich durch sieben rhetorische Fragen des Dic:hters unterbroc:hen wird 20• Mit dem näc:hsten Hauptteil, dem Reim der Vertute, wechselt aum der Modus der Darstellung. Wir sahen smon, wie Brunetto durm versc:hiedene Vorzeichen auf die Andersartigkeit der nun bevorstehenden Erfahrung vordeutet: die Prädikate des Weges ändern sich kaleidoskopisch, sobald der Wanderer einem neucn Ziel zustrebt. Der Weg zum Reich der Tugend stellt sim - offensic:htlim in Entsprechung zu den dort zu erwartenden dure credenze Iv. 1142.) - als eine sim steigernde Folge von Mühen dar. Aus der -großen Straße- wird ein -sdlmaler Pfad .. , aus der selva piana eine wilde Einöde, die Züge einer gespenstisch leeren Todeslandsmaft annimmt: quivi non ha viaggio, quivi non ha magione, quivi non ha persone, non bestia, non ueeello, 55
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non tlume, non ruscellO, ne formica ne mosca ne cosa eh'io cognosca.
Der Wanderer, der angesichts dieses Ivon Brunetto erdachten?! -Landes der Verzweiflung« Iv. u.lol von Todesfurcht befallen wirdu, entsinnt sich des Amuletts der Natura und findet hinter einem dunklen Tal unerwartet die .. lieblichste und heiterste Ebene der Welt- lun grande pian giocondollo piu gaio dei mondol e 10 piu dilettoso. v. Il2.I sq.). Als ob das Erreichen der Tugend sogleich die Belohnung für die Mühsal des Weges einschließe, tritt hier dem Wanderer .. am dritten Tag., dem Zeitpunkt der Auferstehung nach Christi Höllenfahrt, das Reich der Vertute als ein unerwarteter locus amoenus vor Augen! Daß damit in der Tat nur eine momentane Zuordnung auf den ankommenden Wanderer, dem das Reich der Tugend zuerst so ersmeint. nicht aber eine feste Situierung in der Topographie des Jenseits bedeutet ist, bestätigt der Umstand, daß in der folgenden Beschreibung des Tugendreiches der erste Anblick eines locus amoenus sogleich wieder von der Vorstellung eines feudal gegliederten Staatswesens überdeckt wird. In der bisherigen philologischen Kritik des Tesoretto wurde diese Darstellungsweise als sprunghaft, widersprüchlich und ungeschickt getadelt, weil man das - in der älteren allegorischen Tradition allerdings auch noch nicht ausgebildete - kaleidoskopische Stilprinzip Brunettos verkannten. Es ist im Grunde sehr viel anspruchsvoller als die vertrauten Schemata der allegorischen Beschreibung, denn es hat zur Folge, daß die Visionen einer -anderen Welt" im unvorhersehbaren Wechsel verschiedener momentaner Aspekte ihre Erscheinungshaftigkeit bewahren und nicht gleich wieder vergegenständlicht werden, was im durchmotivierten Kontinuum einer Jenseitswanderung, die nur am Anfang und am Ende auf den Traum aufmerksam macht, schwer zu vermeiden ist. Wie zuvor im Reich der Natura stellt Brunetto Latini auch in seiner Tugendlehre ein Bild des Ganzen einer aufgliedernden Beschreibung des Reiches der Vertu te voran. Der Wanderer sieht Kaiser, Könige, Fürsten, dann Philosophen1J und vieles andere mehr, über allem aber in erhöhter Stellung eine Kaiserin, die den Namen Vertufe trägt. Sie bleibt auch ser Bronetto gegenüber in unnahbarer Distanz, der in diesem Bereich die passive Rolle des Betrachtenden nie aufgibt. Er geht ähnlich wie der amant im Roman de la Rose, der im Vorbeischreiten an der Mauer des Paradiesgartens die Bilder der höfischen Laster wahrnimmt, an den Höfen der Tugenden vorbei, liest die In-
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sduiften und sieht im Innern der Paläste jeweils eine Gruppe von untergeordneten Tugenden in einer der Feudalwelt analogen, herrscherlichen Verrichtung. Das Bild vom Reich der Tugend, das sich auf diese Weise entfaltet, folgt einem streng hierarchischen Prinzip. Die Kaiserin Verrute hat vier königliche Töchter, die Kardinaltugenden. Unter diesen kommt wiederum der Prodenza die höchste Würde zu Iche l'un' e troppo maggio, / e poi di grado a grado / catuna va piu rado, v. 12.S9 sq.l. Name und Wesen der Kardinaltugenden wird dem Wanderer nur durch Inschrift Isentenza, v. 12.711 am Eingang der Paläste bedeutet und sodann mittelbar durch die allein sichtbar werdenden Untertugenden figuriert. Nur Giustizia, die letztgenannte der vier Kardinaltugenden, macht darin eine Ausnahme: sie allein vermag ser Brunetto als donna incoronata, umgeben von vier maestre grandL selbst zu erblidcen:ls• Diese Sonderstellung der Gerechtigkeit läßt erwarten, daß ihr Brunetto Latini besondere Bedeutung zumißt. In ihrem Hause findet der Wanderer denn auch drei der vier höfischen Tugenden, die ihre Lehren vollständig darlegen und den Bildungsgang jenes bel cavalero beschreiben, dem ser Brunetto als stummer Zuhörer folgt16. Hier verwendet Brunetto das einfachste Schema einer allegorismen Fabel: die Belehrung eines Neulings, der, von Station zu Station weiterschreitend 10r ti toma a magione, / ch'omai ala stagione, v. ISS I sq.I, die Unterweisungen der Larghezza. Cortesia, Leanza und Prodezza entgegennimmt17 . Auf anschaubare Örtlichkeit kommt es dabei nicht mehr an; es findet sich noch eine letzte, aber schon unbestimmte Richtungsangabe Ida canto, v. 13631, die offenläßt, nach welcher Seite sich der Wanderer wendet; dann verliert sich die Vorstellung eines Weges so sehr, daß man am Ende überrascht ist zu lesen, die beiden Fremdlinge seien schließlich "zurüdcgekehrt« Iv. 21711, der bel cavalero in sein lungenanntesl Land, ser Brunetto auf seinen großen Weg, der ihn jetzt in das Reich Amors führt. In diesem Hauptteil hat Brunetto Latini den statischen Bildern des streng hierarchisch gegliederten Reiches der Tugenden gewiß nicht ohne Absicht und mit unbestreitbarem poetischem Effekt Bilder eines sehr bewegten und spannungsreichen Geschehens entgegengesetzt. Die Erscheinung Amors spielt in einer allegorischen Landschaft, die den Roman de la Rose in Erinnerung ruft, und wird in drei überraschenden übergängen zugleich angekündigt und dramatisch hinausgezögert. Der "Weg nach rechts", den der maesuo eingeschlagen hat Iv. 21811, wird zum Gang durch den Mai und führt ihn - im offensichtlichen Kontrast zu der Einöde vor dem Reich der Verrute - über Täler, Berge, Busch, Wald und Brüdcen auf eine schöne Wiese. Was sich hier dem Blick des Wanderers darbietet, steht formal in vollende-
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ter Symmetrie zu dem ersten Anblick der Reiche der Natura und der Vertute: in den erstaunlichen Metamorphosen der Wiese geht wiederum das Ganze der Wirkung Amors seinem Erscheinen als Person und der Beschreibung seiner einzelnen Aspekte und Phasen voraus! Hier macht sich erneut geltend, daß das Fehlen vorgängig motivierter Ubergänge auch schon in einem mittelalterlichen Werk nicht einfach als »Kunstfehler .. anzukreiden ist, sondern ein eigens gewähltes Mittel der Darstellung sein kann, das verschiedene stilistische Wirkungen ermöglicht. io giunsi in un bei prato fiorito d'ogne lato, 10 piu ricco del mondo. Ma or parea ritondo, ora avea quadratura; ora avea Paria scura ora e chiara e lucente; or veggio molta gente, or non veggio persone ; or veggio padiglione, or veggio case e torre;
I'un giace e I'altro corre, I'un fugge e I'altro caccia, chi sta e chi procaccia, I'un gode e I'altro 'mpazza, chi piange e chi sollaza: cosi da ogne canto vedea gioco e pianto. Pero, s'io dubitai o mi maravigliai, be·no deon sapere que' ehe stanno a vedere.
Die blumenreiche »schöne Wiese« (vv. 220I-22021 belebt sich nicht, wie man vom Rosenroman aus erwarten könnte, mit einem Reigentanz höfischer Gestalten. Sie erscheint maestro Brunetto unversehens einmal rund, dann wieder viereckig, einmal dunkel, dann wieder hell, bald reich bevölkert, bald menschenleer, bald voller Zelte, bald mit Türmen und Häusern besetzt; dann sieht er, wie der eine liegt, der andere läuft, der eine flieht, der andere jagt ... wie überall Freuden und Tränen zugleich sind. Angesichts dieser Verwandlungen wird der Schauende von Furcht und Staunen befallen und bedarf der Hilfe seines Amuletts, um wieder Mut zu finden. Der bel prato nimmt im vollkommen kaleidoskopischen Wechsel seines Anblicks auch für den Leser mehr und mehr die Gestalt eines Rätsels an von der Art: »Was ist das? Es ist bald rund, bald viereckig ... bald fröhlich, bald traurig." Die in der Aufzählung zuletzt gebrachten Gegensatzpaare machen die Lösung des Rätsels leichter: es ist der paradoxe Zustand der Liebenden, der in den Metamorphosen des bel prato sichtbar wird! Doch diese Lösung ist erst vom Ende aus erkennbar. Der Leser wird zunächst durch eine scheinbar willkürliche Bildfolge befremdet, die sich auch später mit dem Schlüssel der letzten Gegensatzpaare nicht ganz lösen läßt. Denn was soll der Gegensatz von rund und viereckig, von Zelten und 58
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Häusern mit dem Zustand der Liebenden gemein haben? Diese Frage kann erst beantwortet werden, wenn man das .. tertium comparationis cc zu einer Art von Syllogismus erweitert: die »schöne Wiese .. zeigt sich in Gegensätzen - auch der Zustand der Liebenden zeigt sich in Gegensätzen - also kann auch die "schöne Wiese a , allegoriee: die ganze Welt auf Amor als die Macht zurückweisen, die gegensätzliche Zustände bewirkt. So erscheint der Wechsel der Erscheinungen des bel prato so lange rätselhaft und bizarr, modemen Manierismen ähnlich, bis man am Ende erkennt, daß die scheinbar grundlose Reihung der Gegensatzpaare von rückwärts motiviert ist, daß in den Metamorphosen des bel prato der paradoxe Zustand der Liebenden zur Paradoxie der Welt erweitert wurde und daß Brunetto Latini auf diese Weise die allgemeinste Bedeutung Amors seinem persönlimen Erscheinen und seiner besonderen Wirkung auf den Wanderer vorausgesdlickt hat. Dem Wanderer selbst bleibt die Bedeutung der Szene indes nom versdllossen. Er muß erst vier eilig vorbeireitende Knappen befragen. Aum mit dieser Szene hat es eine besondere Bewandtnis. Die vier Knappen taumen so unversehens auf, wie sie dann gleim aum wieder verschwunden sind. Brunetto gibt vor, auch er könne das Geheimnisvolle ihres Ersmeinens nicht erklären: Cosi furon spariti e in un punto giti, eh'i' non so dove 0 eome, ne la 'nsegna ne '1 nome.
An sich liegt hier ein Motiv der Artusromane vor, in denen wimtige Auskünfte nicht selten von vorüberreitenden Personen eingeholt werden müssen, die es aus unbekannten Gründen sehr eilig haben und sich nur zu einer lakonismen Antwort bereit finden, in der Art, wie sie auch hier dem Wanderer zuteil wird: Sappi, mastro Bumetto, ehe qui sta monsegnore eh'e eapo e dio d'amore; e se tu non mi eredi, passa oltra e si 'I vedi; e piu non mi toccare, eh'io non t'oso parlare.
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Aber im Artusroman, der zumindest in seiner klassischen Form dem Erzählprinzip folgt, .. keine Masche fallen zu lassen", klärt sich das Geheimnisvolle einer solchen Episode rückwirkend auf~. Daß im Tesoretto das Geheimnis der quattro fanti, ihr Name, Woher und Wohin, nie aufgelöst werden soll, müßte den Leser höfischer Romane befremden, da es sich bei den Knappen ja keineswegs nur um Staffagefiguren (wie z. B. den obligaten Zwerg, der im Artusroman nur eine Funktion, aber keinen Namen hatl, sondern um eingeweihte Personen handelt, die den Wanderer sogleich mit Namen kennen und bei ihm das Verlangen wecken, mehr von ihnen zu wissen. Indem Brunetto hier eine Spielregel des höfischen wie auch des allegorischen Romans durchbricht, welcher gleichfalls unter dem ungeschriebenen Gesetz steht, daß alles Figürliche in der Fabel auf spätere Auflösung anzulegen ist, steigert er die Spannung auf das Bevorstehende in ungewöhnlicher Weise. Der folgende dritte Obergang bringt den Wanderer zum Hofstaat Amors. Er erblickt, umgeben von neuen Scharen der von Amor Besiegten, einen nackten Knaben, der auf einem Podest steht und blind seine Pfeile verschießt. Das weitere Geschehen erhält dadurch eine besondere Spannung, daß der Weg durch das Reich Amors in neuer Variation der Darstellungsweise fast bis zum Schluß als stumme Szene verläuft. Nach der lakonischen Auskunft des ersten der vier Knappen wird an maestro Brunetto von niemandem mehr ein Wort gerichtet, noch wagt er selbst, an Amor oder an die ihn umgebenden vier donne valenti eine Frage zu stellen. Die letzteren verkörpern die Zustände dessen, der vom Pfeil Amors getroffen ist (stati ... di Piacere nati, v. 2.319 sq.li doch wird das Wesen von Paura und Disianza, Amore und Speranza dieses Mal weder durch Inschriften noch durch Monologe, sondern rein definitorisch erläutert. Mit einer Frage wendet sich der Wanderer erst hernach an Ovid, als er schon glaubt, dem Reich Amors unbehelligt entronnen zu sein. Aber auch Ovidio maggiore verweigert hier die erbetene theoretische Belehrung, weist lakonisch darauf hin, daß die Macht Amors nur verstehe, wer sie zuvor erfahre (v. 2.372. sq.I, und demonstriert die Wahrheit dieses Satzes sogleich an maestro Brunetto, der nun erst gewahr wird, daß er wie an den Boden geheftet ist, obgleich er zu fliehen glaubte. So hätte ihn der Pfeil Amors also doch getroffen, ohne daß er es ~emerkte? Wir werden auf diese Fragen wieder zurückkommen, wenn wir das Verhältnis des TesoIetto zum Rosenroman untersuchen, und halten dazu noch fest, daß die folgende Episode der Fabel, in welcher seI Brunetto die allegorische Reise unterbricht, um in Montpellier die Beichte abzulegen, mit der Flucht aus dem Reich Amors verkettet ist19, also wohl auch eine Beziehung von Verfehlung und Reue in der 60
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Erfahrung des Wanderers nahelegt. Die Episode La Penitenza Ivv. 2.42.7-2.892.1 galt bisher als ein rein lehrhafter oder erbaulicher Einschub, der aus der Einheit der allegorischen Fabel herausfalle und darum auch in manchen Handschriften fehle oder durch einen besonderen Titel verselbständigt sei30 • Der Eindruck der Herauslösbarkeit ist indes zu einem guten Teil daher bedingt, daß Brunetto für diese Episode wiederum einen anderen modus dicendi gewählt hat. Die Beichte ist in die Form eines Briefes I... 'n queste carte, v.2.4361 gebracht und an einen engvertrauten Freund geridltet, den der Schreiber verschiedendidl ermahnt, seinem guten Beispiel zu folgen, zu erkennen, daß sie beide bisher un poco mondanetti gewesen seien IVV.2.45I, 2.5611, und sich von diesem Lebenswandel abzukehren. Und warum sollte Brunetto Latini, der sommo maestro der Rhetorik, nicht audl schon den Tesoretto dazu benutzt haben, im Wechsel der Darstellungsformen verschiedene Stil- und Gattungsmuster zu geben~ Aber es gibt auch noch inhaldiche Gesidltspunkte, die La Pen: tenza kompositorisch mit dem Ganzen verknüpft erscheinen lassen. Das Thema, mit dem Brunetto zu Beginn seines Briefes den Freund zur Beidlte hinführen will, ist ein kleiner contemptus mundi Ivv. 2.431 bis 2.5181; hier geht die Betradltung über die vanitas der Welt von Fortuna aus Icome Ventura mena / la rot'a falsa parte, v. 2.434 sq.l, die ursprünglich in das von Natura angekündigte Programm der Reise gehörte Iv. 11491, nun aber predigthaft behandelt wird und dann nadl der Beichte auf maestro Brunetto keine Anziehungskraft mehr auszuüben vermag. Im Mittelpunkt des Briefes stehen die sieben Todsünden, in der Weise dargestellt, daß von Hochmut ausgehend die eine Sünde immer die nächste nach sich zieht; die Tugendlehre des zweiten Hauptteils erhält damit eine notwendige Ergänzung, wie immer man auch den biographischen, in der Abwendung von Amor und der Fludlt nadl Montpellier verhüllten Hintergrund beurteilen mag. Soweit es die noch vorliegenden 51 Verse des nächsten Hauptteils erkennen lassen, der an der Stelle abbridlt, wo Brunetto offenbar in Prosa fortfahren wollte Ivgl. v. 2.9001, wäre auch hier ein Anblick des Ganzen der gegliederten Ordnung seiner Teile vorangegangen. Maestro Brunetto, der durch den Wald geritten und auf den Berg Olymp gelangt ist, sieht wiederum die ganze Welt: eh'io vidi tutto 'I mondo, si com'egli e ritondo, e tutta terra e mare, e 'I fuoeo sopra l'äre.
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Doch dieses Mal breitet sich nicht mehr, wie auf der ersten Station bei Natula (v. 927 sq.I, die Erdoberfläche bis hin ZJ.llll Ozean vor seinen Augen aus, sondern erblickt er die Erde als Gestirn, in ihrer Kugelgestalt und in der Ordnung ihrer vier Elemente. Dem entspricht, daß er nun mit Ptolemäus zusammentrifft, den er über die Natur der vier Elemente befragt und der ihn als maestro di storlomia e di ßlosofia vermutlich in die Sternkunde sowie in die den Himmelssphären zugeordneten Septem Altes einführen sollte31 • Dazu bedurfte es nicht notwendig einer Fortsetzung der Reise in die Himmelssphären hineinll. Die Formen der Darstellung, in denen das Reich der NatUla, der Veltute und Amors erschien, sprechen eher dafür, daß auch der neue Gegenstand die beschreibende Form einer Vision erhalten sollte der Wanderer somit seinen Weg, auf den er in seiner Benommenheit angesichts des politischen Unsterns und der Zwietracht seiner Vaterstadt geriet, auf einer letzten Station als contemplator caeli beendet. Wenn im ersten Gang unserer Untersuchung gezeigt werden konnte, wie Brunetto Latini in der Darstellung verschiedener Bereiche der .. anderen Welta stets und mit unbestreitbarer Wirkung dem Stilprinzip wechselnder Darbietungsformen gefolgt ist, so wäre das Voruneil der Uneinheitlichkeit und Stillosigkeit des Tesoretto nun auch im Blick auf die Elemente der Fabel zu widerlegen und zu fragen, ob sich in der Wahl, Umsetzung und Aneinanderreihung der Vorbilder nicht doch eine verbindende Idee verrät. Welche Quellen im einzelnen Brunetto Latini für den Tesoretto benutzt hat, ist seit langem bekanntH . Es sind im Hinblick auf Form und Aufbau die berühmtesten Muster der allegorischen Dichtung des Mittelalters: die Consolatio Philosophiae des Boethius, der Planctus Naturae des Alain de Lille und der erste Rosenroman des Guillaume de Lonis. Dazu kommen alle jene Quellen gelehrten Wissens, die Brunetto in denselben Jahren (1260-12661 in Frankreich studiert, für die Enzyklopädie seines Tresor kompiliert und zum Teil gewiß wohl auch in sein allegorisches Gedicht eingebracht hat. Hier soll uns nur sein Verhältnis zu den ersteren beschäftigen. Doch ist für die Frage, wie Brunetto die Vorbilder des Boethius, Alanus und Guillaume de Lorris aufgefaßt und in die neue Form seiner Visionsdichtung umgesetzt hat, das Ergebnis der Forschungen zu den Quellen des Tresor gleichfalls von Bedeutung. Brunetto war keineswegs ein unselbständiger Kompilator, sondern für die Begriffe seiner Epoche - ein bedeutender Gelehrter, dessen Tresor die meisten Enzyklopädien der Zeit an Methode und Sorgfalt der Auswahl überragte. Wie F. J. Carmody im einzelnen nachwies, muß Brunetto für den Zweck dieser ersten Laienenzyklopädie systema-
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tische Auszüge aus verschiedenen Quellenwerken gemacht haben, so daß er, wenn ihm für seine eigene Darstellung die eine Quelle nicht ausreichend zu sein schien, E.inzelheiten aus anderen Quellen hinzusetzen konnte 34 • Auch zeigt sich die Unabhängigkeit seines Standpunktes darin, daß einige der ersten Abschreiber offenbar an seiner Sachlichkeit Anstoß nahmen und glaubten, dem Text doktrinäres und moralisierendes Beiwerk hinzufügen zu müssen 3S • Sollte derselbe Brunetto Latini nun aber bei dem um dieselbe Zeit entstandenen Tesoretto so völlig unmethodisch verfahren sein und dessen allegorische Fabel rein willkürlich aus verschiedenen Vorbildern zusammengestückt haben? Stellt man die Frage nach dem inneren Sinn des Textes auf diese Weise, so genügt es allerdings nicht mehr, aus einer Liste von mutmaßlichen Entlehnungen oder Parallelen unmittelbar Rückschlüsse auf die »Abhängigkeit.. Brunettos von seinen Vorgängern zu ziehen. Mit diesem positivistischen Verfahren gelangt man im Falle des Tesoretto nicht weiter als bis zu der Feststellung, daß Brunetto zwar die Consolatio Philosophiae, De Planctu Naturae und den Roman de la Rose gekannt haben dürfte und diesen Vorlagen offenbar in seiner Fabel auch stückweise gefolgt ist, sich aber in jedem dieser Stücke auch wieder so weit von seinen Vorlagen entfernt hat, daß man - stünde der hohe Grad seiner Selbständigkeit nicht außer Frage - nach den exakten Methoden der Quellenforschung eine hypothetische Vorlage dazwischenschalten müßte. Um das eigentümliche Verhältnis zu beurteilen, in dem Brunetto Latini zu seinen »Vorläufern« stand, erscheint es hier geraten, bei jeder Parallele die Feststellung seiner .. Abhängigkeit« mit der Bestimmung seiner »Freiheit von der Vorlage« zu verknüpfen, also auch das Nicht-Ubernommene oder Nicht-Weitergeführte zu berücksichtigen. Anders gesagt: Es kommt hier darauf an, über die »Entlehnungen .. auf das Kriterium ihrer Wahl zurückzugehen, den Grund ihrer Aneinanderreihung zu ermitteln und mit der Möglichkeit zu rechnen, daß Brunetto die weithin vorgegebene Struktur der allegorischen Fabel seines Tesoretto nicht nur mit einer eigenen Figuration neu besetzt, sondern auch die meist impliziten Vorfragen seiner Vorgänger anders gestellt oder neu beantwortet haben kann3'. Wenn dem Dichter des Tesoretto zu Beginn seiner Vision eine figura erscheint, die bald mit dem Haupt bis an den Himmel zu reichen, bald die menschliche Gestalt einer smönen, edlen Frau anzunehmen scheint Iv. 1.16 sq.I, weist diese statura discretionis ambiguae unmittelbar auf die Philosophia des Boethius zurück37. Denn der zeitlich viel näher stehende Alanus läßt Natura sogleich in menschlicher Gestalt,
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als rnulier mit dem Haupt einer Jungfrau auf dem sternenhaften Leib erscheinen 38 • Zwar wird man, da sich die figura im Tesoretto später als Natura (und nicht als Philosopbia) zu erkennen gibt (v. 189), dann eher wieder an De Planetu Naturae als nächste Vorlage denken, zumal auch die erste Beschreibung der von Natura regierten Welt und ihre folgende Rede über den Anfang aller Dinge genaue Entsprechungen zu dem Werk des Alanus aufweist. Gleichwohl vermag das näher stehende Vorbild in einem entscheidenden Punkte die Erinnerung an den ferneren Ursprung der allegorischen Tradition, in der Alanus und Brunetto gemeinsam stehen, nicht auszulöschen. Im Unterschied zum Planctus Naturae, wo der Dichter nur eine allgemeine Klage über die Sodomie vorzubringen hat und damit die in ihrem Recht verletzte Natura auf den Plan ruft, ist der Dichter des Tesoretto wie einst Boethius persönlich von äußerster Not betroffen und des Trostes bedürftig. Die entsdleidende Entsprechung zwischen dem Eingang des Tesoretto und dem Beginn der Consolatio liegt in der wiedergekehrten Situation einer Lebenswende durch politisches Unglück. Wie Boethius im Exil seines Kerkers Trost findet, als ihm seine Lehrmeisterin Philosophia zu Hilfe kommt (quid, inquam, tu in has exsilii nostri soli tudines, 0 omnium magisua virtutum, supero cardine delapsa venisti/3 9 1, so läßt auch Brunetto die Trübsal, in die ihn die Nachricht von der Niederlage der Guelfen und seine Exilierung versetzte, angesichts der erhabenen Erscheinung der Natura hinter sich zurück (useio de ·neo pensielO I eb'jo avetJ primero, v. 135 sq.). In vergleichbarer Situation der Verzweiflung über den Tod Beatrices - wird sich auch der gleichfalls im Exil dichtende Dante zu Boethius zurückwenden; nach seiner eigenen Darstellung im Convivio hätte er in der Consolatio nicht nur Trost für seinen Verlust, sondern die Philosophie selbst als gentilissima Donna und damit den Ansporn zu einer neuen Aufgabe und Richtung seines Lebens gefunden40 • Bedenkt man ferner, daß Brunetto auch im Tresor gleich zu Beginn die Consolatio zitiert und sich eigens auf die Vision der Pbilosophia beruh, um sein großes Unternehmen zu rechtfertigen 41 , so wird die - gleichviel ob faktische oder stilisierte - Obereinstimmung in der Situation der schicksalverbundenen Dichter ausdrücklich, an die Dante wohl auch denken konnte, als er Brunetto Latini nachrühmte, er habe ihn gelehrt come J'uorn s'etterna Unf. XV 85).
Brunetto hat die entscheidende Wende seines Lebens im Tesoretto auf eine Weise dargestellt, die auch für die Geschichte der allegorischen Dichtung eine Wendung bedeutete. Während seine unmittelbaren Vorgänger Alanus und Guillaume de Lorris beim Ergreifen der allegorischen Form jede Beziehung zur geschichtlichen Welt von ihrer Fabel
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abstreiften und auch dem Ich als Träger der Handlung eine rein fiktive Rolle gaben, verknüpft Brunetto seine allegorische Fabel mit dem Bericht über seine Gesandtschaft zu Alfons X. und dem Eintreffen der Nachricht von Montaperti. Der Vorwurf der .. Stillosigkeit« oder der »willkürlichen Vermengung eigener Erlebnisse und politischer Oberzeugungen .. mit der allegorischen Fabel hält gerade hier einer Prüfung am Text nicht stand; vielmehr erläutert er wiederum ein klassizistisches Geschmacksideal der modemen Kritik. Denn Brunetto hat den übergang von der historischen Reise zur allegorischen Wanderung sorgsam gestuft und beziehungsvoll darzustellen gewußt, ohne sich selbst dabei über Gebühr in den Mittelpunkt zu rücken. Dem persönlichen Schicksal des einzelnen ist auch hier das überpersönliche Geschick der Allgemeinheit, das heißt seiner Vaterstadt Florenz, übergeordnet. Mit ihrem Lobpreis setzt der Text nach der Widmung ein Iv. II3 sq.), und ihrem Unglück gilt auch wieder der erste Gedanke nach dem Erhalt der Hiobsbotschaft Iv. 166 sq.l. Das Ereignis selbst ist in Phasen gegliedert, deren verschiedene Ausführlichkeit den modemen Leser befremden dürfte: -
Gesandtschaft nach Spanien 14 Verse, 135-1381 Rückweg bis Roncevaux 16 Verse, 139-1441 Begegnung mit einem Scholaren 17 Verse, 14s-lsll dessen Bericht über Montaperti In Verse, 152.-16:1.1 sorgenvolle Gedanken Brunettos 1:1.3 Verse, 163-1851 er verliert darüber den Weg 15 Verse, 186-1901.
Die Art der Stilisierung kann hier am besten nach dem Maß der verschieden ausführlichen Schilderung bestimmt werden. Der Weg nach Spanien und die Gesandtschaft selbst sind am kürzesten abgetan: dieses nicht unwichtige historische Geschehen wird zum Nebenumstand, der an sich selbst nicht interessiert. Vom Rückweg hingegen wird ein Stück Landschaft anschaubar: es ist - nach der Erwähnung Navarras - die Ebene von Roncevaux, die Szenerie des im Rolandslied besungenen Untergangs der fränkischen Nachhut! Die Nennung des Ortes, der die Erinnerung an die Niederlage Charlemagnes bewahrt, kündet bevorstehendes Unheil an. Der Uberbringer der Nachricht ist auf eine Weise beschrieben, die man Brunetto als ungeschickt und überflüssig angekreidet hat'P:
ineontrai uno seolaio su 'n un muletto vaio, ehe venia da Bologna, 65
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e sanza dir menzogna molt'era savio e prode: ma lascio star le lode, ehe sarebbeno assai. 10 10 pur dimandai novelle di Toscana.
Ivv. 145-153) Was soll bier eigentlich das kastanienbraune Maultier des Scholaren, seine Klugheit und Kühnheit oder die Beteuerung, dies alles sei keineswegs gelogen? Diese Häufung uns unangebracht erscheinender Details fällt um so mehr auf, als sie immer noch in dasselbe Satzgefüge gehört, das schon mit der Reise nach Spanien beginnt, alles Folgende überspannt und in der Schilderung des Scholaren gipfeiL Dodl ebendarin liegt eine doppelte Steigerung: die scheinbar -überflüssigen Verseschieben die schon erwartete Unglüdtsnachricht noch etwas hinaus, während sie andererseits den Uberbringer schon mit EigensdJaften aWIBtatten, die seiner Rolle per analogiam angemessen sind. Der Scholar aus Bologna ist weise und kühn, nicht weil es dessen zur Ubermittlung der Nachricht bedürfte oder weil ihn diese Eigenschaften als Person kennzeichnen sollen ler verschwindet ja ohnedies wieder spurlos aus der Handlung), sondern weil seine -Vollkommenheitgerade dadurch, daß sie aus der gewöhnlichen Erwartung herausfällt, auf Rang und Bedeutung dessen vorweist, was er oortesemente mitzuteilen hat4 3• Wie auch am wachsenden Umfang der Abschnitte deutlich wird 14: 6: 7: I I : 2.3), steigert die Darstellung das Ereignis bis zum Hören der Nachricht und gipfelt in den Versen, die ihre Aufnahme durch den Betroffenen schildern. M. Scherillo hat zu Recht hervorgehoben, daß Brunetto gerade bier von jeder Parteilichkeit frei bleibt, seine Feinde nicht einInal erwähnt und mit der Gelassenheit eines Weisen der tiefen Sorge für seine Commune Ausdruck verleiht44. Dabei fällt kein Wort über sein privates Schidtsal. Sein persönliches Leid wird vielmehr in der Gebärde sichtbar, wie er gesenkten Hauptes (pensando a capo dlino, v. 187) die Welt um sich herum vergißt und dabei den -geraden Weg- verlierL So ist der Obergang aus der geschichtlichen Wirklichkeit in die -andere Welt- der Allegorie noch auf natürliche Weise eingeleitet; erst wenn der wieder nach außen gewandte Blick des Wanderers vor sich den geheimnisvollen Berg entdeckt, vermag auch der Leser den übernatürlichen Charakter der Vision zu erkennen. Vom Eingang abgesehen, ist aber ohne Zweifel De Planetu Naturae das eigentliche Vorbild für die allegorische Fabel des Tesoretto gewesen45 •
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Vergleicht man die beiden Texte, so treten zahlreiche Analogien heraus, die im ersten Drittel des Tesoretto am dichtesten sind, aber auch nach dem Abschied von Natura (v. 1183 sq.1 nicht ganz fehlen. In Form und Aufbau entsprechen sich vor allem die Erscheinung und Beschreibung der Nattua. ihre einführende Rede und ihr Dialog mit dem Dichter (Pr. I-Metr. Vi vv. 191-1182.1. Hier wie dort nimmt die erste Schilderung der Natura in Gestalt und eigener Rede einen unverhältnismäßig großen Raum ein (432.A-446 Ci vv. 191-5181. Bei Alanus wie bei Brunetto ist der übergang zum Dialog durch eine auffallende Gebärde motiviert, die als charakteristisches, an der gleichen Stelle erscheinendes Detail eine unmittelbare Endehnung verrät: der Dichter überwindet seinen stupor. kniet vor Natura nieder, die sich ihm zu erkennen gab, und tritt sodann in die Rolle des ehrfürchtig fragenden Vertrauten ein (r farbe, hat noch das besondere, daß sie an etwas I) Ph. A. Decker: Grundriß der altfranzösischen Literatur 1: Alteste Denkmäler - Nationale Heldendichtung, Heidelberg 1907, p. 70: .Der Fierabras be· deutet die Auflösung der epischen Erzählkunst in gn,oollte romantische UnfaB· barkeit; Ortlichkeil, Handlung, alles verschwimmt, und nicht aus Unwissenheit noch Unfähigkeit. im GegenteilI sondern weil der Verfasser mit allem scherzt, auch mit der herzlosen Grausamkeit und mit dem religiösen Ernst." ') Zitiert wird nach Fierabras, publ. par A. KROEBER et G. SERVOIS, Paris 1860 (Les anclens poltes de la France, 4), und Renaut de Beaujeu, Le Bellneonnu, ed. G. Perrie WILLIAMS, Paris 1929 (eiasliquel franrall du Moyen-Age, 38). Zur Literatur siehe BOSSUAT, Manuel bibliographique de la litterature franralle du Moyen-Age, Melun 1961, No. 339--366 und No. 2066--2076. Der Fierabras wird gewöhnlich auf ca. 1170 datiert (cl. Martin de RIQUER, Los cantares de ge"ta Iraneelel, Madrid 1952, p. 241); der Bellneonnu dürfte zwischen 1186 und 1190 entstanden sein (cl. G. MICIIA, nach J. K. BmDER, in Arthurlan Uteralures In 'he Mlddle Agel, ed. R. S. LooMlS, Odord 1959, p. 370).
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bekanntem und bewustem halle, an einem ort oder einem durch die geschichte gesicherten namen 7).
111. Auch der Fierabras hat - wie jede Chanson de Geste einen historischen Sagenkern und haftet an etwas Bekanntem, das die kollektive Erinnerung bewahrte. Denn der Fierabras setzt ein verschollenes Lied, Bafan, fort, dessen Inhalt wir durch Philippe Mousquet kennen, und hat wie dieses den "epischen Nachklang bestimmter historischer Ereignisse, nämlich der Plünderung der Peterskirche durch gelandete Sarazenen und deren Vertreibung durch Guido von Spoleto im Jahr 864" zur Grundlage 8). Dieser historische Sagenkern verwob sich wahrscheinlich mit einer römischen Lokalsage von einer Passionsreliquie - dem Balsam, mit dem Jesus zu Grabe gelegt wurde. Von diesem Balsam wußte die Lokalsage zu berichten, daß er "in die Tiber geworfen wurde. dort alljährlicll zu Johannis aufsteigt und auf dem Spiegel des Flusses schwimmt" 8). In unserer Chanson de Geste spielt dieser Balsam eine entscheidende Rolle: er verhilft Olivier in seinem Zweikampf mit Fierabras zum Sieg, worauf sich dieser durch eine Erleuchtung dem Christentum zuwendet ("er soll der heilige Florant von Roye geworden sein") S). Die weitere Handlung der Chanson ist ohne erkennbare historische Grundlage: Olivier gerät mit den Pairs in Gefangenschaft; Floripas, eine schöne Heidenprinzessin, rettet sie in einen Turm, in dem sie schließlich durch die Streitmacht Karls entsetzt werden. Durch die Verbindung von historischem Ereignis, Legende und phantastischem Geschehen wird der Sagenkern des Fierabras aber keineswegs weniger 'historisch'. Denn 'historisch' hat für das Publikum der Chanson de Geste noch nicht den modernen Sinn des historisch Getreuen oder Beglaubigten, sondern meint nur mehr eine Begebenheit oder Erfahrung, "die geglaubt werden will" I). Die Sage will geglaubt und für ein wahres Geschehnis genommen werden, obschon in ihr das übernatürliche der Legende als ein 'Ganz anderes' in die Diesseitswelt hineintreten kann. Ce n'est mie menchoigne, lIIais fine verites: so beginnt der Fierabras 10), und wie hier haben die Verfasser der Chanson de Geste stets die ~reine Wahrheit' ihrer 7) Vorrede zu Deutsche Sagen (1816), in: Kleinere Schrillen, Bd. 8 (1890).
p. 10. 8) Nach Ph. A. BECKER, op. eit. p. 69 sq.; zur Quellenfrage vergleiche zuletzt G. A. KN017, The Modern Language Review 52 (1957), 504-509. I) Nach der Definition der Sage von F. RANKE: "ein Bericht über ein phan· tastisches Erlebnis, der geglaubt werden will'" vgl. M. LOTHI, Märchen und Sage, in Deutsche VierteljahrsschrIll Jar Llleraturwissenschalt und Geistesgeschichte 26 (1951) p. 159. Die so gedankenreiche wie scharfsinnige Abhandlung Lüthis ist
leider durdl eine überflüssige Polemik gegen A. Jolles belastet, dessen Formbestimmungen des Märchens Lüthi im Grunde nur verfeinert hat, um sie seiner neuen Definition der Sage entgegenzusetzen. Bei dieser hatte L. offensichtlich die späte, vom Kern ursprünglich geschichtlicher Erfahrung schon abgelöste Form der deutschen (Volkssage) im Blick, mit der die mittelalterliche Form der Sage nicht mehr zu fassen ist. Wir sind demgegenüber wieder auf die einfachere und allgemeinere Unterscheidung von Jacob Grimm zurückgegangen, die den ver· schiedenen .poetischen Sageweisen", welche der Chanson de Geste und dem böfischen Koman zugrundeliegen. am meisten gerecht wird. 11) • Was ich bringe ist keine Lüge, sondern reine Wahrheit ...
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Epen beteuert, auch wenn diese für unsere Begriffe Legendäres und Historisches unentwirrbar vermischten. Jean Bodel, ein Zeitgenosse unserer bei den Verfasser, hat dieses Kriterium epischer Wahrheit zu einer Unterscheidung von Chanson de Geste, antikem und höfischem Roman benutzt, die uns als frühestes Zeugnis einer Scheidung dieser Gattungen nach der Vorstellung ihres Publikums von besonderem Wert ist: N'en sont que trois materes a nul horne entendant: De Franee et de Bretaigne et de Romme la grant; Ne de ees trois materes n'i a nule samblant. Li eonte de Bretaigne s'il sont va in et plaisant Et eil de Romme sage et de sens aprendant, Cil de Franee sont voir chaseun jour aparant").
Chanson de Geste und Artusroman haben demnach nicht ein und dieselbe epische Wahrheit. Im Vergleich zu der Wahrheit der Chanson, die für ihr Publikum von der Wahrheit historischer überlieferung nicht geschieden ist, weil sie als Sage in der kollektiven Erinnerung an etwas Bekanntem und Bewußtem haftet, erscheint die Wahrheit des Artusromans als eitel, nichtig und nur unterhaltsam, weil sie wie das Märchen "beinahe nur in sich selber feststeht", ohne un etwas Bekanntem oder Erinnertem der wirklichen Welt zu haften. Hinter den abwertenden Kennzeichnungen, die Jean Bodel für die matiere de Bretagne findet, verbirgt sich eine Ablehnung der nur poetischen Fiktion im Namen der episch-geschichtlichen Wahrheit. Das schließt aber keineswegs aus, daß auch die Verfasser der Artusromane den Anspruch erheben, ihre Erzählungen seien wahr. Doch die Wahrheit ihrer contes kann nicht auf einer Gleichsetzung von «sensus litteralis» und «sensus historieus» beruhen, sondern muß aus dem «sellSUS moralis», aus einer Auslegung der fiktiven Fabel gerechtfertigt werden. Wie aber kam es zu dem Fiktiven und Märchenhaften dieser Fabeln, zu der Entstehung eines rein imaginären Bereichs innerhalb der alten, episch-historischen Sagenwelt? IV. Das Märchenhafte des Bel Inconnu von Renaut de Beaujeu wird sogleich an seiner Fabel deutlich, die für das Publikum nichts 11) "Es gibt nur drei Sagenkreise für den, der sich darauf versteht:
Von Frankreich, von der Bretagne und vom großen Rom; Und diese drei Sagenkreise unterscheiden sich ganz und gar. Die Erzählungen der Bretagne sind nichtig und bloß unterhaltsam, Die von Rom lehrreich und voller Sinn, Die von Frankreich sind wahr, wie jedweden Tag offenkund wird." Jean BodeJs Sachsenlied, Teil I, ed. F. MENZEL und E. STF.NGEL, Marburg 1906 (Ausgaben und Abhandlungen . .. ,99), vv. ~ll; vgl. dazu E. R. CURTIUS, Uber die altfranzösische Epik IV, Romanische Forschungen 62 (1950) p. 307, der über diese Stelle das folgende, mir unverständlidle Urteil fällte: • Wir erwähnten ... die um 1200 üblich werdende Unterscheidung von drei ,Gesten'. Unser Autor ersetzt sie durch eine Einteilung in drei Stoffkreise, die ihrem Wert nach abgestuft werden ... Wenn Jean Bodel die traditionelle epische Systematik durdlbricht, um die bretonischen Stoffe einbeziehen zu können, so haben wir darin das deutliche Symptom für die Vermischung der Gattungen (siel) zu sehen."
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mehr enthält, das sich in seiner gegenwärtigen Welt mit etwas Bekanntem oder Erinnertem verbinden könnte. Eine Demoiselle erscheint mit einem Zwerg am Hofe des Königs Anus und sucht einen Helden, welcher ihre Herrin, die Tochter des Königs von Wales, befreien soll, die zwei Zauberer, Mabon und Evrain, in einen Drachen verwandelt hatten; Guinglain, ein junger und noch namenloser Ritter, nimmt diesen Auftrag an, besteht eine Reihe von Aventüren und erlöst die verzauberte Dame durch einen Kuß, LI.' Fier Bai6er, um sie alsdann. nach einem Zwischenspiel mit einer Fee, zu heiraten. Diese Fabel geht letztlich auf eine irische Tradition zurück (die Quelle ist vor 1024 datiert) 11), entstammt ursprünglich also der allen Artusromanen gemeinsamen keltischen Mythologie und Sagenwelt. Das Märchenhafte der Fabel des Bel Inconnu war demnach nicht von Anbeginn rein 'märchenhaft' im Sinne der Entgegensetzung "on Jean Bodel. Wir haben keinen Grund zu bezweifeln, daß diese Fabel in ihrer ursprünglichen Form als Sage oder Mythe nicht auch geglaubt wurde und - wie der Sagenkern des Fierabras - für das Publikum an etwas Bekanntem oder der "m~moire collective" Bewußtem angeknüpft hat. Doch als sie mit der matiere de Bretagne auf das Festland gebracht, nach der Vermittlung durch hretonische Erzähler von französischen Verfassern aufgenommen und in der neuen Form des Versromans einem Publikum wiedergegeben wurde, das die fremde Mythologie nicht verstand und infolgedessen auch nicht mehr an die episch-historische Wahrheit dieser Fabeln glauben konnte, setzte der Prozeß einer Fiktionalisierung ein - ein Prozeß, in dem aus der nicht mehr verstandenen Wahrheit der Sage die andere, in sich selbst ruhende \Vahrheit des Märchens wurde. Das Märchenhafte des Artusromans wurzelt in einer fremden, nicht mehr geglaubten Mythologie; es erscheint in der Folge einer übernahme fremder Stoffe und Motive durch eine andere gesellschaftliche Zivilisation, als Ergebnis einer Fiktionalisierung, die von der bisherigen keltomanen oder keltophoben Quellenforschung noch kaum berücksichtigt worden ist. Das Ergebnis dieser Fiktionalisierung, durch die sich der Artusroman von vornherein von der gleichzeitig aufblühenden geschichtlichen Epik der Chanson de Geste scharf unterscheidet, läßt sich an verschiedenen Eigenheiten zeigen, die der Artusroman mit dem Märchen gemeinsam hat. Daß sich bei der Entstehung dieser neuen Form des Romans das Stilisationsprinzip des Märchens mit d~m in der matiere de Bretagne nicht vorgegebenen höfischen Liebeskasus verbunden hat, wie andererseits die Entstehung des altfranzösischen Heldenepos nicht ohne die Verbindung "on historischer Sage und Mänyrerlegende zu denken ist, darf hier als relativ gut erforschter Tatbestand wohl für die weiteren Ausführungen vorausgesetzt werden. In diesen sollen in der gebotenen Kürze drei Strukturmerkmale erörtert werden, nach denen sich Chanson de Geste und höfischer Roman als verschiedene Gattungen scheiden lassen: einmal die ver11) Arlhurian Ulerature
In 'he M/ddle Ages, ed. LOOMIS, Odord 1959, p. 371.
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schiedene Funktion des Wunderbaren, zum andem der Gegensatz ,'on Ethik des Handeins und Ethik des Gesmehens und schließlich die verschiedene Einstellung des Sängers und des Erzählers zu seinem Gegenstand.
v. Das Wunderbare ist nach Andre Jolles, dessen Bum Die einlachen Formen (1929) im die Anregung zu dieser Betramtung verdanke, das entsmeidende Stilprinzip des Märchens: "Sobald wir in die Welt des Märmens eintreten, vernichten wir die als unmoralisch empfundene Welt der Wirklidlkeit." Im Märchen, das unausgesetzt mit dem \Vunderbaren arbeitet, "darf keine Begebenheit der Wirklichkeit gleichen". Diese Bestimmung ist aber sogleicll durcll das scheinbare Paradoxon zu ergänzen: "Das Wunderbare ist in dieser Form (des Märmens) nicht wunderbar, sondern selbstverständlich" 11). Dieses Strukturmerkmal ist darum nur scheinbar paradox, weil dem unalltäglim-wunderbaren Geschehen im Märchen nicht mehr eine selbstverständlich vertraute, geschichtliche Wirklidlkeit gegenübersteht, an der gemessen das Märchengeschehen als nicht selbstverständlime, wunderbare Ausnahme erscheinen müßte. So spiegelt sich auch in unserem Roman die für das Publikum des XII. Jahrhunderts vertraute, geschiclltIicll gegenwärtige Welt zwar vor allem noch im Bild des Artushofes, seinem Zeremoniell, seinen Festen und Turnieren; doch dieser Aspekt der vertrauten höfischen Welt wird vom Dimter zu Beginn der Erzählung sogleim in die Erwartung einer geheimnisvoll drohenden Gefahr gestellt. Dieses Unbekannte gefährdet die Harmonie der durm den Artushof repräsentierten gesellsmaftlichen Ordnung und erfordert den Auszug eines einzelnen Ritters, der die neue AventÜfe in einer langen Reihe von unalltäglich-wunderbaren Begebnissen bestehen muß und damit allein die verlorene Harmonie und vertraute Ordnung der Welt wieder herzustellen vermag, die in unserem Text durch das abschließende Turnier versinnbildlicht ist. Das eigentliche Geschehen des Romans vollzieht sich also in der märchenhaften, anderen Welt der Aventüre, auf einem Weg, auf dem nichts gesmieht, was nimt ein Geheimnis birgt und eine Lösung findet, wie sie in der gegenwärtigen Welt des Publikums nicht vorstellbar wäre - in einer anderen Welt, wo selbst die ritterlichen Kämpfe, die das zeitgenössische Publikum in der Chanson de Geste gewiß mit samkennerischen, ja sportlichen Interessen aufnahm, unter Bedingungen stattfinden, die nicht mehr nach dem Normalmaß des auch in der überbietung noch Wahrscheinlichen zu werten sind. Der Schritt aus dem Wahrsrheinlirhen in das MärcllenhaftUnwahrsclleinlime setzt im Bel Inconnu sogleich mit der Ankunft der von einem Zwerg begleiteten Botin ein. Mit dem übergang über die gefährliche Furt (Le Gul Peritleu., v. 323 sq.) erscheint die dargestellte Welt wie verwandelt: von nun an steht alles Geschehen unter dem Stilprinzip der Märchenwelt, in der keine Begebenheit der 11) BlnJache Formen: Legende/Sage!Mythe/ RiJt.el/Spruchl KG6U8/ Memorablle/ Märchen/Wltz, HaUe 19661. p. 203.
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Wirklichkeit gleichen kann. Einzig der Artushof, an den im Verlauf des Geschehens immer wieder die vom Protagonisten besiegten Ritter zurückgesandt werden, wird als fester Punkt der vertrauten und sichen'n Welt dann und wann siclltbar und bringt in solcllem Kontrast die märchenhafte Wahrsclleinlichkeit der Aventüre noch mehr zur Geltung. Die Abfolge der einzelnen Aventüren macht dabei nicht allein eine Steigerung des sich bewährenden Helden sinnfällig, sondern führt auch zu einer fortschreitenden Erhöhung der märchenhaften Wahrsclleinlichkeit des unwirklicllen Geschehens. In dem Maße, in dem der Leser von der imaginären Welt des märchenhaften Geschehens mehr und mehr gefangen wird, so daß er es unmerklicll für selbstverständlich nimmt, kann sicll aucll das Zauberhafte der Aventüre steigern und in den an sicll höchst befremdlicllen Motiven der keltischen 'anderen Welt' (in unserem Fall: dem Feenscllloß der ble d'Or und den gespenstischen Szenen der Gaste Cile) seinen unwirklichen und doch selbstverständlicllen Höhepunkt finden, auf dem sich das vom Publikum erhoffte Märcllenglück des Helden erfüllt. Während nun aber das Stilprinzip des Märcllens im Artusroman derart unausgesetzt mit dem Wunderbaren arbeitet, so daß hier ein nicht fiktionalisiertes Element der wirklicllen Welt als störend empfunden würde, ist es umgekehrt gerade das Märcllenwunder, das in der Welt der Chanson de Geste wie ein Fremdkörper ersclleint, sofern überhaupt, wie im Fierabras, von ihm Gebraucll gemacllt wird. Das Märcllenwunder gehört zu den Zügen, die in die Chanson de Geste erst später und offensiclltlich unter dem Einfluß des höfischen Romans hineingebracllt wurden. Die ältere Chanson de Geste kennt nur das "merveilleux chretien", das Reliquienwundt'r und andere übematürliclle Motive, die ihr aus der hagiograph ischen Tradition 7.ukamen IC), wie z. B. in unserem Text der Engel, der Karl in einem prophetiscllen Traum die Zukunft enthüllt (v. 1236 sq.), die freischwebende Dornenkrone (v. 6063 sq.) oder der goUgesandte Hirsch, der dem verfolgten Boten Ricllard in höcllster Bedrängnis die Furt über einen Fluß zeigt (v. 4370 sq.). Diese Art des Wunderbaren unterscheidet sicll indes vorn Märcllenwunder der Romane von vornherein dadurch, daß es die Wahrscheinlichkeit der epischen Handlung nur zeitweilig durchbricht, um ihren höheren providentiellen Sinn - die letztliche überlegenheit des Christengottes über die falschen Götter der Heiden - sichtbar zu machen. Die epische Handlung im Ganzen wird in der Chanson de Geste durch das "merveilleux chretien", durch die gelegentlichen Eingriffe der Providenz lediglich überhöht, keineswegs aber - wie im Artusroman das Märchenwunder bewirkt - in den imaginären Raum einer anderen Welt versetzt. Das Wunderbare in der Chanson de Geste ist nicht weniger wahrsdleinlich als die ritterlichen Taten seiner episch-geschichtlichen Helden, denn es erscheint für das Publikum ganz so wie das Wunder IC) Hierzu sei auf zwei ältere DantelluDgen verwiesen, R. C. WILLIAMS: The 'mervellleux' in 'he Epic, Paris 1925, und A. J. DICDlANN: Le r6le du Burnaturel dans leB Chansons de geste, Paris 1926.
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der Legenden, das sich in der Dichtung nicht anders ereignet als in seiner religiösen Erfahrung und darum als notwendig und fraglos wahr hingenommen wird. Es ist darum bezeichnend, daß das anders geartete Märchenwunder, das keiner Begebenheit der Wirklichkeit gleichen darf, den Verfasser des Fierabras offensichtlim in Schwierigkeiten bringt, wo er versucht. es in die epische Handlung einzubauen. So etwa im Falle eines Zaubergürtels, den die Heidenprinzessin Floripas besitzt und der zunämst auf wunderbare Weise bewirkt, daß die eingeschlossenen Pairs nicht verhungern. Doch bald gelingt es einem Dieb, in die Gemämer einzudringen und sich Floripas in unziemlimer Weise zu nähern; er wird im letzten Augenblick. von Guy de Bourgogne überrascht, mit dem Schwert in zwei Hälften gespalten und durch ein Fenster ins Meer geworfen. Dabei übersieht man indes zum groBen Leidwesen der Pairs, daß der Dieb zuvor den Zaubergürtel an sich gebramt hatte, der auf diese Weise verlorengeht, so daß die Eingeschlossenen erneut der Gefahr des Verhungems ausgesetzt sind (vv. 3043--3111). Im Märchenroman pflegen solche Gürtel oder ähnliche übernatürliche Gaben zwar gelegentlich versmerzt zu werden, aber nicht auf so zufällige und abrupte Art einfach aus der Handlung zu verschwinden; dort ist solch eine übernatürlime Gabe nur eines unter anderen wunderbaren Elementen des Gesmehens und tut es dem Helden keinen Eintrag, wenn er seine Gefährdung vom Anfang bis zum Ende mit übernatürlicher Hilfe besteht. So wird z. B. im Bel Inconnu dem Helden am Ende von der Fee erklärt, daß sie selbst die Botin an den Artushof sandte, er also immer schon in ihrer Obhut stand (v. 4962 sq.). Im Fierabras hingegen stehen die Dinge unter einem anderen Gesetz. Die eingeschlossenen Pairs wären ihres Rufes nicht würdig, wenn sie ihre Gefährdung nur durch übernatürliche Hilfe und nicht vielmehr durch die heldische Mühsal ihrer Taten bestünden 111). Heldische Größe nimmt dort ihr Maß am geschichtlich Wahrscheinlichen einer exemplarischen, nachahmbaren Handlung, die durch das gelegentliche Hereintreten des übernatürlichen nur providentiell bestätigt wird; sie läßt sich darum nicht mit dem märchenhaft Wunderbaren eines Geschehens vereinen, das in der Aventüre ganz auf den unnachahmlichen Weg eines erwählten und damit bevorzugten Einzelnen zugeordnet ist. Es ist darum nicht zufällig, sondern entspricht dem verschiedenen Prinzip der Stilisation der Chanson de Geste, wenn der Verfasser des Fierabras das Märchenwunder in Gestalt des Zaubergürtels (wie zuvor schon den wunderbaren Balsam, der vor dem 11) Der Verfasser des Fierabras bringt das traditionelle epische Thema der labores seiner Helden gerne in Verbindung mit einem epischen Vorgriff:
Or cevauce tous Ii~s, bielement et sou~; Damediex le conduie, li rois de maIsMI Ains k'i1 aient les contes de prison delivr~, Seront iI moult forment travilli~ et pen~, Ke I'amirans Balans a ses os aün~s; De .xiiii. langages i furent aün~. (v. 5128 sq., cf. v. 5554 sq.)
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Höhepunkt des Zweikampfes aum in ein Gewässer geworfen wird, v. 1029 sq.), smnell wieder beseitigt, damit die epische Handlung ihren gewohnten .Fortgang nehmen kann. Beispiele dieser Art ließen sicll unscllwer vermehren; wir wenden uns statt dessen einem zweiten Strukturunterscllied zu, der im Vorgesagten smon mit sichtbar wurde: dem Gegensatz von Ha nd 1 u n g und Ge s ehe he n. VI. Dieser Gegensatz läßt sim am besten an der versmiedenen Auffassung des Helden erkennen, die sogleich deutlim wird, wenn man versucllsweise eine Gestalt aus der Chanson de Geste in einen höfischen Roman versetzt. Stellt man z. B. Olivier und Guinglain. die Heidenprinzessin Floripas und die Pucele as Blances Mains, oder auch Charles li reis und den König Artus nebeneinander, so wird ein Unterschied spürbar, auf den smon Chrestien de Troyes im Erec, seinem ersten Artusroman, mit einer Reihe von Vergleimen hindeutet, die mit dem bloßen rhetorischen Schema der Oberbietung noch nicht zureichend erklärt sind 11). Dort ist davon die Rede, daß sich die Freigiebigkeit Alexanders, Cäsars et tuU li roi que l'en vo, norne an diz et an chanrons de geste 17), also aum Charlemagnes, nimt mit der des Königs Artus und seiner Hofhaltung messen könne (\.. 6611 sq.), daß die Schönheit Lavinias und Helenas von der Enides und ihrer Base übertroffen würde (v. 5838 sq., 6292; die Damen der Chanson de Geste verdienen keinerlei Erwähnung) und daß Erec in der AvenUire der Jaie de la Cort eine Gefahr zu bestehen habe, welche die gewaltigsten Redten der Chanson de Geste (nu plu., riche conbatear; genannt sind Tiebauz li Esc1avons, Opiniaus, Fernaguz) in Schrecken versetzt hätte (qui poist faire grant peor, v. 572fi sq.). Wenn Chrestien de Troyes derart hervorhebt, daß die Helden und Damen seines Romans die vergleichbaren Gestalten der Chan,on de Geste und der antiken Romane überträfen 18), so setzt diese Unvergleicbbarkeit wohl schon das Wissen eines Dichters voraus, der sich bewußt ist, daß sich seine Gestalten nicht einfach in das Handlungsschema der anderen Gattung übertragen ließen. In einem Artusroman von der Art des Bellneonnu, wo es zugeht wie im Märchen, oder - mit Andre Jolles zu sprechen - "wie es unserem Empfinden nach in der Welt zugehen müßte" 11), fragen 11) Es handelt sich hier um eine besondere Form des Vergleiches (amplllleallo . . ., quae fit per eomparatlonem, lnerementum ex mlnorJbu. petlt; Quin. tilian VIII •• 9), die E. R. CUBTIUS 'Oberbietung' (nach der Formel: eedat nune) genannt hat; cf. Europäl.che Uteratur und lateinlache. Mittelalter, Bem 1948. p. 169. 17) 'und aller Könige, die man euch in Erzählungen und Heldenepen zu nen-
Den pflegt'. 18) Dazu wären noch die Verse aus Yvaln zu stellen: Onques ne fist de Durendart Rolanz des Turs si grant essart An Roncesvaus ne an Espaignel (vv. 323~7) Leider fehlt uns immer noch eine Zusammenstellung aller Zilierungen und Er· wähnungen anderer Werke in Texten der romanischen Literaturen des Millelalters, die für eine künftige Gatlungsgeschichte von unschätzbarem Wert wärel 10) Einfache Formen, a. a. O. p. 200.
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wir uns nidlt wie im Fierabras: 'was tat Olivier oder Fierabras?', sondern: 'was gesdlah mit Guinglain?' Die Ethik in der Chanson de Geste antwortet auf die Frage: 'was· muS ich tun?', die des Märchenromans auf die Frage: 'wie müßte es eigentlich in der Welt zugehen?' So stellt sidl in den beiden Gattungen das moralische Problem auf versdliedene Weise, der Untersdleidung entsprechend, die Jolles zwischen einer Ethik des HandeIns und einer Ethik des Geschehens getroffen hatte 18). Die Frage: 'was muß ich tun?' und die daraus entspringende, entsdleidende episdle Tat wäre Olivier in der Situation des Bellnconnu nidlts nütze; er würde wie alle Vorgänger Erecs oder Guinglains an der Aventüre scheitern, nidlt aus Mangel an ritterlidlem Mut und heldisdler Größe, sondern einfach darum, weil die in der Aventüre waltende 'Sinnerfüllung des Zufalls' nur für den einen, erwählten Ritter eintreffen kann. Denn für den neuen Romanhelden der Table Ronde gilt, daß er auf seinem unvertretbaren Weg paradoxer- oder wunderbarerweise nicht eigentlich handelt, sondern mit märcllenhafter Sicherheit einfach alles besteht, was ihm das Geschehen zuträgt. Die wahrhaft epische Begebenheit schließt nach Hegel, auf dessen Scheidung von Epos und Roman nach den Kategorien von Handlung und Geschehen wir uns hier stützen können, sowohl ein .. bloß zufälliges Geschehen" als auch seine Zuordnung auf eine ..einzelne, willkürliche Tat" aus 11). Demgemäß entspringt in der Chanson de Geste die Begebenheit einer entscheidenden Handlung des Helden und geht nicht einfach, wie im Artusroman, aus dem sinnreicllen Zufall eines bloSen Geschehens hervor, das dem aventüresuchenden Ritter in seiner Isolierung widerfährt und nur ihm widerfahren kann. Desgleicllen wird aber auch die Handlung der Chanson de Geste erst da:durch zur epischen Handlung, daS sie die einzelne Tat IU} "Sagen wir mit Kant, daS die Ethik antwortet auf die Frage: 'was muS ich tun?' und daS unser ethisches Urteil demzufolge eine Wertbestimmung des menschlichen HandeIns umfaßt, so gehört das Märchen nicht hierher. Sagen wir aber, daß es darüber hinaus eine Ethik gibt, die antwortet auf die Frage: 'wie muß es in der Welt zugehen?' und ein ethisches Urteil. das sich nicht auf Handeln, sondern auf Geschehen richtet, so sehen wir, daß dieses Urteil in der Form Märcllen von der Sprache ergriffen wird. Im Gegensatz zur philosophischen Ethik, zur Ethik des HandeIns, nenne ich diese Ethik die Ethik des GeschehellB oder die naive Moral, wobei ich das Wort naiv in demselben Sinne gebrauche wie Schiller, wenn er von naiver Dichtung redet" (op. eil. p. 201). 11) .. Wir haben gleich anfangs gesehen, daS sich in dem wahrhaft epischen Begebnis nicht eine einzelne willkürliche Tat vollbringe und somit ein bloß zufälliges Geschehen erzählt werde, sondern eine in die Totalität ihrer Zeit und nationalen Zustände verzweigte Handlung, welche deshalb nun auch nur inner-
halb einer ausgebreiteten Welt zur Anschauung gelangen kann und die Darstellung dieser gesamten Wirklichkeit fordert" (op. eil. p. 947). Zum Gegensatz von Handlung und Geschehen vgl. ferner p. 979: ftEbensowenig . . . kann ein Individuum als solches den alleinigen Mittelpunkt abgeben, weil von diesem die mannigfaltigsten Ereignisse ausgehn und demselben begegnen können, ohne untereinander irgend als Begebenheiten in Zusammenhang zu stehn." Der im folgenden entwickelte Gegensatz von .bloßem Geschehen" und einer .bestimmten Handlung" ergibt implizit Formbestimmungen von Roman und Epos, die Hegel später (p. 988 sq.) auf den Gegensatz zwischen Homer und den nachfolgenden zyklischl'n Dichter angewendet hat.
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des Helden als eine besondere Begebenheit mit einem allgemeinen nationalen Weltzustand verwebt. Wie im Rolandslied, wo die epische Handlung nicht allein von Roland selbst getragen, sondern auch von Olivier und Turpin bestimmt wird und nach dem Untergang der Pairs auf den Lehnsherr Charlemagne übergeht, ist auch im Fierabras die epische Begebenheit nicht allein auf die Titelfigur zugeordnet. Unsere Chanson, die inhaltlich die Vorgeschichte des Rolandsliedes - Ganelons Gesandtschaft - ausspinnt, hat ihren epischen Anlaß in einem Streit zwischen Karl und Roland. in den Olivier eingreift und damit zunächst zum Vorkämpfer der christlichen Streitmacht wird. Erst dann wird der Titelheld Fierabras als prominenter Gegner Oliviers eingeführt. Nach seiner Besiegung und Bekehrung wird die Handlung von den Pairs getragen, aus deren Kreis immer wieder ein anderer Held in den Mittelpunkt ruckt. Und schließlich ist es Charlemagne, der am Anfang seine Paladine leichtfertig in Gefahr gebracht hatte, und nun am Ende selbst durch einen Zweikampf mit dem ranggleichen Herrscher Balant den Sieg für die Christen auf höchster Ebene herbeiführen muS. Chanson de Geste und höfischer Roman treten also auch an dem verschiedenen Bezugspunkt auseinander, in dem Handlung und Geschehen ihre Einheit finden. Im Fierabras ist die epische Handlung des Einzelnen der übergreifenden christlich-nationalen Gemeinschaft und in eins damit einem überpersönlichen, objektiven Geschehniszusammenhang untergeordnet, durch den die besondere Begebenheit mit dem allgemeinen Weltzustand des Glaubenskriegs verwoben wird. Im Bel Inconnu hingegen bleibt das romanhafte Geschehen in der kontingenten Abfolge aller Begebnisse auf die Einheit der Person des Aventüre-Ritters bezogen, so daß der besondere Weg des Helden gerade durch seine Vereinzelung und 'Reintegration' in die Gesellschaft exemplarisch wird 11). Der hier aufgezeigte Strukturunterschied von Handlung und Geschehen gilt nicht allein für die verschiedene Auffassung des Helden in Chanson de Geste und höfischem Roman, sondern auch für die verschiedene Funktion der Herrschergestalten. Denn Charlemagne und Li rei Artus sind nicht allein durch ihre andersartige Herkunft in episch-geschichtlicher oder in fabulös-mythologischer Tradition und durch das jeweilige Idealbild des Herrschers in einer veränderten geschichtlich-gesellschaftlichen Konstellation verschieden. Während Charlemagne die Mühsal immer neuer Taten im Dienste des Glaubenskrieges zu tragen hat, verkörpert Artus in seinem Kreis der Table Ronde das Idealbild einer statischen Ordnung der höfischen Welt, ohne jemals Dom eigene Taten zu verrichten. So finden wir auf der einen Seite die Herrsc:hergestalt, die das epische Geschick in letzter Instanz handelnd selbst entsmeidet, auf der anderen Seite die Königsfigur, die in tatenloser Idealität verharrt und auf den immer neuen Auszug eines Ritters angewiesen ist, welcher allein die 11) Hierzu kann im weiteren auf die Strukturanalyse der höfischen avenhue "on Erleb KÖHLER: Ideal und WI,lcJldalcelt In de, h611adaen EpIk, Tübin,en 1968, verwiesen werden, an dessen Kap. 111 wir anknüpren.
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Gefährdung durcll das Unbekannte der Aventüre bestt'hen und abwenden kann. Auch dieser Gegensatz weist wiederum auf eine Verschiedenartigkeit von Sage und Märdlen zurück. Denn der König der Sage, gleichviel ob er als gut oder böse ersdleint, kann nur durch sein Handeln exemplarische Geltung erlangen, während im Märchen das Geschehen nie vom alten König, sondern immer nur vom jungen Prinzen getragen ist und sich in seinem Märchenglück erfüllt. Gerade für diesen Strukturunterschied läßt sidl audl eine literarhistorisdle Bestätigung erbringen: in der Tradition vor Chrestien, bei Geoffroy von Monmouth und Wace, ersclleint auch Artus noch durchaus als selbst handelnder Sagenheld, der sidl ein groBes Reim erobert, sdllieBlicll König Frollo von Gallien besiegt und im Begriff, sicll am Ende auch noch Rom zu unterwerfen, durch den Verrat Mordrets von der Höhe seines Ruhms gestürzt wird. Bei Chrestien hingegen ist die epische Vergangenheit des Königs Artus fast spurlos in dem von ihr abgelösten Idealbild seines fraglos vorausgesetzten Ruhms aufgegangen 11), anders gesagt: einer Fiktionalisierung anheim gefallen, die wir in den Romanen Chrestiens sogleich schon in ihrem Ergebnis vor Augen haben, so daS wir nicht wissen, ob der ursprüngliche Sagenheld Artus erst nadl und nacll seinen Sagencharakter verloren hat oder ob seine neue Gestalt als Märchenkönig allein ehrestien zuzuschreiben ist. VII. Zum Abschluß soll nun noch auf ein drittes Strukturmerkmal eingegangen werden, nach dem sich Chan,on de Ge,te und höfischer Roman im XII. Jahrhundert scheiden: die Einstellung des Auto..s, bzw. des epischen Rhapsoden und des Erzählers zu seinem Gegenstand. Im Fierabra, tritt der durch den Jongleur vertretene Autor fast ganz hinter seinen Stoff zurück U), dem schon von J. Grimm und nach ihm von Hegel betonten Stilprinzip des Epos entsprechend, in welchem "sich das Werk für sich fortzusingen scheint und seih11) V,I. J. FIlAPPIEa, Chr'lIen de Troye., Pari. 1957 (ConnaJllance des leure., 50), p. 3ft .q.: .Un hiatus ~norme .~pare la I~.ende arthurienne, teile qu'elle vient d'~tre retraue d'apr~. Geoffroy et Waee, des fietioDS utili.us par UD Chr~tien de Troye•. (. . .) Chez Chr~tien, Arthur n'e.l pu le cODqu~ranl .Iorieux qui humiliait I'orgueil de Rome, pui. deveDait lOudain la victime encore h6rolque de la lrahi.ion et du de.tin. 11 .e change en une figure eomposite o~ s'uoissent les traits d'un .ouverain loyal, ju.te, g~n6reux. et eet Bir de 'aDtaisie ou d'~traDset' qui sied a un roi d~bonnaire et un peu d~eoDeertant de conte merveilleux." I.) Hier darf indes nicht unerwähnt bleiben, daß .ich der Verfasser des FlerabrCJB .ele.entlich Ichon ein ironilches Spiel mit dem hohen Ernst des epischen Tones erlaubt und lich damit all ein Epi.one von seltener parodistilcher Be.abun. erweist. V.1. elwa die Szene, in der lich die 10 schöne wie wackere
Heidenprinzessin eines hinderlichen Wädlters entledigt (Vy. 2089--2(94): Et Floripas le fiert, bien le sot aviaer, Si que les ex Ii filt de la teste voler; Devant lui a sei pi~s le fist mort eraventer, Si que onques nel aeurent Sarradn ni Eselei_ En la eartre parfonde fist le eors avaler; Cil fu losl affoDdr~., car 11 ne .ot noer (I). Oder die SchilderuD, ihrer Taufe nach vollbrachtem Sie. über die Heiden (vv. 6999 60(4):
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ständig, ohne einen Autor an der Spitze zu haben, auftritt" U). Im B~l Inconnu hingegen tritt der Autor als Erzähler nicht allein mit herkömmlimen epischen Formeln der "interiectio ex persona auctoris" wie Wahrheitsbeteuerung, Teilnahme am Gesmick des Helden und Vorblick auf einzelne Phasen des Gesmehens hervor"), sondern gibt darüber hinaus aum immer wieder eine Auslegung der Fabel, die er nun aber smon - darin über Chrestien de Troyes hinausgehend - auf seine persönliche Situation gegenüber einer ungenannten Dame zu beziehen sucht.t7). Im Fierabras hingegen, wie in der Chanson de Gest~ überhaupt, finden sich nur die erstgenannten epischen Formen der Einschaltung des Autors, und zwar in einer Weise, die für das unpersönlime Verhältnis des epischen Dichters zu seinem Werk und dessen fraglos eindeutigen Sinn bezeichnend ist. Denn die Einschaltungen des Jongleurs haben im Fiernbra!c fast ausschließlich die Funktion einer Bekundung der Teilnahme oder eines epischen Vorgriffs, nimt aber die einer Auslegung der Fabel oder eines Kommentars, der auf die Person des Autors oder auf seine subjektive Ansiml von seinem Gegenstand zurückwiese. Sie machen die emotionale Einheit von Jongleur und Publikum ausdrüdd ich , insofern sie die epische Handlung immer neu in die Spannungspole von Furcht und Mitleid rücken - eine Spannung, die in der Chanson d~ Geste aber schon vom Prolog an durch die Gewißheit eines Ausgangs im Sinne einer höheren epischen Gerechtigkeit getragen ist. Im Fi~rabras wird dieses Vertrauen, das der nie angefochtenen, inneren Sicherheit des Helden entspricht, vor fast allen für Olivier und die Pairs gefährlichen Situationen durch Vorblicke erneuert 11). Dieses Vertrauen, in welchem sich der Jongleur mit seinem Publikum eins weiS, grundet letztlich auf dem objektiven Sinn der La pudele despoullent, voiant tout le barni. La ear avoit plus blanee que n'est nours en esti, Petites mameletes, le eors grant et plani; Si cheveil resambloient fin or bien esmeri. A mains de nos barons est Ii talens muis. L'empereres miismes an a .i. ris jeti. Aber auch an solchen Stellen tritt der Autor nicht in persona hervor, sondern ist der Ausdruck der Ironie in die objektiven Darstellungen einbezogen, also dem epischen Stil untergeordnet! U) op. eil. p. 945. 11) d. VV. 29 (Je ne mene mle), S89 (or pe,..' Dlu, de eelul garder!), 804 sq. (Alncol, que 11 1'011 reeeae, Avra, Je eule, per'e eneon'ree); im Unterschied zu Flerabra, beziehen sich die traditionellen Formeln des epischen Vorgriffs im Bel Ineonnu immer nur auf die nichste Episode, niemall aber auf den Ablauf und Ausgang des Gesamtgesdlehens. 17) Zur Interpretation der Fabel in Form von allgemeinen oder sprichwört. lithen Kommentaren, wie sie sich auch bei Chrestien linden, cl. vv. 196 sq.,91f Bq. 1071 sq., 1730 sq., 2168 Bq., 3036 Bq., 32f9; Kommentare, die auf die persönlicbe Erfahrung des Erzihlers bezogen werden, finden sich vv. 1 sq., 1231 sq., 4771 sq., f828 sq., 5377-78, 62f7 sq. 18) cf. vv. 1235 Bq., 1756-1778, 2861 sq., 3238 Bq., 3676 Iq., fOf9 sq., f737 sq., :»128 sq., 5S56 sq. Als ein typiscbes Beispiel für den Wechsel der Spannung zwi· Ichen Furcht und Hoffnung lei bier die Szene der Gefangennahme Oliviers und einer Gruppe der Pairs angeführt. Sie schließt mit Versen, die das Publikum um ihr Leben bangen lassen (v. 1760 sq.):
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episcl1en Begebenheit, der so fraglos gültig und selbstverständlich vom Anfang bis zum Ende durcl1 die Fabel vor Augen gestellt ist, daß ihre Wiedergabe die ungeteilte, nicl1t auf die äußere Spannung eines ungewissen Ausgangs eingeengte emotionale Teilnahme des Publikums freisetzt und keiner besonderen oder gar persönlichen Auslegung mehr bedarf. Dem gleicl1zeitigen Roman hingegen fehlt dieser fraglos eindeutige Sinn einer episcl1en Fabel; hier gehen «sensus litteralis» und «sensus historieus», Poesie und Geschicl1te nicl1t einfacl1 ineinander auf, sondern muß die Wahrheit der fiktiven und darum mehrdeutigen Fabel immer erst durcl1 eine Auslegung nacl1 dem «sensus moralis» gefunden werden, die einen vermittelnden, im Bel Inconnu schon sehr selbständig hervortretenden Erzähler voraussetzt. Diese Deutungsbedürftigkeit der Fabel beruht im höfiscl1en Roman seit Chrestien de Troyes vor allem darauf, daß - wie Reto R. Bezzola zeigte") - alles, was dem Helden auf dem Weg seiner Aventüre widerfährt, in einer impliziten, nie direkt ausgesprochenen Beziehung zu seiner Wesenssuche steht, durch die er sich mehr und mehr seiner Dame und damit am Ende der Aufnahme in die Idealität der Table Ronde würdig zu erweisen hat. Ein Leser, der sich hier - wie das Publikum der Chanson de Geste - allein an den «sensus litteraliS», an die äußere Abfolge der Aventüren hielte, verriete damit nur, daß ihm die für ein wahres Verständnis vorausgesetzte Einstellung, die Initiation in die höfische Liebe mangelt. Denn die Auslegung des Erzählers kann und soll ihm diese Einweihung nicht einfach ersetzen; seine Auslegung wendet sich an den Kreis der schon Eingeweihten und ist gerade im Bel Inconnu schon so persönlich, daß sie auch noch den eingeweihten Leser nötigt, sich selbst seinen Vers auf den verborgenen Sinn der Fabel zu machen. Denn hier fällt zum ersten Male in der für uns sichtbaren Geschichte des Artusromans am Ende des Werks der allgelOeinverbindliche Sinn der Fabel und die persönliche Auslegung des Erzählers nicht mehr zusammen. Nachdem Guinglain am Ende des großen Turniers in den Vorschlag des Artus eingewilligt hat, die von ihm erlöste Dame, La Blonde Esmeree, zu heiraten, beschließt der Erzähler den Roman mit einer ingeniösen Drohung, die er an seine eigene Dame richtet: es liege ganz bei ihr, ob er den Roman weiterführe und Guinglain seine amie, die von ihm Or puist Diex les prisons maintenir et aidier, Car durement se painent paien de l'esploitierl D'une liue ne pueent no Fran gleichfalls autonom setzte und Methoden ahistorischer Interpretation entwickelte, für welche eine vorgängige Ansc:nauung der historischen Gattungsfonnen entbehrlich schien. Mit der Wendung gegen den Ästhetizismus der werkimmanenten Methode, die eine Hochblüte monographischer Forschung zeitigte, aber die Frage nach dem diachronischen und synchronischen Zusammenhang der literarischen Werke unbeantwortet ließ, begann der Prozeß einer neuen, historisch-henneneutischen und strukturalistischen Theoriebildung, in dem wir heute noch stehen. Die Theorie der literarischen Gattungen ist dabei, sich zwischen der Scylla der nominalistischen, nur Klassifikationen aposteriori zulassenden Skepsis und der Charybdis des Rückzugs in zeidose Typologien einen Weg zu suchen, der dort wieder einsetzen kann, wo die Historisierung der Gattungspoetik und des Fonnbegriffs innehielt. 5 Bei einer Rechtfertigung dieses Weges, den auch der mit diesem Band begonnene GRLMA eingeschlagen hat, von der Kritik Croces auszugehen, empfiehlt sich nicht allein aus Gründen einer fachinternen Diskussion. Denn Croce hat die seit dem XVIII. Jh. angewachsene Kritik an der nonnativen Allgemeingültigkeit des Gattungskanons bis zu einem äußersten Punkt vorangetrieben, an dem bereits wieder die Notwendigkeit sichtbar wird, eine historische Systematik der literarischen Gattungen zu begründen. 2. «Jedes wahre Kunstwerk hat eine festgelegte Gattung verletzt und auf diese Weise die Ideen der Kritiker verwirrt, die dadurch gezwungen wurden, die Gattung zu erweitern ... Was hier von Croce als vernichtender Einwand gegen den normativen Gattungsbegriff vorgebracht wurde, setzt unvennerkt schon wieder den Tatbestand voraus, mit dem die historische Realität, die produktionsästhetische Funktion und die henneneutische Leistung der Gattungsbegriffe geradezu beweisbar wird. Denn wie anders ließe sich die für Croce einzig legitime Frage, ob ein Kunstwerk eine vollkommene, eine nur halb oder gar nicht gelungene Expression sei,1 auf eine kontrollierbare Weise beantworten, wenn nicht durch ein ästhetisches Urteil, das im Kunstwerk den einmaligen Ausdruck vom Erwartbaren und Gattungshaften zu sondern weiB? Auch ein Kunstwerk, das - in Croces Begriffen - als Einheit von Intuition und Ausdruck vollkommen wäre, könnte nur um den Preis der Unverständlichkeit absolut, d. h. von allem Erwartbaren isoliert sein. Das literarische Werk ist auch als Kunst des rein individuellen Ausdrucks (in der epoc:hal begrenzten, von Croce zu Unrecht verallgemeinerten Gestalt der Erlebnis- und Genieästhetik) durch , d. h. durm die Beziehung auf ein anderes, verstehendes Bewußtsein bedingt. Es setzt selbst dort,
»'
, Croces Asthetik ist durch SPINCAIN, der zu den Wegbereitern des New Criticism zählt, in die USA vermittelt worden, d. °812, ferner HEaMAND °782. I Zur Grundlegung einer historischen Asthetik cf. P. SZONDJ, Theorie des modemen Dramas. Frankfurt, 1956, Einl., und id., La theorie des genres poetiques chez Fr. Schlegel. Critique, mars 1968, 2~292. • (ioa °766, 40. ., (ioa °766, 40, 75.
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A. Unite des litterahlres romanes
wo es als SpramschöpEung alles Erwanete negiert oder übertrifft, noch Vorinformationen und eine Erwartungsrimtung voraus, an der sim die Originalität und Neuheit bemiBt - jenen Horizont des Erwartbaren, der sich für den leser aus einer Tradition oder Reihe der ihm zuvor bekannten Werke und aus einer spezifischen, vom neuen Werk ausgelösten und durch eine Gattung (oder aum mehrere) vermittelten Einstellung konstituien. Wie es keinen Akt spramlimer Kommunikation gibt, der nicht auf eine allgemeine, sozial oder situationshah bedingte Norm oder Konvention zurückbeziehbar wäre,8 so ist auch kein literarismes Werk vorstellbar, das geradezu in ein informatorisches Vakuum hineingestellt und nicht auf eine spezifische Situation des Verstehens angewiesen wäre. Insofern gehört jedes literarische Werk einer (Gattung) an, womit nicht mehr und nicht weniger behauptet wird, als daß für jedes Werk ein vorkonstituierter Erwanungshorizont vorhanden sein muß (der auch als Zusammenhang von Spielregeln verstanden werden kann), um das Verständnis des Lesers (Publikums) zu orientieren und eine qualifizierende Aufnahme zu ermöglichen. Die immer neuen «Erweiterungen der Gattung» aber, durch die Croce die Geltung definitorismer und regelsetzender Gattungsbegriffe ad absurdum geführt sah, beschreiben andererseits die prozeBhafte Ersmeinung und «legitime Obergänglichkeih literarischer Gattungen,' sobald man bereit ist, den klassischen GattungsbegriJf zu entsubstantialisieren. Das erfordert, den (dann allerdings nur noch metaphorisch so zu nennenden) literarischen (Gattungen) keine andere Allgemeinheit zuzuschreiben als die, die sich im Wandel ihrer historischen Erscheinung manifestiert. Mit der zeitlosen Geltung des Wesensbegriffs der klassischen Gattungspoetik muB keineswegs auch alles gattungshah Allgemeine, das eine Gruppe von Texten als gleichartig oder verwandt ersmeinen läßt, hinfällig werden. Hier sei darauf verwiesen, daß aum die Linguistik eine Allgemeinheit untersmeidet, die zwischen dem Universalen und dem Individuellen eine MittelsteIlung einnimmt. 1o Demzufolge sind die literarischf'n Gattungen nicht als genera (Klassen) im logischen Sinn, sondern als GTIlppen oder historische Familien zu verstehen. tl Sie können als solche nicht abgeleitet oder definiert, sondern nur historisch bestimmt, abgegrenzt und beschrieben werden. Sie sind darin den historischen Spramen analog, für die gleichermaßen gilt, daß sich z. B. das Deutsche oder das Französische nimt definieren, sondern nur synchronisch beschreiben und historisch untersuchen lassen. Man kann die Allgemeinheit literarischer Gattungen, die sich nicht auf eine vorgängig bestimmte und invariante Norm bringen läßt, aum mit Hilfe von Bestimmun-
• STDO'El °814, 56S, zur Grundbedingung jeder Theorie der Rede: dout arte de communicauon linguistique est riductible 1 une norme g~~rique et conventionelle dont la compotants, sur le plan de la langue parl~, sont I'indice lOciai et I'indice de la situation en tant qu'uni~ de componement.a • SDfCU °810, 19. I' Nach Cosnro °764, besonders Abschnitt 11 2; d. S1'DII'El. °814: cLe gente donc, si I'on veut, tient lJa lois du sy.~me et de la parole, statut qui correspond 1 ce que Coseriu a appel~ (norme).a 11 Wu Caoa °766, 78, zur Kennzeichnung von AhnIidtkeiten der Expressionen cFamilienatmosphärea genannt und gegen den Gattungsbegriff ausgespielt hat, erhält damit einen positiven Sinn.
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Tlleorie der Gattungen und Literatur des Mittelalters
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gen erlassen, die Kant für das ästhetische Urteil entwickelt hat. Demnach kann die Modalität eines Geschmacksurteils nicht die notwendige Folge eines objektiven Gesetzes sein, sondern nur exemplarisch genannt werden, weil sie notwendig die Bei-
stimmung aller zu einem Urteil er/ordert, was als Beispiel einer allgemeinen Regel, die man nicht angeben kann, angesehen wird. Diese Vermittlung von Allgemeinem und Besonderem durch das Exemplarische gilt oHensichdich auch für die rezeptive wie produktive Kontinuität einer literarischen Gattung, die als «unbestimmte Norm», _deren oHener Sinn sich im einzelnen Gesdunacksurteil und im einzelnen Kunstwerk erst jeweils erfüllt und bestimmt», zugleich Beispiel und Muster ist. Die so verstandene Kategorie des Exemplarischen hebt das Regel-Fall-Schema auf und ermöglicht es, den GattungsbegriH im Bereich des Ästhetischen prozeßhaft zu bestimmen. Denn «dasjenige, worau"f das Exemplarische verweist, ist unbestimmt, es hat DynamisCharakter, d. h. es wird durch jede neue Konkretion weiterbestimmt.»I1& Die Vorzüge einer solchen Bestimmung, die das Allgemeine der Literaturgattungen nicht mehr normativ (ante rem) oder kIassifikatorisch (post rem), sondern historisch (in re) ansetzt, d. h. in einer «Kontinuität, in der jedes Frühere sich erweitert und ergänzt durch das Spätere»,I! liegen auf der Hand. Sie befreit die Theoriebildung von dem hierarchischen Kosmos einer begrenzten, durch das antike Vorbild sanktionierten Zahl von Gattungen, die sich weder vermischen noch vermehren durften. Als Gruppen oder historische Familien verstanden können nicht allein die kanonisierten Haupt- und Untergattungen, sondern auch andere Reihen von Werken, die durch eine kontinuitätsbildende Struktur verbunden sind und historisch zutage treten, eine Gruppe bilden und gattungsgeschichdich beschrieben werden"· Gattungsbildende Kontinuität kann in der Reihung aller Texte einer Gattung wie der Tierfabel oder in den opposition'ellen Reihen von Chanson de geste und höfischem Roman, in der Folge der Werke eines Autors wie der Rutebeufs oder in den querdurchlaufenden Erscheinungen eines Epochenstils wie der allegorischen Manier des XIII. Jhs, aber auch in der Geschichte einer Versart wie der des gepaarten AchtsUbers, in der Entfaltung eines Einzelphänomene übergreifenden (literarischen Tons>l.a wie dem der epischen Hyperbolik oder in einer thematischen Struktur wie der Sagengestalt des mittelalterlichen Alexanders liegen. Ein' Werk kann aber auch unter verschiedenen gattungshaften Aspekten erfaßt werden, wie z. B. der Rosenroman von Jean de Meun, lIaKant, Kritik der ästhetischen Urteilskrah, § 18; ich folge hier der Interpretation von G. BuCK, Kants Lehre vom Exempel, Archiv für BegriRsgeschichte 11 (1967) 182, aem ich
diesen Lösungsvorschlag des GattUngsproblems verdanke. 11
11
Mit dieser Formulierung umschrieb J. G. DaOYSEN in seiner Historik (ed. R. HUBNER, München, 1967,9 sq.) die aristotelische Bestimmung der Art des Menschen (iTti&oatt; Eit; (I~6) im Unterschied zum nur Gattungshaften von Tier oder P8anze (De anima 11, 4.5). Droysens Formulierung, die seine Vorstellung von der Kontinuität der fortschreitenden geschichtlichm Arbeit begründet. ist gegen den organologischen Entwidtlungsbegriff gerichtet und eignet sich darum auch für den vergeschichtUchten Begriff der literarischen Gattung.
Cf. STEMPn 0814.
"aAusgehend von der hier entwickelten Gattungstheorie hat H. U. GUMBItECHT 0565, auf der Grundlage einer Statistik hyperbolischer Ausdrücke in Texten des XII. und XIII. Ihs, die WahrscbeinUchkeitsgrenzen und die .literarischen Töne, verschiedener Gattungen unter-
eudat.
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A. Unite des litterafures romanes
in dem sich - zusammengehalten durch den traditionellen Rahmen der Minneallegorie - Satire und Travestie, Allegorie und Mystik im Gefolge der Schule von Chartres, der philosophische Traktat und komödienhahe Szenen (Rolle des Amis und der Vi elle) kreuzen. Eine solche Aufgliederung enthebt den Kritiker aber nicht, die Frage nach der gattungshaften Dominante im Bezugssystem des Textes zu stellen (in unserem Beispiel ist es die Laienenzyklopädie, deren Darstellungsfonnen Jean de Meun genialisch kühn zu erweitern verstand). Mit der Einführung des Begriffs der systemprägenden Dominante 14 kann die sogenannte Gattungsmischung, die in der klassischen Theorie das bloß negative Seitenstück zu den war, zu einer methodisch produktiven Kategorie gemacht werden. Es ist dann weiter zu unterscheiden zwischen einer gattungshahen Struktur in selbständiger oder konstitutiver und unselbständiger oder begleitender Funktion. So erscheint z. B. das Satirische im romanischen Mittelalter zunächst und lange Zeit nur in unselbständiger Funktion: in Verbindung mit der Predigt, dem moralischen Lehr- und Strafgedicht (z. B. La Bäble Guiot) und der Standesliteratur (Etats du monde, Fürstenspiegei), mit dem Tierepos, dem Versschwank und der poesia giocosa, oder auch mit dem Streitgedicht, der polemischen Lyrik und all der Formen, die A. Adler dem historicum zugeordnet hat (vid. VI D und E). Wo es dann konstitutive Funktion gewinnt, wie z. B. in den satirischen Werken Peire Cardenals, Rutebeufs oder Cecco Angiolieris, entstehen selbständige Gattungen der Satire, die aber im Unterschied zur antik-horazischen Tradition, an welche erst die Literatur der Renaissance wieder anknüpfen wird, nicht in der Kontinuität einer übergreifenden Gattung aufgehen. Es gibt aber auch Fälle, in denen eine gattungshafte Struktur immer nur in begleitender Funktion erscheint, wie z. B. der sogenannte gap oder wie das Groteske, das im romanischen Mittelalter nie die Gestalt einer selbständigen literarischen Gattung erlangt hat. 1I Eine literarische Gattung im nicht-logischen, gruppenspezifischen Sinn ist demnach in Abhebung von dem weiteren Umkreis der unselbständigen Funktionen dadurch bestimmbar, daß sie Texte selbständig zu konstituieren vermag, wobei diese Konstitution sowohl synchronisch in einer Struktur nicht ersetzbarer Elemente als auch diachronisch in einer kontinuitätsbildenden Potenz faßbar sein muß. 3. Fragen wir zunächst nach der Bestimmbarkeit von literarischen Gattungen in synchronischer Sicht, so ist davon auszugehen, daß die Abgrenzung und Differenzierung nicht nach einseitig formalen oder thematischen Merkmalen vorgenommen werden kann. Es ist eine schon alte, zuerst von Shaftesbury formuliene Erkenntnis, daß die prosodische Form nicht für sich allein die Gattung ausmacht, vielmehr eine (innere Form> der äußeren Gestalt entsprechen muß, aus der erst das besondere (Maß>, die eigentümliche (Proportion> einer selbständigen Gattung sich erklären läßt. 1I Diese wiederum ist nicht in einem einzigen Kriterium zu fassen. Was eine
°822; d. ed. STltIEDTU, p. Ixii. Zum gap d. FECIINEJl °858, zum Grotesken cf. Die nicht mehr schönen Künste, ed. H. R. }AUSS, München, 1968 (Poetik und Hermeneutik, III), ,. v. das Groteske. 11 In der Schrift The /Ildgement 0/ Hercules, d. ViiToa °826, 296-300. "
TYNJANOV
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Theorie der Gattungen und Literatur des Mittelalters
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literarische Gattung in ihrer eigentümlichen Struktur oder konstituiert, zeigt sich zunächst in einem Ensemble von formalen wie inhaltlichen Merkmalen an; diese müssen erst auf ihre Funktion im Regelzusammenhang untersucht werden, bevor ihre system prägende Dominante erkannt und damit die Abgrenzung zu anderen Gattungen vorgenommen werden kann. Ein Mittel zur Feststellung konstitutiver Gattungsunterschiede ist die Kommutationsprobe. So kann etwa die verschiedene Struktur von Märchen und Novelle nicht allein in den Oppositionen von Ir~alität und Alltäglichkeit, von naiver Moral und moralischer Kasuistik, von selbstverständlichem Märchenwunder und , sondern auch in der verschiedenen Bedeutung gleicher Figuren faßbar werden: «man stelle eine Prinzessin im Märchen neben eine Prinzessin in der Novelle und man spürt den Unterschied».11 - Als ein weiteres Beispiel sei die Unvertauschbarkeit der Personen zwischen Chanson de geste und höfischem Roman angeführt. Helden wie Roland oder Yvain, Damen wie Alda oder Enide, Herrscher wie Charlemagne oder Artus wurden trotz der allmählichen Angleichung des Heldenepos an den Ritterroman in französischer Tradition nicht aus der einen in die andere Gattung gebracht; es bedurfte erst einer Rezeption durch eine andere, die italienische Tradition, um mit einer Verschmelzung der beiden französischen Gattungen zu einer neuen, dem sogenannten romantischen Epos, die ursprünglich geschiedenen Personenkreise in ein gleiches Handlungsgefüge zu versetzen. Die ursprüngliche Sd,eidung wird bei 'Chretien de Troyes mehrfach greifbar, sobald man hinter dem rhetorischen Schema der Oberbietung Signale der Unvertauschbarkeit erkennt. 18 - Ein anderes auffälliges Indiz von Strukturunterschieden ist die regelwidrige Anwendung von Verfahren in Fällen, wo sich der Autor selbst wieder korrigiert. So benutzt etwa der Verfasser des Fierabras zwei Motive des für den Artusroman konstitutiven Märchenwunders (Zaubergürtel, Wunderbalsam), die eine Spielregel seiner Gattung, der Chanson de geste: die auch in der heldischen Hyperbolik noch zu wahrende Wahrscheinlichkeitsgrenze einer exemplarischen Handlung verletzen würden und darum jedesmal bald wieder fallen gelassen werden, d. h. als folgenlose Motive einfach aus der Handlung verschwinden." Die synchronische Bestimmung literarischer Gattungen kann heute der Frage nach ihren nicht mehr ausweichen. Gibt es in der Vielfalt der Kunst- und Gebrauchsgattungen einer Literatur nicht eine begrenzte Zahl von wiederkehrenden Funktionen und damit etwas wie ein System literarischer Kommunikation, innerhalb dessen Gattungen als partielle Systeme oder Abwandlungen eines Grundmusters beschreibbar sind? Die typologische Poetik hat uns in dieser Frage mit ihrem Rückgriff auf anthropologische Kategorien (wie Zeit- oder Raumerfahrung) weniger weit gebracht als die Tradition der aristotelischen Poetik. Deren Normen und Regelzusammenhänge bewahren offensichtlich soviel an empirischer Anschauung, daß sie heuristischen Wert behalten, wenn man daran geht, auf induktivem Wege vom epochalen Grundmuster einzelner Gattungen zur Hypothese eines literarischen Kommunika-
°786, 196. Cf. °848, 70sqq. Ib., 69-70.
17 JOUES 18 11
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tionssystems zu gelangen. Als ein erster Schritt zu diesem Ziel soll im folgenden versucht werden, am Beispiel des mittelalterlichen Epos (Chanson de geste), Romans (roman arthurien) und der Novelle (Decameron) ein partielles System von Gattungsfunktionen aufzustellen. Das Grundmuster, das den mittelalterlichen Gattungen von Epos (= E), Roman (= R) und Novelle (= N) gemeinsam ist, läßt sich in vier Modalitäten beschreiben, die sich in feinere Bestimmungen differenzieren lassen und von den drei Gattungen auf verschiedene Weise besetzt werden:"·
1.
Autor und Text (Narration)
1.1 Rhapsode vs. Erzähler vs. abwesender Erzähler E: Sprechender Dichter üongleur) und hörendes Publikum; Autor hinter Stoff zurücktretend, so daß sich das Geschehen selbst zu erzählen scheint. R: Schreibender Dichter und ungesehenes Publikum; Autor als vermittelnder Erzähler hinter Stoff hervortretend. N: Schreibender Dichter und ungesehenes Publikum; der vermittelnde Erzähler verbirgt sich zumeist im Erzählten. 1.2 epische Objektivität v:.. auszulegende Fabel vs. zu diskutierendes Ereignis E: Epische Formeln wie Wahrheitsbeteuerung, Teilnahme am Geschick des Helden, epischer Vorgriff stellen emotionale Einheit von Jongleur und Publikum her. R: Einschaltungen des Erzählers (signes du narrateur) dienen der Auslegung der Fabel (matiere et sens treten auseinander). N: Kommentare des Erzählers lassen den Sinn des Ereignisses oft ungedeutet; dieser bleibt der Diskussion des Publikums überlassen. 1.3 epische Distanz vs. Aktualität; Wie-Spannung vs. Ob-überhaupt-Spannung E: Aus der epischen Distanz erscheint das Geschehen als ein vollkommen vergangenes; der epische Vorgriff ermöglicht das Pathos der Wie-Spannung. R: Zwar wird aus epischer Distanz im <passe du savoin erzählt; doch zieht eine Ob-Spannung in die Fabel ein, ausgewogen durch die sichere Erwartung des guten Ausgangs. N: Erzählt auch das räumlich und zeitlich Feme, als ob es gegenwärtig wäre; Obüberhaupt-Spannung, ohne erwartbaren guten Ausgang. ".Nachweise des synchronischen Systems sind den Paragraphen der Untergliederung zugeordnet: 1.1: cf. N. FaYE, Analyse der Literaturkritik (dt. Ausgabe von: Anatomy of Criticism, 1957), Stuttgart, 1964, 249 sqq., der unterscheidet: sprechender Dichter und Zuhörerschaft (Epos), schreibender Dichter und ungesehenes Publikum (Roman). Sich-Verbergen des Autors vor seinem Publikum (Drama), Sich-Verbergen des Publikums vor dem Autor (Lyrik); 1.2: zu den csignes du narrateuu d. R. BARmES, Introduction a I'analyse structurale c!es rkits, Communications 8 (1966) 19; 1.3: die Opposition von Wie-Spannung und Ob-überhaupt-Spannung entwickelt C. Lu-
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2.
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Modus dicmdi (Formen der Darstellung)
2.1 sduiftlos (litt~rature orale) vs. sdtriftlidt (Budt) E: Mündlidter (improvisierender?) Vonrag für ein nidttlesendes Publikum. R: Schriftlidt abgefaßter, zum Lesen (oder Vorlesen) bestimmter Text, der aUdt sdtrihlidter überlieferung (romanz: in die Volksspradte umgeschrieben) entspringt. N: Während der romanz sdtriftlidter (ursprünglidt lateinisdter) Tradition entspringt, kommt die sdtriftlidt fixierte ncroella aus mündlidter Tradition und geht wieder in sie ein. 2.2 Vers vs. Prosa E: Assonierende Laisse, deren <style formulaire> audt Improvisation erlaubt. R: Stidtische Erzählform (gepaarte Adttsilber). N: Umgangsspradtlidte, durdt Boccaccio zur Kunstform erhobene Prosa. 2.3 Stillagen: sermo sublimis vs. medius vs. humilis E: Hoher Stil, in der durm die Bibel vorgegebenen parataktisdten Fügung. R: Mittlerer Stil, behaglidt erzählend, durm Filter der höAsdten Spradte restriktiv gegenüber alltäglidter Wirklidtkeit. N: Konversationston, mit neuer Lizenz, audt Dinge der niedrigen Wirklidtkeit in schidclidter Form (Boccaccio: con onesti vocaboli) zu sagen. 2.4 Abgesdtlossenheit vs. Fortsetzbarkeit; Länge vs. KÜJZe E: Epische Breite, weder erster Anfang nodt deAnites Ende (genealogisdte Zyklenbildung) . R: Auszug, singulare Aventürenfolge und Erhöhung (Tafelrunde) geben der Geschichte des Romanhelden eine Gesdtlossenheit, die auf kein Vorher oder Nadther mehr verweist. N: Der Kürze entspricht zeitliche Gespanntheit (von beliebigem Anfang ohne Mitte auf lösendes Ende zulaufend); der NovellenschluB als impliziert weitere Novellen.
3. Aufbau und Ebenen der Bedeutung (Einheiten des Dargestellten) 3.1 Handlung (argumentum) : epische Begebenheit vs. romanhaftes Geschehen vs. unerhörtes Ereignis COWSKI, Die Fonn der Individualität im Roman. Berlin, 1932, 41 sqq.; zur epismen Distanz und der Opposition von cpass~ du savoir. vs. cpass~ du r~cit. (futur dans le passe) d. H. R. }AUSS, Zeit und Erinnerung im M. Prousts cA la remerme du temps perdu •. Heidelberg, 11970, 18 sqq.; 2.1: zur Etymologie von romanz und nOt1ela siehe K. V05SlEJl °828,305 sq.; 2.3: nach AuerbacJa, cap. v/vi; Boccaccio, Decameron, Conclusione, 3: (auf den Vorwurf, er habe troppa licenzia usata und den Damen cose non assai cont1enienti gesagt) lA qual cosa io nego, per da me niuna si disonesta n'e, ehe, con onesti t1ocaboli dicmdola, si disdica ad alcuno; 3.1: Zur Opposition von Handlung und Gesmehen, die auf Hegels Ästhetik zUlÜdcgeht,
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E: die epische Handlung. die aus oft geringem Anlaß unaufhaltsam zur Katastrophe anwächst, hat ihre Einheit in einer objektiven, den Weltzustand umgreifenden Begebenheit; ihr Held ist Repräsentant des Schicksals seiner Gemeinschaft. R: Das romanhafte Geschehen, der Aventüre als Struktur der Sinnerfüllung im Zufall entspringend, hat seine Einheit in der singularen Person des beispielhaften Helden. N: Der Vorgang der Novelle ist weder Teil einer höheren Ordnung noch eines singularen Lebensweges, sondern «eine sich ereignete unerhörte Begebenheit» (Goerbe), die einen mOr:llischen Kasus aufwirft. 3.2 Personen, sozialer Status: hoch vs. mittel vs. niedrig E: Exklusiv aristokratisch (hochfeudal) ; die Spitze der heldischen Hierarchie nimmt der oft mythisierte König «Halbgott) ein, dann folgt der Kreis der Besten (zwölf Pairs), umgeben von meist namenlosen Normalrittern; die heidnische Gegenmacht spiegelt dieselbe Hierarchie. R: Exklusiv aristokratisch, der ausgeschlossene niedrige Stand erscheint in der Kontrastfigur des häßlichen (vilain); Opposition zwischen dem tatenlos idealen König (Artus) und dem allein ausziehenden Ritter, dessen Aventüre in Beziehung zur Erringung seiner Dame steht. N: Die Personen der Novelle, alle bürgerlichen Rollen umgreifend und Vertreter anderer Stände nicht ausschließend, setzen sich von dem heroischen Kanon des Schönen und Edlen ab. 3.3 Dargestellte Wirklichkeit: symbolisch vs. exemplarisch vs. deskriptiv E: Nur wenige Symbole für die äußere Welt (pin, oli'Oier) umrahmen die Schilderung heroischer Taten; diese werden durch symbolische Gebärden differenziert und durch typologische Beziehungen überhöht. R: Die exemplarisch stilisierte höfische Welt bildet den Rahmen, in dem die ausgeschlossene unideale Wirklichkeit in Elemente einer zauberischen Gegensphäre transformiert und durch das Märchenglüdt der > marakterisiert. 2I Die Erfindung der Fatrasie als Gedimt fester Form ist möglicherweise Philippe de Remi zuzusmreiben. Wenn diese Hypothese von W. Kellermann zutrifft, zeigen die aus der gleichen Epoche stammenden Fatrasies d'Arras bereits die erste Variation und stoffliche Erweiterung an: die zeitlose Motivik Philippes wird mit satirischen Nebenabsimten (Degradierung des Sakralen und des Heroischen) und mit der Komik des Skabrösen durchmischt. Diese Tendenz wird in einer weiteren, von Raimmondin und Watriquet de Couvin geschaffenen Variation so weit getrieben, daß sim von der Fatrasie als reinen Form der Unsinnspoesie eine neue, parodistisme Gattung: der Fatras abspaltet. Hier ist dem fatrasischen Elfsilber ein spruchartiger Refrain meist amourösen Inhalts vorangestellt, der den Rahmen des Gedichtes abgibt, das seine möglime Aussage sodann in Form einer unmöglichen Rede parodiert. Damit wird der von der Fatrasie wegentwickelte fatras impossible zum eparodistismen Zwittergebilde einer Glosse», dem später Baudet Herenc mit dem fatras possible ein ernstes Seitenstück mit meist geistlicher Thematik gegenübergestellt hat, 17 das in dem skizzierten Prozeß wohl schon als eine Korrektur der Unsinnspoesie anzusehen ist. Zu dieser gehört die gleichzeitig mit der Fatrasie auftretende, nur in drei Beispielen überlieferte Gattung der ReSt1erie, die erst unlängst von W. Kellermann in ihrer eigenständigen Struktur erkannt und beschrieben wurde. 18 Die Resverie zeigt den Fall, wie die gleime Intention - das Sprachspiel der Herstellung unsinniger Aussagen - durch Erfindung einer neuen Spielregel zu einer anderen Gattung umgebildet werden kann. Denn hier ist eine dialogische Situation vorauszusetzen, in der auf einen vom Dimter vorgespromenen Siebensilber mit einem Viersilber geantwortet werden muß, wobei dieser zwei Bedingungen zu genügen hat: «Er muß mit dem Vorvers eine Sinneinheit bilden und dem Dimter ein neues Reimwort zuspielen für eine inhaltlich von der vorausgehenden völlig versmiedene neue Zeile».11I Aum in dieser Gattung stoßen wir auf Philippe de Remi, der ihre Form durch Reimakrobatik erschwerte; sie scheint mit dem sog. Dit des traT1erces (1303) erloschen zu sein. Sie kehrt aber anderthalb Jahrhunderte später wieder, in der Sottie des menus propos (1461), die das Sprachspiel der ReSt1eries auf die Figur des Narren zugeschnitten und mit der Vorstellung der närrischen Welt verbunden wieder aktualisiert hat. aG Das Sprunghafte dieses Prozesses, in den auch noch die spätere Form des Coq-a-l' gne einzubeziehen wäre, die ständigen erschwerenden oder vereinfachenden Variationen, die Differenzierung durch neue Spielregeln, die Umsetzung der Struktur in die Darbietungsform
11
0880, 14. Die Charakteristik des fatras als (Glosse> stammt von P. LE GENTll., cf. KELLERMANN 0880,4. KELLEJlMANN 0882.
11
Ib., 1335-36.
11 KELLERMANN t7
.. Garn 0866, 37 sqq.
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einer anderen (hier der dramatischen) Gattung - all dies charakterisiert das geschichtliche Leben literarischer Gattungen und widerlegt zugleich das organologische Schema, da in dieser nicht teleologischen Kontinuität zweifellos nicht edas Resultat am Ende ... zum Zweck des Anfangs gemacht» werden kann. 31
s. Das Beispiel der Unsinnspoesie zeigte indes erst den
literaturimmanenten Prozeß einer Gattung, nicht aber die - hier schwer feststellbaren - geschichtlichen oder lebens· weltlichen Situationen, die diesen Prozeß in der Interaktion von Autor und Gesellschaft, Publikumserwartung und literarischem Ereignis bedingt haben könnten. Nach solchen Verflechtungen zu fragen ist unerläßlich, wenn mit der Historisierung der Gattungspoetik und der Verzeitlichung des Formbegriffs Ernst gemacht werden soll. Das methodische Postulat, daß die Neuprägung oder das Ende literarischer Formen, ja letztlich jede gattungsgeschichtliche Wendung eine Entsprechung in der gesellschaftsgeschichtlichen Situation oder zumindest einen aus ihr kommenden Anstoß haben müsse, wird von der marxistischen Theorie wie von der Literatursoziologie längst nicht mehr mit der Naivität der klassischen Widerspiegelungstheorie aufrechterhalten. 32 Auch diese Methoden anerkennen heute, daß die Gattungen «gewissermaßen einen Apriorismus der literarischen Wirklichkeit darstellen». as Sie suchen die Interdependenz von Unterbau der Gesellschaft und überbau der Literatur vor allem dort, wo Veränderung der ökonomischen und politisch-gesellschaftlichen Grundverhältnisse eden Charakter eines geschichtlichen Umbruchs tragen», sich in Strukturelemente der Kunst verwandeln und dann die «traditionell verfestigten Formen, Stile und WertbegriHe der literatur (durchbrechen)>>. 34 Sie sehen andererseits, wie literarische Gattungen nach dem Moment ihrer gesellschaftlichen Prägung cein Eigenleben und eine Autonomie erlangen, die über ihre geschichtliche Schicksalsstunde hinausgreift».85 Sie sprechen von einem «oft anachronistischen überleben» und vom historischen Ende der literarischen Gattungen, 811 neuerdings sogar - unter dem Einfluß der Brecht'schen Ästhetik - von der Möglichkeit, schon vergangene Gattungen und Kunstmittel unabhängig von ihrer ursprünglichen gesellschaftlichen Bestimmtheit und einer neuen ästhetischen und sozialen Funktion dienstbar zu machE'n. 87
DROYSEN, Historik (cf. n. 12), 209. sr Dazu W. KRAUSS, Studien zur deutschen und französischen Aufklärung. Berlin, 1963, 73-74: "Der Versum, den gesamten Verlauf einer literarischen Epoche durch den fortwährenden EinfluU der ökonomischen Grundverhältnisse zu erklären, würde nimt nur den Sinn der Literaturgesmimte in Frage stellen, sondern überhaupt die Existenz der Literatur als eines innerlich zusammenhängenden Schöpfungsbereiches zunichte machen. Die literatur wäre nur nom eine unorganische Folge von bloUen Reflexen. Die vulgärmaterialistische Auflösung der literatur in Soziologie muU ebenso wie die idealistische Souveränitätserklärung der geistigen Schöpfung das wirkliche Wesen der literarischen Phänomene verfehlen.» aa Kuuss °792, 13. u KÖHlU °790, 86. 11 KIlAuss °792, 9 . .. Kuuss °792, 8-9 . • 7 W. MrITENzWD, Die Brecht-lukacs-Debaue, Das Argument, März 1968, 12-43; ferner K. KosaK, Die Dialektik des Konkreten. Frankfurt, 1967; cf. SntJEDTU °816, p. lXXVIII. 11
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Aus dieser Forsdtungsriduung sei hier die letzte Arbeit von E. Köhler zur Gattungsgesmimte der Pastourelle als Beispiel gebramt. 18 Der Ausgangspunkt ist eine einschneidende Richtungsänderung der Gattung. Der Trobador Gavaudan setzt sich in seinen beiden Pastourellen bewußt (seine Hirtin stellt die Summe der Erfahrungen aller ihrer Vorgängerinnen vor) über die konstitutive Gattungsregel: den unaufhebbaren Wesensunterschied zwismen cnobilitas) und crusticitas) hinweg. In dieser Begegnung von Ritter und Hirtin wird hohe und niedere Minne vermittelt und versöhnt, wobei Gauvaudan auf versmüttete Elemente der Bukolik, auf die Vorstellung eines irdismen Paradieses vor dem Sündenfall zurückgreift. Sieht man in der Pastourelle mit E. Köhler mehr als ein Spiel mit Iiterarismen Rollen, so verbergen sim in der utopismen Lösung Gavaudans ungelöste Widersprüme der gesellschaftlimen Wirklichkeit. Gavaudans Lehrer Marcabru hatte die SeibstverständJimkeit in Frage gezogen, mit der sim die aufsteigende Klasse des niederen Rittertums im Medium der Pastourelle von ihrem Ursprung distanzierte. Gavaudan versumte, die Kluft zwisdten Rittertum und Volk durm das neue Thema der Freundsmaft (amistat) zwischen Ritter und Hirtin zu überbrücken. Der Preis war eine Erhöhung des Illusionären, so daß Gavaudans Utopie der Versöhnung smon den Grenzfall der Pastourelle darstellt, der die Selbstaufhebung der Gattung vorwegnahm. 6. Ein zweites Beispiel der Iiteratursoziologismen Forschung kann die jetzt noch zu behandelnde Kategorie von Strukturänderungen einleiten, die zur Abspaltung einer neuen Gattung führen. Die Existenz der Sirventes-Kanzone, einer durm neunundvierzig Stücke und ihre von Folquet de Romans geprägte Bezeimnung historisch gesimerte Gattung, war Wolge ihres cMismmarakters) eines der ältesten Ärgernisse der Provenzalistik. Denn die chanso-siroentes verknüpft das Thema der Liebe mit dem der Politik. Sie stellt mit dieser Doppelthematik indes - wie E. Köhler zeigte - die ursprünglime Einheit von Frauenlob und Herrendienst wieder her, die in der Gattung vers der ältesten Trobadordichtung thematisch noch ungesmieden waren, dann aber in dir damit neu entstehenden Gattungen der chan so und des siroentes auseinandertraten. Das historisme System dieser Lyrik zeigt somit erst den Fall, wie durch eine Strukturänderung (Trennung von Minne- und moralsatirismer Thematik) zwei neue, creinere) Gattungen entstanden, und dann den zweiten Fall, wie aus dem Bedürfnis, die in den vereinseitigtcn Strukturen der beiden Gattungen verlorene Einheit wieder bewußt zu machen, das antithetisme Strukturgesetz einer selbständigen Gattung entsprang... Die Form einer neuen Gattung kann auch aus Strukturvcränderungen hervorgehen, die bewirken, daß eine Gruppe schon vorhandener, einfacher Gattungen in ein höheres Organisationsprinzip einrückt. Der klassische Fall dafür ist die von Boccaccio geprägte Form der toskanischen novella, die für die ganze spätere Entwicklung der modemen Gattung Novelle normgebend wurde. In Boccaccios Decameron ist • KöH1.EJt °888,67-82 . .. KöH1.EJt °890,172: cWährend die Kanzone im joi d'amor von liebesglück und Uebesleid jubelnd oder aum klagend das Ideal der individuellen Erfüllung preist, das Sirventes hingegen alles brandmarkt, was sim diesem Ideal widersetzt, es ist da. Strukturgesetz der Sirventes-Kanzone, jenes Ideal zu behaupten durch die Darstellung von möglimen Erfüllungen und tatsiimlimen Hindernissen.•
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- genetisch betrachtet - eine erstaunliche Mannigfaltigkeit älterer erzählender oder belehrender Gattungen eingegangen: mittelalterlichen Formen wie Exemplum, Fabliau. legende, Mirakel, Lai, Vida, Nova, Liebeskasuistik, orientalische Erzählliteratur, Apuleius und die milesische Liebesgeschichte, Florentiner Lokalgeschichten und Anekdoten. Boccaccio hat - wie H.-J. Neuschäfer zeigte·' - die vorgefundene thematische und formale Vielfalt in die unverwechselbare Struktur einer neuen Gattung umgesetzt, durch eine feststellbare Transformation, deren Regeln sich formal als Verzeitlichung der Handlungsschemata,. inhaltlich als Problematisierung der moralischen Normen bestimmen lassen. Der Schritt von den älteren erzählenden und lehrhaften Formen zu der sie integrierenden neuen Gattungsstruktur der Novelle kann durch Oppositionen wie: Einpoligkeit oder Doppelpoligkeit der Personen, Handlung als typischer oder als einmaliger Fall, Endgültigkeit oder Ambivalenz moralischer Normen, transzendente Fügung oder menschliche Selbstbehauptung, beschrieben werden. Gattungsbestimmungen der späteren Novellentheorie wie etwa die der (unerhönen Begebenheit) oder der Lösung eines moralischen Kasus, die für sich allein nicht hinreichen würden, die Gattung zu charakterisieren, erlangen im Zusammenhang der von Boccaccio geprägten Struktur ihre spezifische Bedeutung. Das heißt natürlich nicht, daß sich alle Elemente dieser Gattungsstruktur von nun an auch in allen späteren Novellen finden müßten. Die Nachfolger Boccaccios setzen eine initiale Struktur nicht einfach wiederholend fon: cVielmehr kann man don einerseits einen gewissen Rüdcgriff auf die durch Boccaccio keineswegs ein für allemal (überwundenen) exemplarischen und schwankhaften Erzählformen des Mittelalters feststellen, andererseits aber auch ... neue und eigenständige Erzählweisen entdedcen.lt CI In ihrer historischen Erscheinung akzentuien die Novelle in bald vereinfachenden (z. B. im schwankhaften conte), bald komplizierenden Varianten (z. B. in der mehrfachen Kasuistik bei Mme de La Fayette) die verschiedenen Formen, die ihre Polygenese einbegriff. Wenn die Novellentheorien einzelner Autoren zu eng oder zu panieIl sind, um sich mit dem vielgestaltigen Prozeß dieser fonschreitenden Systementfaltung und Systemkorrektur der Gattung zu dedcen, darf aus der Diskrepanz von poetischer Theorie und literarischer Produktion nicht einfach gefolgen werden, daß es eine gattungstypische Form der Novelle eben nicht gäbe. CI Vielmehr gehön die nie vollständig erreichbare Kongruenz zwischen Theorie und Praxis, genauer gesagt: zwischen expliziter Theorie, immanenter Poetik und literarischer Produktion selbst wieder zu den Faktoren, die den Prozeß der historischen Erscheinung einer literarischen Gattung bedingen. Darum kann eine kanonische oder für eine gewisse Zeit kanonisierte Theorie nicht unmittelbar als gattungshafte Norm der Reihe praktisch verwirklichter Werke gegenübergestellt werden. Zwischen normsetzender Theorie und literarischer Reihe vermittelt vielmehr die immanente, die Struktur des einzelnen Werkes bestimmende und an ihm abzulesende Poetik. Und in Fällen, wo eine theoretische Norm allgemeinverbindliche Geltung beansprucht wie z. B. die aristotelische Poetik für die nadunittelalterliche Literatur, kann der Widerstreit zwischen autoritativer Gattungs.0 NruSCHÄrEK 41
1I
Ib.,8. So W.
0914.
PABST,
Novellentheorie und Novellendidltung. Heidelberg, 11967.
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norm und immanenter Poetik geradezu das Movens werden, das den gattungsgesmimtlimen Prozeß im Gang hält. Da sim die volkssprachlimen Gattungen der mittelalterlimen Literatur nimt aus einem vorgegebenen Kanon und im Widerstreit mit ihm entwickelt haben, kann ihr System nur aus der immanenten Poetik abgelesen und an der Konstanz oder Variabilität einzelner Strukturelemente in der gattungsbildenden Kontinuität verifiziert werden. Dieses Verfahren setzt notwendig den hermeneutischen Zirkel, nimt aber den organologismen Zirkel der Vollkommenheit voraus. Wo es keine zuvor gesetzte und besmriebene Gattungsnorm gibt, muß die Feststellung einer gattungshahen Struktur aus der Ansmauung einzelner Texte, im immer neuen Vorgriff auf ein erwartbares Ganzes oder regulatives System der Textreihe gewonnen werden. Dieser Vorgriff benötigt kein Telos der Vollkommenheit. Er setzt ein ästhetismes Prinzip, das den Spielregeln Sinn verleiht, nimt ihr Vollkommensein voraus. Die prozeßhahe Ersdteinung einer Gattung in der Zeit hat - wie smon K. Vietor hervorhob - egar kein Ziel; sie will nimt in einer Vollendung zur Ruhe kommen, sondern in immer neuer Verwirklimung da sein. Es gibt nur ein gesmimtlimes Ende einer Gattungsgesmimte, wie es bei ihr einen Anfang in der Zeit gibt». Da das Gattunghahe einer Tradition nimt an sim selbst smon den ästhetismen Wert ihrer Texte zu begründen vermag, ist die Vorstellung, die Vollkommenheit eines Werkes sei gleimbleibend mit der Reinheit, in der es den Typus einer Gattung erfülle, eine spezifism klassizistisme Erwanung. In der mittelalterlimen Literatur hingegen zeigt es sim gerade an Gipfelwerken wie z. B. der Chanson de Roland, den Romanen Chretiens, den ersten Renart-Branchen, der Minneallegorie des Guillaume de Lorris, der Di'Oina Commedia, daß sie die Konventionen ihrer Gattung weit überragen. Weder haben sim hier die vorangegangenen Texte der Gattung mit vorhersehbarer Notwendigkeit auf ihre vollkommenste Ausprägung hin entwickelt, noch haben die Gipfelwerke ein Muster der Gattung abgegeben, dessen Reproduktion allein smon den später Gekommenen Erfolg verbürgt hätte. Folgt man dem Grundsatz der Historisierung des Formbegriffs und sieht man die Gesmimte literarischer Gattungen als einen zeitlimen Prozeß fortgesetzter Horizontstiftung und Horizontveränderung, so kann für die Metaphorik der Entwicklungs-, Reife- und Verfallsabläufe die teleologiefreie Begrifflimkeit des Durc:bspielens einer begrenzten Zahl von Möglimkeiten eintreten. U In dieser Begrifflimkeit ist ein Gipfelwerk durm eine so unerwartete wie bereimemde Horizontveränderung der Gattung, deren Vorgesmimte durm ein Versumen und Erproben von Möglichkeiten, ihre Annäherung an ein gesdtimtlimes Ende durm formales Erstarren, durc:b Automatisierung oder durch ein Aufgeben oder Mißverstehen von Spielregeln bestimmbar, wie es sich häufig bei den letzten Epigonen findet. 45 Gattungsgeschimte in dieser Perspektive setzt aber aum Reflexion auf das voraus, was erst dem rückblickenden Betrachter sichtbar werden kann: die Anfänglichkeit der Anfänge und das Definitive eines Endes, die
4.
d VIErOR °826, 304 . .. Cf. KUHN °796, 46, 56 sq., 61. ,. Zum letzteren Aspekt kann ich auf meine Arbeiten zu den Renart-Epigonen hinweisen, d. °872, cap. V. ferner CN 21 (1961) 214-219 und Mel. Delbouille, 1964, 11, 291-312.
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normstiftende oder normdurchbrechende Rolle einzelner Exemplare und schließlich die historische wie ästhetische Bedeutung der Gipfelwerke, die sich mit ihrer Wirkungsgeschichte und späteren Interpretation wandeln und damit auch den erzähl baren Zusammenhang der Geschichte ihrer Gattung anders beleuchten kann. Denn auch literarische Gattungen stehen in der Dimension ihrer Rezeption unter der Dialektik von Nachgeschichte und Vorgeschichte, insofern - nach Walter Benjamin - kraft ihrer Nachgeschichte cauch ihre Vorgeschichte als in ständigem Wandel begriffen erkennbar wird».·' 7. Die Theorie der literarischen Gattungen kann nicht bei den Strukturen in sich abgeschlossener Gattungsgeschichten innehalten, sondern muß auch die Möglichkeit einer historischen Systematik bedenken. Wenn seit Jahrzehnten kein Versuch unternommen wurde, die literarischen Gattungen eiDer Epoche insgesamt in ein System der gleichzeitigen Erscheinungen einzubringen, mag dies auch daran liegen, daß die normative Gattungslehre tief in Mißkredit gefallen und mit ihr jede Systematik als spekulativ verschrien worden ist. Die Einsicht, daß die moderne Gattungstheorie nur deskriptiv und nicht definitorisch verfahren kann, schließt indes keineswegs aus, daß man auf dem Wege synchronischer Beschreibung und historischer Untersuchung wenn nicht zu einem gattungsbedingten Kommunikationssystem, so doch zu einer historischen Folge solcher Systeme gelangen kann. Auch die Literatur des Mittelalters ist keine willkürliche Summe, sondern eine latente Ordnung oder Folge von Ordnungen literarischer Gattungen. Auf diese Ordnung weisen immerhin einige Zeugnisse mittelalterlicher Autoren und die in dieser Hinsicht noch nicht ausgewertete Auswahl und Anordnung von Texten und Gattungen in Sammelhandschriften. Auch könnte die lateinische Poetik, obschon sie zumeist nur weitertradiertes Lehrgut enthielt und für die volkssprachliche Literatur nicht normgebend war, mit ihren rhetorischen Kategorien und Stilklassifikationen doch wohl heuristisch für eine Feststellung und Abgrenzung von Gattungsmerkmalen herangezogen werden. Aus der überlieferung der antiken Rhetorik und Dichtungslehre standen im Mittelalter hauptsächlich vier Einteilungsschemata zu Gebote, die als Arten der Rede (genus demonstratiT1um, deliberatiT1um, iudicialis), der Stillage (genera dicendi: h,,mile, medium, sublime), der Darbietungsform (genus dramaticum, narratiT1um, mixturn) und schließlich der Gegenstände (tres status hominum: pastor otiosus, agricola, miles dominans) in verschiedenem Maße der Gattungserklärung dienen konnten. 47 Die Lehre von den drei Arten der Rede und ihren je zwei Unterarten ist in den rhetorischen Lehrbüchern offenbar nicht zu einem Einteilungssystem entsprechender literarischer Gattungen ausgebaut worden; ob sie für die zuerst in Italien einsetzende oratorische Literatur etwas hergibt, bleibt zu untersuchen. Die drei genera dicendi wurden in antiker Tradition vornehmlich nach formalen Elementen der Stillage (Wortwahl, Metrum, Bilder, Ornatus) unterschieden. Hier gelangte die mittelalterliche Rezeption einen Schritt über die antike Theorie hinaus. Autoren des XII. und XIII Jhs führen den Begriff des <Stils) ein «sunt igitur tres styli: humilis, mediocris, grandiloqus», Eduard Fums, der Sammler und Historiker, in: Angelus Novus, Frankfurt, 1966, 303. n BemENs °756, FAUL °772, DE BaumE °760, besonders 11 42.
te
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den sie nun nicht mehr allein nach den Mitteln der Darstellung, sondern auch nach ihrem Gegenstand (d. h. dem sozialen Rang der dargestellten Personen und der Dinge ihrer Umwelt) definieren. 48 Muster war die auf Servius und Donat zurückgehende Deutung der Werke Vergils, der in Bucolica, Georgica und Aeneis drei Stufen der menschlichen Gesellschaft (Hirten, Ackerbauer, Krieger) in der gemäßen, d. h. ebenso gestuften Stilart dargestellt habe. Gewiß ist im Mittelalter von den virgilischen Gattungen nur die Bukolik, nicht aber die Georgik gepflegt und auch die Aeneis nirgends mit der Chanson de geste identifiziert worden. 411 Doch hat das von Johannes de Garlandia ausgeführte Klassifikationsprinzip nach dem sozialen Rang der Personen zumindest in den streng ständischen Spielregeln des altfranzösischen Epos und Romans seine Entsprechung, wenn man von der fehlenden Stufung in Stilarten absieht. Die Theorie der drei Darbietungsformen ist nach dem System des Grammatikers Diomedes (narrativum wenn der Dichter selbst spricht, dramaticum wenn die Personen allein sprechen, mixtum wenn Dichter und Personen abwechselnd das Won ergreifen) über Beda und Isidor im Mittelalter zu besonderer Wirkung gelangt. Die vom äußerlichsten formalen Merkmal ausgehende diomedische Dreiteilung hat mehr Verwirrung über die Funktion der antiken Gattungen angerichtet (z. B. über die des antiken Theaters, so daß die Struktur aufführbarer Stücke neu gesucht und entwickelt werden mußte) als tragfähige neue Unterscheidungen begründet. llo Ordnung hat in diese überlieferung Johannes de Garlandia hineingebracht. Seine Poetria, eine Synthese der Artes dictaminis und der Artes poeticae, fügt die diomedische Dreiteilung in eine neue Summa der literarischen Gattungen ein, die systematisch nach vier Gesichtspunkten gegliedert ist: 1. nach der sprachlichen Form (prosa und metrum, die erstere in vier Gattungen gegliedert: die technographische oder wissenschaftliche, die historische, die epistolarische, die rhythmische und in Musik gebrachte), 2. nach der Darbietungsform (quicumque loquitur: die diomedische Dreiteilung), 3. nach dem Realitätsgrad der Erzählung (drei species narrationis: res gesta oder historia, res ficta oder 'abula, res ficta quae tarnen fieri potuit oder argumentum), 4. nach den in der Dichtung ausgedrückten Gefühlen (de differentia carminum, eine Viergliederung, die eine von Diomedes und dem Tractatus coislinianus erwähnte Unterscheidung der genera tragica, comica, satyrica, mimica ausbaut).lu Daß das Gattungssystem der Poetria von Johannes de Garlandia nicht rein deduktiv entstanden ist, sondern mit seinem Reichtum an inhaltsbezogenen Bestimmungen vielleicht einen in der Realität des XIII. Jhs erreichten Stand der literarischen Gattungen zu ordnen suchte, ist eine Hypothese, für die wenigstens zwei Argumente zu sprechen scheinen. A. Adler hat nachgewiesen, daß das historicum (d. h. die satirische Gattung der vierten Rubrik) in der von Johannes gegebenen Definition recht gen au den Umkreis und die Funktion der literarischen Formen des XIII. Jhs umschreibt, die man als Anfänge der poli48
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Nadt FAUL °772, 82: cCe qui pour les premiers critiques, etait affaire de style, est devenu pour I'ecole du XIIc et XIIIe siede, affaire de dignite soeiale. C'est la qualite des personnes, et non plus celle de 1'.Hocution, qui foumit le principe de la classification», und OE BauYNE °760, 11 41 sqq . KRAUSS, °792, 15. Curtiu" Exkurs V: Spätantike Literaturwissensdtaft. OE BRUYNE °760, 11 18 sqq.
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tischen Satire qualifizieren kann. Und die sowohl thematische wie stilistische Unterscheidung von Tragödie (carmen quod incipit a gaudio et terminat in luctu) und Komödie (carmen iocosum incipiens a tristitia et terminans in gaudium) kehrt in der Gattungstheorie von Dantes Brief an Can Grande wieder und entspricht der Struktur wie auch dem (späteren) Titel der Divina Commedia. 62 Zeugnisse volks sprachlicher Autoren, die synchronische Beziehungen oder partielle Systeme literarischer Gattungen sichtbar machen, sind bisher noch nicht eigens gesammelt worden. 61 Eines der eindrucksvollsten Beispiele bietet der Prolog der ältesten Branchen des Roman de Renart : Seigneurs, oi avez maint conte Que maint conterre vous raconte, Conment Paris ravi EIaine, Le mal qu'ü en ot et la paine: Oe Tristan dont la Chievre fist, Qui assez bellement en dist Et fabliaus et chancon de geste Maint autre conte par la terre. Mais onques n'oistes la guerre, Qui tant Eu dure de grant Ein, Entre Renart et Ysengrin.
(Br. II 1-11)
Der Jongleur, der seinen Gegenstand als eine Novität anpreist, hebt ihn von einer Reihe wohlbekannter Einzelwerke und Gattungen ab: Troja (antiker Roman), Tristan (bretonischer Roman), Fabliau, Chanson de geste, dazu eine nicht identifizierte Tierdichtung (vielleicht eine volkssprachliche Version des Ysengrimus?). Diese Liste der um 1176/77 modischen Werke macht insofern ein literarisches System faßbar, als die aufgeführten Gattungen nicht nur zufällig gewählt sind, sondern den spezifischen Erwartungshorizont bilden, vor dem sich der neue, zur Heldendichtung höfischen Liebesauffassung gegenläufige, oft auch parodistische conte vom Anfang der Feindschaft zwischen Fuchs und Wolf abspielen muß.54 - Gegen Ende des XII. Jhs beginnt Jean Bodel seine Saisnes mit der Feststellung, daß es für den Kenner nur drei große epische Gattungen gäbe, die er nach den Stoffen (materes) benennt und sodann nach dem Realitätsgrad einstuft, wobei die Gattung seines eigenen Werkes offensichtlich an die Spitze rückt: u Li conte de Bretaigne sont si vain et plaisant. Cil de Rome sont sage et de sens aprendant. Cil de France sont voir chascun jour aparant. (vv. 9-11)
In dieser Skala entsprechen Chanson de geste und bretonischer Roman der Opposition von res gesta und res ficta (hier mit dem Zusatz: <wunderbar und ergötzlich»), Curtius, cap. 17, § 3: Die Commedia und die literarischen Gattungen. Für diesen Beitrag konnten die Ergebnisse der erst nach Band I erscheinenden Gattungsmonographien des GRLMA noch nicht ausgewertet werden. Die Bedeutung der überlieferten Jongleur-Repertoires (p. ex. das von Guiraut de Cabreira, d. LEJrom °898) und der Gattungsgruppierungen in den Sammelhandschrihen für eine historische Systematik der literarischen Gattungen bedürfte einer umfassenden Untersuchung. " Cf. JAUSS °872, cap. IV A. 11 Zur Interpretation dieses Prologs cf. R. GUIETTE, R 78 (1967) 1-12. 11
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die uns in den species narrationis bei Johannes de Garlandia begegnete; für das (wahrscheinlime) argumentum könnte der dehrreime) antike Roman eintreten. Für die Lyrik sei hier Dantes De vulgari eloquentia erwähnt, dessen zweiter Teil eine auf vulgärspradtlime Dimtung bezogene Poetik ist und als Gattungen der Lyrik den modus der Canzone, der Ballata, des Sonetts und anderer iIIegiptimos et irregulares modos erwähnt (11, 3). Dabei fühn Dante als Themen, die des hohen Stils würdig seien, das öffentlime Wohl (5alus), die Liebe (Venus) und die Ethik (Virtus) ein. Dom diese Ordnung entspringt nimt primär einer Gattungseinteilung, sondern selbst wieder einer Poetik der Stilarten. Denn solme Themen «werden nimt als Ursamen des hohen Stils angesehen, sondern als Mittel seiner Verwirklimung»." Das sprimt aber nimt gegen die Existenz gattungshafter Strukturen. Die von den Provenzalen gesmaffenen neuen Gattungen der Lyrik in romanischer Volkssprame haben sim gewiß nimt isoliert voneinander, sondern in wemselseitiger Abhängigkeit und Funktionsaufteilung entwickelt. Solme Aufteilungen und Umbesetzungen innerhalb eines lyrismen Systems lassen sim erfassen, wenn erst die Geschimte aller festgestellten Gattungen gesmrieben und im Zusammenhang mit den späteren Poetiken: der Razos de trobar von Rainton Vidal, der gleimfalls zu Beginn des XIII. Jhs in Toulouse entstandenen Leys d'amor, der Dreita manera de trobar des 1387 in Barcelona gegründeten Consistorio dei gay saver, dem auf den Kanon von Toulouse zurückgehenden Traktat L' art de dictier et de fere chan~ons von Eustache Desmamps und dem spanischen Art de trovar von Enrique de Villena untersumt ist. Daraus sei hier nodt die älteste Bestandsaufnahme der provenzalischen Poesie angeführt, die Guilhem Molinier zwismen 1328 und 1355 in seine Leys d'amors eingebramt hat. Er unterscheidet zwischen zehn Hauptgattungen und siebzehn Nebengattungen. Zu den ersteren gehören: canso, sirventes, dansa, descort, ttnso, partimen, pastorcla, retroncha, planlz, escondig. Von den letzteren dienten einige zur Begleitung von Tänzen; von einigen anderen sind noch keine Beispiele bekannt, so daß die Identifikation auf Smwierigkeiten stößt. 57 Dieses System der lyrismen Hauptgattungen wurde um die Wende vom XIII. zum XIV. Jh. abgelöst von dem neuen System der sogenannten (Gunkel)>> vorausgehen.- Unter dem <Sitz im Leben) werden eine typische Situation oder Verhaltensweise im Leben einer Gemeinschah wie z. B. das Opferfest an heiliger Stätte für die literarische Form des Hymnus, aber auch auß&kultische Situationen der Arbeit, der Jagd, des Krieges verstanden, von denen aus die vorausliegenden Motive erst faßbar werden, die für Form und Absicht einer Gattung konstitutiv waren. Der Aufweis der Motive, die zur Formgebung geführt haben, ermöglicht die synchronische Bestimmung und Abgrenzung einer literarischen Form; ihr Gattungscharakter im vollen Sinn kann indes erst an ihrer Geschichte gewonnen werden. Denn enur die Geschichte einer Gattung beweist, ob die Gestalt eines Literaturwerks nicht ein Zufallsprodukt ist, sondern eine entwicklun,sEähige Form, die Eigenleben hah.·· Als beispielhah für die daraus entwickelte formgeschichtliche Methode, zunächst den c Ursprung und die Zugehörigkeit einer bestimmten literarischen Gattung in und zu typischen Situationen und Verhaltungen einer Gemeinschah» zu bestimmen und sodann die Entstehung, Ver-
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et FEUJLLET °806, 150.
.. Ib.150. et FEUILLET °806; Los g~neros litterarios de la sagrada escritura °776; ferner ist noch hinzuweisen auf A. Laos, Historire de la litt~rature h~braique et juive, Paris, 1950; A. BENIZEN, Introduction to the Old Testament, Kopenhagen, 1J952; H. C. DODD, The apostolic preaching and its developments, '1957; KOCH °788. ROBEJlT et FEUILLET °806, 123. KUHl und BoRNKAMP °794, 998 . BUL11dANN °762, 400.
M ROBERT
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änderung und übergänge der so konstituierten Form in ihrer Geschichte als literarischer Gattung zu verfolgen, sei hier die Darstellung der Apophthegmata durch R. Bultmann angeführt. 70 9. Die ist für die romanische Philologie des Mittelalters aber auch noch unter einem inhaltlichen Gesichtspunkt von erheblicher Bedeutung. Bei der Frage nach den Ursprüngen der romanischen Literatur wurde in den letzten Jahrzehnten vornehmlich auf das Vorbild des klassischen Altertums, seiner Rhetorik und literarischen Topik und seiner Musterautoren geblickt. Aus dieser Tradition sind die neuen literarischen Gattungen in romanischer Volkssprache indes keineswegs in geradliniger Entwicklung oder unmittelbarer bestimmt. Was an ihr gattungshaft ist, entspringt solchen unmittelbar verwirklichten, selbstverständlichen und darum zumeist unreflektierten Funktionen, nicht also einem reflektierten Verhältnis zur Form als ästhetischem Mittel, das erst mit dem ausgebildeten Gattungsbewußtsein einer autonom gewordenen Dichtung eintreten kann. 7: Daraus sind - mit M. Waltz - zwei methodische Folgerungen zu ziehen: Gegenstand der Forschung ist hier «nicht die Gattung, wie sie im Bewußtsein der Zeitgenossen bestand, sondern die Funktion der Werke», sodann aber der schon im Mittelalter mit der höfischen Lyrik beginnende Prozeß, in dem mit dem Problematischwerden der Funktion ein reflektiertes Gattungsbewußtsein einsetzt, das sich in der Renaissance zur Autonomie der Dichtung befreit. 73 Die Unterscheidung von und <weltlich>, Funktionsgebupdenheit und , bekommt im Mittelalter erst ihren Sinn, wenn sie als Prozeß einer allmählichen Literarisierung der im Ursprung an kultische, religiöse und gesellschaftliche Funktionen gebundenen Gattungen verstanden wird. Für die Anwendung der form geschichtlichen Methode auf mittelalterliche literatur ist zu Recht gefordert worden, daß es nicht genüge, die Form einer Gattung geradezu aus ihrem <Sitz im Leben> zu erklären. Einmal weil die Gattung ebenso den <Sitz im Leben> formen kann wie dieser die Gattung. Zum andem weil die Funktion einer Gattung nicht allein von ihrer Beziehung, auf einen realen Lebensvorgang, sondern auch von ihrer Stellung in einem «umfassenden, den Zeitgenossen vertrauten
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Vgl. ButTMANN 0 762,4: cWie der Sitz im Leben nicht ein einzelnes historisches Ereignis, sondern eine typische Situation oder Verhaltensweise im Leben einer Gemeinschaft ist, so ist auch die literarische Gattung bzw. die Form, durch die ein Einzelstück einer Gattung zugeordnet wird, ein soziologischer Begriff, nicht ein ästhetischer, so sehr in einer weiteren Entwicklung solche Formen als ästhetisme Mittel in einer individualisierenden Dichtung verwendet werden können.» WALTZ 0830, 32 und 33, n. 17, zur früh einsetzenden Autonomie der höfischen Dichtung: «Die höfischen Formen präfigurieren auch in anderer Weise die stabileren Gattungen der späteren Zeit: sie leben in einer (wesentlim von ihnen mitgetragenen) Symbolwelt, die von der offiziellen religiösen abgetrennt ist und deren soziokulturelle Funktion weniger unmittelbar faBbar ist.»
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symbolischen System» abhängt. 7t Die Frage nam dem <Sitz im Leben> hat für die literarische Gattung sowohl eine synchronisme als aum eine diachronische Dimension: sie implizien ihre Funktion innerhalb der umfassenden Ordnung der symbolischen Ausdrucksformen einer Kultur und zugleim ihre Stellung im geschimtlimen Wandel dieses symbolismen Systems, d. h. für unsere Epoche: im Prozeß der beginnenden Literarisierung und Individualisierung gattungshafter Konventionen. Dieser Prozeß darf nimt als organisme Entwicklung oder als Säkularisation mißverstanden werden. Vielmehr ist damit zu rechnen, daß sich die spätere, profane Geschimte einer ursprünglim an religiöse oder kultische Funktionen gebundenen Gattung nicht immanent und folgerimtig aus ihren ursprünglimen Struktureigenschaften entwickeln muß, sondern durm heterogene Anstöße in Gang gebramt wird, so daß sim der Prozeß der Literarisierung oder Subjektivierung gerade gegen die ursprüngliche Zweckbestimmung der Gattung, d. h. gegen ihre geistlich-erbaulime Konvention vollziehen kann. Obwohl z. B. der Roman de la rose von Guillaume de Lorris die geistlimen Traditionen des bellum intestinum (Psychomachia) und der allegorischen Dichtung in der An des Roman de miserere (von Reclus de Molliens, mit zahlreimen motivischen Analogien) in mancher Hinsimt unter profanen Vorzeimen nur weiterzuentwickeln smeint,75 entspringt die strukturverwandte erste große weltliche Allegorie dom einem gegenläufigen Prozeß. Stand gegen Ende des XII. Jhs die Ablösung der allegorischen Dichtung von der Bibelexegese im Zeichen des Widerspruchs, den die geistlichen Verfasser mit der neuen allegorischen Form (duplex sentcntia) des dit (von veritatem dicere) gegen die nur erfundenen contes und fables der weltlich-höfismen Dichtung verbanden, so nahm nun Guillaume de Lorris diese Herausforderung auf, indem er für die Poesie des amour courtois dieselbe allegorische Wahrheit beanspruchte, die sim die geistlime Tradition der Schriftexegese vorbehalten hatte: «Face au Livre absolu, a la fois le modele et le rival, la poesie, la remerche de son autonomie, s'efforce de tirer elle-meme une parole d'autorite (Amor, par ex.) qu'elle dispute a celle de la Bible.»78 Die im XIII. Jh. einsetzende Allegorisierung der Poesie ist weder eine immanente Gattungsentwicklung noch eine bloße Verweltlimung religiöser Gehalte, sondern die ostentative Inbesitznahme und bewußte Literarisierung eines der geistlichen Tradition eigenen Verfahrens durch Dimter wie Guillaume de Lorris, die eine autonome weltliche Dimtung erstrebten. Ein weiteres Beispiel bietet die Entstehungsgesmimte des geistlidten Spiels. Seine Entwicklung, die ab ovo von der berühmten Interpolation der Ostermesse (Quem quaeritis in sepulchro . ..) im X. Jh. bis zu den monströsen volksspradtlidten Passionsmysterien des XV. Jhs verfolgt werden kann, gilt gemeinhin als das Urbild eines homogenen Prozesses fonsmreitender Säkularisation, in dem der ursprünglim liturgisdte Vorgang durch Szenen von zunehmender Welthaltigkeit mehr und mehr säkularisiert wurde und schließlich zum bloßen Smauspiel ausartete. Demgegenüber hat R. Waming heterogene Impulse in der Gesmimte der Gattung simtbar gemamt,
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7.
Wurz 0830,35. Vid. VI C, 160, 233. R. DRACONETTI, RBPh 43 (1965) 118; vid. VI C, 151.
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die sich nicht auf den Nenner eines Säkularisationsprozesses bringen lassen. 77 Das geistliche Spiel verlagert die sakrale Handlung nicht nur beiläufig extra muros: als <Messe auf dem Marktplatz> bringt es rituelle Formen hervor, die sich von der kirchlichen Doktrin entfernen, ihr letztlich sogar widersprechen. Mimetisches Ins-BildSetzen zog schon dem liturgischen Spiel kirchliche Kritik zu; mit dem Einsetzen der volks sprachlichen Tradition wird der Teufel als dramatisch-dualistischer Widerpart eingeführt, was vor dem Hintergrund der Satisfaktionslehre Anse1ms von Canterbury einer Remythisierung des Inkarnationasdogmas gleichkommt; in der Konsequenz dieser dualistischen Struktur steht schließlich die drastische Ausgestaltung des Kreuzigungsmartyriums, welche die vermeintliche Darstellung der Inkarnation in das theologische Zwielicht eines archaisch-magischen Sündenbodcrituals bringt: ein dem Maße, wie Spiel und Wirklichkeit verschmolzen, wurde in der Bühnenngur Jesu Gott selbst verspottet, bespien, gegeißelt und ans Kreuz geschlagenlt. 78 Die Geschichte der Gattung zeigt im Lichte dieser Deutung hinter der vermeintlichen Säkularisation einen gegenläufigen Prozeß, der dem latenten Protest der dualistisch-paganen Volksfrömmigkeit gegen die monotheistische Dogmatik entsprang und den tendenZiell häretischen Charakter der Spiele erklärt, welcher zu dem Verbot weiterer Aufführungen durch das Pariser Parlamentsedikt von 1548 geführt haben könnte.
10. Der letzte Schritt einer Theorie der literarischen Gattungen kann von der Feststellung ausgehen, daß eine literarische Gattung so wenig wie ein einzelnes Kunstwerk für sich allein existiert. Diese Feststellung ist weniger selbstverständlich als es zunächst scheinen mag, wenn man sich vor Augen hält, wie Gattungen gemeinhin in Literaturgeschichten erscheinen, nämlich als ein Nebeneinander in sich abgeschlossener Gattungsentwicklungen, die zumeist nur durch den äußeren Rahmen einer allgemeinen Charakteristik der Epoche zusammengehalteI} werden. Der Grundsatz einer Historisierung "des Formbegriffs erfordert aber nicht allein, für die einzelne Gattung die substantialistische Vorstellung einer konstanten Zahl unveränderlicher Wesensmerkmale aufzugeben. Er erfordert auch, die korrelate Vorstellung eines Nebeneinanders von in sich abgeschlossenen und gegeneinander abgekapselten literarischen Gattungen abzubauen und nach wechselseitigen Beziehungen zu fragen, die das System der Literatur im gegebenen historischen Augenblick ausmachen. Für die Aufgabe, diachronische und synchronische Interrelationen zwischen den literarischen Gattungen einer Epoche aufzudecken, haben die russischen Formalisten methodische Ansätze gefunden, die auf das Gebiet der mittelalterlichen Literatur anzuwenden sich wohl verlohnte. 78 Die formalistische Auffassung der Gattung als eines historischen Bezugssystems steht im Zusammenhang des Versuchs, die klassische Vorstellung der literarischen Tradition als eines stetigen, unilinearen und kumulativen Ablaufs durch das dynamische Prinzip der literarischen Evolution zu ersetzen, womit gerade nicht ein Analogon zum organischen Wachstum oder zur darwinistischen Selektion gemeint ist.
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WARNrNG 0938.
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Ib., 102.
7. Zusammensefaßt bei [354]
STlUEDTEll
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Denn <Evolutiom soll hier das Phänomen der literarischen «nicht im Sinne kontinuierlicher <Entwicklung>, sondern im Sinne eines und mit den unmittelbaren Vorgängern bei gleichzeitigem Rückgriff auf Älteres» kennzeichnen.so In der so gesehenen historischen Evolution der Literatur können literarische Gattungen im periodischen Wechsel der dominierenden Rolle wie im rivalisierenden Nebeneinander erfaßt werden. Dem liegt die Vorstellung einer sich wandelnden ist für die Formalisten ein System mit ejner systemspezifischen <Einstellung> und ihr entsprechenden . Auf Grund der generellen Einstellung oder Intention rücken Genres, die ihr in besonders hohem Maße Ausdruck zu verleihen vermögen, an die Spitze der Genre-Hierarchie und werden zu <dominierenden> Genres der Epoche. Das können ganz neue Genres sein, aber auch traditionsreiche Genres, die im Hinblick auf die neue Grundintention umstrukturiert worden sind».sl In diachronischer Hinsicht zeigt sich der historische Wechsel der dominierenden Gattung im Dreischritt von Kanonisierung, Automatisierung und Umbesetzung. Erfolgreiche Gattungen, die den der Literatur einer Epoche innehaben, verlieren durch ständige Reproduktion allmählich ihre Wirkungskraft; sie werden von neuen, oft aus einer vulgären Schicht aufsteigenden Gattungen an die Peripherie verdrängt, wenn sie nicht durch Umstrukturierung - sei es durch das Hochspielen bisher unterdrückter Themen oder Verfahren, sei es durch Aufnahme von Materialien oder übernahme von Funktionen anderer Gattungen - wieder belebt werden können. sl Für eine Erklärung im Sinne der Höhenkammtheorie bieten sich im Bereich der romanischen Literatur des Mittelalters folgende Beispiele an: der Neueinsatz des höfischen Romans, der um die Mitte des XII. Jhs der älteren Chanson de geste den dominierenden Platz streitig macht, sodann das Heraufkommen des Prosaromans, der sich um die Wende des XIII. Jhs mit einem neuen Wahrheitsanspruch durchsetzt,lS und schließlich der Sieg der Allegorie, die um 1234/35 - wie neben Guillaume dc Lorris auch Huon de Mery im Prolog zum TOllrnoiement de l'Antechrist bezeugt als novel pense und noch nie gebrachte matire die als vergangen empfundene höfische Epik und Artuswelt der Vorbilder Chretien de Troyes und Raoul de Houdenc und ihrer Epigonen ablöst. Im Untersdlied zu den meist aus der neueren Literatur gewählten Beispielen der Formalisten fehlt der Gattungsgeschichte des XII. und XIII. Jhs aber eine vergleichbare Schicht der Subliteratur. Die neuen Gattungen des höfischen Versromans, der ersten Prosa romane und der allegorischen Epik sind keine Kanonisierung niederer Gattungen, sondern aus einer Funktionsverlagerung hervorgegangen
(der stidtische, bzw. erzählende Achtsilber war in den Reimchroniken, die Prosa in der Historiographie, die allegorische Form in der geistlichen Dichtung vorgegeben). Die Verlagerung oder übernahme von Funktionen anderer Gattungen macht
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Ib., p. LXVI. Ib., p. LXV. Das Muster einer solchen gattungsgeschichtlichen Analyse hat TYNJANOV für die Ode gegeben (0936); Beispiele für die cpen~tration des proc~d~s du genre vulgaire dans le genre ~lev~. bringt TOMAJEVSKIJ 0818,304 sq. Cf. KÖHLER, Zur Entstehung des altfranzösischen Prosaromans, 0884, 213-223.
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die synchronische Dimension im literarischen System einer Epoche sichtbar. Literarische Gattungen existieren nicht einzeln, sondern bilden die verschiedenen Funktionen des gegebenen epochalen Systems, zu dem sie das einzelne Werk in Beziehung setzen: «Ein Werk, das aus dem Kontext des gegebenen literarischen Systems gerissen und in ein anderes überführt wird, erhält eine andere Färbung, überzieht sich mit anderen Merkmalen, tritt in eine andere Gattung ein, verliert seine Gattung, mit anderen Worten, seine Funktion wird verlagert».u Das ließe sich auch an der Rezeption der <matiere de Bretagne) zeigen: ihre Fabeln erhielten dadurch, daß ihre Bedeutung im System der keltisch-kymrischen Mythologie und Sagenwelt von den französischen Erzählern und ihrem Publikum nicht mehr verstanden wurde, den anderen mit der kurzen, d. h. abgeschlagenen Nase