Norman Katkov
Alle deine Söhne, Hawaii
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Tödliche Spannung liegt über Hawaii: Hest...
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Norman Katkov
Alle deine Söhne, Hawaii
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Tödliche Spannung liegt über Hawaii: Hester Ashley Murdoch, die junge Frau eines amerikanischen Marineoffiziers und Tochter einer der einflußreichsten Frauen der Insel, Vertreterin der amerikanischen Oberschicht, wird in der Nähe eines Nachtklubs aufgefunden - bewußtlos geschlagen und offenbar vergewaltigt. Der Tat verdächtigt werden vier junge Hawaiianer, von deren Unschuld nur ein einziger überzeugt ist: ihr Anwalt, auch er ein Hawaiier. Auf der Suche nach der Wahrheit prallen rassische und gesellschaftliche Gegensätze aufeinander, und der Prozeß gegen die vier jungen Männer wird zu einer symbolischen Auseinandersetzung um das Schicksal der Menschen auf dieser paradiesischen Insel. Titel der Originalausgabe: »Blood and Orchids« Aus dem Amerikanischen von Hans E. Hausner Lizenzausgabe Buchgemeinschaft Donauland Kremayr & Scheriau, Wien. © 1984 S. Fischer Verlag GmbH., Frankfurt am Main © 1983 Norman Katkov Schutzumschlag: Heinz M ayr
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Klappentext Angesiedelt auf dem üppigen, exotischen Territorium Hawaii 29 Jahre bevor die Inselgruppe 50. Bundesstaat der Vereinigten Staaten von Amerika wurde -, beschwört »Alle deine Söhne, Hawaii« die dreißiger Jahre herauf, in denen eine Handvoll elitärer Großgrundbesitzer, gedeckt und unterstützt von der in Pearl Harbor stationierten US-Navy, dieses Inselparadies wie ein eigenes Königreich regiert. Der brüchige Frieden zwischen den Rassen wird jäh erschüttert, als Hester Ashley Murdoch in der Nähe eines Strandrestaurants bewußtlos geschlagen und offenbar vergewaltigt aufgefunden wird. Hester Ashley Murdoch ist nicht irgendwer: Sie ist die junge Frau eines Marineoffiziers der Vereinigten Staaten von Amerika und die Tochter von Doris Ashley, einer vermögenden, einflußreichen Frau, einer Vertreterin der neuen amerikanischen Oberschicht. Die Familienehre und das Ansehen der Ashleys sind herausgefordert, zugleich aber auch der Stolz und Korpsgeist der Marineoffiziere auf Hawaii. Aufgefunden wird die Bewußtlose von vier jungen Hawaiiern. Sie bringen sie in die Notaufnahme des Krankenhauses und werden anschließend selbst unter Tatverdacht verhaftet. Während sich auf der einen Seite die mächtigen Gruppen des Offizierskorps und der reichen amerikanischen Oberschicht zusammenschließen, kämpfen auf der anderen Seite Tom Halehone, ein junger hawaiischer Anwalt, und Prinzessin Luahine für die Angeklagten. Rassische und gesellschaftliche Gegensätze vermischen sich mit der Suche nach Wahrheit, und der Prozeß der vier jungen Männer wird zu einer symbolhaften Auseinandersetzung um das Recht und die Würde der farbigen Menschen auf dieser Inselwelt. »Alle deine Söhne, Hawaii« ist ein unvergeßliches
Leseerlebnis - ein spannender Roman mit einer Gefühlsstärke, epischen Breite und zutiefst menschlichen Dramatik, wie man sie vor allem mit den Werken von James A. Michener oder Herman Wouk verbindet. Norman Katkov wurde 1918 in Krivoye Ozero (bei Kiew) geboren und lebt seit 1920 in den Vereinigten Staaten. Er arbeitete als Reporter und Journalist bei verschiedenen Zeitungen und verfaßte mehrere Romane. Norman Katkov lebt heute in Los Angeles.
Für Mervyn Nelson, meinen Navigator auf dieser Reise
»Mein Großvater hat mir erzählt, daß sich die Inseln ins Meer ergossen, um die ersten Missionare zu begrüßen. Mütter schwammen mit ihren Kindern hinaus, und die alten Leute wurden mit Booten zu den Schiffen gebracht. Mein Großvater hat mir erzählt, daß die Missionare über und über mit Blumen bedeckt wurden, daß man kaum ihre Gesichter sehen konnte. Als die Missionare mit ihren Familien an Land kamen, wurden sie wie neue Brüder und Schwestern empfangen. Alle, ohne Ausnahme. Mein Großvater sagte, die Inselbewohner behandelten die Missionare wie einen wunderbaren großen Preis, den das Meer ihnen zugesprochen hatte. Die Missionare aber waren unzufrieden. Sie sahen nur, was ›übel‹ war auf diesen lächelnden Inseln. Die viele nackte Haut. Das viele Lachen. Und immerfort aßen diese Leute, sangen und tollten herum. Die Missionare mußten dieses ›Böse‹ ausmerzen. Erst nahmen sie uns unsere Götter weg und ersetzten sie durch ihren eigenen Gott. Dann nahmen sie uns das Land weg. Sie nahmen uns unsere Königin und unseren Palast. Sie hielten uns dazu an, uns wie sie zu kleiden und wie sie zu leben. Aber sie erlaubten uns nicht, wie sie zu sein. Oder mit ihnen zusammen zu sein - außer wenn wir auf ihren Feldern oder in ihren Küchen arbeiteten. Sie haben uns zugrunde gerichtet. Wir waren ein freies, unbeschwertes Volk auf diesen Inseln, und wir kannten nichts anderes, als einander zu lieben. Sie aber verpönten die Liebe. Und die Söhne der Missionare brachten Gewehre und die Polizei, und den Rest erledigte die US-Navy.« Prinzessin Luahine
1. Teil Es war in Honolulu an einem frühen Samstagabend im September 1930, als Maddox von der Beretania Street abbog und vor dem Iolani-Palast anhielt. Er saß allein in einem kleinen schwarzen Wagen, der zum Fuhrpark der Polizei von Honolulu gehörte. Curt Maddox war Captain bei der Kriminalpolizei, arbeitete aber auch in anderen Abteilungen mit. An Samstagabenden hielt er sich stets im Stadtzentrum auf, und zwar noch bevor sich die Matrosen, Soldaten und die Seeleute von den Frachtern im Hafen mit Okolehao, dem überall auf dem Territorium schwarz gebrannten Whisky, vollaufen ließen. Die Wochenendkrawalle begannen erst später auf dem Weg zu oder von den Mädchen, oder - wenn es schlimm war - in den Häusern bei den Mädchen. Maddox hatte eine Vorliebe für gewisse Baulichkeiten älteren Datums, aber den Iolani-Palast schätzte er ganz besonders. Das Gebäude hatte sich nicht verändert. Maddox interessierte sich für den Bau, nicht für seine Geschichte. Der Captain war sechsunddreißig Jahre alt, und die letzte Herrscherin, Königin Liliuokalani, war im Januar 1893, ein Jahr vor Maddox' Geburt, von der United States Navy mit Gewalt aus dem Palast vertrieben worden. Martin Snelling, der heutige Gouverneur des am 30. April 1900 als »amerikanisches Territorium« proklamierten Hawaii, amtierte jetzt dort, aber Maddox sah in ihm nie den rechtmäßigen Bewohner des Gebäudes. Vor seiner Bestallung war Martin Snelling Buchhalter gewesen, und für Maddox war er immer noch ein Buchhalter. Es wurde dunkel. Maddox öffnete die Tür und stellte einen Fuß auf das Trittbrett; er hoffte, es würde kühler werden im Wagen. Es war ein warmer Abend. Maddox nahm seinen Hut ab, einen für diese Zeit viel zu schweren Filzhut. Er lehnte sich zurück und betrachtete durch die offene Tür den zweistöckigen Palast mit den Säulengängen in beiden Geschossen. Maddox gefiel die -6
Symmetrie des Bauwerks: das breite Stiegenhaus in der Mitte, der überwölbte Eingang, von zwei Säulen flankiert, mit dem gleichen Motiv unmittelbar darüber im zweiten Stock, und die mächtige Kuppel, die das Gebäude krönte. Er hatte sich noch kaum entspannt, als eine Folge von kurzen schrillen Huptönen die Stille zerriß. Scheinwerfer zeichneten einen weiten Bogen, als der Fahrer die Kurve nahm; ein zweites Paar Scheinwerfer folgte ihm. Mittels Hupsignalen führ te der erste Wagen den zweiten an. Langsam fuhren beide an Maddox vorbei. Er hörte Gekicher und dann den Aufschrei einer Frau, gefolgt von lautem Gelächter. Es war alles ganz harmlos, aber die jungen Leute in den zwei Wagen hatten Maddox' Ruhe gestört. Der Captain hob sein Bein wieder in den Wagen und schloß die Tür. Die Parkanlage vor dem Iolani-Palast war ihm schon zu voll mit Menschen. Für Maddox lebten in Honolulu viel zu viele Menschen. Er war Einheimischer wie jeder Hawaiier, wie jeder auf dem Territorium geborene Chinese oder Japaner oder Tahitier oder Samoaner oder Portugiese oder Filipino oder Koreaner oder Fidschianer, und er ärgerte sich maßlos über den enormen Einwandererstrom der letzten zehn Jahre, der Honolulu, wie er glaubte, zu der Dreckstadt gemacht hatten, die es geworden war. In diesen zehn Jahren hatte sich die Bevölkerung von Honolulu um mehr als fünfzigtausend vermehrt. Maddox kannte noch die Zahl von 1920: exakte 81820 Einwohner. Er hatte noch Uniform getragen, und die Stadt war ihm schon damals zu groß erschienen. Jetzt lebten etwa 138000 Menschen hier. Jedesmal, wenn einer vom Schiff herunterkam, wurde ein anderer, der schon da war, weiter zurückgestoßen. Maddox fuhr am Palast entlang und bog dann in die King Street ein. Das ganze Straßennetz von Koko Head bis Kaena Point hätte er liebend gern im Meer versenkt. Überall brannten jetzt die Lichter. Honolulu war nachts genauso hell wie mittags. Im Outpost-Dispatch, der Morgenzeitung, hatte Maddox gelesen, daß Honolulu etwa so -7
groß wie Tulsa oder Salt Lake City oder Paterson, New Jersey, war. Aber keine dieser Städte mußte sich zusätzlich zu den gewöhnlichen Dieben, die hier volle vierundzwanzig Stunden auf Achse waren, auch noch mit Soldaten und Matrosen herumärgern. Maddox bog in die Bishop Street ein, die zum Wasser hinunterführte und zum Aloha-Turm, der den Pier beherrschte, an dem die Luxusdampfer anlegten. Der Lichterglanz nahm zu, als Maddox sich dem Hafen näherte. Um Mitternacht oder am hellen Tag - im Jahre 1930 waren Ankünfte und Abfahrten der Überseeschiffe festliche Gelegenheiten. Ukulelenklang erfüllte die Luft, Blütenkränze flatterten wie Blätter im Herbstwind, die Passagiere waren mit Souvenirs beladen; mehr davon gab es rund um den Aloha-Turm und am Pier selbst zu kaufen. Zahllose Wimpel zierten die Schiffe vom Bug bis zum Heck, Maddox war sich nie sicher, ob ein Schiff gerade anlegte oder wieder auslief. Sein Leben lang hatte er den Pazifik um sich gehabt und war dem Meer doch ein Fremder geblieben. Er mied den Ozean. So weit er sich zurückerinnern konnte, hatte er auf den Straßen und Gassen Honolulus gelebt. Sie waren sein Element. Er fuhr zu den Piers, weil er den Aloha-Turm liebte, der alle Neuankömmlinge in Honolulu freundlich willkommen hieß. Maddox fand den knüppeligen Obelisk mit den vier Uhren wunderschön und nicht weniger eindrucksvoll und majestätisch als etwa die Pyramiden in der ägyptischen Wüste. Im Gegensatz zum Iolani-Palast war der Turm ein Teil von Maddox' Leben. Er war aufgewachsen mit der Uhrzeit des Turmes und empfand, wider alle Logik, eine Art Besitzerstolz für den Hüter des Hafens. Ja, der Dampfer würde bald auslaufen. Maddox sah die gepäckbeladenen Taxis heranrollen. Näherkommend konnte er die Passagiere beobachten, die aus anderen Taxis ausstiegen, Frauen, die ihre Koffer zählten, Straßenverkäufer, die alles mögliche feilboten, und zwei Polizisten, beide Hawaiier, die sich redlich bemühten, zwei Fahrstreifen für den Verkehr -8
freizuhalten. Maddox fuhr langsam weiter, beobachtete das Hin und Her und hörte, ohne es zu beachten, das Kloppklopp, Kloppklopp, Kloppklopp, bis er die Pferde plötzlich vor sich sah. Maddox trat auf die Bremse, um nicht in die Tiere hineinzufahren. Er packte das Lenkrad fest mit beiden Händen, der Wagen bockte und blieb stehen. Unmittelbar vor ihm passierte ein von zwei in der Farbe aufeinander abgestimmten Braunen gezogener, eleganter, vierrädriger Zweispänner die Straße. Es waren herrliche, ausgezeichnet zugerittene Pferde. Ihr Geschirr war reich mit Silber besetzt, und sie trugen kleine Glöckchen, die bei jeder Bewegung sanft läuteten. Das Klingen jedoch wurde von heiterem Rufen und Schreien übertönt, von der Fröhlichkeit der Herren und Damen, die im Wagen saßen. Sie fuhren zu einer Abschiedsfeier und wandten sich nun allesamt Maddox zu. »Wo haben Sie denn Ihre Pferde gelassen?« brüllte einer herüber, und »Pferd her oder Wagen weg!« ein anderer. »Wie steht's mit Ihren Pferdestärken?« brüllte ein Mann, und alle krümmten sich vor Lachen. Maddox grinste. Die gute Laune dieser Leute steckte an. Der Mann auf dem Kutscherbock stieß einen scharfen Pfiff aus, und die Pferde zogen an. Im Licht seiner Scheinwerfer sah Maddox, daß Hugh Osgood die Zügel hielt. Es war Osgoods Wagen. Seine Frau saß neben ihm. Sie waren beide ungefähr so alt wie Maddox. Er erinnerte sich, daß er bei ihrer Hochzeit in der Kirche Dienst gemacht hatte. Maddox war damals noch ein einfacher Cop gewesen, und an diesem Nachmittag hatte sicher ein ganzes Heer von Polizisten im Einsatz gestanden. Einfach alle waren zu dieser Hochzeit gekommen: von Hawaii, der Großen Insel, von Maui, von Kauai, aus allen Teilen der Vereinigten Staaten. Immer noch lächelnd, sah Maddox ihnen nach und freute sich an ihrer Freude. Er beobachtete, wie die Pferde einen scharfen Schwenk machten und nun geradewegs auf den Pier zuhielten. Maddox lachte. Osgood steuerte das Fahrzeug den Pier hinauf, um seine Passagiere unmittelbar vor der -9
Gangway abzusetzen. Wäre sie breit genug gewesen, Hugh Osgood würde mit seinem Wagen wahrscheinlich hoch aufs Deck gefahren sein. Maddox langte nach seinem Hut und fuhr langsam weiter, dann um den Turm, mitten durch das Gewühl von Fahrzeugen, Privatautos und Taxis und Lastwagen. Er machte einen großen Bogen und steuerte die City an. Er dachte an Hugh Osgood. Hugh Osgood war ein König eigener Prägung, dachte Maddox. Er und seine Frau waren König und Königin. Sie lebten wie König und Königin. Jeder kannte ihren Besitz. Man konnte den ganzen Iolani-Palast in einem Flügel ihres Herrenhauses unterbringen. Die Dienerschaft allein würde den Palast gefüllt haben. Maddox war nicht sicher, aber er hätte wetten können, daß Osgood besser lebte als irgendein hawaiischer König. Es gab auf dem Territorium auch noch andere Leute, die zu Osgoods Kategorie zählten. In Hawaii trug jetzt keiner mehr eine Krone, aber irgendwie war eine königliche Großfamilie nur durch eine andere ersetzt worden. Und die neuen Herrscher waren auch um vieles mächtiger. Ihnen gehörte das ganze Land und das Geld. Es gab jetzt in Hawaii nicht nur einen König, es gab zumindest fünf, und jeder Herrscher hatte sein eigenes Reich. Sie bestimmten, wer die Königreiche regierte. Martin Snelling residierte in dem Raum des Iolani-Palasts, der einst König Kalakaua als Schlafzimmer diente, weil Harvey Koster den früheren Buchhalter für das Amt des Gouverneurs ausgesucht hatte. Der kleinwüchsige Leonard Fairly, der seine Tauglichkeitsprüfung für die Aufnahme in den Polizeidienst nicht bestanden hatte, war jetzt Polizeichef, weil Hugh Osgoods Vater es so haben wollte. Leonard Fairly war ein Beamter in der Zivilverwaltung gewesen, als Jay Osgood ihn zum Polizisten gemacht hatte. Und weil Leonard Fairly in seiner Uniform mehr als albern aussah, behielt man ihn im Innendienst. Er war nie Streife gegangen, nie in einem Einsatzfahrzeug gesessen, nie hatte er von seiner Waffe Gebrauch gemacht. Maddox wußte -10
genau, daß Fairly nie eine Verhaftung vorgenommen, nie einen Strafzettel ausgeschrieben hatte, aber jetzt saß er im dritten Stock, ein kleiner Mann in einem großen Lehnsessel, und gab die Befehle. Maddox war bemüht, sich von Fairly fernzuhalten, und solange das funktionierte, beklagte er sich nicht. Zusammen mit dem Chef und Maddox gab es 284 Polizeibeamte, und 238 von ihnen waren hundertprozentige Hawaiier. Die meisten anderen hatten hawaiisches oder chinesisches Blut. Nur 23 waren Haoles, Weiße, aber sie hatten das Sagen. Maddox wußte, daß er nie einen Hawaiier im Chefbüro sehen würde. Es gab nur eines, worüber Maddox bei den Osgoods und Kosters gerne Beschwerde geführt hätte. Ihn interessierte es nicht, wieviele Japaner und Chinesen sie importiert hatten, um sie auf den Feldern und Pflanzungen arbeiten zu lassen, vor allem auf den anderen Inseln; ihm lag nur Honolulu am Herzen, aber er wollte, die Osgoods und Kosters sollten endlich etwas tun, um zu verhindern, daß die Menschenmassen sich gerade hier niederließen. Es sah manchmal so aus, als ob die ganze Welt unterwegs wäre und die Leute sich einbildeten, sie könnten für den Rest ihres Lebens unter einem Baum sitzen, sich mit Palmwedeln befächeln und der Hula zusehen. Maddox hatte beinahe den Fuß des Punchbowl erreicht, eines langgestreckten Lava-Plateaus, das sich am Rand des Geschäftszentrums erhob. Nur noch wenige Straßenzüge trennten ihn von Papakolea, ein großes hawaiisches Stadtviertel, das er nur selten besuchte. Hier lebten die Menschen in Hütten aus Kistenholz, kochten auf der Straße und verwendeten Ölfässer als Herde. Auf kleinstem Raum lebten zwei und drei Familien zusammen. In Papakolea war die Sterblichkeitsziffer doppelt so hoch wie bei den Hawaiiern auf den anderen Inseln. Doch Maddox' Sorge war das nicht. Ein Hawaiier war für ihn nur von Belang, wenn der Bursche Stunk machte. Für diesmal war seine Inspektionsfahrt zu Ende. Maddox -11
machte sich auf den Weg zu den Kneipen und den Mädchen. Er fuhr die Merchant Street hinunter und hielt an einer Ecke, nicht weit von einem Kino. Gummiknüppelschwingend kamen zwei Matrosen der Küstenwache am Wagen vorbei. Sie hatten weiße Uniformen an und Stoffkoppel umgeschnallt und trugen hohe Gamaschen. An der Hüfte baumelten Halfter mit 45er Pistolen. Als sie die Ecke erreichten und die Kreuzung überquerten, tauchten zu Maddox' Linken zwei Militärpolizisten auf. Wie die Küstenwache trugen auch sie Armbinden; auch sie hatten hohe Gamaschen und Stoffkoppel und Halfter mit den großen schwarzen 45er Pistolen. Auch sie schwangen ihre Gummiknüppel. »Angeber«, sagte Maddox laut, ohne den schmächtigen jungen Mann im dunklen Anzug zu bemerken, der, sein linkes Bein nachschleifend, hinter den Soldaten herhumpelte, dann jedoch stehenblieb, um ein paar Briefe in den Briefkasten vor dem Kino an der Ecke zu werfen. Der Hinkefuß war Tom Halehone, dreiundzwanzig Jahre alt. Er lebte in Papakolea, wo er auch geboren war. Er war Anwalt und praktizierte seit weniger als zwei Monaten. Er hatte ein Büro mit einem Schreibtisch, Stühlen und Telefon. Auf der Tür war in Großbuchstaben sein Name THOMAS HALEHONE angeschrieben, darunter RECHTSANWALT. Immer, wenn er sein Büro betrat oder verließ, las Tom Halehone die Türbeschriftung mit heimlichem und verlegenem Vergnügen. Tom kam Sonnabend ins Büro, weil es keinen anderen Ort gab, wo er hätte hingehen können, und weil es ein Refugium, eine Zufluchtsstätte war. Seine Behinderung war ein Geburtsfehler, der ihn von frühester Kindheit an zu einem Ausgeschlossenen gemacht hatte. Er hatte das rauhe, kratzende, demütigende Geräusch seines nachschleifenden Fußes sein Leben lang gehört, aber auch heute noch war es störend und demoralisierend, so sehr Schmähung und Erniedrigung und rief so viel Seelenqual und Selbstverachtung in ihm wach wie an dem Tag, als ihm zum ersten Mal bewußt geworden war, daß er nicht gehen konnte wie -12
seine Spielgefährten, als er, ängstlich und verwirrt, Mutter und Vater angesehen und ihrem Schweigen entnommen hatte, daß ein Makel an ihm haftete. Er war ein Krüppel; das war so unumstößlich wie der Verlust seiner Selbstachtung. Tom Halehone hatte den Nachmittag und den frühen Abend damit verbracht, Briefe an Studienkollegen in San Francisco zu schreiben. Er blieb eine Weile unschlüssig neben dem Briefkasten stehen. Er hatte spät zu Mittag gegessen und war nicht hungrig. Es war zu früh, um heimzugehen. Nach der Universität war Tom in sein Elternhaus zurückgekehrt, aber die Jahre in San Francisco hatten ihn verändert. Papakoleas insulare Geisteshaltung, die engstirnige Welt, in der seine Eltern lebten, das alles lag weit hinter ihm, und er fühlte sich unbehaglich in Gegenwart von Vater und Mutter. Er ging schließlich zum Kino hinüber und richtete den Blick auf die riesige Anzeige unter dem Schirmdach. Während er sich der Kasse näherte, suchte er in seiner Tasche nach Geld. Maddox griff nach dem Funkgerät, das in einer Metallhülle am Armaturenbrett hing, und drückte auf die Sprechtaste. »Maddox.« »Nicht viel Neues, Captain«, meldete sich der Diensthabende im Funkraum des Polizeipräsidiums. »Vor kurzem gab's Rabatz unten in der Nuuanu Street. Matrosen von einem chinesischen Frachter, die sich unbedingt die Schädel einschlagen mußten. Das ist alles bis jetzt.« »Ich bin im Zentrum«, sagte Maddox und schaltete das Gerät ab. Er sah einen Burschen vor der Kinokasse, der sein Wechselgeld einstrich und hineinging. Der Junge hatte ein schlechtes Bein. Es sah aus, als hüpfte er. Etwa fünf Kilometer weiter, hinter Waikiki, am Strand, saß, etwa fünfzig Meter vom Ufer weg, auf dicken Pfählen ein roh -13
zusammengezimmerter, windschiefer Gasthof, das Whispering Inn. Zufahrt für die Autos war eine Art Feldweg. Einen richtigen Parkplatz gab es nicht. Die Wagen standen rings um den Holzbau verstreut, einige parkten neben den Pfeilern, die keinen praktischen Zweck hatten; die Flut kam nie auch nur in die Nähe des Whispering Inn. Der erste Besitzer hatte auf Pfeiler bestanden, um seinem Lokal ein exotisches Aussehen zu geben. Überall waren Lampions angebracht. Im großen Saal standen Tische um die Tanzfläche herum. Das Podium für die Bands, das nur an Samstagabenden verwendet wurde, grenzte an die Küchenwand. Über dem Podium glitzerten Lichter und farbige Glasscheiben, die sich ständig im Kreis bewegten, wo mit wohl eine unwirkliche Stimmung erzielt werden sollte. Für diesen Abend war das Whispering Inn von einer Gruppe junger, in Pearl Harbor stationierter Navy-Offiziere in Beschlag genommen worden. Keiner der anwesenden Offiziere hatte einen höheren Rang als den eines Oberleutnants, und viele waren Fähnriche auf ihrer ersten großen Fahrt. Die Organisatoren dieses Abends hatten dem Eigentümer des Whispering Inn einen gewissen Geldbetrag zugesagt, und jeder teilnehmende Offizier hatte im voraus für das Essen und die Musik bezahlt. Alkoholisches war von den Gästen selbst mitgebracht worden: entweder von den Schmugglern gekaufter Okolehao oder von den Offizieren - zuweilen auch von ihren Frauen - selbst gebrannter Gin. Man hatte schon früh am Tage zu trinken bego nnen, teils in Privathäusern, wo man sich getroffen hatte, um dann gemeinsam zum Whispering Inn zu fahren, oder unmittelbar nach Ankunft der Gäste im Gasthof selbst. So kam es, daß, obwohl immer noch das Dinner serviert wurde, nur mehr sehr wenige Herren und Damen völlig nüchtern waren. Zwei Gäste hatten sich für eine Weile der lautstarken Gesellschaft entzogen. Wie schon vorher abgesprochen, hatten sie sich einzeln davongestohlen; jetzt standen sie ein gutes Stück hinter dem Gasthof, jenseits der letzten Reihe geparkter Autos. -14
Sie konnten weder gesehen noch gehört werden, obwohl sie ihr Gespräch mit großer Heftigkeit und Leidenschaft, mit Verlangen und Empörung, in Angst, mit Wut und Widerwillen führten. Als die Musik aufhörte, verstummten auch sie, und der Mann, Lieutenant Bryce Partridge, schlug der Frau mit der offenen Hand so hart ins Gesicht, daß er, von seinem eigenen Schwung fortgerissen, beinahe das Gleichgewicht verloren hätte. Es klang wie ein Pistolenschuß. Die Frau war Hester Anne Ashley Murdoch. Sie war dreiundzwanzig Jahre alt und noch nie in ihrem Leben von irgend jemandem geschlagen worden. Noch nie war ihr Schmerz zugefügt worden. Noch nie war sie Zeuge einer Gewalttat gewesen. Noch nie hatte sie eine Tür zuknallen gehört. »Was redest du da für einen Unsinn?« sagte Bryce Partridge. Sie hatten beide getrunken, aber Hester bedeutend weniger und nur, um nicht als Außenseiterin zu gelten. »Willst du mir vielleicht erzählen, ich war die große Liebe deines Lebens?« Von der Gewalt des Schlages brannte Hesters Gesicht wie Feuer. Die Nacht wurde dunkler. Hester taumelte vor Schmerz und Entsetzen. Bryce war ein anderer geworden. »Ich liebe dich«, stammelte sie, »und du hast gesagt, du liebst mich.« »Na klar, wir lieben uns«, entgegnete Bryce, »aber keine Drohungen, wenn ich bitten darf.« Er hob den Arm, und sie zuckte zusammen. Doch er deutete nur mit dem Finger. »Keine Drohungen!« »Aber ich bin schwanger!« rief Hester. Das mußte er doch begreifen. Sie waren jetzt aneinandergekettet. Sie mußten jetzt alle n gemeinsam die Stirn bieten. Sie mußten es Gerald und Ginny, der ganzen Welt mußten sie es sagen. Sie mußten der Welt mutig entgegentreten. Solange sie Bryce neben sich wußte, hatte sie keine Angst. »Du mußt etwas tun!« Sie hörte Bryce tief Atem holen. »So habe ich mir das nicht gedacht, Hester. Alles, was ich tun kann, ist zahlen. Und das werde ich.« Ein Fremder stand neben ihr. Einen ganzen Sommer -15
lang war Bryce sanft und zart gewesen. Er hatte jeden Tag zu einem beglückenden, jede Nacht zu einem rauschhaften Erlebnis gemacht. »Du hast es versprochen!« rief sie. Er drehte sich um, um nach Lauschern zu suchen, und wandte sich ihr wieder zu. »Nichts habe ich versprochen«, entgegnete er. »Ich habe nie etwas versprochen. Wir haben geredet. Wenn die Dinge anders lägen, sagte ich, hätte es etwas mit uns werden können. Hätte sein können.« Bryce schüttelte den Kopf. »Jetzt kannst du nichts anderes tun, als es schnell loswerden.« Hester hätte sich beide Ohren zuhalten mögen. Seine Worte waren wie Kanonendonner. »Ich liebe dich«, entgegnete sie. »Nicht Gerald liebe ich, ich liebe dich. Ich habe nie einen anderen geliebt. Ich will keine Abtreibung. Ich will dich. Ich will dein...« Bryce unterbrach sie. »Du wirst mir das nicht anhängen, Hester«, sagte er. »Ich lasse mir von niemandem etwas anhängen. Nicht vier Wochen, bevor die Beförderungslisten veröffentlicht werden!« »Du hast es nie ehrlich gemeint, nicht wahr?« versetzte Hester. »Es war nicht nur Ginny, es war die Navy!« »Natürlich ist es die Navy! Weißt du denn gar nichts von mir? Die Navy ist alles, was mich interessiert. Ich bin die Navy!« »Alles ziehst du in den Dreck«, warf Hester ihm vor. »Ich fühle mich wie Dreck.« Sie streckte die Hand nach ihm aus, aber er schlug die Finger barsch zurück. »Du wirst mir nicht mein Leben kaputtmachen«, sagte Bryce und kam noch näher. »Mach mir keine Schwierigkeiten, Hester. Tu's nicht. Du befindest dich hier nicht ausschließlich unter Gentlemen. Glaub mir.« Zu ihrer Überraschung wandte er sich ab und ging auf den Gasthof zu. Er verließ sie! Sie würde ihn verlieren! Er würde nicht wiederkommen! Sie konnte es nicht ertragen! In diesen wenigen kurzen Monaten hatte er eine Frau aus ihr gemacht, einen neuen Menschen. Sie war verwandelt, hatte jeden Tag -16
jubelnd willkommen geheißen. Hester war noch fast wie ein Kind gewesen. Ihr Vater, den sie abgöttisch geliebt hatte, starb, bevor sie sechs Jahre alt wurde, und eine Mutter, die Vollendung von ihr erwartete, hatte sich ihrer Erziehung angenommen. Durch das Betragen, das Ritual, das ihre Mutter forderte, wurde sie in eine innere Welt gezwungen. Hesters Vater hatte Bücher geliebt und ihr seit den Tagen ihrer Kindheit immer wieder vorgelesen. So fand sie einen Weg, um der realen Welt zu entkommen, indem sie zu einer alles verschlingenden, unersättlichen Leserin wurde. Diese Besessenheit blieb ihr. Zu sich selbst fand sie nur, wenn sie mit einem Buch allein war. Sie war schlank und hatte ein nettes Gesicht mit einem vollen Mund und hellen blauen Augen. Sie hätte attraktiv sein können, aber sie besaß kein Selbstvertrauen und hielt sich für linkisch. Ihre Mutter setzte Schönheit mit Chic gleich, und ihre ständigen Ratschläge riefen in Hester einen stillen Aufstand hervor, der bestehen blieb. Hesters Lebensform wurde von einer Mutter erzwungen, die der Sicherheit kameradschaftlicher Geselligkeit schon bedurfte, wenn sie morgens die Augen aufschlug. Hester hatte versucht, ihr zu entkommen. Sie hatte geglaubt, Gerald würde sie retten, aber er hatte versagt, ihrer beider Bemühungen blieben ohne Erfolg. Wenige Wochen nach ihrer Eheschließung wußte Hester, daß sie verdammt war. Bryce veränderte alles. Diesen ganzen Sommer über lebte sie in einem einzigen Wirbel der Gefühle. Seine Stimme erregte sie. Sein Anblick ließ sie erbeben. Seine Hände, sein Mund, sein Körper an ihrem, in ihrem, ließ sie in Verzückung geraten. Sie glaubte, über alles Menschliche hinausgewachsen und unsterblich geworden zu sein. Aus jeder Stunde, die sie miteinander verbrachten, aus allem, was sie taten, formte Bryce einen Akt melodramatischen Wagemuts. Sie konnte nicht in die Trostlosigkeit ihrer Ehe zurückkehren. Sie konnte Bryce nicht aufgeben. Er war ihre einzige Chance. »Bryce, warte!« Unbeholfen in ihren Stöckelschuhen, die sie eigentlich -17
verabscheute, eilte Hester ihm nach. »Bryce, du kannst jetzt nicht gehen!« Er blieb nicht stehen. Er machte sich nichts aus ihr! Das dumpfe Sichfügen eines ganzen Lebens wandte sich plötzlich zu sinnloser Wut. »Ich werde deiner teuren Ginny mein eigenes Willkommensgeschenk überreichen!« sagte Hester. Als sie Bryce eingeholt hatte, packte er sie mit dem linken Arm um die Taille und hielt mit dem anderen ihre Handgelenke fest. »Nein«, sagte Bryce, »o nein, das tust du nicht. Du läßt Ginny in Frieden.« Bryce senkte den Kopf, blickte auf sie hinab und schloß die Welt aus. »Halt dich fern, Hester. Ich habe dir gesagt, ich werde zahlen. Es gibt weiter nichts zu verhandeln, Hester.« »Aber du zahlst ja nicht!« rief sie, und ihr brach das Herz. Sie wand sich in seinem Griff. Sie war eine andere geworden. Sie trat ihn. »Ich zahle! Ich allein zahle, und ich will, daß ihr beide mitzahlt!« Bryce hielt sie fest. Sie tat ihm weh, trat ihn immer wieder, kratzte und schwang ihren freien Arm, um ihn zu schlagen. Sie war wie besessen. Die Enttäuschungen eines ganzen Lebens hatten sie zu einer Wahnsinnigen gemacht, die sich an einer Fremden, an Ginny Partridge, rächen wollte. »Ginny!« schrie Hester. »Ginny!« brüllte sie, so laut sie konnte. »Ginny!« Sie mit dem linken Arm festhaltend, holte Bryce mit der Faust aus und schlug ihr mitten ins Gesicht. Ihr Kopf kippte zurück, und sofort fing Hester an zu bluten. »Ahhhhhhh«, machte sie, und Bryce versetzte ihr noch einen Schlag. Sie taumelte und begann auf den Gasthof zuzulaufen. Bryce packte sie, hielt ihren Arm wie den einer Tanzpartnerin schwang sie herum und schlug sie abermals ins Gesicht. Hester sackte zusammen, aber es gelang ihr dennoch, auf den Beinen zu bleiben. Sie blutete. Hester bedeckte ihr Gesicht mit den Händen und lief los - in die dem Whispering Inn entgege ngesetzte Richtung. Bryce Partridge folgte ihr. Wie ein Wahnsinniger drosch er auf ihren Rücken ein, wobei er Arm und Faust wie einen Hammer gebrauchte. Hester brach in die Knie. Sie kroch auf allen vieren weiter; Nadeln stachen sie ins -18
Gesicht. Sie fing an zu kriechen, aber er ließ nicht ab von ihr. Er beugte sich nieder, riß sie mit beiden Händen von der Erde hoch und schlug mit beiden Fäusten immer wieder auf sie ein. Daß Hester existierte, war eine Herausforderung. Er mußte sie beseitigen. Nur das plötzliche Auftauchen von Scheinwerfern zu seiner Linken, ein aus Waikiki kommender Wagen, rettete Hester. Bryce ließ sie fallen und machte sich davon. Er keuchte, und seine Arme schmerzten. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn, während er erschöpft auf den Gasthof zuschwankte. Bryce Partridge wußte, daß er sich in größter Gefahr befand. Wieder einmal war er in jene Raserei verfallen, die aus ihm einen hemmungslosen Gewaltmenschen machte. Seit jener Nacht in Newport News, als er zwei Rabauken, die sich mit ihm angelegt hatten, zusammenschlug und sie im Schneematsch liegen ließ, war es ihm fast zwei Jahre lang gelungen, seinen Jähzorn zu bezwingen. Und nun drohte diese Frau, die er jetzt allein zurückgelassen hatte, ihn zu verderben. Während sein Herzschlag ruhiger wurde, sein Atem wieder gleichmäßiger ging, das Zittern in seinem Körper nachließ und seine Wut verklang, kam er wieder zur Vernunft. Die Band fing wieder an zu spielen. Aus dem Gasthof hörte er Stimmen. Vor sich sah er ein Paar, das eng beieinanderstand und nach einem Plätzchen suchte, wo es ungestört sein konnte. Bryce bog scharf ab, um nicht gesehen zu werden. Erst dann bemerkte er, daß sich das Paar von ihm weg zum Ufer hin bewegte. Er mußte sich genau visitieren: Kleidung, Hände, Haar, Schuhe. Hester hatte geblutet. Bryce blieb im Schatten und schlich um den Gasthof herum, um zu seinem Wagen zu gelangen. Unter der Deckenleuchte konnte er sich zurechtmachen. »In Ordnung bringen«, sagte er laut. »In Ordnung bringen.« Bryces Hände, Finger und Knöche l waren blutig. Er nahm sein Taschentuch, nachdem er es mit Zunge und Lippen angefeuchtet hatte, und wischte dann den großen Ring an seiner linken Hand ab. Er kämmte sich und hob den Kopf, um sich im Rückspiegel zu -19
betrachten. Du darfst nicht laufen!, erma hnte er sich. Du darfst nicht laufen! Er stieg aus dem Wagen. Er brauchte Ginny, er brauchte sie. Er mußte bei seiner Frau sein, jetzt sofort, noch bevor Hester auftauchte. Er hatte nur eine Chance, nur eine! Er mußte alles ableugnen, jedes Wort, das Hester aussprach, jede Beschuldigung, die sie erhob. Er hatte nie den Gasthof verlassen. Er hatte sich nicht weggerührt, seit sie hier eingetroffen waren. Er war auf der Toilette gewesen und hatte Ginny nur ein paar Minuten allein gelassen. Bryce stand neben den Pfeilern und wartete. Die Band machte gerade wieder Pause. Er konnte nicht hineingehen, solange die Tanzfläche leer war und alle an ihren Tischen saßen. Als die Musik wieder einsetzte, eilte er in den Saal zurück. Alles war auf den Beinen und tanzte. Bryce bahnte sich seinen Weg. Er suchte Ginny. »Verzeihen Sie«, sagte er, »Entschuldigung«, und »Tut mir leid«. Fast wäre er mit Ginny zusammengestoßen. Sie war direkt vor ihm, mit dem Rücken zu ihm. Er gab ihrem Partner einen leichten Klaps. »Jetzt bin ich dran, Freund«, sagte er lächelnd. Als sie in seine Arme kam, fühlte er ihren vertrauten Körper und hätte die Augen schließen mögen. »Toilette«, murmelte er, ohne ihre Frage abzuwarten. »Willkommen daheim«, flüsterte Ginny ihm ins Ohr und küßte ihn auf die Wange. Er fühlte ihre Zunge. Ginny Partridge konnte ihm nicht nahe genug sein. Sie preßte sich an ihn. Bis vorgestern waren die letzten sieben Monate ein einziger Alptraum gewesen. Ihre Trennung hatte sie auf ihre Weise so hilflos und verzweifelt gemacht wie ihre Mutter, die an Krebs gestorben war. Als Bryce nach Pearl Harbor abkommandiert wurde, kehrte Ginny nach Duluth, in das Haus ihrer Eltern und ihr eigenes Zimmer zurück. Auch ihr Vater war krank und alt, und sie konnte ihm seine Bitte nicht abschlagen. »Es wird ja nicht lange dauern«, hatte ihr Vater gesagt. Ginny konnte es nicht erwarten, bis ihre Mutter starb. Sie hatte keinerlei Schuldgefühle, als sie Duluth verließ. Für ihre Mutter war das Leben zu Ende, und für Ginny fing es gerade erst an. Sie gehörte zu Bryce. -20
Ginny Partridge war eine üppige, vollbusige, nicht besonders attraktive Frau. Ihre Gesichtszüge waren scharf und gewöhnlich, ihre Lippen wulstig und ihre Hände nicht gerade klein. Ihr langes Haar hatte sie zurückgekämmt und zu einem Knoten aufgesteckt. Aber sie besaß eine gewisse körperliche Anmut, die erotisch wirkte. Die Männer sahen ihr begehrend hinterher. Ginny und Bryce befanden sich in der Mitte der Tanzfläche, und das Orchester inmitten einer Nummer, als Ginny zu tanzen aufhörte. Sie nahm ihn an der Hand und führte ihn zu ihrem Tisch. »Müde?« fragte Bryce, wachsam nach Hester Ausschau haltend, bereit für Hester, die ihm und seiner Frau entgegentreten würde, seiner Frau, von deren Seite er heute nie gewichen war. »Ich kann es kaum ausha lten, wenn ich dir so nahe bin«, flüsterte Ginny. »Das geht vorüber«, sagte Bryce, aber sie kannten beide die Wahrheit. Bryce kannte Ginnys Geheimnisse, ihre heiße Lust im Dunkel in seinen Armen. Weil er sich ihr anpaßte, war er grob zu ihr, ungehobelt und fordernd, und Ginny genoß es. Nachher weckte sie ihn oft wieder, weckte ihn mit ihren Fingern, flüsterte ihm ins Ohr, wählte ihre Worte mit Bedacht, ging auf seine Plumpheiten ein. Auch jetzt flüsterte sie. »Guten Abend«, sagte Bryce zu einem Bekannten, und zu ihr: »Unterhältst du dich?« Sie nickte und hielt ihn fest. »Es ist deine Party«, sagte er. »Sie heißen dich willkommen.« »Es ist alles wunderbar«, erwiderte sie. »Du und Hawaii und unser Häuschen und die Party.« Sie erreichten ihren Tisch, der für sechs gedeckt und nun verlassen war. Sie betrachtete die jungen Leute auf der Tanzfläche. »Sie sind alle so nett«, fügte sie hinzu. Er hielt ihr den Stuhl. »Ja, das sind sie«, nickte Bryce. Er kannte jeden einzelnen hier im Whispering Inn. Er wußte, was sie wert waren. Mit vielen war er zur See gefahren, mit Männern, die einen höheren, und solchen, die einen niedrigeren Dienstgrad hatten. Es gab keinen, -21
dessen Fähigkeiten er nicht auf Anhieb bestimmen konnte, und dazu brauchte er keine Dienstbeschreibung. Es waren alles gute Leute, Navy-Offiziere eben; sie kamen von der Akademie, und Bryce Partridge hielt dieses legitimierende Element für das lohnendste, kennzeichnendste und glänzendste, das ein Mann erstreben konnte. »Es ist eine wunderbare Party«, sagte Ginny. Sie nahm seine Hand und küßte sie, gab sie aber nicht wieder frei. Ihr Daumen lag auf seinem Ring. »Was ist mit deinen Knöcheln? Hast du dir weh getan?« »Nein«, antwortete Bryce und zerrte an seiner Hand, aber Ginny hielt sie fest. »Was ist passiert, Bryce?« Er zog kräftiger und befreite sich. »Ich sagte es doch schon. Nichts ist passiert.« Er verbarg beide Hände hinter seinem Rücken und lächelte sie an. »Ich habe aus Verzweiflung an die Wand gehämmert.« »Das ist nun vorbei«, sagte Ginny. »Für immer.« »Hat einer von euch Hester gesehen? Meine Frau?« Ginny blickte auf den schlanken Mann im dunklen Straßenanzug; er war betrunken. Bryce legte seinen Arm um Ginny. »Du kennst ja den Burschen«, sagte er. »Gerald Murdoch.« »Entzückt, Sie an Bord zu haben«, sagte Gerald Murdoch. Er beugte sich über den Stuhl. »Ihr Gatte ist ein schneidiger Offizier.« »Darauf trinken wir einen«, sagte Bryce und langte nach der Flasche Okolehao auf dem Tisch. Er mochte keinen Alkohol, traute ihm nicht. »Gerald?« Gerald nickte; er schwankte ein wenig. Bryce schenkte ein. Gerald hob sein Glas. »Auf deine Gesundheit«, sagte er. Sie tranken, und dann trat Gerald einen Schritt zurück und knallte die Hacken zusammen. »Auf den Admiral«, sagte Gerald. »Aber sicher«, gab Bryce zurück und lächelte Ginny Nachsicht heischend an: »Auf den Admiral!« -22
Gerald leerte sein Glas. »Hast du Hester gesehen?« Bryce zuckte die Achseln und hob die Hände in einer Geste des Bedauerns. »Hester hat sich in Luft aufgelöst«, brummte Gerald und verbeugte sich vor Ginny. »Darf ich um diesen Tanz bitten, Mrs. Partridge?« »Bist du sicher, daß ich dir meine Frau anvertrauen kann?« fragte Bryce. Er lächelte immer noch, während sie davontanzten. Er wandte ihnen den Rücken zu, hob seine Hände, legte sie auf den Bauch und betrachtete seine Knöchel. Dann stand er auf und blickte zum Eingang hinüber. Wo war sie? Etwa eine halbe Stunde später erreichte ein Wagen mit vier jungen Männern die unbefestigte Fahrstraße, die am Strand zu Ende war. Rechts vor ihnen lag das Whispering Inn. Der Wagen war ein schwarzgelbes Ford Cabriolet, Baujahr 1929, blitzend und funkelnd, auf Hochglanz poliert, mit glänzenden, nickelplattierten Stoßstangen und strahlenden Scheinwerfern. Joe Liliuohe, fünfundzwanzig Jahre alt, saß am Steuer. Der Wagen gehörte seiner Schwester. Sie besaß ihn seit einem Monat und hatte heute abend zum ersten Mal einem anderen Menschen, nämlich ihrem Bruder Joe Liliuohe, gestattet, ihn zu fahren. Joe und seine drei Freunde hatten jeder etwas dazugegeben, um den Tank zu füllen, denn der Handel, sein Handel, den er den anderen aufgezwungen hatte, sah vor, daß er den Wagen seiner Schwester mit vollem Tank zurückgeben würde. Joe wußte, was das Cabriolet für seine Schwester bedeutete. Seit der High-School hatte sie eisern auf den Wagen gespart. Das Verdeck war zurückgeschlagen. Harry Pohukaina und Mike Yoshida saßen auf den hinteren Sitzen, David Kwan saß vorn neben Joe Liliuohe. Keiner der vier hatte je einen Wagen besessen, obwohl Mike Yoshidas Vater, ein Lkw-Fahrer, gelegentlich abends den Lieferwagen des Chefs mit nach Hause brachte. Sie waren seit halb sieben ununterbrochen unterwegs und von allen neidischen Freunden und Bekannten gesehen worden. Sie waren überall gewesen. Nur, weil er schon nicht mehr wußte, wo er noch hin -23
sollte, war Joe Liliuohe jetzt hier, nahe dem Whispering Inn am Ende der Straße. Er wollte schon umkehren, als David Kwan »Halt!« rief und Joe vor Schreck ins Lenkrad griff. »Halt an, Joe!« brüllte er. »Halt!« In einer einzigen Bewegung stieß Joe Davids Hand weg und trat auf die Bremse. Erst jetzt sah er im Scheinwerferlicht vor sich den leblosen Körper einer Frau. Wie ein flehentlicher Hilferuf lag ein weißer Arm steif und scharf abgewinkelt über ihrem Haar. »Mein Gott!« murmelte Joe und war schon aus dem Cabriolet gesprungen. David Kwan erhob sich und umkrallte den oberen Rand der Windschutzscheibe. Auch Mike Yoshida und Harry Pohukaina waren aufgestanden. »Es ist eine Haole«, sagte Harry. Einer weißen Frau wegen waren sie stehengeblieben. »Laßt uns schleunigst Leine ziehen«, sagte Harry. Er hatte Angst. Alle drei hatten Angst. Auch Joe Liliuohe hatte Angst, aber, du lieber Himmel, sie lag da... vielleicht war sie tot. Er hatte noch nie einen toten Menschen gesehen. Er ging um sie herum. Er wollte ihr Gesicht sehen. Ihm war mulmig zumute, aber irgend etwas mußte er tun. Ob sie wohl noch lebte? »Atmet sie?« fragte David und blieb drei Meter vor ihr stehen. »Joe, wir sollten abhauen«, meinte Harry Pohukaina, der mit Mike Yoshida hinter David stand. »Wir könnten anrufen«, schlug Mike vor. »Aber ohne unsere Namen zu nennen«, warnte Harry Pohukaina. »Haltet doch endlich die Klappe«, sagte Joe, den das ärgerte, obwohl auch er wie sie das Gefühl hatte, sie sollten sich aus dem Staub machen. Aber er konnte nicht weglaufen und die Frau einfach liegenlassen. Voller Unbehagen hockte er sich nieder, hob den weißen Arm an und griff nach dem Handgelenk der Frau. Er hörte jemanden hinter sich und sah Davids Beine. »Weißt du, wie man merkt, ob einer tot ist?« fragte Joe. »Verziehe n wir uns, Harry«, sagte Mike Yoshida. Harry rührte sich nicht, und Mike auch nicht. »Ich muß sie umdrehen«, sagte Joe. »Helft mir, sie umzudrehen.« David wich zurück, bis er mit Mike Yoshida -24
zusammenstieß. Joe schob einen Arm unter den Kopf der Frau, den anderen unter ihre Knie. Langsam, ganz langsam drehte er sie auf den Rücken. »Mein Gott, seht euch ihr Gesicht an«, murmelte David. Mike Yoshida kam näher und beugte sich vor, als ob er am Rand eines Abgrunds stünde. Harry stellte sich neben ihn. »Was hat man mit ihr gemacht?« fragte Mike entsetzt. Als Harry die Frau sah, fröstelte er. »Es ist Hester Ashley!« rief Harry und verwünschte Joe und den verdammten Wagen seiner Schwester. »Ich verdufte!« »Hester Ashley?« Mike konnte es nicht glauben. Noch einmal beugte er sich über den Abgrund. »Ja, das ist sie! Joe, ich sag's dir noch mal, wir müssen weg von hier!« »Hau doch ab!« fuhr Joe ihn an. »Oder halt zumindest die Klappe.« Ihr Kopf bewegte sich auf seinem Arm. Joe hörte ein leises Stöhnen. »Ihr Bein hat sic h bewegt!« rief David. »Ich hab gesehen, wie sich ihr Bein bewegt hat!« »Wir müssen sie ins Krankenhaus bringen«, sagte Joe. »Wir könnten den Rettungsdienst verständigen«, schlug Harry Pohukaina vor. »Mach, was du willst«, sagte Joe. »Hilf mir, Dave.« »Joe, es ist Hester Ashley«, sagte David. »Ich mach es selbst«, erklärte Joe. »Ich fahre sie ins Krankenhaus und komme gleich zurück. Hester Ashley. Ist mir doch gleich, wer sie ist. Man kann nicht einfach wegfahren und sie so liegenlassen.« Er stemmte die Frau hoch und hob sie auf. Er war starr vor Angst. »Mach die verdammte Wagentür auf, David.« David lief voraus, und Joe trug Hester zum Wagen. Er beugte sich über sie, irgendein Haken am Wagen riß ihm die Hand auf, aber er hielt sie fest und ließ sie auf den Vordersitz sinken. »Ich bin gleich wieder da«, versprach er den anderen. »Ich komme mit«, sagte David. »Hier bleiben wir nicht«, sagte Mike. -25
»Beeilt euch«, drängte Joe. »Hier, durch meine Tür! Beeilt euch!« Er wollte die Sache schnell hinter sich bringen. Er hatte nicht die geringste Lust, Doris Ashleys Tochter die ganze Zeit neben sich sitzen zu haben! Als alle drei auf den Rücksitzen saßen, sagte einer: »Klapp das Verdeck zu Joe«, und ein anderer: »Verdammt, ja, bevor sie uns sehen!« Aber da wendete Joe schon den Wagen und steuerte das Mercy Hospital an. Er konnte Musik aus dem Whispering Inn hören. »Ich klappe das Verdeck nicht zu. Meine Schwester will es so haben.« Er warf einen Blick auf Hester Ashley. Ihr Gesicht verursachte ihm Brechreiz. »Außerdem könnte sie sterben, während ich noch mit dem verdammten Verdeck herummurkse.« David Kwan beugte sich vor. Er konnte es nicht ertragen, Hester anzusehen, aber er mußte es tun. »Was glaubst du, was da passiert ist?« »Fäuste haben das getan«, meinte Joe. »Fäuste!« Harry Pohukaina hätte aus dem Wagen springen mögen. »Gib Gas!« sagte er. »Mach schon!« Joe fuhr bereits fast Höchstgeschwindigkeit. Er konnte nicht riskieren, noch schneller zu fahren. Er spähte nach allen Seiten und wich auf verkehrsarme Straßen aus, um zum Mercy Hospital zu gelangen. »Dort ist es«, sagte Mike Yoshida, halb stehend auf dem Rücksitz. »Siehst du es auch, Joe?« Joe blieb stumm. Einer Reihe hoher Oleanderbäume entlang kam er von hinten an das Krankenhaus heran. Sie sahen den breiten Lichtteppich, der sich über die halbe Straße erstreckte. NOTAUFNAHME stand auf einem großen, erleuchteten Schild. Joe trat auf die Bremse und stoppte den Wagen. Ein Polizeiauto war neben der Doppelschwingtür geparkt. »Laß mich gleich hier raus«, sagte Harry Pohukaina. »Heiliger Bimbam! Polypen!« rief Mike Yoshida. Keiner der vier sah, wie Hester sich auf dem Vordersitz aufrichtete. Sie fühlte die kühle Nachtluft auf ihrem -26
wunden Gesicht. Als sie ihr Bewußtsein wiedererlangte, erinnerte sie sich zunächst an gar nichts. Auch nicht an Bryce Partridge. Sie empfand nur wilde, bohrende, unerträgliche Schmerzen. Ihr Gesicht brannte, als ob es in Flammen stünde. Sie hatte das Gefühl, als ob in ihren Wangen Nadeln steckten, Tausende von scharfen Nadeln. Die Zähne taten ihr weh. Ihre Lippen waren aufgeplatzt. Sie versuchte den Mund zu öffnen; als es ihr endlich gelang, hätte sie vor Schmerzen schreien mögen. Sie sah den Fremden neben sich und hörte jemanden sagen: »Schnell, bevor die Bullen auf uns aufmerksam werden.« Hester drehte sich um, sah die drei dunklen Gesichter auf den hinteren Sitzen und hörte David Kwan sagen: »Sie ist aufgewacht, Joe.« Harry Pohukaina konnte sich vor Angst nicht rühren. Er sah, wie Joe den Arm nach Hester ausstreckte. »Ich werde Ihnen helfen«, sagte Joe. Hester versuchte zu schreien und fingerte an der Wagentür herum. Sie mußte weg, bevor er wieder anfing, sie zu schlagen. »Sie sind verletzt«, sagte Joe. »Wir sind beim Mercy Hospital. Ich werde Ihnen hineinhelfen.« »Fassen Sie mich nicht an!« schrie sie. Sie mußte die Tür aufbekommen. »Fassen sie mich nicht an!« Wie eine Irre stolperte sie aus dem Wagen; zu schwach, auch nur einen Schritt zu tun, klammerte sie sich an die offene Tür. »O Joe, bitte, fahr los, bitte!« flehte Harry. »Sie ist verrückt.« »Wärst du das nicht auch, wenn jemand dir das angetan hätte? Ich bring sie ja nur zum Eingang«, erwiderte Joe. Er rutschte über die Sitzbank, während sich Hester schwankend und schreiend vom Cabrio wegbewegte. »Hilfe!« Jemand mußte ihr helfen. »Hilfe!« kreischte sie. Er würde sie wieder schlagen. Er würde sie töten. Sie war sicher, daß sie sterben würde, bis sie dann den Mann sah und begriff, daß er ihr nichts getan hatte. Bryce hatte sie geschlagen. Hester erinnerte sich an alles, auch an das Baby in ihrem Schoß. -27
David Kwan sah, wie die Tür der Notambulanz aufging. Er sah einen weißgekleideten Arztgehilfen, der sie offenhielt. Er sah den Polizisten neben dem Arztgehilfen und hinter beiden einen Arzt, auch er weiß gekleidet, der sich einem Mann zuwandte, der im Aufnahmeraum auf einem Tisch lag. David stürzte auf Joe und hielt ihn mit beiden Armen fest. »Ein Bulle!« rief er. Joe schüttelte ihn ab. David sprang in den Wagen, Joe hinter ihm her. Der Arztgehilfe trat ins Freie. »Schnell, schnell!« rief David. »Setz zurück!« Der Polizist stand hinter dem Arztgehilfen und beobachtete das schwarzgelbe Cabrio. Der Arztgehilfe erreichte Hester, als der schnittige Ford auf die Straße und ins Dunkel hinausfuhr. »Nicht schlagen!« ächzte die Frau und verlor wieder das Bewußtsein. Der junge Mann, sein Name war Peter Monji, packte Hester, bevor sie zu Boden sinken konnte. »Helfen Sie mir!« sagte er, und dann lauter: »Wollen Sie mir nicht helfen?« Der Polizist sah den Ford davonsausen. Er kam auf Peter Monji zu und griff nach der Frau. Gemeinsam schleppten die zwei Männer Hester zur Tür. »Haben Sie gesehen, was die mit ihr gemacht haben?« fragte Peter Monji. Der Polizist blickte auf die Frau. Ihr Gesicht war Hackfleisch. Er sah noch einmal hin. Es war eine Weiße. Sie erreichten den Aufnahmeraum, und im hellen Licht sagte der Cop: »Warten...«, und verstummte. Es war Hester Ashley. »Wo legen wir sie hin?« fragte er. Er mußte die Zentrale anrufen und Curt Maddox informieren lassen. Fünf Ecken weiter sagte David Kwan: »Fahren wir nach Hause, Joe, okay?« Joe nickte, aber David konnte ihn im Dunkeln nicht sehen. »Joe?« »Und was meint ihr?« fragte Joe. Er hörte das zustimmende Brummen auf den Rücksitzen. Die Spritztour war scheußlich zu Ende gegangen. Joe konnte es gar nicht mehr erwarten, Sarah den Wagen zurückzugeben. Er hielt auf den Punchbowl zu. Alle vier -28
wohnten in Papakolea. Sie fuhren schweigend weiter. Sie dachten an Hester Ashley, an ihr Gesicht, an diese seltsame, ihnen unverständliche Welt, in der jemand eine Frau so zurichten konnte. »Ich versuche die ganze Zeit, ihr Gesicht vor meinen Augen auszulöschen, aber ich sehe sie immer noch vor mir«, sagte Mike Yoshida. »Ja, genau, mir geht es auch so. Aber jetzt sei still«, brummte Harry Pohukaina. Er versuchte das Gesicht der Frau nicht länger zu sehen, aber es gelang ihm nicht. Er lehnte sich zurück und ließ seinen Arm über die Tür ins Freie hängen. Sein Blick fiel auf einen Betrunkenen, der vom Gehsteig heruntergeschwankt kam. David stieß Joe an, um ihn auf den Mann aufmerksam zu machen. »Ich sehe ihn«, sagte Joe. Er war sicher, daß er leicht an dem Betrunkenen vorbeikommen würde, aber einen Augenblick später änderte der Mann seine Richtung und kam geradewegs auf das Cabrio zu. Der Schnapsvogel hatte das Gleichgewicht verloren und schien jeden Augenblick zu stürzen. Joe riß das Lenkrad herum und kam ein gutes Stück auf die Gegenfahrbahn, nur wenige Meter vor einer Kreuzung. Bevor Joe noch auf seine Fahrbahn zurücksteuern konnte, bog eine schwarze Oakland-Limousine, groß wie ein Scheunentor, um die Ecke und hielt geradewegs auf das Cabrio zu. Beide Wagen kamen mit einem Ruck zum Stehen und warfen ihre Insassen durcheinander. Der Oakland war voller Matrosen in Zivil, und der Fahrer beugte sich weit aus dem Fenster, um Joe zu beschimpfen. Joe erhob sich und zeigte auf den Betrunkenen, dem er ausgewichen war, doch der Matrose gab keine Ruhe und bedachte auch Joes Mutter mit einer Schimpfkanonade. Mit einem Satz war Joe über die Tür des Cabrios gesprungen, hinter ihm kam Harry Pohukaina und wickelte sich ein Taschentuch um die Hand. Die vier Türen des Oakland sprangen auf. Mehrere Matrosen kamen heraus, aber der Ford war bereits leer. Seinen Freunden voran stürzte sich Joe in den Kampf. »Laßt sie nicht an -29
den Wagen ran«, brüllte er und nahm sich den Fahrer des Oakland vor. Der Matrose wußte seine Fäuste wohl zu gebrauchen. Er traf Joe dreimal, bevor dieser zuschlagen konnte. Aber die Amerikaner hatten seit Stunden getrunken, und Joe und seine Freunde tranken niemals. Obwohl sie den Matrosen zahlenmäßig unterlegen waren, hätten die vier jungen Einheimischen keine Probleme mit ihren Gegnern gehabt, wären sie nicht bedauerlicherweise zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen. Aber es war Samstagnacht und sie befanden sich im Zentrum Honolulus. Die Straßen waren voll mit amerikanischen Matrosen und Soldaten, und das Gerücht machte schnell die Runde: Strandvögel haben Angehörige der US-Streitkräfte angegriffen! Schrille Pfiffe ertönten, als Militärpolizei und Küstenpatrouille zu Fuß und im Streifenwagen dem Ort der Auseinandersetzung zustrebten. Über Funk erfuhr Maddox von der Schlägerei, aber er hatte schon von Hester gehört und befand sich auf dem Weg ins Mercy Hospital. Die meisten der an der Prügelei Beteiligten konnten sich noch davonmachen. Joe und seine Freunde wurden von Soldaten, Küstenpatrouille und Militärpolizei umringt. Was nun folgte, war reine Routine. Diejenigen, die Dienstausweise vorzeigen konnten, wurden in Militärfahrzeuge verladen, die sie zu Schiffs- oder Militärgefängnissen brachten. Für die Zivilisten waren es die schwarzen Gefängniswagen der Polizei. Joe Liliuohe hatte nur eine einzige, brennende Sorge: der Wagen seiner Schwester. Er mußte das Cabrio beschützen. Sich windend und krümmend gelang es ihm, auszubrechen und den Ford zu erreichen. Mike Yoshida folgte ihm. »Sie haben Harry und David geschnappt«, meldete Mike. Joe hatte den Wagen angelassen und den Rückwärtsgang eingelegt. Er hoffte weit genug zurücksetzen zu können, um an dem Oakland vorbeizukommen. Fast wäre es ihm geglückt. Er war schon angefahren, als ein Matrose vom Oakland ihn sah. »Der hat angefangen!« brüllte der Matrose und zeigte auf ihn. Drei Polizisten sprangen zugleich auf den Ford zu. -30
»Ich fahre«, sagte einer. Eine Straßenecke weiter, inmitten brüllender Matrosen und knirschender Kupplungen, hektischen Schreiens und Pfeifens, kam Tom Halehone aus dem Kino. Ein Polizist sprang aus einem Streifenwagen, der eben angekommen war. Er sah Tom neben dem Briefkasten und packte ihn am Kragen, schob dann seinen Gummiknüppel hinter Toms Arme und drehte ihn ein wenig. »Eine Bewegung, und ich breche dir den Arm«, drohte der Cop. Es war die reine Wahrheit. »Ich war im Kino. Ich bin gerade herausgekommen.« »Alle sind gerade herausgekommen«, konterte der Polizist und drehte den Knüppel. Ein höllischer Schmerz durchfuhr den jungen Anwalt. Tom hörte eine Frau schreien. »Lassen Sie ihn los!« Der Polizist schob Tom zu einem Gefängniswagen. »Lassen Sie ihn gehen!« schrie dieselbe Stimme. Eine kleine Frau mit außergewöhnlich hohen Stöckelschuhen war es, die sich jetzt vor Tom und dem Polizisten aufpflanzte. Sie war die Kassiererin des Kinos. »Er war drin, wie er es Ihnen gesagt hat«, erklärte sie. »Das soll ich Ihnen wohl glauben?« »Ja, das sollten Sie. Und Sie sollten ihn sofort loslassen.« »Schwirren Sie ab, oder ich nehme Sie auch mit.« »Tun Sie's doch!« entgegnete sie. »Ich habe Ihre Nummer. Dreiachtzwo. Sie sind Nummer dreiachtzwo. Verhaften Sie mich, und wenn ich mit Ihnen fertig bin, werden Sie sich wünschen, mich nie gesehen zu haben.« Sie wartete. »Sie wollten mich doch mitnehmen, oder?« Der Polizist gab Tom frei und ließ beide stehen. »Diese Schweine«, sagte die Frau und wollte zu ihrer Kasse zurück. Tom war neben ihr, und als sie das kratzende Geräusch seines linken Fußes auf dem Pflaster hörte, blickte sie nach unten, hob wieder den Kopf und starrte geradeaus. Nichts, was der Bulle ihm getan hatte, schmerzte Tom so sehr wie ihr Blick. -31
»Danke«, sagte er. »Ich sah mich schon im Arrest.« Sie kamen zur Kasse. Sie ging hinein und versperrte die Tür, bevor sie auf ihren Stuhl kletterte. »Ach herrje! Man hätte mir das ganze Geld stehlen können.« »Werden Sie Schwierigkeiten bekommen?« fragte Tom und bedauerte sogleich seine Worte. Sie hatte ihn gerettet, und er konnte nichts tun, um ihr zu helfen. Tom wußte, daß sie alles begriffen hatte, als sie seinen Fuß sah. »Mir geht es gut. Passen Sie auf sich auf«, antwortete sie. Also mußte er lächeln und seiner Wege gehen. Er spürte ihren Blick im Rücken und hörte das Geräusch seines Schuhs auf dem Asphalt. »Das hat jemand mit Absicht getan«, sagte Dr. Frank Puana. Angekleidet und bewußtlos lag Hester auf dem Tisch in der Notaufnahme. Dr. Puana, der Notarzt, der seit achtzehn Uhr Bereitschaftsdienst versah, hatte ihr Procain, ein Anästhetikum, eingespritzt, um ihre Wunden im Gesicht zu infiltrieren, bevor er daran ging, sie zu säubern. Seine Patientin litt starke Schmerzen, und er wollte sie schonen. Und er wollte auch keine Störungen, gleich welcher Art, als er zu nähen begann. Frank Puana war entschlossen, entstellende Narben zu vermeiden. Er wußte, daß er ein geschickter Operateur war, und er hätte mit der gleichen Hingabe gearbeitet, wenn Hester Anne Ashley Murdoch eine Putzfrau gewesen wäre. Seit ihm seine Patientin das erste Mal vor Augen gekommen war, hatte sie wiederholt das Bewußtsein verloren und wiedererlangt. Er hatte begonnen, die Wunden zu reinigen und eine Kochsalzlösung aufgebracht, um das zerrissene und blutende Fleisch zu spülen. Wie durch ein Wunder war nichts gebrochen, aber ihr Gesicht war voller Abschürfungen und Quetschungen. Überall waren Risse: vom Ohr bis zur Nase, am Kinn, an beiden Kiefern, rund um den Mund, waagrecht, senkrecht, und alles tiefe, ausgezackte Wunden. »Sie sieht aus, als ob jemand sie mit einem Dosenö ffner bearbeitet hätte«, sagte Maddox. »Es könnte ein Ring gewesen sein«, meinte Dr. Frank Puana. »Ein -32
Herrenring.« Peter Monji, der Arztgehilfe, hielt eine gebogene Nadel bereit, in die ein schwarzer Seidenfaden gefädelt war. Frank Puana hatte bereits dreißig Nähte genäht und würde noch weitere dreißig nähen müssen. Er nähte in zwei Schichten, zuerst eine Reihe von subkutanen Nähten, und dann eine andere unter der Epidermis. Frank Puana mußte sicher sein, daß die Haut, wenn sie an der Oberfläche geschlossen war, nicht unterhalb aufbrach. »Wie viele waren denn in dem Wagen? In dem Cabrio?« fragte Maddox. »Drei oder vier. Zumindest drei«, antwortete Peter Monji und fügte hastig hinzu: »Ich bin nicht sicher. Es war ja ganz dunkel.« Noch einmal betrachtete Maddox Hester. Ihre Augen waren zwei große schwarzblaue Scheiben, das Fleisch zu Wülsten angeschwollen, die die Lider unkenntlich machten. Ihre Lippen traten hervor; die Unterlippe hing lose herab. »Ein Herrenring«, sagte Maddox. »Hatte sie eine Handtasche?« »Sie hatte nichts bei sich, Captain«, antwortete Frank Puana. »Würden Sie bitte zurücktreten?« Es lag ihm daran, weiterzumachen, rasch zu Ende zu kommen, um der Patientin zwei Gran, sechzig Milligramm Phenobarbital zu verabreichen. Das würde sie beruhigen und ihre fürchterlichen Schmerzen lindern. Dr. Frank Puana beugte sich wieder über Hester, und Peter Monji nahm Maddox' Platz auf der anderen Seite des Tisches ein. »Hat ihr Mann nichts von sich hören lassen?« wollte Maddox wissen. »Niemand hat etwas von sich hören lassen«, antwortete der Arzt. Er richtete sich auf, hielt die Nadel hoch, sah den Captain an und wartete. Er konnte nicht gleichzeitig arbeiten und reden, und das war hier nicht das Polizeipräsidium, sondern eine Notaufnahme. »Ist sonst noch was?« Maddox antwortete nicht. Er verließ den Saal. Sein Wagen stand vor dem Eingang. Er schaltete das Funkgerät ein. »Maddox. -33
Ich fahre jetzt zu den Ashleys.« Windward, der Ashley-Besitz, war eine von Honolulus denkwürdigen Baulichkeiten. Jeder hatte schon einmal Bilder davon in den Illustrierten gesehen, aber nur sehr wenige Einwohner Honolulus hatten die Anlagen je betreten. Ein schmiedeeisernes Gitter, zweieinhalb Meter hoch, lief fast zwei Kilometer entlang der Kahala Avenue. Hinter der Einfriedung befand s ich eine Hibiskushecke, die bis zu den Spitzen des Gitters reichte. Das Gebäude selbst stand auf einer Anhöhe, mit der Vorderseite nach Osten, den Vereinigten Staaten von Amerika zugewandt. Wie eine Zitadelle, hoch über dem Meer. Für ihre Dinnerparties suc hte Doris Ashley stets ein Motiv, ein Thema aus. Sie verwandte viel Zeit und Mühe auf die Gestaltung des Abends. Eine Party auf Windward war immer intim und immer eine Überraschung. Doris genoß die entzückten Reaktionen ihrer Gäste. Seit dem Tod Preston Lord Ashleys hatte Doris Ashley nie mehr als zwölf Gäste auf einmal zu sich gebeten. Heute abend waren es acht. Zwei der vier Herren, die an diesem Sonnabend auf Windward zu Besuch waren, besaßen zusammen über zweihundertfünfzigtausend Morgen Land, kulturfähiges, fruchtbares Land mit Zucker- und Ananaspflanzungen. Auf dem Territorium befanden sich im Jahre 1930 mehr als zweieinhalb Millionen Morgen fruchtbarsten Ackerlandes im Besitz von Haoles, Weißen, sechzigmal so viel wie im Besitz von Hawaiiern, denen alles gehört hatte, als Captain James Cook im Jahre 1778 die Inseln wiederentdeckte. Wie immer wurde auch an diesem Abend über die Ländereien gesprochen, über den großen Bedarf an Arbeitskräften für die Pflanzungen und die landwirtschaftlichen Betriebe. Als Arbeitskräfte waren die Hawaiier schon seit langem unbrauchbar geworden, das Reservoir an körperlich leistungsfähigen, gefügigen und geduldigen Männern längst erschöpft. Sie waren Krankheiten zum Opfer gefallen, vor allem Geschlechtskrankheiten, Seuchen und Lungenentzündungen, auf -34
die Inseln gebracht von den Schiffen des weißen Mannes und jenen, die von diesen Schiffen an Land gekommen waren. Diese Bedrohung der Produktion wurde von den Großgrundbesitzern und den Verwaltern ihrer Pflanzungen sehr rasch erkannt. Lange vor 1920 hatten sie sich in Japan nach neuen und gesunden Landarbeitern umgesehen, und die Japaner waren zu Tausenden gekommen. Aber die Haoles mußten erfahren, daß die Neuankömmlinge aus anderem Holz geschnitzt waren. Die Japaner waren unabhängig. Sie waren selbstbewußt, wehrten sich gegen die harten Arbeitsbedingungen und lehnten die primitiven Unterkünfte ab, die ihnen die Besitzer und Verwalter der Pflanzungen zumuteten. Sie organisierten sich und forderten höhere Löhne und eine menschlichere Behandlung. Als diese Forderungen abgelehnt wurden, verließen die Japaner die Felder. Sie streikten. Immer häufiger gab es Streiks, bis die Japaner im Jahre 1920 in Massen den Aufstand probten. Dieser Streik des Jahres 1920 war ein langer, erbitterter und kostspieliger Arbeitskampf. Die Besitzer fühlten sich bedroht. Ihre Plantagen und landwirtschaftlichen Betriebe waren private Lehen gewesen, wogegen die Japaner erfolgreich Sturm gelaufen waren. Die Grundbesitzer brauchten frische, gefügige, willige Arbeiter. Also ging man noch einmal im Fernen Osten auf die Suche. Aber der Kongreß der Vereinigten Staaten hatte ein Gesetz verabschiedet, das die Einwanderung von Chinesen verbot. Nichtsdestoweniger waren die Haoles entschlossen, die »japanische Bedrohung«, wie sie es nannten, loszuwerden. Der Kampagne mit dem Ziel, chinesische Arbeitskräfte auf die Insel zu bringen, lag eine offizielle Willenserklärung des Territoriums zugrunde. Die Territorialregierung bewilligte 21000 Dollar, um eine Abordnung nach Washington zu entsenden. Diese Herren sollten den Abgeordneten vor Augen führen, wie lebenswichtig chinesische Arbeitskräfte für das Territorium waren - ungeachtet des Gesetzes, das einer solchen Einwanderung entgegenstand. Die Herren, die nach Washington -35
kamen, schlugen einen Kompromiß vor: Man würde die Chinesen nur für fünf Jahre ins Land lassen. Sie würden nur in der Landwirtschaft und als Hausangestellte arbeiten. Sie würden nie mehr als einundzwanzig Prozent der Bevölkerung ausmachen, und man würde ihnen nie gestatten, auf das amerikanische Festland zu reisen. Die Abordnung aus dem Territorium erschien vor einem Ausschuß des Repräsentantenhauses, um ihr Anliegen vorzubringen. Ein Abgeordneter stellte die Frage: »Angenommen, ein Chinese würde im Verlauf der fünf Jahre eine amerikanische Bürgerin heiraten und sich weigern, nach China zurückzukehren?« »Wir würden ihn schleunigst in seine Heimat zurückbefördern«, lautete die Antwort. »Mit Gewalt?« »Wenn nötig, auch mit Gewalt.« Der Abgeordnete John E. Raker aus Kalifornien stellte eine Zusatzfrage. »Angenommen, einer solchen Verbindung entspränge ein Kind. Würden Sie dann den Chinesen von seinem Kind, das auf Hawaii geboren wurde, mit Gewalt trennen und nach Hause schicken? Wollen Sie daß der Kongreß ein solches Gesetz auf den hawaiischen Inseln in Kraft treten läßt?« »Ja, das wollen wir«, lautete die Antwort. Die Abordnung der Territorialregierung kam nicht durch. Die Herren wurden abgewiesen. Aber weder sie noch ihre Auftraggeber gaben sich geschlagen. Sie arrangierten sich mit den japanischen Arbeitern, setzten sich mit ihren Führern zusammen und gaben in einigen wenigen Punkten nach. Die Japaner erkämpften sich das Recht auf Tarifverhandlungen, aber die Herren auf der anderen Seite des Tisches bildeten eine ebenso geschlossene Front, und schließlich waren sie es, die die Jobs zu vergeben hatten. Im Jahre 1930 beherrschten sie immer noch das Land. Auf dem Territorium regierte der Zucker, und der Einfluß der -36
Plantagenbesitzer wurde von jenen gestützt und gestärkt, die an der Spitze der Industrie- und Finanzgesellschaft der Inseln standen. Es war eine allwissende und unergründliche Oligarchie, die sich dank ihres enormen Reichtums verewigte und deren Macht sich auf drei maßgebende Institutionen stützte: auf den Delegierten des Territoriums im Kongreß der Vereinigten Staaten, den Gouverneur des Territoriums und die Territorialregierung. Indem sie diese Männer kontrollierte, kontrollierte die Oligarchie Hawaii. Vor zehn Jahren, 1920, hatte Royal M. Mead vom hawaiischen Zuckerrohrpflanzerverband ein Bekenntnis abgelegt: »Ich glaube nicht, daß jemand in Zweifel ziehen könnte, wer die beherrschende Stellung einnehmen wird; die weiße Rasse, die weißen Menschen, die Amerikaner auf Hawaii werden sie einnehmen... das steht außer Frage.« Die acht Gäste, die Doris Ashley nun an diesem Samstag im September 1930 zum Dinner geladen hatte, würden im Verlauf des Abends ihre Gläser bestimmt auf Royal Meads Erklärung erhoben und Doris Ashley würde es ihnen gleichgetan haben... Da Doris Ashley eine Lebensweise vorzog, wie sie in den USA üblich war, wurde auf Windward spät diniert. Lange nach zwanzig Uhr schritt sie zur Mitte des Salons und sagte: »Darf ich um Ihre Aufmerksamkeit bitten«, und führte ihre Gäste durch den Speisesaal direkt in die Küche, wo ein Tisch für neun Personen gedeckt war. Der Duft nach gesalzenem Rindfleisch und Kohl, nach brutzelndem Gemüse, war betörend und unwiderstehlich. Amelia und Theresa, Doris Ashleys hawaiische Dienstmädchen, waren aus der Küche verbannt worden. Doris Ashley nahm eine Schürze von ihrem Stuhl und band sie sich über ihr Abendkleid. Dann verkündete sie, daß das Essen, das sie selbst gekocht hatte, von ihr persönlich serviert würde. »Heute gibt es Gemüseeintopf nach New England Art, wie wir es einst als Kinder gegessen haben!« -37
Doris Moeller Ashley wurde in der Bronx geboren und war bis zu ihrem dreiundzwanzigsten Jahr nie über Yonkers hinausgekommen. Aber Boston mit seiner Back Bay, Cape Cod, Martha's Vineyard, Nantucket, das alles waren oft erwähnte Stationen in der Biographie, die sie sorgfältig für sich zusammengezimmert hatte. Ihre Gäste waren hellauf begeistert. Sie standen dichtgedrängt um Doris Ashley herum, die die Deckel von den Töpfen hob, um eine rasche Vorbesichtigung der zu erwartenden Genüsse zu gestatten. Der aus den Töpfen aufsteigende Dampf, die köstlichen Wohlgerüche, die große blitzblanke Küche und der einladend gedeckte Tisch versetzte die Abendgesellschaft in heitere Stimmung. Doris Ashley hatte sich wieder selbst übertroffen. Die Gäste nahmen Platz, die Frau des Hauses am Kopfende des Tisches, als jemand auf die Orchidee in der Mitte deutete: »Ein heimlicher Verehrer, Doris?« Völlig weiß und von vollendeter Anmut bot die Orchidee einen hinreißenden Anblick. Sie erinnere ihn an die Flügel eines Engels, sagte einer; ein anderer meinte, er müsse dabei an die Mähne eines Pferdes denken. Für Doris Ashley waren Blumen etwas Nützliches wie Teppiche oder Sessel. Sie verwendete sie ausschließlich um ihrer Farben willen. Sie ließ eine Pause eintreten, griff dann nach dem Umschlag, der an der Vase lehnte, zog eine Karte heraus und schwenkte sie langsam über dem Kopf, um Stille eintreten zu lassen. »Was Sie hier sehen, ist meine ganz persönliche Orchidee«, sagte sie und las laut vor: »Cattleya warnen alba variety Doris A.« Sie schob die Karte in den Umschlag zurück. »Man hat mich beim Territorialen Wettbewerb angemeldet«, setzte sie hinzu. »Eine kleine Aufmerksamkeit Delphine Lansings.« Alle kannten Delphine Lansing, und die Nennung ihres Namens rief einen Chor belustigter, gönnerhafter Kommentare zu ihrer Körpergröße, ihren glücklosen gesellschaftlichen Ambitionen und ihrem trunksüchtigen Mann hervor. »Kein Wunder, daß sie Blumen zieht«, meinte eine -38
Dame. Delphine Lansing, deren Vater ihr ein Vermögen hinterlassen hatte, unterhielt den größten Privatgarten und die eindrucksvollsten Gewächshäuser in ganz Honolulu. Sie saßen immer noch in der Küche und plauderten bei Kaffee und Obst als Doris Ashley die Türglocke läuten hörte. Sie liebte keine störenden Überraschungen. Sie konnte sich nicht vorstellen, wer jetzt noch kommen könnte - ohne eingeladen zu sein. Hester und Gerald hätten ihre Party früher verlassen können, oder Hester allein; aber sie würde nicht läuten, denn die Tür war nie versperrt. Doris Ashley erhob sich, um nachzuschenken. Sie stand am anderen Ende des Tisches, als sie Amelia erblickte. »Lassen Sie sich bitte nicht stören«, sagte Doris entschuldigend, verließ die Küche und ging zu dem Mädchen. »Die Polizei«, wisperte Amelia. Doris Ashley sah einen hochgewachsenen Mann in einem dunklen Anzug in der großen Halle stehen. Er war hager und hatte schwarze Haare wie ein Hawaiier. Als er sie kommen hörte, drehte er sich um. Mrs. Ashley verhielt den Schritt. Der Mann, der vor ihr stand, sah gut aus. Sein Anzug war sauber und frisch gebügelt. »Mein Name ist Maddox, Curt Maddox, Mrs. Ashley«, begann der Mann. »Tut mir leid, daß ich Sie stören muß, aber ich wollte nicht anrufen und wollte auch keinen Kollegen schicken.« Doris Ashley machte ein paar Schritte auf ihn zu. »Es handelt sich um Ihre Tochter«, sagte Maddox. »Sie ist verletzt. Schwer verletzt.« Maddox sah Doris Ashley erblassen. »Vielleicht möchten Sie sich lieber setzen.« Doris Ashley war zutiefst erschrocken. Sie hörte auf, sich zu verstellen. »Sagen Sie mir alles. Schonen Sie mich nicht.« Maddox beobachtete sie; für den Fall, daß die Frau des Hauses in Ohnmacht fiel, wollte er rasch zur Hand sein. »Ich sagte, es ist schlimm, aber sie kommt schon wieder in Ordnung«, fuhr Maddox fort. »Ihre Tochter wurde zusammengeschlagen.« -39
»Zusammengeschlagen?« Doris Ashley hielt sich am Treppengeländer fest. Maddox war nahe genug, um sie aufzufangen. »Ja, Ma'am. Sie ist im Mercy Hospital. Ich habe sie gesehen. Ich habe so was nicht zum ersten Mal gesehen. Sie wurde zusammengeschlagen. Ihr Gesicht...« Er unterbrach sich. Mrs. Ashley hatte genug um die Ohren. Sie schwiegen beide. Doris Ashley schob sich von der Treppe fort, so als ob sie sich für ihr Benehmen entschuldigen müßte. Maddox sah sie zurückkommen, sah wieder Farbe in ihrem Gesicht. »Sie hat das Haus zusammen mit ihrem Mann verlassen.« »Sie ist allein. Ein Polizeibeamter war zufällig im Krankenhaus, als sie dort ankam. Sie wurde dort... abgegeben, könnte man sagen. Der Polizeibeamte sah ein paar Männer in einem Wagen. Sobald ich die Ermittlungen aufgenommen habe, werde ich mehr wissen, aber ich wollte Sie schon jetzt informieren.« »Danke, daß Sie gekommen sind, Mister...« »Captain, Mrs. Ashley, Captain Maddox. Wenn Sie wollen, fahre ich Sie ins Krankenhaus.« »Ja... nein, ich habe Gäste«, antwortete Doris Ashley in einem Atemzug. Sie mußte nachdenken, sie mußte nachdenken. »Vielleicht soll ich das erledigen?« schlug Maddox vor. »Nein, nein, nein, nein«, stieß Doris Ashley hervor. Das war ihr Haus. Sie konnte sich nicht verstecken. Sie lehnte es ab, sich zu verstecken. Sie brauchte aber Hilfe und senkte ihre Stimme zu einem Flüstern. »Was soll ich ihnen sagen?« »Ihre Tochter hatte einen Unfall. Das muß genügen.« Doris Ashley schwieg und schien die Worte im Geist zu wiederholen. Sie verließ Maddox, ohne auf seinen Vorschlag einzugehen. Der Captain sah die Leute aus dem Salon kommen. Keinen von Doris Ashleys Gästen hatte er je persönlich kennengelernt, erkannte aber alle Herren und die Mehrzahl der Damen wieder. Die Damen -40
scharten sich um Doris, aber Maddox konnte sehen, wie sie sie abwimmelte und zur Tür begleitete. Sie gingen an Maddox vorbei, als ob er nicht da wäre. »Bitte warten Sie«, sagte Doris Ashley, als sie fort waren. Sie ging die Treppe hinauf. Maddox warf einen Blick in den Salon, der die ganze Breite des Hauses einnahm. Die andere Wand bestand aus einer Reihe von Glastüren, die auf eine große, mondlichterhellte Terrasse hinausführten. Ein Dienstmädchen in Uniform räumte ab. Maddox stellte sich vo r, wie schön es wäre, ein paar Tage in diesem Salon zu sitzen und durch kein Telefon gestört zu werden. Er hörte Schritte. Mit einem Stoffmantel über einem anderen Kleid kam Doris Ashley die Treppe herunter. Sie trug eine Handtasche; in der anderen Hand hielt sie Handschuhe. Maddox wußte, wie alt Doris Ashley war, denn Harvey Koster, seinerzeit Preston Lord Ashleys Brautführer, hatte es ihm gesagt. Doris Ashley war neunundvierzig Jahre alt. Sie war schlank, und das gefiel ihm an ihr. Sie trug den Kopf hoch, und vielleicht war ihre Haut deshalb so glatt. Er hatte immer gedacht, sie wäre größer, aber das kam wahrscheinlich daher, daß sie sich so gerade hielt Sie verstand es, sich vorteilhaft zu kleiden. »Ich bin soweit«, sagte sie. Vor dem Haus öffnete Maddox die Beifahrertür seines Wagens für Doris Ashley, doch sie machte die hintere Tür auf und stieg ein. Maddox hatte das Gefühl, einen Tritt bekommen zu haben. Wenn er bei seiner Arbeit mit Angehörigen der feinen Gesellschaft in Kontakt kam, sah er sich immer vor. Er hatte gelernt, ihre Kommentare und Beleidigungen zu überhören. Er bemühte sich, daran zu denken, daß sie in Schwierigkeiten waren, nicht er. Aber diese Geste Doris Ashleys war ihm unter die Haut gegangen. Sie hatte ihm das Gefühl gegeben, er stinke. Während sie auf dem Rücksitz hinter Maddox ihrer schweren Prüfung im Mercy Hospital entgegenfuhr, mußte Doris Ashley plötzlich an ihren Vater denken. Die Vergangenheit wurde lebendig: Herman Moeller, ihr Vater, die schäbige Wohnung in -41
der Bronx mit ihrem widerlichen Gestank nach Würsten und Schmorgerichten, nach Sauerkraut und Bier, die Mutter, die sie schon bald zu verachten lernte, weil sie die Tyrannei ihres Mannes widerspruchslos hinnahm, und ihre zwei älteren Brüder, die den Vater haßten, ihm aber jeden Tag ähnlicher wurden. Herman Moeller aß und schlief und brachte kaum je einen Satz heraus, der nichts mit Geld zu tun hatte. Seiner Meinung nach stand eine Katastrophe unmittelbar bevor, und die Brieftasche, die er unter sein Kissen schob, wenn er zu Bett ging, war eine sein ganzes Leben beherrschende Zwangsvorstellung. Doris' Brüder ließ er bis zur achten Klasse lernen, bevor er sie auf die Straße schickte, damit sie sich eine Arbeit suchten, war aber nicht gewillt, solche Zugeständnisse auch einer Frau, einem Mädchen zu machen. Als sie zehn war, fing Doris Moeller an, jeden Samstag in einem Lebensmittelgeschäft in der Nachbarschaft zu arbeiten und jobbte dort auch während der ganzen Sommerferien. Nach Hermann Moellers Wunsch sollte sie in dem Laden ble iben, aber Doris weigerte sich. Wenn sie nicht wieder in die Schule zurück durfte, würde sie auch nicht wieder arbeiten. Zwei Jahre lang lag Doris' Vater ihr täglich in den Ohren, überschüttete sie mit Drohungen und Warnungen und stellte ihr, als sie zwölf war, ein Ultimatum: Entweder Doris verließ die Schule, oder sie verließ sein Haus. Doris lief in die Küche, und die Mutter flüsterte: »Wir sind eben aus der alten Heimat.« Bis zu ihrem sechzehnten Lebensjahr lebte Doris nun unter der Fuchtel ihres Vaters. Sorgfältig plante sie ihre Flucht. Zuerst suchte sie sich Arbeit in einer Kleiderfabrik in der Vierzehnten Straße in Manhattan. Doris war eine ausgezeichnete Schneiderin; ihre Mutter war ihr eine gute Lehrmeisterin gewesen. Sie mietete sich ein Zimmer in einem Privathaus in Chelsea, nicht weit vom Hudson. An einem Samstagabend, nachdem sie ihrem Vater den halben Wochenlohn aus dem Lebensmittelgeschäft abgeliefert hatte, wartete sie, bis ihre Eltern schliefen, packte dann ihre Kleider in zwei -42
Pappkartons, die sie versteckt hatte, und schrieb ohne Anrede einen Zettel für Herman Moeller: Ich gehe fort und komme nicht wieder. Schon im ersten Monat, nachdem sie die elterliche Wohnung verlassen hatte, schrieb sie sich in einer Abendschule ein, um Stenographie und Maschineschreiben zu erlernen. Nach der Arbeit ging sie zum Unterricht, und wenn sie in ihr Zimmer zurückkehrte, übte sie Kurzschrift. In der Kleiderfabrik gab es zwei Schreibmaschinen, die sie zeitweilig benutzen durfte. Sie verbrachte meistens ihre Mittagspause an einer der Maschinen und kümmerte sich nicht um die anderen Arbeiterinnen, die den Menschen so ähnlich waren, die sie zurückgelassen hatte. Sie war die beste Schülerin in ihrer Klasse, und als sie den Kurs beendet hatte, verschaffte ihr die Stenographielehrerin eine Stellung. Sie kam zu einer Anwaltskanzlei in der Wall Street. Für das Mädchen aus der Bronx war dort alles wie eine Offenbarung: die geräumigen Büros, die gedämpften Stimmen, die getäfelten Wände, der private Speisesaal, die elegant gekleideten Herren und die schicken Damen unter der Aufsicht von Miss Whaley, der Direktionssekretärin. Doris Moeller hatte ihre Welt gefunden. Von Anfang an war sie eine ausgezeichnete Kraft; sie begann im Gemeinschaftssekretariat und saß mit Briefen, Verträgen und Schriftsätzen aller Art vor ihrer Maschine. Doch im Gegensatz zu ihren Kolleginnen las sie auch, was sie schrieb, und nahm es auf. Nicht viel weniger Aufmerksamkeit schenkte sie der gesellschaftlichen Seite ihres neuen Lebens. Sie suchte den freundschaftlichen Verkehr mit den Sekretärinnen der Partner des Anwaltsbüros. Einige Frauen hatten eben jenen Stil und das geistige Niveau, das Doris suchte, und von ihnen lernte sie, sich zu kleiden, sich zu benehmen und wie man in einem Restaurant bestellte. Im Umgang mit ihren neuen Freundinnen begann Doris sich eine »standesgemäße« Autobiographie zurechtzuphantasieren. Sie sei in Boston geboren und erzogen worden, erzählte sie, und entstamme einer alten Familie, die in -43
finanzielle Schwierigkeiten geraten war, weshalb sie sich ihren Lebensunterhalt selbst verdienen mußte. Doris war eine süperbe Geschichtenerzählerin, weil sie alles glauben wollte, was sie von sich erzählte. Sie verrichtete ihre Arbeit mit teutonischer Gründlichkeit, und Miss Whaley wurde auf sie aufmerksam. Noch im selben Jahr übersiedelte sie von Chelsea nach Murray Hill, wo auch Miss Whaley wohnte, und bald darauf wurde sie die Privatsekretärin eines der Partner der Firma. Doris Moeller hatte es geschafft. Es gab auch Männer in ihrem Leben. Sie war eine hochgewachsene, schlanke, hübsche junge Frau, der es nie an Begleitern mangelte. Aber diese Männer waren nicht von der Art, wie sie sie zu schätzen gelernt hatte, nicht wie ihr Chef oder die anderen Anwälte in der Firma und auch nicht wie die Kunden, mit denen sie täglich in Berührung kam. Doris Moeller blieb also frei und ungebunden. Ihr Gehalt wuchs. Sie nahm sich eine größere Wohnung. Kleidung wurde wichtig für sie, und nach einiger Zeit gab sie den Maßstab im Büro an. Sie schloß Freundscha ften, Freundschaften mit Frauen wie sie selbst, unverheiratet und unabhängig. Jahre vergingen. Doris Moeller war nicht unglücklich. Mit Strebsamkeit und Entschlossenheit hatte sie einen beachtlichen Sieg errungen, war aus ihren dürftigen, beengten Verhältnissen ausgebrochen und zu einer Persönlichkeit von Format und Bildung geworden. Sie war sechsund zwanzig, als Miss Whaley ihr das große Geheimnis anvertraute: Die Direktionssekretärin trug sich mit der Absicht, in Pension zu gehen und Doris Moeller als ihre Nachfolgerin zu empfehlen. Das Mädchen aus der Bronx hatte den Gipfel erklommen. In derselben Woche trat Preston Lord Ashley aus Honolulu auf Hawaii in das Anwaltsbüro und in Doris Moellers Leben. Preston Lord Ashley war sechsundvierzig, fast auf den Tag zwanzig Jahre älter als Doris Moeller. Wie so viele andere, war -44
auch er der Sohn und Enkel von Männern, die ihr Vermögen auf den Inseln gemacht hatten. Er war im Verlauf einer längeren Geschäftsreise nach New York gekommen, einer Reise, wie Doris Moeller bald erfuhr, die er nur mit Widerstreben unternommen hatte. Nur in Honolulu fühlte sich Preston Ashley wohl. Doris Moellers Arbeitgeber waren die New Yorker Korrespondenten von Preston Ashleys Anwälten in Honolulu. Er wollte schnellstens mit seinen Geschäften zu Ende kommen und nach Hause zurückkehren, und hielt sich somit andauernd im Büro auf. Doris Moeller war ständig mit ihm und ihrem Chef zusammen, und weil ihr schnell klar wurde, daß Preston Ashley ein scheuer und empfindsamer Mann war, zeigte sie sich dem Besucher gegenüber verständnisvoll und hilfreich. Drei Tage nach seiner Ankunft in New York bat er sie, mit ihm zu dinieren. Die Stadt, sagte er, wäre so groß, das Tempo so halsbrecherisch, daß er sich richtig eingeschüchtert fühle. Vielleicht könnte Doris Moeller ihn sozusagen mit New York bekanntmachen. Schon seit zehn Jahren hörte Doris solche Sprüche. Stets kamen die Männer aus der Provinz, immer fühlten sie sich allein und immer waren sie verheiratet. Aber die Art nachdenklicher Wehmut, die Preston Ashley anhaftete, veranlaßte sie, ihre eigenen Regeln umzustoßen und seine Einladung anzunehmen. An diesem Abend erfuhr sie, daß Preston Ashley nie geheiratet hatte. Sie erfuhr einiges über Hawaii, denn er sprach von nichts anderem. Aber sie erfuhr auch einiges über ihn selbst. Er war ein echter Gentleman, war kultiviert und ein unersättlicher Leser. Preston Lord Ashley war in Wahrheit ein einsamer Mann. Die letzten zehn Tage seines Aufenthalts in New York waren sie jeden Abend zusammen. Er küßte sie nie, und als er sich an ihrem Schreibtisch in ihrem Büro von ihr verabschiedete, schüttelte er ihr die Hand. Doris Moeller blieb tief betroffen zurück. Sie hatte einen Blick ins Paradies getan, aber einzutreten war ihr versagt geblieben. Vier Tage später erhielt sie ein Telegramm aus San -45
Francisco. MEINE LIEBE DORIS • • • STOP • • • MEINE GEDANKEN SIND IMMER BEI IHNEN • • • STOP • • • ALS ICH DAS LAND DURCHQUERTE, NANNTEN DIE RÄDER DES ZUGES ANDAUERND IHREN NAMEN • • • STOP • • • ES WAR, ALS OB SIE SIE RIEFEN • • • STOP • • • ABER DER RUFER WAR ICH • • • STOP • • • ICH KANN SIE NICHT VERGESSEN UND WERDE SIE AUCH NICHT VERGESSEN • • • STOP • • • ICH WEISS, ICH BIN UM VIELES ÄLTER ALS SIE • • • STOP • • • ICH KANN NICHT LÄNGER SCHWEIGEN • • • STOP • • • ICH LIEBE SIE • • • STOP • • • WOLLEN SIE MICH HEIRATEN? Doris fuhr zu ihm nach San Francisco. Sie reisten in getrennten Schiffskabinen nach Hawaii und heirateten eine Woche nach ihrer Ankunft in Honolulu. Doris Ashleys gesellschaftliche Stellung war gesichert. Sie fing ganz oben an. Die Ashleys waren beliebt. Mit Doris an seiner Seite begann Preston, aus sich herauszugehen. Zusammen planten sie Windward. Als es fertig und eingerichtet war, sagte Doris, sie wolle ein Kind haben. Sie wünschte sich eine Tochter. Sie wü nschte sich ein Mädchen, dem sie alles geben konnte, was ihr versagt geblieben war. Sie wollte eine Prinzessin aus ihr machen und eine Gefährtin für die späteren Jahre. Doris Ashley war eine vernünftige und praktisch denkende Frau. Ihr Mann war zwanzig Jahre älter. Sie war den Großteil ihres Lebens allein gewesen und hatte nicht die Absicht, auch im Alter allein zu sein. Preston Ashley wollte nicht so recht. Er war ein Mann, dem jegliche Leidenschaftlichkeit abging. Doris Ashley hatte seine entscheidende Unzulänglichkeit akzeptiert und sich damit abgefunden. Doch seine Proteste akzeptierte sie nicht. Hester Anne Ashley kam zur Welt, als Doris achtundzwanzig Jahre alt war. Hester war ein zärtlich geliebtes Kind. Sie entzückte ihren -46
Vater aufs höchste, und Doris Ashley konnte sich von ihrem Baby kaum trennen. Die Eltern waren richtig vernarrt in das Kind. Hester Anne Ashley wuchs in einem Märchenland väterlicher Nachsicht und liebevoller, autoritärmütterlicher Unterweisung auf... Während sie jetzt, einundzwanzig Jahre später, in Maddox' Wagen saß, erschien es Doris, als hätte sie, nachdem man Windward verlassen hatte, ihr bisheriges Leben noch einmal gelebt. »Zusammengeschlagen«, hatte der Polizeibeamte gesagt. Zusammengeschlagen, zusammengeschlagen, zusammengeschlagen; das Wort dröhnte in ihrem Kopf. Sie mußte stark sein, um ihrer selbst und um ihres Kindes willen. »Ich finde mich schon zurecht«, sagte sie, als Maddox vor dem Eingang zur Notaufnahme anhielt. »Mein Schwiegersohn ist im Whispering Inn, wollte zumindest dort sein. Sie kennen es ja. Eine Navy-Party. Männer von der Navy, Offiziere und ihre Frauen. Würden Sie es ihm selbst sagen? Er heißt Lieutenant Gerald Murdoch.« Ein junger Mann in einem Hawaii- Hemd, der einen Kellner nach Lieutenant Murdoch geschickt hatte, wartete in der Küche des Whispering Inn; ein kleiner, schlanker, drahtiger Bursche mit kurzgeschnittenem, lockigem blondem Haar, der grinste, als er Gerald Murdoch sah: »Sind wohl überrascht, stimmt's, Lieutenant?« »Duane?« Gerald kam durch die Schwingtür in die Küche. »Ist was passiert?« Duane York war Seemann zweiter Klasse auf der Bluegill, einem U-Boot, auf dem auch Gerald Dienst tat, und Angehöriger der Torpedoraummannschaft. »Alles bestens, Lieutenant«, antwortete Duane. »Primissimo.« Er grinste wieder. »Fast.« »Das bringen wir gleich in Ordnung«, sagte Gerald und fingerte an seiner Jacke, um die Tasche zu finden. »Kein Geld, Lieutenant«, wehrte Duane ab. »An Kohle fehlt es -47
nicht. Ich bin nur gekommen... ich habe mir gedacht, ob Sie mir vielleicht Ihren Wagen leihen könnten?« »Natürlich können Sie die Kiste haben«, sagte Gerald und begann umständlich in seinen Taschen zu suchen. Duane York hatte ihn schon oft um das Coupe gebeten und es immer bekommen. »Ein Rendezvous mit Zukunft?« »Hoff ich zumindest«, antwortete Duane und zwinkerte. Geralds Hände wanderten von Tasche zu Tasche. »Lieutenant«, sagte Duane und deutete auf die Schlüssel in Geralds rechter Hand. »Da sind sie ja«, sagte Gerald und gab ihm die Schlüssel. »Warten Sie noch einen Moment.« Wieder langte Gerald in die Tasche. »Ich brauche wirklich nichts«, wehrte Duane ab. Doch Gerald hatte die Dollarscheine schon in der Hand. »Also vielen Dank.« »Viel Spaß«, sagte Gerald. Er klopfte Duane auf die Schulter, machte schwankend kehrt und verließ auf unsicheren Beinen die Küche. Duane York sah ihm nach. »Der feinste Offizier der ganzen Navy«, verkündete Duane laut. Es war ihm gleich, wer ihn hörte. Er folgte Gerald durch die Schwingtür, die Kapelle fing wieder zu spielen an. Weil das Whispering Inn auf Pfeilern stand, führte eine breite Treppe zum Eingang hinauf. Maddox parkte quer zur Treppe. Er sah einen mickrigen kleinen Kerl herunterkommen; nicht gerade das, was Maddox sich unter einem Offizier der Navy vorstellte. Duane York war allzu sehr in Eile, um jemanden zu bemerken, und übersprang die letzten fünf Stufen. Maddox stieg die Treppe zur Doppeltür hinauf; diesmal ließ er den Hut auf dem Kopf. Maddox war in seinem Element. Aus der Finsternis trat er in die bunten Lichter und die dröhnende Musik. Der Saal war knallvoll. Man roch den Whisky und das Bier. Er sah ein junges Paar, das zu tanzen aufhörte und auf die Tür und das Dunkel zuging. Er stellte sich den beiden in den Weg. »Wo kann ich Gerald Murdoch finden?« -48
Gerald stand am anderen Ende des Saales und starrte auf das Meer hinaus. Er hatte von irgendeinem Tisch ein volles Glas genommen, wollte aber nicht mehr trinken. Er wollte sich ausstrecken und die Augen schließen. Aber er konnte nicht gehen, ohne eine Fahrgelegenheit zu haben. Sein Wagen war weg. Und seine Frau war weg. Hester war sicher irgendwo am Strand und las den Schildkröten Gedichte vor. Er wollte das Glas loswerden. Als er sich umdrehte, um es abzustellen, kam Maddox auf ihn zu. »Lieutenant Murdoch?« Maddox streckte ihm die Hand entgegen. »Curt Maddox«, stellte er sich vor, und seine Augen suchten an Geralds Händen nach einem Ring. »Ich bin Polizeibeamter.« Bryce Partridge spielte mit dem Haar auf Ginnys Nacken, als er Gerald mit einem großen Mann sah, der einen Hut trug. Sie kamen geradewegs auf ihn zu. »Ginny«, sagte Bryce, hob sie halb von ihrem Stuhl und zog sie an sich. Sie war erstaunt, als sie seine Hände auf ihren Armen spürte, die sie fest umschlossen. »Hör mal, Ginny.« Sie öffnete den Mund, und er zischte leise und scha rf: »Hör mal, ich muß dir was sagen.« Sie war seine einzige Hoffnung. Sie war alles, was er einzusetzen hatte. Wenn sie ihm nicht half, war er erledigt. Er hatte keine Ahnung, wie sie reagieren würde, aber ihm blieb keine andere Wahl. »Stell keine Fragen. Antworte mir nicht. Unterbrich mich nicht. Es geht um Leben und Tod. Mein ganzes Leben, meine Karriere.« Sie waren schon fast am Tisch. »Es könnte alles zu Ende sein, mein Engel. Alles hängt von dir ab. Also, während du in den Staaten warst...« »Bryce«, sagte Gerald. »Ginny.« Bryce stand neben seiner Frau und wartete. Wenn Gerald jetzt losschlug, würde er den Überraschten spielen; er würde Gerald wie einen betrunkenen Kameraden behandeln. Gerald und der andere Mann blieben stehen. Gerald Murdoch trat vor. »Tut mir sehr leid, aber ich muß gehen«, sagte er. Er streckte Ginny seine Hand entgegen, und als sie sie ergriff, verneigte er sich leicht. »Wünsche euch viel Glück und gute Unterhaltung.« Er schüttelte Bryce die Hand. »Gute -49
Nacht, alter Freund.« Bryces Rücken war naß. »Du gehst schon?« fragte er. »Ist etwas nicht in Ordnung?« »Irgendwas mit Hester«, antwortete Gerald. »Nichts Ernstes.« Er konnte seine Freunde nicht mit Persönlichem belasten. »Grüß sie schön von uns«, sagte Bryce. »Und vergiß es nicht, alter Junge.« »Gewiß nicht, Bryce.« Gerald verbeugte sich abermals und ging dann mit dem anderen Mann auf den Eingang zu. Ginny packte Bryce am Arm und zog ihn an sich heran. »Und jetzt sprich weiter, alter Junge«, sagte sie. »Ich liebe dich mehr als sonst etwas auf dieser Welt«, sagte Bryce. »Du hast von Leben und Tod gesprochen.« »Ohne dich war ich wie tot«, sagte Bryce und ließ seine Hand ihren Rücken hinaufgleiten. »Jetzt sind wir allein, Captain«, sagte Gerald in Maddox' Wagen. »Niemand hört uns. Was war das für ein Unfall? Wo ist sie? Ich spreche von meiner Frau!« »Sie ist im Mercy Hospital. Sie ist schwer verletzt, aber sie kommt schon wieder in Ordnung. Sie wird es überleben. Sie wurde zusammengeschlagen.« »Zusammengeschlagen!« »Bis jetzt weiß ich nur, daß ein Wagen, in dem Männer saßen, sie ins Krankenhaus brachte. Sie ließen sie vor der Notaufnahme heraus und verdufteten.« »Ein Wagen mit Männern!« Vor sich sah Gerald gesichtslose Kerle, unrasiert, ungewaschen, zahnlückige Klötze mit Händen wie Keulen. Wo hatten sie sie gefunden? Wo war Hester hingegangen? Warum hatte sie die Party, den Inn verlassen? Immerzu stahl sie sich davon - mit einem Buch, mit einem Beutel Rosinen und Nüssen, mit einem Korb, um wildwachsende Blumen zu pflücken. Immer war sie allein, immer kam sie zu -50
spät, immer entschuldigte sie sich. Gerald haßte sie, weil sie ihm das angetan hatte. Und im nächsten Augenblick haßte er sich selbst. Scham erfüllte ihn, und er fühlte sich schuldig. Hester war im Krankenhaus! Irgendwelche Kerle hatten sie elend zugerichtet. Sie mochte keine Parties. Er hätte sie nicht mitnehmen sollen. Er hätte allein kommen sollen oder gar nicht. Gerald fand keine Gnade für sich selbst. »Bitte, sagen Sie mir die Wahrheit.« »Ich habe Ihnen die Wahrheit gesagt, Lieutena nt«, antwortete Maddox. »Sie kommt aber wieder in Ordnung. Das ist nicht meine Meinung, das sagt der Arzt des Mercy Hospitals.« Er warf einen Blick auf den Offizier, der aufrecht und starr, als wäre er gefesselt, neben ihm saß. »Vermutlich wissen Sie nicht, wer es getan hat?« »Geben Sie uns eine Chance«, erwiderte Maddox. »Es ist eben erst passiert.« Als Doris Ashley aus Maddox' Wagen gestiegen und er am Tor vorbeigefahren war, hob sie die rechte Hand und zog den Mantel straff um die Schultern. Nicht, daß ihr kalt gewesen wäre. Die Geste war eine lebenslange Reaktion, fast eine Reflexbewegung. Sie war dabei, die Kontrolle über sich selbst zu verlieren, ein Zustand, den sie nicht ertragen konnte. Sie kämpfte dagegen an, mit ihrer ganzen Kraft, mit allen Mitteln, mit ihrem ganzen Wesen. Doris Ashley mußte ihre Schwäche besiegen. Sie mußte gewappnet sein. Sie wartete neben dem Eingang zur Notaufnahme, bis Maddox fort war, das Motorengeräusch verklungen und sie bereit war. »Du mußt«, sagte sie zu sich, und stieß die Tür auf. Grelles Licht blendete sie. Sie schloß die Augen. »Moment mal«, hörte sie einen Mann sagen. Als sie wieder sehen konnte, stand eine Gestalt in Weiß über einem Untersuchungstisch gebeugt und säuberte die Oberfläche. »Okay«, sagte der Mann, -51
knü llte das Handtuch zusammen und warf es in einen Papierkorb. »Der Arzt kommt gleich«, sagte Peter Monji, der Arztgehilfe, trat einen Schritt zur Seite und blieb stehen. »Sie kommen wahrscheinlich wegen Ihrer Tochter«, sagte er. »Wir haben sie verlegt, Mrs. Ashley. Kommen Sie, ich führe Sie zu ihr.« Er trat zurück, um sie vorbeizulassen, und stieß dabei an den Tisch. Während er wartete, kam Dr. Frank Puana in den Raum. Der Arzt erkannte Doris Ashley sofort, aber noch bevor er sie begrüßen konnte, stellte der Arztgehilfe sie ihm vor. »Das ist Mrs. Ashley, Herr Doktor. Ich bringe sie hinauf.« »Das mache ich schon«, sagte Frank Puana. »Ich bin Dr. Puana, Mrs. Ashley. Ich habe Ihre Tochter versorgt. Ich komme gerade von ihr.« Er trat einen Schritt zurück. »Wir können diesen Aufzug nehmen.« Doris Ashley durchquerte die Ambulanz und fuhr mit dem Arzt in den dritten Stock. Er berichtete ihr, was er alles für Hester getan hatte. Sie kamen zu einer Tür mit der Nummer 346 und der Aufschrift KEINE BESUCHER. »Das betrifft natürlich nicht die Familie«, erläuterte Frank. »Ich möchte, daß sie so viel Ruhe wie möglich hat.« Er griff nach der Klinke, aber Doris sagte: »Ich möchte mit meiner Tochter allein sein.« Sie hatte sich lange genug zur Schau stellen lassen. Das Mercy Hospital war ein altes Krankenhaus. Die Zimmer waren groß und kahl und hatten hohe Decken. Das weißlackierte Eisenbett befand sich in der Mitte des Zimmers, an der Wand, in Richtung Tür. Neben dem Bett standen eine weiße Stehlampe, dahinter ein Stuhl und ein Tisch. Der Lampenschirm war vom Bett weggedreht und warf einen Lichtkreis auf Fußboden und Wand. Hester lag im Dunkel. Doris Ashley kam langsam näher und bemühte sich, etwas zu sehen. Sie erreichte das Fußende des Bettes und stieß ein »Ohhhhhh« aus. Sie hob entsetzt ihre Hand wie zur Abwehr und drehte den Kopf zur Seite. Dann ließ sie den Arm wieder sinken und zwang sich, den Blick auf das Bett zu richten. Hesters Arme lagen auf der Bettdecke, Sie war -52
weitergekrochen, weil sie gefürchtet hatte, Bryce könnte zurückkommen und weitermachen. Sie war bis zur Straße gekommen, wo sie die Besinnung verloren hatte. Ihre Fingernägel waren aufgerissen und ihre Arme von den Ellbogen bis zu den Handgelenken verkratzt. Doris Ashley konnte sehen, was mit Hesters Gesicht geschehen war. Sie rang um ihre Fassung, mußte aber doch wimmern wie ein Kind in der Nacht. Hester hörte etwas und schlug die Augen auf. Jemand war da, eine hohe Gestalt, und sie versuchte zu schreien, aber die Anstrengung war eine einzige Qual. Sie konnte kaum etwas sehen. Feuerwerksraketen blitzten auf. Sie hörte jemanden. »Nein... bitte«, stöhnte Hester. »Bitte, nicht.« »Ich bin es, Baby. Mutter. Mutter ist da«, sagte Doris Ashley. »Ich bin doch bei dir, Kind.« »Mutter? Mutter?« Hester schluchzte. »Laß nicht zu, daß er... bitte...« »Natürlich nicht, mein Kind. Ich bin ja da.« Doris Ashley setzte sich auf die Bettkante. Sie sprach leise und wie zu einem Kind. Hesters Augen schlossen sich und öffneten sich wieder, voller Entsetzen. »Ja, Kleines«, hauchte Doris Ashley und schob ihre Hand unter Hesters Hand, so als wolle sie eine gefallene Blüte aufheben. Sie spürte, wie sich Hesters Finger um die ihren schlossen. »Ich lasse dich nicht allein«, sagte Doris. Sie betrachtete das Gesicht ihrer Tochter und zwang sich zu sehen, was man ihrem Kind angetan hatte. Wilder Haß überwältigte sie. Wut schoß in ihr hoch. »Einige Männer!« Das waren die Worte, die der Polizeibeamte, dieser Captain, gebraucht hatte. »Männer? Nein, Tiere! Sie hatten alles zerstört. Wie ein Taifun waren sie gekommen, wie eine Flutwelle oder ein Erdbeben, um Doris Ashleys Leben zu zerstören. Und sie war in ihrem Haus gewesen, auf Windward, zusammen mit ihren Freunden, in ihrer Küche; man hatte gelacht und gescherzt. Alle hatten gelacht. Allen hatte ihr Essen geschmeckt! Ein Polizist war in ihr Reich gelangt. Ein Polizist! Vor ihren Freunden!. Sie hatte ihre Freunde -53
fortschicken müssen und entsann sich ihres Schweigens, ihrer ausdruckslosen Gesichter, als sie gingen. Jetzt redete man über sie, redete über den Polizisten und warum er wohl die Party so plötzlich beendet hatte. Alle würden über sie reden. In ganz Honolulu, auf dem ganzen Territorium würden die Mäuler über sie herfallen. Doris Ashley hätte am liebsten vor Wut und Zorn laut geschrien, ermahnte sich aber zur Mäßigung. Sie mußte sich in der Gewalt haben. Wenn sie sich jetzt nicht zusammenriß, war auch sie verloren, waren sie alle verloren. Sie schaute auf Hester, ihre arme, entstellte Tochter, und legte auch die andere Hand über Hesters Hand. »Kannst du mit mir sprechen, Kleines, Hester? Kind? Möchtest du etwas haben? Wasser?« Hester konnte ihre Mutter kaum sehen. Sie sah sie wie durch Nebel hindurch. Sie hielt die Hände ihrer Mutter fest. »Bleib bei mir.« »Ich bin ja da, Kleines«, flüsterte Doris. »Mutter ist bei dir. Mutter verläßt dich nicht. Sag mir, was geschehen ist, Hester. Wie ist das passiert? Wo warst du? Du warst doch mit Gerald zusammen! Du warst mit Gerald doch auf einer Party. Wer waren diese Männer!« Hester stammelte etwas, aber Doris verstand sie nicht. »Sag es noch einmal, Kleines. Sag mir, warum diese Männer dich in ihrem Wagen hatten, diese Männer, die das getan haben.« »... haben nichts getan«, murmelte Hester. Beim Sprechen wurden die Schmerzen schlimmer. Es war, als zerrte man an ihrer Haut, als würde sie aufplatzen. »Mein Gesicht«, stieß Hester hervor und stöhnte vor Schmerzen. »Ich sehe, was sie dir angetan haben«, sagte Doris Ashley. »Du mußt mir alles sagen, damit sie bestraft werden können.« Sie wartete. »Die Männer im Wagen, Kleines. Die Männer, die dich zum Krankenhaus gebracht und dich aus dem Wagen geworfen haben wie... Abfall.« »Sie haben nichts getan... haben mich gefunden... müssen mich -54
gefunden haben«, flüsterte Hester und verstummte. »Wo, Kind? Ich weiß, du hast große Schmerzen, aber du mußt mithelfen, damit die Polizei sie verhaften kann.« Doris Ashley wartete. »Es sind Verbrecher, Hester. Sie haben ein Verbrechen begangen.« »Nein, nein...« stieß Hester hervor und verstummte. In der Hoffnung, der Schmerz würde nachlassen, richtete sie den Blick starr nach oben. Doch wieder durchzuckte sie der Schmerz wie ein Messer. Sie drehte sich zur Seite und sah das Gesicht ihrer Mutter durch den Nebel. »Sie haben mich nicht geschlagen. Sie haben mir nichts getan.« »Aber sie...« sagte Doris. »Sie waren...« Doris Ashley war, als würde der Alptraum jetzt erst beginnen. Sie fühlte sich unbehaglich auf dem Bett, wippte mit den Beinen, fing aber an zu rutschen und mußte sich an der Matratze festhalten. »Hester...« »Ich bin weggekroche n. Muß weggekrochen sein. War wohl bewußtlos. Wo ist der Arzt? Bitte, ruf den Arzt, er soll mir etwas gegen meine Schmerzen geben.« »Gleich, Kind, gleich«, sagte Doris und konnte sich nicht verstellen. Sie mußte alles hören. Solange sie nicht die volle Wahrheit wußte, konnte sie sich nicht verteidigen. Sie ahnte die Wahrheit sowieso. Gerald Murdoch war ihr wirklich fremd. Von Anfang an hatte Hester versucht, Geheimnisse zu haben. Doris erinnerte sich, daß Hester Gerald auf der Party des Admirals kennengelernt hatte. Gerald war seit damals regelmäßig auf Windward erschienen, und Hester war immer schon angezogen gewesen und hatte auf ihn gewartet. Hester erzählte sehr wenig über Gerald, bis sie, entschlossen, Doris Ashley zu entkommen, ihr mitteilte, daß sie heiraten würden. »Du mußt es mir sagen, Hester, damit ich dich beschützen kann«, sagte Doris. »Hat Gerald das getan?« »Der arme Gerald«, sagte Hester. »Nein, natürlich nicht.« Doris mußte ganz sicher sein. »Es war nicht Gerald? Hast du gesagt, Gerald wäre es nicht gewesen?« Doris wartete. »Kleines, -55
antworte mir.« »Ich habe es doch schon.« Sie zog ihre Hand zurück. »Mein Gesicht. Bitte ruf den Arzt.« »Gleich, Kind, ich verspreche dir, daß ich den Arzt rufen werde. Sag mir nur, wer das getan hat. Diese Männer nicht, und Gerald nicht? Wer war es dann? Wer ist der Schuldige?« »Ich bin die Schuldige«, sagte Hester. »Ich bin die Schuldige, weil ich schwanger bin.« »Schwanger«, wiederholte Doris Ashley ganz ruhig, so als handle es sich um eine belanglose Zutat eines Kochrezepts. Sie stand auf und zerrte an ihrem Mantel. Einen Augenblick lang war sie ganz mit sich beschäftigt. Es erging ihr wie einem Menschen, der durch eine Schußwaffe oder ein Messer verletzt wurde oder aus großer Höhe gefallen ist. Das Trauma hatte noch nicht eingesetzt. Sie wußte nun, daß Hester schwanger war. Sie wußte, daß man Hester zusammengeschlagen hatte. Doris Ashley ging zum Fußende des Bettes und starrte auf die Tür. Ihr Kopf war leer, bis sie plötzlich begriff, daß Gerald nicht der Vater war. Sie war absolut sicher. Hester war für das Geschehene verantwortlich. Hester hatte die Schuld. Die Tür ging auf, und es erschien eine Krankenschwester, begierig, die berühmte Patientin zu sehen. »Raus!« Doris Ashley stürzte auf die Tür zu. Die Krankenschwester sprang auf den Flur zurück. Doris Ashley schloß die Tür und verriegelte sie. Sie drehte sich um und blickte auf das Bett, blickte auf ihre Verderberin. »Schwanger, hast du gesagt? Schwanger?« Hesters Lippen bewegten sich. »Ja, ich habe dich gehört.« Doris Ashley hob die Stimme. »Du bist schwanger, doch Gerald ist nicht der Vater, habe ich recht? Natürlich nicht. Natürlich ist dein Mann nicht der Vater. Natürlich hast du deinen Mann satt. Schließlich bist du ja schon mehr als ein Jahr mit ihm verheiratet. Es hat dich wohl zu anderen Männern gedrängt. Ein Mann war nicht genug für Hester Ashley. Sie brauchte mehr. Sie brauchte -56
einen ganzen Stall.« Doris keuchte. Schwäche überkam sie. Hilfe! Aber niemand würde ihr helfen können. Sie war ganz allein. Nach dieser Nacht würde sie für immer allein sein. Alle würden erfahren, was mit Hester geschehen war. Man würde Doris Ashley fallenlassen. Honolulu würde sie ausstoßen. Wenn sie ihresgleichen nach Windward einlud, würde es Entschuldigungen regnen, Ausreden geben. Niemand würde kommen. Windward würde ein Mausoleum. Doris hätte ihren Protest laut hinausschreien mögen, allen zur Kenntnis bringen, daß sie keine Schuld hatte, aber sie war erschöpft. Sie entsann sich des Stuhls neben dem Bett und sah sich danach um, als ob sie sich verlaufen hätte. Sie stand auf, und setzte sich, ihren Mantel zusammenziehend, als ob sie auf den Stuhl geschleudert worden wäre. »Du hast unser Leben ruiniert«, klagte sie. »Also, wer ist der Mann, wer ist es?« Es war ihr, als hätte sie Hesters Stimme gehört. »Wer?« Sie stand auf, um ihr näher zu sein. »Bryce Partridge«, flüsterte Hester. »Er heißt Bryce Partridge.« Ihre Mutter beugte sich über sie. »Er ist auf der Bluegill, er dient mit Gerald auf dem U-Boot. Bitte hör jetzt auf.« Hester schloß die Augen. Doris Ashley schwieg und versuchte, diesen Hinweis zu verdauen. Vor sich sah sie zwei Geralds, zwei Offiziere, zwei unwichtige kleine Würstchen. Ein Mensch wie Gerald hatte Doris Ashley an den Rand einer Katastrophe gebracht. Ein Navy-Offizier, einer von gesichtslosen Tausenden, hatte es geschafft, daß es sie drängte, wie ein Huhn mit abgeschlagenem Kopf durch dieses Zimmer zu laufen. Wie eine böse Sieben hatte sie sich benommen, oder besser wie ihre Mutter, die zu vergessen sie ein halbes Leben bemüht gewesen war. Es war gut, daß nur die Krankenschwester sie gesehen hatte. Jetzt mußte sie auf alles vorbereitet sein. Es ging um ihre Zukunft. Sie setzte sich wieder aufs Bett. »Warum hat er dich zusammengeschlagen, Kleines?« Sie stellte so lange Fragen, bis sie alles erfahren hatte. Bryce -57
Partridge verdiente den Tod. Man müßte ihn vor ein Exekutionskommando stellen. Sie erwog, den Admiral anzurufen. Nein, nie könnte sie es dem Admiral oder auch sonst jemandem erzählen. Von diesem Augenblick an hing ihr weiteres Leben an dem Geheimnis, das sie mit Hester teilte. »Wir haben nur eine Hoffnung, Kleines.« Als Hester den Vorschlag ihrer Mutter hörte, hätte sie am liebsten fliehen mögen, für immer fortgehen. »Sie sind unschuldig!« rief sie. »Wie kannst du so sicher sein? Du warst bewußtlos. Sie könnten dir das alles angetan haben, während du bewußtlos warst.« »Sie haben es aber nicht getan«, sagte Hester. »Es ist nicht wahr!« »Sie hätten dich irgendwo hinschaffen können... und liegen lassen, bevor sie dich dann hierherfuhren.« Doris Ashley legte ihre Hand auf Hesters Arm. »Ich werde dir helfen, Kind. Ich bin der einzige Mensch auf der Welt, der dir helfen kann, Kleines. Ich werde dich beschützen. Vergiß nicht, die Unschuldige bin ich! Ich bin völlig unschuldig. Und ich stehe dir zur Seite. Deine Mutter wird mit allem fertig, was auch kommen mag, wenn du uns jetzt hilfst. Du mußt uns jetzt helfen.« »Ich kann nicht...« seufzte Hester und verstummte. Sie fühlte, wie sie sank, tiefer und tiefer. »Es ist unsere einzige Chance, Kleines«, drängte Doris Ashley. »Wenn wir jetzt nicht zusammenhalten, werden wir es nicht durchstehen.« »Sie haben mich doch nur ins Krankenhaus gefahren«, erklärte Hester. »Sie haben mich gerettet.« »Nein!« widersprach Doris Ashley. Und noch einmal: »Nein! Ich rette dich! Für dich biete ich der Welt die Stirn. Deine Mutter hat sich nicht schwängern lassen von einem... Matrosen! Ich werde dich nicht im Stich lassen. Ich werde bei dir sein und für dich sprechen.« Sie blickte auf ihre Tochter hinab. »Was immer -58
ich sage, werde ich in deinem Namen sagen.« Sie stand auf. Hester hob den Arm, und Doris fühlte ihn an ihrer Seite; dann fiel er schlaff herab. »Warte«, bat Hester. Mrs. Ashley wandte sich ab. »Sie haben nichts getan«, sagte Hester hinter ihrem Rücken. Doris durchquerte das Zimmer, und als sie nach der Klinke griff, rief Hester ihr nach: »Sie sind unschuldig!« Doris verließ den Raum. Sie blieb vor der Tür stehen, bis sie Gerald und den Polizisten, diesen Captain, aus dem Aufzug kommen sah. »Wie geht es ihr?« fragte Gerald. »Sie ist endlich eingeschlafen.« »Hat sie etwas gesagt?« »Es ist entsetzlich, Gerald. Einfach unglaublich. Und das im Jahre 1930.« Sie blickte den Captain an. »Meine Tochter wurde vergewaltigt.« »Hat das der Arzt gesagt?« fragte Maddox. »Ich sage es, und meine Tochter sagt es. Diese vier Männer haben meine Tochter vergewaltigt«, erklärte Doris Ashley. In seinem Wagen vor dem Eingang zur Notaufnahme hob Maddox sein Funkgerät aus der Halterung und drückte die Sprechtaste. »Maddox. Wie heißt unser Mann, der vor ein paar Stunden im Mercy Hospital war?« »Roy Pabst«, antwortete der Diensthabende. »Roy Pabst«, wiederholte Maddox. »Lassen Sie ihn kommen, ich möchte mit ihm reden. Ich bin schon unterwegs.« »Captain, wenn es um die Ashley geht, wir haben die Burschen.« »Was sagen Sie da?« Maddox runzelte die Stirn. »Sie sind da. Und der Wagen. Sie sitzen im Arrest. Sie waren in eine Schlägerei mit Matrosen verwickelt. Captain?« »Ja, ja. Lassen Sie mir den Bericht über die Verhaftungen auf meinen Schreibtisch legen«, sagte Maddox. Er schob das Funkgerät in die Halterung zurück. »Im Arrest«, wiederholte er -59
laut. »Merkwürdig.« Maddox fuhr zurück ins Zentrum. Er bog in die Merchant Street ein, um das Polizeipräsidium an der Ecke Bethel Street zu erreichen. Das Cabriolet stand auf dem Parkplatz. Er nahm die Taschenlampe aus seinem Wagen und inspizierte den Ford, der aussah, als hätte man ihn eben aus dem Ausstellungsraum gerollt. Die Polsterung wies keine Flecken auf. Alles war nagelneu und sauber. Maddox begab sich in die Asservatenkammer. Wenn ein Verhafteter eingeliefert wurde, mußte er alles abgeben: Armbanduhr, Geld, Zigaretten, Schmuck. Die Dinge kamen in einen zweiundzwanzig mal dreißig Zentimeter großen Umschlag aus Manilapapier, zusammen mit einer Auflistung des Inhalts. Maddox überprüfte die Umschläge der vier jungen Männer. Keiner besaß einen Ring. Mit dem Aufzug fuhr Maddox in den zweiten Stock hinauf. Er trat in sein Büro und drehte das Licht an. Der Raum war grau und kalt wie eine Gefängniszelle. Maddox hatte einen Metallschreibtisch und einen metallenen Drehstuhl. Die zwei Fenster hinter dem Schreibtisch waren mit Jalousien versehen. Auf dem Schreibtisch, der für gewöhnlich sauber war, stand ein Telefon. Maddox' Auge fiel auf die Verhaftungsberichte, um die er gebeten hatte. Neben dem Schreibtisch stand ein zweiter Stuhl, und auf der anderen Seite, im rechten Winkel zur Tür, ein rechteckiger Holztisch mit weiteren vier Stühlen. An der Wand, oberhalb der Tür, hing eine große elektrische Uhr. Er las die vier Berichte, schob sie zusammen und studierte die Namen der vier Gefangenen. »Joe Liliuohe«, sagte Maddox laut. Er beugte sich vor und hob den Hörer ab. »Maddox. Ihr habt da unten einen Burschen namens Joe Liliuohe. Bringen Sie ihn rauf.« Maddox zog seine Jacke aus und hängte sie über die Lehne seines Stuhls. Er ließ seinen Hut auf den Stuhl fallen und knöpfte seine Weste auf. Als der Schließer Joe Liliuohe hereinbrachte, stand Maddox vor dem Schreibtisch und lehnte sich dagegen. »Sie können gehen«, sagte er zum Schließer. -60
Der Schließer verließ den Raum. Maddox schüttelte müde den Kopf und rieb sich mit der rechten Hand das Gesicht. »Mannomann, ihr Burschen macht einem wirklich das Leben schwer«, begann er. Joe stand ein oder zwei Meter von der Tür entfernt in der Mitte des Büros. »Wenn ihr zu Bett gehen würdet wie andere Leute, könnte ich mich auch aufs Ohr legen.« Maddox war zu einem langmütigen, überarbeiteten Freund aller Menschen geworden. »Du bist Joe...«, Maddox unterbrach sich und fügte nach einer kleinen Pause hinzu, »Liliuohe. Weißt du, wer ich bin?« »Ich habe es an der Tür gesehen. Sie sind Captain Curtis Maddox.« »Curt Maddox.« Joe sah, wie sich der hochgewachsene Mann vom Schreibtisch abstieß und auf den rechteckigen Tisch zuging. Er streckte seinen linken Arm aus, als ob er Joe umarmen wollte. »Mach dir's gemütlich«, sagte er. Er kam zum Tisch, blieb stehen und hob die Arme hoch. »Mann, bin ich müde!« sagte Maddox, zog sich einen Stuhl heran und setzte sich. Er streckte die Beine aus und überkreuzte die Füße. Sein Finger deutete auf einen anderen Stuhl. Joe rührte sich nicht. »Na schön, du bist ein harter Bursche«, sagte Maddox. »Nein, das bin ich nicht, Herr... Captain«, erwiderte Joe. »Ich habe ganz großen Schiß. Mir zittern die Knie. Eines hat man mir immer wieder gesagt, seit ich denken kann. Halt dich fern von der Polizei. Und das habe ich getan. Ich habe in meinem ganzen Leben nie etwas Böses getan. Und jetzt bin ich verhaftet, bin ich hier.« Maddox deutete mit dem Finger nun auf Joe. »He, ich habe dich schon mal gesehen«, log er. Er schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. »Du hast Football gespielt!« Joe nickte. »Ich wußte, daß ich dich schon einmal gesehen habe«, sagte Maddox triumphierend. Er hatte Joe Liliuohe identifiziert, als er den Namen auf dem Bericht gelesen hatte. »Hör mal, Joe, ich will offen mit dir sein. Wir müssen miteinander reden. Ich muß dir ein paar Fragen stellen. Verdammt noch mal, willst du dich nicht endlich setzen?« -61
Maddox reckte seinen Fuß und zog einen Stuhl vor, bis Joe zum Tisch kam und sich Maddox gegenübersetzte. Maddox verschränkte die Hände über dem Bauch. »Die Keilerei mit den Matrosen war der Schlußpunkt dieses Abends für euch Jungs«, sagte er. »Wo wart ihr denn überall?« »Warum fragen Sie? Wir haben nichts Unrechtes getan«, antwortete Joe. »Wir sind halt rumgefahren.« Maddox schwieg. Joe rutschte auf seinem Stuhl hin und her. »Wir haben für das Benzin zusammengelegt und sind rumgefahren. Ins Zentrum. Die Pali raus, wieder zurück, nach Waikiki rüber, Diamond Head.« Er deutete auf das Fenster. »Der Wagen da unten gehört meiner Schwester. Sie hat drei Jahre dafür gespart. Das Schlimmste ist, ich ließ ihr keine Ruhe, bis sie ihn mir geliehen hat. Das war das erste Mal, und hier ist jetzt Endstation für den Wagen und mich.« »Hattet ihr auch Mädchen dabei, Joe?« »Mädchen? Nein. Wir waren zu viert. Allein.« »Vier junge Burschen mit einem Cabrio, die sich vor Mädchen drücken.« Maddox zuckte die Achseln. »Klingt schon ein bißchen komisch.« »Wir haben uns vor niemandem gedrückt«, gab Joe zurück. »Die Dinge scheinen sich geändert zu haben, seit ich so alt war wie du«, sagte Maddox. »Willst du mir weismachen, ihr habt nicht einmal an Mädchen gedacht?« »Ich habe Ihnen schon gesagt, daß es das erste Mal war, daß meine Schwester uns den Wagen geliehen hat. Ich habe wirklich aufgepaßt, daß dem Wagen nur ja nichts passiert.« Joe unterbrach sich. Er hatte plötzlich das Gefühl, in einem Eisschrank zu sitzen. »Reden Sie vielleicht von der Frau, die wir ge funden haben?« »Frau? Gefunden?« »Da draußen beim Whispering Inn. Eine Frau lag mitten auf dem Weg. Direkt vor uns. Sie war bewußtlos. Ihr Gesicht... es war... ein Brei. Jemand hatte sie ganz fürchterlich zugerichtet. Ich habe so etwas noch nie gesehen... Konnte sie doch nicht so -62
liegenlassen. Wir... ich brachte sie ins Krankenhaus, ins Mercy Hospital.« »Also hattet ihr heute abend doch Mädchen dabei«, sagte Maddox. »Ein Mädchen.« Joe lehnte sich vor. »Nicht so, wie Sie meinen. Ich habe es Ihnen schon gesagt. Sie lag mitten auf der Straße wie ein überfahrener Hund.« »Drum habt ihr euch ihrer erbarmt, nicht wahr?« »Das würde jeder getan haben«, sagte Joe. »Sie hätten sie sehen sollen.« »Ich habe sie gesehen. Ich war im Krankenhaus. Du hast recht, Joe. Sie sieht aus wie durch den Fleischwolf gedreht. Was könnte den Betreffenden zu einer solchen Tat bewogen haben?« »Ich habe Ihnen alles gesagt«, wiederholte Joe und fügte rasch hinzu: »Moment! Ich kannte sie von ihrem Bild in den Zeitungen. Es war Hester Ashley.« »Hester Ashley Murdoch«, sagte Maddox. »Denk doch mal nach, Joe. Was ist heute abend sonst noch passiert?« Joe sprang auf. »Nichts ist passiert! Sie lag auf der Straße! Ich fuhr sie ins Krankenhaus!« »Du und deine drei Kameraden.« »Ja, ich und meine drei Kameraden. Beim Krankenhaus kam sie wieder zu sich, sprang aus dem Wagen, und das war alles!« »Ich wollte, das wäre alles«, brummte Maddox. »Ich wollte, das wäre alles.« Er setzte sich aufrecht und schlug die Beine übereinander. »Aber das ist noch nicht alles. Sie wurde vergewaltigt.« »Sie...« Joes Stimme klang hohl. Es fröstelte ihn. Er sah sich um, als wollte er davonlaufen. Dann ließ er sich kraftlos auf den Stuhl fallen. »Das ist eine Lüge.« Maddox beobachtete den Footballspieler. Jetzt hatte er genug Angst. Er war kein sehr harter Bursche. »Eines will ich dir noch -63
sagen, Joe. Es ist immer besser, wenn einer zugibt, was er getan hat.« »Wir haben nichts getan. Wir fanden sie auf der Straße. Bewußtlos.« Joes Stimme klang monoton. »Ist das die Geschichte, die du uns auftischen willst?« fragte Maddox. »Willst du dabei bleiben?« »Es ist keine Geschichte. Ich sage Ihnen die Wahrheit.« »Könnte sein, daß du etwas vergessen hast. Einen Teil der Wahrheit.« »Hab ich nicht!« stieß Joe hervor. Er pendelte von einer Seite zur anderen, sein ganzer Körper schwang von links nach rechts, von rechts nach links. Der Stuhl war zu einer Zelle geworden. »Vielleicht warst nicht du es. Vielleicht hat deine drei Kameraden heute nacht der Hafer gestochen. Vielleicht brauchten sie nur...« »Das ist nicht wahr!« »... eine hilfreiche Hand vom linken Läufer, dem großen starken Burschen, der es im Alleingang schafft, den Ball über die Querlatte zu treten. Vielleicht hast du die Frau gehalten, während...« »Das ist doch verrückt!« »... sie sie vergewaltigten. Und geschlagen wurde sie, weil sie, obwohl du sie festgehalten hast...« »Keiner hat sie angerührt! Keiner von uns!« »... weil sie sich wehrte, und darum mußten sie sie zusammenschlagen, damit sie stillhielt, mußten sie sie brutal zusammenschlagen.« Joe saß ganz ruhig da. Er wiegte sich nicht mehr von einer Seite zur anderen. Er war fertig. Wie ein Tier, das in der Falle steckte. Joe schrumpfte mehr und mehr auf seinem Stuhl zusammen. »Wir haben es nicht getan«, wisperte er fast unhörbar. Maddox stellte die übergeschlagenen Beine nebeneinander und -64
beugte sich vor, ganz nahe an Joe heran. »Manchmal kann es sich ein Mittäter leichter machen«, raunte er. »Aber er muß uns alles sagen, darf uns nichts verschweigen.« »Ich habe Ihnen alles gesagt.« Maddox fuhr fort, als hätte er nichts gehört. »Wenn du es beeiden würdest, könntest du vielleicht sogar als freier Mann nach Hause gehen.« Joe betrachtete den Fußboden, seine Schuhe und den Fußboden, seine Schnürsenkel, seine Schuhe und den Fußboden. »Joe?« »Wir haben sie nicht angerührt«, antwortete Joe dem Fußboden. »Ich habe sie nicht angerührt. Harry nicht und Mike nicht und David nicht.« »Du hast sie in deinen Wagen gesetzt.« Joe blickte auf. »Das ist alles, was wir getan haben. Was ich getan habe. Ich allein. Die anderen hatten Angst, ihr nahe zu kommen, sie auch nur anzusehen, weil es Hester Ashley war. Sie wollten weg, wollten, daß ich weiterfahre. Das wollte ich nicht, konnte ich nicht. Sie war bewußtlos. Mehr können Sie von mir nicht hören, weil es mehr nicht gegeben hat.« »Vielleicht habe ich mich in dir getäuscht, Joe«, änderte Maddox die Gangart. »Vielleicht warst du genauso fickerig wie die anderen.« Joe ließ den Kopf sinken. Er hätte sich am liebsten die Ohren zugehalten. »Wie viele von euch haben sie geschlagen?« »Keiner.« Joe sah Maddox in die Augen. »Ich schwör's bei Gott, wir haben sie nicht angerührt.« »Aber als ihr zum Krankenhaus kamt, habt ihr sie aus dem Wagen gestoßen und schleunigst Leine gezogen.« »Ich habe es Ihnen schon gesagt. Sie war wieder wach, als wir zum Krankenhaus kamen. Sie fing an zu schreien, wir sollten sie rauslassen. Sie machte die Tür auf und sprang hinaus, bevor ich -65
mich noch rühren konnte. Und ein Cop, ein Polizeibeamter, und ein Mann in Weiß kamen aus dem Krankenhaus. Wir hatten alle Angst, drum schwirrten wir ab, so schnell wir konnten.« »Aber du bist unschuldig«, sagte Maddox. »Ihr habt alle ein reines Gewissen.« Er lehnte sich zurück. »Seitdem du durch diese Tür gekommen bist, reden wir um den heißen Brei herum, Joe. Spielen wir doch mit offenen Karten. Wenn du mit offenen Karten spielst, kann ich dir vielleicht helfen. Ich sage nur soviel: Ich werde versuchen, dir zu helfen, und ich meine es ernst.« »Und was soll ich tun?« »Mir die Wahrheit sagen.« »Ich habe Ihnen die Wahrheit gesagt, Captain. Ich schwöre, daß es die Wahrheit ist. Ich schwöre es bei Gott und allem, was mir heilig ist.« Maddox erhob sich und ging zu seinem Schreibtisch zurück. Er ließ Joe Liliuohe fallen, gab ihn auf. Der junge Mann folgte ihm. »Ich habe Ihnen alles genau so erzählt, wie es sich abgespielt hat«, bekräftigte er. Maddox drückte einen Knopf unter seiner Schreibtischplatte. »Wie sich was abgespielt hat?« »Nichts!« Der Kerl benahm sich, als ob er schwerhörig wäre. »Nichts hat sich abgespielt!« Ein Polizist kam herein. »Nehmen Sie Joe mit und geben Sie ihm einen Kaffee«, sagte Maddox und wies den Polizisten an, Joe Liliuohe getrennt von seinen Freunden einzuschließen. Maddox tat der Rücken weh. Er verschränkte die Arme und massierte sich die Schultern. Er knöpfte seine Weste zu und zog seine Jacke an. Neben seinem Schreibtisch stehend, fächerte er die vier Meldungen auseinander. Dann setzte er sich, langte nach dem Telefon und rief den Schließer an. Er ließ die übrigen drei Gefangenen heraufkommen, einen nach dem anderen. Den jüngsten, David Kwan, ließ er sich für zuletzt. Er verfügte, daß sie alle getrennt verwahrt wurden, so daß sie sich nicht miteinander absprechen konnten. Er studierte ihre -66
Hände, während er mit den jungen Männern sprach. Er log. Für jeden der drei trug er eine andere Maske. Er war Simon Legree, ein rabiater Fanatiker wie die Plantagenverwalter, die auf Maui und Kauai ihre eigenen Gefängnisse eingerichtet hatten. Er war ein kalter Polizeioffizier, der sich strikt an die Vorschriften hielt. Und bei David Kwan war er ein Seelenhirte, gütig und verständnisvoll. Keiner der drei wankte. Auch dann nicht, als er Mike Yoshida vorhielt, die anderen zwei hätten ihn als den einzigen Notzüchter bezeichnet; und auch nicht, als er sich erbötig machte, David Kwan bei seinem Geständnis zu helfen, wie er auch schon den anderen geholfen hatte. David Kwan fing an zu weinen. Maddox gegenübersitzend, bedeckte er sein Gesicht mit den Händen und weinte leise, mit zuckenden Schultern. Doch als er sich die Tränen abgewischt und seine Fassung wiedererlangt hatte, erzählte er die gleiche Geschichte, wie sie Maddox schon von den drei anderen vertraut war. Der Captain drückte den Knopf unter der Schreibtischplatte. Ganz still saß Maddox allein in seinem Büro, so ruhig, daß das Klick des Minutenzeigers der elektrischen Uhr über der Tür das einzige Geräusch im Zimmer war. Er richtete den Blick auf den Chronometer. Zwanzig nach eins. Er war müde, aber nicht schläfrig, und er wußte, daß es ihm jetzt unmöglich sein würde, einzuschlafen. Mit beiden Händen schob er die vier Meldungen zusammen. Dann stand er auf, ging ans Fenster, zog mit den Fingern die Querleisten der Jalousien auseinander und sah auf die Merchant Street hinunter, die leer und blank unter den Lichtern lag. Er ließ seine Hände sinken, blieb aber am Fenster und starrte ins Nichts. Dann drehte er sich um, griff nach seinem Hut und besah sich den Kniff. Er setzte den Hut auf. »Und sie behauptet, sie wären es gewesen«, sagte er laut. Sonntag morgen eilte ein Mädchen durch die mit Abfällen bedeckten Straßen, Gassen und Plätze Papakoleas, kam an Kindern vorbei, die im Schmutz spielten, und an Frauen, die -67
neben ihren Häusern arbeiteten. Die junge Frau war blaß vor Angst und Kummer. Wenn sie gegrüßt oder auch nur angerufen wurde, antwortete sie mit einem Winken oder einem Wort oder beidem. Sie war eine höfliche und wohlerzogene junge Frau und konnte niemandem weh tun, weder ihren eigenen Leuten noch jemandem in der weißhäutigen Welt der Haoles. Aber dennoch besaß sie einen wilden, fast kampfeslustigen Stolz. Sie war hübsch und groß für eine Hawaiierin und trug ihr schwarzes Haar auf einer Seite gescheitelt und dann um den Nacken geringelt. Sie hatte große braune Augen und sah aus, als gehörte sie, in einen Grasrock gekleidet, auf den Pier des Aloha-Turms, um dort Schiffspassagiere mit Leis, den herrlichen Blütenkränzen, willkommen zu heißen. Aber sie war nach westlicher Art gekleidet, weiße Bluse, dunkler Rock, und trug Strümpfe und flache Schuhe. Manchmal lief sie, bis sie außer Atem war und ihre Schritte wieder verlangsamen mußte, kam dann zu einer Kreuzung, die sie verkehrswidrig diagonal überquerte, wich hastig einem Mann aus, der einen Schubkarren auf sie zu schob, erreichte schließlich die andere Straßenseite und setzte ihren Weg trotz der Stiche in den Seiten energisch fort. Sarah Liliuohe hatte ihr Ziel schon fast erreicht. Etwa vier Straßenzüge weiter in westlicher Richtung saß Tom Halehone am Küchentisch und las sich gemächlich durch die Sonntagsausgabe des Outpost-Dispatch. Er trug eine alte Baumwollhose, ein Unterhemd und sein einziges Paar Schuhe. Seine Eltern gingen im Haus immer barfuß, aber Tom konnte sich nicht daran gewöhnen. Seine Mutter besuchte eine kranke Freundin, und sein Vater angelte wie immer am Sonntag. Tom war allein zu Hause, und nach seinem Erlebnis am vergangenen Abend wußte er diese Wohltat zu schätzen. Nach dem Kino und der rüden Behandlung durch den Polizisten war er stracks nach Hause gegangen. Ein einziges Licht brannte noch in der Küche. Er ging ums Haus herum zur hinteren Veranda und hörte seine Mutter sagen: »Es ist Tom.« -68
Die Küchentür war immer offen. »Ich habe mit dem Abendessen noch auf dich gewartet«, begrüßte ihn seine Mutter. »Ich hatte...« Sie verstummte und stürzte sich auf ihn, als er im Licht stand. »Was ist passiert?« »Nichts. Gar nichts«, antwortete Tom. Er wußte, daß es jetzt wieder losgehen würde, und ärgerte sich schon über sie. Sein Vater saß an der Längsseite des Küchentisches, eine Schale Tee in der Hand. »Gehst du morgen nicht angeln?« fragte Tom. »Ich hatte geschlafen und bin aufgewacht«, antwortete Sam Halehone. »Schau dich nur an, wie du aussiehst«, erregte sich Toms Mutter. Cläre Halehone suchte nach Verletzungen. »Hattest du einen Unfall? Bist du gestürzt?« Seit er denken konnte, hatte Tom diese Frage, diese brandmarkende Frage gehört. Sie grapschte an ihm herum. »Deine Jacke ist ja zerrissen!« rief sie entsetzt, als sie eine aufgerissene Naht entdeckte. »Bist du gestürzt?« Er war nie gestürzt, auch als Kind nicht, aber vom Augenblick seiner Geburt an hielt seine Mutter ihn für ein zerbrechliches und kraftloses Geschöpf, das sich wegen seines kürzeren linken Beines ständig in Gefahr befand. Vom Augenblick seiner Geburt an hatte sie ihn abgeschirmt und dem Drängen seines Vaters, ihn leben zu lassen, wie seine Spielkameraden auf der Straße lebten, energischen Widerstand geleistet. Und als sie erfuhr, daß sie keine Kinder mehr bekommen konnte, wurde ihre Hingabe, ihre Fürsorge, zu einer fixen Idee. Sie lebte in dem unerschütterlichen Glauben, daß ihr Sohn sich ständig in Gefahr befand. »Ich bin nicht gestürzt«, antwortete Tom und mußte heftig an sich halten. »Mir geht es ausgezeichnet. Sehe ich denn aus, als ob ich verletzt wäre? In der Stadt war eine Schlägerei und...« »Du hattest eine Schlägerei?« unterbrach ihn seine Mutter. »Laß ihn doch erzählen«, sagte Toms Vater. »Schau dir mal deine Krawatte an, dein Haar!« »Willst du ihn nicht reden lassen?« legte sich der Vater ins -69
Mittel. Tom nahm seine Mutter bei der Hand, führte sie zum Tisch und drängte sie sanft auf einen Stuhl. »Ein Cop dachte, ich wäre dabeigewesen, und wollte mich festnehmen. Das ist die ganze Geschichte. Also bitte, keine Aufregung.« »Als ob du ein Dieb wärst«, empörte sich seine Mutter. »Du bist ein Anwalt ! Hast du ihm gesagt, daß du ein Anwalt bist?« Tom betrachtete Cläre und Sam Halehone, wie sie an ihrem Tisch saßen. Sie waren kaum voneinander zu unterscheiden, diese zwei kleinen breitschultrigen Gestalten, mit den gleichen schwarzen Haaren und den kurzen dicken Fingern. Tom lächelte seine Mutter an: »Ob ich ihm gesagt habe, daß ich Anwalt bin? Nein, das habe ich nicht.« »Sieh nur, was sie mit dir gemacht haben«, jammerte seine Mutter. »Gib mir die Jacke, ich werde sie flicken.« »Keine Eile«, sagte Tom, aber er zog die Jacke aus und hoffte, ihre Litanei würde damit ein Ende finden. Clara hielt die Jacke hoch. »Das ist ja die San-Francisco-Jacke«, rief sie empört. »Diese Schweine!« In diesem Anzug hatte Tom promoviert. Die Zahlungsanweisung von seinen Eltern war einen Monat vor dem Tag gekommen, an dem die akademischen Grade verliehen werden sollten, und auf dem Beipackzettel stand nur, daß das Geld für einen neuen Anzug gedacht war. Unterschrieben war der Zettel mit »Deine Mutter«, und daneben, noch etwas ungelenker, »Vater«. Er erinnerte sich, wie er den Umschlag in der Halle des Wohnheims geöffnet hatte. Er erinnerte sich, wie er die Zahlungsanweisung in der Hand hielt und seine Eltern plötzlich am Küchentisch sitzen sah, den Vater mit seinem Tee, während die Mutter auf liniertem Papier emsig krakelte, den Brief unterschrieb und dann ihrem Mann den Bleistift hinhielt. Er erinnerte sich an das regelmäßige Eintreffen der Zahlungsanweisungen - drei lange Jahre. Auf dem Territorium gab es keine juristische Fakultät, und Toms einzige Chance war ein Studium in den USA gewesen. Schon auf der High-School -70
hatte er immer vom Jurastudium gesprochen und auf ein Stipendium gehofft, aber nie eines bekommen und schließlich seinen Traum aufgegeben. In den Staaten hätte er nicht nur für Bücher und Studiengebühren viel Geld gebraucht, sondern auch für Unterkunft und Verpflegung. »Ich werde mir einen Job suchen«, hatte er damals gesagt. Clara Halehone versuchte damals nicht, Tom ihren Willen aufzuzwingen. Sie zog sich zurück. In der Küche wurde es still. Sie wußte, daß ihr Leben gelebt war. All ihre Hoffnungen waren enttäuscht worden. Sam Halehone sah mit an, wie seine Frau fast einen Monat lang trauerte. Eines Abends ging er mit seinem Sohn vors Haus. »Du mußt tun, was sie will«, sagte Sam. San Francisco war wie ein Traum. Von Anfang an war Tom glücklich. Die Vorlesungen waren um dreizehn Uhr zu Ende, aber der Tag des jungen Studenten fing nun gerade erst an. Er las Streitsache um Streitsache, solange er die Augen offenhalten konnte. Tom steckte viel mit seinen Kommilitonen zusammen. Er war selten allein. San Francisco enttäuschte ihn nie. Er wurde niemals belästigt, niemals herausgefordert. In diesen drei Jahren gab es keinerlei Demütigung für ihn. Und doch kehrte er nach Honolulu zurück, um sich der Prüfung zu unterziehen, die er bestehen mußte, um den Anwaltsberuf auf dem Territorium ausüben zu dürfen. Seine Mutter wollte ihn zurückhaben. Als er wiederkam, war sie wieder voller Leben. Tom sprach nie von seiner Rückkehr. Er war ein junger Mann mit vielen Geheimnissen, und eines der tiefsten war der Grund, warum er San Francisco den Rücken gekehrt hatte. Hier, im Haus seiner Eltern, fühlte Tom sich sicher. Am letzten Abend hatte Sam Halehone seinen Tee zur Seite geschoben. »Ich habe dir immer wieder geraten, in San Francisco zu bleiben«, sagte er zu Tom. »Warum hast du mir nicht gefolgt? Du hattest die Möglichkeit. Warum bist du zurückgekommen? Jetzt geht es dir wie mir. Hier bist du ein Stück Dreck wie ich.« Immer noch am Küchentisch sitzend und mit der -71
Sonntagszeitung beschäftigt, breitete Tom die Arme aus, um umzublättern, als er am Fenster eine Gestalt vorbeihuschen sah. Er dachte, es wäre seine Mutter, die von ihrem Besuch zurückkam, aber die Schritte auf der Veranda waren zu schnell, und als er die Zeitung senkte, sah er eine junge Frau in der offenen Tür. Sie war nicht gekleidet, wie man in Papakolea gekleidet war. »Entschuldige«, sagte sie, als er sich erhob. »Tut mir leid, daß ich so hereinplatze. Kann ich mit dir reden, Tom?« Der junge Halehone nickte. Die junge Frau kam in die Küche und war schon fast beim Tisch, als er sie erkannte. »Sarah!« Es war Sarah Liliuohe, Joes jüngere Schwester. »Ich habe dich wirklich nicht erkannt«, entschuldigte sich Tom. Sie war so hübsch. Mit ihrer Kleidung erinnerte sie ihn an die Mädchen in San Francisco. Er konnte sich nicht erinnern, wann er sie das letzte Mal gesehen hatte. Seit seiner Rückkehr aus den Staaten war er Joe erst einmal in der Innenstadt begegnet. »Bitte«, sagte er und schob ihr einen Stuhl hin. Sarah bewegte sich nicht. »Joe ist im Gefängnis«, sagte sie. »Er und drei andere Jungs sollen die Frau eines Navy-Offiziers vergewaltigt haben.« Tom starrte sie an. Er kannte Joe. »Sie haben es nicht getan!« fuhr sie fort. »Sie haben überhaupt nichts getan. Joe hat es mir geschworen. Er hat nichts getan! Er hat nichts getan!« Tom wollte sie trösten. Sie schien so verzweifelt allein in der Welt zu sein. »Mich brauchst du nicht zu überzeugen«, sagte er. »Willst du ihm helfen? Du bist doch jetzt Anwalt. Willst du etwas für ihn tun? Noch heute?« »Ich werde es versuchen. Ich bin noch nicht lange Anwalt, weißt du.« Bis jetzt hatte er in seiner mageren Praxis nur Leute gehabt, die er schon lange kannte, alte Leute aus Papakolea; sie brauchten einen Mietvertrag, eine Vertretung bei der Behörde, um eine Konzession oder eine Zulassung zu erlangen. »Das ist ein Kriminalfall, Sarah. Ich habe noch nie mit einem Kriminalfall -72
zu tun gehabt.« »Du kannst es doch versuchen, oder?« Sie war zornig und sah ihn an, als ob er sie im Stich lassen wollte. »Du bist Joes Freund. Warst es wenigstens. An wen sollte ich mich sonst wenden? Ich kenne doch niemanden.« Tom wollte alles vergessen machen, was er gesagt hatte. Er kam sich vor wie ein Feigling. »Ich werde mein Bestes tun«, versprach er ihr. »Ich werde tun, was ich kann.« »Kannst du ihn herausholen? Brauchst du Geld? Aber wir haben kein Geld. Wir haben alles für meinen Wagen ausgegeben. Was ich für Unsinn daherrede! Ich kann einfach nicht aufhören zu reden. Wenn ich aufhöre, kommen mir die schrecklichsten Gedanken, was mit Joe passieren könnte, mit allen vier. Alles wegen meinem Wagen. Joe durfte gestern mit meinem Cabrio fahren. Sie fanden diese Frau bewußtlos...« Sie verstummte und faltete beide Hände über ihrem Mund. »Sarah?« Tom kam auf sie zu. »Sarah?« Sie ließ die Hände sinken. »Das Schlimmste weißt du noch nicht«, sagte sie, und ihre Pupillen weiteten sich vor Angst. »Joe hat mir den Namen der Frau genannt. Ich erinnere mich nicht, wie sie als Verheiratete heißt. Es ist Hester Ashley, die Tochter von Doris Ashley.« »Ashley«, wiederholte Tom. Er blickte zur Seite. Sarah beobachtete ihn und wartete. Dann wandte sie sich zum Gehen. »He«, sagte Tom, »Sarah!« und kam ihr nach; er versuchte, seine n linken Fuß zu vergessen. Er ergriff ihren Arm. Sie versuchte, ihn abzuschütteln, aber es gelang ihr nicht. »Ich werde schon jemanden finden«, sagte sie. »Du hast jemanden gefunden!« Er hielt sie fest. »Sarah! Sarah!« sagte er und zog sie am Arm, bis sie sich wieder umdrehte. »Ich muß mit Joe reden, ich zieh mich nur noch schnell an. Kannst du mich in die Stadt fahren?« »Leider nicht. Die Polizei hat meinen Wagen behalten.« Sie preßte ihre Knöchel an den Mund. -73
»Ich hole dir deinen Wagen raus«, sagte Tom. »Zuerst rede ich mit Joe, dann hole ich dir den Wagen raus.« Als Bryce Partridge Sonntag früh erwachte, war er plötzlich wieder im Whispering Inn und sah den großen Mann vor sich, der Gerald Murdoch abgeholt hatte. Der Mann war ein Bulle, oder er arbeitete für Doris Ashley, oder er war ein stinknormaler Bürger; aber dafür hatte er zu viel Autorität ausgestrahlt. Wo war Hester? Ginny bewegte sich und berührte ihn, stieß irgendwelche Laute aus, kam näher, nackt und warm und klebrig. Bryce hätte sie am liebsten aus dem Fenster geworfen. Vorsichtig trennte er sich von ihr, um sie nicht zu wecken, und stieg aus dem Bett. Leise raffte er seine Kleider zusammen und verließ barfuß das Schlafzimmer. Er brauchte eine Zeitung. Bei all seinen Vorbereitungen für Ginnys Ankunft - er hatte das Haus gemietet, Strom und Gas, Wasser und Telefon angemeldet, Kisten und Kartons geschleppt war er nicht dazu gekommen, eine Zeitung zu abonnieren. Er mußte eine Zeitung in die Hand bekommen. Irgend jemand hatte Hester gefunden. Als er vor die Tür trat, sah er auf dem Rasen des Hauses links nebenan eine eingerollte Zeitung liegen. Er hob sie auf. Wenn jemand herauskam, würde er sagen, er hätte eine kleine Wette auf das gestrige Footballspiel gemacht und sehen wollen, wie es ausgegange n war. Von ihr stand nichts in der Zeitung. Bryce faltete das Blatt zusammen und ließ es wieder auf den Rasen fallen. Er ging zum Haus zurück und blieb vor der Tür stehen. Es kam ihm, daß er auf die Uhr gesehen hatte, bevor er heimlich das Whispering Inn verließ, um sich mit Hester zu treffen. Es war kurz vor neun gewesen. Wahrscheinlich war die Zeitung seines Nachbarn vor einundzwanzig Uhr gedruckt worden. Er mußte eine Spätausgabe des Outpost-Dispatch finden. Bryce fuhr in die Stadt, fuhr schnell durch die leeren Straßen, -74
direkt zum Gebäude des Outpost-Dispatch. Im ersten Stock verkaufte ihm die ältliche Frau am Anzeigenschalter die Spätausgabe. Bryce ging zu seinem Wagen zurück und begann auf der ersten Seite. Eine nach der anderen fuhr er mit dem Zeigefinger die Spalten ab. Sie ist tot! Er hämmerte mit der Faust auf das Lenkrad. »Sie ist nicht tot«, sagte er laut. Er blickte auf die Sonntagszeitung, die neben ihm auf dem Sitz lag. Sie... könnte... tot... sein, dachte er. Du weißt schon lange, daß es passiert sein könnte. Diesmal kannst du dir dein Beten und das Geschäft mit Gott sparen. Sie könnte irgendwo da draußen liegen. Aber wo? Er ließ den Motor an. Bryce parkte vor seinem Haus. Die Zeitung seines Nachbarn lag noch immer auf dem Rasen. Er bereitete sich auf eventuelle Reaktionen Ginnys vor, die jetzt bestimmt schon aufgestanden war. Bryce roch Kaffee, als er die Tür öffnete. »Schönen guten Morgen. Ich habe dir die Sonntagszeitung mitgebracht.« »Das arme Mädel«, hörte er Ginny sagen und verhielt den Schritt. Er konnte sich nicht rühren und wartete darauf, daß seine Frau wie eine Furie auf ihn losfahren würde. »Es tut mir so leid«, hörte er sie sagen. »Ich wünschte... Es tut mir schrecklich leid.« Bryce ließ die Zeitung auf einen Stuhl fallen und sah ins Wohnzimmer, als ob es Ginny gar nicht gäbe. Es war ihm gleich, was sie sagte oder tat. Er dachte nur an den Admiral. Wenn es zu einem Marinegerichtsverfahren kommen sollte, er würde nicht kneifen. Er würde unter Eid aussagen, daß... ganz gleich, was... Hester hatte ihn bedroht. Sie hatte einen Revolver. Trotzig marschierte er ins Zimmer hinein. Verwirrt und wie gebrochen lehnte Ginny neben dem Telefontischchen an der Wand. »Hester wurde gestern nacht vergewaltigt«, sagte sie. Dieses verrückte, verlogene Luder. »Was wurde sie?« »Ich kann es auch nicht glauben.« Ginny schüttelte den Kopf. »Ginny! Du hast gesagt, sie wurde vergewaltigt.« Ginny nickte. »Wer hat sie vergewaltigt? Wer war es?« -75
»Das wissen sie noch nicht«, sagte Ginny. »Wer sind sie?« Er deutete auf das Telefon. »Wer war am Apparat?« Ihre Lippen bewegten sich kaum. »Gerald«, antwortete sie. »Es ist einfach schrecklich.« Sie rieb sich die Hände mit gespreizten Fingern, als versuchte sie, Schmutziges wegzuwischen. »Da liegt plötzlich einer auf dir drauf und in dir drin!« Sie verzog angeekelt das Gesicht und raffte ihren Morgenrock zusammen. »Ich muß mir was anziehen.« »Warte«, sagte Bryce, kam auf sie zu und blieb vor ihr stehen. Ginny trat an die Wand zurück. »Ich möchte mich anziehen.« »Sag mir doch, was Gerald dir erzählt hat. Fang von vorn an.« »Mir ist übel«, wehrte sie ab. Bryce umspannte ihr Kinn. Sie drehte den Kopf mit einem Ruck zur Seite und verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich möchte, daß du mit mir redest«, sagte Bryce. »Mein Engel, wir waren so lange voneinander getrennt, wir haben ganz vergessen, daß wir verheiratet sind. Wir teilen alles. Das Gute und das Böse.« Sie sah an ihm vorbei. »Ich habe bei ihnen zu Hause angerufen, um Gerald für die Party zu danken. Bei ihrer Mutter zu Hause. Ich konnte Geralds Nummer nicht finden. Das Mädchen sagte mir, Hester wäre im Krankenhaus und Gerald bei ihr. Im Mercy Hospital. Ich konnte mir nicht vorstellen, was sie im Krankenhaus macht. Du erinnerst dich doch, daß sie gestern abend plötzlich verschwunden war. Sie kam dann nicht mehr zurück.« »Und weiter?« »Ich war sehr besorgt. Ich getraute mich kaum, im Krankenhaus anzurufen. Aber dann kam ich mir richtig feige vor. Ich rief also dort an und fragte nach Lieutenant Gerald Murdoch. Hester wurde von vier Männern vergewaltigt.« »Von vier Männern?« »Warum wiederholst du alles?« Ginny breitete ihre Arme aus und stieß mit den Handrücken Bryce vor die Brust. »Ja, vier! -76
Diese Eingeborenen! Nicht weit vom Whispering Inn haben sie sie genommen. Jetzt wissen wir, warum sie nicht zur Party zurückkam. Die hatten sie in ihrer Gewalt! Erinnerst du dich, wie Gerald auf der Suche nach Hester war und uns fragte, ob wir sie gesehen hätten?« »Woher sind sie denn gekommen? Wenn sich das vor dem Inn abgespielt hätte, würden wir doch etwas gehört haben!« meinte Bryce. »Was hat Gerald noch erzählt?« »Reicht dir das nicht? Vier waren es.« Ginny dachte an acht haarige, schmutzige Arme, die sich nach ihr ausstreckten. »Wahrscheinlich kam Hester gar nicht mehr dazu, um Hilfe zu rufen.« Sie dachte an acht Hände auf ihrem Mund. »Ich fahre ins Krankenhaus.« »Jetzt? Meinst du nicht, du solltest noch ein wenig warten?« »Warten? Worauf?« gab Ginny zurück. »Was kann ihr denn noch passieren? Für eine Frau gibt es nichts Schlimmeres als das.« »Aber nach dem, was geschehen ist, solltest du ihr etwas Ruhe gönnen«, wandte Bryce ein. »Gerald ist doch bei ihr. Außerdem hast du sie ja erst kennengelernt. Du bist doch eigentlich keine Freundin von ihr.« »Aber du bist Geralds Freund.« »Ja, das stimmt. Ich werde ihn anrufen. Wie hieß doch gleich das Krankenhaus?« »Du brauchst ihn nicht anzurufen, du kannst mit ihm reden, wenn wir dort sind.« »Warte eine Sekunde, mein Engel.« Er griff nach ihr, aber Ginny schlug seine Hände zur Seite. »Warum stehn wir hier herum und reden nur? Wenn du ein Freund bist, mußt du auch einem Freund zur Seite stehn, wenn er in Schwierigkeiten ist«, erklärte Ginny. »Hester und ihre Mutter sollen wissen, daß sie nicht allein sind. Wenn du zu Hause -77
bleiben willst, dann bleibst du's eben.« Sie tat einen Schritt in Richtung Schlafzimmer, doch Bryce verstellte ihr den Weg. »Du gehst ja heute ganz schön scharf ran«, sagte er. »Wenn uns einer zuhört, muß er glauben, ich bin der böse Wolf.« »Hör auf damit, Bryce«, sagte Ginny. »Es ge ht hier nicht um uns. Es geht um eine junge Frau, deren Leben gestern abend wahrscheinlich zerstört wurde. Ich muß Hester sehen. Ich muß mich endlich anziehen, und du hältst mich auf.« Bryce trat zur Seite. Er beobachtete Ginny, wie sie durch den Flur ging, der zum Schlafzimmer führte. Vergewaltigt? fragte er sich. Wann? Also war der große Mann, der Gerald abgeholt hatte, ein Bulle gewesen. Aber als der Bulle aufkreuzte, war schon mehr als eine Stunde vergangen, seitdem Bryce Hester verlassen hatte. »Woher willst du wissen, daß es eine Stunde war? Du hast doch die Zeit nicht gemessen«, überlegte er. »Aber es war niemand in der Nähe!« erinnerte er sich. Er hatte sich umgesehen; sie waren allein gewesen. »Du hast dich eben geirrt.« Sie mußten ihn beobachtet haben, ihn und Hester. Diese vier Burschen mußten ihn gesehen, mußten alles gesehen haben. Sie konnten alles leugnen! Sie konnten der Polizei sagen, sie hätten jemanden bei Hester gesehen, jemanden, der sie geschlagen hatte. Das waren dann vier gegen einen, nein, fünf! Was wird die Schlampe sagen? Wird sie Ginny alles erzählen? Sie wird Ginny durch die Tür kommen sehen, losheulen und anfangen zu reden. »Ginny!« rief er und lief seiner Frau ins Schlafzimmer nach. Bryce dachte nicht daran, hier sitzen zu bleiben und zu warten, bis die Küstenwache ihn in Arrest nahm. Während Bryce sich ankleidete, hielt ein grauer Wagen der Navy vor dem Haus des Admirals. Allein, weit draußen auf einer Landspitze, stand das Gebäude, die Terrasse einem Schiffsbug gleich, dem Meer entgegen. Ein vierschrötiger Mann Mitte Dreißig stieg aus dem Wagen. In der Naval Academy galt Commander James Saunders als -78
All-American, gut genug, um in der Baseball-Nationalmannschaft zu spielen. Also war er ein Held, als ihm das Offizierspatent verliehen wurde. Kaum ein Jahr später wurde er abermals zum Helden, als er bei einem Feuer auf einem Zerstörer vier Matrosen rettete. James Saunders war der Adjutant des Admirals. Er hatte schon den Fuß auf der ersten Stufe der Holztreppe, als er plötzlich stehenblieb. Ein Filipino, eine Ordonnanz in einer weißen Kasinojacke, stand vor der Tür und sagte: »Er ist da draußen, Sir.« James Saunders ging zum Strand hinunter und sah die Zweite Ordonnanz des Admirals, die einen Bademantel, Badeschuhe und ein gefaltetes Badetuch bereithielt. »Wird er bald zurück sein?« fragte er. »Mister, Sie sind hier falsch... Ah, Commander! Verzeihen Sie, Sir, ich habe Sie nicht erkannt. Tut mir leid, Sir«, entschuldigte sich der Filipino. »Er wird bald zurück sein vielleicht. Kann man nicht sicher sein sonntags.« Saunders beschattete mit beiden Händen seine Augen und schaute hinaus aufs Meer. Er sah niemanden schwimmen. Die See war glatt bis zum Horizont. Er suchte sie systematisch ab. Als er seine Arme sinken ließ, sagte der Filipino: »Geradeaus vor Ihnen, Commander.« Saunders glaubte, weit, weit draußen einen hellen Arm aufblitzen zu sehen. »Er schwimmt zurück«, sagte der Filipino. Admiral Glenn Langdon kam nach einer Weile aus dem Wasser, als wäre er dabei, einen Thron zu besteigen. Er war etwa ein Meter siebzig, sah aber größer aus und schritt einher, als legte er es darauf an, noch viel größer zu erscheinen. Dieses Schreiten war ihm angeboren. Mit genau dieser Haltung war Glenn Langdon einst in die United States Naval Academy eingetreten, und es war ein gleichermaßen geistiges wie körperliches Attribut. In seinen vier Jahren an der Academy hatte Glenn Langdon mehr Stunden Z. M. I. - Zusätzliche Militärische Instruktionen angehäuft als jeder andere Seekadett in der Geschichte von Annapolis. Sein Minuspunktekonto war immer auf dem -79
Höchststand. Glenn Langdon stellte Autorität nicht in Frage, außer sie erschien ihm unvernünftig. Ein Seekadett verliert zwar immer, aber Glenn Langdon gab sich nie geschlagen. Obgleich er ständig mit Minuspunkten bedacht wurde, hielt sich seine Bußfertigkeit in Grenzen. Der Admiral hatte schon überall gedient: im Mittelmeer, im Südatlantik, im Nordatlantik, in Scapa Flow und in der Kanalzone. Er hatte ein gewichtiges Amt bei der amerikanischen Botschaft in Lo ndon bekleidet, aber nach kurzer Zeit hatte der Botschafter persönlich seine Versetzung gefordert. Langdon war Witwer, und seine beiden Töchter hatten Navy-Offiziere geheiratet. Er lebte allein in dem weiträumigen Haus, das einem Admiral vorbehalten war, der den Vierzehnten Flottendistrikt befehligte. Der Filipino reichte ihm das gefaltete Badetuch. »Es scheint wohl Ärger gegeben zu haben, wenn Sie an einem Sonntagvormittag hier aufkreuzen, Jimmy.« »Nicht auf dem Stützpunkt, Sir, aber Ärger ist richtig«, antwortete Saunders. »Gestern abend wurde eine Frau vergewaltigt. Die Frau eines Navy-Offiziers. Doris Ashleys Tochter.« Der Filipino ließ einen Badeschuh fallen, und als er sich bückte, um ihn aufzuheben, glitt ihm auch der Bademantel vom Arm. Als er sich wieder aufrichtete, war der Admiral vorausgegangen. »Erzählen Sie nur weiter«, sagte Langdon, während er, das Badetuch wie ein Burnus über Kopf und Schultern geschlungen, auf das Haus zuging. Saunders' Schuhe füllten sich mit Sand. Der Admiral blieb vor der Holztreppe stehen, ließ das Badetuch sinken und hob ein Bein, um sich den Sand vom Fuß zu wischen. »Gleich vier!« brummte er. »Im Gefängnis?« »Ein Zufall, Sir. In der Innenstadt hatten sie eine Schlägerei mit ein paar von unseren Jungs.« Der Filipino kam mit dem Bademantel und den Badeschuhen. »Lassen Sie sie fallen, lassen Sie sie fallen«, sagte der Admiral -80
und fuhr mit einem Arm in den Bademantel, während der Filipino niederkniete, um die Badeschuhe hinzustellen. »Kommen Sie rein, Jimmy.« Der Admiral führte Saunders ins Haus. »Schicken Sie Hester... Wen hat sie denn geheiratet?« »Einen U-Boot-Mann, Sir. Einen Lieutenant von der Bluegill. Gerald Murdoch.« »Schicken Sie ihr Blumen«, wies der Admiral den Commander an. »Und auch Doris. Die schicken Sie nach Windward.« Saunders ging ans Telefon, und der Admiral durchmaß mit langen Schritten das Zimmer. »Verdammter Tierpark«, knurrte er und meinte das ganze Territorium. Der andere Filipino kam mit einem silbernen Kaffeegeschirr herein. Er füllte eine Tasse für den Admiral, der sie aus der Untertasse hob und mit beiden Händen festhielt. »Wenn Hester sie identifiziert hat, kommen sie ins Zuchthaus«, sagte der Admiral laut, während Saunders mit dem Blumengeschäft sprach. Barfuß und in Unterhosen kam Dr. Frank Puana, der Ambulanz-Arzt, der Hester in der Nacht versorgt hatte, aus seinem Schlafzimmer. Das Weinen des Babys hatte ihn geweckt, und obwohl das Haus jetzt wieder still war, konnte er nicht mehr einschlafen. In der Küche saß Mary Sue neben dem Kinderstuhl und fütterte den vierzehn Monate alten Jonathan. Jonathan war unverkennbar Mary Sues Kind, hellhäutig wie seine Mutter und ebenso blond. Franks älterer Junge, der fünfjährige Eric, war in jeder Beziehung sein Sohn. »Ich habe mir schon gedacht, daß er dich wecken würde«, sagte Mary Sue. Sie trug Shorts und eines von Franks alten Hemden. Ihr Haar hatte die Sonne gebleicht, und ihre Arme und Beine waren braun. Sie war eine schlanke hübsche Frau von neunundzwanzig Jahren, um ein Jahr jünger als Frank. Mary Sue, in Green Bay, Wisconsin, geboren, war Krankenschwester im Mercy Hospital gewesen. Für Frank war sie die schönste Frau der Welt. »Hast du schon die Zeitungen gesehen?« fragte er. »Ein bißchen. Zwischendurch. Warum?« »Wahrscheinlich ist nichts dringestanden, sonst würdest du -81
nicht fragen«, antwortete Frank. »Heute nacht wurde Doris Ashleys Tochter vergewaltigt.« Mary Sues Augen weiteten sich. »Das glaube ich nicht.« Sie setzte den Löffel ab. »Hester Ashley. Das ist doch nicht möglich!« »Doch, Hester Murdoch«, bestätigte Frank. »Es ist wahr. Vier Männer haben sie überfallen.« Er verzog das Gesicht. »Und zusammengeschlagen.« Er erzählte Mary Sue von Hesters Ankunft im Mercy Hospital und wie er sie im Notaufnahmeraum behandelt hatte. »Aber Frank, keiner würde Hester Ashley, oder wie sie jetzt auch heißen mag, in die Nähe kommen«, meinte Mary Sue. »Es hat in ganz Honolulu Vergewaltigungen gegeben.« »Aber doch nicht von weißen Frauen«, warf Mary Sue ein. »Moment mal! Hast du eine Untersuchung des Kleinen Beckens vorgeno mmen?« »Wie konnte ich denn? Ich habe sie versorgt, und dann wurde sie aufgenommen und auf die Station gebracht. Das mit der Vergewaltigung wurde erst später bekannt, als ihre Mutter kam.« Mary Sue schwang auf ihrem Stuhl herum wie ein trotziges Kind. »Ich ertrage es nicht mehr. Sie war deine Patientin! Doris Ashleys Tochter!« »Mary Sue, ich bin Notarzt«, entgegnete Frank. »Das ist mein Job.« »Das ist deine Strafe«, sagte Mary Sue. »Dafür, daß du Hawaiier bist!« Frank lächelte ihr zu. »Hawaiier und Japaner«, verbesserte er sie. Die Ärzte des Mercy Hospital, die Patienten aufnehmen konnten, waren alle Haoles. Selbst der Posten eines Notarztes war für gewöhnlich einem Haole vorbehalten. Frank hatte den Job nur unter der Voraussetzung bekommen, daß er nachts arbeitete, und das ganze Jahr über an allen Wochenenden. »Du reißt immer noch Witze darüber«, entgegnete Mary Sue aufgebracht. »Frank, wir gehen -82
fort von hier. Ich ertrage es nicht länger. Ich lasse es nicht länger zu, daß du dich damit abfindest. Das muß ein Ende haben. Ich mache Schluß.« »Weil Hester Ashley Murdoch vergewaltigt wurde?« »Weil man dich benachteiligt. Weil du der Beste von allen bist.« Er lachte, und sie fuhr fort. »Ich bin nicht befangen. Vergiß nicht, ich war OP-Schwester. Ich habe alle diese Tolpatsche im OP-Saal arbeiten gesehen. Sie können dir nicht mal das Wasser reichen. Ich habe noch nie einen Menschen mit solchen Händen gesehen. Du solltest deine Zeit nicht damit vergeuden, Besoffene zusammenzuflicken. Du solltest operieren!« »Das wird schon noch kommen«, meinte Frank. Er sagte es leichthin, aber insgeheim glaubte er, daß man seine Fähigkeiten einmal anerkennen, daß man ihn ins Kollegium aufnehmen und daß er in der Lage sein würde, eine Praxis zu eröffnen, weil er ein Krankenhaus hatte, wo er seine Patienten hinschicken konnte. »Du träumst schon wieder«, klagte Mary Sue. Sie sprang auf. »Willst du, daß deine Söhne aufwachsen und sehen müssen, wie man ihren Vater behandelt? Willst du, daß deine Söhne so leben müssen, wie du leben mußt?« Frank erhob sich und trat an sie heran. Mary Sue schmiegte sich an ihn. »Laß uns fortgehen, Frank!« Er küßte sie auf die Wange und wandte sich ab. Es tat ihm weh, ihr das anzutun, und er verabscheute sich selbst, weil er sich mit der beschwerlichen und entwürdigenden Stellung abfand, die er innehatte. Er wußte, daß er Honolulu, daß er das Territorium verlassen sollte, aber etwas hielt ihn zurück, eine tiefe, geheimnisvolle, verlangende Sehnsucht nach dem vertrauten Ort, an dem er sein Leben verbracht hatte. Die Jahre in Seattle, an der medizinischen Fakultät der Universität Washington, und später - seine Assistentenzeit waren eine einzige Periode quälender Einsamkeit gewesen. Vom ersten bis zum letzten Tag litt er an Heimweh. Nur seine Liebe zur Medizin, die Passion für seine Arbeit hielten ihn in Seattle. -83
Während des Vorklinikums verließ er das Universitätsgelände nur zum Schlafen. Mit Beginn seines dritten Jahres, von seinem ersten Tag an auf Stationen mit Patienten, suchte er sein Zimmer nur auf, um sich umzuziehen. Irgendwo im Krankenhaus gab es immer ein leeres Bett. Er blieb auf der Station, auch wenn er keinen Dienst hatte, begleitete die Professoren und beobachtete ihren Umgang mit Patienten. Er wurde der Medizin nie müde. Die Welt jenseits der Krankenhausmauern war ihm fremd. Drei Tage, nachdem seine Arbeit als Assistenzarzt um war, fuhr er wieder heim. »Als ich hierherkam«, sagte Mary Sue, »fand ich es wunderbar. Ich dachte, es wäre der schönste Ort auf der Welt. Als ich dich kennenlernte, glaubte ich zu träumen. Nein, ich dachte, ein Traum wäre wahr geworden. Alles war perfekt. Zu perfekt. Ich wollte, daß Eric ein Junge wird. Ich wollte, daß er dir ähnlich sieht. Aber es war wirklich nur ein Traum. Das ist dein Haus, Frank. Du bist hier geboren. Deine Söhne sind hier geboren. Aber du bist nur ein Gast. Alle vier sind wir Gäste. Unwillkommene Gäste. Sie wollen uns nicht haben. Aber weil sie uns nicht deportieren können, finden sie Mittel und Wege, um uns auszuschließen. Laß uns fortgehen, Frank!« Wieder lächelte er sie an. »Einfach alles zusammenpacken und fortgehen?« Er nahm Jonathan aus dem Kinderstuhl und drückte den warmen, frischen, süßduftenden Körper sanft an die Brust. »Laß uns darüber nachdenken, Mary Sue. Wo ist Eric?« Ein Gefängniswagen kurvte in die sanft ansteigende Straße, die von Osten her zum Mercy Hospital führte. Maddox saß vorn neben dem Fahrer, einem rothaarigen Mann Ende Zwanzig in Zivil. Maddox hatte den regulären Fahrer im Präsidium gelassen. »Wir nehmen den Hintereingang, Al«, sagte Maddox. Maddox hatte Albert Keller aus der Uniform gepellt und der Kriminalpolizei zugeteilt. Er hatte sich von der Arbeit des Rotschopfs ein Bild gemacht. Der Mann war einfach zu gut, um gegen Betrunkene und Verkehrssünder eingesetzt zu werden. -84
Oberha lb des Sitzes befand sich eine Metallplatte, in die eine splitterfreie Glasscheibe eingesetzt war. Die Platte lief auf Schienen, und vor einer Stunde hatte Maddox sie, während der Wagen noch leer war, um ein paar Zentimeter verschoben. Seitdem die vier jungen Männer, denen man Handschellen angelegt hatte, in den Gefängniswagen verfrachtet worden waren, konnten Maddox und Albert Keller alles hören, was sie redeten. Aber er hörte nur, was er schon in der Nacht in seinem Büro gehört hatte. »Der Hintereingang wird für Lebensmittellieferungen und für die Spitalwäsche benutzt«, sagte Maddox. »Links ist eine Treppe. Über die bringen wir sie hinauf.« Al Keller fuhr im Rückwärtsgang an die Tür heran. Nachdem er mit Maddox aus dem Gefängniswagen gestiegen war, blieb er stehen. Er trug ein Halfter an der Hüfte, griff nach der Pistole, Kaliber 38, und steckte sie hinter seine Gürtelschnalle in den Hosenbund. Es konnte ja jemand unbemerkt von hinten rechts an ihn herankommen, dachte er, und die Waffe aus der Halfter ziehen. Aber im Augenblick sah er keinen, der dafür in Frage gekommen wäre. »Al?« Der Rotschopf eilte zur hinteren Tür des Gefängniswagens, wo Maddox wartete. »Laß sie raus.« Keller schloß die Tür auf und öffnete sie. Joe Liliuohe kam als erster, von den anderen gefolgt. Er bewegte sich ungelenk und ging gebückt, um nicht mit dem Kopf anzustoßen. Einen Augenblick lang blendete ihn das Sonnenlicht. Er streckte den rechten Fuß nach unten, bis er eine Stufe spürte. »Hier rüber zu mir, Joe«, wies Maddox ihn an. »Warum sagen Sie uns nichts?« beklagte sich der junge Mann. »Wir haben das Recht, etwas zu erfahren.« Er bekam keine Antwort. Als David Kwan auftauchte, trat Keller etwas zurück, so daß sie Joe zwischen sich hatten. »Hier rüber«, sagte Maddox und deutete auf Joe. Als nächster kam Harry Pohukaina und dann Mike Yoshida. Maddox hatte Keller die nötigen Anweisungen gegeben, bevor sie die vier Verhafteten aus den Zellen holten. »Na, dann los«, sagte Maddox. Keller ging -85
voraus. »Du bleibst hinter ihm, Joe«, sagte Maddox. »Ihr anderen folgt im Gänsemarsch.« Maddox blieb hinter David Kwan, der die Reihe beschloß. Als sie im dritten Stock angekommen waren, blieb Maddox stehen. »Wir sind hier in einem Krankenhaus. Benehmt euch danach.« Er deutete mit der Hand. »Dort geht's lang, Al.« Sie gingen den Gang hinunter bis zum Besucherzimmer. »Wartet hier«, sagte Maddox, »ich bin gleich wieder da.« Er ließ sie stehen, und Keller nahm vor der Tür so Aufstellung, daß er die vier mit Handschellen Gefesselten vor sich hatte. Maddox blieb vor 346 stehen, klopfte und hob den Arm, um den Hut abzunehmen, als die Tür nach außen, dem Flur zu, aufging. Doris Ashley hielt die Klinke in der Hand. Obwohl sie nicht geschlafen hatte, sah sie aus, als ob sie zum Fünf-Uhr-Tee gehen wollte. Sie hatte Gerald dazu überredet, auf Windward zu schlafen statt im Kutscherhaus, das sie zur Hochzeit für Hester und ihn hatte umbauen lassen. Doris hatte in ihrer Suite ein Bad genommen und sich umgezogen und war dann allein, wie geplant, mit der Pierce-Arrow-Limousine ins Mercy Hospital zurückgefahren, um bei Hester zu wachen. In der Nacht hatte Hester geschlafen, war aufgewacht und wieder eingeschlafen. Sie war nicht richtig bei Bewußtsein. »Zur Unbeliebtesten gewählt«, sagte sie einmal, und lange Zeit später, »Daddy«. Doris beugte sich vor. Hesters Augen waren geschlossen, und sie sagte nichts mehr, doch ihre Mutter erinnerte sich wieder sehr deutlich, wie sie Hester, als sie acht Jahre alt geworden war, ein regelrechtes Ultimatum gestellt hatte. »Daddy war mein einziger Freund«, hatte Hester später einmal gesagt. Es war ein so seltener Ausbruch von Aufrichtigkeit und Aufbegehren, der Doris Ashley völlig verblüffte. Sie zog Hester an sich. »Ich bin dein Freund, Kleines«, sagte sie, »ich bin deine beste Freundin.« Aber sie nahm ihr Ultimatum nicht zurück, und wie sie jetzt neben ihrer geschundenen Tochter saß, konnte sie sich nicht erinnern, was sie an diesem Tag vor so langer Zeit von -86
Hester verlangt hatte. Lange vor ihrem achten Geburtstag war Hester Anne Ashley geschlagen, hatte sie sich unterworfen. Sie war knapp sechs an dem Abend, als Preston Lord Ashley in seinem Lehnsessel in der Bibliothek auf Windward das Buch, das er gerade las, zu Boden fallen ließ und zusammensackte. Doris brachte Hester gerade herein, um Gute Nacht zu sagen. Sie wußte sofort, was geschehen war, aber sie lief auf ihn zu. »Daddy schläft ja«, sagte Hester. Bis zur Beerdigung ließ Doris das Kind in diesem Glauben. In jener Nacht verließ Doris mit Hester die Bibliothek und rief das Kindermädchen. Sie schickte ihr Kleines zu Bett und kehrte zurück, um einen letzten Blick auf ihren Mann zu werfen. »Jetzt bin ich also wieder allein«, sagte sie laut. Eine Woche nach der Beerdigung gab Doris Ashley dem Kindermädchen zwei Monatsgehälter extra und schickte es fort. Jetzt hatte sie Hester ganz für sich allein. Der Tod ihres Vaters war das entscheidende Ereignis in Hesters Leben. Aus diesen sechs Jahren hatte sie nur Erinnerungen an glückliche Zeiten, an Gelegenheiten, die ihr Vater zu Feiertagen erklä rt hatte: verrückte Samstage; Vollmondabende; Buchlesewochen. Der Erfindungsreichtum ihres Vaters ließ Hester als Gast bei einer immerwährenden Festlichkeit aufwachsen. Weil er die Bibliothek liebte, liebte auch Hester die Bibliothek, und mit seiner Hilfe konnte sie schon mit knapp vier Jahren einigermaßen lesen. Preston Lord Ashley ermutigte sie, und unter seiner begeisternden Anleitung lernte sie bald, seine Zuneigung zu Büchern, zu allen Arten von Büchern, lebhaft zu teilen. Doris Ashley liebte ihre Tochter abgöttisch, liebte die Frau, die ihre Vormundschaft und ihre liebevolle Hingabe hervorbringen würde. Sobald sie mit Hester allein war, setzte sie eine streng geregelte Lebensführung für ihr Kind in Gang. Windward wurde zu einer Akademie. Hester hatte jeden Tag Unterricht, sie nahm Tanzstunden und sie nahm Reitstunden, und bei all diesem -87
Streben leistete Doris Ashley ihr pädagogische Hilfestellung. Sie gab es nie auf. Sie war allgegenwärtig. Und sie scheiterte, weil Hester scheiterte. Hester war ein schmächtiges Kind. Sie hatte lange, schlanke Glieder. Sie bewegte sich linkisch, wo andere Mädchen mit natürlicher Anmut bezauberten. Mit ihrem feinen, sandfarbenen Haar und ihrem blassen Aussehen hinterließ sie den Eindruck eines Kindes, das sich von einer langen Krankheit erholt. Daran änderten auch die Kleider nichts, die Doris Ashley in Mengen einkaufte. Aber Doris gab nicht auf. Sie verbarg ihre Enttäuschung. Nie zürnte sie der Tochter wegen ihres farblosen Auftretens, das sich auch späterhin nicht verlor. Doris wußte, daß sie in allem recht hatte, und wenn sich auch in ihrer Beziehung zu Hester keine Spur vom tyrannischen Wesen ihres Vaters fand, so hatte sie doch, ohne es zu wissen, Herman Moellers selbstgerechten Fanatismus geerbt. Sie hielt sich für Hesters beste Freundin; in Wahrheit schenkte Hester ihr seit ihrer Kindheit nie ihr Vertrauen. Niemals. Hester war achtzehn, als sie, ohne es zu wollen, zwei Mitschülerinnen belauschte, die sich kichernd über die Möglichkeit unterhielten, ins Jahrbuch einen Preis für die unbeliebteste Studentin aufzunehmen, und daß man ihr diesen Preis verleihen würde. Hester war nicht überrascht und sie genoß auch nicht das Unbehagen der zwei, als diese entdeckten, daß Hester alles gehört hatte. Aber Hester fühlte sich angespornt, endlich etwas zu unternehmen. Schon seit langem kannte sie ihre Lebensaufgabe, und nun, mit achtzehn Jahren, handelte sie. Sie schrieb Briefe an mehrere Krankenhäuser in San Francisco, um sich über die Ausbildung zur Krankenschwester zu informieren. Sie hütete ihr Geheimnis, bis sie sich für ein Krankenhaus entschloß, das Bewerbungsschreiben unterzeichnete, und für den im Herbst beginnenden Kurs aufgenommen worden war. Doris Ashley wußte, daß sie Hesters Abwesenheit nicht überleben würde, daß sie keinen offenen Widerspruch erheben oder ihrer Tochter -88
verbieten konnte, abzureisen. Also bettelte Doris Ashley. Sie bat Hester, ihr Zeit zu lassen, um sich mit ihrer Entscheidung abfinden zu können. »Seit dem Tod deines Vaters bin ich allein, Kleines.« Sie war unbarmherzig. Sie verfolgte ihre Tochter durch das ganze Haus und bat um Gnade. Sie errang einen Aufschub. Hester erklärte sich einverstanden zu warten, bis sie einundzwanzig war. In der Tür zu Hesters Zimmer im Mercy Hospital stand Doris Ashley jetzt vor dem Polizeibeamten. »Sie sind alle da«, sagte Curt Maddox. »Schonen Sie sie nach Möglichkeit«, sagte Doris. »Es wird nicht lange dauern«, beruhigte sie Maddox. Er ging zum Besucherzimmer zurück und blieb neben Keller stehen. Er beschloß, mit Joe, dem Footballspieler, den Anfang zu machen. Hester war vorn neben ihm gesessen. Wenn sie einen gesehen hatte, dann ihn. »Joe.« Joe stand auf, die gefesselten Hände vor dem Bauch. »Hab keine Angst«, sagte Harry Pohukaina. »Du hast nichts getan. Vergiß das nicht.« »Wir machen einen Spaziergang«, sagte Maddox. Er ließ Joe die Wand entlanggehen. Als sie zu Hesters Zimmer kamen, nahm er ihn am Arm. »Hier hinein.« Er öffnete die Tür und folgte dem jungen Mann. Am Bett, vor Hester, blieb Joe stehen. Er sah die Frau neben dem Bett und erkannte sie sofort von den Bildern in den Zeitungen. Doris Ashley, ihre Mutter. Hinter ihm schloß Maddox die Tür. Joe betrachtete die Frau, die er gestern nacht auf der Straße gefunden hatte. Sie war jetzt sauber zwischen den sauberen weißen Bettüchern, aber sie sah schrecklich aus. Ihr Gesicht war aufgeschwollen und rund wie ein Ball und spielte alle möglichen Farben. Sie sah nicht jung aus, sie schien alt, älter zu sein als ihre Mutter, die neben ihr stand. Joe war fürchterlich erschrocken. »Tag. Hoffe, es geht Ihnen besser.« Hester antwortete nicht; sah ihre Mutter an. Doris Ashley setzte sich und nahm Hesters Hand in die ihre. »Captain?« »Ist das einer von ihnen?« fragte Maddox. -89
Doris drückte Hesters Hand. Hester sah sie an, dann Joe und nickte. »Das ist eine Lüge!« schrie der junge Mann auf. »Sind Sie sicher, Mrs. Murdoch?« fragte Maddox. »Hester«, sagte Doris Ashley und hielt ihre Hand fest. »Ja«, sagte Hester, »ja.« »Sie lügen!« brüllte Joe. Sie wollten ihn fertigmachen, jetzt, hier in diesem Krankenhauszimmer. Sie waren drauf und dran, ihn zu töten. »Wir haben sie nur angefaßt, um Ihnen zu helfen!« schrie er. Er tat einen Schritt vor, aber Maddox hielt ihn zurück. Vergeblich versuchte Joe, den Captain abzuschütteln. »Sie haben sich das alles ausgedacht!« schrie er verzweifelt. Maddox schob ihn zur Tür. Joe drehte den Kopf zurück und sah Hester an. »Was haben Sie ihm erzählt? Jemand hat Sie zusammengeschlagen und im Dreck liegenlassen! Aber wir waren es nicht! Das wissen Sie. Warum lügen Sie?« Als sie gegangen waren und sich die Tür hinter ihnen geschlossen hatte, stieß Hester Doris' Hand weg und schlug die Bettdecke zurück. Stöhnend vor Schmerz rollte sie sich von ihrer Mutter weg. »Nein!« rief Doris Ashley, fiel aufs Bett und streckte die Arme aus, um Hester zu umfassen. Hester warf sich von einer Seite zur anderen. Sie weinte und ächzte vor Schmerzen. Sie rollte hin und her, um sich zu befreien. Es gelang ihr, auf die Beine zu kommen. Barfuß stand sie auf dem kalten Boden, ihr Kopf drehte sich wie ein Kreisel, und Messer und Nadeln stachen ihr ins Gesicht. Doris sprang schnell vom Bett auf, lief durch das Zimmer und blieb mit dem Rücken zur Tür stehen. Hester schüttelte langsam den Kopf. »Ich kann es nicht«, sagte sie. Sie tat ein paar Schr itte nach vorn, schwankte und mußte sich an den eisernen Bettpfosten am Fußende festhalten, um nicht zu fallen. Dann war ihre Mutter wieder bei ihr. »Nein, Kleines, nein, Kind«, sagte Doris Ashley, beide Arme um Hester geschlungen. »Du mußt stark sein, für uns beide stark sein. Auch wir sind unschuldig. Du und ich, wir sind unschuldig. Ich wollte, ich könnte das für dich tun. Ich wollte, ich könnte statt deiner diesen Männern die Stirn bieten. Ich kann nur bei dir sein, -90
Kleines. Alles hängt von dir ab. Unser beider Leben liegt in deiner Hand. Wenn du uns im Stich läßt, sind wir verloren. Du bist verloren und reißt mich mit in den Abgrund.« Sie drängte Hester vom Fußende des Bettes weg. »Rette uns, Kind! Nimm alle deine Kraft zusammen!« Sie setzte sich mit ihr auf den Bettrand und strich das Leintuch glatt. Sie beugte sich vor, um Hesters Beine hochzuheben und auf das Bett zu legen. Sie zog die Bettdecke über Hester. »In unserer Stunde der Not darfst du uns nicht im Stich lassen, Kleines.« Harry Pohukaina sprang auf, als Maddox und Joe in das Besucherzimmer zurückkamen. »Wo warst du, Joe? Was machen die mit uns?« »Halt die Klappe«, sagte Maddox. »Sie können uns nicht den Mund verbieten«, protestierte Joe. »Wir haben auch Rechte. Ich möchte telefonieren. Ich möchte jemanden anrufen, der uns hilft.« »Sobald wir wieder im Präsidium sind«, versprach Maddox. Er deutete auf David Kwan. »Jetzt bist du dran, mein Sohn.« David wollte nicht, daß jemand sah, wie er zitterte. Er preßte die Fingerspitzen aneinander, um seine Hände zur Ruhe zu zwingen. Die Handschellen klirrten, als sich Metall an Metall rieb. »Hab keine Angst«, sagte Harry. David fürchtete weinen zu müssen, wenn er Harry ansah oder sonst jemanden. Maddox führte David den Flur hinunter und öffnete die Tür zu 346. David blieb direkt vor ihm stehen. »Wir haben nichts von dem getan, was er uns vorwirft. Das schwöre ich. Nie würden wir so etwas tun. Das habe ich ihm schon gestern gesagt. Wir haben angehalten, weil Sie bewußtlos waren.« Maddox schob ihn ins Zimmer hinein. »War er einer von ihnen?« fragte Maddox. Doris Ashley blickte auf ihre Tochter. »Der Captain hat dich etwas gefragt«, sagte Doris. Hester schwieg. »Ist er einer von ihnen?« fragte Maddox. »Ja, ja«, sagte -91
Hester. David begann zu weinen. »Wir haben Sie doch nur hierhergebracht«, greinte er. Er schmeckte seine Tränen auf der Zunge. Er hob die Handgelenke, um sich die Tränen abzuwischen, aber der Stahl zerkratzte seine Haut... Neben dem Eingang zum Krankenhaus hielt ein altes grünes Durant-Coupé. Duane York, Seemann Zweiter Klasse auf der Bluegill, der sich am vergangenen Abend Geralds Wagen geliehen hatte, saß am Steuer, Gerald neben ihm. Gerald hatte Duane in der Kaserne angerufen: »Tut mir leid, Duane, aber ich brauche den Wagen.« Als Theresa in Doris Ashleys Auftrag eine Stunde früher seinen Kaffee gebracht hatte, erfuhr er, daß seine Schwiegermutter mit dem Pierce Arrow weggefahren war. »Sie hat mir gesagt, ich dürfe Sie nicht wecken«, hatte ihm Theresa mitgeteilt. »Sie hat gesagt, Sie wären müde.« »Tut mir leid, Duane«, sagte Gerald vor dem Krankenhaus zu ihm. »Aber ich brauche den Wagen.« »Machen Sie sich keine Gedanken, Lieutenant«, erwiderte Duane. »Hier im Krankenhaus haben Sie bestimmt genügend andere Sorgen.« Gerald hatte ihm erzählt, daß Hester bei der Party verletzt worden war. Duane zog die Schlüssel aus der Zündung. »Mir ist gerade etwas eingefallen, Lieutenant. Es könnte sein, daß Sie heute eine Menge um die Ohren haben. Bis morgen zum Wecken bin ich frei wie der Wind. Vielleicht brauchen Sie Unterstützung. Ich kann mich hier in der Nähe aufhalten. Wenn Sie etwas erledigen müssen, ich kann das für Sie tun, und Sie bleiben bei Mrs. Murdoch.« »Nein, danke«, entgegnete Gerald, »aber ich werde Ihre Großzügigkeit nicht vergessen.« »Meine Großzügigkeit?« entgegnete Duane. »Verzeihen Sie, Sir, aber das sehen Sie wohl verkehrt. Wie oft habe ich Ihren Wagen schon gehabt? Wie oft haben Sie mir Geld geliehen? Um das alles aufzurechnen, bräuchte ich eine Liste, so lang wie mein -92
Arm.« Er folgte dem Lieutenant. Endlich hatte er Gelegenheit, ihm zu zeigen, wieviel er von ihm hielt. Mike Yoshida war der letzte der vier, die Hester als die Männer identifizierte, die sie geschlagen und vergewaltigt hatten. Maddox hatte Mike neben sich, als er in das Besuchszimmer zurückkehrte. »Al«, rief er. Al Keller deutete auf die drei Verhafteten. »Los, auf die Beine!« befahl er. Maddox kam auf ihn zu. »Wir gehen, so wie wir gekommen sind«, sagte er. »Sie als erster, ich als letzter.« Er drehte Mike Yoshida herum. »Du läufst hinter ihm, Joe, du auch.« Er bedeutete ihnen, weiterzugehen. Plötzlich packte er Harry Pohukaina am Arm. »Halt!« rief er scharf, und dann lauter: »Al, Al!« Gerald Murdoch war aus dem Aufzug gekommen, und das Treppenhaus lag dahinter. Der Rotschopf wirbelte herum. Seine rechte Hand lag auf dem Griff seiner Pistole, sein linker Arm war erhoben, um jeden aufzuhalten, der weglaufen wollte. Maddox machte ihm ein Zeichen. »Hierher! Schnell!« Er stieß Harry Pohukaina zum Treppenhaus am anderen Ende des Flurs. Dann packte er David Kwan und schob ihn voraus. Al Keller kam mit Joe und Mike Yoshida. »Bewegt euch, bewegt euch«, trieb Maddox sie an. »Die andere Treppe.« Gerald erblickte Maddox, der den anderen folgte. »Captain Maddox?« Gerald trabte hinterher. Duane hatte Mühe, mit ihm Schritt zu halten. Al Keller kam zur Tür des Treppenhauses und riß sie auf. Maddox winkte ihn weiter. Mit Joe und Mike Yoshida hinter sich, ging Keller durch die Tür. Dann kamen David und Harry Pohukaina vor Maddox. »Warum haben wir es denn plötzlich so eilig?« fragte Harry. Maddox nahm Harry am Arm. »Captain!« rief Gerald laut. Er konnte den mit Handschellen gefesselten Burschen sehen, den der Captain festhielt. Maddox stand bei der Tür zum Treppenhaus. Er schob Harry -93
durch und brüllte: »Al, behalte sie im Auge, bis ich nachkomme!« Er schloß die Tür und wartete auf Murdoch. Duane hatte den Kerl mit den Handschellen gesehen. Er war dabei, als der Lieutenant dem großen Mann an der Tür entgegenging. Der Lieutenant hatte ihn mit Captain angeredet, also mußte der wohl ein Cop sein. Aber was, verdammt noch mal, hatten Cops mit Strandvögeln in Handschellen in einem Krankenhaus zu suchen? Duane schüttelte es bei den Gedanken, die ihm durch den Kopf schössen. »Augenblick mal, Captain, wer sind diese Leute?« fragte Gerald Murdoch. »Alles nur Polizeiroutine, Lieutenant«, antwortete Maddox. Gerald ging auf die Tür zu und blieb abrupt stehen. Maddox' Finger hatten sich fest um Geralds Arm geschlossen. »Ich möchte wirklich nicht grob mit Ihnen umgehen müssen«, warnte Maddox. »Ich kann nicht zulassen, daß Sie mit den Verhafteten abrechnen.« »Ich will die Burschen ja nur sehen.« »Sie werden sie sehen, wenn es soweit ist. Sie werden mehr von ihnen sehen, als Ihnen lieb ist.« Langsam gab Maddox Gerald frei. »Sie sind Offizier und sollten Verständnis dafür haben. Ich muß meine Vorschriften beachten, so wie Sie die Ihren.« »Ich habe ein Recht darauf zu erfahren, was hier vorgeht.« Maddox' Spannung löste sich. Wenn einer eine Erklärung haben wollte, war es mit seiner Kampflust vorbei. Maddox musterte den kleinen Mann an Geralds Seite und erkannte ihn wieder. Gestern abend vor dem Whispering Inn. »Sie können vor Duane offen sprechen«, sagte Gerald. Als der Seemann das hörte, wußte Duane: Solange er an Bord der Bluegill diente, hatte er ausgesorgt. »Es wird ja auch nicht mehr lange ein Geheimnis bleiben«, meinte Maddox. »Für die Zeitungen wird es ein gefundenes Fressen sein. Alle werden sich das Maul zerreden.« Maddox -94
knöpfte seine Jacke zu. »Ihre Frau hat sie identifiziert. Es waren tatsächlich vier.« Gerald hatte das Gefühl, der Captain mache ihm Vorwürfe, schob auch ihm Schuld zu. Wahrscheinlich fragte sich der Captain, was Hester allein draußen in der Dunkelheit zu suchen gehabt hatte. Wahrscheinlich meinte der Captain, Gerald hätte bei Hester sein sollen, um sie zu beschützen. Es war ihm nicht einmal aufgefallen, daß sie den Saal verlassen hatte. Hester hielt sich ja immer abseits. »Ich lese gerade«, antwortete sie immer, wenn Gerald Fragen stellte. Er verstand sie überhaupt nicht. Vermutlich stellte sich Duane die gleichen Fragen sie der Captain. Jeder, der von Hesters schrecklichem Erlebnis erfuhr, würde Fragen stellen. »Sie stehen unter meiner Obhut«, sagte Maddox. »Ich bin für sie verantwortlich. Sie hätten nichts davon, Lieutenant, wenn Sie mir nachkommen. Ich würde Sie nicht in ihre Nähe lassen.« Maddox öffnete die Tür zum Treppenhaus. Duane sah den Captain gehen. Er vermochte nicht, den Lieutenant anzusehen. Nun wußte Duane alles. Ein schreckliches Würgen packte ihn. Wenn er an die vier Typen dachte, wurde ihm schlecht, und daß der Bulle die Kerle beschützt hatte, verursachte ihm Übelkeit. »Gerald?« Hinter ihnen rief jemand nach dem Lieutenant. »Ich warte dort«, sagte Duane und wies auf das Besucherzimmer. Er sah den Lieutenant auf ein Paar zugehen, das bei den Krankenschwestern stand. Duane erkannte den Mann. Es war Lieutenant Partridge, der Fernmeldeoffizier auf der Bluegill. Die Dame mit den Blumen war wahrscheinlich seine Frau. »Er sieht schrecklich aus«, flüsterte Ginny, die mit Bryce vor dem Schwesternzimmer stand. Bryce sah ihn kommen. In Hemd, Krawatte und Anzug, das Kinn hochgereckt, die Schultern zurückgeworfen, ein Annapolis-Produkt par excellence. Das scharfe Klick, Klick, Klick von Geralds Absätzen war für Bryce wie das Ticken einer Zeitbombe, die den Flur hinunter direkt auf ihn zukam. Bryce hatte auch den ungeschlachten Kerl -95
wiedererkannt. Das war der Captain, der Gerald gestern aus dem Whispering Inn geholt hatte. Bryce sandte ein Stoßgebet zum Himmel und streckte Gerald die Hand entgegen. »Tut mir schrecklich leid, Gerald. Ich weiß nicht, was ich sagen soll.« »Du bist hier«, gab Gerald zurück. »Das sagt alles.« Bryce sehnte sich nach einem Stuhl. Er hielt Geralds Hand fest. Er mußte sicher sein. »Weiß man schon, wer es getan hat?« fragte Bryce. »Hester hat alle vier Männer identifiziert«, antwortete Gerald. »Ich habe eben mit dem Polizeibeamten gesprochen.« Bryce legte den Arm um Geralds Schultern. »Ich bin froh, daß wir gekommen sind, alter Freund«, sagte Bryce. »Wie geht es ihr?« erkundigte sich Ginny. »Mein Gott, ich komme mir blöd vor, wenn ich so rede. Können wir zu ihr?« »Ich wollte sie gerade selbst besuchen«, antwortete Gerald. »Ich werde fragen.« Er ließ sie stehen. »Ich könnte weinen, wenn ich ihn so sehe«, murmelte Ginny. Bryce nahm ihren Arm. »Wir sind in der Schußlinie, Schatz«, sagte Bryce und führte sie den Flur hinunter auf den Besucherraum zu. Duane sah sie kommen und nahm an, daß sie allein sein wollten. Er salutierte. »Seemann York vom Torpedoraum, Sir. Ich bin mit dem Lieutenant gekommen.« Er tauchte an den beiden vorbei und marschierte auf eine Bank am anderen Ende des Flurs zu. Im Besucherraum gab Bryce Ginny frei und trat ans Fenster. Hester hatte sie identifiziert. Bryce konnte sich ganz deutlich an Hesters Gesicht gestern abend erinnern. Wer konnte schon auf eine Frau scharf sein, die ein Gesicht hatte wie eine Allerheiligenmaske? Hester sah eigentlich zum Abgewöhnen aus. Das ganze Frühjahr über, bei jedem Rendezvous, vor jeder Vereinigung hatte sich Bryce gefragt, warum er sich gerade Hester Murdoch ausgesucht hatte. Bryce war der Verfolger gewesen. An einem Freitagabend im März war er allein zu einer Party gekommen. Während Ginny bei ihren Eltern in den Staaten war, wohnte Bryce im Quartier der -96
unverheirateten Offiziere, und seine Mannschaftskameraden beteiligten ihn an allen ihren Unternehmungen. Bryce hatte die obligate Flasche Okolehao mitgebracht und sie zu den anderen auf das Küchenregal gestellt. Er gestattete es sich niemals, sich zu betrinken, die Kontrolle über seinen Körper zu verlieren. Er hatte die Einladung angenommen, weil er allein war und weil er, seitdem er seinen Dienst auf der Bluegill angetreten hatte, die Gesellschaft seiner Offizierskameraden schätzte. Er war der letzte an diesem Freitagabend, und die übrigen Ehemänner mit ihren Frauen, Junggesellen mit ihren Freundinnen, hatten »keinen Grund zur Klage«, wie einer es ausdrückte. Bryce akzeptierte ein Glas, um niemanden vor den Kopf zu stoßen, wich kameradschaftlichen Umarmungen und unharmonischen Quartetten aus, schlenderte durch das kleine gemietete Haus und betrachtete die Erinnerungsstücke aus der Akademiezeit, die er so sehr liebte. Noch Wochen danach erinnerte er sich, daß er die junge Frau erst gar nicht wahrgenommen hatte. Sie war so völlig neutral, so farblos, daß er beinahe in sie hineingelaufen wäre. Sie stand vor dem Bücherschrank mit Glastüren, die sie geöffnet hatte. In der Hand hielt sie eine Ausgabe von Jane Eyre; der Band gehörte zu einer Sammlung von Klassikern, die die Gastgeberin aus den Staaten herübergebracht hatte. »Guten Abend«, sagte er, und als sie überrascht aufblickte, »Bryce Partridge meldet sich zum Dienst.« Und »Freiwillig«, fügte er hinzu, im gleichen Augenblick und auf unerklärliche Weise auf Eroberung aus. Hier vor dem Bücherschrank gelüstete es ihn, sie zu beißen, an ihr zu knabbern, während sie unendlich verlangend in seinen Armen liegen würde. »Ich bin Hester Murdoch«, stellte sie sich mit schwacher Stimme vor. Hester hatte erschrocken aufgeblickt und vor sich eine schlanke, kräftige Gestalt gesehen, eine seltsame Gestalt, einen Mann, der ein Krieger Spartas hätte sein können, der im Triumph aus dem Krieg heimkommt. Er war eine unwirkliche Erscheinung auf dieser läppischen Navy-Party, zu der sie Gerald -97
nur widerstrebend begleitet hatte. »Wie kommt es, daß Sie nicht betrunken sind und auch kein sonstiges Ärgernis erregen?« fragte Bryce. »Ich bin keine gute... Trinkerin«, rechtfertigte sich Hester. Bryce wandte sich um und stellte sein Glas ab. Im Rückschwung, so als ob er den Ball mit einem Rückhandschlag übers Netz befördern wollte, nahm er Hester das Buch aus der Hand, wobei er seine Finger über die ihren gleiten ließ. »Ich werde Ihr Geheimnis hüten«, sagte er und stellte das Buch zurück. »Hier muß es doch auch einen Garten geben.« Hester hatte das Gefühl, allein im Haus zu sein, als ob alle anderen fortgegangen wären. Der seltsame Mann, der aus dem Altertum gekommen zu sein schien, der alles und alle auslöschte, hatte die Führung übernommen. Er schob sie sanft durch das Zimmer, durch die Türen hinaus auf die Terrasse mit ihren zahllosen Topfpflanzen und vorbei an einem keifenden Paar, das sich bemühte leise zu reden, während ihre Zischlaute Gift und Galle sprühten. Bryce lotste sie aus dem Lichtkreis des Hauses tief in die Dunkelheit hinein. »Jetzt sind wir sicher«, begann er. »Und jetzt sagen Sie mir doch, warum ich das Gefühl habe, als ob wir einander nicht fremd wären, als ob ich Sie immer schon gekannt hätte«, log er. Er achtete darauf, sie nicht zu berühren. Er war ganz sicher, daß er sie noch nicht berühren durfte. Hester antwortete nicht, weil sie nicht antworten konnte, weil die Gestalt aus der Ägäis, die neben dem Bücherschrank sinnlich wahrnehmbar geworden war, sie verzaubert hatte. Dieses Glück verschlug ihr die Sprache. »Und Sie haben es auch gemerkt«, sagte Bryce und sprach für sie. »Ich möchte meine Lippen auf den Ihren fühlen«, flüsterte er und achtete darauf, Distanz zu wahren. »Wann?« Er entschied sich für Sonntag; sie sollte den ganzen folgenden Tag Zeit haben, sich auf ihr Treffen zu konzentrieren. Sie lehnte ab, aber er redete ihr mit ruhiger, gläubiger Beharrlichkeit zu. Sie protestierte, aber er gab nicht -98
nach. »Noch nie habe ich...« setzte sie an, aber er unterbrach sie. »Ich auch nicht«, log er. Er entwickelte ihr seinen Plan. Er erklärte ihr Punkt für Punkt, was sie zu tun hatte. Bryce war zwar noch nicht lange genug in Pearl Harbor stationiert, um mit Honolulu vertraut zu sein, aber in einer Menschenmenge hatte er sich immer sicher gefühlt; darum entschied er sich für den Eingang zum Western Sky Hotel in der Kalakau Avenue. »Ziehen Sie sich etwas Weißes an«, flüsterte er, und obwohl Hester fast fieberhaft ihre Proteste wiederholte, war Bryce sicher, daß sie Sonntag kommen würde. Schon immer hatte Bryce bei Frauen Erfolg gehabt, und er hatte auch an diesem Sonntag Erfolg. Aber auf das Ausmaß seines Sieges war er nicht vorbereitet. Sein Selbstvertrauen, seine intuitive Geduld, die versierte Anleitung, die Berührung seines Mundes und seiner Arme, der Druck seines Körpers, das alles machte Hester zu seiner dankbaren Gefangenen. Bryce war der Held, den sie in Gerald zu finden gehofft hatte, der Held, den sie seit Vaters Tod gesucht hatte; in ihm vereinigten sich die Helden aus Windwards Bücherschrank. An diesem Sonntagnachmittag wurde er für Hester der schneidige, romantische Anführer jedes tapferen Regiments und jeder zum Untergang verurteilten Reiterschwadron, von denen sie seit ihrer Kindheit gelesen und geträumt hatte. Sie konnte nicht genug bekommen von ihm an diesem Sonntag. Er hatte sie zu neuem Leben erweckt. Sie spürte ihre Lust und ließ ihr freien Lauf. »Sag mir, was ich tun soll«, bat sie und machte sich über ihn her. »Sag mir, was du haben willst, wie du's gern hast«, sagte sie und kam jedem seiner Wünsche zuvor. Sie schien erwacht zu sein, um ihn zu erregen, ihn zu entzücken und ihm Erfüllung zu schenken. Sie war überall. Sie verschlang ihn, und als sie ihn freigeben, als sie sich von ihm trennen mußte, um ins Kutscherhaus zurückzukehren, war Hester seine Sklavin geworden. Während Bryce im Besucherraum des Mercy Hospital an sein -99
erstes Rendezvous mit Hester zurückdachte, saß Doris Ashley auf dem Stuhl neben dem Bett. »Bist du wach, Kind?« Hester schwieg. Doris betrachtete ihre Tochter, die mit geschlossenen Augen dalag. »Es gab keinen anderen Weg«, sagte Doris. »Wir konnten nichts anderes tun. Was hätten wir denn machen sollen? Wir hatten keine Wahl. Wir mußten uns schützen. Jeder hat das Recht, sich zu schütze n. Es ist ein Naturgesetz.« Doris hörte die Tür und hob den Blick. »Hester, Kleines, Gerald ist da. Gerald.« Sie stand schnell auf, um rasch bei der Hand zu sein, falls Hester versuchen sollte, etwas Unrichtiges zu tun oder zu sagen. Gerald ging um das Bett herum. Hester sah schlimm aus. Ihr Gesicht war geschwollen, von Beulen und Schrammen übersät und völlig verfärbt. Die schwarzen Seidennähte zeichneten kurze zackige Linien über Wangen und Kinn. Gerald konnte Hester gar nicht mehr erkennen. Er konnte die Leute nicht verstehen, die sie geschlagen hatten. Vier Männer gegen eine Frau! Er brachte kaum den Mund auf. »Kann ich etwas für dich tun, Hester?« Sie schüttelte den Kopf. »Ginny und Bryce sind da.« Hesters Augen weiteten sich, aber Doris war schon unterwegs zur Tür. »Du hast ja das Schild gesehen, Gerald. Keine Besucher. Der Arzt hat es angeordnet.« Sie war bei der Tür angelangt. »Soll ich es ihnen sagen?« »Entschuldige mich, Hester«, sagte Gerald. Er ging auf die Tür zu und blieb vor Doris stehen. »Es war nicht meine Absicht, sie aufzuregen. Das wollten auch Ginny und Bryce nicht.« Hester hörte die Tür auf- und wieder zugehen und ihre Mutter zum Bett zurückkehren. Sie schloß die Augen. »Mit seiner Frau kommt er hierher!« stieß Doris hervor. »Was ist das für ein Mensch? Der Mann ist ein Verrückter. Du kannst von Glück sagen, daß du mit dem Leben davongekommen bist. Wie kann er es nur wagen, sich auch noch hier sehen zu lassen!« Sie drehte den Stuhl herum und setzte sich so, daß sie die Tür im Auge hatte. Sie warf einen Blick auf Hester. Sobald ihre Tochter eingeschlafen war, würde Doris mit der Oberschwester reden. Das Schild KEINE BESUCHER -100
mußte an der Tür bleiben und so lange streng befolgt werden, bis Hester das Mercy Hospital verlassen hatte. Bryce Partridge konnte es noch einmal versuchen. Hester bewegte ihre Hände und kreuzte sie über der Brust. Ihre Mutter sah das völlig falsch. Bryce Partridge war nicht verrückt, er war... Bryce. Er war anders als alle anderen Wesen auf dieser Welt, jedes andere Wesen, das je gelebt hatte oder über das je geschrieben worden war. Er hegte keine Gefühle außer für sich selbst. Hester hatte schnell begriffen, daß Bryce nichts verbarg, was seine Person betraf. Er war... Bryce. Nach diesem ersten Abend vor dem Bücherschrank hatte er Hester, ohne sich große Mühe zu geben, ohne eine ungeduldige Gebärde, zu einer gefügigen Frau gemacht. Und weil sie endlich eingesehen hatte, daß sie ein Blatt im Winde war, ein Anhängsel, das ihm nun lästig wurde, hatte sie Bryce Partridge gestern nacht gedroht und damit alle Kräfte des Bösen in ihm entfesselt. Und weil Doris Ashley ihre erste und bleibende Beherrscherin war, hatte Hester vier unschuldige junge Männer geopfert. Diese Wahrheit wollte sie hinausschreien und wünschte sich doch auch nichts sehnlicher, als daß die Tür aufging, Bryce hereinstürmte und sie in die Arme schloß. Wegen ihrer Niedertracht empfand sie Ekel vor sich selbst und wegen ihres Verlangens nach Bryce, das nicht erloschen war und das sie nicht zu unterdrücken vermochte. Während Doris Ashley wieder neben dem Bett saß und den Blick auf die Tür gerichtet hielt, füllten sich Hesters Augen, und Tränen rollten über ihr geschundenes Gesicht. »Hier ist mein Büro«, sagte Tom Halehone, als er mit Sarah Liliuohe zum Hauseingang kam. »Hier oben.« »Beeilst du dich?» fragte Sarah und fügte gleich hinzu: »Ich rede, als ob wir zu spät kommen könnten, als ob Joe schon im Gefängnis wäre.« »Ich bin gleich wieder da.« Joe mühte sich die Treppe hinauf und schloß sein Büro auf. Schnell schob er einen Schreibblock -101
und einige Bleistifte in seine Aktenmappe. Als er wieder herunterkam, hatte sich Sarah gegen die Hausmauer gepreßt und sah dem Regen zu. »Jetzt müssen wir auch noch warten«, klagte sie, als ob beide das Opfer einer Verschwörung wären. Der sanfte hawaiische Regen, der für gewöhnlich nur im Umkreis eines Rasensprengers fällt, dauert nie sehr lange. Aneinandergedrängt standen sie im Torweg, und Toms Körper straffte sich, wenn ihre Schultern sich berührten. Er war noch nie mit einem Mädchen zusammen gewesen, außer durch Zufall und hatte dabei nie nachhaltig genug seinen Fuß vergessen können. Er hatte es versucht. Und wenn er mit einer Frau zusammenkam, ermunterte er sich heimlich, verfaßte höfliche Einladungen, verbesserte sie und formte sie um, brachte sich aber nicht dazu, sie auch auszusprechen. Er löste sich nicht von Sarah; spürte ihre Schulter. Sie war so groß wie er. Tom ließ seiner Phantasie die Zügel schießen, vergaß alles und alle und sah nur noch sich und Sarah ganz allein, ausgesetzt auf einer einsamen Insel, für immer zusammen. Der Regen ließ nach, und Sarah sagte: »Wir können gehen.« Als sie zum Polizeipräsidium kamen, spannte sich ein Regenbogen über die Berge. Kleine weiße Wolken säumten den bunten Bogen wie gewaschene und gebleichte Kiesel in einem klaren, glitzernden Bach. »Da war ich noch nie«, sagte Sarah. »Es ist ein Gebäude, ein öffentliches Gebäude«, entgegnete Tom. »Nein, es ist anders«, meinte Sarah. »Es gibt einen Unterschied. Es ist voller Gewehre. Joe ist drin, er sitzt in einer Zelle... hinter Gittern. Ich kann es noch nicht glauben, daß er im Untersuchungsgefängnis ist, aber es stimmt. Ich habe mir heute früh die Haare gewaschen. Dann ging ich vors Haus, um es an der Sonne zu kämmen. Das Telefon läutete, und ich hörte meine Mutter aufschreien. Unser Leben hat sich verändert. Ein Anruf hat unser Leben verändert. Mir ist, als wären wir alle vergiftet.« »Warte auf mich«, sagte Tom. »Das hätte ich auch zu Hause können«, entgegnete Sarah. »Ich -102
hätte zu Hause bleiben könne n. Doch das ging nicht. Ich mußte zu ihm. Joe ist da drin. Mein Bruder ist da drin. Und die anderen. David Kwan ist fast wie ein Bruder für mich. Sie sind eingesperrt, und ich bin es nicht. Ich bin frei. Aber wenn ich hier draußen bleibe, bin ich es auch nicht mehr.« Sie gelangten zu einem langen Gang mit blaßgrünen Wänden. Es roch nach Desinfektionsmitteln. Die Lichter, die überall brannten, gaben dem Gang ein gespenstisches Aussehen. Es war hier so feucht, als ob man sich unter der Erde befände. Sarah berührte Tom. »Ich habe Angst.« Tom sah ihre Hand auf seinem Arm. Ihre Finger waren zart, lang und schlank und erinnerten ihn an Hände auf alten Bildern. Er mußte tief Atem holen. Als sie die Hand zurückzog, hatte er ein Gefühl, als hätte sie ihn verlassen. »Hier haben alle Angst«, sagte er. »Und es sieht hier ja wirklich zum Fürchten aus.« Sie hörten Schritte, schwer und gemessen. Vor ihnen bog ein Cop zu einer Treppe ab. »Sergeant!« Tom ging mit Sarah auf den Beamten zu. »Ich vertrete...« »Da rein«, fiel ihm der Polizist ins Wort und deutete mit dem Finger. Sie folgten seiner Anweisung und betraten einen niedrigen Raum mit einer eingezogenen Decke. Unmittelbar vor ihnen ragte ein schulterhohes Pult auf, das sich über die ganze Länge des Raumes erstreckte. Dahinter thronte wie ein Richter ein weiterer Sergeant. Zu seiner Linken war eine Zellentür in die Wand eingelassen. Beamte, die Verhaftungen vorgenommen hatten, gelangten durch einen schmalen Gang hinter dem Sergeant mit den Arrestanten zu dieser Zellentür, um sie ins Haftbuch eintragen zu lassen. Als Tom und Sarah sich dem Pult näherten, aß der Sergeant eine Papaya und schälte die Frucht mit einem Taschenmesser. »Verzeihen Sie, ich bin Tom Halehone. Ich bin Anwalt und vertrete Joe Liliuohe, David Kwan, Harry...« »Ach die.« »Ich möchte gern meine Mandanten sprechen.« Der Sergeant -103
nahm sein Taschentuch heraus und legte die Papaya darauf, das Messer daneben und griff nach dem Telefon. »Gehen Sie nur«, wies er Tom an. »Wo ist das, bitte?« »Wo das ist?« Der Sergeant ließ den Hörer auf die Gabel fallen. »Sie sind doch Anwalt, oder?« »Ich bin zum ersten Mal hier«, antwortete Tom. Der Sergeant erhob sich von seinem Thron. Langsam und deutlich formulierend, alle Vokale betonend, so als ob er es mit einem Geistesschwachen zu tun hätte, wies er Tom den Weg zum Anwaltszimmer im Erdgeschoß nahe dem Zellenblock. Sarah konnte den Sergeant nicht ansehen. Sie hätte ihn nur zu gerne geohrfeigt. »Wir werden es schon finden«, sagte sie. »Wir?« Der Sergeant betrachtete das Weibsstück. Sie war ein gutaussehendes Weibsstück. »Sind Sie auch Anwältin?« »Ich bin Joe Liliuohes Schwester.« »Kommen Sie wieder, wenn Besuchszeit ist«, wies sie der Sergeant zurecht, setzte sich und nahm sich wieder seine Papaya vor. Sarah drehte sich wütend um und entfernte sich rasch. »Danke«, sagte Tom, hörte seinen Schuh auf dem Steinfußboden schleifen und ging Sarah nach. »Ich hasse sie alle«, schnaubte Sarah draußen auf dem Gang vor Wut. »Sie sind alle gleich. Sie behandeln uns wie Dienstboten.« Die junge Frau war blaß vor Zorn. »Er ist unwichtig«, sagte Tom, »vergiß den Kerl. Warum wartest du nicht draußen?« »Ich gehöre genauso gut hierher wie er«, entgegnete sie. »Da müssen schon andere kommen, um mich fortzujagen. Geh du nur. Du kommst sonst zu spät.« Auf der Treppe, die ins Erdgeschoß hinunterführte, hörte Tom einen Mann in einer Sprache singen, die er nicht verstand. Es war eine frische, fröhliche Melodie. Tom mußte an Männer und Frauen denken, wie sie im Mondlicht auf einem gepflasterten Platz tanzten. Fähnchen und Wimpel flatterten im Wind, und am -104
Rand des Brunnens in der Mitte saßen Musikanten, jeder mit einer offenen Flasche Wein zwischen den Beinen. Er sah das Kopfsteinpflaster ganz deutlich vor sich, irgendwo in einem mittelalterlichen europäischen Städtchen lag dieser Platz und er war einer der Tänzer; alle waren bunt gekleidet, nur er und Sarah trugen weiße Kleidung. Er tanzte mit Sarah. Sie boten einen hübschen Anblick, und die Zuschauer lobten ihre beschwingte Anmut... Das Lied ging zu Ende, und Tom, bangend und unsicher, kehrte zu seiner Begegnung mit den vier jungen Männern zurück. Das Anwaltszimmer war geräumig. In der Mitte stand ein Tisch mit Stühlen. Tom legte seine Aktentasche auf den Tisch und nahm den Block und die Bleistifte heraus. Er schritt zu der offenen Tür und schaute hinaus, aber niemand war zu sehen. Er ging zum Tisch zurück und blieb neben einem Stuhl stehen. »Hier herein«, hörte er jemanden sagen und sah den Schließer des Untersuchungsgefängnisses im Türrahmen. Joe Liliuohe betrat als erster den Raum; hinter ihm kamen drei weitere junge Männer. »Klopfen Sie an die Tür, wenn Sie fertig sind«, wies ihn der Schließer an. »Schau nur, wo wir sind, Tommy«, sagte Joe. »Hättest du je gedacht, daß wir uns bei der Polizei wiedersehen würden? Wo ist Sarah?« »Oben.« Der Schließer drückte die Tür ins Schloß. Die anderen drei kannte Tom nicht. »Wer ist das?« fragte Mike Yoshida. »Tommy Halehone aus meinem Viertel«, antwortete Joe. »Du kennst Tom doch von der High-School.« »Ich war nie auf der High-School«, versetzte Mike. »Du hast gesagt, deine Schwester würde einen Anwalt mitbringen.« »Tommy ist Anwalt«, sagte Joe. »Er ging in die Staaten und wurde Anwalt.« Harry Pohukaina kam näher und beäugte Tom. »Der soll gegen die da oben etwas ausrichten?« Er schwang seinen Arm in -105
weitem Bogen, als schleudere er einen Diskus. »Da können wir gleich alles gestehen.« »Aber...« setzte Tom an und brach ab. Er war Anwalt. Er war geschult. Und er war frei. »Joe«, sagte er, »ich werde den Schließer rufen. Ich möchte mit dir allein sprechen.« »Nicht so hastig«, sagte Joe und hob die Hand, so als wollte er zwei Kämpfende auffordern, das Clinchen zu lassen. »Halt die Schnauze, Harry, oder ich stopf sie dir.« »Versuch's doch!« versetzte der Angesprochene, packte einen Stuhl und schwang ihn über die Schulter. »Ich schlag dir den Schädel ein, verdammt noch mal! Seit gestern abend hören wir auf dich, und was hat es uns gebracht? Du warst es, der wegen ihr stehenbleiben mußte. Ich würde einer Haole-Frau nicht nahe kommen, selbst wenn sie zwei Meter unter der Erde und in ihrem Sarg läge. Aber du wolltest ja nicht auf uns hören. Seit einem Monat war ich mit keiner Frau zusammen, und jetzt sitze ich wegen Vergewaltigung im Bau!« Den Stuhl immer noch erhoben, trat er zurück. »Du willst mir die Schnauze stopfen? Los, komm schon, ich schlag dir den Schädel ein.« Joe schob Mike Yoshida zur Seite. Tom nützte die Gelegenheit und stellte sich vor Joe. »He, Joe! Joe! Du bist schon dabei, den Polizisten zu beweisen, daß sie recht hatten!« »Runter mit dem Stuhl, Harry«, mischte David Kwan sich ein. »Stell ihn wieder hin«, sagte Mike Yoshida. Er ließ sich auf einen Stuhl am Ende des Tisches fallen und beugte sich vor. »Mein Gott, was werden die mit uns machen?« Harry ließ den Stuhl sinken. Er trug ihn ans Tischende und setzte sich neben Mike. Auch Joe setzte sich, und David, der jüngste im Zimmer, ging zur Wand und drückte sich an die Mauer, als hoffe er, dort irgendwie einen Fluchtweg zu entdecken. »Wir sind schon ein rechter Haufen, was, Tom? Hör ihnen einfach nicht zu«, sagte Joe. -106
»Ich muß ihnen zuhören, dir und den anderen auch«, erwiderte Tom. »Aber zuerst hört ihr jetzt mal mir zu. Ich bin neu in diesem Geschäft und habe erst frisch angefangen. Ich habe keine Erfahrung mit Kriminalprozessen. Ihr habt das Recht auf den besten Strafverteidiger, den ihr finden könnt. Ihr braucht und dürft euch nicht drum kümmern, ob ihr meine Gefühle verletzt.« »Jetzt wißt ihr, was Tom für ein feiner Kerl ist«, sagte Joe. »Nach dem Willkommen, das wir ihm bereitet haben, können wir froh sein, daß er noch da ist. Ich hätte gute Lust, ihm die Hand zu küssen. Und wißt ihr auch, warum? Weil ich kein Geld für Benzin habe, geschweige denn für einen Anwalt.« Er sah Tom an. »Du wußtest doch, daß ich kein Geld habe, oder?« »Dazu sind wir nicht hier«, entgegnete Tom. »Vielleicht solltet ihr Burschen euch auch entschuldigen«, meinte Joe. »Aber ich spreche nur für mich. Willst du mir helfen, Tom?« David löste sich von der Wand. »Wir haben alle kein Geld«, sagte er. Tom langte nach dem Block, schlug das Deckblatt auf und nahm einen Bleistift. Er fühlte sich unbehaglich. »Fangen wir mit gestern abend an«, sagte er. »Erzählt mir alles, alles. Fangt damit an, wie ihr euch getroffen habt. Wenn ihr euch an die Zeit erinnert, wann immer ihr euch an eine Uhrzeit erinnert, sagt es. Einer macht den Anfang, und wenn sich die anderen an etwas erinnern, was er vergessen hat, meldet euch sofort.« Tom hob den Bleistift. »Joe, es war der Wagen deiner Schwester.« Joe begann zu erzählen. Tom schrieb alles auf. Oft bat er Joe, etwas zu wiederholen. Manchmal stellte er ihm Fragen. Joes Bericht war detailliert und vollständig. Fragend sah er die anderen an. »Habe ich etwas ausgelassen?« »Ich wollte, du hättest die ganze Fahrt ausgelassen«, sagte Harry, und zu Tom: »Jetzt kennst du die ganze Geschichte. Wie geht's nun weiter?« -107
»Morgen wird der Staatsanwalt wahrscheinlich Anklage erheben«, erklärte Tom. »Das Gericht wird die Höhe der Kaution festsetzen und dann...« »Bist du taub?« fuhr Mike Yoshida ihn an und sprang auf. »Mit Ach und Krach haben wir das Geld fürs Benzin zusammengebracht, und du redest von Kaution!« »Sei friedlich, Mike«, bat David. Die Hände zu Fäusten geballt, mit lodernden Augen wirbelte Mike herum. »Sei friedlich!« wiederholte er wütend, »seht ihr nicht, wo wir sind? Seht ihr denn nicht, was die mit uns machen? Ich kann nicht einfach dasitzen. Ich möchte immerzu rennen!« Er schwenkte die Arme. »Ich möchte mit dem Kopf voran gegen die Wand laufen.« Tom sah die Adern am Hals des jungen Mannes, die sich wie Bleistifte von seiner Haut abhoben. »Soll ich mich vielleicht benehmen, als ob ich mir den Fuß verstaucht oder meinen Job verloren hätte? Diese Ashley sagt, wir hätten sie vergewaltigt! Und was ist, wenn sie uns nicht glauben? Bis jetzt hat uns keiner geglaubt! Vier junge Knilche gegen Hester Ashley! Die stecken uns ins Zuchthaus, wir werden dort verfaulen. Und wieviel Jahre werden wir dort modern?« Mit beiden Händen packte er die Tischplatte. »Du bist Anwalt. Wie lange werden wir im Gefängnis sitzen?« »Was ich bis jetzt gehört habe, deutet alles darauf hin, daß ihr unschuldig seid. Ihr seid alle unschuldig.« Mike hielt sich am Tisch fest. Glühende Röte überzog sein Gesicht. »Angenommen, du irrst dich, wieviel Jahre? Das Minimum. Wieviel Jahre sind das mindeste? Du mußt es mir sagen! Ich muß es meiner Mutter sagen, damit sie mir Kalender kaufen kann. Wieviel Kalender? Fünf? Zehn? Zwanzig? Hundert?« Tom wollte ihm antworten, aber er konnte es nicht. Er wußte keine Antwort für den hysterischen jungen Mann. Er wußte nicht einmal, wie hoch das auf dem Territorium geltende Strafmaß für -108
Vergewaltigung war. Er würde im Strafgesetzbuch nachsehen müssen. Mike trat vom Tisch zurück. »Es ist doch alles zwecklos«, sagte er ruhig. »Ich bin schon so gut wie tot. Sie zimmern mir vor meinen Augen den Sarg.« Jetzt stand Tom auf. »Ich würde nicht so denken«, sagte er. »Ich glaube, daß wir das Gericht von eurer Unschuld überzeugen werden, das Gericht und die Geschworenen.« »Wie lange wird es bis zur Verhandlung dauern?« erkundigte sich Joe. »Das hängt vom Datum ab, von der Prozeßliste«, antwortete Tom. »Es hängt davon ab, wieviele Fälle vor euch drankommen.« »Bis dahin sitzen wir also in diesem Stall hier und faulen vor uns hin«, sagte Harry. »Ihr sitzt nicht hier«, entgegnete Tom mit lauter Stimme. »Sie müssen euch gegen Kaution freilassen.« »Kaution heißt Geld«, entgegnete Joe. »Aber wir haben kein Geld, Tom.« »Ihr werdet einen Bürgen stellen«, versicherte ihnen Tom. Er mußte sie überzeugen und wollte sich nicht eingestehen, daß es ein leeres Versprechen war. Er konnte ihnen doch nicht alle Hoffnung nehmen. Als der Schließer später die vier in den Zellenblock zurückbrachte, blieb Tom allein neben dem Tisch stehen. Allein und mit dem gewaltigen Problem beladen, die Beschuldigung seiner Mandanten durch Hester Murdoch zu entkräften. Tom schaute starr vor sich hin. Er nahm den Schreibblock zur Hand und begann zu lesen, was er aufgeschrieben hatte, dann schob er ihn abrupt in seine Aktentasche, raffte die Bleistifte zusammen und ließ sie in die Tasche fallen. Eine einzige, alles andere ausschließende Frage wiederholte sich endlich in seinem Hirn: Warum hatte Hester Murdoch Ashley die vier als Täter identifiziert? »Sie sind unschuldig«, sagte er laut. Er schloß die Aktentasche und durchquerte schwerfällig den Raum, als hätte man ihn in Ketten -109
gelegt. Über die Treppe erreichte er den ersten Stock. Unten im Parterre sah er Sarah Liliuohe im Gang stehen. Sonnenlicht, das durch die Fenster flutete, schien sie mit einer Märchenaura zu umgeben. Tom war sicher, daß sie das kratzende Geräusch seines Schuhs gehört hatte und von der Bank aufgestanden war, aber zum ersten Mal in seinem Leben berührte es ihn nicht. Er ignorierte es und vergaß auch sein heroisches Versprechen, eine Bürgschaft zu beschaffen. Er vergaß alles. Sein Herz schlug schneller. Es drängte ihn zu lächeln, und er lächelte tatsächlich, konnte gar nicht aufhören zu lächeln. Er war plötzlich glücklicher als je zuvor in seinem Leben, zum ersten Mal wirklich glücklich. Beim Anblick der jungen Frau rührte ihn etwas Seltsames, Geheimnisvolles und Fremdartiges an. Ihre Nähe, ihr Gesicht, das mit jedem Schritt, den er auf sie zutrat, klarer und bezaubernder wurde, machten ihn schwindlig. Es verlangte ihn, sie zu berühren. Es verlangte ihn, ihre Stimme zu hören. Er mußte ihr alles sagen, alles, was er gelernt, entdeckt, sich zu eigen gemacht, aufgenommen, praktiziert und in Frage gestellt hatte; von seinen Mißerfolgen wollte er ihr erzählen, von seinen Träumen und Hoffnungen und Ambitionen. Tom schämte sich nicht mehr. Er konnte seine Gefühle nicht mehr bändigen. Sarah sah er jetzt ganz deutlich, ihr Haar, ihre Augen, ihre schlanke Gestalt und ihre Haut. Er wußte genau, daß er noch nie ein so schönes Menschenkind erblickt hatte. In diesen wenigen wunderbaren und geheiligten Sekunden, die seit dem Augenblick vergangen waren, als er sie von der Treppe aus gesehen hatte, und nun auf sie zutrat, änderte sich sein Leben. Er wollte den Zauber mit Sarah teilen, doch als er vor ihr stehenblieb und sie betrachtete, die noch vor weniger als zwei Stunden eine Fremde gewesen und jetzt für ihn das vertrauteste, das wichtigste menschliche Wesen der Welt war, sagte er nur: »Hallo.« Er brauchte nicht mehr zu sagen. Zum ersten Mal war er sicher. »Du hast mit ihnen gesprochen, nicht wahr?« fragte Sarah. Sie -110
ersehnte ein Wunder, wünschte von ganzem Herzen, daß ihr Bruder und seine Freunde dieselbe Treppe herunterkommen würden, die Tom herabgestiegen war. Tom berichtete ihr von dem Gespräch im Anwaltszimmer. Sie hörte ihm zu, und alle Hoffnung schwand aus ihren Augen. Als er zu Ende war, sagte sie: »Ich verdiene mehr als sonst jemand in der Familie. Wenn ich nicht wäre, würden wir nicht immer genug zu essen haben.« Sarah arbeitete in einem Drugstore in der King Street. Sie war noch auf die High-School gegangen, als sie dort schon halbtags gearbeitet hatte. »Ich kenne hundert Familien wie die unsere. Wo nehmen wir nur das Geld für die Kaution her?« Sie nahm einen Schlüsselbund aus der Handtasche und blieb mit erhobenem Arm stehen. »Meine Autoschlüssel«, sagte sie. »Ich habe nicht einmal meinen Wagen.« Das Cabrio war Sarah Liliuohes größter Triumph. Ganz bewußt hatte sie sich für den schnittigen schwarzgelben Roadster entschieden. Für Sarah war es ein Ausdruck der Selbstbestätigung; sie wollte den Haoles beweisen, daß sie genauso leichtsinnig sein konnte wie die Weißen. »Du bekommst deinen Wagen wieder«, versprach Tom. »Ich hole ihn gleich heraus. Du kannst mitkommen.« Zum ersten Mal in seinem Leben gab Tom richtig an. »Und die Kaution kriegen wir auch!« So sehr berauschte ihn ihre Nähe, daß es ihm für eine kleine Weile gelang, sich selbst zu überzeugen, daß es ihm gelingen würde, das Unmögliche möglich zu machen. Maddox hielt am Wegrand und in Sichtweite des Whispering Inn an. Er stieg aus dem Wagen und blickte zu dem auf Pfeilern ruhenden Gasthof hinüber. Bei Tageslicht sah er aus wie ein von einem tobenden, verheerenden Sturm gegen die Küste geschleudertes Wrack. Das Haus hatte wohl geschlossen. Maddox sah keine Wagen parken. Er blickte aufmerksam zu Boden. Autos, die auf dieses offene Gelände unweit Waikikis kamen und es wieder verließen, hatten zwei tiefe Furchen in den sandigen Fahrweg gegraben. Gemächlich wie ein Strandläufer -111
wanderte Maddox zwischen den Furchen dahin, auf der Suche nach allem, was er entdecken konnte. Er suchte nach einem greifbaren, wägbaren Gegenstand, nach etwas, das er aufheben, halten und untersuchen, auf das er das ganze Gewicht seiner Erfahrung und seines Wissens konze ntrieren konnte. »Sie hat sie identifiziert«, sagte er laut. Er forschte nach etwas, was Hesters Anschuldigung entweder untermauern oder entkräften würde. Nach etwa zweihundert Metern machte Maddox kehrt und kam wieder zurück. Die Erde zwischen den Furchen war flach und glatt. Hier hätte sie gelegen haben können. Die Kerle hätten aus dem Cabrio aussteigen und sie aufheben, hätten sich über sie hermachen und den Boden wieder flachtreten können. Maddox krümmte den Rücken; die Schultern taten ihm weh. Er hatte nur ein paar Stunden im Büro auf dem Tisch geschlafen. Er fühlte sich schmutzig und brauchte dringend ein Bad und eine Rasur. Und hungrig war er auch. Er zog die Krempe seines Hutes über die Augen und blickte auf das Whispering Inn hinüber. »Sie haben sie doch nicht von der Tanzfläche geholt!« sagte er laut. Was hatte Hester Murdoch hier draußen zu suchen gehabt? Immer noch den Blick zur Erde gerichtet, verließ er den Strandweg. Um ihn herum war Gestrüpp, niedrig und dürr, Büschel von Strandgewächsen. Als er schon fast das Whispering Inn erreicht hatte, schlug er einen weiten Bogen und kehrte zum Strandweg zurück. Er schwitzte unter der heißen Sonne. Er stieß auf Reifenspuren, kreuz und quer, nach allen Richtungen laufend. Maddox ging weiter, einem Seiltänzer gleich, immer noch auf der Suche. Er war schon über den Parkplatz hinaus, als er, tief atmend, ein »Aha!« ausstieß. Er stand vor den deutlichen Abdrücken von Damenschuhen. Er fand die Fußstapfen eines Mannes und noch weitere Abdrücke der Frau. Er hockte sich nieder und suchte nach mehr, nach etwas, das jemand zurückgelassen hatte. Nach einem braunen Fleck, der getrocknetes Blut hätte sein können, nach einem Beweis, daß Hester Murdoch gestern hier gewesen war -112
und nicht irgendein Offizier in Begleitung einer Dame. Der Rücken tat ihm weh. Er richtete sich auf, sah sich um und wartete, bis der Schmerz vergangen war, bevor er sich wieder niederhockte. Etwas glitzerte am Boden. Mit beiden Händen grub er danach. Er ließ den Sand wie in einem Stundenglas durch die Finger rieseln. Vor ihm lag der Hemdknopf eines Mannes, Fadenreste in den Löchern. Er wickelte den Knopf in sein Taschentuch und richtete sich auf. Er war nun dem Strandweg näher als dem Whispering Inn. Maddox versuchte den Fußabdrücken zu folgen, fand aber keine mehr. Er erinnerte sich an die vielen Wagen, die gestern abend rings um den Gasthof geparkt gewesen waren. Die abfahrenden Wagen hätten selbst die Spur einer Elefantenherde zerstören können. Er steckte das Taschentuch ein. »Da hast du jetzt ein großes Stück von gar nichts«, sagte er zu sich, als er ein Auto herankommen hörte. Fast hätte sich Maddox die Augen gerieben. Das schwarzgelbe Cabrio kam den Strandweg entlang gefahren. Das Verdeck war aufgeklappt, so daß er nicht sehen konnte, wer im Wagen saß. Das Cabrio wurde angehalten, als er darauf zuging. Eine junge Frau stieg aus. »Die Schwester«, sagte Maddox laut. Ein Kerl war bei ihr, und der Kerl hinkte. Sie stellten sich vor den Wagen. Maddox runzelte die Stirn und versuchte den Freund der Schwester in seinem Gedächtnis unterzubringen. Als Maddox näher kam, merkte er, daß die beiden sich bemühten, ihn nicht zur Kenntnis zu nehmen. Der Hinkefuß war nicht älter als die vier Kerle, die in der Stadt in Untersuchungshaft saßen. Es könnte ein Pfarrer sein, dachte Maddox. In letzter Zeit gingen viele junge Frauen wieder zur Kirche. Maddox hätte schwören können, daß er den Pfarrer schon einmal gesehen hatte, konnte ihn aber nicht mit dem jungen Mann in Verbindung bringen, der vor knapp fünfzehn Stunden an ihm vorbeigehinkt war. »Ich hoffe, Sie können mir beweisen, daß das Ihr Wagen ist.« »Und ich hoffe, Sie können mir beweisen, daß Sie das was angeht«, entgegnete Sarah. Sie hätte dem Kerl gerne in den -113
Hintern getreten. »Ich kann's versuchen«, antwortete Maddox und holte seine Dienstmarke aus der Tasche. »Sie haben kein Recht, Leute auf diese Weise anzuhalten«, fuhr Sarah ihn an. Tom legte ihr beschwichtigend die Hand auf den Arm. »Sarah.« Sie hörte ihn nicht. Sie entzog ihm ihren Arm. Sie wollte das mit Maddox allein ausfechten. »Ich möchte mal sehen, wie Sie jemanden in der Merchant Street anhalten. Ich habe nichts Gesetzwidriges getan, aber das zählt wohl nicht, oder?« Maddox sah, wie sie den Pfarrer ignorierte. Joe Liliuohe hatte eine bemerkenswerte Schwester. »Es ist ihr Wagen, Captain«, mischte Tom sich ein. »Das ist Sarah Liliuohe. Sie müssen den Wagen im Polizeipräsidium gesehen haben. Das Fahrzeug wurde in amtliche Verwahrung genommen, aber jetzt wieder freigegeben. Sarah Liliuohe ist als Halterin eingetragen. Sie kann Ihnen die Zulassung zeigen.« Jetzt wußte Maddox, daß der Pfarrer kein Pfarrer, daß er Anwalt war. Noch so jung! Wahrscheinlich fing er gerade an, war eben erst aus den Staaten zurückgekommen. Vermutlich wohnte er in Papakolea und war ein Freund von den vieren. Dieser Grünschnabel wollte gegen Phil Murray antreten? Mein Gott, das war wirklich erschütternd. »Und was ist mit Ihnen?« fragte Maddox. Das Mädchen drehte sich um und griff nach der Wagentür. »Ich bin Tom Halehone.« Maddox sah, wie sie ins Handschuhfach langte. »Ich vertrete die Männer, die Sie gestern festgenommen haben.« »Sprich nicht mit ihm«, sagte Sarah und wedelte mit dem Zulassungsschein. »Er hat gefragt, ob dieser Wagen mir gehört. Also, der Wagen gehört mir. Du brauchst nicht weiter mit ihm zu reden.« »Sie sollten Ihrer jungen Freundin ein wenig die Augen öffnen, Herr Strafverteidiger«, sagte Maddox. »Ich bin mit der Aufklärung eines Verbrechens beschäftigt. Auch Sie sollten -114
daran denken. Wenn Sie in den Besitz von irgend etwas gelangen, das als Beweis angesehen werden könnte, ist es Ihre Pflicht, die Polizei davon zu informieren. Es wäre mir gar nicht recht, wenn Sie den Geschworenen etwas vor die Nase hielten, was mir völlig neu ist. Man würde Sie aus dem Anwaltsstand ausschließen, bevor Sie noch richtig angefangen haben.« Maddox nahm den Hut ab und wischte sich die Stirn. »Aloha!« »Ich hasse ihn«, sagte Sarah leise, aber nicht leise genug. Maddox ging zu seinem Wagen zurück. »Er hat sich an die Vorschriften gehalten«, sagte Tom. »Du weißt schon, was ich meine«, entgegnete Sarah; sie sah dem Captain nach und hoffte, er würde stolpern oder fallen oder sich den Kopf anschlagen. Tom wandte den Blick ab. Er wußte genau, was sie meinte. Jetzt fielen ihm hundert Antworten auf die Anmaßung und Unverschämtheit des Captain ein, aber es war zu spät, mal wieder zu spät. ››... flehen wir Deinen Segen auf die Angehörigen dieser ehrenwerten Versammlung herab«, sagte Rabbi Sidney Ellis Applebaum Montag mittag bei der feierlichen Eröffnung der Sitzung des Senats der Vereinigten Staaten von Amerika. Rabbi Applebaum stand neben dem Vizepräsidenten, der den Vorsitz führte. »Wir bitten Dich inständig«, fuhr der Rabbi fort, »diese aufopferungsvollen Männer bei ihren Beratungen zu leiten, auf daß sie auch weiterhin unser herrliches Land dem Schicksal entgegenführen können, das Du für alle Deine Kinder ausgewählt hast, die so einträchtig an seinen Küsten leben. Laß alle, die hier zusammengekommen sind, teilhaben an Deinem Beistand und auch einen jeglichem von ihnen in gleichem Maße Deine Weisheit empfangen. Amen.« Noch bevor der Rabbi den Kopf wieder gehoben hatte, war Senator Floyd Rasmussen aufgesprungen. »Mr. President.« Floyd Rasmussen, der jüngere Senator aus Idaho, war im zweiten Jahr seiner Amtsperiode und -115
der Gründer und Herausgeber einer Wochenschrift, deren religiös angehauchte Leitartikel, die er selbst schrieb, wesentlich zu seinem Wahlerfolg beigetragen hatten. Rasmussen war ein hochgewachsener, feister Mann mit weißem, aufgeschwemmtem Gesicht. Sein Kinn lag über seinem Hemdkragen, und sein Bauch begann an der Brust. Seine Weste war zugeknöpft, aber die Jacke immer offen. Er hatte eine kräftige Stimme und redete gern und viel. Wie alle neugewählten Senatoren hatte er noch sehr wenig gesprochen. »Mr. President!« Diesmal war Rasmussen auch noch im Garderoberaum zu hören. Rabbi Applebaum verließ das Podium. Der Vizepräsident betrachtete den jüngeren Senator aus Idaho. »Aus welchem Grund hat sich der Herr Senator erhoben?« »Ich erhebe mich, um eine Krise anzuzeigen, die die sofortige und ungeteilte Aufmerksamkeit der Vereinigten Staaten erfordert.« Der Vizepräsident legte sein Hämmerchen nieder, nahm sein Taschentuch heraus und schneuzte sich. Er schneuzte sich ein zweites Mal. Dem Vizepräsidenten war Senator Floyd Rasmussen zuwider. Seine Kleidung, seine glattzüngige Frömmelei, seine Gewohnheit, sich das Essen von zu Hause ins Kapitol mitzunehmen. »›Sofortige und ungeteilte Aufmerksamkeit der Vereinigten Staaten‹«, wiederholte der Vizepräsident. »Ist denn Krieg ausgebrochen?« Selbst Rabbi Applebaum, der gerade die Tür des Garderoberaums erreicht hatte, begann zu lachen. Auch die Pagen senkten die Köpfe und feixten. Floyd Rasmussen ertrank schier im Gelächter um ihn herum. Seine Linke hatte er auf eine zusammengefaltete Zeitung, die auf seinem Pult lag, gepreßt und hörte schweigend zu. Er schwieg, bis man sich im Senat wieder beruhigt hatte. »Tatsache ist, Mr. President, wir sind wirklich im Krieg. Unser Land befindet sich im Krieg; kein Krieg, bei dem die Länder ihre Armeen aufeinanderhetzen. Es ist kein offiziell erklärter Krieg. Dennoch greift uns ein Feind an.« »Ich zweifle nicht daran, daß der Senator aus Idaho uns in ein -116
großes Geheimnis einweihen wird«, sagte der Vizepräsident. »Er braucht nic hts weiter zu tun, als zu warten, bis ich seinem Wunsch Rechnung tragen kann. Er erinnert sich vielleicht, daß sich der Senat, als er sich freitags vertagte, mitten in einer Debatte befand, und daß der Senator aus Pennsylvania das Wort hatte.« »Mr. President, ich war zugegen, als sich der Senat am Freitag vertagte.« Rasmussen warf einen Blick über die Schulter. »Ich entschuldige mich bei dem ehrenwerten Abgeordneten aus Pennsylvania. Ich bin der letzte, der die Prärogative eines Senators geringschätzen würde.« »In diesem Fall«, erwiderte der Vizepräsident, »können Sie Ihrem Kollegen aus Pennsylvania das Rederecht abtreten, das er sowieso innehat.« Rasmussen warf abermals einen Blick über die Schulter. »Die Gefühle des illustren Senators aus Pennsylvania zu verletzen, wäre wohl das letzte, was ich täte. Vom ersten Tag an hat er sich besonders bemüht, mir freundlich entgegenzukommen.« Rasmussen wandte sich abermals dem Podium zu. »Wenn er mir gestatten sollte, eine Erklärung abzugeben, würden wir sehr bald erfa hren, ob ich aus Boise hierhergekommen bin, um Witze zu machen oder aber Senator der Vereinigten Staaten zu sein.« In einer Geste des Einverständnisses bewegte der Senator aus Pennsylvania sein Handgelenk. Rasmussen nahm die Zeitung von seinem Pult. »Ich habe den Senat darauf aufmerksam gemacht, daß ein Feind unser Land angreift.« Er hob den Arm mit der Zeitung hoch über den Kopf. Die in großen dicken schwarzen Lettern gedruckte Schlagzeile auf der ersten Seite lautete: »EINGEBORENE MISSBRAUCHEN NAVYOFFIZIERSFRAU«. Langsam, wie eine Figur auf einem mittelalterlichen Glockenspiel, begann Rasmussen sich im Kreis zu drehen. »Eingeborene mißbrauchen Navy-Offiziersfrau«, wiederholte er. »Eingeborene mißbrauchen Navy-Offiziersfrau«, sagte er und -117
drehte sich. Er wiederholte die Schlagzeile ein viertes Mal, bevor er wieder nach vorne blickte und die Zeitung auf das Pult fallen ließ, Daniel Websters Pult. »An diesem Krieg ist nichts Geheimnisvolles«, erläuterte er. »Jedermann in den Vereinigten Staaten weiß davon. Auf dem Territorium von Hawaii weiß man davon. Aber sie wissen auch noch etwas anderes, unsere Landsleute auf den Inseln draußen im Pazifik, die von Tausenden und Abertausenden Eingeborenen umringt sind. Sie wissen, daß seit Samstagabend keine amerikanische Frau mehr sicher ist. Sie wissen, daß jede Frau und Mutter auf dem Territorium sich in Gefahr befindet. Jederzeit, bei Tag und bei Nacht, kann sie entführt werden. Sie kann von einem wilden Haufen angegriffen, weggeschleppt, mißbraucht, geschlagen und wie ein Stück Aas auf die Müllkippe geworfen werden. Vergangenen Samstagabend verließ Hester Murdoch, die junge Frau eines Navy- Lieutenants, ihr Haus, um an einer gesellschaftlichen Veranstaltung teilzunehmen. Wenige Stunden später lag sie, mehr tot als lebendig, in einem Krankenhaus. Gott dem Allmächtigen muß es gefallen haben, dafür zu sorgen, daß die Täter, vier Eingeborene, der Polizei alsbald in die Hände fielen. Meine Frage lautet nun: Wie groß ist die Armee dieser Leute? Wie viele von ihnen lauern noch im Dickicht der Wälder auf ihre Opfer? Ich werde keine Ruhe geben, solange amerikanische Frauen in Gefahr sind. Ich sage es jetzt, und ich sage es hier: Wo unsere Fahne weht, muß jeder einzelne Bürger der Vereinigten Staaten beschützt werden. Samstagabend is t im Pazifik ein Krieg ausgebrochen. Wir müssen ihn gewinnen, und zwar rasch. Darum fordere ich den Verteidigungsminister auf, dem Volk dieses Landes zu sagen, wie lange es dauern wird, bis unsere Frauen ihres Lebens wieder sicher sind. Ich ersuche um eine rasche Antwort, weil ich nicht noch einmal hier stehen und gegen die parlamentarischen Regeln des Senats verstoßen möchte, um über eine weitere Tragödie dieser Art zu -118
berichten.« Rasmussen unterbrach sich. Alle starrten ihn an und warteten. Er ließ sie warten, bis es ihm angebracht schien, weiterzusprechen. Wieder warf er einen Blick über die Schulter. »Ich möchte dem geschätzten Senator aus Pennsylvania für die Gefälligkeit danken, die er mir heute hier erwiesen hat.« Rasmussen setzte sich. Er hörte, wie jener Senator aufstand und ihm dankte. Er hörte andere Senatoren den Vorsitzenden ersuchen, ihnen das Wort zu erteilen. Aber bevor der Vizepräsident sie sprechen ließ, sprach er selbst. Er nannte Rasmussen den »wachsamen Senator aus Idaho«, den »einsamen Kämpfer«. Alle taten so, als ob er einen echten, nachhaltigen Eindruck hinterlassen hätte, aber Floyd Rasmussen war nicht sicher. Er hörte, wie sie ihn beglückwünschten, und zum ersten Mal, seit er den Saal betreten hatte, warf er einen Blick auf die Besuchergalerie. Phoebe Rasmussen hatte annähernd die gleichen Formen wie der Senator. Auch sie war groß und teigig und hatte aufgedunsene weiße Hände und Finger. Ihren schwarzen Hut schien sie von Napoleon kopiert zu haben, und ihr offener Mantel bedeckte auch die Nebensitze. Sie hatte Floyd beobachtet und seine stumme Frage erwartet, und als er zu ihr aufblickte, vermied sie jedes Lächeln oder Nicken, gab ihm nicht das kleinste Zeichen, aber Senator Rasmussen wußte, daß er einen gewaltigen Sieg errungen hatte. Was ihren Mann anging, behielt Phoebe Rasmussen immer recht. Als Senator Rasmussen das letzte anerkennende Wort gehört hatte, war es zwölf Uhr dreißig in Washington und sechs Uhr dreißig früh in Honolulu. Vier Stunden später parkte Sarah das Cabriolet einen Häuserblock vor dem Gerichtsgebäude. Tom langte nach der Aktentasche zwischen seinen Beinen. Sarah sah ihn an. »Sind wir zu früh dran?« Tom schüttelte den Kopf. »Ich hatte gehofft, wir wären früh dran«, sagte Sarah. Auf dem Gehsteig erinnerte er sie daran. »Willst du den Wagen nicht abschließen?« »Hab ich total vergessen«, sagte Sarah. Tom hatte ihr geholfen, -119
das Verdeck zu schließen. Sie gingen auf das Gerichtsgebäude gegenüber dem Polizeipräsidium zu. Tom hatte die Schultern zurückgeworfen und trug den Kopf hoch; er versuchte größer zu sein als Sarah. »Ich habe solche Angst«, flüsterte sie. »Wird es lange dauern? Habe ich dich das schon gefragt?« Ihr Bein streifte das seine. Er nickte und zwang sich für Sarah zu einem Lächeln. »Ich hätte nicht kommen sollen«, sagte sie. »Ich sollte dir nicht zur Last fallen.« »Das darfst du nicht sagen, nicht einmal denken«, erwiderte er. Alles hatte sie für ihn verändert. Mit ihrem Antlitz vor Augen war er eingeschlafen. In wohliger Wärme war er erwacht, hatte sich beeilt, weil Sarah ihn abholen kommen würde, um mit ihm zum Gericht zu fahren. »Du fällst mir nicht zur Last«, sagte er. »Du... du hilfst mir.« Der Verhandlungssaal war breit, ohne in die Tiefe zu gehen, und verfügte nur über vier Bankreihen zu beiden Seiten des Mittelganges. Als Sarah und Tom eintrafen, erblickten sie in den ersten zwei Reihen eine kleine Gruppe Männer und Frauen zusammengedrängt wie Schiffbrüchige auf einem Floß. Sie waren sauber und adrett angezogen; mit ihren schwarzen Haaren und dunklen Gesichtern erinnerten sie an Puppen aus einem fernen Land, die man in ein Schaufenster gestellt hatte. Es waren die Angehörigen der jungen Männer, die Hester Murdoch Ashley beschuldigt hatte, sie vergewaltigt zu haben. Als Sarah die Leute sah, meinte sie: »Ich hätte meine Mutter trotz allem dazu bewegen sollen, mitzukommen. Doch sie meinte, sie würde bestimmt sterben, wenn sie Joe so sähe. Ich hätte sie überreden müssen. Die anderen werden ihre Mütter oder Schwestern oder sonst jemanden aus der Verwandtschaft sehen, aber für Joe ist keiner da.« »Du bist doch da«, sagte Tom. Sarah sah ihn an. »Du bist da. Du bist der wichtigste Mensch, der einzige Mensch, der Joe helfen kann.« Sie führte die Hand zum Mund und flüsterte: »Ich denke immer nur an Joe. Aber die anderen sind genauso schlimm dran. Schon im Kindergarten saß -120
Mike Yoshida immer hinter mir. Er gibt mächtig an, aber er würde keiner Fliege was zuleide tun. Keiner von ihnen könnte einer Fliege was zuleide tun. Aber ich rede wohl zuviel.« Tom hätte ihr stundenlang zuhören können, aber er sagte: »Wir sollten uns setzen.« In der zweiten Reihe setzten sie sich zu den anderen, die zur Seite rückten, um Sarah und Tom die Plätze am Mittelgang zu überlassen. »Das ist Tom Halehone«, flüsterte Sarah. »Er ist ihr Verteid iger.« Alle drehten sich nach ihm um und grüßten stumm; alle hatten Angst, fürchteten sich sogar, laut zu sprechen. Tom stellte seine Aktentasche in den Mittelgang. Sarah beugte sich zu ihm. »Was geschieht jetzt?« flüsterte sie. »Du kannst laut sprechen«, erwiderte Tom. »Das Gericht tagt noch nicht.« »Ich tu's automatisch«, wisperte sie. »Bitte sag es mir.« »Sie werden zur Anklage vernommen. Das heißt, sie werden eines Verbrechens angeklagt. Ein Vertreter der Staatsanwaltschaft wird...« »Sie sind schon jetzt als Verbrecher abgestempelt!« unterbrach sie ihn. Ihre Angst war verflogen. »Man behandelt sie, als ob sie schuldig wären!« »Das stimmt nicht, Sarah«, entgegnete Tom. »Sie sind unschuldig. Darum sitzen wir hier im Gerichtssaal - weil sie unschuldig sind.« Er sprach ruhig und gelassen, bemüht, ihre Bedenken auszuräumen, und war wieder einmal von ihren plötzlichen Gefühlsausbrüchen überrascht. Vor ihnen, beim leeren Zeugenstand, stand ein uniformierter Gerichtsdiener neben der Schriftführerin. Links, auf den Geschworenenbänken, saßen einige Männer, die Hüte auf dem Schoß oder auf dem Geländer vor der ersten Reihe mit sechs Plätzen. Es waren alles Zeitungsleute, und die meisten kamen so gut wie nie ins Stadtgericht, aus dem es selten etwas Interessantes zu berichten gab. Zwei Japaner vertraten die japanischen -121
Zeitungen, die auf dem Territorium erschienen. Der Korrespondent der Associated Press saß in der ersten Reihe neben Jeff Terwilliger vom Outpost-Dispatch, der die Leitartikel über lokale oder territoriale Angelegenheiten für seine Zeitung schrieb. Der Gerichtsdiener ging zum Lichtschalter, und die Schriftführerin setzte sich an ihren Tisch. Es wurde hell im Saal. Der Gerichtsdiener ging auf die Tür neben der Treppe zu, die zur Richterbank hinaufführte. Er öffnete die Tür und verschwand für eine kleine Weile. Als er wiederkam, blieb er vor der Richterbank stehen. »Bitte sich zu erheben.« Ein Mann in der Robe eines Richters kam durch die Tür und stieg zur Bank hinauf. »Das Stadtgericht des Bezirks Honolulu, Territorium von Hawaii, tagt jetzt«, verkündete der Gerichtsdiener. »Der ehrenwerte Fletcher Briggs führt den Vorsitz.« Richter Briggs war dreiundsechzig Jahre alt und saß seit zwanzig Jahren auf der Richterbank des Stadtgerichts. Er hätte sich mit sechzig getrost zur Ruhe setzen können, aber er war Witwer und interessierte sich nur noch für Autos. Und sein Amt machte ihm Spaß. Ihm gefiel die Achtung, die man ihm zollte, ihm gefiel die Richterbank, ihm gefielen die dienstlichen Aktivitäten, die ihm die täglichen Verhaftungen garantierten. Fletcher Briggs las gern seinen Namen in der Zeitung; und er wurde oft zitiert. Während der Richter sich nun auf seinem Sessel niederließ, betraten zwei Herren mit Aktentaschen den Saal. Tom erkannte den älteren von den beiden: Philip Murray, der Staatsanwalt von Honolulu. Der Prozeß fiel in Philip Murrays dritte vierjährige Amtszeit. Tom hatte eigentlich erwartet, daß nur ein stellvertretender Staatsanwalt die Anklage erheben würde. Sein Herz klopfte heftig. Die zwei durchschritten die Schranke und stellten ihre Aktentaschen auf den Tisch des Staatsanwalts. Als Philip Murray auf die Richterbank zuging, betrat Maddox den -122
Gerichtssaal. Er schritt den Mittelgang hinunter, passierte die Schranke und nahm neben Leslie McAdams, dem stellvertretenden Staatsanwalt, Platz. Er legte seinen Hut auf den Tisch. »Was macht denn der hier?« fragte Sarah. Tom schwieg und behielt die Richterbank im Auge. Er wußte, daß Murray den Richter ersuchte, die vier Verhafteten als erste zur Anklage zu vernehmen. Der Countdown hatte begonnen, und Tom wollte nicht reden, wollte sich nicht ablenken lassen. Richter Briggs winkte den Gerichtsdiener heran. »Sind sie da?« »Jawohl, Euer Ehren«, antwortete der Gerichtsdiener. Fletcher Briggs sah die Akten durch, d ie vor ihm lagen. »Ich habe alle vier zusammengeheftet«, erklärte ihm der Gerichtsdiener. Der Richter fand die Büroklammer und zog die vier Formblätter aus dem Stoß. »Da sind sie, Phil«, sagte er, und zum Gerichtsdiener: »Bringen Sie sie rein.« Der Staatsanwalt kehrte zu seinem Sitz zurück und öffnete seine Aktentasche, während er sich mit Maddox unterhielt. Tom hörte ein leises Schluchzen in seiner Nähe, blickte nach vorn und sah den Gerichtsdiener neben der offenen Tür, die an die Geschworenenbank angrenzte. Harry Pohukaina betrat als erster den Gerichtssaal, gefolgt von Joe Liliuohe, David Kwan und Mike Yoshida. Alle trugen Handschellen. Sarah griff nach Toms Hand. Er fühlte die warme, glatte Haut an der seinen, die schlanken Finger und den angstvollen Druck, den sie ausübten. Ihre Berührung machte ihm Mut. »Schau nur, was sie mit ihnen gemacht haben«, wisperte Sarah. Der Gerichtsdiener führte die vier jungen Männer vor die Richterbank. Sie waren unrasiert und ungewaschen. Zwei Tage und zwei Nächte waren sie jetzt schon in ihren Kleidern aus billiger Baumwolle. Sie waren schmutzig und nicht gekämmt. Die vergangenen sechsunddreißig Stunden hatten sie -123
fertiggemacht. »Joe Liliuohe«, las der Richter aus seinen Akten vor. »David Kwan. Harry Pohukaina. Michael Yoshida. Man hat Sie unter dem Verdacht der schweren Körperverletzung in Tateinheit mit Notzucht festgenommen. Der Polizeibeamte, der die Untersuchung leitet, hat Beweise vorgelegt, die Sie mit diesem brutalen Verbrechen in Zusammenhang bringen. Das Opfer ha t Sie identifiziert. Der Staatsanwalt ist der Ansicht, daß genügend Beweise vorliegen, um Ihnen den Prozeß zu machen. Er wird die Anklagejury dahingehend informieren. Dies ist eine erste Anklageerhebung. Es ist meine Pflicht, Sie von den gegen Sie erhobene n Anschuldigungen in Kenntnis zu setzen. Das habe ich getan. Sie haben ein Recht auf Verteidigung. Wenn Sie keinen Verteidiger haben, ist es die Pflicht des Gerichts, einen Anwalt für Sie zu bestellen, der Sie vertreten wird.« Tom erhob sich. »Euer Ehren«, sagte er und trat auf den Mittelgang hinaus, wobei er seine Aktentasche anstieß, die mit einem lauten Klatsch umfiel. Er hob sie auf und verwünschte sich, daß er dieses verdammte Ding überhaupt mitgenommen hatte. »Euer Ehren, ich vertrete die Angeklagten«, sagte Tom, während er die Schranke durchschritt und die Aktentasche auf den Tisch der Verteidigung stellte. Captain Maddox beobachtete den jungen Mann. Sein Alter, sein Hinkefuß, sein Erscheinen hier, seine Absicht, gegen Phil Murray anzutreten... es machte Maddox zornig. Am liebsten hätte er ihn mit einem Tritt aus dem Gerichtssaal befördert. Die vier waren schon so gut wie verurteilt, sie und der biedere Pfadfinder, den sie sich als Verteidiger ausgesucht hatten. Maddox bereute es, daß er gekommen war. »Sie haben gehört, welche Beschuldigungen gegen sie erhoben wurden«, sagte der Richter. »Welche Stellung nehmen Sie zur Anklage?« Tom war neben die vier jungen Männer getreten. »Meine Mandanten sind unschuldig, Euer Ehren.« »Die Angeklagten haben sich für nicht schuldig erklärt; bis zur Einleitung des Verfahrens sind sie in Haft zu nehmen«, verfügte -124
der Richter. »Euer Ehren, ich beantrage die Entlassung meiner Mandanten gegen die schriftliche Verpflichtung, zur Verhandlung zu erscheinen«, sagte Tom. »Euer Ehren!« Der Staatsanwalt marschierte an Tom und den jungen Männern vorbei und blieb im rechten Winkel zum Richtertisch stehen, so daß er den Richter und die Angeklagten sehen konnte. »Euer Ehren, diese Männer sind der Notzucht angeklagt. Es gibt kein verdammens werteres Verbrechen. Ein Mann, der eine Frau vergewaltigt, begeht die abscheulichste Tat, die unsere Gesellschaft kennt. Er wird in jedem Land der Welt als Verbrecher angesehen.« Murray hob die Hand, krümmte den Daumen und spreizte vier Finger. »Multiplizieren Sie mit vier«, fuhr er fort. »Diese vier gingen Samstagabend auf Jagd. Sie fanden ihr Opfer. Hester Ashley Murdoch war eine junge Frau Anfang Zwanzig, eine verheiratete Frau, jung verheiratet. Sie war eine tapfere Frau.« Murray sah die Angeklagten an, richtete seine Worte an sie. »Sie kämpfte gegen diese vier... Jäger. Sehen Sie sie an. Vier Männer gegen eine Frau. Sie schlugen sie, bis sie völlig entstellt war. Sie schlugen sie zusammen, bevor sie Hester Ashley Murdoch vergewaltigten.« Murray sah Richter Briggs an. »Ich ersuche das Gericht, die Angeklagten ohne Zulassung einer Bürgschaft bis zur Verhandlung in Haft zu halten.« Murray kehrte zu seinem Tisch zurück. »Euer Ehren«, sagte Tom, »ich stimme mit dem Herrn Staatsanwalt völlig überein.« Murrays Kopf schwenkte herum. »Es gibt kein gemeineres Verbrechen als Notzucht«, fuhr Tom fort. »Dem Mann, der eine Frau vergewaltigt hat, sollte nicht gestattet werden, sich frei zu bewegen. In der Gesellschaft anständiger Menschen hat er nichts zu suchen. Man sollte ihn hinter Schloß und Riegel setzen, damit sich andere Leute frei und sicher bewegen können. Der Staatsanwalt hat mit allem recht, was er über solche Männer sagt.« Tom zeigte mit dem Finger. »Aber diese Männer haben niemanden vergewaltigt. Meine Mandanten werden eines -125
Verbrechens bezichtigt, aber sie wurden keines Verbrechens überführt! Sie sind unschuldig, Euer Ehren. Sie haben niemandem ein Leid zugefügt, niemandem. Meine Mandanten sind hier in Honolulu aufgewachsen. Ihre Eltern leben hier. Niemand, meine Mandanten nicht, ihre Eltern nicht, kein Mitglied ihrer vier Familien, wurde je eines Verbrechens beschuldigt, ist je vor Gericht gestanden. Diese Tatsache sagt etwas über meine Mandanten aus, Euer Ehren. Sie beweist, daß diese Männer anständige Leute sind, die von anständigen Leuten erzogen wurden. Sie haben das Verbrechen, dessen sie beschuldigt werden, nicht begangen, Euer Ehren.« Maddox rückte seinen Stuhl, um besser zu sehen. Der junge Kerl hatte Schwierigkeiten beim Gehen, aber offensichtlich keine Probleme mit seinem Köpfchen. »Euer Ehren«, begann der Staatsanwalt, der aufgesprungen war und neben seinem Tisch stand, »wenn es dem Hohen Gericht genehm ist, möchte ich gerne auf etwas zurückkommen, was ich vorher gesagt habe. ›Hester Ashley war eine junge Frau‹, habe ich gesagt. ›Sie war eine tapfere Frau.‹ War, nicht ist, Euer Ehren. Vergangenheit also. Samstagnacht ging ein großer Teil von Hester Ashley Murdochs Leben zu Ende.« Den Arm vorgestreckt, machte Murray einen langen Schritt auf die Angeklagten zu. »Sie haben es beendet. Hester Ashley Murdoch wird nie wieder die gleiche sein. Sie... wird... nie... wieder... die... gleiche... sein. Sie liegt jetzt im Mercy Hospital. Vielleicht wird sie sich von den Schlägen erholen. Vielleicht. Aber nie wird sie sich von dem Verbrechen erholen, das an ihr begangen wurde. Wird Hester Ashley Murdoch je wieder abends auszugehen wagen? Wird sie je die vier Gestalten vergessen, die sie umringten und dann, einer nach dem anderen, über sie herfielen? Samstagnacht befand sich Hester Murdoch in der Blüte ihres Lebens. In weniger als einer Stunde war alles zerstört. Für sie ist es zu spät, Euer Ehren. Aber wir müssen die anderen Frauen und Töchter und Mütter Honolulus schützen. Ich bitte das Hohe -126
Gericht noch einmal, diese Angeklagten von unseren Frauen fernzuhalten.« »Danke, meine Herren«, sagte Richter Briggs. »Das Gericht ist sich der Schwere des Verbrechens bewußt und teilt die Meinung des Herrn Staatsanwalts und des Herrn Verteidigers. Es gibt nichts Schlimmeres als das Verbrechen der Notzucht. Aber das Gericht stellt auch die Ausführungen des Herrn Verteidigers im Hinblick auf den Leumund der Angeklagten in Rechnung. Die vier Angeklagten befinden sich zum ersten Mal in Haft und vor Gericht. Auch dem Herrn Staatsanwalt ist sicher klar, daß dies eine erste Anklageerhebung ist und lediglich drei Funktionen hat: die Angeklagten von den Beschuldigungen in Kenntnis zu setzen, die gegen sie erhoben werden; sicherzustellen, daß sie von einem Anwalt verteidigt werden; und die Höhe der Kaution festzusetzen, wenn das Gericht zu der Überzeugung gelangt, daß eine solche Bürgschaft zugelassen werden sollte. In diesem Fall vertritt das Gericht die Ansicht, daß eine Bürgschaft zuzulassen ist; demnach wird das Ersuchen des Herrn Staatsanwalts, keine Kaution zuzulassen, zurückgewiesen.« »Euer Ehren, ich ersuche, die Kaution auf fünfundzwanzigtausend Dollar festzusetzen«, meldete sich Murray zu Wort. »Darf ich mich dazu äußern, Euer Ehren?« fragte Tom. Der Richter nickte. »Statt der geforderten fünfundzwanzigtausend könnten es genausogut fünfundzwanzig Millionen Dollar Kaution sein. Meine Mandanten sind arbeitslos und ihre Familien kaum imstande, ihren Lebensunterhalt zu verdienen. In aller Demut ersuche ich das Hohe Gericht, die finanzielle Lage meiner Mandanten zu berücksichtigen.« »Ich möchte das Hohe Gericht daran erinnern, daß wir hier zusammengekommen sind, um den Angeklagten den Prozeß zu machen«, wandte Murray ein. »Ich bitte das Gericht, dem Staat zu helfen und eine Kaution festzusetzen, die das Erscheinen der Angeklagten sicherstellt.« Maddox beobachtete den jungen Kerl. Er wußte, daß der Anwalt noch nicht fertig war. -127
»Euer Ehren«, sagte Tom, »ich habe das Gericht bereits darauf hingewiesen, daß eine hohe Kaution für meine Mandanten genausoviel bedeutet wie gar keine Kaution. Der Herr Staatsanwalt möchte sicher sein, daß meine Mandanten zur Verhandlung erscheinen. Ich garantiere, daß sie zur Verhandlung erscheinen!« Der Staatsanwalt trug seine Skepsis wie einen Schild zur Schau. Tom wirbelte herum. Er schien den Staatsanwalt anspringen zu wollen. »Ich garantiere es!« rief er. Er war bereit, sein Leben einzusetzen. »Ich garantiere!« wiederholte er und wandte sich der Richterbank zu. »Wenn das Hohe Gericht es erlaubt, möchte ich noch etwas hinzufügen. Die Angeklagten sind für mich wie meine eigenen Brüder. Einer von ihnen war mir wie ein Bruder. Sie haben mir geschworen, daß sie nichts verbrochen haben. Nach dem Gesetz sind sie unschuldig und haben ein Recht darauf, wie unschuldige Menschen behandelt zu werden.« »Meine Herren«, erwiderte der Richter, »wir haben diesen Punkt erschöpfend behandelt. Ich setze die Kaution auf zehntausend Dollar für jeden Angeklagten fest.« Die Reporter auf den Geschworenenbänken erhoben sich und folgten Jeff Terwilliger vom Outpost-Dispatch, der auf dem Platz des Geschworenensprechers gesessen hatte. Als sie auf die Schranke zugingen, sagte Joe Liliuohe zu Tom: »Jetzt geht's also wieder dorthin zurück, von wo wir gekommen sind, wie?« »Nur so lange, bis wir die Kaution gestellt haben«, erwiderte Tom. Er mußte Joe anschauen und konnte es nicht. »Ja, sicher«, sagte Joe, als der Gerichtsdiener vor ihm stehenblieb, um die Angeklagten zur Tür zu führen. Sarah stand im Mittelgang, mußte aber zurückweichen, als die Reporter die Schranke passierten. Am Tisch des Staatsanwalts langte Maddox nach seinem Hut. »Was kannst du mir über diesen Halehone erzählen, Phil?« fragte Maddox. »Nichts. Ich habe ihn noch nie gesehen«, sagte der -128
Staatsanwalt. »Und du, Les?« Sein Kollege hob beide Hände und ließ sie fallen. »Frag mich morgen noch mal, Curt«, verabschiedete sich der Staatsanwalt. »Morgen werde ich schon selbst alles erfahren haben«, sagte Maddox. Tom verharrte stehend an seinem Tisch und sah zu, wie die vier jungen Männer in Handschellen abgeführt wurden. Er hätte ihnen nachlaufen und ihnen versprechen wollen, daß... irgend etwas... Und schaute schnell zu Boden. Sarah stand an der Schranke. Sie strahlte. Hoffnung ließ ihre Augen leuchten. »Du warst wunderbar!« sagte sie. »Du bist ihnen gegenübergetreten wie ein... ein Held. Du hattest keine Angst vor ihnen!« Sie bückte sich, um Toms Aktentasche aufzuheben. »Du hast ihnen gezeigt, daß sie auf uns nicht einfach herumtrampeln können. Ich habe ja gar nicht gewußt, was du bist, wozu du fähig bist, was es heißt, ein Anwalt zu sein!« Sie kümmerte sich nicht um die Leute in den ersten zwei Reihen, die sich jetzt anschickten, den Saal zu verlassen. Sarah blieb an Toms Seite, während sie sich einen Weg zum Ausgang bahnten. »Als ich gestern zu dir kam, war ich wirklich wie verrückt und hatte wahnsinnige Angst. Und auch noch heute früh. Doch jetzt weiß ich, daß alles wieder gut wird.« Noch nie hatte jemand so zu Tom gesprochen, wie Sarah in diesem Augenblick. Er konnte sie hören, konnte alles hören, immer und immer wieder, während sie den Saal verließen. Er wußte, daß alles trügerisch war, unwirklich, aber noch konnte er sich die Wahrheit nicht eingestehen. »Vor allem müssen wir sie jetzt aus dem Gefängnis herausholen«, sagte Sarah. Tom mußte sie aus ihrem Traum reißen, und er mußte es schnell tun. »Ich habe da drin keinen Sieg errungen, Sarah«, erwiderte er. »Es ist immer noch unmöglich, weil zehntausend Dollar genauso schwer aufzubringen sind wie fünfundzwanzigtausend.« »Aber wir müssen doch nicht die ganzen zehntausend zahlen, -129
oder?« »Gewöhnlich sind zehn Prozent der Kautionssumme zu hinterlegen«, sagte Tom. »Na siehst du! Das sind dann... tausend Dollar!« »Sarah.« Tom unterbrach sie. Sie hielten sich dicht an der Wand. »Das sind tausend Dollar für jeden, und für den Restbetrag wird man Sicherheiten haben wollen.« »Sicherheiten«, wiederholte sie traurig und sagte dann: »Wir werden Geld sammeln! Wir werden von Haus zu Haus gehen. Wir werden Kinder bitten, uns zu helfen. Ich wollte, ich hätte Zeit und müßte nicht zur Arbeit gehen. Am Abend, gleich nach Dienstschluß, fangen wir an, ja?« drängte sie, als sie am Ausgang waren. »Ich hole dich ab. Wirst du im Büro sein?« Sarah hatte wieder gewonnen. Noch einmal ging er über die Wahrheit hinweg, verbannte die Kaution aus seinen Gedanken. Er konnte ihr nicht widerstehen. »Ich hole dich ab. Ich komme zum Drugstore.« Zu dieser Stunde waren in Washington die Nachmittagszeitungen schon auf der Straße. In einigen Blättern war Senator Rasmussen auf der Titelseite, alle hatten sie aber VERGEWALTIGUNG und NAVYOFFIZIERSFRAU in den Schlagzeilen. Der Admiral liebte es, unter der Woche in seinem Büro zu speisen, und eben war ihm ein Schwertfischfilet serviert worden, als Commander Jimmy Saunders an die Tür klopfte und eintrat. Er hielt ein Telegramm in der Hand. »Tut mir leid, daß ich Sie stören muß, Sir«, entschuldigte sich Saunders, blieb an der Tür stehen und hielt das Telegramm hoch. »Ich dachte, Sie wollten vielleicht gleich davon Kenntnis nehmen.« Saunders bewegte sich erst, als der Admiral ihm bedeutete, näherzutreten. »Bringen Sie mir meine Brille, Jimmy«, sagte der Admiral, der es ablehnte, sie dauernd zu tragen, und sich weigerte, daran erinnert zu werden, daß er Hilfe brauchte. Saunders ging zum -130
Schreibtisch, der Admiral lehnte sich zurück, legte den Kopf nach hinten und hielt sich das Telegramm so nahe vor die Augen, als blicke er durch ein Stereoskop. »NAVY-MINISTER AN KOMMANDANT VIERZEHNTER SEEDISTRIKT«, begann die Mitteilung des Marineministers in Washington an den Kommandierenden des Vierzehnten Marinedistrikts. »SENATOREN DER VEREINIGTEN STAATEN SCHOCKIERT ÜBER VERGEWALTIGUNG IN IHREM KOMMANDOBEREICH. SOFORTIGES SICHERHEITSPROGRAMM ZUR VERHINDERUNG VON WIEDERHOLUNGEN VORSCHLAGEN. ERWARTEN BALDIGST EINZELHEITEN.« Der Admiral nahm die Brille ab. »Allerdings haben Sie mich gestört, Saunders«, sagte er, erhob sich und trug Telegramm und Brille zu seinem Schreibtisch. »Erwarten die vielleicht von mir, daß ich sämtliche Ehefrauen und Töchter aller Offiziere und Mannschaften in Honolulu zusammentreibe? Lassen Sie sich was einfallen, was ich unterschreiben kann, Jimmy.« »Jawohl, Sir, wird sofort erledigt«, antwortete Saunders. Der Admiral deutete auf sein Essen. »Und sagen Sie dem Chef, er soll das abräumen. Der Appetit ist mir gründlich vergangen.« Commander Saunders ging zur Tür. Der Admiral warf einen Blick auf das Telegramm, das ohne seine Brille nur mehr ein verschwommener Klecks war. »Verdammt noch mal, ich habe das Mädchen doch nicht vergewaltigt!« Maddox fuhr vom Gerichtsgebäude direkt zum Hafen hinunter, wo er in eine enge Straße zwischen den Lagerhäusern einbog. Vor einem dreigeschossigen Ziegelbau hielt er an. Es war ein abweisendes Haus, wie ein Gefängnis, und trug keinerlei Aufschriften. Maddox betrat es durch eine schmale, unscheinbare Tür. Es war ein Lagerhaus, voll mit Kartons, Fässern, Ballen, -131
Kisten, Säcken, großen und kleinen Maschinen aus aller Welt. Zu Maddox' Linken, unmittelbar vor ihm, klebte eine Holztreppe an der Ziegelwand. Maddox kletterte die Stufen hinauf bis zu einer Tür ohne Aufschrift und kam in ein kleines Zimmer, vollgestellt mit einem Schreibtisch, zwei Stühlen und Aktenschränken. Eine Frau in mittleren Jahren, klein und dicklich, saß hinter dem Schreibtisch. Obwohl es draußen warm war, trug sie einen Mantel. »Hallo, Isabel.« »Tag, Curt. Er wartet schon«, begrüßte ihn Isabel Dordell. »Scheußliche Geschichte, was? Es sind Tiere. Schlimmer als Tiere. Ein Tier hat ein Weibchen und kümmert sich nicht darum, ob andere Tiere es begatten. Das arme Mädel. Hester ist für immer gezeichnet. Ich würde sie alle töten. Sie sollten alle auf den elektrischen Stuhl.« »Wir haben keinen«, entgegnete Maddox. Er klopfte an eine Tür und öffnete sie. Maddox betrat einen größeren Raum. Vier Fenster waren gleichmäßig über zwei gegenüberliegende Wände verteilt. Dazwischen befand sich ein großer Rollschreibtisch mit einem Telefon. In der hintersten Ecke stand ein Kleiderständer, an dem ein Hut und ein Schirm hingen, und auf dem Fußboden lagen ein großes Paket und ein Paar schwarze Galoschen. Neben dem Schreibtisch wartete ein einzelner Stuhl auf Besucher. Hinter dem Schreibtisch saß ein adretter, gedrungener Mann, dessen Kopf fast kahl war. Die wenigen Haare waren völlig grau. Die ganze Gestalt war grau. Dieser Mann, der hier unter der immerwährenden Sonne sein Leben verbrachte, schien nie im Freien gewesen zu sein. Er schien überhaupt nicht zu sein. Er sah aus wie ein Bankangestellter, Hochschullehrer oder Beamter, ein Bibliothekar, ein umständlicher Kustos oder ein Büroleiter - je nachdem, was sein jeweiliges Gegenüber in ihm sah. Er heiß Harvey Koster, war fünfundfünfzig Jahre alt und der reichste und mächtigste Mann auf dem Territorium von Hawaii. Maddox hatte seinen Hut schon abgenommen, ehe er -132
eingetreten war. »Guten Tag, Mr. Koster.« »Ich habe dich schon früher erwartet, Curt.« »Ich bin praktisch seit Samstagabend ständig auf Achse«, wies Maddox den Vorwurf zurück. »Der reinste Hasenstall! Wir sind hier nicht in Alabama oder sonstwo in den Staaten. Niemand hat diese Menschen hierhergebracht. Sie waren schon da. Man hat es mit ihnen schon zu weit getrieben. Jetzt können wir sie nur noch ins Meer werfen.« »Ich hoffe, du hast diese Bemerkung nicht in der Öffentlichkeit gemacht«, sagte Koster. »Sie sollten mich besser kennen.« »Also, Curt, auch mich kann keiner hören«, fuhr Koster fort. »Wenn es um Informationen geht, bin ich auf dich angewiesen. Du hilfst mir. Du stehst mir nahe. Du bist der einzige Mensch auf der Welt, mit dem ich gewisse Dinge teile. Du weißt, in diesem Raum können wir uns aufeinander verlassen.« Maddox wußte, daß diese letzten Worte nie wahr sein würden, aber er sagte: »Danke, Mr. Koster.« »Wir sind wirklich in der Scheiße«, brummte Koster. »Keine weiße Frau ist mehr sicher. Und in Honolulu laufen die Wilden frei herum.« »Das ist doch völliger Quatsch«, entgegnete Maddox. »Du willst nur den Tatsachen nicht ins Auge sehen«, rügte Koster. »Du bist ein Mann der Insel, und deine Vorstellungskraft endet an den Ufern Hawaiis. Ich mache mir Sorge n um die Meinung auf dem Festland. In den Staaten lesen jetzt alle über uns und zerreden sich die Mäuler. Die Zeitungen treten es auf den Titelseiten breit. Es geht um Sex. Sex schließt die Kellertüren unserer Seele auf. Die Männer in Washington, die Männer, die zu entscheiden haben, werden das Schlimmste von uns denken - und was wohl über unsere Eigenstaatlichkeit? Wir könnten noch weitere hundert Jahre autonomes Territorium bleiben, Curt. Diese vier Eingeborenen müssen ihre Untat büßen.« »Nicht so hastig«, wandte Maddox ein. »Erst müssen sie mal -133
vor Gericht gestellt werden.« »Ich wollte, die Sache wäre schon vom Tisch«, sagte Koster. »Man sollte ihnen klarmachen, ihre Strafe könnte milder ausfallen, wenn sie ihre Schuld zugeben.« »Ich habe sie bearbeitet«, versicherte ihm Maddox. »Ich habe versucht, sie reinzulegen.« Er schüttelte den Kopf. »Sag ihnen, daß Leugnen zwecklos ist«, riet Koster. »Wer wird ihnen glauben, wenn Doris Ashley sie beschuldigt?« »Doris Ashley war nicht dabei.« »Sie ist die wichtigste Person bei der ganzen Geschichte«, betonte Koster. »Die Leute reden schon. Sie erzählen, Doris Ashleys Tochter wäre mißbraucht worden.« »Nach Aussage ihrer Tochter wurde sie mißbraucht.« Koster richtete sich auf. »Bring's zu Ende, Curt.« »Diese Burschen wurden sechs Kilometer vom Mercy Hospital geschnappt«, wandte Maddox ein. »Und in der Innenstadt hatten sie eine Schlägerei mit Matrosen. Sie stießen die Frau vor dem Mercy Hospital aus dem Wagen und fuhren in die Innenstadt. In die Innenstadt! Wenn ich jema nden vergewaltigt hätte, würde ich wirklich dorthin fahren, wo alles hell erleuchtet ist, oder würde ich mich daheim verkriechen und die Bude dichtmachen?« »Du hast die Art dieser Leute nie studiert, Curt. Sie sind nicht wie wir. Sie sind primitiv. Seit Hunderten, seit Tausenden von Jahren leben sie in diesem Paradies inmitten von Milliarden Dollar. Und was ist dabei herausgekommen? Surfbretter und gebratene Spanferkel.« Harvey Kosters Einstellung zu den Inselbewohnern gründete sich auf die Tatsache, daß die Hawaiier vor der Ankunft der Missionare ihre Gaben, die Gaben einer verschwenderischen Natur, verschleudert hatten. Er empfand nichts als Geringschätzung für die Insulaner - für die Bewohner aller Inseln im Pazifik. Aber er war auch wachsam gegenüber den eingewanderten Chinesen und Japanern; war mißtrauisch und ständig auf der Hut. Harvey Koster war ein menschenscheuer, -134
fast geheimnisvoller Mann, eine führende Persönlichkeit des Territoriums und Sprecher der vornehmen weißen Gesellschaft Hawaiis. Für seine Viehfarmen und Plantagen stellte Koster nur die Nachkommen von Missionaren als Verwalter an. Er wünschte sich Arbeiter, die mit einem bescheidenen Leben zufrieden waren, und seine Verwalter holten solche Arbeitskräfte für die Felder. Koster bestand auf N iedriglöhnen, denn er war überzeugt, daß bessere Bezahlung sehr rasch zu geringerer Leistungsbereitschaft führte. Andere Grundbesitzer waren seinem Beispiel gefolgt, und Kosters Praktiken machten Schule. Im Jahre 1930 waren fünfundzwanzig Prozent der Verwalter auf den Plantagen Enkel und Urenkel der einstigen Missionare. Es war Harvey Koster, der eine offizielle Bildungspolitik für die öffentlichen Schulen anregte und sich dafür stark machte. Er regte an, den jungen Eingeborenen lediglich landwirtschaftliche Kenntnisse beizubringen, und fand begeisterte Zustimmung. Koster glaubte nicht nur in seinem, sondern auch im öffentlichen Interesse zu handeln. Er war überzeugt, daß jeder Versuch, einem Insulaner eine Erziehung angedeihen zu lassen, scheitern würde und obendrein ein kostspieliger Fehler wäre. Also war der von Doris Ashleys Tochter und diesen vier Verbrechern entfachte Sturm des öffentlichen Interesses für Koster nur deshalb von Bedeutung, weil er die Leistungen seiner Arbeitskräfte in seinen Lagerhäusern, auf seinen Inseldampfern, auf den von ihm betriebenen Omnibuslinien in Honolulu und auf den Pflanzungen zu schmälern drohte. »Diese vier sind schuldig, Curt«, erklärte Koster. »Hester hat sie identifiziert. Je früher sie ihre Strafe erhalten, desto schneller ist die ganze Aufregung vorbei. Also dann...« Maddox wußte immer, wann er zu gehen hatte. »Ich melde mich wieder«, verabschiedete sich der Captain. Durch das kleine Büro der Sekretärin gelangte er wieder zur Stiege, die steil ins Erdgeschoß des Lagerhauses hinabführte. Maddox hielt sich am Holzgeländer fest. Seine Schultern -135
schmerzten. Er dachte an Essen, ohne hungrig zu sein, obwohl er sich nicht erinnern konnte, wann er zum letzten Mal etwas zu sich genommen hatte. Unter ihm lud ein Arbeiter einen riesigen Ballen Hanf ab. Gewöhnlich wurde Maddox mit diesen halsbrecherischen Stufen leicht fertig, aber jetzt war er müde, richtig kaputt, und seine Gedanken versanken in Vergangenes, bevor er noch imstande war, sich seinen Erinnerungen zu verschließen. Unter dieser Stiege hatte Maddox geschlafen, auf einigen Hanfballen, als Harvey Koster ihn fand. »Das ist hier Privateigentum«, hatte Koster gesagt und ihm mit dem Regenschirm gepiekt. Curt Maddox war zwölf und lebte seit seinem achten Lebensjahr auf den Straßen Honolulus. Doch der Junge fürchtete sich nicht. Es gab nichts auf der Welt, was ihm noch hätte Angst einjagen können. »Wer sind deine Leute?« fragte Koster. »Wo gehörst du hin?« Der Junge sprang auf. Er war schon fast an der Tür, als er stürzte und sich auf dem rauhen Zementboden Hände und Knie aufriß. Er war noch nicht ganz wach und hatte Hunger, kam wieder hoch und fiel ein zweites Mal zu Boden. Aber Curtis gab nicht auf. Noch einmal lief er ein Stück, doch Koster verstellte ihm den Weg zur Tür. »Wer sind deine Eltern?« Der Junge schwieg. Etwas in seinen Augen, ganz tief drinnen, eine Mischung aus Keckheit und Trotz, eine fundamentale und fühlbare Zielstrebigkeit fand den Weg zu Kosters Herz. »Bist du hungrig?« So begann die Verbindung zwischen dem Jungen und dem Alten, dem einflußreichsten Mann auf der Inselwelt im Pazifischen Ozean, und endete Curtis' Flucht. Koster kaufte ihm eine vollständige Mahlzeit, die erste, die er in sich hineinschlingen konnte, seitdem er eines Tages im Morgengrauen aus dem Haus seiner Mutter fortgelaufen war. Seine Mutter hatte ihn schon gehaßt, bevor er geboren war. Und Curtis Maddox' Leben begann mit ihrem Haß. Sie übersah ihn, wo sie nur konnte, ließ ihn stundenlang mit der Köchin allein im Zimmer und schlug -136
ihn, bis die anderen Mädchen im Haus es nicht mehr duldeten. Sie weigerte sich sogar, ihm einen Namen zu geben. Curt war der Name des Vaters der Bordellmutter... Koster sah dem Jungen beim Essen zu. Die schmutzigen Hände, die blutig geschürfte Haut, der Dreck am ganzen Körper, das alles widerte den Großgrundbesitzer an. Der Junge hielt Messer und Gabel wie Brechstangen. Dennoch saß Koster schweigend daneben, in einem billigen Restaurant, das er sonst nie betreten hätte, und wartete, bis der Junge fertig war. Sie standen auf, und der Junge, der immer nur auf der Flucht gewesen war, machte keine Anstalten davonzulaufen. Koster hoffte, das Kerlchen würde sich verdrücken, doch der schweigsame, verwilderte und verschrammte Junge wich nicht von seiner Seite. Doch Koster schüttelte ihn ab. Um fünf Uhr nachmittags verließ Koster, seinen Regenschirm in der Hand, das Lagerhaus. Auf dem Trittbrett seines Wagens wartete der Junge. »Du kannst nicht bei mir bleiben«, sagte der Mann. »Ich habe keinen Platz für dich.« Das war nicht gelogen. Kosters Haus hatte zwar acht Zimmer, aber selbst Sidney Akamura, sein Diener, ging jeden Abend nach Hause. Der Junge stand auf und ging davon. »Komm her«, rief Koster. »Komm zurück, sage ich.« Er öffnete die Wagentür und deutete mit dem Regenschirm auf die Rückbank. Er fuhr mit dem Jungen auf eine seiner Plantagen. »Das ist Curtis Maddox«, informierte Koster den Verwalter. »Er wird hier arbeiten. Aber er ist ein Kind, kein Mann. Geben Sie ihm Arbeit, die ein Junge verrichten kann.« Einmal im Monat, sonntags, fuhr Koster auf die Farm hinaus. Der Verwalter lernte es, den Jungen zu präsentieren. Curt war immer sauber gekleidet. Immer verlangte Koster das Sparbuch des Jungen zu sehen. »Gut, gut«, sagte er dann zufrieden. In der Woche nach seinem einundzwanzigsten Geburtstag teilte Curtis Maddox Koster mit, daß er den Wunsch hatte, -137
Polizist zu werden und sich schon am nächsten Tag melden wollte. »Du hast hier einen guten Job«, sagte Koster. »Ich glaube, Polizeiarbeit würde mir gefallen«, entgegnete Maddox. »Gibt es eine Frau in deinem Leben?« fragte Koster. »Eine Frau kann schreckliche Forderungen erheben, Curt. Frauen sind unvernünftig. Sie geben dir nichts. Sie sind selbstsüchtig und gerissen. Eine Frau gefährdet einen Mann.« »Es gibt keine.« »Eines Tages wirst du das Kommando führen. Kosters Plantagen und Betriebe werden dir gehören«, sagte Maddox' Wohltäter. Maddox wußte, daß Koster sich querlegen konnte; ein einziges Telefonat genügte, und er würde niemals eine Polizeiuniform tragen. Wenn Koster das tat, dann würde Maddox, das hatte er beschlossen, auf schnellstem Wege in die Staaten auswandern. Er konnte Koster nicht klarmachen, daß er sich selbst etwas suchen mußte. Es ging nicht länger an, daß er jemandem etwas schuldete, Koster am allerwenigsten. Auf der Plantage und sogar in Honolulu hatte Maddox Geschichten über Koster und ihn gehört. Alle wußten, daß er Harvey Kosters Günstling war, sein einziger Günstling. Und schon zweimal hatten ihm gute Vertraute eine bemerkenswerte Mitteilung gemacht: Es gab eine Menge Leute, die es sich nicht ausreden ließen, daß er - Curtis Maddox - Harvey Kosters unehelicher Sohn war. Er hatte keine andere Wahl. Er mußte beweisen, daß er es auch alleine schaffen würde. Und weil er auf Kosters Plantage zum Aufseher ausgebildet worden war, entschied er sich für die Polizei. »Tut mir leid, daß du mich verläßt«, sagte Koster. »Ich werde Sie nie verlassen, Mr. Koster«, entgegnete Maddox. »Ich werde nie weiter als Ihr Telefon von Ihnen entfernt sein...« Jetzt, fünfzehn Jahre später, kehrte Maddox dem Lagerhaus den Rücken und fuhr nach Hause. Er schlief schon, als Koster, Punkt siebzehn Uhr, das große Paket unter dem Arm, sein -138
Büro verließ. Kosters Haus war durch ein Wäldchen von der Straße abgeschirmt. Es war von Bougainvillea, birmanischen Azaleen, Glyzinen und Kletterrosen gänzlich überwachsen. Koster liebte Blumen. Seine beiden Gärtner hatten Auftrag, vor allem den Blumen größte Aufmerksamkeit zu schenken. Innen im Haus gab es keine Blumen. Es war ein friedliches, wohlgeordnetes, exquisites und im fernöstlichen Stil eingerichtetes Haus. Teppiche gab es kaum. Die Einrichtung war spärlich, die leuchtenden Farben hoben sich deutlich voneinander ab. Sidney Akamura war schon nach Hause gegangen. Koster schloß die Eingangstür wieder ab und ging, ohne sich aufzuhalten, mit dem Paket die Treppe hinauf. Er öffnete die Tür zum Schlafzimmer. Seitlich des Betts befand sich das offene Ankleidezimmer; ein mannshoher Spiegel stand an der Stirnseite. Koster berührte die Wand neben dem Spiegel, der plötzlich zurückschwang und blendendes Licht aufblitzen ließ. Koster bückte sich, als er durch die Öffnung schlüpfte, und als er sich wieder aufrichtete, befand er sich in einem riesigen Raum mit weißen Wänden. Die Decke erstrahlte voller Lichter. Er stand, sein Paket noch unter dem Arm, zwischen Tausenden von Puppen. Harvey Koster hatte seine Liliputwelt betreten. Stumm versank er in der Betrachtung seiner Puppen. Sie standen oder saßen, kletterten auf kleine Ebenholzbäume, schwangen auf Schaukeln, schlitterten auf Rutschen, spielten in Sandkästen oder aßen an mit Porzellangeschirr und Silberbesteck gedeckten Tischen. Sie schliefen in Betten, einzeln oder zu zweit. Sie saßen in Klassenzimmern auf Schulbänken vor schwarzen Tafeln, mit Daten aus der Geschichte, mathematischen Gleichungen und Noten beschrieben. Sie waren zu Hause, räumten Küchen auf, fegten Böden, pflegten Möbel und bügelten auf richtig kleinen Bügelbrettern. Sie waren in der Stadt, spazierten Arm in Arm, manche mit Sonnenschirmen, standen vor Scha ufenstern: die einen betraten Läden, die anderen verließen sie... -139
Hinter seinem Schlafzimmer hatte sich Harvey Koster eine eigene Welt geschaffen. Nicht eine einzige Puppe trug Hosen. Seine geliebten kleinen Wesen, seine einzigen Vertrauten, waren allesamt weiblichen Geschlechts. Eilig, beinahe hastig, riß Koster das Packpapier herunter und öffnete das Paket. Die Schachtel aus Holzimitat war reich verziert. Durch ein Fenster aus Marienglas konnte Koster ein zartes ovales Gesicht sehen mit rosigen Wangen und schwarzen Haaren, die in Zöpfen um den Kopf geschlungen waren. Koster konnte die Schachtel nicht öffnen. Er ließ sich auf die Knie fallen, preßte das Behältnis zwischen Arm und Körper, drückte mit den Fingerspitzen nach unten und zog mit der anderen Hand nach oben; der gestärkte Hemdkragen würgte seinen Hals, aber Koster ließ nicht locker, bis er spürte, wie das Oberteil der Schachtel nachzugeben begann. Der Deckel löste sich, und wie verzaubert blickte Koster auf das Gesicht einer Primaballerina. Sie lag auf weißem Satin. Sie trug ein weißes Röckchen, weiße Seidenstrümpfe und schwarze Ballettschuhe aus grobgeripptem Seidentuch. Mit beiden Händen griff er behutsam in die Schachtel, um seinen neuen Schatz zu bergen. Er richtete sie auf und stellte die Ballerina so auf den Fußboden, daß sie sich ihrem Publikum, ihrem und Kosters Publikum, zuwandte. Sie stand in fünfter Position. Koster war einfach hingerissen. Sie sollte der Star der Ballett-Truppe sein, die er auf der Theaterbühne versammeln würde, die bereits in Grand Rapids, Michigan, für ihn gebaut wurde. Koster hatte sich noch nicht entschieden, wo er das Theater aufstellen sollte. Er würde sich das sorgfältig überlegen müssen. Aber heute wollte er über dieses gewaltige Problem sich nicht den Kopf zerbrechen. Er schob den Deckel, die Schachtel und das Papier zur Seite. »Aufgepaßt, Mädchen! Aufgepaßt!« rief Koster. »Darf ich euch vorstellen...« Er brach ab. Er hatte nicht daran gedacht, daß die Primaballerina noch keinen Namen hatte. Sie mußte einen ganz besonderen, einen inspirierenden Namen haben. »Camille!« -140
verkündete er triumphierend. »Ich möchte euch alle mit Camille bekannt machen.« Er lächelte sie zärtlich an. »Camille, das ist dein Publikum«, sagte Harvey Koster weich. GENERELL KEINE BESUCHER lautete die erste Zeile, und darunter ABSOLUT KEINE AUSNAHMEN auf dem großen Holzschild auf zwei Stahlpfosten am Ende des Piers. Der Pier begann bei einem Riff, jenem Teil Hawaiis, den man Große Insel nannte, vorgelagert. Vom Deck des Inseldampfers aus konnte Tom den schmalen Weg sehen, der sich vom Ufer in Serpentinen nach oben schlängelte. Als der Dampfer sanft an den Pier anstieß und die Matrosen hinuntersprangen, um ihn zu vertäuen, schlich sich Tom nach achtern. Er trug seinen Anzug, ein Hemd und eine Krawatte. Die Gangway wurde herabgelassen, und Matrosen mit Transportkarren begannen, Kartons und Säcke auf den Pier zu schaffen. Ein Karren war mit Salzlecken beladen. Tom schlüpfte zwischen zwei Karren hindurch. »He, Sie!« Die Stimme, die heiser und verstärkt aus einem Sprachrohr kam, gehörte dem Kapitän. Tom blieb nicht stehen. »Sie da!« Er erreichte den Pier. Der Kapitän holte ihn ein. »Sind Sie taub?« Er deutete mit dem Megaphon auf das Schild. »Und blind?« Tom kletterte die Gangway wieder hinauf, und der Kapitän rief ihm nach: »Das ist kein Touristenschiff. Sie mag keine Touristen.« Tom humpelte weiter, fort von der ätzenden Stimme und dem rohen Gelächter der Matrosen, und blieb am vorderen Haltetau, das vom Bug herabhing, stehen. Er könnte sich daran zum Pier herunterzulassen, dachte er, aber sie würden ihn sehen, würden hämisch grinsend auf ihn warten. Zornig schlug er mit der Hand auf die Reling, bis seine Finger vor Schmerz brannten. Der Ausflug nach Big Island war Toms Idee gewesen. Er hatte sofort erkannt, daß Sarahs Plan einer Sammelaktion, um das Geld für die Kaution zusammenzubekommen, ein ehrenwerter -141
Selbstbetrug war. Die Leute in Papakolea waren arm. Aber es war ihm nicht gelungen, ihr ihre Hoffnung zu nehmen. Im Polizeipräsidium, bei seiner ersten Begegnung mit den vier Untersuchungshäftlingen, hatte Tom unüberlegt gesprochen, als er ihnen in Aussicht stellte, daß sie in Freiheit auf ihre Verhandlung würden warten können, und fühlte sich verantwortlich. An dem Tag, an dem er fahren wollte, brachte Sarah ihn schon früh am Morgen zum Hafen. Sie versprach auf ihn zu warten. »Du bist unsere einzige Hoffnung«, sagte sie. Tom konnte nicht aufgeben, ohne es wenigstens versucht zu haben. Er sah den Kapitän neben der Gangway stehen und zog sich zurück, bis das Ruderhaus ihn verdeckte. Er war allein. Alle waren mit Entladen beschäftigt. Schnell, schnell, sagte er sich und zog die Jacke aus. Er schlüpfte aus den Schuhen und bückte sich, um die Schnürsenkel aneinanderzubinden. Er hängte sich die Schuhe um den Hals und war bereit. Seine Hände zitterten, aber nicht aus Furcht vor dem Meer, oder aus Furcht vor dem Sprung, denn das Meer war sein Element. Jeder auf Hawaii konnte schwimmen, und die Jungen wurden die besten Schwimmer. Im Meer wurden sie groß. Der Ozean war ihr »zweiter Hinterhof«, ihr »zweiter Spielplatz«. Wenn sie nicht am Strand oder im Wasser waren, taten sie sich zu Banden zusammen, um in der Innenstadt ordentlich auf den Putz zu hauen. Aber weil Tom eine Belastung für sie war, hatte er nie mitmachen dürfen. Denn wenn sie plötzlich türmen mußten, konnte er nicht schnell genug mitlaufen. Und wenn man ihn erwischte, verriet er vielleicht ihre Namen, und man würde auch sie erwischen. Und hatte man ihn, in der Mannschaft, war ein Fußballspiel schon von vornherein verloren. Tom wurde von allem ausgeschlossen und blieb darum am Strand zurück. So wurde der Ozean sein bester Freund. Mit den Schuhen um den Hals kletterte Tom über die Reling und wartete, bis eine hohe Welle kam. Dann sprang er, und wie -142
eine Messerklinge glitt sein Körper ins Wasser. Wenig später tauchte er wieder auf, schwamm um den Rumpf herum und weiter ins offene Meer hinaus. Als er auf Höhe des Achterschiffs war, tauchte er abermals und tief und bemühte sich, die Länge des Piers im Kopf zu behalten. Er wollte das Pfahlwerk erreichen, um nicht gesehen zu werden, wenn er auftauchte, und schwamm deshalb so lange unter Wasser, bis es ihm schier die Lunge zerriß. Gierig nach Luft ringend, kam er noch. Er war auf der anderen Seite des Piers, tauchte wieder und schwamm so lange, bis er die Felsen spürte. Schnell stieß er sich nach oben ab, um aus dem Wasser zu kommen, bevor ihn eine Welle überraschte und gegen die Klippen schleuderte. Er kroch ans schlammige Ufer, krallte sich fest, rutschte, grub sich mit den Füßen ein. Die Schuhe schlugen schmerzhaft gegen seinen Körper. »Käpt'n!« brüllte einer und »Sehen Sie mal, Käpt'n!« ein anderer. »He, Sie!« belferte die Stimme des Kapitäns durch das Sprachrohr. Tom erreichte den Serpentinenweg. Der Boden war hart. Es blieb ihm keine Zeit, sich die Schuhe anzuziehen. Klitschnaß, schlammbefleckt, zerkratzt, die Füße zerschunden und die dröhnende Stimme des Kapitäns im Ohr, schleppte sich Tom den Weg hinauf. Das wütende Belfern wurde schwächer und schwächer. Tom war oben angelangt. Er stand am Rand eines Plateaus, das sich bis zum Horizont ausdehnte. Etwa hundert Meter vor ihm erhob sich ein langgestrecktes, einstöckiges Gebäude. Eine Veranda nahm die ganze Länge des Hauses ein. Links stand ein großer Schuppen, und überall sah Tom Rinder und Pferde. Ein Mann fuhr einen Traktor zum Schuppen. Eine dichte, ungepflegte Feuerdornhecke umsäumte das Plateau. Tom stand dahinter, griff nach seinen Schuhen und leerte das Wasser aus. Es gelang ihm, die Schnürsenkel aufzuknoten. Die Schuhe waren aufgequollen und klebrig, und Tom fröstelte, als er sich durch die Hecke zwängte und eine Frau sagen hörte: »Jack Manakula, ich bring dich noch um! Habe ich dir nicht gesagt, du sollst heute in der -143
Nähe bleiben?« »Ich kann doch nicht an zehn Stellen gleichzeitig sein«, erwiderte eine männliche Stimme. »Ich bin nicht so talentiert wie du.« Tom sah den Traktor neben einem Gehege. Ein Mann, etwa so alt wie sein Vater, schob sich zwischen den Querbalken hindurch. In der Mitte der Umzäunung lag eine Kuh mit gespreizten Hinterbeinen im Gras. Eine Frau kniete daneben. Sie war von kolossalen Ausmaßen, hatte oberschenkeldicke Arme und schaufelgroße Hände. Ihr Haar war pechschwarz und in Zöpfen um ihren Kopf geflochten. Sie hatte Männerkleidung an und starrte vor Dreck, Erde und Fruchtwasser. Zwischen den gespreizten Beinen der Kuh kniete sie im schlammigen, feuchten, häutigen Mutterkuchen. Aus dem Muttertier ragten die Beine des Kalbs bereits heraus, und die Frau hielt sie fest; die Beine der Kuh streiften fast ihre Haare. Die Frau schien es nicht zu bemerken. Sie sprach zu der Kuh, redete ihr gut zu in einem nicht enden wollenden, beruhigenden, zärtlichen Singsang. »Du kommst schon wieder hoch«, gurrte die Frau. »Es ist ja bald vorüber. Du machst das ausgezeichnet. Drück noch mal fest! Bist wirklich ein braves Mädchen.« Die Frau hob den Kopf und blickte den Mann an. »Herrgott noch mal, Jack, faß mit an, das Kalb muß gewendet werden.« Jack Manakula zog sich den Hut ins Gesicht und kniete neben der Frau nieder. »Mach Platz!« Tom sah den beiden zu. Sie war zweimal so dick wie er. Sie fingen an, das Kalb zu wenden. »Nicht so stürmisch«, sagte die Frau. »Nicht so stürmisch, Jack.« »Rede nur so weiter«, brummte Jack, »und du wirst sie erschrecken, und sie wird uns beiden einen Tritt geben, daß uns Hören und Sehen vergeht.« Die Frau antwortete nicht. Während jeder ein Bein des Kalbs hielt, drehten sie beide das Tier, noch von der Gebärmutter umfangen, langsam und stetig. Das Kalb begann sich herauszubewegen. Die Frau redete wieder mit der -144
Kuh. Dem Mann fiel der Hut vom Kopf. »Es kommt, es kommt!« rief die Frau, und mit einem letzten krampfartigen Erzittern gebar die Kuh. »Halte es, ich muß erst aufstehen«, sagte die Frau und drückte ihre Hände flach auf die Erde, um sich hochzustemmen. Sie schnaufte schwer. »Jetzt gib es mir.« Jack ging in die Hocke und schob die Hände unter das Neugeborene. Er hob das nasse, zitternde, blinzelnde und verwirrte Geschöpf hoch, bis die ausgestreckten Beine den Boden berührten. Aber es konnte noch nicht stehen. Die Frau nahm das Kalb, schlang die Arme um das Tier und murmelte ihm ins Ohr. Jack langte nach seinem Hut und erhob sich. »Einen richtigen Bullen hast du da«, sagte er. »Da habe ich wenigstens einmal das Glück auf meine Seite gezwungen«, entgegnete die Frau. Ohne auf das fruchtwassernasse Fell und den Mutterkuchen zu achten, der noch an ihm hing, drückte sie das Tier an sich. »Ein fetter Kerl, was, Jack?« »Um das zu erfahren, mußt du noch ein gutes Jahr warten«, antwortete Jack und klopfte sich die Erde vom Hut. Die Kuh kam auf die Beine. »Da ist dein Baby«, sagte die beleibte Frau zu ihr. Sie hielt das Kalb fest, während die Kuh an ihm zu lecken begann und den Mutterkuchen schluckte, der den Milchfluß anregen würde. »Schau ihn dir nur an«, redete die Frau weiter. »Er ist schon so weit.« Sie ließ das Kalb los, das noch wackelig war und gegen die warmen Lenden der Mutter taumelte, aber doch schon auf eigenen Beinen stand. Die Frau begann zu lächeln. Noch nie hatte Tom eine so gebieterische, imponierende Gestalt gesehen. Er war der Prinzessin Luahine nie begegnet. Fünfundfünfzig Jahre war sie alt und das letzte lebende Mitglied der Familie Liliuokalanis, der abgesetzten Königin. In der Thronfolge war sie die zweite gewesen. Sie war achtzehn, als die Monarchie Hawaiis kapitulieren mußte und die Invasoren, wie sie die Amerikaner nannte, anfingen, das Land zu -145
beherrschen. Die Prinzessin verließ Honolulu für immer und ging nach Hawaii, auf die Insel, wo Tausende Morgen Land, das weder verkauft noch gestohlen worden war, auf sie warteten. Die Prinzessin zog sich auf ihre riesige Farm zurück, half bei der Arbeit, trieb zweimal im Jahr mit Jack Manakula das Vieh zusammen und schlief, wie die anderen Arbeiter auch, auf dem Boden. Heute war die Prinzessin glücklich; sie hatte einen neuen Stier. Sie lächelte, bis ihr etwas Weißes ins Auge fiel und sie Tom auf das Gehege zuwanken sah. »Was heißt, ›keine Besuche‹, Jack?« Jack kniff die Augen zusammen. »Wo kommt denn der her?« »Sieh dir doch die Wasserleiche an«, antwortete die Prinzessin. »Geschwommen ist er. Jetzt kommen sie schon zu mir geschwommen.« »Du könntest ja die Küste verminen lassen.« »Das werde ich auch«, schnaubte die Prinzessin. Tom war noch außer Hörweite. Er sah, wie die Prinzessin sich bückte und mühsam aus dem Gehege stieg. »Schick ihn fort, Jack.« »Du mußt wieder gehen«, sagte Jack. »Auf Wiedersehen.« Tom blieb nicht stehen. Und als er nahe genug heran war, redete er die Prinzessin an, sprach er in ihrer, nicht in der Sprache der Invasoren. »Es tut mir leid«, begann er, »ich kenne das Verbot. Doch ich mußte zu Ihnen kommen.« »Sprich englisch«, entgegnete die Prinzessin. »Die hawaiische Sprache ist längst tot und begraben.« Tom redete in der befohlenen Sprache weiter: »Prinzessin Lua hine, mein Name ist Tom Halehone. Ich...« Sie unterbrach ihn. »Hier gibt es keine Prinzessin. Ich bin Viehzüchterin.« Sie deutete auf das Gehege. »Das sind meine Untertanen, Zweibeinige habe ich keine.« »Ich muß mit Ihnen reden«, sagte Tom. »Nicht mit mir. Ich will nichts wissen«, sagte die Prinzessin, »und nun schwimm wieder dahin zurück, von wo du gekommen -146
bist.« »Ich bin mit dem Inseldampfer gekommen.« »Ich habe nicht angenommen, du hättest den Weg zu Fuß gemacht«, bemerkte die Prinzessin. »Ich bin müde. Zwinge mich nicht, dich mit Gewalt zu vertreiben.« »Man hat mich nicht von Bord gehen lassen«, erklärte Tom. »Ich mußte schwimmen. Ich mußte mit Ihnen sprechen.« »Jack«, sagte sie. Jack ging auf Tom zu, der einige Schritte zurück tat. »Warten Sie«, sagte Tom. »In Honolulu ist eine ernste Lage entstanden. Ich bin Anwalt, Prinzessin... Ma'am. Sie müssen mir zuhören.« »Da irrst du dich aber gewaltig«, gab die Prinzessin zurück. »Wolltest du nicht eingreifen, Jack?« Die Prinzessin ging auf das Haus zu, und Tom folgte ihr. Jack bekam ihn zu fassen, aber Tom schüttelte ihn ab. »Sie müssen mir zuhören!« rief er mit lauter Stimme und machte einen Bogen um die Prinzessin, bis er sie, rückwärtsschreitend, vor sich hatte. »Eine Frau ist vergewaltigt worden.« »Das ist bei euch da drüben wohl der neueste Sport«, spottete die Prinzessin. »Sie irren sich. Es war eine Weiße, eine Haole. Die Frau eines Navy-Offiziers. Man hat vier junge Männer als Verdächtige verhaftet. Ich kenne sie. Ich kenne sie alle seit meiner Kindheit. Sie haben es nicht getan.« »Hast du vielleicht erwartet, daß sie ihre Tat gestehen würden?« Tom war verzweifelt. Er fand keinen Weg zu diesem Berg von Frau. Sollte alles umsonst gewesen sein? »Ich weiß, daß sie unschuldig sind!« beharrte er. »Vergebung«, sagte der Kapitän. Er stand hinter ihnen und atmete schwer nach der Kletterpartie vom Pier herauf. Er deutete auf Tom: »Kommen Sie!« Tom haßte die Prinzessin. »Was sind Sie nur für ein Mensch? -147
Haben Sie nur noch Gefühle für Ihre Kühe? Glauben Sie, es hat mir Spaß gemacht, mich zu verstecken und da heraufzuschleichen? Über Bord zu springen und durch die Klippen zu schwimmen? Ich mußte es tun! Es gibt sonst niemanden! Ich mußte zu Ihnen kommen! Sie müssen mich anhören!« Der Kapitän hatte ihn fast erreicht, als Tom sah, wie Jack Manakula den Seemann mit einer Handbewegung anhielt und den Kopf schüttelte. Rasch, ganze Wörter verschluckend, erzählte Tom der Prinzessin die jämmerliche Geschichte. »Der Richter hätte die Kaution statt auf zehntausend Dollar auf fünftausend oder auch tausend festsetzen können, aber es würde sich nichts geändert haben«, erklärte Tom. »Wir können das Geld nicht zusammenbekommen und Sicherheiten erst recht nicht aufbringen. Wenn meinen Freunden keiner hilft, werden sie bis zur Verhandlung in ihren Zellen schmachten.« Die Prinzessin streifte Jack mit einem ungnädigen Blick. »Ich habe sehr wohl gesehen, wie du den Kapitän zurückgehalten hast. Willst du vielleicht auch den Inseldampfer nehmen?« »Er hat doch nur gebeten, ihn anzuhören«, rechtfertigte sich Jack. »Am besten lebe ich mein Leben ohne dich«, gab die Prinzessin kühl zurück. Sie wandte sich wieder Tom zu. »Weißt du, wie viele Geschichten mir hier ins Haus flattern? Durchschnittlich bekomme ich hundert Briefe im Monat. Und jeder einze lne schildert einen Notfall. Alle brauchen sie Geld; für eine Operation; für Fahrkarten, um eine Reise in die USA zu machen. Sie wollen eine Ranch kaufen, einen Laden, ein Restaurant eröffnen. Sie wollen ihren Sohn, sie wollen ihre Tochter in eine Schule schicken. Sie wollen fünf Dollar, fünftausend Dollar, fünfzigtausend Dollar. Geier sind sie alle da drüben in Honolulu. Es gibt auf ganz Oahu anscheinend niemanden, der sich nicht in einer persönlichen Krisensituation befindet.« »Sie sind unschuldig«, betonte Tom. »Sie haben diese Frau -148
nicht vergewaltigt.« »Und was ist mit mir?« fragte die Prinzessin. »Ich bin auch unschuldig«, gab sie sich selbst die Antwort und beendete die Audienz. Ohne Tom, ohne einen der Männer anzusehen, ging sie weiter auf das Haus zu. »Aber Sie sitzen nicht im Loch!« rief Tom mit mühsam unterdrückter Wut in der Stimme. »Sie können davonspazieren. Sie sind frei und in Sicherheit!« Die Prinzessin blieb stehen. Sie drehte sich um und betrachtete den hageren tropfnassen Jungen mit dem Hinkebein, der über Bord gesprungen und durch die Klippen geschwommen war... für andere. Ein mutiger Bursche. »Wie war doch gleich dein Name?« »Tom Halehone.« »Also gut, Tom Halehone«, sagte die Prinzessin. »Du kannst ihnen ausrichten, daß ich die Kaution stellen werde. Sie werden mich als Bürge akzeptieren.« »Ich...« begann Tom und verstummte. Ihm wurde plötzlich kalt, und er fröstelte. »... ich danke Ihnen.« »Sie werden einen Anwalt brauchen«, meinte die Prinzessin. »Ich bin ihr Anwalt.« »Du?« wunderte sie sich. »Du und die vier Kerle, ihr werdet ein einziger schwarzer Fleck im Gerichtssaal sein. Die Geschworenen wären nicht imstande, euch auseinanderzuhalten. Doris Ashleys Tochter! Von allen Weibern in Honolulu muß es Doris Ashleys Tochter sein. Ihr braucht einen Haole-Anwalt.« »Ein Haole-Anwalt ist ein Haole«, entgegnete Tom. »Sie werden ein schwarzer Farbfleck sein, mit mir oder ohne mich. Ich werde sie verteidigen.« »So werde ich dich wenigstens los«, entgegnete die Prinzessin. Sie schwieg, verschränkte die Arme unter der riesenhaften Brust, umspannte ihre Ellbogen und blickte auf das silbern glänzende Meer hinaus. »Mein Großvater hat mir erzählt«, sagte die Prinzessin -149
plötzlich, »daß sich die Inseln ins Meer ergossen, um die ersten Missionare zu begrüßen. Mütter schwammen mit ihren Kindern hinaus, und die alten Leute wurden mit Booten zu den Schiffen gebracht. Mein Großvater hat mir erzählt, daß die Missionare über und über mit Blumen bedeckt wurden, daß man kaum ihre Gesichter sehen konnte. Als die Missionare mit ihren Familien an Land kamen, wurden sie wie neue Brüder und Schwestern empfangen. Alle ohne Ausnahme. Mein Großvater sagte, die Inselbewohner behandelten die Missionare wie einen wunderbaren großen Preis, den das Meer ihnen zugesprochen hatte. Die Missionare aber waren unzufrieden. Sie sahen nur, was ›übel‹ war auf diesen lächelnden Inseln. Die viele nackte Haut. Das viele Lachen. Und immerfort aßen diese Leute, sangen und tollten herum. Die Missionare mußten dieses ›Böse‹ ausmerzen. Erst nahmen sie uns unsere Götter weg und ersetzten sie durch ihren eigenen Gott. Dann nahmen sie uns das Land weg. Sie nahmen uns unsere Königin und unseren Palast. Sie hielten uns dazu an, uns wie sie zu kleiden und wie sie zu leben. Aber sie erlaubten uns nicht, wie sie zu sein. Oder mit ihnen zusammen zu sein - außer wenn wir auf ihren Feldern oder in ihren Küchen arbeiteten. Sie haben uns zugrunde gerichtet. Wir waren ein freies, unbeschwertes Volk auf diesen Inseln, und wir kannten nichts anderes, als einander zu lieben. Sie aber verpönten die Liebe. Und die Söhne der Missionare brachten Gewehre und die Polizei, und den Rest erledigte die US-Navy.« Die Prinzessin ließ die Arme sinken und rieb sich mit dem Handrücken die Nase. »Schau nur, wozu du mich verführt hast«, sagte sie zu Tom. »Warte, ich gebe dir einen Scheck.«
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2. Teil Wieder sah Sarah weit draußen in der Dunkelheit eine Reihe von Positionslichtern, während sie in ihrem Kabriolett saß. Sie wartete schon so lange, daß sie ganz steif war. Sie versuchte es sich bequemer zu machen. »Das wird es auch nicht sein«, sagte sie sich und bereitete sich wieder auf eine Enttäuschung vor, und noch während sie diese Worte aussprach, fiel ein Lichtstrahl auf das Wasser. Dieses Schiff legte an. Sarah beobachtete, wie die Lichter einen weiten Bogen beschrieben und sich schließlich dem Ufer näherten. Sarah stieg aus und lief los. Sie erreichte die Mole, konnte aber das Schiff nicht sehen, so stark blendeten sie die Lampen. Sarah lief ans andere Ende. Und wieder leuchteten Lichter auf, doch nun sah Sarah die Umrisse des Inseldampfers, sah Gestalten an Deck, als das Schiff beidrehte, kaum noch Fahrt machte und auf die Mole zuhielt, um anzulegen. Das Schiff war neben ihr, rauschte an ihr vorbei. An der Reling stand Tom. »Sarah!« Sarah sah Matrosen mit Seilen auf den Pier herunterspringen. Sie verlor Tom aus den Augen und erkannte ihn wieder an der Reling neben der Gangway. Sie sah ihn deutlich. Tom war glücklich! Kein Zweifel. »Tom«, rief sie, und sie sah ihn heftig nicken. Sarah klatschte in die Hände und hüpfte vor Freude. Tom lachte erlöst. Er war der erste an Land. Sie fielen sich in die Arme, sie küßten sich, verfehlten einander, ihre Lippen trafen sein Kinn, seine Lippen streiften ihre Wange. »Hast du wirklich...« setzte Sarah an und sah den Scheck, den Tom aus einer Innentasche zog. Noch einmal umarmte sie ihn, und er legte seinen Arm um sie. Wie Mannschaftskameraden, die das Spielfeld siegreich verließen, gingen sie zu Sarahs Wagen. »Kann ich ihn noch einmal sehen«, bat Sara, als sie vor dem Kabrio standen. Tom hielt ihr den Scheck vor die Augen. »Wie hast du...« fing Sarah an und brach ab. »Wirst du mir alles erzählen? Erzähl mir alles.« Tom nickte und öffnete für sie die -151
Tür. »Fahr du«, bat Sarah. »Ich möchte, daß du fährst, To m.« Aufmerksam lauschte Sarah, als Tom ihr seine abenteuerliche Mission schilderte. Sie rang nach Atem, ließ Nebenbemerkungen einfließen, die Ausdruck ihrer Verwunderung waren, versprach hastig, ihn wirklich nicht mehr zu unterbrechen, und unterbrach ihn doch immer wieder. »Du bist der tapferste Mensch, der mir je begegnet ist«, sagte sie. Tom wollte das nicht gelten lassen, doch er genoß ihr Lob. Die flammende Begeisterung über Toms erfolgreiche Rückkehr, die Anspannung, in der sie gewesen waren, hatte beide ermüdet. Sie schwiegen. Dann sagte Tom: »Morgen um diese Zeit wird Joe schon zu Hause schlafen. Sie werden alle zu Hause schlafen.« »Das ist dein Verdienst«, sagte Sarah. »Na ja...« Sie schwiegen wieder, bis sie sich dem Punchbowl und Papakolea näherten. »Du willst sicher gleich nach Hause«, sagte Sarah. Tom stockte für einen Augenblick das Herz. Er wollte sie ansehen, hielt aber den Blick krampfhaft auf die Straße gerichtet. »Nein, ich will nicht... nach Hause.« »Du mußt hungrig sein.« »Bin ich nicht. Und du?« »Ich auch nicht. Ich dachte, du... die ganze Zeit auf dem Dampfer. Du mußt doch schrecklich müde sein, Tom. Diese Prinzessin und alles andere...« Wie aus weiter Entfernung drang Sarahs Stimme an sein Ohr. Tom klopfte das Herz. »Ich bin nicht müde«, murmelte er. Seine Stimme klang ihm fremd, merkwürdig hohl. Seine Lippen waren trocken, und seine Kehle war wie zugeschnürt. Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Sarah?« Er mußte sie ansehen. Sarah hatte sich gegen die Beifahrertür gelehnt und die Hände im Schoß. »Mach dir wegen mir keine Sorgen. Wenn du wirklich -152
noch irgendwo hinfahren willst... wohin denn gerne?« »Ich dachte«, flüsterte Sarah und holte Atem. »Wahrscheinlich magst du jetzt nicht mehr zum Strand.« »Doch, doch«, sagte Tom. »Das ist eine gute Idee. Ich würde wirklich gern zum Strand.« Hinter seiner Stirn brannte ein wahres Feuerwerk. Er schlug das Lenkrad ein und bog ab. »Ich kenne da eine Stelle... Ich werde sie dir zeigen.« Er schluckte. Ein Abgrund lag plötzlich zwischen ihnen. Tom nahm seine rechte Hand vom Steuer. Nach einer Weile schob er sie vorsichtig über die Sitzbank. Seine Finger stießen an Sarahs Handtasche, wanderten um sie herum. Er steuerte mit der Linken und behielt die Straße fest im Auge. Die Finger der rechten Hand berührten ihren Schenkel und verharrten reglos. Sarah blickte geradeaus, während sie ihre Hand über die seine sinken ließ und ihre Finger sich tastend ineinanderschlossen. Sie gelangten zum Strand. Tom gab ihre Hand frei und schaltete herunter. Er fuhr bis zur Brandung. »Diese Stelle habe ich immer gemocht«, sagte er. »Ist es dir recht?« Sarah blieb stumm. Tom bremste, hielt an und stellte den Motor ab. Er machte die Scheinwerfer aus. »Sarah«, sagte er und griff wieder nach ihrer Hand. Er hielt sie fest, kam über den Sitz gerutscht, schob ihre Tasche beiseite und fühlte sie, als Sarah sich ihm entgegenbog. Zaghaft, zart, sanft, zögernd küßte er sie. Sarah schlang ihren Arm um seine Schultern. Ihre Lippen waren geöffnet; weich und fordernd und gewährend. »Ich habe so viel an dich gedacht«, raunte sie. »Ich denke immer nur an dich. Wo immer ich bin, ich denke nur an dich.« Für alle Zeiten wollte Tom sie küssen und fühlen, wie ihr Mund ihn willkommen hieß. »Tom?« Ihre Gesichter berührten sich. »Liebst du mich?« »Ja, o ja, ich liebe dich. Ja, ich liebe dich.« Er konnte ihr gar nicht nahe genug sein. Er mußte noch näher zu ihr. »Ich liebe dich, Sarah. Ich liebe dich!« -153
Ihre Lippen brannten. Ihr Gesicht glühte. Tom preßte sie an sich; war über ihr, war neben ihr und küßte sie immer wieder. »Ich liebe dich«, sagte Sarah. »Ich liebe dich, Tom.« Ihn an sich drückend, ließ Sarah sich auf die Sitzbank zurückfallen. »Warte«, flüsterte sie und spreizte ihre Beine so, bis Toms Bein zwischen ihnen zu liegen kam. Als Tom Sarah mit wilden Küssen bedeckte, erbebte ihr Körper in wohligen Schauern. Ihre Hände zogen und zerrten, bis Tom ihre Finger spürte, wie sie über seine Haut glitten, den Rücken hinauf und die Brust hinunter, sanfte Vorboten vielsagender, tobender Erregung. »Tom?« Ihr Körper hob sich dem seinen entgegen. Windward lag auf einer Hügelkette, die die westliche Uferzone Oahus bildete. Unterhalb des Herrenhauses, rechter Hand, stand eine Garage und ein Stück weiter das alte Kutscherhaus. Als Gerald Murdoch in aller Form um Hesters Hand angehalten hatte, geriet Doris Ashley in helle Aufregung. Hester verließ Windward! Sie würde allein zurückbleiben, allein mit dem Wind und den Schatten und abhängig von Amelia und Theresa, diesen kuhäugigen Dienstmädchen. Sie mußte sich retten, und zwar rasch, mußte sich noch vor der Hochzeit absichern. Doris arbeitete ganz im geheimen. Hester erzählte sie, die Handwerker wären nur nach Windward gekommen, um dafür zu sorgen, daß das Kutscherhaus nicht völlig zusammenbrach. »Einzig der Dachbalken ist noch intakt.« Aus irgendeinem Sentiment, sagte sie, wolle sie das Kutscherhaus erhalten. Doris gönnte sich keine Rast; zahlte Prämienlöhne, ließ die Leute bis spät nachts arbeiten und holte sie auch an Wochenenden nach Windward. Sie war schon immer ihre eigene Innenarchitektin gewesen und kaufte auch allein alles Nötige ein, um das Kutscherhaus standesgemäß auszustatten. Sie richtete es ein, daß nur in Hesters Abwesenheit geliefert wurde. Amelia und Theresa hatten viele Stunden damit zu tun, Küchenschränke auszuschlagen, Geschirr und Silber auszupacken. »Ich habe eine kleine Überraschung für euch, Gerald«, begrüßte sie ihn eines -154
Morgens, als sie ihn vor dem Eingang von Windward traf, und bat ihn, sie zum Kutscherhaus hinunterzufahren. Sie schloß die Tür mit einem goldenen Schlüssel auf, einem von zweien an einem goldenen Bund. An der neuen Treppe vorbei, führte sie ihn ins Wohnzimmer. »Hast du's erraten?« Doris hielt den Ring zwischen Daumen und Zeigefinger und ließ die Schlüssel sanft daran schweife n. »Ihr Kinder fangt doch eben erst an«, sagte sie, »und seid in den besten und wichtigsten Jahren eures Lebens. Ein Heim zu finden und einzurichten ist langwierig und mühevoll. Ich habe versucht, euch das zu ersparen. Sei mir bitte nicht böse.« Sie wartete, wartete verzweifelt auf Geralds Reaktion. Als er sagte: »Wie soll ich dir je für alles danken?« umklammerte Doris die Lehne eines Stuhls im Queen-Anne-Stil. Sie war in Sicherheit - für eine kleine Weile. Und für eine kleine Weile waren Hester und Gerald glücklich. Sie waren zusammen und machten aus dem Kutscherhaus ihr Heim... Gerald dachte an die ersten Wochen ihrer Ehe zurück, als er jetzt neben Hesters Bett im Mercy Hospital saß. Als er sie so liegen sah, ihr Gesicht zerschrammt und zerschlagen, wurde er von Schmerz und Mitleid übermannt. Einige Tage später wachte Gerald Murdoch schon sehr früh auf. Am Abend zuvor hatte er seine weißen Schuhe geputzt und sich eine frische weiße Uniform zurechtgelegt. Der Tag war noch grau und feucht, als er das Kutscherhaus verließ und zur Garage hinüberging. Der grüne Durant-Sportwagen, den er gebraucht in Honolulu gekauft hatte, stand neben Doris Ashleys imposantem Pierce Arrow. Gerald trieb sich zur Eile. Er war absichtlich früh aufgestanden, weil er Windward verlassen haben wollte, bevor Doris ihn wieder herumkommandieren konnte. Er würde Hester von Pearl Harbor aus anrufen und ihr sagen, daß er am späten -155
Nachmittag ins Krankenhaus käme. Nur nicht wieder einen ganzen schweigsamen, deprimierenden Tag neben Hester sitzen! Gerald war sicher, daß Hester sein Fernbleiben schätzen würde. Sie fühlten sich beide elend. Zähe Stunden vergingen, ohne daß einer auch nur ein Wort sprach. Er startete den Durant und fuhr im Rückwärtsgang aus der Garage. Er konnte es kaum erwarten, nach Pearl zu kommen. Es schien ihm, als wäre er schon ein Jahr nicht mehr dagewesen. Zum ersten Mal, seitdem der Polizeibeamte ihn Samstagnacht geholt hatte, konnte er wieder auf den Stützpunkt. Bald war er wieder, wo er hingehörte. Er bremste ab, als er sich dem Posten der Küstenwache näherte. »Lieutenant Murdoch«, sagte Gerald, hielt dem Mann seinen Ausweis entgegen und legte wieder den Gang ein. »Oh, Lieutenant, Lieutenant«, sagte der Militärpolizist, ein einfacher Marinesoldat. Er kam aus seinem Häuschen, ging Gerald entgegen, beugte sich vor und blickte in den Wagen. »Tut mir ehrlich leid wegen Mrs. Murdoch, Sir«, sagte er. Gerald sah, daß dem Mann ein Eckzahn fehlte, und die Lücke machte auf ihn den Eindruck, als ob der Kerl grinse. »Ich danke Ihnen«, sagte Gerald und gab Gas. Der Wachmann ging ans Telefon. »Commander Saunders«, verlangte er, wie ihm aufgetragen worden war. Gerald fuhr ohne Umwege zur Unterkunft für verheiratete Offiziere und parkte neben dem Eingang zur Messe. Es war seine Absicht gewesen, als erster zum Frühstück zu kommen, aber er sah, daß zwei Fähnriche schon vor ihm dagewesen waren. Er nahm ein Tablett und Besteck und ging zum Kaffeeausschank, füllte sich eine Tasse und trank, blieb bei den Kaffeemaschinen stehen und trank noch eine zweite. Er spürte die heiße Flüssigkeit in seinem Magen. Gerald war wieder daheim. Das Frühstück, das er bestellte, war reichlicher als sonst. Eier und Pommes frites, Toast, Butter und Marmelade. Er unterschrieb seinen Bon und trug das Tablett zu einem Ecktisch -156
am anderen Ende des Raumes, wo er alles überblicken konnte, ohne selbst gesehen zu werden. Er schmierte sich gerade Butter auf den Toast, als jemand an seinen Tisch trat. »Lieutenant Murdoch?« Gerald blickte auf. Es war einer der Fähnriche. »Bitte bezeugen Sie Mrs. Murdoch meine Anteilnahme.« Er machte kehrt und ging zu seinem Kameraden zurück. Gerald beugte sich über sein Tablett. Er aß gerade seine Eier, als er einen Lieutenant Commander auf sich zukommen sah. »Lieutenant?« Gerald mußte aufstehen und salutieren, weil der Offizier einen höheren Rang bekleidete. Der Lieutenant Commander schüttelte ihm jedoch nur stumm die Hand. Gerald setzte sich wieder, zählte langsam bis zwanzig und verließ die Messe. Gerald war im U-Boot-Bunker, auf dem Weg zur Bluegill, als ihm jemand einen Arm um die Schulter legte. »Schön, daß du wieder da bist, alter Freund«, sagte Bryce Partridge. »Danke«, sagte Gerald ruhig, aber schier überwältigt von Dankesgefühlen. Ein solches Willkommen hatte er sich erhofft, als er wieder zum Dienst gekommen war. Bryce hatte alles geändert. U-Boot-Männer waren eben anders. Ein Irrtum. Angeführt vom Captain, standen plötzlich sämtliche Offiziere in einer Reihe, und alle hielten ihre idiotischen Beileidsreden. Jedem einzelnen mußte Gerald antworten. Am Ende rettete ihn Bryce. »Lieutenant Murdoch kandidiert nicht für den Senat, meine Herren. Er hat sich nur zum Dienst zurückgemeldet.« Noch bevor Gerald den Rock seiner Ausgehuniform ablegen und den Kampfanzug anziehen konnte, wurde er zum Captain gerufen. Gerald erkannte den Commander, der am Periskop lehnte. Es war Jimmy Saunders, der Flaggenadjutant des Admirals. »Der Admiral hat mich beauftragt, Ihnen sein Bedauern auszudrücken, Lieutenant«, sagte Saunders. Gerald stand stramm. »Danke, Sir.« »Tut mir verdammt leid für Sie, Lieutenant«, brummte -157
Saunders. Er drückte ihm die Hand. »Bitte lassen Sie das auch Mrs. Murdoch wissen.« Schließlich konnte Gerald unbehindert seinen Dienst antreten. Etwas später stieß er auf Duane York und lud ihn ein, mit ihm zu Mittag zu essen. »Aber nicht auf dem Stützpunkt«, sagte Gerald. »Hier benehmen sich alle, als ob ich auf See geblieben wäre.« Während Duane stolz Geralds Einladung annahm, drückte Hester auf den Klingelknopf an der Gummischnur, die über ihrem Bett hing. Draußen im Gang leuchtete ein rotes Licht über ihrer Tür auf, und im Schwesternzimmer ein anderes. Hester saß aufrecht in ihren Kissen. Schon am Vortag hatte sie ihre Vorbereitungen getroffen, eine Liste zusammengestellt und ein X neben jeden Punkt gemacht, den sie erledigt hatte. Ihre Mutter stand als letzte auf der Liste. Bevor sie eine Schwester rief, hatte sie mit Windward telefoniert. Doris Ashley war noch zu Hause und teilte Hester mit, daß sie sich bald auf den Weg zum Krankenhaus machen würde. Hester hatte also reichlich Zeit und fürchterliche Angst. Eine Krankenschwester öffnete die Tür und blieb im Türrahmen stehen. »Kann ich etwas für Sie tun, Mrs. Murdoch?« »Nein, nein. Doch! Ich möchte ein wenig schlafen. Würden Sie dafür sorgen, daß ich nicht gestört werde?« »Soll ich die Jalousie herunterlassen?« »Nein, nein, danke. Sagen Sie nur allen, daß ich nicht gestört werden will.« Hester wußte, daß sie es gleich tun mußte, jetzt gleich, bevor ihre Angst es verhinderte, und holte, nachdem die Krankenschwester gegangen war, den Outpost-Dispatch unter der Decke hervor. Sie war auf den Namen des Anwalts gestoßen, als sie von der Anklageerhebung und von der Kaution gelesen hatte. Hester hatte seinen Namen unterstrichen, am Tag zuvor die Auskunft angerufen und nach seiner Telefonnummer gefragt. »H-A-L-E-H-O-N-E. Er ist Anwalt.« Sie schrieb die Nummer an -158
den Rand der Zeitung neben Toms Namen. Jetzt war sie bereit. Sie nahm das Telefon vom Nachttisch und stellte es neben sich auf das Bett. Dann griff sie zum Hörer. »Nummer, bitte?« fragte die Telefonistin, die hinter der Aufnahme im ersten Stock saß. »Mrs. Murdoch?« »Ja, ja, ich bin da«, sagte Hester. Sie hatte die Nummer auswendig gelernt, konnte sich aber plötzlich nicht mehr daran erinnern. »Warten Sie.« Sie nahm die Zeitung auf und las Tom Hale hones Nummer laut ab. Hester hörte es klingeln. Sie hätte den Hörer fallen lassen und aus dem Zimmer laufen wollen. Es klingelte wieder. Ihr Herz schlug heftig. Er war nicht da! Sie wollte auflegen. »Du hast es versprochen«, sagte sie und erinnerte sich an ihr Gelöbnis vom Vortag, erinnerte sich an die vier jungen Männer, die einer nach dem anderen in ihr Zimmer gebracht worden waren. Tag und Nacht sah Hester sie vor sich, alle vier, Schulter an Schulter, gesichtslos, am Fußende ihres Bettes stehen. Sie hörte es wieder läuten. Ganz schwach vor Dankbarkeit, ließ sie den Kopf in die Kissen sinken und hörte Tom »Hallo« sagen. Hester fühlte ein schier erdrückendes Gewicht auf ihrer Brust. Sie konnte kaum atmen. Sag es ihm! »Hallo«, wiederholte Tom, der neben seinem Schreibtisch stand. Er hatte sein Telefon läuten gehört, als er auf dem Treppenabsatz, in der Hoffnung, es würde ein möglicher Klient anrufen, nach seinen Schlüsseln gesucht hatte. »Hallo.« Hester glaubte zu ersticken. Sie konnte nicht mehr atmen. Sag es ihm! Sag: »Sie sind unschuldig!« Sag: »Sie sind unschuldig! Sie sind alle unschuldig!« Sag es ihm! Sag: »Ich bin die Schuldige!« Sag es! Tom rief »Hallo« und drückte mehrmals die Gabel nieder. »Hallo.« Hester hörte das Knacken, als der Rechtsanwalt auflegte. Sie drehte den Kopf zur Seite, als hätte man sie beobachtet, stellte das Telefon auf den Nachttisch zurück und bohrte den Kopf in die Kissen. Als sich ihr zartes, geschundenes Gesicht an dem rauhen Kissenbezug rieb, durchzuckte sie ein brennender Schmerz. Sie wollte aufschreien, -159
aber sie blieb stumm und hieß die Qualen willkommen, ließ die Strafe für ihre Feigheit über sich ergehen. Sechs Wochen später betrat Dr. Frank Puana den Notaufnahmeraum im Mercy Hospital, um seinen Nachtdienst anzutreten. »Guten Abend, Doktor«, begrüßte ihn Peter Monji, der Arztgehilfe, und deutete auf die Wand mit den Regalfächern. Frank nahm einen Umschlag aus seinem Fach, öffnete ihn und fand einen handgeschriebenen Zettel: »Lieber Frank«, hieß es da, »bitte kommen Sie sofort in mein Büro. Das ist vertraulich. Claude Lansing.« Noch nie hatte Frank eine Mitteilung vom Chefarzt erhalten keine mündliche und keine schriftliche. Er mußte Mary Sue anrufen. Er wandte sich vom Regal ab und verhielt den Schritt. »Vertraulich«, hieß es auf dem Zettel, aber das war nicht der Grund, warum Frank zögerte. Er und Mary Sue hatten keine Geheimnisse voreinander. Frank wollte nur warten, bis er ihr etwas Konkretes berichten konnte. Wenn der Chefarzt ihn sprechen wollte, konnte es nur etwas Gutes bedeuten. Er eilte zu den Aufzügen. Frank war noch nie in Claude Lansings Büro gewesen. Der Raum war zweimal so groß wie die Notaufnahme. Lansing ging auf Frank zu und begrüßte ihn. Frank erkannte die Teleangiektasien im Gesicht seines Vorgesetzten, die roten spinnwebartigen Verästelungen geborstener Kapillargefäße und Arterien. Er sah solche Gesichter jede Nacht, wenn die Polizei viele verletzte Betrunkene ablieferte. Als Frank die Teleangiektasien im Gesicht seines Chefs betrachtete, hatte er das Gefühl, Lansings Intimsphäre verletzt zu haben. Lansing führte ihn zu einem Sofa und setzte sich daneben auf einen Stuhl. »Sie wundern sich vermutlich über diese geheimnisvolle Aufforderung, mich hier zu besuchen«, begann der Chefarzt. »Es handelt sich um eine Patientin, Frank. Ich habe Sie zu mir gebeten, weil Hester Ashley... Murdoch bei uns ist. Ihre Periode ist ausgeblieben. Sie ist schwanger. Ein letztes -160
Souvenir ihres schrecklichen Erlebnisses.« Jetzt wußte Frank, daß er Mary Sue nicht anrufen würde. Wie dumm von ihm, sich Hoffnungen gemacht zu haben. »Warum haben Sie mich hergebeten, Dr. Lansing?« »Hester benötigt eine Kür«, antwortete Lansing, die übliche Abkürzung für eine Dilatation des Gebärmutterhalses mit anschließender Kürettage gebrauchend. »Um ihretwillen muß es äußerst diskret gemacht werden. Keine OP-Schwestern heißt auch kein Tratsch. Ich würde Sie gern an meiner Seite haben, Frank.« Lansing hatte Franks Frage nicht wirklich beantwortet. Vom ganzen Kollegium, und das waren die prominentesten Ärzte Honolulus, hatte Lansing ausgerechnet ihn, den Paria, ausgesucht. Frank schlug die Beine übereinander und tat, als ob er dazugehöre. »Wann nehmen Sie sie dran, Dr. Lansing?« »Ich dachte, wir warten, bis das Haus ein wenig zur Ruhe gekommen ist«, meinte der Chefarzt. Frank mußte es aussprechen. »Es wird niemand in der Notaufnahme sein.« »Für Ihre Vertretung ist gesorgt«, antwortete der Chefarzt und stand auf. »Und jetzt entschuldigen Sie mich.« Lansing ging in den angrenzenden Waschraum und schloß die Tür hinter sich. Er trank direkt aus der Flasche und setzte sie erst ab, als sie leer war. Mit beiden Händen hielt er sich am Waschbecken fest, bevor er nach dem Mundwasser griff. Die Entwicklung, die dazu führte, daß Frank zum Chefarzt des Mercy Hospital gerufen wurde, begann an jenem Morgen im Salon auf Windward, als Gerald teilnahmsvoll sagte: »Ich sollte bei dir sein, Hester. Mein Platz ist an deiner Seite.« Lieutenant Murdoch war in Uniform. Er war spät dran, hatte jedoch Pearl Harbor bereits angerufen. Hester hatte schon den Mantel an und saß in einem Lehnsessel; ein kleiner Koffer stand -161
neben ihr. »Du würdest nur warten müssen«, meinte sie. »Stunden und Stunden. Du hast schon genug gewartet, Gerald.« Sie blickte zu ihm auf. »Danke«, sagte sie, als ob ein Passant in einer Bahnhofshalle sich erboten hätte, ihr ein Taxi zu rufen. »Du hilfst uns am besten, wenn du deinen Dienst wie üblich machst«, meinte Doris Ashley. »Bitte bleib dabei. Nicht auffallen, heißt die Parole. Sind wir nicht schon genug aufgefallen?« Er ging zu ihrer Tochter hinüber und küßte sie auf die Wange. »Es tut mir sehr leid, Hester. Ich würde alles tun, um es dir leichter zu machen.« »Armer Gerald«, sagte Hester, als er fort war. »Armer Gerald. Arme Hester.« »Jetzt haben wir es bald hinter uns«, sagte Doris. »In ein paar Tagen ist alles vorbei.« »Aber ich möchte das Baby behalten«, sagte Hester. Doris stürzte auf sie zu. »Das kannst du nicht! Hester! Kind, das ist unmöglich! Warum fängst du schon wieder damit an? Das haben wir doch wirklich von allen Seiten besprochen! Das ist alles abgemacht!« »Ich möchte es behalten«, wiederholte Hester. Schon seit Tagen sprach sie mit dem Baby, im stillen und auch laut, versuchte, sich mit ihm vertraut zu machen. Sie hatte ihm von sich erzählt, von ihrem wahren, wirklichen Selbst, aber nicht von seinem Vater. Sie konnte ihm nicht sagen, daß sein Vater seine Mutter geschlagen und auf der Straße hatte liegenlassen. Sie konnte ihm nicht sagen, daß seinem Vater nichts an ihm lag und daß er für niemanden etwas empfand. Und sie konnte ihm schon gar nicht sagen, daß sie sich bei dem bloßen Gedanken an seinen Vater nach ihm sehnte, nach Bryce sehnte, den sie jetzt haßte wie sich selbst. »Hör auf, hör sofort auf!« redete Do ris Ashley auf sie ein. »Das kannst du nicht! Gerald würde die Wahrheit erfahren! « -162
»Das ist mir egal«, entgegnete Hester. »Auch Gerald wäre es egal. ›Ab mit Schaden! ‹ würde er sagen.« Hester blickte auf das Meer hinaus. »Er hätte die Chance auf ein neues Leben. Genau wie das Baby.« »Hester! Hester!« Doris hätte sie am liebsten kräftig geschüttelt. »Warum quälst du mich? Willst du uns alle vernichten? Was du da sagst, wäre das Ende für uns! Wir müßten in Spott und Schande leben, Kleines!« Doris beugte sich vor, schlang die Arme um Hester, hob sie aus dem Sessel und drückte sie an sich. »Sei stark, Kind! Wir werden beide stark sein. Nur noch einen Tag!« Man hörte einen Wagen draußen. Doris ließ ihre Arme sinken. »Sie kommt!« rief sie und ergriff den kleinen Koffer. »Hester!« Man hörte die Türglocke. »Wir werden es zusammen durchstehen, Kleines.« Amelia ging zur Tür. Ihre Tochter am Arm haltend, folgte ihr Doris. Amelia kam zurück. »Mrs. Lansing.« »Delphine! Kommen Sie doch rein! Kommen Sie rein!« sagte Doris Ashley. Delphine Lansing betrat den Salon und blieb stehen, als wäre sie in einem Museum und warte auf einen Wärter, der sie führen würde. Delphine Lansing war etwa einsdreiundsiebzig groß und sehr hager, sechsundfünfzig Jahre alt und hatte angegrautes Haar. Ihre zwei verheirateten Söhne lebten in den Staaten. Jeden Vormittag und jeden Nachmittag ging sie schwimmen und arbeitete sonst in ihrem Garten. »Guten Morgen, meine Liebe«, begrüßte Doris die Besucherin. Sie ließ Hester los, gab Delphine die Hand und stellte sich auf die Zehenspitzen, um sie auf die Wange zu küssen. »Wie kann ich Ihnen nur danken? Ihnen und Claude?« »Ich fahre Sie doch nur ins Krankenhaus«, wehrte Delphine ab. »Ich weiß genau, was Sie für uns tun«, sagte Doris. »Jetzt, in unserer Not. Wir werden es Ihnen nie vergessen. Nie, niemals. Hester und ich haben über nichts anderes gesprochen. Wir waren -163
so verlassen, Delphine. Sie haben uns gerettet.« Doris warf einen Blick auf Hester. »Sie sind sehr liebenswürdig, Mrs. Lansing«, murmelte Hester. Delphine Lansing bewegte vage ihre Hände. »Ich denke, wir sollten uns auf den Weg machen.« Sie blickte sich um. »Wir werden uns bestimmt bald wiedersehen«, sagte Doris Ashley. »Wenn wir das alles hinter uns haben, werden Sie und ich gemütlich hier sitzen, Tee trinken und plaudern.« Als Amelia die Tür öffnete, sagte Delphine: »Ich habe Ihnen etwas mitgebracht, Doris. Es ist für Weihnachten, aber kein Weihnachtsgeschenk«, und blieb vor einer tiefen, mit Blumenerde gefüllten Tonschüssel stehen, aus der vier Cymbidiumknollen herausragten. »Sie haben zwei Blüten, hier und hier«, erklärte Delphine und zeigte es ihnen. Sie lächelte ein wenig stolz, ein wenig verlegen. »Dieses Jahr habe ich mir eigentlich nichts von ihnen erwartet und habe sie im Juni ausgeschieden, wie auch alle meine Jericho-Rosen.« Delphine sah zum Himmel. »Sie brauchen Halbschatten...« Schon tags zuvor hatte Chefarzt Claude Lansing Zimmer 333 für sich reservieren lassen. Hesters Mantelkragen war hochgeschlagen, als sie, von Doris Ashley und Delphine Lansing begleitet, die Eingangshalle des Mercy Hospitals betrat. Hester hielt den Kopf gesenkt. Alle drei stiegen die Treppe zum dritten Stock hinauf. Ein Schild mit der Aufschrift KEINE BESUCHER hing an der Tür von Zimmer 333. »Sie können hinter mir ruhig abschließen«, sagte Delphine, als sie im Zimmer standen. »Und lassen Sie sie zu. Ich muß jetzt zu Claude. Bin gleich wieder da.« »Soll ich mitkommen? Ich komme gern mit«, sagte Doris. »So ist es besser«, meinte Delphine. Sie blickte an Doris vorbei auf Hester, die ihren Mantel ablegte. In diesem Augenblick fühlte sich Delphine Lansing dieser traurigen jungen Frau stärker verbunden als sonst einem Menschen auf der Welt. »Hester? Machen Sie sich keine Sorgen. Kein Grund zur Aufregung.« -164
Delphine schloß auf und öffnete die Tür. »Ich werde klopfen.« Claude Lansing erhob sich hinter dem Schreibtisch, als seine Frau das Chefarztzimmer betrat. Delphine Lansing wollte es nicht zulassen, aber Claudes Anblick berührte sie immer noch. Er war zwei Zentimeter kleiner als sie. Sein Kopf war edel geformt. Er hatte volle Lippen und eine fast klassische Nase. Sein rotbraunes, volles Haar war glatt nach hinten gekämmt. Er sah sehr gut aus und hatte es immer schon gewußt. »Ist sie da?« »Sie und Doris«, antwortete Delphine und trat an den Schreibtisch. »Ich verstehe diese Geheimniskrämerei nicht ganz«, bemerkte Lansing. »Diese Leute hatten wirklich genug Publicity«, gab Delphine zurück. »Wann wirst du's machen?« Lansing nahm einen Kamm aus seiner Brusttasche und fuhr sich damit durch die Haare. »Heute abend. Nach der Besuchszeit.« »Gut. Das ist gut.«Ihr schwindelte ein wenig. Delphine hatte heute nacht nicht viel geschlafen. »Du wirst allein sein, nicht wahr?« sagte sie. »Das haben wir schon alles durchgekaut«, brummte Lansing. »Warum mußtest du dich überhaupt da einmischen?« »Auch das haben wir schon durchgekaut«, entgegnete Delphine. Ihre Hände zitterten. Sie öffnete ihre Handtasche und zog das Papier heraus, das Doris Ashley ihr gegeben hatte. »Das ist für morgen«, sagte sie. »Erledige das, wenn Hester wieder zu Hause ist.« »Was soll ich denn nun schon wieder erledigen?« Lansing griff nach seiner Brille und las halblaut vor: »Mrs. Hester Ashley Murdoch unterzog sich heute im Mercy Hospital einem operativen Eingriff und ließ eine Schwangerschaftsunterbrechung an sich vornehmen. Vor sechs Wochen wurde Mrs. Murdoch von einer Bande gekidnappt, zusammengeschlagen und sexuell mißbraucht. Mrs. Murdochs -165
Schwangerschaft war die Folge.« Claude Lansing ließ das Blatt fallen. »Schreibst du jetzt auch schon Pressemitteilungen?« »Das hat Doris Ashley aufgeschrieben«, erwiderte Delphine. »Sie dachte, es sollte von dir kommen.« »Dann soll sie's doch den Reportern geben«, versetzte Lansing. »Und die Kür kann sie auch gleich machen.« »Claude!« Delphine atmete schwer, als ob sie gerade bis zur völligen Erschöpfung gerannt wäre. »Da ist noch etwas.« Er nahm seine Brille ab und sah seine Frau an. »Hester ist im dritten Monat schwanger«, sagte sie. »Du mußt wahnsinnig sein«, sagte er leise. Delphine hatte das Bedürfnis, sich zu setzen, fürchtete aber, sich nicht behaupten zu können, wenn sie sich in einen Stuhl fallen ließ. »Schaff sie raus«, knurrte Lansing. »Du hast sie hergebracht, jetzt schaff sie wieder raus.« Er griff nach seinem Kamm. »Eine Zwö lf- Wochen-Schwangerschaft!« Er fuhr sich mit dem Kamm durchs Haar. »Ihr seid alle verrückt, du und Doris Ashley und ihre Tochter.« »Das geht nur uns beide an«, sagte Delphine. »Nur dich und mich, Claude. Laß Doris Ashley aus dem Spiel und Hester ebenfalls.« »Aus dem Spiel!« höhnte Lansing bitter und deutete mit dem Kamm auf seine Frau. »Wir sollen nach der zwölften Woche einen Fötus entfernen?« »Wir?« Delphine stand vor dem Schreibtisch und sah ihn an. »Wir?« »Ja, wir. Das ist eine bei uns übliche Formulierung. Alle Ärzte reden so.« »Es ist schon eine ganze Weile her, daß ich dich überhaupt reden gehört habe, Dr. Lansing«, sagte Delphine. »Jedenfalls nicht vor mir, und schon gar nicht klar verständlich.« »Also gut, klar verständlich: Ich tu es nicht.« Er schob seinen Stuhl zurück. -166
»Du kannst ruhig auch hier trinken«, sagte Delphine. »Was soll das ganze Theater? Wem willst du etwas vormachen?« »Mir selbst«, antwortete Lansing. Er ging in den Waschraum und schloß die Tür hinter sich. Aus dem Arzneischränkchen nahm er eine Flasche mit reinem Alkohol, trank dann aus einem Glas und spülte mit Mundwasser nach. »O nein«, sagte er laut in den Spiegel hinein. Er kehrte ins Büro zurück. »So, nun hast du dich gestärkt, laß uns jetzt zu Ende kommen«, griff Delphine ihn an. »Wir sind schon am Ende«, erwiderte er. »Ich mache es nicht.« »Du mußt es«, drängte Delphine. »Du mußt. Doris Ashley hat mich um Hilfe gebeten. Sie hat bei mir um Unterstützung nachgesucht. Doris Ashley brauchte nur den Hörer zu heben, und die gesamte US-Navy würde sich ihr zur Verfügung stellen. Aber sie hat mich gebeten. Sie brauchte eine Freundin und hat sich für mich entschieden. Doris Ashley zählt zu den Spitzen der Gesellschaft, aber doch ist sie eine einsame Frau. Ich weiß, wie ihr ums Herz ist. Und ich habe ihr versprochen, daß ich ihr helfen werde. Hester kann dieses Baby nicht austragen, nicht jetzt, nach allem, was sie durchgemacht hat. Hester ist eine zarte, schwache, sensible junge Frau. Diese Schwangerschaft könnte sie in den Wahnsinn treiben.« Lansing legte den Arm um die Lehne des Sessels. »Ich sage es dir nicht noch einmal, Delphine. Bring sie wieder nach Hause.« »Und ich sage dir«, zischte Delphine und kam um den Schreibtisch herum auf ihn zu, »du wirst diesen Menschen helfen, oder du hast ab sofort kein Zuhause mehr. Nein, o nein! Du kannst nicht alleine leben. Du nicht. Aber ich kann es und werde es tun, wenn ich muß. Mein ganzes Leben bin ich allein gewesen. Ich werde dir dein Zuhause nehmen, und zwar jetzt, ab heute abend. Heute abend sperre ich dich aus, Claude. Nie wieder wirst du das Haus betreten, das du liebst, das Haus, das mein Vater einst für dich gebaut hat.« -167
»Muß ich mir schon wieder unsere Autobiographie anhören?« »Du fühlst dich jetzt stark, weil du getrunken hast«, fuhr Delp hine erregt fort. »Geh ruhig wieder in deinen Waschraum und gieß dir einen hinter die Binde... fünf... zehn... zwanzig meinetwegen. Du kannst so viel saufen, wie du willst, denn heute abend wirst du tun, was ich von dir verlange. Doris Ashley hat mich gerufen. Sie hat mich gerufen! Doris Ashley! Sie macht mich zu ihrer Freundin. Seit Weihnachten habe ich nichts mehr von meinen Kindern gehört, nichts außer zwei Weihnachtsgrüßen. Das sind unsere Söhne, Claude, die Söhne, die ich großgezogen habe. Nur du bleibst mir noch und die Blumen und die Fische im Meer. Glaubst du, ich gehe jeden Tag schwimmen, weil es mir so viel Spaß macht? Ich bin keine Gertrude Ederle. Ich habe nichts anderes zu tun. Ich bin eine große, dürre, reizlose Frau, die seit fünfunddreißig Jahren mit einem Säufer zusammenlebt und jetzt eine Chance hat. Ich will Doris Ashleys Freundin sein, und du wirst mir meine Chance nicht verderben. Und wenn du das tust, mach ich dich fertig. In Null Komma nichts sitzt du draußen vor der Tür. Ich habe dir diese Position verschafft, mein Vater hat sie dir gekauft, und ich werde so lange schreien ›Schmeißt den Trunkenbold raus‹, bis der Verwaltungsrat dich feuert, nur um mich endlich zum Schweigen zu bringen.« So dicht standen sie voreinander, daß sie sich hätten berühren können, aber fünfunddreißig Jahre Leiden, Verzweiflung und enttäuschte Hoffnungen lagen zwischen ihnen. Delphine zitterte am ganzen Körper. Sie fürchtete, in Ohnmacht zu fallen. Erst als sie sicher, völlig sicher war, daß sie Claude erledigt hatte, verließ sie das Büro. An diesem Abend nahm Dr. Lansing seine eigene Arzttasche mit in den Operationssaal. Er entnahm ihr mehrere Instrumente und legte sie in den Sterilisator, zog dann das Jackett aus, schob ein Mayo-Gestell an das Fußende des Operationstisches und bedeckte es mit Leinenhandtüchern. Aus seiner Arzttasche holte er eine Spritze und eine Phiole und entnahm ihr fünf -168
Kubikzentimeter Pentobarbital. Die Spritze legte er auf die Leinenhandtücher. Dr. Lansing zog sterile Gummihandschuhe aus einer Lade und streifte sie über. Nachdem er einige Minuten gewartet hatte, öffnete er den Sterilisator und hob den Instrumentenkorb heraus. Er legte die Instrumente sorgfältig auf den Leinenhandtüchern zurecht und bedeckte sie mit weiteren Handtüchern. Dann zog er die Gummihandschuhe wieder aus und lehnte, während er sich kämmte, an den Operationstisch. Er mußte die Frau in die richtige Lage bringen, bevor er in sein Zimmer zu Puana und zu der Flasche im Waschraum zurückkehrte. Als Dr. Lansing und Dr. Frank Puana wenig später sich im Waschraum des OP-Bereichs umkleideten, sah Frank seinen Chef schwanken, als jener sich nach der Schürze bückte, die auf der Bank lag. Frank dachte, Dr. Lansing würde stürzen, und sprang vor, aber Lansing hielt sich an der offenen Spindtür fest. »Ich muß mir den Knöchel verstaucht haben«, sagte der Chefarzt. Frank stand am Waschtisch und desinfizierte seine Hände, als Lansing die Doppelschwingtür zum Operationssaal aufstieß. Hester lag flach auf dem Rücken. Lansing hatte sie mit einem weißen Leintuch bedeckt, das über beide Seiten des OP-Tisches fiel. An den beiden Ecken des Fußendes ragten zwei Metallstäbe senkrecht in die Höhe, und an jedem war eine Art Steigbügel befestigt. Die Steigbügel waren mit Ledergurten versehen; Lansing hatte sie über Hesters Knie geschnallt, so daß ihre Beine über die Metallstäbe hingen. Er blieb neben ihr stehen. »Wir sind gleich soweit«, sagte er, und dann, einer Regung folgend, »es tut mir leid, daß Sie solche Angst haben. Es ist wirklich nicht gefährlich. Sie können mir ruhig glauben.« Hester spürte die würgende Angst in ihrer Kehle. Sie konnte nicht schlucken. Sie konnte sich nicht bewegen. Er hatte sie angekettet. »Ich werde Ihnen jetzt etwas geben«, sagte Lansing. »Sie werden im Nu eingeschlafen sein, und wenn Sie aufwachen, sind Sie schon -169
wieder in Ihrem Zimmer.« Lansing wandte sich dem Mayo-Gestell zu, hob die Leinenhandtücher hoch und ließ sie zu Boden fallen. Dann nahm er die Spritze in die rechte Hand. Mit der Linken drehte er Hesters Handgelenk herum und beugte sich über den Operationstisch. Seine Hand zitterte, als er die Spritze senkte. Er legte seine Rechte auf Hesters Unterarm, stützte sich auf sie und injizierte die fünf Kubikzentimeter Pentobarbital. Hester spürte den Stich der Nadel. Sie hörte Lansings Schritte, als sich der Arzt entfernte. Sie war völlig allein. Sie wollte ihrem Baby Lebewohl sagen und konnte es nicht. Es war nicht mehr ihr Baby. Sie hatte es verloren, weil sie schlecht war. Sie zahlte für ihre Tat, sie zahlte dafür, daß sie Menschen, die ihr nur hatten helfen wollen, ins Gefängnis gebracht hatte. Wie gerne wäre sie jetzt dort gewesen! Sie wollte aufstehen, hinausgehen und die Wahrheit sagen, allen die Wahrheit sagen. Aber sie war schon gefangen. Man hatte sie gefesselt. Ihre Augen schlossen sich, und das Pentobarbital tat seine Wirkung. Frank bürstete immer noch seine Finger, als Lansing zurückkam und sich neben ihn stellte. »Wir sind soweit«, sagte der Chefarzt und zog eine Bürste aus dem Spender. Frank blickte auf die Uhr; als die zwölf Minuten um waren, richtete er sich auf. Die Arme leicht abgewinkelt, durchschritt er die Schwingtür zum Operationssaal. Da sie ohne OP-Schwester arbeiteten, entnahm er dem Behälter ein steriles Handtuch und trat erst dann, nachdem er sich die Hände abgetrocknet hatte, an den Operationstisch. Dr. Frank Puana blickte auf Hester Ashley Murdoch. Seit jener Nacht vor sechs Wochen hatte er sie nicht mehr gesehen. Er beugte sich über die bewußtlose Frau und prüfte die von seinen Nähten zurückgebliebenen punktförmigen Striche. Sie würden verschwinden. Frank lächelte. Er war zufrieden mit seiner Arbeit. Er hatte sich schon halb aufgerichtet, als er innehielt und sich abermals vorbeugte. Sein Lächeln verschwand. Hesters Lippen waren dunkel und geschwo llen. Frank sah die -170
Schatten unter ihren Augen und an ihren Backenknochen. Hester Ashley Murdoch trug das Zeichen der Schwangerschaft, den sichtbaren Beweis für die große Menge Melanin, die im Verlauf der Gestation bei Frauen sichtbar wird. Frank richtete sich auf. Er schloß einen Irrtum aus, wollte aber sichergehen, legte seine Hand auf Hesters Bauch und drückte sanft. Er führte die Hand zur Beckengegend und drückte auch dort. Hester Murdoch war etwa im dritten Monat schwanger. Also war sie schon schwanger gewesen, als Frank sie im Notaufnahmeraum behandelt hatte. Und Lansing hatte gelogen. Er hatte ihn zu sich gerufen, um sich bei einer Abtreibung assistieren zu lassen, ihn mitschuldig an einem Verbrechen zu machen. Denn Abtreibung war ein Verbrechen in den Vereinigten Staaten und auf dem Territorium. »Frank!« Man hätte Lansings Stimme auch noch auf der anderen Straßenseite hören können. Er stand vor dem Behälter für sterile Tücher und wischte sich die Hände ab. »Ich wollte es Ihnen selbst sagen«, erklärte er. »Ich gehe«, sagte Frank. Lansing stürzte torkelnd auf Frank zu, als dieser sich vom OP-Tisch entfernte. »Warten Sie«, sagte der Chefarzt. »So warten Sie doch.« Frank hätte ihn mit Schimpf und Schande überschütten mögen, aber ein Leben voll unterwürfigen Gehorsams ließ ihn neben dem Mayo-Gestell verharren. »Das ist eine therapeutische Abortion«, log Dr. Lansing. »Sie ist indiziert. Die Abortion ist unumgänglich, meiner Diagnose nach.« Als Frank vor seinem Chef stand, verschwand plötzlich Lansings Gesicht und ein anderes erschien an seiner Stelle. An einen Namen konnte Frank sich nicht mehr erinnern, wohl aber daran, daß er im letzten Semester gestanden und im University Hospital von Seattle gearbeitet hatte, als er eines Nachts bei der Behandlung eines Patienten assistierte, der voller Morphium war. Frank und der Arzt retteten dem Mann das Leben, der am folgenden Abend um Morphium flehte und dafür Frank seine goldene Armbanduhr schenken wollte. Frank und der Arzt ordneten Sicherheitsverwahrung an. Neben ihm am Bett sitzend, -171
erfuhr Frank, daß der Mann Arzt war, Arzt gewesen war. In Boston hatte man ihm die Approbation entzogen, als der Vater eines Mädchens, das nach einer Abtreibung einen Blutsturz erlitt und starb, Anzeige erstattet hatte. Dieser Mann, dieser frühere Arzt, war dann durchs Land gezogen. In einem Zimmer - es war in Seattle - betätigte er sich tagsüber als Fußpfleger und schnitt den Leuten die Hühneraugen, abends aber nahm er Abtreibungen vor. Er war süchtig geworden, erzählte er Frank, als er erkannte, daß er sich nicht das Leben nehmen konnte... »Ich bin der verantwortliche Chirurg«, brachte Dr. Lansing Frank in die Gegenwart zurück. »Ich habe den OP-Saal bestellt und auch bereits den Operationsbericht für den Hausausschuß eingereicht«, log er. »Ich will nichts damit zu tun haben, Dr. Lansing«, lehnte Frank ab. »Es ist doch eine ganz klare Sache«, beschwichtigte ihn Lansing. »Sie sind da, weil ich die OP-Ordnung einhalte. Zwei Ärzte!« Frank hätte viele Antworten parat gehabt. Die OP-Ordnung verlangte auch eine OP-Schwester. Und wo war sie? Warum war Hester um acht Uhr abends hier? Aber Frank sagte nur: »Ich gehe.« Dies war Dr. Claude Lansings endgültige Niederlage. Jetzt spuckte sogar dieser Eingeborene vor ihm aus. »Gehen Sie!« sagte der Chefarzt. »Gehen Sie nur! Gehen Sie wieder in die Notaufnahme, da gehören Sie auch hin!« »Das ist mir nicht neu«, entgegnete Frank fast unhörbar und wollte auf den Waschraum zugehen. Aber Lansing stellte sich ihm mit ausgebreiteten Armen in den Weg. »Mein Gott, Frank, hören Sie zu«, stieß er hervor, »es tut mir leid. Ich entschuldige mich. Ich entschuldige mich in aller Form.« »Hol Sie der Teufel!« fuhr Frank Puana ihn an. »Hol Sie der Teufel!« Zum ersten Mal in seinem Leben ballte er die Hände zu Fäusten; nicht gegen den Chef, sondern gegen eine ganze Welt von Unterdrückern. Die Fäuste erhoben, stand er da, unfähig sich -172
zu bewegen. »Sie gehören nicht in die Notaufnahme«, sagte Lansing. »Niemand weiß das besser als ich. Also bitte. Ich gebe es zu. Bleiben Sie, Frank. Bleiben Sie! Sie bekommen auch etwas dafür. Ich selbst werde mich darum kümmern. Sie erhalten den nächsten freien Platz im Kollegium dieses Krankenhauses!« Frank fühlte sich angewidert. So lange hatte er schon gewartet, so viele Demütigungen hinnehmen müssen, daß Lansings Versprechen, sein unehrenhaftes Angebot, nur Zorn und Selbstmitleid in ihm auslösten. Aber er schob den Chefarzt nicht zur Seite, tat nichts, um die Schwingtür zum Waschraum zu erreichen. Dr. Frank Puana wollte nicht für immer und ewig im Erdgeschoß bleiben bei den Betrunkenen und blutenden Streithähnen. Und als Lansing sagte: »Sie haben mein Wort« und zum Behälter mit den sterilen Tüchern zurückkehrte, folgte er ihm. Sie legten einander ihre Kittel an, zogen die sterilen Gummihandschuhe über und griffen zu ihren Masken. Neben dem Mayo-Gestell blieb Lansing plötzlich stehen. »Übernehmen Sie für mich, Frank«, sagte er. »Ich fühle mich schon den ganzen Tag nicht wohl.« Und so hatte Dr. Lansing schließlich auch die letzte Bedingung des schmutzigen Geschäfts offenbart. Frank hätte die Handschuhe ausziehen und sie Lansing ins Gesicht schleudern können. Er hätte Lansing sagen können, daß er nicht sein Leben, sein Leben, für einen Säufer zu riskieren gedachte. Er hätte kehrtmachen und den OP-Saal verlassen können, ohne den Chef auch nur eines Blickes zu würdigen. Aber Frank rührte sich nicht. Er dachte an Mary Sue, sah sie vor sich, sah, wie ihr Gesicht aufleuchten würde, wenn sie erfuhr, daß er jetzt im Kollegium saß. Es würde sein Geheimnis bleiben, bis Lansing es offiziell bekanntgab. »Ich assistiere Ihnen, Frank«, sagte Dr. Lansing, und Frank nahm seine Position zwischen den zwei Metallträgern ein, die vom Fußende des OP-Tisches aufragten. Er stand vor Hester; seine rechte Hand griff zur linken und straffte den Gummihandschuh; seine linke Hand griff danach -173
mechanisch zur rechten und tat ebenso. Frank wartete, bis er eins war mit der Patientin, mit ihr ganz allein war. Als er bereit war, griff er nach dem Spekulum, zum ersten Instrument einer langen Reihe, die auf dem Mayo-Gestell bereitlag. Frank hielt ein dünnes Metallrohr in der Hand mit einem kleinen Spiegel am einen Ende. Er trat an den OP-Tisch, unter das Zelt, und beugte sich vor, um vorsichtig das Spekulum einzuführen und die Vagina zu öffnen... Als er endlich das letzte Instrument, die Kürette, herausnahm, zurücktrat, sich aufrichtete und das Instrument fallenließ, war Hester nicht mehr schwanger. Auch nicht verletzt und würde auch nicht, so glaubte Frank, als Folge des Eingriffs unfruchtbar werden. »Geben Sie mir fünfzehn Kubikzentimeter Pitocin.« Der Chefarzt war schon mit der Spritze zur Hand. Frank ging herum zur Tischmitte und betrachtete seine Patientin, die noch immer aussah, als ob sie schlief. Dann ergriff er ihr Handgelenk und injizierte die Droge. Dr. Frank Puana war fertig. Als er sich mit der leeren Spritze dem Instrumententisch zuwandte, hatte Lansing seine Maske bereits abgelegt und war auf dem Weg in den Waschraum. Lansing mußte sich umkleiden und eine Rollbahre in den OP-Saal bringen, um Hester nach Nummer 333 zu fahren. Aber vorher brauchte er noch schnell einen Drink. »Gute Arbeit, Frank«, sagte der Chefarzt und stieß die Schwingtür auf. Frank folgte ihm. Er mußte Lansing an ihren Handel erinnern. Er mußte es aussprechen. »Die erste freie Stelle gehört mir.« Nein. »Die erste freie Stelle gehört mir, Herr Kollege.« Nein. »Herr Kollege, Sie haben mir die erste freie Stelle versprochen.« Nein. Ja! NEIN! Oder so: »Ich komme doch wirklich ins Kollegium, Herr Kollege!« Aber er sagte nichts dergleichen. Er stand vor seinem Spind und ließ den schlecht sitzenden Kittel fallen, um seine übliche weiße Uniform anzulegen. »Es wird keine Komplikationen geben, Herr Kollege«, murmelte Frank. »Gewiß nicht«, sagte Lansing und stopfte sich das Hemd in die -174
Hose. »Ich muß jetzt gleich zu einer Konferenz«, log er. Frank sah, wie Lansing Jacke und Krawatte aus dem Spind nahm. Der Chefarzt wollte gehen, er ging schon! »Doktor Lansing!« Der Hundesohn sah ihn nicht einmal an, war schon unterwegs. Frank stieg über die Bank vor dem Spind und haßte sich selbst, weil er sich zu einem Lächeln zwang, als er dem Chefarzt nachrief: »Ich weiß Ihr Angebot zu schätzen, Doktor Lansing.« Er jagte dem Bastard hinterher. Lansing blickte sich um und nickte ihm zu. So leicht würde er ihn nicht loswerden! Er mußte es ihm sagen! »Ich meine die Bestellung ins Kollegium.« Lansing hastete zu seinem Drink. Frank folgte ihm auf den Gang hinaus und lächelte noch einmal. »Ich werde die Tage zählen.« »Sie werden Geduld haben müssen. Entschuldigen Sie mich jetzt«, sagte Lansing und eilte davon. »Du bist die Stimme des Volkes«, sagte Phoebe Rasmussen im Büro des Senators in Washington. Auf seinem Schreibtisch türmten sich Kartons, vollgestopft mit Briefen und Postkarten. Floyd Rasmussen hatte seine Sekretäre beauftragt, ihm die Post auf den Schreibtisch zu legen. »Sieh nur, Floyd, sieh nur!« Sie griff in einen Karton und grub mit ihren dicken Fingern. Ihre Hände wie Schaufeln gebrauchend, hob sie einen ganzen Packen heraus und ließ Briefe und Postkarten genüßlich über ihre Handgelenke rutschen. Ihre Augen leuchteten wie die eines Diebes vor einem offenen Safe. »Du hast die Herzen der Nation erobert!« Der Senator schaufelte mit ihr um die Wette, und gemeinsam verstreuten sie die Briefe und Postkarten eindrucksvoll im Raum. »Amerika spricht mit deiner Stimme. Floyd, du bist das auserwählte Werkzeug göttlicher Vorsehung! Sei bereit!« Floyd Rasmussen ließ den Kopf sinken, als betete er. Seine Frau schritt zu einem Ledersofa neben der Tür, setzte sich in die Mitte des Möbels, öffnete ihren Mantel und breitete ihn aus wie jemand, der Theatersitze belegt. Dann nahm sie ihren Hut ab und -175
beobachtete ihren Gatten. Sie hatten die Pressekonferenz für elf Uhr einberufen, um es den Zeitungen im ganzen Land zu ermöglichen, noch in den Nachmittagsausgaben über den Senator zu berichten. »Das auserwählte Werkzeug göttlicher Vorsehung«, wiederholte Floyd Rasmussen leise. Der Beweis lag auf seinem Schreibtisch. Er blieb stehen und wartete. Um zehn Minuten nach elf umlagerten neun Reporter seinen Schreibtisch, auch Korrespondenten der Associated Press, der United Press und des International News Service. »Vor sechs Wochen wurde ein abscheuliches Verbrechen auf amerikanischem Boden verübt«, begann der Senator. »Eine arglose junge Frau, Gattin eines Offiziers unserer Navy, wurde auf Hawaii vergewaltigt. Ich habe im Senat um Schutz für unsere Frauen auf dem Territorium gebeten. Hier in Washington wurde meine Stimme nicht gehört. Der Marineminister hat nicht reagiert, der Kriegsminister hat nicht reagiert. Meine Stimme in Washington wurde nicht gehört.« Er griff in einen Karton und hob eine Handvoll Post heraus. »Aber sie wurde anderwärts in unserem Land gehört. Fargo, North Dakota«, las er einen Poststempel ab. »Peoria, Illinois; Chicago, Illinois; Tupelo, Mississippi; Pensacola, Florida; New York, Yakima, Washington, Boise; Roswell, New Mexico.« Er ließ die Briefe fallen wie Münzen für einen Bettler. »Sie können alles selbst nachlesen, meine Herren. In allen Winkeln unseres Landes teilen die Menschen meine Einstellung zu den Gefahren, die uns bedrohen. Sie bitten mich, für sie meine Stimme zu erheben. Es ist ein Auftrag. Und ich werde diese guten Menschen nicht enttäuschen. Gestern haben wir alle erfahren, daß sich Hester Ashley Murdoch, das Opfer der Gewalttat von Hawaii, einem Eingriff unterziehen mußte, der als Folge des verbrecherischen Anschlags anzusehen ist. Sie wird sich von der Operation erholen, aber wer kann sagen, ob sie je wieder das Leben wird führen können, das sie geführt hat? Wer kann sagen, ob Hester Ashley Murdoch je wieder so sein wird, wie sie war?« Der Senator warf einen Blick -176
auf Phoebe. Anerkennend nickte sie ihm zu. »Und während das arme Wesen, dessen Leben zerstört wurde, im Krankenhaus liegt, stolzieren diese vier Männer frei und unbehelligt durch die Straßen Honolulus«, fuhr der Senator fort und breitete seine Arme weit aus. »Ganz Amerika fordert, daß sie bestraft werden, daß der Boden der Vereinigten Staaten von ihrer gefährlichen Präsenz befreit wird. In weniger als einer Stunde werde ich im Senat abermals meine Stimme erheben, um die Wünsche meiner Mitbürger und Mitbürgerinnen ihren von ihnen gewählten Vertretern zu übermitteln. Für diese vier Unholde werde ich die Todesstrafe fordern.« Der Senator öffnete seine Schreibtischlade und entnahm ihr Abschriften der Rede, die Phoebe und er verfaßt hatten, und verteilte sie an die neun Zeitungsleute. »Mir bleiben noch wenige Minuten, bevor ich in den Senat muß«, sagte er. »Haben Sie irgendwelche Fragen?« Phoebe Rasmussen griff nach ihrem Hut... Als sich Floyd Rasmussen im Senat erhob, lagen die restlichen Abschriften der Rede auf Daniel Websters Pult. Der Senator kannte jedes Wort auswendig. »Mr. President.« Als er zu Ende war, sah Floyd Rasmussen den älteren Senator aus Virginia auf die Beine kommen. »Ich erhebe mich, Mr. President, um meinen Namen dem des ehrenwerten Kollegen aus dem großen Staat Idaho anzufügen. In seinem tapferen Kreuzzug für das Recht wünsche ich an seiner Seite zu stehen.« Rasmussen stand abermals auf. »Mr. President, mein verehrungswürdiger Kollege, der das Old Dominion so vortrefflich in der großen Tradition staatsmännischer Klugheit vertritt, erweist mir eine besondere Ehre«, sagte Rasmussen, »und ich heiße ihn in unseren Reihen willkommen.« Zu seiner Linken erhob sich nun Senator Morris aus Alabama. Insgesamt schlossen sich vier Senatoren Rasmussens Forderung an, Joe Liliuohe, Harry Pohukaina, David Kwan und Mike Yoshida zum Tode zu verurteilen. Am gleichen Nachmittag und am nächsten Morgen erfuhr Rasmussen von fünf Mitgliedern -177
des Abgeordnetenhauses, die ebenfalls ihren Namen dem seinen beigefügt hatten. »Du führst einen Kreuzzug an«, sagte Phoebe. Am zweiten Morgen nach der Abtreibung, in aller Frühe, noch bevor Personal und Patienten den Tag begonnen hatten, holte Gerald Hester aus dem Mercy Hospital und brachte sie zu seinem Wagen. »Ich habe deiner Mutter erklärt, daß wir keine Hilfe brauchen«, sagte Gerald. »Ich dachte, es wäre leichter für dich, wenn wir nur zu zweit sind.« »Danke«, sagte Hester, als ob sie Gerald nie zuvor gesehen hätte. Er fuhr langsam - für den Fall, daß er plötzlich bremsen mußte. Hester saß neben ihm. Wie eine Trauerweide, dachte er. Sie tat ihm schrecklich leid. Er wollte helfen. »Möchtest du irgendwo frühstücken? Ich finde schon ein Cafe.« Hester schüttelte den Kopf. Sie war so niedergeschlagen, schien so verloren, daß Gerald es noch einmal versuchte. »Erinnerst du dich noch an das erste Mal, als du mit mir im Wagen gesessen bist?« »Die Admiralsparty«, nickte Hester. Die Admiralsparty fand immer am letzten Sonntag im Mai statt. Alle Offiziere und ihre Frauen nahmen daran teil. Sie waren der kritischen Prüfung durch die ›Zivilisten‹ aus Hawaii, aus Oahu und weiteren Gästen von den anderen Inseln ausgesetzt. Die weißen Herrscher des Territoriums waren alljährlich die ›sehr geehrten Gäste‹ auf den Rasenflächen rings um den offiziellen Wohnsitz des Admirals. Doris Ashley bestürmte Hester mitzukommen. »Dein Name steht auf der Einladung. Laß uns auch stolz sein, Kleines. Wir sind jetzt die einzigen Ashleys, du und ich. Mutter und Tochter.« Die Masse der weißen Uniformen, einer Gänseblümchenwiese gleich, blendete das Auge. Doris und Hester Ashley wurden vom Admiral persönlich begrüßt. Doris traf alte Bekannte. Hester flüchtete rasch und wanderte zum Strand hinunter. Vom Meer kam Wind auf, und Hester mußte ihren Hut festhalten. Der Wind -178
drückte ihr die Krempe über die Augen, und bevor sie sie wieder aufbiegen konnte, lief sie in jemanden hinein. Sie spürte einen Körper, eine Hand und hörte einen Mann sagen: »Entschuldigen Sie. Ich hoffe, ich habe Ihnen nicht weh getan.« Sie nahm den Hut ab und sah einen jungen Offizier vor sich. »Sie sind fast gestolpert«, sagte er, »und ich fürchtete, sie könnten fallen. Ich heiße Gerald Murdoch.« »Ich bin Hester Ashley«, erwiderte sie. Er verbeugte sich nach Vorschrift und griff nach ihrer Hand. Hester hielt es für seine Reaktion auf ihren Namen: Ashley. Außer auf Windward änderten alle Menschen ihr Benehmen, wenn sie ihren Namen hörten. »Kann ich Ihnen etwas bringen?« fragte der Offizier. »Ein Glas Punsch? Der Admiral hat gesagt, wir wären heute alle seine Gäste.« Als Hester dankend ablehnte und sich abwendete, folgte er ihr. Sie hörte den Klang der Verzweiflung in seiner Stimme. »Darf ich Sie begleiten?« Er stand stramm, so als warte er darauf, zur Verantwortung gezogen zu werden. Sein Benehmen war ihr rätselhaft. Es gab hier genügend hübsche junge Mädchen. Hester antwortete nicht gleich, und Gerald dachte, sie würde ablehne n. »Ich kenne hier niemanden«, erklärte er. »Ich bin allein.« Er sagte genau das Richtige und er sagte es genau der richtigen Person. Hester war immer und überall allein gewesen. Als der Nachmittag zu Ende ging, wußte Hester, daß Pike's Crossing im Bezirk Bayliss, South Carolina, dreitausendfünfhundert Einwohner hatte; daß der junge Offizier die Robert E. Lee High-School besucht und daß Forsythe, die Hauptstadt, die größte Stadt war, die er bis zu seinem Eintritt in die Marineakademie gesehen hatte. Er verlor seine gewinnende Schüchternheit, wenn er von der Navy sprach. Sie sah ihn strahlen. »Meine Kameraden sind die feinsten...« sagte er und verstummte. »Das ist einer von ihnen«, und deutete auf einen Fähnrich, der mit einer Frau vorbeikam. Sie spazierten bis ans Ende der Anlegestelle, die von einem hüfthohen Zaun umschlossen war. »Du lieber Himmel, ich rede ja -179
wie ein Wasserfall. Sie müssen es müde sein, mir zuzuhören.« Doch als er sie bat, mit ihm zu Abend zu essen, nahm sie seine Einladung an. An diesem Abend speiste Doris allein und saß im Salon schon beim Kaffee, als Hester und Gerald auf Windward eintrafen. Hester stellte Gerald vor, der sich galant über Doris Ashleys Hand beugte. »Es ist mir eine Ehre, Ma'am.« Doris Ashley gefiel der Lieutenant. Sie wußte gute Manieren zu schätzen. Sie ließ die jungen Leute allein, und Hester führte den jungen Offizier auf die Terrasse. Sie erwartete von ihm, daß er sich über Windward begeistert äußern würde, wie das alle Besucher taten, aber er sagte nur: »Ich habe noch nie so viele Bücher gesehen. Haben Sie alle gelesen?« Hester hatte viele mehrmals gelesen. Er interessierte sich für sie. Er stellte Fragen. Hester fühlte sich geschmeichelt und gewährte ihm einen kurzen Einblick in ihr eigentliches Wesen. »Ich glaube«, sagte der junge Offizier, als er sich verabschiedete, »das war der schönste Tag in... in meinem Leben. Darf ich Sie wiedersehen?« Sie trafen sich, wann immer er frei hatte. Gerald machte Hester den Hof. Er war höflich und aufmerksam. Weil er neu war in Honolulu und sie das Alleinsein gewohnt, waren sie beide immer allein. Bis jetzt hatte Gerald nie Erfolg bei Frauen gehabt. Jetzt hatte er einen Menschen gefunden, der gern mit ihm zusammen war. Er dankte seinem Schöpfer für das große Glück und weigerte sich, ihre Gesellschaft mit anderen zu teilen. Zum ersten Mal wurde Hester nicht gesagt, was sie zu tun habe. Gerald bat sie um Vorschläge, bestand darauf, ihr die Führung zu überlassen. Wann immer er sie abholen kam, erkundigte er sich zuerst nach ihren Wünschen für diesen Tag oder Abend. Sein Schmeicheln wirkte betäubend. Er schien ein unverbesserlicher Romantiker zu sein. Hesters und Geralds Heirat war ein Höhepunkt, kein Beginn. Doris Ashley betrog die jungen Eheleute, als sie sie an das Kutscherhaus fesselte. Ihr Liebesleben war eine einzige Katastrophe. Hester war noch unschuldig und Gerald unbegabt. Er war im Augenblick entflammt, kurz auf ihr, -180
in ihr - um sie, die gerade erst erregte Bereitschaft zeigte, rasch wieder zu verlassen. Die ersten Male entschuldigte er sich, aber nach wenigen Wochen lebten sie wie Zimmergenossen zusammen. Einmal ging Gerald zu einem Navy-Arzt in Pearl Harbor. Er sprach ganz offen mit ihm. Der Arzt gab ihm ein Buch, einen Leitfaden, den Gerald entschlossen studierte, als ob er sich auf eine Prüfung vorbereiten müßte. Hesters Bett und das seine waren durch ein Nachttischchen voneinander getrennt. Eines Nachts kam Gerald zu ihr herüber, um, den Anleitungen folgend, Hester zu liebkosen und merkte nicht, daß dieses schon die Prüfung war. Sie benahmen sich wie Marionetten, und nach dieser Nacht gab Gerald seine Versuche endgültig auf. Hester fand bei ihren Büchern Zuflucht. Sie räumte ihre Bibliothek auf Windward ins Kutscherhaus, und wann immer Gerald aus Pearl Harbor kam, las sie. Gerald versuchte einiges, um sie von ihrer Lesesucht zu heilen. Er ging segeln mit ihr, aber sie wurde seekrank, und gegen jegliche sportliche Betätigung empfand sie Widerwillen, selbst als Zuschauerin. Sie besuchten einige Parties im Offiziersklub, aber Hester war weder eine gute Tänzerin noch liebte sie alkoholisiertes Geselligsein. Sie versuchte zu kochen, aber ihre Mahlzeiten gelangen nicht. Gerald verkündete, er würde das Amt des Küchenchefs ab sofort übernehmen. Die ersten paar Abende war er begeistert und guter Laune, aber, wie vorauszusehen, wurde er es bald leid, nach einem Tag anstrengenden Dienstes in die Küche zu gehen und eine Mahlzeit zuzubereiten. Es wurde oft zehn Uhr und später, bis sie sich zum Essen niederlassen konnten. Er gab auf. Sie gaben beide auf. Stumm und mit einiger Würde zogen sie sich in sich zurück und ersparten sich gegenseitiges Bedauern und Vorwürfe. Sie hatten beide verloren. Beide hatten sie Wesen ihrer eigenen Schöpfung geheiratet, Personen, die es leiblich leider nicht gab. Im Kutscherhaus lebte ein bemitleidenswertes Paar, das außer seinen Namen nichts voneinander wußte... »Ich wünschte, der Admiral gäbe seine Party an diesem Wochenende«, sagte Gerald, -181
als er Hester zu ihrem Haus fuhr. »Wir könnten neu anfangen.« Und nach einer kleinen Weile: »Hester?« »Tut mir leid, Gerald«, antwortete sie. »Ich habe dich nicht gehört, entschuldige.« »Ich entschuldige mich«, sagte er ruhig. Sie hörte ihm gar nicht mehr zu. »Ich sollte dich nicht quälen.« Ein eisernes Band spannte sich um seine Stirn. »Aber von quälen kann doch nicht...« sagte Hester und ihre Stimme erlosch. »Wirklich...« Ihr Schweigen begleitete sie bis nach Windward. Als Gerald vor dem Kutscherhaus anhielt, hob er entschuldigend seinen Arm. »Ich bin kein sehr guter Steuermann, Hester«, sagte er. »Warte, ich wende. Dann bist du näher der Eingangstür.« »Ich kann gehen«, sagte Hester und öffnete den Schlag, aber Gerald beugte sich über sie, um die Beifahrertür zu schließen. »Ich kann gehen«, wiederholte Hester und kämpfte mit ihm um den Türgriff. »Gerald! Laß mich raus!« Monatelange Qualen verschmolzen in diesem Kampf, der nur von kurzer Dauer war. »Du tust mir weh«, sagte Hester, und Gerald ließ los, ließ seinen Arm sinken und zog sich zurück. Einer Frau körperlichen Schmerz zufügen? Für den Mann aus Pike's Crossing gab es nichts Verwerflicheres. Noch bevor Hester sich rühren konnte, war Gerald aus dem Wagen und um ihn herum gelaufen. Sie stieg aus, und er hielt Abstand, war aber bereit, ihr zu helfen, wenn sie ihn brauchte. Als sie an ihm vorbeiging, lief er vor, um die Tür zum Kutscherhaus zu öffnen. »Kann ich etwas tun?« fragte er, als sie eingetreten waren. »Möchtest du eine Tasse Tee? Soll ich dir die Treppe hinaufhelfen?« Hester stand neben dem Treppengeländer. Sie schien Gerald alt, viel älter als er, alt und schwach und gebrechlich wie jemand, der sein ganzes Leben lang krank gewesen war. Schlaff wie ein Schal hing der Mantel an ihr herunter. Gerald wollte ihr helfen, -182
ihr begreiflich machen, daß er sie nicht im Stich lassen würde. Er versuchte ihr das deutlich zu machen, aber sie sagte nur: »Armer Gerald. Armer Ritter Gerald. Du kannst zum Dienst gehen.« Sie hielt sich am Geländer fest, während sie die Treppe zu den Schlafzimmern hinaufstieg. »Wie Ma'am wünschen«, erwiderte Gerald und salutierte spöttisch. Mit dröhnendem Schädel sah er hinter Hester her, bis sie das Obergeschoß erreicht hatte und um die Ecke bog. Gerald ging in die Küche, griff nach der Teedose und blieb plötzlich stehen, als ob er bei einem Diebstahl ertappt worden wäre. Er konnte Hester oben hören. Sie wollte ihn gar nicht bei sich haben. Hart stellte er die Dose nieder und eilte hinaus zu seinem Wagen. Am späten Nachmittag fuhr Gerald von den U-Boot-Bunkern noch zum Offiziersklub auf Pearl Harbor. Er hatte es nicht eilig. Hester hatte es schließlich auch nicht eilig, ihn zu sehen. Die Bar war voll und füllte sich weiter. Die Männerstimmen, das Gelächter, die gutmütigen, ein wenig provinziellen Hänseleien munterten ihn auf. Hier unter seinesgleichen fühlte er sich wohl, bis ihn plötzlich ein Gefühl von Schuld belastete. Hester war allein mit ihrem Schmerz. Er ging zum Telefon am Ende der Theke. Das Läuten hatte Hester geweckt. Sie lag aufgestützt im Bett, das Licht der Nachttischlampe auf ihrem Gesicht, ein offenes Buch auf ihrem Bauch. Sie hörte Stimmen, Männer, die zu schreien schienen. »Wer spricht denn da?« »Gerald«, antwortete er. »Könnte sein, daß ich etwas später komme.« Er beschloß, noch einen zur Brust zu nehmen und dann zu gehen. Als er den Hörer auflegte, spottete jemand: »Ich hab schon von Frauen gehört, die es nicht nur im Dunkeln, sondern auch mit Dunkelhäutigen treiben.« »Aber gleich vier?« fragte ein anderer. Gerald stand da wie gelähmt. Er mußte sich fast übergeben und stützte sich auf die Theke. »Vielleicht hat sie mit einem oder zweien angefangen«, spekulierte der erste. Gerald drehte sich langsam um. Es war ein -183
Lieutenant. »Vielleicht kamen dann noch zwei dazu, um mitzunaschen, und wollten sich nicht abspeisen lassen«, erläuterte er dem Fähnrich, der neben ihm stand, seine Ansicht. »Haben Sie sie gesehen?« fragte der Fähnrich. »Stille Wasser gründen tief, Fähnrich«, antwortete der Lieutenant. Gerald sprang los. Er lief in jemanden hinein, stieß ihn mit dem Ellbogen zur Seite und packte jenen Lieutenant, der ihm am nächsten war. Er packte ihn mit beiden Händen, krallte sich in die Uniform und in das Fleisch darunter, drehte ihn herum, riß ihn von der Theke und holte aus. Gerald hatte sich noch nie geprügelt; sein Schlag ging ins Leere, seine Faus t war weich und der Lieutenant größer. »Was in aller Welt...?« wunderte sich der Angegriffene und schüttelte den Angreifer ab. Darauf hatte der Fähnrich nur gewartet und landete bei Gerald einen sauberen Haken. »Meine Frau beleidigen, du verdammter...« brüllte Gerald, doch die Faust des Fähnrichs brachte ihn zum Schweigen. Der Schlag traf ihn am Backenknochen. Gerald fiel nicht, schwankte nur und richtete sich mühsam auf; doch der Fähnrich gab sich mit dem einen Treffer noch nicht zufrieden und holte aus, als ihm der Lieutenant am Arm packte und zurückstieß. »Ich schaff das auch allein«, sagte er. Die ganze Bar verfolgte jetzt den Zwischenfall. Am anderen Ende der Theke erkannte Bryce Partridge Gerald unter den Streithähnen und sah zwei gegen einen. Und als nun der Lieutenant die Fäuste erhob und sich duckte, war Bryce auch schon bei ihm. »Lassen Sie uns doch mit gleichen Chancen kämpfen, alter Freund«, sagte Bryce. »Das geht Sie doch nichts an«, protestierte der Lieutenant. Bryce sah den Fähnrich von rechts herankommen. »Mich geht das etwas an. Meine Frau...« sagte Gerald, aber niemand hörte ihm zu. Die Warnungen, die von allen Seiten kamen, übertönten seine Stimme. »Sie haben meine Frau -184
beleidigt!« Der Fähnrich schlug als erster zu; Bryce unterlief den Hieb und rammte seine Linke dem Kerl in den Bauch. Ein langes grunzendes Stöhnen war die Antwort. »Meine Herren!« Ein Kapitän zur See, dessen Erscheinen die Warnungen ausgelöst hatte, kam auf sie zu. »Wo, zum Teufel, glauben Sie, daß Sie hier sind?« Nur das Stöhnen des Fähnrichs war zu hören. »Schaffen Sie ihn auf die Toilette«, ordnete der Captain an. Zwei Offiziere packten den Fähnrich und hoben ihn hoch. Diese drei waren die einzigen im Raum, die sich bewegten. Alle anderen standen schweigend da, einschließlich der Barmixer, samt und sonders einfache Dienstgrade. »Sir«, sagte Gerald, und der Captain, angewidert von dem handfesten Schauspiel, fixierte den Offizier mit der blutigen Wange. »Sie antworten gefälligst, wenn Sie gefragt werden, Mister«, fuhr er ihn an. »Sie werden sich alle morgen zum Rapport melden«, sagte er knapp und deutete auf die Herrentoilette in der Ecke. »Sie drei und der Fähnrich.« »Sir, ich allein bin schuld«, wandte Gerald ein. Um ein Haar hätte ihn der Captain festnehmen lassen, aber das Blut tropfte auf seinen weißen Kragen und die Schulterklappe. »Lieutenant Murdoch«, stellte er sich vor und gab seine Personalnummer an. Der Captain hörte »Murdoch«, und sein Hirn sagte »Hester Ashley« und gab ihm damit auch die Antwort auf die einzige Frage, die er den Kämpfenden hätte stellen können. Er sah sich den anderen Lieutenant an, den größeren, den Mann, der Murdoch gegenüberstand. Der Captain verstand etwas von Gesichtern. »Kümmern Sie sich um Ihre Blessur«, riet er Gerald und ging an die Theke zurück. Dort nahm er seine Mütze ab, und als sich ein Barmixer nach seinen Wünschen erkundigte, kehrten die Männer vorsichtig zu ihren Gläsern und Kameraden zurück. »Ich bringe dich besser ins Krankenhaus«, sagte Bryce, aber Gerald war schon auf und davon. Bryce holte ihn ein, und Gerald beschleunigte seine Schritte. -185
»Laß mich in Frieden!« rief er, und es klang fast wie ein verzweifeltes Schluchzen. »Laß mich in Frieden!« Als Gerald den Ausgang erreichte, ging die Tür auf. Sich das Taschentuch vors Gesicht haltend, hastete er mit gesenktem Kopf an drei Männern vorbei, rannte zu seinem Wagen, riß hastig die Tür auf und ließ sich auf den Sitz fallen. Er sah noch die Theke, sah die Männer, die in einer Reihe vom einen Ende zum anderen standen und sich über Hester das Maul zerfransten. Gerald ließ den Motor an und steuerte den Wagen zum Ausgang des Stützpunkts. Im Krankenhaus würde man seinen Namen wissen wollen. Man würde diesen Namen notieren und sich über Hester das Maul zerreden, sobald er gegangen war. »Fünfzig!« Maddox ließ seinen Hut auf Leonard Fairlys Schreibtisch fallen und starrte den Polizeichef an. »Sie lassen morgen fünfzig Mann aufmarschieren? Hat die Invasion begonnen?« »Wir müssen auf alles vorbereitet sein«, erklärte der Chef. Am nächsten Tag bega nn der Prozeß gegen die vier jungen Hawaiier. »Sie glauben doch nicht im Ernst, daß es Ärger geben könnte«, sagte Maddox. »Die Mehrzahl der Leute findet nicht einmal den Weg zum Gerichtsgebäude. Und die meisten von ihnen, neunundneunzig Prozent, müssen arbeiten. Morgen ist kein Feiertag.« Der Polizeichef begann mit einem Brieföffner aus Messing zu spielen. »Machen Sie das rückgängig, Len.« »Über die Sache wird viel geredet«, entgegnete der Chef. »Nicht nur hier, auf dem ganzen Territorium. Wo ich hinkomme, sprechen mich die Leute an. Sie machen sich Sorgen.« »Sie machen sich immer Sorgen«, gab Maddox zu bedenken. »Irgendwo macht ein Kanake einen Tag blau, und schon sind sie überzeugt, daß die ganze Arbeiterschaft einen Streik anzettelt. Sich darüber Sorgen zu machen, was die Eingeborenen tun werden, scheint wirklich die Hauptbeschäftigung auf dem Territorium: Die Eingeborenen! Diese Leute haben Angst, auch nur die Straße zu überqueren.« -186
»Ich möchte nicht das geringste Risiko eingehen.« Maddox krümmte seinen Rücken und hoffte, daß die Schmerzen in seinen Schultern nachlassen würden. Es war schon fast achtzehn Uhr. Seit zehn Stunden machte er Dienst. »Sie werden mehr Cops als Leute vor dem Gerichtsgebäude haben«, sagte er. »Tun Sie's nicht.« »Ich habe Sie nicht kommen lassen, um mit Ihnen zu debattieren«, versetzte der Chef. Er warf den Brieföffner in die Luft und fing ihn wieder auf. Wenn Maddox im Zimmer war, blieb der Chef in seinem Sessel sitzen. Der hochgewachsene Captain gab ihm das Gefühl, noch kleiner zu sein. »Es wird aussehen, als ob wir einen Aufruhr erwarten würden«, wandte Maddox ein. »Das werden jedenfalls die Reporter denken. Sie werden Ihre kleine Armee sehen und denken, wir wissen etwas, was sie nicht wissen. Ich sehe schon die Schlagzeilen vor mir: Polizei rüstet sich gegen Ausschreitungen! Statt des Prozesses werden wir auf der Titelseite sein, genau dort, wo wir nicht sein sollten. Wenn es etwas gibt, was Cops nicht brauchen, dann ist es Publicity. Morgen abend wird der Gouverneur anrufen und noch mehr Cops haben wollen. Menschenskind, Len, die Straße wird voll blauer Uniformen sein wie bei einer Parade.« Maddox beobachtete den Chef, der mit dem Brieföffner spielte. »Ich gehe lieber auf Nummer Sicher«, sagte der Chef. »Sie übernehmen das Kommando, Curt.« Maddox nahm seinen Hut vom Tisch. »Morgen habe ich dienstfrei.« Der Chef ließ den Brieföffner auf den Tisch fallen. »Sie haben Sonntag Ihren freien Tag.« »Ich habe noch jede Menge Überstunden gut«, hielt Maddox ihm entgegen. »Ich befehle Ihnen, mo rgen das Kommando über die Einsatztruppe vor dem Gerichtsgebäude zu übernehmen«, sagte der Chef. Diesmal brauchte er Curt Maddox' Schutzengel, dessen -187
heimlichen Vater, nicht zu fürchten. Harvey Koster würde todsicher einer Meinung mit ihm sein. Am nächsten Morgen um neun hatte Maddox fünfzig Polizisten vor dem Gerichtsgebäude postiert. Sie standen einander in zwei Reihen gegenüber, die an den beiden Ecken ihren Anfang nahmen. Maddox stand neben einem der zwei Pfähle mit dem Schild PARKEN VERBOTEN auf dem Gehsteig. Er ließ die Lieutenants und Sergeants zu sich kommen. »Verteilen Sie sich«, wies Maddox sie an. »Bleiben Sie auf einer Linie mit den anderen. Die Leute nicht reizen. Nicht den starken Mann spielen. Keine Verhaftungen wegen Herumlungerns. Keine Verhaftungen! Ich entscheide, ob jemand die öffentliche Ordnung stört. Sie kommen mit dem Betreffenden zu mir, zeigen ihn mir. Sagen Sie's weiter.« Er musterte die Sergeants und Lieutenants. »Fangen Sie gleich damit an.« Maddox beobachtete, wie sie auseinandergingen und ihre Positionen zwischen den zwei Reihen einnahmen, und bemerkte deshalb weder Jeff Terwilliger noch dessen Begleiter, die auf ihn zukamen. »Menschenskind, Maddox, ist das ein Prozeß oder eine Revolution?« wunderte sich Terwilliger. »Sehr spaßig.« Aus einer Seitengasse kamen einige Herren und schritten auf den Eingang zu. Zwei schleppten große Kameras mit sich herum. Maddox sah den Korrespondenten der Associated Press neben den Fotografen. »Im Ernst, wozu dieses gewaltige Aufgebot?« fragte Terwilliger. »Polizeichef Fairly ist um die Sicherheit der Öffentlichkeit besorgt«, antwortete Maddox. Terwilliger grinste. »Eine erstklassige Nachrichtenquelle«, sagte er zu dem New Yorker Reporter neben ihm. Maddox deutete auf die Zeitungsleute und zeigte mit dem Finger auf den Eingang zum Gerichtsgebäude. »Schließen Sie sich Ihren Kollegen an«, sagte er zu Terwilliger. »Wir arbeiten an einer Story«, erklärte der Korrespondent. -188
»Nicht hier«, sagte Maddox. »Ich werde mich von euch Burschen und euren Fragen nicht behindern lassen, wenn die Häftlinge aussteigen.« Er deutete noch einmal auf den Eingang zum Gerichtsgebäude. »Schwirren Sie ab.« Während sie darauf zugingen, drehte sich der New Yorker Reporter nach Maddox um. »Wer zum Teufel ist denn das?« »Ein Miesepeter. Es macht ihm Spaß.« Der New Yorker Reporter blieb stehen und blickte zur Sonne. Es war ein strahlender Morgen. Weiße Wölkchen zogen über einen herrlich blauen Himmel. Der Rasen zu beiden Seiten des Eingangs war schon früh besprengt worden, und das frisch gestutzte Grün verbreitete einen süßen, feuchten Duft. Unmittelbar vor dem Gerichtsgebäude befand sich ein Beet voller Paradiesvogelblumen, und das leuchtende Orange und Blau der Blüten, die zum Flug anzusetzen schienen, blendete das Auge. »Ich verließ New York in einem Schneesturm«, sagte der Reporter, »und in San Francisco konnte ich vor lauter Regen und Nebel kaum mein Schiff finden. Ich nieste fast die ganze Fahrt hierher.« Er drehte sich langsam im Kreis, so als ob er dem Lauf der Sonne folgen wollte. »Ihr habt hier wirklich zweiundfünfzig Wochen Ferien im Jahr.« Terwilliger und der New Yorker gesellten sich zu den Zeitungsleuten vor dem Eingang. Bald kamen auch andere, auch die Reporter und Fotografen von den japanischsprachigen Blättern. Ein Filipino in einer weißen, mit Farbspritzern übersäten Latzhose blieb neben Maddox stehen. »Beginnt heute der Prozeß?« »Heute ist der große Tag«, antwortete Maddox. »Wollen Sie nicht dabeisein?« »Ohne Arbeit kein Geld«, sagte der Filipino. Einen Augenblick lang dachte Maddox daran, ihn zum Chef ins Büro zu bringen. Doch der Filipino setzte sich bereits in Trab und überquerte die Straße, als das schwarzgelbe Cabrio um die Ecke bog. Maddox sah den Wagen. Die Party nahm ihren Anfang. -189
»Guck mal, Tom«, sagte Joe Liliuohe im Wagen. Tom saß zwischen ihm und Sarah. »Was macht denn der da?« »Vermutlich hat er da draußen das Kommando«, antwortete Tom. Mit der Sache selbst hat er nichts zu tun.« »Aber an jenem Abend hatte er sämtliche Finger drin«, sagte Joe. »Und auch noch am nächsten Morgen hatte er durchaus was damit zu tun.« Sarah hielt neben den beiden Parkverbotsschildern. »Ich habe noch nie so viel Bullen auf einmal gesehen«, sagte Joe. »Wahrscheinlich sind sie da, um sämtliche weiße Frauen vor uns Unholden zu schützen.« »Hör auf«, sagte Sarah. »Hör auf damit!« Sie war schon angsterfüllt aufgewacht. Tom stieß Joe an, und dieser öffnete die Tür. Während Joe ausstieg, ergriff Sarah Toms Hand und drückte sie. Seine Hand war warm. »Ich habe solche Angst.« Er hob ihre Hand an seine Lippen. »Alles geht gut«, beruhigte er sie. »Ich wünschte, ich müßte nicht zur Arbeit«, sagte Sarah. »Ich wünschte, ich könnte bei dir sein.« Tom konnte Sarah fühlen, ihre Hand in der seinen. Er wollte seine Arme um sie legen und sie küssen. Sie immer wieder küssen und fühlen, wie sie ihm näher und näher kam und ihn willkommen hieß. Das Gerichtsgebäude war in weite Ferne gerückt. »Du bist bei mir, Sarah.« »Sag es noch einmal.« »Du bist bei mir«, wiederholte Tom. »Du bist immer bei mir. Ich bin jetzt nie mehr allein.« Jemand klopfte an der Windschutzscheibe. Maddox beugte sich über die Motorhaube. »Macht schon«, sagte Maddox. Tom stieg aus dem Wagen, und einen einzigen schreckerfüllten Augenblick lang verharrte er wie gelähmt. Joe war fort! Aber Maddox war da und lehnte lässig am Verbotsschild. Der Captain hätte Joe bestimmt nicht weglaufen lassen. Er hörte den Motor, als Sarah losfuhr, und sah dann Joe an der Ecke stehen mit David -190
Kwan und seinem Vater. Joe und David winkten ihm zu. Tom blieb, wo er war, und wartete auf sie. Maddox sah den jungen Mann mit seinem Vater. Nicht viel größer als eine Maus, dachte er belustigt. Die drei gingen auf die Türen zu, vor denen die Fotografen, die Blitzgeräte über ihren Köpfen haltend, mit schußbereiten Kameras bereits warteten. Gegen neun verließ einer der Polizeilieutenants seinen Posten und kam auf Maddox zu. »Schauen Sie sich das mal an, Captain.« Maddox drehte sich um. Auf dem Gehsteig gegenüber dem Gerichtsgebäude standen Männer und Frauen, Orientalen und Hawaiier. Maddox zählte sie. Es waren elf. »Sollen wir vielleicht Unterstützung anfordern?« fragte der Lieutenant unbehaglich. »Ich wollte es Ihnen nur sagen.« Er ging auf seinen Platz zurück, und Maddox sah den schwarzweißen Polizeiwagen in die Seitengasse einbiegen. Er sah die zwei Polizisten vorn und den Mann hinten im Fond. Der Mann kam ihm bekannt vor. Maddox ging ihnen nach. In der Seitengasse gab es auch einen Eingang ins Gerichtsgebäude. Neben dieser Tür blieb der Polizeiwagen stehen, als Maddox die Seitengasse erreichte. Die zwei Polizeibeamten stiegen aus und öffneten die hintere Wagentür. Maddox sah, wie Murdoch ausstieg und den Arm hineinstreckte, um seiner Frau zu helfen. Der Fahrer half Doris Ashley auf der anderen Seite. Maddox wußte genau, daß bestimmt nicht Harvey Koster diese ›Eskorte‹ nach Windward geschickt hatte. Harvey Koster würde ihn verständigt haben. Fairly hatte den Polizeiwagen nach Windward geschickt und Maddox bei der Truppe belassen. Maddox schmunzelte, als er an den Chef und dessen kleine Geheimnisse dachte. Er beobachtete, wie Doris Ashley ihren Hut festhielt. Die feinste Dame der Hawaiier Gesellschaft und ihre Tochter waren gekleidet, als ob sie zu einer Beerdigung gingen. Maddox spürte einen Luftzug hinter sich und drehte sich um. Reporter und Fotografen bestürmten den Seiteneingang. Der Captain breitete die Arme aus. »Stop! Straßensperre«, sagte er. -191
»Sie können uns nicht aufhalten«, brüllte ein Fotograf. Maddox ließ die Arme sinken, marschierte in die Gruppe hinein und blieb vor dem Fotografen stehen. »Wollen wir wetten?« Maddox wartete. Hinter ihnen sah er Mike Yoshida mit einem anderen Burschen, wahrscheinlich sein Bruder; sie trugen ihren Sonntagsstaat. Jeff Terwilliger sah sie und eilte zurück, die anderen folgten ihm. Maddox warf einen Blick auf die andere Straßenseite. Die Reihe der Männer und Frauen war länger geworden. Maddox überquerte die Straße. Es schien, als atmeten sie nicht. Keiner bewegte sich, niemand räusperte sich, keiner hustete. Maddox blieb stehen. »Dies ist eine Geschäftsstraße«, sagte er. »Leute werden diese Läden besuchen und sie wieder verlassen. Autos werden hier parken. Hier gibt es nichts zu sehen. Sie täten gut daran, weiterzugehen.« Keiner rührte sich. Maddox trat auf den Gehsteig und drängte sich zwischen zwei Chinesen. »Es ist mir gleich, in welche Richtung Sie gehen. Aber gehen werden Sie«, sagte er grimmig. »Jetzt gleich.« Mit beiden Händen schob er die Leute links und rechts von sich weg. »Immer wieder Polizeiübergriffe«, brummte einer, aber die Ansammlung löste sich auf, Männer und Frauen entfernten sich in beide Richtungen, und Maddox war bald allein. Während er noch beobachtete, wie sie sich zerstreuten, sah er einen Mann, einen gutaussehenden, athletisch gebauten Kerl in einem Sporthemd seinen Wagen an der Ecke halten. Mußte Mitte Zwanzig sein, schätzte Maddox. Auf dem Weg zum Dienst in Pearl Harbor hatte Bryce Partridge einen Umweg gemacht und parkte nur einen Häuserblock hinter dem Gerichtsgebäude. Es war knapp eine Stunde her, daß Bryce Jeff Te rwilligers Bericht über den Prozeßbeginn Outpost-Dispatch gelesen hatte. »Sie tut mir so leid«, hatte Ginny gesagt. Er hatte die Zeitung geknickt, um auf der unteren Hälfte weiterzulesen. »Bryce!« »Ich habe dich nicht gehört, mein Engel«, log er. »Ich rede von -192
Hester. Ich habe versucht, sie zu erreichen, aber niemand meldet sich. Sie ist wahrscheinlich schon unterwegs. Es muß schrecklich für sie sein, in der Zeugenbank zur Schau gestellt wie eine Sklavin im Kolosseum, von allen angegafft zu werden.« Bryce ließ die Zeitung sinken. »Es wird nicht lange dauern.« »Schon ein Tag ist zu lang«, sagte Ginny. Als er sich erhob und die Autoschlüssel aus der Tasche nahm, sprang sie auf. »Warte doch! Kannst du nicht warten, bis ich mich umgezogen habe?« »Ginny, ich arbeite nicht in einer Fabrik, wo ich mich beim Werkmeister melden muß«, sagte Bryce. »Ich bin Navy-Offizier.« Sie stellte sich ihm in den Weg. »Ich bin sofort fertig«, sagte sie. »Du kannst mich beim Gerichtsgebäude absetzen. Ich möchte bei Hester sein. Jemand sollte bei ihr sein.« »Jemand ist bei ihr, mein Engel. Gerald ist bei ihr und ihre Mutter.« »Gerald ist ein Mann!« sagte Ginny. »Und ihre Mutter versteht das nicht, ist gar nicht fähig, es zu verstehen!« »Ihre Mutter versteht das nicht?« »Sie ist zu alt!« argumentierte Ginny. »Du verstehst es auch nicht. Genausogut hätte es mich erwischen können!« »Ginny.« Er versuchte, seine Frau in die Arme zu nehmen, aber sie wehrte sich. Seine Finger schlossen sich wütend um die Autoschlüssel und öffneten sich sofort wieder. Für einen Augenblick erschreckte ihn der Anblick seiner Faust. »Ich wollte dich nicht ärgern«, sagte Bryce sanft und ging um sie herum. Seine Stimme und seine Art stimmten Ginny versöhnlich. »Da ist ja einer wirklich ganz besonders lieb.« Sie küßte ihn. »Wartest du auf mich?« Er legte seinen Zeigefinger an ihre Lippen, und Ginny küßte ihn. »Ich lasse dich nicht gehen«, sagte er. Sie sah ihn an. »Ich lasse es nicht zu, daß du zusammen mit -193
diesen vier... Kerlen im Gerichtssaal sitzt und dir diese widerliche Geschichte anhörst. Du hast dich in Hesters Lage versetzt. Du wirst die Zeugen hören, wirst von ihnen hören, was man dir angetan hätte.« Ein dünnes Lächeln huschte über sein Gesicht. »Ich bin dein Mann. Ich habe auf dich aufzupassen. Gerald kümmert sich um Hester. Und du bleibst hier. Das ist ein Befehl, Schätzchen.« Während er an der Ecke stand, sah Bryce, wie sich die Zeitungsleute um die besten Plätze drängten, als plötzlich ein Kerl, ein Hawaiier, auf das Portal zuging. Der Typ hatte sich fein herausgeputzt. Bryce erkannte ihn wieder, konnte sich aber nicht an seinen Namen erinnern. Er hatte die Bilder von allen vieren in den Zeitungen gesehen, Tag für Tag, noch vor einer Stunde im Outpost-Dispatch, aber er konnte den richtigen Namen nicht mit dem richtigen Gesicht verbinden. Bryce machte kehrt und marschierte eilig zu seinem Wagen zurück. Maddox beobachtete die Reporter und Harry Pohukaina. Der junge Kerl stürmte auf die Zeitungsleute los und bahnte sich mit den Ellbogen einen Weg zum Eingang. Die Fotografen luden ihre Kameras. Sonnenlicht überglänzte die Straße, und die Fenster des Gerichtsgebäudes funkelten. Maddox stand allein. »Fünfzig«, sagte er laut und blickte auf die Cops vor dem Gerichtsgebäude. »Achtung, Achtung, hier tagt jetzt das Kreisgericht Honolulu, Oahu, Territorium von Hawaii, unter dem Vorsitz des Ehrenwerten Richters Samuel Walker!« rief der Gerichtsdiener. Er wartete, bis der Richter auf der Richterbank Platz genommen hatte. »Sie können sich wieder setzen. Prozeß eins acht viersieben. Das Volk gegen Joseph Liliuohe, Harry Pohukaina, David Kwan, Michael Yoshida.« Richter Walker, der am letzten Wochenende zusammen mit Frau und Kindern und Enkelkindern seinen sechzigsten Geburtstag gefeiert hatte, wartete, bis der Saal zur Ruhe kam. Doris Ashley erkannte er sofort. Sie saß in der ersten Reihe zwischen Tochter und Schwiegersohn. Der Richter hatte sie nie -194
persönlich kennengelernt. Er war weder Preston Lord Ashley je begegnet, noch hatte er jemals Windward besucht. Doris Ashley erschien ihm sehr selbstsicher, fast schon anmaßend. Doch Doris Ashley zitterte. Sie mußte tapfer sein, um ihrer selbst und um Hesters willen. Sie mußte Hester die nötige Kraft geben können. Schon tags zuvor hatte sie ihre Tochter und die von ihr selbst im Kutscherhaus ausgesuchten Kleider nach Windward gebracht und hatte Hester bei sich behalten, im großen Schlafzimmer. Doch als sie am Morgen erwachte, war sie allein. Hester stand barfuß, im Nachthemd, auf der Terrasse. »Ich schaffe das nicht«, murmelte sie. »Kleines, du wirst...« setzte Doris Ashley an und brach ab, als Hester losrannte. Doris lief ihr in die große Halle nach und stellte sich vor die Tür. »Wenn du mich weiter so behandelst, werde ich die Wahrheit sagen«, drohte Hester. »Weißt du überhaupt, was du da redest? Du machst uns zu Verbrechern.« »Wir sind Verbrecher«, erklärte Hester. »Ich bin eine Verbrecherin. Ich gehöre ins Gefängnis.« Sie lief zur Küche, von wo aus eine Tür nach draußen führte. Doris hielt sie fest. Hester wehrte sich nicht. »Ich werde ihnen sagen, daß man mich ins Gefängnis stecken soll.« »Ich bringe mich um«, log Doris. »Du bringst mich um. Du willst mich töten.« Sie hörten Amelia und Theresa im Zimmer neben der Küche. »Erzähl ihnen, ich wäre krank«, bat Hester. »Ich unterschreibe eine Erklärung. Laß mich eine Erklärung unterschreiben.« »Mein Armes«, sagte Doris. »Wenn ich nur deinen Platz einnehmen könnte. Ich lasse dir ein Bad ein, Kleines.« Später kleidete sie Hester an. Beide trugen sie dunkle Farben, dunkle Hüte. Und nun wartete Doris neben Hester auf ihre Prüfung. Richter Walker richtete seinen Blick auf Philip Murray, der an seinem Tisch mit Leslie McAdams, dem neuen -195
stellvertretenden Staatsanwalt, sprach. »Ist die Anklage bereit?« Murray erhob sich. »Die Anklage ist bereit, Euer Ehren.« Der Richter blickte zu den vier Angeklagten und ihrem Verteidiger hinüber. »Sind die Angeklagten anwesend?« fragte er. Tom stand auf. »Die Angeklagten sind anwesend, Euer Ehren«, antwortete Tom. »Ist die Verteidigung bereit?« Tom hatte das Gefühl, als säße ihm der Richter auf dem Kopf. Murray und McAdams beobachteten ihn. Alle beobachteten ihn. Er hätte es doch lieber der Prinzessin überlassen sollen, einen Anwalt auszusuchen. Nein! Er hätte sich einen Assistenten nehmen sollen. Nein! Er hätte um einen Aufschub einkommen sollen, um seine Verteidigungsstrategie besser vorzubereiten. Nein! »Die Verteidigung ist bereit, Euer Ehren«, sagte er. Hinter Tom saßen die Reporter und Pressezeichner in einer Reihe, unter ihnen viele aus den Staaten. Richter Walker hatte beschlossen, ihnen diese Plätze zuzuweisen und die Bänke zu beiden Seiten des Mittelgangs für das Publikum freizuhalten. Richter Walker huldigte der Überzeugung, daß die Öffentlichkeit ein Recht auf Zutritt hatte. Links, in den ersten Reihen hinter den Zeitungsleuten, saßen die fünfzig Männer, die auf der Geschworenenliste standen. »Meine Herren Geschworenenkandidaten«, begann der Richter, »dieser Fall hat viel Staub aufgewirbelt. Er wurde in den Zeitungen und im Rundfunk ausführlichst breitgetreten. Weder das Gericht noch die Herren Anwälte können daher erwarten, Geschworene zu finden, die mit den Fakten nicht vertraut sind. Das Gericht besteht jedoch darauf, daß sich die Geschworenen keine Meinung gebildet, daß sie nicht bereits über Schuld und Unschuld entschieden haben. Wenn einer von Ihnen eine solche Entscheidung schon getroffen hat, möge er es dem Gericht mitteilen, und er wird von seinen Pflichten entbunden und kann den Saal verlassen.« Der Richter sah keine erhobene Hand. »Wenn einer von Ihnen mit den Prozeßbeteiligten verwandt oder bekannt ist, wird er entlassen und kann gehen«, fuhr der Richter -196
fort. Er sah keine erhobene Hand. »Die hier Anwesenden gehören verschiedenen Rassen an«, sagte Richter Walker. »Wenn einer von Ihnen irgendwelche Vorurteile in bezug auf Rasse, Religion oder Hautfarbe hegt, disqualifiziert ihn dies vom Amt eines Geschworenen.« Der Richter wartete. Er hatte einen Haufen Lügner vor sich. »Gerichtsdiener.« Der Gerichtsdiener ging auf die Geschworenenkandidaten zu. Zwölf Männer erhoben sich in den ersten beiden Bänken. Sie waren ausgelost worden, und der Geschworenenkandidat Nummer eins, George Maynard, nahm den ersten Platz in der ersten Reihe ein. Die anderen folgten ihm entsprechend ihren Nummern. »Mr. Murray, beginnen Sie.« Der Ankläger erhob sich, die Namensliste in der Hand. »Mr. Maynard. Womit verdienen Sie Ihren Lebensunterhalt?« »Ich bin Klempner.« »Sind Sie Familienvater? Haben Sie Kinder?« »Eine Tochter.« »Wie alt ist sie?« »Zwölf. Sie ist zwölf Jahre alt.« »Die Anklage akzeptiert den Geschworenen, Euer Ehren«, sagte Murray. »Mr. Halehone«, sagte der Richter. Tom erhob sich und trat einen Schritt zurück, um Maynard Gelegenheit zu geben, alle vier Angeklagten zu sehen. »Die Verteidigung akzeptiert den Geschworenen, Euer Ehren«, sagte Tom. Damit war der erste Geschworene gestellt, und er würde als Sprecher fungieren. »Weiter, Mr. Murray«, sagte der Richter. Der Staatsanwalt blickte lange auf die Liste, obwohl er sich schon längst entschieden hatte, bevor der Richter in den Saal gekommen war. »Ich lehne den nächsten Geschworenenkandidaten ab«, sagte Murray, und mit einer Handbewegung ließ der Gerichtsdiener Akira Hanato wissen, daß er entlassen war. -197
Die Ablehnung war peremptorisch und ließ weder Anfechtung noch Widerspruch zu. Anklage und Verteidigung waren befugt, je sechs peremptorische Einreden für jeden Angeklagten auszusprechen. Insgesamt konnten sich Murray und Tom weigern, achtundvierzig Männer aus der Geschworenenkandidatenliste zu bestellen. Beide hatten auch das Recht, aus gewichtigem Grund abzulehnen. Sowohl Murray wie auch Tom konnten, nachdem sie einen Geschworenenkandidaten befragt hatten, zu der Überzeugung gelangen, daß dieser nicht unvoreingenommen sein, daß er der Anklage beziehungsweise der Verteidigung schaden würde. Diese Ablehnungen waren zahlenmäßig nicht begrenzt, bedurften jedoch der Zustimmung des Richters. Akira Hanato ging an Tom vorbei, der sich gerade über den Tisch beugte und die Namensliste studierte. Das Herz klopfte dem Anwalt bis zum Hals. Er konnte Murray sehen, der die Beine übereinandergeschlagen hatte und parallel zu seinem Tisch saß, behaglich, als ob er im Theater wäre. Tom wußte genau, daß Staatsanwalt Murray beabsichtigte, die Geschworenenbänke ausschließlich mit Haoles zu besetze n. »Weiter, Mr. Murray«, sagte der Richter. Der Ankläger betrachtete Fred Hofstader, den Mann, neben dem Hanato gesessen hatte. »Wie lange leben Sie schon in Honolulu, Mr. Hofstader?« »Über zwanzig Jahre.« »Was tun Sie?« »Nicht gerade viel. Was so im Haus anfällt.« »Ich meinte, womit Sie Ihren Lebensunterhalt verdienen.« »Ach so. Ja. Ich bin Anstreicher.« »Akzeptiert, Euer Ehren«, sagte Murray. »Mr. Halehone«, sagte der Richter. Tom erhob sich. Er sah den Richter an, aber er sprach zum Staatsanwalt. »Ich lehne den Geschworenen ab«, sagte Tom. Er sah, wie McAdams sich vorbeugte und Murray etwas zuflüsterte. Murray -198
warf einen scharfen Blick über die Schulter, der auf Tom gerichtet war. »Sie sind entlassen«, sagte der Richter zu Hofstader. »Sie können gehen.« Tom sprach zwei weitere peremptorische Ablehnungen aus; sie betrafen Victor Pasket und Harley Moore. Louis Elahi wurde als sechster aufgerufen. Murray lehnte ihn ab. George Maynard saß immer noch allein in der ersten Geschworenenbank. Tom besah sich die Namensliste. Nummer sieben, hinter Maynard, war Edward Broderick, und neben ihm saß Herbert Iaukea. Die anderen vier waren Haoles. Die meisten anderen waren Haoles. Lange vor dem Staatsanwalt würde Tom sein Reservoir an peremptorischen Ablehnungen aufgebraucht haben. Er würde aus gewichtigem Grund ablehnen müssen und die Zustimmung des Richters benötigen. Er würde das Spiel verlieren, und, noch bevor der Tag zu Ende ging, vor Haole-Geschworenen verhandeln müssen. Joe rückte seinen Stuhl etwas zur Seite. Tom konnte alle vier vor sich sehen. Er sah, wie sie aufstanden, als die Geschworenen hereinkamen. Er hörte, wie sie verurteilt, sah, wie sie aus dem Gerichtssaal und ins Gefängnis geführt wurden... Murray war auch wieder auf den Beinen: »Sie haben Seine Ehren gehört, Mr. Broderick. Er hat davor gewarnt, vorgefaßte Meinungen zu haben. Was nun diesen Fall betrifft, haben Sie eine vorgefaßte Meinung?« »Nein, Sir, habe ich nicht.« »Kennen Sie jemanden, der an diesem Fall beteiligt ist?« »Ich kenne niemanden.« »Beurteilen Sie die Menschen nach ihrer Rassenzugehörigkeit?« »Ganz gewiß nicht.« Tom war sicher, daß der Mann log. Alle logen, aber ihm blieb keine andere Wahl. »Akzeptiert«, sagte Murray, und Tom stand auf. »Die Verteidigung akzeptiert den Geschworenen, Euer Ehren«, -199
sagte Tom. Mit dieser Zustimmung schlug er Murray einen Waffenstillstand vor. Doch Murray lehnte Herbert Iaukea ab, und Tom hatte die Antwort des Staatsanwalts. Murray würde nicht lockerlassen. Von den ersten zwölf Geschworenenkandidaten blieben noch vier, und Tom lehnte alle peremptorisch ab. Der Gerichtsdiener brachte weitere zehn Männer herein, darunter Lester Lahaina. Als der letzte entlassen war und der Gerichtsdiener Lahaina folgte, um weitere Kandidaten hereinzuführen, sagte der Richter: »Warten Sie.« Er hob beide Hände und bedeutete Tom und Murray, nach vorn zur Richterbank zu kommen. »Meine Herren.« »Zwei von zweiundzwanzig«. sagte Richter Walker. »Auch Sie können bestimmt rechnen. Vielleicht bekommen wir vier Geschworene von der ersten Liste. Man hat uns nur zwei Listen gegeben. Wir sind nicht der einzige Gerichtshof im Bezirk, meine Herren. Ich muß die Verhandlung vertagen und warten, bis uns der Geschworenenkommissar eine neue Liste zuweist. Wollen Sie mir nicht anvertrauen, was Sie beide vorhaben?« »Ich mache von meinen peremptorischen Ablehnungen Gebrauch, Euer Ehren«, antwortete Murray. »Danke für diese erschöpfende Auskunft«, entgegnete der Richter. Er wandte sich an Tom. »Und Sie?« »Ich versuche, eine ausgewogene Jury herzustellen, Euer Ehren.« »Und jetzt bin ich dran«, sagte der Richter. »Sie werden mit Ihren peremptorischen Ablehnungen bald am Ende sein, Sie beide. Sie werden sich genötigt sehen, gewichtige Gründe anzuführen. Bei der nächsten Liste lasse ich nicht einfach alles so laufen. Wir wollen hier einen Prozeß verhandeln, kapiert?« Murray hob den Blick. »Soll das eine Drohung sein, Euer Ehren?« »Nein, und lassen Sie sich auch nicht einfallen, mir zu drohen, -200
Herr Staatsanwalt«, sagte der Richter unwirsch. »Nicht in einer Verhandlung, in der ich den Vorsitz führe. Was Aufhebungen meiner Entscheidungen durch eine höhere Instanz angeht, brauche ich Vergleiche mit anderen Richtern nicht zu scheuen.« Er machte dem Gerichtsdiener ein Zeichen. »Weisen Sie den Herren ihre Plätze an.« Tom kehrte zu den Angeklagten zurück. Sie beobachteten ihn. Seine Hände waren feucht; er wischte sie sich an der Hose ab. Murray konnte große Töne spucken; er hatte eine Hester Ashley Murdoch, die als Zeugin aussagen würde. Harry stieß Tom an. »Was hat er gesagt?« Mit eingezogenen Schultern saßen sie alle da. Tom schüttelte den Kopf. Als der Richter über Mittag vertagte, saßen immer noch erst zwei Geschworene auf ihren Plätzen. Gerald kam auf die Beine und lehnte sich an das Geländer. Er sah, wie die Angeklagten aufstanden und sich um ihren Anwalt drängten. Er sah den langen Lulatsch, diesen Liliuohe, ihren Anführer. Er hatte sich von den anderen getrennt und stand allein. Die Sache machte dem Kerl bestimmt Spaß. »Gerald.« Doris Ashley wartete mit Hester im Mittelgang. »Ich habe im Klub einen Tisch für uns reservieren lassen«, verkündete sie. Hester trat aus dem Mittelgang zurück. In Honolulu ging alles, was Rang und Namen hatte, zum Mittagessen in den Hawaii-Klub. Und alle würden ihr sagen, wie leid es ihnen tat; sie würden am Tisch vorbeidefilieren wie bei einem Leichenschmaus. Die Frauen würden sie küssen, und sie würde ihnen danken, alle anlügen müssen. »Ich warte hier«, sagte sie. »Wir können uns doch nicht verstecken«, sagte Doris Ashley. »Wir müssen Flagge zeigen, Kind! Gerald, komm, wir gehen zu Fuß«, verkündete Doris. »Wir brauchen frische Luft.« Doch Hester setzte sich und schob ihre Beine unter die Bank. Jemand stieß an Doris an. »Gerald, hilf ihr.« Die Leute beobachteten sie. Der Staatsanwalt kam durch die Schranke. »Verzeihung«, sagte Murray. Doris Ashley eilte in die Bankreihe zurück. »Etwas nicht in Ordnung?« erkundigte er sich. -201
Doris Ashley hätte ihm allzu gerne einen Tritt versetzt. »Nein, nein. Meine Tochter fühlt sich nur ein wenig schwach. Sie brauchen sich wirklich nicht zu sorgen«, und trat wieder in den Mittelgang heraus. »Komm, man erwartet uns, Kleines.« Hester ließ den Kopf sinken. »Gerald, hilf ihr!« befahl Doris Ashley. Gerald setzte sich zu seiner Frau. Sie dachte, er würde sie retten. »Laß uns warten, bis die anderen fort sind«, sagte er. Bryce, dachte Hester, hätte sicher seinen Arm um sie gelegt und über Doris Ashley nur gelacht. »Also gut«, sagte Doris, »einverstanden, Gerald. Wir werden warten.« Gerald sah die Angeklagten mit ihrem Anwalt durch die Sperre kommen, sah sie triumphierend den Mittelgang herauf marschieren. Vor dem Gerichtsgebäude sagte Mike Yoshida, daß sie im nahe gelegenen Restaurant seines Onkels billig essen könnten. Jetzt essen zu müssen, war für Tom fast eine Strafe. Er mußte nachdenken. Er mußte Murray stoppen. Aber wie? »Ich bin nicht sehr hungrig.« Er konnte ihnen nicht entfliehen. Sie umringten ihn. Er war ihr Beschützer. Bei ihm waren sie in Sicherheit. Sie glaubten ihm jetzt, glaubten an sein Versprechen, daß er ihnen zu ihrem Recht verhelfen würde. Mike bestellte, und vier heißhungrige, gesunde junge Männer nutzten die Freigebigkeit des Besitzers weidlich aus, um sich die Bäuche vollzuschlagen. Tom wußte gar nicht, was er aß. Der Tee war siedend heiß. Die Stimmen ringsherum betäubten ihn. Die Gesichter am Tisch verblaßten vor seinen Augen, und Tom sah nur die zwei Haoles auf der Geschworenenbank. »Wir sollten uns auf den Rückweg machen.« Der Gerichtssaal war leer und dunkel, als Tom ihn vor den anderen betrat. Am Tisch der Verteidigung nahm er die Namensliste mit den Geschworenenkandidaten zur Hand und hielt sie ganz nah an sein Gesicht, um besser lesen zu können. Dann blickte er hoch. Die Deckenlampen liefen in zwei Reihen von der Richterbank bis zu den Türen des Saales. Ein Gefühl von nahezu elektrisierender Kraft wallte plötzlich in ihm auf. Tom verließ seinen Tisch und -202
blieb neben der Zeugenbank stehen. Er musterte die Angeklagten, die zusammensaßen und ihn erwartungsvoll ansahen. Er hörte ihre Fragen, die nach Erklärung heischten. »Nichts, nichts«, wehrte er ab, als die Lichter angingen. Er hatte den Gerichtsdiener nicht bemerkt und auch die Liste in seiner Hand vergessen. Schnell las er sie noch einmal durch. Warren Kamahe le würde der vierte Geschworene sein, sobald der Gerichtsdiener die nächsten zwei Männer hereinbrachte. Wenige Minuten vor vierzehn Uhr betrat Richter Walker den Saal. Tom hatte beobachtet, wie der Gerichtsdiener die zehn Männer zu der Geschworenenbank führte. Warren Kamahele war der zweite in der Reihe. Er sah aus wie aller Welt Großvater. Er trug ein nagelneues weißes Hemd, dessen Kragen gesteift war. »Die Herren Vertreter der Anklage und der Verteidigung zu mir.« Tom war der erste vor der Richterbank. Als Murray neben ihm stand, sagte der Richter: »Ich hoffe, daß Sie heute nachmittag besser vorankommen.« Tom schluckte. Der Hals tat ihm weh. »Die Geschworenenkandidaten haben am Vormittag Ihre Instruktionen gehört, Euer Ehren.« Er mußte an Warren Kamahele glauben. Einer war besser als gar keiner. »Die Verteidigung ist bereit, die Geschworenen sofort zu vereidigen.« »Sie sind bereit«, konterte Murray. »Sie sind nicht der Staatsanwalt.« »Die erste gute Idee, die ich heute höre«, nickte der Richter. »Was sagen Sie dazu, Mr. Murray?« »Ich bin nicht hierhergekommen, um tatenlos zuzusehen, wie die Verteidigung sich die Geschworenen aussucht«, sagte Murray. »Mr. Halehone sucht sie sich nicht aus«, wies der Richter ihn zurecht. »Er ersucht Sie nur, Ihr Einverständnis zu bekunden.« »Ich bin nicht einverstanden«, sagte Murray. »Wozu die Eile? Heute ist der erste Tag.« -203
»Danke, daß Sie mich daran erinnert haben«, knurrte der Richter. »Guten Tag.« Tom ging an seinen Tisch zurück. Murray war nicht aufzuhalten, und Harry Pohukaina stellte ihm schon wieder Fragen. Er konnte ihm nicht antworten. Er konnte ihn nicht ansehen, Harry nicht und die anderen auch nicht. Sie hatten keine Chance. »Legen Sie los, Mr. Murray.« Die Namensliste in der Hand, ging der Staatsanwalt auf die Geschworenenbank zu. Melvin Fielding war Nummer drei. Er trug einen weißen Anzug mit schwarz und weiß gestreiften Schuhen. Er hatte eine Blume im Knopfloch. »Mr. Fielding, was machen Sie beruflich?« »Versicherungen. Ich bin Versicherungskaufmann«, antwortete Fielding. »Versicherungen aller Art. Vo n der Wiege bis zum Grabe.« »Sind Sie verheiratet?« »Verheiratet mit meiner Arbeit, wie man so sagt. Ich habe wohl nie die Zeit gefunden.« »Sind Sie in Hawaii geboren, Mr. Fielding?« fragte Murray. »Geboren und aufgewachsen, jawohl, Sir.« »Die Anklage akzeptiert den Geschworenen«, sagte Murray. »Mr. Halehone.« Tom wartete, bis der Staatsanwalt zu seinem Tisch zurückgekehrt war. »Euer Ehren, ich habe größte Hochachtung vor dem Herrn Staatsanwalt. Er ist eine Leuchte seines Standes. Wenn der Geschworenenkandidat für die Anklage akzeptabel ist, ist er es auch für die Verteidigung.« Dann bat Tom den Staatsanwalt, Warren Kamahele zuzulassen. »Gut, gut«, sagte der Richter, »in Ordnung, Mr. Murray, wie steht's mit Nummer vier?« Murray blieb auf seinem Stuhl sitzen. »Die Anklage lehnt den -204
Geschworenen ab.« »Sie haben ihn sich nicht einmal angesehen'.« sagte Tom, sprang auf und schwang sich um seinen Tisch herum. »Sie lehnen Namen ab!« Tom blieb vor der Richterbank stehen und schwenkte die Liste über seinem Kopf. »Warum nicht gleich alle entlassen, die auf der Liste stehen, Euer Ehren?« »Euer Ehren...« setzte Murray an, aber Tom schrie weiter. »Alle entlassen, die auf der Liste stehen«, brüllte er. »Warum denn unser aller Zeit verschwenden?« »Ruhe!« Richter Walker hämmerte auf das Pult. »Herr Verteidiger! Sie beide! Ruhe!« Wie ein Torpedo kam Murray herangeschossen. »Dieser Mann gehört nicht in einen Gerichtssaal!« schrie er. »Ich bitte mir absolute Ruhe aus«, sagte der Richter, der aufgestanden war und sich über das Pult lehnte. »Ich warne Sie beide!« grollte er und schlug mit seinem Hammer auf das Pult. »Beherrschen Sie sich, Mr. Murray. Beherrschen Sie sich, sage ich!« Der Richter blitzte ihn an und wandte sich, als Murray zurückwich, an Tom. »Eben noch haben Sie große Töne über den Anwaltsstand gespuckt, in den Sie sich wohl heimlich reingeschlichen haben. Zu Ihrer Information: Der Herr Staatsanwalt hat von seinem Recht auf peremptorische Einreden Gebrauch gemacht.« Richter Walker tastete nach seinem Sessel hinter sic h. »Ich schlage vor, Sie ziehen sich beide in neutrale Ecken zurück.« Tom ging wieder zu seinem Tisch. Seine Mandanten strahlten ihn an. Joe zwinkerte ihm zu. Sie waren stolz auf ihn. Tom hätte sie anschreien mögen, ihnen raten, um ihr Leben zu laufen. Neben seinem Stuhl blieb er stehen. Er hatte nichts mehr zu verlieren. »Euer Ehren.« »Vorsicht, Herr Verteidiger«, warnte ihn der Richter. »Meine Mandanten haben ein Recht auf Geschworene, unter denen auch Bürger ihrer eigenen ethnischen Herkunft vertreten sind«, begann Tom. »Die werden sie vor diesem Gericht nie bekommen, weil -205
der Ankläger keine Geschworenen haben will, sondern einen Haufen von Zujublern.« Murray sprang auf und hob den Arm, um mit der Faust auf den Tisch zu schlagen. »Das lasse ich mir nicht mehr bieten!« »Ganz meine Meinung«, sagte der Richter. »Mir reicht's jetzt, Mr. Halehone.« »Sie können mich wegen Mißachtung des Gerichts in Ordnungsstrafe nehmen«, entgegnete Tom. Er zitterte. »Sie können mich aus dem Saal entfernen lassen. Es ist mir nic ht möglich, meine Mandanten vor diesem Gericht zu verteidigen. Nicht bei diesem Ankläger. Niemand kann sie vertreten. Die Angeklagten haben keine Chance, sie können mit keinem fairen Verfahren rechnen. Der Prozeß ist zu Ende, bevor er noch begonnen hat.« »Ich erfülle Ihnen Ihren Wunsch«, sagte der Richter. »Ich nehme Sie in Ordnungsstrafe!« »Wenn Sie mich ins Gefängnis stecken, ändert das nichts an den Tatsachen«, gab Tom zurück. »Meine Mandanten sind erledigt! Sie sind erledigt!« Tom wirbelte herum, stürzt e auf die Geschworenenbank zu und blieb neben Warren Kamahele stehen, der zurückwich, als fürchte er von Tom angegriffen zu werden. »Sehen Sie sich diesen Geschworenenkandidaten an!« Tom schrie jetzt wieder. »Aus einem einzigen Grund hat ihn der Staatsanwalt abgelehnt! Weil er Kamahele heißt! Wegen seines Namens!« »Das ist eine Lüge!« brüllte Murray, und das war gelogen. Der Richter hämmerte auf sein Pult. »Gerichtsdiener!« Tom hielt sich an der Geschworenenbank fest und bemühte sich, nicht mehr zu zittern. »Sein Name ist Warren Kamahele«, sagte Tom. Der Gerichtsdiener kam auf ihn zu. »Er ist ein Bürger dieses Territoriums, sonst würde er nicht hier sein. Er sieht mir nicht aus wie ein Massenmörder. Sind Sie ein Massenmörder, Mr. -206
Kamahele?« Der Gerichtsdiene r hatte die Geschworenenbank erreicht. »Machen Sie mir keine Schwierigkeiten«, wisperte er Tom zu. »Ich versuche nicht zu fliehen«, schrie Tom. »Ich möchte ihm nur ein paar Fragen stellen.« »Können Euer Ehren ihn nicht zum Schweigen bringen?« Murray kam auf die Richterbank zu. »Er macht das Gericht zum Narrenhaus!« »Gerichtsdiener!« rief der Richter. Tom tauchte unter dem Arm des Bediensteten durch, sprang an ihm vorbei und blieb am Zeugenstand stehen. »Der Geschworenenkandidat wurde entlassen«, sagte er. »Warum fürchtet der Staatsanwalt, daß ich ihn befrage?« »Sie sind ein Schandfleck für unseren Stand«, ereiferte sich Murray. »Sie haben gegen alle Regeln des Anstands verstoßen.« »Sie haben recht«, versetzte Tom. »Ich wurde für straffällig erklärt. Sie nicht. Ich habe keine Geschworenen gestellt, Sie schon. Ich habe meinen Mandanten keinen Dienst erwiesen, ich habe ihnen Schaden zugefügt. Ich dachte, sie würden hier Recht finden. Ich habe sie überzeugt, daß sie hier ihr Recht finden würden, und sie haben mir geglaubt. Sie haben recht, Herr Staatsanwalt, ich habe gegen alle Regeln verstoßen. Sie haben gewonnen, Mr. Murray, Sie haben mich gestoppt.« Tom ging auf den Tisch der Verteidigung zu. Er mußte allen vier unter die Augen treten. Richter Walker blickte auf die lange Reihe Reporter. Sie hielten die Köpfe gesenkt, als beteten sie; nur ihre Hände bewegten sich. Alle machten sich Notizen. Auf dem Territorium und überall in den Staaten, überall würden die Leute morgen die Geschichten dieser Berichterstatter lesen, die Geschichten über diesen hinkenden Kanaken, der steif und fest behauptete, er könne vor Sam Walkers Gericht keinen fairen Prozeß bekommen. »Mr. Halehone.« Der Richter deutete mit seinem Hämmerchen -207
auf den Verteidiger. »Sie wollten ihn befragen. Also befragen Sie ihn.« »Das können Sie nicht machen«, schrie Murray auf. »Ich mache es!« erwiderte der Richter. »Sparen Sie sich Ihre Einsprüche für das Ende des Prozesses, Herr Staatsanwalt.« Und zu Tom: »Sie hatten es ja so schrecklich eilig. Befragen Sie ihn. Stellen Sie ihm Ihre Fragen.« »Danke, Euer Ehren«, sagte Tom, kehrte zur Geschworenenbank zurück und stellte sich vor Warren Kamahele hin. »Sie brauchen keine Angst zu haben«, begann er. »In wenigen Minuten können Sie den Saal verlassen. Sie brauchen auch nicht wiederzukommen.« Tom lächelte ihm zu. »Wie alt sind Sie, Mr. Kamahele?« »Ich bin fünfundsechzig. Fast schon Sechsundsechzig.« »Sind Sie verheiratet?« »Ja, ich bin verheiratet«, war die Antwort. »Haben Sie Kinder?« »Drei.« »Erzählen Sie uns von Ihren Kindern«, forderte Tom ihn auf. »Wie alt sind sie? Womit verdienen sie ihren Lebensunterhalt?« »Sie sind alle schon erwachsen«, antwortete Kamahele. »Zwei Jungen und ein Mädchen. Mein ältester Junge, Adam, ist Pfarrer. Und sein Junge will auch Pfarrer werden. Mein anderer Junge, Luke, ist Lehrer. Das Lehramt macht ihm große Freude. Er kommt sogar in Adams Kirche, um die Sonntagsschule zu halten.« Tom lächelte. »Sie haben Ihre Tochter vergessen.« »Sie ist daheim. Daheim bei uns, bei mir und meiner Frau«, sagte Kamahele. »Ihr Mann ist gestorben, und so ist sie mit ihren Söhnen zu uns gezogen. Es sind zwei Jungen. Sie arbeitet, sie arbeitet schwer. Ihr älterer Junge ist in den Staaten. Er studiert an der Universität von Colorado. Er hat sich schon immer für Tiere interessiert, der Junge. Er lernt...« Kamahele schüttelte verzagt den Kopf. »Veterinär?« -208
»Ja, Veterinär.« Fast hätte Warren Kamahele dem Anwalt noch von der Gans erzählt, die sie im Hinterhof hielten, aber er wollte kein Risiko eingehen, hatte der junge Mann doch gesagt, er könnte bald heimgehen. »Sie haben eine nette Familie«, sagte Tom. »Sie können stolz sein.« »Ja, das denke ich auch.« Tom trat zur Seite, damit der Staatsanwalt Kamahele sehen konnte. »Gehört Ihr Haus auch Ihnen?« »Es fehlt nicht mehr viel. Noch ein paar Jahre, und es ist abbezahlt.« »Haben Sie Schulden?« fragte Tom. Kamahele sah ihn verständnislos an, bis Tom erläuterte: »Schulden Sie jemandem Geld?« »Ich zahle immer bar«, antwortete Kamahele. »Wenn wir etwas nicht zahlen können, kaufen wir es nicht.« »Waren Sie schon einmal in Haft, Mr. Kamahele?« »In Haft?« Überrascht führte Kamahele die Hand zum Mund. »Wofür?« »Was auch immer. Wurden Sie schon einmal verhaftet, weil Sie das Gesetz übertreten haben?« »Nein, nein, nein«, sagte Kama hele und schüttelte energisch den Kopf. »Wurde jemand aus Ihrer Familie schon einmal verhaftet?« fragte Tom. »Ihre Frau oder Ihre Kinder oder eines Ihrer Enkelkinder?« »Nein, Sir. Niemand, niemand aus meiner Familie.« Zum ersten Mal, seit er auf der Geschworenenbank saß, beugte Warren Kamahele sich vor. »Ich habe in meinem ganzen Leben mit keinem einzigen Polizisten Bekanntschaft gemacht«, sagte er. Er murmelte etwas Unverständliches hinterher. »Ich habe Sie nicht verstanden«, sagte Tom. -209
»Mir ist gerade etwas eingefallen. Mein Junge, Adam, der Pfarrer, war, als er noch zur Schule ging, Schulweginspektor. Also habe ich doch einen Polizisten in meinem Leben gekannt.« »Ich danke Ihnen sehr, Mr. Kamahele«, sagte Tom. Er machte eine Handbewegung, und der alte Mann erhob sich. Tom blickte zur Richterbank hinauf. »Danke, Euer Ehren.« Er wartete neben dem Sprecher auf Warren Kamahele und begleitete ihn zum Gang. Am Tisch der Staatsanwaltschaft beugte Leslie McAdams sich vor. »Walker gehört wirklich nicht mehr auf den Richterstuhl«, flüsterte er. »Keiner gehört da drauf«, erwiderte Murray unwirsch und kratzte sich am Arm. »Meine Schuppenflechte ist wieder da.« »Wir können diesen Halehone immer noch stoppen«, sagte McAdams und deutete mit dem Kopf auf Tom. »Irrtum. Er hat uns gestoppt.« McAdams richtete sich auf und starrte den Staatsanwalt an, als Murray weitersprach: »Die Reporter sind ja nicht blöde, und einige von ihnen kommen direkt aus den Staaten. Für sie hat Halehone seine Show abgezogen. Sie würden schreiben, wir hätten die Geschworenenbank zu einer Lynchparty umfunktioniert. Das wäre wirklich ein gefundenes Fressen für die Zeitungen drüben.« Als Richter Walker gegen sechzehn Uhr vertagte, war ein vierter Geschworener bestellt worden. Er hieß Tanoye Fujimoto. »Ich erwarte Sie in meinem Amtsraum, Mr. Halehone«, sagte der Richter. »Er erwartet Sie«, drängte ein Sekretär und deutete auf die geschlossene Tür. Tom klopfte an. »Ich sagte, er erwartet Sie.« Tom öffnete die Tür. Richter Walker saß in Hemdsärmeln hinter seinem Schreibtisch und zündete sich eine Zigarette an. Er ließ Tom stehen. »Ich schicke Sie nicht ins Gefängnis«, begann der Richter. »Ich sollte es tun, aber ich tue es nicht.« Richter Walker hatte nicht die Absicht, einen Helden aus diesem Schlauberger zu machen. »Ich belege Sie mit einer Geldstrafe. Sie kommen noch einmal mit einem blauen Auge davon.« Er -210
stützte seine Ellbogen auf den Tisch. »Das letzte Mal. Schluß mit dem Feuerwerk. Verstanden?« Richter Walker entließ Tom mit einer Handbewegung. Zwei Tage später, kurz vor der Mittagspause, war die Geschworenenbank komplett. Der letzte Mann, der bestellt wurde, hieß Andrew Lihilini. Im Outpost-Dispatch schrieb Jeff Terwilliger: »In meiner ganzen Laufbahn, als Strafverteidiger und als Staatsanwalt, habe ich nie mit einem so schändlichen, so scheußlichen, so unmenschlichen und so brutalen Kriminalfall zu tun gehabt.« Mit diesen Worten begann das Eröffnungsplädoyer der Staatsanwaltschaft, das Philip Murray gestern im Hester-Ashley-Murdoch-Prozeß hielt. »Als Folge eines Überfalls von vier Männern, dessen unbeschreibliche Grausamkeit alle rechtschaffenen Menschen vor Entsetzen erstarren lassen muß, wurde eine lebenssprühende, wohlbehütete, jungvermählte, offenherzige, vertrauensvolle junge Frau so entstellt, daß sie vielleicht ihr Leben lang daran zu tragen haben wird«, sagte der Ankläger. Sorgfältig umriß der Staatsanwalt den Sachverhalt aus der Sicht der Anklage. Die Beweislast gegen die vier mutmaßlichen Täter Joseph Liliuohe, Harry Pohukaina, Michael Yoshida und David Kwan wäre wahrlich erdrückend, sagte er, und entfaltete seine Argumente Punkt für Punkt. Seine schärfsten Worte sparte sich Staatsanwalt Murray für das Ende seiner Erklärung auf, als er die Geschworenen daran erinnerte, daß Hester Ashley Murdoch die Angeklagten schon einen Tag nach ihrer Tat identifiziert hatte. In seinem Büro im Hauptquartier in Pearl Harbor studierte der Admiral Terwilligers Bericht, der auf Seite eins begann. Über die Zeitung gebeugt, seine Lesebrille auf der Nase, schlug Glenn Langdon Seite vierzehn auf, um die Fortsetzung zu lesen. Im Gegensatz dazu gab der Verteidiger, Mr. Tom Halehone, -211
nur eine summarische Erklärung ab. Die Angeklagten, legte er den Geschworenen dar, seien unschuldig. Nach einer knappen Zusammenfassung der Lebensläufe seiner vier Mandanten wies er darauf hin, daß keiner von ihnen vor jener schicksalhaften Nacht je mit der Polizei in Berührung gekommen wäre. »Nie von der Polizei erwischt worden wäre«, sagte der Admiral laut, strich die Zeitung glatt und langte nach seinem Lineal. Er tastete suchend mit der Hand über den Tisch und hob sogar die Zeitung hoch. »Petty Officer!« Ein Oberbootsmann, so alt wie der General, betrat das Zimmer. Der rechte Ärmel seiner blauen Uniformjacke wies eine stattliche Reihe von Dienstzeitstreifen auf. »Wo ist mein Lineal?« Das Lineal gehörte eigentlich dem Petty Officer, der es am Vorabend weggeräumt hatte. Der Admiral bestand auf einen aufgeräumten Schreibtisch. »Ich hole es, Sir.« Mit Hilfe des Lineals schnitt der General Terwilligers Bericht aus der Zeitung, nahm dann aus einer Lade seines Schreibtischs einen Aktenhefter, in dem sich die bisherigen Berichte Terwilligers über den Prozeß befanden. Noch einmal sah der Admiral die Namen der Geschworenen durch. Über Tanoye Fujimoto und Andrew Lihilini malte der Admiral mit Tintenstift ein dickes Fragezeichen. »Rufen Sie Ihren ersten Zeugen auf«, sagte Richter Walker am nächsten Tag zum Staatsanwalt. »Ich rufe Peter Monji auf«, rief Phil Murray. Der schlanke junge Mann, das fettglänzende Haar straff zurückgekämmt, kam den Mittelgang herunter. Er trug einen hellen Anzug und schwarz und weiß gemusterte Schuhe. Er beugte sich über die Sperre und rüttelte am Riegel, bevor er sie öffnete. Der Staatsanwalt wartete beim Zeugenstand. Peter Monji nahm Platz und zupfte an beiden Hosenbeinen, um die Bügelfalten besser zur Geltung zu bringen. Nachdem er vereidigt worden war, fragte ihn Murray: »Nennen Sie uns Ihren Namen und Ihre Beschäftigung.« -212
»Mein Name ist Peter Monji, und ich bin Arztgehilfe in der Notaufnahme des Mercy Hospital.« »Beschreiben Sie den Geschworenen Ihre Tätigkeit«, forderte Murray ihn auf. »Sagen Sie ihnen, was Sie tun.« »Ich bin Arztgehilfe. Ich kümmere mich um die Patienten, helfe dem Doc... dem Arzt, die Patienten auf dem Untersuchungstisch festzuhalten, damit er arbeiten kann. Ich bringe ihm alles mögliche... Spritzen, Arznei, Heftpflaster, Tupfer, Bandagen, was er eben so braucht.« »Mr. Monji, war Mrs. Hester Ashley Murdoch am Abend des zwanzigsten September Patientin im Mercy Hospital?« Noch nie hatte ihn jemand mit Mister angeredet. »Ja, Sir. Mrs. Hester Anne Ashley Murdoch war Patientin bei uns.« »Und jetzt, Mr. Monji, sagen Sie dem Gericht, wann Sie Mrs. Murdoch zum ersten Mal gesehen haben.« »Ich sah sie zuerst draußen... ich und der Cop... der Polizeibeamte.« Mike Yoshida funkelte Joe an. »Weil du noch rumstehen mußtest.« Er spürte Tom Halehones Hand, die ihn kurz schüttelte, ließ sich auf den Stuhl zurückfallen und sah zum Zeugenstand hinüber. »Vor der Notaufnahme?« fragte Murray. »Ja... ja.« »Erzählen Sie uns, wie es dazu kam, daß Sie Mrs. Murdoch begegneten«, forderte ihn der Staatsanwalt auf. »Ich war wie gesagt in der Notaufnahme. Wir hatten alle Hände voll zu tun. Sie wissen ja, Samstagnacht. Dieser Cop... dieser Polizeibeamte war auch da. Er hatte einen Kerl eingeliefert, war angestochen worden... hatte schlimme Stichwunden. Und der Doc... der Arzt nähte ihn gerade, und ich half, half ihn festhalten, wie ich schon sagte. Plötzlich hörten wir diesen Lärm, hörten eine Frau schreien. Ich ging raus, um nachzusehen, ich und der Cop... der Polizeibeamte. Ein Wagen -213
sauste davon, vom Parkplatz weg, und da stand sie nun, taumelnd, schwankend. Es sah aus, als ob sie im nächsten Augenblick zu Boden gehen würde.« »Zu Boden gehen?« »Fallen. Stürzen. Also liefen wir... der Polizeibeamte und ich... auf sie zu.« »Und brachten sie in die Notaufnahme?« »Wir mußten sie fast tragen«, antwortete Monji. »Sie war schlimm zugerichtet, vor allem ihr Gesicht.« Gerald, der neben Hester saß, beobachtete die vier Kerle und ihren Anwalt. Ihre Gesichter konnte er nicht sehen. Er mußte sie sehen, wollte das Grinsen auf ihren Gesichtern sehen, während sie bequem dahockten und zuhörten. »Beschreiben Sie ihr Gesicht«, sagte der Ankläger. »Eine einzige Wunde. So, als ob sie jemand mit einem Hackmesser bearbeitet hätte. Oder einem Baseballschläger.« »Oder mit Fäusten?« »Einspruch«, sagte Tom. »Das ist eine Suggestivfrage.« Aber die Geschworenen hatten die Frage gehört. »Euer Ehren, der Zeuge arbeitet in der Notaufnahme eines Krankenhauses«, rechtfertigte sich Murray. »Er mag ein ungeübter Zeuge sein, aber er hat große Erfahrung mit solchen Fällen.« »Ich lasse die Frage zu«, sagte Richter Walker. »Einspruch abgewiesen.« »Mr. Monji, könnten die Verletzungen von Fäusten hergerührt haben?« »Ja... gewiß... sicher«, antwortete Peter Monji. Murray setzte die Befragung fort. Verdeckt von den Reportern, die vor der Schranke saßen, beugte Gerald Murdoch sich vor, wollte seine Ohren vor Monjis Stimme verschließen, wollte aufspringen und verlangen, daß -214
Murray schwieg. Sein Schädel dröhnte, er brauchte einen Schluck Wasser. Doch er konnte jetzt nicht hinaus. Niemand durfte von ihm denken, daß er sich aus dem Gerichtssaal stahl. »Keine weiteren Fragen.« »Tom!« Die Hände auf dem Tisch, die Finger gespreizt, beugte sich Joe zu ihm hinüber. »Die denken, wir haben es getan!« Tom schüttelte den Kopf. »Tom!« »Will die Verteidigung den Zeugen ins Kreuzverhör nehmen?« Richter Walker blickte auf Halehone herab. »Verzeihung, Euer Ehren.« Tom schob seinen Stuhl zurück, verließ den Tisch und ging zum Zeugenstand hinüber. »Wie lange war Mrs. Murdoch denn in der Notaufnahme, Mr. Monji?« »Eine Stunde... vielleicht auch länger. Sie war ganz schrecklich zugerichtet. Dr. Puana hatte lange an ihr zu tun.« »Eine Stunde oder auch länger«, wiederholte Tom. »Sie waren die ganze Zeit anwesend?« »Ja, sicher. Ich hab ja mitgeholfen.« »Hat Mrs. Murdoch gesagt, daß sie vergewaltigt wurde?« »Sie hat überhaupt nichts gesagt.« »Hat sie in dieser Stunde, in der sie in der Notaufnahme war, nichts gesprochen? Kein einziges Wort?« »Kaum etwas. Ihre Namen und hin und wieder etwas, was wie ›aufhören, nicht weiterschlagen‹ und so klang.« »Hat sie gesagt, daß sie vergewaltigt wurde?« fragte Tom. »Nein, das hat sie nicht gesagt.« »Hat sie von Vergewaltigung geredet?« »Einspruch«, sagte Murray. »Der Verteidiger versucht, den Zeugen einzuschüchtern.« »Abgewiesen«, entgegnete der Richter. Ohne Vergewaltigung ging der ganze Prozeß in die Binsen. »Ich werde die Frage wiederholen«, sagte Tom. »Hat sie von -215
Vergewaltigung geredet?« »Selbst wenn, ich jedenfalls habe nichts gehört.« »Hat sonst jemand von Vergewaltigung geredet?« »Während sie in der Notaufnahme lag?« »Während Hester Murdoch in der Notaufnahme war. Hat da jemand vo n Vergewaltigung geredet?« »In dieser Nacht, nein.« »Wir sprechen von dieser Nacht«, sagte Tom. »Hat in dieser Nacht jemand von Vergewaltigung geredet?« »Nein«, antwortete Peter Monji, und der Richter beugte sich nach links. »Lassen Sie's gut sein, Herr Verteidiger«, sagte er. »Diese Kuh ist abgemolken.« Immer enger wurde gestern das Netz um die Angeklagten im Hester-Anne-Ashley-Murdoch-Prozeß. Nach vier Tagen Zeugenaussagen vor Richter Samuel Walker im Bezirksgericht scheint die Anklage gegen Joseph Liliuohe, Harry Pohukaina, Michael Yoshida und David Kwan hieb- und stichfest zu sein. Staatsanwalt Philip Murray legte eine lückenlose Kette von Beweisen vor, die die Angeklagten aufs schwerste belastet. Roy Pabst, Wachtmeister bei der Polizei von Honolulu, der gestern als erster Zeuge aufgerufen wurde, bestätigte frühere Aussagen, als Murray ihn über Mrs. Ashley Murdochs Zustand befragte, als diese am Abend des 20. September in die Notaufnahme des Mercy Hospital gebracht wurde. Wachtmeister Pabst hatte gerade einen Mann eingeliefert, der bei einer Messerstecherei in der Innenstadt verletzt worden war. Straf Verteidiger Tom Halehone setzte seine Kreuzverhöre nach der gleichen Methode fön, die er von Anfang an praktizierte. Er fragte Pabst, ob Mrs. Murdoch etwas von Vergewaltigung gesagt hätte. Obwohl der Polizeibeamte antwortete, daß sie gar nichts -216
gesagt hätte, bearbeitete Halehone den Zeugen so lange, bis Richter Walker den Anwalt wieder einmal auffordern mußte, die Richtung seiner Befragung zu ändern. Gerald studierte Terwilligers Bericht. In einem hellen Anzug saß er auf Windward im Salon und wartete auf Hester und Doris Ashley. Theresa hatte ihm eine Tasse Kaffee gebracht, aber Gerald wollte keinen. Lange vor Morgengrauen war er im Kutscherhaus aufgewacht und hatte fertig angezogen allein in der kleinen Küche des Kutscherhauses neben dem Herd gestanden und seinen Kaffee getrunken. Gerald las immer noch, als er auf dem Kies der Auffahrt das knirschende Geräusch von Reifen hörte. Er ging zum Fenster und sah das Polizeiauto. Es drängte ihn, den Wagen zurückzuschicken, es drängte ihn, nach Pearl Harbor zu fahren und den Admiral um Seedienst zu ersuchen, ganz gleich, wo, ganz gleich, auf welchem Schiff, es drängte ihn, Honolulu für immer zu verlassen. Er durchquerte das Speisezimmer und betrat die Küche. »Sagen Sie ihnen, der Wagen ist da«, trug er Theresa auf. »Mein Name ist Puana, Dr. Frank Puana, ich bin Arzt«, sagte Frank im Zeugenstand. Er trug denselben Anzug und dieselben Schuhe, in denen er Mary Sue geheiratet hatte. Heute früh hatte Mary Sue ihm die Schuhe geputzt, während er sich rasierte. Sie hatte auch das weiße Seidentaschentuch gewaschen und gebügelt und es geschickt in die Brusttasche seiner Jacke gesteckt. Obwohl er keine Weste trug, war ihm warm. Er haßte es, zur Schau gestellt zu werden. Der Stuhl, auf dem er saß, war glatt. Er fürchtete herunterzurutschen. »Wo praktizieren Sie, Herr Doktor?« fragte der Staatsanwalt. »Im Mercy Hospital.« »Sie sind also im Kollegium des Mercy Hospital«, stellte Murray fest, und Frank zuckte zusammen, als ob ihn der -217
Staatsanwalt geschlagen hätte. Er wand sich auf seinem Stuhl, aber es gab kein Entrinnen. Der Ankläger zwang ihn, es vor der ganzen Welt zu bekennen. »Ich versehe meinen Dienst in der Notaufnahme. Als Angestellter.« »Welche Krankheiten behandeln Sie denn dort?« fragte Murray. Frank sah dem Ankläger in die Augen. »Ich bin Doktor der Medizin. Ich bin Arzt und Chirurg und somit befugt, zu praktizieren, zugelassen auf dem Territorium und in neununddreißig Staaten der Vereinigten Staaten. Ich bemühe mich um die Heilung der Patienten, die zu mir gebracht werden.« Richter Walker betrachtete den studierten Kanaken im Zeugenstand, der sich benahm, als ob der Staatsanwalt ihn einen Quacksalber genannt hätte. Murray lächelte. »Sie sind hier als fachkundiger Zeuge geladen, Herr Doktor. Ihre Referenzen sind über alle Zweifel erhaben. Meine Frage betrifft Ihre Arbeit in der Notaufnahme des Mercy Hospital.« »Ich entsinne mich Ihrer Frage«, gab Frank zurück, »und ich habe sie beantwortet. Ich sehe alles: Verletzungen, Brüche, Stichwunden, Schußwunden, Frauen in den Wehen, entzündete Gallenblasen, akute Blinddarmentzündungen, Prellungen, wirklich alles.« »Sie sehen alles«, sagte Murray, »aber behandeln Sie auch alles, Herr Doktor? Sie entfernen doch in der Notaufnahme keinen Blinddarm, oder?« »Ich behandle vornehmlich Patienten, die Verletzungen erlitten haben und sofortiger Hilfeleistung bedürfen.« »Verletzungen«, wiederholte Murray. Der Richter blickte herab. »Da ist nichts mehr zu holen, Herr Staatsanwalt«, rügte Samuel Walker. »Der Zeuge ist Arzt. Zugelassen. Das wurde überprüft.« Murray kratzte sich am Arm. »Hatten Sie am Abend des zwanzigsten September Dienst, Dr. Puana?« »Jawohl.« -218
»Haben Sie an jenem Abend Hester Ashley Murdoch behandelt?« »Ja, das habe ich«, antwortete Frank und sah sie in der ersten Reihe neben ihrem Mann und ihrer Mutter. Er hatte Hester Ashley Murdoch auch nach jener Nacht behandelt. Auch das hätte er der ganzen Welt erzählen können. Er hätte diesen Reportern eine Geschichte erzählen können, die wie eine Bombe hochgegangen wäre. Die vier mutmaßlichen Täter beobachteten ihn. Frank Puana hatte keine Angst vor ihnen. Er hatte Hester Ashley Murdoch nicht geschwängert, das hatten andere getan. Er hatte kein Verbrechen begangen. Er hatte nur getan, was der Chef von ihm verlangte. Claude Lansing hatte ihm versichert, es handle sich um eine therapeutische Abortion. Frank dachte an Lansings Zusage. Nie wieder würde er sagen müssen, daß er angestellt war. Wenn er das nächste Mal in den Zeugenstand zu treten hätte, würde er Mitglied des Kollegiums sein. »Bitte, schildern Sie uns Mrs. Ashley Murdochs Zustand, als Sie sie das erste Mal sahen«, ersuchte Phil Murray den Zeugen. »Die Patientin hatte mehrfache Quetschungen, Abschürfungen und Fleischwunden im Gesicht und am Hals.« »Verursacht durch die Fäuste eines Menschen?« fragte Murray. Tom war auf den Beinen. »Einspruch, Euer Ehren. Der Staatsanwalt beeinflußt den Zeugen.« »Stattgegeben«, sagte Richter Walker. »Ich werde die Frage neu formulieren, Euer Ehren. Aber ich möchte das Hohe Gericht daran erinnern, daß wir diesen Punkt schon bei einem früheren Zeugen berührt haben.« »Sie haben mich erinnert. Machen Sie weiter, Herr Staatsanwalt.« »Können die Verletzungen Mrs. Murdoch Ihrer Meinung nach mit Fäusten zugefügt worden sein?« »Jawohl.« -219
»Könnten ihr die Verletzungen von mehr als einer Person zugefügt worden sein?« »Jawohl.« »Vielen Dank, Herr Doktor. Sagen Sie jetzt bitte dem Gericht, wie Sie Mrs. Murdoch behandelt haben.« Es gelang Murray zu lächeln. »Aber vergessen Sie nicht, daß wir Laien sind.« »Ich verbringe den größten Teil meiner Zeit mit Laien«, sagte Frank. »Mit Patienten und ihren Familien.« Er lehnte sich zurück. Der Stuhl war plötzlich nicht mehr glatt. Seit seinem ersten Tag auf Station hatte Frank den Dialog mit Menschen, die seiner Obhut anvertraut waren, begrüßt und genossen. Er warf einen Blick auf Hester. Keine Spur von Verunstaltung auf ihrem Gesicht. Seine Nähte waren Beispiele mustergültiger Arbeit. Murray unterbrach ihn nicht. Und als Frank verstummte, sagte er: »Danke, Herr Doktor.« Und an Tom gerichtet. »Kreuzverhör.« Tom verließ den Tisch der Verteidigung. »Doktor Puana.« Er blieb zu Franks Linken stehen, so daß beide Hester sehen konnten. »Haben Sie mit Mrs. Ashley Murdoch gesprochen, während Sie sie behandelten?« »Mrs. Ashley Murdoch war nicht in der Lage zu sprechen«, antwortete Frank. »Sie war kaum bei Bewußtsein.« »Sie haben meine Frage nicht beantwortet, Herr Doktor. Haben Sie mit Mrs. Murdoch gesprochen?« »Ich hatte keine Zeit, mit ihr zu sprechen«, kam Frank der Frage nach. »Wußten Sie, wen Sie behandelten?« »Natürlich.« »Sie wußten, daß der Name der Patientin Hester Ashley Murdoch war?« »Natürlich.« »Woher wußten Sie das?« fragte Tom. »Sie hat es mir selbst gesagt. Ich habe sie gefragt, und sie hat es -220
mir gesagt.« »Also haben Sie mit Mrs. Ashley Murdoch gesprochen.« »Wenn Sie das sprechen nennen wollen«, gab Frank zurück. »Können Sie sich noch an weitere Worte erinnern, von Ihnen oder von Mrs. Ashley Murdoch?« »Die Patientin lag in Narkose«, antwortete Frank. »Ich hatte sie betäubt.« »War sie bei Bewußtsein?« fragte Tom. »Sie verlor wiederholt das Bewußtsein. Und ich hatte alle Hände voll zu tun. Mrs. Ashley Murdoch war schwer verletzt.« »Bitte, versuchen Sie sich zu erinnern, Herr Doktor«, bat Tom. »Es ist sehr wichtig. Hat Mrs. Ashley Murdoch Ihnen außer ihrem Namen noch etwas gesagt?« »Aber das wissen Sie doch schon...« antwortete Frank und schüttelte den Kopf. »Nein.« »Hat sie ihnen gesagt, daß sie vergewaltigt wurde?« »Laß mich raus«, flüsterte Hester in der ersten Reihe. Sie wollte aufstehen, aber Doris nahm ihren Arm. »Nein, das hat sie nicht gesagt«, antwortete Frank. Hester kämpfte ihren Arm frei. »Ich brauche ein Glas Wasser«, sagte sie und erhob sich. Doris Ashley richtete sich auf. Sie konnte Hester nicht allein lassen. Hester würde sich davonmachen. Doris blickte sich hilfesuchend um. »Gerald.« Gerald Murdoch drehte sich gar nicht erst um, sah Doris nicht einmal an. Er schüttelte nur den Kopf und beobachtete weiter die Angeklagten. Einer mußte ja dableiben und die vier Verbrecher im Auge behalten! Tom sah Hester und Doris Ashley im Mittelgang. Er wandte sich von der Zeugenbank ab und kehrte dem Richter den Rücken zu. »Haben Sie Mrs. Ashley Murdoch auch untersucht, um festzustellen, ob man sie obendrein noch vergewaltigt hatte, Herr Doktor?« -221
»Ob ich...? Nein!« Tom sah, daß die zwei Frauen den Gerichtssaal verließen und drehte sich wieder zur Zeugenbank. »Gab es irgendwelche Anzeichen, nach denen Mrs. Ashley Murdoch vergewaltigt worden war?« erkundigte sich Tom. »War ihre Kleidung zerrissen?« »Ihr Kleid war schmutzig«, antwortete Frank. »War es zerrissen? Deutete etwas darauf hin, daß etwa ein Kampf stattgefunden hatte?« »Ich sagte es doch schon. Ihr Kleid war schmutzig.« »War Ihre Unterwäsche zerrissen?« »Diese Frage kann ich nicht beantworten. Ich habe sie ja nicht... Also, wie ich schon ausgeführt habe: Ich habe sie nicht genital untersucht.« »Trug Mrs. Ashley Murdoch überhaupt Unterwäsche?« fragte Tom. Richter Walker machte eine abwinkende Handbewegung. »Schon gut, Herr Verteidiger«, sagte er. »Diese Möglichkeiten haben wir jetzt zur Genüge erörtert. Weiter.« »Nur noch eine Frage, Euer Ehren«, sagte Tom und trat auf die Zeugenbank zu. »Wissen Sie von irgendwelchen Umständen, die beweisen würden, daß Mrs. Ashley Murdoch vergewaltigt wurde?« »Nein, mir sind keine bekannt.« »Keine?« »Keine!« antwortete Frank mit fester Stimme. Als das Gericht nach der Mittagspause wieder zusammentrat, rief der Staatsanwalt Doris Ashley in den Zeugenstand. Doris, in der ersten Reihe sitzend, ließ ihre Handschuhe von einer Hand in die andere wandern. »Jetzt ist meine Zeit gekommen«, flüsterte sie Hester zu. »Ich werde dich nicht im Stich lassen, Kleines.« Mit hocherhobenem Kopf durchschritt Doris Ashley die Sperre und ging auf den Gerichtsdiener mit der Bibel zu, als folgte sie -222
einem Platzanweiser. Murray machte es kurz. Nachdem er festgestellt hatte, daß Doris Ashley Hesters Mutter war, sagte er: »Ich habe nur noch zwei Fragen. Erstens, wie haben Sie erfahren, daß Ihre Tochter von vier Männern sexuell mißbraucht wurde?« »Sie hat es mir gesagt«, antwortete Doris Ashley, »im Krankenhaus, auf ihrem Schmerzenslager.« »Mrs. Ashley«, rief sie der Richter zur Ordnung. Als sie zu ihm aufblickte, sagte er: »Beschränken Sie sich darauf, Fragen sachgemäß zu beantworten.« Er lehnte sich zurück. »Streichen Sie ›auf ihrem Schmerzenslager‹«, wies Richter Walker die Schriftführerin an. »Meine letzte Frage, Mrs. Ashley«, sagte Murray. »Hat Ihre Tochter Sie je belogen?« »Niemals«, antwortete Doris Ashley. »Ihre Zeugin«, sagte Murray zu Tom, als er am Tisch der Verteidigung vorbeikam. »Keine Fragen«, sagte Tom. Aus diesem Kreuzverhör würde er als Verlierer hervorgehen und Sympathien für Doris Ashley erzeugen, für eine bedauernswerte Witwe, die man grausam in das grelle Licht einer sensationslüsternen Öffentlichkeit gestoßen hatte. Tom wartete neben seinem Stuhl, bis Mrs. Ashley neben Hester wieder in der ersten Reihe Platz genommen hatte. »Ich rufe Dr. Claude Lansing auf«, sagte der Staatsanwalt. Der Gerichtsdiener öffnete eine der hinteren Türen. »Bitte, Herr Doktor«, sagte er. Lansing zupfte am Saum seiner Jacke. Er trug einen Anzug aus kariertem Wollstoff und eine zweireihige Weste. Er war bereit. Seit fast einer Stunde lutschte er Pfefferminzpastillen, und sein Atem war frisch. Er klopfte leicht auf das Taschentuch in seiner Brusttasche und betrat den Saal. Der Staatsanwalt wendete ebenso wenig Zeit für den Chefarzt auf, wie er es für Doris Ashley getan hatte. Lansing sagte aus, daß Hester sich sechs Wochen nach dem Abend, als sie zum ersten Mal im Mercy Hospital gewesen war, einem operativen Eingriff unterzogen hatte, um eine Schwangerschaft zu unterbrechen. -223
»Wie lange war Mrs. Ashley Murdoch schon schwanger, Herr Dr. Lansing?« fragte Murray. Lansing nahm seinen Kamm aus der Tasche. »Zwischen sieben und acht Wochen - der erste Tag nach der letzten Monatsblutung gilt als erster Tag der Schwangerschaft«, antwortete Lansing. »Keine weiteren Fragen, Euer Ehren«, sagte Murray. Tom stand auf und ging auf Lansing zu. »Herr Doktor, gibt es eine Möglichkeit, nachzuweisen, wer für Mrs. Ashley Murdochs Schwangerschaft verantwortlich war?« wollte Tom wissen. »Es gibt keine wissenschaftliche Methode«, antwortete Lansing. »Könnte es Mrs. Ashley Murdochs Gatte gewesen sein?« »Einspruch!« Murray war blitzschnell auf den Beinen. »Der Herr Verteidiger fordert den Zeugen auf, Mutmaßungen aufzustellen.« »Abgewiesen«, sagte der Richter. »Der Zeuge wird die Frage beantworten.« Lansing sah zum Richter auf. »Ich habe darauf erwidert«, sagte er, »daß sich die Frage wissenschaftlich nicht beantworten läßt.« »Mit anderen Worten, wir werden nie erfahren, wer der Vater des ungeborenen Kindes war.« »Genauso ist es«, bestätigte Lansing und fuhr sich mit der Hand über das Haar. Seine Kehle war trocken. »Danke, Herr Doktor«, sagte Tom und wandte sich ab. Lansing sah zum Richter auf. »Sie sind entlassen, Herr Doktor«, sagte Richter Walker, und Lansing verließ den Zeugenstand. Er bemühte sich, leichtfüßig durch den Saal zu schlendern, so als ob er Zeit im Überfluß hätte. In seiner Arzttasche unten im Wagen hatte er eine Flasche mit Alkohol. Während er den Mittelgang hinunterging, erhob sich der Staatsanwalt von seinem Stuhl. -224
Murray wandte der Richterbank den Rücken zu, marschierte an den Reportern vorbei und blieb an der Schranke stehen. »Ich rufe Hester Anne Ashley Murdoch auf«, sagte er, als spräche er zu ihr allein. Er beugte sich vor, um den Riegel aufzuklinken. In seinem Betragen erinnerte er an einen Bedienten. »Denke dran, ich bin bei dir, Kleines«, wisperte Doris Ashley. »Viel Glück«, sagte Gerald, stand auf und streckte die Hand aus, um Hester hochzuhelfen. Doris Ashley erhob sich. Hester hörte das Summen um sie herum, wie Wespen, die sich auf einen Angriff vorbereiteten. Sie war ganz allein. Doris führte sie in den Mittelgang und küßte sie. »Sei stark für uns beide.« »Mrs. Ashley Murdoch«, sagte Murray, während er die Sperre für sie offenhielt. Er blieb rechts vo n Hester, zwischen ihr und den Angeklagten, aber Hester konnte sie sehen, jeden einzelnen, und auch ihren Anwalt. Tom beugte sich weit über den Tisch und fixierte seine Mandanten. Er hatte mit seinen Instruktionen gewartet, bis sie vom Essen zurückkamen, und sie in der Halle abgefangen. »Keine Angst«, sagte Joe. »Wir sind taub, stumm und blind, okay?« Murray half Hester in den Zeugenstand. Während sie vereidigt wurde, trat er zur Seite und stellte sich erst wieder neben sie, als sie Platz genommen hatte. »Bitte nennen Sie dem Gericht Ihren Namen und Ihr Alter.« »Mein Name ist Hester Ashley Murdoch und ich bin einundzwanzig Jahre alt.« Sie sah die Angeklagten vor sich und ließ den Kopf sinken. »Wo wohnen Sie?« fragte Murray. Und sie sagte es ihm. »Sie leben in einem Haus, das den Namen Windward trägt«, stellte Murray fest. »Ja. Nein... ich... wir wohnen im Kutscherhaus«, berichtigte ihn Hester. »Im Kutscherhaus. Könnten Sie das den Geschworenen -225
erklären, Mrs. Ashley Murdoch?« Phil Murray hatte seine Art geändert. Er war jetzt der gute Onkel, der zuverlässige Arzt der Familie, der am Bett des fiebernden Kindes sitzt. »Wir... mein Mann und ich, wir wohnen im Kutscherhaus«, erklärte Hester. »Als wir heirateten... vor meiner Heirat ließ meine Mutter das Kutscherhaus für uns umbauen.« »Eine Art Hochzeitsgeschenk«, lächelte der Staatsanwalt und wartete. »Mrs. Ashley Murdoch?« Hester hob den Kopf, betrachtete die Angeklagten, drehte den Kopf zur Seite und sah zu den Geschworenen hinüber. Sie würden die jungen Männer schuldig sprechen. Dann blickte sie wieder in den Saal. Doris Ashley nickte ihr ermutigend zu. »Ja, als Hochzeitsgeschenk«, sagte Hester. »Wie lange sind Sie verheiratet, Mrs. Ashley Murdoch?« »Eineinhalb Jahre. Fast eineinhalb Jahre.« »Eineinhalb Jahre«, wiederholte Murray. »Also jungverheiratet.« Er beobachtete Hester. »Fühlen Sie sich nicht wohl, Mrs. Ashley Murdoch?« »Doch. Ja.« »Also dannnnnnn.« Murray dehnte das Wort, um Widerstreben zu demonstrieren. »Ich muß Sie bitten, sich auf einen Abend im vergangenen September zu besinnen, einen Samstagabend, den Abend des zwanzigsten September. Wo waren sie an diesem Abend?« Noch fühlte Hester die Bibel unter ihrer Hand. Sie konnte den Eid hören, den sie nachgesprochen hatte. Sie konnte die Gefängnistüren hören, die hinter den vier jungen Männern zuschlugen, die sie ins Verderben schickte. »Ich muß die Wahrheit sagen!« antwortete sie laut und vernehmlich. Sie sah, wie ihre Mutter den Platz verließ, allein dastand, ihr Gesicht eine Totenmaske. Tom war halb auf den Beinen. Er hörte Murray, der Hester sanft erwiderte: »Natürlich werden Sie uns die Wahrheit sagen, Mrs. Ashley Murdoch. Wir zweifeln nicht an Ihren Worten. Sie -226
brauchen keine Angst zu haben. Kein Mensch braucht vor der Wahrheit Angst zu haben.« Hester sah, wie ihre Mutter auf ihren Platz zurückkehrte. »Ich werde die Frage wiederholen, Mrs. Ashley Murdoch«, begann Murray von neuem. »Wo waren Sie am Abend des zwanzigsten September?« »Ich war im Whispering Inn«, antwortete Hester und bemühte sich, niemanden anzusehen. »Mit Ihrem Gatten?« »Ich war mit Bryce zusammen«, wollte sie sagen. »Ich war mit Bryce Partridge, dem Vater meines Babys, zusammen. Er war es, der mich zusammengeschlagen hat.« »Mrs. Murdoch? Waren Sie mit Ihrem Gatten im Whispering Inn?« »Ja.« Langsam, geduldig, äußerst penibel führte Murray die Zeugin durch die frühen Stunden jenes Abends. »Warum haben Sie den Saal verlassen, Mrs. Ashley Murdoch?« »Ich verließ den Saal, weil ich schwanger war«, wollte sie sagen. »Ich mußte es Bryce mitteilen. Ich hoffte, er würde mit mir die Insel verlassen.« »Warum haben Sie den Saal verlassen?« wiederholte Murray seine Frage. »Es war sehr warm und lärmend«, antwortete Hester. »Und rauchig. Mir schwindelte. Ich verließ den Saal, weil mir schwindelte.« »Um frische Luft zu schnappen«, sagte Murray. »Sie verließen den Saal, um frische Luft zu schnappen.« »Ja, um frische Luft zu schnappen«, bestätigte Hester. »Sie waren allein, eine junge Frau von einundzwanzig Jahren, die vor kurzem geheiratet und ein neues Leben begonnen hatte«, faßte Murray zusammen. »Bitte weiter, Mrs. Ashley Murdoch. Erzählen Sie den Geschworenen mit eigenen Worten, was -227
geschah, als Sie Ihren Gatten für einige kurze Augenblicke im Saal zurückließen.« »Ich... ich ging so lange, bis ich die Musik nicht mehr hören konnte. Ich dachte, es würde mir guttun, wenn es eine kleine Weile still wäre.« »Sie waren allein in der Dunkelheit«, sagte Murray. »Hatten Sie Angst?« »Nein. Zu diesem Zeitpunkt noch nicht. »Zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Geschah etwas, was Ihnen angst machte?« »Ja«, antwortete Hester, so leise, daß man sie nicht hören konnte. »Entschuldigen Sie, Mrs. Ashley Murdoch. Könnten Sie lauter sprechen? Geschah etwas, was Ihnen angst machte?« »Die Männer im Wagen.« Hester sah ihre Mutter, sah Gerald, hörte ihre Mutter sie auffordern, tapfer zu sein und sie zu retten, sie beide zu retten. »Die Männer im Wagen«, wiederholte Murray und bat Hester, den Wagen zu beschreiben. Er fragte Hester, wieviele Männer im Wagen gesessen hatten. Seine Fragen waren so wohl formuliert, daß sie Hesters Antworten stets einschlossen. Tom sah Hester nicht an. Er beobachtete seine Mandanten. Schon in der Halle hatte er sich von jedem einzelnen das Versprechen geben lassen, daß er schweigen, daß er sich nicht rühren würde. Tom hörte Hesters Lügen, wartete, bis sie mit ihren Lügen fertig war, und war bemüht, sich nicht davon beeindrucken zu lassen. »Sehen Sie die vier Männer, die über Sie herfielen und Sie mißbrauchten, hier in diesem Gerichtssaal?« »Ja.« Staatsanwalt Murray verließ den Zeugenstand, ging auf den Tisch der Verteidigung zu und blieb hinter Joe stehen. »Ist Joseph Liliuohe einer dieser Männer?« »Ja.« Murray tat einen Schritt nach links und blieb hinter David -228
Kwan stehen. »Ist David Kwan einer dieser Männer?« »Ja.« Murray trat hinter Mike Yoshidas Stuhl und dann zu Harry. Hester identifizierte beide. Murray blickte kurz zu den Zeitungsleuten hinüber, die sich eifrig Notizen machten, und kehrte zum Zeugenstand zurück. »Sie waren heute sehr tapfer, Mrs. Ashley Murdoch«, sagte er, und wieder war er der gute Onkel Doktor, der mit seiner Patientin sprach. »Ich bedaure, daß ich Ihnen diese Prüfung nicht ersparen konnte.« Er wandte sich ab. »Keine weiteren Fragen, Euer Ehren.« Tom nahm ein Bündel Papiere vom Tisch. »Tom«, flüsterte einer, aber er hörte nicht hin. Sie waren nicht dabei. Das mußte er allein ausfechten. Er hätte Sarah mitnehmen sollen, mit ihrem Chef reden. Nein! Auch Sarah konnte ihm nicht helfen, sie hatte noch mehr Angst als er. Niemand konnte ihm helfen. Die Papiere in der Hand, ging Tom auf den Zeugenstand zu. »Sie haben die vier Angeklagten als die vier Männer identifiziert, die Sie überfallen und zusammengeschlagen haben, Mrs. Ashley Murdoch«, begann Tom. »Sie haben ausgesagt, das wäre spätabends gewesen. Ist das richtig?« »Ja, das ist richtig.« »Um welche Zeit hat sich dieser... Vorfall denn ereignet?« fragte Tom und fügte rasch hinzu: »Ungefähr.« »Ungefähr?« Hester zerrte an ihren Fingern. »Das kann ich nicht sagen.« »Könnten wir davon ausgehen, daß es einundzwanzig Uhr gewesen ist?« »Das kann ich wirklich nicht sagen.« Gerald beobachtete den Anwalt, der den Blick auf die Papiere in seiner Hand gerichtet hielt. Der Kerl quälte Hester. Er war auch nicht besser als die vier am Tisch. Dieser Halehone gehörte dazu. Er stand da, als wäre er der Unschuldige und Hester die Beschuldigte. Jetzt hob der Anwalt den Arm und zeigte die Papiere in seiner Hand. -229
»Gemäß den Aufzeichnungen der Notaufnahme des Mercy Hospital kamen Sie am späten Abend des zwanzigsten September um zwanzig Minuten nach zehn dort an«, sagte Tom. »Wie lange vor diesem Zeitpunkt begegneten Ihnen Ihrer Meinung nach diese vier Angeklagten?« Hilfesuchend blickte Hester zum Richter auf. Staatsanwalt Murray sprang auf. »Einspruch, Euer Ehren«, sagte er. »Der Herr Verteidiger schüchtert die Zeugin ein.« »Abgewiesen«, gab der Richter zurück. Wenn sich die Mutter der Zeugin, diese Doris Ashley, noch einmal aufreckte und sich als Herrin über das gemeine Volk aufspielte, würde er ihr den Gerichtsdiener auf den Hals schicken. Mrs. Ashley war hier nicht auf Windward! Der Richter sah Hester an. »Die Zeugin muß die Frage beantworten. Um welche Zeit etwa hat die Begegnung stattgefunden?« »Ich sagte schon...«, sie unterbrach sich. »Gegen neun Uhr. Ungefähr um neun.« Der Richter nickte Tom zu. »Sie haben weiter ausgesagt, daß die Angeklagten Sie zuerst in der Nähe des Whispering Inn sahen, Mrs. Ashley Murdoch«, setzte Tom die Vernehmung fort. Er wies auf seine Papiere. »Dem Bericht des Wetterdienstes ist zu entnehmen, daß am späten Abend des zwanzigsten September der Himmel von einer dichten Wolkendecke überzogen war, hinter der sich ein stark abnehmender Mond verbarg.« Tom kehrte zum Tisch der Verteidigung zurück und blieb hinter seinen Mandanten, in ihrer Mitte, stehen. »Sie haben diese vier Angeklagten um etwa neun Uhr abends bei bedecktem Himmel und einer schmalen Mondsichel gesehen. Sie haben diese vier Angeklagten als die vier Männer identifiziert, die Sie überfallen, geschlagen und mißbraucht haben. Ist das richtig?« »Ja«, gab Hester zu. Wann würde er endlich aufhören? »Ja, ja.« Tom entfernte sich vom Tisch der Verteidigung und blieb auf der Höhe der Sperre gegenüber dem Richter stehen. Er deutete zur Decke. »Ich würde bitten, im Saal die Lichter auszumachen, Euer -230
Ehren.« Dann deutete er auf die Fenster. »Ich würde auch bitten, die Jalousien herunterzulassen.« »Einspruch«, meldete sich Murray energisch. »Der Herr Verteidiger versucht das Hohe Gericht in einen Affenzirkus umzuwandeln.« »Euer Ehren, ich versuche nur...« begann Tom und wurde vom Hämmerchen des Richters unterbrochen. »Niemand verwandelt dieses Gericht in einen Affenzirkus, Mr. Murray«, fuhr der Richter den Staatsanwalt an. »Und was Sie angeht«, wandte er sich an Tom, »was haben sie nun wirklich vor?« »Meine Mandanten, Euer Ehren, sind eines schweren Verbrechens angeklagt und haben, wenn die Geschworenen diese vier Angeklagten schuldig sprechen, ein hartes Urteil zu erwarten. Ihr Leben wäre zerstört. Auch sie sind jung«, erinnerte Tom die Geschworenen an Murrays dramatische Einfügung, als er Hester vernommen hatte. »Einer der Angeklagten ist einundzwanzig, ein anderer noch jünger. Die ganze Anklage beruht auf der Aussage einer einzigen Zeugin, auf der Aussage von Hester Anne Ashley Murdoch. Kein anderer Ze uge hat die Angeklagten beschuldigt oder identifiziert. Mrs. Ashley Murdoch sagt, sie hätte ihre Peiniger in der Dunkelheit erkannt, gesehen bei Nacht und unter wolkenverhangenem Himmel. Ich ersuche das Gericht um Erlaubnis, hier im Saal ungefähr die gleichen Lichtverhältnisse herstellen zu dürfen.« »Euer Ehren!« Murray war empört aufgesprungen. »Mrs. Ashley Murdoch hat die Angeklagten bereits identifiziert!« »Ich hab's erlebt, Herr Staatsanwalt«, sagte der Richter. »Gerichtsdiener, drehen Sie die Lichter aus und lassen Sie alle Jalousien herunter.« »Danke, Euer Ehren«, sagte Tom und kehrte zu seinem Tisch zurück, während das dumpfe und erregte Gemurmel des Publikums den Gerichtssaal erfüllte. Der Richter erhob sich und -231
beugte sich über sein Pult. »Helfen Sie ihm«, wies er den Schriftführer an. Die Lichter erloschen langsam, als der Schriftführer, vom Gerichtsdiener gefolgt, auf die Fenster zuging. »Ich bitte mir äußerste Ruhe und Ordnung aus«, sagte der Richter. Jeff Terwilliger, der hinter dem Tisch der Verteidigung saß, schob seinen Bleistift in die Jackentasche, die gefalzten Notizblätter in eine andere. Das Gemurmel verstummte, und auch das Füßescharren wurde eingestellt. Tom vernahm das trockene Rasseln der Jalousien, als sie heruntergelassen wurden. Gerichtsdiener und Schriftführer tasteten sich auf ihre Plätze zurück. Tom war aufgestanden. »Mrs. Ashley Murdoch.« Hester sah die Gestalt im Dunkeln stehen und hörte die Stimme des Verteidigers. »Lassen Sie uns noch einmal zu jener Nacht des zwanzigsten September und in die Nähe des Whispering Inn zurückkehren. Sie haben ausgesagt, daß Sie gegen einundzwanzig Uhr von vier Männern überfallen wurden. Ich ersuche die Angeklagten, sich zu erheben.« Hester hörte ein kurzes Füßescharren und sah Gestalten, sah, wie sie sich bewegten. »Sind das die vier Männer, die Sie in der Nähe des Whispering Inn gesehen haben, Mrs. Ashley Murdoch?« Sie sah die Gestalten, die in einer Reihe vor ihr standen, sie sah den Großen, den, der den Wagen gelenkt hatte. Sie hätte sie anschreien, ihnen zurufen mögen: »Lauft, lauft, lauft davon, so schnell ihr könnt!« »Mrs. Ashley Murdoch. Sind das die vier Männer, die Sie in der Nähe des Whispering Inn gesehen haben?« »Ja, ja. Das sind sie«, sagte Hester und grub ihre Fingernägel tief in die Handflächen. Tom hörte sie deutlich. »Ich kann Sie kaum hören.« »Ja. Ja!« »Sind Sie ganz sicher?« fragte Tom. »Ja!« »Ohne den geringsten Zweifel?« fragte Tom. »Einspruch, Euer Ehren«, meldete sich Staatsanwalt Murray. -232
»Jetzt schüchtert der Herr Verteidiger die Zeugin tatsächlich ein.« »Das Gericht hält die Antworten der Zeugin für ausreichend«, entschied der Richter. »Euer Ehren«, sagte Tom, »ich muß alles tun, um zu beweisen, daß meine Mandanten unschuldig sind. Ich bitte das Gericht, Mrs. Ashley Murdoch zu erlauben, die letzte Frage, meine letzte Frage, zu beantworten.« »Beantworten Sie die Frage, Mrs. Ashley Murdoch«, wies der Richter sie an. »Würde der Schriftführer meine letzte Frage wiederholen?« bat Tom. Der Schriftführer beugte sich über seinen Block und kniff die Augen zusammen. »›Ohne den geringsten Zweifel? ‹« las er laut vor. »Ja«, sagte Hester. »Würde der Gerichtsdiener die Freundlichkeit haben, das Licht wieder einzuschalten«, bat Tom. Der Mann langte nach dem Schalter. »Schau!« sagte jemand, als die Lichter aufflammten, und »Sieh mal!« ein anderer. Etliche deuteten mit den Fingern. »Da drüben, neben den Geschworenen!« Die Männer in den Geschworenenbänken schwenkten die Köpfe herum und starrten Harry Pohukaina und Mike Yoshida an, die neben ihnen standen. Neben Joe und David Kwan standen Jeff Terwilliger und der New Yorker Reporter; in der Mittagspause hatten sie sich zu dem Rollentausch bereit erklärt. »Sie haben die Plätze getauscht«, sagte einer. Der Richter hämmerte auf sein Pult. McAdams packte Murray am Arm. »Phil!« Er deutete auf Tom, der auf Jeff Terwilligers Stuhl unter den Reportern saß. Doris Ashley hob den Arm, als ob sie jemanden schlagen wollte. »Das ist nicht fair!« rief sie. »Ruhe! Ruhe, sage ich!« Fast schrie Richter Walker, als er den New Yorker Reporter und Jeff Terwilliger neben den zwei Angeklagten stehen sah. -233
Wie durch einen Dunstschleier erkannte Hester die zwei Männer auf der Geschworenenbank, sah sie den Anwalt und einen Unbekannten mit den anderen beiden am Tisch. Sie hatte das Gefühl, man würde sie gleich köpfen. Sie konnte die Guillotine sehen und die Schreie der Menge hören, die nach blutiger Rache schrie. Sie konnte den Richter hören, der alle aufforderte, auf die Plätze zurückzukehren und drohte, den Saal räumen zu lassen. Hester sah ihre Mutter, die ihr Gesicht verdeckte, und Gerald, der weit, weit weg zu sein schien und wie zu Eis erstarrt. Vier Tage später, vierundsechzig Stunden, nachdem die Geschworenen eingeschlossen worden waren, ließ der Sprecher den Gerichtsdiene r kommen, der sich sogleich in Richter Walkers Amtsraum begab. Die neue Golftasche des Richters mit seinen neuen Schlägern lag auf einem Stuhl neben seinem Schreibtisch. Er wollte sie nicht im Wagen lassen. Er hatte sich ausgerechnet, daß ihm nach dem heut igen Verhandlungstag nur für neun Löcher Zeit bleiben würde, obgleich der städtische Golfplatz Riverside auf seinem Heimweg lag. »Sie werden bestimmt früh auf dem Platz sein«, meinte der Gerichtsdiener. »Ich werde überhaupt nicht hinkommen«, erwiderte der Richter. »Nicht, wenn es so läuft wie bisher.« Er wies den Gerichtsdiener an, die Beteiligten zu informieren. Sobald er allein war, rief er das Polizeipräsidium an. »Sie sind soweit, Len«, berichtete er dem Polizeichef. Leonard Fairly ließ sich mit der Einsatzzentrale verbinden. »Maddox ist nicht im Haus«, sagte er, »suchen Sie ihn.« Tom, in seinem Büro, bedankte sich und legte den Hörer auf. »Die Geschworenen kommen zurück«, sagte er. Joe Liliuohe und David Kwan warteten auf der anderen Seite seines Tisches. Mike Yoshida stand auf, und Harry Pohukaina stieß sich vom Fensterbrett ab. Alle sahen ihn an. Tom fühlte sich innerlich leer. »Was meinst du?« fragte Joe. »Tom«, sagte Harry drängend, -234
»Tommy?« Mike schob sich zwischen Joe und David. »Menschenskind, sag doch endlich was.« »Ihr seid unschuldig«, stieß Tom hervor. »Ihr seid unschuldig!« »Du hast doch keine Ahnung, was diese verdammten Geschworenen ausgeknobelt haben!« rief Mike, ließ den Kopf sinken und sagte zum ersten Mal: »Entschuldige. Nach allem, was du für uns getan hast.« »Hier können wir nicht bleiben«, meinte Harry. »Und türmen auch nicht.« Tom stand auf und setzte sich wieder. »Ich muß es Sarah sagen«, meinte er. Ihr Chef hatte sich bereit erklärt, ihr freizugeben, damit sie im Gerichtssaal sein konnte, wenn das Urteil gesprochen wurde. »Ich möchte meinen Vater anrufen«, bat David. »Vielleicht wäre es besser für ihn, wenn du ihn nicht informierst«, brummte Joe. »Ich muß ihn anrufen.« »Dann tu's doch!« brauste Harry auf. »Bringen wir's hinter uns!« Er sah Joe an, und seine Stimme sank. »Ich habe die Hosen voll.« Während Tom mit Sarah sprach, saß Maddox beim Friseur. An den Tagen, an denen er sich die Haare schneiden ließ, rasierte er sich nicht selbst. Das machte der Friseur, der ihm auch gleich die Haare wusch. Maddox saß eine Stunde im Laden, und als er auf die Straße trat, hörte er schwach das Funkgerät in seinem Wagen. Er drehte den Zündschlüssel um. »Zweieinszwei, zweieinszwei«, rief der Einsatzleiter. Maddox langte nach dem Mikrofon, das neben dem Funkgerät hing. »Zweieinszwei.« »Zweieinszwei ins Gerichtsgebäude«, sagte der Einsatzleiter, »der Chef hat ein Sonderkommando zusammengestellt. Die Geschworenen kommen zurück.« Maddox hängte das Mikrofon wieder ein. »Reine Verschwendung«, murmelte er und wendete, gegen die Verkehrsordnung, in der Einbahnstraße. Im Gerichtssaal stand Tom neben dem Tisch der Verteidigung, ließ die Eingangstür nicht aus den Augen und wartete auf Sarah. -235
Seine Aktentasche lag in der anderen Ecke der ersten Bankreihe hinter seinen Mandanten. Er hatte den Gerichtsdiener gebeten, den Platz für ihn freizuhalten. Der Saal war brechend voll. Die Zeitungsleute hockten auf ihren Stühlen vor der Sperre, der Staatsanwalt und sein Stellvertreter saßen an ihrem Tisch. Er konnte Doris Ashley und Hester und ihren Mann in der ersten Reihe sehen. »Tom?« Joe machte ihm ein Zeichen. Tom hätte ihn anbrüllen mögen. »Laß mich in Frieden!« Er konnte nicht mehr reden, denn er hatte alles gesagt. Er hatte es hinter sich. Alle hatten es hinter sich. Nur die zwölf Männer im Geschworenenzimmer hatten eine Antwort für Joe. »Tom!« Wieder machte Joe ihm ein Zeichen und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Tom stellte sich neben ihn, Joe verrenkte sich den Hals und flüsterte: »Wenn wir... bringen sie uns von hier aus direkt ins Gefängnis?« Harry hörte es und sah Tom fragend an. Auch Mike hörte ihn. »Dürfen wir nicht einmal...?« Er brach ab. »Bis heute habe ich es noch nicht so recht geglaubt«, flüsterte er. Joe zupfte Tom am Ärmel. »Tom.« David Kwan rettete ihn. »Da ist mein Vater!« David sprang auf, als ob die Stunde der Befreiung geschlagen hätte. »Er braucht einen Sitzplatz!« Tom sah den kleinen Mann am Eingang stehen, den Hut gegen die Brust gedrückt, unsicher und verängstigt. »Ich werde ihm helfen«, sagte Tom, und als er auf ihn zuging, sah er Sarah, die gerade den Gerichtssaal betrat. Er vergaß Joe, vergaß die anderen, vergaß die Geschworenen, ging an den Geschworenenbänken vorbei und merkte es nicht, merkte nicht einmal, daß er lächelte. Es waren keine zwei Stunden her, daß Sarah ihn und Joe in sein Büro gefahren hatte, aber er eilte auf sie zu, eifrig bemüht, größer zu sein als sie, damit er leichter zu sehen war unter den sich drängenden Zuschauern. Er hatte das Gefühl, mit ihr von neuem vereint zu sein. »Sarah.« Er hatte sie wieder und hielt ihre Hand in der seinen. Dann wandte er sich an Davids Vater. »Mr. Kwan«, sprach Tom ihn an. -236
Der verängstigte Mann zuckte zusammen; offenbar erwartete er, gefaßt und ebenfalls bestraft zu werden. »Sie gehören zu uns, Mr. Kwan«, sagte Tom und führte beide die Rückwand des Saales entlang auf die andere Seite hinüber. Sarahs Hand schloß sich um die seine. »Ich habe Angst«, flüsterte sie. »Nach deinem Anruf hatte ich Angst, zu kommen und Angst, nicht zu kommen. Ich habe Angst, Joe zu sehen, sie alle. Ich habe Angst, die Geschworenen zu sehen und zuzuhören. Ach, Tom, ich mache es dir noch schwerer.« »Niemals«, versicherte er ihr und drehte den Kopf zur Seite, um Sarah anzusehen. »Niemals, Sarah.« Sie kamen zur ersten Reihe, und er nahm seine Aktentasche an sich. »Sie können hier sitzen, Mr. Kwan. Beide könnt ihr hier sitzen.« Tom sah den Gerichtsdiener auf die Tür neben der leeren Geschworenenbank zugehen. »Ich muß an meinen Tisch zurück.« Sarahs Hand blieb auf der seinen, als ob man sie mit Gewalt voneinander getrennt hätte. Auf der anderen Seite des Saales saß Doris Ashley völlig allein. Sie hatte die amerikanische Fahne vor sich, aber sie sah nur Windward. Sie konzentrierte sich auf Windward. Bald würde sie wieder zurück sein. Sehr bald. Ihre schwere Prüfung würde ein Ende haben, und schon morgen früh würde sie Theresa und Amelia ordentlich Dampf machen. Es würde Schluß sein mit der Faulenzerei. Doris Ashley war fest entschlossen, Windward bis Ende der Woche in altem Glanz wiedererstehen zu lassen. Sie würde eine angemessene Zeit verstreichen lassen, bis sie wieder eine Einladung annahm oder Gäste empfing. Sie würde eine kleine Weile in Zurückgezogenheit leben, um nach ihrem entsetzlichen Erlebnis wieder zu Kräften zu kommen. Danach brauchte sie nur noch einen hübschen Anlaß für einen Großen Empfang auf Windward. »Da kommen sie«, sagte Leslie McAdams am Tisch der Staatsanwaltschaft. Der Gerichtsdiener, gefolgt von den Geschworenen, betrat den Saal. Phil Murray kratzte sich am Arm. -237
»Worauf zum Teufel warten sie noch?« wisperte Mike Yoshida. Der Gerichtsdiener durchquerte den Saal und öffnete die Tür neben der Richterbank. »Halt die Schnauze«, zischte Joe. »Um Himmels willen, halt die Schnauze!« Er betrachtete die Geschworenen und versuchte zu ergründen, was hinter ihren Stirnen vorging. Er betete. Dann hörte er die Tür und blickte vor sich hin, als sich der Gerichtsdiener dem Saal zuwandte: »Achtung, Achtung, das Kreisgericht des Bezirks Honolulu, Oahu, Territorium von Hawaii, tagt unter dem Vorsitz des Ehrenwerten Richters Samuel Walker«, verkündete der Gerichtsdiener. »Nehmen Sie Platz. Prozeß Nummer einsacht viersieben, das Volk gegen Joseph Liliuohe, Harry Pohukaina, David Kwan und Michael Yoshida.« Richter Walker ließ seinen Blick durch den Saal schweifen. »Ich werde jetzt die Geschworenen bitten, mir ihren Urteilsspruch bekanntzugeben«, sagte er. »Sie befinden sich hier als Gäste des Gerichts. Ich werde keinerlei Tumulte oder gar Demonstrationen zulassen. Ich warne auch die Herren von der Presse. Wir werden die Sache völlig ordnungsgemäß abwickeln.« Der Richter ließ den Anwesenden Zeit, über seine Worte nachzudenken, und wartete, bis absolute Stille eingetreten war. »Meine Herren Geschworenen, sind Sie zu einer Erkenntnis gelangt?« Der Sprecher erhob sich. »Euer Ehren, wir konnten uns nicht auf einen Urteilsspruch einigen«, gab er dem Richter bekannt, was dieser schon wußte. »Keine Einigung«, flüsterte der New Yorker Reporter Jeff Terwilliger zu. »Eine Reise um die halbe Welt, und kein Urteilsspruch.« »Tom!« Joe beugte sich über den Tisch. Die anderen steckten die Köpfe zusammen und lehnten sich vor. »Der Prozeß hat kein Ergebnis gebracht«, wisperte Tom. Sie kamen nicht ins Gefängnis! Er hatte sie vor dem Gefängnis bewahrt! »Euer Ehren!« Murray stand neben seinem Stuhl und -238
blickte zu den Geschworenen hinüber. »Euer Ehren, ich ersuche, die Geschworenen nach dem Stimmenverhältnis zu befragen.« »Wie Sie wünschen, Mr. Murray«, willigte der Richter ein. »Herr Geschworenensprecher, der Staatsanwalt hat um die Bekanntgabe des Stimmenverhältnisses ersucht. Sie dürfen also dem Gericht das Resultat Ihrer letzten Abstimmung bekanntgeben, aber nicht, ob die Mehrheit für schuldig oder unschuldig gestimmt hat.« »Um sicher zu sein, daß ich Sie richtig verstanden habe, Euer Ehren: Sie wollen wissen, wieviele von uns auf die eine Weise gestimmt haben, und wieviele auf die andere?« Richter Walker zielte mit dem Hämmerchen auf den Geschworenensprecher. »Genauso ist es. Sie haben mich richtig verstanden. Die Zahlen. Nur die Zahlen.« »Ja, Sir«, nickte der Sprecher. »Nur die Zahlen. Also, zehn zu zwei.« Alle im Saal, auch die Reporter, blickten auf Tanoye Fujimoto und Andrew Lihilini, die neben dem Sprecher auf der Geschworenenbank saßen. Murray wirbelte herum, wandte den Geschworenen den Rücken zu und schloß seine Aktentasche. Der Richter schwang sein Hämmerchen. »Da es den Geschworenen nicht gelungen ist, sich auf einen Urteilsspruch zu einigen, sind sie hiermit entlassen.« Er sah den Verteidiger an. »Ein neues Prozeßdatum wird vom Gerichtspräsidenten festgesetzt. Die Angeklagten verbleiben bis zu ihrem Erscheinen vor Gericht unter Kaution.« »Euer Ehren, ich beantrage, die Anklage gegen meine Mandanten fallenzulassen«, sagte Tom. »Abgewiesen«, verkündete Richter Walker. »Die Sitzung ist geschlossen.« Jeff Terwilliger lief schon los, noch bevor der Richter sein Hämmerchen geschwungen hatte. Auch seine Kollegen sprangen von den Stühlen und strebten über die Seitengänge den Türen zu. Die Geschworenen erhoben sich. Tom blieb neben seinem Stuhl stehen und beobachtete sie. Die zwölf -239
Männer verließen einer nach dem anderen die Geschworenenbank. Irgendeiner, Joe oder Mike, stieß Tom an, aber der Anwalt schob ihn beiseite und hielt seine Augen fest auf die Geschworenen gerichtet. Tanoye Fujimoto ging ruhig weiter, aber als Andrew Lihilini den Platz des Sprechers erreichte, verhielt er kurz den Schritt. Er sah sich um, und einen Augenblick lang trafen sich seine und Toms Blicke. Von den vorbeihastenden Journalisten eingeschlossen, stand Sarah in der ersten Reihe. Sie konnte weder Joe noch Tom erreichen und auch nicht auf den Gang hinaus. Sie sah Joe mit Tom zusammenstehen, sah David Kwan näher kommen, um seinen Vater zu begrüßen, sah Harry und Mike wild gestikulieren und reden, aber sie konnte sie nicht hören, konnte niemanden hören, obwohl der Saal voll von Stimmen war. »Noch mal so'n Scheißprozeß«, knurrte Harry am Tisch der Verteidigung und stieß mit dem Fuß nach einem Stuhl. »Wir sind wieder da, wo wir angefangen haben«, meinte Mike Yoshida. Tom hätte ihn am liebsten geohrfeigt. »Du irrst dich!« fuhr er ihn an. »Was du da sagst, ist absoluter Käse! Ihr seid nicht auf dem Weg ins Gefängnis! Ihr seid auf dem Weg nach Hause! Ihr seid frei!« »Wir sind frei bis zum nächsten Mal«, sagte Joe. »Das nächste Mal wird das Urteil auf unschuldig lauten«, versprach Tom. »Das nächste Mal werdet ihr für immer frei sein!« Der junge Anwalt zweifelte keinen Augenblick daran. »Ja, ja«, murmelte Mike und lockerte den Knoten seiner Krawatte, um sein Hemd aufzuknöpfen. Keine fünf Meter von ihnen entfernt stand auch Gerald auf und knöpfte sich seine Jacke zu, ohne die Kerle am Tisch der Verteidigung aus den Augen zu lassen. »Wir wollen nicht gleich gehen, Gerald«, meinte Doris Ashley. »Wir werden warten, bis dieses Geschmeiß sich verzogen hat.« Gerald blieb stumm. »Du -240
kannst dich wieder setzen.« Gerald hatte ihre Anordnungen satt; er sah das Mädchen bei der Bande, sah, wie sie ihre Freude teilte. Heute abend würde es etwas zu feiern geben, der Okolehao würde herumgereicht, und sie würden über die Haoles lachen, denen sie eins ausgewischt hatten, über Hester Murdoch und ihren Dummkopf von Ehemann. Zusammen mit den anderen kamen jetzt der verkrüppelte Anwalt und das Mädchen auf die Sperre zu. Der lange Lulatsch, ihr Anführer, ging voran, öffnete die Sperre für sie und ließ sie an sich vorbei. Sie waren so nahe, daß Gerald ihre verschwitzten Gesichter sehen konnte. Sie kamen daher wie Affen, denen man Kleider angezogen hatte; so machte es mehr Spaß, wenn sie ihre Kunststücke vorführten. Nur, daß sie nicht hinter Gitter waren, nicht im Käfig saßen. Er war es, der in der Falle saß. »Gerald.« Doris war aufgestanden. »Wir sind soweit«, sagte sie. »Hester? Kleines, wir sind soweit.« Die letzten Zuschauer verließen den Saal. Gerald sah einen Mann hereinkommen. Er ging zwischen den Leuten hindurch, als ob sie nicht da wären, und als er näher kam, erkannte ihn Gerald wieder. Er war der Polizist, der ihn aus dem Whispering Inn geholt, der ihn in seinen Alptraum gestürzt hatte. »Vor dem Seiteneingang wartet eine kleine Armee auf Sie, Mrs. Ashley«, sagte Maddox. »Reporter und Fotografen. Ich habe ein paar Beamte mitgebracht, und vielleicht können wir Ihnen das Ganze etwas erleichtern.« Er machte eine Pause. »Captain Maddox.« »Natürlich«, sagte Doris Ashley. »Danke, Captain. Ich werde nicht vergessen, Ihren Namen zu nennen, wenn ich mit Chief Fairly spreche.« Sie folgten Maddox aus dem Saal. Sechs Polizisten bildeten einen Ring um sie. Zwei Cops standen wartend neben dem Streifenwagen auf der Straße. Gerald sah den Haufen gieriger Reporter. »Augenblick noch«, sagte Maddox, und zu den Polizisten: »Drängt die Leute zurück.« Mit erhobenen Händen traten die Beamten auf die Straße hinaus und machten schiebend und stoßend den Weg frei. »Jetzt«, sagte Maddox und öffnete das -241
Portal. Doris Ashley nahm Hester bei der Hand. »Beeil dich, Gerald«, sagte Doris. Gerald hörte die Reporter ihre Fragen abfeuern. Blitzlichter explodierten. Er blinzelte und stieß mit Hester zusammen, und schon saßen sie auf den Hintersitzen, Maddox knallte die Tür zu und klatschte auf das Dach. »Los, mach schon!« rief er dem Fahrer zu. Eingezwängt auf der hinteren Sitzbank, konnte Hester nur zwei Schirmmützen, zwei Hälse und zwei Paar breite Schultern vor sich sehen. Sie sah den Fettwulst über dem Hemdkragen des Fahrers... Bryces Haut war glatt und gespannt wie das Fell einer Trommel. Er war wie David auf dem Bild von Michelangelo in ihrem Buch über die Renaissance. Nach so viel Monaten konnte Hester ihn immer noch sehen, jeden Zoll von ihm, als wäre sie mit Bryce allein. Sie schloß die Augen und öffnete sie wieder, blickte aus dem Fenster und betrachtete alles, was an ihr vorbeizog, bemüht, Bryce aus ihren Gedanken zu verbannen. Sie schwor sich, Michelangelos David-Bild zu vernichten, sobald sie das Kutscherhaus erreicht hatten. Sie würde es in Stücke reißen, aber noch während sie ihren Schwur leistete, sah sie Bryce wieder vor sich. Hester wollte weinen und um Hilfe rufen, weil sie es nicht vermochte, sich selbst Einhalt zu gebieten. Sie mußte Bryce noch ein letztes Mal sehen und schwor sich, daß es ein Abschied für immer sein würde. Sie würde ihm einen Brief nach Pearl Harbor schreiben. Doris Ashley saß neben Hester in der Ecke und nahm den Rückschlag gelassen hin. Sie hatte ihr Leben lang vor keinem Hindernis zurückgeschreckt und alle überwunden. Anders konnte sie nicht leben. Sie konnte ihre Gefühle nicht verschließen und ihren Freunden Mitleid abringen, das sie selbst verabscheute. Wer Mitleid äußerte, spielte zugleich seine Überlegenheit aus, und Doris Ashley lehnte es ab, die Überlegenheit eines anderen anzuerkennen. Wenn es soweit war, würde sie dem neuen Prozeß schon die Stirn bieten. Jetzt, in Hesters Gegenwart, konnte sie sich nicht damit beschäft igen. Hester mußte sich von den Belastungen der letzten Wochen und -242
Monate erholen. Doris würde eine wachsame Hüterin ihrer Tochter sein und ihr jeden Wunsch von den Augen ablesen. Und schon morgen würde sie beginnen, ihren Plan Wirklichkeit werden zu lassen. Theresa und Amelia würden Windward blankputzen und auf Hochglanz bringen. In ein paar Wochen würde sie ihr Haus wieder öffnen, aber zu Anfang nur ihre besten Freunde empfangen. Und morgen würde sie auch überlegen, aus welchem Anlaß ihre erste Dinnerparty gegeben werden sollte. Auf der Fahrt vom Gerichtsgebäude nach Windward sprach niemand im Wagen ein Wort. Als man am Portal angelangt war, stiegen beide Polizisten aus, um die hinteren Türen zu öffnen. Gerald dankte den Beamten; Doris nickte ihnen kurz zu. »Wir sind daheim, Kleines«, sagte sie, aber Hester war schon fort, war den Weg hinauf gelaufen, an Windward vorbei, auf das Kutscherhaus zu. »Hesters Garderobe«, sagte Doris zu Gerald, »alle ihre Kleider sind bei mir.« Er ließ sie stehen, als ob Doris keinen Ton von sich gegeben hätte. Gerald konnte Hester Doris davonrennen sehen, bis das Gelände stark abfiel und sie seinen Blicken entschwand. Einen verrückten Augenblick lang wollte er ihr nachsetzen, sie einholen und sie fragen, warum sie vor ihm, vor ihrem Ehemann, davonlief, und eine Antwort aus ihr herausschütteln. Doch die Wallung ging vorbei, und er wäre fast stehengeblieben. Gerald war erschöpft. Er hatte das Gefühl, als ob alle seine Kräfte ihn verlassen hätten und wollte nichts als schlafen. Der Prozeß war vorbei, aber in Wirklichkeit war nichts vorbei. Nichts hatte sich geändert. Diese vier Affen liefen immer noch frei herum. Er näherte sich dem Kutscherhaus, als ob ihn in diesem eleganten zweigeschossigen Gebäude ein Drache erwartete. Im Haus roch es muffig. Die Zimmer beengten ihn. Während des Prozesses hatte Gerald allein hier gewohnt. Er hatte Küche und Schlafzimmer saubergehalten und jeden Morgen sein Bett gemacht, bevor er in die Küche hinuntergegangen war, um sich Kaffee zu kochen. Er öffnete alle Fenster und wartete auf einen -243
Laut von Hester. Es war fast wie in einer Gruft. Gerald mochte keinen Whisky, und der geschmuggelte schmeckte ganz besonders scheußlich. Für Gäste hatte er immer eine Flasche im Haus, und in seiner Verzweiflung ging er jetzt in die Küche, um sich einen Drink zu holen. Er nahm die Flasche vom Regal und dazu ein Glas, dann stellte er beides wieder hin. Er machte die beschämende Entdeckung, daß er seit den abschließenden Worten des Richters nur an sich gedacht und Hesters Gefühle völlig außer acht gelassen hatte. Hester, nicht ihm war der Prozeß gemacht worden, und sie würde gezwungen sein, diese Inquisition ein zweites Mal über sich ergehen zu lassen. Er verließ die Küche und stieg die Treppe hinauf. Die Schlafzimmertür war offen, aber Gerald blieb stehen und klopfte. Er sah Hester auf ihrem Bett, sie hatte sich die Schuhe ausgezogen, in einer Ecke zusammengekauert und starrte Gerald aus großen Augen ohne ein Zeichen des Erkennens an. »Ich möchte dir sagen, wie leid es mir tut«, stieß Gerald hervor. »Danke. Danke, Gerald.« »Soll ich die Fenster öffnen?« Er durchquerte das Schlafzimmer. »Ich habe sie jeden Morgen zugemacht, um den Staub fernzuhalten.« Gerald blieb zwischen den Betten stehen. »Kann ich dir etwas bringen?« »Nein, danke. Danke, nicht jetzt.« Er kam sich vor wie ein Fremder, fast wie ein Eindringling. Noch bevor er das Schlafzimmer verlassen hatte, waren Hesters Gedanken wieder bei Bryce. Gerald kam die Treppe herunter. Er zog sich die Jacke aus, rollte die Ärmel auf, stellte sich im Wohnzimmer ans Fenster, das zum Meer hinausging, und genoß die frische Brise, die vom Pazifik herüberkam. Jetzt fiel ihm ein, daß er noch nicht zu Mittag gegessen hatte. Er ging in die Küche, ließ den Whisky verschwinden und öffnete den Kühlschrank. Die Spur eines Lächelns huschte über sein Gesicht. Als Gerald abermals an die Schlafzimmertür klopfte, balancierte er mit der linken Hand ein Tablett, worauf sich in Scheibchen geschnittene hartgekochte -244
Eier, Sardinen, Seeohr, Leberwurst, ein Näpfchen Senf und eines mit Mayonnaise, Zwieback und Plätzchen, Milch, Servietten, Teller und Besteck befanden. »Hier, ein königliches Mahl«, sagte er und stellte das Tablett auf den Nachttisch. Widerstrebend drehte Hester sich um und verlor Bryce an die Wirklichkeit. Sie konnte Gerald nicht die Freude nehmen und stemmte sich hoch, und Gerald breitete eine Serviette über ihren Schoß. »Der Mensch muß essen, daß er was wird, hat meine Großmutter immer gesagt.« Einen Teller, Messer und Gabel in der Hand, nahm er Haltung an und spielte den Kellner. »Was darf ich Madame servieren?« »Irgend etwas«, antwortete Hester und fügte rasch hinzu: »Such du etwas aus, Gerald.« »Wie Madame wünschen.« Er stellte kleine Portionen zusammen und richtete alles sorgfältig an. »Bon appetit«, wünschte er und nahm einen zweiten Teller, wählte sparsam aus und setzte sich kerzengerade auf sein Bett. »Ich hoffe, es wird dir schmecken.« Hester dachte an die herrlichen Beutezüge mit Bryce. Sie hatten Zuckerrohr gestohlen und Ananas und waren davongesaust. Erst viele Kilometer weiter hielten sie an, um sich daran gütlich zu tun; wie Tiere schlangen sie alles hinunter, Finger und Gesichter klebrig und feucht. Ihre Hände waren voll, und Bryce küßte sie, küßte ihre weichen heißen Lippen. Jetzt noch, hier auf ihrem Bett, neben Gerald, fühlte sie seine Lippen. »Möchtest du etwas Milch?« Er hielt ihr das Glas hin. Sie wollte ihn nicht enttäuschen. Gerald war so geduldig, so rücksichtsvoll gewesen. Er hatte sie vor ihrer Mutter gerettet. Hester hätte diese Wochen auf Windward nicht ertragen können, wenn Gerald nicht dagewesen wäre, zum Essen und abends und wenn sie wach geworden war. Sie nickte, und ihre Hände berührten sich, als sie das Glas nahm. »Gib mir deinen Teller«, sagte er. Hester gehorchte. Wie ein Kind -245
aß sie, was er ihr gegeben hatte, trank die Milch. »Nachspeise!« Gerald stand mit dem Tablett vor ihr. Sie nahm ein Plätzchen. Er stellte das Tablett ab und sah zu, wie sie an dem Plätzchen knabberte. Hester hatte die Füße gekreuzt; ihr Kleid hatte sich hochgeschoben bis zu den Knien. »Fühlst du dich besser?« Sie nickte. Das Essen hatte sie schläfrig gemacht. Gerald nahm ihr den Teller und die Serviette ab; einen Augenblick stand er vor ihr, dann setzte er sich auf ihr Bett, legte seine Hand auf ihren Schenkel, beugte sich vor, ließ die Hand zu ihrer Brust hinaufgleiten und küßte sie. Er schob seinen Arm unter ihre Schultern und küßte sie wieder. Er hielt Hester fest und legte sich neben sie. »Liebling.« Er begann ihr Kleid hochzuziehen. »Süßes.« Seine Hand drängte sich an ihren Schenkel. Hester ließ es sich gefallen. Sie mußte Bryce verdrängen und für immer auslöschen. Gerald warf sich auf sie. Sein Kinn bohrte sich in ihre Schulter, seine Finger gruben sich in ihr Fleisch. Er krallte sich an sie, tat ihr weh. Sie hob ihre Hände und stieß sie in sein Gesicht. »Schluß! Hör auf!« Hester wälzte sich von einer Seite zur anderen, schlug um sich, schlug Gerald ins Gesicht, krümmte und wand sich, um ihn loszuwerden. »Hör endlich auf!« schrie sie und stemmte sich mit dem ganzen Körper hoch, bis sie frei war. Sie rollte sich weg, wälzte sich vom Bett, lief aus dem Zimmer, erreichte das Bad, schlug die Tür hinter sich zu, schloß sie ab und sank schluchzend zu Boden.
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3. Teil »Rühren Sie, Lieutenant«, sagte der Ad miral. Gegen elf Uhr, am Tag nach dem Prozeß, war der Fahrer des Admirals bei der Bluegill erschienen und hatte Gerald in Admiral Langdons Büro gebracht. »Sie kennen ja Commander Saunders.« Gerald begrüßte Jimmy Saunders. »Ihr Prozeß wäre ein Witz, Lieutenant, wenn die Sache nicht eine so tragische Komponente hätte«, sagte der Admiral. »Jimmy.« Saunders reichte Gerald ein Meldungsblatt. »Lesen Sie, Lieutenant«, sagte der Admiral. Kommandant Vierzehnter Seedistrikt an Navy-Minister, las Gerald. Von zwei Kumpanen unterstützt, machte ein gerissener eingeborener Anwalt gestern die hiesige Justiz zum Gespött. Geschworene waren nicht imstande, zu einem Spruch zu kommen, weil zwei Eingeborene uneinsichtig. Gesetz hier ist ohnmächtig. Beabsichtige, Familien der Offiziere und Mannschaften unter meinem Kommando zu schützen. Der Admiral hatte das Kabel abgeschickt, um einem weiteren Telegramm aus Washington zuvorzukommen. »Überbringen Sie Ihrer Gattin meinen Respekt und meine Anteilnahme, Lieutenant«, sagte der Admiral. »Und auch ihrer Mutter. Sie alle haben eine schwere Zeit hinter sich.« Er durchquerte das Büro, Gerald an seiner Seite. »Meine Tür steht Ihnen immer offen, mein Sohn.« Der Admiral kehrte wieder an seinen Schreibtisch zurück. Der Mittellade entnahm er einen Durchschlag seiner Botschaft an den Marineminister. An den oberen Rand schrieb er: »Mit der Bitte um Kenntnisnahme. Glenn Langdon, Admiral, United States Navy.« Er faltete das Meldungsblatt zusammen, schob es in einen länglichen weißen Umschlag und versiegelte ihn. Senator Floyd Rasmussen in Washington war der Empfänger. »Petty Officer!« Im Gang sah -247
Gerald zwei Offiziere auf sich zukommen. Er beugte sich über einen Wasserspender und hoffte, sie hätten ihn nicht erkannt. Er hielt den Kopf abgewandt, bis sie vorbei waren. Dann richtete er sich auf und begab sich mit schnellen Schritten zum Treppenhaus. »Meine Tür steht Ihnen immer offen, mein Sohn«, wiederholte er für sich. Mein Sohn! Gerald war, als trüge er ein Kainszeichen. Der Fahrer des Admirals sah, wie der Lieutenant auf die Tür zum Ausgang zuging; er stieg aus der Limousine und stand stramm. Der Offizier machte den Eindruck, als hätte man ihn soeben aus der Einzelhaft entlassen. »Zeit zum Mittagessen«, sagte der Fahrer. »Darf ich Sie beim Offiziersklub absetzen?« Gerald blieb vor dem Fahrer, einem einfachen Dienstgrad, stehen. »Sie dürfen mich überhaupt nicht beim Offiziersklub absetzen! Ich wünsche zur Bluegill zurückgebracht zu werden. Haben Sie verstanden? Habe ich mich deutlich genug ausgedrückt?« »Jawohl, Sir, zur Bluegill, Sir!« Der Fahrer verharrte in Habtachtstellung, bis der Lieutenant im Fond Platz genommen hatte; dann schloß er die Wagentür. Gerald konnte seine Hände nicht länger stillhalten. Er trommelte mit den Fingern auf den Sitz. Der Offiziersklub! Und wieder sah er die zwei Kameradenschweine vor sich, hörte sie immer noch sagen, Hester hätte diese Affen im Cabrio aufgefordert und sich mit ihnen eingelassen. »Wir sind bei keiner Beerdigung, Fahrer!« schnauzte er nach vorn. Den mußte der Admiral aber sauber heruntergeputzt haben, entschied der Fahrer, bog ab und nahm eine Abkürzung. Als der Fahrer vor dem U-Boot-Bunker hielt, öffnete Gerald die Tür. »Bleiben Sie sitzen«, sagte er und stieg aus. Er sah Offiziere und Mannschaften, die die U-Boot-Bunker verließen, um essen zu gehen. Jemand rief Gerald an, der jedoch unbeirrt weiterging und nur den Arm hob, um die Begrüßung zu erwidern. Er konnte sie nicht mehr hören, diese Bekundungen des Mitleids, konnte keinem mehr die Hand schütteln, konnte es nicht mehr ertragen, -248
seine Danklitanei hersagen zu müssen. Der Mangel an Schlaf machte ihm zu schaffen. Seine Beine waren schwer. Er fühlte sich krank vor lauter Müdigkeit und Schwäche. »He, Lieutenant!« Gerald hatte Duane York nicht bemerkt. Der kleine, schmächtige Torpedomann im ausgeblichenen Arbeitszeug und weißer Mütze stand plötzlich vor ihm. »Ich habe Sie gar nicht gesehen.« »Ich weiß, mich übersieht man leicht«, sagte Duane und lachte. Einen einzigen verrückten Augenblick lang drängte es Gerald, seine Arme um den mageren Seemann zu schlingen. Für Gerald schien Duane der einzige Freund auf der Welt. »Haben Sie etwas vor, Duane? Essenfassen oder so?« Duanes Gefühl hatte nicht getrogen. Wie ein Schlafwandler war der Lieutenant dahergekommen. »War gerade unterwegs zum Speisesaal«, antwortete Duane. »Aber ich kann gerne darauf verzichten.« »Sie sollen nicht um Ihr Essen kommen«, sagte Gerald. »Warum fahren wir nicht irgendwo hin außerhalb vom Stützpunkt?« »Einverstanden, Sir.« Wieviele Offiziere gab es, die einen Seemann zum Essen einluden? Keinen. Keinen einzigen. Der Lieutenant war einsame Klasse. Wenn Lieutenant Murdoch es von ihm verlangt hätte, Duane wäre auch bereit gewesen, sich unerlaubt von der Truppe zu entfernen. Den Rückweg bis zu seinem Wagen sprach der Lieutenant kein Wort mehr. Er ging wieder wie ein Schlafwandler. Fast hätte Duane dem Lieutenant geraten, sich krank zu melden. »Soll ich fahren, Sir?« Gerald nickte und gab Duane die Schlüssel. Im Wagen nahm er seine Mütze ab und ließ sie auf das Armaturenbrett fallen. Hin und wieder streifte Duane ihn mit einem Blick. Der Lieutenant saß da wie betäubt. Er war in ziemlich schlechter Verfassung; plötzlich hämmerte er mit der -249
Faust gegen die Wagentür. »Sie sind schuldig!« Und Duane wußte Bescheid. »Das wußte ich von Anfang an, Lieutenant«, sagte er. »Sie und ich wissen es, aber sonst niemand«, sagte Gerald und hämmerte abermals gegen die Tür. »Und diese Saukerle laufen frei herum und rühmen sich noch!« Duane hielt bei der Ausfahrt an, um sich vom Posten der Küstenwache durchwinken zu lassen. Er verließ den Stützpunkt. Es war ihm gleich, ob sie jetzt essen würden oder nicht. Der Lieutenant sollte entscheiden. »Ich möchte diese Bastarde einfangen und die Wahrheit aus ihnen herausprügeln«, sagte Gerald. Die Idee überwältigte Duane. Sie benahm ihm den Atem, als ob er steil bergauf gelaufen wäre. Wieder wagte er einen verstohlenen Blick. Der Lieutenant saß da, als wäre er auf dem Weg in den Bau. Es schien Duane, als hätte jemand zum Angriff geblasen, und in gewisser Weise stimmte das auch, und er dachte nicht einen Augenblick daran, zurückzubleiben, denn noch nie hatte ihn jemand so behandelt wie der Lieutenant. Lieutenant Murdoch hatte sich ihm hundertmal als äußerst feiner Kerl erwiesen. Jetzt war er, Duane York, an der Reihe. »Ich kann mir vorstellen, wie Ihnen zumute ist«, sagte Duane. »Man müßte die Wahrheit aus ihnen herausprügeln. Aber Sie können das nicht machen. Lieutenant?« Als Gerald ihn anstarrte, fügte er hinzu: »Aber ich.« »Sie!« Gerald schüttelte den Kopf. »Ich und ein paar Freunde«, sagte Duane. »Das können Sie nicht«, entgegnete Gerald. »Kommt nicht in Frage, Duane. Kommt gar nicht in Frage.« Duane bog von der Straße ab und blieb auf dem Bankett stehen. »Sie haben mir einmal gesagt, ich wäre ein guter Freund«, sagte Duane. »Ich erinnere mich noch an Ihre Worte: ›Sie sind ein guter Freund, Duane.‹ Bis jetzt war's aber umgekehrt. Sie waren -250
mir ein guter Freund, ich aber hatte nie die Gelegenheit, Ihnen zu beweisen, daß auch ich ein guter Freund bin. Jetzt habe ich diese Chance.« Wieder schüttelte Gerald den Kopf. »Ich kann nicht zulassen, daß Sie dieses Risiko eingehen«, sagte er. »Wollen Sie mir einmal zuhören, Sir? Nur zuhören. Diese Burschen sind schuldig. Die Cops und der Richter und die Geschworenen glauben es nicht. Da bleibt doch gar nichts anderes übrig, als ihnen den Beweis zu liefern. Lassen sie mich den Beweis beschaffen. Ich möchte das für Sie tun.« Nach dem Appell am folgenden Samstagmorgen leerte sich die Bluegill. Offiziere und Mannschaften verließen den Stützpunkt, um ihren Wochenend-Landurlaub anzutreten. Nur das vom Fähnrich zur See Dennis Watrous befehligte Wachkommando blieb an Bord. Fähnrich Watrous stand vor der Leiter zum Turm, als er Gerald Murdoch sah. Der Fähnrich lächelte. »Wenn Sie das Schiff so sehr lieben, Lieutenant, sorge ich schon dafür, daß Sie das Wochenende hier verbringen.« »Ich möchte Sie Ihres Vergnügens nicht berauben«, erwiderte Gerald. »Ich habe nur mein Tenniszeug vergessen, muß jemandem Revanche geben.« Er ging nach achtern zum Torpedoraum. Dort öffnete er den Werkzeugspind und nahm die kleine Segeltuchtasche heraus, die er vor einigen Tagen gekauft hatte. Der Griff eines Tennisschlägers ragte aus der Tasche. Gerald ging langsam, sich ständig umschauend, zur Waffenkammer weiter und blieb im Durchgang stehen. Er lauschte und wartete, ohne sich zu bewegen. Nach einer Weile öffnete er die Segeltuchtasche und nahm sie in die linke Hand; mit der rechten holte er einen Schlüssel heraus und sperrte die Waffenkammer auf. Die Eisentür quietschte leise. Schnell steckte Gerald zwei Pistolen, Kaliber 45, in die Tasche und schob zwei volle Magazine hinterher. Er richtete sich auf, verschloß die Waffenkammer und wartete. Jetzt konnte ihm nichts mehr passieren. In weniger als einer Minute würde er wieder an Deck sein. Er war schon fast an der Leiter, als Fähnrich Watrous mit -251
einem Becher Kaffee aus der Messe kam. »Ich hoffe, Sie nehmen blutige Rache, Lieutenant!« »Was?« Gerald blieb stehen. »Was haben Sie gesagt?« Fähnrich Watrous deutete auf die Segeltuchtasche. »Ihr Tennismatch. Ich hoffe, Sie gewinnen.« »Oh... Ja sicher, danke«, sagte Gerald, verließ eilig das U-Boot und wischte sich den Schweiß von der Oberlippe. Mit der Segeltuchtasche neben sich auf dem Vordersitz verließ Gerald den Stützpunkt. Auf einem verlassenen Straßenstück hielt er an und öffnete die Tasche, schob dann ein Magazin in die erste Pistole, sicherte sie und lud die andere ebenfalls. Anschließend nahm er einen zweiundzwanzig mal dreißig Zentimeter großen Umschlag vom Sitz, öffnete ihn und überflog noch einmal die vier maschinegeschriebenen Blätter. Ich gestehe, Hester Ashley Murdoch vergewaltigt zu haben. Darunter, auf dem ersten Blatt, stand der Name Joseph Liliuohe. Die anderen Blätter waren für Liliuohes Kumpane. Gerald steckte sie wieder in den Umschlag und legte ihn in die Segeltuchtasche. Gerald fuhr nach Honolulu in die Innenstadt. Am späten Nachmittag parkte er in der Nähe des Iolani-Palastes. Er sah auf seine Armbanduhr: siebzehn Minuten nach fünf; nahm dann seine Brieftasche heraus, in der sich, zusammengefaltet, hundert Dollar befanden. Er legte das Geld unter die Segeltuchtasche auf dem Beifahrersitz. Seine Finger trommelten auf das Lenkrad. »Pünktlich auf die Minute«, sagte Duane York und öffnete die Tür. Er trug ein Hawaii- Hemd, das lose über seine Hüfte fiel, und setzte sich neben Gerald. »Siebzehn Uhr dreißig.« Er wies auf die Segeltuchtasche. »Das ist für mich, nicht wahr, Sir?« »Ja, aber Sie dürfen das Ding nicht verwenden.« »Das Ding? Haben Sie denn nur eine gebracht, Lieutenant?« »So ist der Plan«, antwortete Gerald. »Sie dürfen die Dinger nicht verwenden. Auch das war abgemacht.« Er zog das Geld unter der Tasche hervor. »Haben Sie die Wagen?« -252
»Ich habe dem Mann fünf Dollar gegeben«, antwortete Duane. »Er hat für mich zwei reserviert.« Gerald gab ihm das Geld. »Ich möchte nicht, daß Ihnen auch noch Kosten entstehen«, sagte Gerald. »Lieutenant, ich kaufe die Wagen doch nicht!« »Sie sollten auch Unwägbares einkalkulieren.« Duane steckte das Geld in die Hosentasche. »Alles bestens«, sagte er. »Wir sehen uns Montag, Sir.« Noch vor dem Wecken wollten sie sich treffen, damit Gerald die Waffen zurückbringen konnte. Duane hatte die Segeltuchtasche auf dem Schoß, und Gerald legte die Hand darauf. »Ich möchte Ihren Freunden danken«, sagte er. Duane sah ihn an. »Wenn ich Ihnen etwas raten darf, Sir, verschwinden Sie jetzt.« Er lächelte. »Das ist ein freiwilliger Einsatz. Sie haben nichts damit zu tun, Sir.« Er öffnete die Wagentür. »Ich danke Ihnen, Duane.« Der schmächtige kleine Mann nickte und ging davon. Wenige Minuten nach acht, es war schon dunkel, hielt an einer Straßenkreuzung in Papakolea ein Wagen an. Duane York saß am Steuer. Ein zweiter Wagen kam ihm entgegen und stoppte auf der anderen Seite der Kreuzung. Der Fahrer blinkte kurz mit der Lichthupe, und Duane antwortete ihm. Forrest Kinselman steuerte den zweiten Wagen, und Wesley Trask war sein Begleiter. Conrad Hensel saß neben Duane. Alle vier waren Seeleute und dienten auf der Bluegill. »Jetzt gibt's wohl kein Zurück mehr«, sagte Connie. Duane sah ihn an. »Wenn du gehen willst, dann geh.« »Ich habe gesagt, ich mache mit.« Connie ließ das Fenster herunter und spuckte auf die Straße. »Ich könnte einen Schluck vertragen.« »Warum haust du nicht ab?« -253
Connie schwenkte herum und stieß gegen die Segeltuchtasche neben sich auf dem Sitz. »Nun mal langsam, Duane. Ich habe gesagt, ich bin dabei, also bin ich dabei.« »Na schön, aber vergiß das Saufen«, wies Duane ihn zurecht. »Wir haben einen Schlachtplan gemacht, und einen Schlachtplan ändert man nicht.« Sie beobachteten die Kreuzung. Ein Mann überquerte die Straße. Noch einer. Dann zwei Frauen. Eine Frau mit einem Kind im Arm und einem kleinen Mädchen an der Hand. Ein Mann und eine Frau. Zwei Jungen, nicht viel älter als zehn. »Kommen diese Bastarde nie heim?« wisperte Duane. Eine Weile später beugte Connie sich vor; sein Haar berührte die Windschutzscheibe. »Da drüben.« Zwei in die Länge gezogene Schatten näherten sich unter dem Bogenlicht der Kreuzung. Sie hörten den einen sagen: »Morgen früh soll ich mit meinem Vater ausfahren.« »Schlaf doch auf dem Boot«, sagte der andere. Duane langte in die Tasche und griff nach der Pistole. Sie fühlte sich an wie Eis. »Mach dich bereit.« »Woher weißt du, daß sie es sind?« »Ich habe sie gesehen«, antwortete Duane. Die beiden da draußen flüsterten jetzt miteinander. Er nahm die Pistole aus der Segeltuchtasche und beugte sich aus dem Fenster, um besser zu sehen. Richtig, das waren sie, zumindest zwei von ihnen. »Schnell!« Connie sprang heraus und schlug die Wagentür hinter sich zu. Duanes Mund war trocken. Mit der Pistole in seiner Faust stieg auch er aus und wartete im Dunkel, bis Connie auf die Kerle zugegangen war. »Zum Teufel, wo bin ich denn?« fragte Connie. »Wie komm ich nun wieder in die Stadt zurück?« David Kwan und Harry Pohukaina blieben stehen, auch Connie verhielt den Schritt. »Sie müssen umkehren«, sagte David und zeigte genau auf Duane. »Und dann?« Jetzt traten beide, der Junge und der andere, -254
an Connies Seite. Duane begann, sie zu umkreisen, hielt sich jedoch im Schatten. »Aber den kürzesten Weg bitte! Ich hab nicht mehr viel Sprit«, sagte Connie. Duanes Herz hämmerte wild. Er kam geradewegs ins Licht und hob drohend die Pistole. »Wollt ihr ihm wohl den Weg zeigen, ihr beide?« Sie hatten die Münder weit offen wie angelandete tote Fische. »Los! Los! Bewegt euch!« Man mußte von der Kreuzung weg sein, bevor jemand kam. »Ihr habt's gehört«, sagte Connie und gab David einen Stoß. Harry schob er vor sich her und drängte sie zum anderen Wagen. Wesley Trask sprang heraus, riß die hintere Tür auf und kehrte auf seinen Sitz zurück. »Wer seid ihr? Ihr seid bestimmt keine Bullen«, sagte Harry. Duane schlug ihm die Hand ins Gesicht. »Halt's Maul! Halt's Maul!« zischte er und versetzte Harry noch einen Stoß in die Rippen. Forrest hatte den Motor angelassen. »Rein jetzt!« kommandierte Duane und drückte David die Pistole in den Rücken. »Los, rein!« Wes kniete auf dem Vordersitz und hielt die Pistole nach hinten geric htet. Connie stieß Harry hinein, und Duane David Kwan. »Fahr los«, sagte Duane zu Forrest, und der Wagen schoß davon. »Zwei haben wir im Körbchen«, grinste Connie und stieß Duane an. »Na, wie hat dir die Vorstellung gefallen?« »Wir haben es erst zur Hälfte geschafft«, brummte Duane. Akura Yoshida, Mikes Mutter, war immer schon vor Morgengrauen wach und werkelte in ihrer Küche. Jahrelang hatte sie für die Haoles gekocht, vor und nach ihrer Eheschließung, und die Unzahl von Überstunden, die man ihr abverlangte, waren ihr zur Gewohnheit geworden. Ihr Küchenlicht war immer das erste in der Nachbarschaft, das morgens brannte. Ihr Tagewerk begann sie immer mit dem Saubermachen ihrer Küche. Die Hintertür stand offen, die Kehrichtschaufel lehnte dagegen, als sie ihren -255
Sohn sagen hörte: »Wohin, zum Teufel, bringt ihr mich?« Akura Yoshida ließ den Besen fallen und lief ins Freie. Sie sah einen Wagen um die Ecke sausen; von Mike keine Spur. »Mike!« schrie sie und lief schreiend auf die Straße. »Mike, Mike! Sie haben Mike mitgenommen!« Sie war eine kleine Frau mit schwarzen Haaren, die ihr bis zur Hüfte herabhingen. »Sie haben mir meinen Mike genommen!« schrie sie und fing an zu weinen. Duane fuhr zunächst ohne Licht. Connie kniete neben Duane und hielt die Pistole auf den jungen Hawaiier gerichtet. »Wer seid ihr? Wohin bringt ihr mich?« fragte Mike und starrte auf die Waffe, auf den Finger am Abzug. »Halt die Schnauze«, fuhr Duane ihn an. »Mehr brauchst du nicht zu wissen.« Er stellte den Motor ab, ließ den Wagen im Leerlauf weiterrollen und bremste zweihundert Meter vor dem Haus der Liliuohes. Schräg gegenüber gingen einige Lichter an, während Duane und Connie auf den langen Lulatsch warteten, auf den Anführer, der Hester Ashley Murdoch, als sie mit ihr fertig waren, vor dem Krankenhaus ausgeladen hatte. »Wahrscheinlich schläft er schon«, meinte Connie. »Wahrscheinlich ist er schon seit Mitternacht zu Hause.« »Wo ist dein Kumpel?« fragte Duane. Mike war wie gelähmt. Er konnte kaum atmen. Die Mündung der Pistole war groß wie eine Höhle und kam immer näher auf ihn zu. »Ich weiß es nicht. Ehrlich, ich weiß es nicht!« Sie würden ihn umbringen. »Ich weiß es nicht.« Jetzt gingen auch in einem anderen Haus die Lichter an. »Die Leute wachen schon auf«, drängte Connie zur Eile. »Halt die Klappe.« Duane nahm ihm die Pistole aus der Hand und richtete sie auf Mike. »Ich will den Chef! Wo ist er? Rede, oder du wirst nie mehr reden.« »Ehrlich, ich weiß es nicht«, stieß Mike hervor. Er hatte das Gefühl zu schweben, als ob er kein Gesicht mehr hätte, als ob er schon tot wäre. »Ehrlich!« -256
»Hauen wir lieber ab«, sagte Connie. »Die hat man ja in der ganzen Straße schreien gehört. Man wird uns suchen. Da ist schon einer!« Duane drehte den Kopf nach vorn und sah in einiger Entfernung einen Mann, der auf den Wagen zukam. »Er wird wissen, wer wir sind, und um Hilfe rufen!« »Wir hätten zuerst hierherkommen sollen«, brummte Duane. »Jetzt ist es zu spät«, sagte Connie. »Zu spät!« »Okay, okay.« Duane gab Connie die Pistole zurück, ließ den Motor an, legte den Gang ein und fuhr los. »Sarah! Sarah! Wach auf!« Ihre Mutter stand vor Sarahs Bett. »Man hat Mike Yoshida entführt, vor seinem Haus«, berichtete Elizabeth Liliuohe. »Männer in einem Wagen!« »Wo ist Joe?« »Weg! Er ist weg!« Elizabeth Liliuohe ließ sich aufs Bett fallen, bedeckte ihr Gesicht mit beiden Händen und wiegte sich vor und zurück. Sarah langte nach ihrem Morgenrock und schlüpfte in ihre Pantoffeln. Sie fuhr zu den Kwans. Draußen vor dem Haus standen schon eine Menge Leute, und Sarah wußte Bescheid, ohne anhalten zu müssen. David war weg. Sie fuhr zu den Pohukainas. »Die Bullen haben Harry mitgenommen«, sagte dessen Bruder. »Joe ist in Sicherheit.« Laut redete Sarah mit sich selbst, während sie nach Hause fuhr. »Woher willst du denn das wissen? Er ist mit Becky Hanatani zusammen. Du nimmst an. Du hoffst. Sie haben ihn geschnappt. Er ist mit Becky in Sicherheit.« Aber sie glaubte es nicht. Sie lief ins Haus und rief Tom an. »Ich komme gleich«, war seine Reaktion. »Nein, ich hol dich ab«, sagte Sarah, eilte in ihr Schlafzimmer, warf den Morgenrock in die Ecke und zog sich an. Elizabeth Liliuohe saß immer noch auf dem Bett und starrte gegen die Wand. »Ich werde ihn nie wiedersehen«, jammerte sie. »Joe ist in Sicherheit«, log Sarah. »Glaube mir, er ist in Sicherheit.« Tom -257
war schon auf der Straße, um ihr entgegenzugehen, als Sarahs Cabrio herankam. »Es war nicht die Polizei«, sagte er. Sie öffnete für ihn die Wagentür. »Ich habe angerufen.« »Das hab ich mir gleich gedacht«, sagte Sarah und fuhr zu Becky Hanatanis Wohnung. »Die Polizei braucht nicht mitten in der Nacht zu kommen. Die können das jederzeit«, und fügte mit erhobener Stimme hinzu: »Man wird sie lynchen! Man wird sie hängen! So wie sie es in den Staaten machen.« »Wir sind hier nicht in den S taaten«, wollte Tom sie beruhigen. »Hier ist es noch schlimmer.« Sarah funkelte ihn an, als ob er ihr Feind wäre. »Du warst in den Staaten! Du hast mit den Menschen dort unter einem Dach gelebt. Aber bist du hier schon mal mit einem von ihnen zusammengewesen? Wann hast du hier mit ihnen an einem Tisch gegessen? Hier können sie mit uns machen, was sie wollen. Hier sind wir keine Menschen!« Sarahs grenzenlose Verbitterung über ein von Schmähungen erfülltes Leben, ein Leben als Ausgestoßene, entlud sich über Tom. »Hier können sie alles mit uns machen! Und wenn einer zu widersprechen wagt, werfen sie ihn hinaus. Es ist ihnen gleich, ob er verhungert. Als die Japaner, die auf ihren Pflanzungen schufteten, zu streiken begannen, jagte man sie davon.« Sarah war zu jener Zeit noch sehr jung gewesen, aber dennoch erinnerte sie sich an die Empörung. Man hatte Japaner wie Verräter behandelt. »Hier haben es Tiere besser als wir«, wütete Sarah, und ihre Augen funkelten zornig und wild. »Hier betrachten sie uns als ihr Eige ntum! Hier gehört alles ihnen! Sieh dir ihre Zeitungen an! Da liest du lauter Lügen! Hawaii, das sind nicht die Vereinigten Staaten von Amerika! Natürlich sind es nicht die Staaten! Hawaii ist ein separates Land, ihr Land! Sie haben noch immer ihre eigenen Gefängnisse auf den Plantagen. Meinen Onkel haben sie ins Loch gesteckt, weil er ohne Erlaubnis heimging, als meine Tante ein Kind bekam. Sie haben ihn eingesperrt und ihm keinen Lohn bezahlt, bis er wieder draußen war und arbeiten konnte. Den Verwalter hörte er sagen, man -258
müsse die Löhne möglichst niedrig halten; denn bei höheren Löhnen, sagte er, würden die Männer weniger arbeiten.« Sarah biß sich auf die Lippen, um nicht zu weinen. »Ich wünschte, man hätte sie schuldig gesprochen, dann wären sie wenigstens noch am Leben.« Die Ampel vor ihnen wechselte von Rot auf Grün, und Sarah streckte den Arm hinaus. »Warum biegst du ab? Wir müssen die Polizei informieren«, sagte Tom. »Ich muß Joe finden«, entgegnete Sarah. »Wenn sie ihn nicht schon längst geschnappt haben.« Sie fuhren zu Becky Hanatanis Wohnung. Becky wohnte im zweiten Stock. Tom folgte Sarah die Treppe hinauf auf den Balkon, der um die ganze Länge des Hauses lief. Sarah läutete. Nichts rührte sich. Sie klopfte, dann Tom. Sarah hämmerte mit den Fäusten gegen die Tür. Tom versuchte sie zu beruhigen. Sarah schüttelte ihn ab. Doch Tom ergriff ihre Handgelenke und zog sie von der Tür weg. »Sarah!« sagte er und hielt sie fest, bis sie sich beruhigt hatte. »Sie haben auch Becky mitgenommen«, jammerte Sarah und sackte zusammen, gab auf, wie zuvor ihre Mutter. Eine Welle von Zärtlichkeit überflutete Tom, als Sarah schwach und hilflos in seinen Armen lag. Er konnte nicht zulassen, daß sie in Verzweiflung geriet. Tom tauchte sein Gesicht in ihr Haar. »Es gibt noch einen Ort, wo Joe sein könnte«, sagte er, legte den Arm um ihre Schultern und führte sie zur Treppe. »Ich fahre«, sagte Tom, während sie zum Auto gingen. Er half ihr in den Wagen. Zum Meer hinunter ging die Fahrt, und bald hatten sie offenes Gelände erreicht. Schließlich kamen sie auf einen Strandweg, der zum Wasser führte. Es herrschte Ebbe, und ein breiter, flacher Streifen festen, glitzernden Sandes säumte die Küste. Tom hielt an. »Ich bin gleich wieder da.« Bis er sich aus dem Wagen gezwängt hatte, war auch Sarah schon ausgestiegen. -259
»Ich kann doch nicht einfach dasitzen und warten«, sagte sie. »Wozu sind wir hierhergekommen? Wir müssen Joe finden. Wenn wir ihn finden können.« Sie breitete die Arme aus und rief abermals nach ihrem Bruder. Doch es kam keine Antwort. »Hier ist doch nichts! Wir haben hier nur Zeit verschwendet!« Sie wollte zum Cabrio zurück. »Sarah! Joe könnte hier in der Nähe sein.« Sie stand schon neben dem Auto und öffnete die Tür. Doch Tom machte kehrt und ging weiter den Strand entlang. Weit vorn konnte er die Krümmung der kleinen Bucht ausmachen. Er hörte, wie die Wagentür zuschlug, ging weiter und erwartete jeden Augenblick das Brummen des Motors. Doch nur das matte Plätschern kraftloser Wellen durchbrach die morgendliche Stille. Dann holte Sarah ihn ein. »Hier ist keiner«, sagte sie. »Der Strand ist leer. Wir sollten ihn suchen. Tom!« Tom blieb stehen und deutete mit der Hand nach vorn. Sie standen an einem Ende der kleinen Bucht. Vor langer Zeit hatte das Meer die felsige Landzunge ausgehöhlt, die nun wie ein Baldachin über dem Wasser hing, hatte große Felsbrocken auf den Strand geschwemmt und sie über die Bucht gestreut. Neben einem solchen Felsen, an einer Stelle, die die Flut nicht mehr erreichen konnte, sahen sie irgend etwas unter einer weißen Decke liegen. Sarah stieß ihn an. »Du meinst...?« »Joe und ich sind oft hier gewesen«, erklärte Tom. »Hier kann man wunderbar Wellenreiten.« Er hatte es eilig, zu der Decke zu kommen, aber Sarah hielt ihn zurück und nahm ihn bei der Hand. Sie berührten sich, Hüfte an Hüfte und Schulter an Schulter. Tom hätte sie gerne ewig so festgehalten. »Was wäre mein Leben ohne dich?« Sarah preßte seine Hand an ihre Lippen. »Du wirst nie ohne mich sein.« Hand in Hand setzten sie ihren Weg zwischen den großen Felsblöcken hindurch fort. Joes Oberkörper ragte unter der Decke hervor, und Becky hatte ihren -260
Kopf an seine Schulter geschmiegt. Tom stieß mit dem Fuß an die Decke. »Joe.« »Joe, wach auf«, sagte Sarah, beugte sich hinunter und schüttelte ihren Bruder. Blinzelnd und zwinkernd wachte er auf; als Joe die beiden sah, lachte er. »Wo kommt ihr denn her?« Er stieß Becky an. »Wach auf, du Murmeltier.« »Und ich habe so gut geschlafen«, sagte Becky, eine schöne junge Frau mit großen schwarzen Augen und vollen roten Lippen. Sie wäre wirklich hinreißend gewesen, wenn sie mehr auf ihre Figur geachtet hätte. Doch Becky Hanatani aß für ihr Leben gern. Sie kochte gern, aß noch lieber und schaute am liebsten anderen beim Essen zu. »Warum habt ihr mich geweckt?« »He, Tom, wie wär's mit Wellenreiten?« schlug Joe vor. »Sie haben Mike, Harry und David geschnappt«, sagte Sarah. Joe strampelte sich die Decke vom Leib und sprang auf die Beine. »Wer sie? Geschnappt? Was redet Sarah da?« Tom erzählte ihm von den Entführungen. »Wir müssen sie suchen«, sagte Joe und langte nach seiner Hose. »Du nicht«, sagte Sarah energisch. »Joe, man will sie lynchen!« »Mann, ich wüßte nicht mal, wo ich mit der Suche anfangen sollte«, sagte Joe und zog seine Hose an, während Becky, in die Decke gewickelt, sich erhob und ihnen den Rücken zuwandte, um sich anzukleiden. »Du wirst sie nicht suchen«, wiederholte Sarah. »Sie suchen dich!« »Wir bringen dich nach Hause und dann verständige ich die Polizei«, sagte Tom. »Die Polizei?« Joe traute seinen Ohren nicht. »Das sind doch unsere Feinde!« »Komm, wir verschwenden nur kostbare Zeit«, drängte Tom. -261
»Wir fahren dich nach Hause, und dort bleibst du auch. Entführte aufzuspüren ist Sache der Polizei. Die Polizei wird alles Nötige veranlassen.« »Ich bin doch frei, verdammt noch mal«, sagte Joe. »Sogar dieser verdammte Richter hat es bestätigt.« »Schluß mit der Debatte«, mischte Sarah sich ein. »Wir müssen zurück. Hier bist du nicht sicher, Joe, und auf der Straße noch weniger.« Joe bückte sich, hob die Decke auf und faltete sie zusammen. »Es wird mir ganz anders, wenn ich an unsre drei Freunde denke. Wißt ihr, wie alt David ist? Ein halbes Kind!« Er ging mit den anderen zum Wagen. »Und alles ist meine Schuld«, sagte Joe und lief den anderen voraus. »Becky«, sagte Sarah im Wagen, »zuerst bringen wir Joe nach Hause.« »Ich möchte bei ihm bleiben«, sagte Becky. »Schneller, schneller«, trieb Sarah Tom an. Mutter Liliuohe hörte den Wagen und war vor der Tür, noch bevor Tom das Cabrio zum Stehen gebracht hatte. »Er ist nicht hier!« rief sie und erkannte in derselben Sekunde Joe auf dem Hintersitz. Joes Mutter packte Sarah und zerrte sie aus dem Wagen, um ihren Sohn in die Arme zu schließen. Drinnen im Haus konnte Joe nicht stillsitzen. »Ich soll mich hier verstecken, während die anderen weiß Gott wo sind?« »Ja«, sagte Sarah. »Genau das.« »Du kannst ihnen nicht helfen«, redete Tom auf ihn ein. »Nur die Polizei. Würdest du mich ins Präsidium fahren, Sarah?« Joe griff nach dem Telefon und hob es hoch, als wollte er es durchs Zimmer schleudern. »Ruf die Bullen doch an, wenn du glaubst, daß es etwas nützt!« »Sie müssen eine Suchaktion starten«, entgegnete Tom. »Ich muß in die Stadt und es melden; ein Verbrechen ist verübt worden, und sie können nicht so tun, als ob nichts geschehen wäre.« Sarah ging mit Tom vors Haus. -262
»Nimm du den Wagen«, sagte sie. »Ich habe Angst, daß Joe das Haus verläßt. Tom?« Sie berührte ihn. »Ich möchte hier bei Joe und auch bei dir sein.« »Du bist bei mir. Ich habe es dir gesagt. Du bist immer bei mir. Wir werden nie wieder voneinander getrennt sein.« Sarah küßte Tom und begleitete ihn zum Cabriolet. »Sei vorsichtig. Sei vorsichtig für mich.« Tom fuhr ins Polizeipräsidium. Der diensthabende Beamte las gerade die Comics aus der Sonntagszeitung. »Sergeant?« Der Angesprochene ließ die Zeitungsseite sinken. »Ich möchte gern Captain Maddox sprechen.« »Morgen.« Der Sergeant wandte sich seinen Comics zu. Tom ging auf den Gang hinaus. Das schleifende Geräusch des Schuhs störte den Polizisten offensichtlich. Noch einmal senkte er die Zeitung und blickte dem Hinkefuß stirnrunzelnd nach. Tom ging zu einem Telefonautomaten und schlug das Fernsprechverzeichnis auf; er fand Maddox, Curtis und wiederholte im stillen die dahinterstehende Nummer, warf dann eine Münze ein und gab der Telefonistin die Zahlen durch. Nach wenigen Sekunden war die Verbindung hergestellt. »Maddox.« »Hier spricht Tom Halehone, Captain. Ich...« »Ach, der Herr Anwalt.« Maddox lag unter der Bettdecke auf dem Bauch. Er warf einen Blick auf die Uhr neben seiner Pistole. Es war noch nicht einmal acht Uhr morgens. »Ja, Sir«, sagte Tom. »Man hat drei Männer gekidnappt.« »Bla, bla, bla«, machte Maddox. Er wußte schon alles, und noch nie in seinem ganzen Leben hatte er eine so schlechte Nachricht erhalten. Er war wütend auf sich, weil er im Bett lag und die Pläne der Kidnapper vielleicht hätte durchkreuzen können. Maddox warf die Decke zurück, schwang seine Beine aus dem Bett und blieb nackt auf dem Bettrand sitzen. »Was für drei Männer?« fragte er und hätte gern etwas über den vierten gewußt. -263
»Mike Yoshida, Harry Pohukaina und David Kwan.« Also hatten sie den Footballspieler nicht erwischt. Wieso nicht? »Wer sagt, daß sie gekidnappt wurden? Wer hat es denn gesehen?« Tom berichtete Maddox, daß Mikes Mutter einen Wagen wegfahren gesehen hatte. »Und die anderen zwei?« fragte Maddox. »Sind nicht zu Hause. Sie kommen immer heim.« »Wenn einer wegrennt, kommt er immer heim«, scherzte Maddox. Welche Wahnsinnigen hatten diese drei gewaltsam entführt? »Captain, sie sind nicht weggerannt.« »Und Sie haben entschieden, daß man sie gekidnappt hat«, sagte Maddox. »Fahren Sie ins Präsidium und machen Sie eine Vermißtenanzeige.« »Ich bin im Präsidium. Captain, ich...« »Zimmer einsnulldrei, die erste Tür links von der Vitrine mit den Pokalen. Machen Sie eine Vermißtenanzeige.« Vorsichtig, als ob es ein Ei wäre, legte Maddox den Hörer auf die Gabel. Er blieb eine kleine Weile sitzen. Dann nahm er den Hörer wieder auf und rief Harvey Koster zu Hause an. Er ließ es zweimal läuten. »Meldet sich niemand«, teilte ihm die Telefonistin mit. Koster hielt sich nur selten im Hawaii-Klub auf, aber Maddox rief auch dort an. »Mr. Koster ist nicht da.« Maddox ging ins Badezimmer und ließ sich ein Bad ein. Wer, verdammt noch mal, hatte sich die drei Jungen bloß geschnappt? Da mußte mehr als einer mitgemacht haben. Und mehr als ein Auto hatten sie sicher gehabt. »Vigilantes«, brummte Maddox. Die Stadt brach auseinander. Er stieg vorsichtig in die Wanne. Maddox legte gerade eine Krawatte unter den Kragen eines frischen weißen Hemdes, als er die Türglocke hörte. Er dachte, es wäre der junge Gärtner, der für gewöhnlich sonntags kam, um sich seinen Lohn zu holen. Aber es war jemand, der wie ein Leichenbestatter aussah. Maddox dachte, der Mann sammelte für eine Wohlfahrtsvereinigung und steckte schon die Hand in die Tasche, als er plötzlich draußen das schwarzgelbe Cabriolet -264
entdeckte und augenblicklich wußte, wer sein Besucher war, noch bevor Tom den Mund aufgemacht hatte: »Tut mir leid, daß ich Sie belästige, Captain.« »So leid aber nun wieder nicht, daß sie mich mit Ihrer Anwesenheit verschont hätten«, entgegnete Maddox trocken. »Ich habe die Vermißtenanzeige gemacht«, sagte Tom. »Eine für jeden der drei Männer, die gekidnappt wurden.« »Mir scheint, daß dieses Wort es Ihnen angetan hat«, sagte Maddox. »Drei Burschen sind heute nacht nicht heimgekommen. Sie sagen, Mr. Halehone, sie wurden gekidnappt, und haben keine Zeugen, und Ihr einziger Beweis ist ein davonsausender Wagen. Vielleicht ist er auch nicht gesaust, aber bitte. Welches Kennzeichen hatte der Wagen? Was für ein Wagen war es? Baujahr, Marke, Modell, Farbe?« »Es war doch dunkel, Captain.« »Die Burschen könnten längst schon wieder zu Hause sein.« »Kurz, bevor ich bei Ihnen klingelte, Captain, habe ci h bei jedem angerufen. Sie waren nicht zu Hause.« Der Bursche hatte wirklich was drauf. Dem brauchte man nicht mehr viel beizubringen. »Also können Sie nicht mehr tun, Mr. Halehone, als alles Weitere der Polizei überlassen«, sagte Maddox. »Der Beamte, der die Vermißtenanzeigen aufnimmt, hat mich wissen lassen, daß die Anzeigen erst nach achtundvierzig Stunden weitergeleitet werden«, hielt Tom dem Captain entgegen. »Sie sind doch Anwalt, Mr. Halehone, Sie können sich ausrechnen, warum das so ist«, sagte Maddox. »Neunundneunzig Prozent von vermißt gemeldeten Personen sind innerhalb von zwei Tagen wieder daheim. Ihre Freunde könnten sich irgendwo ihren Rausch ausschlafen.« »Meine Freunde sind keine Strandvögel«, versetzte Tom. »Sie trinken nicht. Sie waren nic ht alle drei zusammen. Mike Yoshida war allein, als er gekidnappt wurde.« -265
»Hat jemand gesehen, wie er geschnappt wurde?« »Seine Mutter hat ihn gehört«, antwortete Tom. »Sie hat sonst niemanden gehört.« Er sah, wie der massige Mann zur Tür langte. »Captain, man wird sie lynchen!« »Hauen Sie ab.« »Sie müssen etwas tun!« »Ich werde etwas tun«, sagte Maddox. »Wenn Sie nicht in dreißig Sekunden im Wagen Ihrer Freundin sitzen, fahre ich Sie selbst ins Präsidium und trage Sie persönlich ins Haftbuch ein. Besitzverletzung und Ruhestörung. Sonntag ist mein dienstfreier Tag, aber wenn Sie mich zwingen, mein Haus zu verlassen, wird es Ihnen bitter leid tun. Ich selbst werde Ihre Verhaftung vornehmen und die Beschwerde einbringen. Sie werden nicht das Glück haben, das Ihre Freunde hatten, Mr. Halehone. Sie werden eines Vergehens, nicht eines Verbrechens beschuldigt, und bevor ich morgen zum Mittagessen gehe, werden Sie schon auf dem Weg ins Arbeitslager sein, garantiert für volle sechzig Tage. Ihre dreißig Sekunden sind um, Herr Anwalt.« »Ihnen ist wirklich alles egal!« stieß Tom hervor, wandte sich ab und humpelte auf das Cabrio zu. Maddox sah ihm nach. Der Verteidiger ahnte nicht, daß er sich gewaltig geirrt hatte. Maddox band sich seine Krawatte, schnallte seine Halfter um und nahm seine Jacke vom Haken. Wer, verdammt noch mal, hatte sich diese drei geschnappt? Jeder auf der Insel konnte es gewesen sein. Die ganze verdammte Insel stand im Verdacht! Warum hatten sie auf Joe verzichtet? Weil der verdammte Footballspieler vermutlich der einzige war, der gestern nicht nach Hause kam. Diese verdammten Vigilantes hatten ihm, Captain Maddox, einen verdammten Haufen Scheiße vor die Tür gelegt. Auf der ganzen Insel würde man es riechen. Hoch auf einem sanften Berghang lag ein länglich geformtes Waldstück. Stets wehte ein Wind auf dem Gipfel, und Blätter und Zweige rauschten unaufhörlich. Gespenstisch war es Duane -266
erschienen, als er den Hang einige Tage zuvor ausgekundschaftet hatte. Seine menschliche Last auf zwei Wagen aufgeteilt, wies Duane seinen Kameraden Sonntag frühmorgens den Weg in die Berge. Die Tatsache, daß keine Straße in den Wald führte, gab ihnen die Sicherheit, daß niemand ihnen folgen konnte. »Stellt sie ganz dicht an die Bäume«, sagte Duane. Die Pistole in der Hand, betrachtete Duane seine drei Gefangenen. Ihre Rücken waren bloß, und ihre Hemden lagen auf der Erde, mit Steinen beschwert, damit sie nicht weggeweht wurden. Man hatte ihnen die Hände auf den Rücken gebunden und einen Strick um die Mitte. Jeder war an einen Baum gebunden, mit dem Gesicht zur Rinde. Das Binden hatten Forrest Kinselman, Wesley Trask und Connie besorgt. »Fertig«, sagte Forrest. »Wartet«, sagte Duane. Er lief zum Wagen zurück und langte durch das offene Fenster, um die Pistole in die Segeltuc htasche fallen zu lassen und den Umschlag herauszuholen, den der Lieutenant hineingelegt hatte. Er nahm die vier Bögen aus dem Umschlag. Ich gestehe, Nester Ashley Murdoch vergewaltigt zu haben, las Duane, und darunter Joe Liliuohe. Duane stieß eine Verwünschung aus und schob das Blatt wieder in die Tasche. Mit den anderen drei Papieren und dem Umschlag lief er zu seinen Gefangenen zurück. »Ich will euch was vorlesen«, begann Duane. »›Ich gestehe, Hester Ashley Murdoch vergewaltigt zu haben. ‹« »Wir haben nichts getan«, sagte David. »Ihr braucht nur zu unterschreiben, und...« »Wir haben sie nicht angerührt«, unterbrach ihn David. Duane hätte ihm allzu gern eines auf die Schnauze gegeben. »Wer hat ihr denn das Gesicht zu Brei gehauen? Eine Biene etwa?« Duane ging um den Baum herum, so daß David ihn sehen konnte. »Ich warne euch. Ihr seid hier nicht in einem Gerichtssaal. Das hier ist ein anderes Gericht. Hier führe ich das Kommando. Kommt mir -267
nur nicht mit eurem Juristenscheiß.« »Selber Scheiße«, sagte Harry ha lblaut. »Das ist eure letzte Chance«, warnte Duane und hob die Papiere hoch. »Ich rate euch, unterschreibt.« »Sprich nicht mit ihm«, sagte Harry. »Schau ihn gar nicht an, David. Mach die Augen zu«, sagte Mike. »Ihr werdet unterschreiben«, knirschte Duane. »Das garantiere ich euch«, schob die Blätter in den Umschlag zurück, legte ihn nieder und beschwerte ihn mit einem Stein, richtete sich wieder auf und fixierte wütend seine Gefangenen. Dann zog er sein Hawaii-Hemd hoch und griff an seine Gürtelschnalle. »Ich habe euch eine Chance gegeben.« Alle vier Matrosen trugen breite schwarze Navy-Ledergürtel mit Metallschnallen. Als Duane seinen Gürtel abschnallte, taten es auch die anderen. »He«, sagte Harry. Duane lächelte gefährlich. Er hatte die Schweinehunde in seiner Gewalt. »Ich nehme Davids Anteil auf mich«, sagte Harry. Duane schlug ihm ins Gesicht. »Ihr bekommt beide seinen Anteil!« brüllte er und trat zu seinen Kameraden. Dann stellte er sich hinter Harry. »Den übernehme ich«, sagte er und holte aus. Es klatschte, und Harry zuckte zusammen. Duane schlug weiter. »Muß ich alles allein machen?« brüllte er. Connie schlug auf Mike Yoshida ein. Duane gab Forrest einen Stoß, der seinen Gürtel schließlich auf Davids Rücken niedersausen ließ. Wesley Trask und Connie standen hinter Mike und lösten sich ab. Die Rücken der jungen Männer färbten sich rot. Blut quoll aus den fürchterlichen Striemen auf ihrer Haut. Duane begann zu schwitzen. Sein Arm tat ihm weh. Warum weigerten sich diese drei Bastarde, zu unterschreiben? Sie waren verrückt, diese Züchtigung über sich ergehen zu lassen. Verrückte waren das. David stieß einen langgedehnten Schmerzensschrei aus. »Hört auf«, sagte Duane und hob die Hand. Keuchend vor Anstrengung ließen die drei anderen ihre Gürtel sinken. »Wollt ihr unterschreiben?« -268
»Bitte, schlagen Sie nicht mehr, oh, bitte«, stieß David hervor und schrie auf, als sich der Gürtel wie ein glühendes Eisen in seinen Rücken grub. »Mach die Augen zu«, sagte Harry. Duane sprang auf David zu. »Wirst du unterschreiben?« »Wir haben es nicht getan. Bitte, Mister, bitte.« Duane trat zurück und schlug abermals auf ihn ein. Das Blut lief in Strömen über Davids Rücken. Tiefe rote Furchen zogen sich durch die zerfetzte Haut. Wieder und wieder schlug Duane zu; als einziger. Wie gerne hätte er seine schlappschwänzigen Kameraden selbst mit dem Gürtel bearbeitet. »Seid ihr gelähmt?« Und schlug weiter. David brüllte vor Schmerz. Duane nahm das Ende des Gürtels. »Schlagt mit den Schnallen!« »Aufhören«, stöhnte David. Die Schnalle riß sein Fleisch auf. »Bitte...« Seine Beine knickten ein, sein Kopf fiel ihm auf die Brust. David verlor das Bewußtsein. Forrest Kinselman sah den Jungen am Baum hängen, sah den blutbedeckten braunen Rücken, erbrach sich und ließ seinen Gürtel fallen. Er taumelte, stolperte, versuchte zu rennen, um diesem Ort des Entsetzens zu entfliehen. Wesley Trask lief los, und Connie folgte ihm. Duane blieb allein zurück. Er haßte die Bastarde an den Bäumen, konnte aber allein nicht weitermachen. Wütend hob er den Umschlag auf und wollte zum Wagen, als ihm Forrests Gürtel in den Sinn kam. Sie durften keine Spuren hinterlassen. Er fand den Gürtel. Ohne sich auch nur einmal umzusehen, rannte er hinunter zu den Wagen. Duane schäumte vor Wut. Nach all der Arbeit und all ihren Plänen hatte er nichts als die leeren Blätter in der Hand. »Machen wir uns auf die Socken«, sagte Connie. Duane hätte ihn am liebsten mit Forrests Gürtel erwürgt. Er warf Forrest den Gürtel hin. »Glaubst du, niemand weiß, wie ein Navy-Gürtel aussieht?« »Du kannst sie doch nicht einfach so hängen lassen?« meinte -269
Forrest. »Du wirst dich wundern.« »Sie werden krepieren, Duane«, warnte Wesley Trask. »Ich brauche keine Belehrung!« »Wir müssen sie losbinden«, sagte Forrest. Duane nahm sein Messer heraus. »Also los, aber beeil dich.« Forrest blieb sitzen. »Ich kann sie nicht mehr ansehen.« Duane reichte Connie das Messer; der schüttelte den Kopf. »Verdammte Schlappschwänze«, zischte Duane, warf den Umschlag in den Wagen und schritt auf die Bäume zu. »Die Stricke!« rief Connie ihm nach. »Wir dürfen die Stricke nicht zurücklassen.« Duane blieb fast das Herz stehen. Er hatte sie in der Stadt gekauft; man würde sich dort an ihn erinnern. Dieser Schlappschwanz hatte ihn gerettet. Zuerst schnitt er David los. Der Junge sank zu Boden. Dann Mike Yoshida. Mike sackte zusammen, fiel auf den Rücken, stöhnte und versuchte sich umzudrehen. Duane hob den Fuß und rollte ihn auf den Bauch. Dann schnitt er Harry los. Harry Pohukaina sank auf die Knie und fiel nach vorn. Duane bückte sich, zerschnitt auch die Stricke an ihren Handgelenken und sammelte zum Schluß alles wieder auf. Die Hände voller Hanfstrickstücke, lief er hastig zum Wagen. »Da ist er, Mädels«, sagte Harvey Koster. Der Inselmagnat stand hoch oben auf einer Treppenleiter, direkt unter den hellen Lichtern, und hielt einen funkelnden Stern in der Hand. Neben ihm stand ein Weihnachtsbaum, an dessen Fuß der alte Stern in einer Schachtel auf dem Boden lag. Der Teppich war voller Kisten mit Weihnachtsschmuck. Koster hatte den neuen Stern in einem Katalog gesehen, der ihm Anfang August aus San Francisco geschickt worden war, und hatte ihn sofort bestellt. Koster blickte auf die erwartungsvollen Gesichter seiner Mädchen herab. »Habt ihr schon jemals etwas so Schönes gesehen?« fragte er sie zärtlich. Koster und die Mädchen schmückten den Baum immer lange vor Weihnachten. Schon im -270
November wurden die Mädchen ungeduldig, und in der ersten Dezemberwoche hatte Koster alle Kisten bereits in das große, fensterlose Studio hinter seinem Ankleideraum gebracht. Die Mädchen und Koster wußten genau, was in jeder einzelnen Kiste war, denn auf jedem Deckel klebte ein von Koster selbst geschriebenes Inventar. Er befestigte den Stern auf der Spitze des Baumes. »Seht nur, Mädchen, seht nur!« rief er aus und strahlte über das ganze Gesicht. Koster stieg die Treppenleiter hinunter und wischte sich die Hände an der graugestreiften Dienerschürze ab, die er sich sorgsam umgebunden hatte. Er stand nun mitten unter seinen Mädchen. »Können wir anfangen?« fragte er und warf einen besorgten Blick auf Sybil, die, hinreißend in ihrem rosafarbenen Reitdress, auf Thor, ihrem Lieblingspferd, saß. »Womit sollen wir anfangen, Sybil?« Koster nickte zustimmend. »Richtig, mit der Krippe natürlich.« Er ging zu den Kisten. Vor genau elf Monaten, am Neujahrstag 1929, hatte er die Krippe sorgfältig in Seidenpapier eingeschlagen. Und als er sie jetzt auspackte, merkte er, daß einer der Heiligen Drei Könige seinen Arm gebrochen hatte. Schon wollte Koster den Mädchen mitteilen, daß er eine neue, noch schönere Krippe kaufen würde, als er sich Sybils Unwillen entsann, als er sie gestern vom Pferd gestoßen hatte. Harvey Koster war betroffen. Das würde ihm Sybil nie verzeihen. »Seht nur, Mädchen, einer der Heiligen Drei Könige hat einen Arm verloren«, sagte Koster zu den Mädchen, aber seine Worte galten einzig und allein Sybil. »Seid nicht traurig! Eins, zwei, drei! Und ich werde den Schaden behoben haben.« Koster trug die Krippe zu seinem Werkzeugkasten und setzte sich auf einen Hocker. So sorgfältig er auch suchte, Leim war nicht zu finden. Koster wußte, daß er Sybil nicht mit irgendwelchen Ausreden kommen durfte. »Ich brauche Leim, Mädchen.« Sidney Akamura hatte eine ganze Kammer voller Flickzeug. Harvey Koster schritt vorsichtig aus dem Studio und ließ die Tür offen. An den -271
Wochenenden kam Sidney Akamura nie zum Dienst. Koster benutzte die Hintertreppe zur Küche und durchquerte diese, als er die Glocke an der Eingangstür hörte. Sonst kam nie jemand zu Koster nach Hause, der nicht eingeladen war. Schon die ganze Woche hatte er darauf gebrannt, mit den Mädchen endlich allein zu sein. Mißmutig band er sich die Dienerschürze auf. Wohl wissend, daß Stella einen Trick vermuten würde, eilte er quer durch die Halle zum Portal. Noch nie hatte Maddox Harvey Koster ohne Anzug und Krawatte gesehen. »Es ist mir äußerst unangenehm, daß ich stören muß, aber es ist wichtig. Ich habe Sie angerufen, aber Sie haben sich nicht gemeldet. Ich habe es auch im Klub versucht.« »Ich war draußen im Garten«, sagte Koster. »Wenn du kommst, dann bestimmt, weil es Ärger gibt.« »Großen Ärger.« Zum ersten Mal in seinem Leben betrat Maddox Kosters Haus. Er folgte seinem Wohltäter in den Salon. Noch nie hatte er eine schönere Einrichtung gesehen. Da war nichts, was zu dem Koster, den er kannte, gepaßt hätte. Im Vergleich zu diesem Haus war Doris Ashleys Windward eine elende Bruchbude. Harvey Koster deutete auf einen Stuhl. »Setz dich, Curt.« »Drei von diesen vier Burschen vom Hester-Ashley-Murdoch-Prozeß sind vermißt«, begann Maddox, noch stehend. »Vermißt?« Koster ging zu einem Stuhl, nahm Platz und schlug die Beine übereinander. »Setz dich, Curt.« Maddox nahm den angebotenen Stuhl und beugte sich vor, den Hut in der Hand. »Sie wurden gestern abend entführt«, sagte Maddox und erzählte ihm von Toms Besuch. »Das war nicht improvisiert. Das war eine organisierte Aktion. Sie wollten alle vier haben. Vielleicht kam der eine, den sie nicht erwischten, gestern abend nicht nach Hause. Diese vier Jungs...« »Jungs?« -272
»Einer von ihne n ist zwanzig Jahre alt, Mr. Koster.« »Sie haben sich aber nicht wie Jungs benommen«, wandte Koster ein. »Also, wie siehst du die Sache, Curt?« »Ich glaube, daß diese... Leute von einem, von mehr als einem geschnappt wurden, um sie zu einem Geständnis zu zwingen.« »Es könnte ein falscher Alarm sein.« »Könnte sein«, nickte Maddox, »könnte aber auch sein, daß sie in diesem Augenblick schon an Bäumen hängen.« Koster sprang auf. »Du lieber Himmel! Wir würden fünfzig Jahre brauchen, um so etwas in Vergessenheit geraten zu lassen. In Washington würden sie sagen, sie hätten uns dort immer richtig eingeschätzt. Wir sind unzivilisiert! Unsere, Hawaiis Eigenstaatlichkeit könnten wir uns an den Hut stecken.« Flammendrote Flecken zeigten sich auf Kosters Gesicht. Er zerrte an seinen Fingern. Noch nie hatte Maddox Harvey Koster so aufgeregt gesehen. »Warum nimmst du auch immer gleich das Schlechteste an?« Maddox konnte nicht sitzen bleiben, während der andere stand. Er erhob sich. »Ich nehme das Schlechteste an, weil es meistens das beste ist.« »Du vermutest also«, entgegnete Koster. »Alles, was du mir erzählt hast, sind Vermutungen.« »Vermutungen anzustellen gehört zu meiner Arbeit«, entgegnete Maddox. »Mein Gefühl sagt mir, daß das eine ganz böse Sache ist. Ich könnte auch völlig falsch liegen und hoffe von Herzen, daß ich falsch liege.« »Welche Alternativen gibt es?« »Sie könnten wieder auftauchen. Man könnte sie umgebracht haben. Man könnte sie umgebracht haben, und sie könnten nie wieder auftauchen, weil man sie irgend wo vergraben oder ins Meer geworfen hat.« Koster ging zu einem Tisch, hob ein lackiertes Kästchen hoch, drehte und wendete es ein paarmal und stellte es wieder an seinen Platz. »Was wissen die in Washington?« fragte er und gab sich selbst die Antwort: »Vier -273
Eingeborene haben Hester Ashley Murdoch vergewaltigt. Die Geschworenen, unter ihnen Eingeborene, können sich nicht auf einen Schuldspruch einigen. Heute sind drei von den vieren vermißt. Wenn sie nicht zurückkommen, könnte Washington denken, daß sie Angs t vor einem neuen Prozeß haben. Wenn sie zurückkommen oder wenn man sie findet, dann mußt du handeln. Du hast den Verteidiger angewiesen, Vermißtenanzeige zu erstatten. Wann läuft bei denen die Sache an?« »Die warten achtundvierzig Stunden.« »In zwei Tagen kann eine Menge passieren, Curt«, gab Koster zu bedenken, machte kehrt und ging zur Tür. Maddox bewegte sich nicht. »Es gibt den Leuten, die sie sich gegriffen haben, einen unheimlich großen Vorsprung.« Koster ging weiter, und Maddox folgte ihm. »Du hast recht getan, zu mir zu kommen«, sagte Koster an der Tür. »Ich werde den ganzen Tag dasein. Du kannst mich jederzeit anrufen.« Es war fast, als spräche er zu dem zwölfjährigen Jungen, den er damals schlafend in seinem Lagerhaus angetroffen hatte. Er öffnete für Maddox die Tür und folgte ihm mit wachsamen Blicken. Koster kehrte in die Küche zurück, nahm die Dienerschürze vom Stuhl und zerrte plötzlich mit aller Kraft daran. Als er versuchte, sie zu zerreißen, bedeckte sich sein Gesicht abermals mit flammendroten Flecken. Doch es gelang ihm nicht. Er schleuderte die Schürze zu Boden und stieß sie mit dem Fuß in eine Ecke. Maddox machte sich auf die Heimfahrt, hielt aber schon wenige hundert Meter hinter Kosters Haus; blieb im Wagen sitzen und ließ den Motor laufen. Nach einer Weile fuhr er weiter und hielt nach einem Kilometer wieder an. Er hörte Pferdegetrappel und blickte auf. Jay und Chloe McCutcheon ritten aus. Sie lachten und freuten sich. Maddox nahm seinen Hut ab und legte ihn auf den Beifahrersitz. »Man bringt doch nicht mir nichts, dir nichts Leute um«, sagte er laut. An der nächsten Kreuzung bog er rechts statt links ab und fuhr ins -274
Polizeipräsidium. Maddox fuhr mit dem Aufzug durch die sonntägliche Stille des Gebäudes in sein Büro hinauf. Noch stehend rief er Al Keller zu Hause an: »Ist mir wirklich unangenehm, aber ich brauche Sie.« Als Keller eintraf, hatte Maddox Bilder von Harry Pohukaina, Mike Yoshida und David Kwan auf seinem Schreibtisch liegen. »Jemand hat sie geschnappt«, berichtete er Keller und erzählte ihm auch, daß schon acht weitere Beamte auf dem Weg ins Präsidium waren. »Mit fünf Wagen sollten wir die Insel durchkämmen können«, meinte Maddox. »Wir werden auch außerhalb des Stadtgebiets suchen müssen«, sagte Keller. »Wie wär's, wenn wir den Sheriff um Unterstützung bitten?« »Könnte sein, daß der Sheriff nicht daran interessiert ist«, entgegnete Maddox und gab Keller die Bilder. »Schauen Sie sie sich gut an, Al«, sagte Maddox und knöpfte seine Jacke auf. In letzter Zeit war ihm alles zu eng. Er brauchte ein paar neue Anzüge. Zum ersten Mal hatte er seinem Wohltäter nicht gehorcht. Ungefähr gegen vier an diesem Sonntagnachmittag machte sich Senso Fujito auf den Weg nach Waikiki. Er saß im Führerhaus seines Kleinlasters. Hinten auf der Pritsche hatte er zwei große Holzkisten mit Spanferkeln für die Küche des Evening Star Hotel. Senso Fujito fuhr nicht gern mit dem Wagen, fuhr nicht gern allein und fuhr schon gar nicht gern im dichten Verkehr. Gewöhnlich begleitete ihn sein ältester Sohn, der aber gestern auf einen rostigen Nagel getreten war. Senso war schon eine gute Weile unterwegs, als er auf der rechten Straßenseite einen Betrunkenen sah. Der Schnapsbruder konnte kaum stehen, und sein Oberkörper war nackt. Senso zog den Laster nach links, mitten auf die Gegenfahrbahn, um dem Kerl auszuweichen. Der Mann, Soldat oder Matrose, taumelte auf den Lkw zu; Senso würde voll bremsen müssen, um ihn nicht zu überfahren; Kisten würden auf die Straße krachen und zersplittern, und seine Spanferkel würden das Weite suchen. Der Mann stürzte zu -275
Boden. Plötzlich sah Senso zwei weitere Betrunkene im Graben neben der Straße und endlich, als er an den dreien schon fast vorbei war, das Blut. Senso Fujito stieg auf die Bremse. Als er aus dem Führerhaus kletterte, war Harry Pohukaina wieder auf den Beinen. »Hilfe«, stammelte er und sackte zusammen. Auf der Fahrt ins Mercy Hospital schaltete Maddox Blaulicht und Sirene ein. »Sie werden die Patienten wecken, Captain«, meinte Al Keller, der neben ihm saß. »Bricht mir fast das Herz«, erwiderte Maddox, schaltete aber die Sirene wieder aus. Auf wen zum Teufel bin ich denn so wütend? fragte er sich. Neben dem Eingang zur Notaufnahme war das schwarzgelbe Cabrio geparkt. Drinnen lag Harry Pohukaina bäuchlings auf dem Tisch. Seine Arme hingen links und rechts herunter, und seine Finger krampften sich um die eckigen Metallfüße; er hielt sich fest, um am Leben zu bleiben. Mehr konnte er nicht mehr ertragen. Sie mußten aufhören, ihn zu schlagen. Entweder aufhören oder ihn töten. Dr. Frank Puana arbeitete an Harry. Peter Monji, der Arztgehilfe, stand auf der anderen Seite des Tisches und assistierte. Der Arzt hatte die drei auf dem Kleinlaster des Bauern gesehen, bevor sie hereingetragen worden waren. »Eins, zwei, drei«, hatte Frank zu Peter Monji gesagt und auf die Jungen gezeigt, die neben den Spanferkelkisten auf der Ladepritsche gelegen hatten. Sie nahmen David Kwan als ersten dran; er und Mike Yoshida waren schon oben. Maddox kam durch die Tür und blieb stehen, als ob er gegen eine Wand gerannt wäre. Fast wäre Al Keller in ihn hineingelaufen. Keller trat zur Seite und stammelte: »Heilige Mutter Gottes... Mein Gott!« Maddox verzog das Gesicht; seine Lippen spannten sich über die Zähne. Der Arztgehilfe blickte zu ihm herüber, und Frank Puana hob den Kopf. »Wenn man sie -276
nicht gefunden hätte, wären sie schon tot.« »Wo sind die anderen?« fragte Maddox. Frank beugte sich über seinen Patienten. Maddox trat auf den Arztgehilfen zu. Der Rücken des jungen Mannes auf dem Tisch war ein einziger blutiger Morast. »Sag's mir, Junge, und sag's mir schnell«, forderte Maddox ihn auf. »Sie sind oben«, antwortete Peter Monji. »Doktor Puana hat sie als erste behandelt.« »Wer hat sie gefunden?« fragte Maddox. »Sie stören mich bei der Arbeit, Captain«, sagte Frank. »Schnauze! Sie tun Ihre Arbeit, und ich tu meine«, entgegnete Maddox ruppig, und zu Peter gewandt: »Wer hat sie gefunden?« »Ein Bauer«, antwortete Peter. »Ein Saubauer.« Maddox machte eine Handbewegung. »Al.« In Kellers Magen rumorte es verdächtig. Den Blick zu Boden gerichtet, kam er näher. »Sagen Sie ihm, was Sie wissen«, forderte er Peter Monji auf, umging ihn, trat an den Tisch heran und blieb neben Frank Puana stehen. Maddox beugte sich etwas zur Seite, um den Typen anzusehen, der sich an die Tischbeine geklammert hatte. Die Augen des jungen Mannes waren geschlossen. Maddox richtete sich auf und flüsterte Frank ins Ohr: »Hören Sie auf, den Helden zu spielen. Je früher ich etwas erfahre, desto eher kann ich die Fahndung einleiten. Kann er reden?« »Sind Sie blind? Der Mann ist nicht bei Bewußtsein«, erwiderte Frank. Harry hörte die Stimmen wie aus weiter Ferne. Sie hatten aufgehört, ihn zu schlagen und wollten gehen. »Helfen... Sie... uns!« röchelte er. Maddox hörte ihn, hockte sich nieder, sein Gesicht auf einer Ebene mit dem Tisch. Der Junge hatte die Augen offen. »Ich bin ein Bulle«, sagte Maddox, »und will die haben, die euch das verpaßt haben. Du mußt mir helfen. Wie viele waren es? Beschreib den Wagen. Wohin haben sie euch gebracht? Los, rede, solange du reden kannst!« -277
»Vier«, stammelte Harry. »Zwei Wagen. Pistolen. Gestern abend. David und ich. Mike. Haben uns angebunden und dann ausgepeitscht...« Seine Augen schlossen sich. Maddox betrachtete ihn und richtete sich auf. »Captain«, sagte Keller, und blieb neben der Tür stehen. Maddox schob mit dem Zeigefinger seinen Hut aus der Stirn und ging um den Arzt herum. »Nichts!« meldete Keller, und bemühte sich, leise zu sprechen. Er brauchte gar nicht hinzusehen, um zu wissen, wie man den Burschen zugerichtet hatte. Keller konnte seinen Zorn kaum bezähmen. »Keine Namen, nichts«, sagte er wütend. Fast hätte er diesem idiotischen Arztgehilfen eine hinter die Löffel geknallt. »Ein Saubauer! Sie haben ihm überhaupt keine Fragen gestellt!« »Sie sind keine Cops«, sagte Maddox. »Beruhigen Sie sich, Al, beruhigen Sie sich.« »Schon gut.« Keller nickte und wischte sich die Hände ab. »Ein japanischer Saubauer. Fuhr einen Kleinlaster und brachte Spanferkel in die Stadt. Das ist alles, Captain. Das ist alles!« »Und genau da haken wir ein«, erklärte Maddox ruhig. »Sonntag. Er bringt die Ferkel an einem Sonntag, also sind sie nicht für einen Metzger bestimmt. Die Metzger haben geschlossen. Wahrscheinlich waren sie für eine Luau heute abend bestimmt. Nehmen Sie meinen Wagen, Al. Verlangen Sie Unterstützung. Fangen Sie mit Waikiki an. Überprüfen Sie jeden Koch in jedem Hotel. Von dort arbeiten Sie sich in die Innenstadt vor. Wer die Spanferkel bestellt hat, wird den Namen des Farmers kennen und wissen, wo er wohnt.« Maddox stieß die Tür auf. »Melden Sie der Funkzentrale, die sollen jemand schicken, der mich hier abholt. Später erreichen Sie mich im Präsidium.« Maddox legte seine Hand auf Kellers Schulter und schob ihn durch die Tür. »Wie geht es ihm?« Maddox drehte sich um und stand vor dem Anwalt, der nun gar nicht mehr wie ein Pfarrer aussah. -278
Tom hatte Sarah im zweiten Stock bei David Kwan und seinem Vater zurückgelassen. Der alte Mann war neben seinem Sohn zusammengebrochen, und Tom und Sarah hatten ihn ins Besuchszimmer gebracht. »Sie hatten recht, Captain«, sagte Tom. »Sie waren vermißt, und jetzt sind sie wieder aufgetaucht. Es hat keine achtundvierzig, nicht einmal vierundzwanzig Stunden gedauert. Sie sind wieder da.« Tom streckte seinen Arm aus. »Da ist Harry und was von ihm noch übrig ist. Was von David und Mike noch übrig ist, liegt oben. Die Vermißtenanzeige können Sie zerreißen.« Maddox durchquerte den Raum. »Können sie reden?« »Ob sie...« erwiderte Tom und brach ab. Er mußte weg von diesem Kerl. Die Nähe dieses Bullen war unerträglich. Er deutete auf Harry. »Ob er reden kann? Warum schauen Sie ihn nicht an? Sie wollen ja gar nicht!« Tom wirbelte herum, aber Maddox hielt ihn fest. »Wo ist der andere? Liliuohe?« Maddox gab Tom nicht frei. »Vergeuden Sie nicht meine Zeit, Herr Anwalt. Ich habe ein Verbrechen aufzuklären, und Sie hindern mich an der Ausübung meiner Pflichten. Wollen Sie mir hier antworten oder im Präsidium?« »Er ist zu Hause!« Tom konnte sich losreißen, aber nur, weil der Captain seinen Griff gelockert hatte, und hinkte davon. Maddox folgte ihm mit aufmerksamen Blicken. Der Herr Anwalt war zu unerfahren, um sich Angst einjagen zu lassen. Eine Viertelstunde später steckte ein Polizist den Kopf zur Tür herein. »Captain? Sind Sie fertig?« Maddox nickte und folgte ihm. Der Streifenwagen stand quer zum Eingang. Maddox blieb stehen, nahm seinen Hut ab, holte ein Taschentuch heraus und wischte das Schweißband ab. Die zwei Beamten auf dem Vordersitz beobachteten ihn. Den Hut in der Hand, öffnete Maddox die vordere Tür. »Kommen Sie, steigen Sie hinten ein, mein Junge«, sagte er. »Ins Präsidium«, wies er den Fahrer neben sich an und langte nach dem Sprechfunkgerät unter dem Armaturenbrett. -279
»Maddox«, meldete er sich beim Einsatzleiter. »Joseph Liliuohe ist einer dieser vier Angeklagten im Hester-Ashley-Murdoch-Prozeß. Wohnt in Papakolea. Ist im Haftbuch eingetragen. Der Diensthabende wird Ihnen seine Adresse geben. Schicken Sie eine dreizweisechs hin. Wenn er nicht zu Hause ist, sollen sie mich im Präsidium anrufen. Ist er daheim, sagen Sie ihnen, sie sollen dort bleiben. Wenn er das Haus verläßt, verlassen sie es mit ihm. Wo er auch hingeht, sie gehen mit, auch auf die Toilette, wenn's sein muß. Sie bleiben dort, bis sie abgelöst werden. Ab sofort wird er rund um die Uhr bewacht.« Der Tag ging zu Ende. Während Maddox ins Präsidium gefahren wurde, gingen die Straßenlaternen an. Seine Begegnung mit dem jungen Anwalt hatte er total vergessen. Er dachte nur an den Jungen auf dem Tisch und an den jüngsten, David Kwan. Maddox versuchte, sich zu konzentrieren, sich die Kidnapper vorzustellen. Vier waren es gewesen, zwei Wagen und zwei Pistolen. Pistolen und Peitschen. Nein, keine Peitschen. Die Verletzungen lagen zu weit auseinander. Sie hatte Riemen verwendet. Wer sie? Wer, zum Teufel noch mal? Es konnte jeder gewesen sein. Maddox' Wut umfaßte alle Bewohner Hawaiis. Nur für Al Keller und sich selbst konnte er die Hand ins Feuer legen. Er hielt seinen Hut im Schoß und drehte ihn langsam. Die Straße war leer. »Setzen Sie mich beim Haupteingang ab.« Kein Mensch zu sehen. Die große Halle war leer und nur schwach beleuchtet. »Hier stinkt's«, sagte er laut. Mit dem Aufzug fuhr er in den zweiten Stock hinauf. Seine Schultern taten ihm weh, alles tat ihm weh. Er hatte das Gefühl, ohne Unterbrechung seit einer Woche wach und ständig auf den Beinen zu sein. »Ein schöner Sonntag«, sagte er. Morgen würde er die drei Jungen im Krankenhaus besuchen müssen. »Ein schöner Montag.« In seinem Büro setzte Maddox sich hinter den Schreibtisch und blickte hoch zur Uhr über der Tür. Fast neunzehn Uhr. Eine Weile später beugte er sich vor und langte nach dem Telefon, um sich -280
Kaffee und ein Sandwich bringen zu lassen. Doch ohne gesprochen zu haben, legte er den Hörer wieder auf. Um zwanzig Uhr dreißig griff er abermals zum Telefon. »Al Keller ist mit meinem Wagen unterwegs«, sagte er dem Einsatzleiter. »Suchen Sie ihn. Er soll mich zurückrufen.« Die Tür ging auf. »Danke, hat sich erledigt.« Al Keller lachte. »Senso Fujito«, berichtete er. »Sie hatten wieder mal recht, Captain. Lieferte gerade die Spanferkel an das Evening Star Hotel.« Er langte in seine Hosentasche. »Wohnt am Ende der Welt.« »Sie haben doch wohl nicht erwartet, daß er seine Ferkel auf der King Street züchtet?« Maddox erhob sich aus seinem Sessel, und Keller gab ihm den Zettel mit Senso Fujitos Adresse. »Für den Rest des Tages haben Sie Urlaub, Al.« »Und der Bauer?« »Wir sind schon den ganzen Tag auf den Beinen«, antwortete Maddox. »Es ist schon dunkel. Senso Fujito wird uns sicher sagen, wo er die Burschen aufgelesen hat, und deshalb müssen wir warten, bis es hell geworden ist.« Mit dem Rotschopf an seiner Seite wanderte Maddox durchs Zimmer. »Morgen früh werde ich ihn besuchen.« Keller blieb an der Tür stehen. »Ich könnte Sie abholen, Captain.« »Sie haben schon Ihren Sonntag geopfert, Al. Tun Sie auch mal was für die Familie. Ich schrei schon, wenn ich Hilfe brauche.« Maddox fuhr heim und betrat sein Haus durch den Kücheneingang. Im Schlafzimmer knipste er die Nachttischlampe an, zog sich die Schuhe aus, schnallte die Halfter ab und legte sie neben die Lampe. Dann leerte er seine Taschen, zog sich aus, drehte das Licht ab und schlüpfte unter die Decke. Als Maddox wach wurde, machte er Licht und sah auf die Uhr. Fünf nach vier. Er stieg aus dem Bett, stand nackt vor dem Bett und krümmte seinen Rücken. Dann ging er ins Badezimmer und -281
ließ die Wanne vollaufen. Wer hatte diese jungen Männer ausgepeitscht? Wer? Sein schreckliches Abenteuer, von dem er seiner Frau in allen Einzelheiten und wortreich erzählt hatte, hatte Senso Fujito total verschlafen lassen. Der rostige Nagel hatte den Fuß seines Sohnes anschwellen lassen, und deshalb war Fujito allein bei den Schweinen. Als er die Sauen und seine zwei Eber gefüttert und die Wassertröge gefüllt hatte, war es fast sechs in der Früh. Er war zwar schon spät dran, mußte aber doch etwas essen, bevor er weitermachte. Senso Fujito war auf dem Weg ins Haus, als er den Wagen kommen hörte. Maddox drückte auf die Hupe und sah, wie der Bauer erstarrte, als ob er ertappt oder von Feinden umringt worden wäre. Maddox blieb neben ihm stehen, zückte seine Dienstmarke und lächelte freundlich. »Keine Angst. Ich brauche Ihre Hilfe.« »Ich nicht sprechen Englisch gut.« »Sie sprechen gut genug«, beruhigte ihn Maddox und deutete auf den Lkw. »Zeigen Sie mir, wo Sie die Burschen gefunden haben. Ich fahre Ihnen nach.« Er wollte den Bauern nicht mitnehmen und dann wieder zurückbringen müssen. Senso Fujito scheute sich, dem Polizisten zu sagen, daß er mächtigen Hunger hatte, daß er spät dran und allein war und daß sein Sohn nicht laufen konnte. Er nickte nur eifrig und eilte zu seinem Laster. Maddox folgte ihm im zweiten Gang. Er hätte gerne gehupt. Zu Fuß wäre er fast schneller gewesen. Bestimmt hatte der Bauer solche Angst, daß er sich nicht erinnerte. Immer locker bleiben, sagte sich der Captain und legte den Arm über die Rückenlehne des Beifahrersitzes, als der Bauer von der Straße abbog und anhielt. Maddox war schon bei ihm, bevor Senso Fujito die Tür des Führerhauses geöffnet hatte. Sie standen neben der Straße. »Sind Sie wirklich sicher?« fragte Maddox. »Hier«, antwortete Senso Fujito und stampfte mit dem Fuß auf. »Alle drei hier.« Maddox blickte auf den Boden und dann nach oben. Sie standen am Fuße eines sanft ansteigenden Hügels. -282
Maddox überquerte die Straße. Das Gelände fiel dort steil ab. Die drei Kerle hätten es hier nie heraufgeschafft. »Ich jetzt gehen«, sagte Senso Fujito. »Ja, gehen Sie nur.« Maddox nickte und beobachtete den Farmer, der eilig davontrippelte und dann ins Führerhaus kletterte. Maddox hob seine Hand und beschattete die Augen. Der Laster fuhr an. Maddox ging auf seinen Wagen zu und blieb mitten auf der Straße stehen. Der Lkw bog rechts ab und verschwand. Mit einem Satz war Maddox in seinem Wagen. »Na klar!« rief er und schlug sich an die Stirn. Langsam und im Rückwärtsgang kam Senso Fujitos Laster wieder zum Vorschein, machte eine Kehre und ratterte davon. Maddox überholte ihn, und wenige hundert Meter weiter erreichte er den Holzeinschlag, bog ein und hielt an, stieg aus und ging einige Schritte zu Fuß weiter. Und da waren auch schon die Reifenspuren. Langsam fuhr Maddox den Hang hinauf. Der Wagen kam nur mühsam voran. Er erreichte die Kuppe, stieg abermals aus und setzte zwischen zwei parallel verlaufenden Reihen flachgedrückter Büsche langsam seinen Weg fort. Schließlich kam er zu dem Wäldchen. Die Sonne verschwand, und Maddox stand im Schatten auf unberührtem Land. Überall umgestürzte Bäume, die hier moderten. »Hier haben sie angehalten«, sagte Maddox zu sich. Er sah ein Hemd, und als er sich bückte, um es aufzuheben, ein zweites, vom Wind an einen Baum geweht. Das dritte Hemd lag auf der Erde neben einem von vier Bäumen, die wie Pfähle in einer Reihe standen. »Sie haben uns festgebunden«, wiederholte Maddox leise, was Harry Pohukaina ihm in der Notaufnahme gesagt hatte. Die Hemden waren nicht verschmutzt; man hatte sie ihnen ausgezogen, bevor man sie an die Bäume band. Maddox ging von einem Baum zum anderen und bemerkte die aufgekratzten Rinden. Er hockte sich nieder. Der Boden war feucht und hart. Er richtete sich wieder auf und lief, den Kopf gesenkt, langsam im Kreis, lief durch den Wald, bis er wieder Sonnenlicht sah, lief weiter und schlug eine andere Richtung ein. Fast zwei Stunden durchsuchte er den Wald, -283
visitierte das Gebiet, wo die Wagen gestanden hatten, und hockte sich immer wieder hin, und seine Hände durchforschten das dichte Gestrüpp. »Bringt nichts«, sagte er schließlich und erhob sich; das schweißnasse Hemd klebte ihm am Rücken. In der Stadt kehrten sie das Unterste zuoberst, und alles, was er beizutragen hatte, waren die Hemden der Opfer. Er wischte das Schweißband mit seinem Taschentuch trocken und kehrte durch das dichte Unterholz zu seinem Wagen zurück. Über Steine, Löcher und Wasserrinnen rumpelnd steuerte Maddox den Hang hinunter und erreichte die Straße. Höchste Zeit, ins Mercy Hospital zu fahren! Mittlerweile sollten die Burschen eigentlich reden können. »Zweieinszwei. Zweieinszwei.« Er griff nach dem Funktelefon. »Zweieinszwei«, sagte Maddox. »Zweieinszwei«, meldete sich die Einsatzzentrale im Präsidium. »Sie sollen sich bei Chef Fairly melden. Er sucht Sie schon den ganzen Morgen.« »Jetzt hat er mich gefunden«, sagte Maddox, hängte ein und fuhr in die Stadt zurück. Kaum im Präsidium, ging er sofort zum Büro des Chefs. »Ist er allein?« Der Polizist im Vorzimmer nickte und schnitt eine Grimasse. Maddox öffnete die Tür. »Hallo, Len.« Leonard Fairly nahm den Brieföffner in die Hand und beobachtete, wie Maddox auf ihn zukam und ließ den Captain eine Weile vor dem Schreibtisch stehen. »Sie haben sich ja reichlich Zeit gelassen«, sagte er. »Ich habe gearbeitet«, antwortete Maddox. »Ich arbeite immer noch. Was für eine Laus ist Ihnen denn über die Leber gelaufen?« »Sie.« Die Spitze des Brieföffners zeigte auf ihn. »Sie sind mir über die Leber gelaufen, Maddox. Es mag Ihnen neu sein, aber nicht Sie leiten diese Dienststelle. Ich leite sie.« Maddox trat vor, bis sein Oberschenkel den Schreibtisch berührte, und sah auf den kleinen Mann in dem viel zu großen Ledersessel herab. »Ich bin müde, Len. Die letzten -284
vierundzwanzig Stunden waren eine einzige Hetzjagd.« »Vielleicht sollten Sie mal Pause machen.« »Zum Teufel, Mann, nun reden Sie endlich!« »Bei mir spielen Sie nicht den Starken«, sagte der Chef und schwang den Brieföffner, als ob er einen Schwertkampf auszufechten hätte. »Ich bin nicht so wie Ihre kleinen Cops. Ich habe keine Angst vor Ihnen«, fuhr er fort, sichtbar bemüht, sich selbst zu überzeugen. »Was fällt Ihnen eigentlich ein, Joe Liliuohe unter Polizeischutz zu stellen?« »Die Cops sind bei ihm, um ihn zu beschützen.« »Zu beschützen«, wiederholte Fairly. »Aha! Sie stellen sechs Polizisten ab, um einen Verbrecher zu schützen, den Kopf der ganzen Bande?« »Die Geschworenen haben Ihre Meinung nic ht geteilt«, hielt Maddox ihm entgegen. »Hester Ashley Murdoch teilt meine Meinung«, sagte der Chef. »Ganz Hawaii teilt meine Meinung. Jedermann in den Staaten teilt meine Meinung.« Fast schrie er schon. »Senatoren der Vereinigten Staaten von Amerika teilen meine Meinung!« Fairly stieß mit dem Brieföffner unbarmherzig in seine große grüne Schreibunterlage. »Damit Sie's wissen: Es sind keine Cops mehr im Punchbowl! Der unschuldige Mr. Liliuohe wird nicht mehr von Cops bewacht! Ich habe sie abgezogen! Der Polizeichef hat sie abgezogen!« Maddox rollte die Augen. »Überlegen Sie sich's, Len. Weisen Sie die Funkstelle an und schicken Sie wenigstens eine Streife hin.« »Nicht, solange ich Chef bin«, entgegnete Fairly. »Und ich bin hier der Chef, vom Bürgermeister bestellt«, schrie er. »Er würde sich alles mögliche denken, wenn er wüßte, daß ich Cops einsetze, um ausgerechnet Joe Liliuohe zu beschützen. Nicht bei mir!« Maddox beugte sich vor und stemmte die Fingerknöchel gegen die Schreibtischplatte. Fairly schreckte zurück. -285
»Lynchlustige durchstreifen die Stadt«, sagte Maddox. »Gestern haben sie die drei Burschen fast umgebracht.« »Zu schade, daß es ihnen nicht gelungen ist«, versetzte Fairly. »Hawaiis Steuerzahler hätten sich gewiß gefreut, nicht noch mal für einen neuen Prozeß berappen zu müssen.« Maddox bewegte sich nicht, aber er schien dem Chef noch näher zu kommen. Der kleine Mann ließ den Brieföffner auf die zerstochene Schreibunterlage fallen. »Sie können gehen«, sagte er nur und senkte den Blick. Früh am nächsten Tag fuhr Sarah Tom hinunter zum Hafen zu den Mietbooten, die hinter den großen Piers lagen. »Ich hole dich wieder ab«, sagte sie. »Ich weiß nicht genau, wann ich zurück bin«, sagte Tom. »Man weiß das nie so genau; hängt vom Seegang ab.« »Ich werde hier sein«, versprach Sarah. »Du wirst müde sein«, meinte Tom. »Du brauchst nicht extra herunterzukommen.« »Doch, gern«, sagte sie. »Warum bist du immer so weit weg?« Tom rutschte über den Sitz. »Nahe genug?« Sarah legte ihren Arm über sein Bein und ihre Hand an die Innenseite seines Schenkels. »Du kannst mir gar nicht nahe genug sein«, antwortete sie, und sagte dann, leiser: »Ich fühle dich immerzu, Tom. Du bist für immer bei mir.« Tom hätte sie ewig küssen können, festhalten, sich in ihr verlieren. Auf der ganzen langen Fahrt zum Big Island fühlte er Sarah neben sich. »Generell keine Besucher. Absolut keine Ausnahmen.« Der Skipper las laut das Schild, als das Boot Prinzessin Luahines Anlegeplatz erreichte. »Wirklich eine sehr umgängliche Dame.« »Sie mag's nicht, wenn man sie belästigt«, bemerkte Tom. »Aber Sie dürfen sie belästigen«, entgegnete der Skipper. »Sie -286
haben wohl bei Ihrer Hoheit, der Prinzessin, einen Stein im Brett. Hab von ihr gehört. Von uns armen Schluckern ist ihr keiner gut genug.« Er spuckte aus. »Um sie vor Jahren aus der Stadt hinauszuschmeißen, dazu waren wir gut genug.« »Niemand hat Prinzessin Luahine aus der Stadt hinausgeschmissen«, entgegnete Tom. »Sie hat die Stadt verlassen, weil sie es so wollte.« Er haßte den Skipper. »Wie lange werden Sie da oben brauchen?« wurde Tom gefragt. »Das kann ich nicht sagen.« »Ich möchte eigentlich bald wieder zurück«, sagte der Skipper, schob eine Planke vom Bootsrand zum Ufer, und Tom ging an Land. »Sie machen doch schnell, wie?« Tom blieb stehen. »Sie können zurückfahren.« »Sie schulden mir Geld«, sagte der Skipper. »Nur für eine Fahrt«, entgegnete Tom und kam zum Boot zurück. »Wieviel?« Der Skipper schlurfte nach achtern. Tom nahm den Weg unter die Füße, der zum Hügel hinaufführte. Er war schon am Ende der Anlegestelle, als er den Skipper hörte. »Reißen Sie sich ja kein Bein aus«, rief er zu ihm hinauf und lachte. Einen Augenblick lang drängte es Tom, zurückzulaufen, das Boot zu entern, sich auf den Skipper zu stürzen und ihn zusammenzuschlagen. Doch er ging weiter und hörte nur das Scharren seines Schuhs. Oben angekommen, sah Tom sich um. Niemand war da; weder die Prinzessin noch Jack Manakula. Er rief ein paarmal, hörte aber nur das Rauschen des Meeres. Er ging zum Haus und kletterte die Treppe zur Veranda hinauf. Auf einem Korbsofa lag ein offenes Buch mit dem Rücken nach oben, eine Brille daneben. Tom beugte sich vor, um den Titel zu entziffern. Die Elenden, von Victor Hugo. Er setzte sich aufs Sofa und sah auf die Uhr. Ferner Hufschlag ließ Tom die Treppe wieder hinunterklettern. Zwei Reiter. Er hob die Hand, beschattete seine Augen und ging ihnen entgegen. Die Prinzessin erkennend, blieb er stehen. -287
Gewaltig wie ein Monolith überragte Prinzessin Luahine ihr Pferd. Jack Manakula begleitete sie. Tom hinkte zum Gehege. Die Reiter hielten an, Jack stieg ab, doch die Prinzessin blieb im Sattel sitzen und betrachtete den jungen Anwalt. Ihre Stirn und ihr Hals waren verschwitzt, und Haarsträhnen wehten im Wind. »Nicht einen Penny mehr«, sagte sie zu Tom. Tom erzählte ihr alles. Die Hände gefaltet und auf dem Sattelknopf, hörte die Prinzessin schweigend zu. Jack Manakula nahm sein Säckchen Tabak und Zigarettenpapier aus seiner Hemdtasche und versuchte sich eine zu drehen. Seine Hände zitterten. Er kehrte Tom den Rücken und lehnte seinen Kopf an den Sattel. Tom verstummte und sah der Prinzessin in die Augen. »Werden deine Freunde wieder in Ordnung kommen?« fragte sie. »Sie wollen wissen, ob sie sterben werden? Nein, sterben werden sie nicht«, antwortete Tom. »Ob sie in Ordnung kommen werden? Sie werden nie in Ordnung sein.« Tom begann zu schreien. »Sie wurden ausgepeitscht! Sie wurden gefesselt und ausgepeitscht! Das Fleisch hing ihnen in Fetzen vom Rücken herunter! Sie liegen auf dem Bauch und können sich nicht bewegen! Harry beißt sich in die Hand! Man mußte ihn festbinden! David brüllt! Alle fünf Minuten glaubt er, daß sie ihn immer noch auspeitschen! Jetzt werden sie nie mehr wissen, wer sie als nächster schnappt!« Die Prinzessin betrachtete den Hinkefuß im dunklen Anzug. Langsam brachte sie ihr rechtes Bein über den Rücken des Pferdes und ließ sich zu Boden gleiten. Mit dem Handrücken wischte sie sich übers Gesicht. »Nimm sie, Jack«, sagte die Prinzessin und gab der Stute einen Klaps. Mit bedächtigen Schritten verließ sie das Gehege. »Ich bin gekommen, um Ihnen zu berichten, was geschehen ist«, sagte Tom. »Du hast mir damit keinen Gefallen getan«, erwiderte die Prinzessin. »Ich lebe schon zu lange, als daß mich von da drüben noch etwas überraschen könnte. Ich habe genug gehört. Schweine! Dreckfresser! -288
Marschieren jeden Sonntag in ihre Kirchen, als ob sie Menschen wären. Sind aber keine! Sie sind der Abschaum der Menschheit. Wer, glaubst du, hat uns um unser Land gebracht? Sie kommen aus allen Kloaken der Erde.« Vor dem Haus blieb sie stehen und warf einen Blick zum Gehege zurück. »Willst du diesen armen Tieren endlich die Sättel abnehmen?« brüllte sie. »Es ist dir vielleicht noch nicht aufgefallen«, brüllte Jack zurück, »aber ich habe nur zwei Hände.« »Warum benützt du sie dann nicht?« Prinzessin Luahine wischte sich wieder über das Gesicht. Wenn ich so lange in der Sonne bin, komme ich mir vor wie Spießbraten.« Sie stieg die Stufen hinauf und erreichte den kühlenden Schatten der Veranda. Tom sah, wie sie zu dem Buch griff. »Der Mann dachte, nur er hätte Kummer«, sagte sie und meinte die Hauptperson, Jean Valjean, »er hätte mal Hawaiier sein sollen.« Sie ließ sich auf dem Sofa nieder. »Setz dich. Du brauchst keine Extraeinladung abzuwarten.« Tom rückte einen Stuhl an sie heran. »Du hast von dreien gesprochen. Es waren aber doch vier.« »Joe ist Sonntagabend nicht nach Hause gekommen«, sagte Tom. »Er war mit seiner Freundin am Strand.« Die Prinzessin blickte zu Jack hinüber, der gerade der Stute den Sattel abnahm. »Dieser Joe... wie hieß er doch gleich?« »Liliuohe. Joe Liliuohe.« »Das ist doch der, der wegen Doris Ashleys Tochter anhielt, nicht wahr? Der die ganze Sache ins Rollen brachte?« »Joe hat ihr das Leben gerettet! Er kam vor Gericht, weil er sie ins Krankenhaus brachte.« Die Prinzessin schlug sich mit dem Buch aufs Knie. »Hör auf, mich zu verbessern. Du bist Anwalt, du verstehst, was ich meine. Geh zu diesem Joe... ich kann seinen Namen nicht behalten. Geh zu ihm und schick ihn her. Ich werde ihm Arbeit geben. Er kann mit den anderen Schnittern schlafen. Fahr ihn zum Hafen hinunter, miet ein Boot, sag dem Skipper, daß ich ihn bezahlen -289
werde, und schick mir diesen Joe. Wenn die anderen drei soweit sind, fahr sie zum Hafen hinunter, miete ein Boot, sag dem Skipper, daß ich ihn bezahlen werde und schicke sie her. So werden wenigstens vier Arbeitslose Papakoleas von der Straße geholt.« Tom trat ein paar Schritte zurück, als Jack die Treppe heraufkam. »Sie müssen wieder vor Gericht«, sagte Tom. »Sie hatten schon ihr Gericht«, meinte die Prinzessin. »Aber das Gericht wird denken, sie sind weggelaufen.« »Du kannst Phil Murray ausrichten, er kann rüberkommen und selbst nachsehen«, sagte die Prinzessin. »Ich zahle auch ihm die Fahrt.« Tom sah sie an, als ob sie sich mit den Kidnappern verbündet hätte. »Alle werden glauben, sie wären abgehauen, weil sie schuldig sind.« »Hier bleiben sie wenigstens gesund«, bemerkte die Prinzessin und sah Jack an. »Sag's schon.« »Ich brauch's gar nicht zu sagen.« Ächzend schlug die Prinzessin ein massiges Bein über das andere. »Ich habe mich geirrt«, gab sie zu. »Sie können nicht herkommen. Sie können nirgendwo hingehen. Sie müssen bleiben. Wenn sie die Stadt verlassen, sind alle schuldig. Alle, die keine Haoles sind.« Sie fixierte Tom. »Ich wo llte, ich hätte dich nie zu Gesicht bekommen. Aber wie auch immer... ich gebe dir ein paar Hausaufgaben, Herr Anwalt. Morgen gehst du zu den Zeitungen, den englischsprachigen und den anderen. Du gehst zur Associated Press und zu der anderen, der United Press. Du erzählst ihnen alles, was du mir erzählt hast. Dann schnappst du dir einen Fotografen und gehst mit ihm ins Krankenhaus. Dort soll er Bilder machen für den Fall, daß die Haoles meinen, sie könnten keine Bilder von jungen Männern veröffentlichen, die aussehen wie enthäutete Katzen, nur weil die Fotos nicht zum Polo passen. In den Staaten wird man diese Bilder haben wollen. Du schickst sie persönlich ab. In den Staaten lieben sie solche -290
Sündenfälle, ganz besonders, wenn die Sünder bestraft werden. Und wenn die Reporter Informationen brauchen, gib sie ihnen.« Prinzessin Luahine lehnte sich zurück und betrachtete Tom. »Ganz plötzlich habe ich einen Partner, und ich weiß gar nichts von ihm.« Tom sah Sarah vor sich, sah sie auf dem Pier stehen und ihm zuwinken, sah deutlich ihr Gesicht, sah ihre Lippen. Sein Herz schlug schneller. Er schüttelte den Kopf. »Und die Familie? Deine Eltern? Bist du ein guter Sohn?« »Nicht gut genug«, antwortete Tom und erinnerte sich an die Zahlungsanweisungen, die drei Jahre lang nach San Francisco gekommen waren. Er erinnerte sich, wie ehrfürchtig seine Eltern das akademische Diplom betrachtet hatten, als er heimgekehrt war. Seine Mutter hatte ihn geküßt, als ob er Ehrengast in ihrem Hause wäre. Sein Vater war hinter dem Lehnstuhl in der Küche stehengeblieben. »Wenigstens das hab ich erreicht«, hatte sein Vater gesagt. Die Prinzessin schwenkte das Buch. »Komm näher.« Tom blieb vor ihr stehen. »Wenn du Achtung verlangst, mußt du zuerst Achtung vor dir selber haben. Du mußt nach was aussehen, dann bist du was. Kennst du Hansen's in der Innenstadt? Herrenausstatter. Morgen gehst du zu Bob Hansen. Sag ihm, ich hätte dich geschickt. Sah ihm, er selbst soll einen Anzug für dich aussuchen.« Tom schüttelte den Kopf. Die Prinzessin sah Jack an. »Einen schönen Partner hab ich mir da angelacht. Das letzte Mal ist er sogar mit diesem Anzug hergeschwommen! Geh zu Bob Hansen!« »Das kann ich nicht«, entgegnete Tom und lauter: »Das kann ich nicht! Ich will das nicht«, und dann, leiser werdend: »Aber ich danke Ihnen.« Die Prinzessin rieb sich die Nase. »Beug dich vor.« Tom gehorchte. Sie zupfte ihm die Krawatte zurecht und fuhr mit dem Finger über ihre Lippen und strich ihm das Haar glatt. »Versuch -291
wenigstens, wie ein Anwalt auszusehen«, sagte sie und entließ ihn mit einer knappen Geste. »Auf Wiedersehen«, sagte Tom. »Auf Wiedersehen, Mr. Manakula.« Jack legte den Zeigefinger auf die Stirn, als Tom die Veranda überquerte. Die Prinzessin sah dem Hinkefuß nach, sah, wie er sich die Stufen hinabmühte und auf den Weg zuhielt, der zur Anlegestelle führte. »Armer Junge«, bemerkte Jack. »Da sieht man mal wieder, was für ein Dummkopf du bist«, schalt die Prinzessin und schlug mit dem Buch auf die Sofalehne. »Dieser Bursche ist zäher als wir beide zusammen. Er hat einen Hinkefuß und hat trotzdem gewonnen.« »Ist nicht zu leugnen«, gab Jack zu. »Willst du was Kaltes, Limonade, Eiswasser?« Die Prinzessin antwortete nicht. »Mein Gott! Als ob ich zu einer Wand rede!« Prinzessin Luahine sah Tom nach, bis er unter dem Kliff verschwand. »Als ich hierherkam«, begann die Prinzessin, »dachte ich, ich würde alles in Honolulu hinter mir lassen. Ich dachte, ich würde weit genug sein, um mich von allem zu befreien. Aber ich werde mich nie davon befreien können. Ich könnte überall hingezogen sein, zehntausend Kilometer weit weg von hier, und ich würde es immer noch mit mir herumtragen. Seit mehr als zwanzig Jahren bin ich nicht mehr auf Oahu gewesen, aber von hier, von dieser Veranda aus sehe ich jede Straße und blicke in jede Hütte Honolulus. Ich sehe die jungen Mädchen in den Hurenhäusern, den Hurenhäusern, wo ihre Mütter sie hinbringen und wo diese Mütter Sonntagvormittag das Geld für die Familie abholen. Ich sehe die Mädchen, ich sehe sie, wenn sie damit anfangen und wenn sie damit Schluß machen, wenn die Bordellwirtinnen Schluß mit ihnen gemacht haben. Sie sind dann immer noch Mädchen, aber zu alt für die Matrosen und Soldaten. Mein Gott, Jack, ich sehe alles vor mir. Ich sehe die Dienstmädchen, krumm die Rücken, zum Strand hinuntergehen, noch bevor die Sonne am Himmel ist, um dort die Wäsche zu waschen, auf den Knien. Die Hausdiener sehe ich, oben, in den -292
Villen von Pacific Heights und Nuuana Valley und Maunalani, die jede Jacke, die sie anziehen, selbst bezahlen müssen. Ich sehe die Gärtner, die sich vor jeder weißen Rotznase, die vorbeikommt, ducken und die Hüte ziehen müssen. Ich sehe Harvey Kosters Verwalter, wie sie sich im Punchbowl nach kräftigen Burschen für die Zuckerrohrernte umsehen. Ich sehe keine Arbeit, bei der wir nicht Tag für Tag auf die Knie müssen.« Jack legte seinen Arm um ihre Schultern. Sie barg ihren Kopf an seiner Brust. »Komm ins Haus«, sagte er. Die Prinzessin sah auf. »Jetzt?« »Ja, jetzt. Wer sollte uns hindern?« »Ich bin eine alte dicke Dame.« »Und wer ist jetzt die Dumme?« Jack hob seine Hand und fuhr ihr übers Haar. »Ich«, sagte die Prinzessin freundlich und stemmte sich hoch. Donnerstag, vier Tage, nachdem es Duane nicht gelungen war, auch nur eine einzige Unterschrift unter die Geständnisse zu erlangen, kam Gerald bei Einbruch der Dunkelheit von Pearl Harbor wieder nach Hause. Er fuhr in die Garage und hielt neben Doris Ashleys staubbedecktem Pierce Arrow. Er schaltete den Motor aus, ließ aber die Scheinwerfer brennen. Er ging aus der Garage, machte das Tor zu und schob den schweren Riegel vor. Die Schlafzimmerfenster im zweiten Stock des Kutscherhauses waren hell erleuchtet. »Halleluja«, brummte er. Gerald betrat das Haus und ging an der Treppe vorbei ins Wohnzimmer. Hester saß in einem Lehnstuhl und las. Neben dem Sofa blieb er stehen und blickte auf das Kissen und die zusammengefaltete Decke. »Ich dachte, du würdest allein sein wollen«, sagte er zu Hester. »Ich bin allein.« Hester klappte ihr Buch zu und erhob sich. »Gerald.« Sie wartete, bis er sie ansah. »Du fühlst dich doch hier nicht wohl. Du solltest nicht hierbleiben. Warum bleibst du noch?« -293
»Ich bleibe, weil ich dich in deiner Verfassung nicht allein lassen will«, antwortete Gerald wahrheitsgemäß. »Gute Nacht, Gerald.« Es wurde still im Raum. »Gute Nacht, Hester.« Sie ging an ihm vorbei, in die Halle hinaus und zur Treppe. Am nächsten Morgen verließ Gerald das Kutscherhaus kurz vor sieben und lief zur Garage, schwang das Tor hoch und sah nach seinem Wagen. Die Scheinwerfer waren erloschen. Er langte durch das offene Seitenfenster, stellte den Lichtschalter auf Aus und kehrte ins Kutscherhaus zurück. Am Treppenaufgang hielt er an, nahm das Telefon auf und rief Doris Ashley an. »Hoffentlich habe ich dich nicht geweckt.« Doris saß plötzlich hellwach in ihren Kissen. »Ist was mit Hester?« »Nein, nein, alles in Ordnung. Mein Wagen springt nicht an. Die Batterie... Darf ich deinen nehmen?« Dieser Narr! Dieser bornierte, unfähige Narr! Nicht einmal imstande, seine Batterie zu pflegen, dachte Doris gr immig. »Hallo«, sagte Gerald. »Komm zur Tür«, meldete sie sich wieder. »Warte dort! Nicht läuten!« So früh wollte sie wirklich nichts mit Amelia und Theresa zu tun haben. Doris schlug die Decke zurück, stand auf und strich sie, das letzte obere Drittel sorgfältig gewinkelt, wieder glatt. Sie wollte nachher weiterschlafen. Sie warf sich den Morgenrock um die Schultern und ging in den Ankleideraum, um die Schlüssel für den Pierce Arrow zu holen. Gerald kehrte mit den Schlüsseln zur Garage zurück und schloß den Kofferraum seines Wagens auf. Er nahm die Segeltuchtasche heraus und stieg in den Pierce Arrow. Dann kurbelte er das Fenster herunter, um frische Luft hereinzulassen, und startete den Wagen. Er fuhr allein auf der Kahala Avenue und sah bis Waikiki nur wenige andere Wagen. Dort wurde der Verkehr dichter, aber Gerald war noch vor acht am Iolani-Palast. Er parkte dort, wo er Sonntagnachmittag auf Duane York -294
gewartet hatte. Er öffnete die Segeltuchtasche, überprüfte den Inhalt und schloß sie wieder. Er hielt nach Duane Ausschau und blickte immer wieder auf die Uhr. Wenn Duane nicht kam, würde er allein weitermachen müssen. Aber allein war völlig unmöglich! Zwei Männer waren nötig. Und Duane würde ihn schon nicht im Stich lassen. Aber irgend etwas konnte schiefgegangen sein! Die Seeschlachten, die Gerald früher studiert hatte, waren voller Fehleinschätzungen gewesen. Wo blieb Duane? Gerald drehte sich von einer Seite zur anderen und suchte die Gegend ab. Bitter enttäuscht, daß Duane nicht gekommen war, lehnte Gerald sich schließlich zurück. Doch da tauchte der Torpedomann plötzlich weit vor ihm auf. Duane war in Uniform, wie sie es ausgemacht hatten. Er bewegte sich mit kurzen, schnellen Schritten, und als er näher kam, bemerkte Gerald, daß er immer wieder Blicke über die Schulter warf. Gerald beugte sich über den Beifahrersitz und entriegelte die Tür. »Sie tun ja so, als ob man Sie verfolgen würde«, sagte er. Duane knallte die Tür zu und zog seine weiße Matrosenmütze in die Stirn. »Ich wollte mich nur vergewissern, daß ich keine Spuren hinterlasse, Lieutenant. Seit letzter Woche wimmelt es geradezu in der Stadt von Polizei.« »Hatten Sie Schwierigkeiten, aus Pearl herauszukommen?« fragte Gerald, der sich am Morgen noch schnell krank gemeldet hatte. »Ich habe kurzen Landurlaub. Jenishek, der Verwaltungsoffizier - Sie kennen ihn ja? -, hat ein Auge zugedrückt. Soweit geht die Sache klar.« »Es wird alles klargehen«, versicherte ihm Gerald. »Diese Operation wird wie am Schnürchen laufen. Hören Sie, Duane.« Der kleine Mann sah ihn an. »Es ist noch nicht zu spät, wenn Sie einen Rückzieher machen wollen.« »Verdammt noch mal, nein!« protestierte Duane. »Sind Sie sicher?« »Ich würde Sie nie im Stich lassen, Sir«, antwortete Duane. Er schob seine Hand durch die Henkel der Tasche. »Die Stelle, die -295
Sie für die... Operation ausgesucht haben, Sir - sind Sie sicher, daß es der richtige Ort ist?« »Goldrichtig. Es ist ein einsamer Ort«, antwortete Gerald. »Bewaldet und einsam.« »Gewiß«, sagte Duane und strich liebevoll über die Segeltuchtasche. »Nur der andere Platz, vorige Woche, meine ich, war auch waldiges Gelände, und...« Er unterbrach sich. Der Lieutenant sollte nicht glauben, daß er feige war. »Alles klar zum Gefecht«, sagte er und mühte sich ein Lachen ab. Dann stieg er auf das Trittbrett und schwang sich auf den Rücksitz. »Und sind Sie auch sicher, daß die Zeit stimmt?« fragte Gerald. »Er ist immer pünktlich«, antwortete Duane. »Jeden Tag derselbe Bus, dieselbe Haltestelle.« Gerald nickte zufrieden, kuppelte ein, fuhr los und fädelte sich in den breit fließenden Verkehr ein. Duane öffnete die Segeltuchtasche und nahm eine der Pistolen heraus. Etwa drei Kilometer weiter schlenderte Joe Liliuohe, auf dem Weg ins Mercy Hospital, zur Bushaltestelle. Er hatte ein zusammengefaltetes Exemplar des Outpost-Dispatch in der Hand, das er den Freunden zeigen wollte. Sie waren in der Zeitung, Bilder von allen dreien, wie sie im Krankenhaus auf dem Bauch lagen. Plötzlich schleuderte er die Zeitung weit von sich. »Du hast sie wohl nicht alle«, schalt er sich laut. »Als ob man sie noch daran erinnern müßte! Schau sie dir an und schau dich an!« Er schaute auf die Uhr und nahm eine Abkürzung durch eine Seitengasse. »Biegen Sie hier ab«, sagte Duane, und als Gerald den Arm aus dem Fenster streckte: »Nein, nach rechts!« Gerald streckte den Arm nach oben. »Noch zwei Ecken, und dann nach links.« Joe kam aus der Seitengasse und fing an zu laufen, für alle Fälle. Er wollte den Bus nicht verpassen und auf den nächsten warten müssen. Der Pierce Arrow rollte um die Ecke. »Da vorne ist die Haltestelle«, sagte Duane, während sie an Joe vorbeifuhren. »He, -296
da ist er! Wir sind gerade an ihm vorbei!« Duane saß auf der Sitzkante, die 45er in der Hand. Gerald riß den Kopf herum. »Wo? Sind Sie sicher? Sind Sie ganz sicher?« »Er ist es!« rief Duane. »Ich bin doch schon die ganze Woche hinter ihm her.« Er deutete mit der Pistole. »Fahren Sie ran! Dort, hinter der Haltestelle!« Duane rutschte vom Sitz nach vorne, hockte sich auf den Boden, lupfte mit der Linken seinen Unifo rmrock hoch und steckte die großkalibrige Waffe in seinen Hosenbund. Seine Beine schmerzten. Gerald konnte den Kerl jetzt im Rückspiegel sehen. »Er kommt«, sagte er. »Da kommt er.« »Ich sehe ihn nicht«, sagte Duane. »Wie nah ist er?« Die Beine taten ihm scheußlich weh, wie er da zwischen den Sitzen kauerte. Sprungbereit öffnete er die Wagentür und hielt den Türgriff fest. Die Pistole bohrte sich ihm in den Bauch. »Wo ist er jetzt?« fragte Duane und sah ihn plötzlich. Er stieß die Tür auf und sprang aus dem Wagen. »He, Sie!« Zum Glück war niemand in der Nähe. Joe sah den Matrosen aus dem großen Wagen springen. Sie paßten gar nicht zueinander. Der Matrose rief etwas. »Ich meine Siel« Duane zeigte auf ihn. »Kommen Sie mit! Ich habe mit Ihnen dienstlich zu reden!« »Ich bin nicht in der Navy«, entgegnete Joe. »Sie haben den Falschen erwischt.« »Joe Liliuohe«, sagte Duane. »Kommen Sie! Eine dienstliche Angelegenheit.« Er griff nach Joes Arm. Joe holte aus und schlug gegen Duanes Handgelenk, er legte sein ganzes Gewicht in den Schlag, und der Matrose verlor das Gleichgewicht. »Seien Sie friedlich, Mann«, sagte Joe und sah den Fahrer, sah Hester Ashley Murdochs Mann. Sie hatten beide einen Vogel, Murdoch und der Matrose. »Was denkt ihr Kerle euch...?« sagte Joe und verstummte. Der Matrose hielt eine Kanone in der Hand. -297
»Rein in den Wagen«, befahl Duane, machte zwei Schritte auf ihn zu und bohrte ihm die Waffe in den Bauch. »Rein, oder ich drück ab.« Dann trat er schnell hinter Joe, schob den Bastard mit der linken Hand weiter und stieß ihn in den Fond des Pierce Arrow. »Fahren Sie! Fahren Sie!« brüllte er, noch auf dem Trittbrett stehend, während er mit der linken Hand die Tür festhielt und mit der anderen die Pistole auf den Bastard richtete. Gerald legte den Gang ein und trat auf das Gaspedal. »Was wollen Sie? Was soll das alles? Wohin bringen Sie mich? Das ist doch bestimmt nichts Dienstliches«, wollte Joe wissen. »Was haben Sie vor?« Er wußte es. Er hatte gesehen, wie sie seine Freunde zugerichtet hatten. »Halt die Schnauze«, sagte Duane, hob die Pistole und wiederholte langsam: »Halt die Schnauze, verstanden?« Er klopfte mit der linken Hand auf den Lauf. »Du hast verstanden.« Du mußt etwas tun, sagte sich Joe. Was? Irgendwas. Tu, als ob dir schlecht wäre, wie du's in der Schule gemacht hast. Laß dich zurückfallen und würge, als ob du dich erbrechen müßtest. Wenn er sich rührt, spring ihn an. Geh auf ihn los mit Händen und Füßen, bis er die Kanone fallen läßt. Wenn er sie nicht mehr hat, wirst du leicht mit ihm fertig. Mit beiden. Du kannst mit beiden fertig werden. Mein Gott, er wird dich erschießen! Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Die anderen haben sie auch nicht erschossen. Joe ließ sich zurückfallen und fing an zu würgen, als ob er sich erbrechen müßte. »O Gott! Mir ist schlecht«, stieß er hervor. »Aber nicht hier im Wagen«, sagte Duane. »Ehrlich, mir ist schlecht.« »Wenn dir schlecht ist, wird dir's nicht lange schlecht sein, das verspreche ich dir«, sagte Duane. Gerald riß den Kopf herum. »Ruhe!« schrie er über die Schulter. »Ich werde dir schon sagen, wann du reden sollst!« »Du hast's gehört«, sagte Duane. -298
Gerald drehte sich wieder um, blickte geradeaus und sah plötzlich Maddox, der in seinen Wagen steigen wollte. »Ducken!« schrie er und ließ sich über das Lenkrad fallen. »Runter! Ducken!« Duane schlug mit seiner Linken zu. Sich duckend, brüllte er: »Runter, hat er gesagt!« Und wieder hieb er Joe in die Seite. »Duck dich, du elender Hurensohn!« Joe ließ sich zwischen den vorderen und hinteren Sitzbänken zu Boden fallen. Duane kniete halb über ihm und hielt die Kanone auf seinen Kopf gerichtet. Vorsichtig, Zentimeter um Zentimeter hob Gerald den Kopf und sah in den Rückspiegel. Was, zum Teufel, wenn Maddox auf die Idee kam, hinter ihm herzufahren? Er streckte den Arm aus dem Fenster, um anzuzeigen, daß er links abbiegen wollte. Nachdem er abgebogen war, schob er den Ellbogen ans Fenster und hob den Arm hoch, um anzuzeigen, daß er rechts abbiegen wollte. Mittlerweile hatte Maddox vor einem Schuhmacherladen gehalten, um ein Paar weiße Wildlederschuhe abzugeben, die neue Absätze brauchten. Eine Zeitlang machte Gerald noch das Abbiegespiel, wobei er ständig den Rückspiegel im Auge behielt; doch sobald er Maddox gesehen hatte, war er von der Idee, noch einmal auf das wald ige Gelände zu fahren, abgekommen. Er wußte, daß sie im Freien nicht sicher waren. Durch irgendeinen Zufall konnten sie gesehen werden. Auf Umwegen steuerte er die Kahale Avenue an. »Alles okay?« fragte Duane. »Alles okay«, antwortete Gerald mit sich schie r überschlagender Stimme. Er durfte kein Risiko eingehen. Nicht das geringste. Die Geschwindigkeitsbeschränkung sorgsam einhaltend, fuhr Gerald in Richtung Windward. Es war sein fester Wille, die Aufgabe, die er sich selbst gestellt hatte, hier und jetzt zu Ende zu bringen. Keiner sprach, bis er das schmiedeeiserne Tor durchfahren hatte. »Wir sind da«, sagte er. »Passen Sie auf ihn auf, Duane.« Duane sah die riesige Villa. Auf dem Hintersitz richtete Joe sich auf und sah das langgestreckte Haus mit der großen Eingangstür. Gerald stoppte den Wagen, sprang heraus und riß -299
den Schlag neben Joe auf. »Du, los, steig aus!« In einem plötzlichen Wutanfall langte er in den Fond und packte Joe am Handgelenk. Duane rutschte über den Sitz, drückte nach und drängte Joe aus dem Wagen. »Ins Haus!« zischte Gerald. Duane stieß Joe den Lauf der Pistole in die Rippen. »Du hast ihn gehört«, sagte Duane und forderte Gerald mit einer Handbewegung auf, hinter Joe zurückzubleiben. »Was machen wir denn hier!« flüsterte er. »Es sah so aus, als ob man uns verfolgen würde«, antwortete Gerald und ging vor, um die Tür aufzuschließen. »Gehen Sie mit ihm geradeaus durch in den Salon«, sagte Gerald. Er schloß die Tür und folgte ihnen. Hell schien die Sonne in den Salon. Die Glastüren, die nach Osten gingen, waren weit offen, und freundliches Licht fiel auf die Teppiche. Gerald stellte einen Stuhl in die Mitte des Raums. »Setz dich da hin.« Joe ging zum Stuhl und setzte sich. Während Duane und Gerald vor ihn hintraten, öffnete sich die Schwingtür am hinteren Ende des Salons, und Theresa sah den Lieutenant und die zwei Fremden; der eine auf dem Stuhl war ein Kanake, der erste, den sie je im Salon gesehen hatte. Theresa stand wie gelähmt. Dann sah sie die Pistole. Blitzschnell zog sie sich zurück. Gerald holte einen gefalteten Bogen Papier und einen Füllfederhalter hervor. »Unterschreib das, und du kannst gehen. Du kannst das Haus verlassen. Wir lassen dich laufen.« »Nimm das Papier, verdammt noch mal!« forderte Duane ihn auf. »Überlassen Sie das mir«, sagte Gerald, und zu Joe: »Lies das.« Joe las die maschinegeschriebene Zeile: Ich gestehe, Hester Ashley Murdoch vergewaltigt zu haben. Und darunter, ebenfalls maschinegeschrieben, seinen Namen. Joe sah die beiden an; alles hätte er erwartet, nur nicht diesen Unsinn. Als sie ihn geschnappt hatten, war er sicher gewesen, daß man ihn irgendwo hinbringen würde, um ihn zu töten. Und als sie in das Haus gekommen waren, hatte er gedacht, daß man ihn binden und auspeitschen -300
würde, wie sie es mit Harry, Mike und David gemacht hatten. Sie waren verrückt. Beide waren völlig verrückt. Er befand sich in der Gewalt von zwei total Verrückten. Gerald hielt ihm den Füllfederhalter hin: »Unterschreib das, und du kannst gehen.« »Ich habe es nicht getan«, rief Joe. »Wir haben es nicht getan. Ich schwöre es Ihnen, Lieutenant Murdoch.« »Schluß jetzt mit den Lügen!« sagte Gerald. »Ich lüge nicht! Es ist die Wahrheit! Die reine Wahrheit! Es ist immer die Wahrheit gewesen!« Der Alptraum hatte von neuem begonnen. Gerald sprang auf ihn zu, ergriff Joes Arm und versuchte, ihm den Füllfederhalter in die Hand zu drücken. »Unterschreib!« schrie er. Er mußte aufhören zu schreien. Er hatte sich geschworen, Ruhe zu bewahren, ohne Zorn und Emotionen vorzugehen. Er trat zurück und holte tie f Atem. »Niemand wird dir etwas tun. Ich gebe dir mein Wort«, sagte er und deutete auf das Papier. »Sie verlangen von mir, daß ich lüge«, erwiderte Joe. »Sie verlangen von mir, daß ich mich ins Zuchthaus bringe, für etwas, was ich nicht getan habe, was wir nicht getan haben. Wie oft soll ich es Ihnen noch sagen? Ich... habe... nichts... getan!« Er warf Gerald das Papier entgegen, das zu Boden flatterte und auf Joes Füße fiel. Er zog seine Beine zurück und schleuderte Geralds Schreibgerät von sich. »Du dreckiger...« begann Duane und verstummte, als er die Hand des Lieutenants auf seiner Schulter spürte. »Ich habe gesagt, Sie sollen das mir überlassen! Mischen Sie sich nicht ein! Das ist ein Befehl, Duane!« Gerald nahm die Hand von Duanes Schulter und bückte sich, um Papier und Füller aufzuheben. Dann ließ er beides in Joes Schoß fallen. »Sie werden das unterschreiben«, sagte er sachlich. »Gerald!« Doris Ashley kam durch die Halle in den Salon. Als Joe sie sah, hätte er fast losgeweint. Sie hatte ihn gerettet. Er stand auf, vergaß Füllfederhalter und Papier, die zu Boden fielen. -301
Doris Ashley sah das dunkelhäutige Gesicht, das sich aus ihrem Stuhl, ihrem Stuhl, erhob. Sie sah den kleinen Mann mit der Pistole, Sie sah ihren Schwiegersohn, diesen Idioten, diesen Wahnsinnigen, der in ihr Haus, ihr Haus, eingedrungen war mit diesem... »Verlaß sofort mein Haus!« Duane trat auf Joe zu. »Setz dich!« »Hören Sie, Lady«, sagte Joe von seinem Stuhl aus, »Lady, beeilen Sie sich, bitte, Lady. Sie haben mich gekidnappt. Auf der Straße haben sie mich geschnappt. Helfen Sie mir, Lady, bitte helfen Sie mir.« Doris Ashley blieb vor Gerald stehen: »Dafür hast du meinen Wagen benutzt? Du hast ihn hierher gebracht?« »Ja, hierher. Jawohl!« Geralds Stimme war laut geworden. Ihr Herumkommandieren hatte er satt, hatte es satt, auf alle zu hören, allem zu folgen, alles mit Fassung zu ertragen. »Ich konnte ihn ja wohl nicht ins Kutscherhaus bringen, nicht wahr? Ich konnte ihn ja wohl nicht zu Hester bringen, nicht wahr?« »Verlaß das Haus!« befahl Mrs. Ashley. »Auf der Stelle. Verlaß augenblicklich mein Haus!« »Verlaß augenblicklich mein Haus!« wiederholte Gerald spöttisch. »Erst, wenn ich soweit bin. Ich gehe, wenn es mir paßt.« »Raus!« sagte Doris. »Raus! Und Sie auch!« wandte sie sich an Dua ne. »Verlassen Sie mein Haus!« Sie deutete auf Joe. »Nehmen Sie ihn mit und gehen Sie!« »Beachten Sie sie nicht«, sagte Gerald. »Tut mir leid, Ma'am«, murmelte Duane. »Schnauze!« fuhr Gerald ihn an. »Ich habe es Ihnen schon einmal gesagt, mischen Sie sich nicht ein. Hier rede ich. Ich führe das Kommando.« Er funkelte Doris böse an. »Ich führe das Kommando.« Er bückte sich wieder nach Papier und Füller und hielt sie Joe hin. »Unterschreib das!« Joe wußte, daß er keine Chance hatte, wenn er jetzt nicht redete. Die Lady war seine einzige Chance. Sie war die einzige -302
im Zimmer, die einzige auf der ganzen Welt, die ihn retten konnte. »Lady, die wollen, daß ich das unterschreibe.« Er zeigte ihr das Papier. »Die wollen, ich soll gestehen, daß ich Ihre Tochter vergewaltigt habe. Aber das habe ich nicht.« Er schüttelte den Kopf. »Ich habe es nicht getan. Bei allem, was mir heilig ist, ich habe es nicht getan. Ich habe die Wahrheit gesagt. Bitte, Lady, bitte, helfen Sie mir.« Doris war klar, daß sie einen Wahnsinnigen zum Schwiegersohn hatte. Gerald war wahnsinnig. Nie wieder würde er Windward betreten. Noch heute nachmittag würde sie Theresa und Amelia anweisen, seine Sachen zu packen. Sie würde jemanden beauftragen, seine Sachen nach Pearl Harbor zu schaffen. Nein, sie würde persönlich seine Sachen packen und in Pearl Harbor abgeben. Morgen früh würde Hester die Scheidung einreichen. Sie selbst würde Hester ins Büro ihres Anwalts fahren. Nein, sie würde den Anwalt nach Windward kommen lassen. Preston hatte seine Geschäfte immer daheim abgewickelt. »Ich befehle dir zu gehen.« »›Ich befehle dir zu gehen‹«, wiederholte Gerald und wurde immer lauter: »Du befiehlst mir zu gehen. Ich befehle dir zu bleiben. Ich befehle dir zu gehen. Ich befehle dir zu sitzen, zu stehen, zu gehen, zu reden.« Er machte eine Handbewegung. »Du befiehlst mir, im Kutscherhaus zu wohnen.« Doris Ashley fürchtete, Gerald würde sie angreifen. »Du verläßt das Haus«, schrie er und schwenkte zu Joe herum. »Unterschreib das jetzt endlich!« »Lady, reden Sie mit ihm«, sagte Joe. »Bitte, Lady.« »Geben Sie mir die Pistole!« befahl Gerald und streckte die Hand aus. »Geben Sie mir die Pistole!« Duane machte sich ernstlich Sorgen. »Sir, hören Sie...« begann er und verstummte, als Gerald ihm die 45er aus der Hand riß. »Sir, die Waffe ist entsichert!« »Wenn du nicht sofort das Haus verläßt, lasse ich dich -303
verhaften!« drohte Doris Ashley. »Ich werde dich vom Admiral in Ketten legen lassen!« Gerald stand vor Joe. »Du hast ihn gehört. Die Waffe ist entsichert. Unterschreib das Papier.« »Gerald!« »Unterschreib das Papier!« Joe starrte auf die Pistole, er konnte seinen Blick nicht von ihr wenden. »Lady«, sagte er, »tun Sie doch was. Lady!« Die Pistole kam langsam näher, bis der Lauf genau auf seine Nasenwurzel zeigte. »Bitte, Lady. Wenn ich das unterschreibe, komme ich ins Gefängnis. Ich habe es nicht getan, Lady.« »Unterschreib das Papier, verdammt noch mal!« brüllte Gerald. »Du mußt das Papier unterschreiben. Hier gibt's keine Lady. Hier gibt's nur dich und mich.« »Mein Gott, Mister Murdoch... Lieutenant. Ich sage die Wahrheit. Ich schwöre es beim Leben meiner Mutter.« »Unterschreibe.« »Sie verlangen etwas von mir, was ich...« sagte Joe, und Gerald drückte ab. Ein gewaltiges Krachen erfüllte den Salon. Blut, dickes, rotes Blut schoß in die Luft, sprudelte über Joes Gesicht, das plötzlich verschwunden war, zerschmettert und zerschossen, und überschwemmte sein Haar, seine Schultern und seine Brust. Joe und der Stuhl lagen am Boden. Blut rann in Strömen auf den Teppich und zeichnete einen roten Kraken auf den dicken Wollflor. Der Rückstoß hatte Gerald zurücktaumeln lassen. Aus dem Lauf der Pistole stieg beißender Rauch auf, zog durch den Raum, fing sich im Sonnenlicht und schwebte zum Fenster. »Mein Gott, Lieutenant«, stammelte Duane. »O Gott!« Die Beine des Toten hingen über dem Stuhl und rutschten langsam auf den Teppich. »Er...« stammelte Gerald. »Ich habe ihn gewarnt.« Gerald wich -304
vor dem Toten zurück, bis er gegen einen Tisch stieß. Er hielt die Pistole fest, als erwarte er, daß sich Joe Liliuohe wieder erheben würde. Doris Ashley sah ihren Stuhl - zerbrochen, zersplittert, nicht mehr zu gebrauchen. Sie sah ihren Teppich, den Teppich, den sie und Preston entworfen hatten, sah, wie das Blut in den Flor einsickerte. Und sie sah den toten Mann auf dem Boden, in ihrem Haus, in ihrem Haus. »Wir müssen ihn ins Krankenhaus bringen«, sagte Gerald. »Ins Krankenhaus? Er ist tot«, sagte Duane. »Lieutenant, er ist tot.« »Er ist tot? Er ist tot?« Doris Ashley betrachtete diesen Wahnsinnigen, diesen unbrauchbaren Schwachkopf. Sie mußte sich retten. Sie mußte nachdenken. Sie konnte nicht denken. »Nehmen Sie die Pistole«, wies sie Duane an. »Nehmen Sie sie an sich.« Duane ging auf den Lieutenant zu und legte seine Hand auf den Lauf. Der Lauf war noch heiß. Er nahm Gerald die Waffe aus der Hand und sicherte sie. »Er ist tot«, murmelte Gerald. Doris Ashley durchquerte den Raum. »Nimm dich zusammen, Gerald«, sagte sie. Er sah durch sie hindurch. »Ma'am«, sagte Duane, »hören Sie, Ma'am. Der Lieutena nt kommt schon wieder in Ordnung, ehrlich. Ich habe schon andre wie ihn gesehen, bei der Rekrutenausbildung, das erste Mal auf dem Schießplatz. Das geht vorbei, Ma'am.« Er zupfte Gerald am Arm. »Wir müssen ihn wegschaffen, Lieutenant. Sie müssen mir dabei helfen.« »Halt!« rief Doris, Sie konnte nicht zulassen, daß diese zwei Narren zusammen mit der Leiche das Haus verließen. Sie konnte ihnen nicht vertrauen. Sie würden sie mit hineinziehen. Sie hatten sie schon hineingezogen. Auf Windward war ein Mord passiert. »Bringen Sie mir die Schlüssel vom Pierce Arrow«, sagte sie. »Bringen Sie mir die Schlüssel.« Duane nickte und schob die Pistole in seinen Hosenbund. Während er zur Halle lief, ging -305
Doris in die Küche. »Amelia, Theresa!« Die Küche war verlassen. Sie ging zur nicht verschlossenen Tür, die zur Hintertreppe führte, kehrte zurück und öffnete die Tür zur Vorratskammer. Die Augen weit aufgerissen vor Entsetzen, hielten sich Amelia und Theresa fest umschlungen. »Kommt her!« Sie betrat die Vorratskammer, zog Amelia von Theresa weg, die zu Boden sank. »Ich brauche Handtücher«, sagte Doris Ashley. »Badehandtücher.« »Ich habe Angst«, flüsterte Amelia. »Bring mir die Handtücher. Leg sie hier auf den Tisch.« Sie zog Amelia zur Hintertreppe und gab ihr einen Schubs. Als sie in den Salon zurückkehrte, sprach der kleine Mann mit Gerald. »Geben Sie mir die Schlüssel«, sagte Doris Ashley. »Da sind sie, Ma'am«, sagte Duane. »Ich übernehme die volle Verantwortung«, erklärte Gerald. »Ich werde euch Badetücher geben«, sagte Doris. »Wickelt... ihn darin ein. Deckt ihn zu. Tragt ihn raus, in den Wagen rein und legt ihn hinten auf den Boden. Er wird zwischen euch liegen. Zieht die Vorhänge vor.« »Ja, Ma'am.« Doris Ashley musterte ihren Teppich. Sie würde ihn weggeben müssen. Sie konnte ihn nicht weggeben. Das Blut. Sie würde Amelia und Theresa daran arbeiten lassen. Dann würde sie die Möbel umstellen und diese Stelle des Teppichs verdecken. Nein. Sie würde den Teppich auf den Boden schaffen lassen und einen neuen kaufen. »Ich werde sagen, daß du nichts damit zu tun hattest«, versprach Gerald. »Du wirst nichts sagen! Gar nichts! Hast du mich verstanden?« Warum hatte sich dieser Idiot nicht auch gleich selbst umgebracht? Der Schrei einer Frau gellte auf. Theresa! Sobald Doris wieder zurück war, würde sie Theresa auf die Straße setzen. Ging aber nicht! Von nun an würde Theresa bis ans Ende -306
ihrer Tage bei ihr sein. Auch Amelia, beide würden für immer bei ihr bleiben. Sie waren wie der Teppich, sie konnte sie nicht weggeben. Doris Ashley wandte sich an Duane: »Helfen Sie mir mit den Handtüchern.« Sie ging nach draußen, um die hintere Tür der Limousine zu öffnen, und kehrte in die Halle zurück. »Heb ihn auf, Gerald!« »Lieutenant? Fassen Sie mit an, okay?« Duane hielt den Toten an den Schultern. »Sie die Beine, okay?« Die Handtücher hingen über dem Toten, und Blut tropfte herab, während sie ihn hinaustrugen. Ein Handtuch fiel zu Boden. »Weitergehen!« drängte Doris. »Nicht stehenbleiben!« Als sie an ihr vorbei waren, ging sie zurück und hob das rotfleckige Badetuch an einem Zipfel auf. Die Leiche lag auf dem Boden im Fond der Limousine. Gerald stand neben der offenen Tür. »Kommen Sie, Lieutenant«, sagte Duane. Doris ließ das Handtuch in den Fond fallen und gab Gerald einen Stoß. »Er kommt scho n, Ma'am«, sagte Duane. »Ich übernehme die volle Verantwortung«, wiederholte Gerald. »Was tun wir jetzt?« fragte Duane, als Mrs. Ashley den Wagen durch das Tor steuerte. »Sie werden die Leiche beseitigen. Ich kenne einen Platz.« Preston hatte das Land vor Jahren für einen Apfel und ein Ei verkauft. Es war wertlos und nie erschlossen worden. Fünf Kilometer von Windward saß Kenneth Christofferson in seinem Streifenwagen. Er hatte unter einem Baum geparkt und rauchte eine Zigarette. Die Frau seines Kollegen bekam ein Kind, und darum war Kenny allein. Er hatte das Funkgerät unter dem Armaturenbrett leise gestellt. Kennys Kollege war halbtaub, und die meiste Zeit klang der Einsatzleiter im Präsidium so laut, als ob er auf dem Rücksitz säße. Plötzlich sah Kenny die große Limousine wie von Furien gehetzt vorbeirasen. Kenny jagte auf die Straße und schaltete die Sirene ein. Der große Wagen lag weit vor ihm. Er wäre Kenny entwischt, wenn der Fahrer auf der -307
Kuppe des Hügels die Kurve nicht zu schnell genommen hätte. Der Wagen, ein Pierce Arrow, landete im Gestrüpp. Kenny öffnete das Handschuhfach, um den Block mit den Strafmandaten herauszuholen, stieg dann aus und zog den Schirm seiner Mütze etwas tiefer. Im Fond saßen zwei Männer, und als Kenny auf den Pierce zutrat, schlug der eine die Beine übereinander. Ein blutiges Handtuch baumelte an seinem Schuh. Kenny zog seine Pistole. »Erzählen Sie mir alles, was Sie wissen«, forderte Maddox Kenny Christofferson auf, als sie auf den Pierce Arrow zugingen. Die Funkzentrale ha tte Maddox im Mercy Hospital aufgespürt, wo er Tag für Tag bei den geschundenen Patienten saß und immer wieder versuchte, ihnen einen Hinweis zu entlocken, der ihn auf die Spur derjenigen bringen konnte, die die drei ausgepeitscht hatten. Die Kurve, in der Doris Ashley die Herrschaft über ihren Wagen verloren hatte, war von Polizeifahrzeugen gesäumt. Streifenwagen, Gefangenenwagen, ein Leichenwagen, ein fahrbares Laboratorium. Es wimmelte von Polizisten. Während er Kenny Christofferson zuhörte, beobachtete Maddox Gerald und den Matrosen, die mit Handschellen gefesselt neben der großen Limousine standen. »Schreiben Sie das alles in Ihren Bericht«, sagte er zu Kenny. Er sah die blutroten Badetücher, die den Leichnam im Gras bedeckten. Maddox blieb neben dem Pierce Arrow stehen, vor der offenen hinteren Tür. Er fixierte die beiden Männer, betrachtete sie sorgfältig und fing mit den Schuhen an. Blut war an ihren Schuhen und auf ihren Uniformen. Fast wäre er einer Regung gefolgt, sie wegen ihrer bodenlosen Dummheit zu verprügeln. »Sie hätten ihn genausogut auf offener Straße umbringen können, Lieutenant.« Gerald stand Maddox gegenüber, aber er sah an ihm vorbei. Al -308
Keller kam auf den Wagen zugelaufen. »Captain!« Er nahm Maddox zur Seite. »Keiner hat Doris Ashley Handschellen angelegt, und als ich hier ankam, habe ich's auch vergessen.« Maddox nickte, sein Blick war auf Gerald gerichtet. »Das hätte ich von Ihnen nicht erwartet, Lieutenant«, sagte er. »Wie ich höre, ist das eine Navy-Pistole, und das heißt, daß es Ihre Waffe ist. Die Fingerabdrücke werden das ohnehin beweisen.« Gerald stand stramm, so gut er das mit den gefesselten Händen zwischen den Beinen konnte. »Warum mußten Sie ihn töten?« fragte Maddox. »Sie sind doch ein kluger, gebildeter Mann, ein Navy-Offizier. Warum haben Sie ihn erschossen?« Maddox brauchte eine Antwort. Er mußte erfahren, was diesen Mann aus besseren Kreisen veranlassen konnte, einen Mord zu begehen. Der Lieutenant hatte sich die Sache gut ausgedacht - die Waffe gehörte nach Pearl Harbor, vermutlich auf ein U-Boot, und er hatte sie an sich genommen, um Joe Liliuohe zu töten. Er hatte gewußt, was er mit der Waffe wollte. »Warum haben Sie es getan, Lieutenant?« fragte Maddox und hörte Doris Ashley. »Sprich nicht mit ihm«, sagte sie zu Gerald. »Du hast deine Rechte. Du bist kein gewöhnlicher Verbrecher.« »Keller!« brüllte Maddox, obwohl der Rotschopf neben ihm stand. »Ins Präsidium mit ihnen! Aber im Gefangenenwagen! Sie fahren mit ihnen! Sie tragen sie ins Haftbuch ein! Sie nehmen ihnen die Fingerabdrücke ab! Sie persönlich!« Er wirbelte herum und sah Doris Ashley an. Sie standen dicht genug einander gegenüber, um sich küssen zu können. »Gewöhnlich ist er nicht«, sagte Maddox, »aber er ist ein Verbrecher. Sie alle sind Verbrecher. Sie stehen unter Mordverdacht, und dementsprechend wird man Sie behandeln, Mrs. Ashley.« Und wieder brüllte er: »Keller!« Al Keller stand zwischen Gerald und Duane und hielt sie an den Armen gepackt, um sie zum Gefangenenwagen zu führen. »Sie haben eine vergessen«, sagte Maddox. Der Rotkopf rührte sich nicht. Maddox nahm Doris Ashley am Arm und brachte sie -309
zu Kenny. »Rein mit ihr!« Maddox beobachtete die Gruppe, die zum Gefangenenwagen ging, und wartete, bis sein Zorn sich gelegt hatte. Er sah die Cops, die, von seinem Ausbruch überrascht, untätig herumstanden. »Die Show ist beendet«, sagte Maddox, und wiederholte lauter: »Die Show ist beendet!« Als Kenny die Tür des Gefangenenwagens hinter Doris Ashley schloß, wandte er sich ab. Er bückte sich und lüftete die blutigen Badetücher, die die Leiche bedeckten. »Nicht mehr viel übrig von ihm«, sagte einer. Maddox ließ die Tücher los, richtete sich wieder auf und begab sich zu Vern Kappel, dem Chef des fahrbaren Polizei- Laboratoriums. Kappel zeigte ihm die Pistole. »Diese war noch warm«, sagte er und deutete. »Wie viele Schüsse wurden abgegeben?« »Einer. Bei diesem Ding genügt einer.« »Ich brauche die Kugel«, sagte Maddox. »Zuerst werden Sie uns sagen müssen, wo der Mann getötet wurde«, meinte Kappel. »Ich kann mir denken, wo er getötet wurde«, sagte Maddox. »Das sind keine Handtücher, wie sie auf Bauernhöfen verwendet werden. Das sind Doris Ashleys Badetücher. Er wurde auf Windward getötet.« Kappel starrte Maddox an und setzte den Metalldeckel auf den Behälter für die Pistole. »Auf Windward?« »Fahren Sie mir nach«, sagte Maddox. »Ich brauche diese Kugel. Also setzen wir uns in Bewegung. Ich nehme ein paar Leute mit.« Kappel rieb sich die Nase. »Wir werden einen Hausdurchsuchungsbefehl brauchen, Captain.« »Den verschaff ich mir schon, sobald wir wieder im Präsidium sind.« Wieder überkam ihn heißer Zorn, und er knallte die hintere Tür des Laborwagens zu. -310
Von einer Turmuhr schlug es eins, als Maddox einen Häuserblock vor dem Präsidium um die Ecke bog. Er fuhr hinter dem Laborwagen her, der in einer Garage am Südende des Gebäudes abgestellt wurde. Maddox wollte den Reportern ausweichen, die vor dem Haupteingang warten würden, und so sah er auch nicht die Buick-Limousine mit den vier Flaggen, die vor dem Präsidium parkte. Einer der Polizisten, die mit Maddox mitgekommen waren, hatte die Kugel unter den vier Messingkrallen einer Stehlampe gefunden. Maddox selbst hatte das Papier unter dem Kaffeetischchen entdeckt und mit einem Taschentuch aufgehoben. Er gab es Vern Kappel. Maddox fuhr in die Garage. »Ich gestehe, Hester Murdoch vergewaltigt zu haben«, sagte er laut. Joe Liliuohe hätte es unterschreiben sollen. Joes Familie brauchte er nicht mehr aufzusuchen. Maddox hatte die Zeitungsjungen gehört, als er durch Waikiki fuhr. »Extra!« Maddox stieg aus und wartete auf Kappel, der ihm wie ein Verschwörer zuflüsterte: »Vergessen Sie den Hausdurchsuchungsbefehl nicht.« »Sie können sich drauf verlassen«, erwiderte Maddox, verabschiedete sich von Kappel, ging am Gefangenenwagen vorbei und kam zu einer Tür ohne Aufschrift. Er öffnete sie und gelangte in einen schmalen Gang. An der Decke brannten in weiten Abständen Lampen, von Eisengittern geschützt, seitdem ein Gefangener seinen Bewachern entwischt, auf einen Stuhl gestiegen war und versucht hatte, sich durch elektrischen Strom selbst umzubringen. Am Ende des Ganges blieb Maddox stehen und öffnete eine weitere Tür und kam in einen großen fensterlosen Raum. Fußboden und Wände waren aus Beton. Eine Schutzwand aus dicken Eisenstangen teilte den Raum in zwei Hälften. Die heiseren, zotigen Rufe eines Dutzends Betrunkener hießen Maddox willkommen. Er befand sich im Anhalteraum, ›im Bunker‹ wo die Gefangenen nach ihrer Eintragung ins Haftbuch zunächst untergebracht wurden. Maddox war -311
gekommen, um den Lieutenant mit hoch in sein Büro zu nehmen. »He!« machte Maddox und glaubte seinen Augen nicht zu trauen. Der Lieutenant wollte gerade den ›Bunker‹ verlassen. Er und der Matrose sprachen mit einem anderen Navy-Offizier in einer weißen Uniform. Der Schließer stand Maddox direkt gegenüber und hielt von der anderen Seite des Raumes aus die Tür offen. »Schließen Sie diese Tür«, wies ihn Maddox an. Der Schließer ließ seinen Arm sinken, und die Tür schnappte zu. Die drei Marine-Männer blickten zurück, aber Maddox hatte sie schon eingeholt. Jetzt erkannte Maddox den massigen, breitschultrigen Mann bei den Gefangenen. Commander Saunders, den All-American. »Befehl vom Chef«, sagte der Schließer. »Er hat mich selbst angerufen.« »Ich bin da, um die Gefangenen zu holen«, stellte Saunders fest. »Es sind nicht Ihre Gefangenen.« Der Schließer krümmte sich. »Er hat selbst angerufen, Captain.« »Chef Fairly wird es Ihnen erklären«, bemerkte Saunders. »Und wo, zum Teufel, wollen Sie jetzt hin?« »Nach oben«, antwortete Saunders. »Ich gehe jetzt, Captain. Sie können bleiben, oder sie können auch mitkommen.« Maddox nickte dem Schließer zu, der die Tür öffnete. Sie verließen den ›Bunker‹ und blieben neben den Aufzügen stehen. Maddox hielt sich dicht hinter Gerald; er berührte ihn fast, als sie den Gang zum Büro des Polizeichefs hinuntergingen. Maddox war der letzte. Er kam hinter dem robusten Commander, aber er sah den Admiral schon von der Schwelle aus. Admiral Langdon stand in der Mitte des Raumes, und er beherrschte ihn. Zu seiner Rechten saß Doris Ashley allein für sich. Sie hatte die Beine übereinandergeschlagen und die Hände in den Schoß gelegt. Maddox' Anblick machte sie wütend. Sie hätte ihn zertreten mögen, diesen arroganten, grausamen Mann im dunklen Anzug, der sie so grob angefaßt hatte. Als er Maddox sah, verließ -312
Fairly seinen Schreibtisch und lief um Saunders herum auf den Captain zu. »Niemand hat Sie rufen lassen!« zischte er. Maddox beachtete ihn nicht. Er richtete seine Worte an den Admiral. »Ich bin mit den Gefangenen da.« »Sie können gehen«, beschied ihn der Admiral. Fairly funkelte Maddox an. »Kümmern Sie sich um Ihre Angelegenheiten!« Maddox sah die Ader über dem Auge des Chefs rot und dick hervortreten. »Ich sagte, Sie sollen sich um Ihre Angelegenheiten kümmern!« »Das tue ich ja«, entgegnete Maddox. »Denn diese Leute stehen unter Mordverdacht. Deshalb wurden sie in Haft genommen.« »Ich habe die volle Verantwortung für sie übernommen«, erklärte der Admiral. »Aber sie fallen nicht in Ihre Verantwortlichkeit«, wies Maddox ihn zurecht, »sondern in unsere. Das ist hier nicht Ihr Reservat, sondern unseres.« »Ich befehle Ihnen...« setzte Fairly an, aber der Admiral fiel ihm ins Wort. »Sie verschwenden meine Zeit«, sagte der Admiral und ging zum Schreibtisch. »Mrs. Ashley und diese Männer werden nach Pearl Harbor gebracht und bleiben dort so lange, bis ihr Erscheinen vor Gericht erforderlich ist.« Er nahm seine Mütze und seine grauen Handschuhe vom Tisch. »Ich verbürge mich für ihr Erscheinen.« »Glenn.« Doris Ashley war aufgestanden und wartete auf den Admiral. »Hester darf nicht allein gelassen werden«, sagte sie. »In dieser Stunde der Not muß sie bei ihrem Gatten sein.« »Ich hätte selbst daran denken müssen«, stimmte er ihr zu. Er machte dem Commander ein Zeichen. »Jimmy. Besorgen Sie sich ein Beförderungsmittel und fahren Sie zur Villa Windward. Bringen Sie Mrs. Ashley Murdoch in mein Haus. Sie wird bei uns wohnen.« Gerald hätte durch das Büro stürmen mögen. Am -313
liebsten hätte er den Captain gebeten, ihm wieder die Handschellen anzulegen und in das Kellerverlies zurückzubringen. Hester! Im gleichen Zimmer! Im gleichen Bett! »Wir können gehen, Doris«, sagte der Admiral. Gerald sah, wie der Commander den Raum verließ und entsann sich, daß er ja im Quartier der unverheirateten Offiziere wohnte. Der Commander würde ihn retten. Gerald würde im Q.U.O. sein, noch bevor Hester in Pearl Harbor eintraf. Maddox sah gelassen zu, wie Fairly dem Admiral hinterherlief, ihn einholte und wie ein Oberkellner zur Tür eilte. Er versicherte den Admiral noch einmal seiner vollen Unterstützung, schloß hinter ihm ab und stellte sich vor die Tür, als wollte er Maddox aufhalten, der sich bis dahin nicht einen Zentimeter gerührt hatte. »Das war das letzte Mal, daß Sie mich in dieser Weise haben auflaufen lassen«, geiferte Fairly. Die Ader auf seiner Stirn war dick wie ein Seil. »Sie werden sich mir gegenüber nichts mehr herausnehmen, Sie Klugscheißer. Mit Ihrem Mister Harvey Koster können Sie mich nicht mehr schrecken. Er wird mir dankbar sein, daß ich Doris Ashley dem Admiral übergeben habe. Lange genug haben Sie Harvey Koster wie ein Damoklesschwert über meinem Kopf schweben lassen! « »Du dreckiger Hurensohn«, sagte Maddox ganz ruhig, so, als antworte er jemandem auf die Frage nach der Uhrzeit. Fairly blieb der M und offenstehen, und als Maddox einen Schritt auf ihn zu tat, flüchtete er hinter seinen Schreibtisch. Maddox kam hinter ihm her und zeigte auf die Tür. »Du solltest mit ihnen mitgehen«, fuhr er ihn an. »Du bist mitschuldig, genauso schuldig wie sie.« Fairly ergriff seinen Brieföffner. »Jetzt werden wir sehen, wer diese Dienststelle leitet!« rief er. All die Enttäuschungen und erzwungenen Verzichte, die sein Leben seit dem Tag prägten, da Hester - von der er überzeugt war, daß sie log die vier jungen Männer identifiziert hatte, wallte jetzt mit heftiger innerer Bewegung in Maddox auf. Zu viele Niederlagen hatte er seitdem einstecken -314
müssen. Er konnte sich nicht mehr beherrschen. Er sprang auf den Schreibtisch zu, und Fairly wich erschrocken hinter seinen großen Chefsessel zurück. »Wer diese Dienststelle leitet, du mordgieriger Bastard?« schrie Maddox. »Du hast diesen Jungen auf dem Gewissen. Joe Liliuohe würde noch leben, wenn du die Schutzabteilung nicht abgezogen hättest, die ich abkommandiert hatte. Du hast ihn zum Abschuß freigegeben! Du hast ihn wehrlos auf die Straße geschickt, du verdammter Kerl!« »Ich werde ein Verfahren gegen Sie anstrengen«, entgegnete Fairly mit kreischender Stimme und schwang seinen Brieföffner, als ob Maddox ihn mit einem Schwert bedrohte. »Ich werde Anklage gegen Sie erheben!« »Aber dann gleich!« donnerte Maddox und hieb mit der Faust auf den Tisch. »Aber dann gleich! Worauf warten wir noch?« Er beugte sich über den Schreibtisch, griff nach dem Telefon und knallte es vor den Chefsessel. »Du sagst, was du zu sagen hast, und ich sage, was ich zu sagen habe. Du erzählst der Kommission, daß ich dich einen Hurensohn genannt habe, und dann werden wir ja sehen, wie viele von den Herren sich meiner Meinung nicht anschließen. Dann werde ich ihnen erzählen, daß ich Joe Liliuohe rund um die Uhr unter Polizeischutz gestellt habe, und daß du die Einheit zurückgepfiffen hast. Dann werde ich sie ins Leichenschauhaus fahren und ihnen zeigen, was die Kugel aus der 45er mit seinem Gesicht gemacht hat und was davon noch übrig ist. Und dann werde ich zum Outpost-Dispatch spazieren und Jeff Terwilliger in unser kleines Geheimnis einweihen.« Maddox beobachtete den kleinen Mann, der wie erstarrt dastand und sich an seinem Sessel festhielt. »Harvey Koster? Ich habe Harvey Koster nicht gebraucht, um meine Dienstmarke zu bekommen, und ich brauche weder ihn noch sonst jemanden auf dieser grünen Erde, um sie zu behalten.« Er knöpfte seine Jacke zu. »Du elendes Stück Scheiße«, sagte er, wandte sich ab und ging zur Tür. -315
Die drei des Mordes an Joe Liliuohe verdächtigen Personen sollten am nächsten Tag, Freitag, zur Anklage vernommen werden. Um acht Uhr früh rief der Admiral den Sekretär des Stadtgerichts an und teilte ihm mit, daß Doris Ashley sich vom Schock der vergangenen vierundzwanzig Stunden noch nicht erholt hatte und daher nicht in der Lage war, ihr Haus in Pearl Harbor zu verlassen. Da das Gericht Samstag und Sonntag nicht tagte, würden seine Gäste, sagte der Admiral, Montag früh erscheinen. Lange bevor der Admiral Freitag früh mit dem Sekretär des Stadtgerichts telefonierte, war Hester schon wach. Commander Saunders hatte sie gestern nach Pearl Harbor gebracht. In der Annahme, es wäre Amelia oder Theresa, die ihr etwas von ihrer Mutter ausrichten wollten, war sie im Kutscherhaus zur Tür gegangen. Der Commander hatte sich vorgestellt, und noch bevor er sagte: »Ich habe schlechte Nachrichten, Mrs. Ashley Murdoch«, wußte Hester, daß etwas mit Gerald war. »Er ist doch nicht tot?« flüsterte sie und fühlte sich bereits schuldig. Als Toten konnte sie nicht an ihn denken. Sie wollte nur, daß Gerald fortging. Für immer fortging. »Er ist nicht tot«, antwortete Saunders und erzählte ihr von dem tödlichen Schuß. »Soll ich Ihnen etwas bringen?« Die junge Frau war blaß geworden. »Möchten Sie sich nicht setzen?« Hester blieb neben der Treppe stehen, als ob sie allein wäre. Sie sah Joseph Liliuohe vor sich, sah ihn im Gerichtssaal zusammen mit den anderen jungen Männern, sah ihn jeden Tag aufstehen, wenn das Gericht sich vertagte, sah ihn, wie er sie immer wieder anblickte. Und jetzt sah sie ihn, wie er mit geschlossenen Augen dalag, die Hände über der Brust gefaltet. Sie sah ihn im Grab, im dunklen Schoß der Erde. Und Gerald wartete. Ihre Mutter wartete. »Sie sollten sich vielleicht ein paar Sachen mitnehmen, Mrs. Ashley Murdoch«, empfahl der -316
Commander. Wie betäubt stieg Hester die Treppe hinauf. Hester legte ihren Koffer auf das Bett. Als sie zur Kommode ging, sah sie den Toten schon in den Schubladen und auf dem Kopfbrett des Bettes. Sie wanderte hin und zurück wie jene Kuh an einem Haltestrick, die einen endlosen Kreis um einen Mühlstein zieht. Krampfhaft versuchte sie, an etwas anderes zu denken, aber der Tote kam zurück, um sie zu erinnern, wer ihn getötet hatte. Hester hatte ihn getötet! Sie ließ die Kleider in den Koffer fallen und lief ins Badezimmer. Als Hester die Jodtinktur aus dem Arzneischränkchen nahm, mußte sie an die heilige Johanna und an ihr Ende auf dem Scheiterhaufen denken. Sie nahm die Verschlußkappe der Flasche ab und betrachtete den kleinen aufgedruckten Totenkopf. Sie neigte die Flasche und sah einen Tropfen pro Sekunde ins Waschbecken fallen. Sie wollte sterben, denn sie verdiente den Tod. Mörder mußten für ihre Verbrechen bezahlen. Hester schluchzte und stellte die Flasche zurück. »Mrs. Murdoch?« Saunders hatte sich Sorgen gemacht und war ihr gefolgt. Hester schloß das Arzneischränkchen und ging zurück ins Schlafzimmer. »Wenn Sie fertig sind, dann...« sagte Saunders. Es gab kein Entkommen. Man würde sie zusammen mit ihrer Mutter und Gerald in Pearl Harbor einsperren. Und Bryce? »Ich bin fertig«, sagte Hester und verachtete sich, weil sie an ihn gedacht hatte. Wenn man sie ins Haus des Admirals brachte, würde sie sich in ihrem Zimmer einschließen. Als Jimmy Saunders, Hesters Koffer in der Hand, sie ins Wohnzimmer des Admirals führte, wurde sie von Doris Ashley mit den Worten begrüßt: »Gerald wurde im Quartier der unverheirateten Offiziere untergebracht.« Hester atmete auf. Jetzt, am frühen Freitagmorgen, vo n ihrer Mutter durch das zwischen ihnen liegende Badezimmer getrennt, zog Hester sich heimlich an. Ihre Schuhe in der Hand, ging sie auf Zehenspitzen an Doris Ashleys Zimmer vorbei. An der Treppe blieb sie stehen und hielt sich am Geländer fest, um in die absatzlosen Mokassins -317
zu schlüpfen. Sie war schon fast an der Tür, als jemand sie anrief: »Miss?« Ein Filipino in weißem Hemd, aber ohne schwarze Fliege und Uniformjacke, stand im offenen Bogen des Speisesaals. »Frühstück?« »Danke. Später«, sagte Hester und verließ das Haus, bevor ihre Mutter erscheinen und sie zurückhalten konnte. Draußen bewegte sie sich, als hielte sie den Atem an; sie schaute nicht nach links und nicht nach rechts, als erwarte sie, ihrer Haltung wegen belobigt zu werden. Hester hatte aufgehört, sich zu beschimpfen. Es war ihr unmöglich, das Verlangen, das in ihr loderte, zu unterdrücken. Wie Durst empfand sie es, wie eine nicht zu stillende Begierde, einen Drang, dem sie zu folgen hatte. Hester hielt den nächstbesten Offizier an, der ihr entgegenkam, und fragte ihn nach dem Weg zu den U-Boot-Bunkern. »Wie Panther«, sagte sie sich und betrachtete die glatten, schwarzen Bootsleiber im Wasser. Die Mannschaften kamen zum Appell an Bord, und plötzlich sah Hester Joseph Liliuohe unter ihnen. Er war tot. Sie wandte den Blick ab, wie sie das Tag für Tag im Gerichtssaal getan hatte, starrte zum Horizont hinüber und ordnete Guam und Wake und Tahiti und die Philippinen geographisch ein, bis sie es wagte, den Blick noch einmal auf die U-Boote zu werfen. Von links hörte sie den flotten, kraftvollen Schritt. Sie drehte sich um und rief: »Hallo, Bryce.« Bryce blieb stehen und sah die U-Boot-Männer zu ihren Booten gehen. Dann sah er die Frau, eine magere, gewöhnliche, graue Maus, nicht größer als ein Jockey. »Bryce«, sagte sie, und diesmal war ihm, als drücke ihm einer von hinten die Kehle zu. Hester befand sich auf dem Stützpunkt, weil Gerald und ihre Mutter da waren. »Aufgepaßt, Sportsmann!« sagte sich Bryce. »Du freust dich, sie zu sehen.« Er zwang sich zu einem Lächeln und verschluckte es sofort. Gerald hatte einen Menschen getötet! »Ich wollte einen Spaziergang machen«, sagte Hester und mußte an den Toten denken. Sie war verdammt. Sie waren beide verdammt. Sie hatten Joe Liliuohe getötet. -318
Sie lügt wie gedruckt, schoß es Bryce durch den Kopf. Sie hatte ihm aufgelauert. »Wie geht es Gerald?« »Man hat ihn im Quartier der unverheirateten Offiziere untergebracht«, antwortete Hester. »Hast du meinen Brief bekommen?« Er hätte sie ins Meer werfen können. »Du hättest mir nicht schreiben sollen, Hester. Ich hoffe, du machst das nicht wieder.« Hester haßte ihn. Sie haßte sich selbst. Sie verachtete ihn, und sie verachtete sich, weil es sie drängte, Bryce zu berühren, sein Haar oder seinen Arm oder seine Brust oder was auch immer. »Ich brauche dir nicht mehr zu schreiben«, sagte sie. »Ich bin ja hier, im Haus des Admirals.« Er blickte kurz auf seine Armbanduhr. »Es wird Zeit, ich muß an Bord.« Sie ließ sich nicht abschütteln. Wieder zwang er sich zu einem Lächeln. »Damen ist der Zutritt leider nicht gestattet.« »Warte, Bryce.« Sie hob die Hand, um ihre Augen zu beschatten. »Wir könnten uns irgendwo treffen.« »Aber sicher. Unsere Wege werden sich kreuzen.« »Ich spreche nicht von Wegen«, gab Hester zurück. »Ich muß dich sehen. Ich bin allein gewesen. Ich bin allein. Dieser Mann... dieser Bursche war unschuldig. Jetzt ist er tot, und er war unschuldig.« »So wie ich!« stieß Bryce nach und fügte rasch hinzu: »Ich muß jetzt wirklich an Bord, Hester.« Er machte kehrt und ging mit langen, raschen Schritten davon. Hester hätte sich auf ihn stürzen mögen, auf ihn loshämmern, ihn zusammenschlagen, wie er sie zusammengeschlagen hatte. Ein erstickter Schrei entrang sich ihrer Brust. Gab es denn keine Hoffnung? Ein Weg stand ihr offen. Sie machte kehrt und fing an zu laufen. Sie sah die Limousine des Admirals abfahren, als sie sein Haus erreichte. Während sie auf die Holztreppe zuging, öffnete sich die Tür. Der Filipino, den sie schon früher gesehen hatte, hielt die Klinke noch in der Hand. »Frühstück jetzt, Miss?« Hester schaute in den Speisesaal; leer und ungemütlich. Sie -319
eilte an dem Filipino vorbei auf die Treppe zu. »Danke, nein«, antwortete sie. »Kein Frühstück.« Langsam und vorsichtig schloß sie die Tür zu ihrem Zimmer und streifte ihre Mokassins ab. Auf Zehenspitzen ging sie ins Bad und versperrte die gegenüberliegende Tür. »Hester?« Doris Ashleys Stimme klang leise, aber Hester hörte die Schritte ihrer Mutter. Sie beugte sich über die Wanne, drehte beide Hähne auf und ließ den Abfluß offen. Sich die Hände abtrocknend, ging sie ins Zimmer zurück. In einem Geheimfach ihrer Handtasche hatte sie die Telefonnummer aufgehoben - seit jenem Tag im Mercy Hospital. Sie kannte die Nummer auswendig. Sie hatte sie hundert-, tausendmal angesehen. Sie sah sie wieder an, bevor sie sich auf das Bett setzte und das Telefon auf den Schoß nahm. Sie hörte es läuten. Diesmal war sie bereit und konnte es kaum erwarten. Wieder läutete es. Er mußte sich melden. Sie war fast glücklich. Endlich konnte sie aufhören, sich selbst zu verabscheuen. Da! Er war da! »Spreche ich mit Mr. Halehone?« »Ja«, antwortete Tom. »Mr. Halehone, der Anwalt? Waren Sie der Anwalt von Joseph...« Das Telefon wurde ihr entwunden. Doris Ashley, den Morgenrock übergeworfen, hatte den Apparat und den Hörer, zog am Kabel wie ein Fischer an der Langleine, Hand über Hand, bis sie die Wand erreichte. Tief über das Telefon gebeugt, als ob sie es schützen wollte, ließ sie sich auf die Knie fallen und riß das Kabel aus der Anschlußdose. Keuche nd, im Augenblick unfähig sich zu erheben, blieb Doris Ashley eine kleine Weile auf den Knien. Sie hatte sich ihr Frühstück aufs Zimmer bringen lassen. Sie aß ein paar Bissen, um bei Kräften zu bleiben, als sie Hester im Badezimmer hörte. Der Filipino hatte ihr berichtet, daß Hester schon früh hinausgegangen war. Jetzt war sie wieder da und wollte baden. Warum war sie nicht vorher in die Wanne gestiegen? Doris Ashley hatte an die Badezimmertür geklopft, hatte ihr Ohr an die Tür gelegt und Hester gerufen. Als sie keine Antwort bekam und nur stetig das Wasser rauschen hörte, lief sie -320
auf den Flur hinaus und in Hesters Zimmer. Mühsam erhob sich Doris Ashley, Vor Schreck war sie noch völlig aufgelöst; ihr Haar hing strähnig herab, ihr Morgenrock war an der Längs naht aufgeplatzt und der Saum schleppte am Boden. Vor Hesters Augen knallte sie den Hörer auf die Gabel des toten Apparats und umwickelte beides mit dem gummibezogenen Kabel. Dem Filipino würde sie erzählen, Hester wäre über die Schnur gestolpert. Sie würde ihm auftragen, es nicht reparieren zu lassen. Sie würde ewig wachsam sein müssen. Erschöpft von dieser fürchterlichen Zerreißprobe, ließ sie sich neben Hester auf das Bett fallen. »Ich habe dich gerettet, Kleines«, hielt sie ihr vor. »Ich habe uns gerettet.« »Hier wollten sie ihn nicht leben lassen«, entrüstete sich Sarah. »Und hier will ich ihn nicht liegenlassen.« Tom war bei ihr in dem kleinen, blitzsauberen Haus, als sie ihrem Vater gegenübersaß. Ihre Mutter hatte sich im Schlafzimmer eingeschlossen; sie saß da und wiegte sich von einer Seite zur anderen, in der Hand noch Joes Hemd, das sie gebügelt hatte, als sie von seinem Tod erfuhr. »Es ist nicht unsere Insel«, sagte Sarah zu ihrem Vater. »Sie gehört ihnen. Aber der Ozean gehört ihnen nicht.« Sie nahm Tom bei der Hand. »Wirst du mir helfen?« Es bedurfte keiner Ankündigungen. Niemand rief bei den Liliuohes an. Weder der Outpost-Dispatch noch der Isländer schrieben eine Zeile darüber. Und doch sahen Fischer, die weit im Westen an der Küste Honolulus fischten, Sonntag um sieben Uhr früh die ersten Leute den Strand entlangwandern. Einige waren sonntäglich aufgeputzt, trugen Schuhe und Socken, andere kamen in abgeschabten, aber sauberen Kleidern, ihre bloßen Füße in billigen Sandalen; manche hielten ihre Sandalen in der Hand. Einige Fischer stellten Fragen; dann nahmen sie ihre Stangen und Eimer und schlossen sich den Leuten an; andere verharrten noch eine Weile und folgten erst dann der Prozession, -321
bis schließlich kein Fischer mehr am Strand zurückblieb. Als sie die kleine Bucht erreichten, wo Sarah und Tom Joe mit Becky Hanatani unter einer Decke gefunden hatten, zogen auch die Barfüßler ihre Sandalen an. Die meisten waren einander fremd, und lange Zeit standen sie schweigend da, getrennt durch die Felsblöcke, die der Ozean auf den Strand geworfen hatte. Das einzige Geräusch war das Tosen der Brandung, die an die Küste rollte. Andere fuhren bis zur Straßenbahnendstation und gingen zu Fuß weiter. Die Leute kamen in Autos, fünf und sechs und sieben in einem Wagen. Sie hatten ihre Kinder mit und blieben stehen, um die noch aufzunehmen, die zu Fuß unterwegs waren. In seinem Kleinlaster kam Senso Fujito mit Frau und Kindern, einschließlich des ältesten Sohnes, dessen Fuß immer noch geschwollen war. Immer wieder hielt Senso an, bis der Lkw voll war. Die Leute kamen von überall her: die Hawaiier aus Papakolea und Kakaao, die Chinesen aus Liliha und Makiki, aus Manoa und Nuuanu, die Japaner aus Kalohi und Moiliili und Dämon Tract. Sie waren eine riesige und geordnete Menge auf dem warmen Sand, in der Sonne, am blaugrün funkelnden Meer. Die Kinder standen auf den Felsen, und alle blickten aufs Wasser hinaus. Dann sagte einer, der weit sehen konnte, »Dort!« und deutete auf die Pünktchen in der Ferne. »Wo?« fragte ein anderer. Und alle, die hier zusammen standen, gingen bis an den Rand des Wassers vor, beschatteten ihre Augen und suchten den Ozean ab. Bald wurden die Pünktchen zu Booten, zwei mit Auslegern, lang und schmal wie Zündhölzer, jedes mit fünf Ruderern. Hinter ihnen, mit Stricken gezogen, die zu den anderen Booten führten, eine Schute, und auf der Schute lag ein einfacher Holzsarg mit Seilgriffen, und daneben saßen Tom und Sarah und ihr Vater und Becky Hanatani. Am Strand krempelten die jungen Männer ihre Hosen auf, zogen Socken und Schuhe aus und wateten in die Brandung -322
hinaus, um die Boote an Land zu ziehen. Dann stellte man sich im weiten Bogen auf, um Platz für die Boote zu machen. In einiger Entfernung ließ Maddox seinen Wagen zwischen anderen Pkw's und Lastwagen stehen und ging auf die Bucht zu. Es waren die Boote, die Schute mit dem Sarg, Sarah und ihr Vater, Becky mit dem Anwalt, die wachsende Zahl junger Männer in der Brandung, die die Aufmerksamkeit der Menge auf sich zogen, so daß Maddox unbemerkt nähe r kommen konnte. Er beobachtete die Jungen im Wasser, die die Boote anlandeten, sah die Ruderer, die über die Seitenwände glitten und rings um die Schute Aufstellung nahmen und sie dann auf den Strand hinauf schoben. Er ging auch zum Strand hinunter, um eine Stelle zu erreichen, die ihm gute Sicht gewähren würde, und stieß an jemanden an. Senso Fujito breitete beide Arme aus und scharte Frau und Kinder um sich. Er erkannte den Polizeibeamten wieder, der zu ihm gekommen war; er flüsterte es seiner Frau ins Ohr, und eines seiner Kinder sagte es einem Jungen weiter. Die Kinder starrten Maddox an. Andere Kinder kamen hinzu, aber ihre Eltern zogen sie weg. Senso und seine Familie ließen Maddox stehen, und nach einem flüchtigen Blick taten es die anderen ihnen gleich, bis Maddox allein war, der einzige Haole in der Bucht. Sein Name, und wer er war, verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Die jungen Männer im Wasser sahen zu ihm herüber, und einer rief: »Lassen Sie uns in Frieden!« Ein Freund mahnte ihn zur Vorsicht, aber der Junge brüllte: »Sie gehören nicht hierher! Wir sind hier nicht in Honolulu!« Ein anderer Junge rief etwas, und dann ein dritter, und der erste kam aus dem Wasser auf Maddox zu. Einer der Ruderer folgte ihm, und andere kamen nach. Junge Männer und ältere bezogen ihren Mut von den Anführern, und die Gruppe schwoll schnell an. Maddox stand plötzlich einer lauernden Menge gegenüber. »Ihr solltet euch was schämen«, sagte der Captain. »Ihr seid hier bei keiner Luau. Ihr seid hier bei einer Totenfeier.« Sie schrien ihm ihren Trotz ins Gesicht, aber sie stießen keine Drohungen aus. Was sie bewegte, -323
war Trauer um Joe Liliuohe und um sich selbst, um ihre Geschichte; war Angst, gezeugt aus Entbehrung und Spott, Verachtung, Ausbeutung und Vernachlässigung. Sie wo llten sich nicht zum Schweigen bringen lassen. Ihre Stimmen vereinigten sich zu einem schrillen Schrei, und weil sie in der Menge waren und den Sarg gesehen hatten, wurden sie feindselig und rasch auch rachedurstig. »Laßt mich durch!« rief Tom. Mit Sarah an seiner Seite bahnte er sich einen Weg durch die Menge, die im dichten Bogen um Maddox stand, dem nur noch ein Ausweg zum Meer offenblieb. »Laßt mich durch!« wiederholte Tom immer wieder, als er, Sarahs Hand fest in der seinen, mit dem Kopf voraus durch die Masse tauchte. Fast wäre er gestürzt; er wurde von einem zum anderen gestoßen, ließ sich aber nicht aufhalten und war endlich schweratmend in der vordersten Reihe. Tom tat einen Schritt nach vorn und dann noch einen und noch einen, bis er und Sarah zwischen Maddox und der Menge standen. Tom kehrte den Leuten den Rücken zu und verharrte stumm, und bald verstummten auch die anderen. »Da sind aber ein paar Krakeeler zusammengekommen«, sagte Maddox. »Ich will ihn hier nicht haben«, wisperte Sarah. Tom erinnerte sich, wie er Maddox aus einer Telefonzelle im Präsidium angerufen hatte. Er erinnerte sich, wie er an Maddox' Türklingel geläutet hatte. Tom erinnerte sich an die Unverschämtheit in Maddox' Stimme, als der Captain gedroht hatte, ihn zu verhaften, ihn in ein Arbeitslager schicken zu lassen. Tom hätte gerne alles wiederholt, was dieser Maddox an Gemeinem vor einer Woche gesagt hatte. Er konnte es nicht. Er hätte gerne die Menge auf ihn gehetzt. Sie warteten darauf und waren bereit. Tom wußte, daß sie zum Äußersten greifen würden. Er hätte Maddox demütigen wollen und konnte es nicht. Er wollte Maddox auffordern, den Strand zu verlassen und konnte es nicht. »Sag ihm, daß er endlich gehen soll«, flüsterte Sarah. »Das können wir nicht«, entgegnete er, »denn...« -324
Sie fiel ihm ins Wort. »Wenn du's ihm nicht sagst, werde ich es tun!« drohte Sarah, und nun flüsterte sie nicht mehr. Maddox hörte sie, alle hörten sie. »Wenn er geht, gehe ich auch«, gab Tom zurück und hörte, wie Sarah vor Verblüffung und Schreck den Atem anhielt. »Ja, ich gehe mit ihm«, wiederholte Tom. »Ich habe ihn nicht gebeten zu kommen. Es tut mir weh, daß er da ist. Aber er ist da. Wir, Sarah, schließen Menschen nicht aus; sie tun das. Wir peitschen keine Menschen aus, wir martern und wir morden nicht; sie tun das. Darum bleibt er, Sarah. Sonst sind wir wie sie.« Maddox beobachtete die beiden. Sie antwortete dem Anwalt nicht, sah nur Maddox an; dann nahm sie den Hinkefuß bei der Hand. Und Hand in Hand kehrten sie in die Menge zurück. Maddox konnte Halehone nicht hören, aber die Menschen ließen das Paar passieren, und als die beiden vorbei waren, machten sich die Männer und die Burschen, die ihn umringt hatten, auf den Weg zu den Booten. Maddox blieb allein zurück. Er hob sein rechtes Bein, streifte den Schuh ab, schüttete den Sand aus und zog ihn wieder an. Dann folgte er der Menge. Tom erblickte Sarahs Vater auf der Schute, und er sah Becky, die beide Arme über den Sarg geschlungen hatte, als wolle sie Joe beschützen. Sarahs Vater wandte der Menge sein Gesicht zu, schien aber mit sich und Joe allein zu sein. Sarah betrachtete ihren Vater. »Auch er ist tot«, murmelte sie. Sie blieben vor der Schute stehen. Alle anderen wichen zurück und verschmolzen mit den Männern und Frauen und Kindern. Sarah und Tom standen allein am Strand. Sarah entzog Tom ihre Hand. »Es ist Zeit«, sagte sie. »Bleib da«, bat Tom, Er hatte Sarah versprochen, ein paar Worte zu sagen; er hatte dann versucht, sich ein Konzept zu machen, aber alles, was er aufschrieb, klang hohl und fa lsch. Nichts davon paßte zu Joe, und wenig später hatte er den -325
Notizblock beiseite gelegt. Die Menge wartete schweigend und geduldig. Sarah wartete. Tom wußte nicht, wie er anfangen sollte und womit. »Joe Liliuohe...« begann er und sah Captain Maddox näher kommen, »Joe Liliuohe war ein wundervoller, freundlicher, fröhlicher Mensch«, sagte Tom, und wußte, endlich konnte er Maddox antworten und redete nur zu ihm. »Ich will damit nicht sagen, daß er immerzu lachte. Ich will damit sagen, daß ihm immer zum Lache n zumute war. Er war für jeden Spaß zu haben. Hier, genau hier, hatte ich mehr Spaß mit Joe als sonst in meinem ganzen Leben. Er brauchte bloß dazusein, und alles sah gleich freundlicher aus. Er konnte einen zum Lachen bringen, auch den, dem gar nicht nach Lachen zumute war, ganz gleich, ob er ein Kind vor sich hatte oder erwachsene Menschen. Alle wußten das von Joe und suchten deshalb alle seine Nähe. Den größten Teil seines Lebens, seines kurzen Lebens, verbrachte er mit seinen Freunden - und alle waren seine Freunde. Drum sind es nicht nur seine Eltern und seine Schwester, die ihn verloren haben, als er auf dem Weg ins Mercy Hospital zu seinen Freunden - entführt und ermordet wurde. Hunderte, vielleicht Tausende haben ihn verloren.« Tom hörte Sarah weinen, aber er konnte sie nicht ansehen. Hätte er es getan, er hätte nicht weiterzusprechen vermocht. Tom blickte auf Maddox. »Joe brauchte nicht zu sterben«, fuhr er fort. »Joe ist gestorben, weil er hier auf dieser Insel, auf diesem Territorium lebte. Hätte er nicht auf Hawaii gelebt, er wäre heute noch am Leben. Joe wollte weg von hier. Als er verhaftet, eines nie begangenen Verbrechens beschuldigt und öffentlich angeklagt wurde, wollte er weg, fort von Hawaii. Ich überredete ihn, zu bleiben.« Tom schluckte.›»Du bist unschuldig‹ sagte ich zu ihm. ›Du brauchst keine Angst zu haben! ‹ Also blieb er auf Hawaii, und jetzt ist er tot.« Wieder schluckte Tom; er fühlte, daß Sarah ihn berührte, ihre Hand auf seinen Arm legte, ihm auftrug, weiterzusprechen. »Es gibt hier Menschen, die glauben, daß diese Inseln ihr -326
privates Eigentum sind, und wenn etwas passiert, wenn irgendwo Ruhe und Ordnung gestört werden, sind sie mit ihren Peitschen und Gewehren bei der Hand. Sie sind überzeugt, daß diese Inseln ihr Land sind. Und sie haben recht. Sie gehören tatsächlich ihnen. Ihnen gehören alle Handelsunternehmungen auf dem Territorium und alle Plantagen. Was sie nicht kaufen konnten, haben sie sich einfach genommen. Und sie machen ihren Anspruch geltend, wie Goldgräber, die ihre Claims abstecken. Allerdings: Goldgräber stecken ihre Claims in der Wildnis ab. Und Hawaii war keine Wildnis. Diese Inseln waren ein Wunder und könnten es wieder sein, wenn diese Leute endlich begreifen wollten, daß alle Menschen frei geboren sind. Mehr wäre nicht vonnöten. Gerade hier, auf Oahu, leben Menschen aus fast allen Gegenden der Erde friedlich beieinander. Sie wachsen zusammen auf, heiraten, und ihre Kinder wachsen zusammen auf und heiraten untereinander. Wir haben eine Entwicklung erreicht, wo es bei uns in Tausenden von Fällen keine Hawaiier oder Japaner oder Chinesen oder Tahitier oder Filipinos oder Fidschier oder Franzosen oder Holländer oder Portugiesen oder sonstwas gibt. Wahrscheinlich haben alle diese Menschen nie daran gedacht, aber sie sind es, die dieses Wunder auf die Inseln gebracht haben. Wir leben hier auf unseren Inseln inmitten des größten Ozeans der Welt, Landfetzen, nicht viel größer als Briefmarken, und haben ein Weltwunder geschaffen, ein echtes Weltwunder. Weil wir mit anderen Menschen zusammen leben, Nachbarn zur Linken und Nachbarn zur Rechten, haben wir die älteste und tückischste Krankheit der Geschichte bezwungen. Jahrhundertelang haben die Menschen einander getötet, weil sie sich fremd waren. Wir haben aufgehört, einander fremd zu sein. Aber es gibt noch einen anderen, den kleineren Teil der Bevölkerung. Einhundertzweiundfünfzig Jahre sind es her, daß Kapitän Cook hierherkam, aber die meisten dieser Leute benehmen sich, als ob sie noch nicht ausgepackt hätten. Die Türen zu ihren Häusern stehen nur ihnen selbst offen. Sie haben -327
keine einhundertzweiundfünfzig Jahre gebraucht, um sich ihr Land zu schaffen, aber selbst dieses ist nicht das Schlimmste. Die wahre Tragik ist, daß sie uns als ihr Eigentum betrachten. Darum glauben sie, daß Joe Liliuohe schuldig war. Und darum ist er jetzt tot.« Tom verstummte und warf einen Blick auf Maddox, der sich nicht gerührt hatte. »Joe liebte alles, aber seine größte Liebe war das Meer. Dort soll er auch bleiben, weit, weit draußen. Er ist immer weit hinausgeschwommen. Weit, weit hinaus.« Tom senkte den Kopf und blinzelte. »Joe«, flüsterte er, als ob nur sie in der Bucht wären und sich sonnten, bevor sie sich noch einmal in die Wellen stürzten. »Joe.« Drei Tage, nachdem Joe Liliuohes Sarg weit draußen von der Schute herab ins Meer geglitten war, erlebte die ganze Ostküste der Vereinigten Staaten einen plötzlichen Temperatursturz. Die Kühler der Automobile vereisten, und von Kanada bis Atlanta saßen Tausende mit dampfenden Motoren fest. Es war ein milder Winter gewesen, und die Tankstellen hatten nicht vorgesorgt. Die ganze Nacht über brannten unzählige Feuer auf den Zitrusfruchtplantagen, von einem Ende Floridas zum anderen, und in Washington fiel Schnee. Am Morgen des folgenden Tages kam der Verkehr schon gegen acht Uhr früh völlig zum Erliegen. Der dichte Schnee verbarg Washington wie hinter einem Vorhang. Straßenbahnen und Omnibusse quollen über, da die meisten ihr Auto zu Hause gelassen hatten. Es kam zu zahlreichen Unfällen. Die Krankenhäus er füllten sich, und die Polizei hatte alle Hände voll zu tun. »Welch ein gewaltiger Schicksalsschlag!« jammerte Floyd Rasmussen und blickte aus dem Fenster. »Der Präsident wird den Termin absagen.« »Der Präsident der Vereinigten Staaten bleibt auch bei einem Schneefall im Amt«, sagte Phoebe. Die Frau des Senators saß -328
bequem in seinem Büro. »Setz dich, Floyd, und schone dich.« Der Termin im Weißen Haus war für fünfzehn Uhr angesetzt. »Wir werden hier nicht wegkönnen«, sorgte sich Rasmussen. »Wir werden nicht durchkommen.« »Der Wagen des Präsidenten kommt durch«, versicherte Phoebe. »Ruf das Weiße Haus an. Sag ihnen, sie sollen für einen Wagen sorgen. Er kann nicht einen Termin absagen für jemanden, der in seinem Wagen ins Oval-Office gefahren wird.« Rasmussen nahm den Hörer von der Gabel. Noch während er in der Präsidenten-Limousine die Pennsylvania Avenue hinunterfuhr, hörte es auf zu schneien. Und als Rasmussen und die anderen kurz nach sechzehn Uhr dreißig aus dem Weißen Haus traten, brach die Sonne durch die Wolken und verwandelte Washington in ein Märchenland. Rasmussen war überzeugt, daß es ein Zeichen für ihn war. Ihn begleiteten sechs weitere, durchweg ältere Senatoren: Browman aus Georgia, Fox aus Mississippi, Reynolds aus Utah, Glanda aus Illinois, Stillman aus Nebraska und Ewing aus Kentucky. Die Fotoreporter waren bereits am Bilderschießen. Rasmussen wandte sich Ewing zu und machte Konversation, um nicht den Verdacht aufkommen zu lassen, er nähme nur eine Pose ein. Er würde sich heute nicht drängen lassen. Aus gutem Grund hatte er um einen Nachmittagstermin gebeten: Die Morgenzeitungen erschienen ihm wichtiger. Als die Fotografen schließlich den Reportern das Feld überließen, trat Rasmussen vor und vergewisserte sich, daß auch die Radioleute ihn hören konnten. Die Kameras der Wochenschauen begannen zu surren. »Ich möchte mit einer Erklärung beginnen«, setzte Rasmussen an und nahm die Papiere aus seiner Innentasche. »Lassen Sie mich zunächst feststellen, daß ich nur als Sprecher für meine ehrenwerten Kollegen fungiere. Ich spreche für die große Zahl bedeutender, achtbarer und gottesfürchtiger Kollegen im Senat und im Abgeordnetenhaus, die sich meinem Kreuzzug angeschlossen haben, einen Kreuzzug mit dem Ziel, wehrlosen -329
Landsleuten jenseits des Ozeans, Tausende von Kilometern von ihrer Heimat Amerika entfernt, beizustehen.« Rasmussen hob die Papiere hoch, als hielte er eine Fackel. »Hier habe ich die Namen von einhundertfünfundzwanzig Senatoren und Abgeordneten der Vereinigten Staaten. Sie sprechen für die vielen Menschen in Stadt und Land unserer großen Republik, die ihre Stimmen zu einem einzigen Schrei nach Gerechtigkeit vereinen: Doris Ashley, Lieutenant Gerald Murdoch und Seemann Zweiter Klasse Duane York, sie müssen unverzüglich freigelassen werden.« Rasmussen unterbrach sich und ließ Arm und Stimme sinken. »Davon habe ich dem Präsidenten Mitteilung gemacht.« Zusammen mit einem Archivbild Rasmussens erschien der Bericht aus dem Weißen Haus auf der Titelseite der Donnerstagmorgenausgabe des Outpost-Dispatch. Harvey Koster saß in seinem Büro und las jedes Wort über das Zusammentreffen Rasmussens mit dem Präsidenten. Dann faltete er die Zeitung zusammen und legte sie auf seinen Schreibtisch. Lange Zeit saß er still da, ohne sich zu rühren. Schließlich stellte er das Telefon vor sich hin und tätigte mehrere Anrufe. Erst am späten Nachmittag war er bereit, mit Doris Ashley zu reden. Schließlich verschob er das Gespräch auf den nächsten Morgen. Der heutige Tag war viel zu anstrengend gewesen. Allerdings gab es noch einen Grund für seine Entscheidung: Seine Mädchen, die er abends nicht gern allein lassen wollte, ließen ihn nach Einbruch der Dunkelheit nur sehr ungern außer Haus. Bevor er das Büro verließ, warf Harvey Koster den Outpost-Dispatch in den Papierkorb. Etwas zerknittert blickte Floyd Rasmussen von der Titelseite zu ihm auf. Der Besuch des Senators im Weißen Haus zwang Harvey Koster, sich für Walter Bergman zu entscheiden. Schon lange vor 1931 war Walter Bergman der berühmteste und profilierteste Rechtsanwalt der Vereinigten Staaten. Er war Strafverteidiger, und sein Name tauchte immer wieder auf den Titelseiten auf. In den -330
zweiundfünfzig Jahren, die er als Jurist tätig war, hatte er in vielen der bekanntesten Prozesse in den USA am Tisch der Verteidigung gesessen. Und nie, auch während seiner Anfänge in Chicago nicht, hatte er einen Fall übernommen, weil er einen Mandanten brauchte. Die Fälle mußten etwas Außergewöhnliches haben, um ihn zu interessieren. Harvey Koster hatte seine Adresse in der Tasche, als er Freitag morgens im Haus des Admirals eintraf. Doris Ashley war allein. »Na, Harvey, Sie kommen wohl, um die Gefangene zu besuchen.« »Es fällt mir schwer, Sie in dieser Rolle zu sehen«, erwiderte Koster. »Sie sollten nichts damit zu tun haben.« »Phil Murray sieht die Dinge anders«, sagte sie und blickte auf die breite Veranda hinaus. »Ich kann nicht in mein Haus zurück«, fügte sie hinzu. »Ich kann hier nicht fort, nur unter Bewachung. Matrosen mit Gewehren bewachen mich.« »Der Admiral hat es wenigstens zu verhindern gewußt, daß Sie ins Gefängnis kommen.« »Das ist hier ein Gefängnis«, gab sie zurück. »Mein Gefängnis.« »Sie haben doch Hester bei sich.« Doris betrachtete den angejahrten Mann. Sie beneidete ihn, aber nicht seines Geldes wegen, seiner Farme n oder seines riesigen Warenlagers. Harvey Koster war frei! »Ja, ich habe Hester.« Doris Ashley erhob sich und ging auf die Veranda hinaus. Er folgte ihr. »Man wird mich des Mordes anklagen, Harvey.« Die Sonne stach Koster in die Augen. »Haben Sie schon über einen Verteidiger nachgedacht?« »Ich habe einen Anwalt«, antwortete sie. »Alton Wormser ist mein Anwalt.« »Alton Wormser hat seit fast zwanzig Jahren in keinem -331
Gerichtssaal mehr gestanden«, warnte er sie. »Er hat noch nie einen Strafprozeß geführt. Phil Murray hat ständig damit zu tun. Es ist sein Beruf.« »Niemand auf den Inseln ist so angesehen wie Alton«, hielt Doris ihm entgegen. »Im Gerichtssaal brauchen Sie einen, der besser ist als Murray«, argumentierte Koster, »einen wie Walter Bergman.« »Sie meinen den Alten aus Chicago?« »Sein Verstand ist nicht alt«, gab Koster zu bedenken. »Er ist der Beste und hat einen ausgezeichneten Ruf. Ich finde, Sie sollten ihn zu Ihrem Verteidiger bestellen, Doris. Sie brauchen ihn.« »Und ich werde ihn auch bezahlen mü ssen. Er ist bestimmt sündhaft teuer.« »Vermutlich wird er fünfundzwanzigtausend Dollar verlangen«, sagte Koster, und Doris Ashley legte die Hand auf das Geländer der Veranda. Der weiße Lack glänzte in der Sonne. »Bergman wird mit Philip Murray fertig«, versicherte er ihr. »Für fünfundzwanzigtausend Dollar.« »Und Spesen für sich und seine Frau.« »Im Western Sky natürlich«, spöttelte Doris. Sie erinnerte sich an die Präsidentensuite, an ihre Hochzeitsnacht dort mit Preston Ashley. Sie entsann sich noch genau seiner Entschuldigungen. Doris blickte auf den Ozean hinaus. Sie hatte den Mann nicht getötet. Gerald hatte ihn getötet. Seine Fingerabdrücke waren auf der Pistole. Wegen Gerald saß sie jetzt hier gefangen. Sie wollte ihn bestraft und aus ihrem und Hesters Leben für immer verbannt wissen. Und sie wollte mit Hester nach Windward zurück. Das Kutscherhaus würde sie für immer schließen. »Ich habe nichts zu fürchten«, sagte sie. Von Pearl Harbor fuhr Koster direkt zum Telegrafenamt in der Innenstadt. Er engagierte Walter Bergman in der Mordsache Joe Liliuohe und garantierte das Honorar. Bergman hatte mehr -332
Freisprüche durchgesetzt als jeder andere Anwalt in Amerika. Wenn er die Angeklagten freibekam, würde das gewissen Herren in Washington bestimmt den Wind aus den Segeln nehmen.
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4. Teil »Wie komme ich am schnellsten aufs Promenadendeck«, fragte Maddox den Zahlmeister. »Und erklären Sie es mir mit rechts und links. Ich bin kein großer Seefahrer.« Der Zahlmeister gab ihm die gewünschte Auskunft. »Ich suche vierundzwanzig B«, sagte Maddox, ließ den Mann stehen und machte sich mit ausgestrecktem Arm, die Hand an der Reling, auf den Weg. Er mochte keine Schiffe. Harvey Koster hatte ihn gebeten, an Bord der Hawaiian Queen zu gehen und Walter Bergman an Land zu begleiten. Schon eine Stunde, bevor die Schleppdampfer die Queen an den Pier bugsiert hatten, stand Maddox vor dem Aloha-Turm. Er hatte einen Streifenwagen mit zwei Polizisten dorthin geschickt; er gab ihnen letzte Instruktionen. Maddox war der erste an Bord. Er kam auf das Promenadendeck und hielt vor der ersten Tür. 36B. Sich am Geländer festhaltend, ging er den Gang zu 24B hinunter, nahm seinen Hut ab und klopfte. Er wartete eine Weile, klopfte noch einmal, und eine Frau fragte: »Was ist denn?« Sie stand im Türrahmen zu seiner Rechten. Maddox schätzte sie auf Mitte Dreißig. Sie war schlank und blaß; ihre Haut weiß, ihre Haare, rotbraun wie die Farbe herbstlicher Blätter, waren seitlich gescheitelt und ringelten sich um ihren Hals. Das braune Kleid war vorn geknöpft. Sie trug einen schmalen braunen Gürtel und um den Hals einen weißen Schal. Maddox gefiel die Art, wie sie sich kleidete. »Ich suche Mr. Walter Bergman«, sagte er. Sie kam ihm einen halben Schritt entgegen, und Maddox sah ihre Augen; dunkelgrün wie Gras im Regen und golden gesprenkelt. Nie hatte Maddox solche Augen gesehen. »Wer sind Sie?« fragte sie. Maddox langte in die Tasche und zeigte ihr seine Dienstmarke. »Polizei aus Honolulu«, antwortete er. »Ich bin hier, um Mr. Bergman schnell und ohne Aufsehen an Land zu -334
bringen.« Er ließ die Dienstmarke wieder in die Tasche gleiten. »Ich bin Mrs. Bergman«, stellte sie sich vor. Und Maddox wußte, wen er vor sich hatte: ein Weibsbild, das sich einen reichen Pinkel geangelt hatte. Zorn packte ihn. Doch der Zorn richtete sich gegen ihn selbst, weil er sich hatte beeindrucken lassen. Und wieder sah er die goldenen Lichter in ihren Augen und die krausen Wellen ihres Haares, das über die weiße Haut fiel. Maddox erinnerte sich, irgendwo gelesen zu haben, daß Walter Bergman sechsundsiebzig Jahre auf dem Buckel hatte. Man hörte eine Männerstimme: »Lenore?« Sie sagte, sich umwendend, in den Raum hinein: »Ich komme gleich«, und zu Maddox: »Ich habe Sie aufgehalten, weil ich versuche, Walter zu beschützen. Alle wollen mit ihm reden, und er will niemandem weh tun. Er schont sich nicht.« Sie griff nach der Klinke. »Es wird nicht lange dauern. Vielen Dank, daß Sie gekommen sind.« Maddox wischte mit dem Taschentuch über das Schweißband seines Hutes, faltete es zusammen und steckte es in die Brusttasche. »Sechsundsiebzig Jahre«, knurrte er. Ein mit Koffern bepackter Matrose keuchte vorbei, und Maddox drückte sich an die Wand, um ihn vorbeizulassen. »Wollen Sie bitte eintreten, Captain?« Sie hielt die Tür offen. Noch nie hatte jemand das Wort CAPTAIN über dem Stern auf seiner Dienstmarke bemerkt. Er zog seinen Hut und nahm sich vor, ihre Augen nicht mehr anzusehen. Walter Bergman saß in einem Sessel neben dem Bett. Maddox sah die offene Tür daneben und in der Kabine jenseits der Tür das andere Bett. Das Haar des Anwalts war grau, ein Grau wie das Eis auf dem Fluß, borstig und widerspenstig. Er trug ein blaues Hemd mit gestärkten Manschetten und einen gestärkten weißen Kragen. Krawatte und Hose waren ebenfalls blau. Eine blaue Jacke la g auf dem Bett. Maddox ließ sich von nichts und niemandem beeindrucken, aber er hatte von Bergman gelesen, den man auf -335
der ganzen Welt kannte. Aus diesem Grund und weil er automatisch jeden Menschen einer Prüfung unterzog, fielen ihm Bergmans Hände auf. Es waren große, breite Hände mit kantigen Knöcheln und dicken Fingern; wie die Hände eines Arbeiters. »Ich weiß Ihre Freundlichkeit zu schätzen, Captain«, begrüßte ihn Bergman. Als er aufstand, war Maddox überrascht, wie groß der Anwalt war. Er war größer als Maddox und hager, fast schon mager, ebenso blaß wie seine Frau, aber das Gesicht war grau und käsig. Ein kranker Mann stand Maddox gegenüber. »Wir können gehen, wenn Sie soweit sind«, sagte Maddox. Er sah, wie Bergman sich am Bett stieß. Seine Augen waren also auch nicht in Ordnung. »Ich bin Ihnen sehr verpflichtet«, sagte Bergman. »Auf dem Pier erwartet Sie ein Haufen Leute«, sagte Maddox. »Honolulu ist voll von Korrespondenten für den Prozeß. Aber wir können ihnen entgehen. Ich weiß da eine bestimmte Ladeluke. Mein Wagen steht davor.« Mrs. Bergman blieb neben ihm stehen, und Maddox bemühte sich, sie nicht anzusehen. »Wir sind Ihnen sehr dankbar, Captain«, sagte sie. »Ich hole jemanden für das Gepäck«, sagte Maddox. Er kam mit einem Matrosen zurück, der einen Gepäckkarren in die Kabine schob. Die Bergmans und der Matrose folgten ihm zu einem Frachtaufzug, und als die Tür aufging, sah Maddox seinen Wagen direkt vor der Luke, zwei Polizisten standen daneben. Ein breites Laufbrett führte zum Pier hinunter. Uk ulelenklänge schallten herauf. »Hör doch, Lenore«, sagte Bergman. Wenn er lächelte, wirkte er wie ein großer Junge. Maddox sah, wie sie seinen Arm nahm. Bergman hatte eine Krankenschwester geheiratet. »Entschuldigen Sie mich«, sagte Maddox, und zu dem Matrosen: »Machen Sie schon.« Er ging vor und rief den zwei Cops zu: »Helft ein bißchen mit!« Auf dem Pier drängte sich die übliche Schar von Freunden, Bekannten und Verwandten der Passagiere und all denen, die sich Geschäfte mit ihnen versprachen. Vorn sah Maddox den Pulk der -336
Reporter und Fotografen. Er half den Cops und dem Matrosen, das Gepäck hinten im Wagen zu verstauen und gab dem Matrosen ein Trinkgeld. Er winkte ihr und Bergman, führte sie um den Wagen herum und öffnete beide Türen. Er sah Jeff Terwilliger, von den anderen gefolgt, auf sie zulaufen. »Haltet sie auf«, sagte er zu den Cops, und zu Bergman: »Wir sollten uns beeilen.« Er trat zurück, um ihr auf den Vordersitz zu helfen, aber sie kletterte in den Fond neben das Gepäck. »So wirst du nicht viel sehen, Lenore«, schüttelte Bergman den Kopf. »Du solltest die Sehenswürdigkeiten bewundern können.« »Maddox«, brüllte Terwilliger, aber die Cops ließen ihn nicht durch. Maddox lief um den Wagen herum und knallte sich auf den Fahrersitz. Die Cops waren von den Journalisten umringt. Maddox drückte auf die Hupe und fuhr vom Pier herunter. Maddox konnte Mrs. Bergman in einer Ecke des Rückspiegels sehen. Sie hatte das Fenster heruntergekurbelt, und der Wind zerzauste ihr Haar. »Wie gefällt es dir, Lenore?« fragte Bergman. »Ich habe noch nie eine so saubere Stadt gesehen«, antwortete sie. »Sie wird ununterbrochen gewaschen«, erklärte Maddox. »Die Wolken werden von den Bergen da drüben umschlossen, und so gibt es fast jeden Tag einen Guß.« »Der Geruch weckt bei mir alte Erinnerungen«, sagte Bergman. »Ich bin auf dem Land groß geworden. Ungefähr einen Monat nach der Schneeschmelze, Anfang Mai etwa, brach der Boden plötzlich auf. Die Erde war schwarz, und die Wildblumen schossen heraus. Alles, was man roch, war süß. Sind Sie auch ein Junge vom Land, Captain?« »Ich wurde hier in Honolulu geboren«, antwortete Maddox. »Ein Einheimischer also«, sagte Bergman. »Hast du das gehört, Lenore?« »Ja, Walter.« Sie sah aus dem Fenster. Maddox bog in die Kalakau Avenue ein. »Wir kommen jetzt nach Waikiki«, sagte er. In fünf Minuten würde sie aus seinem -337
Leben verschwunden sein. Zu seiner Rechten sah er schon das Western Sky. »Da ist Ihr Hotel.« Die Zufahrt schlängelte sich durch die Gartenanlagen des Hotels; sie fuhren zwischen herrlichem Rhododendron und sich hoch auftürmendem Hibiskus hindurch. Am Portal hielt Maddox an und schob das Schild POLIZEI ins Fenster. »Ich hole einen Pagen.« Als er zurückkam, half sie Bergman gerade aus dem Wagen. Sie dankte ihm, und nachdem der Anwalt ihm die Hand geschüttelt hatte, reichte sie ihm die ihre. Sie fühlte sich an wie Seide. Dann ging sie, Bergmans Arm untergehakt, hinein. Maddox half dem Pagen. Es drängte ihn zu gehen. Aber er ging nicht. Er fuhr am Eingang vorbei und auf den Parkplatz. Er konnte auch vom Hotel aus die Zentrale anrufen. Als er in die Halle zurückkehrte, sah er, wie der Empfangschef die Bergmans zu den Aufzügen begleitete. Maddox verhielt den Schritt, um nicht gesehen zu werden. Als sie verschwunden waren, betrat er eine Telefo nzelle. »Maddox. Etwas Neues?« »Ziemlich ruhig, Captain«, antwortete der Beamte in der Zentrale. Maddox schlenderte in die Halle. Vom Meer her fiel üppiges Sonnenlicht herein. Draußen, an beiden Enden von Glaswänden geschützt, befand sich ein großer Speisesaal. Maddox sah die blendendweißen Tischtücher. Er sah die Speisenden, feine Damen und elegant gekleidete Herren, eine Million Kilometer von Mord und Prozeß entfernt. Er hörte das Geklapper von Tellern und Bestecken und das Klirren der Gläser. Die Eleganz, die heitere Gelassenheit, die Ruhe, der sinnenfreudige Luxus, das alles wirkte hypnotisch. Maddox hatte das Hotel noch nie aus freien Stücken betreten, immer nur, wenn ihn Pflichten riefen, jetzt aber wandelte er langsam durch die Halle, so als ob er dazugehöre. Wo die Teppiche an die Fliesen des Speisesaals grenzten, blieb er stehen. Ein Bündel großformatiger Speisekarten unter dem Arm, kam der Oberkellner auf ihn zugeeilt. »Wie viele Personen, Sir?« -338
»Ich bin allein«, antwortete Maddox. Er aß nie zu Mittag. Sie war irgendwo da oben. Vielleicht genau über ihm. »Es wird ein paar Minuten dauern«, beschied ihn der Oberkellner. »Etwa zehn, vielleicht auch mehr.« Der Oberkellner ließ ihn stehen und wandte sich einem Herrn und zwei Damen zu. Der Mann trug eine weiße Flanellhose, weiße Schuhe und einen marineblauen Blazer. Der Oberkellner führte sie zu einem Tisch. Maddox drehte sich um, und da war sie, war so nahe, daß er sie hätte berühren können. »Also...« machte er und verstummte. Ihm stockte der Atem, und er fühlte, wie sich ein Band um seine Brust spannte. »Ach, hallo, Captain«, sagte sie. »Warten Sie auf Mr. Bergman?« Plötzlich war das die wichtigste Frage, die er je gestellt hatte. »Er hat sich ein wenig hingelegt.« Ein kleines, trauriges Lächeln spielte um ihre Lippen. »Walter will unbedingt noch heute nachmittag mit seinen Mandanten sprechen.« »Nun, dann... würden Sie vielleicht etwas essen wollen?« Er verwünschte sich wegen seiner Dummheit. »Sie sind doch bestimmt nicht heruntergekommen, um sich eine Zeitung zu holen. Ich meine, ob Sie wohl mit mir essen würden?« »Danke, Captain, das wäre nett«, antwortete sie. Maddox hob den Arm, um den Oberkellner herbeizurufen, ließ ihn sofort wieder sinken und schalt sich abermals wegen seiner Dummheit. Seine Dienstmarke würde er jetzt für eine Weile vergessen. Sie blickte auf den Ozean hinaus, und er betrachtete sie. Der Oberkellner kam, und Maddox sagte: »Ich bin mit der Dame zusammen. Ein Tisch für zwei, bitte.« »Jetzt habe ich einen Tisch für Sie«, lächelte der Oberkellner. Sie folgte ihm, und Maddox folgte ihr. Jeder Mann, an dem sie vorbeikamen, hob den Kopf. Als der Oberkellner ihr einen Stuhl anbieten wollte, hob Maddox die Hand. »Lassen Sie«, und langte nach dem Stuhl gegenüber. »Nehmen Sie hier Platz, Mrs. Bergman. Von hier -339
können Sie bis zum Diamond Head blicken.« »Sie kennen sich in Honolulu also aus, Sir«, sagte der Oberkellner. »Es geht«, sagte Maddox, und als sie saßen: »Und, wie ist die Aussicht?« »Prachtvoll«, antwortete sie. »Ich danke Ihnen, Captain.« »Captain bin ich nur, wenn ich arbeite«, sagte er. »Und jetzt arbeite ich nicht. Men Name ist Curtis. Curt.« Er schob ein Glas Wasser zur Seite. »Also gut, Curt«, stimmte sie zu. »Ich heiße Lenore.« »Da war ich Ihnen kilometerweit voraus«, sagte Maddox. »Ich habe Ihren Gatten gehört.« Sie schwiegen. Lenore schlug die Speisekarte auf. »Wenn Sie etwas möchten und es nicht finden, sagen Sie es mir«, bat Maddox. »Klingt, als ob ich propagieren wollte. Ich lasse mich auch nicht gerne drängen.« Lenore ließ die Speisekarte sinken und lächelte. Um ihren Hals hatte sie ein Tuch geschlungen; die beiden Enden bewegten sich leicht im Wind. Maddox hätte sie gerne in einen Käfig getan. »Kilometerweit voraus. Propagieren«, sagte Lenore. »Ich habe noch nie jemanden so reden gehört wie Sie.« »Sie und ich, wir leben auf verschiedenen Straßenseiten«, meinte Maddox, und Lenore lächelte. »Auch so eine Redewendung, nicht wahr?« Lächelnd nickte sie, dann schwiegen sie wieder. »Also gut, was möchten Sie gerne essen?« »Einen Salat? Einen Fisch- und Muschelsalat?« »Klingt gut«, lobte Maddox. »Ich schließe mich an.« Er winkte einen Kellner heran und bestellte die Salate und Kaffee. Der Kellner kam zu bald zurück. Sie waren zu bald mit dem Essen fertig. »Noch Kaffee?« schlug Maddox vor, aber Lenore schüttelte den Kopf. Jetzt wußte Maddox, daß die Fahrt zu Ende war, obwohl sie noch gar nicht begonnen hatte. Lenore warf den Kopf zurück und schloß die Augen. Er sah -340
den weißen Bogen ihres Halses oberhalb des Tuchs. Lächelnd schlug Lenore die Augen auf. Maddox hätte am liebsten den ganzen Saal räumen lassen. »Ich möchte mich dehnen und strecken wie eine Katze in der Sonne.« »Tun Sie's doch«, ermunterte er sie. »Tun Sie, was Sie möchten.« »Und Sie, Captain... Curt, tun Sie immer, wozu Sie gerade Lust haben?« »Es fällt mir nicht leicht, Befehle entgegenzunehmen«, antwortete Maddox. »Das kommt wohl vom Alleinsein. Da wird es zur Gewohnheit, einfach zu tun, was man möchte. Es hat nie jemanden gegeben, der mir Befehle erteilt hätte.« Lenore langte nach ihrem Kaffee, betrachtete die Tasse. »Sind Sie... allein?« »Ich bin der einzige Maddox auf der Insel«, antwortete er. Sie hob die Tasse an und errichtete eine Mauer zwischen ihnen. »Sie führen wohl ein einsames Leben?« »Man lebt mit dem, was man hat«, versetzte Maddox. Er hatte ihr schon zu viel gesagt. »Sie wollten sich strecken.« »Keine Lust mehr«, sagte sie und setzte die Tasse ab, ohne getrunken zu haben. Maddox wußte, daß sie schon weg war, noch bevor sie sich entschuldigt hatte: »Vielleicht braucht mich mein Mann.« Maddox war vor ihr auf den Beinen. »Vielen, vielen Dank«, verabschiedete sie sich. Das Grün ihrer Augen war jetzt anders. »Wann besucht Ihr Mann seine Mandanten?« fragte Maddox. »Er meinte, wir würden gegen fünfzehn Uhr losfahren.« »Sie werden ein Taxi brauchen, um nach Pearl zu kommen. Und ein zweites, das Sie wieder zurückbringt. Manchmal lassen sie Sie auch warten. Ich werde Sie fahren.« »Aber das können wir doch nicht von Ihnen...« »Das haben Sie auch nicht«, fiel Maddox ihr ins Wort. »Um -341
drei Uhr also.« Er blieb stehen, bis sie gegangen war. Und als er sich wieder setzte, um auf die Rechnung zu warten, nahm er ihren Stuhl. Er legte seine Hand auf den Tisch, seine Finger auf ihre Gabel. Noch in seinem Wagen sah er sie, wie sie ihm gegenübersaß, erinnerte sich an das helle Rosa ihrer Fingernägel, wenn sie ihr Glas erhoben hatte, und sah wieder, wie sie den Kopf zurückgeworfen hatte. Als Maddox vor seinem Haus anhielt und aus dem Wagen stieg, erinnerte er sich, daß sie immer plötzlich neben ihm gestanden hatte, einmal auf dem Schiff, das andere Mal vor dem Speisesaal. »Woodoo«, sagte er laut. Maddox stieg noch einmal in die Wanne und rasierte sich ein zweites Mal und zog sich um. Lange vor drei war er wieder in der Halle des Western Sky. Er trug einen Anzug aus beigem Gabardine und ein frisches weißes Hemd. Die Halfter saß so weit hinten auf der Hüfte, daß die Jacke sie verdeckte. Maddox ließ die Uhr über der Rezeption nicht aus den Augen. Ein paar Minuten vor drei ging er ans Telefon. Als Le nore sich meldete, lehnte er sich an die Wand. »Hallo?« sagte er. »Sind Sie fertig?« »Ach, Sie sind es. Ja, ich denke schon. Augenblick bitte.« Maddox wartete. »Er kommt gleich herunter.« »Und Sie?« »Mein Mann muß zu seinen Mandanten.« »Pearl ist ziemlich weit«, gab er zu bedenken. »Eine Chance für Sie, die Insel kennenzulernen.« »Wir sind eben erst angekommen«, meinte Lenore. »Dazu habe ich noch reichlich Zeit.« »Stimmt«, gab Maddox zu. »Ich warte bei den Aufzügen.« Er legte auf. Er hätte den alten Gabardineanzug nicht ausgraben sollen. Der Anzug hatte ihm noch nie gefallen. Er beschloß, ihn einem der jungen Kollegen im Präsidium zu schenken. Es war ja -342
ihrerseits nur Höflichkeit gewesen, daß sie mit ihm gegessen hatte. Wie war er überhaupt auf die idiotische Idee gekommen? Eine der beiden Aufzugtüren öffnete sich; zwei Paare traten heraus, und hinter ihnen sah Maddox Lenore mit Bergman. Wieder blieb ihm die Luft weg. Auch sie hatte sich umgezogen und sich ein helles Tuch um den Kopf gebunden. Wenigstens hatte sie Bergman herunterbegleitet. Er konnte ihr nicht böse sein. Er konnte nicht aufhören, sie anzusehen. »Sie haben doch nichts dagegen, sich eine Weile um Lenore zu kümmern, nicht wahr, Captain?« fragte Bergman. »Man sollte niemanden zwingen, diese herrliche Insel nur hinter Fenstern zu erleben.« Sie nahmen Lenore in ihre Mitte. Draußen ging Bergman voraus. »Du sitzt vorn beim Captain, Lenore.« Sie schwieg. Maddox öffnete ihr die Tür. »Danke«, sagte sie wie zu einem Taxifahrer. Maddox mußte halten, die Ampel hatte Rot, als es zu regnen begann. »Vielleicht haben wir Glück«, sagte er und deutete nach links. »Schauen Sie, da oben, in den Bergen.« Ein fast durchsichtiger blaßfarbiger Regenbogen spannte sich über die Gipfel. »Sieh doch, Lenore«, rief Bergman aus. »Ich habe noch nie einen so schönen gesehen.« »Sehr hübsch«, war Lenores Kommentar. Maddox streifte sie mit einem Seitenblick. Starr wie in einer Kirchenbank saß sie neben ihm, die Handtasche im Schoß. Am Stützpunkt hielt Maddox neben dem Posten der Küstenwache. »Das ist Mr. Walter Bergman, der Anwalt der Leute beim Admiral«, erläuterte Maddox. »Jawohl, Sir. Der Admiral erwartet Sie, Sir. Die Herrschaften befinden sich in seinem Haus. Brauchen Sie einen Führer, Sir?« Maddox schüttelte den Kopf und legte den Gang ein. Sie hatte sich nicht ein einziges Mal bewegt. Ein Filipino wartete am Fuß der breiten Treppe. Er trat zum Wagen, als Maddox anhielt. Lenore drehte den Kopf zur Seite, als Bergman ausstieg. »Hast du deine Schokolade?« Maddox wußte nun, woran Bergman litt. Der Anwalt war Diabetiker. -343
»Laß sehen«, sagte Bergman und begann in seinen Jackentaschen zu suchen. Lenore griff in ihre Handtasche und gab ihm ein flaches Päckchen, das in Bergmans großer Hand verschwand. »Hätte schwören können, daß ich sie eingesteckt habe.« »Verzeihen Sie«, sagte Maddox und beugte sich über Lenore. Sie hätten Fremde in einem Kino sein können. »Wie lange werden Sie brauchen, Sir?« »Maximal eine Stunde«, sagte Bergman, und zu dem Filipino: »Gehen Sie voran, junger Freund.« Der Filipino brachte Bergman in den Salon des Admirals. »Admiral Langdon«, sagte der Offizier; er trug eine weiße Uniform. Seinem Besucher streckte er die Hand nicht entgegen, aber Bergman tat es. »Ich bin noch nie einem Admiral begegnet«, sagte der Anwalt. Er sah die Frau, die allein nahe den Fenstern saß, und die zwei jungen Männer in Zivil, links und rechts von ihr, aber keiner dicht neben ihr. Die Frau hatte einen Thron aus ihrem Stuhl gemacht. »Dieser Prozeß ist eine Schande«, begann der Admiral das Gespräch. »Er hat ja noch gar nicht angefangen«, hielt Bergman ihm entgegen. »Es sollte überhaupt keinen Prozeß geben«, knurrte der Admiral. »Amerikaner in einen Gerichtssaal zu zerren, nur weil ein Eingeborener seine verdiente Strafe bekommen hat, das ist das eigentliche Verbrechen.« »Wir stehen auf dem Boden des Gesetzes, Herr Admiral«, sagte Bergman. »Das unterscheidet uns von den Ureinwohnern.« »Es ist ein weiter Weg von den Vereinigten Staaten bis hierher«, sagte der Admiral. »Und die Distanz läßt sich nicht nur in Kilometern messen. Wir leben unter ihnen. Ihnen, Mr. Bergman, geht ein großer Ruf voraus. Ich erwarte, daß Sie auch hier diesem Ruf gerecht werden. Ich erwarte, daß diese drei in allen Punkten freigesprochen werden.« »Ich betrete jeden Gerichtssaal in dieser Hoffnung«, wich -344
Bergman aus. »Ich habe in meinem ganzen Leben nie einen Fall mit der Absicht verhandelt, ihn zu verlieren. Aber zwischen uns und der Freiheit stehen die Geschworenen.« »Um die müssen Sie sich eben kümmern!« polterte der Admiral. Es wollte Bergman nicht in den Kopf, warum der Admiral schreien mußte. »Vielleicht sollte ich mich jetzt an die Arbeit machen«, sagte Bergman. Von ihm gefolgt, durchquerte der Admiral den Raum, blieb neben Doris Ashley stehen und machte sie mit dem Staranwalt bekannt. Bergman erwartete nicht, daß sie von ihrem Thron herabsteigen würde, und sie tat es auch nicht. Er streckte ihr die Hand entgegen und verneigte sich. »Das ist Lieutenant Gerald Murdoch«, sagte der Admiral, »und das ist Seemann Zweiter Klasse Duane York.« Bergman schüttelte beiden Männern die Hände und wandte sich um. »Ich wäre Ihnen dankbar, Herr Admiral, wenn Sie mich mit meinen Mandanten jetzt alleine ließen«, sagte Bergman. Schon vom ersten Augenblick an war dieser Walter Bergman ihr unsympathisch gewesen, und nun hatte er Doris Ashley den Beweis für die Richtigkeit ihrer Einschätzung geliefert. »Das ist das Haus des Admirals«, wies sie Bergman zurecht. »Er hat es uns zur Verfügung gestellt. Er ist mein guter Freund und mein Beschützer. Ich wäre froh, wenn er bei mir bliebe.« »Meistens ist nichts dagegen einzuwenden«, antwortete Bergman. »Aber ich bin heute nur hier, um sie alle kennenzulernen. Ich weiß aus Erfahrung, daß meine Mandanten und ich besser miteinander auskommen, wenn wir zunächst allein sind.« »Lassen Sie ihn nach seiner Art vorgehen, Doris«, empfahl der Admiral. »Ich bin in meinem Büro.« Er sah Bergman nicht an, der ihm folgte, um die Tür hinter ihm zu schließen. Der Anwalt drehte sich um und kam auf seine Mandanten zu. »Ich kann von Ihnen nicht erwarten, daß Sie sich entspannen, -345
aber es wäre mir lieb, wenn Sie es versuchen wollten«, begann Bergman. »Versuchen Sie, sich klarzumachen, daß ich nicht Ihr Feind bin. Bis vor wenigen Minuten waren Sie zu dritt. Jetzt sind wir vier. Ich gehöre dazu. Ich gehöre dazu, seitdem man mich engagiert hat. Ich habe alles gelesen, was in den Zeitungen über den Fall zu lesen war. Auf der Überfahrt habe ich Nachrichten gehört. Ich habe sogar täglich die Schiffszeitung gelesen. Ich bin also nicht unvorbereitet. Doch wir kennen einander nicht. Ich möchte gerne hören, was Sie zu sagen haben. Vielleicht fangen Sie an, Lieutenant.« »Gerald hat in Notwehr gehandelt«, redete Doris dazwischen. Bergman sah Gerald an, als ob er sie nicht gehört hätte. »Es kam zu einem Kampf«, sagte Gerald. »Wir kämpften, und die Waffe ging los.« »Sie hatten eine Selbstladepistole, Kaliber45, und dieser Mann, der Tote, kämpfte mit Ihnen?» »Er hat Gerald angegriffen«, warf Doris Ashley ein. Bergman wartete, bis Gerald ihm antwortete: »Er hat mich angesprungen.« »Wie weit weg waren Sie denn von ihm?« fragte Bergman. »Das kann ich Ihnen nicht sagen, Sir«, antwortete Gerald. »Es ging alles so schnell. Er sprang halt von seinem Stuhl auf.« »Was meinen Sie, wie weit weg von Ihnen er gesessen war?« fragte Bergman. »Wie weit war Ihr Gefangener von Ihnen entfernt, als er auf Sie, der Sie die Waffe hatten, zusprang?« »Etwa eineinhalb Meter, ungefähr fünf Fuß«, antwortete Gerald. Bergman sah Duane an. »Entspricht das auch Ihrer Erinnerung, junger Mann?« »Ja, ja«, bestätigte Duane. »Er sprang plötzlich vom Stuhl auf und auf den Lieutenant zu.« »Vom Stuhl«, wiederholte Bergman. Er nahm einen Stuhl und stellte ihn vor Gerald nieder. Dann maß er eine Entfernung von fünf Fuß und schob den Stuhl weiter, bis ein Stuhlbein seinen -346
Schuh berührte. »Hier bin ich«, sagte er und ließ sich auf dem Stuhl nieder. »Ich bin Ihr Gefangener. Warum sollte ich einen Mann mit einer Pistole anspringen?« »Niemand kann diese Frage beantworten«, warf Doris Ashley ein. »Das wird den Staatsanwalt nicht hindern, sie zu stellen«, entgegnete Bergman. »Es könnte sogar sein, daß er sie zwölfmal stellt, einmal für jeden Geschworenen. Also, Lieutenant, warum hat Ihr Gefangener Sie angesprungen?« »Weil er schuldig war«, meldete sich Duane zu Wort. »Er wurde aber nicht für schuldig befunden«, berichtigte Bergman. »Die Geschworenen konnten zu keiner Einigung gelangen.« »Er hat uns gesagt, daß er schuldig war!« rief Duane. Der Anwalt sollte ihnen doch helfen, oder? »Hat er gestanden, Lieutenant?« »Stimmt genau. Er hat gestanden!« sagte Duane. »Hatten Sie die Absicht, ihn zu töten, nachdem er gestanden hatte, Lieutenant?« »Gerald ist kein Mörder«, sagte Doris Ashley. »Viele Menschen töten und sind doch keine Mörder, Madame«, gab Bergman zurück. »Auch sie sind Opfer, Opfer einer momentanen Gefühlsregung, die sie nicht beherrschen können.« Bergman legte eine Hand in die andere. »Hatten Sie die Absicht, ihn zu töten?« fragte er Gerald. »Nein, Sir, ich hatte nie die Absicht, ihn oder sonst jemanden zu töten«, erwiderte Gerald. »Sie sagen, er hat Sie angesprungen«, sagte Bergman. »Also muß er gedacht haben, daß Sie ihn töten wollten.« Bergman hielt den Blick auf Gerald gerichtet. »Hatte bei Ihrem Kampf auch er die Pistole in der Hand?« »Wir hatten sie beide«, antwortete Gerald. »Er sprang vom Stuhl hoch«, wiederholte Bergman. »Sie hatten die Pistole. Zielen Sie auf mich, Lieutenant!« -347
»Gerald weiß nicht mehr, ob er die Waffe auf den Mann gerichtet hat«, sagte Doris Ashley. Bergman drehte sich auf seinem Stuhl herum und sah sie an. »Madame, ich bin Ihr Anwalt. Ich wurde beauftragt, Sie zu verteidigen. Darum bin ich hier. Ich bin der einzige Anwalt in diesem Raum, und daher auch der einzige, der etwas von Gesetzen, Gerichten und Prozessen, und ganz besonders etwas von Mordprozessen versteht. Ich bereite Ihre Verteidigung vor. Ich stelle Fragen. Wenn ich Ihnen eine Frage stelle, erwarte ich eine Antwort von Ihnen.« Er blickte auf Duane. »Wenn ich ihm eine Frage stelle, erwarte ich eine Antwort vom ihm. Und wenn ich dem Lieutenant eine Frage stelle, erwarte ich eine Antwort von ihm. Von jetzt an machen wir alles auf meine Art, und bei meiner Art bleiben wir, solange ich Ihr Verteidiger bin. Sie sind eines Kapitalverbrechens angeklagt. Mord ist ein Kapitalverbrechen. Auf Mord steht die Todesstrafe. Sie befinden sich in einer sehr ernsten Lage. Sie brauchen Hilfe, die beste Hilfe, die Sie bekommen können. Dem Gesetz nach haben Sie Anspruch auf einen Rechtsbeistand - einen Rechtsbeistand nach Ihrer Wahl. Wenn das, was Sie eben von mir gehört haben, nicht Ihre Zustimmung findet, sollten Sie sich nach einem anderen Anwalt umsehen. Da draußen wartet ein Mann mit einem Wagen, der mich jederzeit ins Hotel zurückfährt.« Doris Ashley schwieg, und Bergman drehte sich wieder herum. »Haben Sie auf ihn gezielt, Lieutenant?« »Ich weiß nicht mehr, ob ich auf ihn gezielt habe oder nicht.« »Sie hielten die Waffe, eine Selbstladepistole Kaliber 45«, drang Bergman in ihn. »Er hat Sie gesehen. Er hat Sie und Ihren Kameraden gesehen. Zwei gegen einen, und der eine hielt eine Pistole.« Bergman stand auf und sprang, die Hände nach vorn gestreckt, auf den Lieutenant zu. Instinktiv riß Gerald die Arme hoch; Bergman packte mit beiden Händen seine Rechte und hielt sie fest. »Wir kämpfen«, keuchte Bergman. »Kämpfen Sie, Lieutenant!« Er hatte Geralds Hand tief nach unten gedrückt. -348
Plötzlich gab er ihn frei und trat zurück. Sein Gesicht war aschgrau, und er atmete schwer. Er ließ sich auf den Stuhl fallen, und das hohle Rasseln seines Atems erfüllte den Raum. Nach einer Weile richtete er sich wieder auf und sagte zu Gerald, als ob sie allein gewesen wären: »Ich bin sechsundsiebzig Jahre alt, Lieutenant, und Diabetiker. Ich wiege nicht mehr als eine Handvoll Heu, aber Ihre Hand habe ich heruntergedrückt. Hätten Sie eine Pistole in der Hand gehabt und hätten Sie abgedrückt, das Projektil hätten Sie im Fußboden des Admirals suchen müssen.« »Gerald hat nach bestem Wissen und Gewissen geantwortet«, entrüstete sich Doris Ashley. »Er ist ein ehrenwerter Mann, ein Offizier der United States Navy.« »Warum sind Sie gelaufen, Lieutenant?« Gerald verschränkte die Hände hinter dem Rücken. »Gelaufen?« »Ein Polizist hat Sie wegen überhöhter Geschwindigkeit angehalten. Mrs. Ashley saß am Steuer, und der Tote lag zwischen Ihnen und Seemann York auf dem Boden. Sie sind davongelaufen, Lieutenant. Warum sind Sie davongelaufen?« »Ich dachte, man würde mir nicht glauben.« »Sieht so aus, als hätten wir jetzt den Punkt erreicht, bei dem ich eigentlich beginnen wollte«, sagte Bergman. »Sie haben richtig gedacht, Lieutenant. Ich glaube Ihnen auch nicht.« Er fixierte Doris Ashley. »Ich glaube keinem von Ihnen. Seit der Admiral diesen Raum verlassen hat, habe ich kein wahres Wort mehr von Ihnen gehört. Ich habe Ihnen gesagt, daß ich über den Fall gelesen habe. Joe Liliuohe wurde mit einem einzigen Schuß aus einer Pistole Kaliber 45 getötet. Ich habe die Waffe ein Dutzend Mal erwähnt, aus gutem Grund. Ich habe mehr als fünfzig Jahre in Gerichtssälen zugebracht, und in den meisten Fällen war eine Pistole die Tatwaffe. Eine 45er hat von allen das größte Kaliber. Das Projektil aus Ihrer Pistole traf Joe Liliuohe in -349
die linke Gesichtshälfte. Es durchschlug das Kinn und den Gaumen, zerriß den Kehlkopf und trat am Hals wieder aus. Das Projektil kam nicht aus einer Pistole, die im spitzen Winkel abgefeuert wurde, von oben oder von unten. Es kam aus einer Pistole, die waagrecht gehalten wurde.« Bergman hob seine Hand, machte aus Daumen und Zeigefinger eine Pistole und zielte damit auf Gerald. »Sie haben mich von Anfang an belogen, Lieutenant.« Bergman ließ den Arm sinken und legte die Hände ineinander. »Also müssen wir wieder von vorn anfangen. Ich hoffe, daß Sie diesmal bei der Wahrheit bleiben. Ich kann Sie besser verteidigen, wenn ich die Wahrheit kenne. Wenn Sie weiter lügen, mich und das Gericht belügen, werden Sie für Ihre Lügen bezahlen müssen. Sie alle.« Doris Ashley sprang auf. »Sie wollen uns Angst machen! Seitdem Sie hier sind, tun Sie nichts anderes, als uns Angst machen! Sie können wieder zu Ihrem Mann mit dem Wagen gehen!« »Warten Sie«, sagte Gerald. Doris Ashley hörte ihn nicht. Bergman schickte sich an, aufzustehen. »Ich habe meinen eigenen Verteidiger«, fuhr sie fort. »Er ist ein Freund von mir.« Sie hätte nie auf Harve y Koster hören sollen. Es machte ihr nichts aus, wenn Harvey Koster nie wieder mit ihr reden würde. Sie hatte ihn nie gemocht. Auch Preston hatte ihn nie gemocht. »Er wird uns helfen! Er ist kein Rüpel.« Bergman hatte sich erhoben. »Nein!« entgegnete Gerald. Rasch trat er an Bergman heran und würde ihn festgehalten haben, wenn der Anwalt weitergegangen wäre. »Er hat recht«, sagte Gerald, und zu Bergman: »Sie haben recht! Ich habe gelogen. Ich habe ihn erschossen!« »Er hatte nichts anderes verdient«, ereiferte sich Duane. »Er war der Lügner, dieser braune Dreckskerl!« »Halten Sie den Mund!« schnauzte Gerald ihn an. »Halten Sie endlich den Mund!« Er wirbelte herum und kam auf Doris Ashley zu. »Diesem Mann können wir nichts vormachen! Wir haben es nicht mit Reportern oder mit der Polizei zu tun! Wenn er mir -350
nicht geglaubt hat, wird es auch der Staatsanwalt nicht. Und die Geschworenen schon gar nicht.« Er starrte Doris an. Sie sollte es nur wagen, noch mal den Mund aufzumachen. Er hatte es satt, nur immer auf sie zu hören. Es wurde still im Raum. Gerald kehrte zu Bergman zurück. »Ich nehme an, Sie würden sich gern wieder setzen wollen.« »Hätte nichts dagegen, Lieutenant. Ich bin nämlich ein wenig außer Atem.« Bergman ging zu seinem Stuhl. Gerald stellte sich neben ihn und begann zu reden. Als Bergman dem Filipino ins Haus des Admirals folgte, sagte Maddox: »Wird wohl eine Weile dauern. Haben Sie Lust, sich etwas auf der Insel umzuschauen?« »Es könnte sein, daß mein Mann mich braucht«, erwiderte sie. Maddox beobachtete Lenore, die Hand schon am Türgriff, als versuchte sie zu fliehen. Er hatte nicht damit gerechnet, daß sie Angst haben könnte. »Wir werden uns nicht weit von hier entfernen«, versprach Maddox, und waren doch Millionen Kilometer voneinander entfernt. »Ich möchte lieber warten«, sagte Lenore. »Meinetwegen brauchen Sie nicht zu bleiben.« Sie öffnete die Tür. »Augenblick«, sagte Maddox. Alles lief schief. Er würde verlieren. »Lenore.« Sie hob nicht einmal den Kopf. »Ich gehe nirgendwo hin«, sagte er. »Ich habe Ihren Mann hergebracht. Es war meine Idee.« Sie saß da wie eine Gefangene. »Ich dachte, Sie würden etwas von unserer Gegend sehen wollen. Es ist schön hier am Meer.« Er hätte sie gern berührt. »Ich würde nie zulassen, daß Sie in Schwierigkeiten kommen«, sagte er. Dann erst sah sie ihn an. »Habe ich...« begann sie, unterbrach sich und fuhr fort: »Ich möchte nicht lange fortbleiben.« »Sie können mir vertrauen.« Es war wie ein feierliches Gelöbnis. Als Maddox den Wagen starten wollte, fragte sie: -351
»Könnten wir nicht zu Fuß...?« Maddox wären auch Stelzen recht gewesen. Er war schon aus dem Wagen und auf ihrer Seite, als sie ihren Fuß auf das Trittbrett setzte. Er wollte ihr die Hand reichen, ließ es dann aber lieber sein. Er hielt auch Distanz, als sie den Übungsplatz überquerten. Sie gingen zur Anlegestelle hinunter, zu der Gerald Hester ganz am Anfang geführt hatte. »Der Ozean macht mir etwas angst«, meinte Lenore. »Bisher konnte ich immer das andere Ufer sehen, bei Flüssen, bei Seen.« Die Anlegestelle war ve rlassen. Am Geländer blieben sie stehen. »Hier sieht es aber nicht sonderlich bedrohlich aus«, scherzte Maddox. »Es macht mir angst.« Maddox fragte sich, ob Lenore wußte, daß sie nicht über den Ozean sprachen. »Hier sind Sie sicher.« Er bemühte sich, sie zu überzeugen. Er wollte sie nicht verlieren. »Ich fühle mich nicht sicher«, entgegnete sie. »Ich war nie weit weg von zu Hause.« Sie sprach auch nicht von zu Hause. »Einer aus den Staaten hat mir erzählt, die City von Honolulu wäre genau wie jede andere auf dem Festland«, sagte Maddox, aber er hörte nur die kleinen kurzen Wellen, die gegen die Mole klatschten. Sie wollte nicht einmal mit ihm reden. »Wir könnten uns ein paar Schiffe anschauen«, schlug Maddox vor. Sie warf einen Blick über die Schulter. Fürchtete Lenore, Bergman könnte sie beobachten? »Lieber nicht«, winkte sie ab. »Ich meine...« setzte sie an und unterbrach sich. »Ist es hier immer so windig?« Er knöpfte seine Jacke auf. »Hängen Sie sich das um die Schultern.« »Nein, nein.« Sie hob die Hand. »Danke, Captain.« Kein Mensch hatte Maddox jemals so verletzt. Er rang mühsam nach Luft, als ob er einen schweren Schlag erhalten hätte. »Captain«, wiederholte er leise. »Was ist mit Curt?« Zum ersten Mal in seinem Leben bettelte er. »Ich habe es wohl vergessen«, war die Antwort. -352
Er wußte, daß sie log. Er wußte, daß er sie verloren hatte. Maddox schämte sich plötzlich seines weinerlichen Getues. »Dann haben Sie wohl auch unseren Lunch vergessen«, brach es aus ihm heraus. »Ich habe die letzten zwanzig Jahre immer wieder Menschen kennengelernt, die ihr Gedächtnis verlieren. Ich schnappe sie, ertappe sie mit der Sore, aber sie wissen von nichts.« Endlich blickte sie ihn an. Endlich konnte er ihre Augen sehen. Er würde lange dazu brauchen, sie wieder zu vergessen. »Doch, ich erinnere mich an unser Mittagessen«, sagte Lenore. »Ich habe meinem Mann erzählt, daß ich mit Captain Maddox zu Mittag gegessen habe. Sie sind Captain Maddox, ein Mann, der mir heute zum ersten Mal begegnet ist. Sie sind mir fremd. Ich kenne Sie nicht.« »Sie kennen mich«, widersprach Maddox. »Sie kennen mich, und ich kenne Sie. Wir haben uns beim Lunch kennengelernt; saßen zusammen. Beisammen. Also vergessen wir das Gerede von unserer Fremdheit. Aber vielleicht wollen Sie mir verraten, warum Sie sich, seitdem wir das Hotel verlassen haben, aufführen, als ob ich ein Aussätziger wäre. Sie haben versucht, sich oben zu verkriechen. Sie wären immer noch im Hotel, wenn er sie nicht geschubst hätte. Sie waren bereit, ihn allein um die halbe Insel fahren zu lassen, aber ich mußte Sie praktisch aus dem Wagen zerren, weil Sie ihn nicht allein lassen konnten. Seit Sie aus dem Fahrstuhl gestiegen sind, haben Sie mich wie einen feindlichen Agenten behandelt.« »Sie haben kein Recht...« sagte sie und brach ab. »Niemand hat Rechte«, sagte Maddox. »Ich hatte nie irgendwelche Rechte. Wenn ich auf meine Rechte gewartet hätte, würde ich heute noch auf der Straße schlafen.« Maddox sah ihre Lippen zucken; wie ein Kind, vom bösen Buben eingeschüchtert, dachte er. Er ha tte alles falsch gemacht, war wieder, was er immer gewesen war: allein. »Vergessen Sie das«, murmelte er. »Ich habe nur zuviel geredet. Eine meiner -353
schlechten Eigenschaften.« »Ich möchte jetzt wieder zurück«, flüsterte sie. »Ich dachte mir, daß Sie das sagen würden«, sagte Maddox und gab auf. Er war geschlagen. »Es ist nicht Ihre Schuld. Ich wollte nur, daß es ein schöner Nachmittag für Sie wird. Statt dessen habe ich Mist gebaut. Entschuldigung.« »Sie haben gemeint«, sagte Lenore Bergman nach einer Weile, »Sie würden mir keinen Vorwurf machen, aber ich fühle mich schuldig. Und Sie hatten recht«, fuhr sie fort, »und scheinen mich durchschaut zu haben. Ich hatte tatsächlich Angst zu kommen. Das Hotel bot Sicherheit. Ich habe Angst. Sehen Sie, ich bin nicht... weltgewandt. Ich habe noch nie für mich gelebt. Mein Leben lang wurde ich immer behütet.« »Ich will Ihnen doch nicht weh tun, Lenore.« Sie lächelte, als ob sie nicht zeigen wollte, daß ihr etwas wehtat. »Das weiß ich... Wann? Auf dem Schiff? Es scheint so lange her zu sein... Ich kann mich nicht ändern«, sagte Lenore. Aber Maddox glaubte ihr nicht, konnte ihr nicht glauben. Lenore kehrte dem Ozean, kehrte ihrer beider Leben den Rücken. Als sie ihn ansah, hätte Maddox sie am liebsten gepackt und wäre mit ihr weggefahren. Irgendwohin. »Ich bin eine verheiratete Frau.« »Sie haben kein Unrecht getan«, beruhigte er sie. »Sie haben mit mir zu Mittag gegessen. Und jetzt bin ich hier mit Ihnen zusammen.« Sie hatte den Mut, ihm ins Gesicht zu sehen. »Ich habe einen Gatten. Sie sind allein.« »Und sind Sie... Sie sind nicht auch allein?« entgegnete er vorsichtig und erwartete, daß Lenore ihn stehenlassen würde, aber sie blickte in die Ferne und war wieder weit, weit weg von ihm. »Wir haben einander gerettet«, sagte sie. »Wir haben einander das Leben gerettet.« Sie wandte sich vom Geländer ab, und Maddox wußte, daß sie auf dem Weg zurück zu seinem Wagen waren. »Als ich jung war, hielt ich mich für den -354
glücklichsten Menschen auf der Welt.« Sie erzählte Maddox, daß sie ein Einzelkind war und daß ihr Vater Walter Bergmans Partner gewesen war. Sie waren Nachbarn. Im Sommer teilten sie sich ein Landhaus und ein Boot auf dem Chippewa See in Wisconsin. Freitag abends kamen Bergman und ihr Vater zum Wochenende hinaus. »Ich hatte zwei Elternpaare«, erzählte Lenore. »Alle vier kamen zu meiner Abschlußfeier.« Lenore war fünfundzwanzig, als ihre Eltern bei einem Autounfall ums Leben kamen. Sie kehrte nie mehr nach Hause zurück. Bergman und seine Frau nahmen sie zu sich, kümmerten sich um alles und verkauften Wohnung und Einrichtung. Einen Monat später starb Bergmans Frau. »Walter wollte mit ihr sterben. Er verließ lange nicht das Haus. Als er endlich wieder ins Büro ging, rief er tagsüber zu Hause an, so als wollte er sicher sein, daß ich noch da war. Er hatte immer mehr Klienten, als er verkraften konnte, und mit der Zeit wurde er zu dem, was er heute ist. Für mich wurde es Zeit, zu gehen, mir ein eigenes Zuhause zu suchen. Die Leute glaubten, ich bliebe nur, um für Walter zu sorgen, aber das war nur die halbe Wahrheit. Ich hatte Angst, fortzugehen. Walter verstand das.« Eines Tages hatte Bergman sie gebeten, ihn ins Büro zu begleiten. Er zeigte Lenore sein Testament, in dem er ihr alles vermachte. Er las laut vor: »Meiner Ehefrau, Leno re...« Auf der Mole blieb sie neben einer Bank stehen und sah Maddox wieder ins Gesicht. »Ohne ihn wäre ich verloren gewesen«, sagte sie. »Ich war nicht bereit.« Und dann, fast flüsternd: »Ich bin immer noch nicht bereit.« Und das hieß, Maddox sollte ihr gemeinsames Mittagessen vergessen. Nie hatte sich Maddox eines anderen Menschen angenommen, nie einem Hund, der sich verlaufen hatte, seine Tür geöffnet, nie sein Leben mit einem anderen geteilt, auch mit einem Tier nicht, aber er war jetzt bereit, Lenore ein Leben lang zu beschützen. Er hatte recht gehabt. Sie war ganz allein. Er mußte sie spüren. Kein -355
Revolver hätte ihn daran hindern können. Er streckte seine Hand nach ihrem bloßen Arm aus, fühlte die seidige Haut, fühlte sie mit seinem ganzen Körper. Er war wie betäubt von der Wirkung, die diese Berührung auf ihn hatte. Er hörte sie schwer atmen, aber Lenore wich nicht zurück. Sie hielt den Kopf gesenkt, und er spürte, wie sie zitterte, und dann war es vorbei. »Würden Sie das Tuch abnehmen?« bat er. Er hatte sie freigegeben, sie und sich selbst, und sie zeigte ihre Dankbarkeit. Sie hob ihre Hand, um das Tuch aufzuknoten und über das Haar gleiten zu lassen. Maddox lächelte. »Ohne das Tuch sehen Sie viel jünger aus.« Sie lächelte zaghaft, ein wenig nervös. »Curt...« sagte sie und verstummte, flüchtete hinter die Bank, blickte zum Paradeplatz hinüber. »Dort ist Walter!« Lenore schlang sich das Tuch um den Hals, knotete es und verließ die Mole. Sie winkte, war aber viel zu weit weg vom Wagen, als daß Bergman sie hätte sehen können. Schweigend überquerten sie den Paradeplatz. Maddox hielt reichlich Distanz. Sie winkte wieder. »Walter!« Bergman lehnte am Kotflügel. »Hast du lange gewartet?« fragte Lenore. »Nicht so lange, daß es mir aufgefallen wäre«, antwortete Bergman. »Haben Sie ihr die Sehenswürdigkeiten gezeigt, Captain?« »Wir waren auf einer Mole«, sagte Maddox. »Setz dich nach vorn, Walter«, sagte Lenore; aber zu spät, Bergman war bereits durch die hintere Tür. »Tatsache ist, ich sitze lieber im Fond«, sagte Bergman. »Man hat mehr Platz, um sich auszustrecken.« So waren sie also wieder beisammen. Maddox konnte die Rundung ihres Beines sehen, ihren Schenkel und ihren bloßen Arm, die Hände über ihrer Tasche sehen; kannte auch schon ihr Parfüm, konnte es unter Tausenden wiedererkennen. -356
»Sie sind sehr zuvorkommend, Captain«, sagte Bergman. »Wir wissen das zu schätzen. Der erste Tag ist immer der schwerste, ob es jetzt der Kindergarten ist oder ein neuer Fall. Sie haben uns von Anfang an den Weg geebnet, und ich kann mir nicht vorstellen, daß auch das zu IhrenPflichten gehört. Ich habe meine Erfahrungen mit Polizeibehörden. Captains sind keine Chauffeure, und darum ist das, was Sie getan haben, noch anerkennenswerter. Wir sind Ihnen zu großem Dank verpflichtet.« »Es war mir ein Vergnügen«, sagte Maddox. Während sie Pearl Harbor verließen, redete Bergman weiter, rühmte die Schönheiten der Insel und stellte Maddox Fragen. Er redete immer noch, als Maddox vor dem Western Sky hielt. Der Portier kam auf den Wagen zu, aber Maddox war schon ausgestiegen. Er wollte sie noch nicht verlieren. Noch nicht. »Ich habe meine Dankesrede bereits gehalten«, sagte Bergman, als er ausgestiegen war, »ich werde Sie daher nicht in Verlegenheit bringen und sie wiederholen.« »Sie haben mich vorhin gefragt, ob ich Mrs. Bergman die Schönheiten der Insel gezeigt hätte«, sagte Maddox. »Es wäre mir wirklich ein Vergnügen, Sie beide herumzufahren. Sie werden sicher vor dem Prozeß noch etwas Zeit haben.« »Hast du das gehört, Lenore? Wir werden Sie beim Wort nehmen, Captain«, strahlte Bergman. So war der Tag nun zu Ende. Maddox nahm seinen Hut ab. Lenore streckte ihm die Hand entgegen. »Danke für alles.« Wieder fühlte Maddox das Band, das sich über seine Brust spannte. Er hätte ihre Rechte mit beiden Händen drücken mögen. »Ich habe mich gefreut«, sagte er. Maddox fuhr ins Präsidium. Er fuhr langsam, sein Hut neben ihm, die rechte Hand auf dem Sitz, auf dem sie gesessen hatte. Noch duftete der Wagen nach ihrem Parfüm. Er spielte mit dem Gedanken, vor einem Drugstore anzuhalten -357
und an den Fläschchen zu schnüffeln, bis er ihres gefunden hatte. »He«, rief er laut, überrascht von seiner bizarren Regung. In seinem Büro las Maddox die Verhaftungsberichte des Tages. Dann ging er ins Zimmer der Kripobeamten hinüber, um noch einiges mit Al Keller zu bereden, bevor dieser Dienstschluß hatte. Wieder in seinem Büro, zog Maddox die Jalousien hoch und öffnete die Fenster hinter seinem Schreibtisch. Im Westen stand die Sonne tief, und die Fenster auf der anderen Straßenseite leuchteten in glühendem Rot. »Hübsch«, sagte Maddox. Allmählich kam die Nacht. Maddox ging zur Tür, um das Licht anzudrehen. Die Jalousien klapperten im Wind. Maddox schloß die Fenster. Er hatte Hunger. Doch die Aussicht, alleine zu essen, ließ ihn die Stirn in Falten legen. Wieso kannte er niemanden, der nicht verheiratet war? Auf der Heimfahrt würde er irgendwo halten. Er hatte genug von ständig Steaks und Schweinskoteletten. »Fisch und Muschelsalat«, sagte er laut, aber jetzt konnte er nicht mehr ins Hotel zurück. Er lächelte und zog das Telefon heran. Er wußte nicht einmal die Nummer. »Verbinden Sie mich mit dem Western Sky«, wies er den Beamten in der Telefonzentrale an. »Hallo.« Lenore Bergmans Stimme hätte er aus Tausenden herausgehört und lehnte sich, den Telefonapparat auf der Brust, in seinem Sessel zurück. »Hier ist Capt... Curt Maddox. Ich habe morgen keinen Dienst«, log er. »Wir könnten uns etwas ansehen.« »Morgen?« wiederholte Lenore. Maddox wußte, daß sie wieder Angst hatte. »Ich werde es meinem Mann sagen.« »Geben Sie ihn mir«, sagte Maddox. Er wollte nichts riskieren. »Hallo, Mr. Bergman. Ich habe Ihrer Frau gesagt, daß ich morgen dienstfrei habe. Wir könnten etwas unternehmen.« In der Woche darauf und früh am Tag trat Prinzessin Luahine vor ihr Haus. Sie hatte frische Kleider angezogen und trug Stiefel, -358
die ihr bis zu den Waden reichten. Jack Manakula sah, wie sie stehenblieb, sich umdrehte und sowohl die Fliegendrahttür als auch die Tür verschloß. Ansonsten kam sie morgens aus dem Haus geschossen, als ob der Teufel sie jagte. Jack wartete bereits mit den gesattelten Pferden im Gehege. Er beobachtete, wie sie stehenblieb und sich umsah, als ob die Pferde, das Gehege und der Schuppen gar nicht da wären. »Na, was ist? Ich rede wohl wieder gegen die Wand«, knurrte er. »Nicht einmal meinen Kaffee durfte ich austrinken.« Die Prinzessin hatte ihn vom Frühstückstisch gejagt und ihm aufgetragen, die Pferde zu satteln, damit man schleunigst los könne. Während Jack noch überlegte, ob sie vielleicht krank wäre, kam Prinzessin Luahine langsam von der Veranda herunter. Jack führte die Pferde vor. »Ich kann doch nicht hierbleiben«, sagte die Prinzessin, als sie einander begegneten. Sie hatten vom Beginn des Prozesses im Radio gehört, und vor einigen Tage n war ein Brief von Tom gekommen. Er hatte Zeitungsausschnitte beigelegt - Meldungen aus den Staaten -, in denen über eine zunehmende moralische Unterstützung für die Angeklagten berichtet wurde. Im Senat hatte Floyd Rasmussen die Entlassung aller in Amerika tätigen hawaiischen Entertainer gefordert. »Wir können von Glück reden, wenn der Prozeß überhaupt stattfindet«, hatte Tom geschrieben und hinzugefügt, daß er vom ersten Tag an im Gerichtssaal sein würde. »Eins zu null für uns«, hatte sich die Prinzessin gefreut, als sie Toms Brief gelesen hatte. Jack Manakula rieb sich ein Streichholz am Hosenboden an, und während er sich die zusammengerollte Zigarette anzündete, hatte sie hinzugefügt: »Ich sollte dabeisein.« »Um was zu tun?« »Um dabeizusein.« »Um was zu tun, habe ich gefragt.« »Misch dich nicht ein, Lu«, hatte Jack gewarnt. -359
Und als sie nun mit den Pferden zwischen Haus und Gehege standen, fügte er hinzu: »Ich hol ein paar Bettrollen und was zum Knabbern, und wir bleiben heute nacht draußen.« »Jack.« Er reichte ihr die Zügel ihres Pferdes, aber sie nahm sie ihm nicht ab. »Jack, die bringen uns um. Kaltblütig. Und wenn ich hierbleibe, heißt das, ich schere mich den Teufel drum. Komm rein und hilf mir packen.« Noch am selben Nachmittag griff sie zu ihrem Funkgerät und ließ Tom eine Nachricht zukommen. Am nächsten Morgen fuhr Tom zum Hafen hinunter. Ein Schiff aus San Francisco hatte schon früh beim Aloha-Turm angelegt, und er konnte die schwarzen Schornsteine schon von weitem sehen. Sarah hatte darauf bestand en, das Verdeck zurückzuschlagen, und so saß Tom nun in der Sonne und sah auf Sand Island hinaus. Er rechnete damit, warten zu müssen - er konnte es nicht riskieren, sich zu verspäten. Als er die Mittagsglocken läuten hörte, stieg er aus dem Cabrio, um sich kurz zu recken und zu strecken. Neben dem Wagen stehend, sah er die schmucke weiße Jacht in den Kalihi-Kanal einfahren. Er ging auf das Dock hinaus und beobachtete das sich nähernde Schiff. Die kraftvollen Matrosen ließen eine breite weiße Blasenspur zurück. Tom glaubte, eine irgendwie vertraute Gestalt an der Reling zu sehen, aber er war nicht sicher. Dann schwoite die Jacht, und er konnte ein hellgemustertes Kleid ausmachen. Er begann zu winken, und einen Augenblick später hob Prinzessin Luahine ihren Arm. Am Bug und achtern standen zwei Matrosen mit Tauen, und als die Jacht leise an das Dock anstieß, sprangen sie herunter und machten sie fest. Tom sah die Koffer neben der Prinzessin und eilte ihr entgegen. Die Matrosen sprangen wieder an Deck, um ein Stück Reling wegzuräumen und die Laufbrücke niederzulassen. Tom ging an Bord und begrüßte die Prinzessin. Er bückte sich, um einen Koffer aufzunehmen. »Laß ihn stehen«, sagte sie. »Du bist Anwalt, kein Träger.« Die Matrosen konnten sie hören. »Ich wollte doch nur helfen«, -360
sagte Tom. »Für die Hilfe bezahle ich«, entgegnete die Prinzessin. »Hast du ein Taxi mitgebracht?« Tom deutete etwas nach rechts, und sie sah das Cabriolet. »Kein Wunder, daß du dir keinen neuen Anzug leisten kannst.« Die Matrosen hörten alles mit. Tom kehrte ihnen den Rücken zu. »Es gehört nicht mir«, sagte er. »Der Wagen... Joe fuhr ihn an diesem Abend. Er gehört seiner Schwester.« Die Prinzessin sah die Röte in seinem Gesicht aufsteigen. Sie bemühte sich, nicht zu lächeln, aber es gelang ihr nicht. »Hilf mir von diesem Kahn herunter.« Ihr Kleid war bodenlang, und sie nahm beide Hände, um es zu schürzen. Tom nahm ihren Arm. »Ich sagte, helfen. Pack richtig an.« Am Laufsteg blieb sie stehen. »Bringen Sie das Gepäck!« sagte sie und sah die Matrosen kaum dabei an. Tom klappte den Notsitz auf, und sie verstauten das Gepäck. Die Prinzessin gab den Matrosen etwas Geld. »Mach das Verdeck zu«, wies sie Tom an. »Ich bin nicht hier, um mich zur Schau zu stellen.« Tom schloß das Verdeck, und die Prinzessin legte beide Hände an den Wagen, als ob sie in den Sattel steigen würde. »Ich hoffe, die Kiste hält mich aus.« Die Kalakau Avenue nahe dem Western Sky war voll mit Taxis, die die Passagiere des Ozeandampfers aus San Francisco zu den Hotels in Waikiki brachten. Die Auffahrt zum Western Sky war völlig verstopft. Die Prinzessin öffnete die Wagentür. »Laß das Gepäck von einem Pagen holen«, sagte sie. »Ich möchte dich nie wieder mit etwas anderem als deiner Aktentasche in der Hand sehen.« Sie bewegte ihr rechtes Bein und erstarrte. »Das Ding bewegt sich wirklich.« »Wiedersehen«, sagte die Prinzessin und hielt sich mit einer Hand an der Windschutzscheibe, mit der anderen am Türrahmen fest. Sie verließ das Cabriolet, als ob sie sich in einen Abgrund stürzen wollte. Dann warf sie einen Blick auf Tom zurück. -361
»Wenn du wiederkommst, bring das Mädchen mit.« »Sie arbeitet bis sechs«, erwiderte Tom. »Ich werde noch wach sein«, versicherte ihm die Prinzessin. Das lange Kleid schleppend, machte sie sich auf den Weg zum Hoteleingang. Tom sah ihr nach. In der Halle blieb die Prinzessin am Ende einer Schlange Wartender stehen, Passagiere des Ozeandampfers, die alle vor der Rezeption warteten. Viele, die vor ihr standen, drehten sich ständig nach ihr um. Die Prinzessin ignorierte die Glotzköpfe. Sie war müde und dachte an ein Bad und saubere Laken auf dem Bett. Vergangene Nacht hatte sie kaum geschlafen. Der Empfangschef war zu beschäftigt, um die Prinzessin zu bemerken, obwohl sie fast vor ihm stand, hinter einem Herrn, der sich in das Gästeregister eintrug, einem Arzt aus Pennsylvania. Der Doktor beugte sich vor, um den Anmeldeschein zu unterschreiben, und der Empfangschef erblickte die massige, buntgekleidete Gestalt. Er starrte sie an wie eine Erscheinung. Das Weib gehörte in eine Straßenbude, wo sie Touristen anmachen konnte. Wieso hatte der Portier sie überhaupt hereingelassen? »Einen Pagen bitte«, sagte der Arzt. »Jawohl, Sir.« Der Empfangschef drückte auf eine Klingel. »Ist schon unterwegs, Herr Doktor«, und reichte ihm die Schlüssel. »Wünsche einen angenehmen Aufenthalt, Herr Doktor.« »Ich hätte gern eine Suite«, sagte Prinzessin Luahine. »Ich glaube, Nummer dreihundert hat ein Eckzimmer.« Dem Empfangschef ging plötzlich ein Licht auf. Früher einmal, vor seiner Zeit, hatte sie hier gearbeitet. Man hatte sie entlassen, weil sie verrückt war. Und heute hatte sie sich herausgeputzt, war in die Stadt gekommen, um Ferien wie die feinen Leute zu machen. »Die Suite ist besetzt«, erklärte der Empfangschef. »Nummer dreihundert ist nicht mehr frei.« »Ich möchte aber nichts haben, was zur Straße hinausgeht«, sagte die Prinzessin. »Ich nehme eine der Ecksuiten mit Blick -362
zum Meer.« »Leider alle besetzt«, sagte der Empfangschef. Eine lange Schlange wartete hinter der Verrückten. »Sie sollten jetzt besser gehen.« »Wo können Sie mich unterbringen?« »Entschuldigen Sie mich«, antwortete er, verließ das Pult und eilte ins Direktionsbüro hinter dem Fächerregal. Zur Rechten Prinzessin Luahines, auf der Seeseite der Halle, kam Walter Bergman hinter Lenore aus dem Restaurant. Er blieb stehen. »Sieh dir doch mal die Frau an, Lenore. Sie steht da wie eine Göttin.« »Sie ist dick und schön«, sagte Lenore. Sie hörten einen Wartenden hinter der Prinzessin fragen: »Warum geht's denn nicht weiter?« Prinzessin Luahine drehte sich um und betrachtete den Mann. Er und seine Frau trugen Leis. »Daran bin ich schuld«, antwortete die Prinzessin. »Sie werden warten müssen, bis ich hier ein Zimmer bekomme.« Bergman lachte. Er sah einen Kahlkopf mit einem Bauch, der ihm über den Gürtel hing, auf die Wartenden zusteuern, und einen anderen Mann hinter der Rezeption das Türchen auf stoßen. Der Empfangschef kehrte auf seinen Platz zurück. Entzückt verfolgte Bergman das Geschehen. »Ich bin der zweite Direktor«, stellte Arno ld Klemeth sich vor. »Es tut mir leid, aber wir sind komplett ausgebucht.« »Der Herr vor mir hatte aber nichts vorbestellt«, entgegnete die Prinzessin, »und bekam trotzdem ein Zimmer.« »Sie kommen zu spät«, sagte Klemeth. Er machte dem Kahlkopf ein Zeichen. »Grogan.« »Sie gehen jetzt besser«, knurrte Grogan, der Hausdetektiv, sie an. Die Prinzessin schien ihn nicht zu bemerken. »Sie haben ihn gehört«, bekräftigte Klemeth. Lenore sah, wie Maddox die Halle betrat und hob ihren Arm. Er lächelte und erwiderte mit einer Handbewegung ihre -363
Begrüßung. Er kam durch die Halle auf sie zu, und sie bemerkte, wie sein Lächeln verschwand. Abrupt wechselte er die Richtung und ging an der Schlange Wartender entlang rasch weiter. Der zweite Direktor stand neben der Prinzessin und sprach ganz ruhig: »Wenn Sie nicht augenblicklich gehen, lasse ich Sie hinauswerfen.« »Was haben wir denn da für ein Problem?« erkundigte sich Maddox, der das Problem kannte, dem ein Blick genügt hatte, um im Bilde zu sein. »Das mach ich schon, Maddox«, sagte Grogan. »Sie haben was anderes zu tun«, lächelte Maddox. »Immer mit der Ruhe. Sie haben keinen Ihrer Streifenpolizisten vor sich«, entgegnete der Hoteldetektiv. »Diese Frau...« begann der zweite Direktor, und Maddox unterbrach ihn. »Diese Dame«, verbesserte Maddox, »kennen Sie sie nicht? Das ist die Prinzessin Luahine. Geben Sie ihr, was sie wünscht, aber rasch, bevor Sie auf der Straße liegen und dann auf dieser Insel nicht einmal mehr ein Zelt mieten können.« Klemeth wurde blaß. »Entschuldigen Sie«, murmelte er. »Sie haben ja nicht... dreihundert, sagten Sie. Ja, dreihundert steht zur Verfügung«, nickte er, ohne auch nur eine Sekunde an das Ehepaar aus Seattle zu verschwenden, das, noch bevor sie an Bord gegangen waren, diese Suite bestellt hatte. Er blickte in die Halle hinaus und rief laut: »Portier!« Bergman ging näher heran. »Lassen Sie doch den Portier«, schlug Maddox dem zweiten Direktor vor und zeigte auf den Hoteldetektiv. »Grogan ist jetzt da. Grogan kann sich um das Gepäck kümmern.« Bergman grinste. »Ich schleppe doch keine Koffer«, entrüstete sich Grogan. Er wandte sich ab, aber Maddox sah Klemeth an. »O nein«, sagte der, hielt dem Empfangschef die offene Hand hin und schnippte mit den Fingern. Der Empfangschef ließ den Schlüssel in Klemeths Hand fallen. »Verzeihung, Madame«, sagte der zweite Direktor und drückte sich an ihr vorbei, um -364
Grogan den Schlüssel zu geben. »Kümmern Sie sich um das Gepäck der Dame. Begleiten Sie sie auf ihre Suite. Sehen Sie nach, ob alles in Ordnung ist, und wenn etwas fehlt, melden Sie es mir persönlich. Haben Sie mich verstanden, oder soll ich deutlicher werden?« Er lächelte Prinzessin Luahine zu. »Es ist dem Hause ein Vergnügen, Ihnen dienlich sein zu können.« Die Prinzessin ignorierte ihn einfach. Sie trat zur Seite und ging auf Maddox zu. »Sie haben sich nicht verändert«, sagte sie, »sehen nicht einmal älter aus. Wie machen Sie das nur, so schlank zu bleiben?« »Ich sorge mich ständig«, antwortete Maddox. »Es gibt eine Menge Dinge, über die ich mir Sorgen mache. Jetzt sind es schon wieder mehr als noch vor einer Stunde.« »Sie tun mir wirklich leid.« »Sie hätten ihnen doch sagen können, wer Sie sind«, warf Maddox ihr vor. »Kommen da hereinspaziert und spielen Ihre Spielchen. Was wäre gewesen, wäre ich nicht zufällig hier aufgekreuzt? Wenn dieser Schafskopf Sie hätte hinauswerfen lassen?« »Ist mir schon passiert.« »Warum sind Sie überhaupt gekommen? Man hat mir erzählt, es gefällt Ihnen da draußen auf Big Island.« »Ich hatte geschworen, nie wieder herüberzukommen. Sie haben mich gezwungen, mein Versprechen zu brechen.« »Ich habe Sie gezwungen?« »Sie und die anderen Friedenshüter.« »Dafür werde ich bezahlt«, sagte Maddox, »für Frieden zu sorgen. Jetzt sind Sie hier, und noch vor Sonnenuntergang wird sich die Kunde über die ganze Insel verbreitet haben. Dann wird es noch schwerer sein, Frieden zu bewahren.« »Sie sind ein Schwarzseher«, hielt die Prinzessin ihm entgegen. »Sie machen sich Sorgen um sich und Ihre Leute. -365
Atmen Sie mal kräftig durch, Maddox. Ich bin nicht Napoleon.« »Sie sind ihr Napoleon. Sie sind das Größte, was Ihre Leute haben.« »Ja, groß und dick. Sie sind nicht so klug, wie ich dachte. Ich bin gekommen, weil ich nicht drüben bleiben konnte. Ich habe mich schuldig gefühlt. Sie haben uns zum Abschuß freigegeben.« »Sie fangen schon wieder an. Ich habe Sie freigegeben?« »Bemühen Sie sich etwa, das Kriegsbeil zu begraben?« Maddox wollte den Hut aufsetzen, als ihm einfiel, daß er ihn im Wagen gelassen hatte, weil er mit Lenore verabredet war. »Es wurde Anklage wegen Mordes erhoben. Wir haben drei Mordverdächtige in Gewahrsam. Eine Anklagejury...« »Man hält mich auf dem laufenden«, fiel ihm die Prinzessin ins Wort. »Ich weiß, wo die Mordverdächtigen in Gewahrsam gehalten werden. Ich war im Haus des Admirals, lange bevor dieser Admiral die Insel zu Gesicht bekam. Der Sommerpalast meines Urgroßvaters stand auf dieser Landspitze. Der erste Admiral, der hierherkam, um uns zu zeigen, wie man das Leben genießt, hatte ein Auge dafür. Er reservierte diese Landspitze für sich und ließ den Palast abreißen - es wäre ihm zu windig darin, meinte er. Er hatte recht. Mein Urgroßvater liebte das Wetter. Er war ein stämmiger Kerl. Damals hieß es, er wäre der beste Wellenreiter auf der Insel. Es war ein Lieblingssport von ihm, über Diamond Head hinauszuschwimmen und ein Schiff in den Hafen zu lotsen. Na ja, der erste Admiral errichtete sich eben seinen eigenen Palast. Das heißt, wir taten das für ihn. Damals brauchten sie uns noch nicht zu töten. Sie zeigten bloß auf uns.« Maddox wußte, daß Lenore ihn beobachtete, während sie mit Bergman auf ihn wartete. Nachdem er aufgewacht war, hatte er immer wieder auf die Uhr gesehen, aber nicht mit der Prinzessin gerechnet. »Ich hoffe, Sie werden Ihren Aufenthalt in unserer Stadt genießen.« Er verabschiedete sich und kam unbemerkt durch die Reihe der wartenden Gäste. Aller Augen waren auf die -366
massige Frau und ihr farbenprächtiges Kleid gerichtet, das über den Marmorboden fegte, als sie zu den Aufzügen schritt. Maddox erreichte Lenore und Bergma n. »Tut mir leid, daß Sie warten mußten.« Lenore lächelte ihm zu. »Hallo... Captain.« Sie stand so nahe, daß er sie hätte berühren können. Maddox konnte die winzigen Sommersprossen sehen und ihre Augen, deren Grün hier im Hotel noch dunkler war. »Hallo, Captain«, begrüßte ihn Bergman. »Sagen Sie mal, wer ist diese königliche Erscheinung?« »Sie haben das richtige Wort gewählt«, erwiderte Maddox. »Sie ist eine Prinzessin. War es zumindest. Die Prinzessin Luahine.« »Hast du das gehört, Lenore? Ich muß zugeben, so sieht sie wirklich aus. Findest du nicht, Lenore?« Er legte seine große, faltige Hand auf Lenores bloßen Arm. Seine gestärkten französischen Manschetten schoben sich unter seinem Rockärmel vor, und Maddox mußte an eine zur Bestattung aufgeputzte Leiche denken. »Ich denke, wir sollten losfahren«, sagte Maddox. »Wohin geht's denn heute?« fragte Bergman. Was es in der Stadt zu sehen gab, hatte Maddox ihnen bereits gezeigt. »Ich dachte, wir fahren ein bißchen aus der Stadt heraus und sehen uns die Insel an.« »Sie sind der Steuermann«, sagte Bergman, während sie auf den Ausgang zuhielten. »Mir scheint, Sie haben den Hotelleuten eine Menge Ärger erspart.« »Die sind neu hier. Sie kannten sie nicht. Hawaii ist jetzt zivilisiert, wie die Vereinigten Staaten.« »Zivilisiert?« fragte Lenore, und Bergman gluckste. »Ist dir das noch nicht aufgefallen, Lenore? Der Captain hat eine eigene Art, sich auszudrücken.« Maddox stieß eine der Türen für Lenore und Bergman auf. »Hier lang«, sagte er und ging vor, um beide Wagentüren zu -367
öffnen. »Du setzt dich zum Captain«, sagte Bergman. »Hinten kann ich besser meine Beine ausstrecken.« So hatte Maddox sie wieder. Er konnte ihren braunweißen Schuh sehen, ihre Knöchel und das Bein. Ihre Hand auf der Lehne war nur Zentimeter von seiner Schulter entfernt. »Was steht als erstes auf dem Programm?« fragte Bergman. »Ich dachte, wir fahren zunächst auf die andere Seite der Insel.« »Wir wären Ihnen dankbar, wenn Sie uns unterwegs auf Sehenswertes hinweisen würden«, sagte Bergman. Der Anwalt hörte nicht auf zu reden, zeigte sich entzückt über jeden Landsitz, jede Richtungsänderung der Küstenlinie, jede kleine Wolkenbank rings um einen Berggipfel, von jedem Vogel, der von einem Baum aufflog. Er war fasziniert von allem, was es zu sehen und zu riechen gab. Sie fuhren eine Hügelkette entlang, als Bergman sich vorbeugte, den Kopf im offenen Fenster. »Schau dir den Strand an, Lenore! Einfach unbeschreiblich! Sagen Sie mal, Captain, kann man da auch hinunter?« »In der Nähe«, sagte Maddox. »Weiter vorn fällt die Straße ab, und da gibt es einen ausgetrockneten Sumpf; dort könnte es gehen.« Sie erreichten die Senke, und Maddox bog zur Küste ab. »Ich weiß noch, wie wir daheim durch die ausgetrockneten Sümpfe gewandert sind«, erinnerte sich Bergman. »Wir gingen barfuß. Es war eine sorglose Zeit.« Maddox hielt neben einem Felsen an, der zehn oder mehr Meter hoch war und fast ebenso breit. Bergman war als erster aus dem Wagen. Seine offene Jacke hing lose herab, während er auf das Wasser zustapfte. Sie folgten ihm. Maddox beobachtete Lenore. Ihre Nase, schon zu lange der Sonne ausgesetzt, begann sich zu röten. Er hätte gern ihre Nase berührt. Bergman vor ihnen hob beide Arme - wie ein Forschungsreisender, der seinem Schiff ein Signal geben will. Als sie näher kamen, wandte er sich um. »Haben Sie's eilig, Captain?« -368
»Ich habe mir den Nachmittag freigenommen«, antwortete Maddox. »Das ist heute bestimmt meine letzte Chance, die Schule zu schwänzen«, sagte Bergman. »Können wir eine Weile hierbleiben? Ich würde mich gern in die Sonne legen.« Er zog seine Jacke aus. »Gönnen Sie mir ein paar Minuten, ja?« Sich mit der Hand im Sand abstützend, ließ er sich langsam nieder, rollte dann die Jacke zusammen, legte den Kopf drauf und schloß die Augen. Maddox sah, wie Lenore auf Bergman herabblickte. Er wandte sich ab, war einen Augenblick allein und glaubte, es würde so bleiben. Er sah ihren Schatten auf dem Sand, als sie auf ihn zukam. Wieder spürte er das Band, das sich um seine Brust spannte. »Seit dem Molenspaziergang zum ersten Mal wieder allein«, sagte Maddox. Lenore schwieg. Seit jenem Nachmittag auf dem Stützpunkt erfüllte sie eine große Unruhe. Ständig dachte sie an Maddox: wenn sie erwachte, wenn sie ein Bad nahm, wenn sie las, wenn sie Bergman beim Frühstück gegenübersaß, wenn er zu ihr sprach, wenn irgend jemand zu ihr und sie zu irgend jemand sprach, wenn sie im Bett lag und auf Schlaf wartete. Bei jedem Ausflug mit Maddox hoffte sie, es würde der letzte sein, aber sie mußte sich beherrschen, um nicht zum Telefon zu stürzen, wenn es läutete. Sie gingen auf den großen Felsen zu. Es schien Maddox, als wäre eine Ewigkeit vergangen, seit sie auf dem Schiff ihn angeredet hatte. Sie traten in den Schatten des Felsens, vor der See endlich verborgen, und standen einander gegenüber. Wie verzaubert starrte Maddox Lenore an. Sie war ein Teil von ihm geworden. Er war immer allein gewesen, und sein Leben schier, ihm fremd, als ob all diese Jahre von einem anderen gelebt worden wären. Er hob die Hand, um seine Finger in ihr Haar gleiten zu lassen. »Du brauchst keine Angst zu haben.« Sie legte ihre Hand über die seine. Ihre Finger waren kühl und -369
zart wie Marienfäden. »Ich habe keine... mehr«, erwiderte sie. »Ich habe es mir gewünscht, mit dir allein zu sein.« Sie sah ihn an. »Willst du mich jetzt küssen?« Er breitete seine Arme aus und umfaßte sie. Er sah, wie sie die Augen schloß und den Kopf nach hinten legte, er beugte sich über sie und küßte Lenore. Er fühlte, wie ihre Arme ihn an sich zogen, fühlte ihren schlanken Körper, ihr Haar in seinem Gesicht, fühlte das große Geschenk, das sie ihm darbot. »Curt«, flüsterte sie, während ihre Lippen die seinen berührten. »Ich kenne dich nicht, und doch hast du mein Leben verändert.« Er wollte etwas erwidern, ihr sagen, daß sie schön war, ihr danken für das, was sie ihm gab, fand aber kein einziges Wort. Er konnte nur lächeln und die Hand heben, um mit dem Finger ihre Nasenspitze zu berühren. »Du bekommst einen Sonnenbrand.« Maddox beugte sich vor und küßte sie ein zweites Mal. Sie seufzte leise und drückte sich an ihn, und Maddox dachte wieder daran, sie von hier fortzunehmen und Bergman allein zurückzulassen. »Lenore.« Ihre Augen waren weit offen, und er hörte sie atmen. »Wollen wir uns heute nacht treffen?« Er sah wieder die Angst in ihrem Gesicht. »Du wußtest, daß ich dich fragen würde«, sagte er. »Wußtest du das nicht?« Sie nickte. »Ich habe gewartet«, fuhr er fort, »wollte dich nicht drängen. Doch ich kann nicht länger warten; wir beide können es nicht. Willst du...?« »Er ist... wir sind zum Dinner eingeladen. Die Anwaltskammer gibt ein Essen für uns.« »Morgen nacht.« »Ich...« Er fürchtete, sie verloren zu haben. »Was soll ich ihm sagen?« »Es geht leichter, wenn du gar nichts sagst. Wenn du eine Geschichte erzählst, mußt du auch eine zweite erfinden, um die erste glaubhaft zu machen. Wir könnten uns spät treffen. Wenn man dich vermißt, wenn... jemand dich sucht, warst du am -370
Strand. Spazieren.« »Ich kann nicht«, sagte Lenore. Er sah sie an, sah ihre Augen, ihre winzigen Sommersprossen, das Haar, das in der Brise flatterte. »Wir haben nicht einmal den Anfang gemacht«, stieß er hervor. »Wir sind am Ende, noch bevor es begonnen hat.« Lenore verschloß ihm mit dem Finger die Lippen. »Nein, Curt, nein, nein.« Sie legte ihre Hand an seine Wange. »Ich kann nicht weg... nachts. Aber... kannst du dir nicht noch einen Nachmittag freinehmen? Ich könnte einkaufen gehen. Ich kann das Hotel verlassen, um Einkäufe zu machen. Wir könnten verabreden, wo ich dich treffen kann.« »Morgen? Um eins?« Sie nickte. Maddox war glücklich. Er war trunken vor Glück. Er legte seinen Arm um ihre Schultern. Lenore schob ihre Hand unter seine Jacke, ihre Finger spreizten sich gegen sein Hemd. Früh am anderen Morgen machte Ginny Partridge frischen Kaffee, ließ ihn auf der Wärmeplatte stehen und nahm ihr Bad. Als sie fertig war, schenkte sie eine Tasse voll und brachte sie ins Schlafzimmer. »Raus aus den Federn, Schlafmütze!« Bryce sah Ginny vor sich stehen. »Mein Geburtstag ist es nicht«, murmelte er, »und auch nicht deiner.« Sie ha tte irgendein dummes Geheimnis. Er nahm Tasse und Untertasse und stellte sie auf den Nachttisch. »Erst muß ich mir die Zähne putzen.« Nackt stieg er aus dem Bett, und Ginny folgte ihm mit dem Kaffee. Sie eilte ins Schlafzimmer zurück und ließ ihren Morgenrock aufs Bett fallen. Freudig erregt begann sie sich anzukleiden. Sie stand vor dem Spiegel und überlegte, ob sie lieber den braunen Gürtel nehmen sollte, als sie Bryce sah, der ein Handtuch um seine Taille geschlungen hatte. »Es ist auch nicht unser Hochzeitstag«, sagte er. »Also verrate mir schon dein Geheimnis.« Sie sprach zum Spiegel. »Ich fahre dich nach Pearl«, sagte sie und schwenkte herum, als er die Stirn in Falten legte. Sie hatte -371
bewußt bis zum letzten Augenblick gewartet, damit er sich nicht weigern konnte. »Ich habe tausend Dinge in der Stadt zu erledigen, und ich brauche den Wagen.« Sie ging auf ihn zu. »Ich bringe dich hin und hole dich ab. Ich werde mich nicht verspäten, heiliges Ehrenwort.« Sie nahm das Handtuch. »Ich bin hier schon so lange eingeschlossen, Liebling, ich komme mir vor wie eine Gefangene. Ich bringe dir auch frischen Kaffee.« Gegen zwölf Uhr mittags kam ein Matrose zu Bryce ins U-Boot. »Eine Nachricht für Sie, Lieutenant«, sagte er. »Sie sollen sich im Offiziersklub melden.« Bryce richtete sich auf. »Bei wem soll ich mich melden.« »Hat man mir nicht mitgeteilt Sir. Nur, daß Sie sich melden sollen.« »Wiederholen Sie die Nachricht!« »Wie ich schon sagte, Sir. Da kam einer vom Offiziersklub zu Fähnrich Watrous, und Fähnrich Watrous hat mir aufgetragen, es Ihnen zu sagen.« Bryce ging nach vorn, um sich die Hände zu waschen. Hester konnte es nicht sein. So etwas wie der Offiziersklub würde ihr nicht in den Sinn kommen. Wer hatte nach ihm geschickt? »Du wirst es bald erfahren, alter Schwede«, sagte er sich. Ihm fiel ein, daß Ginny den Wagen hatte. Jetzt mußte er auch noch zu Fuß zu dem verdammten Klub hinüberlaufen. Als Bryce, erhitzt und mit verschwitzten Händen, zum Offiziersklub kam, hielt ein Wagen vor dem Eingang; sechs Männer stiegen aus und betraten vor ihm den Klub. Bryce folgte ihnen. Die drückende Enge, die rauhen Rufe nach Bedienung, die lauten Stimmen: einfach zum Ersticken. Mit den Fäusten hätte er sich einen Weg nach draußen bahnen mögen. »Bryce?« Er hob den Kopf, bemüht, ein bekanntes Gesicht zu sehen. »Bryce!« Jemand schlug ihm auf die Schulter, und vor ihm stand Gerald. Bryce fühlte sich plötzlich entsetzlich elend. Sie hatte es Gerald erzählt, und jetzt würde er Rechenschaft von ihm fordern. »Du -372
bist also der große Unbekannte«, sagte Bryce. Ein Schwächeanfall überkam ihn; so groß war die Erleichterung, die er empfand, als er merkte, daß er sich geirrt hatte, denn Geralds Gesicht blieb ausdruckslos. »Hast du jemand mit einer Nachricht zur Bluegill geschickt?« »Ich bekam eine Nachricht ins Q.U.O.«, sagte Gerald. »›Melden Sie sich im Klub.‹ Ich dachte... als ich dich sah...« »Das werden wir gleich haben«, sagte Bryce. »Komm mit.« Gerald hinter sich herziehend, hielt Bryce einen Kellner an. »Lieutenant Murdoch und Lieutenant Partridge. Wir werden erwartet.« »Augenblick, Sir«, sagte der Filipino, aber Bryce hatte sein Handgelenk gepackt und drückte es kräftig. »Sofort«, schnauzte Bryce und hielt ihn und Gerald fest, während der Kellner sie zu einem älteren Filipino führte. »Wir sind Lieutenant Murdoch und Lieutenant Partridge«, wiederholte Bryce. »Wer hat nach uns geschickt?« Der Mann lächelte. »Folgen Sie mir bitte.« Er ging in den großen Speisesaal auf die Tische an den Fenstern zu. »Es ist deine Frau«, sagte Gerald. »Es ist Ginny.« Der Filipino warf einen Blick über die Schulter und grinste. »Mrs. Partridge, ja«, bestätigte er, und Bryce sah Ginny an einem Tisch mit dem Rücken zum Fenster, und eine andere Frau saß ihr gegenüber. Er sah das Buch auf dem Tisch neben dem Ellbogen der anderen Frau. Die Schlampe. Diese verrückte, gemeine Intrigantin! Bryce konnte Ginny lächeln sehen, aber sie machte nicht den Eindruck, als ob sie Spaß an etwas fände. Die Schlampe hatte ihr alles erzählt. Hester hatte das alles arrangiert. Sie hatte sie hergelockt, um eine Aussprache zu erzwingen. Jetzt würde Gerald, dieser Idiot, auch ihn erschießen wollen. »Hier sind die Herren, Mrs. Partridge«, lächelte der Filipino, und Hester drehte sich um und stützte sich auf die Lehnen ihres Sessels, als ob sie aufspringen wollte. -373
»Willkommen«, sagte Ginny, immer noch lächelnd. Bryces Zorn durchflutete ihren ganzen Körper. Er machte ihr angst. »Willkommen, Gerald«, fügte sie hinzu und deutete auf den Stuhl zu ihrer Linken. Ihre Hände zitterten. »Gerald, du sitzt hier, und Bryce da«, sagte sie. »Jetzt sind wir alle beisammen.« Ginny ließ die Arme sinken, verbarg die Hände unter dem Tischtuch und zupfte an ihren Fingern. »Ich dachte, es wäre nett, wenn wir alle zusammen zu Mittag essen würden.« Ihre Stimme übertönte das Scharren der Stühle, als Bryce und Gerald sich setzten. »Hester und Gerald, ihr beide habt euch ja völlig von der Außenwelt abgeschottet, und wir haben uns Sorgen um euch gemacht, stimmt's, Bryce? Darum habe ich mir gedacht, ich würde zur Abwechslung auch gern einmal andere Gesichter sehen. Die Leute hier haben mir versprochen, mich nicht zu verraten, und ich habe auch nichts verraten. Bryce hatte keine Ahnung, nicht wahr, Bryce? Heute morgen habe ich ihm gesagt, ich brauchte den Wagen, um Einkäufe zu machen, aber ich habe mich von Pearl nicht weggerührt. Ich setzte Bryce ab und fuhr hierher, und alle waren so freundlich und hilfsbereit.« Ihre Finger schmerzten. »Ich hoffe, ihr seid mir nicht böse.« Keiner sprach. Sie bildeten eine Insel des Schweigens in der entspannten, vertrauten, maskulinen Atmosphäre des Klubs. »Ich hatte gehofft...« setzte Ginny an. Überzeugt, daß sie Schiffbruch erlitten hatte, brach sie ab. »Sie sind sehr aufmerksam«, sagte Hester und bemühte sich, Bryce nicht anzusehen. »Es war wirklich eine gelungene Überraschung.« »Ich möchte euch beiden danken«, sagte Gerald. »Es ist das erste Mal, seit... das erste Mal, daß ich mich wieder wie ein menschliches Wesen fühle.« Hester rückte auf ihrem Stuhl herum und spürte Bryces Knie an dem ihren. Hastig zog sie ihre Beine zurück. Auch Bryce mußte sich äußern. »Du hast dich nicht verändert, Gerald. Du bist der beste Kamerad, den man sich wünschen -374
kann.« Ginny, vor einem Fiasko gerettet, richtete sich auf und hob ihr Glas. »Auf Gerald«, sagte sie. »Auf eine sichere Fahrt und baldige Rückkehr zu seinen Schiffskameraden.« Auch Bryce mußte sein Glas erheben. »Hört, hört«, sagte er und wartete, bis die dumme Schlampe ihr Glas aufgenommen hatte. »Hester.« »Oh... tut mir leid«, flüsterte Hester und gr iff nach ihrem Glas. Sie hatte lange mit der Absicht gespielt, sich und Bryce zu töten. Er sollte nie wieder jemandem weh tun. Jetzt brachte sie ihren eigenen heimlichen Toast aus und flehte um Erlösung und Befreiung von diesem grausamen, schlechten Mann an ihrer Seite. Sie tranken. Das Tafelwasser ließ Ginny wieder aufleben. Sie hatte wirklich recht getan, sie alle zusammenzubringen, und war froh, daß Bryce sich so freundlich über Gerald geäußert hatte. »Und jetzt«, sagte sie, »könnt ihr bestellen, was euer Herz begehrt. Ihr braucht nicht das Menü zu nehmen. Ihr seid etwas Besonderes. Wir sind etwas Besonderes.« »Hört, hört«, sagte Bryce. Während Bryce im Offiziersklub saß und Ginnys Geschnatter über sich ergehen ließ, fuhr Maddox durch die City, hatte den zweiten Gang eingelegt und blickte von einer Straßenseite zur anderen. Er hatte mit Lenore ausgemacht, wo sie sich treffen würden. Sie sollte nicht an einer Ecke stehen wie irgendein Flittchen. Maddox bog in eine Seitenstraße ein und begann von neuem. Sie konnte sich verspätet haben, Bergman erkrankt sein oder Lenore. Da war sie - vor dem Schaufenster eines Juweliers auf seiner Straßenseite. Die Welt nahm eine andere Gestalt an. Er hätte am liebsten aus dem Wagen springen und ihn mitten auf der Straße stehenlassen können, aber er fuhr an ihr vorbei und parkte an der Ecke. Lenore hatte ihn nicht gesehen und stand immer noch, die Handtasche unter dem Arm, die Hände gefaltet, vor dem Schaufenster des Juweliers. Maddox hatte noch nie eine so -375
schöne, eine so damenhafte Frau gesehen. Er wollte sie nicht erschrecken und sagte »Hallo«, als sie sich näherte. Lenore blickte auf und sah ihn lächelnd auf sich zukommen. Sie wußte, Curt würde sie sicher durch dieses gefährliche Abenteuer geleiten. Er schien die Straße unter Kontrolle zu haben, so als ob alles ihm gehörte, als ob er seine Domäne mit ihr teilte, nur mit ihr allein. Die Menschen ringsum verschwanden, die Autos verschwanden, die Geräusche des Tages klangen ab. Lenore sah und hörte nichts, als der großgewachsene Mann im beigefarbenen Anzug und weißem Hemd auf sie zutrat, um sie in sein geschütztes, unzugängliches Reich zu entführen. »Ich habe mich nicht verspätet«, sagte Maddox. »Als ich das erste Mal vorbeikam, konnte ich dich nicht sehen.« »Ich war in einem Laden«, war ihre Erklärung. »Ich habe ein Kleid gesehen. Sie hatten meine Größe, aber nur in einer Farbe...« Sie brach ab. »Ich weiß nicht, was ich rede. Du...« und verstummte abermals. »Mir geht es auch so«, sagte Maddox. Er trat zurück, ließ ihr Bewegungsfreiheit und half ihr dann in den Wagen. Es war, als hielte er eine Handvoll Federn. Keiner sprach, bis sie die Innenstadt verlassen hatten und hügeliges Gelände erreichten. Schließlich murmelte sie: »Du bringst mich... uns... irgendwohin.« »Ja... irgendwohin«, sagte Maddox. Wieder schwiegen sie, und dann sagte er: »Es ist schon wirklich sonderbar mit uns. Wir haben schon eine ganze Weile gelebt, sind demnach keine Kinder mehr, und doch benehmen wir uns wie Kinder. Wir machen einen neuen Anfang, du und ich.« Er streifte sie mit einem Blick. »Du hast Angst.« »Nein. Ja. Ein wenig. Es ist... anders. Ich möchte dich jetzt nicht verlassen.« Sie blickte geradeaus vor sich hin. »Ich kann dich nicht verlassen. Ich habe dich vierundzwanzig Stunden nicht gesehen, und es kam mir wie eine Ewigkeit vor. Seit gestern habe -376
ich das Gefühl, gealtert zu sein.« »Wir sind wirklich wie zwei Plaudertaschen«, meinte Maddox. »Seit ich dich auf dem Schiff gesehen habe, plaudern wir. Aber ich habe nichts gesagt. Ich habe noch nicht einmal angefangen. Außer bei meiner Arbeit war ich nie sehr gesprächig. Und jetzt kann ich es kaum erwarten. Es gibt mindestens eine Million Dinge, die ich dir sagen möchte.« »Bitte, sag sie mir, Curt.« Sie berührte ihn. »Das ist es ja«, erwiderte Maddox. »Ich weiß sie nicht.« Sie lachten zusammen, gelöst und glücklich, bis Maddox seine Straße erreichte und in die Auffahrt zum Haus einbog. Sie entzog ihm ihre Hand, und Maddox schien es, als hätte sie ihn verlassen. »Wo sind wir?« fragte sie, fast flüsternd. »Das ist mein Haus«, antwortete er. »Lenore.« Er umspannte ihr Kinn mit Daumen und Zeigefinger. »Wir können in die Stadt zurückfahren.« »Ich will bei dir sein«, entgegnete sie und öffnete die Tür. Sie stand in der Auffahrt und hielt den Kopf gesenkt. Maddox begriff, daß sie sich versteckte; sie glaubte, wenn sie niemanden sah, würde niemand sie sehen. Sie gingen auf das Haus zu. »Die Tür ist ja offen«, stellte sie fest. »Ich wollte das Haus für dich lüften«, sagte er. »Ich komme nur zum Schlafen heim. Es wird nie gelüftet und es gibt nichts, was mir fehlen würde«, antwortete er auf ihre unausgesprochene Frage. »Es ist nichts drinnen.« Die Hände gefaltet, blickte sie zu ihm auf. Ihre Augen waren groß und staunend, so als ob er unerwartet auf sie zugetreten wäre. »Es ist alles sehr freundlich hier, Curt«, sagte sie drinnen. »Sieht aus wie das Schaufenster eines Möbelgeschäftes«, wies Maddox ihr Lob zurück. »Als ich das Haus kaufte, sagte ich dem Möbelhändler nur, wieviele Zimmer ich habe. Aber wir plaudern immer noch. Das kommt davon, daß wir Amateure sind.« Er kam auf sie zu. »Lenore«, flüsterte er, nahm ihre Handtasche und warf sie auf einen Stuhl. Ihre Blicke begegneten sich, und die Welt versank. Er beugte sich -377
vor und küßte sie. Sie seufzte leise und hob ihre Arme und umschlang ihn fest. »Curt, oh, Curt«, flüsterte sie. Ihre Stimme, ihre Lippen, ihr Körper riefen ihn. Sie mit einem Arm festhaltend, schob Maddox den anderen unter ihre Beine und richtete sich auf. Mit geschlossenen Augen lag Lenore in seinen Armen. Er sah die Farbe auf ihren Wangen und fühlte ihre Hitze, als er sie durchs Haus in sein Schlafzimmer trug. Auf dem Bett zog Lenore ihn zu sich herab. Ihre Augen waren groß vor Sehnsucht und Verlangen, Unsicherheit und Angst. Aber sie konnte, sie wollte es erleben, und als er sie küßte, fühlte sie sich erlöst. Maddox fühlte sich frei; zum ersten Mal in seinem Leben. Sie hatte ihm die Freiheit geschenkt. Nachher konnte Maddox eine Weile nicht sprechen. Als sie später das Schlafzimmer verließen, blieb er einen Augenblick stehen. »Lenore, ich muß dir etwas sagen.« »Können wir nicht im Wagen reden?« fragte sie, und ihre Angst kam wieder. »Es dauert nicht lange, und ich möchte es jetzt sagen. Hier sind wir allein. Wenn wir erst wieder im Wagen sitzen, ist es vorbei.« Er umfaßte ihr Gesicht. »Ich liebe dich, Lenore. Ich habe das noch nie zu einem Menschen gesagt. Ich habe nie gedacht, daß ich es sagen würde, nie damit gerechnet, nie geglaubt, daß es mir bestimmt sein könnte. Ich könnte dich nicht fortgehen lassen, ohne dir das gesagt zu haben.« »Jetzt kann ich es leichter ertragen, dir Lebewohl zu sagen«, flüsterte sie. »Für uns gibt es kein Lebewohl, niemals.« Im Wagen schwiegen sie wieder. Dann tauchten sie in den Verkehrsstrom der City. Die unmittelbar bevorstehende Trennung veränderte beide. »Du fehlst mir schon jetzt«, sagte Maddox. »Ich bin hier, Liebling.« »Nein, es ist schon eine Weile her, daß du fortgegangen bist«, -378
gab er zurück und parkte hinter einem Taxi. »Ich möchte von neuem beginnen«, flüsterte sie. »Mit dir zurückfahren.« »Es würde mir nicht schwerfallen, umzukehren. Ich bin schon fast wieder zurück. Ich bin auf halbem Wege nirgendwohin.« »Auf halbem Wege nirgendwohin?« Sie lächelte. »Ins Zauberland.« Sie küßte ihn und öffnete die Tür. Maddox brachte sie zum Taxi und bezahlte den Fahrer. Sie sah ihn an. »Gib mir etwas, Curt. Ganz gleich, was. Etwas, das dir gehört.« Sie nahm das Taschentuch aus der Brusttasche seiner Jacke und bückte sich, um ins Taxi zu steigen. Maddox schloß die Tür des Taxis und beobachtete, wie es vom Verkehrsstrom mitgerissen wurde. Dann ging er zum Wagen zurück und blieb eine Weile sitzen. Er war nicht fähig, ins Präsidium zu fahren, und nicht bereit, Lenore aufzugeben. Maddox lächelte, ließ den Motor an und fuhr zu jenem Juweliergeschäft zurück, vor dem er Lenore gesehen hatte. Drinnen ging er zur Schaufensterauslage. Hinter dem Ladentisch kam ein Mann hervor. »Ich freue mich, Sie bei mir begrüßen zu dürfen, Captain«, sagte der Verkäufer. Maddox wußte, daß er den Kerl noch nie gesehen hatte. »Dieses Jade-Ding«, sagte Maddox und zeigte es ihm. »Ein wunderschönes Stück«, sagte der Mann und langte ins Schaufenster, um die Halskette herauszunehmen, die Maddox ausgesucht hatte. »Halten Sie sie hoch«, bat Maddox. Der Mann nahm die Halskette an beiden Enden und hielt sie in die Höhe, bis sie über dem Knoten seiner Krawatte lag. »Genau das.« Maddox war glücklich. Außer dem Geschenk, das er Harvey Koster jedes Jahr zu Weihnachten machte, hatte er noch nie etwas für einen anderen Menschen gekauft. Der Verkäufer nahm das längliche Samt-Etui aus dem Fenster, und Maddox folgte ihm zum Ladentisch. »Ich brauche eine Karte«, -379
sagte Maddox, »eine Karte und einen Umschlag. Ich möchte, daß Sie das Ding einschlagen, die Karte oben drauflegen, das Ganze noch einmal einwickeln und einen Adreßzettel auf das Päckchen kleben. Können Sie das schaffen?« »Selbstverständlich, Captain.« Der Mann gab Maddox einen kleinen weißen Umschlag, aus dem ein Kärtchen hervorlugte. Maddox kehrte ihm den Rücken. Auf das Kärtchen schrieb er: Du kannst sagen, du hast es heute nachmittag gekauft. Er schob die Karte in den Umschlag und verschloß ihn; wartete, bis der Mann die Halskette eingepackt hatte, und schob den Umschlag unter das Band. »Jetzt noch mal«, sagte er und zog sein Scheckbuch heraus. »Was kostet der Spaß?« Der Verkäufer nannte den Preis. Maddox starrte ihn an, das offene Scheckbuch in der Hand. »Wir räumen Ihnen gern einen Kredit ein, Captain. Und wir verrechnen Ihnen auch keine Zinsen.« »Zu spät, um damit anzufangen«, lehnte Maddox ab. »Wir haben andere Stücke, die nicht so...« »Kommt nicht in Frage«, schnitt Maddox ihm das Wort ab. Diese Halskette war für Lenore. Sie hatte ihr schon gehört, als Maddox sie im Schaufenster gesehen hatte. Als er den Laden verließ, spürte er das Päckchen in seiner Rocktasche. Er hatte Lenore bei sich. In seinem Wagen legte er das Päckchen auf das Lenkrad und schrieb MRS. LENORE BERGMAN auf den Adreßzettel. Das Päckchen auf dem Schoß, fuhr er zum Western Sky Hotel. Am Taxistand blieb er hinter dem letzten Taxi stehen. Der Fahrer schlief; der Schirm seiner Mütze ruhte auf seiner Nase. Maddox schob ihm die Mütze zurück und schüttelte ihn. Als der Fahrer erwachte, hielt Maddox ein paar Münzen in einer und das Päckchen in der anderen Hand und gab dem Fahrer Anweisungen. »Lassen Sie Ihre Mütze hier.« Er wartete, den Ellbogen auf der offenen Taxitür. Da oben war sie, auf der Seeseite. Er spielte mit dem Gedanken, um das Hotel herum zum Strand zu gehen und Steinchen gegen ihr Fenster zu -380
werfen. »Du bist ein Kindskopf«, schalt er sich und sah den Fahrer zurückkommen. »Erzählen Sie mir, was Sie gemacht haben.« »Wie Sie es gesagt haben. Ich bin zum Portier gegangen und habe ihm einen Dollar und das Päckchen gegeben. Für diese Dame, habe ich gesagt. Legen Sie's in ihr Fach.« Maddox gab ihm noch einen Dollar, dann stieg er in seinen Wagen und fuhr ins Präsidium. Am selben Nachmittag waren Dr. Frank Puana und Mary Sue in dem blitzblanken Haus, in dem er geboren wurde und gelebt hatte, bis er in Seattle Medizin studierte, bei seiner Mutter zu Besuch. Norma Puana saß zwischen ihrem Sohn und ihrer Schwiegertochter, während Mary Sue ihr die Manschette eines Blutdruckmeßgeräts um den linken Oberarm legte. »Warum bringt ihr nicht die Kinder mit, wenn ihr mich besuchen kommt?« fragte Norma Puana. »Warum darf ich meine Enkelkinder nicht sehen?« Frank nahm einen Augenspiegel aus seinem Medikamentenkoffer. »Seitdem sie die Masern haben, sind wir nicht mehr allein gewesen«, klagte Mary Sue. »Wir waren froh, daß wir endlich ein paar Stunden für uns hatten.« Eine Krankenschwester, die zusammen mit Mary Sue im Mercy Hospital angefangen hatte, war freundlicherweise bei Eric und Jonathan geblieben. Vor dem Besuch bei seiner Mutter waren Mary Sue und Frank noch an den Strand gefahren. Frank hob den Augenspiegel, drehte das Licht auf und betrachtete das linke Auge seiner Mutter. Das Ophtalmoskop stellt den einzigen nichtchirurgischen Zugang eines Augenarztes zu den Blutgefäßen eines Patienten dar. Frank sah die hellroten Zeichnungen. Er sah die kleinen roten, unregelmäßig geformten Flecken, mikroskopischen Blumen gleich. Er sah Netzhautblutungen, mehr als er zählen konnte. Er diagnostizierte sofort auf maligne Hypertonie; eigentlich wußte er es schon seit einigen Monaten. Er untersuchte auch das andere Auge, weil -381
seine Ausbildung es erforderte. Er schaltete das Licht wieder aus, während Mary Sue die Manschette abnahm. »Hundertzehn zu Achtzig, Frank«, sagte sie, und zu seiner Mutter: »Du wirst bei uns wohnen müssen.« »Das ist mein Haus«, protestierte Norma Puana, »und hier will ich sterben.« »Du stirbst doch nicht«, log Frank. »Ich werde nicht ewig leben, Frank, auch wenn du Arzt bist.« »Wenn du dich entschließen könntest, bei uns zu wohnen, würdest du eine richtige Diät haben und dich wohler fühlen.« »Ihr habt euer Haus, ich habe meines«, murrte die alte Frau. »Zwei Frauen in einem Haus, das tut nicht gut. Außerdem...« Sie verzog vor Schmerz das Gesicht und legte die Hand an die Ohren. Infolge ihrer Hypertonie trat ständiges Ohr ensausen auf, das sich häufig zu einem unerträglichen Lärmen steigerte. »Sie hören und hören nicht auf«, klagte sie. Sie blieben bei Franks Mutter, bis das Ohrensausen nachließ, aber sie konnten sie nicht umstimmen. »Es ist wirklich schrecklich, sie so allein zu lassen. Vielleicht sollten wir für eine Weile zu ihr ziehen«, überlegte Mary Sue laut. Frank betrachtete Mary Sue. Die Stunden am Strand hatten ihr Gesicht rötlich gefärbt. Ihr blondes Haar war straff nach hinten gekämmt. Sie hatte sich am Strand umgezogen und eine tiefausgeschnittene Bluse angelegt. Frank sah sie noch im Krankenhaus: ganz in Weiß. Wie eine Krone hatte sie ihre Haube getragen. Er hatte sie an einem Abend kennengelernt, am Abend ihres fünfundzwanzigsten Geburtstags, als sie wegen eines Patienten, den Frank untersucht hatte, in die Notaufnahme gekommen war. Sie war so freundlich und plauderte mit solch unbeschwerter und von Herzen kommender Wärme, daß Frank einen Grund erfunden hatte, um ihr und dem Krankenpfleger zu helfen, den Patienten nach oben zu bringen. Er dachte auch am nächsten Tag und in der nächsten Woche an Mary Sue und stellte verschiedenen Krankenschwestern alle möglichen Fragen, etwa: -382
»Diese Mary Sue, ist sie schon lange bei uns beschäftigt?« Und: »Kommt sie aus den Staaten?« Er erfuhr eine ganze Menge über sie, einschließlich ihres Stundenplans, und nach zwei Wochen gelang es ihm, zu einer Zeit ins Krankenhaus zu kommen, als sie es gerade verließ. An diesem Tag ließ er ihr eine Botschaft zukommen, in der er sie um ein Rendezvous bat. Noch nie hatte er einen so netten Abend verbracht. Mary Sue übertrug ihre gute Laune und ihre einfache Vergnüglichkeit auf ihn. Sie gab ihm das Gefühl, ein charmanter, witziger und schneidiger Mann zu sein, und als sie sich voneinander verabschiedeten, fragte er sie, ob er sie wiedersehen dürfe. Das war im Herbst gewesen, und zu Weihnachten schenkte Frank ihr ein mit Brokatmustern geschmücktes Abendkleid aus China. Zwei Monate später bat er sie, sie seiner Mutter vorstellen zu dürfen, und an diesem Abend, im Wagen, fragte sie ihn: »Du hast doch irgend etwas vor, Frank, oder irre ich mich?« An diesem Abend bat er sie, seine Frau zu werden. »Ich weiß, du hast es ernst gemeint, daß wir zu meiner Mutter ziehen sollen«, sagte er zu ihr auf der Heimfahrt. »Aber du hast hier nie gelebt. Schau dich doch mal um.« Die verwahrloste Gegend widerte ihn an. »Willst du unsere Jungen hier haben? Sollen sie hier spielen?« Staub wirbelte auf, als er heftig auf die Bremse trat. Frank machte einen Bogen um das Geschä ftsviertel und fuhr in östlicher Richtung zum Mercy Hospital. Er beobachtete Mary Sue aus den Augenwinkeln. Sie saß in der Ecke, an die Tür gelehnt, den Kopf im offenen Fenster. Sie hielt die Augen geschlossen. Man hätte sie malen müssen. Frank gelobte sich, einen Maler zu engagieren und sie malen zu lassen. »Es hat Spaß gemacht heute, wir beide allein«, sagte er. »Es war schön«, stimmte sie ihm zu und setzte sich auf, als wollte sie den Tag beenden. »Ich mag gar nicht an morgen denken. Wann wirst du schlafen?« »Es ist ja nur eine Woche«, entgegnete Frank. Am nächsten -383
Morgen übernahm er die Vertretung eines japanischen Arztes in Moiliili. Er hatte das Angebot sofort angenommen. Sie brauchten das Geld. »Den ganzen Tag in Moiliili und die ganze Nacht im Krankenhaus«, seufzte Mary Sue. »Du wirst tot sein, wenn du nach Hause kommst.« Er grinste. »Und reich.« Mary Sue schlug ihm auf den Arm. Frank schrie auf, während er am Eingang des Mercy Hospital vorbei den Parkplatz und die Notaufnahme ansteuerte. Er hatte den Umweg gemacht, um sich seine Schuhe zu holen, die er im Krankenhaus anhatte. Sie waren abgetragen, schmutzig und blutbefleckt. Er dachte nicht daran, sich das eine gute Paar, das er noch besaß, von dem Pöbel in Moiliili kaputtmachen zu lassen. »Beeil dich, Frank«, sagte Mary Sue. »Ich mache mir Sorgen wegen der Kinder. Sie sind es nicht gewohnt, daß wir so lange weg sind.« »Bin gleich wieder da«, rief Frank ihr zu und verharrte kurz neben einem hellgrünen Packard-Tourenwagen mit einem großen Werkzeugkasten hinten und zwei in die Kotflügel eingelassenen Reserverädern vorn; ein prachtvolles Automobil. Frank warf einen Blick ins Innere des Wagens. Auf der vorderen Sitzbank lagen zwei Stöße Ordner und Papiere. Frank betrat die Notaufnahme. »Hallo, Pete.« Der Arztgehilfe begrüßte ihn, und Frank ging zum Ärzteumkleideraum neben den Aufzügen. Er nahm seine Schuhe aus dem Spind und stellte sich den grünen Packard vor, Mary Sue am Steuer und neben ihr Eric und Jonathan, ausstaffiert wie englische Schuljungen. Lächelnd verließ er die Garderobe. »Frank!« Guy Tremaine kam aus dem Aufzug. Er hielt einen Lederkoffer in der Hand. »Schön, daß ich Sie treffe.« Dr. Tremaine hatte eine der besten Praxen in Honolulu. Er war der einzige Arzt im Kollegium, der überhaupt wußte, daß es einen Dr. Frank Puana gab. »So kann ich mich wenigstens von Ihnen verabschieden«, sagte Tremaine. Sie schüttelten einander die Hände, und Tremaine erzählte, daß er seine Praxis aufgegeben -384
hatte. Tremaines Frau litt seit Jahren an multipler Sklerose, und nun wollten sie zusammen eine Reise um die Welt unternehmen. Eine Vakanz im Kollegium! Frank kam ins Kollegium! Warum hatte Claude Lansing ihm nichts gesagt? Frank mußte Guy Tremaine zuhören. »Tut mir leid, daß Sie uns verlassen, Herr Kollege«, mußte er sagen und im Gang stehenbleiben. Er konnte nicht länger warten - er wartete seit einer Ewigkeit! Er mußte zu Claude Lansing. Der Chefarzt würde heute bald gehen! »Ich hoffe, Sie werden eine wunderbare Reise machen, Dr. Tremaine.« Frank drückte auf den Aufzugknopf und blickte nach oben. Beide Aufzüge waren im dritten Stock. Frank lief zur Treppe. Schweratmend kam er im dritten Stock an. Auf den Gängen drängten sich Krankenschwestern, Patienten und Besucher. Frank schob sich an der Wand entlang auf die Büros in der Ecke zu. »Ich möchte Dr. Lansing sprechen.« Lansings Sekretärin betrachtete den Mann mit dem losen Hemd und den verschossenen, ausgebeulten Hosen, der ein Paar schmutzige Schuhe in der Hand hielt. »Ich bin Dr. Puana«, sagte Frank und stellte die Schuhe auf den Boden. Die Sekretärin rührte sich nicht. »Sagen Sie ihm, daß Dr. Puana ihn zu sprechen wünscht. Oder soll ich es ihm selbst sagen?« Die Sekretärin schob ihren Stuhl zurück und erhob sich, ging an Frank vorbei, als ob er nicht da wäre, öffnete die Tür zu Dr. Lansings Zimmer gerade so weit, um durchzuschlüpfen, und schloß sie hinter sich. Frank stand vor der Tür. Warum hatte Lansing es ihm nicht gesagt? Frank legte sein Ohr an die Tür. Er konnte nichts hören. Wo blieb die Sekretärin? Die Tür ging auf, und sie schlüpfte heraus. »Herr Doktor Lansing kann Sie jetzt nicht empfangen.« Sie ging zu ihrem Schreibtisch zurück. »Ich werde warten«, sagte Frank. »Er kann Sie heute nicht empfangen.« Frank hätte sie umbringen können. »Wer ist bei ihm?« -385
»Ich glaube, Sie sollten jetzt gehen«, erwiderte die Sekretärin, wandte ihm den Rücken zu und spannte einen Bogen Papier in ihre Schreibmaschine. Frank stand vor der Schreibmaschine. »Wissen Sie, wer ich bin?« »Ja, ich weiß, wer Sie sind«, antwortete sie. »Und Sie sollten jetzt lieber gehen. Nehmen Sie Ihre Schuhe und gehen Sie.« Sie begann zu tippen, hörte aber auf, als Frank nach Lansings Tür langte. »Sie können nicht...« setzte sie an, aber Frank hatte die Klinke schon heruntergedrückt. In Lansings Büro war niema nd. Sie hatte gelogen. Frank fühlte, wie ihm das Blut ins Gesicht schoß. Sie würde ihm die Wahrheit sagen! Er würde nicht früher gehen, bis sie ihm nicht die Wahrheit gesagt hatte. Er wirbelte herum, hörte Wasser rauschen und sah, als er sich langsam umdrehte, Licht aus dem Waschraum. »Dr. Lansing.« »Oh! Frank.« Claude Lansing blieb im Türrahmen stehen und drehte das Licht ab. Der reine Alkohol, den er mit etwas Ananassaft zu sich genommen hatte, zeigte Wirkung. »Hat Edna es Ihnen nicht gesagt? Ich muß zu einer Konferenz.« »Dr. Tremaine gibt seine Praxis auf«, sagte Frank. »Das Kollegium hat eine Vakanz.« Lansing ging auf seinen Schreibtisch zu. »Eigentlich nicht«, entgegnete Lansing. »Ich wollte es Ihnen schon noch sagen. Die Vakanz wurde besetzt.« »Es ist meine Vakanz!« rief Frank. Ihm war nach Weinen zumute. Es drängte ihn, den verlogenen Säufer zu packen und zu würgen, ihn mit beiden Händen zu erwürgen. »Es ist meine Vakanz! Sie haben sie mir versprochen!« »Sprechen Sie leiser«, sagte Lansing. Der Alkohol breitete sich wie eine Decke über ihn. »Ich werde leiser sprechen«, willigte Frank ein. »Jetzt spreche ich leiser, aber Sie können mich hören, nicht wahr?« Er kam auf ihn zu. »Können Sie mich hören? Sie haben mir die nächste Vakanz versprochen.« -386
»Ich konnte nichts machen«, wich Lansing aus. »Ich habe es versucht, aber der Vorstand...« »Zum Teufel mit dem Vorstand«, explodierte Frank. »Der Vorstand tut, was Sie sagen! Sie sind der Chef des Kollegiums! Sie haben mir zugesagt, mich ins Kollegium aufzunehmen.« »Ich habe Ihnen gesagt, Ihre Stimme zu dämpfen«, herrschte Lansing ihn an. Er hatte genug von dem Kanaken, diesem von der Gosse genährten dreckigen Inder. »Haben Sie Angst, daß mich jemand hören könnte?« Frank zitterte am ganzen Körper. Er breitete die Arme aus. »Damit Sie's wissen: Alle werden mich hören. Sie haben mir die Vakanz versprochen. Wenn Sie Ihr Versprechen nicht halten, werden mich alle in diesem Krankenhaus hören! Ganz Honolulu wird mich hören! Ich werde der ganzen Stadt, dem ganzen Territorium von Hester Ashley, oder wie sie sonst heißen mag, erzählen!« »Das glaube ich nicht«, versetzte Lansing. »Sie werden das Maul halten. Sie waren der Chirurg, Dr. Puana. Der ausführende Operateur. Das ist festgehalten. Auf dem Operationsprotokoll steht Ihr Name.« »Sie Lügner!« wütete Frank. »Sie schamloser, versoffener Gauner! Ein Schurke sind Sie, ein hinterlistiger Kerl, ein Schandfleck für unseren Stand!« »Wollen Sie das Protokoll sehen? Soll ich es Ihnen zeigen?« Lansing schwenkte die Arme. »Und jetzt ge hen Sie.« »Sie haben mir Ihr Wort gegeben!« Frank machte einen Satz vorwärts, Lansing sprang zurück und krachte gegen die Wand. »Hinaus mit Ihnen!« schrie Lansing. »Verlassen Sie mein Zimmer! Ich lasse Sie abführen, wenn Sie nicht gehen!« Er deutete auf das Telefon. »Ich rufe die Polizei und lasse Sie abführen! Und Sie werden keinen Fuß mehr in dieses Krankenhaus setzen! Solange ich Chefarzt bin, werden Sie in diesem Krankenhaus nicht mehr arbeiten!« Lansing sah, wie der Mann verfiel, dahinwelkte wie -387
ein Blatt im Herbst und abstarb. Lansing hatte gute Lust, ihn mit einem Tritt aus dem Raum zu befördern. »Raus jetzt, Sie halten mich von meiner Arbeit ab«, sagte Lansing barsch und vergaß die Konferenz, die er erfunden hatte. Als Frank vom Flur aus die Notaufna hme betrat, kam Mary Sue durch die Tür gegenüber. »Haben Sie Dr. Puana...« setzte sie an und brach ab. »Frank! Was ist passiert?« Peter Monji beobachtete den Arzt, der, seine Schuhe in der Hand, daherkam, als wäre er bei seiner eigenen Beerdigung. Die Tür schlug Mary Sue in den Rücken. Sie streckte ihm die Arme entgegen. Er tat, als ob sie nicht da wäre. Sie hielt ihn fest, stieß die Tür auf und führte ihn zum Wagen. »Sprich mit mir, Frank. Du warst so lange fort. Was ist passiert, Liebster?« »Im Wagen«, murmelte er. »Ich fahre«, sagte Mary Sue, aber Frank riß die Tür zum Fahrersitz auf und warf seine Schuhe in den Fond. »Ich kann fahren! Ich kann immer noch fahren!« schrie er. Mary Sue ging um den Wagen herum und setzte sich neben ihn. »Etwas Furchtbares is t geschehen«, bangte sie. »Bitte, Frank, sag es mir.« Frank verließ den Parkplatz und schlug den Weg nach Hause ein. »Ich war bei Claude Lansing«, begann er, und während Mary Sue ihm zuhörte, strich sie mit den Fingern über Franks Rücken und massierte ihn sanft. Sie unterbrach ihn nicht, und als er verstummte, nahm sie seine Hand und küßte sie. »Du glaubst wohl, ich werde jetzt böse sein und mir die Haare raufen«, sagte sie. »Ich denke nicht daran. Er hat uns einen Gefallen getan, Frank. Lansing hat uns einen Riesengefallen getan. Und weißt du, was er getan hat? Er hat es uns ermöglicht, an Bord eines Schiffes zu gehen, eines Schiffes, das dich und mich und die Kinder in die Staaten bringt. Liebster, er hat unserem Elend ein Ende gesetzt.« »Er hat mich belogen! Er hat mich wie Dreck behandelt!« -388
»Er ist der Dreck, Frank. Lansing ist der Dreck. In den Staaten könnte er seine Approbation nicht lange behalten. Auch Delphine Lansings Geld könnte ihn dort nicht in ein Krankenhaus einkaufen.« »Seine Sekretärin wollte mich nicht einmal in sein Zimmer lassen!« wütete Frank. »Ich mußte mir mit Gewalt Zutritt verschaffen.« Mary Sue strich über seinen Rücken. »Das war das letzte Mal, Liebster«, versprach sie ihm. »Niemand wird dich je wieder so behandeln. Daheim werden sie sich drum reißen, dich im Kollegium zu haben.« Sie war schon ganz aufgeregt. »Fangen wir noch heute abend mit dem Packen an, Frank. Wir können uns nach einem Schiff erkundigen, und vergiß nicht, daß wir die Miete schon im voraus bezahlt haben.« »Immer la ngsam mit den jungen Pferden«, monierte Frank und begann sich über sie zu ärgern. »Morgen fängt meine Vertretung an.« »Das ist eine Woche«, entgegnete Mary Sue, drehte sich herum und schlug die Beine übereinander, bis sie ihm im Schneidersitz gegenübersaß. »Das gibt uns ein paar Extratage für allerlei Kleinkram, der noch nicht erledigt ist. Es ist ein Zeichen, Frank«, sprudelte sie. »Alles greift ineinander, und am Ende sind wir in den Staaten. Und das Geld für die Vertretung können wir gut brauchen.« »Und was ist mit dem Wagen?« »Verkauf ihn!« antwortete sie. »Wir werden ihn veräußern. Und in San Francisco einen neuen kaufen. Du bist doch Arzt. Die Banken dort reißen sich darum, Ärzten Kredite zu geben. Dann fahren wir nach Wisconsin. Wir zeigen den Jungen ihre neue Heimat. Grand Canyon und Yellowstone Park. Den Glacier Park und den Großen Salzsee in Utah, den Versteinerten Wald, die Schwarzen Berge. Und die Stromschnellen des Colorado. Warte, bis du die Stromschnellen siehst! Sogar im Winter. Kommenden Sommer mieten wir uns ein Häuschen. Du hast ja noch nie Urlaub -389
gemacht, Frank!« »Und was mit meiner Mutter?« »Mit deiner Mutter?« »Was soll ich mit ihr machen? Ihr zum Abschied winken, als ob sie eine Eskimofrau auf einer Eisscholle wäre?« »Wir nehmen sie mit!« Mary Sue hatte für alles eine Lösung. »Wir nehmen sie einfach mit!« »Weißt du auch, was du da zusammenredest?« Frank gestikulierte heftig. »Sie will ihr Haus nicht verlassen!« Mary Sue stellte ihre Beine wieder nebeneinander und lehnte sich zurück. »Frank, aber wir verlassen Hawaii. Was heute geschehen ist, hat den Ausschlag gegeben. Wie lange willst du dich noch schurigeln lassen?« Sie sprach bedachtsam und deutlich, und ihre Worte fielen wie Hammerschläge. »Wir fahren in die Staaten, wo alle Menschen gleich geboren werden. Gleich geboren, Frank. So steht es in der Verfassung.« »Du hörst mir nicht zu. Was soll ich mit meiner Mutter machen?« »Ich habe schon gesagt, daß wir sie mitnehmen. Wenn sie nicht mitkommen will... Wir sind vier gegen eine, Frank. Vie r Leben gegen eines.« »Ich kann nicht so kaltblütig sein wie du«, hielt Frank ihr vor. »Kaltblütig?« Mary Sue schaute ihn grimmig an. »Es ist noch keine Stunde her, daß ich ihr angeboten habe, zu ihr zu ziehen! Mit meinen Kindern zu ihr zu ziehen!« »So habe ich das nicht gemeint«, protestierte Frank. Konnte er denn heute gar nichts richtig machen? »Ich gehe fort. Frank«, sagte Mary Sue. »Die Jungen und ich, wir gehen fort. Mit dir oder ohne dich«, log sie. »Ich meine es ernst.« »Du redest, als ob hier eine Seuche ausgebrochen wäre, vor der wir uns in Sicherheit bringen müssen«, wandte er ein. »Du kannst -390
nicht einfach über Nacht ein neues Leben beginnen. Das geht nicht, Mary Sue.« Plötzlich brach der Wagen nach rechts aus. Frank trat auf die Bremse. »So ein Mist, der Reifen.« Sie hatten die Panne kurz vor zu Hause. Mary Sue machte die Tür auf. »Na, dann Wechsel halt den Reifen«, sagte sie und sah ihn dabei nicht an. »Du mußt Kay noch nach Hause bringen.« Kay war die Krankenschwester, die bei Eric und Jonathan geblieben war. Mary Sue knallte die Tür ins Schloß. Frank war ausgestiegen, sperrte den Kofferraum auf und bückte sich, um den Wagenheber herauszunehmen. »Verkauf ihn«, wiederholte er giftig. »Nur ein Blinder würde diese alte Kiste kaufen.« Ein paar Stunden zuvor war Bryce in Pearl Harbor auf die Straße getreten und hatte, als ein Lastwagen der Navy herankam, den Arm gehoben. Im Führerhaus saßen zwei Matrosen. Sie waren unterwegs nach Honolulu, um Fleisch für die Mannschaftsküchen zu holen. Als der Lkw anhielt, ging Bryce zum Führerhaus vor. »Fahrt ihr Burschen in die Stadt?« fragte er. Die Tür öffnete sich. »Ich steig hinten auf«, sagte der Matrose neben dem Fahrer. Bryce hielt sich an der Tür fest und stieg auf das Trittbrett. »Bleiben Sie nur«, sagte Bryce. »Das geht schon.« Die Matrosen rückten zusammen, und Bryce setzte sich neben sie. Er schwieg, und die Matrosen schwiegen auch. Als ob er auf dem Kühler gestanden hätte, sah Bryce vor sich den Tisch am Fenster im Offiziersklub. Er sah Hester, die ihm von den Selleriestengeln anbot. Er sah Ginny und konnte sehen und hören; während dieser ganzen qualvollen, scheußlichen, von ihr arrangierten Überraschungsparty hatte sie unaufhörlich gequasselt. So ein Trampel! Diese verrückte Kuh, ihn, sie alle, in den Klub zu bringen, um die barmherzige Samariterin zu spielen. Er hatte durchgehalten, solange er konnte. »Die Pflicht ruft!« hatte er sich schließlich entschuldigt und war aufgestanden. »Ich bleibe noch ein Weilchen bei Hester«, sagte Ginny. »Hast du weit zu laufen?« »Einen Hopser und einen halben Hüpfer«, antwortete Bryce. -391
Ginny hob den Kopf, und Bryce mußte sie küssen. Er mußte Gerald die Hand schütteln und ihm seine unerschütterliche Unterstützung geloben. Er mußte auch Hester einbeziehen, und als er den Klub verließ und sich befreit glaubte, entdeckte er, daß ihn immer noch der Flammenring einschloß, den er durchschritten hatte und den er hinter sich glaubte. Er war zur Bluegill zurückgekehrt, konnte aber nicht an Bord bleiben. Er konnte sich nicht konzentrieren. Er konnte sich nicht aus der Falle befreien, die Ginny ihm gestellt hatte. Er erzählte dem Seeoffizier, er fühle sich nicht wohl, und verließ die Bluegill. Zuerst war Hester ihm durch ganz Pearl nachgelaufen. Jetzt hatte sich seine eigene Frau der Jagd gesellschaft angeschlossen. »Sie hat einen langen Atem«, murmelte er, als er sich von den U-Boot-Bunkern entfernte und auf die Fahrbereitschaft zuging, wo er den erstbesten Lastwagen anhielt, der ihm entgegenkam... »An der nächsten Ecke«, sagte er, als sich der Lkw der Innenstadt näherte. Der Fahrer hielt am Bordstein. »Danke, Matrose.« Bryce stand in einer fremden Stadt unter Fremden. Er hatte sich bewußt dafür entschieden; schon zu vielen bekannten Gesichtern hatte er entgegentreten müssen. Er überquerte die Straße und schlenderte ziellos dahin. Einige hundert Meter weiter sah er ein Schild über dem Gehsteig: VIERUNDZWANZIG STUNDEN GEÖFFNET. Bryce blieb stehen. Die Tür war offen, und auf dem Boden lag Sägemehl. »Scheißladen«, brummte Bryce und ging hinein. Er glaubte sich in eine Höhle verirrt zu haben und konnte sekundenlang nichts sehen. Aus einer Stehlampe neben der Registrierkasse fiel Licht auf die Theke zu seiner Rechten. Eine zweite Lampe hing über zwei Türen mit der Aufschrift: FRAUEN und MÄNNER. Quer über die Breite des Lokals und entlang der Wand gegenüber der Theke lief ein Rechteck von Logen. Jemand schnarchte. In einiger Entfernung von den drei Männern in der Mitte trat Bryce an die Theke und blieb unweit der Registrierkasse stehen. Sich die Hände an seiner Schürze -392
abwischend, die er um die Taille gebunden hatte, näherte sich ihm der Schankwirt, ein großgewachsener, hohlwangiger Mann, der eine Zigarette hinter dem Ohr stecken hatte. »Was darf's sein?« »Was haben Sie denn?« wollte Bryce wissen. »Dünnbier«, antwortete der Schankwirt und meinte damit ein Gebräu mit 3,2 Prozent Alkoholgehalt, das sein Entstehen der Prohibition verdankte und legal ausgeschenkt werden durfte. »Dünnbier und was noch?« »Dünnbier und Dünnbier«, antwortete der Schankwirt. »Das ist hier keine Giftbude. Wir sind sauber.« »Das soll ich Ihnen glauben.« Bryce wollte nichts mehr hören. Er langte in die Tasche, um etwas Geld herauszuholen. Der Schankwirt brachte ihm eine offene Flasche und ein Glas. Das Schnarchen ging Bryce auf die Nerven. »Ziemlich laut, das Kabarettprogramm hier«, sagte er. Der Schankwirt strich das Geld ein. »Wir leben in einem freien Land, Matrose«, entgegnete er, als aus einer Loge hinter Bryce ein Mann herauskam und den Raum durchquerte. Der Schankwirt drückte auf eine Taste der Kasse; die Lade sprang auf, und ein Glöckchen läutete. Der Schankwirt legte das Wechselgeld neben Bryces Bier, als der Mann die Theke erreichte und Zeige- und Mittelfinger hochhielt. »Bedienung«, sagte der Mann. Er war so groß wie Bryce, aber zweimal so massig, ein Schwergewichtler mit breiten Schultern und breiter Brust, einem japanischen Ringkämpfer nicht unähnlich. Bestimmt hatte er auch japanisches Blut in den Adern, und nicht nur das, dachte Bryce. Er war dunkler als ein Hawaiier, ein reinrassiger Bastard, dachte Bryce. Der Mann hatte seine Hemdsärmel hochgekrempelt, und auf seinem rechten Arm war eine Schlange tätowiert. Er zahlte für seine zwei Flaschen und kehrte zu den Logen zurück. Bryce füllte sein Glas. Das Bier war eiskalt. Bryce leerte sein Glas und goß den Rest nach. Er stützte beide Ellbogen auf die Theke und konstatierte, daß das Schnarchen aufgehört hatte. Bryce bestellte eine zweite Flasche, -393
trank mit Bedacht und genoß seine Abgeschiedenheit in dem kühlen Raum, die Stille und das nur von zwei Lichtkreisen durchbrochene Dunkel. Als sein Glas leer war, hob Bryce den Arm, bestellte eine dritte Flasche und lächelte zum ersten Mal an diesem Tag. Er hörte Schritte, und eine Frau ging am Ende der Theke zu Bryces Linken vorbei. Sie war eine stattliche, vielleicht ein wenig zu üppige Frau mit kurzgeschnittenen schwarzen Haaren. Ihr Busen wippte beim Gehen. Sie warf Bryce einen vielsagenden Blick zu, bevor sie bei der Tür für DAMEN anlangte. Der Schankwirt stellte wieder eine Flasche Bier vor Bryce hin und nahm die leere weg. Bryce füllte sein Glas. Der Mann mit der Tätowierung kam wieder und wartete, während der Schankwirt die drei Kunden in der Mitte bediente. Sie sah Bryce noch einmal an, als sie in ihre Loge zurückkehrte. Bryce kehrte der Theke den Rücken zu; als die Frau sich setzte, folgte er ihr. Von höflichkeitsbeflissenen feinen Leuten hatte er für einige Zeit die Nase voll. »Hallo.« Sie musterte ihn, als ob er zur Versteigerung gebracht werden sollte. »Haben Sie nicht gelernt, den Hut abzunehmen, wenn Sie mit einer Dame sprechen?« »Ich mag keine Damen«, erwiderte Bryce lächelnd. »Und feine Herren auch nicht.« Er lehnte sich an das Logengeländer. Sie stellte eine leere Flasche vor sich hin. »Was mögen Sie dann?« fragte sie. Jemand stieß Bryce an, und er hatte das Gefühl, von einem Lastwagen gerammt worden zu sein. Das Bier schwappte über den Rand seines Glases. Bryce stellte es auf den Tisch und schüttelte seine nassen Hände. Er hob den Blick und sah den tätowierten Schwergewichtler vor sich, der zwei Flaschen in der Hand hielt. »Du stehst vor dem falschen Trog, Matrose«, brummte der Mann. Bryce trat einen Schritt von der Loge zurück. »Du könntest recht haben, denn ich sehe nur ein Schwein«, gab Bryce zurück. Der Schwergewichtler beugte sich vor, stellte die zwei Flaschen auf den Tisch und schlug, immer noch -394
vornübergebeugt, mit seiner Linken zu, doch Bryce war schon weggetaucht und hinter dem Mann. Als sein Gegner sich umdrehte und den Arm hob, schlug Bryce ihm zwischen die Augen. Der Mann taumelte, brüllte vor Schmerz, schwankte vorwärts, und Bryce stoppte ihn mit der Linken, duckte blitzschnell ab und hieb die Rechte nach. »Hört auf!« rief die Frau, die sich auf den Tisch stützte und aus der Loge wollte. Mit dem Kopf voran warf sich der Mann auf Bryce, der sein Gewicht etwas verlagerte und ihm mit aller Kraft die Faust in den Bauch stieß. »Hört endlich auf!« schrie die Frau und stürzte sich auf Bryce. Er schleuderte sie in die Loge zurück und verlor dabei seine Mütze. Als der Tätowierte wieder vor ihm stand, die Arme kraftlos und sich vor Schmerzen krümmend, stellte Bryce sich zurecht und deckte ihn mit einem Hagel von Schlägen ein. Der Mann war erledigt. »Schluß jetzt«, rief der Schankwirt, und lauter: »Schluß jetzt!« Bryce hörte ihn nicht, hörte nichts und sah nichts, nur den blutenden Schwergewichtler, der ihn angegriffen hatte. Der Mann torkelte rückwärts, und Bryce folgte ihm - die Füße flach auf dem Boden, in bester Balance, um mit seinen Schlägen größte Wirkung zu erzielen. Die drei Männer, die zusammen getrunken hatten, kamen auf den Lieutenant zu. »Das reicht«, sagte der eine, und »Mann, der ist doch schon erledigt«, der zweite. In der linken Hand die Schürze gerafft, um nicht zu stolpern, kam der Schankwirt hinter der Re gistrierkasse hervor. Die Frau schrie. »Tut doch was!« kreischte sie. Der Eingang füllte sich mit Passanten, die in der Tür stehenblieben, um der Schlägerei zuzusehen. »Das ist ja ein Gemetzel!« rief einer. »Haltet ihn auf!« schrie die Frau. »Schluß jetzt, hab ich gesagt!« brüllte der Schankwirt und drängte die drei Männer zur Seite, die die Kämpfer umstanden. Wieder holte Bryce aus und sah nicht, wie der Schankwirt seinen rechten Arm hob und einen Totschläger schwang - einen mit -395
Leder überzogenen Eisenstab. Keuchend vor Anstrengung gab ihm der Schankwirt eins über den Schädel. Bryce fiel schwer nach vorn und landete mit dem Gesicht im Sägemehl. Die Frau lief quer durch das Lokal und bahnte sich mit den Ellbogen einen Weg durch die Gaffer, die den Eingang blockierten. Die Beine des Tätowierten knickten ein, langsam sank er zu Boden und blieb auf der Seite liegen; Blut überströmte sein Gesicht. Der Schankwirt ließ den Totschläger in die Tasche gleiten. »Verdammtes Pack«, brummte er und schleuderte Bryces Mütze mit dem Fuß zur Seite. Sie blieb auf den Beinen des Lieutenants liegen. »Das ist hier ein anständiger Laden«, knurrte er. »Laßt sie liegen. Die Polente soll sie wegschaffen.« Er ging hinter seine Theke zurück, um die Polizei zu rufen. »Die Tür ist auf«, sagte Maddox auf das Klopfen hin, und Al Keller betrat das Büro. Es war kurz nach achtzehn Uhr. Der Rotschopf war unrasiert und wie ein Stadtstreicher gekleidet. Maddox lachte. »Sie hätten Schauspieler werden sollen.« »Meine Frau meint, ich würde den Kindern angst machen.« Er kam auf den Schreibtisch zu. »Für den Einsatz drüben in Pacific Heights hatte ich einen Polizeiwagen genommen.« Nach drei aufeinanderfolgenden Einbrüchen hatte Maddox Keller beauftragt, das elegante Viertel nachts zu überwachen. »Ich war in der Garage, um meinen Wagen zu holen, als dreisechzehn den Gefangenenwagen anforderte. Captain, es gibt schon wieder Stunk mit einem Navy-Offizier.« Zum ersten Mal an diesem Tag vergaß er Lenore. Er griff nach dem Telefon. »Maddox. Geben Sie mir die Einsatzzentrale.« »Ein Schankwirt mußte diesem Seemann eins überziehen«, berichtete Keller. »Sonst hätte er den anderen umgebracht.« »Umgebracht?« wiederholte Maddox. »Die machen sich ja langsam ein Hobby daraus.« Und wieder ins Telefon: »Zunächst mal, wo haben Sie dreisechzehn hingeschickt?« Er hörte zu. -396
»Verbinden Sie mich mit einem von den Männern.« Maddox trommelte auf den Schreibtisch, Keller sah, wie sich Maddox plötzlich über den Apparat beugte und die Finger um die Sprechmuschel legte. »Erzählen Sie bitte, was Sie wissen«, sagte er und lauschte. »Er muß doch einen Ausweis bei sich gehabt haben.« Er blickte auf und bedeutete Keller mitzuschreiben. Der Beamte zog ein kleines Notizbuch mit einem Bleistift aus der Tasche. »Bryce«, sagte Maddox. »Buchstabieren Sie. B-R-Y-C-E. Bryce Partridge. Lieutenant. United States Navy, Bluegill. Bluegill?« Keller stockte sekundenlang. Die Bluegill war Murdochs U-Boot. Während er weiterschrieb, sagte Maddox: »Ich brauche die Aussage des Schankwirts. Aussagen von allen Zeugen.« Die Prinzessin hatte recht gehabt: Sie hatten zur Jagd auf alle geblasen. Er knallte den Hörer auf die Gabel. Sein Stuhl krachte gegen die Wand, als er aufstand. Und mit der Hüfte stieß er gegen den Schreibtisch. »Der Gefangenenwagen ist schon hierher unterwegs.« »Unterwegs zur Garage?« fragte der Rotkopf. »Soll ich mich zu Ihrer Verfügung halten, Captain?« »Könnte sein, daß ich Sie brauche«, antwortete Maddox, und dann in scharfem Ton: »Nein! Wir werden dafür bezahlt, in Honolulu Ordnung zu halten, nicht bei der US-Navy!« Maddox ließ ihn stehen und ging zur Rampe vor, die zur Garage hinunterführte. Das Tageslicht, das von der Straße hereinfiel, verdämmerte. Maddox verließ die Garage und blieb am Fuß der Rampe stehen. »Bluegill«, murmelte er. »Komisch.« Er blieb stehen, bis er den schweren Motor des Gefangenenwagens hörte. Maddox ging ins Gebäude zurück und durchschritt die Tür, die zum Bunker führte. Der Fahrer war allein. »Einen von ihnen hat man arg zugerichtet, Captain«, meldete er und schloß die Hintertür des Wagens auf. Drinnen, auf der Bank rechts, sah Maddox den Navy-Offizier, dem man Handschellen angelegt hatte, neben dem anderen Cop sitzen. »Ich darf Ihnen Bryce Partridge vorstellen, -397
Captain«, sagte der Fahrer. »Kann mit seinen Flossen verdammt gut umgehen.« Bryce starrte ausdruckslos vor sich hin. Der Begleiter des Fahrers stieß Bryce an. »Endstation«, sagte er. »Bei dem anderen Kerl brauche ich Hilfe. Der sieht immer noch die Sterne.« Maddox beobachtete, wie die Beamten Bryce aus dem Wagen holten. Der Lieutenant schwankte. Maddox hob die Hand, streckte den Zeigefinger aus und bewegte ihn über Bryces Gesicht. Bryces Augen folgten dem Finger. »Schauen wir uns mal den Verlierer an«, schlug Maddox vor. Der Fahrer kletterte in den Wagen. »Wir werden einen Kran brauchen, um den hier rauszukriegen«, sagte der Beamte. Er beugte sich über den Mann, schob und zerrte. »Wiegt mindestens 'ne Tonne«, meinte er. Es gelang ihm, den Tätowierten aufzurichten. Maddox trat näher und spähte in das Innere des Wage ns. Das Gesicht des Mannes war wie Hackfleisch. Seine Augen waren wie zwei blaue Steine. Seine Nase war flach und verfärbt, von einem einzigen Faustschlag gebrochen, und die Nasenlöcher waren blutverkrustet. »Haben Sie schon mal so was gesehen, Captain?« fragte der Fahrer. Maddox schüttelte den Kopf. »Ich meine, ich mag Boxkämpfe. Aber das habe ich auch im Ring noch nie erlebt. Kommt mir vor, als ob der Matrose mit einem Meisel gearbeitet hätte.« Der Cop an Bryces Seite sagte: »Den trage ich jetzt mal ins Haftbuch ein. Ich schicke einen Kollegen, der euch hier ein bißchen unter die Arme greift.« »Führen Sie als Haftgrund schwere Körperverletzung an«, sagte Maddox, während er aus dem Wagen kletterte. »Wir werden ihn vor Gericht bringen. Diesen Punchingball müssen wir uns auf Eis legen. Phil Murray wird ihn im Gerichtssaal brauchen.« Maddox warf noch einen Blick ins Innere des Wagens. »Der muß wieder zusammengeflickt werden. Fahrt ihn ins Mercy Hospital und wartet dort...« Maddox brach ab und wirbelte herum. »Nein!« Man hätte ihn kilometerweit hören können. Und wie ein Scharfrichter ging er -398
auf Bryce zu. Mercy Hospital! »Es könnte ein Herrenring gewesen sein«, hatte dieser Dr. Sowieso in der Notaufnahme gesagt, während Hester Ashley Murdoch auf dem Operationstisch lag. »Ein Herrenring.« Maddox blieb vor Bryce stehen, dessen rechte Hand in Handschellen steckte. Er ergriff Bryces linkes Handgelenk und sah den großen Klassenring der Akademie mit der auf dem Stein hervortretenden metallenen Jahreszahl 1925. »Der kommt mit mir«, sagte Maddox. Der Cop griff nach seinem Schlüssel. »Wollen Sie ihn mit Handschellen haben, Captain?« »Der bleibt uns eine Weile erhalten«, antwortete Maddox, und es war ein Versprechen. Als ihm die Handschellen abgenommen wurden, rieb sich Bryce das rechte Handgelenk. »Kommen Sie mit, Lieutenant.« In Bryces Kopf lief eine sirrende Bandsäge. Ein Echo dröhnte in seinem Schädel, ein rhythmisches Brausen, das aus weiter Ferne zu kommen schien und doch so nah war. Langsam kippte die Garage um und ric htete sich ebenso langsam wieder auf. Er sah den Mann vor sich nur verschwommen. Er schien Schlagseite zu haben und hin und wieder aus seinem Gesichtskreis zu verschwinden, als ob er hinter einem Paravent getreten wäre. Bryce fühlte die Hand des Mannes auf seinem Arm, und dann gingen sie über einen schiefen Fußboden. »Captain!« Der Fahrer hielt Bryces Mütze. »Die Navy soll nicht sagen, wir hätten sie geklaut«, meinte er. Langsam, ihn am Arm festhaltend, stützend, verließ Maddox mit Bryce die Garage. Der Aufzug hielt im zweiten Stock, und Maddox blieb neben einem Wasserspender stehen. »Wird Ihnen guttun.« Bryce trank und wollte sich aufrichten, beugte sich aber noch ein zweites Mal über den Wasserspender. Das klare Wasser belebte ihn. Er konnte den Mann sehen, diesen Captain. Der Fußboden war jetzt waagerecht und die Wände waren gerade. Maddox öffnete die Tür zu seinem Büro. Er schob einen Stuhl direkt vor seinen Schreibtisch und ließ die Mütze darauf fallen. »Lieutenant.« Maddox ging um den Tisch herum und blieb am Fenster stehen. -399
Die Nacht war hereingebrochen, und er konnte die Straßenlampen durch die Jalousien sehen. Bryce setzte sich und hielt die Mütze mit beiden Händen fest. Maddox ließ sich auf seinem Sessel nieder. »Sie wissen, wer ich bin, Lieutenant.« Bryce konnte ihn jetzt deutlich sehen. Er war ein großgewachsener Mann, schlank und durchtrainiert. »Sie sind ein Polizei-Captain.« »Captain Maddox. Curt Maddox.« Er lehnte sich zurück und machte es sich bequem, so als plaudere er mit einem Freund irgendwo weit weg vom Präsidium. »Wissen Sie, warum ich Sie hier herauf gebracht habe, Lieutenant?« »Wegen der Schlägerei.« »Wegen einer Schlägerei. Nicht wegen dieser. Bei dieser sprechen die nackten Tatsachen für sich. Sie sind von der Bluegill, Murdochs U-Boot, nicht wahr? Sicher sind Sie mit ihm befreundet.« »Wir sind Schiffskameraden«, antwortete Bryce. »Wahrscheinlich kennen Sie seine Frau, wo Sie doch Schiffskameraden sind«, fuhr Maddox fort. Er sah, wie Bryces Finger sich um die Mütze krampften, sah, wie die Knöchel weiß wurden. »Ja, ich kenne sie. Wir alle kennen einander. Warum?« »In der Nacht, wo das Ganze begann, waren Sie im Whispering Inn«, kombinierte er. »Sie waren mit den Murdochs zusammen.« »Es waren alle mit allen zusammen«, sagte Bryce. »Es war eine Party. Wir waren alle zusammen.« »Sie und die Murdochs«, beharrte Maddox. »Hester und Gerald.« »Und meine Frau«, stellte Bryce klar. »Meine Frau war auch da. Es war eine Willkommensparty für meine Frau.« Maddox stieß einen langen Seufzer aus. »Ach ja. Willkommen in Hawaii?« -400
»Ja, willkommen in Hawaii«, sagte Bryce. »Warum stellen Sie mir diese Fragen?« Maddox hörte einen Lkw, der die Straße heruntergepoltert kam, lauter und lauter, und dann stehenblieb. »Sie waren ganz allein hier, ist das richtig? Wie lange waren Sie allein, Lieutenant?« »Was spielt das für eine Rolle? Sie haben mich verhaftet, weil ich mich verteidigt habe«, entgegnete Bryce. »Ich bin unschuldig. Er war der Angreifer.« »Na sicher. Sie waren also mit den Murdochs im Whispering Inn. Und mit Ihrer Frau. Alle beisammen, wie Sie sagten. Aber doch nicht die ganze Zeit. Hester Ashley Murdoch verließ den Saal. Haben Sie gesehen, wann sie ging, Lieutenant?« Wieder kam ein Lastwagen und blieb stehen. »Haben Sie's gesehen, Lieutenant?« »Sie stellen mir Fragen, Fragen über eine Party, die an irgendeinem Abend war im letzten Herbst«, erwiderte Bryce. Maddox sah, wie der Lieutenant auf seinem Stuhl herumrutschte. »Ich kann mich nicht erinnern, was irgendwann im letzten Herbst war.« »Aber ich kann es«, sagte Maddox. »Haben Sie mit Mrs. Ashley Murdoch getanzt?« »Nein, ich habe nicht mit ihr getanzt.« »Sehen Sie, Sie erinnern sich, daß Sie nicht mit ihr getanzt haben«, nagelte Maddox ihn fest. »Vielleicht erinnern Sie sich auch, daß sie spazierengegange n ist. Sie verließ die Party, um spazierenzugehen. Hat jemand sie begleitet?« »Ich sagte Ihnen schon, ich kann mich nicht erinnern.« »Kramen Sie doch noch ein wenig in Ihrer Erinnerung, wie man so schön sagt.« Bryce ballte die Faust unter seiner Mütze. »Sie können mich hier nicht festhalten.« »Ich kann nicht, aber ich tu's. Wo waren Sie, als Hester Ashley -401
Murdoch sich vor der Party drückte?« »Ich sagte schon, ich kann mich nicht erinnern. Wahrscheinlich habe ich mit meiner Frau getanzt.« »Zweifelsohne.« »Es ist die Wahrheit!« rief Bryce. Nie hätte er diese Kneipe betreten sollen. Nie hätte er diese Schlampe, diese billige Nutte, ansehen sollen! »Jeden Tag höre ich das gleiche«, gab sich Maddox überrascht. »Nie lügt mich jemand an. Alle sagen mir die Wahrheit. Hester Ashley Murdoch hat die Wahrheit gesagt.« Er öffnete die Mittellade seines Schreibtisches und nahm einen Umschlag heraus. »Aber ich suche immer noch nach dem Burschen, der sie krankenhausreif geprügelt hat.« »Man hat diese Leute erwischt!« entgegne te Bryce mit erhobener Stimme. »Mrs. Ashley Murdoch hat diese Männer identifiziert!« »Die Geschworenen haben ihr aber nicht ganz geglaubt«, hielt Maddox ihm entgegen. »Ich auch nicht, aber bis heute abend hatte ich keine Fakten, die mich weitergebracht hätten.« Behutsam, als enthielte er ein kostbares Schmuckstück, drehte er den Umschlag um und ließ einen weißen Hemdknopf auf seine Handfläche fallen. »Der stammt von keinem der Hemden, die die vier jungen Männer angehabt hatten. Heben Sie doch mal Ihre linke Hand, Lieutenant.« »Ich verlange einen Anwalt«, sagte Bryce. »Bekommen Sie. Der Cop unten hat gemeint, er hätte so etwas Wüstes wie das zerschlagene Gesicht Ihres Kontrahenten noch nie gesehen. Ich schon.« Maddox nickte. »Hester Ashley Murdoch, am Abend der Willkommensparty Ihrer Frau. Sie brauchen mir den Ring nicht zu zeigen«, fuhr Maddox fort. »Ich habe ihn schon gesehen.« Bryce sprang auf. »Sie würden nicht einmal bis zum Aufzug kommen.« Bryce sah, wie der Captain den Hemdknopf in den Umschlag fallen ließ. -402
»Ich habe das Recht auf einen Anwalt«, beharrte Bryce. Maddox stand auf und ging um den Schreibtisch herum. »Sie wurde gar nicht vergewaltigt«, sagte Maddox. »Ich vermute, daß Sie und Mrs. Ashley Murdoch die großen Liebenden von der Bluegill waren. Bis Ihre Frau zurückkam. Ich vermute weiter, daß Sie ihr bei der Willkommensparty adieu sagten; aber die kleine Hester wollte nichts davon wissen. Und ich vermute weiter, daß es zu einer Auseinandersetzung zwischen Ihnen kam, und daß Sie sie anschließend zusammengeschlagen haben. Sie sind ein ganz gefährlicher Bursche, Lieutenant. Man sollte Sie aus dem Verkehr ziehen, bevor Sie jemanden umbringen, Sie mit Ihrem Ring. Sie gehören in eine Gummizelle, und ich werde alles tun, um Sie dorthin zu bringen.« »Sie sind es, der in eine Gummizelle gehört«, sagte Bryce. »Das werden wir sehr bald wissen«, konterte Maddox. »Sie werden Ihren Anwalt kriegen. Er wird hierherkommen. Auch Hester Ashley Murdoch und ihr Mann werden dasein und der arme Kerl, den Sie heute fast umgebracht hätten. Ich werde zuerst Murdoch sagen, daß er den Falschen erschossen hat, und dann werden wir sehen, wem er mehr glaubt: Ihnen und seiner Frau oder mir.« »Sie wollen...« begann Bryce und brach ab, als Maddox plötzlich seine Faust auf den Tisch knallte. »Ich hab's!« sagte Maddox fast schreiend. »Ich hab's«, sagte er und schüttelte den Kopf. »Ist doch alles sonnenklar! Wenn diese Jungs Hester Ashley Murdoch nicht mißbraucht haben, haben sie sie auch nicht angebufft!« Maddox zeigte mit dem Finger auf den Lieutenant. »Sie haben Sie angebufft! Sie waren es! Sie verlangte von Ihnen, daß Sie etwas unternehmen sollten! Sie drohte, zu Ihrer Frau zu gehen, die Musik aufhören zu lassen und das süße Geheimnis allgemein bekanntzugeben!« Das Donnern eines weiteren Lastwagens erfüllte das Büro und brach jäh ab. Im Gang hörte Maddox Lärm. »Captain!« Jemand klopfte. »Wir machen gleich weiter, Lieutenant«, sagte Maddox -403
und durchquerte das Zimmer. Als er die Tür öffnete, sah er den diensthabenden Polizei-Sergeant vor sich. Hinter und neben ihm standen drei Männer in Navy-Uniform, Commander Saunders und zwei Klötze mit Armbinden der Küstenwache. Vor drei Stunden, im Haus des Admirals auf dem Stützpunkt, war einer der Filipinos soeben von der Bluegill zurückgekehrt. »Lieutenant Bryce hat die Bluegill schon vor Stunden verlassen«, meldete er. »Er wußte, daß ich hier auf ihn warten würde«, sagte Ginny. »Sie haben gehört, Hester, wie ich ihn daran erinnerte.« Doris Ashley beobachtete Ginny, die nicht aufhörte, ihr Haar aufzustecken. Die Offiziersfrau hatte die Beherrschung verloren. »Vielleicht ist er bei Gerald?« überlegte Doris Ashley laut. »Vielleicht sind sie im Offiziersklub.« »Wir haben Gerald angerufen«, stieß Ginny hervor. »Wir haben den Offiziersklub angerufen!« »Er ist ein erwachsener Mensch«, gab Doris Ashley zu bedenken. »Er kann doch nicht einfach verschwinden.« Ginny hätte sie anspucken mögen. Saß da wie eine Lehrerin und redete über Bryce, als ob er zu spät zur Schule gekommen wäre. »Er ist weg!« rief Ginny und ließ eine Haarnadel fallen. Hester bückte sich, um sie aufzuheben. »Wir könnten uns in mein Zimmer setzen und auf ihn warten«, schlug Hester vor. »Ich muß Bryce finden«, sagte Ginny. »Er ist...« sagte sie und verstummte. Sie hob ihre Hand mit der Nadel, als ob sie ihre Augen beschirmen wollte. Sie hatten ihn in ihre Gewalt gebracht! Sie wollten sich für ihren toten Freund rächen! Sie hatten sich auf den Stützpunkt geschlichen, Bryce aufgelauert und hatten sich auf ihn gestürzt, wie damals bei Hester. Sie würden ihn töten, ihn nach einem heidnischen Ritus hinopfern! »Ich gehe zum Admiral!« sagte Ginny. »Da bin ich«, sagte der Admiral, der eben -404
aus seinem Büro zurückgekommen war. Ginny lief auf ihn zu. »Mein Mann ist weg!« Ginny redete immer noch, als der Admiral zum Telefon ging, um eine Suche nach Lieutenant Partridge anzuordnen. Der Admiral fürchtete noch mehr Unannehmlichkeiten. Auf dem Gang vor Maddox' Tür im Polizeipräsidium sagte der Sergeant: »Captain, das ist Commander Saunders.« »Wir sind einander begegnet«, sagte Jimmy Saunders. Maddox bewegte sich ein wenig; er blockierte die Tür. »Den kriegen Sie nicht. Den nicht.« »Captain, ich möchte keinen Verdruß haben«, sagte Saunders. »Ganz besonders nicht mit Ihnen.« »Da bin ich aber sehr erleichtert«, gab Maddox zurück, »denn eben noch sah es so aus, als ob wir darauf zusteuerten.« »Ich bin hier, um Lieutenant Partridge zu holen«, sagte Saunders. Während er auf Maddox zuging, schwor Bryce, daß er nie wieder seine Hände erheben würde. Er gelobte es vor Gott. Er versprach, Ginny ausgenommen, nie wieder mit einer Frau zu sprechen, solange er lebte, er nahm es auf seinen Navy-Eid, und auch nie wieder eine Kneipe zu betreten. »Ihr Lieutenant wurde wegen schwerer Körperverletzung, begangen in der Stadt Honolulu, festgenommen«, stellte Maddox fest. »Wir werden den Fall untersuchen«, sagte Saunders. »Sie werden mein Ressort nicht übernehmen«, betonte Maddox. »Ich habe meine Untersuchung beendet. Drüben im Mercy Hospital liegt das Opfer. Ich habe Zeugenaussagen. Lieutenant Partridge hat das Recht auf ein ordnungsgemäßes Verfahren. Er wird vor Gericht gestellt, Commander.« Er wirbelte herum und gab Bryce einen Stoß. »Bleiben Sie, wo Sie sind«, warnte er und warf einen Blick hinaus auf den Flur. Die zwei Matrosen, die mit Saunders gekommen waren, erhoben ihre Gummiknüppel. »Befehlen Sie ihnen, sich zurückzuhalten«, forderte er den Commander auf. -405
»Lieutenant Partridge ist Offizier in der Navy der Vereinigten Staaten von Amerika und untersteht der Gerichtsbarkeit des Marine ministeriums«, sagte Saunders. »Übergeben Sie ihn mir.« Maddox deutete auf den Sergeant. »Gehen Sie hinunter und schicken Sie alle Beamten herauf, die im Haus sind.« »Lassen Sie das«, sagte Saunders. »Wie würde es Ihnen gefallen, wenn ich bewaffnet auf Ihr Schiff käme, um Ihnen das Steuerrad aus der Hand zu nehmen?« Und zum Sergeant: »Wenn ich Sie in zehn Sekunden noch hier sehe, habe ich Sie morgen vor der Strafkammer.« »Es liegt nicht in seiner Hand, Captain«, warf Saunders ein. »Und nicht mehr in Ihrer. Oder meiner. Ich habe Ihr Ressort nicht übernommen. Das hat der Admiral getan. Er hat eine um achtzehn Uhr beginnende Ausgangssperre für alle Eingeborenen verhängt. Sie ist bereits in Kraft getreten.« Er deutete auf das Fenster. »Sehen Sie selbst.« Der Sergeant nickte. »Der Chef hat angerufen, Captain. Er hat den Einsatzleiter angewiesen, alle Streifenwagen zu verständigen.« Maddox trat zurück, schloß die Tür und versperrte sie. Er sah Bryce nicht an. Er ging ans Fenster und schob die Jalousie auseinander. Drei Mannschaftswagen der Navy waren vor dem Haus geparkt, und auf beiden Straßenseiten standen je ein Paar Matrosen der Küstenwache. Er ließ den Arm sinken, wandte sich ab und blieb neben Bryce stehen. »Wir sind noch nicht fertig miteinander«, sagte er und wußte, daß der Kerl ihn innerlich nach Kräften auslachte. Er sperrte die Tür auf, öffnete sie weit und trat zurück. »Holen Sie ihn raus«, sagte er. »Er verpestet mein Zimmer.« Maddox kehrte ans Fenster zurück und blickte auf die Straße hinunter. Er sah den Commander, seine zwei Leibwächter und den Lieutenant in ein Auto der Navy steigen, das vor den Mannschaftswagen geparkt war. Das Auto setzte sich in Bewegung. Maddox sah die zwei Patrouillen der Küstenwache auf die Kreuzung zugehen, als ein Mann die Straße überquerte. Die vier überragten den Passanten. Er verschwand. Dann sah -406
Maddox, wie er von zwei Matrosen zu einem Mannschaftswagen geführt wurde. Maddox knallte die Jalousie gegen das Fenster und setzte sich mit gegrätschten Beinen hinter seinen Schreibtisch. »Diese Qualle«, knurrte er und dachte an den Chef. Aber er wußte, daß dem Chef die Hände gebunden waren. So wie ihm selbst. »Schießbudenfiguren«, sagte er laut. Maddox war todmüde. Es war Zeit, nach Hause zu gehen. Er dachte an den Mann, der zum Streifenwagen geführt wurde, und unfähig, die Erinnerung auszulöschen, sah er, wie Joe Liliuohes Sarg aufs Meer hinausgeschleppt wurde. Er langte nach dem Telefon und ließ die Hände sinken. Sie hatten große Ohren oben in der Telefonzentrale. Er stand auf, ging zur Tür und drehte das Licht ab. Er nahm die Treppe und betrat unten in der Halle eine Telefonzelle. Die Küstenwache war allgegenwärtig. Als Maddox zum Western Sky kam, sah er einen Mannschaftswagen der Navy auf der Kalakau Ave nue geparkt und zwei Männer der Küstenwache vor dem Hotel. Er bog in die Auffahrt ein und blieb jenseits des Eingangs stehen, schob das Schild mit der Aufschrift POLIZEI ins Fenster und verließ den Wagen. Da oben war Lenore und hörte Bergman zu. Es schien Maddox, als wären Jahre vergangen seit heute nachmittag. Es war kühl in der Halle. Die Lampen verbreiteten ein gedämpftes Licht. Er sah die Kerzen im Restaurant auf der Seeseite, wo späte Gäste ihr ›Abendessen mit Meeresrauschen‹ verzehrten. Von irgendwoher kam Musik. Eine Frau brach in Gelächter aus, und jemand sagte: »Wunderbar! Oh, wie wunderbar!« Maddox ging zu den Aufzügen und kehrte wieder um. Er konnte nicht anders. Er schlenderte zur Rezeption hinüber und blieb vor der Briefablage stehen. Das Etui des Juweliers war nicht mehr da. Also hatte sie die Halskette. Er sah sie mit der Halskette vor dem Spiegel stehen. Er dachte daran, daß sie heute nachmittag in seinem Haus gewesen war. Er war allein im Aufzug. Der Gang lag verlassen. Auf dem dicken Teppich machten seine Schritte kein Geräusch. Er betätigte die Klingel, -407
und nach einer Weile öffnete sich die Tür. »Sie sind nicht gerade das, was ich mir unter einem Herrenbesuch vorstelle«, sagte Prinzessin Luahine und ließ ihn eintreten. Sie trug ein weißes, wallendes Gewand und eine elfenbeinfarbene Spange in ihrem hochgesteckten Haar. Das Penthouse war still und wohlriechend, und als Maddox ihr folgte, sah er überall Blumen. Auf einem Tisch, neben einem großen Lehnstuhl, standen mehrere Orchideen, jede in einer eigenen schlanken Glasvase. Es waren prachtvolle Blüten. »Machen Sie nie Feierabend?« »Bei uns gibt es keine Stechuhren.« Sie standen einander gegenüber, und einen Augenblick lang schwiegen beide. Sie waren noch nie allein zusammen gewesen und verstanden sich doch. Sie hatten keine Geheimnisse voreinander. Beide waren sie Außenseiter, beide einflußreich und bedeutend. Sie waren die Herrscher zweier Länder mit einer gemeinsamen Grenze; sie waren wachsam und mißtrauten einander, aber sie hatten Respekt vor dem anderen. Das einzige Anzeichen von Menschlichkeit, das die Prinzessin je in Harvey Koster entdeckt hatte, war die Zuneigung, die er für Maddox empfand. »Also, was gibt's?« fragte die Prinzessin. »Sie wollten mich ja unbedingt sprechen.« »Der Admiral hat eine Ausgangssperre über die Stadt verhängt.« »Die Leute im Hotel haben aber nichts davon gemerkt.« »Sie gilt auch nicht für die Leute hier im Hotel.« Die Prinzessin sah ihn an, als ob er den Admiral dazu angestiftet hätte. »Ich für meine Person habe nicht viel für das Nachtleben übrig«, bemerkte sie und ließ sich auf dem Lehnstuhl neben den Orchideen nieder. »Hat er eine Kanone mitgebracht?« Und dann: »Ich weiß noch, wie es war, als sie den Pachtvertrag für unseren Palast aufkündigten. Dieser Admiral ließ eine Kanone auffahren. Meine Mutter meinte, sie sollten darüber reden. Sie war die Königin, es war ihr Land, aber sie war bereit, sich mit ihnen -408
zusammenzusetzen. Sie sandte ihm eine Botschaft, aber sie bekam keine Antwort. Die Kanone war die Antwort. Ihr seid ein mieses Volk, Maddox.« »Ich habe die Ausgangssperre nicht verhängt.« »Der Admiral hat auch Sie nicht einbezogen.« »Auch Sie wird niemand festnehmen«, entgegnete Maddox. Er war des Geplänkels müde. »Diese Ausgangssperre wird die Insel in feindliche Lager spalten. Der Admiral kennt Honolulu nicht. In Pearl zu leben, heißt auf einem Schiff leben. Für einen Admiral oder einen Seeoffizier gibt es nur Befehl und Gehorsam. Doch Honolulu ist kein Schiff und die Menschen hier sind keine Matrosen.« »Sie werden es überleben«, meinte die Prinzessin. »Sie haben bis jetzt auch überlebt.« »Sie stecken den Kopf in den Sand, Prinzessin«, hielt Maddox ihr entgegen. »Sie leben schon so lange auf Big Island, daß es Ihnen zur Gewohnheit geworden ist.« »Seien Sie vorsichtig, Maddox.« »Und was wo llen Sie tun, wenn ich es nicht bin? Ich sage Ihnen, daß eine Ausgangssperre verhängt wurde, und Sie geben mir eine Lektion in alter Geschichte. Wachen Sie auf! Der Admiral hat ein Netz über diese Menschen geworfen. Es schreibt ihnen vor, wann sie gehen dürfen und wann sie stehenbleiben müssen. Er hat keine Kanone auffahren lassen, aber er hat genügend Gewehre, um die Menschen dieser Stadt zusammenzuschießen. Man kann nicht eine ganze Stadt mit einem Vorhängeschloß versehen. Die älteren Leute werden stillhalten, weil sie sich noch erinnern können, so wie Sie. Aber wie lange wird es dauern, bis irgendein junger Mensch andere junge Menschen dazu überredet, in der Nacht herumzuschleichen? Aus keinem besonderen Grund, einfach so, weil sie jung sind und in vollem Saft stehen. Auch die Mehrzahl dieser Matrosen sind junge Menschen und stehen voll im Saft. -409
Man wird die Leute in Massengräbern beerdigen müssen.« »Sie hätten Politiker werden müssen«, kanzelte die Prinzessin ihn ab. Maddox kam auf sie zu und pflanzte sich vor ihr auf. »Ich bin nicht hierhergekommen, um mir Ihre Spitzfindigkeiten anzuhören«, sagte er. »Ich kenne sie schon.« Und lauter: »Ich bin ihrer verdammt überdrüssig.« »Und ich habe genug von Ihnen!« gab die Prinzessin ebenso laut zurück. »Hauen Sie ab!« Sie machte eine Handbewegung. »Hauen Sie ab! Ich wünschte, ich hätte Sporen an den Stiefeln!« Maddox trat etwas zur Seite. »Jetzt hören Sie mir einmal zu, Captain Curtis Maddox. Sie haben gesagt, Sie müßten mich sprechen. Na schön, Sie haben mich gesprochen. Sie haben mir mitgeteilt, daß wir mit einer Ausgangssperre gesegnet wurden. Aloha!« Maddox ließ seinen Hut auf das Sofa fallen und setzte sich ihr gegenüber. »Es fängt erst an.« »Jemand hat mir geraten, zu bleiben, wo ich war«, sagte die Prinzessin. »Ich hätte auf ihn hören sollen.« »Sie sind die einzige, die etwas tun kann«, drang Maddox in sie. »Ich bin nicht Gott, der Allmächtige!« brauste die Prinzessin auf. »Ich habe diesen Admiral nie gesehen.« »Machen Sie sich mit ihm bekannt«, schlug Maddox vor. »Ich fahre Sie nach Pearl hinaus.« »Heute abend?« »Ja, heute abend. Jetzt. Es könnte schon zu spät sein. Irgendein Lausejunge könnte sich aus Papakolea oder Makiki herausschleichen, zwei Meter von einem Posten entfernt. Der Posten ruft ›Halt!‹, aber der Junge bleibt nicht stehen, und er könnte schon im Leichenschauhaus liegen, während Sie und ich noch debattieren.« »Ich bekomme Kopfweh, wenn ich Ihnen zuhöre.« -410
»Wir debattieren immer noch«, sagte Maddox. »Hören Sie, man kann kein Hauswesen führen, wenn jeder zweite nachts eingeschlossen ist, selbst wenn es Ihr eigenes Haus ist.« »Immer die gleichen alten...« begann die Prinzessin und brach ab. Sie stützte ihre Hände auf die Lehnen ihres Sessels, schob und rückte herum, um daraus hochzukommen. Maddox wollte ihr helfen. »Nein!« wehrte sie ihn ab und stemmte sich hoch. Maddox nahm seinen Hut. Sie schnaufte. »Aus einem Schlammloch herauszukommen ist auch nicht schwerer. Hauen Sie ab.« Maddox starrte sie an. »Ich fahre Sie hinaus.« »Sie sind doch nicht dumm«, sagte die Prinzessin. »Also reden Sie kein dummes Zeug. Der Admiral würde mir in den Hintern treten. Und er würde an den anderen Admiral denken, der uns aus dem Palast vertrieben hat. Er wird beweisen wollen, daß er nicht weniger hart ist.« »Aber jemand muß was tun.« »Je länger Sie bleiben, desto stärker wird mein Kopfweh«, verabschiedete ihn die Prinzessin. Maddox sah sie an und wandte sich dann zum Gehen. Die Prinzessin trat auf die Terrasse hinaus. Niedrig und klar stand der Mond am Himmel, und silbrig glä nzte das Meer. Die Prinzessin verschränkte die Arme über der Brust. »Kalt«, murmelte sie und kehrte ins Zimmer zurück. Aus einer Lade nahm sie einen gestrickten weißen Schal und legte ihn um ihre Schultern. Sie verließ das Zimmer, kam aber noch einmal zurück, um ihre Handtasche zu holen. »Du würdest auch noch deinen Kopf vergessen, wenn er nicht angewachsen wäre«, brummte sie und blieb abermals stehen, um nachzusehen, ob sie Geld in der Börse hatte. Sie trat auf den Gang hinaus und zögerte wieder. »Oh, Jack, Jack«, sagte sie laut und verließ das Penthouse. »Warten Sie hier auf mich«, sagte sie, als das Taxi hielt. Sie kletterte aus dem Wagen und zog den Schal enger um die Schultern. »Der Mann lebt in einem Dschungel«, murmelte sie und ging langsam weiter, einen Schritt nach dem anderen. Erst als sie die breite Hibiskushecke erreichte, sah sie die Lichter in -411
beiden Stockwerken, die durch das dichte Netz von Bougainvillea, das die Fassade von Harvey Kosters Haus fast verbarg, kaum zu sehen waren. Die Prinzessin hatte nicht angerufen, weil sie alles glaubte, was Maddox ihr erzählte, und weil sie Harvey Koster keine Gelegenheit geben wollte, einem Gespräch auszuweichen oder es zu verschieben. Wie alle, die ihn kannten, wußte auch sie, daß Koster abends keine Verabredungen traf. Der Ball zum Tag des Amtsantritts des Gouverneurs war die einzige Ausnahme. Sie war außer Atem, als sie die Eingangstür erreichte und die Glocke fand. Sie läutete und läutete, klopfte, bis ihr die Hand weh tat. Harvey Koster war daheim; in einem leeren Haus würde er nicht die Lichter brennen lassen. »Der Kerl ist ja stocktaub«, murmelte sie und klopfte noch einmal, aber mit der linken Hand. Prinzessin Luahine versuchte die Tür zu öffnen. Sie war versperrt. Ihr Kleid raffend, ging sie zur Auffahrt zurück und um das Haus herum. Zur Linken sah sie die Garage und zur Rechten eine schmale Tür, die Sidney Akamura an diesem Tag zu schließen vergessen hatte. Die Prinzessin trat ins Dunkel. Sie fuhr mit der Hand die Wand entlang, bis sie einen Lichtschalter fand. Stufen führten in die Küche hinauf. »Harvey?« schnaufte sie. Sie sah Licht unter einer Tür und öffnete sie. Ein kurzer Gang mündete in ein Frühstückszimmer, dahinter lag der Salon. Die Eleganz, die unverdorbene Schönheit des Hauses, beeindruckten die Prinzessin. »Harvey?« Während sie auf die majestätische Treppe zuschritt, blieb die Prinzessin plötzlich stehen. Sie glaubte Musik zu hören; setzte dann ihren Weg fort, erreichte den Fuß der Treppe und stand unter dem brennenden Lüster, der von der Decke herabhing. Wieder war es still im Haus. »Harvey?« Sich am Geländer emporziehend, stieg Prinzessin Luahine die Treppe hinauf und blieb stehen. Wieder hörte sie Musik. Sie kletterte weiter. Auf dem oberen Absatz mußte sie ausruhen. Jetzt hörte sie die Musik ganz deutlich, klar und nahezu schrill. -412
»Harvey?« Sie folgte der Musik zu einer offenen Tür, die den Blick auf Kosters Schlafzimmer freigab. Es schien unbewohnt. Die Musik war lauter. Prinzessin Luahine betrat das Schlafzimmer und sah auf einer Seite den Glanz strahlender Lichter. Ihr Blick fiel auf Kosters Ankleideraum und, dahinter, auf die Welt, die er geschaffen und bevölkert hatte. Der Prinzessin den Rücken zukehrend, lag Koster in Hemdsärmeln auf den Knien neben einem Theaterschiff. Er war ganz vernarrt in Margot, den Star, und entzückt von der Dampforgel, an der er sich gar nicht sattsehen konnte. Er flüsterte Margot etwas zu, während sie sich von ihrer Mutter verabschiedete und ihr versprach, die Plantage irgendwie zu retten. Die Prinzessin bewegte sich nicht. Sie sah Hunderte von Puppen, Frauen, jede von ihnen einzig in ihrer Art, die Harvey umringten. Leise, verstohlen, zog sich die Prinzessin zurück. Sie ging die Treppe hinunter, blieb unten stehen und wartete, bis die Dampforgel verstummte. »Harvey! Harvey!« rief sie, die Hände an den Mund legend. Dann ging sie zur Eingangstür, schloß sie auf, blieb davor stehen und rief noch einmal: »Harvey!« Sie hörte, wie Koster oben zur Treppe kam. Er sah aus wie ein Mann, in dessen Haus Diebe eingedrunge n waren. Sie hatte ihm einen gehörigen Schrecken eingejagt. Und dabei wußte er noch nicht einmal alles. Er blieb stehen und sah auf sie herunter. »Lu? Sie, Lu?« »Höchstpersönlich. Die ganzen zig Kilo.« Koster kam die Treppe herunter. »Woher kommen Sie? Um was geht es? Ich habe Sie nicht gehört. Wie sind Sie hereingekommen?« Mit hoher Stimme sprudelte er seine Fragen heraus. »Ich fange am Schluß an«, erwiderte die Prinzessin. »Ich bin so hereingekommen wie Sie auch, Harvey. Ich habe geläutet, und als Sie nic ht kamen, öffnete ich die Tür. Und behandeln Sie mich nicht wie eine Diebin.« -413
Noch jeden Abend, seitdem das Haus stand, hatte Koster die Tür zugeschlossen. Sollte er es heute wirklich vergessen haben? Er konnte es nicht vergessen haben. Aber sie war da. Er hatte es so eilig gehabt, sein Theaterschiff zu sehen. »Sie haben mich überrascht, Lu.« »Könnten wir uns vielleicht setzen, ich bin müde«, sagte die Prinzessin, ging ihm voran in den Salon und ließ sich auf einem Stuhl nieder. Koster folgte ihr und setzte sich ebenfalls. »Um was es geht? Es geht um die Ausgangssperre, Harvey. Sie haben doch schon davon gehört, nicht wahr?« »Sind Sie deswegen gekommen?« Er schlug die Beine übereinander. »Das berührt Sie doch bestimmt nicht, Lu.« »O doch, Harvey«, widersprach die Prinzessin. »Es berührt mich schon. Es berührt uns beide.« »Also, Lu, Sie und ich, wir haben wirklich eine Menge durchgemacht«, sagte Koster. »Wir werden auch das überstehen. Die Ausgangssperre ist eine Tatsache. Sie ist jetzt ein Teil unseres Lebens, so wie der Ozean rings um die Inseln. Wir werden lernen müssen, mit der Ausgangssperre zu leben, so wie wir gelernt haben, mit dem Ozean zu leben.« »Der Ozean ist gefährlich, aber die Menschen können sich von ihm fernhalten«, hielt die Prinzessin ihm ent gegen. »Von der Ausgangssperre können sie sich nicht fernhalten.« »Wir müssen uns mit dem Status quo abfinden.« »Mit Gewehren? Mit Matrosen, die alte Damen von der Straße weg verhaften? Sie ins Gefängnis werfen? Sie müßten sich Sorgen machen, Harvey. Ihr Sohn im Polizeipräsidium steckt mittendrin und macht sich große Sorgen.« Koster blickte an ihr vorbei. Schon immer hatte Prinzessin Luahine von Curt Maddox als seinem Sohn gesprochen, und es war ihm nie ein Dementi wert gewesen. Er konnte ihr doch nicht den Mund verbieten. Das konnte keiner auf dem Territorium. »Sie werden sich daran halten«, meinte Koster. »Sie sind -414
vernünftig.« »Die jungen Leute sind nicht vernünftig«, widersprach die Prinzessin. »Sie sind nicht unter der Aufsicht Ihrer Verwalter, nicht im Schatten der Gewehre aufgewachsen. Diese jungen Leute halten sich für Amerikaner.« »Das sind sie auch! Sie sind Bürger des Territoriums«, entgegnete er heftig. »Wer's glaubt!« »Sie sehen das falsch, Lu«, sagte Koster. »Wir haben große Fortschritte gemacht. Wenn man wie Sie auf Big Island lebt, verliert man die Beziehung zur Wirklichkeit.« »Nicht so ganz. Ich habe von der Beerdigung auf See gehört. Zum Beispiel.« »Eine schreckliche Sache«, gab Koster zu. »Ganz schrecklich. Ein großer Rückschlag. Dieser Sena tor in Washington hat uns schwer geschadet. Er vergißt, was wir alles geleistet haben. Ich wollte, er würde persönlich sich zu uns bemühen und sehen, was wir aus Hawaii gemacht haben. Wir sind auf dem richtigen Weg, Lu. Wir werden nicht immer ein Territorium, ein Stiefkind sein. Wir werden ein Teil der Union sein, ein weiterer Stern in der Fahne der Vereinigten Staaten von Amerika. Wir werden Abgeordnete und zwei Senatoren nach Washington entsenden.« »Ich hoffe, Sie schaffen es, Harvey, aber Sie werden es nicht schaffen, wenn es bei dieser Ausgangssperre bleibt.« »Mit der Navy können wir nicht streiten.« »Ich streite mit niemandem. Ich ging von hier fort, weil ich mich nicht streiten wollte. Ich beschloß, mich für den Rest meines Lebens einzig und allein nur um mich zu kümmern. Ich habe dabei nur einen Fehler gemacht. Ich suchte mir Big Island aus anstatt Alaska oder Neuseeland oder... Timbuktu.« Die Prinzessin seufzte, stemmte sich hoch, und auch Koster stand auf. »Wir müssen vernünftig sein«, sagte er. Morgen würde er sich -415
nach einer Alarmanlage für die Eingangstür erkundigen. Wenn sie um sechs noch nicht versperrt war, würde das den Alarm auslösen. Er würde seine eigene Ausgangssperre haben. »Wie sind Sie hergekommen, Lu? Brauchen Sie eine Fahrgelegenheit?« »Die Sitzung ist noch nicht geschlossen«, wich sie aus. »Zwar schon zur Hälfte, denn ich bin müde. Harvey, die Ausgangssperre muß abgeblasen werden«, sagte sie und hob die Hand, um ihm Schweigen zu gebieten. »Ich gebe Ihnen Zeit bis morgen mittag. Wenn Sie oder sonst jemand mich nicht bis zwölf Uhr von der Aufhebung verständigt hat, ziehe ich aus dem Western Sky aus und übersiedle nach Papakolea, in Opal Nehoas Logierhaus. Ich werde die Ausgangssperre voll und ganz einhalten, aber ich werde sie auch ausdehnen. Ich werde eine Ausgangssperre rund um die Uhr verhängen. Übermorgen wird in Honolulu kein Dienstmädchen und keine Köchin, keine Wäscherin, kein Gärtner und kein Portier, kein Skipper oder sonst jemand arbeiten. Ich werde Honolulu dichtmachen, und es wird dicht bleiben, nicht bis die Ausgangssperre aufgehoben ist, sondern noch eine Weile länger, damit ihr es euch gründlich überlegt, bevor ihr es das nächste Mal versucht.« Sie legte sich den Schal um die Schultern. »Ja, ich habe eine Fahrgelegenheit, Harvey.« »Armleuchter«, sagte die Prinzessin laut, während das Taxi sie ins Hotel zurückbrachte. Sie brauchte dringend ein Bad. Am nächsten Morgen vormittags um zehn traf der Admiral im Iolani-Palast ein, wo Gouverneur Martin Snelling ihm dafür dankte, daß er binnen so kurzer Zeit gekommen war. Der Gouverneur teilte ihm mit, daß er die Ausgangssperre aufheben würde. »Ich habe die Presse bereits davon in Kenntnis gesetzt«, sagte der Gouverneur. »Ich habe auch schon dem Delegierten des Territoriums in diesem Sinne nach Washington telegrafiert.«
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5. Teil An dem Tag, an dem Doris Ashley, Gerald Murdoch und Duane York wegen des Mordes an Joe Liliuohe vor Gericht gestellt wurden, setzte in Washington kurz vor Mittag Senator Floyd Rasmussen einen schwungvollen Federstrich unter den Text, den er soeben geschrieben hatte. »Lies vor!« sagte Phoebe Rasmussen. Sie saß im Büro des Senators und hatte noch Handschuhe und Galoschen an. Die Fensterscheiben waren mit Eis überkrustet und klirrten unter den Windstößen. Der Senator hob den Schreibblock. »Ganz Amerika setzt darauf, daß Sie drei unschuldige Opfer der Gewalt und der Barbarei befreien. Floyd Rasmussen, Senator.« »Du bist nicht ganz Amerika«, mahnte seine Frau. »Ich spreche im Namen der Nation«, erwiderte Rasmussen. »Die Zeit drängt.« Er zog das Telefon zu sich heran. »Floyd!« Ihre Stimme war wie ein Peitschenhieb. Er ließ die Hand sinken. »Du stehst nicht allein, und du hast einflußreiche Kreise mobilisiert. Die Namen der hundertsechsundzwanzig Senatoren und Abgeordneten müssen ebenfalls in der Botschaft erscheinen.« »Wir treten in wenigen Minuten zusammen«, sagte Rasmussen. Er wollte im Senat sein, wenn das Gebet gesprochen wurde. »Du hast die Liste.« »Mein Schatz!« beschwor er sie. »Ich gebe ein Telegramm auf. Da zählt jedes Wort, jeder Name. Und die Gebühr geht nicht auf Staatskosten. Ich muß die Rechnung bezahlen.« »Wir bezahlen sie«, sagte Phoebe. »Und wir werden das Telegramm in unserem nächsten Rundbrief an deine Wähler erwähnen und sie daran erinnern, daß du einen gigantischen Kreuzzug anführst.« Rasmussen nahm die Liste mit den Namen -417
vom Tisch. Als er sich bei der Vermittlung meldete, stand Phoebe auf und trat an seine Seite. »Wohin läßt du es senden?« »Ins Hotel«, antwortete Rasmussen. »Ins Western Sky.« Knapp vier Stunden später drängten sich unter der heißen Sonne Honolulus die Reporter und Fotografen in dichten Scharen vor dem Gerichtsgebäude. Der Fahrer des Admirals hatte alle Mühe, sie von der Limousine fernzuhalten, die zwischen den beiden Parkverbotsschildern vor dem Eingang abgestellt war. An ihnen vorbei eilten dunkel- und gelbhäutige Männer und Frauen zu den Eingangstüren, zu zweit, zu dritt, beinahe wie Verschwörer: Hawaiier, Chinesen, Japaner - Menschen von überall her aus dem Südpazifik. Vor ihnen hatten andere in langen Reihen auf das Öffnen der Tore gewartet, hatten die Treppe zum Balkon gestürmt und wieder gewartet, bis ein Gerichtsdiener die Türen zum Saal öffnete, in dem gegen jene drei Angeklagten verhandelt werden sollte, die des Mordes an Joseph Liliuohe beschuldigt wurden. Die Männer und Frauen waren still und geduldig. Sie befolgten die Anordnungen der Gerichtsdiener, und wer später kam, drängte nicht vor. Üblicherweise lockte die Wahl der Geschworenen kaum Zuschauer an. Wer heute gekommen war, hatte es aus Interesse getan und nicht als Teilnehmer an einem Komplott. Wenn sie nicht gerade Mann und Frau waren, Mutter und Tochter, Vater und Sohn, oder alte Freunde, kannten sie einander nicht. Sie waren gekommen - so wie sie zu Joseph Liliuohes Totenfeier an den Strand gekommen waren -, weil es sie danach drängte, weil sie einem inneren Bedürfnis folgten. Keiner war dazu überredet oder gar gezwungen worden. Nur zwei Polizisten versahen vor dem Gebäude Dienst, an jeder Ecke einer. Harvey Koster hatte das mit dem Polizeichef so vereinbart. Er wollte Prinzessin Luahine nicht zu einem erneuten Auftritt verhelfen. Für einiges Gedränge sorgten an diesem Morgen nur die Zeitungsleute. Von überall her waren Reporter zu dem Mordprozeß gekommen: aus San Francisco und Los Angeles, aus London, Mailand und -418
Berlin, aus Manila und Hongkong, aus Tokio und Sydney. Richter Geoffrey Kesselring hatte im Erdgeschoß des Gerichtsgebäudes eigens einen Raum für die Presse einrichten lassen, und man hatte für direkte Telefonleitungen zu den Redaktionen im Ausland gesorgt. »Da kommt er«, rief plötzlich eine Stimme aus der Menge. Die Fotografen stellten Blende, Belichtung und Entfernung ein und umringten das Taxi, das hinter der Limousine des Admirals hielt. »Eine Dame«, wunderte sich ein anderer, und Jeff Terwilliger, der sich etwas abseits hielt, sagte: »Das ist seine Frau.« Lenore stieg zuerst aus, um Bergman aus dem Wagen zu helfen. Als er aus dem Taxi kletterte, flammten die Blitzlichter auf und verpufften in kleinen Rauchwölkchen. Die Reporter überschrien einander mit Fragen, aber Bergman sagte bloß: »Immer mit der Ruhe, Leute«, und zu Lenore: »Du mußt wirklich nicht mitkommen.« »Ich begleite dich hinein«, antwortete sie. »Wenn du darauf bestehst.« Sie glich ihre Schritte den seinen an. »Wir werden auch heute nur wenig zu bieten haben«, sagte Bergman zu den Reportern. »Wir bestellen bloß die Geschworenen.« »Wie lange wird das Ihrer Meinung nach dauern?« »Ach, Leute, ihr wißt doch selbst, wie das ist«, erwiderte Bergman. »Es dauert so lange, bis auf den zwölf Stühlen zwölf ehrenwerte Männer sitzen.« Er antwortete auf Fragen, bis Lenore und er die Treppe erreicht hatten, die zum Gerichtssaal im zweiten Stockwerk führte, und die Zeitungsleute an ihnen vorbeidrängten. »Von da schaffe ic h es allein«, sagte Bergman. »Hast du deine Schokolade?« Bergman nickte. »Mach dir einen schönen Tag.« »Ich werde mich in den Läden umsehen.« »Waidmannsheil«, sagte Bergman und stützte sich auf das Geländer, während er die Treppe hochstieg. Lenore winkte ihm -419
nach und wandte sich ab. Sie zitterte und bemühte sich, unbefangen zu erscheinen... Bergman betrat als letzter Anwalt den Saal. Er blieb an der Tür stehen, verschränkte die Hände auf dem Rücken und blickte sich um. An der Stirnseite, hinter der Schranke, die das Gericht wie eine Bühne von den Zuschauern trennte, standen neben der Geschworenenbank Männer im Straßenanzug und Krawatte. Es waren Weiße, Farbige, Dunkelhäutige und ein paar Orientalen. Sie machten ernste Gesichter und schwiegen; es waren die fünfzig auf der Geschworenenliste aufgeführten Männer. Auf der linken Seite des Saales hatte Richter Kesselring entlang der Wand vier lange Tischreihen für die Reporter und den Zeitungszeichner aufstellen lassen. Während Bergman im Mittelgang verharrte, füllten sich allmählich die Plätze. Es waren die Zuschauer, die Bergman veranlaßt hatten, innezuhalten. Sie waren ruhig, waren geradezu musterhaft still, als wollten sie um keinen Preis auffallen - aber sie waren nicht gekommen, um den Angeklagten Trost und Stütze zu sein. Sie vertraten vielmehr den Toten, und daher war ihre Anwesenheit Bergman unwillkommen. Die drei Angeklagten saßen am Tisch der Verteidigung. Die beiden Männer trugen Uniform und saßen Seite an Seite. Doris Ashley hielt Abstand von ihnen und von Coleman Wadsworth, dem Anwalt, den Harvey Koster zu Bergmans Unterstützung geschickt hatte. Philip Murray und Leslie MC Adams saßen am Tisch der Anklage, und in der ersten Reihe, gleich neben dem Gang, direkt hinter Doris Ashley, erkannte Bergman den Ad miral. Als er sah, daß der Admiral ohne Begleitung war, beschleunigte Bergman seine Schritte. »Mrs. Ashley!« Der Admiral erhob sich und kam in den Mittelgang. »Sehen Sie sich diese Geschworenenkandidaten an«, sagte er. Bergman öffnete das Türchen in der Barriere. »Später«, sagte er, ließ den Admiral stehen und stürzte auf Doris Ashley zu. »Wo -420
bleibt Ihre Tochter?« »Sie steht nicht unter Anklage«, erwiderte Doris Ashley und wandte ihr Gesicht der leeren Geschworenenbank zu. Bergman trat zwischen sie und Cole man Wadsworth. »Aber ihr Mann steht unter Anklage!« rief er. »Ihr Mann und ihre Mutter. Unter Mordanklage. An Ihrer Tochter hat sich das Feuer entzündet. Ihretwegen stehen ihr Mann, Sie und York heute vor Gericht. Mr. Wadsworth und ich werden unser Bestes tun, um zu verhindern, daß Ihre Tochter zur Witwe wird, aber dazu brauchen wir jede erdenkliche Hilfe. Hester Murdoch ist eine beklagenswerte, eine zutiefst verletzte, eine waidwund gehetzte junge Frau. Unsere Herzen schlagen ihr entgegen. Die ganze Welt fühlt mit ihr. Wir müssen sie hier haben, hier in diesem Saal; Tag für Tag, den ganzen Tag. Die Männer auf der Geschworenenbank, Männer, von denen einige hoffentlich auch Töchter haben, sollen Hester Murdoch sehen, jeden Tag, den ganzen Tag. Wo ist sie?« Doris Ashley ließ sich von Bergman weder beeindrucken noch war sie gewillt, sich von ihm schulmeistern zu lassen. »Ihr Verhalten mir gegenüber ist taktlos und unangemessen«, fuhr sie ihn an. »Hester ist im Haus des Admirals«, sagte Gerald. »Herr Admiral!« Bergman ging an die Barriere zurück. »Ich will Hester Murdoch hier haben, hier, in der ersten Reihe. Bitte sehen Sie zu, daß ein Mann Ihres Vertrauens sie herbringt und bei Ihnen abliefert. Mir ist bewußt, daß man solche Kurierdienste nicht ausgerechnet von einem Admiral fordert, aber ich bin hier fremd und wüßte nicht, an wen ich mich sonst wenden könnte.« »Mein Wagen steht unten«, sagte der Admiral. »Ich werde den Gerichtsdiener anweisen, meinen Fahrer zu verständigen.« »Dann muß er die Strecke zweimal fahren«, widersprach Bergmann. »Wir sparen die halbe Zeit, wenn Sie bei sich anrufen.« »Sie dürfen nicht zulassen, daß auch nur ein einziger von -421
diesen Leuten Geschworener wird«, sagte der Admiral und wies mit großer Geste auf die fünfzig wartenden Männer. »Würden Sie sich freundlichst beeilen, Admiral?« Bergman verließ ihn und strich sich mit beiden Händen durchs Haar, als er sich dem Tisch der Anklage näherte. Philip Murray und Leslie McAdams erhoben sich von den Stühlen. Bergman streckte Murray lächelnd die Hand entgegen. »Hallo, Mr. Bergman«, sagte Murray und machte ihn mit McAdams bekannt. »Sie sehen aus, als kämen Sie geradewegs vom Anwaltsexamen«, sagte Bergman. »Ganz so schlimm ist es nicht, Sir«, erwiderte McAdams. »Vielleicht sollten Sie mal zur Probe auf meine Seite wechseln«, scherzte Bergman. Murray lachte. »Er ist hier, weil Sie auf der anderen Seite stehen, Mr. Bergman.« »Ich werde ihn im Auge behalten«, drohte Bergman lächelnd. »Einen hübschen Saal haben Sie hier.« »Er wurde einem Gericht in Philadelphia nachempfunden, einem der ältesten in ganz Amerika.« »Hübsch, sehr hübsch«, sagte Bergman. Er kehrte zum Tisch der Verteidigung zurück und nahm neben Coleman Wadsworth Platz, der ihm eine maschinegeschriebene Liste reichte. »Die Namen der fünfzig Geschworenenkandidaten, Mr. Bergman.« »Sagen Sie Walter zu mir«, forderte ihn Bergman auf. »Ich lasse mich nur ungern von einem Mann in Ihrem Alter mit Mister anreden.« Noch während er die Namen auf der Liste studierte und dabei hie und da einen Blick auf die Männer neben der Geschworenenbank warf, kam der Admiral in den Saal zurück. Wadsworth wies Bergman darauf hin. Der Anwalt blickte auf. Der Admiral stand an der Barriere. »Ich habe mein Pensum erfüllt. Jetzt sind Sie an der Reihe.« Bergman zog den Umschlag aus der Tasche, den er aus dem Hotel mitgebracht hatte, öffnete ihn und las Rasmussens Telegramm, während Richter Kesselring -422
den Saal betrat. Geoffrey Kesselring war ein hochgewachsener Mann, fünfundfünfzig Jahre alt, und hatte in den letzten zehn Jahren etwas Gewicht angesetzt. Wie sein Vater war er noch vor seinem dreißigsten Geburtstag ergraut. Er war der Enkel eines deutschen Einwanderers, der als Gehilfe eines Schiffslieferanten begonnen hatte, und sah aus, wie man sich einen Richter vorstellt. Der erste Kesselring war ein sparsamer, aber ehrgeiziger Mann gewesen. Binnen Jahresfrist nach seiner Ankunft begann er, privat Geld zu verleihen; zunächst kleine Summen, fünf oder zehn Dollar, auf ein oder zwei Wochen, und zu Wucherzinsen. Er stand stets zur Verfügung, vor allem am Sabbat, wenn die Leute nach einem feuchtfröhlichen Abend mit leeren Taschen erwachten. Das Geschäft blühte, und bald machte sich der junge Mann selbständig, erst in einem kleinen Büro in den Docks, dann im Finanzviertel. Nach seinem Tod hinterließ er seinem Sohn, dem Vater des Richters, eines der größten Kreditunternehmen Hawaiis. Kesselring und Co half Geldgebern aus, die sich übernommen hatten, und kassierte nach wie vor Wucherzinsen. Geoffrey Kesselring war ein Einzelkind. Wie alle Söhne der Elite Hawaiis, hatte er die Schule in Punahou besucht; nach seinem Abschluß fuhr er mit einigen Klassenkameraden in die Staaten und ging an die Harvard University. Er war ein brillanter Student mit einem Faible für das Rechtswesen und wurde schließlich in die juristische Fakultät aufgenommen. Als Geoffrey zurückkehrte, nahm ihn sein Vater als Partner in die Firma auf. Mit Kesselring und Co ging es weiter voran. Der Juniorchef genoß das Leben der Privilegierten. Er wurde ein exzellenter Polospieler und war ein Glanzlicht in den besten Kreisen der Gesellschaft. Als 1914 der Weltkrieg ausbrach, unterstützten die Kesselrings - wie die gesamte High Society von Hawaii - vorbehaltlos die Alliierten. Nichtsdestoweniger begann sich die Haltung der Freunde und Geschäftspartner spürbar zu wandeln, denn schließlich waren die Kesselrings deutscher -423
Abstammung. Im Mai 1915 versenkte ein deutsches U-Boot die Lusitania. Unter den 1198 Passagieren, die mit dem Schiff untergingen, waren viele Amerikaner. In den Vereinigten Staaten brach der Deutschenhaß wie eine Epidemie aus, und die Patrioten in Hawaii gebärdeten sich besonders wild und rachsüchtig. Kesselring und Co wurde boykottiert. Der alte Herr zerbrach unter der Last der heftigen persönlichen Angriffe, und als Amerika 1917 in den Krieg eintrat, sah sich Geoffrey gezwungen, die Firma zu liquidieren, die sein Großvater, der deutsche Einwanderer, einst im Laden eines Schiffshändlers in den Docks gegründet hatte. Geoffrey Kesselring war verheiratet, zweifacher Vater, und wurde deshalb nicht einberufen. Als er sich freiwillig meldete, wurde er abgewiesen. Er eröffnete eine Anwaltspraxis und blieb ohne Mandanten. Er war ein Paria und stand vor dem Ende. Ein ehemaliger Klassenkamerad aus Punahou wurde zu seinem Retter: Harvey Koster verschaffte Kesselring einen vakanten Platz im städtischen Amtsgericht. Der frischgebackene Richter ging mit vollem Einsatz ans Werk. Seine Fähigkeiten ließen sich nicht übersehen. Als bei Kriegsende, im Jahre 1918, die dummen Ressentiments allmählich abklangen, erhielt er Angebote aus den besten Anwaltspraxen Honolulus. Kesselring lehnte ab, denn er hatte sich für eine Karriere in der Justizverwaltung entschieden. Er kam schnell voran und war mit fünfundvierzig bereits Distriktsrichter. Während das Gericht zusammentrat, beugte sich Wadsworth zu Bergman hinüber und flüsterte: »Kesselring ist ein schrecklicher Pedant.« »Ich werde es mir merken«, nahm Bergman die Information zur Kenntnis. Der Richter blickte zu ihm herunter. »Willkommen, Dr. Bergman! Ich habe immer wieder von Ihnen und Ihren -424
bemerkenswerten Erfolgen gehört. Es ist mir eine Ehre, Sie in meinem Gericht begrüßen zu dürfen.« Bergman schob sich aus seinem Stuhl. »Das ist der freundlichste Empfang, den ich je hatte, Euer Ehren«, sagte er. »Vielen Dank. Und ich möchte die Gelegenheit nützen, um festzuhalten, daß seit meiner Ankunft kein Tag verstrichen ist, an dem ich hier nicht wärmste Aufnahme gefunden hätte.« »Wir sind Inselbewohner«, bemerkte der Richter. »Von Besuchern fühlen wir uns geschmeichelt.« Während Bergman sich wieder auf den Stuhl fallen ließ, ging eine plötzliche Unruhe durch den Saal. Bergman und Coleman Wadsworth wandten sich um. Dann stand Wadsworth auf. Der Admiral blickte über die Schulter und erhob sich ebenfalls. Am Tisch der Anklage folgten Philip Murray und Leslie McAdams ihrem Beispiel, und die Reporter stießen ihre Stühle zurück und kamen auf die Beine. Bei den Geschworenenkandidaten saß Theodore Okohami, ein Hawaiier, in der zweiten Reihe. Als er aufstand, erhob sich auch der Japaner Bruce Tanaka. Andere folgten, und zuletzt erhoben sich die Männer und Frauen zu beiden Seiten des Mittelgangs von den Bänken, als sei ein Bann von ihnen gewichen. Prinzessin Luahine hatte den Saal betreten. Prinzessin Luahine war eine prächtige Erscheinung. Sie trug einen reichbestickten Umhang - für den Pfauen und Fasane, Kakadus und Papageien ihr Federkleid geopfert hatten -, rote und grüne, blaue und orangefarbene Federn in allen Schattierungen, und sie glänzten so hell, so lebhaft, daß es schien, als atmeten sie, als hüllten sie die Prinzessin in ein lebendes Gebilde ein. Es war ein königlicher Umhang; Herrscher und Herrscherinnen hatten ihn getragen, und nun gehörte er Prinzessin Luahine. Er reichte bis zum Boden und war am Hals der Prinzessin mit einer Korallenkette befestigt. Diese kostbaren Federn zu sammeln, sie zu bündeln und zu einem Mantel zu verarbeiten, hatte einst Jahrzehnte in Anspruch genommen. Zuletzt hatte die Prinzessin den Umhang im Palast getragen und nicht geglaubt, ihn jemals -425
wieder zu benötigen, aber seit sie ihre Ranch verlassen hatte, wußte sie, daß sie vor Gericht in standesgemäßem Aufputz erscheinen würde. Jade schimmerte in ihrem Haar, und sie trug eine Halskette aus feinsten Perlen, die ein dankbarer Schiffskapitän vor vielen, vielen Jahren einem ihrer Vorfahren zum Geschenk gemacht hatte. Prinzessin Luahine wirkte wie ein prächtiges, vorzeitliches Fabelwesen, wie eine Göttin, die alle Zeitalter überdauert hatte und nun wieder zur Erde herabgestiegen war. Eine Königin war sie, und die Männer und Frauen im Saal, junge wie alte, die still und bescheiden gekommen waren, fühlten sich durch ihre Anwesenheit gestärkt. Sie war eine hawaiische Prinzessin, aber alle fühlten sich ihr zugetan. Sie hoben ihr die Hände zum ehrerbietigen Gruß entgegen und vergaßen alle Zurückhaltung. Ihre Rufe hallten durch den Gerichtssaal, und keiner achtete auf das Hämmerchen des Richters, als die Prinzessin, von Tom gefolgt, langsam auf die Barriere zutrat. Die Begeisterung machte sie fa st verlegen. »Ruhe! Ruhe!« rief sie, aber ihre Stimme verging im Lärm. Sie wandte sich an Tom. »Sag den Leuten, sie sollen mit dem Krach aufhören.« »Setzen wir uns doch einfach«, schlug Tom vor. Aber auch als sie die erste Reihe erreicht hatten und Tom die am Rand Sitzenden flüsternd bat, Platz zu machen, hielt die spontane Begrüßung für die Prinzessin weiter an. »Gerichtsdiener!« Die durchdringende Stimme des Richters übertönte den Tumult. »Gerichtsdiener!« Kesselring hatte sich erhoben und blickte mißbilligend auf das Chaos, in das diese Frau sein Gericht verwandelt hatte. Sie war provokant und vorsätzlich in einen Verhandlungssaal eingedrungen, in dem das Gericht tagte; sie hatte eine Horde von Wilden zur Störung der Ordnung und des Gesetzes verleitet; sie gefährdete den geregelten Gang des Verfahrens. Am liebsten wäre Richter Kesselring selbst von der Richterbank heruntergesprungen und hätte diese Eingeborenen eigenhändig zur Tür hinausbefördert. Die -426
Heftigkeit seiner Reaktion überraschte ihn. Beinahe hätte dieses Weib ihn überrumpelt. »Räumen Sie den Saal!« rief er dem Gerichtsdiener zu. »Fordern Sie notfalls Verstärkung an!« Die Prinzessin hörte jedes Wort. Sie wandte sich um, hob wie ein Dirigent beide Arme, senkte sie langsam und bat beschwörend um Ruhe. »Gerichtsdiener!« Wieder wandte die Prinzessin sich um. Sie sah, daß der Gerichtsdiener geradewegs auf die Schranke zueilte. Im Saal kehrte allmählich Stille ein. Einige Anwesende nahmen wieder Platz, aber die meisten blieben stehen, um das Geschehen besser verfolgen zu können. »Ich bedaure diesen Zwischenfall zutiefst, Euer Ehren«, begann die Prinzessin. »Einen solchen Empfang habe ich weder gewollt noch erwartet.« Sie richtete das Wort an die Menge: »Setzt euch endlich und seid still.« »Gerichtsdiener!« Erneut wandte sich die Prinzessin der Richterbank zu. »Sie bestrafen diese Leute für etwas, an dem nur ich die Schuld trage. »Wäre ich nicht gekommen, hätten alle bleiben dürfen. Wenn daher jemand gehen muß, bin ich es.« »In diesem Gericht haben nicht Sie zu bestimmen, Madame«, erwiderte der Richter. »Ihre Autorität endet vor den Mauern dieses Gebäudes.« »Meine Autorität endet schon an meiner Nasenspitze«, sagte die Prinzessin. »Ich bitte Sie doch bloß, den Schaden selbst wiedergutmachen zu dürfen. Dazu brauchen Sie keinen Gerichtsdiener, ich finde den Weg allein.« Sie flüsterte Tom zu: »Du bleibst«, und schritt langsam durch den Mittelgang der Tür zu. »Euer Ehren!« Bergman war aufgestanden. Er war um die halbe Welt gereist, um drei Menschen gegen die Anklage zu verteidigen, einen Hawaiier ermordet zu haben, und noch ehe ein einziger Geschworener bestellt war, setzte man den Leuten die -427
eigene Prinzessin vor die Tür! »Ich bitte um Vergebung, wenn ich meine unmaßgebliche Meinung äußere. Vielleicht sind wir heute alle mit dem falschen Bein aus dem Bett gestiegen. Ohne Partei ergreifen zu wollen, wage ich dennoch zu behaupten, daß keiner der Anwesenden in der bloßen Absicht gekommen ist, störend in das Verfahren einzugreifen.« Die Prinzessin hatte die Hälfte des Weges zurückgelegt. »Ich habe noch nie einen Richter gebeten, eine Entscheidung zurückzunehmen, Euer Ehren, aber offenbar komme ich auf meine alten Tage doch noch in den Genuß dieses Privilegs.« Bergman lächelte und blickte über die Schulter. Die Prinzessin hatte beinahe die Tür erreicht. Der Gerichtsdiener griff bereits nach der Klinke. »Madame!« Die Prinzessin blieb stehen. »Sie dürfen wieder Platz nehmen.« »Besten Dank, Euer Ehren. Ich bin Ihnen sehr verbunden.« Sie machte sich auf den Rückweg, und als ihr Blick Bergman streifte, deutete er eine Verbeugung an. Sobald die Prinzessin wieder neben Tom saß, begann Richter Kesselring mit der Belehrung der Geschworenenkandidaten. Tom beobachtete, wie Gerald die Prinzessin anstarrte. Und plötzlich begriff er, von Wut und Ekel gepackt, warum Sarah der Verhandlung nicht beiwohnen wollte. »Ich könnte den Anblick dieser Menschen nicht ertragen«, hatte sie gesagt. Jetzt trennten Tom nur wenige Meter von dem Mann, der sich eine Pistole und einen Komplizen besorgt und Joe dann ermordet hatte; und so groß war der Haß, der in ihm aufflammte, daß er zu zittern begann. Für eine geraume Weile konnte Tom Geralds Gegenwart nicht verkraften. Da saß Joes Mörder bequem in seinem Stuhl wie jeder andere auch. Am liebsten hätte Tom laut herausgebrüllt: »Weg mit dem Killer! Er gehört nicht unter Menschen!« Er vermochte es nicht, seine Gefühle zu beherrschen, die jedem moralischen Standard widersprachen, den zu verteidigen er geschworen hatte, als er Anwalt geworden war. Er vergrub den Kopf in seinen Händen. Die Prinzessin stieß ihn in die Rippen. -428
»Fassung, Mann! Das ist erst der Anfang!« Tom ließ die Hände sinken. Er richtete sich auf und starrte verbissen auf die Tür neben der Richterbank. Wieder stieß ihn die Prinzessin mit dem Ellbogen an. »Hör jetzt auf, dich dauernd zu verstecken«, befahl sie. »Die da vorn sind angeklagt, nicht du!« Sobald Richter Kesselring die Belehrung abgeschlossen hatte, räumten acht der fünfzig Männer ihre Plätze. Vier hatten eine vorgefaßte Meinung über den Fall, zwei dienten als Zivilbeamte in Pearl Harbor, und die beiden anderen waren Gegner der Todesstrafe. Zurück blieben zweiundvierzig Kandidaten, und die ersten zwölf nahmen auf Anweisung des Gerichtsdieners auf der Geschworenenbank Platz. »Mr. Murray«, sagte der Richter. Der Staatsanwalt blieb sitzen und wandte sich an den ersten Kandidaten. »Was sind Sie von Beruf?« »Feuerwehrmann«, erwiderte Oscar Sudeith. Er war zufrieden. Seine Bezüge erhielt er regelmäßig, und zudem standen ihm als Geschworenem ein paar Dollar Aufwandentschädigung zu. Murray lehnte sich bequem zurück, so als säße er vor einem Kaminfeuer. »Wird von der Anklage akzeptiert, Euer Ehren.« »Mr. Bergman?« Bergman beugte sich vor, stützte die Hände auf den Tisch und erhob sich schwerfällig. »Ich bitte um Vergebung, Euer Ehren. Ich habe Rheuma in den Katalog meiner Leiden aufgenommen«, flunkerte er und schlurfte zur Geschworenenbank. »Haben Sie Familie, Mr. Sudeith?« »Seit achtzehn Jahren«, antwortete der Feuerwehrmann. »Zwei Kinder.« »Werden die auch zur Feuerwehr gehen?« »Dazu müßte das Gesetz geändert werden«, antwortete Sudeith und klatschte lachend mit der Hand auf das Geländer, das die Geschworenenbank abgrenzte. »Es sind nämlich Mädchen.« Bergman wandte sich der Richterbank zu. »Akzeptiert, Euer Ehren.« -429
»Mr. Murray!« sagte der Richter. Der Staatsanwalt wartete, bis Bergman sich wieder gesetzt hatte, nahm die Liste der Geschworenenkandidaten vom Tisch, stand auf und ging, während er die Namen überflog, an der Richterbank und am Schriftführer vorbei auf die Geschworenenbank zu. »Theodore Okohami«, las er laut und ließ die Liste sinken. »Sie sind Hawaiier?« »Ja, Sir«, erwiderte Okohami. »Mutter und Vater auch. Großmutter und Großvater ebenfalls. Alles Hawaiier.« »Wie alt sind Sie, Mr. Okohami?« »Einundvierzig. Im Juni werde ich zweiundvierzig.« »Was tun Sie?« fragte Murray. »Womit bestreiten Sie Ihren Lebensunterhalt?« »Ich bin Gärtner. Ich arbeite im Garten.« »Davon kann man nicht gerade reich werden, was?« Okohami blickte den Richter an. »Wir kommen durch. Wir kommen immer durch. Wir haben uns noch nie beklagt.« Murray konsultierte wieder die Namensliste. Ihr war eine Niederschrift der Fragen beigeheftet, die Tom bei der Auswahl der Geschworenen für den Vergewaltigungsprozeß an Warren Kamahele gestellt hatte. Er wiederholte alle Fragen, die sich mit Theodore Okohamis Alter vereinbaren ließen. »Wurden Sie jemals verhaftet?« »Nein, Sir, nie«, antwortete Okohami. Er wandte sich der Richterbank zu. »Nie!« Coleman Wadsworth lehnte sich fragend über den Tisch, aber Bergman schüttelte bloß den Kopf. Murray nahm sich Zeit. Er arbeitete Toms Fragen weiter aus und ging mit Theodore Okohami die gesamte Biografie seiner Familie und der Familie seiner Frau durch. »Sie sind ein ehrenwerter Bürger, Mr. Okohami«, schloß er seine Befragung ab und verließ den Platz vor der Geschworenenbank. »Von der -430
Anklage akzeptiert, Euer Ehren.« Bergman schob seinen Stuhl zurück und drehte sich beinahe ganz herum, um die restlichen dreißig Kandidaten zu betrachten. Er bemerkte unter ihnen noch andere Hawaiier, Japaner, einen Chinesen und zwei Männer, deren Abstammung sich nicht auf Anhieb feststellen ließ, und er sah, daß der Admiral ihm warnend stumme Zeichen sandte. »Mr. Bergman?« »Von der Verteidigung akzeptiert, Euer Ehren«, sagte Bergman. Dann beugte er sich zu Wadsworth hinüber. »Man würde uns sonst draußen steinigen. Wir können nur versuchen, den Schaden so gering wie möglich zu halten.« Als er das plötzliche Raunen im Saal vernahm, hob er den Kopf. Jimmy Saunders geleitete Hester durch den Mittelgang. Die Prinzessin sah zuerst bloß über die Schulter nach ihnen, starrte dann aber direkt auf Hester, die völlig abwesend schien, so als hätte sie sich selbst in Trance versetzt. Der Admiral erhob sich, um sie zu begrüßen. Es ent ging der Prinzessin nicht, daß Bergman Gerald anstieß. »Ihre Frau ist gekommen. Sagen Sie ihr was Nettes. Küssen Sie sie. Verdammt noch mal, geben Sie ihr einen Kuß, Mann!« Gerald stand auf, lehnte sich über die Barriere und streifte Hesters Wange mit den Lippen. »Was für ein zärtliches Liebespaar«, murmelte die Prinzessin. Tom beugte sich zu ihr. »Ich habe Sie nicht gehört.« »Das ist gut.« Die Prinzessin setzte sich wieder zurecht und grunzte dabei vor Anstrengung. »Sie dient ihnen als Beweisstück Nummer eins. Dieses verlogene Weibsstück.« Als der Richter zu Mittag die Verhandlung vertagte, waren drei Geschworene bestätigt. Philip Murray blieb vor der Prinzessin stehen. »Lange nicht das Vergnügen gehabt, Philip«, begrüßte sie ihn. Murray grinste. »Eine prima Kluft haben Sie da an«, sagte er. »Hallo, Tom.« Tom erwiderte den Gruß, aber seine Stimme wurde von dem Knall übertönt, mit dem der Admiral das Türchen in der Schranke -431
zuschmetterte. Gerald und Duane sprangen auf, doch der Admiral schoß an ihnen vorbei, kurvte um den Tisch der Verteidigung und rempelte dabei Theodore Okohami an, der soeben dem Ausgang zustrebte. Der Admiral stieß ihn grob zur Seite, als wollte er den Hawaiier über Bord werfen. Okohami strauchelte und wäre beinahe gestürzt. Coleman Wadsworth fuhr von seinem Stuhl hoch, als der Admiral sich direkt vor Bergman aufpflanzte. »Sie sind ein Stümper!« fuhr er ihn an. »Sie haben diesen Fall verloren, noch ehe er begonnen hat.« »Augenblick!« protestierte Wadsworth. Sein Gesicht war gerötet. »Augenblick!« Der Admiral beachtete ihn nicht. »Und Sie wollen Strafverteidiger sein?« schäumte er, drauf und dran, Bergman eigenhändig zu erdrosseln. »Man hat Ihnen strikt aufgetragen, keine Eingeborenen zu Geschworenen zu bestellen! Ich habe Sie gewarnt!« »So dürfen Sie nicht mit Dr. Bergman reden«, mischte sich Wadsworth ein und kam hinter dem Tisch hervor. Der Admiral ignorierte ihn. »Akzeptiert den erstbesten, der ihm vor die Augen kommt!« Er wies auf Doris Ashley. »Damit haben Sie diesen Menschen die Schlinge um den Hals gelegt. Der Ankläger kann getrost daheim bleiben. Sein Geschäft besorgen ja Sie.« Wadsworth wollte den Admiral von Bergman wegdrängen, aber der Anwalt winkte unwillig ab. »Ich bin alt genug, um meine Raufhändel allein auszutragen«, sagte Bergman, stand auf und stopfte sich das Ende seiner Krawatte in den Gürtel. »Sie schwingen große Reden, Admiral.« »Ich habe noch nicht einmal angefangen.« »O doch. Sie haben angefangen, und Sie haben auch schon zu Ende gesprochen. Wir sind hier nicht in der Offiziersmesse. Wir schwimmen hier nicht auf dem blauen Meer, und Sie führen hier nicht das Kommando. Sie üben hier keine dienstliche Funktion aus. Mrs. Wadsworth tut das. Ich tue es. Sie haben auf dieser Seite der Barriere nichts zu suchen.« -432
»Und Sie noch viel weniger!« schnauzte der Admiral ihn an. »Hören Sie auf, durch die Gegend zu brüllen«, forderte Bergman ihn auf. »Dort drüben sitzen hundert Reporter und passen auf wie die Luchse. Mich können sie nicht hören, Sie aber sehr wohl, Admiral. Die Feder ist mächtiger als das Schwert, Admiral. Aber das wissen Sie wohl nicht. Wenn man Ihnen zuhört, könnte man meinen, daß Sie noch nicht einmal von der Erfindung des Rades erfahren haben. Ich sagte, Sie hätten bereits zu Ende gesprochen. Dabei bleibt es. Und wenn Sie jetzt nicht auf der Stelle verschwinden, und wenn Sie es noch einmal wagen sollten, das Wort an mich zu richten, ja, wenn auch nur ein Blick des Erkennens in Ihren Augen aufleuchtet, fange ich mit den Federfuchsern da drüben auf der Stelle ein ausgedehntes Palaver an. Und wenn ich zu Ende gesprochen habe, und wenn die Reporter zu Ende geschrieben haben, wird ganz Washington lesen können, wie Sie es mit der Freiheit und der Gleichheit für alle halten, und von dem Tag an werden Sie eine Gebirgsflotte in Nebraska kommandieren. Ich sehe vielleicht so aus, als könnte ich schon morgen vor dem Thron des Allmächtigen stehen, aber lassen Sie sich davon nicht täuschen, Admiral! Noch habe ich für meinen Schöpfer die eine oder andere Überraschung parat. Sie aber haben in diesem Prozeß nur eine einzige Aufgabe: dafür zu sorgen, daß Hester Murdoch im Gerichtssaal anwesend ist.« Bergman schloß die Knöpfe seines doppelreihigen Jacketts. »Mr. Wadsworth, wo kann man hier einen Teller gute Suppe bekommen?« Die Prinzessin hatte die Auseinandersetzung verfolgt und wandte sich an den Staatsanwalt: »Was will die Navy?« Murray warf Tom einen Blick zu. »Ich glaube«, antwortete er, »dem Admiral gefällt die Farbenzusammenstellung der Geschworenen nicht.« »Na so was«, gab sich die Prinzessin überrascht. Sie musterte Philip Murray, als hätte man ihn ihr eben erst vorgestellt. »Könnte sein, daß Ihr alter Herr sein Geld doch nicht zum Fenster -433
hinausgeworfen hat.« Murrays Vater war Grundstücksmakler und hatte seit jeher den Besitz der Prinzessin in Honolulu verwaltet. Bis zum Abend des ersten Verhandlungstages war ein vierter Geschworener bestellt worden. Der Admiral ließ Duane York von Jimmy Saunders nach Pearl Harbor zurückbringen und nahm Gerald, Hester und Doris Ashley in seiner Limousine mit. Gerald saß neben dem Fahrer. »Setzen Sie mich bei meinem Büro ab«, wies der Admiral den Fahrer an. Sobald er hinter seinem Schreibtisch saß, griff er nach einem Telegrammblock und setzte ein Kabel an den Marineminister auf: GESCHICHTE WIEDERHOLT SICH ••• STOP ••• BEREITS EIN HAWAIIER GESCHWORENER ••• STOP ••• BEFÜRCHTE WAHL WEITERER ••• STOP ••• BERGMAN TOTAL UNFÄHIG••• STOP ••• SCHLIMMSTES ZU BEFÜRCHTEN ••• STOP ••• Am folgenden Tag wurde Bruce Tanaka als sechster Geschworener eingesetzt. Und Freitagnachmittag, kurz bevor Richter Kesselring das Verfahren über das Wochenende vertagte, akzeptierte Bergman auch den zwölften Geschworenen. Außer Theodore Okohami und Bruce Tanaka saß nun auch ein weiterer Hawaiier, Ben Hawane, in der zweiten Reihe der Geschworenenbank. Tom setzte Prinzessin Luahine in ein Taxi und ging in sein Büro. Er hatte ein Blatt an die Tür geheftet: BIN UM VIER ZURÜCK. BITTE NACHRICHT HINTERLASSEN. Das Blatt war leer. »Wär ja auch ein Wunder gewesen«, brummte er, sperrte auf und ließ die Tür offenstehen. Dann saß er bis kurz vor sechs an seinem Schreibtisch und wartete. Das Läuten des Telefons kam so unerwartet, daß er zusammenzuckte. »Hallo!« sagte er, und noch einmal, bemüht, erwachsener und zuversichtlicher zu klingen. »Hallo!« »To m? Ich werde nicht vor sieben hier wegkommen«, meldete sich Sarah aus dem Drugstore. »Donna ist krank. Du brauchst nicht zu warten. Es kann sogar noch später werden. Du kannst -434
nach Hause gehen.« Er lächelte in den Hörer. »Nur mit dir.« »Willst du wirklich warten?« sagte Sarah und flüsterte hastig: »Ich muß aufhören.« Im Apparat klickte es. Tom rief sich den Tag im Gericht noch einmal in Erinnerung. Obwohl Sarah nicht zur Verhandlung kommen konnte und sich außerstande sah, Geralds Anblick zu ertragen, erwartete sie Abend für Abend einen ausführlichen Bericht, interessierte sich aber nur für das Verfahren, nicht für die Hauptpersonen. Tom hatte rasch gelernt, Gerald und die anderen Angeklagten gar nicht erst zu erwähnen. Im Büro war es dunkel. Tom verzichtete darauf, Licht zu machen. Er beschloß, Sarah vom Drugstore abzuholen. Sie wartete schon. Er winkte ihr, und sie lief ihm entgegen. Tom vergaß das leere Blatt an seiner Tür, das vereinsamte Büro. Sarah veränderte ihn. In ihrer Gegenwart war er wie verwandelt, war er etwas Besonderes. Erfolgreich, klug, der strahlende Begleiter einer schönen jungen Frau, neben der alle anderen verblaßten. Sie sagten zugleich: »Hallo!«, froh, beinahe überrascht darüber, nach zehn Stunden der Trennung wieder vereint zu sein. Sarah nahm seine Hand und zog ihn eng an sich. »Die Geschworenen sind bestellt«, sagte er und erzählte ihr in allen Einzelheiten, wie die Verhandlung verlaufen war. »Der eigentliche Prozeß beginnt also morgen - mit den Eröffnungsplädoyers von Anklage und Verteidigung.« Sie hatten Sarahs Cabriolet erreicht. »Ich wünschte, du bräuchtest nicht zu arbeiten«, sagte er. »Ich habe mir das Wünschen abgewöhnt«, sagte sie, und dann, fordernd, übergangslos: »Gehen wir noch ein wenig spazieren?« Tom hatte sich an diese plötzlichen Gefühlsausbrüche bereits gewöhnt; es war, als wollte sie Widerspruch geradezu herausfordern. Sie ließen den Wagen stehen. »Bist du denn nicht müde?« fragte Tom. »Ich will noch nicht nach Hause«, sagte Sarah leicht deprimiert. »Es ist einfach furchtbar. Meine Mutter merkt gar nicht, daß ich da bin. Sie ist wie tot. Man hat nicht nur Joe umgebracht, man hat auch sie -435
getötet. Und sie kann den Anblick meines Wagens nicht ertragen, sie gibt ihm die Schuld an allem.« »Vielleicht solltest du ihn verkaufe n und dir ein neues Auto zulegen«, meinte Tom. Sarah blieb ruckartig stehen, riß ihre Hand aus der seinen und wirbelte herum, als hätte er sie verraten. »Niemals werde ich das Auto verkaufen!« rief sie. »Meine Mutter hat recht! Joe mußte sterben, weil er in jener Nacht in meinem Wagen saß! Alle sollen sie daran denken! Jedesmal, wenn sie den Wagen sehen, soll ihnen bewußt werden, daß Joe starb, weil er jemanden, der Hilfe brauchte, nicht im Stich ließ. Sie dürfen es nicht vergessen! Nie wieder dürfen unschuldige Menschen getötet werden! Nie wieder...« Die Stimme versagte ihr. Verärgert über sich selbst und bemüht, ihre Tränen zu unterdrücken, kehrte sie Tom den Rücken. Er legte seinen Arm um ihre Schultern. »Alle sind schuldig!« stieß sie hervor. »Und alle sollten vor Gericht!« Sie gingen weiter. Ein wenig später führte Tom sie in ein kleines Lokal, wo sie auf Hockern an der Theke saßen. Tom bestellte für sie beide. Sarah war sehr still und ließ die Hälfte stehen. »Es ist spät geworden«, sagte Tom schließlich. »Hilf mir mit dem Verdeck«, bat Sarah, als sie wieder beim Auto waren. »Mache ich«, sagte er und öffnete ihr den Wagenschlag. Wie verloren stand sie da, stieg dann müde auf das Trittbrett und glitt hinter das Lenkrad. Tom betrachtete Sarah, während sie nach Papakolea fuhren. Sie steuerte, als sei sie allein im Wagen. »Sarah?« Sie gab keine Antwort, und Tom sprach sie nicht noch einmal an. Sie bogen in seine Straße ein. »Ich hole dich morgen ab«, sagte sie und hielt an. Die Straße war leer, Toms Haus lag im Dunkel. Er beugte sich zu ihr und streifte mit den Lippen ihre Wange. Sarah blickte ihn nicht an. »Du küßt mich, als müßtest du um Erlaubnis bitten«, sagte sie. Jetzt wandte sie ihm das Gesicht zu, und Tom fürchtete, Sarah -436
würde gleich zu weinen beginnen. »Du kannst es nicht erwarten, mich loszuwerden.« »Das ist nicht wahr!« widersprach Tom. »Sarah, das ist nicht wahr!« »Doch«, beharrte sie. »Du benimmst dich, als schämst du dich... für alles. Als säßest du nur hier, um mich nicht zu verletzen.« Tom packte sie am Arm und zwang sie, ihm ins Gesicht zu blicken. »Du irrst dich«, sagte er, »du irrst dich gewaltig!« Er zog sie an sich und fühlte, wie ihre warmen weichen Lippen sich öffneten, als er sie küßte. Sie wollte etwas sagen, aber jetzt konnte er sich nicht mehr zurückhalten, nicht jetzt, nicht nach diesen endlosen, einsamen Wochen. Sarah schmiegte sich an ihn, drängte sich ihm entgegen, wand sich, um ihm ganz nahe zu sein; und als er endlich von ihr abließ, rangen sie beide nach Atem, und ihre Augen waren groß vor Verlangen. »Ich habe nicht gewagt, dich anzurühren, weil Joe...« stammelte Tom. »Ich hatte Angst, du würdest bös sein...« »Auf dich doch nicht, Tommy«, erwiderte sie. »Auf dich nie!« »Und ich dachte...« begann er, aber da zog sie ihn schon auf den Sitz zurück und küßte ihn. »Sarah!« Ihre Hand schob sich unter seine Jacke. »Oh Sarah!« Sie küßte und küßte ihn immer wieder. »Wo könnten wir nur hingehen?« wisperte sie. »Jetzt?« Er fühlte ihre heiße, tastende Hand. »Ja, jetzt, Tommy.« »Komm!« flüsterte er. Wie Diebe, dicht aneinandergepreßt, engumschlungen, stahlen sie sich aus dem Wagen. »Wir müssen leise sein!« flüsterte Tom. Vorsichtig, Zentimeter für Zentimeter, öffnete er die Fliegengittertür, führte Sarah, zog sie hinter sich her, um den Tisch herum, zu dem alten, ausgesessenen Sofa, das an der Wand stand. »Tommy!« hauchte sie, »liebster Tommy!« Sie hielt ihn fest und küßte ihn, während sie sich das Kleid über die Schultern zog. »Komm, Liebster!« Ihr Körper drängte sich, wölbte sich ihm -437
entgegen. »Sarah...!« sagte er, aber sie ließ ihn nicht zu Wort kommen. »Ich möchte deinen Körper spüren«, flüsterte sie. »Ich möchte, daß wir beide nackt sind.« »Doch nicht hier!« »Warum nicht? Hilf mir, und ich helfe dir.« Ihre Finger waren überall. »So geht das nicht«, beschwor er sie. »Es könnte jemand kommen.« »Es kommt keiner. Alle schlafen doch längst«, erwiderte Sarah. Sie knöpfte ihm das Hemd auf und schob ihre Hand in seine Hose... Am folgenden Morgen, kurz vor halb zehn, geleitete ein Gerichtsdiener den Admiral, die Angeklagten und Hester Ashley Murdoch durch den Seiteneingang in den Verhandlungssaal. Als der Mann die Tür öffnete und zurücktrat, sagte der Admiral: »Und noch einmal ins Schlachthaus!« Er streckte die Hand nach Doris Ashleys Arm aus, aber sie trat so unerwartet zur Seite, daß sie fast mit Duane York zusammengestoßen wäre. Duane konnte sich nur durch eine schnelle Seitwärtsdrehung retten. Sie hatte ihn nicht einmal bemerkt. Sie schien überhaupt niemanden wahrzunehmen. »Ich... ich bin noch nic ht bereit«, sagte Doris Ashley. Die Menge im Saal, die sie mit kalten Gesichtern und hungrigen Augen musterte und abtastete und sich, einem Lavastrom gleich, auf sie zubewegte, war ihr unerträglich geworden. Schon das Erwachen und Ankleiden war ihr unerträglich geworden. Die Fahrt von Pearl Harbor in der Limousine des Admirals war ihr unerträglich geworden - und doch war dies alles nur der Beginn, war nur ein Vorspiel. Und immer warteten die Reporter mit ihren quälenden Fragen, und während ihre Stimmen wie Peitschenhiebe in ihr Ohr knallten, zückten die Fotografen ihre Kameras wie Gewehre und blendeten sie mit dem Geknatter ihrer -438
Blitzlichter. Der Admiral dankte dem Gerichtsdiener und schickte Hester, Gerald und Duane voran in den Saal. »Sie haben noch etwas Zeit, Doris«, sagte er. »Kann ich Ihnen etwas bringen?« »Die Freiheit.« »Sie werden frei sein«, versprach der Admiral. »Sie alle werden frei sein.« Aber Doris Ashley war an den anderen nicht interessiert. »Die Nation wird nichts anderes als Ihren Freispruch akzeptieren.« Erwartete. »Sind Sie jetzt bereit?« »Gönnen Sie mir noch eine Minute, Glenn.« Der Admiral legte seine Handschuhe in den offenen Teller der Mütze und ließ Doris Ashley auf dem Flur zurück. Sie ließ sich von ihrer Einsamkeit umfangen. Sie schloß die Augen und dachte an Windward, zwang sich, Windward vor sich zu sehen, dort zu sein, allein, in der Abenddämmerung, wenn der Wind den zarten Moschusduft des Meeres ins Haus wehte. Doris Ashley war überzeugt, für immer nach Windward zurückkehren zu können, überzeugt, bald wieder frei zu sein. Wie und warum das so sein sollte, daran dachte sie nicht. Man konnte sie doch nicht einfach ins Gefängnis werfen. Mochten die Geschworenen sie noch so sehr hassen und verachten, nie und nimmer konnten sie dafür stimmen, Doris Ashley hinter Gitter zu bringen. Eine Doris Ashley war nicht dazu geschaffen, abgeführt zu werden und im Steinbruch Felsbrocken zu schleppen. Sie öffnete die Augen und griff nach der Türklinke. Jetzt war sie bereit. Sollten sie doch die Eingeborenen auch heute wieder ruhig wie eine Trophäe bestaunen! Als die Verhandlung um zehn Uhr eröffnet wurde, erhob sich Philip Murray, der Vertreter der Anklage, um sein Eröffnungsplädoyer zu halten. Er tat einige Schritte an die Geschworenenbank heran, bis er Bergman den Rücken kehrte, und richtete seine Worte direkt an die zwölf Geschworenen: »Das Volk gegen Gerald Murdoch, Duane York und Doris Ashley. Ein Verfahren, in dem es um das furchtbarste, schrecklichste, -439
widerlichste und unverzeihlichste Verbrechen geht, das unsere Gesellschaft kennt: um einen Mord. Um die willkürliche Vernichtung von Menschenleben durch Menschenhand. Sie sind hier, um über Schuld oder Unschuld von drei Angeklagten zu entscheiden, die des Mordes beschuldigt werden. Des vorsätzlichen Mordes. Richter Kesselring hat Sie über Ihre Aufgabe unterrichtet. Ehe Sie auf der Geschworenenbank Platz nehmen durften, wurden Sie ausführlich befragt; demnach sind Sie in groben Zügen mit dem Wesen dieses Falles bereits vertraut. Es ist ein abstoßender Fall. Er erregt Haß und Wut. Ich bin der öffentliche Ankläger des Bezirks Honolulu. Meine Aufgabe ist es, für die Bestrafung von Übeltätern und Gesetzesbrechern zu sorgen. Meine Tätigkeit führt mich daher Tag für Tag in die tiefsten Niederungen, zu den Ausgestoßenen, zum Abschaum der Welt. Ich bin schon seit langem Staatsanwalt. Ich bin den schlechtesten und verdorbensten Menschen begegnet. Da sammelt man Erfahrungen, und ich habe nicht geglaubt, daß mich, sei es in meinem Beruf, sei es außerhalb meiner beruflichen Tätigkeit, noch etwas überraschen könnte. Ich war davon überzeugt, einer der führenden Experten in der Welt des Verbrechens zu sein.« Murray trat ganz an den Rand der Geschworenenbank, stellte sich neben den Vorsitzenden und heftete den Blick auf Doris Ashley, Gerald und Duane York. »Das war ein Irrtum«, fuhr er fort. »Diese drei Angeklagten haben es mir bewiesen. Sie sind in einem Maß verdorben, das es schon wieder zu etwas Besonderem macht: zu den absoluten Champions der Unmenschlichkeit. Es ist meine beschworene Pflicht, Straftaten zu ahnden. Ich bin der Vertreter des Volkes; das Volk verlangt die gerechte Bestrafung dieser drei Angeklagten, und ich werde das Volk nicht enttäuschen.« Murray unterbrach sich. Er brauchte diese Atempause, denn er war selbst überrascht, wie sehr er die Angeklagten verabscheute. Es wurde ihm bewußt, daß er in dem Bemühen, die Geschworenen zu überzeugen, sich selbst überzeugt hatte. Aber er mußte seiner -440
Wut Herr werden, die ihm, seiner Beweisführung und seiner Sache schaden konnte. Er mußte einen klaren Kopf behalten und auf der Hut sein, nicht zuletzt vor dem gerissenen alten Fuchs, der ihm am Tisch der Verteidigung gegenübersaß. Um Zeit zu gewinnen, wandte er sich der Richterbank zu. »Verzeihen Sie, Euer Ehren, ich sehe mich genötigt, weiter auszuholen.« Er trat vor die Geschworenen. »Verzeihen auch Sie mir. Ich ließ mich einen Augenblick von den Begleitumständen dieses entsetzlichen Verbrechens, von den furchtbaren Tatsachen dieses Mordes hinreißen. Ein schuldloser junger Mann, der hier auf unserer Insel geboren wurde, den seine ehrenwerten Eltern großzogen, um auch ihn zu einem ehrenwerten Bürger werden zu lassen, ein fröhlicher, herzensguter Mensch, ein junger Mann, der erst an der Schwelle seines Lebens stand, wurde getötet, kaltblütig ermordet. Nichts in der Welt kann einen Mord rechtfertigen. Aber es gibt Menschen, die Unrecht tun. Joseph Liliuohe hat in seinem Leben niemals jemandem Unrecht getan, und doch mußte er eines gewaltsamen Todes sterben. Joseph Liliuohe starb nicht im Verlauf eines Streits oder einer Schlägerei oder auch nur einer Auseinandersetzung mit einem der drei Angeklagten, die wegen des Mordes an ihm vor Gericht stehen. Joseph Liliuohe kannte die Angeklagten nicht einmal. Er war keinem von ihnen je zuvor begegnet. Ich wiederhole: Er war keinem der drei Angeklagten, die sich entschlossen hatten, ihn zu töten, je begegnet. Bis zu seinem letzten Lebenstag hatte er eine der angeklagten Personen nie gesehen, und die anderen zwei nur von fern. Das war alles, was diesen arglosen, unbeschwerten jungen Mann, dessen Leben an jenem sonnenhellen Morgen ausgelöscht wurde, mit den Tätern verband, die kaltblütig beschlossen hatten, daß er sterben müsse. Joseph Liliuohe kannte sie nicht, sie kannten ihn nicht. Fremde haben ihn getötet!« Wieder richtete der Staatsanwalt seine Worte an Bergman und die Angeklagten. -441
»Joseph Liliuohe starb auch nicht aufgrund einer Verwechslung. Die Angeklagten haben ihn nicht irrtümlich getötet. Es war ihre feste Absicht, Joseph Liliuohe aus dem Weg zu räumen. Ich sagte, die Tat sei vorsätzlich erfolgt, und ich werde es beweisen.« Murray ging an Bergman vorbei und blieb neben Gerald stehen, und als er fortfuhr, sprach er zu Gerald. »Ich habe das Wort schuldlos gebraucht«, sagte er. »Das Mordopfer war schuldlos, und auch die, die des Mordes angeklagt sind, haben als schuldlos zu gelten, solange es für ihre Schuld keine Beweise gibt. Die Anklage wird die Beweise erbringen.« Er schüttelte bedächtig den Kopf. »Daran hege ich nicht die geringsten Zweifel. Die Staatsanwaltschaft wird Zeugen beibringen und Beweise vorlegen, eindeutige, unwiderlegbare Beweise, die Ihnen, den Geschworenen, nur eine Wahl lassen werden: den Schuldspruch, die Entscheidung auf vorsätzlichen Mord.« Murray verneigte sich vor der Richterbank. »Ich danke Ihnen, Euer Ehren.« Am Tisch der Anklage rückte Leslie McAdams Murray den Stuhl zurecht. Kaum hatte der Staatsanwalt Platz genommen, raunte McAdams ihm zu: »Wunderbar! Ich möchte mir Ihr Plädoyer am liebsten einrahmen!« »Darüber reden wir, wenn alles vorbei ist«, erwiderte Murray. Der Richter blickte zum Tisch der Verteidigung hinunter. »Mr. Bergman.« Bergman erhob sich und blieb beim Tisch stehen. »Die Verteidigung ersucht das Gericht um eine Vergünstigung«, sagte er. »Wenn Euer Ehren gestatten, würde es die Verteidigung vorziehen, das Eröffnungsplädoyer zu einem späteren Zeitpunkt zu halten.« Richter Kesselring, der im Gerichtssaal nie eine Armbanduhr bei sich hatte, sah über die Schulter zu der Uhr hoch, die hinter ihm an der Wand hing. »Das Gericht ist bereit, Ihrem Antrag zu entsprechen, Mr. Bergman«, sagte er. »Wir können uns auf zwei Uhr vertagen und dann Ihre Ausführungen hören.« -442
»Euer Ehren!« Bergmans Stimme bewirkte, daß der Richter, der schon aufgestanden war, wieder Platz nahm. »Es ist meine Schuld, Euer Ehren! Nach so vielen Jahren sollte ich mich eigentlich im Gerichtssaal verständlich machen können. Ich bitte um Vergebung. Wenn ich von einem späteren Zeitpunkt sprach, meinte ich damit, daß ich mein Plädoyer erst halten möchte, wenn die Anklage ihr Beweisverfahren abgeschlossen hat.« »Abgeschlossen?« wiederholte der Richter, aber seine Stimme ging im Scharren der Stühle unter, als sich hundert Reporter über ihre Blöcke beugten und hastig zu schreiben begannen. Der Schriftführer blickte zur Richterbank auf. »Tut mir leid, Euer Ehren«, sagte er. »Das letzte Wort habe ich nicht mitbekommen.« Richter Kesselring hämmerte auf das Pult und blickte die Reporter tadelnd an. »Noch ist die Verhandlung nicht vertagt, meine Herren!« Und zum Schriftführer: »Ich sagte: ›Abgeschlossen?‹« Bergman wartete geduldig. »Sie stellen eine äußerst ungewöhnliche Forderung an das Gericht.« »Verzeihung, Euer Ehren«, sagte Bergman. »Nichts läge mir ferner, als eine Forderung zu stellen. Das steht mir nicht zu, und das würde ich nie tun. Ich wollte mir weder etwas anmaßen noch dem Gericht den schuldigen Respekt versagen. Sollte ich diesen Eindruck hervorgerufen haben, bitte ich das Gericht in aller Form um Verzeihung.« Bergman verschränkte die Hände auf dem Rücken. »Ich räume allerdings ein, daß meine Bitte in der Tat ungewöhnlich erscheinen muß. Noch nie habe ich gehört oder selbst erfahren, daß um ein solches Privileg gebeten wurde, das den herkömmlichen Rahmen eines Verfahrens sprengt. Das Gericht kann mein Ansinnen selbstverständlich zurückweisen, Euer Ehren. Aber lassen Sie mich versuchen, meinen Antrag zu begründen. Ich habe es übernommen, drei Menschen zu verteidigen, die des Mordes beschuldigt werden, des schwersten Verbrechens schlechthin, auf das zu Recht die schwerste Strafe steht. Meine persönliche Ansicht ist, daß in diesem Fall einige -443
Nachsicht angebracht wäre. Das, wie gesagt, ist meine persönliche Meinung.« Jenseits der Schranke stieß die Prinzessin Tom an. »Was soll das?« flüsterte sie ihm zu. »Was führt er im Schild?« »Ich denke, er will Zeit schinden, weil er nichts zu sagen hat.« Die Prinzessin funkelte ihn an. »Kleiner Klugscheißer«, sagte sie. Richter Kesselring überlegte kurz und entschied: »Ihrem Begehren wird entsprochen.« »Meinen verbindlichsten Dank, Euer Ehren«, sagte Bergman. Er nahm wieder Platz und stützte sich dabei auf die Lehnen seines Sessels. Tom hatte richtig geraten. »Mr. Murray«, sagte der Richter. Der Staatsanwalt erhob sich. »Ist die Anklage bereit, nach der Mittagspause das Beweisverfahren zu eröffnen?« »Gewiß, Euer Ehren«, erwiderte Murray. Um vierzehn Uhr rief der Staatsanwalt seinen ersten Zeugen auf: Polizeiinspektor Kenneth Christofferson. Murray fragte ihn, wann und bei welcher Gelegenheit er den Angeklagten zum ersten Mal begegnet war. Kenny schilderte den Geschworenen, wie er den dahinrasenden Pierce Arrow verfolgt hatte, bis der Wagen von der Straße abgekommen war. Auf Murrays weitere Fragen berichtete Kenny, wie er die Leiche auf dem Boden im Fond der Limousine entdeckt hatte. Murray legte die Beweisstücke A und B der Anklage vor, die beiden Selbstladepistolen Kaliber 45, die man in Geralds Segeltuchtasche gefunden hatte. Murrays Fragen waren wirklich erschöpfend. Er erging sich in fast endlosen Details, aber Bergman erhob nicht ein einziges Mal Einspruch. Nur Richter Kesselring unterbrach den Staatsanwalt, wenn Murray sich gelegentlich wiederholte. Murray zeigte Kenny Christofferson eine Fotografie, auf der man Joseph Liliuohe neben Doris Ashleys Wagen auf dem Boden liegen sah. -444
»Ist das die Leiche, die Sie im Fond des Autos entdeckt haben?« wollte Murray wissen. »Ja, das ist sie«, antwortete Kenny. Murray legte die Aufnahme als Beweisstück C vor. Dann fragte er den Zeugen, ob sich die Insassen des Pierce Arrow im Gerichtssaal befänden. Kenny zeigte auf die drei Angeklagten. »Ihr Zeuge«, sagte Murray. Bergman behandelte Kenny, als wäre dieser ein Schüler, der zum ersten Mal an einem Redewettbewerb teilnahm. Bergmans Kreuzverhör war kurz, und nachdem Kenny den Zeugenstand verlassen hatte, rief der Staatsanwalt Lieutenant Wylie Soames auf. Der Navy-Offizier betrat in blauer Ausgehuniform den Zeugenstand und wurde vereidigt. Auf Murrays Fragen gab Soames an, er sei der Bluegill zugeteilt und diene als Artillerieoffizier an Bord des U-Boots. Murray zeigte ihm die beiden Pistolen. An Hand der Seriennummern identifizierte sie Soames als Waffen aus den Beständen der Bluegill. Bergman verzichtete auf ein Kreuzverhör. Als Murray sich erhob, um seinen nächsten Zeugen aufzurufen, sagte Richter Kesselring: »Ich denke, wir sollten uns auf morgen früh, zehn Uhr, vertagen, Herr Staatsanwalt.« »Was sind Sie von Beruf?« fragte Murray anderen Tags kurz nach zehn Uhr. »Ich leite das Labor im Polizeipräsidium«, gab Vernon Kappel, der erste Zeuge an diesem Morgen, zu Protokoll. Murray bat ihn, seine Arbeit und das Ausmaß seiner Pflichten zu beschreiben. Während Kappel dies tat, ging Murray zum Tisch der Anklage, auf dem ein in Wachsleinen gehülltes Bündel lag, und öffnete es. Es enthielt mehrere große Badetücher. Sie waren schmutzig und -445
zeigten große braune Flecken getrockneten Bluts. Murray nahm ein Tuch nach dem anderen in die Hand, breitete es aus und hob es über den Kopf wie eine Hausfrau, die ihre Wäsche zum Trocknen ausbreitet, ehe er den Stapel als Beweisstück D vorlegte. »Kennen Sie diese Badetücher?« Mit den Badetüchern, antwortete Kappel, sei der Körper von Joe Liliuohe bedeckt gewesen, als er neben dem Pierce Arrow lag. Auf Murrays weitere Fragen gab Kappel an, den Tüchern Blutproben entnommen zu haben. Sie seien mit dem Blut des Toten identisch gewesen. Dann zeigte der Staatsanwalt Kappel die Beweisstücke A und B, die beiden Pistolen. Kappel sagte aus, auf einer der Waffen hätten sich Fingerabdrücke von Lieutenant Gerald Murdoch befunden. Wieder kehrte Murray zum Tisch der Anklage zurück, diesmal um aus einem kleinen Kästchen das Projektil einer Patrone vom Kaliber 45 zu nehmen - Beweisstück E, wie er angab. »Ist Ihnen dieses Projektil bekannt?« Kappel antwortete, es entspräche jenen, die er im Polizeipräsidium zum Vergleich aus der Pistole mit Gerald Murdochs Fingerabdrücken abgefeuert hatte. Nach Kappels Vernehmung vertagte Richter Kesselring erneut die Verhandlung. Die nächste Zeugin war Jennifer Vogt, Verkäuferin bei Henley&Son, einem Kurzwarenladen, zu dessen exklusivem Kundenkreis, nach Jennifers Aussage, Doris Ashley gehörte. Murray zeigte der Zeugin die blutbefleckten Tücher, und Jennifer sagte, sie selbst habe die Ware an Doris Ashley verkauft. Murray bot die Quittung von Henley&Son als Beweisstück F an. Jennifer bestätigte, die Quittung für die Badetücher ausgestellt zu haben. Anschließend ließ Murray Lester Preston aufrufen. Ein junger Mann mit dem Polizeiabzeichen auf dem Jackenaufschlag betrat den Zeugenstand. Preston sagte aus, er habe am Tag der Ermordung Joseph Liliuohes auf Windward unter einer Lampe ein Projektil einer Patrone vom Kaliber 45 gefunden. Murray zeigte ihm das Beweisstück E, und Preston identifizierte es als die -446
besagte Kugel. »Ich habe keine weiteren Fragen an den Zeugen«, sagte Murray, und der Richter vertagte die Verhandlung. »Und so wird es weitergehen bis zum Jüngsten Tag«, brummte Bergman, als Coleman Wadsworth nach seiner Aktenmappe langte. »Außer uns beiden hat er die ganze Stadt vorladen lassen.« »Mr. Bergman?« Gerald stand neben ihm. »Ich meine natürlich auch Sie, Mr. Wadsworth. Bisher haben Sie noch kaum irgendwelche Fragen gestellt.« Bergman sah die Röte in Geralds Gesicht. Er legte seine schweren Hände auf die Tischplatte und stemmte sich hoch. »Das kommt davon, Lieutenant, daß es bisher noch kaum etwas zu sagen gab.« Er faßte Gerald am Arm. »Bisher, mein Junge, bisher.« Am folgenden Morgen rief Murray Maddox in den Zeugenstand. Auf dem Tisch der Anklage lag ein unförmiger Gegenstand, der mit einem weißen Tuch bedeckt war. Murray reichte dem Zeugen ein Blatt, das einen mit Maschine getippten Text enthielt - Beweisstück G. »Ich gestehe, Hester Murdoch vergewaltigt zu haben«, las Murray vor. »Joseph Liliuohe. Kennen Sie dieses Schriftstück, Captain?« »Ja, ich kenne es«, nickte Maddox. Er habe es auf Windward unter dem Kaffeetisch gefunden. Murrays Befragung war ausführlich. Maddox mußte bei der Anhöhe über dem Meer beginnen, wo Doris Ashley mit dem Wagen von der Straße abgekommen war, dann von Windward und schließlich von seinen Untersuchungen im Polizeipräsidium berichten. Auf Maddox folgte der Obermaat Erster Klasse Milton Penn von der Bluegill. Murray entfernte das weiße Tuch von dem Gegenstand auf dem Anklagetisch und enthüllte eine Schreibmaschine, die er als Beweisstück H registrieren ließ. Der Matrose gab an, diese Maschine an Bord des U-Bootes zu benutzen. Mit Genehmigung des Richters tippte Murray ein paar Zeilen auf ein Blatt und reichte es gemeinsam mit dem von Gerald aufgesetzten Geständnis an den Zeugen, der bestätigte, daß beide Schriftstücke von seiner Maschine stammten. Der letzte Zeuge an diesem Tag -447
war Dr. Arthur Doty, der Leichenbeschauer des Bezirks Honolulu. Leslie McAdams befragte ihn mit dem Ziel, die Stunde des Todes und die Todesursache festzuhalten. In der Mittagspause hatte Murray die Vernehmung mit McAdams besprochen. »Sehen Sie zu, daß Doty den Geschworenen einen anatomischen Vortrag hält. Daß er ihnen genüßlich jede blutige Einzelheit schildert. Diesmal darf es keine Probleme beim Schuldspruch der Geschworenen geben.« Zusammen mit zwei Kollegen verließ Maddox am Nachmittag gegen fünf Uhr im zweiten Stock des Polizeipräsidiums den Fahrstuhl. Auf dem Korridor, genau vor seinem Zimmer, saß Bergman und grinste ihm entgegen. »Haben Sie ein paar Minuten für mich Zeit, Captain?« Noch ehe er nach dem Schlüssel fischen konnte, wußte Maddox, daß der Anwalt ihm Ärger machen würde. Bergman stützte sich beim Aufstehen am Türrahmen ab. »Einer Ihrer Kollegen hat mir den Stuhl gebracht«, sagte er. »Das gehört zu den wenigen Vorteilen, in deren Genuß man kommt, wenn man alt wird. Ein Genuß übrigens, auf den ich liebend gern verzichten würde. Das war heute ein heißer Tag, was?« Maddox schloß auf und ließ Bergman den Vortritt. »Handelt es sich um eine dienstliche Angelegenheit?« fragte er. »Nicht im geringsten«, antwortete Bergman. Maddox schob ihm einen Sessel hin. »Also worum geht es?« »Um Sie«, sagte Bergman. »Um Sie und um mich.« Er zögerte. »Um uns beide und Lenore.« Er langte nach seinem Taschentuch und wischte sich den Schweiß vom Gesicht. »Es ist immer noch heiß. Ich dachte, Sie hätten mir vielleicht etwas mitzuteilen, Captain.« »Sie sind zu mir gekommen.« »Auch wahr«, sagte Bergman. Er hob die Hand, spreizte die -448
Finger und hielt wie ein Zauberkünstler das Taschentuch an einem Zipfel. »Das gehört mir«, sagte er. »Ein Herrentaschentuch. Und in Lenores Zimmer im Hotel habe ich ein anderes gefunden. Auch ein Herrentaschentuch. Aber eines, das nicht mir gehört. Jetzt könnten Sie sagen, ich hätte herumgeschnüffelt. Stimmt. Ich habe herumgeschnüffelt. Was sollte eine so damenhafte, wählerische Frau wie Lenore mit einem Herrentaschentuch anfangen? Man nehme ein solches Tuch und eine Firststange, und schon hat man ein Zelt.« Wieder wischte er sich den Schweiß vom Gesicht. »Sie haben Ihr die Halskette geschenkt, Captain. Das war für mich von Anfang an sonnenklar. Jade. Die Halskette hat eine Menge Geld gekostet. Ich weiß das, weil ich auch in der Stadt herumgeschnüffelt habe. Lenore würde nie für sich selbst so viel Geld ausgeben. Das ist nicht ihre Art.« Bergman fuhr sich mit zwei Fingern in den Hemdkragen. »Würden Sie bitte das Fenster öffnen, Captain? Es ist verdammt heiß hier drin.« Maddox stand auf. Er schob die Jalousie hoch, die tagsüber für Kühle im Raum gesorgt hatte, und öffnete das Schiebefenster. »Besser so?« »Ein wenig«, sagte Bergman. »So heiß wie heute war es seit meiner Ankunft noch nie. Ist das ungewöhnlich?« Maddox blieb neben seinem Stuhl stehen. »Ich bin kein Wetterfrosch. Was wollen Sie von mir?« »Ich brauchte weder das Taschentuch noch die Kette, um zu erkennen, daß sich etwas zusammenbraut«, sagte Bergman, als hätte er die Frage nicht gehört. »Schon am Tag unserer Ankunft sprangen mir die Beweise ins Auge. Ich sah, wie Lenore aufblühte, und das kam nicht von der Sonne. Ich hörte ihre Stimme, und sie hatte einen neuen Klang. Ich sah, wie sie ans Telefon ging, und ich hörte sie sprechen. Ich wußte, daß Sie dran waren, noch ehe sie ›Captain‹ sagte. Mein Lebtag habe ich Menschen beobachtet und ihnen zugehört. Ich weiß, wo das Ende -449
der Wahrheit beginnt. Als ein Pärchen von Scheinheiligen seid ihr beide Stümper. Lenore verläßt das Hotel, angeblich um einkaufen zu gehen. Sie kommt zurück und hat Beerenflecken auf dem Kleid.« Bergman erhob die Stimme. »Ich bin auf dem Land aufgewachsen, Captain. Ich weiß, wie Beerenflecken aussehen. Diese verdammte Hitze«, sagte er sehr laut. »Ich habe diese verzauberten Inseln satt.« »Ich habe Sie gefragt, was Sie von mir wollen«, sagte Maddox, »aber Sie bleiben mir die Antwort schuldig. Also gut, ich antworte selbst. Sie wollen, daß ich mich von Lenore fernhalte.« »Da ist eine Frau«, sagte Bergman. »Und da sind zwei Männer. Die Frau trägt den Namen eines der Männer, und es ist nicht der Ihre.« »Auf diese Weise dürften Sie die Hälfte Ihrer Fälle gewonnen haben«, sagte Maddox. »Weil es keine andere Möglichkeit gab, Sie zum Schweigen zu bringen.« Eine dunkle Röte flog über Bergmans Gesicht. »Sie sind sehr arrogant«, sagte er. »Sie glauben, über alle anderen erhaben zu sein.« »Das glaubt jeder«, erwiderte Maddox. »Wie sonst könnte man das Leben ertragen?« Bergman hieb mit der flachen Hand auf den Tisch. »Lassen Sie Lenore in Ruhe!« »Hat Sie Lenore zu mir geschickt?« fragte Maddox. Wenn es so war, hatte er sie verloren. »Sie bekommen sie nie«, sagte Bergman. »Sie ist meine Frau.« »Ihre Frau war sie nie«, entgegnete Maddox. »Sie besitzen sie, so wie Sie Ihren Wagen besitzen und Ihr Haus am See. Die haben Sie vielleicht auf redliche Weise erworben, aber Le nore haben Sie gestohlen.« »Und Sie glauben, ein lausiger Polizist könnte sie mir wegnehmen? Eine Null von einem beamteten Speichellecker? -450
Ein plattfüßiger Stümper?« »Sie sollten aufhören zu brüllen«, sagte Maddox ruhig. »In diesem Haus wimmelt es von Reportern.« »Ich brauche sie!« schrie Bergman. »Ich bin nicht der senile Tattergreis, für den Sie mich offenbar halten. Ich hocke noch nicht mit einem Sabberlätzchen im Rollstuhl!« Er riß plötzlich den Mund auf und gähnte unschuldig wie ein Baby. »Lenore sollte Sie auf der Stelle verlassen«, sagte Maddox. »Sie haben sie bei lebendigem Leib begraben. Sie haben ihr Leben gestohlen. Ich habe es ihr zurückgegeben, und jetzt sitzen Sie da und verlangen, alles solle wieder so werden, wie es war?« Maddox hatte die Oberhand gewonnen. »Sie haben es nicht mit einem Straßenräuber zu tun!« brummelte Bergman, und sein Kopf fiel zurück. Der Schweiß lief ihm in Strömen über das Gesicht. Nun kippte der Kopf des alten Mannes nach vorn. »Nie werden Sie...« stammelte er, riß wieder den Mund auf, ließ abermals den Kopf nach hinten fallen. Seine Augen standen offen, aber Maddox erkannte, daß sie nichts mehr wahrnahmen. Bergmans Kopf war auf die Brust gesunken, sein linker Arm hing schlaff über die Sessellehne, seine Beine waren nach vorn gerutscht, die Knöchel unnatürlich verdreht. Sein Schweißausbruch, sein wildes Gebrüll, die untypische Streitlust, das unpassende Gähnen, die plötzliche Apathie, die Bewußtseinseintrübung, der Verlust der Körperbeherrschung - das alles waren klassische Symptome. Bergman war unaufhaltsam in ein gefährliches Zuckerkoma geglitten. Sein Körper produzierte zuviel Insulin und befand sich in akutem Insulinschock. Der Blutzuckerpegel war bedrohlich gesunken. Und während er hilflos im Sessel lehnte, begann sein Puls eine wilde Jagd. Wenn nicht sofort und entschlossen geholfen wurde, konnte der Körper diese Attacke nicht überstehen. Bergman würde ersticken. Immer wieder hatte sich Maddox in seinem Beruf mit Toten -451
oder Sterbenden befassen müssen, hatte gesehen, wie ein Leben auf natürliche oder gewaltsame Weise verging. Daher wußte er sofort, daß Bergman dem Tode nahe war. Maddox wußte aber auch - und dieses Wissen stand wie ein Plakat vor seinen Augen -, daß, wenn er sich nicht rührte und einfach sitzen blieb, und wenn nicht zufällig jemand ins Zimmer kam, Bergman innerhalb kürzester Zeit sterben würde. Und von dem Mann, der ihm eben noch versichert hatte, daß er nicht daran dächte, Lenore freizugeben, würde nichts übrigbleiben als ein Sack voller Knochen. Und wenn Maddox dann zu Lenore ging, um ihr die Nachricht zu überbringen, würde er sie nie wieder verlassen müssen. Das alles schoß Maddox in allen Einzelheiten durch den Kopf. Aber da lief er bereits auf den Gang hinaus. »Ich brauche Hilfe!« brüllte er. »Schnell! Schnell!« Der erste der beiden Beamten, die mit ihm gekommen waren, trat aus seinem Zimmer. »Hier herein«, rief Maddox ihm zu und stürzte wieder in sein Büro zurück. Er bückte sich, schlang seine Arme unter Bergmans Achseln und zog ihn hoch. Mit dem Fuß s tieß er Bergmans Sessel zur Seite und rief den beiden Polizisten zu: »Los! Packt ihn! Rasch!« Er lief voraus, um den Aufzug zu holen. Die Polizisten kamen aus dem Büro, Bergman in ihrer Mitte. »Schnell, habe ich gesagt«, rief Maddox. »Schleift ihn hinter euch her!« Mit den Fäusten hämmerte er gegen die Aufzugstür. »Komm schon, verdammt noch mal! Bleib stehen!« Der Fahrstuhl hielt, die Türen öffneten sich, die Kabine war leer. »Schafft ihn herein! Macht schon!« Die Polizisten lehnten Bergman aufrecht an die Wand. Maddox drückte den Knopf für das Erdgeschoß. »Bringt ihn in meinen Wagen! Und dann ruft das Mercy Hospital an! Sagt ihnen, ich sei mit Walter Bergman unterwegs... mit einem alten Mann. Er hat Diabetes und ist bewußtlos. Er hatte einen Schweißausbruch... und Gähnkrämpfe... dann wurde er bewußtlos.« Der Fahrstuhl hielt, und Maddox lief zum Parkplatz. -452
Er holte den Wagen, fuhr über die Bordsteinkante, hielt unmittelbar vor dem Eingang und öffnete die Tür zum Beifahrersitz. Als die beiden Polizisten Bergma n anschleppten, rief er ihnen zu: »Sagt den Leuten im Krankenhaus, sie sollen mit einer Tragbahre vor dem Tor warten! Beeilt euch! Macht schon!« Noch ehe er die Straße erreicht hatte, ließ er die Sirene aufheulen. Kaum fünf Minuten später parkte Frank Puana nahe der Notaufnahme des Mercy Hospital. Er war in frisches Weiß gekleidet, Hemd, Hosen und Socken, und trug Wildlederschuhe. Schon seit Tagen kam er sehr früh zum Dienst, weil er es zu Hause nicht mehr aushielt. Seit dem Abend, als er erfahren hatte, daß Claude Lansing ihn betrogen hatte, war ihm Mary Sue fremd geworden. Daheim ging es zu wie in einem Hotel, und Mary Sue führte sich auf wie ein Stubenmädchen, das die Gäste verachtet. Tag für Tag das gleiche: »Hier ist dein Frühstück!« Oder: »Das Mittagessen steht auf dem Tisch.« Sie aßen schweigend, nur Eric und Jonathan durchbrachen mit ihrem kindlichen Geplapper die Stille. Versuchte Frank, mit Mary Sue ein Gespräch zu beginnen, wies sie ihn ab, antwortete einsilbig, stand vom Tisch auf und tat, als sei sie beschäftigt. Frank fürchtete die gemeinsamen Mahlzeiten, fürchtete jede dienstfreie Nacht. Dann spielte er mit seinen Söhnen, bis sie vor Erschöpfung einschliefen, und wenn er ins Schlafzimmer kam, kehrte Mary Sue ihm den Rücken zu, und ihre Augen waren geschlossen. Heute früh hatte Eric Mary Sue an den Mundwinkeln gezupft und gemault: »Lach doch, Mutti!« Darauf war sie heulend aus dem Zimmer gerannt. Als Frank aus dem Wagen stieg, öffnete sich das Tor zur Notaufnahme, und Peter Monji rollte eine Krankenbahre auf den Parkplatz. Ein zweiter Arztgehilfe folgte ihm. »Sie kommen wie gerufen, Herr Doktor«, sagte Peter und berichtete, die Polizei sei mit einem alten Mann unterwegs, einem Diabetiker im Zuckerkoma. »Ich brauche zweimal fünfzig Kubik reine Glukose«, sagte Frank. »Hängt die Flasche auf den Tropf. Und schickt einen -453
Pfleger heraus, der den Patienten übernimmt.« »Wir sind heute nacht nur zu zweit, Herr Doktor«, sagte Peter. Frank schob ihn zur Tür. »Beeilt euch.« Während Peter sich bückte und einen Keil unter den Türflügel schob, hörte er aus der Ferne die Sirene des Polizeiautos. Als Frank die Notaufnahme betrat und die Infusionsnadeln aus der Lade eines Instrumentenschranks nahm, hatte Peter bereits die Glukoseflasche auf den Bügel gehängt und den Gummischlauch angeschlossen. »Kommt der Patient auf den Tisch, Herr Doktor?« »Das kostet zuviel Zeit«, winkte Frank ab. Maddox und der Arztgehilfe rollten die Krankenbahre herein. »Macht ihm einen Arm frei.« Maddox schob Bergmans Jacke und den Hemdsärmel hoch. »Schon geschehen!« rief Maddox. »Los, los! Machen Sie schon!« »Kommandieren Sie mich schon wieder herum? Machen Sie Platz!« Frank griff nach der Infusionsleitung. Die Nadel in der rechten Hand, faßte er mit der linken Bergman am Handgelenk, drehte den Arm und preßte mit dem Finger, bis die Vene hervortrat. Dann stach er die Nadel hinein, und die Glukose sickerte, Tropfen für Tropfen, in Bergmans Blutkreislauf, um dort die lebensbedrohende Überdosis an Insulin abzubauen. »Und jetzt?« fragte Maddox. »Und jetzt warten wir«, antwortete Frank. Maddox' Schultern begannen zu schmerzen. Er krümmte den Rücken. Lenore war allein. Wahrscheinlich war sie bereits beunruhigt und hing am Telefon, um herauszufinden, wo Bergman blieb. »Wie lange müssen wir warten?« fragte Maddox. »Sagen Sie es mir, oder ich lasse Lansing holen, damit er es mir sagt. Wenn er nicht da ist, wird sein Vertreter es mir sagen.« Frank blickte vom Patienten auf und starrte Maddox an. Er hatte nichts mehr zu verlieren. »Sie finden Dr. Lansing im dritten Stock.« Dann beugte er sich wieder über den Patienten und fühlte -454
ihm den Puls. »Peter, geben Sie mir...«, aber da reichte ihm der Pfleger bereits das Stethoskop. Frank lauschte auf Bergmans Herztöne. Er schob ein Lid hoch und untersuchte Bergmans Augapfel. »Er wird durchkommen«, sagte er schließlich. »Er sollte über Nacht hierbleiben.« Maddox betrachtete Bergman, der auf der Bahre neben dem Untersuchungstisch lag. Der alte Mann war blaß. Er wirkte hilflos, zerbrechlich. Sein bloßgelegter Unterarm verriet das hohe Alter. Die Hand ebenfalls. Der Hemdkragen war zu groß. Der Hals war voller Falten, die Haut eingefallen. Bergmans Gesicht war fleckig und mit vereinzelten Bartstoppeln übersät, die Bergman beim Rasieren übersehen hatte. Ließ man die elegante Kleidung außer acht, unterschied sich Bergman in nichts von den alten Streunern, die nachts in der Zelle der Polizeistation landeten. Aber dieser verwüstete, verbrauchte Sack, dessen Appetit längst gesättigt war, dessen Begierden längst abgestumpft waren, hielt an seinem Entschluß fest, Maddox um den einzigen Lohn zu bringen, den er je für sich in Anspruch genommen hatte. »Ich komme wieder«, sagte Maddox. Er konnte Lenore nicht anrufen, konnte sie nicht allein mit einem Taxi fahren lassen und sie damit trösten, daß sie die letzte, die grausame, die endgültige Wahrheit im Krankenhaus erfahren würde. Auf dem ganzen Weg zum Western Sky ließ er die Sirene heulen. Die Tür zu Bergmans Penthouse, die Tür zu Lenore, schien auf Maddox zuzustürzen. Er war schon vor Hunderten Türen gestanden, hatte sich Hunderten, Tausenden Gesichtern gegenübergesehen, die von Angst und Unglauben gezeichnet waren, wenn er die schrecklichen Nachrichten überbrachte, die ihm zur Routine geworden waren. Aber noch nie war er selbst betroffen gewesen, und obwohl er auch jetzt nicht zögerte, sagte er laut: »Worauf wartest du noch?« und klopfte. »Walter?« Ihre Stimme verriet zaghafte Hoffnung. Lenore riß die Tür auf. Maddox sah, wie ihr der Atem stockte. -455
»Er ist über den Berg, Lenore, es geht ihm gut. Wirklich!« sprudelte Maddox heraus, noch ehe er eintrat. »Wo ist er?« »Im Mercy Hospital. Es war seine Diabetes. Sie behalten ihn über Nacht dort.« Sie stand wie angewurzelt. »Willst du nicht deine Handtasche holen?« Lenore schien zu erwachen. Sie trat einen Schritt zurück, um ihn einzulassen, und schloß dann die Tür. »Er ist doch nicht...?« »Ich würde dich niemals belügen«, versicherte er ihr. »Ich habe beim Gericht angerufen«, sagte Lenore. »Man wußte nur, daß er bereits gegangen war und daß er ein Taxi genommen hatte. Als ich dir die Tür öffnete, dachte ich, du hättest es übernommen, mir die Nachricht zu überbringen.« »Das war nicht so«, wich er aus. »Ich bin gleich fertig.« Sie wandte sich um und ging durch eine offenstehende Tür. Maddox konnte das Bett sehen. Ihr Bett. Er stellte sich vor, wie das sein würde: neben ihr zu erwachen, während sie noch schlief; ihr Fruchtsaft und Kaffee und Brötchen ans Bett zu bringen... Lenore kam mit einer Handtasche zurück. »Laß mich erst noch im Krankenhaus anrufen. Ich will sicher sein, daß... daß sich nichts geändert hat.« Maddox betrachtete sie, während sie telefonierte. »Hier ist Mrs. Bergman. Mrs. Walter Bergman.« Er ging schon vor, als wollte er sie nicht belauschen. Als Lenore nachkam, sagte sie: »Er liegt nicht mehr in der Notaufnahme.« Sie sprachen erst wieder miteinander, als sie im Wagen saßen. »Ist es weit?« »Nur ein paar Minuten«, antwortete Maddox. Er spürte ihre Hand auf seinem Schenkel. Am liebsten hätte er den Wagen angehalten, Lenore an sich gezogen und sie getröstet. Es war, als sei er wohlbehalten von einer langen und gefährlichen Reise heimgekehrt. »Curt?« Sie zögerte. »Ich möchte dir mein Verhalten erklären. Als ich dich sah, als du mir sagtest, daß Walter krank sei, fühlte ich mich... schuldig. Als ob ich ihn -456
verlassen hätte.« »Heute ist eben kein guter Tag«, entgegnete Maddox, immer noch ausweichend. Aber dann konnte er doch nicht warten, bis sie im Krankenhaus war, in Bergmans Zimmer, und es dort erfuhr. »Du fragst gar nicht, wie ich in die Sache hineingezogen wurde.« »Ich nehme an, man hat dich verständigt«, sagte Lenore. »Niemand hat mich verständigt.« Gern hätte er jetzt ihre Hand genommen. »Es begann in meinem Büro.« »In deinem...« »Dort erlitt er den Anfall und verlor das Bewußtsein«, berichtete Maddox. »Ich fuhr ihn ins Krankenhaus.« »Und weshalb ist er in dein Büro gekommen?« fragte Lenore. »Ist das so schwer zu erraten?« sagte er und begann ihr alles zu berichten. Er verschwieg nichts, und als er zu Ende war, lag ihre Hand nicht mehr auf seinem Schenkel. »Er muß es vom ersten Tag an gewußt haben«, murmelte Lenore. »Ich wünschte, ich könnte dir heute nacht beistehen«, sagte Maddox. »Die ganze Zeit grüble ich darüber nach, wie ich dir helfen könnte.« »Wer sollte mir denn helfen können?« erwiderte Lenore. »Er ist mein Mann. Ich gehöre an seine Seite.« Maddox blickte sie an. Sie sprach zu ihm wie zu einem Chauffeur. »Du hast nichts Unrechtes getan«, sagte er. »Ach, Curt«, flüsterte sie fast lautlos. »Ich weiß das«, sagte Maddox. »Ich weiß, was Recht und Unrecht ist. Das ist mein Fach.« Er fühlte sich wie ein Ertrinkender. Die Kluft zwischen ihnen war so groß, daß ein ganzer Zug dazwischen Platz gehabt hätte. Maddox parkte in der Einfahrt vor dem Krankenhaus. Noch ehe er den Wagen verlassen hatte, strebte Lenore bereits auf das Tor zu. Maddox holte sie ein und nahm ihre Hand. Sie entzog sie ihm nicht, und doch war ihm plötzlich, als führte er sie in Handschellen ab. In der hohen, geräumigen Halle eilte sie ihm -457
voraus, lief fast zum Tisch der die nsthabenden Nachtschwester. Als Maddox nachgekommen war, sagte sie: »Er liegt auf 311«, und wieder lief sie voraus zum Fahrstuhl. Sie drückte auf den Knopf und blickte Maddox an. »Versuche bitte, mir nicht böse zu sein!« »Wie könnte ich dir böse sein«, sagte Maddox. »Wie könnte ich dir jemals böse sein!« »Curt!« Die Fahrstuhltüren öffneten sich. »Curt!« wiederholte sie, und er wußte, daß sie ihn bat, ihr zu vergeben, wußte, daß er sie verloren hatte, und daß er ihr den Abschied leichter machen mußte. »Schon gut«, sagte er. »Schon gut, Lenore.« Sie betrat die Kabine. Sie starrten einander an. Dann schlossen sich die Türen, und Lenore war fort. Maddox durchquerte die Halle. »Wo ist 311?« fragte er die Schwester. »Im dritten Stock, wo sonst«, gab sie zurück und wandte sich ab. »Augenblick!« rief Maddox. »Warten Sie!« »Schreien Sie mich nicht an!« »Zeigen Sie mir, wo 311 liegt«, bat Maddox, »oder ist das zuviel verlangt?« Die Schwester hob die Hand. »Um die Ecke, das zweite Zimmer.« Maddox ging zu seinem Wagen. Er fuhr auf die Straße hinaus und parkte gegenüber dem Krankenhaus. Alle Fenster im dritten Stock waren erleuchtet. Gegen einundzwanzig Uhr gingen allmählich die Lichter aus. Maddox beobachtete, wie ein Fenster nach dem anderen dunkel wurde, und nur in einem das Licht weiterbrannte: Zimmer 311. Einmal blickte er auf die Uhr; es war knapp vor Mitternacht. Als er wieder nachsah, war es drei Minuten vor eins, und in Bergmans Zimmer war es immer noch hell. Maddox schaltete die Zündung ein und startete den Wagen. Um nach Hause zu fahren, hätte er wenden müssen, aber er fuhr geradeaus, stadteinwärts, zum Präsidium, in sein Büro. Er konnte jetzt nicht heimfahren und das leere Haus betreten, dieses leere, -458
verlassene, nutzlose Haus mit dem leeren Schlafzimmer und dem leeren Bett. Einmal, kurz vor Tagesanbruch, beugte er sich vor, kreuzte die Arme auf der Tischplatte und ließ den Kopf auf die Hände fallen. Als er erwachte, brannte das Licht im sonnenerhellten Zimmer. Er blickte zur Wanduhr hoch: drei Minuten vor zehn. Er stand auf, zog das Jackett aus, ließ es auf den Tisch fallen und ging zur Tür. Auf der Toilette wusch er sich das Gesicht. Als er ins Büro zurückkehrte, ließ er die Tür offenstehen. Im Raum roch es schal. Er empfand körperliches Unbehagen. Er rieb sich die Bartstoppeln. Er sehnte sich nach einem Bad und frischen Kleidern. Wieder setzte er sich an den Schreibtisch, hob den Hörer ab, um der Vermittlung zu sagen, daß er zu Hause zu erreichen sein würde. »Captain Maddox?« Eine Chinesin stand in der Tür. Er nickte, und sie kam ins Zimmer. Wie alle Chinesinnen trug auch sie die unvermeidliche Stofftasche. Sie stellte sie auf den Tisch, öffnete sie umständlich und zog ein Päckchen heraus, das in zerknittertes Papier gewickelt war. »Das für Captain Maddox.« Er kannte die Antwort, noch ehe er fragte: »Von wo kommt das?« »Western Sky«, antwortete die Chinesin. Sie legte das Päckchen auf den Tisch. »Ich arbeiten Western Sky. Machen Nachtschicht.« Maddox kannte Lenores Handschrift nicht, aber er wußte, daß sie »Captain Curtis Maddox, Polizeipräsidium« auf das Begleitkärtchen geschrieben hatte. Maddox kramte in seiner Tasche nach Münzen. »Frau haben bereits bezahlt«, lehnte die Chinesin ab. »Nehmen Sie's trotzdem«, sagte er, »und schließen Sie die Tür.« Er starrte das Päckchen an. Lenore hatte ihm das Jadehalsband zurückgeschickt. Maddox schob es zur Seite wie einen leergegessenen Teller. Er fragte sich, ob er jemals ihr Gesicht vergessen würde, ihre Augen, ihr Haar im Wind, ihr Kleid, die Art, wie sie ihm entgegenkam, ihm zuwinkte, lächelte... -459
Das Telefon läutete. Er fiel auf seinen Stuhl zurück wie ein Boxer, der den alles entscheidenden Treffer kassiert hat. Das Klingeln verstummte nicht. Wie unter fürchterlichen Schmerzen richtete Maddox sich auf. »Dafür werde ich beza hlt«, sagte er und griff nach dem Hörer. »Maddox.« »Ich rufe Dr. Evan Magruder«, sagte der Staatsanwalt, und der Gerichtsdiener stieß einen Türflügel an der Rückseite des Saales auf. Der Zeuge trat ein, eine gepflegte Erscheinung Mitte Sechzig, und ging mit raschen kurzen Schritten durch den Gang. Sein graues Haar war kurz geschnitten. Er trug einen grauen Schnurrbart und ein Van-Dyke-Bärtchen in perfekter Schwertform. Der Bart machte den Mann im Jahre 1931 zu einer Rarität. Philip Murray begleitete Dr. Magruder zum Zeugenstand und wartete, bis die Vereidigung vorgenommen war. In der ersten Reihe flüsterte Prinzessin Luahine Tom zu: »Wer ist das?« »Ein Nervenarzt«, flüsterte Tom zurück. »Herr Doktor«, begann Murray, »erklären Sie uns den Unterschied zwische n einem Nervenarzt und einem Psychiater.« »Es gibt keinen«, antwortete Magruder. »Ein Nervenarzt ist ein Psychiater, und umgekehrt.« Bergman hörte den Zeugen, konnte ihn aber nicht sehen, weil ihm Murray im Weg stand. Er erhob sich und schob seinen Stuhl ein Stück weiter. »Von hier aus habe ich einen besseren Blick, Euer Ehren«, sagte er erklärend und winkte Murray leutselig zu, fortzufahren. »Sie sind demnach befugt, eine psychiatrische Praxis zu betreiben?« fragte der Staatsanwalt. Bergman fischte seine Füllfeder aus der Brusttasche. »Ich bin Mitglied der Psychiatrischen Vereinigung der Vereinigten Staaten, deren ehemaliger Präsident und jetziger regionaler Vorsitzender«, antwortete Magruder. »Ferner gehöre ich dem Internationalen Psychiatrischen Institut an, in dessen -460
Treuhänderausschuß ich gegenwärtig als Vertreter der Vereinigten Staaten berufen bin. Zudem habe ich in Kalifornien die dortige Sektion der Amerikanischen Gesellschaft der Nervenärzte geleitet.« Er zwirbelte die Spitze seines Bärtchens. Murray wechselte den Platz und stand jetzt neben dem Zeugenstand, so daß sowohl er als auch Dr. Magruder die Angeklagten sehen konnten. »Haben Sie Lieutenant Gerald Murdoch untersucht, Herr Doktor?« fragte Murray. »Das habe ich.« »Bitte teilen Sie dem Gericht mit, wann und wo Sie den Angeklagten untersucht haben.« »Ich traf Lieutenant Murdoch im Lauf der vergangenen Woche in Pearl Harbor im Haus Admiral Langdons«, gab Magruder an. »Wir hatten drei Sitzungen mit einer Gesamtdauer von sieben Stunden.« »Wurden Sie jemals von einem anderen Arzt gebeten, einen seiner Patienten zu untersuchen, Herr Doktor?« wollte Murray wissen. »Gewiß. Ich werde häufig von Kollegen zu Konsultationen gebeten«, antwortete Magruder. »Wie lange brauchen Sie, um eine Diagnose zu stellen?« »Nicht länger als eine Stunde«, antwortete Magruder. »Wie kommt es dann, daß Sie den Angeklagten, Lieutenant Murdoch, dreimal und für insgesamt sieben Stunden aufsuchten?« »Der Angeklagte steht unter Mordverdacht«, sagte Magruder. »Die vorsätzliche Auslöschung eines Lebens ist das abscheulichste Verbrechen, das ein Mensch an einem anderen begehen kann. Die Bestrafung ist der Tat angemessen. Es steht viel auf dem Spiel, und man wird mir in diesem Zeugenstand schwerwiegende Fragen stellen. Mir lag daher daran, meine Schlußfolgerungen mit äußerster Gewissenhaftigkeit und Sorgfalt zu ziehen.« »Sagen Sie nun dem Gericht, zu welcher Diagnose Sie bei Lieutenant Murdoch gekommen sind«, forderte Murray ihn auf. -461
Ohne die Augen von Magruder abzuwenden, nahm Bergman einen Radiergummi vom Tisch. Wieder zupfte Magruder an seinem Bart. »Lieutenant Murdoch verhält sich nach herkömmlicher Norm vollkommen vernünftig und scheint durchaus in der Lage zu sein, in einer geordneten Gesellschaft sinnvoll zu leben und zu handeln«, dozierte Magruder. Murray verließ den Zeugenstand, näherte sich dem Tisch der Verteidigung und pflanzte sich vor Gerald auf, als seien sie Gegner in einem Duell. »Ist Lieutenant Murdoch geistig gesund?« fragte er. »Das ist er.« Murray stand unbewegt. Im Saal war es totenstill; dann begannen einige Zuschauer, unsicher geworden, zu hüsteln und sich zu räuspern. Murray starrte Gerald immer noch an. »Geistig gesund«, wiederholte er schließlich. Er verließ den Tisch der Verteidigung und ging, an den Reportern vorbei, zu seinem Platz zurück. »Ihr Zeuge.« Bergman blieb sitzen, bis Murray Platz genommen hatte. Dann erst stand er auf und schlurfte in der für ihn typischen Art auf den Zeugen zu. »Herr Doktor«, sagte er, »Sie behaupten, den Angeklagten, Lieutenant Gerald Murdoch, untersucht zu haben. Untersucht. Wie haben Sie ihn untersucht?« »Wie ich bereits ausführte: indem ich zu drei verschiedenen Zeitpunkten für insgesamt sieben Stunden mit dem Angeklagten zusammentraf.« »Das habe ich gehört«, erwiderte Bergman. »Doch leider haben Sie meine Frage nicht beantwortet. Meine Frage lautete: Wie haben Sie ihn untersucht?« »Indem ich Lieutenant Murdoch ausführlich befragte«, antwortete Magruder, »und ihn aufmerksam beobachtete.« »Und nachdem Sie ihn befragt und beobachtet hatten, kamen Sie zu dem Schluß, daß er gesund und munter ist?« »Nach meiner fachmännischen Ansicht leidet Lieutenant Murdoch weder unter emotionellen noch unter psychischen -462
Störungen und befindet sich im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte«, gab Magruder zur Antwort. Bergman schlurfte zur Geschworenenbank. »Was Sie nicht sagen!« stellte er anerkennend fest. »Und das alles haben Sie so herausgefunden, gewissermaßen ohne auch nur die Hände aus den Taschen nehmen zu müssen?« »Ich habe mich meines Handwerkszeugs bedient«, sagte Magruder. Bergman stand jetzt neben dem Sprecher der Geschworenen. »Ihres Handwerkszeugs?« wiederholte er. »Haben Sie ein Stethoskop benutzt? Haben Sie eine aufblasbare Manschette in das Haus des Admirals mitgebracht, um Lieutenant Murdoch den Blutdruck zu messen? Haben Sie seine Augen, seine Ohren, seine Nase oder seine Kehle untersucht? Haben Sie eine Blutuntersuchung vorgenommen? Oder eine Röntgenaufnahme gemacht?« »Sie verwechseln offenbar Psychiatrie mit Allgemeinmedizin.« »Ohhh! Würden Sie mir gütigst den Unterschied erklären, Herr Doktor?« bat Bergman. »Die Allgemeinmedizin ist eine exakte Wissenschaft«, erläuterte Magruder. »Nicht hingegen die Psychiatrie. Wir können in unserem Wirkungsbereich keine absoluten Grenzen ziehen. Wir vermögen ja nicht in die Seele unserer Patienten hineinzusehen.« »So ist das also!« tat Bergman ganz erstaunt. »So ist das!« Er breitete die Arme aus und verschränkte sie vor der Brust. »Das heißt: Sie raten also bloß drauflos, wenn Sie eine Diagnose stellen.« »Nein, Sir«, widersprach Magruder. »Ich stelle ganz ausdrücklich fest, daß ich nicht drauflosrate. Zu meiner Diagnose gerate ich vielmehr aufgrund meiner Ausbildung, meiner Erfahrung und den vielfältigen und weltweit dokumentierten Erkenntnissen meiner Fachkollegen in allen Teilen unserer -463
Erde.« »Jetzt verraten Sie mir bloß noch eines, Herr Doktor«, sagte Bergman. »Sind für Sie eigentlich alle Menschen entweder geistig gesund oder geistig krank?« »Im weitesten Sinne, ja«, erwiderte Magruder. »Also entweder das eine oder das andere«, sagte Bergman. »Und woraus schließen Sie, daß jemand geistig gesund ist?« »Aus seiner Reaktion. Aus seinen Reaktionen auf meine Fragen.« »Könnten Sie uns das wohl an Hand eines Beispiels erläutern?« bat Bergman. »Nun, die selbstverständlichste Voraussetzung ist natürlich die Fähigkeit, gut und böse unterscheiden zu können«, sagte Magruder. »Mit anderen Worten: Wer geistig gesund ist, weiß, was richtig ist, und was falsch?« »Stimmt genau«, bekräftigte Magruder. »Demnach würde ein geistig gesunder Mensch nicht stehlen«, sagte Bergman. »Sind wir diesbezüglich einer Meinung, Herr Doktor?« Magruder zwirbelte sein Bärtchen. »Gewiß«, sagte er. »Völlig.« »Wie verhält es sich dann aber mit einem geistig gesunden Menschen, der am Verhungern ist und einen Laib Brot stiehlt?« fragte Bergman. Die Prinzessin stieß Tom in die Rippen. »Er hat auch Les Miserables gelesen«, mutmaßte sie. Magruder, im Zeugenstand, antwortete: »Ihr Beispiel bezieht sich auf eine ganz bestimmte Person in einer ganz bestimmten außergewöhnlichen Situation.« Bergman streckte ruckartig den Arm aus und wies auf Gerald. »Hier haben Sie eine ganz bestimmte Person, die sich in einer ganz bestimmten außergewöhnlichen Situation befand und jetzt unter Mordanklage vor Gericht steht, Herr Doktor!« -464
»Der Lieutenant war nicht am Verhungern«, erwiderte Magruder, recht angetan von seiner Replik. »Jetzt haben Sie mir eins ausgewischt«, gestand Bergman. »Ein Punkt für Sie, Herr Doktor. Ist eigentlich der Unterschied zwischen normal und verrückt so eindeutig wie der zwischen schwarz und weiß?« Nun mußte der Zeuge zum ersten Mal lächeln. »Nichts auf der Welt außer den Farben Schwarz und Weiß ist so eindeutig wie Schwarz und Weiß«, sagte Magruder. »Wenn man diesen Gedanken einen Schritt weiterführt, heißt das dann nicht, daß niemand völlig normal oder völlig verrückt ist?« »Einspruch!« rief Murray. »Der Herr Verteidiger versucht den Zeugen zu beeinflussen.« »Einspruch stattgegeben«, entschied der Richter. »Die Geschworenen nehmen die letzte Frage der Verteidigung nicht zur Kenntnis.« »Ich werde es anders formulieren«, sagte Bergman. »Sie haben die Geschworenen darauf hingewiesen, daß die Psychiatrie keine exakte Wissenschaft ist.« Bergman starrte zur Decke und legte, als müßte er sich konzentrieren, die Stirn in Falten. »›Wir können keine absoluten Grenzen ziehen‹, haben Sie gesagt.« Er blickte Magruder zweifelnd an. »Und trotzdem beharren Sie vor diesen Geschworenen darauf, jemanden ohne weiteres als normal oder verrückt bezeichnen zu können.« »Sie haben mich mißverstanden«, wandte Magruder ein. »Dann helfen Sie mir auf die Sprünge, Herr Doktor.« »Ich sprach vom Fehlen absoluter Grenzen im Zusammenhang mit unseren Untersuchungsmethoden, nicht aber von den Ergebnissen.« Bergman rieb sich die Wange. »Mit anderen Worten: Sie können uns zwar nicht sagen, wie ein Psychiater dorthin gelangt, wo er hin will, aber sobald er ankommt, weiß er es.« Einige Zuschauer und Reporter kicherten leise, dann prustete einer laut los. Das Gelächter war ansteckend. -465
Der ga nze Saal hallte wider, bis das Hämmerchen des Richters wieder für Ordnung sorgte und Bergman sofort anknüpfte: »Lassen Sie mich zu dem Verhungernden zurückkehren, der einen Laib Brot stiehlt. In diesem Zusammenhang: Kann ein geistig gesunder Mensch, jemand, der sein ganzes Leben lang normal war, auch einmal etwas Verrücktes tun?« »Diese Frage läßt sich in dieser Form nicht aus psychiatrischer Sicht beantworten«, erwiderte Magruder. »Anders gefragt: Kann etwas einen vernünftigen Menschen für eine Weile um den Verstand bringen?« »Beziehen Sie sich auf vorübergehende Sinnesverwirrung?« fragte Magruder. »Könnte sein!« rief Bergman. »Kann jemand in vorübergehender Sinnesverwirrung handeln?« »Gewiß doch.« »Und vermag er in diesem Zustand der vorübergehenden Sinnesverwirrung weiterhin zwischen gut und böse zu unterscheiden?« »Natürlich nicht«, erwiderte Magruder. »Er ist ja nicht Herr seiner Sinne.« »Keine weiteren Fragen«, sagte Bergman und wandte sich vom Zeugenstand ab. Richter Kesselring blickte zum Tisch der Anklage hinüber. »Haben Sie zusätzliche Fragen, Mr. Murray?« »Ja, Euer Ehren.« Murray wandte sich an den Zeugen. »Geradeherausgesagt, Herr Doktor: Glauben Sie als ausgebildeter und anerkannter Psychiater, daß der Angeklagte Gerald Murdoch dazu neigt, in vorübergehender Sinnesverwirrung zu handeln?« »Nein«, antwortete Magruder, »nein, das glaube ich nicht.« »Keine weiteren Fragen«, stellte Murray fest. »Mr. Bergman?« erkundigte sich der Richter. »Weitere Fragen?« »In der Tat, Euer Ehren«, sagte Bergman. Vor seinem Stuhl -466
stehend, knöpfte er sich umständlich sein zweireihiges Jackett zu und strich es, während er zur Geschworenenbank schlurfte, mit seinen großen Händen über der Brust glatt. Neben Bruce Tanaka, der am Ende der ersten Reihe saß, blieb er stehen. »Herr Doktor, kann jemand etwas tun, ohne zu denken?« »Ich verstehe Sie nicht ganz«, zögerte Magruder mit der Antwort. »Kann jemand etwas tun, ehe er weiß, daß er es getan hat?« fragte Bergman mit etwas lauterer Stimme. »Verstehen Sie mich jetzt?« Der Zeuge blickte zum Richtertisch hinauf. »Ich begreife die Frage noch immer nicht, Euer Ehren.« »Ich auch nicht«, sagte Richter Kesselring. »Vielleicht kann die Verteidigung versuchen, sich etwas deutlicher zu fassen.« »Mit Vergnügen«, sagte Bergman und holte gegen Tanaka aus. Der Japaner riß den Kopf zurück und prallte gegen den neben ihm sitzenden Geschworenen. Bergmans Arm fuhr an Tanaka vorbei ins Leere. Im Publikum wurden Rufe der Überraschung laut. Einige Reporter sprangen auf, um besser über den Kopf ihres Vordermanns sehen zu können. Tanaka drückte sich gegen seinen Nachbarn und streckte abwehrend den linken Arm aus. »Mister Bergman!« Der Richter war aufgesprungen. Hatte der alte Mann den Verstand verloren? »Gerichtsdiener!« Der Gerufene kam gelaufen. Bergman lächelte Tanaka zu. »Danke für Ihre Hilfe«, sagte er und wandte sich wieder dem Zeugenstand zu. »Immer mit der Ruhe, mein Freund«, beruhigte er den Gerichtsdiener und klopfte ihm auf den Rücken. »Euer Ehren haben doch nicht etwa geglaubt, daß ich den Geschworenen treffen wollte? Ich habe meilenweit danebengezielt. Nicht ein Haar hätte ich ihm krümmen können. Ihm nicht und keinem anderen. Man kann nicht sein Leben lang Strafverteidiger sein und sich dann vorwerfen lassen, die Anwendung von Gewalt empfohlen zu haben.« »Ich fordere eine Erklärung für Ihr Verhalten!« rief der Richter. »Ganz einfach«, erklärte Bergman und stützte sich gegen den Zeugenstand. »Ich fragte den Zeugen, ob jemand handeln -467
könne, ohne zu denken. Euer Ehren baten mich, die Frage verständ licher zu fassen. Ich hoffe, das ist mir jetzt gelungen.« Der Richter nahm wieder Platz. »Es ist Ihnen immerhin gelungen, die Verhandlung zu stören«, murrte er. »Nichts könnte mir ferner liegen«, bedauerte Bergman und richtete das Wort an den Zeugen. »Würden Sie sagen, daß der Geschworene Zeit zum Nachdenken hatte, ehe er sich duckte?« »Das war eine Reflexhandlung«, antwortete Magruder. »Er handelte, ohne zu denken, habe ich recht?« fragte Bergman, und wiederholte, um einen Ton schärfer: »Habe ich recht?« »Es war eine automatische Antwort, eine Reaktion auf einen Stimulus.« »Jetzt sind Sie es, der sich nicht klar ausdrückt«, stellte Bergman fest. »Ein Reflex ist eine Handlung, oder üblicherweise eine Handlung, die als Antwort auf ein vom Nervenzentrum ausgehendes Signal erfolgt.« »Achten Sie doch auf meine Frage!« Bergman wurde zu einem strengen Schulmeister. »Weiß der Mann, der etwas tut, was er tut?« »Ein Reflex erfolgt unwillkürlich«, sagte Magruder. »Dann wich der Geschworene also meinem Schlag aus, ehe ihm überhaupt bewußt wurde, daß er das tat?« fragte Bergman. »Ist das richtig?« »So könnten Sie es formulieren.« »Nicht ich! Sie sollen es uns sagen. Sie sind der Fachmann«, fuhr Bergman ihn an. »War ihm bewußt, daß er sich duckte, ja oder nein?« »Nein.« Bergman ließ von Magruder ab. »Endlich«, sagte er und steckte die Hände in die Jackentaschen, und als er sie wieder herausnahm, hatte er die Fäuste geballt. Er streckte beide Arme aus und öffnete langsam -468
die Finger. In einer Hand hielt er seine Füllfeder, in der anderen einen Radiergummi. »Wenn ich nun mit dieser Feder oder dem Gummi nach Ihnen werfe, werden Sie versuchen, nicht getroffen zu werden - und was immer Sie tun, einen Reflex nennen? Ist das richtig?« »Das ist richtig«, sagte Magruder. »Könnte ich Sie auch zu einem Reflex veranlassen, ohne etwas zu tun?« erkundigte sich Bergman. »Oder muß ich zuvor mit dem Arm ausholen oder etwas entgegenschleudern? Bedarf es einer physischen Aktion oder könnte auch ein Wort genügen, um einen Reflex auszulösen?« »Sie meinen, ob auch ein verbaler Reiz eine Reflexhandlung zu provozieren vermag?« überlegte Magruder. »Gewiß. Dem würde ich zustimmen.« »Und wie funktioniert das?« fragte Bergman. »Wenn wir etwas erfahren, wenn wir etwas hören oder lesen, was uns beleidigt oder ärgert, glücklich oder unglücklich macht, reagiert unser Körper«, erläuterte Magruder. »Das Herz schlägt schneller, die Drüsen sondern mehr Sekret ab, die Bauchmuskeln ziehen sich zusammen, andere Muskeln reagieren auf andere Weise.« »Weil wir etwas gehört oder gelesen haben«, wiederholte Bergman. »Angenommen, wir sehen etwas? Ein Bild?« »Die Reaktion wird individuell unterschiedlich sein«, sagte Magruder. »Sie wird abhängen von den Assoziationen des betreffenden Individuums und seiner emotionellen Verbundenheit mit dem Bild.« »Und wenn er das Objekt selbst sieht?« fragte Bergman. »Nicht ein Bild von jemandem, sondern diesen Jemand in Person? Könnte das zu einem Reflex führen?« »Das ist möglich.« »Bergman beugte sich vor. »Kann der Anblick eines Menschen -469
einen Reflex auslösen, ja oder nein?« »Ja.« »Ein Mann, der sich einem anderen Mann gegenübersieht, könnte also eine Handlung setzen, noch ehe sie ihm bewußt wird«, stellte Bergman fest. »Ist das richtig?« »Ja, das ist richtig.« Bergman hob die Arme und betrachtete die Füllfeder und den Radiergummi, so als hätte er sie eben herbeigezaubert. Dann ließ er sie wieder in die Tasche gleiten und wandte sich mit einem Lächeln dem Zeugen zu. »Es war mir ein Vergnügen, Sie kennengelernt zu haben, Herr Doktor.« Und zum Richter: »Keine weiteren Fragen, Euer Ehren.« Am darauffolgenden Montag, wenige Minuten vor zwölf, erhob sich Philip Murray. »Euer Ehren«, sagte er, »das Beweisverfahren der Anklage ist nunmehr abgeschlossen.« Richter Kesselring spähte über die Schulter nach der Uhr. Er sah nicht, daß Bergman ebenfalls aufgestanden war. »Dann können wir uns jetzt kurz vertagen und anschließend der Verteidigung das Wort erteilen.« »Verzeihung, Euer Ehren«, ergriff Bergman das Wort. »Ich möchte das Gericht um eine weitere Vergünstigung bitten. Ich weiß, ich weiß, mein Konto ist längst überzogen, aber: Reicht man mir den kleinen Finger, will ich gleich die ganze Hand. Ich ersuche das Gericht, mir eine kleine Verschnaufpause zu gönnen.« Bergman war nicht gewillt, gegen Geschworene anzutreten, die sich die Bäuche vollgeschlagen hatten und mit dem Schlaf kämpften. »Ich bin bis jetzt den Ausführungen des Staatsanwaltes des langen und breiten gefolgt, und brauche einfach etwas Zeit, um meine Aufzeichnungen zu ordnen.« »Genügt der Verteidigung eine Frist bis morgen?« fragte Richter Kesselring. -470
»Damit wäre mir bestens gedient, Euer Ehren.« »Dann vertagen wir uns auf morgen zehn Uhr«, verkündete der Richter, aber noch ehe Kesselring seinen Platz verlassen hatte, war Bergman bereits an die Barriere geeilt und stand Hester gegenüber. »Morgen ist ein wichtiger Tag, Mrs. Ashley Murdoch«, sagte er. »Vielleicht der wichtigste überhaupt im Leben Ihres Mannes. Er braucht Sie morgen hier, an seiner Seite. Und ich brauche Sie auch. Also: keine Ausflüchte, junge Frau.« Bergman wandte sich an Gerald. »Verlassen Sie Pearl Harbor nicht ohne sie, Lieutenant.« Prinzessin Luahine saß noch auf ihrem Platz neben dem Mittelgang. Sie hatte verfolgt, wie Bergman von seinem Stuhl aufgesprungen und zu Hester geeilt war, und sie hatte gesehen, wie er abwechselnd auf Hester und Gerald einredete. Jetzt zupfte sie Tom am Ärmel. »Ich möchte mit Sarah sprechen. Bring sie zum Mittagessen ins Hotel.« Hester hatte bereits beschlossen, auf den Lunch zu verzichten. Sie wo llte der Gesellschaft ihrer Mutter und des Admirals ebenso ausweichen wie dem lästigen Drängen der Filipinos, die sie mit ihren stummen Blicken beschworen, den Teller zu leeren, als drohte ihnen eine Bestrafung, wenn Hester sich nicht vollstopfte. Mitten im Gerichtssaal hatte sie plötzlich die Sehnsucht nach Bryce gepackt. Seit Ginnys schrecklicher Überraschungsparty im Offiziersklub hatte sie ihn nicht mehr gesehen. Sie schämte sich maßlos. Ihr immer wieder jäh aufschießendes Verlangen nach Bryce ließ sie sich selbst verachten. Hester hatte sich fest vorgenommen, der Versuchung zu widerstehen, und sie hatte sich eine Methode ausgedacht, um gegen ihre Gefühle ankämpfen zu können. Zunächst mußte sie allein sein, auf ihrem Zimmer bleiben, und sich dort ihre Lü gen und ihre Tücke in Erinnerung bringen, die Qualen, die sie vier unschuldigen jungen Menschen verursacht hatte, und den Mord, für den sie die Verantwortung trug. Sie ertrug diese Strafe nicht nur, sie nahm sie dankbar an, und sie würde ihr nicht entkommen, ehe sie nicht ihr Verlangen nach Bryce besiegt hatte. »Ich habe -471
keinen Hunger«, sagte Hester im Haus des Admirals. Unter dem Vorwand, sich frisch machen zu wollen, folgte ihr Doris Ashley nach oben, wo sie die Türen zum Bad und zu ihrem Schlafzimmer versperrte; Hester sollte keinen Zugang zum Telefon haben. »Du solltest etwas essen, Kleines«, sagte Doris Ashley. Als Hester ihr keine Antwort gab, ging sie wieder zum Admiral hinunter. Hester stand am Fenster. Sie sah die drei jungen Männer im Krankenhaus auf dem Bauch liegen, sie sah ihre geschundenen Rücken. Sie konnte die Schreie hören, mit denen die drei um Mitleid gefleht hatten, als sie ausgepeitscht wurden und ihr Fleisch unter den Hieben aufplatzte. Sie hörte die Schreie und sie hörte den Schuß, mit dem Gerald dem Leben Joseph Liliuohes ein Ende setzte. Hester wollte auch schreien, auch um Mitleid flehen, aber sie blieb stumm. Sie wußte, daß diese Qualen ihr gebührten, und sie verharrte regungslos und wehrte sich nicht gegen die endlose Prozession der Bilder in ihrem Kopf. Am folgenden Morgen, am Dienstag, verließ Lenore um acht Uhr ihr Schlafzimmer im Penthouse des Western Sky. Sie war für den Gerichtssaal gekleidet, ein blaues Kostüm, weiße Schuhe und ein blaues Kopftuch, denn sie wollte bei Walter sein, wenn er mit der Verteidigung begann. Überrascht blieb sie stehen, als sie ihn noch auf dem Sofa sah. »Du hättest nicht warten sollen, Walter«, sagte sie. »Warum bist du nicht schon zum Frühstück hinuntergegangen?« »Das hat keine Eile«, antwortete Bergman. »Offen gesagt, würde ich heute lieber hier frühstücken, wenn es dich nicht stört. Ich fürchte, ich habe mich in der Nacht etwas erkältet«, log er. »Warum hast du mich nicht geweckt? Du hättest mich wecken sollen.« »Ich denke, das werde ich mir für den Ernstfall aufsparen«, sagte Bergman. »Für den Tag, an dem ich deine Hilfe wirklich brauche.« Er ließ ihr etwas Zeit, diese versteckte Warnung zu verdauen, ehe er sie mit einem breiten Lächeln wieder beruhigte. »Ich rufe den Hotelarzt«, sagte Lenore. -472
»Aber nein«, widersprach er. »Ich brauche keinen Arzt. Wenn meine Anwesenheit im Gerichtssaal jemals unbedingt nötig war, dann heute. Mir graut vor dem Gedränge im Restaurant. Läßt du mir Kaffee und Toast bringen? Danke.« Lenore ging zum Telefon. Zum ersten Mal, seit sie das Schiff verlassen hatten, sah sie Bergmans Aktentasche neben dem Apparat liegen. »Jetzt sind wir mit der Geschichte bald zu Ende«, sagte Bergman, als sie vom Telefon zurückkam. Sie wandte sich abrupt um, so als sei hinter ihr eine Tür ins Schloß gefallen und hätte ihr den Rückweg abgeschnitten. »Du fängst doch erst an«, sagte sie und ließ, völlig überrascht, ihre Maske fallen. »Vielleicht warte ich mit ein, zwei Überraschungen auf«, schmunzelte Bergman. »Zur allgemeinen Erleichterung nach dem endlosen Geschwafel dieses jungen Windbeutels.« Das bezog sich auf Philip Murray, der immerhin dreiundvierzig war. Er beobachtete, wie Lenore versuchte, sich wieder zu fassen. Lenore ging ziellos durch den Raum und blieb schließlich vor der Glastür zur Terrasse stehen, die Bergman zuvor geschlossen hatte, um seine vorgebliche Erkältung zu begründen. »Ich wüßte nicht, warum du deine Zeit im Gerichtssaal verschwenden solltest, Lenore.« Er wollte nicht, daß die Geschworenen heute seine junge Frau angafften. »Ich möchte aber dabeisein«, sagte sie. Die einsamen Stunden, die Erinnerungen, die sie weder verdrängen noch auslöschen konnte, waren eine einzige Tortur für sie. Lenore hatte vorgeschlagen, Bergman zu begleiten, weil sie eine Zuflucht, einen sicheren Hafen brauchte. Die Menschen, die Stimmen und das bunte Getriebe im Gerichtssaal waren leichter zu ertragen als die schier endlose Leere, in der sie hier ihre Tage und Nächte zubrachte. »Ich nehme den guten Willen für die Tat«, sagte Bergman. »Im übrigen könntest du mir, oder vielmehr uns beiden, einen Gefallen erweisen. Ich habe genug vom ewigen Palmenrauschen, und dir geht es wahrscheinlich auch nicht anders. Wie ich -473
erfahren habe, läuft Samstag in einer Woche die Lotus aus, die ›Perle des Pazifiks‹ oder so ähnlich. Was hältst du davon, wenn ich dich auf dem Weg ins Gericht am Hafen absetze und du zwei Plätze für uns buchst?« Lenore fühlte, wie ihre Beine nachgaben. Sie stützte sich mit den Händen gegen die Glastür und starrte auf die glatte, leere See hinaus, die ihr zuzublinzeln schien. »Walter, ich muß mit dir sprechen.« Darauf hatte Bergman seit Tagen gewartet. Er war gewappnet. »Du willst dein Versprechen brechen.« »Mein Versprechen?« Sie kam auf ihn zu. »Ich habe dir nie etwas versprochen.« »Du hast im Krankenhaus gesagt, du würdest mit mir zurückfahren«, sagte Bergman. »Wenn das kein Versprechen war, dann eben eine Verpflichtung, oder meinetwegen ein Handel. Und du hast noch nie einen Handel nicht eingehalten, Lenore.« Sie blieb vor dem Sofa stehen. Wie Bergman so dasaß, Knie und Beine geschlossen, die Hände im Schoß, erinnerte er Lenore an die alten Männer und Frauen, die sie in Chicago in den Parks gesehen hatte, die geduldig darauf warteten, daß ein Kind oder ein Enkel sie holen kam. »Ich habe gesagt, daß ich mit dir reden muß. Reden, Walter!« Sie fühlte sich schuldig, und sie war zornig. Sie hatte noch nicht einmal angefangen, und schon war er verletzt. »Jetzt ist nicht der richtige Augenblick dafür«, wehrte Bergman ab. »Heute brauchen mich meine Mandanten, und sie erwarten, daß ich mein Bestes für sie gebe.« »Ich habe den Zeitpunkt nicht gewählt«, erwiderte Lenore. »Du hast ihn mir aufgedrängt, Walter. Du schickst mich zum Schiffahrtsbüro. Du hast eine Frist gesetzt. Wann sonst sollten wir miteinander reden, wenn nicht jetzt? Wann denn sonst?« »Wir können uns die Mühe sparen«, sagte Bergman. »Wir haben uns für die Heimreise reichlich viel aufgehalst - und ich meine damit nicht unser Gepäck.« Bergman stand auf und ging -474
zum Tisch. »Ich habe diesen Fall einzig und allein übernommen, um dir eine kleine Freude zu machen, um dir eine andere Welt zu zeigen. In meinem ganzen Leben habe ich keinen größeren Fehler gemacht.« Lenore durchquerte den Raum und blieb vor ihm stehen. »Warum willst du mir nicht zuhören?« drang sie in ihn. »Ich werde mich selbst um unsere Passage kümmern«, wich Bergman aus. Er langte nach seiner Aktentasche, aber Lenore hielt sie mit beiden Händen fest. »Du bist so ungerecht, Walter!« rief sie und verachtete sich, weil sie vor ihrer Schuld und seiner Autorität kapituliert hatte. »Ungerecht?« wiederholte Bergman. »Ich begreife nicht, wie du ausgerechnet auf dieses Wort kommst. Du sprichst zu deinem Mann. Ich rede zu meiner Frau. Damals, am See, am Tag unserer Hochzeit, hast du versprochen, mich zu lieben, mich zu ehren und mir zu gehorchen. Wir wußten, daß das mit der Liebe nicht uns beide betraf, zumindest nicht jene Liebe, wie sie in den Liedern besungen wird. Ich habe nie erwartet oder verlangt, daß du mich ehrst. Und was das Gehorchen betrifft, würde ich eher mit Bleigewichten an den Beinen in dieses Meer springen, als dir einen Befehl zu erteilen, dem du zu gehorchen hast. Von dem, was der Priester damals sagte, habe ich nichts erwartet, erwarte es heute nicht und werde es auch in der Zukunft nicht erwarten. Damals, in der Nacht, als Captain Maddox dich zu mir ins Krankenhaus brachte, habe ich nur um eines gebeten: nicht zu vergessen, daß ich einsam und allein bin.« Er nahm seine Aktentasche auf. »Ich habe nicht vergessen, daß auch du einmal einsam und allein warst, Lenore.« »Du hast noch kein Frühstück gehabt«, sagte Lenore. »Warum mußt du jetzt weglaufen? Warum willst du mir die ganze Schuld zuschieben?« »Ich glaube, es wird Zeit, daß ich mich auf die Socken mache«, erwiderte Bergman. »Wir sollten in unser beider Interesse das Gespräch jetzt beenden.« Er tippte mit dem Zeigefinger auf die Aktentasche. »Ich habe nicht auch die Schokolade vergessen, -475
Lenore. Den Kaffee bekomme ich auch irgendwo beim Schiffahrtsbüro.« Sie gab sich geschlagen. Lenore war bereit, um Gnade zu bitten und ihre Niederlage einzugestehen, wenn sie ihn damit nur endlich zum Schweigen bringen konnte, wenn er nur endlich aufhören würde, ihr seine Hinfälligkeit zu demonstrieren, und ihr endlich diese langen und unwiderlegbaren Vorträge ersparen würde. »Also die Lotus«, sagte sie. »Du kannst mich auf dem Weg zum Gericht absetzen.« Als Lenore das Taxi verlassen hatte, befahl Bergman: »Fahren Sie mich zu einem Herrenausstatter.« Zwölf Häuserblocks weiter, im Verhandlungssaal, schloß ein Gerichtsdiener die hinteren Türen. »Tut mir leid, alles ist besetzt.« Im Mittelgang, zwischen der ersten Bankreihe, tippte Prinzessin Luahine dem Admiral auf die Schulter. »Entschuldigen Sie, Admiral!« Sie hatten noch nie ein Wort miteinander gewechselt. An ihrer Seite sah Langdon eine Eingeborene, eine hochgewachsene, dürre Frau, das Gesicht eher grau als braun. Langdon dachte, die Prinzessin hätte sich dafür entschuldigt, an ihn angestoßen zu sein. Er nickte ihr zu, um der Begegnung ein Ende zu machen, und wollte sich in seine Bank schieben, als ihn die Prinzessin abermals berührte. Der Admiral blickte zu der hünenhaften Frau und ihrer wachsfarbenen Begleiterin auf, die sich wie eine Patientin an die Prinzessin anzuklammern schien - wie eine Verrückte, die man für kurze Zeit unter Aufsicht aus einer geschlossenen Anstalt entlassen hatte. Der Admiral begriff, daß die Prinzessin nicht die Absicht hatte, ihren Platz auf der anderen Seite des Ganges einzunehmen. Und da er sich in Gegenwart von Damen befand, erhob er sich automatisch. Er trat zurück und zur Seite und gab Hester damit den Blick auf die Prinzessin und deren Begleiterin frei. »Verzeihen Sie die Störung, Admiral«, sagte Prinzessin Luahine. »Aber Sardinen haben in ihrer Dose mehr Platz als wir da drüben in unseren Bänken. Nicht einmal ein Lesezeichen könnte man zwischen uns schieben. Würden Sie wohl dieser Dame einen -476
Platz auf Ihrer Seite einräumen? Schon ein Plätzchen würde reichen, denn die Ärmste besteht ja nur noch aus Haut und Knochen. Was davon kommt, daß sie trotz allen guten Zuredens kaum einen Bissen herunterbringt, seitdem man ihren Jungen getötet hat.« Die Prinzessin brach ab und klopfte sich ärgerlich mit dem Handrücken an die Schläfe, ohne dabei den Blick von Hester abzuwenden. Hester starrte sie an, ihr Mund stand offen, ihre Augen weiteten sich, und in dem Augenblick der Stille schien sie laut aufzuschreien. »Wo habe ich nur meinen Kopf!« schalt sich die Prinzessin theatralisch. »Ich habe ja ganz vergessen, Sie miteinander bekanntzumachen. Das ist Mrs. Liliuohe, Joe Liliuohes Mutter.« Hester preßte die Hände so fest gegen die Bank, daß die Knöchel weiß hervortraten. »Jetzt habe ich doch tatsächlich Ihren Vornamen vergessen!« rief die Prinzessin. »Elizabeth, ja, Elizabeth Liliuohe, Joe Liliuohes Mutter.« Sie drückte die schmächtige Frau zärtlich an sich. »Und das, meine Liebste, ist Admiral Glenn Langdon. Er wird Ihnen behilflich sein, nicht wahr, Admiral?« Ohne ein Wort abzuwarten, schob die Prinzessin Elizabeth Liliuohe in die erste Reihe. Langdon mußte seinen Bauch einziehen und sich gegen die Barriere drücken, um Platz zu machen. Er war sprachlos, überrumpelt und überwältigt von der kühnen Attacke dieser Frau. »Setzen Sie sich nur!« forderte die Prinzessin Elizabeth Liliuohe auf und drückte sie neben Hester auf die Bank. »Und haben Sie keine Angst! Mein Platz ist gleich hier drüben, wo auch Sarah sitzt.« Und sie erklärte dem Admiral: »Sarah ist Joes Schwester; die Schwester des Toten.« Die Prinzessin richtete sich auf; ihr Atem mußte erst wieder zur Ruhe kommen. Zu ihrer Linken, vor dem Admiral, am Tisch der Verteidigung, saß Doris Ashley und starrte zu Hester hinüber - und auf Elizabeth Liliuohe an Hesters Seite. »Besten Dank, Admiral«, sagte die Prinzessin. Sie hatte es geschafft. -477
Tags zuvor, beim Mittagessen im Restaurant des Western Sky, hatte sie begonnen, die Sache einzufädeln. Die Prinzessin saß zwischen Tom und Sarah, die er aus dem Drugstore geholt hatte, als man die Verhandlung über Mittag unterbrach. »Ich darf nur eine Dreiviertelstunde ausbleiben«, sagte Sarah. »Eine Minute genügt«, erwiderte Prinzessin Luahine. »Ich will Ihre Mutter morgen im Gerichtssaal haben.« »Im Gerichtssaal?« Sarah sah Tom an, als ob sie Verschwörer seien, die ein Geheimnis teilten, das zu enthüllen sie jetzt genötigt würden. Dann wandte sie sich an die Prinzessin: »Meine Mutter hat das Haus nicht mehr verlassen, seit Joe... seit man ihn umgebracht hat.« »Morgen«, sagte die Prinzessin. Sarah beugte sich vor, stützte die Ellbogen auf den Tisch und preßte die Fingerspitzen aufeinander. »Meine Mutter ging nicht einmal zu Joes Totenfeier«, brachte Sarah hervor. »Sie hat das Haus nicht einmal verlassen, um von ihrem eigenen Sohn Abschied zu nehmen!« »Wie dem auch sei«, sagte die Prinzessin und wies auf Sarah, als der Kellner kam. »Sie bekommt das Klubsandwich. Servieren Sie es gleich, sie hat wenig Zeit.« Und zu Sarah: »Sie und Tom bringen sie morgen in den Gerichtssaal.« »Bringen?« Sarah achtete weder auf den Kellner noch auf das Klubsandwich. Sie blickte verständnislos auf die Prinzessin, deren gewaltige Brust sich heftig hob und senkte. Die Prinzessin hob ihren fleischigen Arm und hieb mit der Faust auf den Tisch. »Hören Sie endlich auf, mir jedes Wort nachzuplappern!« rief sie ärgerlich und sah, wie Tom zusammenzuckte und besorgt zu den anderen Gästen hinüberspähte. »Wenn dir das Klima hier nicht zusagt, können Sie verschwinden, Mister!« fauchte ihn die Prinzessin an. Tom preßte die Hände an die Schenkel und rief sich in Erinnerung, was die Prinzessin schon alles getan hatte, -478
angefangen mit dem Geld für die Bürgschaft. »Sarah hat nichts gesagt, was Ihnen Grund gegeben hätte, sich über sie zu ärgern«, entgegnete er. »Ach!« stieß die Prinzessin einen aus Selbstmitleid geborenen Seufzer aus. Warum war Jack Manakula nicht da? Jack konnte sie anschreien, bis sie heiser war. Sie tätschelte Sarahs Hand. »Essen Sie Ihr Sandwich, Kindchen!« Sarah nahm das Sandwich vom Teller und ließ es wieder sinken. »Meine Mutter geht nicht einmal aus dem Haus, um die Wäsche aufzuhängen«, sagte sie. »Wenn ich nicht da bin, muß das mein Vater besorgen.« Die Prinzessin nickte mitfühlend. Sie konnte es kaum erwarten, daß das Mädchen wieder verschwand. Endlich sagte Sarah: »Ich muß jetzt wirklich gehen«, und langte nach ihrer Handtasche. »Es tut mir leid; ich hätte gern geholfen. Aber nichts in der Welt bringt meine Mutter aus dem Haus.« Tom stand auf. »Zerbrechen Sie sich darüber nicht Ihr hübsches Köpfchen«, sagte die Prinzessin. Sie wies mit der Gabel auf Tom. »Komm zurück und leiste mir Gesellschaft, während ich diesen Walfisch verschlinge.« Tom begleitete Sarah aus dem Saal, und die Prinzessin winkte mit der Gabel den Kellner herbei. »Die Rechnung!« Sie hatte ohnedies zuviel gegessen. Tom ging mit Sarah zum Wagen. Als er um die Auffahrt herum zum Western Sky zurückkehrte, sah er die Prinzessin aus der Halle kommen. »Ich hatte keinen großen Appetit«, brummte sie und gab dem Türsteher ein Zeichen. »Taxi!« sagte sie. »Ich muß ohnehin ins Büro«, sagte Tom. Manchmal hatte er wirklich alle Mühe, sich in ihrer Gegenwart zu beherrschen. Warum war er nicht mit Sarah zum Drugstore gefahren und von dort zu Fuß weitergegangen? Die Prinzessin hielt ihn fest. »Leiste mir lieber Gesellschaft«, bestimmte sie und stützte sich auf ihn, während sie die Treppe hinunterschnaufte. Das Taxi rollte auf den Hoteleingang zu. »Ich brauche einen Führer«, sagte -479
die Prinzessin. »Die Stadt ist nicht wiederzuerkennen; ich fühle mich hier wie auf dem Mond.« Das Taxi hielt, und der Türsteher riß den Wagenschlag auf. »Gib ihm etwas.« Tom drückte dem Mann zwei Münzen in die Hand, ging um den Wagen herum und stieg auf der anderen Seite ein. »Punchbowl«, beschied die Prinzessin den Fahrer, und zu Tom: »Ich nehme an, du weißt, wohin die Reise geht.« »Zu Mrs. Liliuohe«, nickte Tom. »Aber Sarah hat Ihnen doch...« »Ja, ja«, unterbrach ihn die Prinzessin. »Gib dem Fahrer die genaue Adresse.« Sie machte es sich auf ihrem Sitz bequem und kurbelte das Fenster herunter. »Schau dir das an, Tommy«, sagte sie und wies auf die Blumenstände, wo Frauen Orchideen zu Halsbändern flochten. »Orchideen und Scheuerlappen«, sagte sie. »Das ist das Vermächtnis, das uns der weiße Mann hinterlassen hat. Begreifst du jetzt, warum ich meinen Hintern aus dieser Stadt gehievt habe?« Tom blieb ihr die Antwort schuldig. Er kannte mittlerweile ihre Stimmungen. Er wußte, wann ihr nach einem Gespräch zumute war, und wann er den Mund zu halten hatte. Auch die Prinzessin schwieg lange Zeit. Plötzlich begann sie mit der flachen Hand langsam und rhythmisch gegen die Wagentür zu trommeln. Starr vor sich hinblickend sagte sie: »Doris Ashley hat in diesem Prozeß die US-Navy an ihrer Seite. Und sie hat Harvey Koster hinter sich. Und ich weiß zufällig auch, wer das Geld lockergemacht hat, damit dieser Walter Bergman um die halbe Welt herbeigeeilt ist. Seit dem ersten Verhandlungstag hockt diese kleine Hure wie ein Ausstellungsstück in der ersten Reihe, damit die Herren Geschworenen etwas zum Gaffen haben. Sie haben sich vielleicht angehört, was Phil Murray zu sagen hatte, aber was sie dabei zu sehen bekamen, war Hester Anne Ashley Murdoch. Es ist an der Zeit, daß auch wir eine Karte ausspielen. Morgen wirft sich Walter Bergman in die Schlacht, und da -480
brauchen wir unseren Trumpf. Wie weit ist es noch?« »Wir sind gleich da«, sagte Tom. »Das will ich hoffen.« Der Fahrer hatte den Punchbowl erreicht, und die Prinzessin blickte sich nach allen Seiten um, als der Wagen das Geschäftsviertel verließ und in die engen Straßen kam, in denen sich die erbärmlichen Häuser der Hawaiier drängten. »Wenigstens müssen die Leute nicht mehr im Freien kochen«, meinte die Prinzessin. »Doch«, erwiderte Tom und wies aus dem Fenster. »Und wo in dieser gottverdammten Gegend wohnen diese Liliuohes?« frage die Prinzessin mit lauter Stimme, wütend über die Armut, die sie hier umgab. »Zwei Straßen weiter«, antwortete Tom. Als das Taxi hielt, betrachtete die Prinzessin das Haus mit der verwitterten Fassade und den geschlossenen Fensterläden. »Sieht wie eine Gruft aus«, brummte die Prinzessin. »Hier hält mich jeder für einen Messias; also will ich auch mal so tun. Geh rein, Tom, und sag der Frau, Prinzessin Luahine sei zu ihr gekommen. Sag ihr, die Prinzessin habe den langen beschwerlichen Weg eigens auf sich genommen, um mit ihr zu sprechen.« »Sie wird nicht...« setzte Tom an und verstummte. Die Prinzessin würde sowieso nicht auf ihn hören. Trotzdem marschierte er um das Taxi herum und blieb neben dem offenen Fenster stehen. »Die Frau ist so tot wie Joe.« »Ab mit dir«, sagte die Prinzessin. Tom drehte sich um und ging auf das Haus zu. Die Prinzessin sah, wie er den Fuß nachzog und dabei kleine Staubwolken aufwirbelte. Sie fragte sich, ob wohl ein Arzt in den Staaten ihm helfen konnte. Dann fiel ihr ein, daß er ja drei Jahre in Kalifornien studiert hatte und wahrscheinlich bei Dutzenden Ärzten gewesen war. Die Prinzessin zog geräuschvoll die Luft ein und die Nase kraus. Es war ein guter Junge. Burschen wie ihn konnte man gut brauchen auf dem Territorium; tausend Burschen wie ihn. Sie legte die -481
Hände an den Mund. »Mach mal ein bißchen schneller!« brüllte die Prinzessin Luahine. Tom hatte die Seitenfront des Hauses erreicht, ging den Weg entlang, auf dem Sarah immer ihr Cabrio abstellte, an den Wäscheleinen vorbei und bog um die Ecke. Die Prinzessin saß vornüberge neigt, den Kopf in gleicher Höhe mit dem Wagenfenster, und starrte auf das Haus, in dem Tom verschwunden war. Sie hörte nichts und sah nichts; eine Ewigkeit schien zu vergehen. »Verzeihung, Ma'am, ich meine, Prinzessin«, machte sich der Fahrer bemerkbar. »Darf ich rauchen?« »Aber ja doch«, sagte sie, ohne den Blick vom Haus zu wenden. Sie dachte an Jack; daran, wie er seine Zigaretten drehte; wie er an ihrer Seite saß; wie sich der Rauch zu Kringeln formte. »Es stört mich nicht.« Der Duft war ihr sogar willkommen. Wo blieb Tom? »Er ist jetzt schon reichlich lange da drinnen, meinen Sie nicht?« sagte sie zum Fahrer. »Ich habe nicht drauf geachtet«, antwortete jener, dem es nicht eilte, solange das Taxameter weitertickte. »Soll ich nachsehen gehen?« »Nein!« sagte die Prinzessin. Sie rieb sich nervös die Hände; in der Enge des Taxis begann sie zu schwitzen. Was trieb Tom nur so lange in dem Haus? Sie lehnte sich zurück, und als sie in die Polsterung sank, öffnete sich die Haustür, und Tom stand auf der Schwelle. »Ma'am... Prinzessin«, flüsterte der Fahrer. »Ja«, flüsterte sie zurück, als dürfe man sie nicht hören. Tom blieb im Türrahmen stehen. Die Prinzessin rutschte auf ihrem Sitz vor und sah ihn aus dem Haus kommen. Sie sah, daß er sich umdrehte, war überzeugt, daß er es tat, um die Tür zu schließen, war überzeugt, daß er es nicht geschafft, daß sie es nicht geschafft hatte. »Blöde Gans«, schalt sie sich und sah das Gespenst, einen Schatten, aus dem Haus treten. Die Frau war groß, ungewöhnlich groß für eine Hawaiierin, und als sie verwirrt an der Schwelle -482
anhielt, verloren selbst im eigenen Haus, wollte ihr die Prinzessin zu Hilfe eilen. Sie griff schon nach dem Türgriff, ließ die Hand jedoch wieder sinken. »Das macht nur alles kaputt«, murmelte sie. »Sie haben mir erzählt, Prinzessin Luahine sei hier«, sagte Elizabeth Liliuohe. »Ist sie auch«, erwiderte Tom. »Sie ist dort drüben. Im Taxi.« Am liebsten hätte er der Prinzessin zugebrüllt, sich endlich zu zeigen. Elizabeth Liliuohe wich zurück. »Sie und Sarah, ihr wollt euch einen Spaß mit mir machen.« Tom nahm sie am Arm und hielt sie fest. »So was würden wir nie tun, Mrs. Liliuohe. Die Prinzessin ist wirklich da.« Er drängte sie sanft über die Schwelle. »Ich würde Sie doch nicht belügen!« Er schob sie, unendlich vorsichtig, Schritt für Schritt weiter, immer wieder innehaltend, aber ohne ihr Gelegenheit zu geben, aus zubrechen. Im Taxi stieß der Fahrer die Zigarette in den Aschenbecher, drückte die Glut aus und langte nach hinten, um den Wagenschlag zu öffnen. »Lassen Sie!« sagte die Prinzessin. »Ich wollte doch nur helfen...« »So helfen Sie am besten«, erwiderte sie und beobachtete Tom und die arme, bemitleidenswerte Bohnenstange an seiner Seite. »Komm schon!« wisperte sie. »Nicht stehenbleiben!« Keine Frage: Tom hatte es geschafft; er brachte die Frau zu ihr! Schon konnte die Prinzessin Elizabeth Liliuohes Gesicht erkennen. Die Frau war am Verhungern! Nichts als Haut und Knochen. Wie gern hätte sie diese arme Seele in die Arme geschlossen, aber noch mußte sie warten. Noch mußte sie warten. Erst als Tom Elizabeth Liliuohe bis knapp an den Wagen gebracht hatte, öffnete die Prinzessin die Tür und schob sich vom Rücksitz. »Hallo, meine Liebe«, sagte sie und breitete weit die Arme aus. Joe Liliuohes Mutter hatte zum ersten Mal ihr Haus verlassen. Jetzt war die Prinzessin überzeugt, daß sie es auch ein zweites Mal tun würde. »Sie müssen mir unbedingt helfen«, sagte die Prinzessin. »Morgen.« -483
Am nächsten Tag schlug Prinzessin Luahine in ihrem Penthouse im Western Sky die Auge n auf, als Lenore und Walter Bergman noch schliefen. Ihr Geist war sofort hellwach, und obwohl sie noch Stunden totzuschlagen hatte, bestellte sie Kaffee und stieg aus dem Bett. Sie hatte noch nie ruhig bleiben können, wenn eine Aufgabe auf sie wartete, und lag sie noch so entfernt. Sie öffnete die Tür des Penthouse und ließ sie offen; so würde der Zimmerkellner sie nicht stören. Um acht Uhr saß sie in der Halle in einem Lehnsessel und las den Outpost-Dispatch. Über drei Spalten ging Bergmans Foto auf der Titelseite, und die Schlagzeile des Leitartikels war: MORDPROZESS: DIE VERTEIDIGUNG HAT DAS WORT. Die Prinzessin faltete das Blatt zusammen und ließ es in den Papierkorb fallen. »Quatsch!« sagte sie und wuchtete sich ächzend aus dem Fauteuil. Als das Cabrio zur Auffahrt einbog, wartete die Prinzessin bereits vor dem Hotel. Sie kam dem Wagen entgegen und seufzte erleichtert auf, als sie sah, daß drei Personen drinnen saßen, Sarah war am Steuer. Als das Auto anhielt, stieg Tom aus und sagte: »Ich setze mich hinten auf den Notsitz.« Die Prinzessin lächelte Elizabeth Liliuohe zu, die neben Sarah saß. »Sie sehen wirklich nett aus!« sagte sie. »Jetzt lassen Sie uns nur noch hoffen, daß ich es schaffe, mich in dieses Gefährt zu hieven.« Mit einer Hand stützte sie sich auf Toms Schulter, hielt sich mit der anderen am Cabrio fest, und kam auf das Trittbrett. Als sie sich hinter Elizabeth Liliuohe auf den Sitz fallen ließ, beugte sie sich vor und lächelte dem armen Wesen abermals zu. »Jetzt weiß ich endlich, von wem Sarah ihre hübschen Augen hat.« Sie kannte nur einen Trick, allfälligen Schwierigkeiten zu begegnen, und plapperte während der ganzen Fahrt zum Gericht munter drauflos. Daß sie angekommen waren, bemerkte sie erst, als Sarah sagte: »Tommy wird dich nach Hause bringen, Ma. Ich komme dann gleich nach -484
der Arbeit.« Tom öffnete der Prinzessin den Wagenschlag. »Nichts da!« sagte die Prinzessin Luahine und packte Sarahs Hand, die auf dem Schalthebel lag. »Sie kommen mit.« »Das kann ich nicht!« Sarah schüttelte den Kopf. »Ich sagte doch schon...« begann Tom. »Schnauze!« unterbrach ihn die Prinzessin und sah Sarah an. »Wir brauchen Sie heute da drinnen!« »Ich kann diese Menschen nicht sehen«, wehrte sich Sarah. »Dieses ewige ›Ich kann nicht ‹ habe ich allmählich satt!« erregte sich die Prinzessin. »Ich will es nicht mehr hören! Ich verlange von Ihnen doch nicht, daß Sie sich vor einen Zug werfen. Sie haben nichts weiter zu tun, als sich in einem Saal auf eine Bank zu setzen. Wenn ich das kann und wenn Ihre Mutter das kann, dann können Sie es auch. Sagen Sie Ihrem Boss, diesem Dingsda, er soll Ihnen diesen Tag vom Lohn abziehen. Heute arbeiten Sie für mich.« Die Prinzessin streckte die Hand nach Tom aus. »Und so gehen wir zu viert die Sache an...« Die Prinzessin und Elizabeth Liliuohe stiegen aus, und Sarah fuhr mit Tom zu einem Parkplatz. Dann betraten sie zu viert das Gerichtsgebäude. Prinzessin Luahine und Elizabeth warteten auf der Galerie, während Sarah und Tom gemeinsam mit den anderen Zuschauern in den Saal drängten, der sich rasch füllte. Die Prinzessin hielt Elizabeth Liliuohe am Arm und redete unentwegt sanft und beruhigend auf sie ein, während sie sich insgeheim schwor, Tom, wenn er nicht bald wieder auftauchte, in den Hintern zu treten. »Beeilung!« rief Tom, als er endlich kam, und die Prinzessin folgte ihm auf den Fersen, wobei sie schützend den Arm um Elizabeth Liliuohe legte, als trüge sie eine Kleiderpuppe. Kaum hatten sie den Verhandlungssaal betreten, schloß der Gerichtsdiener hinter ihnen die Tür. Während Walter Bergman sich noch zu einem Herrenausstatter in die King Street chauffieren ließ, nahm die Prinzessin gerade ihren Platz neben Sarah und Tom ein, nur durch den Mittelgang -485
vom Admiral und Elizabeth getrennt. Sie beugte sich vor, um Elizabeth zuzuwinken und sie mit einem Lächeln zu ermuntern. Dann lehnte sie sich wieder zurück und versuchte es sich bequem zu machen. Ihre Kriegslist war ein voller Erfolg gewesen. Wie ein Seekadett der Marineakademie saß Admiral Langdon auf der Bank, mit angewinkelten Ellbogen, die Hände zwischen den Beinen. Er richtete das Wort an die Frau, die neben ihm saß: »Haben Sie genug Platz?« Weder sah sie ihn noch antwortete sie ihm. Sie hielt die Augen geöffnet, schien aber nichts zu erkennen. Elizabeth Liliuohe war weit, weit fort und ganz mit sich allein. Sie dachte an Joes kräftigen Appetit. Er konnte für zwei essen, ja, für drei. Immer hatte sie für Joe eigens kochen müssen. Und immer war sie bei ihm am Tisch gesessen, wenn er aß. Sie hatte ihm gern beim Essen zugesehen. Oft hatte er gesagt, sie sei die beste Köchin auf Hawaii. Jetzt konnte sie nicht mehr kochen. Joe war tot. Sie konnte nicht mehr in die Küche gehen. Sie konnte sich nicht mehr an den Tisch setzen, denn Joe kam nicht mehr. Hester fühlte, wie sich Elizabeth Liliuohes Körper an sie preßte, an ihr Knie, an ihren Schenkel, an ihre Hüfte, an ihren Arm - spitz und furchtbar wie Spieße. Joseph Liliuohes Mutter war so mager, daß Hester ihre Knochen spürte. Sie versuchte von ihr abzurücken, aber da war kein Platz. Joseph Liliuohes Mutter war gekommen, um Hester daran zu erinnern, daß er jetzt ein Skelett war; ein Skelett auf dem Meeresgrund, in einem Sarg, nicht mehr in dem offenen Wagen voller junger Männer, die ihr geholfen hatten. Joe Liliuohe war ihr als erster zu Hilfe gekommen. Er hatte sie zum Wagen getragen, und zum Dank für sein Erbarmen und sein Mitgefühl hatte Hester ihn getötet, hatte sie Joseph Liliuohe dem Tod geweiht. Doris Ashley sah, wie Hester sich schützend die Hand vor das Gesicht hielt. Nicht sehen konnte sie, wie Hester sich in die Lippen biß, um sich Schmerz zuzufügen, um bluten zu müssen, um für den Tod an Joseph Liliuohe zu büßen. -486
Doris Ashley hatte gehört, wie die Prinzessin die Frau neben Hester beim Namen nannte. Jetzt stand Doris auf und trat an die Barriere. Der Admiral erhob sich. »Bitte bringen Sie Hester zurück nach Pearl«, flüsterte sie ihm zu. »Unmöglich!« erwiderte der Admiral und versuchte seinerseits zu flüstern. »Sie haben gehört, was Bergman gestern gesagt hat. Er hat Hester persönlich aufgetragen, heute hier anwesend zu sein.« »Neben ihr sitzt die Mutter des Mannes!« beharrte Doris Ashley. »Seine Mutter! Hester ist schwach und zerbrechlich. Ihre Nerven halten einen solchen Schock nicht aus. Bitte bringen Sie sie zurück, Glenn!« »Heute beginnt Bergman mit seinem Beweisvortrag«, erinnerte sie der Admiral. »Er kämpft um Ihr Leben, um euer aller Leben. Sein Auftrag lautete, Hester müsse an der Verhandlung teilnehmen.« »Nicht so laut«, warnte Doris Ashley. »Man kann uns hören. Um Christi willen, tun Sie, worum ich Sie gebeten habe!« Die Seitentür öffnete sich, und Richter Kesselring betrat den Saal. »Erheben Sie sich von Ihren Plätzen«, sagte der Gerichtsdiener. Der Admiral legte Doris Ashley beruhigend die Hand auf die Schulter. »Machen Sie sich keine Sorgen um Hester«, meinte er. Elf Minuten später traf Bergman im Gerichtsgebäude ein. Den Regenmantel, den er soeben gekauft hatte, trug er bis zum Kragen zugeknöpft, und er hielt den Schirm, den er ebenfalls erstanden hatte, in der einen, die Aktentasche in der anderen Hand. Im Saal blickte Richter Kesselring ungeduldig auf die Wanduhr hinter ihm. »Mr. Wadsworth, sind Sie bereit, für die Verteidigung das Verfahren zu eröffnen?« Coleman Wadsworth stand auf. »Ich bedaure, Euer Ehren, aber als sich das Gericht gestern vertagte, wies Mr. Bergman ausdrücklich darauf hin, daß er heute morgen das Plädoyer halten würde.« Der Richter blickte in den Saal. Er war überfüllt. -487
Kesselring hatte Stehplätze entlang der Rückwand zugelassen, und auch dort drängten sich die Zuschauer Kopf an Kopf. Das leise Gemurmel, das hörbare Flüstern, das ständige Herumrücken war so laut, daß das Klopfen an der Tür im Lärm unterging. »In diesem Fall vertage ich...« begann der Richter und brach ab, als der Gerichtsdiener die Flügeltür öffnete und Bergman eintrat. »Tut mir schrecklich leid, Euer Ehren.« Er blieb mitten im Gang stehen, senkte den Kopf und begann zu husten. »Hatte eine schlechte Nacht«, brummte er, während er auf die Sperre zusteuerte. »Dürfte mir eine Erkältung zugezoge n haben. Ich war schon drauf und dran, mich krank zu melden, wollte aber den Fortgang des Verfahrens nicht verzögern, Euer Ehren.« Bergman ließ den Schirm von einer Hand in die andere wandern, um das Türchen in der Sperre öffnen zu können, und wand sich seitwärts durch, als wäre er in ein zu enges Drehkreuz geraten. Coleman Wadsworth sprang auf. »Lassen Sie mich Ihnen helfen«, sagte er und streckte ihm seine Hand entgegen, aber Bergman ignorierte ihn und begann abermals zu husten, krümmte sich unter dem quä lenden Reiz, bis der Anfall nachließ. Er räusperte sich. »Das Schlimmste ist vorüber«, krächzte er und schlurfte um Wadsworth herum. Er wollte den Auftritt ganz für sich allein haben und hatte durchaus nicht die Absicht, ihn mit jemandem zu teilen. Er blieb neben dem leeren Sessel vor Gerald stehen und legte Aktentasche und Schirm auf den Tisch. Dann wand er sich aus dem Mantel, als wäre er darin eingeschnürt gewesen. »Nur noch einen Augenblick, Euer Ehren«, sagte er, ließ den Regenmantel auf den Tisch fallen und öffnete die Aktentasche. Er entnahm ihr einen großen gelben Schreibblock, hielt ihn nahe an die Augen und studierte ausführlich die völlig leere Seite. Zufrieden ließ er den Block wieder in die Aktentasche gleiten, rückte seinen Stuhl heran, blieb aber hinter ihm stehen. Alles war nach Plan verlaufen. Er hatte sich so intensiv auf seinen Auftritt konzentriert, daß er außer Richter Kesselring und Coleman -488
Wadsworth niemanden im Saal wahrgenommen hatte. Jetzt war Bergman bereit und begann: »Euer Ehren! Nachdem der Staatsanwalt seine Eröffnungsrede beendet hatte, ersuchte ich das Gericht um ein Zugeständnis, und Euer Ehren hatte die Güte, mir diese Bitte zu gewähren. Ich bat darum, mein Eröffnungsplädoyer auf einen späteren Zeitpunkt verschieben zu dürfen, und eigentlich würde ich es am liebsten erneut aufschieben.« Bergman mußte lauter sprechen, um die Reaktionen im Saal zu übertönen. »Oder vielmehr: ich möchte sie kombinieren, ja, das ist ein besseres Wort. Ich möchte mein Eröffnungs- und mein Schlußplädoyer in einem halten.« Diesmal ersuchte Bergman das Gericht nicht um seine Billigung. Er wartete, bis sich die Aufregung im Saal gelegt hatte. Während es in einem Strafprozeß dem Staatsanwalt obliegt, als öffentlicher Ankläger das Beweisverfahren zu eröffnen - so wie der Kläger in einem Zivilprozeß -, ist der Verteidigung das Recht vorbehalten, es abzuschließen. »Will die Verteidigung damit ausdrücken, daß sie nicht beabsichtigt, Zeugen aufzurufen?« fragte der Richter. Bergman hatte nie geplant, einen seine r Mandanten in den Zeugenstand zu rufen. Kein Angeklagter darf gezwungen werden, gegen sich selbst auszusagen, und seine Schützlinge dem Kreuzverhör des Staatsanwalts auszusetzen, wäre gefährlich, vielleicht sogar tödlich gewesen. »Ich würde meinen, daß der Vertreter der Anklage so viele Zeugen hat auffahren lassen, daß es für uns beide reicht, Euer Ehren«, antwortete Bergman. Er stützte sich auf den Tisch, ließ die Schultern hängen und hielt den Kopf gesenkt, als drücke ihn die volle Last der Verantwortung, als hörte er das Gelächter nicht, zu dem seine letzte Bemerkung Anlaß gegeben hatte. So konnte er auch nicht sehen, wie Hester versuchte, von Joseph Liliuohes Mutter abzurücken, dem Andrängen ihres schmächtigen Körpers zu entgehen. Doris Ashley hingegen -489
beobachtete Hester. Sie sah, wie Hester sich verzweifelt wand und sich immer enger an ihren Sitznachbarn zu ihrer Rechten preßte. Aber Hester vermochte dem Skelett nicht zu entkommen, das sich an ihren Körper drängte, in ihn einzudringen schien, seine Knochen in ihr Fleisch bohrte. Sie konnte die Qual nicht länger ertragen und sah die Frau an, die, einer Blinden gleich oder einer Toten, vor sich hinstarrte. »Entschuldigen Sie mich bitte. Ich muß gehen.« Elizabeth Liliuohe hörte sie nicht. Es mochte an dem Gelächter liegen, das Bergman ausgelöst hatte. »Ich möchte gehen«, wiederholte Hester, diesmal lauter. Doris Ashley sah, wie der Admiral sich vorbeugte und auf Hester einredete. »Man hat Ihnen doch gesagt, daß Ihre Anwesenheit heute erforderlich ist«, erinnerte sie der Admiral. »Ich kann nicht bleiben«, erwiderte Hester; Doris Ashley bemühte sich vergeblich, sie zu hören. »Sie bleiben!« beharrte der Admiral. »Heute ist der wichtigste Tag im Leben Ihres Mannes. Sie bleiben, wo Sie sind!« Mit seinem Hammer sorgte der Richter für Ruhe im Saal. »Bitte fahren Sie fort, Mr. Bergman.« »Gewiß, Euer Ehren.« Bergman verließ seinen Platz und ging die wenigen Schritte zur Geschworenenbank. »Meine Herren«, sagte er. »Jedes Strafverfahren steckt voller Geheimnisse, denn niemand kann vorhersagen, wie es enden wird. Ich habe den Großteil meines Lebens in Gerichtssälen verbracht, aber nicht ein einziges Mal den geringsten Hinweis erhalten, der mir den Urteilsspruch der Geschworenen vorzeitig verraten hätte. Anders dürfte es auch gar nicht sein. Sie, die zwölf Geschworenen, sind ja die Grundlage eines Systems der Strafgerichtsbarkeit, das jedem Angeklagten ein gerechtes Verfahren garantiert. Für fast alle von Ihnen ist es heute das erste Mal, daß Sie berufen sind, darüber zu entscheiden, ob jemand des Mordes schuldig ist oder nicht. Nach dem Gesetz muß eine Person, die eines Verbrechens beschuldigt wird, vor ein Geschworenengericht gestellt werden, -490
das ihm nicht vorsätzlich übel gesinnt ist. Diese Voraussetzungen erfüllen Sie, jeder von Ihnen. Vom ersten Tag an habe ich Ihre Reaktionen beobachtet. Keine Frage: Sie stehen auf der Seite der Angeklagten. Keiner auf der Geschworenenbank ist ein Mörder wie Sie auch in diesem Gerichtssaal keinen Mörder finden werden.« Bergman wandte sich von den Geschworenen ab und schlurfte, wie unter Schmerzen, zu seinem Platz zurück. Vor dem Zeugenstand hielt er an und stützte sich auf das Geländer. »Ich weiß, daß das so ist«, sagte er, »und ich werde es beweisen, meine Herren. Ich werde beweisen...« Er unterbrach sich, als er Hester und die Frau neben Hester sah. Seine Ellbogen glitten vom Geländer des Zeugenstandes ab. Wer war die Frau mit dem Gesicht einer Toten zwischen Hester und dem Admiral? »Ich werde beweisen«, setzte er von neuem an, »daß sich in diesem Saal kein einziger Mörder befindet. Vor wenigen Minuten sagte ich, ich wollte auf jede Zeugeneinvernahme verzichten.« Noch immer beobachtete er Hester und die Frau an ihrer Seite; sie wirkte wie eine steinalte Schrulle. »Der Vertreter der Anklage, sagte ich, hätte so viele Zeugen auffahren lassen, daß es für uns beide reicht. Darüber wurde gelacht, aber dazu bestand kein Anlaß. Es war kein Scherz. Der Staatsanwalt hat nur versucht, seiner Aufgabe gerecht zu werden. Er hat Ihnen die Waffe gezeigt, mit der Joseph Liliuohe erschossen wurde. Er hat Ihnen das Projektil gezeigt. Und er hat Ihnen auch die Badetücher gezeigt, mit denen der Tote bedeckt wurde.« Hester begann zu zittern. Jedes Wort von Bergman traf sie wie ein Keulenschlag. »Er ließ einen Experten kommen«, sagte Bergman, »der Ihnen darlegte, wessen Fingerabdrücke sich auf der Pistole befanden. Er brachte sogar eine Fotografie von Joseph Liliuohe mit. Das einzige, was der Staatsanwalt nicht tat, weil er es nicht tun konnte, war, einen Mörder zu präsentieren.« Bergman breitete die Arme aus und unterstrich jedes Wort mit -491
einer Handbewegung. »Weil... es... in... diesem... Saal... keinen... Mörder... gibt!« Bergman ließ die Arme sinken. »Es hat für mich ganz den Anschein, als hinge alles davon ab, wie Sie, meine Herren Geschworenen, über den Angeklagten Gerald Murdoch denken.« Von Anfang an, seit seiner Ankunft in Honolulu, seit seiner ersten Begegnung mit den Angeklagten im Haus des Admirals, hatte Bergman gewußt, daß das Geschick seiner drei Mandanten von Gerald abhing. »Darum werde ich Ihnen jetzt diesen Angeklagten sozusagen vorstellen.« Er verließ den Zeugenstand und kehrte an seinen Tisch zurück. »Ich hoffe, Sie gestatten mir, mein Gedächtnis ein wenig aufzufrischen, Euer Ehren«, sagte er. »Früher einmal konnte ich solche Dinge besser im Kopf behalten.« Er öffnete seine Aktentasche, beugte sich vor, um den Block herauszunehmen, und blinzelte dabei zu Coleman Wadsworth hinüber. »Wer ist die Frau, die neben Hester Murdoch sitzt?« Wadsworth warf einen Blick über die Schulter, und Doris Ashley antwortete für ihn: »Das ist Joseph Liliuohes Mutter.« »Seine Mutter...?« wiederholte Bergman mühsam, als hätte man ihm den Todesstoß versetzt. »Wer hat...?« »Prinzessin Luahine«, antwortete Doris. Bergman richtete sich auf, den Schreibblock in Händen. Er sah, wie die Prinzessin in der ersten Reihe ihn ungeniert betrachtete. Bergman hatte voll und ganz auf Hester gesetzt. Sein Plan war gewesen, sich an die Barriere zu stellen, während der ganzen Zeit Hester direkt anzusprechen und auf diese Weise die Aufmerksamkeit der Geschworenen auf die beklagenswerte junge Frau zu lenken. Aber die Prinzessin hatte ihn ausgetrickst. Sie hatte Hester zu einer Belastung für ihn gemacht. Bergman studierte das unbeschriebene Blatt, bis er wußte, wie er nunmehr vorgehen mußte. Dann ließ er den Block wieder in die Aktentasche gleiten, verschloß sie und schlurfte nach links, auf Gerald zu. Er stellte sich so hin, daß er Hester und die Frau neben ihr vor den Blicken der Geschworenen verdeckte. »Ich möchte sagen, daß Gerald -492
Murdoch, Lieutenant der US-Navy, unsere schönsten Hoffnungen verkörpert«, begann er. »Hier sehen Sie einen jungen Mann von makellosem Ansehen. Lassen Sie mich zunächst von seinem Beruf sprechen. Er ist ihm Berufung, und er wurde ihm gerecht, wohin immer sein Land ihn entsandte. Auch seine Dienstbeurteilung ist makellos. Das scheint mir etwas zu verraten: das sagt mir, daß Lieutenant Gerald Murdoch ein Mann ist, der seine Arbeit tut, den Befehlen gehorcht, mit Menschen gut auskommt, sie akzeptiert und von ihnen akzeptiert wird. Mehr noch: man schätzt ihn. Nichts von alledem macht ihn zu einem Heiligen, aber es beweist, daß er keineswegs einer von jenen Menschen ist, die man bei uns in den Staaten als Hampelmann zu bezeichnen pflegt.« Bergman legte Gerald die Hände auf die Schultern. »Hätte man noch vor wenigen Monaten Gerald Murdoch gefragt, wie es ihm in Hawaii gefällt, der Lieutenant würde wohl geantwortet haben, er wäre hier der glücklichste Mensch auf der Welt. Hier in Honolulu war ihm ein strahlendes, unschuldiges junges Wesen begegnet. Die beiden verliebten sich ineinander und wurden Mann und Frau. Das Glück bis zum Ende ihrer Tage schien ihnen beschieden. Ganz gewiß mußte Gerald Murdoch das glauben, war er doch jung verheiratet und hier auf Hawaii stationiert, wo die ewige Sonne scheint und die lauen Lüfte wehen. Man kann wohl annehmen - so sind die jungen Menschen nun mal -, daß die beiden daran dachten, eine Familie zu gründen.« Hester saß vornübergebeugt, krallte die Finger in ihre Handtasche, spürte Joseph Liliuohes Mutter an ihrer Seite, der sie nicht entkommen konnte, und sagte immer und immer wieder zu sich: »Aufhören! Bitte aufhören!« Sie bat, sie bettelte, sie wäre bereit gewesen, vor Bergman auf den Knien zu liegen, um ihn zum Schweigen zu bringen; aber sie war gefangen, sie saß in der Falle; sie konnte nicht einmal mit den Händen die Ohren verschließen, um Bergmans Lügen nicht anhören zu müssen. »Ja, sie wollten eine Familie gründen«, wiederholte Bergman. -493
»Aber es sieht ganz so aus, als hätte ein böses Schicksal ihre Pläne vereitelt. Tatsache ist, daß Gerald Murdochs Frau, als sie zum ersten Mal in ihrem Leben schwanger wurde, nicht mit Gewißheit sagen konnte, wer der Vater ihres Kindes war. Tatsache ist ferner, daß Gerald Murdoch von einem Tag auf den anderen vom Gipfel seines Glücks in die tiefste Hölle gestoßen wurde. Nun, es läßt sich nicht leugnen, daß viele Menschen unter schweren Prüfungen zu leiden haben, die ein göttlicher Wille ihnen auferlegt. Aber ich kann Ihnen versichern, meine Herren Geschworenen, daß Gerald Murdoch nicht durch göttliche Vorsehung in die Tiefen des Elends gestürzt wurde, sondern durch die Hand des Teufels. Ja, hier war der Teufel am Werk«, sagte Bergman, und in diesem Augenblick schrie Hester auf. »Nein!« schrie sie. Sie sprang auf, der Hut rutschte ihr vom Kopf, fiel auf Elizabeth Liliuohes Knie und von dort unbemerkt zu Boden. »Nein!« schrie sie noch einmal und schüttelte den Kopf; immer heftiger und rascher ließ sie ihn von Seite zu Seite schwingen - wie ein Kind, das seinen Schmerz nicht länger erträgt. »Nein!« schrie sie ein drittes Mal, am ganzen Körper zitternd, verzweifelt bemüht, sich der Lüge zu entledigen, die ihr Innerstes zerfraß, und das Bild von Joseph Liliuohe auszulöschen, der in seinem Sarg auf dem Meeresgrund verweste. »Sie haben es nicht getan!« schrie Hester. »Sie haben es nicht getan! Sie sind unschuldig!« Doris Ashley war aufgesprungen und auf Hester zugeeilt, aber Bergman kam ihr zuvor. Hinter ihm drängte Gerald nach, und auch der Admiral war jetzt auf den Beinen und versuchte, über Elizabeth Liliuohe hinweg, Hester zu packen. »Sie sind unschuldig!« Alle - außer Elizabeth Liliuohe - waren auf den Beinen und redeten wild durcheinander. Richter Kesselring hämmerte auf sein Pult. Die beiden Gerichtsdiener liefen auf Hester zu. Die Zuschauer, die entlang der Rückwand gestanden hatten, drängten durch den Mittelgang nach vorn, und die Zeitungsleute waren auf die Stühle gestiegen, um besser sehen zu -494
können. »Sie sind unschuldig!« Bergman täuschte nicht länger Krankheit und Schwäche vor. Er erreichte Hester als erster, umklammerte sie und brüllte: »Natürlich sind sie unschuldig!« Er wußte schon alles, preßte Hester mit aller Kraft an sich und begrub ihren Kopf an seiner Brust, um ihr Schreien zu ersticken und sie zum Schweigen zu bringen. Doris Ashley zerrte an Bergmans Jacke. »Geben Sie sie mir«, kreischte sie. »Geben Sie sie mir!« »Ruhe!« schrie Kesselring vom Richtertisch herab. »Ruhe im Saal!« Er hämmerte auf das Pult. »Gerichtsdiener! Gerichtsdiener! Holen Sie Verstärkung! Ruhe!« Ohne Hester freizugeben, keuchte Bergman Doris Ashley ins Ohr. »Bringen Sie sie zum Schweigen, schaffen Sie das? Stopfen sie ihr ein Taschentuch in die Kehle oder ihre Faust oder meinetwegen den ganzen Arm, aber sorgen Sie dafür, daß... sie... den... Mund... Hält !« Der Admiral hatte sich vor Elizabeth Liliuohe gedrängt. »Helfen Sie mir, Glenn!« flehte Doris Ashley. »Helfen Sie uns!« Die Gerichtsdiener versuchten jetzt, ihres Amtes zu walten, der eine in der ersten Reihe hinter dem Admiral, der andere hinter Bergman, der immer noch Hester an sich gepreßt hielt. Sie gaben Anweisungen, die unbeachtet im Getümmel untergingen. Gerald stand hilflos neben Bergman, der Hester jetzt Doris Ashley in die Arme drückte, einen Schritt zurückwich, herumwirbelte und dabei grob einen Gerichtsdiener zur Seite stieß. Sein Jackett flatterte wie die Muleta eines Stierkämpfers, als er auf den Richtertisch zustürmte: »Unterbrechen Sie die Verhandlung!« brüllte er, um Hesters Schreie zu übertönen. »Wollen Sie nicht endlich die Verhandlung unterbrechen, Euer Ehren?« Der Admiral und Doris hatten Hester fest im Griff. Sie drängten sie an Elizabeth Liliuohe vorbei, an der Prinzessin vorbei, die dastand, als überwache sie auf Big Island den Auftrieb einer Herde, die man eingefangen hatte, um den Schafen das Zeichen einzubrennen. Doris Ashley preßte Hester den Kopf nach unten -495
und hielt ihr die Hand auf den Mund; die gespreizten Finger verbargen Hesters Gesicht. »Die Sitzung wird für fünfzehn Minuten unterbrochen«, rief Richter Kesselring. Und lauter: »Gerichtsdiener! Räumen Sie den Mittelgang!« Und noch lauter: »Räumen Sie den Mittelgang!« Bergman stand am Türchen der Schranke und stieß es auf, um Hester zwischen Doris Ashley und dem Admiral passieren zu lassen. »Beeilen Sie sich, Admiral!« sagte er. Sie mußten das Mädchen aus dem Saal schaffen, ehe sie Gelegenheit fand, ihr Geständnis zu erweitern. Bergman hielt sich eng neben Doris Ashley. »Lassen Sie sie nicht reden, Madame! Sorgen Sie dafür, daß sie nicht redet!« Prinzessin Luahine beobachtete, wie die Prozession einer Tür neben der Geschworenenbank zustrebte, beobachtete, wie Gerald sie öffnete und sagte zu sich: »Das hätte sie schon längst tun müssen.« Dann wandte sie sich an Sarah: »Leisten Sie Ihrer Mutter Gesellschaft.« Während Sarah den Mittelgang durchquerte, ließ sich die Prinzessin auf die Bank fallen und winkte Tom mit dem Finger heran. »Kann mir jemand erklären, wen das Mädchen gemeint hat?« »Dies ist ein Gerichtshof«, sagte Tom. »Er hat nur Fakten abzuwägen. Was wir eben gehört haben, war ein hysterischer Anfall.« »Weiß ich auch«, erwiderte die Prinzessin. »Aber wenn du schon so klug bist, dann sag mir doch, ob Hester Murdoch uns geschadet hat.« Zum ersten Mal, seitdem er ihr begegnet war, völlig durchnäßt und verzweifelt, sah die Prinzessin, wie ein leichtes, verständnisheischendes Lächeln seine Lippen kräuselte. »Nein«, antwortete Tom. »Geschadet hat sie uns nicht.« Auf dem Flur neben dem Verhandlungssaal stieß Bergman die Tür zum leeren Geschworenenzimmer auf. »Hier herein!« sagte er und trat zur Seite, um den Admiral und Doris Ashley mit Hester in ihrer Mitte passieren zu lassen. Kaum waren sie eingetreten, verwehrte Bergman mit beiden Armen Gerald den Zutritt. »Sie -496
kennen sich hier aus, Lieutenant«, sagte er. »Würden Sie uns wohl den Fahrer des Admirals heraufholen?« Gerald spähte in den Raum, aber Bergman langte nach der Tür. »Beeilen Sie sich, Lieutenant.« Der Admiral stand an dem langen Tisch mit den zwölf Stühlen für die Geschworenen, und zu Bergmans Linken, in der Ecke, hinter dem Platz des Vorsitzenden, hielt Doris Ashley Hester immer noch eng an sich gepreßt. Sie wirkten wie Ausbrecher, die nach einer verzweifelten Verfolgungsjagd in die Falle geraten waren. Bergman begriff instinktiv, daß Doris Ashley sich zwischen Hester und den Rest der Welt stellte. Er ging auf den Admiral zu, ohne dabei Hester aus den Augen zu verlieren. Sie schien erschöpft und gefügig, aber Bergman hatte auch schon gefügige Mensche n Amok laufen gesehen. »Es ist alles meine Schuld«, sagte Bergman. »Ich habe die junge Frau genötigt, der Verhandlung beizuwohnen. Ich wünschte, ich könnte Ihnen das Leid abnehmen, das ich Ihnen zugefügt habe, Mrs. Murdoch. Daß ich mein Verhalten bedaure, vermag Ihren Schmerz nicht zu lindern; es sind bloß Worte.« Er war nicht sicher, ob sie ihm überhaupt zuhörte. »Glenn, bringen Sie uns nach Pearl zurück«, sagte Doris Ashley, als ob Bergman gar nicht im Zimmer wäre. »Ich habe Lieutenant Murdoch bereits nach dem Fahrer des Admirals geschickt«, sagte Bergman. »Ihre Qualen haben ein Ende gefunden, Mrs. Murdoch. Für Sie ist der Prozeß vorbei. In ein paar Minuten können Sie sich auf den Weg machen.« »Ich bringe dich zurück, mein Kind! Ich bin immer für dich da«, sagte Doris Ashley, die nun wußte, daß sie Hester nie wieder allein lassen durfte, daß sie ihr nie wieder vertrauen durfte. »Ich bleibe bei dir.« »Fürs erste noch nicht«, sagte Bergman. »Sie müssen wieder in den Saal.« Doris Ashley verachtete ihn. Sie haßte und verachtete diesen Anwalt. Am liebsten hätte sie ihn aus dem Raum -497
gewiesen. »Das ist unsere Sache. Sie mischen sich in etwas Privates ein.« »Läßt sich leider nicht vermeiden«, erwiderte Bergman. »Halten Sie sich an die Fakten, Madame.« Er deutete auf die Wand. »Hier nebenan läuft ein Strafprozeß, und Sie sind eine der Angeklagten. Der Richter hat die Verhandlung nicht vertagt, er hat sie nur unterbrochen. In fünfzehn Minuten ist er wieder da, und auch Sie müssen anwesend sein, wenn Sie nicht verhaftet werden wollen.« »Meine Tochter braucht mich!« sagte Doris Ashley. Sie durfte Hester nicht aus den Augen lassen. Hester würde womöglich auf die Straße rennen und wie ein Zeitungsjunge alles herausschreien. Hilfeflehend blickte Doris Ashley Langdon an. »Gle nn, helfen Sie mir!« »Sie haben ihn gehört, Doris«, erwiderte der Admiral. »Sie sind eine Angeklagte.« Doris ließ Hester stehen und ging auf den Admiral zu. Sie hob den Kopf. »In ihrem Zustand ist sie... zu allem fähig.« Jemand klopfte an die Tür. Doris eilte mit ausgebreiteten Armen zu Hester zurück und umklammerte sie von neuem. »Ich kann doch mein Kind nicht im Stich lassen!« Bergman näherte sich der Tür. »Warten Sie!« rief Doris Ashley. »Warten Sie!« Der Admiral legte ihr die Hand auf den Arm. Er hatte es plötzlich satt, sich von dieser Frau herumkommandieren zu lassen. »Hester wird kein Leid geschehen«, versuchte er sie zu beruhigen. »Wir bringen sie in Sicherheit.« Bergman öffnete die Tür, und der Admiral trat auf den Gang hinaus, um mit seinem Fahrer zu sprechen. »Bringen Sie Mrs. Murdoch in mein Haus und halten Sie unterwegs nicht an«, befahl er. »Unter keinen Umständen. Mrs. Murdoch darf das Haus nicht verlassen, und sie darf keinen Augenblick unbeobachtet bleiben. Sobald Sie meine Anweisungen übermittelt haben, kommen Sie wieder zurück.« Er warf einen -498
Blick über die Schulter. »Hester!« »Deine Mutter ist bei dir, Kleines!« rief Doris Ashley ihr nach. Hester wandte sich nicht um. Sie blieb nicht stehen. Stumm verließ sie neben dem Matrosen in der blaue n Uniform den Raum. »Sie kennen ja den Weg, Ma'am«, sagte der Matrose. In der Limousine wiederholte der Fahrer für sich die Anordnung des Admirals. »Nicht stehenbleiben!« Er kannte seinen Admiral. Diese Frauensperson war also unverzüglich abzuliefern. Er konnte sie im Rückspiegel sehen; einsam und verlassen hockte sie auf dem Rücksitz. Aber Hester war nicht allein. Joseph Liliuohe war immer noch bei ihr. Und Elizabeth Liliuohe. Sie stieß sie an, forderte Rache, verlangte ein Opfer für den Verlust ihres Sohnes. Der Fahrer mußte scharf bremsen, als eine Ampel auf Rot sprang, und Hester wurde nach vorn und dann wieder zurück auf den Sitz geschleudert. »Verzeihung, Ma'am.« Wäre ich doch nur auch getötet worden! dachte Hester; hätten die doch gleich auch mich umgebracht, als Joseph Liliuohe sterben mußte! Die Ampel zeigte Grün, und die Limousine fuhr wieder an. Hester wußte, daß sie keine Schonung zu erwarten hatte. Tag für Tag würde sie gestraft werden, Tag für Tag, bis an ihr Ende. Obwohl der Admiral nicht im Wagen saß, hielt der Fahrer an der Sperre bei der Einfahrt nach Pearl nicht an. Die Burschen kannten die Limousine. Und weil er seinen Fahrgast so rasch wie möglich loswerden wollte, wählte er eine Abkürzung, ließ Hauptquartier und Postamt links liegen und bog beim Lazarett ab. Als der Wagen den Eingang passierte, sah Hester Patienten in Pyjamas und Morgenmänteln in der Sonne sitzen, sah andere Patienten im Rollstuhl, und hinter jedem Rollstuhl ging eine Schwester in Weiß. Sie sah, wie eine Gruppe von Schwestern, den Umhang über die Schultern, das Gebäude betrat, sah eine Schwester aus dem Fenster blicken, eine Schwester, die, von Patienten umringt, auf dem Rasen saß und ihnen aus einem Buch vorlas. Aus einem Buch vorlas! Am liebsten hätte sie die -499
Wagentür aufgerissen, wäre aus dem Auto gesprungen und zu den anderen hinübergelaufen. Sie war gerettet! Sie hatte ihre Erlösung gefunden, den einzigen Weg, der ihr offenstand: Sie würde eine Schwesternschule besuchen; sie würde Krankenschwester werden. Irgendwo auf Windward mußten noch Prospekte herumliegen, die sie einmal gesammelt hatte. Sie würde sie finden und ihr Leben damit zubringen, den Bedürftigen zu helfen! Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Sie war gerettet! »Bitte fahren Sie fort, Mr. Bergman«, sagte Richter Kesselring im Gerichtssaal. »So gut ich kann, Euer Ehren.« Bergman verließ seinen Platz am Tisch der Verteidigung. »Ich brauche allerdings etwas Nachhilfe«, sagte er. »Ich sprach vom Werk des Teufels. Vielleicht kann der Schriftführer mein Gedächtnis auffrischen.« »Tatsache ist ferner«, las der Schriftführer aus dem Protokoll vor, »daß Gerald Murdoch von einem Tag auf den anderen vom Gipfel seines Glücks in die tiefste Hölle gestoßen wurde. Nun, es läßt sich nicht leugnen, daß viele Menschen unter schweren Prüfungen zu leiden haben, die ein göttlicher Wille ihnen auferlegt. Aber ich kann Ihnen versichern, meine Herren Geschworenen, daß Gerald Murdoch nicht durch göttliche Vorsehung in die Tiefen des Elends gestürzt wurde, sondern durch die Hand des Teufels. Ja, hier war der Teufel am Werk.« »Vielen Dank«, sagte Bergman. »Ein Teufel«, wiederholte er und wandte sich den Geschworenen zu. Bergman hatte mitbekommen, wie der Richter sie aufgefordert hatte, Hesters Ausbruch nicht zur Kenntnis zu nehmen, aber er wußte auch, daß diese Aufforderung ungehört verhallt war. »Gerald Murdoch und Hester Ashley Murdoch«, begann er, »waren Jungvermählte. Und sie saßen hier in diesem Gerichtssaal und ließen alle Welt in ihr Leben, in ihre Seelen hineinsehen. Daß sie das taten, dafür sorgten schon die ehrenwerten Herren von der -500
Presse. Und als alles vorbei war, blieb Gerald Murdoch in den Tiefen des Elends zurück.« Bergman schlurfte zum Platz des Gerichtsdieners hinüber, der neben der Richterbank saß, und nahm die Bibel vom Tisch. Wieder an die Geschworenen gewandt, fuhr er fort: »Ich könnte nicht behaupten, Gerald Murdoch wie meinen eigenen Sohn zu kennen. Ich habe keinen Sohn. Aber eines kann ich Ihnen versichern!« Er hielt die Bibel in beiden Händen. »Gerald Murdoch verkörpert alles, was ich mir von einem Sohn wünschen würde. So wahr mir Gott helfe!« Er legte die Bibel auf den Tisch des Gerichtsdieners zurück. »Vielen Dank.« Er wanderte zur Geschworenenbank hinüber. »Zu Beginn meiner Ausführungen räumte ich heute ein, daß der Staatsanwalt ganze Arbeit geleistet hat. Er ließ es nicht mit der Pistole, den Fingerabdrücken und den vielen anderen Beweisstücken bewenden, die ich bereits erwähnt habe. Er ließ sogar einen Arzt auf die Insel kommen, einen Psychiater, einen Nervenarzt, der Ihnen, meine Herren, versichern sollte, daß Gerald Murdoch nicht verrückt ist.« Bergman wandte sich um und blickte quer durch den Saal zu Philip Murray am Tisch der Anklage hinüber. »Der Staat hätte sich das Geld sparen können«, sagte er. »Gerald Murdoch ist nicht verrückt. Aber wahrscheinlich nahm der Staatsanwalt an, ich würde meinerseits mit dem Gutachten eines anderen Psychiaters aufwarten, wie das so üblich ist.« Bergman kehrte den Geschworenen den Rücken. »Nun, ich will Ihnen verraten, warum ich darauf verzichtet habe, ebenfalls einen Psychiater anzuheuern. Ich habe in meinem Leben an zahlreichen Prozessen teilgenommen, und ich habe mit ganzen Heerscharen von Psychiatern zu tun gehabt.« Bergman hob die Hand und begann an den Fingern abzuzählen: »Ein Psychiater, eine Meinung«, sagte er. »Zwei Psychiater, zwei unterschiedliche Meinungen. Drei Psychiater, drei verschiedene Meinungen, und so weiter, und so weiter und so fort.« Bergman kehrte an seinen Tisch zurück, um einmal mehr den leeren Notizblock zu konsultieren. -501
»Wir kommen jetzt zu dem Tag, an dem Joseph Liliuohe starb«, fuhr er fort, »dem Tag, an dem ihm Gerald Murdoch gegenübertrat. Und hier ist noch etwas, was ich beschwören könnte: Gerald Murdoch, Lieutenant Gerald Murdoch von der United States Navy, der Offizier mit der makellosen Vergangenheit, hat die Auseinandersetzung mit Joseph Liliuohe nicht etwa gesucht, weil er das Leben dieses Mannes auslöschen wollte. Gerald Murdoch hatte so lange und so schwer gelitten, und seine Frau mit ihm, daß er geradezu gezwungen war, diesen Mann, Joseph Liliuohe, zu stellen. Gerald Murdoch wollte auch die letzten Zweifel beseitigt wissen, die alle Welt noch immer hegte: an seiner Frau, an der Aussage, die sie unter Eid gemacht hatte, an ihrem guten Ruf. Er wo llte endlich die Wahrheit erfahren. Und so nahm er auch jenes schriftliche Geständnis mit, das der Staatsanwalt Ihnen, meine Herren Geschworenen, ebenfalls nicht vorenthalten hat. Nun, und so erfuhr Gerald Murdoch die Wahrheit. Joseph Liliuohe legte vor ihm ein Geständnis ab.« In der ersten Reihe, auf ihrem Platz zwischen dem Admiral und ihrer Mutter, lauschte Sarah dem Lügner. Sie beobachtete ihn. Sie beobachtete auch Gerald Murdoch, der Joe getötet hatte. Sarah hätte Gerald Murdoch töten können, und wußte, daß sie das nicht vermochte. Sie hätte ihn aufspüren, in eine Falle locken und mit dem Auto überrollen können, und wußte, daß sie es nicht konnte. Sie mußte sich darauf beschränken, ihn zu hassen. »Als Gerald Murdoch endlich die Wahrheit erfahren hatte«, fuhr Bergman fort, »traf ihn dieser ungeheure Schlag so sehr, verletzte ihn so tief, erkannte er so klar, was seine unschuldige junge Frau, deren Jugend für alle Zeit dahingerafft war, gelitten haben mußte, daß irgend etwas in seinem tiefsten Inneren zerbrach. Gerald Murdoch war aus dem Ruder gelaufen, und wenn Joseph Liliuohe jetzt starb, trug nicht Gerald Murdoch dafür die Verantwortung, sondern jemand, den man bis zum Äußersten getrieben hatte.« Bergman verließ den Tisch der Verteidigung und trat an den Zeugenstand heran. -502
»Ich habe zuvor gesagt, daß ich zu hundert Prozent mit Dr. Magruders Aussage übereinstimme, derzufolge Gerald Murdoch nicht verrückt war. Der Psychiater und ich waren aber auch in einem anderen Punkt gleicher Meinung, und Sie, meine Herren, haben es gehört. Wir stimmten darin überein, daß ein Mensch etwas tun kann, ohne sich dessen bewußt zu sein. Nun gut: Gerald Murdoch wußte nicht, daß Joseph Liliuohe sterben würde, und doch starb er. Gerald Murdoch kann sich der Tat nicht erinnern. Er erinnert sich nicht an sie!« Bergman stieß sich vom Zeugenstand ab, ging an seinem Stuhl am Tisch der Verteidigung vorbei und setzte sich an Geralds Seite. Er legte dem Lieutenant die Hand auf die Schulter. »Ich bitte Sie, meine Herren, sich vorzustellen, welche Veränderung in Gerald Murdochs Leben in der Nacht vorging, als er seine Frau im Mercy Hospital fand«, sagte er. »Ich kann Sie nicht bitten, sich in seine Lage zu versetzen, und ich bete zu Gott, dem Allmächtigen, daß keiner von Ihnen, daß überhaupt nie wieder jemand in eine solch qualvolle Lage geraten möge. Aber Sie, meine Herren Geschworenen, können Gerald Murdoch vor weiterem Leid bewahren. Sie können seinem Leid ein Ende setzen.« Bergman blickte auf Gerald herab. »Wir könnten diesen Mann für den Rest seines Lebens in einen Kokon einspinnen, und er hätte doch bereits mehr gelitten als jedes menschliche Wesen, das mir je begegnet ist. Gerald Murdoch ist bereits genug gestraft. Sie sollten, nachdem Sie den Herrn Staatsanwalt und mich gehört haben, in den Gerichtssaal zurückkehren und Gerald Murdoch durch diese Türen gehen lassen.« Er hob den Arm, wies auf die Rückwand des Saales und kehrte auf seinen Platz zurück. »Sie alle, meine Herren Geschworenen, jeden einzelnen von Ihnen, bitte ich um Entschuldigung, daß ich Sie heute morgen warten ließ. Das lag bestimmt nicht in meiner Absicht, und ich hoffe, Sie werden bedenken, daß der einzige, der sich etwas zuschulden kommen ließ, Gerald Murdochs Anwalt war, nicht aber Gerald Murdoch selbst.« Als das Gericht nach der -503
Mittagspause wieder zusammentrat, hielt Philip Murray als öffentlicher Ankläger sein Schlußplädoyer. Gemeinsam mit Leslie McAdams hatte er es bis ins Detail vorbereitet und ausführlich geprobt; er hatte es seiner Gattin vorgelesen und seine Anmerkungen dazu in seinen Notizen berücksichtigt. Im Verlauf seiner Rede konsultierte Murray häufig die Aufzeichnungen, die er auf einem Schreibblock eingetragen hatte. Der Staatsanwalt gab sich sachlich und präzise. Noch einmal faßte er seine Argumente zusammen, zitierte die Zeugen und zählte die Beweise auf, die er vorgelegt hatte. Er verzichtete darauf, den Geschworenen zu schmeicheln oder sie zu beschwatzen. Er war weder unterwürfig noch stellte er Forderungen. Nur in einem wich er von seinem vorbereiteten Konzept ab: Er richtete einen Gutteil seiner Ausführungen zunächst an die Mutter und die Schwester des Ermordeten, an Elizabeth und Sarah Liliuohe, um sich dann den Geschworenen zuzuwenden und immer wieder sein Grundthema zu betonen. »Sie müssen diesen Fall nach den vorliegenden Beweisen beurteilen, und nur nach den Beweisen!« Während der Staatsanwalt zum Tisch der Anklage zurückkehrte, erklärte Richter Kesselring, die Belehrung der Geschworenen anderen Tags vornehmen zu wollen. Vor dem Gerichtsgebäude wartete der Fahrer des Admirals. Als er sah, wie die Menge zum Ausgang drängte, sprang er aus der Limousine, zog seinen Uniformrock glatt und adjustierte die Mütze. Sobald er des Admirals ansichtig wurde, riß er die hintere Wagentür auf. Auf dem ganzen Weg durch die Stadt verloren seine Fahrgäste kein einziges Wort. Sie fuhren dahin, als wären ihre Zungen gelähmt. Erst als sie Pearl Harbor erreicht hatten und der Fahrer das Quartier der unverheirateten Offiziere ansteuerte, um den Lieutenant abzusetzen, befahl der Admiral: »Fahren Sie direkt zu meinem Haus.« Als die Limousine hielt, sagte der Admiral. »Lieutenant, York, Sie kommen beide mit.« »Zu Befehl, Sir«, sagte Gerald. Duane, der neben dem Fahrer -504
saß, rief beinahe gleichzeitig und ebenso knapp und präzise: »Zu Befehl, Sir!«, obwohl er nicht wußte, was er von der Sache halten sollte. Die einzigen Seeleute, die das Haus des Admirals von innen zu sehen bekamen, waren die, die für ihn arbeiteten. Duane stieg aus und wartete neben der Stoßstange. Er konnte nicht mehr tun, als sich immer nur an den Lieutenant halten. Mrs. Ashley begriff nicht, warum Glenn Langdon Gerald und den Matrosen ins Haus holte, aber es war ihr gleichgültig. Ihre einzige Sorge galt Hester. Einer der Filipinos kam heraus und hielt ihnen die Tür auf. Als sie die Holztreppe zur Veranda erreicht hatten, bot der Admiral Doris Ashley den Arm. »Ein Tag ist schlimmer als der andere«, sagte sie und ging ihm ins Haus voran. »Entschuldigen Sie mich, Glenn, aber ich muß nach Hester sehen.« »Warten Sie«, sagte der Admiral, und als sie nicht anhielt: »Doris!« Sie blieb an der Treppe stehen. Der Admiral wandte sich an einen Filipino. »Ist Mrs. Murdoch wohlauf?« »Ja, Sir. Wohlauf.« »Gut.« Der Admiral wies mit dem ausgestreckten Arm zum Salon. »Bitte, hier herein, Doris.« Er bedeutete Gerald und Duane, voranzugehen. Doris Ashley hatte ertragen, was sie nur ertragen konnte. Im Gerichtssaal hatte Hester ihr Leben bedroht. Und sie mußte Hester zum Schweigen bringen. »Meine Tochter braucht mich!« rief sie und schickte sich an, nach oben zu gehen. Aber der Admiral stellte sich ihr in den Weg, als sei sie einer seiner Matrosen. »Wollen Sie mir verbieten, zu meinem eigenen Kind zu gehen?« »Sie werden sie bald genug sehen.« Er rührte sich nicht vom Fleck. Doris Ashley konnte nicht weiter. Er demütigte sie. Sie blickte über die Schulter zurück, doch Gerald und der Matrose waren bereits vorausgegangen. »Was wollen Sie von mir?« -505
»Wir werden uns da drinnen aussprechen«, erwiderte der Admiral. Er griff nach ihr, aber sie wic h ihm aus. »Ich erkenne Sie nicht wieder, Glenn«, sagte Doris Ashley. »Ist das noch Glenn Langdon, mein Freund und Beschützer?« »Das habe ich in dieser schmutzigen Affäre vom ersten Tag an bewiesen«, sagte der Admiral. »Sie verschwenden bloß Zeit, Doris.« Er hatte ihr störrisches Verhalten satt. »Gehen Sie in den Salon zu den anderen.« Sie zog sich den Mantel über die linke Schulter. »Sie zwingen mich dazu, etwas gegen meinen Willen zu tun«, klagte sie. »Mit Gewalt; benimmt sich so ein Freund und Beschützer?« Er blieb ihr die Antwort schuldig, und Doris Ashley wandte sich um und ging auf den Salon zu. Der Admiral folgte ihr und blieb in der Tür stehen. Gerald und Duane befanden sich neben der Statue des buddhistischen Priesters. Doris Ashley ging ans andere Ende des Zimmers. Admiral Glenn Langdon schloß die Flügeltüren und blieb hinter seinem Lieblingsplatz, einem großen Lederfauteuil, stehen. »Doris.« Sie starrte ihn schweigend an. Er trat vor und pflanzte sich in der Mitte des Salons auf, von wo er alle im Blickfeld hatte. »Sie alle haben Mrs. Murdoch heute gehört«, begann er. »Sie wollte etwas mitteilen, aber man ließ sie nicht zu Ende reden. Was wollte sie sagen?« Der Admiral wartete. »Wer ist unschuldig?« Er wartete. »Hester sagte: ›Sie sind unschuldig! Sie haben es nicht getan!‹ Also, wer hat was nicht getan?« Als der Admiral erkannte, daß er von Doris keine Antwort zu erwarten hatte, wandte er sich an die beiden Männer. »Lieutenant?« »Ich weiß es nicht, Sir«, antwortete Gerald. Er hatte Haltung angenommen. »Sie haben es nicht getan«, wiederholte der Admiral. »Liliuohe wurde auf Windward erschossen. Er wurde im Wagen der Ashleys gefunden. Er war mit Badetüchern bedeckt, die den Ashleys gehören. Wer sind ›Sie‹?« -506
»Ich bedaure, Sir, ich weiß es nicht«, sagte Gerald. »York?« Auch Duane hatte Haltung angenommen. Er blickte geradeaus, am Admiral vorbei, bemüht, ihn nicht zu sehen. »Sir, ich weiß es nicht, Sir«, antwortete er. »Aber Sie haben doch Mrs. Murdoch gehört. ›Sie haben es nicht getan.‹ Wer, York, wer?« »Sir, ich schwöre, ich habe keine Ahnung«, sagte Duane. Der Admiral schien im Begriff, auf ihn zuzugehen. »Wie der Lieutenant bereits sagte, ich weiß es auch nicht, Sir.« Der Admiral fixierte Doris Ashley. Sie starrte ihn an. Wie ein feindlicher Befehlshaber, geschlagen, aber ungebrochen. »Doris, können Sie den Schleier des Geheimnisses lüften?« fragte er. »Ich hätte diese Frage beantworten können, ohne zu diesem Verhör gezwungen zu werden«, antwortete sie. »Es gibt kein Geheimnis. Jeder, der Augen im Kopf hat, kann das sehen. Man hat Hester zuviel zugemutet. Sie wurde über die Maßen belastet über ihre Grenzen hinaus. Man hat sie zu lang gepeinigt, Monat um Monat, und heute ist sie unter dem Druck zusammengebrochen. Sie hat den Zugang zur Wirklichkeit, zur wirklichen Welt verloren. Sie lebt jetzt in einer anderen Welt, einer eigenen, einer gefährlichen Welt. Ich fürchte mich, sie allein zu lassen. Sie haben mich von ihr ferngehalten, und nun muß ich zu ihr.« »Ich werde Ihnen die Mühe ersparen«, sagte der Admiral, der nicht ein Wort von alledem glaubte. Er öffnete eine Seitentür. »Bringen Sie Mrs. Ashley Murdoch zu uns herunter«, sagte er so laut, daß ihn der Filipino in der Küche hören mußte. »Das verbiete ich!« rief Doris Ashley und stürmte auf ihn zu. Gerald erkannte, daß sie sich geändert hatte. Sie war nicht mehr die alte Doris Ashley. »Ich verbiete es!« rief sie lauter. Der Admiral schloß die Tür und wandte sich Doris zu. Sie blieb stehen. »Sie haben kein Recht dazu!« fuhr sie ihn an. Ihre Kehle brannte und ihr Gesicht glühte. »Hester hat genug gelitten. Sie -507
dürfen sie nicht noch mehr quälen!« »Ich wollte es ihr ersparen«, entgegnete ihr der Admiral. »Ich habe Sie alle in den Salon gebeten, um Hester zu schonen. Aber Sie haben mir nichts verraten.« Doris Ashley und der Admiral standen einander gegenüber. Sie hatte beide Arme erhoben, ihre Hände zu Fäusten geballt. »Weil es nichts zu verraten gibt!« rief sie. »Hester hat einfach durchgedreht!« Sie wirbelte herum und beschwor Gerald: »Halt ihn zurück! Was bist du nur für ein Mann! Beschütze endlich deine Frau!« Gerald stand vor einem Admiral, im Haus eines Admirals, vor Admiral Langdon, dem Befehlshaber des gesamten vierzehnten Seedistrikts. Und doch sagte er: »Mit allem Respekt, Sir...« und brach ab. Er räusperte sich. »Wenn der Herr Admiral die Güte hätte, etwas zuzuwarten...« »Ich habe bereits gewartet«, unterbrach ihn der Admiral und musterte den jungen Offizier, dessen Leben man von innen nach außen gekehrt hatte. »Tut mir leid, mein Junge.« »Wir sind nicht Ihre Gefangenen!« rief Doris Ashley. »Ich nehme Hester mit mir! Wir gehen!« Sie eilte zur Flügeltür, aber der Admiral sagte: »Dann müssen Sie eben ins Gefängnis«, und Doris erstarrte. »Sie sind hier bei mir, um nicht ins Gefängnis zu müssen. Sie stehen unter Mordverdacht.« Doris Ashley schloß die Augen. Ihre Stimme klang heiser, war fast nur noch ein Flüstern. »Wie können Sie nur so grausam sein?« »Wenn ich das bin, dann nicht mit Absicht«, sagte der Admiral. »Ich stehe auf Ihrer Seite, Doris. Von Anfang an bin ich auf Ihrer Seite gestanden. Ich sagte den Behörden, daß ich für Sie bürgen würde. Ich habe mich darauf eingelassen. Ich glaube an Sie; ich bin davon überzeugt, daß Sie die wahren Opfer dieser Tragödie sind. Ich habe fast alle meine Verpflichtunge n hintangestellt, um bei Ihnen im Gerichtssaal sein zu können, um vor der Öffentlichkeit meine Einstellung und mein Mitgefühl zu -508
demonstrieren.« Der Admiral ging durch den Raum auf Doris Ashley zu, aber sie stand da, als wäre sie ganz allein. »Wenn man mir etwas vorenthalten hat, dann muß ich es jetzt erfahren. Nach all diesen Monaten an Ihrer Seite, dürften Sie vor mir keine Geheimnisse haben.« Die Flügeltür öffnete sich. »Mrs. Murdoch«, sagte der Filipino, der Hester seit ihrer Rückkehr aus dem Gerichtsgebäude bewacht hatte. Doris Ashley eilte Hester entgegen. »Hab keine Angst, Kleines! Ich werde dich beschützen.« Sie breitete die Arme aus, um ihre Tochter an sich zu drücken, aber Hester ging an ihr vorbei. Hester war die Anwesenheit des Filipinos auf dem Flur vor ihrem Schlafzimmer nicht entgangen. Sie hatte ein Buch vom Nachtkästchen genommen, es aber ungeöffnet im Schoß liegenlassen. Als ihr Bewacher sie zum Mittagessen rief, erklärte sie, sie hätte keinen Hunger. Später brachte er ihr auf einem Servierbrett Tee und Kuchen, aber beides befand sich noch immer unberührt in ihrem Zimmer. Sie wollte nichts essen. Sie war müde, aber sie wollte nicht schlafen. Hester fühlte sich wieder frei und rein. Sie hatte dagesessen und das Meer und die Möwen betrachtet. Sie hatte die Möwen in ihrer grenzenlosen Freiheit begriffen. Von nun an konnte ihr nichts mehr widerfahren, was sich mit dem endlosen Alptraum vergleichen ließ, in dem sie lebte, seitdem sie begonnen hatte zu lügen. »Ich fürchte mich nicht«, sagte sie, und als der Admiral ihren Ausruf im Gerichtssaal wiederholte und fragte, wer denn nun unschuldig sei, sagte sie leise und ruhig: »Alle. Alle vier waren unschuldig; vor allem Joseph Liliuohe.« Doris Ashley wich zurück. Sie strauchelte, aber keiner kam ihr zu Hilfe. Alle starrten auf Hester, und als Doris das Gleichgewicht wiedergefunden hatte, wiederholte der Admiral nur das eine Wort: »Unschuldig.« Es klang wie ein Donnerschlag. -509
»Sie haben mich gerettet«, fuhr Hester fort. »Sie brachten mich ins Krankenhaus. Und dann kam meine Mutter.« Sie sah Doris Ashley nicht an. »Meine Mutter übernahm das Kommando. Sie sagte, ich würde ihr Leben zerstören, wenn ich die Wahrheit sagte. Also habe ich gelogen.« »Hier wird nicht mehr gelogen«, sagte der Admiral. »Nein«, bekräft igte Hester, und während sie weitersprach, sank Doris Ashley in einen Lehnstuhl. In Duanes Kopf begann es immer stärker zu dröhnen, während er Hester zuhörte. Er hatte einen bitteren Geschmack im Mund. Sein Magen begann sich zu krampfen. Er sah die drei Jungen vor sich, die er und seine Kameraden an die Bäume gebunden hatten. Er sah ihre Rücken, sah das Blut fließen. Um Duane begann sich alles zu drehen, immer rascher und rascher und rascher; und im Zentrum, genau im Mittelpunkt, zehnmal größer als in Wirklichkeit, sah Duane, wie Forrest Kinselman den Gürtel sinken ließ und sich noch im Laufen übergab. Beide Hände an den Mund gepreßt und mit gesenktem Kopf taumelte Duane durch den Salon und in die Eingangshalle. Er versuchte, die Tür mit der Schulter aufzustoßen, ohne dabei den Boden unter den Füßen zu verlieren; er tastete nach der Klinke. Er schlitterte mehr, als er ging, über die Veranda, stolperte auf der Holztreppe, fiel über die Stufen, ließ sich auf den Boden rollen und erbrach sich, unfähig, den gallenbitteren Ausbruch länger zurückzuhalten. Während Hester sprach, begann der Admiral im Raum auf und ab zu gehen; er konnte nicht länger stillhalten, schritt von einem Ende des Salons zum anderen, auf und ab, auf und ab, vorbei an Doris Ashley, vorbei an Hester und Gerald. Hester verstummte. Sie ließ die Arme sinken und stand da, mit verschränkten Fingern wie eine Schülerin, die vor Klassenkameradinnen und Eltern ein Gedicht aufzusagen hat. Sie war am Ende angelangt und empfand wohltuende Leere. Der Admiral blieb vor dem großen, beleuchteten Globus neben seinem Schreibtisch stehen. »Weiter, Hester.« -510
»Ich habe alles gesagt«, murmelte sie. »Alles außer der Vorgeschichte«, bemerkte der Admiral. »Wie hat alles angefangen? Die vier Männer brachten Sie ins Krankenhaus, weil man Sie zusammengeschlagen hatte. Wer hat Sie zusammengeschlagen?« Der Admiral stand jetzt vor ihr. »Wer hat Sie zusammengeschlagen, Hester?« »Bryce Partridge.« Erst jetzt erkannte Hester, daß sie heute überhaupt nicht an Bryce gedacht hatte - weder im Gerichtssaal, als sie dem Richter alles zu erklären versuchte, noch hinterher im Geschworenenzimmer; auch nicht hier im Haus des Admirals, als sie allein in ihrem Schlafzimmer gewesen war, mit dem Filipino hinter der offenen Tür. Sie hatte Bryce vergessen. Und als sie sich jetzt an ihn erinnerte, bemühte sie sich auch schon wieder, ihn möglichst rasch von neuem zu vergessen. Er war Vergangenheit. »Wer?« fragte der Admiral. »Bryce Partridge«, wiederholte Hester. »Lieutenant Bryce Partridge. Er hat mich zusammengeschlagen. Er war mein Geliebter. Es war sein Baby.« Hester hörte ein ersticktes Geräusch und sah Gerald auf sich zukommen, als ob er in geschlossener Formation marschierte, aber er ging an ihr vorbei und aus dem Salon, während der Admiral langsam, jede Silbe betonend, wiederholte: »Lieutenant... Bryce... Partridge.« Der Admiral blickte über Hesters Schulter hinweg auf Doris Ashley, die im Lehnstuhl hing. Er schien Hester nicht zu sehen, und als sie bat: »Ich möchte in mein Zimmer zurück!«, nickte er bloß, ging auf Doris Ashley zu, blieb vor ihr stehen und blickte auf sie herab, als hätte er soeben einen häßlichen Fleck auf seinem Teppich entdeckt. »Sie haben mich ausgenutzt«, sagte der Admiral. »Sie haben uns alle ausgenutzt, die Bevölkerung dieser Insel, das Volk und die Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika. Sie haben ein ungeheures Verbrechen begangen, Doris. Sie sind die Niedertracht in Person.« Seine bitteren, -511
unbarmherzigen Vorwürfe rissen Doris Ashley aus dem Sessel. Sie war nicht länger das gebrochene Wesen, das Hesters Geständnis mitanhören mußte. Diese Doris Ashley hatte sie hinter sich gelassen. Sie fürchtete sich nicht vor Glenn Langdon. Doris Ashley hatte Admiräle kommen und gehen gesehen. Sie blickte ihn unerschrocken an. »Mir blieb keine andere Wahl.« »Man kann sich immer für die Wahrheit entscheiden«, sagte Glenn Langdon. »Erteilen Sie mir keine Lehren«, fuhr sie ihn an, als kanzle sie einen Dienstboten ab. »Meine Tochter lag im Krankenhaus und rang mit dem Tod. Ihr Leben war in Gefahr. Ihr Ruf stand auf dem Spiel. Ihre Zukunft! Sie beschuldigen mich, während Bryce Partridge nach wie vor frei herumläuft. In Wahrheit trägt er die Schuld; er ist das Ungeheuer in dieser Tragödie. Er hat mich zum Handeln gezwungen.« »Wie feige doch Verbrecher sind«, entgegnete der Admiral. »Alle haben sie eine Ausrede, ob sie nun in der Gosse leben oder auf Windward.« Noch nie hatte jemand mit solch haßerfüllter Abscheu zu Doris Ashley gesprochen. Sie konnte seine Verachtung förmlich spüren und vermochte nicht, sich ihr zu entziehen. Im Haus des Admirals steckte sie in einer Falle, der sie erst entkommen würde, sobald dieser Alptraum zu Ende war. »Ich bin eine Mutter! Ich habe gehandelt wie eine Mutter!« Sie schwor sich, es Langdon heimzuzahlen. »Ein Unschuldiger mußte sterben!« »Ein Unschuldiger hatte den Finger am Abzug«, erwiderte Doris Ashley. Jetzt mußte auch Gerald herhalten. »Gerald ist ein Held. Die Zeitungen ganz Amerikas haben ihn zum Helden erhoben. Senatoren stehen vor dem Weißen Haus und verkünden sein Lob. Sie können einen Helden nicht in den Dreck zerren! Sie am allerwenigsten! Vom ersten Tag an sind Sie für Gerald eingetreten. Wenn Sie sich jetzt auf die andere Seite schlagen, wenn Sie das auch nur versuchen wollten, werde ich beeiden, daß -512
Sie ein Lügner sind. Ich werde es mit Ihnen aufnehmen, Glenn, und es wird Aussage gegen Aussage stehen - in den Zeitungen, vor Gericht und in Washington.« Mit einem Mal fühlte sich Langdon seiner Offenheit und Rechtschaffenheit beraubt, der beiden Tugenden, die ihn getragen und vor allem Übel bewahrt hatten, seitdem er als Fähnrich seine Offizierslaufbahn begonnen hatte. Es war ihm in diesem Augenblick nicht möglich, noch länger mit Doris Ashley in ein und demselben Raum zu verweilen. »Wer hat bloß ein solches Ungeheuer in die Welt gesetzt?« stieß er hervor und verließ das Zimmer. Der Fahrer kam gerade noch zurecht, um dem Admiral die Wagentür zu öffnen. Er nahm Haltung an und blinzelte in die untergehende Sonne. Mann, o Mann, da mußte ja allerhand losgewesen sein! Kurz zuvor war Lieutenant Murdoch an der Limousine vorbeigewankt, als wäre er zu seiner Hinrichtung unterwegs. Doris Ashley hörte das Türenschlagen, als der Admiral abfuhr. Sie verließ den Salon, und als sie in die Eingangshalle kam, fragte einer der Filipinos: »Madame wünschen Tee?« Sie bemerkte ihn nicht. Sie sah sich nicht einmal nach ihm um und gab ihm keine Antwort. Sie ging zur Treppe und kletterte, sich am Handlauf stützend, in den zweiten Stock hinauf. Doris Ashley war überzeugt, daß sie auch diese Prüfung bestehen, daß sie triumphieren würde, allen Hindernissen zum Trotz. Hester saß, mit dem Gesicht zur Tür, auf dem Bett und ließ die Beine baumeln. Noch immer überrascht von der Erkenntnis, daß sie einen ganzen Tag verbracht hatte, ohne an Bryce zu denken, entdeckte sie nun, daß sie sich nicht einmal mehr sein Gesicht ins Gedächtnis rufen konnte. Sie vermochte sich seiner geschmeidigen, kraftvollen Gestalt zu entsinnen, seiner quirligen Bewegungen, aber wie aus weiter, weiter Ferne. Sein Bild verblaßte. Hester sah, wie er vor ihren Augen verschwand, -513
während sie versuchte, sich seiner Gesichtszüge, seines Wesens zu erinnern. Sie war ihn los, und nur Joseph Liliuohe in seinem Sarg auf dem Meeresboden war zurückgeblieben. »Ich bin da, Kleines«, sagte Doris Ashley. »Ich bin bei dir.« Sie setzte sich neben Hester aufs Bett. »Ich verzeihe dir«, log sie und konnte sich nicht länger der Wahrheit verschließen: Hester war eine Niete. So wie sie auf dem Bett saß und eines ihrer Bücher in der Hand hielt, sah sie zwar jung und gesund aus wie jede andere Frau, aber alles war Pose, Fassade, Maskerade. Doris Ashley erkannte, daß Hester geistig zurückgeblieben war. Sie brauchte ein Buch wie ein Kleinkind eine Rassel; Bücher waren Hesters Babyrasseln. Doris Ashleys Tochter, ihr eigen Fleisch und Blut, war nicht wie andere Menschen. Etwas in Preston Lord Ashleys Wesen, eine gewisse Schwäche, hatte sich auf seine Tochter übertragen. Hester war nicht in der Lage, selbst mit ihrem Leben fertigzuwerden. Doris Ashley wußte, daß sie Hester von nun an Tag für Tag beistehen mußte; aber sie wußte auch, daß sie nie allein bleiben würde. Sie küßte Hester auf die Stirn. »Wir werden in meinem Zimmer zu Abend essen, Kleines.« Doris Ashley sehnte sich nach einem Bad. Sie sehnt e sich danach, ihre Kleider abzulegen. Ein Bad würde sie neu beleben. Es würde ihr helfen, sich für den kommenden Tag zu rüsten. Zunächst und vor allem aber wußte Doris, daß sie sich in Sicherheit befand. Gerald und der Matrose mußten auch weiterhin den Mund halten, um ihren eigenen Hals zu retten. Glenn war machtlos. Doris Ashley hatte auch ihn zum Schweigen gebracht. Ein Admiral konnte sich weder gegen das amerikanische Volk noch gegen die Senatoren der Vereinigten Staaten stellen. In ihrem Schlafzimmer schlüpfte Doris Ashley aus ihren Kleidern. Sie trug Zigaretten und einen Aschenbecher ins Bad. Sie liebte es, in der Wanne zu liegen und eine Zigarette zu rauchen. Gerald hatte das Haus des Admirals verlassen. Er ging an Rekruten und Offizieren vorbei. Er wartete, wenn ein Wagen -514
seinen Weg kreuzte, und erkannte doch nichts und niemanden. Er achtete nicht auf die Stimmen, auf das Autohupen und das Motorengeräusch. In seinem Kopf, in seinem ganzen Körper war ein stetes Dröhnen. Es wurde lauter und immer lauter, ohne ein Crescendo zu erreichen. Er fühlte sich in einen Schraubstock gespannt, und obwohl sich dieser bei jedem Schritt fester zuzog, obwohl er ihm zusehends den Atem raubte, gab Gerald dem Druck nicht nach und ging entschlossen weiter. Seine Haltung und sein Gang waren über jeden Tadel erhaben. Und doch hielt sich Gerald für einen Verräter. Er hatte das Vertrauen der Navy und seines Landes getäuscht. Er war die Uniform nicht wert, die er trug. Alles, was Hester im Haus des Admirals gesagt hatte, jedes Wort schien gegen ihn gerichtet. Er hatte die Auspeitschung unschuldiger Männer zugelassen, und er hatte einen Unschuldigen getötet. Nur wenige Augenblicke waren vergangen, seitdem Gerald aus dem Haus des Admirals gestürzt war, und schon war er ein Ausgestoßener. Unter anständigen Menschen hatte er nichts mehr zu suchen, hatte dieses Recht aufgegeben, als er auf Windward den Schuß abfeuerte. Die U-Boot-Bunker lagen vor ihm, und bald erkannte er die Bluegill, die sich nur in den Augen derer, die auf ihr Dienst machten, von ihren Schwesternschiffen unterschied. Im schwindenden Tageslicht, das von der untergehenden Sonne purpurn eingefärbt war, sah Gerald einen Arbeitstrupp an Deck, achtern vom Kommandoturm. Die Offiziere und Mannschaften, die von Bord der Bluegill gingen, grüßten Gerald, und er grüßte zurück, er, der seine Kameraden durch seine Gegenwart in ihrer Mitte entehrt hatte. Er versuchte, sich an die ersten Monate auf dem U-Boot zu erinnern, an die stolzen und sorglosen Tage und Nächte auf Tauchstation, im Hafen und auf hoher See, aber es gelang ihm nicht. Das Gedröhn und Getöse in seinem Kopf wurde immer lauter. Gerald ging an Bord. Bryce Partridge saß allein, mit einer letzten Tasse Kaffee in der Offiziersmesse. Er war nicht mehr in den Klub gegangen, seit -515
man ihn nach der Schlägerei in der Kneipe aus dem Polizeipräsidium herausgeholt hatte. Die anderen Offiziere luden ihn nach wie vor zum täglichen Umtrunk ein, obwohl er stets dankend ablehnte. Er durfte nichts riskieren. Er war, mit Ausnahme des Wachhabenden, der letzte Offizier an Bord. Er würde warten, bis die anderen außer Sichtweite waren, und dann das U-Boot verlassen und nach Hause fahren. Bryce hörte Schritte und blickte von seiner Tasse hoch. »Gerald!« rief er und sprang auf. »Ja, gibt's denn so was!« Er war glücklich, ihn zu sehen. Daß Gerald hier war, auf der Bluegill, und nicht im Gerichtssaal, nicht in seiner Unterkunft auf dem Stützpunkt, konnte aus irgendwelchen unerfindlichen Gründen nur bedeuten, daß er frei war. »Gerald!« Bryce eilte um den Tisch herum und streckte Gerald die Hand entgegen. Gerald ließ den Arm hängen, aber Bryce packte seine Hand und drückte sie in aufrichtiger Freude. »Bist du wieder zurück? Ist alles vorüber?« fragte er. Gerald machte sich los. »Ich möchte mit dir reden«, sagte er, und Bryce wußte, daß es gleich dicke Luft geben würde, daß ihm nun all jene Probleme aufs Kreuz kamen, denen er seit jener Nacht im Whispering Inn so erfolgreich ausgewichen war. Bryce ging auf Distanz; er zog sich zurück, außer Reichweite, und noch weiter, bis wieder der Tisch zwischen ihnen stand. »Wir sind allein«, sagte er. »Nicht hier auf dem Schiff«, sagte Gerald. Bryce rührte sich nicht und beäugte ihn mißtrauisch. Womöglich war Gerald auch diesmal bewaffnet. Womöglich war er dumm genug, sich noch einmal hinreißen zu lassen. »Was gibt es denn?« »Darüber können wir an Land reden«, sagte Gerald. »Du hast Ausgang. Du bist nicht der Wachhabende, Tim Cannon hat Dienst.« »Das stimmt, aber willst du einem alten Kumpel nicht doch verraten, was am Kochen ist?« fragte Bryce. »Wie wäre es zuerst mit einer Tasse...« -516
»Nein!« fiel Gerald ihm ins Wort, und lauter: »Die Bluegill hat nichts mit der Sache zu tun. Ich habe schon genug Dreck auf die Bluegill geladen!« »Bin schon unterwegs«, sagte Bryce. Er hätte nicht widersprechen sollen. Er wünschte sich nur weit, weit fort. »Ich hole bloß noch meine Jacke und meine Mütze, alter Freund.« Gerald wandte sich ab, verließ die Messe und wartete an der Leiter auf Bryce. »Geh vor«, sagte Bryce lächelnd und hoffte, daß Gerald ruhig bleiben würde, bis sie für andere Ohren außer Hörweite waren. Bryce hielt sich auf der Leiter dicht hinter Gerald und streifte dabei wie zufällig dessen Hüfte. »Entschuldige.« Wenigstens war Gerald nicht bewaffnet. Während sie durch den Gang gingen, versuchte Bryce sich einzureden, daß er sich geirrt haben mußte. Gerald wußte von nichts. Gerald war immer ein komischer Vogel gewesen, viel zu nobel für die Welt, in der er lebte, für jede Welt. Er war zu stur, zu ernsthaft, viel zu ehrlich. Er steckte voller... voller Grundsätze. Bei ihm mußte immer alles seine Ordnung haben. Vielleicht wollte Gerald wirklich bloß mit ihm unter vier Augen reden, einfach drauflosreden, ihm nach all den Tagen in diesem Goldfischglas das Herz ausschütten. Sie erreichten das Deck und stiegen auf den Pier hinunter. »Wir unterhalten uns am besten in meinem Wagen, alter Freund!« sagte Bryce und versuchte es wieder mit einem Lächeln. Schulter an Schulter verließen sie den Pier. Nur noch die Hälfte der Sonnenscheibe ragte aus dem Meer und färbte das Wasser am Horizont bis zum Strand blutig rot. Der See gegenüber konnte Bryce nicht gleichgültig bleiben. Er war darauf vorbereitet, zu jeder Tageszeit und bei jedem Wetter loszufahren. Jetzt, bei Sonnenuntergang, schien die Luft über dem Wasser im Widerschein des lebhaft roten Lichts zu zittern. »Wäre es nicht schön, jetzt auszulaufen?« sagte Bryce. Als Gerald darauf nicht reagierte, ja nicht einmal auf die See hinausblickte, gab Bryce alle Hoffnung auf, einer Konfrontation entgehen zu können. Viel -517
zu rasch hatten sie den Wagen erreicht. Bryce zog sich hinter das Auto zurück, um etwas Abstand von Gerald zu gewinnen. »Da wären wir, alter Freund. Mutterseelenallein.« »Aber diesmal hast du es mit mir zu tun und nicht mit meiner Frau.« Das war's. Nun hatte Bryce also endlich die ganze dreckige Geschichte auszubaden. »Diesmal kannst du mich zusammenschlagen und nicht meine Frau.« Gerald nahm seine Mütze ab und legte sie auf den Kofferraum des Wagens. Er dachte daran, wie Bryce ihm nach der Demütigung im Offiziersklub geholfen hatte. Aber jetzt mußte er etwas unternehmen. Er konnte Bryce doch nicht zum Duell fordern. Er konnte nicht wieder eine Pistole ziehen und noch einmal einen Menschen erschießen, nicht einmal Bryce Partridge. »Mein Freund, Bryce Partridge«, sagte er laut. »Bin ich immer gewesen«, sagte Bryce. »Bin ich immer noch, ehrlich, Gerald.« »Es war dein Kind!« sagte Gerald und knöpfte sich die Jacke auf. »Du Schwein! Du Dreckskerl!« Er warf die Jacke auf den Kofferraum und brüllte: »Du Hurensohn!« Gerald sprang auf ihn zu und holte voll aus, aber Bryce war rechtzeitig zurückgewichen. »He!« sagte Bryce. »Du hast gesagt, wir wollen miteinander reden. Also laß uns reden.« Wieder wollte Gerald zuschlagen, wieder war Bryce außer Reichweite. »Hör doch auf!« Mit beiden Armen schlug Gerald blindlings um sich - und traf ins Leere, denn Bryce war hinter seinem Rücken. »Um Himmels willen, Gerald! Mach Schluß!« beschwor ihn Bryce. »Was bist du für ein Mann?« brüllte Gerald. »Kannst du nur Frauen zusammenschlagen?« Erneut stürmte er auf ihn los, aber Bryce pendelte den Angriff aus und duckte den Kopf vor Geralds wilden, unbeherrschten Schwingern; und als Gerald, mitgerissen von der Wucht seiner Schläge, an ihm vorbeistürzte, streckte -518
Bryce den linken Fuß aus und stellte ihm ein Bein. Gerald taumelte; mit ausgebreiteten Armen krachte er zu Boden und landete, völlig verwirrt, auf Händen und Knien im Schmutz. »Ich hab dich gewarnt«, rief Bryce. Gerald rappelte sich auf die Knie. »Damit beweist du doch nichts. Steh auf, Gerald, und ich fahre dich nach Pearl ins Quartier zurück.« Gerald ging ihn geduckt, wie ein Rugbyspieler, an, aber Bryce sprang zur Seite, und Gerald krachte mit der Schulter auf den Boden. So fand sie der Suchscheinwerfer. Sein Licht war stark und blendete. Bryce mußte schützend die Hand vor die Augen legen, als der Scheinwerfer sie festnagelte und er den Wagen näherkommen hörte. Es war ein Jeep der Küstenwache, und der Scheinwerfer, der die Dämmerung zum Mittag machte, war neben dem Fenster des Fahrers montiert. Mit gesenktem Kopf, um dem grellen Licht zu entgehen, richtete Gerald sich auf. Er hörte eine Stimme: »Halt! Stehenbleiben, Partridge!« Der Lichtkegel schwenkte auf Bryces Auto zu, und sie sahen, wie ein Offizier aus dem Fahrzeug stieg. Sie sahen die drei fetten Streifen auf den Schulterklappen des Mannes und nahmen sofort Haltung an. Schon stand Jimmy Saunders zwischen ihnen. »Sie können Ihre Fäuste wohl nie unter Kontrolle halten, was, Partridge?« »Sir, ich...« begann Bryce, aber Saunders ließ ihn nicht zu Wort kommen. »Auf dem Stützpunkt haben wir auch eine Turnhalle mit einem Boxring«, sagte Saunders. »Warum haben Sie sich dort nie blicken lassen? Dort könnten Sie sich nach Herzenslust betätigen. Das garantiere ich Ihne n persönlich. Ohne Ansehen des Rangunterschiedes, Sie Muskelprotz, Sie und ich allein«, sagte Saunders. »Sir, ich habe ihn nicht angegriffen«, sagte Bryce. »Das stimmt, Sir«, bestätigte Gerald. »Er hat mich nicht geschlagen. Ich habe ihn angegriffen.« Alle beide widerten Saunders an. »Sie, Lieutenant, dürfen Ihr Quartier nicht verlassen«, sagte er zu Gerald. »Sie stehen wegen Mord vor -519
Gericht. Was, zum Teufel, haben Sie hier zu suchen?« Sein Arm schoß vor; er deutete auf den Streifenwagen. »Rein da!« Gerald langte nach Uniformjacke und Mütze, ging zum Auto und öffnete die Hintertür. »Steigen Sie ein, Partridge«, schnauzte Saunders. »Da ist mein Wagen, Sir«, sagte Bryce. »Auf den Vordersitz, damit ich Sie im Auge behalten kann«, befahl Saunders. »Sie und Ihre vielbeschäftigten Fäuste.« Saunders fuhr zum Quartier der unverheirateten Offiziere. »Es tut mir leid, Sir«, sagte Gerald, als er die Wagentür öffnete. Saunders legte den Gang ein. Noch ehe die Tür zugefallen war, spritzte der Wagen davon. Gerald setzte sich die Mütze auf und schlüpfte in die Uniformjacke. Seine Hände waren schmutzig und die Haut vom Sturz abgeschürft. Automatisch zupfte er an den Manschetten. Er hörte Stimmen, sprang in den Schatten und preßte sich an die Wand. Drei Männer kamen aus dem Gebäude. Als sie gegangen waren und es wieder still wurde, schlich sich Gerald ins Haus und eilte durch die Gänge in sein Zimmer. Er schloß die Tür ab und blieb im Dunkel stehen. Gerne hätte er das schmähliche Scheitern seiner Auseinandersetzung mit Bryce verdrängt und das quälende Wissen um Hesters Geständnis vergessen. Aber er konnte nichts aus seinem Bewußtsein löschen. In seinem dunklen Zimmer sah er Hester und Bryce vereint. Ihre nackten Körper zuckten. Er sah die vier jungen Männer, die Hester beschuld igt hatte, in endloser Prozession an ihm vorüberziehen. Und er sah, ohne dem Anblick entkommen zu können, Joseph Liliuohe auf dem Stuhl sitzen und unter seinem Schuß zusammensinken. Gerald stöhnte und tastete nach dem Lichtschalter. Er fiel auf sein Bett, lag auf dem Rücken und starrte zur Decke, wie betäubt von dem, was ihm für alle Zeit bevorstand. Vom Quartier der unverheirateten Offiziere fuhr Jimmy Saunders zur Kommandostelle des Admirals. »Endstation«, sagte -520
er und stellte den Motor ab. Bryce rührte sich nicht. »Was hat das zu bedeuten, Sir? Bin ich festgenommen?« Saunders hielt die Tür auf. »Dort hinein, Partridge.« »Ich habe ein Recht auf Auskunft, Sir«, sagte Bryce. »Ich habe nichts verbrochen. Ich habe gegen keine Dienstvorschrift verstoßen. Ich habe mich nicht einmal verteidigt, als Lieutenant Murdoch mich angriff.« Saunders stieg aus, ging um den Wagen herum und öffnete die Tür zum Beifahrersitz. »Der Admiral wünscht Sie zu sprechen«, sagte er. Noch nie hatte Bryce solche Angst gehabt. Sie durchflutete ihn, laugte ihn aus. Einen Augenblick lang konnte er sich nicht rühren. Nur Saunders Drängen rettete ihn. »Machen Sie schon, Sie Kraftmeier.« Bryce sehnte sich danach, dem Commander seine Faust in den Wanst zu jagen, ihn direkt unter dem Herzen zu treffen. Dieses impulsive Verlangen wirkte für eine kleine Weile der lähmenden Furcht entgegen, in die Bryce sich verstrickt hatte. Er verwünschte sich selbst und riet sich, nachzudenken, genau zu überlegen. Der Admiral hatte ihn rufen lassen, ihn, einen U-Boot-Lieutenant, dessen Existenz er normalerweise nicht einmal zur Kenntnis genommen hätte. Das bedeutete, daß der Admiral wußte, was Gerald wußte. Hester war im Haus des Admirals untergebracht. Die kleine Schlampe hatte ihm vor Zeugen das Grab geschaufelt! Warum? Warum gerade jetzt? Seit September hatte sie geschwiegen. Etwas hatte sie zum Reden gebracht. Aber was? Warum hatte sie jetzt alles ausgeplaudert? Ruhig bleiben, ruhig, sagte sich Bryce. Das Grübeln war bloße Zeitverschwendung. Im Gebäude warteten zwei Männer der Seepolizei. Der eine schloß das Tor auf, und beide nahmen Haltung an, als Bryce und Saunders eintraten. Sie gingen durch die Halle auf die schwach beleuchtete Treppe zu. Streng dein Hirn an, Mann! Er würde alles abstreiten. Dann -521
stand Hesters Aussage gegen seine, die Aussage eines rappeligen Flittchens. Das wußten doch alle, daß die Schlampe einen Hau hatte. Im zweiten Stockwerk stand eine Tür offen, ein schmaler Lichtstreifen fiel auf den Gang. Locker bleiben! sagte er sich. Und dann: Ich bin ja verrückt! Ich muß zum Admiral! Nicht aufgeben! Wann hast du je aufgegeben? Im Vorraum saß der Erste Verwaltungsoffizier an der Schreibmaschine. Saunders führte Bryce zu einer Tür und klopfte an. Bryce hörte den Admiral. Saunders öffnete die Tür. Der Admiral thronte hinter seinem Schreibtisch. Während er Haltung annahm, schickte Bryce ein stilles Stoßgebet zum Himmel. »Lieutenant Bryce Partridge, Sir«, meldete er sich und salutierte. Der Admiral ließ ihn nicht rühren. »Sie nehmen Ihren Abschied, Partridge«, sagte er. »Ihre Entlassungspapiere werden schon ausgefertigt.« Es verschlug Bryce den Atem, und er empfand eine ungeheure Leere. »Meinen... Abschied?« wiederholte er mit brüchiger Stimme, so als ob es Worte in einer fremden Sprache wären. »Sie verlassen die Navy«, sagte der Admiral. »Sie beenden Ihren Dienst.« Bryce hörte den Admiral, aber er wollte, er konnte es nicht glauben. »Nein, Sir«, sagte er und lauter: »Nein, Sir. Verzeihen Sie, Sir. Ich bitte um Vergebung, Sir, aber ich habe meinen Abschied nicht eingereicht.« »Das habe ich für Sie getan.« Der Admiral ließ ihn Höllenqualen leiden. »Ich möchte die Navy nicht verlassen, Sir«, sagte Bryce. Jesus Christus, was wollte man ihm da antun? »Niemals, Sir«, sagte er. »Ich meine... seit meinem Eintritt... seit meinem Eintritt in die Marineakademie, Sir. Und schon zuvor. Noch ehe ich auf die Akademie ging, Sir, habe ich gewußt: Ich gehöre zur Navy.« Er hätte über den Schreibtisch klettern und dem Admiral ins Ohr schreien mögen. »Ich bin für die Navy geboren, Sir!« -522
Hilfesuchend wandte er sich an Saunders. Der Commander stand da, als wollte er ihm die Schlinge um den Hals legen. »Ich kann doch nicht meinen Abschied nehmen!« »Sie sind gerade dabei«, gab der Admiral kühl zurück. Bryce hätte dem alten Scheißer am liebsten die Fäuste ins Gesicht geknallt. Da saß er, wie Gott der Allmächtige, und sagte: Deine Stunde ist gekommen. Nein, seine Stunde war noch längst nicht gekommen! »Warum sollte ich meinen Abschied nehmen? Und mit welcher Begründung?« »Hester Murdoch hat uns alles gesagt«, antwortete der Admiral. »Sie lügt!« Bryce vergaß seine Haltung und stürzte sich auf den Schreibtisch. »Sie lügt!« Der Admiral erhob sich. »Woher wissen Sie, was sie uns gesagt hat?« Plötzlich erstarb jeder Laut. Es herrschte völlige Stille - bis der Admiral sagte: »Sie dreckiger Hund! Mir ist der ganze Abschaum der Welt begegnet, aber Sie stehen tausend Fuß unter allem. Wenn ich könnte, ich würde Sie eigenhändig aufknüpfen!« Es klopfte an die Tür; der Verwaltungsoffizier trat ein mit einigen Papieren, legte sie auf den Schreibtisch und ging. Bryce blickte dem Mann nach, als könnte dieser ihm einen Fluchtweg zeigen. Als sich die Tür wieder schloß, wich Bryce einen Schritt zurück. »Ich spiele da nicht mit«, sagte er. »Sie können mich nicht dazu zwingen! Sie sind nicht die höchste Instanz. Ich werde mich an das oberste Flottenkommando wenden. Ich gehe zum Marineminister. Ich bin nicht bereit, meinen Abschied zu nehmen!« Der Admiral nahm die Blätter vom Tisch, hielt sie mit der einen Hand fest und zog mit der anderen mehrere Kohlepapiere heraus. »Sie können mich hier nicht festhalten!« rief Bryce. »Versuchen Sie doch zu gehen«, sagte der Admiral. Er griff zu dem Federhalter, der in der Marmorgarnitur steckte. »Und ich sage Ihnen: Ich werde nicht meinen Abschied -523
nehmen! Niemals! Ich verlange, vor ein Kriegsgericht gestellt zu werden.« »Die Navy hat mit Ihren Verbrechen nichts zu schaffen«, entgegnete der Admiral. »Das stimmt«, sagte Bryce. »Da haben Sie verdammt recht! Und deshalb werde ich auch nicht meinen Abschied nehmen.« Der Admiral knallte die Feder auf den Tisch und deutete mit dem Finger auf Bryce. »Jetzt reicht's mir!« sagte er. »Sie blutrünstiges Schwein haben zu büßen für das, was Sie Hester und diesem Zivilisten angetan haben. Ich übergebe Sie nicht der Polizei, weil ich selbst in der Falle sitze«, räumte der Admiral mit der für ihn typischen Offenheit ein. »Wir alle sitzen durch diesen Prozeß in der Falle.« »Aber ich nicht«, konterte Bryce und klammerte sich an den Ausweg, den der Admiral ihm gewiesen hatte. »Ich nicht«, sagte er zu Saunders. »Ich werde Captain Maddox den Rest der Geschichte erzählen. Er soll die Wahrheit über Hester und ihre Vergewaltigung erfahren.« »Sie sind durch und durch verrottet«, sagte der Admiral. »Jetzt glauben Sie, mich in der Hand zu haben. Irrtum, mein Lieber. Ich habe Sie in der Hand. Gehen Sie doch zu Maddox. Dann landen Sie im Gefängnis. Dann brauchen Sie auch nicht Ihren Abschied zu nehmen, dann werden Sie wegen Wehrunwürdigkeit aus dem Dienst entlassen.« Der Admiral setzte sich wieder. »Meinetwegen können Sie jetzt gehen.« Bryce klammerte sich mit beiden Händen an den Tisch wie an den Schandeckel eines sinkenden Schiffes. »Admiral! Sir!« Er richtete sich auf und nahm Haltung an. Er schwitzte am ganzen Körper. Schweiß verklebte ihm die Augen. Er hätte sich gerne über das Gesicht gewischt, aber jetzt kämpfte er ums Überleben. »Setzen Sie mich im Rang zurück, Sir. Bitte, lassen Sie mich noch einmal von ganz unten anfangen. Ich werde mich hocharbeiten, Sir. Ich werde so leben und schuften, daß Sie und die ganze Navy auf mich stolz sein können! Sie werden sehen, Sir! Ich werde es beweisen, -524
Admiral!« Ohne einen Augenblick zu zögern, sagte der Admiral: »Sie können auf den Inseln bleiben oder in die Staaten zurückkehren. Sollten Sie es vorziehen, zurückzukehren, besorgt die Navy für Sie, Ihre Frau und Ihr persönliches Eigentum ein Fahrzeug, und die Überfahrt wird auch übernommen.« Der Admiral hielt ihm die Feder hin. »Unterzeichnen Sie alle fünf Ausfertigunge n mit Namen, Dienstgrad und Dienstnummer.« Bryce fuhr sich jetzt doch über das Gesicht. Seine Hand war naß. Er griff nach seinem Taschentuch und knetete es mit beiden Händen. Der Admiral hielt ihm die Feder hin. Bryce rieb seine Hände ins Taschentuch. Er sah weder den Admiral noch dessen Hand, nur die Feder. Als er sich über den Tisch beugte, um das erste Blatt zu unterschreiben, mit dem er seinen Abschied von der US-Navy nahm, versank der Raum um ihn in Dunkelheit. Kaum hatte der Gerichtsdiener am folgenden Morgen, Mittwoch, die Tür zum Geschworenenzimmer geschlossen, als schon einer das Wort ergriff: »Wir wollen nicht denselben Fehler begehen wie die Burschen im ersten Prozeß. Hätten sie diesen braunen Hurensohn gleich ins Gefängnis gesteckt, wo er hingehörte, müßten wir jetzt nicht hier sitzen. Dann wäre dem Lieutenant das ganze Elend erspart geblieben. Und seiner armen Frau. Und ihrer armen Mutter. Ich weiß, was das bedeutet. Ich habe auch eine Tochter.« Theodore Okohami war als letzter eingetreten. Er war zu weit von den anderen entfernt, um den Sprecher erkennen zu können. Noch hatte niemand Platz genommen, alles drängte sich an einem Ende des Tisches zusammen. »Nicht so hastig!« rief Oscar Sudeith, der Obmann. »Nur immer mit der Ruhe, okay?« In der Hand hielt er das Hämmerchen, das ihm der Gerichtsdiener gegeben hatte. »Alles muß seine Ordnung haben. Wir sollten nichts überstürzen. Jetzt wollen wir uns erst einmal alle setzen, -525
okay?« Ein baumlanger, spindeldürrer Mann mit einem großen Adamsapfel stach mit dem Finger nach dem Obmann. »Kommandieren Sie mich nicht herum, Freundchen!« rief er. Theodore Okohami erkannte die Stimme wieder, die er zuvor gehört hatte. Donald Cedarholm. Ein Eismann, der vom ständigen Schleppen der Eisblöcke in Läden, Wohnungen und Keller, treppauf, treppab, gebückt ging. Sein Haar war so kurz geschnitten, als hätte man ihm den Schädel rasiert. »Setzen wir uns doch«, sagte der Sprecher. »Jeder sucht sich einen Platz.« Donald Cedarholm schob sich einen Stuhl in der Mitte des Tisches zurecht, blieb aber dahinter stehen. Er trommelte mit den Fingerknöcheln auf eine Dose mit Kautabak, hob dann den Deckel ab, fischte mit Daumen und Zeigefinger eine Prise heraus und schob sie sich unter die Zunge. »Die Sache muß bloß gut aussehen«, sagte Cedarholm. »Wir dürfen nicht gleich wieder in den Saal zurück. Da drüben ist wahrscheinlich noch alles gerammelt voll.« Er grinste, wobei seine Unterlippe vortrat. Sein Schädel erinnerte an einen Totenkopf. »Die Gesichter möchte ich sehen!« Bruce Tanaka, ein Mann um die sechzig, nahm Okohami am Arm. »Dort sind noch zwei Plätze frei«, sagte er. Sie setzten sich an das andere Ende des Tisches zu Ben Hawane. Ihnen gegenüber wandte sich Cedarholm an den Sprecher. »Machen Sie schon, Mann!« »Ich möchte zunächst bemerken, daß ich kein Fachmann bin«, sagte der Obmann. »Ich bin zum ersten Mal Geschworener; für mich ist das alles hier neu.« »Aber Sie können doch zählen, oder?« warf Cedarholm ein. »Wir heben die Hand, Sie zählen bis zwölf, und die Sache ist erledigt.« »So einfach ist das wieder nicht«, widersprach der Obmann. »Sie haben gehört, was der Richter sagte. Er...« -526
»Er?« schnitt Cedarholm ihm das Wort ab. »Er ist nicht da. Er stimmt nicht mit.« Okohami wandte sich an Bruce Tanaka und flüsterte ihm zu: »Warum ist der denn so wütend?« Tanaka legte den Finger auf die Lippen. »Wir müssen uns an die Vorschriften halten«, sagte der Obmann. »Die Vorschriften lauten: Wir stimmen ab«, sagte Cedarholm und blickte sich nach allen Seiten um. »So ist es!« bestätigte der Mann zu seiner Linken. »Wie dem auch sei«, sagte der Obmann. »Sie haben ebenso gut wie ich gehört, was der Richter sagte.« Cedarholm ließ den rechten Arm auf die Tischplatte sausen und richtete den Zeigefinger auf den Sprecher. »Sie haben Ihre Meinung geäußert, jetzt bin ich dran. Ich werde dem amerikanischen Volk und dem Kongreß der Vereinigten Staaten nicht die lange Nase zeigen. Und das amerikanische Volk verlangt: Schickt die Frau und die beiden Burschen nach Hause!« »Das haben Sie in der Zeitung gelesen!« rief einer, und ein anderer Geschworener sagte: »Wir sollten doch keine Zeitungen lesen!« Cedarholm grinste genüßlich. »Sie verraten mich nicht und ich verrate Sie nicht. Ich bin Amerikaner, und ich tue, was mein Land von mir erwartet.« »Der Richter hat uns angewiesen, uns an die Beweise zu halten«, warf der Sprecher ein. »Dazu, sagte er, seien wir verpflichtet.« »Ich habe seinen Sermon gehört«, entgegnete Cedarholm. »Der Lieutenant hat nichts weiter getan, als es dem Hurensohn heimzuzahlen. Er hat die Frau des Lieutenants vergewaltigt.« »O nein!« entfuhr es Okohami. Cedarholm starrte ihn quer über den Tisch an. »O doch!« rief er. »Er hat sie vergewaltigt. Das hat er selbst zugegeben!« Theodore Okohami wußte, daß er jetzt reden mußte. »Lieutenant Murdoch hat es gegenüber seinem Anwalt behauptet. Joseph Liliuohe selbst hat es nie zugegeben.« -527
»Und wem wollen Sie nun glauben?« rief Cedarholm. Er hob den Arm, als holte er zum Schlag aus. »Sie haben hier als Geschworener gar nichts zu suchen«, sagte er. »Sie und Ihresgleichen haben in einem ordentlichen Gericht überhaupt nichts zu suchen. Da liegt der Hase im Pfeffer!« »Hier sind wir mit Ihnen gleichberechtigt!« gab Okohami zurück. Bruce Tanaka zupfte ihn am Ärmel. »Wir vertreiben uns die Zeit nicht mit Frauenschänderei!« brüllte der Eismann los. »Bitte senken Sie Ihre Stimme«, ersuchte der Obmann. »Keiner von uns schändet Frauen«, sagte Okohami und stieß Bruce Tanakas Hand zur Seite. Cedarholm schob seinen Stuhl zurück. »Sie stellen also einen Offizier der US-Navy als Lügner hin?« »Joseph Liliuohe hat nie unter Eid ausgesagt, jemanden vergewaltigt zu haben«, beharrte Okohami. Cedarholm explodierte. Er sprang auf, stieß seinen Stuhl zur Seite und eilte mit Riesenschritten auf das Tischende zu. Der Sprecher hämmerte auf den Tisch und bat um Ruhe. Theodore Okohami wollte flüchten, wußte aber nicht, wohin. Er dachte daran, unter den Tisch zu kriechen, schämte sich aber zugleich dieser feigen Regung. Er sah den baumlangen Menschen mit den großen Armen auf sich zukommen, vermochte sich aber nicht zu rühren. Er saß da wie gelähmt. »Hören Sie auf!« sagte Bruce Tanaka. »Sie sind hier nicht in einem Hinterhof.« Er erhob sich von seinem Platz, um sich Cedarholm in den Weg zu stellen. Er war klein und schmächtig und beinahe doppelt so alt wie der Eismann. »Kommen Sie uns nicht näher! Bleiben Sie, wo Sie sind.« »Halt's Maul!« brüllte Cedarholm. »Ich hole den Gerichtsdiener«, rief der Sprecher. Cedarholm langte nach Tanakas Stuhl und schleuderte ihn zur Seite. Er wollte auch Bruce Tanaka zur Seite schleudern, aber der sprang -528
hoch wie ein Terrier nach einem Wurfholz und klammerte sich mit beiden Händen an den Arm des Eismanns. Cedarholm holte weit aus, schwang den Arm und schmetterte Tanaka gegen die Wand. Der Sprecher lief zur Tür. Bruce Tanaka krachte mit ausgebreiteten Armen gegen das Mauerwerk. Cedarholms Rechte, die Tonnen und Tonnen von Eisblöcken gehoben hatte, ballte sich zur Faust; er holte weit aus und traf Tanaka voll unter das Kinn. Unter der Wucht des Schlages flog Tanaka in die Ecke, wo er langsam an der Wand entlang zu Boden glitt und wie eine vergossene Flüssigkeit liegenblieb. »Warum haben Sie ihn geschlagen?« entrüstete sich ein Geschworener. »Sie hätten ihn nicht schlagen dürfen!« sagte ein anderer. »Sie haben ihn umgebracht!« befürchtete ein dritter. »Ich habe niemanden umgebracht«, sagte Cedarholm. Obwohl Okohami vor Angst beinahe die Besinnung verlor, stellte er sich ihm entgegen. »Sie sind wie der Lieutenant«, sagte er. Ein Geschworener riß ihn zurück. »Lassen Sie sich nicht mit ihm ein!« warnte er. »Halten Sie sich raus!« riet ein anderer. Okohami hörte nicht auf sie. »Sie sind wie er«, sagte er. »Sie glauben, Sie können auf uns herumtrampeln.« Ben Hawane kniete neben Tanaka, ein Taschentuch in den Händen. »Er braucht einen Arzt«, sagte er. »Sie können nicht auf uns herumtrampeln«, wiederholte Okohami, als der Gerichtsdiener durch die Tür kam. Er sah die Männer an einem Ende des Tisches, sah den baumlangen Kerl mit dem rasierten Schädel und sah das blutgetränkte Taschentuch, das Ben Hawane Tanaka auf das Gesicht preßte. »Machen Sie Platz!« rief der Gerichtsdiener, lief zum Tischende und hockte sich vor Tanaka nieder. Blut lief aus der Wunde; der Kieferknochen war zertrümmert. »Du heiliger...« stammelte er. »Lassen Sie einen Krankenwagen kommen, schnell!« wies er den Obmann an. »Beeilen Sie sich! Und jemand -529
soll noch einen Gerichtsdiener... Nein! Einer soll nachsehen, ob der Richter noch in seinem Zimmer, ob er noch im Gericht ist. Laufen Sie! Machen Sie schon!« Der Gerichtsdiener blickte auf. »Wer war der Schläger?« Niemand sprach. Cedarholm bückte sich und stellte Tanakas Stuhl wieder auf die Beine. »Der da«, sagte Theodore Okohami. »Er hat es getan.« Der Gerichtsdiener musterte den Eismann verächtlich. »Sagen Sie bloß nicht, Sie hätten in Notwehr gehandelt. Sie sind dreimal größer als er. Und beten Sie zu Gott, Freundchen. Bis jetzt ist es nur Körperverletzung. Los, halten Sie Ihre Hände so, daß ich sie sehen kann! Sie sind festgenommen.« Der Gerichtsdiener trat einen Schritt zurück und bedeutete Cedarholm zu gehen. Doch schon kam Richter Kesselring in Hemdsärmeln, gefolgt vom Obmann und einem anderen Gerichtsdiener, herbeigestürzt. Er eilte direkt auf Tanaka zu. »Guter Gott!« Dann schwang er herum und ging auf Cedarho lm zu. Geoffrey Kesselring hatte alle Mühe, sich zu beherrschen. Es fehlte nicht viel, und er hätte dem Geschworenen einen Faustschlag versetzt. »Warum haben Sie das getan?« fragte der Richter und fragte nur, um sich zu beruhigen. Cedarholm wies auf Okohami. »Der hat angefangen«, sagte er und löste damit eine Welle des Protests aus. »Gerichtsdiener, bringen Sie den Mann in den Verhandlungssaal. Er ist verhaftet. Ich werde Anklage gegen ihn erheben«, befahl der Richter. »Und lassen Sie einen Pflichtverteidiger kommen. Er wird nicht gegen Kaution freigelassen.« Kesselring wandte sich an den anderen Gerichtsdiener. »Bestellen Sie unverzüglich die ersten beiden Ersatzmänner, damit die Geschworenen wieder vollzählig sind.« Er blickte sich in der Runde um. »Sie bleiben hier. Sie sind von Ihren Pflichten nicht entbunden.« Theodore Okohami stand neben dem reglosen, zusammengekrümmten Körper, der wie ein achtlos zerbrochenes Spielzeug in der Ecke lag. Beim Anblick des vielen Blutes -530
schwindelte ihm, aber er kniete neben Bruce Tanaka nieder. Er konnte ihn nicht einfach so liegenlassen. »Sie wollen uns alle umbringen!« flüsterte Okohami. Einige Stunden später, in der Abenddämmerung, fuhr Maddox, einsamen und trüben Gedanken nachhängend, heimwärts zu seinem Haus in den Bergen. Er fuhr langsam. Er hatte das Präsidium verlassen, um irgendwo unterwegs in einem kleinen stillen Lokal zu Abend zu essen, hatte sich aber schon wieder anders entschlossen, noch ehe er den Parkplatz verließ. Eine ganze Mahlzeit konnte er nicht verkraften. Er würde daheim nur eine Kleinigkeit zu sich nehmen. Maddox hielt an einer Ampel. Der Gedanke, einmal mehr eine Büchse zu öffnen, ihren Inhalt auf einen Teller zu leeren und das Zeug in der Küche, im Stehen, herunterzuschlingen, nur um den Magen zu befriedigen, ließ ihn schaudern. Nein, er würde ein Bad nehmen, sich umkleiden und zum Abendessen in die Stadt zurückfahren. Der Gedanke war bestechend - für einige Minuten, dann ließ er ihn wieder fallen. Maddox beschloß, sich Urlaub zu nehmen. Einen Monat. Er würde in die Staaten fahren. Nein, nicht in die Staaten. Dort war Lenore. Nach China. Nach China und Japan. Maddox verwarf den Gedanken an einen Urlaub. Was gab es dort schon zu sehen, das er nicht ebensogut in Honolulu sehen konnte? Er hatte schon immer mit Chinesen und Japanern zusammengelebt. Maddox nahm seinen Hut ab und legte den Arm auf die Lehne des Beifahrersitzes. Sofort kam ihm wieder Lenore in den Sinn. Er erinnerte sich daran, wie sie neben ihm gesessen hatte, ihren Kopf an seiner Schulter, und er konnte förmlich den Duft ihres Parfüms riechen. Er stöhnte; es war ein leises, kehliges Stöhnen, das Bekenntnis eines Leids, das sich nicht länger unterdrücken ließ. Maddox trat das Gaspedal durch. Plötzlich konnte er es kaum erwarten, sein Haus zu erreichen - als könnte er alles hinter sich lassen, wenn er nur schnell aus dem Wagen stieg. Er bog in die Auffahrt ein, beließ den Hut auf dem Sitz und ging auf das dunkle Haus zu, das einzige Haus in der Nachbarschaft, in dem keine -531
Lichter brannten. Er ließ die Tür weit offen, wie immer, wenn er heimkam, und blieb auf der Schwelle wie angewurzelt stehen. Wieder meinte er, ihr Parfüm riechen zu können. Maddox erschrak. Etwas stimmte nicht mit ihm. Er tastete nach dem Lichtschalter, knipste die Lampe an und griff, auf der Suche nach Halt, hinter sich ins Leere. Da saß Lenore, keine zehn Schritte von ihm entfernt. Sie trug das braune Kleid, das sie bei ihrer ersten Begegnung auf dem Schiff und später bei ihrem gemeinsamen Mittagessen getragen hatte. Sie hatte auch das weiße Tuch um den Hals geschlungen. Ein beigefarbener Sweater lag über ihren Schultern. Im Haar trug sie einen Stirnreifen aus Schildpatt. Sie war schöner, als er sie je gesehen hatte. »Nicht böse sein«, bat sie. »Schon als ich hereinkam, habe ich dein Parfüm erkannt«, sagte Maddox. »In einem verlassenen Haus. Ich dachte schon, ich hätte den Verstand verloren.« Er blieb an der Tür stehen. »Ich erinnerte mich, daß du nie absperrst«, sagte Lenore. »Ich wollte dich überraschen.« »Das ist dir auch gelungen«, sagte Maddox. Er zog sich die Jacke aus und streifte dabei mit der Hand seine Pistole. Er warf die Jacke auf einen Stuhl und zerrte an der Halfter herum, die sich in der Eile nicht lösen ließ. Die blanke Waffe machte ihn wütend. »Du bist verärgert«, sagte Lenore. »Ich habe einen schrecklichen Fehler gemacht, nicht wahr?« Maddox ließ sich auf einen Stuhl fallen und schob die Halfter in die Jackentasche. »Du hast mir Lebewohl gesagt, Lenore; vielmehr das Zimmermädchen vom Western Sky hat das für dich getan. Also was soll das jetzt: ›Hallo, da bin ich wieder?‹« Sie versuchte zu lächeln. Sie hoffte, daß es ein Lächeln war. Sie hoffte, er würde ihren Mut bewundern und stolz auf sie sein. »Ja, Curt. Hallo, da bin ich wieder.« »Heißt das, es geht nicht mehr um ihn und dich - sondern um dich und mich?« Er kannte die Antwort, noch ehe sie ein Wort -532
gesagt hatte. Sie spielte mit dem Ärmel ihres Sweaters. »Ich mußte dich einfach sehen«, sagte Lenore. »Du mußtest einfach«, sagte Maddox. »Wie oft habe ich das schon gehört. Von Leuten in Handschellen. Im Gefängnis. Sie mußten einfach tun, was sie getan hatten.« Seine Stimme wurde lauter. »Nichts müssen wir tun, außer essen und schlafen. Alles andere steht uns frei.« Maddox wandte den Kopf ab. »O Gott!« Er wurde mit ihr nicht fertig; er wurde mit sich und ihr nicht fertig. »Du mußt gehen, Lenore«, sagte er zur Wand. »Ich werde bösartig. Und ich werde immer bösartiger.« »Du doch nicht, Curt.« »Doch, ich«, erwiderte Maddox. »Ich!« Er warf sich herum. »Was hast du ihm gesagt? Ich weiß, was du ihm gesagt hast. Du hast ihm alles gebeichtet. Es berührt ihn nicht. Was bedeutet ihm schon eine verlorene Nacht. Er hat gewonnen. Nicht wahr, Lenore? Er hat gewonnen.« Lenore stand auf und streifte den Sweater über die Schultern. Als sie Maddox anblickte, sah er, daß Tränen in ihren Augen standen. Besiegt und hilflos wandte sie den Kopf ab, besiegt und hilflos wie er. Sie wirkte gänzlich verlassen. Maddox sprang auf und nahm sie in seine Arme und drückte ihre heiße feuchte Wange an die seine. Lenore fühlte sich von seinen Armen umfangen. Sie fühlte sein Gesicht an dem ihren, die rauhe Haut, nach der sie sich so gesehnt hatte. Sie küßte ihn, sein Hemd, seine Brust, seine Schultern, seinen Nacken, und verlangte nach mehr. »Ich liebe dich«, sagte sie, ihre Lippen an den seinen, den Geschmack ihrer Tränen im Mund. Sie nahm seinen Kopf in beide Hände und preßte ihn gegen ihre Lippen. »Warte!« flüsterte er. Und Lenore entgegnete: »Ich kann nicht! Ich kann es nicht!« Sie begehrte ihn. Er fühlte, wie sie an seinem Hemd und seinen Hosen zerrte. Sie machte ihn verrückt, und er begann die Knöpfe ihres Kleides zu öffnen. Es glitt ihr von den Schultern. »Hier, Liebster«, sagte sie und griff nach ihm, als er sich vorbeugte. -533
Er trug sie ins Schlafzimmer wie schon das erste Mal; er spürte ihre Lippen und ihre Zunge. Sie konnte nicht aufhören, sie konnte nicht warten. Sie fielen zusammen aufs Bett und übereinander. Hinterher stützte sich Maddox auf einen Ellbogen und betrachtete sie; obwohl er lächelte, flößte er ihr Angst ein. »Das darfst du nicht noch einmal machen«, sagte er. »Ich habe darauf gewartet, daß du das sagen würdest«, erwiderte Lenore. »Ich habe auf diesen Augenblick gewartet, und ich habe mich vor ihm gefürchtet. Ja, ich kann das nicht noch einmal machen, ich verspreche es. Mein Wort darauf. Und mein Wort habe ich noch nie gebrochen.« »Wir meinen immer, was wir sagen.« »Aber ich halte mich daran«, sagte sie. »Ich mußte heute abend zu dir kommen. Ich mußte dich noch einmal sehen. Wir hatten einander nicht Lebewohl gesagt. Das war jetzt unser Lebewohl.« Sie sah ihn an. »Bitte sag etwas.« »Noch nie ist mir eine Frau begegnet, die so schön gewesen ist wie du«, flüsterte Maddox. »Du bist schön«, sagte Lenore. »Na, sicher.« »Doch«, sagte sie. Sie kam näher und schmiegte sich eng an seinen Körper. »Ich habe dich auswendig gelernt, Curt. Ich kann jetzt überall an dich denken und dich vor mir sehen. Ich versuche mir vorzustellen, wie du als Junge gewesen bist. Warst du glücklich und unbeschwert? Hattest du einen Hund? Haben deine Spielkameraden bewundernd zu dir aufgeblickt? Warst du der Anführer, der Boß, dem die anderen ins Abenteuer folgten?« Er antwortete nicht, und Lenore verlagerte ihren Körper, um Maddox besser betrachten zu können. Ihr Blick war besorgt. »Habe ich jetzt was Falsches gesagt?« Er küßte sie auf die Stirn, hielt sie fest und streichelte ihr Haar. -534
Nach einer Weile begann er zu erzählen. Von sich und von seiner Mutter. Vondem Schrank, in den sie ihn sperrte, wenn ein Kunde zu ihr aufs Zimmer kam; von den anderen Huren. Er erzählte ihr alles, was er noch nie jemandem anvertraut hatte, nicht einmal Harvey Koster. »Klingt ganz nach Horatio Alger, was?« In Lenores Augen begann es wieder zu schimmern. »Bitte nicht«, sagte Maddox. »Keine Tränen! Ich wollte es dir schon immer erzählen, aber es fand sich nie die rechte Gelegenheit. Und es kam mir auch nicht in den Sinn, daß sich je eine solche Gelegenheit am richtigen Ort und zur richtigen Zeit ergeben würde. Aber du bist jetzt da, wenn auch nur für heute abend, und nun kannst du die ganze Geschichte mit in die Staaten nehmen.« Sie fühlte ihn an ihrer Seite, fühlte ihre Körper vereint, und doch war er bereits weit fort. Sie würde für immer allein bleiben. »Du möchtest, daß ich gehe«, sagte sie. »Nein, Lenore«, widersprach er. »Ich möchte rings um uns hohe Mauern errichten und uns hier einschließen und für immer aneinanderbinden. Aber du bist im Begriff fortzugehen, und darum machen wir uns jetzt nur etwas vor.« Als sie sich wieder angekleidet hatten, verließen sie das Schlafzimmer ohne ein Wort. »Mein Sweater«, sagte Lenore schließlich, und Maddox hob ihn vom Boden auf und legte ihn ihr um die Schultern. »Ich bin mit dem Taxi gekommen«, sagte sie. »Willst du mir eines bestellen?« »Diesmal ja«, sagte Maddox. »Ich könnte es nicht ertragen, dich ins Hotel gehen zu sehen, auf dem Weg zu... Ich könnte es nicht verkraften, Lenore.« »Bitte hasse mich nicht.« »Wie könnte ich dich hassen, Lenore«, sagte Maddox. Er mußte der Sache ein Ende machen. »Du brauchs t kein Taxi. Nimm meinen Wagen. Laß die Schlüssel stecken. Ich lasse das Auto morgen früh holen.« Er erreichte die Tür vor ihr. -535
Sie gingen zum Wagen, und Maddox öffnete ihr und trat zurück, um sie einsteigen zu lassen. »Bekomme ich noch einen Kuß?« Maddox beugte sich in den Wagen und berührte ihren Mund mit den Lippen. Lenore hob die Hand, um ihn festzuhalten, doch er hatte bereits den Kopf zurückgezogen und warf die Wagentür zu. Maddox stand neben seinem Wagen, und Lenore war Lichtjahre von ihm entfernt. Zwei Minuten weniger als volle achtundvierzig Stunden, nachdem der Gerichtsdiener die Geschworenen in das Beratungszimmer geführt hatte, hob Oscar Sudeith, der Sprecher, die Hand, und sah, wie sich auch die anderen elf Hände hoben. »Ich werde den Gerichtsdiener verständigen«, sagte er. Maddox erfuhr noch vor Richter Kesselring, daß die Geschworenen zu einer Erkenntnis gelangt waren. Als der Gerichtsdiener das Beratungszimmer verließ, nickte er auf dem Weg zum Amtsraum des Richters einem Kollegen zu, der auf dem Gang wartete: »Sie haben sich geeinigt.« Der Mann ging in eines der Büros und rief im Polizeipräsidium an. »Die Geschworenen kommen raus, Captain.« »Vielen Dank«, sagte Maddox und verständigte Harvey Koster. »Du gehst doch in den Saal, Curt, nicht wahr ?« fragte Koster, obwohl es gar keine Frage war. »Ich habe hier einen ganzen Berg Arbeit auf meinem Schreibtisch«, flunkerte Maddox. »Ich habe fest damit gerechnet, den Schuldspruch von dir zu erfahren«, sagte Koster. »Schon recht«, erwiderte Maddox. »Ich melde mich dann aus dem Gerichtsgebäude, Mr. Koster.« Er schob das Telefon zur Seite. Wenn er Glück hatte, würde sie vielleicht gar nicht kommen. In Waikiki, im Western Sky, warteten Tom und Prinzessin Luahine. Als das Telefon läutete, sagte sie: »Hallo«, und lauschte. Dann sagte sie: »Danke, Phil«, und lauschte. Der -536
Staatsanwalt hatte ihr versprochen, sie zu verständigen. »Hilf mir in meine Kostümierung, Tom.« »Sarah will auch mitkommen«, sagte Tom. »Könnte sein, daß ihr nicht gefällt, was sie zu hören bekommt«, wandte die Prinzessin ein. »Sie möchte selbst den Wahrspruch hören«, sagte Tom. Die Prinzessin winkte ungeduldig. »Aber dann mach schnell!« Tom rief Sarah im Drugstore an, und sie vereinbarten, sich vor dem Gerichtsgebäude zu treffen. Als Maddox in die Straße einbog, sah er einige Passanten, fast ausschließlich Männer, in einiger Entfernung vom Eingang warten. Sie standen nicht beisammen, und sie hielten auch Abstand von der Limousine des Admirals, die zwischen den zwei Parkverbotsschildern abgestellt war. Als Maddox gegenüber dem Seiteneingang anhielt, kamen zwei Japaner an seinem Wagen vorbei. Sie hatten von der Wiederaufnahme des Prozesses erfahren, weil die Tochter des einen mit Sarah im Drugstore arbeitete. Ein anderer, ein Hawaiier, hatte die Nachricht von einem Boy im Western Sky erhalten, der beobachtet hatte, daß Bergman und Lenore das Western Sky verließen, und ihnen gefolgt war. Wieder ein anderer Hawaiier war der Bruder eines Pförtners beim Outpost-Dispatch, der gehört hatte, wie Jeff Terwilliger, als er aus dem Haus stürmte, dem Lokalredakteur zugerufen hatte, daß die Geschworenen zu einer Erkenntnis gelangt waren. Und jeder von ihnen hatte die Nachricht einigen anderen erzählt, die sie ihrerseits an Dritte weitergegeben hatten. Maddox war bis zum letzten Augenblick im Präsidium geblieben. Er verließ den Wagen und ging über die Hintertreppe in den zweiten Stock hinauf. Die Galerie war beinahe leer, und die Saaltüren waren bereits geschlossen. Er klopfte. Es würde nicht lange dauern. Bald würde er wieder gehen können. Die Tür öffnete sich einen Spaltbreit, und ein Gerichtsdiener spähte heraus. »Hallo, Wes«, sagte Maddox und schlüpfte in den Saal. -537
Maddox tauchte in der Menge unter. Die Zuschauer drängten sich bis zu den Türen, standen dicht an dicht von Wand zu Wand. Maddox mußte sich auf die Zehenspitzen stellen, um einen Blick auf die Geschworenenbank zu erhaschen, und in diesem Augenblick wandte sich Lenore zum tausendsten Mal um. Wieder waren sie vereint, und Maddox wollte davonlaufen, flüchten, als könnte er sich auf diese Weise von ihr befreien, Lenore hob die Hand und löste den hellgrünen Seidenschal aus dem Haar. Ich werde nie aufhören um ihn zu weinen, dachte sie. Und doch bereute sie nicht, in den Gerichtssaal gekommen zu sein. Sie hatte darauf bestanden, Walter zu begleiten. Maddox noch einmal sehen zu können, würde es ihr leichter machen, sich später an ihn zu erinnern, an sein Gesicht und sein Haar, an seine Hände, an seine Hände auf ihrem Körper. »Erheben Sie sich von Ihren Plätzen!« rief der Gerichtsdiener. Richter Kesselring ließ sich auf seinem Sessel nieder. »Ich ersuche alle Anwesenden, die Würde des Gerichtes zu achten und sich angemessen zu betragen.« Er wandte sich an die Reporter. »Mir ist bewußt, daß Sie unter Zeitdruck stehen, ich weiß, Ihr Redaktionsschluß, und ich habe vollstes Verständnis für Sie. Dessenungeachtet werde ich keine Störung des Verhandlungsablaufs dulden, und ich erwarte von Ihnen, daß Sie Anstand wahren und sich Zurückhaltung auferlegen.« »Du lieber Himmel«, sagte Duane York, der neben Gerald saß. »Wann hört er endlich auf, herumzureden?« Duane konnte seine Hände nicht stillhalten. »Meine Herren Geschworenen, sind Sie zu einer Erkenntnis gelangt?« Oscar Sudeith, der Obmann, erhob sich von seinem Platz in der ersten Reihe der Geschworenenbank. Sarah, die zwischen der Prinzessin und Tom saß, zwang sich, den Sprecher anzusehen. Sie glaubte ersticken zu müssen. »Ja, Euer Ehren«, sagte Sudeith. -538
»Angeklagte, erheben Sie sich von Ihren Plätzen!« sagte der Richter. Gerald sprang auf und nahm Haltung an. Duane folgte dem Vorbild des Lieutenants. Doris Ashley erhob sich langsam, die Handschuhe in der Rechten, und versuchte den Kopf hochzuhalten; sie war bereit, allen ins Gesicht zu sehen. Bergman stützte sich auf den Tisch und kam nur mit Mühe auf die Beine. »Wie lautet Ihr Wahrspruch?« »Wir befinden die Angeklagten schuldig des Totschlags an Joseph Liliuohe«, verkündete der Sprecher. »Totschlag!« wiederholte Tom ungläubig und starrte Sudeith an. Maddox drängte sich aus dem Saal. Philip Murray wandte sich Leslie McAdams zu und stellte befriedigt fest: »Sie kommen ins Gefängnis.« Er sah nicht, wie Doris Ashley zu taumeln begann. Ein schwarzer Schleier senkte sich über sie. Der Fußboden verschob sich. Ihre Beine gaben nach. Handtasche und Handschuhe fielen ihr aus der Hand, als ihre Beine einknickten. Duane wollte sie stützen, aber sie entglitt ihm. Coleman Wadsworth faßte sie mit beiden Händen an den Hüften und verlor selbst das Gleichgewicht. Dann griff ihr Duane unter die Arme, zog Doris Ashley hoch und stützte sie gegen seinen Körper. Schließlich gelang es Wadsworth und Duane gemeinsam, Doris Ashley auf einen Stuhl zu setzen. Der Gerichtsdiener brachte ihr ein Glas Wasser. Doris stöhnte und öffnete die Augen. Der Gerichtsdiener hielt ihr das Glas entgegen. Jetzt wußte Doris, daß sie das Bewußtsein verloren, daß sie allen Anwesenden ein Schauspiel geboten hatte. Sie fühlte sich nackt und nahm das Glas, um dem Gaffen des Gerichtsdieners zu entgehen. Aber alle gafften sie an. Alle. Sie konnte ihre Blicke im Rücken spüren. Auch der Richter sah ihr beim Trinken zu. »Fühlen Sie sich jetzt besser, Mrs. Ashley?« erkundigte er sich. Sie trank das Glas leer, ohne den Richter anzusehen oder seine Frage zu beantworten. »Mrs. Ashley hat sich wieder erholt, Euer Ehren«, sagte Bergman für sie. Nachdem sich der Richter bei den Geschworenen bedankt hatte, bat -539
Bergman noch einmal ums Wort. »Ich möchte einen Antrag stellen, Euer Ehren. Und ich hätte auch gerne den Herrn Staatsanwalt dabei, wenn Sie nichts dagegen haben.« Murray mußte auf Bergman warten. »Euer Ehren, diese drei Angeklagten sind keine dahergelaufenen Schurken, wie sie uns alle Tage begegnen. Doris Ashley ist eine Dame aus der besten Gesellschaft. Meine drei Mandanten haben eine Menge durchgemacht, und das Schlimmste steht ihnen noch bevor. Ich hoffe, Sie werden die Angeklagten nicht lange im Ungewissen lassen und ihnen den Christendienst erweisen, das Urteil so bald wie möglich zu verkünden. Ich wollte den Herrn Staatsanwalt dabeihaben, weil ich hoffe, daß er sich meinem Ersuchen anschließt.« »Das tue ich, Euer Ehren«, sagte Murray. »Bitte betrachten Sie den Antrag als gemeinsam eingebracht.« Richter Kesselring blätterte in seinem Kalender. »Die Urteilsverkündung wird für den zwölften März, zehn Uhr, angesetzt«, sagte er. »Das ist der kommende Donnerstag. Zu diesem Zeitpunkt haben sich die Angeklagten vor dem Gericht einzufinden.« Bergman und Murray kehrten auf ihre Plätze zurück. »Die Verhandlung ist geschlossen.« Während die Reporter ihre Plätze an den vier Tischen am Rand des Saals verließen, durchschritt der Admiral die Schranke und ging an Doris Ashley vorbei, als wäre sie nicht vorhanden. »Diese Massen gehen mir wirklich langsam auf die Nerven«, brummte er und warf einen Blick auf Gerald. »Lieutenant!« Die Stimme des Admirals knisterte, und Gerald nahm Haltung an. Der Admiral machte eine Handbewegung, und Gerald folgte ihm hinter Doris Ashley und Duane. Bergman führte Lenore durch die Tür neben der Geschworenenbank. »Ich will mich nicht noch einmal den Reportern stellen müssen«, log er. Er hatte Maddox an der Rückwand des Saales stehen sehen und wollte eine neuerliche Begegnung vermeiden. »Ich kenne einen kürzeren Weg.« Als Lenore das Gerichtsgebäude durch den Nebeneingang -540
verließ, stand sie vor Maddox' Wagen. Sie hielt in beiden Richtungen nach ihm Ausschau. »An der Ecke bekommen wir ein Taxi«, sagte Bergman. »Je früher, desto besser.« Auch er hatte Maddox' Wagen erkannt und ging weiter. Lenore blieben nur wenige Sekunden. Bergman hastete voran. Sie mußte ihm folgen. Sie würde den Wagen, würde Maddox nie wiedersehen. Sie mußte rasch handeln. Bergman konnte stehenbleiben, konnte sich nach ihr umdrehen. Das Wagenfenster war offen. Lenore löste ihr Halstuch und ließ es auf den Sitz gleiten. »Ich komme«, rief sie. Nur die Prinzessin, Sarah und Tom blieben im Saal zurück, und nur die Prinzessin saß noch auf ihrem Platz. »Nun, Tom, wie fühlst du dich jetzt?« »Ich denke die ganze Zeit an die anderen, an Harry, an Mike und an David. Ihnen steht noch ein zweiter Prozeß bevor.« »Mußt du unbedingt jetzt an sie denken«, fragte die Prinzessin. »Denk lieber daran, was heute hier geschehen ist.« »Was hier geschehen ist, widert mich an«, stieß Sarah hervor. »Sie haben Joe getötet! Man sollte sie töten! Sie hätten lebenslänglich bekommen sollen! Statt dessen spricht man sie des Totschlags schuldig! In ein paar Jahren sind sie wieder draußen.« »Man muß mit dem zufrieden sein, was man erreichen kann.« Die Prinzessin zuckte die Achseln. »Ich wollte, mir würde einer sagen, was ich davon halten soll.« »Wie hätten Sie denn reagiert, wenn die Geschworenen auf Freispruch erkannt hätten?« fragte Tom. »Ich wäre vor Wut zersprungen«, gestand die Prinzessin. »Das ist leicht, denn es ist leicht, in Wut zu kommen. Heißt das nun, daß ich glücklich und zufrieden sein müßte? Bin ich aber nicht.« »Sie wurden nicht freigesprochen«, sagte Tom. »Sie können nicht einfach in den Tag und in die Sonne hinausspazieren, wie Bergman es geplant hatte.« Die Prinzessin blickte Tom, der auf der Barriere saß, nachdenklich an. -541
»Wie lange ist es jetzt her, daß ich dich zum ersten Mal gesehen habe? Du bist neben Jack gestanden wie eine ersoffene Ratte. Wie ein Verrückter. Hätte ich doch nie auf dich gehört! Seit du auf der Ranch aufgetauc ht bist, hat sich mein ganzes Leben verändert.« Sie hielt ihm die Hände hin. »Hilf mir auf die Beine. Ich muß zusehen, daß ich am nächsten Donnerstag ein Schiff bekomme. Ich kann es kaum erwarten, diese Stadt wieder zu verlassen.« Sarah und Tom nahmen sie an den Händen, und die dicke Frau kam auf die Beine. Sie folgten ihr aus dem Saal und zur Treppe, die in die Halle hinunterführte. Die Prinzessin umgriff das Geländer. »Daheim steige ich mühelos auf jeden Berg. Hier fürchte ich mich schon vor dieser idiotischen Treppe.« »Nehmen Sie meinen Arm«, schlug Sarah vor. »Dann landen wir beide auf dem Bauch«, erwiderte die Prinzessin. »Wenn ich mir nur nicht diesen Vogelkäfig angezogen hätte! Nichts könnte mich daran hindern, auf dem Hintern hinunterzurutschen.« Sie bedeutete ihnen voranzugehen. »Na, macht schon!« Sarah und Tom warteten am Fuß der Treppe. Sich an den Handlauf klammernd, kämpfte sich die Prinzessin Stufe um Stufe nach unten. »Das reicht für einen ganzen Tag«, schnaufte sie, als sie das Erdgeschoß erreichte. Keiner von ihnen hatte das Spalier wartender Gesichter bemerkt. Erst als sie aus dem Gerichtsgebäude kamen, blieb die Prinzessin überrascht stehen. »Was soll das?« rief sie. Die wenigen Leute, die Maddox bei seinem Eintreffen beobachtet hatte, waren zu einer Menge angewachsen. Er hatte sie gesehen, als er das Gebäude verließ, um Harvey Koster anzurufen. Weil Maddox befürchtete, daß es zu Zwischenfällen -542
kommen könnte, wenn die Angeklagten und der Admiral aus dem Gerichtsgebäude kamen, war es Lenore mö glich gewesen, ihren Schal in seinen Wagen fallen zu lassen. Jetzt stand Maddox immer noch vor dem Gerichtsgebäude, neben einem Parkverbotsschild, und wartete zusammen mit der Menge auf die Prinzessin. Die Menschen säumten den Eingang, sie drängten sich auf dem Gehsteig bis zur nächsten Querstraße und darüber hinaus, sie standen auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Sie waren überall. Sie sahen zu, wie Prinzessin Luahine aus dem Gebäude trat. Sie blieben stumm und warteten, bis sie den Gehsteig erreicht hatte. Dann kamen sie näher und näher heran, die Männer und Frauen und die Kinder, die manche von ihnen mitgebracht hatten, langsam zuerst und zögernd, einer gläubigen Gemeinde gleich, die ihrem verehrten Prediger zuströmt, umringten sie die Prinzessin, Sarah und Tom. Eine Frau griff nach Prinzessin Luahines Hand und wollte sie küssen. Die Prinzessin entriß sie ihr, schüttelte den Kopf und rief: »Lassen Sie das ja bleiben! Lassen Sie das bloß bleiben!« Ein Mann stand vor ihr. Er zog die Mütze und trat zur Seite. Die Prinzessin war aufs äußerste verwirrt. Sie drückte sich an Sarah und flüsterte ihr ins Ohr: »Nur gut, daß ich mein Scheckbuch zu Hause gelassen habe. Ich würde sonst versuchen, uns freizukaufen, und dabei bettelarm werden.« Ein anderer Mann drängte sich vor, beugte sich nieder und nahm seinen kleinen Sohn auf den Arm. »Das ist die Prinzessin Luahine«, sagte er und setzte den Jungen wieder ab. Er trat zur Seite und machte einer alten Frau Platz, die der Prinzessin ihre zitternde Hand entgegenstreckte. »Ich glaube, wir sollten jetzt alle heimgehen«, rief die Prinzessin. »Geht doch nach Hause, Leute.« Flankiert von Sarah und Tom, versuchte sie den ersten Schritt. Die Menge wich zurück und teilte sich, um hinter den dreien wieder zusammenzufluten. Die Prinzessin hatte Maddox erspäht. »Sind Sie im Dienst?« Maddox nickte. »Dann tun Sie was!« Maddox schüttelte den Kopf. -543
Prinzessin Luahine blickte sich in der Menge um. »Wir wollen doch bloß zu unserem Wagen!« rief sie. Die Menschen harrten unbeirrt und schweigend aus. »Sarah, wo steht Ihr Cabrio?« »Um die Ecke, einen Häuserblock weiter.« Sie kamen zur Ecke, aber die Menge wich nicht von ihrer Seite. An der Ecke mußten sie vor einer Ampel warten. Die Menge wartete mit ihnen. »Da drüben steht der Wagen«, sagte die Prinzessin. Das Licht der Ampel sprang auf Grün, sie überquerte die Straße. Die Menge folgte nach und umringte das schwarzgelbe Cabriolet. »Die Leute wollen Sie nicht verlassen«, flüsterte Tom. »Du bist ein kluges Kind«, spottete die Prinzessin. Sie resignierte. »Also gut! Wir machen eine Parade. Immerhin haben wir ja einen Sieg zu feiern. Ich hoffe, ich schaffe es zu Fuß bis zum Hotel.« »Ich begleite Sie«, sagte Sarah. »Du mußt auch mit!« befahl die Prinzessin Tom und stützte sich auf seinen Arm. »Wenn ich geahnt hätte, was auf uns zukommt, hätte ich eine Musikkapelle engagiert.« Dann rief sie: »Also gehen wir!« Die Menschen gaben den dreien den Weg frei und schlossen sich ihnen an. Niemand drängte, keiner eilte voraus. Schweigend und friedlich wand sich die lange Prozession auf dem Weg nach Waikiki durch die Straßen Honolulus. Hinter ihnen hörte man die ersten Rufe der Zeitungsjungen: »Extrablatt! Extrablatt! Der Wahrspruch der Geschworenen!« Am Montagmorgen, drei Tage, nachdem die Angeklagten des Totschlags für schuldig befunden worden waren, und drei Tage vor der Urteilsverkündung, hielt die Limousine des Admirals vor dem Iolani-Palast. Anders als bei der ersten Vorsprache des Admirals in der Residenz, nachdem der Gouverneur den Ausnahmezustand aufgehoben hatte, war der Admiral diesmal nicht gerufen worden, sondern hatte bereits am frühen Morgen selbst um eine Unterredung gebeten. »Gleich jetzt«, hatte er -544
gesagt. »Ich bin schon unterwegs.« Von der männlichen Bevölkerung Honolulus stand keiner so sehr unter dem Einfluß Harvey Kosters wie Gouverneur Martin Snelling. Der Gouverneur war fleißig und pflichtbewußt. Er war ein Arbeitstier, der erste Gouverneur des Territoriums, der regelmäßig die Gefangenenkost probierte, um sich von ihrer Qualität zu überzeugen, der erste, der jeden Erlaß des Territoriums persönlich las und unterzeichnete. Da er von Beruf Buchhalter war, beauftragte er als erster Gouverneur unabhängige Wirtschaftsprüfer mit der Kontrolle der Rechnungsabschlüsse des Territoriums. Immer wieder tauchte er, auch an Wochenenden, auf den Inseln auf. Martin Snelling kleidete sich wie Harvey Koster und pflegte ihn bei jeder Gelegenheit zu zitieren. Vom ersten Tag an war er sich bewußt gewesen, daß er seinen Einzug in den Iolani-Palast nur der Fürsprache Harvey Kosters zu verdanken hatte. Der Gouverneur ließ nie jemanden warten. Als der Admiral am Montagmorgen angerufen hatte, sagte Snelling unverzüglich alle anderen Verpflichtungen ab und erwartete den Admiral an der Schwelle: »Bitte, kommen Sie herein, Sir.« Gouverneur Snelling ließ seinem Gast den Vortritt in das geräumige Arbeitszimmer mit den hohen Fenstern. In diesem Raum hat einstmals ein König geschlafen. »Ich stehe zu Ihrer ausschließlichen Verfügung.« »Das ist gut«, erwiderte der Admiral, »denn von nun an befinden Sie sich in erhöhter Alarmbereitschaft.« Da der Admiral noch nicht Platz genommen hatte, konnte sich auch der Gouverneur nicht setzen. »Sie haben ein Problem?« erkundigte er sich. »Wenn es nur mein Problem wäre!« erwiderte der Admiral. »Aber es ist Ihres. Die Sache fällt in Ihre Kompetenz.« Er griff in seine Jackentasche. »Ich handle jetzt zwar gegen meine Befehle, aber es wird nicht das letzte Mal gewesen sein.« Der Admiral legte einen Briefumschlag mit den Insignien der Navy auf den -545
Tisch. »Lesen Sie das!« Der Gouverneur setzte sich die Brille auf und entnahm dem geöffneten Umschlag eine telegrafische Mitteilung der Navy. AN: KOMMANDANT VIERZEHNTER SEEDISTRIKT VON MARINEMINISTER ••• STOP ••• GEHEIM. WIEDERHOLE: GEHEIM ••• STOP ••• NACH KENNTNISNAHME VERNICHTEN ••• STOP ••• STRAFVERFOLGUNG DREI AMERIKANISCHER STAATSBÜRGER UNBEDINGT EINSTELLEN ••• STOP ••• NATION IN AUFRUHR ••• STOP ••• ANORDNUNG HÖCHSTER STELLEN LAUTET: RASCHESTMÖGLICH AUF FREIEN FUSS SETZEN ••• STOP ••• Der Admiral nahm dem Gouverneur das Telegramm wieder aus der Hand und knüllte es zusammen. »Für den Fall, daß Ihr Gedächtnis Nachhilfe braucht: ich kenne den Inhalt auswendig«, sagte er. Er nahm eine Blechdose mit Bonbons, die auf dem Schreibtisch des Gouverneurs stand, leerte ihren Inhalt auf den Schreibtisch, legte das Papierbällchen in die Dose und holte eine Zündholzschachtel aus der Tasche. Er zündete ein Streichholz an, schützte die Flamme mit der hohlen Hand und setzte dann das Telegramm in Brand, das er im Morgengrauen erhalten hatte.« Nach Kenntnisnahme vernichten«, sagte der Admiral und blies das Streichholz aus. »Jetzt habe ich meinen Befehlen gehorcht. Noch irgendwelche Fragen?« Der Gouverneur haßte Rasuren. Als Buchhalter hatte er es vorgezogen, Fehler zu korrigieren, indem er eine neue Seite im Hauptbuch begann. Er haßte auch jegliche Unordnung, und das Häufchen Bonbons auf der Tischplatte irritierte ihn. Die schwarzen Aschenreste in der Blechdose berührten ihn unangenehm. Vor allem störte den Gouverneur die anmaßende Art, mit der der Admiral in sein Arbeitszimmer eingedrungen war, um hier ein Feuer anzuzünden. »Ich bin der englischen Sprache mächtig, Herr Admiral.« »Raschestmöglich auf freien Fuß setzen«, zitierte der Admiral -546
den Marineminister. »Raschestmöglich. Es bleiben Ihnen nur drei Tage, um einen Plan zu entwerfen. Donnerstag um zehn liefere ich die Angeklagten beim Gericht ab.« »Ich danke Ihnen für Ihren Besuch«, sagte der Gouverneur. Der Admiral rührte sich nicht von der Stelle. »Sie stehen mächtig unter Druck, Mister«, sagte der Admiral. »Sie sind der ranghöchste Beamte dieses Territoriums und tragen somit die volle Verantwortung. Sie haben es nicht länger bloß mit mir zu tun, es geht nicht mehr bloß darum, eine Ausgangssperre aufzuheben. Anordnung höchster Stellen«, sagte der Admiral. »Der Marineminister gehört zum engsten Beraterkreis des Präsidenten. Er ist selbst schon eine ›hohe Stelle‹. Dreimal dürfen Sie raten, wer noch über ihm steht. Der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika. Der Präsident der Vereinigten Staaten hat Sie soeben aufgefordert, die drei Leute auf freien Fuß zu setzen.« Der Admiral steckte die Streichholzschachtel wieder in die Tasche. »Ich habe dem Marineminister bereits zurückgekabelt und ihn informiert, daß ich mit dem Gouverneur des Territoriums Kontakt aufnehmen werde.« Snelling begleitete seinen Gast nicht an die Tür. Er verharrte neben seinem Schreibtisch. Als er wieder allein war, bückte sich Martin Snelling nach dem Papierkorb und leerte die Asche aus der Blechdose hinein. Er wickelte ein Bonbon aus. »Der Präsident!« flüsterte er. Der Gouverneur fühlte sich belagert, umzingelt. Doris Ashley, ihre Tochter und deren Gatte gingen ihn nichts an. Er hatte den vom Admiral verhängten Ausnahmezustand nur aufgehoben, um Harvey Koster gefällig zu sein. »Ich bin unschuldig«, sagte er laut. Mit einem Mal lag das ganze dreckige Bündel, das er so lange erfolgreich von der Residenz ferngehalten hatte, auf seinem Schreibtisch - wie das Häufchen Bonbons aus der Dose. Der Gouverneur schluckte den Rest des Bonbons hinunter, und statt sich, wie üblich, von seinem Sekretär verbinden zu lassen, rief er selbst Harvey Koster an. »Ich bin um fünf bei Ihnen«, sagte Harvey Koster. -547
6. Teil Maddox gab sich verloren. Er war wach, aber er konnte nichts sehen, nichts denken, sich an nichts mehr erinnern. Das Telefon rettete ihn, das Läuten gellte wie eine Sirene. Nach einem Traum, der schon wieder entschwunden war, lag er schweratmend auf seiner Decke. Er drehte sich herum und schaltete die Lampe auf dem Nachttisch ein. »Maddox.« »Ich mußte dich anrufen, Curt«, sagte Harvey Koster. »Ich konnte das Risiko nicht eingehen, dich zu verpassen, dich nicht anzutreffen.« Maddox schwang die Beine aus dem Bett und setzte sich auf. »Ist Ihnen etwas zugestoßen, Mr. Koster?« »Nein, nein, Curt, aber du bist der einzige, dem ich vertrauen kann, dem ich vertrauen würde«, antwortete Koster. »Ich fahre jetzt ins Büro. Ich warte dort auf dich.« »Können Sie mir einen Hinweis geben, Mr. Koster?« »Nicht am Telefon«, sagte Koster. »Ich wäre dir dankbar, wenn du direkt zu mir kommen würdest, ohne dich irgendwo aufzuhalten oder aufhalten zu lassen.« Maddox legte auf. Schwerfällige Trägheit, körperlich und geistig, lastete auf ihm. Er beugte sich vor, um auf die Uhr zu sehen. Es war fünf vor sechs. Er war schon um drei wach gewesen, war vom Bett ins Wohnzimmer, wieder ins Bett und abermals ins Wohnzimmer gewankt, stets Lenores Gesicht vor Augen. Was immer er geplant und erhofft, für den kommenden Tag herbeigesehnt hatte, mit Lenores Abreise würde sich alles in nichts auflösen. Er war wieder der Karrengaul, der, Kosters Geboten folgend, gehorsam und gewissenhaft seinen täglichen Dienst versah. Harvey Koster war zu seinem Lagerhaus unterwegs. Maddox verließ das Schlafzimmer, um sich zu baden und zu rasieren. »Also gut«, murmelte er. Etwa vier Stunden später an diesem Donnerstag, kurz vor zehn -548
Uhr, stieg der Admiral vor dem Gerichtsgebäude aus seiner Limousine. Er drehte sich um, um Doris Ashley aus dem Wagen zu helfen, sprach aber kein Wort zu ihr. Die Fotoreporter warteten schon, um sie, Gerald und Duane York abzulichten. Doris Ashley hörte die Fragen der Zeitungsleute wie aus weiter Ferne. Das Haus verschwamm vor ihren Augen. Der Admiral nahm ihren Arm, sah sie aber nicht an und steuerte sie nur durch die wartenden Zeitungsleute bis zum Gerichtsdiener, der sie über eine üblicherweise gesperrte Treppe in den Gerichtssaal brachte. Mit Ausnahme der Reporter und Fotografen war der Eingang leer. Von der Menge, die damals gekommen war, um die Entscheidung der Geschworenen zu hören, war heute nichts zu sehen. Der Prozeß war vorüber. Duane hielt sich neben Gerald. Alles tat ihm weh - wie damals im Ausbildungslager, wenn er vom Spieß zusammengestaucht worden war. Er konnte sich nicht erinnern, ob er überhaupt geschlafen hatte. Ihm war, als wäre er auf dem Weg zu seinem eigenen Begräbnis. »Was denken Sie, was er sagen wird, Lieutenant? Der Richter, meine ich?« Gerald schwieg. Duane sah ihn an. »Lieutenant?« Duane stieß ihn an. »Sir?« Gerald drehte sich zu ihm, aber er blieb stumm. Duane hatte das gespenstische Gefühl, daß der Lieutenant ihn gar nicht hörte. Ihnen voran schritt Doris Ashley ihrem Tod entgegen. Ihr Leben ging zu Ende, ihr Leben! Schon in den nächsten Minuten würde eine andere Person Gewalt über sie haben, ein sadistisches Frauenzimmer mit klirrenden Schlüsseln an der Hüfte. Als Tom in der ersten Reihe Platz nahm, verließ der Staatsanwalt den Tisch der Anklage und kam auf ihn zu. »Die Prinzessin sollte sich beeilen, wenn sie die Schau nicht versäumen will«, sagte Murray. »Sie wird nicht kommen«, entgegnete Tom. »Sie hat sich den Knöchel verstaucht.« Als sie am Abend zuvor aus der Halle des Western Sky ins Restaurant gekommen war, hatte die Prinzessin einen Fehltritt getan und wäre gestürzt, wenn der Oberkellner sie nicht aufgefangen hätte. Anschließend hatte man sie ins Penthouse hinaufgebracht. -549
»Schade, daß sie das Ende nicht miterleben kann«, meinte Murray bedauernd. »Sie hat es miterlebt«, sagte Tom. »Sie wurden schuldig gesprochen. Sie kommen ins Gefängnis.« »Amen«, bekräftigte Murray und schlug mit der Faust auf die Schranke. »Amen«, wiederholte er. Er richtete sich auf, blickte sich um und sah Maddox, der hereinkam und an der Rückwand vor dem Mittelgang stehenblieb. Murray kehrte zum Tisch der Anklage zurück. »Sie hat sich den Knöchel verstaucht«, informierte er Leslie MC Adams. Um Punkt zehn betrat Richter Kesselring den Saal, in der Hand einige Mappen mit den Notizen, die er sich während des Prozesses gemacht hatte. »Bitte erheben Sie sich von Ihren Plätzen!« Walter Bergman, der zusammen mit den Angeklagten und Coleman Wadsworth vor dem Tisch der Verteidigung stand, beobachtete den Richter. Auch als Kesselring und das Publikum Platz genommen hatten, blieb er noch stehen, als ob er ums Wort bitten wollte. Er sah einen kompromißlosen und unangreifbaren Mann vor sich. In großer Sorge ließ er sich auf seinen Stuhl nieder. Richter Kesselring öffnete eine der Mappen und entnahm ihr einen Bogen Papier. Er studierte ihn einen Augenblick lang und sagte dann: »Die Vernichtung des Lebens ist nach menschlicher Erkenntnis eine entsetzliche Tat. Die Tötung einer Person durch eine andere ist das abscheulichste Verbrechen gegen die Menschlichkeit, denn wo ein Mensch getötet wird, sind alle Menschen in Gefahr. Es gibt in der ganzen zivilisierten Welt nur zwei Situationen, die es Menschen erlauben, andere Menschen legal zu töten. Die eine ist der Krieg. Die zweite besteht in allen jenen Regierungsformen, in welchen die Hinrichtung die höchste Strafe für ein Individuum darstellt, das sich eines Verbrechens schuldig gemacht hat.« Kesselring richtete seinen Blick auf die Angeklagten. »In allen anderen Fällen ist die Vernichtung eines Lebens ungesetzlich und muß bestraft werden. Die von der Anklage vorgelegten Beweise sind überzeugend. -550
Die vom Staatsanwalt aufgerufenen Zeugen haben das Mosaik mitgestaltet, das die Angeklagten nahtlos an das Verbrechen kettet, dessen sie schuldig befunden wurden. Die Angeklagten können den Geschworenen für die Milde danken, die sie haben walten lassen. Angesichts der Beweislage war es ein unverdientes Geschenk, aber in unserer Rechtsprechung wird der Meinung des Gerichts kein Gewicht beigemessen. Die Geschworenen haben die Angeklagten des Totschlags schuldig gesprochen. Meine Pflicht gebietet mir, daß ich den Wahrspruch der Geschworenen respektiere und die Strafen, die ich verhänge, auf diese Erkenntnis stütze. Die Angeklagten mögen sich erheben.« Duane York zitterte so sehr, daß er kaum stehen konnte. Er fürchtete umzukippen - so wie Doris Ashley, als die Geschworenen sie schuldig gesprochen hatten. Er warf einen Blick auf den Lieutenant - der Lieutenant sah aus wie ein Gespenst, das man in eine blaue Uniform gesteckt hatte. »Gerald Murdoch«, sagte der Richter und hielt inne. »Wegen des Verbrechens des Totschlags verurteile ich Sie zu zehn Jahren Haft im Territorialgefängnis, wobei ich eine vorzeitige Entlassung ausdrücklich ausschließe.« Neben Gerald stehend, verschränkte Bergman die Hände hinter dem Rücken. Er hatte hoch verloren. Gerald rührte sich nicht. Nichts an ihm bewegte sich. Er schien im Gerichtssaal allein zu sein und wie zu Eis erstarrt. »Doris Ashley und Duane York, Sie wurden des Totschlags für schuldig befunden«, fuhr der Richter fort. »Ihr Anteil am Tod Joseph Liliuohes ist um kein Jota geringer als der Gerald Murdochs. Sie, Duane York, haben Lieutenant Murdoch aus freien Stücken begleitet und Joseph Liliuohe aus freien Stücken entführt. Sie befanden sich neben dem Opfer, als es getötet wurde, und Sie haben nichts unternommen, um seinen Tod zu verhindern. Ich verurteile Sie zu zehn Jahren Haft im Territorialgefängnis und schließe eine vorzeitige Entlassung ausdrücklich aus.« Duane -551
rieb sich die Augen. Du lieber Heiland, Gefängnis! Zehn Jahre Bau! Alle seine Jahre in der Navy für immer vertan. Entlassung aus dem Dienst wegen Wehrunwürdigkeit. O Gott! »Doris Ashley«, fuhr der Richter fort, »ich habe viele Verbrecher ihrer gerechten Strafe zugeführt. Ich kann mich keines einzigen Angeklagten entsinnen, dessen Erscheinen so unerwartet und so schockierend gewesen war. Sie sind, besser gesagt, sie waren, eine Stütze der Gesellschaft unseres Territoriums. Honolulu sah zu Ihnen auf, war stolz auf Sie, auf Ihren verstorbenen Gatten, auf das Vorbild, das Sie uns waren. All dem haben Sie ein Ende gesetzt, indem Sie uns alle betrogen haben. Wegen des Verbrechens des Totschlags verurteile ich Sie zu zehn Jahren in einer Frauenhaftanstalt und schließe eine vorzeitige Haftentlassung ausdrücklich aus.« Maddox kam langsam den Mittelgang herauf. »Die Gefangenen werden dem Sheriff übergeben, der angewiesen ist, sie in die entsprechenden Haftanstalten zu verbringen, wo sie ihre Strafe zu verbüßen haben. Gerichtsdiener!« Der Richter schwang sein Hämmerchen. »Die Verhandlung ist geschlossen.« Tom war schon unterwegs. Er mußte Sarah, er mußte die Prinzessin anrufen. Auch die Zeitungsleute waren unterwegs. Über hundert Korrespondenten hasteten durch die Seitengänge hinaus und durch die fast schon leeren Bankreihen. Die wenigen Zuschauer befanden sich im Mittelgang, einige vor, einige neben Tom. Maddox mußte sich durch sie durchdrängen und gebrauchte seine Hände wie ein Paddel. Schon verließ der Richter die Richterbank. »Euer Ehren!« Maddox stieß das Türchen auf, während hinter ihm Tom den Ausgang erreichte und sogleich von der Reporterflut umspült wurde, die sich ihren Weg zu den Telefonen im Erdgeschoß suchte. »Euer Ehren!« sagte Maddox jetzt laut, und dem Gerichtsdiener, der am Tisch der Verteidigung auf die Gefangenen wartete, rief er zu: »Bleiben Sie da!« Er packte ihn am Arm. »Bleiben Sie da!« Maddox hob den anderen Arm und -552
schwenkte einen Umschlag. »Euer Ehren! Herr Richter!« Bergman hatte Maddox durch die Sperre kommen sehen, als ob der Captain eine Tür aufbrechen wollte. Er sah den weißen Umschlag über Maddox' Kopf. Es war also noch nicht vorbei. Richter Kesselring, die Mappen in der Hand, blickte auf den Polizeioffizier hinunter. »Das ist für Sie, Euer Ehren«, sagte Maddox, ließ den Gerichtsdiener frei und ging zum Richtertisch vor. Er stellte sich auf die Zehen, den Arm über den Kopf haltend, den Umschlag zwischen den Fingerspitzen. Der Staatsanwalt stand neben dem Tisch der Anklage. »Was zum Teufel ist da los?« wunderte sich Leslie McAdams und starrte auf den Richtertisch. Murray antwortete nicht. Er sah, wie der Richter ein gefaltetes Blatt Papier aus dem Umschlag nahm. Mittlerweile hatte sich der Admiral zu den Angeklagten begeben. Der Richter faltete das Papier zusammen und schob es in den Umschlag zurück. »Ich habe hier eine Durchführungsverfügung des Gouverneurs«, verkündete Kesselring. »Er weist mich an, die Gefangenen dem Überbringer auszuliefern.« Philip Murray wirbelte herum und starrte die Gefangenen an, als ob er sich auf sie stürzen wollte. »Die Sache stinkt«, brummte Leslie MC Adams. Murray stellte seine Aktentasche nieder und fing an, sich am Arm zu kratzen. »Der Gouverneur erwartet Sie«, sagte Maddox. »Bewegen Sie sich, Mann«, forderte der Admiral ihn auf, und Maddox öffnete ihm die Tür. Der Admiral ging etwas seitlich hinter Do ris Ashley. Gerald und Duane York folgten ihnen. Maddox sah, wie Bergman Coleman Wadsworth die Hand schüttelte, und sah den Staatsanwalt, der am Tisch der Anklage stand und alles beobachtete. Maddox folgte der Gruppe und sah nicht, wie Bergman ihnen nacheilte. Sie waren allein im Treppenhaus und in der Halle. Sie waren auch allein, als sie das Gebäude verließen. Die Fotoreporter warteten am Hintereingang, von wo Gefangene üblicherweise weggebracht wurden. Maddox' Wagen stand vor der Limousine des Admirals, und er sah den Fahrer, der ausstieg und die hintere Tür öffnete. Maddox zeigte -553
nach vorn. »Da steht mein Wagen, Leute.« »Treten Sie zur Seite«, wies der Admiral ihn an. »Sie haben die Durchführungsverfügung des Gouverneurs gehört«, entgegnete Maddox. »Die Gefangenen sind dem Überbringer auszuliefern. Ich bin der Überbringer.« »Dann können Sie uns den Weg zeigen oder uns folgen«, fuhr der Admiral ihn an. »Ich trage die Verantwortung für diese Leute. Ich trage die Verantwortung, seitdem diese widerliche Geschichte angefangen hat. Verschwinden Sie!« schnauzte er Maddox an, als Bergman auf sie zukam. »Admiral! Captain!« begann Bergman ganz ruhig wie ein Lehrer, der zwischen zwei Raufbolden auf dem Schulhof zu vermitteln sucht. »Sie vergessen beide Mrs. Ashley und die zwei Herren da. Es geht um ihr Leben, während Sie sich über Fahrgelegenheiten streiten. Das ist doch nicht sehr fair, oder?« Maddox trat von der offenen Tür der Limousine zurück. »Ich fahre mit Ihnen, Admiral, wenn es Ihnen recht ist«, sagte Bergman. »In meinem Wagen ist kein Platz mehr«, fertigte Langdon ihn ab. »Fahren Sie mit ihm.« Maddox schob Duane York auf seinen Wagen zu. »Sie kommen mit mir«, sagte Maddox, und zum Admiral: »Jetzt haben Sie Platz.« Er drehte sich um und stieß Duane an. »Hinten rein.« Der Gouverneur hielt sich seit zehn Uhr bereit. Er betrachtete sich im Spiegel. Der raffiniert geschnittene Zweireiher kaschierte einen Großteil seines Bauches. Martin Snelling hatte geschworen, er würde mindestens zehn Kilo abnehmen, bevor er für eine zweite Amtsperiode vereidigt wurde. Er ging zu seinem Schreibtisch und rückte den Sessel in die Mitte, als ihm einfiel, daß er stehen würde. Wenn Damen im Zimmer waren, konnte er -554
nicht gut sitzen bleiben. Der Gouverneur durchquerte sein Büro und öffnete die Tür. »Ich wünsche informiert zu werden, wenn sie kommen, wenn sein Wagen kommt.« Er ging zum Schreibtisch zurück, goß sich Wasser ein und nahm seine Digitalistabletten aus der Tasche. Er mußte vorsichtig sein. Er beschloß zu arbeiten, bis sie kamen. Arbeit entspannte ihn immer. Er überprüfte den Budgetentwurf der Universität Honolulu, als seine Sekretärin den Kopf zur Tür hereinstreckte. »Sie sind da.« »Melden Sie sie an«, sagte der Gouverneur und blieb an seinem Schreibtisch sitzen. Er hätte gern ein Bonbon gelutscht, aber er dachte an seinen Schwur, zehn Kilo abzunehmen. Er legte den Budgetentwurf zur Seite, nahm die vorbereitete Erklärung aus der Mittellade seines Schreibtisches und legte sie vor sich hin. Als die Sekretärin Doris Ashley mit dem Admiral sah, sagte sie: »Ich werde Sie dem Herrn Gouverneur melden.« Martin Snelling verließ seinen Schreibtisch, durchschritt das Zimmer, als gelte es einen Kranz niederzulegen, und öffnete weit die Tür. »Danke, Captain«, sagte er zu Maddox und musterte Doris Ashley. »Wollen Sie reinkommen?« Sie ging den anderen voran. Der Gouverneur sah einen alten Herrn in einem zerknitterten braunen Anzug. »Ich bin Walter Bergman, Herr Gouverneur. Ich bin Strafverteidiger.« Als der Matrose, der den Schluß bildete, an ihm vorbei war, schloß der Gouverneur die Tür. »Darf ich kurz telefonieren?« fragte Maddox im Vorzimmer die Sekretärin. Harvey Koster hatte ihn gebeten, ihn sofort anzurufen, sobald er die Gefangenen in den Palast gebracht hatte. Der Gouverneur kehrte an seinen Schreibtisch zurück. Er hatte seine Rede auswendig gelernt. »Ich habe Ihren Fall vom ersten Tag an aufmerksam verfolgt«, setzte er an. »Verzeihung, Herr Gouverneur«, fiel Bergman ihm ins Wort. »Ich hoffe, Sie nehmen es mir nicht übel, aber diese Menschen haben über eine schrecklich lange Zeit Schreckliches durchgemacht. Und sie würden gewiß sehr dankbar sein, wenn Sie, Herr Gouverneur, ohne lange Vorreden gleich zum Kern -555
kämen und ihnen sagen könnten, wozu Sie sie hierher bringen ließen.« Der Gouverneur verlor seinen Schwung und nahm seine Rede vom Schreibtisch. Er hatte sie verlesen wollen, aber die Zeitungen würden sie sowieso abdrucken. »Was Sie eigentlich hören möchten, wäre erst ganz zum Schluß gekommen«, sagte der Gouverneur, »nämlich: daher reduziere ich die Urteile, die über Sie verhängt wurden, auf eine Stunde.« Er warf einen Blick auf die Wanduhr. »In weniger als neunzig Sekunden sind Sie alle wieder frei.« Der Gouverneur erhob sich, um jedem von ihnen die Hand zu drücken. Duane York hüpfte auf und nieder, klatschte in die Hände und auf die Knie, johlte, lachte und kreischte. Er unterbrach sich nur einmal, um zwei Finger in den Mund zu stecken und einen durchdringenden Pfiff auszustoßen. Dann hob er den Arm über den Kopf und schwenkte seine Mütze wie ein Cowboy sein Lasso, bis er keuchend in einen Lehnsessel fiel und mit krampfhaftem Kichern die Beine von sich streckte. Doris Ashley sah nicht mehr, wie Bergman dem Gouverneur die Hand schüttelte. Sie wandte sich von den anderen ab und ging zum Fenster, um allein zu sein. Sie kehrte nach Hause, nach Windward zurück! Mit Hester kehrte sie nach Hause zurück. Noch vor dem Mittagessen würde sie hinter den Toren Windwards in Sicherheit sein. Für immer in Sicherheit! Doris Ashley hob den Kopf. Sie war frei! Frei! Nichts und niemand würde es in Zukunft wagen, sich ihr ohne Erlaubnis auch nur zu nähern! Sie sah Gerald neben diesem Matrosen stehen, der sich wie ein Verrückter aufführte. Nie wieder würde man sie zwingen können, auch nur einen Blick an Gerald Murdoch zu verschwenden, diesen Esel, diesen Idioten, der ihr das Leben zur Hölle gemacht hatte. Nicht eine einzige Nacht würde er noch auf Windward verbringen. Sie hatte ihn für alle Zeiten verbannt. Gerald stand da, ohne sich zu rühren, und starrte den Gouverneur an, so als befände er sich noch immer im -556
Gerichtssaal und hörte Richter Kesselring zu, der ihn zu zehn Jahren Gefängnis verurteilte. Der Admiral beobachtete den Matrosen, der sich wie das Äffchen eines Leierkastenmannes betrug. Sein Blick fiel auf Doris Ashley, die die Drehorgel gespielt, die die Welt, die ein ganzes Land an der Nase herumgeführt hatte. Langdon wünschte sich nichts sehnlicher, als dieses feine Gelichter endlich los zu sein und aus dem Sinn zu haben. Bergman blieb neben dem Schreibtisch des Gouverneurs stehen und beobachtete seine Mandanten. Er hatte in seinem Beruf Haß und Abscheu zur Genüge erlebt, und kaum etwas konnte ihn noch überraschen, aber diese Leute gehörten zu einer anderen Spezies. Hier handelte es sich nicht um Komplizen, die sich entzweit hatten und aneinandergeraten waren. Bergman dachte an Hester und ihren Mann. Diese beiden, Doris Ashley und, ja, auch der Admiral, verachteten einander und begegneten sich in so unversöhnlicher Feindschaft, wie sie Bergman noch nie erlebt hatte. »Jetzt sind die neunzig Sekunden wohl um«, sagte Duane, sprang auf und sah den Lieutenant an, der irgendwo ganz für sich stand. Duane ging auf den Gouverneur zu. »Vielen Dank, Sir«, sagte Duane. »Ich danke Ihnen von ganzem Herzen. Ich werde nie vergessen, was Sie für uns getan haben, niemals, Sir.« »Ich muß Hester informieren«, sagte Doris Ashley und setzte sich in Bewegung. »Wir können gehen«, sagte sie zum Admiral, als ob er ihr Bedienter wäre. Bergman verließ den Schreibtisch des Gouverneurs und strich sich mit der Hand übers Haar, als er auf Doris Ashley zuging. »Wir haben einen Punkt auf der Tagesordnung vergessen, Leute«, sagte er. »Ich wünsche zu gehen«, erklärte Doris Ashley. »Ich habe seit siebenundachtzig Tagen mein Haus nicht mehr gesehen.« »Es heißt, man hätte in alten Zeiten den Überbringer schlechter Nachrichten geköpft. Dennoch, es muß gesagt werden, und Sie sollten es hören, Mrs. Ashley, so bitter es auch klingen mag. Sie -557
haben es eilig, wieder unter Ihrem eigenen Dach zu wohnen, das kann ich gut verstehen. Tatsache ist aber, daß Sie sich hier nie wieder wie zu Hause fühlen sollten, Sie alle nicht, nicht hier in Honolulu und auch nicht auf dem Territorium.« Völlige Stille war eingetreten. »Ich kann Ihnen keinen Vorwurf machen, aber es scheint Ihnen entfallen zu sein, daß Ihnen noch ein zweiter Prozeß bevorsteht. Die angebliche Vergewaltigung Ihrer Tochter, Madame. Hier in dieser Stadt leben drei junge Männer unter dem Schatten eines Verdachts. Sie werden alles tun, um sich von diesem Schatten zu befreien - das entspricht der menschlichen Natur.« »Ich lasse mich nicht in einen weiteren Prozeß hineinziehen«, entgegnete Doris Ashley. »Wie die Dinge nun mal liegen, wird man Sie nicht danach fragen«, gab Bergman zurück. »In wenigen Stunden wird das, was der Gouverneur hier soeben getan hat, der Öffentlichkeit bekannt sein. Alle werden wissen, daß Sie auf freien Fuß gesetzt wurden. Die Folge könnte sein, daß sich nur schwer Geschworene finden lassen, die zu der Erkenntnis gelangen, daß die drei jungen Männer Mrs. Ashley Murdoch mißbraucht haben. Sie haben ja schon immer behauptet, es nicht getan zu haben. Ein solcher Wahrspruch der Geschworenen aber würde bedeuten, daß Mrs. Ashley Murdoch sich... geirrt hat. Wenn jedoch die jungen Hawaiier nicht die Täter waren, wer war es dann? Die Polizei würde sich diese Frage stellen und würde sie dann auch noch einer Menge anderer Leute stellen, angefangen mit Mrs. Murdoch, mit Ihnen, Lieutenant, und mit Ihnen, Mrs. Ashley. Wenn ich mich recht entsinne, ist im Protokoll vermerkt, daß Sie die erste waren, die die jungen Leute der Vergewaltigung bezichtigt hat. Sie waren es, die die ganze Geschichte ins Rollen brachte. Dieser Captain Maddox würde alles von neuem aufrollen, weil ihn diese zweite Jury im zweiten Prozeß sonst zu einem Gimpel stempeln würde. Und kein Mann läßt das gern auf sich sitzen. Seit ich mich hier auf dieser traumhaften Insel -558
befinde, hat Captain Maddox verschiedentlich meinen Weg gekreuzt, und er macht mir den Eindruck eines recht hartnäckigen Kameraden. Ich würde so weit gehen, Ihnen zu prophezeien, daß er zu einem Teil Ihres Lebens werden könnte - bis er die Wahrheit herausgefunden hat.« Bergman nahm eine Rippe Milchschokolade aus der Tasche und begann, das Silberpapier abzuziehen. »Darum rate ich Ihnen, nicht nach Hause zu gehen. Wenn ich Sie wäre, würde ich Honolulu schleunigst verlassen. Ja, ich würde Hawaii, das Territorium, verlassen. Sie alle. Mrs. Ashley und Sie, Lieutenant, Sie und Ihre Frau. Sie auch, York. Ziehen Sie Leine, solange Sie noch können. Und kommen Sie nie wieder zurück.« Er brach ein Stück Schokolade ab. Doris Ashley blieb neben dem Gouverneur stehen. »Sie haben mir mein Leben zurückgegeben. Ich danke Ihnen.« »Danke, Sir«, schloß Gerald sich ihr an. Martin Snelling streckte ihm die Hand entgegen, und Gerald ließ seine Mütze von der rechten Hand in die linke wandern. »Viel Glück«, sagte der Gouverneur, und lauter: »Ihnen allen viel Glück.« Während er seine Schokolade verzehrte, folgte Bergman ihnen aus dem Zimmer des Gouverneurs und blieb neben der Sekretärin stehen. »Ob Sie mir wohl ein Taxi kommen lassen könnten, Fräulein? Ich stünde tief in Ihrer Schuld.« Dann trat er ans Fenster; wenige Augenblicke später sah er die Gruppe den Palast verlassen. Wie vier Fremde gingen sie auf die Limousine des Admirals zu. Seitdem sie das Büro des Gouverneurs verlassen hatten, war Duane immer wieder bemüht gewesen, die Aufmerksamkeit Lieutenant Murdochs auf sich zu lenken. Du lieber Himmel, der Lieutenant war frei, aber er benahm sich nicht so. Vielleicht konnte er sich nicht an den Gedanken gewöhnen, vielleicht konnte er es noch nicht fassen. Duane wartete, bis die drei -559
anderen im Fond saßen, bevor er die Tür zum Beifahrersitz öffnete. Es war jetzt seine erste Fahrt - von vielen - in der Limousine, die Duane genoß. Die Sonne war warm und der Himmel blau, und der Tag schien ihm entgegenzuleuchten. Er hätte sich noch stundenlang so herumkutschieren lassen können, aber die anderen Fahrgäste schienen keine große Lust auf Spazierfahrten zu haben. Im Inneren des Wagens war Grabesstille. Duane konnte sie alle im Rückspiegel sehen. Doris Ashley saß neben dem Admiral und dem Lieutenant. Sie sahen aus wie frisch aus dem Wachsfigurenkabinett. Viel schneller, als Duane es gewünscht hätte, waren sie wieder auf dem Stützpunkt. »Bringen Sie mich zu meinem Befehlsstand«, wies der Admiral den Fahrer an. Als die Limousine hielt, sagte er: »Setzen Sie die anderen ab. Dann warten Sie vor meinem Haus. Mrs. Ashley und Mrs. Murdoch reisen ab; Sie fahren beide.« Er stieg aus, ohne Doris Ashley anzusehen oder mit ihr auch nur ein Wort zu wechseln. Als der Admiral gegangen war, fühlte Gerald sich gelöst, keiner Autorität mehr unterstellt. Er rückte an den Rand der Sitzbank, so weit wie nur möglich weg von Doris, aber es war ihm nicht weit genug. Blinde Wut erfüllte ihn. Er glaubte zu explodieren. Doris Ashleys Anwesenheit war nicht länger zu ertragen. »Halten Sie!« »Sir«, sagte der Fahrer, »ich setze Mrs. Ashley ab und...« »Halten Sie an, habe ich gesagt. Halten Sie sofo rt an!« Er war drauf und dran, nach vorn zu klettern und die Handbremse zu ziehen. Obwohl die Limousine noch in Fahrt war, öffnete er den Schlag. »Ja, Sir«, sagte der Fahrer. Dieser Murdoch war tatsächlich bescheuert und hatte es auch schon bewiesen. »Ja, Sir.« Sie waren noch fast zwei Kilometer von der Offiziersunterkunft entfernt. Gerald setzte seinen Fuß auf das Trittbrett, stieg aus und knallte die Tür zu, ohne sich noch einmal -560
umzusehen. »Ich muß Hester informieren«, hatte Doris Ashley im Büro des Gouverneurs gesagt. Gerald sah der Limousine nach, sah Doris Ashleys Kopf im Heckfenster. Wie gerne hätte er den Wagen mit Steinen beworfen! Er zitterte vor Wut, und eine nicht enden wollende Folge ineinander verschlungener Erinnerungen zog durch seinen Kopf: Hester und ihre Lügen; Hester und Bryce; Hester, wie sie, mit Doris an ihrer Seite, die vier Burschen identifizierte; Doris, wie sie log und einen Meineid schwor; Hester, wie sie im Gerichtssaal auf Joseph Liliuohe und die drei anderen zeigte; Hester mit Bryces Baby in ihrem Schoß, alle diese Monate im Kutscherhaus, in ein und demselben Schlafzimmer, wie sie »Gute Nacht, Gerald«, sagte und ihm den Rücken zukehrte. Wilder Zorn wogte durch Gerald, eine Welle des Hasses nach der anderen. Immer stärker wurde seine Abscheu vor Hester und Doris, und sein Gesicht verfärbte sich. Während er auf das Q.U.O. zuging, sah er nur die Mutter und ihre Tochter vor sich, die sein Leben zu einer Jauchegrube gemacht hatten. Er wollte sie nie wiedersehen, solange er lebte. Vor dem Haus des Admirals entstieg Doris Ashley der Limousine und blieb neben dem Fahrer stehen. »Ich fahre in einer Stunde«, sagte sie. Es war ein Versprechen. Nichts auf dieser Erde konnte Doris Ashley hier im Haus dieses grausamen, gemeinen und unverschämten Mannes halten. »In spätestens einer Stunde.« Sie wandte sich ab; sie war schon unterwegs nach Windward. Sie betrat die Eingangshalle und konnte sich nicht länger zurückhalten. »Hester!« Ihre Stimme schallte durchs ganze Haus. Doris Ashley strahlte. »Hester!« Sie wollte zur Treppe und sah ihre Tochter auf der Terrasse. Doris Ashley eilte durch den Salon. »Kleines!« Den Zeigefinger zwischen den Seiten, schloß Hester das Buch, das sie gerade gelesen hatte. Triumphierend hob Doris Ashley die Arme. »Kleines, wir sind frei! Wir sind frei!« Die Arme immer noch über dem Kopf, trat sie auf die Terrasse hinaus und auf Hester zu, um sie zu umarmen. »Wir fahren nach -561
Windward zurück!« Ihr war nach Tanzen zumute. »Wir sind frei!« Hester entzog sich den Armen ihrer Mutter. »Ich bin es nicht«, sagte Hester und blickte auf den Ozean hinaus, auf Joseph Liliuohe, irgendwo auf dem Meeresgrund. Für alle Zeiten war sie an Joseph Liliuohe gekettet. Nie wieder würde sie frei und unbeschwert sein. Diesen Zustand konnte sie nur ertragen, wenn sie unverzüglich mit ihrer Buße begann. »Ich bin es nicht«, wiederholte sie; ihre Worte waren an Joseph Liliuohe gerichtet. Sie ging auf die Tür zu. Doris Ashley eilte ihr nach und hielt sie fest. Hester leistete keinen Widerstand. »Du bist frei, Kleines! Wir sind es beide. Alles liegt hinter uns.« Sie legte ihren Arm um Hester. »Laß uns Zeit, Kind. Schon bald wird dieser... Alptraum verblassen, sich in nichts auflösen. Wir machen einen neuen Anfang!« Doris Ashley führte ihre Tochter ins Haus und die Treppe hinauf. »Wir müssen packen«, sagte sie. Auf Windward würde sie Hesters Pflege den Vorzug geben. Hesters Glück würde an erster Stelle stehen. Auf Windward würde sie sich bestimmt verändern. Doris Ashley legte ein feierliches Gelöbnis ab. Gerald schwitzte in seiner blauen Ausgeh-Uniform, als er das Q.U.O. erreichte. Er stieß die Eingangstür auf und marschierte den Gang hinunter zu seinem Zimmer. Er knallte die Tür zu, verschloß sie und warf seine weiße Mütze auf einen Stuhl. Sie fiel zu Boden, und er ließ sie liegen. Dann zog er seine Jacke aus und warf sie aufs Bett. Als ob er es schrecklich eilig hätte, legte er seine Kleidung ab und schleuderte Hemd, Hose und Unterwäsche wahllos auf das Bett. Er zog seine schwarzen Schuhe und die Socken aus. Er holte frische Unterwäsche aus der Kommode und aus dem Schrank eine weiße Segeltuchhose und ein Hawaii- Hemd mit kurzen Ärmeln. Er bückte sich nach seinen weißen -562
Wildlederschuhen. In wenigen Minuten war er fertig. Seine Brieftasche lag in einer Lade. Er zählte sein Geld; mehrere hundert Dollar. Obwohl er seines Dienstes enthoben war, hatte er weiterhin Sold und Zulagen bezogen. Seit seiner Verwahrung im Quartier der unverheirateten Offiziere hatte er nur geringfügige Ausgaben gehabt. Gerald steckte die Brieftasche ein und schritt zur Tür. Er ging zum Aufenthaltsraum hinüber; er war leer, bis auf einen Lieutenant, der den rechten Arm in Gips hatte und sich tief über den Radioapparat beugte. Gerald setzte sich an einen Schreibtisch und nahm einen Briefbogen aus einer Lade. In der Rille im Lampenfuß lag eine Feder, und Gerald tauchte sie in das Tintenfaß. Er beugte sich vor und schrieb rasch nieder, was er sich im Kopf bereits zurechtgelegt hatte. Ein Bogen genügte. Er faltete ihn zusammen, schob ihn in einen Umschlag und verschloß ihn. Er adressierte ihn an Admiral Glenn Langdon. Mit dem Umschlag in der Hand verließ Gerald die Offiziersunterkunft und ging quer über den Stützpunkt zum Postamt von Pearl Harbor. Dort ließ er den Umschlag in den Postsammelkorb fallen, der stündlich geleert wurde. Als Gerald das Postamt verließ, stand die Sonne genau über ihm; er fühlte sie auf dem Kopf und auf den Schultern. Gerald ging am Befehlsstand vorbei zur Autobushaltestelle. Der Bus war fast leer. Gerald saß auf der anderen Seite vom Fahrer am Fenster. Ohne anzuhalten, brummte der Bus in die Stadt. Gerald zog an der Schnur über seinem Kopf, und als der Bus anhielt, stieg Gerald aus und wanderte auf die Küste zu. Nach einer Weile sah er die Schilder der Bootsverleiher. Er ging an den großen Booten, jedes mit einem eigenen Skipper, vorbei. Auch Bootseigner riefen ihn an, aber Gerald achtete nicht auf sie und setzte seinen Weg fort. Weit vorn sah er schließlich ein leichtes Motorboot auf einen Landesteg zuhalten. Er beschleunigte seine Schritte. Neben der Landungsbrücke stand eine Holzhütte; ein Schild -563
prangte darüber mit der Aufschrift HAPPY HOLIDAYS und darunter William »Billy« Finch. Finch war ein kleiner Mann Mitte Sechzig mit einem silbergrauen Schnurrbart. Er trug eine Seglermütze und ein gelbes Hemd mit dem gestickten Schriftzug »Billy« auf der Brusttasche. Finch sah den zackigen Schnösel näher kommen, piekfein herausgeputzt, wie für eine Vergnügungsfahrt, um seinen Freunden in den Staaten wenigstens etwas erzählen zu können. Finch langte durchs Fenster in seine Hütte hinein und holte eine Klemmappe heraus. »Was kann ich für Sie tun, mein Freund?« »Ich möchte ein Boot mieten«, antwortete Gerald. »Da sind Sie bei mir gerade richtig«, sagte Finch, trat auf den Bootssteg hinaus und bedeutete Gerald, ihm zu folgen. »Ein wenig vor der Küste kreuzen, wie? Hoffentlich wird's Ihnen nicht zu einsam.« Finch breitete die Arme aus. »Wir haben sie in allen Formen und Größen, wie's in den Puffs so schön heißt.« Gerald blieb neben einem schnittigen Motorboot stehen. Es war etwa sieben Meter lang und hatte vorn eine kleine Kabine. »Sie könnten keine bessere Wahl treffen«, meinte Finch. »Sie haben wohl einige Erfahrung, mein Freund?« »Ja, ja, die habe ich«, antwortete Gerald und stieg in das Boot. »Was bin ich schuldig?« Finch nannte einen Betrag und verwünschte sich, als er Geralds Brieftasche sah. »Plus Einsatz.« Gerald zahlte, wandte sich um und sah sich das Inbord-Kajütboot aus der Nähe an. »Schlüssel... Anlasser... Kompaß«, erklärte Finch und deutete auf die Instrumententafel, die durch einen Windfang geschützt war. Er schob Geralds Geld in die Tasche und wies auf den Gashebel hin, der zu Geralds Rechten aus der Seitenwand herausstand. »Vorwärts und rückwärts«, sagte Finch. »Es hat einen 25-PS-Motor, der auf gut zehn Knoten kommt, wenn Sie sie brauchen. Schwimmwesten in der Kajüte, aber es ist ein herrlicher Tag, und das Boot wirklich prima in Schuß. He!« Finch hielt ihm die Klemmappe hin. In seinem Ärger über seine -564
eigene Dummheit hätte er es fast vergessen: »Ich brauche Ihre Unterschrift.« Gerald kritzelte seinen Namen auf eine Weise hin, daß der Schriftzug so gut wie unleserlich war. Finch ging vor, um das Haltetau zu lösen. Gerald drehte den Schlüssel herum und drückte auf den Anlasserknopf. Der Motor sprang sofort an, tief dröhnend und mit gurgelndem Ton. Als Finch die Heckleine abwarf, drehte Gerald das Lenkrad und schob den Gashebel langsam vor. Finch legte die Hand an den Mund und rief ihm etwas nach, aber Gerald konnte den Mann im gelben Hemd nicht mehr hören. Ihn nicht und auch sonst nichts. Er steuerte das Boot durch den Hafen aufs offene Meer hinaus. Als er sich von der Küste entfernte, wurde der Wellengang stärker. Gerald blickte landeinwärts, um sich zu orientieren, und fuhr dann parallel zur Küste weiter. In allen Einzelheiten erinnerte er sich an den Zeitungsbericht über Joseph Liliuohes Begräbnis und nahm Kurs auf die kleine Bucht, von der aus Joe aufs Meer hinausgefahren worden war. Der metallische Geschmack in Geralds Mund wurde bitterer. Die Brise wurde steifer, und sein Hemd bauschte sich im Wind. Es fröstelte ihn trotz der Sonne. Gischt schäumte auf und sprühte über den Windfang, der sich über die Kajütenwand wölbte, und Gerald konnte das Salzwasser schmecken. Er ließ Honolulu hinter sich, und da er wußte, daß es kein Entkommen gab, bemühte er sich, keine Angst zu haben. Früher, als er gedacht hatte, erreichte er die Bucht. »Zu bald! Zu schnell!« hätte er rufen wollen, unterdrückte aber die Regung und zwang sich, zur Küste hinüberzublicken und sich die Menschenmenge vorzustellen, die gekommen war, um den toten Joseph Liliuohe zu ehren. Als Gerald mit der Bucht auf einer Höhe war, drehte er das Steuer hart nach Backbord. Augenblicke später drehte er es wieder, diesmal nach Steuerbord, und warf einen Blick über die Schulter. Die Bucht lag hinter ihm. Er befand sich nun etwa zehn Kilometer südlich des Strandes, von dem aus Joe, nach Sarahs Wunsch, seine letzte Fahrt -565
angetreten hatte. Gerald stieg vom Sitz herunter, blieb beim Steuerrad stehen und hielt es fest, fuhr weiter und versuchte nichts zu denken, sich so zu verhalten, als führe er den Befehl eines Ranghöheren aus. Das Boot durchschnitt die weißen Schaumkronen und stürzte dumpf aufschlagend in Wellentäler hinab. Längst war kein Land mehr zu sehen, die Möwen waren verschwunden, und Gerald war allein auf dem Meer. Mit der Linken das Steuer festhaltend, bewegte sich Gerald, so weit er konnte, auf das Heck zu. Als seine Finger vom Steuer abglitten, drehte er sich rasch herum und hockte sich nieder, um die Türen des hölzernen Motorengehäuses zu öffnen. Er spürte, wie sich das Boot nach steuerbord drehte. Gerald ließ sich auf die Knie fallen und langte hinunter, hinter den Motor, nach dem Flutungsventil. Das Ding ließ sich leicht heraus drehen. Gerald richtete sich wieder auf und stürzte auf das Steuerrad zu, um das schlingernde Boot zu stabilisieren. Dann warf er das Flutungsventil weit ins Meer hinaus. Er hielt das Steuerrad mit der rechten Hand fest und öffnete mit der linken die Kajütentür. Er sah die Schwimmwesten, konnte sie aber so nicht erreichen; ließ das Steuer los, stürzte in die Kajüte und schleuderte die Schwimmwesten heraus wie ein Hund den Sand, wenn er seine Knochen ausgräbt. Rücklings verließ er die Kajüte, richtete sich auf, packte das Steuer mit der linken Hand, bückte sich wieder und warf mit der rechten die Westen über Bord. Als sie im Kielwasser des Bootes trieben, schob Gerald den Gashebel ganz nach vorn. Der Motor reagierte, und der Bug hob sich aus dem Wasser. Eine Zeitlang steuerte Gerald genau nach Westen. Der salzige Sprühregen, der nun ständig gegen und über den Windschutz kam, ließ seine Augen brennen. Sein Hemd war naß, seine Hände waren klamm. Er machte eine Faust aus seiner linken Hand und hauchte in die Öffnung aus Daumen und Zeigefinger. Dann drehte er den Schlüssel um, und der Motor starb ab. Solange das Boot sich bewegte, barg das geöffnete Ventil noch -566
keine Gefahr. Das runde Loch im Boden wirkte wie ein Schöpfeimer und ließ Wasser aus dem Boot auslaufen, doch als dieses anfing zu rollen und breitseitig auf den Wellen zu reiten, drückte sofort Wasser ins Innere. Angst überkam Gerald. Er klammerte sich an das Steuer, als ob es ihn retten würde. Er konnte kaum atmen und lehnte sich erschöpft an den Sitz. Während er sich noch ausruhte, hörte er ein glucksendes Geräusch und blickte nach unten. Wasser umspülte das ganze Deck, schwappte zum Heck hinauf und wirbelte um das Motorengehäuse. Die See stieg durch das offene Ventil. Der Kielraum lief über. Gerald wollte die Augen schließen, aber er konnte es nicht und versuchte zu glauben, daß die Bluegill kommen und ihn an Bord nehmen würde. Dann spürte Gerald, wie das Wasser durch seine Schuhe sickerte und, als der Bug in ein Wellental hineinstieß, wie es über seinen Knöcheln zusammenschlug. Das Boot sank. Gerald wollte um Hilfe rufen und sah sich nach einer Schwimmweste um. Er mußte den Abfluß verschließen! Das Wasser stieg! Gerald fror. Er zitterte vor Angst, doch den Motor ließ er nicht mehr an. Er war auf dem Weg zu Joseph Liliuohe. Zwei Stunden später, in Pearl Harbor, saß Duane York auf einem Stuhl, der gegen die Wand des Zimmers gelehnt war, in das man ihn seit der Ermordung Joseph Liliuohes gesteckt hatte. Er trug seine weiße Mütze, Socken und seine schwarzen Schuhe, hatte aber nur seine Unterwäsche an und einen gläsernen Aschenbecher auf dem Bauch. Duane hielt die brennende Zigarette zwischen Zeige- und Mittelfinger, als ob er sie vergessen hätte, und es bildete sich ein langer Aschenkegel. Erst im letzten Augenb lick streifte er die Zigarette am Rand des Aschenbechers ab, nahm einen tiefen, tiefen Zug und füllte seine Lunge, bevor er den Rauch aus Mund und Nase ausstieß. Die Schranktür war offen und der Schrank leer, und leer war auch die Kommode gegenüber dem Bettende. Duane hatte sofort gepackt. -567
Sein Seesack lag vollgestopft auf dem Bett, sein Nähbeutel offen daneben. Seine Uniform, Bluse und Hose, lagen ebenfalls auf dem Bett. Er hatte das Bett abgezogen und Laken und Kissenbezug zusammengefaltet. Er würde den Raum so sauber verlassen, wie er ihn vorgefunden hatte. Duane York dachte nach. Nie wieder wollte er einen Gerichtssaal, geschweige denn einen Richter sehen. Er konnte sich schon fast nicht mehr an die Zeit erinnern, wo er sich um nichts anderes zu sorgen brauchte, als auf das morgendliche Wecken zu warten und sich an Bord der Bluegill zum Dienst zu melden; ja, und daß er mit seiner Löhnung bis zum nächsten Zahltag auskam, das hatte er nie geschafft, wenn nicht der Lieutenant gewesen wäre, Murdoch, den er immer um ein paar Piepen anpumpen konnte. Duane bemühte sich, nicht an den Lieutenant zu denken, und auch nicht an Bergman und an den Ratschlag des Alten, des neuen Prozesses wegen schnellstmöglich in die Staaten zurückzukehren. Solche Überlegungen brachten ihn gleich wieder zu dem Abend im Haus des Admirals zurück, als die Frau des Lieutenants ihren Sermon abgelassen hatte. Du lieber Himmel! Duane erdrückte die Glut seiner Zigarette und beugte sich vor, bis die Vorderfüße des Stuhls auf den Boden knallten. Wie auch immer, ihm konnte man nichts anhaben. Der Lieutenant war der einzige Mensch, der Duane mit diesem scheußlichen Wochenende im Wald in Verbindung bringen konnte, und Duane vertraute dem Lieutenant mehr als sich selbst. Er wußte, daß er sich deswegen keine Sorgen zu machen brauchte. Ihm konnten sie nichts anhängen. An diese drei Burschen zu denken, verursachte ihm Unbehagen. Er sah sie vor sich, an die Bäume gebunden. Sie hatten überhaupt nichts verbrochen. Alle vier waren vollkommen unschuldig! Doch immer, wenn Duane an die drei Burschen dachte, kam Joseph Liliuohe ins Bild. Er konnte Joseph Liliuohe genauso sehen wie die drei Burschen, als er sie losgebunden hatte. Herrgott! Duane stand auf und stellte den Aschenbecher -568
auf den Stuhl. Er ging zum Bett und holte sich eine neue Zigarette. Eigentlich waren Duane und der Lieutenant genauso unschuldig wie diese Hawaiier. Die Frau des Lieutenants und ihre Mutter, diese Hexe, die waren die Schuldigen. Sie hatten an allem schuld. Er dachte an Lieutenant Partrid ge. Immer wenn er an Lieutenant Partridge dachte, kam ihm die Galle hoch. Er kehrte zu seinem Stuhl zurück, hob den Ascher auf, schob den Stuhl vor, kippte ihn gegen die Wand und machte es sich bequem. Wieder von vorn anfangen, als ob nichts geschehen wäre. Etwas Besseres konnte er nicht tun. Vielleicht kam bei der ganzen Geschichte sogar etwas Gutes heraus. Vielleicht hielt es ein paar andere Typen in Honolulu davon ab, mit der Gattin eines Offiziers oder sonst einer Frau handgreiflich anzubändeln. Duane mußte alles vergessen und vergraben, was seit dem Abend vorgefallen war, als er sich vor dem Whispering Inn den Wagen des Lieutenants geliehen hatte. Am besten fing er gleich damit an. Er beschloß, Zivilklamotten anzuziehen, in die Stadt zu fahren, sich ein richtig nettes Restaurant auszusuchen und das größte Rindskotelett zu bestellen, das sie dort hatten. Er streifte die Asche ab, und als er die Hand hob, um einen letzten Zug zu machen, hörte er jemanden an die Tür klopfen. »Es ist offen.« Vermutlich ein Empfangskomitee, dachte Duane, Schiffskameraden von der Bluegill. Es war Commander Saunders, der durch die Tür kam. Duane sprang auf und nahm Haltung an. Er wußte, daß er verdammt bescheuert aussah, mit dem Ascher in der einen und einer Zigarette in der anderen Hand. »Verzeihung, Sir! Ich wollte gerade...« stammelte er und brach ab. O Jesus, er war in Unterhosen, und vor ihm stand ein Commander. »Verzeihung«, sagte Duane, drückte die Zigarette aus, stellte den Ascher ab und nahm abermals Haltung an. Plötzlich fiel ihm ein, daß er seine Mütze aufhatte. Mann, er sah wirklich zum Piepen aus! -569
»Rühren Sie!« sagte Saunders. »Jawohl, Sir. Danke, Sir.« Duane deutete auf die Uniform auf dem Bett. »Ich bin gleich angezogen, Sir.« »Gut.« Saunders drehte sich um, schloß die Tür und blieb davor stehen, während Duane seine Hose anzog und die Bluse vom Bett nahm. Dabei vergaß er die gottverdammte Mütze und schlug sie sich vom Kopf, als er seine Arme durch die Ärmel stieß. Er bückte sich, um die Mütze aufzuheben, und verwünschte seine Ungeschicklichkeit. Er benahm sich ungeschickter als ein frischgebackener Rekrut. Und was, zum Teufel, wollte der Commander, der Flaggoffizier des Admirals, eigentlich von ihm? Endlich war Duane fertig; die Beine leicht gespreizt, die Hände mit der Mütze auf dem Rücken verschränkt, stand er vor dem Commander. »Jawohl, Sir, Sie wünschten mich zu sprechen?« Der Commander blieb vor der Tür stehen. Du lieber Himmel, war der Kerl groß! »Haben Sie Lieutenant Murdoch gesehen?« »Den Lieutenant? Ja doch, ja, Sir«, antwortete Duane. »Wir sind zusammen nach Pearl zurückgekommen.« »Haben Sie ihn seitdem gesehen?« »Nein, Sir, das habe ich nicht.« »Haben Sie etwas von ihm gehört?« fragte Saunders. »Nein, Sir, das habe ich nicht«, antwortete Duane. »Ich habe von niemandem gehört. Ich bin die ganze Zeit allein hier gewesen.« »Haben Sie eine Idee, wo ich ihn finden könnte?« »Nein, Sir, habe ich nicht«, antwortete Duane. »Verzeihen Sie, Sir, ist etwas nicht in Ordnung, mit dem Lieutenant, meine ich.« »Ich brauche eine Information«, erwiderte Saunders. »Vielleicht können Sie mir helfen, York.« »Ich werde es gewiß versuchen, Sir.« »Wer war mit dabei, als Sie diese drei Burschen an die Bäume banden und sie auspeitschten?« -570
Duane erschrak so heftig, daß er fürchtete, in Ohnmacht zu fallen. Bis in die Eingeweide hinein drang die Angst. Er hatte das Gefühl, nichts mehr zu wiegen, schwerelos geworden zu sein. »York?« »Sir...« stammelte Duane und kam nicht weiter, weil es ihm wieder den Atem verschlug. »Ich...« begann er und ve rstummte von neuem. »Sie und wer noch?« »Sir... ich...« stotterte Duane und schüttelte den Kopf. »Ich habe nichts... Sie sind im Irrtum, Sir.« »Wie viele waren dabei?« fragte Saunders und rührte sich nicht von der Tür weg. »Sir, ehrlich«, sagte Duane. »Ich schwöre es, Sir, ich schwöre es, ich schwöre es beim Leben meiner Mutter. Möge Gott mich strafen, Sir, hier auf der Stelle.« »Gott?« wiederholte Saunders. »Das stimmt, Sir«, stieß Duane hervor. »Ich soll tot umfallen, wenn ich Sie anlüge, Sir. Ich weiß nichts von einer Auspeitschung, von dieser Auspeitschung, Sir.« »Sind Sie ganz sicher, York?« »Jawohl, Sir«, beteuerte Duane und nickte. »Das ist ein Irrtum, Sir. Sie haben... jemand hat einen Fehler gemacht. Ich gebe zu, Sir, daß ich mit dem Lieutenant zusammen war, als er... damals auf Windward. Ich war von Anfang an mit ihm zusammen, von dem Moment an, wo wir uns Joseph Liliuohe schnappten. Ich habe ihn geschnappt, Sir, ich bin aus dem Wagen gesprungen. Ja, das war ich, Sir«, redete er wie rasend und hoffte nicht umzukippen, so groß war seine Angst. »Das ist etwas ganz anderes«, sagte er und schüttelte wieder den Kopf. »Kidnapping. Auspeitschen. Das ist eine Verwechslung, Sir.« Er sah, wie der Commander einen Brief aus seiner Tasche zog. Er sah die offene Klappe des Umschlags. Der Commander nahm ein Papier heraus und entfaltete es. »Hiermit entlasse ich Duane York und die anderen aus jeglicher Verantwortung für die Entführung und Auspeitschung -571
von David Kwan, Michael Yoshida und Harry Pohukaina«, las Saunders aus Geralds Brief an den Admiral vor. »Weder Duane York noch die anderen sind an dieser Tat schuldig und sollten in keiner Weise für die Folgen zur Verantwortung gezogen werden sei es aus strafrechtlicher Sicht, sei es von seiten des Marineministeriums. Ich, der Unterzeichnete, habe die Entführung der drei obengenannten Personen geplant und durchgeführt. Duane York und die anderen haben meinen Befehlen gehorcht. Sie sind ebenso unschuldig wie die Opfer.« Saunders fixierte Duane. »Gezeichnet Gerald Murdoch, Lieutenant, United States Navy«, las Saunders. Duane dachte, er müßte im nächsten Moment losheulen. Der Lieutenant mußte völlig übergeschnappt sein. Einfach verrückt. »Bitte es nicht als Respektlosigkeit aufzufassen«, sagte Duane. »Aber ich glaube es nicht. Ich glaube nicht, daß der Lieutenant das geschrieben hat. Nein, Sir.« »Er hat es geschrieben«, erwiderte Saunders und faltete Geralds Brief zusammen. »Er hat dem Admiral diesen Brief geschickt.« Saunders schob den Brief wieder in den Umschlag. »Sir... Commander... jemand macht da einen großen Fehler«, lispelte Duane. »Die anderen«, sagte Saunders. »Die anderen. Ich will ihre Namen.« »Sie irren sich, Sir«, stieß Duane hervor. »Ich schwöre, Sie irren sich. Hören Sie...« sagte er und brach ab, weil er nicht weiter wußte, weil er keine Worte fand. »Sie haben zehn Sekunden«, sagte Saunders. »Warten Sie, Sir«, flehte Duane. »Hören Sie, Sir.« Duane war bereit, vor ihm auf die Knie zu fallen. Er war zu allem bereit. »Sir, Lieutenant Murdoch, der... verzeihen Sie, Sir, aber der muß verrückt geworden sein. Es muß ihm etwas zugestoßen sein, der Prozeß und alles, Sir. Was er da geschrieben hat... in seinem Brief, meine ich..., das ist alles nicht wahr, Sir. Nein, nein, kein -572
Wort ist wahr. Lieutenant Murdoch weiß das besser als sonst jemand. Er würde es wissen, wenn er nicht verrückt wäre, Sir.« Duane sah, wie der Commander einen Schritt von der Tür weg und auf ihn zu tat. »Es ist nicht wahr, Sir!« Mit jedem weiteren Schritt schien der Commander größer zu werden. »Es ist nicht wahr!« Der Commander schien das Licht im Zimmer auszulöschen. Duane wich zurück und stieß mit den Beinen ans Bett. Der Commander stand unmittelbar vor ihm. Duane hob seine Arme, beugte die Ellbogen und verbarg das Gesicht hinter seinen Fäusten. Saunders stieß Duanes Arme zur Seite, hob seine rechte Hand, holte aus und legte sein ganzes Körpergewicht in den Hieb, als er Duane mit dem Handrücken einen Schlag versetzte. Der Schlag rief ein dumpfes Geräusch hervor und schleuderte Duane nach links. Hart traf er auf das Bettende auf, flog von dort gegen die Kommode, prallte ab und knallte gegen die Wand. Duane York schrie auf. Es dröhnte in seinen Ohren und in seinem Kopf. Er fühlte den Schmerz in seinem Mund. Er sah den Commander auf sich zukommen, krümmte sich zusammen, wollte sich verstecken, aber der Commander krallte die Rechte in Duanes Brust, hob ihn hoch und stemmte ihn gegen die Wand. »Sie haben zehn Sekunden.« »Ich bin unschuldig, Sir!« »Acht.« »Ich habe es nicht getan!« sagte Duane. »Ich bin diesen Burschen nicht einmal in die Nähe gekommen.« »Fünf... vier... drei...« »Forrest Kinselman«, flüsterte Duane. Sein Kopf fiel nach vorn und er sprach zum Fußboden. »Wesley Trask. Conrad Hensel.« »Alle von der Bluegill?« fragte Saunders. »Ja, Sir«, antwortete Duane. Saunders gab ihn frei, durchquerte das Zimmer und öffnete die Tür. Die zwei Männer der -573
Küstenwache, die Saunders auf dem Flur zurückgelassen hatte, nahmen Haltung an. »Forrest Kinselman, Wesley Trask, Conrad Hensel«, wiederholte Saunders die Namen, und einer der beiden Männer schrieb sie auf einen kleinen Notizblock. Kurz zuvor, auf seinem Befehlsstand, hatte der Admiral dem Commander Geralds Brief gegeben. Nachdem Saunders ihn gelesen hatte, ließ sich der Admiral in seinen Sessel fallen; er war ein alter Mann geworden. »Partridge«, murmelte der Admiral, »Murdoch. Jetzt auch noch York und die anderen. Wie viele andere?« Er sah zu seinem Flaggoffizier auf und erhob sich. »Jimmy, ich habe mein Kommando entehrt.« »Nein, Sir«, widersprach Saunders. Und lauter: »Nein, Sir. Das haben Sie nicht, Sir. Sie haben sich für Ihre Offiziere und Ihre Männer eingesetzt, und sie sind Ihnen in den Rücken gefallen. Sie haben uns diese Schande angetan, Sir, uns und der Navy. Wir werden ausmisten müssen, Admiral«, sagte Saunders und steckte Geralds Brief in die Tasche. »Wir werden unseren Stützpunkt sehr schnell säubern.« Jetzt, in der Tür von Duanes Zimmer, sah Saunders den zwei Männern von der Küstenwache nach, die sich auf den Weg machten, um die drei Ratten zu ve rhaften; dann wandte er sich dem vierten Halunken zu. »Setzen Sie Ihre Mütze auf«, herrschte Saunders ihn an. »Es ist das letzte Mal, daß Sie sie tragen, die Mütze und die Uniform. In der Navy haben Sie nichts mehr zu suchen, Sie Dreckskerl. Sie werden wegen Wehrunwürdigkeit entlassen!« Lange vorher, um die Mittagszeit dieses Tages, lag Prinzessin Luahine auf einer Chaiselongue vor den offenen Türen zur Terrasse ihres Penthouses im Western Sky. Sie achtete nicht auf die flatternden Vorhänge, die vom Seewind aufgebläht und in Segel verwandelt wurden. Ihre Füße waren bloß, und ihr rechter Knöchel, geschwollen und verfärbt, mit einer elastischen Bandage versehen. Das Telefon stand auf dem Fußboden, und ein dicker Stock lehnte an der Chaiselongue. Tom stand auf der -574
Schwelle zur Terrasse; in seinem Kopf ging alles durcheinander. Noch einmal sah er Sarah, wie sie an jenem Sonntagmorgen, als alles angefangen hatte, verstört in die Küche gekommen war; er sah Joe und seine drei Freunde im Polizeipräsidium; er sah Joe im Leichenschauhaus und erinnerte sich, wie er versucht hatte, Sarah den schrecklichen Anblick zu ersparen. »Ich hätte mehr Verstand haben sollen«, ächzte die Prinzessin. »Schließlich bin ich ja schon doppelt so alt.« Sie langte nach ihrem Stock. »Du solltest heraufkommen, habe ich gesagt, und wir feiern. Thomas. Thomas!« Er sah sie an. »Was hältst du von Mittagessen? Ich lasse uns ein Festmahl heraufschicken«, schlug sie vor. »Ich bin nicht sehr hungrig.« »Ich schon, und ich bin es müde, immer allein zu essen.« Sie deutete mit dem Stock auf ihn. »Hör mir zu, mein Junge. Die Show ist vorbei. Wir müssen weiterleben. Ich habe eine Ranch, und du ein Büro. Ein Anwaltsbüro. Und ein Mädchen. Such dir was Leckeres aus. Ich bestelle für dich.« Das Telefon läutete. Der Staatsanwalt saß allein in seinem Büro im Gerichtshaus. »Phil Murray«, meldete er sich. »Sie haben Ihre Sache gut gemacht, Philip«, sagte die Prinzessin. »Kommen Sie einmal auf Big Island heraus, und ich brate Ihnen was.« »Ja, ja.« Diese verdammte Schuppenflechte machte ihn fertig. »Hören Sie, ich dachte, warum sollen Sie es nicht von mir erfahren, der Gouverneur hat ihre Strafen herabgesetzt.« »Sagen Sie das noch mal. Klar und deutlich.« »Sie sind frei!« sagte Murray. »Sie sind frei!« Die Prinzessin hob den Stock und stieß damit auf den Boden, als ob eine Schlange zusammengeringelt daläge und sich anschickte, ihre Giftzähne in ein verschrecktes Opfer zu schlagen. Dann hörte sie Murray schweigend zu. Tom sah, wie die Prinzessin den Hörer auf die Gabel legte und den Stock zu Boden fallen ließ. Sie hielt -575
den Kopf gesenkt. »Das war Phil Murray«, sagte sie und erzählte ihm alles. »Frei?« stieß Tom mit sich überschlagender Stimme hervor. Wilde Wut stieg in ihm auf. Er kam auf die Prinzessin zu und verfing sich in den flatternden Vorhängen. Einen Augenblick lang war er hilflos; dann fuchtelte er mit den Armen herum, um sich zu befreien. Die Prinzessin, das Telefon auf dem Bauch, bewegte sich nicht. Sie fühlte sich als Eindringling, sie war Zeugin seiner persönlichen Verzweiflung. Tom konnte ihr nicht gegenübertreten, er konnte niemandem gegenübertreten. Er wollte weglaufen, als ihm einfiel - und das war seine schwerste Niederlage -, daß er nicht einmal laufen konnte, und verließ, den Fuß nachziehend, das Schlafzimmer der Prinzessin. Sie rief ihm nach, befahl ihm zu bleiben, aber er hörte sie nicht. Als ob man ihn gejagt hätte und er auf wunderbare Weise entkommen wäre, blieb Tom, nach Atem ringend, auf dem Gang neben einem Feuerlöscher stehen. Aber er konnte nicht entkommen. Man hatte sie freigelassen! Tom hörte Schritte und sah ein engumschlungenes junges Paar. Sie blieben vor den Aufzügen stehen. Tom folgte ihnen, zerrte an seinen Manschetten, betrat hinter ihnen den Aufzug und drückte sich in eine Ecke. Die Fahrt in die Halle hinunter nahm kein Ende. Heitere Stimmen füllten den Aufzug; Touristen machten und verwarfen Pläne für den Nachmittag und Abend. Kein Wort fiel über den Prozeß, über die Angeklagten, das Verbrechen, über das Urteil, das gegen sie ergangen war. Tom hätte aufschreien und Ruhe fordern mögen, um ihnen von der Niedertracht des Gouverneurs zu erzählen und ihnen zu sagen, daß Mord in Hawaii nicht gesühnt wurde. Er verließ als letzter den Aufzug. Die Halle war ein Kaleidoskop von tausend Farben und Stimmen. Für Tom waren sie alle Verräter und Feinde, Teil einer ausgedehnten, mächtigen Verschwörung. Und sie beachteten ihn nicht, diese liederlichen Strolche, für die die Aussetzung des Urteils durch den Gouverneur der erwartete und willkommene -576
Höhepunkt eines bedauerlichen Zwischenfalls war. Er verachtete sie. Sie waren alle schuldig. An den Pkws und Taxis vorbei, die halbmondförmig vor dem Hotel geparkt waren, erreichte er die Kalakau Avenue. Erst jetzt wurde Tom bewußt, daß seine Flucht zwar zu Ende war, er aber kein Ziel vor Augen hatte. Er war nicht imstande, vor Sarah hinzutreten und ihr zu sagen, daß man sie betrogen hatte. Er konnte nicht heimgehen, seinen Eltern in die Augen sehen, sich ihre nutzlosen Proteste gegen das Vorgehen des Gouverneurs anhören. Er konnte nicht ziellos durch die Straßen streifen. Und es war dieses dringende Bedürfnis, völlig allein zu sein, sich zu verstecken, was ihn in sein Büro führte. Eine große Müdigkeit überkam ihn, als er die steile Treppe hinaufkletterte. Am oberen Treppenabsatz blieb er stehen und nahm die Schlüssel aus der Tasche. Der gelbe Zettel mit der Aufschrift BIN UM VIER ZURÜCK. BITTE NACHRICHT HINTERLASSEN machte ihn wütend. Er riß den Zettel von der Tür. »Welche Nachrichten?« knurrte er. Er betrat sein Büro, schloß die Tür hinter sich und versperrte sie. Dann ließ er sich in seinen Sessel fallen. Ein schwerer, muffiger Geruch hing im Raum. Schwach wie aus weiter Ferne drang Verkehrslärm herauf. Tom war endlich allein. Beim ersten Klingeln des Telefons wußte Tom, daß Sarah es war und daß die Prinzessin es ihr gesagt hatte. Nach viermaligem Läuten verstummte es. Er wurde schläfrig. Er spielte mit dem Gedanken, sich auf dem Schreibtisch auszustrecken, oder auf dem Sisalteppich, den seine Mutter zur Einrichtung beigesteuert hatte. Er lehnte sich zurück und schloß die Augen und war doch völlig wach und erduldete seine Qual. Als er später Schritte hörte, wußte Tom, daß es Sarah war. Noch bevor es klopfte, erkannte er ihre Schritte auf der Treppe. »Tom?« Sie klopfte noch einmal. »Tommy? Wenn du da bist, laß mich rein. Bitte, Tommy.« Sie blieb lange vor der Tür stehen, bevor sie ging. Ihre Schritte verklangen, und er schämte sich. Er stand auf, eilte zum Fenster und schob die Vorhänge beiseite. Das grelle Sonnenlicht ließ ihn -577
blinzeln. Er schob das Fenster hoch, aber Sarah war schon fort. Sonnenstäubchen stiegen vom Boden auf. Er beschloß, seinen Schreibtisch zu säubern und öffnete die Lade, schloß sie aber gleich wieder, ohne nach dem Staubtuch zu suchen. Er brauchte kein sauberes Büro. Kein Mensch verpflichtete Tom Halehone. »Rechtsanwalt«, sagte er laut mit der dumpfen Stimme eines Besiegten. Er sagte nichts mehr. Das Telefon blieb stumm. Niemand kam die Treppe herauf. Nur eine Autohupe war hin und wieder zu hören und, nach einer Weile, das Geschrei der Zeitungsjungen. Tom ging zum offenen Fenster zurück und hörte sie rufen: »Sie sind frei!!!!!!!!!« und »Gouverneur setzt vom Gericht verhängte Strafe herunter!« Und: »Doris Ashley und Gerald Murdoch vom Gouverneur auf freien Fuß gesetzt.« Als ein Zeitungsjunge, sich durch den dichten Verkehr schlängelnd, die Straße herunterkam, konnte Tom die dicke Schlagzeile auf der ersten Seite des Outpost-Dispatch lesen. GOUVERNEUR LÄSST MÖRDERTRIO FREI! Tom blieb am offenen Fenster, als hätte man ihn gezwungen, Buße zu tun; er sah dem Zeitungsjungen nach, bis er um die Ecke verschwand und nicht mehr zu hören war. Das Telefon läutete, bis er nahe daran war, es aus der Wand zu reißen. Als es verstummt war, setzte er sich wieder nieder und fand endlich Schlaf. Ein beharrliches Klopfen weckte ihn. Die Sonne war fort, und über dem Büro lagen Schatten. »Sarah!« Tiefe Dankbarkeit wallte in ihm auf. Er sprang auf, wie von einem langen Fieber genesen. Als er zur Tür kam, hörte er ein Kind fragen: »Wo sind wir, Mutti?« Wieder klopfte es. »Mr. Halehone? Sind Sie da, Mr. Halehone?« fragte eine Frau. »Mutti«, maulte das Kind, und die Frau: »Schschschsch.« Tom rückte sich die Krawatte zurecht und öffnete die Tür. Die Frau hatte zwei Kinder mit, und selbst noch in der Düsternis des Ganges konnte Tom die nervöse Belastung im Gesicht seiner Besucherin erkennen. Sie hielt eines der Kinder, blond wie sie, im Arm. Der andere Junge schmiegte sich -578
an ihr Bein. »Ich bin Mrs. Mary Sue Puana«, stellte Sie sich vor. »Die Frau von Dr. Puana. Dr. Puana vom Mercy Hospital.« »In der Notaufnahme?« fragte Tom, und Mary Sue nickte. »Kann ich reinkommen?« Tom bemerkte, daß er die Tür blockierte. Er trat zur Seite. »Eric«, sagte Mary Sue, legte ihre Hand aufsein zerzaustes schwarzes Haar und schob ihn vor sich her. Tom schloß die Tür und drehte sich um. »Die Stühle sind ein wenig staubig«, sagte Tom. »Nein, sie sind sehr staubig.« Er zog die Schreibtischlade auf, nahm das Staubtuch heraus, beugte sich über die Stühle und wischte Sitze und Lehnen ab. »Ich war nicht oft im Büro«, gestand er. »Eigentlich war ich überhaupt nicht hier. Und sonst auch niemand.« »Eric, du setzt dich da hin. Das sind meine Kinder. Das ist Eric. Er ist fast sechs. Das ist Jonathan. Am 4. Juli, am Nationalfeiertag, wird er zwei Jahre alt. Sehr lustig, wie?« Tom hatte also endlich eine Mandantin. Aber er wollte nicht für sie arbeiten. Sie war mit ihren Kindern gekommen. Und offenbar wollte sie sich von Dr. Puana scheiden lassen. Tom wußte nichts von Sche idungssachen und wußte auch nicht, wen er empfehlen sollte. »Handelt es sich um eine Strafsache?« »Ob es sich um eine Strafsache handelt? Ich denke schon«, antwortete Mary Sue und nahm Jonathan auf den Schoß. »Lügen ist doch wohl eine Straftat, nicht wahr? Unter Eid? Nennt man das nicht Meineid, wenn einer im Zeugenstand lügt?« »Ja, das stimmt.« Tom hielt immer noch das Staubtuch in der Hand. Er warf es in die Lade und schob sie zu. Hoch oben, unter seinen Rippen, spürte er einen Knoten. Er schob seinen Sessel vom Schreibtisch weg und setzte sich Mary Sue gegenüber. »Warum sind Sie zu mir gekommen, Mrs. Puana?« »Sie können mich Mary Sue nennen«, sagte sie. »Ich wünsche sogar, daß Sie mich Mary Sue nennen. Ich gehöre jetzt zu Ihnen. Und meine Kinder, meine Söhne, auch.« Sie drückte einen Kuß -579
auf Jonathans Haar. »Jonathan gehört zu Ihnen und Eric auch. Frank... ich kann meinem Mann dafür danken. Es hätte nicht so kommen müssen. Wir hätten heimfahren können, zu mir nach Hause in die Staaten. Ich bat ihn darum. Er versprach mir, es zu tun, aber... er hat sein Versprechen nicht gehalten.« Tom wollte sie nicht drängen, wollte sie nicht aus der Fassung bringen, aber er konnte nicht ruhig bleiben. »Meineid«, hatte sie gesagt, und Tom hatte so viele Lügen gehört, war so lange in Lügen verstrickt gewesen, daß er ihrer Autobiographie ein Ende setzen mußte. »Sie sprachen von Meineid.« »Meineid«, bestätigte Mary Sue. »Jawohl, Meineid. Was heute geschehen ist, hat das Maß vollgemacht. Erst habe ich im Radio gehört, daß sie zehn Jahre bekommen haben. Das schien mir nicht gerade viel für Mord, aber wenigstens wären sie ins Gefängnis gekommen. Sie hätten für ihre Verbrechen bezahlt. Und dann hörte ich, daß der Gouverneur ihnen die Strafe erlassen hat.« »Herabgesetzt«, verbesserte Tom sie. »Sie sind frei!« sagte Mary Sue. »Die Zeitungsjungen liefen durch die Straßen und riefen: ›Extra-Ausgabe! Sie sind frei!‹ Ich war gerade beim Bügeln und dachte: Nach allem, was diese Leute angerichtet haben, können sie jetzt überallhin, nur ich nicht. Und ich dachte: Ich bin es, die im Gefängnis sitzt.« »Ich will nach Hause«, maulte Eric. Mary Sue legte den Arm um ihren Sohn und drückte ihn an sich. »Bald, mein Kleiner, bald«, versuchte sie ihn zu beruhigen. Sie sah Tom an und flüsterte, als ob sie in der Kirche wäre: »Ich mache ihm angst. Ich bin Krankenschwester, ich war es, und sollte mich beherrschen können. Und jetzt mache ich meinem eigenen Sohn angst.« Tom ließ ihr Zeit. »Mrs. Puana... Mary Sue«, sagte er langsam und ganz ruhig. »Wer hat einen Meineid geleistet?« »Alle. Hester Ashley. Sie log im Zeugenstand. Doris Ashley log im Zeugenstand. Dr. Lansing, Dr. Claude Lansing hat -580
gelogen. Frank, der Schlappschwanz, hat gelogen.« Tom klopfte das Herz bis zum Hals. Er zitterte, seine Hände zitterten. Er wollte sie nicht unterbrechen, aber er mußte sich Notizen machen. »Ich nehme mir Papier und Feder, Mrs. Pu... Mary Sue«, sagte Tom, lehnte sich zurück und zog die Lade heraus, hätte sie um ein Haar ganz aus dem Schreibtisch gezogen. O Gott! »Machen Sie nur«, beruhigte sie Tom und beugte sich über Eric. »Es dauert nicht mehr lange, mein Kleiner.« Tom hatte seinen Block und die Feder und schrieb drauflos. »Sagen Sie mir bitte, wenn Sie soweit sind.« Tom nickte und schrieb. »Ich bin soweit.« »Hester Murdoch sagte, sie wäre von den vier jungen Männern vergewaltigt worden, und sechs Wochen später, als ihre Periode zweiunddreißig Tage ausgeblieben war - sie können die Daten überprüfen - war sie wieder im Mercy Hospital, um eine Kür an sich vornehmen zu lassen. Dilatation und Kürettage. Ich buchstabiere es Ihnen«, sagte Mary Sue und tat es. »Die Zeitungen haben geschrieben, es wäre wegen der Vergewaltigung, sechs Wochen nach der Vergewaltigung.« Mary Sue machte eine Pause, und Tom sah sie an. »In Wirklichkeit war sie im dritten Monat schwanger.« Tom vergaß seinen Notizblock. »Können Sie das beweisen?« fragte er. »Frank hat es gemacht. Claude Lansing hat alles in die Wege geleitet, aber er ist ja ständig so besoffen, daß er nicht einmal ein Stück Brot abschneiden kann. Er assistierte und stand neben Frank. Er versicherte meinem Mann, er selbst hätte sich als Operateur ins Protokoll eingetragen, und auch das war gelogen. Er sah Frank zu; dann ging er ins Büro zurück und erzählte den Reportern die Lügen. Sieben bis acht Wochen!« Tom warf Block und Papier auf den Schreibtisch und stand auf. »Warum ist Ihr Mann nicht zur Polizei gegangen? Oder zum Staatsanwalt? Er hätte es mir sagen können! Er hätte es irgend -581
jemandem sagen müssen.« Mary Sue sah Tom ins Gesicht. »Er hat es nicht getan.« »Das wäre alles nicht passiert«, warf Tom ihr vor. »Er hätte es verhindern können! Er hätte alles verhindern können! Joseph Liliuohe wäre noch am Leben!« Mary Sue ergriff Erics Hand. »Wir gehen jetzt wieder heim, mein Kleines«, sagte sie. »Was glauben Sie denn, warum ich überhaupt gekommen bin?« »Ich werde Sie unter Strafandrohung als Zeugen vorladen lassen, Sie und Ihren Mann!« sagte Tom. »Ich bin bereit«, erklärte Mary Sue. »Bitte öffnen Sie die Tür.« Tom gehorchte, und sie war kaum gegangen, als er schon, seine Behinderung völlig vergessend, zum Telefon stürzte. Er hatte Lust zu brüllen, den Kopf aus dem Fenster zu stecken und loszubrüllen. Er mußte Phil Murray verständigen! Es galt, die halbe Stadt als Meineidige vorzuladen! Philip Murray würde es gar nicht glauben. Doch der Staatsanwalt meldete sich nicht. Tom nahm an, daß er falsch verbunden worden war und versuchte es noch einmal. Niemand hob den Hörer ab. Schon wollte er die Vermittlung anrufen und um Hilfe bitten, als er die sanfte Glut der Straßenlampen sich in seinem Fenster spiegeln sah. Er sah auf die Uhr. Das Gericht hatte vor zwei Stunden zugemacht. Tom rief die Auskunft an und bat um Philip Murrays Privatnummer. Der Staatsanwalt stand nicht im Telefonbuch. Tom rief Leslie McAdams an. »Er hatte einen schweren Tag« sagte McAdams entschuldigend. »Hat es nicht Zeit?« »Ich brauche seine Nummer«, erwiderte Tom. »Unbedingt.« Er notierte sie auf seinem Schreibblock. Murray meldete sich nicht. Tom ging ans Fenster und stand eine Weile da wie einer, der sich nach getaner Arbeit entspannt. Dann kehrte er zu seinem Schreibtisch zurück, riß die Blätter mit seinen Notizen vom Block und stopfte sie eilig in seine -582
Jackentasche. Er verließ das Büro und polterte unbekümmert die Treppe hinunter. Er mußte es Sarah sagen. Er mußte die Prinzessin verständigen. Er mußte im Gerichtssaal sein, wenn die Amtsstunden begannen. Noch vorher! Am nächsten Morgen, Freitag, verließen Sarah und Tom Papakolea schon früh. »Ich wünschte, diese Frau wäre gestern nicht in dein Büro gekommen«, sagte Sarah. »Ich dachte, alles wäre vorbei, der Gouverneur hätte einen Schlußpunkt gesetzt.« »Aber wir fangen doch gerade erst an!« rief Tom, als ob sie seine Gegnerin wäre. Dringlichkeit war an die Stelle von Beschwingtheit, der von Mary Sues Erscheinen ausgelösten Hochstimmung, getreten. Der Herabsetzung der Strafe durch den Gouverneur, der Tatsache, daß Gerald Murdoch und Doris Ashley und Duane York frei waren, mußte entgegengetreten werden. Der Gouverneur hatte das Recht gebeugt. Tom konnte diese Niederlage nicht hinnehmen. Wenn Sarahs Wagen eine Panne gehabt hätte, Tom wäre auf Händen und Füßen zum Gericht gekrochen. »Wir haben noch nie einen Tag für uns allein gehabt, einen einzigen Tag von morgens bis abends«, klagte Sarah. »Wir werden ihn haben«, gab Tom automatisch zurück. Er sah sie an. »Verlaß dich drauf, Sarah.« Sie schwieg und fuhr weiter, als ob er nicht neben ihr säße. Als sie vor dem Gerichtsgebäude hielten, lächelte Tom sie an. »Sei nicht so traurig.« »Sie haben unser Leben zerstört!« rief Sarah, ihre Stimme schrillte vor Schmerz. »Sarah...« sagte er und ergriff ihre Hand. Aber sie entzog sie ihm, hielt das Lenkrad fest und blickte geradeaus. Tom stieg aus, blieb auf dem Gehsteig stehen und sah dem schnittigen schwarzgelben Cabrio nach, bis es um die Ecke war. Während er den breiten Eingang durchschritt, hörte er immer wieder Sarahs Stimme: »Sie haben unser Leben zerstört! Sie haben unser Leben zerstört! Sie haben unser Leben zerstört!« Er kam sich vor wie ein -583
Mörder, als er bei dem Büro des Staatsanwalts anlangte. Er war sogar noch vor den Sekretärinnen da. Er drehte das Licht an und ging zu einem Telefonapparat. Er hatte sich Philip Murrays Privatnummer gemerkt, aber immer noch meldete sich keiner. Während er noch wartete, kam der Staatsanwalt durch die Tür. »Ich habe Sie gerade angerufen«, sagte Tom. »Ich habe es schon gestern versucht. Ihr Telefon muß gestört sein.« »Wir waren nicht zu Hause«, antwortete Murray. »Wir waren auf dem Boot.« Seine Schaluppe war Murrays große Liebe. »Wir waren drauf und dran, zum Wochenende auszufahren, als meine Frau Zahnschmerzen bekam. Sonst wäre ich überhaupt nicht hier. Ich habe sie beim Zahnarzt abgesetzt.« Tom folgte ihm in sein Büro. »Dieser Hasenfuß von einem Gouverneur!« wetterte der Staatsanwalt und ließ sich auf seinem Sessel nieder. »Und was haben Sie auf dem Herzen?« »Sie müssen einen Termin für ein neues Verfahren im Falle Hester Ashley Murdoch ansetzen.« »Ja, ja«, willigte Murray ein. »Mach ich.« »Bitte gleich.« »Gleich?« Murray richtete sich auf. »Es sind noch keine vierundzwanzig Stunden her, daß ich den Gerichtssaal verlassen habe! Ich kann mich kaum noch auf den Beinen halten!« »Ich brauche nur einen Termin.« »Sie haben es ja verdammt eilig.« »Ich habe neue Beweise.« Während in einem Strafrechtsfall die Anklage verpflichtet ist, der Verteidigung auf Wunsch das gesamte belastende Material zur Verfügung zu stellen - man spricht von Offenlegungspflicht -, ist dies umgekehrt nicht der Fall. Die Verteidigung darf ihr Wissen für sich behalten. »Na wunderbar!« sagte Murray. »Nur nicht lockerlassen.« Tom rührte sich nicht. »Setzen Sie es auf die Prozeßliste«, bat Tom. -584
Murray schob seinen Sessel zurück. Er dachte an seine Schaluppe und an die Lebensmittel, die er für das Wochenende zu Hause im Kühlschrank deponiert hatte. »Hören Sie... Halehone... lassen Sie mich zu Atem kommen! Warum haben Sie es denn so verdammt eilig? Weswegen muß es gerade heute sein?« »Wegen dem, was der Gouverneur gestern getan hat«, antwortete Tom und beugte sich zum Staatsanwalt hinunter. »Er hat gesagt, man kann jeden von uns umbringen und als freier Mann den Gerichtssaal verlassen. Nicht nur als freier Mann, sondern als Held. Gerald Murdoch wird als Held gefeiert. Haben Sie die Zeitungen gelesen? Die Berichte aus den Staaten? Sie schreiben über Murdoch, als ob er Charles Lindbergh wäre! Für diese Leute sind wir Untermenschen! Sie kommen hierher, sitzen in Waikiki am Strand, fressen ihre Spanferkel und fahren wieder heim, um ihren Freunden vom Dschungel zu erzählen. Darum muß das Wiederaufnahmeverfahren heute auf die Prozeßliste! Noch heute!« Phil Murray rieb sich die Augen. »Meine Frau hat Zahnschmerzen«, sagte er und hob sich aus dem Sessel. Tom folgte ihm ins Sekretariat. »Ich rufe Sie an.« »Ich warte hie r«, erwiderte Tom. Er lehnte sich an einen freien Schreibtisch, den Blick auf die Tür gerichtet. Der Staatsanwalt blieb fast eine halbe Stunde weg. »Zwanzigster April«, sagte er. »Richter Neu Ostergren hat den Vorsitz.« »Danke«, sagte Tom. Er hatte es eilig. »Danke.« Er nahm die Treppe ins Erdgeschoß hinunter; der provisorisch für die Presse eingerichtete Raum war fast leer. Beamte der Telefongesellschaft montierten die Apparate ab, die für den Mordprozeß installiert worden waren. Da und dort saßen Reporter vor ihren Kofferschreibmaschinen und arbeiteten an Zusammenfassungen und Kommentaren für die Wochenendausgaben ihrer Zeitungen. Tom sah die Gerichtsberichterstatter des Outpost-Dispatch und des Islander. Er gab ihnen den Termin für das neue Verfahren bekannt. Sie zeigten kein Interesse. »Ich habe wichtiges neues -585
Beweismaterial«, sagte Tom. Der Reporter des Islander holte ein Päckchen Zigaretten aus der Tasche und wandte sich ab. »Na ja, ich werde die Associated Press informieren«, sagte Tom. Der Reporter nahm die noch nicht angerauchte Zigarette aus dem Mund. »He, Moment mal«, sagte er. »Welche Art von Beweismaterial?« »Medizinisches«, antwortete Tom. »Medizinisches Beweismaterial. Und Meineid ist auch dabei. Meineid!« Der Berichterstatter holte ein Blatt Papier aus der Tasche, und der Mann vom Outpost-Dispatch sagte: »Erzählen Sie weiter.« »Kommt alles bei der Verhandlung heraus«, sagte Tom und eilte zur Treppe. In seinem Büro verständigte er die Associated Press und dann die United Press, rief die fremdsprachigen Zeitungen an und alle Radiostationen in Honolulu. Er begann zu schwitzen und blickte auf. Er hatte die Fenster nicht aufgemacht. Tom stand vom Schreibtisch auf, und während er den willkommenen Luftzug genoß, nahm er die Notizen, die er am Tag zuvor gemacht hatte, aus der Tasche. Mit dem Rücken zur Sonne las er noch einmal durch, was Mary Sue ihm erzählt und er notiert hatte. Tom beschloß, sie als erste Zeugin aufzurufen. Gegen ein Uhr mittags kehrte Doris Ashley noch im Morgenrock in ihr Schlafzimmer zurück. Trotz leiser Kopfschmerzen schwelgte sie noch in der Entdeckung ihrer wiedergewonnenen Freiheit. Bei ihrer Ankunft hatte sie Windward in bester Ordnung vorgefunden, ein Umstand, der dazu beigetragen hatte, daß sie mit ihren Gefühlen verschwenderisch umgegangen war. Sie hatte mit Hester auf der Terrasse zu Abend gegessen und war dann, als Hester schon schlief, lange im Hause umhergewandert. Heute morgen, schon früh wach und sorgsam darauf bedacht, Hester nicht zu stören, -586
hatte sie ihre Wanderung fortgesetzt. Abermals sicher und geborgen zu sein, hatte ein Glücksgefühl in ihr ausgelöst, aber dann, kurz vor neun, hatte Amelia einen Anruf entgegengenommen. »Er sagt, ›Commander Saunders‹.« Solange sie lebte, wollte Doris Ashley nichts mehr von der Navy hören. »Hallo.« »Mrs. Ashley, hier spricht Commander Saunders. Ist Lieutenant Murdoch da?« »Lieutenant Murdoch wohnt nicht mehr auf Windward«, erwiderte Doris Ashley. Ihre Kopfschmerzen wurden stärker. »Verzeihen Sie, Madame«, sagte Saunders. »Wir versuchen nämlich Lieutenant Murdoch zu finden. Es hätte sein können, daß er bei Ihnen war, um sich seinen Wagen und seine Sachen zu holen.« »Er ist nicht da.« Sie legte den Hörer auf. »Theresa!« Und als das Mädchen aus der Küche kam, befahl Doris: »Keine Anrufe mehr!« Später wollte sie mit Theresa und Amelia ins Kutscherhaus hinübergehen, Geralds Habseligkeiten zusammenpacken und jede Spur von ihm beseitigen. Sie schloß die Tür ihres Schlafzimmers und legte sich aufs Bett. Sie klappte den Deckel ihrer Zigarettendose auf und ließ ihn wieder zufallen. Rauch würde ihre Kopfschmerzen nur verschlimmern. Doris Ashley schloß die Augen, bemüht, die Außenwelt aus ihren Gedanken zu verbannen, und hörte einen Wagen die Auffahrt herauf fahren. Von den Leuten, die sie kannte, würde es keiner wagen, auf Windward zu erscheinen, ohne vorher angerufen zu haben. Sie hörte die Türglocke. Amelia und Theresa hatten Auftrag, jeden abzuweisen, der da kommen wollte, ob Handwerker, Geschäftsleute oder Reporter. Sekunden später klopfte es, und Theresa steckte den Kopf ins Zimmer. »Admiral da.« Doris Ashley erhob sich, als ob man sie mit Gewalt aus dem Bett gezerrt hätte. »Ich habe dir doch gesagt...« Sie war sprachlos vor Wut. »Ich habe ihm gesagt«, rechtfertigte sich Theresa und nickte energisch. »Schick ihn fort!« befahl Doris Ashley. -587
»Schließ die Tür! Versperr die Tür!« »Er ist drin«, sagte Theresa. »Er sagt, sehr wichtig.« Doris Ashley war nahe daran, das kleine dicke Mädchen zu schlagen, aber sie bewegte sich nicht. Als sie die Hand hob, um die Schlafzimmertür zu schließen, sah sie Theresa überhaupt nicht. Sie sah nur das Gerichtsgebäude, in dem sie das glaubte sie wirklich - wochenlang eingekerkert gewesen war. Sie sah, sie hörte Richter Kesselring das Urteil verkünden. Doris Ashley durchquerte das Zimmer. Besorgnis trat an die Stelle ihrer Wut. Sie war vor nichts und niemandem je zurückgeschreckt, nicht einmal vor ihrem Vater, den sie gehaßt hatte. Sie schreckte auch jetzt vor Langdon nicht zurück. Sie nahm zwei Aspirin und ging in ihre Garderobe, um die Kleidung für diese Begegnung auszusuchen. Sie beeilte sich nicht, und als sie auf dem oberen Treppenabsatz stand, verhielt sie einen Augenblick den Schritt und erinnerte sich an den Anblick dieses Maddox, der unten gewartet hatte, um ihr mitzuteilen, daß Hester im Mercy Hospital lag. Sie erinnerte sich, mit ihm ins Krankenhaus gefahren zu sein, erinnerte sich an Hesters verwüstetes Gesicht und ihr Geständnis. Sie hatte in dieser schrecklichen Nacht nicht in ihrem Handeln geschwankt und auc h seitdem nicht. Sie griff nach dem Handlauf. Es konnte nichts Schlimmeres mehr passieren. Als sie den Fuß der Treppe erreichte, war sie gewappnet. Sie befand sich in ihrem Haus, nicht in seinem. Auf Windward führte sie das Kommando. Sie betrat den Salon und sah den Admiral neben dem langen Mahagonitisch vor dem chinesischen Paravent stehen. »Ich bin es nicht gewohnt, ungebetene Gäste zu empfangen.« Der Admiral beobachtete grimmig, wie sie immer noch die große Dame spielte. Sie war das Geschenk nicht wert, das er ihr brachte. Am späten Vormittag war er vom Kommandanten der Küstenwache von Honolulu verständigt worden. Alarmiert von Billy Finch, dessen Boot nicht zurückgekommen war, hatte ein Küstenwachschiff nach dem Boot gesucht und weit draußen zwei Schwimmwesten gefunden. »Der Eigentümer behauptet, nicht -588
gewußt zu haben, daß es Murdoch war, der das Boot gemietet hatte«, berichtete der Kommandant. Der Admiral hatte den Commander kommen lassen. »Sie brauchen Murdoch nicht mehr zu suchen«, sagte er und wiederholte sein Gespräch mit dem Kommandanten. »Jetzt bleibt nur noch dieser Seemann... Hensel. Schon was von ihm gehört?« Tags zuvor, nach Duanes Geständnis, hatte die Seepolizei Forrest Kinselman und Wesley Trask verhaftet. Conrad Hensel hatte über das Wochene nde Landurlaub genommen. Saunders hatte Duane und die anderen zwei in Einzelzellen im Gefängnis unterbringen lassen und Befehl gegeben, die drei von einander fernzuhalten, in ihren Zellen zu verköstigen und sie getrennt auf die Toilette zu begleiten. Conrad Hensel sollte von ihren Festnahmen nichts erfahren, bis er sich Montag zum Morgenappell zurückmeldete. »Nein, Sir, noch nicht«, antwortete Saunders. Er hatte sich fest vorgenommen, die vier Dreckskerle persönlich der Polizei zu übergeben. »Lassen Sie mich wissen, wenn Hensel aufkreuzt«, ersuchte der Admiral. »Gewiß, Sir«, sagte Saunders, »aber da ist noch etwas. Die Sache mit der Vergewaltigung. Der hawaiische Anwalt behauptet, neue Beweise zu haben.« Saunders hatte im Radio von dem neuen Prozeß gehört. »Jimmy«, hatte der Admiral geseufzt, »die Zeit ist da, wo ich selbst das Ausräuchern besorgen muß.« »Das ist kein Höflichkeitsbesuch«, begann der Admiral, als Doris Ashley jetzt auf Windward vor dem Mahagonitisch stehenblieb. »Verschwenden wir keine Zeit mit Spiegelfechtereien. Ich habe erfahren, daß noch einiges auf uns zukommt, und ich habe nicht die Absicht, tatenlos darauf zu warten.« Alle Vorsätze, die sie während des Ankleidens gefaßt, aller Mut, den sie zusammengenommen hatte, waren dahin. »Was meinen Sie damit? Sagen Sie schnell.« -589
Sie hatte Murdoch nicht erwähnt, und so wußte der Admiral, daß ihr noch nichts zu Ohren gekommen war. Das erleichterte ihm seine Aufgabe. »Ich habe eines Ihrer Mädchen gebeten, Hester zu holen«, sagte der Admiral. »Reden Sie schon!« drängte Doris Ashley. »Ich hätte gestern im Büro des Gouverneurs auf Mr. Bergman hören sollen«, fuhr der Admiral fort. »Er hat uns ausdrücklich vor einem neuen Prozeß gewarnt. Die Verhandlung ist für den zwanzigsten April angesetzt. Halehone, ihr Anwalt, hat wichtiges medizinisches Beweismaterial. Er behauptet, den Beweis führen zu können, daß Meineide geleistet wurden. Es hört sich an, als ob er alles wüßte. Ich habe die Taktik dieses jungen Mannes in den Wochen von Hesters Prozeß genau studiert. Er blufft nicht. Ganz sicher geht er nicht vor Gericht, um die Angeklagten ins Gefängnis zu bringen. Die Angeklagten sind seine Mandanten, seine Freunde. Sie werden ins Gefängnis kommen, Doris, Sie und Hester. Und die Senatoren in Washington und der Präsident werden abermals Grund haben, aufgebracht zu sein. Diese Insel wird zu einem Schlachtfeld werden. Wir können nicht bis zum zwanzigsten April warten. An diesem Tag werden Sie nicht mehr hier sein. Schon morgen abend werden Sie nicht mehr hier sein.« »Nic ht mehr hier...« »Ich bin noch nicht fertig. Sie und Hester fahren morgen mit der Lotus.« Der Admiral hatte persönlich zwei nebeneinanderliegende Kabinen gebucht und, bevor er nach Windward fuhr, Pearl Harbor zu Lande und zu Wasser abriegeln lassen. Patrouillenboote der Navy, mit Suchscheinwerfern ausgerüstet, kreuzten vor der Küste. Pkws im Besitz von Offizieren und Seeleuten wurde die Zufahrt nach Pearl Harbor erst nach strengen Kontrollen gestattet. Kein Zivilist konnte herein, solange Saunders nicht persönlich zum Posten der Küstenwache beim Eingang zum Stützpunkt kam und den Betreffenden passieren ließ. »Sie können die Nacht in meinem Haus verbringen«, sagte der Admiral. Erst auf dem Stützpunkt, -590
sicher vor jeder Überraschung, würde er ihnen vom Tod des Lieutenant Mitteilung machen. »In Ihrem Haus?« fauchte Doris Ashley. »Ich werde Windward nie wieder verlassen.« »Der Anwalt der drei Hawaiier hat um Wiederaufnahme gebeten«, betonte der Admiral. »Er hat es dem Reporter mitgeteilt. Er hat medizinische Beweise und auch den Beweis dafür, daß Meineide geleistet wurden.« Doris Ashley breitete die Arme aus. »Sehen Sie sich um«, forderte sie ihn auf. »Sie sind weit herumgekommen. Sie haben die sieben Weltmeere befahren. Das ist Windward! Und Sie verlangen von mir, ich soll Windward verlassen? Wegen einer verkrüppelten Kanalratte?« Nicht einmal Jimmy Saunders, nur der Admiral selbst wußte, daß Doris Ashley innerhalb von vierundzwanzig Stunden nach den Staaten abreisen würde, freiwillig oder unfreiwillig. Wenn sie es zu arg trieb, würde der Admiral Jimmy Saunders mit ein paar Männern herschicken und sie aus dem Haus tragen lassen. Sie würde so lange scharf bewacht werden, bis der Lotse am anderen Tag bei Diamond Head von Bord der Lotus ging. Der Admiral war fest entschlossen, alle weiteren Kabel des Navy-Ministers und weitere Drohungen von Senator Rasmussen und seinen Claqueuren in Washington zu ignorieren. Keinen einzigen Tag mehr würde er auf einer harten Bank im Gerichtssaal von Honolulu zubringen. Der Admiral war entschlossen, seinen Abschied zu nehmen, wenn Doris Ashley zuviel Lärm über ihre Abschiebung machte, oder das Ministerium ihn noch weiter nerven sollte. Die Vorstellung, seine Uniform ausziehen zu müssen, war zwar unerträglich, aber es schien ihm unmöglich, noch länger ein Kommando auszuüben, in dem Zivilisten das Sagen hatten. »Oh, Hester, hallo!« begrüßte er Doris' Tochter, als sie aus der Küche kam. »Sie werden sich fragen, warum ich Sie zu mir gebeten habe.« Der Admiral wiederholte alles, was er schon ihrer Mutter gesagt hatte. -591
»Dann sollte ich wohl packen«, sagte Hester und wandte sich zum Gehen, aber Doris Ashley packte sie am Arm. »Ich verbiete es!« befahl Doris Ashley. »Wir packen nicht. Wir werden Windward nicht verlassen!« »Es bleibt Ihnen keine andere Wahl«, warnte der Admiral. »Sie können es jetzt verlassen oder nach dem neuen Prozeß. Jetzt sind Sie noch frei. Wenn der Verteidiger erst mit Ihnen fertig ist, werden Sie es nicht mehr sein.« Schon wollte der Admiral Jimmy Saunders und die Seepolizei kommen lassen, als er sah, wie Doris Ashley den Arm sinken ließ und Hester freigab. »Nehmen Sie nur mit, was Sie für die Reise brauchen«, riet der Admiral. »Alles andere kann nachgeschickt werden.« »Was ich für die Reise brauche?« wiederholte Hester mechanisch. Sie durchschritt den Salon und die Küche, um zu der Tür zu gelangen, die nach draußen führte. Sich duckend, um von der Küche aus nicht gesehen zu werden, stieg sie die Treppe hinunter, bis sie die Auffahrt vor sich sah. Der Fahrer des Admirals räkelte sich auf dem Vordersitz, den Kopf an das Fenster des Wagens gelegt. Hester hielt sich hinter der Limousine auf dem Rasen. Als sie das offene Tor zur Kahala Avenue erreichte, fing sie an zu laufen. Sie konnte nicht mit ihrer Mutter fahren, bei ihrer Mutter bleiben. Sie konnte nicht als Krankenschwester in den Staaten arbeiten. Hier in Honolulu mußte sie bereuen. »Je früher Sie in Pearl sind, desto besser. Dort sind Sie in Sicherheit«, sagte der Admiral zu Doris Ashley, aber sie gab nicht auf. »Wenn Hester abreist, gibt es keinen Prozeß«, meinte sie und entschied sich für Windward. »Aber Sie sind immer noch da«, belehrte sie der Admiral. »Dieser Anwalt wird doppelt so hart mit Ihnen verfahren. Sie werden seinen Angriffen nicht standhalten können.« Doris Ashley wandte sich ab, lief davon, aber der Admiral folgte ihr auf die Terrasse. Sie schien ihre Worte an das Meer zu richten. »Sie verlangen -592
von mir, mit Ihnen fortzugehen und morgen Honolulu zu verlassen. Ich kann es nicht glauben. Was wird aus mir, wenn ich weiß, daß ich Windward nie wiedersehen werde?« »Ich rufe Ihre Mädchen. Sie können Ihnen beim Packen helfen.« Weder er noch Doris Ashley hatten einander mit Namen angesprochen. Fast zwei Stunden später kam Maddox von einem späten und einsamen Mittagessen ins Präsidium zurück und hörte das Telefon läuten, als er das Büro betrat. »Der Chef möchte Sie sprechen, Captain«, meldete der uniformierte Beamte, der Leonard Fairlys Sekretär war. »Gleich jetzt.« Maddox ließ seinen Hut auf den Schreibtisch fallen. Seit dem Tag der Ermordung Joseph Liliuohes, als Leonard Fairly Doris Ashley, den Lieutenant und den Matrosen Commander Saunders übergeben hatte, war er nicht mehr im Büro des Chefs gewesen. Er hatte ihn nur zweimal gesehen, einmal in der Garage und einmal in der Eingangshalle, aber Fairly war ihm beide Male ausgewichen. Der Chef saß hinter seinem Schreibtisch. Er sah auf, unterließ es aber, Maddox zu grüßen, der hinter einem Stuhl stehenblieb und seine Ellbogen auf die Rücklehne stützte. In dieser Stellung wäre er auch noch bis zum nächsten Tag verblieben. »Wir haben ein ernstes Problem«, begann der Chef. »Hester Murdoch ist abgängig.« Maddox fühlte sich plötzlich sehr müde. Er ging um den Stuhl herum und setzte sich. »Die schon wieder«, sagte er. »Wann wurde sie als vermißt gemeldet?« »Gegen Mittag. Gegen eins.« »Sie könnte spazierengegangen sein«, mutmaßte Maddox. »Sie könnte im Wald oder auf dem Strand eingeschlafen sein. Sie könnte sich in ihr Zimmer eingeschlossen haben, weil sie allein sein möchte. Seit vergangenem Herbst hat sie zu viele Menschen -593
um sich gehabt. Und außerdem hat sie eine Schraube locker.« »Sie ist abgängig«, wiederholte der Chef. »Lassen Sie alles liegen und stehen und suchen Sie sie. Eile tut not.« Maddox rührte sich nicht. »Was ist mit dem Vermißtenreferat? Warum haben Sie die nicht eingeschaltet?« »Weil ich Sie einschalte«, antwortete der Chef. Er spielte mit seinem Brieföffner. »Ich befehle Ihnen, sie zu suchen. Und behalten Sie die Sache für sich. Es ist vertraulich.« Maddox schlug die Beine übereinander. »Hester Murdoch ist verschwunden. Ich soll sie raschest aufspüren. Alles stiekum. Sie sollten mich in das Geheimnis einweihen.« »Ich habe Ihnen gesagt, daß sie verschwunden ist«, brummte der Chef. »Sie verschwenden nur Zeit.« »Einer von uns tut das«, konterte Maddox und hob müde die Hand, als wollte er ein Taschentuch aus dem Ärmel ziehen. »Sie haben mir gar nichts gesagt.« »Ich habe Ihnen gesagt, daß sie verschwunden ist, und ich habe Ihnen befohlen, sie zu suchen. Wollen Sie nun gehorchen?« Wie ein erschöpfter Sportler in der Garderobe beugte Maddox sich vor und erhob sich langsam. »Statt es wieder auf eine Konfrontation ankommen zu lassen, sollten Sie sich selbst einen Gefallen tun«, entgegnete Maddox. »Wenn ich jetzt hier rausgehe, fahre ich in der Stadt herum und sehe mir die Leute auf der Straße an. Hester Murdoch ist verschwunden. Ein Grund könnte der neue Prozeß sein, von dem ich vor kurzem gelesen habe. Aber der fängt erst am zwanzigsten April an, und bis dahin ist es noch weit. Also steckt mehr dahinter. Sie wissen mehr. Irgend jemand hat Ihnen gesagt, daß sie abgängig ist. Wer? Jemand hat Ihnen gesagt, daß Eile nottut. Warum? Warum ist die Sache vertraulich?« Maddox machte eine Pause. »Wollen Sie mir die Geschichte erzählen?« Maddox wartete. »Wie Sie meinen.« Er wandte sich ab und knöpfte sein Jackett zu. »Na schön, ja«, willigte der Chef ein. Und lauter: »Ja, habe ich -594
gesagt.« Maddox blieb stehen. »Der Admiral hat mich angerufen.« Fairly wiederholte alles, was er vom Admiral erfahren hatte. »Läuft morgen aus«, wiederholte Maddox. Der Chef erhob sich, schob seinen Sessel zurück und kam um den Schreibtisch herum. »Niemand darf davon erfahren. Ich mußte es dem Admiral schwören. Was Sie eben gehört haben, muß unter uns bleiben.« »Ich brauche Unterstützung«, sagte Maddox. »Zumindest einen Mann.« Einen Augenblick lang schwieg der Chef, dann kapitulierte er. »Wen?« »Al Keller.« »Vertrauen Sie ihm?« Maddox sah ihn an. »Er ist der einzige in diesem Haus, dem ich vertraue.« Er stand in seinem Büro und beugte sich über den langen Holztisch, auf dem er eine große Straßenkarte ausgebreitet hatte, als Keller hereinkam. Maddox hatte ihm aufgetragen, seine Uniform auszuziehen, und nun trug der Rotschopf die schäbige Kleidung, die er für seine Arbeit in Pacific Heights verwendet hatte. »Worum geht's, Captain?« »Hester Ashley Murdoch«, antwortete Maddox, »streunt irgendwo rum.« »Hat wohl Bammel vor dem Wiederaufnahmeverfahren?« Maddox grinste. »Sie werden nie ins Chefzimmer einziehen, dazu sind Sie nicht dumm genug.« Er richtete sich auf. »Sie sollen auch den Rest erfahren.« Als er zu Ende war, deutete er auf die Karte. »Ich nehme mir den Punchbowl vor und Sie alles, was westlich davon liegt. Wir kontrollieren jedes Hotel, jedes Logierhaus, jede Penne in der Stadt. Nehmen Sie Ihren eigenen Wagen. Wenn sie irgendwo absteigt, tut sie das unter falschem Namen und zahlt gut. Sie müssen also den Portier oder die Herbergswirtin dazu bringen, daß sie Ihnen die Wahrheit sagen. Wenn Sie sie finden, schnappen Sie sie. Wenn es ohne Handschellen nicht geht, dann eben mit. Dann bringen Sie sie -595
hierher.« Er klopfte auf den Tisch. »Genau hierher.« Al Keller ging, und Maddox zog sein Jackett aus und setzte sich an seinen Schreibtisch. Er schlug das Telefonbuch auf. Er erwartete keine Lügen zu hören, wenn er sich mit seinem Namen meldete. Mit dem Western Sky fing er an. Sie war dumm genug, dort aufzukreuzen. Er ließ sich mit dem stellvertretenden Direktor verbinden. »Mr. Kle meth«, sagte er, »kümmern Sie sich selbst darum und verschwenden Sie meine Zeit nicht mit überflüssigen Fragen. Ich suche Hester Murdoch. Sie könnte jederzeit nach zwölf Uhr mittags bei Ihnen abgestiegen sein.« »Ich rufe Sie zurück«, versprach Klemeth. »Ich muß es gleich wissen«, drängte Maddox. »Machen Sie schon.« Während er wartete, schrieb er sich die Nummern anderer Hotels in Waikiki heraus. »Maddox? Sie ist nicht da«, lautete Klemeth' Auskunft. »Es ist überhaupt keine Dame allein heute bei uns abgestiegen.« »Okay. Vielen Dank.« »Maddox? Es ist keine Dame abgestiegen«, fügte Klemeth hinzu, »aber eine verläßt das Hotel. Ich dachte, Sie würden es wissen wollen, für den Fall, daß Sie ihr Aloha sagen wollen. Die Bergmans reisen morgen ab. Der alte Herr hat...« Den Rest bekam Maddox nicht mehr mit. Er ließ den Hörer sinken, und Klemeth' Stimme wurde zu einem unverständlichen, monotonen Geräusch. »Danke«, sagte Maddox und legte auf. Wie gelähmt saß er da, studierte die Telefonnummern, die er herausgeschrieben hatte, und sah doch nur Lenore. Er hob den Kopf und sah sie. Sie war überall. Ihr Gesicht war überall. Er sah sie ganz deutlich. Er hörte sie. »Curt, Curt«, flüsterte sie und kam noch näher auf ihn zu. Maddox sprang auf, lief um den Schreibtisch herum und durchquerte sein Zimmer, als ob es einen Angriff abzuwehren galt. Er eilte zum Wasserspender dem Treppenhaus gegenüber, aber er trank nicht. Er stützte sich mit der Hand gegen die kühle Wand. »O Gott«, murmelte er und -596
blickte sich nach allen Seiten um. Er kehrte rasch in sein Zimmer zurück. Er blieb über seinem Telefon hocken, als ob es ein Rettungsring wäre, bis er alle Hotels im Ostteil Honolulus angerufen hatte. Er sah auf die Uhr; kurz nach fünf; stand auf, streckte sich und beugte sich abermals über die Straßenkarte auf dem Holztisch. Wo war sie? Er kehrte an seinen Schreibtisch zurück, rief alle Krankenhäuser Honolulus an, auch den Hafenmeister, um zu erfahren, ob Ertrunkene gefunden worden waren. Er rief den Sheriff an; vielleicht war Hester irgendwo außerhalb der Stadtgrenze aufgegriffen worden. Eine Dreiviertelstunde später schob er das Telefon zur Seite und versuchte, nicht an Lenore zu denken, während er auf Al Keller wartete. Kurz vor sechs rief der Rotschopf an. »Ich habe kein Glück gehabt, Captain. Kann ich sonst noch was tun?« »Ja, aber ich weiß noch nicht, was«, antwortete Maddox. »Kommen Sie her.« Er ging zur Straßenkarte zurück, warf einen Blick darauf, schüttelte den Kopf, verließ das Büro und kehrte zum Wasserspender zurück. Diesmal trank er. Er saß in seinem Büro und starrte auf die Wand. Die Tür öffnete sich, und Keller kam herein. »Es klingt verrückt, Captain, aber haben Sie schon mit dem Vermißtenreferat gesprochen?« »Es soll jedes Aufsehen vermieden werden«, erklärte Maddox ihm die Lage. »Der Chef hat mich angewiesen, das Vermißtenrefe rat nicht einzuschalten. Fällt Ihnen sonst noch was ein?« Keller hob die Hände und ließ sie sinken. »Wenn es ein Mann wäre, hätte ich Ideen.« Maddox' Finger trommelten auf den Schreibtisch. »Wir sind keinen Schritt weitergekommen«, brummte er und stand auf. »Al, wir gehen ins Kino.« Als sie schon im Wagen saßen, sagte er: »Wenn der Saal einen Balkon hat, fangen wir dort an. Sie könnte Männer die Gänge auf und ab gehen sehen und Leine ziehen. Jetzt ist eine gute Zeit. Essenszeit. Die Kinos müßten praktisch leer sein.« Er parkte vor einem Kino und schob das Schild hinter die -597
Windschutzscheibe. Keller wartete auf ihn, und zusammen gingen sie an der Kasse vorbei hinein. Maddox hob die Hand und ließ den Mann an der Tür seine Dienstmarke sehen. »Gibt es hier einen Balkon?« »Nein, Sir, wir haben nur den Saal. Suchen Sie jemanden? Glauben Sie, daß er drin ist?« »Machen Sie weiter wie bisher«, wies Maddox ihn an und gab Keller einen Wink. Zwei Türen führten in den Saal, eine an jedem Ende der Halle. »Wir fangen gleichzeitig an«, sagte Maddox. Drinnen blieb Maddox bei der Tür stehen und wartete, bis sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Zu seiner Linken sah er Keller langsam den Seitengang hinunterschlendern. Maddox folgte seinem Beispiel. Keller erreichte die erste Reihe und blickte zu Maddox hinüber. Er verlangsamte sein Tempo und kehrte in gleicher Höhe mit Maddox zum Ausgang zurück. Er wollte wieder auf die Straße. »Al!« Maddox durchquerte die Halle. »Versuchen wir es noch mal«, schlug er vor. »Wir tauschen die Seiten.« Zwergen vor den riesenhaften Gestalten auf der Leinwand gleich, erreichten sie gemeinsam die erste Reihe, drehten sich um und begannen den Rückweg zur Halle. Maddox war schon fast bei der Tür, als er gegen jemanden anstreifte. Der Arm einer Frau hing über die Sitzlehne. Sie saß seitlich, den Kopf unter dem anderen Arm verborgen, und schlief. Maddox beugte sich vor. »Hallo, Mrs. Ashley Murdoch.« Sie wachte auf und leistete keinen Widerstand. Sie hörte den Mann sagen: »Ich bin Captain Maddox.« Während sie im Kino die Possen der Schauspieler in einem Lustspiel verfolgte, war Hester zu dem Entschluß gekommen, daß sie es gar nicht nötig hatte, davonzulaufen. Wenn sie sich nicht in Honolulu von ihrer Mutter befreien konnte, würde sie warten, bis das Schiff in Amerika anlegte, irgendwo in Amerika. Sie würde ihre Mutter auf dem Pier stehenlassen, nach dem -598
nächsten Krankenhaus fragen und sich auf den Weg machen. Während sich das Publikum vor Lachen ausschüttete, hatte Hester vor Freude geweint und war erschöpft eingeschlafen. Es war schon fast zwanzig Uhr, als Maddox die Parkgarage im Präsidium erreichte. »Bis morgen, Captain«, sagte Keller und ging auf seinen Wagen zu. »Al!« Der Rotschopf blieb stehen und drehte sich um. Maddox stand im Licht vor dem Eingang. Er sah schrecklich müde aus. Keller kam auf ihn zu. »Brauchen Sie noch was, Captain?« Keller wartete. »Ich hab's nicht eilig. Captain!« »Lassen Sie sich die Überstunden gutschreiben«, sagte Maddox. Der Rotschopf konnte ihm nicht helfen. Niemand konnte ihm helfen, weil niemand sein Problem mit ihm teilte. Was immer er jetzt unternahm, er mußte es allein tun. Von seinem Büro aus rief er Fairly zu Hause an und teilte ihm mit, daß er Hester beim Admiral abgeliefert hatte. Dann setzte er sich den Hut auf. »Die Show ist vorüber«, brummte er, als hoffte er, sich selbst zu überzeugen. Maddox blieb sitzen und behielt die Tür im Auge, als ob es auf oder hinter der Tür, draußen im Gang, etwas von bedeutender Wichtigkeit gäbe, das er, und nur er allein, verstehen konnte. »Also dann: ab nach Hause!« sagte er laut, zornig und ohne Erbarmen mit sich selbst. Er hob die Hände und ließ sie auf die Seitenlehnen seines Sessels fallen wie einer, der eine Entscheidung getroffen hat, aber er bewegte sich nicht. Drei Stunden lang saß er da und starrte die Tür an. Maddox glaubte sich an jeden einzelnen Tag seines Lebens erinnern zu können. Er erinnerte sich, wie Harvey Koster ihn im Lagerhaus gefunden hatte, und an das erste Mal, daß er jemanden sagen hörte, er wäre Harvey Kosters Sohn. Harvey Koster wußte, wessen Sohn Maddox war. Koster wußte es, und auch Lenore wußte es jetzt. Er war der Sohn einer Hure. Er war ein -599
Ausgestoßener gewesen, lange bevor er seine Mutter verlassen hatte. Sicher, er war ein Haole und lebte in der Welt der Haoles, aber er hatte sich nie belogen. »Du hast den Aufstieg nie geschafft«, murmelte er. Und dann schlug Maddox das Telefonbuch auf. Er fand die Seite, die er suchte, beugte sich über die kleingedruckten Namen, fuhr mit der Linken die Spalten entlang. Der Finger hielt inne, und mit der rechten Hand schrieb er eine Nummer heraus. Er klappte das Telefonbuch zu und stand auf; hatte es plötzlich sehr eilig. Er fuhr in die nur matt erleuchtete Halle hinunter, betrat eine Telefonzelle und warf eine Münze in den Schlitz. Er brauchte nicht nachzusehen, er hatte die Nummer im Kopf. Er hörte es läuten, und dann ein zweites Mal. Das Telefon läutete fünfmal, bis er ein schläfriges »Hallo« hörte. »Hier spricht Maddox. Ich komme vorbei. Ich bin im Präsidium und fahre gleich los. Ziehen Sie sich was an und warten Sie in zehn Minuten vor der Tür.« Er hängte den Hörer ein und holte tief Atem. »Tja...« machte er und atmete wieder aus. Als er aus der Telefonzelle trat und zu seinem Wagen ging, ließ Maddox bewußt und auf gefährliche Weise sein altes Leben hinter sich. Er fuhr in Richtung Punchbowl. Als er nach Papakolea kam, hielt er an einer Ecke an und beugte sich aus dem Fenster, um das Straßenschild zu lesen. Er bog nach links ein, zwei Ecken weiter nach rechts, verlangsamte seine Geschwindigkeit. Fast alle Häuser waren dunkel, und auch die Straße. Als er die Kreuzung erreichte, sah Maddox den Anwalt im Scheinwerferlicht. Maddox überquerte die Kreuzung, hielt an und schaltete die Scheinwerfer auf Standlicht. Er schob seinen Hut in den Nacken. Er hatte sich nie, auch nicht als Kind, mit einem von ihnen befreundet, war nie mit einem zusammen an einem Tisch gesessen. Außer im Dienst hatte er nie mit einem Cop oder einem Verdächtigen, wenn er Hawaiier war, gesprochen. Maddox kaufte seine Kleider bei Haoles. Sein Arzt und sein Zahnarzt waren Haoles. Ein Haole -600
schnitt ihm die Haare. Haoles pflegten seinen Wagen, doch als der Anwalt auf den Wagen zutrat, beugte sich Maddox über den Sitz und öffnete die Tür. »Steigen Sie ein.« Als Maddox sich auf seinen Sitz zurückfallen ließ, stand Tom Halehone auf der Straße neben der offenen Tür in einiger Entfernung vom Wagen. Maddox und der schwarze Zivilfahnderwagen, die schmerzhaften Erinnerungen, die der großgewachsene Mann lebendig werden ließ - alles in Tom lehnte sich dagegen auf. Maddox war für ihn ein mächtiges und bösartiges Geschöpf, darauf aus, jeden zu vernichten, der ihm in die Quere kam. Er haßte ihn - und sich selbst wegen der Angst, die er nicht unterdrücken konnte. »Warum haben Sie angerufen? Warum sind Sie hierhergekommen?« Tom erhob seine Stimme. »Sie denken wohl, wir haben Gerald Murdoch getötet? Sie haben wohl einen neuen Zeugen, der gesehen hat, wie vier Burschen aus dem Wasser gekommen sind und ein Loch in sein Boot geschlagen haben!« Zuerst im Islander und dann in der Frühausgabe des Outpost-Dispatch hatte Tom die Nachricht von Geralds Verschwinden ein um das andere Mal gelesen. »Sie machen zuviel Lärm«, rügte ihn Maddox. »Steigen Sie ein.« »Sagen Sie mir zuerst, warum Sie gekommen sind.« »Wenn Sie nicht wollen... Nein«, erwiderte Maddox. Er war nicht gekommen, um mit dem Burschen zu streiten. Maddox war in Papakolea, weil er etwas mit sich selbst ausmachen mußte, etwas, was er nicht länger ignorieren, vergessen, unterdrücken oder zurückhalten konnte; etwas, was er jetzt, heute nacht, entscheiden mußte. Wenn der Anwalt jetzt auf einen Telefonmast geklettert wäre, Maddox würde ihm gefolgt sein. Er nahm seinen Hut ab, schob sich über die Sitzbank und stieg aus dem Auto. Halehone trug Sandalen, eine enge Baumwollhose und ein altes Hemd. Er war ein schrecklich mageres Bürschchen. Er sah nach gar nichts aus. »Einen schönen Partner hast du dir da ausgesucht«, sagte sich Maddox, und dann laut: »Sie wissen von Lieutenant Murdoch, aber es gibt auch Dinge, die Sie nicht -601
wissen. Sie sind dabei, Doris Ashley zu verlieren. Sie und Hester werden an Bord der Lotus sein, wenn das Schiff morgen nach San Francisco ausläuft.« »Das können sie nicht!« schrie Tom empört auf, als Maddox ihm die drohende Niederlage signalisierte. »Das können sie nicht«, wiederholte er, so als ob sein Protest hier in der dunklen Straße die Flucht aufhalten könnte. »Sie sind praktisch schon unterwegs in die Staaten«, sagte Maddox. »Als der Admiral von dem neuen Prozeß erfuhr, wurde er plötzlich sehr aktiv. Er hat sie nach Pearl gebracht. Alles in allem bleiben noch fünfzehn oder sechzehn Stunden, um sie aufzuhalten. Ich weiß nicht, ob Sie sie aufhalten können, Halehone, zumindest nicht allein.« »Ich werde beide unter Strafandrohung vorladen«, rief Tom. »Doris Ashley und Hester Murdoch.« »Dazu brauchen Sie einen Richter. Ich kenne ein paar.« Zum ersten Mal in seinen sechsunddreißig Jahren bot Maddox einem von ihnen seine Hand. »Fangen Sie morgen in aller Frühe an.« »Okay«, sagte Tom und wandte sich ab. Maddox sah ihm einen Augenblick nach und ging dann um den Wagen herum zum Fahrersitz. Der Junge war schon ins Dunkel gehinkt. Maddox öffnete die Tür. »Captain!« Maddox starrte ins Dunkel. »Warten Sie, Captain!« Er hörte Tom, und dann sah er ihn auch. Der Junge mit dem Hinkefuß, der nicht laufen konnte, lief, und als er den Wagen erreichte, obwohl er kaum fünfzehn Meter zurückgelegt hatte, war er so weit gekommen wie Maddox. »Danke.« Maddox musterte den Anwalt. Er war wirklich ein schmaler Wurf. Aber Maddox erinnerte sich, wie er Phil Murray im Stadtgericht zusammengestaucht und wie er die Kaution für seine vier Freunde heruntergehandelt hatte. Maddox hatte erfahren, warum die Prinzessin die Bürgschaft gestellt hatte. Er hatte den Anwalt im Gerichtssaal beobachtet. Dieser Schnösel, dieser Tom -602
Halehone, war der Grund, warum Maddox jetzt in Papakolea stand. Eine Grenze lief quer über die Insel, über das Territorium, eine Grenze wie zwischen zwei Ländern, und diese Grenze mußte verschwinden. Wenn man sie nicht entfernte, davon war Maddox überzeugt, würden noch viele Menschen sterben wie Joseph Liliuohe und Gerald Murdoch. Und dieser Wandel, glaubte er, würde nie eintreten, wenn nicht einer wie dieser Bursche in seiner engen Baumwollhose Unterstützung erhielt. Halehone war mehr wert als zehn Martin Snellings, und wenn man ihm eine hilfreiche Hand bot, könnte er eines Tages im Iolani-Palast sitzen. »Danke, Captain«, wiederholte Tom. Maddox sah ihn ernst und prüfend an und hatte das Gefühl, in die Ecke gedrängt zu werden. »Enttäuschen Sie mich nicht«, sagte Maddox, und Tom wußte, daß der Captain nicht nur vom nächsten Tag sprach. Der Captain sprach von Toms weiterem Leben. Lenore erwachte Sonnabend im Morgengrauen. Sie verließ sofort das Bett, drehte alle Lichter an, auch das Licht im Badezimmer, ließ die Wanne vollaufen und legte in der Zwischenzeit ihre Koffer und Taschen aufs Bett. Nach dem Bad leerte sie das Medizinkästchen im Badezimmer und drehte Stöpsel und Verschlüsse fest, bevor sie sie in ihrem Kosmetikköfferchen verstaute. Dann schob sie die Vorhänge zurück und öffnete die Türen ihrer Terrasse. Die aufgehende Sonne war noch verborgen, aber das Meer hatte sich bereits feuerrot gefärbt. Unfähig, müßig dazustehen und ihren Gedanken nachzuhängen, wandte sie sich ab. Sie ging zur Kommode hinüber, suchte Schmuck für den Tag aus, steckte einen Ring an und wählte eine Halskette. Ihren Morgenrock lockernd, öffnete sie den Wandschrank. Sie griff nach einem Kleid und ließ den Arm wieder sinken. Sie hatte es getragen, als sie mit Curt beisammen war. Sie langte nach einem anderen, aber sie hatte es bei ihrem zweiten Treffen angehabt. Entschlossen griff sie nach einem dritten, und als sie es beim Licht besah, das von der -603
Terrasse hereinfiel, entdeckte sie, daß es Curts Lieblingskleid war. Wie betäubt wirbelte sie herum, knüllte das Kleid gegen ihre Brust, ließ sich in einen Sessel fallen und begann zu schluchzen. Das erste leichte Klopfen hörte sie nicht. Sie sah, wie sich die Tür öffnete, und sprang auf. Sie stürmte ins Badezimmer und hängte das Kleid über einen Haken. Sie ließ kaltes Wasser laufen und wusch sich das Gesicht. Als sie wieder herauskam, um ihren Mann einzulassen, glaubte sie eine perfekte Maske zu tragen. »Ich habe Licht unter deiner Tür gesehen, und so wußte ich, daß ich dich nicht wecken würde«, sagte Bergman, der sofort erkannte, daß sie geweint hatte. Er war vollständig angekleidet. »Ich bin fertig«, sagte er. »Von mir aus kann's losgehen. Wir fahren, sobald du soweit bist, Lenore. Je früher, desto besser.« »Jetzt schon?« Sie war nicht darauf vorbereitet, nein, sie war nicht darauf vorbereitet! »Ich habe noch nicht gepackt.« »Ich lasse jemanden heraufkommen, der dir hilft«, sagte Bergman und fügte rasch hinzu: »Ich habe einen Grund, warum ich dich so dränge. Zwei Gründe. Erstens wäre mir wohler, wenn ich die Reporter heute abschütteln könnte. Und wir würden auch dafür belohnt werden. Der Kapitän der Lotus hat mir eine Einladung geschickt und bittet uns zum Lunch«, log Bergman. In Wahrheit hatte er Donnerstag mit dem Kapitän geredet, ihn wissen lassen, daß er schon früh an Bord zu gehen gedachte und so lange über den Lunch gesprochen, bis er eingeladen worden war. Bergman verschränkte die Hände hinter dem Rücken. »So bleibt uns dieser fürchterliche Jahrmarkt erspart, den wir auf der Herfahrt durchmachen mußten«, setzte er hinzu. »Wenn ich mich nicht irre, werden wir allein mit dem Kapitän speisen. Ich dachte, das würde dir angenehm sein.« Lenore wußte nichts darauf zu sagen. Sie fühlte sich unbehaglich und schuldbewußt. In der Tür ihres Schlafzimmers stand ein Mensch, den sie seit ewigen Zeiten kannte, den sie -604
ausgenommen ihre Jahre am College - nahezu jeden Tag ihres Lebens gesehen hatte. Der Mann in der Tür war ihr zweiter Vater und dann ihr Mann geworden. Er war ihr Gatte. Lenore wußte, daß sie gemeinsam das Hotel verlassen, gemeinsam an Bord gehen und gemeinsam heimfahren würden. Lenore wußte, daß sie sich um ihn kümmern würde, wie sie sich um ihn gekümmert hatte, kommen würde, wenn er sie rief, tun würde, was er verlangte, aber sie hatte entdeckt - jetzt, hier im Hotel -, daß sie ihm nichts zu sagen wußte. Lenore sah ihn an, als ob ein Fremder vor ihr stünde. Es gelang ihr zu nicken und die Verabredung mit dem Kapitän zu bestätigen. Dann schloß sie die Tür. Bergmann war die geschlossene Tür nur recht. Er ging ans Telefon und ließ sich mit der Rezeption verbinden. Er bat den Empfangschef, ein Mädchen zu seiner Frau hinaufzuschicken. Dann bestellte er ein reichliches Frühstück. Er hatte keine Lust, eine Stunde oder noch länger mit Lenore im Speisesaal zu sitzen; auch Maddox könnte auf die Idee kommen, dort sein samstägliches Frühstück einzunehmen. AN MARINEMINISTERIUM VON KOMMANDANT VIERZEHNTER SEEDISTRIKT ••• STOP ••• WIEDERAUFNAHMEVERFAHREN LEERE DROHUNG ••• STOP ••• AKTEURE AN BORD LOTUS NICHT RÜCKKEHREND IN STAATEN UNTERWEGS ••• STOP ••• LANGDON ••• STOP In seinem Büro in Pearl Harbor las der Admiral den Text, den er aufgesetzt hatte, noch einmal durch und legte das Kabel in seine Schreibtischlade. Da würde es bleiben, bis der Lotse von Bord gegangen war. Der Admiral hatte die Absicht, das Schiff gemeinsam mit dem Lotsen zu verlassen. Nun erhob er sich, um eine Karte zu holen, und als er sie auf seinem Schreibtisch ausbreitete, klopfte es an der Tür. »Hallo, Jimmy.« Wie der -605
Admiral hatte auch Jimmy Saunders eine frische Uniform angelegt. Er trug ein gebleichtes Stoffkoppel mit einer 45er Selbstladepistole in der Halfter. »Ich habe Ihnen nicht viel Ruhe gegönnt, Jimmy.« »Ich bin froh, daß ich Ihnen dienlich sein konnte, Sir«, erwiderte Saunders. »Wenn der heutige Tag zu Ende geht, ist alles vorbei.« »Dazu habe ich Sie hergebeten. Wir wollen sicher sein, daß auch wirklich alles vorbei ist, wenn hinter Hawaii die Sonne untergeht. Sie und ich, wir werden unsere Strategie genau planen - von dem Moment, wo wir Pearl verlassen, bis zum Auslaufen des Dampfers.« Der Commander sah die große Karte von Oahu. »Ich möchte um neun losfahren.« »Wir sind bereit, Sir«, sagte Saunders. »Meine Männer werden um sieben vom Essen kommen. Fünf Minuten später kann der Konvoi anrollen.« »Ihr Konvoi wird rollen, aber ohne Sie«, sagte der Admiral. »Sie werden mich begleiten. Wir werden in der Barkasse mit den zwei Damen sitzen. Wir werden sie zur Lotus bringen. Die beiden können auf See an Bord gehen. Ich lasse sie nicht mehr auf die Straßen dieser Insel. Sie haben Honolulu schon so gut wie verlassen.« Der Admiral nahm einen Bleistift mit einer dicken, weichen Spitze und beugte sich über die Karte. Er malte ein großes X über den Aloha-Turm, ein zweites über Pearl Harbor und verband sie mit einer Linie. »Wie viele Barkassen hatten Sie gestern abend auf Patrouille, Jimmy?« »Ich habe sie immer noch, Sir. Acht.« »Die werden uns eskortieren«, sagte der Admiral. »Bei dieser Operation darf nichts schiefgehen.« Barfuß und in Unterhosen stürzte Tom aus seinem Zimmer. Mit Sicherheit hatte er verschlafen. Nachdem Maddox ihn verlassen hatte, war er noch stundenlang mit wirbelndem Kopf wachgelegen. Sie würden ihnen entwischen! Sie hatten Joe -606
getötet und die anderen für ihr ganzes Leben gezeichnet, aber sie würden ihre Haut retten, wenn es ihm nicht gelang, ihre Flucht zu verhindern. Er mußte sie aufhalten! Tom nahm seine Aktentasche und hoffte, er würde seine Eltern nicht wecken, wenn er sich durch das dunkle Haus in die Küche tastete. Er setzte sich an den Tisch und stellte eine Liste aller Richter zusammen, an die er sich erinnern konnte. Dann holte er das Telefonbuch und suchte ihre Rufnummern heraus. Er erinnerte sich später nicht mehr daran, daß er eingeschlafen war, und als er aufwachte, glaubte er, daß das Schiff schon abgefahren wäre. »Wie spät ist es?« »Noch früh«, antwortete seine Mutter. Toms Vater war schon längst mit seiner Angel und dem Köderkasten an den Strand gegangen. »Noch nicht einmal acht. Heute ist Sonnabend. Schlaf weiter.« Tom hastete in sein Zimmer zurück und zog sich die Hose an. Mit der Aktentasche kehrte er in die Küche zurück. Seine Mutter lächelte. »Ist ein Mandant gekommen?« fragte sie und gebrauchte das Wort ›Mandant ‹, das sie so oft und sorgfältig wiederholt hatte, bis es Teil ihres Wortschatzes geworden war. Tom schüttelte den Kopf. »Ich habe keinen Mandanten. Es geht um den neuen Prozeß.« Er hatte keine Zeit für Erklärungen! Er verschwendete kostbare Zeit! »Ich erzähle es dir später«, versprach er. »Heute abend oder morgen.« Er küßte sie auf die Wange. »Wenn dein Vater da ist«, sagte sie. »Er hört auch gern zu.« Tom ging zum Tisch zurück und rief Richter Neu Ostergren an, der den Vorsitz im Wiederaufnahmeverfahren haben würde. Der Richter meldete sich nicht, und Tom mußte schon jetzt seine größte Hoffnung abschreiben. Tom gab der Vermittlung die Privatnummer von Richter Samuel Walker. »Wer dort?« fragte die Frau des Richters. Tom nannte seinen Namen. »Er zeltet auf Maui. Er wird eine Woche fortbleiben.« Tom legte den Hörer auf. und das Telefon läutete. »Glück gehabt?« erkundigte sich Maddox. Er saß auf seinem Bett, fertig angezogen und hatte die Pistole umgeschnallt. »Ich habe gerade erst angefangen«, antwortete Tom. -607
»Ich bin gerade erst fertig geworden«, sagte Maddox. »Die können Sie vergessen«, fügte er hinzu und gab Tom die Namen der Richter, die er bereits angerufen hatte. Noch vor sieben hatte er angefangen und einige aus dem Bett geholt. Mit dem Telefon in der Hand stand er auf und blickte auf den Apparat herab, als ob er einen Verdächtigen verhörte. »Schreiben Sie sich meine Nummer auf«, sagte Maddox und gab sie ihm. »Ich warte hier auf Ihren Anruf.« Maddox stellte den Apparat auf das Nachttischchen und setzte sich wieder auf das Bett. Er sah auf die Uhr, stand auf und wanderte durch das Haus zur Vordertür. Er lief über den Rasen. In der Auffahrt lag ein zusammengerolltes Exemplar des Outpost-Dispatch. Er kehrte ins Haus zurück, begann auf und ab zu gehen und wartete auf das Läuten des Telefons. Immer wieder sah er auf die Uhr. Tom versuchte es mit einem anderen Richter, der sich jedoch weigerte, Vorladungen unter Strafandrohung auszustellen. Auch der nächste lehnte ab. Tom sah auf die Uhr. Er rief noch einen Richter an, und hatte noch zwei Namen auf der Liste, als Sarah hereinstürmte. »Seit einer Stunde seid ihr besetzt!« Toms Mutter hatte das Cabriolet gesehen und kam in die Küche. »Sarah! Wie hübsch du aussiehst!« »Ich telefoniere«, protestierte Tom, als ob sich auch die beiden gegen ihn verschworen hätten. Es war schon fast neun! Tom rief den einen der letzten beiden Richter an, und während Sarah ihm zuhörte, schritt sie durch die Küche und trat an seine Seite. Als auch dieser Richter es ablehnte, eine Vorladung auszustellen, wußte Sarah alles. »Sie können doch die Insel nicht verlassen! Woher weißt du, daß sie abfahren wollen?« Tom erzählte ihr schnell von seiner nächtlichen Begegnung mit Maddox. Sarah starrte Tom an, als ob er zum Feind übergelaufen wäre. »Captain Maddox!« schrie sie auf. »Maddox!« Sie war wütend. »Hast du vergessen...?« Aber Tom fiel ihr ins Wort. »Ich -608
habe nicht vergessen, Sarah«, hoffte er, sie zu beruhigen. »Er gehört zu ihnen!« »Seit heute nacht nicht mehr, Sarah.« Er streckte die Hand nach ihr aus. Er hatte noch einen Richter auf der Liste. »Warum sollte Captain Maddox etwas daran liegen?« wollte Sarah wissen. »Es liegt ihm etwas dran«, gab Tom ihr zur Antwort. »Er ist hierhergekommen, weil ihm etwas daran liegt.« Er setzte sich, um den letzten Richter anzurufen, den er auf seiner Liste hatte. Sarah hörte Tom betteln und sah, wie er langsam den Kopf sinken ließ, so als ob eine schwere Bürde auf ihm lastete. Er legte auf und schob den Schreibblock in seine Aktentasche. »Ich dachte, ich könnte sie aufhalten«, sagte er und erhob sich. Sie hätte ihn umarmen mögen. »Ich muß mich anziehen«, murmelte er und blieb stehen. »Ich muß Maddox anrufen«, sagte er und setzte sich wieder. Er blickte zu Sarah auf. »Nur einen hätte ich gebraucht. Einen, der keine Angst vor dem Gouverneur und Doris Ashley und Harvey Koster und den anderen hat.« Tom konnte nicht aufgeben. Er rief Philip Murray an. Niemand war zu Hause. Er rief Leslie McAdams an, der ihm mitteilte, daß der Staatsanwalt und seine Frau mit ihrem Boot unterwegs waren. »Hat Ihnen keiner beigebracht, daß man sich auch mal ausruhen muß?« fragte McAdams. »Hester Ashley Murdoch reist noch heute ab!« machte Tom seiner Empörung Luft. »Auf Nimmerwiedersehen! Sie und ihre Mutter. Ich verliere den Prozeß, weil ich in dieser ganzen Stadt keinen einzigen Richter finden kann, der den Mut hat, den Eid, den er geleistet hat, auch zu halten!« »Diese Schweinehunde!« rief McAdams. »Wir treffen uns im Gerichtsgebäude. Diese Schweinehunde!« Von neuer Hoffnung erfüllt, wandte sich Tom an Sarah. »Fährst du mich in die Stadt?« Er lief an seiner Mutter vorbei aus der Küche, wirbelte herum und blieb stehen. »Captain Maddox!« -609
Als er das Telefon hörte, lief Maddox los. Er war schon im Schlafzimmer, als das erste Klingelzeichen zu Ende ging. »Hier spricht Tom Halehone.« »Gut oder schlecht?« fragte Maddox. »Leslie McAdams erwartet mich im Gerichtsgebäude. Er wird mir helfen.« »Hmmm...« »Captain?« »Ich bin da«, sagte Maddox. »Ich rufe Sie im Gerichtsgebäude an.« Er knipste die Nachttischlampe aus, ging vom Badezimmer in die Küche und schaltete alle Lichter aus. Ganz langsam, als ob er jemanden suchte, ging er von Zimmer zu Zimmer und hielt in seinem Rundgang nur inne, um seinen Hut von einem Stuhl im Wohnzimmer zu nehmen. Draußen blieb er neben seinem Wagen stehen, öffnete die Tür und kurbelte das Fenster herunter, bevor er einstieg. Er zog sich den Hut in die Stirn, um sich vor der Sonne zu schützen. »Viel Glück«, sagte er und dachte dabei an Tom und Leslie McAdams. »Viel Glück.« Es war schon fast halb zehn, als Sarah und Tom zum Gerichtsgebäude kamen. Sie stiegen aus Sarahs Wagen. »Du wirst zu spät zur Arbeit kommen«, warnte Tom. »Ich möchte dich heute nicht allein lassen«, entgegnete sie. Tom nahm sie bei der Hand, und zusammen eilten sie durch die Nebengasse zum Seiteneingang. Leslie McAdams war allein im Büro des Staatsanwalts; er stand neben dem Schreibtisch einer Sekretärin. »Das ist eine Liste aller Richter im Bezirk«, sagte er. »Haken Sie die ab, die Sie angerufen haben, den Rest teilen wir uns. Hallo«, begrüßte er Sarah. An zwei Schreibtischen sitzend, begannen Tom und McAdams, alle Richter Honolulus anzurufen. Einige meldeten sich nicht. Andere waren nicht zu Hause, und ihre Frauen und Kinder nahmen die dringenden, verzweifelten Anrufe entgegen. -610
Von denen, die zum Telefon kamen, reagierten die einen grob, andere brachten langatmige Entschuldigungen vor, aber alle lehnten es ab, die Vorladungen auszustellen. Es war schon fast elf, als Leslie McAdams das Handtuch warf. »Ich geb's auf.« Er studierte die Liste der Richter, als ob er ein kostbares Manuskript, eine antike Urkunde in Händen hielt. »Wenn mir einer gesagt hätte, ich würde in der ganzen Stadt keinen finden, der eine Vorladung anordnet, ich hätte hoch mit ihm gewettet«, sagte McAdams und ließ das Papier zu Boden flattern. »Haben Sie auch Richter Kesselring angerufen?« »Er meldet sich nicht«, antwortete Tom. Leslie McAdams bückte sich nach der Liste, und gerade als er Geoffrey Kesselrings Nummer gefunden hatte, läutete ein Telefon. Der Apparat stand auf einem Schreibtisch nahe der Tür. Alle drei liefen los, und Sarah gewann das Rennen. Sie hob ab und reichte Tom den Hörer. »Was Neues?« fragte Maddox. »Wir wollen es bei Richter Kesselring noch einmal versuchen«, antwortete Tom, und zu Sarah und McAdams leise: »Captain Maddox.« »Was hat er denn das erste Mal gesagt?« erkundigte sich Maddox. »Er war nicht zu Hause.« »Ich warte«, sagte Maddox. Er sprach von einem öffentlichen Fernsprecher an der Wand eines Restaurants. Die Küchentür stand offen, und die Düfte aus Öfen und Backrohren waren verführerisch. »Meldet sich immer noch nicht«, berichtete Tom. »Tja... Machen Sie weiter. Bleiben Sie im Gerichtsgebäude«, Maddox wollte weder mit Tom noch mit sonst jemandem lange Gespräche führen, die nur Zeit kosteten. Er verließ das Restaurant. Er stand auf der Kalakau Avenue, nur eine Ecke vom Western Sky. »Daß ich daran nicht gedacht habe!« Er wendete auf der Straße, und als das Western Sky rechts von ihm aufragte, sah er durch seine Mauern in das Penthouse, wo Lenore und Bergman gerade packten oder fertig gepackt hatten -611
und auf den Hotelpagen warteten, oder dem Pagen auf den Gang oder in den Aufzug oder aus dem Aufzug heraus, in die Halle folgten, zum Hafen fuhren, in die Staaten segelten, um nie wiederzukehren. Maddox brummelte etwas Unverständliches und bog an den wartenden Taxis vorbei in die geschwungene Auffahrt ein. Genau in der Mitte der breiten Treppe blieb er stehen. Er hörte die Hupe des Taxis hinter sich, sah den Türsteher des Hotels Arme schwingend in seiner Uniform die Stufen herunterkommen. Maddox steckte das polizeiliche Kennzeichen hinter die Windschutzscheibe. Der Türsteher zeigte: »Dort drüben ist genügend Platz!« »Fassen Sie den Wagen auch nur an, und Sie bekommen es mit mir zu tun!« Maddox lief die Treppe zur Halle hinauf. Jeden Augenblick konnte Lenore herauskommen. Wie sollte er ihr begegnen? Er schaffte es bis in die Halle. Dort war sie nicht. Er schaffte es bis zu den Aufzügen. Jetzt blieb nur noch das Penthouse. Maddox verließ den Aufzug. Er hatte keine Veranlassung, stehenzubleiben, aber er blieb stehen. Und griff nach seinem Hut, als die Tür zum Penthouse aufging. Die Arme voll mit Bettwäsche, kam ein Stubenmädchen heraus. »Sie sind gleich nach dem Frühstück abgereist«, sagte sie. Maddox machte kehrt. Er lief den Gang hinunter und blieb vor der Tür des anderen Penthouses auf der Seeseite stehen. Er vergaß die Türglocke und klopfte. Als er die Hand sinken ließ, hörte er die Prinzessin: »Es ist offen.« S ie lag auf der Chaiselongue, Telefon und Stock neben sich auf dem Fußboden. Sie sah Maddox hereinkommen. »Ich hätte doch zusperren sollen.« »Ich bin auch schon durch verschlossene Türen gekommen«, entgegnete Maddox und durchquerte den Salon. »Das letzte Mal hatten Sie noch so viel Anstand, sich vorher anzumelden«, warf die Prinzessin ihm vor. »Sie hätten ›nein‹ gesagt«, rechtfertigte sich Maddox. »Ich sage immer noch nein, was immer Sie von mir wollen«, betonte die Prinzessin. »Rauschen Sie ab.« -612
Maddox hörte sie nicht. »Ich bin nicht gekommen, um mich mit Ihnen anzulegen. Können Sie gehen?« »Ich bin nicht aus dem Bett geflogen«, antwortete die Prinzessin. »Schwirren Sie ab, Maddox. Ich habe die Nase voll von Ihnen. Von Ihnen und allen anderen Bewohnern dieser Stadt. Ich will wieder nach Hause, wo ich hingehöre.« »Ich brauche ihre Hilfe. Wir brauchen Ihre Hilfe. Ich und Tom Hale hone.« Die Prinzessin hob den Stock auf, hielt ihn mit beiden Händen und musterte Maddox. »Für Sie und Tom«, sagte sie, und Maddox wußte, daß sie ihn für einen Lügner hielt. »Hören Sie mir zu«, sagte er und erzählte ihr alles von dem Moment an, wo Fairly ihm befohlen hatte, Hester Murdoch zu suchen. Maddox sprach ruhig und ohne Unterbrechung. »Wir brauchen zwei Vorladungen unter Strafandrohung«, schloß er, »und wir brauchen sie rasch.« »Und woher wollen Sie wissen, daß ich sie beschaffen kann?« »Weil es sonst niemanden gibt«, erwiderte Maddox. »Vielleicht können Sie es nicht, und wenn Sie es nicht können, dann werden Doris Ashley und ihr charmantes Töchterchen sehr bald für immer unseren Blicken entschwinden.« »Mal was Neues«, mokierte sich die Prinzessin. »Eine Vorladung hat noch keiner von mir haben wollen.« Maddox hätte sie am liebsten von der Chaiselongue gerissen. »Die Zeit wird knapp!« Die Prinzessin schwang ihr gesundes Bein von der Chaiselongue, gebrauchte den Stock als Hebel und setzte sich auf. »Versprechen Sie sich nicht zuviel, Maddox.« Maddox trat zur Seite und umrundete das Kaffeetischchen. »Ich helfe Ihnen.« Die Prinzessin hob abwehrend den Stock. »Warum gehen Sie nicht runter und holen ein Taxi?« Maddox -613
schob die Hand in die Tasche, nahm sie wieder heraus und zeigte ihr seine Dienstmarke. »Taxis haben so was nicht.« »Könnte sein, daß Ihnen nicht gefallen wird, wo wir hinfahren«, sagte die Prinzessin. Maddox stieß den Stock zur Seite. »Da draußen liegt ein Schiff, das in Bälde die Anker lichtet«, versetzte er laut. Die Prinzessin langte nach dem Telefon und stellte es sich auf die Knie. »Ich habe Sie gewarnt«, sagte sie und nannte, Maddox fixierend, der Telefonistin des Hotels eine Nummer. Maddox' Finger schlossen sich um seine Dienstmarke. Er spürte die Metallzacken in seiner Hand. »Harvey, ich komme zu Ihnen. Das werden Sie erfahren, wenn ich da bin«, sagte die Prinzessin in die Muschel. Sie stellte den Apparat wieder auf den Boden und sah Maddox an. »Jetzt können Sie mir helfen.« Wie ein kleiner Strandvogel, der über die Wasseroberfläche dahinflattert, ging Harvey Koster mit kurzen Schritten in seinem Haus über den dunkel polierten Fußboden zur Treppe. Er eilte ins Schlafzimmer hinauf und drückte auf den Knopf neben dem Spiegel in seinem Ankleideraum. Als der Spiegel nach vorn schwang und die Decke im Lichterglanz erstrahlte, überschritt Koster die Schwelle; bei seinen Mädchen war er in Sicherheit. »Ich bin gekommen«, sagte er zu ihnen, »um euch um eure Hilfe zu bitten.« Koster setzte sich auf seinen Stuhl, um in Ruhe nachzudenken, um herauszufinden, was für einen Grund die Prinzessin haben könnte, ihn anzurufen. Er grübelte immer noch, als der Alarm, den er nach ihrem Besuch hatte installieren lassen, durch das Haus gellte. »Ich werde euch nachher alles erzählen«, versprach Koster und erhob sich. Im Ankleideraum wartete er, bis der Spiegel wieder an seinem Platz war. »Hallo, Lu«, sagte er, als er die Treppe herabkam. »Hallo, Harvey«, sagte die Prinzessin. Sie stützte sich auf den Stock und hielt sich mit der anderen Hand an der Türklinke fest. Koster sah ihren bloßen Fuß. »Ich habe mir den Knöchel verstaucht.« Im Wohnzimmer deutete die Prinzessin -614
mit dem Stock auf die Einrichtung. »Bringen Sie mir etwas Hartes, worauf ich mich setzen kann«, bat sie. »Sie würden einen Kran brauchen, um mich aus so weichem Zeug hochzukriegen.« Koster verließ sie und kam mit einem hochlehnigen Stuhl aus dem Speisezimmer zurück. »Hübscher Stuhl«, sagte die Prinzessin und ließ sich darauf nieder. »Hübsches Haus. Schönes Haus, Harvey. Haben Sie das alles allein gemacht? Alles selbst ausgesucht?« »Es ist mein Heim«, erwiderte Koster. »Da haben Sie wohl recht«, meinte die Prinzessin. »Kapitän und Mannschaft, das sind Sie in einer Person. Harvey Koster mag keine Partner. Sie haben sich immer alles selbst ausgesucht ausgenommen Ihren Sohn. Mit Curt Maddox haben Sie wohl nicht gerechnet, habe ich recht?« »Warum sind Sie gekommen, Lu?« »Sie haben doch sicher von dem neuen Hester-Ashley-Murdoch-Prozeß gehört oder gelesen«, begann die Prinzessin. Koster schwieg. Gleich nach ihrem Anruf war ihm klar gewesen, daß sich da etwas zusammenbraute. Er empfand den neuen Prozeß wie eine Heimsuchung. Von diesen Prozessen wurden sie bei lebendigem Leib aufgefressen und verschlungen. Alles, was sie mit harter Arbeit erreicht und geschaffen hatten, wurde durch dieses Spektakel im Gericht zerstört, untergepflügt und ausgelöscht. »Harvey?« »Sind Sie involviert?« fragte Koster. »Mit dieser Frage kommen Sie reichlich spät«, erwiderte die Prinzessin. »Und Sie kennen auch die Antwort. Ich bin in die Sache involviert, seitdem ich für diese vier Jungen die Kaution gestellt habe. Das war, bevor der eine erschossen wurde. Ja, ich bin involviert«, sagte sie und erzählte Koster, was der Admiral getan hatte. Koster versuchte es, aber es gelang ihm nicht, die Erleichterung und die Freude zu verbergen, die sie ihm mit dieser -615
Nachricht bereitete. Doch sein Glücksgefühl hielt nicht lange an. Die Prinzessin war nicht bloßfüßig und mit einem Stock bewaffnet aus dem Western Sky gekommen, um ihm eine Freude zu machen. Er schwieg. »Es ist noch zu früh zum Feiern«, fuhr die Prinzessin fort. »Das Schiff liegt noch im Hafen. Sie müssen erst die Flut abwarten. Warum fragen Sie mich nicht, was ich von Ihnen will, Harvey?« Im Geist sah Koster den Wasserspiegel den Strand heraufkriechen. »Möchten Sie eine Tasse Tee, Lu?« »Während die Flut steigt? Sie sind schlau, Harvey, aber wir haben uns schon aufgewärmt. Wir können mit dem Spiel beginnen. Diese guten Leutchen segeln heute ab, wenn ihnen keine Vorladungen zugestellt werden. Wenn sie trotzdem abfahren, sind sie am zwanzigsten April Justizflüchtlinge.« Die Prinzessin richtete ihren Stock auf Koster. »Ich brauche die Vorladungen, Harvey.« »Ich? Sie verlangen von mir...? Ich soll...?« Kosters Stimme überschlug sich. Das Ansinnen, das die Prinzessin an ihn richtete, kam so unerwartet, war so schockierend, so unverständlich, daß es Koster die Sprache verschlug. »Richtig«, bestätigte die Prinzessin. »Ich möchte, daß Sie mir diese Vorladungen beschaffen.« »Lu... Lu«, stammelte Koster und brach ab. Er rang die Hände und bemühte sich, bemühte sich, zu verstehen, sie zu verstehen. »Warum kommen Sie damit zu mir? Ausgerechnet zu mir?« »Weil Sie der einzige Mensch in Honolulu, nein, auf ganz Hawaii sind, der es zuwege bringen kann.« »Zuwege bringen! Zuwege bringen!« wiederholte Koster, der sich von seiner Ungläubigkeit nicht erholen konnte. »Bin ich ein Richter?« »Sie kennen sie alle«, gab die Prinzessin zurück und deutete mit dem Stock auf das Telefon. »Rufen Sie einen an.« Jetzt endlich konnte Koster wieder klar denken, konnte ihr -616
unmögliches Verlangen in sich aufnehmen, konnte den Grund für ihr Kommen analysieren, die katastrophalen Folgen eines solchen Schrittes deutlich erkennen. »Auch Sie kennen sie alle, Lu. Sie sind hier keine Fremde, auch wenn Sie gern so tun.« »Sicher kenne ich sie«, gab die Prinzessin zu. »Zumindest einen ganzen Haufen von ihnen. Aber keiner schuldet mir etwas, und es gibt immer einen, der einem etwas schuldet.« Koster schwieg. Warum war sie gerade zu ihm gekommen? Sie wußte, daß er die Minuten zählte, bis das Schiff auslief, bis der Fluch, der all die Monate auf dem Territorium gelastet hatte, endlich von ihnen genommen wurde. »Sie können nicht gegen Recht und Gesetz verstoßen, Lu.« »Harvey, Sie behalten nur die Uhr im Auge«, widersprach die Prinzessin. »Sie warten auf die Flut. Tun Sie das nicht. Vorladungen werden von Richtern ausgestellt. Was ich verlange, stellt keinen unzumutbaren Eingriff in das geltende Recht dar.« »Lu...« sagte Koster und ließ den Namen im Raum stehen. Er kam näher. »Was wir an Publicity hatten, reicht für ein Menschenleben. Zwei Menschenleben. Damit muß Schluß sein, Lu. Wir müssen den Schatten loswerden, der im vergangenen September auf uns gefallen ist.« »Harvey, ich...« »Sie lieben diese Inseln«, fiel er ihr ins Wort. »Sie brauchen mir das nicht zu beweisen, und ich brauche es Ihnen nicht zu beweisen. Doch hören Sie mir zu, Lu. Vertrauen Sie mir. Ich weiß, was für Sie, für Ihr Volk, für alle das beste ist.« »Mein Volk«, sagte die Prinzessin. »Jetzt kommen Sie wieder mit dem Quatsch.« Sie deutete auf das Telefon. »Rufen Sie einen an.« »Heute ist Samstag«, wandte Koster ein. »Darum bin ich ja hier und nicht im Gericht.« »Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll«, sagte Koster. »Was sollte einen Richter bewegen, auf mich zu hören?« -617
»Harvey, ich muß diese Vorladungen haben«, drängte die Prinzessin. »Sie müssen sie mir beschaffen.« »Ich habe mich bemüht, Ihnen die Lage begreiflich zu machen«, sagte Koster. Er hatte genug von der Prinzessin. »Ich wollte, Sie könnten die Dinge so sehen, wie ich sie sehe.« Er tat einen Schritt auf die Tür zu. »Mittlerweile tickt die Uhr«, sagte die Prinzessin. Sie streckte die Hand mit dem Stock aus und versperrte ihm den Weg. »Beschaffen Sie mir die Vorladungen, Harvey.« »Ich habe mich bemüht, Ihnen dienlich zu sein«, sagte Koster und meinte es auch so. »Ich habe versucht, es Ihnen zu erklären. Ich habe Sie empfangen, Sie in meinem Haus willkommen geheißen. Aber jetzt habe ich genug! Ich will Doris Ashley und ihre Tochter aus Honolulu draußen haben. Ab mit ihnen! Doris Ashley segelt ab! Hester segelt ab!« »Tun Sie sich selbst einen Gefallen«, drängte die Prinzessin. »Den größten Gefallen Ihres Lebens. Eben noch sagten Sie zu mir: ›Vertrauen Sie mir!‹ Versuchen Sie's doch einmal umgekehrt. Vertrauen Sie mir, Harvey. Beschaffen Sie mir die Vorladungen.« »Niemals!« rief Koster zornig. »Niemals!« »Sie zwingen mich dazu«, versetzte die Prinzessin leise. Sie musterte den bläßlichen Mann in seinem prächtigen Haus, bevor sie weitersprach. »Sie erinnern sich an die Nacht der Ausgangssperre, Harvey, als ich zu Ihnen kam. Ich kam nicht durch die Vordertür, denn die war verschlossen. Ich kam durch den Seiteneingang und fand heraus, warum Sie die Türglocke nicht gehört hatten. Sie und Ihre Puppen lauschten der Musik des Theaterdampfers. Ich kam die Treppe herauf und sah S ie und Ihre Hübschen. Dann ging ich wieder runter und fing an zu brüllen.« Harvey Koster wurde es schwarz vor den Augen. Er konnte nichts sehen; alles drehte sich. Er stürzte in einen finsteren Schacht, tief, tief, weit unter der Erdoberfläche. Er fand keinen -618
Halt mehr. Er war verloren und würde niemals zurückkehren. Die Prinzessin sah, wie Harvey Koster sich vor ihren Augen veränderte. Sein Gesicht wurde rot, knallrot wie die untergehende Sonne. Seine Augen quollen hervor. Sie dachte, er würde fallen. Es sah aus, als versinke er und zerschmelze auf dem Parkett. Sie wollte schon aufstehen und ihm zu Hilfe eilen, als er aufbrüllte. »Schlampe!« kreischte er. »Dreckige Schlampe!« Seine Stimme klang wie die eines plärrenden Babys. Er sprang auf die Prinzessin zu, und sie hob ihren Stock, um ihn abzuwehren, aber er blieb mit geballten Fäusten vor ihr stehen. »Gemeine Sau!« brüllte er. »Sau! Sau! Sau!« Die Arme schwingend, als schlüge er eine Trommel mit seinen Fäusten, hüpfte er auf und nieder. Plötzlich wirbelte er herum, lief quer durch den Salon und warf sich mit dem Gesicht nach unten auf das Sofa. Er begann zu weinen und zu schluchzen, und krampfhafte Zuckungen durchliefen seinen ganzen Körper. Seine Stimme klang wie ein mächtiger Blasebalg; sie hob und senkte sich mit jedem Schluchzer und nahm an Stärke zu, bis der Raum widerzuhallen schien. Sein Schluchzen erreichte einen Höhepunkt. Besorgt kam die Prinzessin auf die Beine und ging langsam auf ihn zu. Dann ließen seine Schreie nach, seine Stimme wurde schwächer, und er lag still da. Die Prinzessin hörte ihn nur noch nach Atem ringen. »Harvey?« Er richtete sich auf wie einer, der kurz geschlafen hatte und saß in der Mitte des Sofas, die Hände auf dem Schoß. Sein Gesicht war tränenüberströmt, aber Koster schien es nicht zu bemerken. Für die Prinzessin sah er nicht größer als ein Hühnchen aus, aber sie hatte plötzlich das Gefühl, in Gefahr zu sein. »Niemand wird Ihnen glauben«, sagte Koster. »Wir werden bald wissen, ob Sie damit recht haben. Ich fahre direkt in eine Druckerei. Dort lasse ich noch heute Handzettel mit der Geschichte Ihres Harems drucken. Ich stelle alle Kinder an; die sollen sie an allen Ecken der Stadt verteilen. Ich lasse sie von Flugzeugen über der ganzen Insel, über allen Inseln abwerfen. Sie -619
werden den Himmel über dem Archipel verfinstern. Ich frage mich, ob das ein Wort von uns war. Ihr habt uns ja nicht nur die Inseln gestohlen; ihr habt uns auch unsere Sprache genommen.« Die Prinzessin tat einen Schritt, stieß einen Schrei aus, als der Schmerz von ihrem Knöchel hochschoß, aber sie ging weiter. »Warten Sie«, sagte Koster hinter ihr. Die Prinzessin verhielt den Schritt, sah ihn vom Sofa aufstehen, einen Bogen um sie machen und zum Telefon gehen. Ihr Bein quälte sie, aber sie blieb aufrecht, über ihren Stock gebeugt. Sie mußte die Sache zu Ende bringen. Koster und seine Puppen, sein ganzes Haus, widerten sie an. Sie wollte längst fort sein. Sie konnte Koster am Telefon sehen und hören, aber er sprach leise, und sie konnte kein Wort verstehen. Als er vom Telefon zurückkehrte, konnte die Prinzessin nichts in seinem Gesicht lesen. Er hatte nichts zu fürchten, wenn seine Bemühungen fehlgeschlagen waren. Niemand würde je von seinem pathetischen Puppentheater erfahren, ganz gewiß nicht Curt Maddox, nicht einmal Jack Manakula. »Richter Geoffrey Kesselring«, sagte Koster. »Er ist in den Palama-Stallungen. Er erwartet Sie.« Pferde waren Geoffrey Kesselrings große Passion. Koster hatte gewußt, wo Kesselring zu finden war, und er hatte gewußt, daß er ihn nur zu erinnern brauchte, wie sein Kommilitone in Punahou zu seiner Bestellung als Richter gekommen war. Koster ging an der Prinzessin vorbei und wartete an der geschlossenen Eingangstür. Er öffnete sie erst, als sie ihn erreicht hatte. »Also dann, Harvey...« sagte die Prinzessin und verstummte. Wieder fühlte sie die Gefahr, und ihr Gefühl trog sie nicht. »Kommen Sie nie wieder«, sagte Koster, der schon bei sich beschlossen hatte, die Prinzessin kurze rhand umbringen zu lassen, wenn sie irgend jemandem, ganz gleich, wem, von seinen Mädchen erzählte. Er würde einen Killer anheuern und ihn auf Big Island hinüberschicken. Er blieb in der Tür stehen und lauschte dem Geräusch ihres Stockes. Er wartete weiter, wollte einen Motor anspringen und -620
einen Wagen wegfahren hören. Harvey Koster wollte heute keine weiteren Überraschungen erleben. Kein Geräusch drang an sein Ohr, und nach einer Weile kam Koster aus seinem Haus und schlüpfte hinter den Riesenhibiskus, um unbemerkt zu bleiben. Als er zum Ende der Rabatte kam, hörte er die Prinzessin sagen: »Na, jetzt haben Sie, was Sie haben wollten«, und sah, wie Maddox ihr in den Wagen half. Noch einmal versank die Welt für Koster in völligem Dunkel, und er streckte die Hand aus, um sich an den dicken Ästen des alten Hibiskusstrauches festzuhalten. Er hörte den Motor anspringen und den Wagen losfahren, hörte das Motorengeräusch schwinden und verstummen, bevor er den Weg zurück zur offenen Tür und zu den Mädchen fand, die jetzt alles waren, was er noch hatte. Maddox langte zum Funkgerät unter dem Armaturenbrett und drückte die Sprechtaste. »Maddox. Rufen Sie Phil... das Büro des Staatsanwalts im Gerichtsgebäude. Fragen Sie nach Tom. Wenn Sie ihn haben, verbinden Sie mich.« Maddox wußte, daß er nach allem, was er heute nacht getan hatte, nie wieder Geheimnisse vor dem Einsatzleiter oder sonst jemandem haben würde. Er hielt das Funkgerät in der einen Hand und steuerte mit der anderen, bis Tom sich meldete: »Captain Maddox?« »Richter Kesselring. Er ist in...« »Sie haben sie!« rief Tom. »Do nnerwetter!« schrie Leslie McAdams. »Er hat sie?« fragte Sarah und fing an, in die Hände zu klatschen. »Hören Sie!« sagte Maddox in seinem Auto, und lauter: »Hören Sie! Kesselring ist in den Palama-Stallungen. Haben Sie einen Wagen?« »Ja, sicher!« »Hören Sie, wir treffen uns auf dem Pier.« Der Junge würde Hilfe brauchen. »Warten Sie. Hören Sie!« Maddox mußte es ihm jetzt sagen. Jetzt gleich. »Nicht ich habe diese Vorladungen geschafft. Es war Ihre Freundin, die Prinzessin! Okay? Die -621
Palama-Stallungen. Okay?« Maddox hängte das Funkgerät ein. Die Prinzessin musterte ihn. »Was soll das alles?« fragte sie. »Hatten Sie eine Vision, oder was ist los?« »Sie haben es ja gehört«, erwiderte Maddox. »Wir sind jetzt alle Freunde.« »Sie sind niemandes Freund«, sagte die Prinzessin. Maddox war ihre spitze Zunge leid. Ihr Anruf bei Harvey Koster, die Fahrt zu Kosters Haus, die Ewigkeit qualvollen Wartens hatten Maddox' Kräfte aufgezehrt. Als sie zu einer Kreuzung kamen, riß Maddox das Steuer nach rechts, als ob jemand hinter ihm her wäre. Er fiel auf die Prinzessin und schob sie an die Tür, während er das Lenkrad scharf nach links drehte. »Sie auch nicht«, stieß Maddox im schlingernden Wagen hervor und schaltete die Sirene ein, um sie zum Schweigen zu bringen. Die S. S. Lotus war für eine Party geschmückt. Sie war völlig weiß, und die weiße Farbe schimmerte. Sie war vor dem Auslaufen nach Honolulu noch im Trockendock gewesen und erstrahlte in festlichem Glanz. Sie hatte zwei Schornsteine, hellrot, mit einem einzigen schwarzen Streifen, und von beiden flatterte die Schiffsflagge im Wind. Sie war ein wunderbares Schiff, schnittig und elegant. Von Anfang an war sie eine Favoritin ihres Erbauers gewesen, der sich noch auf dem Zeichenbrett in sie verliebte. Er schwor, daß die Lotus etwas noch nie Dagewesenes sein würde. Er wollte ein Schiff mit einem unvergleichlichen Fluidum hervorbringen. Seine Auftraggeber mußten ihm die Pläne damals abjagen. Er sorgte sich um sie von dem Tag an, da sie auf Kiel gelegt wurde, aber als sie vom Stapel lief, wußte er, daß er eine Königin geschaffen hatte. Die Lotus war die Königin der Meere. Ihr Erscheinen war immer ein Ereignis, und selbst jetzt, da sie in Kürze auslaufen würde, herrschte lebhaftes Treiben auf ihrem Anlegeplatz. Jimmy Saunders hatte hundert Offiziere und Mannschaften der Küstenwache zur Lotus entsandt. Wie eine Ehrengarde waren sie zu beiden Seiten der Landungsbrücke -622
angetreten. Alle trugen Armbinden der Küstenwache und Gummiknüppel, die Offiziere die obligatorischen Pistolen. Die Schiffskapelle, in bunte Farben gekleidet und mit Leis um den Hals, hatte sich vor der Landungsbrücke auf dem Pier gruppiert. Daneben stand ein brusthohes Pult, auf dem die Deckspläne mit der Kabinenübersicht der Lotus lagen, in denen die Buchungen eingetragen waren. Die Passagiere legten ihre Fahrkarten vor, und die Zahlmeister checkten ihre Namen auf der Passagierliste. Zwei Navy-Lieutenants überprüften alle, die an Bord gingen. Maddox schaltete die Sirene ab, als er zum Western Sky kam, um die Prinzessin abzusetzen, ließ sie aber gleich wieder ertönen, als er die Hotelauffahrt hinunterbrauste. Zwei Cops, die auf diesem Pier ihren Dienst versahen, hörten die Sirene und machten die Zufahrt frei. Sie standen neben dem Wagen, als Maddox ausstieg. »Irgendwelche Probleme, Captain?« »Will nur mal zuschaun«, sagte Maddox, ließ sie stehen und mischte sich ins Gewimmel. Das Schiff würde bald auslaufen, also war Lenore irgendwo da oben. Sie konnte an der Reling stehen. Sie konnte der Kapelle lauschen. Maddox sah die weißen Navy-Uniformen, die zwei Navy-Lieutenants. Der Admiral war wirklich kein Risiko eingegangen. Maddox marschierte, ohne aufzublicken, zur Landungsbrücke, bis er das Lachen einer Frau hörte. Er hob den Kopf. Sie war nicht da. Er nahm seinen Hut ab und wischte das Schweißband mit dem Taschentuch ab. Er erinnerte sich an das Taschentuch, von dem Bergman in seinem Büro gesprochen hatte, das Taschentuch, das Lenore sich genommen hatte. Bergman hatte gewonnen. Die Kapelle beendete eine Melodie und folgte ihrem Dirigenten auf das Schiff. Blumen- und Souvenir-Verkäufer begannen ihre Waren in Schachteln zu verpacken, die Schaukartons auf ihren zusammenklappbaren Verkaufsständen. Ein Händler bot Maddox einen Korb Obst zu einem einmaligen Vorzugspreis an. Dann erhoben die Sirenen des Schiffes zum -623
ersten Mal betäubendes, dröhnendes Klagen, das den Pier erschütterte und einem Zyklon gleich herab- und über ihn hinbrauste. Der Pier leerte sich. Die Verkäufer von Leis und Blumensträußen, Flaggen und Ansichtskarten, bestickten Kissen, Sporthemden und Sandalen verließen mit ihren Waren den Anlegeplatz. Maddox blickte wieder am Schiff hoch, hoch bis zu den mit Segeltuch bedeckten Rettungsbooten. Sie war nicht da. Hinter sich hörte Maddox einen Mann sagen: »Ich glaube, das ist er.« Maddox sah einen der Navy-Lieutenants nach links deuten und hörte seine Kameraden sagen: »Das muß er sein. Der Commander hat ja gesagt, daß er hinkt.« Maddox drehte sich um. Tom und das Mädchen kamen auf die Landungsbrücke zu. Jetzt hatte Maddox also auch noch das Mädchen am Hals. Er hatte nicht mit ihr gerechnet. Das Mädchen nahm den jungen Anwalt am Arm und flüsterte ihm etwas zu. Tom erwiderte etwas, aber Maddox war zu weit weg; er konnte ihn nicht hören. »Und wegen dem hat der Commander hundert Mann abkommandiert?« wunderte sich einer der Lieutenants. Jetzt konnte Maddox die zwei deutlich sehen. Sie hatten Angst, aber sie ließen sich nicht aufhalten. Ein Lieutenant wandte sich an die Zahlmeister. »Das übernehmen wir.« Der andere Lieutenant gesellte sich zu ihm. Sie standen unmittelbar vor der Landungsbrücke, und als Sarah und Tom auf sie zukamen, sagte der eine: »Zu spät. Sie können gerade noch zum Abschied winken.« Maddox steckte zwei Finger in den Mund und stieß einen Pfiff aus, den man auch noch auf der Straße hören konnte. Er trat nach rechts und blieb neben Sarah stehen. »Los, ziehen Sie Leine«, forderte sie derselbe Lieutenant auf, der ihnen zuvor das Winken nahegelegt hatte. »Sie alle«, fügte er hinzu. Maddox sah die zwei Cops gelaufen kommen. Er wußte nicht einmal ihre Namen. Dann wandte er sich den beiden Lieutenants zu und lachte sie an. »Ich hätte mich vorstellen sollen«, sagte er, als ob sie alle drei an der Theke einer Bar stünden, und hob seine Handfläche hoch, um die goldfarbene -624
Dienstmarke Eindruck machen zu lassen. »Ihr Leute macht euch aber mächtig Sorgen. Ich kümmere mich um diese Kinder.« Die Polizisten kamen gelaufen. »Ihr haltet euch in Bereitschaft«, befahl Maddox. Er mußte weiterreden, in Bewegung bleiben. Diese hundert Armleuchter konnten sie alle fünf in die Pisse jagen. Maddox ging an Sarah und Tom vorbei auf das Pult zu. Er wandte sich an die Zahlmeister. »Ich brauche ein paar Kabinennummern. Lassen Sie mich mal Ihre Listen sehen«, sagte er, hielt sie schon in der Hand und drehte sie herum, um sie lesen zu können. »Moment mal, Captain«, mischte sich einer der Navy-Lieutenants ein. »Wir haben unsere Befehle.« Maddox blätterte in den Listen, und als er sich umdrehte, lachte er wieder. »Na klar«, sagte er, schob sich zwischen den Anwalt und das Mädchen und packte beide am Arm. »Aber das ist Sache der Polizei«, sagte er freundlich, und zu den zwei Cops: »Wenn sie versuchen, mich aufzuhalten, nehmt sie fest.« Er machte ein ernstes Gesicht. »Aber keine Handgreiflichkeiten!« Jeder der Cops trat auf einen Lieutenant zu. »Sie haben den Captain gehört«, sagte der eine, während sie mit leicht erhobenen, angewinkelten Armen den Zugang zur Landungsbrücke freimachten. Tom und Sarah festhaltend, blieb Maddox dicht hinter ihnen. »Sie sind doch Anwalt«, sagte Maddox. »Sie hätten wenigstens so viel Grütze im Kopf haben können, einen Vollzugsbeamten mitzubringen.« »Es ist Samstag«, rechtfertigte sich Tom. »Ich konnte keinen finden.« »Nun ja«, machte Maddox. »Das Glück verfolgt mich heute schon den ganzen Tag.« Er sah einen Matrosen vor sich. »He, Sie! Wo ist das A-Deck? Kabinen 39 und 41?« Der Matrose zeigte ihnen den Weg. Maddox schob sich den Hut ins Genick. »Kommen Sie, Herr Anwalt. Holen wir uns Ihre Täubchen.« Plötzlich stellte sich -625
Maddox die Frage, ob die Prinzessin Harvey Koster den Namen ihres Chauffeurs genannt hatte. Sie gingen das Deck entlang, bis sie zu einer Treppe kamen, und Maddox kletterte als erster hinunter. »Hier lang«, sagte er und führte sie zu einem Durchgang. Hier war es noch schlimmer als auf dem Pier, ein einziges Durcheinander: Passagiere, Besucher, Matrosen, Stewards, die Tabletts mit Speisen und Getränken über ihren Köpfen balancierten, und überall Unmengen Gepäck. Hintereinander wanderten sie bis ans Ende des Durchgangs, wo Maddox nach rechts abbog. Nach ein paar Metern blieb er stehen. Zu seiner Linken befand sich ein Durchgang, der parallel zum ersten verlief. Maddox las die Nummern auf einem Schild, das an die Wand zum Durchgang geschraubt war. »Wir sind gleich da«, sagte er und sah Commander Saunders vor sich. Jimmy Saunders hatte seine Männer dabei, und alle trugen Stoffkoppel mit Pistolen in den Holstern. Es waren so viele, daß Maddox nicht an ihnen vorbeisehen konnte. »Sie hätten nicht kommen sollen, Captain«, sagte Saunders. »Machen Sie kehrt. Nehmen Sie ihn mit. Nehmen Sie ihn und das Mädchen mit.« Maddox ging weiter. Tom warf einen Blick auf Sarah. Sie war blaß und ließ Saunders nicht aus den Augen. »Bleib da«, sagte Tom, aber sie folgte Maddox. Saunders tat einen Schritt vor und blieb stehen. »Hier geht's nicht weiter, Captain.« »Da ist neununddreißig«, sagte Maddox. »Und da einundvierzig. Dieser Mann ist gekommen, um Vorladungen unter Strafandrohung zuzustellen.« »Niemand betritt diese Kabinen«, erklärte Saunders. »Das alte Lied«, spöttelte Maddox. »Sie besorgen immer noch anderer Leute schmutzige Arbeit.« Der Captain wußte es nicht, aber er hatte recht. Wenn er mit Maddox allein gewesen wäre, Saunders würde ihm von Murdochs Brief berichtet haben, von den drei Rekruten, die im -626
Gefängnis saßen, und daß er nur auf Hensel wartete, um alle vier der Polizei zu übergeben. »Verlassen Sie das Schiff«, sagte Saunders. »Nehmen Sie sie mit und verlassen Sie das Schiff.« »Die Vorladungen«, beharrte Maddox. »Sie gehen da nicht rein«, sagte Saunders. »Könnte sein, daß Sie sich irren«, sagte Maddox. »Diesmal könnten Sie sich irren. Sie befinden sich innerhalb der Stadtgrenze von Honolulu. Der Pier gehört dazu. Ich bin Polizeibeamter. Der Mann in meiner Begleitung ist ein ausführendes Organ des Bezirksgerichts in offizieller Funktion. Diesmal haben wir keinen Polizeichef da, der Ihnen seine schmutzige Arbeit überläßt. Sie haben es mit mir zu tun, nicht mit dem Polizeichef!« »Sie kommen nicht durch.« »Sie und ich, wir steuern seit la ngem auf eine Konfrontation zu«, entgegnete Maddox. »Seitdem ich Sie zum ersten Mal gesehen habe, stehlen Sie mir meine Leute. Aber wie ich schon sagte: Diesmal sind wir allein, und Sie behindern den Vollzug einer Amtshandlung. Sie verstoßen gegen das Gesetz. Dieser Mann wird die Vorladungen zustellen. Sie können versuchen, ihn aufzuhalten, aber erst müssen Sie mich aufhalten. Und dazu bedarf es mehr als eines All- American-Spitzensportlers. Es bedarf einer Waffe. Denken Sie darüber nach, und auch über dies: Sie spielen mit Ihrem Leben, um eine Schlampe zu verteidigen, die keinen Schuß Pulver wert ist. Sie könnten sterben für diese Schlampe. Wenn Sie sterben, wird man eine Untersuchung gegen mich einleiten, aber ich würde Sie in Ausübung meiner Pflicht getötet haben. Wenn Sie gewinnen, ist es Mord. Mord! Sie können keinen Cop umlegen und dann einfach davonspazieren. Nicht einmal bei uns. Und der Gouverneur kann ja schließlich nicht jeden Killer auf freien Fuß setzen.« »Ich habe meine Befehle«, sagte Saunders. »Ihre Befehle«, schrie Maddox ihn an. »Ihre verdammten -627
Befehle! Führen Sie ihre verdammten Befehle dort aus, wo sie hingehören! Ihr verdammter Admiral hat uns lange genug herumgeschubst!« Wieder ertönten die Sirenen, tief und kehlig im Durchgang. Maddox ze igte auf die Tür. »Ich gehe jetzt da rein! Ich und meine zwei Begleiter gehen jetzt hinein!« Er warf einen Blick auf Tom und Sarah. »Bleibt hinter mir, dicht hinter mir.« Er streckte den Arm aus und schob das Mädchen hinter sich. Er setzte seinen Weg fort und wußte nach einigen wenigen Schritten, daß der Commander kapituliert hatte. Er ging an Saunders vorbei, stieß mit der rechten Schulter die Tür auf, knallte sie gegen die Stahlwand, sprang zur Seite, packte Tom und Sarah und schob sie in die Kabine. Vor sich sah Maddox den Admiral. Er folgte dem Mädchen in die Kabine und sah Doris Ashley allein in einer Ecke sitzen. »Jimmy!« brüllte der Admiral und stürmte, Tom und Sarah zur Seite stoßend, auf den Gang zu. Doris Ashley sprang auf. Saunders trat ein, und seine massige Gestalt füllte die viel zu kleine Kabine. Maddox sah sich nach allen Seiten um und schrie: »Wo ist das Mädchen? Hester Murdoch? Hester Anne Ashley Murdoch!« stieß er hervor, als ob der Name eine Beschimpfung wäre. Endlich konnte er sich entladen, nachdem er sich seit gestern abend, eigentlich schon von Anfang an, zurückgehalten hatte. Und jetzt mußte er es zu Ende bringen, alles zu Ende bringen. »Es hätte wieder Tote gegeben«, sagte Saunders hinter ihm. »Was wollen diese Leute hier?« fragte der Admiral, während Maddox sich auf Doris Ashley zubewegte. »Das werden Sie doch wohl erfahren haben, oder? Was wollen diese Leute hier?« Doris Ashley war völlig allein. Man hatte sie aus Windward weggebracht; jetzt sollte sie diesem Polizisten und diesem Hinkebein ausgeliefert werden. »Das werden Sie sehr bald erfahren, Admiral«, hörte sie Maddox sagen. Der Polizist war hinter ihr her. Doris Ashley schob sich in die Ecke, hinter einen Stuhl. »Wo ist Ihre Tochter?« fragte Maddox und fing wieder an -628
zu schreien. »Muß ich sie wieder irgendwo ausgraben?« Tom sagte: »Captain...« und Maddox wandte den Blick von ihr ab. Hester stand in der Öffnung zwischen neununddreißig und einund vierzig. »Na also«, brummte Maddox. »Da ist ja die ganze Bande.« Weniger als eine Minut e war vergangen, seit er in die Kabine eingedrungen war. Er stieß Tom an. »Machen Sie schon.« Tom langte in seine Tasche. »Ich habe hier Vorladungen unter Strafandrohung für Hester Anne Ashley Murdoch und Doris Ashley.« Er wies die zwei gefalteten Dokumente vor. »Ich habe hier rechtsgültige Urkunden, ausgestellt vom Obersten Gerichtshof des Bezirks Honolulu, die Sie unter seine Gerichtsbarkeit stellen. Hiermit sind Sie angehalten, am zwanzigsten April 1931 vormittags um zehn Uhr im Saal 22 des Gerichtshauses des Bezirks Honolulu zu erscheinen. Verfahren dreizweisechsdrei, das Volk gegen David Kwan, Michael Yoshida und Harry Pohukaina.« »Sie hatten ihren Prozeß«, warf der Admiral Tom vor. Lange genug hatte er sich ausnutzen lassen. »Diese drei Männer sind frei. Denken Sie daran, bevor Sie das tun.« »Sie sind unschuldig!« fuhr Tom ihn an, als ob er auch ihm eine Vorladung zustellen wollte. »Es ist meine Absicht, ihre Unschuld zu beweisen!« Maddox dachte an die beiden Sirenensignale des Schiffes. »Kommen Sie zum Ende, Tom«, sagte er und sprach den Anwalt zum ersten Mal mit seinem Vornamen an. Tom trat zur Seite. »Doris Ashley, hiermit...« begann er, aber Sarah rief: »Nein!« Sie war schneller als Tom und stellte sich mit ausgebreiteten Armen zwischen ihn und Doris Ashley. »Nein! Nein, Tommy, nein!« Sie sah Maddox auf sich zukommen. Tom starrte sie verblüfft an. Sein erster Gedanke war, daß jemand sie bezahlt hatte, daß Doris Ashley sie bezahlt hatte. Tom -629
wußte, daß das Wahnsinn war. Dann dachte er, Sarah hätte einen Nervenzusammenbruch erlitten, daß sie den Verstand verloren hätte. »Sarah«, sagte er vorsichtig, wie zu einem vorübergehend sinnesverwirrten Menschen, »ich muß diese Vorladungen zustellen.« »Das kannst du nicht!« rief sie. »Das lasse ich nicht zu!« und stürzte vor, um ihm die Dokumente zu entreißen, aber sie lief in Maddox hinein. Sie fing an, mit Händen und Fäusten um sich zu schlagen, bis Maddox einen Arm um ihre Taille legte und sie hochhob. »Beruhigen Sie sich«, sagte Maddox völlig gelassen, als ob er an zehntausend Tagen und in zehntausend Nächten mit zehntausend Verrückten zu tun hätte. »Beruhigen Sie sich, und wir werden darüber reden.« Er sah sie an und gab ihr sein Wort. »Wir werden reden.« Sarah ließ die Arme sinken. Sie blickte sich um wie jemand, der, einer plötzlichen Regung folgend, etwas Falsches gemacht hat. Aber sie sah allen, ohne sich zu schämen, ins Gesicht. Sie wandte sich um und zeigte auf Doris Ashley. »Ich will die beiden nicht hier haben«, sagte Sarah. »Sarah, sie kommen vor Gericht«, gab Tom ihr zu bedenken. Er hatte die Vorladungen außer Reichweite. »Wozu? Joe ist tot!« »Wozu?« wiederholte Tom. »Weil Joe tot ist! Weil sie unschuldige Menschen beschuldigt haben, obwohl sie wußten, daß sie unschuldig sind! Weil sie einen Meineid geschworen haben! Sie kommen ins Gefängnis! Diesmal kommen sie ins Gefängnis! Sie müssen ins Gefängnis.« »Wozu!« stieß Sarah hervor. »Was soll das beweisen!« Sie strich sich das Haar aus der Stirn. »Ich will sie nicht hier haben, Tom. Sie gehören nicht nach Hawaii. Sie haben nie hierhergehört! Sie sind nur gekommen, um zu stehlen. Sie stehlen immer noch.« Sie drehte sich um und sah Doris Ashley an. »Sie läuft davon. Laß sie doch! Laß sie doch beide davonlaufen! Alle werden wissen, daß sie davongelaufen sind!« »Die Leute, von denen Sie sprechen, werden ihnen zujubeln«, -630
mischte Maddox sich ein. Er hätte Tom die Vorladungen aus der Hand nehmen und sie selbst zustellen können, aber erst mußten dem Mädchen einige Dinge klargemacht werden. Sie war mit Tom gekommen, und wenn sie nicht dachte wie er, hatte Maddox sich den falschen Partner ausgesucht. »Sie werden ihnen zujubeln«, wiederholte Maddox. »Seitdem ihre Schiffe hier gelandet sind, haben sie auf Hawaii ihre eigenen Gesetze gemacht. Und es wird weitergehen wie bisher, wenn Sie sie nicht stoppen.« Er deutete auf Doris Ashley. »Sie müssen Sie zu der Einsicht bringen, daß es damit vorbei ist, daß sie keine Vorschriften mehr machen, sie nach ihrem Belieben ändern, sie vergessen oder darauf spucken können!« »Sie spucken uns ins Gesicht!« rief Sarah. »Nur wenn sie jetzt abfahren!« entgegnete Tom. »Kannst du das wirklich nicht verstehen, Sarah? Wenn wir sie laufen lassen, sind sie Helden... Heldinnen! Wenn Gerald Murdoch da wäre, und du würdest ihn gehen lassen, man würde in San Francisco auf dem Pier auf ihn warten, um ihm einen Orden zu geben!« »Hören Sie zu!« sagte Maddox. Er hätte Toms Freundin am liebsten am Kragen genommen und so lange durchgeschüttelt, bis sie wieder zur Vernunft gekommen war. »Ihr Bruder wurde ermordet, und eine Stunde nach ihrer Verurteilung waren sie schon wieder auf freiem Fuß. Nach einer Stunde! Der nächste Kerl, der den Bruder eines Menschen umbringt, wird diesen Rekord wahrscheinlich noch unterbieten, wenn Sie nicht damit Schluß machen. Sie, Sarah. Tom. Ich. Diese Leute können dem Gesetz nicht auch weiterhin eine lange Nase drehen. Nein. Darum müssen die beiden ins Gefängnis. Doris Ashley muß ins Gefängnis. Ihre Tochter muß ebenfalls ins Gefängnis.« »Joe... Tommy...« flüsterte Sarah. Sie wich zurück, und Maddox nickte beifällig. Er stieß dem Anwalt in die Rippen. »Machen Sie, machen Sie«, drängte Maddox. »Doris Ashley«, sagte Tom und reichte ihr eine Vorladung. -631
»Hester Anne Ashley Murdoch«, sagte er und reichte ihr eine Vorladung. Doris Ashley hielt die Vorladung in der Hand, als ob sie schmutzig wäre. Sie fühlte sich beschmutzt, entehrt und schüttelte sich. Gefängnis! Man steckte sie ins Gefängnis: In eine Zelle mit Gittern vor den Fenstern. Sie stöhnte. Nur Hester konnte sie retten. Sie würden zusammen sein, eine Zelle teilen und die Tage zählen, bis sie nach Windward zurückkonnten. Doris streckte die Hand nach Hester aus, die nicht mehr da war. Hester stand bei Maddox. Sie hatte ihr Köfferchen und hielt ihre Vorladung, ihre Freiheit, die Freiheit, die Tom Halehone ihr geschenkt hatte. »Kann ich jetzt gehen?« »Hester!« rief Doris Ashley. »Bis zum zwanzigsten April sind Sie sich selbst überlassen«, antwortete Maddox. »Hester!« Doris Ashley streckte den Arm nach ihr aus, aber Hester sprang zurück und stieß mit dem Admiral zusammen. »Ich komme nicht mit dir«, sagte Hester, die nun endlich frei, für immer frei war. »Du kannst niemanden mehr hinter mir herschicken, der mich sucht und zurückbringt. Ich komme nie wieder zurück. Du hast Captain Maddox gehö rt. Ich bin mir selbst überlassen.« »Du kannst mich nicht verlassen!« rief Doris Ashley ihr zu, aber Hester ging. »Hester! Kleines, bitte!« Tom Halehone hatte sie gerettet. Das Gefängnis war nur eine Zwischenstation. Endlich kannte Hester ihr Ziel, ihre Zuflucht, ihr wahres Zuhause. Es wartete auf sie, seitdem sie von ihrem Bett aus Joseph Liliuohe gesehen und dann in den Tod geschickt hatte. In Molokai würde sie keiner abweisen. Da sie nun eine Aussätzige war, würde sie lernen, für die anderen Aussätzigen zu sorgen. Doris Ashley taumelte, schwankte und sank auf ihren Stuhl. »Hester, Kleines!« flehte sie, »komm doch zurück!« »Ziehen Sie Ihre Männer wieder ab, Jimmy«, sagte der -632
Admiral und deutete auf Maddox. »Der Captain hat hier das Kommando.« »Nein, nein.« Maddox schüttelte den Kopf. »Sie haben sie hergebracht, Admiral, Sie bringen sie auch zurück.« Sein Blick fiel auf Doris Ashley, die wie verloren auf ihrem Stuhl saß, und er erinnerte sich ihrer Weigerung, auf dem Vordersitz neben ihm ins Mercy Hospital zu fahren. Maddox machte kehrt, ging an Saunders vorbei und verließ die Kabine. Sarah und Tom holten ihn im Durchgang ein. »Sie werden wahrscheinlich eine Menge Schwierigkeiten haben«, meinte Tom. »Kann schon sein. Ihr beide findet ja wohl auch ohne mich von diesem Kahn herunter«, entgegnete Maddox. Er hatte noch etwas zu tun. Er rief den erstbesten Matrosen an, der ihm über den Weg lief. »Wo ist das Promenadendeck?« Der Mann wies ihm den Weg, und Maddox stieg eine Treppe hinauf. Er bog um die Ecke und stand vor einer zweiten. Er kam sich vor wie im Keller eines Wolkenkratzers. Es ging immer höher hinauf. Seine Schenkel schmerzten ihn, aber er lehnte es ab, stehenzubleiben und auszuruhen. Er begann schwer zu atmen, und als er das Wort Promenadendeck über sich sah, war sein Gesicht gerötet. Und es bebte in seinem Inneren. Er durchschritt einen Durchgang und noch einen und las das Metallschild mit den Kabinennummern. Er sah das Ende seines Weges vor sich, und trotz der nicht enden wollenden Kletterei schien er es zu früh erreicht zu haben. Er blieb vor 103 stehen. Er konnte zwischen 103 und 105 wählen. Tu's, sagte er sich, befeuchtete seine Lippen und klopfte an Kabine 105. Er hob die Hand, um ein zweites Mal zu klopfen, als die Tür aufging. »Hallo, Lenore.« Mit innerster, unabänderlicher Gewißheit begriff er, daß er für alle Zeiten verloren war. Er würde sie nie vergessen, würde nie aufhören, sich nach ihr zu sehnen. Er würde nie eine andere Frau ansehen, ohne sich im selben Augenblick von ihr abzuwenden, weil es nicht Lenore war; würde nie eine andere Frau lachen hören, ohne Lenore schmerzlich zu vermissen. Er würde um sie -633
trauern bis an sein Lebensende. »Hallo, Curt.« Sie war verdammt. Sie fühlte sich verstümmelt. Alles, was in ihrem Leben von Wert war, hatte sie in wenigen, kurzen, wirbelnden Wochen gefunden und verloren. Auf dieser paradiesischen Insel war sie mit Curt zum Leben erwacht, und jetzt wurde es ihr genommen. Sie war belohnt und bestraft worden, weil sie die Belohnung an sich genommen hatte. Alles, was Bedeutung für sie hatte, ihre Hoffnungen, ihre Träume, der strahlende Glanz ihrer Liebe zu Curt, alles verschwand mit ihm. Sie fühlte sich alt, ausgedörrt und kalt. Die Kälte würde anhalten. »Ich habe etwas mitgebracht, es gehört dir«, sagte Maddox. Aus der Innentasche seines Jacketts zog er den grünen Schal heraus, den sie in seinen Wagen hatte fallen lassen. »Du mußt ihn vergessen haben«, fügte er hinzu. »Wahrscheinlich«, entgegnete Lenore. Sie kannten beide die Wahrheit und sie wußten, daß er nicht gekommen war, um einen Schal zurückzubringen, den sie unter Dutzenden in einem Kaufhaus in Chicago ausgesucht hatte. »Geh nicht fort, Lenore. Geh nicht fort.« Er durfte sie nicht verlieren. Er sah sie an, sah ihr in die Augen, suchte Hilfe, suchte Hoffnung. »Du gehörst zu mir.« Seine Kehle war trocken und schmerzte. »Wo du auch bist, du gehörst zu mir. Du kannst sechs Ozeane überqueren und wirst dich um keinen Zentimeter fortbewegt haben. Du wirst immer noch da sein, und ich werde noch da sein, nur werden wir nicht zusammen sein. Darum mußt du bleiben, Lenore. Du mußt hierbleiben.« »Ich dachte mir schon, daß Sie das sind«, sagte Bergman, der den Gang herunterkam. Es war Maddox, als hätte man ihm einen Dolch in den Rücken gestoßen. Lenores Finger streiften die seinen, als sie den Schal nahm, und schon war Bergman bei ihnen und vor Nummer 103. »Sind Sie nur gekommen, um sich zu verabschieden, -634
Captain?« »Nein.« Die Antwort hing im Raum. »Ich kann mir nicht vorstellen, daß wir uns noch einmal wiedersehen«, sagte Bergman. »Viel Glück.« Maddox starrte ihn an. »Ich bin hier noch nicht fertig«, sagte er. Keiner rührte sich. Keiner sprach. Dann streckte Maddox die Hand aus und öffnete die Tür zu Nummer 103. »Das ist Ihre Kabine, nicht wahr?« »Die Zeit wird knapp«, sagte Bergman und ging in seine Kabine, ließ aber die Tür offen. »Du hast es gehört, Lenore«, sagte Maddox. »Die Zeit wird knapp, für dich und für mich. Wir haben alle Zeit der Welt noch vor uns, aber nicht hier, nicht auf diesem Schiff.« Er ergriff ihre Hände; sie waren kalt wie Eis. »Komm schon, Lenore!« drängte er. »Du schuldest ihm nichts. Er schuldet dir viel!« »Lenore?« Bergmans Stimme klang schwach und angestrengt. Lenore entzog Maddox ihre Hände. »Das ist unsere letzte Chance«, drängte Maddox. »Ich habe dir einmal gesagt, niemand bekommt jemals eine zweite. Aber du und ich, wir sind eine Ausnahme. Es geht doch um dich und um mich, Lenore! Wir gehören zusammen. Das haben wir von Anfang an gewußt.« »Curt... ich...« »Nicht ich!« sagte Maddox. »Wir! Wir!« »Lenore«, rief Bergman mit matter Stimme. Maddox streckte ihr die Hand entgegen. »Halt dich an mir fest«, sagte er. »Vergiß deine Kleider. Es sind seine Kleider. Laß alles zurück. Wir fangen neu an.« »Aber nicht so«, entgegnete Lenore. Maddox' Arme sanken herab. »Es gibt keinen anderen Weg«, sagte Maddox. »Und es wird -635
auch keinen anderen geben.« »Du verstehst nicht«, sagte Lenore. »Er verdient es...« »Wir verdienen es!« unterbrach er sie. »Er hat seine Zeit gehabt. Wir haben sie vor uns.« »Curt, Liebling... ich muß mit ihm reden. Ich muß es ihm sagen.« »Lenore?« Walter Bergmans Stimme schien zu verklingen. »Laß nicht zu, daß er uns fertigmacht«, warnte er sie. »Er wird alles versuchen. Jeder Trick ist ihm recht. Lauf, wenn du kannst. Fang an zu laufen und bleib nicht mehr stehen.« Lenore sah ihn an, und für einen Auge nblick waren sie wieder zusammen wie am ersten Tag. Sie legte ihre Finger an ihre Lippen, dann an die seinen, wandte ihm den Rücken zu und ging hinein. Maddox war wieder allein. Er tat einen Schritt, noch einen und noch einen zurück. Er sah, wie sie lief, auf ihn zukam und sich in seine Arme warf. Er erreichte das Promenadendeck hoch über dem Pier. Ein Steward kam auf ihn zu. Er hielt eine Schnur, an der eine Metallscheibe hing, und in der anderen Hand ein Stöckchen wie ein Trommelschlegel. An einem Ende befand sich eine Filzkugel, und als der Steward sich näherte, schlug er mit dem Schlegel auf die Scheibe. Dongggggg! Ein dumpfer, metallischer, melodischer Klang schallte über das Deck. Und der Steward rief: »Das Schiff legt ab! Das Schiff legt ab!« Maddox erreichte die Treppe und blickte zurück. Er sah nur den Steward. Dongggggg! Er kletterte zum Sportdeck hinunter. Dongggggg! »Das Schiff legt ab! Das Schiff legt ab!« Vom Hauptdeck führte eine zweite Treppe hinunter, und auf halbem Weg sah Maddox den Admiral mit Doris Ashley. Saunders war dabei und ein Steward mit einem Gepäckkarren. Maddox wollte stehenbleiben, zurücklaufen zu Lenore, sie einfach aufheben und hinuntertragen. Er kam auf das A-Deck und lenkte seine Schritte in Richtung Pier. Vor ihm schlug wieder ein Steward den Gong. Dongggggg! »Das Schiff legt ab! Das Schiff legt ab!« Maddox schwitzte. Er -636
lief an der Reling entlang. Und wieder eine Treppe. Eine Dame mit einem Spitz im Arm kam ihm entgegen. Maddox trat zur Seite und kletterte die Treppe hinunter. Er spürte einen rasenden Schmerz in der Brust. Er war an der Landungsbrücke. Die Zahlmeister brachten das Pult an Bord. Dongggggg! »Das Schiff legt ab! Das Schiff legt ab!« Die Landungsbrücke war leer. Maddox erreichte den Pier und drehte sich um. Er konnte sie nicht sehen. »Captain?« Maddox wirbelte herum, als wäre er in einen Hinterhalt geraten. Die zwei Polizisten standen vor ihm. »Alles okay, Captain?« Maddox nickte. »Können wir was für Sie tun?« »Nein, nein.« Maddox wandte sich um. Er konnte sie nicht sehen. Er breitete die Arme aus und hielt sich am Handlauf der Landungsbrücke fest. Die Schornsteine des Schiffes erzitterten und ließen ein langes, donnerndes Gebrüll ertönen. Maddox' Blicke flogen über die Decks. »Lenore!« Auf dem Pier wurde es still. »Lenore?« Dongggggg! »Das Schiff legt ab! Das Schiff legt ab!« »Lenore!« Sie mußte sich beeilen. Dongggggg! »Das Schiff legt ab! Das Schiff legt ab!« »Lenore!« Wenn sie kam, mußte sie jetzt kommen. Jetzt! »Lenore!« Dongggggg! »Das Schiff legt ab! Das Schiff legt ab!« Sie kam bestimmt noch. Maddox hielt das Geländer fest, als wollte man ihm die Landungsbrücke entreißen. Auf dem Pier näherten sich Männer der Bug- und der Heckleine. »Lenore!« brüllte Maddox. »Lenore?«
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