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KLEINE
BIBLIOTHEK
DES
WISSENS
LUX-LESEBOGEN NATUR-
UND
KULTURKUNDLICHE
HEINZ
HEFTS
SPONSEL
Admiral Byrd EROBERER DES SECHSTEN ERDTEILS
VERLAG SEBASTIAN LUX MURNAU . MÜNCHEN . INNSBRUCK • BASEL
Unternehmen „Tiefkühler" Man schreibt den 28. Dezember 1955. Das tackende Geräusch eines Motors schneidet in die unheimliche Stille, die über dem antarktischen Kontinent liegt. Die Pinguine, diese merkwürdigen schwarz-weißen Gesellen, die in dichten Scharen in der Bucht von Kainan am Roß-Meer herumwatscheln, heben überrascht die Köpfe. Vom Deck des amerikanischen Eisbrechers „Glacier", der mit sieben anderen Schiffen in der eisfreien Bucht von Kainan vor Anker liegt, löst sich ein Hubschrauber, steigt senkrecht hoch und nimmt Kurs auf die hochragende Westküste des Sechsten Erdteils. Der Flug ist der Beginn des „Unternehmens Tiefkühler". Auf den Akten, die im Marineministerium zu Washington über diese Expedition geführt werden, steht die englische Code-Bezeichnung: „Operation Deepfreeze". Nur wenige Männer wissen, was sich hinter dem Namen verbirgt. Einer dieser Kundigen sitzt in dem Hubschrauber, der über dem Saum des antarktischen Kontinents kreist. Der Mann hat graues Haar, aber seine Augen blicken hell und lebhaft wie die eines Jungen. Und niemand sieht ihm an, daß er schon siebenundsechzig Jahre alt ist. Es ist Admiral Richard Evelyn Byrd, der Welt erfahrenster Antarktisforscher. Admiral Byrd blickt durch das Fenster der Hubschrauberkanzel nach unten. Er sieht die sieben Schiffe in der Bucht von Kainan, er zählt vierzehn Spezialflugzeuge an Deck dieser Schiffe. Und er denkt an die zweitausend Mann, die mit vielen Tonnen wissenschaftlicher Geräte, mit Barackenteilen und Bergen von Lebensmittelkonserven sich anschicken, Stützpunkte im ewigen Eis zu errichten: Stützpunkte für die größte Expedition, die jemals den Sturm auf den weißen Erdteil gewagt hat. Der Admiral und einige hohe Regierungsbeamte in Washington wissen, daß diese riesige amerikanische Expedition zehn Millionen Dollar kosten wird, der höchste Betrag, den je ein Staat für eine solche Aufgabe ausgeworfen hat. Alle modernen Mittel der Technik werden zur Verfügung stehen, um das letzte, zu großen Teilen noch unerforschte Gebiet der Erde bis in seine äußersten verlorenen Eiswinkel zu durchqueren: Flugzeuge und Raupenschlitten, Hubschrauber und Eisbrecher. Und doch wird diese amerikanische 2
Expedition nur. einer unter vielen geplanten Vorstößen ins Südpolargebiet sein. Elf Nationen haben das gleiche Ziel im Rahmen des „Internationalen Geophysikalischen Jahres". Russen und Engländer, Schweden, Norweger und Australier, Franzosen und Argentinier — sie alle sind in diesem Augenblick, da Admiral Byrd im Hubschrauber über das Eis fliegt, unterwegs, um die Festung Antarktis einzukreisen und diesem riesigen Kontinent, der mit über vierzehn Millionen Quadratkilometern eineinhalbmal so groß ist wie Europa, die letzten Geheimnisse zu entlocken. Byrd denkt an das Gespräch, das vor wenigen Monaten in Washington geführt wurde: „übernehmen Sie die Leitung der amerikanischen Expedition, Admiral! Sie kennen die Antarktis wie keiner! Sie haben schon fünf Südpol-Expeditionen gewagt und sind jedesmal mit großen Erfolgen wieder zurückgekehrt. Wir wissen keinen besseren Forscher, Techniker, Flieger und Wissenschaftler als Sie!" Byrd zögert. „Bedenken Sie", sagt er, „daß ich schon 6? Jahre alt bin, meine Herren!" „ W i r leben im Zeitalter der jungen ,alten' Männer", erwidert der Regierungsvertreter, „in dem gleichen Alter, in dem Sie jetzt stehen, ist Professor Piccard mit seinem Tiefseetauchschiff in 3000 Meter Meerestiefe getaucht. Nein, Admiral, Sie sind zwar 67, aber jung, gesund und voller Elan wie eh und j e ! "
* Byrd blickt auf die endlose Eisfläche, die sich unter dem Hubschrauber dahinzieht. Riesengroß wächst die Aufgabe der nächsten drei Jahre vor ihm auf. Und er träumt den Traum vom Kontinent der Zukunft. Aber wird sich dieser Traum erfüllen? Nun — man muß es wenigstens wagen, diese feindliche Festung aus Schnee und Eis zu erobern und zu erschließen. Man muß mit dem Einfachsten beginnen und genaue Landkarten von der Antarktis anfertigen. Ist bisher nicht gerade erst die Küstenlinie dieses Kontinents kartographisch erfaßt? Und doch weiß man, daß es mächtige Gebirge mit Tälern und Gletschern im Innern gibt, Berge, die höher sind als der Montblanc. Man weiß, daß es Seen gibt, die im antarktischen Sommer mit seinen „milden" Temperaturen von kaum 20 Grad 3
Kälte nicht zufrieren. Welche Witterungsvorgänge verbergen sich hinter diesem unerforschten Naturwunder? Und man weiß, daß der Eiskontinent sogenannte „Wärmetaschen" aufweist, Zonen erträglichen Klimas, in denen sich noch Spuren von Tier- und Pflanzenleben finden, letzte Anzeichen dafür, daß dieser Kontinent einmal ein Erdteil wie andere gewesen ist, ohne die lastende, tödliche Decke aus Eis. Diese Eisdecke vor allem gilt es zu durchforschen. Man müßte tiefe Löcher ins Eis bohren, viele hundert Meter tief, und an den heraufgeholten Bohrproben wie an den Ringen eines Baumstammes die Jahresschichtungen zu zählen suchen. Vielleicht daß man in der Tiefe noch Spuren des einstigen Tier- und Pflanzenlebens ausfindig machen wird oder Aufschluß darüber erhält, ob die Antarktis einen einzigen geschlossenen Fcstlandsblock darstellt oder ein Feld vielfach zerklüfteter Großinseln. Und dann muß man Schritt für Schritt die Forschung vorantreiben. Man muß die Gesteine untersuchen und geologische Messungen vornehmen. Zeigen nicht manche Felshänge der antarktischen Gebirge, wenn der Sturm den Schnee von ihnen hinwegfegt, rotbraune Färbung, Hinweise auf ergiebige Erzadern? Und gibt es nicht Spuren von ausgedehnten Lagern an Kohle, Eisen, Kupfer und Erdöl, vielleicht sogar von Uranium, dem begehrtesten Produkt des Atomzeitalters? Und behaupten nicht bedeutende Meteorologen, daß unser Wetter, das Wetter der ganzen Erde, zum großen Teil von den Winden bestimmt wird, die von der Antarktis, der „Wetterfabrik der Welt", herwehen? Gilt nicht das gleiche von den Meeresströmungen und von den erdmagnetischen Feldern? Viele ungelöste Fragen nehmen ihren Ausgang vom riesenhaften Sechsten Erdteil, der fast so groß ist wie Europa und Australien zusammen. Byrd schwindelt angesichts der Größe der gestellten Aufgabe. Auf seinen Schultern liegt die Verantwortung für das Ganze. Mit überlegenden Augen blickt er auf die Eisfläche, eintönig, unheimlich, eine Wüste aus Schnee. Und plötzlich fällt ihm ein Satz ein, den er, der Admiral, in Washington ausgesprochen hatte, als er mit Präsident Eisenhower die Planung der großen amerikanischen Expedition überlegte: 4
In Klein-Amerika: Vom 21 m hohen Radioturm des Jahres 1934 ist heute nur noch die Spitze zu sehen; alles andere hat inzwischen der Schnee verweht.
„Wenn heute der Panama-Kanal im Falle eines Krieges nicht mehr benützt werden könnte, wären Stützpunkte in der Antarktis vielleicht von kriegsentscheidender Bedeutung!" Aber nein — daran will Byrd jetzt nicht denken. Nur daran, daß es um eine große Aufgabe d«r Wissenschaft geht. Er ist zwar Admiral, aber nichts anderes will er sein als — Forscher, Forscher, wie er es ein ganzes Leben lang gewesen ist.
Elfjähriger Weltenbummler Unermeßlich weit dehnen sich die Wälder rings um die kleine Stadt Winchester im Staat Virginia. Keiner kennt die Waldgründe so genau wie der Sohn des angesehenen Rechtsanwalts und Politikers Byrd, der kleine „ D i c k " Byrd. Immer wieder zieht ihn die Sehnsucht nach dem Unbekannten und nach dem Wagnis hinein 5
in das unendlich erscheinende grüne Dickicht. Auch wenn alle seine Schulkameraden — einer nach dem andern — längst umgekehrt sind, er kennt keine Furcht, ihn treibt es immer noch ein Stückchen weiter fort. Oft kehrt er erst in später Nacht nach Hause zurück, erträgt schweigend die Maßregelung durch den Vater und rechtfertigt sich vor den Tränen, die er im Gesicht der verängstigten Mutter sieht, mit den entwaffnenden Worten: „ J a , versteht ihr mich denn nicht: Ein Entdecker darf doch keine Furcht kennen!" Doch was sind schon die Wälder rings um Winchester im Vergleich zu den fernen, lockenden Meeren! Was sind sie im Vergleich zur weiten, unendlichen Welt! Alle Jungen träumen irgendwann einmal davon, Entdecker zu werden, über wogenschlagende Meere zu fahren, fernen Gestaden entgegen. Doch für Dick Byrd bleiben die Träume nicht Träume. Eines Tages trifft im Haus der Eltern ein Brief aus Manila auf den Philippinen ein. Und der Vater meint, nachdem er die Zeilen gelesen hat: „Unser Freund Bright lädt uns ein, ihn einmal in Manila zu besuchen. Alle sollen wir kommen, ich, Mutter, und auch du, Dick." Dicks Eltern nehmen die Einladung als das, was sie für sie eben nur sein kann: als einen schönen Traum. Nur Dick Byrd nimmt die Sache ernst und denkt seit diesem Tage immer lebhafter an Manila und an die Philippinen. Er meint vielleicht, daß es unhöflich sei, einer Einladung nicht Folge zu leisten. Er stöbert in der Bibliothek des Vaters und studiert die Landkarten. Wie ein Generalstäbler entwirft er Zug um Zug seinen Plan. Er weiß, welche Straßen von Winchester aus zur Westküste Amerikas, zum Stillen Ozean, führen, er kennt die Namen aller Städte und Dörfer, die an dieser Straße liegen. Und immer wieder sagt er den Namen der Hafenstadt San Franzisko vor sich hin, von der aus die Schiffe ihren Kurs nach den Philippinen nehmen. Und eines Tages bricht er auf. Man schreibt das Jahr 1900, Dick Byrd ist noch nicht einmal zwölf Jahre alt. Es ist eine Zeit, in der Entfernungen von hundert Kilometern noch zählen. Die Züge fahren patriarchalisch langsam durchs Land, Autos werden noch als unheimliche Kutschen des Satans oder als technische Kuriositäten angesehen. 6
Heute hätte ein kaum zwölfjähriger Ausreißer keine Chance zur großen Dberlandfahrt mehr. Im Zeitalter des Polizeifunks, des Telegrafen, der blitzschnellen Nachrichtenverbindungen wäre Dick Byrds Plan von vornherein zum Scheitern verurteilt gewesen. Aber damals, im Jahre 1900, war Raum noch Raum, war Zeit noch Zeit. Und Dick Byrd schlägt sich quer durch den riesigen amerikanischen Kontinent, zu Fuß, auf einem Pferdefuhrwerk, manchmal auch als blinder Passagier in einem der wenigen Züge oder auf einem der Fluß-Raddampfer, die westwärts ziehen. Nur an die Ferne denkt er, nur an Manila. Eines Tages steht er am Meer. Auf einem Segelschiff, das im Hafen von San Franzisko vor Anker liegt, heuert Dick Byrd als Schiffsjunge an. Der Kapitän fragt nicht nach Papieren, nicht nach dem Woher des Jungen. Er braucht billige Besatzung auf seinem armseligen Schoner. Jeder, der kommt und anheuern will auf dem Kurs über den Pazifik, ist ihm willkommen, sei es nun ein entsprungener Zuchthäusler oder ein Junge, der sich von zu Hause davongemacht hat. Zum erstenmal spürt Dick Byrd den salzigen Atem des Meeres. Er steht an Deck des Schoners, sieht das Land allmählich untertauchen, schaut nur noch Himmel und Wasser. Er erlebt furchterfüllt die schrecklichen Stürme, unter deren Gewalt das Segelschiff zu zerbersten droht, und er freut sich, wenn der Spuk vorüber ist, ain der spiegelglatten See. Er lebt das armselige Leben des letzten Schiffsjungen, der alle jene Arbeiten zu verrichten hat, vor denen sich jeder andere Matrose drückt. Nach vielen Monaten, in der nebligen Dämmerung eines Morgens, werden die Umrisse einer gewaltigen Insel sichtbar, zeigen sich Häuser und Türme einer Stadt. Die Endstation ist erreicht: die Philippinen, Manila. Und als die Sonne hoch über dem Ozean steht, klopft ein kaum zwölfjähriger Junge an die Tür eines Hauses. Auf einem Messingschild liest er den Namen: Edwin D. Bright. Eine Frau öffnet und blickt den kleinen Besucher fragend an. Doch ehe sie etwas sagen kann, stellt sich der Junge vor, so, als handle es sich um die selbstverständlichste Sache der Welt: „Ich bin Dick Byrd aus Winchester in Virginia. Sie haben meine Eltern und mich eingeladen, nach Manila zu kommen. Vater hatte
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wie immer keine Zeit, auch Mutter nicht. Aber eine Einladung muß man ja annehmen." Dick Byrd ist am Ziel seiner ersten Expedition. Mutterseelenallein schlug er sich quer durch den amerikanischen Kontinent durch, wurde er ein geplagter und geschundener Schiffsjunge; weiß der Himmel, wohin er noch gesegelt wäre, wenn Edwin D. Bright ihn nicht mit Gewalt auf ein Schiff gebracht hätte, das zurück, Kurs Amerika, fuhr. Nach über einem Jahr ist Dick Byrd wieder zu Hause. Und die kleine Stadt Winchester hat keinen berühmteren Bürger als ihn, einen zwölfjährigen Jungen, der bereits weiter herumgekommen ist als tausend andere.
Vom Schicksal aufgespart Die See bleibt Byrds Element. Die Eltern des Jungen halten es allerdings für vernünftiger, seiner Sehnsucht nach dem Meer und seinem Freiheitsdrang gewisse Fesseln anzulegen. Wo aber ist diese Verbindung von Freiheit und Zucht besser gewahrt als in der Marine? Mit vierzehn Jahren zieht Dick Byrd zum ersten Mal eine Uniform an — er trägt sie all die Jahrzehnte hindurch, von wenigen Ausnahmen abgesehen, bis zu seinem Tode. Aber sein Weg vom Marinekadetten zum Admiral hat nichts mit einer sonstigen Soldatenkarriere zu tun, sie hat nichts mit den höchsten Orden und Ehrenzeichen zu tun, die Byrd auf seine Uniform heften könnte, wenn er es wollte. Nicht die Dienstjahre tragen ihn von einem Rang zum nächsthöheren, sondern der Wagemut, der bereits den Elf jährigen beflügelt hatte. Zum großen Wagnis jener Zeit vor dem ersten Weltkrieg zählt auch die Fliegerei. Aber daß Byrd von der Marine zur Marinefliegerei hinüberwechselt, ist fast nur ein Zufall. Mitten im Krieg, im Jahre 1916, als er als Marinefähnrich seinen Dienst auf einem Kriegsschiff versieht, wird er in einem wütenden Orkan gegen die Geschütztürme des Kreuzers geschleudert und bricht sich ein Bein. Trotz aller Kunst der Ärzte bleibt ein Gehfehler zurück. Der vor Gesundheit strotzende Mann hinkt Zeit seines Lebens fast wie ein 8
Krüppel. In der Marine ist für solche Männer kein Platz. Was tun? Wochen später sitzt Byrd zum ersten Mal zur Pilotenausbildung in einem Flugzeug der Marinefliegertruppe. Probeweise, so sagt man ihm, man sagt es mit einem etwas ironischen Unterton; man glaubt nicht recht an das Gelingen. Aber im Laufe von knapp einem Jahr wird Byrd zu einem Flieger, wie es kaum einen zweiten bei der Marinefliegertruppe gibt. Als er 30 Jahre alt ist, als das letzte Jahr des Weltkrieges anbricht, kommandiert Byrd bereits ein Geschwader an der nördlichsten Küste Kanadas, dort, wo während des größten Teiles des Jahres die eisigen Winde von Grönland her wehen. Für Byrd ist das Flugzeug keine Waffe. Ihm bietet es schon in jenen Jahren des Aufenthaltes am Rande des ewigen Eises die Qhance, unbekannte Gebiete der Erde zu erforschen, für ihn wird es schon bald das Mittel, die Kontinente einander näherzubringen. Der erste Schritt dazu aber soll der Flug über den Atlantischen Ozean sein. Der Gedanke läßt Byrd nicht los. Oft steht er stundenlang vor der NC 1, dem mächtigen Flugboot der amerikanischen Marine. 38 Meter beträgt die Flügelspannweite, vier Libertymotoren geben zusammen 1600 PS her, die Durchschnittsgeschwindigkeit beträgt etwa 120 Stundenkilometer. Warum soll ein solches Flugboot nicht den Atlantik überfliegen können? Byrd rechnet den Benzinverbrauch aus, er versucht, ein geeignetes Navigationsgerät zu konstruieren. Er sitzt über der Seekarte und mißt den Weg über die Azoren nach Frankreich aus, berechnet Lasten und Lebensmittel. Im Flottenamt zu Washington liegen seine Anträge und die genau errechneten Unterlagen, die er eingesandt hat; aber es kommt weder eine Absage noch eine Genehmigung, und es vergehen W o chen und Monate eines ungewissen Wartens. Längst ist der Krieg zu Ende. Byrd hofft noch immer auf eine Antwort. Doch seine Geduld wird auch weiterhin auf eine harte Probe gestellt. Endlich, im Februar 1919, willigt Washington in Byrds Pläne ein. Drei Flugboote vom gleichen Typ wie NC 1 sollen im Geschwaderflug die erste Atlantiküberquerung wagen. „ W i r werden im Atlantik alle hundert Kilometer ein Schiff postieren t" sagt man in Washington. 9
„ W i r brauchen diese Schiffe nicht", antwortet Byrd. „Ein guter Flieger muß auch ohne sie den richtigen Kurs steuern, selbst wenn das Gerät zum genauen Bestimmen der Abtrift durch den Wind noch in der Entwicklung ist." Drei Monate fieberhafter Vorbereitungen folgen. Die täglichen Probeflüge der drei Flugboote NC 1, NC 3 und NC 4 verlaufen erfolgreich. Der neue Triftanzeiger wird rechtzeitig fertig. Dann kommt der 8. Mai 1919. Die Flugboote erheben sich zu ihrer ersten Etappe, deren Ziel Trepassey auf Neufundland ist. Etappe 2 soll bis zu den Azoren führen, Etappe 3 dann zur französischen Küste. Die Zeitungen in aller Welt berichten auf der ersten Seite in großen Schlagzeilen vom Beginn der kühnen Expedition. Zum ersten Male wird der Name Byrd über Amerikas Grenzen hinaus ein Begriff. Gleichmäßig arbeiten die Motoren, ohne Zwischenfall erreichen die Flugboote Trepassey und landen im Hafenbecken. Doch als Byrd nach der Zwischenlandung das Gebäude der Hafenkommandantur betritt, hält man ihm ein Telegramm entgegen. „ F ü r Sie, Byrd — aus Washington!" Byrd überfliegt die wenigen Zeilen. Er kann es nicht fassen. Er steht da mit bleichem Gesicht, das Telegramm entfällt seinen Händen. Der Traum vom Atlantikflug ist für ihn ausgeträumt. Die Behörden in Washington verbieten ihm den Weiterflug. Länger als ein Jahr hat er geplant und berechnet und alles vorbereitet. Nun wird er nach Washington zurückbefohlen. Alles in ihm sträubt sich gegen den Befehl. Aber er m u ß gehorchen. Er steht auf einem kleinen Hügel am Rande von Trepassey und sieht NC 1, NC 3 und NC 4 starten und Kurs zum offenen Meer nehmen. Die Piloten kreisen noch einmal über ihm und winken den Abschiedsgruß zu. Doch Byrd gibt keine Antwort. Er steht da und schaut nach Osten, wo die Flugboote seinen Blicken entschwinden. Zwei Tage später liest er in den Zeitungen: „Die Ozeanflugzeuge NC 1 und NC 3 verschollen. NC 4 in Horta notgelandet 1" Er schließt die Augen und denkt an die Kameraden. Ihn aber — ihn hat das Schicksal aufgespart. Wofür? Noch weiß er es nicht. Nur eines ist ihm klar: Er wird nicht tatenlos bleiben. 10
Noch ein zweites Mal verschont ihn das Schicksal wie durch eine wundersame Fügung. Der „verrückte Byrd", wie man ihn in dieser Zeit oftmals nennt, steht in Washington vor dem stellvertretenden Staatssekretär der Flotte, Theodore Roosevelt, dem späteren Präsidenten der Vereinigten Staaten. „Ich bitte um die Erlaubnis, den Atlantischen Ozean allein zu überfliegen. Statt eines Begleiters will ich Benzin mitnehmen, um die Reichweite meiner Maschine zu vergrößern." „Ich muß Ihren Plan wohl gutheißen, wenn Sie darauf bestehen, Byrd", antwortet Roosevelt. „Aber wir möchten Sie nicht verlieren, die Flotte bedarf Ihrer Dienste noch. Warum warten Sie nicht, bis die Industrie eine Spezialmaschine für den Direktflug von Amerika nach Europa geschaffen hat? Sobald eine solche Maschine konstruiert ist, will ich Sie gern bedingungslos unterstützen. Ich schlage Ihnen vor, nach England zu reisen. Dort liegt ZR 2, das in England für die amerikanische Flotte erbaute Riesenluftschiff, das mit einer gemischten Mannschaft von Engländern und Amerikanern über den Ozean geflogen werden soll. Ich ernenne Sie zum Navigationsoffizier an Bord von ZR 2. Sie haben dadurch Gelegenheit, während des Fluges wertvolle Erfahrungen über das Wetter auf dem Atlantik zu sammeln!" Byrd sagt zu, reist nach London und steht staunend vor dem riesigen Luftschiff, das 213 Meter lang und 26 Meter breit ist und 77 000 Kubikmeter faßt. Am 21. August 1921 soll das Luftschiff unter englischer Führung eine Probefahrt machen. Aber Byrd hat noch in London zu tun. Sein Zug nach Howden hat Verspätung. Auf einer Station, an der der Zug hält, hört er das lärmende Geschrei der Zeitungsjungen: „Extrablatt! Extrablatt! Grausiges Luftschiffunglück!" Und Byrd liest, daß ZR 2 mit fünfundvierzig Mann an Bord kurz nach dem Start in der Mitte eingeknickt und bei Hüll brennend in den Fluß gestürzt ist. Vierundvierzig Menschen sind der Katastrophe zum Opfer gefallen. Wenige Tage später findet in der Westminsterabtei zu London der Trauergottesdienst für die vierundvierzig Toten satt. Im dämmrigen Schiff der Kirche sitzt Richard Evelyn Byrd — bestimmt, Navigationsoffizier auf ZR 2 zu sein, aber wie durch ein Wunder 11
dem rauhen Zugriff des Todes entgangen. Er hört das Spiel der Orgel, er sieht die Kränze auf dem Katafalk, auf den der Schein der zahllosen brennenden Kerzen fällt. Er hat die Augen geschlossen und kann nur an dies eine denken: ein zweites Mal vom Schicksal verschont. Warum, Richard Evelyn Byrd, warum?
Als erster über den Nordpol Byrd will die Uniform an den Nagel hängen. Er will nicht von Befehlen einer Militärbehörde abhängig sein. Er glaubt, daß er als Zivilist freiere Hand für seine Forscherpläne hat. Aber man läßt ihn nicht gehen und macht ihn zum Ausbildungsoffizier. Und während er zwischen Atlantik und Pazifik Fliegerschulen gründet, bereitet er seinen großen Plan vor: den Flug zum Nordpol. Er überzeugt den Industriellen Edsel Ford und erhält sechzigtausend Mark, er überredet den ölkönig John D. Rockefeller und bekommt weitere sechzigtausend, er sammelt überall Geld für das kühne Unternehmen. Die Vorarbeit dauert länger, als er es selber geahnt hat. Es kommt das Jahr 1925. Byrd hört von dem Plan des italienischen Generals Nobile, der mit dem Luftschiff „Norge" den Nordpol überfliegen will und erfährt, daß man auf Spitzbergen schon eine Halle für das Luftschiff baut und einen Landeplatz einrichtet. Amundsen, der berühmteste Polarforscher der Welt, der nach einem dramatischen Wettlauf mit dem Engländer Scott am 16. Dezember 1911 als erster den Südpol erreicht hat, will Nobiles Flug zum Nordpol unterstützen. Im Jahr 1926 soll der Gedanke Wirklichkeit werden. Byrd hält seine Stunde für gekommen. Er nimmt Urlaub von der Marine-Fliegertruppe und trifft mit seinem unzertrennlichen Gefährten Floyd Bennett in fieberhafter Eile letzte Vorbereitungen. Am 5. April 1926 verläßt Byrd auf dem 3500-Tonnen-Dampfer „Chantier" — eine dreimotorige Fokker an Bord und mit fünfzig Mann Besatzung — den Hafen von Brooklyn. Vierhunderttausend Mark kostet die Expedition. Achtzigtausend Mark Schulden lasten 12
Radarstation auf Rädern meldet Unwetter und Schneestürme
auf Byrds Schultern. Sie kümmern ihn nicht. Lieber Schulden als der Vorwurf, er habe die Expedition mit ungenügenden Mitteln unternommen 1 An Bord des Dampfers sind Vorräte für sechs Monate gestapelt. Am 29. April, nach einer Seefahrt von fast sechzehntausend Kilometern, läuft die „Chantier" in die Königsbucht auf Spitzbergen ein. Am Strand befindet sich das Lager Amundsens, der auf die Ankunft des Luftschiffs „Norge" unter Nobile wartet. Das schwere Flugzeug wird an Land gebracht. Aber. das Land ist mit knietiefem Schnee bedleckt. In pausenloser Arbeit wird Tag und Nacht, bei dreißig Grad Kälte, ein« Startpiste .geebnet. Der erste Anlauf zu einem Probeflug endet in einer riesigen Schneewehe. Die Kufen zersplittern, das Fahrgestell der Maschine ist verbogen. Es ist kein guter Beginn. Doch Byrd gibt nicht nach. Noch zweimal brechen die Kufen — sogar bei leichtem Gewicht. Wie soll der 13
Start gelingen, wenn die Maschine ihr volles Fluggewicht von viertausendfünfhundert Kilo hat? Am 7. Mai trifft das Luftschiff „ N o r g e " unter Nobile in der Königsbucht ein. Die beiden Konkurrenten, Nobile mit Amundsen auf der einen Seite und Byrd mit Bennett auf der anderen, rüsten sich in größter Eile zum endgültigen Start. Wer wird zuerst den Nordpol überfliegen? Norweger und Italiener — oder die Amerikaner? Ein Luftschiff oder ein Flugzeug? Am 8. Mai ist Byrd bereit. Die Wettervoraussage, die in jener Zeit noch ziemlich dürftig ist, verheißt gutes, klares Wetter. Aber wieder mißglückt der Start der Polmaschine. Byrd lädt einige hundert Kilo Ladung aus. Die Startbahn wird noch einmal verlängert. Genauestens überprüft Byrd die Ausrüstung. Er m u ß damit rechnen, daß die Maschine notlanden könnte und daß dann ein mühsamer Fußmarsch zurück nach Spitzbergen erforderlich wäre — wie in den Urzeiten der Polarforschung, wie zu Zeiten Nansens oder Pearys. Aber nach menschlichen Berechnungen ist aufs beste vorgesorgt. In der sternklaren Nacht vom 9. auf den 10. Mai, morgens um 2 Uhr, bei klirrender Kälte, heulen die drei Motoren auf. Der Start gelingt. Die Maschine schraubt sich höher. Sie entschwindet den Blicken des zurückgebliebenen Bodenpersonals und entzieht sich auch den Blicken der großen Konkurrenten Nobile und Amundsen. Und Byrds Tagebuch erzählt in einfachen und schlichten Worten von den Geschehnissen der nun folgenden fünfzehn Stunden, jener fünfzehn Stunden, die ihren Platz in der Geschichte der Entdekkungen der Welt für alle Zeiten behalten: „Am 10. Mai 1926, um 9.02 Uhr nach Greenwicher Zeit, ergab das Besteck, daß wir uns über dem Pol befanden. Der Traum meines Lebens hatte sich erfüllt. Wir drehten nach rechts, um zwei bestätigende Sonnenmessungen vorzunehmen, und dann zum gleichen Zweck nach links. Ich machte einige photographische Aufnahmen und beschrieb einen weiten Kreis, um den Nordpol auch sicher einzufangen. Dabei vollendeten wir in wenigen Minuten einen Flug um die Erde. Wir verloren einen Tag und gewannen, ihn gleich wieder. Alles steht hier auf dem Kopf. In gerader Linie über dem Scheitel des Pols fliegt man erst nordwärts und dann 14
gleich südwärts. Oben auf dem Pol bläst jeder Wind gegen Norden. Und wohin man auch blickt, es ist überall Süden. Wir umkreisten das Haupt der Welt und huldigten dem Forsehergeist Pearys. Unter uns dehnte sich das ewig gefrorene Meer. Zackige Eisrippen bezeichneten die Ränder seiner mächtigen Bruchschollen. Daraus konnte man auf die Bewegung des Eises fern von jedem Land schließen. Um 9 Uhr 15 nahmen wir wieder Kurs auf Spitzbergen." Es ist nachmittags 1? Uhr, als die Dreimotorige wieder auf dem Eis der Königsbucht landet. Der erste, der Byrd gratuliert, ist Roaild Amundsen, der große Gegner. Am 22. Juni regnet es Konfetti von allen Häusern, als Byrd über den Broadway zu New York fährt. Byrd aber begreift nicht, daß die Menschen ihn einen Helden nennen. In seinem Tagebuch vermerkt er — müde von den Ehrungen, den Orden und den Festreden: „Es ist mir alles klar. Ich war nur Fahnenträger. Nicht mir galten die Ehrungen. Sie galten der Fahne!"
Flug über den Atlantik Nach dem geglückten Flug über den Nordpol ist der Name Byrd jeden Kredit wert. Für die besten Flieger der Erde gibt es in diesem Jahre 1926 nur eine Aufgabe: den ersten Non-Stop-Flug von New York nach Paris. Ein Preis von hunderttausend Mark winkt dem, der als erster diese Aufgabe bewältigt. Und sie bereiten sich alle vor: Noel Davis, Rene Fonck, Charles Lindbergh, Clarence Chamberlin und ein gutes Dutzend andere. Nur ein Name fehlt in der Liste der Anwärter auf den Hunderttausend-Mark-Preis: der Name Byrd. Man wundert sich darüber — nicht nur in Amerika. Doch Byrd hat eine klare Antwort auf alles Drängen: „Ein Atlantikflug darf kein Spiel auf gut Glück sein. Er darf nur einem Ziel dienen: Erfahrungen für einen regelmäßigen Flugverkehr nach Europa sammeln!" Byrd hält sich außerhalb der Konkurrenz und betreibt die Vorbereitungen zum Ozeanflug auf seine Weise und nach eigenen Ideen. In der dreimotorigen „Amerika" glaubt er die geeignete pzeanfeste Maschine gefunden zu haben. Es ist ein Fokkerflugzeug, mit dem 15
ein erster Prüfstart bei voller Belastung erfolgt. Bennett und Noville sind Byrds Flugkameraden. Das Ergebnis des ersten Probefluges ist entmutigend. Die kopflastige Maschine verunglückt bei der Landung. Bennett und Noville sind erheblich verletzt, Byrd hat Arm- und Rippenbrüche davongetragen, die „Amerika" ist schwer beschädigt. „Mir w a r " , berichtet Byrd später, „als müßte ich die Menschheit anflehen, solche Zwischenfälle richtig einzuschätzen, nämlich als Schritt auf dem Weg zur Verkehrssicherheit. An sich hatte dieser Maschinenbruch ja nichts mit dem erstrebten Ziel zu tun, mit dem Bild eines geregelten Dberseefluges. Leider fehlte der Menge noch der rechte Luftverstand. Jedenfalls ließ ich mich nicht von der besonnenen und pflichtgemäßen Ausführung meines Vorhabens abbringen." Vier Wochen lang wird Tag und Nacht gearbeitet, um die „Amer i k a " wieder flugfähig zu machen. Aber die Öffentlichkeit versteht nicht, warum Byrd so lange zögert. Man klagt ihn an, man verspottet ihn. „Sie Feigling! Mich ekelt schon vor Ihrem Namen. Sie sind ein Schandfleck für Amerika. Sie haben anscheinend überhaupt nie die Absicht gehabt, über den Atlantischen Ozean zu fliegen!" — so steht es in einer der vielen Zuschriften, die Byrd Tag für Tag erhält. Der Beifall der Menge wendet sich Charles Lindbergh zu, der am 21. Mai 1927 im Non-Stop- und Alleinflug den Ozean überfliegt und Paris erreicht. Lindbergh ist Amerikas Heros. Um Byrd kümmert sich niemand mehr. Nur wenige begreifen, daß er bereits auf das transatlantische Flugzeug der Zukunft hinarbeitet. Und schon hat Amerika zwei neue Helden, Chamberlin und Levine, die Lindbergs Leistung überbieten und von New York bis Deutschland fliegen. Und doch: Als am 29. Juni um drei Uhr morgens die „Amerika" zum Ozeanflug startet, stehen Tausende auf dem Rooseveltfield. Sie jubeln Byrd und seinen drei Begleitern, Acosta, Noville und Balchen, zu. Sie blicken der schweren dreimotorigen Fokker nach, bis sie fern in östlicher Richtung verschwindet. 18
Es wird ein Flug durch eine Hölle von Nebel und Regen. Das Logbuch Byrds spricht eine deutliche Sprache: „Regen, Nebel, tiefhängende Wolken, Luftgeschwindigkeit 106 Kilometer, Höhe 900 Meter . . . " „3000 Kilometer ohne jede Sicht. Wir müssen blind fliegen. Rundum erheben sich schwarze Türme des Schreckens, die durchflogen werden müssen." „30. Juni 6 Uhr 30: Seit gestern drei Uhr weder Land noch Meer gesehen. Alles in Nebel gehüllt." Zweiundvierzig Stunden kämpften sich Besatzung und Maschine von einem Sturmzentrum zum andern durch. Endlich erspäht Byrd durch einen Wolkenspalt für einen Augenblick das französische Festland. Aber die Freude ist nur von kurzer Dauer. Der Bordfunk meldet, daß Paris und alle übrigen erreichbaren Flughäfen wegen schlechter Sicht nicht angeflogen werden können. Zu allem Unglück setzt das Funkgerät aus, der Brennstoffanzeiger nähert sich dem Nullpunkt. Es gibt nur eine Rettung — wenn es sie überhaupt gibt: Landen im seichten Wasser! Die Maschine, die schon über Paris kreist, nimmt Kurs zurück. Der Schein eines Leuchtfeuers erhellt für Sekunden die Dunkelheit. Die Männer werfen Leuchtbomben, Baichen führt das Steuer. Es gelingt ihm, die „Amerika" im seichten Wasser nahe der Küste aufzusetzen. „Ich weiß nur noch, daß ich einen Schlag aufs Herz spürte, dann fand kh mich bei Dunkelheit und Regen im Wasser schwimmend. Noville rief nach mir. Das war der einzige Laut in der unfaßbaren Stille rundum. Das Rauschen des Meeres versank wie nichts in einem Schweigen des Todes, nachdem uns drei Motoren zweiundvierzig Stunden lang wie Pauken der Hölle in den Ohren gedröhnt hatten." So steht es in Byrds Logbuch von dieser Fahrt. Im Gummiboot rudern die vier zu Tode erschöpften Männer zur Küste. Stunden später weiß es alle Welt: Die t,Amerika" hat den Atlantik überflogen, sie hat eine größere Strecke bewältigt als jedes andere Flugzeug zuvor. Paris umjubelt Byrd, Noville, Acosta und Baichen, als sie im Triumph über die Prachtstraße der Champs Elysees fahren. Die Welt hat wieder einmal ihre Sensation — für diesen Tag wenigstens. Aber Byrd denkt weiter: 19
„Die Sehnsucht nach dem Abenteuer scheint mir keine Laune des Zufalls zu sein, sondern Glied in der langen und verwickelten Kette des menschlichen Fortschritts."
Als erster über den Südpol Als Richaird Byrd 1926 vom ersten Flug über den Nordpol zurückgekehrt und glücklich auf Spitzbergen gelandet war, hatte er diesen Erfolg auch mit Roald Amundsen gefeiert. ; „Und wohin geht jetzt die Reise, Byrd?" hatte der Norweger den Amerikaner gefragt. „Zum Südpol", war Byrds Antwort. Fast zwei Jahre später ist es soweit. Am 8. Oktober 1928 sticht Byrd auf dem norwegischen Walfischfänger „Larsen" erneut in See. Zwei andere Schiffe mit drei Flugzeugen und einer Mannschaft von fast hundert Expeditionsteilnehmern sind bereits seit September auf dem Wege zur Antarktis. Ende Dezember erreichen die Schiffe nach wochenlanger, mühsamer Fahrt durch das Packeis das sogenannte Roß-Meer, die gewaltige Bucht im antarktischen Festland, die Haupteingangspforte zum Sechsten Erdteil. Byrd erkundet am einer geschützten Stelle der Bucht einen geeigneten Platz, am dem er den geplanten Stützpunkt „Klein-Amerika" anlegen kann. Rotgelbe Fahnen im Schnee markieren den fünfzehn Kilometer langen Weg von der Küste zum vorgesehenen Siedlungsplatz. In wenigen Tagen entsteht hier mitten in der Eiswüste wirklich ein kleines Stück Heimat: sturmfeste Baracken mit elektrischem Licht und Telefon', eine Funkstation, ein Flugplatz, ein kleines Spital mit eigenem Arzt und sogar ein Lichtspieltheater. Welch ein Gegensatz zu den armseligen Zeltlagern eines Amundsen, eines Scott oder eines Shakleton! Proviant und Material türmen sich in den Vorratskammern und draußen im „ K ü h l r a u m " der freien arktischen Natur zu Bergen. Schon am 15. Januar 1929 startet eines der Flugzeuge zum ersten Erkundungsflug über unbekanntes Eisland. Innerhalb weniger Stunden werden dreitausend Quadratkilometer bisher unerforschten Landes aus der Luft erschlossen. 20
Am 27. Januar folgt der zweite große Flug. Riesige Gebirgszüge werden entdeckt. Nach und nach zählt Byrd vierzehn einzelne Bergriesen, die steil und kühn wie das Matterhorn aus der Eisebene aufsteigen. Und er schreibt in sein Bordbuch: „Die Bergkette soll den Namen John Rockefellers erhalten, der stets ehrlich bestrebt war, seinen gewaltigen Einfluß dem Fortschritt der Menschheit dienstbar zu machen. Zwei andere Gipfel sollen die Namen meiner Gefährten Gould und Tennant erhalten. Möge ihnen dieses Zeichen meiner Dankbarkeit einen kleinen Ersatz für die weltlichen Güter bieten, mit denen ich sie leider nicht belohnen kann. Nie werde ich vergessen, daß Tennant damals auf sein Gehalt verzichten wollte, um sich an der Schuldentilgung nach der Nordpolfahrt zu beteiligen." Es wird März, und der unheimliche Polarwinter mit seiner fast ewigen Nacht bricht über die südlichste Siedlung der Welt herein. Schneestürme brausen mit einer Geschwindigkeit von zweihundert Stundenkilometern um die holzgefügten Behausungen, in denen die Männer beisammensitzen, und um die Flugzeughallen, in denen die Maschinen geborgen stehen. In diesen Monaten der Stürme, der Kälte und der Dunkelheit bereitet Byrd den Flug über den Südpol vor. Mit seinem besten Piloten Baichen, dem Gefährten des Atlantikfluges, überlegt er jede Einzelheit: „Die Entfernung von , Klein-Amerika' bis zum Südpol ist fast die gleiche wie von Spitzbergen bis zum Nordpol. Wir werden nicht ohne Zwischenlandung auskommen, da es unmöglich ist, genügend Benzin für die 2700 Kilometer lange Strecke und für das ü b e r fliegen des dreitausend Meter hohen Königin-Maud-Gebirges mitzunehmen." „ W i r werden am Fuß des Maud-Gebirges ein Benzindepot anlegen müssen und eine kleine Mannschaft dort stationieren", antwortet nachdenklich Baichen. Mitte September kommt die Sonne zum ersten Mal wieder am Horizont herauf und kündet den Frühling in der Antarktis an. In tagelanger Arbeit werden die Flugzeughallen von den Schneemassen freigeschaufelt. Die Startbahn wird hergerichtet, und am 18. November steht der Ford-Ganzmetall-Eindecker „Floyd Bennett" bereit zum Probeflug. Die Spannweite der Maschine beträgt mehr 21
als zwanzig Meter, die drei Motoren haben eine Leistung von neunhundeirtneunzig PS. Benzinkanister für das Reservedepot werden verladen. Dann erhebt sich die Maschine nach einem Anlauf von knapp dreihundert Metern aus dem Schnee und steigt höher und höher. Das erste Etappenziel des Fluges ist das Königin-Maud-Gebirge. Nach kurzer Zeit schon zeigt Byrd nach unten, auf Schlitten, die von Hunden gezogen sind, und auf eingemummte Menschen. „Die Forschergruppe, die ,Klein-Amerika' vor vierzehn Tagen verlassen hat, um auf dem Landmarsch das Königin-Maud-Gebirge zu erreichen", ruft Byrd durch das Heulen der Motoren seinem Kameraden zu. ', Die „Floyd Bennett" kreist einmal grüßend über den Schlitten, den Hunden und Menschen, aber bald dehnt sich verloren und einsam nur Schnee und Eis unter den Fliegern. Nach wenigen Stunden setzt das Flugzeug auf einem kleinen Schneefeld am Fuße des Maud-Gebirges auf. Alle Mann legen Hand an, um die Benzinkanister auszuladen. Dann erfolgt der Start zum Rückflug. Aber hundertfünfzig Kilometer vor „Klein-Amerika" sind die Benzintanks leer. Der Pilot Smith läßt die Maschine in sanftem Gleitflug auf das Eis niedergehen; der Notsender funkt nach „Klein-Amer i k a " um Benzin. Doch die SOS-Rufe erreichen die Siedlung nicht. Dort wartet Baichen seit Stunden auf die Ankunft der „Floyd Bennett" und stapft ungeduldig und Böses ahnend auf dem Flugplatz auf und ab. Wo bleibt Byrd? Als immer mehr Zeit vergeht, ohne daß die „Floyd Bennett" auftaucht, startet Baichen mit einer bereitstehenden Maschine, den Laderaum gefüllt mit Benzinkanistern. Nach kurzer Flugzeit entdeckt er die notgelandete ByrdGruppe; er hat ihren Standort fast auf den Meter genau errechnet. Gemeinsam treten sie den Rückflug an. Monteure setzen in die Vergaser der drei Motoren der „Floyd Bennett" kleinere Düsen ein, um den erschreckend hohen Benzinverbrauch zu verringern. Dann ist alles bereit zum großen Flug über den Südpol. Am 27. November funken die Wetterstationen nach „Klein-Amerika": „Unveränderlich schön, klare Sicht, nirgends Wolken." Für Byrd ist es das Zeichen zum Start. Am 28. November 1929, um 15 Uhr 29, beginnt der historische Flug. Ein strahlender Himmel wölbt sich über der weißen Eiswüste. 22 l
Byrds „antarktische Hauptstadt 4 ': Klein-Amerika m'X den Gepäck-Lagerplätzen
In fünf Stunden sind die fast siebenhundert Kilometer bis zum Königin-Maud'-Gebirge zurückgelegt, wo man kurz Aufenthalt nimmt. Dann aber beginnt die Ungewißheit des Weiterfluges: Welchen Gebirgseinschnitt soll man beim überfliegen des Hochgebirges wählen? Den Axel-Heiberg-Gletscher, über den seinerzeit Amundsen gezogen war, oder den Liv-Gletscher? Byrd entscheidet sich für den Liv-Gletscher. Pilot Baichen zwingt die Maschine über den Eismassen höher und höher. Aber die gewonnene Flughöhe reicht nicht aus. Unheimlich nahe liegt der Gletscher unter ihnen. „Ballast abwerfen", befiehlt Byrd, aber es ist ihm nicht wohl bei diesem Kommando. Zweieinhalbtausend Liter Benzin werden geopfert. Die Maschine gewinnt an Höhe, aber noch einmal befiehlt Byrd: „Noch mehr Ballast!" Ein Sack mit hundert Kilo Lebensmitteln saust in die Tiefe, und ein zweiter Sack mit hundert Kilo, genug, um vier Mann einen 23
Monat lang am Leben zu erhalten. Es ist ein äußerst gefährliches Opfer. Und für eine Weile denkt Byrd: Was wird sein, wenn wir in der Einsamkeit des Südpols notlanden müssen V Aber es gibt keine andere Wahl. Die Maschine steigt nach dem Abwurf der Lasten auf über dreitausend Meter Höhe. Knapp hundert Meter über der Eisflut des Liv-Gletschers gelingt es ihr, den Kamm des Maud-Gebirges zu überwinden. Von hier; sind es noch etwa fünfhundert Kilometer bis zum Pol. Einer der Motoren beginnt auszusetzen; die Männer halten den Atem an, aber dann nimmt der Störenfried wieder gleichmäßig die Arbeit auf. Um 1 Uhr 14, am 29. November 1929, zeigt das Meßbesteck, daß die „Floyd Bennett" den Südpol erreicht hat. Byrd verzeichnet im Bordbuch: „Um 1 Uhr 25 wandten wir den Bug wieder gegen ,KLein-Amerika' und verließen den merkwürdigen Ort, wo es nur eine Richtung gibt, die nach Norden. Sekundenlang hatten wir über der Stelle geschwebt, wo Amundsen am 14. Dezember 1911 stand, und Scott vierunddreißig Tage später. Ihnen zu Ehren trugen wir heute die Flaggen ihrer Vaterländer über den Pol. Nichts in der endlosen Schneewüste ließ den Ort erkennen. Nirgends sah man Berge, es sei denn, die östliche Wolkenbank verbarg sie. Es gibt nicht viel zu sehen am Südpol. Und nachdem wir dies festgestellt hatten, flogen wir heimwärts." Der Heimflug nach „Klein-Amerika" wird ein Wettrennen mit dem Wetter. Eine Wolkenbank taucht auf, Sturm kündet sich an. Die Maschine steigt auf dreitausendsechshundert Meter. Mit viel Glück überwindet sie auch diesmal das Gletschertor, und um 4 Uhr 47 landet sie glatt neben dem Benzindepot am Fuße der MaudBerge. Das Tanken dauert nur eine Stunde. Vier Stunden später erreicht die „Floyd Bennett" wohlbehalten „Klein-Amerika". Es ist genau 10 Uhr 8 Minuten. In 18 Stunden und 39 Minuten bezwang Byrd mit seinen Männern zum ersten Mal auf dem Luftweg den Südpol. Amundsen hatte mit seinen Hundegespannen für die gleiche Strecke neunundneunzig Tage benötigt. Die Funkstationen melden Byrds Triumph in alle Welt. Ein neues Zeitalter in der Antarktisforschung kann beginnen. Aber allen Ruhm, der sich nach der Ankunft in den Vereinigten 24
„Main-Street", die Hauptstraße von Klein-Amerika
Staaten an Byrds Namen knüpft, wehrt der Forscher mit zwei Sätzen ab. „Möchten die Menschen sich daran gewöhnen, nicht immer von der Eroberung des Südlandes zu sprechen! Es wurde .nicht erobert, wir haben nur einen kleinen Zipfel des gewaltigen Schleiers gelüftet 1",
Allein! Als Byrd am 17. Januar 1934 mit zwei Schiffen zu seiner zweiten Südpol-Expedition in der Bucht des Roß-Meeres eintrifft, ahnt keiner seiner Begleiter, was er beabsichtigt. In vier langen Jahren, die ausgefüllt waren mit Vortragsreisen und Geldsammlungen für diese zweite Expedition, ist heimlich der Plan gereift, im Innern des antarktischen Festlandes eine ganze lange Polarnacht hindurch allein auf Vorposten zu ziehen und eine Wetterbeobachtungsstation 25
zu bedienen. Byrd hat bis zu seiner Ankunft im Roß-Meer geschwiegen, da er weiß, daß man daheim seinen Entschluß nicht begreifen werde. Doch alles ist genau durchdacht: „Das Erreichen des Poles ist nicht das Wesentliche. Der Wert steckt in der wissenschaftlichen Ausbeute längs des Reisewegs zum Ziel. Mein Plan des Vorpostendienstes entspringt keiner dummdreisten Idee. Von allen Zweigen der Wissenschaft, denen sich ein gründliches Unternehmen im Südeis widmen muß, ist die Wetterkunde am wichtigsten. Noch streitet man, bis zu welchem Grade die Pole das Wetter der Erde bestimmen. Manche Gelehrte glauben, daß jeder Pol der eigentliche Wettermacher für seine Erdhälfte sei. Aber noch war das Binnenland um den Südpol wetterkundlich so gut wie unerforscht. Noch nie hatte man eine Dauerwarte im Binnenland eingerichtet, Wintermessiraigen waren in nennenswerter Entfernung von der Küste überhaupt noch nicht vorgenommen worden. Dabei wohnt die kälteste der Kälten der Erde im Innern dieses Festlandes. Hier will ich meinen wetterkundlichen Vorposten errichten, hier, wo nach meiner Ansicht das eigentliche Wetter gebraut wird. Ich weiß, daß dieser Plan mit mancherlei Wagnis verbunden ist. Wer immer diesen Ort allein bewohnen will, m u ß sich mit sehr ernsten Dingen abfinden: mit der bittersten Kälte auf Erden, mit einer langen Nacht so schwarz wie die Hinterseite des Mondes, mit einer Abgeschlossenheit, die sechs Monate lang von keiner menschlichen Macht durchbrochen werden kann. Gegen die Kälte vermag man sich mit recht einfachen und wirksamen Mitteln zu wehren. Unglücksfällen, den drohendsten Gefahren der Einsamkeit, setzt man Entschlossenheit und Findigkeit entgegen. Aber angesichts der Dunkelheit bleibt nur die eigene Würde 1" Zweihundert Kilometer südlich von „Klein-Amerika", auf dem 80. Breitengrad, mitten im antarktischen Inlandeis, wird die sturmfeste Baracke aufgeschlagen. Auf Raupenschleppern und Traktoren werden die wissenschaftlichen Geräte, die Lebensmittel und die Hüttenteile transportiert. Am 28. März 1935 bleibt Byrd allein in der Eiswüste zurück. Er verabschiedet sich von seinen Männern, die nach „Klein-Amerika" zurückkehren: „ W a s immer auch kommen mag, haltet euch stets vor Augen, daß ich in dieser Hütte besser aufgehoben bin als Reisende in der 26
Eisnacht! Hiermit gebe ich den bestimmten Befehl, mich erst einen Monat nach Sonnenaufgang abzuholen!" Dann bleibt Byrd auf seinem Vorposten allein zurück. Noch lange hört er das Rasseln der Raupenketten der Fahrzeuge. In der kristallenen Luft der Antarktis vernimmt man Geräusche auf unglaubliche Entfernungen. Er späht in die Ferne, bis die Laute verstummen, bis die schwarzen Punkte von Mensch und Fahrzeug hinter einem Schneeberg untertauchen. Seine Welt schrumpft in dieser Sekunde auf ein Nichts zusammen. Am südlichen Himmel, der schwindenden Sonne gegenüber, schiebt die über dem Pol brütende Nacht ihre Schatten vor, blauschwarz und drohend wie eine Gewitterwolke. Byrd kauert in seinem winzigen Lebensraum. Mit vier Schritten nach der einen und mit drei Schritten nach der anderen Seite kann er ihn durchmessen. In der Hütte sind acht Wettermelder in Betrieb. Von zwei Wärmeschreibern notiert der eine die Außen-, der andere die Innentemperatur. Außerdem überwacht der Forscher außerhalb der Hütte noch einen Luftdruckschreiber, einen Feuchtigkeitsmesser und ein Tiefstandsthermometer, das die niedrigste Temperatur des Polarwinters festhalten soll. Der Tag ist genau eingeteilt. Morgens um acht Uhr klettert Byrd aufs Hüttendlach und liest die Temperatur ab. Dann gilt es, die Bewölkung, die Beschaffenheit der Luft, den Schnee und die Windgeschwindigkeit zu prüfen. Alle Beobachtungen werden pflichtgemäß auf d&s Formular Nr. 1083 des Wetterdienstes der Vereinigten Staaten notiert. Jeden Dienstag, Donnerstag und Sonntag, pünktlich um zehn Uhr vormittags, gibt Byrd einen Funkspruch nach „Klein-Amerika" durch. Zwischen 12 und 13 Uhr muß Byrd täglich die Streifen des Windmelders und des inneren Wärmeschreibers auswechseln. Die letzte Beobachtung erfolgt abends um 20 Uhr mit der erneuten Kontrolle des Thermometers. Das ist der Tagesablauf des einsamen Forschers inmitten der Polarnacht. Und er schreibt: „An diesem Ort des Vorpostens unterscheiden sich die Verhältnisse kaum von denen, die der Mensch durchlebte, als er aus dem letzten Dämmerlicht der Eiszeit t r a t . " Die Winterstürme toben um die Hütte, das Thermometer sinkt manchmal bis auf minus 60 Grad. 27
In der Einsamkeit beginnt sich indes eine Tragödie anzubahnen, von der die Welt und auch Byrds Kameraden auf „Klein-Amerika" erst Monate später erfahren werden. Die Gase des ölofens ziehen nicht richtig ab. Byrd fällt einer langsamen inneren Vergiftung anheim. Oft liegt er in halber Ohnmacht, mit kaum noch erträglichen Kopfschmerzen. Immer wieder rafft er sich auf, stellt seine Beobachtungen an, funkt alle Dienstage, Donnerstage und Sonntage seine Berichte zweihundert Kilometer weit durch das Dunkel. Doch oft genug muß er nach drei oder vier Worten seine Sendung vor Schwäche und Ohnmacht unterbrechen. „ W a r t e n ! " signalisiert er dann. Und es dauert Minuten, bis die nächsten Meßergebnisse folgen. Dr. Polter, dem in der Abwesenheit des Expeditionsleiters die Führung in der Station „Klein-Amerika" übertragen ist, versucht, von Byrd auf dem Funkweg die Erlaubnis zu erhalten, mit einer Raupenschlittenkolonne zu seinem Vorposten aufzubrechen. Doch Byrd lehnt ab. Nein — auch wenn er selbst am Rande der Bewußtlosigkeit und vielleicht am Rande des Todes dahintaumelt, er darf die Kameraden nicht einem Todesmarsch durch die antarktische Nacht aussetzen. Und er schreibt: „Ich muß mich zwingen, meiner Niedergeschlagenheit Herr zu werden. Woran liegt es eigentlich? Am Geist, am körperlichen Verfall oder an beiden? Dies zu entscheiden, wird für mich zur Lebensfrage. Die Verbrennungsgase bedeuten das große Fragezeichen . . ." Mit übermenschlicher Kraft versucht er weiter, den selbstgestellten Aufgaben auf dem Vorposten nachzukommen. Mehrere Finger erfrieren, er leidet an Erstickungsanfällen, aber er will durchhalten. Er muß durchhalten. „8. Juni: Ich finde es unbegreiflich, warum ich keine Kraft mehr habe. Beim Erklimmen der Dachleiter muß ich auf jeder Sprosse rasten. Nachts nagen die Schmerzen ohne Unterbrechung. Der Schlaf stellt sich nur selten ein. Ich versinke in eine ständige Benommenheit..." Im Juli versagt das Funkgerät den Dienst. Byrd ist der letzten Einsamkeit ausgeliefert. Dr. Polter beschließt, den Vorstoß zum Vorposten zu wagep. Am 8. August bricht er auf Raupenschlitten und mit einigep Begleitern zur Rettung des Kameraden auf, Drei 28
Tage spätem finden sie Byrd halb vergiftet in seinem Stützpunkt. Stehend versucht er seine Retter zu empfangen, aber am Fuß der Leiter sackt er zusammen. Er hört die Stimmen der Gefährten, aber er weiß nicht, was sie zu ihm sprechen. Es kommt ihm vor, als redeten sie in unverständlichen Zungen. Wie ein Fremder sitzt er unter ihnen. Acht Wochen ringt Byrd mit dem Tode. Erst am 12. Oktober kann er mit einem Flugzeug nach „Klein-Amerika" zurückgeflogen werden. Und er schließt sein Tagebuch der Einsamkeit: „Ich fand beinahe den Tod. Als erstaunliches Endergebnis bleibt die Erleuchtung, wie wenig Dinge es doch gibt, die man ganz sicher weiß oder erfühlt." Für die Wissenschaft aber liegen zum erstenmal lückenlose Wetteraufzeichnungen eines ganzen antarktischen Winters vor. Im Februar 1935 kehrt Byrd mit seinen Männern in die Vereinigten Staaten zurück. „Ich werfe keinen Blick hinter mich. Ein Teil meiner selbst bleibt für immer auf dem 80. Grad südlicher Breite. Dort lasse ich Jugend, Eitelkeit, Ungläubigkeit zurück. Dafür nehme ich etwas mit, was ich nie zuvor besessen habe: die Würdigung des Lebens und seiner bescheidensten Werte. Ich lebe jetzt einfacher und genieße den Frieden der Seele. Und ich sage zum Beschluß: Weise wird der Mensch erst mit der Erkenntnis, daß er nicht länger unentbehrlich ist!"
Der Ring schließt sich Die Antarktis bleibt auch weiterhin Byrd« Lebensziel. Auf den beiden ersten Expeditionen waren nur verhältnismäßig geringe Teile des riesigen Kontinents vom Flugzeug aus erkundet worden. Als Byrd im Jahre 1940 — über Europa gehen die Schrecken des zweiten Weltkrieges hin — wieder den Fuß auf antarktischen Boden setzt, ist sein Plan kühner als je. Von zwei Stützpunkten aus versucht er ins Innere vorzudringen. Der eine Stützpunkt ist wieder — wie könnte es anders sein — „Klein-Amerika", der andere aber liegt an der völlig entgegengesetzten Seite des südpolaren Erdteils, 29
an der Marguerite-Bueht, die vom Stillen Ozean tief in das Graham-Land einschneidet. Die Traktoren, die Byrd diesmal mit sich führt, sind riesige Schneekreuzer, in deren Inneres geheizte Arbeits- und Wohnräume eingebaut sind. Auf dem riesigen Dach dieser Raupenkreuzer kann ein kleines Flugzeug mittransportiert werden. Pausenlos werden von den Flugzeugen aus die unendlichen Eiswüsten photogrammetrisch vermessen und kartographisch erfaßt, die Landkolonnen nehmen gesteinskundliche, geologische und wetterkundliche Messungen vor. Im November 1940 erreicht eine der Traktorkolonmen zum ersten Male das noch völlig unerforschte Eternity-Gebirge. Aber während die Expeditionsteilnehmer noch mitten in ihren wissenschaftlichen Arbeiten stecken, kommt die Nachricht vom Kriegseintritt der Vereinigten Staaten. Und der Krieg verschont auch Byrd nicht. Der Forscher wird — wie viele andere — gegen seinen Willen wieder zum Soldaten. Aber schon das Jahr 1947 sieht ihn von neuem in der Antarktis. Der Krieg ist vorüber, es ist wieder Raum für die Aufgaben der Wissenschaft. Byrd kommandiert 1947 eine Super-Expedition, wie es sie in der bisherigen Geschichte der Antarktisforschung noch nicht gegeben hat. Viertausend Mann auf Schiffen, Fleugzeugen und Amphibienfahrzeugen unterstehen seinem Kommando. Der Eisbrecher „Mount Olympus", der in der Bucht des Roß-Meeres vor Anker liegt, ist Byrds Hauptquartier. Von hier aus leitet er über Funk alle Operationen. Der ganze antarktische Kontinent ist zu einem Kampffeld der Wissenschaft geworden. In allen eingesetzten Flugzeugen hängen die Triple-Kameras, mit denen man gleichzeitig Farbaufnahmen und Schwarz-Weiß-Auf nahmen machen kann. Und die scharfen Linsen der Triple-Kameras geben zum ersten Male Aufschluß über den Aufbau des antarktischen Gesteins. Zum ersten Male ahnt man etwas von den riesigen Bodenschätzen, von Erz, Kohle und Uranium in diesem Sechsten Erdteil. Am 16. Februar 1947 überfliegt Byrd zum zweiten Male den Südpol. Diesmal bewältigt seine Maschine die Strecke von „KleinAmerika" zum Südpol und zurück in knapp dreizehn Stunden. Mit der „Floyd Bennett" hatte er beim ersten Südpolflug über achtzehn Stunden gebraucht. 30
Im Innern der Antarktis werden erloschene Vulkane entdeckt, ein weiteres Anzeichen dafür, daß hier vor Jahrmillionen einmal eisfreies, fruchtbares Land gewesen sein muß. Inmitten des Eises liegen eisfreie Seen mit warmem Wasser. Unbestechlich halten die Triple-Kameras der Flugzeuge alles fest: den Verlauf der Buchten und Gebirge. „Die bestehenden Karten der Antarktis sind alle wertlos geworden. Neue große Buchten sind entstanden, es gibt Gebirge, von denen bisher niemand w u ß t e " , stellt Byrd sachlich fest. Als die Expedition Anfang März 1947 wieder Kurs nach Norden nimmt, weiß die Welt: Die Antarktis ist ganz anders, als man bisher angenommen hat. Hier liegt eines der letzten großen Geheimnisse, die noch der Erforschung harren. Byrds Berichte nach der großen Ausfahrt versetzen die Welt in Staunen. Eine Million Quadratmeilen neuen Landes sind vermessen, über dreitausend Kilometer Küste sind neu entdeckt, sechsundzwanzig Inseln, die man bisher nicht gekannt hat, sind in die Karten eingezeichnet, eisfreies Land gibt es im Innern des Eiskontinents. Nach fünfzig Jahren Südpolarforschung lichtet sich das Dunkel über der südlichen Polkappe mehr und mehr. Im Jahre 1955 ernennt Präsident Eisenhower den Admiral zum Generalbeauftragten für alle amerikanischen Pläne in der Antarktis. In diesem Zeitpunkt beginnen die Vorbereitungen vieler Länder zur erneuten gründlichen Durchforschung des Südpolkontinents im Rahmen des „Internationalen Geophysikalischen Jahres 1957/1958"; denn trotz aller bisherigen Antarktis-Feldzüge sind immer noch mehr als eine Million Quadratkilometer dieses vergletscherten Festlandes unbekannter geblieben als die Gebiete der der Erde zugekehrten Mondhalbkugel. Von den 27 Stationen, die von den USA, von Großbritannien, Neuseeland, der Sowjetunion, von Australien, Frankreich, Japan, Argentinien, Norwegen und Spanien eingerichtet werden, haben die USA sieben belegt. Und so bricht der siebenundsechzigj ährige Byrd von neuem auf, um für die den amerikanischen Forschern zugewiesenen Aufgaben die geeigneten Stützpunkte anzulegen. Drei Monate lang durchfährt Byrd das Hoß-Meer und durchquert das Schelfeis der Roßmeerbucht, um die Plätze aus31
findig zu machen und festzulegen. Sein Name ist inzwischen schon fast zur Legende geworden. Admiral Byrd geht auch dieses Mal wieder mit jener Umsicht und Großzügigkeit vor, die bisher alle seine Expeditionsarbeit ausgezeichnet hat. Selbst unmittelbar am Südpol ist ein amerikanischwissenschaftlicher Stützpunkt geplant, für den Byrd bereits die ersten Transportgüter abwerfen läßt. Einer der Gedanken, die ihn bewegen, ist die Idee des Welt-Kühlhauses, zu dem die Antarktis werden könnte, und zwar so, daß dort die in guten Jahren im Überfluß anfallenden Lebensmittel der Welt für Zeiten des Mangels als Reserve eingelagert würden. So läßt er bereits im Jahre 1956 an Ort und Stelle entsprechende Konservierungsversuche anstellen. Er glaubt auch daran, daß einmal „Vergnügungsdampfer in die Antarktis fahren werden", so optimistisch ist er. Byrd kehrt, nachdem er Vorsorge für die Verteilung und die Unterbringung der Forschergruppen getroffen und die Ausfahrt der Mannschaften in Szene gesetzt hat, nach Amerika zurück, um von hier aus die weiteren Maßnahmen für das Forschungsjahr zu überwachen. Aber „seinen" Erdteil sollte er nicht mehr wiedersehen. Ein Herzleiden, das er selbst seiner nächsten Umgebung verschwiegen hat, wirft ihn auf ein kurzes Krankenlager. In der Morgenfrühe des 13. März 1957 melden die Rundfunkstationen, daß Admiral Richard Evelyn Byrd, der große Entdecker und Forscher, verschieden sei. Einer der letzten großen Abenteurer der Erde ist mit ihm dahingegangen. Obwohl er ein Neuerer war, der die Errungenschaften der Technik in den Dienst seiner wissenschaftlichen Arbeit gestellt hat, zählt er doch zugleich auch mit seinen einsamen Taten noch zu jener wunderbaren Generation der frühen Polforschung, die im persönlichsten Einsatz das Äußerste gewagt hat. Umschlaggestaltung: Karlheinz Dobsky Bild auf Umschlagseite 2: Ein Erkundungsflug über das ewige Eis wird auf der Karte festgelegt. (Fotos: OSAD)
L u x - L e s e b o g e n 2 4 5 (Erdkunde) — H e f t p r e i s 2 5 P f g . Natur- und kulturkundliche Hefte - Bestellungen (vierteljährl. 6 Hefte DM 1.50) durch jede Buchhandlung und jede Postanstalt — Verlag Sebastian Lux, Murnau (Oberbayern), Seidl-Park — Druck: Buchdrucberei Auer, Donauwörth
IM FALLE EINES FALLES...