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Buch: Losj, ein bürgerlicher Ingenieur, unternimmt gemeinsam mit Gussew, der eben noch als Rotgardist gegen Machno kämpfte, im selbstgebauten Raumschiff eine Marsexpedition. Auf dem fremden Planeten verliebt sich Losj in Aëlita, die Tochter des obersten Diktators. Mit ihr verbringt er eine kurze Zeit ungetrübten Liebesglücks. Als es jedoch dem unruhigen Revolutionär Gussew gelingt, eine Rebellion auszulösen, gerät Losj in ernste Gefahr. Der Vater seiner Geliebten will ihn durch Aëlita töten, die sich jedoch nicht als Werkzeug benutzen läßt und somit ebenfalls gefährdet ist. Die Konfliktsituation der drei Hauptfiguren nutzt Tolstoi meisterhaft, um im utopischen Gewand Fragen seiner Zeit zu gestalten. Das Buch ist eines der klassischen Werke sowjetischer Phantastik, ein für heutige Leser noch immer spannender utopischer Roman.
Alexej Tolstoi Aëlita Utopischer Roman
Verlag Das Neue Berlin
Originaltitel: Aus dem Russischen von Hertha v. Schulz Mit einem Nachwort von Ulrike Stephan Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Aufbau-Verlages, Berlin © Aufbau-Verlag, Berlin 1958
1. Auflage dieser Ausgabe © Verlag Das Neue Berlin 1981 (1977) Lizenz-Nr. 409/160/144/81 • LSV 7214 Umschlagentwurf: Schulz/Labowski Printed in the German Democratic Republic Gesamtherstellung: Grafischer Großbetrieb Völkerfreundschaft Dresden 622 555 5 0730
Der sonderbare Zettel an der Mauer In der Straße des Morgenrots war eine sonderbare Annonce erschienen: ein kleines graues Stück Papier, angeschlagen an die abgebröckelte Mauer eines leerstehenden Hauses. Archibald Skyles, Korrespondent einer amerikanischen Zeitung, er blickte im Vorbeigehen vor dieser Anzeige eine; barfüßige junge Frau in sauberem Kattunkleid; sie bewegte beim Lesen die Lippen. Ihr abgespanntes, liebes Gesicht drückte keine Verwunderung aus, die blauen Augen mit einem Fünkchen von Irrsinn darin blickten gleichgültig. Sie schob eine Strähne ihres welligen Haares hinter das Ohr, hob den Korb mit Gemüse vom Gehsteig hoch und überquerte die Straße. Die Annonce war wohl wert, aufmerksam gelesen zu werden. Neugierig geworden, las Skyles ihren Inhalt, trat dann näher, fuhr sich mit der Hand über die Augen und las noch einmal. »Twenty three«, sagte er schließlich, was soviel heißen möchte wie: »Der Teufel hole mich samt meinem ganzen Gekröse!« Auf dem Stück Papier stand: »Ingenieur M.S. Losj fordert diejenigen, die am 18. August mit ihm auf den Planeten Mars fliegen wollen, auf, sich zwecks persönlicher Unterredung abends zwischen sechs
und acht Uhr bei ihm einzufinden Shdanow-Kai Nr. 11, im Hof.« Das war schlicht und einfach mit einem gewöhnlichen Tintenstift hingeschrieben. Unwillkürlich faßte sich Skyles an den Puls: er war normal. Er warf einen Blick auf sein Chronometer: es war zehn Minuten nach vier, der 14. August 19. In mannhafter Ruhe war Skyles auf alles gefaßt in dieser verrückten Stadt. Doch dieser Zettel, mit Nägeln an einer abgebröckelten Mauer befestigt, machte auf ihn den Eindruck von etwas höchst Krankhaftem. Der Wind blies durch die öde Straße des Morgenrots. Die Fenster der mehrstöckigen Häuser, die unbewohnt schienen, waren teils ausgeschlagen, teils mit Brettern vernagelt – kein einziger Kopf schaute auf die Straße hinaus. Die junge Frau – sie hatte ihren Korb auf den Bürgersteig gestellt stand auf der anderen Seite der Straße und blickte zu Skyles hinüber. Ihr liebes Gesicht sah ruhig und abgespannt aus. In Skyles’ Gesicht bewegten sich die Kaumuskeln. Er holte einen alten Briefumschlag aus der Tasche und schrieb sich die Adresse des Ingenieurs auf. Jetzt blieb ein hochgewachsener, breitschultriger Mann vor der Anzeige stehen, er war ohne Mütze, der Kleidung nach ein Soldat: er trug Wickelgamaschen und eine Feldbluse aus Tuch ohne Gürtel. Da er offenbar nicht wußte wohin mit seinen
Händen, hatte er sie in die Taschen gesteckt. Sein fester Nacken spannte sich, als er zu lesen begann. »Sieh mal an, der will hoch hinaus – auf den Mars!« sagte er voller Vergnügen und wandte Skyles ein sorgloses, gebräuntes Gesicht zu. Quer über der Schläfe hatte er eine weiße Schramme. In seinen graubraunen Augen – genau wie bei der Frau – glimmte ein Fünkchen, wie Irrsinn. (Skyles hatte dieses Fünkchen in den russischen Augen schon längst bemerkt und darüber sogar in einem Artikel geschrieben: ‼< Das Fehlen von Bestimmtheit in ihren Augen, die bald spöttisch, bald von wahnwitziger Entschlossenheit dreinblicken, und schließlich ein unverständlicher Ausdruck von Überlegenheit erscheinen dem Europäer überaus krankhaft.«) »Man sollte einfach mit ihm fliegen – und fertig!« sagte der Soldat wieder mit einem gutmütigen Lächeln und warf gleichzeitig einen schnellen Blick auf Skyles, ihn von Kopf bis Fuß messend. Plötzlich kniff er die Augen zusammen, das Lächeln verschwand von seinem Gesicht. Er blickte aufmerksam hinüber zu der barfüßigen Frau, die noch immer unbeweglich auf der Straße neben ihrem Korb stand. Er nickte ihr mit gehobenem Kinn zu und sagte: »Mascha, was stehst du da?« (Sie blinzelte hastig.) »Du solltest nach Hause gehen.« (Sie trat ein paarmal auf der Stelle mit ihren kleinen staubigen Füßen, seufzte und senkte den Kopf.) »Nun, nun, geh schon, ich komme gleich.« Die Frau nahm den Korb hoch und ging davon. Der Soldat sagte: »Ich bin wegen einer Quetschung und Verwun-
dung zur Reserve entlassen worden. Jetzt laufe ich herum, lese die Anzeigen und langweile mich schrecklich.« »Haben Sie die Absicht, auf diese Anzeige hin zu dem Ingenieur zu gehen?« fragte Skyles. »Unbedingt geh ich zu ihm.« »Aber das ist doch Unsinn – im luftleeren Raum fünfzig Millionen Kilometer zu fliegen.« »Das ist wahr – weit ist es schon.« »Entweder ist das alles Schwindel oder – Wahnsinn.« »Kann alles sein.« Skyles kniff jetzt ebenfalls die Augen zusammen und musterte den Soldaten, der ihn ausgesprochen spöttisch und mit einem unverständlichen Ausdruck der Überlegenheit anschaute; Skyles schlug die Zornesröte ins Gesicht und er ging in der Richtung zur Newa davon. Er ging mit sicheren, großen Schritten. In den Anlagen setzte er sich auf eine Bank, griff mit der Hand in die Tasche, wo – wie bei einem alten Raucher und beschäftigten Manne lose der Tabak lag, stopfte mit einer Bewegung des Daumens die Pfeife, rauchte an und streckte die Beine aus. Die alten Linden in den Anlagen rauschten. Die Luft war feucht und warm. Auf einem Sandhaufen saß ganz allein, wahrscheinlich schon lange, ein kleiner Junge in einem gepunkteten Hemd und ohne Hosen. Der Wind spielte von Zeit zu Zeit mit seinem hellen weichen Haar. In der Hand hielt er eine Schnur, am anderen Ende der Schnur war eine alte zerzauste Krähe am Fuß angebunden. Sie saß
unzufrieden und böse da und blickte, ebenso wie der Knabe, auf Skyles. Plötzlich das dauerte nur einen Augenblick – schien es sich wie eine Wolke auf sein Bewußtsein zu legen, ihm schwindelte: sah er dies alles vielleicht nur im Traum?< Den Knaben, die Krähe, die leeren Häuser, die verödeten Straßen, die sonderbaren Blicke der Passanten und diese mit Nägeln an einer Mauer befestigte Aufforderung, in den Weltenraum zu fliegen?< Skyles sog tief den starken Tabakrauch ein. Er faltete den Plan von Petrograd auseinander und suchte, mit dem Pfeifenende darüber fahrend ,den Shdanow Kai.
In der Werkstatt des Ingenieurs Losj Skyles betrat den Hof, auf dem Haufen rostigen Eisens und leere Zementfässer herumlagen. Auf Kehrichthaufen, zwischen allerhand Drahtgewirr und zerbrochenen Maschinenteilen wuchs spärliches Gras. Im Hintergrund spiegelte sich das Abendrot in den staubigen Fenstern eines hohen Schuppens, dessen kleine Tür geöffnet war. Auf ihrer Schwelle saß ein Arbeiter und verrührte Mennige in einem Eimerchen. Auf Skyles Frage, ob er den Ingenieur Losj sprechen könnte, wies der Arbeiter mit einer Kopfbewegung ins Innere des Schuppens. Skyles ging hinein. Der Schuppen war kaum beleuchtet: über dem Tisch, auf dem eine Menge Zeichnungen und Bücher lagen, hing unter einem, kegelförmigen Blechschirm eine elektrische Birne. In der Tiefe des Schuppens erhob sich ein bis zur Decke reichendes Gerüst. Daneben loderte in einer Schmiedeesse Feuer, das von einem Arbeiter angefacht wurde. Hinter den hochragenden Stangen des Gerüsts blinkte ein metallischer, mit vielen Vernietungen bedeckter sphärischer Körper. Durch die geöffneten Torflügel konnte man die purpurnen Streifen des Abendrots sehen und vom Meere her aufsteigende Wolkenballen. Der Arbeiter, der das Schmiedefeuer anblies, sagte halblaut: »Mstislaw Sergejewitsch, es kommt jemand zu Ihnen.«
Hinter dem Gerüst trat ein mittelgroßer, kräftig gebauter Mann hervor. Sein dichtes Haar war weiß, das glattrasierte Gesicht jung, mit einem schönen großen Mund und durchdringenden hellen Augen, die einen unverwandten Blick hatten und dem Gesicht vorauszufliegen schienen. Er trug ein schmutziges, auf der Brust offenes Leinenhemd und geflickte Hosen, die mit einem Strick umgürtet waren. In der Hand hielt er eine verschmierte Werkzeichnung. Im Näherkommen versuchte er, das Hemd über der Brust zuzuknöpfen, obwohl ein Knopf gar nicht vorhanden war. »Kommen Sie auf die Annonce? Wollen Sie mitfliegen?« fragte er mit einer etwas dumpf klingenden Stimme und setzte sich, nachdem er Skyles einen Stuhl unter der Lampe angeboten hatte, ihm gegenüber an den Tisch, legte die Zeichnung hin und begann sich die Pfeife zu stopfen. Das war der Ingenieur Mstislaw Sergejewitsch Losj. Die Augen gesenkt, zündete er ein Streichholz an; das Flämmchen beleuchtete von unten her sein kräftiges Gesicht, zwei Furchen am Mund – Falten des Kummers –, die weiten Nasenflügel und die langen dunklen Wimpern. Skyles war zufrieden mit seiner Musterung. Er erklärte, daß er nicht die Absicht habe mitzufliegen; nachdem er die Annonce in der Straße des Morgenrots gelesen habe, fühle er sich jedoch verpflichtet, die Leser seiner Zeitung von einem so außerordentlichen und sensationellen Projekt der interplanetaren Verbindung in Kenntnis zu setzen.
Losj hörte ihm zu, ohne auch nur ein einziges Mal mit den unverwandt blickenden hellen Augen zu blinzeln. »Schade, daß Sie nicht mit mir fliegen wollen, schade!« Er wiegte den Kopf. »Die Menschen scheuen mich wie einen Tollwütigen. In vier Tagen werde ich die Erde verlassen und kann bis heute keinen Gefährten finden.« Er zündete ein neues Streichholz an und stieß eine Rauchwolke aus. »Was für Unterlagen benötigen Sie?« »Die wichtigsten Züge Ihrer Biographie.« »Die braucht niemand zu wissen«, entgegnete Losj, »daran ist nichts Besonderes. Mein Studium habe ich mit den kärglichsten Mitteln finanziert, seit meinem zwölften Jahre stehe ich auf eigenen Füßen. Jugend, Studienjahre, Arbeit, Dienst – nicht ein einziger Zug, der Ihre Leser interessieren könnte, nichts Bemerkenswertes außer