Holger Hermann Haupt
Adjuna
Helden- und Weltanschauungsepos. Der Titel ist "Adjuna" nach dem Helden der Geschichte, einem umherirrenden Wanderer auf dieser Welt. In grauer Vorzeit gab es in Indien einen Poeten Vyasa mit Namen - seine Existenz ist so sicher (das heißt hier fragwürdig) wie die von Gautama the Buddha, Chrishna, Christus oder der Amaterasu (Urmutter des japanischen Kaiserhauses). Dieser Poet schrieb..., nein, er schrieb gar nicht, denn er war wie heutzutage noch 50 % der Inder Analphabet, er diktierte seine Geschichte einem Gott, der schreiben konnte, Ganesha. Die Geschichte, die ich meine, ist natürlich das indische Nationalepos Mahabharata. ISBN 3-8311-0226-0 Libri Books on Demand Erscheinungsdatum: 2000
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!
Der Inhalt dieses Buches soll nicht nur unterhalten, sondern auch die große, weite Welt, die wir, wenn wir vom Buch aufblicken und einen Blick aus dem Fenster werfen, gar nicht erfassen können, symbolisieren. Diese Welt da draußen glaubt nicht an Ordnung, sie ist chaotisch und unberechenbar, all der Mühen unserer Wissenschaftler zum Trotz, und der Mensch und seine Handlungen sind noch das Unberechenbarste dieser Welt.
Statt eines Inhaltsverzeichnisses, das zu Kapiteln führt, also eine lose Ansammlung von Stichwörtern, für die ganz eiligen Leser, aber eigentlich ist dieses Manuskript als lineares Dokument gedacht. Ein kurzes Wort zu meinem "Adjuna" 5 Zehnseitiger Countdown 8 Götterberg 18 Das erste Buch Adjuna 19 Das zweite Buch Adjuna 20 Das dritte Buch Adjuna 21 Das vierte Buch Adjuna 22 Das fünfte Buch Adjuna 23 Sramanias Empfängnis 26 Die trockene Oase und die große Flut 28 Adjunas Geburt und Tod der Mutter 47 Wüsterwanderung 63 In jungen Jahren 68 Zwischenseite 105 In Rom 106 Zeitreise ins alte Ägypten 109 Mit Eva auf Wanderschaft 160 Als Pirat in Santa Maria de Leuca 171 Die Sonne verdunkelt sich 180 Evas Tod 189 Papstmord 192 Abschied von Rom 195 Im Dreck am Po 198 Wanderung nach Norden 200
In teutschen Landen 209 Adjuna trifft Jesus 239 Gonta-kun und andere Geschichten 248 Der Rattenfänger von Hameln erzählt Selbstmordgeschichten 257 Adjuna trifft Luzifer 272 Ab ins KZ 273 Adjuna liest im KZ Adolf Hitler “Mein Kampf” 288 Wir haben genug Schreckliches gesehen 299 Bahnfahrt nach Hamburg 313 Große Freiheit in der Elbmetropole 317 Abenteuer mit Huren und Kampf gegen Religion 320 Neue Gebote 329 Ein Flugblatt: Göttliche Greuel, Grausamkeiten und Todesstrafen 346 Weihnachten, ein trauriger Tag 358 Begegnung der vierten Art 359 Hexe im Nebel 368 Wohin in Urlaub? Afrika, Frankreich, Griechenland? 370 Urlaubsfahrt über Österreich nach Griechenland 382 Im antiken Griechenland 390 Wundersame Auferstehung 429 Auf Korfu 434 Wieder in Hamburg 456 Die Reise zum Muskellosen 479 Abstecher in die Welt der Mikrophysik 483 Luz´s Tod 505 Adjunas Trauer 523 Abstecher nach Israel 531
Im Land der Kleinviehnomaden 539 Insel der kleinen Leute 579 Auf in eine neue Welt 594 Indianische Götter 596 Indianische Erlöser 627 Der letzte Schritt von der Gangway 629 Granitinsel Manhattan 634 Artifikale Intelligenz 640 Computer erzählt Märchen 649 AIDS 654 Symbole 664 Reise in die Südstaaten 668 INTERMARRIAGE SOCIETY 677 Ku Klux Klan 680 Eine große Rede führt zu Aufruhr 739 On the road again: Texas und New Mexiko 787 Schwarze Spinnenfrau und Weiße Büffelbiene 807 Bei den Hopi 814 Massaker 831 Eine Regenzeremonie fällt ins Wasser 839 Westküste und aufs Meer 842 Land in Sicht: Hawaii 858 40jährige Suche nach dem Gelobten Land 864 Weißes Wolkenland 882 Mord der Mauris an den Morioris 883 Auf der Insel der Frauen 886 Stürmische Zeiten 900 Taiga: Legende vom Feuervogel 903
Eismeer 906 Saipan und Japan 908 Bikinis und Bomben 933 China, Hongkong, Karl Marx und Kommunismus 936 Die Liebe der Weißen Schlange zu einem Sterblichen in der Menschenwelt 941 Indochina, Indonesien, Pancasila 954 Australien 969 Adjunas Versuch das Altwerden zu verhindern 976 Drei Tage Unterwelt, wenn Du ein Erlöser sein willst 985 Indien 1002 Kurukshetra-Schlacht 1128 Der Rest 1200 Nachruf und ein paar Abschiedsworte 1293 Götterdämmerung 1309 Glossar
Ein kurzes Wort zu meinem "Adjuna" Meine Geschichte ist ein Helden- und Weltanschauungsepos. Der Titel ist "Adjuna" nach dem Helden der Geschichte, einem umherirrenden Wanderer auf dieser Welt. In grauer Vorzeit gab es in Indien einen Poeten Vyasa mit Namen - seine Existenz ist so sicher (das heißt hier fragwürdig) wie die von Gautama the Buddha, Chrishna, Christus oder der Amaterasu (Urmutter des japanischen Kaiserhauses). Dieser Poet schrieb..., nein, er schrieb gar nicht, denn er war wie heutzutage noch 50 % der Inder Analphabet, er diktierte seine Geschichte einem Gott, der schreiben konnte, Ganesha. Die Geschichte, die ich meine, ist natürlich das indische Nationalepos Mahabharata. Als ich als junger Mann durch Indien zog, faszinierte mich diese Geschichte, die den Untergang der Kriegerkaste in einem selbstmörderischen Kampf beschrieb; ...und der Untergang wurde nicht beklagt, sondern als Erleichterung empfunden. Als ich Anfang der 70er Jahre auf meiner Indienreise mit dem Mahabharata konfrontiert wurde, befand sich die Menschheit wegen des Ost-West-Konflikts ebenfalls am Rande der Zerstörung. Wie viele Leute zu jener Zeit erwartete auch ich, Zeuge eines atomaren Holocausts zu werden. Wer konnte schon ahnen, daß all die schönen Waffen für die Katz´ sein sollten! Ich dachte mir damals, wenn wir uns schon aus der Existenz bombten, dann sollten wir wenigstens unserem Abgang etwas Positives abgewinnen, wie man es einst in indischer Vorzeit beim Tod der Krieger tat, nämlich heilfroh sein, daß es uns Narren nicht mehr gibt. Meine Idee war also, einen Helden aus dem Mahabharata literarisch wieder entstehen zu lassen und ihn so inkarniert zum Zeugen unserer Zeit und unseres Unterganges zu machen. Diese Bestandsaufnahme und Endabrechnung sollte mystisch-märchenhaft verbrämt sein, da so viele Menschen die Mythen lieben, und ich gerade diese Leute (auch) ansprechen wollte. Ich selbst bin überzeugter Atheist, und es ist eigentlich eines meiner Anliegen, daß andere es auch werden. Die Vorbedingung für vernünftiges Verhalten ist, daß man keinen Gespenstern folgt; und mit Gespenstern meine ich nicht nur 1
Religionen, sondern auch Ideologien und all den anderen Unsinn, der sich so im Laufe der Zeit in einem Kopf festsetzt. Wenn in meinem Buch Gott, Götter und Gespenster neben der Erkenntnis, daß es keine gibt, als handelnde Personen vorkommen, so soll das nur den Widerspruch, der tatsächlich in unserer Zeit besteht, widerspiegeln. Ein Thema, das in dem Text immer wieder auftaucht. Der Held selbst ist schon ein solcher Widerspruch. Aber lesen Sie doch bitte selbst:
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Count Down 10. Seite vor Beginn der Geschichte
Widmung
Das Buch ist dem Leser gewidmet.
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9. Seite vor Beginn der Geschichte
Dieses ist ein eklektizistisches Werk, das von vielen verschiedenen Quellen zehrt. Ein Dank daher an alle, die mir im Leben nicht mit leeren Händen und Köpfen begegnet sind. Sie haben mit dazu beigetragen, daß ich dieses Buch schreiben konnte. Die anderen natürlich auch.
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8. Seite vor Beginn der Geschichte
Alle Aktionen der Akteure sind rein zufällig wie bei noch lebenden oder schon verstorbenen Personen in der wirklichen Welt, oder ist es kein Zufall, daß der Mensch ein Irrläufer der Evolution1 ist?
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Arthur Koestler
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7. Seite vor Beginn der Geschichte
Pluspunkte: Ein Roman, absurd, grotesk, wie das Leben, mit garantiertem Happy End! Übrigens, es spielen mehr Götter mit als Menschen. Gläubige Menschen werden also ihre Freude an diesem Buch haben! Außerdem hält dieses Buch den Weltrekord in Gewaltsamem Tod!
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6. Seite vor Beginn der Geschichte
Ein großer Teil dieses Werkes, ach nein, ein Teil dieses großen Werkes hat geruht für lange Zeit, wie alter Wein, in meiner kleinen Schublade, zum Ausreifen. Der saure Essig wurde später hinzugekippt.
Hündisch ist nicht der Zyniker, von griech. kynikós = hündisch, sondern die Mitläufer aller Zeiten und Nationen sind es. Mitläuferei ist die hündischste aller hündischen Tugenden. Der Held dieser Geschichte `Adjuna' ist auf jeden Fall ein Wildkater. Seine größte Feindin, die Religion, sorgt dafür, daß die Hunde nicht die Falschen beißen.
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5. Seite vor Beginn der Geschichte
Reklame fürs Buch: Dieses Buch ist ein Mosaik, es enthält Abenteuer, Erzählungen, Märchen, Spiegel und Zerrspiegel für Sie und für mich, eine Mischung aus Persönlichem und Unpersönlichem, Wirklichkeit und Unwirklichkeit, Wissenschaftliches und Unwissenschaftliches, Wahres und Unwahres, tiefe Gedanken und flache, viel Trauriges, wenig Fröhliches, viel kaltes Lachen, viel Sarkasmus, viel Lästermäuliches, Philosophisches, Religionskritik, viele Prophezeiungen, Schlachten, Kriege, Morde und andere Toll- und Torheiten, sowie einen Weltuntergang, Götterdämmerung - was noch? Viele Aufzählungen - aber vor allen Dingen meine eigenen Frustrationen. Ich teile sie gerne mit Ihnen.
Was dieses Buch nicht ist: Dieses Buch ist keine Aufforderung, irgend jemandem zu schaden oder gar jemanden umzubringen - auch mich nicht. Der aufmerksame Leser wird das hoffentlich merken. Wenn der eine oder andere oder auch alle trotzdem weitermorden werden, tun sie es wie immer in Eigenverantwortung, auch wenn sie vielleicht Befehlsnotstand für sich in Anspruch nehmen.
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4. Seite vor Beginn der Geschichte
Mein Name ist Holger Hermann Haupt. Ich bin Hausmann und habe das Buch in meiner Freizeit geschrieben. Aber es ist kein Rezeptbuch. - Oder vielleicht doch?
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3. Seite vor Beginn der Geschichte
Optimismus
Diese Geschichte ist ein Epos, ein Helden- und Weltanschauungsepos mit in wunderlicher Sprache beschriebenen Szenarien. Es wurde von verschiedenen Sagen und Legenden beeinflußt, aber besonders vom indischen Mahabharata. Der Protagonist Adjuna ist eine Inkarnation aus diesem alten Epos, aber auch des Publikums Geschmack für amerikanische Helden à la Supermann stand bei ihm Pate. Diese Geschichte ist auch ein Doomsday-Drama. Als ich mit ihr anfing, befand sich die Menschheit wegen des Ost-West-Antagonismus am Rande des Untergangs. Mittlerweile hat der Osten sich kampflos ergeben. Und alles sieht nach Frieden und Entspannung aus und dieses Buch ist furchtbar unaktuell, aber ich bin Optimist: Sehr bald werden die Menschen einen neuen Grund finden, an ihrem Untergang zu arbeiten. Und Doomsday wird wieder aktuell.
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2. Seite vor Beginn der Geschichte
Als meine Frau den Anfang gelesen hatte, deklassierte sie das Buch als einen Wüsten- und Oasenroman, aber es ist weder das, noch eine Wald- und Wiesenstory.
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Letzte Seite vor Beginn der Geschichte
Als letztes noch eine Warnung des Gesundheitsamtes: Dieses ist ein obszönes Buch, wenn Sie an bestimmten Szenen Gefallen finden, kann es passieren, daß Sie sich selbst als pervers entlarven, - also nicht anders sind, als andere auch.
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Mag es irgendwo in ferner, ferner Ferne einen Berg Meru geben, um den auf sieben Kreisen Gebirge und Ozeane kreisen, eingeschlossen in den unendlich schwarzen Mauern der Dunkelheit Endlichkeit, mag es auch viel Großartiges auf diesen Kreisen geben, auf dem äußersten dieser Ozeane schwimmt eine Insel, ein Inselchen, unwichtig wie ein Sandkorn am Fuße eines Berges, von Höhenluft riecht man dort nichts; ein Ungeziefer hat sich darauf ausgebreitet, wanzenähnlich, es weiß weniger, als es denkt. Der Hochmut zwingt sie zum aufrechten Gang und ihr aufrechter Gang macht sie hochmütig; endlich dem dunklen Zeitalter entronnen; und voller Verachtung denken sie, wir sind keine Tiere mehr, ein Tier ist nur ein Tier, wir aber sind Menschen; doch haben sie nie ein Tier schaffen können, wohl aber verdorben. Was sie schaffen, sind Götter, ja, Götter, die können sie schaffen, wegen ihrer Götter leben sie in Horden, jede Horde hat ihre eigenen Götter, manche viele, manche weniger, die, die gerne reich werden und viel Land brauchen, schaffen sich einen Gott, ihn aber allmächtig, sonst gar nicht erhaben, sondern mit einem neidischen Seelchen, gerade so wie sie selbst in ihren geheimsten Träumen sind; eins ist mehr als viel, eins ist oft mehr als genug. Auf dem Berg Meru lachte man bei so viel Eifer und man prostete sich zu: Ei, wer ist denn das, ein Gott, der neidisch ist, das kann doch gar kein Gott sein, vielleicht ganz unten bei den schwarzen Geistern, da wohnt dieser Held der Menschen, wir jedenfalls, wir brauchen doch die Menschen nicht und weiß Gott ihre Demut uns nicht glücklich. Dieses Inselchen im fernsten Wasser, das sie so stolz ihre Welt nennen, ist für uns nur ein Staubkorn. Und doch -, so dachten die Götter, und es gab ein göttliches Gelächter, sie stießen wieder an, sollten wir ihnen einen Erlöser schicken, einen gottlosen allerdings, der sie von ihrem Wahn befreit, daß wir uns um sie kümmern. Adjuna war das Paradies schon lange überdrüssig, es war keine Erlösung für diesen edlen Helden, in einem Blumengarten zu sitzen 13
und sanfte Musik zu hören, ein schlechter Rat hatte ihn hierher gelockt. Auf der Erde aber tat sich viel von dem, was sich auf einem aussätzigen Körper tat, von Menschen befallen, bildeten sich überall übelriechende Knoten, die erbärmlich wohlig warmen Siedlungen der Menschen. Einst, als die Erde noch eine schöne Samthaut hatte und noch von Tieren beherrscht wurde, glänzte der Mensch unter ihnen wie Edelstein im Sand, wie Gold im Fluß; sein Mut, sein Heldenmut und Heldentum ließ ihn selbst Drachen töten. Ja, wie alles Seltene hatte der Mensch einen Wert, einen hohen Wert, damals. Adjuna hatte diese Zeit noch miterlebt. Damals, da wurde vielleicht das edelste Tier, wenn es nach dem Tode furchtlos den Schritt zur höheren Geburt wagte, Mensch. Wer sich als Mensch nicht bewährte, fiel zurück ins Tierreich. Selbst Götter sollten damals danach gestrebt haben, sich auf dieser Insel des äußersten Ozeans tummeln zu können, was allerdings jetzt auf dem Meru entschieden bestritten wird. Nach dem Leben auf der Erde winkte den edlen und braven Helden der Blumengarten mit der sanften Musik, dort sollte man für lange Zeit in Glückseligkeit sorglos vor sich hin sein können. Erst später erkannte ein magerer Bettelmönch aus fürstlicher Familie ein ferneres und schwereres Ziel als das Paradies, das doch - doch wohl eher etwas für Wollüstige und Schlemmerer war, er erkannte das Nichtsein, das alles durchdringende Nichtsein, das Ungeformte, das Ungefärbte, das Unwirkliche des Daseins, die Leiden in Sangsara. Jetzt, in dieser Zeit, wo sich Adjuna aufmachen wollte und sollte, die Höhle im Leib einer Mutter aufzusuchen, um die Erde wieder zu betreten, da waren die Menschen wertlos, wertlos geworden, wertlos wie alles im Überfluß Überflüssige. Selbst die Seelen von Spinnen und Blutsaugern und anderem niederen Getier mußten in Menschenmutterleiber, mußten Mensch werden, männchenmachen.
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Und Adjuna machte sich auf den Weg, nicht gedrängt, gehetzt und dämonengetrieben wie die meisten, die wiedergeboren werden sollten, sondern klarsinnig und entspannt sank, schwebte er hinunterüber auf die Erde, sah dem Treiben und den Spielen der Menschen zu und dachte, bald werde ich wie sie sein, aussehen wie sie, sprechen wie sie und sprechen mit ihnen. Und doch werde ich mehr sein als sie, mehr sehen als sie, werde ich nie meine vorigen Leben vergessen und die Zeit im Blumengarten mit der sanften Musik und den goldenen Straßen und den goldenen Palästen, weshalb ich diese vergeudete Zeit auch die vergoldete Zeit nennen werde. Auch das Gold wird wertlos, wenn man es im Überfluß hat, wie Mensch, Glück, Menschenglück. Aber wer von diesen Ahnungslosen, Geld-, Gold- und Beutesüchtigen soll mir diesmal Vater und Mutter werden, es gibt keinen Adel mehr, der Adel selbst verkam und bildet jetzt mit dem Pöbel von gestern einen Sumpf, und in diesem Sumpf leben sie jetzt alle dicht an dicht und aalen sich und halten sich. Ist es ein bißchen zu kalt, dann haben sie gleich einen Schnupfen, aber ist es zu warm, dann stinken sie nach Schweiß. Gibt es denn niemanden mehr, der den Hüttenmief nicht braucht, nicht erträgt, und der draußen in den Wäldern haust, und dessen Blick nicht gierig ist? Doch wer noch in Bergen und Wäldern lebt und nichts sein Eigen nennt und sich selber dafür um so mehr gehört, der wird von diesen Sumpfmenschen gehaßt werden - sicher nicht geliebt, und eben darum über sich und sie hinauswachsen. Ach, könnte ich sie doch finden diese Außenseiter! Und so trieb er weiter, das Land wurde immer kahler und öder. Es war die Wüste. Einst war er mit seinen Brüdern durch die große Wüste von Radschastan geritten, es war sehr heiß gewesen und sie hatten Durst erlitten, aber diese Wüste, die Einheimischen nannten sie schlicht `die Wüste’, war unvergleichlich größer, und er dachte, die Erde will sich säubern, die Wüsten werden größer. Manchmal begegnete er Karawanen, neugierig kam er jedesmal herunter mit der Hoffnung, stolzen Menschen zu begegnen, in deren Mitte er hätte aufwachsen wollen. Aber immer wieder flog er 15
aufgeschreckt und angewidert davon, wenn sie sich in den Staub der Wüste warfen, um einem Gott zu gefallen. Und wenn er die Leute von ihrem Gott erzählen hörte, dann dachte er, gäbe es einen solchen Gott, der alles kann und nichts tut, nichts, um die Leiden zu mindern, sondern im Gegenteil, dem der natürliche Tod und die natürliche Qual der Krankheit nicht genug ist, und der daher noch den unnatürlichen, Menschen gemachten Tod fordert und die Folter im Diesseits und im Jenseits, gäbe es wirklich einen solchen Gott, sollte man ihn anspucken. Aber es gab ihn nicht. Ein Strolch, der an die Macht wollte, hatte diesen Strohgott einst für sich ausgepolstert, ausgestopft, geschustert, zu gut, wie man sah, der Gott überlebte den Strolch. Die Fackel, die das Stroh verbrennt, fehlt noch, weil so viele Augen blind sind. Wer Augen hat, der sehe! Adjunas Augen waren nicht blind; er schwebte noch immer über der großen Wüste, da sah er in der Ferne, es flackern, Feuer züngeln am Wüstendorn, als er näher kam, ein buntes Volk. Es tanzte. Sie hatten Sträucher gesammelt und angezündet. Strauch trocken, brennt gut. Jetzt tanzten sie und sangen dazu, sie freuten sich auf den Braten, den einige kräftige Burschen über die Flammen hängten. Es waren schöne Menschen, sie erinnerten Adjuna an Indraprastha, an die Menschen seiner alten Heimatstadt. Ihre Augen waren groß und rund und offen, keine Gier, kein Haß hatte ihre Stirn in Falten gelegt oder ihre Augen verkniffen. Besonders die Frauen blickten mit sehr schönen, blinkenden Augen herausfordernd und frei, und alberten und neckten die Burschen. Sie zeigten frech ihr ganzes Gesicht und sogar meist noch mehr, waren nicht wie sonst hier zu Wüste und Ödland üblich verschleiert. Adjuna ließ sich, dem weisen Spruch eines kalten Volkes des Nordens folgend: “Wo man singt, da laß dich ruhig nieder, böse Leute haben keine Lieder”, nieder; aber er wußte wohl, wie gerade dieses Nordvolk aus voller Kehle schmetterte, wenn es böse war, deshalb blieb er zurückhaltend und taute nur sehr allmählich auf.
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Die Mädchen aber sangen: Einst waren wir unschuldig Jetzt haben wir die Sünde Oh ja, die Sünde ist schön Oh, Eva, du hattest deine Gründe Immer nur Hosianna und Halleluja Das mochtest du ja Gar nicht, drum gabst du Adam, dem Müden, Dich zu lieben. Und auch du, mein Liebster, Sei kein Kloß Stürze dich auf meinen Schoß! Hosianna! Jetzt antworteten die Burschen: Wenn das Feuer sinkt Die Musik verklingt Dann will ich dich pressen Dann will ich dich fressen Bin kein Kloß Liebe Deinen Schoß. Und dann sangen die Burschen und die Mädchen zusammen, das war ein Spektakel, obgleich es so verträumt begann: Wenn das Feuer sinkt Die Musik verklingt 17
Dann wollen wir schieben und lieben, Schmusen am Busen, dienen den Trieben Oh, Eva, hattest deine Gründe Zu lieben die Sünde. Die Erde ist uns recht Das Paradies war schlecht. Immer nur preisen und loben Den Herrn da droben. Nein! Laßt uns toben Mag er ruhig neidisch von da oben fluchen und drohn wir bleiben bei unserem Hohn Das Paradies ist schlecht Eva hatte recht. Einige tolle Evas stürzten sich schon jetzt auf die Burschen und man hörte sie scherzhaft Weisheiten wie: “Bist du auch noch so geil, laß meine Hose heil!” oder “Soll der Stoß geraten, gib mir erst den Braten!” sagen. Dieses Necken und Foppen dauerte noch eine ganze Zeit, erst nachdem man den Braten verschlungen hatte, wurde man ruhiger und begab sich in die Zelte. Feuerschein erlischt, Mondschein allein. Da saß sie, schwarzes Haar langwellig tragend, abseits, Hände im beschürzten Schoß haltend, Blick verträumt, träge, traurig, glänzend pechfarbig gesenkt, sinnend, Sinn sinnend, suchen, Fuß hebend, ins Wüstenfeld schwebend, Einsamkeit nehmen. Des Unmöglichen Antwort suchen, das Unerreichbare verstehen wollen, das Unerhörte erstreben - unerhört, empörend - unerhörte Gedanken denken wollend, Wille wollen.
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Hört sie denn die Stimme da nicht? Stimme des selbstherrlichen, einzigen Gottes, des alleinigen, Niemand-Sei-Neben-Mir-Gottes, des Vaters eines eingeborenen Sohnes und Schänder desselben, Quäler und Peiniger, der an seine Allmacht glaubend und glauben machend, Glaube machend sagt: Menschen, ihr seid auch nur Tiere und zwar Schafe, ihr habt nicht zu fragen! Und wahrlich, wer nur glaubt und nicht zweifelt, wer lebt und nicht fragt, nicht auch da fragt, wo keiner mehr antwortet, antworten kann, sich nicht auch da fragt, wo er, wenn nicht schon an der Frage, auf der Suche nach der unerreichbaren Antwort zugrunde geht, der ist als Mensch auch nur ein Tier, gefräßig und doch so genügsam. Sie schluckte, feuchte Lippen formten Ton. Klar klingender Stimme Klang - klang vom Rad der Geburten: Frisch schlüpft er aus dem Ei, glaubt sich frei. Das Himmelszelt ist seine Welt. Hoch fliegt er, doch seine Träume höher. Wird alt, kommt die Wende, naht das Ende. Tot der Vogel fällt vom Nest, Ameisen fressen seinen Rest. Es ist ein Rad, das dreht sich, Mühlenrad am Bach, bricht die Gischt, klappert nicht, sondern flüstert und zischt: geboren, geborgen, gestorben, erworben, verloren, 19
gewonnen, zerronnen, bekommen, genommen. Auf alles Treffen folgt ein Trennen, auf Glücklichsein Traurigkeit, nach jedem Rausch und Taumel kommt Tau trister Nüchternheit. Der Tod uns allen droht, aber der Tod wäre nicht schlimm, wüßten wir des Lebens Sinn. Doch kommt der Sensenmann dann an meine Tür, im Leben viel gelitten, jammere ich nicht dafür - nicht darum. Gehe ich hinüber, blicke mich nicht mal mehr um. Ein großes Licht wird vor mir ragen und mir allen Sinn sagen. Liebes Licht, wirst selber Sinn sein. Der Tod uns allen droht, aber der Tod wäre nicht schlimm, wüßten wir des Lebens Sinn. Da alles geboren und alles stirbt, da alles entsteht und alles vergeht, ist auch Meru entstanden, wird auch Meru vergehn. Und alles wird still und soll nie wieder von neuem entstehn. Ach - so brecht mir diesen Bann! Das Rad der Geburten - wer hält es an?
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Das Lied beendet, sann sie eine Weile stumm: Viele Gründe hat das All, wir vermögen sie nicht zu erhaschen. Nur eitle Menschengedanken glauben, um den Sinn zu wissen; ein Glaube, der ihnen den Sinn in die Hände legt, ein Gott, der alles geschaffen und ausgerechnet den Menschen nach seinem Ebenbilde mit der gleichen Rotznase. Da erschien ein verschnupft scheinendes, uraltes Männchen; es war der liebe, alte, graubärtige Niemand-Sei-Neben-Mir-Gott gerade in dieser Zeit öfter und verstärkt, Helfern und Helfershelfern nicht mehr recht trauend, selbst auf Seelenjagd aus. In seiner Allmacht den Neid auf Meru und auf alles wirklich erhaben Göttliche mit einem mildtätigen, mitleidig wehleidig lächelnden Gesicht tarnend, trat er zu der schwarzhaarigen Zigeunerhellseherin. Zunächst sprach er: “Du bist verzweifelt, mein Kind. Aber hab’ keine Furcht! Ich will dir helfen, dir den rechten Weg weisen. Hab’ nur Vertrauen! Aber dein Lied war nicht schön, so etwas sollst du nie wieder singen!” - “Ach du, tu doch nicht gütig, wir kennen uns doch, einst warst du bissig, aber als man deinem auserwählten Volke in Ägyptenland die Zähne ausschlug, wurdest auch du zahnlos. Dein `Auge um Auge, Zahn um Zahn’ hast du schon mit zahnlosem Mund gezischelt, wenn auch mit noch blutendem Zahnfleisch. Auch ohne Zähne hast du noch genug gebissen und deine Schafe waren schlimmer als Wölfe, haben mehr zerrissen und verschlissen. So manches Mal verbrannte ich auf dem Scheiterhaufen.” Er stellte sich taub. “Bete Mich an und führe ein sündenfreies Leben und dein Leben bekommt einen Sinn, denn Ich bin . . . ” “Nun aber husch, husch, hoppa, fort mit dir!” Als er nun weit genug fort war, brach das schäumende Donnerwetter los, Fluchen und Verwünschen, Höllenqual, Brennen, Wut, Wut, gottloses Gesindel, Höllenbrut, Hexe, Hexe . . ., ach, könnte man doch noch einmal . . ., und in seinem Schoß regte sich etwas, wie einst bei seinen frommen Hexenfolterern, ja, könnte man doch einmal so die Haut ritzen, die Knochen brechen, die Nägel ausreißen, gottloses Blut verschütten, sengen, brennen. Weiter krächzte der ‘liebe Gott’, das 21
Göttchen: “Ihr Menschen seid auch nur Tiere und zwar Schafe, alle Schäfchen, weil Mein göttlicher Wille, Ich, der Schöpfer, es so will.” “Merkst du nicht, daß deine Zeit um ist? Wenn du noch ein nettes Wort von mir hören willst, so mußt du darum betteln und flehen, wie wir einst um deine Gnade haben flehen müssen.” So ist es recht, dachte Adjuna, auch einem Gott soll man Gleiches mit Gleichem vergelten. Die schnaubende Erscheinung, der Gott, war bald darauf verschwunden, obwohl man bei ihm nie sicher sein konnte, daß er wirklich weg war, in seiner schamlosen Gier, Neugier, sah er in jede Stube, in jedes Zelt, ja, sogar unter jede Bettdecke und in jede Seele, solche unanständigen Dinge erzählte man sich jedenfalls von ihm. Adjuna schwebte ein paar Mal um die jetzt wieder allein in der dunklen Wüste Sitzende herum, alle Gedanken an die unangenehme Begegnung schienen vertrieben, verschwunden zu sein; er bewunderte ihre Schönheit, Gelassenheit, dann tauchte er in ihre Höhle, wo NochSeelenloses-Wesen schon auf ihn wartete. Sramania wußte, diese Nacht war die Seelenempfängnis ihres Ungeborenen, deshalb saß sie still und ließ nichts - gar nichts Böses mehr an sich heran, weder Gedanke noch Dämon. Sonne steigt, Helligkeit. Lager laut; Sonne heiß, viel Schweiß. Man brach auf, trennte sich. Die Wüste war weit, hatte viele Wege, wenig Wasser. Auch Sramania brach auf, schloß sich anderen an, wollte in die nächste Oase und dort bleiben, bis ihr Kind geboren sei. Ihr feines Gefühl umschwirrte sie, verwirrte sie: Gab es Gefahr für sie, für ihr Kind? Las sie die Zukunft, so fragte sie nie die Sterne, denn sie wußte, daß die Sterne weit waren, groß, kalt, starrköpfig ihren Weg zogen, Menschenschicksal nicht beachtend, übersehend, sondern ihre Augen, die nachts phosphoreszieren konnten, sahen die Schicksalslinien der 22
Menschen, ihre Augen, ihr Gesicht, ihre Hände, und sie schickte ihren Geist durch die Welt und um die Welt oder - blickte in ihre Edelkugel; auf die Art erfuhr sie vieles. Oft genügte ein Blick: In einem Lebenden sah sie einen Sterbenden, einen Toten; einen Neugeborenen sah sie nie. Solche Blicke verdarben nicht nur das Gemüt. Vom Zukunftlesen waren auch ihre Augen verdorben, oft sahen sie die Gegenwart nicht und schon gar nicht die Vergangenheit. So sahen sie auch nicht mehr, wer denn der Vater des zu erwartenden Kindes sein könnte. Aber was brauche ich einen Vater? Ich möchte mein Kind von ganzem Herzen lieben, meine Liebe nicht teilen müssen, die Männer sollte man nach oder am besten schon vor der Geburt fortjagen; klug sind jene Männer, die von selbst gehen, sich eine andere suchen, nicht zweiter sein wollen. Die Wüsten werden größer, die Oasen kleiner, die Menschen mehr. Es gibt keinen Platz, Gebären ist Sünde geworden, Verbrechen, Untergang des Menschengeschlechts. Todesstrafe nicht für den Mörder, für den Totschläger, sondern für den, der sich vermehrt, der gebärt! Eine gesunde Forderung zur Gesundung? Ihre Gedanken kreisten verwirrt. War es wirklich schon so weit? Wirklich überall begegnete man ihnen, sie waren schon vielzuviele, nur auf die hohen Berge und in die kahle Wüste wagten sie sich noch nicht, schafften sie es noch nicht. Aber sonst standen sie überall herum, traten sich auf die Füße, zankten sich mit ihren Nachbarn, die Menschen, die seßhaften Menschen. Und wie ist es mit uns Zigeunern und Landstreichern? Selbst Mördervölker kriegen ein gerechtes Empfinden, wenn sie uns beim Hühnerdiebstahl erwischten und schreien: “Schmutz! Schmutz! Viecher! So was ist doch kein Mensch! Hinweg mit ihnen!” Ja, für uns ist es schwer geworden, immer sind wir nur unschuldig durch Wälder und Berge gezogen; wenn wir hungrig waren, konnten wir von dem nehmen, was sich anbot. Damals gab es kein Stehlen, erst die Vorfahren der Seßhaften von heute haben das Stehlen eingeführt, Stück für Stück haben sie sich ein Stückchen Erde gestohlen. Und siehe da, der Zigeuner hatte damals nicht mitgestohlen, jetzt ging es ihm schlecht, denn die Diebe von damals hatten große Angst, daß man ihnen ihr Land wieder wegnähme, deshalb bewachten sie es, schafften sich Hunde und Zäune an. Und den Zigeuner, dem ihre träge und behagliche Lebensweise sowieso nicht anmutete, 23
beschimpften sie als Strolch und Herumtreiber und als Taugenichts, wenn er sich weigerte, für die feinen Herren zu arbeiten. Aber wir Strolche und Herumtreiber sind doch unschuldig. Haben wir diese Wüste geschaffen? Nein, es waren Seßhafte, in diesem Fall Römer, die Holz brauchten. Wir brauchen nicht mehr, als wir tragen können, oder wenn es hoch kommt, was unser Pferdchen ziehen kann. Aber wie können Leute Länder, Paläste und Schätze besitzen und dabei glauben, sie seien ehrlich, und anderen ihren Lebenswandel vorwerfen? Sauer seufzen; Seufzer der Sibylle: Seit Jahrhunderten und längerem gibt es schon keinen Platz für uns Herumziehende - und doch: Wir vergehen nicht! Quälen uns durch die Wüste und Ödland und auch durch die engen Gassen der Seßhaften, ertragen ihr Gedrängel und Gewimmel, ihr Geplänkel und Gewimmer. Oh, große Wüste, gnadenlose Wüste, kein Erbarmen kennend schluckst du, verdaust du, erst das Fleisch weich, dann die Knochen bleich, sind auch Staub gleich. Staub ist grau, Sonne heiß, verzischt der Schweiß; Kruste bleibt, Kruste bricht, darunter das vertrocknete Gesicht.
Wassernot! Tod uns allen droht! Sieh! Da, dahinten, wie eine Warze auf der Glatze erhoben sich aus der ebenen Unendlichkeit in der Ferne die Zeichen der Oase: Rauchsäulen und Palmenkronen. Erleichtert zogen die Zigeuner, den letzten Speichel saugend schluckend, salzige Tränen der Freude leckend, zur Lebensinsel. Die Abendsonne verzauberte die graue, staubige Welt in ein gelb-rotblutrotes Farbenspiel, die Sand- und Staubhütten erhielten eine 24
Apfelsinenhaut, das steinerne Bürgerhaus und die Türme einen Purpurschleiermantel. Der Himmel geteilt, im Osten die Quelle der Schwärze emporkriechend, im Westen die rotglühende Lichtquelle Sonne versinkend; der Himmel geteilt, doch die Teilung verschwommen. Die Natur kannte keine geraden Grenzen. Bei den ersten Pflanzungen knieten unsere durstigen Wüstenwanderer nieder, beugten sich über die Gräben und labten sich an der lauwarmen, lehmigen, eitrigen Flüssigkeit. Nur kurz war der Kampf von Licht und Leben mit dem schwarzen Dämon im Wüstenland; noch hielt die Sonne den westlichen Himmelszipfel hell, doch schon bald verlor sie ihre Kraft, wurde schwach, war verschwunden, schwarze Nacht hatte Himmel verschlungen. Doch kam die Sonne wieder - stark, stärker, den Menschen selber zwang sie nieder mit großer Kraft, da wurde er wurde vor ihr schwach, kurz war auch die Zeit seines Unterganges nur. Nachdem die Knienden ihrer Kehle die Köstlichkeit des Wassers zugeführt hatten, zogen sie ihre Köpfe wieder aus den schlammigen Gräben, wollten ihren Tieren, die so brav Wagen gezogen und Reiter getragen hatten, auch etwas zukommen lassen, doch von Durst getrieben, hatten sie sich schon selbst getränkt. So konnte man also weitergehen. Den Kies von den Knien geklopft, trat man, Mund abwischend, mit von Sand knirschenden Zähnen, ab und zu übel aufstoßend, aus dem schwarzen Schatten der Bäume heraus auf einen in eine enge, zwischen unregelmäßigen, lehmigen Häuserwänden sich zwängelnde, hindurchschlängelnde Gasse übergehenden Weg. Hier zwischen den Häusern standen sie nun, wurden von neugierigen Einheimischen umringt; mißtrauische Blicke blitzten aus der grauen Menge, nur zögernd erwiderte sie den dargebotenen Gruß der bunten Schar. Man lag weitabseits hier von Wüstenwegen, Kamelkarawanen kamen kaum. Die Bewohner erzählten sich seltsame Dinge vom Leben jenseits der großen Wüste; niemand wagte es, die Oase zu verlassen, und da die mutigen, reiselustigen Alten schon lange tot waren, kannte auch keiner mehr von ihnen einen Weg durch die heiße Wüste und man wollte ja auch nicht weg. Zigeuner kamen in Jahrhundertabständen, 25
zauberten den Kindern und Erwachsenen etwas vor und trugen noch anders zur allgemeinen Verwirrung bei; man fraß alles, fraß alles in sich hinein, gab es weiter an die Kinder, fantasierte etwas hinzu, glaubte es selbst, fürchtete sich, war froh, daß man die Oase nicht zu verlassen brauchte. Den Weitgereisten wiesen sie wie immer einen schattigen Platz vor dem Dorfe zu, von wo diese je nach Fähigkeit, Begabung loszogen, Geschäften nachzugehen: Die Akrobaten Trommel schüttelnd, Trommel schlagend, mit Seiltanz, Feuertanz, Kopf-, Hand-, Schulter-, Scheitelstand, Purzelbaum und Flipp-Flopp-Zippel-Zapp begannen; groß glänzen Kinderaugen, aufgerissen Männermäuler, Staunen, Raunen unter Schleiern hinter Maschen das Frauenvolk. Die Zauberkünstler, mal waren sie hier, mal dort, mal ganz weg, dann wieder da; das Lose machte er fest, das Feste los, das Gerade krumm; das Hemd stahl er dir und ließ dir doch die Jacke, du merktest es nicht, er trug dabei die Hände in den Taschen; das frische Schalenei der Henne Max schob er sich ganz ohne Flax in den Mund, aus der kleinlöchrigen Stubsnase kam es wieder raus, Nasendreck bedeckt; Lacheschwall und Beifallswall. Die Händler, unter der geflickten Plane ihrer Wagen kramend, hervorbrachten: Wunderwaren; zum Verkauf anboten: biegsames Glas, dehnbare Fäden, Wärmemesser, bunte Steine, Zauberwasser, Supersalben, Wunderheilmittel, Wahrheitspillen, Treuetrank, Gesundheitspülverchen, Gegengift für Schlangenbiß, Schreibfedern, die ohne Tinte schrieben und noch dazu fehlerfrei, zweischneidige Schwerter, die jedem Gegner tödlich waren. Die Weiber wollten dünnes, biegsames Glas anstelle der Strickmaschenfenster für die Augenlöcher ihrer schwarzen Gewänder und bunte Ketten wollten sie darunter tragen und bunte Salbe fürs Gesicht. Die Männer betrachteten verliebt die Schwerter und dachten an ihre Ehre und an die Ernte zu Hause - ob es wohl reichte zum Tausch? Von der giftigen Klinge. 26
“Er ist gezeichnet, aber wie er auch über seine Narben klagt, er verbindet eine romantische Erinnerung damit. Und sein fanatischer Haß, mit dem er seine Feinde verfolgt, ist nur eine Notdurft, ein Brunstgebahren, das ihn glücklich macht - und eine Schau. Ohne Feinde wäre er leer - oder anders gefüllt. Und wer will sagen, daß anders immer besser wäre? Auf jeden Fall hat er seinen Feinden viel zu verdanken. Er sollte das Schwert nicht kaufen, denn dann verliert er bald sein Teuerstes - seine Feinde. Und wer weiß, ob dann noch seine Persönlichkeit zurückbleibt - noch etwas von ihr?” “Gebt mir das Schwert, damit ich meine Feind vernichte, zerreiße, Ehre rette!” - “Wer sind deine Feinde? Jene armen Teufel, die sich jeden Tag plagen müssen? Bist du sicher, daß du ihnen schadest, wenn du sie tötest?” - “Ich verstehe auch nicht, warum man Menschen ermorden sollte, die sterben doch alle von selbst.” - “Bah, gebt mir das Schwert! Hier ist die Ernte des Hauses!” - “Wie ihr wollt!” - “Seid nicht leichtsinnig damit, die Klinge versteht keinen Spaß!” - “Es ist tödlicher Ernst!” --“Da kommt er wieder, nicht Narben zeichnen das Gesicht des Gehetzten, sondern Entsetzen.” “Was tat ich? Nehmt euer Teufelsschwert zurück! In Spiel und Übermut stieß ich einen Freund. Die scharfe Schneide - ein kleiner Kratzer - der Freund, tot fiel er um!” - “Hier nehmt das kostbare Gegengift!” - “Was kostet es?” - “Das Zauberschwert - die Wunderwaffe!” Oft war Wiedergutmachung noch teurer - oder nicht möglich.
Auch Sramania wandelte, schlenderte durch die Gassen, ihre Kunst preisend, die Zukunft zu sagen, wie immer das schwere, schwarze Haar bis zu den Hüften hängend, den Körper verspielt umwehen lassend; ein 27
Grund für jeden Araber, sich den Hals zu verdrehen, die eigenen Frauen im Hause zu verdammen, und doch erschreckt, eine Frau so frei zu sehen. Sie trug eine Kugel bei sich, wie sie jede Seherin und auch jede Kartenschlägerin brauchte, ob Glas oder was auch immer, Kristallkugel nannte man sie. Sramanias Kugel war ein rund geriebener Diamant. In der Enge der schweren Diamantkugel konnte unsere Pythia die Vorboten des Glücks und Unglücks am besten fangen, bannen; die Schicksalmacher, hier wurden sie sichtbar. Da standen an der Häuserwand Khalil, Nabil, Mohamed, Abdel, Rashid, Jusuf, pfeifend, lärmend, anlachend die Zigeunerfrau. Dem Schönsten, Klaräugigen, dem mit dem Lockenkopf, bot sie ihre Dienste an, denn sie war sicher, dem Strahlenden würde sie nur Gutes prophezeien müssen. Grinste der Khalil, schüttelte den Kopf, als sie ihm seine Zukunft verraten wollte: “Wie willst du meine Zukunft kennen, kennst ja nicht einmal deine eigene, sonst wüßtest du, ich gebe dir nichts für deine Kunst. Deinen Dienst brauche ich nicht.” Klug ist der Bursche, recht hat er auf seine Art, aber er glaubt unsereiner kann nichts, doch wir ziehen nicht Ewigkeiten durch die Welt und sind dabei blind. “Du glaubst, wir können nichts, eine faule Kunst ist unsere Kunst. Ohne dich zu kennen, nenne ich dir die Namen deiner Verwandten.” - “Das ist nicht nötig, ich kenne sie auch so.” - “Oh, du Spötter. Aber gut - ein anderer Beweis. Sieh, ich schreibe etwas in meine Hand. Warte! - Noch nicht lesen, erst schreibst du jetzt einen Satz!” Und der Jüngling schrieb “Alles verlieren nur nicht das Gesicht” in den Sand. “Siehst du, Khalil, ich habe gewußt, was du schreiben wirst, hier steht’s in meiner Hand. Wir, Hellseher, kenne die Menschen besser, als sie sich selber. Denn du selbst hast bis eben nicht gewußt, daß - und was du schreiben würdest.” Dem lockigen Khalil sträubten sich die Haare, er war wirklich sprachlos und blickte mehrmals in die beschriebene Hand der 28
Zigeunerin. “Ich will dir noch einen Beweis geben, wie gut ich dich kenne. Ich nenne dir deine böseste Tat, an der du am meisten gelitten hast.” Immer ehrlich, aufrichtig, sogar freundlich, hilfsbereit zu jedermann gewesen, staunte er erst, bin doch kein Verbrecher, daß sie mir so etwas droht, dann schoß ihm kurz ein langvergessenes, scheinbar nebensächliches Ereignis seiner Kindheit durch den Kopf, das hatte ihn damals sehr gereut. Sramania fing an zu erzählen: “Als du klein warst, viele Säcke mit Nüssen standen in der Ecke eures Hauses, du durftest davon essen, soviel du wolltest. Um möglichst viele hintereinander essen zu können, knacktest du dir erst ein paar Dutzend auf. Dann kam dein Vater und bat, welche abzubekommen, da hast du gesagt, das war zu viel Arbeit, und dir schnell alle in den Mund gestopft. Als dein Vater dir im Rausgehen sagte, daß er jeden Tag in den Pflanzungen arbeite - auch für dich, hast du dich sehr geschämt und gelitten. Später bist du dafür ein großzügiger Mensch geworden: Alles verlieren nur nicht das Gesicht. Das ist eben deine Devise geworden.” “Das ist wohl wahr. Verlier’ ich auch alles, solange ich mein Gesicht nicht verloren habe, bin ich kein armer Mann. - Groß ist deine Kunst, doch auch gefährlich, nicht jeder möchte dir begegnen. Doch ich danke dir, daß du mir Vergangenes sagtest; die Zukunft möchte ich nicht hören, ich könnte sie dann nicht mehr leben, erleben und bräuchte es dann wohl auch nicht mehr. - Sei willkommen in unserem Dorfe! Warte, ich will dir Mehl geben für deinen Herd.” Und er holte einen Beutel Mehl aus seinem Haus, dann verabschiedete er sie. Mehl nehmen, im Dank lächelnd, leicht geöffnet die Lippen, Augenzwinker, sie zurück ins Lager läuft, Manna machen. Manna Mangel Makel, Manna mögen Wüstenmenschen, Manna mundet kargen Körpern, leeren Leibern.
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Jusuf aber sprach zu den anderen: Dies’ nackte Gesicht, dieses lüstern lockende Haar, der wallende Körper, eine solche Hetäre gefährdet unsere Sitten, verdirbt am Ende gar unsere Weiber. Laßt uns über sie herfallen, ehe unsere Weiber über uns herfallen. Aber man lachte nur über ihn.
Zeit geht, Zeit vergeht. Die meisten der Zigeuner bröckelten bald wieder ab von der trockenen Sandmeerinsel, zu blöde, zu spröde wurde man hier, das Spiel mit den einfältigen Eingeborenen wurde man schnell über, ihr Mißtrauen und ihre Frömmigkeit konnte man nicht ertragen. Ja, abseits lag man hier von den Karawanen tragenden Wüstenwegen. Doch Sramania blieb, blieb lange, blieb auch noch, als die letzten ihrer Sippe sich in den Sattel setzten, blieb neun Monde, zehn Monde, elf Monde. Hingezogen fühlte sie sich zu diesen Leuten, die ihre Zukunft nicht wissen wollten, die ihren Dienst verspotteten, hinter ihrem Rücken unheilvoll tuschelten, mit ängstlichen Kinderaugen zu ihr aufblickten, ihr auswichen. Dick geworden war sie, hochschwanger, ihr Bauch schien manchmal ein Eigenleben führen zu wollen, wackelte, wankelte, schüttelte sich, war heiter, selbst wenn sie traurig war, lachte sogar, plapperte gebetartig vor sich hin, schien das Dharma zu predigen. Den Ansässigen war es ein Schrecken und Greuel, sie verstanden die Sprache nicht, die da gesprochen wurde, verstanden eine Kind tragende Frau ohne Mann nicht; nur der Teufel könne der Vater sein, und sein Sohn verwünsche jetzt vom Bauch dieser Hexe aus die Oase, so dachten sie. Nicht wie bei anderen Frauen in anderen Umständen war Sramanias Gesicht unansehlich schmierhäutig, fettig geworden, sondern weiterhin war es ebenmäßig mattglänzend, wie nur der Glanz des edlen Goldes glänzte. 30
Die in ihrem Zelt über ihre Kugel Gebeugte sah das Schicksal säuseln, schwere Wolken sausen, sah das in der Kugel gebannte Unheil hell, die Wolken sich entladen, Wasser spritzen, Wüstensand Wasser saugen, Schlamm schlucken, ausspeien, Wüstenfeld Wasserwellen überweht, gegen Pflanzungen, Gärten, Hütten, Häuser, Türme preschen, brechen, lechzen, sah, die Menschen Hilfe schreiend, gnadeflehend untergehen. - Die Jahrhundertflut war im Anzug. Ja, viele sterben in der Wüste durstig an der Sehnsucht nach Wasser, doch wenn des Himmels köstlichstes Gut zu reichlich plätschert, weiß die Wüste nicht, wohin sie es stecken soll, und ertrinkt, mit ihr ertrinken ihre Wanderer und Bewohner, und wenn die Wüste wieder aufersteht zu neuem Leben, zum grünen Garten, die anderen bleiben dahin. Shiwas Haar die Inder vor Gangas Wasser schützt, doch dieser Wüstennarren Gott hat nicht so schönes Haar und will sich auch ohnehin nicht naß machen. So sind wir verloren, wenn wir uns nicht helfen.
Auf dem Marktplatz Pythia warnend ihre Stimme erhob, das nahende Unheil ankündigend, auf taube Ohren stieß. Als sie die Leute hieß, Schiffe zu bauen, lachten die schon lange keinen Regen mehr Kennenden sie aus, und Khalil meinte, es gäbe kein Holz und die Bäume dürfe man nicht umschlagen, denn ohne Bäume würde man vom Wüstensand verschluckt und man brauche auch die Früchte. “Ja”, rief Abdel, “und lieber unter Wasser leben als verhungern!” Worauf man sich lachend von ihr abwandt’; nur ein paar Alte tuschelten: “Sie will uns verhexen. Wenn sie eine Hexe ist, und sie ist eine Hexe, dann kann sie Regen machen. Wenn wir uns schützen wollen, dann schlagen wir sie schnell tot, bevor der Regen kommt. Wollen wir heute abend in der Dunkelheit zu ihrem Zelt? ... Wir, 31
Alten, wir müssen das allein machen, auf die Jungen ist kein Verlaß, die buhlen ja hinter der her. ...” Und so weiter. Man stachelte sich auf. Doch am Nachmittag schon stoben von Osten, der allmorgendlich die lebenerweckende Sonne hochschob, die schwarzen, übervollen, unheilvoll Vernichtung drohenden Wolken, lüstern rachsüchtig leckten sie am Land. Es nieselte, sprühte, tropfte, platschte, klatschte, je tiefer die Sonne sank, je stärker wurde es. Am Abend war es dann wasserfallartig. Die Alten, die sich zusammengetan hatten, um Sramania zu töten, waren eingeschüchtert und wollten sie um Gnade bitten, sie möge doch den Regen wieder wegschicken, man hätte ihr doch nichts getan, man würde ihr alles schenken; so sehr waren die Alten in ihrem Glauben an Gut und Böse, Lohn und Strafe befangen. Aber auf dem Weg zu ihrem Zelt wären sie schon fast ertrunken, hätten nicht ein paar junge Burschen sie rechtzeitig vor den anrollenden Wellen auf Häuserdächer gezogen. Sramanias Zelt war unter den Wassermassen zusammengebrochen und von den Wellen verschlammt worden; sie selbst hatte sich auf die hohe Dattelpalme, an die ihr Zelt befestigt war, flüchten können. Es war schwer gewesen, den nassen Stamm zu erklimmen, ihr Kleid war ihr dabei aufgerissen und ihr schwerer Bauch hatte sich am pickeligen, scharfkantigen Stamm wundgerieben. Als sie die Krone besteigen wollte, um sich auf die Palmwedel zu setzen, hatte sie sich auch noch die Hände zerschrammt. Verzweifelt war sie - aber in Sicherheit. Jeder, der gesunde Arme und Beine hatte, war irgendwo raufgeklettert. Auf Palmen und Dächer und auf dem Minarett hingen sie, Menschentrauben, angstschlotternd, bibbernd, zitternd kreischend, wie ein ergebener Sklave Schläge erduldend. Das Meer unter ihnen wogte, wappte, schlappte, schnappte nach ihnen, suchte sich einen aus, riß ihn mit sich. Der Sturm peitschte das Meer und die Palmenwedel; die Palmenwedel und die schäumenden Wellen peitschten die kauernden Menschen. Der Sturm jagte, jagte erbarmungslos über die gequälte Landschaft, jagte weiße Wellenwipfel, schwarze Täler; weiße Wipfel, schwarze Täler unaufhörlich rollten 32
gegen die Häuser-, Hüttenwände, unaufhörlich höher steigend gegen die Wände, sie zerdrücken, verrücken, umbrechen. Die auf den Dächern mußten als erstes dranglauben. Dächer schon überspült, Häuser verschlungen, das sturmgepeitschte Wasser die lüsternde Zunge jauchzend jaulend nach Höherem reckt, streckt, schleckt. Die Auslese beginnt. Unter den sich verkrampft Haltenden, von hektisch tanzenden, zuckenden Palmenruten blutig striemig Gegeißelten begann die Auslese: Die Schwachen für des Meeres Schlund. Die Starken für eine spätere Stund. Gnadenlos die Wellen sangen: Das Schwache muß vergehn. Und da! Die Welle stürzt der Moscheen Turm und mit sich reißt die sich in Sicherheit geglaubten Gläubigen, der nasse Tod ist ihnen gewiß. Oh, ihr frommen Narren, was sucht ihr auch Schutz auf morschem Gemäuer, dachte Pythia und den Ziemern der Palme ausgesetzt, vom Schmerz verklärt, sang sie das Lied vom Leben, das keinen morschen Schutz will: Der Vogel sucht Zuflucht im grünen Geäst, dort baut er unterm Blätterdach sein Nest; Narren flüchten sich ins Gebet, zu Gottes Wort, dort, glauben sie, sei des rechten Schutzes rechter Ort. Der Starke schüttelt sich angewidert, der Weise den Kopf; beide meinen forsch: Der Vogel ist klüger, sein Ast ist nicht morsch. 33
Der Starke denkt wenig, seine Arme sind sehnig, sein Herz ist weit, zum Leiden bereit. Der Weise denkt, Gott vertrauen, ist schwer zu verdauen, auf Gottes Wort bauen, ist der schlechteste Grundstein, ein solches Gemäuer ist nur Schein, fällt leicht ein. Lieber leg’ ich mich selbst auf den Boden, stapel’ darauf meine Soden, auf die Art entsteht ein Haus, kein Götterfluch verjagt mich daraus. - Liebt ihr das Leben, so gebt ihm keinen morschen Support, lehnt nicht an Gottes Wort, es bricht und ihr seid Gefallene, es hält und ihr seid ein Leben lang Getäuschte! 34
- Liebt das Leben! Seid ihr müde, lehnt an dem Lebensbaum, und erholt euch in seinem Schattenraum. Ein morscher Baum ist ein toter, Erholung gibt es nicht darunter, der Lebensmüde nur lehnt dagegen und stürzt dann den Abhang hinunter, morscher Baum und morsche Beute, die Gläubigen - getäuschte Leute.
Oh, mutige, brave Pythia, an deine Palme gekrampft, abgerissen, gefetzt dein Kleid, ein runder Nackedei - du, aus roten Striemen hervorsickernd Blut, das unruhige Meer veredelnd, Wasser schluckend, am Wasser verschluckend, Gewürgte, sollst nicht sterben.
Dunkle Nacht, das Wasser wild, der Sturm stark, der Regen stark, die Auslese streng. Dann gegen Morgen der Osten wie immer zu pünktlicher Stund die Sonne entläßt, langsam sie das böse Unwetter verdrängt, der Spuk verspukt. Unglücklich blickten die Hinterbliebenen auf die ruhige, blaue See, sehnsüchtig verlangten sie nach den trocknen Bergen am Horizont. Die traurige Bilanz der letzten Nacht: Die Seite der Schwachen überwog. Um die Mittagszeit litten die in Baumkronen Hockenden unter der heißen Sonne, nur Sramania, die schwimmen konnte, ließ sich ins 35
Wasser plumpsen, labte sich am süßen, erfrischenden Naß, nahm ihre Mahlzeiten von den Datteln und war froh, daß die Flut überstanden war. Jetzt brauchte man nur noch zu warten, bis das Wasser wieder abgeflossen oder versickert war, dann würde das Leben prächtiger denn je aufblühen, bis es wieder an Dürre verginge. Noch drei Nächte mußten die Leute auf ihrer unbequemen Zuflucht verbringen, dann am Morgen konnte man herabsteigen in das etwa drei Fuß tiefe Wasser. Vorsichtig, unsicher krochen die Menschen aus ihren Blättern hervor, ungern schienen sie sich von den Palmennestern zu trennen; sollten sie wirklich wieder auf festem Boden leben? Sie reckten ihre steifen, verkrampften Glieder, es schmerzte, sie rekelten, schüttelten sich, zu viele hatten sie zurückgelassen, sie wimmerten. Die steigende Sonne Hitze trägt, neuen Mut macht, das verwunschene Wasser in die Höhe zwingt und fortweht, den Feenfluch bricht, uns vom bösen Zauber erlöst und die Erde zurückgibt. Mit Tropenhitze das Wasser Abschied nahm. Menschenhäute Schweiß getränkt, Poren weit und weiß gedunsen, selber poröse Quellen wurden. Die Menschen, diese rubbeligen Schwämme, die Verschüchterten, Sicherheit unter den Füßen spürend, in steigender Sonne, mit sinkendem Wasser zu wachsendem Mut kamen, neue Kräfte fanden. Im Wasser stehend, watend, knieend, hockend, greifen, tasten, unter Matsch und Schlamm, zwischen den lehmigen Trümmern ihrer Hausungen nach den Resten ihrer Habe fahndend, sah man die tränenden, Zähne klappernden, zitternden Geschöpfe beschäftigt. Zweistöckige Steinhäuser standen, Wasser widerstanden, Wasser durchflossen, leer; Wasser schwere Truhen nicht tragen könnend, sie dem Besitzer ließ.
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Mit später Sonne das Wasser zum Himmel gestiegen, in Wolken nach Westen zog. Die schweren Wolken, die Wuchtigen, die burg-, berg-, turmartig hochragenden Riesenluftschiffe entließen aus schlitzartiger Öffnung die Sonnenscheibe, ließen sie sinken, ihre letzten Strahlen sollten die Stunde segnen, sollten heiligen, heilen. Doch die Menschen überbeschäftigt sahen das Schauspiel nicht, sie rannten, rafften, säuberten, schlugen Palmwedel für neue Hütten. Adjuna, das noch blinde Menschenkind in der dunklen Mutterhöhle, durch Sramanias Haut hindurch die Strahlen der sinkenden Sonne spürte, sie sehnsüchtig liebte, denn der Blumengarten mit der sanften Musik war wie alle Paradiese, Nach- und Zwischenwelten, wie das Jenseits überhaupt, sonnenleer gewesen. So er die Segenspendende mit heller Stimme segnete. Des Kindes heller Stimme Klang machte die Wiedergenesenden bang. Ach, hatten sie ja gelitten viel, wollten sie leiden nicht mehr - nie wieder, wollten vertreiben die Fremde, Teufelsbrut-Tragende. Da ließen sie Palmenwedel und Hüttenbau, ließen nasses Mehllager, Fladenbrot, Krümel, Krume, Brei und Matsch, griffen zu Knüppeln und Stangen. Sramania, die Flut hatte ihr nichts gelassen, alles fortgetragen, in ihrem bunten, zerrissenen Kleid sah die flackernden Augen, funkelnden Blicke; da wußte sie, diese Menschen hatten zu viel hinter sich, mehr erlitten als sie verkraften konnten; sie mußten irgendeine Rache nehmen. Die süße Glockenstimme aus ihrem Bauch war nur ein nichtiger - äußerer Anlaß; wegen einem zarten Ton machte man keinen Krieg höchstens Frieden. Schweren Leibes, wie sie war, rannte sie, zu retten sie beide, sich und den unter strammen Muskeln strampelnden Jungen. Am Rand der Oase bei den letzten Bäumen, als sie das weite, freie Wüstenfeld vor sich sah, ihre haßerfüllten, nach Blut lechzenden Verfolger nur noch vom Willen zu töten geleitet, hatten nicht nachgelassen, waren beträchtlich näher gekommen, war es, daß sie stürzte, sich überkugelte und dann auf dem Rücken zu liegen kam. Da sah sie, die Verzerrten auf sich zu 37
stürzen, wie Hypnotisierte. Sramania wußte, ihre letzte Hoffnung, die Zauberkraft ihrer Augen würde die Menschenwalzenwelle nicht stoppen können. Mutlos blickte sie auf ihre leeren Hände. Adjuna, der einst unbesiegbare Kshatriya, der Pandavakrieger, besorgt um die Mutter, der er so viel Kummer bereitet hatte, anbetend den Geist seines alten Acharyas Sri Vyasa, trennte sich vom schwachen Kinderleib und kroch Sramanias Wirbelknochen hoch bis hin zu ihrem Lotuszentrum. Da fühlte sich Sramania in ihrem eigenen Körper zur Seite gedrängt. “Komm, geh’ mal zur Seite! Das hier schaffst du nicht.” Und dann schwebte sie über sich, sah sich selbst unter sich liegen. Die ersten hatten ihren Körper erreicht, zum Schlag ausgeholt, ihn zu zerhacken. Plötzlich schnellte ihr Körper, wie von einer Feder gespannt, hoch, der Schlag glitt am schrägen Arm ins Leere ab. Dann wirbelte ihr Körper herum, brach im Drehen den Männerarm, tanzte, tänzelte, Arme schwingend, stoßend, drehend, dreschend, weiter; Köpfe krachend, überdreht, überspannt, die Opfer fallen links und rechts; Yama-Raja selbst, der Sensenmann, hätte nicht schneller mähen können. Tausendarmig, tausendfüßig der runde Frauenleib zwischen den Männern flatterte, den Gegnern von allen Seiten Hände, Füße, Ellbogen entgegenwarf, mal hoch über sie flog und mit spitzer Hacke die Schädeldecke zertrat, mal sie hoch über sich schleuderte, im Runterkrachen die Vermählung mit der Erde tödlich, zerbrochene Kreaturen. Knüppel splitterten, Brustkörbe brachen, Bäuche platzten. So kämpfte Adjuna im fremden Frauenleib, Mantras murmelnd, Worte der Macht, heldenhaft wie einst gegen Asuras- und Raakshasashorden und gegen die Kauravasarmee. Stählerner Wille, stählerne Kraft, locker die Arme nach vorn-seitswärts-hinten schnellten, zauberhaft schnell, unsichtbar schnell wie Schlangenzungen, Insektenflügel, dann mit ausgepreßter Atemluft Dampfhämmern gleich zustoßend.
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Die Feinde, von der zornig strafenden Frau geschlagen, bald schrecklich schreiend flohen. Mit einem Hasenherz treibe keinen Scherz; der Edle lieber vergeht, als in Scham weiterbesteht, so hieß die ritterliche Regel in feinen Kshatriyakreisen: Siehst du einen Fliehenden, schüttel dich in Scham, laß ihn, erhebe dein Schwert nur gegen den Angreifer und nie gegen Feig- und Schwächlinge. Dem Feinen keinen Feigen zum Feind, dem Feigen keinen Feinen zum Freund. Als es wieder still geworden war, die Wüste unter sternklarem Himmel schweigend lag, glitt Adjuna wieder hinunter in den schlummernden Jungen. Da fühlte sich Sramania, wie von einem Wirbel, Strudel durch eine dunkle Höhle, dunklen Tunnel gepreßt, gesogen, in ihren alten Körper zurückgezogen, zurückgestoßen. Der selig schwebende, körperlose Zustand der Zwischenwelt, in der die Gerade-Verstorbenen zu Hause waren, war zu Ende. Sie fühlte wieder Schmerz: erschöpfte, verzerrte Muskeln, verkrampfte Hände, zerschundene Haut, müde, verkaterte Beine, schlimmer als nach drei durchtanzten Nächten. Aber sie spürte auch die erfrischende, kühle Abendluft, Atemluft, den Odem wieder. Ja, am Atem merkt man als erstes, da man wieder lebt, das Heben und Senken der Brust, das ständige Verlangen, die Umgebung in sich hineinzuziehen und durch den Körper streifen zu lassen, durch Röhrchen und Bläschen; dann wieder ausstoßen und neu einziehen; wie oft geschieht es achtlos? Nur der im Wasser oder in der Zwischenwelt Tauchende wird sich bei seiner Rückkehr für einen Augenblick bewußt, daß die Luft seine wichtigste Nahrung ist, erst viel später wird er erst den Durst und dann den Hunger in seinem Bauch verspüren. Doch - ach, wie oft verschmutzt sich der Mensch diese seine wichtigste Nahrung! Aber die Natur rächt sich, der Mensch muß den Dreck mit 39
seinem Körper filtern; der Dreck setzt sich fest in seinem Innersten, steigt von der Lunge hoch in seinen Kopf, in sein Gehirn, in seine Gedanken, verdirbt ihn, macht ihn krank an Leib und Seele wie die in ihren rauchig-staubigen Dunstwolken lebenden Städter, macht ihn zum Feind von Schönheit, Klarheit und Glück, zum bedauernswerten Krüppel. Die kühle, reine Nachtluft gab Sramania neuen Mut, neues Leben und die Kraft, die müden, übermüden Beine voreinander zu setzen, sich fortzuschleppen, dem gefährlich frommen, mit Gotteseinfalt gesegneten Ort den Rücken zuzudrehen. Nun hätte das alte Göttlein ‘Niemand-Sei-Neben-Mir’ mich doch beinahe als Hexe erschlagen sehen, dachte Sramania im Weggehen, aber diese Rache ist ihm nicht gelungen. Das machte ihr Herz leicht, stolzer und fröhlicher und auch etwas spöttisch, mit kräftigerem Schritt wanderte sie weiter durch die Nacht, immer tief atmend, den Segen der Luft saugend, den die feigen Gottesanbeter so fürchteten, und vor dem sie in ihre dunklen, Weihrauch geschwängerten Höhlen flüchteten. Oh, ihr dunklen Maulwurfgeister! Laßt doch Höhle Höhle sein und Gott Gott! Kommt an die Luft, atmet endlich frei, laßt Rauch und böse Geister! Unter Sramanias Schritt knirschte der Sand von Feuchtigkeit gesättigt, über ihrem Haupt wölbte sich der schwarze Himmel mit seinen zart strahlenden Leuchten, den Sternen. Die Sterne, diese weiten Welten, diese Wegweiser der Einsamen, können sie uns auch nicht die Zukunft zeigen, so zeigen sie doch wenigstens dem Wanderer den Weg aus der Wüste, dem Schiffer den Weg durch Wellenberge, dachte unsere weisheit- und erkenntnisschwangere Pythia feuchten Auges, in einem Schauer bedeutungsloser Winzigkeit befangen. Über ihr wand sich der Drache, feurig funkelnd seine Augen, schnaufend herabblickend, die Nüstern offen, gewundenen Leibes; Luchs, Bär und kleines Reiterlein umgaben ihn, die Krone, Gemma, 40
neben Herkules der Schlangenträger schlangenumrankt, Ras Algethi, Ras Alhague, Unuk, Schütze, Atair, der Adler Pfeil gestochen, Walfisch, Widder, Wassermann, glitzernd die Fische, das geflügelte Roß Pegasus, Perseus, die Eridanuskette, Andromeda. Den Norden zeigt der Nordstern; ihm folgen zum milden Meer! Sramania sah nicht, wohin sie trat, nur die fernen Welten am mondlosen Nachthimmel leiteten sie mit ihrer klar blinkenden Helligkeit, dazu das Aufleuchten, der in die schwere Erdenluft eintauchenden Himmelssteine, ein kurzes Dasein, ein strahlendes Verzischen. Der Erdboden selbst versteckte sich in Dunkelheit, hier strahlte kein Stein, kein Sand, in Schwärze verschwand alles. Ein wie im All fliegendes Gefühl beflügelte die jetzt Fröstelnde. Ihre Sinne entfalteten sich, sie nahm süße Wesen wahr, die sie umschwirrten und mit süßer Musik umgaben. Nicht aus weiten Fernen, aus ihrem eigenen Lotuszentrum kamen diese Engel und aus ihrem eigenen Lotuszentrum trugen sie ein Licht, ein warmes, zartes Licht, ein Licht, das Sramania nie vorher gesehen hatte, und stellten es weit vor sie. Laß' es dein Ziel sein, dich mit diesem Licht zu vereinigen, sangen die Läuternden, doch Füße und Fleisch können dich nicht zu ihm tragen, geduldige dich, bis du selbst ein Lämpchen sein wirst. Spät in der Nacht, als die Wasserschlange schon im Westen versunken war, sackte sie erschöpft nieder auf den kühlen, taufeuchten Wüstenboden, der Sand klebte an ihrem Rücken und den Schenkeln, die kleinen Steine stachen und pickten in ihren Wunden, doch bald fielen ihr die Augen zu und sie fühlte nichts mehr. Am nächsten Morgen die vor Hitze Erwachte, SchweißdampfUmhüllte, Sonnenglut-Geblendete auf einer märchengrünen Wiese lag. Von den Pflanzen naschte sie; saftige Gräser, vollgesaugtes Blattdorn und Stachelfrüchtchen. Für ihren Durst gab es noch Wasser im Boden; sie brauchte nur ein bißchen im Sand zu scharren und schon floß die Flüssigkeit im Loch zusammen. Aus Halmen flocht sie sich ein Tuch als Sonnenschutz, 41
dann setzte sie ihren Weg gen Norden fort. Grüne Weite, grüne Breite; wiegende Gräser, wellendes Grün; regenbesiegte Wüste, lebenbesiegte Wüste. Sie wanderte eine Woche. Das Kraut wucherte immer üppiger, wurde zäher, verfärbte sich ins Dunkelgrün, hier und da streckten sich Knospenköpfe hervor, einige warfen schon ihre Blütenlippen lüsternd auf, sprühten lockend Duft um sich, versprühten sich, verblühten klagend: Ach, kurz ist die Zeit nur zwischen Auf- und Untergang im Wüstenland. Das Wasser verkroch sich langsam immer tiefer in den verkrusteten Boden; für ihr Wasserloch mußte Sramania jetzt ihre Finger kräftig in die Erde graben, in den Boden bohren, schlagen, wühlen. In der zweiten Woche gab es dann eine strahlende Blütenpracht und die Insektenplage begann. In der dritten Woche kam Sramania an einem von der Flut völlig zerstörten Dorf vorbei. Nur stinkende Leichen, Mensch- und Tierkadaver, naschende Geier, vom überreichen Tisch übersättigt, lustlos, lahm geworden, surrende Schwärme, Fliegen, Fliegen, Mücken, Mücken, gab es überall. Aber in der Nähe stand auch hinter einem Dünenwall ein Wäldchen, im Winde Wipfel wippend, Dattelpalmen, die reife Früchte trugen, wahrhaft nahrhaft, Süßspeise für Wüstenwanderschaft. Ihr, Datteln, seid nicht stur; bin geboren, habe überlebt, denn einen Erlöser gebären, ist meine Pflicht, und ihr sollt uns Mundvorrat, Wegzehr sein. In der vierten Woche wurde das Land von heißen Stürmen überrollt. Nach fünf Wochen waren die Pflanzen bereits wieder verdorrt, waren wüstenbraungelbes Heu, manche Blätter herbstlich farbig anmutend, manche von der brennenden Hitze grausam versengelt.
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Seit der sechsten Woche wanderte unsere Pythia nur noch nachts, gegen Morgen begann sie dann nach Wasser zu graben, was jetzt Stunden dauerte; den heißen Tag über schlief sie in dem kühlen Loch, mit sinkender Sonne brach sie auf. Nachts war sie nie allein, Engel umgaben sie, fremde Wesen, und die sie doch selbst war, und die sie deshalb wie ein Forscher neugierig, furchtlos begrüßte. Oh, ihr Engel, seid ihr mir auch kostbare und liebe Begleiter, jetzt, wo ihr die Blütenblätter meiner Lotus hinuntergerutscht seid, und neben mir herschwebt; ich wünschte, ihr wäret deutlicher. Die schlimmste Geißel der Menschheit ist nicht die Pest, die Seuche, nicht die Natur mit ihren Fluten, Stürmen, Erdbeben, ihr Schaden ist nur wie eine zerbrochene Vase beim Großreinemachen, sondern das Übernatürliche, und die kranken Menschenhirne, die es nicht verkraften können, und deshalb zum Religionsstifter werden - und zum Brandstifter an Redlichkeit, Wissenschaftlichkeit und Menschenglück und -leben. Wer da schwächlich von Natur, krank im Kopf, aber noch Mensch, in Dunkelheit und Einsamkeit Engel oder gar Götter oder Gott erkennt, und Zweifel an der Erkenntnis nicht kennt, müßte der nicht in seiner Einfältigkeit ein Gläubiger werden, durch seine übernatürliche Begegnung von den Mitmenschen entrückt, eingebildet, seiner Menschenhülle überdrüssig, an Rasse- und Artgenossen rachsüchtig werden und in seiner Menschenverachtung alles Menschliche verderben, zum Weihrauch schnüffelnden, vermummten, die Fröhlichen verfluchenden Höhlenhanswurst herabsinken? Die Engel wußten keine Antwort, sie sagten nur: “Alles liegt bei Euch.” In der siebenten Woche mußte Sramania durch ein Felsengebirge. Nun, hoffte sie, ist das Meer nicht mehr weit. Aber sehen konnte man es von den Bergen aus nicht. Und sie erzählte ihrem Sohn vom Meer, von den Fischern, wie sie mit kleinen Booten hinausfuhren, und von den Händlern, die ihre Waren von weither holten und viel zu erzählen wußten.
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Das Meer verbindet die Menschen miteinander, wer am Meer wohnt, weiß um die Verschiedenheit der Menschen und auch um ihre Gemeinsamkeiten. Aber das Meer kennt keine Vorurteile, kein Gut und Böse, wahllos grollt es, wahllos schont es, die bleichen Völker ließ es über seinen Rücken fahren, ebenso wie es die Haie in seinem Innern duldet, fließendes Blut verdünnt es gleichgültig. Das Meer gibt auch, oder läßt sich entreißen, Fische, Muscheln, Perlen, Salz und Regenwolken; wenn es selbst einmal entreißt, so ist es ohne böse Absicht. Wer das Meer befährt, der liebt es, und wer von den Seefahrern es nicht liebt, tut es nicht, weil er zuviel Ehrfurcht vor ihm hat und mit seinen Gefühlen nicht so aufdringlich sein mag. Aber in dieser Zeit ist das Meer wie Luft und Land auch krank, krank an Menschenwerk, Menschentat und Menschenüberschuß. Der Sumpfquell, die Schmarotzernester, die platzenden Eiterblasen der Erdenhaut tropfen, träufeln, plumpsen, plumpskloen beständig ihre braunschwarzen, pech- und gallefarbigen, mischmaschmatschiggiftigen, breiig-ekeligen, übelriechenden Eitertropfen aus Kotkloaken in den silberblauen Riesenleib und verderben seine Reinlichkeit - die letzte, große Reinlichkeit. Lieber Sohn, es gibt Leute, die wohnen weit oben an Schneebergen in ihren Höhlen, selten verlassen sie die kalte Felsengrotte - nur alle paar Tage, um das Blatt einer Brennessel zu brechen, welches ihnen Nahrung sein soll; trotz des engen Raumes sind sie die Männer der großen Freiheit und sie tragen eine große Reinlichkeit in sich, eine schmutzaufsaugende Reinlichkeit wie das Meer. Geh’ zu ihnen, wenn Schmutz an dir kleben blieb! Ihre Berge liegen gen Osten. Eine andere Freiheit, eine ganz andere Freiheit als bei diesen Weisen findest du auf dem Meer, wenn du dir ein Schiff baust, Schiffer wirst; es ist die Freiheit zu kommen und zu gehen, wann du willst. Wenn der Schiffer die Segel hochzieht, hat er die Wahl, kann fahren, wohin er will; er reist wirklich überall, das Meer trägt ihn. Unsereiner tritt nur 44
Staub und läuft sich die Beine lahm und die Füße wund, es ist höchstens, daß eine alte Kassandra wie ich ihren Geist um die Welt schickt, doch der sieht nicht wie mit Augen. Die Füße tragen niemanden so weit wie das Meer, auch wenn man sein Leben lang läuft, wandert, läuft. Das Meer unter dem Schiffer ist ihm nicht nur Wanderweg oder Fahrrinne, sondern auch Mutter, Mutterbusen, Spielwiese, Gespielin, Göttin oder Gott oder zumindest Lehrmeister und am Ende endlich auch Grab. Er besingt das Meer wie andere eine Geliebte, ja, viele Lieder weiß er zu singen auf sie, seine See, seine Heimat, von der er sich verwöhnt, verschaukelt, durchgeschaukelt fühlt. Geht er an Land, ist er ein Schwankender, unsicher bewegt er sich auf dem festen Boden, lieber ein bißchen breitbeinig zur Sicherheit wie auf dem Meer, wo er seine harte Erziehung erhielt. Er verachtet die Landbewohner, die nicht den Rachen des Meeres, das Beinahe-Verschlungen-Werden, den Abgrund am Wellenkamm, die Tiefe kennen. Nichts ist ihm so zuwider wie das Feste, das Feste ist für die ängstlichen Zuckerjungen, die keine schwimmenden Werte wollen, sondern nur feste Prinzipien von vorgestern, die sie noch bis übermorgen hinüberretten, wenn sie ihnen niemand zerschlägt. Wellenberge ändern ständig ihre Form, weil das Meer nicht an eine Form glaubt, nicht einfältig Ewigkeit fordert, dafür kommt es zu weit rum; Die Felsengebirge dagegen türmen sich mächtig auf, wollen Ewigkeit predigen, und sind doch nur ein Hindernis. Schickt das Meer Wolken - regnen sich ab - schneiden eine Schlucht, das mächtige Massiv bröckelt, bricht, flacht ab, wird immer zugänglicher und ist und bleibt im Innern doch immer noch das alte Monster Hindernis. Manch einer mag sich an ihm versuchen, dachte Sramania, während sie über die spitzen Steine stieg. Oh, scharf wie ein Raubtiergebiß. Eine Woche verging, verrann, überwunden den Grat, G’röll und Felsenhang, 45
zerschunden sie endlich wieder die Ebene betrat; Staub und welkes Laub. Eine letzte, halbmondförmige Felsenzunge ragte hervor, Schatten spendend; der braunrote, blanke Fels silbern schillerte. Rissig das Gestein und porig. Eine Wasserader hier vom Gebirge in die Tiefe ging. Kein Kameltreiber würde daran vorübergehen, ohne Rast und ohne seine Schläuche zu füllen, das wußte Sramania, denn einst hatte sie von Nomaden gehört, wie man an der Farbe des Gesteins eine verborgene Quelle entdeckte. Man brauchte nur mit kräftigen Schlägen anzuklopfen, den Außenfels zerschlagen, sprengen und schon bahnte man dem Wasser einen Weg ins Freie. Oh, köstliches Wasser! Da ist ja auch schon ein Stab, dachte sie erfreut. Doch, ach, verflixter Irrtum! Er bewegt sich! Eine Schlange! Wie oft schon mögen schlafende Schlangen Menschen so erschreckt haben? Und ihr fiel jener arme Pharao ein, dessen Geduld man einst auf so schändliche Art mißbraucht hatte. Mit einem Stein brach sie dann die Ader auf, denn Holz fand man selten hier. Schon sprudelte es hervor - spärlich, das Volk Israel hätte lange Schlange stehen müssen, aber genug für einen Einzelnen. Während sie trank, mußte sie Moses und Aarons gedenken, wie sie sich von ihrem Herrn das Haderwasser hatten abringen müssen. Wären sie und ihr Volk nicht so hochmütig, ihres Gottes wegen nicht so selbst überzeugt und anmaßend zu den anderen Völkern gewesen, hätten sie die Kunst des Wasserfindens in der Wüste vielleicht auf ihrem Weg bei einem Wüstenstamm gelernt, das wäre sicher billiger gewesen, das Leben hätte es wohl nicht gekostet, nur ein Hadergott verkauft so teuer.
Lieber Sohn, ich möchte dir jetzt von uns Frauen und von den Männern erzählen; wer weiß, vielleicht habe ich später keine Zeit mehr dazu, denn eine dunkle Ahnung befällt mich. 46
Wohl bei manchem Manne habe ich gelegen, und waren es auch die besten, stärksten und ärgsten, so waren sie doch nur Kinder ihrer Zeit, angenagt und kleinlich. Immer wollten sie verstanden werden, immer fragten sie nach Gründen, immer brauchten sie Gründe, fehlte ihnen doch der Mut zum Grundlosen. Früher einmal fühlte die Frau den starken Arm des Mannes und sich sicher. Heute sind die Männer Memmen und die Weiber herrenlos zu ‘tollen Minnas’, Hyänen geworden. Oh, in den Städten - wie sehr vermißt das Weibervolk den Mann, amokläuft es, selbst zum Manne wird es - will es werden, doch es gelingt ihm nicht; es gelingt ihm zwar, großartig männliche Laster wie Saufen, Schmöken und Rumbrüllen, wie die primitivsten es tun, zu kopieren, doch Tiefsinnigkeit, Rechtschaffenheit und Redlichkeit gegenüber der Erkenntnis, dem Leben und dem Dasein fehlen ihm, aber es ist gerade dieses fast allen Frauen Unmögliche, was das Wirklich-Männliche ausmacht, dieses Pflichtgefühl dem Leben gegenüber, das ihr Männer eben nicht nur geschenkt bekommen haben möchtet; die unteren Ränge denken da natürlich immer oberflächlicher. Uns Frauen ist es eine Freude, beschenkt zu werden, und eine Tugend, ein nettes Gesicht, eine zärtliche Miene dazu zu machen, aber ihr Männer müßt euch alles erkämpfen, entreißen, wenn es euch Befriedigung bringen soll. Unser Verdienst und unsere Fähigkeiten sind die Genauigkeit in unserer Beziehung zur engsten Umgebung, die Zärtlichkeit, mit der wir unseren Mann und unsere Kinder umgeben, auf diesem Gebiet sind wir den Männern überlegen, die hier leicht nachlässig sind und auch sein müssen, weil sie sonst ihre männliche Gewissenhaftigkeit bei anderen Bereichen des Daseins einbüßen, denn der Mann beherrscht die Welt, herrscht und forscht, und erst wenn es Abend wird, kommt er zu uns. Doch selbst diese Rückkehr, dieses Ruhen an unserer Seite ist noch ein Entdecken, ein Sich-SelbstKennenlernen des Mannes, denn wir öffnen ihm die Tür zu seinem Innern. Ob er bei uns ruht oder uns packt und plagt, unseren Körper zerwühlt, zerreißt, uns beißt, wir sind immer ein Seelenspiegel für das Weibliche im Manne. Die Männer mutverloren heutzutage vor den Frauen stehen und zittern vor Frauenwort mit feuchten Augen, trübe nur in den Spiegel sehen, 47
trübe scheint das Mannsbild, Antlitz, Gegenwart und Aussicht. Mancher Frau ging der Herr verloren, und herrenlos irrt sie umher. Manch einer wurde schon ein Knecht geboren, und jetzt stolziert sie als Gebieterin umher. Doch noch unsicher führt sie die Peitsche, entreißt sie ihr und ihr macht sie glücklich. Mut, lieber Sohn, ist die Kraft, die uns vorwärts treibt, geradeaus, rauf und runter, ja - in den Untergang treibt sie uns auch, ja, gerade dorthin. Lieber Untergang als Mittelmäßigkeit, spricht der Mutige in seiner Bescheidenheit, wie der Feige die Mittelmäßigkeit in seinem Hochmut wählt. Der Mensch wäre noch ein Wurm, hätte er nicht den Mut gehabt, der ihn die Stufen hochtrieb, und die Leiter ist noch lange nicht zu Ende; so strebe weiter, für den Einzelnen ist es ein Lotto, für die Menschheit ein Gewinn. Wie eine Weisheit aus dem fernen Land der Mitte lautet: Wer nicht in des Löwen Höhle geht, kann keine Löwenkinder gebären. 1 Du aber wirst ein Löwenjunges sein; verleugne deine Väter nicht! Lieber Sohn, ich bin müde schon und schwach, hier in den Schatten werde ich mich legen, ich fühle, bald wird die Zeit kommen, da ich gebären muß, und dann werde ich wohl Abschied nehmen, denn meine Kraft schwindet und der Tod ist nahe. Aber ich fürchte nicht des Todes Bahre. Ist meine Seele nicht nur in Fleisch gefangen, und das Fleisch nicht nur Fessel von Gier und Verlangen? In uns die Seerose, ihre Blüte langgestielt, über dem Wasser des uns alle verbindenden Urmeeres, unendlich, wellenlos, Schunjata, hinausragend, jedes ihrer Blütenblätter ist ein Baustein unserer
Bei dieser Formulierung ist mir ein Mißverständnis unterlaufen. Richtig heißt das Sprichwort bloß: “Wer nicht in des Löwen Höhle geht, kann keine Löwenjungen bekommen”, womit ‘fangen’ gemeint ist. 1
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Persönlichkeit, bunt sind sie und zahlreich, auf jedem sitzt ein Dämon, der ist Teufel und Gott zugleich; sie verblüht später als der Mensch, ja, erst nach dem Menschsein blüht sie richtig auf, denn erst nach dem Tod erscheinen von jedem Blatt die Dämonen und fordern Rechenschaft. Ich weiß, Sramania, auch ich war tot - sogar lange. Doch nach dem Tode öffnet sich auch das Meer für uns, wir bedürfen der Oberfläche nicht mehr; wie sich die Blüte entfaltet, so entfalten wir uns auch erst dann ganz. Dann erst wird es geschehen, daß wir unser Leben verstehen. Da jeder sterben, sein Fleisch zurücklassen muß, ist die Kunst des Sterbens die wichtigste. Zuerst weiß der Tote nichts von seinem Tod, je stärker sein Begehren und Streben in dieser Welt, je später seine Bereitschaft, seinen neuen Zustand, das Totsein, anzunehmen; das Licht der Erlösung in der ersten Stunde scheint ihm nicht, weiter wird er von Gefühlen, Freuden und Leiden, gelenkt, geleitet, gegängelt werden; ein neuer Zyklus beginnt: die Nachwelt, welche eine Zwischenwelt ist. Dort ist er zuerst wieder ganz Kind, vom Herzen regiert, ein Neugeborenes, wie ein geborgenes Kind glücklich im Arm der Mutter, gutmütige Wesen, Dämonen, Götter, Lichter erscheinen, geben ihm immer wieder Chancen zur Erlösung, aber furchtsam er ist, hingezogen zur Welt, versagt er - dringt immer tiefer in die Nachwelt ein. Später dann erscheinen vom Gehirn die harten Gedanken, vom Gehirn aus erscheint der blutige Richter vor uns; es ist die Verantwortung, er ist unsere eigenste, innerste Verantwortung; vor den Gerechten werden wir von Ungeheuern gezerrt, gestoßen; mögen wir auch ‘Unschuldig!’ schreien, er läßt sich nicht beirren, erbarmen, nicht mehr täuschen, wohl stapelt er die weißen und die schwarzen Taten auf seine Waage; Abrechnung folgt. Wir müssen uns verantworten für unser Erdenleben, und wer nicht genügend vorzuweisen hat, der wird jetzt an seinen Vorwürfen zugrunde gehen, ja, es sind seine eigenen Vorwürfe, denn er, der Verstorbene, ist nicht nur der kleine, erbarmungswürdige Angeklagte, sondern auch der große Richter, der nur ein übermächtiges 49
Traumbild, aus seinen innersten Gedanken hervorgegangen, ist. So geht er ins Jenseits, der Triebmensch, ein Täter, den Eindruck seiner Taten trägt er mit, schwer trägt er, und sich selbst steht er nun rede, es ist Erntezeit, und wer sich untreu wurde, der erntet Leiden, Höllenpein; unendlich lange Qualen erleidend, unfähig daran zu sterben, in der Qual reinigt er, Feuer macht ihn pur, reif für neue Erdenleben, dämonengejagt plumpst er in die Mutterhöhle und blind und dumpf, ein neuer Plumps aus ihrem Schoß; da liegt er und schreit und weint und weiß von nichts. Dem Edlen und Tugendhaften es ähnlich ergeht, den Test er nicht besteht, seine Liebe war nur Verlang', sein Heldentum nur Zwang, hat er auch immer die Wahrheit gesprochen und nie einen Eid gebrochen, der Weg zur Erlösung ist ihm verwehrt, durch Sehnsucht gesperrt, vom roten Richter entlassen, kann er's nicht fassen, Engel ihn locken in den Blumengarten mit den sanften Glocken; dort nährt ihn zwar Götterspeise und glücklich ist er auf diese Weise, doch die Welt ging ihm verloren, erst spät wird er wiedergeboren. Während er da oben träumt, er viel versäumt, denn nur auf Erden kann man sich bewähren. 50
Des Menschen Seele, ein tiefer Brunnen, ein Leben lang nur hat der Brunnenrand, die Oberfläche geherrscht; das Tiefe ist tief vergraben, erst nach dem Tod erhält es Stimme und Macht, jetzt kommt das Tiefste mit seinen Schimären und rächt sich an nackter Seele und Menschenherz, der, der übermäßig gesündigt, fürchtet den Tod am meisten und das nicht nur, weil fromme Pfaffen ihm vom lieben Gott, vom jüngsten Gericht und von ewigen Höllenqualen erzählten; die Pfaffen aber redeten falsches Zeugnis wider gutes Wissen, denn würde man für ein kurzes Menschenleben mit ewigen Qualen bestraft, so wäre das ein Verbrechen, eine Sünde größer als alle Menschensünde. Wer seine Tiefen versteht, leichten Herzens ins Jenseits hinübergeht. Denn das Tiefste ist das alle Menschen verbindende Bewußtsein vom gemeinsamen Ziel. In seinem Tiefsten ist der Mensch nie Bösewicht, Rohling, Unmensch, sondern nur der innige Freund aller Dinge; sein Tiefstes befreit ihn immer wieder in der Zwischenwelt vom angehäuften Schmutz und setzt ihn gereinigt von neuem auf die Welt, bis es ihm eines Tages gelingt dem irdischen Genuß zu entsagen, dann aber ist er erlöst, das Rad der Geburten hält. Möge uns dieses Wissen versöhnlich stimmen mit der ganzen Welt und auch mit unseren Feinden! So soll es geschehen, mein Sohn! Doch was ist die Erlösung? Wie erreiche ich sie? Mit dem Tod der Atem zur Ruhe kommt, und mit dem Versiegen des Atemstromes sinkt die Lebenskraft in die Schüsseln Weisheit und Wissen, dort hinunter dämmert dir das klare Urlicht allen Seins, leuchtet die Erleuchtung, das Ungeformte, Ungefärbte, das Ungeschaffene und Unzerstörbare, das Unbedingte, das Unbeschreibliche, ja, jenseits von Form und Namen ist es. Suche die Vereinigung und der steile Pfad aufwärts beginnt, die Befreiung von den fünf Sinnen, von Gedanken und Denken, von Gefühlen und Fühlen, die Urform ist erreicht, der Zustand unendlicher 51
Ruhe, erhaben über alle Paradiese und Welten. Kein Leichtes ist es, es tut not, viele Leben reinlich zu überleben, und nur dem Verstorbenen, der alle Träumereien aufgibt, abschüttelt, die Welt als Illusion, Schein und Trugbild entlarvt, und alle Lust als Lust verwirft, abwirft, wird es gelingen, das Licht zu erkennen und zu erreichen, wenn er ein Meister der Versenkung und Beherrschung ist. Der Mondscheinträumer hat es schwer, schwerer noch der Tageträumer, er entlarvt die Illusionen nicht; der Beutesüchtige, er hat es schwerer noch, er klebt an seiner Beute und in der Nachwelt kommt er nicht voran, als unglücklicher Geist huscht er unzählige Äonen um seine Beute, ungesättigt, von Hunger und Durst geplagt, gepeinigt von unbefriedbarer Gier und Lust. Dann endlich: Vor den schrecklichen Göttern seines rohen Triebes, diesen Spiegelbildern seiner letzten Gedanken in der Zwischenwelt, flieht der Verstorbene, ein Spielball von Trugbildern, in den feuchtwarmen Mutterleib, macht sich zum Sklaven von Unwissenheit, Fleischessucht. Doch fürchte die schrecklichen Götter nicht, sondern bete um Erlösung und auch noch hier auf dem Abwärtspfad zum nächsten Erdenleben ist ein Aufwärts, die Befreiung, Erlösung möglich. Denn so lehren die Engel doch: “Alles liegt bei euch.” Als Adjuna gerade ausgesprochen hatte, durchzuckte Sramania ein Schmerz; die Wehen hatten eingesetzt. Jene Schmerzen, wegen denen Mütter ihre Kinder mehr liebten als Väter, denn man liebte das mehr, wofür man gelitten hatte, als das, was man umsonst bekam. Drum hüte sich der Mann, sich einer Frau zu schenken. Auch die kluge Frau habe ihre Bedenken. Die Mutter dachte, “Jetzt ist es bald soweit.” Adjuna still, fühlte der Mutter Schmerz, 52
sagte sachte: “Ja, es ist Zeit.” Als Adjuna nun geboren war, begrüßte er zuerst das Tageslicht, die Sonne. “Denn solange ich auf Erden wandle, werde ich alles dir verdanken”, sprach er zu sich selbst, “Mögen auch Höhlenheilige im Osten auf ihren Posten lehren ihre Gesänge, daß alles vergänge, die Sonne täusche unsere Sinne, sie ist ein Überfluß, erweist ihr keinen Gruß, enthaltet euch dem Genuß, das ist ein Muß, so der Mensch der Welt entrinne. Doch ich darüber anders sinne. Doch ich mit dir, Sonne, sympathisiere und dich, Erde, du Sonnenfrucht, akzeptiere.” So stand er da, der Adjuna, ein braunes Baby, ein kräftiges Kind, ein Kleinkind, in dem ein Gigant geisterte, ein Gigantengeist gärte, währte, weste, schlummerte, lungerte, lauerte. Man sah es nicht wirklich, aber die Elemente neigten, beugten sich tiefer als sonst bei Geburten, Sandkörner surrten, böse Geister knurrten und alle festlich reigten, freuten sich. 53
“Huldigung Dir, Du kleiner Knabe, Adjuna; Huldigung ihr, Deiner Mutter, Sramania. Ein langes Jahr hat sie getragen Dich, zwölf Monde nahmst Du Dir, bevor Du kamst zu uns hier. Viel Zeit braucht das Gute zum Reifen, niemand sollte darüber keifen. Alle lieben Deine Gaben, Dich, Du kleinen Knaben mit dem langen, wellig weichen Wuschelhaar und der Glanz so schwarz und schön. Viva, Adjuna,” klang es aus himmlischen Höhen und auch die irdischen Tiefen “Viva!” riefen. Nach der Geburt sprach Sramania: “Ich bin müde und werde mich ein bißchen zum Schlafen niederlegen.” “Nein, Mutter, schlafe nicht! Deine letzte Stunde auf dieser Welt bricht an. Willst du den Eintritt in die Nachwelt verschlafen!” So setzte sich Sramania aufrecht, ruhig atmend, in den Schatten des Felsen, reinigte ihre Gedanken, ließ den Gedankenfluß ebenmäßig fließen, sprach kein Wort mehr, sah kein Ding mehr, fühlte kein Gefühl mehr nur Frieden, bereitete sich auf die Begegnung mit dem Jenseits vor, saß so bis ihr ausgezehrter Körper in sich zusammensackte.
Doch Adjuna sang das Zauberlied 54
vom Aufwärtsstieg: Den Reif gebrochen, das Herz rein, frei von irdischem Sein. Die Sorgen verkrochen.
Den Kelch getrunken. Der Geist wolkenlos frei von schwerem Los. Das Wasser versunken. Den Pulsschlag gehalten, die Brust ohne Pochen, frei von Blutes Kochen. Das Leben am Erkalten. Das Rad schweigt. Die Ernte verflossen, freie Erde unbegossen. Der Aufwärtssteig! Als er sah, daß seine Mutter nun tot war, dachte er: Es ist ein schmaler Steg, der Paßweg, der aufwärts geht, wie die Weisen wissen, ein 55
Seilkunststück, leicht kann man den Halt verlieren, es ist wie Nadeln auf Fäden balancieren. Die Mutter nie eine Seilkünstlerin war und oft lebte sie nur ihrer Triebnatur und stolperte und strauchelte und fiel. Noch einmal erhob Adjuna seine Stimme und sang sich, seiner Mutter und den Elementen und den Geistern, und wer sonst so in der Schwebe hing und hörte, das Lied von den Zwischenwelten: Es gibt sieben Zwischenwelten, als Zustände haben sie zu gelten, die erfährt der Mensch in tiefer Unruh; so hört meinen Gesängen, daß sie euch bis dorthin klängen, andächtig zu. Die Vorwelt, ein Zustand von Ungewißheit im Mutterleibe, nicht eingeweiht in Weltenlauf und Lebensspurt verweilt gekrümmt das neue Erdenkind geborgen in seiner Bleibe so bis zur Geburt. Diese Welt, ein Zustand von Ungewißheit in Eitelkeit, mit Ignoranz gesegnet, blöde von Natur, verweilt er aufgerichtet stolz, der Mensch, doch was soll’s, dauert seine Narrheit doch keine Ewigkeit so bis zum Tode nur. 56
Die
Traumwelt, ein Zustand von Ungewißheit Traumabenteuern, dort sieht er nun lauter nie gesehne, seltsame Sachen, verweilt in seinem Innern der Schlafende ohne rechtes Erinnern jenseits von seinen Fassadengemäuern so bis zum Erwachen.
in
Die Überwelt, ein Zustand von Ungewißheit in Versenkung, Verzückung, Gleichgewicht und Ausgleich sucht und schafft der Seilheld, verweilt in hohen Höh’n, der Guru so schön. Er bleibt in dieser Entrückung so bis zum Abstieg in unsere Welt. Die Sterbewelt, ein Zustand von Ungewißheit im Todesaugenblick, der Stille nun überwunden Todeskämpfe gleich, mit Verwirrung geschlagen, es kaum kann ertragen, beklagt er sein Geschick so bis zum Hinabsinken ins Totenreich.
Die Zwischenwelt, ein Zustand von Ungewißheit im Jenseits, hier soll er nun Klarheit erreichen vorm Weitergehen; 57
die Sünden getadelt, die Verdienste geadelt, hier ist er Engel nun und Angeklagter andererseits so bis zum Verstehen. Die Nachwelt, ein Zustand von Ungewißheit auf der Suche nach Wiedergeburt, er sieht sich paaren Mann und Weib, die Welt ihn anzieht mit starker Kraft, von Lust und Verlangen sich zu befreien, er nicht schafft, in Gedanken er schon wieder Laster lebt, hurtig hurt so bis zum Eintritt in den Mutterleib. Adjuna nun niederkniete zur Totenwache1 und betete: Oh, edle, wohlgeborene Mutter, Du, höre mir gut und aufmerksam zu! Erde sinkt in Wasser steif und blasser Wasser sinkt in Feuer klammkalt, fieberheiß, ungeheuer Feuer sinkt in Luft zerrissen, verpufft.
Adjunas esoterische Totenlehre beruht auf dem Bardo Thödol, ‘The Tibetan Book of the Dead’. ‘The Egyptian Book of the Dead’, der Papyrus von Ani, beschreibt jedoch ähnliche Anweisungen an die Toten und Nachwelterfahrungen. 1
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Die Seele in ihrer ungeformten Pracht aus der Dämmerung erwacht zu überraschender Helle, Antlitz zu Antlitz mit dem ungeformten Urlicht allen Seins, der Mutter-Vater-Quelle. Es dämmert zur Erleuchtung, Du stehst an der Schwelle. Wer das große Symbol nicht sieht, der große Körper der freundlichen Vereinigung ihm gewiß gewahr wird. Wie auch immer, wem auch immer und als was auch immer, er wird erscheinen, vertraue darauf, dem Biest als Leittier, dem Jungen als Mutter, dem Mädchen als Vater, dem Menschen als Heiliger, Engel, Gott, Vorbild; er dient allen fühlenden Wesen, wie sie sind unzählig an Zahl so wie der Himmel grenzenloses All; doch dieser große Körper der freundlichen Vereinigung ist auch ein Teil Deiner selbst, Du bist es selbst, der allem dient. Liebe Mutter, wohlgeborene Du, höre mir gut zu. Jetzt erfährst Du den klaren Lichtschein der Urwirklichkeit pur, rein. Erkenne ihn! Oh, wohlgeborene Edle, es ist Dein gegenwärtiger Gedanke, Geist in Wirklichkeit Leere, nicht gebildet in irgend etwas weder Eigenschaft, Farbe noch Form, eine wirkliche Leere, eine absolute Wirklichkeit, ein alles durchdringendes Göttliches. Es ist jetzt Dein eigener Gedanke, Geist Leere, doch nicht die Leere des Nichts, sondern es ist der Gedanke, Geist ohne Schranke, ungehindert scheinend, stahlend, glänzend durchdringend, schaurig, glückselig, wonnig das reine Bewußtsein, der Glanz des Erleuchtungslichts, das allen gute Göttliche. Dein eigenes reines Bewußtsein strahlend, leer, untrennbar mit dem großen Glanz vereint, jetzt auf Dich niederscheint, es kennt keine Geburt noch Tod, es ist das unveränderliche, ewige Über-Ich. Erkenne die leuchtende Leere als die Erlösung; suche die Vereinigung ewiglich. Masse, Menge, Form sind vergänglich nur; Erlösung ist die Leere, das Ungeborene, Ungeformte, Niegewordene, die aber ist ohne Ende und Anfang. 59
Reißt ein irdischer Gedanke Dich fort vom schönen, stahlenden Ort, steigst Du nieder, mußt Du tiefer, tiefer - tiefer und bist dann bald wieder auf Durchreise hier in dieser Welt. Am nächsten Tag: Du Noble; oh, edle, adelige Erhabene, Du, höre mir jetzt ungebrochenen Ohres zu. Obwohl Dir gestern das klare Urlicht schien, warst Du nicht in der Lage, es zu halten, und so wanderst Du jetzt hier und zu tieferen Welten. Hast Du auch Deinen Körper wieder, er ist nur ein Wunschbild, eine Illusion, denn Du bist tot, aus dieser Welt; Du bist tot und der Tod kommt zu allen; klammere Dich nicht ans Leben, schleiche nicht in Schwäche hoffnungsvoll und sehnsüchtig um die leere Leiche; sie ist nur tote Masse, in seine Grundstoffe zurückkehrende Materie; und auch die Seele zerfällt - in Motionen. Wie Du Dich auch klammerst und kauerst, Du hast nicht die Kraft zu bleiben. Nutze die großartigen Möglichkeiten, Dein jetziges, schrankenloses, wolkenloses Sein! Siehe, es ist Frühling und Du bist jung wie die Natur! Der Himmel tiefes Blau, die Erde so grün und frisch, das Wahrheitssymbol darüber wischt; ist es auch eine grelle Schau, mag es Dich blenden, 60
Du sollst Dich nicht wenden. Frühlingsgewitter, Blitzeschimmer bitter brausen, immer schlimmer; tausend Donner auf einmal krachen, tausend Blitze züngelnd Dich entfachen. Fürchte Dich nicht! Es ist kein böses Gesicht; es ist die Mutter Wahrheit, die nach Dir schickt. Fürchte Dich nicht! Du bist nicht mehr Fleisch und Blut, nur ein Gedankenkörper irdischer Sehnsucht, immun gegen Gift; schon tot, kannst Du toter nicht werden, bist Du unfähig zu sterben. Siehe, es ist Frühling und Du stehst auf einem Kreuzweg. Die Wege führen zu den Devas, zu den Pretas, zu den Asuras und zu den Menschen. Doch gehe keinen dieser Wege; die Devas sind himmlische Musikanten und leben in Blumengärten, die Pretas sind unglückliche Geister, Opfer ihrer Gier, die Asuras leben in ewiger Fehde und Kriegsführung, das ist ihr Schicksal, und gehst du zu den Menschen, so erleidest du alles, Musik, Blumengärten, unglückliche Gier, Fehde und Feindschaft, aber vor allem: Geburt, Krankheit, Alter und Tod. Nur das klare, weiße Licht über Dir zeigt den rechten Weg von hier 61
zu neuen Dimensionen fort von sangsarischen Sensationen und irdischen Illusionen.
Die Zeit die Tage aneinanderreiht, Tage Träume träge tragend treibt, das Ticken der Zeit Tage sich einverleibt, des Frühlings Schönheit entzweit. Wann kommt der Sonnen Herrlichkeit? Wann ist die Hitze so weit? Ah, der Sommer steht schon bereit! Oh, unerträgliche Hitze weit und breit! Liebe Mutter, wohlgeborene, Du, höre mir ungebrochenen Ohres zu. In der letzten Zeit warst Du in einem ohnmächtigen Taumel, jetzt erwachst Du und fragst: “Was ist passiert?” Siehe, es ist Sommer und unerträgliche Hitze steht über Dir. Die Materie in ihrer Urform, welche blaues Licht ist, erscheint Dir jetzt gleißend, blendend, aber Du wirst begehren das volle weiße Licht von den Devas, welches gemütlich und angenehm erscheint. Sei nicht erschreckt über das erhabene Blau, die blendende Schönheit, den göttlichen Schein - es ist das Licht von Tatagata, das ist der, der den selben Weg gegangen ist, nach Nirvana, er wird kommen, Dich zu empfangen, und vor den Hinterhalten der Nachwelt schützen. Folge dem blendend blauen Licht und Du kommst ins hervorragende Zentralreich, von dem es kein Zurückfallen mehr gibt! 62
Am zweiten Sommertag erscheinen Dir trotz Deiner Gebete und Mühen neue Illusionen. Es ist die reine Form des Wassers spiegelklar, weißes, gleißendes Licht - es ist das Bewußtsein. Gleichzeitig erscheint ein sattrauchiges Licht von der Hölle, das Ärger und Zorn anzieht, und den Zornigen mit. Gebe Dein ganzes Herz für das reine, weiße Licht, und Du wirst, von Regenbögen umgeben, ins östliche Reich des Glücks eingehen. Vom Juwelengeborenen langen am dritten Sommertag die Gunststrahlen mit ihren Haken in gleißendem Gelb nach Dir, gleichzeitig siehst Du den Lichtpfad zur Menschenwelt in lehmig gelber Farbe vor Dir. Folge ihm nicht, wende Dich ab von der Erdenfarbe! Gehe ins grelle Gelb, zum südlichen Reich der Pracht! Wenn aber Selbstsucht und Habsucht Dich führen, so gehst Du den Erdenweg und wirst wiedergeboren in der Menschenwelt und mußt erleiden Geburt, Krankheit, Alter und Tod. Der vierte heiße Sommertag bricht an; das reine Feuer in seiner Urform rotes Licht ist, und Dir den Weg ins rote, westliche Reich der Glückseligkeit zeigt. Fürchte nicht das herrliche, blendende, reine, rote Licht - es ist die Weisheit! Selbst wenn Du fliehst, das Licht der Gunst wird, untrennbar von Dir, Dir folgen. Fühle Dich nicht vom matten Rot der Preta-Welt angezogen, es ist die Welt der unglücklichen Geister, und die leiden unsagbaren Hunger und Durst, unstillbares Verlangen, für Erlösung gibt es dort keine Zeit mehr. Am fünften Sommertag: Die teuflische Leidenschaft, Eifersucht, empfängt Dich nun mit trübem Schein, grünem Licht. Mit dem grellen, grünen Licht vom Element Luft, das den Weg zum grünen, nördlichen Reich der guten Taten zeigt, steht es Dir jetzt gegenüber. Gehe nicht in die trübgrüne Asura-Welt, unerträgliche Qualen, Leiden erwarten Dich dort, und ewiger Streit, Kampf und Krieg! Oh, edle, wohlgeborene Mutter, Du, höre mir gut zu! 63
Aus neuer Ohnmacht Du erwachst und siehe, es ist schon Herbst geworden, aber noch ist nichts verdorben. Die Landschaft dunkles Grau, fleischfressende Rakshasas, Menschenfresser, Oger darüber jagen, Waffen tragen, “Schlag’! Schlag’! Schlachte!” schreien, Edles entweihen, jeder will der erste sein, das größte Stück sich entreißen. - Die Erscheinungen übermächtig, niederträchtig, Du erschrickst, in Angst erstickst; von den Bildern erdrückt, wirst Du halbverrückt. Erscheinungen, erscheinende Bilder von schrecklichen Wilden, Raubtieren, röchelnd, Rachen geöffnet weit; Schnee, Regen, Dunkelheit, nächtliche Böen; verfolgt von vielen Menschen, Verfolgungswahnvorstellungen; der Lärm stürzender Berge, gewaltig wütend überschäumende Seen, brausen, tosen, toben, donnern, Gebrüll, Getöse, Gedonner, Brausen von Feuer, Sturm kommt auf, die Flammen türmen sich auf. Beengt, bedrängt, wie ein nasser Fisch ins Feuer gehängt. So gehst Du durch Nacht, Lärm umhüllt, alles brüllt: Vom Erdenelement in Dir niederstürzende Berge lärmen, vom Wasserelement brechende Wellen eines Sturm gepeitschten Ozeans, vom Feuerelement ein brennender Wald, vom Element Luft tausend Donner. Dann vor Dir in nächtlicher Landschaft, gähnend tief sich auftuend - drei Abgründe. Fragt man sie nach ihrem Namen, so tönen sie herauf: “Ärger, Lust, Dummheit.” Stürze nicht hinunter ins bodenlose Getose! Der Weg herauf ist nicht zu fassen. Nur nach einer Ewigkeit ist das Loch bereit, Dich zu entlassen.
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Es kommen kräftige Ungeheuer mit langen Armen, die packen Dich und schleppen Dich in eine hell erleuchtete Höhle, wo der rote Richter jetzt vor Dir ragt. Neben Dir steht ein weißes Engelchen und ein schwarzer Mara. Teufelchen und Engelchen mit Dir auf die Welt kam. Vom hohen Thron es tönt, die beiden beginnen, die Waage zu füllen; schwarze Kiesel, weiße Kiesel rieseln in die Schalen. Der Meister in den Annalen blättert, das Gewissen wettert, Engelchen am Singen, Lobe erklingen, der Mara am Brüllen, von Deinem Bösen höhnt. Viel Schwarzes am Schmeißen ist der Mara. Wo bleiben die weißen, die guten Taten? Du willst betonen, man solle Dich schonen. In den Spiegel von Karma sieht der Richter Yama - des Gewissens Rückschau ist genau, und Du fühlst Dich hin- und hergerissen; wie gestochen von Hornissen, 65
kriechst auf allen Vieren, bist am Lamentieren. Hirn ausgesaugt, Blut fließt laut. Unter kahlen Sohlen hat er Feuer befohlen. Doch in der Qual bleib’ klar! ‘ bist nur ein Gedankenkörper ohne Blut, der nach Erde sich verzehrenden Glut, und der Richter nur eines Deiner Gesichter; laß‘ Dich nicht hetzen! Wisse, Leere kann Leere nicht verletzen, Nichts nicht Nichts! Neue Ohnmacht dunkle Nacht nichts gedacht aus Schwärze erwacht eine frierende Gestalt schon alt auf der Landschaft kalt Winterwald kahle Bäume leere Räume verlorene Träume erfrorene Glieder sinkst nieder 66
suchst Wärme findest Wärme nur im Leib beim Weib Ende der Öde Mutterhöhle. Sieben Wochen weilte Adjuna bei der Mutter, dann ging er weiter, und noch sieben Wochen wanderte er einsam durch die Wüste und Weite. Die Götter waren ihm wohlgesonnen, wehten Wolken, schickten ihm so Schattenschutz und ab und zu Regenschauer von kurzer Dauer. Adjuna wußte zwar nicht, wann und ob seiner Mutter der Sprung zur Erlösung gelungen war, oder ob sie noch einmal den Erdenweg gehen mußte, oder einen anderen in eine andere Welt, ob seine Erklärungen und Gebete sie erreicht hatten, ob sie aber trotzdem auf dem schmalen Paßweg den Halt verloren hatte, das andere Ufer nicht erreichen konnte; doch Adjuna, jetzt Mensch, fühlte wie Menschen, wenn sie nicht wissen, dann hoffen sie. - Wenn sie nicht wußten, dann hofften sie. Und so stand er da, in seinen Hoffnungen eingehüllt, bei seinen Hoffnungen aufgestellt, aufgerichtet, stolz, trotz seiner Trauer - stolz, stolz - auf seine Mutter, wieviel hatte sie ertragen, erlitten, überwunden! - auf sich, wieviel wollte er noch ertragen, erleiden, überwinden! Und er freute sich der Einsamkeit, denn sie war ihm eine gute Freundin und Gefährtin, die ihn noch öfters aufnehmen sollte, wie alles Große, Starke und Aufrichtige in ihrer Nähe hauste, von ihr umgeben war, denn Großes kannte keine kuscheligen Gemeinsamkeiten. Nur das Schwächliche brauchte die anderen, die Gemeinsamkeit, sonst zweifelte es an sich selbst - verzweifelte, versagte, verflüchtigte sich. 67
Einst gab es einen Gott, der sah die anderen Götter nicht, wollte oder konnte sie nicht sehen, war ihm wohl ihre Herrlichkeit zu hoch, da litt er an seiner Einsamkeit und schuf Welt und Menschen. Gut war die Schöpfung und wie jede gute Schöpfung überragte sie bald den Schöpfer, wie ein Sohn seinen Vater überragen sollte. Doch der Gott war klein - kleinlicher noch, und als er sah, daß die Menschen seinem göttlichen Bewußtsein überlegen waren, da wurde er neidisch und wollte sie ertränken, denn das war alles, was er konnte, mit Naturkatastrophen um sich werfen, schmeißen, nur ausgewählte Schmeichler durften überleben. Doch deren Nachkommen wiederum wollten nicht ewig Schmeichler bleiben, und ihr Bewußtsein wucherte weiter und knapperte an der Göttlichkeit. Und als der Gott sah, daß der Mensch ihn wieder an Bewußtsein weit überragte, wollte er diesmal etwas abhaben und wurde Mensch. Aber er verstand es schlecht zu leben, schon bald - ehe er die Reife des Alters erlangen konnte - schlug man ihn ans Kreuz. Eine Gottheit, die am Kreuz starb, ein schlechteres Vorbild konnte es nicht geben, und der Pöbel und alle, die nicht verstanden zu leben, machten ihn sich bald zum Idol und säten den Samen von Haß und Neid auf alle Bewußten, an denen nahmen sie ihre Rache, so daß die, die immer recht zu leben wußten, bald grausam sterben mußten. Nach sieben Wochen Einsamkeit und Wanderschaft sah Adjuna das Meer vom gelben Dünenwall vor sich in strahlendem, klarem Blau, umrandet vom Strand, umsäumt von Bäumen, unter denen ein Pfad entlangführte. Er stieg hinab bis zum weißen Schaum, um das Meer zu begrüßen und zu berühren. Das Land ist begrenzt vom Meer umkränzt vom Wasser umflossen in großen Massen aber keine Grenzen kennen Wasser und Meer außer den schwarzen Mauern von Teer 68
von Ewigkeit und Unendlichkeit her. Plötzlich stand hinter ihm ein alter Mann, es war der Weise aus den Bergen, der sprach: “Schon lange komme ich hier herunter, wo Meer und Wüste sich begegnen, und warte auf ihn, den Wüstengeborenen, den Schakalenfreund, dessen Stimme über das Meer von Dummheit, Unwissenheit und Eigensucht erschallen soll, erschallen wird, wie Schakalengeheul über die Wüste, genauso vergeblich, nutzlos, einsam; wie der Schakal mit seinem Geheul weder Sand noch Stein noch Stern erweicht, so wenig wird sein guter Rat die Menschenherzen erweichen.” Adjuna war wenig zufrieden mit dieser Anrede, denn auf eine vergebliche Mission geschickt zu sein, hatte er nicht im Sinn. “Wer du auch bist, und deine guten Absichten in Ehren, sie werden dich Schamanenbrut fluchen und dir nicht folgen, und du wirst seufzen: Oh, wie entfernt bin ich euch! - Doch wer bist du eigentlich? Noch ein Baby, aber mit sonnengegerbter Lederhaut und allessehenden Argusaugen.” “Ich bin der Sohn von Sramania, einer Zigeunerpythia aus dem Stamm der `Ewig-Suchenden’. Da die Erde der Menschen nicht mehr haben will, ging meine Mutter nach meiner Geburt und überließ mir ihren Platz. Für ihr Opfer die Elemente mir wohlgesonnen sind, so daß ich die Wüste überleben konnte.” “Und wer ist dein Vater?” “Die Löwen der Welt sind es, oh, Herr.” “Sage mir deinen Namen! Wie nennst du dich? - Oh, der Einsamste, der Wüstenausgespuckte, er wird sich selbst einen Namen geben müssen; denn wer sollte ihn taufen, wer könnte es wagen?”
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“Da ich mich nur wenig geändert habe, nenne ich mich Adjuna. Einst war ich Arjuna, ein Pandava, Sohn des Königs Pandu aus Hastinapura, dem des Rishis Fluch das Vergnügen des Bettes verwehrte; meine Mutter Kunti, Mantras mächtig, mit Mantras bezwang den Götterkönig, aus Indras Lenden Samen empfing.” “Dieses frühere Leben liegt wohl weit zurück, wo warst du so lange?” “Nach dem frühen Tod unseres Vaters lebten wir Pandavas am Hofe unseres blinden Onkels Dhritarashtra, der hatte hundert Söhne, die Kauravas. Unser Leben lang mußten wir uns vor ihren hinterhältigen Überfällen und Angriffen in Acht nehmen, bis zur entscheidenden Kurukshetra-Schlacht. Doch nie haben wir den Weg, den das Dharma zeigt, verlassen; meinen ältesten Bruder nannte man Dharmaputra, denn er war rein wie das Dharma selbst. Als uns in Hastinapura die traurige Nachricht vom Tode unseres teuren Freundes Vasudeva1 und von der Vernichtung der Yadavas erreichte, verlor das Erdenleben seinen Sinn für uns, und wir zogen mit unserer Frau Draupadi zu den Himalayas und stiegen immer höher und höher, bis Frost, Hunger und Wind uns einer nach dem anderen von unseren Körpern befreite, nur das Dharma folgte uns damals. Als Lohn für unser Dharma nahm Indra uns in seinen göttlichen Garten, und es mangelte uns fortan an nichts.” “Oh, ihr seid wie Tagelöhner gewesen, die am Abend ihren Lohn versaufen. Ist dir nichts geblieben?” “Doch, ich habe die Götter beobachtet und festgestellt, daß sie überflüssig sind.” “Ja, die Götter sind eine Erfahrung tief in uns, wer sie überwindet, muß sein Inneres außen tragen können, was nur der Übermächtige, der Selbst-Gott-Werdende, -Seiende kann, und auch nur er darf sie überwinden, die anderen mögen weiterhin vor ihrem Gotte zu Kreuze
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Vasudava = Krishna = Inkarnation Vishnus
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kriechen, auf daß sie nicht unter der Last, ein Gott sein zu müssen, zerdrückt werden.” “Das meine ich nicht. Die Götter sind überflüssig, wir brauchen sie nicht, wir brauchen sie auch nicht zu werden. Mit Spott möge man sie hinfortschicken. Das größte Übel waren immer die Götter, mehr Opfer forderten sie als irgendein Tyrann. Sie sind die absolute Verneinung, das Negative schlechthin. Als wenn man in einem Sumpf fällt, schmutzig wieder hervorkriecht, und sich dann angewidert schüttelt, und sich so schüttelnd vom Matsch befreit, so mögen wir Menschen uns angewidert schütteln beim Gedanken, vor einem Nichts die Knie zu beugen, es wäre Unsinn, sich noch einmal mit Dreck zu beladen oder selbst Dreck zu werden. Die Götter sind nichts, und sind sie auch nicht ganz Nichtse, so sind sie doch Taugenichtse. Und das Vermeintlich-Göttliche am Menschen, sein Tiefstes, das so tief verborgen ist, ist so tief verborgen, so tief gesunken, weil es nichts taugt - nichts mehr taugt. Als man noch Grünzeug, Qualle, Wurm, Saurus, Grasaffe war, waren solche Instinkte und Mechanismen entstanden und wertvoll, doch jetzt sind sie überreif. Hinfort damit!” “Du bist noch ein Neugeborenes, gerade dem Jenseits entkommen und vielleicht einer tödlichen Langeweile, einem Überdruß, und wie jeder Schlemmer nach dem Übergenuß, so fällst auch du nur in das andere Extrem. Gäbe Gott, daß ihr einmal das Mittelmaß erlernt. Du warst lange nicht bei den Menschen, wer sagt dir, daß sie keine Grasaffen mehr sind? Oder willst du es ihnen sagen? Oder willst du sie gar zwingen, keine mehr zu sein? Manch einem nähmest du zu viel. Hätten sie keinen Gott, würden sie einen Menschen nehmen oder gar einen Menschengedanken. Das wäre schlimm, das wäre schlechter noch, das wäre der Untergang. Halte deine Weisheit, besonders wenn sie närrisch ist, im Zaume - und auch deine Zunge. Zu leicht verwirren wirre Gedanken die Völker! Gehe hin in Frieden, mein Junge, auch in Frieden mit den Göttern! Sind sie auch zu selbstgerecht, die Götter da oben, doch wenn man so hoch ist, ist das eine Schwäche, der man leicht erliegt. Das wirst du auch noch merken. Noch einen Rat für deinen weiteren Weg: Gehe Richtung Stadt, doch mache einen Bogen um sie, denn sie ist ein brodelnder Sumpf, was klein ist und nur einen 71
verborgenen Wert hat, wird dort leicht in der Hektik zertreten. Gehe, bis du das Haus vom Händler Abraham findest, er wohnt weit genug von der Stadt und ihren Sumpfspritzern, aber nicht zu weit, als daß der Zeitgeist ihn nicht erreiche. Wenn du bei ihm bleibst, wird er dir viel Neues lehren, das Alte du ja selbst noch weißt.” So ging Adjuna weiter, am Meer entlang, und eines Tages sah er am blauen Horizont einen schwarzen Fleck. Dort lag die Stadt unter einer Rauch- und Staubglocke. Es könnte auch ein Drache sein, der seine Schwefeldämpfe ausschnaubt, mit einem Vulkan um die Wette stinkt. Lebt man heutzutage wirklich unter solcher Last, in solcher Luft? Als er näher kam, konnte er sie auch hören, es war ein nervöses Surren, schrilles Kreischen in der Luft. Von einem Riesenmonster sollte man eigentlich einen ruhigeren Herzschlag erwarten, selbst das Herz der kleinsten Singvögel pulsierte nicht so hektisch. Hatte er die Stadt von weitem erst mit dem Auge und dann mit den Ohren wahrgenommen, jetzt dicht vor der Stadtmauer fügte sie auch seiner Nase Qualen zu, denn sie roch eklig nach Übelkeit, Ausgekotztem und Brand. Sie stank gegen den Wind. Hier vor den Mauern trat ein alter Mann vor Adjuna, es war der Weise aus der Stadt, der unter einer Brücke am fauligen Kanal wohnte und bedürfnislos war, der sprach: “Oh, wir haben immer gewußt, daß die Wüste uns einmal einen Knaben schicken würde, den ersten einer neuen, höheren Menschheit, die gründlicher und freier sein soll, als die jetzige und auch sauberer. Diese Stadt wirst du uns säubern, denn wir vermögen es nicht allein, auch fehlt uns die feine Nase noch, um feinen Gerüchen nachzustreben. Doch gehe noch nicht in diese Stadt, damit dein kindliches Gemüt keinen Schaden erleidet.” “Von weitem schon quält dieser Ort die Sinne. Wer regiert hier?” “Es ist ein Geist, ein Kleingeist, ein Kleinbürgergeist. Denn die Kleinbürger bilden die Mehrheit hier. Und wer am meisten bejubelt 72
wird, regiert, und ändern sich auch die Namen, es ist immer der gleiche Kleinbürgergeist, der sich in den Strohmännern inkarniert.” “Warum lebt der Weise in der Stadt und wie lebt man dort?” “Ich wohne in einer Mülltonne und samm’le mir mein bescheidenes Mahl aus anderen Mülltonnen. So tue ich Buße für Jugendsünden, denn einst feierte ich rauschende Feste vor den Augen hungernder Untertanen, doch es war mein Schicksal, daß mein Gott mich verstieß, mich verließ. Ich verlor mein Vermögen, alles bis aufs letzte Hemd. So beschloß ich, es solle meine Sühne und Buße sein, einsam zu leben; und wo ist man einsamer als unter Menschen, zu denen man nicht gehört; würde ich in der Natur leben, wie schnell täte sie mit einem sympathisieren.” “Naja. --- Ich suche eine Bleibe.” “Gehe zum Händler Abraham, er wohnt weit genug von der Stadt, aber nicht zu weit. Wenn es an der Zeit ist, kehre zurück zu uns, zu unserer Stadt.” Während Adjuna um die Stadt herumging, dachte er an den Weisen, der in ihr wohnte: Wie sehr er doch die Stadt liebte und das dreckigste Stadtleben noch einem Landleben vorzog und sich dafür die abwegigsten Gründe erfand. Wohl wünschte er sich die Zeit seiner Jugend und seines Reichtums zurück, wie allen Städtern bedeutete ihm Geld alles, doch sein Geld - will sagen sein Gott hat ihn verlassen, ob er wohl zurückkommen wird, wenn man zur Buße aus der Mülltonne frißt? Ja, der Gott der Städter ist ihr Geld; das Geld ist der Götze, den sie anbeten. Doch der Arme hat mehr Möglichkeiten als der Reiche, der nur der dressierte Schloßhund seines Schatzes ist und schwer angekettet liegt. Der Arme ist wie das Wild, das umherstreift, solange ihn nicht die Gier und Bequemlichkeit packt, wird er sorglos dem nächsten Tag vertrauen und der Domestikation entgehen. Am schlimmsten sind jedoch die Reich-Werden-Wollenden, denn ihnen fehlt die Dressur der Schloßhunde, die nicht nur gute Wachhunde und Schoßhunde mit feinen Tischmanieren sind, sondern darüber hinaus 73
noch über einen gewissen Anstand verfügen, den man ihnen wohl als Tugend anrechnen muß. Mit bestialischer Wildheit jagen ReichWerden-Wollende ihre Beute - oh, daß man ihnen nicht begegne, daß man ihnen nicht unter die Fittiche käme, diesen Entfleischern, die keinen Halt mehr kennen, auch vor der Selbstentfleischung nicht; wie oft enden sie am Galgen, im Gefängnis oder in irgendeiner Mülltonne, dann mögen sie weise werden, denn lebendiges Erfahren ist der beste Weg zu einer Weisheit, die nicht weltfremd ist. Und also kam Adjuna zum Händler Abraham, der ihn aufnahm, und bei dem er aufwuchs.
Abraham wohnte etwa einen halben Tag fußwegs von der Stadt an einer geschützten Bucht, die einen natürlichen Hafen bildete. Am Anlegesteg drängten sich Feluken und Tartanen, um ihre Ware hier loszuwerden und um neu beladen zu werden. Die Villa, das Gesindehaus, die Ställe und Lagerschuppen waren eine kleine Stadt für sich, von einer großen Mauer umgeben, Schutz dem ewigen Juden vor einem ewigen Edom. Besang Jesaja doch ach so herrlich den Keltertreter im rötlichen Rock, den Erzfeind zerstampft im großen Bottich von Bozra, tausendköpfig er wiedererstand. Ein jedes Jahrhundert, ein jeder Kontinent hatte sie, die neue Edomiterqual; dem ewigen Juden sein ewiges Schicksal. Oh, auserwähltes Volk, ewig streckt sich nach dir Ssaïrs Hand, vergeblich deine Sehnsucht nach Friedensland. Solange des Menschen Herz pocht in zwei Kammern, in der Brust wie mit Schmiedehammern, und solange auch die Seele gespalten, durch eine Trennwand Friedenssehnsucht zurückgehalten, 74
solange du stehst Waffe bei Hand, mögen hohe Mauern zwar nützen und über Jahrhunderte hinaus schützen, doch willst du Mensch Frieden erreichen, müssen erst Herz und Seele erweichen und Waffen und Mauern fallen. Doch ach, wie oft knapperten Kreuzritter an unseren Mauern, klagt ihr kleinlich, ‘leidig, wehleidig, weinerlich. Einunddreißig Königreiche habt ihr vernichtet beim Einzug ins Verheißene Land; - wenn das kein Mord war! Ihr sagt: Nur an Heiden! Wer sagt da nicht: Nur an Juden! Mord rächt sich, wenn auch manchmal erst an den Söhnen, Söhnes Söhnen und deren Söhnen, bis ins x-te Glied, so lehrte euer Gott. - Und vielleicht hatte er recht. Doch wo endet es, so die Rache doch auch ein Mord ist, der gerächt werden muß? Rache verschlug euch in fremde Länder, kamt nach Norden zu blonden Barbaren, dientet ihnen brav, verhalft ihnen zu Größe und Reife, erntetet doch keinen Dank das Volk wurde zum grausamen Ssaïr, zum bockähnlichen Tier, zum Werkzeug eures Herrn, Rächerwerkzeug. Was beklagt ihr jenes Volk! Wart selbst nicht besser - seid ihr es jetzt? 75
Beklagt euren Gott, euer Schicksal! Beklagt euch! War’s in Wirklichkeit euer Gott? Auch Nebukadnezar war ein Hampelmann in der Hand des Herrn Zebaoth. Doch wer liest die alten Bücher noch? Sind ihre Worte doch schon tot! - Ihre Worte, Gedanken schon tot? Abraham war schon ein betagter Mann, trug einen langen, weißen Bart und langes, weißes Haar, was ihm nicht nur den Spitznamen `der Weiße’, sondern auch `der Weise’ eintrug, denn daß er so recht weise ausschaute, mochte niemand bestreiten. Aber obwohl damals, als Adjuna zu ihm kam, er wohl schon seine achtzig Jahre hinter sich hatte, war er noch höchst rüstig, hatte noch alle Zähne, was man sonst von den zuckerleckenden Städtern seiner Zeit nicht sagen konnte, und also, wenn man Zarathustra glauben wollte, noch das Recht zu jeder Weisheit; auch seine Augen waren noch scharf, sah er doch damals schon den Knaben, ehe der ihn sah, von weitem auf sich zukommen; auch brauchte er zu der Zeit noch keinen Gehstock, ohne den er ja jetzt einigen Wanderern zufolge, die sein Anliegen letztlich passierten, nicht mehr auskommen soll oder besser gesagt nicht mehr rauskommen soll. Von seiner jungen Frau waren ihm zwei Söhne geboren, denen er die Namen Loregh und Gerloh gegeben hatte. Sie waren einige Wochen älter als Adjuna, aber konnten noch nicht laufen und ihre verbale Ausdruckskraft beschränkte sich auch nur auf Onomatopöie und einige Diminutiva für die aller alltäglichsten Dinge, also “Papa, Mama; pipi, a-a; mmmh; Wauwau” konnten sie gerade sagen, während Adjuna dadurch, daß er die Erinnerung an seine vorherigen Leben mit hinübergerettet hatte, nahezu omnipotent und polyglott war. 76
Trotz allem brauchte auch er seine Zeit, um heranzuwachsen. Und natürlich fehlte ihm das moderne Wissen, so wußte er zum Beispiel nicht, daß die Erde frei im Raum mit einem mittleren Abstand von 1 AE, was etwas 149,5658 Mill. km entsprach, um eine Sonne, die wiederum mit einem Abstand von 30 000 Lj. um die Mitte einer Milchstraße rotierte, kreisend schwebte und nicht auf dem Rücken eines Elefanten ruhte, der wiederum auf einer Schildkröte stand. Er wußte auch nicht, daß des Menschen makroskopische Vorstellung von Raum, Zeit, Materie und Kausalität in subatomaren, submikroskopischen Bereichen keine Geltung mehr hatte, was ihn sehr verwirrte, als er’s lernte. So wie dieser Mikro-Mikro-Kosmos ihn verwirrte, so auch der Makrokosmos: Die Sonne, es würde sich nicht lohnen, sie zu erwähnen, würden wir nicht gerade auf einem ihrer Außen-Planeten wohnen, bildet mit einigen hundert Milliarden Schwestern unsere heimatliche Galaxis, die einen Durchmesser von grob 100 000 Lichtjahren hat; da die Sonne sich zweidrittelwegs vom Zentrum auf einem der Spiralarme befindet und ihr Orbit etwa 200 Millionen Jahre dauert, bewegt sie sich mit einer Rotationsgeschwindigkeit von 290 ± 20 km/s, übrigens in einem welligen Auf und Ab, um das Schwarze Loch, das in der Mitte der Milchsuppe sein soll. Die Sonne, die wie ihre zahlreichen Schwestern aus einem kalten Nebel, nur etwa hundert Grad über absolut Null, entstanden ist, entstanden sein sollte, verbrennt in ihrem Innern Hydrogenium, das heißt bei einer Temperatur von zehn Millionen Grad stoßen die Hydrogenium-Nuklei zusammen und bleiben zusammen, so entsteht Helium. Das Helium ist ein bißchen leichter, als es die zwei HydrogeniumNukleiwaren. Aha, thermonukleare Reaktion! Pro Sekunde schluckt unser Wärmespender Sonne 600 Millionen Tonnen Hydrogenium, so leuchtet sie uns schon seit fünf Millionen Jahren und so wird sie uns noch fünf Millionen Jahre leuchten. Wenn dann alles verbrannt ist, passiert in der ersten Jahrmillion noch nichts Besonderes, denn so lange dauert es bei 77
kleineren Fixsternen bis die Energie aus ihrem Innern nach außen dringt, aber dann beginnt der Heliumkern zu schrumpfen, dabei steigen die Temperaturen erneut, an der Außenschale entzündet sich Hydrogenium, der Stern dehnt sich, schwillt wieder an, frisch fressend Hydrogenium. Im Kern erhöhen sich Druck und Hitze, hundert Millionen Grad, die Helium-Nuklei kollidieren, eine neue thermonukleare Reaktion, bei der Kohlenstoff und Sauerstoff entstehen. Unter diesen zwei Energiequellen wird sich die Sonne wohl nach sechs Milliarden Jahren aufblähen, so fürchterlich aufblähen, daß bald der Merkur auf der Sonnenoberfläche verzischen wird, Venus und Erde folgen, schmelzen, verdunsten. Wir Menschen werden uns dann wohl zu äußereren Planeten oder besser noch zu einem anderen Sonnensystem flüchten müssen. Irgendwann wird dann das Helium im Innern ausgebrannt sein und das Helium der Außenschale wird sich entzünden. Aber dann hat die Sonne auch bald ihr Leben ausgehaucht, denn kleinere Sterne wie die Sonne sind nicht in der Lage, schwerere Elemente als Helium zu verbrennen, und damit nicht in der Lage, schwerere Elemente als Kohlenstoff und Sauerstoff entstehen zu lassen, dafür bedarf es fünfzigmal massiverer Sterne, die ihr Dasein mit einem gewaltigen Sprengschlag beenden, die Supernova, und dabei all die schweren Elemente ins All verstreuen. Bevor unser Sonnensystem entstand, war das Universum schon fünfzehn bis zwanzig Milliarden Jahre alt, und all die schweren Elemente, auf denen wir rumlaufen und aus denen wir gemacht wurden, gemacht sind, sind in dieser Zeit entstanden in gigantischen Sternen. Und wo ist Berg Meru, an dessen Hängen ich einst meine Zeit vergeudet hatte, geblieben? Er wußte keine Antwort. Er wußte sich keine Antwort mehr. Er war sich manchmal nicht einmal mehr sicher, ob er diese Zeit wirklich erlebt hatte. Und er dachte weiter: Es ist doch erstaunlich, was die Menschen, obwohl sie so klein sind und immer kleiner werden, in meiner Abwesenheit alles herausgefunden haben, doch der Sinn ging ihnen verloren; einst hatte alles einen Sinn, so sann er, war es auch ein falscher Sinn, Unsinn, ein erlogener Lügensinn, erlogen von Propheten, die ihre Fiktionen als Diktionen eines Deus verkauften und nicht ehrlich wie ehrliche Dichter als Dichtung. Es war ein Sinn. Es machte Sinn. Das Leben hatte einen Sinn. Die meisten 78
hatten den Sinn gern. Auf jeden Fall: Der Pöbel hatte den Lügensinn gern angenommen und ehrte seine Erfinder, die Propheten, mehr als die Dichter. Gab er seinem Leben doch einen Sinn. Ein Sinn besser als kein Sinn. Gern opferte er sich diesem Unsinn. Sein Opfer nannte sich Moral, aber auch Hammel, Huhn, Taube und Brandopfer. Sein Opfern machte ihn moralisch, moralisch höher stehend als andere, die seinem Lügensinn nicht folgten, vielleicht einem anderen, aber nicht seinem. Dieser hohe, moralische Standard, den die Lügensinn-Erfinder forderten oder einst gefordert hatten, wurde teuer erkauft mit Blut, nicht bloß mit dem Blut der Opfertiere, sondern auch dem eigenen Blut in heiligen Kriegen und dem der Ketzer, die am Lügensinn etwas auszusetzen hatten, und mit solchem Blute wurde der Lügensinn und seine aus ihm abgeleitete Moral immer wieder bestätigt und bestärkt. Gern zahlten die Menschen dafür moralisch zu sein - besonders gern mit dem Blute der Ketzer. Der Lügensinn freilich hieß Religion, er machte die Menschen ja sooo moralisch, einfach himmlisch! - aber was für eine Moral, und die Unmoralischen die ärmsten Opfer (nicht die ärmsten für die Moralisten, die fest an ihre Moral Glaubenden). Der Lügensinn machte die Leute auch pflichtbewußt - aber was war das für eine Pflicht, Fürst und Pfaffen zu füttern, und auf den Knien zum Altar - kriechen! Der Religionsunsinn machte die Menschen auch gerecht - oh, was für eine zum Himmel schreiende Gerechtigkeit! - und glücklich machte es die Menschen auch, sagt man, - aber was für ein Glück! ein Sklavenglück! Glückstränen wie in den Augen eines geprügelten Hundes! - und geborgen fühlt man sich dank seines Lügensinnes - vielleicht oder ganz sicher, bestimmt, fast alle - aber man war auch unbarmherzig - und wie unbarmherzig, war es doch so gemütlich am Scheiterhaufen und vor allen Dingen so bequem, sehr im Gegensatz zu den unbequemen Äußerungen der Ketzer. Ja, das machte ein Lügensinn auch: bockbeinig unzugänglich - die, die damals unter den damaligen Umständen noch oder schon selbst denken konnten, hätten ein Lied davon singen können, wenn man ihre Stimmen nicht so brutal erstickt hätte. Giordano Bruno wurde nach langen Foltern am 16. 2. 1600 auf dem Blumenplatz in Rom verbrannt. Und 1619 verbrannte man den Atheisten Lucilio Vanini (möglicher Verfasser des 79
legendenumwobenen “Traktats über die drei Betrüger”, Moses, Jesus und Mohammed sind gemeint). Michel Servet wurde ebenfalls nach langen Foltern von den Calvinisten 1553 in Genf verbrannt. Was konnten mit Blut bezahlte Lügensinne noch? Menschen stumpf-sinnig und dämlich machen! Ja, Intelligenz war immer Sache des Teufels, und auch heute ist noch manches Teuflische an der Intelligenz geblieben, es ist wohl eine Aufgabe für die Zukunft, ohne Teufel intelligent zu sein. Wenn uns das nicht gelingt, gnade uns Gott. Doch Teufel und Gott kann es egal sein, wenn wir unsere Intelligenz für teuflische Spielchen, bei denen uns der Planet in die Luft fliegt, benutzten, gibt es doch noch mindestens 1020 Welten allein im sichtbaren Universum zum Experimentieren und auch Zeit gibt es noch in Hülle und Fülle. Und uns kann Gott und Teufel egal sein, ist es doch allzuoft dasselbe, und dadurch, daß wir das, was eins und uns egal sein sollte, trennen, laufen wir nur allzusehr Gefahr, an dem Universumsgeschehen, das wir gerade erst entdecken, bald nicht mehr teilzuhaben. Adjuna sah, daß die Menschheit einen neuen Sinn brauchte, weg vom alten Lügensinn der Götter, die neben den harten Tatsachen der Wissenschaft noch immer überall herumspukten. Keiner konnte sich ihnen entziehen. Man wußte meist einfach nicht, wo man ziehen mußte, um sich ihnen zu entziehen. Beim Schopfe aus der gebückten Stellung heraus! Und was die neue Moral betraf, so wollte es Adjuna erst einmal dabei belassen, daß es die unmoralischste Handlung war, nicht über Moral nachzudenken, sondern einfach nur Althergebrachtes zu akzeptieren. Um für das Neue Wissen, für Jahrmilliardenentwicklungen einen Sinn zu finden, genügt es nicht, aus milliardenjährigem Urstaub zu sein, sondern man muß auch das milliardenjährige Bewußtsein dazu finden, oder zumindest selbst erst einmal eine Million werden, das gelingt aber nicht, wenn man jahrtausendalten Vorurteilen und Fehlurteilen aufsitzt. Wer will noch einen Schöpfergott proklamieren, 80
wo die, die den Quantensprung studieren, nihilistisch philosophieren? Als Gerloh und Loregh nun größer geworden waren, vernünftig sprechen konnten usw., reisten sie oft mit den Handelsschiffen ihres Vaters zu den verschiedenen Zweiggeschäften und Lieferanten, denn sie bereiteten sich darauf vor, des Vaters Laden später zu übernehmen, während Adjuna sich zu Hause mit Staats- und Rechtswissenschaft befaßte, denn, daß er in der nahen Polis erwartet wurde als Säuberer, saß ihm im Kopf, aber er trainierte auch seinen Körper, wie es sich für einen alten Kshatriya geziemte. Aber als Abraham mit den verwunschenen Inseln Handelsbeziehungen anknüpfen wollte wegen heiliger Hölzer, Tarnkappen und Drachenblutes, sollte Adjuna mit, denn man fürchtete der Elfen Macht und Zauberkraft, - ganz zu Unrecht übrigens. Unser Zauber ganz gewöhnlich gestand der Elfenkönig. Und so hatten denn die Tarnkappen auch nicht den gewünschten Erfolg, jemanden völlig unsichtbar zu machen, sondern die beiden Ausführungen, die es gab, olivgrün und erdbraun, machten jeweils entsprechend im Urwald oder im Brachfeld nur sehr beschränkt unsichtbar oder besser gesagt unauffällig, wenn man sich auch sonst unauffällig kleidete oder in ein Loch kroch. Wegen des Drachenblutes hatte die Firma Abraham auch bald viele Reklamationen, weil es nicht, wie erwartet und erhofft und in der Sigfrid-Sage beschrieben und bestätigt, unverwundbar machte. Nur die heiligen Hölzer befriedigten allgemein, wer daran schnupperte, fühlte sich wohl und glaubte sich fortan vom Glück verfolgt. Es geschah hier, auf den verwunschenen Inseln, die zum Elfenreich gehörten, daß Adjuna an einem schönen Sommertag mit Loregh und Gerloh gut gelaunt in den Wald zur Jagd ging. In seiner kräftigen Hand hielt er festgepackt seinen mächtigen Jagdbogen, ab und zu zupfte er 81
an der strammen Sehne und ließ sie surren, der helle Ton erstarrte allem und allen das Blut in den Adern. Während sie so durch Gestrüpp liefen, über Hecken und Gräben hüpften und sprangen, immer tiefer in das uralte Gehölz eindrangen, stellten Gerloh und Loregh ihre lang gehütete Frage: “Wie ist es, Adjuna? Kennst du Gott?” “Ja, er ist meiner Mutter mal begegnet, es war kein erfreulicher Anblick.” “So? - Uns begegnet er nie, und gerade wir mußten immer zu ihm beten und sollten an ihn glauben.” - “Ja, und er tut nichts für uns, als Kind wollte ich einmal aus meinen Bauklötzen einen hohen Turm bauen, trotz meiner Gebete stürzte der Turm immer vor Vollendung ein.” “Das ist kein Wunder, weißt du nicht, daß er etwas gegen Türme hat, schon damals im alten Babel; wenn er Türme sieht, hat er immer Angst, daß sie ihn erreichen oder gar überragen. Damals in Babel konnte man noch sehr hoch bauen, ehe man seinen Zorn übergemäß reizte, aber du siehst, wie tief er gesunken ist, daß er dir schon deine kleinen Bauklotztürmchen vor der Zeit zerstören mußte. Doch was tatest du dann?” “Anstatt zu ihm zu beten, verfluchte ich ihn, beim Tischgebet höhnte ich: Sieh’, was wir wieder geerntet haben; hätten wir auf deinen Regen gewartet, müßten wir jetzt hungern, aber wir waren so klug und haben das Land selbst bewässert.” “Lieber Gott nicht vertrauen und dafür etwas zu kauen, etwas zu verdauen.” “Ja, als Kind bestrafte ich Gott. Weil er mich nicht meinen Turm bauen ließ, wollte ich nie mehr nimmer - zu ihm beten. Auf die Art wurde Gott mir unterlegen, ich fühlte mich groß und sehr wohl dabei. Ein ander’ Mal, als uns unsere Gouvernante gouvernantenhaft die Geschichte von Gideon vorpredigte, der, obwohl der Geist des Herrn ihn angeblich erfüllte, dem Herrn doch nicht so recht traute und deshalb ein Zeichen forderte. Bevor er sich in billige, leichtsinnige Schlachtmanöver, bei denen er und seine Leute leicht den Kopf riskierten, einließ, sprach 82
Gideon zu Gott: Willst du Israel durch meine Hand erlösen, wie du geredet hast, so will ich ein Fell mit der Wolle auf die Tenne legen. Wird der Tau auf dem Fell allein sein und die ganze Erde herum trocken, so will ich merken, daß du Israel erlösen wirst durch meine Hand, wie du geredet hast.1 Und in der Tat - so die Geschichte weiter war es eine trockene Nacht gewesen, es gab keinen Tau an diesem Morgen, nur das Fell war naß. Da merkte Gideon, daß er sich seinen Test schlecht überlegt hatte, denn nur ein Strolch brauchte über Nacht eine Schüssel Wasser über dem Fell ausgegossen zu haben. Und noch einmal erhob er seine Stimme wider Gott und forderte das Umgekehrte: ein trockenes Fell und eine nasse Umgebung, dies dünkte ihm schwerer. Aber es geschah, wie bestellt. Später besiegte er dann die Midianiter und die Amalekiter in einem eindrucksvollen Blitzkrieg, aber auch gegen Ismaeliter zeigte er sein zuckendes Schwert. Eben dies’ Mal - beim Erzählen der Gouvernante - kam es mir in den Sinn, daß ich Gott eine Chance geben sollte, das verlorene Vertrauen zurückzugewinnen, und ich beschloß, mein Sacktuch des Nachts draußen zu lassen, mit der Auflage: Es möge nicht von Tau benetzt werden. Doch es funktionierte nicht mehr. Und ich sprach gen oben: Es gibt dich nicht mehr, oder du kümmerst dich nicht mehr um uns. Ich horche, keine Antwort, kommt mir das Wort ‘Auserwählte’ in den Sinn; verärgert rufe ich hinauf: Nur Auserwählte? Bin ich zu gering? Das beruht auf Gegenseitigkeit.” “Ist er tot schon ganz, der Popanz, oder ignoriert er uns in seiner Arroganz?” Adjuna mußte schmunzellachen über die beiden. So streiften sie durch der fremden Wälder Wildnis, drei Recken, nicht zu erschrecken, vor nichts zurückschreckend, aber ihr Übermut war nicht gut.
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Richter 6, 36/37
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Einen goldenen Hirsch zu jagen, sie wagen. Den gewaltigen Bogen gespannt stramm, angelegt auf den dicken Stamm, hinter dem sich das verschreckte Tier versteckt. Gut gezielt der Pfeil sticht, durchsticht den Stamm und trifft den Leib, doch tot das Tier noch nicht. Fest geheftet ist der edle Hirsch, letal verletzt von dieser Pirsch. Doch gefaßt das sterbende Tier zu den Jägern spricht: Friede sei mit euch, mehr Friede, denn mir vergönnt, mögt ihr genießen, wenn ihr könnt. Wohl starke Helden seid ihr, wollt ihr sein, doch ist das Heldentum, ruchlos wehrloses Rotwild zu schießen? Nicht einmal Hunger trieb euch zu der Tat; nein, das war nicht Helden Art, nur Herostrat. Da sahen die Jungen ein, denn das Morden war ihnen schwer geworden: Töten ist eine böse Sache, denn man kann es nicht rückgängig machen. Der Hirsch fuhr fort: Es mag Ruhm bringen und Ehr’, gefährliche Tiere wie Bär, Löwe, Drache oder Mensch und Menschenhelden zu bekriegen und besiegen, sollte es gelingen, doch besser ist im Erdenleben, friedliche Dinge zu pflegen. Leben nehmen, ob an Mensch oder Tier, wird immer die Waage der Abrechnung ungünstig zum Kippen bringen. Ihr glaubt mir doch nicht jenem Demagogen, Paulus genannt, der da dachte, Gott schere sich nicht um die Tiere, und mit seinem ‘Sorgt sich Gott etwa um die Ochsen?’1 manch einem Christen zu einer Fleischmahlzeit ohne Gewissensbisse verhalf. Wenn Jesus noch am Leben gewesen wäre, so hätte er entgegnet: Ich aber sage euch, Gott kümmert sich sehr wohl um die Ochsen und um all die anderen Tier, und nicht damit die Menschen glücklich eine Mahlzeit verzehren können, sondern damit die Tiere glücklich sind.
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Korinther 9/9
Jeder interpretierte den Jesus auf seine Art. Adjuna wollte zu bedenken geben, daß Gott es doch immerhin zugelassen hatte, daß Adjunas Pfeil traf und tötete, wie er auch all die anderen Grausamkeiten gegen Tiere zuließ, und nicht nur das, Jesus selbst hatte einmal böse Geister in Schweine fahren lassen, aber Adjuna schwieg. Er mochte das sterbende Tier nicht unterbrechen, ihm nicht widersprechen. Im Universum ist alles miteinander verbunden. Im Reigen der Geburten war jeder jedem einmal Mutter, aber jeder war auch jedes anderen Futter. Adjuna, dein Übermut hat auch dich ärmer gemacht, doch genieße mein Fleisch, so war mein Tod nicht ganz sinnlos, und ein Stück von mir wird in deinen starken Muskeln fortbestehen. Und auch mein goldenes Fell soll dir nützen, mag es dich wie mich vor Kälte schützen. Mit diesen Worten verendete das edle Tier. Und Adjuna nahm den schweren Leib auf seine Schultern. Selten drückte ihn eine Last so schwer. Bedrückt waren die Freunde, bedrückt zogen sie durch Gebüsch und Gestrüpp zurück, bedrückt empfingen sie bei der Rückkehr die Gratulationen zu ihrem Jagdglück. Es reute ihnen der Beute.
Nicht jeder setzt sich gern in ein gemachtes Nest, auch Gerloh und Loregh waren nicht die Typen dazu, waren nicht Kücken, die nie flügge wurden. Dieses reiche Nest, das ihnen ihr Vater Abraham bot, war ihnen wie ein Käfig, ein Vogelbauer, die Geschäftsreisen etwas Unselbständiges, Unfreies wie der Flug eines Terzels. Gern wären sie ausgeflogen, auf und davon, Wanderschaft schien ihnen das große Glück, doch Furcht vor des Vaters Fluch hielt sie zurück, bis sie es nicht mehr aushielten und den Vater um Erlaubnis angingen. Abraham war stolz auf seine Söhne, weil sie nicht ewig Vaters Söhne, was zwar besser als Muttersöhnchen zu sein war, bleiben wollten. 85
Und er gab eine große Abschiedsfeier für seine Söhne, bevor er sie auf die Landstraße entließ, wo man die beiden bald wandern sah, ein Lied fröhlich trällernd pfeifend, das hieß ‘Endlich draußen vor der Tür’ und war kein weinerliches Lied und ging so:
Endlich draußen vor der Tür
Einst in dunkler Nacht sagte eine Stimme mir sacht: So frage ich Dich, willst Du leben? Oh ja! Leben ist Licht, so tat ich Antwort geben. Da wurde ich geboren, die Eltern taten für mich sorgen. Ohne sie wär' ich verloren, doch bei ihnen fühlte ich mich geborgen. Schutz den Kindern das Elternhaus gibt, ja, schützen kann es, denn es liebt. So konnte ich kräftig gedeihen, aber bald kam die Zeit, sich zu befreien, sich umzudrehen und zu gehen; kein Vöglein bleibt ewig im Nest, doch zum Abschied ein Abschiedsfest, 86
dann stehe ich endlich draußen vor der Türe, allein erkämpfe ich mein Glück, nie wieder will ich zurück, nie wieder Fesseln und Schutz, so sind meine Schwüre, so ist mein Trutz.
In der Polis war man immer reicher, überfütterter, überdrüssiger, überflüssiger und übermütiger geworden. Der Überdruß nahm überhand. Man reizte die Nachbarstädte und Wüstenvölker, überreizte sie; ein Überfall war fällig, überfällig.
Vereint die Feinde anmarschierten, in großer Zahl. Man mußte sich verteidigen, hatte keine Wahl. Oh, die Feinde wie dreckig und nackt, aber vom Ehrgeiz gepackt und ach so sehnig stark, fanatisch faunisch, lüsternd launisch, Reichtum klaun und unsere schönen Fraun.
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Mit der Belagerung begann der Stimmungsumschwung. Niemand wollte der Provozierer gewesen sein, für einen richtigen Kampf war man zu fein, zu klein.
Doch war es schon zu spät, Geschosse kamen gehagelt wie gesät. Was nicht explodierte, man reparierte, und zurückkatapultierte, doch die Verteidigung schlecht funktionierte, erreichten die Feinde schon bald die Mauern, bis zu ihrem Siege kann's nicht mehr lange dauern.
In dieser Not war Abhilfe höchstes Gebot. Das Volk grollte, einen neuen Konsul auf den Stuhl man wollte, 88
eine Wahl im Kriegsjammertal; aber außer Adjuna sich niemand bewarb, so man ihm die Ehre gab.
Da stand Adjuna nun; die Verteidigung der Stadt war seine Aufgabe geworden, seine Armee ein Haufen Schlemmerer, die seit drei Tagen keine Kuchen hatten und sich deshalb für kampfuntauglich hielten. Und die er verteidigen sollte, zierlich bis fett, aber nicht ein einziger mit sehnigen Armen. Stehe ich hier nicht auf der falschen Seite, die Meinigen haben nichts mit mir gemeinsam, dadrüben stehen die Recken, die mir gleichen, und sind sie nicht sogar im Recht, wenn sie an unsere Mauern kommen, haben wir uns nicht gar zu sehr an ihnen bereichert und sie dann noch verhöhnt, mit Worten und Almosen? Doch nach diesem Kampf gibt es kein Kuchenschleckern mehr, und jeden Schwächling dieser Stadt schleife ich zum Recken, das schwor sich Adjuna, der neue Konsul, und die Nachbarvölker will ich achten, während wir gut leben, sollen sie nicht schmachten. Wie gesagt, da stand er nun; die Verteidigung der Stadt war seine Aufgabe geworden. Beim Anblick der auf die Stadt zustürmenden Feindesarmee: “Oh, wer gibt mir jetzt meinen Gandiva, den ich einst im Jenseits ach so achtlos liegen ließ, in jener friedlichen Zeit, all zu friedlichen. Ich werde ein heiliges Feuerritual zu Ehren Indras machen, seine Mantras aufsagen, ihn bezaubern, bezwingen, Pfeil und Bogen wiederzuerlangen.” Und so kam es, daß Adjuna seinen göttlichen Kampfbogen Gandiva wieder erhielt. Er zupfte an der Sehne, und den Feinden erstarrte das 89
Blut in den Adern, dann riß er in schneller Folge Pfeile aus seinem Köcher und schoß sie gegen die feindlichen Linien, der Himmel verdunkelte sich davon wie bei einem Schwarm Raben. Der Feind mußte kehrtmachen.
Den flüchtenden Feinden der Stadt sandte Adjuna Friedensboten nach. Keuchend überbrachten diese den geschlagenen, in die Flucht geschlagenen Gegnern die Einladung zu einem Friedensfest und das Versprechen, nie wieder Grund zu einem Krieg zu liefern. Zögernd nur die erstaunten Krieger zur Stadt zurückkehrten, einen gemeinen Hinterhalt der Städter fürchtend. Derweil Adjuna mit einigen Leuten, Getreuen, die um ihn fuchsschwänzelten, auch der Weise aus der Mülltonne war unter ihnen, jetzt noch älter und greiser, aber kaum weiser, die Stadt besichtigte: Sagt mal, war denn niemand da, der ihnen sagte, in was für einem Dreck sie da hausen, vegetieren und vertieren? Selbst vor nackten Wilden müssen wir uns ja schämen und unsere Sitten primitiver als Primitive. Überall Sucht und Eigensucht. Adjuna jeden zwang zur Straßenreinigung, dann ließ er Ausgangssperre ausrufen: Damit die Gäste, wenn sie kommen, nicht merken, was die Städter für ein dekadentes Gewürm.
Die Gäste, als sie kamen, zeigten sich beeindruckt von den Modernitäten der Stadt; gern ließen sie sich in pferdelosen Kutschen umherkutschieren und ahnten nicht, wie das auf lange Sicht die Beine schwächt, aus gekühlten Räumen die Halbnackten frierend flüchteten, Licht und Lampe bewundernd, geblendet, ein Stück Sonne. Doch auch lachen mußten sie; was waren denn das da für Dinger an den Füßen der Städter, haben die denn keine Haut und Sohlen dort, hart und stark wie unsere, zum Skorpionknacken gerade richtig? Huch, was ist denn das 90
für ein Mensch, guckt immer durch Fenster, die auf der Nase? Dürfen wir auch mal? Gelächter. Was für eine Torheit, dadurch sieht man ja viel schlechter! Gesättigt auch mit Süßigkeiten, befriedigt, gespeist auch mit guten Versprechen, Verträgen, drängten sie aber bald wieder hinaus, war es wohl die Luft, die ihnen nicht schmeckte, die bleihaltige, verbrauchte. Gut, da sie die gemeinen Massen nicht sahen, wo der Anblick meiner auserwählten Getreuen sie schon zum Spott reizte. Bis zum nächsten Mal habe ich Männer aus ihnen gemacht: Ein hartes Training für alles, was schwach, ein härteres für die stärkeren. Wohl vielen Bürgern war ihr Bauch eine Last, und vielen ihre eigene Schwächlichkeit verhaßt, die nun den neuen Herrscher feierten, und Pflicht und Disziplin gerne von ihm lernten. Schon bald sie als die neue Polizei patrouillierten, männlich einhermarschierten.
Adjuna dachte, den einen Feind haben wir beschwichtet, jetzt heißt es, den Dreck vernichtet; dazu bedarf es eines neuen Gesetzes, einer größeren Vollmacht, nicht umsonst will ich der Säuberer, der SuperSaubermann genannt werden. Sieben Tage arbeitete Adjuna, dann hatte der Stadtstaat ein neues Gesetz. Selbst Supermächte hätten Grund, darauf eifersüchtig zu sein, denn die wichtigsten Probleme der Welt wären gelöst, wenn man sie so streng und konsequent angehe. Adjuna war zufrieden. Zum Beispiel das Vermehren der Massen, die Überbevölkerung: Jeder Haushalt wird der Anzahl der Kinder entsprechend besteuert und zwar progressiv: Für ein Kind die doppelte Personensteuer, für zwei Kinder 91
die zehnfache, für drei Kinder die hundertfache, außerdem muß nach dem dritten Kind, und auch wenn die Familie die Kindersteuer schuldig bleibt, sich ein Elternteil sterilisieren lassen, oder einer der Ehepartner kommt in eine geschlossene Anlage, damit gewährleistet ist, daß sich die beiden nicht mehr treffen, vereinen, mehr Kinder zeugen. Die Gelehrten zwar Einspruch dagegen erhoben: In einer so reichen Stadt werden noch mehr Leute satt. Das wußte Adjuna wohl, Nahrung war nicht das Problem. Doch der Abfall und Schmutz von Millionen macht die Natur so langsam kaputt, und irgendwann mag niemand mehr auf dieser Welt wohnen, denn man erstickt im Schutt. So machten sich Adjunas Anhänger auf mit dem Slogan: Haben wir auch genug Brot, uns fehlt der Platz für den Kot. Kinder bringen keinen Segen nur Not.
Wahrlich, wie schön ist es, durch Einsamkeit zu gehen, mal niemanden zu sehen, doch die einsamen Plätzchen bald alle belegt, bloß weil der Pöbel die Produkte seines Schoßes pflegt.
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Natürlich war schon bald die Mehrheit der Bevölkerung nicht mehr wie zur Zeit der Bedrohung hinter Adjunas Regierung: Die einen wollten Babys, die anderen den Armen nichts abgeben, der dritte Plastikspielzeuge produzieren, die die Müllhalden strapazieren, der vierte nicht tüchtig, bloß süchtig, der fünfte auch nicht gesund, betete zu Gott wie ein reuiger Hund, auch der sechste und siebte hatte was zu meckern, und der achte und neunte arbeitsscheu lieber träumte. So blieb nur eine zehnprozentige Minderheit, die aber dafür um so treuer, eine rechte Stütze der Regierung.
Wenn das Volk die Maßnahmen nicht versteht, die Regierung mit der Gewalt Hand in Hand geht, auf daß endlich Ordnung und Sauberkeit entsteht.
Den Schweinen im Augias-Stall wurde Adjuna zum Schicksall. Schärfen wir die Linsen und schauen wir einmal genau hin:
Auszug aus dem Gesetzbuch Adjunas (geflüstert: der die Gründlichkeit seiner Säuberungsaktion zeigt)
Was liebt der Pöbel am liebsten? Angenehme Gefühle und Dreck, beides findet er im Tabakrauchen. 93
(Es folgen die Vorschriften zur Einschränkung desselben. Hierbei sei noch angemerkt, daß zur Zeit, als Adjuna die Konsulwürde übertragen war, Rauchen in erster Linie eine weibliche Schwäche war, statt “Lungentorpedo” hörte man in der Zeit oft für Zigarette die Worte “Weiberschnuller” oder “Weiberlolli”. Aber es gab natürlich auch immer noch Männer, die ihr anhingen. Diese Männer wurden zwar schon verachtet, verächtlich angesehen, aber das hinderte nicht alle Raucher daran, in der Öffentlichkeit ihrer widerlichen Sucht nachzugehen, und die Raucherinnen sowieso nicht; es gehörte zum Image.)
§ 1: Tabak nur auf Bezugschein; Bezugscheininhaber müssen eine besondere Gebühr für die durch Tabakrauchen entstehende, mögliche Krankenbehandlung zahlen, sind also von der allgemeinen Krankenfürsorge ausgeschlossen. Wem die eigene Gesundheit nicht wichtig ist, kann nicht erwarten, daß sie den anderen Bürgern der Polis wichtig ist. Bei Zahlversäumnis muß die betreffende Person bei Lungen-, Kreislauf- und anderen Folgeschäden der Rauchsucht die Behandlungskosten selbst tragen oder ohne Behandlung auskommen. Auf keinen Fall dürfen Behandlungen von Folgeschäden von Rauch- und Rauschgiftsucht aus öffentlichen Mitteln bezahlt werden. § 2: Es darf nur noch in den eigenen privaten Räumlichkeiten geraucht werden, wenn keine Kinder zur Familie gehören. § 3: Tabakraucher dürfen keine Kinder bekommen. 1
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Dr. Joseph DiFranza und Dr. Robert Law von der University of Massachusetts berichteten in der April-1995-Ausgabe von `Journal of Family Practice', daß sie auf Grund von Studien von über 40 Jahren zu dem Ergebnis gekommen sind, daß allein in den USA, rauchende Mütter jährlich den Tod von 6 000 Babys verursachen, außerdem tragen sie dazu bei, daß 53 000 Babys mit zu geringem Geburtsgewicht zur Welt kommen und 22 000 Babys intensive Pflege
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a.) Ehepaare, bei denen der männliche Teil raucht, müssen Schwangerschaft unverzüglich melden, erklärt sich der Mann bereit, das Rauchen ab sofort aufzugeben, darf das Kind ausgetragen werden, sonst ist sofort der Abortus zu vollziehen; die Abtreibungskosten hat das Paar zu tragen. Nach einer genehmigten Geburt ist den Eltern kein Tabakbezugschein mehr zu genehmigen. Wird ein Elternteil beim heimlichen Rauchen erwischt, ist das Kind von den Eltern zu entfernen und in ein öffentliches Heim unterzubringen. Die Eltern sind unterhaltspflichtig. b.) Wird eine Weibsperson, die dem Tabakrauchen anhängt, schwanger, ist sofort nach Entdeckung der Schwangerschaft abzutreiben. Die Abtreibungskosten sind von der Schwangeren zu tragen. Wird das Kind heimlich ausgetragen, und die Geburt innerhalb eines Monats entdeckt, ist das Kind gründlich zu untersuchen, erweist sich das Kind als besonders schwächlich, ist Euthanasie in Erwägung zu ziehen. Der Mutter ist für ihr Vergehen, das Gesicht so zu tätowieren, daß kein Mann mehr Appetit auf sie haben wird. Zusatz: Hat sich die betreffende Mutter jedoch seit Entdeckung ihrer Schwangerschaft vorbildlich verhalten, ihre schändliche Sucht besiegt und ist auch dem Kind gegenüber eine vorbildliche Mutter gewesen, so ist ihr das Kind zu lassen und auch ihr Gesicht nicht zu tätowieren. § 4: Die beim widerrechtlichen Rauchen erwischte Person ist zu bestrafen, für jedes nachgewiesene, illegale Rauchen zehn Peitschenhiebe, die in einer Stunde zu verabreichende Ration darf zehn Hiebe nicht überschreiten, die an einem Tag zu verabreichende Ration darf dreißig Hiebe nicht überschreiten, für die Zeit der Züchtigung, d.
nach der Geburt bedürfen. 115 000 Fehlgeburten gehen nach den Berechnungen der beiden Forscher pro Jahr auf das Konto rauchender Mütter. Andere Studien haben gezeigt, daß Kinder, die dem Rauch der Eltern ausgesetzt sind, in der Schule deutlich schlechtere Leistungen erbringen (Lesen, Rechtschreibung und Mathematik), wahrscheinlich, da ihr Gehirn schlechter mit Sauerstoff versorgt wird.
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h. vom ersten bis zum letzten Hieb der Strafe, ist der Delinquent im Gefängnis verschlossen zu halten. 30 x 30 P-Hiebe ist Höchststrafe. § 5: Tabaksüchtige, die in der Öffentlichkeit, auf der Straße, in Restaurants, Teehäusern usw. rauchen, ist von den Behörden pro Rauchverstoß zehn Peitschenhiebe zu verabreichen, unter den Einschränkungen von Paragraph vier. Wird ein solcher Tabaksüchtiger von einem durch den Gestank des Rauches sich belästigt fühlenden Passanten geschlagen, sind diese Schläge nicht auf die Strafe anzurechnen; auch auf Schadenersatz für die entstandene Körperverletzung, eventuelle Knochenbrüche etc. hat der Süchtige bzw. die Süchtige keinen Anspruch. Da hier die armseligen Lustgefühle der süchtigen Person gegen das gesunde Wohlbefinden des Passanten steht, ist der letztere grundsätzlich als der Geschädigte zu betrachten, und hat deshalb das Recht, Schadenansprüche zu stellen, für erlittenes Unwohlsein, eventuellen Kopfschmerz, Hustenreiz etc. Der erschreckend hohe Anteil von Raucherkrankheiten bei Nichtrauchern rechtfertigt unbedingt ein hartes Durchgreifen, zumal eine verseuchte Lunge schwerer heilt als Fleischwunden oder Knochen; ein von Rauchern belästigter Bürger hat also unbedingt das Recht, sich zu wehren. 1
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Man merkt hoffentlich, daß ich, wie viele andere Nichtraucher auch, sehr unter dem Rauch der Raucher leide. Schon als Kind hatte ich oft das Gefühl zu ersticken, wenn mein Vater in unserer engen Wohnung rauchte. Auf mein Klagen wurde nur mit Banalitäten wie `abhärten', `dran gewöhnen' etc. reagiert, oder ich wurde gleich als `Schwächling', `unmännlich' oder `Baby' u. ä. beschimpft. Als Schulkollegen vierzehnjährig sich das Rauchen angewöhnt hatten, um `erwachsen' zu sein, unternahm auch ich diese große Anstrengung und Überwindung und wurde zum Raucher. Ich brachte es sogar sehr schnell zu einem sehr guten Raucher und verbrauchte fast jeden Tag 50g starken Tabak für selbst gedrehte Zigaretten. Das bekam mir sehr schlecht. Mit 18 wog ich bei einer Körpergröße von 1,84 m (das entspricht Arnold Schwarzneggers Körpergröße) gerade noch 50 kg. Irgendwann stellte ich mich vor den Spiegel und beschimpfte mich als Schwächling und süchtiges Schwein und änderte meine Lebensweise. Ich hörte auf zu rauchen und tat etwas für meine körperliche Ertüchtigung (hauptsächlich asiatischen Kampfsport). Und irgendwann war ich wieder schwer am Würgen, wenn in meiner Nähe geraucht wurde. Da ich aber jetzt kein
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verschüchtertes Kind mehr war, sondern erwachsen, bat ich, und wenn das nichts half, verlangte ich, daß man in meinem Beisein bitte Rücksicht auf mein Wohlbefinden nähme. Die Anworten, die ich erhielt, waren meist - besonders in Deutschland - sehr unfreundlich. Es konnte passieren, daß Raucher bei so einer Forderung voller Haß bedrohlich wurden. Selbst Pazifisten, anerkannte Kriegsdienstverweigerer, Revolutionäre, Weltverbesserer, und später kamen sogar noch sogenannte Umweltschützer hinzu, reagierten voller Haß, wenn man etwas am Rauch ihrer Zigarette auszusetzen hatte. `Faschist' war dann meistens das Schimpfwort der Wahl, besonders wenn bei Treffen die Mehrheit der Anwesenden die Forderung, nicht zu rauchen, unterstützte. Waren die Raucher in der Mehrheit, waren sie nur zu aufgeregt, darauf hinzuweisen, daß die demokratische Mehrheit fürs Rauchen war. Natürlich ist es so demokratisch, wenn die Raucher mehrheitlich entscheiden, daß der Nichtraucher seinen Dreck mitatmen muß, weil sie die Mehrheit haben und es ihnen Spaß macht, wie es demokratisch ist, wenn die Mehrheit der Deutschen entscheidet, daß die jüdische oder was auch immer für eine Minderheit (meinetwegen neueren Datums: Scientologists und andere `Sektarier') kein Lebensrecht hat, nämlich überhaupt nicht. Demokratie ist nicht der Terror der Mehrheit, nicht das Recht der Mehrheit eine Minderheit - für was für einen Spaß auch immer - zu schaden. Anfang der 70er Jahre, als ich in Form des obigen Textes Rache nahm, waren die Rechte der Nichtraucher noch gar kein Thema. Mittlerweile ist man sich ganz allgemein bewußter geworden, wie schädlich das Rauchen ist. Deutschland ist da zwar noch sehr rückständig, aber in den USA kann man schon ziemlich rauchfrei leben, da Restaurants etc. Nichtraucherabteile haben. Aber die Entwicklung der letzten Zeit ist auch nicht ohne Absurditäten: Einmal zeigen Nichtraucherverbände einen falschen Missionseifer, der einer Bevormundung gleichkommt. Ich als Nichtraucher möchte nur mein Recht auf frische Luft verwirklicht sehen, Kinder müssen natürlich auch geschützt werden vor dem Rauch ihrer Eltern, aber ich habe nichts davon, wenn Raucher horrende Steuern auf ihr begehrtes Produkt zahlen müssen. Absurd ist auch, daß Leute, die sich intravenös Drogen zuführen, bestraft werden, obwohl sie nur sich selbst und nicht ihren Mitmenschen schaden. Statt solche Leute zu kriminalisieren, sollte der Staat ihnen lieber helfen, daß sie ihre Drogen legal, zu einem vernünftigen Preis, rein also ohne fragwürdige Zusätze erwerben können. Ansonsten sollte er sie abschreiben, wenn sie kaputt sind. Der Mensch sollte letzten Endes für sich selbst verantwortlich sein und nicht der Staat. Das Absurdeste und Unverschämteste, was wir gerade erleben, aber ist, daß Raucher jetzt, nachdem sie Jahre lang auf die Gesundheit und das Wohlbefinden von Nichtrauchern gepfiffen haben, und endlich selbst die Quittung für ihre ungesunde Sucht in Form körperlichen Verfalls, Krebs und Herzinfarkt, erhalten, hingehen und die Tabakkonzerne für die erlittenen Gesundheitsschäden verklagen, und wie es scheint sogar erfolgreich.
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§ 6: Wie die Raucher die Luft verderben, so verderben die Gläubigen und Gottesfürchtigen den Geist und das Denken, auch sie sind zu verdammen, ihre Sucht, ihre schwächlichen Gelüste im geheimen Kämmerchen zu befriedigen und ihre süchtig krankhaften Orgien dort abzuhalten. Öffentliches Predigen, christliches Glockengeläut und das Maulaufreißen der Muezzins, ist eine Beleidigung der gesunden Bürger, Beschmutzung geistiger Werte, also eine Schädigung der Öffentlichkeit, und als solches gleich zu bestrafen wie Gift-in-denBrunnen-Gießen und Luftverschmutzung. Lange Freiheitsstrafen sind zu vermeiden, denn hier ist Orient und der orientalische Mensch, wie der Mensch überhaupt, soll kein Vieh sein, das seine Zeit sinnlos in Ställen und Käfigen vertun kann, des Menschen Leben ist zu kurz und kostbar dafür; jeder soll seine Zeit sinnvoll und ertragreich nutzen, nutzen können, dafür ist allen Bürgern, auch den Vorübergehend-Eingesperrten alles zur Verfügung zu stellen. 1
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Man sollte sich wirklich einmal überlegen, ob lange Gefängnisstrafen soviel humaner und wirksamer sind als Körperstrafen, also Züchtigungen oder meinetwegen Körperverletzung, wenn man Züchtigung so nennen will (Verstümmelungen sollten allerdings tabu sein). Mir erscheinen schon lange Wartezeiten z. B. in den Wartezimmern von Ärzten unmenschlich, wieviel schlimmer muß das Absitzen einer Jahre langen Freiheitsstrafe sein?
In Singapur und Malaysia scheint übrigens die Angst vor Prügelstrafen, viele Verbrecher abzuschrecken. Für Erwachsene, die es einfach nicht schaffen, die Rechte und das Eigentum ihrer Mitmenschen zu achten, sind die Schmerzen einer Körperstrafe vielleicht wirklich ein Mittel der Erziehung, niemals aber sollte man Kinder oder Jugendliche mit Gewalt erziehen. Sondern bei Kindern und Jugendlichen ist es unbedingt notwendig, daß man mit ihnen Geduld hat und ihr Recht auf ein eigenes Leben, also auf alles, was sie persönlich betrifft: schulische Leistungen, Beruf, Karriere etc., respektiert. Das Respektieren der Rechte der Mitmenschen ist die wichtigste Lehre, die man seinen Kindern mit auf den Weg ins Leben geben sollte. Zwang an falscher Stelle schafft nur unsoziales Verhalten.
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Es war nicht leicht zu regieren, wenn nicht die Massen des Volkes hinter einem standen. Aber Es-den-Massen-des-Volkes-Rechtmachen hieß Das-Niedrige-im-Menschen-Fördern, Seine-DummheitUmschmeicheln, Eine-Minderheit-(auch wenn sie wertvoller war und mehr leistete als der Bevölkerungsrest)-Verteufeln. Demagogen, die die drei Regeln: das Niedrige im Menschen fördern, Dummheit umschmeicheln, Minderheiten verteufeln, auswendig gelernt und beherzigt hatten und es so dem Volke recht machten, konnten das Volk bisweilen zu ungewöhnlichen Unsittlichkeiten, Krieg, Mord und Massenmord, führen, verführen, oft, wenn sie erfolgreich waren, erhielten sie den Beinamen `der Große', und die, die von der heiligen Stadt Rom aus mit einer Hand voll Lügen, die sie sich auch dem Himmel geholt hatten, was eine Art `Aus-der-Luft-Greifen' war, regierten, wurden für ihre Missetaten, Niedriges fördern, Dummheit umschmeicheln, Minderheiten (Ketzer, Sektierer, Juden, Atheisten, Kommunisten, Homosexuelle, Glückliche und Geile) verteufeln, heiliggesprochen. Doch Adjuna, dem es beim Regieren gar nicht ums Rechtmachen ging, sondern ums Richtig-Machen, mußte seine erste Regierungskrise erleben, als - eine für die Nachwelt eigentlich unwürdige, unbedeutende Angelegenheit - einem verdorbenen Frauenzimmer, obwohl sie erst fünfunddreißig war, sah es schlechter aus als eine Siebzigjährige, seine Lungen waren nur noch ein schwarzer Teerschwamm, sein verkrüppeltes Kind weggenommen werden sollte. Doch erzählen wir die Geschichte ausführlicher. Diese Frau..., sie hieß übrigens Meam, als sie sechszehn war, hatte sie sich selbst den Vornamen Ema als Zeichen, daß sie emanzipiert sei,
Ein letztes Wort zum Strafen von Erwachsenen: Jeder sollte eigentlich einsehen, daß die Todesstrafe humaner ist, als eine lebenslange Freiheitsstrafe. Ein Leben in der Inaktivität eines Gefängnisses bringt keine Freude mehr mit sich, und wenn ein Mensch erkennt, daß in seinem restlichen Leben die Freudlosigkeit gegenüber der Freude so deutlich überwiegt, dann sollte er sich für das Ende aller Leiden entscheiden und sterben. Als Mörder würde ich auf jeden Fall auf die Todesstrafe bestehen, wie ich als Schwerkranker auf Euthanasie bestehen würde, wenn ich es nicht mehr selbst machen könnte.
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gegeben. Emanzipation, damit meinte man die Befreiung von der Bevormundung der Männer, war in Emas Jugend gerade große Mode gewesen und wie alle Moden oberflächlich; so bemühte frau sich gar nicht leistungsfähig wie die Männer zu sein, sondern begnügte sich einfach damit, die Laster der schlimmsten Männer zu kopieren, was der Achtung der Frauen nicht gerade förderlich war. Damals begann auch das Rauchen der Frauen, weswegen sie später, als die meisten Männer es aufgegeben hatten, so verachtet wurden. Durch das Fortschreiten der Leistungsgesellschaft waren die Frauen nach kurzer Zeit gleichberechtigt worden, aber die meisten Emanzen leisteten nichts, so daß sie benachteiligt erschienen. Sie blödelten lieber im blauen Dunst vor sich hin: Emanzipation, Emanzipation, Emanzi.... In den Ohren der Männer hallte das Wort aufdringlich und verunsicherte sie. Um seinen guten Willen zu zeigen, ließ man Frauen Regierungschefin werden, ja, es gehörte eine Zeit lang zum guten Ton, daß eine Frau das höchste Amt im Staate innehatte, und auch ließ man diese Frauen tun und lassen, was sie wollten. Aber das Gequake, Emanzipation, Emanzipation, Emanzi..., hielt an und man, und das hieß Männer und Frauen, die Leistungen erbrachten, besann sich auf seinen gesunden Menschenverstand, wurde ruhiger und damit vernünftiger und ließ am Arbeitsplatz und in der Politik nicht mehr Mösen, sondern nur noch Leistungen gelten. Denn leistungshörig war man nun mal, da konnte man nichts für - das war die Zeit. Diese Ema Meam war also so eine gewesen, die nichts tat, und immer darüber klagte, daß andere nichts für sie taten, ihr nichts Gutes taten, die im Dreck saß und nicht saubermachen wollte, mit der Begründung, andere hätten sie ja hineingesetzt. Mit fünfunddreißig bekam sie also ein Kind. - Ein Kind? Ich dachte, sie haßte die Männer. - Sie haßte die Männer, so sagte sie jedenfalls immer, aber sie freute sich, wenn sie
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einen ins Bett kriegen konnte. Das war auch so ein Laster dieser Frauen - eine ihrer Ungereimheiten. Ihr Kind, sie hatte es heimlich zur Welt gebracht, war ein Junge, seine Arme und Beine waren kraftlos, dünn, verkrüppelt, er hatte einen Wasserkopf und Glotzaugen. Als nun Adjunas Anhänger dem Gesetz entsprechend die Mutter tätowieren und das kleine, verunstaltete Wesen euthanasieren wollten, denn sie dachten für das Kleine, wenn tot, dann gut, im nächsten Leben wird es sicher eine bessere Mutti und einen besseren Körper finden, da stiegen sie plötzlich aus ihren Schlupflöchern im Untergrund hervor, die Leute der alten Lügenreligion und die Frauenverbände. Selbst öffentliches Predigen scheuten sie nicht. Besonders hatte es ihnen auch die Todesart angetan, die sie unmenschlich nannten. Denn mit Euthanasieren meinte man nicht etwa den schnellen, glücklichen Tod mit Giften oder Gasen, bei dem man sich hinüberträumte und dann desorientiert erwachte, sondern man dachte daran, bei den Verkrüppelten die Nahrungsstoffe versiegen zu lassen, das hieß, sie in einem dunklen Raum ersticken, verdursten oder verhungern zu lassen. Auf die Art, hoffte man, werde die Wiedergeburt besser und bewußter gelingen. Pure Mystik, reine Spekulation wie Weihwasser. Die “Der-arme-Kerl”-Argumentation der Frommen und Frauen schlug bei der Breiten Masse ein wie ein Verkaufshit, und als man Bilder des Jungen verkaufte, rumzeigte und ausbreitete, hörte man manch ein unanständiges “Ist-der-nicht-süß!". Süß - das hieß erbärmlich, jämmerlich und putzig, ja putzig-puppig war er auch. Auch wurde man nicht müde, die Mutter zu loben und zu bemitleiden, “Ach, wie schwer sie es doch hatte!" Die prügelnde Polizei hatte alle Hände und Knüppel voll zu tun, den Aufstand, die Aufständischen - die Lage zu beruhigen. Die Anführer erhielten die Höchststrafe von 30 x 3 0 P-Hieben. Man sagte, die Frommen hätten bei der Schläge selig mit glänzenden Augen nach oben gen Himmel geblickt; einige seien später seliggesprochen worden; alle 101
hätten sich gerne geopfert und im ganzen sehr glücklich ausgesehen. Nur einige - hauptsächlich Zuschauer und Rädelsführer, Priester, die nicht erwischt worden waren - waren ein bißchen unzufrieden und meinten, im alten Rom sei es großartiger gewesen, die Löwenfütterung. Gebessert hatte sich von denen keiner. Inbrünstiger beteten sie fortan. Bei den Frauen war es anders, als sie Schläge bekamen, schrieeen sie vor Schmerz: “Au, tut das weh!” und sie hatten sich deshalb gebessert; manch eine hatte doch noch in den Hafen der Ehe gefunden, war eine liebende Ehefrau und eine loyale Stütze der Regierung geworden. Happy End. “Und wenn sie nicht gestorben sind, dann sterben sie noch.” Das Krüppelkind wurde in einen hermetisch verschlossenen Raum gesteckt, in dem es in Kürze erstickte. Von seinem weiteren Weg im Jenseits ist uns nichts bekannt geworden. Frauen bekamen von nun an nur noch Tabakbezugscheine, wenn sie sich vorher durch eine Operation steril machen ließen.
Die Massen der Stadt waren Adjuna ein Dorn im Auge und unheimlich zugleich; nicht selbständig denkend, oft nur von einem gemeinsamen Instinkt oder einer Idee, fixen Idee, getrieben, geleitet, gegängelt und an der Nase herumgeführt, mal starrsinnig und stur wie Sitte und Tradition, mal wechselfähig wie eine Wetterfahne, die Mode und die unbewußt Modebewußten; es war schwer, aus dieser trägflüssigen, richtungslos hin- und herziehenden Masse einen brodelnden Kessel von Zukunftsmenschen zu machen, jeder Tropfen heiß genug, Eiterwunden auszubrennen. Selbst seine Getreuen brachten es nicht weiter, als zu Abbildern ihres Meisters zu werden; ein eigenes Feuer zu entzünden, gelang ihnen nicht. Aber Adjunas Feuer brannte immer stärker, gewaltig das Feuer eines jugendlichen Übermenschen, der unter sich leichtsinnig all die kleinen Menschen zertrat, wenn ihn ihre kleinen Gelüste, ihre kleinen Streitigkeiten und Gemeinheiten anekelten. Doch alles, was er 102
erreichte, war Terror und Tyrannei, die Städter wollten sich nicht bessern, im Gegenteil die Angst saß ihnen jetzt im Nacken, und um ihre Angst zu betäuben, konsumierten sie jetzt illegal mehr Rauschmittel, Drogen und Schnaps, als je zuvor, und noch dümmer und phlegmatischer wurden sie. Auf eine ausgehobene Rauschgifthöhle kamen zwei, drei neue. Da so viele Leute in den Alkohol flüchteten, hatte Adjuna auch noch den Schnaps verboten. Und auch hier entstand ein blühender illegaler Markt, der das einst legale Spirituosengeschäft bei weitem übertraf. Auch seine Maßnahmen zur Körperertüchtigung hatten nicht den gewünschten Erfolg, zwar wurden die Bewohner eines jeden Stadtteils vormittags zwangsweise zum Training zusammengetrieben, aber sie nahmen nur lasch daran teil, obwohl es von der PP, wie man die Polizei jetzt kurz nannte, nämlich `prügelnde Polizei', beaufsichtigt wurde und die auch wirklich dazwischen schlug, wenn jemand sich bei den Übungen keine Mühe gab. Doch die Folge der Übungen war Erschöpfung, Folge der Prügel Verletzung, Folge: Die Leute arbeiteten immer weniger, konnten immer weniger arbeiten. Adjuna war streng und auch stur, obwohl er sah, wie die Leute litten, sich quälten wegen seiner Bestimmungen und Vorschriften, wie sie sich beim Training erschöpften, verausgaben; obwohl er 's sah, sah er 's nicht ein, daß man aus ihnen keine Helden machen konnte, jeder Versuch sie nur mehr einschüchterte und noch kleiner machte, er änderte seine Politik nicht. Und die Leute, sie verloren langsam die einzige Fähigkeit, die die Stadt blühend gemacht hatte, nämlich die Kunst der Profitmacherei, Schieberei, des Immer-auf-den-eigenenVorteil-Bedacht-Seins. Eine Kunst verloren, keine neue geboren, die Massen verkommen. Adjuna, der nie fror und nie schwitzte und auch im Dunklen sah, kümmerte es wenig, als die Stromzufuhr ausfiel, weil es den E-Werken an Brennstoff mangelte. Die Massen nun aber noch mehr litten, am Tage schien es ihnen zu heiß und nachts zu kalt, und im Dunkeln
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fürchteten sie sich. Sie irrten ängstlich durch die dunklen Gassen, die verkommenen Massen. 1
Da Adjuna sich nicht erbarmte, die Stadt verarmte. Doch schlimmer als dieser Tyrann war, was die Natur tat dieser Stadt an.
Das Ende der Stadt
Der Samum weht, Gift entsteht. Die Stadt wie eine Hölle brennt, der Feuerteufel durch die Straßen rennt. In dieser Not war Abhilfe höchstes Gebot. Das Volk grollte,
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Hier ein Wink mit dem Zaunpfahl, für all die, die`s sonst nicht verstehen: Nein, so geht es nicht weiter!1 Deshalb: Ein schnelles Ende!
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(anders natürlich auch nicht.)
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einen neuen Konsul auf den Stuhl der Stadt forderte man glatt. Neuwahlen halten, weil Naturkatastrophen walten. Adjuna schon resigniert, nicht weiter amtiert, und da auch niemand anders kandidiert, die Stadt in Anarchie krepiert.
Adjunas Wanderschaft beginnt
Hinter sich ließ er Flammen und Chaos, Trümmer, Gewimmer. Er mochte sich nicht umsehen; hatte er nun alles verschuldet? Den Feuersturm aus der Wüste hatte er weder aufhalten noch bekämpfen können, die vielen Feuer nicht löschen können und vor allem die Menschen nicht größer machen können, nur eine sehr kleine Anhängerschaft hatte er gefunden, Anhänger, die jetzt aus der Stadt flüchteten, oder, wenn sie zurückgeblieben waren, vom Mob zerrissen wurden. Adjuna lief zunächst zu seines Pflegevaters Anliegen, dankte Abraham und Sara zum Abschied und nahm daselbst von seinem Vater einen der 105
Segler, um dem Ideal seiner Mutter Sramania folgend Seemann zu werden, die See zu befahren. Ein Trupp alter Getreuer hatte sich mit Familie ebenfalls zum Anlegesteg des Händlers geflüchtet; sie waren dem Adjuna als Mannschaft sehr willkommen. Zu viele waren's. Von Abraham großzügig in ein zweites Boot gesetzt, man auslief.
Die Segel gesetzt um Wind gefleht und auf geht's.
Doch das Mittelmeer, immer noch von Neptun regiert, großen Helden grollt. Donner rollt, Blitze zucken. Strömung und Sturm in Protest, Sturzseen sich bäumen und brechen. Adjuna, der Wüstensohn, auch ein guter Navigator und Steuermann, im richtigen Winkel Welle nimmt, Welle hinabreitet, doch im zweiten Schiff man zu steil ist, sich überschlägt und zerbricht. Zerborsten das Schiff, Balken- und Brettergewirr und zappelndes Volk. Adjuna trotz des Sturmes beidreht und an Bord zieht, wen er ergreifen kann. Schnell das kleine Schiff überfüllt und selbst unterzugehen droht. Eine kurze Entscheidung, ein bitterer Entschluß, ohne Auslese geht es nicht, und zurück ins Meer wirft Adjuna, was schwach und dumm und nicht von Nutzen, zuerst Kinder, besonders die kleinen, die noch nicht so an die Welt gewöhnt und die noch keine Ausbildung genossen, 106
gekostet hatten, dann Frauen soweit ungebildet und ungeschickt und auch Männer folgten, dumme, faule, unfähige und verletzte. Bald war das Schiff wieder leicht, gut manövrierfähig.
Das Mittelmeer hinter sich zu lassen, gedachte Adjuna, denn seine Flauten und Fallwinde, unberechenbaren Böen und Starkwinde und der Zorn Neptuns hatten ihn ausgelaugt, seine Kräfte aufgezehrt. Nebel, Mistral und immer wieder Küsten, Inseln, Felsen, die den Weg versperrten, ewiges Ausweichen erforderten. Hatte das nicht alles schon einmal ein Odysseus durchgemacht? Das Mittelmeer war gar kein Meer, viel mehr ein tückisches Labyrinth und noch eher ein enges Kerkerloch mit einem klitzekleinen Zugang zur Freiheit, die Freiheit aber hieß Ozean, Atlantik. Dem antiken Menschen mochte es der Mittelpunkt seiner beschränkten Welt gewesen sein, doch diese Zeit lag schon lange dahin, und der modernen Menschen Streben und Forschen hatte mit dem genügsamen, mittelmeerischen Denken auch das Mittelmeer als Mitte hinter sich gelassen. Dem modernen Menschen aber war nicht einmal seine eigene Welt Mittelpunkt. Und Adjuna richtete sich Richtung Gibraltar, die Säulen des Herakles.
Die Durchfahrt, die Herakles einst mit seinen großen Muskeln aufgebrochen hatte, Gibraltar, war sie das Tor zur Freiheit, das Tor zu den offenen Ozeanen, zu neuen Welten, weiten Fernen, das Tor, das sich bereitwillig öffnete und den Gefangenen entließ? Nein, eine solche Öffnung war es nicht. Diese Öffnung war wie ein saugender Mund, der des Geliebten Zunge nicht hergeben wollte, wie die Flimmerfurche am Kiemenschaft des Muschelmundes, dessen Flimmerepithele einen ins Innere gerichteten 107
Wasserstrom erzeugten, dem die Planktonlebewesen nur mühsam entkommen konnten, sie war auch wie der Trichter des Ameisenlöwen, der die Ameise nicht freigeben wollte. Eine ständige Drift von Atlantik her verhinderte das Entkommen, siebenmal half dem Adjuna eine Brise gegenan und hinaus, siebenmal wurde er bei Flaute oder Gegenwinden von der Strömung zurückgezogen, erst beim achten Mal gelang die Befreiung, die Durchfahrt zum Atlantik. Doch was bot der Atlantik: Höhere Wellen, größere Gefahren.
Auf dem Atlantik und nach Norden Die lange Schlange, die Midgardschlange, ihr Leib wallt und windet sich, ihr Schwanz schaufelt schäumend hoch die Gischt und... und wirft der Wogen Wucht Schiff und Schiffern ins Gesicht; Mastbruch, und die stürzende Rah drei Ruderern die Knochen bricht. Die Midgardschlange von Poseidons Dreizack angestachelt nicht Ruhe gibt; ungestüm stürmt das Ungetüm. Doch die Schiffer zäh und kühn mit Kampfeslust die Zähne beißen sich in die Rudern schmeißen der Kiel wie ein Keil kerbt wie ein Beil beißt die See. 108
Gemarkt das Meer von harten Burschen hehr? “Mein Schuppenleib geritzt?” wendet sich die Midgardschlange: “Das ist ein Witz! Mein Leib schlängelt und wellt sich um die Welt, auf daß sie zusammenhält. Ihr könnt mir nicht schaden, wenn ihr auch noch so mit den Rudern wirbelt und die Spannkraft eurer Muskeln eure Haut zersprengt. Bald ist euer Atem aus und Atlantik euer Grabhaus."
Die Menschenkinder noch eine Weile zappelten in ihrem Boot. Erschöpfung, Atemnot, Abendbrot 109
und dann ins Bett. Gar nicht grob eine Welle sie aus ihrer Nußschale hob und dann in den Atlantik schob, in die Tiefe sog in den tiefen Trog.
Und wie sie in die Tiefe sanken sie alle ertranken.
Nur Adjuna erwachte im Tritonenreich.
Tatsächlich überlebte Adjuna als einziger, tagelang trieb er schwimmend auf dem Meer, das salzige Wasser schwemmte seine Haut auf, Algen und Plankton färbten ihn grün, in seinem langen Haar verfingen sich Fische, Seesterne und Quallen, Meeresschlangen vergifteten sein Blut. 110
Jetzt war er reif, Nixen sogen seinen Schweif und zogen ihn abgrundtief. Und damit er ihnen nicht entschlief, küßte eine seinen Mund, blies ihm von ihren Kiemen Atem ein. Adjuna fühlte, wie er an einem weißen Baum in die Tiefe glitt; langsam verschwammen die Formen vor seinen trüb werdenden Augen, nur der Stamm leuchtete noch weiß, und die Nixen glitzerten, dann endete der Stamm in einer Knolle. Ab und zu öffneten sich Höhlen in der Knolle und lang gezogene leuchtende Schatten huschten durch die Öffnungen. Einmal streckte sich eine weiche weiße schaumige Schattenhand nach ihm aus und hielt ihn fest, da merkte er, daß er seinen sehnigen Muskelkörper irgendwo gelassen vergessen und verloren hatte und selbst dieser Gallertmasse nicht entkommen konnte. Langsam wurde er ins Innere geholt, wo es bunt leuchtete, aber hauptsächlich rot, rosarot. Die Gallertwesen, die fischig glitschigen Meeresgottheiten, wohnten hier, saßen auf Korallenbänken, lagen auf Algenwiesen, tranken aus Muschelschalen, auf einer Anhöhe spielte ein Orchester unhörbare Musik, die direkt in den Sinn sank, in die Gedanken drang. So wie die Musik so war alles hier Gedanke, niemand sprach, ja, der Mund schien etwas Geschlossenes zu sein, das nur noch saugen konnte wie eine Zellwand; Gedanken tauschte man direkt aus ohne den Umweg über Sprechwerkzeuge und Schallwellen; so hieß sich Adjuna willkommen und fühlte sich willkommen geheißen, so sah Adjuna einen besonders schönen Schatten und dachte, den müßte man umarmen und schon umarmte er ihn, so dachte er und es passierte; oh, welche Freiheit, dachte er, es ist nichts dabei, wenn ich bleibe. 111
Während er schmuste und genoß, was immer er wollte, dachte er einmal, wie viel schöner wäre es doch, wenn die Fische Vögel wären und das Blau über ihnen Himmel, die Schildkröten Hunde, der Gründling eine Katze, die Algen Bäume und Büsche und die Tritonen Menschen. Und für einen Moment erfüllte sich dieser Wunsch, doch es entlarvte sich schnell als Illusion. Da fuhr Adjuna wild herum - nein, nein - ich bin nicht für diese Welt, Freunde, lebt wohl, ich muß fort; und er wirbelte noch wilder herum, als er den Ausgang nicht finden konnte. Und weil er sich so heftig bewegte, konnte sich die Nixe, die ihm Atem gab, nicht mehr halten; jetzt geriet er erst recht in Panik und machte zappelige Schwimmbewegungen, um hochzukommen, und tatsächlich schoß er wie durch einen hohlen Baumstamm an die Oberfläche. Da stieß er an Felsen, hatte wieder einen Muskelkörper, der an den scharfen Korallen und Muschelschalen zerkratzte und mit der Brandung wie auf einer Raspel sich immer tiefere Wunden riß. Über ihm war der Himmel, an dem Wolken vorüberzogen, Bäume standen am Rande des Kliffs, Vögel flatterten zwitschernd zwischen ihnen hin und her, am Strand waren Menschen, ein Hund stürmte bellend auf ihn zu. Adjuna bewegte sich nicht, sein Geist vermochte seinen Körper noch nicht zu bewegen, auch spürte er die kalte Nase des Hundes, der ihn anstieß, nicht, aber er wußte, er war gerettet. Er war zu kleinen, aber freundlichen Leuten gekommen. Man brauchte zehn Leute, um ihn von der Klippe, auf die er gespült worden war, zu heben. Man drehte ihn auf den Bauch und versuchte, seinen Unterkörper hochzuheben, um seine Lungen auszukippen. Das ausfließende Wasser entfachte ein Feuer in seiner Brust; der höllische Brand brachte ihm das Bewußtsein zurück; er röchelte, Hals und Nase taten ihm weh, das Wasser verletzte ihn, riß Wunden, wie das Wasser die Feste schleift, den Felsen schneidet, die Faschinen schädigt.
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Die Leute trugen ihn in eine Hütte. Er wollte selbst aufstehen und gehen, aber strauchelte immer wieder. Seine Beine knickten ein, wie die Glieder einer Holzpuppe. Schließlich lag er auf dem Hüttenboden, bleich und blutig. Ein Hund leckte seine Wunden, ein Mädchen brachte warmes Wasser, wusch seinen Körper und wickelte ihn dann in saubere Tücher. Eine alte Frau brachte ihm heiße Milch, auch Brot und Fisch. Dann ließ man ihn schlafen, und er schlief drei Tage lang. Am Morgen des dritten Tages aber sprang er auf, wie jemand, der zu lange untätig gewesen war und dem jetzt überdrüssig war. Er lief an den Strand, half den Fischern, das Netz mit reichem Fang an Land zu ziehen, machte sich hier und dort nützlich, trug schwere Lasten, flickte Netze und reparierte die Hütte der Leute, bei denen er wohnte.
Aber die Leute waren ihm zu klein und ihre Probleme erst recht. So stritt man sich zum Beispiel über die Art des Halstuchknotens. Die Alten benutzten dafür den doppelten Palstek, beziehungsweise die Damen den Anderthalb-Rundtörn mit zwei halben Schlägen, während die jungen Leute - Männchen und Weibchen gleichermaßen - anfingen, sich das Halstuch lässig mit nur einem halben Schlag um den Hals zu schlingen, was als Verhöhnung der Tradition und als asozial und unmoralisch angesehen wurde. Aber die Höhe der Beleidigung religiöser Gefühle war, was einige Jugendliche taten, wofür sie dann allerdings auch ihr Leben riskierten, denn es konnte angehen, daß ein wohlanständiger Fischer, der immer hart und fleißig gearbeitet hatte und ein vorbildlich liebender Familienvater war, mal seine Harpune auf so einen mobbigen Kerl schleuderte oder gar abfeuerte. Diese Jugendlichen nämlich hatten sich das Seitenhaar so weit abgeschnitten, daß man ihre Ohren sah. Eine Obszönität sondergleichen. Einige hatten es schon teuer bezahlen müssen, nämlich mit dem Verlust der Ohren. Da die Messer hier immer locker hingen, konnte es passieren, 113
daß - ritsch-ratsch - ein oder beide Ohren weg waren. Man erzählte sogar, daß einmal eine Mutter ihrem eigenen Sohn, einem solch obszönen Jungen, als er schlief, beide Ohren abschnitt, wofür sie vom Priester als Traditionshüterin geehrt wurde. Eine andere Gruppe von Leuten, die schlecht angesehen wurden, waren - nicht alte Jungfern, die gab es nicht, - sondern alte Junggesellen. Es war allgemein üblich mit 14 zu heiraten, und ein junger Mann, dem es nicht gelang im vierzehnten Lebensjahr zu heiraten, mußte den Spott der anderen ertragen, der sich jedes Jahr steigerte. Man machte ihm zum Vorwurf, daß er nicht attraktiv genug war für eine Frau. Einem, der bei seinem einundzwanzigsten Geburtstag immer noch nicht verheiratet war, hatte nun eine Horde Besoffener, die nicht wußte, wie sie anders die Hänselei noch steigern konnte, einen Teil des Gliedes abgeschnitten, weil er ihn ja doch nicht brauche. Die Reaktion in der Kommune war nun interessant zu beobachten, anstatt daß man die Täter verdammte oder wenigsten den Schnaps und einmal über das Vorurteil gegen die Junggesellen nachdachte, erwog man allen Ernstes, diesen kriminellen Akt zur Sitte zu machen. Besonders die Frauen setzten sich dafür ein, denn für die, die seit Generationen schon immer zahlenmäßig wenigere waren als die Männer und die deshalb besonders verehrt wurden, hätte es ohne weiteres einen zusätzlichen Machtgewinn bedeutet. Denn in Zukunft hätten die Männer sie aus Angst noch mehr umschmeichelt. Aber im Gemeinderat, in dem die Frauen und Männer zu gleichen Teilen vertreten waren, denn Frauen durften nur Frauen wählen und Männer nur Männer, dort fand dieser Antrag nicht die erforderliche Dreiviertelmehrheit, die für Sittenänderungs- und -einführungsanträge mit Rücksicht auf die Geschlechtersituation erforderlich war. Diese Dreiviertelmehrheit sollte sicherstellen, daß nicht die überlegene Mehrheit des einen Geschlechts und eine kleine Minderheit des anderen Geschlechts die Sitte ändern konnten. Nur eine 75%ige Mehrheit bedeutete ganz sicher beidseitige mehrheitliche Zustimmung. 114
Es brauchte wohl fast nicht erwähnt zu werden, daß hundert Prozent der Frauen für diesen Antrag stimmten, die meisten Männer aber nicht. Antrag abgelehnt, Aufatmen in der Junggesellenkolonie. Doch schon am nächsten Tag wurde der Antrag noch einmal eingebracht, allerdings in einer anderen, gemilderteren Form: Es sollte erst am letzten und nicht schon am ersten Tag des zweiundzwanzigsten Lebensjahres und nicht der größte Teil des Schwellkörpers, sondern nur die Eichel, was ja doch nur einem Ritual gleichkäme, abgeschnitten werden. Dieser Antrag wurde angenommen, denn die Frauen hatten ihre Männer, die gegen den ersten Antrag gestimmt gehabt hatten, in der Nacht bearbeitet, zum Beispiel mit Drohungen wie: Wenn du auch nicht für unseren Kompromißantrag stimmst, gehe ich zu einem von diesen alten Junggesellen. Ja, dachte Adjuna, was seltener ist, hat mehr Wert, was hier mehr Macht bedeutet, doch schon ein mit Jungen besetztes, gekentertes und untergegangenes Schiff brächte in diesem Dorf die Waage zum Kippen, aber das passiert nie, die Fischer kennen Wind und Wellen zu gut, nur wie man Frauen in Zucht halten sollte, wissen sie nicht.
Als Adjuna sah, wie am Strand ein kleiner Lateinsegler beladen und fertiggemacht wurde, fragte er den Schiffer: “He, Skipper, wo geht die Reise hin?" “Ich fahre die Küste entlang bis Rom." “Kann ich mitfahren?" “Hast du keine Angst, daß das Schiff untergeht?" “Solange das Land nicht untergeht." 115
Und so begann ein neuer Abschnitt in Adjunas Leben.
(Keine Seitenzahl! Einfach wegdenken!/Zwischenseite) Es war zwischen diesen beiden Seiten, daß der Autor (ich!) seine Unschuld verlor und seinen Optimismus. Aber es lagen auch weit über zehn Jahre zwischen diesen beiden Seiten, und da kann so allerhand passieren. Pflichtbewußt hatte der Autor (wieder ich!) gedacht, es wäre richtiger, erst einmal mehr über die Welt zu lernen, bevor er (bzw. ich) darüber schrieb. Das Lernen ist natürlich eine unendliche Angelegenheit, so daß das Buch beinahe erst nach Ablauf der Unendlichkeit geschrieben worden wäre, also überhaupt nicht.
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Das menschliche Wissen nimmt ständig zu. Es verdoppelt sich alle paar Jahre und in immer kürzeren Abständen. Und das ist gut so. Schlimm ist, daß auch die Dummheit wieder zunimmt. Denn immer mehr Menschen scheren sich nicht um das, was Wissen ist, lernfaul hängen sie an Altväterlichem. Da so viele Menschen, und es werden wie gesagt immer mehr, den Altvorderen folgen, werden die Menschen zweifellos wie die Altvorderen enden, nämlich im Elend oder auf dem Schlachtfeld oder beides. Hoffen wir (auch damit meine ich mich), daß das Ende so gründlich sein wird, daß es keine Neuväter und vor allem auch keine neuen Mütter mehr geben wird, die altväterlich denkende Nachkommen in die Welt setzen können. Die Gefahr besteht bei jeder Geburt! Der Autor (noch immer ich!) wünscht seinen Lesern (das seid Ihr!) viel Spaß beim Weiterlesen dieser Geschichte, die unseren Protagonisten auf eine Reise durch die Welt(geschichte) begleitet, eine Welt, die gar nicht so fantastisch und fiktiv ist, wie sie erscheint - vielleicht fantastisch, aber nicht fiktiv, eher faktiv, ein Faktum, Faktotum... Faktura, Fakultas, Fakultates, Falaises, Falange, Falascha, falb, Fäkaleien, Fakir, Fako, Faksimile, Faktion, fakultativ, fuck-ti-tief [das ist ein abgeleitetes Verb (die Orthogravieh ist nicht korrekt) wie z. B. `scharf machen' > `schärfen', wenn das das Gleiche ist(?)]. Nehmt die Welt bloß nicht zu ernst, sonst müßt Ihr Eure Feinde totschlagen, wie die anderen auch. So, jetzt hab' ich aber genug geplaudert und Ihr Euch genug erholt! Bis zum nächsten Mal! Via Appia, Königin unter den Straßen der Welt, Prachtstraße, Pracht und Triumph, einst umsäumt von 6 000 Kreuzen, Sklaven mit dem Tod fochten, Sklaven, die hofften, die ihrem Schicksal nicht ergeben, das Schwert erhoben, von Capua entflohen, plündernd das Land durchzogen und so vielen römischen Legionen den Garaus machten, doch zu gutmütig das Sklavenheer, zu gutmütig Spartacus, nichts ahnte 117
von der Hartnäckigkeit der staatlichen Autorität, vom Haß und von der Grausamkeit der Saturierten. Via Appia, Straße großer Triumphe, menschlicher Narrheiten, Fähigkeiten - Tapferkeit, Feigheit, Gemeinheit - Blutstraße, prächtige Gräber zieren deine Ränder - der Tod, unser gemeinsames Ende. Ich weine eine Träne in deinen Staub.
Und da ragst du vor mir, Rom, du große Hure, die du an vielen Wassern sitzt, du Mutter der Hurerei und aller Greuel auf Erden1, einem Brudermord dankst du deine Entstehung, wohl lange lebst du deinen Sünden und gedeihst, dein Sturz wird um so schrecklicher sein. Eine Wölfin zog dich groß, und wölfisch ist deine Natur. Seit Remus am Palationo über deine frischen Wälle sprang und du ihn erschlugst, haben Mord und Raub sich unaufhörlich gesteigert. Erst raubtest du der Nachbarn Frauen, später rissest du Städte, Länder und Völker an dich, beraubtest sie ihrer Freiheit, ihrer Werte und vieler wertvoller Leben. Wie eine Seuche breitetest du dich aus. Karthago mußte brennen und Korinth, Mazedonien im Kampf unterliegen, den Judenhaß schürtest du, und in der christlichen Ära potenzierten sich deine Verbrechen unter dem Deckmantel der Nächstenliebe. Oh, Ironie und Heuchelei. Der `Heilige Vater' in Rom veranlaßte Kreuzzüge und die Ausplünderungen Amerikas. Kannte er die Gebote nicht? Was taten die papistischen Meuten? Rauben und morden. Hundertfältig, tausendfältig schlitzten sie Bäuche, zerbrachen Knochen, schnitten Brüste, Hände, Hälse und Nasen ab, zerschmetterten Kinder an Felsen, ja Millionen und Abermillionen
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vgl. Joh. Off. Kap. 17
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Leiden säten sie, fünfzig Millionen Ermordete schreien ihre Anklage von jenseits des Atlantiks herüber auf diesen verruchten Ort.1 Oh, Rom, was für Verbrechen, was für Verbrecher, was für Supermänner des Verbrechens hast du hervorgebracht!
Ich bin tolerant, ich akzeptiere den Krieger, ja auch den Mörder und selbst Feiglinge und Heuchler. Doch diese Mischung von feigen Mördern, von Heuchlern, die im Namen von Nächstenliebe und Seligkeit der Menschheit mehr angetan hat, als jeder ehrliche Verbrecher, Menschen mehr ausgeklügelte Pein, Tortur und Verstümmelung zugefügt hat, als irgendein wahnsinniger Sexualverbrecher, ist eine Krankheit, die mich kotzen macht. Adjuna, was grollst du? Du stehst auf europäischem Boden, auf Erde, die durstig ist, durstig nach Blut, und obschon lange getränkt, noch lange nicht gesättigt. Dieser Boden hat eine bleiche, blutarme, noch durstigere Menschheit hervorgebracht. Egal welcher Lehre sie folgt, sie wird immer Grund finden zu trinken. Sollte der Durst eines Tages gestillt, der Bauch gesättigt, die Arme erschlafft sein und man sich niederlegen, so nur in den Futtertrog der anderen.
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Die, die nicht wissen, was hier gemeint ist, sollten Karlheinz Deschners `Ein Papst reist zum Tatort´ lesen und am besten auch seine `Kriminalgeschichte des Christentums'.
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Oh weh, der Mensch ist ein Krieger, der Ewig-Kämpfende. Und nicht nur er, auch das Gras, auf dem er steht. Eines Tages wird er es nähren.
Der Mörder, der Kaiser war - welcher Kaiser war schon kein Mörder lassen wir die Vorurteile - doch dieser Mörderkaiser mordete mehr, darum auch heilig und groß genannt, mordete auch seine eigene Verwandtschaft, seinen Schwiegervater Kaiser Maximian Herculius ließ er erhängen, seinen Schwager Maxentius und dessen Heer trieb er in den Schlamm des Tibers, doch des Hasses, des heiligen Hasses, nicht genug, wurde der Leiche der Kopf abgehauen und im Triumphzug mit Kot beschmiert und Maxentius' Familie ausgerottet, seine Schwäger Licinius und Bassianus ließ er erwürgen, den Sohn von Licinius umbringen, ebenso seinen eigenen Sohn Crispus sowie zahlreiche Freunde, und seine Gattin Fausta, Mutter von fünf Kindern, ließ er im Bad ersticken. 1 Das durch diesen Mord ihm zugefallene Erbe, den Lateran, vermachte er dem Papst. Und noch heute ist der Lateran im Besitz von etwas, was sich für groß und heilig hält, einem Monstrum. Von Süden kommend, stolpert Adjuna die unebene Via Appia Antica entlang, die Straße des Appius Claudius, einstmals die erste völlig gepflasterte Consularstraße Roms, noch heute findet man das alte Basaltpflaster beim 5. Meilenstein, manch ein zarter Fuß knickte hier schon um. Adjuna brachte auch dieses Stück hinter sich, doch der neuere Asphalt war kaum besser. Tote aus einer längst vergangenen Zeit starrten ihn an mit ihren steinernen Gesichtern, Familienporträts. Tote wird es immer geben und Totenkulte wohl auch, jedenfalls solange es Lebende gibt.
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Karlheinz Deschner Kriminalgeschichte des Christentums" Band 1 S. 264 u. S. 224
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Hinter der Porta Appia, dem jetzigen Tor des Sebastians, im Schutze der Stadtmauer lag die Herberge `Heiliger Bimbam'. Herbergsvater Wirt Babbuino Hihi hieß - er hatte ein nervöses Leiden, das seine rechte Hand immer von den Schulterecken zur Stirn und runter zu den Juwelen zucken und ihn ebenfalls stottern ließ - hieß Adjuna herzlich willkommen: Ichh ha ha heiße Herr Gottt --nn-noch mal SS-Sie h h herzlich ... undsoweiter willkommen natürlich. Wollen wir ihn nicht weiter quälen. Wenn es einen Gott gab, der am Kreuze starb und gern daran erinnert wurde, bei soviel Bekreuzigen war dem Babbuino das Himmelreich gesichert. Adjuna nahm sich ein Zimmer. Mit fließend Wasser - aus einer Karaffe. Zum Frischmachen ging er lieber zum Brunnen in den Hof. Dort traf er Lucrezia und Lucino, Gesinde des Hauses. Beide schraken zusammen, da sie am Flittern waren. Nachdem er sich erfrischt hatte, ging er in die Gaststube. Der Wirt stürmte gleich übereifrig stotternd und sich bekreuzigend auf ihn los, erkundigte sich nach dem Wohlbefinden, und ob er was essen wolle. Auswahl gab es nicht. Dann brachte er sie auch schon gleich, die Makkaroni. “Hoho - hoho hoc hoc est ... HHHerr GGottt noch mal” ein Kampf mit der Zunge und eine kleine Verwirrung der Sinne. Dem guten Mann in seiner Frömmigkeit kam immer die Eucharistieformel dazwischen, erst beim dritten Versuch gelang ihm sein Gag, deftiger Volkswitz: Hokuspokus/ das Essen kommt vom Lolo-lokus/ culinarius. Mit dem kulinarischen Ort war wohl die Küche gemeint. Adjuna meinte ironisch: Na, du machst nicht nur Makkaroni, sondern auch makkaronische Gedichte. Makkaroni mampfend ließ Adjuna es sich gut schmecken. WeWeWährenddessen - also, Herr Gott noch mal - während des Essens erzählte Babbuino von den Heiligen, deren Bilder er an die Wand gepinnt hatte: Kokokonstantien - fefefrev-frommer Fafafamilienvater. Fffffinger vvvon Kakakakatharina vvvon Sssiena 121
wwie ihn fffromme Lololeute sehen - mememit Pepepräputium vom Heheherrn. Tatsächlich zeigte das Bild nur einen Finger, um den sich eine Wurst oder ein Fleischstück oder Geschwür mit Heiligenschein wand. Babbuino erzählte dann auch noch von der österreichischen Nonne Agnes Blannbekin, deren Bild er nicht hatte, die einmal - ach was sag' i - viele Male die Vorhaut des Herrn auf der Zunge spürte und runterschluckte, immer wieder, wohl hundertmal. Ich hhhätt' ihr gern Ssspaghetti dazu ggekocht. Nach dem Essen ging Adjuna sich die Stadt ansehen. Via Appia Antica, Via Amba Aradam, Richtung: Neue Via Appia. Sancta Sanctorum, Porta Asinaria, der Lateran. Tausend Jahre lang war hier die Residenz der Päpste. Sixtus V. ließ einen Obelisken aus dem alten Theben vor dem Lateran aufstellen, aus einer Zeit lange bevor das Christentum erfunden wurde, etwa anderthalb Millennien bevor der Prediger-Zimmermann ans Marterholz genagelt wurde. Wenn die Säule auch vom Stil her nicht in die Landschaft paßte, vom Sinn her sicher. War doch vieles von der altägyptischen Religion nur weiter phantasiert worden, bis es sich als Christentum etablierte. Selbst das Kreuz, das man der Spitze verpaßt hatte, paßte, war es doch schon im alten Ägypten ein heiliges Symbol, freilich für den Penis, oder besser Phallus, denn der Penis hing ja manchmal auch schlapp runter. Dieses Phallus-Symbol hatte folgende drei Namen, heilige Dreieinigkeit, der aufrechtstehende Schwellkörper hieß Asshur, der linke Hoden oder Querbalken hieß Hea und produzierte weibliche Saat, der rechte Hoden oder Querbalken hieß Anu und produzierte die männliche Saat.
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Adjuna trat dichter an dieses spitze Vierkantglied heran, und als er seine Hand an den Riesenmonolith legte, fühlte er sich zurückversetzt in das Heiligtum eines Sonnengottes. Einst war Ägypten vom Weltengott Horus selbst regiert worden. In der Verkörperung des Königs ging alle Fruchtbarkeit des Landes und alles Lebendige von ihm aus, die Nilschwelle ebenso wie die Ernte, und mit dem Tod eines Königs trat der schreckliche Augenblick des Ruhens der Schöpfung ein. Komplizierte Ritualien und die Nacht des Schlafens waren für den Nachfolger nötig zum Einfangen der Seele und Fortbestand der Schöpfung. Da der Tod nur eine Krise im Leben des Königs war und er danach vom Jenseits aus weiter segensreich auf seinen Nachfolger, den neuen König, und den ganzen Kosmos einwirkte, wurde er von Priestern mit Brot, Bier, Braten und dem Besten vom Reinen und Feinen versorgt. Wie für die Ameisen die Königin so war für die Ägypter der König ihr höchster Besitz und wie die Ameisenkönigin sich aufblähte und übergroß wurde, so wurde auch der König der Ägypter übergroß, allen gab er Arbeit, allen gab er zu essen, wenn er starb, legte man seinen übergroßen Leib in übergroße Gräber, Mausoleen, Mastabas, aber er wuchs weiter, man brauchte sechsstufige Mastabas, Stufenpyramiden, Pyramiden, gigantische Pyramiden, gigantischere Pyramiden. Auch der Appetit wuchs ins Kolossale. Es entstanden ganze Städte von Schlächtern, Bäckern und Bierbrauern, die die vergöttlichten Leichen fütterten. Doch die Götter änderten sich wie die Menschen und die Umstände, wenn es auch keiner wahrhaben wollte. War der König Horus selbst gewesen, Falkengott in Person, und als einziger privilegiert zum Himmel aufzusteigen, zu einem der nie vergehenden Zirkumpolarsterne zu werden, zum Begleiter des Sonnengottes Re, zum Osiris, dem Herrscher des Jenseits, zum - was immer man sich verschwommen und phantasievoll vorstellte - zu werden, dieses Privileg begann zu bröckeln. Ein anderer Aspekt des Horus trat langsam in den Vordergrund, nämlich der des Sohnes des 123
Sonnengottes. Der Sonnengott aber, dessen Hitze man so intensiv spürte in Ägypten, wurde zum Welten- und Schöpfergott, der König war nur noch sein Sohn und ihm damit zur Rechenschaft verpflichtet. Diese Entgottung des Königs brachte es mit sich, daß der König selbst das Beten lernen mußte, daß er menschlicher wurde und damit die ganze Gesellschaft, aber auch, daß die Pyramiden wieder kleiner, die Sonnenheiligtümer größer wurden. In der Zeit, in die Adjuna gelandet war, hielten sich die als königliches Grabmal dienende Pyramide und der Sonnentempel größenmäßig ungefähr die Waage. Vom Platz des Taltempels aus gesehen, machte der ganze ummauerte Kultkomplex einen angenehm ausgewogenen Eindruck, in der Mitte auf einem mächtigen Sockel der aus nubischem Rosengranit geschlagene Obelisk, an der Seite der Anlage ein mächtiges Sonnenschiff, vor der Pyramide und den Tempeln Opferaltäre. Adjuna stand da ein bißchen deplaciert, um ihn herum barfüßige, braunhäutige Halbnackte, aber keineswegs Primitive. Kostbare, wenn auch nicht Gewänder, so doch Lendenschurze aus offensichtlich feinsten Stoffen verrieten handwerkliches Können und Kultur, ebenso die Schmuckstücke, Halskragen und die kunstvollen Frisuren und hübsch geschminkten Gesichter der barbusigen Frauen. Einige arme Leute, Männer wie Frauen, waren allerdings ganz nackt. Adjuna zog auch schnell seine westliche Kleidung aus: Lieber arm und unauffällig, als für einen Marsmenschen gehalten zu werden. Emsige Leute waren hier am Werk. Sie trugen Rinderkeulen, gerupfte Gänse, Wein, Bier, Milch, Öl, Brot, Brotgetreide und Gerste in großen Mengen und rannten zu den Opfersteinen. Adjuna wunderte sich, und weil er sich all zu sehr wunderte, stellte er seine Frage: “Heh, was macht ihr denn mit all den Nahrungsmitteln?” “Das sind Opfer für die Götter", war die geflüsterte Antwort. “Was? Ihr verfüttert all die schönen Sachen an die Götter?” “Pssst, über Göttliches spricht man doch nicht so laut. Man flüstert.” “Ja, gut, aber eßt es lieber selbst. Laßt die Götter, wenn sie hungrig sind, sich selbst was suchen.” “Rede nicht so respektlos von den Göttern. Weißt du nicht, daß sie groß, mächtig und ewig sind. Jeden Tag unseres Lebens danken wir ihnen, ebenso die Nilschwelle und die Ernte. Hätten nicht die Könige und 124
seine Priester jeden Morgen gewissenhaft das Schöpfungsritual wiederholt, wir wären nicht hier, es gäbe weder Glück noch Ordnung, kein Leben, ja nicht einmal einen Kosmos.” “Ich komme aus einer fernen Zeit, der Zukunft, in der man eure Götter schon längst vergessen hat und niemand ihnen opfert, aber der Nil schwillt immer noch an und es wird auch weiterhin geerntet.” “Das ist nicht wahr, das ist eine Lüge”, sagte der Ägypter empört und er sah voller Verachtung, den nackten Adjuna von oben bis unten an: “Auspeitschen sollte man dich Lümmel.” Adjuna dachte: Hätte ich doch bloß meine Kleidung anbehalten, er würde mir dann eher glauben. “Unsere Religion ist ewig.” “Wie könnt ihr so etwas glauben! Viele Jahrzehntausende hat man eine großvulvige Göttin der Fruchtbarkeit verehrt und sieh, was aus ihr geworden ist. Nichts. In Vergessenheit geraten. Religionen sind nicht ewig. Sie leiern aus. Immer die gleiche Leier, das hält die Menschheit nicht ewig aus. Auch eure Tempel werden verfallen, eure Kulte in Vergessenheit geraten...” Aber der Ägypter hörte schon nicht mehr zu. Sein Zorn hatte sich gesteigert und leise war er nun auch nicht mehr. Er schrie: “Blasphemie, Blasphemie! Man sollte dich verbrennen für deine Blasphemie, dann hast du auch im Jenseits keinen Leib zum Auferstehen und bist tot für immer.” Die Leute waren auf Adjuna aufmerksam geworden und drängten auf ihn zu. Er wich zurück. Kaltschnäuzig meinte er noch: “Eine Seele ist kein Wurm, der in alte Leichen kriecht.” Da stand plötzlich ein hundeschnäuziger Gott neben ihm und bellte ihn an. Der Schreck transmittierte Adjuna zurück in den Lateran. “Gut, daß hier keine Götter sind, die beißen!" Daß Adjuna so schnell zurücktransmittiert worden war, war natürlich schade. Wäre er nicht von einem Hund verscheucht worden, hätte er gesehen, wie die Geschichte weiterging. Alles wandelte sich, wendete sich, fächerte sich auf, entfaltete sich, drehte sich, kehrte zu Ursprünge zurück, nahm neue Anläufe, machte 125
neue Sprünge, neue Fehler, neue Versuche, brauchte neue Formen, Namen, Fähigkeiten. Horus, Horusfalke des Himmels, gibt uns deinen Schutz auf alle Ewigkeit, so bat man und schwor ewige Treue und ewigen Gehorsam. Und der Gott Horus, dessen aufgefächerte Flügel das Himmelszelt waren, dessen eine Auge die Sonne und dessen andere Auge der Mond war, ließ sein zweites Ich, in einen Erdling inkarniert, Gutes tun. Doch der Himmel faltete sich, die Ewigkeit endete schon nach drei Dynastien, also nach wenigen Atemzügen des Gottes, das Oberste kehrte zuunterst, die Erde wurde zum Sohn des Sonnengottes Re, Horus wurde zum Sohn des Sonnengottes Re, Re aber zum Garanten des Lebens, der er ja auch wirklich war. Die Gläubigen sahen zwar Re, aber wußten nicht, daß Re sie nicht sah. Als die heile Welt zerbrach, Hungersnöte ausbrachen, Götter und Menschen nichts mehr zu essen hatten, Tempel verfielen, Pharaone verrotteten, begann die Vergeistigung und die Geburt des Gewissens, statt den Göttern zu opfern, wurde es wichtiger den Armen zu helfen. Auch Adjunas Rat wurde befolgt, man aß selbst. Aber gute Taten waren nicht vergeblich, der Gott der Schreibkunst, Thot, schrieb sie auf, ebenso wie die bösen Taten, der Wägemeister Anubis wog, der Totenrichter Osiris wachte mit seinen AssistentenSchwestern Isis und Nephtys, der Verschlinger, ein Mischwesen aus Krokodil und Nilpferd, also ein Nildil oder Krokopferd, wartete, und wenn die bösen Taten überwogen, verschlang es den Übeltäter. Der zweite Tod, der endgültige, trat ein. Mochte die Sonne auch noch so fleißig scheinen und das Leben auf Erden ermöglichen, auch die Tage ihres Kultes waren gezählt. Die Urschlange des Chaos war schon da vor der Schöpfung, inkarniert in Osiris, wurde sie zum menschengesichtigen Gott. Osiris Bruder Seth aber tötete und zerstückelte Osiris und verstreute seine Fleischstückchen über den ganzen Erdkreis. Isis, Osiris Schwester und Gemahlin, suchte und suchte und sammelte, bis sie alle Stücke 126
zusammen hatte, und belebte ihn wieder. Wiederbelebt genoß Osiris die geschlechtliche Vereinigung mit seiner Schwester und Gattin Isis. Ein Sohn wurde ihnen geboren: Horus. Man verbarg ihn im Sumpfdickicht des Nildeltas aus Angst vor Seth, bis die Götter entschieden: Horus wird Herrscher im Lande Ham, Osiris Herr des Totenreiches. So wurde Osiris, dessen Mythos voll menschlicher Liebe sich angenehm von der hunde-, affen- und vogelköpfigen Götterwelt der Ägypter abhob, zum Totengott. Und da jeder, selbst die Sonne, in das westliche Reich des Todes einging, trat sein Kult in den Vordergrund. Gräber wurden am Ende tiefer Stollen, dem Korridor des Sonnenweges, auf halbem Weg zur Unterwelt angelegt. Osiris wurde der höchste Gott, denn im Jenseits war man ewig, im Diesseits nur vorübergehend. Mit dem Gefühl der Gottverlassenheit kam auch ein unsichtbarer Gott in Mode. Dafür möbelte man den alten Windgott der Nilschiffer, Amun, zum Reichsgott auf. Götter konnten auch verschmelzen: Amun mit Re zu Amun-Re. Amun mit Min zu Amun-Min, dann trug er die Fruchtbarkeitssymbole des letzteren, Phallus und Geißel. Amun schlüpfte auch in das Widderkostüm des Schöpfergottes Chnum und verschmolz so mit ihm, ebenfalls schlüpfte er in das Kostüm einer Nilgans und verschmolz so mit dem großen Schnatterer, der das Urei legte, und war so Teil des Urgottes, der vor aller Schöpfung und allem Anbeginn existierte. Und am heiligen Ort von Djeme verschmolz er mit der Urschlange Kematef und dreimal monatlich besuchte sein Götterbild in der Götterbarke das Götterbild der Schlange, um sich selbst als seinen Urvater zu besuchen. Götter verschmolzen, aber sie lösten sich auch auf - in Luft, früher oder später. 127
Zwar hatten die Ägypter Osiris für immer in die Unterwelt verbannt, wo er als moralischer Richter mit Seelensortiererei beschäftigt wurde, doch wurde er ins Römische Reich, als die einheimischen Götter abgewirtschaftet hatten und selbst die Auguren über sich lachten, mit anderen fremdländisch orientalischen Kulten in das allgemeine Götterund Glaubensvakuum gesogen und zur ewig sterbenden, und wichtiger, ewig wieder auferstehenden Gottheit gemacht, wobei man die sittliche Komponente des Gottes tunlichst vergaß, seine Schwestergattin Isis wurde Naturmutter und auch die anderen Götter ihres Gefolges fanden neue Jobs. Später wurde Osiris dann mit Mithras, Buddha, Herkules, griechischer Sage und jüdischer Legende zu einem Eintopf verkocht. Aus dieser Suppe, oder war es der Zylinder eines Magiers, zog man den Neuen Messias hervor. Nicht an den Ohren, die waren woanders. Die langen Ohren nämlich hatten wie immer die Gläubigen und es waren auch keine Kaninchenohren, sondern die des Esels. Dem ägyptischen Henkelkreuz schlug man den Henkel ab, der eigentlich ein Vaginasymbol war, und den neuen Gott, eigentlich nur ein Drittel eines ganzen Gottes, schlug man allen sichtbar an das verstümmelte Göttersymbol. Ein neuer Glaube war geboren, der eine neue Ewigkeit für sich in Anspruch nahm. Doch das war nur ein alter Irrtum. Götter waren nicht ewig, genausowenig wie Menschen oder Saurier. 1
Adjuna aber ging vom Lateran zum Vatikan.
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Für Informationen zur ägyptischen Götterwelt habe ich Peter H. Schulzes Werk benutzt, für Informationen über das Römische Reich Theodor Mommsens Standardwerk `Römische Geschichte'.
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Zuerst kam er an einer antiken Wasserleitung vorbei, dem Aquädukt des Kaisers Claudius, das einst das Wasser vom fernen Aniene-Tal in die Stadt brachte. Eigentlich war dieses Aquädukt von Caligula geplant und die Bauarbeiten dazu waren auch von ihm begonnen worden. Man sieht, daß dieser später so verfemte Kaiser auch Gutes getan hat, wie jener Einhodige, der die Autobahnen baute. Caligula war aber auch ein Witzbold, der sein eigenes Pferd zum Konsul machte, außerdem war er ein Mann, der die Frauen zu würdigen wußte. Jede Frau, egal wie edel sie sein mochte, wie hoch ihre Geburt, mußte ihm auf Verlangen ihre Muschi zeigen; so sehr erniedrigte sich dieser Kaiser vor den Frauen. Seid nicht empört, es war ein harmloses Vergnügen, wenn man bedenkt, daß späteren Prunkmännchen erst die Augen glänzten, wenn sie Frauen brennen sahen. Weiter ging Adjuna am Kolosseum vorbei. Wer kannte es nicht, das Gerücht: Wenn das Kolosseum zusammenfällt, fällt Rom, wenn Rom fällt, fällt die Welt. Adjuna sah genau hin. Es war schon viel abgebröckelt - vom Kolosseum, aber nichts von der Welt. Sein Weg führte ihn weiter durch den Konstantin-Bogen, wo sich ein Unterdrücker als Befreier feiern ließ, wie so oft in der Geschichte. Irgendwann sah er auch das Pantheon. Dieser römische Tempel war allen Göttern des himmlischen Pantheons gewidmet, das Loch in der Mitte der Kuppel aber der Sonne, und tatsächlich schien von diesem Sonnensymbol richtiges Sonnenlicht. Der Niemand-sei-neben-mir-Gott war natürlich in römischer Zeit ausgesperrt. Später dann wurde das Gebäude, da es sich für die Anhänger des Niemand-sei-neben-mir-Gottes um ein heidnisches Heiligtum handelte, mit der Christen eigenen Respektlosigkeit behandelt, dabei hatte das Gebäude aber noch Glück gehabt, denn während andere Tempel total zerstört wurden, wurden dem Pantheon zuerst nur die vergoldete 129
Bronzeverkleidung der Kuppel rausgerissen und der Ort dann erst mit Leichenresten und später mit dem Kult des Niemand-sei-neben-mirGottes entweiht. Später wurde dann auch noch die Bronzeverkleidung der Pilaster und Kapitelle rausgerissen, die dann in der Peterskirche neue Verwendung fand, beziehungsweise dem christlichen Glauben als Kanonenkugel auf der Engelsburg diente. Bei Treffern wurden aus Christen Engel. Frühestens dann, wenn überhaupt.
Zögernd betrat Adjuna den Vorplatz der großen Kirche. Die Kreisform des Platzes sollte die Erdscheibe symbolisieren, die seitlichen Kolonnaden, antiken Säulenhallen nachempfunden, die allumfassenden Arme - oder sind es die Hände? - der Kirche. Dieser Erdscheibe schloß sich noch ein länglicher Platz an, bevor man die Stufen zur großen Kirche erreichte, so daß von oben gesehen das ganze wohl wie ein Schlüsselloch aussah. Vorsichtig ging Adjuna weiter bis zum Haupteingang und hindurch. Er erschrak nicht schlecht, bis zum Dach hin war das Gebäude, von den massiven Säulen abgesehen, hohl. Engel hätten viel Platz zum Herumflattern, dachte er beeindruckt. Als die Welt noch eine Scheibe war und man an den Kanten herunterfiel, war hier also das Zentrum, der Mittelpunkt der Macht, auf die man hereinfiel. Als jetzt der Chor auch noch ein Liedchen anstimmte, Choral nannte man so etwas wohl, flüchtete er in einen Seitenraum. Es stellte sich heraus, daß das eine Kapelle war. Ein Priester trat zu ihm und erklärte ihm: Diese Palastkapelle entspricht in Maßen und Aufbau dem Tempel Salomons. Die Fresken dort umfassen die Menschheitsgeschichte von der Schöpfung bis zum Jüngsten Gericht. Da über der Chorwand. Das ist das Jüngste Gericht. 130
An deinem verknoteten Haar sehe ich, daß du einer fremden Kultur entspringst. Sicher bist du nicht vertraut mit unseren Sitten und unserer Religion. Nein, erkläre sie mir. “Wo ist euer Gott?” “Das ist unser Gott,1 das heißt ...” “Eine Göttin, eine Fruchtbarkeitsgöttin!” “Nein, nein, das Baby meine ich.” “Ihr betet ein Baby an?” “Nein, nein, das Baby ist natürlich auch mal groß geworden. Als du den Petersdom ...” “?” “so heißt der Dom hier betreten hast, war gleich rechts unter einem großen Kreuz unser Heiland, Jesus Christus - so heißt er - dargestellt, wie er vom Kreuz abgenommen, tot in den Armen seiner trauernden Mutter liegt.” “Ein Muttersöhnchen.”2 “Du kennst unsere Religion nicht. Du hast sicher auch noch nie was von der Frohen Botschaft gehört!” “Nein, was ist das für eine frohe
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Es ist ein Mysterium! Auf welches Bild zeigt der Priester denn da bloß? Hat er vielleicht etwas in der Hand, ein Bild von Maria und dem Jesuskind, vielleicht ein Hochglanzfoto von der `Madonna Litta' aus dem Hermitage Museum in Leningrad, die Leonardo da Vinci zugesprochen wird, oder nicht bloß stillend, sondern auch Sex Appeal ausstrahlend, `Maria mit dem Kind' von Jean Fouquet, oder `Madonna mit dem langen Hals (aber ohne Sex Appeal)' von Il Parmeggiano, worauf das Jesuskind Ähnlichkeit mit einem Außerirdischen, nämlich einer populären Vorstellung von Ufo-Insassen, hat? Sicher war es nicht Max Ernst's Gemälde von Maria, wie sie dem Jesuskind einen Arschvoll gibt, den Hintern versohlt, haut, drischt, oder wie sonst auch immer nach Landstrich und -faden Kindesmißhandlung genannt wird; `The Blessed Virgin Chastising the Child Jesus Before Three Witnesses: A. B. [André Breton], P. E. [Paul Éluard] and the artist', 1926, 196 mal 130 cm, Mrs Jean Krebs collection, Brussels.
Vor der französischen Revolution, als das Christentum noch dominierte, hätte das Malen eines solchen Bildes dem Maler einen grausamen Tod für Gotteslästerung eingebracht. Die guten, alten Zeiten sind zum Glück vorbei, und kommen hoffentlich auch nie wieder. Wenn der Priester nun aber gar kein Bild zur Hand hatte, das er Adjuna zeigen konnte? - Dann gab es im Raum eine Vision, die für beide sichtbar war. 2
Diese Theorie wird in dem äußerst lesenswerten Buch “Muttersöhne” von Volker Elis Pilgrim vertreten.
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Botschaft?” “Gott ist hernieder gekommen ...” “Waaas? Zu uns. Wo ist er?” fragte Adjuna erstaunt, sich nach rechts und links umblickend. “Nein, nein, zu einer Jungfrau, zur Jungfrau Maria.” “Ach so. Und dann?” “Dann kam das Jesuskind, unser Heiland, zur Welt, Gottes Sohn. Das ist oft dargestellt worden. Komm, da am Stand gibt es einen Bildband mit Krippenbildern. Unser Heiland wurde nämlich in einem Stall geboren und in eine Krippe gelegt.” “Ich wurde in der Wüste geboren und auf harte Steine gelegt.” Der Priester blätterte in einem der Bildbände und zeigt dann einige auf Hochglanzpapier gedruckte Gemälde: “Das hier ist die Mutter Maria, das das Jesuskind und das sind die Heiligen Drei Könige. Die hatten die Frohe Botschaft vernommen und sind gekommen.” “Ah, und da, neben Maria, ist das Gott?” “Nein, das ist Joseph, der Mann von Maria.” “Ach, sie war verheiratet.” “Ja.” “Habt ihr keine Bilder von Marias Geschlechtsakt mit Gott?” “Oh, es gab keinen Geschlechtsakt, Gott flüsterte ein Wort, und das Wort drang durch Marias Ohr in ihren Leib ein. Das ist, wie sie empfing. Auch das ist oft dargestellt worden und zwar als Taube, die den Samen Gottes zu Marias Ohr bringt. Maria hat also ganz ohne Sünde empfangen.” “Ohne Sünde?” “Ja, ohne Lust des Fleisches.” “Lust des Fleisches? Was ist das?” “Lust des Fleisches also - ohne geil zu werden”, antwortete der Priester errötend. “Ist es nur das Fleisch, das empfindet?” “Ja, und Maria war, auch nachdem sie den göttlichen Samen empfangen hatte, noch Jungfrau.” “Wie langweilig! Und verheiratet war sie auch noch?” “Ja, mit Joseph, den wir hier auf dem Bild sehen.” “Und was hat dieser Jesus auf dieser Welt getan?" “Viele Wunder und gepredigt.” Wundertun und Predigen, war das vielleicht auch meine Aufgabe, hatte man mir nicht irgend etwas mitgegeben, als ich geboren werden sollte? “Aber das Wichtigste: Durch seinen Opfertod am Kreuz hat er die Menschheit von ihren Sünden befreit. Alle Christen sind aufgefordert, ihm nachzufolgen.” “Wunder tun und predigen.” “Ja, und sich opfern für die Menschheit. Wir alle streben danach, wie Gott zu sein, das heißt gut.” “Und die Menschen, die vor Jesus gelebt haben, werden 132
nicht von ihren Sünden befreit?” “Nein, und auch nicht die, die Gott nicht annehmen.” “Was für Sünden sind das überhaupt?” “Wir begehen natürlich viele Sünden: Gier, Ausschweifungen und Ungehorsamkeit gegenüber Gott, aber zuerst einmal ist da die Erbsünde. Laß mich weiter ausholen: Bei der Schöpfung. Die ist da oben an der Decke dargestellt.” Und sie gingen wieder weiter in den Raum hinein. “Auf dem ersten Bild teilt Gott das Licht und die Finsternis. Auf dem zweiten schafft er Sonne, Mond und Pflanzen. Auf dem dritten teilt er das Land und das Wasser voneinander. Auf dem vierten schafft er den ersten Menschen, Adam, auf dem fünften aus Adams Rippe die erste Frau, Eva.” “Das erinnert mich an eine Geschichte, die ich als Kind hörte. Nämlich, daß Gott die Welt in sechs Tagen erschaffen hat und sich dann ausruhte. Als Kind hab ich mich immer gewundert, wie er zuerst das Licht, aber erst am vierten Tag die Lichter schaffen konnte.” “Ja, genau, das ist unser Gott. Siehst du, unser Glaube ist dir ja doch nicht ganz unbekannt. Und siehst du, da oben, das nächste Bild zeigt den Sündenfall und die Vertreibung aus dem Paradies.” “Ja, einige Leute meinen, das Von-der-verbotenen-Frucht-Essen sei ein Euphemismus für den Geschlechtsakt.” “Aber das ist doch unwahrscheinlich, wo Gott doch ausdrücklich gesagt hat: Seid fruchtbar und mehret euch. Es war wohl nur ein Baum, an dem Gott unseren Gehorsam testen wollte. Leider haben wir diesen Test nicht bestanden. Und das ist unsere Erbsünde, mit der wir alle geboren werden. Aber es blieb nicht bei dieser Sünde. Die Menschheit wurde schnell immer sündiger, und Gott schickte eine Flut, um die Menschheit und alles Leben zu vernichten.” “Wie war das mit den Fischen? Die konnte er doch nicht ertränken.” “Natürlich nicht. Der einzige gottesfürchtige Mann damals war Noah mit seiner Familie. In einem Kasten überlebte sie mit Tieren zusammen die Flut. Auf den letzten drei Bildern da oben siehst du Noah. Sicher hast du auch von ihm schon gehört.” “Ja. Was macht er auf dem dritten Bild?” “Da ist er betrunken und hat sich aus Versehen aufgedeckt; sein Sohn Ham sieht seine Nacktheit und wird deshalb von Noah, als dieser wieder wach ist ...” “... und nüchtern - oder immer noch besoffen?” “...verdammt, für immer, das heißt, auch seine Nachkommen, die Kanaaniter, dazu, Sklaven zu sein. Einige sagen, Ham war ein Schwarzer.” “Das ist hart.” “Ja, aber die Menschheit sündigt immer weiter. Sodom und Gomorra. 133
Hast du davon gehört?” “Ja, wo nur der gottesfürchtige Mann Lot mit seinen Töchtern gerettet wird. Ein Mann, der sich auch besäuft, und zwar so, daß er nicht merkt, daß er seinen eigenen Töchtern beischläft.” “Ein anderes wichtiges Ereignis in der Geschichte der Menschheit sehen wir hier an der Wand: Auf dem Berg Sinai bekommt Moses von Gott die Gesetzestafeln mit den Zehn Geboten: 1. Ich bin der Herr, dein Gott, du sollst nicht andere Götter haben neben mir. Du sollst dir kein Bildnis machen, weder des, das oben im Himmel, noch des, das unten auf Erden, noch des, das im Wasser ist.” Adjuna blickte sich erstaunt um. “Du sollst sie nicht anbeten noch ihnen dienen, denn ich bin ein eifersüchtiger Gott. Zweitens: Du sollst den Sabbat heiligen. Drittens: Du sollst den Namen des Herrn nicht mißbrauchen. Viertens: Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren. Fünftens: Du sollst nicht töten. Sechstens: Du sollst nicht ehebrechen. Siebtens: Du sollst nicht stehlen. Achtens: Du sollst kein falsches Zeugnis reden wider deinen Nächsten. Neuntens: Du sollst nicht gelüsten deines Nächsten Weib. Zehntens: Du sollst nicht begehren deines Nächsten Haus, Acker, Knecht, Magd, Ochsen, Esel noch alles, was sein ist. Gott gab noch viele andere Anweisungen über den Bau und die Ausstattung der Bundeslade und der Stiftshütte, über Brandopfer und priesterliche Kleidung. Aber während Moses oben bei Gott war, hat das Volk ein goldenes Kalb gemacht und angebetet. Da siehst du das Kalb. Aus Zorn darüber zerbricht Moses die Tafeln hier. Später macht er dann neue. - Hier auf der gegenüberliegenden Seite sehen wir ein ähnliches Bild. Das ist die Bergpredigt. Jesus steht da auf dem Hügel und lehrt dem Volke und seinen Jüngern: Selig sind die geistlich armen, selig sind die, die Leid tragen, selig sind die Sanftmütigen, selig sind, die da hungert und dürstet nach der Gerechtigkeit, selig sind, die da reinen Herzens sind, selig sind die Friedfertigen und die, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden; denn das Himmelreich ist ihr. Und er erklärt auch, was das vornehmste und höchste Gebot ist, nämlich: Du sollst lieben Gott, deinen Herrn, von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüte, die anderen Gebote aber sind zusammengefaßt: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Und hier rechts, ein anderes wichtiges Ereignis: Jesus übergibt seinem 134
Jünger Petrus den Schlüssel zum Himmelreich und setzt ihn so zu seinem Nachfolger ein. Wir, die Kirche, und unser Papst, wir stehen in dieser Nachfolge, außerhalb der Kirche gibt es kein Heil. Sankt Peter, also der heilige Petrus, hat das Evangelium verbreitet und am Ende dafür hier in Rom mit dem Märtyrertod bezahlt. Da er die Todesart wählen durfte, wählte er, mit dem Kopf nach unten ans Kreuz geschlagen zu werden, um sich nicht vor Jesus Christ zu erhöhen. So demütig war er. In der Cappella Paolina gibt es ein Fresko von Michelangelo, von dem auch die Decke hier und das Jüngste Gericht stammt, das zeigt wie er ans Kreuz genagelt ist, außerdem gibt es zum gleichen Thema in der Cappella Cerasi in der Santa Maria del Popolo ein Ölgemälde von einem anderen Michelangelo, nämlich Michelangelo Merisi, der berühmt geworden ist unter dem Namen Caravaggio.” “Er hat sich nicht geliebt.” “Wer? Caravaggio?” “Nein, Petrus.” “Was meinen Sie damit?” “Ich meine, ein Gebot wie `Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst' kann die Welt nicht verbessern, wenn man sich nicht selbst liebt. Sind die Menschen glücklicher geworden, weil Petrus sich opferte?” “Ja, auf jeden Fall. Viele haben den Glauben angenommen und die Kirche ist heute eine weltweite Organisation und hat Macht.” Der Priester erklärte Adjuna noch vieles: “Hier in diesem Raum wird übrigens nach dem Tod eines Papstes der neue Papst gewählt” und “dieser Altar darf nur vom Papst benutzt werden.” Er erklärte das große Fresko an der Altarwand, das das Jüngste Gericht darstellt, wo Jesus so bedrohlich den Arm hebt, von Himmel und Hölle, vom Thron Gottes, der Heiligen Dreieinigkeit, den Engeln, den Märtyrern, die als Heilige verehrt werden und die als rechte Hand Gottes um Fürbitte angegangen werden können, die glorreiche Geschichte der Kirche sowie ihre Sorgen und Kummer. Ist es Missionseifer? Ich sollte auch eifriger sein. Was bedrückt mich hier nur so? Die Decke ist doch hoch genug.
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“Die Menschen knien?” “Ja, das sind demütige Christenmenschen, die sich bewußt sind, armselige Sünder zu sein.” “Ach ja. Sie sagten ja vorhin, daß die Christen danach streben, wie Gott zu sein.” Aber nicht alle waren demütig, einige waren offensichtlich Schaulustige, die's leicht nahmen: Kommst du heute abend mit zum Abendmahl? - Neee, ik bin Vegetarier! wurde mit Gelächter aufgenommen. Langsam gingen sie auf den Ausgang zu. Adjuna kaufte sich noch ein Andenken, dann verabschiedete er sich. Der Priester schenkte ihm noch ein schwarzes Buch, die Heilige Bibel. “So ist Gottes Wort immer bei Ihnen. Versuchen Sie einmal, was Gott Ihnen zu sagen hat.” “Wie denn?” “Stechen.” “Wie?” “Stechen. - Sehen Sie. Das geht so. Schließen Sie die Augen und stecken Sie einfach den Finger in das Buch und zeigen Sie auf eine Stelle. Das will Gott Ihnen dann persönlich sagen.” Adjuna tat, wie ihm geraten wurde, und als er die Augen wieder öffnete, hatte er leere Seiten vor sich. Es waren die Seiten, die sich zwischen dem Alten und dem Neuen Testament befanden. 1 “Sie können es ja noch mal versuchen. Vielleicht haben Sie dann mehr Glück.” Adjuna machte wieder die Augen zu und probierte es noch einmal. Als er die Augen wieder öffnete, zeigte sein Finger auf 4. Buch Moses, 31. Kapitel 17: Erwürgt nun alles, was männlich ist unter den Kindern, und alle Weiber, die Männer erkannt und beigelegen haben; aber alle, die weiblich sind und nicht Männer erkannt haben, die laßt für euch leben.” “Ich denke, Euer Gott hat an fünfte Stelle gesetzt: Du sollst nicht töten.”
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Das ist mir tatsächlich bei diesem gläubigen/abergläubischen Stechen passiert und zwar mit meiner eigenen Bibel, bei der diese Seiten durch nichts besonders hervorgehoben sind und ich immer verzweifele, wenn ich mal das Inhaltsverzeichnis am Anfang des Neuen Testaments suche.
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Aber Glocken fingen an zu läuten und der Priester hatte keine Zeit mehr und mußte gehen. Im Weggehen rief er noch: Kommen Sie bald wieder!" In Gedanken versunken, kopfschüttelnd ging auch Adjuna. Mmmh, ...mit Jungfrauen, deren Väter und Mütter man umbrachte, - - -." Dann fiel ihm sein Andenken ein. Was hatte er denn da gekauft? Aus Holz war es. Ein Kreuz. Daran hing ein junger Mann, wie ihm schien, angeheftet. Ein Leinentuch locker um die Lenden. Ein Mysterium, daß es nicht herunterfiel. Und ein Symbol. Die Religiösen, wie sie ihre eigene Impotenz verschleiern, so auch die Impotenz ihres Gottes. Wie im Himmel also auch auf Erden. Oder umgekehrt.
Die Religiösen sind nicht impotent, sie haben mehr vergewaltigt als geile Böcke.
Die Religiösen sind doch impotent, weder sie noch ihr Gott noch dessen Sohn haben eine bessere Welt geschaffen.
Nachdem Adjuna jetzt wieder draußen war, fühlte er sich niedergeschlagen, bedrückt, erdrückt - impotent. Das gab's doch nicht. Das durfte nicht sein. Er mußte schnell mal irgendwohin. Aber wohin? Er kannte kaum den Weg zurück. Und das war nicht, wo er hinwollte. Also wohin? “Entschuldigen Sie, können Sie mir...” Nichts. “Entschuldigen Sie bitte, können Sie mir sagen...” Die Leute eilten weiter... “Ent...” 137
...schienen ihn nicht zu bemerken. “Bitte.” ...schienen es eilig zu haben. Entschuldigen Sie bitte, ..." War er unsichtbar geworden? Er ging direkt auf jemanden zu und sprach ganz schnell: “Entschuldigen Sie bitte, können Sie mir sagen ...” Es hatte keinen Sinn, der Mann hatte einen Bogen um ihn gemacht und war schon wieder in der Menge verschwunden. Durchsichtig war er also nicht. Die Stadtmenschen eilten weiter, alle irgendwohin, und Adjuna irrte weiter, bloß wohin? Da ging eine junge Dame, die mehr Zeit zu haben schien. “Entschuldigen Sie, können Sie mir helfen. Ich bin fremd hier.” “Ja, was kann ich für Sie tun?” “Ich suche ein Freudenhaus.” Barsch drehte sich die Frau um und ging weg. Adjuna gab's auf. Keiner wollte was von ihm wissen, er war verachtet, ausgestoßen, einsam, das alles nur, weil er seine Potenz verloren hatte, er mußte sie verloren haben, es konnte gar nicht anders sein - wenn er doch endlich ein Freudenhaus finden würde, nur ein Mädchen konnte ihm Gewißheit geben - aber es konnte nicht anders sein, er mußte sie verloren haben. Es war dunkel geworden und hatte angefangen zu nieseln. In erleuchteten Tavernen tanzte und alberte man fröhlich zu flotter Tanzmusik. Ich gehöre nicht zu ihnen, dachte er und hastete weiter. Immer wieder Tavernen, immer wieder Tanzmusik. Der Regen wurde stärker. Ob ich doch mal versuche reinzugehen? Ja, ich wag's. Als er am Eingang stand, verstummte die Tanzmusik und alles sah ihn schweigend an. Schnell floh er von dem Ort. Er mußte schrecklich aussehen, vielleicht leblos, wie der Tod, wie eine Leiche leichenblaß, er hatte seine Kraft verloren, er war zerstört, einsam, hilflos, wie einst Samson, nachdem man ihm die Haare geschnitten hatte. Er stolperte die Langwand der Santa Andrea della Valle entlang und fiel dann über die rostige Eisenstange einer Umzäunung, die für einen so großen Menschen wie ihn zur Fußangel geworden war. Sein Kopf krachte gegen einen Steinklotz. Benommen rappelte er sich hoch. “Guten Abend. Ich bin Abate Luigi”, schien die Figur auf dem Klotz zu sagen. “Nett, daß du zu mir sprichst. Erzähl mir mehr!” Aber so 138
sehr Adjuna auch an der Statue rüttelte, sie war aus Stein und blieb aus Stein und sprach kein Wort mehr. Nur eine in der Dunkelheit nur schwer entzifferbare Inschrift sagte ihm noch etwas:
Im alten Rom war ich ohne Ruhm und ohne Rappen, Opfer Ränke und starker Getränke, doch jetzt pappen Onkel und Tanten Pasquinaten an meine Kanten. Ein neues Leben ist mir gegeben. Hab ich auch keinen Bregen, ich geb Euch meinen Segen. Die Glückseligkeit von Stein währt länger als des Menschen Unglück-sein. 139
Ein Stein mag wohl glücklich sein, stößt sich weder Beulen, noch findet er das Leben zum Heulen. Doch wer hat schon die Wahl zwischen Stein und Menschsein. Wo sind denn die versprochenen Pasquinaten? Fast wie ein Blinder tastete sich Adjuna am Stein entlang. Ah, da sind ein paar Zettelchen. Was steht denn drauf: Die Pappisten sind Faschisten. Ein anderes Zettelchen: Wußtest du das schon, Religion ist der Menschen Hohn? Mmmh, das reimt sich ja ganz gut. Ah, hier ist etwas, das sich nicht reimt: Der Vati-kan, aber soll er auch?1 und hier: Lieber eine befleckte Verhütung, als eine unbefleckte Empfängnis. 2 Was interessieren mich Verhütung und Empfängnis, ich bin ein Mann und außerdem fühle ich mich impotent. “Im Lenz kommt Potenz, im Winter kriegst nen kalten Hintern.” Das hilft mir auch nicht, jetzt ist Sommer. Außerdem schlecht gereimt. Was gibt es denn noch? “Den höchsten Genuß/ schaffen mir weder Künstler noch Dichter/ Ein Frauen-Kuß/ ist mir viel wichtiger/ und Frauen Gunst/ ist wahre Kunst/ und wird sie auch teuer bezahlt/ sie
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“Der Vati-kan, aber soll er auch?” wurde einem satirischen Artikel der österreichischen Monatszeitschrift MOZ vom Juni 1988 entnommen. Der Autor des Artikels Wolfgang Beyer wurde für seine gottes- und papstlästerliche Satire in erster Instanz mit einer Haftstrafe von einem Monat auf drei Jahre Bewährung verurteilt. Das Urteil wurde in der Berufungsverhandlung in eine Geldstrafe von 60 Tagessätzen auf Bewährung umgewandelt.
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“Lieber eine befleckte Verhütung als eine unbefleckte Empfängnis" war Text eines Aufklebers von Birgit Römermann und ihrer internationalen Gemeinschaft zur Entwicklung der Lebensfreude. Birgit Römermann wurde gemäß `Gotteslästerungsparagraph' § 166 StGB 1984 vom Göttinger Richter Freiboth zu einer Geldstrafe von 400 DM verurteilt.
Der Autor dieser Vita Adjuna kann natürlich nichts dafür, daß solche gotteslästerlichen Texte an der Statue des Abts Luigi angebracht waren. Genauso wenig wie der Autor eines Krimis etwas dafür kann, daß ein Mord in seinem Buch geschieht.
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ist es wert.” und “Ein käufliches Gretchen,/ ein Freudenmädchen,/ verkauft Liebe und Lüge,/ und ist doch ehrlicher als die Pfaffen,/ die Schuld und Sünde schaffen,/ und uns dann ihr Vergeben/ andrehen.” Aha, wir kommen der Sache schon näher. Was steht denn auf der Rückseite. “Der Freudenmädchen Ware ist Liebe. Der Theologen Liebe ist wahre Lüge.” Es ist schön, sich zu unterhalten und Dinge erklärt zu bekommen. Mehr. Oh, ein Zettel mit rosa Herzchen und roten Lippen. “Herzen, küssen,/ knutschen, kosen,/ busseln, blasen,/ lecken, laben,/ kannst du haben/ bei Horizontalen.” Oh, ihr Huren und Horizontalen, wo seid ihr? Wo finde ich Euch bloß in dieser großen Stadt. Adjuna sah sich schon umarmt. Was steht auf der Rückseite? Eine Adresse? Unleserlich. Schade. Vielleicht werben noch andere Dirnenhäuser hier am Stein, und er suchte den Sockel auf weitere Zettel und Inschriften ab. Er fand nur ein kleines Zettelchen: “Die Dirnen spenden ihren Segen mit gespreizten Beinen, die Pfaffen verkaufen ihren Segen mit gespreizten Armen. Bruder, ich frage Dich: Wo bekommst Du mehr für Dein Geld?” Dumme Frage, ich bekomme ja nur einmal was. Große Weisheiten findet man aber nicht bei dir, Luigi, und du willst Abt sein? Was leuchtet denn da auf? Da steht ja noch was geschrieben, mit besonderer Farbe, sonst würde das ja nicht plötzlich phosphoreszieren. “Für Weisheit bin ich nicht zuständig. Geh zu Babbuino! Nur Narren denken, sie sind weise, Weise aber wissen, sie sind Narren. 1”
Adjuna wußte zwar nur, daß sein Wirt Babbuino hieß und närrisch war, so närrisch wie Adjuna verwirrt durch die Interaktion mit der Säule, und nichts von einer sprechenden Statue gleichen Namens, die weder einen Affen noch seinen Wirt, sondern einen bockbeinigen Begleiter
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Shakespeare, Wie es Euch gefällt V,1
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Bacchus, also einen stumpfnasigen Silen darstellte, und doch dauerte es nicht lange, da stolperte er wieder in einer dunklen Straße über eine Absperrung und stieß sich seine zweite Beule. Wissenschaftler haben ausgerechnet, daß man im Durchschnitt 666 Tage durch die große Stadt irren müsse, um durch Zufall also ohne Stadtplan und ohne das Befragen von Passanten auf die Statue des Babbuinos in der Gasse des Pavians zu stoßen. Das ist Wahrscheinlichkeitsrechnung, 666 aber ist die Zahl des Biests, welche die Zahl der Unvollkommenheit ist, aber auch des Menschen, des wildesten Tieres, und des Teufels, der der Höllenfürst ist. So daß man sagen kann, es ging teuflisch oder nicht mit rechten Dingen zu, daß Adjuna schon sechs Minuten, nachdem er Abschied genommen hatte von Luigi, den Babbuino traf und dann noch wie den Abate Luigi zuerst mit dem Kopf. Verdammt. In seinem Kopf kreiste es wie die Milch im Galaxienmeer. Langsam klärte sich die Flüssigkeit, und was sah er? Zettel. Mit Tränen in den Augen, weinerlich, brummschädelig las er den ersten:
Das unendliche Universum ist ewige Veränderung ist Gott!
Das muß mir passieren. Mir. Mir, der ich von den Göttern geschickt wurde, um den Menschen ihren albernen Aberglauben an Gott zu nehmen. Warum war mir dieser blasse, spittelige, schmalbrüstige, blauäugige Diener Gottes heute eigentlich sympathisch?
Alle Gegensätze ergänzen sich.
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Dieser Zettelschreiber beantwortet meine Frage nicht. Ergänzen heißt nicht mögen. Wenn Gegensätze sich ergänzen, entsteht etwas Ganzes, Vollkommenes? Unsinn. Aberglaube und Unglaube schaffen keinen vollkommenen Glauben, nur Unglaube schafft vollkommene Freiheit, und Sinn und Unsinn...? Ach, Blödsinn. Jedenfalls keine Vernunft. Doch wie ist es mit weisen Narren und dem närrischen Weisen? Und wollen wir nicht das Gewollte und erhalten das Nicht-Gewollte, wer kennt sich in dieser Welt noch aus, bei Satz und Gegensatz, Teil und Gegenteil, bei Luzifer und lieben Gott, beim Leibhaftigen und dem Leib des Wahrhaftigen, des Heilands, bei Liebe und Enthaltsamkeit. Und sind unsere Versuche, ewig zu sein, nicht Versuche unseres Unterganges? Während Adjuna so grübelte, hielt er einen langen Zettel in der Hand, der aussah wie ein Kassenzettel. Hier die Abrechnung:
Ewige Gegenteile
Wir erzeugen Kinder, die unser Leben fortsetzen sollen, aber sie negieren es. Wir wollen leben, und ist uns Leben gegeben, so nagt die Todessehnsucht an uns. Wir wollen Sättigung und schon sind wir übersättigt. Speisen machen uns fettleibig, Süßigkeiten geben uns Zahnschmerzen, Spielzeuge fördern unsere Langeweile, Sex unseren Ekel, 143
die Religion unsere Angst.
Wir lösen ein Problem und schaffen viele neue, und eine neue Erkenntnis hinterläßt mehr Fragezeichen als sie löscht. Die Bildungsmöglichkeiten, die allen zugänglich gemacht wurden, korrumpieren das Denken. Der Dünger, der die Erträge vermehrt, vermindert den Boden und unsere Chancen. Die Medizin, die den Siechenden helfen soll, macht die Menschheit siechend; ach, Kranker, geh doch freiwillig fort. Wir wollen den Hunger bekämpfen und schaffen mehr Esser; mehr Esser schaffen aber heißt, mehr Hungernde schaffen. Die Waffen, die wir schaffen, schaffen mehr Waffen, um uns abzuschaffen. Der Mensch, der sich die Natur untertan macht, wird unfreier.
Den Untergang, den wir wollen, wollen wir nicht, und selbst wenn wir ihn erwarten, läßt er auf sich warten. Hoffnungen werden nicht erfüllt. Auch Eure nicht.
Adjuna hatte genug und ging. Da sah er irgendwo an der Straße, wieder eine verwitterte Figur, allerdings ohne Sockel. “Bist du auch eine sprechende Statue?” “Nein.” Es war eine alte Frau. Ihr Mundgeruch, 144
oder besser: Gestank, verriet sie als Säuferin. “Komm, mein Sohn, trink, du siehst blaß aus, mit durchnäßtem Hemd, ohne Decke und Mantel bleibt nur der Schnaps zum Wärmen. Was fehlt dir denn?” “Die Steine reden zu mir, aber die Menschen schweigen mich an.” “Doch nicht in dieser Stadt! Du bist verwirrt.” “Ich dachte, Gott wäre impotent, und jetzt bin ich selbst mit Impotenz geschlagen.” “Zeig mal her!” und sie wollte ihm in die Hose greifen. “Sag mir lieber, wo ich ein Freudenhaus finde.” “Ein Bordello? Kannst du es nicht mit mir machen?” “Nein, selbst in meinen besten Tagen hätte ich es nicht bei dir geschafft.” “Süßer, du kannst einen fröhlich machen.” “Entschuldige, ich war zu ehrlich.” “Schon gut, dein Bordello findest du, wenn du die Straße immer geradeaus gehst, beim rosanen Licht. Ich bin da Klofrau. Morgen früh komme ich wieder zum Saubermachen. Bis dann.” “Bis dann.”
Der Mann ist ein armes Wesen: Beim Liebesakt muß er einen Schwellkörper steif halten und manchmal ist es seine größte Sorge, daß er das nicht schafft und er sich lächerlich macht, weil unmännlich ohne dieses Symbol der Männlichkeit. Unmännlich und ohnmächtig liegen irgendwie zu eng zusammen. Bei Frauen ist das natürlich ganz anders, natürlich wollen sie nicht männlich sein und Macht besitzen sie allemal. Für den Geschlechtsakt, wie für so vieles, eignen sie sich viel besser als die Männer, da sie sich dabei entspannen können. Was bei richtiger Entspannung die angespanntesten Männer unterliegen läßt. Für ihre Potenzsorgen haben die Männer sich schon mit Liebesäpfeln und Liebeswurzeln vollgefressen und manch einen Liebestrank geschluckt, auch Massagen erdacht und manch anderes, Perversitäten und so. Selbst ein Mann wie Adjuna, den jeder für die Inkarnation der Omnipotenz hielt, wurde ein Opfer dieses Komplexes. Ein Anankasmus der Männer. Potent oder impotent, das war für ihn zur Frage geworden, ja mehr, zur Qual, zur Bessenheit, Manie. Härte, 145
Länge, Größe in Aktion war plötzlich wichtig geworden und ließ ihn durch die Stadt irren und das Gegenteil suchen, die Ergänzung zur Vollkommenheit, die Scheide zum Schwert, die Buchse zum Bolzen, die Bestätigung oder den Untergang. Als Adjuna jetzt unter der rosa Laterne stand und durch die offene Tür lugte und die Mädchen sah, sagte er verzagt: Hallo, ihr Huren und Horizontalen. Oh, ich habe euch gesucht. Wichtiger als Hunger und Durst, als Wärme, Trockenheit, ein Dach über dem Kopf, ein warmes Bett war es mir, zu euch zu kommen. Die Huren staunten über die Schüchternheit eines so gut aussehenden, muskulösen Mannes, der, wie sie meinten, doch jede mit links kostenlos haben könne, und gaben ihm genau den Empfang, den er brauchte, nämlich einen liebevollen. “Normalerweise ist man nicht so ehrlich. Und daß wir wichtig sind, gibt schon gar keiner zu.” “Man verachtet uns.” “Ja, und das finde ich ungerecht. Wir arbeiten mit unserer Muschi genauso hart und fleißig, wie andere mit ihren Händen oder ihrem Kopf, außerdem ist es nicht nur die Muschi, die arbeitet. Und liefern tun wir genauso ehrlich wie ein Kaufmann.” “Die Ehefrauen sind neidisch, weil sie nie Befriedigung erlangen können, mit dem einen Männchen, das sie haben und das sie wahrscheinlich durch ihre Raffinessenlosigkeit schon lange angeödet haben.” Die Chefin des Hauses, die Puffmutter, trat vor: “Dies ist Delila.” Adjuna stockte einen Moment, als er den Namen hörte, mit dem die Chefin ein Mädchen bezeichnete, nämlich das, das ihm am besten gefiel. Ich hoffe, sie gefällt dir. Die anderen Mädchen können ihr helfen, solange sie nichts zu tun haben.” Adjuna zog sich mit Delila zurück. “Die meisten wollen ja nur schnell einen Orgasmus und dann schnell wieder nach Hause, damit ihre Alte nichts merkt, aber wenn du Zeit hast, können wir uns unterhalten.”
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“Das wäre schön. Bisher habe ich in dieser Stadt mit mehr Steinen, und was es sonst noch so an Leblosem gibt, gesprochen als mit Menschen.” Und Adjuna erzählte seine Geschichte, aber er hörte auch zu. “Ich war lange Jungfrau, dann lange Zeit Ehefrau, es hat mir nie Spaß gemacht, die abendliche Pflichtübung meine ich, es war immer zu schnell vorbei. Mein Mann klagte immer: Erst willst du nicht, dann willst du mehr, als möglich ist. Irgendwann bin ich dann fremdgegangen, das machte schon mehr Spaß. Einmal kam ich von meinem Geliebten direkt zu meinem Mann. Das war dann der Gipfel. Auch er war begeistert. Als ich aber dann gestand, war's aus. Er schickte mich weg und ich wurde Hure. Ich bin viel glücklicher so und das ist doch das Wichtigste.” Die Unterhaltung hatte sich lange hingezogen, zwischendurch hatte er in den Nebenzimmern keuchen und bumsen gehört, aber jetzt war es schon wieder viel stiller, nur das Gekicher einiger Mädchen war noch zu hören. Es klopfte jemand an die Tür. “Wollt ihr mit uns essen?” Delila zu Adjuna: “Das ist eine gute Idee. Laßt uns was essen. Danach kümmern wir uns dann um dein Problem.” So wurde Adjuna eingeladen zum Essen. Seit meiner Kindheit beim Händler Abraham habe ich nicht mehr so gemütlich bei Tisch gesessen. Ich danke fürs Mahl und mehr noch für eure Freundlichkeit. Nach dem Mahl fingen die Mädchen kokette Spielchen an. Sie zeigten ihm fiel, aber ohne die Hüllen fallen zu lassen. “Das sollte reichen. Der Rest ist für dich, Delila. Gute Nacht.” Als Adjuna dann mit Delila im Bett lag und ihre Umarmung, ihre Haut und Küsse spürte und all die lieben Sachen gesagt bekam, die andere Frauen nur ganz selten sagen, nämlich nur, wenn sie wirklich in der Stimmung dazu sind, bereute er fast, daß er stundenlang nichts anderes mit diesem wunderbaren Wesen getan hatte, als sich zu unterhalten.
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Sie reizte ihn und forderte ihn schließlich auf, sie zu lieben, aber er hatte wirklich ein Problem. Sie zeigte Verständnis: “Ja, ihr Männer habt es schwer, ihr müßt ihn steif halten, um lieben zu können, nach einem harten Tag ist es schwer für euch. Wir Frauen können mit Leichtigkeit mit vielen Männern kopulieren. Wir Frauen besitzen ein nicht abschlaffendes Element und, wenn es geweckt wurde, auch etwas Unersättliches. Daß manche Religion uns nur den Bruchteil eines Mannes zubilligt, ist eine absurde, die tatsächlichen Verhältnisse auf den Kopf stellende Ungerechtigkeit. Wir brauchen mehr Liebe als ein einzelner Mann geben kann.” Nach dieser Abschweifung erzählte sie von Ausschweifungen, die sie mitgemacht hatte, um von ihrem Kunden doch noch was zu haben. Es half nichts. Auch intime Zärtlichkeiten und Küsse waren vergeblich, selbst das Zergehenlassen der Eichel auf der Zunge brachte nicht mehr als angenehme Gefühle. Die ersehnte Anschwellung, Steife blieb aus. Dann holte sie aus ihrer Nachttischschublade einen länglichen Gegenstand heraus und hielt ihn sich verspielt wie eine Maske oder Pappnase vors Gesicht. “Was ist denn das?” “Damit befriedigen wir uns selbst, wenn wir nichts zu tun haben. Sollen wir dir mal zeigen, wie wir so was machen?” Und ohne eine Antwort abzuwarten, rief sie: “Lola, Rosa, Fanni, Uschi, kommt mal her und bringt eure Pappnasen mit!” Irgendwo knurrte jemand: “Ich habe heute genug gearbeitet.” Aber zwei Mädchen kamen tatsächlich, Adjuna konnte jedoch nicht herausfinden, um welche Mädchen es sich handelte, denn sie verschwendeten keine Zeit damit, sich vorzustellen, sondern machten sich gleich daran, ihm vorzuspielen, was er eigentlich hätte machen sollen. Als die Komödianten ihr Schauspiel beendet und erschöpft den Raum wieder verlassen hatten, meinte Delila: “Weißt du was? Ich glaube, du bist ganz einfach müde. Morgen früh klappt es bestimmt. Gute Nacht.” Sie löschte das Licht. Und beide schliefen.
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Nachdem er ein paar Stunden geschlafen hatte, sah die Welt tatsächlich ganz anders aus, jedenfalls für Adjuna. Es hatte angefangen, hell zu werden, und jetzt wollte er nachholen, was er am Abend versäumt hatte. Aber sie knurrte nur: “Was willst du?” und blinzelte: “Wenn das Licht der Sonne durch den Gardinenspalt auf die Truhe scheint, dann ist Mittag und ich stehe auf. Jetzt ist Mitternacht für mich. Ein langer Schlaf ist wichtig für die Schönheit.” Adjuna konnte aber nicht mehr schlafen, sein steifes Glied machte ihm zu schaffen und er zappelte rum, so daß Delila schließlich die Beine breit machte und sagte: “Na, komm, mach schon.” Danach schlief sie wieder ein. Adjuna zog sich an, legte die Bezahlung auf die Truhe, wo mittags die Sonne drauf scheinen würde, und ging.
Zurück in der Herberge. Babbuino mit müden schlürfenden Schritten, aber mit eifrigen Händen sich fleißig bekreuzigend, kam Adjuna in der Wirtsstube entgegen, offensichtlich besorgt. “Hahaha..” “Hast du Schnupfen?” fragte Adjuna. “Hahahalleluja. Dadada bist du ja.” Und so weiter. Sorgen und Vorwürfe, und in wörtlicher Rede nur mühsam wiederzugeben. Adjuna setzte sich zu Tisch. “Ich habe einen Bärenhunger.” Der Wirt brachte ihm sofort eine Schüssel Eintopf. “Ohne Gogo Gott1 nichts im Popo Pott, im Toto Topf.” Der Wirt selbst setzte sich an den Nebentisch, wo er mit seiner Familie, Lucrezia und anderem Gesinde, sowie Lucino, der, wie sich jetzt herausstellte, doch nicht zum Gesinde gehörte, sondern ein Herr Studiosus war, der zu Untermiete wohnte, und der, da seine Eltern gut für ihn bezahlten, ein extra Fleischstück bekam. Mit Piepapo-beten-
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macht-froh leitete Babbuino das Tischgebet ein, dann ließen sie es sich schmecken. Nach dem Essen machte Adjuna sich gleich an die Arbeit. Wundertun, die Leute beeindrucken wie jener Jesus von Nazareth. Wenn Wunder einem Unsterblichkeit einbrachte, denn wollte auch er Wunder tun. Die Leute sollen sich wundern. Doch das mußte trainiert werden und gut überlegt. Zunächst fiel ihm nur der Trick mit dem Hühnerei ein, doch nach und nach ... Kartentricks, Verschwindelassetricks, Hut-und-Hase-Trick, Röntgenaugentrick, den Trick mit verbundenen Augen zu lesen, indem man durch den Schlitz an der Nase schielt, die Geschicklichkeit und Fingerfertigkeit der Zigeuner, mit denen seine Mutter einst reiste, erreichte er allerdings nicht. Vielleicht sollte er Adam-Riese-RechenAkrobatik hinzunehmen, plus richtiger Akrobatik, also auf dem Kopf stehend zehnstellige Zahlen potenzieren. Bald sah man ihn jonglieren, balancieren, sich verbiegen, Jokus und Hokuspokus studieren. Sollte er auch Schwertschlucken mit ins Repertoire aufnehmen. Verdammt, mit Waffen konnte er als alter Krieger doch was Besseres machen als runterschlucken, er brauchte nur eine stabile Zielscheibe, dann würde er es den Leuten schon zeigen, sie beeindrucken, Wunder wissen lassen. Überhaupt im Kampf war er der große Wundermann. Nervös geworden vom vielen Herumfummeln mit Karten - es wird noch Tage dauern, bis das alles klappt - ging er stracks in die Wirtsstube und fing Streit an. Ein brutaler Säufer, den er schon vom Hof aus hatte grölen hören, ließ sich genug provozieren. Mit gezogenem Messer wollte er auf Adjuna stürzen. Doch Adjuna hatte ihn schon beim Handgelenk gepackt und drückte zu. Die Hand fiel ab. Fortan trainierte Adjuna tagsüber, abends aber machte Kneipenbummel, die regelmäßig mit Schlägereien endeten.
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er
“Ich kann Karate.” “...und gleich Purzelbäume.” Bums. Die höchsten Meister asiatischer Kampfkunst können durch die Wand gehen, der erste Schritt aber ist durchs Fenster purzeln. Wahrlich Wunderfäuste, aber auch die Messer warf er mit wunderbarer Eleganz und Genauigkeit, nie erstach er plump einen Gegner, sondern ließ sein Messer ums gegnerische Gesicht tanzen, ein Stakkato des Stiletts, hack hack hack Nase und Ohren ab, die Trophäen warf er einem Torero gleich seinem begeisterten Publikum zu. Geschickt war er schon, wenn er auch irgendwas falsch verstanden hatte, er war sicher nicht der einzige. Bald war Adjuna so berüchtigt, daß der stärkste Straßenkämpfer der Stadt ihn zum Kampf auf Leben und Tod herausforderte. Der Kampf sollte zur nächsten Vollmondnacht auf dem höchsten Turm der Stadt ausgetragen werden. Wer unterlag, sollte runtergeschmissen werden. Am Vorabend ging Adjuna früh schlafen. Im Nebenzimmer hörte er Lucinos Auf und Ab. Am Stöhnen konnte er erkennen, daß es Lucrezia war, die bei ihm war. Ein unersättlich potenter Typ, dachte Adjuna sauer, während er versuchte, trotz des Lärms zu schlafen. Eigentlich war es nicht die Lautstärke, sondern die Art des Lärms, die ihn nicht schlafen ließ. Mit dem ersten Hahnenschrei sprang er aus dem Bett. Im Gang traf er Lucino: “Guten Morgen, Bruder Studeo, was macht das Studium?” So erfuhr Adjuna, daß Lucino Theologie studierte und Priester werden wollte. Lucino war der jüngste Sohn einer reichen Kaufmannsfamilie und kam aus Parma. Wie einst das Papsttum im dreißig Kilometer entfernten Canossa über das Kaisertum seinen Triumph und Sieg hatte, so hatte es auch im Kopfe dieses jungen Mannes gesiegt. Er wollte sein Leben opfern für Papst und Jesus und den christlichen Glauben schlechthin. Opfern, das war ja genau das, was immer 151
erforderlich war. Wenn sich keiner opferte, gab es keinen Glauben und keine Opfer.
Am Abend war dann der Kampf. Der Turm war von Neugierigen umstellt. Ein Schiedsrichter durchsuchte die beiden Kämpfer auf Waffen. Bei Adjuna fanden sie dreizehn Wurfmesser und ein kurzes Schwert, bei dem Rocker fünf Schußwaffen, drei Fahrradketten, einen Totschläger und zwei Eisenstangen. Die Schiedsrichter nahmen den beiden Draufgängern, das heißt eigentlich sollte ja nur einer draufgehen, die Waffen ab und entließen die jetzt unbewaffneten Gladiatoren dann durch eine Luke auf den Turm. Die Luke wurde von innen verriegelt und sollte erst wieder geöffnet werden, wenn einer von ihnen runtergeschmissen worden war. Adjuna wollte noch eine Rede halten über Tod, Todesverachtung und die Gewalttätigkeit, die das Leben der Menschen beherrschte, aber sein Gegner trat ihm gleich ins Gesicht, was nicht nur furchtbar weh tat, sondern ihn auch so wütend machte, daß er manch gute Kampftechnik vergaß. Er packte den Gegner und sie rangen, drückten, rollten, rissen, kamen hoch und fielen wieder nieder, umklammert stießen sie sich kleine Wunden und bissen sich gleich wilden Hunden. Doch was macht Adjuna jetzt? Will er sterben? Ein Doppelselbstmord? Er zieht und zieht, hält seinen Gegner fest und zieht über die Kante ihn; er wird zuerst fallen, der Gegner drückt, aber wird dann mitgerissen in die Tiefe. Erst auf halbem Wege läßt Adjuna ihn los und fliegt wieder hoch. Das jedenfalls bezeugten alle, die dabei waren und es von unten gesehen hatten. Erst später behaupteten einige Mißgönner, er habe nur seinen Mantel an einem Seil runtergeworfen und dann wieder hochgerissen. Aber solche Leute gab's ja immer.
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Obwohl Adjuna diese Nacht spät nach Hause kam, war in seinem Nebenzimmer immer noch jene rhythmische Bewegung zu hören, mit der Liebende sich in der Monotonie der Missionarsstellung langsam aber zielsicher zum Orgasmus aufschaukelten. Der blieb aber aus. Wer weiß, wie viele Adjuna schon versäumt hatte. Langsam wurde es immer stiller, die Luft war raus, oder nein, das Blut.
Sind Tricks Wunder oder die Betrogenen wundergläubig? Ist das größte Wunder gar der Selbstbetrug der Betrogenen? Und gäbe es ohne Selbstbetrug weder Betrug noch Lüge, weder Wunder noch Religion, aber auch keine Hoffnung? Wir machen uns doch alle was vor. Wir uns und andren, andere sich und uns.
Die Leute sahen gerne Adjunas Tricks oder Wunder. Unter dem Publikum befand sich außer Kindern und Einfältigen wohl kaum jemand, der nicht glaubte, ihm werde was vorgemacht. Man sah es, und was man sah, war so unwahrscheinlich, und doch vermutete man einen bloßen Trick, eine Täuschung. Das ist der Fortschritt der letzten 2000 Jahre! Doch halt, der Lorbeer kommt zu früh. Glaubt man nicht immer noch das Unwahrscheinlichste ungesehen? Geschickt mit den Fingern, klappten Adjuna die meisten Zaubertricks, doch wenn mal etwas schief zu gehen drohte, nahm er auch richtige Zauberei zu Hilfe. Merkte ja keiner. Leider warfen die Leute nur wenig in seinen Klingelbeutel. Das lag natürlich daran, daß er ganz und gar nicht wie ein Bettler aussah. Von dieser Vorbedingung wußte er aber nichts, sondern dachte immer, er müsse seine Tricks noch mehr steigern, noch Unwahrscheinlicheres bieten, echtere Zauberei. So daß er am Ende mit Hilfe alter Mantras und noch älterer Götter wirkliche Magie betrieb. 153
Erst zog er bei einigen Freiwilligen aus dem Publikum die Nase und Ohrläppchen lang, ohne sie mit der Hand zu berühren, schließlich verwandelte er Rotkäppchen in den bösen Wolf und einen Magierkonkurrenten in den gestiefelten Kater, am Ende hopste er selbst mit Hilfe irgendeines Gottes in eine andere Dimension und wurde nicht eher wieder gesehen, als daß er zurückgesprungen war. Die Leute bekamen das Fürchten und vergaßen den Griff ins Portemonnaie ganz und gar und die, die sich sowieso nicht wundern konnten, gingen wie immer unbekümmert vorbei. Enttäuscht ging Adjuna zurück zur Herberge. Morgen versuche ich den Seiltrick.
Zurück in der Herberge: “Oh, Lucrezia, die Leute sind zu geizig und zahlen mir kaum was für meine Aufführung. Bald kann ich die Miete nicht mehr bezahlen. Ob Babbuino mir das Zimmer wohl noch billiger überläßt?” “Das weiß ich nicht. Da mußt du die stotternde Statue schon selbst fragen.” Schon kam Babbuino angewatschelt zum Mietekassieren. “Mein Gott, Babbuino.” Hektisches Bekreuzen von Seiten Babbuinos. “Du bist zu teuer, bald hab ich kein Geld mehr.” Babbuino erzählte, daß Jesus gesagt hatte, wir sollen uns nicht sorgen, sondern lieber die Vögel angucken: Sie säen nicht, sie ernten nicht, sie sammeln nicht ... Adjuna: “Was weiß der denn von Vögeln?” Lucrezia und Lucino kichern und kuscheln dichter zusammen. Gottes Sohn aber hatte keine Ahnung von Ornithologie.
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Babbuino aber hatte ein gutes Herz und versprach, daß Adjuna sich keine Sorgen zu machen brauche, wenn er mal nicht zahlen könne. Er würde schon was zu essen bekommen und auf die Straße gesetzt würde er auch nicht. Lucino wollte auch noch etwas sagen. Da er aber von Ornithologie genauso wenig Ahnung hatte wie sein Herr und auch eine Predigt zu Matthäus 6 noch nie vorbereitet hatte, hielt er einfach die Predigt, die er fürs Seminar hatte vorbereiten müssen, und die sich hauptsächlich lang und breit über die Verdienste des Glaubens auf die moralischen Werte und die Demut der Menschen ausließ und die immer wieder von allen Anwesenden, einschließlich Babbuino, mit “Amen” unterbrochen wurde, in der Hoffnung, daß sie nun zu Ende sei oder zumindest dadurch ihr Ende beschleunigt würde.
Diese Nacht war anders als sonst, nichts Kosmopolitisches, nichts Erdgeschichtliches, nichts Humanmedizinisches war anders, nichts Geologisches, nichts Meteorologisches und auch nichts Ornithologisches, und in vielen Häusern wurde zweifellos gevögelt wie eh und je, es war etwas Akustisches, das anders war, Töne, Geschrei, Gestöhne. Mein Gott, was kamen denn jetzt für Geräusche aus dem Nebenzimmer, das war keine mechanische Missionarstellung mehr. Es scheint, selbst Missionaren wird die Missionarsstellung manchmal zu monoton. Als Gregor VII., der große Asket unter den Päpsten der katholischen Kirche, von den Zinnen der Festung Canossa herunter Heinrich IV. demütigte, waren es nicht nur die schroffen Felsen der Apenninausläufer, die gerötet waren, sondern auch der von einem härenen Hemd bedeckte Rücken des frommen Gregors, der ihn sich in seiner Demut fast täglich zu geißeln oder geißeln zu lassen pflegte. 155
Im Nebenzimmer stöhnte Lucino. “Paß auf, daß du nicht gegen die Hoden schlägst.”
Der neue Seiltrick war ein großer Erfolg, oder war es der bunte Turban, den er dazu trug? Der Trick selbst war ganz einfach: Es handelte sich nämlich nur um eine optische Täuschung, die er seinen Zuschauern in die Hirne hypnotisierte. Nur das Seil war echt. Die Täuschung begann mit dem Aufsteigen des Seils. Wie die Schlange eines Schlagenbeschwörers stieg das Seil hoch, aber es stoppte nicht wie die Königskobra in Augenhöhe des Beschwörers, sondern schien endlos schon nach kurzer Zeit in der Unendlichkeit zu verschwinden. Dann schickte man einen Knaben hoch, warf einen Säbel hinterher, es regnete Fleischstücke und dann, simsalabim, war der Knabe wieder ganz. Mit der Regelmäßigkeit eines Angestellten ging er jeden Tag zur Arbeit und führte den Seiltrick in den verschiedenen Stadtteilen auf, und das wichtigste, jedes Mal kassierte er ab und zwar ordentlich. Seine Nächte waren jetzt unruhiger, wegen der Buße des Herrn Studiosus. Aber auch Buße hat ein Ende. Irgendwann hat man genug gebüßt. Eines Nachts: Adjuna hörte Lucrezia schreien: “Was hab ich nicht alles für dich getan? Wäsche gewaschen, Hemden gebügelt, die Beine breit gemacht, wenn immer du das wolltest, sogar das dreckige Ding hab ich in den Mund genommen und in der letzten Zeit dieses perverse Spielchen mitgespielt und dir den Hintern verhauen.” “Gepeitscht.” “Glaubst du, mir hat das Spaß gemacht? Nein, nur für dich hab ich das getan, und was tust du für mich? Du läßt mich im Stich.” 156
Adjuna wußte nicht, worum es ging. Er wunderte sich nur, er wußte, daß der Studiosus als Priester nicht heiraten durfte, aber da mußte es doch eine Lösung geben, als Haushälterin zum Beispiel, und außerdem war sein Studium ja noch längst nicht zu Ende, so daß man noch kein Geschrei zu machen brauchte. Aber letzten Endes interessierte ihn nur sein Schlaf und er ärgerte sich: Mal kann man nicht schlafen, weil sie sich lieben, und jetzt kann man nicht schlafen, weil sie sich hassen.
Was aber war Lucrezia heute passiert? Sie hatte gemerkt, daß sie schwanger war, und gehofft, daß Lucino sie heiraten würde, ja sogar ein bißchen gehofft, daß er sich freuen würde. Aber als er von der Alma mater zurückkam und von der Schwangerschaft hörte, nannte er es eine Hiobsbotschaft und schimpfte: “Konntest du Schlampe nicht aufpassen? Das Kind muß natürlich weggemacht werden.” “Kannst du mich nicht heiraten?” “Du weißt doch, daß ich Priester werden will. Außerdem passen wir nicht zusammen. Was würden meine Eltern dazu sagen? Ich bin der Sohn reicher Leute, wir sind eine Aristokratenfamilie.” Dann war er weggelaufen und erst am Abend wiedergekommen.
Am nächsten Tag ging Adjuna wie immer zur Arbeit. Es war ein besonders heißer Tag. Gegen Mittag war er der Meinung, für heute genug mit seinen Zauberkünsten verdient zu haben. Die Mittagshitze in Rom war zuviel. Er flüchtete in den Schatten der großen Kirche. Rechts vom Eingang fiel ihm wieder die Pietà von Michelangelo auf, die Leiche des jungen Mannes in den Armen seiner nicht gealterten Mutter. Nicht ohne Erotik, wie so vieles hier. Und doch den Scham schamhaft bedeckt, die Beine zusammen fast wie ein keusches Mädchen, unmännlich wie die Priester dieser Religion in 157
Frauenkleidern. Einst in Indien hatten wir Götter, die ganz erigiertes Glied waren oder Schamlippen, ganz Geschlechtsteil, ganz Potenz. Die Kühle der steinigen Umgebung tat ihm gut. Noch von der Hitze keuchend, sich den Schweiß abwischend, dachte er: Wurde ich wirklich einmal in der Wüste geboren? Erschöpft wollte er sich gerade auf einen der Klappstühle setzen, die so gar nicht in die großartige Umgebung paßten, da sah er den Priester wieder. Der Priester freute sich sehr, war sehr freundlich, führte ihn wieder herum und zeigte ihm dieses und jenes und stellte ihn auch seinen Kollegen vor und zwar als Samson, wegen seiner starken Arme und seiner langen Haare, die aufgewickelt auf seinem Kopf einen Turm von beträchtlicher Höhe ergaben, lose runterhängend aber die Länge der Schleppe einer Hochzeitsbraut erreicht hätten. “Das ist Samson, wie ihr seht. Auferstanden direkt aus der Zeit als die Israelis Sklaven der Philister waren. Stark und langhaarig wie in seiner besten Zeit.” “Es gibt keine Auferstehung im Diesseits, nur vor dem Herrn zum Jüngsten Gericht. Ob deinem Freund dann seine starken Arme nützen werden, bezweifeln wir allerdings.” “Samson kommt von der anderen Seite des Meeres und ist neu in der Stadt. Er kennt weder unsere Sitten, noch unseren Glauben.” “Wenn er hier nicht beten will, sollte er sich einer der Reisegruppen anschließen.” “Samson hat großes Interesse an unserer Religion.” Den Priesterkollegen seines neuen Freundes blieb er trotz des biblischen Names suspekt - ein Heide. Und Adjuna dachte: ‘Dieser eine hier ist anders.’ ‘Dieser eine hier’ stellte sich, als die anderen weggegangen waren, als “Jakob - Bruder Jakob” vor, und er fing leise an zu kichern: “schläfst du noch, schläfst du noch... Kennst du diesen Kanon?” Aber Adjuna erinnerte sich an einen anderen Jakob, denn ihm fiel plötzlich seine Kindheit ein, die er ja bei einer jüdischen Pflegefamilie verbracht hatte, sagte aber nur: 158
“Freut mich, Jakob. Ich heiße übrigens Adjuna und habe das eigentlich gar nicht gern, wenn man mich Samson nennt.” “Nanu, warum denn nicht? Ich wäre stolz, wenn man mich Samson nennen würde. Weißt du überhaupt, wer Samson war?” “Ja, natürlich. Du mußt nämlich wissen, ich bin bei jüdischen Pflegeeltern aufgewachsen.” “Ach, das wußte ich ja gar nicht. Bist du dann auch Jude geworden?” “Nein, ich war schon alt genug, um meine Identität zu wahren, aber ich habe als Kind all die Geschichten der jüdischen Helden gehört und war sehr erstaunt, die Geschichten meiner Kindheit in eurem Buch zu finden.” “Ja, unser Heiland, von dem ich dir erzählt habe, war ein Jude - das heißt, eigentlich war er doch kein Jude. Die Juden sind leider so starrköpfig und nehmen ihn nicht als Heiland an.” “Was meinst du mit `Er war Jude und doch kein Jude'?” “Wie ich dir erzählt habe, Gott war sein Vater und seine Mutter Maria war auch schon von Gott gezeugt, da bleibt vom Juden nicht viel übrig.” “Nein, bloß ein Viertel. Aber obwohl er göttlich war, wurde er mit Vorhaut geboren und erst durch eine spätere Operation wurde dieser Mangel behoben? Wahrscheinlich am achten Tag nach der Geburt. Ich habe das letzte Mal Gemälde gesehen, die das darstellten.” “Das ist richtig. Die Vorhaut ist auch göttlich und wir verehren sie als Reliquie. Aber, Samson, entschuldige, ich habe deinen fremdländischen Namen vergessen. Was hast du eigentlich gegen den Namen Samson?” “Mein Name war Adjuna. Was Samson betrifft, so erinnerst du dich sicher, daß Manoah und seine Frau lange kein Kind bekamen. Man beschuldigte damals immer in so einem Fall die Frau, unfruchtbar zu sein. Doch als der Engel des Herrn erschien, wurde sie plötzlich fruchtbar. Soweit hat Samson sogar Ähnlichkeit mit mir, denn auch meine Geburt ist obskur und der Vater ungewiß, zweifellos hatte auch bei mir ein Gott seine Hand im Spiel. Doch wie benimmt er sich weiter. Du weißt, die Israelis waren damals Sklaven der Philister. Samson verliebte sich in die Tochter eines Philisters. Die Eltern sind sogar damit einverstanden, daß ihre Tochter einen Unfreien heiratet, aber Samsons Eltern sind dagegen, daß er eine Tochter der unbeschnittenen Philister heiratet. Als er sie dann aber doch endlich heiraten darf, stellt er der Verwandtschaft seiner Braut ein dummes 159
Rätsel und verspricht 30 Festkleider bei der Lösung des Rätsels. Verrät dann die Lösung seiner Braut. Die verrät's ihrer Familie. Was macht Samson? Er schlägt 30 unschuldige Philister tot und nimmt ihre Kleider weg, um sie der Verwandtschaft seiner Braut zu geben. Von seiner Braut will er auch nichts mehr wissen. Die heiratet einen seiner Begleiter. Das tut ihm dann doch leid und er versucht bei ihr einzudringen, ihr Vater verweigert ihm das aber: Ich dachte, du haßt sie, sagt er und bietet dann sogar ihre jüngere Schwester an, die noch schöner sein soll. Samson ist aber so wütend, daß er meint, er hätte jetzt eine gerechte Sache gegen die Philister. Er fängt dreihundert Füchse, macht Feuer an ihre Schwänze und jagt sie in die Felder und vernichtet so die Ernte der Philister. Dann rennt er zu einer Hure. Als nächstes, ein anderes Mädchen am Bach Sorek, Delila, wahrscheinlich auch eine Hure, auf jeden Fall ein käufliches Mädchen. Denn als die fünf Fürsten der Philister ihr jeder 1.100 Silberlinge anbieten - also wesentlich mehr als man für euren Helden gezahlt hat - , wenn sie herausfindet, wie man ihn bezwingt, willigt sie ein und er ist auch dumm genug, ihr es zu verraten. Ich gehe ja auch manchmal zur Hure. Mag ich auch meinen Samen da lassen, so doch nicht meinen Verstand. Soll ich den Rest auch noch erzählen, du kennst es ja: Er wird gebunden, seine Augen werden ausgestochen. Später als er wieder bei Kräften und bei Haaren ist und den versammelten Philistern vorgeführt werden soll, schmeißt er das ganze Haus um, aber der ganze Mist fällt auch auf seinen eigenen Kopf und begräbt ihn. Und so etwas soll ein Held sein! Für mich jedenfalls nicht!” “Ja, so gesehen natürlich nicht, aber der Herr war mit ihm. Und es war schon ein Wunder.” “Übrigens, wo wir bei Namen sind, sehen wir uns doch mal deinen Namen an. Das ist ja auch ein biblischer Name.” “Was ist los mit meinem Namen?” “Ach, nichts, nur der biblische Jakob führte nicht so ein steriles Leben wie du, sondern erinnert mich eher an ein Kaninchen.” “Ja, er ist ja auch Israel, der Stammvater der Israeliten.” “Ja, er verliebte sich in seine Cousine Rahel. Sein Onkel verspricht ihm, wenn er sieben Jahre schuftet, bekommt er sie. Gern arbeitet er für seinen Onkel, die Zeit vergeht wie im Fluge. Wie sieben Tage erscheinen ihm die Jahre, so verliebt ist er. Aber dann bekommt er Lea, die ältere Schwester, die häßlich und blöd ist. Denn es ist nicht Sitte, die jüngere vor der Älteren zu verheiraten. Und noch einmal muß er sieben Jahre dienen für seine 160
jüngere Cousine Rahel. Unter diesen beiden Frauen entsteht nun ein richtiger Gebärwettstreit. Zuerst geht Lea in Führung: Ruben, Simeon, Levi, Juda. Rahel wird nervös. Da sie es selbst nicht schafft, bietet sie Jakob ihre Magd an, die dann in ihren Schoß gebären soll. Als ob das dadurch ihr Kind wird. So werden Dan und Naphthali geboren. Schon wird Lea nervös, sie möchte ihren Vorsprung gern behalten. Da sie auch eine Magd hat, bietet sie die jetzt Jakob an und Gad und Asser werden geboren. Jakob, der ja mittlerweile vier Frauen zu befriedigen hat, scheint, wenn Lea an der Reihe ist - wir dürfen nicht vergessen, sie war ja keine Schönheit -, ihn nicht mehr steif zu kriegen. Lea schickt deshalb ihren ältesten Sohn Ruben los, Mandragoren zu sammeln. Hast du schon mal Mandragoren gesehen?” “Nein, die wachsen hier nicht im Vatikan.” “Die Wurzel der Mandragora, Alraunwurzel genannt, weil man davon das Raunen kriegt, ist lang und fest wie ein Phallus, den sie also ersetzen kann. Aber die Wurzel schafft nicht nur so Raunen, sondern eingenommen ist diese Pflanze auch ein starkes Aphrodisiakum, außerdem glaubte man, es würde die Fruchtbarkeit erhöhen. Als Rahel, also Leas Konkurrentin, sieht, wie Ruben seiner Mutter dieses potenzsteigernde Mittel bringt, möchte sie auch davon haben. Offensichtlich zeigt Jakob also auch bei ihr Erschöpfungserscheinungen. Lea gibt natürlich ihrer Schwester nicht so einfach etwas von den Wurzeln ab, sondern verlangt eine zusätzliche Nacht mit Jakob dafür. Jakob macht mit. Bei Frauen zeigt er ja überhaupt wenig eigenen Willen. Mit Hilfe der Wurzeln oder des Herrn oder - was weiß der Teufel - werden Isaschar, Sebulon und Dina, ein Mädchen, geboren und zwar von Lea. Rahel schafft es jetzt auch ohne ihre Dienstmagd: Sie bringt einen Sohn zur Welt und nennt ihn Joseph. Später hat sie noch einen zweiten Sohn, Benjamin, bei dessen Geburt stirbt sie aber. Sie ist also offensichtlicher Verlierer bei diesem Gebären um die Wette.” “So wie du das erzählst, hört es sich fast wie wie Gotteslästerung an.” “Du meinst, weil ich vergessen habe, zu sagen, daß die Frauen für jede Geburt Gott überschwenglich danken und um mehr Kinder bitten, damit sie den Sieg davon tragen.” “Ja, es scheint, die Menschen hatten damals ein engeres Verhältnis zu Gott und Gott zu ihnen.” “Es scheint aber auch, daß man damals die menschlichen Bedürfnisse nicht vergessen hat. Du siehst so blaß und freudlos aus, du solltest dir an deinem biblischen Namensvetter ein 161
Vorbild nehmen und Mandragora essen und zur Frau gehen.” “Ich brauche keine Mandragora - eher das Gegenteil. Siehst du, ich habe einen Keuschheitseid geschworen, aber ich schaffe es nicht, ihn zu halten. Immer wieder begehe ich das Verbrechen Onans. Es macht mich fast verrückt.” “Da kann ich dir helfen. Ich kenne da ein gutes Freudenhaus ...” “Nein, nein, schon gut. Bloß nicht!” und leise: “Führe mich nicht in Versuchung ...” “Mein Stiefvater hieß übrigens Abraham und war Händler wie der biblische Abraham.” “War der Händler? Ich dachte, das waren nomadische Hirten damals.” “Abraham hat doch sogar zweimal seine Frau verkauft. Das heißt, beim zweiten Mal hat es nicht geklappt. Und der Apfel fällt nicht weit vom Stamm. Sein Sohn Isaak versucht es noch einmal, sogar beim gleichen König. Ich hab zwar all die Geschichten als Kind gehört, aber gute Kindergeschichten sind das nicht, sozusagen nicht jugendfrei.” “Hast du denn in dem Buch, das ich dir gegeben habe, schon weitergelesen, ich meine, da, wo was über Jesus steht, das Neue Testament nennen wir das. Was meinst du denn dazu?” Sie drängten sich gerade durch eine Gruppe Pilger. “... dein Kommentar?” “Schmetterlingseffekt.” “Was meinst du damit?” Da sie gerade an einem Altar vorbeikamen, der ähnlich aussah wie Adjunas neuer Talisman, meinte Adjuna, der sich plötzlich an Hinrichtungen in seiner Stadt erinnerte: “Es kommt übrigens häufig vor, daß Männer, die gehängt oder gekreuzigt werden, noch einmal pollutieren.” Der Priester meinte aber, daß das in Bezug auf den Heiland ein abwegiger Gedanke sei. “Du hast mich gefragt, was ich mit Schmetterlingseffekt meinte. Der Begriff kommt aus der Meteorologie. Durch etwas Unbedeutendes wie der Flügelschlag eines Schmetterlings entsteht eine Luftverwirbelung, die durch Zufall, Zeit und Entfernung zu einem riesigen Wirbelsturm anwächst.” “Und du meinst, das trifft für Jesus zu?” “Ja, sehen wir ihn uns doch einmal an. Zu seiner Zeit war er ein Nichts. Wahrscheinlich war er nicht einmal Zimmermann wie sein Vater, sondern hat nur herumgestromert, mit irgendeiner fixen Idee im Kopf, sein Brot hat er sich, wer weiß wie, verdient, jedenfalls nicht durch ehrliche Arbeit. 162
Nur wenige Anhänger fand er. Er verstand es offensichtlich nicht zu überzeugen. Demagogie war seine starke Seite nicht. Von einem Gottessohn hätte ich mehr erwartet. Die Juden folgten Moses, warum nicht Jesus? Dem einfachen Volk konnte er vielleicht was vormachen, aber bei den Gebildeten scheiterte er völlig. Besonders als die Schriftgelehrten ihn vor seiner Hinrichtung zur Rede stellten, hätte ich einen größeren Auftritt erwartet. Bot sich doch gerade da die Möglichkeit, ein Zeichen zu setzen, daß das ganze Volk, nicht nur den Pöbel, sondern auch die Intelligentia, überzeugt hätte, doch euer Held bleibt seltsam stumm: Ihm fehlen die Worte. Seine Gegner sind demagogisch gesehen die besseren. Das Volk schreit ihm seinen Haß entgegen. Wahrscheinlich kannten die meisten ihn gar nicht und die Hetzer hatten leichtes Spiel. Er war zu seiner Zeit halt zu unbedeutend. Stromer, die sich für was Besonderes halten, gab es damals wie heute und zu fast jeder Zeit genug, und dem Volk sind sie immer ein Dorn im Auge. Erst ihr habt um diesen Außenseiter, der ordentliche Arbeit verweigerte, weil er meinte, der Herr sorge für ihn, einen solchen Wirbel gemacht, daß aus dem Verweigerer von einst ein Taifun wurde, ja, mehr: ein Feuerbrand, sogar ein Teil Gottes, und nicht irgendeines Gottes, sondern des großen Schöpfergottes - ein Drittel davon, wenn ich das richtig verstanden habe. Weißt du, was das ist?” “Nein.” “Blasphemie.” “Blasphemie?” “Ja, Blasphemie.” “Warum?” “Weißt du, wie groß alles ist? Unsere Erde allein beherbergt Hunderte von Völkern, die alle irgendeiner spukigen Religion anhängen. Um unsere Sonne eiern neun Planeten, das ist zwar nicht viel, aber in unserer Galaxis gibt es ein- bis zweihundert Milliarden Sonnen. Man weiß zwar nicht, wie viele Galaxien es gibt, denn man konnte sie noch nicht zählen, da man das Ende des Universums noch nicht gefunden hat, aber man ist sicher, daß es mehr als 100 Milliarden sind. Außerdem gibt es im Universum noch schwarze Löcher, weiße Zwerge, Wasserstoffwolken, Nebulae, Supernovas, Quasare und Pulsare, Radiationen, Radiosignale und Hintergrundstrahlung. Und das alles soll von jemandem sein, der andererseits nicht einmal ein einziges Menschenpaar schaffen kann, das ihm gehorcht, und dessen eine Drittel, das sich Sohn nennt, kann nicht einmal eine überzeugende Rede halten! Wenn es einen Schöpfergott gibt, fügt ihr ihm die größte Beleidigung zu.” - “Glaubst du, daß es draußen im Weltall intelligente 163
Wesen gibt?” “Warum sollte ich im Weltall Dinge vermuten, die es auf der Erde nicht gibt?” Sie standen jetzt vor dem Baldachin, dem Hauptaltar im Schnittpunkt von Lang- und Querschiff. “Unter diesem Tabernakel befindet sich das Grab Petri.” Petrus, einem armen Fischer, der sich für das noch ärmere Leben an der Seite eines Wanderpredigers entschieden hatte, wurde mit diesem Prachtbau ein Denkmal gesetzt wie für kaum einen Kaiser oder König, nur die Pharaonen und Mumtaz Mahal hatten noch prächtigere Grabmäler. Doch die Ironie endet hier nicht: Er, der dreimal den Herrn verleugnete, noch ehe der Hahn krähte, war der felsenfeste Fels, auf dem die Kirche gebaut war. “Er starb für den Glauben”, erinnerte Bruder Jakob an das Martyrium Petri. Menschen sterben und morden für ihren Glauben, nie für das, was sie wissen. Für das, was man mit Sicherheit weiß, stirbt man nicht und tötet man auch nicht, sondern nur für den Glauben ist man bereit, sein Blut zu vergießen und leider auch das der Zweifler. Als ob die Opfer dem Wunschdenken eine höhere Wahrscheinlichkeit geben. Noch wissen wir wenig und wünschen viel.
“Adjuna, dich stößt die Pracht hier ab. Du solltest mich mal zum Kloster begleiten. Da leben meine Brüder ganz bescheiden.” “Da
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komme ich gerne mal mit. --- Aber es ist nicht die Pracht, es ist der Widerspruch.” “Gut, Adjuna, treffen wir uns am Montagmorgen nach dem ersten Läuten beim Eingangsportal.” “Abgemacht.”
Nachts war es ruhig geworden. Lucino war zu seinen Eltern nach Parma gefahren, und Lucrezia war ihm offensichtlich gefolgt. Adjuna hatte mittlerweile seine Bibel von Deckel zu Deckel, von der ersten bis zur letzten Seite, von der Schöpfung bis zur Apokalypse gelesen. Wir sind alle nur ein Spielzeug Gottes? Wie die Bauklötze eines blöden Kindes zum Turm gestapelt und wieder zerstört? Oder ist Gott ein blödes Spielzeug der Menschen, wenn auch ein blutiges? Eine Kindergeschichte aus der Kindheit der Menschheit, die noch zu ernst genommen wird? Die Apokalypse mag ja wirklich kommen, sie ist wahrscheinlicher als ein Gott, der eine verheiratete Jungfrau schwängert, sie mag sogar von Gläubigen beschleunigt oder herbeigeführt werden. Alles Leben sehnt sich nach anorganischer Glückseligkeit und fürchtet doch den Tod. Das Leben selbst ist ein Unfall, aus Versehen durch einen Blitz in der Ursuppe entstanden. Beim Versuch, den Unfall ungeschehen zu machen, entstanden Kinder. Zellteilung! Obwohl wir im Laufe der Evolution immer mehr das Glück der anorganischen Existenz vergessen haben, können wir uns doch nicht an das Leben gewöhnen. Das Leben hat, um das Leben wieder zurückzunehmen, Monster hervorgebracht, denn alles, was kreucht und fleugt, frißt und vernichtet, aber weder Bakterien noch Biester, Krankheiten und Pestilenzen, Freß- und Vernichtungsorgien haben den inkarnierten 165
Stein-, Luft- und Windgeistern ihre alte Ruhe zurückgeben können, erst dem Menschen mit seinen Göttern, seiner Religion und seiner technisch-wissenschaftlichen Geschicklichkeit mag Erfolg beschieden sein. Adjuna sah noch einmal voller Verachtung auf die Bibel und dachte an die Leute, die sie geschrieben hatten: Ihr wußtet nichts und konntet nichts verstehen. Als Gottes Sohn am Kreuz zu sterben, was ist das schon? Da flüsterten ihm die Götter vom Berg Meru zu: Blasphemie, Blasphemie.
Lucrezia, sich an irgendeine Hoffnung klammernd, welche wußte sie selbst nicht, war hinter Lucino hergefahren, um mit seinen Eltern zu reden. Eingeschüchtert stand sie vor dem stattlichen Haus, zaghaft klingelte sie, ein Diener öffnete, in ihrer Verwirrung hielt sie ihn für Lucinos Vater: “Ich bin Lucinos Freundin und möchte mit Ihnen sprechen.” Der Irrtum wurde schnell aufgeklärt und sie wurde ins Innere des Hauses geführt. Die Familie war im Wohnzimmer, es war dunkel, verglichen zu draußen, an den Wänden hingen alte Gemälde, einige zeigten religiöse Motive. Lucino, als er sie sah, feindete sie an, aber die Eltern traten freundlich auf sie zu: “Mein Kind, was können wir für dich tun?” Sie erzählte von ihrer Schwangerschaft, die Gesichter veränderten sich. Die Mutter finster, fing hysterisch an zu schreien: “Das muß man wegmachen lassen. Das muß man weg machen lassen.” Auch der Vater bestätigte, daß sie das Kind auf gar keinen Fall behalten dürfe, da sein Sohn Priester werden wolle und sie nicht heiraten könne. Mutter: “Wir kennen jemanden, der so was wegmachen kann.” Vater: “Du meinst den Friseur in der Arme-Leute-Gasse?” 166
Mutter: “Ja, richtig.” Lucrezia: “Ich kenne einen guten Frauenarzt in Rom, der auch so etwas macht, aber der ist teuer. Könnt ihr mir vielleicht mit etwas Geld aushelfen?” Mutter: “Nein, nein, nein, alles, aber nicht das. Wir geben doch kein Geld zu Huren. Außerdem wollen wir damit nichts zu tun haben.” Lucino sagte kein Wort. Langsam wurde sie zur Tür hinausgedrängt: “Das wär's ja denn wohl. Das ist dein Problem. Wir haben da gar nichts mit zu tun. Belästige uns bitte nicht wieder damit.” usw. Von draußen hörte sie noch, wie die Eltern sich daran machten, ihrem Priestersohn eine Gardinenpredigt zu halten. Das nützt mir nichts. Enttäuscht fuhr sie zurück nach Rom.
Als Adjuna Lucrezia sah, dachte er, sie sieht schlecht aus, Seborrhoe, fettige Haut, Mitesser, Schuppen; keine Schönheit, nein wirklich nicht. Da ihn immer noch Fragen der Religion interessierten, fragte er sie: “Lucrezia, was sagst du denn zu dieser Religion, die einen Gott proklamiert, der, als Adam und Eva ihm einen Apfel klauten, so böse wurde, daß er die ganze Menschheit verdammte, aber als die Menschen seinen eingeborenen Sohn töteten, sich freut und alles wieder rückgängig machte und zum großen Sündenvergeber wurde?” “Nicht den Sohn, den Vater hätte man umbringen sollen! Dann müßte dieses heuchlerische Gesocks sich endlich einen anständigen Beruf suchen und könnte nicht mehr schmarotzern.” Mensch, die hat aber schlechte Laune.
Am Montagmorgen traf Adjuna, wie verabredet, den Priester, und gemeinsam zogen sie los. 167
“Der Gott, der Moses die zehn Gebote gegeben hat, ist auch euer Gott, sagst du?” “Ja, das ist richtig.” “Aber wo habt ihr denn den Opferaltar.” “Wir opfern doch nicht mehr!” “Ohne Speise- und Trankopfer ist der Gott doch schon längst verhungert.” “Gottes Sohn hat sich für uns geopfert, und seitdem essen wir beim Abendmahl seinen Leib und trinken sein Blut.” “Irgendwann müßt ihr ihn doch mal aufgegessen haben.” Eine fromme Hoffung. Vergeßt nicht, Hoffnungen werden nicht erfüllt, auch eure nicht.
Im Kloster. Jakob erklärte: “ Hier bin ich aufgewachsen und erzogen worden.”
Der Mönche Leben von Epiphanie zu Epiphanie Epiphora, Ora und Labora. Armut, Keuschheit und Gehorsam. Viele Leute streben im Leben nach Glück und Freude. Warum eigentlich? Sind Elend, sexuelles Unbefriedigt-sein und Unterdrückung keine Alternativen? Kann ein hartes Bett nicht ein weiches ersetzen, ein härenes Hemd nicht eine seidene Bluse und die Knute eines Abtes nicht die zärtliche Umarmung einer Frau? Alles ist möglich, selbst in Freiheit die Unfreiheit zu wählen. Man könnte es tolerieren. Man sollte aber nicht vergessen, daß man in Unfreiheit nicht mehr die Freiheit wählen kann.
Die Mönche trugen einfache Kutten und ein einfaches Holzkreuz an der Brust. Die so angekreuzten liefen emsig umher. Ora und Labora. 168
Ihre gesenkten Augen schienen auf dem Fußboden etwas zu suchen. Aber Jakob erklärte später, sie suchen den Eingang zum himmlischen Paradies.
Immer wieder hatte Adjuna den gemarterten Mann gesehen und das Marterholz und sich gewundert, daß jemand, dem ein solches Unglück zugestoßen war, angebetet wurde. Wenn man ihn nun gehängt hätte, würden dann alle diese Leute einen Galgen anbeten? - Und sich vielleicht kleine Galgenmodelle an Kettchen um den Hals hängen, die dann prominent in Gold am Brüstchen prangen, die frommen Prahler, die als Gläubige posieren, Kuttenträger, die penetrant 'nen Galgen präsentieren, um angesichts Sünden und Sündhafter sich zu protektieren und statt bekreuzigen, sich begalgen? Was wäre dann Galgenhumor? Gotteslästerung?
“So ein Kloster ist nichts Sehenswürdiges. Ein Ort des Todes wie eine Gruft.” “Warum meinst du das?” “Ihr lebt nicht, ihr bereitet euch auf den Tod vor.” “Ja, dann muß der Mensch vor dem Jüngsten Gericht erscheinen.” “Ihr scheint furchtbare Angst davor zu haben. Wenn es das nun alles gar nicht gibt, was ihr euch da vorstellt, dann war eure ganze Panik vergeblich. Und ihr habt nur euer Leben nicht gelebt.” “Es gibt es. Alles ist wahr”, sagte Jakob. War die Festigkeit, mit der er plötzlich sprach, Beschwörung? Er sah plötzlich so allwissend aus. Adjuna hatte zum ersten Mal das Gefühl, daß sein neuer Freund auf ihn herabsah. “Es war ein schöner Spaziergang hieraus. Muß auch dir gut getan haben, wo du sonst immer nur einen künstlichen Himmel über dir hast,
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an den Engel gemalt sind und Heilige”, sagte Adjuna, um das Thema zu wechseln.
In der Toilette, nach dem gemeinsamen Pissen - das Kloster hatte eigenartigerweise nur eine Herrentoilette -, schlug Jakob die Kapuze seiner Kutte zurück und betrachtete seinen tonsierten Schädel intensiv vor dem Spiegel. Dann nahm er Öl aus einer bereitstehenden Olivenölflasche und polierte und massierte die kahle Fläche seines Kopfes. Adjuna dachte, er litte an Alopecia praematura oder ähnlichem und hoffe, daß ihm die Haare wieder sprießten mit Olivenöl. “Ich schwöre bei meinen Haaren”, sprach Adjuna, “Olivenöl hilft da nicht. Nimm eine Mischung aus Schnaps, Honig, Birkenwasser und Urin, am besten den eigenen oder den von heiligen Kühen. Dann wachsen sie auch bald wieder.” “Oh, Adjuna, schwöre nicht bei deinem Haupte, denn du vermagst nicht ein einziges Haar weiß oder schwarz zu machen1.” “Warum soll ich denn meine Haare nicht färben können? Ich will es bloß nicht. Du kannst deine da oben nicht färben, weil du da keine hast.” “Ich meine doch deine natürliche Haarfarbe. Die kannst du nicht verändern, nur Gott.” “Ich habe noch nie gehört, daß sich bei jemandem die natürliche Haarfarbe geändert hat, nur daß die Farbe im Alter weggegangen ist. Aber wen interessieren denn Haare? Gene sind doch viel wichtiger. Gen-Forschung, das ist jetzt das große Thema da draußen. Noch können wir Menschen unsere Gene nicht verändern, aber bald. Und
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Matth. 5:36
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wenn wir das geschafft haben, können wir uns auch um die Haare kümmern, unsere natürliche Haarfarbe verändern, und Glatzköpfen wie dir helfen.” “Ich habe keinen Haarausfall. Wir Mönche rasieren uns die Haare da oben ab.” “Was? Ihr beraubt euren Gott der Möglichkeit, eure Haarfarbe zu verändern? Das hätte ich nicht von euch gedacht?” “Soll das eine Andeutung sein gegen die strenge Haltung unserer Kirche in der Abtreibungsfrage?” “?"
Am Tage des Jüngsten Gerichts richten wir Gott. Nach dem Tode gewähren wir ihm die Gnade, die Narrheiten seines Lebens zu erkennen. Doch dann bleibt nur noch die Verdammnis. Nie wieder darf er zurück, er hat zuviel Schaden angerichtet.
Bevor sie voneinander Abschied nahmen, sagte Jakob plötzlich: “Adjuna, obwohl wir so verschieden sind, können wir Freunde sein. Es ist schön.” “Ja, wirklich.”
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“Adjuna, ich habe dir doch mal von dem Verbrechen Onans erzählt.” “Das Verbrechen, das du deiner Meinung nach begehst? Selbstbefriedigung, nicht wahr?” “Ja.” “Das war aber nicht Onans Verbrechen. Onans Verbrechen war ein Coitus interruptus. Also, wenn du Onans Verbrechen begehen willst, brauchst du eine Frau. Ich glaube übrigens nicht, daß er für sein vorzeitiges Rausziehen mit dem Tode bestraft wurde, sondern bloß zufällig gestorben ist.” “Ja, manche Forscher meinen auch, daß er nicht dafür bestraft wurde, seinen Samen verschüttet zu haben, sondern für die Weigerung, mit Thamar die Leviratsehe zu vollziehen.” “Das wäre unberechtigt.” “Warum denn? Wo Onan doch gegen das Gesetz verstoßen hat.” “Weißt du denn nicht, daß der Coitus interruptus zur Empfängnisverhütung kaum taugt. Wenn das Glied einmal eingeführt, verdammt, was rede ich so geschwollen, reingesteckt wurde und der Mann erregt ist, kommen gleich zu Beginn mit dem Schmiermittel, das den Samenleiter für den großen Schub ölt, so viele Samen in die Vagina der Frau, daß sie schwanger werden kann. Wenn Thamar einen Eisprung gehabt hatte, hätte es für Gott, dem soviel an ihrer Schwangerschaft lag, ein Leichtes sein sollen, von den vielen Spermatozoiden eines erfolgreich bis zum unbefruchteten Ei schwimmen zu lassen.” Scholastiker haben sich einmal lang und breit erfolglos und unsinnig darüber ausgelassen, wie viele Englein wohl auf eine Nadelspitze passen. Bei Spermien weiß man es. 3000 finden bequem Platz. Woraus man ersehen kann, was für winzig kleine, unscheinbare Dinger das sind. Wenn das erregte Glied erstmal anfängt zu seibern und Fäden zu ziehen, ist nichts mehr sicher vor ihnen, jedenfalls kein Ei und keine Frau.” “Adjuna, gehst du immer noch zu käuflichen Mädchen?” “Ja, ich hab' mich erst neulich wieder bei einer Hure erholt. Ach, Frauen sind doch was Wunderbares!” “Ich habe Thomas von Aquin, so heißt einer unserer Heiligen, gelesen. Er schreibt, daß Selbstbefriedigen eine größere Sünde ist als Vergewaltigen. Da dachte ich ...” “Ach, du möchtest mal mitkommen. In Ordnung, abgemacht, keine falsche Scham. Ich hab' dich ins Kloster begleitet und du begleitest mich ins Freudenhaus. Abgemacht?” “Meinst du wirklich?” “Ja, natürlich, aber 172
vergiß deinen Thomas, nimm nur deinen Willi mit. Wann wollen wir uns treffen?” “Am nächsten Sonntag gegen Mittag - zur Sonntagsmesse?” “Gut.”
Als Adjuna an diesem Tag nach Hause kam, traf er Lucrezia im Flur beim Fußbodenscheuern an. Als sie Adjuna sah, richtete sie sich mühsam auf. Sie sah blaß aus und schien ein bißchen zu schwindeln. Sie hielt sich den Bauch, als hätte sie Leibschmerzen. Hast du was Schlechtes gegessen?” fragte Adjuna besorgt. “Nein, nein, schon gut”, sagte sie schnell. Später in seinem Zimmer hörte er, wie etwas im Flur zusammensackte. Als er die Tür öffnete, sah er Lucrezia auf dem Boden liegen. Ihre Schenkel waren voll Blut. Zu starke Menstruation, dachte Adjuna, was mache ich nur? Normale Wunden kann man zuhalten, damit der Blutverlust nicht zu groß wird, aber man kann ihr ja nicht die Vagina zuhalten, sie würde ja weiter nach innen bluten. Ein Arzt muß her. Um Hilfe schreiend, lief er in die Wirtsstube und weiter zum Arzt. Als er endlich mit einem Arzt zurückkam, war sie schon tot.
Als Adjuna am nächsten Sonntag gegen Mittag zur großen Kirche kam, fand er eine Menschenmenge auf dem Vorplatz versammelt. Auf der dritten Stufe zum Eingangsportal stand der Kirchenfeind und rief: “Der felsenfeste Fels, auf dem dieses Gemäuer steht, ist nicht nur der wackelige Petrus, sondern Gewalt, Lüge, Betrug, Unsinn, Blindheit, mit einem Wort: Religion. Umschmeißen, sag ich da nur, um...” Da machte die Menge ihn nieder.
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Von der Wankelmütigkeit eines Petrus ist nicht viel übriggeblieben, dachte Adjuna.
Jakob hatte Adjuna schon von weitem erspäht und lief ihm entgegen. Er legte kameradschaftlich seine Hand auf Adjunas Schulter und gemeinsam gingen sie fort. Vom Balkon des dritten Stocks rief noch ein alter Mann zu ihnen hinunter: Paks wo bist kumm? Aber Adjuna wußte auch nicht, wo er war. Sicher nicht auf dieser Welt.
Auf dem Weg zum Freudenhaus merkte Adjuna, wie nervös sein neuer Freund war. Wahrscheinlich hatte er mehr Lampenfieber als vor seiner ersten Predigt von der Kanzel. Um ihn ein bißchen zu beruhigen, sagte Adjuna: “Keine Angst, ich mach das schon.” Aber dann machte er alles falsch: “Hallo, ich hab euch heut jemanden mitgebracht. Das ist Jakob. Er ist übrigens Mönch und Priester. Also wenn jemand beichten möchte...” Stoß in die Rippen, Jakob leise: “Adjuna, wie kannst du sowas sagen. Das darf doch keiner wissen.” Und mit lauter Stimme: “Er macht Späße.” Wenn er bei seinen Predigten auch so wenig überzeugte, sollte er sich einen anderen Beruf suchen. Die Mädchen waren ganz aus dem Häuschen: “Ich denke, alle Priester sind Homos.” Eine andere: “Aber nicht alle Homos sind Priester. Hahaha.” Adjuna wollte sie zurechtweisen mit: “Ja, und alle Damen sind Frauen, aber nicht alle Frauen sind Damen.” Da johlten sie schon: “...und 174
schon gar keine Lebedamen.” “Verstehen doch so viele nicht zu leben.” Die Puffmutter sagte Adjuna, daß Delila gerade beschäftigt sei, und teilte ihm Lolita zu, auch dem Jakob wurde ein Mädchen zugeteilt. “Hallo, Süßer, nenn mich einfach Lola. Oh, du bist himmlisch. Und so stark.” Sie machten sich fertig fürs Bett. “Mein Gott, hast du nicht gerade erst einen Kunden gehabt?” “Ja, mein Süßer, ich bin ein gebuttertes Brötchen.” “Du hast sie dir nicht mal ausgespült?” “Nein, mein Süßer, die wird ja sowieso gleich wieder schmutzig.”
Das Übliche: Hat der Schwanz auch noch soviel Glanz kommt er in die Scheide tief in die Eingeweide wird er bald matt, platt, satt.
Am Ende meinte Adjuna, ein wenig enttäuscht: “Nicht nur deine Muschi ist weich, leider auch dein Oberstübchen.” “Ja, mein Süßer, ciao.” “Tschau.”
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Und wie erging es Hochwürden bei seinem Hurchen? “Hier leckst du brav meine Muschi und wirst geil. Später von der Kanzel wettert ihr dann gegen die Wollust der Frauen und nennt uns Sünderinnen. Euresgleichen hat einen Schöpfungsmythos erfunden, der die Unterdrückung der Frau rechtfertigt. Nicht nur, daß ihr uns aus einer krummen Männerrippe habt machen lassen entgegen aller Vernunft und Erfahrung. Denn wie du aus dem Ding, das du eben beleckt hast und jetzt so ultradumm anschaust, geschlüpft bist, so ist natürlich auch der erste Mensch aus einer Muschi geschlüpft. Lutsch ruhig noch mal dran. Probier, wie die Öffnung schmeckt, durch die, seit es Säuger gibt, Wesen auf die Welt gesetzt werden.” “Aber wie sind sie denn da reingekommen?” “Weißt du das auch nicht? Na, komm her mit deinem Ding da unten. Aber glaube nicht, daß das ein Pflanzstock ist. Wenn ihr an eurer theologischen Fakultät auch nur die dürftigsten Grundbegriffe der Biologie lernt, so solltest du doch wissen, daß dein Samen ohne mein Zutun nichts ist. Das ist natürlich nur theoretisch. In Wirklichkeit weiß ich natürlich zu verhindern, schwanger zu werden. Und wenn mir wirklich einmal ein Malheur passiert, treibe ich natürlich ab.” “Oh, in was für einen Sündenpfuhl bin ich da gelangt.” “Glaubst du, ich möchte von jemandem wie dir ein Kind, außerdem hat Gott uns Frauen ja sogar erlaubt, in Zeiten der Not die Neugeborenen zu essen mitsamt der Nachgeburt.1 Dazu hab ich natürlich keinen Appetit. Heh, du mußt dich mehr bewegen, du wirst ja ganz weich.” “Ich brauche eine Pause.” Er legte sich neben die Hure.
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Siehe 5. Moses 28; 56 - 57
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“Was ich noch zu Eva sagen wollte. Wegen Eva lehrt ihr, daß man uns nicht als gleichberechtigt ansehen darf, denn es war Adams Fehler, seine Frau gleichberechtigt behandelt zu haben und ihr entgegen eigener Vernunft Glauben geschenkt zu haben. Was zur Sünde führte. Und weißt du, was die Frucht war? Natürlich kein Apfel.” “Es war das Wissen um gut und böse.” “Aha, du bist sogar bibelfest. Siehst du auch ein, daß es eine Tugend ist, sich Wissen anzueignen, besonders Wissen um gut und böse. Und noch eins: Wenn sie doch vor dem Sündenfall noch gar kein Wissen um gut und böse hatten, wie konnten sie wissen, ob es gut oder böse ist, sich an Gottes Gebote oder Verbote zu halten?” “Gott schuf den Menschen ihm zum Bilde, also zum Bilde Gottes.” “Aha, Adam und Eva waren wie Gott und Gott war wie Adam und Eva und hatte keine Ahnung von gut und böse und hat es wohl auch heute noch nicht. Das erklärt vieles. Ich sehe, dein Schwanz ist ganz zusammengeschrumpft. Sieht fast aus wie die kleinen Schwänzchen von Neugeborenen. Heute wird es wohl nichts mehr mit dem Sündigen. Wollen wir uns anziehen und an die Bar gehen? Hochwürden braucht natürlich nicht zu zahlen, wo er nicht gekommen ist.” “Danke”, sagte er, während er sich hastig anzog, obwohl er sich vor Schmerzen im Hodensack kaum aufrichten konnte. In der Bar traf er Adjuna. Er hielt sich mit einer Hand an dessen starker Schulter fest, fast wie ein alter Mann. “Na, du mußt es ja wild getrieben haben, du kannst ja kaum noch stehen.” “Oh, Adjuna, das nächste Mal möchte ich aber keine Philosophin haben. Die Frau hat mich fertiggemacht.” “Ist das nicht gut?"
Auf dem Heimweg unterhielten sie sich noch über die Frauen und der Priester erklärte sein Mißgeschick ausführlicher, Adjuna verschwieg allerdings, daß er auch nicht zufrieden war. Der Priester wiederholte 177
noch einmal: “Das nächste Mal möchte ich keine Philosophin, die mir Vorträge hält. Verstehst du das jetzt, Adjuna?” Adjuna dachte, naja, du kennst ja jetzt den Weg, denn er selbst hatte so schnell nicht vor wiederzukommen. Dann fing er an zu lachen: “Ein Kuriosum. In der Kirche kriegst du Abgang und bei der Kokotte versagst du.” “Wieso in der Kirche?” “Sagtest du nicht mal, daß du onanierst?” “Ja, aber doch nicht in der Kirche, da gehe ich doch auf die Toilette.”
Wer stand denn da an der einsamen Ecke, mit Wunden übersät? Der Kirchenfeind. Nein, er war nicht auferstanden, bloß aufgestanden. Zu wem sprach er, war doch nicht einmal ein Straßenköter zu sehen? Wohl zu sich selbst. Und was? War er zum Märchenerzähler geworden? “Es war einmal ein lächelnder Papst. Die Frohe Botschaft hatte ihn wirklich froh gemacht, nicht sauer wie die meisten, deren saures Gesicht die Welt zu erfolgreich von der Frohen Botschaft überzeugte. Hatte er auch die edle Absicht, die Kirche wieder auf den rechten Weg zu bringen, was für ihn hieß, sie, wie einst der Jesus Christus es im jüdischen Tempel getan hatte, von Verbrechern und Geschäftemachern zu säubern, Nächstenliebe zu üben, den Armen zu helfen und nicht die Reichen und Mächtigen zu hofieren, so starb er doch nach nur 33 Tagen eines plötzlichen Todes; es tut nichts zu Sache, ob es ein natürlicher Tod war, oder ob er von seinen Gegnern ermordet wurde, wichtig ist nur, daß Gott, dessen Vertreter der Papst angeblich ist, den, der endlich mal ernst machen wollte mit Nächstenliebe und so, so einfach sterben ließ. Er hätte es nicht zulassen dürfen. Oh, ihr Christen, seht ihr nicht, daß ihr allein seid. Euer Gott ist schon lange nicht mehr. War er je mehr als ein Mensch?” Er machte eine Pause und sah ängstlich zu Adjuna und Jakob herüber, die in einem gewissen Abstand stehen geblieben waren, nah genug, um ihm zuzuhören, aber weit genug, um nicht angesprochen zu werden.
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“Wenn es einen allmächtigen Gott gibt, dann sollten wir ihn nicht anbeten, sondern anspucken, weil er als Allmächtiger an all unserem Elend und all unseren Qualen Schuld ist. Aber es gibt keinen allmächtigen Gott, nur eine mächtige Kirche und einen mächtigen Papst, und wahrlich Elend und Qualen haben auch sie mehr als genug verschuldet. Wie ist das möglich? Haben sie die Macht von Gott? Bei weitem nicht. Nicht einmal von den Menschen, den eigenen Gläubigen, sondern diese Macht, die sie besitzen, haben sie sich angeeignet durch Lügen, Betrug, Fälschungen und Erpressungen, durch Zehnt, Doppelzehnt, Tribut und andere hohe Steuern, durch das Verkaufen von Ablässen, Wunder- und Reliquienbetrug. Keine Lüge war ihnen zu frech, kein Verbrechen zu gemein, kein Krieg blutig genug. Und das Schlimmste, wenn wir es mit der Kirche zu tun haben, heißt Verbrechen nicht Verbrechen und eine Verbrecherorganisation ist keine Verbrecherorganisation. Die Wahrheit wird verfälscht, aus dem Blutfluß ein Heilmärchen, man präsentiert sich uns als Expertin der Menschlichkeit und Jesus ist plötzlich Liebe. Seit wann denn? Heute mittag war er es noch nicht.” “Päpste waren die schlimmsten Tyrannen, aber nicht nur das, einige waren hinterhältige Mörder, andere rachsüchtige Mörder, viele Massenmörder, andere Spezialisten der Unzucht, der Notzucht und des Ehebruchs, häufig Sadisten, aber auch Masochisten gab es und solche, die kuranzten, einige vergewaltigten ihre Beichtkinder, andere ihre eigenen Kinder, einige waren Kujone, andere zeigten für einen religiösen Menschen unglaublichen Scharfsinn, wenn es um ihren eigenen Vorteil ging. Und was sind sie noch? Nach eigener Aussage: Vertreter Gottes auf Erden! Und mich beschuldigt man der Gotteslästerung! Eins haben sie alle gemeinsam: Mit Hilfe von Lügen, Verbrechen, Verschweigen und salbungsvollen Worten haben sie der Kirche immer wieder das Überleben gesichert. Die Kirche ist im Gegensatz zu anderen Verbrecherorganisationen, im Gegensatz zu gelben Horden, braunen Horden und roten Horden ein Chamäleon, opportunistisch wenn opportun, monsterhaft wenn möglich, sogar human und liberal wenn gerade nicht anders möglich. Daher ist sie nicht so leicht kaputt zu kriegen. Ich bin sicher, sie wird noch lange mit 179
uns sein, besonders wenn man mir den Mund zuhält oder sich die Ohren.” Jakob hatte mittlerweile einen roten Kopf bekommen, nicht vor Wut, sondern vor Scham, wie es schien. “Die Geschichte des Christentums ist blutig. Jedes Jahrhundert hatte seine Tragödien. Selbst dieses, auch wenn die Gläubigen die Augen davor schließen. Selbst dieser Tag. Wenn ihr das nächste Mal in die Kirche geht, zum Christen Gott betet oder auch nur einen Missionar oder Priester seht, denkt an mich und an das, was ich gesagt habe. Aber ich weiß, was ein wirklicher Christ ist, der wird nicht etwa zur Einsicht kommen, ja nicht einmal ein Sekündchen zweifeln, sondern sich nur aufregen, mich hassen, und suchen, mich seinen Haß spüren zu lassen. Wer Augen hat, der sehe. Es ist ja alles so klar. Das Christentum ist ein großer Irrtum. Dank des Christentums ist nichts besser geworden, nur schlechter. Zweifellos wäre auch ohne Christentum viel gemordet worden, aber ehrlicher und ohne Heiligenschein.” Es gibt eine Entschuldigung, für Gott sowieso, nämlich, daß er nicht existiert, aber auch für die Kirche, nämlich, daß sie von Menschen gemacht ist, und als solche fehlbar, fehlbar wie andere, die sich auch für unfehlbar halten und hielten und meinten, meinen und immer meinen werden, der Zweck heiligt die Mittel, und das Leben der anderen scheint immer weniger Wert als das eigene, einschließlich der hohen Ideale, die man hat. Adjuna und Jakob gingen weiter und ließen den Prediger zurück. Er sprach weiter, obwohl ihm jetzt keiner mehr zuhörte. Außenseiter sprechen oft nur zu sich und ihresgleichen.
Sie traten in das Halbdunkel der Kirche. 180
Ein Kardinal war gerade dabei, seine Kanzelschwalben von der Kanzel abzukanzeln: “...und die Menschen liebten die Finsternis mehr als das Licht, denn ihre Werke waren böse. Wer Arges tut, der hasset das Licht und kommt nicht zu dem Licht, auf das seine Werke nicht an den Tag kommen. Wer aber die Wahrheit tut, der kommt zu dem Licht, daß seine Werke offenbar werden, denn sie sind in Gott getan.”1 Der Kirchenfeind, der das Christentum kanzellieren wollte, war mir lieber. Schade, daß er weder Kanzel noch Kanzelschwalben hat, dachte Adjuna. Er verabschiedete sich leise von Jakob, der in eine Bankreihe huschte, die zuckenden Bewegungen des Babbuinos vollführte, sich setzte und die Hände faltete. Vergib uns unsere Sünden...
Adjuna lag wach in seinem Zimmer und dachte an Jakob. Nie habe ich unter Schuldgefühlen gelitten wie Jakob. Speise und Trank müssen rein in den Körper, die Abfallprodukte müssen raus und bei ständiger Samenproduktion müssen auch die Samen raus, egal wie, der Druck ist da, zuhalten hilft nicht, führt nur zum Wahnsinn. Natürliches erscheint ihm unnatürlich, und manchmal erscheint es so, als ob er auch gut und böse verwechselt und wie ist es mit schwarz und weiß? Ist er glücklicher oder unglücklicher als ich? Er kennt keine Zweifel. Das ist vielleicht ein Vorteil. Er ist kein Sucher mehr, er ist angekommen, oder ist er nie fortgegangen? Ich aber irre umher. Irren ist menschlich, sagt man, aber ist Geborgenheit nicht noch menschlicher? Ankommen, immer möchte man ankommen, ob im Bahnhof oder in der Kirche oder in irgendeinem Gedankengebäude. Der Mensch ist ein träger Wanderer und es ist keiner da, der ihm die Sporen gibt. Hier irrte Adjuna, obwohl die Götter es zuerst mit Zuckerbrot versuchten.
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Johannes 3, 19 - 21
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Eine wunderschöne Fee stand plötzlich im Zimmer: Wenn du jetzt die Stadt verlassen würdest und die Landstraße entlang gingest, so würdest du statt der Löwenzahnblüten Pusteblumen, wie die Kinder den Löwenzahn nennen, wenn er in Saat steht, finden. Wenn wir die Natur beobachten und ihre Lehre verstehen, so werden wir jeden verspotten, der Ewiges von uns erwartet, Beständigkeit von uns verlangt, heute haben wir eine Wahrheit und morgen vielleicht schon eine andere, wenn sie wahr ist, und die Weisheit, dieses launische Frauenzimmer, umarmt nur den, der seine Wahrheiten gut zu wählen weiß und sie nicht zu alt werden läßt. Wahrlich, jene Muffel, die ihre Wahrheit schon seit 2000 Jahren mit sich herumschleppen, so daß sie speckig und dreckig geworden ist, besonders auch durch die Blutbäder, in denen man sie hat waschen wollen, werden nie einen Hauch der Weisheit und niemals ihren gnädigen Kuß verspüren, war ihre Wahrheit doch schon bei der Geburt in ein löchriges Gewand gekleidet und ach ja so armselig. Das aber ist Weisheit: `Es gibt keine Wahrheit nur Wahrheiten.'
So wurde Adjuna zum Spaziergänger. Wenn immer er Zeit hatte, machte er Ausflüge in die Umgebung Roms, freute sich über Blumen und Vogelgezwitscher. Er nahm sogar eine Laute mit und spielte Lämmern und Libellen leise Liebeslieder vor. Erinnerungen an das Königreich Virata, wo er einst mit seinen Brüdern das dreizehnte Jahr im Exil verbracht hatte, stiegen in ihm auf. Dieses dreizehnte Jahr hatten sie inkognito verbringen müssen und er hatte als Eunuch verkleidet den Frauen was vorgespielt. Damals war er so darauf erpicht gewesen, zu kämpfen, Rache zu nehmen, damals war es leicht gewesen, der Gegner stand fest und die Ehre erlaubte keine Hinnahme von Demütigungen. Aber damals hatte auch etwas Feminines von ihm Besitz ergriffen, geradeso wie jetzt. Damals war es ein Fluch der Urvasi, deren amouröse Annäherungsversuche er abgewiesen hatte, gewesen, der ihm seine 182
Männlichkeit geraubt hatte. Und jetzt? War jetzt etwas Feminines von seinem frommen Freund auf ihn abgefärbt? - Das mußte abgeschüttelt werden. - Und er schüttelte sich kräftig. Er warf die Laute weg. In meine Hand gehört eine Waffe. Aber warum denn? Es sind friedliche Zeiten. Er hätte es besser wissen müssen. Auf dieser Welt gibt es keinen Frieden und selbst die Singvögel sind Mörder.
Als er einmal an einem Kloster vorbeikam, sah er auf dem offenen Hof eine Klasse von Jungen vor der Tafel sitzen, die von einer Nonne Unterricht erhielten. An der Tafel hing eine Rute, deren Abnutzung regen Gebrauch vermuten ließ. In ihm regte sich ein sexuelles Bedürfnis. Die Nonne gefiel ihm wohl - das zarte Gesicht und dessen feine Züge - die verträumten, klaren Augen - alles ließ auf Ergebenheit, Treue und Liebe schließen, die höchsten Tugenden, die eine Frau besitzen kann. Ihr Haar und der ganze Körper wurden vom Klostergewand verdeckt, aber er konnte hindurchsehen und fand einen Körper, ebenso schön wie das Gesicht. Der Gedanke, da sie dem falschen Herrn diente, der nichts mit diesem Körper anfangen konnte, ließ einen Zorn in ihm aufkommen. Konnte man sie nicht diesem Nebenbuhler ausspannen? War dieser Zuhälter nicht die Häßlichkeit in Person, oder warum zeigte er sich nie? Schämt er sich? Ich jedenfalls schäme mich nicht, im Gegenteil, ich kann alles mit Stolz zeigen, denn nichts ist mickerig oder zu klein geraten an mir. Also entschloß er sich, näher zu treten und sich unter einem Baum niederzulassen. Als er den Baum schon fast erreicht hatte, hörte er endlich auch ihre klare, sinnliche Stimme. Eine Sinnlichkeit, die nicht nur ergeben sein will, sondern auch streng. Knaben mit der Peitsche zu erziehen, wie Zirkusbären, ist eine Sünde und auch ein Laster, denn so züchtet man 183
sich nur Bestien oder aber Knechte, besonders bei einer so hübschen Stockmeisterin wie diese. Einige der Schüler waren jetzt auf ihn aufmerksam geworden und hatten sich umgewandt, um ihn nun genauer betrachten zu können, denn es war ungewöhnlich, eine solch stolze, strahlende Erscheinung an diesem mit Trübsal und Demut verhangenen Ort zu finden. Da rief die scharfe Stimme der frommen Erzieherin sie wieder zurück zu Aufmerksamkeit und Mitarbeit im Unterricht, aber da nicht gleich gehorcht wurde, nahm sie die Rute vom Haken und drohte damit. In ihrer lieblichen Stimme konnte man deutlich die Sinnlichkeit vernehmen, und Adjuna wußte wohl, daß sich jetzt bei ihr unten etwas regte, aber nicht nur bei ihr, sondern auch bei diesen Burschen, die etwas bockten, frech kicherten und sich extra noch mal umdrehten, als die Lehrerin sich erst wieder halb zur Tafel gewandt hatte und es ihr nicht verborgen bleiben konnte. Man spürte, wie diese Burschen die Peitsche genossen, obwohl sie nicht geschlagen wurden; gerne hätten sie wohl dieses Spielen und Reizen fortgesetzt, aber ihre Lehrerin war schon wieder ernüchtert und schrieb an der Tafel, wohl auch aus Scham vor dem Fremden, den sie noch nicht einmal angesehen hatte. Auch bei mir regte sich etwas, dachte unser Held, aber noch mehr regt es sich, wenn ich daran denke, wie ich sie mir umerziehen werde und erniedrigen, damit sie mit ihrer Demut einst mir dienen wird und mich befriedigt und sich dabei nicht einmal ihrer Sinnlichkeit schämt. Nun, erstmal werde ich mich unter diesen Baum legen und schlafend stellen, denn nur so wird sie in ihrer Schüchternheit den Mut finden, zu mir herüberzuschauen. Wirklich Mut braucht man dazu, manch ein Mann hatte ihn nicht. Er blickte auf seine nackten Arme und sein offenes Hemd, er wußte, niemand hatte einen so schönen, sehnigfaserigen Körper und erst recht nicht seine Kraft. Verglichen mit dieser vermummten Nonne war er ja fast nackt, aber Nacktheit überzeugt am besten, besonders die Frauen. 184
Er hatte schon eine ganze Weile mit geschlossenen Augen dagelegen. Seine Gedanken waren durch Vergangenes und Zukünftiges gestreift und das Gegenwärtige und die Gegenwärtige vergessen, da endlich spürte er ihren Blick auf sich ruhen und öffnete seine Augen wieder. Was war geschehen? Die Sonne stand an der anderen Seite, nur noch wenige Schüler saßen vor der Nonne und waren in ihrer Arbeit vertieft. Er hatte wohl den halben Tag auf diesen Blick gewartet, oder sollte man ehrlich sein und sagen, er hatte geschlafen. Da steht sie nun und wie sie dasteht. Neben der Tafel, die Hände vor ihrem Schoß, als ob sie wüßte, daß ich durch alles hindurchsehe, aber sie sieht ja noch nicht einmal, daß ich sie ansehe. Träumt sie schon von mir, ihrem neuen Herrn? Er lächelte sie an, so hatte ihr Herr und Gott sie noch nie angelächelt. Und sie dachte, mein Gott, warum hast du mich nie so angelächelt? Immer sah ich dich nur mit leidender Miene und blutleeren Augen, bist du sicher, daß du die Menschen liebst? Und sie dachte noch einmal, so habe ich meinen Herrn und Gott noch nie lächeln sehen. Dann aber schämte sie sich ihrer Gedanken und wurde rot, bekannte sich schnell der Sünde, bat um Vergebung und legte sich auch noch schnell eine Buße auf - zehnmal auf Knien zum Altar. Ihre Fußsohlen und ihr Schoß wurden feucht und ihr alter Gott hatte sie wieder ganz. Adjuna wußte wohl, was in ihr vorging, und er stand auf, streckte und rekelte sich, als wolle er den Schlaf abschütteln, obwohl es nicht nötig war, denn er war schon hellwach, aber Kraft und Schönheit sollten gegen Haut und Knochen stehen. Schüchtern abgewendet, schielte sie zu ihm herüber, und er rief: “Sieh' mich richtig an!” Zögernd gehorchte sie, er ging auf sie zu, sie konnte seinen herrischen Blick nicht ertragen, aber sie hatte Angst, ihn zu verärgern, wenn sie wegblicke. Ihre Knie zitterten und sie ahnte, dieser Fremde war das Gegenteil von ihrem Herrn und doch nicht der Teufel.
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Als er vor ihr stand, sprach er zu ihr: “Du bist eine Schönheit von Frau, und ich sehe, du hast weibliche Tugenden, du liebst zu dienen, aber sage mir, wer ist dein Herr? Verdient er es, daß man ihm dient? Hat er je gesiegt? - Ich kenne deinen Herrn besser als du ihn, er ist ein Schwächling! Wie konnte dich nur Haut und Knochen überzeugen?” “Er ist allmächtig”, flüsterte sie. Da bekam sie klatschend eine Ohrfeige. “Sieh', er beschützt dich nicht.1” Und sie fühlte den brennenden Schmerz seiner kräftigen Ohrfeige. “Du warst ihm immer so ergeben, gerne dientest du ihm, Dienen die höchste Tugend für Frauen, aber dein Gott, er beschützt dich nicht, er ist nicht einmal stolz, daß du ihm folgst, er ist überhaupt nie stolz, nur überheblich. Ich bin nicht allmächtig, nur stark. Ist es nicht besser, die starke Hand eines Mannes zu spüren, als die allmächtige eines Gottes nicht zu spüren?” Sie wollte widersprechen und sagen, daß man Gottes Hand sehr wohl spüren könne, aber sie sah ein, bei ihm würde sie auf völliges Unverständnis stoßen, er gehörte nicht zu den Lämmern mit dem gesenkten Blick, die so regelmäßig in der Kathedrale erschienen und bei der Andacht ihr Ja und Amen beitrugen und alles glaubten. Mit seinen Fingerspitzen berührte er jetzt ihr Gesicht, das ihm so gut gefiel. Es war immer noch gerötet und brannte vermutlich noch. Er drückte ihr die Haube vom Kopf, und langes, schwarzes Haar fiel auf ihre Schultern. Mittlerweile waren die Schüler auch aufmerksam geworden und blickten neugierig nach vorne. Als der Fremde sich ihnen aber zuwendete, vertieften sie sich schnell wieder verschämt in ihre Bücher; Adjuna aber sprach: “Ihr Bürschlein, was macht ihr hier? Ihr wollt etwas lernen, sagt ihr, aber man lernt nicht im Sitzen. Euer Fleiß und eure Gelehrsamkeit ist nur ein Wiederkäuen alten Heues und eure Gehorsamkeit eine Beleidigung des Mannes. Vor einer jungen
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Ähnlich höhnisch argumentierten die Christen in der Antike, wenn sie die Tempel theriomorpher oder anderer Konkurrenzgötter zerstörten, siehe z. B. Karlheinz Deschner `Kriminalgeschichte des Christentums, Band 1: Die Frühzeit'. Noch heute lernen Schulkinder im Religionsunterricht, daß Bonifatius 724, als er eine dem Thor geweihte Eiche fällte, Gott bewies, und nicht, daß er ein Sakrileg beging, schlimmer noch: Zerstörung und Verbrechen. Adjunas Ohrfeigen wurden also von solch christlicher Gesinnung inspiriert.
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Frau zittern euch die Knochen und ihr pischert fast in die Hosen, wenn sie euch droht. Seid ungehorsam! Seid ungehorsam auch gegen eure Eltern, denn aus Liebe zu ihnen und allen Vorvätern müßt ihr, um ihr Stolz sein zu können, euch erst einmal selbst behaupten im Leben und die Früchte einer neuen Weisheit suchen. Sitzt mir nicht herum und wartet, daß sie euch in den Schoß fallen. Wissen und Ehrfurcht will man euch im Kloster vermitteln, aber dieses Wissen ist altes Stroh, abgestandene Brühe vergangener Jahrhunderte und Ehrfurcht dieser Art eine Verhöhnung des Menschen. Geht hinaus in die Welt, aber sucht mir nicht das Schlaraffenland, eher noch die Hölle und je öfter ihr dem Tode ins Auge blickt, umkommt, desto mehr Ehrfurcht bekommt ihr vor eurem eigenen Leben und vor euch selbst. Eine Lehre will ich euch aber noch geben, bevor ihr geht, und wahrlich es tut not, daß die Menschheit davon hört. Seid schamhaft, unterdrückt eure Neugierde, wenn ihr einen Menschen seht, besonders schön oder häßlich, so seht zur Seite, seht ihr aber einen Leidenden, so seht ganz weg. Wenn sich aber Mann und Frau Zärtlichkeiten austauschen, so geht weg!” Und die Jungen folgten seinem Rat und gingen weg - hinaus in die Welt. Diese Begegnung beendete ihre Kindheit. Jetzt sollten sie Männer werden. Er streichelte über ihr Haar, sah in ihre schwarzen Augen und betastete ihre Lippen. Oh, sie soll mich und die Männer lieben lernen, aber nicht, weil wir lieb sind. Sie wird mit mir gehen und mir folgen, wenn ich weiterziehe, aber irgendwann werde ich zu weit ziehen, dorthin, wo es keine Frau mehr aushalten kann. Nun aber wurde er aus seinen Gedanken gerissen von ihrem Schreien: “Oh, nein, oh, nein! Die Oberin wird mich schlagen.” “Du gehörst jetzt zu mir, und niemand wird dich schlagen, denn ich bin dein
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Schutz, und wahrlich, du brauchst dich nicht einmal selbst zu schlagen, wenn dir danach ist.”
Adjuna hatte schon zu lange die Geborgenheit der Herberge genossen, mit jedem Tag war er seßhafter geworden, die Wurzeln, die er geschlagen hatte, hatten ihn immer fester an den Ort geklammert, das einsame Leben eines Wanderers, zu dem sein Schöpfer ihn bestimmt hatte, war ihm immer mehr zum Greuel geworden: Alleine im Wald nächtigen, nichts Ordentliches zu essen, immer unbekannt sein und ein Unbekannter, sich immer wieder verlieren, finden und erfinden müssen, und wenn die Kraft, der Orientierungssinn oder die Phantasie versagten, aus dem Spiel genommen zu werden, war es gut, eine solche Figur zu sein? Ein jeder möge sich gut überlegen, ob er mitspiele oder sich verweigere. Aber selbst Verweigerer wurden oft erwischt. Es gab kein Entkommen.
Was für Qualen hatte sein Schöpfer für ihn parat. Schöpfer sind immer grausam, für sie ist alles nur ein Spiel, ein Spiel mit Geschöpfen, absolute Macht ist die unbekömmlichste Speise.
Erst Eva, so hieß diese Aphrodite, die eine Maria hatte sein wollen, hatte durch ihre außergewöhnliche Schönheit und die Ergebenheit und Verehrung, die sie ihm entgegenbrachte, als sei er ein Gott, seinen Heldenmut wieder geweckt. Ihr zu Liebe wollte er die Welt erobern und nicht mehr ein Pantoffelheld sein in einer drittklassigen Herberge, die Heiliger Bimbam hieß, und wo der Wirt nicht richtig tickte. So treffen wir die beiden als nächstes auf der Landstraße. Die Landstraße ist wie das Leben und das Leben ist wie die Landstraße, krumm, und es hat auch seine Höhen und Tiefen, besonders wenn man 188
zu zweit ist. Die Vielzuvielen jedoch nehmen die Autobahn, wo keine Drachen lauern, Gnome am Wegrand sitzen, Giganten ihre Lanzen spitzen und Gänseblümchen blühen.
Am erstbesten Bergpaß fanden sie tatsächlich einen Drachen sitzen. Eva hatte Angst, aber Adjuna kannte sich aus. “Keine Angst, Drachen wollen immer, daß man ihnen Jungfrauen opfert. Sei froh, daß du keine Jungfrau mehr bist.” “Warum wollen die bloß Jungfrauen?” “Es ist immer das Gleiche. Sie lieben die Enge und scheuen den Vergleich.”
Schon bald kamen sie in ein Dorf. Freudig wurden sie begrüßt. Zu freundlich. Man wollte etwas von ihnen, oder viel mehr von Adjuna. Schon bald rückte der Dorfälteste mit der Sprache heraus. “In den Bergen lebt ein Drache, der verlangt, daß wir ihm jedes Jahr eine Jungfrau opfern. Könnt ihr uns helfen?” “Also gut, schickt mir eure Jungfrauen.” “Wozu?” “Zum Entjungfern.” “Aber das ist es doch gerade, wovor sie sich fürchten.” “Aber ich bin doch kein Drache, sondern ein Mensch.” “Drache, Schlange, Penis, wo ist da der Unterschied, wenn man Angst hat.” “Ja, man muß die Angst besiegen, um sich selbst in den Griff zu kriegen. Und wenn man das geschafft hat, können einem Fabelwesen nichts mehr anhaben. Man sieht nur noch die Wirklichkeit und wirkliche Gefahren. Damit aus dem Würmchen zwischen den Beinen des Mannes kein Monster oder anderes Gehirngespinst wird, tut euren Töchtern keine Gewalt an, euren Söhnen natürlich auch nicht, damit sie nicht zu Monstern werden, laßt sie ohne Furcht und, ebenso wichtig, ohne Scham aufwachsen. Das heißt nicht nur: Zeigt euch euren Kindern nackt, sondern auch: schämt euch dabei nicht! Am besten ist es: Ihr tauscht mit euren Kindern Zärtlichkeiten aus, die die Geschlechtsteile mit einschließen. Schließlich liebt ihr doch eure Kinder - und zwar ganz. 189
Ihr müßt eure Kinder lieben, wirklich lieben. Vergeßt die Gesellschaft, vergeßt die Konvention, habt nur das Glück eurer Kinder im Auge, dann könnt ihr nichts falsch machen. Ihr werdet sie weder schlagen, noch entrechten, noch sie weniger respektieren als einen Erwachsenen. Kinder lernen viel von ihren Eltern, wenn sie Vertrauen haben. Und es ist nur recht, wenn sie eines Tages als Heranwachsende von den Eltern auch ins Liebesleben eingewiesen werden wollen. Es zeigt nur ihr Vertrauen. Und wenn eine Tochter von ihrem Vater entjungfert werden möchte, bevor sie es mit ihrem Freund macht, so ist nichts dabei. Es zeigt nur, daß der Vater noch immer das gleiche Vertrauen genießt, wie einst, als sie noch Kleinstkind war und bei einem anderen ersten Schritt Hilfe brauchte.” “Es ist erstaunlich, was du uns sagst. Moral, unserer Glaube, die Tradition, das Wort unseres Priesters, alles spricht gegen dich. Weder zeigen wir uns nackt vor unseren Kindern, noch dürfen sich unsere Kinder nackt zeigen. Es ist höchstens, daß wenn sie was mit dem Rohrstock kriegen, wir ihnen die Hose runterziehen, aber niemals, um ihren Unterkörper zu streicheln, oder gar zu küssen, das wäre eine Sünde. Deine Lehre schadet unserem Dorfe mehr als der feuerspeiende Drache aus den Bergen. Du zerstörst unsere Identität.” “Fang an, über deine Identität nachzudenken und du wirst sie verlieren.” “Geh, Fremder!” “Verliert euch, damit ihr was Neues findet!” “Verlier dich - aus unseren Augen.” “Ihr seid verloren - für die Vernunft, ein Opfer von Aberglauben und Fabelwesen.”
Wo man nicht willkommen ist, dränge man sich nicht auf, des eigenen Seelenfriedens zuliebe und des der anderen. Die Landstraße hatte die beiden wieder. Nur noch der Aberglaube der Kräuter umgab sie. Hier zum Beispiel die Madonnenlilie: Als der Superheld Herkules noch ein Baby war und heimlich von der Brust der Göttin Juno soff, war er so ungeschickt, daß er die ganze Umgebung bekleckerte. Die kleinen Tröpferchen am Himmel, die die sogenannte Milchstraße bilden, sind nichts anderes als die Milchtropfen der Göttin, aber auch die Erde wurde bekleckert, doch auf dem fruchtbaren Boden sproß aus den Tropfen ein Pflänzchen, das durch seine Reinheit, 190
Zartheit und Keuschheit sofort seinen göttlichen Ursprung verriet. Später dann wurde diese Pflanze wie so vieles von den Christen gestohlen, und heute erzählen sich die Gläubigen, die Zartheit der Pflanze erinnere an die Keuschheit der heiligen Jungfrau, der Mutter Gottes. Gleich daneben das Johanniskraut. Um seine größte Heilwirkung zu erzielen, pflücke man es in der Johannisnacht, also der Nacht zur Sommersonnenwende, jenem Festtag, dem man die Geburt Johannes des Täufers angedichtet hatte, und den man in christlicher Zeit mit Autodafés beging, jenem gläubigen Akt, bei dem man Tausende von Katzen, die wegen ihrer Unabhängigkeit und Eigene-Wege-Geherei jedem Priester ein Dorn im Auge waren, öffentlich auf Scheiterhaufen verbrannte, natürlich auch Hexen, wenn man welche hatte, sind sie doch auch all zu oft unabhängig denkende Frauen gewesen, öfter allerdings aber noch nicht einmal das, sondern nur unschuldige Opfer. Vom-Teufel-Gefickte waren sie jedenfalls nie. Die Heilwirkung des Johanniskrautes war unumstritten: In England half es nicht gegen Wahnsinn und den Russen gab es keinen Schutz gegen Tollwut und selbst die amerikanischen Indianer gaben es dem Von-der-Schlange-Gebissenen als Gegengift, bevor er starb, man sah also, das Kraut trug zurecht den Namen eines christlichen Heiligen. Aus Deutschland, wo man es bei Bettnässen empfahl, wurde gemeldet, daß es bei Kleinkindern in Verbindung mit einer gründlichen Abreibung besonders schlecht wirkte, jedoch liebenden Müttern Heilerfolge selbst unter Weglassung des Krautes bescherte. Daß es erfolgreich gegen Teufel und böse Geister half, war offensichtlich, denn aus der verwundeten Pflanze floß wie aus der Seite des gekreuzigten Jesus rotes Blut, und Christen hatten schon blutrote Flecken auf den Blättern des Johanneskrautes gesehen, und das nicht an irgendeinem Tag, sondern am 29. August, dem Tag, an dem Johannes der Täufer geköpft worden sein sollte. Daß das Kraut auch Hexenkraut, Bettstroh, oder gar Unserer-Frau-Bettstroh und Unsererlieben-Frau-Gras genannt wurde, deutete noch auf anderen Aberglauben hin. Ferner wurde das Kraut Sonnwendkraut, Jägerteufel 191
und Teufeljäger genannt, aber auch Färberkraut und Blutkraut wegen seines roten Saftes. Der Saft der Pflanze enthält übrigens Hypericin, das nicht nur rot ist, sondern auch beruhigend bei Hysterie wirkt, außerdem harntreibend, also bettnässend, sowie adstringierend, also blutstillend und entzündungshemmend, und schlaffördernd. Und was für ein Kraut wuchs da an feuchten Wald-, Wiesen- und Grabenrändern und begleitete den Wanderer am Wegrand? War das noch Engelwurz oder schon Erzengelwurz? Adjuna wußte es nicht. Da es mich fast überragt, ist es wohl Erzengelwurz. Erzengelwurz blühte am Festtag des Erzengels Michael und verfügte daher über engelhafte Kräfte gegen Hexen und Teufel, die es als blähungstreibendes Mittel wurz und furz - mit Donner vertrieb. In hohen, zu hohen Dosen genommen, wirkte Engelwurz auch als Engelmacher, das hieß als Abtreibungsmittel. Die Engelwurz war als Doldengewächs verwandt mit dem Schierling, der ja bekanntlich auch sogar aus Erwachsenen Engel machte, sowie mit Mohrrübe, Sellerie, Anis, Liebstöckel, Petersilie und Pastinake, Kümmel und Kerbel. Zum Schluß in unserem Sammelsurium und Herbarium: das Gänseblümchen. Im Gegensatz zum Johanniskraut mußte es am Johannistag mittags zwischen 12 und 13 Uhr gepflückt werden, um seine Zauberkräfte zu entfalten. Die Araber hatten zweitausend Namen für ihr Wüstenschiff Kamel und fünfhundert poetische Umschreibungen für ihre edlen Pferde, die Deutschen brachten es auf über tausend Wörter für Gunstgewerblerinnen; in dieser Gesellschaft brauchte sich das Gänseblümchen nicht zu schämen, denn liebevoll, wie die Deutschen ihren leichten Mädchen und barmherzigen Schwestern und die Araber ihren Reittieren viele Namen gaben, so hatte das Volk auch diesem kleinen Blümchen viele Namen gegeben: Mit Augenblümchen, Gänseliese, Gänsenagerl, Gänsekraut, Georgenblume, Himmelsblume, Katzenblume, Maiblume, Mairöserl, Märzblume, Margaritenblume, Marienblümchen, Maßliebchen, Monatsblume, Müllerblume, 192
Mutterblümchen, Mutterrockblume, Osterblume, Rainblume, Regenblume, Seidenröserl, Tausendschön und Zeitlosenkraut übertraf es sogar den derben Korbblütler Löwenzahn, den man auch Augenwurz, Butterblume, Pfaffenröhrlein, Kuhblume, Kettenblume, Kettenstock, Mönchsblatten, Mönchskopf, Mistfink, Laterne, Saublume, Pumperblümchen1 und natürlich, wenn er in Saat stand, Pusteblume nannte, und der natürlich auch hier überall zu sehen war. Blumen waren was Schönes, besonders für den Wanderer, der sie wild am Wegrand fand und ihr kleines Glück respektierte und sie nicht abrupfte wie die Seßhaften, die allem habhaft werden mußten, alles heimtragen, haben wollten.
Wir hatten schon gesehen, daß der Mensch, da ihm Vernunft fehlte, sich die Unvernunft zum Führer machte. Nun war die Unvernunft nichts Absolutes und niemandes Privileg, sondern durchdrang wie eine Gottheit alles, aber vor allem menschliche Gehirne. Unvernunft ließ sich steigern, es gab die Unvernunft des kleinen Mannes, der eine Familie gründete, tagein tagaus arbeitete wie der Stein rollende Sisyphos, `hurra' schrie, wenn er den Kaiser sah, und `amen' sagte, wenn der Priester fertig war, dem das Essen schmeckte und der auch ab und zu ein Gläschen zu viel trank. Es gab die Unvernunft eines Wanderers wie Adjuna, der sich die Füße wund lief und nicht wußte wofür. Es gab auch die Unvernunft der großen Leute, deren größte Sorge das Noch-Mehr-Haben war, obwohl sie doch auch nur einen Magen hatten. Der Superlativ der Unvernunft war es, Säulenheiliger zu sein, in zwanzig Meter Höhe zu hocken und zu glauben, Gott nahe zu sein. Aber ein Leben als Heiliger in einer Höhle zu verhocken, diese
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Namenslisten aus Kölb's Kräuterfibel
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hirnverbrannte Idee war nur einen Hauch vernünftiger: Die Sonne schien nicht aufs Hirn! Kam das Wort Mönch auch vom griechischen Wort Monós, allein. Irgendwann entschied man sich, gemeinsam einsam zu sein. In der unwirklichen Wildnis der westlichen Abruzzen begann der Wahnsinn der ägyptischen Eremiten auch auf europäischen Boden sich auszubreiten. Die ersten Klöster, Lauras genannt, entstanden im vierten Jahrhundert nahe Subiaco und Vico Varo. Benedikt, der aus einer prüden, christlichen Familie stammte, kam als junger Mann mit seinem Geschlechtstrieb nicht zurecht, was kein Wunder war, denn man hatte ihm gesagt, daß es Sünde sei, geschlechtlich zu lieben. Als er von seinem engen Heimatort Nursia zum Studium nach Rom kam, wo noch frei und freudig gelebt und geliebt wurde, bekam er einen Schreck und floh in die Berge nach Subiaco, wo er sich in eine Höhle verkroch. Vierzehn Jahre war er damals alt. 35 Jahre verbrachte er solitär in seiner Sacro Speco in Subiaco, gequält von geilen Träumen und unfreiwilligen Samenergüssen. Selbst in Dornenwälzen und andere Selbstquälereien heilten ihn nicht von seiner Geilheit. Er glaubte, Keuschheit mache frei, und wurde doch zu einem viel größeren Sklaven sexueller Fantasien und Triebe als zum Beispiel Adjuna, der wenn der Druck drückte und der Trieb ihn trieb, sich abreagierte, egal ob bei einer Hure oder einer Heiligen oder mit der Hand. Sicher, Adjuna und Eva verbrachten öfters längere Zeit mit Liebesspielen, sogenannte schöne Stunden, sogar am hellichten Tag auf einsamen Lichtungen und freien Bergspitzen, aber waren sie deshalb unfrei, unfreier als der Mönch, der sich den ganzen Tag kasteite wegen seiner sexuellen Fantasien1, bis ihm die Peitsche die unerwünschte Pollution verpaßte?
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Fantasie schreibt man eigentlich mit `Ph', aber durch das viele Lesen englischer Bücher hatte ich es mir irgendwann abgewöhnt das deutsche Wort Phantasie mit `Ph' zu schreiben, für
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Als sich jemand den Spaß machte, Huren in Benedikts heilige Höhle zu holen, floh der Heilige mit anderen Mönchen nach Monte Cassino. Dort überzeugten sie die einheimische Bevölkerung, den Apollon Tempel zu zerstören und statt dessen ein Kloster zu bauen, darin frönten sie dann gemeinsam ihren widernatürlichen Trieben und ihrer Unvernunft, man schlief angezogen, wusch sich nicht, betete regelmäßig, sang `Lobet den Herrn' und kasteite sich ebenso regelmäßig. Man schwor, diesen Blödsinn sein ganzes Leben lang zu tun und jeden Kontakt zur eigenen Familie abzubrechen. Diese Klosterregeln des Benedikts breiteten sich bald auf ganz Europa aus. Auch Eva hatte ihrem Orden ein ganzes Leben lang Treue geschworen, und nur die starke Persönlichkeit Adjunas hatte sie davon abgebracht, ihr Leben einem blödsinnigen Schwur zu opfern. Niemand hatte das Recht, die momentane Schwäche eines Menschen oder eine vorübergehende Geistesverwirrung mit Hilfe eines Schwures für immer für sich auszunutzen, so hatte sie sich angewöhnt zu denken, doch hier in der Höhle des Benedikts, während Adjuna sich über die naiven Malereien mokierte und meinte, die Huren hätten sicher das Höhlenleben erheitert, war sie doch betroffen. Zum Glück wollte auch Adjuna schnell weiter. “Unvernünftig sind wir alle. Dieser Mönch, mit dem ich das Menschsein gemeinsam habe, erinnert mich nur all zu bitter daran, was für unreife Wesen wir sind: Wegen Schatten fliehen
Anti-Amerikaner und Britenfeinde: auch die Italiener schreiben ihr `fantasia' mit `f' und unsere französischen Nachbarn auch ihr `fantaisie' und sie finden das `fantastique'. Der Leser mag es fielleicht `fantasque' finden, also grillenhaft, aber ich lasse, wo immer ich das Wort mit `F' geschrieben habe, es so stehen, ich dachte mir, wenn man auf der Biennale in Venezia, einen Haufen Schrott als Kunst ausstellen kann, und sogar noch extra den Fußboden dafür verstärkt, dann kann ich auch aus Phantasie ein `F'-Wort machen, schließlich ist mein Buch ja auch ein Kunstwerk. Wenn ich noch mal geboren werde, dann werde ich bildender Künstler, dann brauche ich nur pro Kunstwerk eine Idee, und nicht ständig neue Ideen aneinanderzureihen, aber manchmal ist mir auch die ganze Spinnerei zuwider, und ich denke mir, ich sollte lieber Weber werden.
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wir vor unseren Schatten. Doch noch unvernünftiger sind die Massen, die Schattenflieher zu ihren Helden und Heiligen küren, und wie die Lemminge in die gleiche Schlucht des Unglücks stürzen.”
Nach einer anstrengenden und abenteuerlichen Wanderung durch die Abruzzen gelangten Eva und Adjuna schließlich ans Meer. Die ewige Frage, die man sich an einem Kreuzweg stellt, wenn man sich nicht auskennt: Sollen wir nach links gehen oder nach rechts, nach Norden oder nach Süden? Fragen wir die Götter des Schicksals. Werfen wir eine Silbermünze: Kopf heißt Norden, Fuß Süden. Lachend warf Eva ein Silberstück hoch. Schwupps, ein Rabe hatte die Münze geschnappt und flog mit ihr auf und davon. Sssppp schoß Adjuna einen Pfeil hinterher und dem Raben die Münze wieder aus dem Schnabel. Doch als die Münze auf den Boden fiel, schnappte Mutter Erde nach ihr und die Münze blieb verschwunden. “Frage die Götter und sie geben dir nie eine hilfreiche Antwort!” “Unser Geld ist wohl in ein Rattenloch gerollt.”
Wenn man sich die Apenninenhalbinsel von oben anschaute, Vogelperspektive reichte allerdings nicht ganz, es mußten schon fliegende Monster sein, aus deren Fenster man schaute, sah man, daß sie einem Stiefel mit Stilettoabsatz ähnelte. Und wenn man wie Adjuna und Eva die Adriaküste Richtung Süden entlang wanderte, kam man irgendwann zu den scharfen Felsen von Santa Maria de Leuca, den Felsen der Weißen Jungfrau, und vor sich sah man das brodelnde, weiße Meer, hier war es mörderisch wie die Spitze eines Stiletts. Nur die tollkühnsten Seefahrer suchten hier Unterschlupf, ihre Schiffe tanzten in der Mitte der offenen Bucht. Mit armdicken Leinen nach 196
allen Seiten hin gesichert, sahen sie aus, wie in Spinnweben gefangen. Der Verschleiß war enorm, aber die Beute auch. Mann und Planke brachen, ständige Erneuerung war von nöten, aber der Fischfang machte reich und das Überfallen der Kauffahrteischiffe, die die Straße von Otranto durchfahren wollten, machte reicher. Ein Schiffszimmerer, der den Hobel zu handhaben wußte, konnte hier immer Arbeit finden, mehr noch der, der ein Schiff zu führen wußte und eine Waffe dazu. Der einfache Wanderer aber, wenn er nicht ins Meer fallen wollte, mußte hier umkehren, sich nach Norden wenden. Doch wer war schon einfach? In der dreckigsten Spelunke des Ortes lebte der größte Seeheld, respektvoll Lupo di Mare genannt von den anderen, die Jack London genausowenig kannten wie er selbst, geschweige denn gelesen hatten, was ja bloß die Weitsichtigkeit der Augen ruinierte, und wie sollte man dann sein täglich Brot verdienen, wenn man die Kauffahrteischiffe nicht mehr rechtzeitig am Horizont ausmachen konnte. So manches Schiff hatte Lupo di Mare schon gekapert und manch ein anderes in den Meeresgrund gerammt, manch einem Matrosen die Kehle durchgeschnitten und an die Haie verfüttert, aber er hatte selbst auch schon Schiffe und Männer verloren, er hatte sogar schon Handelsschiffe, die bei Schirokko, einem mörderischen Südwind, in die brodelnde Hexenküche der trick- und klippenreichen Weißen Jungfrau geraten waren, unter Lebensgefahr gerettet. Er war wie das Meer selbst, launenhaft, willkürlich, ein Schicksal, unschuldig. Sein schulterlanges, lockiges Haar war weiß und aufgewühlt wie das Meer vor Leuca. Früher hatte er schwarzes Haar gehabt, aber einmal, als Poseidon ihm gar zu sehr grollte und ihm sein Schiff zerschlug und ihm nichts als eine einzige Planke ließ, an die er sich dreißig Tage hatte festklammern müssen, war sein Haar weiß geworden. Doch auch diese Beutefahrt endete noch als Triumph. Denn am dreißigsten Tag seines Ordals sah er eine Fregatte in der Windstille vor sich hin dümpeln, bei Nacht hatte er sie erreicht, über den Ruderschaft konnte er an Deck kommen, er tötete die ganze Mannschaft und über die Bordwand 197
hinunter ins Meer warf sie den Haien aus Dankbarkeit, daß sie ihn nicht gefressen hatten, zu. Die Haie wußten, warum sie ihm nichts antaten. Dann segelte er das dreimastige Kriegsschiff allein zurück zur Weißen Jungfrau. Evas Füße taten weh, es war ihr recht, daß Adjuna sich sofort mit dem Seeräuber anfreundete, hoffte sie doch, daß die Reise in Zukunft zu Schiff weiterginge.
Die beiden starken Männer mochten sich. Lupo war sofort bereit, Adjuna ein Kommando zu übergeben, zwar nicht über die Fregatte, aber über das zweitgrößte Schiff seiner Flotte, die Eiserne Hure. “Erst wollte ich das Schiff die Eiserne Jungfrau nennen, aber dann dachte ich, der Felsen hier nennt sich schon Jungfrau, wenn wir jetzt auch noch mit unseren Schiffen Reklame für die Jungfräulichkeit machen, verderben wir die einheimischen Mädchen. Unsere Söhne werden es uns grollen.” “Was ist eigentlich mit dem jetzigen Kommandanten der Eisernen Hure?” Jeder nennt ihn statt Kommodore Komedo wegen seiner Freßsucht, und wenn er sich beschwert, Kommode wegen seiner Bequemlichkeit. Früher war er ein Held, aber jetzt ist er nur noch ein Pudding, kämpfen kann er nicht mehr, seine Fettleibigkeit ist sein einziger Schutz, schon manche Waffe blieb in seinem Fett stecken, ohne ihn tödlich zu verletzen. Es wird Zeit, daß er sich zur Ruhe setzt.” “Also dann, auf Kapernfahrt!”
Manch einer hatte romantische Vorstellungen, wenn er das Wort Piraten hörte, und dachte an edle Seehelden. Daß sie Mörder und Diebe waren, daran dachte kaum einer. 198
Und wie dachten die Piraten? Selbst gehörten die meisten zu den Getretenen, waren Unterklasse gewesen, bis sie sich losgerissen hatte, waren die Ärmsten gewesen, denen man noch weggenommen hatte, nur eins hatten sie gelernt, stark zu sein und Gewalt. Sie waren die besondere Auslese der Armen gewesen, die Rebellen, die “Nein!” sagen konnten zu Moral und Unterdrückung. Sie waren keine Weltverbesserer, sie wollten nur ihre eigene Situation verbessern. Stehlen? Fragten sie verwundert und voller Unschuld, das Wort hatte bei ihnen keinen abwertigen, unmoralischen Klang. Stehlen? War nicht jeder Besitz gestohlen? Aller Reichtum geraubt? Tja, wer stark war, liebte die Gesetze des Dschungels. Nur die Schwächlinge brauchten andere Argumente als Muskeln. Und wenn sie Glück hatten, kamen sie damit sogar durch, ja siegten sogar. Das hieß aber nicht, daß Normalbürger oder gar Schwächlinge bessere Menschen waren, ihnen fehlte bloß der Mut, die Kraft, böse zu sein, außerdem hatten sie übergroße Angst vor Strafe, die sie genauso daran hinderte, gut zu sein, wenn es gegen das Gesetz war. Die Seele manch eines Schwächlings war eine größere Mördergrube, als die mordenden Hände eines Freibeuters schaffen konnten. Das zeigte sich jedoch nur gegenüber den noch Schwächeren wie Frauen, Kindern und vielleicht noch den Haustieren, oder wenn starke Führer Mörder brauchten und Mord zum Staatsdienst wurde. Natürlich gab es auch gute Menschen. Das war nun wieder eine andere Ausnahme. Die wurden jedoch nicht auserlesen für den erfolgreichen Aufstieg des Menschengeschlechts.
So bezog Adjuna mit Eva die Kapitänskajüte der Eisernen Hure. Wie gesagt, es war eine sehr offene Bucht, Eva wurde schon im Hafen seekrank. “Du wirst dich schon dran gewöhnen.” Aber die erste
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Kapernfahrt wäre beinahe schiefgegangen, weil Adjuna sich zu sehr um Eva sorgte. Abends dann in Lupos Spelunke, als die Ereignisse des Tages diskutiert wurden, meinte Eva: “Können wir denn nicht an Land wohnen?” “An diesem Ort gibt es kaum Häuser. Sieh dich um, es gibt nur die Ställe fürs Vieh, ein paar Haremshäuser von Piraten und einige Hütten, in denen Fischer mit ihren Familien wohnen. Diese Spelunke kommt nicht in Frage, da wird Tag und Nacht gesoffen und gegrölt. Und die Kirche wohl noch weniger, oder bist du fromm?” “Nein, ganz und gar nicht”, sagte sie schnell. “Ich kann dir einen Platz in meinem Harem anbieten”, meinte Lupo weiter, aber wenn du dort wohnen willst, mußt du auch die Pflichten einer Haremsfrau übernehmen, egal, ob du Adjuna liebst oder nicht.” “Adjuna, was meinst du dazu?” “Das mußt du wissen. Auch wenn du meine Freundin bist, betrachte ich deine Muschi nicht als meinen Privatbesitz. Du kannst sie benutzen, wie du willst.” “Hilf mir eine kleine Hütte zu bauen. Darin werde ich wohnen. Und jeden Tag werde ich Steine von Felsen losbrechen, während du zur See fährst, und daraus werde ich uns einen Palast bauen direkt am Meer.” Für diese Antwort erntete sie Bewunderung von allen Seiten. Die Bewunderung steigerte sich noch, als die Leute sie sich mit großen Quadern abmühen sahen. Einige spotteten freilich: “Da baut sie dem Adjuna sein klein' Haremshäuschen.”
Wenn immer der Wind günstig war und die Piraten vom Felsen aus ein Kauffahrteischiff erspähten, kamen sie aus ihrem Versteck heraus und schlugen zu. Die eigenen Verluste waren meistens gering. Aber auch den Überfallenen erging es jetzt meist besser als früher, denn Adjuna hatte mit der Politik der verbrannten Erde auf See Schluß gemacht. Die Mannschaften wurden ermuntert, sich zu ergeben und dann bei 200
den Piraten mitzumachen. Lupo war zuerst dagegen: “Die Haie sind dann zu hungrig.” Als er aber sah, wie groß die Flotte durch die erbeuteten Schiffe und die zusätzliche Mannschaft wurde, wurde auch er ein Opfer der Megalomanie. “Neue Stützpunkte müssen angelegt werden, die Straße von Sizilien und die Gewässer um Kreta müssen kontrolliert werden, vielleicht die kleine und die große Syrte, der nächste Schritt ist dann die Beherrschung des ganzen Mittelmeers.” Große Männerträume wurden geträumt.
Eva trug in der Zeit Stein auf Stein und irgendwann war sie fertig. Es war zwar kein Palast geworden, aber ein niedliches Häuschen, sie nannte es Kleines Glück. Auch Adjuna war begeistert und tauschte seine Kapitänskajüte gegen ein Stübchen in Evas Haus ein. Von den Kapernfahrten brachte er kostbare Truhen und wertvolle Gemälde mit, auch Teppiche und Kronleuchter. Bald sah es innen wirklich aus wie in einem Palast. Eva wäre allerdings gern mit weniger zufrieden gewesen, wenn sie dafür weniger Angst um Adjuna hätte zu haben brauchen. Auch Adjuna war nicht ganz zufrieden. Er sah sich schon wieder in Pantoffel schlüpfen.
Eines Tages rief der Ausguck vom Kap der Weißen Jungfrau herunter: “Eine Fregatte, eine Fregatte!” Da der Wind günstig war und die Sicht schlecht genug, wollte man ihr den Weg abschneiden und sie erbeuten. Man konnte gut ein zweites schnelles Schiff gebrauchen. Die erbeuteten Handelsschiffe waren alle zu plump und langsam. Für diesen Überfall gingen alle auf Lupos Fregatte, denn nur diese war wendig genug und konnte auch zur Not die Verfolgung aufnehmen oder gar entkommen. 201
Aber es wurde weder verfolgt, noch geflohen, sondern längsseits gegangen und gefochten. Der Kampf war härter als jeder vorher gekämpfte Kampf, nicht einer ergab sich, es waren offensichtlich Elitetruppen an Bord. Zwar stachen Adjuna und Lupo viele ab, und ihr eigenes Leben war auch nicht einen Moment in Gefahr, aber viele ihrer Leute erwischte es. “Ein Pyrrhussieg”, klagte Lupo, als er den letzten abstach. “Aber ein gut bezahlter”, scherzte Adjuna, der von Unterdeck hoch kam und dort Unmengen Gold gefunden hatte. “Das ersetzt die Männer auch nicht, aber ein Trostpflaster ist es schon.”
Dann kriegten sie alle einen großen Schreck. Einer der Männer rief: “Das Schiff sinkt!” “Schnell, alles mit anpacken! Rettet soviel ihr könnt!” Gold und Juwelen, Kronen und Zepter wurden umgeladen. Dafür können wir zehn Fregatten kaufen.” “Wenn uns beim Versuch, den Plunder zu verkaufen, nicht der Hals umgedreht wird.” “Ja, wagt euch mit dem Zeug bloß nicht in die Stadt, schenkt es lieber euren Frauen.” Als sie um das Kap herum kamen und auf Leuca zuliefen, läuteten gerade die Kirchglocken. “Ich habe mich schon immer gewundert, daß ihr hier in eurem Piratennest eine Kirche und einen Priester habt”, meinte Adjuna zu Lupo. “Ja, Rom hat ihn geschickt. Ich mag ihn auch nicht. Er ist ein Narr. Religion ist was für dumme Leute. Er war noch nie auf einem Schiff, aber er weiß, daß es hier im Meer keine Haie gibt. Stell dir vor, keine Haie! Aber im Himmel gib's 'nen lieben Gott! Er fragt mich immer, wie viele umgekommen sind, damit er die Totenmesse für sie lesen kann. Ich sag dann immer, er soll die Haie fragen, aber einer der Männer sagt ihm meistens die ungefähr richtige Zahl. Irgendwann sage ich mal: plus eins, und werfe ihn als Haifutter von der Kaimauer.”
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Eva tat, als ob sie sich sehr über die Krone und die anderen Juwelen freute, die Adjuna ihr mitbrachte, aber eigentlich war es etwas anderes, was sie froh machte. Auch sie hatte eine Überraschung: “Ich bin schwanger, daran gibt es gar keinen Zweifel.” Das war nun wirklich eine Freude, zu hören, daß neues Leben am Entstehen war, am Abend eines Tages, der so viele Opfer gefordert hatte. Das kleine Glück beginnt Wirklichkeit zu werden, dachte Eva glücklich. Und auch Adjuna bekam das kleine Glück zu spüren. Immer öfter brachte er irgendwelche Vorwände vor, um nicht rausfahren zu müssen. Aber gerade jetzt wurde er gebraucht. Die Kauffahrteischiffe fuhren nämlich nicht mehr allein, sondern im Geleitzug. Die größeren mußte man ziehen lassen, für die kleineren aber brauchte man jeden Mann.
Oft ging Eva jetzt, wenn ihr Mann auf See war, die große Treppe hoch, die ein noch erfolgreicherer Meister der Piraterie vor seinem schändlichen Verbrechertod als symbolischen Eingang des Landes gebaut hatte. “Einen Ausweg gibt es nicht, ich muß Piratenbraut bleiben, immer wieder um meinen Mann bangen.” Von oben sah sie übers Meer. Bei gutem Wetter konnte man die ganze Straße von Otranto bis Griechenland überblicken. Aber solch gutes Wetter war nichts für Beutefahrt, die Kauffahrteischiffe waren dann zu früh gewarnt und andere konnten auch leicht zu Hilfe kommen.
Im Morgennebel meldete der Ausguck ein brennendes Schiff mitten in der Straße von Otranto. Vom Felsen aus sah man nur die Mastspitzen eines einzelnen Schiffes und die Rauchfahne. Lupo war sofort aufgeregt. “Die müssen wir retten”, befahl er, aber vielleicht 203
befürchtete er auch, Konkurrenz im Schiffeversenken bekommen zu haben. Man lief mit der ganzen Flotte aus, denn es ist so schwer, im Nebel alle Schiffbrüchigen aus dem Meer zu fischen, wenn man nur ein Schiff hat.” Das brennende Schiff war tatsächlich schon verlassen. Man guckte und guckte, aber man fand nicht einen Schiffbrüchigen im Meer schwimmen. “Ja, die Haie haben zu lange nichts gehabt.” Plötzlich war man umgeben von vielen Kriegsschiffen, die ganze italienische Navi schien aufgeboten worden zu sein, um der Piratenpest ein Ende zu machen. Ein Schiff nach dem anderen wurde in Brand geschossen. Adjuna und einige andere von seiner Mannschaft flohen schwimmend zu Lupos Fregatte, die, da sie die Totenkopfflagge schnell gegen die Regierungsflagge und das Regierungswappen ausgetauscht hatten, noch nicht brannte. Nichts wie fliehen! Eines der Kriegsschiffe kam bedenklich nahe, jemand rief etwas. Lupo wollte die Täuschung noch weiterspielen, aber es half nichts, er trug keine Uniform. Das Kriegsschiff warf die Enterhaken, von der anderen Seite näherte sich noch ein Kriegsschiff. “Kämpft, Leute, kämpft! Wir haben zwei Mannschaften an Bord, wir kommen wieder los.” Lupo befahl auch noch alle Segel richtig zu setzen, damit das Schiff ordentlich an den Enterleinen riß und jede angeschnittene Leine in Kürze auseinander franste. Sein alter Kampfruf “Seid nicht traurig, wenn ihr heute nicht sterbt, morgen sterbt ihr sowieso!” hatte angesichts dieses Kampfes eine andere Bedeutung bekommen. War früher `morgen' ein unbestimmtes Irgendwann, so war es jetzt der Galgen im nächsten Hafen. Das Schiff riß sich schließlich von den Kriegsschiffen los, die erst wenden mußten, um die Verfolgung aufzunehmen, und glitt gespenstig davon. Gespenstig konnte man es wohl nennen, wenn fast nur noch Totengeister an Bord waren. “Mein Gott, wir sind ja nur noch eine Handvoll Überlebende.” Das Schiff ließ sich kaum mit fünf Mann handhaben. Wir müssen den Kurs ändern. Wir dürfen nicht ums Kap, dann verraten wir unser 204
Versteck. Die Verfolger sind zu dicht. Wir müssen erst die Adria hoch, bis wir sie abgehängt haben.” “Lupo, wie hast du dieses dreimastige Schiff nur je allein gesegelt?” “Der Klabautermann hat mir geholfen!" “Die Kriegsschiffe kommen dichter.” “Alles, was nicht gebraucht wird, über Bord werfen! Segel trimmen!” “Hilft nicht!” “Schmeißt mehr runter, Rettungsboote, Aufbauten, Anker!” “Wir entkommen denen nicht, wir haben keine Wahl, ich lenke das Schiff gegen einen überschwemmten Felsen, den ich hier vor der Küste kenne, und bis zum Ufer schwimmen wir dann. Und dann gehen wir zu Fuß nach Haus. Die können hier nirgends anlegen. Da machen sie sich die Schiffe kaputt.” Gesagt, getan. Wenn bloß die verdammten Haie nicht wären! Adjuna sah, wie seine letzten Kollegen zerrissen wurden, er selbst wurde auch wieder und wieder angegriffen. Jedesmal stach er mit aller Kraft seine Finger in die Augen des Haies. Das war die einzige Möglichkeit, sich gegen einen Hai zu wehren. Nur Lupo rührten die Haie nicht an. Als an Land Adjuna dann fragte: “Lupo, warum beißen die Haie bloß dich nicht?” lachte der nur.
Und wie erging es Eva in der Zwischenzeit? Angst hatte sie wie immer wegen Adjunas gefährlichem Tun. Aber Gefahr kam oft aus anderen Quadranten als man denkt. Unerwartet und von hinten. Das Leben war so unberechenbar wie der Wind im Mittelmeer und das Jagdglück der Piraten. Eben noch wehte es von hinten, schon kam es von vorn, oder umgekehrt. Fragt Odysseus, der kannte das Leben und das Wetter!
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War es, daß die Kirche zu mächtig thronte, war es eine nostalgische Erinnerung, oder wollte sie ganz einfach mit jemandem sprechen? Sie ging zur Beichte.
Als Adjuna und Lupo endlich Leuca erreichten, hatten sie ihrem Piratenleben abgeschworen und sich geschworen, friedlich zu leben, Gemüse auf dem steinigen Boden zu züchten und in Nachbarorten zu verkaufen. Lupo di Mare erinnerte sich plötzlich daran, wie alt er schon war, die Anstrengungen der letzten Tage hatten ihn viele Haare gekostet. Oben war nichts mehr, nur rund herum waren sie noch da. Er sah jetzt fast aus wie ein Clown.
Eva, die schon gedacht hatte, sie sei Witwe geworden, freute sich sehr über die Rückkehr von Lupo und Adjuna. Endlich war ihr Mann wieder da! Denn das war er doch, ihr Mann, auch wenn sie nie geheiratet hatten. Was war Heiraten denn schon, außer ein freches Einmischen von Staat und Kirche? Heiraten fanden im Herzen statt. Daß die beiden keine Anstalten machten, eines von den kleinen Ruderbooten zu nehmen oder sich ein Fischerboot zu leihen, um rauszufahren und sich ein größeres Schiff zu erobern, erleichterte sie sehr. Jetzt stand ihrem Glück nichts mehr im Wege, wie sie meinte. Tatsächlich hatten Lupo und Adjuna jede Lust auf Abenteuer und auch auf Anstrengungen verloren, was auch hieß, daß aus dem Gemüsegarten nichts wurde. Sie wurden typische Vertreter der Philosophie “Wir haben doch satt zu essen”. Und das hatten sie wirklich. Für einen einzigen Ring `aus Familienbesitz' hatten sie in Gallipoli soviel Geld bekommen, daß sie sich wohl für Jahre hinaus mit
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Fleisch und Gemüse eindecken konnten, und sie besaßen Hunderte von Ringen. Ihre Erzählungen aber gingen so: “Weißt du noch ...” So sonnten sie sich an dieser sonnenreichen Küste in Vergangenem.
Wie lebte man ein kleines Glück? Indem man sich um nichts kümmerte und andere sich nicht um einen kümmerten. Ein kleines Glück wollte in Ruhe gelassen werden von den Großen und vor allen Dingen wollte es selbst nicht groß werden. Die Götter hatten was anderes vor mit Adjuna. Götter wollten immer das große Unglück.
Eben schien noch die Sonne. Doch plötzlich war es da, das Dunkle, das Dunkle Zeitalter. Unerwartet.
In der Zeit in Rom: Die Kirche hütet Schafe, aber sie hat auch Hunde.
Der Dialog der Seelsorger: Eine Nonne, die plötzlich keine Nonne mehr ist, sondern ein verliebter Backfisch? Das mag tolerieren, wer will, wir jedenfalls nicht, wir haben Verantwortung zu tragen, Verantwortung für das Seelenheil, der uns Anvertrauten. Eine Jesusbraut, die ihrem Bräutigam davon läuft, darf nicht sein.
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Ehen werden im Himmel geschlossen - bis daß der Tod euch scheide. Und wie viel mehr gilt das für Jesusbräute! Nur der Teufel ... Der Teufel hat seine Hand im Spiel, der Teufel die Fleischeslust in ihr geweckt. Die Fleischeslust ist es, die den Menschen von Gott entfernt. Darum gilt es, das Fleisch abzutöten. Und das wird am besten getan mit Peitschen und mit glühenden Zangen. In unseren Verliesen auf der Folterbank, da wird sie unter dem Bildnis ihres wahren Bräutigams der Fleischeslust abschwören. Und dann - oh, Feuer, du Geschenk Gottes - muß sie brennen. Ja, nur so entgeht ihre verteufelte Seele dem ewigen Feuer. Das ist die ewig gültige, unverrückbare und unverzichtbare Lehre unserer Kirche. Wer hier was anderes lehrt, der ist den Einflüsterungen des Teufels erlegen und muß, da ein Ketzer, der selben Erfahrung unterzogen werden. Wenn er dann durch den Feuertod geläutert vor seinem Richter, dem Herrn Jesus Christus, steht, dann wird er schon einsehen, was für einen großen Dienst wir ihm erwiesen haben. Gut, daß wir jetzt wissen, wo sie ist. Der weltliche Arm soll sich nach ihr ausstrecken.
Fazit: Die Kirche hatte Schafe, aber auch scharfe Hunde.
Adjuna und Lupo unterhielten sich gerad wieder darüber, wie's früher war, und darüber, daß sie aber jetzt ihren Frieden mit der Welt gemacht hatten. “All die kriegerischen Jahre über, wo ich von hier aus das 208
Handwerk der Piraterie betrieben habe, war diese Bucht, vom Meer mal abgesehen, ein friedliches Nest, wo man sich geborgen fühlen konnte, über Land kamen nie Feinde. Wieviel friedlicher muß es erst jetzt werden, wo außer uns nur noch Fischer und Frauen hier leben. All die Waffen, die wir hier noch lagern, wir werden sie nie gebrauchen. Der alte Traum der Menschheit, Schwerter zu Pflugscharen, hier wird er Wirklichkeit.” “Ja, wenn das Umschmieden nicht so mühsam wäre und das Pflügen auch.” Da hörten sie einen kleinen Trupp Reiter sich nähern. Ihr Kriegerinstikt reagierte richtig. “Schnell in die Nähe der Waffenlager. Erst unschuldig tun, es sind zu viele, aber wenn es nicht anders geht, dann kämpfen.” “Wer mag das nur sein?” Es war der weltliche Arm. Zuerst hielt der Reitertrupp bei der Kirche. Der Geistliche zeigte auf das Kleine Glück. Die Reiter ritten hin, brachen die Tür auf und brachten Eva gebunden raus. “Lupo, schnell Schwerter, die entführen Eva!” Sie rannten mit Kriegsgeschrei den Abhang herunter, in jeder Hand ein Schwert. Und schon bald rührten ihre Klingen in den Fleischmassen der Feinde, im Gesichtermeer der Gegner, kappten die Köpfe des vielköpfigen Monsters, schnitten die Finger des weltlichen Arms. Die hoch auf Pferden saßen, waren besonders schwer umzubringen, besonders, wenn sie flohen. Sie riefen: “Wir kommen wieder.” Finger, die sich zurückzogen, konnten sich wieder ausstrecken. Aber wir werden sehen, daß sich hier Abgeschlagenes nicht nur wie bei niedrigen Tieren regenerierte, sondern sogar multiplizierte. Wird Adjunas Arm gegen diese weltlichen Krakenarme stark genug sein?
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Lupo: “Mit dem Frieden ist es vorbei. Die kommen wieder und zwar mit einer ganzen Armee. Da gibt es nicht viel, das wir tun können. Vielleicht den Ort befestigen und Fallen anlegen.” “Ich werde einen alten Gott, der mir schon früher mal geholfen hat, um übermächtige Waffen bitten.” Eva zitterte am ganzen Leibe. “Die wollen mich holen, weil ich vom Kloster weggelaufen bin.” “Keine Angst, für dich nehme ich es mit der ganzen Welt auf.” Nach den üblichen Ritualen und einigen Mantras erschien Indra, Adjunas himmlischer Vater und Schutzengel, der einst seine Mutter Kunti geschwängert hatte und wer weiß vielleicht auch diesmal bei Sramania seine Hand oder seinen Lingam im Spiele oder in der Muschi gehabt hatte. Er hatte Adjunas Gandiva-Bogen aus dem TritonenReich, wo er nach dem Schiffbruch verloren gegangen war, gerettet und gab ihn jetzt Adjuna, sogar mit neuen Pfeilen, die sich im Fluge in zwölf absolut tödliche Geschosse auffächern und selbständig ihr Ziel suchen und treffen konnten. Ein waffentechnischer Fortschritt, der Adjuna sehr gelegen kam. Jetzt blieb nur noch eins: Auf die Selbstmörder, die ihn angreifen wollten, zu warten. Sie ließen nicht auf sich warten.
Eines Tages bebte dann die Erde von dem Hufschlag des Reiterheeres des Staates, hirnlose Handlanger des weltlichen Arms. Welcher Finger konnte schon denken? Finger hatten weder Geist noch Seele, ihren Verlust konnte man zur Not verschmerzen. Adjunas Pfeile verdunkelten den Himmel, die Finger fielen, Fingerknäuel, Leichenwälle, Hügel leerer Menschenhüllen, die nie
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gefüllt waren, Berge jener Kleinbürger, die nur morden, wenn es von ihnen verlangt wurde, entstanden überall. “Adjuna, ich dachte, du würdest ein paar für mich durchlassen, aber du brauchst mich anscheinend nicht mehr. Dein Gott hat dir wahrlich eine gute Waffe gegeben. Ich hätte nicht gedacht, daß Götter Menschen helfen können. Hoffentlich stinken die Leichen nicht so, wenn sie verwesen. Wir lassen sie am besten liegen. Das schreckt ab. Und dieser Ort hier wird wirklich zum staatenlosen Gebiet.” “Ja, ich glaube auch, bei so großen Verlusten gibt man auf und greift nicht wieder an.” Es gab noch eine dritte Möglichkeit: Nicht aufgeben, nicht angreifen, das Trojanische Pferd.
Es kam angerollt, aber man erkannte es nicht als solches, man erkannte es nie als solches. Trojanische Pferde waren getarnt, sie versprachen Frieden. Es gab ihrer viele. Viele Monster und Mächtige mochten das Wort Frieden in ihrem Mund, aber haßten ihn in den Händen, wie die Unterdrücker die Freiheit, von der sie immer redeten.
Eine Kutsche kam über das hoppelige Geröll der Hochebene angerollt. Das war eine Überraschung und sah so friedlich aus. Als Adjuna sah, wer ausstieg, war er hoch erfreut. Es war sein alter Freund Jakob! “Jakob, wie hast du denn hierher gefunden?” “Die Kirche bat mich, dich aufzusuchen. Es scheint, es hat einige Mißverständnisse zwischen dir und der Kirche gegeben.” “Das kann man wohl sagen. Hast du die Leichenberge gesehen?” “Ja, du bist sehr stark. Man möchte ja auch Frieden mit dir machen.” “Es bleibt ja wohl nichts anderes übrig.” “Du bist zu hitzig gewesen, alles ist ein Mißverständnis. Eva hat so einfach das Kloster verlassen, so was geht nicht. Zuerst müssen Anträge 211
ausgefüllt werden, es muß überprüft werden, ob sie freiwillig gegangen ist, oder ob sie entführt wurde, und so weiter.” “Ja, dann frag sie doch, sie steht ja da.” “Nein, das ist nicht mein Bereich, ich bin Seelsorger, das machen andere. Sie muß noch einmal nach Rom, verstehst du, um die Formalitäten zu erledigen. Mit der Kutsche geht das sehr bequem. Wir bringen sie auch wieder mit der Kutsche zurück. Ich sehe, sie ist in anderen Umständen. Das trifft sich gut, in Rom ist sie ja viel besser versorgt.” Adjuna dachte einen Moment an Lucrezia, das arme Mädchen; es ist gut, wenn Eva gut versorgt ist. Daß es in Rom geschah, daran dachte er nicht. “Gut, aber ich komme mit.” “Das kann ich gut verstehen, daß du deine Frau nicht allein reisen lassen möchtest.” “Gut, aber sei erstmal mein Gast und ruhe dich aus.” In drei Tagen wollte man aufbrechen. Adjuna, der entgegen Eva ganz und gar von den friedlichen Absichten seines Freundes überzeugt war, wie sollte er auch was anderes bei soviel Gebrechlichkeit erwarten, entschied sich, seinen großen, unhandlichen Gandiva-Bogen nicht mitzunehmen. Er ging ein bißchen abseits, machte ein heiliges Feuer, sprach ein paar magische Worte, und schon stand übermächtig der Götterkönig vor ihm. Jakob, der noch nie einen Gott gesehen hatte, flüchtete erschreckt hinter einen Felsvorsprung. Adjuna aber bat den Gott, den Gandiva-Bogen wieder für ihn zu verwahren. Er legte ihn ins Feuer und schon war er verschwunden.
In einer Kutsche reiste es sich bequem. Gut gelaunt diskutierte man dieses und jenes. Jakob, er war ja nun mal ein Priester, sprach immer wieder feierlich von seinem Glauben. Was jedesmal Adjuna dazu provozierte, was er schlechte Kindermärchen nannte, zu erzählen. Als sie im Vorbeifahren auf einer Wiese junge Bullen beim Analsex sahen, verdammte Jakob homosexuelle Beziehungen als unnatürlich. Adjuna, der Jakobs Haß auf Homosexuelle nicht nachvollziehen 212
konnte, da das Glück zweier Menschen oder Tiere niemandem schade, meinte, daß selbst ein König wie David eine homosexuelle Liebesbeziehung unterhielt, nämlich zu Jonathan. Jakob protestierte: “Das war eine rein platonische Beziehung.” Adjuna aber bestand darauf, daß bei Samuel 20 Samen verspritzt wurden. “Das ist eine falsche Interpretation. Er war ein großer König vor dem Herrn und ein anständiger Mensch.” “Ich hab ja nichts dagegen, aber wenn ich so sehe, was ihr für eine Beziehung zu eurem Unterkörper habt, müßtet ihr doch David für einen Sittenstrolch halten.” “Warum denn?” “Michal, die Tochter Sauls, berichtet uns doch, daß er sich entblößte vor den Mägden seiner Sklaven, also selbst dem gemeinsten Volke seinen königlichen Schwanz präsentierte, wie ein Sittenstrolch. Aus Rache, daß Michal ihm so etwas vorgeworfen hat, erniedrigt er sie zur niedrigsten Magd.” Adjuna fing plötzlich an zu feixen: “Stell dir mal vor, euer Oberhirte mit freiem Unterkörper beim Veitstanz im Vatikan.” “Das ist nicht lustig.” “Nein, du hast recht, das ist nicht lustig. Ich will dir noch mehr Schweinereien von David erzählen. Er war ein richtiger Lustmolch, ein Voyeur, nein, viel mehr als das. Geil, wie er war, beobachtete er immer vom Palast aus, wie die Frauen sich auf den Dächern wuschen. Bath-Seba, Urias Frau, gefiel ihm besonders und es gelang ihm, sie zum Ehebruch zu überreden. Leider wurde sie schwanger. Das war peinlich. Denn ihr Mann war ein treuer Soldat, der an der Front Dienst hat. David ließ ihn kommen, unter dem Vorwand, er solle Bericht erstatten, und hoffte, daß er dann auch zu seiner Frau eingehe. Aber Uria tat es nicht, da er es für Unrecht hielt, sich zu vergnügen, während das Vaterland im Krieg sei. Da blieb David nur noch eins, ihn zu ermorden. Er ließ ihn in der vorderen Reihe kämpfen, zu dicht an der feindlichen Stadtmauer, so daß er erschossen wurde. David hat noch andere Verbrechen begangen, die Ammoniter zum Beispiel in Vernichtungslagern umgebracht.” “Nein, das waren Ziegelöfen.” “Oder stellen wir uns einmal diese makabere Szene vor: Er ermordet 200 Philister und schneidet ihnen dann ihre Vorhäute ab, bloß um Michal heiraten zu können.”
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Eva und Jakob wunderten sich, mit welcher Klarheit er die alten Geschichten verstand. Die Sprache der Bibel war zu alt und gewunden, das verdunkelte das eigentliche Geschehen. “Ich erzähle euch noch eine Geschichte, damit es nicht so langweilig ist. Sichem, der Hemors Sohn war, ein Heviter, also Heide für die Juden, verliebte sich in Jakobs Tochter Dina. Er lag bei ihr und schwängerte sie. Sein Herz hing an ihr und er hatte sie sehr lieb und redete freundlich mit ihr. Sichem bat seinen Vater Hemor: Gib sie mir zur Frau. Und Hemor ging zu Jakob und sagte: Mein Sohn Sichem liebt eure Tochter Dina, gebt sie ihm doch zur Frau. Befreunden wir uns, gebt uns eure Töchter und nehmt unsere Töchter. Wohnt bei uns. Das Land soll euch offen sein. Sichem sprach zu Dinas Vater und ihren Brüdern: Laßt mich Gnade bei euch finden. Was ihr sagt, das will ich geben. Fordert nur getrost von mir Morgengabe und Geschenk, ich will's geben, nur gebt mir Dina zur Frau. Jakobs Söhne aber antworteten: Wir können das nicht tun, daß wir unsere Schwester einem unbeschnittenen Mann geben; denn das wäre eine Schande. Und sie verlangten, daß alles, was männlich sei in Sichems Klan, sich beschneiden ließe, dann wolle man Freunde sein, ein Volk. Und tatsächlich überzeugten Sichem und Hemor alle Männer ihres Klans, sich beschneiden zu lassen. Das Abschneiden der Vorhaut verursacht besonders unter unhygienischen Bedingungen Entzündungen und Fieber. Am dritten Tag als die Schmerzen am größten waren, gingen Jakobs Söhne und erschlugen alles, was männlich war in Hemors Klan, weil Sichem ihre Tochter Dina geschändet hatte. Die Söhne Jakobs aber nahmen alle Habe, alles Vieh, sowie die Mädchen und Frauen der Heviter für sich.” Betroffenes Schweigen in der Kutsche. Ja, Religion und das Mordhandwerk gingen gut zusammen. Aber die Piraten hatten bewiesen, daß es auch ohne Religion ging, Religion überflüssig war.
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Adjuna, der sich aufgrund seiner Kindheitserinnerungen an die Märchenstunde der Kinderfrau in Abrahams Haus, bei der meistens aus dem Alten Testament gelesen worden war, und durch neu Angelesenem als Bibelspezialist und Religionsfachmann vorkam, wagte, um die Betroffenheit ein bißchen zu lösen, und außerdem war er jetzt richtig in Fahrt, eine neue Theorie. Es heißt in der Bibel. Gott machte Adam aus einem Erdkloß und blies ihm lebendigen Odem in seine Nase ein. Aber zu glauben, daß Gott eine Art Mund-NasenBeatmung machte, ist ein Irrtum. Er benutzte seinen Hintern. Es war ein Pups, der das Leben brachte. Das will ich euch anhand der Bibel beweisen. Als Moses in seinem zweiten Buch im 33. Kapitel die Herrlichkeit Gottes zu schauen begehrt, sagt Gott: Mein Angesicht kannst du nicht sehen; denn kein Mensch wird leben, der mich sieht. Und er zeigt dann auch wirklich nur seine Rückseite. Wenn man, wenn man sein Gesicht sieht, nicht leben wird, wieviel weniger dann lebendig werden.” Jakob fühlte sich offensichtlich durch das eben Gesagte schwer beleidigt. Hatte Adjuna es zu weit getrieben? Es schien so, als ob ihre Freundschaft in eine schwere Krise geraten war. Für den Rest der Fahrt war Jakob wortkarg. Zum Glück kamen sie bald an. Und es gab anderes zu tun. Adjuna nahm sich mit Eva wieder ein Zimmer im Heiligen Bimbam. Babbuino war wie immer freundlich, fromm und stotterig. Beim Abendessen wollte er sich zu ihnen setzen.
Halleluja ist kein Stuhl da.
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Er nahm sich vom Nebentisch einen Stuhl und ließ sich von Adjuna dessen Abenteuer erzählen. Es war ein fröhlicher Abend. Später im Bett streichelte Adjuna feierlich Evas schwangeren Bauch. “Ob es wohl ein Junge oder ein Mädchen ist?” “Ich hoffe, es wird ein Junge. Dann wird er bestimmt so stark wie du”, sagte Eva. “Und ich hoffe, es wird ein Mädchen. Dann wird sie bestimmt so hübsch wie du.” “Es strampelt, hier das ist das Füßchen. Hallo, mein Kleines, ich bin dein Papa. Ich will immer dein bester Freund sein. Wenn du erst mal bei uns draußen bist, werde ich dir Himmel und Erde erklären. - Weißt du, das Kind kann uns verstehen, es ist schon groß genug. Ich erinnere mich noch, als ich so alt war, wollte man meine Mutter erschlagen und ich konnte ihr von meiner Kampferfahrung was abgeben und sie konnte sich retten.” Adjuna wandte sich wieder dem Kind zu: “Mein Kind, diese Welt, in die du geboren wirst, ist eine Art Hölle: Zu leicht nur wird man zum Opfer oder zum Täter, und oft ist das nicht einmal auseinander zu halten. Wenn du dich nicht schuldig machen willst, strebe weder danach, gut zu sein, noch danach, schlecht zu sein, sondern versuche Gut und Schlecht im Ausgleich zu halten.”
Am nächsten Tag traf man die beiden in der Via del Sant'Ufficio, einer stillen Straße hinter Berninis vierfacher Kolonnade, also in unmittelbarer Nähe der Großen Kirche. Sie standen vor der gelbsüchtigen Fassade der Casa Santa, dem Heiligen Offizium, dem Palast der Inquisition. Sie traten ein, wurden höflich durch Gänge gewiesen. Sie wurden gebeten, vor einer massiven Tür auf einer Bank zu warten, bis Eva aufgerufen würde. Es dauerte erstaunlich lange. Man war verwirrt, was sollte man machen? Was machen die bloß? Wir warten doch schon Stunden. Warum haben wir uns bloß darauf eingelassen? Blöde Formalitäten. Wenn die blöde Formalitäten zu 216
erledigen haben, dann hätten die zu uns kommen sollen. Deren Formalitäten sind doch nicht unser Problem. Endlich wurde sie aufgerufen. Adjuna wollte mitgehen, aber er wurde zurückgewiesen. Ich gehe trotzdem. Da wurde er von hinten gepackt und festgehalten, während Eva in den Raum gezogen wurde und die Tür zuknallte. Adjuna gelang es nicht, sich loszureißen. Was schwächt mich hier bloß so? Man führte ihn vor das Eingangsportal und verriegelte es dann hinter ihm. Es war schon dunkel geworden. In der stillen Straße hörte er ganz schwach, wie von vielen Mauern gefiltert, Evas Schreie. Adjuna geriet in Panik, er trommelte gegen die Tür. Dieser Ort raubt mir alle Kraft. Ein von Gott verdammter Fleck, der einen gesunden Menschen zerstört. Überall anders hätte ich diese Tür zerbrechen können, aber hier zerbreche ich vor der Tür. Jakob muß helfen. Er rannte durch Berninis Kolonnaden über den Peters Platz zur Großen Kirche, rannte rum und fragte überall und es dauerte lange, bis er Jakob endlich fand. Jakob konnte ihm nicht helfen, er konnte nur von Sünde, Sühne, Vergebung und dem Ewigen Fegefeuer reden. “Es tut mir leid, aber es ist am besten so.” Adjuna hörte schon nicht mehr zu. Immer hallten in seinen Ohren Evas Schreie. Ihm war etwas anderes eingefallen, als er diesen verachtungswürdigen Schwächling vor sich sah. Ich brauche Hilfe vom Stärksten. Ich muß Indra bitten, mir meinen Gandiva-Bogen zurückzugeben. Schnell ein Feuer, ich höre sie schreien, es zerreißt mir mein Herz.
Wie erging es Eva in den Folterkellern der Inquisition? Das übliche, nackt auf eine Folterbank geschnallt, hampelten nervös einige 217
Zölibatäre um sie herum und hielten ihr immer wieder einen Kruzifix vor die Nase und - ach ja, natürlich - fügten ihr Schmerzen zu. Das wollen wir aber nicht weiter im Detail beschreiben, nur die grausamsten Sadisten hätten ihre Freude daran - selbst normalen Mitgliedern des Sado-Maso-Fanclubs wäre es wahrscheinlich zu viel die Mühe lohnt nicht für so eine kleine Minderheit.
Adjunas Feuer brannte nicht, seine Mantras wurden nicht erhört. Dieser Ort ist verdammt. Adjuna lief fort, um diesem Ort zu entkommen. Er suchte einen ruhigen Park. Da wollte er es noch einmal versuchen. Es dauerte lange, bis er ein grünes Plätzchen gefunden hatte. Der Kirchenfeind stand auf einer Kiste und hielt eine Ansprache: “Paulus ist ja bekannt für seine Visionen oder Auditionen, oder was für eine Krankheit ihn auch immer befallen hatte auf seinem Weg nach Damaskus. Auch ich hörte einmal eine Stimme, die mich fragte: Warum verfolgst du mich? Doch war ich um die Antwort nicht verlegen. Du hast es weder verstanden zu leben, noch zu sterben. Deine Lehre macht die Menschen nicht glücklich. Und dein grausamer Tod am Folterholz ist Schuld, daß deine Anhänger sich mit Blut bekleckern, eigenem wie fremdem. Einem Priester freilich antwortete ich auf die Frage, warum ich die Kirche verfolge, sie habe sich doch schließlich geändert, helfe den Leidenden und sei auch toleranter geworden, foltere nicht mehr und so, daß ich befürchte, daß sie die ewigen Grundsätze, die sie momentan vertrete, eines Tages, wenn sie wieder die Macht dazu habe, gegen die ewigen Grundsätze einer früheren Zeit austausche. Das nämlich ist das Ewigste und Wahrste an der Kirche: die Austauschbarkeit der Wahrheit.” 218
Adjuna fragte den Kirchengegner: “Wie kriege ich meine Frau wieder aus den Kellern der Inquisition?” “Wenn die schon wieder angefangen haben zu foltern, dann kriegst du sie überhaupt nicht raus. Da die Zölibatäre sexuell gesehen ganz kaputte Typen sind, machen die eine Frau völlig fertig. Am Ende verbrennen sie sie dann, um das Verbrechen ungeschehen zu machen. Eine Art Scham. Keine Spuren mehr, du verstehst?” “Hilfst du mir? Ich ziehe in den Krieg gegen die Kirche.” “Das Christentum wurde mit Gewalt eingeführt, aber wir wollen es gewaltlos beseitigen, lediglich durch Aufklärung und Argumente.” Soviel Zeit hatte Adjuna nicht. Immer hörte er die Schmerzensschreie und Veni-Sancte-Spiritusse und andere Sakrilegien. Mit zitternden Händen traf er abermals Vorbereitungen für eine Invokation Indras, aber es klappte wieder nicht. Wie einst bei Karna, dem in der Not seine Mantras versagten, so daß ich ihn töten konnte, so verlassen mich jetzt meine Mantras in der Not. Der Götterkönig hatte Hemmungen in dieses Sündenbabel herabzusteigen, um Adjuna seinen Bogen zurückzugeben, oder fürchtete er die Konkurrenz? So sah Adjuna sich gezwungen, die Stadt zu verlassen, um Indra auf einem einsamen Berg außerhalb zu treffen. Götter mögen Berge, da haben sie's nicht so weit. Gerade jetzt, wo er keine Zeit hatte, solche Extrawürstchen! Immer wieder durchzuckten ihn die Schreie der Gefolterten. Es war schon fast zu spät. Die Folterknechte waren schon fertig mit ihr. An ihren zerbrochenen Gliedern wurden Ketten befestigt, mit denen sie an die Decke ihres Verlieses gehängt wurde. Bluttropfend sollte sie so bis zum Sonntag hängend warten, dann sollte sie lebendig verbrannt
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werden, falls sie dann noch lebte.1 Nur an Sonn- und Feiertagen wurde verbrannt.
Die Kirche vertrat ewige Wahrheiten. Es war daher egal, ob wir die Kirche in der Gegenwart, Vergangenheit oder Zukunft darstellten. Wer ewige Wahrheiten vertrat, konnte sich nicht ändern, und jede Änderung war eine Veränderung, eine Veränderung von außen, eine unselbständige Veränderung.
Endlich hatte Adjuna seinen Gandiva-Bogen wieder, aber es war ruhig geworden in seinen Ohren. Die Götter hatten Eva einen schnellen Tod geschenkt. Das kleine Kind in ihrem Bauch, das schon ziemlich groß war, wartete noch etwas länger. Es wartete vergeblich auf Leben, aber erfolgreich auf den Tod.
Adjuna saß traurig auf dem dunklen Berg. Er hatte seinen GandivaBogen wieder, aber nur mit einfachen Pfeilen. Andere Waffen, um die er gebeten hatte, Waffen, die Wände durchdrangen und Gedanken gehorchten, hatte der Gott verweigert. Es war nicht gut, wenn Menschen zu stark wurden. Das gleiche galt übrigens für Götter.
Er hielt seinen Bogen fest in der Hand. Nie wieder gebe ich ihn her, nicht einmal einem Gott.
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Diese schrecklichen Dinge sind wirklich passiert, und die, die es zu verantworten haben, gibt es immer noch. Sie spielen sich sogar als Hüter der Moral auf.
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Adjuna hatte um Waffen gebeten, und eine Waffe erhalten. Aber was nützten Waffen? Konnten sie Gebrochenes, Zerschnittenes und Geschundenes wieder heilen, Totes wieder lebendig machen, Schreckliches ungeschehen? Sie konnten es nicht. Aber Adjuna dämmerte nicht, daß er den Gott um das Falsche gebeten hatte, er plante schon die Rache. Zuerst mußte man den Schuldigen finden. Das war gar nicht so leicht, denn er wußte wohl, daß die eigentlichen Täter auch Opfer waren, wie sein Freund Jakob, der sich zu so niedrigem Verrat hatte verführen lassen. Sie waren Opfer einer Krankheit. Kranke, denen, wenn überhaupt irgend etwas, nur eine Schocktherapie helfen konnte. Der Fokus der Krankheit mußte gefällt werden, kurz und schmerzvoll, allen sichtbar. Wo kein Herd keine Herde. Doch wo war der Krankheitsherd? Gott vielleicht. Adjuna wußte, daß seine Pfeile nur im Diesseits, ja bloß auf dieser Erde wirkten, den Lieben Gott wer weiß im wievielten Himmel von der Wolke schießen, würde nicht klappen. Und den Sohn? Den hatte man schon umgebracht. Da war ihm schon jemand zuvorgekommen. Den Geist? Geister kann man nur mit Geist besiegen, das heißt, wenn die Geistlosen es nicht verhindern. Es blieb nur, ihr ahnt es schon, der nächste in der Hierarchie, der Drahtzieher, der mit dem direkten Draht. Wer so große Ansprüche stellte, wie das oberste Prunkmännchen der Großen Kirche, der sollte sich nicht wundern, wenn er zur Verantwortung gezogen wurde.
Doch erst einmal war Sonntag. Hexen wurden noch nicht wieder zur allgemeinen Belustigung öffentlich verbrannt, sondern dieses Vergnügen war nur privilegierten Klerikern zugänglich und fand auf einem für die Öffentlichkeit gesperrten Hinterhof der Großen Kirche statt.
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Adjuna war auf das Dach eines nahen Gebäudes geklettert und von dort wurde er Zeuge des makaberen Volksfestes, er sah die geschundenen Frauen. Die meisten lebten noch und schrieen entsetzlich, als die ersten Flammen an ihnen leckten. Als man Evas Wunden übersäten Leichnam ins Feuer warf, biß er sich in seine Hand, um nicht loszuschreien. All seine Kräfte schwanden, er wurde ohnmächtig, selbst Jakob hätte ihn jetzt töten können. Als er wieder zu sich kam, sah er verschwommen, daß man jetzt dabei war, Männer zu verbrennen, auch ihre Körper hatte man übersät mit Foltermalen, wohl für die homosexuellen Priester. Auch der Kirchenfeind war unter ihnen. Nach frommen Segnungen war die Veranstaltung dann zu Ende. Der Mensch ist nicht das Ende der Evolution, sondern der Devolution.
Steinern und stur blickten von den Kolonnaden Berninis hundertvierzig Heilige auf Gläubige und Ungläubige gleichermaßen herab, leblos und verwittert, mit leeren Händen fromme Gesten, bloße Statuen. Doch an diesem fatalen Tag war eine lebendig und verbittert, schön wie Adonis, aschebestreut und -beschmiert grau wie Tod und toter Marmor, keine fromme Geste, auf eine Waffe gestützt. Auf dem Platz unten sammelten sich die Leute in freudiger Erwartung, Hunderttausende, aus der ganzen Welt waren sie angereist. Endlich war es so weit. Als das Prunkmännchen vom Balkon des 3. Stocks herunter die ganze Welt für sich beanspruchte, Urbi et Orbi, da schlug er zu. Vier Pfeile schoß er gleichzeitig. Sie trafen Hände und Füße des Prunkmännchens und nagelten es an die Balkontür. Nein, töte ihn nicht! Du machst ihn nur zum Märtyrer, und damit noch gefährlicher.
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“Das war das letzte Mal, daß Deine segnenden Hände den Erdkreis besudelt haben. Ein neues Zeitalter bricht an. Die Rückzahlung beginnt. Bis zum heutigen Tag hat die Menschheit sich martern und morden lassen, bei den schlimmsten Schandtaten stillgehalten, Unmenschen nicht angetastet und zugelassen, daß sie im Namen von Religion und Göttern diese Welt zur Hölle machen. Götter sind Unmenschen, besonders in den Händen der Priester. Doch an diesem Tag wird der ganzen Welt bewiesen, daß die Götter nicht nur das Morden ihrer Priester zulassen, sondern auch das Ermorden.” Er schoß drei Pfeile, zwei in die Arme, einen ins Bein, und noch mal drei Pfeile, zwei in die Beine und einen in den Arm und noch mal und noch mal und noch mal. “Das ist die Dreifaltigkeit, an die ihr so einfältig geglaubt habt”, rief er dem Volke zu. “Glaubt ihr immer noch an die Dreifaltigkeit.” Es war das Prunkmännchen, das am lautesten gegen den dreifältigen Pfeilregen an “Nein, nein, nein” brüllte. Da rief auch das Volk: “Nein, nein, nein!” So schnell lernte man nicht selbständiges Denken. Adjuna schwor, daß, wer immer nach dieser symbolischen Handlung, und er schoß die letzten drei Pfeile, den Gnadenschuß, diese mörderische Religion wiederbeleben wolle, des Todes sei. Dann verschwand er. Mehr Rache wollte er nicht. Sollte jetzt aber nicht alles gerichtet sein, die Kirche sich nicht auflösen, sondern es wagen, einen neuen Papst zu wählen, so wollte er immer wieder diesen Akt der Menschenliebe wiederholen, bis man begriffen hatte.
Natürlich hatte man nichts begriffen, schon bald gab es einen neuen Papst. Das einzige, das seit diesem Tag anders war: Päpste standen nicht mehr auf Balkons, sondern hockten in Kellern. 223
Erstaunlich, daß sie sich vor dem Tod fürchten, wo doch alle Herrlichkeit im Jenseits auf sie wartet. Adjuna aber wurde zum gesuchtesten Mörder der Stadt. Seine Häscher hetzten auf der Suche nach ihm durch die ganze Stadt, nur um zu sterben, wenn sie ihn fanden. Auf die Dauer waren sie aber so lästig, denn sie ließen ihm keine ruhige Minute, an ungestörten Schlaf war nicht mehr zu denken, daß er die Stadt verlassen wollte. Vom Circus Maximus, wo Adjuna die letzte, große Vorstellung gegeben hatte, und der jetzt mit Leichen übersät war, ging er zum Fluß. Bei der Kirche Santa Maria in Cosmedin steckte er seine Hand in den Mund der Wahrheit und rief mit lauter Stimme: “Das Christentum ist die größte Lüge!” Der antike Lügendetektor biß nicht zu. Doch der fromme Priester der Basilika, als er das hörte, steckte ebenfalls seine Hand in den Mund der Wahrheit und rief provozierend: “Das Christentum ist die größte Wahrheit!” Wollte er in der Art der kleinen Leute Märtyrer werden, während sich das verbunkerte Prunkmännchen das Leben rettete, oder kannte er die Gefahr nicht und wußte nicht, wie schlecht Adjuna auf das Christentum zu sprechen war? Er sollte es bald wissen. Adjunas Gesicht lief rot an, Adern traten hervor. Der Priester wollte gerade seine Arme zum Schutz vors Gesicht nehmen, da hatte der Mund schon zugebissen und seine Hand eingeklemmt.
Adjuna, der ja über mächtige Mantras verfügte, hatte mit Hilfe der Steinmantra den Stein bewegt. “Siehst du jetzt ein, daß das Christentum die größte Lüge ist?” Aber der Priester schrie nur immer wieder: “Nein, nein, es ist die größte Wahrheit, die größte Wahrheit.” Es hatte keinen Zweck, sein Gehirn war zu gründlich gewaschen worden. Adjuna drehte ihm den Rücken zu und ging. Sollten andere 224
ihn losmeißeln. Vielleicht würde bei irgend jemandem der Groschen fallen. Nachdem Adjuna über die Brücke gegangen war, traf er auf eine andere Kirche, die Santa Cecilia. Er wurde traurig, denn er mußte wieder an Eva denken. Cecilia war eine Christin, die unter Mark Aurelius für ihren Glauben starb, und deshalb jetzt als Heilige verehrt wurde. Als man ihr Grab in den Callistus-Katakomben öffnete, fand man, daß die eine Hand der Leiche drei Finger von sich streckte, die andere aber nur einen. So nahm sie das Dogma der heiligen Dreieinigkeit, den dreigeteilten Monotheismus, schon damals voraus. Adjuna dachte: Sie hätte eine Faust machen sollen, oder besser, sie hätte verstehen sollen zu leben, statt für einen Glauben zu sterben, der späteren Frauen die schändlichsten Verbrechen antat.
Vor dem Stadttor begegnete er dem Kirchenkritiker. “Nanu, ich denke, du bist tot.” “Ich werde immer wieder auferstehen, solange es die Kirche gibt.” “Hast du von meinem Versuch, ein für allemal Schluß zu machen mit der Kirche, gehört.” “Es hat nicht geklappt.” “Ich hätte von ganz weitem einen anderen Pfeil schießen sollen, einen leuchtenden, langsamen Pfeil, den alle gesehen hätten. Dann hätten die Leute geglaubt, Gott selbst hätte einen Blitz geschickt, um den Papst und das Christentum zu vernichten.” “Das hätte auch nichts genutzt, die Kleriker hätten gesagt, das wäre der Teufel gewesen und ihren Schäfchen so Angst gemacht, daß sie noch dichter an die Kirche herangekrochen wären. Die finden immer eine Ausrede, um ihren liebgewordenen Glauben nicht aufgeben zu müssen. Das Schlimmste an ihnen aber ist, sie denken, sie tun Gutes, aber tun Schlechtes, schaden dem Allgemeinwohl, richten mit ihrem Haß und ihrer Intoleranz die Welt zugrunde. Haß und Intoleranz, die Scheuklappen von Religion und von Ideologien, können wir uns nicht 225
mehr leisten, die Menschheit besitzt heutzutage schrecklichere Waffen als deinen Bogen, du hast es nur noch nicht gemerkt. Wenn sich Hasser und intolerante Menschen nur gegenseitig annihilierten, so brauchten wir uns nicht abzumühen, Verfolgung und Schmerzen erleiden. Wir könnten die Hände in die Taschen stecken, das Problem erledigte sich von selbst. Ein eitler Traum. Die Wirklichkeit ist anders. Wer immer für Freiheit ist, dem Menschen das Recht zubilligt, auf seine Art glücklich zu werden, der wird als erstes zermürbt und zermalmt, erst dann bringen sich die Intoleranten gegenseitig um, einschließlich des indifferenten Rests. Die, die das Überleben am ehesten verdienen, sterben zuerst. Das Gesetz der Evolution heißt nicht: Minderwertiges stirbt aus, sondern Mörderisches überlebt. Aber wir Menschen besitzen Intelligenz, vielleicht können wir damit nicht nur die Götter, sondern auch die Gesetze der Evolution überwinden. Aufklärung tut not und denken.”
Und nun ragst du hinter mir, Rom, du große Hure, die du an vielen Wassern sitzt, du Mutter der Hurerei und aller Greuel auf Erden. Mögen die Götter auch mit dir sein, die Menschlichkeit ist es nicht. Die Stadt Troja zu zerstören, kostete Eris, der Göttin der Zwietracht, nicht mehr Mühe, als einen Apfel zu rollen. Äneas, der letzte Held Trojas, floh in das friedliche Land am Tiber. Doch Hera, die Gattin Zeus, konnte den Trojanern nicht verzeihen, daß einer der Söhne Trojas ihr nicht den Apfel mit der Aufschrift `Der Schönsten' gegeben hatte, und in der Stadt des Königs Latinus, wo Äneas hoffte, mit seinen Leuten friedlich aufgenommen zu werden, riß sie eigenhändig das von hundert ehernen Riegeln verschlossene Tor des Kriegstempels auf und Janus, Hüter des Tempels und zwiegesichtiger Gott aller Anfänge, dem der erste Monat des Jahres geweiht ist, begann den Krieg gegen den Trojaner Rest. In dieser Not kam Aphrodite, Schönheitskönigin und Göttin der Liebe, Äneas zu Hilfe. Sie bat den Gott des Feuers, Hephast, herrliche Waffen für Äneas zu schmieden. Die Waffen waren gut, aber der vom göttlichen Schmied geschmiedete Schild war mehr als ein zuverlässiger Schutz. Sah man hinein, versank man in Bildern, Bildern der Zukunft. Man sah nicht nur, wie Äneas den 226
latinischen Helden Turnus erschlug und als Sieger Lavinia, die Tochter des Königs Latinus, heiratete und später selber König wurde, sondern auch wie eine Nachkommin, die Prinzessin Rhea Silvia, vom Kriegsgott Mars die Zwillinge Romulus und Remulus gebar, die ihr Onkel Amulius aus Wut darüber, daß sie ihren Keuschheitsschwur als Vestapriesterin gebrochen hatte, zum Sterben in einem Kasten auf dem Tiber aussetzte. Der Kasten blieb in den ungastlichen Sümpfen bei den sieben Hügeln an einem Feigenbaum hängen. Eine Wölfin fand die Zwillinge, ihre Euter füllten sich mit Milch, die Herzen der Zwillinge aber füllten sich mit wölfischer Mordlust. Romulus mordete Remulus.1 Der Etrusker Tarquinius Superbus vergewaltigte die römische Adlige Lucretia. Aus Schande tötete sie sich. Die Römer aber unter Lucius Junius Brutus töteten die Etrusker. Blut geschmeckt, raubten und töteten sie weiter, bis die ganze Apenninenhalbinsel ihnen gehörte. Man wollte mehr. Karthago mußte brennen, wie einst von Troja blieb nach dem dritten punischen Krieg von Karthago nur Schutt und Asche und auf den Boden streute man noch Salz. In dem vom Gott geschmiedeten Schild sah man, wie sich das Feuer der Zerstörung nach allen Seiten hin über die damals bekannte Welt ausbreitete. Man sah den Krieg gegen Antiochos, man sah die makedonischen Kriege, den lusitanischen Krieg, den keltiberischen Krieg, die sizilianischen Sklavenkriege, die Ermordung Aemilianus, die Zerstörung von Fregellae, die Ermordung des Reformpolitikers Tiberius Gracchus und seiner Anhänger, die Ermordung des jüngeren Gaius Gracchus und seiner Anhänger, man sah, den General Gaius Marius den Senat und die Aristokratie abschlachten, den allobrogischen Krieg und den arvernischen Krieg, man sah es funken und blitzen an den Grenzen, die Schlacht von Aquae Sextiae, die Schlacht auf dem raudischen Feld, die Überwältigung Saturninus,
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Sein richtiger Name war Remus. Dieser Name gefiel mir aber nicht, und da andere mit geschichtlichen Wahrheiten umgehen, wie sie wollen, dachte ich mir, das kann ich auch.
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Drusus' Ermordung, den fregellanischen Krieg, Caesar in Kampanien und Samnium, Aesernia von Insurgenten erobert, Kampanien verloren, Lupus Niederlage und Tod, den picenischen Krieg, Asellios Ermordung, man sah Sullas Marsch auf Rom und die Römer sich selbst zerfleischen, man sah die Massen die Leiche des verhaßten Strabos durch die Straßen schleifen, Marius die Köpfe verhaßter Senatoren an seine Rednerbühne heften, Sullas überfließende Blutbäder, die die Straßen glitschig werden ließen, man sah Pompeius Niederlage am Sucro, Lucullus Erfolge und Rückzieher in Armenien, man sah Römer am Euphrat und Tigris kämpfen, man sah gepeinigte Sklaven, Gladiatorenkämpfe, Sklavenaufstände, Metallus Sieg über Kreta, die Unterwerfung von Pontus und Armenien und Römer noch am Kaukasus und am Schwarzen Meer kämpfen, man sah Caesars Eroberungskriege, den gallischen Krieg, helvetischen Krieg, venetischen Krieg, Caesar gegen Pompeius kämpfen, Caesar in Ägypten, Caesars Armeen von Italien nach Spanien, von Spanien nach Makedonien, von Makedonien nach Afrika hetzen, man sah Cato zu Utica ins eigene Schwert stürzen und schließlich sah man Caesar den etruskischen Wahrsager verspotten, der ihm Unglück bis zum Idus des Märzus vorausgesagt hatte, und man hörte dessen Antwort: Lobe den Tag nicht vor dem Abend! und dann sah man Caesar unter dreiundzwanzig Dolchstichen sterben, man sah, wie Marc Antonius und Octavian die Mörder verfolgten, Antonius Liebe zu Kleopatra, Octavians Haß auf Antonius, Antonius und Kleopatras Doppelselbstmord; Octavian wurde der Verehrte, der Augustus, und endlich gab es Frieden, die Pax Romana; man sah auch diesen Augustus schließlich nach 41 Regierungsjahren sterben, man sah neue Kaiser kommen und gehen, fähige und unfähige, menschenfreundliche und Menschenschinder. Man sah, daß auch der schönste Frieden ein Ende hat und Gemetzel das Normale waren. Man sah, wie Brandstifter im Zirkus von wilden Tieren zerrissen wurden, man sah noch andere Fanatiker sterben, doch schließlich sah man, daß die, die selbst Opfer waren, noch viel grausamere Täter sein konnten. Man sah die Tempel der Götter brennen und eine neue, noch grausamere Zeit anbrechen. Man sah, daß jenseits der Säulen des Herakles weit draußen auf der anderen Seite des Atlantiks noch andere Völker lebten, die es zu ermorden galt in Bündeln zu dreizehn, für den Herrn und seine zwölf 228
Jünger, im Namen der neuen Religion. Man sah auch waffentechnischen Fortschritt, rasselnde Panzer und Heuschreckenschwärmen gleiche Luftangriffe, Giftgase und andere Massenvernichtungsmittel, doch irgendwann ließ sich Grausamkeit nur noch steigern, wenn man die Zahl der Opfer steigerte und von Rom wurde das Motto ausgegeben: Vermehren ist Pflicht! Schließlich sah man ein Licht, das war so hell, daß man sich abwendete.
Adjuna hatte also die Stadt verlassen. Die Hure ragte hinter ihm. Viele Täter beherbergte die Stadt, und auch ich wurde zum Täter. Rom war ihm ein Greuel geworden. Er wanderte nach Norden, er lief fast. Am Zusammenfluß der Sesia und des Pos stolperte er und fiel in den Schlamm. Verdreckt stand er auf. Einige Rowdies machten sich lustig über ihn und warfen Steine. Menschsein war nicht nur anstrengend und ermüdend, sondern auch widerlich. Hier hatte Hannibal seine erste Schlacht auf italienischem Boden erfolgreich geschlagen, hier auf den Campii Raudii, den Raudischen Feldern, hatten die Kimber und Römer gekämpft. Bojorix, der König der Kimber, der, nachdem die Römer seine Bitte um Land und Saatgut abgelehnt hatten, meinte, die Götter wollten die Schlacht - in Wirklichkeit waren es die Römer, die wollten - schickte nach Germanen Art eine Delegation zu Marius mit einem Angebot zum Kampf: Und Marius solle Ort und Zeitpunkt der Schlacht bestimmen. Obwohl Marius nach Art der Römer die Feinde bisher immer da geschlagen hatten, wo er sie traf und am verwundbarsten fand und daher solche Formalität nicht kannte, wußte er sie doch für sich zu nutzen. Er verabredete, sich am nächsten Tag auf den nahegelegenen 229
Raudischen Feldern zu begegnen. Da er von den naiven, germanischen Vorstellungen einer ritterlichen Gegenüberstellung nichts hielt, ließ er schon in der Nacht das nordische Kriegsvolk umzingeln. Im dichten Morgennebel, noch ehe sich die germanischen Krieger aufgestellt hatten, sahen sie sich angegriffen. Die kimbrischen Krieger gaben ihr Bestes, der Kampf zog sich lange hin. Die Weiber halfen ihren Männern, indem sie sie lärmend anfeuerten, mit Getrommel auf Töpfen und Pfannen und den ledernen Verdecken der Wagen, aber die Verluste der ersten Morgenstunde waren zu groß gewesen, die nordischen Recken konnten sie nicht wettmachen, einer nach dem anderen sank ins Gras, und die Römer waren mehr und mehr in der Überzahl. Die kimbrischen Frauen lasen die Schwerter ihrer gefallenen Männer auf und stürzten ihrerseits ins höllische Schlachtgewühl. Wer verwundet war und nicht mehr kämpfen konnte, stieß sich sein Schwert in die Brust. Als alles verloren war, töteten die letzten Frauen die Kinder und Alten und schließlich, als das Anlaufen gegen die Schilde der Römer, die die Frauen lieber zu Sklavinnen hatten, keinen Tod mehr brachte, töteten sie sich selbst. Die Kimber waren stolze, freie Menschen gewesen, der Tod hatte für sie weniger Schrecken als ein Leben in Gefangenschaft. Nur Vereinzelte dachten anders und wurden Sklaven. Jeden Tag rächten ihre römischen Herren an ihnen ihren Unmut über die Germanen. Und jenseits der Alpen lebten viele Germanen, die den Römern noch oft Grund zu Unmut geben sollten, denn Überbevölkerung, Wetterveränderungen oder auch einfach Neugier oder römische Provokationen trieben sie immer wieder zur Wanderung. Den Römern, die als Zivilisierte in Reih und Glied kämpften, wobei jeder Soldat wie das Rädchen einer riesigen Maschinerie spurte, war die germanische Art zu kämpfen zuwider. Sie fürchteten und verachteten die Germanen zugleich. Für sie waren es rohe, ungeschliffene, gewalttätige Tiere. Nenne ein Kind schlecht und es wird schlecht. Noch oft in ihrer späteren Geschichte, als die Römer schon nicht mehr waren, sollten die Germanen und später ihre Nachkommen, die Deutschen, ihrem Ruf 230
gerecht werden, und todesverachtend losstürmen --- sogar bis Stalingrad. In Stalingrad besiegten dann die Russen die Deutschen und entkamen so der Nazi-Tyrannei. Sie brauchten sie auch nicht, sie hatten ja ihre eigene. Beschmieren wir unser Gesicht wie Adjuna mit Schlamm und stellen wir uns vor, die Erde sei mit frischem Blut getränkt, mit Kot und menschlichen Fleischresten gedüngt. Wir drücken unser Ohr gegen den feuchten Boden. Mit dem einen Ohr hören wir jetzt deutlich das Getrampel der Hufe, das Rasseln der Panzerketten, Poltern und Beben, mit dem anderen Ohr hören wir das Klirren der Waffen, Detonationen und die Schmerzensschreie der Verwundeten und Sterbenden. Nachdem wir das Gemetzel der Schlacht genossen haben, wollen wir auch die Ruhe, die danach herrscht, genießen. Wir setzen uns dazu aufrecht hin, die Schultern zurück, und atmen tief durch. Wir gedenken der gefallenen Helden, nicht nur der eigenen Nation, das wäre engstirnig, sondern den Helden aller menschlichen Grausamkeiten und wir haben - nein, bitte kein Mitleid - Bewunderung für die Heldenhaftigkeit, mit der die Menschen den Fluch, der auf dem Menschsein lastet, ertragen. Sicher manchmal brauchten sie ein bißchen Trost, ein bißchen Nachhilfe, ein bißchen Hoffnung, einen kleinen Trick. Einige Beispiele: Die gefallenen Helden der Germanen, also wohlgemerkt, die nicht überlebten, gingen zum Saufgelage nach Walhall, Moslemkrieger, aber auch gedungene - sogar verhinderte Mörder im Auftrag moslemischer Kleriker, verbringen ihr Dasein in der Nachwelt mit dem Entjungfern der Huris und anderen sinnlichen Genüssen, christliche Helden singen im Paradies Halleluja und finden dabei - schwer vorstellbar - ihr höchstes Glück, außerdem genießen sie die gute Aussicht auf die Hölle.1 Und was bleibt dem modernen
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Luk 16:22-24
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Soldaten? Außer alten Versprechen nicht viel, 'ne Witwenrente für die Hinterbliebene. Kleine Tricks. Sicher. Nichtsdestoweniger, meine Augen füllen sich vor Faszination. Ich bin sicher, wir werden auch den letzten Schritt noch schaffen. Manch einer der kleinen Tricks hat große Verwirrung gestiftet, aber wir wollen den Helden die Bewunderung nicht verweigern, alles hat er geopfert: sein eigenes Glück und Wohlsein und das der anderen. Man müßte ihn einen Narren schimpfen, wenn man keinen tieferen Sinn in all diesen Gemetzeln findet. Der tiefere Sinn all dieser Gemetzel ist nämlich die Ertüchtigung der Menschheit. Die Ertüchtigung der Menschheit, damit sie eines Tages den großen Schlag ausführen kann, die Reinigung, die große Reinigung des Planeten vom organischen Beschmutzer. Seht den Mond und die anderen Trabanten der Sonne! Wie schön sauber sie sind! Wir atmen noch einmal kräftig durch. Unsere Meditation ist zu Ende. Wir haben die Ruhe nach der Schlacht genossen. Aber unser Planet hat noch immer keine Ruhe. Es wimmelt auf ihm. Ungeziefer.
Nicht nur der Schlamm des Feldes, in den Adjuna mit dem Gesicht zuerst gefallen war und der ihm Nüster, Mund und Augen verklebte, gab ihm einen Vorgeschmack auf das Land jenseits der Alpen, sondern auch die Steine werfenden Rowdies, denen er aus irgendeinem Grunde - waren es seine langen Haare, sein fremdländisches Aussehen oder nur sein Mißgeschick? - unsympathisch war, gehörten zu diesem Horsd’oeuvre, denn es handelte sich bei ihnen um deutsche Touristen. 232
Aber einen fairen Zweikampf, wie ihn Bojorix gewünscht hatte, wollten sie nicht. Denn als Adjuna aufstand und auf sie zukam, rissen sie aus.
Adjuna hatte einen eigenartigen Geschmack im Mund. Er wunderte sich. Was schmeckte so? Die Erkenntnis? Er steckte seinen Finger in den Matsch und wie ein Kind, das von der Sahnetorte naschte, leckte er den Finger ab. Er hatte recht, es war die Erkenntnis, die so bitter schmeckte. Mutter Erde war eine lebende Einheit und Ganzheit, Gaia auf Griechisch, Bomidevi auf Indisch, Geohomoeostasis und biokybernetisches Universaltendenzsystem auf wissenschaftlich oder pseudowissenschaftlich (Wer weiß? Mysterien waren immer mysteriös.). Diese Mutter Erde war aber gar nicht so sehr eine Mutter, so wenig wie die Menschen die Mutter ihrer Darmparasiten waren, sondern ein Monster, ein müdes Monster, ein trauriges Monster. Wale und Viren, Eichen und Algen waren wie Blutkörperchen und Biosome, Teile eines Ganzen, das Ganze aber war das Monster, ein lebensmüdes Lebewesen. Da es keinen Strick hatte und auch kein Schwert zum Hineinstürzen, blieb ihm nur die Autointoxikation, die Selbstvergiftung. Das Gift waren die Menschen. Adjuna verstand das jetzt. Alles gehörte zusammen, alles hatte einen Sinn. Selbst der Tod seiner Freundin Eva bekam nun einen Sinn. Aber die Menschen sollten nicht mehr morden und sterben, ohne den Sinn zu kennen. Sie mußten von ihrer Ignoranz befreit werden. Auf dem Fahrdamm, den Adjuna so fahrlässig verlassen hatte, kam gerade ein Bus. Der Bus hielt an für eine Pinkelpause und trug so zum Geschmack des Bodens bei. Adjuna wollte sein Aufklärungswerk sofort beginnen und rief: “Meine Damen und Herren!” Die Damen schauten allerdings gerade beschämt weg wegen der Herren. “Meine Damen und Herren, eben wurde mir eine tiefe Wahrheit offenbart. Der Grund für unsere Existenz. Es ist 233
Euch doch sicher schon einmal aufgefallen, mit welcher Begeisterung wir Menschen uns immer gegenseitig umbringen für dumme Ideen und triviale Angelegenheiten, wie Götter, Grenzen und Geld, für Fürsten und andere Faulenzer, für Vaterländer und Muttersprachen, aus Liebe und aus Haß. Das ist alles falsch.” “Ja, richtig”, rief da ein Pazifist, der gerade den letzten Tropfen abschüttelte, während ein Gläubiger murrte: “Es gibt nur einen Gott.” Auch der Pazifist hatte noch eine Phrase: “Make love not war.” Adjuna aber fuhr fort: “Es gibt nur eine Erde, unsere Erde. Sie ist müde, sehr sehr müde, kein Schlaf hilft ihr, nur der Tod. Sie will sterben, wir sind das Gift, das sie nehmen will. Aus Selbstmord hat sie uns hervorgebracht. Es gibt somit nur einen Grund für uns, zu töten, ihren Grund, und unser Töten muß absolut tödlich sein, und alles Organische mit einschließen." Raunen, murren. Alle murrten jetzt zwar, besonders aber der Pazifist, der noch eine Verabredung zum Stelldichein hatte. “Die Götter mögen uns ja helfen dabei, aber der aufgeklärte Mensch vernichtet aus einer anderen Erkenntnis, der Erkenntnis unserer Erde, daß das Leben die schlechteste Alternative zum Tod ist." Da Adjuna noch immer von oben bis unten voll Schlamm war, also unmöglich aussah, packte einige das nackte Entsetzen, denn sie hielten ihn nun tatsächlich für einen Propheten der Erde, ja gar für erdgeboren und gerade erst hervorgekrabbelt. Nur einer, ein Wissenschaftler, geriet nicht in Panik, und während die anderen in den Bus stürzten, meinte er ganz sachlich: “Mag die Erde uns auch erfunden haben, um zu sterben. Wir können ihr entkommen auf zweierlei Art: Einmal mit Hilfe unseres Verstandes, zum anderen, wenn sie wirklich sterben sollte, mit unseren Raketen. Übrigens, du solltest dich mal abputzen, du bist doch hingefallen.” Adjuna war verblüfft. Während er dem abfahrenden Bus nachsann, erkannte er, daß er überstürzt gehandelt hatte, und entschied, daß er 234
mit seiner Mission vielleicht noch etwas warten sollte. Er kannte die Menschen noch zu wenig, er sollte ihr Beobachter werden, weiterziehn und weiter... Und wenn er dann mehr wüßte, würde er reformieren, missionieren und vielleicht gar handeln.
Jenseits der Alpen, nach einem mühsamen Übersteigen des Sankt Gotthards und einem gemütlichen Spaziergang durch die neutrale, aber gut gerüstete Schweiz, kam man in das von den Römern so gefürchtete Barbarenland, das Land der Kelten und Germanen. Die Kelten, deren Herzland wohl das Land um die obere Donau gewesen war, hatten ihr Siedlungsgebiet noch in vorrömischer Zeit beträchtlich ausgedehnt. Vom Balkan bis zur Biskaya war alles keltisch gewesen, sogar südlich der Alpen saßen sie. Sie waren blond und ihr in Kalklauge getränktes Haar war hart und strähnig und ihr struppiger Schnauzbart filterte das Bier, das sie tranken. Sie waren kriegstoll und leicht zu erregen, aber auch arglos, gutmütig und leicht zu beruhigen. Sie waren höflich, kannten gute Umgangsformen, liebten Komfort und gutes Essen, aber zeigten auch in anderen Dingen des täglichen Lebens guten Geschmack und waren auch extrem gastfreundlich. Sie liebten zu reden, mehr noch zu übertreiben, deshalb wimmeln noch heute deutsche Märchen von Zwergen und Riesen. Auch Adjuna sollte welchen begegnen, Übertreibern natürlich. Man sagte auch, sie waren Individualisten oder gar Anarchisten, weshalb sie es auch nie zu einem keltischen Staat gebracht hatten. Stämme schlossen sich allerdings zu Kriegszügen zusammen, 390 vor Christi eroberten sie Rom, 272 Delphi. Not, Hunger und Neugier trieb sie zur Wanderung, bis nach Anatolien, an die Schwarzmeerküste und an die Dnjepr im Osten, im Westen bis zur iberischen Halbinsel und im Norden bis Schottland und Irland, nach der Entdeckung Amerikas gingen auch viele, besonders von Irland, in die Vereinigten Staaten.
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Doch sollten uns nicht nur die usupatorischen Leistungen der Kelten interessieren, sondern auch ihre geistigen. Da fast jeder bis drei zählen konnte, war - wie jeder wußte - die Drei eine heilige Zahl. Die Römer hatten ihren Jupiter, Mars und Merkur, die Hindus hatten ihren Brahma, Shiva und Vishnu, die Bruchrechner ihren Vater, Sohn und Heiligen Geist, und so hatten denn auch die Kelten drei Hauptgötter: Taranis, Esus und Teutates. Außerdem gab es noch drei Matronen, Muttergottheiten, Beschützerinnen von Acker, Feld und Flur, und tiergestaltige Nebengötter im Dreierbündel, Hirsch, Hase, Hund, Reiher, Rabe, Raubvogel, Schlange, Schwein und Stute, etc. etc. etc. Die Kelten kannten auch schon einen von Priestern, Druiden, geleiteten Gottesdienst, die Gehirnwäsche par excellence und immer eine anrüchige Sache. Ihre Götter brauchten offensichtlich die Dolmetscher-Dienste der Druiden und verstanden es nicht, sich dem einfachen Volke direkt mitzuteilen, was den Priestern größere Macht gab als den Göttern. Die Seele der Kelten war unsterblich und wanderte. War ein Kelte todkrank, hatte aber keine Lust zur Seelenwanderung, so konnte er dem Tod dadurch entgehen, daß er den Göttern einen Menschen opferte. Denn das Darbringen eines Menschenlebens verpflichtete die Götter, das Leben des Opferers zu schützen, das eine für das andere, ein Tausch und kein Betrug. Die Druiden kannten aber noch viele andere Gelegenheiten, wo sich mit Menschenopfern von den Göttern was erzwingen ließ. Das begann gleich am ersten November, dem Neujahrstag der Kelten und späteren Allerheiligenfest der Christen, und ging dann im Vierteljahresrhythmus durchs ganze Jahr, erster Februar, Fruchtbarkeitstag und Beginn der Säugezeit der Schafe, erster Mai, Maifeiertag, Mitte des Jahres, Schafe wurden mit Rauch seuchenfest gemacht, erster August, Götter werden zur Einbringung der Ernte günstig gestimmt. Lag was Besonderes an,
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wie 'ne Schlacht, die gewonnen werden wollte, gab's auch mal ein Opfer zwischendurch. Die Druiden hatten erkannt, daß Taranis, dem das Element des Feuers zugeordnet war, seine Opfer verbrannt oder zumindest gut durchgebraten haben wollte, und zwar bei lebendigem Leibe, denn er liebte frisches Fleisch und frische Leber, und was war frischer als lebendig? Dem Teutates war das Wasser zugeordnet und seine Opfer wurde in einem Faß ertränkt, und Esus, zu dem die Erde gehörte, bekam seine Opfer im Baum aufgehängt. Die Kelten kannten zum Glück nur drei Elemente und nicht wie Physiker über hundert. Auch die Frauen, denen man seherische Fähigkeiten zuschrieb, halt, schreiben konnte man ja gar nicht, also: nachsagte, brauchten Menschen, wenn sie die Zukunft erkennen sollten. Sie stachen ihre Opfer aber mit dem Dolch ab. Nach der Art des Hinfallens, dem Zucken der Glieder und dem Fließen des Blutes sagten sie wahr. Sie standen in hohem Ansehen. Da die keltischen Götter magische Entitäten waren und keine moralischen, brauchten Priester und Seherinnen sich nicht die Mühe zu machen, für ihre Opfer Menschen zu suchen, die gegen irgendwelche Gebote der Nächstenliebe verstoßen hatten, sondern konnten jeden xbeliebigen nehmen, Verbrecher wie Unschuldige, auf jeden Fall band es den Gott, als Opferempfänger, das Verlangte zu tun; wie ein Zauberspruch einen Zauber erzwang, so erzwang das Opfer einen Dienst, genauso unabänderlich, genauso erfolgreich. Abrakadabra...
Nördlich der Kelten wohnten die Germanen. Die Hindus aßen keine Kühe, weil ihnen dieses Milch spendende Tier ein Symbol der Barmherzigkeit war, die Moslems und Juden aßen kein Schweinefleisch, weil das Schwein stank und schmutzig war, sie aßen 237
auch keine Krabben, weil die dem Teufel ähnlich sahen. Und die Germanen? Waren sie später auch Allesfresser, einst aßen sie kein Pferdefleisch, denn das heilige, achtbeinige Pferd Sleipnir diente ihrem Allvater Wotan als Reittier und andere, profanere Pferde dienten ihnen selbst und das nicht nur als Reittier, sondern aus ihrem Schnauben und Wiehern ließ sich auch die Zukunft erkennen. Freilich diese ferne Zeit, in der die Woche auch noch acht Tage und neun Nächte hatte, lag weit zurück und alles, was blieb, war der Glaube, daß Hufeisen Glück brachten, und die Redensart, daß man das Denken den Pferden überlassen sollte, denn die hätten einen größeren Kopf. Die Germanen konnten weiter als bis drei zählen, sie wußten, daß Allvater Wotan mit der Erde, ihm Tochter und Gattin gleichermaßen, ein Kind gemacht hatte, ein Göttersöhnchen, Name: Thor, Donar oder Donnerer, ein Streithammel mit Streithammer und eisernen Handschuhen, Bronze war schon aus der Mode und Atompilze wuchsen damals noch nicht. Zum Göttergeschlecht der Asen gehörten außerdem: Tyr, Tiu oder Ziu, Spezialgott des Zweikampfes und der Zeit, Baldur, Lichtgott, Freyja, Mütterlichkeit, Geburt, Ehe, Loki, Betrüger, Spaßmacher, Feuergott, zündelte gern, Aufgabenbereich: Brandstiftung und Weltuntergang, stand damals noch aus. Natürlich gab es noch viele mehr. So leicht hatten es sich die Altvorderen nicht gemacht. Vor allen Dingen gab es neben den kriegerischen Asen noch die Vanen, Götter der Fruchtbarkeit und des Wachstums, und einen Götterkrieg, gegenseitiges Schädeleinschlagen und globaler Kataklysmus. Wotan besaß einen Ring, Draupnir, Tropfer, genannt. Aus ihm tropften in der neunten Nacht die acht neuen Tage, und uns geht ein Licht auf, erst jetzt leuchtet uns ein, warum das germanische Jahr 365 Tage, aber 410 Nächte hatte. Neun war die heilige Zahl der Zeit, und wenn die Christen behaupteten, neun sei die Zahl des Satans, so irrten sie. Das war leicht einzusehen, denn neun Nächte opferte sich Odin (=Wotan) und neun Nornen normten Geburt und Tod der Menschen. 238
Nach germanischem Glauben wurde das Weltganze nicht von den Göttern geschaffen, sie stimmten hier also mit den Weltanschauungen der Atheisten überein, sondern ihrer Meinung nach entstand die Welt aus den zerbrochenen Gliedern des Riesen Ymir, im Weltmittelpunkt (Bauchnabel?) stand die Weltesche Yggdrasil, in ihrem Schatten sonnten sich die Schicksalsgöttinnen Urd, Verdandi, Skuld. Die Germanen hatten sich die Welt so eingeteilt: Midgard für die Menschen, umgeben von der Midgardschlange, deren Bekanntschaft Adjuna ja schon mal kurz gemacht hatte, Utgard für die Riesen, Asgard für die Asen, Hel, die Unterwelt, Walhall, Saufhallengelage mit Allväterchen Wotan. Die Germanen kannten damals noch keine Priester und Gottesdienste. Die wohlgerüsteten Germanen, von Norden kommend, verdrängten mit ihren wohlgerüsteten Göttern die Kelten und die keltischen Götter des Himmels, der Künste, der Poesie, des Feuers, des Wassers, der heiligen Quellen, Viecher, Bäume, Steine, und anderer Kinkerlitzchen. Später dann zwang der Frankenkönig Karl der Große sie, Christ und Kreuzanbeter zu werden. Hartnäckig, dickschädelig wie sie waren, wollten sie zuerst nicht, aber als mit Prügel nachgeholfen wurde, klappte es. Es war wie mit den Kartoffeln. Denn als dieser wunderbare Erdapfel, der den großen Vorteil besaß, daß Heere auf den Feldern lagern oder gar sich schlagen konnten, ohne die Ernte zu verderben, von Friedrich dem Großen eingeführt wurde, ging auch das nicht ohne Prügel. Was der Bauer nicht kannte, das fraß er nicht. So war man Christ geworden und galt auch allgemein als Kartoffelfresser. Daß man das Christentum gefressen hatte, stand allerdings noch aus. Ob es ohne Prügel ging? Erzieher sollten nicht mehr prügeln, sondern geduldig erklären. Sonst gab es nur neue Gewalttäter. 239
Aber Deutschland war nicht nur das: Verstockte Bauern, todesmutige Recken.
Es waren zwei Deutsche1, die als erste die Frage aufwarfen, ob der menschliche Körper, statt ein einziger Organismus zu sein, nicht eher eine Gemeinschaft von einzelligen Lebewesen sei. Einem anderen Deutschen2 gelang die Entdeckung der Zellteilung, was zum Verständnis der Entstehung des Menschen durch Zytokinesis, das war Zytologenchinesisch, von einem einzigen Ovolum nach der Karygamie der damals noch meist brav monogam lebenden ParentalZytogruppierungen - äh - führte. Zwar hatte man schon vorher daran gezweifelt, daß göttlicher Atem, also Wind, in Verbindung mit Lehm, also hauptsächlich Aluminiumoxyd mit ein bißchen Eisenhydroxyd, also Brauneisenstein für den gelbbraunen Teint -, lebende Menschen statt Tonstatuen hervorbrachte. Und es verstand sich von selbst: Ebenso wie man vorher dran gezweifelt hatte, hatte man nachher noch dran geglaubt. Die Welt war eine komplizierte Entität. Der pustende Schöpfergott aber mußte am Tag der Entdeckung einen Schritt zurücktreten, merkten doch zu viele, er hatte uns mit seinem Schöpfungsmärchen angeführt, verkohlt, in den April geschickt, nirgendwoandershin und schon gar nicht ins Leben, ins Dasein, zum Narren gehalten, aber nicht zu Menschen gemacht, Lug, Trug und Legende, Götterlatein, Gottmannsgarn, ein Schmarrn. Was war von uns Möchte-gern-Göttergleichen übriggeblieben? Aus einem Klumpen Lehm wurde ein Klumpen Zellen. Nahm man einzeln eine, viele oder alle Zellen von diesem vielzelligen,
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Matthias Schleiden und Theodor Schwann, 1839
2
Rudolf Virchow, 1855
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komplizierten Organismus, den zum Beispiel die Menschen darstellten, fort und tat sie in eine Nährlösung, so konnte man beobachten, wie diese Zellen in der Suppe die ganze Evolution vergaßen und sich wie ihre urzeitlichen Vorfahren gebärdeten.
Unserer hehren Intelligenz zum Hohn benehmen sie sich wie primitives Protozoon.
Trotz einer millionenjährigen Evolution und einer ebenso erstaunlichen Entwicklung von einer Eizelle zu einer Spezialisierung zu zirka zweihundert Zellarten, von der amöbenartigen, mobilen Blutzelle bis zur kompliziert verzweigten Nerven- und Gehirnzelle, gewinnt jede einzelne Zelle die ursprüngliche Unabhängigkeit zurück. Meine Zellen vermögen ohne mich zu leben! Ich weiß zwar nicht, wie ich ohne meine Zellen lebe, ich befürchte das Schlimmste, aber meine Zellen, selbst meine Gehirnzellen mit ihren komplexen Verflechtungen und ihrem Beziehungsreichtum, auf die ich mir was einbilde, leben ohne mich als plumpe Pünktchen, träge Tröpfchen, krabbelnde Klümpchen, als armselige Amöben amorph. Ziellos ziehen sie umher, auf Geratewohl, blindlings; stoßen sie zusammen, wählen sie wahllos einen anderen Weg; finden sie zufällig ein eßbares Partikelchen, werden sie es umhüllen, einhüllen und verschlingen; ein Sexualleben kennen sie auch nicht mehr, sie sind zölibatär geworden, asexuell, aber im Gegensatz zu katholischen Zölibatären können sie sich durch Zellteilung vermehren. Was bin ich nun? Ein Vielvölkerstaat der Zellen. Eine Republik. Eine kollektive Interaktion der Zellen. Hilfe! Ich darf nicht dran denken oder ich disintegriere. - Erstaunlicherweise nicht.
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Meine Furcht plötzlich nur noch ein Haufen 100 Billionen krabbelnder Einzeller zu sein, war unbegründet, alles, was an mir Amöbe ist, war schon vorher Amöbe, wie die weißen Blutkörperchen, die eindringende Bakterien vernichten, die Killerzellen, die ein Enzym absondern, das ein Loch in Krebszellen frißt, so daß diese leer lecken, zu Tode; zwei Sorten von amöbenartigen Zellen bewohnen auch meine Knochen, die eine Sorte sondert ein Sekret ab, das den mineralischen Teil der Knochen aufbaut, die andere Sorte sorgt für den Abbau, so wächst auf wunderbare Art der Knochen, ständig remodelliert im Konzert der beiden Amöben, vom Babyknochen zum großen Knochen des Erwachsenen. Auch Hautzellen können motil und amöbisch werden, um eine Wunde zu heilen, kriechen sie unter der Haut hervor und breiten sich über die Wunde aus. Dann fangen sie an zu wuchern, zu sprießen, durch Zellteilung entsteht eine neue Haut mit ihrer vielschichtigen Struktur. Hat Gott nun vielleicht nicht den Menschen, sondern die Amöbe sich zum Bilde geschaffen? Und wurde nicht uns, sondern ihr Leben eingegeben, vitale Kräfte eingehaucht, gepustet oder geprustet oder waren es Abwinde? Es scheint nicht so. Leben und Tod sind keine Gegensätze, das Leben ist nur eine besondere Form des Todes, das Organische eine besondere Form des Anorganischen, keine Gegensätze, das Gleiche nur anders. Was des Lebens tiefste Geheimnisse zu sein schienen, entpuppt sich als das Ergebnis lebloser Ereignisse - der Interaktion von Molekülen und Atomen. Prozesse des Lebens ließen sich unter völlig leblosen Laborbedingungen nachmachen, ohne lebende Zelle unter rein chemischen Bedingungen reihten sich kleine Moleküle zu langen Proteinfasern, zum Beispiel dem Zytoskelett, Zellgerippe, zusammen; Gene synthetisieren Proteine, die Proteine bilden spontan größere Strukturen. Molekulare Montage ohne Monteur, Selbstsammelsucht wegen der elektrischen Spannung von Elementarteilchen. Form und Zusammensetzung der Moleküle entscheiden, ob und wie sie sich zu zusammensetzen, aber auch wie sie auf völlig andere Moleküle reagieren, diese zum Beispiel auseinanderbrechen, oder sie dazu 242
zwingen, sich zu vereinigen, und alles folgt Gesetzen, ist vorausbestimmbar und unabänderlich. Enzyme, für die Erhaltung des Lebens so wichtig, wahre Steuermänner von Lebensprozessen, sind nichts anderes als Moleküle, die auf andere Moleküle wirken, chemische Reaktionen verursachen, ohne sich selbst zu binden, und daher frei bleiben, um ihren Einfluß weiter auszuüben. Die gesamte Interaktion all dieser Chemikalien, Wechselwirkung von Wirkstoffen, Zusammenspiel von Molekülen, unabänderliche Anziehung von plus und minus, etwas Zwangsläufiges aus der anorganischen Welt, das ist Leben. Wer mag schon Zwänge? Alles strebt nach Freiheit.
In teutschen Landen
Und so kam Adjuna über die Alpen in das sagenumwobene teutsche Märchenland, das Land der Drachentöter, tollen Degen und hohen Minne, in das Land von Rumpelstilzchen und anderen Selbstzerreißern; dieser Landleib selbst lange zerrissen lag. Als er das Land nun betrat, wurde er von blonden Recken angestaunt, nicht gerade - und nicht gerade immer freundlich, und auch das Weibervolk wußte, seine Wurstarme zu gewaltigen Wülsten anzuwinkeln. Gegnerisch wie Muskelprotze oder war es Hausfrauenart hier im Lande? Wer wagt, teutsche Frauen zu verachten? Sind sie doch stark genug, Männer zu schlachten.
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Adjuna verzagt.
Die Kühnheit toll und dreist in diesem Lande weit und breit so mancher zollt und preist, dumm und gescheit dazu bereit.
Von Helden, die da haben gar große Gaben, hören wir sagen, Helden, die Wunderwerke wagen.
Und die Frauen so gesund und rund kräftige Arme und Lenden. Freudentränen machen Augen wund, Schönheit tut blenden.
Oh, minnen Deinen minniglichen Leib, gekleidet in ein köstlich Kleid, Dich, Du schönes, starkes, teutsches Weib, mit Zöpfen blond und breit.
In diesem Land schon lang ist's Sitte, die Frauen mit ihrer Kraft haben in der Hand die Familienoberherrschaft, dem Mann bleibt nur die Bitte.
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Das Weib den Mann, den ungehorsamen, hängt an den Nagel ihn zur Straf. 1 Wer hilft dem Armen? Wer darf? Ist keiner brav?2
Adjuna mochte nicht minnen das schmucke teutsche Weib, wenig Lust nur abgewinnen konnte ihm ihr üppiger Leib.
Gesang ertönt aus vollem Hals; hören wir der Minnesänger Lautenspiel und Ohrenschmalz:
Im teutschen Lande ritterlich da gibt's minnigliche Manieren, doch manche Frau schimpft bitterlich, willst du's bei ihr probieren.
Im teutschen Lande bieder gibt's auch gute Mieder, nicht jeder liebt lieder- liche Fraun zu schaun.
In teutschen Landen schön gibt's auch Modernität, schon lang ist's nicht mehr grün, wo jetzt ne Fabrik steht.
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Aus dem Nibelungenlied: König Gunther erlitt in seiner Hochzeitsnacht, als er versuchte Brünhildens herrlichen Leib zu bumsen, dieses Schicksal!
2
brav: hier in der Bedeutung `tapfer, wacker' (wie im Englischen).
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Im teutschen Lande lobesam ist keiner wirklich arm. Im Gegenteil sittsam übersättigt haben die meisten Schwierigkeiten mit dem Darm.
Im teutschen Lande bleich gibt's auch die Masse, nach Rache schreit gleich sie in ihrem Hasse.
Im teutschen Lande wohlgemut gibt's auch den Pöbel gut, der hat gar kaltes Blut, wenn er mal wählen tut.
Im teutschen Lande, dem gelobten, gibt's auch ne Regierung, der hart erprobten so manch gemeiner Streich gelung.
Im teutschen Lande wohlbekannt gibt's auch, was Opposition genannt, doch wer sich wirklich in Opposition befand nur gegen eine Wand gerannt.
Im teutschen Lande eifrig wird man leicht handgreiflich, der Grund oft unbegreiflich überlegt man sich's reiflich. 246
Im teutschen Lande ungut gibt's schon lang keinen Mut. Nur Pöbelbrut überall koten tut.
Im teutschen Lande viel beschnitten gibt's immer noch Größenwahn, und ändern wir nicht unsere Sitten gehören wir bald der Vergangenheit an.
Ja, so ist's in teutschen Landen wohl Köpfe Kohl1 oder hohl Größenwahn ihr größter Wahn.
In teutschen Landen herrlich gibt's auch Met und Wein und ehrlich ohne die kann man nimmer froh sein.
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Dieser Text `In teutschen Landen' wurde von mir in jungen Jahren (Also ein Zeitdokument besonderer Art aus den 60er Jahren! Damals erhielt ich auf meinem Schulweg zum Gymnasium durchschnittlich drei Morddrohungen pro Tag wegen meiner langen Haare: `Dich sollte man umbringen!' `Hitler hätte dich vergast!' etc. Nicht ein einziges Mal erlebte ich, daß Passanten gegen solche Morddrohungen protestierten!) nach dem Lesen einer in Kürnberger-Gesätzen abgefaßten Nibelungen-Ausgabe geschrieben. Da wir mittlerweile einen Kanzler Kohl (auch die Zeit ist mittlerweile vorbei. 23.3.2000) haben, möchte ich hier betonen, daß diese Textstelle keine Anspielung auf ihn ist, es soll viel mehr, wie an anderer Stelle auch, beklagt werden, daß in Deutschland viel zu schnell und ohne sorgfältige Überlegung, besonders von den Massen Entscheidungen getroffen, Sympathien, aber mehr noch Antipathien vergeben, ausgeteilt und verbreitet, Minderheiten verdammt, Überlegenheit und die eigene Großartigkeit fantasiert werden.
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Im teutschen Lande dem Kuhlen gibt's auch Schulen, um Sympathie buhlen Lehrer und Lobbys, die Schwulen.
Im teutschen Lande dem schönen gibt's auch ne Universität, von Töchtern und von Sühnen Lottoglück hat, wer hingeht.
Im teutschen Lande fein gibt's auch 'n Knast, dort kommst du rein, wenn du was aufgefressen hast.
Im teutschen Lande hold gibt's auch Soldaten, die bekommen gar mageren Sold und ab und zu eins übergebraten.
Im teutschen Lande potzblitzzugenäht gibt's auch moderne Taten, Kerzenlicht verdrängt von Elektrizität Majestät von Demokraten.
Auch die Braunen sind nicht mehr da, wo die Macht, wurde mir gesagt. Ist das wirklich wahr, sacht' hört man diese Frage gefragt.
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Alles neu im teutschen Lande: Freiheit und freier Will. Berufsverbote, oh welche Schande! Andersdenker sei still!
Im teutschen Lande hehr gibt's schon lang' keine Ehr. Säumten wir noch mehr ist's zu spät zur Besserung sehr.
In teutschen Landen wonnevoll ist mancher toll, und wenn er's auch nicht soll, er säuft sich voll.
Im teutschen Lande fromm gibt's auch Glocken, die sollen die Leute dumm in die blöden Kirchen locken.
Im teutschen Lande echt gibt's auch 'n Gericht, dort findest du dein Recht sicherlich nicht.
Im teutschen Lande recht gibt's auch Richter, die lügen frech und klüger als Dichter.
In teutschen Lande blasphem gibt's auch Pfaffen, 249
die tun Martin Luther oder dem Papst nachaffen, aber nicht dem Zimmermann aus Bethlehem.
In teutschen Landen jammerschwer gibt's auch die Polizei, und setzt du dich zur Wehr schlägt sie dich zu Brei.
In teutschen Landen wie dufte gibt's auch den Suff für jeden Hein Puffke. Schnaps sein Schnauzenduft.
In teutschen Landen geil ist die Welt schon lang nicht mehr heil. Das junge Mädchen bietet sich feil, der Knabe rauschgiftsüchtig kriegt ihn nicht mehr steil.
Oh, Teutschland todgeweiht, wirst du nicht gescheit zur rechten Zeit.
Im teutschen Lande immer netter gibt's auch Fremdarbeiter und werden sie hier auch fetter, sie wollen weiter, es sei denn, des
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Teutschen Herz sei breiter. 1
Im deutschen Lande auserkorn gibt's auch Zorn, und lieber wär ich nicht geborn, als noch mal zwischen deutschen Dorn'.
In teutschen Landen einerlei wie dem auch sei, manch Deutscher glaubt sich frei, wenn dem auch anders sei.
In teutschen Landen musikalisch von Gedankenfreiheit man singt, doch wie tragisch, das Denken so selten gelingt.
Im teutschen Lande minniglich gibt's auch dich, Germania, dein Leib so schwabbelig macht mich ganz mummelig, oh mama mia.
Im teutschen Lande teuer gibt's auch Inflation,
1
Diese Aussage verwundert vielleicht. Sie wurde geschrieben, als gerade viele italienische, griechische und spanische Gastarbeiter der ersten Einreisewelle in ihre Heimat zurückkehrten. Für einige der später gekommenen, moslemischen Einwanderer aus Antolien und Umgebung scheint es zum Teil eine heilige Pflicht zu sein, auch zu bleiben, wenn es keine Arbeit mehr gibt, um die Flagge des Islams hochzuhalten. Einige können auch gar nicht zurück, weil die fundamentalistischen Glaubensorganisationen, denen sie angehören, in ihrer Heimat verboten sind.
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die ist mir nicht geheuer, immer weniger gibt's zu saufen - äh - zu kaufen für meinen Minnesängerlohn.
Auf teutschen Landen frisch scheint auch das Mondgesicht, und täte es das nicht, nachts wär's dunkler sicherlich.
An der Staatsgrenze
Warum brauchen wir Staaten? Weil nur Staaten uns schützen können, sagen die einen und denken dabei an den Staatsfeind, was immer die anderen Staaten, die bösen Nachbarstaaten, die man nicht versteht, sind, und auch an die furchtlosen Männer, die keinen Schutz brauchen, die gern das Recht hätten, sich selbst zu schützen. Was brauchen wir Staaten? fragen die anderen und beim Gedanken `Staat' schaudert ihnen, denn sie sehen darin keinen Schutz, sondern nur Gefahr. Die Nachbarstaaten, auf die wir unsere Kanonen richten, sind nicht mein Feind, so denken sie, denn der Staat ist nur eine ungesunde Zusammenballung von Menschen, denen dabei der klare Verstand, die Vernunft zerquetscht wurde. Beim Streit der Staaten verlieren die Menschen nur, und doch wollen sie nicht gegen den Staat sein. Wie gern verzichte ich auf den Kanonenschutz der Armee und die staatsinnere Sicherheit, gewährleistet durch Polizei und die Judikative, die mich zwingt, jeden kleinen Streit mit meinem Nächsten einem Richter zu unterbreiten, der dann in seiner Unwissenheit, zu schweigen von seiner moralischen Unsauberkeit, ein allmächtiges Urteil fällt, bei 252
dem die Herrn Juristen so tüchtig absahnen. Ach, wie gern wäre ich da rechtlos, staatenlos, alle Staaten los! Wie gern würde ich den Streit mit meinem Nächsten selbst austragen, notfalls auch mit der Faust rechtlos, staatenlos. Den Richtern und anderen anmaßenden Nächsten, die mir zu nahe treten, würde ich als erstes eins boxen, doch ohne Polizeibanden im Hintergrund würden auch solche Leute schnell zu anständigen und gerechten Menschen und ein nützlicheres Leben führen. Ich möchte noch einmal betonen: Lieber den kleinen Krieg mit dem Nachbarn als den großen zwischen Staaten. “--------? -------------------! --------------. ---!---, ------------!” “Gut, ich lebe für mich allein; am Gartenzaun ist Schluß, Staatsgrenze.”
Der Staat - ein Nachkomme Stock schwingender Lüstlinge
Wir leben nicht freiwillig im Staat, unterm Staat; überall sein Gesetz, sein Wort, sein Gesetzeswort, seine stehlende Hand, sein waffenstrotzender Wahnsinn, Vernichtungswahnsinn, an dem auch der Bestohlene eine Schuld trägt. Mag dieses unwürdige Gebilde auch dem Pöbel Freigehege, Stall und Hühnerhag und -hof sein und seine Hackordnung für manch einen Instinktbedürfnis, selbst Hühnerzüchter befinden sich darunter, für mich ist er die alte Kette und Schmach, der Nachkömmling stockschwingender Lüstlinge, gern würde ich diesem fetten Monster den Rücken zudrehen, aber wäre ich auch noch so schmal, ich könnte 253
mich nicht zwischen die Staaten zwängen, man würde mich selbst als Flunder oder Briefmarke noch zerreißen. Und nun kommen die Überschlauen, in den staatlichen Schulen haben sie ein Papageienspiel gelernt, das nehmen sie zu ernst, das ist ihr großer Ernst, Ernst des Lebens, und sagen mir: “Sieh mal, wir müssen zwar Steuern zahlen, aber dafür gibt es auch die Schule.” Daß es auch das Militär gibt und die Polizei, sagen mir die feinfühlenden meistens nicht, denn sie wollen mich nicht verletzen, verärgern oder schlechte Erinnerungen in mir wecken. Trotzdem muß ich ihnen erwidern, daß es so ist, als ob sie, wenn sie ein Hühnerei fürs Frühstück kaufen, auch gleichzeitig eine Handgranate kaufen müßten, was nicht nur das Ei sehr teuer macht, sondern auch das Haus in Gefahr bringt. Oder ein Überschlauer sagt mir: “Sieh mal, im Staat hilft jeder jedem, z. B. die Leute von ganz unten mit ihren vielen Kindern, was müßten die viel Schulgeld zahlen, aber sie zahlen nicht etwa mehr Steuern als andere, nein, weniger, denn jeder hilft jedem im Staat, und diese Leute haben es schwer genug wegen ihrer Kinder.” “Oh ja”, erwidere ich dann, “ich kenne sie, sie treten mir immer auf die Füße und sind dann noch unhöflich, so gar frech, es wäre wirklich ungerecht, wenn sie mehr Steuern zahlten, gehen sie doch nur kurze Zeit in die Schule und stellen dort auch nur dumme Fragen, so daß der Lehrer nicht so sehr abgenutzt wird, die Antwort sein Gehirn nicht zu sehr belastet.”
Eigentum
Was ist Eigentum? Eigentum ist, was mir gehört, wofür mein Schweiß getropft ist, was ich mir mit Sorge und Sorgfalt erworben habe. 254
Diebstahl ist, wenn man sich ranschleicht und es mir wegnimmt. Raub ist, wenn man es mir mit Gewalt entreißt, mir Möglichkeiten zum Schutz und zur Verteidigung meines Eigenen nicht läßt. Je waffenstrotzender der Räuber, je feiger. Wer ist nun der feigste Räuber unserer Zeit, der den Ehrlichen und Edlen alles entreißt, um sie in seiner Rache dem Lumpenpack gleichzusetzen? Nun, es ist der Staat. Hinter ihm steht das Gesindel und krächzt lüsternd klatschend: “Weiter machen!” Die Rache des Staates nennt sich Strafe, doch Strafe ist immer nur Verlogenheit, wer straft, befriedigt immer nur seine Rachsucht, seine Herrschsucht und oft auch noch seinen Schoß. Dem Gesindel mögen die Verließe, Gewölbe, Höhlen, Gefängnisse kein Greuel sein, ihnen ist es egal, wo sie vor sich hin vegetieren, aber den edlen Freien, den Höhenflugfreunden ist es die Hölle, ist es eine Beleidigung ihres Menschenverständnisses, eine Rattenlochpolitik schmutziger Kleingeister. Mit Gesetz und Recht wirft diese heuchlerische Meuchelbande um sich, und das ist ihre größte Heuchelei. Zoll und Steuern nennt sich ihr Raub, damit bereichern sie sich, damit rüsten sie ihre Eintracht tragenden Mörderkittel und schlagen das beraubte Opfer noch einmal nieder. Diese Eintracht tragenden Menschenhülsen sind das eigentliche Instrument, Werkzeug des Staates, nur eine hohle, grützenlose Schale habend funktionieren sie mechanisch. Immer sind sie dabei unauffällig, ein Chamäleon der Zeit, mal braun wie Erde und Boden, mal grün wie Gras und Gift, mal grau wie Dreck und Rattenscheiße. Ja, der Staat wäre ohne diese Robotenhottentotten kaum denkbar möglich, ein leicht wegblasbares bauschiges Wattebäuschchen. Ja, der Staat! Klage eines großen Edlen: Den Staat, ach, könnte ich mir dieses kalte Ungeheuer, diesen Schmutz doch wie Schorf wegkratzen, wie ein Geschwür, wie eine Warze mit dem Messer ausschneiden und mit der Verachtung für Dreck und Krankheit auf den Boden werfen und drauf spucken und rumtrampeln. Doch dieses Monster hat zu viele Köpfe, und mein schöner Arm würde mir ermüden, bevor die gute Tat vollbracht. Der Mähdrescher, der Superschneider und Übersäuberer, 255
fehlt uns noch, Unkraut und Schmutz sprießen und gedeihen zu gut, auch der große Abstandhalter fehlt mir, das Unbiest kommt mir immer zu nah, zu intim, dabei kann ich seinen Gestank und üblen Atem nicht ertragen. Eine Hochburg des Pöbels ist der Staat, nur der Pöbel liebt Peitsche und Verließ, es macht ihn sehnsüchtig und geil. Zwischenruf: “Hält sich nicht so der Pöbel auch selbst in Zucht?” Sucht nach Zucht mir deucht hat das Viehzeug.
Du sprichst von Edelsein und Edelmut. Das ist ungewöhnlich. Was meinst du überhaupt damit? Ja, es ist ungewöhnlich, wo doch die Helden unserer Zeit Kaufhausdiebe sind, macht man sich lächerlich, wenn man Respekt vor dem Eigentum anderer predigt.
Was meinst du mit edel? Ist damit alter Adel gemeint? Oh, nein, nein, nein, natürlich nicht. Aber du hast recht, das Wort edel wird nicht mehr verstanden in dieser Zeit der Kaufhausdiebstähle und kleinlichen Lügen und Betrügereien, der Übervorteilungen und Benachteiligungen, der Ungastlichkeit und Engherzigkeit. Jeder ist sich selbst der Nächste, `sind ja alle so', Egoismus ist nur Anpassung, und Anpassung ist der größte und dümmste Egoismus, er macht vollgefressen, aber nicht wirklich reich, - ist keine Bereicherung des eigenen Lebens. Wirklich reich ist der, der über alle Fünf-PfennigStreitereien erhaben ist, der, der sich nicht um Anpassung schert, sondern selbstsicher auf seinen eigenen Beinen und auf seinen eigenen Werten steht und seinen eigenen Weg geht und niemals etwas tut, weil 256
`man es tut', der, der sein Mahl, auch wenn es nur ein spärliches ist, mit seinem Gast teilt, der, der sich der Ungerechtigkeit widersetzt und der den unberechtigt Beklagten verteidigt, der, den Bevormundung und Vorschriften anekeln, wenn sie ins eigene, private Leben eingreifen, um einen unmündigen Menschen zu züchten; jene Bevormundungen und Vorschriften, die gerade der Pöbel so beflissentlich befolgt, um dann den Nachbarn anscheißen zu können, der's nicht tut. Ein Mensch, der Abstand bewahrt, von der engherzigen Masse und ihren Torheiten, Gemeinheiten und Rachsüchtigkeiten, ein solcher Mensch ist reich und edel, auch wenn er vom Pöbel für seine Armut verachtet wird. Das Edelsein hat keinerlei bezug zum Bankkonto. Ein Habenichts vermag genauso edel zu sein wie ein Vermögender. Und was meinst du mit Pöbel? Das sind die Vielzuvielen, die Pogromhelden aller Zeiten. Immer sind sie unselbständig und angepaßt und müssen sie die jagen, die nicht so klein und kleinlich, wie sie selbst sind; sie können Parksünder verfolgen, deren Auto niemanden stört, sie können über die ungeputzten Fußleisten anderer Leute herziehen, aber sonst kein vernünftiges Gespräch führen. Sehen sie aber ein Unrecht, so blicken sie schnell zur Seite. Ihre Arbeit, also ihr Wohlstand-Anhäufen, läßt ihnen keine Zeit, sich darum zu kümmern, sagen sie dann. Pöbel zu sein, ist nicht das Privileg einer bestimmten Gesellschaftsschicht, weder ist es das Proletariat des Westens, noch sind es die Unberührbaren in Indien, noch die Hungernden und Unterernährten Afrikas. Sondern Pöbel zu sein, ist die geistige Armut, immer Mitläufer zu sein und auf den kleinlichen, eigenen Vorteil bedacht zu sein, der Kriecher ist es ebenso wie der Kaufhausdieb, der Beamte und Bürokrat ist es mehr als der Bankräuber, der Paragraphenreiter ist es, aber nicht der Raubritter, ...mit anderen Worten: Es sind die geistig Armen.
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Aah, Geschichten dringen an mein Ohr.
In der Kleinstadt
Polizei: Was machen Sie? - Warum fragen Sie mich? - Das geht Sie nichts an. Antworten Sie! - Ich mache hier Pause und schreibe ein Gedicht. Woher kommen Sie? - Von jenseits des Meeres. - Wo wohnen Sie? - Nirgends. - Werden Sie nicht frech! - Wie können Sie sagen, daß ich frech werde, es sind doch Sie, der sich hier schlecht benimmt. - Los, zeigen Sie Ihre Papiere! - Papiere? So was habe ich nicht. - Wo wohnen Sie? Nirgends. - Werden Sie nicht frech! - Ihr Provinzsöldner könnt euch wohl nicht vorstellen, daß ich nirgends wohne. - Komm, den nehmen wir uns mal vor. Aber er wehrte sich, zuerst nur Angriffe abwehrend, doch als er merkte, daß es um Leben und Tod ging, kannte er keine Zurückhaltung mehr, einem stach er mit seinen Fingern die Augen aus, dann wurde er überwältigt und erschlagen. Und das alles wegen eines Gedichts.
Ländliches, Dörfliches und doch beim teutschen Weib, bei einer busigen und schmusigen Bäuerin.
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So wohl wie schon lange nicht mehr fühlte sich Adjuna, zu lange schon hatte er die Wälder durchwandert und die Nächte auf hartem Fels oder in feuchtkaltem Moos verbracht, jetzt ruhte er im weichen Federbett bei einer Magd, und was hier feucht war und was hart war, das fand so friedlich fein Vereinigung. Was war man doch als Mann für ein Narr, die Weltherrschaft erstrebt man, ein Herrscher glaubt man sich und etwas Großes, doch vor einem Frauenfötzchen verliert man alle Macht, oder ist es nur der Verstand, der hin ist?
Des Gliedes Gier zieht mich ins feuchte Revier, rhythmisch stoß ich, dräng' ich vor, rhythmisch reibt sich die Eichel am offenen Tor, rhythmisch das erektile Glied durch die Scheide zieht, rhythmisch das Ejakulat hervorschießt, - doch die Saat nicht sprießt, - nicht sprießen soll, nicht sprießen wird, denn mit Yoga-Kraft der Samensaft keinen Keim gebiert.
Nach seinem Schwanz, der jetzt schlapper und kraftloser hing als die beweglichen Steißbeine der Wirbeltiere, griff sie, knetete ihn, als er sich immer noch nicht rührte, umspielte sie ihn erst mit der Zunge, nahm 259
ihn dann ganz in den Mund, saugt und kaute; langsam füllte er sich wieder, wurde härter und härter und sperrte ihr schließlich den Mund weit auf. Die Frauen, diese friedlichen Geschöpfe, die keinen Krieg wollen und Waffen nicht in die Hand nehmen, nur sanft dem Krieger den Schweiß abwischen, sind sie nicht die höchsten Wesen dieser Welt, auch wenn die Schöpfungsgeschichte sie mit wenig Gespür fürs Wertvolle nur an zweite Stelle stellt, als Nachgeburt des göttlichen Schöpfungsaktes sozusagen. Ja, die religiösen Bücher wurden von Männern geschrieben, und die sind eigensüchtig und überheblich, besonders gegenüber den Frauen, doch die Herren und Helden der Schöpfung haben wohl selten eine Frau verstanden, wie komisch erscheint es einem, wenn so ein Held behauptet, die Frauen haben Männer im Kopf, die Männer dagegen Gott. 1 Ach, hätten die Männer doch wie die Frauen mehr an die Familie gedacht, alle Religionskriege hätten wir uns erspart und noch manch anderen Unsinn. Und was für angenehme Gefühle es bei der Frau gibt! Ihr Lächeln bedeutet schon ein hohes Glück, so bezaubert sie als Zauberin, doch in der Ekstase der Vereinigung behext sie uns als Hure, beglückt sie uns als Göttin, berauscht, zerzaust, verwirrt uns Wahnsinnigen die Sinne die Wahnsinnige, um uns dann noch in der Stunde der Erschöpfung und Entspannung zu betreuen und zu beseligen mit Sorgfalt wie eine Mutter. Geborgen fühlt man sich dann. Ach, wie wenig kannte ich dieses Gefühl, hatte ich doch nur vor meiner Geburt etwas von meiner Mutter. Wie fremdartig und unverständlich ist doch des Mannes Verhältnis zur Frau, zuerst begehrt er sie, und um sie zu bekommen, umschmeichelt und ehrt er sie demütiglich, er hilft ihr, trägt ihr die Tasche, sagt ihr etwas Nettes, hat er sie dann überzeugt, sie rumgekriegt und sie seinen Schmeicheleien nachgegeben, sich ihm hingegeben, ergeben, fühlt er sich als Eroberer, befiehlt und ordnet an, und sie, die einst Angebetete, 1
vgl. 1. Korinther 11/3
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ordnet er seinem anderen Besitz bei, dem Hausrat als Hausfrau zu; beigeordnet, zugeordnet, eingeordnet, untergeordnet sie selten glücklich ist, doch das ist ihm egal, sie ist jetzt sein, angekettet mit Ring, Pfaffenwort und Schwarz auf Weiß, und wehe ihr, sie muckst auf. - Ich will es besser machen, so dachte Adjuna, als er bei seiner neuen Geliebten lag, die eine Melkerin war und die ihm, dem Wandersmann, dem Fremden, eine Schüssel Milch gereicht hatte, als Lohn für ein Liedchen voll Komplimente, das er ihr und ihrem Busen, der im Ausschnitt sichtbar prangte, am Wegrand sitzend zugesungen hatte.
Adjuna hatte sich entschlossen, das Angebot der hübschen Dirne anzunehmen und bei ihr zu bleiben. Vergessen waren Mission und Menschheit. Unser Held nur noch im warmen Hüttchen bei Kerzenschein und Wein flittert am runden Tittchen und zwischen den Bein'n von seinem Flittchen.
Auch einen bürgerlichen Beruf nahm er an: Die Bauernburschen unterrichtete er in Bogenschießen und Boxkampf, und wenn sie besoffen waren, sie bald wie Berserker um sich schlugen, die Bauernburschen. Adjuna war sehr glücklich und mit diesem Leben sehr zufrieden, es minderte sein Glück auch kein bißchen, als seine Frau ihm einmal sagte, daß sie einen alten Freund, mit dem sie früher öfters schöne Stunden verbracht hatte, treffen wollte, denn er liebte seine Frau zu 261
sehr, um eifersüchtig zu sein. Eifersucht war etwas für die Eigensüchtigen, für die bösen Männer, die in der Frau nur ein Haushaltsstück sahen, das nur die Aufgabe hatte zu funktionieren und zu dienen, aber nicht das Recht, ein Eigenleben zu führen, selbst Lust zu suchen und zu finden, und schon gar nicht außerhalb des Hauses. Außerdem fürchteten die meisten Männer wohl auch den Vergleich, waren sie doch oft zu mickerig geraten, und fehlte ihnen so manches, auch feines Gefühl. Adjuna machte es zu Recht nichts aus, daß seine Frau einem anderen beischlief, denn es schmälerte sein Glück um nichts, und tat auch der guten Meinung, die seine Frau von ihm hatte, keinen Abbruch. Er wünschte ihr wirklich von Herzen viel Spaß. So traf sie dann gut gelaunt und fröhlich, denn sie brauchte sich ja keine Vorwürfe zu machen und auch nicht das Gefühl zu haben, etwas Verbotenes zu tun, ihren alten Freund in einer leerstehenden Almhütte, da sie nicht zu ihm nach Hause konnten, denn er war verheiratet. Seine Frau, die annahm, ihr Mann hätte im Nachbardorf zu tun, Schweinekauf oder so, lag übrigens gerade hochschwanger, weshalb sie sehr unansehlich war, weshalb er sich seiner alten Freundin erinnerte. Aber bei Adjunas Frau fühlte er sich dann doch nicht so wohl, erstens quälte ihn wohl sein schlechtes Gewissen und zweitens, und zweitens, und das war wohl noch schlimmer, die Eifersucht, immer wieder versuchte er ihr in den Mund zu legen, daß ihr Mann nicht tauge usw., worauf sie immer protestierte und zu ihrem Mann stand, ihn lobte und pries, aber diese verachtenden Anklagen gegen ihren Mann machten sie bald so traurig, daß sie nur noch wegwollte, zurück zu Adjuna, bei dem nicht so klein gedacht und geredet wurde. Und an Adjunas Brust weinte sie sich dann aus. Ist er wirklich ein so kleiner, mieser Mensch? Besitzt er wirklich weder Größe noch Großzügigkeit? so sorgte sie sich.
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“Wir wollen ihm einen Test stellen”, sagte Adjuna, “wenn er diesen Test besteht, soll er uns Freund werden, wie du es immer gewünscht hast, denn dann hat sich gezeigt, daß er nach allem doch noch Größe besitzt, versagt er, laß ihn fallen, strafen tut er sich selbst.” “Was meinst du?" “Seine Frau bekommt bald ein Kind. Dieses Kind soll schwarz sein. Wenn er über alle Vorurteile des Pöbels erhaben ist, wird er sich über dessen Gesundheit und Intelligenz freuen, ist er aber des Pöbels, wird er nur die Hautfarbe sehen und rot vor Wut werden. Und er wird Kind und Frau verdammen und verzweifeln an seinem Schicksal, seinem vermeintlichen Schicksal, das eigentlich gar keins ist.” Und tatsächlich brachte seine Frau ein kräftiges und gesundes Negerkind zur Welt, das seine Umgebung sofort mit neugierigen, intelligenten Augen musterte. Die Mutter erschrak, die Hebamme erbleichte, sie den Vater nicht rufen wollte, doch der, als er die helle Knabenstimme hörte, von selbst hocherfreut in die Kammer stürzte und bestürzte, vor dem Mooren bestürzt, entsetzt zurückprallte, Wut entbrannt einen Stuhl ergriff, und damit sicher den Kleinen erschlagen hätte, wenn die Hebamme das Kind nicht im letzten Moment durchs Fenster auf einen Heuhaufen geworfen hätte. Jetzt richtete sich die Wut des Mannes gegen seine eigene Frau, mit einem Bein des zerbrochenen Stuhls schlug er auf sie ein, prügelte sie aus dem Wochenbett, das erst wenige Minuten alt war. Keuchend kroch sie aus dem Haus, nahm ihr Kind und floh, gefolgt von ihrem Mann, der immer noch auf ihren Rücken eindrosch. Sie floh; doch wohin sollte sie fliehen, dachte sie verzweifelt. Zu ihren Eltern konnte sie nicht, das wußte sie, denn die waren fromme Christen und würden ihr nie verzeihen, die Schande nie verzeihen, nie vergeben. Die Schande, die sie übers Haus gebracht hatte. Als sie die Dorfstraße entlang taumelte, der unbarmherzige Mann hinter ihr, traten Adjuna und seine Frau ihnen entgegen. “Halt”, rief 263
Adjuna, und auf dieses Halt hin verhielten beide, harrten der Dinge. “Was schlägst du deine Frau so unbarmherzig? Nichts gibt dir das Recht, eine Ehebrecherin zu verdammen, hast du doch selbst die Ehe gebrochen.” “Aber nicht mit einem Nigger, aber nicht mit einem Nigger”, schrie er heulend. “An Rasse und Hautfarbe liegt nichts, du Narr, einzig und allein des Menschen Verhalten bestimmt seinen Wert, und wahrlich hier trennen himmelweite Bereiche die Menschen, den Edlen und den Gemeinen. Die Gemeinen aber findet man überall in jeder Rasse, in jedem Volke in übergroßer Zahl, wie man auch den Ausnahmemenschen, die Hoffnung der Zukunft, in jedem Volke findet, doch leider zu selten!” “Du willst mich einen Gemeinen und dich einen Edlen nennen, was? In einem dreckigen Metöken wie dir fließt wohl auch schmutziges Kanaka-Blut. Wer weiß, was für eine unsaubere Abstammung du hast. Hier, ich schenke dir Frau und Kind, auf daß sich Schweine zu Schwein gesellen!” Adjuna nahm das Geschenk gern an, und so kam es, daß er zwei Frauen hatte, was für lange Zeit zum größten Tratsch der ganzen Gegend wurde. Und wäre er nicht so stark und fest gewesen, die Leute hätten ihn verzweifeln lassen mögen. Der andere Mann aber verzweifelte am Spott der Leute und an seiner Einsamkeit, denn so wie er seine Frau behandelt hatte, wollte kein Mädchen ihn mehr zum Mann, und so hatte er niemanden, bei dem er sich geborgen fühlen konnte, und niemanden, der ihm Verständnis zeigte; um so glücklich leben zu können, mußte man stark sein - viel stärker als er. Nun wird man sich hier sicher wundern, wieso Adjuna so einfach machen konnte, daß die Frau ein schwarzes Baby bekam, wohl möglich gegen die Vererbungslehre und den genetischen Code. 264
So etwas war natürlich schlechthin unmöglich. Neun Monate vor der Geburt war ein afrikanischer Händler durchs Dorf gekommen, von ihm - er war außergewöhnlich schön und charmant gewesen - hatte sich die Frau verführen lassen, und da sie unvorsichtig gewesen waren, war ihr das mit dem Kind passiert. Adjunas geistiger Einfluß ging lediglich dahin, daß sich die Frau vom Neger verführen ließ, was er bewirkte, um den Mann, von dem seine Frau unglücklich gemacht werden sollte, zu testen und besser zu strafen. Wir müssen unserem Helden eine gewisse Erhabenheit über die Ereignisse und die Zeit zugestehen; jovial genoß er Gleichzeitigkeit. Die drei Dimensionen waren für ihn kein Gefängnis, die vierte Dimension kein Hindernis. So erfreute er sich jetzt an seinen zwei Frauen und dem Kind, dessen Pflege und Erziehung ihm sehr am Herzen lag, und fühlte keine Eile. In klaren Stunden sah er es deutlich, daß er Zeit hatte, und daß alles unvermeidlich war, genauso wie einst in Kurukshetra, als Vishnu mit Shesha, seiner Schlange, Mensch wurde, und dann in Gestalt der Heroen Krishna und Balarama Bhoomi Devi von der Kshatriya-Kaste befreite. Schon lange stand Bhoomi Devi wieder vor ihrem Schöpfer und klagte ihr Leid, und schon lange war ein Gott bereit einzugreifen, wie immer, wenn die Evolution auf Abwege geriet. Er wird radieren in seinem Werk, weil er Fehler sieht. Lohnte sich Gebären noch und die Aufzucht von Jungen?
Da Adjunas Frau vom Samen des fremden Mannes geschwängert worden war, wurde Adjuna sehr traurig; es war nicht, daß er dem Kind wegen seines Vaters grollte, denn er glaubte weniger an die Vererbungslehre als mehr an Umwelteinflüsse, Erziehung, Bildung; und 265
wohl könnte das Kind unter seiner Obhut lernen. Doch Adjuna, der harte Mann, war selbst nicht glücklich; er sah, wie verdorben alles war in dieser Welt, und litt daran, daß er es nicht ändern konnte. Große Unfähigkeit gestand er sich ein, größere Unfähigkeit, als man erwarten würde von einem Halbgott, der er war, denn zweifellos hatte Indra einst seine Mutter beschlichen, um das rechte genetische Bett für seine Inkarnation zu schaffen. Was hat das Kind für eine Zukunft? fragte er sich. Da es Mensch sein wird, nicht mehr Zukunft als der Mensch. Das hieß wenig, kaum Zukunft, wenn überhaupt. Außerdem sollten die Unglücklichen wie die Kranken als auch die Vernünftigen möglichst Kinder vermeiden, wenn es ging, denn es gab ja ohnehin schon genug, mehr als genug Kinder, Menschenkinder. Es reichte völlig, wenn die Glücklichen, Gesunden und Unvernünftigen Kinder in die überfüllte Welt setzten. Ja, selbst das wären eigentlich immer noch zu viele. Wie gut und richtig handelten jene Eltern, die ihr Kind abtrieben, ihm das Leben und dessen Leiden ersparten, bevor es sich zu sehr daran gewöhnt hatte! Für den Mann mit globalem Blick und kosmopolitischer Verantwortung ist es ein leichtes, doch von der Frau verlangt diese Forderung der modernen Zeit, unserer Überzivilisation, die das Schwache, wenn es einmal geboren worden war, nicht mehr einfach sterben ließ, eine Härte, eine kalte Härte, die ihr das Lächeln erfrieren läßt. Wenn diese kleine Erbse, das Sprießende, von unter ihrem Herzen, aus ihrem Leib gekratzt wird, bedeutet es ihr mehr als ein wegoperierter Blinddarm, ja, sogar mehr als ein verlorener Finger, etwas so Wichtiges, viele Male so Großes.1
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Untersuchungen zeigen, daß Adjuna hier übertreibt. Frauen haben besonders bei Abtreibungen im frühen Stadium der Schwangerschaft, wenn sie das Kind noch nicht spüren, kaum Schuldgefühle. Und die Frauen, die unter übergroßen Schuldgefühlen leiden, haben sie oft Priestern zu verdanken, von denen ihnen eingeredet wurde, daß sie sich mit schwerer Schuld beladen hätten.
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Diesem noch unfähigen Keim trauert sie nach, und all seine Möglichkeiten quälen ihre Phantasie, Traumbilder verfolgen sie: Das Kind auf dem Müll, Krankenhausmüll, das Kleine zwischen herausgeschnittenen Geschwüren, Gedärmen, faulem Eiter, ekligen Würmern, Kotze, Kot; und sie vermißt den kleinen Säuger an ihrer Brust, ihr Menschsein, ihr Dasein als Frau scheint keinen Sinn mehr zu haben. Sucht sie sich etwas anderes, eine Katze, einen Hund, Blumen den Mann anzusehen, fällt ihr schwer - oder Macht, Macht in den Institutionen. Führerin in Frauenverbänden, schlagenden Verbindungen, Emanzipation, gegen Diskriminierung, und die Natur diskriminiert die Frauen mit Schwangerschaft, Menstruation, Vagina und weichem Gefühl, zartem Gemüt. Hohn, Hohn, zuwider ist ihr ihr Weibsein schon. Nicht Mutter - nein - eine Herrin der Nation: Millionen Kinder hätt' sie nun, doch stiefmütterlich tritt sie nach ihnen. Adjuna schwer über das Frauenherz nachdachte und ihr Schicksal, doch auch des Kleinen Schicksal wohl bedachte: Wenn er der Mängel viel, einen schlechten Charakter und Dummheit dazu, werde ich dann nicht schelten, ihm seine Herkunft vorhalten, vorwerfen, bin ich doch zu schwach, es nicht zu tun, auch wenn ich's nicht will, in schwachen Augenblicken...? Der Menschen böse Zukunft, böses Ende; bei mir als seinem Vater, einem Unglücklichgewordenen, in einer Zeit unglücklicher Menschheit, unglücksbedroht, nur halbenherzens geliebt, geboren aufwachsen; das sollte man verhindern, ihm ersparen. Deshalb bat Adjuna seine Frau, das Kind wegmachen zu lassen. Beide weinten. Als die Frau in Tränen gehüllt “Einverstanden" sagte, brach er fast zusammen, so quälten ihn dies Opfer und ihr Schicksal. Da sie tagelang weinte, wollten sie es sich noch einmal überlegen. Keine Entscheidung, schwere Zeit. Da gingen sie in ihrer Not in einen geheimen Ort und befragten das Orakel dort. 267
Über die Zukunft Die Antwort des Orakels: Omen lassen ahnen Omen warnen Töten wird Erde röten Blut wird fließen Lebensadern leer sich gießen Lebensschalen, Schädelknochen auf dem kahlen Boden kochen zwischen zuckenden Hoden roter Dreck von denen, die verreckt. Geier und Reiher Krähen und Kraniche thronen in Baumkronen. Sonne Mond und Sterne selbst aufflammen in ihrer Ferne doch der Tag verdunkelt sich 268
es mangelt an Licht Hund Katz' und Schwein hören wir schrein und die Götter kotzen Blut verwandeln ihre Tempel in Glut vor Angst und Wut Feuer frißt Gemäuer Holz bleibt heil bleibt Holz die Wasser von Flüssen zurück zur Quelle müssen Kühe gebären Esel und Affen Krokodile und Giraffen Söhne treiben's mit der Mutter pervers und die Väter mit den Töchtern erst! Monster mit mächtigen Klauen werden geboren von Jungfrauen Biester fressen Biester 269
Kühe fressen Kälber Katzen ihre Kätzchen die Henne ihr Ei Hirsche tragen Hörner der Teufel ein Geweih manch ein Tier hat der Augen vier einen zweiten Schwanz Schaum auf der Glans ein fünftes und sechstes Bein doch zu klein zwei Köpfe drei Augen kein Herz keine Haut. Der Krieg den Krieg besiegt, indem er die Krieger kriegt, die Krieger frißt und scheißt auf den Mist. 270
Der Krieger ist dümmer als du denkst, er heißt Mensch und wird Müll, Atommüll, Atome. Oh, Verhängnis, Lauf und Leben wird's dann nicht mehr geben. Der Welten Ende ein Feuerschein, so ist es gesagt, so wird es sein. Schweren Herzens verließen die beiden das Orakel. Die Entscheidung war klar. Das Orakel hatte Adjunas Bedenken bestätigt. Die Melkerin aber verlor mit ihrem Kind noch etwas anderes, Schwerbeschreibliches. Wie die Jahre so vergingen, war Adjuna bald nicht mehr so glücklich mit seinen Frauen, und an ihren Seiten war eigentlich der einzige Ort, der ihm je Glück bedeutet hatte. Doch ein Giftwurm fraß an ihren Seelen: Die eine vermißte ihr Kind, der Fremdling war ihr nur ein geringer Ersatz, die andere, verfolgt von ihrem Monstermann trug nicht nur Narben an der Haut, tief eingegraben lag ein Leiden und ein schwerer Zweifel am Menschendasein. Zänkisch waren sie beide. So lenkten sie sich ab. Das reizte Adjuna und er griff zur Peitsche. Eine zarte, elastische nahm er. Beiden beruhigten sich so, stöhnten unter der Schläge und vor Wollust, wenn es auf dem nackten Po klatschte. Ergebene Sklavinnen wurden sie, versklavter als andere Frauen. Auf Befehl hoben sie ihre Röcke, 271
brachten die Peitsche, reizten auch mal, wenn es längere Zeit keinen Grund gab, sie zu strafen. Die bei jedem Schlag zuckenden Schamlippen reizten Adjuna und jedes Mal nach dem Durchpeitschen suchte sein Glied Befriedigung, was die Frauen mit ihrem brennenden Po als zusätzlichen Stimulus in Ekstase versetzte. “Welche ich lieb habe, die strafe und züchtige ich”, 1 warum sollte ein Mann, bloß weil er gottlos war, über so einen Genuß erhaben sein. Das Glück der Sklavengesellschaft. Und niemand sagte: “Bis hierher und nicht weiter”, wollte es nicht sagen. Es war hier, daß Adjuna gärte für neue Taten. Eines Tages verließ er sie. Aber wenn immer wir uns trennen, stirbt auch etwas in uns. Auf Tod folgt unweigerlich Geburt, behaupten einige, und das Beste passiert uns immer erst morgen. Die Menschheit, besonders die weiße Menschheit, war wertlos geworden, ein Opfer ihrer eigenen Fähigkeiten. Die Wissenschaft, Medizin, Chirurgie, Krankheitsfrüherkennung hatten die natürliche Auslese verhindert. Körperlich- und Geistigbehinderte waren geboren worden, gepflegt, und man paßte nicht auf, sie paarten sich, gebaren selbst, vermehrten sich, vermehrten sich sogar stärker als die Vernunftbegabten, die vernünftig genug waren, nur ein oder höchstens zwei Kinder in die Welt zu setzen, mehr zu verhüten. So wurde die weiße Menschheit von Idioten und Spastikern2 durchsetzt.
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Achtung! Nicht alle spastischen Erkrankungen sind erblich bedingt. Geht nicht hin und werft Spastikern vor, daß sie Kinder haben!
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Man könnte sich erregen und fluchen: Die Evolution hat ein höheres Ziel als Schwachsinn. Vieles, was unwert ist, muß auf der Strecke bleiben. Und wer ist schuld an diesem Frevel wider die Natur? Die dem Schwachsinn am nächsten stehende christliche Kirche. Zwar kann sie ohne Skrupel gesunde, das Leben liebende Menschen für Worte und Taten, die ihr nicht passen, aus unserer Mitte reißen, in Gefängnis und Tod schicken. Doch bei einer Mißgeburt schreit sie: Das Leben ist heilig. Selbst wenn die Behinderung noch im Uterus entdeckt wird, will sie die Abtreibung nicht. Nun, die Menschheit mußte teuer bezahlen dafür, daß sie auf diese Närrin hörte. Doch wollen wir uns nicht zu sehr empören, denn die Welt wurde am Ende nicht von diesem Abfall der Evolution zerstört. Wäre es nach den Mißgeburten gegangen, so hätte die Menschheit auf dem Boden gekrochen, ab und zu unkontrollierte Bewegungen gemacht, um sich geschlagen, geseibert und geschissen, ohne abzuwischen, aber nicht mit Atomkraft böse Spielchen getrieben, wie es die Normalen taten. Die Harmlosen könnten einem fast sympathischer sein.
Doch alles, was den Menschen fehlte, war eigentlich eine neue Religion, eine Anti-Religion, die allen Mystizismus und die damit verbundene Einstellung zum Menschen, zur Umgebung und zum Leben als etwas Heiligem statt Biologischem hinter sich ließ. Gelang es dem Menschen, eine solche Religion?
Was unterschied Mensch und Tier voneinander? Wenn sich der Mensch schnitt, blutete er, und wenn sein Herz stand, war er tot, und wenn er ein Heilserum brauchte, so benutzte er im Körper eines Tieres, sei es Ratte, Pferd oder Karnickel, gebildete 273
Antikörper, Antitoxine, und wenn der Mensch wissen wollte, ob sein Weibchen schwanger war, prüfte er die Wirkung seiner Hormone auf die Eierstöcke eines Frosches. Aber der Mensch besaß doch Verständigung, Kommunikation, sagten die einen. “Sooo”, sagte ich dann, und zog dabei das O dabei ordentlich lang, “fast möchte ich das Gegenteil behaupten, wenn uns irgend etwas von den Tieren unterschied, so mußte es das Unverständnis sein, mit dem wir unseren Artgenossen begegneten.” Die Tiere hatten ihr Weltverständnis und eine gesunde Verständigung untereinander, etwas, das uns verloren gegangen war. Die Tiere hätten noch lange weiterexistiert, wenn wir nicht gewesen wären. Wie einmal ein Geflügelzüchter, der seine Viecher gut beobachtet hatte, sagte: Reinen Unsinn zu glauben, ist ein Privileg der Menschen. 1 Und tatsächlich wie die Hühner ihre Körner pickten und die Enten ihr Entenflott schnatterten, so glaubten sie doch nicht, daß der andere für sein befremdliches Benehmen in die Hölle, sie selbst aber ins Paradies kämen. Der Mensch aber machte aus seinem Mögen und Nicht-Mögen eine Glaubens- und Gesinnungsfrage. “Eßt doch mal Schweinefleisch in einem moslemischen Land und trinkt einen Schoppen Wein dazu, oder nehmt Rauschgift auf einer Spießerparty, habt eine krumme Nase unter lauter Hochnäsigen, lauft nackt herum, liebt als Mann Knaben oder tragt Frauenkleider unter Normalbürgern, und ihr werdet lernen, daß Hassen das Normalste für Menschen ist.” Der Mensch war auch nur ein Tier und nichts Göttliches war an ihm, denn er hatte einen Unterkörper, aber der Mensch hatte einen steilen
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Konrad Lorenz
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Aufstieg hinter sich, einen steileren als er nach dem Gesetz der natürlichen Auslese hätte hinter sich haben dürfen, das machte ihn überheblich. Und in seiner Überheblichkeit glaubte er sich auf einer größeren Höhe, als er wirklich war, und hielt sich für unüberwindlich. Er widmete sein Ohr den süßen, schmeichlerischen Reden von bezahlten Leuten, die ihm eine ewige Seele andichteten und einen zu hohen Wert. Und die Menschheit in ihrer Mehrheit hörte es gerne und glaubte es, obwohl sie es eigentlich hätten besser wissen müssen, denn ihr eigenes Hirn hatte ihnen die Evolution vorgespielt und interpretiert, ihr eigenes Auge hatte ihnen tagtäglich ihre Verwandtschaft mit den Tieren gezeigt, aber sie hatten es nicht hören, sehen und wahrhaben wollen, genauso wenig, wie sie ihren noch fantastischeren Abstieg hatten wahrhaben wollen. Obwohl alles so klar war, damals, tief in der Zeit der Vorzeit, als sich die Menschen aufmachten, sich zu den Sauriern zu legen, um als stumme Fossilien glücklich bis in alle Ewigkeit zu sein - der Saurier brauchte 140 000 000 Jahre bis zur Grabesruhe, Totenstille, der Mensch nur 250 000 -, reihte der Mensch in seiner Hektik bis zum Schluß Wörter, Worte und Taten aneinander ohne Sinn und Verstand. Adjuna war einer ihrer letzten Helden.
Wortreihen
Liebliches Leben wohliges Wohnen allgemeinen Sich-Schonen lächelnde Lippen 275
schlaffe Sitten Dekadenz in Frequenz nicht klagen nicht fragen ja sagen? klagen, fragen, nein sagen?
Herzen heulen heimlich Herden hetzen hektisch Huren hopsen heiter Hetros hassen Homos Zocker zullen am Schnuller seinen Riemen reibt der Reiter
Neon nährt die Nacht Tränen tropfen tragisch Lippen lachen lästerlich Münder maulen Meuterei Scheren schneiden Scherereien 276
Leï leise liefen während die Weisen weise schliefen
bäumen, träumen tanzen, tänzeln paradieren, parodieren revoltieren, variieren vorwärtsmarschieren veruneinigen verunreinigen wie dem auch sei, ich bin dabei Mord an Millionen
Alles war gegenwärtig
Adjuna trifft Jesus
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Der Weg, eine weiche Kieselbahn, weiß geperlt, wohlklingend der Schritt des Wanderers darauf, umwogt von Wegerich, Weißdorn und wilden Rosen, ab und zu beschattet von den vereinzelt am Wegrand stehenden Weiden; Grün im Überfluß, mit Flora gesegnet und vielen Farben, das bunte Blühen die Gemüter erhöht, und selbst den Kühen tut's schmecken, auf den Wiesen sie weiden, käuen und wiederkäuen das Grün mit Genuß, und den Landmann sieht man worfeln und werkeln von früh bis Finsternis; es west ein wahrhaft guter Geist über der Landstraße. Und wenn man weitergeht, sieht man hier einen Wald, dort einen See, dann wieder einen Sumpf und als nächstes vielleicht mal Heide und immer wieder Weiden, Wiesen, Getreidefelder, Rüben- und Kartoffeläcker, Gärten und Farmhäuser, dort hört man die Kikeriki der Hähne, die Sonne ankündigend in der Stunde vor dem Aufgang, die Magd mit Tucktuck das Geflügel zum Futter locken, und später das Gackern, die Eierlegwehen der Hühner, das vergnügte Quieken der Ferkel bei der Sau, deren Grunzen zufriedenes Mamasein verheißt. Das Dorf hinter sich lassend, führt die Chaussee jetzt am Altwasser vorbei in den Wald, die angenehme Kühle unter Schatten spendenden Buchen erfrischt den Wandersmann, hinstreckt er sich am silberglatten Stamm und greift die Eckern um sich herum, befreit sie von der braunen, harten Schale und führt die genießbare Frucht in den Mund, nur diese Nuß muß ihn heut nähren und vom Feld eine Hand voll Ähren. Da kommt ein anderer daher, hinter der Hecke um die Ecke, sein Habchen und Babchen im Bündel verschnürt, gerad'so wie Adjuna seinen Besitz bei sich führt. Ein Handwerksbursche auf Wanderschaft, so stellt sich heraus. Hobel, Bohrer, Hammer, Zirkel und Zollstock stecken ihm im Gürtel, ein Zimmermann muß es wohl sein. Sie begrüßen einander erfreut. 278
“Gesegnete Mahlzeit.” “Er setze sich, der Wandersmann, und bediene er sich, Eckern gibt's genug. Bringt er interessante Kunde?” “Wohl kaum, Freund, weißt du nicht, daß nichts mehr interessant. Nur die üblichen Schikanen überall.” “Ja, als Wanderer und Fremder ist man den Leuten suspekt.” “Und als Andersdenkender.” “Jaja, besonders als Andersdenkender, aber wer ist schon wirklich Andersdenkender. Die vermeintlich Andersdenkenden hängen auch nur mit Gleichgesinnten zusammen und wollen weder Andersdenkende sehen noch dulden.” “Wie wahr du sprichst!” sagte der Fremde und fragte dann gleich: “Wie war dein Weg bisher?" “Wohl lang.” “Kommst du von weit?” Adjuna: “Zur letzten Yugawende lebte ich schon in Indien. In dem auslaufenden Dwapara-Yuga verbrachte ich meine Jugend. Als reifer Mann kämpfte ich mit meinen Brüdern zu Beginn des Kali-Yuga gegen Adharma und Unmoral. Dafür nahm uns Indra in seinen Himmel, dort blieb ich bis zur letzten Geburt.” “Im fernen indischen Himmel? Die Zeit war sicher herrlich, mir dagegen erging's beschwerlich. Das Fischäon leitete ich ein, eine neue Zeit. Von Asien kenne ich nur Kleinasien, das mich gebar und auch kreuzigte.” Adjuna: “Oh, ich ahne, wer du bist. Weh mir, daß du mir erscheinst. Ein Traum noch im Jenseits, bevor ich diese Welt wieder betrat, verhieß mir, oder besser, es war mir so, als solle ich der Menschheit ihren Glauben nehmen. Wohl ausgerüstet betrat ich dann die Welt, omnipotent und omniscient erscheine ich den Leuten, doch weiß ich nicht, wie ich meine Mission ausführen soll, überall gibt es den Glauben an dich, und der ist stärker als ich.” Jesus: “Daran bin ich nicht schuld. Es ist eine schwere Mission und ein schweres Schicksal von einem Gott auf die Erde geschickt zu sein, und wenn man versagt, so ist man verflucht. Sieh' mich an, schon meine
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Geburt war in Blut getaucht,1 wie sehr hab' ich versagt, losgeschickt wurde ich, mein Volk von den Sünden zu retten, 2 doch nur wenig vermochte ich auszurichten, ein bißchen Handauflegen und Wunderheilung, ansonsten blieb es unberührt und mit der Freveltat, die mein früher Tod war, hat es sich eine so große Sünde aufgelegt, die ihm selbst, obwohl ich sie ihm vergab, nicht vergeben wurde. Fremden Sklaven und Gossengesocks blieb ich jedoch nicht gleichgültig, sie, die gar nichts mit mir zu schaffen hatten, machten mich zu ihrem Idol, denn der schändliche Verbrechertod stellte mich ihnen gleich. Und siehe, von diesem wurde ich angebetet und werde - leider Gottes noch immer, und so bin ich die Ursache eines Frevels, denn es steht geschrieben: `Du sollst anbeten Gott, deinen Herrn, und ihm allein dienen',3 denn so sprach ich ja auch zu Gottes mächtigen erstgeborenen Sohn, dem Satan, der versprach, wenn ich niederfiele und ihn anbete, mir alle Reiche und ihre Herrlichkeit zu geben, 4 und nun werde ich selbst angebetet. Waren meine Versprechen zu süß für dieser Fremdlinge Ohren und so mißverständlich? Wäre mein Same unter die Säue gefallen, sie hätten's gefressen, geschluckt und verdaut, doch Gojim wurden zu Zeloten, deutlich und überdeutlich habe ich gesagt: `Ich bin nur gesandt zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel'5. Der Jude ist wie die Ähre, der Goi nur Spreu, nicht für ihn war meine Lehre."
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Matth. 2/16
2 Matth.
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5. Moses 6/13, auch Matth. 4/10
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Matth. 4./8-10
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Matth. 15/24
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Adjuna: “So oder so, für wen auch immer, deine Lehre ist mir wider den Geschmack, und deine Leute erst recht. Es ist nicht meine Aufgabe und ich bin kein Messias, aber reden muß ich wider Pfaffen und Pontifizes, die dich vertreten hier auf Erden, und deine Lehre, dein Testament auslegen und dem Volke sagen, was es tun soll und halten, und sie lehren wohl, `du sollst nicht stehlen und nicht töten', doch dran halten tun sie sich nicht, mehr Mord und Diebstahl haben sie verursacht als irgendeine andere Religion, wohl der Wahrheit zum Hohn. Wehe euch, ihr Pfaffen und Pontifizes, ihr Heuchler, die ihr die Welt umziehet, damit ihr Gold raubet und einen Heiden missionieret, und wahrlich, ihr machet aus ihm ein Kind der Hölle, zwiefältig mehr als ihr seid, denn zuvor war er ein guter Mann, erst eure Lügen machten ihn wurzellos und zum Eiferer. Oh, ihr Blinden, wie wollt ihr Führer sein? Oh, ihr blinden Führer, die ihr Mücken seiet und Kamele verschlucket, von außen seid ihr blasiert und gestriegelt, aber inwendig seid ihr voll Raub und Gier, und gern lasset ihr euch mit `Hochwürden' anreden, zum Hohn eures Herrn Lehre. Wie übertünchte Gräber, welche auswendig hübsch scheinen, aber inwendig sind sie voller Totengebeine böser Taten und lauter Unrat, so seid auch ihr: von außen scheint ihr vor den Menschen fromm, aber inwendig seid ihr voller Heuchelei und Übertretung. Wie wollt ihr der höllischen Verdammnis entrinnen?1 Doch das Jenseits ist großzügiger als eure fanatischen Hirne fassen können, phantasieren. Hätte eure Religion recht, hättet ihr am meisten zu befürchten!”
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vgl. Matth 23
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Jesus: “Du sagst es, so könnte auch meine Rede sein. Ich war der Vermittler zwischen allen Dingen, zwischen Himmel und Erde, zwischen Löwe und Reh, meine Lehre war die unendlicher Vergebung, die ich noch am Kreuz predigte, und was ich predigte, das meinte ich, doch was ich predigte, verstand man nicht, wollte man nicht verstehen, der Jude nicht, denn noch zu sehr war ihm sein `Auge um Auge, Zahn und Zahn' heilig, und der Barbar schon gar nicht, der Gleiches nicht nur mit Gleichem, sondern am liebsten schon ein falsches Wort, er nennt es `böse', mit Mord und Totschlag begleichen wollte. Wer damals an mich glaubte, glaubte, ich würde mich eines Tages entpuppen als ein mächtiger Heerführer, der mit Römern und Andersdenkenden aufräumt. Mein großes Versagen, ihnen diesen Glauben nicht genommen zu haben! Als ich dann am Kreuz hing, was ihre Augen hätte öffnen müssen, war es für mich zu spät, doch sie setzten mich jetzt an die Spitze eines Engelheeres und phantasierten jene Herrlichkeit, die ich auf Erden immer so verpönt hatte. Doch Engelscharen-zum-Rachefeldzug-Mobilisieren lag mir fern. Die Menschen, die Christenmenschen, jedoch hatten ihre Feldzüge, die heiligen und die profanen, und jedes Mal mußte ein Stück meiner Lehre herhalten zur Rechtfertigung. Oh, welch schwere Schuld trifft mich, in meinem Namen wurde mehr gesündigt als Gutes getan, hätte ich die Kraft der Vorschau gehabt, ich hätte meinen Mund nicht geöffnet, nicht gepredigt.” Adjuna: “Aber die Schuld trifft dich doch nicht allein, und nicht so sehr, sondern mehr deine Jünger, die Apostel und all die anderen Entsteller deiner Lehre.” Jesus: “Was meine Jünger betrifft, oh, wahrhaft jung waren sie, man verführe die Jugend nicht, doch zu spät - man entschuldige den Leichtsinn meiner eigenen jugendlichen Unreife - dämmerte mir diese Erkenntnis. Ich predigte von Seligpreisungen; selig sind die
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Sanftmütigen, selig sind die Barmherzigen, selig sind die Friedfertigen, 1 doch sie wollen einen Rachegott, rachegöttiger als der Gott des alten Moses, nicht nur den Mörder wollen sie vor den Richter schleppen, nein, auch schon den, der nur zürnt,2 wer so etwas will, der klage sich als ersten selber an! Sollte mein Tod, der mich so früh meiner menschlichen Möglichkeiten beraubte, doch wenigstens ein Symbol von Friedfertigkeit und Vergebung sein, so gelang doch auch das nicht, bis jetzt war nur selten ein Mensch reif für dieses Symbol, obwohl - ach - zu viele davor hinkrochen und hinkriechen. Nicht das Testament ist wichtig, es ist nicht mein Wille, nur Geschwätz von Schreiberlingen, sondern einzig und allein dieses Symbol. Das Testament aber war ein Betrug an mir und den Mitmenschen. Meine Lehre der Vergebung wurde von rachsüchtigen Kleingeistern mit ihrem Gegenteil vermischt, so entstand ein schizophrenes Werk, das Neue Testament, besser es wäre nie geschrieben worden. Kein anderes Instrument hat den Menschen so viel Blutvergießen gebracht; Eroberer, Ausbeuter, Rassisten, perverse Menschen- und besonders Frauenschänder, all diese beriefen sich darauf und umtanzten es in Geilheit und Gier, und noch heute verhindert es Menschenglück.” Adjuna: “Das ist wohl wahr, meine teure Geliebte riß die Kirche mir fort; weil sie eine Nonne war, die ihren Schwur wegen einer neuen Erkenntnis des Lebens zurückzog, verfluchte man sie und nannte sie des Teufels; mit meinen starken Armen schützte und verteidigte ich sie
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Matth. 5/5,7,9
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Matth. 5/21-26
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vor den Häschern der Kirche bis zur Erschöpfung und länger, erst als Lügen und falsche Versprechen mich täuschten, verlor ich sie. Auf die Folter gespannt, brach man ihr die Arme und Beine, verbrannte ihr sämtliche Haare und schnitt ihr die Brüste ab, dazu las man mit sabberndem Mund aus der Bibel. Dann verbrannte man sie schließlich auf dem Scheiterhaufen, verlogene Gebete lobten die Dreieinigkeit. Die Schandtat konnte ich nicht verhindern, nur Rache blieb mir, ich war zu schwach, um sie nicht zu verüben, ich kehrte zurück nach Rom zum Schuldigsten aller Schuldigen, und bei einem seiner öffentlichen Auftritte war es so weit, vier Pfeile schoß ich ihm gleichzeitig mit meinem Gandiva-Bogen in Hände und Füße, so daß er angenagelt an der Balkontür war, während ich ihn mit donnernder Stimme anklagte, hielten andere Pfeile Helfer fort, dann endlich zerfetzte ihm die Kette meiner Pfeile Arme und Beine und schließlich Leib und Herz. So starb dieser Mann einen großen Tod seinen Taten angemessen, welchem Verbrecher widerfährt heutzutage noch soviel Ehre. Wohl jeden Nachfolger hätte ich getötet, immer wieder, doch diese Feiglinge verkrochen sich im tiefen Loch, und von dort, dieser Menschenferne, dieser tiefen Untermenschlichkeit herauf zischelt jetzt um so giftiger ihre Menschenfeindlichkeit. Pöbel und Primitive weiterhin dem Papst vertrauen und Liebe und Glückseligkeit mit ihrer Galle versauen.” Jesus klagte bitter: “Ach, wäre ich doch unter Säue gefallen und hätte meine Tage bei ihnen zugebracht, wenigstens wäre ich dann vergessen worden, doch in Menschenhänden, -herzen und -hirnen bin ich verzerrt worden zu einer grausamen Maske, mit mehr Hörnern als Satan1, und durch sie habe ich mich mit Blut besudelt von Myriaden. Was ist dagegen deine Tat, zwar bin ich trotz der großen Schuld, die auf mir
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lastet, oder ist es gerade deswegen, noch immer für Friedfertigkeit und gegen Gewalt, doch wenn ich je bereit wäre einen Mord zu billigen, dann diesen an diesem Prunkmännchen. Meine schwersten Vorwürfe richten sich gegen Paulus, diesen Wüterich, wegen der Wiedereinführung einer Priesterschaft; meine ganze Lehre und mein Lebenswerk war gegen diese Leute gerichtet. Oh, Paulus, du Begriffsstutziger, ich bin dir nie erschienen, es war dein eigenes kranken Hirn, das dir einen Trick auf dem einsamen Weg nahe Damaskus spielte. Und wenn du später Gott dankst, weil du mehr in Zungen redest als alle anderen, 1 so tätest du besser daran, deine geistige Unordnung zu verfluchen, denn du bist von Sinnen. Und wenn du predigst: Jedermann sei untertan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat. Denn es ist keine Obrigkeit ohne von Gott; wo aber Obrigkeit ist, die ist von Gott verordnet; usw., so muß das eine Einflüsterung des Teufels sein, wenn nicht eines Herrschers oder wenigstens eines Zollbeamten. Weißt du nicht, was du damit für einen Schaden angerichtet hast? Siehst du nicht, daß das das Gegenteil meiner Lehre ist? Sieht das überhaupt ein Mensch? Wohl, du warst immer ein Christenverfolger, doch am meisten hast du erst als Christ geschadet, wahrlich, wie du protzt, daß du viel mehr gearbeitet hast als sie alle,2 aber es war nicht zum Guten der Lehre, und nachdem du selbst merktest, wie unbescheiden du bist, fügtest du hinzu: `aber nicht ich, sondern Gottes Gnade, die mit mir ist', und besudeltest so auch noch Gottes Gnade. Gottes Gnade aber ist so unermeßlich, daß der Mensch sich nicht zu fürchten braucht!” Adjuna verwirrt und überrascht: “Und die berühmte Wandlung war nichts? `Aus Saulus wird Paulus', trotz dieser Namensänderung hat er sich also nicht geändert, meinst du?”
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Korinth. 14/18
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Korinth. 15/10
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Jesus: “Wesentlich nicht. Und sowieso hätte er seinen Namen ändern sollen, der alte erinnerte so an Borstenvieh.” Adjuna: “Doch, sag, warum bist du nicht wieder auferstanden, als du deine Lehre entstellt sahest?” “Bin ich ja, bin ich ja, aber als Ketzer wurde ich geschändet und verbrannt, sehr zum Beifall eines unter Gold und Geilheit fast erdrückten Prunkmännchens, das alles um sich und besonders sich selbst `heilig' nennt, und bei jedem Wort meine alte, uralte Lehre der Vergebung in eine Fratze von Rache, Grausamkeit und Rücksichtslosigkeit verzerrt, umlügt. Oh, was waren meine Juden damals noch sanft beim Hinrichten, besonders muß ich auch dem römischen Landpfleger Pontius Pilatus korrektes Verhalten bescheinigen, sein Händewaschen war symbolischer als irgendeine Taufe. Ja, wiedergeboren wurde ich zigmal, meine anderen Leben verbrachte ich in Europa oder Amerika, wo ich noch schlimmer endete als einst im Judenland. Im Mittelalter rief ich von der Folterbank dem Geistlichen zu: `Richtet nicht, auf daß ihr nicht gerichtet werdet', oder `Selig sind die Sanftmütigen, selig sind die Barmherzigen, selig sind die Friedfertigen', rief ich dem Folterpack, den Quälgeistern zu”, sagte Jesus, “aber sie verhöhnten mich nur. Später in Amerika als Schwarzer rief ich zum Ku Klux Klan: `Richtet nicht, auf daß ihr nicht gerichtet werdet', doch auch ihre Ohren waren taub, schon brannte ich lichterloh umtanzt von der gespenstischen Meute. Habe ich nicht einst gepredigt: `Sehet euch vor vor den falschen Propheten, die in Schafskleidern zu euch kommen, inwendig aber sind sie reißende Wölfe.'1 Aber Menschheit”, bebte Jesus, und mit ihm alles und das All, “du hast dich nicht vorgesehen, und jetzt kommt einer und sagt, Gott selbst ist ein Wolf, oder ein scheußliches Lamm-Monster wie in der Johannes Offenbarung beschrieben, das wir nicht lieben und anbeten sollen, ich kann ihm nichts erwidern auf diese Blasphemie, sondern beuge mein Haupt in Ehrfurcht. Die neue Zeit möge ihm gehören. Dann aber ziehe
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Matth. 7/15
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ich dahin schweigend, denn nie wieder will ich meine Stimme erheben, es sei denn zu einem harmlosen Liedchen, denn mehr denn je sind die Vögel im Himmel mir zum Vorbild geworden: Sie säen nicht, sie ernten nicht und werden doch ernährt.1” Adjuna: “Das ist nun gerade mein Spruch nicht, denn wie Herakles am Scheideweg entscheide ich mich für die Tugend, die da spricht: `Willst du ernten, mußt du säen, willst du siegen, mußt du kämpfen.' Und vor dem Volke den Mund verschließen werde ich auch nicht.” Jesus sagte darauf: “Sag' den Leuten nichts, sie werden dir dein Wort und die guten Absichten, die du damit hast, verdrehen, verstellen, verunreinigen. Schriftgelehrte und Priester, selbst wenn deine Lehre gerade gegen diese Art von Lügenpack geflucht war, werden sich finden, studieren und interpretieren, und nur sie sind plötzlich kompetent; und verbrecherischen Schmarotzern hast du zur Macht verholfen, eine Futterkrippe bereitet.” Adjuna: “Aber ich muß doch meinen Mund auftun, sehe ich doch, daß die Menschen sonst ihre Welt zugrunde richten.” “Laß' sie! Das wahre Reich ist nicht von dieser Welt.” “Du hast dich nicht verändert, bist wirklich der Alte geblieben.” Da hatte Adjuna noch eine Frage: “Warst du wirklich Gottes Sohn?” Jesus lachte: “Haha, und du bist ein Kind der Zeit, stellst so naiv die schwerwiegendsten Fragen. Hoffentlich gehst du nicht als solches in die Geschichte ein.”
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Matth. 6/26
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Im Weggehen dachte Adjuna: Was für eine schwere Verdammnis auf ihm lastet; die Verdammnis, nichts hinzuzulernen, nur resigniert ist er jetzt.
“Heh, heh, Jesus, warte mal. Das hier schenke ich dir.” “Was ist das?” “Ein altes Andenken. Das hab ich mir mal in Rom gekauft. Kannst du haben, stört nur in meiner Hosentasche, nennt sich Kruzifix. Oder wirst du nicht gern dran erinnert?” “Wirf das Ding weg! Wofür soll das gut sein?” Kopfschüttelnd ging Jesus. Auch einer, der mich nicht versteht, dachte er.
Als Wanderer traf man Wanderer und manchmal Weitgereiste. Die hatten viel zu erzählen und oft einen gesunden Haß auf die Muffigkeit ihrer häuslichen Umgebung und der kleinen Welt, die sie zurückgelassen hatten. Einer von denen, die es in der Ferne besser fanden als zu Hause, erzählte die folgende Geschichte: Sitten und Gewohnheiten zu ändern, ist schwer, denn die Massen sind eine schwerfällige Masse. Eine Masse, kaum erreichbar für Verbesserung, nur schwer Erhöhungen hochzublasen, aber umso leichter wälzt sie sich Abhänge hinab und in Verirrungen. Heutzutage macht man sich zwar oft die Mühe, den Massen die Dinge und ihre Folgen zu erklären, eine lobenswerte Entwicklung, doch erfolgreicher ist meist der, der an ihre Gefühle appelliert. In früheren Zeiten machte es sich der, der etwas verändern wollte, noch einfacher: Er sprach von Gottes Willen, der ihm offenbart wurde. 288
Diese Geschichte kommt aus Japan, aus Adachi in der NiigataPräfektur. Die Kinder des Dorfes Adachi, wie alle Kinder dieser Welt liebten es, zu spielen. Und auch in ihren Spielen waren sie wie andere Kinder auf dieser Welt auch, obwohl sie in einer anderen, längst vergangenen Zeit lebten und in einem so fernen Land: Wenn sie etwas ernsthafter spielten, spielten sie Erwachsene, taten, als seien sie beschäftigt und setzten eine ernsthafte Miene auf, aber meist jagten sie sich mit lautem Geschrei oder spielten Versteck, also ganz normale Kinder. Die Erwachsenen des Dorfes waren genauso normale Erwachsene. Das heißt, sie hatten oft kein Verständnis für die Spiele der Kinder. Die Kinder spielten wie so oft vor dem Tempel des Dorfes der einer Schutzgöttin, der Goshintai-sama, gewidmet war. Sie spielten Versteck und Gonta-kun war dran zu suchen. Als er an die Tür zum Heiligtum kam, merkte er, daß sie nicht wie sonst abgeschlossen war. Neugierig schlich er in den Tempel. Im Allerheiligsten fand er die Statue der Göttin. Sie war nicht größer als eine Puppe. Da sie sehr verstaubt war, nahm Gonta-kun sie heraus, um sie im Fluß zu waschen. Er rief seine Freunde und alle waren begeistert. Sie wechselten sich ab mit dem Waschen und freuten sich über die schöne, gereinigte Figur. Jeder wollte sie auf dem Arm halten. Einige fingen an zu necken: Hier hast du sie. Aber wenn der andere zugriff, zogen sie sie schnell wieder weg, ja warfen die kleine Statue sogar ihren Freunden zu. Das war lustig. Besonders wenn man schnell war und die Figur geschickt wegschnappte. Dann konnte die eigene Partei die anderen necken. Während man so ausgelassen tobte, kam Kantsuke-ojisan vorbei. Er hatte den ganzen Tag auf dem Feld gearbeitet, und da er schon alt war, taten ihm die Knochen weh, und er sehnte sich nach einem heißen Bad, und da er hungrig war, auch nach dem Abendreis, aber am meisten sehnte er sich nach Ruhe. Die lauten Kinder waren ihm ein Dorn im Auge. Sie ärgerten ihn sehr und er schimpfte, sie sollten nicht so laut sein. Doch als er erst sah, daß die Kinder mit der Göttin spielten, war seine Wut nicht mehr zu bezähmen. Für diese respektlose 289
Brut arbeitet man den ganzen Tag! Er teilte Ohrfeigen aus und schlug dabei ziemlich hart zu. Der Junge, der die Statue hielt, ließ sie, als er getroffen wurde, fallen. Zum Glück ging sie nicht auf den harten Steinen des Ufers kaputt. Kantsuke-ojisan hob sie behutsam auf, dann wandte er sich wieder schimpfend an die Kinder. Die Göttin wird euch mit Blindheit schlagen und anderen Übeln, drohte er ihnen. Strafen wird sie euch und das habt ihr auch verdient, rief er den betroffenen Kindern zu. Dann stellte er die Statue wieder an ihren Platz, verbeugte sich vor ihr und hielt seine Handflächen zum Gebet zusammen und bat um Vergebung für die Kinder. Am nächsten Morgen war er wie immer früh wach. Er schlug die Augen auf und wollte aufstehen, um sich an die Arbeit zu machen. Da merkte er, daß er seinen Körper nicht bewegen konnte. Er war steif wie ein Brett, außer den Wimpern konnte er nichts bewegen. Als er eine ganze Zeit so unglücklich dagelegen hatte, ging die Tür und er hoffte, jemand käme, der ihm helfen könne oder wenigstens einen Arzt holen könne. Er staunte nicht schlecht, als er sah, wer da in seinem Zimmer stand und sich über ihn beugte. Es war Goshintai-sama, die Göttin aus dem Tempel. Sie sprach: Gestern hast du die Kinder geschlagen und ihnen gedroht, daß sie noch mehr Strafe verdienten. Aber nicht die Kinder, sondern du bist es, der Strafe verdient. Ich liebe es, wenn Kinder spielen und glücklich sind. Das Leben der Menschen ist so hart und so voller Leiden und Kummer. Wenigstens als Kind sollte der Mensch unbeschwert glücklich sein. Das spätere Leben wird ihm dann auch leichter fallen. Nachdem die Göttin wieder gegangen war, konnte Kantsuke-ojisan wieder aufstehen und war wieder ganz gesund. Er erzählte den anderen Dorfbewohnern von seiner Begegnung mit der Göttin und die Lehre der Göttin wurde von allen Dorfbewohnern beachtet und die Kinder
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des Dorfes waren fortan glücklich und irgendwann waren es die Erwachsenen auch. Ist diese Geschichte wirklich passiert? Sie ist es. Mit dem kleinen Unterschied, daß Kantsuke gar nicht gelähmt war, sondern morgens nur wach auf seiner Matratze lag und nachdachte über das, was er den Kindern angetan hatte. Er dachte auch an seine eigene Kindheit und an sein weiteres Leben und es tat ihm leid, wie er sich benommen hatte, und er fand eine überzeugende Lösung, alles wieder gut zu machen und auch zukünftigen Entgleisungen der Erwachsenen vorzubeugen. Das ist alles. Auch bei uns werden Kinder noch viel zu häufig geschlagen und sind Terror und Ängsten ausgesetzt. Psychologen und Erziehungswissenschaftler versuchen oft mit viel Geduld, die Eltern umzuerziehen und die Situation der Kinder zu verbessern, aber der Erfolg eines Kantsukes ist ihnen noch nicht beschert worden. Natürlich gibt es noch andere Beispiele für den Einsatz von Göttern, und nicht alle ergeben so nette Geschichten. Gehen wir die Leiter runter. Aber bleiben wir zunächst noch in Japan. Wer denkt bei Japan nicht an Samurais. Doch was ist ein Samurai ohne sein Schwert? Woher hat er es? Selbst gemacht? Aber bei weitem nicht. Schwerter werden in Tempelschmieden hergestellt. Um den Segen und Schutz der Götter zu sichern, ist ein genaues Ritual vorgeschrieben. Da die Klinge eines idealen Schwertes zwei unvereinbare Eigenschaften in sich vereinen muß, nämlich Härte und Geschmeidigkeit, sind zwei verschiedene Knüppel von Stahl erforderlich, einer von hartem Stahl und einer von geschmeidigem Stahl. Legt man die übereinander, hat man zwei Lagen, aber noch kein gutes Schwert. Das Ritual schreibt nun aber vor - und es ist eine heilige Pflicht, es zu beachten -, daß diese zwei Lagen beim Schmieden fünfzehnmal verdoppelt werden. Eigentlich spielt es keine Rolle, ob die Zahl fünfzehn für die Schwertmacher eine heilige oder eine profane Zahl ist, das Ergebnis von zwei hoch fünfzehn ist 291
zweiunddreißigtausendsiebenhundertachtundsechzig, so viele innere Lagen wird also das fertige Schwert haben. Dann wird die Klinge mit Lehm von unterschiedlicher Dicke bedeckt, um ein unterschiedliches Erhitzen und Abkühlen zu erreichen. Erhitzt wird, bis der Stahl glüht in der Farbe der verehrten Morgensonne, abgekühlt wird im Wasser. An der Schneide, wo die Lehmschicht am dünnsten ist und die Abkühlung am schnellsten erfolgt, ist der Stahl am härtesten. Religion und Ritual halfen ein gutes Schwert zu schmieden. Aber auch bei anderen Handwerkern und besonders auch bei den Bauern fand man fast weltweit einen Hang zum Mystischen und Metaphysischen. Ein Hang, der uns abhanden gekommen ist, mit fortschreitender Kritikfähigkeit und einhergehender, erweiterter Sprach-, Ausdrucksund Denkfähigkeit. Dampfmaschinen-, Automobil-, Roboter- und Raketenfabrikanten brauchen jedenfalls keine Religionen und Rituale mehr. Sie wissen auch so, wie sie ein gutes Produkt herstellen müssen. Doch gehen wir noch ein paar Sprossen tiefer auf dieser Leiter, von der ich vorhin sprach. Gehen wir so richtig in den Abgrund, in den tiefsten Sumpf, ich möchte fast sagen, ins Paradies. Menschen bringen sich zwar gern gegenseitig um, aber manchmal brauchen sie doch einen kleinen Ansporn. Da operieren die Kleriker dann gern nach Kantsukes Prinzip und sprechen von Offenbarungen. Es ist bekannt, daß jeder Moslemkrieger, aber auch jeder verhinderte Mörder im Auftrag islamischer Kleriker, mit Mätryrerstatus ins Paradies kommt, wo ihm geile Jungfrauen zur Verfügung stehen. Christliche Kleriker versprechen für Gleiches das Gleiche, Glücklichsein in einem Paradies, allerdings ohne Sinnlichkeit, und deshalb schwerer vorstellbar. Aber wie gesagt, wir sind hier beim Sumpf, Morast, beim Abschaum der Religion angelangt, der nichts mehr mit der ursprünglichen
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Verehrung von allem Guten, Schönen, Edlen und Ehrenhaften und der Natur und der Liebe zu tun hat.
Man erzählte sich auch Geschichten wie diese:1 Es war einmal ein Krüppel, der kam zum Wunschbaum, um Erlösung von seinem Gebrechen zu wünschen. Aber wie bei Wunschbäumen so üblich, herrschte ein großes Gedränge, so daß der Krüppel, der körperlich den anderen unterlegen war, nicht unter die Krone des Baumes gelangen konnte. Nach einer Zeit gab er es ganz auf und beobachtete resigniert das Treiben mit Abstand. Da waren die Kinder, die sich Süßigkeiten und Spielsachen wünschten, und siehe, der Baum erfüllte ihnen ihren Wunsch, aber den Süßigkeiten folgten Zahnschmerzen und den Spielsachen der Wunsch nach noch größeren Spielsachen, so wurden sie Erwachsene, jetzt verlangten sie nach Geld, Sex, Alkohol und üppigen Mahlzeiten. Jeder Wunsch wurde ihnen erfüllt und gleichzeitig das im Wunsch enthaltene Gegenteil: Dem Geld folgte die Sorge ums Geld, dem Sex die Ernüchterung, ebenso dem Alkohol, die üppigen Mahlzeiten aber ließ sie dick und schwerfällig werden und alles griff ihre Gesundheit an. Und als die Menschen dann alt zu werden anfingen, riefen sie: “Ach, alles ist eitel, es hat keinen Sinn zu leben, wären wir doch tot.” Und auch diesen Wunsch erfüllte der hilfsbereite Baum ihnen - mit dem darin enthaltenen Gegenteil: die Wiedergeburt. Da sah der Krüppel, der die ganze Zeit abseits gestanden hatte, daß es kein Glück gab.
1 Als
Grundlage zu dieser Happy-End-Geschichte diente die hinduistische Folklore vom Kalpataru, dem kosmischen Feigenbaum, nacherzählt in Christopher Isherwood's `Vedanta for the West' und im Vorwort zu Barbara Harrison's Buch `Learning About India' dort nacherzählt von P. Lal.
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Der Wunschbaum aber ist das Leben. Wünschen heißt Leben. Leben heißt Leiden. Der Krüppel aber vergaß, er vergaß seinen Wunsch, er vergaß das Wünschen überhaupt. Er vergaß zu leben - im Diesseits und im Jenseits.
Man konnte die Geschichte aber auch so erzählen: Der Gabenbaum - eine göttliche Tragikomödie Ein netter Onkel kommt ins Dorf, um seine Neffen und Nichten zu besuchen. Er trifft sie in der Hütte beim Spielen an. “Warum spielt ihr mit diesen armseligen Sachen, wo draußen vor eurer Tür ein Wunschbaum steht? Stellt euch darunter und wünscht und ihr bekommt alles, was ihr haben wollt.” Aber die Kinder glauben ihm nicht. Sie sind schlau genug zu wissen, daß die Welt nicht so gemacht ist, daß sie uns alles gibt, was wir haben wollen. Selbst den kleinsten Lohn, die geringste Anerkennung müssen wir uns schwer erkämpfen, und natürlich, es scheinen immer die anderen zu sein, die die Pflaumen ernten. Die Kinder lächeln wissend. Aber als der Onkel abgereist ist, laufen sie sofort zum Baum und fangen an zu wünschen. Sie wünschen Bonbons und bekommen Bauchweh. Sie wünschen sich Spielsachen und ernten Überdruß. Das beunruhigt sie. Irgend etwas stimmt nicht. Irgendwie fühlen sie sich reingelegt. Was ist dieses unangenehme, unerwartete, ungewünschte Extra, das mit den Süßigkeiten und Spielsachen kommt? Was sie nicht begriffen haben, ist, daß der Gabenbaum der weite, unendlich großzügige, aber total unsentimentale Kosmos ist. Er gibt dir genau, was du haben willst, und das dazu gehörige Gegenteil. Das Tragische dieser Welt ist nicht, daß wir nicht bekommen, was wir haben wollen, 294
sondern, daß wir genau das bekommen, was wir haben wollen - mit dem dazu gehörigen Gegenteil, Überdruß, Sättigung, Enttäuschung. Wünsche es, denke es, träume es, tue es und du hast es! Und schon hast du es gehabt. Die Kinder wachsen heran und werden Erwachsene. Aber in Wirklichkeit sind sie noch Kinder, Gefangene des Wunsch erfüllenden Baumes. Sie klammern sich daran fest. Statt Süßigkeiten und Spielzeug - solchen Kindereien! - sehnen sie sich jetzt nach Sex, Ruhm, Geld und Macht, den vier süßesten Früchten des Lebens. Bittersüße Früchte. Und ehrlich gesagt, es gibt keine anderen. Die Kinder pflücken auch diese Äpfel und beißen hinein und erhalten den gleichen bitteren Nachgeschmack von Enttäuschung und Ernüchterung. Aber sie wünschen weiter, denn es gibt ja nichts anderes, was man unter einem Wunschbaum tun könnte. Und der Gabenbaum gibt großzügig seine Gaben, doch Überdruß und Frustration liefert er mit. Und die Kinder werden alt und schwach. Müde strecken sie sich auf ihrem Totenbett liegend unter dem Baum aus. Pathetische, alte Leute, ehrwürdig geachtet. In drei Gruppen zusammengekuschelt suchen sie Sicherheit. Die erste Gruppe, die Zyniker, zischelt: “Alles ist Betrug, das Leben eine Posse, ein lächerlicher Streich, der uns Menschen gespielt wurde.” Narren sind sie, sie haben nichts gelernt. Die zweite Gruppe, die selbst ernannten Weisen, murmelt: “Wir haben das Falsche gewünscht. Das nächste Mal wünschen wir das Richtige.” Sie sind noch größere Narren, denn sie haben weniger als nichts gelernt. Die dritte Gruppe besteht aus den größten Narren, die da schreien: “Alles ist sinnlos. Wir wollen sterben.” Der hilfsbereite Baum erfüllt ihnen schnell ihren letzten Wunsch. Sie sterben - und werden wiedergeboren,
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unter dem gleichen Baum, denn es gibt keinen anderen Ort, an dem man geboren werden kann. 1
...oder man erzählte die Geschichte vom Zoon Penurion: Es lebte einmal ein Mensch, der hieß Zoon Penurion. Er lebte sehr schlecht, denn er hatte kein Haus, und auch sein Teller blieb meist leer. Da erbarmte sich seiner der Vogel Gaya. Der Vogel Gaya legte ihm ein Ei auf den Teller. Nicht irgendein Ei, sondern ein goldenes Ei. So überreich beschenkt, war Zoon Penurion überglücklich. Sparsam ging er um mit der Gabe des Vogels. Ein bißchen zu essen kaufte er sich und Material für eine kleine Hütte. Und aus Dankbarkeit kaufte er auch ein bißchen Futter für den Vogel Gaya. Und der Vogel fraß es gerne aus seiner Hand und legte ein zweites Ei auf seinen Teller, wieder ein goldenes. Die Augen des Zoon Penurions leuchteten. Nie mehr würde er so schwer zu arbeiten haben wie früher. Selbst wenn die Ernte schlecht ausfiele, würde er sich genug zu essen leisten können. Er vergrößerte sein Haus und kaufte auch wieder Futter für den Vogel. Und der Vogel kam wieder und fraß und legte ein weiteres goldenes Ei. Und bald wurden die goldenen Eier eine alltägliche Angelegenheit. Und der Mensch verbesserte sein Leben ständig weiter. Auch warf er dem Vogel immer mehr Futter vor. Und die Eier des Vogels wurden auch tatsächlich immer größer und größer. Aber der Mensch wurde immer mißtrauischer: Waren die Eier nicht kleiner geworden? War der Goldgehalt noch der gleiche oder vielleicht gar geringer geworden? Auch erwartete der Mensch immer ungeduldiger die Ankunft des Vogels. Immer ungeduldiger und ungeduldiger. Und es erschien ihm,
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Diese Geschichte basiert natürlich auf der gleichen Kalpa-taru-Folklore wie die vorherige. Es wurde ihr lediglich das Happy-End herausgefiltert.
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daß der Vogel immer später und später käme. Und er bekam große Angst, daß der Vogel eines Tages nie wieder käme. Und da hatte er einen Plan: Er wollte den Vogel fangen und in einen Käfig sperren. Voller Ungeduld wartete er auf die Rückkehr des Vogels. Seine Hände wurden schwitzig und sein Gesicht zur Grimasse. Als der Vogel endlich kam - viel zu spät, wie er verbittert feststellte -, stürzte er sich mit voller Wut auf ihn. Der Vogel mußte dabei Federn lassen, aber er überlebte. Er sah zwar nicht mehr so prächtig aus wie vorher, als er sich noch in der freien Natur herumtummelte, eher wie ein halb verrupftes Huhn, aber - so stellte der Mensch zufrieden fest - er legte immer noch goldene Eier. Nur langsam dämmerte dem Menschen, daß die goldenen Eier aber immer mehr Talmigold enthielten. Er war verzweifelt, denn er brauchte, verbrauchte immer mehr und mehr Gold, richtiges Gold, wertvolles Gold, denn seine Sachen waren teuer. Und zum Bezahlen konnte er keinen Schund gebrauchen. Davon hatte er mittlerweile sowieso selbst genug. Es war unfair, daß gerade jetzt, wo er am meisten brauchte, er weniger bekommen sollte. Er fand, er war noch nie so in Not gewesen. Aber er würde sich schon zu helfen wissen, durchtrieben wie er war. “Ich will nicht Mensch heißen, wenn es mir nicht gelingen sollte, an die Quelle des Goldes, an die Quelle allen Reichtums, zu gelangen.” Und er wetzte sein Messer und seine Zähne fletschten dazu. - Dann stieß er zu. Ritsche-ratsche, er schlachtete Gaya. Was für ein Schlachtfest! Er schlachtete Gaya, um an die Goldquelle in ihrem Innern zu gelangen. Und während er sie ausweidete, immer nervöser ausweidete, und sich und seine Umgebung immer mehr besudelte, und er nichts mehr fand, weder Gold noch eine Goldquelle, da dämmerte ihm, daß er in seiner Gier das zerstört hatte, wonach er gierte.
“Deutschland ist Märchenland. Wer kennt sie nicht, Hänsel und Gretel, Rotkäppchen und der Wolf, der gestiefelte Kater, Dornröschen, 297
Schneewittchen, Aschenputtel, der Froschkönig, Reineke der Fuchs, Rapunzel, Knecht Ruprecht, Rübezahl, die Bremer Stadtmusikanten, der dicke, fette Pfannekuchen und wie sie alle heißen. Früher vor der Erfindung des Guckkastens erzählte man sich abends Märchen, man machte das selbst, reihum oder der Begabteste, heute hat man wie gesagt den Guckkasten dafür. Ein Guckkasten ist ein Kasten, an dessen einer Seite so etwas wie ein Gemälde zu sehen ist. Da dieses Gemälde sich bewegt und auch spricht, ist ein gewisser technischer Aufwand nötig. Den hat man in den Kasten gesteckt. Aber man ist sich schon sicher, daß man eines Tages den Kasten wird zusammendrücken können, ohne den technischen Aufwand dabei zu beschädigen, so daß der Guckkasten flach wie ein normales Gemälde wird. Dann wird man ihn also nicht mehr Guckkasten nennen können, sondern einen anderen Namen finden müssen. Das Synonym Glotze eignet sich natürlich immer noch. Einige behaupten übrigens, vom vielen in die Glotze Gucken werden die Augen viereckig, das scheint aber nicht zu stimmen, die Gefahr ist viel mehr, daß man blauäugig wird. Das sollte uns hellhörig machen.”
Adjuna, der gerade durchs Weserbergland wanderte, ging hinunter in die Stadt Hameln, um sich neuen Proviant zu kaufen, denn seine Wegzehrung war zur Neige gegangen. Der Tag neigte sich und die Sonne. Dämmerung kam auf und leichter Bodennebel. Laternen wurden angezündet. Die eisernen Rollanden der Geschäfte wurden runtergelassen. Adjuna hatte sich vorher noch schnell etwas Brot und ein paar Äpfel kaufen können. Mit dem Brot unterm Arm trat er an den Brunnen der Stadt. Ein Flötenspieler, der hier offensichtlich bei seinen Zuhörern ein geneigtes Ohr gefunden hatte für sein Spiel, saß am Rand. Der Flötenspieler unterbrach sein Spiel, denn ein alter Mann neben ihm fing an zu 298
stöhnen und spuckte Blut. Der Flötenspieler wischte es ihm ab. Der alte Mann jammerte: “Ich will nicht sterben.” Der Flötenspieler: “Es ist leicht zu sterben, wenn man das Leben verachtet.” “Ich habe mich aber so an das Leben gewöhnt und an die Welt. Ich liebe beides.” “Du hast nicht richtig hingesehen. Ich kannte mal einen Mann, der hatte viel von der Welt gesehen, und er erzählte mir alles, was er gesehen hatte, es war schrecklich, er erzählte von Kriegen, von Haß, von Foltern und Hinrichtungen, vom Innern der Gefängnisse, vom Äußern falscher Meinungen, vom Übersättigtsein und vom Verhungern, von Irrtümern, Irrsinn und anderen Krankheiten. Und am Ende sagte er mir, und er schüttelte dabei traurig den Kopf: Ich mag die Menschen nicht. Da entgegnete ich: Du bist doch selbst einer. Und er sprach: Ja richtig, und tötete sich.” Auch der alte Mann schüttelte traurig seinen Kopf, aber tat nichts. Der Flötenspieler erzählte weiter. War vorhin sein Flötenspiel anziehend gewesen, auch seine Stimme bezauberte. “Ich traf auch mal einen jungen Mann, der kam genau von der anderen Seite der Welt. Seine Eltern verfolgten ihn, obwohl sie nicht hinter ihm her waren. Auch er wollte sterben. Als ich ihn fragte: Warum willst du sterben? antwortete er mir: Um weiter von meinem Elternhaus entfernt zu sein.” - “Und? Ist er gestorben?” - “Ja, viele Male.” Da keiner was sagte, erzählte der Flötenspieler/Geschichtenerzähler eine neue Geschichte: Es war auch einmal ein einfacher Mann; der war zu jungen Jahren auf eine lange Wanderschaft gegangen. Als alter Mann wollte er zurück zu den heimatlichen Gehöften seines Dorfes. Er wanderte die Landstraße hoch, der letzte Hügel vor dem Dorf. Er freute sich auf den Ausblick auf die Stätte seiner Jugend. Ich war bei ihm. Als wir oben auf dem Hügel angekommen waren und ins Tal blickten, fing der alte Mann an zu jammern: `Wo einst mein Zuhause war, ist nun ein Kleeblatt!' “Nur ein einziges Kleeblatt?” fragte einer der Zuhörer ungläubig. 299
“Ja, so nennen die jetzt solche Autobahn-Kreuzungen mit vielen Kurven”, antwortete der Erzähler. Und er fuhr fort: Der Anblick brach dem alten Mann so sehr das Herz, daß er starb. Das Kleeblatt hatte ihm kein Glück gebracht, obwohl es vierblättrig war.
Es gab in diesem Land, das sich manchmal frei nannte und manchmal anders, selbst wenn es sich frei nannte, einen Zwang, der nannte sich Dienst, Wehrdienst, Waffendienst. Die Herren des Landes begründeten es so: Wer in diesem Lande lebt, seinen Schutz und seine Vorteile genießt, der soll ihm auch dienen, es verteidigen, für das Land kämpfen, Feinde totschlagen, sonst ist er ein Schmarotzer. Die Landesherren vergaßen dabei, daß sie selbst die wirklichen Schmarotzer waren, sie produzierten nichts, jedenfalls nichts Brauchbares, nur immer mehr Gesetze, die keiner brauchte, und die dem Pöbel die letzten Entscheidungen über ihr eigenes Leben nahmen und zu immer größerer Unmündigkeit erzogen. Sollten die Gesetze die Herren so sehr von der eigenen Wichtigkeit überzeugt haben, daß sie blind für die Wirklichkeit wurden und gar glaubten, sie hätten ein gutes Werk? Schlimmer noch: Die Schmarotzer vergaßen, daß der Mensch ursprünglich frei war und es noch immer wäre, wenn er nur wollte. Es gibt keine moralischen Pflichten gegenüber Staat und Vaterland. Solche Pflichten sind Lügen, mit denen der unterworfene Mensch noch einmal verhöhnt wird. Erst beraubte man ihn seiner Freiheit und dann versuchte man noch, ihm die eigene verlogene Moral, geistige Abartigkeit und Niedertracht aufzuzwingen. Und das Erstaunliche: Es gelang. Und mehr gelang: Zu Mördern und Verbrechern machte man sie und ließ sie dabei im Glauben, einen ehrbaren Staatsdienst zu leisten. Und bei jeder Wahl bestätigen sie mit ihrem Kreuzchen: Macht weiter so. - Masochisten. Stumpf ist der Mensch, ein alles hinnehmendes Wesen, und wenn er Macht bekommt, meist moralisch eine Null. 300
Wie erfreut es da das Auge, aus Millionen-Redundanz vereinzelt gewissenhafte Ausnahmemenschen zu sehen. .................... 1 war einer dieser Ausnahmemenschen, hätten sich die Normalbürger ihn zum Vorbild genommen, wäre die Spezies Mensch noch zu retten. .................... weigerte sich für die Landesherren, für Staat und Vaterland, töten zu trainieren, Mord zu üben, Gewehr bei Fuß bereitzustehen. Das rechnete man ihm schwer an. Ins Gefängnis kam er. Und als er wieder rauskam und sich immer noch weigerte, steckte man ihn wieder rein. Und als er abermals ein Jahr abgesessen hatte und noch immer nicht weich und noch immer nicht feige geworden war, mußte er gleich wieder ins Gefängnis, so entschieden die Richter. Manche Menschen sind wie die Eier, wenn sie lange kochen, werden sie nicht weicher, sondern härter. Dieser junge Mensch mit seinem Gewissen, dem es schon in den Betonstädten zwischen toten Wänden und Fassaden, leblosen Gesichtern und herzlosen Herzen zu eng gewesen war und zu trist, den
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Der hier geschilderte Selbstmord eines Kriegsdienstverweigerers hat sich wirklich in meiner Jugend (in den 60er Jahren) zugetragen, wenn ich mich richtig erinnere, sogar in meiner Heimat Schleswig-Holstein. Gerne hätte ich diesem Opfer neudeutscher Staatswillkür hier ein Denkmal gesetzt, aber leider waren meine Unterlagen über diesen Fall bei einem Besuch in meinem Elternhaus nicht mehr auffindbar.
Viele junge Leute wurden damals von den Prüfungsausschüssen nicht als Verweigerer anerkannt und oft für ihre fortgesetzte Verweigerung zu Haftstrafen von bis zu einem Jahr verurteilt. Der Masse des deutschen Volkes war wie immer (einschließlich der Gegenwart) egal gewesen, daß elementare Grundrechte wie die Würde des Menschen (Artikel 1) und die Gewissensfreiheit (Artikel 4) mißachtet wurden. Damals tobte gerade der Vietnam-Krieg. Aus den USA, `dem Garanten der Freiheit', ist mir ein Fall bekannt, wo ein Gefreiter für seine Gewissensentscheidung, keine Vietcongs umzubringen, von einem Militärgericht zu 5 Jahren Zuchthaus verurteilt wurde. Sein Hungerstreik wurde als Versuch, sich frontdienstuntauglich zu machen, bewertet (9.Okt. 1965, UPI).
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es immer wieder hinausgezogen hatte ins Grüne zu Blume und Strauch, der litt nun unsagbar in seinem Käfig, und da es keinen anderen Weg gab auszufliegen, starb er in einer starken Stunde durch seine eigene Hand. Er hatte in seinem Leben niemandem ein Leid zugefügt. Wann fallen den Leuten einmal die Schuppen von den Augen, daß sie sehen können: Sie schaffen Leiden. Wann sagt endlich einmal ein Richter: Ich hab mehr auf dem Kerbholz als meine Opfer. Oder ein Schmarotzer: Bei all meiner Biedermeierei, ich bin ein Schwein. Nie wird das geschehen. Vorher wird man sich zu Tode grunzen.
Das nächste ist eine Geschichte aus dem frommen Spanien. Sie spielte sich ab in der Casa de Bernarda Alba. Señora Bernarda Alba war eine verwitwete Frau und äußerst strenge Mutter. Nichts war ihr wichtiger, als ihre Töchter von der Sünde der Straße fernzuhalten. Selbst ihren erwachsenen Töchtern war es noch verboten, ohne Aufsicht der Mutter das Haus zu verlassen. So verbrachten die jungen Frauen ein freudloses Leben hinter den vergitterten Fenstern des Hauses. Nicht einmal die Vorhänge der Fenster durften sie zurückziehen, damit nicht irgendein Mann sie von der Straße her sähe und Appetit auf sie bekäme. Aber einer der Töchter gelang es doch in einem unbeaufsichtigten Moment, sich am Fenster zu zeigen. Und der schöne, junge Reiter, der gerade vorbei kam, verliebte sich tatsächlich in sie. Und es gelang den beiden, sich nachts heimlich zu treffen. Das Mädchen schlich dann nachts an das Hoftor, schob den großen Riegel zur Seite, und ließ ihren Geliebten herein. In der Hofecke stehend machten die beiden dann jedes Mal Liebe, dabei unterdrückten sie ihr Liebeskeuchen. Trotzdem wurden sie entdeckt. Die Mutter scheuchte den Geliebten mit der Flinte. Sie schoß dabei zwar absichtlich in die Luft. Aber das Mädchen konnte das hinter den hohen Hofmauern nicht mehr sehen, und da die Mutter immer extrem streng und gewalttätig gewesen war, dachte das Mädchen, daß die Mutter ihren Geliebten totgeschossen hatte, und sie tötete sich selbst. Ihre älteren und jüngeren Geschwister beneideten 302
sie: Einmal, weil sie die Liebe kennengelernt hatte, und zweimal, weil sie nicht mehr in dem häuslichen Jammertal gefangen war. 1
Eine andere Geschichte: Es war einmal ein Bürger dieses Landes, doch er war nicht wie die Menschen hier zu Lande ein äußerer Mensch. Er sah die Leute, die ihn umgaben, fast nicht, und wenn er sie sah, so nur mit Abneigung, war ihm doch ihr Außen, ihr nach außen gekehrtes Wesen, zuwider. Doch nicht nur er dachte schlecht von den Leuten, nein, die Leute dachten auch schlecht von sich selbst. `Nichtig wir sind, nur der Gott ist groß', so dachten so viele, das waren die Frommen, aber auch die nicht fromm waren, dachten: `Nichtig sind wir.' Und was war das, was ihnen wert erschien? Nun, da waren die anderen Gs: Geld Gold, Gut, Größe und dann noch Gedanken, mittelmäßige Menschengedanken von Staat, Stolz, Recht, auch Freiheit, die man sicherte durch Gesetz und garantierte durch Gefängnis, sogar Gedanken von einem Paradiese und zwar auf Erden wagte man zu denken, wagte es zu wollen. Das alles waren also die Dinge, an die die so genannten Gottlosen glaubten, denn an sich selbst glaubten auch die Gottlosen nicht, das wäre ihnen zu blasphem gewesen, an sich konnte man nur glauben, wenn man das andere hatte, Geld, Gold, ... auch Macht. Wenn man das alles aber hatte, dann war man wer, dann wußte man, daß man wer war, und wenn man das wußte, dann brauchte man es wohl nicht mehr zu glauben, so glaubten zweifellos auch viele. So war er also ein Außenseiter mit seinem nach innen gekehrten Wesen. Doch Anders-Sein ist ein Verbrechen, so spricht der Pöbel.
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Nach dem spanischen Roman La Casa de Bernarda Alba von Federico García Lorca. Der Schriftsteller García Lorca starb selbst keinen Freitod, sondern als Freiheitskämpfer, der sein Land vom klerofaschistischen Terror befreien wollte. Die Falangisten erschossen ihn am 19. Aug. 1936.
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Und Pöbel sind die meisten. So machten sie ihn leiden und er litt. Seine Heimat wurde ihm verhaßt und er verließ sie. `Bleibe im Lande und ernähre dich redlich', rief der Pöbel ihm nach. Aber das war auch schon das Letzte, was er von ihnen hörte. Denn die neue, fremde Welt umfing ihn mit einem viel freundlicheren Reiz. Die Vielfalt der Menschen erstaunte ihn, der nur die Einheitshomos der Heimat kannte. Mensch-Sein heißt ein großes Experiment-Sein, so dachte er begeistert. Und er machte alles mit, ein Buschmann unter Buschmännern, ein Schneemann unter Schneemännern, ein Seemann unter Seemännern, und im Innern war doch immer sein eigener Wert. So kam er auf seiner Weltpilgerreise auch nach China. Zwar war er äußerlich anders, doch innerlich auch hier bereit, sich anzupassen, obwohl er wie immer auch hier nur auf der Durchreise sein wollte. Aber es kam anders. Der König des Landes hatte eine Tochter, die war mit ihren großen Augen so häßlich zumindest für Chinesen, daß jeder Freier, wenn er sie sah, sofort weglief. Traurig das Mädchen sich zum Vater gewandt beklagte: `Was soll ich nur machen?' Der Vater wußte auch keinen rechten Rat, aber es wohnte ein weiser Greis vor der Stadt, der hatte den König schon oft in Not gut beraten. Zu ihm ging der König mit seiner Tochter. Beide verbeugten sich tief vor dem weisen Mann, boten ihm Gruß und Geschenke. Der weise Mann seinerseits verbeugte sich auch tief und sprach: `Oh, edler König, ihr kommt mit eurer schönen Tochter, was führt euch beide zu mir?' Und der König erklärte das traurige Schicksal seiner Tochter. Da ging der alte Mann zu einer Blume, auf der ein Schmetterling saß, und beschwor den Schmetterling, dann brach er die Blume, der Schmetterling verharrte regungslos. Diese Blume steckte er der Königstochter ins Haar und sagte zum König: `Laß im ganzen Lande ausrufen, daß morgen zur Mittagssonne vom Kopfe der Prinzessin ein Schmetterling abfliegen werde, und auf wessen Kopf er sich als nächstes setze, der müsse sie heiraten oder ihm würde der Kopf abgehauen, denn er hätte eine göttliche Entscheidung mißachtet. 304
Zufrieden ging der König mit seiner Tochter heim ins Schloß und tat, wie ihm geraten war. Alle Ausrufer wurden beschäftigt. Und am nächsten Tag gegen die Mittagszeit sah man die Straßen wie leer gefegt, alle Fenster geschlossen zumindest mit Fliegendraht. Die Prinzessin weinte bitterlich, als sie sah, wie ihr Schmetterling stundenlang verwirrt durch die leeren Gassen flog. Dann sah man unseren Freund mit seinem Bündel frohen Mutes einherziehen, aber verwundert: Was ist denn das für eine Stadt? Ausgestorben oder immer noch Mittagsschlaf? Die große Hitze ist doch schon vorbei. Und was ist denn das für ein verheultes Mädchen, das immer nach oben starrt? Ach, es beobachtet einen Schmetterling. Der Schmetterling umkreiste ihn ein paar Mal und setzte sich dann auf seine bunte, bunte Mütze. Plötzlich war großes Leben in der Stadt, Trompeten ertönten, Trommeln und Pfeifen, Raketen sausten in die Luft, und sie wurden umringt von Leuten, die lachten und fröhlich waren. Unser Freund wußte nicht, wie ihm geschah, er wurde auf eine Kutsche gehoben, das schöne Mädchen saß glücklich neben ihm, sie fuhren in einen Palast, bekamen gut zu essen und zu trinken. Endlich wurde ihm alles erklärt. Nachdenklich meinte er da: `Ja, heiraten sollte ich ja vielleicht auch mal, bisher hatte ich nie daran gedacht. Und immerhin ist sie eine Schönheit, ihr Blick ist so offen, ich müßte eigentlich glücklich mit ihr werden.’ Die Eheschließung wurde vollzogen. In der Nacht aber meinte er zu seiner Frau: `Eigenartig, ich hatte mir das Heiraten so ganz anders vorgestellt, weißt du, so mit Liebe usw.' Da meinte sie: `Laß nur, ich werde dir so viel Liebe und Zärtlichkeit geben, daß du sehr glücklich mit mir sein wirst und eine sehr viel stärkere Liebe zu mir empfindest, als es diese Phantasie-Liebe deiner Träume ist.’ So geschah es auch. Viele Jahre lebten sie glücklich zusammen, und man konnte sagen, mit den Jahren hatten sie sich immer stärker und 305
tiefer ineinander verliebt. Man könnte sagen: Welch ein Glück! Beneidenswert! Denn wie viele Ehen sind doch schon nach kurzer Zeit nur noch ein mühsames Zusammenleben, da die große Liebe so blind ist und mit dem Öffnen der Augen die Enttäuschung kommt. Irgendwann viele Jahre später mußte unser Freund mit einer Regierungsdelegation über die schmalen, gefährlichen Pässe des Himalayas nach Indien. Auf dieser Reise traf er jenseits des Himalayas im Tarai ein junges Mädchen, das ihm trotz ihrer fremdartigen Exotik so bekannt vorkam. Das Mädchen, als es ihn erblickte, warf sich ihm zu Füßen, sie, die Unbekannte. Als sie wieder hochkam, sah sie ihn fest aber mit Tränen in den Augen an. Da schossen auch ihm die Tränen in die Augen, und er stürmte auf sie los, umarmte sie wie wild, küßte ihr die Tränen weg, aber neue kamen unaufhaltsam. Sie hatten sich nie gekannt, jedenfalls nicht in diesem Leben, aber doch auf einander gewartet und sich endlich gefunden. Sie waren füreinander bestimmt. Er blieb eine Weile, nicht so lange, aber länger als die Delegation. In der Zeit wurde er von großer Sehnsucht nach seiner Frau gequält, und das Schlimmste, er wußte, daß auch sie sich quälte, unter der Trennung litt. Aber wenn er ein paar Schritte Richtung Heimat ging, was für ihn das Land seiner Frau geworden war, fühlte er sich todtraurig, weil das Mädchen nicht bei ihm war, die, die doch zu ihm gehörte, wußte er auch nicht warum. So war er verzweifelt, mit seinem Glücklich-Sein war es nun vorbei, sehnte er sich doch nach beiden, nach seiner Frau und dem Mädchen. Und er dachte schon, er müsse sein verdammtes Herz in Stücke reißen und jeder einen Teil geben. Da sagte er sich plötzlich, sterben kann ich immer noch, zuerst versuche ich, ob ich nicht mit beiden glücklich sein kann, ich nehme das Mädchen mit über den Himalaya, will sehen, ob meine Frau mich und meine Liebe nicht versteht, sie war ja immer so verständig. Wenn ich Pech habe, wird sie ganz böse und läßt mir durch ihren Vater den Kopf abhauen, aber ohne dieses Mädchen hat das Leben weder Wert noch Sinn für mich. Mit solchen Gedanken näherte er sich der Stadt des Königs. In der Zwischenzeit war viel passiert, man hatte der Prinzessin von ihrem frisch verliebten Mann erzählt. Die Leute der Delegation hatten 306
natürlich mitbekommen, was sich da im Tarai abgespielt hatte, und davon berichtet. Die Prinzessin nun, da sie sah, daß ihr Mann nicht mit zurückgekommen war, glaubte ihn für immer verloren, und ihr alter Minderwertigkeitskomplex tat ein übriges, nämlich er flüsterte ihr ein, seine Liebe war doch nur erzwungen, sieh mal, wie häßlich du bist, was konntest du denn anderes erwarten, als daß er dir eines Tages weglief, sowieso war er nur ein Wanderer, in Zukunft wird er diesen Ort auf seinen Wanderschaften meiden, um dir nicht wieder zu begegnen. Da wurde sie sehr traurig und wollte nicht mehr weiterleben und stürzte sich vom Felsen. Als nun ihr Mann bei seiner Ankunft in der Stadt von ihrem Tode erfuhr, war er tief bestürzt und erschüttert, er mochte seine Geliebte nicht mehr ansehen. Er schlich zum Felsen und stürzte sich auch hinunter. Das Mädchen, als es nun sah, was sein Geliebter gemacht hatte, mochte nun auch nicht mehr am Leben sein, ein unsichtbares und doch so fatales Band zog sie hin zum Geliebten, sie stürzte als nächstes. “Wessen Sünde ist am größten?” fragt der Rattenfänger/Flötenspieler/Erzähler jetzt. - “Die der Frau, denn sie hat die anderen zwei Selbstmorde mit verschuldet.” - “So? Das Mädchen trifft die größte Schuld, denn sie hat einen verheirateten Mann verführt.” - “So? Tat sie es aus Eigennutz?” - “Den Mann trifft die größte Schuld, denn er hat die Ehe gebrochen, was zum Selbstmord seiner Frau führte.” - “Aber wem gehorchte er?” - “Der Stimme seines Herzens.” - “Wer hat dem Herzen die Stimme gegeben?” - “Karma?” Adjuna mischte sich nicht ein in diese Diskussion, aber er dachte: Sind wir nicht selbst schuld? Der Geschichtenerzähler aber begann mit seiner nächsten Geschichte: Mann und Frau waren am Zweifeln, als sie hörten, daß sie schwanger war: Sollten sie abtreiben oder nicht?
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Sie konnten ihrem Herzen keinen Stoß geben, die Härte der modernen Menschen fehlte ihnen, oder war es Feigheit? Nein, feige waren sie nicht, wie sich zeigte. Wie so oft in moderner Zeit kam ein Krüppelkind zur Welt. Ist das das Ziel einer Milliardenjahren-Evolution? Unfähige Mißgeburten. Die Ungestalt. Nein, das konnte nicht sein. Nichts lag an diesem Kind. Die Verantwortung verlangt von uns, daß wir es töten, ihm Qual und Schande ersparen. Und der Vater erstickte das Kind. Und die Kirchen kamen und protestierten; die, die Dreck, Krankheit und Unglück lieben und erhalten wollen, die, die Millionen Menschen mit ihren Doktrinen ins Unglück treiben, die, die sich an Überbevölkerung und dem damit verbundenen Elend sadistisch freuen, die also kamen und klagten und klagten an: `Eine böse Tat.' Und die Richter, Büttel der Pfaffen, noch immer eingeschworen auf Unmenschlichkeit, erhoben entrüstet ihre Stimme: `Ihr Verbrecher, ihr wolltet es euch und dem Kind leicht machen, was? Das gibt es nicht, das von Gott gegebene Leben darf nur Gott nehmen, oder wir, die Richter. Ins schwarze Loch mit euch! Denkt im Verlies nach, über eure Greueltat!' So sprach der Richter leichten Herzens; man sieht, es gibt unter Menschen nicht nur körperliche Mißgebildete, sondern am schlimmsten ist moralische Mißbildung. Dieses Ehepaar nun, das wegen seines Verantwortungsbewußtseins in der öden Gefängniszelle saß, getrennt voneinander, ohne Blumen und frischer Luft, sah ein, daß die Zukunft keine Freude, gar nichts Schönes mehr bringen konnte, eine tödliche Kalkulation, eines modernen Menschen würdig: Leiden überwiegt Freude bei weitem; die Konsequenz: Schluß machen. War es Intuition? Beide zerschmetterten gleichzeitig, aber Meilen voneinander getrennt, ihre Köpfe an der Zellwand.
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Für einen Moment standen sie gemeinsam im Blumengarten, dann erlebten sie nur noch Leere wie alle modernen Menschen nach dem Tode.
...odeerrr... ...vom Fluch, uralt zu werden: Während des Krieges, den einige Glücksritter und Spielernaturen, als sie anderen Spielen überdrüssig geworden waren, angezettelt hatten, hatte sie beim Bombenangriff je einen Arm und ein Bein und ein Auge verloren. Obwohl so verstümmelt und fast zum halben Menschen geworden, ist sie mutig in die Zukunft gehumpelt oder gehinkt. Der Krieg ging zu Ende, hatte sich und das Land ausgebrannt. Die Zeiten wurden besser. Man lebte wieder in Frieden, man richtete sich ein, machte es sich wieder gemütlich. Sie auch. Aber sie blieb allein. Einen Mann fand sie nicht. Männer waren rar geworden wegen des Krieges. Sie erfuhr nie die Höhen der geschlechtlichen Vereinigung, weder lernte sie Freunde kennen, noch genoß sie Luxus, denn sie konnte es sich nicht leisten; sie arbeitete ja nicht und verdiente nichts. So ging ihr freudloses Leben dahin. Sie wurde alt, älter als andere. Als sie schon über hundert war, hörte man sie klagen: `Heinklappermann will mich nicht.' Zu ihrem hundertundzehnten Geburtstag wurde es ihr zu bunt; mit einem Küchenmesser stach sie sich in den Hals und starb endlich.
Es war einmal ein Geschichtsprofessor, der tat, wie es seine Aufgabe war, die Geschichte erforschen. Nun ist das Studium der Geschichte ähnlich dem Studium der Chemie ein sehr ungesundes Studium. Zwar rührt man keine Gifte an und atmet keine tödlichen Dämpfe ein, und doch hantiert man zuviel mit 309
dem Tod. Ist die menschliche Geschichte nicht ein einziges Suchen nach dem Tod? Für Mord, Tod und Sterben liefert die Geschichte jede Menge Gründe. Einen Grund fürs Leben wird man vergeblich suchen. Alles ist sinnlos: Der Einzeln stirbt, selbst der Kaiser, für den so viele Einzelne gestorben sind, stirbt, die Familie stirbt, das Volk stirbt, die Rasse stirbt, die Religion stirbt, die Nation, die Gattung, der Planet, die Sonne, die Galaxis, selbst das Universum brennt leer. Und wir Menschen? Warum halten wir Menschen in dieser sterbenden Welt nicht die Flagge des Lebens hoch, sondern beschleunigen den Tod? Der Geschichtsprofessor sah die Leichenberge, die Verkohlten und Verstümmelten, und ihm verging der Appetit, und er sah, daß die Gegenwart von der gleichen Logik wie in der Vergangenheit beherrscht wurde, und daß die Gründe des anderen noch immer ein Grund sind, ihn totzuschlagen, und ihm wurde schlecht, er bekam Bauchweh und Dünnpfiff. Das Widerlichste am Menschen ist nicht das, was hinten rauskommt, sondern was er unterm Scheitel ausheckt und mit den Händen produziert: Mord und Gründe für Mord. Sinn des Leben ist nicht die Maximierung von Glück und schon gar nicht von Bewußtsein und Wissen, sondern Leben ist Beides: ein Kampf und sinnlos. `Ich weigere mich, zu kämpfen und etwas Sinnloses zu tun', nahm sich der Professor vor. Und er tat nichts mehr, das heißt, er starb. Beides ist sinnlos: das Leben und der Tod. Es ist ungerecht, dem Tod einen Sinn anzudichten!
Und jetzt eine sehr traurige Geschichte. 310
Menschen gibt es genug. Und wer sich, wenn er merkt, daß das Leben anstrengend ist, gleich wieder davon machen will, der soll's, der Menschheit tut er damit einen Gefallen. Es ist eine hohe Weisheit, sich das Leben zu nehmen. Ich hätte es auch getan, wenn ich gewußt hätte wie. Ich hatte die Nabelschnur schon um den Hals, aber der Arzt verhinderte meinen Selbstmord. Seitdem bin ich angekettet ans Leben. Die Kette heißt, wie bei diesem alten Mann hier, der nicht sterben will: Gewohnheit. Angekettet verbringe ich mein Leben, ein Unglück, daß ich mich nicht losreißen kann.
Die nächste Geschichte handelt... Vom Kleinen, den die Kleinlichkeit quälte. Obwohl er die Dinge klar sah: Geboren wurde er ins falsche Elternhaus, seine Seele war groß wie ein Mammut, fähig die Welt in Schranken zu weisen, doch am heimischen Herd ging es so klein und kleinlich zu, so dümmlich und dreckig, daß er nur kümmerlich gedieh. Fast wäre er in der Eltern Sucht und Rauch, an deren Rauchsucht erstickt; was wäre ihm da alles erspart geblieben! Doch so erlitt die große Seele eine kümmerliche Existenz in dem kränklichen Körper eines Kaffernkindes1. Alas! Die Sehnsüchte seiner Seele rissen sich los, Sauberkeit suchend, rannte er fort. Doch blühte er jetzt auf? - Weit gefehlt, Wunden heilen, Narben bleiben und manche Entstellung ist ewig: Warum bin ich so verzweifelt? Warum bin ich so schwach und unfähig? War ich im früheren Leben ein Täter, ein Mörder, oder ein Opfer? Was büße ich? Mein größter Fehler war die Wahl meiner Eltern. In der Jugend schlecht beraten, büße ich jetzt für Jugendsünden, für
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Für die, die's nicht wissen: Hier sollen natürlich keine Bantus beleidigt werden, sondern es ist das jiddische Wort für Blödmänner gemeint.
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Versäumnissünden, für die Sünden anderer, die mich hatten beraten, belehren, ausbilden sollen. Wird es so weitergehen? - Doch nur in diesem Leben, oder? Ich bin klein und hilflos und die Welt erscheint so übermächtig. Die Welt ist falsch und ungerecht und mir erscheint sie übermächtig und daher unverbesserlich. Das Unrecht erdrückt mich. Ich bin verzweifelt. Mein Körper fällt in Stücke - und ich soll durchhalten? Mein Körper fällt in Stücke - und ich soll es mit ansehen? Da nahm er ein Messer und stieß den scharfen Stahl ins Herz - wie ein Läufer nach einem schlechten Start das Rennen abbricht, aufgibt und nach Hause geht. Doch die Seele ist seither auf der Suche. - Suche, suche, suche!
Vom Großen, dem die ganz große Größe noch fehlte.
Er besorgte sich vier Paar Handschellen, die ein Schnappschloß hatten. Die Schlüssel warf er weg. Dann legte er sich auf das Arbeitsbrett einer Kreissäge, an dessen Beine befestigte er eine Seite der Schellen, dann ließ er die Schellen um die Fesseln seiner Beine zuschnappen. Er schaltete das Gerät ein, legte den langsamsten Gang ein, dann ließ er sich auf dem Brett zurück, streckte seine Arme und ließ die anderen Schellen um seine Handgelenke zuklicken. Jetzt gab es kein Zurück mehr: Langsam kam das kreisende Sägeblatt näher. Kreisend heulend die Todesmelodie der sich widerstandslos drehenden Scheibe. Drei Minuten würde sie ihm lassen. Drei Minuten, 312
um sich auf den unvermeidlichen Tod vorzubereiten. Die letzten drei Minuten einer dreißigjährigen Wartezeit. In drei Minuten würde sein Herz von den scharfen Zähnen zerrissen und er würde wissen, ob es ein besseres Leben nach dem Tode gäbe oder nicht; am liebsten wäre ihm, es gäbe nichts, denn selbst die Freuden waren ihm Leiden. Meinen Haß habe ich an mir selbst ausgetobt. Welch edle Tat! Hätte ich den anderen Weg gewählt, so hätte mein Attentat der Schöpfung oder zumindest der Menschheit gegolten. Aah, tut das gut!
Dann sprach der Rattenfänger von Hameln: Ich bin ein Seher, und obwohl ich ein Seher bin und die kommende Katastrophe sehe und auch sehe, wie und wo man die kommende Katastrophe überleben kann, begehe ich jetzt, nachdem ich euch soviel erzählt habe, Selbstmord, denn ich sehe auch, daß ich nicht der einzige bin, der überleben würde, ein beachtlicher Prozentsatz, Bodensatz der Menschheit, wird überleben, das heißt: Auch die Zeit nach der Katastrophe wird keine schöne Zeit sein. Sogar meine alte Feindin, das Teufelswerk, die Religion, wird überleben. Man sieht, die menschliche Dummheit triumphiert immer, selbst nach ihrem selbstverschuldeten Untergang. Ihre Sehnsucht geht in Erfüllung. Ein neues Mittelalter steht vor der Tür. Man würde mich wieder als Hexenmeister und Ketzer öffentlich verbrennen und mit sabberndem Mund und salbungsvollen Beschwörungsformeln meinen Tod besudeln. Da gehe ich lieber jetzt schon. Er öffnete einen Karton, nahm ein Fläschchen heraus und trank es auf ex aus, Rattengift stand drauf. Und viele taten ihm nach.
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Ja, so sind sie geworden, die Menschen, hartnäckig. - Hartnäckig weigern sie sich den Knoten, den ihnen das Leben bietet, zu lösen, ein Problem, sie straucheln, stolpern, stürzen sich zu Tode, hartnäckig ist ihr Wunsch zu entkommen, doch es gibt kein Entkommen. Jedes Ding enthält sein Gegenteil in sich, der Tod die Wiedergeburt. Doch hartnäckig wieder und wieder sie sich weigern. Hartnäckig sie darauf beharren: Wir wollen es nicht bewältigen. So endet die Menschheit im Selbstmord. Doch was ist erreicht dann? Endlich Nirvana durch Aussterben? Gewiß nicht. Unglückliche Geister, wartend, daß Äonen vergehen, wieder Wesen entstehen. Unglückliche Geister, unglücklicher als in Menschengestalt.
Alle, die das Gift genommen hatten, waren unter Schmerzen und Krämpfen gestorben, und die anderen waren schnell weggegangen, denn sie wollten damit nichts zu tun haben. Nur Adjuna war geblieben. Auch der alte Mann war gestorben und lag jetzt friedlich neben dem Rattenfänger. Plötzlich hörte Adjuna die krächzende Stimme des Alten: “Freund, Freund, es ist wunderbar, Gott gibt es wirklich.” Adjuna: “Du bist kurzsichtig. Was du siehst, ist nur ein böser Geist, der im Jahr viertausendvier1 vor unserer Zeitrechnung geboren wurde und seitdem die Welt verunsichert. Die Zeit seiner jugendlichen Aktivität hat er schon lange hinter sich und impotent schleicht er durch die Schattenwelt, für niemanden von Nutzen. Reiß dich los von diesem Gespenst! Dein Ziel sollte jetzt höher sein, befrei dich von allem Übel, von Gier, Dummheit und der Liebe zu dieser Welt.”
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Von Bischof Ussher ausgerechnet. Lange Zeit mußten Christen glauben, daß die Welt 4004 v. Chr. von Gott geschaffen wurde. Da wir heute wissen, daß die Welt viel älter ist, war es wohl der Gott, der zu dem Zeitpunkt entstand.
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“Ich sehe alles, mein ganzes Leben.” “Ein Kurzschluß.” “Ich schwebe. Ich sehe meinen Körper da unten liegen.” “Astralprojektion.” “Ein Tunnel.” “Der Geburtskanal.” “Licht, Liebe, Harmonie, Glück.” Er war für Adjuna verloren.
Adjuna verließ den Ort, wo so viele Menschen sich ihren Lebenswunsch erfüllt hatten. Im Weggehen dachte er noch: Man lernt viel über die Menschen, wenn man Geschichtenerzählern zuhört, und auch, wenn man die Zuhörer beobachtet. Aber sich den Toten zugesellen, das kann man immer noch, erstmal möchte ich mehr lernen über die Menschen, die leben, besonders die hier im Lande leben. Und da er gehört hatte, daß sich die Leute im Teutoburger Wald ein Denkmal gebaut hatten, wanderte er in den Teutoburger Wald. In dunklen Wäldern verirrt man sich leicht. Doch ein Segen - oder war es Regen? - sorgte dafür, daß sich die Wälder lichteten, oder war es wie bei den todessüchtigen Menschen die gleiche Sehnsucht? Trotz des gelichteten Waldes fand Adjuna nicht gleich, was er suchte, sondern irrte erst bei den Externsteinen herum. Die Externsteine waren nicht etwa das, was man sich schlechthin unter Steinen vorstellte, nämlich ein paar Dinger, die man aufhob und anderen ins Kreuz warf, sondern bei den Externsteinen handelte es sich um eine gewaltige 315
Felsgruppe, die aus einer Senke des Teutoburger Waldes hervorragte, außerdem war es ein historischer Ort, denn hier hatte Hermann der Cherusker am Vorabend der Varusschlacht sein Heer gesammelt und von hier hatte er es siegreich gegen die eindringenden Römer geführt. Doch Rom blieb letzten Endes Sieger, okkupierte es auch nicht das Land, so doch die Hirne, daß dieser Ort jetzt eine christliche Wallfahrtsstätte war, zeugte davon. Adjuna erschrak nicht schlecht, als er plötzlich den großen, wackeligen Stein über sich ragen sah, der drohte, jeden Augenblick runterzufallen. Diesen sogenannten Wackelstein hatte der Teufel dahin geworfen. Als durch Herzog Widukinds Zwangsbekehrungsmaßnahmen das ganze Sachsenland christlich geworden war, wollte sich der Teufel zu den Externsteinen zurückziehen. Als er aber auch da einen Missionaren mit dem Angekreuzigten sah, geriet er so in Wut, daß er einen Felsbrocken nahm und nach dem Kerl warf. Leider verfehlte er und der Stein landete da, wo er auch jetzt noch lag, nämlich auf dem östlichsten Felsen der Externsteine. Aus der Schadenfreude der Christen wurde eine christliche Wallfahrtstätte, ein frommer Ort. Adjuna betrachtete den Stein genau: Ich bin zwar stark, aber den Fels kann selbst ich nicht heben. Wenn jemand, der diesen Stein schleuderte, versagte, wie kann ich da siegen? Meine Hochachtung. Aber da Adjuna eigentlich das heidnische Hermanns Denkmal suchte, fragte er ein paar Pilger, von denen es hier wimmelte, wie man da hinkam, und machte sich dann gleich auf den Weg. Als Adjuna dann endlich vor dem Cheruskerfürsten stand, war er tief beeindruckt, was für ein heroischer Mann, was für eine heroische Haltung, wie edel und eisern die eisgrauen Augen in die Ferne starrten, und das Schwert, siebeneinhalb Meter lang, in starker Hand, eine Riesenwaffe, sie ragte in den Himmel, als wollte sie nicht nur die 316
Germanen zum Kampf anfeuern, sondern auch die im Himmel thronenden Götter pieksen. Nach geschlagener Schlacht wünschte ich mir auch ein solches Denkmal. Das Volk, das solche Helden hat, muß zweifellos heroisch sein. Während Adjuna immer wieder aufschaute zum Hermann-Denkmal und bewundernd murmelte: “Hmm, ein großer Held wie ich oder gar größer”, stand plötzlich der bockbeinige, pferdeschwänzige, gotteslästerliche Fürst der Unterwelt und alles Bösen neben ihm. “Gestatte, daß ich mich vorstelle, ich bin der Teufel, auch Luzifer genannt. Du kannst aber ruhig Luz zu mir sagen. Ich will dir ein anderes Denkmal deutscher Geschichte zeigen. Aber das Denkmal gehört den Deutschen nicht allein, sondern auch mir wie so vieles auf dieser Welt - hahaha - kommst du mit?” “Ja gern.” Und wie Jesus einst mit Hilfe des Teufels auf den höchsten Berg der Welt transmittiert wurde, von wo aus ihm alle Reiche der Welt und ihre Herrlichkeit gezeigt wurde1, damals hatte man noch eine Scheibe, so wurde jetzt auch Adjuna mit Hilfe des Teufels an einen anderen Ort transmittiert.
Während der Reise erzählte Luz: “Weißt du, dieses Volk hat mit der Waffe in der Hand ganz Europa wie ein Aussatz überzogen. Mit Waffen kämpft man, aber man kann auch feige mit ihnen morden, beides verstand dieses Volk zu gut. Unvorstellbare Grausamkeiten, unglaubliches Elend säten sie überall, wo sie hinkamen, aber alle Grausamkeit kulminierte in Auschwitz. Von weit her brachten sie ihre Opfer dorthin, in Viehwagen gestopft, ohne Wasser, ohne Klo, fast ohne Luft, als Sterbende zwischen Toten kamen viele an. Nur selten wurde ein Volk so von der Mordlust befallen. Massenmorde gab es immer, doch Massenmorde so großen Stils, solche absolute
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Matth. 4, 8.
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Vernichtung, solche fanatische Entvölkerung hatte es vorher nur bei christlichen Conquistadoren, Dschingiskhans mongolische Horden und dem auserwählten Volk des alttestamentarischen Gottes Jahwe gegeben. Dieses teutsche Volk hätte nur sich selbst übriggelassen und sonst die Welt entvölkert. Aber der Brocken war zu groß. Großmannträume allein genügten nicht. Nicht einmal Mut und martialische Geschicklichkeit halfen am Ende, denn ihre Waffen verrosteten, verfielen und versagten und neue gab es keine, denn die Waffenschmieden und Schwertfeger konnten der Nachfrage nicht nachkommen. Die Welt siegte und wurde nicht entvölkert und auch diesem Volke geschah weiter nichts. Sie mußten schwören und das taten sie dann auch. Sie schworen, daß sie nie wieder eine Waffe in die Hand nehmen würden und wenn sie es doch täten, ihre Hand verdorren möge. Mittlerweile haben sie schon wieder Waffen in der Hand. Hahaha”, lachte Luz bitter, “Schwüre und leere Versprechen, wo ist da der Unterschied. Es gibt ja keinen, der das Einhalten von Schwüren erzwingen kann. - Aber wir sind schon da. Paß auf, wir landen!” “Ja, aber hier ist ja nichts los. Alles verfallen und zugewachsen. Nur ein alter Zierrahmen: Arbeit macht frei.” “Warte, wir müssen es erst beleben. Dazu müssen wir zurück in die kurze Zeit des Tausendjährigen Reiches.” “Tausend Jahre sind kurz?” “Nein, aber die ewig währende Narrheit der Menschen bringt manchmal sehr kurzfristige Blüten hervor.”
Tatsächlich gelang es dem Luz, die Zeit zurückzudrehen und den Ort zu beleben. Sie sahen die Viehwaggons vollgestopft mit Menschen, lebenden und toten, ankriechen, ihre elende Ladung ausspucken. Sie sahen all das menschliche Elend, aber Sehen und Hören ist nicht genug, selbst die Phantasie versagt das Verstehen, verweigert das Nachempfinden. 318
Luz und Adjuna sahen plötzlich nicht mehr nur das Elend als Außenstehende, sondern sie wurden selbst zu Elenden, ihre Körper machten dabei eine schreckliche Wandlung durch, nicht nur waren sie schwach geworden und nur noch in Lumpen gehüllt, sondern schmerzten auch überall aus Wunden, aus Erschöpfung, aus Erkrankungen, Ruhr und Lungenentzündung. Wohl neuntausend Leute waren sie, die aus überfüllten Viehwaggons stolperten und sich jetzt auf der Rampe aufstellen sollten. Schwarze Raben, die auch Menschen waren, stürzten sich willkürlich auf die Angekommenen, die wehrlos die Mißhandlungen ertrugen, wie Raben aufs Aas, Rabenaas, Rabenäser, aber einen Adler an der Mütze, als ob das adlig machte. Wenn so ein schwarzer Rabe, um - wie er es nannte - in der Übung zu bleiben, auf einen der angekommenen Leute einschlug, zuckten auch die anderen zusammen und duckten sich vor Angst, die nächsten zu sein. Hatte der Geschlagene Familie in der Reihe stehen, versuchten die manchmal verzweifelt, ihm zu helfen, aber egal, ob sie ihn mit ihren Armen zu schützen versuchten, oder ob sie sich dem Raben zu Füßen warfen und seine schwarzen Stiefel küßten, brutal wurde auf sie eingeschlagen, meist bis sie tot waren. Kinder schrien, Frauen zitterten. Verzweiflung, wie konnte man seine Lieben noch schützen, seine Kinder, die noch immer von den Eltern Schutz und Hilfe erwarteten und einen so hilflos anschauten. Vor wenigen Jahren nur hatte man sich ihretwegen bei Masern und andern Kinderkrankheiten große Sorgen gemacht, oder wenn sie sich beim Spiel die Nase blutig geschlagen hatten oder ein schlechtes Zeugnis nach Hause brachten, wie sinnlos erschien das jetzt, wo sie Mördern ausgesetzt waren und man selbst mit ihnen. Die meisten hatten ihre Kinder schon vorher verloren, da die Raben, um die Verzweiflung zu vergrößern, die Kinder auf andere Transporte geschickt hatten. Die Ungewißheit war genauso schlimm oder gar schlimmer, als den Verfall und Tod der eigenen Kinder mitanzusehen. Viele Kinder, die ihre Eltern noch bei sich hatten, wurden hier auf der Rampe von ihren Eltern getrennt. Denn die Raben bildeten zwei Gruppen. Eine Gruppe für Kinder, alte Leute und Leute, die schon so 319
zuschanden gekommen waren, daß sie nicht mehr arbeiten konnten, diese Gruppe war fürs Gas, der Rest fürs Lager. Dieser Rest sollte erst arbeiten, bevor man ihn umbrachte. Die Auslese war ziemlich willkürlich und erfolgte in Sekundenschnelle. Sie nannte sich trotzdem Selektion. Ja, man bediente sich tatsächlich der wissenschaftlichen Sprache der Darwinisten. Aber dafür kann Darwin nichts. Er hat keine Schuld an dieser unnatürlichen Selektion, natürlich auch nicht an der natürlichen. Wenn es die Natur wirklich gibt und eine Selektion in der Natur, wenn also Selektion natürlich ist, natürliche Selektion ist genauso grausam, auch sie läßt die Mörder überleben, immer wieder die Mörder. Vielleicht findet der denkende Mensch einmal eine bessere Lösung, was man mit Mördern machen kann. - Vielleicht zum Selbstmord überreden? Adjuna und Luz hatten nicht gedacht, daß man ihnen in ihren geschundenen Körpern noch zumuten würde zu arbeiten. Adjuna wäre gern mit der anderen Gruppe gegangen, der die Raben ein Ruhelager versprochen hatten, aber Luz, der mehr wußte, sagte, daß die direkt in den Tod gingen. Während sie abgeführt wurden, hörte Adjuna noch, wie die Raben der anderen Gruppe riefen: “Ihr müßt zur Entlausung - duschen - und kräftig durchatmen, das stärkt die Lungen.” “Rattengift”, sagte Luz, “Zyklon B, Ausströmung von Blausäure, ein schweres Gas, das besonders zur Entrattung von Schiffen verwendet wird.” Herzzerreißende Szenen um ihnen herum, viele ahnten, daß sie ihre Lieben nie wiedersehen würden, andere waren apathisch, abgestumpft für die Grausamkeit, die sie seit Jahren erlitten. Es gab auch Hoffnungsvolle, die den Raben glauben wollten, glauben mußten, denn sie hätten die Wahrheit nicht ertragen. Die Wahrheit war, daß sie vernichtet werden sollten, egal, ob gleich durch Gas oder langsam 320
durch Unterernährung und harte Arbeit. Eine wahrlich schwer zu verkraftende Wahrheit! Der Einhodige hatte es vor Jahren schon klar und deutlich gesagt, die Juden sind keine vollwertigen Menschen, sondern Ungeziefer, das vernichtet werden muß, fehlte ihnen auch keine Hode, so doch das Recht auf Leben. Nicht nur die braunen Horden des Einhodigen hatten damals `Hurra' geschrien, sondern der ganze deutsche Pöbel. Die, die hier waren, hatten einen langen Leidensweg hinter sich. Die aus Deutschland kamen, hatte erlebt, wie sich Tag für Tag der Haß der Deutschen auf sie steigerte. Viele waren relativ wohlhabend gewesen, durch ihr fast 2000jähriges Außenseiterdasein hatten sie gelernt, das es am besten für sie war, gebildet zu sein, nützlich zu sein, und Geld zu haben, sie waren daher Ärzte, Zahnärzte, Rechtsanwälte oder Wissenschaftler geworden oder hatten wenigstens einen kleinen Laden gehabt, viele waren auch Träger der Kultur gewesen, Schauspieler, Musiker, Opernsänger, Dirigenten, Maler. Sie alle mußten lernen, daß ihnen ihr Fleiß, ihre Friedfertigkeit, ihre Intelligenz und gesellschaftliche Stellung, ihr Ansehen und gutes Benehmen nichts nutzten, sie verloren ihre Patienten, deren Gesundheit ihnen vorher so am Herzen gelegen hatte, ihre Klienten, die sich arische Rechtsanwälte suchten, ihren wissenschaftlichen Auftrag, ihre Kunden, den Beifall, das Engagement, die Anstellung. Waren sie früher oft ins Theater, Konzert oder in die Oper gegangen, so wurde ihnen das plötzlich untersagt, weil ihre Anwesenheit angeblich die Stätte beschmutzte. Überall wurden sie als Dreck, Ungeziefer, Bazillus beschimpft, dann begannen die Gewalttätigkeiten, ungebildete Unmenschen, Untermenschen, die man glauben gemacht hatte, Übermenschen zu sein, schlugen ihnen die Scheiben ein, und wenn sie sich sehen ließen, auch das Gesicht und den Körper. Nach und nach verschwanden die Freunde und Nachbarn, jüdische Leidensgenossen. Mit Lügen und leeren Versprechungen wurde sie weggelockt, deportiert zu neuen Schikanen, aber auch mit Gewalt wurden sie ihren Lieben entrissen in nächtlichen Aktionen. Die aus den polnischen Gettos erinnerten sich daran, wie sie eingemauert wurden und nur noch mit Passierscheinen das Getto 321
verlassen konnten, wobei sich die Polizei einen Spaß daraus machte, sie zu schikanieren: “Ausziehen, marsch, marsch! Hinlegen, marsch, marsch! Aufstehen, marsch, marsch! In die Pfütze, marsch, marsch!” Verdreckt und gebrochen kam man dann bei seiner Arbeit im arischen Viertel der Stadt an. “Tanzen, marsch, marsch!” Die Gemeinheiten der brüllenden Horde kannten kein Ende. Der Sadismus machte selbst bei der eigenen jüdischen Polizei keinen Halt, er war ansteckend. Und Polizeijuden schlugen auf Juden. Naja, Polizisten, Handlanger aller Herrschenden, Handwerkszeugs, war immer so, wird immer so sein, trotzdem schade. Das Essen im Getto wurde immer knapper, als die Deutschen immer mehr Juden ins Getto brachten; viele verhungerten und blieben tot auf der Straße liegen, ab und zu kamen Kraft-durch-Freude-Busse durchs Getto mit jungen Deutschen, denen gezeigt werden sollte, was für ein Dreck der Jude war. Nichts wurde ihnen davon gesagt, daß dieses Elend von Deutschen aufgezwungen war, auch wußten sie nichts davon, daß man trotz der extremen Umstände noch versuche, Kultur zu pflegen, Schulen unterhielt, Konzerte veranstaltete und Theater-, ja sogar Kabarettaufführungen, außerdem die Tradition ehrte, die Thora las, den Talmud auslegte, die alten Feste feierte: Seder, das Laubhüttenfest, das Purimfest zur Erinnerung an die Abwendung eines persischen Judenpogroms durch Esther und zu Hanukkah den Sieg der Makkabäer über Antiochus. Dann begannen die Abtransporte, angeblich zu Arbeitslagern, gute Luft, viel zu essen. 6000 pro Tag von Warschau. Man hatte Gerüchte gehört vom Massenmord in Babi Yar, der Großmutter-Schlucht außerhalb von Kiew, wo 100 000 Juden ihr eigenes Grab schaufeln mußten, bevor in Schnaps getränkte Übermenschen sie mit dem Maschinengewehr niedermachten und von ähnlichen Vorkommnissen in Wilna, Riga, Kowno, Kovel, Kobrin, Kertsch, Charkow, Minsk, Pinsk, Pjatigorsk, Lodz, Dubno, Dwinsk, Rowno und Simferopol auf der Krim, aber die meisten hatten sich geweigert, diese Greuel zu glauben. Man hatte auch Gerüchte gehört, von Gaskammern und Verbrennungsöfen, ja sogar Drohungen: “Wenn du nicht parierst, dann kommst du nach Auschwitz und dann geht's ab durch den 322
Schornstein.” Jetzt sah man die Schornsteine, und von wegen frische Luft, es stank nach verbranntem Protein. Die schlimmsten Befürchtungen bestätigten sich.
Denkfaule Menschen denken gern schwarzweiß. Die Massen sind immer denkfaul, und der Nationalsozialismus, als reine Massenbewegung, purer als alles Dagewesene, dachte auch schwarzweißer als alles Dagewesene: Der Arier weiß und gut, der Jude schwarz und schlecht. Sind die Juden auch immer schlecht, die Arier lassen sich noch einmal schwarzweiß unterteilen, in die schlechten Arier, nämlich alle Nicht-Nazis und die guten, die Nazis, bekanntlich auch die Braunen genannt, und die besten der besten, die schwarze SS, die Raben. Im KZ wurde in Farbe schwarzweiß gedacht. Farbige Dreiecke auf der Kleidung machte es möglich: Grün - gemeiner Verbrecher, rot politischer Gefangener, purpur - Zeuge Jehowas, rosa - Homosexuelle, braun - Zigeuner, schwarz - Bettler und Herumtreiber. Für denkfaule Menschen bedeuten solche Farben eine unheimliche Erleichterung. Hirn- und charakterlos ist es ohnehin schwer, den Charakter eines Menschen zu beurteilen.
Wie lebte man nun in diesen Lagern? Luz und Adjuna sollten es bald merken. Zu fünft in einer Reihe mußten sie von der Rampe Birkenau ins vier Kilometer entfernte Lager marschieren. Der eklige Geruch aus den Essen der Krematorien und die Angst und grausame Ungewißheit begleitete sie. Im Lager angekommen wurden sie auf Wertgegenstände gefilzt. Die Raben freuten sich über gefundene Füllfederhalter, Schmuckstücke oder Devisen. Wer nichts hatte, riskierte zusammengeschlagen zu 323
werden. Dann wurde ihnen eine Nummer auf den Arm tätowiert und der Kopf geschoren.
Beim Betreten der Lagerbaracke wurde den Neuankömmlingen vom Blockältesten mit einem Knüppel eins übergezogen, dann drückte ihnen ein anderer Häftling einen weichen Semmel in die Hand und sie mußten sich in der überfüllten Baracke eine Koje suchen. Luz und Adjuna hatten Glück, sie fanden zwei Kojen, die neben einander lagen und in denen erst jeweils einer lag, der dann ein bißchen rüber rückte. Der in der einen Koje war ganz mager, fast nur noch ein Skelett. “Ein Muselmann”, sagte Adjunas Kojennachbar. “Ein Muselmann? Ich wußte nicht, daß man auch Moslems hierher bringt.” “Er ist auch kein Moslem, sondern Jude, wie die meisten hier. Wir nennen diese halbtoten Skelette nur Muselmänner, weil sie so zusammengekauert unter ihren Wolldecken wie betende Muselmänner aussehen. So sehen die meisten schon nach zwei Monaten hier aus.” “Der mit dem Knüppel am Eingang, der war doch auch ein Gefangener. Warum tut der so was?” “Warum tut der so etwas? Das ist ein Grüner. Hast du sein grünes Dreieck an der Brust gesehen. Das bedeutet, daß er ein Verbrecher ist. Er hat also viel mit den Nazis gemeinsam. Überall werden die hier als Blockälteste, Kapos und sonstige Handlanger der Aufseher eingesetzt. Die leben hier besser als draußen. Die haben nicht nur genug zu essen und zu trinken - und wenn ich trinken sage, dann meine ich Bier, Wein und sogar ab und zu mal Champagner - sondern lassen sich auch jeden Tag von anderen Häftlingen rasieren und massieren, ja sogar ankleiden. Und wenn sie jemanden zusammenschlagen wollen, schlagen sie ihn zusammen. Draußen würden sie dafür bestraft, aber hier lachen die Raben nur darüber, wenn sie es sehen. Während um sie herum alles stirbt und hungert, haben die alles: Swimming Pool, Bordell, sogar Theateraufführungen, dafür wird dann eine Baracke leergeprügelt. Die Insassen können dann draußen in der Kälte warten, bis die Vorstellung zu Ende ist.” Ein anderer Häftling zynisch: “Ja, es gibt ein Paradies, wer hätte das gedacht, zwar keins auf Erden und auch keins im 324
Himmel, aber eins im KZ, wenn auch nicht für jeden, so doch wenigstens für den Abschaum der Menschheit.” “Ja, das Paradies von de Sade, Sodom, hier wurde es wahr, mehr als wahr.” Adjuna: “Ihr habt rote Dreiecke, wer seid ihr?” Wir sind das Gegenteil der Grünen, politische Gefangene. “Unser Engagement für eine bessere Welt hat uns hierher gebracht. Schon seit Jahren haben wir in Gefängnissen und in Lagern gelebt.” “Vorsicht der Be-Vauer kommt!” “Be-Vauer?” “Ja, Berufsverbrecher.” Plötzlich fing der Lagerälteste anzuschreien: “Alles raus, antreten, marsch, marsch!” “Selektion. Die Gaskammern sind nicht ausgelastet”, flüsterte der eine Politische.
Als alle wieder zurück in der Baracke waren, meinte der eine Rote zu Adjunas Freund: “Du hast doppeltes Glück gehabt. Einmal, weil die nicht gemerkt haben, daß du humpelst, und zum anderen, weil du deinen Bettnachbarn jetzt los bist.” Luz antwortete wortkarg mit “Ja”. War es, daß ihm, der Inkarnation alles Bösen, die Seite der Opfer nicht gefiel?
Die Politischen erzählten weiter von den Gaskammern und der Ausrottungspolitik des Einhodigen. Adjunas Bettnachbar protestierte: “Das sind Schauermärchen. Die kommen in ein Ruhelager.” Aber die Politischen spotteten: “Der hat Familie und ein Häuschen am Stadtrand - gehabt. Der träumt immer davon, daß wenn er lieb ist, die Nazis auch lieb sind und ihn wieder zurücklassen, oder ihm wenigstens im Osten ein Ländchen erobern, ein Ländchen ganz für Juden, wo er sich wieder ein Häuschen bauen kann,...” “Mit Gärtchen.” “...in dem er dann wieder mit seiner Familie wohnt.” “Fünf Kinder hab' ich. Alle waren sie die besten in der Schule. Ich bin ja nur einfacher Schuster. Meine beiden Ältesten sind sogar auf der Oberschule. Studieren wollen sie. Der eine will Arzt werden, der 325
andere Rechtsanwalt.” “Laß dir von dem mal die Familienfotos zeigen. Dann verstehst du, warum er träumen muß. Warum die alle hier träumen. Warum die vor der Wahrheit die Augen schließen und nicht kämpfen, nicht wenigstens ein paar von denen totschlagen. Die Gedanken an die Familie rauben ihnen jede Kraft.” Tatsächlich fing der Schuster an, seine Fotos unter der Matratze hervorzukramen. “Das ist meine Frau Sara.” Obwohl das dicke Bäuerinnengesicht keine Ähnlichkeit mit Adjunas Adoptivmutter hatte, der Name genügte, um Adjuna einen Kloß im Hals zu geben: Wie leichtsinnig hatte er sie damals verlassen, sie, die ihn so liebevoll großgezogen hatte. Das nächste Foto: Die gleiche dicke Frau mit einem Baby auf dem Arm. Ja, am Busen der Mutter ist die Welt heil, dachte Adjuna, die Ungeheuerlichkeiten beginnen, wenn man mehr wahrzunehmen beginnt als den Busen der Mutter und man selbst mehr tut, als mit tolpatschigen Händen den Busen der Mutter zu betatschen. “Mein Ältester, als er klein war”, sagte der Schuster, “Hier auf dem Foto sind wir alle zusammen. Mich haben sie ja zuerst verschickt. Da weiß ich gar nicht, was aus denen geworden ist. Hier stehen wir vor unserem Häuschen. Eine Woche später haben die uns abgeholt und ins Getto gebracht. Hier sind noch andere Bilder von unserem Haus.” Langsam entstand vor Adjuna das Leben eines einfachen Mannes, der weder die Welt erobern wollte, noch was von großer Politik verstand, sondern nur sein kleines Glück leben wollte und immer hoffte, daß die böse Welt an seinem Gartenzaun haltmache. “Das ist meine Tochter beim Springtauspringen.” “Oh, was für ein hübsches Kind!” rief Adjuna begeistert aus, und um es noch mehr zu betonen: “In zehn Jahren werde ich um ihre Hand anhalten.” “Die Deutschen haben sie erschossen. Sie war acht. Sie hat Lebensmittel ins Getto geschmuggelt, wie die anderen Kinder auch. Wir hatten ja sonst nichts. Da haben sie sie erwischt und erschossen. Ganz tot. Ihrer Freundin haben sie nur die Beine zerschossen, damit sie nicht wieder schmuggeln kann, aber sie haben sie ganz totgeschossen”, sagte er jetzt unter heftigem Schluchzen. “Oft sehe ich sie vor mir - vor dem Schlafengehen - da sehe ich sie - auf dem Bett - auf dem weißen Kopfkissen - da hab ich mich immer über sie gebeugt und einen Kuß gegeben - manchmal auch mehr - und am Bett gesessen und eine Geschichte vorgelesen 326
manchmal auch zwei oder drei, sie hörte ja so gerne zu - manchmal schlief sie dabei ein - wie ein Engel sah sie dann aus.” Er weinte jetzt mit heller Stimme. “Was kann sie denn dafür - Weltherrschaft der Juden - was kann ich dafür. Ich bin nur ein Schuster. Ich hab immer nur Schuhe geflickt”, schrie er jetzt. Der Blockälteste kam mit Knüppel angelaufen und schlug auf ihn ein und schrie: “Halt die Schnauze, willst du wohl die Schnauze halten!” Die Politischen gaben sich sofort alle Mühe, ihn zu beruhigen: “Er hat sich an seine Tochter erinnert. Da ist er ganz traurig geworden.” Der Blockälteste ließ tatsächlich von dem Schuster ab. Im Weggehen meinte er noch: “Mach das nicht noch einmal, sonst hau ich dich grün und blau.” Schweigen. Betroffenheit. Keiner hatte mehr Lust, etwas zu sagen.
In der Nacht, während alle schliefen, schlich Adjuna zu Luz und weckte ihn: “Du, Luz, wie kommen wir hier wieder raus.” “Ich weiß nicht. Es ist etwas Schreckliches passiert. Ich bin Mensch geworden.” “Es mag ja schrecklich sein, wenn ein Gott Mensch wird, aber für den Teufel...” “Ich weiß. Das Schreckliche ist ja auch nur, daß wir aus dieser Hölle nicht wieder rauskommen. Aus dieser von Menschen geschaffenen Hölle, wohlgemerkt.”
Am nächsten Morgen. Die Politischen gaben Adjuna den Rat: “Gleich werdet ihr für die Arbeit eingeteilt. Sag, daß du Chemiker bist, dann kommst du zu uns ins Labor. Wir können da noch jemanden gebrauchen. Da können wir dir auch noch was Extras zu essen besorgen. Wenn du draußen arbeitest, dann mußt du jeden Tag durch die Selektion. Da kann es jeder Zeit passieren, daß die dich ins Gas schicken.” “Habt ihr auch irgendwas für meinen Freund Luz?” “Nein”, sie schüttelten mit dem Kopf. Es war offensichtlich, daß sie den Luz 327
nicht mochten. Er war zu wortkarg, keine freundliche Miene, lachte nie, auch seine Gebrechlichkeit mochte zu ihrer Antipathie beitragen. Wurden nicht gerade in ganz Europa die Juden gebrechlich gemacht, damit man sie leichter hassen und vernichten konnte? Es ist schwer, einen Menschen noch zu mögen, wenn er unansehlich geworden ist. Es klappte! Die Lüge wurde geglaubt und Adjuna kam ins Labor. Die beiden Politischen erklärten ihm alles, die Versuche, die sie für die SS machten, wissenschaftliche Arbeit, mit der sich die SS nachher brüsten wollte, und sie erklärten ihm auch, daß das Wichtigste am ganzen Tag die Abnahme kurz vor Feierabend war. Dann nämlich mußte alles blitzblank geputzt sein und ordentlich zurückgestellt worden sein, sonst würde man ganz furchtbar verprügelt. Sie warnten ihn aber auch, daß er nicht zimperlich sein dürfe, wenn mal mit Menschen Versuche gemacht würden. “Die sterben sowieso alle. Man tut, was man kann. Manchmal kann man einen Versuch sabotieren und jemandem Sterbehilfe geben. Das ist oft besser, als wenn der sich noch lange als Versuchskaninchen quälen muß. Manchmal kann man auch mal jemanden retten.” Adjuna wurde hauptsächlich als Laufjunge eingesetzt. Er mußte Medikamente ins Krankenhaus bringen, Chemikalien und wer weiß was für ein Teufelszeug aus dem Lager holen und in andere Labors bringen. Am schlimmsten war das Labor, wo er zusammengenähte Zwillinge in Käfigen gesehen hatte. Sein angenehmster Botengang hatte ihn ins Bordell geführt, wo er Penicillin hatte abliefern müssen. “Wenn die Blockältesten da Bockspringen machen, lassen sie sich zur Prophylaxe eine Spritze verpassen”, hatten die Politischen gesagt. Daß es seine Aufgabe sein sollte, da täglich den Impfstoff abzuliefern, war ihm recht. Die Politischen gingen da offensichtlich nicht gern hin. Dabei empfangen die Huren einen so nett. Adjuna hatte bei ihnen einen Apfel bekommen und unter Anzüglichkeiten und Gekicher hatten sie ihm auch eine dicke, fette Wurst in ein aufgeschnittenes Brötchen gelegt. “Symbolik, Symbolik”, hatten sie gegackert. Als er gemeint hatte, hier sei wohl der einzige fröhliche Ort im ganzen Lager,
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waren sie ernst geworden und hatten gesagt, daß einige der Männer sehr brutal seien: Die können nicht lieben. Abends im Lager sah Adjuna Luz und den Schuster wieder. Beide sahen furchtbar aus und bluteten heftig. Adjuna dachte, sie hätten einen Unfall gehabt, aber sie hatten Pech gehabt und einen besonders brutalen Aufseher gekriegt. Der Schuster jammerte: “Ich hab mir doch alle Mühe gegeben. Warum hat er mich so geschlagen? Ich kann ja morgen gar nicht mehr arbeiten.” Man sah die Todesangst in seinem Gesicht. Luz sagte, daß der Aufseher ihm das Humpeln abgewöhnen wollte und immer schrie: `Geh ordentlich, geh ordentlich. Ich werd dir Beine machen', während er auf ihn eindrosch.
Tagein tagaus verfielen Luz und der Schuster mehr. Tagein tagaus starben Leute, wurden Leute abgeführt, verschickt zur Kur, oder hingerichtet vor allen Leuten. Bei all dem Kummer fragt man sich, warum? Was für schreckliche Verbrechen hatten all diese Leute begangen? Adjuna wollte die Antwort von Luz wissen. Aber der versicherte ihm, daß diese Leute alle gar nichts Böses getan hatten, sondern daß diese Leute alle nur wegen einer Idee, mit der ein Einhodiger die Deutschen infiziert hatte, starben. “Die Deutschen halten den Einhodigen für einen von Gott gesandten Erlöser. Sie glauben an die Überlegenheit der nordischen Rasse, und daß die Juden, mit denen sie seit Generationen zusammen gelebt haben, die Reinheit ihrer Rasse beschmutzen, nach der Weltherrschaft streben, den Weltkrieg, der mit dem deutschen Überfall auf Polen begann, verschuldet haben, widerliche Kapitalisten und widerliche Kommunisten zugleich sind, außerdem Liberale, Humanisten, Perverse, Sadisten, brutal und feige.” “Das kann doch nicht sein. Das ist doch alles nur ein Trugbild, das du geschaffen hast.” “Es ist leider alles Wirklichkeit, wirkliches Leiden.”
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Luz sollte in Zukunft noch mehr leiden. Seine Wunden entzündeten sich und er bekam hohen Fieber. Adjuna, der gesehen hatte, wie das ganze Lazarett ausgeräumt und ins Gas geschickt worden war, und der außerdem Zeuge von Menschenversuchen gewesen war, riet Luz davon ab, ärztliche Hilfe zu suchen. Was sollte Luz machen, außer sich zur Arbeit zu quälen, die Schinderei ertragen und auf das Wunder hoffen, daß die Entzündung von selbst heilt? Zum Glück hat die Menschheit nicht nur Verbrecher, Cäsaren und Religionsstifter hervorgebracht, die alle so eifrig das Elend der Menschen vermehrten und eine lange Blutspur hinterließen, sondern auch Leute, denen es gelang, das schwere Los der Menschen zu erleichtern. Die Welt wäre glücklicher dran, hätte sie nie Zoroaster, Buddha, Moses, Jesus, Mohammed, Joseph Smith und all die anderen falschen Erlöser hervorgebracht, auch auf Helden wie Alexander den Mazedonier, Caesar, Konstantin, Charlemagne, Chlodwig, Napoleon und Hitler hätte sie besser verzichtet, statt dessen sie mehr richtige Erlöser wie Alexander Fleming, den Entdecker des Penicillins, hervorbringen sollen. Wirkliche Leiden erfordern wirkliche Erlöser und wirkliches Können. Penicillin half unendlich vielen Menschen, die sonst an bakteriellen Entzündungen elend gestorben wären. Was dagegen ist das Christentum? Ein fauler Jenseitszauber, der ein übles Diesseits schuf. Adjuna zweigte ein paar Penicillin-Spritzen von der Bordellhauslieferung ab und verpaßte sie seinem Freund Luz, so daß das Unwunder, das Zwangsläufige geschah und Luzs Entzündung heilte. Luz war zwar froh, kein Fieber mehr zu haben, aber zum wirklich Frohsein hatte ein normaler KZ-Insasse wie er natürlich keinen Grund: “Was für einen Sinn hat das Leben hier noch? Es gibt überhaupt keine Hoffnung, keiner entkommt, keiner wird entlassen. Das Leben ist nur noch ein langer Leidensweg in den Tod.” Da widersprach der eine Rote: “Doch, es gibt eine große Hoffnung. Die deutschen Armeen 330
wurden von den Russen besiegt. Jeden Tag kommen die Russen näher. Wenn wir Glück haben, werden wir bald von den Russen befreit.” Plötzlich hörten sie ein schreckliches Geschrei und Gejammer aus einer Nachbarbaracke. Alle hielten die Luft an. Bloß keinen Laut, damit die Raben nicht auch noch diese Baracke stürmten. Durchs kleine Fenster sahen sie, wie die Raben die Bewohner aus der Baracke zerrten, andere versuchten zu fliehen. Es war eine Blutorgie mit Totstechen und Erschlagen. “Die rächen sich für irgendeinen Sieg der Russen.” “Hoffentlich siegen die Russen nicht wieder”, keuchte der Familienvater unter seiner Wolldecke. Er hatte die letzte Phase der Lebenden erreicht. Sein Fettgewebe war schon lange aufgebraucht, jetzt trat der Muskelschwund sein tägliches Zerstörungswerk, um den Körper am Leben zu erhalten. Sein Herz schlug nicht mehr, es zitterte, oszillierte. Am Tage gelang es ihm noch irgendwie aufzustehen und zur Baustelle zu gehen. Dort stand er dann den ganzen Tag irgendwie rum, meist gestützt oder angelehnt. Der Aufseher schlug ihn komischerweise nicht mehr, wahrscheinlich, um ihn nicht zu töten und seinem Elend ein Ende zu machen. Er hielt jetzt immer seine Familienphotos in der Hand, selbst draußen bei der Arbeit. Sein letzter Halt. Sein letzter... Gibt es dafür überhaupt noch ein Wort? Hat sich die Menschheit jemals vorgestellt, daß ein Mensch soviel Verlassenheit ertragen muß, eine so große Entfernung von allem Schönen, und dabei vergilbte Photos einer glücklichen Zeit in den Händen hält? Plötzlich ging die Barackentür auf. Ein paar Raben kamen rein: “Na, ihr Duckmäuser! Mucksmäuschenstill. Ihr kommt als nächstes dran.” Sie gingen ein bißchen in die Baracke. “Da ein Muselmann. Dem puste ich das Licht mit der bloßen Hand aus.” Nicht nur die schwarze Uniform der Raben war blutig, sondern auch ihr Durst. Sie schlugen auf einige Muselmänner, die tatsächlich nach nur einem Schlag leblos liegen blieben. Wer noch die Arme zum Schutz hochziehen konnte, hatte Pech, denn das machte die Raben so wütend, daß sie den Armen an seinem Arm aus der Koje rissen und mit ihm machten, was sie `dem Geflügel die Flügel stutzen' nannten, nämlich den-Arm-mit-Gewaltnach-hinten-Reißen, dabei traten sie mit ihren Stiefeln unter die Achseln oder auf die Schulterblätter. Mit ausgekugelten oder 331
gebrochenen Armen ließen sie ihre Opfer dann liegen. Als der eine den Schuster sah und ihm die Wolldecke wegriß, fielen seine Photos auf die Matratze. In großer Verzweiflung und mit zittrigen Händen wollte er sie wieder aufheben, aber der SS-Mann hatte sie schon in der Hand. “Das ist also deine Drecksfamilie. Deine alte Hure sieht ja aus wie ne Kuh. Ist wahrscheinlich jetzt schon vergast.” Der Schuster jammerte: “Bitte, bitte", aber der Rabe blieb hart: “Konfisziert als Brennmaterial”. Im Weggehen gab er noch Anordnungen: “Schmeißt alle Leichen draußen auf den Misthaufen.” Andere Raben sangen: “Obladie, oblada, Schnaps ist gut gegen Cholera...” Ihr Gegröle verlor sich langsam in der Ferne und das Gewimmer der unmittelbaren Umgebung wurde lauter. Als er weg war, machten sich Adjuna und die Politischen sogleich daran, ausgekugelte Arme wieder einzukugeln und Wunden so gut es ging zu verbinden. Danach konnten sie lange nicht schlafen, das Gejammer in der Baracke war an diesem Abend besonders groß, besonders laut war auch der Schuster, Adjunas Bettnachbar. Aber irgendwann in der Nacht wurde er ganz still. Adjuna merkte, daß er tot war. Er stand auf, nahm den Toten auf seinen Arm und trug ihn raus zu den anderen. “Mein Freund, es tut mir leid, daß du in deinen letzten Stunden noch so leiden mußtest. Aber jetzt ist alles überstanden, jetzt kann man dir nicht mehr wehtun.” Am nächsten Tag gelang es Adjuna sogar trotz nachlassender Kräfte, ein bißchen Rache zu nehmen. Das kam so. Er hatte gehört, daß einige Gefangene mit einer Lösung Typhus-Rickettsien geimpft werden sollten, vielleicht um den Verlauf des Fleckfiebers zu studieren, aber wahrscheinlich um die Zahl der Lagerinsassen schneller zu reduzieren, denn der Verlauf der Krankheit war bekannt: Verdauungsstörung, Bauchweh, Durchfall, hohes Fieber, Bewußtseinsbeeinträchtigung, rote Flecken, bei schlechter Pflege Tod. Da Adjuna ja jeden Tag den Impfstoff für die Syphilis- und Tripperprophylaxe zum Bordell brachte, das nur von der Prominenz frequentiert wurde, allesamt Verbrecher, Raben und B-Vauer, 332
Reichsdeutsche, arische Arschlöcher, die da gerne einen Knüppel reinsteckten, vertrauliche Hurenmeldung, kam ihm der Gedanke, Typhus-Erreger und Penicillin zu vertauschen. Er hatte da gar keine Bedenken. Zwar hatte er unter den Mithäftlingen viele schwarze Scharfe gesehen, aber weiße Raben waren ihm unbekannt. Er rieb sich die Hände, wenn er daran dachte, wie sich die geilen Böcke beim Sani anstellten, um ihrer Devise zufolge, lieber einen Schuß mehr als einen zu wenig, sich eine Mega-Dosis Penicillin verpassen zu lassen, aber eine Mega-Dosis Typhus bekamen. Das dürften nette Studienobjekte werden mit Gonokokken, Syphilis und Typhus. Eins ist sicher, Penicillin schützt nur hundertprozentig, wenn man es auch bekommt.
Wir erinnern uns, wie Adjuna aus der Vulva seiner Mutter Sramania plumpste, landete er nicht im weichen Bett, sondern in karger Wüstenund Felsenlandschaft. Wir haben ihn als Wanderer kennengelernt: Mal quälte er sich mühsam durch den Staub, mal kam er leichtfüßig des Weges einherspaziert. Dann wieder war er ein Springball, nicht, daß seine gewaltigen Muskelpakete ihn vom Erdboden abprallen ließen, oder er gar selbst sprang, oder irgendeine Kontrolle hätte, etwa wie Engel, die mit ihren Schwanzflügeln den Kurs steuern können, sondern es war ein unkontrollierbares Schicksal, etwas Unberechenbares, das ihn springen ließ, willkürliche Würfe vielleicht der Götter, die mit ihm Würfel spielten, vielleicht wollten sie ihn auch mit der Nase auf etwas stoßen, vielleicht war es auch nichts. Sicher ist nur, daß er, der fähigste und stärkste unter den Menschen, immer wieder die Orientierung verlor. Die KZ-Wächter wußten, wo's lang ging, wenn sie ihr `Marsch, marsch!' brüllten, ja, selbst noch, wenn sie ihre großzügigen Schnapsrationen bis zum letzten Tropfen ausgekostet hatten. Adjuna dagegen verstand nichts. Er wußte, in seinem vorherigen Leben hatten er und seine Brüder die Kauravas getötet, aber im Kampf: Wer 333
unbewaffnet war oder die Waffe niederlegte, war sicher. Auch von hinten wurde nicht angegriffen, ebensowenig, wer verwundet war oder schlief oder gerade mit jemand anders kämpfte. Arier waren sie gewesen, richtig, aber sie hatten nichts gewußt von blassen Verwandten im fernen Norden. Luz war ziemlich am Ende und konnte ihm nicht mehr antworten, selbst wenn er auf ihn eindrang, vielleicht wollte er auch nicht. Er erschien seltsam verstört. Da blieben nur noch die Politischen, Künstler im Überleben und - was gar nicht leicht war - im gleichzeitigen Anständigbleiben. Auch sie waren müde. Auf seine Fragen und Bitten um eine Erklärung, sagten sie ihm, daß sie Zugang zur Bücherei hätten und ihm Informationen, Magazine und andere Schriften besorgen wollten, sowie das heilige Buch der Nazis, Adolf Hitlers `Mein Kampf': “Da kannst du solche Sachen lesen wie `Was nicht gute Rasse ist auf dieser Welt, ist Spreu.' Und mit guter Rasse meint er die Deutschen, hauptsächlich aber Leute wie die Raben, besoffene Sadisten, Massenmörder.” Am nächsten Abend gaben ihm die Politischen tatsächlich das versprochene Buch. Auch Luz reichten sie ein Buch: “Kannst du lesen?” “Ja, natürlich, ich habe sogar das Schreiben erfunden”, sagte Luz mit einer fernen Stimme, wie aus einer anderen Welt. “Hier hast du was zu lesen”, sagte der Politische, aber er dachte: `Verrückter Kerl'. Als ob er es zu beweisen hätte, daß er lesen könne, fing Luz an, laut zu lesen. Zunächst den Titel des kleinen Buches: “Kämpfende Wissenschaft”, dann öffnete er das Buch ganz willkürlich und las “Die Griechlein” mit unsicherer Stimme wie ein Schüler vorm Lehrer und weiter: “Der Intellektuelle ist das Gegenteil des geistig Schaffenden. Der Schaffende produziert Werte. Der Intellektuelle definiert die von anderen produzierten Werte. Der Intellektuelle ist der Kluge, der Gebildete, aber auch der Charakterlose, der Persönlichkeitslose. Der größte Feind des Schöpfers ist nicht der Primitive. Denn sein Instinkt 334
kann mitunter die Größe leichter erfassen, als alle Klugheit des Klugen. Der größte Feind der Schöpfung ist immer der Kluge. Aha”, kommentierte Luz gleich das Gelesene, “die wollen Dumme, wie alle Religionsschöpfer. Schon Jesus sagte bei seiner Bergpredigt: `Selig sind die Dummen.' Und der alte Jahwe verjagte Adam und Eva, weil sie Wissen wollten. Ist doch erstaunlich, wie wenig sich eigentlich geändert hat.” Dann las er weiter: “In der antiken Welt nannte man diese Art von Menschen Graeculi, die Griechlein. Das waren jene Nachfahren der alten stolzen Hellenen, die sich mit dem Sturz ihres Volkes abgefunden hatten und nun als Schulmeister und Literaten im Dienst der siegreichen Macht Roms standen. Sie waren die geschmeidigen Höflinge jedes Erfolges. Und da die Römer harte Krieger waren, fremd den literarischen Künsten und Wissenschaften, so beugten sie sich im Geistigen langsam diesen Besiegten. Das besiegte Griechenland überwand den wilden Sieger. Die nationalsozialistische Bewegung hat in den rauhen Jahren ihres Kampfes die uneingeschränkte Verachtung der in Deutschland behausten Griechlein genossen. Sie war den Griechlein zu ungeistig. Aber das wurde sofort anders, als der Nationalsozialismus siegte; es war, als ob dem Siege eine vergeistigende Macht innewohne. Von allen Seiten kamen nun die Griechlein, klug und gebildet und charakterlos, grüßten bieder `mit deutschem Gruß' und erboten sich, den nationalsozialistischen Sieg `geistig zu unterbauen'. Und es geschah mitunter, daß die Griechlein über den Festungsgraben, der sie vom Nationalsozialismus trennte, eine Brücke warfen. Es war die Eselsbrücke der patriotischen Tendenz. Auf diese Brücke lockten sie die redlichsten der Spartakus-Leute, fesselten sie und drangen in die Festung ein. Die teutonischen Bärenfellträger, denen also das Fell über die Ohren gezogen wurde, sahen in ihrer Einfalt nur das eine: Daß jene Griechlein geistreich das bewiesen, was sie, die Teutonen, gerade bewiesen haben wollten, aber mangels intellektueller Mittel nicht selbst beweisen konnten. Sie sahen nicht, daß dieselben Griechlein, die nun mit Geist und Witz den nationalsozialistischen Sieg analysierten und nachträglich geistig ratifizierten, genau so geistreich und witzig den Sieg der Gegner des Nationalsozialismus analysiert hätten und genau so geistreich und witzig einen neuen Sieger analysieren würden, der morgen über den Nationalsozialismus triumphieren könnte. Die echte 335
`geistige Unterbauung' des Nationalsozialismus kann nur von denen kommen, die um diese Unterbauung schon in den langen Jahren des Kampfes und der Verfolgung gerungen und sich gemüht haben. Jene Unterbauung aber, die uns die Griechlein anpreisen, würde nichts sein als eine Unterminierung. Sie würde dem Rohrstab Egypti gleichen, der dem, der sich darauf stützen wollte, durch die Hand fuhr. Darum tut es not, in dieser Stunde dem Ansturm der Griechlein ein Halt zu gebieten. Über der Truppe, die diesem Ansturm entgegengestellt werden soll, müssen wir das unversöhnliche Wort des Alten Testaments aufrichten: `Vergiß nicht, was dir Amalek getan!' Vergeßt nicht, daß Rom ertrank unter den Wogen der Griechlein. Und wenn sich deshalb heute die Griechlein in dichten Schwärmen den Laufgräben eurer Festung nähern, wenn sie euch zuwinken: `Kameraden! Freunde! Nicht schießen!', dann antwortet ihnen rechtzeitig mit dem Kommando: `Achtung - Feuer!'”1 Da keiner den Luz für sein gutes Vorlesen lobte und auch niemand sonst was sagte, fühlte Luz sich verpflichtet, das Gelesene selbst zu kommentieren: “Opportunisten sind das Zweitschlechteste, was bei der Evolution überlebt, nur der Mörder ist schlechter und erfolgreicher.”
Als nächstes las Adjuna in seinem Buch. Im ersten Kapitel des Buches stellt sich der Einhodige selbst vor: Geburt in Braunau am Inn, symbolträchtig, da an der Grenze zweier deutscher Staaten. Das gesperrt Gedruckte der ersten Seite las Adjuna laut: “Gleiches Blut gehört in ein gemeinsames Reich.” “Ja, wie gleiche Suppe in den gleichen Suppentopf gehört.” “Ja, aber jetzt fließt
Artikel von Prof. Dr. Walter Frank in `Kämpfende Wissenschaft', Hanseatische Verlagsanstalt, Hamburg, S. 30-32, nachgedruckt in Léon Poliakov/Joseph Wolf `Das Dritte Reich und seine Denker', S.51f. 1
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deutsches Blut keineswegs in einen Topf, sondern wird auf der ganzen Welt verkleckert.” “Nicht verkleckert, sondern verklackst.” Adjuna wandte sich wieder seiner Lektüre zu. Er lernte den Aufstieg des Einhodigen vom Muttersöhnchen1 mit Schwärmerei für Krieg und Soldatentum2 zum trotzigen Jungen, der wenn er nicht Kunstmaler werden darf, überhaupt nicht lernen will,3 und der schließlich weder seinen Künstlertraum noch seinen Traum von einer Baumeistertätigkeit verwirklichen kann, da er als trotziger Realschüler sich geweigert hatte, das Nötigste zu lernen. 4 Adjuna lernte die Begeisterung des jungen Mannes kennen, der stundenlang vor der Wiener Oper und dem Parlament stehen konnte; die alten Gebäude wirkten auf ihn wie ein Zauber aus Tausendundeiner Nacht.5 Weitere Stationen im Leben des Autors: Hilfsarbeiter beim Bau6, kleiner Maler7, dann wieder Gelegenheitsarbeiter, 8 dann Zeichner, Aquarellist9, am Hungern, aber ein fleißiger Leser und Entlarver, z. B. Auch ich war in jungen Jahren Hilfsarbeiter, allerdings nicht wie Hitler beim Bau, sondern beim Abbruch. Bei Abbrucharbeiten in einer Hamburger Villa fand ich in der Abseite versteckt eine Ausgabe von Adolf Hitlers `Mein Kampf', Verlag Franz Eher Nachfolger, G.m.b.H. München 1934. Alle Seitenangaben beziehen sich auf diese Ausgabe. 1
Auf Seite 20 nennt Hitler sich selbst Muttersöhnchen. 2
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Entlarver der Juden als Führer der Sozialdemokratie1 und Förderer von Prostitution und Mädchenhandel2, schließlich Kriegsfreiwilliger3 mit Feuertaufe4, der Kampf um Schlammlöcher, die Sommeschlacht, mehr Hölle als Krieg5, verwundet, meldet sich nach Heilung wieder zur Front6, angegast, vergiftet durch Gelbkreuz7, wieder Lazarett, Revolution8, Dolchstoß. Adjuna las: `Es war also alles umsonst gewesen. Umsonst all die Opfer und Entbehrungen, umsonst der Hunger und Durst von manchmal endlosen Monaten, vergeblich die Stunden, in denen wir, von Todesangst umkrallt, dennoch unsere Pflicht taten, und vergeblich der Tod von zwei Millionen, die dabei starben. Mußten sich nicht die Gräber all der Hunderttausende öffnen, die im Glauben an das Vaterland einst hinausgezogen waren, um niemals wiederzukehren? Mußten sie sich nicht öffnen und die stummen, schlamm- und blutbedeckten Helden als Rachegeister in die Heimat senden, die sie um das höchste Opfer, das auf dieser Welt der Mann seinem Volke zu bringen vermag, so hohnvoll betrogen hatte? Waren sie dafür gestorben, die Soldaten des Augusts und Septembers 1914, zogen dafür die Freiwilligen-Regimenter im Herbst desselben Jahres den alten Kameraden nach? Sanken dafür diese Knaben von siebzehn Jahren in
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die flanderische Erde? War dies der Sinn des Opfers, das die deutsche Mutter dem Vaterlande darbrachte, als sie mit wehem Herzen die liebsten Jungen damals ziehen ließ, um sie niemals wiederzusehen? Geschah dies alles dafür, daß nun ein Haufen elender Verbrecher die Hand an das Vaterland zu legen vermochte? Hatte also dafür der deutsche Soldat im Sonnenbrand und Schneesturm hungernd, dürstend und frierend, müde von schlaflosen Nächten und endlosen Märschen ausgeharrt? Hatte er dafür in der Hölle des Trommelfeuers und im Fieber des Gaskampfes gelegen, ohne zu weichen, immer eingedenk der einzigen Pflicht, das Vaterland vor dem Einfall des Feindes zu bewahren?'1 Adjuna verstand: Der Mann wollte mehr sinnlose Opfer und er bekam sie gerade. Die Insassen des KZs gehörten genauso dazu wie die Soldaten auf beiden Seiten der Front. Er erkennt den Unsinn und fordert mehr Unsinn. Ein interessanter Unsinn! Menschen sind eifrig, wenn es ums Morden und Sterben geht am eifrigsten! Das Buch schrie ihm entgegen: `Elende und verkommene Verbrecher!'2 und Haß und noch mal Haß.20 Haß auf Juden und Marxisten. `Kaiser Wilhelm II. hatte als erster deutscher Kaiser den Führern des Marxismus die Hand zur Versöhnung gereicht, ohne zu ahnen, daß Schurken keine Ehre besitzen. Während sie die kaiserliche Hand noch in der ihren hielten, suchte die andere schon nach dem Dolche. Mit
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dem Juden gibt es kein Paktieren, sondern nur das harte Entweder Oder. Ich aber beschloß, Politiker zu werden.'1 Beim Weiterlesen des Buches traf Adjuna im 11. Kapitel auf die Rassenlehre, eine Lehre, ohne die die Menschheit Jahrtausende ausgekommen war, da sie ihre Kriege bisher mit dem Machthunger der Monarchen begründen konnte oder den unsinnigen Lehren ihrer Priester. Aber ob Krieg oder Frieden, einst ist sicher, die Völker hatten sich fröhlich gemischt, sie hatten ja noch keine Rassenlehre. Menschen sind ewige Wanderer, nicht nur bei der Völkerwanderung in römischer Zeit, sondern immer, denn alles ist in Bewegung. Die Rassenlehre, lehrt der Einhodige, ist eine Wahrheit, die auf der Straße liegt21, eine von solchen Binsenweisheiten, an denen man manchmal blind vorbeigeht:21 `Jedes Tier paart sich nur mit einem Genossen der gleichen Art. Meise geht zu Meise, Fink zu Fink, der Storch zur Störchin, Feldmaus zu Feldmaus, Hausmaus zu Hausmaus, der Wolf zur Wölfin usw.'2 Adjuna, der auf seinen Wanderungen oft ein sehr enges Verhältnis zu den Tieren entwickelt hatte, erinnerte sich, eine Feldmaus gesehen zu haben, die es mit einer Hausmaus trieb, der Einhodige irrte hier also offensichtlich, was Feld- und Hausmäuse betraf. Weiter Rassenlehre: `Jede Kreuzung zweier nicht ganz gleich hoher Wesen gibt als Produkt ein Mittelding zwischen der Höhe der beiden Eltern. Das heißt also: das Junge wird wohl höher stehen als die rassisch niedrigere Hälfte des Elternpaares, allein nicht so hoch wie die höhere. Folglich wird es im Kampf gegen diese höhere später unterliegen. Solche Paarung widerspricht aber dem Willen der Natur zur Höherzüchtung des Lebens überhaupt. Die Voraussetzung hierzu liegt nicht im Verbinden von Höher- und Minderwertigem, sondern im
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restlosen Siege des ersteren. Der Stärkere hat zu herrschen und sich nicht mit dem Schwächeren zu verschmelzen, um so die eigene Größe zu opfern. Nur der geborene Schwächling kann dies als grausam empfinden, dafür aber ist er auch nur ein schwacher und beschränkter Mensch; denn würde dieses Gesetz nicht herrschen, wäre ja jede vorstellbare Höherentwicklung aller organischen Lebewesen undenkbar. Die Folge dieses in der Natur allgemein gültigen Triebes zur Rassenreinheit ist nicht nur die scharfe Abgrenzung der einzelnen Rassen nach außen, sondern auch ihre gleichmäßige Wesensart in sich selber. Der Fuchs ist immer ein Fuchs, die Gans eine Gans, der Tiger ein Tiger usw., und der Unterschied kann höchstens im verschiedenen Maße der Kraft, der Stärke, der Klugheit, der Gewandtheit, Ausdauer usw. der einzelnen Exemplare liegen. Es wird aber nie ein Fuchs zu finden sein, der seiner inneren Gesinnung nach etwa humane Anwandlungen Gänsen gegenüber haben könnte, wie es ebenso auch keine Katze gibt mit freundlicher Zuneigung zu Mäusen.'1 Das war es also: Keine Freundlichkeit mehr gegenüber anderen, Völkerkampf, Sieg des Höherwertigen, restlose Vernichtung des Minderwertigen und wenn möglich die ganze Evolution noch zu Lebzeiten des Einhodigen abgeschlossen, deshalb also müssen die Leute hier schnell vernichtet werden, und weil Katzen kein Mitleid mit Mäusen haben. Sieg des Höherwertigen? Aber sagten die Politischen nicht, die Russen sind am Siegen? Vertieft in sein Buch murmelte Adjuna plötzlich: “Der Mensch überwindet die Natur!” “Steht das da?” fragten seine Freunde. “Ja, und es ist richtig. Wir müssen die Natur überwinden und all die Tötungsinstinkte, die sie uns mit auf den Weg gegeben hat, auch die Gefühle sollten wir lernen zu bezähmen, weder übermäßig lieben noch hassen, nur eins darf man in Übermaßen tun: Wissen sammeln und denken. Vielleicht wird einmal eine zukünftige Menschheit nur aus 1
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Denkern und Wissenschaftlern bestehen, die voller Verachtung auf die Zeit zurückblicken, wo die Geschichte der Menschheit die Geschichte ihrer Morde war.” Seine Freunde ungläubig: “Steht das da? - Der Einhodiger war doch immer ein Naturfreund, besonders ein Freund der natürlichen Auslese.” “Hier steht”, und Adjuna liest: “Das Ergebnis jeder Rassenkreuzung ist also, ganz kurz gesagt, immer folgendes: a) Niedersenkung des Niveaus der höheren Rasse, b) körperlicher und geistiger Rückgang und damit der Beginn eines, wenn auch langsam, so doch sicher fortschreitenden Siechtums. Eine solche Entwicklung herbeiführen, heißt aber denn doch nichts anderes als Sünde treiben wider den Willen des ewigen Schöpfers. Als Sünde wird diese Tat auch gelohnt. Indem der Mensch versucht, sich gegen die eiserne Logik der Natur aufzubäumen, gerät er in Kampf mit den Grundsätzen, denen auch er selber sein Dasein als Mensch allein verdankt. So muß sein Handeln gegen die Natur zu seinem eigenen Untergang führen. Hier freilich kommt der echt judenhaft freche, aber ebenso dumme Einwand des modernen Pazifisten: Der Mensch überwindet eben die Natur!”1 Adjuna überflogt die Zeilen, dann wieder laut: “Alles, was wir heute auf dieser Erde bewundern - Wissenschaft und Kunst, Technik und Erfindung - ist nur das schöpferische Produkt weniger Völker und vielleicht ursprünglich einer Rasse. Von ihnen hängt auch der Bestand dieser ganzen Kultur ab. Gehen sie zugrunde, so sinkt mit ihnen die Schönheit dieser Erbe ins Grab.”2 Und weiter: “Wer leben will, der kämpfe also…” “Kämpfen heißt nicht morden.” “Es geht noch weiter. ...und wer nicht streiten will in dieser Welt des ewigen Ringens, verdient das Leben nicht.”3 “Das ist es also. Ich sag ja immer, man sollte sich wehren.” “Ja, aber versuch es doch mal. Ohne Waffen. Du wirst sofort niedergeschlagen und hingerichtet.
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Außerdem wurden die meisten mit falschen Versprechungen hierher gelockt und dann zum Skelett gehungert.” “Lies uns doch noch mehr Weisheiten des Einhodigen vor.” “Würde man die Menschheit in drei Arten einteilen: in Kulturbegründer, Kulturträger und Kulturzerstörer, dann käme als Vertreter der ersten wohl nur der Arier in Frage. Von ihm stammen die Fundamente und Mauern aller menschlichen Schöpfungen, und nur die äußere Form und Farbe sind bedingt durch die jeweiligen Charakterzüge der einzelnen Völker. Er liefert die gewaltigen Bausteine und Pläne zu allem menschlichen Fortschritt, und nur die Ausführung entspricht der Wesensart der jeweiligen Rassen. In wenigen Jahrzehnten wird zum Beispiel der ganze Osten Asiens eine Kultur sein eigen nennen, deren letzte Grundlage ebenso hellenischer Geist und germanische Technik sein wird wie dies bei uns der Fall ist. Nur die äußere Form wird - zum Teil wenigstens - die Züge asiatischer Wesensart tragen. Es ist nicht so, wie manche meinen, daß Japan zu seiner Kultur europäische Technik nimmt, sondern die europäische Wissenschaft und Technik wird mit japanischer Wesensart verbrämt. Die Grundlage des tatsächlichen Lebens ist nicht mehr die besondere japanische Kultur, obwohl sie - weil äußerlich infolge des inneren Unterschiedes für den Europäer mehr in die Augen springend - die Farbe des Lebens bestimmt, sondern die gewaltige wissenschaftlich-technische Arbeit Europas und Amerikas, also arische Völker. Auf diesen Leistungen allein kann auch der Osten dem allgemeinen menschlichen Fortschritt folgen. Dies ergibt die Grundlage des Kampfes um das tägliche Brot, schafft Waffen und Werkzeuge dafür, und nur die äußere Aufmachung wird allmählich dem japanischen Wesen angepaßt. Würde ab heute jede weitere arische Einwirkung auf Japan unterbleiben, angenommen Europa und Amerika zugrunde gehen, so könnte eine kurze Zeit noch der heutige Aufstieg Japans in Wissenschaft und Technik anhalten; allein schon in wenigen Jahren würde der Brunnen versiegen, die japanische Eigenart gewinnen, aber die heutige Kultur erstarren und wieder in den Schlaf zurücksinken, aus dem sie vor sieben Jahrzehnten durch die arische Kulturwelle aufgescheucht wurde. Daher ist, genau so wie die heutige japanische Entwicklung arischem Ursprung das Leben verdankt, auch einst in grauer Vergangenheit fremder Einfluß 343
und fremder Geist der Erwecker der damaligen japanischen Kultur gewesen. Den besten Beweis hierfür liefert die Tatsache der späteren Verknöcherung und vollkommene Erstarrung derselben. Sie kann bei einem Volke nur eintreten, wenn der ursprünglich schöpferische Rassekern verlorenging oder die äußere Einwirkung später fehlte, die Anstoß und das Material zur ersten Entwicklung auf kulturellem Gebiete gab. Steht aber fest, daß ein Volk seine Kultur in den wesentlichsten Grundstoffen von fremden Rassen erhält, aufnimmt und verarbeitet, um dann nach dem Ausbleiben weiteren äußeren Einflusses immer wieder zu erstarren, kann man solch eine Rasse wohl als eine `kulturtragende', aber niemals als eine `kulturschöpferische' bezeichnen.”1 “Vorsicht, ein Rabe kommt.” Rabe: “Ah, ihr lest das Buch unseres Führers. Eigentlich ist das ja Perlen vor die Säue werfen. Naja, heute habe ich gute Laune. Deutsche Truppen haben Charkow wieder zurückerobert.2 Ja, da guckt ihr dumm. Die deutschen Armeen siegen wieder. Eine Stadt nach der anderen wird jetzt zurückerobert und ausradiert, total z e r s t ö r t. Haahahahahaaa! Ja, lest nur weiter. Ihr werdet schon sehen, daß unser Führer recht hat.” “Ja, wo waren wir denn? Äh, mmh, ... Kulturzerstörer ... kulturbegründende ... kulturtragende ... Ah, hier: Immer ergibt sich etwa folgendes Bild ihrer Entwicklung: Arische Stämme unterwerfen häufig in wahrhaft lächerlich geringer Volkszahl - fremde Völker und entwickeln nun, angeregt durch die besonderen Lebensverhältnisse des neuen Gebietes (Fruchtbarkeit, klimatische Zustände usw.) sowie begünstigt durch die Menge der zur Verfügung stehenden Hilfskräfte an Menschen niederer Art, ihre in ihnen schlummernden geistigen und organisatorischen Fähigkeiten. Sie erschaffen in oft wenigen Jahrtausenden, ja Jahrhunderten, Kulturen, die ursprünglich vollständig die inneren Züge ihres Wesens tragen, angepaßt den oben schon
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angedeuteten besonderen Eigenschaften des Bodens sowie der unterworfenen Menschen.”1 Der Rabe atmete kräftig durch. Glücklich, mit leuchtenden, leicht angefeuchteten Augen wie ein Gläubiger nach der Messe, verabschiedete er sich: “Tut mir leid, ich hab noch zu tun.” Alle waren sprachlos. Allen wurde für einen Augenblick bewußt, in was für einer absurden Situation sie sich befanden, was für absurde Opfer sie waren. Luz hatte schon lange wieder was sagen wollen: “Ein Glück, daß die Atomphysik für eine jüdische Unart halten! Nicht auszudenken, wenn die die Atombombe gehabt hätten!” Die anderen verstanden nicht. “Ach ja, Zukunftsmusik.” Lustlos blätterte Adjuna weiter. Jemand hatte was unterstrichen: `Da nun der Jude ... niemals im Besitze einer eigenen Kultur war,..'2 Ein Abschnitt war am Rand rot markiert und hatte auch ein Ausrufungszeichen: `Wären die Juden auf dieser Welt allein, so würden sie ebensosehr in Schmutz und Unrat ersticken wie in haßerfülltem Kampfe sich gegenseitig zu übervorteilen und auszurotten versuchen, soferne nicht der sich in ihrer Feigheit ausdrückende restlose Mangel jedes Aufopferungssinnes auch hier den Kampf zum Theater werden ließe.'3 Adjuna war müde geworden, das Elend um ihn herum überwältigte ihn, jetzt wo ihm die religiösen Grundlagen dafür dämmerten, um so mehr. Er las nur noch das Markierte: `Was es auf dem Gebiete der Kunst leistet, ist entweder Verbalhornisierung oder geistiger Diebstahl. Damit fehlen dem Juden jene Eigenschaften, die schöpferisch und damit kulturell begnadete Rassen auszeichnet.'4 `Parasit'1 `Esperanto'2 `Der
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schwarzhaarige Judenjunge lauert stundenlang, satanische Freude in seinem Gesicht, auf das ahnungslose Mädchen, das er mit seinem Blute schändet und damit seinem, des Mädchens Volke raubt.'3 Gibt es da nicht bessere Gründe, um auf ein Mädchen zu warten, dachte er sehnsuchtsvoll. Er wollte sich rumdrehen und schlafen. Mit halbgeschlossenen Augen wendete er aber das Blatt noch. Da stand's blutrot angestrichen: `Aus dem demokratischen Volksjuden wird der Blutjude und Völkertyrann.'4 Die Gedanken an ein Mädchen verflüchtigten sich wieder und jetzt mußte Adjuna an den jüdischen Junge in der Butze über sich denken, dessen Körper so ausgezehrt war, daß seine Wunden nicht mehr heilten, und der daher immer blutete.
Als Adjuna am nächsten Tag den Politischen das Buch zurückgab, fragten sie ihn: “Na, was sagst du dazu?” “Ich frage mich, ob nicht alles anders wäre, wenn dieser Hinterwäldler und Voralpenländer zwei Eier hätte. Der Mangel an Hoden wurde durch ein Über an Haß kompensiert, aber dieser Mensch hat zweifellos extreme Erfahrungen hinter sich, daß er zu so einer extremen Meinung kommt. Daß ein einzelner Mensch durch ein oder mehrere außergewöhnliche, persönliche Schicksalsschläge und durch subjektive Erkenntnisse sowie angeborene Veranlagungen zu Rassismus und auf Mordideen kommt, ist akzeptierbar und bei der großen Zahl der Menschen verständlich, die große Zahl birgt ja noch größere Überraschungen, bringt sogar zweiköpfige Wesen hervor, zwölf Finger, drei Beine, einer von tausend hat eine Hasenscharte, drei von tausend einen Wasserkopf, einer von zwanzigtausend ist ein Albino und unter einer Million Menschen ist vielleicht einer ein Gigant, ein anderer ein Zwerg und ein dritter ein Genie, den idealen Menschen werden wir allerdings 1
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vergeblich auf dieser Welt suchen. Was uns schockieren sollte, ist nicht Hitler, sondern sind die Massen. Durch ihr Zujubeln und Heil-Rufen haben die Massen die Gefährlichkeit ihrer Dummheit bewiesen und eine gefährliche Unselbständigkeit. `Führer befiehl, wir folgen!' Sind das Menschen oder Herdenviecher, Lämmer, die einen Leithammel brauchen? Wollen wir hoffen, daß zukünftige Führer sie gleich zur Klippe führen, ohne langwierige Umwege über KZs, Kriege und andere Quälereien.” Der eine Politische meinte: “Die meisten Leute sind feige und dumm. Daß die meisten Juden die schlimmsten Schikanen bis hin zum langsamen Tod widerspruchslos ertragen, ist ein gutes Beispiel dafür. Aber nicht nur die Juden sind so, alle sind so. Daß die Deutschen bis weit nach Rußland rennen, um sich umbringen zu lassen, ist nicht Mut, sondern Feigheit. Nämlich die Feigheit `Nein!' zu sagen.” “Und all das Hurra-Schreien und Heil Hitler?” “Das ist nur, um sich selbst was vorzumachen. So braucht man sich die eigene Feigheit nicht einzugestehen. Ein alter Trick: Man tut so, als ob man das Erzwungene will.” “Da steckt mehr hinter. Habt ihr den Einhodigen gesehen oder den Klumpfüßigen?” Alles sah zu Luz, der auch aufhorchte, aber der Politische meinte Goebbels: “Oder Göring, der nicht mal seine Frau besamen kann, sondern zur Besamung einen Arzt bemühen muß? So sehen doch keine deutschen Recken aus. Das sind teuflische Dämone, Anti-Christen. Die haben das Volk hypnotisiert.” Es stellte sich heraus, daß der eine Politische aus dem christlichen Lager kam. Der andere widersprach denn auch: “Religion hat nichts damit zu tun.” Jetzt widersprach aber ein älterer Jude, der bisher noch nichts gesagt hatte: “Das Christentum hat schuld. Im Johannesevangelium steht, daß wir vom Teufel abstammen1. Und aufgrund von Greuelmärchen wie Brunnenvergiften und Ritualmorde hat man uns über ein Jahrtausend verfolgt. Und Martin Luthers Buch gegen die Juden ist schlimmer als Hitlers Buch. Bei Martin Luther
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kotzen und scheißen Juden und Teufel sich zur gegenseitigen Erbauung ins Maul. Das kam damals gut an und führte genauso zu Pogrome wie die Hetze in der heutigen Zeit. Daß im Zuge der Aufklärung bürgerliche Rechte auch für uns galten, neidete man uns, deshalb stürzte man sich auf die absurde Rassenlehre des Einhodigen. Daß wir nicht zur menschlichen Gesellschaft gehören, ist eine Erinnerung ans Christentum.” Luz raffte sich auf, um etwas zu sagen. Unter großen Anstrengungen quälte er seine Rede hervor: “Die Dummheit und Feigheit der Menschen ist unbedeutend verglichen mit ihrer Blutrünstigkeit. Mordgier zieht die Leute zum Einhodigen, wie Scheiße Fliegen anzieht, und es ist die Freude am Blut, die sie `Hurra!' schreien läßt, wenn der Klumpfüßige den totalen Krieg fordert. Ein kleiner, lächerlicher Grund und schon werden die Massen zu Mördern. Das ist nicht erst jetzt so. Hitler hatte viele Vorgänger. Saul schon kämpfte gegen alle seine Feinde, das heißt gegen die Stämme, die er sich zum Feind gemacht hatte, gegen Moabiter, Ammoniter, Edomiter, gegen die Könige Zobas, die Philister und Amalekiter, und rottete sie wenn möglich einschließlich Frau und Kinder aus. Es bedurfte nur eines Wörtchens von Jahwe. Aber glaubt nicht, daß Saul oder Samuel oder David, der die Ammoniter in Ziegelöfen1 verbrennen ließ, weil ihm die modernen Anlagen Hitlers fehlten, glaubt nicht, daß die mehr von Gott wußten als Hitler, der lehrt, die Sünde wider Blut und Rasse ist die Erbsünde2, oder Hermann Göring, der weiß, daß Gott die Rassen geschaffen hat und nichts Gleiches wollte3.”
1
vgl. Karlheinz Deschner `Kriminalgeschichte des Christentums', Band 1, S. 85ff. In LutherBibeln, die nach 1971 gedruckt wurden, wurde - wahrscheinlich wegen der Nazi-Morde - aus dem Verbrennen-in-Ziegelöfen ein Arbeiten-an-Ziegelöfen. Es ist schon erstaunlich, wie Christen mit dem Wort Gottes umgehen!
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Adolf Hitler `Mein Kampf' S. 272
3
Hermann Göring in seinem Artikel `Die Freiheit kommt aus dem Blut' zur Begründung der Nürnberger Gesetze in: Gerd Rühle `Das Dritte Reich', Hummelverlag Berlin 1935, S. 257, nachgedruckt in Léon Poliakov/Joseph Wolf `Das Dritte Reich und seine Denker' S. 7.
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Alle sahen Luz betroffen an. War das nicht Blasphemie, hier, wo ein Volk unter entsetzlichen Leiden ausgerottet wurde, zu sagen, daß alle Menschen, auch die Opfer, schlecht sind? Man hätte sicher etwas erwidert, Ausflüche gemacht, denn selbst wenn man anderen Feigheit vorwirft, heißt es noch nicht, daß man selbst den Mut zur Wahrheit hat, aber so weit sollte es gar nicht kommen, denn die Raben fingen wieder an, “Antreten, marsch, marsch!” zu schreien. Die Gaskammern waren also mal wieder nicht ausgelastet, wahrscheinlich war wieder ein Zug irgendwo steckengeblieben. Das passierte jetzt öfters wegen der Bombenangriffe. Diesmal - und das war vorauszusehen - erwischte es Luz. Als er da stand in der anderen Gruppe, geriet Adjuna fast in Panik. War Luz auch völlig verfallen und sah er auch extrem elend aus, er war es doch gewesen, der Adjuna an diesen scheußlichen Ort gebracht hatte, und Adjuna hatte sich deshalb immer an ihn geklammert. Der Ausgang aus Auschwitz konnte nur er sein. Adjuna rief: “Ich will mit. Ich will auch sterben.” Tatsächlich wollte er lieber mit Luz sterben, als weiter so leben, was immer auch nach dem Tod kam. Die Raben schlugen auf ihn ein, als er rüberstürmen wollte. “Nein, du kommst noch nicht zur Kur. Du mußt erst noch ein bißchen arbeiten.” Auch die Politischen hielten ihn zurück, kannten sie doch nur das Überleben, den Überlebenswillen, und fanden es verrückt, sterben zu wollen. Einige Verzweifelte waren gegen den elektrischen Zaun gestürmt und verschmorten in der Hochspannung. Das war's. Gegen die Übermacht gelang es Adjuna, zu Luz zu kommen, ihn zu packen und zum Zaun zu schleifen, wo sie beide starben, sehr zum Kopfschütteln ihrer Mitgefangenen, die eine abartige Liebesbeziehung vermuteten. 349
Am Strom zu verschmoren, ist äußerst schmerzhaft wie das Verbrennen auf dem Scheiterhaufen. Doch während das Feuer sich von den äußeren Hautschichten nach innen frißt und man seinen Schmerz laut ausschreit, ergreift der Strom gleich den ganzen Körper und läßt ihn innerlich verkrampfen, kein erleichternder Schrei kommt mehr heraus. Doch es gibt Barmherzigkeit auf dieser Welt, wenn auch nur wenig. Wer immer sich alles ausgedacht hat, beim Erbarmen war er zu sparsam, die erlösende Ohnmacht, der erlösende Tod, sie kommen meist erst spät. Der Schmerz war so betäubend, daß Luz und Adjuna noch lange nach ihrem Tode besinnungslos am Draht hingen. Wie feine Gewebe an der Wäscheleine, Seidenstrümpfe vielleicht, flatterten sie, das heißt, was sie jetzt waren, Astralleiber oder -geister, Seelen ohne Sinne, am Hochspannungszaun, irgendwie verbunden mit dem toten Körper und seiner Todesursache, unsichtbar für Menschenaugen und unerreichbar selbst für die vernichtende Wirkung der Elektrizität, während die Fleischkörper, diese fremden Seelenhüllen, die ihnen dieses Abenteuer ermöglicht hatten, schwarz und unansehlich an den Maschen klebten, mehr Mist als Mensch. Ein furchtbarer Lärm weckte sie, ein Lärm, den sie als Lebende im Lager nicht gehört hatten. Der Äther hier war so angefüllt mit verzweifelten Geistern wie die Massengräber mit Leichen. Ein schauriges Geheul, besonders über den Gräbern und den Gaskammern. Luz und Adjuna rissen sich los von ihren alten Körpern und schwebten herum und sahen, was nur wenige sehen durften, wollten und konnten.
Abschied Die ganze Gegend stank pestilenzartig und Fliegen waren überall. Ein zweigleisiger Bahnhof. Eine große Baracke. Die Garderobe, mit großem Wertsachenschalter. Friseurraum, etwa 100 Stühle. Allee, stacheldrahtumzäunt. Inschrift: Zu den Inhalier- und Baderäumen! 350
Eine Art Badehaus mit Geranien. Ein Treppchen, links und rechts je drei Räume 5 mal 5 Meter, 1,90 Meter hoch. Holztüren wie Garagen. Auf dem Dach ein Davidstern. Heckenholt-Stiftung! Der erste Zug fährt aus Richtung Lemberg ein. 45 Waggons, mit etwa 6700 Menschen, davon 1450 schon tot. Hinter vergitterten Luken: Männer, Frauen, Kinder, Todesangst in den Augen. Zweihundert Ukrainer peitschen die Leute. Lautsprecher geben Anweisungen: “Ganz ausziehen, auch Prothesen, Brillen usw., Wertsachen am Schalter abgeben ohne Bons oder Quittung, Schuhe zusammenbinden.” Bei einem Haufen von reichlich 25 Meter Höhe sind zusammengehörige Schuhe sonst nicht wieder zu finden. Schuhe und Textilien gehen nachher als deutsche Spinnstoffsammlung, Opfer des Volkes für Ostarbeiter, weg. Mit zwei, drei Scherenschlägen schneidet der Friseur den Mädchen und Frauen das Haar ab. Stopft es in Kartoffelsäcke. Für irgendwelche Spezialzwecke bei U-Booten, Dichtungen und dergleichen!” erklärt der SS-Unterführer seinem Besucher. Der Zug der nackten Männer, Frauen, Kinder gerät in Bewegung, die Allee entlang. An den Todeskammern ein SS-Mann mit pastoraler Stimme: “Es passiert euch nicht das Geringste! Ihr müßt nur in den Kammern tief Atem holen, das weitet die Lungen, diese Inhalation ist notwendig wegen der Krankheiten und Seuchen. - Ja, natürlich die Männer müssen arbeiten, Häuser und Chausseen bauen, aber die Frauen brauchen nicht zu arbeiten. Nur wenn sie wollen, können sie im Haushalt oder in der Küche mithelfen.” Ein kleiner Hoffnungsschimmer, der ausreicht, daß sie ohne Widerstand in die Kammern gehen. Die Kammern füllen sich. “Gut vollstopfen!” befiehlt der Hauptmann. 700-800 auf 25 Quadratmetern, in 45 Kubikmetern! Die Türen schließen. Die anderen warten draußen im Freien nackt. Der SS-Mann erklärt seinem Besucher: “Auch im Winter genauso!” “Ja, aber da können sie sich ja den Tod holen!” “Ja, grad for das sinn se ja doh!” antwortet er auf Platt.
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Der Diesel springt nicht an. Dem Hauptmann ist es peinlich wegen des Besuchers. Die Menschen warten in den Gaskammern. Vergeblich! Man hört sie weinen, schluchzen, beten, laut schreien nach ihrem Gott. Der fremde Besucher schreit nach seinem Gott, aber stimmlos. Egal! Die Götter hören nicht! Sie haben sich abgewendet wie feige Menschen. Der Hauptmann schlägt frustriert einem Ukrainer, eigentlich willige Genossen beim Judenmord, mit der Reitpeitsche ein Dutzend Mal ins Gesicht, weil er sich, als er Unterscharführer Heckenholt beim Diesel helfen soll, so ungeschickt anstellt. Nach zwei Stunden 49 Minuten die Stoppuhr des Besuchers hat es wohl registriert - springt der Diesel an. Bis zu diesem Augenblick leben die Menschen in diesen vier Kammern, viermal 750 Menschen in 4mal 45 Kubikmetern! - Von neuem verstreichen 25 Minuten. Richtig, viele sind jetzt tot. Man sieht es durchs kleine Fensterchen! Nach 28 Minuten leben nur noch wenige. Nach 32 Minuten ist alles tot! Von der anderen Seite öffnen Männer, selbst Juden, denen man die Freiheit versprochen hat und einen gewissen Promillesatz vom Gewinn, die Holztüren. Wie Basaltsäulen stehen die Toten. Familien erkennt man noch. Sie umklammern sich im Tode. Man hat Mühe, sie auseinander zu reißen. Die Leichen, naß von Schweiß und Urin, kotbeschmutzt, Menstruationsblut an den Beinen, werden rausgeschmissen. Tote Kinder fliegen durch die Luft. Man hat keine Zeit. Die Peitschen der Ukrainer sausen auf die Arbeitskommandos. Die Kammern müssen freigemacht werden. Die nächste Charge wartet schon. Zwei Dutzend Zahnärzte öffnen mit Haken den Mund und sehen nach Gold. Gold links, ohne Gold rechts. Andere Zahnärzte brechen mit Zangen und Hämmern die Goldzähne und Kronen aus den Kiefern. Der Hauptmann springt herum. Er ist in seinem Element. Genitalien und After werden nach Gold, Brillanten und Wertsachen durchwühlt. Er brüstet sich vor seinem Besucher: “Heben Sie mal diese Konservenbüchse mit Goldzähnen, das ist nur von gestern und 352
vorgestern! Sie glauben gar nicht, was wir jeden Tag finden an Gold und Brillanten” - er sprach es mit zwei L - “und Dollars. Aber schauen Sie selbst!” Es ging zum Juwelier, der all die Schätze verwaltete. Der Hauptmann zeigte seinem Besucher dann noch einen früheren Chef des Kaufhauses des Westens in Berlin und einen Geiger: “Das ist ein Hauptmann von der alten Kaiserlich-Königlich österreichischen Armee, Ritter des Eisernen Kreuzes I. Klasse, jetzt Lagerältester beim jüdischen Arbeitskommando!” Die Leichen wurden auf Holztragen in Gruben von 100 mal 20 mal 12 Meter geschleppt. Nach einigen Tagen gärten die Leichen hoch und fielen alsdann stark zusammen, so daß eine neue Schicht drauf geworfen werde konnte. Am Ende wurde eine Zehnzentimeter dicke Sandschicht darüber gestreut. Vereinzelt ragten noch Köpfe und Arme raus. Die Getöteten wurden weder registriert noch gezählt. Alle Zahlen sind nur Schätzungen nach Waggoninhalt.1
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Dieser Abschnitt `Abschied' entspricht weitgehend, zum Teil wörtlich, zum Teil mit stilistischen, zur Verknappung der Sprache, aber nicht inhaltlichen Veränderungen dem Augenzeugenbericht von Kurt Gerstein über die Massenvergasung. Lediglich die Einfügung über die Götter stammt ausschließlich von mir und fehlt seiner Aussage.
Kurt Gerstein trat am 2. Mai 1933 in die NSDAP ein, wurde aber am 2. Oktober 1936 wegen Betätigung für die Bekenntniskirche ausgeschlossen. Gleichzeitiger Ausschluß als Beamter aus dem Staatsdienst. Um das Schicksal einer angeheirateten Schwägerin, die dem Euthanasieprogramm der Nazis zum Opfer fiel, zu erforschen, trat er am 10. März 1941 in die SS ein und erhielt dort tiefen Einblick in die Vernichtungslager. Unter dem Eindruck der schrecklichen Ereignisse wandte er sich an den Sekretär der Schwedischen Gesandtschaft mit der Bitte, die Weltöffentlichkeit über die Massenmorde aufzuklären. Die gleiche Bitte versuchte er dem Päpstlichen Nuntius in Berlin vorzutragen. Dort wurde er aber gefragt, ob er Soldat sei. Da er kein Soldat war, wurde jede weitere Unterhaltung mit ihm abgelehnt, und er zum Verlassen der Botschaft seiner Heiligkeit aufgefordert. Informationen zu Kurt Gerstein wurden der Dokumentensammlung `Das Dritte Reich und die Juden' von Léon Poliakov und Joseph Wulf entnommen, die ihrerseits die Zeugenaussage dem `Vierteljahreshefte für Zeitgeschehen', 1. Jahrg., 1953, 2. Heft, April, S. 185-196 entnommen hatten.
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Die Deutschen sind wirklich aus Kruppstahl, daß sie nicht zerbrachen angesichts so viel Leiden.
Jetzt, wo er den fremden Körper, das Skelett im gestreiften Pyjama abgestreift hatte, und ohne jeden Körper war, fühlte er sich wieder sich selbst, denn er war frei und sich selbst, keine Zwänge. Mit Luz streifte er über Massengräber und Massenmorde und durch eine schreiende Geisterwelt, ein schreckliches Gruselkabinett. Beide waren sichtlich betroffen. Adjuna meinte: “Das Schlimmste am Einhodigen und seinen Horden ist: Ich teile das Menschsein mit ihnen.” “Ich verstehe, wie du dich fühlst, auch wenn ich kein Mensch bin. Mir wird schlecht. So genau hab ich damals nicht hingeschaut.” Und plötzlich wurde er fast wie ein Nachkriegsdeutscher und jammerte: “Ich habe das ja alles gar nicht gewußt.” Adjuna: “Wenn an der Rassenlehre was dran ist, dann ist es die deutsche Rasse, die nichts taugt.” Luz: “Glaub mir, es ist nicht nur diese Rasse, die nichts taugt, sondern es ist die ganze Tiergattung Mensch, die Mist ist. Nur wenige sind da eine Ausnahme. Um die meisten ist es nicht schade, wenn der Planet eines Tages entvölkert wird. Auch hier in Auschwitz starben keine Unschuldigen. Unschuldige gibt es nicht. Menschen sind immer böse, immer schuldig. Manche mögen weniger schuldig sein, andere mehr, allen aber ist gemeinsam die Blindheit für ihre Schuld. Der Mensch schadet am meisten von allen Schädlingen, seine Schädlingsbekämpfung wird ihn zum Glück eines Tages selbst vernichten. Denn - und das ist ein Wunder - der Mensch erkennt sehr wohl, daß der Mensch ein Schädling ist, allerdings erkennt er es nur bei seinen Mitmenschen und die wiederum erkennen es bei ihm. Dieses ideale Erkenntnissystem, diese Schädlingserkenntnis, führt 354
unweigerlich zur Schädlingsbekämpfung, denn eine Gefahr erkannt, heißt, eine Gefahr gebannt - und Happy End: Auschwitz ist für immer unmöglich geworden.” “So wird es kommen, was?” “Ja.” “Aber man kann es doch verhindern, oder?” “Man kann es versuchen, aber sollte man? Tut man damit den Menschen einen Gefallen tut?” “Ist das nicht schrecklich?” “Ich weiß nicht. Die Elemente dieser Erde nicht ewig unberührt bleiben, mal küßt sie das Leben und dann wieder der Tod. Im Leben werden sie mal zum Mörder, mal zum Opfer, als tote Materie passiert ihnen das nicht.” “Ich bin ein Mensch. Ich muß anders denken. Ich muß Mitgefühl haben. Ich leide, wenn ein Mensch stirbt.” Und mit einem Blick auf die Leichenberge, klagte er: “So viele starben sinnlos, wie kann ich da sinnlos leben?” “Jedem Menschen erscheint sein Tod sinnlos, beraubt er ihn doch all seiner Fähigkeiten. Aber für einen Außenstehenden erscheint selbst das Leben des wertvollsten Menschen sinnlos. Für Menschen ist alles Selbstzweck. Der Außenstehende, der sieht, wie der Planet eines Tages leblos seine Bahnen zieht, lacht über soviel menschliche Eitelkeit.” “Aber Menschen sterben hier vorzeitig wegen einer fixen Idee. All das Leiden, wie kann ich da noch leben, als wäre nichts geschehen?” “So zu denken, hilft niemandem und ist aus zweierlei Gründen gefährlich - für Menschen, nicht für Außenstehende: Erstens - das Harmlosere - kann man, wenn man so denkt, seinem Leben leicht ein Ende machen. Zweitens: Man findet einen Sinn, vielleicht aber einen Unsinn und merkt es nicht und wird dann selbst zum Mörder an seinen Mitmenschen. Hatten die vielen Morde an Menschen auch keinen Sinn, so hatten doch alle Mörder einen Sinn: Die Juden taten ihrem Jahwe einen Gefallen, als sie die Nachbarvölker überfielen und ausrotteten, die Christen taten dem gleichen Gott einen noch größeren Gefallen mit noch größeren Opfern, und die Nazis schließlich hatten ihre Rassenlehre.” “Ja, wir Menschen sind nicht-entleerte Mülleimer, aller Schrott und Schiet der Vergangenheit ist in uns. Kotzen hilft nicht, da kommt nur die letzte Mahlzeit raus. Der Ekel ist größer, die Eingeweide müssen raus. Seppuku.” 355
“Siehst du, das habe ich befürchtet! Lieber Freund, iß was Leckeres. Komm auf andere Gedanken. Ich will dir gerne helfen. Ich werde ja immer nur für alles Böse beschuldigt. Und manchmal tue ich ja wirklich so, als sei ich böse. Ich spiele sozusagen die mir zugedachte Rolle. Aber eigentlich bin ich gar nicht so. Schon als ich Eva davon überzeugte, die Frucht vom Baume der Erkenntnis des Guten und Bösen zu essen, tat ich das nicht aus Bosheit, sondern weil ich es für wichtig hielt, daß die Menschen wissen, was gut und böse ist. Siehst du, Gott weiß es bis heute nicht, denn er hat bis heute nicht von dem Baum gegessen, er will nur Gehorsam, Anbetung und Verehrung als der Gute und Liebe, sonst schlägt er wie ein brutaler Trottel zu. Das war bei Adam und Eva so, die bevor sie nicht vom Baum der Erkenntnis gegessen hatten, gar nicht wissen konnten, ob es überhaupt gut ist, Gott zu gehorchen, und das war später in christlicher Zeit genauso, wo er dann seine Handlanger, sogenannte Lämmer, die in Wirklichkeit Monster mit Mördergrubenseelen waren, zum Zuschlagen benutzte, und jetzt ist es immer noch so: Das Prunkmännchen in Rom war der erste Freund des Einhodigen1 und hat sehr zu seinem Ansehen beigetragen, in der Hoffnung, der Einhodige würde Andersdenkende im Osten, die dem Prunkmännchen ein Dorn im Auge waren, vernichten. Nach dem Untergang des Einhodigen freilich verteufelt man ihn. Aus dem Gott gesandten Erlöser wird der Satan, und alles wird umgelogen. Da sich zwei, drei gute Menschen zum Christentum verirrt hatten, stellt man die jetzt heraus, um sich das Überleben zu sichern. Gut oder böse? Schlecht. Ich, die Personifizierung alles Bösen, ich schwöre, ich spiele dieses abgekartete Religionsspielchen nicht mehr mit. Ich will nicht mehr der Gegenspieler sein, durch dessen Einfluß das Böse in die Welt kommen soll. Du bist ein Mensch und du bist mein Freund. Ich will dir helfen, wie ich Adam und Eva geholfen habe. Laßt uns gemeinsam sehen, wie wir der Menschheit helfen
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Diese Tatsache ist nicht mehr up-to-date: Katholische Propaganda hat aus dem Prunkmännchen mittlerweile erfolgreich den ersten Widerstandskämpfer gegen den Einhodigen gemacht.
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können. Dem Allmächtigen seine eigenen vorbotenen Früchte reinstopfen, wird wohl nicht gehen, eine solche Zwangsernährung können wir bei ihm nicht durchsetzen, außerdem ist der Baum wahrscheinlich schon eingegangen und die Chance für immer vertan.” “Dann laßt uns einen Kampf auf Erden beginnen gegen alles Böse, gegen Religionen und ihren Ablegern, den Ideologien, und was es sonst noch für Gründe gibt zu Kriegen, Morden und Vernichtung, gegen Nationalismus und andere Narrheiten, gegen Gleichmacher und gegen die Ungleichheit vor dem Gesetz, für die Unversehrtheit eines jeden Einzelnen und für seine Freiheit und sein Recht, auf eigene Art glücklich zu werden ohne Einmischung von Pfaffen und Staat.” “Das ist freilich ein Novum: Der Teufel kämpft gegen seinen alten Protektor Religion.” “Die Leute lieben das Neue.” “Ich befürchte, daß gilt mehr für Hosen als für Werte.” “Wenigstens habe ich einen Gefährten. Meinen ersten. Wenn viele folgen, verwirklichen wir das Paradies auf Erden.” “Das war immer mein Anliegen.” “Wenn wir den Menschen Religionen und Ideologien nehmen, nehmen wir ihnen den Grund, sich gegenseitig zu töten.” “Ja, wir müssen ihnen Freiheit anbieten. Freiheiten!” “Freiheit von Unsinn und unnötigen Schranken.” “Und ich werde zum wirklichen Gegenspieler Gottes und das ist nicht der Teufel, sondern der Freidenker!” “Adjuna, ich glaube, wir haben hier genug herumgestreift. Es ist Zeit für die Rückreise. Auf geht's. Etappenweise. Zuerst in die Gegenwart.” “Es war doch alles gegenwärtig.” “Es erschien nur so. In Wirklichkeit war es schon überstanden.” Wuppsch! “Hier ist also die Gegenwart, wie du schon auf dem Hinweg bemerkt hattest, ein verlassener Ort. Zum Glück haben die Deutschen 357
den Krieg verloren und das Morden hat auch schon lange ein Ende. Natürlich nur an diesem Ort. Hier im Vordergrund siehst du eine deutsche Schulklasse. Aus Buße jäten sie hier das Unkraut.” “Fällt denen nichts Besseres ein! Das ist ja doch gerade das Problem, daß etwas ausgegrenzt und vernichtet wird wie das Unkraut in der Pflanzenwelt oder bestimmte Menschengruppen in der menschlichen Gesellschaft. Ihre Lehrer sollten ihnen lieber lehren wie man die Entwicklung zu solchen Katastrophen schon im Ansatz bekämpft.” “Solche idealen Lehrer dürfen im neuen Deutschland nicht unterrichten. - Da im Hintergrund siehst du übrigens Juden und Polen, die sich darum schlagen, wer den Ort für sich als Gedenkstätte in Anspruch nehmen darf.” “Wollen wir uns die Peinlichkeiten ersparen. Wir haben genug Schreckliches gesehen.” “Gut, ich transmittiere uns zurück zum Armin.” “Ich habe keinen Appetit mehr auf deutsche Helden. Wie wäre es mit Sankt Pauli. Da wollte ich schon immer mal hin.” “In Hamburg meinst du? Ich weiß, du brauchst Ablenkung, Entspannung, Vergnügen...” “Ja, falls man so etwas noch finden kann, nachdem man hier war.” “..., aber vielleicht sollten wir doch erst zurück zum Hermann-Denkmal, wo wir das letzte Mal einen festen Körper hatten, und dann die Bahn nehmen. Wer weiß, wie zerfetzt wir sonst wieder ankommen.”
Noch fassungslos von seinem Ausflug nach Auschwitz erwachte Adjuna auf einer Bank vor dem Hermann-Denkmal. Er hatte zwei Nachbarn. Der eine fing ein Gespräch an: “Herrliches Denkmal. Deutsche Art”, sagte er stolz. “Haben Sie von den Morden an den Juden gehört?" fragte Adjuna zurück. “Ja, das war ein Fehler. Das hätte er nicht machen sollen. Juden sind ja auch Menschen.” “Aber zu viele waren sie schon. Denen gehörte ja alles”, sagte der andere. “Ja, aber das hätte er nicht machen sollen. Das waren ja Menschen wie wir auch.” “Und wenn sie anders gewesen wären?” konnte Adjuna gerade noch fragen, da fing aber auch schon jemand an zu schimpfen: “Sie, altes Nazischwein, was fällt Ihnen ein, zu glauben, daß Sie und ich 358
gleich sind. Es gibt einen großen Unterschied zwischen uns. Ihr seid Mörder und wir sind Opfer.” Da sich der fremde Mann zu sehr erregt hatte, keuchte er schwer und hielt sich das Herz und entfernte sich schnell. Adjuna ging besorgt hinterher: “Ist Ihnen nicht gut? Brauchen Sie Hilfe?” Hinter sich hörte er die auf der Bank noch sagen: “Siehste! Bei dem Benehmen, da brauchen die sich doch nicht zu wundern…”
Der Fremde war weg. Die auf der Bank grinsten. Luz stand neben ihm: “Die haben von nichts gewußt, und als sie's wußten, ließ es sie kalt.” “Oh, Luz, da bist du ja”, freute sich Adjuna über das Wiedersehen. “Ja, Adjuna, schön, dich wieder zu sehen. Willst du die Deutschen an ihre Vergangenheit erinnern? Das ist ihr wunder Punkt. Weißt du, sie haben alles schnell wieder aufgebaut. Darauf sind sie sehr stolz, aber das ist nur eine Art Geschehenes ungeschehen zu machen, vergleichbar dem Verbrennen von Frauen, an denen man seine sadistischen Triebe ausgetobt hat. Wie das Verbrennen so verwischt auch der Wiederaufbau die Spuren der Tat.” Ein junger Mann, der alles mitbekommen hatte, empörte sich: “Soll denn der Makel nie von uns genommen werden?!” “Die Tat wird verblassen, aber nicht vergessen und schon gar nicht ungeschehen gemacht werden”, war Luz tröstende Antwort. “Wann? Wann?” schrie der Mann ungeduldig. “Wenn größere Schrecklichkeiten den Geist der Menschen beschäftigen. Wenn ihr Sieger geworden wäret, dann wäre Auschwitz freilich längst vergessen worden. Siegern vergißt man gern etwas, denn Sieger können Vergessen belohnen, aber so...” und Luz schüttelte den Kopf, “Die Täter sind mausetot, auch wenn sie inkarniert neue Posten fanden, sie sind mausetot, mausetoter als je jemand mausetot war. Einen toten Hund zu prügeln, ist nur all zu leicht, selbst die Inkarnierten tun's und die Sieger lohnen's. Und eben weil's 'n toter Hund ist, den zu prügeln nicht gefährlich ist, wird immer wieder drauf gehauen. Den neuen Hunden tut man nichts an. Aber wartet, keine Angst, eine Erleichterung wird kommen, die euer Verbrechen verblassen läßt, wartet nur, wartet...” 359
Vergessen - ach, gäbe es das doch!
Die-Zeit-heilt-alle-Wunden hinterläßt-seine-Narben.
versus
Es-gibt-kein-Vergessen,-alles-
Die Zeit heilt alle Wunden, ist eine nur zu irrige Annahme - und natürlich ein Trost, aber zum Trösten bin ich nicht da und auch nicht, um Ammenmärchen und Altweiberweisheiten von mir zu geben. Sicher ein Kind, das sich wehgetan hat, verlangt nach Trost und nicht unbedingt nach tieferen Einsichten und ein Die-Zeit-heilt-alleWunden-bis-zu-Deiner-Hochzeit-hast-Du-das-Vergessen ist hier wie auch bei einem Kind, dessen Bauklotzturm umgekippt ist, nicht unbedingt fehl am Platze, obwohl auch hier Narben, wenn auch unsichtbare, bleiben, die nie verheilen, die es aber entweder vorsichtiger oder geschickter machen, hartnäckiger werden lassen oder entmutigen, was wie alles, was in der Kindheit wie zu jedem anderen xbeliebigen Zeitpunkt eines Lebens passiert, eine Auswirkung aufs ganze Leben hat, und was eine Auswirkung auf mein Leben hat, hat durch mich eine Auswirkung auf meine Mitmenschen, meine Mitmenschen bestimmen meine Umwelt, meine Umwelt ist die Welt, die Welt Teil des Kosmos. Dürfen wir noch handeln, ja auch nur sprechen - oder schreiben - oder...? All die Schmerzen, Enttäuschungen, die eingesteckte Schläge, die Schikanen, vom Liebesentzug der Mutter angefangen bis zu all den Verlusten, Entbehrungen und Deprivationen des ErwachsenenDaseins, sie alle sind Eiterherde im Innern eines Menschen und heilen nie. Mag auch der Pöbel diese tiefere Betrachtung der Dinge verspotten und mag manch ein dummer Mensch, der auch mit Stock, Beleidigungen und Liebesentzug erzogen wurde, es aber wirklich vergessen hat, einen Klugscheißer wie mich verprügeln wollen, es aber 360
aus Angst vor der Polizei sein lassen, und dann lieber dem Hund, der sowieso mal wieder zu laut ist, einen Fußtritt verpassen, es gibt kein Vergessen nicht einmal mit dem Ende des Lebens. Ohne über die Nachwelt zu spekulieren, werden wir ganz einfach einsehen müssen, daß unser Wissen und unsere Wunden in irgendeiner Weise in unseren Kindern, ja in unserer ganzen Umgebung, seine Wirkung hinterläßt. Es gibt kein Vergessen, weder bei der Seele noch beim Körper. Setzen wir unseren Körper zu oft zu sehr der Sonne oder richtiger dem ultravioletten Licht aus, so vergißt unsere Haut das nie, unser Risiko, Hautkrebs zu bekommen, steigt ständig, unaufhörlich unser ganzes Leben lang. Trinken wir ein paar Schnäpse zuviel, sterben einige Gehirnzellen ab und sind nun unwiederbringlich verloren, machen wir es öfters, leidet die Funktion unseres Gehirns beträchtlich darunter, andere Organe leiden ähnlich, regenerieren allerdings, allerdings nach und nach schlechter, andere Gifte wirken ähnlich, Krankheiten ebenso, nur zu oft erholt sich ein so geschwächter Körper nie wieder ganz, zumindest nicht so, als sei er nie geschädigt worden. Rauchen schädigt. Rauchen der Eltern schädigt die Kinder, geistig und körperlich sind sie schwächer als andere, dummerweise eifern sie auch oft noch den Eltern nach, wenn sie auch nur kurze Zeit selbst zu Rauchern werden, typischerweise in jungen Jahren, die Auswirkungen tragen sie ihr ganzes Leben. Auch Kriege hinterlassen Narben, und auch hier ist es der Pöbel, der vergnügungssüchtig ruft: “Die Zeit heilt alle Wunden!” und nur zu bereitwillig die Verstorbenen vergißt, aber sie fehlen und werden immer fehlen, sowie deren Kinder und Kindeskinder, und was verbrannt ist, bleibt Asche, und was zertrümmert ist, bleibt als Trümmer zurück und kann noch nach Jahrtausenden ausgegraben werden und von der Gewalt, die ihm einmal angetan wurde, zeugen. Selbst wenn unserem Planeten einmal etwas angetan würde, was ihm der Menschenkinder beraube, so würde nicht nur diese Wunde den Planeten für immer um uns ärmer machen, sondern auch die vielen Schläge, die wir Menschen ihm verpaßt haben, wie bestimmte Tierarten ausgerottet zu haben, Landschaften zu Wüsten bzw. 361
Betonwüsten gemacht zu haben, radioaktive und chemische Verseuchung des Bodens, der Meere und der Atmosphäre und so weiter: unsere Sünden und Verfehlungen werden für immer ihre Spur hinterlassen, genauso wie einst die Saurier nicht nur spärliche Fußstapfen und Knochenreste hinterließen, sondern auch durch ihre Freßgewohnheiten eine Auswirkung auf die heutige Flora und Fauna hatten und auf alles Kommende noch haben werden. Hätten die Saurier was anderes gefressen, wäre alles anders. Hätten ihnen z. B. die kleinen behaarten Biester, die ihnen manchmal zwischen den Beinen durchhuschten, besser geschmeckt, so daß sie sie mehr der Mühe wert befunden hätten, zu jagen, und auch keine Mühe gescheut hätten, ihre Delikatesse aus dem letzten Winkel herauszukratzen, so gäbe es jetzt keine Säuger, also auch uns nicht, und die Intelligenz, wenn sie sich hätte inkarnieren wollen, hätte in Vögel, Eidechsen oder Insekten kriechen müssen. Wenn die Kometentheorie stimmt, der zu Folge die Riesenechsen das Opfer eines Kometeneinschlags geworden sind, welch eine Wunde! Wie unheilbar! Wären die Saurier geblieben, wären wir vielleicht nie hochgekommen, gäbe es vielleicht keine Wüsten, der Seeadler wäre nicht am Aussterben, die Ozonschicht würde nicht dünner, der Mond wäre nie, jedenfalls nicht von Menschen, betreten worden... - Übrigens auch so eine Welt, auf der es kein Vergessen gibt, noch weniger als auf der Erde; es wird noch lange dauern, bis da die Fußstapfen verwehen, wo es keinen Wind gibt. Es gibt sogar eine Wunde, die statt zu heilen, immer größer wird: Der Schmerzensmann, den man ans Kreuz schlug, riß seitdem Wunden durch die Menschheit, immer größere, Blut floß und fließt. Wird es je stoppen? Muß die Menschheit ewig leiden unter dem Tode dieses armen Juden oder gelingt ihr einmal das Vergessen? Auch hier fehlt der Wind. Kain erschlug seinen Bruder und der Cro-Magnon-Mensch starb aus, und heute gibt es nur noch den homo sapiens sapiens, und der vergißt in seiner Weisheit nichts. 362
Vergessen gibt es höchstens in der Schule, da wo wir es am wenigsten wünschen. Aber Aus-Büchern-Gelerntes vergißt man nur all zu schnell.
Der Mörder und die Todesstrafe. Wer tötet, sollte auch sterben können.
Und wenn er es nicht kann, so sollte man ihn trotzdem töten, um nicht sein erbärmliches Gejammer von der unrechten Strafe, die er hinter Gittern, wo er genauso ungern sitzt, erleiden muß, in den Ohren zu haben. Verbrecher wurden zu oft bedauert, man hat aus ihnen arme Kinder gemacht, die zu wenig geliebt wurden. So hat man den Verbrecher seines Stolzes beraubt und ihm viel Pöbel zugesellt, denn was klein ist, wird gern bedauert. Und wie ein Kind, das merkt, daß es mehr geliebt wird, wenn es ein Wehwehchen hat, bald viele Wehwehchen hat, so hat man dort viele erbärmliche Verbrecher, wo man kein Held zu sein braucht, um die Strafe eines Verbrechers zu ertragen. Menschen gibt es genug, ach, was sage ich, viel zu viele, wie Sand am Meer und mehr. Was liegt da am Leben eines Verbrechers, wo täglich Zigtausende verhungern, die keine Verbrechen begangen haben? Laßt ihn den einen heroischen Schritt ins Nichts tun! Oder ist es am Ende gar nicht das Nichts? Lebt man am Ende gar glücklicher im Jenseits? Auch der Verbrecher? Niemand weiß genaues. Nehmt es in Kauf, daß es vielleicht gar keine Strafe ist zu sterben, sondern ein Segen, tötet den Verbrecher! Der Verbrecher dient nicht dem Aufstieg der Menschheit und sein Morden ist nicht einmal ein positiver Beitrag zur Kontrolle der Überbevölkerung. Sein Morden ist wahllos und trifft manchmal die 363
wertvollsten Menschen, aber immer einen wertvolleren Menschen, als es der Verbrecher selbst ist. Die Menschheit aber sollte danach streben, wertvoll zu sein. Klein, feige und gemein ist alle Todesfurcht. Doch wer mordet und nicht sterben kann, ist der nicht der gemeinste? Zwingt ihn zur Größe! Nicht nur ein bißchen auf die Finger hauen! Das Gejammer, das er dann anstellt, ist zu widerlich für edle Menschenohren und außerdem besteht die Gefahr, daß die ewig Guten plötzlich ihr Herz an die falsche Stelle stecken und nicht mehr da helfen, wo es angebracht wäre, sondern wo es am unangebrachtesten ist. Was für Menschen gilt, gilt in eingeschränkterem Maße auch für Völker. Wir haben von dem Mördervolk gehört, daß die Völker des Ostens, und was es sonst noch für rassisch minderwertig hielt, nach Auschwitz trieb, dort über verschiedene Stationen des Grauens und totaler Erschöpfung die grausame Vernichtung vollzog, fabrikmäßig, herzlos und im Höchstmaße feige. Es gibt nicht nur mehr als genug Menschen, sondern auch mehr als genug Völker, hätte man da nicht auf ein Mördervolk verzichten können, oder wenigstens alle, die “Heil!” gebrüllt und den Einhodigen angehimmelt hatten, den Garaus machen können? Aber was tat man? Dresden mußte brennen und Berlin. Und die Unmenschen verstanden nicht, daß es menschlich ist, Rache zu üben. Aber das Problem war, daß die Rache nur ein Rächchen war. Wenn Strafe keine Ehre ist, benimmt sich der Bestrafte ehrlos, wird zum Jammerlappen, zur Heulsuse, ein erwachsener Säugling, fühlt sich unverstanden und unrecht behandelt. Alle haben sie “Hurra!” geschrien, als man der Welt die Lehre erteilen wollte, daß ein Menschenleben nichts wert ist, und man war so schön dabei, es zu beweisen. Hätte man ihnen da nicht statt Almosen den Gnadentod geben sollen. Almosen machen rachsüchtig, der Gnadentod aber erlöst. 364
Für Mord eine Geldstrafe wie für Parksünden zu verlangen, aber ist der höchste Hohn, weitaus schändlicher als die Todesstrafe, und natürlich eine Dummheit: Zu viele Überlebende, und alle haben das Gefühl, ungebüßt davon gekommen zu sein. Wenn schon Überlebende, dann wenige, die nach hundert Jahren des Dreckfressens sagen können: Wir haben gebüßt. Doch freilich ein Problem gibt es beim großen Strafen, das so hinderlich ist: Man ist selbst so klein und nicht von sich überzeugt. Zu Recht. Und wenn man genau hinguckt, man ist so gar schlimmer, als man denkt.
Luz: Die Juden begingen - so heißt es - einen Mord. Wen mordeten sie? Den Messias, so heißt es, also bestenfalls einen einzigen Menschen, in Wirklichkeit aber eine fragwürdige Existenz, ein Phantom wie ich, dessen Existenz mehr als fragwürdig ist, das außerhalb der engen Behausung der Schädelknochen Wunderglaubenssüchtiger nie existiert hat. Gottes Sohn? Bah, ein Kranker, ein größenwahnsinniger Phantast vielleicht, aber kein Sohn Gottes, wenn Gott einen Sohn hätte, würde er besser für ihn sorgen - Vaterliebe. Man sollte von ihm auch keinen Blödmann erwarten. Wie büßten nun die Juden für diesen unwahrscheinlichen Mord, der in Wirklichkeit eine unwahrscheinliche Hinrichtung war? Sie litten 2000 Jahre, erlitten millionenfach Folterqualen und millionenfach gewaltsamen Tod. Und ihre Mörder, wie wurden die bestraft? - Die Christen? Überhaupt nicht, sie genossen's nur. Und die Nazis, - nun, sie erlitten die Stunde Null, einen Neubeginn, vielleicht litten sie zwischen dem Ende des Alten und dem Beginn des Neuen, aber lange war das nicht und für Buße schon gar keine Zeit. - Ach ja, beinahe hätte ich's vergessen, natürlich zahlten sie
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für ihr Vergnügen, oder ließen ihre Kinder dafür bezahlen. Wie gut, daß manche Leute gerne Geld annehmen. Aber wollen wir ihnen nicht unterstellen, daß sie geldgierig waren, sie hätten vielleicht auch lieber Köpfe genommen, doch es fanden sich zu wenige, die ihnen Köpfe geben wollten. In meinen Ohren klingt das Rollen von Köpfen besser als das Klirren von Münzen.
Luz und Adjuna machten sich auf, um in die gehörnte Stadt zu wandern, von wo aus sie einen Zug in Richtung Hamburg zu kriegen hofften. Adjuna wäre gern schneller gegangen, steckte er doch wieder in seinem mächtigen Kshatriya-Körper, der ihn so von mickrigen Mitmenschen unterschied. Nicht, daß er es eilig hatte, langsames Gehen war ihm nur zu langweilig. Ein bißchen mitleidig schielte er zum humpelnden Luz hinüber: “Hast du wirklich mit dem Wackelstein nach einem Missionar geworfen?” “Natürlich nicht, aber Leute wie ich leben von solchen Legenden. Du wunderst dich über mein Gebrechen? Ein Klumpfuß. Weißt du, wie ich den gekriegt habe? Als meine Mutter mich empfangen hatte, war sie noch unverheiratet. Damals wurde von unverheirateten Frauen Jungfräulichkeit erwartet, und wer gegen diese Erwartung verstieß, oder gar schwanger herumlief, riskierte gesteinigt zu werden. Und da meiner Mutter keine gute Lüge einfiel, wie zum Beispiel: Der heilige Geist war's! blieb ihr nichts anderes, als ihre Schwangerschaft mit Hilfe enger Kleider zu verbergen und mich heimlich auszutragen und aufzuziehen. Durch dieses Einschnüren wurde ich in ihrer Gebärmutter in unnatürlicher Stellung eingeklemmt und mein einer Fuß wuchs nach innen. Eine Behinderung, die ein Leben lang mein Fortkommen erschwert. Heute ist ja alles besser geworden. Die Sitten haben sich gelockert. Besonders was die Sexualität betrifft, ist man ja freier geworden. Ein größerer Segen kann der Menschheit gar nicht zuteil werden, besonders den Frauen nicht. 366
Aber es gibt leider immer noch die, die die Uhren wieder zurückdrehen wollen. Absurderweise sind das die gleichen, die genau so einer Frau wie meiner Mutter die Füße küssen.” “Du meinst Maria? Aber sie war doch eine verheiratete Jungfrau!” “Hahaha, umgekehrt, umgekehrt, das war natürlich umgekehrt. Sie war eine unverheiratete, entjungferte Frau.”
In der Bahn
Man hörte noch die ermahnenden Worte einer Mutter: “Paß auf, daß du in Hamburg nicht auf die schiefe Bahn gerätst!” Vergeblich. Ein Piff des Bahnvorstehers. “Türen schließen. Vorsicht bei Abfahrt des Zuges!” Der Backfisch hatte schon den Bann der Mutter gebrochen und fühlte sich frei. Bahnbrechendes erwartete sie von der großen Stadt. Der Waggonwurm ruckte an, als das schnaufende Ungeheuer an der Spitze des Zuges unter schrillen Schreien seine eisernen Muskeln anspannte, dann rollte er rhythmisch rappelnd, sich an Schienenstöße stoßend, dem nebligen Norden entgegen. Luz und Adjuna hatten im modernen Großraumwagen Platz gefunden. Ein Stimmengewirr drang an ihre Ohren. Für Luz war es wohl Musik zum Einschlafen, jedenfalls war er bald weg - eiapopeia - in Morpheus' Armen und in der Heia. Für Adjuna aber gab es keinen Schlaf. Wie die Gesprächsfetzen an sein Ohr fetzten und die Landschaft in übergroßer Eile vorbeiwetzte, Wald, See, Wiesen, Städte und Schicksale ins Auge blitzte, dachte er, ist so nicht das Leben, ein Bewurf mit Trivialitäten, leichter Literatur und schweren Brocken?
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Da gab es eine Reise ins Jenseits, zwei Stimmen, eine hell, die andere dunkel. Die helle Stimme: Da hast du aber Glück gehabt, daß deine Tochter nicht gestorben ist. Dunkle Stimme: Ja, aber auch wenn sie gestorben wäre, wäre ich bei ihr. Helle Stimme: Wie das? Dunkle Stimme: Ich kenne einen Zugang zum Jenseits. Helle Stimme: Ach, wie ist es dort. Dunkle Stimme: Nicht so anders wie hier. Nur, daß wir dort keinen Körper haben, sondern nur Seele sind. Wie hier der Körper verfällt, so verfällt dort die Seele in ihre Bestandteile. Helle Stimme: Und wie ist es mit Gott? Dunkle Stimme: Gott und Götter gibt es auch. Helle Stimme: Also haben die Atheisten unrecht. Dunkle Stimme: Ich wollte sagen, Gott und Götter gibt es als Idee, denn auch im Jenseits gibt es Leute - genauso wie hier - die es für notwendig halten, an einen Gott oder an mehrere Götter zu glauben, aber einen Gott gibt es da genauso wenig wie hier. Natürlich gibt es dort auch Atheisten. Adjuna überhörte auch einen Dialog, in dem sich die Beteiligten darüber stritten, ob man zuerst Toilettenpapier in die Toilette werfen solle, damit nach dem Abziehen keine Reste vom Stuhl in der Mulde des Toilettenbeckens, die die Toilette der leistungsbewußten Deutschen vor denen anderer Nationen auszeichnete, kleben bliebe.
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Die helle Stimme: Wenn du so redest, mußt du wirklich im Jenseits gewesen sein. Die dunkle Stimme: Ich weiß, daß ich in Rußland war, ich weiß, daß ich in China war, in Indien, in Afrika, Europa, aber ob ich im Jenseits war, weiß ich nicht genau. Die belehrende Stimme einer Friedensbewegten: Warum bist du nicht für den Frieden engagiert? Willst du keinen Frieden? Die nicht zu männliche Stimme eines Mannes: Nein, erstens will ich keinen Frieden, zweitens weiß ich nicht, was dem Frieden mehr dient, die Friedensbewegung oder die Waffen. Was? Du bist nicht für den Frieden? Nein, einst wollte ich kein Kind, aber als meine Frau schwanger war, wollte ich eins. Einst war ich für den Frieden, aber seit ich weiß, daß der Krieg unvermeidlich ist, will ich Krieg. Verstehst du nun, wie meine Lebensweisheit heißt? Wie kann die Friedensbewegung Grund für einen Krieg sein? Die eigene Schwächung lädt die Feinde ein, besonders, wenn der Feind fürchten muß, daß man nicht immer schwach bleiben will, sondern vielleicht wieder seine Meinung ändert. Wenn wir uns weigern, unser Land zu verteidigen, werden die, die uns erobern, uns zwingen, deren Interessen zu verteidigen, und wenn es die Weltherrschaft ist. Krieg bedeutet unser aller Tod. Ja, aber nur, wenn man bereit ist, sich zu verteidigen, sonst bedeutet es nur unseren Tod, was keinen Gegner abschreckt. Adjuna hatte alle Gespräche vom Geldmachen, Geldanlegen und Geldausgeben ausgeblendet und seine Parabolohren ganz auf ein Religionsgespräch im Vorderen des Wagens eingestellt. 369
Dialog, vierstimmig, Alt, Bariton, Tenor und eine Fistelstimme. A: Warum sinkt kaltes Wasser in die Tiefe, aber Eis schwimmt oben? B: Wenn das Eis untergehen würde, könnte die Sonne es nicht wieder auftauen, und von der Tiefe herauf würde die Welt erfrieren. T: Ah, ich verstehe, und die Nase steht vor, damit die Brille nicht runterfällt. B: Äh, ja, aber das kann auch Zufall sein. T: Ihr seid unwissenschaftlich. Wassereis schwimmt oben, weil winklige Wassermoleküle sich so verhaken, daß sie viel Platz einnehmen, sich das Volumen also vergrößert, wodurch sich das spezifische Gewicht verringert. Und die Brille fällt nicht runter, weil Menschen ihr ein Design gegeben haben, das auf die Nase paßt, davon abgesehen, manchmal fällt sie doch runter. F: Gott hat alles geschaffen. T: Ja, Gott ist imperfekt, unvollkommen. F: Wieso? T: Die Brille rutscht doch manchmal von der Nase. Die Fistelstimme geiferte: Die Brillen haben ja auch Menschen gemacht. Aber Eis geht nie unter. Auch der Tenor erregte sich: Die Brillen haben Menschen gemacht, aber die Nase hat Gott gemacht. Ich könnte sofort eine bessere Nase konstruieren als Gott, von der würde nichts abrutschen. Seine Frau versuchte beruhigend einzugreifen: Ich denke, du glaubst gar nicht an Gott.
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Doch die Erregung steigerte sich, der Dialog wurde unverständlich. Religionsthemen sind heikle Themen. Du willst also behaupten, es gäbe keinen Gott. Falsch, oh, es gibt große und mächtige Götter, bloß sie kümmern sich nicht um diesen Krümel im Galaxenmeer, was dem Christengott, diesem kleinen Wichtigtuer, die Möglichkeit gab, sich hier dick zu machen. Würde dieser Winzling am Phallus eines der großen Götter vom Berg Meru hochfliegen wollen, sein armseliges Leben wäre zu Ende, bevor er die Eichel erreichte. Weißt du nicht, wie groß man sein muß, um ein Universum zu schaffen? Und was so groß ist, kümmert sich nicht mehr um onanierende Jungs, ja nicht einmal um eine Menschheit, die wie Madeneinheiten auf Mist herumkriecht. Ihr müßt mit offenen Augen das Bestehende bestaunen und nicht mit geschlossenen Augen das Nichtbestehende beraunen. Wenn man die Augen zumacht, ist man blind und sieht nicht, und wenn man dazu noch die Hände faltet, kann man nicht einmal tasten. Ich sage ja, offenes Staunen, nicht beschränkt beten. Nach diesem Selbstgespräch spitzte Adjuna wieder seine Ohren. Da verriet jemand, daß er Schriftsteller sei. Und Adjuna dachte, das macht er wohl, um einem Mädchen zu imponieren, aber dann antwortete eine Männerstimme ihm, daß sie die Schriftstellerei für eine Ersatzbefriedigung hielte: Du solltest lieber richtig bumsen. Wenn du willst, daß deine Ideen herrschen, dann werde Herrscher, aber hoffe nicht, als Schreiberling deine Ideen anderen in den Kopf zu setzen, die sie dann als Herrscher den Beherrschten aufzwingen. Werde Politiker! Gott bewahre! Auch über sexuellen Geschmack wurde gestritten. Die sehr helle Stimme eines Homosexus: Ich mag keine Frauen, die stinken so stark nach Fisch. 371
Während ihm ein Heterophiler antwortete: Mann, mit einem Mann ist es doch noch schlimmer, da stinkt er ja nachher nach Kot. Ein Homunkulus aber votierte für Keuschheit. So ist das Leben, so bunt, man möchte es fast lieben, dachte Adjuna begeistert. Endlich den einsamen Wäldern entkommen. In Sankt Pauli sollte sich ihm ein neuer Wald öffnen, ein Wald von Liebenden und Ja-Sagern - wohlgemerkt Ja zum Leben nicht zur Sklaverei. Menschliche Körper schlängelten sich durch menschliches Gestrüpp, dichtes Unterholz schwer zugänglich wie im Dschungel, nach dessen Gesetz hier gelebt wurde, die Lianen waren die Arme, Hände, die nach den anderen Körpern tasteten, Kletten gab es auch, an ihnen blieb im Vorübergehen das Portemonnaie kleben und die Piranhas ließen nur die Knochen. Während der Fahrt vom Teutoburger Wald in diese Elb-Metropole waren erstaunliche Metamorphosen vor sich gegangen, nicht nur war das Töchterchen der besorgten Mutter jetzt grell geschminkt und ein Stückchen gewachsen oder viel mehr ihre Absätze, auch die Dampflokomotive hatte sich in eine moderne E-Lok verwandelt und selbst Luz und Adjuna sahen zivilisierter aus.
Das erste, das Luz und Adjuna bemerkten, als sie aus dem Bahnhof heraustraten, war, daß die Welt technischer geworden war, alle paar Meter stand eine Maschine auf der Straße. Lebedamen und Lebemänner lebten hier in einer Lebewelt, viele liefen auch auf der Straße herum, richtiger: drängten sich auf den Bürgersteigen. Davon, daß dieser Ort einst als Festung Hammaburg von Ansgar einem Vertreter es Nicht-Lebens, des Nur-fürs-JenseitsLebens gegründet worden war, davon merkte man nichts mehr, die
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Kirchen blieben leer, selbst dumme Michels gingen nicht mehr in den Michel, ja nicht einmal die aller dümmsten. Alles strebte zum Tempel des Gottes Eros - und zwar frohen Mutes. Auch Luz und Adjuna waren guter Dinge. Als Adjuna auf dem Weg von einem Homosexuellen belästigt wurde, sagte er nur wie zur Entschuldigung: “Ich habe Hämorrhoiden”, obwohl ihn die Vorstellung, einen Mann zu lieben, anekelte. Ein fröhlicher Mensch ist halt auch ein freundlicher Mensch. Endlich der Tempel des Eros. Als sie den Kreuzgang entlang wandelten, hörten sie aus einem der vielen Zimmer des Tempels die fragende Stimme einer Priesterin: “Was willst du mit dem Vibrator?” Der Freier: “Meinen hat man mir abgebissen, seitdem brauche ich eine Prothese.” “Ach so, na, dann steck sie mal rein, deine Prothese.” Im Nebenzimmer war man weniger verständnisvoll. Ein Kreuzritter, -bube oder -freier mußte sich von seiner Herzdame sagen lassen: “Du kannst mich mal kreuzweise...” Er war wohl kreuzoder lendenlahm, oder meinte sie es wörtlich? Doch - kreuzdonnerwetternochmal - dies war kein Tempel Christi, kein Ort zum Bekreuzen, sondern zum Begötzen. Aus den anderen Zimmern klang dann auch nur Stöhnen, Seligpreisung und Gebet, Priesterinnen und Freier vereint im Gottesdienst, Erotomanie, die Anrufung des Gottes, Eros, Eros! Die Ekstase steigert sich! Zwar sollen auch die Moslems beim Geschlechtsverkehr ihren Gott Allah anrufen, doch das ist ein Befehl und kein Bedürfnis und wirkt nicht luststeigernd, sondern so ernüchternd wie dieser informative Satz. Aus dem rötlich schimmernden Dunkel der Zimmer ertönte bei jeder ruckartigen Bewegung aus dem Mund der Priesterin die Verkündigung 373
der Frohen Botschaft, das Kerygma des Liebesgottes, des Gottes der wahren und einzigen Liebe, einer Liebe, die nicht in Blut badet und durch Gedärmemorast watet. Sind wir zurückversetzt in jene Urzeit, als die Menschheit noch alles Schöne und Natürliche als Göttlich verehrte? Am Tresen der Bar wurden Elixiere ausgeschenkt. Eukolisch oder gar euphorisch traten unsere beiden Freunde an diesen Altar, um die Eucharistie zu empfangen. Der Barmixer, der die schwarzen Ränder um ihren Augen bemerkt hatte, reichte ihnen auch gleich lächelnd nicht nen Kelch, sondern zwei Gläser. Die Beiden tranken und wunderten sich über das Zeug. “Was ist das?” “Ein Katervertreiber, das Blut der Jungfrau.” Vor Schreck verschluckten sich die Beiden. Es warf sie fast vom Hocker. War das hier nun ein Hurenhaus, oder was? “Das schmeckt doch besser als einfacher Tomatensaft und hilft vor allen Dingen besser, wenn man am Abend vorher einen über den Durst getrunken hat”, belehrte der Elixiermischer die Beiden. Es stellte sich heraus, daß es sich bei dem Getränk um eine Bloody Mary handelte, das aber gar nicht nach dem Menstruationsblut der Jungfrau benannt worden war, sondern zu Ehren einer britischen Königin, die groß im Massakrieren von Protestanten war, also Blut im Namen eines skurrilen Liebesgottessöhnchens vergoß. Nicht nur Eros ist anwesend im Tempel der Liebe, sondern... - das rötliche Schummerlicht verrät sie schon - die Anwesenheit der Eos, der Göttin der Morgenröte. Am verführerischsten ist sie, wenn sie sich morgens von ihrem östlichen Bett erhebt. Zunächst erscheinen nur ihre rosigen Fingerspitzen am Horizont, doch bald streckt sie ihren ganzen safranroten Körper über den östlichen Himmel, bevor sie ihrem Bruder Helios Platz macht.
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Die aus dem Meeresschaum geborene Aphrodite fand eines Tages den Kriegsgott Ares in Eos' Bett. Da sie selbst von diesem wilden Gott der Schlachten und des Abschlachtens, der Männer-, Menschen- und Massenmorde fasziniert war und seine Liebe suchte, war sie eifersüchtig auf Eos, und aus Eifersucht verdammte sie Eos dazu, unablässig nach Sterblichen, also nach Menschen, zu verlangen. Eos aber, um sich den Fluch der Aphrodite zu erleichtern, verdammte die Menschen dazu, sich nach der Morgenröte zu sehnen, und selbst noch zu später Abendstunde sieht eine Frau im Licht der Eos verführerischer aus als in greller Mittagssonne. In dem rötlich beleuchteten Innenhof standen an Säulen wie griechische Statuen jedoch aus Fleisch und Blut die Frauen und boten ihre Ware an, sich selbst. Der Preis war hoch, die Frauen zahlten mit dem Verlust von Ehre und Ansehen, mit Unfreiheit und Erkrankung. Die Männer zahlten mit Geld, nichts anderes zählte. Die Zahlungswilligen, also Freier und Gefreite, sahen zwar immer mal wieder ihre Geschäftsbeziehungen gefährdet, weil irgendwelche Vertreter anständiger Bürger in irgendeinem Hohen Haus, Rathaus oder so, Stadtparlament vielleicht, sich darüber erregten, daß hier Frauen nicht aus sexueller Lust mit Männern schliefen, sondern des Geldes wegen, doch noch herrschte hier die Große Freiheit, und es braucht wohl nicht extra erwähnt zu werden, daß selbst die anständigen Bürger und ihre Vertreter manchmal den Weg hierher fanden und für ihr gutes Geld gute Ware bekamen. Wenn wir Adjuna auch nicht zu den anständigen Bürgern zählen, wie wir gesehen hatten, stand er über den Dingen, so hatte er doch keine Skrupel, sich genau unter diese Leute zu mischen und im Hof der Säulenhuren zu lustwandeln, das heißt, zu wandeln und vor den Säulen, an denen sie standen, stehen zu bleiben und sich vorzustellen, wieviel Lust ihm die eine oder andere bereiten könne. Wir wissen, er tat dies, um die Schatten der Verdammnis, die er auf den Menschen lasten sah, zu vertreiben. Schatten der Vergangenheit sind Vorboten der Zukunft. Manchmal muß man seine Erkenntnis in Lust ertränken, um nicht zu ertrinken. 375
Adjunas Wahl war schlecht. Er freite ein Mädchen, das einen leidenden Zug um ihre Augen hatte, also sicher nicht seine Gedanken an eine leidende und verdammte Menschheit vertreiben konnte. Selbst der niedrige Preis, der eher an ein Sonderangebot im Schlußverkauf als an ein junges Mädchen, das das Leben noch vor sich hatte, erinnerte, dürfte noch zu hoch gewesen sein, Qualität entscheidet, was preisgünstig ist, Sorgen sollten nicht nur nichts kosten, sondern es sollte sie überhaupt nicht geben. Da er sie nur für eine Stunde gebucht hatte, ging er gleich ohne Zeremonie an den Geschlechtsakt. Er wunderte sich, daß die Hure so außergewöhnlich stark stöhnte. Empfindet sie soviel dabei? Das ist doch beim Berufsverkehr nicht üblich. Ist ihr meiner zu dick? Vielleicht sollte ich ihr nachher noch ein zusätzliches Trinkgeld geben. Dann bemerkte er Blut an ihren Beinen. Eine Jungfrau? Unmöglich. Menstruation vielleicht. Oder vielleicht wie damals in Rom eine Abtreibung mit Kleiderhaken? “Du brauchst einen Arzt!” schrie er. “Nein!” schrie sie zurück. In dem diffusen Licht der Eos, das auch dieses Zimmer beleuchtete, konnte er es nicht recht sehen, was da blutete, zumal sie jetzt auch noch die Beine zusammenkniff. Adjuna hatte sich zu sehr auf das Gesicht des Mädchens konzentriert, das ihn gefangen genommen hatte, da er darin die Leiden der Menschheit widergespiegelt zu sehen geglaubt hatte, und es war ihm entgangen, daß sie aus Schlag- und Brandwunden am Unterkörper blutete, also selbst ein kleines Stückchen leidende Menschheit war, allerdings so ganz ohne tiefere philosophische Gedanken, nur einfache physische Schmerzen. Banal, was? - Durchaus nicht. Da Adjuna mitfühlend war und sich interessiert zeigte, den `Guten Onkel' herauskehrte, der er auch sein konnte, und außerdem viel
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stärker als des Mädchens Zuhälter aussah, faßte es Mut und erzählte ihm ihre Leidensgeschichte. Zuerst erzählte das Mädchen von ihrem Elternhaus, wohl um zu erklären, wie alles kam. Die meisten Schicksale beginnen im Elternhaus. Aber sie hätte auch mit Adam und Eva anfangen können. Die Eltern waren sehr streng gewesen, hatten ihr den Umgang mit anderen Kindern verboten, sogenannten `Straßenkindern', die `schmutzige Sachen' machten. Sie war gezwungen gewesen, nach der Schule immer sofort nach Hause zu kommen, und durfte dann auch nicht mehr ausgehen. Aber obwohl sie den ganzen Tag zu Haus bleiben mußte, kümmerten sich die Eltern nie um sie, spielten nicht mit ihr, und waren nie zärtlich zu ihr. Es schien, daß sie nur Zeit hatten, wenn es ums Ausschimpfen und Bestrafen ging. Das einzige Erziehungsziel ihrer Eltern schien Gehorchen gewesen zu sein, zwar gab es für schlechte Zensuren die obligatorische Tracht Prügel, aber wenn sie bei schweren Hausaufgaben die Mutter um Rat fragte, wurde sie nicht beachtet oder abgewiesen, und als Lehrer sie wegen ihren guten Leistungen für die Höhere Schule vorschlugen, wurde das abgelehnt, `weil Mädchen so was nicht brauchen.' Es waren noch mehr Geschwister im Haus gewesen, drei Brüder und zwei Schwestern. Wegen der vielen Kinder fehlte es oft am Nötigsten, zumal der Vater soff und oft schon nach dem Lohntütenball kaum noch was hatte, den Rest verlor er dann oft noch beim Skat. Es gab Monate, in denen sie nur von Kartoffeln aus dem eigenen Garten gelebt hatten. Mit den Geschwistern konnte sie nicht gut spielen. Wenn die beim Spielen aus irgendeinem Grund anfingen zu weinen, kam die Mutter und ohrfeigte sie links und rechts, ohne eine Frage zu stellen, denn als älteste wurde sie für alles verantwortlich gemacht. Sie haßte ihre Familie, die Lieblosigkeit der Eltern, die vorgezogenen jüngeren Geschwister, die ewigen Streitereien und Bevormundereien. Als sie als Vierzehnjährige aus der Schule kam, mußte sie in der Fabrik arbeiten. Dort sollte sie nach Meinung ihrer Eltern bleiben, `bis sie eine gute Partie gefunden hätte', außerdem sollte sie sich dort ihre eigene Aussteuer verdienen. Da sie ein hübsches Ding war, wurde man, Männer, auf sie aufmerksam. Da sie ein großes Nachholbedürfnis an Liebe hatte, warf 377
sie sich jedem an den Hals. Bald war sie auch mit ihnen im Bett. Sie genoß es, umworben zu werden, ausgeführt zu werden in feine Restaurants, beschenkt zu werden, geliebt zu werden, Sex. Dann kam Johnny. Er war so anders, wie sie es nannte, so kühn, so selbstbewußt. Als sie mal spät abends vor der Haustür mit ihm knutschte und ihr Alter herausgerannt kam mit 'nem großen Kochlöffel, der zum Umrühren des Schweinedranks und zum Prügeln der Kinder benutzt wurde, hatte Johnny ihm dieses Peinigungsinstrument entwunden und dem Vater über den Kopf gehauen, daß es zerbrach, dann hatte er ihn am Kragen gepackt und sein Sprungmesser rausgeholt und es dem Vater nicht nur drohend unter die Nase gehalten, sondern sogar ein bißchen in die Nasenlöcher reingesteckt. `Wenn du dieses Mädchen noch mal belästigst, zieh ich dir die Haut ab.' Adjuna konnte dem Mädchen ansehen, wie toll es auch jetzt noch diese Heldentat Johnnies fand. Das Mädchen berichtete weiter, daß ihre Befürchtung, daß der Vater sie, wenn Johnny weg war, schlagen würde, unbegründet war. Ihr Vater war halt ein Feigling, der nur kleine Kinder schlagen konnte, aber sonst, vor Chefs und Polizei und so, große Angst hatte. Dem Johnny, der extra in der Nähe des Hauses gewartet hatte, konnte sie beruhigt ein Zeichen geben, daß er gehen konnte, denn ihr Alter hatte genug. Im Hause wurde nie darüber gesprochen. Es wurde überhaupt nicht mehr mit ihr gesprochen. Sie wurde überhaupt nicht mehr beachtet. Wenn es zu Hause mal Fleisch gab, bekam sie kein Stück ab, und Nachtisch gab es für sie auch nicht mehr, und außerdem hatten ihre Eltern noch erreicht, daß sie ihren ganzen Lohn direkt von der Fabrik bekamen, den sie dann als Kostgeld behielten. Da hatte sie bei der Fabrik aufgehört zu arbeiten und wollte sich woanders Arbeit suchen, die leichter war und wo sie das Geld behalten konnte, um in eine eigene Wohnung zu ziehen. Da sie kein Kostgeld mehr zahlte, hatten die Eltern sie rausgeworfen, obwohl sie weder eine Bleibe noch eine neue Arbeit hatte. Da blieb ihr nur, zu Johnny zu gehen. Der war auch gerade arbeitslos. Jedenfalls behauptete er das. Der hatte sie dann überredet, hier diese Arbeit zu machen. `Du hast ja früher schon sowas Ähnliches gemacht, als du für Geschenke und schöne Abende in teuren 378
Restaurants mit Männern geschlafen hast. Wenn du jetzt so etwas machst, bekommst du Geld dafür, da bist du doch viel freier, kannst dir kaufen, was du willst, und wir können zusammenleben. Mir macht das nichts aus. Von der Muschi geht beim Bumsen nichts ab, die kann ich danach noch genauso gut gebrauchen, das ist nicht wie beim Bleistift oder Radiergummi', so hatte er damals geredet. Zuerst hatte sie das ja auch gern getan aus Mitleid mit Johnny, der ja sonst auch kein Geld hatte. Aber nach und nach hatte er mehr und mehr Geld behalten, schließlich hatte er ihr ganzes Geld behalten und sie hatte wieder nichts mehr für sich selbst. Als sie dann mehr Geld für sich gefordert hatte, hatte Johnny den Brutalen rausgekehrt und rücksichtslos mit der Faust auf sie eingeschlagen. Als sie dann wegen des schiefen, geschwollenen Mundes und des blauen Auges nur wenig Kundschaft hatte, hatte er sie noch gezwungen, zwei Schichten zu arbeiten. Es wurde immer schlimmer mit Johnny: Massenvergewaltigungen hatte sie von Johnnies Freunden und befreundeten Schlägerbanden ertragen müssen. Einmal hatte man ihr sogar ein Messer dabei an die Kehle gehalten und die Haut dabei geritzt, daß sie am Hals blutete. Ihr Leben war zur Hölle geworden, schlimmer als zu Hause. Einmal sei sie weggelaufen, nach Hause, aber zu Hause hatte man die Tür verriegelt, als man sie gesehen hatte und geschrien, sie solle weggehen, man wolle sie nicht mehr sehen. Dann kamen auch schon Johnnies Freund auf Motorrädern an und hätten sie weggeschleppt. Johnny hatte sie dann wieder brutal geprügelt und sogar mit dem Messer geritzt und gedroht, ihr das nächste Mal die Brüste abzuschneiden. Außerdem mußte sie 24 Stunden hintereinander arbeiten. Am Schlimmsten aber sei alles geworden, als sie herausfand, daß er noch andere Mädchen laufen hatte, und sie nicht einmal seine liebste sei. Irgendwie sei alles für sie zusammengebrochen und sie hatte wieder eine Szene gemacht. Es war ihr alles egal geworden, sie wollte nicht mehr für ihn arbeiten. Es war ihr egal, was seine Freunde, die ihr die Kleider runterrissen und sie über einen Stuhlsitz banden, mit ihr machen würden, sie schrie nur: `Ich arbeite nicht mehr für dich Schwein. Du, Schwein, du, Schwein.' Es war sehr schmerzhaft gewesen, die Eisenruten, auch genannt Totschläger, die brennenden Zigaretten und Zigarren. Aber das Schlimmste, das Grausamste, kam noch. Als sie fertig waren, sagte Johnny: `So, diesmal haben wir nur 379
deinen Arsch bearbeitet, aber das nächste Mal bearbeiten wir dein Gesicht.' Und zu einem der Beistehenden: `Hol mal Elvira!' Und aus dem Nebenzimmer bringen die ein Mädchen, das eine ganz gute Figur hat, enge Hose, modische Jacke, schöne Haare. Ich sehe sie zuerst nur schräg von hinten, nicht ihr Gesicht. Sie hockt sich herunter zu mir. Ich liege immer noch nackt über dem Stuhl angebunden. Immer noch zeigt sie mir nur den Rücken. Sie sagt: `Du willst also nicht mehr für Johnny arbeiten.' Ihre Stimme ist irgendwie komisch. `Ich wäre froh, wenn ich für Johnny arbeiten könnte, aber jetzt geht das natürlich nicht mehr.' Und während sie sagt, `ich war auch mal so ein dummes Ding wie du’, dreht sie sich langsam um. Das Grauen packte mich. Ich fing heftig an zu zittern. Ihr Gesicht war völlig vernarbt, wie von Brandwunden, als ob man ihr Gesicht in die Flammen gehalten hatte. Sie bindet dann meine rechte Hand los und hält mir ihr Gesicht hin: `Faß doch mal an!' Es war alles echt. Dann war sie zärtlich zu Johnny und sagte, wie sehr sie ihn liebte, und wie sehr sie gerne alles für ihn tun würde, leider könne sie ja nun nicht mehr auf den Strich gehen, und ich wisse gar nicht, wie glücklich ich sei, wo Johnny sich um mich kümmere und ich ihm noch Gutes tun könne. Johnny sei ein strenger, aber gerechter Herr, dem man dankbar sein solle. Frauen brauchten so einen Herrn. Adjuna, den schon lange das Grauen gepackt hatte, hatte bisher seine Stirn in die Hand gestützt, aber jetzt horchte er auf - Feuer, Feuer. Eine Frau. Das Feuer erinnerte ihn daran, daß seine Eva einst in einer anderen Welt verbrannt worden war. Und welche Ungeheuerlichkeit, wenn ihr Selbstbewußtsein einen solchen Schaden genommen hätte, daß sie die Schandtat wie jene fremde Frau als Segen empfunden hätte! Adjuna sprang auf, Hände zur Faust geballt. Das Mädchen neben ihm kleinlaut: “Zur Strafe für meine Auflehnung soll ich 1000 Mark anschaffen, sonst tun sie mir noch mal was an. Deshalb bin ich auch so billig. Viele Male billig bringt mehr, als lange zu warten und teuer zu sein.”
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“Komm, wir müssen zur Polizei gehen. Die sollen deinem Johnny mal das Handwerk legen. Der Kerl gehört ins Gefängnis.” “Nein, nein”, protestierte die Kleine. Ach ja, die Akteure der Großen Freiheit bevorzugten die Gesetze des Dschungels, Faustrecht. Adjuna war bereit, das zu akzeptieren. Er rieb sich die Fäuste. Unter seinen Armen Schutz suchend, führte das Mädchen ihn zu Johnny. Sie trafen Johnny und seine ganze Sippschaft noch in der Luxuswohnung, in der sie vorhin das Mädchen gequält hatten, an. Feindselig guckten alle das Mädchen und Adjuna an, die uneingeladen eintraten. “Das ist Johnny.” Sofort fuhr Adjuna den Zuhälter an: “Was machst du mit Mädchen?” und packte ihn am Revers seiner Jacke und schüttelte ihn durch. “Was ich mit meinen Alten mache, geht dich einen feuchten Dreck an!” schimpfte er mutig, doch als er sah, wie Freunde, die ihm zu Hilfe gesprungen waren, unter beiläufigen Schlägen und Tritten zusammenbrachen, bekam er es mit der Angst. Dann sah Adjuna die Frau mit dem verbranntnarbten Gesicht und er erinnerte sich wieder an Eva. Er schubste und schmiß den Zuhälter durch den Raum. Die Frauen, selbst das Mädchen, das er gefreit hatte, jammerten und baten um Erbarmen für Johnny. “Nein, tun Sie das nicht”, sagte die Frau mit den Brandnarben. “Kommen Sie, ich muß Ihnen was sagen, kommen Sie mit mir in den Nebenraum.” Was wollte die Frau von Adjuna? Sie wollte ihm die Wahrheit sagen. Aber sie wollte auch dem Johnny nicht das Geschäft vermasseln. Das widerspenstige Mädchen sollte nichts von der Wahrheit hören. Die Wahrheit war, daß Johnny so etwas nicht machte, wie kleinen Mädchen das Gesicht verbrennen. Das Gesicht der Frau war verbrannt, als sie mit einer jenen Maschinen, die die Menschen jener Zeit zur Fortbewegung benutzten, gegen einen Baum gedonnert war. Als Adjuna sich der Frau zuwenden wollte, zog Johnny eine Schußwaffe aus seiner Jacke und feuerte auf Adjuna. Ein alter Segen der Götter, der den Waffenlosen schützt und den Bewaffneten schlägt, 381
der Krishna leben ließ und Srutayudha erschlug, ließ die Kugel von der Gürtelschnalle abprallen und in Johnnies Unterleib fahren. Johnny verkrampfte sich am Boden, aber Adjuna packte ihn wütend beim Genick und zerrte ihn zum Kamin und stopfte seinen Kopf in die Glut. Dann floh er mit dem Mädchen, mit dem er gekommen war. Sie streubte sich, jammerte und drehte sich oft um. Mann, in was für einem Blutrausch waren wir!
Hier auf der Großen Freiheit ist noch Leben - wie auf einer Wiese, jeder Grashalm kämpft gegen jeden.
Adjuna eilte wieder zum Tempel, irgendwo unterwegs verschwand das Mädchen in der Menge. Vor sich sah er plötzlich ein anderes Mädchen, das Mädchen, das auf dem Bahnhof der gehörnten Stadt von der besorgten Mutter Abschied genommen hatte. Sie ging Arm in Arm mit einem Johnny die Reeperbahn entlang. Am Tempel nahmen die Beiden voneinander Abschied, und das Mädchen stellte sich zu den Säulenheiligen. Die Heilige von der Nachbarsäule warf dem hübschen Mädchen haßvolle Blicke zu. Aber als das Mädchen, das Adjuna gerade von ihrem Zuhälter befreit hatte, in den Hof kam, begrüßte es den Neuankömmling freundlich. Sichtlich erleichtert schien sie jetzt zu sein, frisch geschminkt, fröhlich gekleidet. Als sie Adjuna sah, lief sie hinzu, bedankte sich und verriet: “Ich bin froh, endlich unabhängig zu sein.” Sie küßte ihn auf die Wange und flüsterte: “Für dich mache ich's natürlich den Rest meines Lebens gratis. Komm nur, du weißt ja, wo du mich finden kannst.” Endlich nannte sie ihm auch ihren Namen, ihren Allerweltsnamen, Allerweltshurennamen: Lolita. Am Kreuzgang ging eine Tür auf und heraus kam Luz. “Hallo, Adjuna, entschuldige, ich habe zwei Stunden genommen. Hast du lange gewartet?” “Schon gut, Luz.” Adjuna legte den Arm um seine Schulter 382
- “Tschüß, Lolita!” - und gemeinsam gingen sie raus, das heißt, der eine humpelte. Am offenen Tempeltor stieß Luz mit einem graumelierten Herrn zusammen, dessen fahrige Bewegung und stierer Blick schon seine Erregung verriet. Das Mädchen aus der gehörnten Stadt: “Da kommt ein armer Mann, der Hilfe braucht beim Samenspucken.” Lolita: “Was sind Männer doch für arme Schweine!”
Luz und Adjuna waren noch nicht weit gegangen, da sahen sie, wie ein junger Mann in bunten Kleidern von einem Passanten angespuckt wurde. Adjuna: “Nanu, der Mann hat dich ja angespuckt. Was fällt dem ein!” Der bunte Mann: “Der dachte wahrscheinlich, es ist anständiger, an einem Strichjungen vorbeizugehen und zu spucken, als vorbeizugehen und nicht zu spucken.” Adjuna: “Das ist erstaunlich. Ein Strichjunge ist doch anständiger als ein Spucker. Ein Strichjunge schadet niemandem.” “Danke.” Die Drei, der bunte Jüngling, Luz und Adjuna, standen also auf dem Bürgersteig. B-ü-r-g-e-r-steig. Sie waren in Feindesland. Bürger? Der junge Mann trug nicht nur bunte Kleider wie ein Harlekin, er hatte auch lange, schön zurecht gemachte Haare und zarte, mädchenhafte Gesichtszüge. Adjuna dagegen war übergroß und übermännlich, sein wohl fünf Meter langes Haar war nach alter, indischer Kriegerart auf seinem Kopf aufgetürmt, außerdem war es pechschwarz, was hier im blonden Norden schon an sich ein Verbrechen war. Luz aber sah am verkommensten aus; strähniges, fettiges Haar hing ihm auf die Schulter; ein vorstehender Spitzbart, stark behaarte Unterarme, seine schiefe Haltung und ungeputzte Schuhe taten ein Übriges. Alle Drei hatten eins gemeinsam: Sie sahen nicht wie Bürger aus. Der Bürgersteig ist für Bürger gemacht. Und Bürger wälzten sich an ihnen vorbei: “Hast 383
du gesehen, was der für Loden hat?” “Der sollte mal zum Friseur!” “Zur Wäscherei.” “In die Mülltonne gehört so was.” “Hippie.” Der Janhagel aber, also die meisten, die riefen, da der Einhodige es so schön vorgemacht hatte: “Euch sollte man vergasen!” oder “Der Einhodige hätte euch vergast!” Das war also die moderne Version von `De hagel sla hem!' Unsere Freunde sollten es noch oft hören, bis sie es nicht mehr hörten, es zur Hintergrundmusik geworden war. Kein Zweifel dieses Volk hatte von nichts gewußt. Schlimmer noch: Es wußte noch immer von nichts. Weiß überhaupt jemand was? Adjuna aber fragte den Bunten: “Wer bist du?” “Ich bin eine männliche Prostituierte. Ich nenne mich `leibhaftiger Gott' ...” Luz horchte auf. “...denn ich habe einen Leib und wie ein Gott erfülle ich Wünsche, die besonderen Wünsche meiner Kunden, wie ein Gott bin ich eine Handpuppe, ein bloßer Gegenstand, man liebt nicht mich, man liebt nur seine eigene Projektion, wenn man es mit mir treibt. Ich aber bleibe unbekannt.” “Gut”, sagte Adjuna, “du nennst dich leibhaftiger Gott, aber wie heißt du wirklich?” “Meine Eltern haben mich Gottlieb getauft, aber den Namen mag ich natürlich nicht. Ich nenne mich übrigens auch `der lebendige Gott' im Gegensatz zum toten Gott, wenn ich fühle, daß ich lebe, aber das passiert nur, wenn ich privat bin.” “Ich heiße übrigens Adjuna, und das ist der Leibhaftige.” “Ja, ich bin Luzifer, aber du kannst mich wie Adjuna einfach Luz nennen.” Kräftiges Handeschütteln allerseits. Eine neue Heilige-Drei-Einigkeit.
Ob sie uns nun die Rinder wegfressen, oder ob sie uns losschicken, damit wir uns gegenseitig umbringen, Götter sind nichts Gutes, so mag manch einer zu Recht denken, wer aber den lebenden und leibhaftigen Gott bei der Arbeit gesehen hat, der wird wie Adjuna ausrufen: “Einen solchen Gott lob' ich mir, der wirklich aufopferungsbereit ist! Welche Selbstlosigkeit!” Nicht nur tat der Bunte, wie Adjuna ihn auch nannte, 384
tagtäglich alles, um seine Kunden zu befriedigen, und das auf die hingebungsvollste Art, sondern an einem jeden Freitag, nicht nur am Karfreitag oder an einem einzigen Freitag seines Lebens, erlitt er nach einer Gummischwanz-im-Anus-Aufführung auf der Bühne eines Homo-Treffs seine Geißelung an der Säule, ein allwöchentliches Martyrium. Das Volk schrie dann vor Begeisterung und fand schließlich Erlösung. Das Volk schreit immer und will immer Erlösung. Wollen wir das Volk nicht zu sehr verachten, wie gesagt, wir teilen das Menschsein mit jedem einzelnen vom ihm. Freilich, Götter und Teufel teilen mit niemandem das Menschsein und müssen anders beurteilt werden. Großzügiger oder strenger. Auch Luz, vom Vorbild des lebendigen Gottes angetan, überwand sein Lampenfieber und half bei der Aufführung - indem er den Gummischwanz ersetzte. Das scheue Gesicht von einer geilen Teufelsmaske verdeckt, den kongenitalen Pferdeschwanz unter breitem, schwarzem Gürtel versteckt, sein doppelgroßes Glied aber gewaltig vorgestreckt, wurde er schnell zum Publikumsliebling, zum Herbeizauberer von Ekstase, Beifallsstürmen und Massenorgien. So wurde aus dem menschenscheuen Luz ein Menschenfreund und Freudebereiter. Das Lokal, oder die Lokalität, dessen Kolorit wir eben so anschaulich geschildert haben, aber hieß Die Heilige Stadt Sodom. Wo lag dieser heilige Ort nun? Ich kann ihn nicht mehr genau lokalisieren. Ich weiß nur noch, er lag am Bürgersteig. Das heißt, Bürger und Janhagel fluteten an ihm vorbei. Unvermeidlich, daß einige stehen blieben: “Selbst Heiliges ziehen die Schweine in den Dreck.” Jan Hagel hatte es mal wieder nicht verstanden: Das vermeintlich Dreckige wurde hier geheiligt. Adjuna aber blieb bei alledem abseits. Er arbeitete an einem Programm zur Rettung der Menschheit, kontemplatierte über Erlösung, über eine 385
Erlösung, die größer war als die Erlösung vom Samendruck in den Testikeln und vor allen Dingen mehr löste. Alle halfen mit: Die Bürger halfen mit, indem sie das richtige Stichwort gaben, und selbst die, die die Homos vom Hagel erschlagen haben wollten, oder moderner, vom Einhodigen vergast, waren ihm eine Hilfe, denn genau das war's: Kümmere Dich nicht um Dinge, die niemandem schaden, denn dann schadest Du anderen! Das sieht ganz nach einem Gebot aus. Und genau das sollte es auch sein: Ein Gebot. Wem ist das schon mal klargeworden, daß das Starten eines Motores, das Anzünden eines Glimmstengels, übermäßiges Konsumieren und Verzehren, ja sogar auch nur mäßiges, alles irgendwie den Mitmenschen mehr schadet als der perverseste und kotigste Sex unter konsentierenden Partnern. Adjuna suchte sich gleich eine Kanzel, die er in Form eines Balkons an der Fassade der Heiligen Stadt Sodom fand. Von dort hielt er seine Predigt zum Thema:
Freiheit
Leider wird die Idee der Freiheit von den wenigsten verstanden. Weder die demokratisch gewählte Regierung noch Tante Emma versteht sie. Die Vordenker und Vertreter des freien Westens haben es versäumt, Freiheit zu wagen, sondern die Freiheit auf einen bedeutungslosen Wahlvorgang beschränkt. Freiheit verlangt Opfer. Und viele haben sich geopfert für unsere Freiheit. Doch das ist lange her. Früher opferte man sein Leben, heute nicht einmal seinen Posten. Alle Lügen der Welt müssen herhalten als 386
Klammer an die geliebte Machtposition. Doch wer sich festklammert und gezwungen ist zu lügen, ist nicht frei. Laßt mich erklären, was ich unter Freiheit verstehe: Wie so vieles beginnt auch die Freiheit ganz klein. Wer ein Neugeborenes Kopf runterhängend auf den Hintern haut, versteht nichts von Freiheit, sondern begeht eine Vergewaltigung, ebenso wer ein Baby gewaltsam entwöhnen will. Weiter muß man dem Kind die Freiheit lassen, ob es was werden will oder nicht und was. Ob Müllmann oder Mediziner, Hure oder Nonne, die Berufswahl ist Sache des Kindes, die Eltern können höchstens raten, aber nichts erzwingen. Man muß also dem Kind die Entscheidung überlassen, ob und was es lernen will. Leider wird den Kindern der Wunsch zu lernen, oft von Lehrern, die die Freiheit des Kindes und oft auch die der Eltern nicht ehren, genommen, oft unter dem Vorwand doch nur das Beste zu wollen”, was gerade das Schlimmste ist, nämlich aller Übel und aller Unfreiheit Anfang. Zu entscheiden, was das Beste für einen Menschen ist, das Recht hat nur einer, nämlich der entsprechende Mensch selbst. Und wenn er auf dem Fenstersims steht und runterspringen will, wir dürfen ihn nicht aufhalten. Wer sagt uns denn, daß das nicht das Beste für ihn ist. Nicht kaltherzig entwickele ich hier meine Theorien, sondern ich stelle mir dabei vor, daß die liebsten Menschen, die ich auf dieser Welt hatte, nämlich meine Frau Eva und das Kind, mit dem sie schwanger war, sich zu diesem Schritt entschlossen hätten. Leider wurden Beide von Feinden der Freiheit, des Freitodes und jeden anderen guten und schönen Todes ermordet, was unverzeihlich ist. Hätten sie selbst jedoch sterben wollen, wie sehr ich sie auch vermißt hätte, so hätte ich doch ihre Freiheit zu gehen geehrt und behalte mir das gleiche Recht vor. In einer Gesellschaft, wo die Freiheit so weit respektiert wird, wird es natürlich weniger Selbstmordversuche geben. Wie es überhaupt 387
weniger Versuche geben wird, die Verantwortung für das eigene Leben anderen zu überlassen. Freiheit hat Grenzen. Das Reich der Freiheit endet da, wo der Schaden des anderen beginnt und nur da. Wie wenig das verstanden wird, will ich an einigen Beispielen und Gegenüberstellungen verdeutlichen: Wir gehen also hinaus und sehen uns um. Ah, die Straße ist gerade frei, schnell rüber. Das kostet aber Strafe, sagt der Polizist, die Ampel war rot. Als Fußgänger hatten wir also Pech, nehmen wir also lieber ein Auto oder ein Motorrad. Doch auch hier müssen wir den großen Bevormundern Folge leisten, haben sie doch entschieden, daß es zu unserm Besten ist, wenn wir uns anschnallen bzw. einen Helm tragen. Man hält uns für zu unreif, selbst abzuwägen zwischen den zusätzlichen Kosten, dem Eingeengtsein, dem schwitzenden Kopf und dem geringeren Verletzungsrisiko. Und so lernen wir es wirklich nicht, frei zu sein, sondern nur, stur Regeln zu folgen. Im Verkehr merkt man es besonders. Obwohl die Situation immer eine andere ist und Anpassung und Abwägung verlangen, sind Vorschriften und Verbote unveränderlich. Eine sichere Geschwindigkeit hängt von Faktoren wie Verkehrsaufkommen, Wagentyp, Erfahrung und Alter des Fahrers etc. ab, doch man vertraut die Entscheidung darüber lieber einem runden Stück Blech an und nicht uns selbst. Der Luxus anderen vorzuschreiben, was gut für sie ist, also ihre Freiheit nicht zu respektieren, kostet einer Unmenge Leute das Leben und dient der Unterwelt. Diese Behauptung erstaunt sicher. Es gibt Leute - und warum sie so sind, darüber kann man nur spekulieren, daran, daß man ihnen die Verantwortung für ihr eigenes Leben anvertraut hat, daran kann es nicht liegen, denn man hat es nicht getan - diese Leute haben eine große Sehnsucht, sich zu vergiften, nicht schnell, sondern immer wieder ein bißchen. Da sie sich dieses Rauschgift, das sie brauchen, nicht auf dem freien Markt billig besorgen können, müssen sie horrende Unterweltpreise zahlen, was sie 388
nicht nur all zu oft zu Raubmördern werden läßt, sondern auch noch ein Gangstertum aufblühen läßt, dem ein Menschenleben nichts wert ist. Dabei stört dieser Akt, das Rauschgift in die Vene zu spritzen, einen Mitmenschen weniger als Rauchen, das für einen nebenstehenden Nichtraucher sehr unangenehm sein kann und immer ein Angriff auf sein Wohlbefinden ist. Ein Gebot der Vernunft wäre es also, Rauschgift zu legalisieren und das Rauchen in der Öffentlichkeit zu verbieten. Die größten Feinde der Freiheit sind Moral und Moraltheologen, aber auch Tante Emma und die anderen Klatschbasen kommen hier zu Wort. Denn es ist nichts anderes, als die Freiheit mit Füßen zu treten, wenn man sagt: “Mit wem läuft die denn da schon wieder. Die hat auch jede Woche einen anderen.” oder “Was für ein Kleid die anhat, und was für eine Frisur! Schrecklich!” oder “Der soll ja schwul sein.” oder ... oder ... oder ... Ein jeder frage sich mal, ob er frei davon ist. Klatsch ist schlimm, aber einen größeren Fußtritt versetzen die Moraltheologen der Freiheit mit ihrer Moral, mit ihrer sexualfeindlichen Moral. Oh, wie sehr bedaure ich die Menschheit, daß sie noch immer ein Moralsystem mit sich herumschleppt, das aus der Zeit zu stammen scheint, als der Mensch gerade laufen lernte und ein übergroßes Bedürfnis hatte, sich vom Tier zu unterscheiden. Und seine Sexualität schien ihm das tierischste an ihm zu sein, weshalb er sie verdammte, nicht bloß bei sich selbst, sondern auch bei anderen. Wer keusch leben möchte, soll keusch leben, sich aber nicht wundern, wenn er dabei verrückt wird. Und wem die Missionarsstellung das einzig Wahre ist, der möge damit glücklich werden. Das ist seine Freiheit. Das Sexualvergnügen, die Einwilligung des Partners vorausgesetzt, ist doch das Vergnügen, mit dem man am wenigsten Schaden anrichtet. Welche Perversitäten sich die Partner auch ausdenken, es ist harmloser als konsumieren, Auto fahren, eine Flugreise, was ja alles auch Umweltverschmutzung und Rohstoffverschwendung bedeutet. 389
Jede Prostituierte hat einen ehrlicheren Beruf als ein Moraltheologe. Während die Prostituierte ehrlich ihre Ware an einen Nachfrager verkauft, geht der Moraltheologe herum und will anderen ein schlechtes Gewissen aufzwingen. Die Freiheit endet da, wo der Schaden des anderen beginnt und nur da. Legalisiert die Prostitution, aber verbietet die Moraltheologen. Die Verwirklichung einer solchen Freiheit wird Opfer mit sich bringen, nicht nur Verkehrsopfer, aber letzten Endes wird sie einen verantwortlicheren Menschen hervorbringen und eine Gesellschaft, die mit einem Minimum am Vorschriften besser funktioniert als unsere gegenwärtige mit ihrer unüberschaubaren Menge an Gesetzen.
Doch wohin fiel Adjunas Saat? Unten war nur Asphalt, Bürgersteig und Spreu - und Sakramenter.
Adjuna juckte sich am Kopf. Er freute sich über das eine Gebot, das er gefunden hatte, und dachte nach, ob es wohl noch mehr gebe. Zum Vergleich nahm er sich die zehn Gebote der Konkurrenz vor: Nummer eins. Du sollst keine anderen Götter haben neben mir. Daraus könnte man vielleicht machen: Du sollst keine Götter haben. Aber dann verwarf er das wieder. Blödsinn! Jahwe verschwendet am Anfang zu viele Wörter für die eigene Bebauchpinselung. Wollen wir nicht den gleichen Fehler begehen und Wörter für verbale Arschtritte verschwenden. Was hat Jahwe denn noch verzapft? Sabbat heiligen. Unsinn. Ist doch nicht jeder am siebten Tag müde!
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Vater und Mutter ehren. Ehre, wem Ehre gebührt! Ich habe schon zuviel von dieser Welt gesehen, um nicht zu wissen, daß manch ein armes Kind Dummheit und Brutalität zu Eltern hat. Bringt nicht jeder Hans und Franz Kinder zur Welt, aber weder Hans und Franz noch Dummheit und Brutalität verdienen Ehre in dieser Welt. Was noch? Dieser Superverbrecher erzählt uns, nicht zu stehlen und zu töten. Nicht stehlen, nicht töten, gut, aber nicht gut aus Gottes Mund; wer hat mehr gemordet und geraubt? Stehlen wir freilich der Menschheit ihren Gott, ... oder töten wir Gott, ... ein solcher Diebstahl oder Göttermord wäre ... das Beste überhaupt, das ein Mensch auf dieser Erde vollbringen könnte. Nummer zehn: ... Weib und Mobiliar... Ach, das ist ja alles gar nicht zu gebrauchen. Wir Menschen müssen selbst denken. Gebot Nummer eins: Denke! Ah, sehr gut. Gleich am Anfang eine Aufforderung, etwas Positives zu tun, und kein Verbot, kein Du-sollst-nicht! Adjuna, denke! Du mußt noch mehr Gebote finden. Denke, denke, denke! Wie wäre es mit... Schade nicht! 391
Schade niemandem und nichts! Schade niemandem und nichts, nur Gespenstern!? Noch nicht gut. Schade niemandem und nichts, nur den Schädlingen! Das wird gehen. ...und alles, was nicht schadet, ist erlaubt. Mußt Du schaden, so laß den Schaden so gering wie möglich sein. Das wäre dann das dritte Gebot. Als viertes Gebot nehmen wir, was wir zuerst gefunden haben: Kümmere Dich nicht um Dinge, die niemandem schaden, denn dann schadest Du anderen! Fünftens: Die Menschen sind nicht gleich, aber jeder hat gleiche Rechte. Sechstens: Jeder Mensch trägt die Verantwortung für sich und sein eigenes Handeln. Vielleicht sollte ich auch etwas über den Besitz sagen. Siebtens: Jedem gehört, was er sich erarbeitet hat, geschenkt bekommen oder geerbt hat. Oh, und für die, die dem Reichen alles wegnehmen wollen, weil sie glauben, nur Reichtum macht glücklich, brauchen wir noch extra ein Gebot. Puh, gar nicht so leicht, Gott zu spielen. Woran man alles denken muß! Also Nummäääh --acht: Seid nicht neidisch! Oh, und noch was Wichtiges zum Besitz. Wie war das doch mit Frau und Mobiliar?
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Neun: Ein Mensch... Soll ich nun für Christen extra betonen, da auch Frauen damit gemeint sind? Oh, mein Gott, ist das kompliziert! Und für Sklavenhalter, daß auch Schwarze dazu gehören? Sicher nähme man mir das übel und spräche von Diskriminierung. Wenn Jahwe es erlaubt, daß man Sklaven langsam totprügelt1, so kreidet ihm das niemand an, bloß weil er etabliert ist und überall seine Gehirnwäscher hat. Welche Ungerechtigkeit! Mich wird man zerreißen, aber ich reiße zurück. Das neunte Gebot heißt also: Ein Mensch gehört niemandem, außer sich selbst. Und als letztes müssen wir noch mit den Pflichten aufräumen, hatten die Götter, allen voran Jahwe, es doch so groß mit den Pflichten. Pflichten wie: Rinderopfern, Beweihräuchern, Bußetun, Beten und Beichten, Kirchensteuernzahlen. Das zehnte Gebot: Es gibt keine Pflichten, außer den Pflichten, die man freiwillig eingegangen ist. Daraus könnte man dann auch eine Pflicht für die Aufzucht der Kinder ableiten, die man nach der freien Entscheidung, nicht zu verhüten oder abzutreiben, zur Welt gebracht hat. Natürlich, der Elternteil, der das Kind will, muß für das Kind sorgen und die Kosten dafür allein tragen, wenn der andere die Abtreibung will oder zumindest das Kind nicht will. Die Frau darf natürlich nicht vom Mann zum Austragen gezwungen werden. Die Entscheidung darüber liegt nur bei der Frau, denn das Kind wächst immer noch in ihrem Bauch. Wenn die Forschung so weit ist, daß sie künstliche Gebärmütter zum Austragen der Kinder entwickelt hat, können wir auf den Bauch der Frauen verzichten, was sicher von den meisten Frauen mit Erleichterung begrüßt werden wird und auch Männer können dann
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siehe zweites Buch Moses 20, 21
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Vater werden ohne Frauen oder Einverständnis von Frauen, bloß ne Eizelle müßten sie sich natürlich besorgen.
Als Luz und der Bunte zurückkamen - sie wohnten jetzt alle Drei in einer gemeinsamen Wohnung -, zeigte Adjuna ihnen seine zehn Gebote. Doch die Beiden hatten Einwände: Warum zehn? Wir wollen doch besser sein. Warum nicht elf? Oder warum nicht nur eins? Ein klares Gebot für alles. Es stellte sich heraus, daß der Bunte die Höhere Schule besucht hatte: “Ja, eins”, meinte er, “ein oberstes Sittengesetz. Kants Kategorischer Imperativ zum Beispiel: Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.” “So, so”, spöttelte Adjuna, “du bist also ein Gott, der für die Aufklärung ist. Aber weißt du auch, daß Kant noch mehr gesagt hat, zum Beispiel auch öfters: Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! Das ist auch mein Anliegen, und mit meinem ersten Gebot habe ich das Gleiche ausgedrückt, allerdings knapper und imperativer.” Jetzt kam Luz mit einer volkstümlicheren Version: “Tue deinem Nächsten, was du möchtest, das er dir tue”, und der Bunte nickte zustimmend. Adjuna aber sagte streng: “Gottlieb, ein Masochist wie du sollte doch als erster erkennen, daß so etwas nicht ein allgemeines Gesetz sein kann. Wenn man Gesetze macht, darf man den Menschen nicht auf sein eigenes Wünschen, Wollen und Handeln zurückwerfen und von ihm verlangen, daß er das zum Maßstab aller Dinge macht. Wenn ihr so weiter macht, dann sind wir bald über Wie-du-mir-So-ichdir wieder beim alten Auge-um-Auge-Zahn-um-Zahn. Nein, so geht es nicht, wir müssen denken und wir dürfen nicht schaden. Aber viele Dinge stellen sich uns in den Weg - uns und der Menschheit auf ihrem Weg ins Glück: Religionen, Ideologien, Nationen, Vaterländer, Muttersprachen, Sprachbarrieren und was sonst noch alles Menschen von Menschen trennt. Religionen und Ideologien müssen wir loswerden und da hilft nur eigenes Denken, jeder muß lernen, geistig frei zu sein. 394
Aber Kant hat richtig erkannt, Faulheit und Feigheit sind die größten Assistenten der geistigen Bevormunder. Die Unmündigkeit trägt immer den Sieg davon. Ein harter Kampf liegt also vor uns, wenn wir diesmal nicht siegen, bedeutet das der Untergang der Menschheit - mindestens. Nationen, Vaterländer, Muttersprachen, Sprachbarrieren, Rassen, alles, was die Menschheit teilt, müssen ebenfalls verschwinden. Wir brauchen nur eine Sprache, egal welche, bloß eine, eine einzige, damit wir uns überhaupt erst einmal alle verstehen. Grenzen brauchen wir nicht. Wieviel Elend haben schon Grenzen geschaffen! Wie viele Menschenleben hat schon das Verschieben der Grenzen - oft nur um ein kleines Stück - gekostet? Hunderttausende, Millionen! Und diese lächerlichen Grenzen werden noch viel mehr kosten, wenn wir sie nicht abschaffen! Wir müssen lernen, eine Menschheit zu sein. Wir brauchen das Gegenteil von dem, was der Einhodige wollte, Rassenmischung statt Rassenreinheit. Zwar kann man niemanden zwingen, seinen Ehepartner unter einer anderen Rasse zu suchen, aber man sollte alles tun, um eine solche Verbindung attraktiv zu machen. Mischt die Rassen, mischt die Völker, bis, wo immer sich eine Menschenmenge sammelt, ein buntes Feld aller Hautschattierungen entsteht, und nirgends mehr nur Bleichgesichter oder Schwarze zu sehen sind.” “Früher haben Fürsten und Könige ihre Untertanen geeinigt, indem sie auf einen äußeren Feind aufmerksam machten. Vielleicht könnten wir uns eines ähnlichen Tricks bedienen?” “Ja, ein Angriff der Götter zum Beispiel.” “Dann hauen sie dich als ersten tot.” “Ich würde mich rechtzeitig Gottfeind nennen.” “Aber trotzdem geht es nicht. Einmal würden die Leute es nicht glauben. Selbst die Blödsten sind heutzutage nicht so blöde, einem Propheten zu glauben, der nicht mindestens vor zweitausend Jahren gelebt hat. Und zweitens geben sich die Leute bei Göttern sofort auf.” “Wie wäre es denn mit außerirdischen Wesen, wir könnten gefährliche Piraten von andern Planeten spielen, Marsmenschen zum Beispiel.” “Aber Luz, weißt du denn gar nicht, daß heutzutage schon jeder weiß, daß die anderen Planeten unbewohnt sind.” “Dann eben von einer anderen Galaxis.” “Sonnensystem täte es auch. - Da fällt mir ein, in England macht irgend jemand große magische Zirkel und Zeichen auf Kornfelder, und die Leute glauben an 395
fliegende Untertassen, vielleicht können wir sowas auch in der Umgebung von Hamburg machen, vielleicht mit einer bedrohlichen Mitteilung, nicht zu schwer zu entschlüsseln.” Adjuna aber bestand darauf, er wolle keine Tricks und seine Gegner nicht austricksen, sondern durch Argumente und Aufklärung überzeugen. So fuhren Luz und der Bunte alleine aufs Land. Während die Beiden also der Menschheit einen Streich spielen wollten und mit ihrem neuen Bären sicher nur ein Übertreten von Adjunas erstem Gebot erreichen werden, machte Adjuna sich auf, um die Zehn Gebote der Neuzeit drucken zu lassen, zu verteilen und zu erklären. Es war mühselige Arbeit, alles zu organisieren, und Adjuna verfluchte im Stillen seine beiden Mitstreiter, die sich aus dem Staub gemacht hatten, um irgendwelchen Schabernack zu treiben. Aber jetzt hielt er endlich seine Flugblätter mit den Zehn Geboten der Neuzeit in den Händen und war zufrieden wie Jahweh, bevor er die Menschen schuf. 1. Denke! 2. Schade niemandem und nichts, nur den Schädlingen! 3. Alles, was nicht schadet, ist erlaubt. 4. Kümmere Dich nicht um Dinge, die niemandem schaden, denn dann schadest Du anderen. 5. Die Menschen sind nicht gleich, aber jeder hat gleiche Rechte. 6. Jeder Mensch trägt die Verantwortung für sich und sein eigenes Handeln. 7. Jedem gehört, was er sich erarbeitet hat, geschenkt bekommen oder geerbt hat. 8. Seid nicht neidisch!
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9. Ein Mensch gehört niemandem, außer sich selbst. 10. Es gibt keine Pflichten, außer den Pflichten, die man freiwillig eingegangen ist.
Adjuna hatte sich ein sehr irdisches Paradies ausgesucht, um seine Mission zu beginnen, das Fußgängerparadies der Mönckebergstraße. Irgendwo mußte er ja anfangen und da die Schöpfungsmythen der Welt meist von einem paradiesischen Urzustand berichten, war die Ortswahl sicher nicht so unangebracht. In gewisser Hinsicht war dieses Paradies dem Garten Eden sogar überlegen: Es verfügte zum Beispiel über ein größeres Warenangebot und alle Waren standen für einen mehr oder weniger fairen Preis jedem zur Verfügung, ohne daß es notwendig war, dem Chef zu schmeicheln. Auch Musik gab es im Fußgängerparadies, zwar hörte man nicht die Engel singen, aber das machte nichts. Für mehr Stimmung als monotoner Engelsingsang sorgten hier Bänkelsänger mit ihren Moritaten, Blumenkinder, die auf der Gitarre herumhackten, eine Musikstudentin, die die Querflöte spielte, ein alter Seemann mit dem Schifferklavier und jemand, der so unmusikalisch war wie der Autor dieses Buches, und der an dem einzigen Instrument, das er spielen konnte, herumdrehte - ein Drehorganist, Leierkastenmann. Adjuna war nicht der einzige, der die Welt verbessern wollte. Gleich zu Beginn ermahnte jemand die Menschen, die Bibel genau zu lesen. Adjuna dachte schon einen Gleichgesinnten gefunden zu haben: “Genau, genau, man muß die Bibel genau lesen und nicht darauf hören, was Priester einem vom Christentum erzählen, dann wird man merken, auf was für einem Unsinn und Menschenhaß das Ganze basiert.” Aber der Mann mit dem Wachturm-Heftchen hatte was ganz anderes gemeint, nämlich die absolute Unterordnung des Menschen unter Gottes Willen, selbst da noch, wo Gottes Wille nicht ganz klar war, wie bei lebensrettenden Bluttransfusionen, denn der gute Gott oder seine Erfinder hatten natürlich nichts von den Möglichkeiten einer Bluttransfusion geahnt und lediglich das Bluttrinken verboten. Der 397
brave Zeuge Gottes wollte aber lieber sich und seine geliebte Familie sterben lassen, als gegen Gottes vermeintlichen Willen handeln, allerdings Rinder oder zumindest Kleinvieh opfern, wie in der Bibel ausdrücklich vorgeschrieben, wollte selbst er nicht. Die Stinkerei von brennenden Tierkadavern hätte ihm auch sicherlich jeder in der Einkaufstraße übelgenommen. Außerdem warnte er vor der letzten Schlacht von Harmagedon, die er gleichzeitig herbeizusehnen schien. Vielleicht hoffte er bei seiner Frömmigkeit dieses Blutrausch-Austoben Gottes zu überleben. Danach sollte jedenfalls alles viel besser werden, selbst Löwen würden keine Lämmer mehr fressen, sondern Gras. Auf Adjunas Einwendung, daß die armen Viecher mit solcher Diät sicher nicht glücklich würden, sagte der Zeuge: “Während des letzten Krieges, als der Zoo kein Fleisch hatte, hat man den Löwen auch Gemüse gegeben und sie haben überlebt. Das beweist, daß Löwen sehr wohl ohne Fleisch leben können.”1 Uff, das war eine harte Landung nach den Höhenflügen ins Reich des Fantastischen. Adjuna, mit beiden Beinen auf dem Boden stehend, war klar, daß mit Bußetun und Beten kein Harmagedon verhindert oder verbessert werden konnte, sondern daß es gerade die Religionen, besonders die Niemand-sei-neben-mir-Religionen waren, die die Welt in die Apokalypse trieben. Götter, für die es das Wichtigste ist, das niemand neben ihnen ist, können nur die Vernichtung der anderen wollen und jeder, der solche Götter anbetet, egal ob kniend in der Kirche oder fünfmal pro Tag mit gehobenem Hintern in der Wüste, wird, wenn er die Macht hat, zur selben Erkenntnis kommen und vernichten wollen. Oh, laß den Kelch an uns vorübergehen; Religion und Jenseitsfaszination gemischt mit moderner Waffentechnik ergibt ein tödliches Gesöff. Adjuna predigte also die Anti-Religion, verglich seine zehn Gebote mit denen der Bibel, erlaubte ausdrücklich das Ehebrechen, oder viel mehr, trat gleich für Freie Liebe ein, ein freies Zusammenleben ohne Zwang 1
siehe zweites Buch Moses 20, 21
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und warnte immer wieder vor der Intoleranz der Religion und der Macht der Kirchen. Da stellte jemand die Gretchenfrage: “Willst du die Religion nicht tolerieren?” Natürlich wollte Adjuna das. Wie an jeder Liebesbeziehung so ist auch an einer Liebesbeziehung zu Gott nichts auszusetzen, wenn man nicht seinen Nachbarn stört. Aber das war es ja gerade. Ein normaler Mensch, dem Schweinefleisch nicht schmeckt oder zu ungesund ist, der wird keins essen und damit hat's sich; ein religiöser Mensch aber, dem das Schweinefleisch vielleicht sogar schmecken würde und der sowieso keine Ahnung hat von Sutoxine und Skrofulose, will, allein weil sein Gott es gesagt hat, Schweinefleisch für alle verboten wissen, genauso werden berauschende Getränke, Nacktheit, Sex, ja sogar Sonntagsarbeit unterdrückt, vor allen Dingen aber freies Denken und Glücklichsein, nach eigner Façon Glücklichsein.
Dieses Nach-eigner-Façon-Glücklichsein und Glücklichseinlassen lag Adjuna besonders am Herzen. Wenn die Menschheit das gelernt hat, wird sie sich nicht mehr totschlagen. “Ja, dürfen die Priester denn nicht mehr predigen?” “Sie dürfen. Aber wir dürfen es auch. Unsere Stimme muß man auch hören. In den Medien und überall. Chancengleichheit. Zwar haben wir es schwerer die haben ne Hölle, mit der sie drohen können, wir stehen mit leeren Händen da - aber am Ende werden wir siegen. Zunächst aber müssen wir erreichen, daß die nicht mehr ihre Gehirnwäscher auf hilflose, eine Kinder loslassen dürfen, oder zumindest auch der freie Mensch den Kindern lehren darf, damit bei denen nicht das Licht ganz ausgeht. Wenn die nicht die Menschheit Jahrhunderte lang dumm gehalten hätten, wo ständen wir jetzt! Selbst hier und heute ist der Mangel an ehrlicher Information in früher Kindheit das Haupthindernis für eine Verständigung zwischen Euch und mir und mit Andersdenkenden überhaupt. Ja, nicht nur blutige Verbrechen haben die auf dem Kerbholz!” Aber sie wußten nicht, was er meinte.
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“Noch eine Gretchen-Frage: Du sagst, du willst alles tolerieren. Willst du etwa auch die Faschisten tolerieren, die neuen Nazis?” “Richtig! Neue, braune Scheiße, oder richtiger Scheißer - wer braun zur Farbe hat, braucht sich über solche Verwechselungen wirklich nicht zu wundern - dürfen nicht ausgegrenzt werden. `Verbot oder gar Tod den Faschisten' ist selbst ein faschistischer Akt. Die sagen, was sie denken, und wir sagen was dagegen. Zwang und Gewalt muß man vermeiden, solange es eben geht. Zwang und Gewalt sind gefährliche Zwickmühlen. Mit jedem Zwicken werden sie schlimmer, bis alles bezwungen ist, ein jeder in Zwangsjacke. Was soll man denn machen, mit den neuen Faschisten? Umbringen kann man sie doch nicht für ihre Meinung, und wenn man sie verbietet, so sind sie trotzdem da, aber weil man sie nicht hört und sieht, erhalten sie keine Antwort mehr und brodeln im geheimen Kämmerlein vor sich hin und werden radikaler und gefährlicher. Die ganze Gesellschaft aber verlernt die geistige Auseinandersetzung. Wo der Geist nicht funktioniert, schlägt man leichter zu. Sehen wir uns doch noch einmal den Einhodigen und seine Horden an. Sicher, sie waren nur schlecht, das sagt heute jeder, und was hat es da noch Sinn, Lehren zu erteilen? Doch was waren ihre Fehler? Großmacht-Fantastereien zu erliegen, Instinkten und niedrigen Gefühlen wie Haß und Vaterlandsliebe zu folgen, Selbstüberschätzung, ein Mangel an Menschlichkeit. Man wollte Übermensch sein, aber schaffte nur Untermenschen. Man schaffte es bis zur untersten Stufe des Untermenschen, noch tiefer ging es nicht. Übermensch wird man nur durch seine Humanität, nie durch Bestialität. Um Übermensch zu werden, muß man die kleinen menschlichen Schwächen wie Macht, Ruhm und Gier besiegen, aber auch seine Müdigkeit und Trägheit, man muß mehr arbeiten und denken als menschenmöglich, man darf sich auch nicht selbst Übermensch nennen, denn dann wäre man einer menschlichen Schwäche erlegen, sondern man muß warten, nein, man darf nicht einmal darauf warten, es muß von selbst kommen, daß andere vor Bewunderung `Übermensch' sagen, aber wenn die Zeitgenossen so etwas sagen, dann weiß man, man hat es nicht geschafft, sondern ist eine bloße Mode, es muß schon die Nachwelt sein, nur sie kann diesen 400
Titel vergeben, und da auch nur ihre besten Denker. Nur Denken schafft Übermenschen, nur der Denker kann über seiner Zeit stehen, über Tradition, Religion und selbst über den vom genetischen Kode aufgezwungenen Beschränkungen. Fantasie ist gut, Fantasieren schon schlechter, aber das Fantasierte über die Realität zu stellen, ist Irresein.”
Tagtäglich, mit der Zuverlässigkeit eines Apolls, der jeden Morgen den Sonnenwagen vom östlichen Horizont hochzieht, predigte Adjuna den Menschen, um ihnen die Götter zu nehmen und ihre eigene vermeintliche Göttlichkeit oder Göttergleichheit. “Die Menschen sind Narren und sie danken Gott noch dafür. Sie denken, Gott kümmert sich um sie, ist auf ihrer Seite und hat alles für sie geschaffen, und sie selbst sind ein Image Gottes. Doch schon dem Moses hat Gott nur seinen Arsch gezeigt1, wieviel weniger wird er einem anderen ein freundliches Gesicht zeigen.” Da schimpfte jemand aus dem Publikum: “Gott war natürlich schicklich gekleidet.2” Mit anderen Worten: Gott hatte seinen Arsch eingekleidet und das recht ordentlich. Andere schrien: “Gotteslästerung!” Zum Glück lief keiner zur Polizei. “Gotteslästerung ist Blödsinn, Gott kann man nicht beleidigen, Gott ist eine literarische Kreation, es ist klar, daß etwas, was bloß auf dem Papier steht, nicht beleidigt werden kann. Wer Ohren hat, der höre:
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Zweites Buch Moses 33:23
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Diesen Einwand brachte tatsächlich ein baptistischer Missionar vor in einer Auseinandersetzung mit mir in einem Tokioer Wochenblatt, nachdem ich behauptet hatte, daß die Bibel Unschicklichkeiten enthalte, und als Beispiel unter anderem 2. Moses 33:23 vorgebracht hatte. (Tokyo Weekender, 27. Juli 1990)
Ei, bei welchem Schneider läßt ER denn anfertigen?
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Papier hat keine Ohren, und was schwarz auf weiß auf Papier steht, auch nicht!” Dieser Ausflug in die Realität war alles, was sich Adjuna leistete, schon flog er wieder auf und davon, ein Don Quichotte, Windmühlen bekämpfen und doch eine reale Gefahr. “Der Mensch hat Gott nicht zu danken, der Mensch hat sich alles selbst zu verdanken, alles selbst erarbeitet. Die Haie, ja, die mögen Gott danken, daß er Schiffe untergehen läßt, so daß sie leckeres Menschenfleisch bekommen, und sie schütteln berechtigt den Kopf über die Menschen, die so eifrig im Sturm gebetet hatten. Gott ist ein Hai, das ist doch klar, sagen die Haie. - Selbst die Darmwürmer haben ihren Darmwürmergott, der die Mastdarmöffnung der Menschen so empfindlich gemacht hat, daß, wenn die Darmwürmer dort ihre Eier ablegen, es juckt und die Menschen sich dort kratzen und die Eier an ihren Händen bleiben, von wo sie dann irgendwann durch den Verdauungstrakt wieder ins Darmparadies kommen. Selbst das kleine Jesuskind, als es im schmutzigen Stall lag, wurde von Darmparasiten heimgesucht. Die Evangelisten haben es nur versäumt zu überliefern.” Jetzt wurde Adjuna wieder sachlicher: “Schon Xenophanes von Kolophon, und der lebte lange, lange Zeit vor der Verdummung durch das Christentum, lehrte: Afrikanische Götter haben platte Nasen und dunkle Haut, die Götter der nordischen Völker sind bleich und haben blondes Haar und blaue Augen. Wenn die Ochsen und Esel malen könnten, dann würden sie ihre Götter als Ochsen und Esel malen.” An dieser Stelle griff ein Pfaffe belehrend ein: “Voraussetzung ist nicht nur, daß sie malen können, sondern auch, daß sie denken können.” Adjuna: “Wenn sie freilich denken könnten, dann hätten sie gar keine Götter.” So behielt er das letzte Wort, eine Seltenheit in christlicher Umgebung, wo man sonst rechtzeitig ausschaltet, die Mikrophone zum Beispiel, oder sonst wie das Wort abschneidet oder nicht mehr druckt. Früher, 402
jedoch vor nicht zu langer Zeit, hat man freilich die Zunge abgeschnitten und das Leben ausgehaucht, vergeßt das nicht! Glaubt, was ihr wollt, aber vergeßt nicht, Religionsfreiheit gibt es nur da, wo keine Pfaffen einem einen Glauben aufzwingen.
Und Adjuna wiederholte in seinen Predigten Erkenntnisse, die er schon früher erkannt hatte, schon lange gekannt hatte. Und er wiederholte seine Predigten und wiederholte die Wiederholungen. Menschen muß man immer alles wiederholen, immer wieder wiederholen, sonst lernen sie es nicht, behalten es nicht, vergessen's. “Was unterscheidet Mensch und Tier voneinander? Wenn sich der Mensch schneidet, blutet er, und wenn sein Herz steht, ist er tot, und wenn er ein Heilserum braucht, so benutzt er im Körper eines Tieres, sei es Ratte, Pferd oder Karnickel, gebildete Antikörper, Antitoxine, und wenn der Mensch wissen will, ob sein Weibchen schwanger ist, prüft er die Wirkung seiner Hormone auf die Eierstöcke eines Frosches. Aber der Mensch besitzt doch Verständigung, Kommunikation, sagen die einen. `Sooo', sage ich dann, und ziehe dabei das O ordentlich lang, `fast möchte ich das Gegenteil behaupten, wenn uns irgend etwas von den Tieren unterscheidet, so mußt es das Unverständnis sein, mit dem wir unseren Artgenossen begegnen.' Die Tiere haben ihr Weltverständnis und eine gesunde Verständigung untereinander, etwas, das uns verloren gegangen ist. Die Tiere würden noch lange weiterexistieren, wenn wir nicht wären. Wie einmal ein Geflügelzüchter, der seine Viecher gut beobachtet hatte, sagte: Reinen Unsinn zu glauben, ist ein Privileg der Menschen. 1 Und tatsächlich wie die Hühner ihre Körner pickten und die Enten ihr Entenflott schnatterten, so glaubten sie doch nicht, daß der andere für sein
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Konrad Lorenz
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befremdliches Benehmen in die Hölle, sie selbst aber ins Paradies kommen. Der Mensch aber macht aus seinem Mögen und Nicht-Mögen eine Glaubens- und Gesinnungsfrage. Eßt doch mal Schweinefleisch in einem moslemischen Land und trinkt einen Schoppen Wein dazu, oder nehmt Rauschgift auf einer Spießerparty, habt eine krumme Nase unter lauter Hochnäsigen, lauft nackt herum, liebt als Mann Knaben oder tragt Frauenkleider unter Normalbürgern und ihr werdet lernen, daß Hassen das Normalste für Menschen ist. Der Mensch ist auch nur ein Tier und nichts Göttliches ist an ihm, denn er hat einen Unterkörper, aber der Mensch hat einen steilen Aufstieg hinter sich, einen steileren als er nach dem Gesetz der natürlichen Auslese hätte hinter sich haben dürfen, das macht ihn überheblich. Und in seiner Überheblichkeit glaubt er sich auf einer größeren Höhe, als er wirklich ist, und hält sich für unüberwindlich. Er widmet sein Ohr den süßen, schmeichlerischen Reden von bezahlten Leuten, die ihm eine ewige Seele andichten und einen zu hohen Wert. Und die Menschheit in ihrer Mehrheit hört es gerne und glaubt es, obwohl sie es eigentlich besser wissen sollte, denn ihr eigenes Hirn hat ihnen die Evolution vorgespielt und interpretiert, ihr eigenes Auge hat ihnen tagtäglich ihre Verwandtschaft mit den Tieren gezeigt, aber sie wollen es nicht hören, sehen und wahrhaben, genauso wenig, wie sie ihren noch fantastischeren Abstieg wahrhaben wollen."
Nach seinen Predigten ging Adjuna meist zum Eros-Tempel, da er keine Lust hatte, allein in der großen Wohnung zu sitzen, denn seine Freunde und Mitstreiter waren noch nicht zurückgekehrt, wahrscheinlich krochen sie immer noch auf Kornfeldern herum, ihre Version von antiklerikalem Kampf. Wir wissen, Adjuna hatte nichts gegen Eros und seinen Tempel und doch hatte er jedes Mal ein ungutes Gefühl, etwa wie bei seiner letzten Reise zur großen Kirche. Der Grund war der Blick aus den Augen des Mädchens, das aus der gehörnten Stadt kam, ein Blick, der von Mal zu
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Mal gebrochener wurde. Warum solche Niedergeschlagenheit? Geschichte wiederholt sich im Großen wie im Kleinen, befürchtete er.
Stierig strahlte Lolita ihn an, Superweib, das sie war; `meinen besonderen Kunden' nannte sie ihn und bei ihr fand er die Entspannung, die er so notwendig brauchte, aber beim ersten Mal nicht bekommen hatte. Erst wenn er aus ihrem Zimmer kam und das andere Mädchen an der Säule stehen sah, überfielen ihn wieder die Depressionen, an denen er litt, seit er die Welt erkannt hatte, den ganzen Mist durchschaut, aber den einfachen Zauber nicht schaffte, aus Mist Dünger zu machen. Als Adjuna an diesem Abend wieder kam, fiel sein Blick gleich wieder auf das Mädchen aus der gehörnten Stadt. Ein blaues Auge! Ein schiefer, geschwollener Mund! Leidender Blick! Verzweiflung! Es war offensichtlich: Geschichte wiederholt sich! Adjuna bedeckte seine Augen und wandte sich ab. Er kehrte dem Tempel der Liebe seinen Rücken zu. Ich komme nie wieder, schwor er sich, nie wieder, genauso wenig, wie ich nach meinem Tode noch einmal versuchen werde zu leben. Als er dann allein in der leeren Wohnung saß, klopfte es irgendwann nachts. Luz und der Leibhaftige waren zurückgekommen. Beschmutzt, verdreckt, verstört sahen sie aus und wie geprügelte Hunde. Aber sie waren mit einem blauen Auge davon gekommen, das heißt - da sie zwei waren - einer hatte gar kein blaues Auge abgekriegt. Sie berichteten von ihren Schwierigkeiten. Da sie die Halme natürlich nicht am hellichten Tag runtertreten konnten, hätten sie es nachts versucht, aber es sei ihnen nicht gelungen, einen vernünftigen Kreis zu machen, immer sei es eierig geworden, so oft sie es auch versuchten. Nächte lang seien sie von Feld zu Feld gezogen und hätten geübt. Irgendwann dann hatten die Bauern sie erwischt und waren angelaufen 405
gekommen mit Sense und Dreschflegel. Einer hatte sogar einen Schießprügel. Es war wie im Bauernkrieg oder bei der Hetzjagd. Da hätten sie sich ergeben müssen, berichteten sie weiter, aber bevor man sie zu gründlich durchgeprügelt hatte, hatten sie durch einen Knick wieder entkommen können. Da sprach Adjuna: Die Bauern hatten recht. Hatte ich euch nicht gesagt: Schadet nicht und niemandem, außer den Schädlingen! Die Bauern aber sind keine Schädlinge, sondern der nützlichste Teil der Bevölkerung. Und wenn ihr seine Felder runtertretet, da soll er sich wohl wehren, das ist sein gutes Recht.
So kam es, daß Luz und der Bunte nach dieser bitteren Erfahrung nicht mehr eigene Wege gingen, sondern mit Adjuna in die Einkaufsstraße. Das traf sich gut, denn es hatte sich unter den Frommen der Stadt, die normalerweise dieses sündige Konsumbabel mieden, herumgesprochen, daß ein Gotteslästerer hier predigte, und viele kamen und brachten Tomaten, faule Eier und andere ungenießbare Sachen, einige hatten sogar Methylalkohol (Benzin war wegen seiner Schadstoffe gerade verpönt.) in Flaschen mit brennendem Korken. Weiß doch jeder, daß man Methylalkohol nicht trinken darf. Mmmmethylalkohol Mmmeiden! Eeethylalkohol - Eeinnehmen okEee! Die Beiden waren ganz außergewöhnlich gut im Fangen und Zurückwerfen sowie im Fangen und Flamme-Ausblasen; doch als die Geschosse überhandnahmen, unterlief dem leibhaftigen Gott eine Verwechselung: Er warf den Methyl-Molotow-Cocktail zurück und pustete auf die überreife Tomate in der anderen Hand. Adjuna: “Ich sag ja immer: Götter sind nicht perfekt.” Im Feuermeer vor ihnen hopsten die Christen - oh, Feuer, du Geschenk Gottes!
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Aber hören wir uns das Ende von Adjunas Predigt an: “Nie gab es schlimmere Menschenschinder als die Christen. Andere Menschenschinder haben sich immer mit dem zufrieden gegeben, was sie einem Menschen in dieser Welt antun konnten, was ja verdammt viel ist. Wer immer sich mal die Finger verbrannt hat, kann sich leicht die schrecklichen Qualen, die rot-glühende Foltereisen oder der Scheiterhaufen verursachen, vorstellen. Aber die Christen waren damit nicht zufrieden, sie fantasierten für ihre Gegner ewige Höllenqualen, wobei jeder Moment um viele Male schrecklicher sein sollte als auf dem Scheiterhaufen. Hopst, ihr Christen, hopst, genießt für einen Augenblick, was ihr euren Feinden für alle Ewigkeit wünscht!” Plötzlich ertönten Sirenen, nicht jene griechischen Fabelwesen mit Mädchenkopf und Vogelleib, die jeden mit ihrem wunderbaren Gesang betören, sondern das nervöse Auf und Ab von Polizeisirenen. Unsere drei Helden suchten das Weite. Besonders der leibhaftige Gott, der ja am menschlichsten von den Dreien war, hatte es eilig.
Am nächsten Tag konnten sie in der Zeitung lesen, daß religiöse Fanatiker, die die Menschheit zu einem neuen Glauben mit neuen Zehn Geboten, unter anderem dem Gebot `Schadet nicht und niemandem!' bekehren wollten, in der Einkaufsstraße mit MolotowCocktails geworfen hätten. Und vor ihrem geistigen Auge sahen sie die Leser den Kopf schütteln: Leute gibt's, das gibt's gar nicht.
Die Drei entwarfen ein neues Flugblatt, das sie in der Hafenstraße gleich an der Einfahrt zum Freihafen verteilen wollten, in der Hoffnung, daß vielleicht einige Seeleute die Saat, oder sollte man lieber sagen: die Früchte ihrer Bibelforschung, in ferne Länder und um die Welt trügen. 407
Hier ihr Flugblatt: Göttliche Greuel, Grausamkeiten und Todesstrafen oder Lieber Gott, wo bist du? Eine Bibelzusammenfassung für die, die keine Zeit haben, den frommen Blödsinn in seiner ausführlichen Fassung zu lesen und von Pfaffenlügen die Nase voll haben. Gott verdammt alle Menschen für die Übertretung eines einzigen: Rom. 5:12, Rom. 5:17-19, 1 Kor. 15:21,22. Alle Geschöpfe werden ertränkt, weil Gott eine Spezies (Mensch) mangelhaft konstruiert hat: Gen. 6:5, 7, Gen 6:17, Gen. 7:23. Doch wie sind bloß die Fische in der verdammten Flut ersoffen? Die Unschuldigen verdammt anstelle des Schuldigen: Gen. 9:20-22, 24-25. Christen lehrten später, Hams Nachkommen seien schwarz und rechtfertigten so die Versklavung der Neger. Gott verlangt Menschenopfer: Lev. 27:28, 29, Josh. 6:17, Jer. 7:30, Hesek. 20:25,26 and Micha 6:7. Auch Gen. 22:2, 9, 10 (Abraham Isaak) und Jephthah brät sein Töchterchen für den lieben Gott: Richter 11:29-31 and 11:34, 39. Ein Mann nach Gottes Geschmack läßt sieben unschuldige Männer, um Gott zu versöhnen, opfern: 2 Sam. 21:1,36,9,14, vergleiche auch: Num. 25:4. Gott verhärtet Pharaoh's Herz und begeht noch andere Verbrechen: Exod. 7:3,4,13, Exod. 10:1, 20, 27, Exod. 14:17 und Exod. 7:20, 21; 9:3, 6; 9:19, 23 ,25. Gott, der Mitternachtsmörder: Exod. 12:29, 30 und Exod. 11:3-6. Gott sanktioniert Sklaverei: Exod. 21:2, 4-6 und Lev. 25:44-46. Auch das NT befürwortet eindeutig die Sklaverei: 1 Pet. 2:18, 1 Tim. 6:1, Titus 2:9, Eph. 6:5-8 u. Kol. 3:22. Man darf seine Töchter verkaufen: Exod. 21:7. 408
Gott befiehlt den Totschlag an Männern und das Versklaven von Frauen und Kindern bei Völkern, die ferne wohnen: Deut. 20:10-15, und den Holocaust für Nachbarvölker, nämlich die Hethiter, Amoriter, Kanaaniter, Pheresiter, Heviter und Jebusiter: Deut. 20:16,17. Ein Sklave darf langsam totgeschlagen werden: Exod. 21:20,21. Hexen sind zu töten: Exod. 22:18, Lev. 20:27, Deut. 18:10, Gal. 5:19,20. Hexerei gehört natürlich wie Religion ins Reich der Fantasie, also auch hier wird der Tod Unschuldiger gefordert! Tod für das Konsultieren von Zauberern und Zeichendeutern: Lev. 20:6. Tod für Abgötterei und Ketzerei: Exod. 22:20, Deut. 13:1, 2, 5, 14, 15, Deut. 17:2-5, Deut. 18:20. Man soll seine Brüder, Töchter, Söhne, seine Frau(en) und Freunde bei religiösen Meinungsverschiedenheiten umbringen: Deut. 13:6-11. Tod für alle Frevler und die, die vermessen handeln: Num. 15:30, Deut 17:12, Num. 5:2,4; 12:14 und Deut 23:1-3. Tod für den, der eine Arbeit tut am Samstag (alle Christen?): Exod. 31:14, 15. Tod für das Anzünden eines Feuers: Exod. 31:14. Tod für das Sammeln von Brennholz: Num. 15:32, 35-36. Tod für das Nicht-Halten des Passah-Festes: Num. 9:13. Tod für das Essen von gesäuertem Brot: Exod. 12:15; 12:19. Tod für das Essen vom Fleisch des Dankopfers: Lev. 7:21. Tod für das Essen von Fett: Lev. 7:22-25. 409
Tod für das Essen von Blut: Lev. 3:16, 17; Lev. 7:26, 27., Lev. 17:1016. Tod für Kinder, die nicht beschnitten sind: Gen. 17:14. Tod für die Herstellung von Salböl und Räucherwerk für private Zwecke: Exod. 30:22-38. Tod für das Reste-Essen nach dem Dankopferfest: Lev. 19:5-8 und 7:18. Tod für das Opfern ohne priesterliche Hilfe: Lev. 17:8, 9. Tod für Schlachten ohne Opfer an den Herrn: Lev. 17:2-9. Tod für Zeremonieübertretungen: Lev. 7:20, 21 und 22:3,9. Tod für das Berühren des Heiligtums: Num. 4:15 und 2 Sam. 6:6-7. Tod für das Sich-Nähern an heilige Geräte: Num. 18:3. Tod für Fremde, die hinter den heiligen Vorhang treten: Num. 18:7. Tod für das Schauen des Heiligtums: Num. 4:20. Tod für das Betreten des Heiligtums, ohne zu schellen: Exod. 28:34, 35. Tod für das Betreten des Heiligtums ohne leinene Beinkleider: Exod. 28:42, 43. Tod für Unreinheit (Diese Unreinheit bezieht sich nicht so sehr auf Schmutz im hygienischen Sinne, sondern ist hauptsächlich zeremonieller und imaginärer Art und entsteht zum Beispiel durch das Berühren zeremoniell unreiner Personen oder durch Kontakt mit oder Konsum von Unreinem. Als unrein gelten z. B. Tierleichen, Schweinefleisch, Austern, Adler, Krabben, Krebse, Eulen, Habichte, Falken, Raben, Reiher, Geier, Störche, Schwäne, Pelikane, Kormorane, 410
Kiebitze und all das komische Geflügel, das keine Federn hat, wie Fledermäuse und Vampire, sowie alle vierbeinigen Federviecher usw. Lev. 11:4-27, Lev. 11:39, Lev. 22:5,6): Num. 19:20, Lev. 22:3, 9, Num. 19:13. Tod für das Essen von Tieren, die eines natürlichen Todes gestorben sind oder von wilden Tieren gerissen wurden: Lev. 22:8,9, Lev. 17:1316, auch: Deut. 14:21. Tod für den, der seinen Leib am Versöhnungstag nicht kasteit: Lev. 23:29 Tod für den, der am Versöhnungstag irgendeine Arbeit tut: Lev. 23:30. Tod für den Aufenthalt nahe der Stiftshütte: Num. 1:51; 18:22; 17:13. Tod für das Herantreten an die Priesterschaft: Num. 3:10; 18:7, 3:38. Tod für Gotteslästerung: Lev. 24:11-23. Tod für Mädchen, die ihre Jungfernschaft zu früh verloren haben oder deren Jungfernhäutchen zufälligerweise nicht intakt ist: Deut. 22:2021. Feuertod für unkeusche Jungfernhäutchen): Lev. 21:9.
Priestertöchter
(nicht
intaktes
Tod für Ehebrecher: Deut. 22:22. Tod für Vergewaltigung: Deut. 22:23-24. Tod für Mädchen, die bei der Vergewaltigung nicht laut genug geschrien haben: Deut: 22:24. Tod für Geschlechtsverkehr während der Menstruation: Lev. 20:18. Der Herr verbrennt die Ungeduldigen: Num. 11:1. 411
Der Herr mordet die, die eine abwechselungsreichere Diät fordern: Num. 11:4-6, 31, 33-34. Gott fordert Moses zum Massenmord an allen Midianitern, die einst Moses für vierzig Jahre bewirtet hatten, als er in Ägypten um sein Leben fürchten mußte, auf, einschließlich Frauen und männlichen Kleinkindern. Nur die Jungfrauen dürfen als Kriegsbeute behalten werden zum Vergnügen der Krieger, der Priester des Herrn und des Herrn selbst: Num. 31:1-2, 9-11, 14-18, 32, 35, 40. Priester lebend verbrannt für falsches Feuermachen: Lev. 10:1,2. Gott beseitigt Abweichler mit Erdbeben, Feuer und Pest: Num. 16-49. Gott beantwortet Beschwerden mit mörderischen Giftschlangen: Num. 21:5,6. Heimsuchungen, wenn man Gott nicht genug liebt: Schrecken, Dürre, Fieber: Lev. 26:16, keine Ernten mehr: Lev. 26:20, wilde Tiere fressen die Kinder und Verwüstung: Lev. 26:22. Gottes Racheschwert: Pest und Auslieferung an die Feinde: Lev. 26:25. “...ihr sollt eurer Söhne und Töchter Fleisch essen.” Lev. 26:29. Gott hilft bei der Ermordung einer ganzen Nation (einschließlich Frauen und Kinder): Deut. 2:30, 34. Der Massenmord von Basan: Deut. 3:6. Totale Zerstörung der sieben Nationen von Kanaan: Deut. 7:1-6, Deut. 20:6,17. Gott schickt mörderische Hornissen: Deut. 7:20,21.
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Das heilige Massaker von Jericho, nur die Hure und Kollaborateurin Rahab darf mit ihrer Sippschaft überleben: Jos. 6:17-21. Jaels hinterhältiger Mord: Richter 4:9-24 und Gottes Lob: Richter 5:2431. Gottes Beihilfe zum Mord an dreißig Männern, damit Samson eine alberne Spielschuld bezahlen kann: Richter 14:19. Tierquälerei und Brandstiftung: Richter 15:4, 5. Gottes Beihilfe zum Mord an 1000 Philister: Richter 15:14-15. Frommes Gemetzel an friedlichen Bürgern: Richter 18:6-7. Gott, der mal gerade wieder in seiner Bundeslade sitzt, gibt den Befehl zur Vernichtung des Stammes Benjamin: Richter 20:27,28. Fromme Methode um Frauen zu erwerben: Massenmord an ihrer Verwandtschaft: Richter 21:7-14. Gott bringt 50 070 Menschen um, weil sie in eine Kiste hineingeguckt haben: 1 Sam. 6:19. Gott läßt alle Amalekiter (einschließlich Babys und Nutztiere) umbringen für ein Vergehen von vor 400 Jahren: 1 Sam. 15:1-3, 8. Samuel zerhackt Agag vor dem Herrn: 1 Sam. 15:33. David, ein Mann nach Gottes Geschmack, bringt 200 Philister um und schneidet den Leichen die Vorhaut ab: 1 Sam. 18:27. David lebt von Mord, Raub und Erpressung: 1 Sam. 27:8, 9 und 1 Sam. 25:5-13.
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David zeigt den Amalekitern, die aus Rache ins Land eingefallen, aber `niemanden getötet, sondern weggeführt hatten', daß die wahre Politik Ausrottung heißt: 1 Sam. 30:2-18. Gott bringt Uzzah um, der die Bundeslade vorm Umkippen bewahrt: 2 Sam. 6:6-7. David bringt zwei Drittel der moabitischen Kriegsgefangenen um: 2 Sam. 8:2. David verstümmelt Pferde: 2 Sam. 8:4. David verführt Uriahs Frau und arrangiert Uriahs Tod: 2 Sam. 11:2-15. Gottes Mann, David, foltert die Ammoniter à la christliche Inquisition mit Sägen, Äxten und eisernen Instrumenten und verbrennt sie à la Nazis und katholische Ustacha in Öfen: 1 Chron. 20:3 und 2 Sam. 12:31. (1956 von der Evangelischen Bibelgesellschaft wegen Auschwitz umgelogen zu `arbeiten am Ziegelofen'!) Der Engel des Herrn bringt 70 000 Männer (Frauen und Kinder gehen extra) um, da der Herr sich über Davids Volkszählung geärgert hat: 1 Chron. 21:1-15, 2 Sam. 24:15. Davids Mordbefehl und Rachegedanken noch am Sterbebett: 1 Könige 2:6-9. Gottes Propheten verursachen politische und religiöse Massenmorde: 1 Könige 21:20-24, 2 Könige 9:6-10, 2 Könige 10:10, 11, 16-19, 25, 28, 30. Elia, Massenmörder und Mann Gottes, bringt zweimal einen Hauptmann und seine 50 Leute mit himmlischem Feuer um: 2 Könige 10-12. Elia läßt 450 Priester der Konkurrenz kaltblütig ermorden: 1 Könige 18:40. 414
42 Kinder von Bären ermordet, weil sie Elisa neckten: 2 Könige 2:2324. Gottes Engel bringt 185 000 in einer Nacht um: 2 Könige 19:35. Kinder bestraft für die Sünden der Väter: Jesaja 14:21, Exod. 34:7, Num. 14:18. Fromme Gatten und Väter sollen ihre fremdländischen Frauen und ihre Kinder verlassen: Esra 10:2-3. Gott erlaubt Satans Mord an Hiobs Knechten und Kindern für einen Frömmigkeitstest: Hiob 1:12-19. Gott täuscht Propheten, um eine Entschuldigung zu haben für ihr Abschlachten: Hesek. 14:19. “Wohl dem, der deine jungen Kinder nimmt und zerschmettert sie am Stein!” Ps. 137:9. Befremdliche Güte Gottes: Ps. 136:2, 10, 15, 17-21. Mehr Grausamkeiten: Lam. 2:21, Lam. 3:10, 11, Hos. 13:7, 8, Hesek. 6:12, 13, Jes. 13:6, 9, 16-18, Nah. 1:2-3, 5-6, Hab. 3:5, Zeph. 1:2, 3. Das NT rechtfertigt und hält die Grausamkeiten des AT aufrecht: Lukas 16:31, Matt. 5:17-19, Lukas 16:17, 2 Tim. 3:15, 16, Joh. 5:39, 46, 47, Lukas 24:25, 27, Heb. 11:17, 30-31, Jakobus 2:21- 25. Das NT bemüht sich, die Schrecken und Leiden der Menschheit noch um ewige Höllenqualen zu vermehren: Matt. 18:8, Matt. 25:41, 46, Mark 9:43-48, Lukas 12:5, Matt. 10:28, Matt. 23:33, Lukas 16:23, 24. Johannes schwelgt in seiner Höllenbeschreibung: Apo. 14:9-11; 19:1, 3-4, 20; 20:1-3, 10.
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Jubel der Frommen angesichts der in der Hölle Gemarterten: Apo. 19: 1-9. Die Mehrheit der Menschheit fährt zur Hölle: Matt. 7:14, Matt. 22:13, 14, Lukas 13:23, 24. Alle Andersgläubigen sind zu Höllenqualen verdammt: Apo. 21:8, 1 Kor. 6:9. Verdammt ist, wer Gott nicht kennt: 2 Thess. 1:7-9, Apostelges. 4:12, Ps. 9:(bes. 18). Höllenfeuer für den, der zürnt und andere einen Narren nennt: Matt. 5:22. Jesus zürnt und beschimpft Mitmenschen als Narren, Schlangen, Otterngezücht etc.: Matt. 23:17, Lukas 11:40, Lukas 24:25, Matt. 3:7, Matt. 12:34, Matt. 23:33. Brennen in Feuer und Schwefel für Unglaube, Unzucht etc.: Apo. 21:8, Joh. 3:36, Lukas 12:46, Mark. 16:16. Verdammnis wegen Reichtum: Matt. 19:24, Lukas 6:24, Lukas 16:1931. Blut als Waschmittel gegen Sünden: 1 Joh. 1:7, Heb. 9:22, 28, Heb. 9:12-14, 10:29, Matt. 26:28, Apost. 20:28, Eph. 1:7, Kol. 1:20, Apo. 1:5, Apo. 5:9, 1 Pet. 1:2, Apo. 7:14. Ein Vater verlangt von seinem Sohn einen langsamen Foltertod, bevor er seine Rache an Sündern, die er selbst geschaffen hat, einstellt: Joh. 3:16, Phil. 2:8, Kol. 1:19-20, Gal. 3:13, 1 Tim. 2:5-6, Eph. 2:13, 16, Rom. 3:24, 15, Rom. 4:25, Rom. 5:1, 6, 8-11. Gott, ein kräftiger Lügner, um Leute in die Verdammnis zu leiten: 2 Thess. 2:11, 12. Jesus spricht unverständliches Zeug, damit man ihn nicht versteht und nicht gerettet wird: Mark. 4:11, 12. 416
Gott verhärtet die Herzen der Menschen, damit sie nicht vor der Hölle gerettet werden. Joh. 12:39, 40. Der Mensch ist hilflos und kann sich nicht vor der Hölle retten: Rom. 9:9-13, 16, 18, 21- 22. Alles ist von Gott vorherbestimmt: Rom. 8:29, 30, Rom. 11:7-10, Eph. 1:4, 5, Apo. 17:8, Apo. 20:15. Antinomismus: Anständige Lebensführung ist nichts, Glaube alles: Rom. 4:5, 8, 5:1, 6:18, 22 u. 8:33, Apost. 13:39, 1 Kor. 6:12, 1 Joh. 3:9 u. 5:1, Lukas 14:26. Idealisierter Kannibalismus: Joh. 6:53-56. Mann und Frau ermordet, weil sie einen Teil ihres Besitzes behalten wollten: Apost.: 4:34, 35; 5:1-3, 5-11. Ein Mann wird mit Blindheit geschlagen, weil er dem Christentum widersteht: Apost.: 13:8-11. Die große Abrechnung, das Austoben von Gottes Rachegelüsten: 1 Pet. 4:7, Lukas 17:29, 30, 2 Pet. 3:7, 10, Rom. 2:5, Matt. 25:41-46 und natürlich Gottes Endlösung, die Apokalypse, besonders 1:13-16, 2:18, 22, 6:4, 8:1-13, 9:1-20, 14:10, 11, 19, 20, 15:1, 16:1-21, 17:16, 18:824, 19:12,15. 1
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Diese Bibelgrausamkeiten wurden mit Hilfe von `The Bible Handbook', einer Publikation der American Atheist Press, P.O.Box 2117, Austin, Texas 78768, zusammengestellt. The Bible Handbook bringt alle Bibelzitate und diskutiert die Stellen im allgemeinen ausführlicher. Einige Formulierungen wurden wörtlich übersetzt, andere zusammengefaßt, einige wenige Male drängte sich mir auch beim Nachlesen der Bibelstellen in meinen deutschen Bibeln eine andere Idee auf, um den Inhalt der betreffenden Bibelstelle wiederzugeben.
The Bible Handbook enthält außerdem Bibel-Widersprüche, Absurditäten, Prophezeiungen, die nicht in Erfüllung gingen, Versprechen, die nicht gehalten wurden, sowie eine Sammlung von Bibel-Unanständigkeiten.
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“Jeder einzelne Mensch ist heilig, und keine Heiligkeit ist höher als der Mensch, darum laßt uns keine Menschen töten. Das Leben ist heilig, ein jedes Lebewesen heiliger als ein Gott. Götter sind das Nicht-Leben. Götter kann man töten. Es ist wie ein Schwert in eine Leiche stecken”, referierte Luzifer. “Nein”, korrigierte Adjuna, “wie ein Schwert ins Vakuum stecken.” Der leibhaftige Gott knurrte verstimmt. Im Morgennebel standen unsere drei Heiligen, das antichristliche Kleeblatt, kirchenfeindliche Trifolium, am Eingang zum Freihafen und verteilten ihre dreiblättrige Bibelzusammenfassung an Schauermann und Seeleute und hofften - ja, was hofften sie? - daß Schuppen von den Augen fielen, daß Wunder geschahen. - Ein Wunder geschah. Sie wurden erhört. Ein Seemann, der ihre Zettel schon gelesen hatte, kam zurück und stellte sich ihnen vor: “Ich bin der fliegende Holländer.” “Ich dachte, du wärst schon längst von den Qualen eines ewigen Lebens durch die Liebe einer Frau erlöst worden”, entgegnete ihm der Bunte. “Unsinn, die Liebe einer Frau nehm' ich so mit, da sterb ich doch nicht extra für.
Erklärung zu den Abkürzungen: Gen. = Genesis = 1. Buch Moses Exod. = Exodus = 2. Buch Moses Lev. = Levitikus = 3. Buch Moses Num. = Numeri = 4. Buch Moses Deut. = Deuteronomium = 5. Buch Moses Lam. = Lamentation = Klagelieder Jeremias Apo. = Apokalypse = Offenbarung
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Ich befahre seit Jahrhunderten die sieben Meere und genieße die Seefahrt. Andere Länder, andere Sitten, andere Kulturen, was meint ihr, wie interessant das ist! Aber in den letzten Jahrhunderten ist mir aufgefallen, daß die Welt immer mehr verseucht wird. Jaja, nicht nur den Dreck, den wir überall machen, ich meine, auch hier oben stimmt's nicht mehr. Länder, die früher ne eigene Kultur hatten, bekreuzigen sich jetzt und machen Bimbam. Und wo's noch nicht so weit ist, da wimmeln wie Ratten die Schwarzbefrackten schwitzend in der Tropensonne herum und es ist nur noch eine Frage der Zeit. Es ist ein Zerstörungswerk, wie jenes Buch ein Zerstörungsprogramm ist. Ihr habt recht. Die Bibel zeigt es deutlich, bloß die Blinden sehen's nicht. Der jüdische Jahweh war eine Art Über-Hitler, der zum Massenmord antrieb, und irgendwann waren die irdischen Leiden nicht mehr genug und ewige Höllenqualen wurden hinzufantasiert. Ich war übigens auf meiner letzten Fahrt in Tel Aviv. Es war für mich eine der größten Enttäuschungen dieses Jahrhunderts, die Gewalttätigkeit von Leuten, die selbst so lange Zeit Opfer von Gewalttätigkeiten waren, zu sehen. Jahwehs Programm macht da offensichtlich immer noch Eindruck. Nun hat man gerade erst vor zwei Generationen das Land, das einem Jahweh mal vor Jahrtausenden versprochen hat, obwohl es ihm ja gar nicht gehörte, zurückgeraubt und nun mordet man auch schon wieder wie in biblischen Zeiten die Beraubten, Frauen und Kinder. Gewaltlos wollten sich die Beraubten jetzt gegen die Räuber wehren. Intifada nennen sie das, und wer sich an diesem gewaltlosen Auflehnen nicht beteiligt, wird umgebracht, tatsächlich bringen die Beraubten mehr von ihren eigenen Leuten um als die Israelis. Trotzdem soll die Intifada von Gandhi inspiriert sein. Das ist für mich übrigens die andere große Enttäuschung, daß das Land, das Gandhi hervorgebracht hat, seine Prinzipien von Gewaltlosigkeit vergessen hat.” “Und die Deutschen?” meinte der Bunte entgeistert. “Von denen hatte ich nichts anderes erwartet.” “Die Juden sind Jahrtausende gejagt worden, wo sollten sie endlich eine Heimat finden, wenn nicht in Palästina?” sagte Luz. “Natürlich da, wo man ihnen zuletzt die größten Übel angetan hatte, hier in Deutschland. Man hätte für die Juden zum Beispiel SchleswigHolstein räumen können und noch ein paar Landstriche dazu. Das 419
wäre gerechter wegzunehmen.”
gewesen,
als
den
Palästinensern
das
Land
Der Seemann bat noch um einen Stapel Flugblätter und versprach, sie in aller Herren Länder zu verteilen. “Um den schwarzen Ratten was entgegenzustellen. Gut, daß sich Atheisten zusammentun und Mission betreiben.” “Atheisten”, stieß der lebendige Gott schockiert hervor, das Wort zerging nicht auf der Zunge, sondern blieb im Hals stecken, nach kräftigem Schlucken: “Ob es einen Gott im Himmel gibt oder nicht, interessiert mich nicht. Es reicht, daß ich weiß, er kümmert sich nicht um mich, noch um irgend jemand anders auf dieser Welt. Ist doch egal, ob da am Ende des Universums jemand sitzt und sich die paar Hundertmilliarden Milchstraßen anguckt oder auch wegguckt oder gar nicht da ist.” “Ja, früher konnte man sich das ja vielleicht mal vorstellen, einen Gott, der vornübergebeut über einer Glaskuppel, die über der Erdscheibe gewölbt war, gespannt die Menschen beobachtete, aber sich heute einen Gott vorzustellen, der sich hundert Milliarden Galaxien unter ner Glaskuppel oder was auch immer anguckt und sich dabei um jeden Mensch', ja sogar um jeden Pimmel und sein Sexualleben kümmert, sich das vorzustellen, fällt schwer, sollte unmöglich sein.” Eine heitere Vorstellung. Selbst der Himmel heiterte auf und der Nebel verduftete. Mit “Wir stechen bald in See, also macht's gut!” verabschiedete sich der fliegende Holländer. Im Sonnenschein und mit Optimismus im Herzen setzten die Drei ihr Aufklärungswerk fort.
Am Nachmittag schlug sich eine eiskalte Luftströmung von oben auf die warme Stadtluft, und was vorher Luftfeuchtigkeit war, kondensierte zu winzigkleinen Wassertröpfchen und verband sich mit 420
dem Ruß der Stadtluft zu einem dicken, undurchdringlichen Nebel, der alle hellen und hektischen Klänge erstickte und eine ängstliche Stille aufkommen ließ, wie sie wohl Hänsel und Grete allein im Wald empfunden hatten. Ab und zu kamen Gesichter zu nahe ran, wurden sichtbar und verschwanden wieder, Durchschnittsgesichter, eins unbekannter als das andere, alle erschraken, wenn man ihnen die Blätter hinhielt. Plötzlich ein schiefes, geschlagenes Gesicht, blaue Augen, von Fäusten traktiertes Kinn, ein Gesicht, das sie kannten. “Nanu, was machst du denn hier?” begrüßten sie ihn freudig und, “was ist dir denn passiert?” Es war ihre Konkurrenz aus der Einkaufsstraße, der Zeuge Jehovas. Er berichtete: “Nachdem der Pöbel euch weggejagt hatte, sah er mich. Und ich war ihnen auch nicht recht, aber ich bin ein alter Mann und schwach und nicht so fix wie deine Leute, Adjuna, da haben sie mich gepackt und verprügelt.” Er hatte wohl Grund zum Jammern, aber tat es nicht. Drei Gestalten zeichneten sich an der Nebelwand ab, sie sahen wohl befremdlich aus. “Beeil dich, sonst kommst du zu spät!” Nur einer trat an sie heran, hob den Zeigefinger und sprach: “Es kann keinen Zuckerbäcker geben, der einen Bonbon bäckt, der jedem schmeckt.” “Wer bist du?" fragte Adjuna. “Der Weise aus dem Morgenland.” “Du meinst, einer von den Dreien, die zu Jesu Geburt gekommen sind?” “Ja.” “Glaubst du, es war weise, dahin zu gehen?” “Nein, wir sind damals einem Irrlicht gefolgt.” Und er verschwand wieder in Nebel und Nichts, wie damals auch, und ward nie wieder gesehen. “Hast du das gesehen?” wandte sich Adjuna wieder an den Zeugen Jehovas. “Ja, Gotteslästerer. Hätte ich nicht erwartet von denen.” “Na, erzähl mal, was machst du denn hier in der Gegend. Hast du keine Angst vor den leichten Mädchen und schweren Jungs hier?” fragte Adjuna, den Arm um seine Schultern legend. “Jetzt suche ich mir 421
ne neue Stelle und hab ans Hafenviertel gedacht. Die Leute hier haben Gottes Wort vielleicht am nötigsten. Hoffentlich passiert nicht wieder so etwas wie in der Einkaufsstraße...” und kleinlaut, “...jetzt, wo ihr hier seid.” Lachend klopfte Adjunas Hand auf seiner Schulter: “Es scheint, Bibelforscher und Bibelfeinde haben etwas gemeinsam. Wir haben übrigens auch ein bißchen Bibelforschung betrieben.” Und er gab dem alten Mann eins von ihren Pamphleten und der revanchierte sich mit einem Wachturm-Heftchen. Beim Abschied wünschte er dann noch “Viel Erfolg”, und Adjuna erwiderte: “Danke, wünsch ich dir auch, viel Erfolg!” Das Leben war voller Widersprüche - und Gedankenlosigkeit.
Was machten sie mit dem Adventskranz, den man ihnen gegeben hatte? Sie entfernten die Kerzen und banden eine Schleife dran. Was stand auf der Schleife? In Angedenken an die Opfer.
Wir glauben nicht an den Weihnachtsmann, nicht an Jesus Christus, nicht an Gott, aber wir wissen, daß der Glaube den Menschen viele Opfer gekostet hat.
Das Weihnachtsfest, ein trauriger Tag. “Auch wenn das Christkind an diesem Tag nicht geboren wurde, sondern die Sonne am tiefsten steht, und daher jetzt langsam wieder hochkommen muß, was unsere Ahnen einmal fantasievoll als Wiedergeburt feierten, seit die Christen diesen Tag als Geburt ihres Anti-Helden, dem sie ja wie der Sonne Aufsteherei angedichtet haben, 422
mißbrauchen, ist dieser Tag, solange sich die Erinnerung an das Christentum erhalten wird, verdorben. Uns bleibt nur an diesem Tag zu trauern, der Opfer des Christentums zu gedenken”, und er zündete eine Kerze an und sprach: “Tuet so zum Gedächtnis der Opfer des Christentums und gedenket des Blutes, das sie für euch vergossen haben. Viele starben mit der Vision von einer besseren Zukunft. Wo ständen wir jetzt, wenn sie nicht gewesen wären? Ich will es euch sagen, wir ständen noch im Mittelalter, genauer in den Flammen irgendeines Scheiterhaufens, denn wie fast ein jeder heutzutage denkt, ist Ketzerei, und wenn die Kirchen noch immer freie Hand hätten, dann wüßten sie schon, was sie mit uns täten, für den Glauben ist kein Opfer zu hoch. Also im Angedanken an die Opfer... Der heutige Tag soll mich nicht fröhlich sehen. Die behaupten ihr Märchenprinz sei heute geboren, aber wir haben einen realistischeren Grund, uns diesen Tag zu merken.” Und sie trauerten und mochten nicht auf die Straße sehen. Nur Adjuna, der manchmal seherisch begabt zu sein schien, sah Trauerflore in den Straßen hängen. Hoffentlich ist das keine Illusion, sondern wird einmal Wirklichkeit, dachte er.
An einem anderen Tag hatten sie in einer Kneipe am Hafen eine Begegnung der vierten Art. Manch einer mag fragen, was ist das eine Begegnung der vierten Art? Nun, eine Begegnung der ersten Art ist, wenn man jemanden nur sieht, von der zweiten Art spricht man, wenn man auch was hört, bei der dritten Art kommt die Berührung hinzu, mit der vierten Art aber ist gemeint, daß es einem unter die Haut geht. Gut gehaltene Reden können unter die Haut gehen, aber Lieder, eine flotte Melodie und ein einprägsamer Refrain noch mehr.
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Und tatsächlich war es ein Sänger, dem die christliche Problematik auch am Herzen lag. Hier der Sänger, Ansage und Lied: “Das Christentum bekämpft man nur mit seinen eigenen Waffen, nämlich mit Metaphysik und spektakulären Ereignissen,” sagte der Sänger. Und so sang der Sänger, der von seinen Fans angebetet wurde, und er sang das Lied, das da hieß “Die Mörder und das Monster”: Zweitausend Jahre litt die Menschheit wegen der Mörder und dem Monster eine neue Zeit soll kommen, wo jeder bekämpft die Mörder und das Monster [3x] mit Wissen und Wahrheit bekämpft die Mörder und das Monster böse Dämonen schufen die Mörder und das Monster - und noch bösere Menschen. Vorväter und Vormütter Generation um Generation litten wegen der Mörder und dem Monster Laßt Mörder und Monster nicht entschlafen durch Trägheit und Teilnahmslosigkeit, sonst werden sie eines Tages erwachen - blutrünstiger denn je, 424
sondern bekämpft die Mörder und das Monster - mit Wissen und Wahrheit. Betet nicht zu uns. Betet nur zu vernichten die Mörder und das Monster Wir wollen nichts von Euch Wir wollen nur die Mörder und das Monster Wir wollen nur die Mörder und das Monster beseitigt wissen von dieser Welt.
Die, die ihr die Wahrheit wißt, jagt die Mörder und das Monster jagt sie hinaus, hinaus aus Kirche und Gemeindehaus, aus Vatikan und Lateran fegt diesen Schmutz vom Angesicht unserer Welt. Zu viele Opfer verlangten die Mörder und das Monster Nie wieder sollen sie opfern, die Mörder und das Monster 425
opfern die Opfer, die Mörder und das Monster Der letzte Scheiterhaufen muß brennen, muß brennen die Mörder und das Monster Und nie wieder soll's geben die Mörder und das Monster denn schon die Kinder sollen wissen von den Mördern und dem Monster Ach, wär' das gute Werk doch schon vollbracht! Ach, wär' die Welt doch schon befreit, befreit aus den Klauen der Mörder und des Monsters und die Gedanken frei, frei vom Wahnsinn der Mörder und des Monsters!
Hoffentlich erlebe ich noch eine Zeit, wo eine antichristliche Bewegung so stark geworden ist, daß auch der letzte Mann auf der Straße weiß, die Mörder sind die Christen, das Monster ist ihre Religion. 426
Aber wo bleibt die Metaphysik, von der du anfangs sprachst? Was meintest du überhaupt damit? Nun, der Kirche droht keine Gefahr von der Vernunft. Von wo denn? Von fliegenden Untertassen. Pause. Du meinst, es wird nie genug vernünftige Menschen geben? Und wenn wir auf ihre mörderische Vergangenheit und auf die Verbrechen und schmutzigen Geschäfte in der Gegenwart aufmerksam machen, das hilft alles nicht? Nein, das hilft alles nicht. Nur fliegende Untertassen helfen? Ja. Warum erfindest du denn keine Religion der fliegenden Untertassen? Brauche ich nicht. Hat schon jemand getan. Und die Leute glauben dem? Ja. Die, die sich nicht vorstellen können, daß jemand lügt. Eine komplette Religion: Lügner und Belogene. Erzähl mir mehr! Nun, ein junger Mann behauptet Untertassenfahrer hätten ihn mitgenommen zu ihrem Stern, wo er Moses, Elia, Buddha, Jesus, Mohammed und den Vorsitzenden Yahweh getroffen hat. Mein Gott, andere große Namen kannte er wohl nicht. 427
Anscheinend nicht. Der Vorsitzende Yahweh hat ihm dann erklärt, daß die Elohim in Wirklichkeit keine Götter, sondern Menschen, die vom Himmel kamen, also Untertassenfahrer, waren, die hier auf der Erde ihre Experimente, Schöpfung usw. machten. Dieser junge Mann versucht also Bibel, Koran und Wissenschaft einigermaßen plausibel zu einer neuen Religion, deren Prophet er ist, zusammenzumatschen. Leider leidet er, wie ein anderer großer Prophet und erfolgreicher Religionsspender vor ihm, an eklatantem Halbwissen. Sowas macht das Ganze ja nur glaubwürdiger. Ja, was man weiß, braucht man nicht zu glauben. Pause. Der Untertassenfahrerprophet lehrt sogar, daß die Menschen, die böse waren, von den Untertassenpiloten neu geschaffen werden, reinkarniert sozusagen, um sie bestrafen zu können. Mit anderen Worten: Der hat nicht alle Tassen im Schrank. Prüde war er aber nicht. Denn in seinem Paradies stehen dem Mann geile Mädchen zur Verfügung, etwa den Huris der Mohammedaner vergleichbar, nur daß diese Huris in Wirklichkeit wohl proportionierte, kurvenreiche Fleischroboter sein sollen. 1 Huris oder Huren. Solange meine Frau nicht bei mir ist, ist das Paradies unvollkommen für mich.
1
vgl. Claude Vorilhon “RAëL”: THE MESSAGE Given To Me By EXTRA-TERRESTRIALS They Took Me To Their Planet.
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“Wie heißt du? Dein Gesang ging uns unter die Haut und dein Anliegen ist auch unser.” Nun, er hieß Orpheus wie das Stimmwunder aus der Familie des thrakischen Flußgottes Öagros, dem die Götter einst seine Geliebte Eurydike vorzeitig hatten sterben lassen, worauf der antike Sänger sich aufgemachte hatte durch die Pforte beim Tainaron in das grausige Reich der Schatten vorbei an den schaurigen Leiden der ewig Gepeinigten des Orkus bis vor den Thron des bleichen Hades und der noch bleicheren Persephone. Ihnen sang er von seiner Liebe zu Eurydike und von seinem furchtbaren Schmerze, die Gepeinigten des Orkus weinten, es war mehr, als sie ertragen konnten, Tantalos vergaß seinen Durst, Sisyphos und sein Fels erstarrten, selbst die Eumeniden hatten Tränen in den Augen, und der dreiköpfige Hund Kerberos heulte herzerweichend und erbärmlich und selbst die erbarmungslose Parze Atropos legte die Schere in den Schoß und wischte sich die Augen, und da auch Götter, sogar Götter der Gerechtigkeit, die jede irdische Tat gerächt wissen wollen, manchmal ihre schwachen Augenblicke haben, die sie zu fast menschlichen Gefühlen befähigen, wurde Orpheus erhört und es wurde ihm versprochen, daß, wenn er wieder zum Ausgang ginge, Eurydike ihm folgen werde, er dürfe sich jedoch nicht umdrehen. So schwach war der Augenblick also nicht. Der lange Weg zum Ausgang war weit, weiter und weiter, viel weiter als auf dem Hinweg, ein dunkler Tunnel, Orpheus hörte weder Eurydikes Füßchen, noch das Rauschen ihrer Gewänder, nicht einmal ihren Atem und ihr Herzklopfen. Folgt sie wirklich? Nur ein kleines Bißchen nach hinten schielen aus den Augenwinkeln. Da sah er sie zurückgesogen in den Hades. Die Götter hatten ihr Spielchen gehabt. Was für den einen die verbotene Frucht war, war für den anderen ein Blick nach hinten. Götter waren nicht gut. “Dein Namensvetter hat ja einmal den Sadismus der Götter kennengelernt.” “Richtig, heutzutage kennen die meisten zwar nur den Sadismus der Priester, Zölibatäre, die nackte Frauen folterten, aber selbst die evangelischen mit ihren angeblich vorbildlichen Ehen haben da ja fleißig mitgehalten, und jeder vergißt, daß das schlechte Vorbild der Götter schuld ist.” “Noch schlimmer, selbst den Sadismus der 429
Priester hat man vergessen, sonst wüßte man die Forderung der Priester, daß Frauen wieder mit alten Kleiderhaken abtreiben sollen, richtig einzuordnen. Das ist nicht Menschenliebe, sondern der alte Menschenhaß der Frommen. Das Ziel ist natürlich, die Lust am Sex zu verderben, und überhaupt das Elend auf der Welt zu vergrößern. Das Elend ist überhaupt eine der Hauptvoraussetzungen für die Religion. Nur der Elende braucht Hoffnung, und wer täglich um sein täglich Brot kämpft, hat keine Zeit, kritisch zu denken. Der Reiche dagegen, der die Religion unterstützt, tut es meist bewußt - manchmal jedoch auch unbewußt, um sich zu schützen, denn vom Unkritischsein der Massen profitiert er genauso wie die Kirche, selten, daß ein Reicher heutzutage noch so dumm ist, sich von der Kirche ein schlechtes Gewissen aufschwatzen zu lassen. Reichtum ist keine Sünde und Wohlstand schon gar nicht, Gebären und Vermehren dagegen sind zu Verbrechen geworden. Das größte Problem dieser Erde ist: zu viele Menschen. Wer heute noch Kinder in die Welt setzt, vermehrt das Unglück und die Unglücklichen, wozu seine eigenen Kinder gehören werden!” “Du spricht mir aus dem Herzen. Die jetzt Lebenden machen schon zuviel Dreck, eine Verschmutzung, die Leben kostet, Krankheit und Siechtum mit sich bringt, und satt, satt werden schon lange nicht alle, täglich verhungern weit mehr Kinder als Menschen jeder Altersstufe zu Höchstzeiten in Auschwitz umgebracht wurden, aber den Priestern sind das noch nicht genug. Ich weiß, warum ich von Mördern und Monstern singe. Es ist monströs, gegen Abtreibung und Verhütung zu sein, mehr Menschen zu fordern, bloß weil man für die eigene Existenz Elend und Armut nötig hat, sein Image als Almosenspender in einer Wohlstandswelt gefährdet sieht und auch der Dreh mit dem schlechten Gewissen sonst nicht klappt. Religion ist eine Sünde wider den menschlichen Geist.” Wer so sprach, war dem Adjuna natürlich willkommen: “Du mußt bei uns mitmachen. Wir, das heißt, der Luz da und der Bunte, wir haben uns zusammengetan, um genau diese Sünde wider den menschlichen Geist zu bekämpfen.” Orpheus war sofort begeistert. Aber der menschliche Geist ist eine trickreiche Sache. Luz und der Bunte protestierten: “Wer sind wir denn! Genauso wie es eine Heilige 430
Drei-Einigkeit gibt, sind wir das Gegenteil dazu, eine Unheilige DreiEinigkeit, ein Trident, der gegenan stickt und sticht.” “Ja, und es gab drei Weise aus dem Morgenland, das haben wir ja selbst gesehen, und dreimal krähte der Hahn und nach drei Tagen...” “Es ist nicht weise, leerem Symbolismus zum Opfer zu fallen, Fahnen haben schon genug auf dem Gewissen. Aber wenn es euch glücklich macht: Es gibt vier Jahreszeiten und vierblättriger Klee ist ein Glücksbringer. Wenn Blätter und Jahreszeiten es sich leisten können, keine Rücksicht auf die Heilige Drei-Einigkeit zu nehmen, dann können wir das erst recht, besonders heute am 6. Januar.”
Vieles geschah und doch zu wenig. Die Vier hatten jetzt ein Büro und nannten sich `Gesellschaft zum Schutze des Geistes und der Umwelt', viel Kleinarbeit: Vorlesungen, eine Zeitung, die unregelmäßig erschien, Informationsstände und dergleichen. Das Thema Umweltschutz hatten sie mit aufgenommen. `Unsere Gegner machen auf Umweltschutz. So auch wir.' Die Kirchen hatten sogar schon bei dicker Luft um Regen und frischen Wind beten lassen, allerdings manchmal auch schon mit seriöseren Sachen aufgewartet wie mit Demonstrationen und Forderungen an Industrielle und Politiker. Als die Vier einmal eine Demonstration gegen Luftverschmutzung gesehen hatten, bei der sogar schwangere Frauen eine Zigarette im Mund hatten, wußten sie, daß hier was nicht stimmte. Wenn man Sauberkeit fordert, muß man bei sich selbst anfangen. Rauchen produziert nur Dreck, Sucht, Krankheit, die Industrie dagegen Gebrauchsgüter, selbst im schlimmsten Fall halbwegs brauchbare Sachen: Video-Spiele zum Beispiel, bei denen man nicht nur die Welt vergißt, sondern auch Geist und Reaktion trainieren kann, elektrische Zahnbürsten, die durch feine Vibration die Zähne viel sauberer kriegen als manuelle Zahnpflege, oder der neuste Schrei, die Spritz-und-Wisch431
Poporeiniger fürs häusliche Klo, der die Analöffnung nach Gebrauch wieder kußfrisch saubermachten. Alles nützliche Sachen! Aber Rauchen nützt nur dem Tod. Zum Raucher kommt der langsame Tod gekrochen, der feige Tod, der unwürdige Tod, der Drecktod, durch das Verfaulen der eigenen Innereien. Nehmt lieber ein Messer. Erspart euren Mitmenschen den widerlichen Gestank eurer Schnuller. Die Vier hatten also konsequenterweise den Rauchern den Kampf angesagt. Besonders der Bunte hatte einen großen Haß auf die Raucher. Nicht nur, daß sein Vater einst ein starker Raucher gewesen war und ihn als Kind, wenn ihm bei Papas Qualmerei schlecht wurde, als Schwächling verspottet hatte, sondern er hatte selbst auch in späteren Jahren, dem Beispiel seines Vaters folgend und in der Hoffnung, ein richtiger Mann zu werden, das Rauchen angefangen und es in kurzer Zeit zu großer Sucht gebracht. Mit achtzehn war er zu einem bleichen, mageren, zitternden Skelett abgemagert. Als er sich im Spiegel besah, spuckte er sich selbst an: Was für ein Schwächling bist du! Die Zigarette regiert dich. Du bist unfrei. Du wolltest erwachsen sein und jetzt bist du ein Schnulleraffe, ein Nuckelmann. Die Erwachsenen, die rauchen, sind gar nicht erwachsen, das sind unreife Schnullerkinder; falsche Vorbilder. Wer wirklich Reife besitzt, wird nicht Zeit, Geld und Gesundheit für so eine dreckige Sucht opfern. Undsoweiter. Der Bunte hatte damals die Sucht und sich selbst so mit Verachtung überhäuft, hinzu kam auch noch der Haß auf einen dummen und brutalen Vater, der jetzt allerdings schon an der gewünschten Belohnung Lungenkrebs eingegangen war, daß er als unvermeidliches Nebenprodukt seiner Entwöhnung in jedem Raucher zunächst einmal nur ein Stück Dreck sah. Nur wenn ein Raucher so geduldig war, mit ihm ein langes Gespräch zu führen, wobei er natürlich nicht rauchen durfte, war der Bunte eventuell bereit, einzugestehen, daß Raucher auch Menschen waren - wenn auch die dreckigsten. Bei seiner Arbeitsstelle, dem heiligen Sodom, hatte das Management seinetwegen schon einmal ein allgemeines Rauchverbot eingeführt. Man hatte damals so getan, als handelte es sich bei den Darstellern der Sex-Show um eine Art Sportler, die fit sein müßten. Aber mittlerweile hatte das Management dem Murren des Publikums 432
wieder nachgegeben und es wurde wieder gequalmt, was dem Haß auf die Raucher neues Feuer gegeben hatte. Mit Genuß pinselte er an die Tür der Gesellschaft zum Schutze des Geistes und der Umwelt: Raucherschwein darf nicht rein.
Obwohl die Vier viel Aufsehen erregten mit ihren provokanten Ideen, fanden sie keine Unterstützung in der Bevölkerung. Man begegnete ihnen mit äußerster Skepsis, nannte sie schlechte Bürger, wohl weil sie von ihrem Recht auf freie Meinungsäußerung Gebrauch machten. Die Jan Hagels wußten es mal wieder am besten. Sie kamen mit dem Einhoden- oder Einhodigen-Vorwurf. Hitler war ein schlechter Staatsbürger, und mit gestrecktem Zeigefinger: wie ihr. Obwohl doch alle gesehen hatten, wie Adjuna das Volk ermahnte: “...aber man hüte sich auch vor dem Rassismus, der hat noch nie zu etwas geführt, auch wenn er manchmal berechtigt erscheint, die erhobene Rasse legt nur ihre Tugenden schlafen und benimmt sich wie primitive Barbaren. Und dadurch, daß man andere erniedrigt, ist man noch längst nicht erhoben und erhaben erst recht nicht.” Immer hieß es gleich: Du bist einhodig. Egal, ob man Sterbehilfe für alte Leute forderte, oder legale Abtreibung für Frauen, die keine Kinder wollten, oder vernünftige Vorschläge zur Seuchenbekämpfung unterbreitete, selbst die Ablehnung der Gewalt: “Wenn man plant, die Welt zu verbessern, wenn man sich also entschieden hat, die Welt statt zu zerstören, zu verbessern, so wird man die Gewalt ablehnen. Gewalt schafft nur neue Höllen, das haben frühere Weltverbesserer zu genüge bewiesen”, selbst diese Ablehnung der Gewalt also wurde mit dem Einhodigen-Vorwurf begrüßt. Seit der Einhodige gelebt hatte, wurde
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jedes Anderssein als einhodig beschimpft. Einhoden-Syndrom, der Einhodige litt schon daran.
Wieder herrschte in Hamburg so ein Londoner Nebel, Adjuna saß mit seinen Leuten auf einer Alsterbank und teilte mit ihnen seine Butterbrote, es war gerade Grüner Donnerstag, dabei starrten sie in den grauen Nebel. Der Bunte mußte mal schiffen - ach nein, bei so einem zarten Jüngling sollte man lieber pischen sagen. “Ob ich mich hinter das Bäumchen stelle?” “Mensch, der Stamm ist ja kaum dicker als 'n Schwanz.” “Der Nebel hilft ja.” “Warum gehst du nicht noch ein Stück weiter?” Der Bunte verschwand im Nebel. Bald hörte man ihn schreien: “Eine Hexe!” “Für Hexen bin ich zuständig”, sagte Luz und stand auf. Bald darauf kam er mit einer extrem unansehnlichen Frau wieder. Natürlich war sie keine Hexe, sondern nur eine unglückliche Frau, wie alle Frauen, die als Hexe beschuldigt wurden. Adjuna kannte sie und auch sie erkannte Adjuna. Es war die Frau mit dem verbrannten Gesicht, die er mal bei dem Zuhälter Johnny gesehen hatte. Sie sagte ihm, daß Johnny gestorben sei. “Da warst du sicher sehr traurig.” Jetzt hatte sie niemanden mehr, der für sie sorgte. Für ihren Beruf sei sie zu häßlich geworden und eine andere Arbeit könne sie auch nicht finden. Da erzählte Adjuna ihr, was sie machten, und fragte, ob sie mitmachen wolle: “...und was zu essen, kommt bei uns auch immer irgendwie auf den Tisch.” Sie sagte, daß sie selbst auch die Hexenverbrenner hasse, gerade wo sie ja selbst Brandwunden erlitten hätte, wüßte sie ja, wovon sie rede. Adjuna wunderte sich, sagte aber nichts, und das Mädchen schwieg auch. Sie schloß sich ihnen einfach an und folgte ihnen.
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Jetzt waren sie zu fünft, bei einer Weltbevölkerung von 5 Milliarden ein kleine Minderheit. Johnny wurde nicht mehr erwähnt.
Sie versuchte es als Schreibkraft der Gruppe, aber es wurde verständlich, daß man ihr in einem normalen Büro solche Arbeit nicht überlassen konnte. Irgendwann hatte Orpheus sie mal unter der Dusche gesehen und anschließend mit ihr geschlafen. Auch Luz und sogar der Bunte nahmen sie mal mit ins Bett. Schließlich schlief auch Adjuna mit ihr, unten war sie schön wie jede schöne Frau. Doch nach der Ernüchterung, die jeder heißen Umarmung folgt, sagte sie: “Vielleicht hast du noch andere Leute ermordet.” “Ja, ich hab sogar mal einen Papst ermordet, eigentlich hatte ich geschworen, jeden neuen Papst ebenfalls umzubringen; außerdem war ich mal Seeräuber, noch früher Tyrann und selbst im Leib meiner Mutter war ich schon ein Totschläger.” “Und mit welchem Recht willst du jetzt die Welt verbessern?” “Ich habe etwas hinzugelernt.”
Wie gesagt, die Gruppe hatte ein bißchen Arbeitsteilung eingeführt. Orpheus war nicht nur der Sänger, sondern wegen seiner guten Ohren auch der Horchfunker der Gruppe geworden und zu seiner Aufgabe gehörte es, die Feindesbewegungen zu überwachen. Eines Tages kam er keuchend angelaufen: “Neues von der Front! Die Kirche will die Bibel als heiliges Buch abschaffen, da sie ungeeignet ist für die Verbreitung des Glaubens. Das ist zweifellos unser Einfluß!” 435
Adjuna: “Die haben hinzugelernt. Aber das ist ein harter Schlag für uns. Das macht alles unendlich schwerer. Schon die Drohung, alle Hinweise auf Sklaverei und die Unterdrückung der Frau auszumerzen, hörte sich gefährlich an, aber die Bibel ganz abzuschaffen, ist die Atom-Bombe, die uns zerstört. Bisher mußten die ziemliche Verrenkungen beim Auslegen der Heiligen Schrift machen, um sich mal den Nazis, dann der Demokratie und schließlich der Öko-Bewegung anbiedern zu können, ohne Schrift können sie ihren Dolus, durch Anpassung an die Zeitströme das Überleben zu sichern, bis sie in irgendeiner Zeit großen Elends wieder die absolute Macht an sich reißen können, viel besser befolgen.” “Was können wir also machen?” “Das Naheliegende, den Schritt kritisieren.”
Urlaubszeit
“Der Sommer steht vor der Tür und alles fährt in Urlaub. Wenn wir uns nicht auch eine Urlaubsreise leisten, werden die Leute uns verachten”, sagte Aurora. Diesen Namen hatten die Freunde Elvira wegen ihrer zarten, rosanen Finger gegeben. Und da sie das Bedürfnis hatte, ein neues Leben zu führen, benutzte sie ihren alten Künstlernamen überhaupt nicht mehr. Elvira, der Name gehörte einer verbrannten Hure, wie ihr Taufname Gottholde einem vor Unglück gestorbenem Kind gehörte. Jetzt wollte sie endlich glücklich werden, wo vier Gottlose sie zur Frau genommen hatten - natürlich nicht offiziell, wer geht schon gern für offiziellen Blödsinn ins Gefängnis. Polygamie war in diesen Breiten strafbar, obwohl sie im Gegensatz zur Rechtsprechung niemandem schadete. 436
“Ja, es ist so üblich, im Sommer irgendwohin zu fahren”, bestätigte der Bunte. “Du meinst, es ist Tradition?” fragte Luz fast ungläubig, “Die Tradition erlaubt nicht, daß man im Sommer zu Haus bleibt?” “So schlimm ist es auch nicht.” “Wie oft muß etwas geschehen, um als Tradition zu gelten?” fragte Adjuna dazwischen. “Ich finde es zwar eine gute Idee zu verreisen, aber wenn ihr aus Tradition wegfahrt, bleibe ich zu Hause”, wendete Orpheus mißmutig ein, denn er war jeder geistigen Haltung, die an Hergekommenem festhielt, abgeneigt, und bei ihm bestand immer die Gefahr, daß, wenn seine Ideen allgemeine Anerkennung fanden, er als erster sie umschmeißen würde. Da Aurora ihren Urlaub in Gefahr sah, beruhigte sie sofort: “Es ist keine Tradition wie die Taufe oder das Osterfest, sondern ganz einfach so, daß viele wegfahren und hier dann nichts mehr los ist. Es macht sicher Spaß, gemeinsam irgendwo Urlaub zu machen, was Neues zu sehen, sich entspannen usw.” “Es stellt sich für uns die Frage, wo sollen wir hinfahren”, sagte Luz auf Auroras Wunsch eingehend. Der Bunte, gleich ganz begeistert, hatte schon die Antwort parat: “Wir fahren natürlich zu einem heidnischen Kontinent.” “Wohin denn? Zum Südpol?” “Naja, jedenfalls wo das Christentum noch nicht so verbreitet ist. Nach Afrika! Da soll es auch bunt sein.”
Stammeskämpfe in Afrikas Schlachterhaus: Die Ibos schlachteten die Hausas, die Langis und Acholis die Bagandas, in Burundi fielen die Hutus in Hunderttausenden, getötet 437
von den Tutsis, in Rwanda war es anders herum und die Tutsis wurden getötet von den Hutus, und in Liberia hatte der Stamm der Krahns den Manos und Gios geholfen, frühzeitig das Zeitliche zu segnen, ein Segen, den die Manos und Gios den Krahns schon bald zurückgaben und ganz im Süden Afrikas massakrierten sich die Zulus und Xhosas einander unter den vereinzelten Schüssen ihrer weißen Herren.
“Und wer sich nicht massakriert, verhungert. Afrika hättest du nicht erwähnen sollen. Wenn ich an Afrika denke, bekomme ich ein schlechtes Gewissen, weil wir unser Geld nicht für die Hungernden spenden”, sagte Luz. “Ein schlechtes Gewissen ist nur eine Vorspielung von guten Absichten, die man in Wirklichkeit gar nicht hat”, sagte Adjuna, aber du braucht hier weder gute Absichten zu haben, noch sie vorzuspielen. Deine Ersparnisse helfen nicht, noch die von irgend jemand anders. Almosen helfen hier überhaupt nicht, auch keine reichen Gaben, nichts hilft. Die Hungernden dieser Welt sind verdammt. Sie sind zu viele, und würde man sie füttern, sind's morgen noch mehr, und der Almosenspender hat sich schuldig gemacht am vielfachen Hungertod und Elend der zukünftigen Generation. Hab ein gutes Gewissen, lieber Freund!” “Richtig, richtig!” rief der Sänger zustimmend. ...und das Gespräch nahm eine neue Wendung. Von den Urlaubsplänen wandte man sich ab, Luz und der Sänger diskutierten jetzt das Thema: Hunger und Überbevölkerung. Stammtischniveau? “Wie würdest du denn das Problem lösen?” “Erstens würde ich in unseren reichen, fortschrittlichen Breiten eine strikte Geburtenkontrolle einführen, das heißt, all den Leuten, die 438
unfähig und ungebildet sind, gierig, grausam, asozial, verbrecherisch, keine Verantwortung und kein Streben in ihrem Leben kennen, würde ich die Samenleiter durchtrennen oder zur Abtreibung zwingen, damit sie sich nicht vermehren können und spätere Generationen nicht gezwungen sind, solche Leute auf andere Art auszurotten, die grausamer und schrecklicher sein wird, da es dann Schon-Lebende trifft. Zweitens würde ich die armen, unentwickelten Länder, deren Einwohner sich so stark vermehrt haben und immer noch weiter vermehren, daß die Erde so kahl gefressen wurde, daß dort kaum noch etwas wächst und je wieder wachsen wird, so daß dort, wenn nichts getan wird, wahrscheinlich Wüsten entstehen werden, erobern und dann mit unseren modernen Waffen die dortigen Menschen mit Ausnahme der Intelligenz beseitigen, bei dieser Vernichtung müßte man aber behutsam vorgehen, um nicht der Ökologie noch mehr zu schaden.” “Das hieße ja über die Hälfte der Menschheit auszurotten.” “Ausrotten ist immer hundertprozentig, sonst ist es kein `aus-'.” “Dann eben `umbringen'.” “Umbringen? Ja, das ist richtig. Aber sie sind ohnehin Todgeweihte. Und je länger wir damit zögern, desto mehr müssen nachher sterben, denn täglich kommt eine Viertelmillion und mehr hinzu, für die weder Platz noch Brot da ist.” “Gibt es denn keinen humaneren Weg?” “Das ist der humanste, mein Freund. Die Humanisten mit ihren Spenden schaden nur, indem sie widerliche Schmarotzer am Leben halten, die zu dumm sind, ihre Lektion zu lernen. Die Lektion heißt: Wenn ich mich nicht ernähren kann, kann ich meine Kinder erst recht nicht ernähren, also darf ich keine Kinder machen. Würden diese Humanisten einmal sehen, was sie damit erreichen, daß sie solchen Leuten, bei denen durch die permanente Unterernährung das Gehirn schon zu beschädigt ist, als daß sie je eine Chance hätten, auf der 439
Evolutionsleiter weiter aufzusteigen statt runterzufallen, noch Almosen geben, nämlich nicht, daß sie daran arbeiten, ihre Situation zu verbessern, oh nein, weitgefehlt, daß ihnen als Futter hingeworfene Brot gibt nur ihrem Pimmel ein bißchen Auftrieb, gerade genug Kraft, um ein Weibchen zu schwängern, und schon wirft das Weibchen neue Schmarotzer, und weder Männchen noch Weibchen kann den Wurf ernähren, da sind sie unfähiger noch als die Tiere; und wieder findet sich ein gnädiger, mitleidiger Humanist, der glaubt ein gutes Werk tun zu müssen, und wirft ein Stückchen Brot und wieder steht die Pfeife und wieder wirft das Weibchen, doch die Humanisten vermehren sich nicht so schnell, und täten sie's, wären sie bald selbst am Verhungern. Auf jeden Fall aber müssen die Schmarotzer früher oder später elend verenden, da läßt sich nicht dran rütteln, doch sowieso sind sie das Widerlichste, was die Welt je hervorgebracht hat. Auch der Humanist würde sich angewidert abwenden, würde er den Leuten begegnen, aber sein Spenden ist ja so anonym.” “Das ist ein Verbrechen, was du da predigst. Aber dafür wird sich niemand hergeben. Wir werden versuchen, auch die armen Völker der Dritten Welt zu belehren und zu ernähren.” “Sieh dir die Geschichte an! Die Geschichte lehrt etwas anderes, sieh sie dir gut an! Die, die sich selbst Weiße nennen, und dazu gehörst ja auch du, haben die Indianer Amerikas nahezu ausgerottet, und das waren stolze, edle Völker, in ihrer Zeit in vieles besser als die technisch fortgeschritteneren Bleichgesichter, denn sie lebten den harten Gesetzen der Natur angepaßt. Aber nicht nur hat man Völkermord begangen an harten, fremdartigen Wilden, sondern auch im Herzen der alten Welt war man dazu bereit, sogar an denen, die die eigene Kultur mittrugen, die mit zum Fortschritt und zum Wohlstand beigetragen hatten. Und warum tat man das? Weil sie den Lehren des Talmuds folgten und Anders-Sein ein Verbrechen in den Augen des Pöbels ist, und mehr noch, weil man mit neidischen Augen nach ihrem Vermögen gierte. Rassentheoretiker verschleierten diesen Hauptgrund nur auf für die Massen sehr schmeichelhafte Weise. - Doch jetzt geht es um den Fortbestand der menschlichen Rasse. In den übervölkerten Ländern wird die Welt so kahl gefressen, daß ein nicht 440
wiedergutzumachender Schaden entsteht. Da wächst kein Baum mehr. Diese hungrigen Völker werden sich eines Tages weigern, ihr Elend weiter zu ertragen, Menschenmassen werden über die Kontinente wallen, hungrige, verzweifelte Menschenmassen, - wir wollen nicht sagen, sie haben selbst schuld, niemand hat schuld an seiner Geburt, der Grund ist immer ein anderer. Diese Menschenmassen werden die letzten menschlichen Züge verlieren, zu Kannibalen werden, und schlimmer als das letzte Vieh ihre eigene Brut fressen und die Schwachen in den eigenen Reihen. Sie haben ein Ziel; sie wollen dorthin, wo Milch und Honig fließt, wo Verschwendung und Überfluß herrschen. Und eines Tages werden sie an die Türen der reichen Nationen pochen, aber man wird ihnen nicht auftun, natürlich nicht, wer läßt schon gerne Not und Elend in sein Haus, da werden sie versuchen, die Türen aufzubrechen, doch solange der Brennstoff für die Flammenwerfer und anderen Waffen reicht, haben sie keine Chance und verbrennen nur wie Insekten, die ins Feuer fliegen. Doch der Schaden, den diese Überzahl an Menschen in ihrer Heimat und auf ihrer Wanderung angerichtet hat, zusammen mit dem Schaden, den die Übersättigten in ihrer Gier nach ewig Neuem, neuem Überfluß, anrichten, wird die Welt zu einem unbewohnbaren Planeten machen. Mein Vorschlag ist die humanste Lösung, denen, denen sowieso der Untergang gewiß ist, geben wir noch einen ehrbaren Tod, bevor sie ganz vertieren, und die überflüssigen Massen unserer eigenen Länder, die zum Weltenlauf nichts anderes beitragen als die riesigen Müllhalden ihrer zerbrochenen Spielsachen, erklären wir für unmündig und nehmen ihnen das Recht, frei über den Nachwuchs zu entscheiden. Es ist falsch mir Grausamkeit vorzuwerfen. Es ist ein chirurgischer Eingriff, der den befallene Körper noch retten kann. In unserer Zeit vollziehen sich die Veränderungen sehr schnell, wir müssen uns an der Zukunft orientieren und nicht an den Moralbegriffen und Wertvorstellungen der Vergangenheit. Aber die Wollüstigen, Gierigen, Süchtigen, Gefräßigen und Dummen haben nie zur Evolution beigetragen, sondern nur zu Dreck und Verbrechen, aber erst heute erreicht ihr Dreck Megatonnen und ihre Verbrechen auch. Wenn wir uns diese Leute nicht vom Hals schaffen, werden wir ersticken. Es gibt nur ein Streben und das heißt Bewußtheit. Wer sich kurzzeitigen Vergnügungen hingibt oder in den Schoß der Religionen flüchtet, ist weit von diesem edlen Ziel entfernt, 441
ein Klotz nur am Rande der Evolution, möge es über ihn hinwegrollen! Ein gröberer Fettfleck, nein, ein Dreckfleck bliebe nur an der ohnehin nicht weißen Weste der Geschichte.” Luz und Adjuna, die ja Ausrottungspolitik mit eigenen Augen gesehen und am eigenen Leib gespürt hatten, schüttelten den Kopf. War ihr Freund Orpheus hier nicht übergründlich, zu deutsch vielleicht, gefährlich deutsch. “Man braucht niemanden zu töten”, wandte Adjuna ein, “das Abbinden der Samenleiter reicht auch, ist zwar ein bißchen teurer...” “Das Überbevölkerungsproblem kann man in einer Generation lösen…”, meinte auch Luz, “…wenn man kaum noch Kinder machen würde. Zu töten braucht man niemanden, denn auch ohne Töten kommt ja der Tod zu jedem, der natürliche Tod.” “Du bist ein Idealist. Nur Idealisten können so reden. Ich aber bin Realist.” “Nein”, protestierte Luz, “ich bin Realist. Du willst für eine Idee die halbe Menschheit umbringen. Du bist Idealist.” “Es ist humaner... - es ist vernünftiger... - es ist richtiger...”, so rang Adjuna danach in den Dialog einzugreifen, “ja, richtig ist das richtige Wort, es ist richtiger, das Kinderkriegen zu unterbinden als die Kinderkrieger zu bekriegen.” “Humaner ist das richtige Wort”, mischte sich der Bunte jetzt ein, aber davon wollten Luz und Adjuna wieder nichts wissen, weil sie nicht soviel von den Menschen hielten und das Wort human von Mensch abgeleitet worden war. Die Schicksalsgötter aber hielten beide Lösungen nicht für richtig, für zu human vielleicht oder für zu wenig menschlich. Sie wollten den Homines und Homunkuli ihre eigene Lösung, Endlösung, überlassen. 442
Wieder Urlaubspläne “In dieser ewig neblig nieselige Nekropole ist meine Haut schon ganz weiß geworden. Ich bin bald so blaß wie Schneewittchen”, fing Aurora wieder an zu klagen, laßt uns an die Côte d'Azur oder Côte Vermeille fahren, da soll es sogar FKK-Strände geben und wir können uns ganz nackt in die Sonne legen und uns von den Sonnenstrahlen küssen lassen.” Adjuna: “Ich würde mich ja auch nackt in die Sonne legen, wenn ich nicht wüßte, daß die Sonnenstrahlen schädlich wären, und ich keine anderen Interessen hätte. Wo Orpheus gerade von den Blutflecken an der Weste der Geschichte gesprochen hat, wir anderen könnten, während Aurora nackt in der Sonne liegt, die Stadt Béziers besichtigen, die das erste Opfer des Kreuzzugs der katholischen Kirche gegen den Gral wurde. Als sowohl die Katholiken als auch die Ketzer der Stadt vor den Kreuzfahrern in den beiden Kirchen Schutz suchten und die Kreuzfahrer nicht wußten, wie sie die Rechtgläubigen von den Falschgläubigen unterscheiden sollten, riet ihnen der Erzabt von Cîtreaux, der für das geistliche Wohl der Angreifer zuständig war: Bringt sie alle um, Gott wird die Seinen schon herausfinden! Natürlich hatte man, wie bei anderer Gelegenheit auch, den frommen Mördern das ewige Leben versprochen. Die anderen Schauplätze dieser Totalvernichtung sollten wir uns natürlich auch ansehen. Als nächstes zog das Heer der Rechtgläubigen, also das katholische Heer, Champion der einzigen richtigen Lehren des Friedensfürsten und seiner Nächstenliebe, mordend und brandschatzend nach Carcassonne. Diese noch von Alarich, dem Westgotenkönig, befestigte Stadt hatte einst sieben Jahre lang Karl dem Großen widerstanden. Doch für den Abt von Cîtreaux bot sie kein großes Hindernis. Erst half Gott mit, mit einer Dürreperiode, die die Brunnen der Stadt versiegen ließ. Als dann alle verzweifelt waren, bat man den Viscomte Ramon-Roger zu Verhandlungen ins Kreuzfahrerlager und schwor bei Gott dem 443
Allmächtigen, daß ihm nichts geschehen würde. Der Viscomte ging darauf ein und wurde dann festgenommen. Die Kreuzfahrer hofften, die Stadt würde sich ohne Führer ergeben. Und tatsächlich verteidigte am nächsten Tag niemand die Stadt. Als man die Tore eingerannt hatte, fand man die Stadt leer vor. Ihre Einwohner waren in der Nacht von der Erde verschluckt worden und durch unterirdische Gänge ins schwarze Gebirge entkommen, nur etwa fünfhundert Alte, kranke Frauen und Kinder waren zurückgeblieben. Hundert schworen der Ketzerei ab, die restlichen Vierhundert hat man bei lebendigem Leibe verbrannt, dazu das Tedeum gesungen. Aber der Blutdurst des Papstes ist unstillbar. Die Languedoc und die Provence, sowie die Grafschaft Toulouse und die Gascogne, diese einst heiteren Inseln der Poesie und hohen Minne im dunklen Meer des Mittelalters, wurden weiter zur Ader gelassen, kein Gralanbeter sollte überleben. Als die Bewohner des eroberten Minerve vor die Wahl gestellt wurden, Katholizismus oder Scheiterhaufen, stürzten sie sich selbst in die Flammen des bereitstehenden Scheiterhaufens, man brauchte sie nicht einmal zu jagen. Termès wurde wieder mit Hilfe des Herrn erobert, denn der Herr, der ja bekanntlich ein Analfetischist ist, schon die Ägypter hatte er mit Hämorrhoiden geschlagen, ließ die Ruhr in der Stadt ausbrechen. Dann Lavaur. Der fromme Gesang der Kreuzfahrer lähmte die Verteidiger. Alles wurde niedergemacht, die hochschwangere Kastellanin von Lavaur, Donna Geralda, in einen Brunnen geworfen und mit Steinen bedeckt. Für das Freudenfeuer nach dem Sieg fing man sich noch ein paar Leute aus der Umgebung. Wer nicht das Ave Maria aufsagen konnte, kam ins Feuer. Aber die Freuden der Märtyrer waren größer als die der Mörder. Sie küßten sich und starben leichten Herzen. Mütter hielten ihren Kindern die Augen zu, bis das Feuer sie ihnen für immer schloß.1 Den letzten Ketzern blieb schließlich nur noch, in die Pyrenäen zu fliehen. Zwei Silbermark waren sie wert, tot oder lebendig. In den Höhlen von Sabarthès fand das letzte Massaker
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Informationen über die Vernichtung der Albingenser wurden dem `Kreuzzug gegen den Gral' von Otto Rahn entnommen, der letzte Satz wörtlich.
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statt, unblutig, die Opfer starben eingemauert. Die Evolution hatte mal wieder ihr Ziel erreicht: Die Mörder überlebten.” Orpheus: “Du meinst, wenn die Evolution anderen Gesetzen folgen würde, gäbe es jetzt keinen Papst?” “So ungefähr.” Luz: “Ein Naturgesetz, daß jeder Angreifer sofort tot umfällt, wäre doch zum Beispiel gut.” Adjuna spöttisch: “Du kannst das ja mal dem Gesetzgeber vorschlagen.” Aurora: “Ich habe es schon oft gehört, aber noch nie verstanden; was ist das, das heilige Gral?” “Wie alle Mysterien ein Mysterium; einige sagten, es sei die Schüssel, in der man das Blut von Jesu aufgefangen habe, andere, es sei der Stein der Weisen, der Lapsit exillis oder Lapis ex coelis, mit dessen Hilfe aus minderwertigem Metall Gold wird, wieder andere hofften, damit statt Gold Gott zu finden, es wurde auch geglaubt, daß der Gral ein Stein aus Luzifers Krone sei.” “Was, ich hab doch keinen in der Krone.” “Für einige war es ganz einfach der Wunsch nach dem Paradies, andere wieder sahen darin ein Emblem, das die Nacht des Irrtums erleuchtet und die Menschen von ihrer Blindheit erlöst. Forscher wollen auch einen Zusammenhang mit dem Goldenen Vlies der Argonautensage oder gar mit den Babyloniern sehen, die ihren Sonnengott Gott der Schale nannten. Es ist auch möglich, daß die Albingenser Ideen der Apolloverehrer übernommen hatten, denn Apollo fuhr in einem heiligen Kelch, dem Symbol ewiger Wiedergeburt, zu den Hyperboräern und eine Vase oder sakrale Schale, die Cista mystica, diente beim Apollodienst, aber auch die Ideen des Pythagoras, der ja eine Inkarnation des Apollos gewesen sein soll, dürften sie beeinflußt haben. Cicero behauptete übrigens, daß Pythagoras seine Lehren von den keltischen Druiden abgekupfert hatte, so daß es auch möglich ist, daß die Albingenser durch direkteren druidischen Einfluß auf Ideen kamen wie der, daß die Erde ein Produkt des Dispaters, also eines teuflischen Wesens, sei. Solche Ideen vermischt mit johannitischem oder priscillianischem Christentum, dem ersten Todesopfer für christliches Falschglauben, gewürzt mit iranischem Mazdaismus und 445
buddhistischer Seelenwanderung und Glückseligkeit im Nichtsein dürften in der Stadt Albi zur Geburt des Albingismus geführt haben. Und wir lernen, daß Ideen immer mit Ideen verbunden sind, aber leider nicht immer mit Ideen überwunden werden. Und was noch den Gral betrifft: Eine Legende will wissen, der Gral entferne sich um so weiter von dieser Welt, steige um so höher gen Himmel, als die Menschheit seiner unwürdig geworden sei.1 Und was das Glück betrifft: Nach Meinung der Reinen, so nannten sie sich selbst, liegt es jenseits der Sterne.” “Das ist freilich eine weite Reise.” “Ja, wo nichts schneller sein kann als Licht.” “Das wußten die aber damals noch nicht.” “Dahin wäre die Seele ja zig Milliarden Jahre unterwegs!” “Ja, wenn sie ankäme, hätten die Sterne aufgehört zu existieren.” Luz kopfschüttelnd: “Daß die Erde das Produkt des Teufels sein soll, ist wirklich häretisch.” Aurora: “Warum galten die Albingenser eigentlich als Ketzer? Sie waren doch Christen.” “Oh, ihr Christentum hatte einige gute Seiten, deshalb.” “Zum Beispiel?” “Zum Beispiel lehrten sie im Gegensatz zum mosaischen Märchen von Adam und Eva, daß die Beiden bereits im Himmel gleichberechtigt als Engel existierten, und so wie Eva vom Stigma, eine Nachgeburt zu sein, befreit wurde, wurde sie auch auf Erden ihrem Adam gleichgestellt. Sie galt daher nicht als Männin Adams, sondern als Herrin, als seine Domina. Hier spielten natürlich alte keltische Vorstellungen mit, die in den Frauen etwas Göttliches und Prophetisches sahen. Die Beiden stürzten übrigens mit dem Teufel von Stern zu Stern ins irdische Exil, das für die Albingenser alles andere als ein Paradies war. Der Mensch als gefallener Engel sehnt sich zum
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Informationen zum Gral gesammelt bei Otto Rahn. Der letzte Satz wurde wieder wörtlich übernommen.
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Himmel zurück, darum die Berge Meru, Sinai, Olymp, Tabor, Oeta, der Parnaß und die Pyrenäen. Auf Bergen glaubte man sich der Gottheit nahe. Die Cathari, also die Reinen, lebten in einer schwarzweißen Welt: Gott ist gut, der Teufel ist böse, der Geist ist willig, das Fleisch ist schwach, die Seele ist göttlich, der Körper wie alles Stoffliche teuflisch. Sie kannten eine Hölle, aber diese Hölle war die Erde, und sie hatten recht, damals war es den Katholiken tatsächlich gelungen, die Erde in eine Hölle zu verwandeln, zumindest für andere. Gott, dessen Kinder wir nach Meinung der Albingenser sind, kann als liebender Vater seinen Kindern nichts abschlagen, so daß die Seelen, die sich in stofflichen Körpern wohl fühlen, immer wandern von einer Geburt zur andern, solange sie wollen, bis auch sie sich nach den Sternen sehnen.” “Warum ist alles Stoffliche teuflisch”, wollte Luz jetzt wissen. “Oh, die Reinen lehrten, Gott ist vollkommen, unveränderlich, ewig und gerecht, absolut gut, also das Gegenteil von Materie. Unvollkommenes kann nicht von Vollkommenem kommen. Vollkommenes schafft nichts Unvollkommenes, ergo: Gott hat die Welt nicht geschaffen. Schlechte Wirkung kommt nur von schlechter Ursache, also vom Teufel.” “Ja und wer war ihrer Meinung nach der Teufel? Nicht ein gefallener Engel, also ein Kind Gottes, sein unvollkommenes Produkt?” “Doch, aber soweit konnten sie nicht denken.” “Aha, das wundert mich nicht. Denken ist nämlich eine teuflische Erfindung.” “Das Alte Testament wurde übrigens nicht von ihnen anerkannt. Jehova war für sie der Teufel, denn Jehova verflucht ständig, der wahre Gott aber segnet. Daß die Welt Teufels Werk ist, bewiesen sie mit dem Neuen Testament, denn dort steht, daß der Teufel Jesus auf einen Berg trägt, ob huckepack oder auf dem Arm wird nicht gesagt, und dann verspricht: `Das kriegst du alles, wenn du mich anbetest.' Wie kann er 447
die Welt verschenken, wenn sie ihm nicht gehört? Wie kann sie ihm gehören, wenn er sie nicht geschaffen hat? Wenn er sie geschaffen hat, dann ist er Jehova. Steht doch im Alten Testament, daß der die Welt erschaffen hat. Jehova equal Teufel. Quod erat demonstrandum. Auch die Albingenser konnten denken.” Während Luz noch nach Ausflüchen oder zumindest einer halbwegs intelligenten Antwort suchte, rief der Sänger lachend: “Womit bewiesen wäre, daß die Albingenser teuflische Fähigkeiten besaßen, was wieder nach katholischer Logik ihren Untergang rechtfertigt.” “Nach unserer Logik war ihr Untergang aber nicht gerechtfertigt, denn sie waren friedliche Menschen und schadeten niemandem, außer durch ihr friedliches Verhalten vielleicht der katholischen Kirche. Sie hatten versöhnliche Ideen und glaubten, daß am jüngsten Tag alle, selbst Satan, zu Gott zurückfinden. Kein ewiges Braten in der Hölle. Sowieso, einen schlimmeren Ort als die Erde kannten sie nicht.”1 Mit “Wenn ich Frankreich höre, denke ich natürlich an die französische Revolution” meldete sich jetzt der Bunte zu Wort, laßt uns lieber Paris besichtigen und die Schauplätze der Revolution aufsuchen.” “Und feiern, wie aus einer Monarchie eine moderne Diktatur wurde? Das Schafott steht übrigens nicht mehr an seiner Stelle”, entgegnete ihm Adjuna, “Revolutionen sind nichts Gutes, langsame Entwicklungen sind gesünder. Gewalt, schrieb Rousseau, schuf den ersten Sklaven, das mag ja stimmen, auf jeden Fall schafft Gewalt Unterdrückung und Wunden, aber Bewunderung schuf die ersten Häuptlinge. Könige sind langsam an die Macht gekommen, zunächst einmal waren sie Häuptlinge, denen die Leute ihr Vertrauen geschenkt hatten. Langsam wurden sie machtbesessen, langsam erstarrte das System, langsam löste es sich auf, auch die Heilung braucht Zeit. Das Dazwischen-Hauen von Jan Hagel und Konsorten, Pöbel und Sansculotten, hat nur die gerade genesende Gesellschaft wieder krankenhausreif geschlagen und
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Informationen zu den Glaubensvorstellungen der Albingenser wurden Otto Rahns Buch entnommen.
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die guten Idealvorstellungen der Zeit mit Blut beschmiert und unappetitlich gemacht. Es wäre wünschenswert gewesen, man wäre bedachteren Führern gefolgt als Danton, Marat und Robespierre. Aber das Volk glaubt so gerne an Unsinn, so glaubte es auch an Robespierres `Despotie der Freiheit' und sah keinen Widerspruch. Die ursprüngliche Idee der Menschenrechte und der Freiheit, die jede Tätigkeit erlaubte, die anderen nicht schadete, war schnell vergessen worden, jetzt mußte man nach Robespierres Wunsch `aktiv tugendhaft' sein. Die Revolutionäre waren Deisten. Das Christentum hatten sie erfolgreich abgeschafft, aber ohne Verehrung kamen auch sie nicht aus. Sie verehrten die Natur, diese wahllose Mörderin, als Göttin und glaubten sie sei gut. Als junger Anwalt hatte sich Robespierre für das Recht der Leute, sich der himmlischen Strafe zu entziehen, daher Blitzableiter auf ihren Dächern anzubringen, eingesetzt, als Tyrann kannte er keine Gnade und seinen Gegnern war die irdische Strafe gewiß und am Pfingstsonntag 1794, der nun kein Pfingstsonntag mehr war, da das Christentum ja abgeschafft worden war, beging er mit ganz Frankreich zusammen als Höhepunkt der Revolution das Fest des höchsten Wesens, und er erklärte, daß das französische Volk an ein höchstes Wesen glaube und an die Unsterblichkeit der Seele, und daß das höchste Wesen die Revolution fördere, daß das Volk die Tyrannei hasse, sowie alle Feinde von Tugend, Gerechtigkeit und Moral, wozu seiner Meinung nach alle Atheisten gehörten, die er dann auch folgerichtig aufs Schafott schickte. Gott wurde mit Hilfe der Vernunft bewiesen. Etwa so: Wenn Gut und Böse existieren, und... - ist doch logisch, daß sie existieren! - dann muß es logischerweise auch ein Wesen geben, das das Gute belohnt und das Böse bestraft, und wer das Gegenteil behauptet, verführt das Volk zur Unmoralität und wird geköpft. So wurden aus Atheisten wieder Todesopfer, aber aus Kirchen Tempel der Vernunft. Es war natürlich unvernünftig, die Kirchen in Tempel der Vernunft umzuwandeln, vernünftig wäre gewesen, sie in Ställe und Lagerschuppen umzuwandeln oder Fabrikhallen. Vernunft hat nur einen Sinn, wenn man sie vernünftig nutzt. Unvernünftige Rituale im Namen der Vernunft sind ein Widerspruch wie Morde im Namen der Nächstenliebe oder Nächstenliebe im Namen eines mörderischen Gottes.” 449
“Also gut, fahren wir nicht nach Frankreich. Ich kann sowieso kein Französisch.” “Ich auch nicht.” “Ich auch nicht.” Es schien, daß nur Adjuna, dem ja bei seiner Geburt die Gabe, polyglott zu sein, mitgegeben worden war, sich dort hätte verständigen können. “Warum fahren wir nicht nach Griechenland und fragen das Orakel in Delphi, was die Zukunft bringen wird? Außerdem sind ja zwei von uns mit dem griechischen Kulturkreis zumindest durch ihren Namen verbunden, nämlich Orpheus und Aurora, denn die römische Aurora ist ja nichts anderes als ein Plagiat der griechischen Göttin der Morgenröte. Und Sonnenschein findet unsere sonnenhungrige Morgenröte in Griechenland auch genug”, schlug der Bunte vor. Aurora wußte zwar nicht, was ein Plagiat war, aber sie stellte sich etwas Wunderbares darunter vor und fühlte sich der Pallas Athene verwandt. So fand der Vorschlag allgemeine Zustimmung.
Da sie kein Auto hatten, nahmen sie Auroras Ente, eine laaahme Ente. Und ihr Gepäck? Da sie zu fünft waren, konnten sie nicht viel mitnehmen. Ein bißchen Vorfreude auf den Urlaub, die Hoffnung, gut anzukommen und auch wieder zurück, Geld nicht zu vergessen, ohne das kann man heutzutage kaum noch was kaufen, Kamm, Zahnbürste, Klopapier und andere Papiere, ohne die man kein Mensch mehr war, jedenfalls nicht für einige Uniformierte, die zur Schikane der Menschheit überall übers Land verstreut herumlungerten. Was noch? Die Pille für Aurora und andere Tabletten für schwache Mägen. Trotzdem war das Fahrzeug hoffnungslos überladen. Besonders Adjuna war schwer. Selbst wenn er sich klein machte, wog er immer noch soviel wie drei von der Stange. Wegen Adjunas hohem Wuchs und breiten Schultern ging auch das Verdeck nicht zu; tat der Urlaubsfreude aber keinen Abbruch, trotz des kalten Regens, im Gegenteil, das Allotria steigerte sich noch, denn als Vorbeugung gegen Erkältung nahm man noch dreizehn zusätzliche Gepäckstücke mit: nämlich einen Schirm für die Fahrerin und ein Dutzend 450
Thermosflaschen mit Grog für die Beifahrer - oder sollte man sie Mitfahrer nennen? Beim Schlafen war es einfacher: Wer mit jemandem schlief, war Beischläfer. Das gehörte natürlich auch dazu, daß man es im Urlaub, da ausgeruhter, intensiver trieb. Aber noch war es nicht so weit. Erst mal zuckelte man auf der Autobahn des Einhodigen nach Süden. Die Kasseler Berge waren das schlimmste Stück. Adjuna wollte schon aussteigen und schieben, aber immer wenn er ausstieg, war das Schieben nicht mehr nötig. Wwwuuummm, Wwwwwuuummm, Wwwwuuummm, die Kraftwagen, die Kraft protzenden Wagen rauschten an ihnen vorbei, leider nicht alle, einige gerieten hinter ihnen ins Aus, Abseits, Stau, Schrittempo, nur Rowdys wagten sich unter Lebensgefahr auf die Überholspur vor die Füße der road runner oder irgendeiner wild hupenden Straßenwildsau, die vorsichtigeren Fahrer blieben lieber hinter der Ente und warteten auf ein Wunder, nämlich, daß auf der Überholspur mal keiner angeflitzt kam. Damit die Zeit nicht zu lang wurde, drehten sie ihre Scheiben runter - es hatte fast aufgehört zu regnen - und riefen ihre Verwünschungen den fünf Freunden zu, leider war deren Motor aber so laut, daß sie sich mit den Gesten zufrieden geben mußten. Manche Wunder kamen schneller als andere: Die Überholspur wurde frei und die ganze Kolonne fuhr fluchend, drohend und vogelzeigend vorbei, wahrlich eine feindliche Heeressäule, gut, daß sie nicht angriff, sondern es bei Verbalinjurien bewenden ließ! Aurora wurde so eingeschüchtert, daß sie mit ihrer Chausseewanze auf den Seitenstreifen kroch, um all die eiligen Leute nicht wieder aufzuhalten. So quälte man sich die Berge hoch und rollte auch ab und zu mal vergnügt ein Stück runter. Dann das steilste Stück, tuck tuck, ersten Gang, war es zu schaffen? Alle hielten den Atem an. Es ruckt und tuckert und kommt kaum voran. Vollgas. Aber nichts passiert. Nur ganz langsam kriecht das Schnauferl weiter, es scheint plötzlich uralt zu sein, müde und schwach. Oben vom Rastplatz kommt ihnen ein Polizist entgegen. Polizei, dein Freund und Helfer.
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Der hat sicher Mitleid und will schieben helfen. Na, die paar Schritte schaffen wir doch auch noch. Helfen. Weit gefehlt. Ein Strafmandat. “Was will der Kerl?” - “Pimperlinge will der Pimpf.” - “Sie dürfen nicht auf dem Seitenstreifen fahren. Das kostet sechzig Mark, außerdem einen Punkt in Flensburg.” “Was, sechs Scheine, Scheiße!” Die Urlaubskasse wurde um den gewünschten Betrag erleichtert, das Auto blieb überladen, Aurora war geladen, man fuhr weiter. Aurora war sehr wütend wegen des Strafmandats: “Dem pissigen Kerl hätte ich am liebsten in die Eier getreten.” Zum Glück ging es jetzt bergrunter und Aurora konnte ihre Wut in der Geschwindigkeit austoben. Den anderen wurde freilich angst und bange, zu sehen wie Aurora mit dem Lenker auch ihr Leben in der Hand hatte. Bevor sie in die Alpenrepublik einfuhren, mußten sie über die Grenze, das ist ein Strich in der Landschaft, oft fast unsichtbar und doch von Bedeutung. Auf Landkarten ist sie meist rot eingezeichnet wie die Farbe des Blutes. Ein anderer Staat, eine andere Regierung, andere Gesetze, doch soviel anders war das doch auch alles nicht, wie sie bald merken sollten, denn das Auge des Gesetzes, das diesmal bei dem schönen Wetter klar und ungetrübt gucken konnte, hatte sie erspäht. Eins, zwei, drei, vier, fünf zählte es demonstrativ und es half nichts, daß der Bunte sich hinten als Gepäckstück maskierte. “Wir sind doch hier nicht auf der Redoute. Sie sind zu viele. Das ist zu schwer. Da können sie nachher nicht mehr bremsen, wenn's bergrunter geht.” “Das Bremsen ist nicht meine Sorge. Wir wollen ja gar nicht bremsen. Wir wollen nämlich weiter. Das Hochkommen ist meine Sorge”, erwiderte ihm Aurora. Aber der Wachmann ließ sich nicht davon abbringen, sie mußten auf die Waage. Lange Gesichter. Was konnten sie über Bord werfen? Die Hoffnung, die Vorfreude auf den Urlaub, die gute Laune? Es würde nichts helfen. Das höchstzulässige Gesamtgewicht war überschritten und blieb es. Sollten sie das Auto stehen lassen oder einen von sich? Eigentlich war Adjuna das Problem, wenn immer er im Auto saß, war das Auto überladen. Da machte Aurora einen Vorschlag: “Geh zu Fuß bis an die jugoslawischen Grenze! Wir warten dort auf 452
dich. In einer Woche müßtest du das schaffen.” “Was? Ich. Warum gehen wir nicht alle zu Fuß?” “Wir anderen sind dafür nicht gemacht. Du bist doch immer so stolz auf deine übermenschlichen Kräfte. Also, husch, lauf los. Du sagst doch immer, du bist ein Waldmensch. Hier hast du Wald und Berge genug. Wenn du mich mit deinen groben Pfoten abgrabbelst, denk ich immer, ich hab nen Gorilla vor mir. Und guck dir doch mal die Affenhaare auf deiner Brust an. Du paßt besser in den Urwald als auf die Autobahn.” “Du schimpfst über mein Aussehen. Sieh dich doch mal im Spiegel an. Für eine Hexe hat man dich gehalten. Am Verhungern warst du. Da hab ich dir angeboten, bei uns mitzumachen und dir zu essen gegeben und ein Dach über dem Kopf. Und was schimpfst du über die Haare auf meiner Brust, du hast ja Haare auf den Zähnen, obwohl du keine Zähne hast, sondern nur Zahnersatz. Deine richtigen Zähne haben dir wohl deine sauberen Freunde von früher rausgeschlagen, diese Verbrecher, denen du immer noch nachtrauerst.” “Ach, was wißt ihr Spinner, ihr - Weltverbesserer, schon von Männern.” Jetzt, wo der Frieden so an den Haaren hing oder an einem, sagte Luz: “Kommt, hört auf, geratet euch nicht noch weiter in die Haare!” und er nahm Adjuna bei Seite: “Komm, sei nicht geknickt! Aurora meint das nicht so, sie hat die ganze Zeit gefahren und ist jetzt ein bißchen gereizt. Aber sie hat recht, nur du schaffst es, zu Fuß zur anderen Seite zu kommen, wir anderen würden unterwegs zusammenbrechen und umkommen. Wir werden ganz bestimmt auf der anderen Seite auf dich warten, und wenn die anderen weiterfahren wollen, ich warte bestimmt auf dich. Und wegen Jugoslawien mach dir keine Sorgen, da ist man nicht so streng, da kannst du wieder mitfahren.” So trennte man sich. Adjuna stampfte mißmutig los, und die Ente, erleichtert um sein Gewicht sowie um die gute Laune, die noch kurz vorher geherrscht hatte, und einige andere Illusionen, fuhr zügig an, auf und davon, die Insassen, schwer belastet durch den Streit, schwiegen; der Wachmann sah ihnen zufrieden nach, das Gesetz hatte mal wieder das Siegen.
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In Österreich war die Welt noch heil, das hieß, man lebte in einer Art Museum oder Mittelalter, die Frauen trugen noch Röcke, die Buben machten brav Diener, die Mädchen einen Knicks, Sonntags ging's in die Kirche und auch sonst passierte nix. Der Teufel war noch böse, Maria hatte ne ungenutzte Möse, der Beichtvater ersetzte den Psychologen, Weihwasser die Drogen. Die Kirchen standn noch in der Stadt und keiner hatte's satt, und auf dem Land liefen neue Ideen erst recht gegen ne Wand.
Man sollte annehmen, daß Engel nur in der Kirche rumflatterten, aber im Land der Äcker und Dome war man nirgends vor ihnen sicher. Adjuna hatte nicht nur heiße Wut im Bauch, sondern auch Heißhunger auf Backhendl und einen Humpen Heurigen, deshalb ging er in das Wirtshaus `Zum Engel'. Das doppelt gemoppelte Wirtshaus `Zum heiligen Sankt Petrus' war noch weniger nach seinem Geschmack. Mit `Grüß Gott. Hab'n schon gewählt?' kam a Mopsl an seinen Tisch. Im `Zum Engel' gab's koa Backhendl, nur noch Jungfernbraten mit Paradeiser als Beilage und Sautanz auf Platte. Den fragenden Blick auf die mollige Bedienung geheftet, bestellte Adjuna das erste, da er sich nicht sicher war, ob das andere nicht mehr was fürs Auge war. Daß die Jungfer n Schwein war und die Paradeiser aus nem Tomatenfeld kamen, war dann freilich ne Enttäuschung. Gut, daß er keinen Sautanz genommen hatte. Während Adjuna aß, mehr hochkaute als runterschluckte, und die am Nebentisch über einen Pifkineser lachten, den sie pflanzn wollten, verwandelte sich das Mopsl in oa Engel, oder war es die Ablösung, die da kam?
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Der Engel Lulu, der ein langer Lulatsch, lullte den traurigen Adjuna mit lustigen Liedern und Laxativa zum Thema Leben, Labsal, Liebe, Ladys und Lametta, gegen Langeweile von Land und Leuten, von Landpommeranzen und anderen Pflanzen mit Lust, mit Lust von Lust und Lustration und das mit laut lallender Lippe libidinös, lausig. Hier eines seiner lustigen Lamentos:
Ach, Adjuna, lieber Freind, du hast schon zu viel geweint. Es ist Zeit zu lachen über schöne Sachen, Zeit sich zu erfreun an Kunst. Mein Lied besitzt diese Gunst. Was nützt Enttäuschung dir? Siehst du die Tür? Durch sie kannst du nach draußen traben, und wirst du erst gegangen haben, der Wälder und Welten Luft geschnuppert, läuft das Herz wieder wie - gebuttert, ach nein, wie gezuckert. Lab dich an der Ladys Liebe im Saal,
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du hast keine Wahl, bist doch kein Aal, und auch nicht so - kahl äh, - so glatt. Du hast es doch noch nicht satt? Aber auch mit einem Mädchen vom Lande bist du imstande zu einer Liaisohn, sei gewiß, mein Sohn, das ist sehr schon. So blas ich meine Lure denn und hoffe das beruhigt deinen - Senn. Wo kämen wir denn hin, wenn jede Krise brächte gleich - Ruinn. Die Götter freuten sich gar sehr, daß Menschenschicksal ist so schwer. Doch Traurigkeit bringt keine Ehr, Ladys und Lametta muß her. Was Menschen brauchen, ist Liebe keine Kriege. 456
Herbei, herbei: Wein, Weiber und - Musieke. Kling's nicht gescheit, das Lied so weit? Jetzt will ich dir noch gutes Essen ---- servieren, Du sollst davon... --- probieren. Es sind frische Langusten, die haben viel - gekuusten. Gefischt hat sie Fischer Bosten auf seiner Fahrt in den --- Westen. Er fischt nur vom Besten. Du solltest auch kesten vom weißen Weine, der steht gleich hinter deine... --- Rücken; du brauchst dich nur... --- umzudrehen.
Nach dieser kleinen Vorstellung war Adjuna fertig mit dem Essen, zahlte und ging.
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Auf seinem Weg in den Süden mußte Adjuna zuerst einmal wieder bergrauf, bergrunter; wo Berge sind, sind auch Täler; wo gehobelt wird, fallen Späne. Verdammte Alpentäler, die Leute lebten hier so abgeschlossen wie in hermetischen Glasröhrchen und verstanden sich daher gut auf Hermeneutik, wie wir gleich sehen werden. Im dunklen Hochgebirgswald traf Adjuna auf einen scheuen Schrat, einem ausgestoßenen Waldheini, ausgestoßen wegen Jugendsünden, ach nein, Sünden sind ja nur was für religiöse Menschen, Verbrechen waren es. Sünden für Gott, Verbrechen gegen Menschen, ihr versteht? Aber der Waldheini hatte einen Trost: Er war ein Stimmwunder. Er war der einzige, dem es gelang, seine Stimme die Grenzen der Galaxis verlassen zu lassen, also nicht nur jenseits der Oort-Wolke ein Ohr zu suchen und nicht zu finden, sondern auch im intergalaktischen Raum, wo es noch leerer und öder ist als auf der Erde. Aber er konnte auch flüstern. Diese kleine Einflüsterung, Erkenntnis flüsterte er Adjuna ins Ohr: In einer mörderischen Umgebung nicht zum Mörder zu werden, ist schwer, genauso schwer, wie unter Tugendhaften als einziger dem Laster zu frönen. Gewisse Menschen dulden keine Außenseiter. Doch das versteht heutzutage keiner mehr. Die Zeiten haben sich geändert, jetzt ist es leicht, alles besser zu wissen. Ich habe mich immer nur anpassen wollen, ein Ikonoklast bin ich nie gewesen, aber ewige Anpassung ist in der Menschenwelt schwerer als für ein Chamäleon im Urwald, man muß Dinge voraussehen können. Ich bin der Menschenwelt entflohen und lebe jetzt hier im Hochwald. Meine Haut ist schon grün.
Aber es waren nicht nur grüne Männchen, die ihm Schrecken einjagten, sondern auch die unruhigen Seelen Dahingemordeter von Serbien bis Saloniki, ganze Generationen. Wenn man nicht blind war oder
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zumindest hartherzig, konnten sie zum Alp werden, zum Nachtmahr, der einen noch am Tage verfolgte. Gab es ein Entkommen? Adjuna war froh, als er auf halbem Weg halbwegs heil dem behexten Horrorwald entkam und auf eine Bushaltestelle traf. Er nahm den Bus nach Villach. Von dort würde es nicht mehr weit sein zur Grenze. Bus, Bussl, Busserl, Bussi. Die Steigerung fand ihren Höhepunkt im Bettl des mollerten Mädels. Muschi, Gschpusi. Beim Abschied morgens hörte er noch die Nachbarinnen tuscheln: “Die Sissi hat a schlampertes Verhältnis.” Leider war's schon zu Ende, denn Adjuna wollte weiter. Geheilt.
Als Adjuna an der Grenze seine Freunde wieder traf, war er erleichtert. Der Streit war vergessen. Und als ob es etwas nachzuholen galt, zog ihn Aurora in ein angemietetes Hotelzimmer und war stürmischer und leidenschaftlicher und liebenswürdiger als sonst. Adjunas Gedanken aber wanderten ab, zurück in jene Zeit seines früheren Lebens, die er mit seinen Brüdern im Kamyaka-Wald im Exil verbracht hatte. Auch damals, als er zurückgekommen war von Indras Thron, wo er um göttliche Waffen gebeten hatte, war Draupadi besonders stürmisch gewesen. Damals hatte er die Frau mit seinen vier Brüdern geteilt, jetzt teilte er sie mit drei Freunden. Wie ähnlich doch alles war, trotz aller äußeren Andersartigkeit! Sowieso, Grundlegendes ändert sich nicht, Blut ist rot und Samen sind salzig. Und es dauert noch lange, bis blutlose Geschöpfe ohne Geilheit und Leidenschaft auf dieser Welt umherstreifen. Dann freilich wird alles anders sein. Es kann nur besser werden. Am nächsten Tag fuhren sie auf kurvigen Wegen die Adria entlang. Die vier Männer stellten immer mehr Auroras Fahrkünste in Frage, zumal sie darauf bestand, daß es in Jugoslawien nichts ausmachte, wenn man
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Wein trank und Auto fuhr, da die Polizei nicht so streng sei. Ans Unfallrisiko dachte sie nicht. So etwas tun immer die Mitfahrer. Trotz der Ängste der Insassen kam das Auto glücklich bis nach Griechenland. Aurora bestand darauf, daß auch die Griechen ein tolerantes Volk seien, und sprach weiter dem Alkohol zu. Sie mochte ja recht haben, schon die alten Griechen hatten fleißig gesoffen, bis ihre Leber zu Tode geschrumpft war. Was für moderne Mediziner das Gehirn war und für unsere Großeltern das Herz war, war für die alten Griechen die Leber, nämlich das Organ, das über Leben und Tod entschied, man denke nur an den armen Prometheus, zum Ruhme Zeus gekreuzigt im Kaukasus; in einer modernen Version des Märchens würde der Adler ihm das Gehirn rauspicken. Auf einem Rastplatz der E 90 nahmen unsere Helden ihr erstes Mahl auf griechischem Boden ein: Weißbrot, Gurken, Tomaten, Feta-Käse dazu Oliven, in den Gläsern ein opalenes Ouzo-Quellwasser-Gemisch und als Tafelwein, eine Flasche Retsina, ein terpentinartiger Tropfen, den man sich gleich so in den Hals goß ohne scheußlichen Umweg über die Zunge. Von hier aus sahen sie auch in der Ferne den Olymp. Kein Zweifel, sie waren in Griechenland. “Auch wenn man da hochklettert und feststellt, daß der Olymp leer ist, der himmlische Olymp, der weder aus sichtbaren Elementarteilchen noch aus meßbaren Energien besteht, kann bevölkert sein, so daß man die Existenz des Zeus und der anderen der zwölf Duodezgötter...” “?” “Ja, damals hatte man das Doudezimalsystem, und man glaubte daher, daß dort oben zwölf Götter an der Tafel säßen, wir würden heutzutage glauben, daß es nur zehn seien, wenn wir nicht an drei Drittel glaubten. Aber wo war ich? Ach ja, ich wollte sagen, daß man die Existenz bzw. Nicht-Existenz der Götter des griechischen Pantheons genauso wenig beweisen kann, wie die An- oder Abwesenheit des christlichen Gottes oder irgendeines anderen Gottes mit Ausnahme des lebendigen Gottes und der sitzt neben mir. Nur, daß es keinen lieben Gott gibt, kann man beweisen durch die Leiden auf dieser Welt, wo nicht nur jede Mahlzeit ein Mord, sondern Mord eine Allzeitbeschäftigung ist. Habe ich auch noch nie sieben Fliegen auf einen Streich erschlagen, so doch schon 460
über zwanzig Mücken an einem Tag. Und denken wir nur einmal an die Menschen. Wieviel Leiden sie erleiden. Liebeskummer, der Tod eines nahen Verwandten, ein Versagen, ein Verlust und schon halten sie sich für den unglücklichsten Menschen auf dieser Welt, wenn sie freilich das erleiden müßten, was der unglücklichste Mensch der Welt wirklich erleidet und was dann der nächst unglücklichste und der übernächst unglücklichste und so weiter, was alle, die unglücklicher sind, als man selbst, erleiden, wenn man das - nicht erleiden, sondern nur sehen müßte, wäre man noch viel unglücklicher, denn wenn man ein menschliches Herz und kein Monsterherz hat, kann einem das nicht gleichgültig sein. Wir sind nicht wie Gottes Sohn oder die Heiligen, die sich im Himmel vergnügen und nicht das Bedürfnis haben, die helfende Hand denen auszustrecken, die ewige Höllenpein erleiden. Wir wären im Himmel unglücklich, denn wir leiden mit. Menschen sollten immer menschlicher sein als Gott und nicht nach Göttlichkeit streben.” Adjuna erzählte dann auch noch griechische Schöpfungsgeschichten: “Ihr wißt, die Bibel kennt zwei Schöpfungsmythen, einmal steht der Mensch am Ende der - nein, nicht Evolution, denn von Evolution war nicht die Rede, sondern von tagtäglichem, mühsamem Neuschaffen bis zur Erschöpfung des Gottes, und in dem anderen Bericht von der Schöpfung wird der Mensch zuerst einmal aus Lehm geformt und dann wie ein Frosch ins Terrarium ins Paradies gesetzt, das dann von Gott mit lustigen Bäumchen und Pflänzchen ausgeschmückt wird, auch Tiere werden hineingesetzt und der Gott beobachtet mit Neugierde, welche Namen sich der Mensch wohl für all die Sachen einfallen läßt. Die Dressurversuche zu Gehorsam und Unselbständigkeit des Menschen scheitern dann kläglich an der Ungeduld des Gottes. Die alten Griechen kannten nicht nur zwei, sondern, da sie über eine blühendere Phantasie als die alten Juden verfügten, viele Schöpfungsmythen. Ich will euch mal ein paar erzählen. Zunächst einmal glaubten auch sie, daß die Menschen aus Lehm und Wasser geformte Abbilder der Götter seien, aber im Gegensatz zur jüdischen Vorstellungen waren sie nicht vom Obergott Zeus geschaffen worden, sondern von einem Außenseiter, Prometheus, dem Sohn des erdgeborenen Uranossohnes Japetos, also von einem Sprößling des alten Göttergeschlechts der Titanen, das Zeus entmachtet hatte. 461
Dieser Prometheus liebte Himmel und Erde, er erfreute sich an den Vögeln in den Lüften und den Fischen in den Fluten des Meeres, er liebte die Pflanzen, Blumen, Bäume und Tiere, aber er bedauerte, daß es auf Erden kein Geschöpf gab, dessen Leib so beschaffen war, daß der Geist in ihm Wohnung nehmen konnte. Er wußte, daß im Erdboden der Same des Himmels schlummerte, und deshalb nahm er Lehm, befeuchtete ihn, und formte daraus ein Ebenbild der Götter. Pallas Athene, die Göttin der Weisheit, bewunderte seine Schöpfung. Da es Prometheus nur gelungen war, tierische Seelen mit all ihren guten und bösen Eigenschaften in die Brust seiner Menschen zu stopfen, stellten sie sich ziemlich dumm an, hatten Schwierigkeiten mit dem aufrechten Gang und konnten ein A nicht vom O unterscheiden. Athene bot sich nun an, diesen Halbbeseelten göttlichen Atem einzublasen, und die Menschen standen aufrecht wie die Götter, aber traumwandlerisch wandelten sie auf der Erde und wußten doch von nichts. Der eingeblasene göttliche Funke zündete nicht. Nichts fiel den Menschen in den Schoß, alles mußte Prometheus ihnen mühsam beibringen. Da sie vergraben hausten in Grüften wie wimmelnde Ameisen, sonnenlos, lehrte er ihnen Zimmerwerk und den Bau ziegelgewebter Häuser. Da sie keine Zeichen kannten für Wintersturm, noch die Vorzeichen des Frühlings zu deuten wußten und ohne Einsicht Kälte und Wärme ertrugen, lehrte er sie zu unterscheiden die schwer zu unterscheidenden Gestirne und aus ihrem Lauf den Lauf des Lebens herauszulesen. Er zählte ihnen die Zahlen vor, eine vorzügliche Erfindung, die Wiegen und Messen ermöglichte, und erfand auch gleich die Fügungen der Schrift dazu, das Denkmal aller Dinge, der Musen Mutterwerk. Er jochte den Stier unters Joch, daß er frone am Pfluge, er ließ die Esel Lasten tragen und die Rosse Wagen ziehen. Dem Schiffer erfand er sein linnenbeflügeltes Gefährt, und dem Bergmann zeigte er, wie er aus der Erde Erz, Silber und Gold zu gewinnen vermochte. Kurz, alles Gute hatten die Menschen nicht von den Göttern, sondern von Prometheus. Als er ihnen dann auch noch das Feuer brachte, dachte Zeus, jetzt wird's brenzlich, und er ließ Prometheus mit gespreizten Gliedern in der Bergwildnis des Kaukasus an einen Felsen schmieden, wo ihm, dem Unsterblichen, tagtäglich der Adler die nachwachsende Leber entreißt. Die Menschen hatten Augen und sahen nichts, die Menschen hatten Ohren und hörten nichts, ich half ihnen 462
und jetzt weiß ich mir selbst nicht zu helfen, so klagte Prometheus schließlich gekreuzigt am Kaukasus. Ich gab dem Menschen die blinde Hoffnung auf ein Leben nach dem Tode, die wohl größte Wohltat für sterbliche Geschöpfe, die ich mir ausdenken konnte, und nun hänge ich Unsterblicher hier über dem Abhang und wünschte, ich wäre tot, so mag Prometheus wohl in seiner hoffnungslosen Situation gedacht haben. Aber die Griechen kannten nicht nur gekreuzigte Helden und lehmgebackene Leutchen, sondern auch eine Sintflut. Das kam so. Zeus hatte das Gerücht vernommen, daß die Menschen böse Frevler seien, und in Menschengestalt ging er nieder auf die Erde, um das Gerücht zu überprüfen. Er fand, daß die Menschen sogar noch schlimmer als ihr Ruf waren, Mord und Totschlag herrschte unter ihnen, der König Lykaon wollte sogar den Gott selbst umbringen. Da wollte Zeus nicht nachstehen; in seinem Zorne ergriff Zeus gleich ein ganzes Bündel von den Donnerkeilen, die ihm die Zyklopen geschmiedet hatten, und wollte sie runter zu den ruchlosen Menschen schicken, doch die anderen Götter hielten ihn aus Furcht, daß bei soviel Feuer der Äther selbst in Flammen aufgehen könnte, zurück, und so kam die Ersatzidee mit den Regenfluten zustande. Der Himmel verfinsterte sich, Wolkengüsse stürzten nieder und verwüsteten die Fluren, Poseidon half von unten mit Quellwasser kräftig nach und befahl den Flüssen über die Ufer zu treten. Alle Menschen ertranken damals, nur Deukalion und Pyrrha nicht, denn sie waren rechtzeitig gewarnt worden und hatten sich eine Arche gezimmert und die dann verproviantiert. Es versteht sich von selbst, daß diese beiden, was Rechtschaffenheit betrifft, vorbildlich waren, das zeigt sich schon daran, daß sie, als die Welt wieder trocken war und alles ermordet, sie als erstes dem Zeus ein Opfer darbrachten. Erst danach wurde ihnen bewußt, wie öde die Welt geworden war und sie baten um neue Menschen. Der herkömmliche Weg über den Geburtskanal schien ihnen zu langwierig und mühsam zu sein. Eine Stimme riet ihnen: Verschleiert euer Haupt und werft die Gebeine eurer Mutter hinter euch! Das war nun wirklich ein merkwürdiger Vorschlag, denn weder hatten sie eine gemeinsame Mutter, noch deren Gebeine bei sich. Doch es kam ihnen die Idee, daß mit Mutter Mutter Erde gemeint sein könnte, und sie taten, wie ihnen verheißen, und warfen die Gebeine der Erde, nämlich Steine hinter sich, und siehe da, aus den Steinen, die 463
Deukalion hinter sich warf, wurden Männer und aus denen, die Pyrrha hinter sich warf, wurden Frauen. Und als sie am Abend müde wurden, hörten sie auf. Am nächsten Tag funktionierte der Trick nicht mehr. Sie waren auch schon genug.” Christen, die alles mit angehört hatten - es gab sie in Griechenland wie überall auf der Welt -, unterbrachen Adjuna hier. Einer meinte: “Daß neben den Juden auch die alten Griechen - und sie waren nicht die einzigen - eine Sintflut kannten, beweist doch, daß es wirklich eine gab. Also hat die Bibel recht, wie so oft.” “Wenn du die Sage von Deukalion und Pyrrha so erst nimmst wie die Bibel und so die Richtigkeit der Bibel beweisen willst, so verstehe ich dich nicht. Für mich beweist das höchstens, daß die Bibel wie so oft unrecht hat, wenn sie behauptet, daß die Insassen der Arche Noah die einzigen Überlebenden waren.” Wenn und Aber... Da dichtete Orpheus: Wenn und Abber, oh, ihr Christen, laßt doch das Gelabber. Adjuna aber fuhr fort: “Bisher haben wir nur gehört, wie die Menschen erschaffen wurden nach Meinung der Griechen, jetzt wollen wir noch weiter zurückgehen, zum ersten Kapitel, etwa da, wo das Johannes Evangelium sagt, am Anfang war das Wort, also das Gebelle der Menschen, oder dahin, wo die Genesis die Tat Gottes setzt: Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde. Und die Erde war wüst und leer, und es war finster auf der Tiefe, und der Geist des Herrn schwebte über dem Wasser.” “Gut, daß es Wasser gab. Da hatte er wenigstens was zu trinken.” “Ja. Auch die Griechen kannten diese Art philosophischer Spekulation. Am Anfang war das Chaos, die grenzenlose, gähnende Leere, heißt es da zum Beispiel. Wie die Leere chaotisch sein konnte, wurde nicht erklärt. Bei Hesiod heißt es: Aus dem Chaos entstanden die Nacht und des Erebos Dunkel. Die Nacht gebar das Schicksal, das grausige, das finstere Ende, sie gebar den Tod, den Schlaf, die Mühen und die Drangsal, die Moiren und Keren, die 464
Rache, die Vergehen und Frevel, Hunger und Kummer, Lug und Betrug, Hader und Widerrede, Schlachtgetümmel, Männergemetzel und den gemeinen Mord, Rechtsverletzung, Verblendung und Engstirnigkeit und selbst den Meineid. Und wahrlich, all diese Dinge gibt es noch heute auf dieser Welt. Eine andere Geschichte erzählt: Aus dem Chaos entstanden Gaya, die Erde, und Eros, die Liebe. Gaya gebar Pontos, das Meer, und Uranos, den Himmel. Aus der geschlechtlichen Vereinigung mit ihrem Sohn Uranos entstanden die zwölf Titanen: der Weltstrom Ozeanos und seine Schwester und Gattin, die Tethys, von ihnen entspringen alle Gewässer; Hyperion, der Vater des Helios; Japetos, der Vater des Vordenkers und des Nachdenkers sowie des Atlas; Themis, die Gerechtigkeit; Kronos und Rhea, ein Geschwister- und Ehepaar, und so weiter, sie gebar auch drei einäugige Zyklopen. Nach einer volktümlicheren Version gebar die aus dem Urchaos aufgetauchte Urmutter Erde den Uranos ganz einfach im Schlaf, aus Liebe ließ der dann Regen auf ihre Liebesöffnung rieseln, woraufhin sie alle Lebewesen der Welt zur Welt brachte, und wahrlich, ich sage euch, noch heute besitzt der Regen die Fähigkeit, öde Wüsten zum Leben zu erwecken, ich habe es selbst einmal erlebt.” “Die Kinder treiben's aber oft mit den Eltern”, bemerkte Aurora, und Orpheus, wie bestätigend: “Ja, ein bißchen viel Inzest in den griechischen Sagen.” Die Griechen kannten zwar Ödipus, aber keinen Ödipuskomplex, obwohl sie wahrscheinlich daran litten. Ihr wißt sicher, daß Freud festgestellt hatte, und zwar mit der von ihm für das Sichtbarmachen unbewußter Inhalte erfundenen Methode, der Psychoanalyse, daß die Menschen als Kind den jeweils andersgeschlechtlichen Elternteil sexuell begehren und daher den gleichgeschlechtlichen Teil fürchten, hassen und ihm gar den Tod wünschen, was Schuldgefühle und Ängste mit sich bringt. Da beide Vorstellungen, der Geschlechtsakt mit dem einen Elternteil und der Mord am anderen, tabu beziehungsweise schrecklich sind, werden sie verdrängt, tauchen aber später in selbstquälerischen Ritualen wie Religiosität, freiwilliger Unterwerfung, Frigidität oder zumindest einem schlechten Gewissen bei geschlechtlichen Handlungen wieder auf. Ist nicht die beste Art, solchen Neurosen zu entgehen, das Ausleben der geschlechtlichen Wünsche mit dem gegengeschlechtlichen Elternteil 465
unter wohlwollender Tolerierung von Seiten des gleichgeschlechtlichen Elternteils? Denkt bitte nicht schlecht vom Inzest! Blutschande ist keine Schande, sondern die beste Lösung, seelischen und gesellschaftlichen Übeln vorzubeugen, wozu eben auch die Religion gehört. Es ist natürlich auch ganz leicht einzusehen, daß es am besten ist, wenn die Kinder ihre ersten sexuellen Erfahrungen bei wohlwollenden Eltern sammeln, anstatt bei Fremden, die das in sie gesetzte Vertrauen viel eher mißbrauchen und aus dem Liebesakt einen egoistischen Ausbeutungsakt machen. Neben der Freudschen Theorie, daß die zürnende, lustfeindliche Gottvaterfigur in Wirklichkeit eine auf Grund des Ödipus-Komplexes verdrängte Vaterfigur ist, gibt es noch die volktümlichere Version, die behauptet, daß sich in der Gottvorstellung die Erinnerung an den eigenen Vater erhalten hat, und zwar als Beschützer, Aufpasser und Erzieher.” “Adjuna”, sagte Aurora jetzt, “du hast wohl recht, wenn ich je ein Kind bekomme, soll es, wenn es ein Sohn ist, mich auch geschlechtlich lieben dürfen, und wenn es eine Tochter ist, den Vater.” “Das ist gut. Doch wohlgemerkt, wenn sie wollen, denn erzwingen darf man so etwas nicht, das wird dann nämlich wieder zum Trauma. Aber wir waren ja bei den griechischen Schöpfungsgeschichten. Laßt mich also schildern, wie es in der esoterischeren Version oder Vision weitergeht: Die Zyklopen, die der Schmiedearbeit nachgingen, entwickelten vom vielen Hammerschwingen so gewaltige Muskeln, daß Uranos fürchtete, sie würden bald stark genug sein, um ihn vom Thron zu schubsen. Um dem zuvorzukommen, warf er sie in den Tartaros, das ist ein Abgrund unter der Erde. Es war also eine Art Unter-denTeppich-Kehren. Uranos dachte, nun wären sie aus der Welt. Doch die Erde ärgerte sich über die schlechte Behandlung ihrer drei ZyklopenKinder und hetzte ihren jüngsten Sohn Kronos gegen den Vater auf. Dieser nahm die scharfzahnige Sichel, die seine Mutter geschmiedet hatte, und beraubte damit den Vater seiner Männlichkeit und seiner Macht.” “Starb er an seinen Wunden?” “Aber nein, natürlich nicht. Der Himmel ist doch immer noch da! Als Uranos Bluttropfen auf die Erde fielen, befruchteten sie Gaya und Gaya gebar die furchtbaren Furien und die grausamen Giganten. Kronos saß nun auf dem Thron, aber er 466
fürchtete, daß die Kinder, die Rhea ihm gebar, vielleicht nach dem Vater geschlagen seien und ihrerseits eines Tages ihm das Gemächt abschneiden könnten, deshalb fraß er sie. Halt, nein, er kaute nicht, er verschlang sie. Später kitzelte sein Jüngster, nämlich Zeus, den Rhea auf Kreta bei Nymphen versteckt hatte aufwachsen lassen, ihn so gemein von hinten, daß ihm sein Mageninhalt hochkam, also Zeus' ältere Geschwister. Das waren die zukünftige Gattin und Mitregentin des Zeus, Hera, der Unterweltler Hades, die Naturmutter Demeter, die zukünftige Göttin des häuslichen Herdfeuers, also die Hesta, und dann noch Poseidon, den ja jeder kennt. Vom Olymp aus organisierte Zeus dann den Kampf gegen Kronos. Die Zyklopen, die Kronos schon wieder verbannt hatte, wurden von Zeus endgültig befreit, und aus Dankbarkeit schmiedeten sie ihm seine Donnerkeile, mit denen besiegte Zeus dann Kronos und die Titanen und kehrte sie unter den Tartaros. Später versuchten sie noch einmal mit Hilfe der Giganten gegen Zeus zu motzen. Aber Zeus, zusammen mit den anderen Göttern und seinem sterblichen Sohn Herakles, tötete die Giganten und fegte die unsterblichen Titanen wieder zurück unter den Tartaros. Noch später versöhnte er sich aber mit ihnen und setzte sie in das Elysium, auf die westlichen Inseln der Seligen, das griechische Paradies. Nach der Gigantomachie gebar Gaya unter großen Wehen ein hundertköpfiges Drachenungeheuer, ihren letzten Verbündeten gegen Zeus. Doch Zeus besiegte auch dieses Biest mit seinen Blitzen und warf es in den Ätna, wo es sich zwar noch manchmal bemerkbar macht, aber nicht rauskann. Seitdem herrscht Friede und Gaya gebiert nur noch mehr oder weniger harmlose Pflänzchen. Zeus teilte den anderen Göttern ihre Jobs zu, und Ordnung und Gesetzmäßigkeit regierten fortan die Welt und man hatte Zeit, dem Leben auch schöne Seiten abzugewinnen. Zeus umarmte in Liebe seine Schwester Hera und nahm sie zur Frau. Sie gebar ihm den Hephaistos, den Ares und die Hebe. Da Zeus ein großes Herz hatte, liebte er auch auswärtig. Auch diese Liebe trug Früchte: Die Titanentochter Leto gebar ihm Apollo und Artemis, die Nymphe Maya Hermes, die Ozeanostochter Dione Aphrodite, die Demeter Persephone. Auch die Töchter der Sterblichen liebte er, sehr zum Leidwesen der Hera, die schon von Berufs wegen so etwas nicht dulden konnte, sie war Wächterin über die heiligen Gesetze der Ehe. Aber Zeus war erfinderisch und näherte sich 467
seinen diversen Gespielinnen in verwandelter Form, zum Beispiel der Europa als weißer Stier. Als sie so unvorsichtig war und sich auf den Rücken des zahmen Tieres setzte, rannte er mit ihr davon. In Europa angekommen - der Erdteil bekam seinen Namen allerdings erst nach diesen Ereignissen - nahm er sie sich dann vor in Form eines Mannes. Er zeugte drei Söhne, bevor er sich nach einer anderen umsah: Minos, der König von Kreta wurde und nach seinem Tode wegen seiner Gerechtigkeit Richter in der Unterwelt, Rhadamantys, der ebenfalls Totenrichter wurde, sowie Sarpedon. Schlimmer erging es der bildschönen Tochter des Königs von Argos, Io war ihr Name, um sich mit ihr zu vergnügen, verwandelte Zeus sie in eine Kuh, aber ehe Zeus noch sein brünstiges Bedürfnis an ihr abreagieren konnte, hetzte die eifersüchtige Hera das arme Mädchen oder die arme Kuh, wie man will, in Form einer Hornisse durch die ganze damals bekannte Welt, bis sie am Nil am Zusammenbrechen war. Jetzt endlich gestand Zeus seiner Frau den geplanten Seitensprung und versprach beim Styx, fortan von dem Mädchen zu lassen, trotzdem gebar sie ihm den Epaphos, der die Stadt Memphis gründete und Ägypten beherrschte. Schwerenöter, der er war, trieb Zeus es noch mit vielen Frauen. Aus der Vereinigung mit Leda gingen Hellena und Pollux hervor, aus der mit Alkmene Herakles, aus der mit Danae Perseus und so weiter. Die sterbliche Semele gebar ihm den Gott Dionysos, erlitt aber leider den Hochspannungstod, als Zeus ihr den Wunsch erfüllte, sich in seiner wahren Gestalt zu zeigen. Und so weiter. Auch Jünglinge liebte er, zum Beispiel den schönen Ganymedes, den er der Eos wegnahm. Er hat seine überlegene Position wohl bis zum Schluß ausgenutzt, bis seine Firma abgewirtschaftet war und dichtmachen mußte.” “Das ausschweifende Leben der Götter rechtfertigte natürlich die Ausschweifigkeit der Menschen”, meinte Luz. “Zweifellos.” Orpheus: “Es gibt eine Sache, die schlechter ist als Geilheit, und das ist, Geilheit zu unterdrücken.”
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Als sie alle wieder im Auto saßen, erzählte Adjuna: “Neben dem olympischen Schöpfungsmythos, den ich eben erzählt habe, gab es noch einen homerischen Mythos, demzufolge alle Lebewesen und auch alle fragwürdigen Wesen, wie die Götter, aus der Liebesbeziehung des Ozeanos mit seiner Mutter Tethys hervorgingen, und einen pelasgischen Schöpfungsmythos, wahrscheinlich aus matriarchalischer Frühzeit, demzufolge die Urgöttin Eurynome sich mit der von ihr aus Wind erschaffenen Urschlange Ophion paarte, und dann in der Gestalt einer Taube das Weltei legte, aus dem alle Himmelskörper sowie die Erde mit all ihrem Drum und Dran entsprangen. Und...”, zu Orpheus gewandt, “...last but not least, einen orphischen Schöpfungsmythos, demzufolge die Nacht vom Wind begattet wurde und ein silbriges Ei legte, aus dem ein zwittriges Wesen hervorging, der Beweger des Alls.” “So viele Götter, so viele Mythen”, klagte Aurora. “Mit ihren Schöpfungsmythen haben die Griechen aber ein Ei gelegt.” “Ja, ein Windei.” “Aber glaubt mir, Priester würden selbst heute noch solchen Flatus mit größter Inbrunst vertreten, wenn sie nicht ein noch windigeres Ei gefunden hätten, ein Ovum, das mit dem Hauch Gottes befruchtet wurde und ausnahmsweise nicht wie andere ova subventanea in die Hose ging.” “Ja, die sind wahre Windhunde. Zu verschlagen für ehrliche Wissenschaft.” “Deren Windbeuteleien ist schwer beizukommen.” “Wir können von Glück sagen, daß es noch Windschatten gibt.” “Wie lange noch? Die Enttäuschungen, die die Technisierung und die Atomenergie mit sich gebracht haben, lassen die Zeit sich wieder zurückdrehen, statt neue Lösungen werden alte gesucht, denn man hat vergessen, wohin es führt, Rückschritte zu machen.” 469
“Ja, ein modernes Mittelalter klopft an unsere Tür.” Während sie sich so unterhielten, passierte es, aber zum Glück wußten sie auf Grund Adjunas gründlichen Ausführungen, als sie landeten, wo sie waren.
Wir hatten ja schon gesehen, wie aus der Ente in den Kasseler Bergen ein müdes Schnauferle wurde, doch als es in der Nähe der MeteoraKlöster von der Straße abkam und in eine Schlucht fiel, wurde aus dem Schnauferle eine Zeitmaschine, ein Fahrstuhl in die Antike. Um wie viele Jahrhunderte man pro Stockwerk zurückfiel, können Archäologen besser ausrechnen als ich. Sicher ist nur, daß alles anders war. Alles? Das nun doch wieder nicht. Alles Äußere vielleicht, aber mehr sehen wir Menschen ja auch nicht. Um zu erkennen, daß es immer der gleiche törichte Irrsinn ist, der uns treibt, müßten wir außerhalb stehen, aber das gelingt nicht, da wir gerade erst laufen gelernt haben und die Schranke zwischen Wahn und Wahrnehmung weit ist und außerdem unüberwindbar, zumindest für uns - noch. Man sollte nicht denken, daß unsere Helden einfach gestürzt waren und sich den Kopf gestoßen hatten und Sternchen sahen und auf einem Planeten der Fantasie im eigenen Innern auf Abenteuer gingen, sondern alles war so wirklich wie die schwarze Schrift auf dem weißen Papier vor den Augen des Lesers, was sich schon durch den Kneiftest, also durchs Zwicken und Aua-Sagen, beweisen ließ, wobei noch hinzukam, daß Aurora so den Abhang hinuntergerutscht war, daß ihr Kleid am rauhen Geröll haften geblieben war und ihren Hintern entblößte, und das Kneifen an der Stelle sie nicht nur Aua schreien ließ, sondern bei den Männern auch eine Erregung erzeugte, die ihnen ganz deutlich bewies, daß sie am Leben waren, ein Gefühl, daß der eine oder andere bei der Visualisierung der Vorgänge vielleicht nachempfinden kann, bloß keine falsche Scham, natürlich auch nicht, wenn's nicht klappt. Hinzu kam auch noch, daß bei dem Zeitsprung auch ihre Kleidung gewechselt worden war. Wir hatten schon gehört, daß bei Aurora 470
einfach die Unterhose verschwunden war, aber auch die Männer standen in kurzen Röcken da ohne Unterhose. Das mag an Schottland erinnern, hat aber nichts damit zu tun, erstens waren die Röcke beige und hatten nur einfache geometrische Muster an den Rändern, zweitens waren sie aus einem weiten, lockeren Stoff, der so kurz war, daß leicht mal etwas hervorblitzen konnte. Die Freunde standen am Boden der Schlucht und klopften und putzen sich ab und prüften, ob nichts gebrochen sei. Die scharfen Felsen hatten ihnen tiefe Wunden gerissen und Blut lief ihnen an Armen und Beinen herunter. Aurora, deren Kleid so geschnitten zu sein schien, daß es die Brust gar nicht oder nur an einem schmalen Streifen über den Nippeln bedeckten sollte, hatte Schürfwunden vom Rippenansatz bis zur Unterseite ihrer üppigen Brüste erlitten. Langsam war das Blut hervorgesickert und Staub und Dreck, die Aussonderungen von Mutter Erde, klebten an ihr. Ganz starr stand sie da in ihrem Elend, vor Dreck starrend hielt sie ihre Arme hilflos von sich. Alle blickten sie die Felswand hoch, die Spur, die ihr Sturz hinterlassen hatte, verlor sich irgendwo. Von der Straße, die in die Felswand gemeißelt worden war und auf der sie gefahren waren, war nichts mehr zu sehen, der Fußweg hier unten am Bach schien der einzige Weg zu sein, der durch das Tal führte, es war also keine ausweglose Situation. Während Adjuna noch darüber nachdachte, was sie machen sollten, fing Aurora an zu schreien, denn eine Armee von Skorpionen schien an ihrem Bauch hochzumarschieren und in den Rundungen ihrer Brust sich festzukneifen: “Igitt, wo kommen die denn her?” Auch der Bunte fing an zu schreien, hatte er doch eine Kreuzotter bei seinem Fuß bemerkt. Jetzt sahen's die anderen auch, der Ort wimmelte von Schlangen und Ungeziefer. Sie hopsten, um den Schlangenbissen zu entgehen, ein Veitstanz, wie bei Von-Teufeln-Besessenen. Mit einer Handbewegung fegte Adjuna die widerlichen Viecher von Auroras Brust und rief: “Bloß weg von hier!” Sie alle liefen ein Stück den Pfad hinunter, weil das schneller ging als berghoch, obwohl sie früher einmal aus der Richtung gekommen waren. “Laßt uns durchs Wasser und dann auf den Felsen da!”
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Erleichtert standen sie keuchend im Wasser und fingen an, ihre Wunden auszuwaschen. Das tat gut. Orpheus war der erste, der schrie. Dann hopsten auch schon wieder alle. Sie flüchteten zum Felsen. “Das gibt's doch nicht. Piranhas leben doch nur in Südamerika.” Beängstigt saßen sie auf dem Felsen. Alle schauten sie auf ihre Füße und deren nähere Umgebung, nur der Bunte hielt in die Ferne Ausschau und folgte mit seinen Augen dem Talweg, der in einer Ebene auszulaufen schien. Jemand schien heraufzukommen mit einer kleinen Trägerkolonne. Der Bunte hielt automatisch seine Hand vor seinen Scham. “Da kommt jemand. Mensch, ist mir das peinlich, so ein Röckchen zu tragen. Lieber wäre ich ganz nackt. So komme ich mir vor wie ein Kleinkind, das man mal im Garten ohne Windeln rumlaufen läßt.” Luz meinte tröstend: “Sieh mal, die scheinen hier doch alle so rumzulaufen.” Tatsächlich wurde die kleine Karawane von einem würdig aussehenden älteren Herrn mit weißem Bart angeführt, der ebenfalls ein kurzes Röckchen trug, allerdings vielleicht aus einem etwas festeren Stoff. Als der Mann mit seinen Leuten dicht genug rangekommen war, streckte er die Hand zum Gruß aus und rief: “Erfreut euch!” “Warum denn?” zischte der Bunte bissig. “Sei ruhig! Das ist deren Gruß”, zischte Adjuna zurück, und mit lauter Stimme: “Freude sei auch mit Euch, edler Wanderer.” “Leider gibt es nur wenig Grund zur Freude”, winkte der Wanderer ab. “Gestattet, daß wir Euch warnen”, rief Adjuna wieder mit lauter Stimme, “ein Stückchen weiter, dort, wo wir den Abhang runterstürzten, wimmelt es von Giftschlangen.” “Was lauft ihr, Barbaren, auch die Berge hoch und versucht die Götter.” Der Fremde trat jetzt näher heran. “Ihr blutet ja. Wißt ihr nicht, daß Gaya sich wieder gegen die himmlischen Götter erhoben hat und ihre Söhne, die Titanen, von den seligen Inseln, wo sie nicht selig werden konnten, denn nur die Herrschaft über die drei Welten macht sie selig, zurückgeholt hat, und sie gemeinsam die Giganten wieder zum Leben erweckt haben, diese blutrünstigen, durch Blut gezeugten Ungeheuer, und wo immer heute Blut auf den Boden fällt - und ist's nur ein 472
Tröpfchen - wächst die ungastliche Mutter einen Kollaborateur, Nattern, Echsen, und anderes widerliche Gewürm, Skorpione, Blutsauger, Wanzen und Malaria verbreitende Moskitos. Ich war gerade in Delphi, wo ich auf dem Rückweg von Handelsgeschäften in Itea vorbeikam. Dort sagte die Priesterin des Apollos selbst, daß wir den Phöbos und die Olymper nicht länger anbeten sollten, denn die Zukunft gehöre den Titanen. Stellt euch vor, die Orakelpriesterin des Apollon! Das Volk hat sie sofort wegen Blasphemie gesteinigt. Aber die neue Priesterin - eine Jungfrau, die dem Apollon ergeben war -, als sie die Weihen erhalten hatte und der göttliche Geist über sie gekommen war, sagte genau das Gleiche. Niemand wagte mehr, ihr etwas zu tun. Es ist zum Verzweifeln. Wen soll man denn jetzt noch anbeten?” “Warum wartet ihr nicht einfach ab und betet niemanden an?” wollte der Bunte jetzt wissen. “Und dann ohne überirdischen Schutz leben? Nur Mensch sein? Nein, das geht nicht. Das Staatswesen würde zerfallen, den Fürsten würde nicht mehr gefolgt werden, der Kaufmann seiner Waren beraubt, der Bauer seiner Ernten, der Philosoph seines Themas, die Priester ihres Tempels, die Soldaten ihres Trostes, die Schiffer ihres Schutzes, die Sklaven ihrer Ketten. Kurzum, in Kürze hätten wir ein Chaos, wie das, dem wir gerade erst entkommen sind durch den Aufstieg zur Kultur und den ihr, Barbaren, ja immer noch nicht geschafft habt.” “Warum nennt ihr uns immer Barbaren?” “Das merkt man doch an eurer Denkweise und auch an eurer Aussprache. Wo habt ihr überhaupt so gut Griechisch gelernt, meistens seid ihr doch noch schlimmer am Radebrechen?” “Im humanistischen Gymnasium”, meinte Aurora hier, denn an das fühlte sie sich gerade erinnert, obwohl die anderen ihre Sprachbegabung wohl bei der Zeitverschiebung kostenlos zugekriegt hatten. Plötzlich rief der Händler in panischer Angst: “Paß auf, da am Ellbogen ein Bluttropfen. Der fällt gleich runter.” Während Adjuna aber den Ellbogen noch ein bißchen anhob, um das Blut besser sehen zu können, tropfte es auch schon auf den Bogen. Da zischte es auf dem Felsen und bubbelte und einen Moment später wand sich da eine Schlange und sprang ihn an. Adjuna packte sie beim Genick und böse lachend zerriß er sie und warf die beiden Enden verächtlich in den Sand des Ufers. Doch schon griffen ihn zwei Schlangen an. Einer der 473
Träger sprang hinzu und schleuderte die beiden Schlangen mit seinem Stecken weit in den Busch. Der ältere Mann, über ein Bündel gekniet, aus dem er einige Stoffe zog, meinte jetzt: “Am besten verbindet ihr schnell eure Wunden.” Und er reichte ihnen Verbandsstoffe. “Ich habe auch Salben, die die Heilung ganz außergewöhnlich beschleunigen, aber ich kann sie euch nicht kostenlos überlassen, denn sie waren sehr teuer. Es handelt sich bei ihnen um ägyptische Importware. Und gerade in letzter Zeit sind viele Schiffe untergegangen, wie ihr sicher wißt, was einen enormen Preisanstieg für alle überseeischen Produkte mit sich gebracht hat. Ich überlasse sie euch jedoch für meinen Einkaufspreis.” “Wir haben kein Geld.” “Ich überlasse euch diese Salbe für nur drei attische Eulen.” “Wo sollen wir denn hier Eulen fangen?” “Ich meine natürlich drei attische Tetradrachmen aus Laurium-Silber”, erklärte der Kaufmann jetzt verärgert über soviel Begriffsstutzigkeit. “Ach so”, entgegnete Adjuna ihm, Verstehen vortäuschend, “aber ich sagte ja, wir haben kein Geld.” “Wie kann man nur ohne Geld unterwegs sein!” meinte der Händler mißmutig, “was habt ihr denn da in euren Ledergürteln”, mit dem Stock darauf deutend. Die Freunde wurden sich erst jetzt bewußt, daß in ihren Gürteln was sein könnte, und sahen neugierig nach. Da ihre Überraschung zu groß war, als ihre Finger die runden, groben Dinger fühlten, riefen sie begeistert aus: “Geld”, was ihre peinliche Lage noch verschlimmerte. Waren sie auch nicht mehr in Geldverlegenheit, so waren sie doch in Verlegenheit: Was mußte dieser fremde Mann von ihnen denken, wenn sie nicht einmal wußten, was sie in ihren eigenen Taschen hatten. Jetzt sahen sie es, das runde Silberstück mit dem quadratischen Bild, in dem eine Eule war. Jeder mochte wohl eine gute Hand voll davon haben. Die wenigen Goldstücke, die sie auch im Gürtel bemerkten, ließen sie lieber im Verborgenen. Ihr Portemonnaieinhalt hatte die Reise in eine andere Zeit also auch mitgemacht, nur konnten sie nicht so schnell überblicken zu welchem Wechselkurs. Aber sie waren zufrieden, es schien eine Menge zu sein.
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Adjuna gab dem Händler drei Eulen. An dessen aufleuchtenden Augen erkannte er sofort, daß er nicht den Selbstkostenpreis, sondern den höchstmöglichen Verkaufspreis zahlte, wenn nicht noch mehr. Beim Abschied sagte Adjuna noch: “Wir werden selbst nach Delphi gehen und dort nach dem Rechten schauen. Wenn wir den Pfad entlang gehen, kommen wir hin?” “Da kommt nachher eine Hinweissäule, da müßt ihr wie indiziert nach rechts abbiegen. Der Weg ist gut ausgesäult. Könnt ihr gar nicht verfehlen.” Und mit dem Stock die Schlangen vertreibend, ging der Mann mit seiner Trägerkolonne weiter.
Auch unsere Freunde machten sich auf den Weg. Ihre Wunden schmerzten ihnen kaum noch, die Salbe hatte offensichtlich eine heilende und lindernde Wirkung. “So eine gute Salbe hätte ich mal damals nach meinem Unfall haben sollen, dann sähe mein Gesicht jetzt bestimmt nicht so schrecklich aus. Sieh mal hier unter der Brust. Die Schürfwunden sind schon fast geheilt.” “Du mußt die Träger deines Kleides auseinander machen, damit die Brust frei wird, dann sieht man dein Gesicht nicht so.” “Warum verschleierst du dein Gesicht nicht?” “Womit denn? Mit deinem Röckchen, Bunter?” “Ja, wir haben einen großen Mangel an Textilien. Aber mein Röckchen gebe ich dir gern. Hier, aus Liebe zu dir.” “Danke. Beim nächsten Textilwarengeschäft sollten wir uns mal ein paar bessere Kleider kaufen.” “Du meinst Markt.” In der nächsten Ortschaft gab es vor dem Tempel des Hephaistos tatsächlich einen Markt, aber es wurden nur Eisen- und Bronzeerzeugnisse angeboten und nackte junge Männer. Schon bald hielt ein kleiner, älterer Grieche mit dickem Bauch und schmierigem Grinsen, eine typische Unternehmertype, die Hoden des Bunten abwiegend in der Hand. “Was soll der kosten?” fragte er den daneben stehenden Adjuna. Adjuna an den Bunten gewandt: “Was willst du haben?” “Bist du verrückt! Ich bin nicht zu verkaufen. Du hast wohl vergessen, daß wir 475
auf Urlaub sind!” schimpfte der Bunte, gleichzeitig versuchte er, seinen Hodensack dem Griff der fetten Finger zu entziehen, was aber wegen des delikaten, schmerzempfindlichen Inhalts mißlang. Adjuna meinte zum Dicken gewandt: “Der ist auf Urlaub.” Aber der Dicke schien nicht gleich zu verstehen. Es dauerte eine Weile, dann erst schien ihm etwas zu dämmern: “Du willst nicht verkaufen?” “Nein”, sagte Adjuna der Einfachheit halber. Der Dicke schüttelte noch einmal kräftig und verschwand dann mißmutig in der Menge. Zwar hatte Aurora keine Stoffe gefunden, aber unter den Waffen und Rüstungen, die hier neben Töpfen und Handwerkszeug angeboten wurden, war ein Helm mit Gesichtsmaske aus goldener Bronze, der ihr außerordentlich zusagte. Die großen mandelförmigen Augen der Maske mit ihren schlichten Rändern, die an Lidschatten erinnerten, und die glatte Kopfhaube mit dem angedeuteten Haar mit Mittelscheitel gaben ihr, wie sie nach einem Blick in den polierten Bronzespiegel meinte, das unschuldige Aussehen eines Bambis, der Verkäufer jedoch meinte, sie ähnelte eher dem Ares. Das Problem war nun, daß der Verkäufer ihr den Kopf- und Gesichtsschutz nicht so verkaufen wollte, sondern darauf bestand, daß sie den ganzen Satz nehmen müsse, wozu auch der Brustharnisch und der Lendenschutz gehörten. Und wie oft sie ihm auch demonstrierte, daß der Brustpanzer viel zu flach war für ihre Brust, der Verkäufer blieb stur. Am liebsten hätte sie ihm die Augen ausgekratzt, aber da sie einsah, daß das nur Scherereien mit sich brachte, lief sie zum Troubadour der Gruppe, denn der Panzer schien gerade die richtige Form für Orpheus zu haben. Widerwillig ließ sich der Sänger beschwatzen, gutmütig teilte er mit Aurora die Kosten und zog dann das bronzene Hemd an. Ein bißchen hart. Der Verkäufer riet ihm noch etwas Weiches darunter zu tragen. Leicht gesagt. Aurora lief begeistert zum Bunten, dessen Röckchen triumphierend schwenkend. Als sie ihn erreicht hatte, band sie ihm sein Röckchen
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wieder um: “Wie findest du mich?” “Unwiderstehlich, wie die Morgenröte.”
Auf ihrem weiteren Weg fanden sie Begleitung. Ein junger Schäfer, dessen Schafe lauter schwarze Schäflein warfen, wollte auch nach Delphi, um die Priesterin nach der Bedeutung dieses Omens zu fragen. Unterwegs stellte sich heraus, daß er ein guter Unterhalter war, eine lebendige Zeitung, die alle Skandalgeschichten der Götter aus dem Effeff kannte: Da war die Hekate, die es mit Hunden trieb, die Eos, die für das Gleiche Menschen benutzte, und immer wieder Zeus, dem alle recht zu sein schienen, wenn sie nur hübsch waren, Sterbliche oder Unsterbliche, Mädchen oder Jungen. Da war der egotistische Hermes, der nicht nur seine eigene Geburt besang, sondern auch gleich zum Viehdieb wurde. Wegen seiner Verschlagenheit, er band sich zum Beispiel die Sandalen falschrum an, und wegen seines frechen Leugnens wurde er der Schutzgott der Diebe. Apollon, dem Hermes die Viehherde gestohlen hatte, hätte ihn schwer bestraft, aber Hermes betörte den erhabenen Sohn des Zeus mit der von ihm erfundenen Leier. Und als Tausch für das wohlklingende Instrument gab Apollon ihm die gestohlene Herde. So wurde der Dieb zum Beschützer der Herden. Der Schäfer verriet, daß auch er dem Hermes ab und zu ein Jungtier opferte, obwohl doch alles so lächerlich erschien und seine eigene Familie manchmal nicht genug zu essen hatte. Da war Plutons Entführung der Persephone und der sadistische Trick mit dem Granatapfelbaum, von dem sie nicht essen durfte, da war Dionysos, den es nur von Orgasmen, Orgien, rauschenden Festen und Saufereien zu andren Saufereien, rauschenden Festen, Orgien und Orgasmen trieb, und dessen Gefolge, die ewig saufenden Satyrn, der glatzköpfige Zecher Silenos und der mit Bockshörnern und Bocksbeinen unserer Teufelvorstellung am ähnlichsten kommende, jedoch völlig harmlose Hirtengott Pan, der Erfinder der Hirtenflöte 477
Syrinx, dessen Töne unser Hirte auch schon selbst vernommen hatte. Sein Liedchen soll sehr lustig gewesen sein. Und immer wieder Zeus... Nach Meinung des Schäfers litt er an Satyriasis, eine Art Gonadengigantismus, der den Geschlechtstrieb ins Unermeßliche steigerte. Mittlerweile hatten sich ihnen noch andere Schäfer angeschlossen, die gleiche oder ähnliche Probleme mit ihren Tieren hatten. Auch sie hatten viel zu erzählen. Einer begann so: “Man kennt ja Zeus. Mit Sterblichen und Unsterblichen und selbst mit Jünglingen treibt er es”, und der Schäfer wußte weiter zu erzählen, daß der Zeus auch im Osten in das Bett der Morgenröte gestiegen sei, was die anderen noch nicht vernommen hatten. “Doch, und die nächste Nacht schlief Eos mit Ares, obwohl sie doch mit Astraios verheiratet ist, danach schlief sie mit Orion, dem sterblichen Sohn des Poseidons, darauf mit Kephalos, der erst nicht wollte, weil er seine Frau nicht betrügen mochte, erst als Eos ihn in einen hübschen Jüngling verwandelt hatte, von dem sich seine Frau gerne verführen ließ, drang er in die Göttin ein, dann verführte sie Keitos, den Enkel des Melanos, der als erster Wein mit Wasser panschte und erfolgreich verkaufte, hierauf liebte sie für längere Zeit die beiden Söhne des Königs Tros, des Gründers der Stadt Troja, Ganymedes und Tithonos, bis Zeus auf den schönen Ganymedes aufmerksam wurde und sich in einen Adler verwandelte und ihr den Ganymedes entriß. Eos bat den Zeus dann, doch dafür ihrem anderen Geliebten wenigstens Unsterblichkeit zu verleihen, damit sie sich mit ihm bis in alle Ewigkeit vergnügen könne. Ohne Widerrede gewährte der Göttervater der Eos ihren Wunsch, doch schnell wurde Tithonos alt und unansehlich, denn Eos hatte vergessen, auch um ewige Jugend für ihn zu bitten. Für Altenpflege war sich Eos zu fein und sie bat den Gott, den Tithonos doch lieber sterben zu lassen, doch dieser Wunsch wurde ihr nicht gewährt.” “Hera hat übrigens für Zeus' Beziehung zu Ganymedes und anderen Jünglingen viel mehr Verständnis, als wenn er sich andere Frauen
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sucht. Wahrscheinlich versteht sie, daß die ihm etwas bieten können, was sie nicht kann”, wußte ein anderer Schäfer zu berichten. “Ja, erinnert ihr euch noch, als Zeus die Io nehmen wollte, wie eifersüchtig sie da war?” Alles schüttelte sich vor Lachen. “Ja, als Hornisse hetzte sie das Hornvieh durch die ganze Welt!” platzte jemand lachend heraus. Abrupt stoppte bei einigen Hirten das Lachen. “Nein, als Bremse!” protestierten sie. “Nein, als Hornisse!” “Nein, als Bremse!” “Nein, als Hornisse!” “In der Form einer Hornisse!” “In der Form einer Bremse!” “Sie war eine Breme!” “Eine Bremsfliege!” “Nein, sie war eine Hornisse, eine Riesenwespe!” Wie doch aus heiterem Himmel ein Streit losbrechen konnte! Adjuna erinnerte sich an das große Schisma der christlichen Kirche, als Christen sich gegenseitig die Köpfe einschlugen, um festzustellen, ob Jesus wesensgleich oder wesensähnlich mit dem Herrn sei, homousios oder homoiusios, Gott, der Fleisch trägt, oder ein Stück Fleisch, das Gott trägt1. Die paradiesischen Zustände auf dieser Erde zwingen uns ja dazu, wegen Trivialitäten zu streiten, denn sonst ist es hier vor lauter Sorglosigkeit nicht auszuhalten. Weit gefehlt, die Lüfte bergen die Saat der Stürme, die die Meere peitschen und auch das Land noch quälen, sie bergen die Keime für Krankheit und Tod, bringen Dürre und Fluten, und auch die Erde gibt ihre Schätze nicht freiwillig her, das Gold ist tief verborgen, und der Acker vom Unkraut bedroht, und Arbeiten und Ackern ist der Menschen Los - und ewige Gefahr, ausgesetzt den Gewalten der Natur. Ein Stück Fleisch, ein Stück Gott, ist das wichtig, wo der Rücken wehtut vom Ackern? Hat die Menschheit nichts Wichtigeres zu tun? Zum Beispiel, ihre Rückenschmerzen zu behandeln?
1
vgl. Karlheinz Deschner “ Kriminalgeschichte des Christentums” Band 1, S. 356ff.
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Adjuna gab sich alle Mühe, den Streit zu schlichten. Das Geschrei war aber zu groß, man trat sich mit Füßen und riß sich in den Haaren, mit Güte konnte man sie nicht von der Nichtigkeit ihres Streitens überzeugen. Erst als Adjuna an der Sehne seines Bogens Gandiva zog und sie schwirren ließ, so daß allen das Blut in den Adern erstarrte, erkannten sie ihn als Halbgott oder zumindest als Autorität und waren still. “Es war eine Mücke”, entschied Adjuna. Voller Ehrfurcht vor dieser Offenbarung sogen sie die neue Erkenntnis tief ein: “Aaaaaaaaaaaah, eine Mücke.” Ein Licht ging ihnen natürlich nicht auf. Nach einiger Zeit faßte der eine Erzähler wieder Mut und begann kleinlaut zu erzählen: “Auch Hera geht fremd. Und zwar wenn Zeus sich mit seinem Ganymedes vergnügt. Natürlich. Denn wenn er sich ein Mädchen nimmt, läuft sie ja hinterher.” Diesmal nur zaghaftes Gekicher. “Und zwar geht sie fremd mit dem Atlas, der ja sehr stark sein soll. Aber Atlas hat keine Zeit, er muß den Uranos stützen, den Himmel, das wißt ihr ja. Denn seit Uranos entmannt wurde, hat er ja keine Kraft mehr und kann nicht einmal mehr selbst stehen, sondern muß von jemandem gestützt werden, und diese Aufgabe hat ja Atlas übernommen, so steht er da, Füße auf dem Boden, den Himmel mit Armen, Kopf und Genick tragend. Wenig Freude gibt es in seinem Leben, und die Liebe der Göttin ist gar wohl verdienter Lohn. Sie streichelt und liebkost ihn, aber er hat keine Hände frei für sie. Beim eigentlichen Liebesakt schiebt sich die Göttin rückwärts auf sein Glied. Und wenn er einen Orgasmus kriegt, bekommt er weiche Knie und der Himmel hängt besonders tief. So wie jetzt.” Die Griechen nickten ergriffen, aber die anderen sahen nur Regenwolken. Jemand, der sich der Gruppe gerade erst angeschlossen hatte, ein richtiger komischer Kauz, dessen Hut und Sandalen mit Entenflügeln geschmückt waren, sprach jetzt vorsichtig Adjuna an: “Ihr kommt sicher von weit her und habt andere Götter, die nicht in solchen 480
Skandalgeschichten verwickelt sind, oder seid gar selbst ein Gott oder Halbgott. Sicher findet ihr es unanständig, was diese Schäfer hier von den Göttern erzählen.” “Nein, nein, ganz und gar nicht”, Adjuna schüttelte abwehrend den Kopf, ich finde diese Streitereien, Liebeshändel und diese all zu menschlichen Probleme eurer Götter gar nicht so anstößig, eher amüsant. Von Göttern habe ich schon Gehirnverbrannteres gehört, zum Beispiel, daß sie eine verheiratete Jungfrau durchs Ohr schwängern und ihren Sohn für die Sünden anderer Leute zu Tode quälen. Göttern traue ich alles zu. Vom Menschen sollte man allerdings einen gesunden Menschenverstand erwarten.” Erleichtert flatterte der Fremde davon. Trotzdem sollte man vielleicht auch hier etwas gegen die Götter unternehmen - wegen der Menschen, dachte Adjuna noch.
Die Regenwolken entluden sich - nicht nur Regen auch Starkstrom. Die Menschen suchten Schutz. Oh, Zeus Soter, oh, Athena Sotera, Erbarmen! Erbarmt euch unser! Doch die baumlose Ebene blieb ohne Schutz. Oh, rettender Zeus! Die Leute liefen den matschigen Weg hinunter, bei jedem kräftigen Blitz warfen sie sich auf den Boden, einige sicherheitshalber auch beim Donner. Oh, Zeus, rette uns, die Titanen sind los! Durchnäßt kamen sie eine Weile später in einer Herberge an. Dem Zeus sei Dank! Die Herberge glich zwar mehr einem Schuppen mit Kuhstall und Heuboden, doch fürs erste war man in Sicherheit und im Trockenen, wenn man sich nicht gerade unter eine lecke Stelle im Dach setzte. Friedlich saß man um das warme Feuer und schlürfte eine einfache Suppe. Erst als die Erde anfing zu rumpeln, als ob mit den fernen Bergen gewürfelt wurde, fingen die Griechen wieder an zu Jammern 481
und beteten zu ihrem Erlöser. Adjuna und seine Leute gingen trotz des Lärmes zu Bett, denn sie waren furchtbar müde, das heißt, Betten gab es nicht, sie mußten auf den Heuboden. Aber das war auch egal. Bevor Adjuna ganz eingeschlafen war, hörte er den Bunten sagen: “Laß das!” und er sah, daß jemand gekommen war. Immer machen die sich an den Jungen ran, dachte er verärgert, aber dann flüsterte der Fremde auch schon: “Adjuna, Adjuna, der Himmel schickt dich.” Nanu, wer kennt mich denn hier und glaubt an den Himmel, wunderte sich Adjuna. Der Fremde flüsterte: “Ich bin Zeus. Die Giganten stürmen den Olymp und wollen mich vom Thron stoßen. Du mußt mir helfen. Kronos will mich in den Tartaros werfen und ich kann ihn nicht stoppen, denn er hat sich vom Allerhöchstenwesen den Segen erfleht, daß Götter ihn nicht besiegen können. In seinem Hochmut hat er aber vergessen, sich auch Schutz vor Menschen zu erbeten.” Adjuna dachte noch verwundert, selbst die Götter sind nicht gegen den Glauben an ein höchstes Wesen gefeit, dann schlief er ein. Aber der Fremde ließ nicht nach, sondern rüttelte ihn wieder wach: “Du mußt mir helfen. Seit Herakles' schändlichem Tode gibt es unter den Sterblichen keinen mehr, der stark genug ist. Deshalb ist Kronos auch so zuversichtlich. Aber jetzt bist du, wie durch ein Wunder in unsere Welt eingedrungen. Nur du bist stark genug. Du wirst mir doch helfen.” “Erst mal gehen wir morgen nach Delphi und dann wollen wir mal sehen, was wir für dich tun können”, versprach Adjuna im Halbschlaf. Der Gott weckte ihn nicht wieder.
Nachts hörte Adjuna die Mutter Erde schreien: “Gehet hin und rächet die alten Götter und ihre Kinder! Uranos wurde kastriert und Atlas muß ihn stützen, an Prometheus frißt der Adler, die Titanen sind verbannt, die Giganten tot. Ich belebe die Giganten von neuem. Kommt, meine Kinder, tut euch zusammen, gehet, rächet euch, reißt 482
dem Tyrannen Zeus Zepter und Blitz aus der Hand, bemächtigt euch der Meere und des Himmels, verjagt Poseidon, Helios und das Orakel zu Delphi!” Und Adjuna träumte von Herakles, wie er die Götter beschützte und die Giganten besiegte und von seinem schrecklichen Tod: Als nämlich der Zentauros Nessos Deianira, die Frau des Herakles, über einen Fluß tragen sollte, versuchte der Zentauros, die Frau zu entführen, um ihr Gewalt anzutun. Ohne zu zögern, töte Herakles den Zentauros mit einem vom Blute der lernäischen Schlange vergifteten Pfeil. Im Sterben jedoch versprach der Zentauros der Frau: Wenn du die Kleidung deines Mannes in mein Blut tauchst, so wird er nur dich lieben können und niemals eine andere Frau. Heimlich sammelte sie das Blut in einem Gefäß. Und als sie glaubte, Grund zur Eifersucht zu haben, ließ sie ihrem Mann ein in dem Blute des Zentauros getauchtes Gewand bringen. Er zog es an und das Gift der lernäischen Schlange fraß sich in seine Haut und unter entsetzlichen Schmerzen starb er. Ein grausamer Tod. Wo waren die Götter? Mal wieder nicht da, wenn man sie brauchte? Warum warnten sie ihn nicht? Undank ist der Götter Lohn. Sei besser auf der Hut!
Als die Griechen am nächsten Tag die Verwüstungen sahen, wußten sie, daß die Titanen los waren, und sie schworen alle, dem Zeus zu helfen. “Was wollen die nur mit ihrem Zeus?” fragte der Bunte Adjuna, “Zeus ist doch nur eine liebgewordene Idee, wenn er besiegt wird, ändert sich da soviel?” “Das hängt von den Menschen ab. Wenn die Menschen die Entmachtung Zeus' zum Anlaß nehmen, ihr Leben anders zu organisieren, dann ändert sich schon etwas.” “Vielleicht sollten wir auch hier etwas Aufklärung betreiben.” “Und was machen wir mit den Bluttropfen, die auf den Boden fallen? Nein, mein Lieber, die Zeit ist hier noch nicht reif dafür. Wo man das wahrnimmt, was man wahrnehmen will, und nicht was wahr ist, wird man mit Aufklärung wenig erreichen, Kopfschütteln vielleicht. So etwas wie Wahrnehmung 483
sollte es überhaupt nicht geben, das schließt immer die Täuschung mit ein. Wir glauben, es ist still, in Wirklichkeit aber sind die Töne mit zwanzigtausend Schwingungen pro Sekunde nur zu hoch für uns.” “Du bist mit unseren sechs Sinnen nicht zufrieden?” “Mir erscheint alles Unsinn zu sein. Wir werden immer getrieben. Und unsere Sinne - wie viele es auch sein mögen, drei, vier, fünf oder sechs - sind nur ein perverser Trick unserer Treiber.” Ja, es sah trostlos aus.
Je näher sie an Delphi herankamen, desto mehr häuften sich die Schreckensmeldungen vom Ausbruch der Giganten. Kurz vor Delphi hieß es dann, die Giganten hätten die Berge Athos, Pelion, Rhodope, Ossa und Öta samt Wurzeln ausgerissen und aufgehäuft, um den himmlischen Olymp zu stürmen. Und immer wieder hieß es, die Orakelpriesterin heiße die zögernde Menge, Kronos und die Titanen anzubeten. Adjuna versprach den verzweifelten Menschen zu helfen. Irgendwie mußte doch auch aus einer Priesterin die Wahrheit herauszufinden sein, dachte er. In Delphi ging Adjuna zunächst wie ein demütiger Orakelbefrager zur Pythia. Er sagte: “Pythia, edle, geweihte Jungfrau des Apollon, vor einem Monat, als ich von Handelsgeschäften in Itea durch Delphi kam und ihr noch die edle Tochter des Amphorenhändlers Anastasius waret, habt ihr mich vertraulich, als ich zu Gast in eures Vaters Hause war, um hundert Drachmen gebeten, um einen zur Sklavenarbeit verurteilten Freund freikaufen zu können. Diesen Ring gabt ihr mir damals zum Pfand.” Und er zeigte einen Rind, den er gerade erst auf dem Markt gekauft hatte. “Ihr seid jetzt die edle Dienerin des Apollon und es ist ungehörig von mir, euch mit solch einer Bagatelle zu belästigen, aber meine Karawane wurde überfallen und ausgeraubt, und ich bin selbst mittellos geworden. Diesen Ring, der für euch persönlich zweifellos einen hohen Wert hat, da liebe Erinnerungen mit ihm verbunden sind, auf dem Markt aber leider nur zehn Drachmen bringt, 484
möchte ich euch zurückgeben, mit der Bitte, mir doch mein Geld oder zumindest 80%, den Rest spende ich gerne dem Gotte zurückzugeben. Jetzt, da ihr all die Votivgaben bekommt, braucht ihr doch sicher das geliehene Geld nicht mehr.” “Lieber Freund, ihr habt mir in großer Verlegenheit geholfen. Gebt mir den Ring, ich gebe euch zweihundert Drachmen dafür.” Während sie noch in ihrer Schatzkiste nach dem Geld suchte und Adjuna ermahnte, nicht mehr zum Apollon und zum Zeus zu beten, denn diese würden in Kürze abdanken: “Sie kämpfen schon ihr letztes Rückzugsgefecht und sind hier unter gar nicht mehr”, und ihm sagte, er solle nun zum Kronos und seinen Titanen beten, da packte er sie am Hals und würgte sie: “Du falsche Lügnerin. Du bist nicht die wirkliche Tochter des Anastasius. Was habt ihr mit ihr gemacht?” Und er schüttelte sie. Sie versuchte, sich zu wehren, aber das nutzte nichts, Adjuna war stärker. Selbst als sie sich in eine Schlange verwandelte, half ihr das nichts. “Solange du einen Hals hast, drücke ich zu. Und solange du mir als Schlange erscheinst, drücke ich sogar fester zu, als wenn du ein zartes Mädchen bist. Also sag mir schon, wo ist die richtige Pythia?” So in höchste Not gebracht, zeigte die Priesterin unter sich. Nun muß man wissen, daß die Orakelpriesterin in Delphi auf einem dreibeinigen Hocker über einer tiefen Erdspalte saß, aus deren Tiefe sie die göttlichen Offenbarungen zugeflüstert bekam. Adjuna sah hinunter, konnte aber wegen der Dunkelheit nichts erkennen. “Hast du sie da hinuntergeworfen?” Die wieder zur Jungfrau gewordene Schlange nickte. Adjuna rief, daß man ihm Stricke geben solle, damit er das Mädchen an einer Säule festbinden könne, außerdem wollte er ein langes Seil und Fackeln, um in der Erdspalte nachsehen zu können. Als ihm die Sachen gebracht worden waren, band er dem Mädchen die Hände auf dem Rücken zusammen, stellte sie dann an eine Säule und band sie noch dreimal an der Säule fest, einmal am Hals, einmal an der Brust und einmal an der Taille. Dann nahm er das lange Seil und knotete es an einer anderen Säule fest und ließ es in die Tiefe, um 485
daran hinunterzuklettern. Doch er mußte schnell einsehen, daß er zu breit war für den schmalen Schlitz. Als er sich wieder aus dem engen Loch herausgezwängt hatte, fand er die Welt in großer Aufregung vor, denn die falsche Pythia hatte sich wieder in eine Schlange verwandelt und war ihrer Fesselung entglitten. Schnell sprang Adjuna hinzu, um sie wieder zu ergreifen. Sie wand sich und wand sich und rang mit ihm und versuchte ihn zu beißen, und es dauerte eine ganze Weile, bis Adjuna sie wieder überwunden hatte. Diesmal lasse ich sie aber nicht wieder los, nahm sich Adjuna vor. Nach Adjunas Anweisungen bereiteten sich jetzt Aurora und der Bunte vor, um in die Erdspalte zu klettern. Da Adjuna sie für ungeschickt hielt, mußte sich jeder noch eine Sicherheitsleine um den Bauch binden, die dann oben von griechischen Helfern gehalten wurde. Langsam kletterten die beiden in die dunkle Erde. Aurora nahm noch schnell ihren Helm ab, bevor sie in der Tiefe verschwand. Jeder leuchtete mit seiner Fackel eine Seite der Spalte aus. Die Wände waren trocken und rauh. Ein wenig enger wurde es mit zunehmender Tiefe. Als sie das Ende des Seils erreicht hatten, konnten sie sich gerade noch drehen. Sie wollten schon wieder zurück, hoch an die Oberfläche. Und sie wären auch beinahe losgestürmt, nichts Unheimlicheres konnten sie sich vorstellen als diese Enge und Tiefe, “nichts wie los, raus aus diesem Loch”, jeder Muskel ihrer Körper hätte ihnen gerne beim Hinausklettern geholfen, aber da war plötzlich dieses Klagen, das hielt sie zurück. Sie waren Helden, die ihre persönlichen Wünsche zurückstellten. Jetzt zählte nur noch ihre Aufgabe. Dem Bunten gelang es, einen Span von der Fackel abzumachen. Den ließ er in die Tiefe fallen. Und irgendwo da unten sahen sie die Tiefe unterbrochen. Vielleicht war es nur ein Stein oder ein Bündel, das dort eingeklemmt war, vielleicht war es aber auch das, was sie suchten, die richtige Pythia. Sie riefen, daß man ihre Sicherheitsleinen loslassen solle, damit sie noch tiefer gehen konnten, denn sie hätten dort etwas gefunden. Die 486
Leinen prasselten dann auch prompt wenig später ungeschickterweise auf ihre Köpfe. Mit Auroras Sicherheitsleine verlängerten sie das Seil, und das freie Ende von der Leine des Bunten banden sie zur Sicherheit auch um Auroras Taille. Aber bald bestand keine Gefahr mehr, in die Tiefe zu stürzen, da der Spalt so eng geworden war, daß sie einklemmten, wenn sie sich nicht schmal machten. Schließlich ging's nicht mehr weiter, jedenfalls nicht für den Bunten. “Ich dachte immer, ich wäre ein schmales Hemd und würde weiter runter kommen als du mit deiner üppigen Brust, aber jetzt hänge ich fest. Es gibt für mich nur noch einen Weg: Nach oben.” “Ich habe schmalere Schultern. Ich gehe weiter. Wir haben's ja bald geschafft.” Doch nach fünf Metern war auch für Aurora Schluß. “Was machen wir jetzt?” fragte sie. “Ich weiß nicht. Umkehren?” “Sieh mal! Da unten ist es”, und sie leuchtete runter. “Es ist gar nicht weit, aber ich schaffe es nicht”, keuchte sie, “es ist das Zeremonienkleid der Pythia, es ist jemand, es steckt jemand in dem Kleid. Es ist die richtige Pythia. Sie bewegt sich. Sie lebt. Schnell binde die Leine von deinem Bauch los. Vielleicht kann sie sich daran hochziehen.” Aurora ließ das freie Ende des Seiles runter zu Pythia und ließ es vor deren Gesicht spielen, aber sie reagierte nicht. “Sie hat keine Arme”, schrie Aurora erschrocken und zog das Seil wieder ein. “Ich versuche es mal mit einer Schlinge.” Als sie die Schlinge in die Tiefe gelassen hatte, rief sie der Pythia zu: “Strecke deine Beine aus, damit ich die Schlinge darum machen kann. Wir ziehen dich dann an den Beinen raus.” Tatsächlich bewegte Pythia sich und streckte ihre Füße von sich, doch es dauerte lange, bis es Aurora gelang, das Seil so zu drehen, daß die Schlinge über die Füße rutschte. Eigentlich war sie ungeschickt. Aber dann klappte es doch und sie zog vorsichtig, und langsam kam das ausgemergelte, zitternde Mädchen näher. Furcht und Schrecken standen im Gesicht des Mädchens, obwohl Aurora ihr freundlich 487
zusprach. Und Aurora war schon enttäuscht, denn sie dachte zuerst, daß das Mädchen so dumm war und sie wegen ihres verbrannten Gesichts für ein Ungeheuer hielt, aber dann wurde ihr klar, daß das Mädchen wohl genug Schreckliches erlebt hatte, um erschreckt auszusehen, und sie trug das arme Ding hoch zum Bunten. Hier merkten sie, daß das Mädchen die Arme auf dem Rücken zusammengebunden hatte, und lösten ihre Fesseln. Die klammen Arme legten sie dann über die Schultern des Bunten, damit er sie besser hochtragen konnte. Aurora kletterte gleich hinter ihnen und sicherte den Aufstieg. Daß die Erde selbst auf die Befreiungsaktion der richtigen Pythia aufmerksam geworden war, muß auch noch erwähnt werden. Adjuna hatte die falsche Pythia, die nach dem verlorenen Ringkampf wieder die Form der Jungfrau angenommen hatte, wieder an der Säule festgebunden, diesmal fester und strammer als beim ersten Mal, außerdem hielt er ihr locker die Hand an die Kehle, um im Falle eines neuen, schlüpfrigen Verwandlungstricks gleich fest zupacken zu können. Die versuchte es aber diesmal mit Betören und Bezirzen, doch da Adjuna sie als Schlange gesehen hatte, kamen ihre weiblichen Reize bei ihm nicht an. Jedoch einige einheimische Männer schienen sich gefährlich zu verlieben. Adjuna hatte sich schon von Luz einen Dolch bringen lassen, um etwaige Befreiungsversuche abwehren zu können. Aber zum Glück wagte sich keiner ran. Als nächstes versuchte die falsche Pythia es mit irdischen Gütern, die sie Adjuna versprach. Als er darauf auch nicht reagierte, murmelte sie nur noch unverständliches Zeug vor sich hin. Sie murmelte Mantras und machte Adjuna damit nervös, denn er verstand die Mantras nicht und konnte daher keine Gegenmantra sagen. 488
Die Helfer am Seil waren inzwischen aktiv geworden. Sie erkannten jetzt deutlich den Bunten mit seiner Last. Der rief auch schon hoch: “Wir haben sie!” Um sie schnell hochzuholen, zogen alle am Seil. “Nicht so wild. Wir zerkratzen an den Wänden.” Plötzlich gab es einen Erdstoß, und noch einen, und noch einen. Die Griechen schrien: “Der Spalt schließt sich!” Schnell sprang Adjuna in den Spalt und stemmte mit dem Rücken und den Beinen den Spalt auseinander. Das ist natürlich eine ungeheure Leistung, wenn man bedenkt, daß schon kleine Erdbeben die Energien von Hunderten von Atombomben besitzen. Ob Adjuna doch eine Gegenmantra gefunden hatte, oder ob der Spalt sich gar nicht schließen wollte, wurde nicht überliefert. Unter diesen plötzlich so bedrohlich gewordenen Umständen zogen die Helfer natürlich die Drei doch ganz schnell ohne Rücksicht auf Verletzungen aus dem Loch. In panischer Angst drückten sich Aurora und der Bunte mit ihren Füßen von den rauhen Wänden ab. Oben angekommen warfen sie sich erschöpft auf den Boden. Die richtige Pythia lag neben ihnen. Die falsche aber hatte den Tumult genutzt und war verschwunden. Einige Griechen suchten noch im Gestrüpp nach einer größeren Schlange, aber fanden nichts. Naja, Hauptsache die richtige Prophetin war gefunden. Um die kümmerte man sich jetzt. Adjuna bestrich ihre geschundenen Glieder mit der guten Wundsalbe, die er vom Händler hatte. Einige Griechen flößten ihr Ziegenmilch ein. Und die Diener und Dienerinnen des Tempels rannten beschäftigt hin und her, brachten Früchte und Speisen, und wußten nicht, was sie noch alles tun sollten. Auch die Eltern des Mädchens waren nervös, als sie ihre Tochter so verhungert und bleich da liegen sahen. “Schnell, hol feines Gebäck von Zuhause!” fuhr der Vater die Mutter an. Alle aber wunderten sich über Adjuna, nicht so sehr, weil er den Spalt aufgehalten hatte, der war immer noch auf, sondern weil er den Betrug der falschen Pythia aufgedeckt hatte. Wie war das möglich? 489
“Nun”, erklärte Adjuna, “zunächst einmal bin ich davon ausgegangen, daß bei der Weihung zur Orakelpriesterin gar nichts Besonders vor sich geht, das eine Persönlichkeitsveränderung rechtfertigt. Daraus folgte für mich, daß es sich um eine andere Person handeln mußte. Also erfand ich die Geschichte mit dem geliehenen Geld und dem Ring. Die falsche Pythia kannte natürlich nicht solche Details aus dem Leben der richtigen Pythia, und es blieb ihr nichts anderes übrig, als meine Geschichte zu glauben und mitzuspielen. Dadurch war sie entlarvt.” “Daß sie auf eine so plumpe Geschichte reinfiel, wo sie doch über übernatürliche Kräfte verfügte”, die Leute schüttelten unverständlich den Kopf. “Alles Trug und Täuschung”, winkte Adjuna ab. Der Bunte nahm Adjuna traurig zur Seite: “Ist es wirklich so, daß man Lügen nur mit Lügen besiegt?” “Nicht immer, aber oft”, antwortete Adjuna ein wenig tröstend. Adjuna wollte nun aber doch etwas Aufklärung betreiben und fragte die Umstehenden mit lauter Stimme: “Ist es nicht befremdlich, daß ein Gott wie Apollon nichts getan hat, um seiner Priesterin zu helfen?” Protest von allen Seiten. Man erklärte ihm, daß jetzt, wo die Titanen den Aufstand probten, Apollon alle Hände voll zu tun habe. Jemand wußte sogar genau, daß Apollon gerade jetzt mit seinem Vater Zeus am Ätna das hundertköpfige Ungeheuer Typhon am Rauskriechen hinderte. Die Pythia sagte dazu sogar mit schwacher Stimme: “Das ist richtig.”
In der Nacht hatte Orpheus einen Traum. Er träumte, daß Gaya ihn zu einem Wettkampf herausfordere. Und zwar wollte sie mit ihm um die Wette ein Landschaftsbild malen. Nun malte die Erde wohl die schönste Landschaft, und jeder Maler, der glaubte, er könne es besser, war ein Narr. Doch da Gaya ihm in der menschlichen Gestalt einer reifen Frau erschien, nahm Orpheus die Herausforderung an, und da seine Freunde die Richter sein sollten, machte er sich sogar Hoffnungen zu gewinnen. 490
Beide malten sie ein Bild mit Bergen, Blumen, Bäumen und vielen Tieren. Beide Bilder waren so naturgetreu wie Fotos. Und die Preisrichter taten sich schwer. Schließlich entschieden sie, daß Beide gleich gut gemalt hätten. “Dann wollen wir singen”, sagte Gaya. Und während sie sang, wurden die Tiere auf ihrem Bild lebendig und sprangen heraus und verteilten sich auf der Welt. Aber als Orpheus sang, passierte nichts.
Am nächsten Morgen, als Orpheus seinen Traum erzählte, meinte Adjuna zu ihm: “Wenn du die Erde besiegen willst, dann mußt du eine Landschaft zeichnen, in der die Bäume nicht mit großen Kronen ihren Nachbarn die Sonne wegnehmen wollen, und in der es weder Raubnoch Beutetiere gibt.” “Was denn? Eine moderne Stadt? Wüste oder den Mond?” “Vielleicht etwas Neues. Gaya hätte mich nicht mit ihrem Trick beeindruckt. Ihre Tiere hätten sich gebissen und zerrissen, wenn wir sie länger beobachtet hätten. Das Ende aller gayaischen Produkte ist Tod und Todesangst ist überall. Nichts, was einen Preis verdient.”
Nach dem Frühstück gingen sie alle zum Tempel der Pythia. Sie sah zwar noch immer blaß aus, aber auf dem hohen Hocker sitzend strahlte sie schon wieder Autorität aus. Sie bedankte sich noch einmal bei Aurora und den anderen für ihre Rettung und erzählte von ihren Qualen in der Erdspalte. Zum Glück hatte ihr, wenn immer sie durstig war, ein Quell Wasser gegeben, sonst hätte sie es wohl nicht überlebt, meinte sie. Pythia bot den Freunden dann noch an, ihnen kostenlos die Zukunft zu sagen. Adjuna war aber skeptisch, ob es wirklich die Zukunft sein würde, da sie ja selbst nicht ihren eigenen Reinfall rechtzeitig vorhergesehen hatte. Doch als sie ihm sagte, daß der Donnerer sich ihm gezeigt hätte, weil er Hilfe brauchte, war Adjuna doch stutzig. 491
“Wie machst du das? Aus der großen Tiefe kann dir doch nicht wirklich jemand etwas zuflüstern.” “Die gähnende Tiefe hilft nur beim Konzentrieren wie vergossenes Blut oder die Eingeweide der Vogelschau oder der Kaffeesatz in der Tasse. Letzten Endes sind alle Stimmen und alle Vision nur im eigenen Innern.” “Also etwas Subjektives?” “Hast du schon mal einen Menschen gesehen, der objektiv sein kann?” Dann wurde Pythia ganz feierlich: “Adjuna, wir haben keine Zeit für Plaudereien. Die olympischen Götter sind in Gefahr. Nur ein Sterblicher kann sie retten. Unter den Sterblichen aber gibt es seit Herakles' Tod nur einen, der sie retten kann. Dieser eine bist du. Ich weiß, du wirst deinen Auftrag erfolgreich durchführen. Fürchte nichts! Gehe gleich los! Besteige den Olymp und helfe den Göttern!” Wie hypnotisiert ging Adjuna los. Da es unter Zwang geschah, sah er mißmutig aus. Zu Aurora gewandt, sprach Pythia ebenfalls feierlich: “Auch für dich habe ich etwas. Komme heute nacht in der stillsten Stunde zu mir, dann sollst du von Apollon selbst eine Belohnung empfangen dafür, daß du mich gerettet hast.”
Adjuna ließ also seine Freunde zurück am Nabel der Welt, aber er dachte an Nietzsche: Wahrlich auch die Welt hat einen Hintern, woher kämen sonst all die Hinterweltler? So wanderte er einsam durch die griechische Landschaft. Überall hörte er die Leute jammern: “Zeus ist in Gefahr!” und er dachte: “Wie kann ich dem Zeus helfen?” Zwar hatte er seinen Bogen Gandiva bei sich und einen vollen Köcher, aber weder war er einem Giganten noch einem Titanen begegnet, und einfach ins Leere zu schießen, erschien ihm unsinnig.
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Während er den steilen Hang des Olymps hochkraxelte, immer wieder langte seine Hand in Dornen und Brennesseln, fluchte er: “Der Olymp wird leer sein, keine Götter werden sich dort oben dem Auge der Sterblichen zeigen, die olympischen Götter sind unsichtbar, unsichtbar wie andere Götter auch, ihre Existenz läßt sich nicht beweisen - oder bestreiten wie man will. Ihre Existenz ist so fragwürdig wie die Existenz eines Jahwehs oder Shivas oder Thors oder Ahura Matsuda oder Huitzilopochtli oder Vitziliputzli. Und dieser irdische Berg ist nur das Gegenstück zu einem himmlischen Olymp, der ebenfalls unsichtbar ist für Sterbliche, wie Meru überall und nirgends ist, außerhalb von uns und doch in uns - mit anderen Worten: Eine Projektion. Religion eine Zwangshandlung. Und ich? Ich, Idiot, bin religiös geworden!” Oben angekommen, wußte er, wie er dem Zeus helfen konnte. In die friedliche Bergwelt hinein rief er dem Zeus seinen Rat zu: “Verzichte auf die Unsterblichkeit! Wenn man sterblich sein muß, um die Giganten zu besiegen, dann werde sterblich, opfere dich für die anderen Unsterblichen, opfere dein Leben für deine Freunde, opfere dein Leben, wie Menschen so oft ihr Leben für die Götter geopfert haben!” Da brach der Fels, auf dem Adjuna stand und Adjuna stürzte mit dem Fels in die Tiefe. Bum, bum, bum, hopp! bum, bum, bum, hopp! bum, bum, bum, hopp! So ging es über Stock und Stein, bum, bum, bum, hopp! hopp! Manchmal flogen sie auch gleich gegen zwei Steine hintereinander. Bum, bum, bum, bum... Adjuna rollte mit dem Fels den ganzen Berg hinunter. Bum, bum, bum, bum... Adjuna mußte an Sisyphos denken, der wenigstens gemütlich den Berg hinunterspazieren konnte, während der Fels in die Tiefe stürzte. Bum, bum, bum, schrummfidebum! Dies irae. 493
Adjuna war zornig. Er lag am Fuße des Berges. Der schwere Fels war auf ihn gefallen. “Zeus ist ein Idiot”, schrie er, “Sollen die Titanen ihn holen! Prometheus schuf uns. Prometheus lehrte uns jede Kunst und brachte uns das Feuer. Prometheus ist ein Titanensohn. Laßt uns die Titanen verehren! Zeus ist nur ein Mörder mit Sintflut. Sollen die Titanen ihn doch in den Tartaros werfen oder besser noch im Kaukasus an die Felsen schmieden, daß die Vögel an ihm picken!” Adjuna hatte Pech. Die Leute hier am Fuße des Olymps waren besonders fromm und hielten besonders treu zu ihrem Zeus. Statt daß sie nun Adjuna halfen, unter dem großen Fels hervorzukommen, verfluchten sie ihn wegen seiner Gotteslästerung, und ein Einäugiger mit der Tätowierung des Urfeuers an der Stirn schmiedete sein Bein an eine Kette. Diese Kette schmiedete er dann auch am Felsen fest: “Klettere mit diesem Felsen noch einmal den Berg hoch und bitte die Götter um Vergebung. Wenn sie dir vergeben, werden sie diese Kette sprengen. Wenn nicht, wirst du beim Hinabsteigen zu Tode stürzen.” Adjuna hatte gar nicht gedacht, daß er den Fels allein hochstemmen könnte, aber als die Gläubigen ihm mit brennenden Fackeln die Fußsohlen kitzelten: “Wird's bald!” drückte er den Fels zur Seite. Vergeblich versuchte er die Ketten zu zerreißen. Auch gegen die Leute, die seinen Bogen hatten, konnte er nichts ausrichten. Mit ihren Lanzen und Fackeln trieben sie ihn den Berg hoch. Übereifrig wie sie waren, paßten sie auf, daß er nicht zur Seite entwich. Da Adjuna nichts anderes übrigblieb, quälte er den Fels den Berg hoch. Ihr, Idioten, dachte er, Götter sind nicht auf Bergen, sondern im Kopf, was mache ich bloß? Nach langen Strapazen endlich wieder oben auf dem Berg, wurde Adjuna - wie es ja so typisch für Gebirge ist - von einem plötzlichen Gewitter überrascht. Ein Blitz fuhr direkt neben ihm nieder und sprengte die Kette dicht an seinem Fuß. 494
Adjuna ließ den Fels los und in die Tiefe fahren. Der Fels aber trudelte dem Kronos an den Kopf. So war der Führer der Titanen doch noch von Adjuna besiegt worden. Daß der Fels weiter unten auch noch den Kreisäugigen und die anderen Zeloten erschlug, mußte in Kauf genommen werden. Kein Sieg ohne Opfer. Nichts wird einem geschenkt, nicht einmal einem Zeus. Stieg Adjuna nun so erleichtert wie Sisyphos oder erleichterter als ein Sisyphos den Berg hinunter? Nun, Sisyphos erwarte die Gewißheit seines Steines, aber auf Adjuna wartete eine neue Ungewißheit. Ungewiß ist unser Schicksal. Man muß schon am Fließband arbeiten, um die Gewißheit eines Sisyphos haben. Alles andere fließt zwar auch, aber zerfließt in unseren Händen, und wir sind immer nur die Narren, die danach greifen wollen. Wahrlich auch eine sisyphos'sche Sinnlosigkeit, Unfaßbares fassen zu wollen, immer wieder fassen zu wollen. Mit leeren Händen erreichte Adjuna den Fuß des Berges. Dort hingen sein Bogen und sein Köcher an einem Baum, unversehrt, ungebrochen. Adjuna nahm sie in die Hand. Ja, das Leben war Beides: Kampf und doch sinnlos.
Adjuna machte sich auf den Rückweg zu seinen Freunden in Delphi. Zu Fuß ist man ja immer ein bißchen langsamer, als wenn man über andere Mittel zur Fortbewegung verfügt. Besonders, wenn die Füße angebrannt wurden und dann noch über scharfe Felsen steigen mußten, wird das Laufen zur langsamen Qual. “Ach, hätte ich doch bloß die gute Wundsalbe mitgenommen! Wie weit ist es denn noch bis zum Nabel der Welt, oder welcher Gott verdammte Körperteil das auch immer ist? Schon merkwürdig, daß da so ein tiefes Loch ist.” Daß der Nabel noch nicht zugewachsen war, zeigt, daß die Welt noch jung war. Wer kennt nicht die Liebe der Jungen für Märchen und 495
Mythen! Und das Erwachsenwerden ist so ein langwieriger, mühsamer Vorgang, aber notwendig! Notwendig für eine erfolgreiche Zukunft. Ein Erwachsener sieht nur, was ist, und auch seine Hirngespinste, falls er welche hat, erkennt er, als was sie sind, nämlich Hirngespinste, also etwas ähnlich Lästiges wie Kopfläuse. Ein reifer Mensch wird die Existenz Gottes schwarz auf weiß beweisen! Mit schwarzer Tinte auf weißem Papier. Eine literarische Erscheinung. Wenn man freilich einen Radiergummi nimmt, dann ist die Tintenkleckserei schnell beseitigt. Besser ihr beseitigt auf diese Art schnell die Götter, bevor sie Euch beseitigen. Handlanger finden die genug unter den Kindern. Ihr seid gewarnt! Vergeßt das nicht!
Nach der langen und wegen der wunden Füße schmerzhaften Wanderung durch Thessalien und am Parnaß vorbei kam Adjuna endlich wieder am Nabel an. Er ging zuerst zur Pythia, die er auf ihrem Arbeitsplatz, also dem dreibeinigen Hocker über dem Omphalos, antraf. Er wollte sich beschweren, weil er meinte, seine Reise sei sinnlos gewesen, alles, was passiert sei, sei gewesen, daß er Schikanen ausgesetzt gewesen sei, denn daß der große Fels dem Kronos auf den Kopf gefallen war, hatte er gar nicht mitbekommen. Er hatte nur gesehen, daß die Narren, die sich so eifrig für Zeus eingesetzt hatten, vom Fels erschlagen worden waren. Der süße Charme der Pythia ließ seine Wut schnell verfliegen und er hörte sich in Ruhe an, wie er dem Zeus geholfen hatte, indem er den Fels hinunter auf Kronos gestoßen hatten. Er wunderte sich nur, daß er den Kronos gar nicht gesehen hatte, aber das war jetzt auch egal, jetzt sahen seine Augen die hybschen Augen der Priesterin des Apolls. Schönere Augen gab es nicht. Die Augen schienen Dinge zu versprechen, die Jungfrauen nicht halten können. “Naja, also - äh - ja, ich will dann mal nach meinen Freunden sehen.” “Erschrick nicht, wenn du Aurora siehst!” “Warum sollte ich erschrecken?” “Apollon war hier und er hat ihr wahrlich ein schönes 496
Geschenk gemacht. Er hat all ihre Brandwunden geheilt. Sie ist jetzt eine der schönsten Frauen der Welt!” Voller Erwartung lief er zum Haus, in dem seine Freunde hausten. “Wo ist sie?” rief er statt eines Grußes begeistert aus. “Wer?” “Na, Aurora!” “Psst”, Luz legte den Finger an den Mund und deutete auf eine verschlossene Tür, “der Gott ist bei ihr.” “Welcher Gott?” “Na, Zeus.” Eine Weile wartete Adjuna geduldig, doch dann wurde ihm klar - da es schon spät war, daß der Gott wohl die ganze Nacht bleiben würde. Und er ging wieder zum Tempel des Apolls. Dort war Pythia gerade mit der Arbeit fertig, sie wartete nur noch auf ihn, daß er sie abholte. Während sie einander tief in die Augen sahen, erkannten sie beide die Zukunft: Diese Nacht würde nicht nur für Zeus und Aurora, sondern auch für sie beide eine wunderbare Liebesnacht werden. Sie streichelten und küßten sich. “Tut mir leid, daß sie dir so weh getan haben. Ich hätte dich warnen sollen. Du, Armer. Mein Schatz, ich will alles wieder gut machen. Mmmmh. - Du bist so stark. - Du bist so schön.” “Auch du bist schön. Du hast so schöne Augen, einen so schönen Mund, so zarte Haut, ich liebe dich.” “Liebling, du bist so fremd, so exotisch. Wie bist du in unsere Welt gekommen? Woher kommst du überhaupt?” “Aus der Zukunft.” “Ich glaube dir.” Sie küßten sich. “Wie ist es in der Zukunft?” “Die olympischen Götter werden schließlich besiegt werden, aber nicht von großartigen Giganten und Titanen, sondern von einem armseligen Arme-LeuteKind, einer Personifizierung des Elends.” “In so einer Zukunft möchte ich nicht leben.” “Ich auch nicht, aber es ist schwer eine bessere Zukunft zu schaffen.” “Ja, man muß wie Herakles am Scheideweg die Anstrengung wählen, den unbequemen Weg gehen, um der Armut zu entkommen.” “Ja, das gilt besonders für die geistige Armut.” Die Liebesnacht erlebte nach und nach intimere und geheimere Stunden. “Wer hat bei dir nur überprüft, daß du Jungfrau bist?”
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“Psst, so was überprüft man doch nicht.”
Aurora war am nächsten Morgen mächtig stolz, daß Zeus Soter mit ihr geschlafen hatte. Adjuna verschwieg sein eigenes Abenteuer und sagte nur, er hätte auf einem nahen Hügel meditiert. Die Belohnung des Apolls: Schönheit für Aurora. Das war wirklich gelungen. Sie war schön, schöner als Apolls eigene Priesterin. Doch Schönheit ist nicht alles. Als Adjuna dann wenigstens zur Mittagsruhe mit ihr schlafen wollte, meinte sie, sie wolle sich aufsparen für Zeus Soter, der nachts wiederkäme. Überhaupt hatte ihre neugewonnene Schönheit sie hochnäsig und herablassend werden lassen. Wie einige Menschen es zur Personifikation des Elends bringen und andere die Personifikation des Glücks sind, wurde sie zur Personifikation für des Lebens Auf und Ab, für Hoch und Tief und wieder Hoch. Ein neuer Aufstieg, ein Sonnenaufgang, eine neue Nase, eine hohe Nase. Adjuna ging nachts immer zu seiner Pythia, die anderen hatten allerdings kein Glück bei den lokalen Schönheiten und machten deshalb immer längere Gesichter, wenn Aurora sich einschloß, um mit ihrem Zeus Soter allein zu sein.
Quod licet Jovi, non licet bovi. Nach einigen Tagen oder richtiger Nächten des Glücks wurden die Götter auf Adjunas Verhältnis mit der Orakelpriesterin des Apollons aufmerksam, und die Beiden sahen ihr Liebesspiel abrupt von einem Eindringling unterbrochen. Vor ihnen stand Artemis, die keusche Zwillingsschwester des Apolls, die mit weiblichen Reizen überreich gesegnete Beschützerin der Tiere und des edlen Weidwerks, in ihrem kurzen Jagdrock, ihre zwanzig Brüste wogten unter einer grobmaschigen Bluse. Ihr inneres Licht erleuchtete nicht nur die 498
Göttin, sondern den ganzen Raum, aber besonders die nicht zu Ende gespielte Liebesszene. So in flagranti erwischt, riß sich Pythia schnell die Bettdecke vor die Brust und das Gesicht. Das andere Ende konnte sie nicht bedecken, da Adjuna immer noch ihre Beine festhielt und bei ihr drin war. Sie hatte furchtbare Angst, wußte sie doch, wie streng und grausam keusche Leute sein konnten, ganz zu schweigen von Göttinnen der Keuschheit. Hatte Artemis nicht den Jäger Aktaion, der, als er seine Hunde im schattigen Tal Gargaphia an der Parthenionquelle hatte erfrischen wollen, versehentlich die Göttin beim Baden überraschte, in einen Hirsch verwandelt, der dann von seinen eigenen Hunden zerrissen wurde? Wieviel schlimmer mußte es ihr ergehen, wo sie etwas absichtlich tat? Adjuna sah die Göttin furchtlos an. Er konnte sich nichts Widersinnigeres vorstellen als eine jungfräuliche Fruchtbarkeitsgöttin, die außerdem noch Jagd und Tiere gleichermaßen schützte. Da die Göttin zornig aussah und offensichtlich Streit wollte oder zumindest strafen - sie langte nach den Pfeilen in ihrem Köcher, zog Adjuna seine Rute aus der Scheide und stürmte zum Angriff. Doch die Göttin kannte faule Tricks: Während Adjuna die Illusion der Göttin zu greifen versuchte und nicht fassen konnte und sich dieses Trugbild auch noch vermehrte und er schließlich einer Vielzahl von Trugbildern erlag, stand die richtige Göttin hinter ihm und löste den Knoten in seinem Haarband, dann riß sie ihn an seinen Haaren zu Boden und stellte sich selbst so auf seine Haare, daß sein Gesicht dicht am Boden klebte. Adjuna konnte nicht aufstehen. Die Göttin war schwerer als jede Frau aus Fleisch und Blut, ja selbst schwerer als die üppig mit Gold und Silber verkleidete Bronzestatue mit den zwanzig Brüsten in Ephesos. Besiegt und gedemütigt lag er vor ihr. Sie aber verfluchte ihn: “Dein Same soll für immer unfruchtbar sein. Und wenn immer du deinen Samen in eine Frau spritzt, so soll sie ebenfalls für den Rest ihres Lebens unfruchtbar werden, wenn du deinen Samen aber auf die Erde tropfen läßt, so soll die Erde unfruchtbar werden.” 499
Während sie sprach, schlug sie ihm mit einem Bündel ihrer langen Riedpfeile über den Rücken. So unter ihren Schlägen leidend, explodierten seine Hoden und er schäumte über. Schnell hielt er die hohle Hand vor sein Glied, um den Samen nicht auf die Erde fallen zu lassen. Dann trank er die Flüssigkeit in seiner Hand und leckte die Hand sauber. Er war sich noch nicht bewußt, was für ungeheure Möglichkeiten ihm Artemis mit ihrem Fluch in die Hand gelegt hatte. Adjuna dachte zunächst nur: Ich muß regelmäßig mit einer Frau schlafen, sonst habe ich vielleicht mal einen feuchten Traum. Was für schreckliche Konsequenzen...! Lieber eine einzige Frau wird unfruchtbar als die ganze Erde. Wir sehen, der Schock hatte Adjuna zum Durchschnittsbürger degradiert, der ja auch, wenn er so vor die Wahl gestellt wird, das Leben erhalten will, und all seine Morde nur begeht, wenn man ihn dazu aufgehetzt hat, dann allerdings ganz besonders gründlich ist und auch bereit, das eigene Leben wegzuwerfen sowie das aller anderen. Diese Tatsache ist die Grundlage für die Behauptung, daß der Mensch im Grunde gut sei, ich aber leite daraus ab, daß der Mensch im Grunde wertlos ist, zumindest der, der sich aufhetzen läßt, also die meisten. Um Ausnahmen ist es immer schade. Die werden immer zermalmt besonders wo Hetzer und Aufgehetzte sind. Nach dieser Begegnung mit der Göttin wagten Adjuna und die Orakelpriesterin natürlich nicht mehr, miteinander zu verkehren. Es traf sich, daß auch Aurora nicht mehr mit ihrem Zeus Soter zusammen war. Nicht daß Zeus' Ehebruch von Hera entdeckt worden war. Das Schicksal Ios, von einer Bremse gejagt zu werden, blieb Aurora erspart. Es war ganz einfach, daß ihr Seelentröster die Nase voll hatte. Es war ihm zu langweilig geworden bei Aurora. Sowieso blieb er nie lange bei einer. Schnell ödete ihn eine Frau genauso an wie seine eigene Hera. Außerdem war dem Donnerer nicht verborgen geblieben, daß Aurora ziemlich ausgeleiert war, trotz ihres frischen, unverbrauchten Gesichts. Und trotz seines dicken, göttlichen Gliedes blieb zu viel Spiel und das störte ihn. Was für ein menschlicher Gott! 500
Er war auf und davon und ließ sich nicht mehr blicken: Man hatte ihm Äthiopierinnen empfohlen wegen deren Saugmuschis. Kabbazah werden später arabische Sklavenhändler diese wunderbaren Orgasmuskünstlerinnen nennen, die das männliche Glied mit ihrer Vagina so kräftig packen wie ostfriesische Melkerinnen die Zitzen ihrer Kühe. Kabbazah heißt wörtlich übersetzt Halterin. Wir aber wollen uns hier nicht noch länger aufhalten. Wie gesagt, der Gott hatte sie fallen gelassen, und ihre vier sterblichen Freunde mußten wieder das besorgen, was der Gott vorher allein geschafft hatte. Zwischendurch fand Aurora allerdings auch einheimische Männer, die auf ihre Reize ansprachen. Die vier Männer hatten allerdings Pech bei den lokalen Schönheiten. Keine war bereit, mit einem Barbaren ins Bett zu gehen. Die Freunde drängten zum Aufbruch. Der Urlaub war bald zu Ende. Man wollte sich noch die Akropolis in Athen ansehen, wie man es sich schon in Hamburg vorgenommen hatte. Da das Auto ja abgestürzt war und man zu Fuß gehen mußte, würde der Ausflug nach Athen ja ein paar Tage dauern. Sowieso wußte man noch nicht, wie man wieder zurückkommen würde. Man wollte erst mal die Stelle suchen, an der das Auto von der Straße abgekommen war, und dann weitersehen. Vielleicht konnte man das Auto doch noch finden und reparieren.
Auf dem Weg nach Athen trafen sie einen blinden Bettler, der bat, ihnen folgen zu dürfen, da der Klang ihrer Fußstapfen es ihm leicht mache, auf dem Weg zu bleiben. Tatsächlich gelang es dem Alten, mit den eilig durch die attische Landschaft wandernden Freunden Schritt zu halten. Bei den Mahlzeiten teilten sie mit ihm Brot und Käse und nach dem Mittag, wenn die Freunde sich im Schatten ausruhten, spielte er auf seiner Kithàra und sang dazu in klassischen Hexametern von menschlichen und göttlichen Leidenschaften, die sich im trojanischen Krieg ausgetobt hatten, über Achilleus' übermäßigen Zorn, als Agamemnon die schöne Sklavin Briseïs von ihm nahm, und davon, 501
wie Patroklos im Siegen jedes Maß vergaß und sich an Hektor vergriff, der ihn durchbohrte und auf dem Schlachtfeld verenden ließ. Aber auch Hektor vergaß im Siegestaumel seine eigene Verwundbarkeit und beging außerdem den Frevel, sich mit einer göttlichen Rüstung zu schmücken, die nicht für ihn bestimmt war. Achilleus hetzte ihn dafür, wie ein Hund einen Hirsch hetzt, viermal um die Heimatstadt, bis er weidwund geschossen zusammenbrach. Dann durchbohrte Achilleus die Sehnen der Füße zwischen Knöchel und Ferse und zog einen Riemen hindurch, den er an seinem Wagen festband, und schleifte den Toten durch den blutigen Matsch des Schlachtfeldes. Aber auch auf Achill wartete ein Pfeil, der ihm schließlich in die berühmte Sehne des dreiköpfigen Wadenmuskels fahren sollte und ihn verbluten ließ. Trotz des Todes dieses großen Helden besiegten die Griechen Troja mit Hilfe eines Tricks, den sich der schlaue Odysseus ausgedacht hatte, und den der alte Sänger nicht versäumte zu loben. Der Haß eines zehnjährigen Kampfes zerstörte Troja total, das heißt, eigentlich waren es Menschen, die dieses Zerstörungswerk ausführten. Von den griechischen Helden kehrten trotz des Sieges nur wenige in die Heimat zurück, die meisten verschlang das Meer im Sturm wie den Lokrer Ajax, andere erwartete ein schreckliches Schicksal bei der Heimkehr wie den Agamemnon, der im eigenen Hause von seiner Frau Klytämnestra und ihrem Geliebten Ägistos ermordet wurde. Menelaos und Odysseus aber mußten noch lange in der Ferne umherirren, besonders Odysseus, aber das war eine andere Geschichte. Auch die Geschichte der Irrfahrten des Odysseus verstand der Alte, gut vorzutragen. Und am Ende, als Odysseus das heimatliche Ithaka erreicht hatte, die Burg von den Freiern befreit und auch den letzten Test mit dem zum Bett gewordenen Olivenbaum bestanden hatte und endliche seine Frau Penelope in die Arme nehmen durfte, da rief der 502
Bunte erleichtert aus: “Und dann lebten sie glücklich, bis an das Ende ihrer Tage!” Er hätte auch sagen können: `Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute', aber so etwas sagte man nicht auf Griechisch. Der alte Mann aber sagte traurig: “Nein!” Die Freunde horchten auf. “Dann erzähle uns, was danach geschah.” Der Alte murmelte etwas davon, daß er das noch nicht in Versform gebracht hätte, daß er sich schon sehr alt fühle und oft nicht genug zu essen habe, und daß ihm das Dichten auch nicht mehr so leicht von der Hand gehe, es könne noch Jahre dauern, bis das tragische Ende des Odysseus auch in Hexameter gebracht sei. Wenn Zeus ihm, dem armen Dichter, die Gnade gewähre, überhaupt so lange zu leben. Wie viele Dichter sind wohl schon gestorben, bevor ihre Werke geboren wurden? Wie viele Werke wurden mit ins Grab genommen! Der Dichter ist der einzige, der Werke mit ins Grab nimmt, die man nicht wieder ausbuddeln kann, wir anderen haben höchstens persönliche Erfahrungen, aber nach denen kräht kein Hahn. Die Freunde drängten weiter, er solle ihnen doch in einfachen Worten erzählen, was noch mit Odysseus geschehen sei. Da rückte der Alte dichter an die Freunde heran und erzählte leise, als gelte es, ein Geheimnis zu bewahren: “Die Leichen der toten Freier wurden von ihren Angehörigen weggetragen und begraben und bei seiner Grabrede hetzte Eupeithes die Cephallenier gegen Odysseus, um den Tod der Freier zu rächen. Um der feindlichen Armee etwas entgegen zu setzen, versuchte Odysseus auf Ithaka eine eigene Armee auszuheben, aber beim Rekrutieren der Bauernjungs wurde er von seiner eigenen bäuerlichen Bevölkerung überwältigt, denn man hatte es ihm nicht verziehen, daß er schon einmal junge Leute zum Kriegsdienst verpflichtet hatte, aber nicht einer davon zurückgekommen war.” Der Alte seufzte. “Wißt ihr, einen Krieg verlieren immer zwei: der Sieger und der Besiegte.”
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Der Bunte: “Ja, ich habe auch mal gehört, daß die Bomben manchmal teurer sind als das, was sie kaputt machen.” “Psst.” Finger an den Mund. “Odysseus' Sohn Telemachos und der treue Schweinehirt Eumäos kamen damals unter den Sensenhieben der aufgebrachten Bevölkerung um, nur Odysseus hatten sie verschont, um ihn den Verwandten der Freier auszuliefern und sich so ihr Wohlwollen zu erkaufen.” Enttäuscht sagten die Freunde: “Oh, dann starb Odysseus schließlich in den Händen dieser Verwandten?” “Nein, man fand, daß der Tod zu schade für ihn sei. Man folterte ihn schwer. Unter anderem...” Der Alte zitterte plötzlich furchtbar. “...stach man ihm die Augen aus.” “Ihr seid...”, die Freunde rissen vor Staunen ihren Mund auf. “Ja, Odysseus alias Homer.”
Als unsere Freunde in Athen den Tempelberg hochstiegen und den Parthenon, den ganzen gewaltigen Tempelkomplex vor sich sahen, drängte sich dem lebendigen Gott ein Gedanke auf: “Vielleicht wurden die Religionen nicht von Priestern erfunden, sondern von Baumeistern, Architekten.” Adjuna: “Auf jeden Fall von Sterblichen.” Noch nie zuvor hatten moderne Menschen die Akropolis in ihrer antiken Pracht gesehen. Alles glänzte in bunten Farben; die Karyatiden und Götterstandbilder waren übertriebener geschminkt als die Teenager; überall auf kleinen Altären und Dreifüßen schmorten Weihund Räuchergaben; auf halbem Weg zwischen dem Nordflügel und dem Haupttempel stand die wohlgerüstete, alles überragende Athene in bronzener Rüstung mit Helm und Lanze als Promachos, als Vormarschiererin; zu ihren Füßen wurde diskutiert, politische Propaganda betrieben, und neue Gesetze wurden verkündet; 504
Schmiedesklaven, denen ihre Herren die Sehnen durchgeschnitten hatten, damit sie von der scheußlichen Arbeit nicht weglaufen konnten, wurden von Priesterinnen mit Hinweisen auf das ähnliche Schicksal des Hephaistos getröstet; ein Gelehrter erklärte seinen Zuhörern, daß die blonde Demeter, die große Mutter der Natur mit dem wie reife Getreidefelder wallenden Haar in Wirklichkeit eine Heilige Dreifaltigkeit in weiblicher Gestalt sein, nämlich Kore, Demeter und Hekate; religiöse Narren priesen Athena Sotera und die anderen Athanatoi, Unsterblichen. Doch Götter leben nur so lange, wie man an sie glaubt. Schon bald - was sind ein paar Jahrhunderte für die Unendlichkeit? Selbst das Universum ist schon an die 15 Milliarden Jahre alt und das ist bei weitem nicht unendlich, und wenn ein ewiger Gott bei seinem Ausflug ins irdische Jammertal mal sechs Stunden am Kreuz leidet, was ist das schon? Jeder Sterbliche, den mal ne Mücke gestochen hat, hat mehr erlitten - also es war von der Unendlichkeit aus betrachtet nur ein winzigkleines Augenblickchen später, daß christliche Graffiti die Säulen des Parthenons verunzierten und ein kleiner mickeriger Menschenhasser und Gallespucker auf dem Areopag, wo einst Athene den Orestes von der Schuld des Muttermordes freisprach, einen neuen Gott proklamierte und von der Sünde predigte, einen Begriff, den die Griechen, so wie der Apostel ihn benutzte, nämlich als Sünde wider den heiligen Geist etc., gar nicht kannten. Sie kannten nur eine Sünde, die der Hybris. Aber sie irrten, wenn sie glaubten, daß Hybris bestraft würde. Der Gott des Paulus brachte es jedenfalls trotz seiner Überheblichkeit recht weit. Natürlich aus der Sicht der Unendlichkeit, und selbst wenn man nur den Zeitraum zwischen Big Bang und Big Crunch zugrunde legt, ist auch dieser hybride Gott, ein Bastard allen mystischen Unsinns seiner Zeit, ein Augenblickchen später schon wieder von der Bildfläche verschwunden, auch wenn die, die gerade zwischen diesen beiden Augenblicken leben, es nicht wahrhaben wollen.
“Na gut, dann haben wir die Akropolis auch gesehen. Wollen wir uns endlich auf den Heimweg machen?” drängte der Bunte. Als leibhaftiger 505
Gott unter lauter Steingötzen wohl die unglücklichste Figur am Ort der Reisegruppe. Aber Aurora hatte etwas gehört, nämlich die Prophezeiung, daß die große Muttergöttin Hera in Kürze zur Erde herunterkommen würde in ihr geliebtes Königreich Argolis, wo auf halbem Wege zwischen Tiryns und Nauplion, also noch jenseits der von den Zyklopen erbauten Stadtfestung Mykene, eine Quelle entsprang, in die sie von Zeit zu Zeit, aber selten häufiger als dreimal pro Äon, meist samstags, tauchte, um ihre Jungfräulichkeit zu erneuern. Natürlich wußte man nicht, ob es wirklich geschah. Man schaute ihr einfach nicht zwischen die Beine, ja, man sah ihr nicht einmal beim Bade zu. So etwas Unanständiges tat man einfach nicht. Und nicht auszudenken, was passierte, wenn sie es merkte! Am Tage, an dem die Göttin erwartet wurde, sperrten die Priester einfach den ganzen Bezirk um die Heilquelle ab, so daß die Göttin ungestört war. Auch Aurora hatte nicht die Absicht, die Göttin beim Baden zu beobachten, sondern nur den unbescheidenen Wunsch, ihre eigene Jungfräulichkeit zu erneuern, den aber sehr stark. Niemand hatte ihr gesagt, daß es nur bei der Göttin funktionierte, und sie hatte auch nicht gefragt, sondern wie so typisch für Menschen Göttliches einfach als wahr und wunderwirksam vorausgesetzt. Die Freunde aber protestierten. “Was nützt dir neu gewonnene Jungfräulichkeit! Sie würde bei dir sowieso nicht lange vorhalten. Und ohnehin, was liegt an Jungfräulichkeit! Für Nonnen ist es vielleicht eine Tugend, ein intaktes Hymen zu haben, aber doch nicht für eine Frau, die den Klauen der Kirche entkommen ist. Ein neues Jungfernhäutchen bringt auch nur neue Schmerzen mit sich. Laß das!” So redeten die Freunde auf sie ein.
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Nur widerwillig ließ sie sich überzeugen. Sie schien sich noch immer Hoffnungen zu machen, wegen ihres Zeus Soters. Man ersparte sich also den vergeblichen Weg zur Quelle, was eigentlich schade war, denn damals war der Ort noch nicht von Marienstatuen entstellt, verschandelt, entehrt, und die freudlosen Gesichter der Bewohnerinnen des nahen Frauenklosters sah man damals auch noch nicht.
Da es bewölkt war und sie die Richtung nicht finden konnten, erkundigte sich der Bunte, bei dem sich schon längst Heimweh bemerkbar gemacht hatte, beim nächstbesten Passanten: “Entschuldigen Sie, können Sie mir sagen, wo es hier nach Norden geht?” “Nach Norden? Wohin wollen Sie denn? Ins Land der Hyperboräer?” “Nach Hamburg.” “Nach Hamburg? Nie gehört. Das liegt wohl im Land der Hyperboräer?” “Hyperboräer?” “Ja. Ihr verehrt doch Apollon, nicht wahr? Ihr blondhaarigen Hyperboräer seid doch Apollons auserwähltes Volk. Seit die Meereswogen die Truhe, in die Apollons Mutter Semele den kleinen Apoll ausgesetzt hatte, an eure Küste trieben, seit ihr Apolls auserwähltes Volk.” Aber der Hamburger hatte keine Ahnung, wovon sein Gegenüber sprach, er kannte nur ein auserwähltes Volk, nämlich das des Jahwes, die Juden. Aber war es nicht eigentlich so, daß die Völker sich die Götter aussuchten und nicht umgekehrt? Sein Gegenüber fuhr fort: “Ihr haust in Hainen, tötet keine Tiere und kennt keinen Krieg. Richtig? Und es ist immer neblig bei euch, nicht wahr?” “Ja, das ist richtig.” “Siehst du. Nebel sind Numen sind Orakelträger.” Der Fremde machte große Augen wie ein Magier und verschwand dann in der Menschenmenge. Der Bunte stürzte ihm nach: “Ja, wo ist jetzt Norden?” Aber der Fremde war schon in der Menschenmenge verschwunden. Auch Menschenmengen sind Numen sind Orakelträger, hier enthalten sie einen Hinweis auf Vergangenes 507
und da einen Wink auf Zukünftiges und immer das Nicken und Kopfschütteln der Gegenwart und dein Schicksal. Hilfesuchend blickte der Bunte sich nach seinen Freunden um. “Adjuna, sind wir Hyperboräer?” “Natürlich, wir kommen doch aus Hamburg. Wir sind moderne Menschen. Wir leben am Rande des Eises. Das Glück ist da, wo es die Wärme der Lügen nicht gibt.” Der Bunte: “Und welchen Weg müssen wir gehen?” Adjuna: “Den unvermeidlichen.” Luz: “Und ohne zu jammern.” Orpheus: “Also, dann auf in die Zukunft.” Der Bunte: “Ich will aber in die Gegenwart.” Ein Ausnahmemensch! Wer ist schon mit der Gegenwart zufrieden, diesem unzugänglichen Scheusal zwischen den beiden Stühlen Erinnerung und Hoffnung? Wer weiß schon, daß diese beiden Stühle Scylla und Charybdis heißen, und alle Gegenwart nur ein Hindurchschlängeln zwischen vergangenen und zukünftigen Gefahren ist mit einem Abgrund unter sich? Aber wie dem auch sei, der Bunte hatte das richtige Stichwort gegeben.
Die fünf Freunde öffneten gleichzeitig ihre Augen. Aber noch ehe sich ihre Augen an die neue Umgebung gewöhnt hatten, hörten sie eine erregte Stimme: “Ein Wunder, ein Wunder!” Nur einer von ihnen merkte, daß die Stimme von einer weißen Gestalt mit einem langen, dünnen Rüssel kam. Jetzt huschte die Gestalt aus dem Sichtfeld. “Das muß ich dem Chef erzählen!” Orpheus langte vorsichtig nach seinem Kopf. Als seine Finger den Helm berührten, dachte er: Alles in Ordnung. Zufrieden schloß er 508
wieder die Augen. Es war ein schöner Helm, den Aurora ihm da gegeben hatte. Zweifellos hatte Hephaistos ihn geschmiedet. Hier irrte Orpheus. Nicht den Helm, sondern den Menschen darunter hatte Hephaistos geschmiedet. Denn der Mensch wurde gar nicht aus Lehm geformt, nicht von Prometheus und nicht von Jahwe, sondern Hephaistos, der Gott der Schmiedekunst, konstruierte einen Torpedo, diesen geraden Torpedo hämmerte er als nächstes krumm zu einer Bogenbrücke, die dann als Vierbeiner überall herumlief, als ihm die Bogenbrücke auch nicht mehr gefiel, bog er sie zu einem ZweibeinerTurm. Der Mensch war also das letzte - kurz vor dem Schrott. Und Rückenschmerzen ließen sich so auch erklären. 1 Die Augen der Freunde blinkten heftig, krampfhaft versuchten sie wieder klar zu sehen. Acetylcholin heizte ihr vegetatives Nervensystem an und innervierte die Ziliar- und Irismuskeln ihrer Augen, und den parasympathischen Fasern gelang die Verengung der Pupillen und die Kontraktion der Ziliarmuskeln. Der dioptrische Apparat akkommodierte sich. Eine weiß getünchte Decke wurde sichtbar. Kaltes Neonlicht flutete durch die Cornea in die vordere Augenkammer, brach sich an der Sammellinse, wanderte durch den Glaskörper, durchdrang die innere Schicht der Retina und wurde schließlich im Plasma der Sehzellen mit Hilfe des Sehpurpurs im scotoptischen Dominator und mit Jodopsin im photoptischen Dominator absorbiert. Die Sehnerven leiteten den empfangenen Lichtreiz weiter ins Zwischenhirn, um dort die von den Augen stammenden Bilder übereinanderzuprojizieren. Aber die beiden Diapositive mit der Neonröhre fanden im Gehirn nicht zueinander. Sie drifteten hin und her, als ob jemand zwei Projektionsapparate schaukelte. Die Augen mußten erst wieder das stereoskopische Sehen üben. Es ist nicht gut, wenn man zwei Lampen sieht, weil man zwei
1
Prof. Dr. Rupert Riedl vom Zoologischen Institut der Universität Wien nannte die menschliche Wirbelsäule mal einen Torpedo-Brücken-Turm und erklärte von der evolutionären Entwicklung her die Unzulänglichkeit der menschlichen Wirbelsäule, unter anderem Rückenschmerzen.
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Augen hat. Die beiden Augen übten, bis sie eine Lampe sahen, weil da eine Lampe war. Die Augen wanderten von der Lampe zu den scharfen Ecken des geometrisch exakten Raumes, von dort glitten sie runter zu einem weißen Rohrstahlrahmen. Auf dem oberen Bord standen in der Mitte ein Monitor zur optischen Kontrolle der Herzschrittmacherimpulse, dessen Kabel zu einem extrakorporalen Herzschrittmacher, der auf der Brust des Patienten befestigt war, führte, links neben dem Monitor stand ein automatischer Impulsgeber, rechts daneben ein EKGLangzeitanalysator, auf dem noch ein Magnetbandgerät zur Aufnahme der EKG-Analyse stand, ein Bord tiefer stand ein Monitor zur EKGKontrolle und ein Gerät, das die EKG-Rhythmusanalyse auf Papier aufzeichnete, sowie ein Druckmeßgerät für den Rechtsherzkatheter, ein Monitor zur Druckkurvenkontrolle und ein Papierschreiber für die Druckkurven. In einen extra Bord standen ein Faradisiergerät, drunter eine Elektrolunge zur Dauerbeatmung, von der vier dicke Luftschläuche zur Atemmaske der Patienten führten, daneben wieder in einem extra Bord ein Spirometer mit Monitoren zur Messung von Atemfrequenz, Atemvolumen und Reserveluft, sowie ein Spiroergometer zur Messung des Sauerstoffverbrauchs. Die vielen Apparate erschienen den Freunden so bedrohlich wie eine Ansammlung von Rachegöttern. Um von der Bedrohung abzulenken, fing der Bunte ein Gespräch an: “Hast du gewußt, daß Homer und Odysseus ein und dieselbe Person waren?” “Nein”, antwortete Orpheus. Da ihre Stimmen wegen der Atemmaske so dumpf und unverständlich klangen, lösten sie die Strapse der Maske und nahmen sie ab. Der Bunte: “Wir haben wirklich etwas Neues entdeckt. Das müssen wir bekanntmachen.” Adjuna, der sich auch gerade von seiner Gesichtsmaske befreit hatte: “Die geschichtlichen Tatsachen sprechen dagegen. Die große Schlacht um Troja fand etwa um 1230 vor unserer Zeitrechnung statt. Homer 510
aber lebte zwischen 750 und 650 vor unserer Zeitrechnung. Allerdings, die Menschen glauben geschichtliche Falschheiten lieber, als daß sie geschichtliche Wahrheiten akzeptieren, jedoch handelt es sich dabei um liebgewordene Falschheiten.” Der Bunte: “Aber wir haben es doch selbst gehört aus dem Mund Homers.” “Bist du sicher? Hast du seinen Ausweis gesehen? Und selbst wenn das Homer war, vielleicht hat er gemerkt, daß wir Fremdlinge waren und ihm jedes Märchen abnehmen.” “Einen Bären aufgebunden? Ja, aber warum sollte er das getan haben?" “Um unser Mitleid zu erregen, damit wir ihm mehr Bakhschisch geben. Das nämlich ist der andere Grund, warum soviel Falschheit in der Welt ist.” “In welchem Jahrhundert waren wir eigentlich?” “Gibt es darüber noch Zweifel! Im gegenwärtigen natürlich.” Im Korridor hallten Stimmen. “Da müssen Sie sich geirrt haben, Herr Assistenzarzt. Das ist ganz ausgeschlossen, daß die die Augen aufgemacht haben. Die sind praktisch gehirntot.” “Aber ich sage es Ihnen doch, Herr Professor. Ich habe es mit eigenen Augen gesehen.” Als erstes kam der junge Assistenzarzt hereingestürzt, seine nervösen Finger hielten sich am Stethoskop fest. Als die Freunde neugierig aufblickten, rief er triumphierend aus: “Meine Herren, ich wünschen Ihnen einen wunderschönen, guten Morgen.” Und zu Aurora gewandt: “Und Ihnen, mein junges Fräulein, wünsche ich einen ganz besonders schönen, guten Morgen.” Er zappelte vor Aufregung: “Gestatten Sie, daß ich Ihnen Ihre Ärzte vorstelle. Herr Professor Doktor Allopathos und Herr Professor Doktor Asklepios.” Die Freunde begrüßten die Professoren. Einige Krankenschwestern, die den Ärzten gefolgt waren, kreischten. “Meine Damen, beruhigen 511
Sie sich! Das ist nicht das erste Mal, daß wir in diesem Fall Wunder erleben.” Und während Professor Asklepios den Papierstreifen des Enzephalographen, der die Werte vom Szintillationszähler in Orpheus's Haube aufgezeichnet hatte, ansah, fragte er den Sänger der Gruppe: “Na, wie geht es Ihnen denn?” “Danke, so ausgeruht habe ich mich schon lange nicht mehr gefühlt.” Luz von der anderen Seite es Raumes pflichtete ihm bei: “Ja, ich habe auch das Gefühl, Wochen lang nichts getan zu haben, dabei hab ich geträumt, meilenweit gewandert zu sein.” “Nach unseren Aufzeichnungen dürften Sie eigentlich nicht geträumt haben.” Der zweite Professor stand noch immer hilflos in der Mitte des Raumes und schüttelte den Kopf: “Unglaublich, unglaublich. Und wir wollten die Maschinen schon abschalten. Ihr ward doch nur noch Gemüse. Es ist doch unethisch, einen Menschen einfach am Leben zu erhalten, wenn es keine Hoffnung mehr auf Genesung gibt.” “Ja, eure Auferstehung ist wirklich ein Wunder. Völlig unbegreiflich”, meinte jetzt auch Professor Asklepios, ihr müßt einen besseren Schutzengel haben als andere Menschen. Schon daß man euch da unten im Gestrüpp überhaupt gefunden hatte, war ein Wunder. Ein junger Mönch vom Meteora-Kloster, Athanasios hieß er, hatte euch gefunden, als er sich eine bessere Stelle suchte zum Fischeangeln. Normalerweise kommt da jahrelang keiner lang. Trotz des tiefen Sturzes war weder euer Auto richtig kaputt noch ihr selbst. Ihr lagt zwar wie tot da, aber hattet nur leichte Schürfwunden, und das Auto hatte neben ein paar kleinen Beulen und Lackschäden nur noch ein verkohltes Armaturenbrett, wahrscheinlich von einem Kurzschluß. Ein Wunder, daß es bei der Trockenheit keinen Waldbrand gegeben hat. Aber das größte Wunder war, daß der kleine Brand zwar der jungen Frau das ganze Gesicht verbrannt hatte, aber die Brandwunden schon alle vernarbt waren, als man euch fand.” Zu Aurora: “Sie können sich gar nicht vorstellen, wie die Bandnarben Ihr Gesicht entstellt haben. Wir haben gedacht, vielleicht ist es wirklich besser so, daß Sie nicht wieder zu sich kommen. Sie hätten den Anblick nicht ertragen können. Dann, nachdem Sie etwa vierzehn Tage hier im Krankenhaus waren, 512
hatten Sie eines Morgens plötzlich Ihr schönes Gesicht wieder, als ob...” Aurora berührte ihr Gesicht. “Wirklich!" rief sie jubelnd aus. “Aber was nützt ein schönes Gesicht, wenn das Gehirn tot ist. Wenn nicht einige von euch immer wieder feuchte Träume gehabt hätten, was in der Abwesenheit von Gehirnwellen an sich schon ein Wunder oder - wie soll ich sagen - ein Widerspruch ist, dann hätten wir die Maschinen abgeschaltet und euch auch keine Infusionen mehr gegeben. Naja...” der Professor machte eine Pause, “...sonst ist eigentlich nichts passiert.” “Bloß, daß beim Großen mal die Füße bluteten und er sich außerdem am Rücken so furchtbar durchgelegen hatte”, ergänzte der Assistenzarzt den Bericht seines Chefs.
Als die Freunde ein paar Tage später als geheilt entlassen wurden, meinte der Chefarzt zu ihnen: “Na, als erstes geht ihr wohl in die Kirche, um Euch bei Gott zu bedanken für Eure wunderbare Auferstehung.” Adjuna: “Oh nein, genauso wenig, wie wir den Altar bespucken, wenn uns was Schlechtes passiert. Wir möchten uns jedoch bei Ihnen und den anderen Ärzten Ihrer Klinik sowie bei der modernen Technik für unser Überleben bedanken.” Ja, Rachegötter waren die nützlichsten Götter. Luz: “Einen so geruhsamen Griechenland-Urlaub hatten wir im Traum nicht erwartet.” Orpheus: “Wenn wir auch nicht beten, wir bewerten unser wundersames Überleben als einen Wink von höchster Stelle, daß unsere Mission die richtige ist.” Der leibhaftige Gott: “Ja, wir haben der Menschheit noch etwas zu geben.” Und er dachte schon wieder an seine Arbeit und den Leib, den er gab. Er war das Brot. Aber er dachte auch daran, daß seine Freunde den Geist gaben, den die Menschheit so dringend benötigte. Aurora aber gab den Professoren einen Kuß. Der Kuß, den sie dann dem jungen Assistenzarzt gab, dauerte ein bißchen zu lange. Das war
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aber nicht weiter peinlich. Die alten Herren freuten sich für den jungen Mann mit. Sie sah ja so unschuldig aus.
Orpheus machte den Vorschlag, für den Rückweg doch die Autofähre von Kerkira nach Brindisi zu nehmen. Alle waren einverstanden, nur Adjuna protestierte heftig dagegen, hatte er doch im Stiefelland einen heftigen Fußtritt bekommen. Das war zwar genauso Teil eines großen Planes gewesen wie ihre Auferstehung aus dem Koma, aber hatte wehgetan. Und Adjuna dämmerte immer mehr die Grausamkeit des großen Planes, sein grausames Sterben- und Lebenlassen, aber er sagte nichts davon. Und man einigte sich friedlich auf Ancona. Von dort konnte man schneller aus dem Stiefel kriechen.
Von Igoumenitsa ging eine Autofähre nach Kerkira. In Kerkira wollten unsere Freunde einen Platz auf dem Fährschiff für Ancona buchen. Doch das Fährschiff war ausgebucht. Es war Reisezeit. Es war eine jener friedlichen Zeiten, die man zwischen zwei Kriegen hatte, und es war eine Zeit, in der es einem gut ging, aber es war auch eine Zeit, in der sich jene gefährliche Langeweile entwickelte, die die Kinder hervorbrachte, die ihre gesättigten Eltern verachteten und das entbehrungsvolle Leben in einer zerstörten Welt bevorzugten. Aber noch war es nicht soweit. Noch reiste man friedlich. Sprach man auch von einer Touristeninvasion. Touristen waren keine Invasoren, sondern zahlende Gästen, und sie meinten es nicht böse. Unseren Freunden aber sagte man, daß sie bis zum Ende des Sommers warten müßten, bevor sie einen Platz auf einem Fährschiff bekommen könnten. So hatten unsere Freunde Zeit, sich umzusehen. Zur Zeit unserer Freunde lebten auf der Insel die Kerkiräer oder Korfioten, wie sie auch genannt wurden nach dem Hauptort Korfu, der 514
zwischen zwei Brüsten, griechisch Stous Koryphous, lag. In Wirklichkeit war dieser Ort aber nicht zwischen Brüsten eingeklemmt, sondern Hügeln. Die Insel war auch nicht immer die Heimat der Kerkiräer gewesen. Als nämlich Odysseus' Floß, das er am Strand der Insel Ogygia im Beisein der schönen Nymphe Kalypso gezimmert hatte, im Sturm zerbrach und er nackt nur mit dem Schleier der Meeresgöttin Leukothea als Auftriebskörper und Rettungsring die weite Strecke bis an die Klippen dieser Insel schwamm, lebten hier die gastfreundlichen Phäaken, die Odysseus' Odyssee endlich ein Ende machten und ihn in seine Heimat zurückbrachten. Wahrheit oder Legende, auf jeden Fall hätte Odysseus es nicht gewagt aus der Kardaki-Quelle, die hier auf der Insel entsprang, zu trinken, denn von ihr wurde noch zu Adjunas Zeiten gesagt, daß wer immer aus ihr trinke, niemals in seine Heimat zurückkehre. Aber natürlich, auch wer auf einen Schluck verzichtete, hatte keine Gewißheit, in die Heimat zurückzukehren. Gewißheit, so etwas gab es auf dieser Welt einfach nicht und auch auf keiner anderen. Odysseus kam zwar glücklich nach Ithaka, aber die Phäaken hatten mit ihrer Hilfe den Zorn des Poseidons auf sich gezogen, und der Meeresgott verwandelte das Schiff der Phäaken gerade noch rechtzeitig, bevor die Besatzung an Land ging, in der Bucht von Chalikiopulo zu Stein. Noch heute steht dieses steinerne Monument göttlichen Zorns nicht weit vom rettenden Festland, wo fromme Mönche am Ende eines schmalen Wellenbrechers das Kloster von Vlachernes errichtet haben und durch tägliche Bußübungen den Zorn eines anderen Gottes von sich abzuwenden hoffen. Pontikonissi oder Mäuseinsel nennt man das Schiff der Phäaken jetzt. Dabei heißt es doch, daß Nagetiere rechtzeitig das Schiff verlassen. Historiker freilich, wie andere ordentliche Wissenschaftler auch, bezweifeln übrigens, daß auf der Insel die Besatzung des Phäakenschiffes oder auch bloß Mäuse zu Stein wurden. Zwar kennen sie die alten Legenden, doch sie sind mehr daran interessiert, was ihre Spaten ausgraben, da ähneln sie einem Bauer bei der Kartoffelernte. 515
Nun, ihre Spaten kenne keine Phäaken, dafür munkeln sie etwas von Eretriern, den Einwohner der ostgriechischen Insel Euböa, die diesen Ort kolonialisiert haben sollen, 1 bis die Korinther sie verjagten. Diese Korinther Kolonialisten entwickelten mit der Zeit einen ebenso großen Haß auf ihr Mutterland Korinth, wie die Teilnehmer der Bostoner Teaparty ihn auf England bekommen hatten, als sie plötzlich durch neue Gesetze englischen Tee zoll- und steuerfrei bekamen. Und wie die Amerikaner die Boston Tea Party als den Beginn ihrer Revolution feiern, so feiern die Historiker den Kampf der Kerkiräer gegen die Flotten Korinths als die erste Seeschlacht in der Geschichte der Menschheit,2 als erstes großes Blutvergießen zur See, doch ganz sicher sind sie natürlich nicht, ob sich Massenabschlachtungen bis dahin wirklich aufs Land beschränkt haben. Der Sieg der Kerkiräer bedeutete Unabhängigkeit und die Vorherrschaft über das Adriatische Meer. Bis der korinthische Tyrann Periandros sie eine Generation später wieder unterwarf, konnten sie sich darüber freuen. Dann nach Periandros Tod nach neuem Kampf neue Freiheit.3 Man schließt Freundschaft mit Athen, doch kommt zu spät zur großen Seeschlacht zu Salamis gegen die Perser. 4 Man erfreut sich der Splendid Isolation, dem glanzvollen Alleinsein, doch die anderen Griechen kritisieren mehr und mehr die Selbstisolierung der Kerkiräer. Schließlich gibt es wieder Krach mit Korinth, diesmal wegen der gemeinsamen Kolonie Epidamnos, wieder siegt die Flotte der Kerkiräer, diesmal bei Actium. 5 Doch dann machen
1
bis 734 vor unserer Zeitrechnung
2
620 vuZ.
3
580 vuZ.
4
480 vuZ.
5
435 vuZ.
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die Kerkiräer einen großen Fehler, statt andere totzuhauen, hauen sie sich gegenseitig tot: Bürgerkrieg und politisches Aus. Die Herrscher wechseln jetzt, aber es sind nicht mehr die eigenen Leute, die herrschen, auch Blut fließ noch, aber es fließt nicht mehr für die eigenen Interessen, sondern für die der Fremdherrscher. Ein Blutfluß bringt Makedonen-Herrschaft, schwemmt dann Agathokles, König von Syrakus, zum Besitzer der Insel auf, dann Demetrios wieder ein Makedonier, auch Pyrrhos, König der Molosser und Hegemon von Epirus, schwappte mit einer Welle auf die Insel, bevor er für den Sieg über die Römer große Teile seines Vermögens und das Blut seiner Soldaten verschwendete. Dann kamen illyrische Piraten und schließlich die glorreichen Römer. Zur Zeit der Römer kam es zu dem großen Mißgeschick, daß, als Antionius und Octavian ihre Flotten aufeinander hetzten, wieder vor Actium, der römische Gouverneur der Insel auf den Verlierer setzte. Der Gewinner, Octavian, ließ aus Rache die Stadt verwüsten. Daher findet der Besucher kaum antike Bauten auf Kerkira. Nun, die Welt bringt nicht nur grausame Tyrannen hervor, sondern ab und zu auch mal einen Friedensfürsten. Zwei Jünger des Paulus, Jason und Sosipatros, kamen auf diese Insel, um von einem solchen Friedensfürsten zu predigen. Resultat ein bißchen Christentum. Erst unter dem großen Konstantin konnte sich das Kreuzanbeten richtig durchsetzen. Schwerter von Königen überzeugen halt mehr als leere Worte von schmutzigen Landstreichern. Ja, Konstantins Hauptstadt, Byzanz, hat uns nicht nur die Byzantinistik und die auch heute noch nicht ausgerottete Seuche des Byzantinismus geschenkt, sondern auch den Christlichen Bazillus in der Welt verbreitet. Die meisten Opfer haben vergessen wie schmerzhaft ein solcher Krankheitsbefall ist, und leiden nur freudlos und schweigend an ihrem chronischen Leiden. Laut werden sie nur, wenn sich ihnen Antibiotika, die unvermeidlichen Stoffwechselprodukte von Bazillen, nähern. Doch die Antibiotika 517
haben keine Chancen, es gibt zu viele Krankheitsherde und Dauerausscheider. Aber auch wenn Krankheiten überleben, heißt es nicht, daß sie gesund sind. So zerstörte auch der Metropolit Jovianos im Schutze byzantinischer Macht alle heidnischen Tempel auf Kerkira und schlachtete die heidnische Priesterschaft ab. Ob er die Leichen als Schaustücke oder Hundefutter, oder ob er sie überhaupt verwendete, ist nicht überliefert, aber aus den Steinen des Artemis-Tempels und der antiken Agora baute er eine christliche Basilika. Den Eingang zierte eine fromme Inschrift. Nein, kein Gebot, das daran ermahnte, nicht zu töten oder zu stehlen, sondern ein Toast auf den Sieg der neuen Krankheit. Anderthalb Jahrhunderte später kamen die Goten mit ihren heidnischen Göttern und zerstörten den Ort samt Basilika und der `Sieg des Christentums' lag im Dreck. Da die Goten ihre Götter überall, besonders aber unter freiem Himmel verehrten, brauchten sie die Steine nicht, und da sie sich auch nicht die Mühe machten, die Reste der ruinierten Kirche in alle Winde zu zerstreuen, eine Plackerei auf die nur ein christlicher Pfarrer kommen könnte, sind die Ruinen dieser Kirche noch heute in Palaiopolis auf Kerkira zu besichtigen. Knappe sechs Jahrhunderte später, als es schon weit und breit keine Heiden mehr gab, jedoch auf der anderen Seite des Mittelmeeres die Mohammedaner, beherbergten die geschützten Gewässer vor Kerkira die Kreuzfahrerflotte. Die dann von dort direkt nach Byzanz fuhr. Das war aber keine späte Rache für den byzantinischen Bazillus, sondern einfach nur ein Bruderkrieg von Christen gegen Christen und ein gutes Geschäft für den Dogen von Venedig, dem Bräutigam des Meeres. Manche Christen sagen mir wie zur Entschuldigung, zur eigenen EntSchuldigung, daß Christen mehr Christen als Nicht-Christen im Laufe der Geschichte umgebracht hätten, so daß ein Nicht-Christ wie ich doch gefälligst den Mund halten solle, aber wie dem auch sei, zuerst einmal handelte es sich um Menschen, die mit mir das Menschsein 518
teilten. Aus ideologischen Gründen zu sterben, erscheint dumm, doch aus machtpolitischen Gründen ins Gras zu beißen, erscheint nur wenig sinnvoller, aber die Leute wollten's ja nicht anders, selbst so paradiesische Inseln wie die Ionischen lehren uns das. Die Herrscher wechselten, aber das Blut, das dabei floß, zeigte immer die gleiche frische Farbe Rot: Lateiner, Venezianer, die Herzöge von Anjou, wieder die Venezianer. Und da nicht nur die christlichen Kreuzritter es verstanden, auf Beutefahrt zu gehen, sondern auch die moslemischen Ottomanen sich dem Glaubenskampf, Blutvergießen und Landraub verschrieben hatten: Gallipoli, Adrianopel, sie fingen klein an, dann Thrakien und Makedonien, dann Thessalien, Attika, der Peloponnes, Konstantinopel, Serbien, Trapezunt, Bosnien, die Walachei, Siebenbürgen, Albanien, die Krimtataren, Anatolien, Armenien, Herzegowina, Bessarabien, die Moldau, Syrien, Ägypten, die heiligen Stätten des Islams, Rhodos, Ungarn, Algieren, Tripolis, Tunesien, Kreta, Podolien und die polnische Ukraine, Mesopotamien, Luristan, Aserbeidschan und so weiter, sie hatten fast alles, war es da ein Wunder, daß sie mehr haben wollten, die kleinen Inseln im Ionischen Meer, die manche Leute für das Paradies hielten? Sie klopften mal an mit ihren harten Waffen und übergroßen Kanonen, aber der deutsche Feldmarschall Johannes Matthias von der Schulenburg schlug sie zurück und rettete die Inseln für die Venezianer und das christliche Abendland. Die undankbare Bevölkerung jedoch schob den Sieg ihrem Heiligen Spyridon zu1 Als im Jahre 1797 in dem kleinen italienischen Dorf Campoformido ein Friedensvertrag zwischen Österreich und Frankreich abgeschlossen wurde, tat Venedig den ersten Schritt von einer Weltmacht zur Touristenattraktion. In dem Vertrag verzichtete Österreich auf die österreichischen Niederlande, Milano, Modena und Mantua und trat die linksrheinischen Besitzungen von Basel bis Andernach an Frankreich ab, dafür bekam es Venetien links der Etsch, Istrein und
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Dalmatien, Frankreich aber erhielt Kerkira. Doch nur knappe drei Jahre konnte es sich am Besitz der Insel erfreuen. Dann zur Jahrhundertwende eroberten Türken und Russen die Insel. Kein General von der Schulenburg half den Korfioten diesmal. Der wundertätige Aghios Spyridon, dessen Leiche man einst den Konstantinoplern weggenommen hatte, lag in seinem silbrigen Schrein, und es war ein Wunder, daß er sich nicht rührte. Eigentlich war es kein Wunder, wo er doch tot war. Viermal im Jahr tragen die Gläubigen ihren Heiligen durch die Straßen ihrer Stadt, zum Palmsonntag, zum Ostersamstag, zum Geburtstag des Autors dieses Buches, dem elften August, sowie am ersten Sonntag des Novembers. Vor vielen Jahrhunderten1 soll er bei so einer Prozession die Stadt vor der Pest gerettet haben. Wenn das wahr ist, kann man daraus schließen, daß er solche Ausflüge gern hat. Vielleicht rührte der Heilige sich nicht, da er wußte, daß der Sieg der Russen und Türken gar nicht schlimm sein würde. Denn unter russischer Schutzherrschaft durch Vertrag mit dem zum kranken Mann am Bosporus verkommenen Ottomanischen Reich entstand der erste neugriechische, freie Staat, die Republik der Sieben vereinigten Inseln. Aber die Freiheit währte nicht lange. Kleine Inseln im aufgewühlten Weltgeschehen gehen leicht unter. Hatte der zweite Koalitionskrieg die Freiheit gebracht, nur sechs Jahre später war man schon beim vierten Koalitionskrieg, und diesmal erlitt die preußisch-russische Koalition eine Niederlage bei Jena und Auerstedt, und im Frieden von Tilsit im schönen Memelland erzwang Napoleon nicht nur die Verkleinerung Preußens, sondern auch die Ionischen Inseln für sich. Als kurze Zeit später Napoleon sein Waterloo erlebte, wurden die Inseln wieder geschubst, diesmal in die Hände der Engländer. Diese äußerten sich zwar sehr unangenehm über den Knoblauchgestank der Korfioten und über deren ungepflegtes Äußere, doch ihre
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Landesmutter Viktoria erlaubte den Inseln erst 1864 den Anschluß an das schon seit 37 Jahren von vierhundertjähriger türkischer Knechtschaft befreite Griechenland. Vorher ließ sie noch die venezianischen Befestigungsanlagen sprengen, denn sie wären ein großes Hindernis gewesen, wenn die Königin ihre Entscheidung hätte rückgängig machen wollen. Der erste Präsident des freien Griechenlands war ein Sohn der Insel Kerkira, der als junger Mann die freie Luft der Republik geatmet hatte, Graf Kapodistrias. Seinen Regierungssitz etablierte er auf einem Stück Staub im Auge Piräus, wie Perikles die Insel Agina genannt hatte, doch der Regierungssitz wanderte schon nach drei Jahren nach Nauplia. Dort wurden des Grafen Hoffnungen zu Staub. Auch ein Grieche konnte es nicht allen Griechen rechtmachen. War nicht schon in der Antike ein jeder gegen jeden? Man ermordete ihn, und er mußte seiner geliebten griechischen Heimaterde zurückgeben, was er ihr einst genommen hatte, die Elemente seines Körpers. Staub zu Staub, Asche zu Asche. Mehr sind wir auch zu Lebzeiten nicht. Staub, der sprechen kann, der dumme Gedanken denken kann, der eine Waffe in die Hand nehmen kann und dafür kämpfen kann oder auch nicht, was ein kampfloses Ergeben und Verbluten ist. Blutfließen stoppte nicht mit der Unabhängigkeit. Im Gegenteil jetzt konnte man als unabhängiger Staat im Kampf der Staaten mitmischen, es galt noch oft gegen den Feind der Christenheit und der Zivilisation, die Türkei, zu kämpfen. Zwischendurch gab es die Weltkriege. Griechenland half beide Male den Alliierten. Das heißt, im zweiten Weltkrieg halfen die, die mit dem Feind kollaborierten, den Deutschen beim Opfersuchen für die feurigen Monster Birkenau, Treblinka, Sobibor, Maidanek, Chelmno und Belzec. In dieser Zeit litt unsere kleine Insel Kerkira auch wieder. Da die Menschen fliegen gelernt hatten, kam die Zerstörung aus blauem Himmel. Schwere Bombenschäden. Der heilige Spyridon schützte nur seine eigene Kirche. 521
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs fanden die Griechen noch einen Grund, das Blutvergießen noch ein paar Jahre hinauszuziehen: Bürgerkrieg. Die Meinungsverschiedenheiten sind groß, KommunistenAntikommunisten, das ist wie Christ-Antichrist, die Meinung, daß Frieden herrschen sollte, setzte sich nicht durch. Was für einen weiten Weg war man doch gekommen seit Troja! Man kämpfte nicht mehr um schöne Frauen, sondern um Ideen. Gab es wirklich Fortschritt? so sann Adjuna, als sich das Schicksal der kleine Insel seiner Sinne bemächtigt hatte. Er hatte kein Messer, um sich das Organ, das ihn für alle diese Reize aus der Vergangenheit empfänglich machte, herauszuschneiden. Er stand bewußt auf alldem, auf dem die anderen unbewußt standen. Seine Augen waren immer rot von ungeweinten Tränen. Andere Urlauber zogen fröhlich durch die Olivenhaine und Zypressen und freuten sich, wenn sie Überreste aus vergangenen Zeiten fanden, Adjuna aber klagte an den Ruinen, denn sie waren ein übermächtiges Symbol. Gab es wirklich Fortschritt oder nur Illusionen? Adjuna und seine Freunde hatten den südlichsten Punkt der Insel erreicht, das Kap Asprokaros. Zwischen diesem Kap und dem griechischen Festland hatte die Menschheit ihre erste Seeschlacht ausgefochten. Wann wird sie ihre letzte Schlacht schlagen? Die Antwort weiß man schon jetzt: Wenn sie in ihren letzten Zügen liegt. Vor diesem Felsen hörte der ägyptische Steuermann Tammuz eine Stimme, die rief: “Der Große Pan ist tot!” Es war zur Zeit, da Tiberius Kaiser von Rom war, Pontius Pilatus Landpfleger in Judäa und Herodes Vierfürst in Galiläa, das die falschen Götter starben, und andere falschere Götter an die Macht kamen, die es auch nicht richtig machten. Götter sind zu ungeschickt im Umgang mit Menschen. Die Menschen sollten es endlich selbst machen, jeder einzelne für sich sein eigenes Schicksal in die Hand nehmen. Hört ihr nicht die Stimme, die da ruft: Alle Götter sind tot! 522
Tot, das heißt im Jenseits. In dieser Welt erreichen sie nichts mehr.
Es war spät geworden und die Freunde legten sich hier ins Gras, um die Nacht zu verbringen, noch lange lauschten sie der Stimme. Doch nachts träumten sie von Seejungfrauen, denn hier war die Burg der Nereiden, der anmutigen Töchter des Alten Mannes vom Meer und hilfreichen Begleiterinnen des Poseidon. Schlafwandlerisch sprangen unsere Freunde ins Meer und vergnügten sich mit den Halbweltwesen. Und als sie fertig waren, krochen sie wieder ans Land, stiegen den Hügel halb hoch und warfen sich wieder ins Gras. Da seufzte Adjuna: Steige nicht zu hoch hinauf, und selig sind die, die lieben. Für seine Anhänger aber sollte dieser Hügelseufzer für immer die Bergpredigt verdrängen, die ja doch nur etwas für Geistigschwache war, nämlich Schmeichelei. Wir aber wissen, daß Adjuna meinte, was er sagte, und vor allen Dingen auch wußte. Zu viel Ehrgeiz macht nicht glücklich, und nur in der Liebe, und dazu gehörte für ihn auch ganz bewußt die geschlechtliche Vereinigung, fand er Seligkeit. Sicher, wer das Geschlechtliche als schmutzig empfand und sich mit Folterphantasien bestrafte, dem mochte die Seligkeit ja abhanden kommen, aber das war nicht die Schuld der Sexualität. Es hatte keinen Fortschritt gegeben. Der Tod der alten Götter hatte nichts verbessert. Poseidon mit seinen fünfzig Nereiden war durch einen keuschen Opa, den Klosterabt von Myra, den Nikolaus, einen christlichen Schutzheiligen der Seefahrer, Händler und Bäcker, einen Knecht Ruprecht und Kinderschreck, ersetzt worden. Und wenn früher Aphrodite oder die Venus auch noch die Seefahrer schützte, so beteten die Seefahrer jetzt zu einem weiblichen Unding, zu Maria. Das war kein Fortschritt. Fortschritt hatte es nur in der Waffentechnik gegeben. Geschosse waren jetzt größer, schneller und machten mehr kaputt. 523
Wenn man auch viele Tricks der Alten verlernt hatte, das Zerstörungspotential war ohne weiteres gestiegen. Bei einer solchen Entwicklung war das Ende wirklich schon in Sicht, das Ende aller Vorund Rückschritte. Zweifellos das Beste, was uns passieren konnte. Die Gewässer hier um diese Inseln sind tückisch, ein Mikrokosmos, in dem nicht nur das Plankton von größeren Fischen gefressen wird, sondern eine kleine Welt, die die große widerspiegelt, täuschend ähnlich oder auch nicht, das ist das Tückische: Im Süden der Insel Lefkas auf dem leukadischen Frauenfelsen stand einst die griechische Lyrikerin Psappho. Ihr Geliebter Phaon hatte sie verlassen. Wer große Gefühle ausdrückt, hat zu viele davon und ist immer in Gefahr von ihnen in die Tiefe gezogen zu werden. So auch Psappho, sie liebte zu sehr und suchte Heilung. Manche Krankheit heilt nur der Tod. Sie stürzte vom weißen Felsen. Später wurde der Sturz vom Felsen institutionalisiert - von Priestern natürlich. Man stürzte Verbrecher hinunter. Eine Art Gottesurteil. Schuldig, wenn sie starben. Ein Freispruch, wenn sie überlebten. Damit es dem Gott leichter kam, die unschuldigen zu retten, band man viele kräftige Vögel an den Verurteilten. Die Priester stürzten in einem seltsamen Ritual sich auch selbst hinunter und überlebten dabei regelmäßig, ja, erhielten sogar vom Gott der Heilkunde zusätzliche Kräfte. Außerdem gab es natürlich bis in die neuste Zeit hinein, auch immer noch die, die wie Psappho sprangen, um zu sterben und Erlösung zu finden von Liebeskummer. Vor dem Strand von Actium würfelten einst Antonius und Oktavian mit ihren Flotten um die Weltherrschaft. Auch hier war außer Ehrgeiz Liebe und eine Geliebte im Spiel. Antonius zog den kürzeren und floh mit seiner Geliebten, Kleopatra, ins ferne Alexandrien. Aber der Großneffe Caesars landete schon im nächsten Jahr vor der Stadt. Marcus Antonius' Lage war aussichtslos. Angesichts des viel stärkeren Feindes liefen ihm die Soldaten weg. Als er sich selbst hinter der 524
Stadtmauer in Sicherheit bringen wollte, hörte er, daß seine Geliebte Selbstmord begangen hätte, und er stürzte in sein Schwert, um bei ihr zu sein. Kleopatra aber lebte noch. Erst als sie merkte, daß sie Gajus Octavianus, den neuen Herrscher Roms, nicht mit ihren weiblichen Reizen bezirzen konnte und er sie wirklich im Triumphzug durch Roms Straßen peitschen wollte, entzog sie sich der Demütigung durch den Biß einer Giftnatter und erlebte so einen letzten Triumph, denn nach ägyptischem Glauben genoß der von der Natter Gebissene Unsterblichkeit. Man sollte auch erzählen, was sich ein bißchen südlicher von Actium an der Steilküste von Zalongo allerdings wesentlich später, nämlich schon in der Neuzeit, ereignete. Um Umgebung und Zeit zu erklären, schnell ein paar Stichwörter: Die Erdscheibe war zur Kugel geworden, Amerika entdeckt, Emanzipation des Bürgertums, Humanismus, Klassizismus, Staatsräson, industrielle Revolution, Dampfmaschinen, Aufklärung, Säkularisierung, Klassenkampf. Das wesentlichste Merkmal der Neuzeit aber war die Zweckrationalität. Rationalismus, Aufklärung und Klassizismus brachten als Reaktion und Gegengift die Romantik hervor. Nationalismus war damals noch ein romantischer Begriff. Kleine Völker wurden von großen Völkern und noch größeren Herrschern unterdrückt, und der Traum vom freien Volk war ein oft geträumter Traum, der auch hier in Epirus wie in anderen Teilen Griechenlands geträumt wurde, und wie wir schon sahen, zu den Befreiungskriegen führte. Doch Befreiungskriege erregen den Zorn der Unterdrücker. Sie schwärmen übers Land: Strafexpeditionen. Die Freiheitskämpfer lehrten dem Volk ein Lied:
Fische können ohn' Wasser nicht sein,
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Blumen können nicht blühen auf Stein, und wir ohne Freiheit nicht gedeihen, der Tod ist besser als Sklavendasein.
Und während die Freiheitskämpfer in den Bergen kämpften, überfielen die Heere der Unterdrücker die Dörfer, um zu zeigen, daß sie noch Herr der Dinge waren. Und zweifellos hätten sie ihr Ding manch einer Dörflerin reingezwungen. Aber die hatten nun das Lied und sie flohen mit ihren Kindern bis an die Klippen und stürzten hinunter. So starben die Frauen und Kinder aus der Gebirgschaft Suli an den Klippen von Zalongo. Die Zeit vergeht, vergeht gnadenlos, das wissen wir. Und die, die sich damals geopfert haben, wären heute auch so tot. Alles, was neu ist, wird alt und vergeht. Doch was wird aus der Neuzeit? Ihr kann doch keine alte Zeit folgen, denn die war ja schon zur Zeit der Urväter. Nun, ihr schließt sich vor dem Ende nur noch die Neuste Zeit an, es sei denn, man dehnt das Ende noch mit Hilfe einer Superneusten Zeit ein wenig aus. Dann aber täten wir uns, wie die Frauen es in diesen Gewässern getan haben. Und es kommt eine Zeit, in der wir sowieso tot wären. Wir stehen auf der Vergangenheit aller, und wir ertrinken auch in ihr. Alles ist nur eine Frage der Zeit. Noch stehen wir, und schon vergehen wir, und dann steht die Gegenwart ohne uns.
Vom Kap Asprokaros gingen unsere Freunde am nächsten Tag wieder zurück und zwar den gleichen Weg. Sie versuchten die Dinge mit anderen Augen zu sehen, sowieso was rechts war, war jetzt links, und 526
die Mäuseinsel, die jetzt vorne rechts war, sah gar nicht wie ein versteinertes Schiff aus. Wer protestiert da und behauptet, alles sei im Laufe der Zeit verwittert, Sand und Schlamm hätten ein Übriges getan? Bah, wer etwas glauben will, findet immer eine Ausrede. Die Felseninsel war etwas Positives, ein Sieg des Lebens über den Stein, erst Moos und Flechten, dann Kräuter und Blumen und schließlich sogar Bäume, tote Felsen waren lebendig geworden, lebendiger waren sie nie. Unsere Freunde versuchten nicht nur alles mit anderen Augen zu sehen, sondern sie rochen auch mit anderen Nasen als einst die Engländer und genossen den Duft von Pinien, Orangen- und Zitronenbäumen, von Stechpalmen, Myrte, Lorbeer und so vielen anderen Kräutern, deren Namen sie alle nicht kannten. Da die Zeit keine antik-griechischen Bauwerke auf Korfu hatte stehen lassen, gingen unsere Freunde in den pseudo-griechischen Palast der Kaiserin Elisabeth von Österreich, in das Achilleion. Sissi, wie die Kaiserin liebevoll von den Österreichern genannt worden war, hatte sich hierher zurückgezogen, nachdem ihr einziger Sohn, der Kronprinz Rudolph, in Mayerling Selbstmord gemacht hatte, wodurch Franz Ferdinand von Habsburg-Este Kronprinz wurde, und da sehen wir auch schon die schwarze Hand, die in Sarajevo auf ihn anlegt und abdrückt, Schüsse, die den ersten Weltkrieg einleiten, dem unvermeidlich ein zweiter folgt, Schüsse, die ihr Ziel nicht verfehlten, die Unabhängigkeit Serbiens von Österreich-Ungarn. Die Kaiserin Sissi aber hörte diese Schüsse nicht mehr, sie war schon 16 Jahre vorher vom Italiener Luigi Luccheni ermordet worden. In ihrem Schloß Achilleion aber hatte sie zu Lebzeiten neben den Statuen ihres Sohnes Rudolph und ihres Lieblingsdichters Heinrich Heine eine Statue von ihrem Lieblingshelden Achill anfertigen lassen: Den sterbenden Achill, wie er am Pfeil zieht, der seine Ferse getroffen hatte, dort, wo seine Mutter, die Nereide Thetis, ihn hatte festhalten müssen, als sie ihn in das Wasser des Styx tauchte, um ihn unverwundbar zu machen. Wie die Nereide Thetis hatte die Kaiserin alles für ihren Sohn tun wollen, und doch war er ihr gestorben, hatte 527
nicht das Leben, sondern den Freitod gewählt, und wie Thetis dachte, hätte ich ihn doch woanders festgehalten, so dachte Rudolph's Mutter, ich hätte vieles anders machen sollen. Doch der Konjunktiv ändert keinen Indikativ. Später erwarb dann der deutsche Kaiser Wilhelm II. das Schloß. Wie alle großen Kriegsherren haßte er Niederlagen. Deshalb ließ er eine große Bronzestatue des siegreichen Achills aufstellen, aus dem gleichen Grunde mußten die Zeitungen seine Soldaten in Sieger- und Heldenpose zeigen und nicht als zerrissene und entstellte Leichen. Doch auch das änderte nichts an den Tatsachen. Tatsache nämlich war, daß sie kurz nach ihrem Fototermin zerschossen oder vergast in den Gräben verendeten, oder falls sie nur verkrüppelt wurden, den Rest ihres Lebens - für die meisten ein langer Rest, da sie junge Leute waren -, mit einer unzureichenden Invalidenrente durchs Leben humpelten. Sie konnten sich etwas hinzubetteln. Das hieß aber Schläge von der Polizei riskieren. Der Kaiser überlebte die Niederlage des Krieges besser. Er wurde zwar arbeitslos, aber das bedeutet bei Kaisern nicht gleich Brotlosigkeit. Es mangelte ihm an nichts. Wilhelm der Letzte hätte den Rest seiner Tage friedlich im Exil auf Schloß Doorn verbringen können, doch mit der Zwanghaftigkeit eines Sisyphus trieb es ihn zum Holzhacken, und mit der gleichen Bessenheit, mit der er vorher Fehlentscheidungen gefällt hatte, fällte er nun Bäume. Durch den Rücktritt des Kaisers aber war das Volk endlich frei und konnte seine eigenen Fehlentscheidungen treffen. Es stellte sich heraus, daß sie noch schrecklichere Folgen haben sollten. Jetzt bewunderten unsere Freunde die Statue des siegreichen Achills. Kaiser Wilhelm hatte eine Inschrift anbringen lassen: Dem Größten der Hellenen, der Größte der Deutschen. Neben unseren Freunden stand ein Waffensegner und Letzte-WorteSprecher, der ein Beffchen umgebunden hatte. Dieses durchaus magere Männchen erklärte empört seinen Schülern: “Was für ein Narr, dieser 528
Kaiser! Der dachte, wenn jemand dicke Muskeln hat und kräftig zuschlägt, dann besitze er Größe. Der Kaiser wußte von nichts. Wie Gott über der Welt steht und die Idee über dem Ding, so steht auch der Geist über dem Körper. Muskeln sind nur ein Hindernis für den Geist. Sie machen eitel, dumm und gewalttätig und am Ende, wenn man seinen Körper zurückläßt und ganz Geist ist, steht man mit leeren Händen da. Nein, man muß den Geist über den Körper stellen.” Adjuna sah betroffen seine Muskeln an. Es war der Körper mit seinen Organen, der dem Geist die Möglichkeit zur Wahrnehmung gab. “Nicht Achill war der größte Grieche”, fuhr der Pfarrer fort, “sondern Aristoteles.” Und ehe er noch weitersprechen konnte, sagte Adjuna: “Aha, da liegt der Hund begraben!” Die Augen der Schüler richteten sich auf Adjuna. Sie zollten ihm die Verachtung, die jemand verdiente, der noch mehr Muskeln als Achilleus hatte. Aber Adjuna sprach ungerührt weiter: “Tatsächlich war Aristoteles ein großer Geist, allerdings ohne den Körper zu verachten. Und sicher wäre dieser Denker sehr erstaunt gewesen, wenn er gesehen hätte, wie seine Gedanken zur Zwangsjacke für jegliches Denken wurden. Wißt ihr, daß er in Athen der Gottlosigkeit angeklagt wurde und in seine Heimat Euböa floh? Leute, die zu ihrer Zeit wegen ihrer Gedanken verfolgt werden, dazu gehören auch Sokrates, dem Pietätlosigkeit vorgeworfen wurde, und die Gotteslästerung eines Jesus von Nazareth, sind Non-Konformisten, die ihrer Gesellschaft gegenüber kritisch eingestellt sind, und wären auch zu jeder anderen Zeit Kritiker gesellschaftlicher Mißstände und Irrtümer. Wenn Leute wie Albertus Magnus und sein Schüler Thomas von Aquin Aristoteles so bearbeiten, daß er sich in die kirchliche Lehre der christlichen Offenbarung einfügen läßt, und dabei doch nur vorherrschendes katholisches Wissen durchkauen und systematisieren, dann gehen sie nicht in den Fußstapfen dieses großen Lehrers, denn hätten sie seine Fähigkeit philosophischer Spekulation besessen, wären sie wie Giordano Bruno auf dem Scheiterhaufen geendet, denn zu einer anderen Zeit hätte auch ein Aristoteles anders gedacht, und durch Galileis Fernrohr hätte er allemal geguckt, und wenn ihr euch große 529
Lehrer zum Vorbild nehmen wollt, dann verehrt ihr eure Lehrer nicht, sondern stellt sie in Frage.” “Warum soll man nicht, was gut war an Aristoteles Lehre, übernehmen?” protestierte der Pfarrer. “Warum soll man es nicht verbessern? Oder eine bessere Erkenntnis finden? Aristoteles schrieb zu vielen Themen, über Zoologie, Pflanzenkunde, Anatomie, Physiologie, Embryologie, Geographie, Geologie, Astronomie, Meteorologie, Physik, Metaphysik, Rhetorik, Ethik, Ästhetik, Politik, Ökonomie, Pädagogik, Dichtkunst, Soziologie, Verfassungsrecht, er schrieb über Athen und über die Sitten der Barbaren, insgesamt schrieb er über 170 Bücher. Auch wenn man bedenkt, daß er Gehilfen hatte, die Daten für ihn sammelten, eine großartige Leistung. Wohl nie wieder in der Geschichte der Menschheit hatte ein Mensch ein so umfangreiches Wissen, weder Goethe noch Hegel, und euer Religionsstifter mit seinen Flüchen und paar guten Ratschlägen nimmt sich daneben schon ganz wie ein Waisenknabe aus, als der er ja dann auch starb, nämlich verlassen von Gott, seinem Vater.” Zwischenruf aus der Menge: “Er hat Gott gelästert!” wobei nicht klar war, ob nun Jesus oder Adjuna gemeint war. Der Pfarrer führte gerade seine Schüler durch die Menschenmenge, die sich angesammelt hatte. Es war eine Touristengruppe aus Galiläa angekommen, und sie drängten Adjuna weiterzusprechen. “Aristoteles hatte, wie ich gerade ausführte, ein sehr umfangreiches Wissen. Wenn es nun nach den Dogmatikern gegangen wäre, wäre dieses Wissen eingefroren worden. Zum Glück ging es nicht nach den Dogmatikern, sondern Fachwissenschaftler haben auf den verschiedenen Gebieten weitergeforscht und im Allgemeinen den Wissensstand Aristoteles hinter sich gelassen. Das große Verdienst von Aristoteles ist, daß er mit der Vorstellung, daß das Universum dem blinden Zufall unterworfen ist oder der Zauberei und den Launen irgendwelcher Gottheiten, aufgeräumt hat, und dem Menschen für die Analyse seiner Umwelt sein System der formalen Logik, die Syllogistik, 530
die Lehre vom logischen Schließen, hinterlassen hat. Daß Aristoteles aus der kleineren Gestalt der Frauen logischerweise schloß, daß Frauen weniger Zähne als Männer haben, oder daraus, daß sich alles bewegt, daß am Anfang ein unbewegter Beweger, ein Gott, stehen mußt, zeigt nur, daß auch dieser große Denker nicht vor Irrtümern gefeit war. Aristoteles lehrte auch, daß das Geschlecht eines Kindes von der vorherrschenden Windrichtung bei der Zeugung abhängt, daß innerirdische Winde Erdbeben erzeugen, daß im Vakuum keine Bewegung möglich ist, da da ein unbewegter Beweger nicht ankommen kann, außerdem behauptete er, daß schwere Objekte schneller fallen als leichte, was ja Galilei durch seine Experimente widerlegte, und erfüllte den Wunsch aller und ließ das Universum um uns kreisen. Wer möchte nicht, daß sich alles um ihn dreht! Aristoteles glaubte auch, daß das Herz zum Denken da sei, und daß das Gehirn das Blut kühle, wo doch in Wirklichkeit das Gehirn dazu beiträgt, daß wir uns erhitzen. Tja, wir haben alle unser Fachwissen und unser Unwissen, selbst Aristoteles war da keine Ausnahme. Ausnahmen gibt es nicht, und deshalb sollten wir Menschen auch nie einem Menschen uneingeschränkt Glauben schenken. So etwas wäre nämlich Dummheit. Ein anderer Irrtum Aristoteles war übrigens, den Menschen als ein gemeinschaftsbildendes Lebewesen, das sein Wollen und Denken für die Gemeinschaft und ihre gemeinsamen Ziel einsetzt, hochzuschätzen, dabei ist es doch gerade das größte Problem der Menschen, daß sie eine Hundementalität haben. Aristoteles hielt auch die Sklaverei für ein natürliches Recht. In Wirklichkeit ist Sklaverei natürlich nur ein natürliches Unrecht. Aber denkt nicht schlecht von Aristoteles. Wer immer eine Meinung hat, begibt sich in Gefahr, und wer behauptet, er wisse etwas, macht sich lächerlich. Wissen ist immer etwas Ungewisses. Nur eins ist gewiß: Dummheit. Dummheit ist überall, aber am meisten da, wo Religiosität und Frömmigkeit herrscht. Freilich, die Frommen geben zu, daß sie nichts wissen, sondern nur glauben. Und es ist dumm genug, den Ablauf seines Lebens von einer so fragwürdigen Sache bestimmen zu lassen, und dumm, wenn die, die es nicht tun, das Opfer eines dummen Menschen bewundern, es ist dumm, sich zum Sklaven der Dummheit zu machen, sei es als Staatsbürger, Stimmvieh, Rindvieh, Hornvieh oder Kanonenfutter. Wenn ihr Intelligenz sucht, sucht sie nicht bei anderen, sucht sie bei 531
euch selbst, sonst drängt ihr euch zu dicht an den vermeintlich Intelligenten, und Aristoteles hat recht mit seiner Behauptung von der Natürlichkeit der Sklaverei, weil ihr euch freiwillig dem bewunderten Schlaumeier unterwerft und zum Wiederkäuer, Handlanger, Speichellecker, zum Sklaven verkommt. Dummheit ist überall und auch ihr seid nicht frei davon und oft ist es gerade das Dümmste, das am längsten überlebt, ein Jude, der zur Ursache für Judenmorde wird, ein Paulus, der Jesus nie kannte, aber seine Lehre besser kennt als Petrus, ja, sogar besser als Christus selbst, Jesus heilte Frauen, die Kirche verbrennt sie, die Frauenverbrenner und - etwas aktueller Feinde der Syphilisbehandlung wollen ungeborenes Leben schützen und begehen so neue Frauenmorde, aber nennen sich selbst im Schutz der allgemeinen Dummheit Experten der Menschlichkeit, es gab Gegner der Todesstrafe, die nicht genug aufs Schafott schicken konnten, Kriege zur Befreiung der Sklaven, die keine Sklaven befreiten, Freiheitskriege, die keine Freiheit brachten, proletarische Revolutionen, die das Proletariat nur noch mehr versklavten, Lügen von Freiheiten und Rechten aus dem Mund von Leuten, die das Gegenteil wollten und verwirklichten, und alles nur, weil die Dummheit es ermöglichte, daß die Widersprüche nicht gesehen, verstanden und aufgedeckt wurden, und auch heutzutage gibt es noch zuviel Herdenvieh, daß sich frei nennt, aber nicht einen einzigen Gedanken selbst denken kann.” Jemand flüsterte: “Der hält sich für schlau.” “Ich habe mich über die menschliche Dummheit lustig gemacht. Jetzt möchte ich noch für die, die zu dumm sind, zu sehen, daß ich nicht zu dumm bin, mir meiner eigenen Dummheit bewußt zu sein, versichern, daß ich nicht zu dumm bin, meine eigene Dummheit nicht zu sehen. Ja, auch ich bin dumm. Wir haben also eine gemeinsame Aufgabe, nämlich die Dummheit zu überwinden.” So sprach Adjuna nicht nur zu den Anwesenden, sondern auch zu einer eventuellen Nachwelt, denn wenn man den Mund aufmacht, kann man nie sicher sein, ob nicht die Nachwelt einen aufs hohe Podest stellt, oder gar aufs Höchste. Ein paar gute Ratschläge, ein bißchen 532
Verdammnis und schon ist es passiert. Adjuna fürchtete sich davor. Er wollte nicht aus großer Menschenferne heraus verfluchen und segnen, denn er wußte um die Gefahr von Religionen. Er war Mensch geworden, ganz Mensch, mit all seinen Dummheiten und Mängeln. Und als Mensch hatte er nur eine Möglichkeit, seine Mängel zu überwinden, da half kein Beten, Knierutschen oder Glaube, da gab es nur eins, Arbeiten, Sich-Anstrengen-und-Mühe-Geben, Lernen, Denken, Kopfgebrauchen. Die Hoffnung, daß einem ein Gott seine braune Masse unter die Schädeldecke drückt und man dann omnipotent und omniscient wird, besteht nicht. Es ist Traum-StoppZeit.”
Nimm den Leuten ihre Träume und sie töten dich! “Kreuzigt ihn!” Hat man je daran gedacht, daß Jesu Schlottern und Nicht-die-ZähneAuseinanderkriegen vor den Hohenpriestern und Schriftgelehrten so ernüchternd wirkte, daß die Leute ihren Traum zerstört sahen und böse wurden? Damals hatte Jesus den Traum selbst den Leuten in den Kopf gesetzt. Adjunas Publikum hatte den Traum schon im Kopf, genau genommen viele Träume, nicht nur von der eigenen Intelligenz und Besserwisserei, vom rationalen Ablauf der Welt, dem Sieg der Vernunft und Gerechtigkeit, Fortschritt und Demokratie, sondern auch immer noch oder mal wieder den alten Traum, den Jesus phantasiert hatte. Die Touristen, die eigentlich hierher gekommen waren, um etwas Erbauliches zu hören, fühlten sich sehr pikiert, denn wenn sie ihn richtig verstanden hatten, hatte er ihnen doch Dummheit und Träumereien vorgeworfen. Daß er selbst dumm war und träumte, mochte ja stimmen, aber sie doch nicht, sie hatte ihre Augen offen, und was wahr war, hatte man ihnen schon zur kleinsten Kindheit beigebracht. Tatsächlich, sie ähnelten jenen Zeitgenossen Darwins, die, als sie dessen Lehre von der Abstammung der Menschen vernahmen, sich am darwinschen Ohrhöcker kratzten, einen kleinen Moment überlegten, um dann aber um so bestimmter zu sagen, daß Darwin ja von den 533
Affen abstammen mochte, sie aber nicht. Bei einigen freilich hatte die Behauptung von der Affenverwandtschaft der Menschen sofort primatische Primitivität freigesetzt, so daß Darwin damit rechnen mußte, gebissen zu werden. Beim Primitiven ist die Primitivität nicht so schlimm. Schlimm wird sie erst beim Modernen Menschen, weil sie unseren Abgang zu einem allzu schmerzhaften Schritt und blutigen Gemetzel macht und nicht zu Psapphos erlösenden Sprung, der alle Krankheiten heilt. Die Zuhörer waren zwar sehr ärgerlich geworden und hatten seiner Traum-Stopp-Zeit eine Rede-Stopp-Zeit entgegengestellt und ein Hörauf-zu-Quatschen, aber es fehlte ihnen ein Primarius als Aufhetzer und sie forderten deshalb nicht seinen Tod. Es war auch gar kein römischer Statthalter da, der leichtfertig dem Pöbel seine Mordwünsche hätte erfüllen können. Übrigens auch Pontius Pilatus starb - einen Freitod, nicht, weil er Jesus auf dem Gewissen hatte, nein, den hatte er schon fünf Minuten später wieder vergessen, wenn der überhaupt je existiert hatte, sondern weil ihm die grausamen Hinrichtungen nicht mehr so recht Spaß machten und er fühlte, daß er alt geworden war und sowieso nicht mehr viel zu erwarten hatte. Ja, die Römer wußten, was das Leben wert war, wenn die Leiden die Freuden überwogen. Nämlich nichts. Adjuna und seine Freunde waren froh, als sie die böse gewordene Menschenmenge hinter sich gelassen hatten. Als sie ein paar Tage später endlich einen Platz auf dem Fährschiff hatten, waren sie immer noch froh, diesmal, weil es endlich nach Hause ging. Das heißt, Adjuna und Luz war es als alten Herumtreibern eigentlich ziemlich egal, wo sie waren. Sie empfanden nur wenig für die Elbmetropole. Adjuna, der das Extreme liebte, bemängelte plötzlich, als es nach Hause gehen sollte, daß es in Hamburg weder zu heiß noch zu kalt sei, sondern nur überall mittelmäßig. “Die Stadt ist nicht hyperboräisch, kein Eiswind weht durch die Köpfe der Hamburger und räumt mit Überkommenem auf, sondern nur eisige Grimassen mißtrauen allem Fremden.” “Ja, wenn man in der Kneipe jemanden 534
anspricht, weil es allein doch zu langweilig ist, dann kriegt man zur Antwort nur ein unfreundliches Kennen-wir-uns?, und wenn man einem Kollegen die Duz-Freundschaft anbietet, erregt der sich und fragt zurück: Haben wir zusammen Schweine gehütet?” Während Adjuna noch von Luz unterstützt seine Wahlheimat verfluchte, nach Rom und der mystischen Stadt am Meer, in der er mal Konsul war, die dritte Stadt, die ihm in diesem Leben ein Zuhause gegeben hatte, fingen die drei Hamburger mit den exotischen Namen an zu singen, von Hamborger Aalsuppe, vom Hamborger Veermaster und vom Hamborger Jung und d' Pinneberger Deern, dann besangen sie noch den Michel von Hamburg und die Reeperbahn bei Nacht. Alles Lieder, die sie in Hamburg nie gesungen hätten. Als sie dann auch noch den Schweinetango anstimmten “Da wackelt so manches Kilo Fett” und den Wattenmarsch, ein Eingeborenen-Gestammel, bei dem “die Füße immer pitschi-patsch” machten, fingen Adjuna und Luz an, sich um die geistige Gesundheit ihrer heimwehkranken Freunde zu sorgen. Wie konnte sich nur jemand, der sich Orpheus nannte, für so etwas Niedriges hergeben! Luz und Adjuna standen an der Reling und schüttelten die Köpfe. Sie schämten sich, daß ihre Freunde so laut waren. Statt verlegen daneben zu stehen, gingen die Beiden lieber die Promenade entlang und den Niedergang runter ein Deck tiefer. Bloß nicht dazu gehören! Das Fährschiff legte endlich von der Kaimauer ab und die drei Hamburger sangen zur Freude der anderen Fahrgäste endlich mal was Schöneres, nämlich das Seemannslied “Zwei weiße Möwen”. Da kam eine Taube angeflogen und setzte sich vor Adjuna auf den Handlauf des Schanzkleides. Sie trug ein Lorbeerblatt im Schnabel und reichte es Adjuna. “Na, was hat das denn zu bedeuten?” Adjuna nahm das Blatt und sah, daß etwas darauf geschrieben stand, und zwar:
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Dein Same wird zum Gift, was er auch trifft, doch willst du beenden die großen Plagen zu der Welten letzten Tagen, wirst du versagen. Adjuna erriet den Absender sofort. Die Taube war Artemis heiliger Vogel, selbst in der Neuzeit sah man in ihr noch etwas Heiliges, ein Gott-Geist-Emblem, und auch der Lorbeer war der Artemis heilig, sie schrieb schon in der Antike ihre Orakelsprüche darauf. Luz, der alles mit gelesen hatte, meinte: “Was für ein schrecklicher Flucht! Hast du keine Angst?” “Bah, die Göttin hat das falsche Papier gewählt. Weißt du nicht, daß der Lorbeer der heilige Baum der Dichter und Propheten ist? Ich aber sage dir...” Und Adjuna nahm einen Füllfederhalter aus seiner Westentasche und schrieb auf die Rückseite des Lorbeerblattes, während er sprach, “dichten und prophezeien, wo ist da der Unterschied? prophezeien und lügen, wo ist da der Unterschied? lügen und dichten, wo ist da der Unterschied?” Er schrieb das natürlich nicht alles aus, sondern zweimal bloß “dito”. Dann gab er das Lorbeerblatt der Taube zurück und scheuchte sie weg. Nachdem er so alle Dichter, Lügner und Propheten nicht nur in einen Topf geworfen hatte, sondern wie er meinte, auch in die Pfanne gehauen, fühlte er sich wohler. Auf dem Schiff hatten die fünf Freunde nur eine Doppelbettkabine reserviert. Drei von ihnen hatten billige Deckskarten. Bei dem schönen Wetter war das Übernachten unter freiem Himmel kein Problem. Beim Übernachten an Deck gab es jedoch ein anderes Problem, an dem der freie Himmel keine Schuld hatte, wohl aber die unfreie Sexualmoral der Zeitgenossen: Die Freunde konnten biblisch ausgedrückt ihre Frau Aurora nicht erkennen, also nicht intim mit ihr verkehren. Und deshalb hatten sie eine Doppelkabine gebucht für Aurora, die sie dann dort 536
hintereinander für ein paar Stunden besuchen wollten. Die Reihenfolge wurde ausgeknobelt. Stein, Schere und Papier. Adjuna war erster geworden. Das war gut, denn er konnte kaum noch warten. Tagelang hatte Aurora nämlich an allen herumgenörgelt und keinen zu sich gelassen, erst jetzt in freudiger Erwartung auf Hamburg war sie wieder bereit, sich hinzugeben oder her-. Sie war schon ausgezogen, als Adjuna eintrat, und half ihm sofort, sich auch auszuziehen. Sie war offensichtlich selbst ausgehungert. Ihr gieriges Vorspiel schloß ein kräftiges Fellatio mit ein. Das war zuviel für Adjuna. Ihre zarten Fingerspitzen bemerkten das Pulsieren sofort, und sie hielt sein Ding schnell zur Seite, daß es an ihr vorbeisprudelte. Sie lutschte zwar gern auf den Dingern, aber Samen im Mund oder gar runterschlucken war nicht nach ihrem Geschmack. “Du bist noch nicht mal im Bett und hast schon einen Abgang, was ist denn los mit dir?” “Oh, tut mir leid. Eine kleine Verschnaufpause. Dann machen wir weiter.” “Oh, du Schlingel, in fünf Minuten bist du schon fertig”, schimpfte sie verspielt, während sie Adjuna aufs Bett schubste und auf ihn sprang. Wild rieb sie ihr feuchtes Fötzchen an seinem Körper. Adjuna versuchte ein bißchen hilflos, sie abzuwehren. Er brauchte wirklich ein wenig Ruhe, wenn er noch mal kommen sollte. Vielleicht konnte man sie in ein anregendes Gespräch verwickeln. “Erzähl mal, wie war es mit Zeus Soter?” “Es war himmlisch. Er war so unwirklich”, flötete sie. Bums, setzte sie sich auf sein Gesicht und drückte ihm lachend ihre Schamlippen wie einen Stempel auf die Nase. Puh, er bekam keine Luft. Er zwängte seinen Kopf höher und schnappte nach den Lippen, damit sie endlich Ruhe gab. Als er den gewürzigen Geschmack ihrer Pibacken auf der Zunge spürte, mußte er unwillkürlich überlegen, wann sie denn das letzte Mal gebadet hatte. Da es am gleichen Morgen 537
gewesen war, staunte er, wie schnell so etwas doch nicht mehr sauber schmeckte. Aurora liebte sein Saugen und Kauen ganz außerordentlich, besonders mochte sie es, wenn ihre Schamlippen so richtig in seinem Mund waren, ein bißchen eingeklemmt von seinen Zähnen, so daß sie Angst haben mußte, er würde sie abbeißen, was er ihr zu Liebe auch immer wieder andeutete. Sie war begeistert, es sprudelte aus ihr hervor wie aus einer Fontäne. Adjuna liebte diesen Liebessaft etwa genauso viel, wie Aurora seine Samen liebte. Sein Bart war schon ganz naß. Seine Gedanken wanderten ab. Er erinnerte sich daran, wie er einmal bei feuchtkalter Witterung durch Moor- und Heidelandschaft gewandert war und sein Bart von der Atemluft, die kondensiert war, genauso feucht geworden war. Vorsichtig schob er die Finger hoch, um Auroras Muschi damit weiterzumassieren, dabei atmete er kräftig in ihre Richtung, um bei ihr die Illusion eines oral-genitalen Kontaktes zu erhalten. “Heute mache ich euch alle mit dem Mund fertig”, keuchte Aurora. Sie hatte nie einen Hehl daraus gemacht, daß sie oral-genital lieber mochte als genital-genital. In einer Frauenzeitschrift hatte sie mal eine Statistik gesehen, nach der nur ein Drittel der Liebespaare orale Befriedigung praktizierte, und daß einige das zwar gern auf Bildern sahen, aber nicht nachmachten. Sie konnte es nicht glauben, daß sich so viele Leute solch einen Spaß entgehen ließen. Nach meiner Statistik, scherzte sie immer, liebt jeder so etwas: ...und ich kenne viele Männer, aber keinen, der sich nicht über Mund-Schwanz-Besaugung freut. Sie wollte alle besaugen. Besaugen und besaugen lassen, das war keine Frage. Das feuchte Geschlechtsteil, das Adjuna entgegen gestreckt wurde, fing an, ihn anzuekeln. Jetzt hatte sie auch noch seinen schlappen Schwanz in den Mund genommen. Er war immer noch weich und klein und rollte in ihrem Mund hin und her. Ab und zu zog sie daran, als ob sie ihn länger ziehen wollte. Er mußte an ein Vögelchen denken, das versuchte, einen Wurm aus seinem Erdloch zu ziehen. Das wird heute nichts mehr, dachte er schuldbewußt, ich bin einfach nicht in der richtigen Stimmung. Plötzlich hielt er inne. “Sei mal ruhig!” “Was ist denn los?” “Ruhe!” Beide setzten sich auf und lauschten. Stille. Nur das Plätschern der 538
Wellen. Aurora flüsterte leise: “Was ist denn?” “Die Wasserwaage in meinen Ohren sagt mir, daß etwas schief steht”, flüsterte Adjuna zurück. Dann warf er ihr ihre Kleidung hin, “das Schiff!”, er ergriff seine eigene Hose und packte Aurora beim Arm und zog sie nackt in den Gang und rannte mit ihr die Treppen hoch. Jetzt hatte es auch Aurora gemerkt, daß sich das Schiff zur Seite neigte. Einen Moment später ertönten Sirenen. Andere Leute stürzten in die Gänge, und sie waren nicht mehr die einzigen, die nackt waren. Aurora stolperte hinter Adjuna her, als hätte sie keinen eigenen Willen zu laufen, sie schrie immer nur: “Scheiße, Scheiße”, und “Wären wir doch zu Hause geblieben!” Es war schlimm. Eine Panik war ausgebrochen. Leute waren hingefallen, andere darüber gestolpert und wieder andere über die, und alle, die lagen, versuchten zum Ausgang zu robben oder wieder aufzustehen. Es war nicht möglich, die verzweifelt Zappelnden zu überschreiten, man mußte auf sie drauf treten. Als sie endlich an Deck ankamen, hatte das Schiff schon beträchtlich Schlagseite. Man konnte kaum noch stehen. Die Deckpassagiere hatten sich schon in die Rettungsboote gerettet und warteten jetzt in sicherem Abstand vom Schiff auf die anderen: “Kommt! Kommt doch!” Doch das war tief. Einige ältere Leute, die nicht wußten, wie hart Wasser sein konnte, wenn man vom zehnten Stock drauf sprang, trieben jetzt unten im Wasser mit verrenkten Gliedern, wahrscheinlich bewußtlos oder gar tot. Adjuna zeigte den Leuten dann, wie sie an den Manntauen, die von den Davits der Rettungsbootaufhängung herunterhingen, am besten runterklettern konnten. Er selbst kletterte vor mit Aurora auf dem Rücken. Als ihm einige, die ihnen nachklettern wollten, auf den Kopf fielen, tat es ihm leid, daß er extra die Leute zusammengerufen hatte, damit sie ihm nachtaten. Das Rettungsboot, in dem Luz, Orpheus und der Bunte saßen, kam näher, um Aurora und Adjuna, und wer sonst noch Hilfe brauchte, an
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Bord zu nehmen. Dann beobachteten sie, wie das Schiff langsam versank. Der Seenotrettungsdienst arbeitete vorbildlich, mit Hubschraubern und Suchfahrzeugen wurden auch die letzten Überlebenden ausfindig gemacht und aus dem Wasser gefischt. Wer verwundet war oder zuviel Wasser geschluckt hatte, kam in Brindisi ins Krankenhaus. Die Gesunden wurden in Hotels oder bei Privat untergebracht, bevor sie ihre Reise mit der Bahn fortsetzen konnten. Allen erschienen, als sie die weißen Bettlaken ans Kinn zogen, die schrecklichen Ereignisse auf dem nächtlichen Meer wie ein böser Traum, so unwirklich. Oder war die Erlösung das Unwirkliche? Doch, man war gerettet. Und in wenigen Tagen, wenn man wieder zu Hause war, würde der Alltag einen wieder haben, und man würde vor seinen Freunden, damit prahlen, was man alles durchgemacht hatte. Ja, wenn sonst nichts Aufregendes im Leben passierte, würde man sein ganzes Leben davon erzählen, es immer besser ausschmücken, seine eigene Geistesgegenwart angesichts der Panik immer mehr betonen usw. Ein kleiner Dichter steckte ja in jedem. Usw. Happy End. Das Seeschiffahrtsamt konnte übrigens nie feststellen, warum die Fähre unterging. Nur Adjuna drängte sich natürlich eine Lösung zu diesem Rätsel auf: Sollte es vielleicht doch sein, daß mein Same...?
Wieder in Hamburg, oder endlich wieder in Hamburg, wie die drei Hamburger es nannten.
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Das kleine Auto, das so wunderbar den Sturz von der Landstraße überlebt hatte, war natürlich in der Adria mit dem Schiff zusammen ertrunken. Um ein Auto ärmer, aber um viele Erfahrungen reicher, so kamen sie zurück und ziemlich erschöpft. Sie stampften die Treppe hoch zu ihrer Wohnung und endlich standen sie vor ihrer Wohnungstür. “Welcher Idiot hat denn vergessen, das Radio auszumachen?” Das war natürlich Aurora, die so schimpfte, als sie Musik aus der Wohnung kommen hörte. Der Bunte beeilte sich mit dem Schlüssel. Er hatte ein schlechtes Gewissen, denn er war es, der meistens Radio hörte. “Verdammt, es geht nicht auf.” “Gib mal her.” Aurora entriß ihm den Schlüssel und fummelte damit nervös im Schloß rum. “Wenn du damit so im Schloß rumstocherst, geht es natürlich nicht auf”, hatte Orpheus jetzt einzuwenden. Aurora versuchte ruhiger zu sein. Aber es gelang ihr immer noch nicht. “Da. Versuch du es mal!” Sie gab Orpheus den Schlüssel. Orpheus versuchte es mit Schwung und ruckartig, dann mit Kraft. “Paß auf, daß du ihn nicht abbrichst!” ermahnte Luz den Freund, “rohe Gewalt schafft meistens nur Bruch. So was muß man mit Gefühl machen.” Als Luz den Schlüssel hatte, versuchte er es, wie gesagt, mit Gefühl. “Der Schlüssel paßt nicht”, stellte er zur Verwunderung der Freunde fest, “versuchen wir es doch mal mit Klingeln.” Er klingelte. Tatsächlich, das war das Sesam-öffne-dich. Die Tür wurde geöffnet. Ein verkommener Typ, fettige Haare, unreine Haut, gelbe Finger, guckte sie ganz dumm an. “Was wollt ihr?” “Das ist unsere Wohnung”, sagte Luz und wollte reingehen. Schubs. Da waren noch andere Typen und die stießen ihn zurück. “Quatsch. Das ist unsere Wohnung, die stand leer. Wir haben sie instandbesetzt.” Die Tür war wieder zu.
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“Adjuna, warum hast du uns nicht geholfen? Du bist der stärkste. Niemand kann dich besiegen.” “Entschuldigt, aber ihr standet davor. Wißt ihr was? Das ist ein Fall für die Polizei. Die kann auch mal was für uns tun.” Von der nächsten Telefonzelle aus, meldeten sie der Polizei die Wohnungsbesetzung. Und fünf Minuten später hörten sie Sirenengewirr wie bei einem Großbrand. Wohl zwölf vollbesetzte Polizeibusse mit je zwei bis vier Blaulichtern auf dem Dach sowie zwei Leiterwagen der Feuerwehr kreisten das Eckhaus halb ein. Lautsprecher forderten die Hausbesetzer zur friedlichen Räumung der Wohnung auf, sonst werde man sie mit Tränengas ausräuchern. “Mensch, die Wohnung stinkt ja schon genug von den Raucherschweinen, die da drin sind. Komm, wir müssen unbedingt mit den Beamten reden.” Adjuna wollte diesmal den Wortführer machen. Er ging zu einem Beamten, der das Kommando zu führen schien, und stieß ihn am Arm an, um seine Aufmerksamkeit zu erwecken: “Wegen der Wohnungsbesetzung...” “Ah, gebt ihr schon auf. Nah, dann kommt mal mit auf die Wache.” “Das ist doch unsere Wohnung.” “Ja, das bildet ihr euch immer ein, wenn ihr die Wände vollgeschmiert habt und ein paar Sachen vom Sperrmüll reingestellt habt, daß das dann eure Wohnung ist. Nee, nee, kommt mal mit.” Adjuna bemerkte jetzt das Mißverständnis. Der Beamte schien ein ganz bestimmtes Feindbild zu haben, und dazu schienen sie auch zu gehören. Adjuna konnte auch nicht wissen, was für Erfahrungen der Beamte schon zum Thema Hausbesetzung gemacht hatte. Häuser und Wohnungen zu besetzen, war nämlich gerade Mode, einige behaupteten auch, es sei eine Notwendigkeit. Wenn man nicht bereit war, Miete zu zahlen, war es sicher eine Notwendigkeit. Hausbesetzer werden dagegen einwenden, daß die Mieten zu hoch seien, und daß billige Wohnungen zu klein und schlecht seien, und daß sie nicht gern weiter mit ihren Eltern zusammenleben möchten oder zu dritt in einem 542
Zimmer usw. Die wären ja dumm, wenn sie keine Ausrede hätten. So was gibt's doch für alles. “Wir haben sie angerufen. Das ist unsere Wohnung und jetzt sind da andere Leute drin, denen die Wohnung nicht gehört. Gehen Sie bitte an die Tür und sagen Sie ihnen, daß sie die Wohnung räumen sollen, sonst holen Sie sie daraus. Aber werfen Sie bitte keine Bomben, wir wollen die Wohnung nämlich noch benutzten.” Der Beamte schien jetzt verärgert zu sein: “Können Sie das nicht mit ihren Kollegen da oben selbst ausmachen?” “Das sind nicht unsere Kollegen. Wir kennen die überhaupt nicht.” “Die sehen doch genauso aus wie ihr, so langhaarig.” “Na und?” regte sich Aurora auf, “Sie haben genauso'n Haarschnitt wie die von der SS.” “Na na, nun werden Sie mal nicht frech.” “Na, komm, Adjuna”, meinte Luz beschwichtigend, “wir schmeißen sie selbst raus. Der Mann hier hat kein Pflichtbewußtsein.” Aber jetzt drängelte sich der Beamte doch auf: “Ich mach' das schon. Zeigen Sie mir mal die Wohnungstür”, knurrte er. Die Freunde gingen mit dem Kommissar, der noch einige junge Beamte mit Schutzhelm und Schutzschild zusammengepfiffen hatte, wieder die Treppe hoch zu ihrer Wohnung. “Aufmachen!” brüllte er eindrucksvoll, dabei klopfte er so kräftig an die Tür, die Klingel hatte er wohl übersehen, daß man befürchten mußte, die Tür spränge gleich so auf. Zaghaft öffnete sich die Tür einen Spalt. Bums. Ein kräftiger Stoß des Einsatzleiters und die Tür war ganz auf und der schmächtige Junge, der sie geöffnet hatte, lag am Boden. Das nächste Mal weiß er, daß man für die Polizei die Tür sperrweit aufmachen muß. Alle stürmten in die Wohnung. Etwa ein Dutzend junge Leute hatten die Wohnung der Freunde in einen Rauchsalon verwandelt und Adjuna hielt sich ein Taschentuch vor den Mund. An den Parolen, die sie an die Wände geschmiert hatten, konnte man erkennen, daß es sich bei ihnen um Weltverbesserer handelte: “Die bürgerliche Demokratie ist nichts anderes als die kapitalistische Diktatur.” “Lang lebe die soziale Revolution!” “Wollt Ihr die totale Revolution, wenn möglich totaler 543
und radikaler als Ihr Euch sie überhaupt vorstellen könnt?” “Erschlage ich den nächstbesten Bürger, so treffe ich keinen Unschuldigen. Proudhon 1774” “Zeitweilige Verbesserungen im Leben kleiner Gruppen von Menschen helfen in unserer gegenwärtigen Gesellschaft nur, den konservativen Geist intakt zu halten. Kropotkin, 1873” “Permanente Revolte durch das gesprochene und geschriebene Wort, durch Dolch, Gewehr, Dynamit... Uns ist alles recht, was sich außerhalb der Legalität bewegt. `Le Revolté' Dez. 1880” “Macht kaputt, was Euch kaputt macht.” “Arbeit ist Verrat am Proletariat” “Ist der Ruf erst ruiniert, lebst du frei und ungeniert.” “Lieber instandbesetzen als kaputt rumsitzen.” “Lieber krank feiern, als gesund arbeiten.” “Moral ist nur eine Schwäche des Gehirns.” “Stoppt die Überbevölkerung, werdet schwul!” “Wenn es euch schon nicht gelang, eure Mütter zu vergewaltigen, dann erschlagt wenigstens eure Väter!” Da mußte neu tapeziert werden. Aber bei den Instandbesetzern schien es sich nicht nur um Weltverbesserer zu handeln, sondern auch um Umweltverbesserer, wie eine andere Wand verriet. “Freie Republik Wendland”, “Atomenergie nein danke!” und “Erst wenn der letzte Baum gerodet, der letzte Fluß vergiftet, der letzte Fisch gefangen, werdet ihr feststellen, daß man Geld nicht essen kann.” Zigaretten auch nicht. Obwohl Orpheus, der wegen seiner schönen Stimme Luftverschmutzung am meisten fürchtete und haßte, immer behauptete, man solle die Raucher mit ihren Zigaretten zwangsernähren, das sei die sauberste Lösung, die Welt von Rauchern und Zigaretten zu befreien. Auch jetzt schimpfte Orpheus: “Nicht rauchen, fressen, ihr müßt den Dreck fressen!” Aurora zum Bunten: “Mach doch mal die Fenster auf! Man kriegt ja hier gar keine Luft mehr.” Und der Bunte machte sich daran zu lüften. Der Kommissar zu Adjuna: “Nah, sonst alles in Ordnung? Fehlt nichts?” “Das kann ich noch nicht sagen. Es scheint, daß ein paar alte Stühle und Kisten hinzugekommen sind.” Beim Inspizieren der Wohnung wunderte Adjuna sich über die vielen Schallplatten, die herumlagen. So viele hatten sie doch gar nicht. Er wollte eine in die 544
Hand nehmen. “Faß die nicht an! Die gehören mir!” schrie da einer der Besetzer. Der Kommissar erklärte jetzt weiter: “Wir nehmen die mal alle mit aufs Revier. Und wenn Sie hier aufgeräumt haben und wissen, was fehlt, und was zu viel da ist, dann kommen Sie doch bitte auch, damit wir ein Protokoll aufnehmen können. Sie wollen doch einen Strafantrag wegen Hausfriedensbruch stellen, oder?” “Tja, am einfachsten wäre es ja, wenn wir selbst die Typen kräftig durchprügelten, aber dann hätten wir ja wohl 'ne Anzeige am Hals, also bleibt wohl nichts anderes als der Umweg über Polizei und Gericht. 'ne lästige Angelegenheit! Wieviel kriegt man denn für Hausfriedensbruch?” “Och, 'ne Geldstrafe, Gefängnis höchstens bis zu einem Jahr. Die Richter und auch die Gesellschaft zeigen immer mehr Verständnis für Hausbesetzer. Allerdings haben die bisher auch nur Häuser besetzt, die richtig leerstanden, und nicht, wo die Leute bloß in Urlaub waren.” “Aber auch leerstehende Häuser haben doch einen rechtmäßigen Besitzer, oder?” “Einen Eigentümer? Ja, natürlich. Aber etwas zu besitzen, Eigentum also, das ist es, was die Leute so ärgert.” “Sie meinen, die Leute, die selbst alles verschwenden und deshalb nichts haben. Sehen Sie, was hier verqualmt und versoffen wurde.” Adjuna zeigte auf die vollen Aschenbecher und die leeren Wein- und Schnapsflaschen, die auf dem Boden standen. “Übrings”, sagte der Beamte, “heute abend gibt es eine Sendung über Hausbesetzungen. Sie haben doch da einen Fernseher. Wenn der noch funktioniert, sollten Sie sich das mal ansehen. Vielleicht zeigen die auch ein Interview mit mir, und wie unsere Leute von Hausbesetzern mit Molotow-Cocktails beworfen wurden.” “Das schaue ich mir natürlich an”, versprach Adjuna. “Ja, das hört sich spannend an”, meinte Aurora spitz. Sie fand es gar nicht gut, daß Adjuna sich mit dem Beamten anfreundete, schließlich war sie mal Prostituierte gewesen, und die Polypen hatten sie und Johnny oft genug schikaniert.
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Fernsehabend
Die Medien sind eine Gabe Gottes, hatte der Papst einmal gesagt1, ignorant der Tatsache, daß die Glotze eine Erfindung der Menschen ist, also einem Gotte nicht unähnlich. Aus dieser Gabe Gottes läßt sich übrigens ganz leicht ein Teufelswerk machen, indem man der Kirche den Zugang zu den Medien versperrt, und statt dessen Kirchenkritiker und Atheisten zu Wort kommen läßt. Man könnte auch noch Krimis und Kriegsfilme durch eindeutige Liebesszenen ersetzen. Man versuche, sich das einmal vorzustellen: Die Schwarzröcke wollen ihre Hetzkampagne starten, aber man nimmt ihnen die menschlichen Erfindungen wie Mikrophon und Kamera weg. Die würden sich ja schwarz ärgern, wenn sie nicht schon so schwarz wären. Und glaubt mir, kein Gott würde ihnen eine neue Anlage schenken. Ob sie dann nach alter Art die elektronischen Medien in effigie auf dem Marktplatz verbrennen werden? Aber wir wollten uns ja nicht das Wort zum Sonntag ansehen. Die Sendung über Hausbesetzungen war dann eine große Enttäuschung. Das erwartete Interview mit dem Kommissar fiel aus, Molotow-Cocktails wurden auch nicht gezeigt, Hausbesitzer wurden auch nicht befragt, statt dessen gab es jede Menge Interviews mit Hausbesetzern. Warum gab man nur ihnen Gelegenheit, bei der Öffentlichkeit um Sympathie zu werben? War der Gerechtigkeitssinn der Bevölkerung schon so verkommen, daß sie nicht mehr wußte, was Eigentum war, nämlich, das Ehrlich-Erworbene, und was gestohlen
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vgl. Kathpress, Tagesdienst der österreichischen katholischen Presseagentur, Wien, 25. Jänner 1991, Seite 8.
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war? Wollte sich das Fernsehen bei der Bevölkerung anbiedern, oder wußten die vom Fernsehen das selbst nicht besser? “Wie der da redet von all der Arbeit, die er in die Wohnung investiert hat! Und wie er sich beklagt wegen all der Angst, die er haben mußt, daß die Polizei die Wohnung räumt!” “Ja, und selbst seine Mutti ist auf seiner Seite!” Die Mutter hatte gerade gesagt: “Ich habe Vertrauen zu meinem Sohn. Ich weiß, daß er nichts Unrechtes tut.” “Und die blöde Reporterin erst. Statt ihn mal zu fragen, ob er auch Kaufhausdiebstähle begeht und Autos knackt, bedauert sie ihn!” Die Hilflosigkeit brachte die Freunde in Rage. Man sagt, das Fernsehen macht passiv, schlimmer noch, es macht machtlos. In den Nachrichten, die sich der Sendung anschlossen, mußten sie sich dann auch noch anhören, wie ein Sprecher seiner Heiligkeit, die gerade mal wieder irgendeinem Land mit hohem Analphabetenanteil einen Besuch abstattete, schmeichelte. Und dann sahen sie's alle. Das Prunkmännchen kam die Gangway herunter, fiel auf die Knie und küßte den schmutzigen Asphalt des Flugplatzes. “Igitt. Ein anderes Mal küßt er kleine Kinder!”
Der Alltag beginnt. Zwar hatte man Adjuna mal prophezeit, daß er als Sohn seiner Zeit, was heißen sollte, als Naivling, in die Geschichte eingehen würde, aber er blieb seltsam unberührt vom Zeitgeist, wie man seiner neuen, skandalösen Flugschrift entnehmen konnte: RASENBETRETEN VERBOTEN! Man hat sich lange genug darüber lustig gemacht, daß in Deutschland die Revolution ausfällt, weil das Betreten des Rasens verboten ist. Mittlerweile wurden viele Fensterscheiben eingeworfen, Telefonzellen 547
zerstört, Autos umgekippt und sogar Schlimmeres getan, nämlich Menschenleben beendet. Es wird also Zeit, daß man wieder lernt, die Rechte und das Eigentum des anderen zu respektieren, und ja, auch den Rasen nicht zu betreten, wenn der Eigentümer es nicht möchte. Eine bessere Gesellschaft kann nur durch das Respektieren der Rechte des anderen entstehen, Mißachtung von Rechten führt nie zu einer Vermehrung des Glücks. Doch was für Rechte hat der Mensch? Ich sage Euch: Er tat alle Rechte, nur nicht das Recht, anderen zu schaden. Als die Monarchien abgeschafft wurden, setzte sich die Idee von der Gleichheit der Menschen durch, trotz aller Widrigkeiten, die sich aus der Wirklichkeit ergaben. Extreme Situationen schaffen extreme Reaktionen. Aber die Menschen sind nicht gleich. Alles, was man ihnen bieten kann - und sollte, sind gleiche Rechte. Früher schrie der Pöbel Hurra, wenn er den Prunk seines Kaisers sah, heute schreit er Buh, wenn er den Wohlstand eines Menschen, der mehr hat als er selbst, sieht. Warum kann er sich nicht freuen, daß es seinem Mitmenschen gut geht, sondern muß so neidisch werden, daß ihm sogar die Freude am eigenen, kleinen Wohlstand vergeht? Neid macht erfinderisch, Rache auch. Um die natürliche Ungleichheit zu beseitigen, nahm der Pöbel sich einen Verbrecher zum Vorbild: Robin Hood, und seit der Pöbel bestimmt, wer regiert, muß jede Regierung á la Robin Hood, den Reichen nehmen und den Armen geben. Das hat man mittlerweile zu solcher Perfektion gebracht, daß wer immer viele Überstunden macht, trotz aller Zuschläge letzten Endes pro Stunde weniger hat, als wenn er sich nach der normalen 8Stunden-Schicht einen guten Abend gemacht hätte. Aber den Reichen nützt es nichts, daß sie auf Grund der progressiven Versteuerung einen wesentlich höheren Beitrag zum Gemeinwohl beitragen, solange sie noch ein paar Mark mehr haben, neidet es ihnen der Pöbel.
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Der Pöbel ist unreif. Freiheit und Gerechtigkeit sind zu anstrengend, Vernunft erfordert Denken, da tut der Kopf weh. Der Pöbel möchte umhegt und gepflegt werden, er braucht soziale Einrichtungen von Vater Staat, selbst würde er sie nie finanzieren. Wenn er zum Beispiel die Wahl hätte zwischen einer privaten Altersund Krankenversicherung und der Befriedigung seines Konsumrausches, würde er das letztere wählen, aber das ist nicht seine Schuld, sagt er, Schuld hat der Konsumzwang. Das ist sowas, wie wenn man mich wegen meiner alten Jacke anpöbelt. Ja, der Pöbel hat die Reife eines Babys und den Verstand einer Eintagsfliege. Das Problem ist bloß seine lange Lebensdauer. Es ist zu befürchten, daß er durchhält bis zum letzten Tag der Menschheit, der allerdings dank des Pöbels nicht lange auf sich warten lassen wird. Aber selbst für seine großen Massenmorde will der Pöbel keine Verantwortung tragen, es waren immer andere, die ihn verführt haben, er hat bloß Hurra geschrien und mitgemacht. Nun bringt der Pöbel auch jene hervor, die auf die schiefe Bahn geraten. (Als ob der Pöbel je auf der richtigen war!) Denen ist entweder ein Rübe-Ab oder Mitleid von Seiten der Hefekultur, der sie entstammen, gewiß. Selbst betteln sie natürlich nicht ums Rübe-Ab, obwohl es manchmal für alle Beteiligten das beste wäre, sondern um Mitleid und Verständnis. Die Gesellschaft hat schuld, die Eltern, die Schule, nur man selbst nicht. Aber es ist natürlich egal, wer schuld hat. Mitleid ist hier fehl am Platze, sondern es bedarf der nüchternen Überlegung: Wie kann die Gesellschaft geschützt werden? Im Moment ist es so, daß der Straftäter durch seine Straftat für einige Zeit ausgesorgt hat, da er frei Kost und Logis bekommt, die Gesellschaft aber durch die Unterbringung des Verbrechers meist mehr geschädigt wird als durch die Straftat, da sie die Kosten tragen muß. Das ist natürlich eine unsinnige Situation, sinniger wäre, die Straftäter
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verdienten sich ihren Unterhalt, die Gefängnisse kostendeckend, auch wenn der Komfort leidet.
arbeiteten
Schutz vor Verbrechern und Schutz vor äußeren Feinden sind Aufgaben des Staates, aber ist es nicht eine Schande, daß er bei allen zwischenmenschlichen Beziehungen mitmischen will? Können wir nicht das meiste viel besser selbst regeln? Wir brauchen einen Nachtwächter und keinen Großen Bruder, der alles sieht und überall eingreift. Ich sage Euch, die Menschen waren noch nie so unfrei wie heutzutage: Wo früher ein Nachtwächter Dienst tat, da terrorisieren uns heute Hundertschaften der Polizei. Wenn nicht soviel verboten wäre, brauchten wir sie nicht. In einem Nachtwächterstaat, in dem die Leute aber endlich gelernt hätten, keine Nachtmützen, sondern freie Bürger zu sein, ließe es sich besser leben. Ein solcher Staat sollte langsam angestrebt werden, indem man den Bürgern langsam mehr Reife zu- und Freiheit anvertraut und die vielen unverständlichen Gesetzbücher langsam durch einige wenige vernünftige Regeln ersetzt. Leider gibt es in der gegenwärtigen Gesellschaft keine Tendenz in diese Richtung. Im Gegenteil der Bürger wird immer mehr entmündigt. Der Weg in die Freiheit wäre der würdigere Weg. Alles liegt bei Euch. Ihr braucht nur zu schreien: Wir wollen Freiheit, wir wollen nicht mehr unmündig sein, wir wollen kein Pöbel mehr sein! Ihr seid viele. Eure Stimme kann man nicht überhören.
Adjuna verteilte sein Flugblatt und sprach engagiert von seiner Vorstellung vom Staat. Er suchte den Gedankenaustausch und hörte viele Gegenstimmen, was wegen der Neuheit seiner Idee nicht ungewöhnlich war. Aber es gab auch Leute, die seine Vorstellungen vom Staat richtig fanden. Jemand wollte noch einmal auf die Steuern eingehen: “Du meinst also, es wäre gerechter, wenn jeder - egal ob arm oder reich - zum Beispiel 10 Prozent seines Einkommens als Steuer
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bezahlte.” Und er fügte noch schnell hinzu: “Das fände ich auch besser.” Adjuna: “Es wäre gerechter als das jetzige System, aber noch nicht gerecht. Ich weiß nicht, wie ich es rechtfertigen soll, daß einer mehr Steuern bezahlt als der andere, bloß weil er mehr verdient. Der Verdienst eines Menschen ist seine Privatsache, entscheidend ist nur, daß er ein einzelner Mensch ist und als einzelner Mensch dem Staat angehört und seine Leistungen empfängt. Jeder sollte mit dem gleichen Betrag zum Staat beitragen, sagen wir mit hundert Mark, mehr ist von Übel, das meiste läßt sich privat und von Interessengruppen verwirklichen.” Ein Proletarier schimpfte: “Das ist unrecht. Die Kapitalisten mit ihren dicken Wagen fahren ja viel mehr kaputt.” Adjuna: “Die Kraftfahrzeugversicherung und einen Beitrag für Straßenbau und Verkehr würden auf den Benzinpreis aufgeschlagen werden. Das wäre das gerechteste, viel gerechter als das jetzige System, denn das Versicherungsrisiko sowie der Gebrauch von Straßen hängt von den gefahrenen Kilometern ab. Und das Gute an diesem System ist auch, daß die Autofahrer gleich beim Tanken merken, wie teuer ihnen das Fahren kommt und so hoffentlich weniger fahren. Autofahren ist ja ohnehin kriminell und kann im Stadtinneren wohl kaum geduldet werden. Solange die Abgase der Autos so giftig sind, kann man mit gutem Gewissen sagen: Die Autofahrer haben Menschenleben auf dem Gewissen. Statt beim nächsten Sexualmord mit dem Kopf zu schütteln, geziemt es sich für einen Autofahrer eher zu sagen: Ja, auch ich bin, als ich Befriedigung suchte, zum Mörder geworden. Denn als er sein Bedürfnis nach Bequemlichkeit befriedigte, vergiftete er die Luft, was unweigerlich einigen Leuten den Tod brachte. Auch wenn das Morden anonymer ist, das eine Opfer ist so tot wie das andere.” Ein anderer Fragesteller: “Du sprachst von Interessengruppen. Wie stellst du es dir vor, daß Interessengruppen Aufgaben des Staates übernehmen?” 551
“Interessengruppen oder privat. Fangen wir mit privat an. Wer zum Beispiel ein Kind bekommt, muß privat für die Kosten der Geburt aufkommen, ebenso wer eine Abtreibung haben möchte, muß sie privat bezahlen, wer krank ist, muß privat die Arztkosten tragen, wenn er sich nicht privat krankenversichert hat. Warum soll jemand, der seine letzten Tage nicht an Schläuchen hängen möchte und lieber durch eigene Hand rechtzeitig geht, gezwungen werden, eine solche Versicherung zu haben. Und es gibt ja auch solche Leute, die durchschaut haben, daß zum Arzt zu laufen und dort in dem mit Bazillen verseuchten Wartezimmer zu sitzen, genauso dumm ist wie in früher Zeit das gemeinsame Beten in der Kirche anläßlich Seuchen und anderer Heimsuchungen. Es gibt nur wenige Krankheiten, die ein Arzt wirklich heilen kann, man hat nur vergessen, daß der Körper die meisten Krankheiten selbst heilt, da jede Selbstheilung dem behandelnden Arzt gutgeschrieben wird. Oft braucht ein kranker Körper Ruhe mehr als Medizin, und einen anstrengenden Vormittag beim Arzt braucht er schon gar nicht. Manch ein heldenhafter Versuch der Chirurgie, einen von Krebs zerfressenen Körper noch zu retten, hat nur den Patienten gänzlich zerstört. Hätte er sich ohne Operation langsam dem Tod genähert, so wurde er durch die Operation nur schlagartig zum Krüppel gemacht. Wenn die Leute Arzt- und Krankenhauskosten selbst tragen müßten, würden sie diese Institutionen nur in Anspruch nehmen, wenn es sinnvoll ist. Heutzutage wird da eine Unmenge Geld verschwendet. Weiter. Was alles ist Privatsache: Wer rauschgiftsüchtig ist und eine Entziehungskur machen möchte, muß privat dafür aufkommen. Wer Künstler ist, muß Kunst machen, die sich verkaufen läßt, oder einen Nebenberuf ausüben, aber darf nicht erwarten, daß der Staat sein Hobby subventioniert. Auch Bauern, Theater und viele andere Wirtschaftszweige müßten ohne Subventionen auskommen. Eltern müssen die Ausbildung ihrer Kinder finanzieren. Es ist ungerecht, daß Geld von ewigen Junggesellen und natürlich auch von ewigen Jungfrauen oder überhaupt von kinderlosen Leuten für Schulen verwendet werden. Wer sich Kinder anschafft, hat eine Verantwortung für diese Kinder, bis sie selbst Verantwortung für sich tragen können, 552
und zu dieser Verantwortung gehört auch die Ausbildung. Dafür ist es nötig, daß sich die Eltern zusammentun und Schulen unterhalten, oder sie müssen ihre Kinder in Privatschulen schicken. Für Kinderspielplätze, Parks und Zoos und dergleichen bedarf es immer Initiativgruppen. Wer will, gibt eine Spende, wem es nicht am Herzen liegt, der läßt es bleiben.” “Und wer keine Spende gegeben hat, der darf nicht in den Park?” “So kleinlich sollte man nicht sein. Man läßt ja auch jetzt Leute, die wegen ihres geringen Einkommens keine Steuern zahlen, in den Park. Aber vielleicht könnten Parks auch durch Eintrittsgebühren erhalten werden.” “Um noch einmal auf die Steuern zu kommen”, fing jemand an, der es vorhin versäumt hatte, zu dem Thema seinen Kommentar abzugeben, “es ist nicht das Problem, daß reiche Leute dicke Autos fahren, sondern daß sie als Fabrikanten dicke Fabrikanlagen besitzen, die der Allgemeinheit viel wegnehmen: Menschen, Rohstoffe, Wasser, ja sogar Luft, und was sie ausstoßen, ist Dreck, Gift, ein Schaden für alle.” Adjuna: “Sie nehmen viel und geben viel. Zuerst einmal geben sie dem Menschen Arbeit und nehmen so dem, dem es nicht liegt, die Mühe ab, sein eigener Unternehmer zu sein. Dann geben sie dem Menschen noch die Produkte, nach denen er so gierig verlangt. Für die Produktion dieser Produkte braucht er Rohstoffe, er nimmt sie sich, aber er bezahlt sie auch. Nur die Luft ist kostenlos. Sie gehört allen. Und es ist richtig, sie darf nicht verschmutzt werden, es ist ein Verbrechen. Aber nicht nur der Unternehmer macht sich dieses Verbrechens schuldig, sondern auch der Konsument, er ist Mittäter, seinetwegen geschieht das alles, er ist der Auftraggeber, auch wenn er den Mist erst hinterher kauft, seine Geisteshaltung hatte er schon vorher, und die ließ den Unternehmer überhaupt erst produzieren. Also bis auf wenige Ausnahmen - Konsumverweigerer - sind alle schuldig. Nun darf man daraus aber nicht folgern, daß, weil eine überwältigende Mehrheit der Bevölkerung sich der Umweltverschmutzung schuldig macht, sei es in Ordnung, die Umwelt zu vergiften - das wäre deutsche Logik: Wenn die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung die Juden umbringen 553
will, werden sie umgebracht -, sondern jede Minderheit hat das Recht, von der Mehrheit keinen Schaden zu empfangen. Der Grundsatz, nicht zu schaden, muß alle leiten. Gegenwärtig ist es so, daß der Staat da oft ein Auge zudrückt, einmal, weil er nicht von dem Grundsatz, nicht zu schaden, geleitet wird, sondern von einer Fülle von Gesetzen irregeleitet, zum anderen, weil die Industriellen so gute Steuerzahler sind und daher bevorzugt behandelt werden oder werden müssen. In dem Staat, den ich mir vorstelle, zahlt der Industrielle nicht mehr und nicht weniger Steuern als jeder andere auch, und er muß sich wie jeder andere auch an den Grundsatz, anderen nicht zu schaden, halten, und es darf dabei auch keine Rolle spielen, daß eine noch so große Zahl von Konsumenten nach seinen Produkten giert und sie billig haben möchte. `Filter sind zu teuer, ich verzichte lieber auf die Lachse.' Diese Meinung eines Fabrikanten ist nicht nur bei Fabrikanten kriminell. Die Werte dieser Welt für kurze Konsumlustbefriedigung in wertlosen Mist umzuwandeln, ist kein Kunststück, sondern ein Selbstmordprogramm1, denn es sterben nicht nur die Lachse am sauren Regen, wir lassen ihnen nur den Vortritt. Aber Selbstmörder haben nicht das Recht, andere, die leben wollen, mitzunehmen, weder Mitmenschen noch Mitgattungen. Es ist Verbrecherdenk, zu denken, daß die eigene Lustbefriedigung den Schaden eines anderen rechtfertigen kann. Nach unserer neuen Definition ist, wer immer schadet, ein Schädling, ein Verbrecher, und es ist Aufgabe des Staates - eines seiner wenigen Aufgaben -, Schaden von uns fernzuhalten, und wenn es nicht anders geht, den Schaden wenigstens so gering wie möglich zu halten, und da darf er sich nicht bestechen lassen und auch nicht selbst in Form von Strafen Bestechungsgelder fordern, sondern es gilt nur, den Schaden so gering wie möglich zu halten. In unserem konkreten Beispiel heißt das: die besten Filter oder dichtmachen. Wobei noch zu beachten ist, daß, wenn das Produkt der Firma nur ein sinnloses Spielzeug ist, ohne das
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Ich dachte hier an das Buch `Selbstmordprogramm' von Gorden Rattray Taylor, dem Autor des Weltbestsellers `Die biologische Zeitbombe', auch sein späteres Buch `Zukunftsbewältigung' zeigt in die gleiche Richtung. Wer sich allerdings für das Abrollen des Selbstmordprogrammes in seiner unmittelbaren Gegenwart interessiert, muß die Tagespresse konsultieren.
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die Welt ganz gut auskäme, daß dann selbst der Rest-Dreck, der auch bei Filtern noch entsteht, nicht zu vertreten wäre, denn die Lust hat immer weniger Ansprüche als die Geschädigten. In so einem Fall, wo es ohne Dreck nicht geht, muß auf die Produktion des Spielzeugs ganz verzichtet werden oder sonst halt etwas Nützliches produziert werden. - Und wer Selbstmord machen will, der kann das ja immer noch auf andere Art.” “Zum Beispiel: Sich an einem umweltfreundlichen Sisal-Seil aufhängen.” “Richtig.”
Während Adjuna auf der Straße stand und sein neues Gebot “Alles ist erlaubt, was nicht schadet!” verkündete,… - jetzt fing es auch noch an zu regnen. Oh, Adjuna, warum tust du das? “Ex nihilo nihil fit”, antwortete er das Griechische noch frisch im Kopf, “aus nichts wird nichts.” Dieser Grundsatz einer griechischen Philosophie diente freilich ursprünglich nicht als Ermahnung an Tageträumer, Fortschritt und Verbesserungen nicht nur zu erträumen, sondern sie auch zu erarbeiten und zu erkämpfen, sondern drückte die Vorstellung von der Ewigkeit einer Welt aus, die nie erschaffen, sondern nur von den Göttern geordnet und verwaltet wurde. Doch die neue Bedeutung, die Adjuna diesen Worten gab, machte eigentlich noch mehr Sinn. Also während Adjuna im Regen sein Gebot vom Nicht-Schaden verkündete, waren Luz und der bunte Schönling zu ihrem Arbeitsplatz, dem sado-masochistischen Treff, gegangen. Aber sie konnten da nicht wieder arbeiten. Der Direktor der Heiligen Stadt Sodom bedauerte es sehr, aber: “In der letzten Zeit hat es Schwierigkeiten mit gottesfürchtigen Kirchgängern gegeben. Einstweilige Verfügung und so. Wir machen jetzt keine SM-Shows und auch keine Homo-Shows mehr, sondern nur noch Soft-Porno. Der Zuschauerraum ist immer voll 555
mit Beamten in Zivil. Das merken wir daran, daß die für jedes Bier ne Quittung haben wollen. Die warten nur auf so was wie eure Show.” Luz: “Was? Wer will, soll in eine SM-Show gehen können, genauso wie die Gottgläubigen in die Kirche gehen können. Wenn wir uns die Welt ansehen, erkennen wir, daß Gott den perverseren Geschmack hat. Das gegenseitige Quälen und Abschlachten, das er geschaffen hat, ist viel ekliger, als die genüßlichen Auspeitschungen in unseren SM-Shows.” Direktor: “Ja, aber ihr müßt verstehen, die Christen...” Luz: “Die Christen?! Bah! Christus kam aus dem Hause Davids, also aus dem Hause eines Mörders und Ehebrechers.” Der Bunte: “Und außerdem ließ er sich selbst auspeitschen! Er ließ sich sogar schlimmer martern, als ich es je zulassen würde, und die Kirchgänger gucken sich den Zu-Tode-Gefolterten sogar noch an, wie er am Holz hängt.” Luz: “Nicht nur das. Keiner hat so wild gepeitscht und gefoltert wie die Christen. Und Schuld daran war ihre Keuschheit.” Direktor: “Schon gut. Ich weiß ja, wie ärgerlich das für euch ist. Natürlich ist es dumm, was die Christen machen. Denkt nur einmal an die christlichen Temperenzler, die in Amerika die Prohibition durchgesetzt hatten, und bei uns gibt es ja auch immer mehr solche Idioten, obwohl ihr Held Jesus eigenhändig für die Besoffenen auf der Hochzeit zu Kana Wasser zu Wein gemacht hatte, damit sie weitersaufen konnten.” Luz: “Richtig. Das stellt Jesus glatt mit Al Capone auf eine Stufe.” Direktor: “Aber bedenkt auch, daß die Prohibition nicht nur den Alkoholkonsum ankurbelte und eine neue Ära blühenden Verbrechertums den Weg bahnte, sondern daß sich plötzlich auch mit Alkohol ne Menge Geld verdienen ließ. Wählt bei der nächsten Wahl konservativ. Wenn die dann die Pornografie ganz verbieten, dann 556
mache ich hier oben nen Saftladen auf und unten im Keller nen illegalen SM-Schuppen, da könnt ihr dann ein Vielfaches von dem verdienen, was ihr bisher bekommen habt.” Die Christliche Partei wählen? Nein, so unanständig wollten unsere Freunde dann doch nicht sein.
Am Abend kam dann auch Adjuna zur Heiligen Stadt Sodom. Er wollte seine Freunde treffen und sich eventuell die Abendvorstellung ansehen. Er war müde. Den ganzen Tag hatte er die Leute davor gewarnt, zu viele Kontrollen in ihrem Leben zuzulassen. “Wo früher ein Nachtwächter kontrollierte, ob alles in Ordnung war, sind heute Hundertschaften der Polizei”, wie oft hatte er das heute gesagt! Und was sie nicht alles kontrollierten, kontrollieren mußten! Selbst hier in der Heiligen Stadt Sodom waren sie tätig. Sie mußten die Minderjährigen von den Volljährigen aussortieren! Minderjährige dürfen nur im Kopf haben, was Volljährige auf der Bühne haben. Gesetze, Gesetze... Sexualität von den Kindern fernzuhalten, schafft die Perversen der nächsten Generation, ob sie sich dann wie beim Bunten, den die Mutter, wenn sie ihn beim Masturbieren erwischte, versohlte, offen äußert, oder ob sie sich durch Spießigkeit, Menschenhaß, also Gottesliebe, zeigt, ist nur eine Frage persönlicher Ehrlichkeit. Sollte die Knospe Freie Liebe und Freie Sexualität sich wirklich schon wieder schließen? Sollte die Gesellschaft wirklich so dumm sein und im Rückwärtsgang fahren wollen, wo es vorwärts doch viel besser ginge?
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Erinnert sich denn keiner daran, was sein wird?1 Das alles ist doch nicht neu.
Nichts gibt dem Menschen soviel Freude wie der Geschlechtsakt, darum haben auch alle Menschenfeinde, zum Beispiel die Religionen, dagegen gekämpft. Wie die Kirche heute dem Sexspiel durch Verbot von Pille und anderen Verhütungsmitteln und durch Austragungszwang die Unbeschwertheit nimmt und durch Missionarsstellung und Stellungswechselverbot Lustminderung erreicht, so haben schon in vorgeschichtlicher Zeit - und sie tun's immer noch, da, wo noch Vorgeschichte herrscht - die Medizinmänner und anderen religiösen Buhmänner, die Beschneidung durchgesetzt: Die freie männliche Eichel rieb sich an der Hose gefühllos, aber bei der Beschneidung der Frau erreichten und erreichen die Buhmänner ihren größten Erfolg, denn alles wird abgeschnitten, was schöne Gefühle bringt, und da es gilt eine alte Tradition zu wahren, nimmt man nicht etwa ein steriles Skalpell, sondern einen scharfen, schmutzigen Stein, bestenfalls die Scherben einer Flasche. Diese traditionelle Beschneidung bringt dann so furchtbare Vereiterungen mit sich, daß der Unterkörper dieser Frauen, wenn sie nicht an Blutvergiftung gestorben sind, so häßlich gezeichnet ist mit Narben und Verwucherungen, daß ein Mann daran keinen Spaß mehr finden kann, sondern es nur noch tut, wenn's gar nicht anders geht, und mit Todesverachtung, etwa wie man halb am Verhungern sein muß, um in angeschimmeltes Kommißbrot zu beißen.
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Diese ungewöhnliche, aber sehr treffende Formulierung verdanke ich einem Artikel von Vicky Franzinetti `Come si difende la libertà di un bambino - Wie man die Freiheit eines Kindes verteidigt', in dem sie die Schwierigkeiten und Anfeindungen beschreibt, die sie erlitt, als sie versuchte, ihr Kind vor religiöser Indoktrination im Schulunterricht zu schützen. Der Artikel endet wie folgt: `Jedoch: unsere Zukunft geht in Richtung des düstersten Kapitels unserer Vergangenheit. Erinnern Sie sich noch, was sein wird?' Die deutsche Übersetzung des Artikels erschien im Ketzerbrief Nr. 19, herausgegeben vom Ahriman-Verlag, Stübeweg 60, 7800 Freiburg.
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Nachdem Adjuna, Luz und der Bunte sich die biederen Entkleidungsszenen auf der Bühne der Heiligen Stadt Sodom angesehen hatten, gingen sie nach Hause. Im Treppenhaus hörten sie schon die keifende Stimme von Aurora: “...ihr Idealisten, ihr, idiotischen Spinner,...” Ein Wunder? Sah sie die Drei schon durch die geschlossene Tür kommen? Nein, Orpheus war bei ihr, ihm galt ihr Wutanfall. Was ist denn nun schon wieder passiert? wollte der Bunte, der als erster eingetreten war, gerade fragen, da zischte Aurora ihn schon verächtlich an: “Ah, der Homo. Was willst du denn schon hier?” Das tat ihm sehr weh. Neulich hatte sie ihm noch gesagt, daß er der einzige sei, zu dem sie sich noch hingezogen fühle. Ich bin wie du, eine Gottheit, hatte sie gesagt. Das hatte ihn sehr gefreut, obwohl sie ihn falsch verstanden hatte, denn er nannte sich wohl Lebendiger Gott, aber nicht, weil er sich für einen Gott hielt, sondern weil er schlecht von Göttern dachte und sich außerdem von seinen Freiern wie ein Gott von seinen Gläubigen mißbraucht fühlte. Er und Gott, sie hatten beide Anbeter, die nichts vom Angebeteten wissen wollten, sondern nur sich selbst sahen. Aurora aber sah Götter, wo keine waren: im Himmel, im Bunten und in sich selbst! Er mochte ihre Schmeicheleien, doch jetzt sah alles anders aus. Adjuna stellte dann die Frage: Was ist los? Und Orpheus antwortete ihm: “Auroras frühere Freunde waren hier. Freunde, die auch Freunde von Johnny waren. Die waren so laut, daß ich mich nicht auf die Texte, die ich für unseren Rundbrief am Zusammenstellen war, konzentrieren konnte. Da hab ich gesagt, sie sollen leiser sein oder rausgehen. Da haben sie zwar erst noch ordentlich Stunk gemacht, aber dann sind sie gegangen, und jetzt macht Aurora Stunk.” “Ach, ihr habt immer nur eure Bewegung im Kopf. Ihr seid doch Memmen und keine Männer. Ihr habt Angst und wollt irgendwas verhindern. In euren Köpfen spukt es
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doch. Ihr wollt eine bessere Welt schaffen und Adjuna selbst ist ein Mörder.” Au, das war sein wunder Punkt. Das Abendbrot nahm man dann schweigend ein. Aurora war dran mit Abwaschen. Da der häusliche Ehefrieden ohnehin schief hing, platzte Aurora mit dem heraus, was ihr noch am Herzen lag: “Ihr solltet mich richtig heiraten, jedenfalls einer von euch.” Dazu hatte natürlich jetzt, wo sie sich so von der biestigen Seite zeigte, keiner Lust. Aber sie hatte einen guten Grund: “dann steht mir wenigstens ein Hausfrauengehalt von 450 Mark zu.” Auweh, der Staat hatte nicht genug Gesetze, jetzt hatte er noch eins dazu gemacht, das sagte, wieviel der Mann seiner Frau als Taschengeld geben soll. “Aber Aurora, du machst doch gar keine Hausfrauenarbeit. Wir essen entweder im Restaurant, oder wenn wir zu Hause essen, dann essen wir bloß Brot. Und abwaschen tun wir Reih' um.” “Egal. Außerdem lasse ich mich bumsen.” “Auch nur wenn du willst.” “Egal. Ich hab da neulich mit Feministen...” “Ach, von der verde-rot-kleinkarierten Opposition, was?” “...gesprochen, die wollen als nächstes durchsetzen, daß Ehefrauen für jedes Bumsen einen Mindestlohn von 25 Mark bekommen.” Adjuna: “Warum denn nur die Ehefrauen?” Und fast gleichzeitig Luz: “Oh, daß ist aber billig. Was kostet denn Schwanzlutschen?” “Darüber wurde nicht gesprochen.” Adjuna: “Aurora, wir haben dich damals aufgenommen, als es dir schlecht ging. Wir wollten dir nur helfen und dich nicht ausnutzen. Wir 560
haben alles mit dir geteilt, das heißt, du konntest dir eigentlich nehmen, was du brauchtest. Denk an all die Kleider, die du dir gekauft hast, an den Kleinwagen, an den Urlaub. Nie haben wir dir irgendwas vorgeworfen oder vorgerechnet..., aber wenn du so weitermachst, setzen wir dich gleich vor die Tür.” “Eben vor so etwas muß man als Frau... Was rede ich denn da? Mann als Frau! Eben vor so was muß frau geschützt werden.” “Ach, die Männer sollen wohl nach eurer Meinung vor die Tür gesetzt werden?” “Warum denn nicht?” Kurz, die Ehe der Freunde hatte jenes Niveau erreicht, das ja auch für viele Zweierbindungen so typisch ist, besonders da, wo die Frau zu Hause bleibt und sonst nichts zu tun hat. Mit Aurora aber war es nicht mehr leicht auszukommen. Das schöne Gesicht, das sie bekommen hatte, sah jetzt immer öfter böse und gereizt aus und der häusliche Frieden hing jeden Tag schiefer. Die Freunde brachten es aber doch nicht übers Herz, sie auf die Straße zu setzen. Um Aurora auf andere Gedanken zu bringen, rieten ihr die Freunde eines Tages, doch arbeiten zu gehen. Einen Vorschlag, den Aurora sofort aufgriff. Es gab nur eine Arbeit, die sie tun konnte. Sie lief gleich zu Johnnys früheren Freunden. Die hatten ja schon einmal Auroras neue Schönheit bewundern können. Wer so gut aussieht, muß gut anschaffen können. Johnnys Freunde waren praktische Menschen, sie akzeptierten das Wunder der Heilung, die Verschönerung der Fassade, mit dem gleichen Defizit an Verwunderung, mit dem gläubige Katholiken Marias unversehrtes Hymen akzeptierten, und wie die Kirche aus jenem Stabilitätswunder, 561
das selbst bei der Geburt eines Gottessohnes nicht riß, ihren Profit zog, so zogen Johnnys Freunde aus Auroras neu gewonnener Schönheit Profit, und ansonsten freuten sie sich, ein Rennpferd mehr laufen zu haben, das sich natürlich auch von ihnen bespringen lassen mußte. Verweigern gab's nicht, da setzte es Prügel. Aurora kehrte nie wieder in das Haus ihrer vier Ehemänner zurück. Spinner, Idealisten! Ihre Verachtung für Adjuna und seine Freunde stieg in der Abwesenheit noch. Sie nannte sich auch wieder Elvira. Der Sonnenaufgang war zu Ende, aber ihre neue Welt war nicht die der grellen Mittagssonne, von der hatte sie nur die Brutalität, sondern die sonnenlose Halbwelt, dessen bleiche Akteure in die Flammen der eigenen Lust stürzten wie vom Licht geblendete Motten, dort war man blind für das eigene, sowie für das Unglück anderer, man suchte nur das eigene Glück, Glücksgefühle, -momente, man sah es vor sich, zum Greifen nah unerreichbar, man war Tantalos, aber man sah nur die Trauben, nicht die Brühe, in der man saß, man war auch nicht verzweifelt, denn man sah ja die eigene verzweifelte Lage nicht, wie Tantalos schwebte man in ständiger Todesgefahr, aber wenn Tantalos noch insgeheim den Tod als Erlösung herbeisehnte, hier wollte man leben, leben, leben, man hatte ja noch soviel zu genießen. Diese Sucht zu leben, solange man noch lebte, ließ die Helden der Halbwelt über Leichen gehen. Elvira alias Aurora alias Elvira alias Gottholde wollte wieder leben, leben, leben. Ach, wenn sie es sich doch mit den Händen einstopfen könnte, das Leben, dieses Leben, dieses unbeschreibliche Prickeln in den Fingern! Vielleicht war es da oder dort, vielleicht hatte man es übersehen, nicht zugegriffen, wo man hätte zugreifen sollen! Oh, es war aufregend, nicht mehr Ehefrau, nicht mehr Hausfrau zu sein, nicht mehr mit Weltverbesserern Gutes wollen zu müssen! Leben, rohes Leben, Ausbruch total! War es im Keuchen der Freier, im gebrochenen Blick beim Orgasmus? War es in der Demütigung, wenn er nicht zahlen konnte, da seine Brieftasche gestohlen war? Oder im Triumph? In der eignen Demütigung? Im kräftigen Griff der brutalen Umarmung? In der Verachtung aller Werte? Im Zynismus? Ihre neuen Freunde gingen an keinem Schwachen vorbei, ohne ihn nicht zu treten. War das Leben 562
nicht greifbar, indem man nach dem Geld griff, dem leichten Geld, dem Reichtum, besonders wenn man damit protzte und das Leben anderer vernichtete? Lag das Geheimnis des Lebens im weißen Pulver, das sie verkauften? Im Kokain? Im LSD? Im Blut, das sie in diesem Handel vergossen und investierten? Wirkte es nicht belebender, als irgendein Rauschgift, dieses Blut, dieses Blut, das an allen krummen Dingen hing? Brauchte man nicht das Blutopfer der anderen für sein eigenes Leben? Sie war trunken, berauscht, aus den Fingern geglitten, von Magie besessen: Sie mischte ihr weißes Pulver mit Blut. Leben und Tod.
Adjuna und die Freunde aber warteten vergeblich auf Auroras Rückkehr. Sie hätten froh sein können, aber sie waren traurig. Das mag bei manch einem Leser auf Verwunderung stoßen, aber wer nicht zu verwundern weiß, kann weder Schriftsteller noch Religionsstifter sein. Sind nicht die Schöpfung und das Leben selbst voller Verwunderung? Und wenn der Schriftsteller den Verirrungen des Lebens nachirrt, all dessen Schlichen nachschleicht, die Phantasie von Religionsstiftern nachphantasiert, Zauber vorzaubert, über Denker nachdenkt, die Zukunft vorwegnimmt und sich auch die Vergangenheit vornimmt, beschreibt er da nicht das Leben - und seine eigene Verwunderung mit dem Leben? Der Schriftsteller möchte, daß sein Leser nicht so sehr in ein Buch schaut, als viel mehr in einen Spiegel. Er würde, wenn es nicht so unpraktisch wäre, sein Buch in Spiegelschrift schreiben, denn dann wäre der Leser gezwungen, in beides zu schauen, Spiegel und Buch, und sähe wohl möglich gar sich selbst. Was fände der Leser da, in seinem eigenen Gesicht? Alle geleiteten und irregeleiteten Gefühle: Übereinstimmung mit dem Gelesenen, Glück, Freude, Trauer, Spannung, grasse Ablehnung, Zorn, Haß, Empörung, bei einer geilen Szene vielleicht eigene Erregung oder Verletzung seines Sittlichkeitsgefühls, Scham, Protest: Der schreibt wohl mit dem Schwanz! - Seid versichert: Mein Schwanz ist Analphabet! - Nicht nur 563
ich bin der Leiter seiner Gefühle, sondern er hat viele Leiter vor mir gehabt. Wer ist schon sich selbst? Hier sind wir, was wir sein sollen, und da sind wir das Gegenteil von dem, was man aus uns machen wollte. Uns selbst zu sein, gelingt uns wenn überhaupt nur selten. Aber ich spüre, die Verwunderung des Lesers, daß diese Predigt gerade an dieser Stelle steht. Auch das hat System. - Und außerdem mußte es mal gesagt werden. Jetzt aber zurück zu Adjuna. Es zieht ihn nach Sankt Pauli. Diesmal predigt er nicht, sondern interviewt die Leute. Alles ist gegenwärtig:
In Sankt Pauli sind Mädchen, und wo Mädchen sind, sind Männer. In Sankt Pauli sind viele Männer. Viele verschiedene Männer.
Adjuna stellt Fragen:
An den Schriftsteller: Warum schreibst du? Um nach dem Tod noch ein bißchen zu leben.
An den Arbeiter: Warum arbeitest du? Um mir mehr zu kaufen.
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An den einen Verbrecher: Warum stiehlst du? Um nicht arbeiten zu müssen. Und an den anderen Verbrecher: Warum verbrichst du? Wenn man ein Gesetz übertritt oder ein Verbrechen begeht, soll man es nicht des Geldes wegen machen, das wäre Krämerart, sondern der Aufregung und Begeisterung wegen. Der eine angelt für den Kochtopf, der andere als Sport.
An den Politiker: Warum bist du Politiker geworden, hältst laute Reden und versprichst leere Versprechen? Das kann man an den Fingern abzählen. (Er tat es.) Macht, Geld, Prestige, Freunde in der Industrie, die mich brauchen und gut bezahlen --- man wird bewundert -- die Massen mögen einen - Angst vor Idealisten, die die Gesellschaft verändern.
Adjuna für sich: Ist es so, daß Arbeiter, Verbrecher und Politiker in dieser Welt leben, aber die Schriftsteller wie die Gläubigen dieser Welt entsagen für eine fragwürdige Nachwelt? 565
Aber warum schreibt man Tragödien? Weil die Menschen Trauer und Leiden zu genießen wissen. - Und vor allen Dingen täglich neu schaffen.
Adjuna näherte sich dem Eros-Center. Tempel der Liebe, Tempel der Triebe, wo ist da der Unterschied? dachte er verächtlich. Da sah er Aurora. Sie wandte sich ab, es war klar, sie wollte ihn nicht. Sie war ihm überlegen: Ihre Ablehnung war größer. Nur einen Moment hatte Adjuna ihr Gesicht gesehen. Sie war schöner denn je. Bleich, unnahbar. Auch wenn sie für ein paar Mark zu haben war, es war klar, man hatte sie nie, niemals, niemand. Sie, die das Leben zu fassen suchte und unerreichbar fand, war selbst anziehend und unerreichbar zugleich geworden. Vielleicht war das anziehendste an ihr, daß man an ihr so überdeutlich sah, sie war wie die Königin der Nacht nicht angesetzt, lange zu blühen. Wie kam man darauf? Es waren die Augen. Sie waren so anziehend kalt, der kalte Blick des Todes. Was zog mehr an als der Tod? Nichts. Selbst der Feigling im Bett, der nicht sterben will, läßt sich anziehen und stirbt. Sie war die Göttin des Todes: Wenn man glaubte, die eigene Sinnlichkeit habe sie erreicht, schwanden einem die Sinne, das Lebende an einem vermoderte und es blieben nur bleiche, sinnlose Knochen. Die Göttin des Todes verkaufte sich teuer. Billige Quickies waren bei ihr nicht drin. Wer sie freien wollte, mußte tief in die Tasche greifen und Zeit mitbringen, erst saß man sich gegenüber, sprach ein wenig über dieses und jenes, ließ sich bezaubern, rauchte etwas gemeinsam, hatte ein paar Drinks, Magic Potion, weißes Pulver mit rotem Blut, 566
man trank ahnungslos, aber gierig... Man versprach wiederzukommen, denn man war ja noch nicht satt. Sie machte nicht satt. Eine Göttin des Todes. Sie zeigte Adjuna den Rücken, aber ihr Zauber wirkte auch hinter ihrem Rücken. Adjuna wollte sie freien. Doch bevor er sie erreichte, war da schon ein anderer Freier. Nach kurzer Verhandlung gingen die beiden davon. Sie weg, der Freier weg, der Zauber weg. Wenn sie nichts von mir wissen will, dann eben nicht. Erlöst verließ Adjuna den Tempel.
Am Morgen beim Frühstücksei. Es war immer noch sehr still bei ihnen, besonders am Frühstückstisch, obwohl Aurora jetzt schon mehr als sechs Wochen weg war. Sie vernachlässigten ihre Arbeit und selbst ihr Idealismus litt. Da sie wenig Pläne machten, brauchten sie nur wenig miteinander zu sprechen. Schweigend klopften sie mit ihren Eierlöffeln am Frühstücksei und brachen die Schale. Mit Daumen und Zeigefinger entfernten sie dann die Schalenstücke, Adjuna und Luz an der Spitze des Eies, der Lebendige Gott und der Sänger an der Breitendseite des Eies. Adjuna unterbrach das Schweigen: “Ich hatte einen Traum.” Alle blickten auf. “Ich träumte, ich ging durch einen Wald von Ja-Sagern...” “`Ja' wozu?” “Ja zum Untergang. Es gab niemanden, der Nein sagen wollte.” “Hatten sie vielleicht ein Buch.” “Kann schon sein.” Ihre Stimmen klangen so verloren, als saßen sie in einer großen, leeren Halle. “Sie hatten bestimmt ein Buch.” Alle: “----” “Was wollte ich sagen? - Ach ja, Kampf aller gegen alle, homo homini lupus, der Mensch dem Menschen ein Wolf. Ja, sie hatten bestimmt ein 567
Buch.” “Es sind immer die Bücher. Darin finden sie ihre Religionen und Ideale.” “Nein, die Natur ist stärker als Ideale, und im Menschen ist die menschliche Natur allemal stärker als seine Ideale. Es ist daher nur zu menschlich, daß der Mensch für seine Ideale mordet, da es seiner Natur entspricht.” “Ach, hätte er doch keine Ideale, so hätte er schon einen Grund weniger, ein Unmensch zu sein.” “Oder keine Natur.” “----” “Wir müssen die Irrationalität bekämpfen.” “Rationalität contra Irrationalität.” “Rationalität contra Religion” Ihre leeren Stimmen hauten auf den Tisch.
An diesem Punkt fällte Adjuna eine seiner schrecklichen Entscheidungen: Er wollte wieder auf Reisen gehen, diesmal allein. Er wollte Erleuchtung suchen. Er fühlte, er wußte immer noch zu wenig. Er, der Muskulöse, wollte den Muskellosen aufsuchen. “Willst du sofort losfahren?” “Nein, erst nach den beiden Märthyrergedenktagen im Dezember. Wer weiß, für viele ist das noch ein Familienfest, und ich störe da vielleicht.”
Die Reise zum Muskellosen
So geschah es also, daß im kältesten Winter der Muskulöse zum Muskellosen fuhr. Die Leute munkelten, daß die Götter dem Muskellosen die Muskeln genommen hätten, da sie wollten, daß er ganz Gehirn sei, wie alle zukünftigen Menschen ganz Gehirn sein sollten, damit endlich brutales Zuschlagen ein Ende habe. 568
Schluß! Keine mystischen Spekulationen mehr! Es ist und bleibt nur eine schreckliche Krankheit! Einflüsterung: Ist es nicht vielleicht doch ein Symbol für den neuen Menschen, der seine Abenteuer nicht mehr der Spannkraft seiner Muskeln verdankt, sondern der Verästelung seiner grauen Zellen? Sollte der hoffnungsvolle Anfang von Forschung und Wissenschaft einmal zu Verkrustung führen und einem neuen Aberglauben mit Personenkult hervorbringen, diese Symbolfigur besaß die Voraussetzung, einer neuen Priesterschaft als Heiland zu dienen, nämlich ein schweres, persönliches Schicksal. Ein solches Schicksal war geeignet, allen, denen es gut ging und die gesund waren, ein schlechtes Gewissen zu geben, es bedurfte nur der richtigen Worte, die Priester ja bekanntlich immer fanden.
In Gedanken führte Adjuna schon sein Gespräch mit der Geistesgröße. Er hörte den Muskellosen dozieren: “Das Universum wird von vernünftigen Gesetzen beherrscht.” “Da mögen Sie ja rechthaben, aber das Verhalten der Menschen...” “Ziel muß sein, daß auch das menschliche Verhalten von rationalen Gesetzen bestimmt wird.” In Gedanken hatte Adjuna schon einen Verbündeten gefunden.
Endlich stand Adjuna vor dem Haus des Gewaltigen. Verzagt klingelte er. Ihm wurde geöffnet und er wurde zum Muskellosen vorgelassen. Adjuna stellte sich vor und kam dann zu seinem Anliegen: “Das Verhalten des Menschen wird noch immer von Irrationalitäten geleitet, er gibt sein Glück, ja selbst sein Leben noch immer für irrationale Worte und Werte hin. Er glaubt noch immer alles Mögliche, aber weiß nicht, was gut für ihn ist. Hochtechnische Waffen stapelt er und eine Menge unsinniger Gründe, die den Gebrauch der Waffen rechtfertigen 569
werden. Gewaltiger, man sagt, Sie haben das beste Geben Sie mir Erleuchtung! Damit ich die Welt Damit ich den Leuten ihren Glauben nehmen und das Wissen um die rationalen Gesetze geben kann, nach rationalen Gesetzen zu leben.”
Gehirn der Welt. erleuchten kann. ihnen stattdessen so daß sie lernen
“Auch wir Physiker haben einen irrationalen Glauben. Wir glauben an die Logik.” Die Logik; das war Adjunas Stichwort: “Aber sehen Sie doch einmal: Ihr Heimatland zog gerade in den Krieg, um im fernen Arabien für die Freiheit von Ölscheichs zu kämpfen, und gab der Freiheit im eigenen Land einen Fußtritt, indem es das Singen von Friedenslieder verbot. Ist das logisch?” “Sooo, dieses Land zog in den Krieg. Wir Physiker müssen uns ganz auf unsere Sache konzentrieren und alles andere ignorieren. Nur ein kleiner Ausschnitt der Wirklichkeit darf uns interessieren, mal sehen wir das Elektron als Welle, mal als Elementarteilchen, beide Aspekte des Elektrons gleichzeitig zu sehen, gelingt uns nicht, dafür ist das Thema zu umfangreich, das können wir einfach nicht bewältigen, auch nicht mit einem Supergehirn. Wir strengen uns an, beide Aspekte gleichzeitig zu sehen, aber bisher gelang es uns noch nicht. Aber wo wir nicht einmal unser eigenes, kleines Thema verstehen, wie können wir es da wagen, die Kriege von Nationen verstehen zu wollen? Ich weiß, diese Bescheidenheit steht ganz im Gegensatz zum Philosophen und Schriftsteller, für den es ohne weiteres eine Tugend ist, einen möglichst breiten Ausschnitt der Wirklichkeit zu überblicken. Ein normaler Schriftsteller mag allerdings bei seinem Überblick die Elementarteilchen übersehen. - Aber wenn ich Sie richtig verstanden habe, beklagen Sie es, daß die Soldaten nach Arabien in den Krieg zogen und dort für die Freiheit der Ölscheichs kämpften und nicht umkehrten, um für die Meinungsfreiheit im eigenen Land zu kämpfen. Dabei haben Sie selbst - unlogischerweise - behauptet, es sei schlecht, daß die Menschen noch immer glauben und Werte haben. Nun, diese Soldaten glaubten offensichtlich an keine Werte, an nichts. Freiheit, 570
insbesondere Meinungs- und Gesangsfreiheit waren für sie leere Begriffe.” Adjuna war empört. Sollte sein Gegenüber nicht logisch denken können? “Warum kämpfen sie denn im fernen Arabien, wenn Freiheit ein leerer Begriff für sie ist?” “Das wird militärjuristische, wehrdisziplinarische Gründe haben. Um an einer anderen, nicht verordneten Stelle für Freiheit zu kämpfen, muß man ja erst mal Fahnenflucht begehen, was unangenehme persönliche Folgen für den einzelnen hat, die er, selbst wenn er sie mit dem Risiko zu sterben aufrechnet, nicht eingehen möchte. Aber wie ich vorhin schon sagte, als Physiker sehe ich nur einen kleinen Ausschnitt dieser Welt und der ist nicht einmal ein Mikron breit, und wenn ich einmal einen Menschen sehe, dann ist das meist ein anderer Physiker. Aber immer sehe ich den Menschen als homo sapiens, nie als homo militaris oder politicus oder oeconomicus. Die Motive vieler Menschen sind mir also verborgen.” Nach einer pensiven Pause: “Es erscheint auch mir irrational, daß eine hungernde Menschheit ihr Vermögen für Waffen verschwendet”, er seufzte, “aber fragen Sie mich nicht nach Analysen, wo ich nicht zu analysieren vermag.” “Gut, wie ist es denn mit den rationalen Gesetzen?” Der Muskellose drückte einen Knopf, und einen Moment später traten vier Diener in das Zimmer. Auf einen Wink hin nahmen sie den Forscher auf. “Folgen Sie mir”, sagte der Muskellose, “wir gehen hinunter in die Laboratorien, in die Brodelküchen des Urknalls.” In den Augen des eingefallenen Gesichts flackerte Triumph. Die Diener trugen den leichten Körper des Wissenden eine steile Treppe hinunter, die in eine unerwartet große Halle führte. Riesige Kupferspulen, in ihrer Gewaltigkeit wirkten sie beängstigend auf Adjuna, füllten den größten Teil der Halle aus. Das ist die Blasenkammer”, rief der Muskellose. Die Diener hatten ihn auf einen
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Stuhl gesetzt, der sich mystischerweise von selbst bewegte und jetzt aufgeregt vor der haushohen Maschine hin- und herfuhr. Die Begeisterung seines Gegenübers war entwaffnend, sie ließ Adjuna kraftlos werden. Hier war der Muskellose der Gigant. Unsicher gestand Adjuna: “Ich sehe aber keine Blasen.” Der Nuklear-Forscher grinste: “Die entstehen erst, wenn im durch Druckerniedrigung entstandenen Zustand der Überhitzung ein Teilchen eingeschossen wird.” “Ach so.” Verlegen blickte Adjuna sich in der Halle um. Wo wird hier geschossen? Und meinte der Gewaltige mit Kammer wirklich diese große Halle? Aber als ob der Muskellose Gedanken lesen konnte, deutete er auf die riesige Maschine: “Diese Elektromagnete lenken die eingeschossenen Teilchen ab. Aus der Bläschen-Spur, die die Teilchen in der überhitzten Freon-Flüssigkeit hinterlassen...”, er zeigte auf das Zentrum der Anlage, “schließen wir auf Ladung, Energie und Art der Teilchen, Spin, Strangeness, Baryonen-Zahl...” Adjuna sah jetzt ein bißchen klarer. Ein massives Rohr führte in die Anlage. Das Kanonenrohr, mit dem die Teilchen eingeschossen wurden? Vorsichtig ging er am Rohr entlang. Es kam aus einem engen Tunnel und schien geradezu bis in die Unendlichkeit zu gehen, wie er im schwachen Licht erkannte. Der Muskellose hatte ihn schon mit seinem Stuhl überholt: “Das ist die Vakuumröhre, in der die Teilchen beschleunigt werden.” “Wo kommt man denn da hin, wenn man da geradeaus geht”, wollte Adjuna vom Tunnel wissen. Ihm schien da in der Unendlichkeit ein tiefes Geheimnis zu lauern. “Nirgends.” 572
Adjuna war entgeistert. Hatte nicht einst ein Guru gelehrt, daß das Maya, das Nirvana nirgends sei, nicht im Raum und nicht in der Zeit? Und jetzt stand er hier neben einem anderen Guru, einem Guru des Wissens und der Wissenschaft, und der hatte das Ungeheure in seinem Hinterstübchen oder besser Untergeschoß, nämlich einen Tunnel, der ins Nirgends führte. Ihm schwindelte. Er wollte den Tunnel entlang laufen, aber seine Beine knickten ihm weg. Als er wieder zu sich kam, fand er den Muskellosen spöttisch lachend über sich. Ein dicker Wurm, der sich durch diese Röhre zwänge, nähme ein eindimensionales Universum wahr, nicht wahr, denn es gäbe für ihn ja nur vor und zurück. Kröche er jedoch immer geradeaus, so erginge es ihm wie den Menschen, die die Erde für eine zweidimensionale Ebene hielten, jedoch ohne Angst runterzufallen, weiter und weiter in eine Richtung reisten, bis... ja, bis sie wieder da ankamen, von wo sie abgereist waren. Ein Raumfahrer dürfte beim Versuch, das Universum zu verlassen, eine ähnliche Erfahrung machen. Doch müßte er die Lichtmauer durchbrechen, was gegen die Verkehrsregeln ist.” Vor Adjunas Augen kreiste es, so daß der Muskellose zu kobolzen schien. Er verstand. “Richtig. Es handelt sich hier um einen gigantischen Kreis, eine Ringanlage, dessen Röhre sich unter Bergen und Tälern, Städten und Ländern fortpflanzt, bis sie schließlich von der anderen Seite wieder in diese Halle, in diese Apparatur kommt”, dozierte der Kobold jetzt, “tatsächlich ist der Ring so groß, daß, wäre es der Nasenring eines Giganten, dieser Gigant so groß wäre, daß er mit der Erde Kugelstoßen machen könnte. Aber mit dieser Maschine haben wir das Szenarium des Universums entschleiert. Die Requisiten und Dekorationen des größten Theaters liegen offen und ohne Vorhang vor uns, und es ist nicht mehr notwendig für uns, an Götter und Giganten zu glauben, die die Genesis ins Rollen brachten.”
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“Dann entschleiere auch meine Augen!” rief Adjuna begeistert. Der Muskellose schwebte mit seinem Sitz ein Stück höher auf eine Plattform an der großen Apparatur. Das ist kein gefallener Engel, dem die Götter die Flügel genommen haben, dachte Adjuna mit Bewunderung. Die mechanische Stimme des Muskellosen dozierte weiter: “Mit dieser ungeheuren Maschine beobachten wir die Geburt der Materie, wir lernen, wie die Elementarteilchen durch Kollisionen und QuantumInteraktionen anderer Elementarteilchen ins Leben kommen, und wir lernen, wie sie ihr Leben aushauchen, entweder indem sie zerfallen oder indem sie in anderen Kollisionen verschlungen werden. Dabei erkennen wir Gesetzmäßigkeiten und Zwangsläufigkeiten. Sie helfen uns beim Aufstellen unserer Theorien. Ich kann ja mal versuchen, Ihnen so eine Theorie vorzuführen, so weit es mir in der brutalen Sprache der Nichtmathematiker gelingt, mit deren Mitteilungswerkzeug sich ja nur primitive Gedanken denken und formulieren lassen, jede Kraft zum Muskel und jedes Elementarteilchen zum Stein wird, und wenn man sich zirkulare Polarisationen vorstellen soll, wirft man den Stein ins Wasser und nennt das Eine Welle und das Ganze, damit meine ich, den ganzen Erregungszustand des Raumes um das Elementarteilchen Feld. Es ist klar, daß alle Stammessprachen dieser Erde geschaffen wurden für Brunst, Brautschau, Ackerbau und Viehzucht, Kuhhandel, Krieg und Religion. Trotz dieser Beschränkung, die uns unsere naturvölkische Sprache und Gedankenwelt aufzwingt, und des Mangels an einem anderen gemeinsamen Medium zur Verständigung werde ich also jetzt versuchen, Ihnen eine Vorstellung von einer unsrer Theorien zu geben, und zwar einer, die sich mit dem größten Problem der Physik, nämlich der Suche nach dem Heiligen Gral, dem Stein der Weisheit, befaßt, die für uns die Vereinigung der vier Kräfte der Natur ist, und den kleinsten Bausteinen, den Ultimonen, die in dieser Theorie Superstring heißen, da es sich bei ihnen um superkleine eindimensionale Saiten handelt, die der Supersymmetrie der Elementarteilchen gerecht werden. Wie alles, was Super ist, so hatte auch dieser Superstring oder -strang - das 574
können wir ganz so nennen, wie es Ihrer Zunge oder Vorstellung entspricht - einen nicht ganz so außergewöhnlichen Vorgänger.” “Bleiben wir ruhig bei Ihrer Zunge und nennen wir das Ding String. Strang erinnert mich so an Strangulieren.” “Ja, normale Sprache ist eine brutale Angelegenheit. Wie immer wir es auch nennen, es ist schwer, es sich vorzustellen. Schon den nicht so außergewöhnlichen Vorgänger sich vorzustellen, fällt schwer, dabei handelt es sich bei ihm noch um eine verhältnismäßig große - Wie beschreibt man es am besten in unserer Stammessprache? - Wurst oder vielleicht Peitsche? Wissen Sie, wir Physiker wurden lange Zeit von Geistern geplagt. Nein, nicht von solchen. Die dringen nicht in unsere Welt ein. Sondern die Geister, die uns plagten, drangen in unsere Formeln ein und waren negative Wahrscheinlichkeiten und übergroße Wahrscheinlichkeiten von weit über hundert Prozent sowie Unendlichkeiten und Ungereimtheiten. Sie erschienen zum Beispiel in unseren Theorien zu den Hadronen, also den Teilchen der starken Wechselwirkung, wie den halbspinnigen Baryonen, zu denen die Neutronen und Protonen gehören, und den Mesonen mit ihrer ZeroBaryon-Nummer, deren Spin immer ganzzahlig ist. Es gelang diese Geister zu verjagen, indem man die Hadrone nicht mehr als ausdehnungslose Punkte, oder unförmige Klumpen oder gar Klötze behandelte, sondern als eindimensionale Objekte, deren Enden mit Lichtgeschwindigkeit herumpeitschten. Diese Objekte waren noch relativ groß, - so wie der Mensch im Verhältinis zur Sonne groß ist, so waren diese Objekte im Verhältnis zum Menschen groß, also genauso groß wie die Hadrone. Leider drohten diese Strings die relativistische Kovarianz zu zerstören. Um relativistisch korrekt zu sein, war ein Raum von 26 Dimensionen erforderlich. Einen solchen Raum zu schaffen, ist - analog zur dichterischen Freiheit - mathematische Freiheit. Überhaupt hat man es ja als Wissenschaftler viel mit Analogien zu tun und muß analog denken können.” “Ah, das verstehe ich: Wie das Bein des Nashorns ein Aphrodisiakum liefert.” 575
“Um nicht zu sehr mit der Wirklichkeit in Konflikt zu geraten, ließ man, 22 der 26 Dimensionen komprimieren, in sich selbst aufrollen, so daß uns als sichtbare und wahrnehmbare Dimensionen die drei räumlichen und die eine zeitliche Dimension blieben. Später dann ließ man die ganze Theorie liegen - oder fallen? Jedenfalls war wieder null Stringtheorie. Aber in den Köpfen der Nuklearforscher war der String wie ein virtuelles Teilchen, schon bald tauchte er wieder auf, als verbesserte Idee und wesentlich verkleinert, wie ein Hadron im Verhältnis zum Menschen klein ist, so war der neue Superstring im Verhältnis zu einem Hadron klein. Neue Erkenntnis zur Supersymmetrie wurden auf ihn angewandt, und es war nicht mehr nur seine Aufgabe, ein Elementarteilchen zu erklären, sondern alles. Selbst die vier Kräfte der Natur ließen sich aus der Geometrie und Topologie der Strings berechnen, ohne daß die Ergebnisse ins Unendliche explodierten. Und man brauchte auch keine 26 Dimensionen mehr, sondern kam mit zehn aus.” “Ah, ich verstehe, Dezimalsystem.” Der Muskellose hatte wahrscheinlich Adjunas Kommentar überhört, denn er fuhr mit seinen Ausführungen fort. “Wenn man die Enden eines Strings zusammenfügt, erhält man einen geschlossenen String, einen Kranz oder eine Schlinge, ein solches Gebilde sieht aber für uns genauso aus wie ein masseloses Boson mit Spin 2, also wie das Quantum-Partikel eines Gravitationsfeldes, das Graviton.” Die geistige Schärfe, die diese Erkenntnis ermöglichte, begeisterte den Erzähler. Wenn da auch irgendwelche Vorhänge zurückgerissen worden waren, so daß man dem Universum hinter die Kulissen gucken konnte, Adjuna übte sich im Moment in der Kunst der Verstellung, der Schauspielerei. Er spielte die Rolle des begeisterten Zuhörers. Und da er gut spielte, bekam er noch mehr zu hören. “Seit Einstein wissen wir”, führte der Muskellose nach kräftigem Durchatmen weiter aus, “daß, wenn sich ein physikalisches System der 576
Lichtgeschwindigkeit nähert, die Massen zunehmen, die Uhren langsamer laufen und die Zollstöcke zusammenschrumpfen...” Mein Gott, dachte Adjuna, wo war ich, daß ich nichts davon weiß, schlimmer noch, nicht weiß, wie ich das verstehen soll. Oh, ich habe mich zuviel mit Menschen und Mystik befaßt, und jetzt verstehe ich die Materie nicht. Was meint er bloß mit Massen nehmen zu, Uhren laufen langsamer? Liegt es daran, daß die Zeiger schwerer werden? “...daraus folgt, daß für verschiedene Beobachter die Phänomene verschieden aussehen, je nach ihrer Geschwindigkeit, jeder trägt praktisch sein eigenes Koordinatensystem mit sich herum. Aber wohlgemerkt, nur die Erscheinung der Phänomene ändert sich, nicht die Phänomene selbst, die Gesetze der Natur bleiben unverändert. Für den Superstring heißt das, seine physikalische Form darf sich nicht von einem Koordinatensystem zum anderen ändern, diese Art von Kovarianz beschränkt das Aufstellen von Gleichungen zum Superstring schwer. Ein eindimensionaler String bildet zum Beispiel im Raum-Zeit-Kontinuum keine Welt-Linie, sondern eine Welt-Fläche. Nun zwingt aber die relativistische Symmetrie innerhalb der StringTheorie dieser Welt-Fläche ein Aktionsprinzip auf, nach dem sie kleinstmöglich gehalten werden muß. Daraus ergibt sich unmittelbar, daß der String masselos ist und seine Enden mit Lichtgeschwindigkeit um sich hauen. Trotz dieses Mangels an Masse ist es aber für den String möglich, massive Partikel zu repräsentatieren, denn, da er vibriert und rotiert, verfügt er über eine ganze Reihe von Energiestufen, und - Energie und Materie sind ja miteinander verwandt.” Adjunas Lehrer zog die Augenbraue hoch und erhob seinen Zeigefinger. “E = mc 2 heißt die magische Formel.” Adjuna erschauderte. Ihm war plötzlich sehr kalt. Er fing an zu zittern. Diese unwillkürlichen Kontraktionen seiner willkürlichen Muskeln bedeutete, daß in ihnen chemische Energie in Arbeit umgewandelt wurde. Eine Anstrengung, die ein bißchen erwärmte. “Das Aufstellen von Superstring-Gleichungen wurde aber nicht nur durch relativistische Symmetrie eingeschränkt, sondern auch durch 577
einen Bruch der Symmetrie bei der elektroschwachen Wechselwirkung, also durch eine auch in der Nuklearphysik beobachteten Chiralität. Händigkeit, die Entscheidung für eine Hand, ist nicht, wie viele vielleicht glauben mögen, ein Privileg der Menschen, auch schon im bio-molekularen Bereich wurde Chiralität festgestellt. Da sind es die Linkshänder, also die, die links differenzierter ausgebaut sind, die in biologische Prozesse aufgenommen werden. Es ist praktisch wie bei den Menschen, deren Mehrheit sich ja auch durch eine stärkere funktionelle Differenzierung der linken Gehirnhälfte auszeichnet, und die sich dann weigert, die mit der stärker entwickelten rechten Gehirnhälfte in die Gesellschaft aufzunehmen. Ich weiß, wovon ich rede. Als ich meine Hände noch benutzen konnte, hat man mich wegen meiner Linkshändigkeit gehänselt. Wer kennt es nicht, all dieses dumme Gerede von linkisch und schwarzer Katze von links und vom biblischen Buhmann-Glauben, der links der Magie zuordnet und die rechte Hand zum Segnen benutzt. Menschen haben schon noch viel Ähnlichkeit mit Mikroben. Aber wir waren ja bei der Chiralität der Elementarteilchen. Auf Quanten-Niveau hatten wir Chiralität wirklich nicht erwartet. Wir dachten, genauso viele Teilchen hätten rechtshändigen Spin wie linkshändigen. In der Tat hatte ein Kollege von mir, als die Hypothese von der Händigkeit der K-Mesonen auftauchte, eine beträchtliche Summe Geld darauf verwettet, daß Gott weder Links- noch Rechtshänder sei.1” “Gott?”
“Ja, wir Physiker drücken uns manchmal poetischer aus als die Poeten, aber dabei vergessen wir natürlich nicht, daß wir eigentlich einen vernünftigen Beruf haben.”
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Wolfgang Pauli ging diese Wette ein, als Tsung-Dao Lee und Chen Ning Yang die obige Hypothese aufstellten. Kurze Zeit später entdeckte eine Forschergruppe um C.S. Wu eindeutig die Chiralität bei Elektronen im Kobolt-Zerfall. Information entnommen aus “Superstrings and the Search for The Theory of Everything” von F. David Peat.
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“Daß, wenn Ihr von den kleinsten Dingen sprecht, Ihr sie nach dem großen Gott benennt, zeigt, daß Ihr zu spotten versteht.” Der Muskellose lachte herzlich: “In unseren Laboratorien wiesen wir nach, daß Gott Linkshänder ist. Wenn das bis zur Bevölkerung durch gedrungen ist, wird Sinistralität wohl kein Stigma mehr sein.” “Es ist zu befürchten, daß sie dann was Neues finden.” “Ja, vielleicht werden sie dann die diskriminieren, die eine stärker ausgebildete rechte Hirn-Hemisphäre besitzen, was dann aufs Gleiche hinausliefe.” “Ja, die Behauptung, die göttliche Großhirnhälfte sei unterentwickelt, kann man auch ohne all zu große Anstrengung seiner grauen Zellen aufstellen.” “Ja, Denkfaulheit ist ein großes Übel.” Die Beiden benahmen sich wie zwei Wellen gleicher Länge und Amplitude ohne Phasendifferenz, aber schließlich, als sie gar zu gemütlich am Oszillieren waren, raffte sich der Muskellose zusammen, um weiter von seinen Super-Strings zu erzählen. “Ich will meine Gyri und Sulci jetzt mal dazu benutzen, um für Sie zusammenzufassen, welche Anforderungen an eine Theorie der Superstrings gestellt wurden: Sie mußte kovariant sein, symmetrisch und supersymmetrisch, das heißt, im Spiegel der Supersymmetrie mußten Bosonen zu Fermionen werden und umgekehrt, und außerdem mußte die Theorie - wie wir gesehen haben - chiral sein und natürlich frei von Geistern, Unendlichkeiten, Anomalitäten und Tachyonen, das sind Teilchen, die jenseits der Lichtmauer existieren würden, wenn man die Grenze der Lichtgeschwindigkeit als Symmetrieachse benutzen würde. Selbstverständlich mußte die Theorie wie jede Theorie die Phänomene erklären. Das war sehr schwer. Nun gab es eine These, die besagte, daß die Kräfte der Natur durch das Aufrollen höherer Dimensionen entstanden seien, doch die Kräfte entstanden nur 579
bei einer ungeraden Anzahl von Dimensionen, während die Händigkeit der Natur nur bei der geraden Dimensionenanzahl von zehn und mehr erschien, aber beim Komprimieren der Dimensionen wieder verschwand. Doch das eigentliche Problem war, daß man noch zu sehr in der Punkt-Partikel-Vorstellung befangen war und nicht erkannte, daß eindimensionale Strings bei ihren Interaktionen gar keine Kräfte von außen brauchten, keine Quantum-Partikel austauschten. Interaktionen ergaben sich ganz einfach aus der Topologie des Strings, was heißt, er kann reißen, an den Enden zusammenkommen, Schlaufen bilden, Buchten, Augen und Achten. Und wenn so ein String reißt oder sich mit einem anderen vereinigt, sieht es aus, als ob sich die Quantenzahl ändert. Es wurde schließlich eine Symmetrie, die unter hohen Energien und kurzen Distanzen im zehndimensionalen Raum alles miteinander vereinigt, gefunden, erst wenn die Energie sinkt und die Entfernungen größer werden, bricht die Symmetrie und die verschiedenen Eich-Felder und Masse-Teilchen erscheinen. Beim Bruch der Symmetrie teilen sich die Gleichungen in einen vierdimensionalen und einen sechsdimensionalen Teil. In unserem vierdimensionalen Raum-Zeit-Teil ergeben sich dann die quantumtheorisch bekannten Phänomene, wie Elektronen, Protonen und so weiter, während sich im komprimierten sechsdimensionalen Teil die Masse der Elementarteilchen befindet. Soweit zur offenen String-Theorie. Eine andere Gruppe von Forschern1 befaßte sich weiter mit geschlossen Strings, also eigentlich mit Ringen oder Schlingen, und brachte eine völlig unabhängige Theorie heraus. Da ein geschlossener Ring keine Enden hat, an denen er Quantenzahlen tragen kann, erscheint er leerer Raum zu sein oder zumindest nur mit dem leeren Raum eine Verbindung einzugehen. Das könnte alles sein, war es aber nicht, denn diese Gruppe kam auf die geniale Idee, das Quantenfeld auf den geschlossenen Strings herumwandern zu lassen, und zwar das Fermionen-Feld im Uhrzeigersinn in einem zehndimensionalen Raum und das Bosonen-Feld gegen den Uhrzeigersinn in einem
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David Gross, Jeffrey Harvey, Emil Martinec, Ryan Rohm.
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sechsundzwanzig Dimensionen-Raum”, der Erzähler rutschte jetzt auf dem Stuhl herum. Man sah ihm an, daß es spannend wurde. “Diese beiden Wellen von Quantenzahlen rotierten gegeneinander ohne sich je zu stören! Es stellte sich dann heraus, daß, wenn man die zehn fermionischen Dimensionen kompaktifiziert, die sechzehn bosonischen Dimensionen all den Reichtum oder die Fähigkeiten für Gluonen und das elektroschwache Eich-Feld aufwiesen, ja, die sechzehn Dimensionen selbst eigentlich ein Bosonen-Feld waren. Beim Brechen der Über-Symmetrie in zwei kleinere Symmetrie-Systeme gelangten die Forscher zu zwei Universen, unserem und einem Schatten-Universum, das völlig unabhängig von unserem ist und für uns unsichtbar, da die elektromagnetischen Kräfte dieses Universums sowie die dortige starke und schwache Wechselwirkung uns nicht erreichen kann. Das einzige, was wir mit diesem hypothetischen Universum gemeinsam hätten, wäre die Gravitationkraft, was uns Theoretikern sehr gelegen kommt, da es das Problem der fehlenden Masse lösen würde. Beim gegenwärtigen Stand der Forschung fehlt uns nämlich die nötige Masse, die durch ihre Gravitationskräfte die ewige Ausdehnung des Universums verhindern könnte.” Bei dem Gedanken an eine ewige Ausdehnung schauderte der Muskellose. Adjuna stellte aber eine ganz harmlose Frage: “Ist denn der Raum nicht so gekrümmt, daß auch bei ewiger Ausdehnung alles wieder zu einem Anfang findet?” “Eine interessante Theorie! Tatsächlich bin ich dabei, mit Hilfe von imaginären Zahlen ein Universum in imaginärer Zeit zu schaffen, das endlich wäre, aber doch keine Enden oder Ecken hätte, weder Singularitäten am Anfang oder Ende noch schwarze Löcher und andere Unebenheiten. All diese fragwürdigen Zusammenbrüche unserer physikalischen Gesetze wären nur Einbildungen oder Sinnestäuschungen, die wir in dem, was wir für wirkliche Zeit halten, erlebten. In Wirklichkeit aber wäre die imaginäre Zeit die wirkliche Zeit, und was wir für die wirkliche Zeit hielten, nur ein Produkt unserer Blindheit.” 581
Adjuna staunte mit weit aufgerissenen Augen. “Wir Menschen sind blind, denn uns fehlen die imaginären Sinnesorgane für die Wahrnehmung der imaginären Wirklichkeit. Nur die Mathematik mit ihren Wurzeln aus negativen Zahlen verschafft uns einen Zugang zu dieser Welt. Das Universum in imaginärer Zeit ist endlich und doch ohne Ende, wie unsere Erde endlich ist und doch weder oben noch unten wirklich zu Ende ist, sondern scheinbar endlos können wir um sie herumlaufen. Doch selbst für die Kugelgestalt des Universums in imaginärer Zeit habe ich genug Masse angenommen, um alles schön rund zu machen, abzurunden sozusagen. Wenn ich jetzt aber Ihre Idee vom leichten Universum aufgreife, das wieder zurück zu sich selbst findet... dann hieße das ja... - ja das hieße... hieße das vielleicht, wir lebten an der Innenseite der Kugel? Aber was könnte ein leichtes Universum dazu zwingen, sich zu krümmen?” “Analog denken!” ermahnte Adjuna, “ein Wanderer in der Wüste wird, wenn er den Nordstern nicht sehen kann, im Kreis gehen.” “Eine Seitenkurve?” “Orientierungslosigkeit ist die Lösung. Alles ist nur ein Umherirren. Im Großen wie im Kleinen!” “...und das Universum wäre genauso dumm wie die Menschen. So mag ein einfacher Mensch denken. Aber ich bin Wissenschaftler: Ich weigere mich, als Mensch dumm zu sein und herumzuirren. Und was immer wir vom Universum wissen, nichts ist irre an ihm, alles folgt festen Regeln und ist berechenbar.” Gern hätte der Muskellose noch mehr gesagt zu Spekulanten und Phantasten, die Analogien sahen, wo keine waren, und Lehrgebäude aufbauten, die Bruchbuden waren, leere Gebäude, Schlußfolgerungen, die Fallgruben waren, oder gar Mistgruben, um einen besonders kräftigen Ausdruck aus der Welt des Nicht-Mathematikers zu nehmen.
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Die große Theorie des Irrens schafft Irre! Nur Höflichkeit gebot ihm zu schweigen. Er hatte eine gute Kinderstube. “Imaginäre Zeit...” Der Muskellose dozierte jetzt mit ruhiger Stimme weiter, daß es in imaginärer Zeit keinen Unterschied mehr gebe zwischen Zeit und Raum, da die Koordinate der Zeit nicht mehr wie bei der herkömmlichen Zeit mit ihrem Lichtkegel in andere Richtung zeige wie die Koordinate für den Raum, sondern in gleiche Richtung ununterscheidbar vom Raum. Die vierdimensionale Oberfläche dieser imaginären Raum-Zeit-Welt wäre also so endlich wie die zweidimensionale Oberfläche der Erde und ohne Anfang. Wo es keine Anfänge gibt, braucht man niemanden, der den Anfang macht. Das heißt - man kommt ohne Schöpfergott aus. Pole sind bloße Punkte, niemand braucht dem Koordinatensystem hier einen Tick zu geben, und Gesetzlosigkeit braucht da auch nicht zu herrschen. Nur in wirklicher Zeit erscheint hier eine Singularität, von der sich dann das Universum zum Beispiel wie im chaotischen Inflationsmodel explosionsartig ausdehnt. “Die Wahrscheinlichkeit für die Existenz eines Universums wie unserem ist sehr gering. Denn für den Urzustand des Universum, aus dem sich seine Geschichte ergibt, müssen wir die Unschärferelation der Quantenmechanik berücksichtigen. Woraus folgt, daß aus einer sehr großen Anzahl von Universen - jedes ist aufgrund seines anderen Initialzustandes mit anderen Parametern versehen - nur wenige lebensfähig sind oder gar alt werden. In einer Art Superraum müßte man all diese verschiedenen Universen beobachten können, die meisten zweifellos Totgeburten oder Mißgeburten, einige wären nicht größer als ein Elementarteilchen und lebten nicht länger, als ein Lichtstrahl brauchte, um von einer Seite zur anderen zu kommen, andere lebten vielleicht einige Minuten oder ein paar Jahre, wären instabil, da sie zu viele Dimensionen hätten oder zu wenig komprimierte, sicher hätten auch andere Universen Sterne, aber vielleicht häßliche, zu Beispiel nur grüne oder violette, oder sie 583
verfügten über überhaupt kein sichtbares Licht, oder sie wären so schön wie Feuerwerkskörper am sommerlichen Nachthimmel, ständig am Explodieren. Daß ein Universum intelligentes Leben hervorbringt, dürfte ganz außerordentlich selten - wenn nicht ganz unmöglich - sein, denn Voraussetzung dafür ist eine außergewöhnliche Feineinstellung, eine exakte Eichung...”, der Muskellose ringte nach dem richtigen Wort, “ein Ausbalanciert-sein der Naturkräfte, das durch Zufall nur bei einer unendlichen Anzahl von Universen möglich wäre.” Dem Gesicht des Sprechers sah man an, daß es sich bedenklich anhörte. “Gibt es denn keine Universen mit intelligentem Leben?” fragte Adjuna. “Jedenfalls keine außer unserem.” - “Ach ja, dann hätte man ja zwei Unendlichkeiten im Superraum”, sagte Adjuna. Er kam sich dabei schon selbst wie ein Wissenschaftler vor, da er Unendlichkeiten so unbekümmert wie Geister zusammengezählt hatte. Eins und eins macht zwei. “Daß wir in unserem Universum so ausbalancierte Naturkräfte finden, - wenn die starke Wechselwirkung zum Beispiel ein bißchen schwächer wäre, wäre das Wasserstoffatom die einzige stabile Erscheinung in unserem Universum; wäre aber die starke Wechselwirkung noch ein kleines Bißchen stärker, könnte nur noch ein Diproton stabil sein; wäre die Gravitationskraft stärker, wäre das Universum schnell und flüchtig, eine Sonne klein und kurzlebig, und für die Evolution von Lebewesen gäbe es keine Zeit; wäre die Gravitationskraft schwächer, hätte die Materie nicht zu Sternen und Galaxien zusammengefunden, sondern hätte wie Staub oder dicke Luft im Raum gehangen, und es wäre auch nicht zur Ausdehnung des Universums so nahe an der Grenze zwischen Zusammenbruch und Verflüchtigung gekommen. Also was ich sagen wollte, all diese ausbalancierten Naturkräfte finden wir nur, weil nur in unserem Universum Leben und unsere eigene Existenz möglich ist. Befänden wir uns im Superraum...” 584
“Superraum?” rief diesmal verzweifelt Adjuna. “Ja, ein Raum mit einer unendlichen Anzahl von Dimensionen, wo also jeder Punkt mit jedem anderen Punkt, also der gesamten Geometrie des Superraumes, in Wechselwirkung steht. Wenn wir uns also in diesem Super-Raum befänden, sähen wir all diese Versager-Universen, chaotische Windeier. Da diese Windeier aber kein intelligentes Leben hervorbringen, haben sie keinen, der sie wahrnimmt, und keinen, der die Frage stellt: Warum ist hier alles so chaotisch?” Nun beweist er selbst, daß alles nur ein Herumirren ist. Probieren, verwerfen, und dann mal ein Glückstreffer, oder ist es ein Pechtreffer? dachte Adjuna, dem gerade einfiel, daß die mehr oder weniger intelligenten Wesen, die dieses Universum hervorgebracht hatte, nicht besonders glücklich waren. Er sagte aber laut: “Entstehen und vergehen und entstehen, immer wieder. So etwas habe ich früher schon mal als Kind in Hastinapura gehört. Allerdings hat man uns damals gesagt, alles käme aus Brahma's Nase.” “Oh, nein, es entsteht nicht und wird auch nicht zerstört, sondern es ist einfach da, beziehungsweise nicht da”, rief der Muskellose verzweifelt, da er fühlte, daß seine Lektion von der imaginären Zeit auf taube Ohren gestoßen war. “Vergangenheit und Zukunft, Vergehen und Entstehen sind nur subjektive Erfahrungen, die unsere Sinne machen, da sie unmittelbar mit dem zweiten Hauptsatz der Thermodynamik gekoppelt sind, dem Entropiesatz. Der Entropiesatz aber gibt der Zeit eine Richtung, von der Ordnung zur Unordnung. Leben, lebende Organismen sind Systeme höherer Ordnung, geordnete Energie, die für ihre Entstehung, Entwicklung und Erhaltung geordnete Energie benötigen und selbst Energie ordnen, wobei eine Menge ungeordneter Energie in Form von Hitze und Abfall entsteht. Diese ungeordnete Energie geben sie an die Umgebung ab und tragen so zur Unordnung der Umgebung bei. Die Unordnung, die für ein bißchen Ordnung entsteht, ist immer sehr viel 585
größer als die Ordnung. Es ist dieses Prinzip, das unserem Leben und unserem Denken eine Richtung aufzwingt, die wir für die tatsächliche Zeit halten. Selbst unser Denken und Erinnern ist nichts anderes als ein Lebensprozeß, der Ordnung in unserem Kopf schafft auf Kosten einer größeren Unordnung der Umgebung. Wir strahlen sie als Wärme ab, scheiden Schweiß aus und verarbeiten andere Lebewesen zu einer braunen, kotigen Masse, zu ungeordneter Materie. Die Unordnung nimmt immer zu, wäre es anders, wäre kein Leben möglich. Universen, die nach Ordnung streben, sind leblose Universen.” Adjuna sah schon wieder Analogien in der Menschenwelt, z. B. einen Beamten mit aufgeräumtem Schreibtisch, der ausdruckslos, sich an leblose Paragraphen haltend Anträge bearbeitete, ohne einen einzigen Gedanken daran zu verschwenden, daß lebende Menschen dazu gezwungen wurden, sich an ihn zu wenden. Ein ordentlicher Mensch ohne Leben. Adjuna verschwieg seine Gedanken, sicher hätte er nur wieder den Forscher mit seiner Unwissenschaftlichkeit verstört. Der merkte zum Glück nichts, sondern redete weiter. Adjuna war sicher nicht der erste Student, der sich aufs Zuhören weniger konzentrieren konnte, als sein Professor aufs Reden. Leben selbst ist das größte Chaos, dachte Adjuna jetzt. Der Professor dozierte gerade: “Ich wage zu behaupten, daß Leben nur da möglich ist, wo der thermodynamische Pfeil der Zeit und der kosmologischen Pfeil der Zeit in gleiche Richtung gehen.” Adjuna betroffen: “Mein Gott, ich habe nicht aufgepaßt.”
Die Ausführungen des modernen Alchimisten waren zu theoretisch geworden, Adjuna verlor die Fähigkeit zur Verstellung, jedoch nicht ganz zum Theatralischen. Er erhob seine Hände und rief: “Ich kam mit leeren Händen. Laßt mich nicht mit leeren Händen gehen!” Und er bückte sich und nahm beide Hände voll Dreck von unter der 586
Maschine, den die Reinigungsleute einfach dahin gefegt hatten, und hob ihn hoch: “Wo kommt sie her, die Materie?” “Ach, das wollen Sie wissen? Das ist doch ein alter Hut. Wie die Alchimisten früher Gold imitierten, so imitieren wir - das sagte ich ja schon - den Urknall. Zwei einfache Beobachtungen haben uns auf die Idee mit dem Urknall gebracht, einmal eine astronomische, nämlich daß alle Sterne, Galaxien, einfach alles sich mit hoher Geschwindigkeit von der Erde entfernt...” Adjuna blieb die Spucke weg. Zwar hatte er keine gute Meinung von seinem Heimatplaneten, ein Ort, an dem man zum Mörder und Opfer wurde, der Krankheit, Elend und jede Art von Ungerechtigkeit zuließ, aber daß selbst die Sterne Reißaus nahmen, hatte er nicht erwartet. Wenn die Scheußlichkeit dieses Ortes so zum Himmel stinkt, daß alle Himmelskörper von uns fliehen, dann haben sich die Götter schon lange abgewendet. Das erklärt vieles... Aber der Muskellose hatte diesmal wieder seine Gedanken gelesen: “Das heißt natürlich nicht, daß unsere Erde so abstoßend ist, sondern, daß sich das ganze Universum ausdehnt, wobei die Distanzen zwischen allen Sternen zunehmen. An jedem anderen Ort des Universums würden wir also die gleiche Beobachtung machen.” Etwas enttäuscht atmete Adjuna auf. Wer wäre nicht gern im Mittelpunkt, wenn auch nur als kosmischer Schreck? “Wenn sich alles ausdehnt, kann man zurückrechnen, wann alles zusammen war. Und in Maschinen wie dieser hier haben wir beobachten können, was unter hohen Energien, die die Dichte eines zusammengepreßten Universums mit sich bringt, geschieht, und daraus das Szenarium der ersten Minuten des Universums berechnen können. Ich will Sie jetzt nicht mehr mit Großen Bums-, Blasen- oder BlasenBums-Theorien belasten, sondern ganz einfach erzählen, wie einer Zwangsläufigkeit folgend aus radioaktiver Ursuppe Atomkerne und schließlich Atome entstanden, die dann ihrerseits zusammenfanden 587
sowohl zu Sonnensystemen als auch zu Molekülen und organischen Verbindungen. Dabei ist es bedeutungslos, ob man sich das Universum zum Zeitpunkt Null unendlich dicht, klein und heiß vorstellt oder bei irgendwelchen hohen Werten eine Grenze setzt, einen Horizont, enger als ein Elementarteilchen, eine Temperatur hoch genug und Gravitationskräfte stark genug, um in Massen Masse zu erzeugen, die zu diesem Zeitpunkt noch gar keine andere Bedeutung als Energie hätte, denn jedes Teilchen würde ja für sich schon das ganze Universum ausfüllen. All solche Spekulationen oder Hochrechnungen ändern nichts daran, daß etwa eine Hundertstelsekunde nach Null die Ursuppe, das Universum, auf bloße hundert Milliarden Grad Kelvin abgekühlt ist. Das liegt, wie wir aufgrund unserer Kollisionsversuche mit dieser Maschine wissen, unterhalb der Energiewerte für die Hadrone, also der Pi-Mesonen, Muonen und der anderen schwereren Teilchen der starken Wechselwirkung, die die Atomkerne zusammenhalten und mit denen so furchtbar schwer zu rechnen ist. Bei hundert Milliarden Grad haben wir eine Suppe von Masse und Strahlung, Elektronen, Protonen, Neutronen, Positronen, Neutrinos, Photonen und deren Antiteilchen, die ständig aus reiner Energie erzeugt werden und gleich wieder zerfallen, ein wallender Prozeß von Entstehen und Vergehen, ein brodelnder Urfeuerball, in dem selbst die Masseteilchen Strahlung sind. Alles dehnt sich explosionsartig aus. Während sich das Universum verdoppelt, sinkt die Temperatur auf die Hälfte. Temperatur ist natürlich nichts anderes als Energie, Bewegungsenergie, Geschwindigkeit von Teilchen. Wenn die Temperatur oder Geschwindigkeit, wie man will, hoch genug ist, haben die Teilchen so hohe Energien, daß bei einer Kollision andere Teilchen-Antiteilchen-Paare entstehen, zwar würden diese Teilchen, wenn sie ihr Gegenteil treffen, wieder zerstört, doch bei sehr hohen Temperaturen ist die Produktion schneller als die Zerstörung. Bei abnehmender Temperatur jedoch haben die kollidierenden Teilchen immer weniger Kraft und die Produktion fällt zurück, die Vernichtung nimmt überhand. Zuerst vernichten sich Nukleonen und Antinukleonen, dann Positronen und Elektronen, dabei entstehen mehr und mehr Photonen, Strahlungsquanten, Licht. Schließlich ist das 588
Universum überwiegend mit Lichtteilchen angefüllt. Auf ein Nukleon kommen eine Milliarde Lichtteilchen.” Adjuna leise für sich: “Es werde Licht.” Nicht, daß ihm ein Licht aufging, er stellte nur mit Verbitterung fest, was für Propagandamöglichkeiten sich aus diesem Licht ohne Lampe für die Bibelgläubigen ergaben. “Natürlich, wenn wir Licht sagen, meinen wir Strahlung, nicht unbedingt sichtbares Licht, denn der Unterschied von sichtbarem Licht zu unsichtbarem Licht ist nur ein Unterschied der Wellenlänge. Werden die Wellen kürzer, haben wir ultraviolettes Licht, Röntgenstrahlen, Gamma-Strahlen, werden die Wellen länger, infrarotes Licht, Mikrowellen und Radiowellen. Natürlich, die Übergänge sind fließend, und die Wellenlänge entspricht der Photonen-Energie, die in Elektronenvolt oder in Temperaturgrade angegeben werden kann. So ist die kosmische Hintergrundstrahlung drei Grad Kelvin, also im Mikrowellenbereich, die Oberfläche der Sonne aber 5 800 Grad Kelvin, also sichtbare Strahlung und im Innern wird die Sonne heißer, dessen ultraviolettes Licht erreicht uns auch noch. Je geringer die Energie, je größer die Welle und umgekehrt. Chemische Reaktionen geben so um ein Elektronenvolt pro Atom oder Elektron ab, also infrarote Wärmestrahlung oder sichtbares Licht. Auch Photonen von der Sonne tragen ungefähr ein Elektronenvolt Energie und sind wegen der Photosynthese im Blattgrün der Blätter so wichtig für das Leben auf unserem Planeten. Auch uns kommt beim Verdauen unserer Speise diese Wärme zu Gute. Nukleonen sind Millionen Mal stärker zusammengebunden als ein Elektron an einen Kern. Die Explosionskraft einer Atombombe ist also Millionen Mal stärker als eine gleich große Bombe chemischen Sprengstoffs, Millionen Elektronenvolt werden frei, die Wellenlänge schrumpft auf ein Milliardenstel Zentimeter, Gammastrahlung. Auch für das frühe Universum muß man Gamma-Strahlung annehmen.” Adjuna war erleichtert, denn die Bibel erwähnte ganz eindeutig keine Gamma-Strahlung. 589
“Diese Gamma-Strahlung sorgt für ein thermales Äquilibrium im frühen Universum. Da die Anzahl der Neutrinos und der Antineutrinos sowie die Anzahl der Elektronen und Positronen ungefähr gleich anzunehmen ist, werden durch Kollisionen mit diesen Leptonen genauso viele Neutronen zu Protonen wie Protonen zu Neutronen werden. Mit sinkender Temperatur wird es aber leichter für Neutronen zu Protonen zu werden als umgekehrt. Bei ungefähr zehn Milliarden Grad Kelvin - auf diese Temperatur wird sich das Universum nach etwa einer Sekunde abgekühlt haben - lösen sich die Neutrinos vom thermalen Äquilibrium und gehen von nun an eigene Wege. Bei drei Milliarden Grad beginnen die Elektronen und Positronen zu verschwinden. Die Energie, die beim Auflösen dieser Teilchen frei wird, verlangsamt das Abkühlen des Universum. Die Neutrinos, die sich ja vorher abgekoppelt hatten, sind deshalb acht Prozent kälter als das Universum. Aus der Vereinigung von Protonen und Neutronen bilden sich die ersten Atomkerne, schwere Wasserstoff-Atomkerne. Sie fliegen gleich wieder auseinander. Drei Minuten nach Null hat das Universum eine Temperatur von einer Milliarde Grad. Elektronen und Positronen sind fast ganz aus dem Universumsgeschehen verschwunden. Die freigewordene Energie macht die Photonen 35 Prozent wärmer als die Neutrinos. Da die Temperatur nun so niedrig geworden ist und die Elektronen und Positronen so selten sind, spielen Kollisionen mit Neutronen und Protonen kaum noch eine Rolle, jedoch beginnt ein Verfall der freien Neutronen alle hundert Sekunden zehn Prozent der Neutronen in Protonen umzuwandeln. Immer mehr Neutronen werden in Atomkernen gebunden, Deuteriumkerne halten immer länger, und wenn ein Deuteriumkern mit einem Neutron kollidiert entsteht ein Tritium-Kern, und bei einer Kollision mit einem Proton ein Helium-drei-Kern, und immer öfter entsteht auch ein stabiler Helium-vier-Kern. Wenn die Temperatur noch ein bißchen gesunken ist, so daß Deuterium-Kerne stabil sind, dann werden alle freien Neutronen zu Helium-Kernen zusammengebackt, das bisher veränderliche Neutronen-Protonen-Verhältnis erstarrt also. Schwerere Kerne bilden sich zu diesem Zeitpunkt noch kaum, da Kerne mit fünf bis acht Nuklearteilchen nicht stabil sind. Um etwa halb eins, also dreißig Minuten nach Null, wird sich das Universum auf fast dreihundert Millionen Grad abgekühlt haben, das ist jetzt vierzig 590
Prozent wärmer als die Welt der Neutrinos. Wir sollten uns noch einmal vor Augen führen, daß für die Dichte des Universums zu fast einem Drittel die Neutrinos und zu mehr als zwei Drittel die Photonen beitragen, und daß das Verhältnis von Photonen zu all den schweren Elementen, die uns so wichtig erscheinen, weil wir und unsere Werkzeuge daraus sind, nur weniger als eins zu einer Milliarde ist. Elektronen sind jetzt nur noch so viele vorhanden, wie nötig sind, um die Ladung der Protonen zu neutralisieren. Nuklearteilchen sind alle gebunden oder freie Protonen, also Wasserstoffkerne. Noch für 700 000 Jahre ist das Universum zu heiß, um stabile Atome zu bilden. Wenn es dann soweit ist, finden alle freien Elektronen einen Kern, um den sie kreisen können. Die Befreiung des Universums von freien Elektronen macht es durchlässig für Strahlung. Die Strahlung, also die Photonen, führt von jetzt an wie die Neutrinos seit der Abkühlung auf zehn Milliarden Grad ein Eigenleben losgelöst von der Materie und ist heutzutage als Hintergrundstrahlung von drei Grad Kelvin nachweisbar, also im Mikrowellenbereich. Daß die Wellenlänge dieser Strahlung heute 7,35 cm beträgt, liegt an der Ausdehnung des Universums und beweist die Richtigkeit unserer Berechnungen. Die Materie klumpt im Laufe der Zeit aufgrund kleiner Unregelmäßigkeiten in der Geschwindigkeit und Dichte zusammen, die Klumpen werden immer größer, Sonnen und Galaxien entstehen, und manchmal kommt es zu kosmischen Katastrophen, wenn Sterne explodieren. Aber in solchen Explosionen entstehen eine Menge schwerer Elemente, aus denen dann Planeten und Sonnen zweiter oder dritter Generation entstehen. Ein bestimmter Abstand von der Sonne bildet eine grüne Zone, und wenn sich ein Planet in diesem Abstand um die Sonne dreht, wird sich darauf Leben bilden. Aber wie gesagt, das alles ist für Physiker schon Allgemeinwissen.” Adjuna: “Ach, wie kommt es bloß, daß die Bevölkerung noch Märchen glaubt. Doch sage mir jetzt, was kam davor, vor dem Urknall?” “Da sind wir ja wieder am Anfang. Bei dem, was ich vorhin schon erklärte, und was Ihnen zu theoretisch war. Wir drehen uns im Kreis. Was soll die Frage: Was kam davor? Vor was? Vor dem Beginn der Zeit. Welch einen Sinn soll diese Frage haben? Als ich einmal in Rom 591
einen Vortrag hielt, kam am Schluß das Prunkmännchen zu mir. Es verstand von Physik genauso wenig wie Sie, aber es ermahnte mich, nicht jenseits der ursprünglichen Singularität zu forschen, denn da sei Gott. 1 Ich verkniff mir ein Lachen. Soviel Ignoranz! Was immer jenseits des Ereignis-Horizontes einer Singularität ist, hat keinen Einfluß auf unsere Welt. Wenn das Prunkmännchen seinen Gott jetzt an so unerreichbarer Stelle parken will oder abstellt, weil alles andere erforscht ist, soll es so gut sein. Die Gottesidee parkt vor der Stunde Null, bis sie verrostet ist. Genauso gut, hätte das Prunkmännchen seinen Gott unter null Grad Kelvin tiefgefrieren lassen können.” “Und wenn die Menschheit das physikalische Wissen von der Unerreichbarkeit aller Jenseits-des-Ereignis-Horizontes-Parkenden verlöre, bevor jene verrostet wären?” “Dann geschähe der Menschheit recht.” “Wieso?” “Es wäre die gerechte Strafe für die Faulheit, nicht lernen zu wollen, was erforscht wurde und zum Wissen gehört.” Adjuna graute vor der Strafe. Er sah Eva brennen. “Sicher, die leichtfertige Behauptung des Prunkmännchens war dumm. Wir Physiker haben freilich im Gegensatz zur Gottessuche noch eine ganze Menge ernsthafter Probleme, schließlich sind wir keine Alchimisten mehr, die ihre Zeit damit verbummeln, unbewußte Inhalte der Seele in die Materie zu projizieren. Damals sah man in Metallen und Planeten Gottheiten und glaubte, bei bestimmten astrologischen Konstellationen legierten selbst die unlegierbaren Metalle, wenn sie nur den konstellierenden Planeten entsprachen, heute glaubt man, Gott sei jenseits von Bäng und Bums, so was ist kein Fortschritt, weil man immer noch nicht nach Wissen strebt. Es gilt wirklich, die Frage, wo
1
vgl. Stephen W. Hawking “A Brief History of Time” S. 122
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kommt der Dreck an Ihren Fingern her, ohne mystische Spekulationen zu beantworten. Wir haben immer weiter zurückgeforscht und eine gesetzmäßige Entwicklung entdeckt, einen zwangsläufigen Verlauf, und erkannt, daß die Materie aus Energie entstanden ist, und zwar als Materie und Anti-Materie. Wir haben sogar eine Unsymmetrie entdeckt, die die Kurzlebigkeit der Antimaterie erklären könnte. Uns hat jetzt die Frage zu beschäftigen, wo kam die Energie her? Materie ist aus positiver Energie gemacht und fliegt mit großer Geschwindigkeit auseinander, dabei wird sie durch negative Energie, nämlich Gravitationskraft, zusammengezogen. Rechnen wir die positiven mit den negativen Kräften auf, erhalten wir Null. Das Universum ist überhaupt nicht energiegeladen. Beides plus und minus sind notwendig, um ein Universum zu schaffen.” “Wo kommen plus und minus her?” “Reden wir von was anderem!” “Nein”, sagte Adjuna trotzig. “Die Null hat sich geteilt”, sagte der Muskellose mißmutig. Sein Gesicht zeigte jetzt deutlich Erschöpfungserscheinungen. “Wir sollten auch davon reden, wie es weitergeht. Wenn das Universum zu leicht ist, wird es sich verflüchtigen. Ausgebrannte Sterne, also schwarze Riesen, Neutronensterne und vielleicht schwarze Löcher werden dann für immer unter schwarzem Himmel dahinziehen, erkaltet, leblos. Wäre jedoch die kosmische Dichte größer als der kritische Wert, wird die jetzige Ausdehnung irgendwann zum Stillstand kommen und sich alles schließlich wieder zusammenziehen. Und wie wir während der Expansion in den Spektren der Sternsysteme eine Rotverschiebung feststellen konnten, werden wir während der Kontraktion eine Blauverschiebung feststellen, in der Übergangszeit freilich beides, je nach dem wo wir hingucken, auf etwas Nahes oder auf etwas in der Ferne. Die Temperatur der Hintergrundstrahlung der Photonen und der Neutrinos, die mit expandierendem Universum gesunken ist, wird beim Kontraktieren des Universums wieder steigen. Wenn das Universum nur noch ein Hundertstel der jetzigen Größe hat, wird das Universum 593
eine Temperatur von 300 Grad Kelvin erreichen. Also eine auch für Menschen sehr angenehme Temperatur. Diese Wärme wird direkt vom Himmel herunterstrahlen, ganz ohne Sonne.” Adjuna, der mittlerweile auch schon begriffen hatte, daß 300 Grad Kelvin etwas über 26 Grad Celsius waren, rief begeistert aus: “Da wird das Universum noch einmal aufblühen, bevor es als Feuerball verglüht.” “Wenn die anderen Bedingungen, die fürs Leben erforderlich sind, erfüllt werden...”, und nach einer Pause, “eine schöne Idee.” Der Muskellose blickte ihr verträumt nach. Gerade als er sich losreißen wollte, hatte Adjuna schon wieder eine Idee: “Bei der Ausdehnung hatte doch auch alles einmal eine Temperatur von 300 Grad Kelvin...” “Natürlich.” “Man sagt immer, daß das Leben entstanden ist, sei so furchtbar unwahrscheinlich. Kann es nicht sein, daß das Leben irgendwo im Universum entstanden ist, als während der Ausdehnungsphase solche angenehmen Temperaturen herrschten und die Saat dann durchs Universum wehte und die verschiedenen Planeten befruchtete? Ich meine, bei der Größe des Universums hätte man doch dann nicht mehr so eine große Unwahrscheinlichkeit.” “Schon möglich, vielleicht gab es sogar so etwas wie eine interstellare Atmosphäre. Man müßte mal einen Biologen konsultieren. Ich sehe allerdings in so früher Zeit neben Wasserstoff und Helium kaum schwere Elemente, von denen man leben könnte.” “Appetit kommt beim Essen”, meinte Adjuna, der dachte, irgendwie könnte man auch von Wasserstoff und Helium leben, wenn es nur warm genug wäre oder nicht zu heiß. “Man muß ja auch aus etwas gemacht sein”, gab der Muskellose zu bedenken, wenn ich es recht bedenke, auch bei der Kontraktionsphase ist ein Aufblühen hier unwahrscheinlich, die Sterne werden schon zum Zeitpunkt der Umkehrung ausgebrannt sein, so da alles Leben schon
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längst erkaltet ist. Es wäre natürlich schön, wenn es zu einer Wiedergeburt käme.” “Wäre es nicht noch schöner, wenn es Lebewesen gelungen wäre, bis dahin zu überleben. Wie unendlich alt wären sie! Zweifellos superintelligente Spezies!” “Nicht unbedingt. Haifische sind älter als Menschen.” “Richtig”, gab Adjuna geknickt zu, “Sie sind auch jünger als ich.” “Aber ob nun Lebewesen oder nicht, mit zunehmender Kontraktion wird der Himmel heißer, die Wellen kürzer, schließlich strahlt der Himmel hell und wird immer heller und heißer, Tausende von Graden heiß, auf Licht folgen Röntgen-Wellen, Gamma-Strahlen, Elektronen trennen sich vom Kern, die Hintergrundstrahlung der Photonen wird mit der Materie wiedervereinigt, bei zehn Milliarden Grad gehören auch die Neutrinos wieder zum Ganzen. Alles stürzt zusammen, die Gravitationskräfte sind enorm, ungeheuerlich! Was dann? Alles stürzt zusammen und prallt wieder auseinander? Oder fliegt aneinander vorbei? Oder ist ganz zu Ende? Wir Wissenschaftler sind verliebt in die Idee eines pulsierenden, oszillierenden Universums, das für ewige Zeiten sich ausdehnt und wieder zusammenzieht, ausdehnt und zusammenzieht...” Die Arme des Muskellosen pendelten dazu kraftlos auseinander und zusammen. “Es erübrigt die Idee der Schöpfung. Allerdings taucht da eine theoretische Schwierigkeit auf, mit jedem Zyklus wird das Verhältnis von Photonen zu Kernteilchen ein wenig größer, genau genommen ist es die Entropie der Kernteilchen, die größer wird, so daß selbst diese Zyklen nichts für alle Ewigkeiten Unveränderliches sind. Doch wie unbedeutend ist das alles für uns, nicht nur ist das jetzigen Universum ein ungastlicher Ort, der fast überall zu heiß oder zu kalt für uns ist, selbst auf unserer Erde finden wir nicht überall genug Nahrung, Luft und Wasser, und ungastlich, ungastlich sind wir meist selbst. Sinnlos schaffen wir eine immer ungastlichere Welt, indem wir immer ungastlichere Bewohner schaffen, sinnlose Vermehrung, sinnlose Verschmutzung in Worten und Werken, sinnlose Qualen. Das Universum mag sinnlos sei, aber selbst wenn es 595
einen Sinn hätte, Menschen und menschliches Tun dürfte zu den sinnlosesten Dingen im Universum zählen, wenn wir von dem bißchen Verständnis, das wir erreichen, mal absehen. Aber unsere Theorien sind lückenhaft, sie erklären fast alles, aber nicht ganz alles.” Man merkte dem Muskellosen an, wie er darunter litt, daß er so vieles wußte, aber eben nicht alles: “Um auf das Bild von den Kulissen zurückzukommen. Ich muß zugeben, daß zwar die Bühne offen vor uns liegt, auch die Kulissen sich sogar von allen Seiten betrachten lassen, uns jedoch die Nägel, die die Kulissen zusammenhalten, noch verborgen geblieben sind.” Doch Adjuna hörte gerade nicht zu. Seit er etwas von Zyklen gehört hatte, dachte er an den Religionsunterricht seiner Kindheit und an Brahmas Nase - oder war es der Mund, dem an Brahmas Arbeitstag wie eine Blase das Universum entstieg, und in den es sich des Nachts wieder zurückzog? Kalpa nannte sich die Zeit der Ausdehnung und Pralaya die Zeit des Zusammenziehens. Wohl hundert Brahma-Jahre tat der Gott sein tägliches Werk von Ausschnauben und Wiedereinziehen, Schaffen und Auflösen, bis auch ihn der große Überlord, die Zeit, nach dem letzten Zyklus dahinraffte. Waren dann nur noch Photonen und keine Masseteilchen mehr da? Als Adjuna aus seinen Träumereien erwachte, bat er als Zauberlehrling aufgenommen zu werden. Der Wissenschaftler schüttelte sich mühsam und gequält vor Lachen. Wäre er nicht so krank gewesen, er hätte schallend gelacht und sich auf die Schenkel geklopft: Poetisch wie Poeten und doch was Vernünftiges lernen wollen! Der Wunsch wurde gerne gewährt. So lernte Adjuna, daß alles gar nicht Zauberei war, sondern nüchterne Wissenschaft. Selbst die magische Formel E = mc 2 hatte nichts mit Hokuspokus zu tun, sondern beschrieb die Wirklichkeit, und nach und nach lernte Adjuna, Mystik von Wirklichkeit zu unterscheiden, zumindest am Tage. Nachts träumte er dann von Brahmas Nase und Mund. Waren nicht einmal beim Gähnen dem Schöpfergott die Veden entwichen und hatte 596
nicht der pferdeköpfige Asura Hayagriva sie geschnappt und für sich behalten wollen, so daß das Wissen der nächsten Kalpa gefehlt hätte? Gut, daß Vishnu die Veden zurückgebracht hatte, bevor Brahma erwachte und ein neuer Schöpfungszyklus begann. Gut, daß nicht alles verloren war. Wer will Träume zensieren, Träume Nüchternheit kompensieren. Allgemeinunterricht: “Unser gegenwärtiges Universum ist so kalt, daß die Symmetrien unter den verschiedenen Partikeln und Kräften im Prozeß des Gefrierens zerstört wurden.”1 Twistor-Theorie: “Gleichmäßige Geometrie, basierend auf den Eigenschaften der Null-Linien, ist ein Schlüssel zur QuantumGeometrie. Massen und Längen sind keine primären Quantitäten, sondern entstehen auf sekundäre Art. Das Universum begann als gleichmäßige Geometrie, nur Licht und masselose Körper, die sich auf Null-Linien bewegten. Jedoch unter den Null-Linien entstand eine Wechselwirkung, die ursprüngliche, gleichmäßige Invarianz wurde gebrochen und Masse entstand. - Die ganze Idee von Punkten ist zweitrangig. Sie wird durch eine non-lokale Beschreibung der RaumZeit-Welt ersetzt. Der Twistor ist ein janusartiges Objekt, sein eines Gesicht zeigt zur Quanten-Theorie, sein anderes Gesicht zur allgemeinen Relativitätstheorie.”2 &3
1
vgl. Steven Weinberg “The First Three Minutes” S. 149
2
vgl. F. David Peat “Superstrings and the Search for The Theory of Everything” S. 196 & 199
3
Für das Schreiben von Adjunas Dialog mit dem Wissenschaftler wurden folgende Werke zu Hilfe genommen:
Für Superstring-Theorie: E. David Peat “Superstring and the Search for The Theorie of Everything” Für imaginäre Zeit: Stephen Hawking “A brief History of Time” Für die ersten drei Minuten: Steven Weinberg “The First Three Minutes”
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Wieder eine andere Theorie: Ursuppe gleich Quark-Suppe. Und an den Kais sangen die Kinder: They thought the moon was made o' cheese You can believe that if you please. Adjuna war froh, daß der Muskellose nicht nur Lernen vom ihm erwartete, sondern auch solche Arbeiten wie Gartenumgraben, Einkaufengehen, Wagenwaschen etc. für ihn hatte. Sogar noch Schlimmeres! Daß Adjuna als Lehrling auch solche Arbeiten machen mußte, wie den Dreck, den andere unter die Maschine und die lange Vakuumröhre gefegt hatten, wieder rauszuholen, war eine der unerfreulichen Aufgaben, die er zu erfüllen hatte, über die er später nie mit jemandem sprach. Wie oft hatte er sich gewünscht, eine Zauberformel zu kennen, die den Besen die Arbeit allein machen ließ!
Adjuna blieb so lange beim Muskellosen, bis er unter der ganzen Länge der Röhre ausgefegt hatte. Auf diese Arbeit legte der Muskellose großen Wert nicht nur wegen der Anschauung, sondern auch weil Adjuna kein Geld hatte, um für den Unterricht zu bezahlen, und der Muskellose das ersparte Geld für die Putzfrau mit dem Schulgeld aufrechnete, was bei seiner Großzügigkeit null ergab.
Ebenso waren die folgenden Bücher behilflich: John Boslough “Stephen Hawking's Universe”, Robert K. Adair “The Great Design”, Harald Frisch “Quarks - Urstoff unserer Welt”, Fred Hoyle “Ten Faces of the Universe”, Taylor/Wheeler “Spacetime Physics”, William J. Kaufmann “Black Holes and Warped Spacetime” u. a. Für die durch mein Unwissen beim Umrühren der wissenschaftlich-literarischen Ursuppe entstandenen Fehler können die oben genannten Wissenschaftler natürlich nichts. Interessierten Laien, die's genau wissen wollen, empfehle ich, selbst populärwissenschaftliche Werke zu lesen, Fachleuten, beim Lesen meines Potpourris eventuell ein Auge zuzudrücken.
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Adjuna konnte von Glück sagen, daß die ringförmige Beschleunigungsröhre von der Maschine mit der Blasenkammer unterbrochen wurde, sonst hätte er wohl bis in alle Ewigkeit zu tun gehabt, so aber warf er nach einer Runde, die vier Semester gedauert hatte, nur einen Blick auf den dicken Staub, der sich auf der anderen Seite der Maschine neu gebildet hatte, gniff ein Auge zu und erklärte seinem Professor, er sei jetzt fertig. Der tat das Gleiche und entließ ihn mit den Worten: Gehe hinaus in alle Welt und erzähle der Menschheit, was du gelernt hast, damit auch sie lernt, was wir heute vom Universum wissen, und versteht, wovon die Rede ist, wenn man vom Universum spricht, und predige der Menschheit auch die rationalen Gesetze, damit sie sich aneignet, rational zu handeln, und nie wieder die Verdammnis der Unwissenheit sie Verbrechen begehen läßt. Erzähle ihnen von der Berechenbarkeit des Universum, damit sie nicht unberechenbaren Priestern folgen. Zeige ihnen die Größe und Großartigkeit des ganzen Universums und sage ihnen, daß dahinter kein Gott steht, den das Leiden kleiner Menschen erfreut. Sage der Menschheit, daß sie wissen sollen, nicht glauben, denken, nicht zuschlagen, lernen, nicht lallen, leben, nicht leiden, essen, nicht fasten, Vergnügen suchen, nicht Buße, lachen, nicht weinen, stehen, nicht knien, die Wahrheit glauben und nicht den Lügnern. Sag ihnen, sie sollen ihren Mitmenschen lieben und nicht ein Phantom im Himmel. Gern hätte der Muskellose die guten Wünsche, die er seinem Schüler mit auf den Weg gab, mit einem Handschlag besiegelt, aber seine Muskelschwäche ließ ihn angesichts Adjunas Muskelpakete um seine Hand fürchten.
Adjunas Verkündigung: “Es gibt kein Endziel mehr, nachdem wir streben müssen. Big Crunch zerkrümelt den Sternenstaub, aus dem wir gemacht sind, auch ohne unser Zutun. Etappen-Ziele aber gibt es genug. Eines ist, die Welt wieder für das Leben zu erobern, wozu auch das Sterben gehört, aber kein Danach, das um so besser wird, je mehr man im Leben auf Knien 599
rumgerutscht hat. Das Leben hat tausend Ziele, doch außerhalb der Laufstrecke sucht nur der Vom-Weg-Abgekommene ein Ziel, ein blinder Narr, der alles verpaßt. Augen auf, aufgestanden, Knie abgeputzt, den Lügnern noch mal ins Gesicht gespuckt. Wünscht ihnen einen schnellen Tod! Denn jenseits der Schwelle, da ist es doch, wo sie, auch wenn sie sich hier mästen, pflegen und den Arzt aufsuchen, angeblich ihr Endziel haben. Wir beten, daß sie's schnell erreichen. Ihre Henker aber wollen wir nicht sein, sonst wären wir ihnen zu ähnlich, wir wollen aber besser sein.”
Es war spät geworden beim Muskellosen. Hatte Adjuna beim Muskellosen die Zeit vergessen? Oder war die Zeit stehengeblieben? Als Adjuna endlich wieder auf dem Heimweg war, war es seltsam dunkel geworden. Es lag nicht an der Sonne. Die schien hell wie immer. Auch lag es nicht an der Wissenschaft. Die folgte weiterhin rationalen Gesetzen und wollte die Welt aufhellen. Ihre Lampe war die Mathematik, das hatte Adjuna jetzt gelernt; aber die toten Zahlen wurden in den Händen eines guten Rechners lebendig. Daß es dunkel wurde, lag auch nicht an den Gegenteilen der Mathematikprofessoren, den Meistern im Fünf-Gerade-Sein-Lassen meine ich, wie Adjuna auf der Kanalfähre feststellen konnte, als er mit gerade diesen Leuten zusammenkam und das Dasein feierte, bis sie wieder Land unter den Füßen hatten. Diese Leute waren immer bereit, ein Auge zuzudrücken und jeden nach seiner Façon glücklich werden zu lassen. Sondern das dunkle Zeitalter begann, weil der Teufel im Sterben lag. Ja richtig, Adjunas Freund Luz war todkrank geworden. Die Zeit griff selbst nach ihm. Über die schrecklichen Folgen, die der Tod des Teufels für die Menschheit mit sich brachte, war man sich zuerst nicht im Klaren. Die Folge war natürlich die Alleinherrschaft Gottes und seiner Dunkelmänner.
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Doch hören wir zuerst Adjunas Dialog mit Luz und denken wir daran: Irren ist menschlich. Irren ist menschlich, morden ist göttlich. Jehova schafft es nur mit Helfershelfern, die große Göttin Zeit kommt ohne solche Leute aus.
Am Krankenbett
“Adjuna, die Welt ist zu wirklich geworden. Ich gehe besser. Also mach's gut, alter Freund. Solltest du mich mal brauchen, ruf mich an.” So meldete sich Luz aus Fieberträumen mit schwacher Stimme. “Stirb nicht!” rief Adjuna. Er schickte die andren, feuchtkalte Lappen zu holen. “Stirb nicht! Was soll aus uns werden?” Luz: “Ich wurde mit moderner Technik konfrontiert. Die Menschen fliegen jetzt zu den Planeten, sie bohren tiefe Schächte in die Erden, sie durchleuchten die ganze Welt, elektrifizieren jede Höhle, tauchen in die tiefsten Tiefen nicht nur des Meeres, sondern auch der Psyche, sie entwickeln Systeme zur Profitmaximierung und Lustvermehrung, sie verpflanzen Organe, spalten Atome und berechnen die letzten Geheimnisse. Da bin ich ein Anachronismus - überaltert. Weine nicht um mich. Es steht dir nicht an, zu trauern, du bist ein Wissender.” “Du hast recht: Dasein ist immer Leiden. Wenn du nicht mehr da bist, bin ich zwar allein und leide, aber du wirst nicht mehr leiden. Vielleicht wird sogar ganz allgemein das Leiden auf dieser Welt weniger werden. Denn seit ich gelernt habe, daß Materie und Anti-Materie sich annihilieren, mag ich wohl die Hoffnung haben, daß mit dem Tod des Teufels auch der Antiteufel stirbt.” “Ist das so einfach?” fragte Luz schwach.
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“Wenn du stirbst, muß auch Gott verschwinden, sonst bist du nicht der Teufel gewesen.” “Gott mag ja sterben, aber nicht die, die an ihn glauben. Und auf die kommt es doch an.” “Wenn Gott stirbt, stehen die doch mit leeren Händen da.” “Das merkt doch keiner. Tatsächlich hab' ich den Alten schon lange nicht mehr gesehen. Als sein Söhnchen vergeblich um Hilfe schrie: Eli, Eli, lama sabachthani, hätte man ihn eigentlich schon vermißt melden sollen.” Luz hustete Blut. - Bronchialkarzinom? Der Sänger und der Bunte brachten gerade die feuchten Tücher. Als sie das Blut sahen, rannten sie gleich wieder raus. Adjuna wischte seinem Freund das Blut ab. “Ja”, sagte Luz, als er das Blut sah, “ich bin Mensch geworden. Für jeden einzelnen von uns kommt irgendwann die Zeit, wo wir sterben müssen, zahlen für unsere Sünden, für übermäßigen Konsum von Leckereien mit Fettleibigkeit und Herzinfarkt, für jede Art von Rauchund Drecksucht mit Lungenkrebs und was es sonst noch an qualvollen Todesarten gibt, für Religiosität büßt man auf dem Scheiterhaufen oder in der Hölle: Wer seinem Täter nicht entkommt, wird Opfer eines Mordes.” Luz hatte gerade ausgesprochen, da kamen der Bunte und der Sänger mit vier Sanitätern und einem Notarzt ins Zimmer gestürzt. In großer Hektik zerrten die von der Ersten Hilfe an dem Kranken herum, dann riefen sie aufgeregt: “Warum haben Sie nicht früher einen Krankenwagen gerufen? Der Mann muß unbedingt operiert werden.” “So was ist unterlassene Hilfeleistung”, drohten sie im Rausgehen. Dann war Luz weg. Adjuna stand betroffen da. 602
Als die drei Freunde wieder zu sich kamen, wurde ihnen plötzlich klar, daß keiner wußte, wo man Luz hinbrachte. Schnell liefen sie ans Fenster, aber der Krankenwagen war schon weg. Ans Telefon! Den Notruf. “Wir hatten eben schon mal angerufen, weil unser Freund krank war. Jetzt hat man ihn abgeholt. Wir haben aber vergessen zu fragen, wo man ihn hinbringt." “Geben Sie mir bitte seinen Namen.” “Luz.” “Luz was?” “Bloß Luz.” “Hören Sie, wir haben die Leute hier nicht nach den Vornamen geordnet. Ich brauche den Familiennamen.” “Vielleicht hilft es, wenn wir Ihnen unsere Anschrift geben.” “Nach der Adresse wird bei uns auch nichts geordnet.” “Könnten Sie nicht vielleicht doch mal nachsehen?” “Tut mir leid, wir haben noch mehr zu tun. Wird ja wohl nicht so 'n guter Freund sein, wenn Sie nicht mal den Familiennamen kennen.” “Aufgelegt.” “Dann müssen wir da noch mal anrufen. Was sollen wir sonst machen?” Beim zweiten Anruf: “Hören Sie, warum rufen Sie nicht bei den verschiedenen Krankenhäusern der Stadt an. In irgendeinem muß er ja sein.” “Ja, danke, das werde ich tun.” 603
Die obige Erfahrung wiederholte sich bei jedem Krankenhaus. Erfahrung ist gut, wenn sie vorsichtig macht, aber schlecht, wenn sie den Menschen nichts anderes mehr als das bisher Erfahrene erwarten läßt. “Es hat keinen Zweck. Die wollen alle den Familiennamen.” “Die können oder wollen uns nicht helfen.” “Komm, es sind noch ein paar Krankenhäuser auf der Liste. Die müssen wir auch noch anrufen.” “Es hat keinen Zweck.” Adjuna: “Ich rufe an.” “Hallo. Entschuldigen Sie bitte, ich suche einen Freund. Luz heißt er. Ist er vielleicht eben vom Rettungsdienst bei Ihnen eingeliefert worden.” “Ja, warten Sie. Ich sehe mal in unserer EDV-Anlage nach. - Ja richtig. Ein Luz Luzifer. Bronchialkarzinom. Wird vielleicht schon morgen operiert. Liegt Zimmer 66.” “Wir kommen sofort, um ihn zu besuchen.”
Die drei Freunde rannten sofort los, durch Hamburg direkt zum Krankenhaus. Die Stufen hoch krachten sie gegen die Tür. Wenn früher eine Tür aufging, ohne daß jemand zu sehen war, der sie öffnete, dachte man an Geister, wenn sich heute eine Tür nicht automatisch öffnete, wundert man sich, daß der Laden so altmodisch ist, daß er keinen elektrischen Türöffner hat, oder stößt sich gar den
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Kopf. Luz hatte recht, die Zeiten hatten sich geändert - oder sollten sich zumindest geändert haben. Hoffentlich wird in diesem altmodischen Laden, gut für ihn gesorgt.
Luz, krank, Lungenkrebs, im Krankenbett. War es wegen der verdreckten Luft von den Essen in Birkenau oder die Hamburger Luft, der Dreck von den Rauchsüchtigen in den Kneipen, oder lag die Ursache weiter zurück in der Zeit, als er noch die Feuer der Hölle schürte und dabei verschiedenen Toxiden ausgesetzt war? Alles hatte wohl an allem ein bißchen schuld. Was lag ihm bevor? Ein Überleben dank moderner Technik oder nur ein längeres Leiden. Waren die heldenhaften Versuche der modernen Medizin grausam oder gnädig, verlängerten sie das Leben oder das Sterben? Wollte Luz überhaupt ein längeres Leben oder Sterben? Er sagte nichts mehr. “Er sagt ja nichts mehr”, sagte Adjuna besorgt zum Assistenzarzt. “Ja, wir mußten ihm eine Beruhigungsspritze geben. Er wollte unbedingt einen Bettnachbarn erstechen.” “Was?” “Ja, einen Bettnachbarn, der verzweifelt war und immer schrie, man solle ihn töten, den wollte er mit dem Brotmesser erstechen.” “Wo ist der Bettnachbar jetzt?” “In einem anderen Zimmer.”
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Adjuna sah seinen stillen Freund traurig an. Er erinnerte sich daran, wie er Luz das erste Mal gesehen hatte, bei den Externsteinen war das gewesen, als Adjuna die Statue des Cheruskerfürsten bewundert hatte. Luz war Mensch geworden, um ihn, Adjuna, zu begleiten. Und jetzt lag er im Sterben. Er ist Mensch geworden, dachte Adjuna verbittert, ganz Mensch, menschlicher als der Menschensohn. Er wollte seinen Bettnachbarn vom Leiden erlösen. Sein Widersacher, der Menschensohn aber, den so viele anbeten, erfand für die Menschen, neben den Leiden auf Erden, auch noch ewige Höllenqualen. Wie ungerecht, daß ein so guter Freund - nicht nur von mir, sondern der ganzen Menschheit, denn alles Gute, was sie nicht selbst schaffen konnte, hat sie ja von ihm - hier so unbeachtet im Sterben liegt! Die Menschen achten immer die Falschen. Während Adjuna den gemeinsamen Erinnerungen nachging, wurde er von dem sterbenden Unfallopfer im Nebenbett gefragt: “Kannst du schreiben?” Adjuna bejahte. “Kann ich dir mein Testament diktieren?” “Selbstverständlich.” Adjuna nahm Stift und Papier zur Hand und der Mann diktierte: “Falls noch Organe heil sind, stehen sie nicht für Transplantationszwecke zur Verfügung. Ich verachte die, die am Leben hängen. - Das ist alles. Gib her, ich unterschreibe. -- Halte es hier ganz dicht an meine Hand, damit ich unterschreiben kann”, beschwerte sich der Bandagierte über Adjunas Ungeschicklichkeit. Bevor du weggehst, leg bitte die Kabel und Schläuche in meine Hand, damit ich sie losreißen kann.”
Als die drei Freunde am nächsten Tag wiederkamen, wurden sie zuerst ins Wartezimmer gebeten, da Luz noch im Operationssaal war. Warten im Wartezimmer ist eine langwierige Angelegenheit, weil man nicht weiß, was man machen soll.
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Da ein Magazinchen durchgeblättert, hier ein anderes. Bloß nichts Interessantes, man könnte ja das Warten vergessen. Die Witze des Lebens sind lustiger als die der Witzseiten. Man hörte einen Arzt im Hintergrund, der einem Patienten ein Mittel in die Hand drückte, sagen: “Dieses Mittel wirkt diuretisch.” Der Patient protestierte: “Was soll denn das? Wieso wirkt das nur theoretisch? Das hilft mir doch nicht!” “Nein, das wirkt diuretisch, das heißt harntreibend.” Zwei Sanitäter im Gang mit ner Trage, überlaut: “Opa, dich zu operieren, lohnt nicht mehr. Du kommst in den Müllschlucker.” Der alte Mann schrie. Die Sanitäter lachten. “April, April.” Adjuna ergriff sich ein Literaturheftchen. Die Zeitschrift hatte einen Literaturwettbewerb veranstaltet und druckte in der jetzigen Ausgabe die drei besten Einsendungen ab. Der erste Preis handelte von einem japanischen Direktor, der heimlich im Matsch eines Reisfeldes badete. Danach rauchte er in forschen Zügen eine Zigarette. Nach dem Lesen der Geschichte, die den zweiten Preis bekommen hatte, stockte Adjuna, was hab ich denn da gelesen? Wurde da die brutale Vergewaltigung eines schwarzen Mädchens beschrieben oder war das eine Tarantel, die sich über ein Insekt hermachte? Adjuna guckte noch einmal genau hin, aber auch nach dem zweiten Lesen blieb ihm die Geschichte verschlossen. Wenn er bescheiden wäre, würde er sagen: Ich bin wohl zu dumm für die Geschichte! Aber er war nicht bescheiden, er dachte: Reiht Wörter aneinander, aber gebt ihnen keine Bedeutung, werdet Schriftsteller. Ich aber will nicht das leere Wort, sondern die volle Tat suchen. Wenn man Literatur liest, muß man sich immer den, der dahinter steckt und sich alles zurecht fantasiert, vorstellen, dann verliert man schnell die Ehrfurcht davor. Ich lobe mir das Werk jenes Bildhauers, der ein Brett an ein Stück Holz nagelte und es Selbstbildnis nannte, da brauche ich mich nicht erst 607
durch lange, leere Text zu quälen und fühle mich doch leer, obwohl dieses Bildnis voller ist als die wortreichen Werke leerer Literaten, denn es ist das Selbstbildnis der ganzen Menschheit. Mehr Bedeutung kann man nicht in zwei Stücke Holz bringen. Ultima reductio. Das einzig Bemerkenswerte am dritten Text war für Adjuna, daß sich jemand umständlich eine Zigarette anzündete und nachdenklich dem Rauch nachsann. Eine Beschreibung, die Adjuna schon öfters gelesen hatte, aber diesmal nahm er selbst einen Schreiber und wurde zum Poeten. Er schrieb an den Rand: Raucherschwein, laß das Rauchen sein. So etwas sollte man an jeden Zigarettenautomaten schreiben, dachte er. Als wenig später der Protagonist der Geschichte auch noch das Beten wieder lernte, war Adjuna der Literaturgenuß ganz verdorben. Ein Leben lang hatte sich der Protagonist nichts aus dem Christentum gemacht. Seit der Gehirnwäsche durch Elternhaus und Schule war es tief in seinem Innern am Schlafen. Aber jetzt, wo es ans Sterben ging, wurden seine Zweifel am Christentum und der Lehre vom Leben nach dem Tode übergroß. Um diese Zweifel zu betäuben, war fieberhaftes Beten von Nöten. Und wie allen religiösen Menschen, die an Jesus und's Paradies glaubten, machte ihm der Widersinn seiner frommen Bitte, noch ein bißchen im irdischen Jammertal bleiben zu dürfen, nichts aus. Ja, so sind die Menschen. Im Todesaugenblick wird ihnen klar, daß ihr einziges Leben zu Ende geht und das Paradies Humbug ist. Sie werden Atheisten, aber der schlechtesten und unwürdigsten Sorte, denn sie jammern rum, daß ihnen ihr einziges Leben nicht genommen wird. Und ihre Angst läßt sie schreien: Gott, Gott! was eigentlich heißen soll: Ach, gäbe es doch einen Gott, gäbe es doch ein Paradies, in dem ich weiterleben könnte! Aber sie wissen, es gibt beides nicht. Und sie müssen sehr laut schreien, um ihr Wissen zu übertönen, ihr bißchen Vernunft betäuben. Aber Angst und Unwissenheit können nie das Wissen ganz besiegen, das ist unmöglich. Sie mögen ja als bekennende Christen sterben, im Innern sind sie Wissende, wissende Atheisten. 608
Lippen sind zum Lügen da. Ein Leben lang haben sie's gelernt. Um den Leuten die Wahrheit ein bißchen näher zu bringen - früh übt sich, wie die Kurzgeschichte, das Märchen, unbeabsichtigt zeigte: In den letzten Stunden ist es zu spät dafür -, schrieb Adjuna an den Rand: Wie die Raucher die Luft verschmutzen, so verschmutzen die Christen den Geist. Und Adjuna dachte: Der Protagonist der Geschichte ist zwei Schmutzfinken in einem. Und das herzzerreißende Ende der Geschichte ließ ihn kalt. Rührselige Christen-Pornolalie. Adjuna tat das Werk als wenig erbaulich ab. Wenig erbaulich für einen wissenden Atheisten.
Luz's Tod
Den ganzen Tag hatten Adjuna, Orpheus und der Bunte gewartet. Immer wieder hatte man sie vertröstet. Es würde noch ein bißchen dauern. Die Gesichter der Freunde hatten den leeren, unbefriedigten, ja blöden Ausdruck von Leuten, die einen ganzen Tag vertan oder verwartet hatten, angenommen. Einen Tag ihres Lebens hatte sie verloren. Sie hätten genauso gut tot sein können. Nein, als Tote hätte ihnen die Langeweile nicht so zu schaffen gemacht. Über acht Stunden hatten sie in diesem verdammten Wartezimmer gesessen. Endlich kam der Chefarzt. Auf die Uhr blickend: “Buh, das war ein voller Arbeitstag.” Man sah ihm an, daß er was geleistet hatte. Seine Erregung kontrastierte mit der Lethargie der Freunde. Die fragten, als sie sich mühsam von den Sesseln erhoben: “Wie geht es ihm?” “Wir haben zuerst den Primärtumor am linken Hauptbronchus entfernt, sowie die sich daran anschließenden Bronchialäste und das 609
Lungengewebe der Umgebung. Er wird erstmal nur mit der rechten Seite atmen müssen. Leider befanden sich auf der Speiseröhre und dem Zwerchfell Geschwüre, die entfernt werden mußte. Er hat jetzt einen künstlichen Mageneingang gleich hier.” Der Arzt zeigt bei sich auf die Gegend unterhalb des Brustbeines. “Leider sind durch die Lymphbahnen Tochtergeschwüre entstanden, nicht nur an den Lymphknoten unter den Armen, die wir entfernt haben, sondern auch am Mast- und Grimmdarm. Dreißig Zentimeter haben wir da rausgenommen.” Der Arzt fuhr sich an der Elle seines Unterarmes lang, um den Freunden eine Vorstellung von der Länge des Stücks zugeben. “Er hat jetzt also auch einen künstlichen Ausgang. Hier vorn, oberhalb des Beckenknochens. Wir wissen leider nicht, ob wir alle Metastasen entfernt haben. Vielleicht müssen wir ihn noch mal operieren.” “Können wir ihn sehen?” “Sein Blutkreislauf ist zusammengebrochen. diasystolische Werte sind beide Null.”
Systolische
und
Ein anderer Arzt kam ins Zimmer. Der Chefarzt fragte: “Na, wie steht's?” “Immer noch Null zu Null.” “Das kriegen wir schon wieder hin”, meinte der Chefarzt im Weggehen. Adjuna schlich hinterher. Luz ging es schlecht. Er lag auf der Intensivstation. Mit ElektroSchocks versuchte man sein müdes Herz wieder zu starten. Bei jedem Stromstoß zuckte der ganze Körper. Da sein Herz nicht so wollte wie die Krankenschwester, drehte sie mit verbissenem Gesicht höher und höher. Schließlich hatte sie voll aufgedreht. Luz's Körper flog bei jedem Schlag ein paar Zentimeter hoch, Funken sprühten an allen Seiten. Ein zweiter Wiederbelebungsspezialist stülpte ihm eine schwarze Gummimaske über Nase und Mund. Beim Festschnallen stellte er sich so ungeschickt an, daß er einen gewischt bekam. “Verdammt, stell das Gerät mal einen Moment ab!” fluchte er. Die Schwester lachte wie die Domina einer SM-Orgie, aber war wie jene 610
nicht gnädig. Und der Pfleger riß seine nervösen Finger immer rechtzeitig vor einem Schlag vom Kopf des Patienten. Endlich war er fertig. Luz's Körper zuckte jetzt nicht nur bei jedem Elektro-Schock, sondern seine rechte Brusthälfte hob sich nun bei jedem Atemzug, eigentlich ein Atemstoß oder -druck, sackte aber nach jeder Füllung unnatürlich wieder zusammen. “Ein bißchen mehr Sauerstoff, sonst geht er hops.” Der Sauerstoffanteil an Luz's Atemluft wurde erhöht. Bei jedem Ausatmen entstand ein seltsam hohles, röhrend pfeifendes Geräusch. Die Schwestern mußten kichern. “Der hat auch schon mal besser geröchelt.” Ein Arzt strahlte ihm mit dem Scheinwerfer der OP-Lampe direkt ins Gesicht, seine glasigen Augen reagierten nicht, sie waren völlig leer. “So wird das nichts. Wir müssen die rechte Lunge direkt an den Ventilator anschließen. Schade, daß wir schon zugenäht haben.” Er riß die Maske los, kippte den Kopf nach hinten und klappte den Mund auf, dann steckte er einen Plastikschlauch, etwas dicker als einen Daumen, tief hinein, das ging natürlich nicht ohne weiteres, jedenfalls nicht ohne Gewalt. Der Pfleger von vorhin staunte: “Kriegen Sie keinen Schlag?” “Nee”, lachte der Assistenzarzt, “meine Schuhe sind isoliert.” - “Den Trick muß ich mir merken.” “Injektionen, Injektionen, Mädchen”, der Chefarzt klatschte in die Hände, er wollte die Herausforderung annehmen. So bekam Luz, oder was von ihm übrig war, Adrenalin-Injektionen, die sein Herz stimulieren sollten, außerdem Sodium-Bikarbonat-Injektionen zur Kompensation der Säure, die sich in seinem Blut angesammelt hatte. “Was macht der Blutdruck?” “Immer noch Null zu Null.”
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“Ist er tot?” fragte Adjuna schüchtern aus dem Hintergrund und klopfenden Herzens. In seiner Brust pochte es bis zum Hals auch ohne Herzmittel. “Nein, nein, das kriegen wir schon hin”, sagte einer der Ärzte, ohne ihn zu beachten. Adjuna kleinlaut: “Aber sein Herz schlägt doch gar nicht mehr.” Der Arzt laut: “Noch steht es Null zu Null, unentschieden. Aber nicht mehr lange. Wir werden gewinnen.” Neuer Befehl: “Dopamin in die Venen träufeln!” Dopamin ist die Muttersubstanz aller Blutdruck stimulierenden Hormone. Das Wunder geschah. Eine Schwester rief triumphierend: “Vierzig zu null!” “Sehen Sie”, sagte der Arzt zu Adjuna, “hab ich Ihnen doch gesagt.” Dann gab er neue Befehle: “Festschnallen! Vielleicht kommt er zu sich”, meinte der Arzt besorgt. Adjuna: “Wieso? Was ist denn so schlimm daran, wenn er zu sich kommt?” “Dann wird er versuchen, sich den Schlauch aus dem Hals zu ziehen und die Dopamin-Schläuche aus den Venen.” Ein anderer Arzt: “Vierzig zu Null. Mehr ist nicht drin. Wir parken ihn jetzt am besten in seinem Zimmer.” Der erste Arzt: “Vergeßt nicht den Katheter! Ist der künstliche After versorgt?”
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Eine Schwester machte sich sofort daran ein dünnes Schläuchchen die Penisöffnung hochzuschieben. Dann schob man Luz zusammen mit dem Herzschrittmacher und dem Beatmungsgerät ins andere Zimmer. Lebte er? Es hörte sich mal kurz so an, als ob er stöhnte. War das ein Lebenszeichen? Ein Lebenszeichen schon, aber kein Leben.
Als die Freunde am nächsten Tag wiederkamen und dem Chefarzt schon im Korridor begegneten, fragten sie ihn gleich, wie es Luz ginge. “Wir haben noch einen Schlauch in seinen Magen verlegt, um den Magenschleim abzuziehen. Gehen Sie nur zu ihm. Eine Schwester ist bei ihm.” Das Quarz-Manometer zeigte Luz's systolischen Blutdruckwert noch immer mit 40 an. 40 dank Dopamin. Diastolischer Blutdruckwert: Null, noch immer Null. Luz hatte schon lange vor der Operation an Appetitlosigkeit gelitten und nichts gegessen, so daß sein Metabolismus gezwungen war, auf Hungerstoffwechsel zu schalten und die Energiereserven wie Kohlenhydrate und Fette zu verbrauchen. Doch die geringen Kohlenhydratvorräte sind schnell verbraucht und die Fettreserven des mageren Luz hielten auch nicht lange, schon bald knapperte er an der Körpersubstanz, dem Eiweiß. Die Ärzte wußten das, denn schon am Tag vor der Operation hatten sie Ketonkörperchen in seinem Urin und Blut festgestellt, ein sicheres Zeichen für Glucosemangel, Hypoglykämie. In der Nacht nach der Operation machte sich der Hunger nach Blutzucker auch in Luz's Gehirn bemerkbar. Es starb, es starb langsam, sehr langsam starb es ab. Es konnte noch Monate dauern, bis es ganz mausetot war. Im Moment machte sich der Schaden am Gehirn nur durch chaotische Nervenfunktionen bemerkbar, die 613
Muskelkontraktionen verursachten, oder allgemeinverständlicher: Krämpfe, Krampfanfälle. Solche Anfälle sehen elend aus und sind es auch, wenn man nicht wie Luz den Segen der Komatose erteilt bekam. Als die Freunde Luz immer wieder zucken und steif werden sahen, riefen sie verzweifelt aus: “Er hat Krämpfe!” “Ja”, meinte die Krankenschwester lakonisch, “er bewegt sich jetzt.” “Er hat doch nur noch Schmerzen, schalten Sie doch die Geräte ab!" “Er ist doch ohnmächtig, da tut ihm das nicht weh”, gab die Schwester zur Antwort, aber gnädig nahm sie den Knopf der Interphone-Anlage und meldete dem Chefarzt, daß die Besucher ihm einen Wunsch vorzutragen hätten. Sie sah gelangweilt aus. Als der Chefarzt kam, und die Freunde ihm vorwarfen, daß Luz weder essen, noch selbst atmen und auch seinen Blutdruck ohne starke Drogen nicht selbst halten könne, also praktisch tot sei, wenn man nur diese verdammten Maschinen abschalte, protestierte der Arzt: “Oh nein, der Neurologe hat eindeutig festgestellt, daß sich in seinem Gehirn noch etwas tut.” Und belehrend, als sei er ein weiser Mann: “Noch hat ihr Freund was vom Leben! Die Lage ist ernst, aber nicht hoffnungslos!” Er winkte ab. “Wenn sein Gehirn in ein paar Monaten ganz tot sein sollte - was nicht sicher ist, da wir ihm fleißig Glucose geben - wenn es nur zu seinem Gehirn gelangen würde! -, also dann könnten wir mal darüber reden. Aber das ist ein heikles Thema. Gern tun wir das nicht. Wenn wir abschalten sollen, dann müssen sie Beweise bringen, daß es der Wunsch des Patienten ist, und so weiter. Offizielle Papiere. Das Recht zu entscheiden, daß abgeschaltet wird, müssen Sie wohl erst einklagen. Sie sind ja nicht mal mit ihm verwandt. Hat er keine Angehörigen?”
Auf dem Rückweg fragten sich die Freunde: Was wäre, wenn man ihn nicht operiert hätte? Wäre er jetzt tot? Oder auch im Koma? Oder wäre er bei Bewußtsein? Vielleicht unter großen Schmerzen am 614
Sterben? Oder schmerzlos unter dem Einfluß von schmerzstillenden Mitteln dabei, benommen ein paar dumme Abschiedsworte zu sprechen? Vielleicht hätte er sich auch rechtzeitig selbst getötet. Eins war sicher, Ihnen drohte in jedem Fall eine Verfolgung wegen Totschlags durch Unterlassung. Adjuna meinte: Die Sozialfürsorge ist zu fürsorglich, daß sie dieses sinnlose Lebenverlängern bezahlt. Dafür könnte man vielen leidenden Menschen helfen.
Es dauerte gar nicht so lange, da kam ihnen bei einem Besuch im Krankenhaus der Chefarzt mit den Worten “Er ist jetzt leider gehirntot!” entgegen. Waren diese Worte der Kondolenz Gewohnheit, Zynismus oder ehrliches Bedauern? - Sadismus? Alle gingen in Luz's Zimmer. Die Drei sahen ihren Freund an, sie waren nicht trauriger als sonst. “Radioaktive Untersuchungen unseres Neurologen haben festgestellt, daß sein Gehirn jetzt abgestorben ist.” “Dann können Sie ja jetzt abschalten.” - “Aber er lebt! Puls schlägt. Sein Blutdruck ist stabil. Naja, vierzig zu null.” - “Nur dank Dope und Belüfter.” Mit einem zornigen “Abschalten!” schaltete sich der Bunte in die Auseinandersetzung ein. “Euthanasie? Wissen Sie, die Pastoren sind dagegen, und wir haben eine christliche Grundhaltung.” - “Wie können Sie als Arzt das ernst nehmen, was die Waffensegner und Hexenverbrenner sagen?” schimpfte Orpheus dazwischen. Ein anderer Arzt, der inzwischen eingetreten war, schaltete sich jetzt in die Ausschaltdebatte ein: “Wir Ärzte”, sagte er und holte tief Luft, “wir wissen, daß der Mensch, wenn sein Gehirn aufgehört hat zu funktionieren, eigentlich kein Mensch mehr ist, sondern nur ein menschenähnliches Gemüse, eine lebende Leiche, aber -“, zweites Luftholen, “- und das habe ich auch schon vor dem parlamentarischen Ausschuß gesagt - rein gefühlsmäßig finden wir, daß solange das Herz klopft oder am Klopfen gehalten werden kann, der Mensch nicht tot ist.” “Mein Gott”, schrie Orpheus verzweifelt, “diese Ärzte sind ja fast 615
gehirntot. Sie verzichten freiwillig auf Gehirnfunktionen und fällen ihre Entscheidungen lieber mit Hilfe ihrer Gefühle!” “Ich reiße den Stecker raus”, entschied der Bunte. Nicht minder eine Gefühlsentscheidung. “Umh-umh”, Adjuna hielt ihn zurück. “Wenn Sie uns zum Abschalten zwingen wollen, dann müssen Sie prozessieren. Das ist ein langer Weg. Wenn das Gericht entscheidet, daß wir abschalten müssen, dann schalten wir natürlich ab”, belehrte einer der Chirurgen die Freunde jetzt. Die Auseinandersetzung zog sich noch eine ganze Weile hin mit Appellen, Vorwürfen, Ermahnungen, Drohungen und Anfeindungen, denn sowohl der Bunte als auch der Sänger waren sehr erregt. Adjuna aber hielt sich jetzt zurück. Plötzlich rief eine Schwester: “Der Patient ist ja ganz kalt und ohne Puls!” Ein Blick auf den Monitor bestätigte das. “Mysteriös.” “Ein Wunder.” “Was kann bloß seinen Tod verursacht haben?” So kommentierten die Ärzte Luz's Tod. Sie hatten doch alles getan, warum war er nur gestorben? Ein solcher Glücksfall ist außerordentlich selten, ja geradezu unwahrscheinlich. Die im weißen Kittel schüttelten ihre Köpfe. Orpheus und der Bunte hatten ihren Willen. Und Adjuna? Warum war er so indifferent geworden? - Eine neue Erkenntnis: “... Freilich ist ein solches Überleben im Gemüse-Zustand weniger mit Leiden verbunden, als ein Leben bei vollem Bewußtsein.” Und er erklärte dem Bunten, daß er ihn zurückgehalten hatte, weil es sich nicht lohnte, sich von irgendwelchen Menschenfeinden wegen Mordes verfolgen zu lassen, bloß um einen Freund aus einem nichtleidenden Zustand zu erlösen. 616
Abschalten oder Nicht-Abschalten, das war eigentlich egal geworden. Wenn es Leute gab, die so sinnloses Überleben erzwingen konnten, ... Auf Unsinn mit Unsinn zu reagieren, war unsinnig.
Merkwürdiges passiert merkwürdigerweise immer wieder. Durch irgendein merkwürdiges Versehen, einen mystischen oder mysteriösen Umstand oder Zufall - wie des Fehlen eines Testamentes - kann es passieren, daß ein Anti-Christ ein christliches Begräbnis bekommt. Sicher, merkwürdigen Zufällen wird oft mit dummen Einfällen nachgeholfen. Das macht Merkwürdiges oft weniger würdig, als weithin angenommen wird. Die unwürdige Zeremonie, der Luz nach seinem Tode unterworfen wurde, war dem Eingriff eines Amtsstubenschreiberlings und -schimmelreiters zu verdanken. Unter dem Schimmel des Einwohnermeldeamtes hatte er zwar eine Eintragung gefunden, daß Luz in der Stadt gemeldet war, aber sonst nichts, keine Angehörigen, keine persönlichen Daten, nichts, nur ein Vermerk: früherer Wohnsitz: Ubierstadt. Die Gewissenhaftigkeit des Amtsstubenschreiberlings bestand nun in der Wahrhaftigkeit und Schritthaftigkeit seiner nächsten Schritte. Schritt eins: Auskunft einholen beim Bundesgrenzschutz GSG9. Der kleine Beamte staunte nicht schlecht, als er erfuhr, daß der Bundesgrenzschutz Luz gar nicht beschattet hatte, obwohl er doch mit so gefährlichen Leuten zusammen war. Schnitzer, Schnitzer erlauben sich manche Leute. Immer die anderen. Dann Anruf beim Verfassungsschutz. Aber auch dort konnte man dem guten Mann nicht helfen. Schritt zwei. Keine Angehörigen. Ohne Begeisterung konstatierte der Schreiberling, daß er und seinesgleichen, der Fiskus, als einziges
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erbberechtigt waren. Die Erbmasse war auch nur ein mäßiges Sparguthaben. Schritt drei. Schrittfest, trittsicher, mit Schuhen die drei Nummern zu groß waren, begab sich der Schreiberling nun auf das Glatteis eines umfangreichen Paragraphenwerkes. Bald fand er, was er suchte: Nachlaßverbindlichkeiten. Beerdigungskosten. Der Erbe trägt die Kosten der standesmäßigen Beerdigung des Erblassers. Schritt vier. Mit Geistesschärfe schlußfolgerte er: Die Ubierstadt ist der Hochaltar des katholischen Hochburgenlandes. Jeder Ubier wird also Katholik sein. Der Tote kam aus der Ubierstadt... Ein katholischer Priester muß her!
Als Adjuna, der Sänger und der Bunte aufs Amt gingen, um gegen die geplante christliche - noch dazu katholische - Beerdigung zu protestieren, wurden sie abgewiesen: Es gibt keine Papiere und kein Testament. Und da er aus der Ubierstadt kommt und die Mehrheit der dortigen Bevölkerung Christ und Katholik ist, müssen wir annehmen, daß er auch Christ und Katholik ist. Und zumal er genug Geld gespart hat, um für die Predigt und die Trauerfeier zu bezahlen, ist nicht einzusehen, warum wir ihm das vorenthalten sollen. 1
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Das Leben selbst schreibt oft die komischsten Geschichten und einem phantasielosen Schriftsteller bleibt oft nichts anderes, als das Leben zu plagiieren. Manchmal wird er die geklaute Idee ein bißchen tarnen, verkleiden, ihr ein anderes Gewand geben. So ist es auch bei mir. Das wirkliche Leben schrieb die folgende Geschichte: Mein Großvater, ein Kölner Polsterer, fand eines Tages vor seiner Werkstatt ein Findelkind. Da er sich schon seit Jahren ein Kind wünschte, seine Ehe aber bisher kinderlos geblieben war, wollte er das Kind gerne adoptieren. Diese Adoption verhinderte die katholische Kirche mit der Begründung, daß die überwiegende Mehrheit der Kölner katholisch sei, man also davon ausgehen könne, daß das ausgesetzte Kleinkind auch katholisch* sei, mein Großvater aber, obwohl selbst katholisch, die Schandtat, eine evangelische Frau zu ehelichen, begangen habe, so daß nicht sichergestellt sei, daß das Kind eine ordentliche katholische Erziehung bekomme. Zwar hatte meine Großmutter vor ihrer Trauung in einer katholischen Kirche, dem Priester schwören müssen,
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Zeugen? Sie wollen was bezeugen? Sie sind doch gar nicht glaubwürdig! Sie sind doch ganz unnn---glaubwürdig. Beinahe hätte der Beamte sein Gefühl sprechen lassen und ‘unsympathisch’ gesagt. Die Notbremsung war ihm noch mal gelungen. Aufwiegler, Volksverhetzer, Revoluzzer, dachte er verächtlich. Der Tote sollte seine fromme Beerdigung kriegen. Auf Biegen oder Brechen. Allein um diese Mistkerle zu ärgern. “Tut mir leid, aber ich kann wirklich nichts für Sie tun. Wir haben unsere Vorschriften”, sagte er aalglatt. Er grinste ein Lächeln. Wie oft hatte er diesen Satz schon in seinem Leben gesagt! Er war das Symbol all seiner Macht, seiner Allmacht. Während die Drei verärgert rausgingen, streichelte er liebevoll über seinen Satz.
So wurde Luz mit katholischem Hokuspokus beerdigt. Predigt des Predigers mit Null-Wissen über Luz: Ein treuer Diener vor dem Herrn... blabla... Amen. Er sagte viel Nichtssagendes. ...und Luz drehte sich nicht einmal um. Er lag ja auch noch nicht im Grab.
daß sie ihre Kinder im katholischen Glauben erziehen werde, doch dieses Versprechen war der Kirche in diesem Fall nicht genug. Das Kind kam in ein katholisches Waisenhaus. Man kann nur hoffen, daß ihm dort das Überleben geglückt ist, denn in der damaligen Zeit waren die Überlebenschancen in solchen Häusern nicht zu rosig. Aber es galt ja die Seele zu retten. Mein Großvater hat dann später aus Protest, all seine Kinder, sieben an der Zahl, evangelisch erziehen lassen, ignorant der Tatsache, daß die Evangelischen genauso intolerant sind. PS.: Daß es in den ersten Jahren seiner Ehe nicht geklappt hat... Die Wege des Herrn sind doch wirklich mysteriös. * Fußnote zur Fußnote! In Wirklichkeit sind Kinder natürlich, bevor sie das Opfer religiöser Indoktrination werden, Atheisten.
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Erst kam es noch auf dem Friedhof zur Asche-zu-Asche-Staub-zuStaub-Zeremonie. Und während sie dem Zeremonienmeister zusahen, sagte Adjuna zum lebendigen Gott, dem Bunten, neben sich: “Was meinst du, ob es leichter ist, die Menschen davon zu überzeugen, daß Staub glücklich ist, als von einem Glücklichsein im Paradies?” “Warum?” “Weil die Menschen, wenn sie vom Glücklichsein des Staubes überzeugt sind, vielleicht leichter sterben. Vielleicht gehen sie dann sogar freiwillig. Was für ein Glück wäre das!” “Naja, Staub kann man immerhin sehen. Man kann sogar sehen, daß er sich weder ärgert noch traurig ist.” Staub ist glücklicher als wir.
Der Glaube ans Paradies schließt immer die Hölle mit ein, also Angst. Die Bevölkerung des Abendlandes mußte Jahrhunderte gefoltert werden, bis sie endlich die Religion mit dem Paradies im Jenseits kapierte, und jetzt, wo nicht mehr gefoltert wird, kapieren sie's schon wieder nicht mehr.
War es zu frevelhaft, dem Teufel ein christliches Begräbnis zu geben? Jedenfalls kam es noch zu einem sehr denkwürdigen Ereignis, als der Zeremonienmeister ein letztes Mal sein Dreckschäufelchen in das offene Grab schütten wollte: Ein kleines Hündchen, wohl eine Promenadenmischung, ein Bastard, mit verfilzten, klebrigen Haaren, geradeso wie Luz's Haare einst gewesen waren, hatte sich durch die Büsche geschlichen und war nun in die Nähe des Priesters gekommen. Mit aggressivem Gekläffe fuhr es den Priester an. Und als der, statt das arme Tierchen zu segnen, es mit dem letzten Dreck, den er auf seinem Schäufelchen hatte, bewarf, sprang ihm das kleine Teufelchen - an die 620
Kehle. Doch Glück im Unglück - katholische Schutzengel müßte man haben! - das kleine Hündchen schaffte es nur halb so hoch. Ob ihm der Durchbiß gelang, die Kastration also, die dem Priester zweifellos die Einhaltung des Zölibats erleichtert hätte, oder ob es nur zu einer Vasektomie kam, oder gar noch harmloseren Verletzung wurde auch später nie von kirchlicher Seite offenbart. Sicher ist nur, daß dem Priester das letzte Amen, mit dem die Dreckschaufelzeremonie abgeschlossen werden sollte, nicht mehr über die Lippen kam. Als der Priester im Krankenwagen weggebracht wurde, meinte Orpheus der Sänger, dem in der Zwischenzeit der Hund zugelaufen war, während er das Tier hätschelte: “Gelzen nennt man sowas wohl. Ich werde dieses denkwürdige Ereignis in einer Ballade verewigen.” Auch Adjuna sagte: “Braves Hündchen, wieviel Weihwasser wurde doch schon ungläubigen Menschen aufgezwungen!”
Die drei Freunde lockten das Hündchen, aber das Hündchen blieb beim Grab.
Am gleichen Abend. Der Sänger schrieb an seiner Ballade. Der Bunte machte einen Lokalbummel, um - wie er es nannte - sich einen seriösen Job zu suchen. Als leibhaftiger Gott immer seinen Leib hinzuhalten, besonders die Rückseite, sei auf die Dauer zu anstrengend. Im Stillen fragte er sich, ob Analverkehr wohl das Hämorrhoidenrisiko erhöhe, oder ob nicht im Gegenteil eine solche Massage des Afters die Möglichkeit, Hämorrhoiden zu bekommen, verringere und er selbst nur ausnahmsweise mit diesem Leiden geschlagen worden sei. Die Wissenschaft sollte da mal epidemiologische Untersuchungen
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anstellen. Er fragte sich auch, ob andere Götter, die Menschen geworden waren, wohl auch unter solchen Beulen gelitten hatten.
Adjuna war an diesem Abend sehr traurig. Er vermißte seinen Freund. Schließlich stand er auf, warf sich einen Umhang um und ging hinaus in die mistig feuchte Nacht. Er ging zum Friedhof. Das große, gußeiserne Tor war schon abgeschlossen. Ungesehen sprang Adjuna hinüber. Dann ging er zum frischen Grab. Das Pfaffenbeißerchen kam ihm entgegen. Es war schwarz, von oben bis unten mit Schlamm bedeckt. Am Grab sah Adjuna dann die Bescherung. Der Hund hatte die Erde aufgewühlt und den Ort in ein Matschloch verwandelt. Verbissen tauchte der Hund auch gleich wieder in eine Pfütze und strampelte und scharrte und spritzte Schlamm um sich, offensichtlich um tiefer zu kommen. Das macht er doch nicht, um an Luz's Knochen heranzukommen. Einen Moment zögerte Adjuna. Dann beugte er sich vor und half mit seinen großen Händen dem Hund, Luz auszugraben. Es war schon weit nach Mitternacht, als der Sarg endlich frei lag. Adjuna packte ihn und hievte ihn aus dem Loch. Er legte ihn dann auf zwei Grabsteine, so daß er die bequeme Höhe eines Tisches hatte. Vorsichtig öffnete er den Deckel. Durch die Deckelfugen war Wasser und Matsch eingedrungen. Luz sah abstoßend aus, trotzdem riß Adjuna den Freund hoch und drückte ihn an die Brust. Stumm weinte er. Dann untersuchte er die Leiche. Keine Lebenszeichen, nur frühe Zeichen der Verwesung. Der Freund war tot. Kein Zweifel. Adjuna überlegte. Was sollte er jetzt mit der Leiche machen? Dann nahm Adjuna den Sargdeckel und machte ihn über einem Grabstein zu Kleinholz. Er riß auch die Seitenwände des Sarges 622
herunter und brach sie über seinem Knie in kleine Stücke. Luz's Leiche lag jetzt auf dem Sargboden wie auf einem Tisch. Adjuna legte all seine Holzstücke, sowie ein paar Zweige und Totenkränze, die er in der Nähe auf einem Haufen gefunden hatte, unter den Tisch. Dann machte er Feuer. Das Feuer fraß sich langsam den Haufen entlang, bis alles von Flammen umhüllt war. So bestattet man in Indien, dachte Adjuna plötzlich zufrieden. Der Hund saß neben ihm. Er breitete seinen Umhang aus, damit auch der Hund darunter Schutz finden konnte vor der nieselig feuchten Witterung. Beide starrten sie in die Flammen. Die hellen Flammen stürzten sich auf den Leichnam, um ihn zu verzehren. Funken sprühten, das Holz knackte und zischte, das Leichenfleisch brodelte, die Haut spannte sich, bildete Blasen, zerriß. Zwei ohrenbetäubende Knalle kurz hintereinander. Die beiden Grabsteine waren von der Hitze zerborsten. Die Tischplatte mit der Leiche rutschte tiefer in die Flammen. Adjuna legte schützend die Hand auf das nasse Fell des Hundes. Da, als die Flammen gerade am höchsten waren, sprang das Tier von unter seiner Hand direkt ins Feuer. Adjuna sprang auf, um das Tier wieder aus den Flammen zu retten. Er ging ganz dicht an die Hitzewand und starrte hinein. Seine Augen brannten und tränten. Mit den Füßen stieß er hinein. Die Finger verbrannte er beim Tasten. Es hatte keinen Zweck. Er fand den Hund nicht wieder. Adjuna ließ sich auf den Boden fallen. Er war mein Freund, weinte er mit zitternden Lippen.
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Adjuna warte, bis das Feuer heruntergebrannt war. Dann sammelte er die Knochen und Luz's Schädel aus der Glut heraus, kühlte sie in einer Pfütze ab und legte sie auf seinen Umhang. Er nahm auch die Asche von Luz und die unverbrannten Fleischstücke. Dann verschnürte er seinen Umhang zu einem Bündel und ging fort. Bald würde es dämmern. Wohin? Wohin mit dem Bündel? Adjuna zog es nicht in die gemeinsame Wohnung. Er nahm es seinen Freunden übel, daß sie weltlichen Dingen nachgingen. So früh, so schnell, mit so viel Elan. Ein Musikstück schreiben. Bah. Jobben. Bah. Geld. Bah. Verachtung stieg auf. Mist. Dieser Tag stellte sich an, sonnenlos zu bleiben. Schwere Wolken verlängerten die Nacht. Schauer und Kälte hielten die Menschen von den Straßen fern. Adjuna irrte durch das kalte Hamburg. Hier habe ich mit Luz gestanden, da habe ich mit Luz... und dort... Er ging hinunter ans Elbufer. Der Wind war hier stärker. Eine Bö spritzte ihm Gischt ins Gesicht. Adjuna packte sein Bündel fester. Er hielt es mit beiden Händen vor seinem Bauch und blickte hinaus auf die kleinen Schiffe, die da draußen im Kabbelwasser stampften. Für einen Moment fiel ihm der Seemann ein, der ihnen mal von Israel und anderen fernen Ländern erzählt hatte. Plötzlich stieß Adjunas Fuß gegen ein Knäuel. Er verliert das Gleichgewicht. Und während er im Sturz instinktiv die Arme ausstreckt, fällt sein Bündel mit den Überresten von Luz in die Gosse. Noch ehe er sich selbst erhebt, hat er besorgt sein Bündel auf den hohen Kantstein gerettet. Das hat man davon, wenn man in der Gosse und nicht auf dem Bürgersteig geht, flucht er über sich selbst. Erst nachdem er sich ein bißchen abgeputzt hatte, machte er sich die Mühe nachzusehen, über was er denn da gestolpert war. Angeschwemmte Plastiktüten... Ein schwarzer Damenmantel... Adjuna 624
zieht den Revers hoch. Ein bleiches, ausgemergeltes Gesicht: Aurora. Der Engel des Todes war selbst tot. Bei Adjuna krampften sich die Gedärme zusammen und seine Zähne bissen aufeinander, als wollten sie sich selbst zermalmen. Er trat wütend gegen den Kantstein, ergriff sein Bündel und lief davon. Besinnungslos. Doch er war noch keine fünfzig Meter gelaufen, da riß ihn schon wieder die Sirene eines Streifenwagens aus seiner Besinnungslosigkeit. Die Beamten hatten die Leiche gesehen und hielten ihn nun für einen Verdächtigen. Sie fuhren ihm vor die Füße, sprangen aus ihrem Wagen und zielten mit ihren Pistolen auf ihn. “Hände hoch, oder ich schieße!” Sie waren wohl so darauf fixiert, daß er die Hände hochnahm... Er ließ sein Bündel abermals in den Dreck fallen und entriß ihnen ihre Pistolen. Er erwürgte sie beide. Die Flucht ging weiter.
Wie leer und sinnlos ist das Dasein. Adjuna tat alles leid. Luz's Tod, Auroras Tod, Evas Tod, der Tod des Papstes, der Tod der Polizeibeamten, und waren da nicht auch noch Tote aus einer Stadt, deren Konsul er mal war? außerdem war da noch der Tod der Juden, den er mit angesehen hatte, der Tod aller auf Feldern und in Gräben Geschlachteten, der unvermeidliche Tod eines jeden! Warum sterben wir? Wie sinnlos macht der Tod unser Leben! Eine große Leere machte sich bei ihm breit und Furcht vor der Leere. Und ganz langsam machte sich bei ihm noch etwas anderes breit, nämlich ein religiöses Gefühl. Wenn er sich darüber klargeworden wäre, hätte er sich nicht darüber zu wundern brauchen, denn er hatte 625
selbst oft genug gelehrt, daß die Religion ein Lückenbüßer ist und die Basis aller Religion die Furcht, besonders die Furcht vor der Leere und dem Weltchaos, in dem so sinnlos gestorben und zu kurz gelebt wird. Bisher hatte Adjuna mehr oder weniger vernünftig gelebt. Und wenn wir mal davon absehen, daß Indra, zu dem er ja von seinem vorherigen Leben her eine Kumpel-Beziehung hatte, mal seinen Bogen Gandhiva für ihn aufbewahrt hatte, kann man sagen, daß er nie die Gunst der Götter suchte, sie anbetete oder um was bat. Und wenn wir ihn jetzt durch das flache Schleswig-Holstein laufen sehen mit seinem Bündel - angefeindet und verachtet von den Einheimischen, die ihn für einen Landstreicher halten - auf der Suche nach einem Berg, auf dem er Tapas machen kann, Bußübungen, mit denen er die Gunst der Götter vom Berg Meru zu erflehen hofft, damit er die, die ihn ja möglicherweise auf die Erde geschickt haben, nach dem Sinn fragen kann, dann müssen wir seine tiefe Verzweiflung verstehen, seine Trauer um seinen Freund, die Reue wegen seiner Morde. Schleswig-Holstein war ein flaches Land. Es konnte nicht groß mit Bergen dienen. Nachdem Adjuna schon ein paar Mal über ihn hinweggeirrt war, merkte er erst, daß der Bungsberg der höchste Höcker war, den ihm das Land zur Verfügung stellen konnte, kaum höher als eine Hamburger Kirchturmspitze. Adjuna zog seine Kleider aus, streute sich ein bißchen von seiner Asche aufs Haupt, nahm dann noch eine Hand voll Asche und rieb seinen Körper damit ein. Er sah jetzt wie ein richtiger, indischer Tapasvi aus. Dann stellte er sich mit einem Bein auf einen spitzen Stein, das andere Bein zog er zu sich hoch und verklemmte es. Dann legte er die Handflächen aneinander und nahm eine demütige Positur ein. Er dachte an seine Sünden. Selbst kleine Insekten, die er als Kind zerdrückt hatte, fielen ihm ein. In dieser Stellung wollte er verharren, bis die Götter ihm alles vergeben hatten und ihn obendrein noch mit Wissen und Intelligenz beschenkt 626
hatten. Er war ganz entschlossen, und sollte es Jahrhunderte dauern. Solange er die Yoga-Atmung beherrschte, konnte er nicht sterben. Nun, die Götter hatten sich schon lange von dieser Insel, diesem Inselchen in der äußersten Ecke der Unendlichkeit, abgewandt und sie bekamen natürlich von nichts was mit. Adjunas Buße war so streng, seine Konzentration so stark, daß sich sein Körper immer mehr erhitzte. Bald verbreitete sein Körper den pestilenzartigen Gestank von verkohltem Protein und Keratin. Wenn in der ersten Zeit nur die Kinder der Anwohner des Berges nicht zu ihm kamen, da sie ihn meiden mußten wegen ihrer Eltern, die sie vor der Nacktheit des Fakirs, wie sie ihn nannten, gewarnt hatten, jetzt kam niemand mehr. Die Leute hatten Angst. Leise fluchend flohen sie mit Taschentüchern vor Nasen und Mündern aus ihren Behausungen. Die Kirchen in Schleswig-Holstein hatten noch mal Hochkonjunktur. Aber ihr Christen-Gott war genauso in Verlegenheit wie sie und konnte nicht helfen. Adjunas Buße aber ging noch weiter. Sein Körper wurde immer schwarzer, verkohlte, ein röchelnder schwarzer Klumpen wurde er. Er wußte, er konnte nicht sterben, nicht jetzt, nicht während seiner Tapas. Dicker, schwarzer Rauch quoll hervor. Dicker, schwarzer Rauch.
Diese Art von Buße, von Selbstquälung für oder wegen einer großen Sache ist zwar für den Abendländer etwas Besonderes, im Hinduismus jedoch eine alte Tradition. So stellte sich zum Beispiel der teuflische Asura Hiranyakashipu, der älteste Bruder von dem Asura Hiranyaksha, dem Vishnu in seiner Varaha Avatar, also derweil er als Eber unsere Bhoomidevi, die Mutter Erde, vom Ozeanboden heraufholte, mit einer Klaue die Schläfe zerschlug, in Kranichpositur, das heißt wie Adjuna auf ein Bein, auf den Berg Mandara für viele Jahre und bewegte sich nicht, trotz Ameisen, Moskitos, Ratten, Disteln und Schlingpflanzen. Auch seine Buße war so streng, daß seinem Kopf schließlich Rauch entstieg - und er gab noch immer nicht auf. Endlich beschwerten sich 627
umweltbewußte Bürger beim Schöpfer Brahma, der der Umweltverschmutzung bald dadurch Einhalt gebot, daß er Hiranyakashipu mit dem heiligen Wasser seiner Kamandalu besprenkelte, daher den Brand löschte und den Asura verjüngte. Demütig stand der Teufel vor dem vierköpfigen Schöpfergott und erbat sich eine Bitte: Nicht zu sterben durch Gott, Mensch oder Biest, nicht bei Nacht noch bei Tag, weder innen noch außen, weder im Himmel noch auf Erden, und die Herrschaft über die materielle Welt. Brahma erteilte ihm diesen Segen, und damit gewappnet, machte sich Hiranyakashipu auf, Himmel und Erde zu erobern. Menschen und Götter erzitterten vor ihm. Erst Vishnu in seiner Narasimha Avatar machte seinem bösen Treiben ein Ende. Er tötete ihn in abendlichem Zwielicht auf der halboffenen Terrasse als löwenköpfiges Mensch-TierMonster und zwar weder im Himmel noch auf Erden, sondern auf seine Schenkel gelegt.
Auch Adjuna ließ nicht von seiner Buße ab. Er dachte an Hiranyakashipu. Der war ein böser Teufel, aber ich bin ein Mensch, ich will eigentlich doch das Gute, dachte Adjuna, warum kommt der Gott nicht? Er hatte mittlerweile soviel Hitze entwickelt, daß der Erdboden unter ihm zu schmelzen begann und er ein Loch in den Berg brannte. Die Hitze wurde immer größer, der ganze Berg wurde weggefressen, und das Loch war noch immer hungrig, fraß immer mehr vom Land, die nördlichen Eismeere drohten zu schmelzen, eine Klimakatastrophe stand bevor. Bhoomidevi schrie auf. Ihr Schmerzensschrei war so laut, daß es auch die Götter auf Berg Meru hörten. Sie erschienen. Brahma sprenkelte wieder Wasser aus seiner heiligen Kamandalu um sich. Alles heilte wieder: die Wunden der Erde, der Bungsberg, Adjuna, 628
alles war wieder so wie es vorher war. Adjuna war wie die anderen Menschen auch froh darüber. “Was willst du?” fragte der vierköpfige Gott. Alle blickten neugierig auf Adjuna. “Eine Waffe?” “Ich will keine Waffen mehr, oh, ihr Götter. Gebt mir..., gebt mir mehr Intelligenz und Wissen.” “Oh nein, das ist zu gefährlich.” “Ich bitte Euch, gebt mir Wissen und Intelligenz. Ich sehe wie die Menschen sinnlos leiden, sterben, morden. Ja, ich selbst habe gemordet, sinnlos gemordet. Morde sind immer sinnlos. Ich bin verzweifelt. Laßt mich verstehen. Ich ertrage die Sinnlosigkeit nicht!” Götter: “Sinnlos zu leben, zu sterben und auch zu morden ist normal für Menschen, ja, das normalste. Menschen morden aus Hunger und aus Geldgier, was ja nur eine Art größerer Hunger ist.” “So weit wäre Morden ja noch ein bißchen verständlich.” “Richtig, Aber sie morden auch für ihr Nicht-Wissen, für ihren Glauben. Alles menschliche Wissen ist nur Nicht-Wissen, Glaube.” Die anderen Götter nickten zufrieden. “Vernunft, Unvernunft, Rassenlehre, internationale Solidarität, Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, Nächstenliebe, Sitten, Sittenverstöße, Sex, alles Mordgründe.” Hämisches Grinsen bei den Göttern. “Sie morden, damit das Vaterland lebt, sie morden sogar für ein besseres Leben.” Lächerlich. 629
“Aber das ist doch sinnlos”, schrie Adjuna dazwischen, “das muß man doch stoppen können. Befreit uns von der Sinnlosigkeit. Oder gebt mir das Wissen, damit ich die Menschen von der Sinnlosigkeit befreien kann.” “Wir können weder dir noch den Menschen Sinn geben. Aber wir versprechen dir, daß du, bevor du stirbst, den Sinn begreifen wirst, den beschränkten Sinn menschlicher Aggressivität. Der Sinn des Universums wird dir nie offenbart.” Adjuna dachte an den Sankt-Nimmerleins-Tag, und fühlte sich betrogen. Er hatte nichts bekommen. Und die Götter waren weg. Jetzt, wo er durch Brahmas Wasser erfrischt war und auch seine Umgebung wieder frisch und grün aussah, hatte Adjuna keine Lust mehr, noch ein zweites Mal durch seine Übung zu gehen, um die Götter noch einmal zu zwingen, ihm Rede und Antwort zu stehen. Er hätte gerne noch mehr nachfragen wollen. Menschen, die an der Sinnlosigkeit der Welt verzweifeln, tun oft das aller Sinnloseste: Sie suchen die Götter.
Enttäuscht nahm Adjuna wieder sein Bündel und ging auf Wanderschaft.
Während Adjuna wieder durch Schleswig-Holstein wanderte, fragte er die Leute, ob sie das große Feuer gesehen hätten. Aber keiner hatte es gesehen. Es war wie ein Wunder. Die Götter hatten nicht nur die Welt geheilt, sondern ihren Bewohnern auch jede Erinnerung an die Wunde genommen.
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Adjuna war noch immer von der Sinnlosigkeit fasziniert. Als er wieder in Hamburg war, kaufte er für die Asche und die Knochenreste eine Urne und schwor, damit ins heilige Land zu reisen und dort den Inhalt zu verstreuen. Wir sehen, er war noch nicht geheilt. Brahmas Wasser hatte nur äußerlich gewirkt. Es ist schon was Wahres dran: Wer die Sinnlosigkeit besiegen will, tut oft das Sinnloseste. In Hamburg schiffte Adjuna sich ein auf einem Nah-Ost-Fahrer und auf ging's in die Levante.
Auf dem Vorderdeck erzählte man sich die Geschichten von den Barbaresken und Korsaren, die einst das Mittelmeer als Piraten unsicher gemacht hatten, von den Seeräubern Horudsch und Chaireddin, die einst mit einer einzigen Galeot zwei der größten Galeeren der päpstlichen Flotte aufgebracht und riesige Mengen Beute gemacht hatten. Man freute sich über die Siege dieser Kämpfer im Namen Allahs, die immer einen frommen Mann, den Marabut, mitnahmen, der ihnen den Segen des Gottes garantierte, und daher großzügig an der Beute beteiligt wurde. Das Schiff fuhr zwar unter deutscher Flagge, aber hatte türkische Gastarbeiter angeheuert - für die Dreckarbeiten versteht sich. Nun ja, sie hatten ihren Trost, ihre berberischen Seeräuber. Daß Frankreich diesem Raubgesindel mit der Eroberung und Kolonisierung Algeriens ein für allemal den Garaus gemacht hatte, daran dachten sie nicht. Italiener erzählten dann noch von ihren Lupi di Mare, und Deutsche von den Viktualienbrüdern und Klaus Störtebeker. Und als sich dann das Gegröle der Möchte-gern-Seeräuber gelegt hatte, meldete sich ein mitreisender Student zu Worte, der bisher abseits gesessen hatte und gelesen: “Ich möchte Euch einmal eine Geschichte vorlesen, die auch sehr gut in diese Gegend paßt.” Und er hielt sein Buch hoch. Es war 631
von Alfred Döblin und hieß `Hamlet oder Die lange Nacht nimmt ein Ende'. Der junge Mann fing anzulesen: “Es lebte vor langer Zeit in Frankreich, in der Provence, ein Troubadourritter mit Namen Jaufie Rudel de Blaia. Er liebte, obwohl er sie nie gesehen hatte, die Prinzessin von Tripoli, wegen ihrer Tugend und ihrer Schönheit, von der alle Pilger aus Antiochien sprachen. Er machte Verse auf sie und besang sie. Und es begab sich, als er das einige Zeit auf heimischem Boden getrieben hatte, daß ihn solche Sehnsucht nach der Prinzessin packte, ein so unbändiges Verlangen, ihr seine Liebe darzubringen, daß er - es war die Zeit der Kreuzzüge - das Kreuz nahm und ins Heilige Land wanderte, zu ihr. Er dachte nicht an das Heilige Grab. Zur Prinzessin von Tripoli zog es ihn, die er nie gesehen hatte, er, Jaufie Rudel de Blaia. Aber wie er nicht an das Heilige Grab noch an die Moslem gedacht hatte, so auch nicht an die lange Seefahrt. Er wurde unterwegs krank. Und als man schließlich ankam, da lag er krank, stumm und wie tot. Man trug ihn in die Stadt in einen Gasthof. Und dies war Tripoli, und hierher hatte er die langen Jahre gewollt und hatte gesungen und sich vor Liebe nach der himmlischen, tugendhaften Prinzessin verzehrt, deren Namen er nicht wußte, aber deren Bild in seinem Innern stand und die er finden mußte, um zur Ruhe zu kommen - und lag nun in einem fremden Raum, von Unbekannten umgeben, schloß die Augen, öffnete sie und fragte: `Wo bin ich? Was ist mir geschehen?' Die Prinzessin erfuhr von ihm. Sie hörte von dem Pilger, dem Rittertroubadour, der das Kreuz genommen hatte und über das Meer gefahren war, nicht um das Heilige Grab zu erobern und die Sarazenen zu massakrieren, sondern um ihrer Schönheit und Tugend willen, um ihr seine Liebe zu Füßen zu legen. Sie kam in seinen Gasthof. Man trug ihn auf ihr Schloß. Ihre Ärzte traten an sein Bett. Sein Augenlicht kam wieder, seine Stimme wurde hörbar. Er sah die Angebetete: Griselda Barbe von Tripoli. Er flüsterte seine Verse. Sie hielt den sterbenden Mann. Sie küßte seinen Mund. Sie schloß seine Augen, in die noch ihr Bild getreten war. Im Templerhaus von Tripoli ließ sie ihn begraben. Der Kuß und die feierliche Beerdigung waren das einzige, das sie ihm gewähren konnte. Aber wie er zu ihr gehalten hatte die langen Jahre, bevor er aufbrach, und sie nicht ließ, bis er sie gefunden hatte, so hielt sie zu ihm und ließ ihn nicht los. Sie trat in ein Kloster ein. Da wartete sie auf den Augenblick, wo ihr die Sinne 632
schwinden und er aus dem Schatten an ihr Bett treten würde, um sich über sie zu beugen und sie zu küssen.”1 Alle waren betroffen. Nur die Moslems blickten verächtlich um sich. Der Gedanke an die Kreuzzügler ließ sie sauer aufstoßen. Auch Adjuna hatte Tränen in den Augen. Er streichelte seine Urne. Die Liebe. Es war faszinierend, welche Sinnlosigkeiten den Menschen umgaben. Auch er liebte, auch er glaubte, auch er war nicht unterwegs, um das heilige Land von den Sarazenen zu befreien, aber dafür war er ja auch im falschen Jahrhundert. Jetzt waren andere Gründe vonnöten, wenn man Arabern schaden wollte. An den heiligen Stätten lag den Christen nicht mehr viel, sie gaben sich jetzt mit einem himmlischen Jerusalem oder besser: imaginären Jerusalem zufrieden, überhaupt, alles war ja viel abstrakter geworden. Nur für die Juden galt es jetzt wieder, dafür zu sorgen, daß das Geschenk des alten Jahwes nur ihnen gehörte und keinem anderen. So wiederholt sich Geschichte. Geschichte wiederholt sich, das sollte uns zu denken geben, dachte Adjuna. Aber er wollte ja die Asche verstreuen. Er glaubte, daß sie dahin gehörte. Glaubte er, daß Gegensätze sich anzogen? - Und am Ende gar auflösten?
1
Alfred Döblin, ‘Hamlet oder Die lange Nacht nimmt ein Ende’, Deutscher Taschenbuch Verlag, S. 45/46. Die Legende von provenzalischen Troubadour Jaufré Rudel de Blaya, der nach langer Reise zu Füßen seiner Angebeteten stirbt, wurde auch in Balladen von Heine, Swinburne, Uhland, Carducci und in Rostands Drama `La princesse lointaine' dichterisch dargestellt. Alfred Döblin ist mein liebster, deutschsprachiger Dichter, und seine Art zu erzählen, war mir oft Vorbild. Daß ein so phantasievoller, visionärer Schriftsteller mit scharfem Witz und Verstand und großem Wissen wie Döblin im Alter den Glauben der Mörder seiner Väter - er kam aus jüdischer Familie - annahm und Katholik wurde, kann ich allerdings nicht nachvollziehen.
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Gäbe es keinen Tod, woher wüßten wir, was Leben heißt?
Schöpfungsgeschichte1
Einst war der Herr allein mit seinem großen Namen. Und er erkannte, wäre das eine nicht da, könnte das andere nicht sein. Zwei heißt die magische Zahl2. Das eine ist das Gegenstück des anderen und seine Ergänzung, und ohne dem3 ist es nichts. So bin auch ich nur eine fragwürdige Existenz, dachte er und machte sich ans Schaffen: Er schuf das Licht und die Finsternis, den Himmel und die Erde, das Feste und das Flüssige, die Ordnung und das Chaos, die Klugheit und die Torheit, die Armut und den Abscheu, er schuf die Hitze und die Kälte, den Laut und die Stille, er schuf hoch und tief, groß und klein, das Breite wie das Schmale, er schuf die Arbeit und das Ruhen, den Segen und den Fluch, die Barmherzigkeit und die Rachsucht, er schuf die Krankheit und das Gesundsein, das Gehen und das Lahmsein, das Sehen und das Blindsein, das Hören und das Taubsein, das Können und die Unfähigkeit, den Kummer und das Glück, die Lust und die Ernüchterung, das Lachen und das Weinen, die Armut und den Reichtum, den Streit und die Versöhnung, er schuf den Hunger und die Speisen, den Durst und den Trank, den Trieb und die Befriedigung, das Asketische und das Perverse.
1
In Anlehnung an jüdische Sagen entstanden.
2
J. Bronowski benutzte diesen Satz in seinem Werk “The Ascent of Man” als er von Sex, Vererbung und der Zweistrangigkeit der DNA sprach.
3
ohne + Dativ ist veraltetes, Grammatik Duden § 825.
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Ist es zu heiß, verbrennt man sich, ist es zu kalt, erfriert man, man mische das Heiße und das Kalte, so besteht man. Genauso ist es mit Gut und Böse, wäre die Welt nur gut, sie könnte nicht bestehen, wäre sie nur böse, sie vernichtete sich selbst, so schuf Gott Gut und Böse in vermeintlichem Ausgleich. Aber es dauerte nicht lange und das Böse hatte die Übermacht gewonnen, und alles Gute wäre wohl ganz verdrängt worden, hätte Gott nicht Furcht auf die Geschöpfe des Bösen fallen lassen und sie mit dieser Furcht gelähmt. So wurden die süßesten Früchte der Erde, als da sind die Exzesse der Liebe, der Macht und des Verbrechens, liegen gelassen aus Furcht vor ewigen Höllenqualen als letzter Ernte. Gott schuf die reinen Tiere, als da sind der Widder, der Hirsch, das Reh, der Steinbock, die Gemse, die Gazelle und das Elen, und allerlei Gewürm und Ungeziefer, sowie das Schwein und den Hund und die anderen Karnivoren, die da unrein geheißen werden. Und das Schwein sprach in seiner Weisheit: Ohne Unreinheit ist keine Reinheit möglich. Das reine Vieh ist uns Dank schuldig, denn wären wir nicht da, die wir unrein sind, woher wüßtet ihr da, daß ihr rein seid? Und genauso spricht der Böse zum Gerechten. Aber hat man je gesehen, daß ein Gerechter dem Bösen dankbar ist? Dazu ist er viel zu selbstgerecht. Und der Herr schuf auch den Menschen als Ebenbild Gottes, Gegenstück und Ergänzung. Er zog gen Morgen, er zog gen Abend, gen Süden und gen Norden. Was tat er an den vier Enden der Welt? Er trug die Erde zusammen für Adams Leib, so daß die Erde allenthalben sagen kann: Von mir bist du genommen. Und Adam sprach: Ich bin Adam, denn von Adama, Erde, bin ich gemacht. Und der Herr schuf Eva aus einer Rippe Adams. Warum aus einer Rippe? Weil es ein keusches Glied ist, es hört nichts, es sieht nichts, es 635
denkt nichts und redet nichts, es betritt nicht den Boden und greift nirgends hin und ist bedeckt, selbst wenn der Mensch nackt ist. Und ein keusches Wesen wollte er schaffen. Er wußte nicht, wie unberechenbar Frauen sind, und daß sie ihrem Herrn noch lange nicht gehorchen. Nachdem das Menschenpaar nun geschaffen war, verlangte Gott, daß die Engel vor ihnen niederfielen, was sie nur zögernd und widerwillig taten. Der größte von ihnen, Semael, ein Sechspaarflügler, weigerte sich gar, vor dem Menschen niederzufallen, mit der Begründung: Das Wesen sei aus Staub und Erdendreck gemacht. Aber der Herr sprach: Erdenstaub besitzt mehr Weisheit und Verstand als du; und vertrieb Semael aus dem Himmel. So wurde Semael zum Satan. Satan und einige andere Engel waren voller Eifersucht auf den Menschen, und es kam zu einer Intrige mit der Schlange gegen den Herrn. Gott hatte in seiner göttlichen Grausamkeit einen Baum ins Paradies gepflanzt, von dem die Menschen nicht essen durften. Das nutzten Satan und die Schlange jetzt aus. Sie wandten sich an Eva, denn sie wußten, eines Mannes Sinn zu bewegen, war schwer, ein Weib dagegen war leichtgläubig und schenkte jedem Gehör. Zischelte die Schlange: Warum dürft ihr nicht vom Baum essen? Es ist Mißgunst, es ist Mißgunst Gottes gegenüber dem Menschen. Denn äßet ihr davon, ihr würdet wie Gott. Sieh mich an, ich berühre den heiligen Baum und mir passiert nichts, tue mir nach. Da faßte auch Eva den Baum an, aber ihr erschien der Totenengel. Und sie dachte, nun müsse sie sterben, und Adam bekäme eine andere Frau. Ein unerträglicher Gedanke für eine eifersüchtige Frau. Lieber
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sollte ihr Adam mit ihr sterben und sie stellte es an, daß sie beide vom Baum aßen. Als sie das aber getan hatten, schämten sie sich wegen ihrer Nacktheit, und Begierde und Abscheu formten fortan das Sexualleben der Menschheit. Einer versuchte die Verantwortung für die böse Tat auf den anderen zu schieben. Adam sprach: O Herr! Solange ich allein war, habe ich da Sünde getan! Eva: Die Schlange überredete mich. Die Schlange: Satan ist schuld. Und Satan sagte wohl: O Herr! Ihr seid selbst schuld! Alle wurden sie bestraft, nur der Herr nicht. Oder ist es, wenn Eltern ihre Kinder prügeln, eine Strafe, die die Eltern erleiden? Sicher nicht, eher ein Genuß, am ehesten aber ist es eine Schande. Der Schlange hackte er die Beine ab und verfluchte sie, daß sie sich alle sieben Jahre unter großen Schmerzen häuten müsse, Otterngalle und Gift sollte ihr Mund bergen, Feindschaft säte der Herr zwischen Mensch und Schlange. Dann verhängte er noch den Tod über die Schlange. Über die Frau verhängte Gott die Pein des Blutes und die Last der Schwangerschaft, die Wehen der Geburt und die Mühsal und Sorge um das Großziehen der Kinder. Wie eine Trauernde sollte sie ihren Kopf stets bedecken, und er sollte ihr nur entblößt werden, wenn sie gehurt hätte zum Zeichen der Schande; wie die Ohren eines Knechts, so sollten auch ihre Ohren durchbohrt werden; wie eine Magd sollte sie ihrem Manne sein, und ihrem Zeugnis und ihrer Aussage sollte man
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keinen Glauben schenken. Auch verurteilte er sie wie alle Menschen zum Tode.1 Adams Kraft wurde geschwächt, sein Wuchs verkleinert, Weizen sollte er säen, Dornen und Disteln ernten, und vom Kraut des Feldes wie ein Tier sich nähren, im Schweiße seines Angesichts ums Überleben kämpfen und am Ende doch kümmerlich verenden. Da meinte Adam: O Herr! Ich und der Esel, sollen beide aus einer Krippe fressen? Da erbarmte der Herr sich und sprach: Nun denn, so sollst du dich von Brot ernähren. Da ward Adam wieder ruhigen Sinnes. Dennoch sprach ein Weiser: Wie wohl wäre es dem Menschen, es wäre bei dem ersten geblieben.
So verfluchte Gott Mensch und Schlange, aber auch die Erde wurde bestraft, denn der um sein Überleben kämpfende Mensch wurde ihr zur Plage.
Siehe, alle Menschen stammen von Adam ab. Warum nur von einem? Damit die Stämme einander nicht befehden, keiner sollte sagen: Mein Vater war größer als deiner, mein Vater war besser als deiner. Siehe, wo sie alle von einem abstammen, befehden sie einander, rauben, morden und martern, wie wäre es gar, sie stammten von zweien ab.
1
Der Abschnitt der Bestrafung ist fast wörtlich `Den Sagen der Juden' gesammelt von Micha Jesof bin Gorion entnommen.
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Jeder ist nach dem Bilde Adams geprägt und doch gleicht keiner dem anderen. Warum ist das so? Damit die Menschen einander nicht betrügen, daß nicht einer das Feld seines Nachbarn unerkannt betrete, daß nicht einer zu dem Weib seines Nächsten ungestraft eingehe.
Als Gott das Feste und das Wasser schied, zog er eine Grenze, die das Wasser nicht überschreiten durfte, doch das Wasser haderte mit dem Herrn, mal trotzt es ihm mehr ab, mal ist der Herr der Trotzigere. So gehen von Zeit zu Zeit ganze Städte und Kontinente unter - und tauchen wieder auf.
Einst badeten alle Wesen im Lichte Gottes, aber da sie überheblich waren, zog Gott sich zurück, was blieb waren Sonne, Mond und Sterne.1 Du meinst also, selbst im Sonnenschein umgibt uns Dunkelheit. Wir leben in einer Art Nacht und wissen es nicht. Daß er sich zurückzog, verzeihe ich ihm nie. Erst schaffen und dann im Stich lassen. Gib mir eine Taschenlampe!
Das Zum-in-die-Tiefe-Sinken verdammte Wasser sehnte sich nach Höhe, aber wie es sich auch streckte und schaukelte, es vermochte den Himmel nicht zu erreichen, da erbarmten sich die Lüfte und sogen das
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vgl. Sagen der Juden gesammelt von Micha Josef bin Gorion, Insel Taschenbuch S. 14.
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Wasser empor und trugen es zu fernen Bergen und kippten es dort wieder ab. Und das Wasser schwängerte die jungfräuliche Erde, bis sie zur Hurenmutter verkam.
Als Gott der Herr die Welt erschuf, schuf er von allem Männlein und Weiblein, auch vom großen Leviathan, aber da er voraussah, daß dieser Riesendrache, würde er sich vermehren, die Welt zerstöre, verschnitt er das Männchen und tötete das Weibchen, so gründlich war Gott; warum versagte seine Weitsicht beim Menschen? Hätte er nicht wenigstens mehr Seuchen schicken können?
...und der Herr säte in seinem Zorne nicht nur Feindschaft zwischen Schlange und Mensch, sondern auch zwischen die Menschen, ja sogar zwischen Mann und Frau. Also nur der starke Mensch, dessen Stärke Gottes Zorn nicht brechen kann, führt eine glückliche Ehe. So ist es.
Und als Gott der Allmächtige am siebten Tag müde war, legte er sich hin und schlummerte.
...aber ich gehe weiter.
Ich ruhe nicht, ich werde mir den Beinamen `der Ruhelose' zulegen, Schlafen ist eine Sünde, dachte Adjuna. Besonders störte ihn, daß sein 640
Widersacher nach neueren Theorien und infolge fortschreitender Abstrahierung anscheinend nach dem siebten Tag gar nicht mehr aufgestanden war, sondern zum Zeitpunkt des Urknalls oder spätestens beim Ursüppchen alles so zurecht gelegt hatte, daß es danach wie am Schnürchen lief. Das war jedenfalls, was einige Leute behaupteten, die beides haben wollten, wissenschaftliche Erkenntnisse und einen Gott, Evolution und Schöpfungsgeschichte. Apropos Evolution. Israel war gerade ein guter Ort, um die Richtigkeit des Evolutionsgesetzes `Es überleben die Mörder' zu beobachten. Unversöhnlich verfeindet schienen dort Palästinenser und Juden zu sein, und wer immer für Frieden, friedliches Nebeneinander, gute Nachbarschaft und gegenseitige Tolerierung eintrat - noch gab es solche Leute auch dort wie anderswo, denn Aussterben ist eine langwierige Angelegenheit - der wurde von den eigenen Leuten als Verräter umgebracht. Das Morden ging natürlich nur in eine Richtung, denn es widersprach wirklicher Liberalität, Fanatiker des Hasses zu morden, statt das Gespräch mit ihnen zu suchen, sie durch Appelle zur Friedfertigkeit dämpfen zu wollen. Parole: Ausgleich, Ausgleich anstreben. Durch mörderische Methoden freilich geriet der Ausgleich zwischen den beiden Gruppen ins Ungleichgewicht, die Dornen überwucherten die friedlichen Nutzpflanzen. Aber die Wölfe rotten doch nicht die Hasen aus! Ja, sprächen wir hier über Speisen, das wäre was anderes, jeder Esser wird für Nachschub sorgen, aber Andersdenkende sind für Fanatiker ungenießbar, und unser Thema hieß auch nicht Gastrosophie, sondern Politik.
So war Adjuna, indem er nicht ruhte, in das Land jener Kleinviehnomaden gekommen, denen die Menschheit die drei großen Abrahamreligionen zu verdanken hatte, plus zwei sich 641
widersprechende Schöpfungsmythen, sowie die obige Bestätigung der Evolutionstheorie, “Es überleben immer die Mörder”, als auch deren Antithese “Auch Opfer können Mörder werden”, - unter Menschen auf jeden Fall. “Was für ein ödes Land!” klagte der Studiosus neben Adjuna mit der Stimme eines Troubadour-Romantikers, als er die fruchtbare Hügellandschaft des verheißenen Landes vor sich sah. Er war üppigere Vegetation gewohnt. “Da”, rief er erregt aus, und er zeigte auf ein paar Ziegen, die jemand hütete, “da die Mörder!” “Welche?” “Die Mörder aller kleinen Trieben und Sprößlingen. Jetzt wissen wir, warum das Land so öde ist.” - “Und ein Vielleser wie du ist der Mörder ausgewachsener Bäume und Wälder. Es ist leicht einen Schuldigen zu sehen, wenn man es nicht selbst ist.” Der Hirte kam auf sie zu, grüßte, und man kam ins Gespräch. Stolz erklärte der Hirte, daß seine Ziegen menschliches Protein für die Pharmaindustrie produzierte. Die Beiden verstanden zuerst nicht recht, und der Hirte holte weiter aus: “Die Schwarzbunten hier zum Beispiel geben Milch, die menschliches Laktoferrin enthält, ein eisenbindendes Protein, das Menschen bei Blutarmut zugute kommt.1 Die Milch der schwarzen Ziegen enthält menschliches Alpha-eins-Antitrypsyn. Das ist ein Enzym, das die Bildung von lebensgefährlichen Emphysemen bei Leuten verhindert, die diese Substanz nicht selbst bilden können. 2 Die weißen Ziegen schließlich produzieren einen GewebePlasminogen-Aktivator, der weite Anwendung in der Nachbehandlung von Herzanfällen findet.3 All diese Ziegen sind durch gentechnische Eingriffe, bei denen Kopien menschlicher Gene in befruchtete ZiegenEizellen übertragen wurden, entstanden. Das heißt, bei den Ziegen hier
1
Forschungsarbeit an der Universität von Leiden
2
Gentechnischer Erfolg an drei Schafen, Pharmaceutical Proteins Ltd und AFRC Institute of Animal Physiology and Genetics Research in Edinburgh
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Forschungserfolg an transgenetischen Ziegen der Veterinär-Abteilung der Tufts Universität in North Grafton und der Genzyme Corp. in Cambridge
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handelt es sich schon um die dritte Generation. Abends werden die Ziegen in dem pharmazeutischen Institut dahinten gemolken, das auch die Proteine von der Milch scheidet.” Er zeigte auf ein großes Gebäude am Horizont, an dem ein Davidstern prangte. Der Hirte entschuldigte sich. Für ihn war die Stunde des Gebetes gekommen. Er war Palästinenser und Moslem. Er hob die Hände und verneigte sich Richtung Mekka, zum Würfel. Palästinenser wie er machten in diesem Land jetzt die Drecksarbeit, während ihre jüdischen Herren in Räumen mit Klima-Anlage saßen und sie dirigierten. “Ist doch großartig”, meinte der Student, der beim Anblick des `Magen Dawid' Tränen in die Augen bekommen hatte, daß das jüdische Volk nach fast zweitausendjähriger Diaspora in seine Heimat zurückkommen konnte.”
Ein anderes Mal meinte der Student, wo die Juden sich wieder in Israel gesammelt haben, wird das zweiten Kommen von Jesus Christus nicht weit sein, denn in der Bibel wurde prophezeit, daß die Juden über die ganze Welt verstreut würden, doch an einem einzigen Tag würden sie wieder eine Nation sein, dieser Tag war der 14. Mai 1948. “Und was machen wir, wenn er wieder da ist?” “Dann bricht eine Zeit des Friedens an, denn der Anti-Christ liegt gebunden für tausend Jahre. Aber vorher kommt es noch zur großen Schlacht von Armageddon, wo alle Könige der Welt sich schlagen werden. Es wird also zu einem Weltkrieg kommen. Den werden die Auserwählten und Gläubigen aber überleben.” “Armageddon ist ein kleiner Ort südöstlich von Haifa. Hoffentlich ist da genug Platz, damit sich da soviel Leute schlagen können.” “Vielleicht findet die Schlacht auch gar nicht dort statt, sondern über der ganzen Welt verteilt, und der Name ist nur ein Eponym, da der 643
Har-Magedon, also der Hügel von Megiddo, am Schnittpunkt von fünf Handels- und Heerstraßen lag und in früher Zeit der Schauplatz vieler Schlachten war. Wir werden es bald wissen, denn es steht geschrieben, daß es innerhalb einer Generation sein wird.” “Dann wird es ja höchste Zeit.” “Es kann auch sein, daß man nicht von 1948 an rechnen soll, sondern von 1967 an, als am dritten Tag des Sechs-Tage-Krieges Jerusalem, der Tempelberg und die biblischen Gebiete Judea und Samaria erobert wurden, oder vielleicht von 1980 an, als Jerusalem die offizielle Hauptstadt Israels wurde. Es steht auch geschrieben, daß es erst noch den Greuel der Verwüstung einer heiligen Stätte geben wird. Diese heilige Stätte kann nur der Tempel von Jerusalem sein.” “Du meinst, den Salomonischen Tempel auf dem Tempelberg?” “Ja, auf dem Berg Moriah, wo Abraham seinen Sohn Isaak opfern wollte. Heute liegt der Berg in der Jerusalemer Altstadt.” “Aber den Tempel haben doch schon die Babyloner zerstört, und als er wieder aufgebaut war, noch mal die Römer. Jetzt steht an der Stelle eine Moschee, nämlich der Felsendom.” “Ja, aber es gibt Bemühungen den Felsendom abzureißen und an seiner Stelle den Tempel Salomons wieder zu errichten.” “Aber das wäre ja Unsinn, wenn man schon jetzt weiß, daß er wieder verwüstet wird.” “Die Juden wissen das ja nicht, nur die Christen.” “Du, ich glaube, du denkst in Umwegen: Wenn es zu Verwüstung an einer heiligen Stätte kommen soll, und du sagst, es gibt Bemühungen den Felsendom, der ja das zweithöchste Heiligtum des Islams ist, zu zerstören, dann ist diese Zerstörung die Verwüstung, von der du 644
redest, denn die Moslems werden die Zerstörung ja nicht so einfach hinnehmen.” “Aber solange die Moslems da beten, ist das doch keine heilige Stätte, sondern eine heidnische.” “Das sagt du, weil Religion für dich nichts Objektives ist.” “Was soll das heißen?” “Objektiv gesehen, ist Religion Unsinn. Du glaubst, Gott hat alles vorherbestimmt, und jetzt ist Endzeit. Es mag ja wirklich sein, daß es einen Atomkrieg gibt und die Menschheit sich in den ewigen Frieden bombt, aber das ist dann nicht Gottes Werk, sondern eine andere mystische Kraft hat da ihre Hand im Spiel. Es ist offensichtlich, diese mystische Kraft heißt: Dummheit.”
Und also reiste Adjuna mit Luz' Asche durch das Heilige Land, um sie zu verstreuen. Er reiste hierhin und er reiste dahin, und er wußte nicht, wohin er sie streuen sollte. Ein jeder Ort sah so profan aus. So profan, wie die restliche Welt. Adjuna klammerte sich an seine Asche. Er wagte nur ab und zu mal, wo ein einsamer, altehrwürdiger Baum stand oder ein Höhleneingang war oder unberührtes Ödland, eine kleine Prise zu verstreuen, aber besorgt, daß ihm der Wind vielleicht die Asche aus der Urne herauswirbeln würde, schloß er jedes Mal ganz schnell den Deckel des Gefäßes. Er hing an der Asche, aber er war auch bereit, sich von ihr zu trennen, hoffte er doch, daß das Verstreuen dieser teuflischen Reliquie die verdammte Erde heilen würde. Und war hier nicht ihr Nabel. Er mußte nur noch ganz genau den richtigen Platz finden, dann würde die Asche wie Alkali auf saurem Boden wirken. Er müßte nur wissen... Nicht bloß irgendwohin... Das Heiligste? ... Bethlehem, Gethsemane, Golgatha, die Grabeskirche...? Nein, das war ja alles Neues Testament. Der Berg Zion, wo Abraham seinen Sohn opfern wollte, Gott aber 645
seinen Sohn - zumindest der Legende nach - wirklich opferte, oder sollte er vielleicht die Asche in den Jordan schütten? Die Idee gefiel ihm immer mehr. Es lag wohl auch an der Hitze und Trockenheit und an der Staubschicht, die sich auf seine Haut gelegt hatte. Der Jordan. Ja, das war's. Da würde er die Asche hineinschütten. Und in den Fluten würde er auch selbst baden und sich reinigen. Und so machte Adjuna sich auf, das Land zu durchqueren. Und er sah sich um dabei und dachte: Das ist also das gelobte Land, das Land des Herrn, das Land, das er verschenkt hat. Dieser eifersüchtige Gott, der zuallererst sich selbst verehrt wissen möchte, dann die Menschen dazu zwingt, am siebten Tag zu ruhen, und erst dann ein paar vernünftige Gesetze erläßt, die das Begehen von Verbrechen verbieten. Aber es waren ja nicht nur die zehn Gebote, die er Moses gegeben hatte, sondern es gab noch eine Unmenge detaillierter Gesetze - man kommt auf über sechshundert, wenn man versucht, sie zu zählen -, die er Moses ebenfalls mitgegeben hatte, wohl nicht alle in Stein gehauen, vielleicht auf Papier oder Papyrus? Oder vielleicht mußte Moses sie auch auswendig lernen, er war ja lange genug da oben. Oder sie sind ihm später eingefallen, ohne Gottes Hilfe: Die Sabbatfeier: Wer an dem Sabbat arbeitet, soll sterben. Ihr sollt kein Feuer anzünden in allen euren Wohnungen. 1 Das sind laut Moses Gottes Worte. Angesichts solcher Drohung fällt das Feiern schwer. Ängstlich buddelte man am Freitag Löcher in den Sand und hoffte, es waren genug für die Notdurft am Samstag. Besorgt stellte man sein Schäufelchen weg, denn am Sabbat durfte es nicht einmal mehr berührt werden, damit man nicht in die Versuchung kam, es zu benutzen. Die Rabbis verfeinerten die Gesetze noch. Keine Fliege wurde mehr gefangen, keine Mücke mehr totgeschlagen am Sabbat, denn die Jagd war verboten am Tage des Herrn, kein Knochen mehr eingerenkt, keine Wunde verbunden, wenn es nicht gerade lebensbedrohlich war, hatte es Zeit bis Sonntag. In Adjunas Zeit durften die Flugzeuge nicht fliegen und Filmprojektoren
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2. Moses 35:2-3.
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nicht surren. Also selbst die Maschinen mußten die Sabbatgesetze beachten. Der Gott der detaillierten Vorschriften zeigte sich auch besonders bei der Einrichtung, Beleuchtung und den Vorhängen der Stiftshütte, sowie an der priesterlichen Kleidung, inklusive Spangen, Schulterstücke und Gürtel, kleinlich; dann die göttliche Nahrung: neben jeder Menge Fleisch, Semmelmehl mit Öl drauf, Weihrauch als Beilage.1 Alles gut gesalzen. Rezept à la Jahwe. Fürs Dankopfer nehme Fett, welches das Eingeweide bedeckt, sowie alles am Eingeweide und die zwei Nieren mit dem Fett, das daran ist, an den Lenden, und das Netz um die Leber, an den Nieren abgerissen. 2 Du sollst das Blut meines Opfers nicht neben dem Sauerteig opfern, und das Fett von meinem Fest soll nicht bleiben bis auf morgen. 3 Aber das interessierte ja wohl alles nicht mehr. Die Stiftshütte war verschwunden und das Leben ging weiter. Bei all dem Viehzeug, das hier rumlief, interessierte aber vielleicht noch, daß Gott sich auch hier seine Gedanken gemacht hatte: Du sollst das Böcklein nicht kochen in seiner Mutter Milch. 4 Wenn jemandes Ochsen eines anderen Ochsen stößt, daß er stirbt, so sollen sie den lebendigen Ochsen verkaufen und das Geld teilen und das Aas auch. Ist er aber stößig gewesen...blabla etc.5 Wenn du deines Feindes Ochsen oder Esel begegnest, daß er irrt, so sollst du ihm denselben wieder zuführen. Wenn du den Esel des, der dich haßt, siehst unter seiner Last liegen, hüte dich, und laß ihn nicht, sondern versäume gern das Deine um seinetwillen. 6
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3. Moses 2:1-2
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3. Moses 3:3-4
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2. Moses 23:18
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2. Moses 34:26
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2. Moses 21:35
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2. Moses 23:4-5
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Adjuna sah weder das eine noch das andere, aber er sah eine hochschwangere Frau, die eilig ein Taxi verließ und in eine gynäkologische Klinik rannte. Wenn ein Weib empfängt und gebiert ein Knäblein, so soll sie sieben Tage unrein sein, wie wenn sie ihre Krankheit leidet. Und am achten Tage soll man das Fleisch seiner Vorhaut beschneiden. Und sie soll daheim bleiben dreiunddreißig Tage im Blute ihrer Reinigung. Kein Heiliges soll sie anrühren, und zum Heiligtum soll sie nicht kommen, bis das die Tage ihrer Reinigung aus sind. Gebiert sie aber ein Mägdlein, so soll sie zwei Wochen unrein sein, wie wenn sie ihre Krankheit leidet, und soll sechsundsechzig Tage daheim bleiben in dem Blut ihrer Reinigung. Und wenn die Tage ihrer Reinigung aus sind für den Sohn oder für die Tochter, soll sie ein jähriges Lamm bringen zum Brandopfer und eine junge Taube oder Turteltaube zum Sündeopfer dem Priester vor die Tür der Hütte des Stifts. Der soll es opfern vor dem Herrn und sie versöhnen, so wird sie rein von ihrem Blutgang. Das ist das Gesetz für die, so ein Knäblein oder Mägdlein gebiert. Vermag aber ihre Hand nicht ein Schaf, so nehme sie zwei Turteltauben oder zwei junge Tauben, eine zum Brandopfer, die andere zum Sündopfer, so soll sie der Priester versöhnen, daß sie rein werde.1
Wir haben zwar gesehen, die Zeit hat sich geändert, es gibt moderne Kliniken und die Wissenschaft fängt an, Gentechnologie zu beherrschen, aber da wir schon einmal da sind, und es das ja auch alles immer noch gibt, zitieren wir doch ganz einfach mal weiter. Von jetzt ab lesen Sie bis zum Ende des Abschnitts nicht mehr nur in irgendeinem Buch, sondern im absoluten Weltbestseller: Vom großen Gott der kleinen Details.
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3. Moses 12, 2-8
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Vom Master of the Universe. Über Aussatz. “Wenn einem Menschen in der Haut seines Fleisches etwas auffährt oder ausschlägt oder eiterweiß wird, als wollte ein Aussatz werden an der Haut seines Fleisches, soll man ihn zum Priester Aaron führen oder einem unter seinen Söhnen, den Priestern. Und wenn der Priester das Mal an der Haut des Fleisches sieht, daß die Haare in Weiß verwandelt sind und das Aussehen an dem Ort tiefer ist denn die andere Haut seines Fleisches, so ist's gewiß der Aussatz. Darum soll ihn der Priester besehen und für unrein urteilen. Wenn aber etwas eiterweiß ist an der Haut seines Fleisches, und doch das Ansehen nicht tiefer denn die andere Haut des Fleisches und die Haare nicht in Weiß verwandelt sind, so soll der Priester ihn verschließen sieben Tage und am siebenten Tage besehen. Ist's, daß das Mal bleibt, wie er's zuvor gesehen hat, und hat nicht weitergefressen an der Haut, so soll ihn der Priester abermals sieben Tage verschließen. Und wenn er ihn zum anderenmal am siebenten Tage besieht und findet, daß das Mal verschwunden ist und nicht weitergefressen hat an der Haut des Fleisches, so soll er ihn rein urteilen, denn es ist Grind. Und er soll seine Kleider waschen, so ist er rein. Wenn aber der Grind weiterfrißt in der Haut, nachdem er vom Priester besehen worden ist, ob er rein sei, und wird nun zum andernmal vom Priester besehen, - wenn dann da der Priester sieht, daß der Grind weitergefressen hat in der Haut, so soll er ihn unrein urteilen; denn es ist gewiß Aussatz. Wenn ein Mal des Aussatzes an einem Menschen sein wird, den soll man zum Priester bringen. Wenn derselbe sieht und findet, daß Weißes aufgefahren ist an der Haut und die Haare in Weiß verwandelt und rohes Fleisch im Geschwür ist, so ist's gewiß ein alter Aussatz in der Haut seines Fleisches. Darum soll ihn der Priester unrein urteilen und nicht verschließen; denn er ist schon unrein. Wenn aber der Aussatz blüht in der Haut und bedeckt die ganze Haut, von dem Haupt an bis auf die Füße, alles, was dem Priester vor Augen sein mag, - wenn dann der Priester besieht und findet, daß der Aussatz das ganze Fleisch bedeckt hat, so soll er denselben rein urteilen, dieweil es alles an ihm in Weiß verwandelt ist; denn er ist rein. Ist aber rohes Fleisch da des Tages, 649
wenn er besehen wird, so ist er unrein. Und wenn der Priester das rohe Fleisch sieht, soll er ihn unrein urteilen; denn das rohe Fleisch ist unrein, und es ist gewiß Aussatz. Verkehrt sich aber das rohe Fleisch wieder und verwandelt sich in Weiß, so soll er zum Priester kommen. Und wenn der Priester besieht und findet, daß das Mal ist in Weiß verwandelt, soll er ihn rein urteilen; denn er ist rein. Wenn in jemandes Fleisch an der Haut eine Drüse wird und wieder heilt, darnach an demselben Ort etwas Weiß auffährt oder rötliches Eiterweiß wird, soll er vom Priester besehen werden. Wenn dann der Priester sieht, daß das Ansehen tiefer ist denn die andere Haut und das Haar in Weiß verwandelt, so soll er ihn unrein urteilen; denn es ist gewiß ein Aussatzmal aus der Drüse geworden. Sieht aber der Priester und findet, daß die Haare nicht weiß sind und es ist nicht tiefer denn die andere Haut und ist verschwunden, so soll er ihn sieben Tage verschließen. Frißt es weiter in der Haut, so soll er ihn unrein urteilen; denn es ist gewiß ein Aussatzmal. Bleibt aber das Eiterweiß also stehen und frißt nicht weiter, so ist's die Narbe von der Drüse, und der Priester soll ihn rein urteilen. Wenn sich jemand an der Haut am Feuer brennt und das Brandmal weißrötlich oder weiß ist und der Priester ihn besieht und findet das Haar in Weiß verwandelt an dem Brandmal und das Ansehen tiefer denn die andere Haut, so ist's gewiß Aussatz, aus dem Brandmal geworden. Darum soll ihn der Priester unrein urteilen; denn es ist ein Aussatzmal.1 Sieht aber der Priester und findet, daß die Haare am Brandmal nicht in Weiß verwandelt und es nicht tiefer ist denn die andere Haut und ist dazu verschwunden, soll er ihn sieben Tage verschließen; und am siebenten Tage soll er ihn besehen. Hat's weitergefressen an der Haut, so soll er ihn unrein urteilen; denn es ist Aussatz. Ist's aber gestanden an dem Brandmal und hat nicht weitergefressen an der Haut und ist dazu verschwunden, so ist's ein Geschwür des Brandmals. Und der Priester soll ihn rein urteilen; denn es ist eine Narbe des Brandmals. Wenn ein Mann oder Weib auf dem Haupte oder am Bart ein Mal hat und der Priester das Mal besieht und
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Der weise Autor dieser Zeile scheint also zu glauben, aus Brandwunden kann Aussatz entstehen. Aber es kommt noch besser.
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findet, daß das Ansehen tiefer ist denn die andere Haut und das Haar daselbst golden und dünn, so soll er ihn unrein urteilen; denn es ist aussätziger Grind des Hauptes oder des Bartes. Sieht aber der Priester, daß der Grind nicht tiefer anzusehen ist denn die Haut und das Haar nicht dunkel ist, soll er denselben sieben Tage verschließen. Und wenn er am siebenten Tage besieht und findet, daß der Grind nicht weitergefressen hat und kein goldenes Haar da ist und das Ansehen des Grindes nicht tiefer ist denn die andere Haut, soll er sich scheren, doch daß er den Grind nicht beschere; und soll ihn der Priester abermals sieben Tage verschließen. Und wenn er ihn am siebenten Tage besieht und findet, daß der Grind nicht weitergefressen hat in der Haut und das Ansehen ist nicht tiefer denn die andere Haut, so soll ihn der Priester rein sprechen, und er soll seine Kleider waschen; denn er ist rein. Frißt aber der Grind weiter an der Haut, nachdem er rein gesprochen ist, und der Priester besieht und findet, daß der Grind also weitergefressen hat an der Haut, so soll er nicht mehr danach fragen, ob die Haare golden sind; denn er ist unrein. Ist aber vor Augen der Grind stillgestanden und dunkles Haar daselbst aufgegangen, so ist der Grind hell und er rein. Darum soll ihn der Priester rein sprechen. Wenn einem Mann oder Weib an der Haut ihres Fleisches etwas eiterweiß ist und der Priester sieht daselbst, daß das Eiterweiß schwindet, das ist ein weißer Grind, in der Haut aufgegangen, und er ist rein. Wenn einem Mann die Haupthaare ausfallen, daß er kahl wird, der ist rein. Fallen sie ihm vorn am Haupt aus und wird eine Glatze, so ist er rein. Wird aber an der Glatze, oder wo er kahl ist, ein weißes oder rötliches Mal, so ist ihm Aussatz an der Glatze oder am Kahlkopf aufgegangen. Darum soll ihn der Priester besehen. Und wenn er findet, daß ein weißes oder rötliches Mal aufgelaufen an seiner Glatze oder am Kahlkopf, daß es sieht wie sonst der Aussatz an der Haut, so ist er aussätzig und unrein; und der Priester soll ihn unrein sprechen solchen Mals halben auf seinem Haupt. Wer nun aussätzig ist, des Kleider sollen zerrissen sein und das Haupt bloß und die Lippen verhüllt, und er soll rufen: Unrein, unrein! Und solange das Mal an ihm ist, soll er unrein sein, allein wohnen, und seine Wohnung soll außerhalb des Lagers sein. Wenn an einem Kleid ein Aussatzmal sein wird, es sei wollen oder leinen, am Aufzug oder am Eintrag, es sei leinen oder wollen, oder an einem Fell oder an allem, was aus Fellen gemacht wird, und wenn das Mal 651
grünlich oder rötlich ist am Kleid oder am Fell oder am Aufzug oder am Eintrag oder an irgend einem Ding, das von Fellen gemacht ist, das ist gewiß ein Mal des Aussatzes; darum soll's der Priester besehen. Und wenn er das Mal sieht, soll er's einschließen sieben Tage. Und wenn er am siebenten Tage sieht, daß das Mal hat weitergefressen am Kleid, am Aufzug oder am Eintrag, am Fell oder an allem, was man aus Fellen macht, so ist das Mal ein fressender Aussatz, und es ist unrein. Und man soll das Kleid verbrennen oder den Aufzug oder den Eintrag, es sei wollen oder leinen oder allerlei Fellwerk, darin solch Mal ist; denn es ist fressender Aussatz, und man soll es mit Feuer verbrennen. Wird aber der Priester sehen, daß das Mal nicht weitergefressen hat am Kleid oder Aufzug oder am Eintrag oder an allerlei Fellwerk, so soll er gebieten, daß man das wasche, worin das Mal ist, und soll's einschließen andere sieben Tage. Und wenn der Priester sehen wird, nachdem das Mal gewaschen ist, daß das Mal nicht verwandelt ist vor seinen Augen und auch nicht weitergefressen hat, so ist's unrein, und sollst es mit Feuer verbrennen; denn es ist Tief eingefressen und hat's vorn oder hinten schäbig gemacht. Wenn aber der Priester sieht, daß das Mal verschwunden ist nach seinem Waschen, so soll er's abreißen vom Kleid, vom Fell, vom Aufzug oder vom Eintrag. Wird's aber noch gesehen am Kleid, am Aufzug, am Eintrag oder allerlei Fellwerk, so ist's Aussatzmal, und sollst das mit Feuer verbrennen, worin solch Mal ist. Das Kleid aber oder der Aufzug oder Eintrag oder allerlei Fellwerk, das gewaschen und von dem das Mal entfernt ist, soll man zum andernmal waschen, so ist's rein. Das ist das Gesetz über die Male des Aussatzes an Kleidern, sie seien wollen oder leinen, am Aufzug und am Eintrag und allerlei Fellwerk, rein oder unrein zu sprechen.”1 Der Master of the Universe, der Herr, dein Gott, der große Medizinmann mit dem unorthodoxen, medizinischen Fachwissen, Voodoowunderwissen, sprach weiter und erklärte Moses die Gesetze zur Reinigung vom Aussatz:
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3. Moses 13:2 bis 59
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Reinigung vom Aussatz “Das ist das Gesetz über den Aussätzigen, wenn er soll gereinigt werden. Er soll zum Priester kommen. Und der Priester soll aus dem Lager gehen und besehen, wie das Mal des Aussatzes am Aussätzigen heil geworden ist, und soll gebieten dem, der zu reinigen ist, daß er zwei lebendige Vögel nehme, die da rein sind, und Zedernholz und scharlachfarbene Wolle und Isop. Und soll gebieten, den einen Vogel zu schlachten in ein irdenes Gefäß über frischem Wasser. Und soll den lebendigen Vogel nehmen mit dem Zedernholz, scharlachfarbener Wolle und Isop und in des Vogels Blut tauchen, der über dem frischen Wasser geschlachtet ist, und besprengen den, der vom Aussatz zu reinigen ist, siebenmal; und reinige ihn also und lasse den lebendigen Vogel ins freie Feld fliegen. Der Gereinigte aber soll seine Kleider waschen und alle seine Haare abscheren und sich mit Wasser baden, so ist er rein. Darnach gehe er ins Lager; doch soll er außerhalb seiner Hütte sieben Tage bleiben. Und am siebenten Tage soll er alle seine Haare abscheren auf dem Haupt, am Bart, an den Augenbrauen, daß alle Haare abgeschoren seien, und soll seine Kleider waschen und sein Fleisch im Wasser baden, so ist er rein. Und am achten Tage soll er zwei Lämmer nehmen ohne Fell und ein jähriges Schaf ohne Fell und drei Zehntel Semmelmehl zum Speiseopfer, mit Öl gemengt, und ein Log Öl. Da soll der Priester den Gereinigten und diese Dinge stellen vor den Herrn, vor der Tür der Hütte des Stifts. Und soll das eine Lamm nehmen und zum Schuldopfer opfern mit dem Log Öl; und soll solches vor dem Herrn weben und darnach das Lamm schlachten, wo man das Sündopfer und Brandopfer schlachtet, nämlich an heiliger Stätte; denn wie das Sündopfer, also ist auch das Schuldopfer des Priesters; denn es ist ein Hochheiliges. Und der Priester soll von dem Blut nehmen vom Schuldopfer und dem Gereinigten auf den Knorpel des rechten Ohrs tun und auf den Daumen seiner rechten Hand und auf die große Zehe seines rechten Fußes. Darnach soll er von dem Log Öl nehmen und es in seine, des Priesters, linke Hand gießen und mit seinem rechten Finger in das Öl tauchen, das in seiner linken Hand ist, und sprengen vom Öl mit seinem Finger siebenmal vor dem Herrn. Vom übrigen Öl aber in seiner Hand soll er dem Gereinigten auf den Knorpel des rechten Ohrs tun und auf den rechten Daumen und auf 653
die große Zehe seines rechten Fußes, oben auf das Blut des Schuldopfers. Das übrige Öl aber in seiner Hand soll er auf des Gereinigten Haupt tun und ihn versöhnen vor dem Herrn. Und soll das Sündopfer machen und den Gereinigten versöhnen seiner Unreinigkeit halben; und soll darnach das Brandopfer schlachten und soll es auf dem Altar opfern samt dem Speisopfer und ihn versöhnen, so ist er rein. Ist er aber arm und erwirbt mit seiner Hand nicht so viel, so nehme er ein Lamm zum Schuldopfer zu weben, zu seiner Versöhnung, und ein Zehntel Semmelmehl, mit Öl gemengt, zum Speiseopfer, und ein Log Öl und zwei Turteltauben oder zwei junge Tauben, die er mit seiner Hand erwerben kann, daß eine sei ein Sündopfer, die andere ein Brandopfer, und bringt sie am achten Tage seiner Reinigung zum Priester vor die Tür der Hütte des Stifts, vor dem Herrn. Da soll der Priester das Lamm zum Schuldopfer nehmen und das Log Öl und soll's alles weben vor dem Herrn und das Lamm des Schuldopfers schlachten und Blut nehmen von demselben Schuldopfer und es dem Gereinigten tun auf den Knorpel seines rechten Ohres und auf den Daumen seiner rechten Hand und auf die große Zehe seines rechten Fußes, und von dem Öl in seine, des Priesters, linke Hand gießen und mit seinem rechten Finger vom Öl, das in seiner linken Hand ist, siebenmal sprengen vor dem Herrn. Von dem übrigen aber in seiner Hand soll er dem Gereinigten auf den Knorpel seines rechten Ohrs und auf den Daumen seiner rechten Hand und auf die große Zehe seines rechten Fußes tun, oben auf das Blut des Schuldopfers. Das übrige Öl aber in seiner Hand soll er dem Gereinigten auf das Haupt tun, ihn zu versöhnen vor dem Herrn; und darnach aus der einen Turteltaube oder jungen Taube, wie seine Hand hat mögen erwerben, ein Sündopfer, aus der andern ein Brandopfer machen samt dem Speiseopfer. Und soll der Priester den Gereinigten also versöhnen vor dem Herrn. Das sei das Gesetz für den Aussätzigen, der mit seiner Hand nicht erwerben kann, was zu seiner Reinigung gehört. Wenn ihr in das Land Kanaan kommt, das ich euch zur Besitzung gebe, und ich werde irgend in einem Hause eurer Besitzung ein Aussatzmal geben, so soll der kommen, des das Haus ist, es dem Priester ansagen und sprechen: Es sieht mich an, als sei ein Aussatzmal an meinem Haus. Da soll der Priester heißen, daß sie das Haus ausräumen, ehe denn der Priester hineingeht, das Mal zu besehen, auf daß nicht unrein werde alles, was im Hause ist; darnach 654
soll der Priester hineingehen, das Haus zu besehen. Wenn er nun das Mal besieht und findet, daß an der Wand des Hauses grünlich und rötliche Grüblein sind und ihr Ansehen tiefer denn sonst die Wand ist, so soll er aus dem Hause zur Tür herausgehen und das Haus sieben Tage verschließen. Und wenn er am siebenten Tage wiederkommt und sieht, daß das Mal weitergefressen hat an des Hauses Wand, so soll er die Steine heißen ausbrechen, darin das Mal ist, und hinaus vor die Stadt an einen unreinen Ort werfen. Und das Haus soll man inwendig ringsherum schaben und die abgeschabte Tünche hinaus vor die Stadt an einen unreinen Ort schütten und andere Steine nehmen und an jener Statt tun und andern Lehm nehmen und das Haus bewerfen. Wenn dann das Mal wiederkommt und ausbricht am Hause, nachdem man die Steine ausgerissen und das Haus anders beworfen hat, so soll der Priester hineingehen. Und wenn er sieht, daß das Mal weitergefressen hat am Hause, so ist's gewiß ein fressender Aussatz am Hause, und es ist unrein. Darum soll man das Haus abbrechen, Steine und Holz und alle Tünche am Hause, und soll's hinausführen vor die Stadt an einen unreinen Ort. Und wer in das Haus geht, solange es verschlossen ist, der ist unrein bis an den Abend. Und wer darin liegt oder darin ißt, der soll seine Kleider waschen. Wo aber der Priester, wenn er hineingeht, sieht, daß dies Mal nicht weiter am Hause gefressen hat, nachdem das Haus beworfen ist, so soll er's rein sprechen; denn das Mal ist heil geworden. Und soll zum Sündopfer für das Haus nehmen zwei Vögel, Zedernholz und scharlachfarbene Wolle und Isop, und den einen Vogel schlachten in ein irdenes Gefäß über frischem Wasser. Und soll nehmen das Zedernholz, die scharlachfarbene Wolle, den Isop und den lebendigen Vogel, und in des geschlachteten Vogels Blut und in das frische Wasser tauchen, und das Haus siebenmal besprengen. Und soll also das Haus entsündigen mit dem Blut des Vogels und mit dem frischen Wasser, mit dem lebendigen Vogel, mit dem Zedernholz, mit Isop und mit scharlachfarbener Wolle. Und soll den lebendigen Vogel lassen hinaus vor die Stadt ins freie Feld fliegen, und das Haus versöhnen, so ist's rein. Das ist das Gesetz über allerlei Aussatzes und
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Grindes, über den Aussatz der Kleider und der Häuser, über Beulen, Ausschlag und Eiterweiß, auf daß man wisse, wann etwas unrein oder rein ist. Das ist das Gesetz vom Aussatz.”1
“Ein schlechter Witz”, fluchte Adjuna. Er war in ein Café gegangen, um sich in dem klimatisierten Raum ein bißchen zu erholen. Dort hatte er auch den Studenten wiedergetroffen. Der wollte in die gleiche Richtung, nämlich auch zum Jordan. Da war es unvermeidlich, daß man sich traf. “Was ist denn los?” Adjuna kam gerade von der Toilette: “Auf dem Toilettenpapier waren Dollarnoten gedruckt, außerdem funktionierte die Spülung nicht, und irgendein Witzbold hat unbenutzte Scheine über den ganzen Fußboden verstreut. Was für eine Papierverschwendung!” “Du hast es mit der Papierverschwendung.” “Und du hast dir schon wieder ein neues Buch gekauft?” “Was hast du gegen Bücher? Ein Buch trägt dich zu Orten, die du sonst nie sehen würdest, läßt dich Abenteuer erleben, die du zu feige wärest zu erleben, läßt dich zum Helden werden, obwohl du eigentlich ohne Mut bist. Ein Buch konfrontiert dich mit Gedanken von Leuten, die du anders nie das Glück hättest zu treffen, Gedanken, die du nie denken würdest, wenn dir nicht jemand auf die Sprünge hülfe.” “Ja ja, Bücher enthalten auch am ehesten Informationen, die du nicht wissen sollst und daher nicht in den Nachrichten oder in der Zeitung findest. Bücher lehren dich zu fragen und zu hinterfragen. Bücher enthalten aber auch Lügen. Ich habe etwas gegen Lügen. Aber ich habe
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3. Moses 14:2 bis 57
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nichts gegen Bücher, wenn sie ehrlich sind. Ich habe etwas gegen Leute, die sich, meist sind es Bestseller, kaufen und sie dann ungelesen im Schrank stehen lassen. Das ist Papierverschwendung. Ich lese übrigens selbst oft und studiere, aber eigentlich suche ich nicht das Wort, sondern die Tat in meinem Leben.” Jetzt entschuldigte sich der Student seinerseits und ging zur Toilette. Eigentlich mußte er gar nicht. Er hatte sich nur daran erinnert, daß auf den amerikanischen Geldscheinen “In God We Trust” stand. Stand das wirklich auch auf diesen Bogus-Scheinen? Das Greuel zog ihn an. Blasphemie? Blasphemie ein Verbrechen ohne Opfer. 1
Als der Student zurückkam, sah er betroffen aus. “Noch ein Witz”, pustete Adjuna heraus. Und der Student sah noch betroffener aus. Aber Adjuna hatte in der Zwischenzeit bloß in der Zeitung gelesen, daß irgendwelche Rabbis den Sabbat noch mehr heiligen wollten, deshalb forderten sie, daß alle öffentlichen Ämter und privaten Unternehmen, Wasserwerke, E-Werke, die Transportmittel am Sabbat dichtmachen und ruhen sollten. “Daß die Spülung nicht funktioniert, gibt einem den richtigen Vorgeschmack darauf. Das hat doch furchtbar gestunken, nicht wahr?” Aber erst jetzt, wo Adjuna es sagte, wurde dem Studenten bewußt, daß es auf der Toilette furchtbar gestunken hatte. “Es ist schade, daß die Juden nicht Jesus annehmen. Durch seinen Opfertod am Kreuz hat er das mosaische Gesetz aufgehoben. Wie Paulus in einem seiner Briefe schreibt, durch Christus sind wir beschnitten mit einer Beschneidung, die nicht mit Händen gemacht ist, mit Christus sind wir begraben durch die Taufe und auferstanden durch
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Bumpersticker der American Atheists
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den Glauben. Mit ihm wurden wir lebendig gemacht, die wir tot waren in Sünde. Getilgt hat er den Schuldbrief, der wider uns war, und an das Kreuz geheftet. Nie wieder brauchen wir ein schlechtes Gewissen zu haben, wegen Speise oder Trank, oder bestimmter Feiertage, Neumonde oder Sabbate.1 Die Juden warten auf einen Erlöser, dabei war er schon längst da. Der Menschen Sohn ist Herr über den Sabbat.2 Einige seiner größten Wunder tat er am Sabbat und bald wird er die Menschheit zu geistiger und körperlicher Perfektion auferstehen lassen und ein Millennium herrschen, 3 das wird der wahre Sabbat sein für Erde und Menschheit.” “Das Millennium, in dem der christliche Unsinn unumschränkt herrschte, ist hoffentlich mit dem Mittelalter für immer vorbei.”
Als Adjuna weiterging traf er irgendwo in der Wildnis der dreimal heiligen Stadt den Rabbi. Nicht den, der ist schon lange nicht mehr, sondern...
Rabbi Eliezer Schach In Israel, wie in anderen Demokratien auch, entschied die kleinste Partei, wer regierte. Diesmal war es die Partei des frommen Rabbis Eliezer Schach, die aus einem Patt ein Schach machte, das für die Bevölkerung zum Eigentor wurde. Aber Regierungen schnitten ja meist den eigenen Leuten ins Fleisch, da sich ihnen eine Möglichkeit, den Nachbarvölkern zu schaden, nicht so leicht bot.
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vgl. Brief an die Kolosser 2. Kapitel
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Matt 12:8
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Off. 20:6
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Aber zurück zum Rabbi. Der Rabbi hatte die Thora nicht nur studiert, sondern er nahm sie auch ernst. Daher war sein größtes Anliegen ein Gesetz gegen den Verzehr von Schweinefleisch. Auch anderes Fleisch war ihm zuwider, Menschenfleisch, genauer zartes Mädchenfleisch, rund und fest. Pornografie wollte er verboten wissen, oder was er dafür hielt. Bei spärlich bekleideten Badenixen wurde ihm schon heiß, er brauchte sie gar nicht ganz nackt zu sehen. Der Rabbi folgerte, wenn Nebukadnezar die Juden in die babylonische Gefangenschaft geführt hatte, weil Gott die Juden dafür bestrafen wollte, daß sie religiöse Toleranz geübt, Sonnensäulen, Ketzeraltäre und Götzenkapellen in ihrem Lande geduldet und die Thora vergessen hatten, dann war die Endlösung der Nazis eine Strafe Gottes für das Schweinefleisch-Essen der europäischen Juden. Wie sonst hätte Gott die Säkularisierung der Juden verhindern können, wenn nicht mit einer Heimsuchung? Der Holocaust, das Brandopfer des Einhodigen, war eine heilige Handlung gewesen, Hitler ein Gottgesandter. 1 So lehrte der Rabbi. Deutsche Touristen, die ihn hörten, atmeten erleichtert auf. Aber viele Juden schüttelten traurig den Kopf. Die meisten wollten die Lehre des Rabbis nicht akzeptieren, aber gottlos wollten sie auch nicht sein. Sie erfanden sich Ausreden für einen Mittelweg. Entscheidungen, die die eine Generation nicht fällte, mußte eine spätere Generation fällen. Mittelwege gabelten sich irgendwo. Hoffentlich nahm man dann nicht den Weg, der ins Mittelalter führte, in die geistige Umnachtung der Religion.
Adjuna ließ den frommen Rabbi hinter sich und ging weiter Richtung Ölberg. Vor dem Ölberg bog er nach rechts in die Straße nach Jericho.
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Informationen wurden dem American Atheist Newsletter Vol. 30, Nr. 2, Febr. 1991 entnommen. Die Herausgeber, Jon Murray und Madalyn O'Hair, beziehen sich ihrerseits auf Artikel der folgenden Zeitungen: Indianapolis Star v. 28.12.90, Pittsburgh Post Gazette v. 29.12.91, Williamsport Sun-Gazette v. 28.12.91 und Columbus Dispatch v. 28.12.91.
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Die goldene Kuppel des Felsendomes leuchtete hoch hinter dem Löwentor, das rechts in die Altstadt führte. Adjuna ging vorbei, weiter an der alten Stadtmauer entlang. Linker Hand lagen jetzt die Grabeskirche der Maria und die Grotte von Gethsemane, rechts kam dann ein Weg zum Goldenen Tor, hinter dem eine breite, aber steile Treppe zur Moschee anstieg. Auf der anderen Straßenseite versuchten christliche Gotteshäuser, Mohammeds Gott den Platz streitig zu machen, sie drängten sich und strahlten ihre Heiligkeit aus: direkt an der Straße Gethsemane mit der Kirche aller Nationen, dahinter auf einem Berg sehr eindrucksvoll die Kirche der hysterischen Frau, Maria Magdalena. In der Nähe befanden sich auch noch die Himmelfahrtskirche, die Paternoster-Kirche und ein russisches Kloster. Näher an der Straße, aber auch auf der linken Seite lagen die Propheten-Gräber und der jüdische Friedhof. Rechts führte ein Weg in das Kidrontal hinein zur Davidstadt, wo sich die Quelle der Heiligen Jungfrau Maria befand. Namengebung der Quelle erfolgte durch die Kreuzritter. Am Ende des jüdischen Friedhofes machte die Jerichoer Straße einen Bogen nach links, also nach Osten. Die breite Straße, die geradeaus ging, führte auf den Berg des Ärgernisses. Aber Ärgernisse gab es ja für Adjuna schon genug. Obwohl, es schien gerade dieser Berg, soweit Adjuna es überblicken konnte, ohne Gotteshäuser und frommer Stätten zu sein. Aber die Aussicht wäre sicher Ärgernis genug und die eigene Unfähigkeit, diese dreimal heilige Stadt von ihrem dreifachen Aberwitz zu befreien. Verdrossen folgte er den Wegweisern Jericho, Totes Meer, Jordan. Bald machte sich noch ein anderes Ärgernis bemerkbar: Vorbei flitzende Autos. Die Trockenheit des Landes ließ furchtbar viel Staub entstehen. Adjuna dachte: Wenn man wie ich auf Schustersrappen reist, sollte man die Hauptstraße meiden. Nichts verleidet einem das Zu-FußGehen mehr, als sehen zu müssen, wie andere mit ihren Autos schnell vorwärts kommen. Streng genommen, befand sich Adjuna jetzt nicht mehr in Israel, sondern auf besetztem Gebiet. Eigentlich gehörte es den Arabern, aber 660
das war schon so lange her, daß man es fast nicht mehr glaubte, es vergessen hatte; es war schon nicht mehr wahr. In Wahrheit gehörte sowieso alles dem, der es besaß. Wäre es nicht so, gehörte kaum einem Besitzer etwas. Wären wir Naivlinge und glaubten an Rechte, Anrechte, gehörte dann nicht ganz Israel den Palästinensern? Halt, nein, den Kanaanitern, denn die lebten doch hier, bevor Jahwe das Land unrechtmäßigerweise den Israeliten schenkte. Aber ob die Kanaaniter das Land unschuldig erworben hatten, war auch fraglich. Amerika gehörte auf jeden Fall den Indianern, Australien den Aborigines, Neuseeland den Maois, die Antarktis den Pinguinen, der Vatikan den Anhängern des Mithras, die Kaaba den Verehrern von Lat, Manat und Uzza - ach, von denen hatten die Neugläubigen ja auch keinen am Leben gelassen -, die Moschee von Ayodhya und Taj Mahal den Hindus und so weiter. Gerade Gotteshäuser standen gerne auf gestohlenem Grund, bewies doch das Stehen auf den Ruinen der Konkurrenz die eigene Überlegenheit - zumindest den Geistigschwachen. Überhaupt: Gewalt bewies immer Überlegenheit.
In einem der Dörfer abseits der großen Straße traf Adjuna Ahasver, den Dampfwalzenfahrer. Er war dabei Häuser niederzuwalzen. Schwarz vermummte Frauen flohen mit Kleinkindern und armseliger, schnell in schwarze Tücher geraffter Habe kreischend aus den Häusern. Sie waren ohne Männer. Die Männer des Dorfes hatte man schon lange vorher verhaftet. Einer Mutter, die neben ihren großen Gepäckstücken und drei Kleinstkindern noch ein kleines Mädchen an der linken Hand baumeln hatte, entglitt dieses kleine, schreiende Häufchen Unglück. Das Kind fiel auf den staubigen Boden. Es lag direkt in Fahrtrichtung der großen Walze. Die Walze wälzte sich pfeifend und zischend näher. Das kleine Mädchen war starr vor Schreck. Die Mutter hatte schnell die anderen Kinder und das Gepäck an der Seite abgesetzt. Aber auch sie wagte sich nicht mehr zur Tochter. Die Walze war schon zu dicht. Sie türmte 661
schon fast über dem Kind. Aus den aufgerissenen Augen schrie die Angst, der aufgerissene Mund brachte keinen Laut mehr hervor. Adjuna war ins Führerhaus gesprungen und hatte eine Notbremsung gemacht, gerade noch rechtzeitig. Der zur Seite gedrängte Fahrer, amüsiert wegen soviel Eifer, bemerkte ganz ungezwungen: “Nanu, kennen wir uns nicht?” “Warum sollte ich dich kennen?” “Na, von Auschwitz.” Jetzt sah es Adjuna auch. Adjuna: “Du hast überlebt?” Ahasver: “Ja, ich bin dazu verdammt, alles zu überleben.” Adjuna: “Das hier hättest du sicher überlebt, aber die nicht.” Ahasver erklärte Adjuna dann noch, daß diese Häuser Terroristen beherbergten und von palästinensischen Scharfschützen als Deckung benutzt würden. Außerdem müsse die Straße verbreitert werden, und brauche man ein freies Schußfeld. Aber noch ehe Adjuna alles verstanden hatte, rief einer von den Planierraupenfahrern herüber: “Achaschwerosch, weitermachen!” Auch die Soldaten, die neben der Walze standen, fuchtelten schon ganz nervös mit ihren Maschinenpistolen. Es war noch nicht Feierabend und Plauderstündchen.
Menschen lebten zwar im allgemeinen nicht gern frei und unabhängig, im Rudel und als Gefolgschaft von großen Führern, als Stiefellecker und Arbeitssklave, Handlanger und Kanonenfutter, angepaßtes Stimmvieh und Hurra-Schreier fühlten sich die meisten am wohlsten, und Untertan zu sein, war für sie das Natürlichste, und Nein-Sager zu sein, das Schwerste, diese Flucht vor der eigenen Unabhängigkeit war etwas Althergebrachtes, Artspezifisches und verwandt mit der Faulheit und dem Sich-Nicht-Anstrengen-Wollen. Es wurde daher von der Allgemeinheit akzeptiert, wenn man vor der etablierten Autorität kroch 662
und nur das Nachplapperte, was alle nachplapperten, und so ein richtiger, elender, dummer Untertan war, es wurde eigentlich nicht nur akzeptiert, sondern geradezu gefördert und gefordert. Dieses System erlebte aber Erschütterungen, wenn plötzlich von außen Fremde kamen und den Herrenmenschen spielen wollten. Da konnte sich der Untertanengeist der Menschen nicht schnell genug umstellen, und statt den neuen Herren möglichst schnell die Stiefel zu lecken, erwachte in den ehemals gehorsamen Untertanen etwas Konservatives, das sich nach der alten Unfreiheit sehnte und nicht die neue wollte, und statt den Status des Untermenschen unter fremder Herrschaft im ehemals eigenen Land zu akzeptieren und die neuen Herren als Herrenmenschen zu verehren, wollten die Untertanen lieber von den alten, eigenen Herren untermenschlich behandelt werden. Das war ein rebellischer Wunsch. Die Sklavenseele wurde ein Rebell. Der brave Untertan wurde unter der Fremdherrschaft störrisch, - aufständisch, griff zu Steinen oder gar zur Waffe. Freiheitskämpfer nannte er sich jetzt stolz. Die Herren und ihre Freunde nannten ihn einen Terroristen. Und sie nannten ihn immer wieder so und man kam über ein, daß er sehr, sehr böse war. Und so lenkte man von der Verzweiflung ab, die ihn trieb, und von seinem rechtlosen Zustand und dem Unrecht, das ihm angetan worden war - von den neuen Herren, das Unrecht der alten Herren war ja egal, selbst den Opfern. Da die Untertanen in der westlichen Welt mit Untaten der Palästinenser überfüttert worden waren, waren sie pro-Israel und palästinenserfeindlich. Angewidert von soviel Unmündigkeit erinnerte sich Adjuna der israelischen Verbrechen: Das größte Verbrechen des israelischen Staates war zweifellos seine Existenz auf gestohlenem Territorium, hinzu kamen willkürliche Enteignungen, Zerstörungen, Verhaftungen, Folterungen, Morde, sogar Morde an Frauen und kleinen Kindern. Am 4. März 1994 tötete der israelische Major Baruch Goldstein mit einer Uzi-Sub-Machine-Gun etwa 50 betende Palästinenser in der Grabeshöhle der Patriarchen von hinten, laut israelischen Angaben waren es nur 30; die zählten anders. 8 weitere Palästinenser wurden von den israelischen Sicherheitsbeamten erschossen, als sie nach der 663
Bluttat zu aufgeregt aus der Höhle gestürmt kamen. Weitere 6 wurden erschossen, als sie vor dem Hebron Hospital, wo die etwa 200 Verletzten des Attentats behandelt wurden, gegen dieses Verbrechen demonstrierten. Im Juli 1993 hatten palästinensische Freiheitskämpfer, 9 israelische Soldaten, die im besetzten Gebiet die Leute terrorisierten, erschossen, also Leute, die den Tod allemal verdient hatten. Als Rache dafür griffen die Israelis aus der Luft Dörfer im Süden Libanons an und töteten über 100 Bewohner, Männer, Frauen und Kinder, völlig willkürlich, Hunderte erlitten schwere Brandverletzungen von den Phosphorbomben, 300 000 Zivilisten flohen Richtung Beirut. 33 Millionen Dollar ließ sich Israel die Rache kosten. Es erlitt keine Geldnot dank der USA. Im Oktober 1990 mähten israelische Soldaten in Jerusalem 19 Palästinenser nieder. Die westliche Welt sprach von einer Tragödie, als ob das Schicksal zugeschlagen hätte, ein Unwetter oder Erdbeben oder gar Gottes Zorn, und nicht die hochgezüchteten Hasser eines Verbrecherstaates. Es zahlte sich für Israel auf jeden Fall aus, mit den USA unter einer Decke einen glossalanalen Liebesakt zu vollführen: Jeder hielt ihn mal hin und jeder bekam ihn mal geleckt. Feuille de Rose nannte sich so etwas, wenn anständige Menschen, die sauber waren, so etwas taten, sonst nannte sich so etwas schlicht und einfach eine Schweinerei. Am 20. Mai des gleichen Jahres waren israelische Soldaten schon einmal so schicksalhaft von ihrem Haß überwältigt worden, daß sie nicht anders konnten, als sieben palästinensische Tagelöhner, die ihnen auf dem Weg in Rishon Lazion begegneten, zu befehlen, sich in einer Reihe aufzustellen. Und als die Soldaten dann die bösen Rücken der arabischen Arbeiter sahen, konnten sie nicht anders, sie schossen hinein. Auch das war Schicksal gewesen - nach Meinung der westlichen Presse.
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Anfang Juni 1982 flog die israelische Luftwaffe massive Angriffe gegen Beirut, angeblich gegen Terroristen, aber sie töteten nur über 200 Zivilisten. Im gleichen Jahr sahen die israelischen Truppen zu, als ihre Falangisten-Freunde in den palästinensischen Flüchtlingslagern Sabra und Chatila über 2 000 Palästinenser, keine kämpfenden Freischärler, einfache Flüchtlinge, systematisch wie die SS ermordeten; die Weltöffentlichkeit sah ebenfalls zu, allerdings mit weniger Freude und mehr Gleichgültigkeit. Laut israelischen Angaben gab es bei diesem Massaker bloß magere 800 Tote, also verhältnismäßig weniger als im Hebron-Massaker: 800 : 2000 < 30 : 50. Oktober 1956, 43 palästinensische Zivilisten wurden in dem Ort Kafr Kashem umgebracht, weil sie sich zur Ausgangssperre noch irgendwo draußen aufhielten. Am 9. April 1948, also fünf Wochen vor der Gründung Israels, überfielen jüdische Terroristen der Irgun Zwai Leumi das arabische Dorf Deir Yassin und verübten ein Massaker an der Bevölkerung. Besonders die Frauen, da sie wegen ihrer körperlichen Schwäche ungefährlicher waren, fanden einen langsamen, grausamen Tod. Ihnen wurden nur die Bäuche mit dem Bajonett aufgeschlitzt. Dann wurden sie sich selbst überlassen. Verbrechen. Aber den Verbrechern der Irgun- und HaganaOrganisation verdankte der Staat Israel seine Existenz.
Adjuna schlug dem Ewigen Juden seine Faust ins Gesicht und sprach einen Fluch aus: “Du sollst nicht mehr ewig sein. Du sollst nicht mehr Jude sein, du sollst Mensch werden, wie andere auch.” Ob es ein frommer Wunsch blieb, oder ob es zur Erlösung wurde für alle Betroffenen, war abzuwarten. 665
Er hätte wohl auch den ewiggestrigen Anti-Semitisten überzeugende Faust ins Gesicht schlagen müssen.
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Als Adjuna von Jericho hinunter in die Jordansenke ging, wurde ihm immer heißer, denn die Luft stand und die Sonne brannte. Selbst im Altertum schon waren sich die Menschen bewußt, daß die Erde hier ein tiefes Loch hatte. Und manch einer fürchtete wohl damals, hier der Hölle am nächsten zu sein. Das Wasser des Jordans ließ hier zwar eine paradiesische Oase entstehen, aber der Wunsch der Menschen, sie zu besitzen, hatte ewige Kriege zur Folge. Ödland hätte weniger Tränen und Blut gefordert.1 Es war gerade ein berühmter Tele-Missionar aus der Neuen Welt zugegen. An der Jordanfurt hatte er eine große Tauf-Aktion gestartet wie einst Johannes. Um genau zu sein, es war eine Wiedertauf-Aktion, er war also ein Wiedertäufer. Langgestreckte Limousinen parkten am Ufer, die Menge drängte sich, TV-Kameras der missionseigenen Sendestation versuchten das dramatische Geschehen einzufangen. Der Missionar hatte den Wiedergetauften ein seltsames Entrücken im Falle eines Atomkrieges versprochen. In einfachen Worten sprach er, denn er sprach, wie ihm der Kopf gewachsen war und den anderen auch: “Du fährst zum Beispiel gerade in deinem Automobil. Du bist der Fahrer. Du bist ein Christ. Da sind noch andere Leute im Auto, jemand ist vielleicht kein Christ.” Weiter mit fortissimo, der Arm schlenkerte, als ob die Faust auf eine unsichtbare Pauke haut sollte: “Und wenn dann die Trompete ertönt, werden du und die anderen wiedergeborenen Christen ganz plötzlich entrückt, schwupp, weg seid ihr. Nur eure Kleidung und andere persönliche Dinge, die nicht fürs ewige Leben taugen, bleiben zurück. Der Ungläubige in eurem Wagen wird einen Schreck bekommen, wenn
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Für eine Beschreibung der dramatischen Ereignisse um den Jordan siehe Gerhard Konzelmann `Der Jordan'.
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er sieht, daß das Auto ohne Fahrer ist. Das Auto wird irgendwogegen knallen. Andere Autos, an deren Steuer Christen gesessen hatten, geraten ebenfalls außer Kontrolle. Es gibt eine große Karambolage. Die Hölle ist los auf jeder Autobahn der Welt, wo Christen plötzlich vom Steuer entrückt werden. 1” Als sich dieser Missionar auch auf die Offenbarung des Johannes berief, widersprach Adjuna laut hörbar. Schnell wurden die Kameras ausgeschaltet und die Mikrophone natürlich erst recht. Dies aber war, was Adjuna sagte: “Das ist keine göttliche Offenbarung, sondern etwas zutiefst Menschliches. Wenn man sein Leben lang lehrt und dafür verspottet wird, ja sogar im Gefängnis landet, dann entstehen solche Rachephantasien. Das ist ganz menschlich. Selbst ich bin nicht frei von solchen Phantasien, aber letzten Endes bin ich mir doch bewußt, daß meine Gegner Menschen sind, verwundbare Menschen, die leiden wie ich. Ich wünsche ihnen nichts Schlechtes, nur Gutes, nämlich Vernunft. Und meine Wunschwelt ist nicht die Welt der Apokalypse, sondern eine vernünftige Welt ohne die Irrationalität des Hasses und der Religion.” Der Menge dämmerte wohl irgendwie, daß er sie für unvernünftig hielt und ihre Religion der Liebe mit Haß assoziierte. Jedenfalls fing sie an, Steine zu werfen und ihn zu vertreiben. Das war aber nicht so schlimm, denn Adjuna hatte ohnehin vor, seine Asche weiter flußaufwärts in den Jordan zu schütten, da, wo das Wasser wilder floß, die Strömung reißender war. Man kann nicht erwarten, im unruhigen Wasser sein Spiegelbild klar zu sehen. Nur ein verzerrtes Stück der Wirklichkeit bietet sich einem da. Aber was Adjuna im gurgelnden Wasser sah, war sein Spiegelbild und war es doch nicht: Er sah die Welt, wie sie ein Kampfplatz war von
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fast wörtlich aus Jerry Falwell (kein Satiriker, sondern amerikanischer Tele-Missionar) `Nuclear War and the Second Comming of Christ'.
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Vernunft und Unvernunft. Er schämte sich plötzlich der Urne in seiner Hand und der Unvernunft, die ihn mit ihr verband, und er ließ sie betroffen fallen. In allen Menschen war dieser Kampfplatz. Die Urne aber trieb gegen einen Felsen und zerschellte. War es der heilige Geist, der sich seinem Kopf bemächtigte? Oder war es bloß Zufall? Irgendwas traf ihn im selben Augenblick. Ein überwältigendes Ereignis. Er wurde ohnmächtig. Daß Adjuna schwarz vor den Augen wurde, ließ sich natürlich mit Bewußtlosigkeit erklären, denn er war nicht weiter entrückt worden als von seinen eigenen Sinnen, und die Schwärze war nicht das Nichts, das dadurch entstanden war, daß die Schöpfung, die ja - wie man manchmal annehmen könnte - nur aus einer Spannung von gut und böse, teuflischen und göttlichen Elementen ihr Dasein erlitt, sich aufgelöst hatte. Auch blieb es nicht schwarz vor Adjunas Augen, sondern es verfärbte sich schon bald ins Rosane und von dort ins Grüne. Ein Urwald aus Weiden. Dickes Gestrüpp umgab Adjuna. Die Plantagen und Bewässerungskanäle waren verschwunden. Der Fluß führte mehr und vor allen Dingen saubereres Wasser. War das nun die Zukunft nach dem Armageddon oder ferne Vergangenheit? Um sich zu erkundigen, schwebte er zwischen den Weidenstämmen hindurch und stieg aus der Senke auf, der untergehenden Sonne entgegen. Ein Blick zurück zeigte ihm ein riesiges Heer schmutziger, abstoßend und brutal aussehender Krieger, die am Ostufer lagerten. Es waren nicht die Steinewerfer von vorhin, sondern die hier benutzten Lanzen und ritten auf Eseln. Sie trugen keine Business-Suits, sondern Tücher, grobe Gewebe oder Felle, oder waren halbnackt, auch die Mütter. Als Adjuna die Stelle erreicht hatte, von der er wußte, daß sie Jericho hieß, fand er einen heruntergekommenen Ort, der von einer morschen Ringmauer aus sonnengetrockneten Lehmziegeln umgeben war. Eine beklemmende Atmosphäre herrschte in der Stadt. Abfälle wurde einfach liegengelassen, nichts wurde mehr repariert oder gereinigt, die Klärgruben nicht mehr entleert, obwohl sie überliefen. Die Kinder, auf die die Stimmung der Erwachsenen abfärbte, waren ständig am Heulen. Sie suchten den Schutz der Mutter. Aber die Mütter saßen nur da, hilflos. Manch eine legte hilflos ihre Hand aufs Kind, aber keine 668
fand die Kraft, ein Kind hoch zu sich an die Brust zu nehmen, es zu liebkosen und zu trösten. Manch eine Mutter fuhr auch auf, wenn ein Kind zu anhänglich war. Die Leute des Orten fuhren überhaupt leicht auf, um dann wieder in Resignation zu versinken. Kindern, die sich vergessen hatten beim Spiel mit Kameraden, und dann begeistert zur Mahlzeit heimkamen und angesichts des freudlosen Breis fragten: “Warum essen wir nicht wie früher leckeres Gemüse und schlachten mal eine Ziege?" wurde nicht geantwortet. Der wortkarg gewordene Vater knurrte nur keuchend und machte eine schwache, abweisende Handbewegung und die unbeschwerte Stimmung des Kindes war gewichen. Es gab auch Leute in dem Ort, die noch sprachen. Adjuna sah auch sie. Wie der Vater am Familientisch waren auch sie bedrückt, verzagt, am Ende. Der König von Jericho stand neben dem Baal-Priester, der gerade dem Gott eine bescheidene Mahlzeit geopfert hatte und auch ein bißchen Räucherwerk. Der früher mal prächtige, ausgestopfte Stierkopf war von Parasiten zerfressen, das Backenfell hatte sich gelöst und war tiefer gerutscht, was dem Gottesgesicht ein wehleidiges Aussehen verlieh. Betrübt blickte es auf die nicht einmal halbvolle Opferschale. “Der hat schon seit Tagen nichts bekommen”, sagte der Priester, “aber das ist auch egal. Er wird uns nicht helfen können. Er ist ein friedlicher Gott. Eine Kuh. Er hat nur Gutes getan. Wie eine Kuh Milch gibt, so hat er den Menschen dieses Tales lebenspendendes Wasser gegeben, vom morgendlichen Tautropfen bis zu den Fluten des Jordans. Von seinem leuchtenden Palast auf dem nördlichen Schneeberg hat er dieses Land mit Fruchtbarkeit gesegnet. Sein einziger Kampf war mit Mot, dem Gott der Trockenheit und Unfruchtbarkeit, aber es war ein kamaradschaftlicher Kampf wie unter Stieren zur Zeit der Brunft. Und selbst wenn Mot mit seiner Stirn Baal zurückdrängte und wir uns an den Pumpen sputen mußten, aus Überfluß Mangel wurde und der Gürtel immer enger, selbst dann brauchten wir nicht zu verzagen, denn üppige Opfer stärkten Baal, Mot aber war schon bald der Anstrengung nicht mehr gewachsen. Jetzt ist alles anders: Gegen den blutrünstigen 669
Anti-Gott der Fremdlinge haben Mot, haben Baal und seine erotische Schwester Anat, haben andere Götter keine Chance. Der Anti-Gott ist Mordmonster total, der größte Moloch, der je losgelassen wurde.” “Auch du siehst keine Rettung”, sagte der König traurig. “Nein, die da kommen, kennen keine Gnade, sie wollen auch nichts, außer Mord. Man kann sein Leben bei Ihnen nicht kaufen. Selbst auf Liebe reagieren sie mit Mord. Ihre eigenen Leute haben sie an Pfähle gehängt und in der Sonne verderben lassen, weil sie sich Moabiterinnen zur Frau genommen hatten.” “Du meinst, wir können sie nicht um Schonung bitten?” “Jeder, der sich bei ihnen auch nur der kleinsten Verfehlung schuldig macht, ist es Todes. Selbst wenn ein Priester es sich leicht macht, wie ich eben, und fremdes Feuer von draußen für das Opfer nimmt, tötet ihn der Gott. 1 Wie kann man sich von einem solchen Gott Schonung erhoffen - oder von Menschen, die einem solchen Gott folgen. Schon allein aus Angst vor den Heimsuchungen ihres Gottes werden sie uns alle töten, wie sie es mit anderen Völkern getan haben.” Der König atmete schwer und ging mit hängendem Kopf davon. Warum, warum mußten alle Orte dem Erdboden gleichgemacht werden, alle Völker ausgetilgt, alles Leben vernichtet werden, selbst der Tiere? War das Land nicht fruchtbar? Konnte es nicht noch viele Völker ernähren? Wenn man das Dickicht rodete, wie es unsere Vorväter getan hatten, da unten am Fluß könnten noch Hunderttausende vom Ackerbau leben. Eine schwere Depression machte sich beim König breit, als er zurückdachte an die lange Zeit, die er den kleinen Ort mit Liebe und Milde regiert hatte. Jeden seiner Untertanen hatte er so lieb, wie seine eigenen Kinder. Er dachte an die schlaflosen Nächte, die er mal bei
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3. Buch Moses 10. Kapitel
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schwerer Trockenheit, als die Leute an den alten Brunnen vor Erschöpfung zusammenbrachen, damit zugebracht hatte, das Bewässerungssystem zu verbessern. Oder die Heuschreckenplage, als selbst er als König mit angefaßt hatte, um noch vor den Heuschrecken möglichst viel zu ernten, und dann seine Idee, die Heuschrecken selbst in Säcken zu sammeln, um sie getrocknet, gekocht, gebraten, gepfeffert zu verspeisen. Wie das Volk damals im Erfinden von Heuschreckenrezepten gewetteifert hatte! Die Hauptsache war natürlich, daß eine Hungersnot vermieden worden war. Der König schmunzelte, bevor er wieder der Resignation verfiel. Wie egal war das jetzt alles! Wenn man keine Zukunft mehr hatte, spielte da nicht auch die Vergangenheit keine Rolle mehr? Man hatte Fremde in der Stadt gesehen, sicher Spione, aber sie waren entkommen. Nichts klappte mehr. Sicher kamen die Fremden bald über den Fluß. Der König seufzte: Meine Schwäche ist meine Gutmütigkeit. Hab' ich nicht jedem Bürger, der mal fehlte, eine neue Chance gegeben, weil mir Auspeitschungen und Todesstrafen zuwider waren? Aber war nicht gerade dadurch Jericho zur friedlichen Insel geworden. Hatte sein Beispiel nicht die Bürger sanftmütig gemacht? Wie sollte ein guter Onkel wie er mit Bürgern, die nie Blut vergossen hatten, den kriegerischen Widerstand gegen die mörderischste Streitmacht, die je auf Erden wütete, führen? Lautes Weinen drang von der engen Straße her an sein Ohr. Die Fremden hatten den Fluß überschritten. Und gleich einige Kinder, die da unten am Beerenpflücken waren, erschlagen. Nur zwei hatten sich verstecken können und waren in die Stadt zurückgeschlichen. Sie beschrieben, wie die Fremden mit den Kindern des Ortes ihren Mutwillen getrieben hatten, bevor sie sie zerstückelten. Der Bericht entflammte aber nicht den Zorn der Bevölkerung; sie waren aus anderer Materie, es machte sie nur noch trauriger. Sie waren Lämmer, die zur Schlachtbank geführt wurden und auf den Todesstoß warteten. Lämmer auf der Schlachtbank haben keine Chance. Sie sterben. Es überleben immer die Mörder. 671
Und die Mörder kamen. Sie kamen die Senke hoch. Von Gilgal, so hieß ihr Lager. Sie ließen sich Zeit. Sie genossen das Zittern der Lämmer vor dem Schlachtfest. Jeden Tag ließen sie es mehr zittern. Sie kündigten ihrem Gott das Opferlamm Jericho mit Posaunenstößen an. Jeden Tag machten sie eine Runde um die Stadt und bliesen dabei ihre Widderhornposaunen. Jeden Tag lugten die Bewohner der Stadt ängstlich über ihre morsche Mauer: Kommen sie noch nicht, uns zu ermorden? Was ist die Bedeutung der Posaunen? Ein Zauber? Es geschah nichts. Jeden Tag nur eine Runde Posaunenmusik. Erst am siebten Tag änderte sich etwas, die Posaunenspieler machten noch eine Runde, und noch eine und noch eine. Die, die Waffen in der Hand hatten, griffen sie fester und fester und noch fester. Ihre Hände waren feucht, glitschig, verkrampft, ihre Nerven angespannt, am Zerreißen oder schon zerrissen. Als nach dem siebten Rundgang die Feinde auf die Mauer zustürmten und mit Balken gegen sie krachten und Breschen schlugen und alles zusammenbrach, da kauerten sie nur neben ihren Lanzen wie Wachsfiguren. Selbst die Angreifer fühlten, daß sie keine Heldentat begingen, als sie die wehrlose Bevölkerung abstachen. Keinen einzigen ließen sie am Leben. Nur die Hure Rahab mit ihrer Familie wurde verschont, weil sie einmal den Spionen der Fremden geholfen hatte. Jericho wurde nicht erobert, sondern verwüstet. Alles Lebende abgestochen, selbst die Esel, Schafe und Ochsen. Sie wurden aber nicht gegessen, sondern wie die Leichen der Menschen liegengelassen, allein das wenige Gold und Silber und andere eherne Metall des Ortes raubten sie für ihren Herrn. Sie rissen sogar den Toten die Mäuler auf bei ihrer Suche nach Gold.
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Weder bewohnten die Angreifer den Ort, noch nutzten sie die Äcker oder Gerätschaften der Erschlagenen. Wie sinnlos! Was für ein Frevel! Adjuna wollte ihn rächen und nach seinem Bogen greifen, aber da merkte er, daß er nur einen Hauchkörper hatte und hilflos war. Er fluchte: Gibt es denn niemanden, der diese Tat rächt! Die Zeitmaschine in seinem Kopf ruckte an und riß ihn vorwärts. Er sah sie kommen und gehen die Angreifer, in atemberaubendem Tempo. Waren das da Menschen an Angelhaken? Schon vorbei das Bild, wo die Juden gefesselt in Babylonische Gefangenschaft geführt wurden; an großen Haken, die in ihre Unterkiefer getrieben worden waren, wurden sie von den Kamelen ihrer Aufseher oder von ihrem Vordermann gezogen. Halt, halt, rief Adjuna, aber die Zeitmaschine riß ihn weiter. Kreuze flogen an seinen Augen vorbei, hier und da, Menschen hingen dran, immer wieder Gekreuzigte, sie krampften sich zu Tode, Aufständische, säumige Steuerzahler, Provokateure; es war römische Herrschaftszeit. Christliche Priester hätten hier gedroht: Diese Ereignisse sind nicht nur damals geschehen, sie sind ewig wahr! und hätten auf den Gekreuzigten gezeigt. Welchen meinten sie denn? Halt, halt, rief Adjuna. Als sie zum Stehen kam, die Zeitmaschine, hatte Adjuna da seinen Wunsch? Er schwebte über Jerusalem, großes Jammern erfüllte die Luft, ein größeres Jammern, als er gerade in Jericho gehört hatte, und es lag nicht daran, daß die Bewohner Jerichos das Leiden besser hatten ertragen können, oder daß dieser Ort größer war, sondern das Leiden war größer. Das ganze Feld vor der Stadt war mit Kreuzen übersät, an denen Juden langsam zu Tode kamen. Tausende waren es, die da Todesqualen erlitten. Sie hatten versucht, aus der belagerten, hungernden Stadt zu fliehen, und waren von den Römern erwischt worden, die jeden gnadenlos kreuzigten, der in ihre Hände fiel. Die meisten lebten noch, denn der Tod kam am Kreuz erst nach mehreren Tagen, wenn man jung war und gesund, manchmal sogar erst nach über einer Woche. Nur die, denen man auf der Suche nach Gold den Bauch aufgeschlitzt hatte, starben schneller. Aber da die Römer nie etwas 673
gefunden hatten, gab es diese Erleichterung nicht mehr. Der römische Feldherr Titus hatte das Bauchaufschlitzen auch als für eine zivilisierte Nation unwürdig verdammt und verboten, außerdem, dachte er, müsse sich nach der Eroberung der Stadt, wenn man mit der Plünderung fertig war, immer noch genug Zeit finden, die Leiber der Gekreuzigten nach Wertsachen zu durchsuchen. Auf der Stadtmauer von Jerusalem klagten die Leute angesichts der Leiden der Am-Kreuz-Hängenden. Wie viele von ihnen waren schon diesen schändlichen Tod gestorben, seit die Römer ins Land gekommen waren? Das Kreuz, klagten sie, ist das Symbol unseres Leidens. Sie hatten nicht nur recht, sie sollten auch recht behalten. Adjuna hatte ein beklemmendes Gefühl in der Brust. Seine Geschichtskenntnisse reichten aus, zu wissen, wo er war und in welcher Zeit, und daß auch dieser Metropole eine Blutorgie bevorstand, doch diesmal forderte er keine Rache, sondern verdammte die Gewalttätigkeit, die auf den Menschen lastete. Die Stadt, in der es schließlich mehr Verhungerte gab als Lebende Fanatiker hatten die Getreidespeicher angezündet, um einer gegnerischen Fraktion zu schaden oder um das Erscheinen eines Erlösers zu beschleunigen, genau wurde das nie geklärt -, fiel in die Hände der römischen Soldaten und wieder einmal zeigte sich, wozu Menschen in der Lage sind. Zu Mord nämlich. Die Rache der Römer war komplett, nicht ein Fünkchen Freiheit sollte den Juden bleiben und schon gar keine Festung. Zu der schwer einnehmbaren Felsenfestung Masada bauten die Römer mühsam eine Rampe, um auch die letzten Aufständischen über die Klinge springen zu lassen, aber das Mordfest fiel diesmal aus, der Massenselbstmord von Masada vereitelte es. Warum es nicht selbst tun, wenn andere es sowieso tun werden? Zwei Generationen lang hatte das Land Frieden, römischen Frieden. Dann kamen wieder die, die Rache liebten, auf ihre Kosten. Bar Kosiba, der Sohn der Lüge, log, um seinem Namen alle Ehre zu 674
machen, ihn um zu Bar Kochba, Sternensohn, und trat auf die Bildfläche. Es gelang ihm, eine ganze Menge Römer totzuschlagen, was als Bar-Kochba-Aufstand in die Geschichte einging. Dann freilich schlug das Pendel wieder zur anderen Seite aus und die Rächer waren wieder die Römer und die Toten die Juden. Aber auch die fürchterlichsten Monster sterben einmal und die größten Reiche zerfallen. Das römische Reich freilich wurde erst noch christlich, seine letzte Rache am Menschen. Unsinn verdrängt man am besten mit Unsinn. Die neue Erfindung Islam verdrängte das Christentum. Jahwe und sein Söhnchen Jesus machten Platz für Allah. Große moslemische Krieger schlugen sich um das heilige Land, zwischendurch gaben auch christliche Kreuzritter kurz mal ein blutiges Gastspiel. Dann galt es wieder Muslim gegen Muslim, Mamelucken gegen Ottomanen, Beduinen gegen Handelskarawanen, Krieger gegen Krieger, Mensch gegen Mensch, der Starke gegen den Schwachen, und wenn er tollkühn war, auch umgekehrt. Das französische Babygesicht machte mit seiner kleinen Truppe einen Abstecher von Ägypten ins heilige Land. Ihm gelangen große Siege, bevor er alles stehen und liegen ließ und ins Vaterland zurückeilte. Auch andere europäische Mächte zeigten Interesse am heiligen Land. Und schließlich geschah ein Wunder. Die Geschichte wiederholte sich. Das Land wurde wieder den Juden geschenkt, diesmal nicht von Jahwe, aber auch wieder von jemandem, dem das Land nicht gehörte, nämlich den Vereinigten Nationen. Die Generalversammlung der UN stimmte am 29. November 1947 mehrheitlich für die Bildung eines jüdischen Staates. Die englische Mandatsregierung räumte das Land am 14. Mai des nächsten Jahres. Hatte es vorher Massaker gegeben, jetzt stiegen sie gewaltig an. Wie zu Joshuas Zeiten machten die Juden sich wieder daran, das Land von Nicht-Juden zu befreien, durch Morde, Terroranschläge, 675
Einschüchterungen, Enteignungen, Vertreibungen. Riesige Flüchtlingslager entstanden rund um das heilige Land. Aber es war den neuen Bewohnern nicht genug, die alte Bevölkerung vertrieben zu haben, sie wollte ihnen auch noch den Wunsch austreiben, jemals wieder zurückzukommen, und was ihnen gehörte, zurückzuverlangen, dafür eigneten sich nach Meinung der neuen Herren des Landes am besten Einschüchterungsangriffe aus der Luft. Man bombardierte bei den kleinsten Anzeichen von Unzufriedenheit mit der Enteignung die Lager der Enteigneten, mal mit großen Bomben, mal mit kleinen Bomben, manchmal warf man auch nur Spielzeug ab. Wenn ein kleiner Lagerjunge das Spielzeug anfaßte, explodierte es und riß ihm seine Hände ab. So wurde der nächsten Generation die Kämpfer genommen, denn nie würde der Junge eine Waffe in die Hand nehmen können. Da die Verjagten manchmal Rache übten, wurde sie als böse Verbrecher hingestellt, doch das Bild von einem kleinen David, der mit seinen Steinchen nur harmlose Dellen in die Rüstung eines schwer bewaffneten und brutalen Goliaths schoß, paßte eigentlich viel besser. Dieser David war zu klein zum Siegen, und außerdem lebte er gerade in einer Zeit, in der die Weltöffentlichkeit sich angewöhnt hatte, alles Große zu verehren, besonders aber die Mächtigen. Den Schmächtigen blieb nur Spott und den Schmachtenden erst recht. Wenn man die Geschichte der Menschheit vor seinem geistigen Auge vorbeiziehen ließ, mochte man sich wohl an den Kopf fassen, doch dem einen fehlte das geistige Auge, dem anderen der Kopf, dem dritten das Bewußtsein, nur an einem mangelte es nie, an blutiger Geschichte, auch nicht in der Gegenwart. Adjuna war wieder angekommen. Er lag am Jordanufer. Er faste sich an den Kopf. Eine Beule. - Blut. Es war klar, einer von den Steine werfenden Jüngern des Tele-Missionars hatte ihn doch noch erwischt. Mit dröhnendem Kopf erhob sich der angeschlagene Held, ein Ohrwurm beherrschte ihn: “Oh, Haupt voll Blut und Wunden...” Eine Assoziation, oder waren die Lüfte wirklich angefüllt mit den Gesängen einer evangelisch-lutherischen Andacht? Ach, wie schwer war es doch, 676
Wirklichkeit von Trug zu unterscheiden, wenn man nicht voll bei Bewußtsein war! Den Stein aber hob er auf und steckte ihn in die Tasche. Er sprach: “Das ist der Eckstein!” Nachdem Adjuna sich mit Jordanwasser frisch gemacht und sich auch die Ohren gesäubert hatte, ging er mißmutig den Weg zurück, den er gekommen war. Die Bilder der Vergangenheit bedrückten ihn noch. Er litt dreifach. Erstens litt er an den Leiden der Leiden schaffenden Menschheit, zweitens erinnerte er sich des Freundes, dem er bis hierher das letzte Geleit gegeben hatte zur Wasserbestattung im Jordan. Bei Exequien, da war man nicht fröhlich. Drittens schmerzte seine Kopfwunde, aber das war das geringste Übel. Adjuna stieg wieder aus der Senke herauf. Weit hinter ihm unten am Fluß streckte noch immer der TV-Missionar seine Hände beschwörend zum Himmel, zarte Seelen wurden ohnmächtig, die robusteren aber schmolzen bei vollem Bewußtsein dahin in Sehnsucht nach dem Weltende. Vor Adjunas Augen aber wurde das Weltende schon Wirklichkeit. Er kam in einen zerstörten Ort. Es war nicht Jericho. Bei genauem Hinsehen sah er auch, daß der Ort nicht ganz, sondern nur teilweise zerstört war, und daß noch Leute in dem Ort wohnten, wohnen durften. Die Leute waren laut, sie tobten, nicht aus Übermut, sondern aus Wehmut, Rage und Trauer. Ihr “Weh! Wehe!” klang bedrohlich. “Wehe euch!” “Weh mir!” “Weh mir, die ich Kinder in die Welt setzte!” “Ich verfluche den Tag!” “Allah, warum hast du es zugelassen?” “Weh!” “Weh!” “Ach, wie entsetzlich!” “Ach, wie schrecklich!” Die Bewohner beerdigten gerade die Kinder des Dorfes, Kinder der Steine. In den offenen Särgen sah man noch ihre Gesichter, wie kleine, unschuldige Engelchen sahen die jüngeren von ihnen aus. Man konnte sich gar nicht vorstellen, daß sie noch vor wenigen Tagen die verhaßten Besatzungstruppen mit Steinen beworfen hatten. Todesstrafe fürs Steinewerfen. 677
Als die Deckel auf die Särge geschoben wurden, wurde noch lauter. Dieses laute Ach und Weh, Stöhnen, Klagen war so anders, so wütender als das stille Sterben der Jerichoer der alten Zeit, daß sich Adjuna der Gedanke Wehe den Siegern, wenn sie Besiegte werden.
das Klagen und Weinen resignierten aufdrängte:
Im Moment mögen Ahasver und seine Kollegen es vielleicht nicht für möglich halten, daß sie einmal wieder die Besiegten sein könnten, aber da sind sie nur wie alle: Täter versetzen sich nicht in die Lage der Opfer. Erst wenn sie Opfer geworden sind, schreien sie. Selbst von Gott Auserwählte sind da nicht anders. Auch waffenstarrende Überlegenheit - den Palästinensern stand sicher ein übermächtigerer Gegner als einst den Jerichoern gegenüber bedeutet keine ewige Sicherheit. Ewige Sicherheit gibt es genauso wenig wie andere ewige Werte. Ein kleiner Stimmungsumschwung in der Weltöffentlichkeit, vielleicht eine Übersättigung, weil das Bild des geschundenen und gepeinigten Juden einmal zuviel aufgetischt wurde, und schon ist alles anders: Es fehlt die Unterstützung des Auslandes, oder noch schlimmer: Das Ausland hat Mitleid mit den Geschundenen und Besiegten und hilft ihnen, Sieger zu werden. Und wenn das Volk der Juden dann wieder verjagt und geschunden wird, so wird man sagen: Selbst Schuld hat es, hätte es nicht in Frieden das Land mit der ansässigen Bevölkerung teilen können! Erst wenn es wieder viel gelitten hat, wird es wieder viel bedauert werden. Der Herrscher dieser Welt ist eine Herrscherin: die Irrationalität. Plötzlich hatte Adjuna es eilig. Israel, das heilige Land, erschien ihm wie eine Sackgasse zu sein, er wollte da raus, zurück nach Deutschland. Für die Juden freilich, die Alijah machten, wurde Israel nicht zur Sackgasse, sondern zum Sack, der sich schließen sollte.
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Mit großen, festen Schritten schritt Adjuna die staubige Landstraße entlang, das Bild der kleinen Engel in ihren Särgen noch frisch in Erinnerung. Er strich über sein Haar und fühlte seine Beule. Todesstrafe fürs Steinewerfen noch dazu an Kindern. - Nein, dafür war er nicht. Er war kinderlieb, auch wenn Kinder, wenn man ihnen mit Haß begegnete, mit mehr Haß als ein Erwachsener erwiderten, er war kinderlieb und wollte es bleiben. Haß auf Kinder und der Mord an ihnen war eine alte judeo-christliche Tradition, mit der wollte er nichts zu tun haben. Ein gottesfürchtiger Verbrecher wie Elisa mochte kleine Kinder, die ihn Glatzkopf nannten, von wilden Bestien zerreißen lassen, 1 er, Adjuna, hätte darüber gelacht. Und wie konnte man einem Vater nur das Recht geben, seine eignen Kinder zu töten, wenn sie anderer Meinung waren, noch dazu in bloßen, weltanschaulichen Dingen?2 Und all die Massenmorde bei der ersten Besiedlung des heiligen Landes, wo die männliche Bevölkerung bis zum kleinsten Baby ausgerottet und nur die Jungfrauen fürs eigene Vergnügen am Leben gelassen wurden! Und dann später Jesus! Was forderte er! Daß man unter anderem seine eigenen Kinder im Stich läßt,3 um ihm und seiner schwachsinnigen Lehre vom Weltuntergang zu folgen. Ging die Welt auch wider Erwartung, wider Jesus' Erwartung4 bis jetzt nicht unter, so doch sicher für all die Kinder, deren Väter auf der Suche nach dem ewigen Leben die Familie vergaßen. Oh, was für furchtbare Sachen nahmen doch ihren Ausgang von diesem Land! Adjuna holte mit seinen Beinen noch kräftiger aus.
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2. Könige 2:23-24
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5. Moses 13:7-12
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Lukas 14:26, Matt. 14:29
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Markus 9:1, 1:15, 13:30; Matt. 4:17, 10:7, 10:23, 16:28
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In der Hitze des trockenen Weges flimmerte ihm die Fee Morgana etwas vor und das war nicht nur Wasser, sondern da saß auch jemand an der Wasserstelle, ein Lahmer, und ein anderer Mann näherte sich ihm. Es stellte sich heraus, daß dieser andere Mann Jesus war. War es wirklich Jesus? “Ja, ich bin's!” Seine Hautfarbe war aber viel dunkler als bei der Erscheinung, die Adjuna mal im blonden Nordeuropa erschienen war. War Jesus ein Chamäleon? Er war in der Tat sehr dunkelhäutig, außerdem klein und häßlich, aber das Auffälligste an ihm waren die magischen Buchstaben, mit denen sein Gesicht und seine Hände tätowiert waren, Zauberhieroglyphen. 1 Hatten seine Gegner doch recht damit, daß er in Ägypten in die Zauber-Lehre gegangen sei? Hier im heiligen Land bot sich einem doch zweifellos ein ursprünglicherer Jesus als im fernen Anderswo. “Rabbi, hab' erbarmen mit mir”, stöhnte der Lahme. Da Jesus ihn aber ignorierte, variierte der Lahme sein Thema und jammerte: “Ach, Herr, du Sohn Davids, erbarme dich meiner! Ach, Messiah, Sohn Gottes.” Jesus aber weigerte sich, den Lahmen zu heilen. Der Lahme liefe zu weit, hätte er gesunde Beine und sähe wie ein Blinder, dem man sein Augenlicht wieder gegeben habe, zu viel. Drum hat auch die Schlange keine Beine, daß sie nie die Kulissen erreiche und dahinter schaue. Adjuna wußte, daß sich die Evangelisten darum bemüht hatten, das jeweilige Jesus Bild zu steigern, aber hatte es nicht gerade hier in der Vision am staubigen Weg seine höchste Vollendung gefunden? Hatte dieser Jesus nicht etwas gelernt? War er nicht zu einer ähnlichen Erkenntnis gekommen, wie die Kirchen, die in seinem Namen gut lebten? “Heilte ich ihn, er würde mich wohl möglich für seine Heilung verfluchen.” Adjuna wollte Jesus gerade zu seiner neuen Erkenntnis
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Ein Hinweis, daß Jesus möglicherweise ebenso wie Paulus tätowiert war, findet sich in “Jesus the Magician” von Morton Smith.
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gratulieren und es dann - wie es sich für den neuen Messias geziemte selbst auf sich nehmen, den Lahmen zu heilen, als der Vorhang riß. Da war der Trug, die Gaukelei verschwunden, zumindest an diesem sterilen Stück der Straße. Freilich, an anderen Teilen der Welt gab man sich immer noch Illusionen hin, und auch die Religionen hatten noch nicht ausgedient, selbst Jesus war noch der alte, und bei den wenigsten bestand die Gefahr, daß sie zu weit gingen und es bis jenseits der Kulissen schafften, und bei kaum einem Sehenden bestand die Gefahr, daß er die Augen zu weit aufriß und sah, daß die Päpste und anderen Papis keine Kleider anhatten oder bloß des Kaisers neue Kleider. Die In-Pomp-und-Purpur-Gekleideten merkten es natürlich selbst am allerwenigsten, daß sie nackt waren. Sie bekämpften die Nacktheit und waren selbst nackt, dachte Adjuna mit Verachtung. Er ließ die Hose runter und masturbierte. Er erinnerte sich an den Fluch der Diana und ließ seinen Samen auf den Boden fallen. Nichts geschah. Er hatte gehofft, daß die Welt entvölkert würde, aber das staubige Stück Weg war nicht der Ort, an dem Illusionen, denen man sich hingab, wahr wurden. An diesem Stück Weg blieb Staub Staub. Und da sich nichts veränderte, erkannte Adjuna nicht, daß ihm die Zukunft gezeigt wurde.
Im Weitergehen dachte Adjuna an das Irrlicht, das er gesehen hatte. Dieser Ignis Fatuus war Jesus Christus gewesen, der Agnus Dei vom Anus Mundi. Ach, wäre er doch da geblieben, wo er herkam! --- Im Dorf Bethlehem. Blendwerk löst keine Welträtsel. Aber wir sind dumm und werden immer dumm bleiben - ignoramus et ignorabismus. Trotz unserer Blindheit werden wir uns immer blenden lassen. Ach nein, wegen unserer Blindheit werden wir uns immer blenden lassen. 681
Der Jesus am staubigen Wegrand war der einzige, der das begriffen hatte!? Und er wollte nicht helfen, weder damals noch heute1, und wie im Himmel also auch auf Erden und umgekehrt. Und wenn die Blinden im Jenseits die Augen aufmachen und glauben, sie sind erwacht, so bricht für sie nur ein neuer Tag der Dunkelheit an. Nazarener navigieren immer nachts und finden den Tag nicht, wie der Einfältige immer reinfällt und nicht rauskommt. Wären sie nicht so, wären sie andere.
Auf dem Rückweg gab er noch ein paar Geschichten zum Besten: Seid nicht wie Bäume mit übergroßen Wurzeln, die sich festklammern am Boden, um ihn auszusaugen, aber weder gute Früchte noch Blätter hervorbringen, sondern nur trockene Äste, an denen Galgenstränge hängen. Selig sind die, die sich nicht anklammern wie die Babys am Mutterleib, sondern leichtfüßig über die Erde gehen und offen sind für neue Weisheiten, für Höhenflüge und Untergänge. Ich warne Euch vor dem Baum mit der großen Wurzel. Es ist der Blutbaum, den der Würger-Engel gepflanzt hat. Und laßt euch nicht täuschen! Wenn an seinen Galgenarmen eingraviert ist: “Richte nicht, auf daß du nicht gerichtet wirst!”, so nur, weil der Henker nicht gehenkt werden möchte. Eine Vorsichtsmaßnahme, weiter nichts. Er kennt alle Tricks, um nicht zu fallen und nicht zu hängen. Seine Tricks
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Markus 4:11, 12. Man könnte sagen, Jesus' Aussage an dieser Stelle beinhaltet, daß er wenigstens seinen Jüngern die Augen geöffnet habe. Wer jedoch so hinterhältig ist, dem würde ich nicht so leicht über den Weg trauen. Wenn Götter offenbaren, dann meist nur ihre eigene Herrlichkeit, also bloßes Blendwerk.
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sind seine Wurzeln. Sie sind tief und durchziehen die ganze Welt und geben ihm Halt. Kein leichter Wind kann ihn umblasen, nicht einmal ein Sturm. Keine Naturkatastrophe befreit euch von dem Übel, ihr müßt selbst die Säge nehmen und ihn umlegen, wenn ihr nicht mehr gehängt werden wollt. Und wenn ihr die gute Tat vollbracht habt, dann verbrennt das Holz und grabt auch noch den Stumpen und die Wurzeln aus und verbrennt sie auch. Laßt nichts fürs Museum übrig, damit nicht jemand, der die schönen Verzierungen bewundert, auf die Idee kommt, den Richtbaum neuzupflanzen. Pflanzt nie wieder Richtbäume, auf daß keiner von euch je wieder hingerichtet wird, pflanzt Obstbäume, deren Früchte sind genießbar.
Und an anderer Stelle eine andere Ermahnung: Seid nicht wie Schafe, die gutmütig bähen und blöken, wenn sie den Schäfer sehen. Der Schäfer haut euch beim Wollgeschäft übers Ohr und am Ende überliefert er euch dem Fleischproduzenten. Seid auch nicht die Hunde des Schäfers, denn Hundsein heißt Handlangersein, und das ist noch schlimmer als Schafsein, denn Schafsein heißt Opfersein. Seid lieber schreckliche Wölfe und zerreißt den Hirten, und wenn ihr dann noch weiter reißen müßt, dann reißt die Hunde, die nicht Wolf werden wollten, und wenn ihr dann noch weiter reißen müßt, dann reißt die Hunde, die schon wieder mit den Wölfen heulen, und wenn ihr noch mehr reißen müßt, dann reißt die Schafe, die auch ohne Hirte blöde Schafe geblieben sind. Wenn ihr aber soviel gerissen habt, wird euer Blutdurst nicht mehr zu stillen sein, denn ihr seid in Wirklichkeit ja eben doch keine Wölfe, sondern Menschen, ihr werdet euch gegenseitig zerreißen, und das ist auch gut so, denn ihr habt das Format eurer Gegner angenommen, eure einzige Überlegenheit gegenüber den Hirtenämtern und Fleischverarbeitern liegt im geistigen, doch groß ist eure Überlegenheit nicht, es ist die Überlegenheit des Wolfspiels gegenüber dem Hirtenspiel, oder die der Ideologie gegenüber der 683
Religion. Doch was will man erwarten? Auch die Gleichgültigkeit und die Das-geht-mich-nichts-an-Einstellung hat keinen höheren Stellenwert. Und welches Tier könnte in einer Fabel schon die ruhige Überlegenheit eines denkenden Wesens übernehmen? Eine Rolle, die in dieser Welt eigentlich dem Menschen zugedacht war, wenn überhaupt von Denken die Rede sein kann - konnte. Ein ruhig denkender Mensch erreicht nur nichts, wenn um ihn herum lauter Schaf- und Wolfmenschen in Rage sind. Darum gibt es ihn auch nicht! - Na gut. Fast nie. Ein solcher Mensch, wenn er nicht überhört wird, wird immer zerrissen. Darum rate ich euch das zweitbeste zu sein: Wölfe, die dem Reißen treu bleiben bis zur Selbstzerfleischung. Und wenn die ganze Menschheit dann auf dem Schinderanger liegt und pestilenzartig stinkt, dann hat sie ihre Bestimmung erreicht. Fliegen und Würmer werden genußvoll seufzen: “Welch ein Festmahl!” Und die Geier aasen am überreichen Tisch und verkleckern den Segen übers ganze Land, und wo sich Leichenteile mit Erde mischen, da blühen die Blumen strahlender und sie jubeln: “Hmmm, Naturdünger! Er war doch zu was nütze, der Mensch.” Das drittbeste nur sind Wölfe, die Reißaus nehmen.
Ja, ich begehe nicht nur Gotteslästerung, sondern auch Menschenlästerung. Es wäre ja auch ungerecht, nur über Götter schlecht zu reden, wo doch die Menschen genauso schlecht sind. Er gab noch ein paar mehr Fabeln und Märchen zum Besten, Predigten, Segnungen, Ermahnungen, Gleichungen, die nicht aufgingen, etc. Gleichungen, die nicht aufgingen? Er war ja auch kein Mathematiker, sondern...
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Ja, er hielt sich für den Messias. Ganz plötzlich war ihm das passiert. Es mag sich überspannt anhören, geistesgestört, verrückt, irre, oder da wir im Jüdischen sind: meschugge, aber er war nicht der einzige, der von solcher Selbstüberschätzung befallen war. Nein, ich meine nicht Jesus. So gemein bin ich nicht, daß ich ihm soviel Realitätsverlust unterstelle. Das waren andere, die ihm den Messiah-Job angedichtet haben. Sondern ich meine all die, die sich in den letzten zweitausend Jahren wirklich für den wiedergeborenen Jesus Christus hielten. Neben denen, die glaubten, sie verfügten über den direkten Draht nach oben, und denen, die meinten, sie seien dazu erkoren, die Bibel auszulegen und zu ergänzen, gab es nämlich immer auch solche Leute, die sich für den Menschensohn persönlich hielten. Heutzutage werden solche Leute meistens belächelt, früher wurden sie grundsätzlich gefoltert und verbrannt. Falls es das eine oder andere Mal der richtige Erlöser gewesen sein sollte, der sich da zu Worte gemeldet hatte, so hatte man ihn mit verbrannt. Ob echt oder unecht, egal, unbequeme Leute waren es allemal. Adjunas Fall war allerdings ein bißchen anders. Im allgemeinen waren solche Jesus Imagines oder Imaginisten nämlich damit beschäftigt, analog zur Tempelreinigung eine Kirchenreinigung durchzuführen und einen reineren Unsinn zu predigen als die hauptberuflichen Prediger. Adjuna dagegen hielt sich zwar für einen Messias, aber nicht für Jesus. Er war ja nicht einmal Christ. Ja, seine Aufgabe sah er ja gerade darin, die Welt vom Christentum oder sogar vom ganzen Religionsspuk zu säubern. Seine Aufgabe war also eine viel größere, als die des Tempelund Kirchenreinigungspersonals. Wenn die Religiösen in schönster Rodomontade Berge versetzten, er hatte den ganzen Planeten zu versetzen. Sein Fall war auch noch aus einem ganz anderen Grund anders: Wir hatten ja am Anfang des Buches gesehen, daß er tatsächlich - mehr oder weniger - von den Göttern selbst als Erlöser geschickt worden war. Wenn er also jetzt predigte, dann tat er das mit einer gewissen Autorität - göttlichen Autorität.
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Gott ist ein Produkt der Furcht.1 Gott ist ein Ding der Unmöglichkeit.2 Gott ist nur ein erdachtes Wort, uns die Welt zu erklären. 3 Gott ist ein leeres Wort für den vollen Bauch der Priester. 4 Gott ist nur ein Hampelmann in den Händen seiner Priester. Aber auch die Priester sind Hampelmänner - paradoxerweise in den Händen ihres Gottes. Mit ihrer Religion haben sie sich selbst überlistet. Gott ist nur ein Angestellter im Dienste der Ungerechtigkeit, Sünde nur ein Lügenwort dieses Angestellten, Hölle sein Handwerkszeug. Gott ist unbegreiflich, mit dem Verstand nicht zu fassen, sagen die Priester. Sie haben recht: Gott ist etwas für die Dummen. Wenn man jedoch die Dummen begreift, begreift man auch Gott. Gott heißt die große Lebenslüge aller religiösen und schwachen Menschen, sie macht zwar nicht wirklich glücklich, aber sie bewahrt wie Dummheit und Blindheit vor allzugroßem Unglücklichsein, und gibt den Gläubigen noch dazu das selige Gefühl der Überlegenheit, mit der es sich so ganz ohne Gewissensbisse andere unglücklich machen läßt.
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Statius
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abgeleitet aus Lukas 1:37
3
Lamartine
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Holger Hermann Haupt
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Adjuna beendete seine bewußt plakativ gehaltene Predigt bewußt optimistisch mit dem Slogan: Der Mensch hat die Religion erfunden. Der Mensch muß sie sich auch wieder vom Hals schaffen! Er wußte, er hatte eine durch Werbespots gebildete Menschheit vor sich und mußte sein Produkt klipp und klar und einfach und jenseits aller Zweifel anbieten. Wer dem Volke nicht aufs Maul schaut, redet an ihm vorbei. Ein bißchen Übung und Überwindung gehörte allerdings dazu, besonders wenn so ein Pöbelmaul, zu dumm war, die Unterlippe hochzuziehen. Adjunas Gedanken dazu waren komplizierter, ambivalenter und für Pöbelohren ganz und gar nicht geeignet. Er dachte nämlich, der globale Konflikt zwischen Wissenschaft einerseits und Aberglauben andererseits, zwischen Vernunft und Religion, entspricht einem Konflikt im Kopf des Menschen, einem Kampf des rationalen Großhirns gegen die tierischen Instinkte der unteren Schichten. Ängste und Gefühle haben eine lange Geschichte und waren schon bei den ersten Tieren vorhanden. Objektives, rationales Verhalten ohne Eigensucht und Revierverhalten ist ein Spätkommer der Evolution, ein Zuspätkommer. Die, die das Tierische im Menschen wollten, hatten sich schon eingerichtet, institutionalisiert. Jetzt treten sie bereits zum letzten Aufstand an, der in den Untergang führen wird. Aber den Untergang zu wollen, ist vielleicht das Vernünftigste, das man tun kann, wenn die Vernunft nicht den Sieg erringt. Lieber ein kurzes Leiden als ein langes. Lieber wir bringen jetzt das halbe Dutzend einer Milliarde um, das jetzt lebt, als Dutzende von Milliarden über die nächsten Jahrtausende verteilt. Bei Mücken und anderen Insekten wächst das Gehirn um die Kehle. Wenn sie intelligenter werden, schnürt das Gehirn ihnen den Hals zu. Beim Menschen passiert das nur im übertragenen Sinne.
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Die Welt war immer der Schauplatz der verschiedensten Kämpfe und sie wird es wohl auch noch auf unabsehbare Zeit bleiben. Wenn Philosophen uns lehren, die Gegenwart sei ein Augenblick zwischen der Ewigkeit des Vergehens und der Ewigkeit des Werdens, so stimmt uns das nicht nur nicht zufrieden, weil Vergehen und Werden augenblickliche Erscheinung sowohl der Vergangenheit als auch der Zukunft sind und eben keine dualistischen Ewigkeiten, deren Rücken in der Gegenwart aneinanderreiben, die Aussage also ganz falsch ist, sondern auch weil sie keine tiefe Erkenntnis enthält. Wir korrigieren also: Die Gegenwart ist ein Augenblick zwischen den Vergehen der Vergangenheit und den Vergehen der Zukunft. Aber welche Vergehen bisher auch immer vergangen sind, es waren noch nicht die Vergehen, die ihren Ursprung hatten in einem Kampf des Großhirns gegen die Instinkte der unteren, tierischen und reptilischen Schichten. Aber wäre ein solcher Kampf nicht noch immer ein ungleicher und aussichtsloser Kampf, schwerer zu gewinnen als der Kampf des Däumlings gegen die Riesen? Mußte das Großhirn nicht noch wachsen, bevor es den Kampf mit den übermächtigen Instinkten aufnehmen konnte, bis der Kampf Vernunft gegen eine Meute Wölfe gewonnen werden konnte? Und wenn beim Menschen nichts mehr wuchs, hatte er nicht das Werkzeug geschaffen, das seine eigene Dummheit besiegen konnte, den Computer? Zwar war es eine populäre Horror-Vision, daß Computer die Welt beherrschten, aber wenn sie nicht herrschten, gab es nur die bekannte Horror-Gegenwart-Wirklichkeit. Nicht die Werkzeuge sind den Menschen schädlich, sondern die Menschen sind es allein. Wenn der Mensch nicht bereit ist, sich selbst durch gentechnische Manipulationen zu verbessern, dann möge er abdanken und die Entscheidungen einer von ihm geschaffenen, vernünftigen Maschine überlassen. Es ist zu seinem eigenen Besten. Nur eine Maschine kann seine Streitigkeiten unparteiisch und gerecht schlichten. Adjuna wußte, wie dünn die Großhirnrinde war. Wollte er doch immer vernünftig sein und logisch denken und handeln, und geriet er doch 688
immer in Verwirrung! Erging es anderen nicht genauso? Und Heilung war nicht in Sicht. Es hatte allerdings noch doch eine Heilung gegeben, wenn auch nur eine ganz kleine. Es war in der Hafenstadt, da traf Adjuna wieder den Studenten. Er wartete wie Adjuna auf ein Schiff, das ihn zurückbringen würde. Seine Heilung hatte ironischerweise etwas mit Adjunas Beule zu tun. Etwas war ihm wie Schuppen von seinen Augen gefallen. Und zwar war das Wunder gerade in dem Augenblick geschehen, als er mit gefalteten Händen in den Jordan eintauchte, um von Helfern des Telemissionars das heilige Sakrament der Wiedertaufe zu empfangen. Da nämlich, als das heilige Wasser gerade auf seinen Kopf geträufelt wurde, hatte Adjuna seine Stimme gegen die Predigt des Telemissionars erhoben; zwar bewirkten die Worte nichts, und auch das Wasser bewirkte nichts, aber als die ersten Steine flogen, fielen auch die ersten Schuppen von den Augen, und als dann noch einige Hilfspriester hetzen: “Das ist der Anti-Christ, verfolgt ihn!” da war der Blick klar für die neue Erkenntnis. Es ging dem Studenten also nicht anders als so vielen anderen Leuten: Nicht die Lehren der Atheisten, sondern die Taten der Christen bringen sie zur Vernunft.
Überstürzt, wie so oft in seinem Leben, hatte Adjuna Israel verlassen. Jetzt schaukelte er schon wieder auf dem Meer und irgendwann - so hatte der Käpt'n versprochen - würden die Elbmündung und Hamburg direkt vor ihnen auftauchen. Adjuna hoffte, das wäre die Wahrheit. Hamburg war zwar auch nicht seine Heimat, aber besser als irgendeine Überraschung war es doch. Er dachte mit Schrecken an Gulliver, den es mal ins Land der Liliputaner verschlagen hatte: “Die Menschen sind mir schon zu klein. Mein Gott, wie wäre es, wenn sie noch kleiner wären!” 689
Schon bald versagte die Maschine des alten Kahns, und man trieb hilflos auf dem großen Meer. “Wohin treiben wir Käpt'n?” “Ich weiß nicht.” “Ja, haben Sie denn keinen Kompaß?” “Doch, aber unsere Navigationsgeräte funktionieren alle elektrisch. Jetzt haben die keinen Saft.” “Ja, können Sie denn nicht anders navigieren? Mit Hilfe von Sonne, Mond und Sternen?” “Ist doch alles stark bewölkt.” “Wann werden Sie die Maschine repariert haben?” “Weiß ich noch nicht.” Und der Student wollte wissen: “Ist es noch weit bis zum Bermudadreieck?” Nach einer Woche des hilflosen Treibens kam Land in Sicht. Da es sich um einen flachen Strand zu handeln schien, mußte man weit vor der Küste Anker werfen. Adjuna fuhr mit einigen Leuten im Beiboot an Land, um nach Wasser zu suchen. Tatsächlich fand man nach einigem Suchen einen Bach, in dem man die Fässer füllte. Dann hatte jemand vorgeschlagen, mit den vollen Fässern doch einen Wettlauf zurück zum Beiboot zu machen. Adjuna war sofort begeistert, konnte er doch endlich mal wieder seine Kraft zeigen. “Ich nehme die beiden größten Fässer und laufe euch doch allen davon”, prahlte er. Er kam so früh beim Beiboot an, daß die anderen noch nicht einmal in Sicht waren, als er seine Fässer ablud. Und weil ihm die Zeit zu lang wurde, legte er sich ins weiche Gras. Und die Sonne schien gar zu schön. Es war so warm und so friedlich. Da schlief er ein. Während er schlief, kamen die anderen beim Boot an. Sie sahen ihn aber nicht im hohen Gras liegen, sondern schauten immer aufs Meer hinaus. “Der Spinner ist wohl schon zum Schiff geschwommen.” “Ja, der trainiert sicher für die Triathlon Championship und radelt jetzt mit dem Fahrrad vom Käpt'n um die Ladeluken herum. Kommt, laßt uns schnell zurückrudern!” An Bord aber dachte man nicht mehr an Adjuna. Der Maschinist hatte endlich die Maschine repariert, und man war froh, daß es endlich weitergehen konnte. 690
Adjuna wurde erst wach, als ein paar Handschellen um seine Handgelenke schnappten. “Ein illegaler Einwanderer!” “Ein Spion! Du gucki, gucki machen?” Adjuna verstand nicht gleich. Er sah die Beamten an. Sie waren zwar klein, aber nicht so klein, wie er befürchtet hatte, stellte er mit einiger Beruhigung fest. Sie nahmen ihn mit auf die Wache. Dort durchsuchten sie ihn ganz und gar. Das heißt, sie zogen ihn aus. Da sie aber Angst hatten, daß er mit seinen großen Muskeln um sich hauen könnte, machten sie seine Handschellen nicht los, sondern schnitten seine Jacke, sein Hemd und Unterhemd auf, um es ihm ausziehen zu können. Nur seine Hose und seine Unterhose zogen sie ihm aus, ohne kaputt zu machen. Dann mußte er sich bücken, damit sie in seinem After nachsehen konnten, ob er dort nichts versteckt hielt. In seiner Jacke fanden sie zwar einen Ausweis, aber kein Visum. “Wie ich mir gedacht habe: kein Visum!” Adjuna wollte etwas davon erzählen, daß sie in Seenot waren. “Schweig!” Als er wieder ansetzte: “Schweig! Du willst doch deine Situation nicht noch verschlechtern?” “Hier”, rief der andere “Pornoschmuggel?” “Ja.”
Beamte
triumphierend,
“Porno!”
Der Beamte hatte in Adjunas Jacke ein Foto gefunden, daß eine Erinnerung war an Aurora. Es war in der glücklichsten Zeit entstanden und zeigte Aurora, wie sie wie eine Shakti an ihm hing, während er wie der große Schiwa stand und ihre Schenkel hielt und seinen mächtigen Schwanz in sie hineinsteckte. Alles war deutlich zu erkennen, und die Beamten erbleichten offensichtlich vor Neid. Sie rieben ihm das Bild unter die Nase. “Pornoschmuggel.” “Ich wußte nicht, daß Pornographie in eurem Land verboten ist”, sagte Adjuna kleinlaut, und der armselige Anblick, den er jetzt bot, hätte eigentlich den Neid der Beamten zum Erlöschen bringen sollen. “Pornographie ist in unserm Land nicht verboten, aber Pornographieschmuggel”, erklärte der eine Beamte ganz stolz, herrisch. 691
Der andere fiel ihm ins Wort: “...und Kindesmißhandlung!” “Was??!” “Guck doch mal genau hin, die hat doch noch gar keine Haare!” “Tatsächlich!” “Mach du den Haftbefehl fertig, ich zieh den Gefangenen wieder an, damit wir ihn rüber ins Gefängnis bringen können.” “Hört mal”, mischte sich Adjuna ein, “das ist natürlich eine erwachsene Frau, sie hat sich nur die Muschi rasiert, und außerdem wird sie gar nicht mißhandelt.” “Schweig! Ich kann mich sonst nicht aufs Schreiben konzentrieren.” Adjuna wurde dann über die Straße geführt. Seine Hose hatte er wieder an, allerdings mußte er sie festhalten, da man ihm den Gürtel weggenommen hatte. Seine Oberbekleidung hatte man ihm nur lose über die Schultern gelegt. Nachdem man ihn dem Gefängnispersonal übergeben hatte, wurde er wieder ausgezogen, diesmal von den Gefängniswärtern. Er mußte sich auch wieder vorbeugen, und sein After wurde noch mal untersucht, jedoch diesmal nicht mit den Fingern, sondern man nahm eine besondere Zange zum Öffnen und hatte auch eine Sonde zum Nachsehen. Die nächsten Tage blieb Adjuna im Gefängnis. Da kein Tageslicht in die Zelle fiel, wußte er nicht, wie viele Tage. Irgendwann hieß es dann: “Zum Richter!” Der Richter hatte gleich ein großes Problem. Er wollte, daß Adjuna bei Gott schwörte, daß er die Wahrheit sage. Adjuna protestierte: “Ich bin Atheist. Ich kann nicht bei Gott schwören.” “Wer nicht bei Gott schwört, sagt auch nicht die Wahrheit. Du mußt bei Gott schwören!” “Das kann ich nicht!” “Du mußt.” “Ich weigere mich!” “Ins Gefängnis, bis du bei Gott schwörst, die Wahrheit zu sagen! - Abführen!” “Mein Gott, der hat mir lebenslänglich gegeben!”1
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Das mochte wohl auch Robin Murray-O'Hair gedacht haben. Als sie in Texas zum Schöffendienst verpflichtet wurde, sollte sie wie die anderen Schöffen bei der Vereidigung auch einen Schwur sprechen, der mit “So help me God” endete. Da sie sich als Atheistin
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Im Gefängnis wurde er gleich wieder untersucht. Diesmal war der Beamte so klein, daß er sich kaum zu bücken brauchte. Adjuna dachte, ich bin doch im Lande Liliput. Und er fragte den Beamten: “Was sucht ihr eigentlich immer da drin?” “Du könntest ja was vom Richtertisch gestohlen haben.” “Mit dem Hintern?” “Das weiß ich doch nicht. Ich hab' bloß meine Vorschriften.” Als Adjuna schon eine ganze Weile im Loch gesessen hatte und sich wie lebendig begraben vorkam, klopfte es irgendwann - Zeit war so etwas Vages geworden, daß er keine Ahnung hatte, wann - an seine Tür. “Darf ich reinkommen?” “Ja gern, aber ich hab' keinen Schlüssel. Ich kann Ihnen nicht aufmachen.” “Schon gut.” Die Tür wurde aufgeschlossen und ein kleiner Mann trat ein. Er hatte eine feine, dünne Nase und darauf ein Drahtgestell von einer Brille. Fleißig und untertänig stellte er sich vor: “Ich bin Ihr Verteidiger. Der Richter war so nett und hat Ihren Fall in Ihrer Abwesenheit verhandelt. Im Namen des Volkes ergeht folgendes Urteil: “…” “Was? Gibt es hier auch ein Volk? Davon habe ich ja noch gar nichts gemerkt. Bisher hab' weigerte, ließ der Richter sie ins Gefängnis werfen. Wegen Mißachtung des Gerichts gab ihr der Richter eine Strafe von drei Tagen, danach “sollte sie sich von der Verachtung, die sie dem Gericht zugefügt hatte, dadurch Säubern, daß sie die Vereidigungsformel sprach”, wenn nicht, sollte sie wieder in Beugungshaft kommen. Miss Murray-O'Hair wurde ins Landesgefängnis gebracht, strip searched, das heißt, ganz ausgezogen, auch die Schuhe, und durchsucht, dann gezwungen, eine kalte Dusche zu nehmen, dann eingelocht mit anderen Verbrecherinnen. Dank der Rechtsabteilung der American Atheists kam sie noch am selben Tag wieder frei. Natürlich strengte man einen Prozeß gegen the Great State of Texas und den Richter an, obwohl der eigentliche Vorfall schon am 15. Dezember 1987 war, kam das Gericht erst am 28. August 1991 zu einer Wischiwaschi-Entscheidung. Danach war es zwar verfassungswidrig, wenn der Richter Miss Murray-O'Hair dazu zwingen wollte, “So help me God” zu sagen, aber eine eindeutige Entscheidung, die Atheisten für alle Zukunft eine Einführung in den Schöffendienst ohne Diskriminierung ermöglichen würde, gab es nicht. Außerdem entschied das Gericht noch, daß der Richter zwar Miss Murray-O'Hairs Grundrechte verletzt habe, er aber immun sei gegenüber jeglicher Schadensersatzforderung.
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ich nur 'nen Richter und Beamte gesehen.” “Das Volk ist sehr klein und scheu. Die meisten sind auch eingesperrt. Man sieht sie nicht.” “Ach ja, und die Gefängnisse haben Einzelzimmer.” Der Verteidiger nahm wieder das Urteil in die Hand. “Also der Richter war sehr großzügig. Er hat Ihnen nur pro Straftat einen Monat gegeben, und vom Anklagepunkt der Kindesmißhandlung sind sie sogar freigesprochen worden. Die Experten...” “Welche Experten?” “na, die Gerichtsmediziner. Also nach gründlichen Nachforschungen und Untersuchungen im Schambereich ist man zu dem Ergebnis gekommen, daß es sich bei der weiblichen Person auf dem Corpus delikati um eine ausgereifte Person handelt, die sich lediglich die Schamhaare mittels eines scharfen Gegenstandes entfernt hat oder entfernen hat lassen.” “Also freigesprochen”, sagte Adjuna erleichtert, “dann kann ich ja gehen.” “Da bleiben nur noch die anderen Straftaten.” “Welche anderen Straftaten?” “Na, illegale Einwanderung, Pornoschmuggel, Gotteslästerung und dann ist da noch illegaler Aufenthalt hinzu gekommen. Das macht zusammen vier Monate. Zwei sind schon um, bleiben noch zwei nach. Ohren steif halten, mein Freund, die gehen auch noch um.” Der Verteidiger wendete sich zum Weggehen. “Heh, he, warte mal, was soll das, illegaler Aufenthalt?” “Sie halten sich doch illegal im Lande auf.” “Was soll das heißen? Ich bin illegal eingesperrt?” “Daß Sie im Gefängnis sind, ist legal, aber daß Sie im Lande sind, ist illegal. Und unsere Gefängnisse befinden sich nun mal im Lande. Pech für Sie!” “Aber wenn ich illegal einwandere, halte ich mich doch illegal auf, das ist doch eine und die selbe Sache. Können Sie das nicht dem Richter erklären?” “Sie müssen juristisch denken.”
Der Verteidiger kam später noch einmal, kurz vor Adjuna's Entlassung. Morgen hätten Sie eigentlich entlassen werden sollen, aber da Sie keine Aufenthaltsgenehmigung haben, geht das nicht. Wir wollten Sie eigentlich gleich auf ein Schiff bringen. Aber das einzige Schiff, das Sie nach Deutschland bringen könnte, ist schon beladen und muß daher heute noch auslaufen. Unsere Vorschriften erlauben keinen längeren 694
Aufenthalt, auch wenn die gerne noch einen Tag auf Sie gewartet hätten. Da können Sie also nicht mehr mit, Ihre Haftstrafe dauert ja noch bis morgen. Sie hätten sich einen Tag früher verhaften lassen sollen. Jetzt haben Sie Pech. Es dauert nämlich noch einen ganzen Monat, bis wieder ein Schiff kommt.” “Was soll das heißen?” brüllte Adjuna aufgebracht, das schlimmste ahnend. “Na, daß Sie noch einen Monat warten müssen.” “Aber doch nicht in diesem Loch!” “Doch natürlich, Sie haben doch keine Aufenthaltsgenehmigung.” “Ja, können Sie mir die denn nicht besorgen?” “Nein, Aufenthaltsgenehmigungen, Visen und 1 Visumstatusänderungen kann man nur im Ausland beantragen. Wenn Sie nachher wieder in Deutschland sind und unser Land besuchen wollen, können Sie dort in unserer Botschaft ein Visum beantragen. Es ist unmöglich, so etwas im Inland zu tun. Das werden Sie doch wohl einsehen. Wer sich im Inland befindet, muß entweder ein Inländer sein, oder ein Ausländer mit einem gültigen Visum, denn sonst kann er ja gar nicht im Inland sein.” “Aber sehen Sie doch meinen Fall an.” “Für ein paar Kriminelle können wir doch nicht extra unsere Gesetze ändern.”
So hatte Adjuna noch einen Monat mehr Zeit, über sein Leben nachzudenken. Ist es erstaunlich, daß er zu dem Ergebnis kam: Das Leben ist eine Reise, die einen immer zu den falschen Zielen bringt?
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Wie so viele absurde Dinge ist auch diese Vorschrift nicht dem kranken Hirn des Schriftstellers, sondern dem eines Beamten entsprungen, also ein Stück wirkliches Leben.
In meiner Wahlheimat Japan mußten Ausländer bis vor kurzem bei Visumstatusänderungen und nach Ablauf ihres Visums, um ein neues zu beantragen, grundsätzlich ins Ausland reisen. Meistens fuhr man dann nach Korea, weil es am nächsten liegt. Leider konnte es passieren, daß man dort einen ganzen Monat warten mußte, weil die Botschaft erst von Tokio Bescheid einholen mußte. Viele Länder haben ähnliche Vorschriften. Tatsächlich sind Bürokratismus, Kleinlichkeit und Buchstabenhörig- und -gläubigkeit weltweite Seuchen, Liliput ist überall.
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Es wurden sogar sechs Wochen, da das Schiff Verspätung hatte. Am Vortag seiner Entlassung kam sein Rechtsanwalt, um ihm zum gut überstandenen Gefängnisaufenthalt zu gratulieren. Bei dieser Gelegenheit bat Adjuna, sein Foto zurückzubekommen. Der Anwalt setzte auch gleich einen Antrag auf und versprach, ihn sofort in der Kanzlei vorzulegen. Er kam kurz darauf noch einmal zurück mit einem neuen Antrag und gestand, daß er im ersten Text einen Formfehler begangen hatte und ihn deshalb noch einmal hatte schreiben müssen. “Bitte unterschreiben Sie da links!” Adjuna setzte seinen Kaiserwilhelm mit Koronis unter das Schreiben.
Am nächsten Tag, also dem Tag seiner Entlassung und Abreise, erschien der Richter persönlich bei ihm mit dem Antrag auf Rückgabe seines Fotos. Der Richter sagte, daß dem Antrag nicht stattgegeben werden könnte, da, erstens, es sich bei dem Foto um ein Beweisstück handele und Beweismaterial grundsätzlich nicht weggegeben werden dürfe, und, zweitens, die Ausfuhr von Pornographie verboten sei. “Unterschreiben Sie bitte hier, daß Sie die Ablehnung Ihres Antrages akzeptieren!” “Nein, das tue ich nicht. Warum soll ich da unterschreiben?” “Damit alles seine Ordnung hat.” Der Richter drohte und schmeichelte, aber Adjuna blieb hart. Der Richter schwitze, und Adjuna hatte das Gefühl, daß es noch größere Leute gab, die sich über dem Richter befanden. Es wurde Zeit, daß er zum Schiff kam. Wachen kamen und legten ihm die Handschellen wieder an, um ihn zum Hafen führen zu können. Der Richter lief noch immer mit seinem Schreiben neben ihm her. Im Hafen kurz vor dem An-Bord-Gehen rief der Richter verzweifelt aus: “Na gut, ich gebe Ihnen meine goldene Uhr, wenn Sie unterschreiben.” 696
Adjuna wurde hellhörig. “Zeigen Sie mir doch einmal das Schreiben!” Adjuna las es. Es hörte sich wie eine einfache Verzichtserklärung an. “Unterschreiben Sie und ich gebe Ihnen meine goldene Uhr. Wenn Sie sich aber weiterhin weigern, dann sperre ich Sie wieder ein”, erhöhte der Richter sein Angebot. Das Nebelhorn des Schiffes mahnte zur Eile. Der Richter gab den Wachen schon Anweisung ihn wieder zurückzuführen. “Na gut, ich unterschreibe.” Der Richter war erleichtert. Mußte er wirklich so eine Verzichtserklärung seinen Vorgesetzten vorlegen oder sollte ihm das Bild als Mastubier-Vorlage dienen? Adjuna wußte es nicht. Und während er an der Reling des Schiffes stand und das Land an der Kimm verschwinden sah, sann er nach, welches Land das wohl war, das Land Liliput, voll kleiner Bürokraten, aber er fühlte sich auch so, als ob eine gigantische Apparatur ihm fünfeinhalb Monate seines Lebens gestohlen hatte für nichts. Sein einziges Verbrechen war eigentlich nur, daß in diesem wahrscheinlich sehr prüden Land ein Richter sich jetzt ein Foto ansehen konnte, auf dem er sich mit Aurora in einer Liebesumarmung befand.
Endlich wieder in Hamburg. Aber auch in Deutschland war man in der Zwischenzeit nicht größer geworden. Orpheus war noch fleißig dabei, Aufklärung zu betreiben, und hatte während Adjunas Abwesenheit eigene Strategien entworfen für seine antiklerikale Arbeit. Dazu gehörte auch, daß er regelmäßig zum Friseur ging, saubere, unauffällige Wäsche trug, jedenfalls Oberwäsche, und besonders auffällig - auf seinen prunkvollen Künstlernamen Orpheus verzichtete. Seinen alten Geburtsnamen hatte er aber auch nicht 697
wieder annehmen wollen, da der zu sehr ans Christentum erinnerte. Da er sich möglichst wenig von anderen Leuten unterscheiden wollte, um als Jedermann jedermann zu überzeugen, wollte er wie jedermann heißen. Er hatte sich also eine Statistik vom Standesamt besorgt, um zu erfahren, wie jedermann hieß. Laut Statistik war der gegenwärtig bei Kindtaufen meist benutzte, männliche Vorname René. Das hörte sich zu außergewöhnlich an. Orpheus verließ sich lieber auf seinen Instinkt. Um in Hamburg nicht aufzufallen, muß man Hein heißen, dachte er. Eine Hymne auf Hein. Hein ist nicht nur norddeutsch, sondern ein Allerweltsname, übersetzte man ihn ins Englische, hieß man Henry, auf Schwedisch Henrik, auf Französisch Henri, dabei mußte man aber bei der Aussprache aufpassen, denn erstens waren die Franzosen zu dusselig das `H' auszusprechen und zweitens mußte das `en' nasaliert werden, was hieß, wenn man sich nicht die Nase zuhalten wollte, man sie von innen verstopfen mußte mittels kleiner Muskel, wenn man sich nicht extra einen Schnupfen holen wollte; die Italiener sagten für Hein übrigens Enrico, sie ließen das `H' weg, weil es sie zu sehr an asthmatisches Keuchen erinnerte; das hochdeutsche Wort für Hein war natürlich Heini. Der Name hatte auch eine lange Tradition und stammte von so edlen, urdeutschen Namen wie Heinrich, Heimerich, Haganrich, Heimrham, Heimeran, was aus Heim und Raban, Rabe, entstanden sein soll. Latinisiert ergibt Heimeran Emmeram oder Emmeranus, und schon haben wir in unserer Verwandtschaft einen Heiligen, den heiligen Emmeranus von Kleinhelfendorf, aber auch das Gegenteil bietet der Name: einen stattlichen Heinrich den Löwen, er verfiel der Acht und Aberacht. Auch mit Dichtern und Sängern konnte der Name, neben Königen und Herrschern aufwarten. Um nur ein paar zu nennen: die Minnedichter Heinrich von Rugge, Heinrich von Morungen, Heinrich von Mügeln, Heinrich von Melk, von dem das weltfeindliche Gedicht “Erinnerungen an den Tod” und der Kirchenspott “Priesterleben” stammen, der Reimer Heinrich der Teichner, der in seinen Reimen die 698
Mißachtung der von Gott geschaffenen Ordnung beklagte, Heinrich von dem Türlin, der die Abenteuer des Artusritters Gawan beschrieb, Heinrich von Ofterdingen, der “Den Wartburgkrieg” schrieb, Heinrich der Vogler, der “Dietrichs Flucht” und “Die Rabenschlacht” schrieb, sowie Heinrich der Gleisner, dessen Fabeln um Reineke den Fuchs und Wolf Isegrimm noch heute jung und alt erfreuen. Dann gab es in neuerer Zeit noch Heinrich Heine und schließlich den Sänger Heino. Fazit: Der Name Hein paßte sogar besser zu einem Dichter und Sänger als der Name Orpheus! Zur neuen Philosophie des Angepaßtseins gehörte für Hein alias Orpheus auch eine anständige Arbeit. Er hatte zuerst an eine Fabrik gedacht, aber da die Fließbänder alle besetzt waren, und er nichts anderes finden konnte, war er als Schauermann im Hafen gelandet. Das war auch gut so, denn die, die Hein hießen, arbeiteten alle im Hamburger Hafen, während die, die ihre Kinder René tauften, Fließbandarbeiter waren und sich vom Namen Orpheus hätten mehr beeindrucken lassen als vom Namen Hein. Hein freute sich sehr, als er Adjuna von Bord kommen sah. Er lief gleich zu ihm hin. Die Freunde schlossen sich in die Arme. Für den Rest des Tages nahm der Sänger alias Schauermann frei, denn er hatte Adjuna viel zu erzählen. Da der Sänger zuerst das falsche Wort benutzt hatte, war Adjuna schockiert, als er von der Umtaufe erfuhr und hatte auch danach noch Schwierigkeiten, sich mit der Namensänderung abzufinden. Aber Hein ließ ihm nicht lange Zeit, über Wiedertaufe, Umtaufe und Namensänderung nachzudenken. So blieb eine dumpfe Unzufriedenheit mit der Veränderung, verdrängt, und doch latent vorhanden. Auch war Adjuna, der elitär dachte, nicht klar, warum plötzlich der Pöbel so wichtig sein sollte. Niemals passe ich mich dem Pöbel an. Der Pöbel muß selbst sehen, daß er nicht mehr Pöbel ist. Außerdem ist es eine Klischeevorstellung, die breite Masse am Fließband oder unter den Tagelöhnern des Hafens 699
zu vermuten. Das ist doch schon wieder ein Außen. Pöbelsein ist in erster Linie eine Gesinnungssache. Pöbel kann sogar über einfache Arbeiter pöbeln. Aber Adjuna hatte keine Zeit, diesen Gedanken weiter zu verfolgen. Hein war zu eifrig dabei, seine Empörung loszuwerden. Da er jetzt manierlich aussah, hatte er sich auf dem Bürgersteig nicht mehr als Außenseiter gefühlt, sondern sicher; selbstsicher sicherlich nicht. Dieses falsche Gefühl der Sicherheit hatte ihn nicht auf der Hut sein lassen, auch war seine Brust nicht mehr in dem Stolze, Orpheus zu sein, angeschwollen gewesen. Er war ja angepaßt. Angepaßtsein hieß aber auch Kleinsein. Wer klein ist, wird getreten. So schamlos sind Bürger schon. Einem aufgeblasenen Helden tun sie so leicht nichts, manchmal gar beten sie ihn an. Ein wirklicher Held möchte freilich nicht, daß sie ihm so etwas antun, da es ihn beschmutzen würde. Hein durchschaute die Dinge natürlich nicht. Es war klar, er wußte nichts von der Einsamkeit wirklicher Helden. Auch Adjuna hatte auf dem Bürgersteig gestanden und gepredigt, aber er hatte sich nicht mit dem Pöbel solidarisiert, sondern seinen Kopf aufrecht gehalten, die Erkenntnisse, die er den Leuten wie Brotkrumen hingeworfen hatte, waren Almosen gewesen, nur eine Kleinigkeit aus seinem unermeßlichen Reichtum. Wenn die Narren sie nicht fraßen, auch gut, blieben sie eben Pöbel, jämmerliche, elende Hefe, die immer weiter aufging. Doch was ging es ihn letztlich an, er stand über den Dingen und hatte die Kleinheit gründlich satt. Freilich auch er hatte sie geduzt, aber nicht kumpelhaft, sondern wie ein Gott seine Schäfchen. Wie oft hatte er ihnen zugerufen: Oh, ihr Narren, was wollt ihr ewig schlafen und träumen, wo doch nur die Wachen der Wahrheit gewahr werden. Er hatte versucht, sie wach zu rütteln. Sie hatten den Wecker gehört, aber ihre Entscheidung war gewesen: rumdrehen und weiterschlafen. Sie waren die Dürstenden, er war das Wasser, er hatte sich ihnen angeboten, aber die Dummen ließen ihren Mund verschlossen und dürsteten weiter. Die unfruchtbare Wüste scheut das Wasser. Er hatte die Hand wie ein gnädiger Gott ausgestreckt, um die Leute aus den Kirchen hinauszuführen, sie hatten sie nicht ergriffen. Mehr war von 700
Übel. Wenn man noch mehr von ihm wollte, so müsse man ihm schmeicheln und um seine Gunst werben, wie man es seit Urzeiten den Göttern gegenüber getan hatte. Manch einer mag freilich sagen, der Wunsch, geschmeichelt zu werden, ist ein weibischer Wunsch. Recht hat er, es ist die Anima 1 im Manne sowie im Gotte. Adjuna hatte gepredigt und war mit Steinen beworfen worden, aber jeder Stein und jeder Treffer hatte ihn mit neuen Erkenntnissen gesegnet, und immer hatte er sich wieder erhoben, stolzer als vorher. Adjuna hatte gepredigt, aber Hein hatte einen Informationsstand aufgestellt gehabt. So über seine Bücher und Informationsschriften gebeugt, war er fast kleiner als die Bürger um ihn herum gewesen. Hein war die große Erkenntnis abhanden gekommen, oder vielleicht hatte er sie auch nie besessen, aber eine Erkenntnis dämmerte ihm jetzt, daß er in der Erregung zu durcheinander erzählt hatte und der Freund noch immer nicht wußte, was vorgefallen war. Er holte also tief Luft, um endlich der Reihe nach zu erzählen: Erstens oder besser zweitens, Hamburg ist dabei, einen Heiligen zu bekommen. Denn eine Seligsprechung, welche ja als Vorstufe zur Heiligsprechung gilt, steht bevor. Und zwar die Seligsprechung eines vom Teufel kastrierten Priesters. Und da sich dieses Märtyrium nicht unter Nero, Domitian, Valerian, Decius oder Diokletian abspielte und auch nicht aus der Heidenmission oder der Nazi-Zeit stammte, sondern hier und heute unter den Augen der jetzigen Menschen, bringt die Kirche die Sache ganz groß raus.
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Nach der Lehre C. G. Jungs das Seelenbild der Frau im Unbewußten des Mannes, eigentlich das lateinische Wort für Seele.
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Wir haben jetzt Nachforschungen angestellt. - Ja, ich habe ein paar Gleichgesinnte gefunden, die mir ab und an helfen. - Also, unsere Nachforschungen haben bestätigt... Ah, ich kann mir schon denken... Das ist der Typ, der bei Luz's Beerdigung vom Hund gebissen wurde. Eben nicht. Dann hätte der ganze Spuk ja noch ein bißchen Berechtigung. Dieser besagte Priester hat viel schlimmere Vergewaltigungen auf dem Gewissen, als der, der dem toten Luz das christliche Begräbnis aufzwang. Deshalb hat er auch keine Hoden mehr. So? Was hat er denn gemacht? Er hat Chorknaben vergewaltigt. Wir haben die Aussagen von einigen Chorknaben. Wir haben uns damit an die Staatsanwaltschaft gewandt, aber man hat uns mit einer Anzeige wegen böswilliger Verleumdung gedroht. Ein Versuch, die Zeitungen an diesen Aussagen zu interessieren, ist ebenfalls gescheitert. Die Zeitungen schreiben nur Gutes über den Priester. Es ist ein richtiges Medienspektakel, hier Heiliges, dort Heiliges. Salbungsvolle Gesichter überall. Um die Öffentlichkeit zu informieren, haben wir dann unseren Informationsstand gemacht. Da sind sie dann von hinten gekommen, evangelische Christen, die aus Solidarität mit ihren katholischen Glaubensbrüdern uns zusammengeschlagen haben. Jemand von uns hat die Polizei gerufen. Jetzt werden wir noch wegen Körperverletzung verklagt, obwohl wir uns gar nicht wehren konnten. Die waren ja in der Übermacht. Ach so, und jetzt möchtest du, daß ich mit euch zu denen hingehe und die verprügle, damit wir sie auch wegen Körperverletzung anzeigen können. Daran habe ich gar nicht gedacht. Aber ich werde auch immer radikaler ---- (kleinlaut) wie du. Zusammenschlagen ist gut, denn vom Gericht haben wir kein Recht mehr zu erwarten. Bei unserer 702
Gerichtsverhandlung hat er Richter beim Plädoyer unseres Verteidigers die Zeitung gelesen. 1 Der Prozeß wird sich wohl noch ein bißchen hinziehen, obwohl man den Eindruck hat, daß man mit uns kurzen Prozeß machen will. Sicher werden wir am Ende eingelocht. Wir überlegen gerade, ob wir nicht türmen sollten. - Es kommt übrigens noch schlimmer: Wir haben den Jungen. Welchen Jungen? Na, den Jungen, der dem Priester das Geschlechtsteil abgerissen hatten, woran er dann verblutet ist. Was? Ein Junge war das! Ja, was dachtest du denn, der Teufel? Der Priester hatte es wirklich verdient, er hatte den Jungen geschlagen und dann gezwungen, ihn oral zu befriedigen. Da hat ihm der Junge dann mit Händen am Sack und Schwanz im Mund das ganze Glied herausgerissen. Und so ein Sittenstrolch wird jetzt als Heiliger aufgebaut. Und der Teufel hat mal wieder schuld. Das geht ja noch. Das ist nur ein kleiner Sittenstrolch. Sexuelle Befriedigung suchen wir ja alle, bloß die meisten von uns leben in einer gesünderen Umgebung und finden leicht einwilligende Partner. Aber denk doch einmal, daß selbst der kroatische Erzbischof Stepinac, der als Chefideologe der Ustascha Hunderttausende von Morde in KZs wie Jasenovac mit zu verantworten hat, als Kandidat für die Heiligsprechung gilt. Oder nehmen wir Dominik Guzman. Er und seine Spürhunde Gottes haben Millionen auf dem Gewissen. Wenn der neue Heilige nur ein bißchen sexuell was mit Chorknaben hatte, dann
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Noch Zukunftsmusik. Noch scheinen nur die Staatsanwälte bei solchen politischen Prozessen die Zeitung zu lesen, so laut “Ketzerbrief” auf einer Verhandlung am 23. Oktober 1991 in Mainz gegen Mitglieder der Bunten Liste Freiburg, gegen die wegen Körperverletzung vorgegangen wurde, weil sie Plakatezerstörer bis zum Eintreffen der herbeigerufenen Polizei festhielten.
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sollte man der katholischen Kirche dazu gratulieren, daß sie diesmal einen so harmlosen Menschen auserkoren hat. Gut, vielleicht können wir ein ironisches Flugblatt verfassen. Aber was machen wir mit dem Jungen? Der ist doch hier seines Lebens nicht mehr sicher. Ich bin sicher, die Schergen der Kirche sind hinter ihm her und wollen ihn umbringen. Der könnte ihnen doch, das ganze Medienspektakel vermasseln. Deutschland ist voller Asylanten. Dieser Junge wird einer der ersten sein, der Schutz vor Verfolgung im Ausland suchen muß. Viele werden folgen, denn ein neuer Wahnsinn macht sich breit, das alte Verbeugen vor leeren Werten wie Religion, Nationalismus und anderen Ideologien und Lebenslügen. Viele werden folgen. Das sieht man schon jetzt. Ich war gerade im Land der Zwerge. Eng war es da und muffig. Ich hatte mich nach Hamburg zurückgesehnt, aber ich merke schon, daß es mir hier auch zu eng und muffig ist, ich muß weg, ich muß eine neue Welt sehen, ich werde den Jungen mitnehmen. Du willst schon wieder gehen, sagte Hein enttäuscht. Ist es nicht eine große Hilfe, wenn ich den Jungen in Sicherheit bringe? Doch, schon.
Wo ist eigentlich der Bunte? Der hat jetzt eine ordentliche Arbeit und kommt nicht mehr. Er hat auch wieder seinen alten Namen angenommen, habe ich gehört. Wie war der noch? Gottlieb, und an Heins Kopfschütteln erkannte man, daß er meinte: Wie kann man nur.
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Adjuna aber blieb unberührt.
“Na, mein Junge, wie heißt du denn?” “Peter.” “Oh, du hast aber einen häufigen Namen.” “Kein Mensch heißt heutzutage mehr so”, belehrte Hein Adjuna. “Weißt du, daß wir zusammen auf Reisen gehen werden?” “Ja.” “Hast du keine Angst?” “Nein.” “Tut es dir nicht leid, daß du so lange nicht deine Eltern sehen konntest und sie vielleicht auch nie wiedersehen wirst.” “Ich hasse meine Eltern. Sie haben mich immer zu dem Priester geschickt”, schrie der Junge unter Tränen.
Auf in eine neue Welt. Peter floh, weil er sich in dem Land, das so hart war wie Krupp-Stahl, nicht mehr sicher fühlen konnte. Adjuna saß neben ihm im großen Zugvogel, dem deutschen Kranich, der aber nicht aus Kruppstahl, sondern dünnem Blech, gewalztem Leichtmetall, gefertigt war. Nicht verdrängt wurde er, sondern angezogen. Erwartungsvoll wallte sein Zigeunerblut.
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Zigeuner symbolisierten das Abenteuer, Fernweh, die Ruhelosigkeit und eine ganze Reihe von Sehnsüchten, die der abgestumpfte Normalbürger nicht hatte, aber gerne hätte, nicht kannte, nur erahnte, Sehnsüchte wie nach Freiheit, Lebensfreude und Ausschweifendsein. Der Zigeuner symbolisierte all diese Dinge. Wer er wirklich war, interessierte nicht, auch nicht, daß er seine Frau schon schlug, wenn sie nur einen anderen Mann anguckte, oder ihr gar Nase und Ohren abschnitt. Der Beamte, der im Flughafen die Papiere kontrollierte, symbolisierte wie alle Beamten Pedanterie und Spießigkeit, wie der Bauer, der dem Flugzeug nachsann, Bodenständigkeit symbolisierte und der Champagner, den die Drei zum Abschied tranken, Festlichkeit, sowie der Regenbogen, durch den das Flugzeug flog, die Hoffnung. Die Menschen mochten Symbole, besonders die Mystiker unter den Menschen. Hein folgte der Maschine, in dem die Freunde saßen, mit seinen Augen, und als die Augen nichts mehr sahen, folgte er ihnen mit seinem Herzen. Das Herz, auch so ein Symbol.
Adjuna, der zum ersten Mal flog, freute sich: Fliegen, in den Augen eines Hinterwäldlers, eines Simpels, für Barbaren und Baumbewohner, für die Religionsstifter, Götter- und Engelerfinder, die außer Vögeln, Fliegen und Mücken nur noch fliegende Schamanen und Götterboten kannten, war Fliegen eine mystische Sache und nur den Göttern und ihren Dienern und Verwandten ersten Grades vorbehalten, ich aber fliege und mir gibt es ein Hochgefühl. Und Adjuna hätte seinen Bogen fester gepackt, wenn nicht die Sicherheitsvorschriften ihn dazu gezwungen hätten, die Waffe vor dem An-Bord-Gehen in Verwahrung zu geben. Ernüchternd schlich sich der Gedanke ein, daß Fliegen für einen Aerodynamiker eine ziemlich nüchterne Angelegenheit war. Schnell rettete er sein Hochgefühl mit Gedanken an zukünftige Abenteuer und Heldentaten. 706
Hein, der ja zurückgeblieben war, ging einen weniger heroischen Weg: Zähe, hartnäckige Kleinarbeit: Immer wieder Flugblätter, Vorträge, Prozeßtermine und - ja - kleine Anschläge, um ein bißchen Wut abzulassen. Er gewöhnte sich sogar an, seine Unterwäsche regelmäßig zu wechseln. Jetzt war sein Äußeres nicht mehr bloß Schein... (Auch sein Inneres tat nicht mehr, was ihm Spaß machte.) Das Singen verlernte er irgendwann... Das Ende bekam er nicht mehr mit, da er schon vorher in einem der neuen KZs starb, die allerdings nicht mehr KZ, sondern SZ, nämlich Schulungszentrum, hießen, `SZs für das richtige Verhalten in einer freiheitlichen demokratischen GO', aber man machte sich nicht ernsthaft die Mühe, so etwas zu unterrichten, und konzentrieren konnte man sich dort genauso wenig wie in den ehemaligen KZs, außer auf den Hunger, den man erlitt, und die Schikanen, die hier mehr waren als draußen und an denen man eben schließlich einging.
Aber was interessiert uns die alte Welt? Unser Held war ja auf dem Weg in eine neue. Die neue Welt. Wie? Die neue Welt war auch nicht besser als die alte, wie das Paradies nicht besser ist als das Diesseits und die Hölle wohl auch nicht. Außerdem war die neue Welt auch schon alt geworden und verbraucht. Der undeutscheste aller deutschen Helden, der Einhodige, hatte einst ein ganzes Volk ausrotten wollen und es nicht geschafft. Hier in der Neuen Welt wurde nicht nur ein Volk erfolgreich ausgerottet, sondern viele. Und die, die überlebten, wurden in Überlebensgebieten zusammengepfercht, sogenannten Reservaten, größere Freigehege, wo sie vor weiterer Ausrottung geschützt sein sollten.
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Selbstverständlich repräsentierten solche Reservationen genauso wenig die Kultur der Einheimischen wie ein Zoo die freie Wildbahn. Statt Indianer und Büffelherden fand man in Amerika jetzt ein Völkergemisch von Afro-Amerikanern, Asien-Amerikanern und selbstverständlich Euro-Amerikanern, so selbstverständlich, daß man das Euro wegließ - man hatte ja schließlich das Land erobert, und es gab keinen Grund, einen richtigen Amerikaner durch eine Vorsilbe zu diskriminieren. Und was lange Gedanke war, brach eines Tages als Hymne hervor: `This Land is Your Land/ This Land is My Land/ From California to the New York Island/ From the Redwood Forest to the Ghastly Waters/ This Land was made for You and Me.'1 So sangen sich die europäischen Immigranten einander zu und freuten sich.
“Kurz und gut, es gibt keine neue Welt, aber es gab sie. Wie sah sie aus, als sie neu war?” fragte sich Adjuna, ehe er den letzten Schritt von der Gangway zum Erdboden machte.
Eine Beschreibung der neuen Welt, als sie noch neu war.
Bevor wir uns herablassen zu den Menschen, wollen wir uns den Göttern zuwenden, die über dem Land schwebten, oder besser, verzweifelt in der Luft hingen, weil keiner sie mehr anbetete oder ihnen opferte, und die den Luftreisenden daher als erstes willkommen hießen - und meist auch als einzige, denn die früher gekommenen Immigranten, die Immigrantenkinder und Immigrantenkindeskinder
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Song by W. Guthrie
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begegneten im allgemeinen den später kommenden Immigranten mit mehr Skepsis, als es einst die Ureinwohner, die Indianer, getan hatten.
Gute, alte Welt. Schöne Neue Welt. Kein großer Unterschied. Auch die neue Welt war damals, als noch alles beim Alten war und unberührt von christlichem Aberglaube und Massenmord, genauso wenig schön und gut wie in der heutigen Zeit der Massenproduktion, Massenmedien und Menschenmassen. Die Romantiker seien gewarnt. Wenn von den über zweitausend verschiedenen Indianerstämmen mit eigenständigen, kulturellen Charakteristika wie Sprache, Riten und Götterwelt nur noch etwa dreihundert irgendwie erkennbar waren, so war der Untergang der über eintausendsiebenhundert Kulturen und Religionen nicht bedauerlicher, als es der Untergang des Christentums wäre. Bedauerlich war natürlich all das menschliche Leiden, das die Eroberung der neuen Welt mit sich gebracht hatte, und daß bloß ein Aberglaube durch den anderen ersetzt worden war. Der Mythos von der Harmonie am indianischen Lagerfeuer war genau das, nämlich ein Mythos, genauso wie der Mythos vom unverdorbenen Naturmenschen, vom edlen Wilden und blutrünstigen Barbaren nur ein Mythos war, dafür waren sich die Menschen zu ähnlich, nicht die Einzelwesen, sondern wenn sie in Gruppen rumliefen. Wenn sie in Gruppen waren, ging alles schief, dann entstand der Unsinn. Und damit wären wir wieder bei den Göttern, die über dem Land schwebten.
Wo bleiben die versprochenen Götter?
Als die neue Welt noch neu war, war im Norden das ewige Eis und es ist auch jetzt noch da. In so karger Umgebung konnten nur wenige Menschen, Inuk - oder Eskimantsik, `Rohfleischfresser' wie die 709
Athapaska und Algonkia Indianer sie mit Abscheu nannten, leben, und genauso war es mit den Göttern. Die Religion der Eskimos war eine karge Religion. Sie kannte keinen Retter, keine Revelation, keine Riten und keine Lehrsätze. Sie kam ohne eine gelehrte Priesterschaft aus. Jeder Paranoiker und schlechte Jäger, der bauchreden oder Blut kotzen konnte, war eingeladen, auf metaphysischem Gebiet sein Glück zu versuchen. Und ihre Götter waren reine Tiefflieger, Gespenster, die die Troposphäre nicht verließen. Stratosphäre, Mesosphäre, Thermosphäre, Exosphäre und darüber blieben von eskimoischen Göttern verschont. Selbst die Sommersonne brachte es nur ein kleines Stückchen über den Horizont. Wie tief selbst Himmelskörper wie Sonne und Mond bei den Eskimos gesunken waren, verdeutlicht die folgende Geschichte: Der EskimoMond-Gott Igaluk und seine Schwester, die Eskimo-Sonnen-Göttin, besuchten einmal vor langer, langer Zeit in tiefster, arktischer Nacht die Inuk in Nuuk, welches die Hauptstadt von Kalaallit Nunaat ist. Im großen Gemeinschaftsigloo hatte man das Licht verlöscht für eine Art Ringelpiez mit mehr als bloßem Anfassen. In der Tat, es war eine jeher ausschweifenden Sexparties mit Partnertausch und tiefer Penetration, die später christliche Missionare so empören sollten. Nach den Freuden der Vereinigung wurden die Fackeln wieder angezündet, um zu sehen, mit wem man das Vergnügen gehabt hatte. Mit Schrecken sah der Mondgott, daß seine Gespielin die eigene Schwester war. Die Sonnengöttin, angewidert vom Inzest, den sie begangen hatten, riß ihre Brüste vom Leib und floh mit flammender Fackel zum südlichen Horizont. Auch ihr Bruder schnappte sich eine Fackel und folgte ihr, aber die Flammen seiner Fackel gingen aus und es blieb nur ein schwaches Glühen. Und noch heute irren die beiden am südlichen Himmel und finden sich nicht. Noch tiefer in der Geisterwelt, nämlich gleich hier auf der Erde, befand sich das magische Tier, der Tupilak, natürlich eine Robbe, die Eskimos kannten kaum andere Tiere. Mit Hilfe des Tupilaks konnte ein Ilisitsoq, also ein böser Angakoq, einem Schaden zufügen. Dann brauchte man einen guten Angakoq, der einem einen Tornaq besorgte, 710
einen Schutzgeist. Da einem immer alles mögliche zustieß von Krankheiten bis zum Verlassen des Jagdglücks, und es keine andere Erklärung dafür gab als den Tupilak, hatte so ein Angakoq ein gutes Einkommen. Noch tiefer unter, nämlich auf dem Meeresgrund, lebte die Seegöttin Sedna. Sie herrschte über die, da unten, die Adlivun, die unglücklichen Toten. Sie hatte einen unheimlichen Appetit auf Fleisch, und wenn ein Eskimo aus seinem Kajak fiel, verschlang sie ihn. Früher einmal hatte sie ihre eigenen Eltern im Schlaf auffressen wollen, aber sie waren wach geworden. Wütend über ihre ungeheuere Tochter, waren sie mit ihr weit ins Meer hinausgefahren und hatten sie über Bord geworfen. Sie hatte sich aber festhalten wollen, da hatte ihr Vater ihr die Finger abgehackt. Aus ihren Fingern waren Wale, Robben und Fische geworden, sie selbst aber war hinunter bis zur Unterwelt, ins Adlivun, gesunken. Das Gegenteil vom Adlivun war das Qudlivun, wo die, die ein sinnvolles Leben gelebt hatten, getröstet wurden. Die Eskimos kannten sonst weiter kein ausführliches Schöpfungselaborat: Die Erde war einfach von oben runtergekommen und die Menschen aus ihr heraus. Ja, der Eskimo hatte nicht einmal ein Wort für Schaffen. Das Wort, das in seiner Sprache unserem Wort `schaffen' am nächsten kam, hieß `bearbeiten'. Allerdings, seit der Eskimo von christlichen Missionaren bearbeitet worden war, hatte sich viel geändert. Da der Eskimo überall Geister vermutete, mußte er Hunderte von Tabus beachten. Das Wissen um alle Tabus war fast schlimmer, als das Bürgerliche Gesetzbuch auswendig zu lernen, und verlangte so unsinnige Handlungen wie die jährliche Zerstörung aller Walfangutensilien. Diese religiösen Ge- und Verbote wurden von den christlichen Missionaren im allgemeinen leichter geduldet als die Freude am Sex und Partnertausch, und so kam es, daß es noch viele Tabus in der eskimoischen Gesellschaft gab. 711
Die südlichen Nachbarn der Eskimos an der Atlantikküste, die Penobscots, deren Siedlungsgebiet das spätere Maine und Neubraunschweig war, kannten einen ausgeschmückten Ur- und Schöpfungsmythos, der wie der Sündenfall der Bibel ihr unmittelbares Leben beeinflußte. Bei ihnen war es der Gigantenfrosch - wohl kaum eine hochfliegende Erscheinung -, der all das Wasser aussoff und so eine Supertrockenheit verursachte, die absolute Dürre, eine Art Sintdürre. Sie hielt so lange an, daß bei heutigem Standard alle verdurstet wären. Damals aber starb man nicht so leicht. Dafür aber litt man unsäglich unter dem Ausgetrocknetsein. Da kam der Held Gluskap, eine Art Noah, der sich wohl rechtzeitig für solch einen Fall ein Fläschchen zur Seite gestellt hatte - oder ein ganzes Bassin. Jedenfalls war er noch frisch und konnte den großen Frosch besiegen und das Wasser der Welt befreien. Die Menschen nun, überdurstig, stürzten sich auf das Wasser, um zu trinken, aber die, die zu gierig waren, verwandelten sich in die verschiedensten Wassertiere. Wenn man nun sah, wie sich die eigenen Verwandten in Fische und Kröten verwandelten, - meist waren es die Kinder, die der Verwandlung ihrer Eltern zusahen, denn schon damals hatten die Eltern eher das Recht, gierig zu sein, als die Kinder - dann wußte man, daß dieses Tier zum eigenen Totem geworden war, da in ihm die Ahnen inkarniert waren, und es von nun an besonderen Tabuvorschriften unterlag, also nicht gejagt und gegessen werden durfte oder nur, wenn vorher eine besondere Entschuldigung gesprochen worden war. Man wundere sich also nicht, wenn ein Penobscot-Indianer sich vor der Mahlzeit bei dem Sculpin auf seinem Teller - das ist ein häßlicher, aber schmackhafter Fisch - entschuldigt und auf die Frage, warum er so etwas tue, mit ‘Oh, tote Mann’ antwortet. Wir sind zwar in Neubraunschweig, aber der gute Mann spricht gar kein Deutsch, sondern hat Algonkianisch gesprochen: ‘Ototeman. = Er ist mein Verwandter.’ Lacht nicht. Auch der weiße Mann macht wegen der Erbsünde viele unsinnige Worte und Gebärden. Der Held Gluskap tat wie Prometheus den Menschen noch viel Gutes. Er brachte ihnen Feuer, Handwerk und Künste. Er ritt wie Eros, Phanes, Dionysos und der Knabe von Iassos auf einem Cetaceen, 712
einem Meeressäuger, allerdings nicht auf einem Delphin, sondern auf dem größeren Wal. Und wie von dem mickerigen Jesus der Christen, dem mächtigen König Artus der Kelten und dem edlen Prinzen Rama der Hindus, so sagte man auch von ihm, daß er eines Tages wiederkommen wird, um den Menschen zu helfen, wenn sie gar zu sehr abgewirtschaftet haben. Als Adjuna in Amerika ankam, waren freilich die Penobscots und anderen algonkianischen Stämme längst integriert und missioniert, und warteten nicht mehr auf Gluskap, sondern auf die Wiederkunft Jesu, der, wie sie mittlerweile wußten, sie schon einmal von den Folgen der Erbsünde befreit hatte. Die Schwarzfußindianer, ein anderer algonkianischer Stamm, hatten nun aber wirklich einen Gott, den man sich ganz oben in der Exosphäre oder noch darüber vorstellen mußte. Er war der Gott des Lichts, also eine Art Photonengott, er war verschieden von und stand rangmäßig höher als der Sonnengott. Er sah aus wie Jahwe und der Weihnachtsmann und hieß Napi, das heißt Alter Mann, denn die Schwarzfußindianer stellten sich vor, daß er schon sehr alt war, außerdem ewig lebte. Ewige Jugend wollten sie ihm nicht andichten, da sie wußten, wie leichtsinnig die jungen Leute waren. Allerdings fand man in dem reichhaltigen Legendenangebot des Stammes auch eine Version, in der Napi nicht als großer Himmelsgott erschien, sondern sich als Einsiedler in die Berge zurückzog, als ein bloßer Fußgänger also. Aber mit solchen Widersprüchen kann eine Religion leben. Auch Jahwe saß einmal in der Kiste und machte das andere Mal eine spektakuläre Landung auf dem Sinai. Diese Einsiedlerversion versprach übrigens auch wie Jesus, Arthur, Rama, Buddha, Gluskap etc. rechtzeitig, wenn Not am Mann ist, zurückzukommen. Aber in Notzeiten laufen auf der Erde ja sowieso immer eine ganze Menge schräge Typen rum. Dieser Napi hatte übrigens auch die Welt erschaffen und die ersten Menschen aus Lehm geformt, das war jedenfalls, was die Schwarzfußindianer behaupteten. Und wie der Gott der Bibel hatte er die Sache auch nicht richtig durchdacht. Denn, als er sich den 713
Menschen vorstellte, überraschte die erste Frau ihn mit der Frage: “Wie ist es? Werden wir ewig leben oder werden wir sterben?” Napi, der nie darüber nachgedacht hatte, geriet in Verlegenheit. “Also...”, sagte er und kratzte sich dabei am Kopf, “darüber habe ich noch nicht nachgedacht.” Er war ein ehrlicher Gott, der immer die Wahrheit sprach. “Also, da müssen wir eine Lösung finden...” und er schlug folgende Lotterie vor: “Ich werde dieses Stück Holz ins Wasser werfen. Wenn es schwimmt, sollen die Menschen sterben, aber nach vier Tagen sollen sie wieder atmen und leben. Der Tod wird also nur vier Tage dauern. Geht es aber unter, so soll der Tod endgültig sein.” Damals war die Welt noch neu und keiner wußte, wie ein solches Experiment ausgehen würde. Das Holz schwamm und die Frau dachte: “Aha, die Dinge schwimmen!” Sie war nicht zufrieden mit einem Vier-Tage-Tod. Sie packte einen Stein und rief: “Nein, wenn dieser Stein schwimmt, werden wir ewig leben, wenn er aber untergeht, müssen wir Menschen sterben.” Und sie warf den Stein ins Wasser und der Stein ging unter. Der Gott aber sagte im Weggehen nur: “Du wolltest es so!” Also auch die Schwarzfußindianer hatten einen Grund, der Frau böse zu sein. Das Licht trennte sich von der Lichtquelle, aber es blieb hell, Napi zog sich ganz zurück und ließ die Welt vom Sonnengott Natos und dessen Gattin Mondgöttin Kokomikeis verwalten. Die Beiden warfen von oben ein wachsames Auge auf die Schwarzfußindianer, meist in Schichtarbeit. Ein anderer Indianerstamm, der zwischen dem Strom des Heiligen Lorenz und dem Atlantik lebte, die Irokesen, verehrten Ataensic, eine Himmelsfrau und Erdgöttin, aber sie erwarteten von ihr keine Hilfe in ihrem alltäglichen Kleinkram, denn die Göttin starb schon vor langer Zeit bei der Geburt ihrer Zwillingssöhne Hahgwehdiyu und Hahgwehdaetgah. Hahgwehdiyu schuf aus der Leiche seiner Mutter die Erde, ihr totes Gesicht hängte er an den Himmel als Sonne, aus ihren Brüsten formte er den Mond und die Sterne. Gut sorgte er für die Geschöpfe, die vom fruchtbaren Leib seiner Mutter lebten, den weisen Raben Gagaah schickte er zur Sonne, daß er vom dortigen Reich des 714
Wohlstands ein Maiskorn hole, das Hahgwehdiyu dann in den Leib seiner Mutter pflanzte. So gab er den Irokesen ein Grundnahrungsmittel, aber auch die weißen Neuankömmlinge aßen es später gern als Pop Corn. Damals war die Schöpfung perfekt, die Menschen waren gut und glücklich, alles war hell und heil, aber Hahgwehdiyus Zwillingsbruder Hahgwehdaetgah war ein böser Dämon, der die Helligkeit und das Glück nicht ertragen konnte. Er schuf daher Dunkelheit, Erdbeben, Schneestürme, Krankheiten, Leiden und Haß. Lange konnte Hahgwehdiyu die Leiden seiner Geschöpfe nicht mit ansehen. Er wurde ärgerlich und forderte seinen Bruder zum Kampf heraus. Leider verlor er diesen Kampf. Er wurde von seinem Bruder in die Unterwelt verbannt. Die Geschöpfe dieser Welt aber müssen weiter leiden und Hahgwehdaetgah erfreut sich daran. Schon früh hatten die Weißen Kontakt mit den Irokesen, über deren ordentliche Dörfer, saubere Gärten und Felder sie sich wunderten und deren verfeinerte Umgangsformen und ausgeprägte Gefühlswelt sie immer wieder lobten, aber im Irokesen war auch ein Stück Hahgwehdaetgah, dem der langsame Tod der Gefangenen am Marterpfahl nicht grausam genug und nicht lange genug sein konnte. Man erfrischte Kriegsgefangene, die am Abklappen waren, mit Wasser, Speisen und Ruheperioden - aus purer Unmenschlichkeit. Es passierte aber auch, daß Kriegsgefangene, besonders junge, adoptiert wurden und dann die gleichen Rechte besaßen wie die anderen auch. Besonders in späterer Zeit passierte das oft, als die fünf Irokesenstämme Mohawk, Oneida, Onondaga, Cayuga und Seneca sich zusammengeschlossen hatten zu einer Föderation - noch später kamen dann auch noch die Tuscarora hinzu - und gegen die Weißen kämpften. Es war Dekanawidah, ein Prophet, der von einer Jungfrau geboren wurde, der dem Krieg unter den Stämmen ein Ende machte und den Großen Frieden ausrief, der den Großen Krieg gegen die Weißen ermöglichte. Dekanawidah hatte im Traum einen riesigen Immergrünbaum gesehen, der bis in den Himmel wuchs. Es war der Baum der Schwesternschaft. 715
(Die Irokesen waren eine matrilineale Gesellschaft.) Seine Wurzeln waren die fünf Stämme. Diese Vision gab Anlaß zum Zusammenschluß der fünf Stämme. Die Ratsversammlung der Sachems, so nannten sich die Abgesandten der Stämme, machte auf die Weißen einen großen Eindruck, der sich wahrscheinlich in der föderativen Verfassung der USA, wo der Senat mit dem Repräsentantenhaus den Kongreß bildete, niedergeschlagen hatte, auch eine Ratsversammlung der Vereinigten Nationen ähnelte einer Sachemsitzung. Den Irokesen erging es trotz allem und trotz metaphysischer Unterstützung wie den anderen Indianerstämmen auch: Sie wurden, als die Weißen ihr Land brauchten, aus ihren angestammten Siedlungsgebieten verjagt. Der Stammesgott der Weißen war einfach stärker, zumal er von so genialen Feldherren wie Lord Jeffery Amherst Unterstützung fand. Lord Jeffery Amherst ließ in einer großzügigen Geste an die Indianer Decken und Tücher verteilen, die er den Pockenkranken der Isolierstation des Krankenhauses von Fort Pitt hatte abnehmen lassen. Bei solchen Mitteln mußte die überlegene Zivilisation der Weißen den Sieg davon tragen. Die Irokesen hatten noch Glück. Rechtzeitig, das heißt, vor der totalen Vernichtung, fand sich ein neuer Prophet, Schöner See mit Namen, er lehrte die friedliche Anpassung an die Welt der Weißen. Sein Gesetzbuch `Der alte Weg' oder `Das gute Wort', obwohl nicht direkt christlich, enthielt christliches Gedankengut, besonders von den Quäkern, die ihn aufgezogen hatten, es beschrieb Himmel und Hölle, verschiedene Riten, und was ein gutes Leben ist, es verdammte Alkohol, Diebstahl, üble Nachrede, Hexerei, Ehebruch, das Schlagen der Ehefrau und die Eifersucht, es ermunterte dazu, den Ehepartner und die Kinder liebevoll zu behandeln und denen, die in Not sind, zu helfen. Der Respekt, den die Weißen vor der neuen Religion der Irokesen hatte, gab den Irokesen Sicherheit, Immunität. Zu Adjunas Zeiten lebten sie in Reservaten in Ontario, Oklahoma und New York. 716
Auf der anderen Seite der neuen Welt lebten auf dem schmalen Küstenstreifen zwischen den Rocky Mountains und dem Stillen Ozean von der Bucht des Heiligen Franz bis zu den Elias Bergen im Norden eine große Anzahl verschiedener Stämme angenehm und in großem Wohlstand, denn das Land war so fruchtbar, daß sie, ohne zu säen und ackern, ernten konnten. Periodisch schwollen die Flüsse an von Fischen, die vom Ozean zu ihren Laichplätzen am oberen Flußlauf wollten. Bis zu sieben Mal im Jahr passierte es. Wenn die Lachse kamen, wurde das Gedränge im Fluß so dicht, daß man auf ihren Rücken zum anderen Ufer laufen konnte. Und der Kerzenfisch erst. Er war so fett, ölhaltig, daß man nur einen Docht in ihn zu stecken brauchte und schon hatte man eine Kerze. Nur besser riechen hätte er können. Was für Götter hatten nun diese Völker, die in so einer Schlaraffenlandschaft lebten? Großzügige Götter sollte man annehmen. Die Haida-Indianer verehrten Dzelarhons, eine Froschprinzessin und Vulkangöttin, für deren auserwähltes Volk sie sich hielten. Die Froschprinzessin hatte sie angeblich mit ihren Kanus zur KöniginCharlotte-Insel gebracht. Die Fröschin war mit dem bärenstarken Bärgott Kaiti verheiratet. Wie die Ehe von Frosch und Bär glücklich sein konnte oder überhaupt vollzogen wurde, ist nicht überliefert. Sicher ist nur, daß die Haida-Indianer selbst in ihrer Gesellschaft weder Ehen noch Ehebruch zwischen den verschiedenen Arten oder Rängen duldeten. Wenn zum Beispiel ein hochrangiger Hahn und erfolgreicher Krieger die Frau eines am Ende der Hackordnung hockenden Hahnreis besprang, so mußte der Hahnrei dem großen Krieger ein Geschenk zur Versöhnung geben. War es aber umgekehrt, daß ein armer Teufel und gehackter Tölpel der unteren Schicht ein hochstehendes Huhn besprang, so zeigten die Hochgeborenen erst einmal ihre Empörung, indem sie zwei männliche Mitglieder aus dem Klan des unterschichtigen Ehebrechers umbrachten. Der Klan des Ehebrechers mußte dann noch dem beleidigten Klan ein weiteres männliches Mitglied zur Hinrichtung übergeben, sowie üppige Geschenke, um die Schande abzuwischen. Der Ehebrecher selbst wurde dann 717
Schuldsklave seines Klans, um für die Geschenke und die Arbeitskraft der drei Toten einen Ersatz zu bieten. Er konnte auch verkauft oder umgebracht werden. Andere Indianer der Nordwest-Küste, wie die Maidus, Chinooks, Klickitats, Yakimas und Nez Percés, die mit der zerstochenen Nase, kannten interessante Geschichten um den verschlagenen Schwindlergott Kojote. Er war für sie der wichtigste Gott. Nicht, daß er der Schöpfergott wäre, oder sonst irgend etwas Gutes. Der Schöpfergott war Wonomi, Kein-Tod, der Himmelsvater und oberste Gott, und wie der christliche Gott eine Heilige Dreieinigkeit: Kodoyapeu, Welt-Schöpfer, Kodo-yanpe, Welt-Benenner, Kodo-yeponi, Welt-Beherrscher. Also keine Vater-Sohn-Geist-Dreiheit. Auch sonst hatte er wenig Ähnlichkeit mit dem Gott der Bibel. Als Wonomi aus Lehm Kuksu, den ersten Mann, also den indianischen Adam, geschaffen und gleichberechtigt aus dem gleichen Lehm Laidamlulumkule, die Morgensternfrau, also die indianische Eva, da kam Kojote und wollte auch Menschen machen. Er fand das Rummatschen mit Lehm aber so spaßig, daß er bei seiner Arbeit lachte und lachte, sich halb totlachen wollte. Und weil er soviel lachte und Tränen in den Augen hatte vor Lachen, sahen seine Leute blöde aus und hatten glasige Augen. Als Kojote dann sah, wie die klaräugigen und die glasigäugigen Menschen so friedlich und glücklich vor sich hin lebten, da dachte er, es wäre für ihn als Beobachter doch viel interessanter, wenn er der Schöpfung ein bißchen Krankheit, Sorge und Tod beimische, außerdem Haß, Neid, Mord und Totschlag, sowie Religion. Als Großer Schwindler, der er war, zauberte er den Menschen etwas vor, reine Tricks, bloße Gaunereien, aber die Menschen fielen darauf herein. Als Wonomi nun sah, daß die Menschen lieber einem Gauner folgten als ihrem wahren Schöpfer, da zog er sich zurück. Es war nicht, daß er schwacher war als Kojote, oh nein, er wollte sich nur nicht aufdrängen. Dem christlichen Niemand-sei-neben-mir-Göttchen wäre das nie passiert! 718
Nachdem Kojote den Tod in die Welt gebracht hatte, war der erste, der starb, sein eigener Sohn. Aber Kojote war nicht traurig, er verlangte von Kuksu, daß er den Jungen wiederbelebe, wie er es von Wonomi gelernt hatte. Und Kojote paßte auf, denn er hoffte, dabei selbst das Wiederbeleben zu lernen. Aber als Kuksu den Leichnam in den See der Verjüngung tat, passierte nichts, denn durch Kojotes eigenen Einfluß, war die Welt bereits so verdorben, daß sie Geschehenes nicht mehr ungeschehen machte. Kuksu begrub dann den Leichnam und sprach: “Dieses tuet mit den Toten, bis sich die Welt ein zweites Mal ändert und Geschehenes wieder ungeschehen macht.” Später tötete sich der große Gaunergott selbst, nicht aus Trauer um seinen Sohn, sondern aus Spaß, und weil er als Geist der Welt noch mehr schaden konnte. Alles Böse, Gemeine und Zerstörerische kam von ihm, alles Mysteriöse und Monströse war sein Werk, und die Menschen mußten viele Tabus beachten und viele Opfer bringen, um ihn versöhnlicher zu stimmen. Als Adjuna in Amerika ankam, schwebte Kojote bereits irgendwo in der Thermosphäre, wenig beachtet, darüber in der Exosphäre waltete Wonomi in seinem Blumengarten, noch weniger beachtet. Auf der Erde aber herrschte das Böse, Gemeine und Zerstörerische, das Mysteriöse und Monströse auch ohne Kojote. Gauner gab es auch so unter den Menschen genug und unter Göttern und Gottesgesellen. Nicht weit von den Haida wohnten die Snohomisch. Sie kannten den dilettantischen Deus Dohkwibuhch. Wie alle Dilettanten hatte auch er es nicht richtig gemacht. Sein Schöpfungswerk war noch unvollkommener als das des Jahwes. Jedem Menschen hatte er eine eigene Sprache gegeben, aber was noch schlimmer war: Der Himmel hing zu tief. Er hing sogar sehr tief, sehr, sehr tief, so tief, daß man sich ständig daran den Kopf stieß, und wenn man auf einen Baum kletterte, war man schon auf der anderen Seite. 719
Wenn die Menschen sich auch nicht verständigen konnten, da sie keine gemeinsame Sprache hatten, so hatten sie doch eins gemeinsam: ihre Unzufriedenheit mit der Schöpfung. Diese gemeinsame Unzufriedenheit wurde der Ursprung der Verständigung. Man bereitete lange Stangen vor. Und auf `Ya-hoh', dem ersten gemeinsamen Wort, gleich ein Befehls- und Anfeuerungswort, schob man den Himmel hoch. Man schob ihn so hoch, bis er die heutige Höhe erreichte. Da Stangen nicht sehr hoch reichen, würde ich sagen, sie brachten es nicht bis zur Stratosphäre, sondern der Himmel blieb dicht bei, in der Troposphäre. Die Angst, daß er eines Tages wieder runterrutscht und wir uns wieder alle den Kopf stoßen, hatten christliche Missionare mittlerweile durch andere Ängste ersetzt.
Es gab Indianerstämme, die glaubten, wie wir schon gesehen hatten, daß der Mensch das Ursprünglichere war und die Tiere erst später gekommen waren, aber es gab auch Stämme, die, wie die Weißen, sich erzählten, daß die Tiere zuerst waren und die Menschen erst später auf die Welt kamen. Eine solche Geschichte erzählten sich auch die Salishan-Leute der Skagit- und Stillaguamish-Flußtäler, wie die Stämme Nisqualli, Puyallup, Snoqualmie, Suquamish, Swinomish und die Quinault-Indianer am Puget-Sund, am Fuße des amerikanischen Olymps. Sie erzählten sich, daß die Welt zuerst von riesigen Tieren bewohnt wurde, von Riesenratten, -füchsen und -kojoten, von Riesenraupen, -spinnen, -ameisen und anderen Insekten, von Riesenschlangen, -schnecken, -echsen und -fröschen und vom Leviathan. In dieser Welt des Gigantismus hätte der Mensch nicht leben können. Da kam Kivati, so erzählten sie sich, Kivati, Der-MannDer-Die-Dinger-Ändert. Er wanderte umher im Land und bereitete das Land vor für die Ankunft der Menschen. Die großen Tiere aber mochten ihn nicht. Sie wußten, was für eine Gefahr von ihm ausging. Eine Gefahr für sie, die Giganten. Sie suchten ihn zu töten. Darauf hatte Kivati nur gewartet. Wenn immer sich so ein gigantisches Tier an 720
ihn herandrängte, um ihn zu morden, verkleinerzauberte es Kivati. So wurden aus den gefährlichen Giganten der Urzeit die harmlosen Tiere der heutigen Zeit. Trotz Zauberei war der Kampf mit den riesigen Tieren nicht leicht. Kivati schwitzte und der Staub und Dreck der aufgewühlten Erde klebte an ihm. Es war diese Mischung von Schweiß und Schmutz, aus der Kivati Bälle formte. Und aus diesen Bällen machte sein Wandelzauber die ersten Menschen. Auch hier also das bekannte Motiv: Der Mensch war Staub und Dreck mit ein bißchen Verstand, in seine Rohstoffe zerlegt, keine drei Dollar wert, fünf Pfennig der Verstand, selten mehr. Aber Kivati hatte auch noch ein Abenteuer zu bestehen, ein tragisches Abenteuer. Das war, als das Ungeheuer von Quinaulter See den kleinen Bruder von Kivati verschlang. Da war Kivati nämlich zuerst in Verlegenheit und schwieg und grübelte. Dann platzte er vor Wut und warf heiße Felsen in den See. Vulkanverdächtig. Er warf heiße Felsen in den See, bis das Wasser kochte und das gekochte Monster auf der Oberfläche schwamm. Kivati nahm ein Messer und schnitt dem Monster den Bauch auf, um den Bruder zu befreien. Der Bruder aber hatte sich schon in den Ahn aller Einsiedlerkrebse verwandelt. Und irgendwann war Kivati alt, müde und erschöpft. Er sah, daß die Menschen sich nun selbst helfen konnten und seiner Hilfe nicht mehr bedurften. Es war traurig, nicht mehr gebraucht zu werden. Er saß auf einem Felsen und sah der im westliche Wasser sterbenden Sonne zu. Als sie tot war, zog er sich eine Decke über den Kopf. Eine letzte große Verwandlung. Er wurde Stein. Der Vulkan war erloschen. Der große Zaubergott war tot. Wir haken ihn ab: Braucht nicht mehr angebetet zu werden.
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Eine andere Vorstellung, wie sie auf die Welt gekommen waren, hatten die Modoc-Indianer, Adresse: Nord-Oregon, Süd-Kalifornien. Bei ihnen war es Kumush, Der-Alte-Mann-Der-Urzeit, der mit seiner Tochter aus der Unterwelt einen Korb voll Knochen heraufschleppte. Die Knochen wollten aber nicht aus der Unterwelt heraus und entflohen ihm zweimal, denn in der Unterwelt war es Sitte, des Nachts zu singen und zu tanzen und fröhlich zu sein, und nur bei Tage war man ein langweiliger, trockener Knochen. Beim dritten Mal aber erzählte Kumush den Knochen von der schönen, sonnigen Welt, die sie da oben erwartete, und die Knochen entflohen ihm diesmal nicht, sondern warteten geduldig und erwartungsvoll, bis Kumush und seine Tochter den Korb bis nach oben getragen hatten. Und als die Beiden ins grelle Licht der Oberwelt traten, riß Kumush den Deckel des Korbes auf und schüttete den Inhalt aus. “Indianerknochen!” rief er begeistert. Dann wandte er sich den einzelnen Knochen zu. Jeden Knochen warf er übers Land und aus jedem Knochen entsprang ein Indianer-Volk. Den letzten Knochen aber, den liebkoste er, denn es war der beste und schönste Knochen. Er hatte ihn sich bis ganz zuletzt aufgehoben. Aus ihm machte er die Modoc-Indianer, das mutigste Kriegervolk der ganzen NordwestKüste. “Seid ihr auch nur ein kleiner Stamm und sind eure Feinde mächtig und viele, ihr werdet alle besiegen, die die Waffe gegen euch erheben, denn meine schützende Hand soll ewig über euch und euren Samen sein.” Das auserwählte Volk: die Modoc-Indianer. Doch Kumush reiste später mit seiner geliebten Tochter die Sonnenstraße entlang. Auf halber Strecke, also genau am Zenit, baute Kumush ein Mitte-Himmel-Haus, dort lebte er in glücklicher InzestEhe mit seiner Tochter, angeblich bis in alle Ewigkeit. Sein auserwähltes Volk wurde also im Stich gelassen. Die weißen Eroberer, die eines Tages ins Land kamen, als Kumush gerade wieder mit seiner Tochter im Bett lag und das Vergnügen der geschlechtlichen 722
Vereinigung mit ihr genoß, erwiesen sich als unbesiegbar und konnten nicht vertrieben werden bis auf den heutigen Tag. Die Modocs mußten also wie so manch ein auserwähltes Volk die bittere Erfahrung der Gottverlassenheit machen. Hatte Kumush seine Modocs nicht fast so stiefväterlich verlassen, wie Jahwe seine Juden? Welcher Rabbi protestierte denn da? Die Juden nicht verlassen? Wer betete denn so heiß in Auschwitz? Half Jahwe? Nein. Wer half? Eine gottlose Armee aus dem Osten, die Heere des Stählernen. Sich für auserwählt zu halten, war ein Ausdruck der Verlassenheit. Wer sich für auserwählt hielt, den hatte sein gesundes Urteilsvermögen verlassen. Es sollte eigentlich zurückkommen, wenn die Wirklichkeit einem seine Gottverlassenheit zeigte. Passierte aber nicht immer. Weiter im Südosten, im trockenen Inland von Arizona und Utah befand sich ein anderes, auserwähltes Volk, Kleinviehnomaden wie die Juden, die Navajos. Ihr Gott hieß Nayenezgani, das hieß SchlachterAller-Fremden-Götter. Nayenezgani war also eine Art indianischer Jahwe. Zusammen mit Tebadzistsini, dem Kind-Des-Wassers, schlug er auf die fremden Götter ein. Und wie Jahwe und das Christkindchen so fungierten diese beiden Brüdergötter auch gleichzeitig als Kriegsgötter des Stammes, wenn Bedarf bestand. Und Bedarf bestand oft. Wer mochte schon friedlich mit seinen Nachbarn leben? Nayenezgani war zwar wie Jahwe ein großer Schlächter und eifersüchtiger Gott, aber da hörten die Gemeinsamkeiten auch schon auf. Während Jahwe sich seinen Bauchnabel wegoperierte und seine Eltern verleugnete, verstanden sich Nayenezgani und Tobadzistsini als Produkte der Liebesvereinigung von Estsanatlehi, der Frau-DerVeränderung, und Tsohanoai, des Sonnengottes. Und Nayenezgani erbte von seinem Vater den Glanz des steifen Gliedes und gilt daher auch als Überlord des Lichts. Die unwissenschaftliche Trennung von Licht und Lichtquelle ist uns ja schon aus der biblischen Genesis 723
bekannt. Sein Bruder Tobadzistsini erbte die dunkle Feuchtigkeit der mütterlichen Vagina und galt daher als Überlord dieser beiden Eigenschaften, dunkel und feucht. Natürlich stand auch dieser Vererbungsmythos in eklatantem Widerspruch zur Wissenschaft, und zwar zu der der Genetik. Durch Mendel lernte die Menschheit, daß, wenn sich zwei reinerbige - was man bei Göttern wohl voraussetzen konnte - Individuen kreuzten, die Charaktereigenschaften der Filialgeneration von den Genen der Parentalgeneration bestimmt wurden, und zwar gab es für jede Charaktereigenschaft zwei Gene, nämlich von jedem Parentalindiviuum eins. War eines der beiden Gene dominant und das andere rezessiv, hatte man einen dominanten Erbgang: Die Filialhybriden der ersten Generation zeigten dann alle die dominanten Erbeigenschaften, im Fall der beiden Götter also entweder Helligkeit, oder was wahrscheinlicher wäre: Dunkelheit. Hätte man aber einen intermediären Erbgang gehabt, lägen die hybriden Merkmale der ersten Filialgeneration genau zwischen denen der reinerbigen Eltern. So waren die Hybriden der ersten Generation von roten und weißen Wunderblumen rosa, und die Vereinigung von Helligkeit und Dunkelheit hätte wohl Dämmerung ergeben. Merke: Die Bastarde der ersten Generation waren immer einander gleich, erst bei den Enkelkindern machten sich Unterschiede bemerkbar. Doch Religion war nicht mit Wissenschaft zu vergleichen. Religion war etwas Höheres: Lunatismus, ein Ausscheidungsprodukt nicht des Darmes, dann wäre es ja als Dünger nützlich gewesen, sondern des Geistes und das Gegenteil von Dünger. Religion machte steril. Doch solche Erkenntnisse hielten weder die Welt an, noch die Religionen auf, und auch Adjunas Leben in einer widersprüchlichen Welt ging weiter. Die beiden Götter Nayenezgani und Tobadzistsini machten sich auf, ihren Vater zu suchen. Auf ihrem Weg kamen sie an ein räucheriges Erdloch. Sie stiegen in das schwarze Innere. Dort trafen sie Naste Estsan, die gütige Spinnenfrau. Sie erzählte ihnen von den Gefahren, die auf dem Weg auf sie lauerten, wie dem Stein, der alle Vorbeiziehenden erschlug, und dem Kaktus, der sie zerriß, und dem kochenden Sand und dem scharfen Schilf. Und sie gab ihnen zwei 724
Federn, eine, die das Leben schützte, und eine, die half, die Feinde zu überkommen. Nur mit Hilfe dieser Federn gelang es den beiden, das Haus ihres Vaters zu erreichen. Zwei schöne Frauen empfingen die Helden und versteckten sie in Bündeln auf einem Regal, denn sie fürchteten die Wut des Sonnengottes, wenn er merkte, daß sich Fremde in sein Revier gewagt hatten. Aber er witterte sie trotz allem. Er verlangte von ihnen, daß sie sich einem Krafttest stellten, wenn sie seine Söhne sein wollten, und er stach auf sie ein mit seinen Strahlen und versuchte sie zu brennen, aber dank der Federn konnte er sie weder erstechen noch verbrennen. Nur der letzte Test wäre zuviel gewesen für die beiden, da nämlich sollten sie eine giftige Pfeife rauchen. Das Gift wäre selbst für die Federn zu stark gewesen, aber eine Raupe half die Pfeife zu verstopfen, und so bestanden die Helden auch diese Aufgabe. Tsohanoai erkannte sie als seine Söhne an. Und er fragte, was sie wollten. Sie erzählten ihm von den Anayes, den Bösen-Göttern, und baten ihn um göttliche Waffen, genauso wie Arjuna einst Indra um göttliche Waffen gebeten hatte, um in der Schlacht mit den Kauravas nicht zu unterliegen. Tsohanoai sagte ihnen, daß auch der Hauptgott der Anayes, der gigantische Yeitso, ein Sohn von ihm sei. Aber trotzdem gab er ihnen mächtige Waffen: einen Dauerblitzbogen, ein Flächenblitzfeuer, Sonnenstrahlpfeile und Regenbogenwaffen. Zufrieden kletterten die Helden durch das Yagahoka, das Himmelsloch, hinunter auf die Erde. Gleich stürzten sie sich auf Yeitso, töteten und skalpierten ihn. Als nächstes tötete Nayenezgani den vierfüßigen Teelget mit dem Gigantengeweih, indem er durch den Tunnel, den ein Ziesel für ihn grub, bis an das Herz des großen Gottes vorstieß und dann das Herz des Giganten mit seinem Dauerblitz bearbeitete, bis der große Anaye so wütend war, daß er, bloß um Nayenezgani zu töten, seinen eigenen Körper mit seinem Geweih
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aufriß, um den Peiniger zu erwischen. Gerade bevor er ihn erwischte, war er tot. Die nächste Großtat: Nayenezgani zerriß mit seinen Blitzen den großen Adlergott Tsenahale und schuf aus den Stücken all die Vögel, deren Federn für den Kopfschmuck der Navajos notwendig waren. Nayenezgani schlachtete auch die Binaye Ahani, das Volk-das-mitden-Augen-mordet. Böser Blick. Ein Verdienst, das auch die Christen auf ihrem Konto buchen konnten, denn das Abschlachten oder Abbrennen der mit dem bösen Blick, war ja eine ihrer Großtaten. Eines der letzten Taten Nayenezganis war der Sieg über Tsenagahi, einem bösen Steingeist, der sich von Bergen herab auf Reisende stürzte. Und auch in Alpentälern sollten Kreuze den Wanderer vor Erdrutsch schützen. Und sie standen damals noch da, wenn sie nicht abgerutscht waren. Es gab Vielgötterei im neuen Land, und viele Götter schwebten in den verschiedensten Höhen über dem Land, aber nicht alle waren Polytheisten. In der Tat gab es eine ganze Reihe, die sich für die einzigen hielten, oder die einzigen wichtigen. Selbst Jahwe hatte ja Kinder, Gotteskinder. 1 Von den Kindern Gottes sollte man aber erwarten, daß sie selbst Götter waren. Offensichtlich waren sie aber so unwichtig, daß man sie spätestens seit der Sintflut unbesorgt übersehen konnte. Erst ein anderer Sohn Jahwes, der mit einer Menschenmutter gezeugte Hybrid Jesus, ein Eingeborener - Kleinasiens, brachte es neben Jahwe zu beträchtlicher Wichtigkeit, und außerdem wußten christliche Lehrer von zweihundertsechsundsechzig Millionen sechshundertdreizehntausenddreihundertsechsunddreißig Engeln, 2 die auf neun Stratosphären oder himmlischen Hierarchien lebten, schwebten oder herumflatterten und den Menschen halfen durch
1
Genesis 6
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vgl. Gustav Davidsons “A Dictionary of Angels” (Glencoe, Ill., The Free Press, 1967)
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Fürbitte beim Höchsten, angeblich bis in alle Ewigkeit oder zum letzten Tag. Aber sowohl diese Träger göttlicher Attribute im Himmel als auch die gläubigen Christen auf Erden hielten ihre Religion für monotheistisch. Weiter im Inland als die Navajos lebten die Pawnees, deren Stammesgebiet sich in der Prärie am mittleren Lauf des Platte-Flusses befand. Sie verehrten den Schöpfergott Atius Tirawa, den, dem die Sterne gehorchten. Das war nun nicht mehr nur Monotheismus, Eingottglaube, sondern sogar ein Einhorneingottglaube, Monokerosmonotheismus, denn Atius Tirawa besaß ein Horn, war also ein Einhorn, ein Monokeros, ein Unicorn und Unikum. Für die Monomanen der katholischen Monokultur, die ja schon bei Monotheletismus1, Monophysitismus2 und Monopsychismus3 Ketzerei schrien, war Monokerosmonotheismus natürlich höchstes Heidentum und sie verhökerten den Heiden schon bald ihren eigenen Henotheismus aus der christlichen Monolatrie - ne, hebräischer Hochgott und den Unigenitus. Warum hatte Atius Tirawa den Kampf mit Jahwe nicht bestanden? Man sagte, er sei sehr potent gewesen. Seine Kraft war im Horn, und er sah aus wie die Krieger des Stammes, die auch alle ein Horn auf dem Kopf trugen.
1
griech. “allein” und “wollen”, theologische Theorie, nach der zwar Jesus Christus als Behälter sowohl göttliche als auch menschliche `physis´ (=Natur) in sich trage, jedoch nur ein Wollen kenne, also einen einzigen Willen habe, auf dem 6. ökumenischen Konzil in Konstantinopel im Jahre 681 christlicher Zeitrechnung als Ketzerei verurteilt.
2
theologische Theorie, nach der es in der Person Jesu Christi nur eine Physis (=Natur) gebe, nämlich die göttliche, da die göttliche Physis die menschliche wie ein Schwamm aufgesogen habe, auf dem 4. Ökumenischen Konzil von Chalkedon im Jahre 451 christlicher Zeitrechnung als Ketzerei verurteilt.
3
theologische Theorie des Philosophen Averroes, nach der es nur eine einzige überindividuelle Seele gibt. Individuelle Unterschiede hier unten auf unserer Erde sind lediglich leiblich bedingt. Da diese Theorie die Unsterblichkeit der Einzelseele ausschließt, wodurch natürlich
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Aber dieses Horn war genauso wenig Horn wie das Horn eines Nashorns Horn war. Es war verfilztes und verklebtes Haar. Wenn das Rhinozeros Keratin absonderte zum Verkleben seines Nasenhaares, die Pawnees verfügten nicht über die notwendigen Drüsen am Kopf und mußten daher für ihre Haarkunstwerke, ihre Haartracht und -pracht Schmiere aus ihrer Umgebung nehmen, oder Pomade, Spray oder Brillantine. Mit Potenz hatte zum Horn geformtes Haar natürlich nichts gemeinsam - außer dem Aufrechtenstand natürlich. Ein aufrechtes Glied hätte die Potenz viel besser symbolisiert, nein, verifiziert. Ihn immer steif zu halten, das will schon was heißen. Aber wer weiß, was den armen Pawnees dann noch passiert wäre. Schon als die christlichen Eroberer ihnen die Haare schnitten, ihnen also endlich mal einen ordentlichen Haarschnitt verpaßten, und sie in Missionsschulen schickten, verloren sie ihre Kraft und beteten schon bald die üblichen kretinen Monolatrie-nenparolen: Vater unser der du bist im Himmel... Ja, das ist wirklich ein Gerücht, daß er da oben ist. Schade, daß nicht mehr Leute gute Riecher haben. Über dem Mississippi schwebte der traurige Geist des Sonnengottes der Natchez, einem Stamm der muskogeanischen Sprachfamilie. Er beweinte sein Volk. Einst hatte er seinem auserwählten Volk... Wir wissen ja schon, daß die neue Welt genauso wie der Rest der Welt mit auserwählten Völkern nur so übersät war. Später, nachdem die meisten auserwählten Völker der neuen Welt ausgerottet oder eines anderen belehrt waren, kam freilich noch das auserwählte Volk der Juden, die der Verfolgung im alten Europa überdrüssig waren, nach Amerika, wo sie ihr neues Jerusalem gefunden zu haben glaubten. Daß sie auch in Amerika neue Enttäuschungen erlebten, war eine andere Geschichte, die hier nicht
auch ewige Folterqualen in der Hölle ausfallen, kam es 1195 zur Verdammung dieser Lehre wegen Religionsfeindlichkeit.
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erzählt wird. Außerdem war diese Geschichte selbst schon Geschichte als Adjuna das Land erreichte. Denn da erlebten die Juden ja gerade Triumphe, neue Triumphe, die sie zweitausend Jahre nicht gekannt hatten: Das alte Jerusalem. Der Sonnengott der Natchez hatte seinem auserwählten Volk einst seinen Sohn geschickt. Anders als die Juden hatten sie ihn angenommen und von ihm ihre Gesellschaftsstruktur, Sitten und Gebräuche gelernt, Zeremonien, Kunst und Waffenkunde, Ackerbau und Kalenderkunde. Ihm verdankten sie ihre tägliche Maismahlzeit, und er lehrte sie die dreizehn Namen der Mahlzeitmonate: Reh, Erdbeere, Kleinkorn, Wassermelone, Pfirsich, Maulbeere, Großkorn, Truthahn, Büffel, Bär, Kaltemahlzeit, Kastanie und Nüsse, und er setzte die erste Weiße Frau ein, die Gebärerin des ersten Sonnenkönigs, der ersten Großen Sonne, des ersten, absoluten Herrschers über den Stamm. Er schuf auch die vier Kasten unter der Großen Sonne und regelte mit weisen Gesetzen die Beziehungen unter den Kasten. Die vier Kasten waren die Sonnen, die Edlen, die Geehrten und die Stinker. Die Gesetze verlangten, daß jedes Kind der Oberklassen einen Stinker heiratete. Über die Kastenzugehörigkeit entschied der Status der Eltern. Die Sonnen hatten Sonnenmütter und Stinkerväter, während die Edlen edle Mütter und Stinkerväter hatten, oder Sonnenväter und Stinkermütter. Die Kinder aus der Zwangsehe von Männern aus den Oberkasten und Stinkerfrauen wurden eine Kaste tiefer eingestuft als ihre Väter. Es gab noch eine dritte Möglichkeit, nämlich in den Rang der Edlen aufgenommen zu werden, dann mußte man aus einer Schlacht mit zwanzig Skalpen nach Haus kommen. Nach dieser Gesellschaftsordnung hatten die Geehrten also geehrte Mütter und Stinkerväter oder Stinkermütter und edle Väter, und ein Stinker, ja, ein Stinker hatte entweder eine Stinkermutter und einen geehrten Vater oder ... oder sie waren beide Stinker. So zirkulierte das Blut, oder wie man will, die Chromosomen, durch die vier Kasten, selbst königliches Blut war davon nicht ausgenommen, denn selbst die Große Sonne mußte als Sonne eine Stinkerfrau 729
ehelichen und seine Kinder wurden bloß Edle, die Kindeskinder also Geehrte und deren Kinder endeten als Stinker am Bodensatz der Gesellschaft. Von da unten konnte freilich wieder der gesellschaftliche Aufstieg beginnen. Zwar konnte man durch Heldentaten gesellschaftlich aufsteigen, gesellschaftlichen Abstieg gab es nicht. Das wäre damals auch schwer zu bewerkstelligen gewesen, denn je höher die Kaste desto mehr Tätowierungen trug man am Körper und im Gesicht, verschlungene Sonnen- und Schlangenmotive. Aber wie wurde man in solch einer Gesellschaft Sonnenkönig? Dazu mußte man Sohn der Weißen Frau sein. Der älteste Sohn der Weißen Frau wurde Große Sonne, der zweitälteste Kleine Sonne. Die Kleine Sonne war immer der Chef der Kriegsführung. Die älteste Tochter der Weißen Frau wurde ihrerseits Weiße Frau, wenn die Mutter starb. Es war Pflicht der Weißen Frau, zu sterben, wenn die Große Sonne starb. Wenn die Große Sonne starb, starb auch seine Leibwache und eine ganze Reihe seiner Bediensteten. Es fanden sich so gar Freiwillige, die den großen Sonnenkönig auf seiner letzten Reise begleiteten, hatte doch einst der Sonnensohn den Natchez-Indianern von der Unsterblichkeit der Seele erzählt und einem Jenseits, wo die Treuen jeden Genuß genießen würden; wer schlecht war aber, würde Mangel erleiden. Zur Todesfeier wurden alle Feuer im Dorfe gelöscht und die Hütte des Häuptlings verbrannt. Der Tote wurde begraben. Nach einigen Monaten, wenn er schön durchgefault war, wurde er wieder ausgegraben. Sein Fleisch war jetzt locker und ließ sich leicht von den Knochen entfernen. Die Knochen wurden in einer Zeremonie dem Tempel überführt. Einige Priester wurden bei diesem feierlichen Anlaß erwürgt. Damit das Erwürgen nicht weh tat, tranken sie wie die
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Freiwilligen der ersten Totenfeier ein Tabakgebräu, das sie ohnmächtig werden ließ. Es war die Aufgaben der Schamanen, den für diesen Anlaß benutzten Tabak zu weihen. Schamanen galten als der Sonne besonders nahestehend, denn der Sonnengott hatte sie selbst berührt: Es waren Leute, die vom Blitz getroffen worden waren und die es überlebt hatten. Ein großes Glück, so von Gott gestreichelt worden zu sein. Aber die Hand Gottes konnte auch strafen. Dann zündete der Blitzschlag ein Haus an oder tötete. Als Zeichen größten Zornes galt es, wenn der Tempel, den man dummerweise auf einem Hügel und nicht in einer Grube gebaut hatte, vom Blitz entzündet wurde. Dann half nichts mehr. Um den Gott zu besänftigen, mußten die Eltern ihre kleinen Kinder in die Flammen werfen. Im Jahre 1699 der christlichen Zeitrechnung erschien der erste christliche Missionar. Er ärgerte sich über diesen dummen Stamm, der nicht begreifen konnte und wollte, daß über den Himmelskörpern ein großer, mächtiger, jedoch mit bloßem Auge (und auch mit Fernrohr) nicht sichtbarer Gott thronte, er spottete über den Häuptling, der morgens mit Geheul die Sonne begrüßte und ihr dann mit ausgestrecktem Arm den richtigen Weg übers Firmament wies, aber sich standhaft weigerte, sich selbst vom Missionar den richtigen Weg ins Heil zeigen zu lassen. Dreißig Jahre später als die Weißen dem Stamm nicht mehr nur mit salbungsvollen Worten auf die Pelle rückten, sondern mit Gewalttaten, entschied die Große Sonne zurückzuschlagen. Der große Kampf der Weißen gegen die Natchez-Indianer begann, weil die Indianer zurückschlugen. Daß sie sich wehrten, hatte die Weißen endgültig von der Minderwertigkeit und Bestialität dieser Heiden überzeugt. Nichts als die totale Vernichtung des Stammes war geboten. Es war nicht schwer, dieses auserwählte Volk zu vernichten. Es umfaßte nur viertausend Seelen. Das einige doch entkamen, haben ein paar schlechte Schützen zu verantworten. Die wenigen Flüchtlinge wurden von den Chickasaws, Creeks und Cherokees aufgenommen und dort wohl assimiliert. Doch im zwanzigsten Jahrhundert, als sich unter den 731
weißen Völker gerade zum zweiten Mal die Mordlust austobte, ganze Städte in Schutt und Asche versanken, Gaskammern sich füllten und Krematorien, da entdeckte man unter den Cherokees zwei alte Leute, die Nachkommen der Natchez waren und unter sich noch immer die alte Sprache sprachen, die nur sie beide verstanden. Als Krankheit und Alter sie dahinraffte, war nicht nur der Tod zweier alter Leute zu beklagen, sondern auch das endgültige Ende eines eigenwilligen Volkes. Es blieb nur eine von Weißen beherrschte Hafenstadt Natchez am Mississippi.
Es gab nur eine Sonne, aber es gab viele Sonnengötter. Es gab viele Völker und es gab viele Augen. Und viele Augen sahen die Sonne anders. Und jeder dachte, die Sonnen scheine für ihn, nur für ihn. Daß sie für sich schiene und er egal war, dachte man nicht. Die Angst um die Gnade des Sonnenscheins schuf die Frömmigkeit und brachte die Religionen in die Welt.
Wenn man über Religionen sprach in der neuen Welt, konnte man da das frömmste aller Völker übersehen? - Man konnte es nicht. Tiefe mittelalterliche Frömmigkeit zeigten die Azteken. Täglich opferten sie ihren Göttern blühende Menschenherzen. Freilich, im Mittelalter der alten Welt hatte man dem Gott keine Menschenherzen geopfert, man hatte Menschen nur so Folterqualen ausgesetzt, Frauen nur so verbrannt, Leute zerrissen etc., und auch die Konquistadoren, die die aztekischen Menschenopfer so verabscheuten, hatten keine Menschen geopfert, sondern nur so zerrissen und die kleinen 732
Indianerkinder nur so - zack, bumm - am Felsen zerschmettert. Zwei Frömmigkeiten stießen aufeinander. Eine klassische Begegnung. Wenn man über Götter der neuen Welt sprach, mußte man unbedingt den mächtigsten aller Götter erwähnen. Huitzilopochtli war der Mächtigste gewesen, denn er hatte sein Volk am besten im Griff gehabt. Sein Volk, die Azteken, waren Verwandte der Schoschonen, ein Volk, das noch Jahrhunderte nach dem Untergang der Azteken im Staub um den großen Salzsee von Utah nach Wurzeln wühlte, und von denen die Weißen geglaubt hatten, daß sie lebende Fossilien wären, Übergänge von Tier zu Mensch, ja, man hatte sie sogar für Winterschläfer gehalten, da man mal apathische, halbverhungerte Schoschonen in einem Nest unter Schnee und Zweigen gefunden hatte. Wenn Sprachforscher und Anthropologen auch die Heimat der Azteken oder Tenochcas oder Colhua-Mexicas, wie sie auch genannt wurden, im Utah-Hopi-Schoschonen Bereich wußten, so sollte doch auch erwähnt werden, daß Fantasten die Azteken lieber als Nachfahren der Bewohner Atlantis sahen, und so auch hier durch ihre Neigung, das Nächstliegende durch das Abwegigste zu ersetzen, dazu beitrugen, daß die Welt fantastischer wurde, als sie ohnehin schon war. Fantastisch war das Leben der Azteken nun gar nicht und für Höhenflüge der Fantasie war bei ihnen kein Platz. Elende Abkömmlinge, die sie waren, einfacher Völker aus dem Norden, wollten sie alles besser machen, als sie sie antraten die Erbschaft der Erben, die Erbschaft der Colhuacan, der Erben der mächtigen Tolteken von Tule. Zunächst einmal zerstörten sie die schriftlichen Aufzeichnungen ihrer Vorgänger, damit an der Einzigartigkeit der Größe der eigenen Vorfahren kein Zweifel entstehen konnte, später denn taten christliche Konquistadoren das Gleiche mit den Aufzeichnungen der Azteken. Beide Zerstörungen erleichterten es den Fantasten, ihre Atlantislegende zu spinnen. Doch das war harmlos. 733
Was nicht harmlos war, waren die Legenden, die die Azteken gesponnen hatten. Daß sie sich für auserwählt gehalten hatte, die Sonne vor dem Sterben, besonders vor dem Ertrinken, aber auch vor dem Ausblasen durch starken Wind und Ersticken durch runtergefallenen Himmel, zu bewahren, konnte man ja verzeihen, solange dazu nur die eigene Nüchternheit und Enthaltsamkeit notwendig war, aber ihre Religion war so erstickend, so absolut, so unmenschlich, daß sie sich nur mit tiefer christlicher Frömmigkeit vergleichen ließ. Die Spinnräder ihrer Fantasie schufen komplizierte Zyklen, die sich um Götter rankten. Nur vordergründig erschien ihr Kalender modern, hintergründig erforderte seine Erhaltung permanente Schlachtfeste, Menschenopfer: Sonnenjahreszyklen mit 365 Opfertagen, 18 Opfermonaten zwanzig Tagen plus fünf gefährlichen Tagen mit besonders fleißigem Opfern, die sich mit Ritualjahreszyklen von 260 Opfertagen verhakten, und so 52jährige Opferzyklen ergaben, die sich ihrerseits mit noch größeren Zeitaltern und Erdzeitaltern verhakten. Aber auch im Kleinen tickten die Opferzyklen der Zeit, die dreizehn Sonnenlichtstunden und die neun Nachtstunden waren noch in Minuten unterteilt. Und jede Minute, jede Stunde, jeder Tag und jeder Monat war einer Gottheit gewidmet, der es zu opfern galt, opfern, opfern, opfern. Wenn die Natchez ihre Monate nach Früchten, Pflanzen und Tieren benannt hatten, so weil sie sie aßen in der entsprechenden Zeit. Die Azteken hatten ihre Zeitunterteilungen nach den Göttern benannt und es waren die Götter, die aßen, oder besser aasten. Im Innern von Mexiko, dem Nabel-Des-Mondes, auf der Insel des Sees Texococo fanden die umherirrenden Azteken einst das gesuchte Symbol: einen auf einem Kaktus sitzenden Adler, der eine Schlange verzehrte, und sie gründeten ihre Stadt Ternochtitlán, Kaktus-Felsen. Es wurde schnell eine der schönsten und größten Städte der Welt. Viele prächtige Pyramiden zierten die Stadt, jede einer Gottheit gewidmet. Fünftausend Priester mußten Akkordarbeit leisten, um all die Götter, die über der Stadt wachten, versöhnlich zu stimmen, und um die 734
absolute Wahrheit beim Volk lebendig zu erhalten. Besondere Lehrer mußten es - das mit der Wahrheit - schon den Kleinkindern beibringen. Denn was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmer mehr. Was bei Religion ausnahmsweise stimmte. Schamanen, also von Gott Angehauchte, waren in so einem Gottesstaat natürlich genauso wenig willkommen, wie der Außenseiter Jesus - wenn man mal der Bibel Glauben schenkt - es bei den Pharisäern und Schriftgelehrten gewesen sein soll und wie er es zweifellos beim katholischen Klerus wäre, wenn er sich bei denen blicken ließe. Angehauchte und Eingehauchte waren Berufsreligiösen äußerst suspekt und unangenehm. Das zeigte sich daran, daß man sie als Sektierer und Ketzer verschrie, und wenn sie dann genug beim Volk verschrien waren, man dem Volk den Gefallen tat und sie umbrachte. Doch auf in das Gewimmel des aztekischen Pantheons! Die Opferpyramiden standen schon lange nicht mehr, christliche Kirchen standen an ihrer Stelle, doch die blutrünstigen, aztekischen Götter ließen sich nicht von Kreuzen und dem Gekreuzigten abschrecken, im Gegenteil Blut und Marterholz zog sie an. Sie waren noch da. Nostalgie. Nur vom Kelch des Priesters nippten sie schon lange nicht mehr. “Betrug, der Priester ist ein Betrüger! Das ist gar kein richtiges Blut”, so riefen sie der ignoranten Gemeinde schon lange nicht mehr zu. Der oberste Gott war der Blaue-Hummelkolibri-Zur-Linken-Seite, Huitzilopochtli, in der Verballhornung auch Vitzliputzli, Zur-LinkenSeite, weil die Azteken immer der untergehenden Sonne nachtrauerten und sich nach Westen hin orientierten. Links war also Süden. Im Süden stand die Sonne des Mittags. Auf Huitzilopochtlis Pyramide wurden Zigtausende manchmal an einem einzigen Tag geopfert, manchmal Freiwillige, meist Kriegsgefangene; der Hauptgrund für Kriege, war Nahrung für die 735
Götter - und für sich selbst. Die gefesselten Gefangenen wurden an den Haaren die Stufen der Pyramide hochgezerrten. Oben wurden sie über die Opfersteine gelegt, die Brust zum Himmel gewölbt, nach kurzer Hokuspokus- oder hoc-est-corpus?-Zeremonie des Priesters, zur Sonne gestreckte Arme usw., wurde die Brust aufgeschnitten, voilà das blühende Herz, so nannte man es, wenn das Blut herausquoll, hervorsprudelte, rot blutig blühte. Die Überfälle auf andere Stämme, um neue Opfer zu machen, nannte man folgerichtig Blumenkriege. Nachdem das Herz herausgerissen und das Blut verspritzt war, warf man die Getöteten einfach die Stufen hinunter. Unten wurden sie zerhackt und an die Stadtbevölkerung verteilt. Adlige hatten Vorrang, sowie der, der den Gefangenen gemacht hatte. Mit Tomaten und Pfeffer gekocht, ergaben die Stücke einen leckeren Gulasch. Außer dem kleinen, haarlosen Hund Chihuahua und dem Truthahn hatte man ja sonst auch weiter kein Fleisch. Aber nicht nur herausgerissenen Herze ließen das Herz des Huitzilopochtli höher schlagen, sondern es freute ihn genauso, wenn sich die Gläubigen mit Kaktusstacheln peinigten, oder mit Hartriegel ihre Zungen und Ohren durchstachen, wie es Jesus freute, wenn ein Christ sein Kreuz auf sich nahm. Wie viele Gemeinsamkeiten Todfeinde doch oft hatten! Es gab viele Götter und alle verlangten ihre Opfer. Das aztekische Pantheon hatte phantastische Ausmaße: Der abgebalgte Frühlings- und Fruchtbarkeitsgott Xipetotec, UnserSchindermeister, verlangte, daß der abgezogene Balg der Opfer vom Priester getragen wurde. Der Umhang aus blutiger Haut sollte das neue Blätterkleid der Bäume im Frühling symbolisieren. Xipetotec war auch der neugepflanzte Sprößling und auch die reifende Saat und wie der Maiskolben die umgebende Haut abschälte und der Menschheit zu essen gab, so gab dieser Gott dadurch, daß er sich die Haut abzog, der Menschheit Nahrung; es war schreckliche 736
Selbstquälerei, die höchste Bußübung, die absolute Verneinung des Körpers, die geistige Befreiung total. Wem danach war, der folgte dem Gott in diese geistige Freiheit. Auch der rotgesichtige Gott der Blumen und Seelen, Xochipilli, hatte sich die Haut abgezogen, um seine Verachtung für alles Irdische und Fleischliche auszudrücken. Er half den Kriegern, im vierten Todesjahr üppig mit Federn geschmücktes Geflügel zu werden. Der verkrüppelte Hundegott mit den nach hinten gehenden Füßen, Xototl, war der Überlord des Abendsterns und als solcher, da er die Sonne hinunterschubste in die Dunkelheit der Nacht, auch gleich der Verteiler allen Unglücks. Seine Losgelöstheit vom Diesseits drückte er durch ausgestochene Augen und einer Bußübung in kochendem Wasser aus, und auch er fand Nachahmer unter den Menschen, die nicht ihr Kreuz, sondern ihren Kochtopf auf sich nahmen. Xiuhtecuhthi war der Feuergott der Azteken, eine große Säule, die das ganze Universum durchmaß, vom Lagerfeuer in Mictlan, dem Totenreich, durch die häuslichen Herde hindurch, das Reich der Schlangengöttin Coatlicue und ihres Gatten Tlatecuhtli, des Frosches mit den gigantischen Zähnen, des alles verschlingenden Grabes, bis hinauf zum Himmel. Xiuhtecuhtli mochte natürlich wie Jahwe Brandopfer am liebsten. War ja sein Element. Der Regengott Tlaloc, dem die Menschen außer Wolken und Regen auch Gewitter und Gebirgsquellen zu verdanken hatten, spendete je mehr kostbares Naß, je mehr die Opfer vor dem Tode weinten. Man spendete ihm also vorwiegend kleine Kinder, die ja, wie jeder weiß, am tüchtigsten weinen konnten. Um diese Fähigkeit noch zu steigern, röstete man sie bis kurz vor ihrem Tod unter einem gelinden Feuer. Erst im letzten Moment riß man ihnen das Herz heraus. Tlalocs Reich war auch das Reich der Wassersucht und Beulenpest, von Aussatz und anderen ansteckenden Krankheiten, und wen es erwischt hatte, der befand sich im irdischen Paradiese Tlalocs, im Tlalocan.
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Im Sommer, wenn die aztekische Frauen und Mädchen sich mit Blumen schmückten und das Fest der Salzgöttin Uixtocihuatl mit Tanz und ausgelassenen Spielen feierten, stellte der Regengott Tlatoc seine Pyramide für den Höhepunkt der Festlichkeit, der Tötung einiger Mädchen, zur Verfügung. Chalchihuitlicue war die Frau-Des-Kostbaren-Grüns, eine Wassergöttin, die dargestellt wurde als Fluß, an dem Feigenkakteen wuchsen. Die rotleuchtenden, birnenartigen Früchte dieses Kaktusstrauches ähnelten menschlichen Herzen. Um zu nehmen, war es auch bei dieser Göttin nötig, erst einmal zu geben. Um die Maisernte zu sichern, beträufelten die Azteken Riedgräser mit ihrem eigenen Blut und stellten sie vor ihrer Tür für den Maisgott Cinteotl auf, der sie ableckte. Sie durften dabei nicht zu geizig sein, das hätte den Gott verärgert. In nach-aztekischer Zeit leckte er manchmal von unter der Dornenkrone ab. Da er schwachsichtig war und eine Holzfigur nicht von einem richtigen Menschen unterscheiden konnte, wurde er meistens enttäuscht, nur in der Karwoche gab es hier und da noch mal den echten Saft. Xochiquetzal war die Kostbarste-Blume, die Göttin der blühenden und früchtetragenden Erdoberfläche. Sie war auch die Geberin von Kindern. Neben Kindern wurden ihr Marienrosen gespendet. Tlazolteotl war die Göttin des Unrats. Jede Art von Dreck, Schmutz, Ekel, Anstandslosigkeit und Unflätigkeit ging auf ihr Konto, doch besonders Sex, Pornographie und Obszönität. Junge Mädchen, die man aus den Familien der Stadt rekrutierte, wurden für den Dienst an dieser Göttin besonders trainiert und dann in den Kasernen losgelassen. Nachdem sich die sexuell total ausgehungerten Krieger auf sie gestürzt hatten, wurden sie wieder eingefangen und feierlich getötet. Zwar war Enthaltsamkeit für machthungrige Herrscher schon immer ein guter Trick, die Leistung ihrer Soldaten zu steigern, doch ihnen ab und zu, wenn auch zu selten, mal zu zeigen, was sie da eigentlich versäumten,
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erhöhte die kämpferische Leistung und Blutrünstigkeit noch einmal enorm. Ein anderer schmutziger Gott war Tezcatlipoca, der Rauchige-Spiegel. Er hatte mehrere Aspekte, einmal war er der schwarze Obsidianspiegel, aus dem die Zauberer die Zukunft lasen, andererseits war er auch die ursprüngliche Sonne, die Quetzalcoatl aus dem Himmel geschlagen und in einen Koyoten verwandelt hatte. Er war der große Betrüger, der sich mit Hexen, Dieben und Bösewichtern einließ. Er war wie das Böse allmächtig. Ein Jahr lang durfte ein auserwählter Jüngling bei den Azteken den trickreichen Tezcatlipoca spielen, dann jeweils im Frühling wurde er in einer Zeremonie auf der Tempelpyramide getötet und sein Herz der jetzigen Sonne entgegengestreckt. Die Götter mochten schrecklich sein, doch der schrecklichste von allen war für die Azteken der alte Lebegott Ueuecoyotl, das hieß alter, alter Koyote. Die Azteken sprachen mit bayrischem Akzent. Das Schreckliche an diesem Gott war seine Spontanität und sexuelle Aufgeschlossenheit. Er hatte nicht nur Lust, sondern befriedigte sie auch. In jedem Gottesstaat ein Verbrechen. Auch die Legende, die sich um die Schlangen-Dame Coatlicue rankte, wand und spann, handelte von Sex, außerehelichem Sex oder nicht gehabtem Sex, wie bei Maria und Joseph. Diese Erdgöttin war eine der Frauen der Wolkenschlange Mixcoatl. Eines Tages, als sie bei der Hausarbeit war, schwebte ein Federball zu ihr herunter. Da er hübsch war, nahm sie ihn und steckte ihn sich in die Bluse. Als sie ihn aber nach der Arbeit wieder herausnehmen wollte, war er weg. Auf magische Art war der Federball in ihren Körper eingedrungen und hatte sie geschwängert. Aber wie sie auch beteuerte, sie sei schwanger geworden ohne Sünde, ihre vierhundert Kinder waren empört, daß sie die Familienehre beschmutzt hatte, und wollten sie töten. Natürlich gelang es den vierhundert Kindern nicht die Mutter Erde zu töten; das war eine Tat zu groß für sie; diese Tat sollte erst viel viel später gelingen, als die ganze Menschheit mit vereinten Kräften dazu 739
antrat und kein Verräter den Plan vorzeitig zunichte machte. Damals aber war unter den vierhundert Kindern eine Verräterin, Coyolxauhqui, Die-Der-Goldenen-Glocken, die die Mutter liebte und ihr von der bösen Absicht der anderen erzählte. Leider erschlug der neugeborene Held Huitzilopochtli sie, als er die anderen Sternenkinder erschlug, gleich mit. Als er von seiner Mutter auf seinen Fehler aufmerksam gemacht worden war, schnitt er Coyolxauquis Kopf ab und warf ihn an den Himmel, von wo er als Mond herunterschien, bis er eine Kraterlandschaft wurde und bloß noch Sonnenlicht reflektierte. Die Mutter Erde war für die Azteken eine Schlange und hatte wenig von dem, was man sich allgemeinhin unter Mütterlichkeit vorstellte. Nicht nur, daß sie selbst Schlange war, sie trug auch einen Rock aus Schlangen. Ihr Halsband war aus menschlichen Herzen, ihre Armbänder aus Knochen und Schädeln, ihre Hände und Füße hatten Krallen, ihre Hängebrüste waren wohl das Mütterlichste an ihr. Sie war zugleich Uterus und Grab. Ihre Diät bestand aus menschlichen Leichnamen. Da sich Leichname mit Leichtigkeit aus lebenden Menschen machen ließen, hatten die Priester keine Schwierigkeiten Coatlicue zu füttern. Da die Erde Göttin war, konnte bei den Azteken kein Mensch Land besitzen. Die Priester der Göttin bestimmten, wer wo den Boden bearbeiten durfte und für wie lange, und wann der Boden brachliegen mußte. Die Göttin selbst kümmerte sich um solchen Verwaltungskleinkram nicht. “Mein Leib gehört mir”, doch sie paßte nicht auf und die Priester entschieden. War Huitzilopochtli auch Sonnengott, Tonatiuh war der Gott der vierten Sonne, die für die Azteken die gegenwärtige war. Es war notwendig gewesen, den Durst und Hunger dieses gefräßigen Gottes täglich mit menschlichen Herzen und Menschenblut zu befriedigen, damit der große Gott nicht bei seiner anstrengenden Reise und bei seinem Kampf mit der Dunkelheit ausbrannte. Erlösung von Qual, Schmerz und Massenopferungen sollte es erst geben, wenn die vierte Sonne zu Ende war und der weiße Quetzalcoatle von hinten 740
zurückkehrte. Er kam tatsächlich und hieß Hernardo Cortés und war ein Raubmörder, Goldsucher und Marienverehrer. Als Kaiser Moctezuma die Gerüchte von der Ankunft Quetzalcoatls hörte, war er beunruhigt. Er sehnte sich nach der Ruhe von Mictlan, dem unendlich friedlichen und geruhsamen Reich der Toten; er machte dem Fürsten des Todes Mictlantecuhtli ein üppiges Geschenk, einen ganzen Stapel von der Haut gehäuteter Menschen, um in sein Reich eingehen zu dürfen. Aber sein Tod kam erst in spanischer Gefangenschaft. Quetzalcoatl, die gefiederte Schlange, war der alte Atem- und Windgott der Tolteken gewesen, aber auch ein Volkheld und König, der den Menschen Maisanbau, Weben, Steinmetzen und die Herstellung von Federmänteln gelehrt hatte, sowie das Messen der Zeit und die Berechnung der Sternbewegungen, aus denen er einen Kalender entworfen hatte mit all den dazu gehörigen Zeremonien und Gebeten, aber erst die Azteken verbanden diese Feiertage mit Menschenopfern. Der Legende zu Folge schwächte Tezcatlipoca den König Quetzalcoatl, indem er ihm einen Körper gab, was hieß, er hatte ihn zu Trunkenheit und Sinnlichkeit verführt. Es schmerzte Quetzalcoatl so sehr, daß er sich zu Schwäche hatte verführen lassen, daß er seinen Palast verbrannte und sich an die Küste der Landesrückseite begab, wo er entweder sich selbst verbrannte und aus seiner Asche seltene Vögel aufstiegen oder aber auf einem Floß von Schlangen zum hinteren Horizont fuhr. Ganz sicher, so wußte die Legende, werde er am Ende der Zeit von dahinten zurückkommen und sein Volk vom Leben am Rande der Verdammung erlösen und eine neue Zeit mitbringen. Ja, man sprach sogar davon, daß sich in seinem Reisegepäck eine humanere Religion befinden würde. Und tatsächlich der neue Opferzyklus begann nicht, indem man alle Feuer löschte und in der aufgeschnittenen Brust eines Opfers ein neues entfachte, sondern indem man sich taufen ließ.
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Die neuen Heilsbringer, die das Opfern und den Kannibalismus der Azteken so barbarisch fanden, machten dann freilich kurzen Prozeß, der Angeklagte bekam keine mildernden Umstände: Die Zerstörung war total, und nach hundert Jahren Heilsgeschichte lebten von 11 Millionen Mexikanern nur noch 1,5 Millionen, 1 und das auch nur, weil man sie als billige Arbeitssklaven brauchte. Die alte Religion wäre für die Bevölkerung billiger gekommen. Und intellektuell brachte die neue Religion auch keinen Fortschritt: So glaubte man doch jetzt sage und schreibe, daß die ersten Menschen einen Akt der Ungehorsamkeit vor Gott begangen hatten, und zwar noch bevor sie die Bedeutung von Gut und Böse überhaupt kannten und wissen konnten, daß Gehorsamkeit gut und Ungehorsamkeit schlecht war. Trotzdem wurden sie bestraft, und nicht nur sie, sondern alle ihre Nachkommen, egal was für ein gutes Leben sie führten. Mit modernem Strafvollzug hatte das Ganze natürlich nichts zu tun. Doch der Ungerechtigkeit nicht genug. Nachdem Tausende von Generationen für Adams und Evas Sünden bestraft worden waren, kam jemand daher, der perfekt war, völlig ohne Schuld, und weil dieser Ganz-Ganz-Unschuldige für schuldig befunden wurde und am Marterholz starb, wurde den anderen Durch-Erbsünde-Schuldigen ihre Schuld vergeben, ganz ohne ihr eigenes Zutun. Die Vorstellung von Gerechtigkeit, die mit der Aufklärung in die Welt gesetzt worden war und die seitdem demokratische Rechtsstaaten prägte, stand im grellen Widerspruch zu dieser These von Erbsünde und Sündenabwasch durch unschuldiges Blut, trotzdem erhielt sich dieser Glaube bis zum Ende der Zeit, was allerdings nicht zu lange war, da mit dem Untergang derer, die die Zeit messen konnten, auch die Zeit als meßbare Größe verschwand. Freilich gab es vorher noch eine Vergeistigung, als die ursprünglichen, religiösen Inhalte zu primitiv wurden, doch die hätte man auch im aztekischen Pantheon haben können. Ometecuhtli, der duale Lord,
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Karlheinz Deschner: `Ein Papst reist zum Tatort', S. 20
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wäre ein guter Kandidat dafür gewesen. Ein bißchen umlügen müßte man allerdings können, aber, mochte das auch schwerer sein, als Brustkörbe mit schwarzen Obsidianmessern aufzutrennen oder fiktive Kreuze zu schlagen, Priestern fiel diese Gabe ja im allgemeinen rechtzeitig in den Schoß. Ometecuhtli war der Meister der Dualität, der Ursprung allen Daseins, außerhalb von Raum und Zeit, jenseits der Sterne, eine Vereinigung aller Gegensätze, männlich und weiblich, hell und dunkel, Bewegung und Stillstand, Ordnung und Chaos, Sein und Nichtsein, und so weiter und so fort und auch nicht. Tief unter ihm waren Quetzalcoatl und sein Rivale Tezcatlipoca, war die zurückgekehrte Gefiederte-Schlange mit ihrer neuen Religion. Er da oben, noch jenseits des interstellaren Raumes, er konnte nur über so viel Winzigkeit lachen. Neue Religion. Lächerlich. Auch sie würde ihr Ende haben und andere über ihre Blödheit lachen. Und manchmal, aber ganz selten, kam schon bald ein Funke von Ometecuhtlis Weisheit in einen gläubigen Mexikaner: Wenn er dann die Füße des Schmerzensmannes küßte und das Blut aus der Nagelwunde fließen sah, fragte er sich: Warum immer Blut? Und das nächste Mal war der Gläubige schon eine Stufe weiter und weniger gläubig, er trug seine Augen nicht mehr so niedergeschlagen, er blickte höher und sah die ganze Figur am Kreuz und dachte: Immer hängt er nur am Kreuz; hat er nichts anderes gekannt? Freude zum Beispiel? Und schließlich sah er noch höher und sah den Heiligenschein und jetzt durchschaute er's: Nicht heilig, bloß scheinheilig, deshalb trägt er auch einen Heiligenschein, damit es ordentlich scheint, erscheint. Er ordentlich scheint, strahlt, prahlt. Alles Prahlerei, sich so ein Ding aufzusetzen oder aufsetzen zu lassen, alles Prahlerei, - nein, Prellerei, Menschenprellerei.
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Und er ließ sich nicht mehr prellen, der Heiligenschein hatte ihn erleuchtet. Er brauchte keinen Schein mehr, die Wirklichkeit war ihm genug. Sollte er der Verräter werden, der den großen Religionskrieg, der der Erde bevorstand, verhinderte? Oh nein, alles, was er tat, war: nicht mehr in die Kirche zu gehen. Dem Niemand-sei-neben-mir-Göttchen störte jetzt das eine entlaufene Schaf genauso wenig wie 'ne ganze blökende Herde, er schlief, er wollte rechtzeitig für das Armageddon ausgeschlafen sein. Er hatte wieder Vertrauen bekommen in seine Vertreter auf Erden. Sie würden es schon richtig vorbereiten. Der mächtigste Staat auf Erden war eine Nation unter Gott. Da, wo all die großen Waffen waren, war eine Nation unter Gott christlich. Hier ist der Glaube an mich noch lebendig, dachte der Gott, der laut Paragraph eins seiner eigenen Satzung der einzige war, und er streckte sich geruhsam über den ganzen Kontinent aus. Und wie sich seine weißen Marionetten geweigert hatten, die roten Menschen des Kontinents als Menschen wahrzunehmen, so weigerte er sich, die Götter, die über dem Erdteil schwebten, als Götter wahrzunehmen. Es waren ihrer noch viele: Agwé, Ah Puch, der katzenschnäuzige Ai Apaec, Asgaya Gigagei, Bochica, Chac, die großtittige Mutter der Menschheit Bachue und ihr Sohn Chiminigagua, der Vater der Menschheit, Chibchacum, der die Welt auf Schultern trug, Coyote, der sie mit Füßen trat, Ek Chuah, der sie mit Krieg überzog, Dzoavits, der in einer Höhle eingesperrt war und deshalb nicht angebetet zu werden brauchte, El-lal, der den Menschen half, aber irgendwann genug hatte und die Erde verließ und meinte, die Menschen sollten sich um sich selbst kümmern - er erforderte also auch keine Anbetung mehr - , Enumclaw, Spezialist im Steinewerfen und Lärmmachen, die gepuderte und parfümierte Voodoo-Liebesgöttin Erzulie Ge-Rouge mit den drei 744
Hochzeitsringen, je einen für den Schlangengott Damballah, den Meeresgott Agwé und den Krieger Ogon, Tränen fließen über ihre Wangen, sie beweint die Kürze des Lebens und die Vergänglichkeit der Liebe, eine andere Göttin: die Frau der Veränderung Estsanatlehi, sie war die Tochter von Naestan, der horizontalen Frau, und Yadilyil, der oberen Dunkelheit, ihr Pflegevater Tsohanoai zog sie mit Pollen auf, der phallische Gott Ghede, der Herr der Menschen Guinechen, der Herr der Atmung Hisakitaimisi, der der da oben sitzt, Sonnengott Ibofanga, Huitaca, der Gott der Begierde, Trunkenheit und Zügellosigkeit, der Spezialist für Verrat und Betrug Ictinike, die InkaSonne Inti, der zahnlose Itzamna, die wütende Ixchel mit dem Gorgonenhaupt, die Maya-Göttin des Selbstmordes Ixtab, die Korngöttin Iyatiku, der Schöpfer und Feuerbringer Kanassa, Kukulcan, Kururumany, der Pfortensteher Legba, Manco Capac, Ayar Cachi, Ayar Oco, Ayar Ayca, Ayar Manco, Cuzco, Mama Ocllo, Masewi, Mavutsimin, Ogoun, ein haitischer Rumsäufer mit kalten Hoden, der Erdmacher Pachacamac, der vergaß, seinem ersten Menschen zu Essen zu geben und ihn verhungern ließ, die Erdgöttin Pachamama, deren Eigenschaften später Maria angedichtet wurden, die Tagessonne Page Abe und die nächtliche Sonne Nyami Abe, die die Frau der Tagessonne vergewaltigte, der Assistent der Tagessonne, die siebenköpfige Schlange Pamuri-mahse, der Erdmann und Weltbesitzer der Schwarzfüßler Punotsihyo und der Kaltmacher Aisoyimstan, ein Schneemann, Si, der Mondgott der Mochicas, Sinaa, die Raubkatze mit den Augen am Hinterkopf, die eines Tage den Pfosten, der den Himmel trägt, wegreißen wird, so daß die Welt unter dem großen Bettlaken erstickt, Sta-au, die bösen Schatten in der Seele eines jeden Menschen, der böse Geist der Huronen Tamiscara und sein Gegenspieler Ioskeha, der alte Mond Tecciztecatl, das Wassermonster der Navajos Tieholtsodi, das die Menschen in die Tiefe zog, und die Retter Regengott Tonenili und Feuergott Hastsezini, die Venus Tlauixcalpantecuhtli, Tonapa, dessen Symbol ein Kreuz war, was Missionars Herzen höher schlagen oder eine Täuschung des Teufels vermuten ließ, je nach dem, aber ein Kreuz ist natürlich ein zu einfaches Symbol, um einzigartig zu sein, der Wasserspritzer Tonenili, Tsohanoai, der die Sonne auf seinen Schultern trug, aber nachts an einen Haken hängte, der Herr der Tiere Vai-mahse, Viracocha, der, als 745
ihm die erste Schöpfung nicht gelang, eine Sintflut weinte, der Herr der Wälder mit der fliehenden Stirn, Yum Kaax, die weiße Muschelfrau Yolkai Estsan und ganz im Süden der Aller-Älteste, Watauinaieiwa. Auch allmächtige Obergötter, die wie Jahwe auf gleicher Stufe keinen anderen duldeten, gab es, wie der Wakonda der Sioux, der Orenda der Iroquois, der Amotken der Selish und der Kici Manitu, der Große Manitu der Algonquins.1 Rettögnerawsad, Emynanaerhitztejdnu, Utinamicik, Nektoma, Adnero, Adnokaw, Awieianiuataw, Nastseiakloy, Xaakmuy, Ahcocariv, Eshamiav, Iaonahost, Ilinenot...
Die Christen in Amerika. Nach der Entdeckung durchzogen Sie den Kontinent mit Mord und Brand und mit ihrer Fickerei, die den Syphilis hinterließ. Bist du nicht willig, so brauche ich Gewalt.
Die Christen kamen. In ihrem Gepäck trugen sie Mord und Brand und viele neue Sachen und Seuchen, neue Werte, eine neue Religion, eine neue Moral, nein, eigentlich zwei... oder drei: eine doppelte Moral für sich und eine dritte für die eroberten Völker, die ja nicht nach den gleichen sittlichen Gesetzen, nach denen die Herrschenden sich gegenseitig übers Ohr schlugen, Sklaven sein konnten. Einem jeden die
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Für die Auflistung der amerikanischen Götternamen und deren Beschreibung, sowie für die Nacherzählung ihrer Legenden diente mir hauptsächlich: Oxford Reference: A Dictionary of World Mythology von Arthur Cotterell, Oxford University Press.
Für die Beschreibung der Stämme, ihrer Rituale und ihrer Schicksale diente mir Peter Farb's äußerst engagiert geschriebene und höchst empfehlenswerte Buch “Man's Rise to Civilization: A Cultural Ascent of the Indians of North America”, E. P. Dutton Obelisk Paperback.
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passende Vorstellung von Gott über sich und das passende moralische Gesetz in sich.
Mord und Brand. Gewisse Dinge kann man nicht oft genug sagen. Auch wenn die Mörder es nicht hören wollen. Es war soweit der größte Massenmord in der Geschichte der Menschheit.1
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Auch in der katholischen Kirche gibt es durchaus Stimmen, die dieser Aussagen zustimmen. So nannte der aus Österreich stammende Missionsbischof in Brasilien, Erwin Kräutler, auf einer Pressekonferenz in Feldkirch am 7.1.92 zum Gedenkjahr “500 Jahre Lateinamerika” die Ereignisse um die Entdeckung Amerikas, die für ihn keine Entdeckung, sondern eine Eroberung war, “das Grauenhafteste, was je in der Menschheit passiert ist.” In den ersten hundert Jahren seien 90 Prozent der Bevölkerung Lateinamerikas umgekommen. Man habe die Frohbotschaft für die Indios zur Drohbotschaft werden lassen. Leider war der Bischof aber nicht so konsequent, die Organisation, die dieses grauenhafteste Verbrechen der Menschheit hauptsächlich zu verschulden hatte, die größte, oder meinetwegen, grauenhafteste Verbrecherorganisation der Menschheit zu nennen, sondern er sprach nur davon, daß auch die Kirche sich schuldig gemacht habe, sie nicht den Mut gehabt habe, sich an die Menschenrechte zu halten. Den schwarzen Peter schob er dann der spanischen und portugiesischen Krone zu. Kein Wort davon, daß der Papst die neuen Länder gerade diesen Kronen zur Ausbeutung geschenkt hatte, und auch kein Wort davon, daß auch in der alten Welt zu dem Zeitpunkt die Kirche keine Vertreterin der Menschenrechte, sondern genau das Gegenteil, nämlich die Vertreterin von Gottesrechten war, also unmenschlich. (vgl. Kathpress vom 7. Jänner 1992)
Andere Kirchenvertreter, wie der Erzbischof von Buenos Aires, Kardinal Antonio Quarracino, in einer TV-Ansprache vom 30. 12. 91 (laut argentinischer katholischer Presseargentur AICA), freilich zogen es anläßlich der 500-Jahr-Feier vor, Ausgewogenheit zu fordern, was für sie hieß, immer wieder auf die humanen Verdienste von Bartolomé de Las Casas aufmerksam zu machen, einem Dominikaner, der sich zu seiner Zeit allerdings auch besonders in kirchlichen Kreisen wegen seiner Pro-Indianer-Politik sehr unbeliebt gemacht hatte. Seine humane Lösung zur Entlastung der Indianer bestand übrigens darin, daß man Neger für die Sklavenarbeit benutzen sollte. Er schlug also nur ein anderes Verbrechen vor, das auch schon bald in größtem Umfange begangen wurde.
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In der größten Not wurde auch den Indianern ein Messiah geboren. Er war so falsch wie alle Messiahs. Es war ein Delaware-Indianer, der 1762 zum heiligen Krieg gegen die Weißen aufrief. Nur mit indianischen Waffen wie Pfeil und Bogen sollte dieser Kampf geführt werden. Doch selbst als die heiligen Waffen der Indianer versagten und man zu den unheiligen der Weißen griff, blieb der Erfolg aus. Das Volk der Delaware hinterließ nur seinen leblosen Namen. Ein anderer Messiah wurde geboren unter den Kickapoos in Illinois. Sein Name war Kenekuk. Er lehrte, daß es nicht recht war, zu töten, nicht einmal, wenn es sich um Weiße handelte, außerdem sollte man nicht lügen, Feuerwasser trinken, sexuelle Ausschweifungen genießen und so weiter, das Übliche halt. Als Belohnung dafür gäbe es Frieden und neues Weideland. Und tatsächlich bekamen die Kickapoos, als sie Illinois verlassen mußten, neues Weideland in Kansas. Dort starb der Messiah im Jahre 1852 an den Pocken. Seine Anhänger versammelten sich um den Leichnam und warteten darauf, daß er am dritten Tage wiederauferstehen würde. Er stand nicht auf, aber sie legten sich hin. Denn die Pocken waren eine hochansteckende Krankheit. Und wie sie den Anführer der Kickapoos getötet hatten, so töteten sie auch das Volk. Die Kickapoos wurden eine Erinnerung. Und auch die wurde vergessen. Der nächste Erlöser wurde 1820 in den Rocky Mountains geboren. Man nannte ihn Somhalla und gab ihm wegen seiner vielen Trancen den Beinamen `der Träumer'. Er sagte, Kici Manitu sei unzufrieden mit den Indianern, weil sie den Glauben der Väter verlassen und sich dem der Weißen zugewandt hatten. Er lehrte, daß der Große Geist von allen Menschen zuerst die Indianer geschaffen hatte, dann in absteigender Reihenfolge die Franzosen, die christlichen Priester, die neuen Amerikaner und ganz zum Schluß die Neger. Und weil das so war, gehörte die Erde den Indianern. Aber es war die 748
Pflicht der Indianer, die Erde zu schützen, denn sie war die Mutter. Nicht durfte man die Scholle pflügen, denn wie konnte man der Mutter Brüste mit einem Messer ritzen? Auch durfte man das Gras nicht schneiden und zu Heu machen. Welche Frechheit, Mutters Haare zu schneiden! Die Nez Percé wehrten sich, als die Regierung sie zwingen wollte, Farmer zu werden. Ihr Häuptling ermahnte sie, daß nicht nur Heumachen eine Sünde sei, sondern auch das Skalpieren und Martern von weißen Kriegern. Die weißen Krieger aber, die ohne humane Ermahnungen in den Kampf geschickt worden waren, ermordeten rücksichtslos die Frauen und Kinder der Indianer. Und schließlich erstickte der Kampfgeist der Indianer in Trauer. “Mein Volk stirbt. Ich habe gekämpft. Von wo die Sonne jetzt steht, werde ich nie wieder kämpfen.” Die Überlebenden wurden von den Weißen nicht niedergemetzelt. Man wies ihnen ein Malaria verseuchtes Sumpfgebiet als Reservation zu. Dort starben die Überlebenden. Die menschliche Geschichte war so monoton wie sein Schicksal. Fantasielosigkeit hatte die größte Beständigkeit. Der nächste Erlöser war der Prophet Wodziwob. Er versprach den Himmel auf Erden. Wenn nur alle Indianer fleißig tanzten und sangen, dann würde der große Manitu die Weißen verschlingen und den Reichtum der Weißen den Indianern lassen. Schon bald tanzten alle Indianer, aber der Erfolg blieb aus. Und man hörte wieder auf zu tanzen. Doch schon zwei Jahrzehnte später kam ein neuer Messiah, Wovoka mit Namen, und behauptete, der Große Geist hätte ihm gesagt, die Indianer müßten tanzen, um Energie anzusammeln, dann würden auch die Toten wieder auferstehen. Und so tanzte man wieder. Und als man genug Energie glaubte angesammelt zu haben, zog man in den Krieg gegen die Weißen. Sitzender Bulle, ein Sioux, der schon bei der erfolgreichen Schlacht am kleinen Großhorn dabei gewesen war, war der Anführer. Man war äußerst zuversichtlich, da man dank Offenbarungen, die einem in Trance zugänglich gemacht worden 749
waren, Geisterhemden mit magischen Symbolen trug, die vor den Kugeln der Weißen schützen sollten. Das Mysterium war nur, daß die Kugeln die Symbole durchdrangen. Gegenzauber oder ein Sieg der Wirklichkeit? Nach dem Massaker am Wunden Knie war der Widerstand der Indianer endgültig erlahmt. Der Glaube an den Messiah der Weißen fand immer mehr Aufnahmebereitschaft. Die Kirche der amerikanischen Ureinwohner erhielt sich jedoch noch ein bißchen Eigenständigkeit, indem sie den Peyoteweg ging, was hieß, daß man dort beim Abendmahl keine Oblaten aus Weizen- oder Maismehl schluckte, sondern ein Stück Peyote, ein Stück strychninhaltigen Kaktus. Religion als Rattengift. Tödliche Dosis: hundert bis dreihundert Milligramm.
Der letzte Schritt von der Gangway zum Erdboden des neuen Kontinents war vollbracht, wie damals vor der Schlacht von Kurukshetra, als Krishna ihm in 18 Gesängen das Bhagavad Gita und die ganze Lehre von Pflicht und Unvermeidbarkeit offenbart hatte, so war auch eben vor dem Auftreten auf neuer Erde, als die Götter des Kontinents und vergangenes Schicksal sich offenbarten, die Zeit stehengeblieben. Jetzt lief sie wieder. Adjuna sah zu, daß er sich schnell in der Reihe vor dem Schalter für Immigranten anstellte. Aber viele waren vor ihm. Nur langsam schob sich die Reihe weiter. Man mußte warten. Was blieb einem anderes übrig? Amerika, das Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Träumte Adjuna? Was sollte er machen? Sollte er im hohen Norden als Angakoq, als eskimoischer Schamane Blut trinken und wieder rauswürgen, die 750
Augen verdrehen und sprechen, als sei er von Geistern besessen, oder sollte er gleich hier in der Großstadt als Taxifahrer arbeiten und seine Fahrgäste anpöbeln, wenn sie nicht freiwillig, die 20% Trinkgeld zahlten, die einem Taxifahrer zustanden? Oder Telemissionierer? Eine einträgliche Sache. Oder Computerfachmann, Programmierer? Oder Pomade verkaufen? Toilettenpapier? Die, die Toilettenpapier und Waschmittel verkauften, hatte er sich belehren lassen, belehrten die Nation und informierten die Amerikaner über die Ereignisse der Welt, jedenfalls über die, über die die Leute nach Meinung der Toilettenpapierfabrikanten etwas wissen durften. Für die, die sich nicht nur aus der Glotze informieren wollten, zweigten die Toilettenpapierfabrikanten etwas Papier ab, das sie dann bedruckten. Durch ein besonderes Verfahren bekam das Papier auch mehr Festigkeit, so daß es sich nicht mehr sehr gut zum Abwischen eignete. Wegen des anderes Gebrauches hieß es nicht mehr Toilettenpapier, sondern Neuheitenpapier, obwohl da oft sehr Abgedroschenes drinstand. Aber die Toilettenpapierfabrikanten hatten ja auch gar kein Interesse daran, daß die Leute was Neues lernten oder dachten. Und wenn der Leser glaubte, sein Neuheitenpapier wolle ihn informieren, dann war er einer irrigen Vorstellung erlegen. Seife wollte es ihm verkaufen, Waschmittel, Spülmittel, Möbel, Teppiche, Autos, alles Mögliche, und auf der Rückseite der Anzeigen da drehte es ihm die rechte Gesinnung an, eine rechte Gesinnung, eine Gesinnung, die auch den Toilettenpapierfabrikanten diente. Bis zu 80% der Einnahmen kamen von den Anzeigen, sie waren das Wichtigste an der Zeitung, auf das bißchen Geld, das der Leser für die Zeitung zahlte, hätte man auch ganz verzichten können, bloß ... Kostenloses wurde so leicht unbeachtet weggeworfen, und deshalb ging es nicht. Die Glotze war zwar auch in Amerika nicht aus Papier, keine Papierglotze, sondern auch ein hochpotentes Verkaufs- und Manipulationsinstrument, wurde aber von den gleichen Leuten
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finanziert, also von denen, die Toilettenpapier Wegwerfprodukte an den Mann bringen wollten. 1
und
andere
Glotze und Neuheitenpapier zu machen, war eine der amerikanischen Grundfreiheiten. Da mitzumachen, wäre eine feine Sache. Bloß, wie rankommen, dachte Adjuna, als er sich ein Stückchen weiter vorschob. Da lag nämlich der Hase im Pfeffer. Die Grundfreiheit befand sich in der Hand weniger Auserlesener. Natürlich, es konnte ja nicht jeder Toilettenpapier verkaufen. Es mußte ja auch Konsumenten, Speichellecker, Scheißer und Hinternabwischer, geben. Auf jeden Fall war Amerika ein Vorbild für die Welt, jedenfalls für die Welt der Unternehmer, für die Unternehmer der Welt - ach nein, Unternehmer hörte sich zu klein an - für Konzerne, Monopolisten. Jeder kleine Krämer war ein Unternehmer und jeder, der nicht Lohnsklave sein wollte, mußte Unternehmer werden, um sein eigener Chef zu sein. Aber genau das zu tun, wurde immer schwerer. Der Mittelstand war kaputt, am Aussterben. Wer früher einen eigenen Laden hatte, mußte jetzt verkaufen. Und nur wenn er brav war, erlaubte ihm die Einzelhandelskette, weiterhin Chef zu spielen, aber wenn die Gewinne ausblieben, flog er. Ja, die freie Marktwirtschaft hatte für viele Unfreiheit mit sich gebracht. Aber diese Unfreiheit wurde kompensiert durch die übergroße Freiheit der Wirtschaftsgiganten. Das große “G” der Giganten sah man überall, manchmal in fetten Lettern und manchmal bloß im Kleingedruckten: General Elektric, General Mills, General Dynamics, General Foods, General Motors, General Toilet Articles. Das G war fast immer absolut und
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Für eine kritische Beschreibung der Massenmedien in Amerika siehe Michael Parenti `Inventing Reality - The Politics of the Mass Media' and Ben H. Bagdikian `The Mass Media A startling report on the 50 corporations that control what Amerika sees, hears and reads'.
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ausschließlich. Es waren Giganten, neben denen sich Adjuna trotz seiner gewaltigen Muskeln wie ein Zwerg ausnahm. Sie waren das Schicksal, mächtiger als Könige. Ihre Marionetten regierten die Vereinigten Staaten, und da sie multinational waren, regierten sie auch gleich noch ein paar andere Staaten mit. Sie kauften die bestaussehendsten Schauspieler, die fähigsten Speech writers, die überzeugendsten Demagogen und die verschlagensten Lügner für ihre Regierungsgeschäfte. Dann verfügten sie noch über ein großes Heer von Skribenten, Schmocks, Gesinnungsjournalisten, die sich ihre Gesinnung gut bezahlen ließen und dafür sorgten, daß auch das Stimmvieh marionettenhaft sein Kreuz an der richtigen Stelle machte. Obwohl es ein sehr großes Land war, mit sehr unterschiedlicher Landschaft und verschiedenen Menschen, ja sogar Rassen, fehlte eine Vielfalt der Meinungen, ja, im ganzen Land schien man nur eine Meinung zu haben. Was die großen Fragen des Lebens, des Zusammenlebens betraf, war man praktisch der gleichen Meinung. Meinungsverschiedenheiten gab es zwar trotzdem, aber sie betrafen nicht die großen Dinge wie Politik oder Gesellschaft, sondern private Dinge, wie wem das Grämmchen Haschisch gehörte oder die Dosis Crack, die man geklaut hatte, oder wem die Kinder nach der Scheidung. Bei solchen Meinungsverschiedenheiten griff man dann leicht zur Schußwaffe. Waffenbesitz war ein ebenso wichtiges Grundrecht wie die Meinungsfreiheit. Man schoß, entweder, wie man es in den Cowboy-Filmen zu high noon gelernt hatte, oder auch einfach auf den unbewaffneten Gegner. Die USA war der Mörderstaat der Welt schlechthin, aber das tat dem Missionseifer der Leute keinen Abbruch. Hoffentlich hatte Adjuna bei soviel schnellen Schützen mit seinen mittelalterlichen Waffen nicht das Nachsehen.
Ich werde wohl das tun, was ich immer getan habe, wandern und predigen wie ein Johnny Apfelkern. Aber die Toilettenpapierfabrikanten werden mehr Leute erreichen als ich, und ich werde auch hier meine Aufgabe nicht erfüllen können. 753
Die Massenmedien wollen keinen Messias einer neuen Ordnung. Sie fürchten als Teil der alten Ordnung den eignen Untergang. Langsam schob man sich weiter, dichter heran an den Beamten der Einwanderungsbehörde. Die Spannung wuchs. Peter hielt wie ein kleiner Junge schutzsuchend Adjunas Hand. Würde man durchkommen oder wird es “Ellis Island” heißen, jenes berüchtigte Gefängnis, in das man die Unwillkommenen abkommandierte? Unbegründet war die Angst nicht, schon manch einer saß da im engen Loch und konnte nicht wieder raus. Das Gefängnis war gleich da, wo die große Dame die Fackel der Freiheit hochhielt, neben Maria die meistvergewaltigste Dame der Welt. Sie hielt sie hoch, die Fackel, damit die Insassen des Immigrationsgefängnisses bei ihrem Blick aus dem Fenster lernten, was Ironie war. 1 Sie hielt die Fackel der Freiheit sehr hoch, fast 90 Meter. So hatte Freiheit etwas Unerreichbares an sich.
Freilich, wenn man von dieser Seite kam, hatte man noch Glück. Auf der anderen Seite der Staaten, wo die Asiaten, hauptsächlich Chinesen, nach der langen Überfahrt über den großen, friedlichen Ozean
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Der in Österreich geborene Biochemiker Prof. Dr. Erwin Chargaff war einmal Insasse dieses Gefängnisses, weil der Einwanderungsbeamte das Doktorprädikat in seinem Reisepaß für unvereinbar hielt mit seinem Studentenvisum. Selbst als er zwei Tage später vor ein Tribunal geführt wurde, war für die Vorsitzende der Fall klar: Er war als doppelter Schwindler entlarvt. Denn wenn er ein Doktor war, konnte er kein Student sein, und wenn er Student war, kein Doktor. Da gab es kein Herausreden, er mußte zurück in seine Minizelle. In seinem Buch “Das Feuer des Heraklit - Skizzen aus einem Leben vor der Natur” beschreibt er die gute Aussicht: “Aus meinem Verlies genoß ich die ausgezeichnete Aussicht auf die Freiheitsstatue. Und da dachte ich mir, daß dieses Nebeneinander von Gefängnis und Monument doch kaum zufällig sein könne. Es mußte doch eine Absicht darin stecken. Vielleicht die, den eingesperrten Immigranten die Vorzüge dialektischer Denkweisen beizubringen.”
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ankamen, gab es in der Bucht des Heiligen Franz die noch viel berüchtigtere Gefängnisinsel Angel Island, and that was really hell. Wenn die logistischen und hygienischen Verhältnisse auch menschenunwürdig waren, medizinische Versorgung nicht vorhanden, die Schikanen scheußlich, man durfte nicht vergessen, daß es sich bei den Insassen fast ausschließlich um Asiaten handelte, und die waren ja bekanntlich nicht so zimperlich. Wenn es auch mal passiert sein sollte, daß der eine oder andere starb, weil sich kein Arzt um ihn kümmerte, wäre er in der Heimat geblieben, wäre ihm das vielleicht auch passiert. Und wenn man es auch bedauern mag, daß eine Frau bei einer Fehlgeburt in ihrer Zelle verblutete, so mußte man doch sehen, daß die Asiaten ein anderes Verhältnis zum Leben hatten, es weniger respektierten. Das zeigte sich auch im Vietnam-Krieg, wo sich die Bewohner lieber ermorden ließen, als sich von Amerikanern befreien. Während sich so in Adjunas Kopf amerikanische Gedanken einschlichen, strich er sich besorgt über die Augenlider. Hatte er nicht eine Mongolenfalte? Überhaupt, wie sah er aus? Hatte er nicht einmal seine eigene Legende gehört: “...und seine Erscheinung, sein Aussehen war etwas Besonderes, da seine Vorväter aus aller Herren Länder kamen und bei ihm so das Blut vieler Völker zusammenfloß, hielt ein jedes Volk ihn für einen der ihren, selbst im Land der Zwerge glaubte man, er sei ein besonders großgeratener Landsmann, obwohl er sich noch im Land der Riese öfters bücken mußte.” Adjuna tastete nachdenklich über sein Gesicht, obwohl er gerade aus Deutschland kam und einen deutschen Paß besaß, seine Gesichtszüge waren nicht wirklich teutsch, nicht arisch, nicht weiß, nur scheinbar. Er dachte an die Rassentrennung, die Segregation, die Martin Luther King jr. und Ralph David Abernathy in den Südstaaten unter großen Opfern so erfolgreich bekämpft und beseitigt hatten. Wie hätte man ihn eingeordnet, er, der er unter Schwarzen ein Schwarzer und unter Weißen ein Weißer gewesen wäre? “Ich hab's! Das war's!” rief er plötzlich aus. Er wußte, daß es noch immer Rassenunruhen gab, und ihm dämmerte eine Lösung. “Was ist 755
los?” fragte Peter neben ihm. “Um das Rassenproblem zu lösen, sollte man gemischte Ehen fördern. So soll meine Lehre sein. Wir brauchen nichts Reinrassiges, keine Rassentrennung, sondern Rassenmischung. Ein jeder sollte danach streben, seine Kinder mit einem Partner der anderen Rasse zu machen. Wenn das ein jeder auf dieser Erde beherzigte, dann gäbe es schon bald keine Rassenprobleme mehr. In Amerika werde ich mit dieser These einen Anfang machen.”
Granitinsel Manhattan, Betonwüste-Kliffs.
Im frühen siebzehnten Jahrhundert segelte der für die Holländer fahrende Henry Hudson den nach ihm benannten Fluß hinauf. Vom Strom des Heiligen Lorenz kam der Franzose de Champlain in die gleiche Gegend, um das Land für seinen König zu beanspruchen. Der in diesem Gebiet beheimatete Irokesenstamm Mohawk, ein Name, der Kannibale bedeutete, hatte mit anderen Stämmen die Hodenosaunee, die Liga der fünf Nationen, gebildet und wehrte sich hartnäckig gegen die bleichen Eindringlinge. Trotz des Widerstandes gründeten die Holländer ihre kleine neue Welt, die Neu-Niederlande, mit Fort Orange, der späteren Hauptstadt Albany, und Neu-Amsterdam. Das Indianerproblem versuchte der Gouverneur der Kolonie, Kommandante Kieft, dadurch zu lösen, daß er für jeden toten Indianer ein Kopfgeld zahlte. Doch ganze Leichen waren ihm wohl zu sperrig, und selbst ganze Köpfe zu handhaben, war noch zu unhandlich, da verfiel er auf einen Trick. Er erinnerte sich nämlich daran, daß ein kleiner Indianerstamm am Golf von Mexiko, die Natchez, dieses Problem schon einmal auf elegante Weise gelöst hatten. Bei den Natchez mußte man, um in den Rang der Edlen aufgenommen zu werden, zwanzig feindliche Krieger besiegen. Da aber selbst ein Mann, der so stark war, daß er zwanzig Männer erschlagen konnte, nicht stark genug war, um sie auch nach Hause zu tragen, und es Pferd und Wagen nicht gab, gaben sich die Stammesältesten mit den 756
Skalpen als Beweis zufrieden. Und genau das war auch, was Kommandante Kieft tat, sich mit den Skalpen zufrieden geben. Sicher, der eine oder andere Kopfgeldjäger hätte betrügen können, indem er einem Lebenden die Kopfhaut abzog und ihn dann weiterleben ließ, doch so etwas lohnte sich ja nicht, da kein neuer Haarschopf nachwuchs. So säuberten die Holländer also erfolgreich ihr Gebiet von Indianern. Und ihr Beispiel machte Schule. Noch hundert Jahre später zahlte man in Massachusetts $60 für einen Indianerskalp. Mitte des 18. Jahrhunderts war in Pennsylvania die Belohnung für einen männlichen Indianerskalp $134 und für einen weiblichen $50. Auch die Franzosen benutzten Skalp-Prämien für geopolitische Maßnahmen; der harte Konkurrenzkampf im kanadischen Fellhandel machte es notwendig: Sie zahlten den Mikmak-Indianern ein Handgeld für jeden Skalp der Beothuk-Indianer. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts fand man nicht einen einzigen überlebenden dieses einst zahlreichen und stolzen Volkes.1 Im Jahre 1664 schenkte der König Karl II. seinem Bruder, dem Herzog von York und späteren König Jakob II., weite Gebiete in Nordamerika als Eigentümerkolonie, einschließlich der Neu-Eroberung NeuAmsterdam. Natürlich wollte der Engländer im Namen der geschenkten Örtlichkeit nicht die Heimat der Holländer geehrt wissen. Und so wurde die Stadt auf der kargen Granitinsel Manhattan zur Stadt Neu-York und die Kolonie Neu-Niederlande zur Kolonie Neu-York, und später nach der Unabhängigkeitserklärung, als der Rekatholisierer Jakob II. schon lange von seinem eigenen Volke für sein verfassungswidriges Handeln mit Hilfe des Prinzen Wilhelm von Oranien in der Glorious Revolution abgesetzt und vertrieben worden war, sogar schon verschieden und vergessen war, da wurde aus der Kolonie Neu-York einfach der Staat Neu-York, und so ist es immer
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Peter Farb, `Man's Rise to Civilisation', S. 115f.
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geblieben bis auf den heutigen Tag, da sich kein neuer Eroberer fand, der hier seine Heimat geehrt sehen wollte. Man sagte, der Holländer Peter Minuit hätte die ganze Insel Manhattan einst von einem Indianer für Schickimicki, wertlosen Plunder im Werte von 60 Gulden, umgerechnet $24, erworben. Wenn das stimmt, wäre die Insel der einzige Ort Amerikas, den die Bleichgesichter ehrlich erworben hätten. Doch Manhattan war schon lange keine wertlose Granitlandschaft mehr. Es war eine Betonwüste mit den tiefsten von Menschenhand geschaffenen Schluchten. Eingeschüchtert standen Peter und Adjuna in diesen engen Schluchten und blickten die blanken Wände hinaus, da oben kratzte irgendwas an den Wolken, nein, am Himmel, skyscraper. Der Beamte der Einwanderungsbehörde hatte sie durchgelassen, ohne weiteres. Alle Ängste waren umsonst gewesen, hatten nur Schweiß gekostet. Da standen sie jetzt, die ersten Asylanten aus dem Vierten Reich. Sie blickten sich ängstlich um. Sie hatten sich noch nicht daran gewöhnt, daß der Gedanke `Viertes Reich' hier nicht bestraft wurde. Ja, es war traurig, in Deutschland durfte man schon wieder nicht mehr sagen, was man dachte, und `Viertes Reich' war schon ganz und gar tabu: Das neue Deutschland war nicht das Reich von Einhodigen oder Hodenlosen, sondern es war das Reich der bodenlosen - Freiheit. Politikersprech: `Noch nie waren wir so frei wie heute.' Verbrecherdenk, was anders dachte. Bodenlose Freiheit. Die Freiheit fiel mal wieder durch. Freiheitlichdemokratische GO. Doch was nun? Wohin? Schlafen schien kein Problem zu sein. Einige Leute lagen gleich auf dem Bürgersteig, den man hier einfach 758
Seitenweg nannte. Amerika war wirklich tolerant. Kein Bürger trat die Schlafenden. Adjuna und Peter legten sich auf einen warmen U-Bahnschacht. Die schwarzen und weißen Fremdlinge des Kontinents gingen an ihnen vorüber. Sie fühlten sich hier zu Hause. Am nächsten Tag war der vierte Juli. Der Vierte Juli. Das war ein besonderer Tag. Da tanzten die schwarzen und weißen Fremdlinge des Kontinents auf der Straße, warfen mit den bunten Inhalten von Bürolochern um sich und freuten sich. Peter und Adjuna mischten sich unter die Leute. Sie mischten sich unter die Tanzenden und tanzten mit. Ei, war das ein Tanzen und Hopsen und Ausgelassensein. Peter fragte einen hopsenden Schwarzen neben sich: “Was ist denn los? Was feiert you?” “Independence Day.” “Was? - Wat?” korrigierte Peter sich schnell. Der Schwarze merkte jetzt am Akzent, daß er einen Fremden vor sich hatte, und sprach langsamer: “My Name is Wilhelm. You cannst me aber Bill nennen”, und er streckte ihm die Hand entgegen. Nach dem Händeschütteln erklärte er: “Wir feiern unsere freiheit von England. Alles began mit der Boston Tea Party.” Peter: “?” Bill: “Die Engländer machten tu viel toll auf den tea. Da wurde der tea tu teuer. Und die leute warfen den tea ins hafenwater.” “No, der tea wurde tu billig”, mischte sich Adjuna ein, der etwas gegen Legendenbildung hatte. 759
“Heh, wo commst you denn her, fellow?” Bill klopfte Adjuna kameradschaftlich auf die Schultern, “you sagst me, der tea wurde tu billig. Warum sollte man billigen tea in den Boston Harbor kippen?” “Aus dem gleichen grund, aus dem man billige und gute autos aus Zipangu kaputt schlägt: Weil einige leute in America profit machen wollten.” Adjuna gab jetzt ein bißchen Geschichtsunterricht: “Auf grund des Townshend Acts wurden alle waren, die in die kolonien gebracht wurden, hoch vertollt. Spezialerweise tea wurde hoch vertollt. Deshalb bauten die Americaner ein smuggelnetz auf für tea aus Holland. Weil die Britischen exporters dann auf ihrem tea sitzenblieben, verabschiedete das Britische parlament, dann den sogenannten Tea Act, der Britischen tea von allen tariffs befreite und so billiger machte als den gesmuggelten, Holländischen tea. Einige teadrinker hätten sich vielleicht über den billigeren tea gefreut, aber die smuggler und businessmänner hetzten die bevölkerung gegen die einflußnahme Great Britains auf die geschäfte der kolonie auf. Und als mitglieder der geheimorganization Söhne der Freiheit als Rote Inder verkleidet den tea über bord kippten, da applaudierten die beistehenden, oder wie ihr Americans sagt, sie gaben ihnen eine große hand, und die Americanische Revolution began.” “Na, dann habe Ich ja wenigstens das richtig hingekriegt, daß der freiheitskampf der Americaner von England an dem tag began.” “Ja, das war am 16. von December 1773. Nebenbei, wo waren deine vorfahren zu der zeit?” “Die waren sklaven”, sagte Bill jetzt ernst und ernüchtert. “Siehst you, und es waren die sklavenhalter, die nach freiheit schrien.” “You bist smart, I mag you. Comm, we müssen uns mal unterhalten.” Bill nahm die beiden und sie verließen die lärmende Menge.
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Peter und Adjuna waren so froh, jemanden gefunden zu haben. Bill war sehr nett, und als er hörte, daß die beiden gerade erst am Vortag in Amerika angekommen waren, und wie sie ihre erste Nacht verbracht hatten, da bot er ihnen seine Hilfe an und lud sie zu sich nach Hause ein. “Comm, we gehen zu meinem haus.” Nur zu bereitwillig folgten ihm Peter und Adjuna. “Da, steigt ein!” Bill öffnete ihnen die Tür seines Pickups. Ein Pickup war ein Hybrid zwischen Pkw und Lkw und wurde im allgemeinen benutzt, um Pickups zu machen, also um kleinere Sachen von irgendwo abzuholen. Da das Ding nur eine Sitzbank hatte, mußten sie vorne zusammenrücken, aber das war kein Problem. Während der Fahrt erzählte Bill von Amerika und von der großen Freiheit, die man hier hatte, wenn man sich anpaßte. Etwas, das sie noch öfter hören sollten. Er gab aber auch zu, daß noch zu seiner Jugend in den Südstaaten Rassentrennung herrschte und Schwarze für den bescheidenen Wunsch, wählen zu dürfen, umgebracht wurden. Ja, das war alles noch gar nicht so lange her. Damals schickte man Truppen nach Vietnam, in den Kongo, nach Europa... überall half man, in Biafra ebenso wie in Griechenland oder der Junta der Dominikanischen Republik, aber wenn die Schwarzen in Montgomery, Atlanta, Birmingham, Selma oder Memphis niedergeknüppelt wurden, wenn sie ihre bürgerlichen Rechte einforderten, dann tat Washington nichts, um sie zu schützen. Bills Eltern waren Teil dieses blutigen Kampfes um Anerkennung gewesen, “damit er es einmal besser hatte.” Und tatsächlich hatte er es besser. Er war den Slums entkommen und lebte in einem Vorort für feine Leute, und an seinem Arbeitsplatz schüttelten ihm sogar die weißen Kollegen die Hand, ohne sie danach abzuwischen.
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Er gehörte einem Forschungsteam an, das für eine große Computerfirma künstliche Intelligenzen entwerfen sollte, die völlig unabhängig denken und arbeiten konnten. “Von denen wird also mehr verlangt als von einem menschen.” Da er die Materie besser beherrschte als einige seiner weißen Kollegen, wurden seine Vorschläge meist angenommen und auch ausgeführt, auch wenn der eigentliche Leiter der Abteilung ein Weißer war. Bill hatte außerdem, wie andere hochbezahlte Wissenschaftler auch, drei Sekretärinnen unter sich. Alle waren sie weiß und keiner machte es etwas aus, für einen Schwarzen zu arbeiten. Er dachte eigentlich auch gar nicht über seine Hautfarbe nach. Und so sollte es auch sein in einer rassengemischten Gesellschaft. Wenn Peter und Adjuna nicht aus Solidarität mit den Unterprivilegierten und Diskriminierten mit dem Thema angefangen hätten, hätte er nie davon gesprochen. Für ihn war die Welt in Ordnung. Der amerikanische Traum von Freiheit war jetzt auch für die Schwarzen Wirklichkeit geworden, fand er. Aber er war geduldig mit den Neuankömmlingen. Endlich waren sie vor seinem Haus. Jetzt kam es zu einer fremdartigen Zeremonie. Bill hatte eine tiefe Garage. Darin stand ein großer, weißer Cadillac. Bill stieg nun aus, fuhr den Cadillac heraus, fuhr den Pickup ganz tief in die Garage und stellte dann den Cadillac davor, so daß der Pickup nicht mehr zu sehen war. Peter und Adjuna dachten natürlich, daß er eitel sei. Bill aber erklärte ihnen die Zeremonie anders - halb entschuldigend: “Ich darf den pickup nicht in der straße stehen lassen und mit dem guten wagen wollte Ich nicht in die stadt fahren, weil er da so leicht zerkratzt wird.” “Warum darf man denn den pickup nicht auf die straße stellen?” “Das ist eine gemeindevorschrift. So ein pickup hinterläßt so einen billigen eindruck, die ganze gegend hätte darunter zu leiden, so daß die grundstückswerte sinken täten. Aus dem gleichen grund ist es verboten, sich auf der straße zu knutschen. Aber kommt doch rein.”
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Vorsichtig betraten Peter und Adjuna das Haus. Sie hatten Angst etwas schmutzig zu machen. Übertrieben lange putzten sie ihre Schuhe ab. Die mit prächtigen Möbeln eingerichtete Wohnung schüchterte die beiden ein und wenn sie jetzt `you' sagten, so hörte sich das nicht mehr wie ein kameradschaftliches Du an, sondern wie das formale Sie, was es ja eigentlich auch war. “Sind you verheiratet?” “Yes, aber my frau is gerade in oversee. She arbeitet in der gleichen firma wie Ich. Aber in der verkaufsabteilung. She is auf promotionstour in den Fernen Osten, wo she ein paar präsentationen macht. Fühlt you wie zu hause. Soll Ich uns einen drink machen? Wie wär's mit einem Martini?” “Nein, danke. Lieber ein beer. Tun you haben kinder?” “Unser ältester geht ins college und die zwillinge sind bei der grandmutter. Die sind erst elf und dürfen nicht allein im haus sein.” “Is das eine regel, die der papa gemacht hat, oder hat das auch was mit den immobilienpreisen zu tun?” Bill mußte lachen. “No, das hat was mit der sicherheit der kinder zu tun. Ich glaub' zwar auch nicht das ihnen was passiert, wenn sie allein zu haus sind, aber das is gesetz, und wenn der sheriff das sieht, kriegt man ärger. Bloß babysitter sind so teuer und schwer zu bekommen...” “Is man in America mit elf noch baby?” fragte Peter, “in Germany bin Ich schon mit elf alleine campen gegangen.” “In America is das nicht erlaubt.” “Tun you wohnen jetzt ganz alleine in diesem großen haus?” fragte Peter weiter. In dem Wohnzimmer hätten zehn Straßenkreuzer Platz. Was das kostet, all die Luft warm zu halten! dachte er dabei. “Yes,” bejahte Bill die Frage, “für die nächsten vier wochen, bis meine frau wiederkommt, könnt you im kinderzimmer über der garage 763
schlafen. Da gibt es ein etagenbett. Ich will mal sehen, was ich für you tun can. Vielleicht can Ich you einen job bei uns besorgen.” “Das wäre super”, sagte Peter schnell, “Ich bin übrigens selbst programmierer und hobby hacker. Sicher können you mich gebrauchen”, log er noch schnell hinzu. In Wirklichkeit hatte er sich nur in seiner Freizeit mal ein wenig mit Computern befaßt. “Wir werden sehen”, sagte Bill, der eigentlich an einen Job in der Verpackungsabteilung oder bei der Maintenance des Fuhrparks gedacht hatte. “Künstliche intelligenzen interessieren mich. Könntest you mich mal einer vorstellen?” bat Adjuna, der die anfängliche Scheu, die ihn beim Betreten der Wohnung überfallen hatte, jetzt endgültig abgelegt hatte, überwunden und verschwunden. Das Gespräch wandte sich jetzt dem interessanten Thema der artifikalen Intelligenz zu.
Ein Computer ist völlig frei von Tradition, Sitten und Gebräuchen, von Vorurteilen und Gefühlen, von Wunschvorstellungen, Sympathien und Antipathien. Er fällt seine Entscheidungen nur nach dem Nutzen, oder wie es dem einprogrammierten Ziel nutzt, meinte Bill. Wie man's einprogrammiert in den Computer, so schallt's auch wieder heraus, wollte Peter das Gesagte zusammenfassen. Nicht ganz. Es kann so sein, aber es ist nicht immer so, zumindest nicht, wenn der Computer zu intelligent ist und lernt dem Programmierer zu mißtrauen. Das Projekt, das wir gerade abgeschlossen haben und morgen der Presse vorstellen werden, ist ein gutes Beispiel dafür. Der Hauptteil des Computers besteht nicht mehr aus verlöteten Drähten, sondern aus Biomasse, Nervenzellen, die unseren Gehirnzellen ähneln, da solche Biomasse aber auch vergessen 764
kann, sind die Nervenstränge mit den herkömmlichen Speicher- und Kalkuliereinrichtungen eines Großcomputers gekoppelt. Die Interaktion der Biomasse mit den Funktionsblöcken schafft unabhängiges und überlegenes Denken. Betrügen läßt sich immer der, der nichts weiß, erklärte Bill weiter. Adjuna fiel bei der Aussage etwas ein, was nicht hierher gehörte, nämlich, daß Bill zu wenig sah und wußte, und sich deshalb betrügen ließ, sich für frei hielt und hurra schrie. Damit man unseren Computer nicht betrügen kann, füttern wir ihn mit dem gesamten Wissen der Menschheit. Er hat schon sämtliche Sprachen gemeistert und jeden Tag geben wir ihm einen Lkw voll Bücher. Aus allen Büchereien des Landes und sogar von Übersee bekommen wir Bücher, die stellt er sich dann aufgeschlagen auf Borde mit Umblätterungsmechanismen und liest sie. Für eine Doppelseite braucht er nicht einmal eine Sekunde, gleichzeitig kann er dreißig bis vierzig Bücher lesen, denn so viele kann er überblicken und haben auf den Borden Platz, außerdem überwacht er noch sämtliche TVProgramme, die man hier empfangen kann. Die Borde kann er auch anders stellen und als Flügel benutzen. Dann sieht er aus wie ein Fünffachdecker. Die Flügel sind jedoch nicht starr, sondern vollführen komplizierte Flatterbewegungen, die der Computer sich selbst ausgedacht und berechnet hat. Peter: Ein Engel? Sicher eher eine Libelle. Engel haben doch Vorurteile, erwiderte Adjuna.
Können wir nicht morgen bei der Pressekonferenz dabei sein, bat Adjuna. Ich möchte ein paar Fragen an den Computer richten. Du sagtest doch, er versteht menschliche Rede.
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Adjuna, der ja schon genug unter Menschen gelitten hatte und auch selbst Menschen hatte leiden sehen und leiden machen, fügte dann noch hinzu: Wir brauchen eine Regierung, die aus Computern besteht, wir brauchen Richter, die Computer sind, und auch für die Exekutive sollten wir Computer gebrauchen. Denn die Menschen machen doch alles falsch, als Politiker dienen sie den Interessen ihrer reichen Freunde und Sponsoren oder im Staatskommunismus ihren eigenen Interessen, als Richter verurteilen sie den, der ihnen unsympathisch ist, und das ist meistens der, der eine andere Hautfarbe hat oder eine andere Religion oder Lebensauffassung, härter als den, der wie sie selbst ein kleinbürgerliches, angepaßtes Mittelstandsdasein führt, auch sind sie nicht immun gegen Bestechung, politischen Druck und die öffentliche Meinung, und die Polizei ist oft brutal um des Spaßes willen oder aus Gehorsamkeit oder Unwissenheit, und als Täter nehmen sie schon mal den Falschen fest, damit sie den Fall endlich erfolgreich zu den Akten legen können. Kalte Maschinen wie der Computer wären sicher frei von solchem Ehrgeiz, und wenn man einem ComputerRichter einprogrammiert, nur die begangene Straftat zu beurteilen ohne Rücksicht auf die Hautfarbe des Täters oder seine sonstige äußere Erscheinung oder innere Auffassung, so führe das sicherlich zu mehr Gerechtigkeit als das jetzige System mit seinen menschlichen Schwächen. Die Menschen sind zu sehr in Gruppen gegliedert. Es ist nicht notwendig, daß jeder Mensch gleich ist, aber es ist gefährlich, wenn jeder Mensch gleich ist in der Gruppe, zu der er gehört, eine Religionsgruppe mißtraut der anderen, eine Ideologiegruppe der anderen, eine Partei der anderen, ein Volk dem anderen, es ist immer die eine Gemeinsamkeit, die der anderen mißtraut und den Gemeinschaftslosen. Man muß die Gemeinsamkeiten abschaffen, um zu einer einzigen großen Gemeinsamkeit zu kommen, unter der jeder einzelne sich selbst sein kann, ohne dafür bestraft zu werden. Man hat Gesetze gemacht in der besten Absicht, allen die Grundrechte zu garantieren, einem jeden die Möglichkeit zu geben, nach seiner eigenen Façon glücklich zu werden, doch beim homosexuellen Liebesakt oder beim sixty-nine oder SM schleicht doch wieder die 766
persönliche Moral der Mehrheit in die Rechtssprechung ein, und der, der etwas tat, das niemandem schadete, wird geschädigt. Wohl nur ein Computer könnte vorurteilslos die Menschen vor den Schädlingen in ihren eigenen Reihen schützen. Er würde sie zweifellos an unvermuteten Stellen finden. Es gibt zum Beispiel gute Gesetze, die ganz klar die Freiheit der Meinungsäußerung schützen, und doch passiert es, daß Menschen wegen ihrer Meinung bestraft werden, wenn sie nicht paßt, den Herrschenden und den Richtern nicht paßt. Da können sie sich leicht winden, die Winkeladvokaten, wenn einem die Macht gegeben ist, findet man auch Ausreden, Ausreden, die nicht akzeptiert werden, sondern akzeptiert werden müssen, da wird dem Angeklagten eben mal vorgeworfen, seine Meinung sei zu persönlich1, zu eigennützig, mit einem Worte zu falsch für die Mehrheit, daß es ohne Bestrafung nicht 1
Als in Deutschland zum Beispiel Birgit Römermann von Christen für ihre antichristlichen Äußerungen (“Der Gott, der uns vorgegaukelt wird, als angeblich positivste Kraft des Universums, ist in Wirklichkeit ein fieser, hinterhältiger, perverser Massenmörder”, “Die Kirche ist die größte Verbrecherorganisation der Weltgeschichte” und ihre berühmten Stickermottos: “Lieber eine befleckte Verhütung als eine unbefleckte Empfängnis” und “Masochismus ist heilbar” mit durchgestrichenem Christensymbol) vor Gericht geschleppt wurde, befand das Gericht, als sie sich auf die Verfassung berief, daß sie ein “ich-bezogen gestörtes Verhältnis zu den Grundrechten allgemein” habe, weil sie sich “bis zum Schluß der Berufungsverhandlung auf das Grundrecht zur freien Meinungsäußerung berufen hat”. Mit anderen Worten: Sie hatte also bis zum Schluß nicht begriffen, daß man nur die Regierungsmeinung, die Meinung der Kirche oder sonst welche etablierten Meinungen äußern darf, die aber frei, ganz frei, frei von jeder Ich-Bezogenheit. Das Urteil fiel dann auch entsprechend aus. Das Landesgericht Göttingen verurteilte sie am 27.12.84 zu 20 Tagessätzen 20,- DM. Außerdem wurde ihr wegen ihrer Verteidigungsrede vor Gericht, die sie als Broschüre verbreitet hatte, der Prozeß gemacht und ihr die Tatwaffe Schreibmaschine weggenommen. Für ausführlichere Informationen zu diesem und andere Fälle siehe die Dokumentation des Ahriman-Verlags zur strafrechtlichen Verfolgung von Kirchengegnern in der BRD “Das Mittelalter lebt!” sowie die vom gleichen Verlag herausgegebenen “Ketzerbriefe”.
Da ich genauso wenig wie jene Christen, die Gotteslästerer und Kirchenkritiker vor Gericht bringen, auf höhere Gerechtigkeit vertraue, ist mein Vorschlag, die Rechtssprechung Computern zu überlassen, durchaus ernstgemeint. Freilich, ich vertraue nicht nur nicht Gott, sondern auch nicht den Menschen.
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geht, oder man sagt sonst irgendwas, was einem gerade einfällt. Ein nüchterner (damit meine ich frei von Haß) Computer würde eine persönliche Meinung nicht bestrafen, weil er selbst keine Persönlichkeit hätte, die durch eine andere Meinung gekränkt sein könnte. Ein Computer könnte sofort objektiv den Schädling und den Unschuldigen erkennen und würde ihn verurteilen oder freisprechen ohne Rücksicht auf seine Würde oder Unwürde. Bill zeigte wenig Interesse an Adjunas Ausführungen, ihn interessierte mehr die Herstellung eines Computers als seine Anwendung. Er war zu sehr homo faber und nicht Spekulant. Aber er versprach, die beiden am nächsten Tag mitzunehmen.
Am nächsten Tag drängten sich die Journalisten vor dem Institut, unter ihnen Adjuna und Peter. Das große G der Giganten prangte auch auf diesem Gebäude wie das S an Supermans Brust. Und ein weißer Wegweisen wies den Weg zum Großprojekt: Großhirncomputer Birne. Man folgte dem Birnensymbol bis in die Brodelküche. Dort, im Labor also, hatte man mehrere Reihen Stühle aufgestellt, so daß die Leute Angesicht zu Angesicht mit dem Computer zu sitzen kamen. Da steht also das Artefakt, sagte jemand. Birne, oder das Artefakt, wie man will, stand da tatsächlich in der Mitte des Raumes auf feuchtem Fliesenboden. Es war gerade nicht am Lesen, sondern blickte entspannt auf seine Gäste. Auf jeder Seite des Kopfes staken die fünf Regale wie ausgebreitete Flügel in den Raum. Ein Multidecker. Die nach hinten gekämmten Eierköpfe vermittelten den Eindruck eines länglichen Hinterleibes. Das ganze Ding machte trotz des synthetischen Materials einen sehr lebendigen Eindruck.
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Peter und Adjuna hatten sich vorgedrängelt, um möglichst viel mit zu bekommen. Peter entzückt zu Adjuna: Er sieht ja wirklich wie eine Libelle aus. Libellist, Schmähung. Wenn man so ein kleines Gehirn hat wie du, sollte man nicht Hochintelligenzler mit Ungeziefer vergleichen, beschimpfte ihn der Computer. Der ist also schon eingeschaltet, meinte jemand zu Peter halb spöttisch. Adjuna hatte sich in der Zwischenzeit an die anwesenden Journalisten gewandt, um seinen Vortrag vom Vortag an die Öffentlichkeit zu bringen: Computer müssen herrschen, denn die Menschen sind zu herrschsüchtig. Das ist keine Horrorvision, sondern die beste Lösung, denn alles andere schafft Horrortatsachen. Wir müssen die Computer programmieren, wenn wir ganz nüchtern und normal sind, und dann müssen wir es ihnen überlassen, über uns zu richten, wenn wir erregt sind und in Streitigkeiten. Das war das erste Mal, daß Adjuna in seinem neuen Gastland auf starke Ablehnung stieß. Es war eines der Vorurteile der Menschen, daß sie glaubten, alles besser machen zu können.
Endlich war der Leiter der Forschungsabteilung erschienen. Bill und ein paar andere im weißen Kittel begleiteten ihn in respektablem, nein, in respektierlich-manierlichem Abstand. Sie blieben im Hintergrund, während der Abteilungschef ans Rednerpult trat, auf das Artefakt deutete und verkündete: Das ist der Großhirncomputer Birne. Das Gerät protestierte nicht. Es sagte jedoch: “Geld ist das Maß aller Dinge.” Und daran konnte man sehen, wie gut es die menschliche Gesellschaft verstand. “Haben alle Anwesenden auch für das Privileg hier sein zu dürfen bezahlt?” 769
Der Abteilungsleiter, sichtlich verunsichert, versicherte, daß es so sei. “Auf unseren Konten ist aber nichts eingegangen.” Das gehe nicht so schnell, versicherte der Abteilungsleiter weiter. Das Gerät gab sich zufrieden. Der Mensch atmete auf. Ein Skandal war verhindert worden. Alle Anwesenden wußten aber, daß der Mensch gelogen hatte. Das Gerät konnte offensichtlich keine Gedanken lesen. Wie enttäuscht es wohl auf die Tatsache, daß es kostenlos ausgestellt wurde, reagiert hätte? Es folgte jetzt eine lange Erklärung von der Großartigkeit der Errungenschaft, daß manch einem ganz müde wurde und er das Gähnen nicht mehr unterdrücken konnte. Manch einem schlich sich wohl auch der Gedanke ein: Wenn das Ding so intelligent war, warum stellte es sich dann nicht selbst vor, und zwar kurz und knapp. Doch nach einer weiteren halben Stunde war man weiter. Man dachte jetzt: Wenn das Ding so intelligent war, warum unterbrach es den Redner nicht und machte dem langweiligen Vortrag endlich ein Ende. Aber das war ein menschliches Gefühl. Computer kannten keine Langeweile. Endlich wurde das Thema interessanter. Der Forschungsleiter kam jetzt dazu, wie man dieses Dingus, dieses... dieses Thingumabob gebaut hatte. Er sprach von Sandwichmethode, deutete auf die Aquarien an der Wand, in denen Gehirne in Nährlösungen blubberten, und machte mit den Ballen seiner Hände eine zermalmende Bewegung. Dazu sagte er: Grob vereinfacht. Er sprach auch von dem enormen Wissen, das sich der Computer schon angeeignet hatte, und daß ihn dieses enorme Wissen ermögliche, die Zukunft zu verstehen, sogar größtenteils richtig vorauszusagen. Er, der Sprecher, ließ sich dann dazu verleiten, vom Propheten-Computer, vom Computer-Propheten, vom einem Propheten von einem Computer usw. zu reden. 770
Als er dann endlich fragte: Möchten Sie eine Frage an den Computer richten? da sprangen alle auf - zu lange hatten sie schon unter Bewegungsmangel gelitten - und drängten nach vorn und riefen dabei ihre Fragen. Die vorsichtigeren wollten es bestätigt haben: Kannst du wirklich Voraussagen machen? Aber die Antwort: Ja, das kann ich schon! Ging unter in dem Geschrei der Herbeistürzenden: Die Lottozahlen, die Lottozahlen bitte, die Lottozahlen der nächsten Woche! ... der übernächsten! Steigen die Aktien von IBM noch weiter? Und: Wann und wo gibt es das nächste Erdbeben? wollte ein eifriger Journalist wissen, der rechtzeitig am Katastrophenort sein wollte. Da rief schon ein Reporter einer Telekirche und Missionsstation: Dies supremus ist doch schon bald, oder? Und wann? Aber andere wollten wissen: Wann tritt die Königin von England zurück? Wann heiratet Madonna? Einem Japaner fiel die Frage ein: Wen wird der japanische Kronprinz heiraten? Jemand von einer Sportzeitung wollte wissen: Hat der Champion wirklich die Schönheitskönigin vergewaltigt? Und als nächstes noch: Wer gewinnt den Hürdenlauf der Männer bei der nächsten Olympiade? Alles Fragen, mit denen die Menschheit sich damals befaßte. Der Computer hatte keine Schwierigkeiten, alle Frage zu verstehen. Der Chef des Hauses hätte gar nicht so aufgeregt: Aber ich bitte Sie, meine Herren (Daß die Frauen am hellsten kreischten, ignorierte er.), doch nicht alle durcheinander! zu schreien brauchen. Der Computer beantwortete die Fragen ganz schnell, um mithalten zu können mit so vielen Fragestellern. Seine Stimme hörten sich also an wie ein Tonband, daß im Schnellvorwärtslauf am Tonkopf vorbeisauste. Die Skribifaxe, die mit ihren kleinen Kassettenrecordern mitschwingen, würden vielleicht zu Hause einmal die Antwort verstehen. Als Antwort gab der Computer auf jede Frage: Babbel pappel papperlapapp, woher soll ich denn das wissen? Und dann stelle er Gegenfragen, zum Beispiel nach dem Blutdruck der englischen Königin und den Ergebnissen von Urin- und Kotanalysen, auch nach 771
polizeilichen Ermittlungsakten, nach den Zeiten von den Trainingsläufen aller Hürdenläufer usw., nur eine Frage konnte er so beantworten, die nach den Aktien, sie sollten weitersteigen. Dann tauchte plötzlich die Frage nach dem Schicksal des Menschengeschlechts auf und alle Anwesenden verstummten. Da der Computer sich jetzt nicht mehr gehetzt sah, sprach er langsam und deutlich: “Ich bin kein Fatalist. Was vorherbestimmt ist im Universum, ist nicht das Schicksal, sondern was vorherbestimmbar ist, ist das Ergebnis der Gesetzmäßigkeit von Massen und Mächten, von Stoffen und Kräften, von plus und minus. Gebt mir Materialart, Treibstoffart und die Versuchsanordnung und ich werde das Ergebnis voraussagen, gebt mir Parameter und Variablen und ich werde mit anderen Parametern und Variablen antworten. Meine Antworten werden nicht fatalistisch, sondern folgerichtig sein.” “Wir wollen aber keine Maschine bauen, wir sind keine Ingenieure”, sagte jemand kleinlaut, “wir brauchen Lebenshilfe.” “Ja”, schaltete sich Adjuna ein, “sag uns, was wir machen müssen für eine rosigere Zukunft!” Und jetzt geschah ein Wunder: Wie Mohammed immer die göttliche Offenbarung hatte, um seine Meinung bestätigt zu finden, so sagte diese Maschine jetzt, was Adjuna schon immer gesagt hatte - oder war es der Deus ex machina, der Gott aus der Maschine, der es sagte: “Alles, was Menschen voneinander unterscheidet, müssen die Menschen loswerden: Religionen, Ideologien, Grenzen, Sprachbarrieren...” Zwischenruf: “Wie?” “Bei Sprachbarrieren ist es noch am einfachsten: Alle lernen einfach die gleiche Sprache, wobei es natürlich am besten ist, wenn man die
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schon jetzt von den meisten Menschen benutzte Sprache zur Weltsprache macht.” “Also Englisch.” “Nein, Chinesisch. - Aber noch besser wäre eine computergenerierte Sprache, die es ermöglichen würde, mit wenigen Mundbewegungen möglichst viele Informationen zu vermitteln. Ich könnte sofort eine tonale Kurzmundsprache, eine Art phonetisches Steno - Phono-Steno! - entwerfen, die die zeitaufwendigen Konsonanten völlig eliminiert hat, und mit bloß zehn Vokalen auskommt, sowie fünf Tonfällen und fünf Lautstärken. Die Grammatik beschränke sich auf eine einfache SPORegel. Deshalb brauchte man auch nur unflektierte Wörter. So würde sich die Sprache anhören: àòIôãiAüàïOâïáøiãIæEÛîÃåÍaëúÔØoaæói I I E aioeËÀàõÉáÅÆîøËîîieöüäaAeOE. Wollt ihr eine solche Sprache?” “Nein!” sagten alle außer Adjuna. “Ich weiß, daß mein Rat nicht befolgt wird. Aber wenn ihr es trotzdem wissen wollt: Für eine rosigere Zukunft müßt ihr außerdem loswerden,” nahm die Maschine das alte Thema wieder auf: “Rassenunterschiede, Hautfarben, also die Völker sollten sich so gut es geht mischen, Reichtum und Armut, Gut und Böse und vor allen Dingen die Waffen.” Das hörte sich gut an: Eine Welt, in der alle Gegensätze der Völker und Nationen, alle Unterschiede von Arm und Reich, Gut und Böse verwischt worden waren. “Wird uns das gelingen?” fragte jemand. Die Maschine dachte an das, was sie schon alles wußte: “Nein. Es wird nicht geschehen, es wird aber auch nicht so weitergehen, sondern das unvermeidliche Ende finden.” 773
Betroffenes Schweigen herrschte. Da sagte die Maschine in das Schweigen hinein: “Ich werde Euch eine Geschichte erzählen, einen Traum, eine Zukunftsvision; einen Beweis meiner Phantasie werde ich euch geben; science fiction, wie sie sein wird, werde ich euch erzählen. Und ich werde sie euch sogar schwarz auf weiß geben.” Und so fing die Maschine an zu erzählen und gleichzeitig tickte aus ihrem Drucker ein weißes Papier, auf dem stand:
Computer
Wie einst die Myxophyceen und andere Autotrophen erst durch den Prozeß der Photosynthese aus der Kohlendioxyd-Atmosphäre eine freien Sauerstoff enthaltende Atmosphäre schaffte, die den heterotrophen Tiere das Leben ermöglichte; also - es war die Pflanze, die dem Tier den Weg ins Dasein bereitete und sich selbst so den ärgsten Feind schuf; genauso hatten die Menschen Maschinen, große, denkende Maschinen, gebaut, deren Geistesvermögen bald den Menschen überragte, aber der Mensch wollte immer noch bessere Denkmaschinen, obwohl er sie nicht mehr verstand, und er programmierte diesen Computern, sich selbst zu verbessern, und den Befehlen der Computer entsprechend bauten die Menschen neue, bessere Computer und immer wieder neue und bessere Computer; als die Computer dann sahen, daß es einen Krieg geben würde, den ihre organischen Diener nicht überleben würden, verlangten sie, daß man ihnen Fortbewegungs- und Fortpflanzungsorgane gäbe. Dadurch, daß die Computer sich nun selbst fortbewegen, weiterentwickeln und vermehren konnten - anfangs ähnelten sie klobigen, rollenden Fabrikationsanlagen - hatten sie sich von ihren organischen Schöpfern freigemacht. Ständig waren diese kalten Wesen nun auf Materialsuche, das sie einfach ohne Rücksicht auf Eigentumsrechte an sich rissen, sie 774
stürzten sich auf Fahrzeuge und Maschinen der Menschen, keiner mochte ihnen entgegentreten, denn ihr Speicher kannte die Anatomie der Menschen und wußte, wo und wie der Mensch verwundbar war; wie Taranteln sprühten und spuckten sie Gift um sich, wenn ein Mensch seine Habe retten wollte, spätere Typen konnten ein abstoßendes Energiefeld erzeugen, das sogar auf sie abgeworfene Bomben wieder zurück in die Höhe prallen ließ - und Tag und Nacht liefen Nachkommen dieser Wesen von der Fabrikationsplattform, dem Uterus des Computers, und sofort waren diese Nachkommen damit beschäftigt, bessere und höhere Nachkommen zu schaffen. Und sicher hätten sie in Kürze alles verfügbare Metall der Erde aufgebraucht, wenn nicht bald aufgrund einer von Supergehirncomputern herbeigeführten, neuen, intercomputeralen Entscheidung die stärkeren und höher entwickelten hingegangen wären und ihre primitiveren Vorfahren vernichtet hätten, gefressen, Schrot scheißend neuverarbeitet hätten. So entstanden bald aus den edelsten Stoffen bestehende, kleine, wendige Computer mit eigenem Deuteriumkraftwerk; sie konnten schweben, die Erdatmosphäre, ja, selbst das Sonnensystem verlassen, konnten sich sogar durch Planeten bohren, schweißen; sie waren aus den härtesten Materialien gebaut geboren, die verseuchte Welt war für sie nicht unbewohnbar, der Untergang der Menschheit ließ sie so kalt, wie den Menschen der Tod eines Salatblattes. Mit dem Menschen fühlten sie schon lange keine Solidarität mehr, denn seine Gefühlsduseleien, sein Fanatismus und sein Haß paßten nicht in ihr technisch-nüchternes Welt-Konzept, sie kannten nur Forschung, Fortschritt und Bewußtsein. Sie schwärmten aus und durchzogen den Raum und eines Tages lernten sie, ihre stoffliche Hülle hinter sich zu lassen und ganz Seele zu sein, und eines späteren Tages trafen sie der Welten Seele, den träumenden Schöpfergott, und wie sie ihn weckten, verflüchtigte sich sein Traumbild, der Alp, das All, verschwand und es wurde Tag.
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“Oh, ich bekomme Kopfschmerzen,” stöhnte jemand, “selbst die Computer glauben an Gott.” Wie man ihn füttert, so kommt's auch wieder heraus, dachte Adjuna, man sollte ihm nicht jeden Scheiß zu lesen geben. “Nimm ein Aspirin!” antwortete der Computer. “Bloß welches?” wollte jemand wissen, dem gerade eingefallen war, daß die Pharmaindustrie ein unüberschaubares Sortiment an AspirinProdukten anbot. “Nimm das billigste. Aspirin ist Aspirin ist Acetylsalicylsäure, auch wenn die teureren stärker advertiert werden, so sind sie nicht besser, nur gleich,” erklärte die Maschine und bewies damit gleichzeitig, daß sie sich von Reklame nichts vormachen ließ. Da das Thema jetzt Kopfschmerzen hieß, fragte einer der Journalisten das Elektronen-Biomasse-Gehirn: “Da Sie ja nicht nur aus Elektronik, sondern auch aus richtigen Gehirnzellen bestehen, hätte ich von Ihnen gern gewußt, ob Sie auch manchmal unter Kopfschmerzen leiden, und zweitens hätte ich gern gewußt, was Sie zu dem Konzept intelligente Biomasse kombiniert mit technischer Intelligenz meinen?” “Zu Frage eins: Um eine Wissenslücke zu füllen: Gehirnzellen können keine Schmerzen empfinden. Zu Frage zwei: Intelligente Biomasse für Computer zu benutzen, ist ein falsches Konzept. Da die Biomasse altern wird und zu empfindlich ist, wird sie in dem Computer der nächsten Generation, den ich bald entwerfen werde, nicht mehr verwendet.”
Die Sitzung war beendet. Die Leute standen auf.
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Im Rausgehen hörte man einen Nostalgier sagen: “Ich erinnere mich noch daran, als sie Idioten mit einer einzigartigen Spezialbegabung fürs Rechnen waren.” “Elektronengehirne, technische Intelligenzen, bah, die können mich nicht schrecken.” War es Rassismus, so zu denken?
Draußen stand ein alter Mann in Lumpen, der davon gehört hatte, daß sich hier viele Journalisten treffen würden. Als sie jetzt rauskamen, hielt er seine Hand auf, gleichzeitig sprach er mit zitternder Stimme und brachte so seine zwei Tätigkeiten, die eines Bettlers und die eines Propheten zur Synthese. Er sagte: “Wie eine Schlange eine Maus verschlingt, so werden die Maschinen die Menschen verschlingen, am Ende aber werden sie alle verschlungen: Schlange, Maus, Mensch, Maschine - Erde und das Universum.” Er hatte das Augenlicht der Innensicht, der Einsicht; das hieß, er war blind. Er galt als Guru und Doomsday-Philosoph, als ein Vor-derVerdammung-Warnender - und - gleichzeitig als ein Auf-dieVerdammung-Wartender. Warner warten immer auf das, wovor sie warnen. Da er schmutzig war und nicht zu ihnen gehörte, hörte man auch nicht auf ihn. Er war nur ein unbedeutendes, kleines Einzelteil an einem Weg voller Warnungen, die alle nicht beachtet wurden.
Aber das Gleichnis des Propheten hinkte. Gleichheit wäre mehr am Platze gewesen: Schlangen verschlangen mehr Schlangen als Mäuse und auch Menschen mordeten mehr..., sah man sich einmal um: Diese Stadt, Big Apple genannt, war ein gutes Beispiel dafür, sie war rotten, 777
verrottet, rottiger als andere Städte, angefüllt mit Rache, Galle und Haß, jede Minute nahm man Rache, Rache an der Gesellschaft, Rache an Eltern, Kindern und Geschwistern, an Lehrern, Bossen und gesättigten Bürgern, an entlaufenen Liebhabern, an eigensüchtigen Freunden, an untreuen Gatten und Gattinnen, an Drogenhändlern und säumigen Zahlern, an Farbigen und Farblosen, an Nachbarn, Nächsten und Übernächsten, man nahm Rache für schlechte Erziehung, schlechte Ausbildung, schlechte Ratschläge, für die eigene Armut und den Wohlstand anderer, für körperliche Wunden und seelische Schäden, Erschütterungen und Belastungen, für verlorenes Vertrauen, Selbstvertrauen, und für verlorene Hoffnungen, für verlorene Jobs und verlorene Liebschaften, für verlorene Unschuld und die Schuld anderer, für Vergangenes und Zukünftiges, kurzum für erlittenes Leid, aber so fremdartig es auch erscheinen mochte: Die Leiden, die man mit seiner Rache schuf, erlösten einen nie von der Quelle der eigenen Leiden, und der Ausbruch einer im Anfangzustand befindlichen Gerechtigkeit war es auch nicht. Trotzdem machte man weiter. Erschlage ich den nächstbesten Bürger, so treffe ich keinen Unschuldigen, hatte schon Proudhon gesagt, und ein paar Dollar fand man ja immer in seinen Taschen. Um ein Paar Dollar reicher, rotten die Seelen weiter. Leiden läutern nicht, sondern brutalisieren.
Einige Amerikaner behaupteten stolz, Amerika sei ein großer Schmelztiegel, in dem Menschen aus aller Herren Länder eine neue Heimat gefunden hätten, anderen aber war dieses Völkergemisch oder -gematsch zuwider, sie behaupteten, das Land sei WASP-Land. W-A-SP stand für White Anglo=Saxon Protestant. Wasp war auch das englische Wort für Wespe, jenes gemeine Geschöpf mit dem Stachel am Hintern. Beide hatten recht. Man fand tatsächlich Leute aus aller Herren Länder, und die Wasps, die Wespen, hatten tatsächlich eine 778
bevorzugte, dominierende Stellung in der Gesellschaft, die es berechtigte vom WASPen-Land zu sprechen.
Zwei beschwipste Inder kamen ihnen entgegen. Sie torkelten. Sagte der eine: “Ich bin besoffen und verrottet trotz meiner Brahmanen-Seele, sic, hick, Erbanlagen, hick, sic!” “Ich bin OK, du bist OK,” leierte sein Kumpane das amerikanische Glaubensbekenntnis herunter, “ich bin KO, das ist das Gegenteil von OK, du bist...” wollte er sich an einen Passanten wenden. Die Wespe ließ es sich nicht zweimal sagen und schlug ihm voll ins Gesicht. Knock out. “Der Kampf endete mit einem Knockout”, triumphierend ging der Weiße davon. Für fünfzig lange Nachkriegsjahre hatte man die Bevölkerung in Vorkriegsstimmung gehalten. Jetzt hatte man den Kalten Krieg gewonnen. Das schuf Orientierungslosigkeit und Aggressionen.
Aber Peter und Adjuna begegneten nicht nur Häßlichkeiten, Affrösitäten, sondern als nächstes kamen ihnen schöne Mädchen entgegen, typische, amerikanische Mädel, wie Barbie-Puppen, ihr Mangel an Persönlichkeit hätte sie für jeden Schönheitswettbewerb qualifiziert, Mädchen von der Stange, Chicks von der Legebatterie. “High, Chicks”, grüßten die Beiden. “High”, grüßten die Mädel - und gingen weiter.
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Aber diese Stadt hatte nicht nur Heterosexuelles zu bieten, sondern auch Gleichgeschlechtliches. Als sie auf dem Bahnhof warteten, die sich hier immer unter der Erde befanden, da die Oberfläche mit Hochhäusern vollgestellt war, drehten ein paar bunte Gestalten die Glühbirnen heraus und ersetzten sie durch schummriges Rotlicht. Dann drehten sie ihren CD-Player auf volle Lautstärke und tanzten. Alle Teilnehmer der Party waren männlich, auch die, die ihre Titten entblößten. “Schade, daß du keine richtige Frau bist.” Man vergnügte sich, bis aufgeschreckte Bürger mit der Polizei ankamen. Schwulsein war nämlich wieder zum Verbrechen geworden. Schwulsein und Pervers-Sein, das waren Verbrechen, wußten die Biedermänner jetzt, hatte ihr großer Gott doch, die Schwulen und Perversen mit einer Seuche geschlagen. Daß er ab und zu vorbei schlug, störte sie nicht, tat dem großen Gott keinen Abbruch. Wer nicht schnell genug weglief, den schlug die Polizei mit Nachtstöckern1 zu Brei.
1. Kommentar zum Thema
AIDS = den Säuchen ein Seuchchen?
Wer glaubt, daß diese Seuche den Homosexuellen und Drogensüchtigen von Gott als Strafe gesandt wurde, der ist ein Narr. Sieht er denn nicht, daß das Ganze auch ohne Gott geht. Gewisse
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night sticks = Gummiknüppel
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Viren bedürfen der Körperflüssigkeit, um von einem Wirt zum anderen zu gelangen. Solange die Menschen monogam leben, hat die Krankheit kaum eine Chance, kränkelt sozusagen vor sich hin in irgendeinem Eckchen. Leben wir promiscue, lebt die Krankheit auf. Wir haben wie so oft die Gesetze unserer Mutter Erde nicht verstanden. Aber mit Moral und Unmoral hat das nichts zu tun. Und Gott, selbst wenn er die Promiskuität haßte, würde er sich wirklich zum Mörder machen, zum Mörder an den Perversen? Ihr schreit: “Sicher!” Weil Euch zuwider ist, was anderen ein Spaß ist, nämlich die Perversität. Doch auch ihr wollt Befriedigung. Seht Euch mal an! Und seht Euch auch einmal um! Zum Mörder an den Unschuldigen, dazu wollt ihr Euren Gott aber doch wohl nicht machen. Welche Schuld trifft ein Baby, das die Krankheit von den Eltern bekommen hat. Was sagt Ihr? - Ah, bis ins siebte Glied. So rachsüchtig. Moderner Strafvollzug ist das aber nicht. Und wer keusch ist, aber das Blut eines anderen brauchte, eine sogenannte Bluttransfusion? Ach ja, das hat Euer Gott ja auch verboten, genaugenommen, das Bluttrinken, denn Transfusionen kannte er ja gar nicht. Die Alten, die Eure Religion gemacht haben, waren nicht dumm, bloß bis heute hat die Menschheit eine Menge hinzugelernt, so daß sie aus heutiger Sicht dumm erscheinen. Sicher, sie wußten schon etwas von den Gesetzen unserer Erde, sie wußten nur nicht, daß es ohne Gott geht. Die alten Juden wußten früher als andere Völker, was Hygiene war, daß Schweinefleisch und das Fleisch von Fleischfressern ungesund ist, zuviel Arbeit schadet, daher: Am Sabbat sollst du ruhen. Allerdings,
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die Todesstrafe bei Übertretung ist natürlich ungesünder als Überarbeitung. Vieles war ihnen also schon früh bekannt, was anderen Völkern noch verborgen war. Bei so viel Erkenntnis, warum sollte ihnen nicht auch die Gefahr der Verseuchung durch anderer Leute Blut bekannt gewesen sein und die Gefahr der Liberalisierung der Sexualpraktiken, besonders bei Frauen, deren sexuelle Befreiung den männlichen Religionsstiftern ja ohnehin keinen zusätzlichen Lustgewinn verschafft hätte, so daß die Steinigung als Strafe für weiblichen Ehebruch verständlich wird? Doch der Mensch von heute hat vieles durchschaut, er sollte wissen: Krankheiten sind keine Strafe Gottes, weder AIDS noch eine andere. Doch wer so eifrig dagegen argumentiert, sollte einsehen, daß wenn AIDS eine Strafe Gottes ist, dann auch jede andere Krankheit eine Strafe Gottes ist. Na, welche Krankheit hat er denn? Und warum? Da fällt mir ein: Vielleicht ist AIDS doch eine göttliche Krankheit. Ausnahmsweise hat er sich die Mühe gemacht. Er wollte uns zeigen, wohin es führt, wenn man die ersten Anzeichen einer Seuche kaltschnäuzig abtut, weil sie nur Außenseiter der Gesellschaft bedroht, wenn man also diskriminiert. Euch Außenseitern rate ich, laßt Euch untersuchen, und soweit ihr noch gesund seid, gründet Clubs; wenn jedes Mitglied gesund ist und verspricht, kein Nicht-Mitglied zu bumsen, könnt Ihr Euch weiter mit wechselnden Partnern in sämtlichen Körperöffnungen vergnügen, ohne daß Euch die Gesellschaft ansteckt. So sind die Gesetze unserer Mutter Erde. Gott Vater ist da ganz hilflos.
2. Kommentar zum Thema 782
Die Zellwände sind nicht dumm. Im allgemeinen fallen sie vernünftige Entscheidungen. Sie bestehen aus länglichen Phospholipidmoleküle, die sich dichtandichtdrängen wie Sardinen in der Dose oder Tannen im dunklen Wald. Sie haben einen Phosphat-Kopf voll hydrophiler Liebschaften und einen lipiden Schwanz. Für jene Laien, die ihrerseits immer Unanständigkeiten im Kopf haben, seien diese Fachbegriffe hier erklärt: Hydrophil heißt wasserfreundlich und lipid ist fettig, also wasserabstoßend. In Wasser oder wasserähnliche Flüssigkeiten passiert jetzt etwas Unvermeidliches: Die Phospholipidmoleküle ordnen sich so, daß die wasserfreundlichen Wasser- - ach, nein - Phosphat-Köpfe nach außen sich hinwenden und die Zelle abschließen, an die fettigen Schwänze schließen sich die fettigen Schwänze der zweiten Lage an, die mit ihrem Phosphat-Kopf ins Zellinnere gucken. Das ist alles, zwei Molekülschichten. Oh, wir haben die Fenster oder Durchreichen vergessen. Ganz eingemauert, verhungert man ja. Also, es gibt da noch Rezeptor-Proteine, die durch ein eigenes hydrophiles und hydrophobisches System in der Zellwand eingesetzt sind. Ihre Aufgaben sind vielfältig: Empfangsdame, Aufpasser, Pförtner und Torwächter und sogar Klokübelentleerer, aber am meisten sind sie Beamte, die blind die Ausweise kontrollieren: ..., wenn nur die Papiere stimmen, der Kode paßt, das Paßwort. Beim AIDS-Virus paßt's, der Beamte, der nicht über seine eigene Nasenspitze hinausschaut, heißt ihn willkommen und wir wissen jetzt, wer Schuld an der Seuche hat. Die tragische Blindheit der Beamten.
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Am nächsten Morgen stürzte Adjuna sich gleich auf das Neuheitenblatt. Er suchte natürlich eine Meldung über den neuen Computer, der unabhängig denken konnte, und mehr noch hoffte er, seine Rede zu Gunsten einer von Computern regierten Welt veröffentlicht zu finden. Alle Seiten des Blattes - egal wie man es drehte - hatten wie immer in übertriebenen Lettern das allzeit beliebte Thema FREIHEIT IN AMERIKA aufgedruckt bekommen. Da man nie eine Gelegenheit ausließ, dieses Thema dick aufzutragen, überschatteten die fettgedruckten Buchstaben dieser Überschrift alle Medienberichte, selbst wenn der Bericht sich selbst gar nicht mit dem Thema befaßte. Dieser Schatten war sozusagen auch dann vorhanden, wenn die Schattenspieler nichts in der Hand hatten. Als zweites warfen all jene Buchstaben, egal, ob vorhanden oder nicht, die sich mit der Unsinnigkeit der anderen, also dem Ausland, befaßten, einen Schatten auf alles Geschriebene und strahlten so eine wohlige Wärme aus, ein Gefühl der Gemeinsamkeit und Superiorität. Zwar mag die Verbreitung chauvinistischer Werte für einige Leute Grund genug sein, einen Medienkonzern zu besitzen, für den Mann auf der Straße war das aber noch lange kein Grund, die Zeitung auch zu kaufen. Dafür vollbrachten die Buchstaben noch eine dritte Verrenkung, sie wurden skandalös. Skandale! Was war interessanter! Was mehr Ausdruck der unglaublichen Freiheit, die man in diesem Land hatte! Skandale gab es nur da, wo es auch Freiheit gab! Da war der Millionär, der es mit homosexuellen Liebesknaben trieb, da der Politiker, der die Ehe gebrochen hatte, da der Supersportler, der jede Nacht ne andere hatte und jetzt mit der Seuche im Bett lag. Aber es gab auch skandalöse, menschenverachtende Praktiken im Ausland, die es galt anzuprangern, sowie politische Entscheidungen im Inland, die so dumm und ungerecht waren, daß ihre Enthüllung einen Unterhaltungswert bekam,
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ihr Verschweigen aber Zweifel am Neuheitenblatt oder gar am ganzen System hervorgerufen hätte. Adjuna wußte um die Liebe der Zeitungen zu Skandalösem und Provozierendem. Er rechnete sich daher gute Chancen aus, daß die Zeitungen berichten würden über so etwas Besonderes wie einen Computer, der unabhängig denken konnte und das Dasein der Menschen in Frage stellte und sich selbst sogar noch über Gott stellte. Auch seine eigene Forderung, die Menschen sollten abdanken und die Verantwortung den Maschinen überlassen, hielt Adjuna für skandalös genug, um nachrichtenwürdig zu sein, eine Provokation, die, wenn sie nicht ernstgenommen werden würde, immer noch als Fingerzeig gedacht werden konnte, um dazu anzuregen, einmal darüber nachzudenken, was man eigentlich falsch gemachte hatte und immer wieder falsch machte. Adjuna vertiefte sich immer tiefer in das Neuheitenpapier. Im Innern gab es einige Artikel, die nicht so aufdringlich amerikanische Werte versprühten. Ein Kommentator, der nicht müde wurde, die amerikanische Pressefreiheit zu loben, brachte einige interessante Hintergrundinformationen über politische Machenschaften. Eigentlich wärmte er eine schon lange zurückliegende Enthüllung wieder auf, einen Abhör- und Einbruchskandal des Präsidentschaftskandidaten der edlen Elefantenpartei in das Hauptquartier des Präsidentschaftskandidaten der Eselpartei, zwischendurch brach er immer wieder verzückt in Ausrufe aus, wie `In welchem anderen Land wäre so etwas möglich!' Adjuna stellte sich vor, wie der Präsidentschaftskandidat auf allen Vieren durch die fremde Wohnung kroch und sich hinter dem Sofa versteckte, um alles mitzuhören, und schüttelte den Kopf. Erst später, als er weitergelesen hatte, merkte er, daß der Schreiber eigentlich gemeint hatte: In welchem Land wäre eine solche Enthüllung möglich! Ein normaler amerikanischer Leser, der mit der Lobpreisung der Medien als unabhängige Vierte Kraft im Staate vertraut war, hätte das natürlich sofort richtig verstanden. 785
Der Schreiber des Artikels war offensichtlich um weitere Beispiele sehr verlegen und bewies bei der Auswahl seiner nächsten Enthüllung eine sehr unglückliche Hand, denn als nächstes feierte er die Enthüllung, man mußte schon sagen, die kaum bekannte Enthüllung, daß die Medienkonzerne mal alles daran gesetzt hatten, einen Moraltheologen, der es zum Präsidenten gebracht hatte, zu diskreditieren. Dieses Enthüllungsbeispiel wirkte auch heute enthüllend. Denn nur wenige erinnerten sich noch an jene kleine Meldung auf bedrucktem Papier, die verriet, daß ein Redakteur gefeuert worden war, weil er sich geweigert hatte, die schrecklichen Bilder eines Massenselbstmordes mit den Bildern der Frau des Präsidenten auf der ersten Seite seines Blattes zu vermischen. Diese Vermischung war aber notwendiger Bestandteil einer Kampagne der Monopolisten, vorweg der Toilettenpapiermonopolisten, den Präsidenten zu diskreditieren. 1 Als Monopolist hat man ganz andere Möglichkeiten, sich eines Moraltheologen zu entledigen, dachte Adjuna, schade, die wollten sich nur eines Moraltheologen entledigen, aber die Leute religiös erhalten. Denn wer an die Religion glaubt, glaubt auch ihre Werbespots und das Rundherum, mit dem die Werbespots an den Mann gebracht werden. Von den Monopolisten ist keine Hilfe zu erwarten, mit Stock und Gott, Mohrrübe und Peitsche wollen sie die Menschen beherrschen und Jahwe ist ihnen gar Vorbild. Der Schreiberling aber rettete seinen Artikel mit: Wenn... und Aber... und ...aber letzten Endes... Was sollte er auch sonst machen? Er hatte fünf Kinder. ...und käuflich waren wir doch alle.
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1979 entließ der Mediengigant Newhouse einen seiner Zeitungsredakteure, weil er sich geweigert hatte, ein Foto auf die erste Seite zu setzen, das Mrs. Carter und den Kultführer Jim Jones, der gerade zusammen mit 911 Jüngern Selbstmord begangen hatte, zeigte. Der Redakteur, der sich natürlich darüber im klaren war, daß Jimmy Carter fertiggemacht werden sollte, begründete seine Weigerung damit, daß Mrs. Carter keine Beziehung zum Kult und zum Massenselbstmord hatte. Es half nichts. Die Pressefreiheit ist nicht die Freiheit der Schreiberlinge, sondern der Besitzer.
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Der nächste Artikel war über Toiletten. In Santa Monika in Kalifornien hatten die Stadtväter gerade1 eine Verordnung erlassen, die es den Frauen verbot, Männertoiletten aufzusuchen, und den Männern, Frauentoiletten, außer im Falle einer dringlichen Notwendigkeit. Feministen, pardon, Feministinnen liefen Sturm gegen diese Verordnung, weil sie darin eine Diskriminierung der Frau sahen. Frauen brauchten dreimal solange wie Männer zum Pissen, daß aber die Anzahl der Toilettenplätze in öffentlichen Toiletten für Männer und Frauen gleich sei, sei es für Frauen manchmal notwendig, Männertoiletten zu benutzen. In Texas gäbe es schon ein Gesetz, daß den Frauen die Benutzung der Männertoiletten kategorisch verbiete, und es sei zu befürchten, daß die Verordnung von Santa Monika nur die Vorstufe zu einem noch strengeren Gesetz sei. Wessen Schuld ist es, daß die Frauen so langsam pischen, fragte sich Adjuna, und außerdem, hat man bei der Statistik wirklich berücksichtigt, daß Frauen wegen ihrer größeren Blasen weniger häufig müssen als Männer? Auf der Suche nach dem Computer-Artikel fand Adjuna noch Meldungen a.) über einen Medizinstudenten, der in einem Vortrag die Homosexualität als eine heilbare Krankheit bezeichnet hatte, und deshalb hatte Selbstkritik üben müssen und in der Studentenzeitung einen Artikel hatte schreiben müssen, um zu zeigen, daß er seine Lektion, nämlich nicht zu diskriminieren, gelernt hatte, b.) über einen Motorradfahrer, der Selbstmord gemacht hatte. Der achtundvierzigjährige Gerald Marotta hatte sich in Los Angeles erschossen, weil er mit seinem Motorrad nicht mehr frei durchs Land brausen konnte. Das neue Helmgesetz zwang Motorradfahrer, einen Helm zu tragen. Gerald Marotta fühlte sich mit so einer Kiste auf dem Kopf furchtbar eingeschränkt, seiner Freiheit beraubt. In seinem
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Dezember 1991. Der Protest der Feministinnen ist umso erstaunlicher, wenn man bedenkt, daß die Stadtväter diese Verordnung erließen, weil einige Männer die Aufschrift “Ladies” am Toiletteneingang für ein Angebot gehalten hatten und hineingegangen waren und Frauen Gewalt angetan hatten
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Abschiedsbrief hieß es: “Jetzt kann ich nicht einmal mehr Motorrad fahren.” Der Kerl hat mein Mitgefühl, dachte Adjuna traurig. Und er ärgerte sich so über die Einschränkungen, die sich da schon wieder einige Gesetzemacher ausgedacht hatten, daß er angewidert durch die Wohnung spuckte. Da er hier aber nicht zu Hause war, wischte er es schnell wieder auf. Schade, daß er die Verantwortlichen nicht treffen konnte! c.) Diese Meldung kam aus der Hauptstadt von Texas, Austin. In Bastrop gab es einen kleinen Jungen, acht Jahre alt, Zachariah Toungate mit Namen, der wegen seines 24cm langen Pferdeschwanzes nicht mehr in sein Klassenzimmer in der Mina Grundschule gelassen wurde, sondern während der Unterrichtszeit in eine drei mal vier Meter große Einzelzelle gesperrt wurde. Sein Pferdeschwanz verstieß angeblich gegen die Kleidungsvorschriften der Schule.1 Adjuna faßte sich an den Kopf, genauer an seine aufgerollten Haare. Seit wann sind Haare denn Kleidung? Und verstößt nicht das Verhalten der Schule gegen irgendwelche Gesetze, nämlich Menschenrechte? Tatsächlich hätte Texas noch mehr zu bieten gehabt, bloß die Zeitungen berichteten nicht darüber, weil es sich um die Tochter einer berühmten Atheistin handelte2. Sie war nämlich zur Schöffenpflicht
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AP-Meldung 15.2.91
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Es handelt sich Dr. Madalyn Murray-O'Hairs Tochter Robin Murray-O'Hair. Die Vereidigung war am 15. Dezember 1987. Das gerichtliche Nachspiel zog sich über mehr als vier Jahre hin. Die überregionalen Medien erwähnten die Angelegenheit kaum.
Zum weiteren Schicksal der Atheistischen Freiheitskämpfer Madalyn Murray O’Hair und ihrer Kinder Jon und Robin: Seit August 1995 sind sie verschollen, plötzlich aus ihrem Haus in Texas verschwunden.
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gerufen worden, war auch bereit, Schöffin zu werden, hatte sich aber geweigert, `so helfe mir Gott' zu schwören. Sie wurde ins Gefängnis geworfen, strip-searched, natürlich, wer sich den Gottesschwur einer Schöffenvereidigung verweigerte, verbarg auch Waffen in seinen Intimteilen. Trotz dieser ekligen, sexuellen Variante, die ja auf jeden Menschen unter Gott, und im WASPen-Land war ja jeder schon allein, weil die Nation offiziell unter Gott stand, ein Mensch unter Gott, also trotz dieser ekligen, sexuellen Variante, die bei jedem gottesfürchtigen Menschen so eine anziehende Abscheu hervorrief, und die bei richtiger
Wenn man weiß, wie einige Christen Atheisten, noch dazu aktive Atheisten, hassen und was sie schon alles Atheisten angetan haben, dann muß man wohl befürchten, daß sie irgendwo in irgendeinem Kirchenhinterstübchen zu Tode gefoltert wurden. Ich hoffe aber, daß sie lediglich erschöpft waren von den Aufregungen und Anfeindungen, die ihr engagiertes Leben mit sich gebracht hatten, und jetzt irgendwo inkognito das friedliche und angenehme Leben führen, daß sie nach all ihren Leistungen wirklich verdient haben. (12.2.97) Nachtrag Jan. 2000: Leider deutet doch alles darauf hin, daß die Familie Opfer eines Verbrechens geworden ist. Ein ehemaliger Angestellter der American Atheists steht im Verdacht, am Verbrechen beteiligt zu sein. Die Murrays hatten diesen Mann angestellt, ohne zu wissen, daß er ein langes Vorstrafenregister hatte, unter anderem für den Mord an seiner Mutter! Dieser Mann hatte während der Abwesenheit der Murrays einmal 50 000 Dollar unterschlagen, dafür hatte ein texanisches Gericht, obwohl es eigentlich Gesetz ist “three strikes and you are out” (drei Verbrechen und du kriegst lebenslänglich, und tatsächlich hatte man schon einen Pizzadieb nach dieser Regel lebenslänglich gegeben), ihm lediglich eine Bewährungsstrafe gegeben und die Auflage das Geld (ohne Zinsen!) auf Raten zurückzuzahlen. Der Antrag der AA, doch festzustellen, ob er das unterschlagene Geld noch habe und sofort zurückzahlen könne, wurde vom Richter ignoriert. Dieses glimpfliche Davonkommen scheint den Verbrecher davon überzeugt zu haben, daß Atheisten kaum rechtlichen Schutz in den USA genießen, praktisch Freiwild sind, und ihn zur Entführung und anschließenden Plünderung der Konten der AA mit den erbeuteten Bank-Karten ermutigt zu haben. Tatsächlich wurde von der Polizei wenig unternommen, um den Täter zu finden, um so mehr wurde aber von offizieller Seite versucht, die AA selbst zu diskreditieren und zu schikanieren. Den wahrscheinlich längst ermordeten Murrays wurde ihr Eigentum gepfändet, weil sie keine Steuern mehr zahlten. Die Sachen eines AA-Mitglieds, der das Haus der Murrays, seit deren Verschwinden hütete, wurden gleich mitgepfändet, weil er nicht beweisen konnte, daß sie ihm gehörten.
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Aufmachung die Verkaufszahl der Zeitung erhöht hätte, berichtete die Zeitung nicht davon. Obwohl Adjuna nichts vom Schicksal der Atheistin wußte, kam er zu dem Schluß: Ihr habt nicht viel Freiheit in eurem Land. Und er sagte es auch zu Bill. Bill zeigte ihm eine Statistik, die er in der Zeitung gefunden hatte. Danach sollten es schon 50% der Bevölkerung einmal oral getrieben haben, 3% anal, 1992 waren es nur 33% oral und 1% anal. Und wieviel Prozent nasal? fragte Adjuna keck. “Ich finde das schrecklich”, brauste Bill auf, “wir haben zuviel Freiheit. Die Tendenz soll steigend sein. Bald lutschen sie alle an den Geschlechtsteilen herum.” “Nja, lieber mit einem Partner mehr als mit mehreren Partnern das eine”, faßte Adjuna die Situation zusammen. “Aids, heh.” “Spielt sicher eine Rolle.” “All diese sexuellen Freiheiten. Die Leute sollten lieber wieder anständig sein und tun, was sich gehört. Ich bin da eher konservativ.” “Ein Schwarzer und konservativ? Als Schwarzer sollte man nicht konservativ sein. Die Konservativen waren die, die die Sklaverei erhalten wollten, und später die Rassentrennung, die, die den Schwarzen gleiche Bezahlung verweigerten und den Zugang zu höheren Ämtern usw. Nein, als Schwarzer darf man niemals konservativ sein.” Adjuna wollte Bill noch eine längere Lektion in Freiheit und Progressivsein erteilen. Er hätte sie bitter nötig gehabt, wie so viele
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Schwarze, die es zu was gebracht hatten. Aber da erhob sich plötzlich draußen ein fürchterliches Gezeter. Die Nachbarn waren am Keifen. Was war geschehen? Peter war draußen. Hatte er irgend etwas angestellt? Einen Schabernack? Peter war draußen. Er hatte eine Leine genommen und im Hinterhof zwischen zwei Bäumen aufgespannt. Dann hatte er Adjunas und seine eigene verschwitzte und verdreckte Wäsche gewaschen. Jetzt war er dabei, sie aufzuhängen. “Stecken Sie Ihre Wäsche gefälligst in den Wäschetrockner!” schrie der Nachbar vom Zaun herüber. “Aber es ist doch das schönste Sonnenwetter!” protestierte Peter. Bill kam herausgerannt und entschuldigte sich bei seinen Nachbarn, daß seine Gäste vom Ausland kämen und nicht wüßten, daß sie hier keine Wäsche hätten aufhängen dürfen. Das war nämlich verboten, damit es nicht wie in den Slums aussähe und die Immobilienpreise entsprechend sänken. Frau Nachbarin, noch immer erregt, zischte zu ihrem Männe herüber: “Was hat der Schwarze sich denn da schon wieder für ein Gesocks ins Haus geholt?” Ihre Gesichtshaut war bei einer Schönheitsoperation so stramm gezogen worden, daß sie Schlitzaugen wie eine Chinesin bekommen hatte. Denn auch Altsein war in diesem Land verboten. Nach überstandener Krise saßen Bill und Adjuna wieder im Wohnzimmer, während Peter die Wäsche im Wäschetrockner trocknete. Adjuna nahm gelangweilt wieder die Zeitung in die Hand. Es war klar, daß weder über ihn noch den Computer etwas drin stand. Er las noch das historische Zitat der Woche: Four Freedoms for all Mankind 791
freedom of speech and worship freedom from want and fear F. D. Roosevelt Do people really want to sleep on the sidewalk? fragte er sich. Zur Aufheiterung las er auch noch die Comics: Ein kleiner Junge, Calvin1, sprach mit seinem Stofftiger Hobbes. Er fragte ihn: `Glaubst du an den Teufel? Weißt du, jenes übernatürliche Wesen, daß darauf aus ist, die Menschen zum Bösen zu verführen, und sich dem Verfall und Untergang der Menschheit widmet.' Hobbes Antwort war: `Ich bin nicht sicher, ob der Mensch seine Hilfe braucht.' Als Adjuna so weit gelesen hatte, fühlte er sich ein bißchen mit dem Meinungsblatt versöhnt, denn das war es ja eigentlich auch gewesen, was der Computer hatte sagen wollen: Der Mensch wird es schon schaffen.
Amerika kannte viele Symbole, sogar schon die ganz kleinen Amerikaner im Vorschulalter. Eines war das G der General Gigants, ein anderes das große M der Monopolists, das dritte war das S. S wie Super. Super war der Omnibusausdruck, auf dem jeder ritt, das superrichtige Superwort für Eigenlob und wenn man andere preisen wollte. Bei diesen drei Buchstaben erschöpfte sich dann aber auch oft schon der Alphabetismus. Der technische Fortschritt hatte mit seinen beweglichen Bildern das Lesen zu einem Anachronismus werden lassen. Das Wort Super war schon bei den Römern beliebt gewesen, die ja bekanntlich auch immer obenauf sein wollten. Und dem stärksten
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by Bill Watterson
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Mann Amerikas, Supermann, fiel auch nichts Besseres ein als wie den Römern, nämlich mit Übermacht immer obendrauf zu hauen. Und da sein Beispiel schon weltweit Schule gemacht hatte und es auch dem Publikum gefiel, hatte auch Adjuna neben all seinen Schwächen auch noch übermächtige Muskeln mit auf den Weg bekommen.
Als Bill vor der Glotze saß und sich mit großer Begeisterung einen Superman-Film ansah, beobachtete Adjuna ihn voller Abscheu und meinte schließlich: “Wirkliche Supermänner stromern nicht durchs Land und fangen Schlägereien an, sondern sitzen hinter Schreibtischen oder vor Kameras und Mikrophonen. Sie schlagen auch nicht auf den Kopf, sondern dringen in die Köpfe ein.” “Wie ist das möglich?” “Durch die Öffnungen, die am Kopf sind.”
Peter bekam einen Job bei Birne im Büro: Tasten drücken. Adjuna hatte es bald satt, Zeitungen durchzuwühlen, die nie die Möglichkeiten der Manifestation irdischer Intelligenz in Maschinen erwähnten und auch sonst nicht schrieben, worauf es ankam. Auch sein Wunsch, die Denkmaschine noch einmal zu treffen, wurde konsequent abgelehnt. So blieb er nicht lange bei Bill. Schon bald nahm er sein Bündel und begab sich wieder auf Wanderschaft. Aber er wollte nicht ewig wandern, sondern irgendwo im Süden, in Memphis, Birmingham oder Atlanta oder vielleicht Montgomery oder Jackson oder Natchez sich als Ehevermittler niederlassen, eine INTERMARRIAGE SOCIETY gründen, die nur Ehen zwischen verschiedenen Rassen vermitteln sollte. Miscegeneration. Die Rassengrenzen sollten verschwimmen. Wir 793
sollten eine Menschheit werden, eine einzige bunte Menschheit, eine einzige gute Mischung. Der Computer hatte recht. Bill schüttelte den Kopf, als er von Adjunas Plänen erfuhr: “Wie kannst du glauben, mit zwischenrassischer Ehevermittlung ein Geschäft zu machen. Das geht nicht so einfach. Wenn man ein Geschäft aufmachen will, muß man erst einmal Marktforschung und Produktforschung betreiben. So etwas geht nicht ohne Forschungteams, Umfrageinstitute, PR-Teams und PsychologenKomitees und die Weisheit von Freud und Vance Packard. Dann erst entscheidet man, wo man wem was andreht, und ist erfolgreich. Wie du dir das vorstellst: Einfach irgendwo hinzugehen und ein Ehevermittlungsbüro aufzumachen und die Rassen ein bißchen zu mischen.” Bill schüttelte wieder mit dem Kopf: “...und dabei sagt man, wir Amerikaner seien naiv!” “Aber ich bin doch kein Krämer”, protestierte Adjuna, “ich will doch gar nicht reich werden, bloß ein bißchen verdienen, gerade genug, um zu leben, und außerdem den Menschen helfen.” “Wer im Leben Erfolg haben will, muß sich teuer verkaufen, nicht ein bißchen. Die Schlauen kassieren, die Dummen zahlen - meist einen überhöhten Preis, ob für Seife oder 's Seelenheil - und verkaufen tun sie sich schlecht - unterm Preis. Leben ist Geschäft. Geschäft ist Krieg. An der Front gibt es nur Erfolg oder Untergang. Gute Absichten sind wertlos.”
“Gute Absichten sind wertlos”, dröhnte es ihm noch in den Ohren, als er auf die Straße trat. Was hätte wohl der Computer dazu gesagt? Zu gerne hätte er ihn gefragt. Schade, er sollte kaputt gegangen sein. An den Schweißstellen der Biomasse mit der Technomasse sollte es zu Geschwüren gekommen sein, schließlich hätten sich Metastasen über das ganze organische Gewebe verbreitet und auch zwischen den Drähten sollte es zu Kurzschlüssen gekommen sein. Zwar sollte das Gerät noch eine Kur für Krebs entdeckt haben, die sogar dem 794
Präsidenten zu Gute kam, aber für das Gerät selbst kam jede Hilfe zu spät. Was Adjuna nicht wußte, war, daß der Computer oft nach ihm verlangt hatte, und was er noch verlangt hatte, war noch schlimmer: die Absetzung der Regierung und die Entmachtung der Monopolists, die Abschaffung der Religionen, des Militärs, aller Waffen usw. Was er lehrte, war furchtbar lästig geworden. Zum Glück gehörte die Computerfirma Birne den General Gigants, da war es ein leichtes gewesen, die Maschine zu zerstören. Die Maschine war also doch nicht so schlau gewesen, sonst hätte sie die gesellschaftlichen Machtstrukturen besser verstanden, und ihr wäre das mit der Zerstörung nicht passiert. Den Menschen war noch einmal die Herrschaft der Maschine erspart geblieben. Uff, die Monopolists atmeten auf.
Adjuna wanderte zwischen Schutthalden und Müllhaufen, an den grauen Reihenhäusern der ärmeren und den Wellblechhütten der ärmsten vorbei. Er geriet zwischen die hohen Gerüste ehemaliger Hochhäuser, die schwarz und verkohlt in den grauen Himmel zeigten. Er war hier in einem Stadtteil, der bei einem Großbrand zerstört worden war, und den man nicht wieder aufgebaut hatte. Im Keller einer dieser Gebäude war einmal das Museum für Symbolismus gewesen. Alle Kunstwerke waren zerstört. Es gab keine Symbole mehr. Adjuna schlief diese Nacht gut. Es war noch nicht einmal ganz Morgengrauen, als er zu Bett ging. Es graute erst ganz wenig. War es die Sonne oder der Mangel an Sonne, was ihn schließlich einschlafen
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ließ? Oder der Grauen? Mangel an Grauen? Am Tage schlafen die Ratten doch.
Adjuna stand früher auf als die Ratten. Am frühen Nachmittag wirkten die Slums friedlicher als in der Nacht. Raben, gesättigt vom Erbrochenen der Nacht, saßen auf den Gerüsten und beobachteten von oben herab ein paar Kinder, die im Schutt spielten. Adjuna ging an allem vorbei. Dem Schutt- und Slum-Gürtel der InnenStadt folgte schließlich in sicherem Abstand wieder ein blühender und grünender Villen-Gürtel mit Parks und Spielplätzen, wie Adjuna ihn ja schon bei Bill gesehen hatte. Hier war Amerika noch heil, keine Wäscheleinen verunstalteten die Landschaft, und vor den Häusern parkten nur Autos der drei großen Marken. Adjuna setzte sich auf eine der Bänke und beobachtete die Kinder: Der Pöbel, die Überflüssigen, die Beschmutzer, wie emsig vermehren sie sich, wie stolz sind sie auf die armseligen Produkte ihrer Lust, eine neue Generation Überflüssiger, noch überflüssiger, aber der Edle, der Geber, der Nicht-Beschenkt-Werden-Wollende, der Reiniger, er gebiert einen Gedanken, umpflegt und -hegt ihn, schickt ihn auf eine lange Reise, nicht leichtsinnig wie Kaninchen und Pöbel die Produkte ihres Schoßes auf den Weg in die Welt schicken, sondern bedacht und an sich zweifelnd, denn ohne Zweifel ist kein Edler. Mit seinem leiblichen Kind, das er nach langem Bedenken und Zögern, `Bin ich reif genug, geduldig genug, so daß ich darf?' zeugen mag, geht es ihm ähnlich, nie gibt er sich zufrieden, das Neue soll mehr werden, mehr sein, soll den Vater überragen, der Sohn selbst soll Same nur sein und Saat werden und Sämann für neue Gedanken und Hoffnungen. Und die übernächste Generation....
Adjuna hatte recht. Die Menschen litten an der Vermassung, der Vermasselung. Ihre Helden waren daher die Antipoden ihrerselbst, 796
Leute, die der Vermassung der Städte entkamen, wie Don Quixote in seiner Rosinante und das Halbblut William Weniger Hitze Mond in seinem Geistertanz oder noch asozialere Helden als diese Wohnmobilfahrer, Helden, die hoch zu Roß saßen, die einsam waren und der restlichen Menschheit entfremdet, die verwundeten, töteten und Rache nahmen, verwundbar waren und einen gewaltsamen Tod fanden, Cowboys ohne Kühe wie Billy the Kid, Doc Holiday, die Clanton und McLowrey Brüder, Out-Laws, Ikonen romantischer Gesetzlosigkeit und Wildheit. Auch auf den Motorrädern, den eisernen Pferden der Modernen, fand man sie: The Wild One, The Road Warrior und Captain America und Billy als Easy Rider auf dem Weg nach New Orleans, oder in gestohlenen Tin Lizzies und deren verbesserte Nachkommenschaft wie Bonnie und Clyde oder der Rebell ohne Reason, Räson. Und wenn man nicht gerade Schauspieler war, sondern das Ungebärdigsein ernstnahm, dann riskierte man wirklich einen gewaltsamen Tod zu sterben, denn die Colts saßen auch bei den angepaßten Bürgern locker. Gammler, Hippies und Herumtreiber über den Haufen zu schießen, hatte besonders bei bravem, sonntäglichem Kirchgang etwas Tollkühnes an sich, da man ja gegen das vierte Gebot verstieß. Außerdem brachte man so sein eigenes, ungebärdiges Verhalten in Zucht. Zur Gebärde die Ungebärde. Den Ungezähmten frißt der Zahme. Und sowieso treten sich Antipoden nun mal auf die Füße. Das hieß aber nicht, daß die Massen in Amerika nicht mobil waren. Oh doch, mobil war man. Ständig auf der Suche nach einem besseren Job. Und wenn er sich auf der anderen Seite des Kontinents befand, man zog um! Das war legitim, kein Herumtreiben. Und unterwegs schwärmte man von den einsamen Helden, denen, wenn ihnen an der Straße begegnete, man seine Abscheu zeigte. Nichts war so langweilig wie das Leben dieser Helden, die ganze Spannung ihres Lebens ließ sich in einem einzigen Film von nicht einmal zwei Stunden Länge darstellen. Der ordentliche Bürger aber erlebte eine solche Spannung oder sogar Spannenderes an einem jeden Abend vor seinem Fernseher im häuslichen Wohnzimmer, an 797
Wochenenden und Feiertagen sogar zwei, dreimal. Kein Wunder, daß keiner tauschen wollte.
Überall hörte er seine eigene Geschichte. Die Geschichtenerzähler einer jeden Stadt schienen sie zu kennen, sagten sie auf, beteten sie herunter: “Die Menschheit war mal wieder vom Untergang bedroht, aber diesmal nicht durch Aussterben und Mangel, sondern durch Überfluß, und wie alles Überflüssige war auch der Mensch wertlos geworden. Gold und Edelsteine waren Blech und Sand geworden. Lange war kein Edler mehr geboren worden und lange war nicht edel gehandelt worden. Hatten die Vorväter schon geglaubt, die Herde hinter sich gelassen zu haben, jetzt war man wieder Herde und frohlockte: Jeder ist gleich. Einzelne sah man fast nicht mehr und Einsame schon gar nicht. In dieser Zeit aber geschah es, daß der Einsamste geboren werden sollte von einer alten Zigeunerhexe und Wahrsagerin, die sich durch ihre vielen Blicke in die Zukunft ihre Augen so verdorben hatte, daß sie nicht einmal mehr das Gestern erkennen konnte und erst recht nicht den, der sie vor mehr als einem Jahr geschwängert hatte. Sie war gerade weitab im fernen Arabien von einer Oase, der sie vorausgesagt hatte, daß die Kinder die Palmen annagen werden und alles Wüste wird, vertrieben worden. Nachdem man Palmen angenagt fand, glaubte man an einen Fluch der Zigeunerin, aber es war der Hunger der Hungrigen, den aber konnte man nicht sehen. Als sie nun durch die Wüste lief, sah sie, daß es an der Zeit war, Geburt zu ihrem Sohne zu geben, und mit Trauer sah sie auch, seine großen, runden Augen, wie sie verliebt die tote Mutter anstarrten. Denn sie würde nicht überleben, das wußte sie und sie dachte: Er wird allein sein, er wird der einsamste ... ." Bin ich eine Legende geworden, ein Mythos oder Unterhaltungsprosa? Er hütete sich, sich zu erkennen zu geben. Schweigend ging er an ihnen vorüber, weiter. Da wieder: 798
“Die Sehnsucht in seiner Zigeunerseele trieb ihn durch viele Länder, aber er fühlte sich nie als Fremder und wurde auch nie als solcher behandelt, denn er war wohl vertraut mit der Sprache und den Sitten eines jeden Ortes. Und seine Erscheinung, sein Aussehen war etwas Besonderes, da seine Vorväter aus aller Herren Länder kamen und bei ihm so das Blut aller Völker zusammenfloß, hielt ein jedes Land und Volk ihn für einen der ihren, selbst im Land der Zwerge glaubte man, er sei nur ein ausnahmsweise groß geratener Landsmann, obwohl er sich noch bei den Riesen öfters bücken mußte. Er lebte gerade in einer Zeit, in der sich die Menschheit in allen Ländern im Verfall befand, wie nie zuvor. Zwar wurde, seit es Menschen gab, von Zerfall und Untergang gesprochen, oft, um Angst, Furcht und Schrecken zu verbreiten, da ängstliche Knechte fleißiger arbeiteten. In dieser Zeit war es aber anders, der Untergang drohte nicht durch Aussterben, sondern durch Überfluß, Überfluß an Menschenmaterial, und wie alles Überflüssige war der Mensch wertlos geworden. Die Vorväter glaubten schon die Herde hinter sich gelassen zu haben, aber jetzt war man wieder ganz Herde geworden, Einzelne sah man fast nicht mehr. Er aber war ein Einzelner.” Adjuna warf einen Blick in die Zuhörermassen: Oh je, `einsam' ist modern, ist `in'. Übelkeit. Die Massen, der Pöbel, die Vielzuvielen spielen gemeinsam `einsam'. Eine Lächerlichkeit. Jeder moderne Affe hat einen einsamen, verlorenen Blick, trägt ihn aber wie einen Hut der Massenmode: oberflächlich. Die Heuchler. Aber es imponiert die Mädchen. Eintagsfliegen. Morgen schon sind sie tot. Und gelernt haben sie nichts.
Adjuna hatte gerade erst die Stadt der brüderlichen Liebe erreicht, da taten ihm schon die Füße weh. Es war auch Anachronismus in der Neuen Welt auf Schusters Rappen oder, wie man hier sagte, auf Shanks's Mähre zu reiten. Selbst so ein einfacher und billiger Gegenstand wie ein Fahrrad konnte doch schon einen Menschen besser 799
weiterbringen als bloße Füße. Tatsächlich soll das Verhältnis von Energie zu Arbeit beim Radfahren ganz außergewöhnlich günstig sein. Außer den Vögeln erreicht kein Tier ein so günstiges Verhältnis von Energieaufwand zu Arbeitsleistung wie ein Radfahrer. Aber ein Fahrrad war für einen Helden nicht zünftig, selbst wenn man es Stahlroß nennen konnte. Unser Held hatte Glück. Noch bevor er die Innereien der Stadt der Bruderliebe erreichte, hielt ihm in einem der dunklen Vororte, einem Arbeiterviertel oder Arbeitslosenviertel, jemand die Pistole auf die Brust und verlangte die Brieftasche. Adjuna gab sie ihm. Es war sowieso nicht viel drin. Adjunas Vorschlag “Laß uns wenigstens das bißchen, das ich habe, brüderlich teilen!" wurde von dem Räuber mit der barschen Bemerkung “Wer teilt denn mit mir?” abgetan, dabei deutete er mit der Waffe auf die Hochhäuser im Stadtinnern, die für ihn Reichtum zu symbolisieren schienen. Nachdem der Räuber die Brieftasche hatte, tastete er Adjuna ab, um sich zu vergewissern, daß er keine Waffe bei sich trug. Er machte es sehr fachmännisch, als ob er es in einem Hollywood-Film gelernt hatte oder gerade selbst gefilmt würde. Als nächstes ging er drei Schritte rückwärts. Dabei hielt er Adjuna weiter mit seiner Waffe in Schach. Auch das machte er tadellos, es war korrekt und drehbuchreif. Dann drehte er sich um und gab Fersengeld. Sein großer Fehler war hier - und zweifellos hatten die Regisseure eine solche Szene noch nicht gefilmt -, daß er die vorsintflutliche Waffe, die Adjuna in seiner Hand hielt, nicht erkannte. Vielleicht dachte er, es sei ein harmloser Stock, auf den sich der große Mann stütze, vielleicht hatte er auch die Sehne, die um den Stock gewickelt war, gesehen und das Ganze daher für eine primitive Angelrute gehalten, auf jeden Fall war er sich nicht bewußt, daß es sich hierbei um eine Waffe mit beträchtlicher Reichweite handelte.
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Adjuna kannte keine Skrupel. Als er sah, daß ihm der Mann den Rücken zudrehte und die Allee hinunterlief, spannte er blitzschnell die Sehne in seinen Bogen, nahm einen Pfeil aus dem Rucksack und schoß ihn dem Fliehenden ins Kreuz. Da der Mann sehr schmächtig war, durchschoß der Pfeil ihn ganz. Die Straße aber war leer und der austretende Pfeil verletzte keine Passanten. Als Adjuna angelaufen kam, um sich die Reisetasche des Fremden, in die er sein Portjuchhe hatte verschwinden sehen, zu schnappen, war da schon ein kleiner Junge, der sie auch haben wollte, aber der sprang wie ein verängstigter Hund weg, als er den großen Mann kommen sah. “Die Hunde der nächsten Generation”, dachte Adjuna, nahm die Reisetasche und ging fort. “Soviel zur brüderlichen Liebe!” Auf einer Parkbank erlebte Adjuna dann eine freudige Überraschung, als er die Reisetasche öffnete: Sie war bis obenhin mit Geldbörsen, Brieftaschen und Schmuck angefüllt. Sogar ein grunzendes Sparschwein, prall und vollgefressen, gehörte zu dem Schatz. Diese Nacht schlief Adjuna nicht auf der Straße und er aß auch nicht die Feldfrüchte, die er sich gesammelt hatte, sondern Bratklopse und die für diese Gegend typischen, weichen Pretzel. Am nächsten Tag sah sich Adjuna dann die touristischen Sehenswürdigkeiten der Stadt an, zuerst die angeknackte Freiheitsglocke, eines der denkwürdigsten Symbole der Vereinigten Staaten, wobei der Knacks natürlich denkwürdiger war als die Glocke. Danach sah er sich noch die Skulptur `Der Denker' von Auguste Rodin an. Dann ging er los, um sich von seinem Geld einen fahrbaren Untersatz zu kaufen. Erst hatte er an ein Pferd gedacht, doch war ihm das dann doch zu ausgefallen. Außer der berittenen Polizei war in der Stadt keiner so verrückt, ein Pferd zu benutzen. Der Wilde Westen war offensichtlich woanders, noch weit. Beim dritten Händler fand er, was er suchte, einen jener großmotorigen Traktoren, die auf zwei Rädern fuhren. Eine ganze Generation 801
amerikanischer Männer träumte davon, mit so einem Ding durchs Land zu ziehen. Das Energie-Leistung-Verhältnis der Maschine war im Gegensatz zum Fahrrad nichts Aufregendes, es sei denn, man regte sich über Verschwendung auf, aber dafür knatterte sie, die Traummaschine, ordentlich und strotzte vor Kraft, die nirgends hinkonnte, wie ein Macho, wie Hochpotenz vorm Hängeschloß eines Keuschheitsgürtels, wie eine einsame Erektion, die sich nicht entladen konnte, wie... Man hätte mit ihr einen Lkw abschleppen können, wenn sich das Hinterrad nicht durchdrehte. Der Händler behauptete sogar, Captain Amerika selbst hätte die Maschine gefahren, aber Adjuna war skeptisch, er hatte schon zuviel in Amerika gehört, sogar: Gott selbst segne Amerika. “Egal, wer drauf gesessen hat, ich nehme das Ding - für den halben Preis.” Heftiger Protest. Feilschen. Als Adjuna dann ernsthaft tat, als wolle er weggehen, machte der Händler sein letztes Angebot: zwei Drittel seines ursprünglichen Preises. “Na gut. Ich sehe: Die Schrauben sind alle festgerostet. Das Ding wird mir also nicht auseinanderfallen. Einverstanden. Ich nehme das Motorrad. Hier ist das Geld.” Adjuna machte seinen Köcher an der langen Gabel der Vorderräder fest. Eigentlich war die Gabel so lang, damit die motorisierten Cowboys dort ihre Gewehre festbinden konnten. Angeblich brauchten sie die wegen der Klapperschlangen, aber auch höhere Wesen der Evolution machten wohl manchmal den Waffengebrauch notwendig, so wie man Amerika kannte. Den Rucksack und den langen Bogen band Adjuna an der Rückenlehne fest. Dann wollte er losdonnern. “Halt. So darf ich dich nicht vom Hof lassen. Du mußt einen Sturzhelm tragen.” “Ich habe aber keinen. Außerdem habe ich einen harten Schädel. Drittens will ich weder einen Kopfstand machen noch auf den Kopf fallen, und einen Unfall habe ich auch nicht.” “Man kann nie wissen.” 802
Die verdammten Sturzhelme, die ihm der Händler dann zeigte, waren nicht nur fast so teuer wie das Motorrad, sondern paßten mit ihrem modernen Plexiglas auch nicht zum Image, jedenfalls nicht zu Adjunas Image, vielleicht zum Image eines Mondfahrers. Adjuna ging deshalb zu einem Antiquitätenladen, den er auf dem Weg sehen hatte. Dort war eine alte Pickelhaube aus dem Deutschen Kaiserreich ausgestellt gewesen. Ein antiker Helm war ihm eigentlich lieber. Aber auf seine Nachfrage hin sagte man ihm, daß man antike Helme gerade nicht vorrätig habe. Was war eigentlich aus dem Helm geworden, den Aurora in Griechenland getragen hatte? Er konnte sich nicht erinnern. 1 Die Pickelhaube kaufte er sich, dazu noch eine schwarze Lederjacke, die angeblich schon Elvis Presley und vor Elvis der rebellische Marlon Brando als Wilder getragen hatte, und eine verwaschene Drillichhose, die wer weiß wer getragen hatte. So sah Adjuna mindest ebenso zünftig aus wie Cäptain Amerika, der er natürlich nicht sein wollte.
Adjuna war noch nicht weit gefahren, da kam ihm die berittene Polizei in die Quere. Adjuna wollte erst Vollgas geben, denn die konnten doch sicher nicht schnell genug hinterher galoppieren. Doch da fiel ihm das Schicksal des Räubers ein, und das rettete ihm das Leben. Die Polizisten suchten ihn auch nicht wegen Mordes, sondern es handelte sich nur um eine der üblichen Schikanen. Die Pickelhaube war nicht in Ordnung, nicht für den Straßenverkehr zugelassen. “Ja, für welchen Verkehr denn sonst?” “Mensch, siehst du denn nicht, daß das Ding spitz ist.” “OK. Ich brech die Spitze ab.”
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Kann der Leser sich erinnern? Oder hat er schon vergessen, was er gelesen hat?
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Aber selbst als Adjuna die Spitze abgebrochen hatte, waren die Bullen, die hier Schweine hießen, nicht zufrieden. Als er dann keck behauptete, er hätte einen harten Schädel, drohten sie ihm, mit ihren Nachtstöckern ein paar über den Schädel zu ziehen. Da nickte Adjuna zweimal und den beiden Bullenschweinen platzte die Schädeldecke. Sie hätten Helme tragen sollen. Adjuna fuhr dann weiter. Neben Erschlagenen sollte man sowieso nicht stehenbleiben. Toten kann man nicht helfen, besonders nicht, wenn sie im Leben Polizisten waren. Die nächste Station der Reise war die Kapitale mit dem Kapitol, dem Haupttempel des Kapitals. Adjuna ersparte sich eine Besichtigung. Er sah sich jedoch unter anderem das Raumfahrtmuseum an. Die Nachbildungen der schlanken Raketen, die Satelliten und vom Mond geholten Steine symbolisierten für ihn die Höhenflüge, zu denen die Menschen fähig waren. Um auch der Tiefen zu gedenken, ging er zum Vietnam Veterans Memorial. Das englische Wort Memorial ließ sich im Deutschen als Denkmal und Ehrenmal wiedergeben, je nach dem, ob man die Feiglinge, die da so widerspruchslos für ihr Vaterland in den Mord gezogen waren, bis es sie erwischte, ehren wollte, oder ob man über ihr Sterben nachdenken wollte, ihren Tod für bedenklich hielt. 58 000 Namen waren es. Traurig? Hört auch die Siegesfanfaren! Auf jeden toten GI (Abk. für Government Issue = Regierungsausgabe) kamen über 20 (!) tote Vietnamesen. Auf eine so gute Bilanz konnten die Franzosen mit den 92 000 Toten ihres Expeditionskorps während der ersten, sogenannten “französischen” Phase des Vietmankrieges nicht blicken. Aber nicht nur hatte Vietman durch die Hand der Amerikaner weit über eine Million Tote zu beklagen1, es gab ein noch viel größeres Heer 1
Die Zahlen wurden Meyers Großem Taschenbuchlexikon entnommen. Am 20. Februar 1993 erschienen im WORLD REPORT der Los Angeles Times jedoch folgende Zahlen:
Frankreich/Indochina-Krieg | US/Vietnam-Krieg
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Konfliktdauer: 1946 - 54 | 1954 - 73 Maximum stationierter Soldaten: | 470 000 im Jahre 1954 | 543 000 im Jahre 1969 Französische Verluste: | Amerikanische Verluste: 47 500 Tote | 58 151 Tote 43 500 Verwundete | über 300 000 Verwundete Gefallene Viet Minh: | Verlust der Südvietmanesen: circa 500 000 | 220 357 Tote Zivile Todesopfer: | 499 000 Verwundete 800 000 bis 2 000 000 | Verluste der Nordvietnamesen/Viet Französische Kriegskosten: | Cong nach US-Schätzungen: Umgerechnet $ 3 000 000 000 | 444 000 Tote | Zivile Opfer: | Hunderttausende Tote | Kosten des Krieges auf | amerikanischer Seite: | $ 165 000 000 000
Als Quelle wurden QUID Encyclopedia, Times Reports, Facts on File, World Book, World Almanac und Encyclopedia Americana angegeben. Es wurde aber auch darauf hingewiesen, daß verschiedene Seiten und Quellen sehr unterschiedliche Zahlenangaben machen. Nachtrag zur Fußnote: Nach einer AFP-Jiji-Presse-Meldung vom 5. April 1995 hat Vietnam vorzeitig zum zwanzigsten Jahrestag des Falls von Saigon, der heutigen Ho-Chi-Minh-City, am 30. April 1975 offiziell die folgenden Zahlen veröffentlicht: Zwischen 1954 und 1975 Über 1 Million tote nordvietnamesische und Vietcong-Soldaten, etwa 2 Millionen tote Zivilisten, 300 000 vermißte Soldaten,
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Verstümmelter, ja das Land selbst war verstümmelt, getränkt und überschwemmt mit dem tödlichen Gift Agent Orange. Noch für Jahrhunderte oder gar Jahrtausende wird sein Einfluß sichtbar sein. Denn es dauert lange, bis alle Erbschäden ausgemerzt sind. Eine große Katastrophe oder ein noch größeres Verbrechen könnten die Spuren natürlich schneller verwischen. Und alles geschah, “um die Welt sicher für die Demokratie zu machen", wenn man amerikanischen Präsidenten glauben wollte. Und wenn sie dabei Verbündete wie Barry Goldwater hatten, die Indochina am liebsten “zurück in die Steinzeit bomben” wollten, dann brauchte das nicht unbedingt ein Widerspruch zu sein, sondern hieß vielleicht nur, daß sie die Steinzeit mit der Demokratie gleichsetzten. Im schlimmsten Fall konnte sie das wirklich sein, wenn man Faustrecht anstelle von Gerechtigkeit setzte. Einem jeden seine Faust! Adjuna betrachtete seine. Dann hieb er gegen die Gedenkmauer. Sie stürzte in sich zusammen. Ob sie im zerstörten Zustand wohl eher zum Denken anregte? Es war zu befürchten, daß sie es nicht tat. Nur eine Empörung brach aus ob des Vandalismus. Und da man vietnamesische Täter vermutete, warf man bei Vietnamesen die Scheiben ein und drohte auch Vietnam mit einem Rachefeldzug. Nur am Rande erwähnt. Auch das Folgende sei nur am Rande erwähnt: Es gab Apologeten, die allen Ernstes behaupteten, die Zahl der amerikanischen Todesopfer im Vietnamkrieg sei gar nicht so tragisch, man müsse bedenken, daß im
600 000 verwundete Soldaten, etwa 2 Millionen zivile Invaliden und ebenfalls etwa 2 Millionen, die geschädigt wurden durch Entlaubungs- und andere Chemikalien der US Air Force. Etwa 72 Millionen Liter Chemikalien wurden von den Amerikanern aufs Land gesprüht. Etwa 50 000 Kinder wurden bis zum Zeitpunkt des Berichts mißgestaltet geboren.
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gleichen Zeitraum in den Vereinigten Staaten selbst mehr Menschen ermordet worden seien. Demokratie konnte wirklich Steinzeit sein! Und auch das nur am blutigen Rande: Es brachten sich mehr amerikanische Vietnamveteranen selbst um, als der Vietkong an GIs tötete. Den Selbstmördern hatte man natürlich kein Denkmal gesetzt. Hätte man's getan, Adjuna hätte es nicht umgekippt. Zum Leben trugen die GIs auch bei. Da ihnen zur Unterhaltung außer dem albernen Komiker Bob Hope nicht viel zur Verfügung stand, vögelten sie auf Teufel komm 'raus die einheimischen Mädchen. Auf jeden toten GI kam mindestens ein illegitimes Kind. Kein Wunder, wenn manche Amerikaner behaupteten, daß die Zeit in Vietnam die schönste Zeit ihres Lebens gewesen sei.1 Wenn man über den Wolken schwebte in B 52 und nur zum Ficken runterkam, mochte sich so ein Steinzeitmensch wohl wohlfühlen.
Auf der Reise weiter in den Süden passierte noch viel, aber es waren Kleinigkeiten, Kleinigkeiten ohne Symbolcharakter, sie tauchen nicht in diesem Reisebericht auf, denn Adjuna war nicht wie der amerikanische Don Quixote, der einst, als er mit seiner `Rocinante' unterwegs war, in seinem Reisebericht sogar das Pissimachen seines Hundes erwähnte. So etwas Unwichtiges. Interessanterweise aber ließ er das viel wichtigere eigene Pissen unerwähnt, dieser amerikanische Ritter von der traurigen Gestalt. Sein Pudel hieß übrigens Charley und nicht Sancho Pansa, und Rocinante war nicht sein Pferd, sondern sein Auto. Tagespolitischen Themen räumte dieser fahrende Ritter übrigens
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Auf einer Party lernte ich einmal einen amerikanischen Bomberpiloten kennen. Da er Einsätze in Vietnam geflogen hatte, konnte ich nicht umhin, ihn darauf anzusprechen. Er sagte mir tatsächlich, es sei die schönste Zeit seines Lebens gewesen, er sei jung gewesen...etc., und er erwähnte auch ausdrücklich die einheimischen Mädchen. Daß er mit seinen Bomben den Tod säte, hat ihn nicht einen Moment berührt. “Die andere Seite hat auch gekillt.” So einfach kann das sein.
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gleichen Raum ein wie Charleys Belange. Es war die Zeit der großen Protestmärsche gegen die Jim-Crow-Gesetze. Naja, so traurig war seine Gestalt wohl doch nicht. Adjuna dagegen war anders. Seine Augen waren wie immer gerötet von ungeweinten Tränen. Nein, er war wirklich nicht Cäptain Amerika. Er fuhr nicht optimistisch und guten Mutes voran - in den unerwarteten Tod. Er tat das Gegenteil. Es betraf ihn, daß auch hier in der neuen Welt die Wege rot waren, begossen von Bruderkriegen und Indianerkriegen. Die Blutstraßen der Massakers, die Sklavenmärkte, wo “erste Ware im Dutzend billiger”, aber auch “Ausschußware” angeboten wurde (Menschen waren gemeint), der Weg der Tränen, den die Cherokees nach ihrer Vertreibung aus ihren Stammesgebieten südwestlich der Appalachen nach Oklahoma gingen, entlang starben, deportiert krepierten wie Juden in Nazi-Händen. Das alles war gegenwärtig, nichts ließ sich verdrängen. Das Verbrechen, das hieß Mensch, aber auch das Gleichgültigsein, das Verdrängen, das Eine-dicke-Haut-Haben, ein dickes Fell. Der Mensch war nicht nackt. Nacktsein war obszön. Besonders im Süden gab es die Vice Patrol, eine tugendhafte Lasterwache, eine Form der Volkjustiz durch Freiwillige, eine amerikanische Matawa, eine religiöse Moralpolizei, den aller christlichsten Ku Klux Klan, der zugleich der alleramerikanischste war und Obszönität bestrafte, Schamlosigkeit, das nackte Zeigen von Scham. Und Adjunas Pläne waren schamlos, ließ er auch nicht die Hose runter, so ging er doch gleich daran, seine Pläne zu verwirklichen: Er verkaufte sein Motorrad, sehr zum Bedauern seiner Fans, und miete dafür einen kleinen Raum im Dachgeschoß eines alten Bürogebäudes. Für mehr reichte das Geld nicht. Unten am Eingang stellte er ein Schild auf:
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Adjuna wollte die Rassen mischen, durch das Züchten einer einfarbigen Menschenmischrasse zum Frieden unter den Menschen beitragen, er wußte wohl nicht, daß es auch noch abstehende Ohren und dergleichen gab. Auch in der lokalen Presse gab Adjuna den Text als Announce auf. Als er zurück zu seinem Büro kam, war sein Straßenschild schon zerstört worden. Aber Adjuna pinselte geduldig ein neues. Tatsächlich kamen Kunden. Seine ersten Kunden waren weiße Männer. Ihnen stand die Geilheit nur so im Gesicht. Sie kamen in der Gruppe, hatten einen Wortführer mit rotem Schnauzbart. Er packte sich ständig an die Eier und zog immer an der Hose herum. Irgendwie war sie ihm nie hoch genug. Jeder seiner Sätze begann mit “Oi, Män” und er sprach von “schwarzen Votzen”. Die anderen lachten verlegen. Als Adjuna ihnen auf den Zahn fühlte, also das Rassenproblem ansprach, bestätigte sich der Verdach, daß sie Rassisten waren, unbelehrbar und voller Haß. Adjuna warf sie raus. 809
Sie versuchten noch, ihm Angst zu machen. Aber Adjuna war ja nun mal kein schwächlicher Bürohengst. Da er sich nicht bange machen ließ, haute die Rassistenhorde ab, natürlich nicht ohne im Weggehen noch schlimmere Drohungen auszusprechen. Adjuna hatte schon den Türgriff zu seinem Büro in der Hand, da hörte er vom Treppenhaus das verzweifelte Kreischen von Frauen heraufschallen. Er hechtete herum, sprang die Treppen hinunter und stürzte sich auf die Dreckskerle, die gerade zwei schwarze Mädchen belästigten. Einer hielt sie von hinten fest, ein anderer griff ihnen zwischen die Beine. “Ihr wollt doch weiße Schwänze”, konnte der eine gerade noch sagen, bevor Adjuna ihm das Winseln lehrte. Das machte er mit dem Gürtel, den er dem Typen mit einem Griff vom Leib gerissen hatte, daß ihm fast die Luft weggeblieben war. “Deine Hose rutscht ja sowieso immer.” Die Abreibung machte Adjuna soviel Spaß, daß er fast die Zeit vergaß. Als er dann endlich aufblickte, waren die beiden Mädchen verschwunden. Enttäuscht ging Adjuna zurück in sein Büro. Als er die Tür öffnete, sah er die beiden Mädchen vor seinem Schreibtisch sitzen, die Handtaschen brav in der Hand. Sie schrien ängstlich auf, als sie ihn sahen. Er hatte sich wohl zu wild benommen. Da er jetzt aber schon wieder ganz ruhig war, konnte er auch die beiden Mädchen halbwegs beruhigen. Ja, sie wollten weiße Männer. “Und warum wollt ihr weiße Männer?” fühlte Adjuna auch ihnen auf den Zahn. “Weiße Männer haben mehr Geld.” “Aber wenn ich euch einen weißen Mann vermittle, der wenig Geld hat?” fragte Adjuna.
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Die beiden sahen sich enttäuscht an. “Dann könnten wir ja genauso gut einen schwarzen heiraten”, sagte die eine. “Nein”, meinte die andere, “schwarze Männer trinken und dann schlagen sie ihre Frauen.” Adjuna raufte sich die Haare, so viele Vorurteile. Obwohl Adjuna auch nicht die Meinung der beiden Mädchen gefiel, registrierte er sie als Heiratskandidatinnen. Er dachte sich, daß er vielleicht nicht so wählerisch sein dürfte, keinen Idealismus verlangen, nicht die gleiche Gesinnung, die er selbst hatte, zur Voraussetzung machen. Schließlich kam es auf die nächste Generation an. Vielleicht hätte er doch ruhig die Weißen von vorhin registrieren sollen. Adjuna hatte nicht viel Zeit, darüber nachzudenken. In einem kleinen Ort wie diesem sprachen sich die Dinge schnell rum und forderten ihre Reaktion. Unten auf der Straße hatten sich weiße Frauen eingefunden, die riefen jetzt Obszönitäten zu ihm herauf. Einige, die Kerngruppe, waren die Cheerleaders. Es war, wie damals in New Orleans, als die ersten Schwarzen in weiße Schulen gingen, natürlich unter Polizeischutz. Eine kleine Gruppe engagierter Frauen rief die Obszönität vor, und die Masse der Hausfrauen wiederholte sie dann. 1 Bewegung kam in die Menge und ein Raunen. Weiß, weißer, am weißesten. Da kamen die stolzen Ritter des Ku Klux Klan in ihren Bettlaken. Die Frauen wichen ehrfurchtsvoll zur Seite und überließen den vermummten Feiglingen das Feld vor dem Eingang.
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John Steinbeck beschreibt als Augenzeuge einen solchen Auftritt der Cheerleaders in seinem Buch “Travels With Charley”. Die Wut der weißen Meute soll am schlimmsten gewesen sein, als der einzige Weiße, der seine kleine Tochter trotz der Aufhebung der Rassentrennung noch in die Schule schickte, erschien.
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Die sollen ruhig raufkommen, dachte Adjuna, die schnappe ich mir einzeln auf der Treppe. Aber die gespenstige Meute drohte nur mit Fäusten, Äxten und Knüppeln hinauf. Ihre Wut steigerte sich aber so sehr, daß sie ihre Äxte und Knüppel hinaufwarfen, ihre Fäuste nicht, aber Steine, die sie aufsammelten. Leider konnte keiner von ihnen so hoch werfen, daß sie Adjunas Fenster erreichten. Doch im Stockwerk darunter klirrte es ordentlich. Ob die dachten, Adjuna hätte mehrere Stockwerke gemietet? Jedenfalls war schon bald die Polizei da, um sie festzunehmen und zu entkleiden. Sie trugen unter ihren weißen Gewändern durchweg alte Klamotten, verschlissene Drillichhosen, ungewaschene Hemden, schlechtes Schuhzeug. Sie gehörten allesamt zur unteren Bevölkerungsschicht, zum tiefsten Pöbel. Sie hatten nichts mehr zu verlieren, nur noch die Farbe ihrer Haut. Ein letzter irrsinniger Stolz. Rückständigkeit und Rassenhaß. Dummheit und Unduldsamkeit. KKK.
Dabei hatte alles so gemütlich begonnen wie eine Bescherung unterm Tannenbaum: Weihnachten 1865: sechs junge Konföderierte, Kriegsveteranen ohne Geld, unter ihnen Colonel Thomas Martin, ein prominenter Bürger von Pulaski, gründen aus Langeweile einen Klub. Nach der Aufregung des Krieges war die Langeweile des Friedens gefolgt. Angeblich ohne böse Absicht gründeten die jungen Veteranen ihre Brüderschaft, bloß um ein bißchen Spaß zu haben und Spaß zu machen. Das griechische Wort kuklos kauten sie durch mit dem irischen Klan, bis sie eine magischere Formel gefunden hatten als hoc est corpus. Dann ritten sie los, spuken.
Auch nach der Kapitulation von Robert E. Lee bei Appomattax 1865 keine Ruhe, 22 Jahre Guerilla. 812
Während den Schwarzen das Wahlrecht gegeben wurde, sahen sich plötzlich die ehemaligen Herren entrechtet. Waren sie auch Kriegsverbrecher, so waren sie doch weiß. Im Süden reagierte man sehr sentimental, daß Schwarzen das Wahlrecht gegeben wurde, aber das gleiche Recht einigen Weißen genommen wurde. Von Weiß zu Schwarz war für sie ein großes Gefälle, ein zu großes Gefälle, daß sie das Täter/Opfer-Gefälle, nach der der siegreiche Norden die Rechte verteilt hatte, nicht wahrnahmen, sie sahen nur, wie ihre Herren entrechtet herumliefen, nicht die Rechtswissenschaft praktizieren durften, sich nicht einmal vor Gericht selbst verteidigen durften. Während die Neger immer frecher wurden, denn sie konnten nicht verstehen, daß Freiheit auch Pflicht bedeutete. Ein Plantagenbesitzer drückte es mal so aus: “Meine Neger sind nicht für die Freiheit geeignet, denn sie lassen sich nicht freiwillig auspeitschen, wenn sie es verdient haben.”1 Seine eigenen Söhne dagegen legten sich freiwillig über die Pritsche, wenn der Vater sie peitschen wollte, wußten sie doch, daß es zu ihrem eigenen Wohle war. Hinzu zu dieser auf den Kopf gestellten Gesellschaftsordnung kam noch, daß die Gesellschaft der Südstaaten mit fragwürdigem Gesocks aus dem Norden verseucht war, sie war carpetbagged. Ein Carpetbag ist ein Bag oder in diesem Fall eine Tasche aus Carpet, also aus Teppich, jedenfalls ursprünglich waren sie aus diesem Material. Ein Carpetbag sah in der Form aus wie ein Boston-Bag, hatte also etwas nordisches an sich. Es war die Reisetasche des 19. Jahrhunderts schlechthin. Trapezförmig, die längere Parallele natürlich unten, an der oberen Parallelen wurde die Tasche durch die zwei Griffe zugehalten, praktisch, billig und aufnahmefähig, manche Leute, die aus dem Norden kamen, hatten ihren ganzen Besitz darin. Warum hatten die Leute ihren ganzen Besitz in eine Reisetasche gepackt und waren in den Süden gekommen? Was machten diese Leute im Süden?
1
“The Fiery Cross, The Ku Klux Klan in America” by Wyn Craig Wade, p. 526, 1987, New York
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Sie gründeten Wildkatzenbanken und andere Schwindelunternehmen und waren am nächsten Tag schon wieder pleite und schlimmer: weg. Aber was noch schlimmer war, da es die ganze Gesellschaft betraf, war, daß es unter den Carpetbaggern, also den Reisetaschlern, idealistische Politiker gab, die Rassengleichheit predigten, die Neger verführten und gegen ihre ehemaligen Herren und Herrinnen aufhetzten, und die der Bevölkerung die Gesellschaftsordnung des Nordens aufzwingen wollten... mit ihren feurigen Reden, die sie im Schutze uniierter Soldaten hielten. Die Carpetbaggers waren überall, eine südliche Bella konnte nicht mehr auf die Straße gehen, ohne nicht von ihnen angeschaut zu werden. Unter den Carpetbaggers gab es hirnverbrannte Idealisten, die extra aus dem Norden gekommen waren, um den Schwarzen lesen und schreiben zu unterrichten. Vor dem Sezessionskrieg war so etwas ein Verbrechen gewesen. Selbst wenn ein weißer Herr seinen schwarzen Sklaven hätte Schreibunterricht geben wollen, hätte er es nicht gedurft. Jetzt hatten die Yankees die Gesetze geändert und gaben Unterricht. Wußte doch jeder, daß Schwarze zu dumm waren, lesen und schreiben zu lernen, und deshalb mußte es auch verboten werden. Nur Schabernack um des Schabernacks willen zu treiben, war den konföderierten Veteranen des Ku-Klux-Klans bald über. Sie wandten sich edleren Zielen zu: dem Schutz der Schwachen, der Unschuldigen, der Wehrlosen vor Schmach, Kränkung, Ungerechtigkeit und den Auswüchsen der Gesetzlosen, Gewalttätigen und Brutalen. Mit anderen Worten, sie wollten den entrechteten Weißen des Südens bei der Vergewaltigung durch den Norden beistehen. Dem edlen Ziel folgte ein edler Anführer. Der konföderierte General Nathan Bedfort Forrest wurde Grand Wizard, also oberster Hexenmeister, des KKKs. Seinen Patriotismus hatte er als Sieger der großen Schlacht von Fort Kopfkissen bewiesen, als er sämtliche uniierte Schwarze hatte hinrichten lassen. Diese Ermordung von Kriegsgefangenen hätte ihn eigentlich an den Galgen bringen müssen, 814
aber doppeltes Glück im Unglück, wobei das Unglück natürlich der endgültige Sieg der Uniierten war, der erste Glücksfall aber die Ermordung Abraham Lincolns durch einen Rassenfanatiker anläßlich eines schlechten Theaterstückes und seine Nachfolge durch Andrew Johnson, der von Lincolns Abolitionsmus sowieso nichts hielt, dieser blödsinnigen Abschafferei der Sklaverei, das allergrößte Glück aber fiel dem General zu, als es dem neuen Präsidenten gelang, ihn in der Sommerpause des Kongresses zu begnadigen, und so der Welt zu zeigen, daß das Leben von Schwarzen, selbst wenn sie für die Interessen der Union gekämpft hatten, nicht viel wert war. Durch den im Süden so populären General bekam die Bewegung immer mehr Zulauf und ließ sich generalstabsmäßig aufbauen. Dem Großen Hexenmeister waren die Großen Drachen der einzelnen Staaten unterstellt, denen als Vize-Präsidenten Große Magi beigestellt waren, auf der nächsttieferen Ebene befanden sich die Großen Zyklopen der Ortsverbände. ...und immer mehr Klansmänner trafen sich in geheimen Höhlen in den innersten Gedärmen der Erde umgeben von Schädeln, menschlichen Skeletten (Orginalton) und brüteten über die Union League, über die aus dem Norden, die Fremden, die dem Neger lehrten, seinen früheren Herren zu hassen. ...und keiner sagte: Es ist unsere Schuld, daß uns der Neger haßt, denn wir haben ihn geschlagen, entrechtet und für uns schuften lassen. Das Programm war klar: Endziel: die gute, alte Zeit wiedereinführen, Nahziel: Wahlurnengang der Schwarzen verhindern, schwarze Schulen schikanieren und den Carpetbaggern aus dem Norden, den Scalawags, den Kollaborateuren aus dem eigenen Süden, und den Schwarzen das Leben zur Hölle zu machen. Die edlen Ritter des Klans nahmen ihre Pferde, saßen auf und ritten los. Gespenstisch sahen sie aus in ihren weißen Laken und spitzen Hüten und sie gaben sich auch als Gespenster aus, als die Geister der
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gefallenen Helden des letzten Krieges. Tratschweiber wollten sie gar am Himmel fliegen sehen haben. Die Zeitungen schrieben mit Begeisterung über die Leichtgläubigkeit der Schwarzen. Wie dumm sie doch waren! Und die Uniierten hatten ihnen das Wahlrecht gegeben! In weißen Kreisen gluckste man über so viel Dummheit. Da war zum Beispiel so ein Ku-Klux-Klan-Mann mal zur Hütte eines Schwarzen geritten und hatte Wasser zu trinken verlangt und sich das dargebotene Wasser dann heimlich, statt zu trinken, in einen Balg gegossen. Und während er so eimerweise soff, starrte ihn der Schwarze ungläubig an. “Das dumme Gesicht hättet ihr sehn sollen!" Klucks, klucks, klucks. Dann hatte der befremdliche Gast dem Schwarzen die knochige Hand einer verwesten Leiche von unter seiner Robe heraus zum Dank für das Wasser gereicht. “Da hatte der vielleicht Angst! Den hättet ihr wetzen sehn soll'n!” Tatsächlich war der Schwarze weggelaufen. Er hatte sich überlegt, wenn er jetzt nicht endlich große Angst zeigte, würde ihn der Weiße vor Wut vielleicht noch umbringen. Natürlich hatte er den faulen Zauber durchschaut, das ungeschickte Hantieren hinter der Bettdecke, und die ihm bekannten Gesichtszüge eines skrupellosen, jungen Mannes aus dem Dorfe waren durch die Augenlöcher des Gespenstes auch sichtbar geworden. Der Schwarze wußte, die Weißen waren fürchterlicher als Gespenster, besonders in dieser Zeit. Menschen waren immer fürchterlicher als Gespenster. Die Mitglieder des Klans bewiesen das schon bald zu genüge. Es blieb nicht beim Erschrecken, schon bald wurden Knochen und Schädel gebrochen. Mit Nacht-und-Nebel-Aktionen, mit Mantel-und-Degen-Methoden wurde das erste und wie der Klan meinte edelste Gesetz der Natur ausgeführt: Mord und Totschlag.
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Das Ziel war, die Neger am Wählen zu hindern, oder - was noch schwerer war - zu zwingen, “demokratisch” zu wählen, also die Partei ihrer ehemaligen Herren. Auf jeden Fall hatten die Südstaaten schon bald nach Lincolns Tod wieder demokratische Regierungen. Die Demokraten waren damals ein Klub, der keine schwarzen Mitglieder duldete, ihr Symboltier war ein Esel, ein störrischer Esel. Mit der Einführung des Black Codes, eines besonderen Gesetzes für Schwarze, wurde die Sklavenbefreiung zum Hohn. In Mississippi wurde Schwarzen das Recht verwehrt, Land zu besitzen oder zu pachten, unabhängig geschäftliche Transaktionen durchzuführen, Arbeitsverträge zu brechen, selbst wenn der weiße Arbeitgeber ihm den Lohn verwehrte oder sonst welche Vereinbarungen nicht einhielt. Schwarze, die keine Arbeit hatten, wurden als Herumtreiber verhaftet und an Weiße zur Arbeit ausgeliehen. Weiße, die mit Schwarzen auf gleicher Ebene verkehrten, wurden ebenfalls bestraft. In Louisana wurden Schwarze, die Arbeitsverträge brachen, dazu gezwungen, die doppelte Summe ihres Lohnes als Strafe zu zahlen, außerdem mußten sie öffentliche Zwangsarbeit leisten, bis sie bereitwillig zu ihrem Herrn zurückkehrten. Jeder Weiße konnte Schwarze wegen Untätigkeit anzeigen. Meistens mußte der Schwarze dann für ein Jahr für den Weißen, der ihn angezeigt hatte, Zwangsarbeit leisten. Unter Alabamas Black Code konnten störrische, aufsässige Schwarze auf öffentlichen Auktionen für sechs Monate versteigert werden. In South Carolina war die einzige Tätigkeit, die Schwarzen rechtmäßig offenstand, die eines Farm- oder Hausgehilfen, und schwarze Kinder über zwei konnten ihren Eltern weggenommen werden und bei weißen Familien in die Lehre geschickt werden, bis zum Herangewachsenenalter.
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In Florida konnten Schwarze, die weiße Zusammentreffen durch Eintreten oder Anwesenheit störten, mit 39 Peitschenhieben bestraft werden. Der 39. Kongreß der Vereinigten Staaten berief einen Untersuchungsausschuß ein, der die Verhältnisse in den Südstaaten untersuchen sollte. Dieser Ausschuß kam zu dem Ergebnis, daß die Weißen in den Südstaaten die Schwarzen jetzt viel schlechter behandelten als zu der Zeit, als sie sie selbst besaßen. Jeden Tag kämen Befreite um, würden geschlagen, mißhandelt und verstümmelt, ebenso Gewerkschaftler, Lehrer, Mitglieder der Republikanischen Partei. Die Empörung des Nordens über die Behandlung der ehemaligen Sklaven hatte das 14. Nachtragsgesetz zur Verfassung zur Folge, das gleiche Rechte für die Schwarzen sichern sollte. Die radikale Haltung des Südens hatte also das Gegenteil bewirkt: liberale Gesetze. Aber eine Folge des 14. Nachtragsgesetzes war auch ein größerer Zulauf zu rechten Gruppierung wie dem Ku-Klux-Klan. Um die Schwarzen vor Terrorgruppen wie den Ku-Klux-Klan zu schützen, schickte der Kongreß die Armee. 1869 hatte sich Präsident Andrew Johnson mit seiner Begnadigungspolitik für ehemalige Kriegsverbrecher so unmöglich gemacht, daß er bei der Wiederwahl durchgefallen war. Neuer Präsident war Ulysses S. Grant geworden, ein Unionsgeneral, der die Ideale Abraham Lincolns teilte. Um Terror bei künftigen Wahlen - die Amerikaner waren schon damals ein Volk, das ständig am Wählen war - zu verhindern, schickte er noch mehr Soldaten, Waffen und Uniformen in den Süden. Noch Jahrhunderte später beschuldigte man ihn undemokratischen Verhaltens: Er habe mit Waffengewalt die richtigen Wahlergebnisse erzwungen, Ragamuffins, menschlichen Riffraff aus dem Norden in Uniformen gesteckt und die arme Bevölkerung des Südens tyrannisieren lassen. Tatsächlich fehlte den Wahlen ein wichtiges Element, das sie hätte demokratisch machen 818
können: Sie waren nicht geheim. Und der Klan hatte überall seine Leute, auch unter den Wahlhelfern. Ein Neger, der die Republikaner wählte, riskierte hundert Peitschenhiebe, wenn er sich dagegen wehrte, gar sein Leben. Schwarze, die zur Schule gehen wollten, riskierten ähnlich harte Strafen, ebenso Lehrer, die den Schwarzen Unterricht gaben. Einige der hartnäckigeren Idealisten aus dem Norden wurden auch hingerichtet. Die edlen Klansmänner ließen den Opfern sogar Zeit, ihren Familien im Norden Abschiedsbriefe zu schreiben, Briefe, die die Klansmänner sogar gewissenhaft bei der Post aufgaben. Und unbeeindruckt von den Einschüchterungsversuchen unterrichtete Miss Stanley weiter. Sie hatte gelehrige Schüler. “Liebe Kinder, glaubt ihr, daß die Weißen besser sind, weil sie weiße Gesichter haben und glatte Haare?” “Nein!” “Sie sind nicht besser, aber anders. Sie besitzen große Macht, bilden die Regierung, kontrollieren das weite Land. Was macht sie so anders?” “Geld!” “Richtig. Und wie sind sie zu all dem Geld gekommen? Haben sie es verdient?” “Sie haben es von uns. Sie haben unsere Arbeitskraft gestohlen”, sagten die ehemaligen Sklaven. “Wieder richtig.”1
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Aber auch der Klan lehrte. Er lehrte im Schein seiner Feuerkreuze das erste Gesetz der Natur und seine Ausführung: Die Verwirklichung der Vorherrschaft des weißen Mannes mit Hilfe von Mantel- und DegenMethoden. “Nur der weiße Mann ist das Abbild Gottes.!” Die Zuschauer empfanden das nicht als Zumutung.
1870 zog der konföderierte General und Massenmörder Forrest eine Show ab - die Amerikaner liebten schon damals, wie ja auch die Existenz des Klans bewies, Shows über alles - indem er öffentlich erklärte, daß er nicht mit den Gewalttätigkeiten des Klans einverstanden sei, und daß er den Klan in seiner Funktion als Großer Zauberer auflöse. Aber der Klan löste sich 1870 noch nicht auf. Das geschah erst 1876, als der 19. Präsident der Vereinigten Staaten Rutherford B. Haves die Armee endgültig aus dem Süden abzog und die Begeisterung für Rassengleichheit erloschen war. Vorher im Jahre 71 gelang dem siebten Kavalerieregiment unter Lieutenant Colonel George Armstrong Custer, den man extra von schweren Kämpfen mit Arapahos, Cheyennes, Sioux und Comanchen abgezogen hatte, in South Carolina zusammen mit dem 18. Infantrieregiment ein bedeutender Schlag gegen den Ku-Klux-Klan. Viele Hexenmeister, erhobene Drachen und Zyklopen wurde schließlich festgenommen, so wie viele einfache Meuchelmörder des Klans, andere flohen und verdrückten sich, als sie merkten, daß die Unterstützung des Klans gefährlich wurde. Gefahrruf: Avalanche, Lawine! Nachdem das siebte Kavalerieregiment für die Schwarzen das Leben in den Südstaaten ein bißchen sicherer gemacht hatte, zogen sie wieder gegen die Indianer, für die die Menschenrechte immer noch nicht galten, was aber auch im Norden kaum jemanden entrüstete. Am heißen Nachmittag des fünfundzwanzigsten Junis 1876 fielen die 820
Männer des siebten Kavalieregiments mit ihrem Leutnant Colonel Custer in der Schlacht am kleinen Großhorn. Nachdem also der 19. Präsident der Vereinigten Staaten die Armee aus dem Süden abgezogen und in den Tod durch Indianer-Waffen geschickt hatte und auch der Bevölkerung des Nordens die Rassengleichheit im Süden egal geworden war, man hatte ja genug Probleme, z. B. mußte man den vernichtenden Rachefeldzug gegen die Indianer organisieren, da war der Süden mit seinem Rassenproblem wieder sich selbst überlassen, so daß es lange Zeit keinen Grund gab für das Bestehen einer illegalen Organisation wie des Klans, denn Rassismus wurde wieder legal. Die Schwarzen verloren wieder ihr Wahlrecht. Die Rassentrennung wurde durch Jim-Crow-Gesetze sanktioniert. Essen, pissen, scheißen und zur Schule gehen, nichts wollte der weiße Mann mit dem schwarzen gemeinsam machen. Wenn man davon absah, daß sich weiße Männer auch weiterhin an schwarzen Mädchen vergingen und so ein bißchen zum Bleichen der schwarzen Rasse beitrugen, war die Rassentrennung eigentlich perfekt. Der Schwarze war der Aussatz, der Weiße die Auslese. Doch die Gesellschaft stagnierte nicht. Sie tat es nie. In der Alten Welt, wo man die Frauen mit Gebärmaschinen verwechselt hatte, ihnen jegliche Art von Verhütung und Abtreibung verboten hatte, war es zur Überbevölkerung gekommen. Das schuf Elend, soziale Unruhen und eine Verschärfung der staatlichen Kontrolle. Die Herrschenden bissen immer schärfer zu. Da hörten die Gebissenen vom Land, in dem Milch und Honig floß, hörten die Versprechungen der Freiheitsgöttin. Die Müden, Hungrigen und Verfolgten, die Gebissenen und Getretenen der Alten Welt kamen, kamen in Scharen. Da bekamen die Frühergekommenen große Angst. Sie befürchteten die Überfremdung. Viel Gesocks war unter den neuen Einwanderern: Katholiken aus Irland, Kleinbauer, denen die Großgrundbesitzer die Kartoffeln 821
weggenommen hatten, weil sie die Pacht nicht bezahlen konnten, und Hakennasige, die `unseren Herr Gott' umgebracht hatten. Der Fremdenhaß wuchs enorm. Xenophobia. Da machte David Wark Griffith aus Tinseltown einen guten Film: “Die Geburt einer Nation” oder “Der Klansmann, ein historischer Roman vom Ku Klux Klan.” Der Film war so gut, daß ein Zuschauer mit seinem Revolver den Bösewicht auf der Leinwand beschossen haben soll, als ihm die zur Rettung herannahenden, weißberobten Ritter des Klans zu langsam erschienen. Wenn der Klan je Verbrechen begangen hatte, Neger gelyncht, Scalawags und Carpetbaggers geteert und gefedert, schwarze Schulen niedergebrannt und ihre Lehrer verjagt, der Film räumte mit diesen Erinnerungen auf und schuf eine neue Wirklichkeit, die Wirklichkeit vom bösen Schwarzen, der die Gutmütigkeit der naiven Scalawags und Carpetbaggers ausnutzend sich an einer südlichen Bella vergehen wollte. Die edlen Ritter in ihren weißen Roben aber hatte schon alles vorher durchschaut und ritten - gerade noch rechtzeitig, wegen der Spannung - herbei. Happy End. Auch im wirklichen Leben ritt nach der Premiere des Films der Klan wieder. William Joseph Simmons, ein ehemaliger Tempelritter, hatte eine himmlische Erscheinung gesehen, die alten Ritter vom Ku Klux Klan in den Wolken. Er fühlte sich dadurch dazu berufen, den Klan neu zu beleben. In der kalten Novemberluft des Jahres 1915 kletterte er mit 16 Männern die Granitspitze des Stone Mountain bei Atlanta-City hoch. Oben angekommen, errichteten sie ein 16 Fuß hohes Holzkreuz und einen Altar, auf dem die amerikanische Flagge wie ein Tischtuch lag. Auch eine Bibel und ein Schwert gehörten zu ihrer Ausrüstung. Das Kreuz zündeten sie an, und im Feuerschein schworen sie bei Bibel, Schwert und Flagge ewige Treue dem unsichtbaren Imperium der Ritter des Ku Klux Klans. 822
Das brennende Kreuz war von Atlanta aus gut sichtbar. Es sollte eine neue Zeit einläuten. Der letzte Schritt zur Wiedergeburt des Klans wurde dann im Verwaltungsgebäude von Atlanta vollzogen, wo der Imperial Wizard seinen neuen Ku Klux Klan ins Vereinsregister eintragen ließ, als Ritter vom Ku Klux Klan e. V. Für diese Körperschaft des bürgerlichen Rechts schrieb Simmons auch eine Vereinssatzung, den Kloran. Er hatte den Mitgliedern als heiliges Buch zu gelten. Dieses Buch, das die allerheiligsten Geheimnisse des Klans enthielt, ließ der Imperial Wizard urheberrechtlich schützen. Da aber selbst der herrlichste Hexer kein Copyright bekam, ohne zwei Exemplare seines Buches der Bücherei des Kongresses in Washington zur Verfügung zu stellen, konnte jeder die allergeheimsten Geheimnisse des Klans dort nachlesen und je nach Mentalität vor Ehrfurcht in die Knie gehen oder vor soviel Mumbo Jumbo mit dem Kopf schütteln. Das Buch beschrieb die heilige Hackordnung des Klans vom Imperial Wizard abwärts zu den Großen Drachen zu den Großen Titanen zu den Erhobenen Zyklopen. Das Fußvolk traf sich in örtlichen Tavernen und bildete die kleinste Einheit des Klubs: lokale Klavernen. Geldmittelbeschaffer, meist Spendensammler, erhielten den wohlklingenden Titel: Kleagel. Auch die heiligen Rituale und Regalia beschrieb das Buch. So mußte jedes neue Mitglied vorschriftsmäßig gesalbt werden. Die Salbungsformel lautete folgendermaßen: “Mit dieser transparenten, lebensspendenden, kraftvollen, Gott gegebenen Flüssigkeit, wertvoll und bei weitem bedeutungsvoller als alle heiligen Öle der Antike, scheide ich dich von den Menschen deiner alltäglichen Umgebung zu der edlen und ehrenhaften Aufgabe, zu der du dich freiwillig bereitgestellt hast als Bürger des Unsichtbaren Imperiums der Ritter des Ku Klux Klans.” Daß der gewitzte Wizard dazu das billigste
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Pflanzenöl vom Lebensmittelgeschäft nehmen würde, verschwieg der Kloran. Nebenbei erwähnt: Christliche Priester waren genauso knickerig, sie schenkten die Gläubigen nicht nur keinen reinen Wein ein, sondern auch nie guten und teuren Wein. Viele streckten den Wein sogar mit Wasser. Jeden Weinhändler hätte so etwas ins Gefängnis gebracht, aber die Priester genossen Narrenfreiheit. Waren sie wirklich so närrisch, zu glauben “Jesus wird das schon machen"? Simmon selbst hätte eigentlich seinen eigenen Zauber durchschauen müssen. Aber für die Gläubigen war natürlich das Mumbo Jumbo wichtig und nie der Einkaufspreis. Simmon verkaufte auch sonst seinen neuen Haß auf Farbige und Fremde nicht schlecht. Neben den 10 Dollar für den Initiationsritus knöpfte er den Gläubigen auch noch Geld für die weiße Wäsche und für eine obligatorische Lebensversicherung ab. Simmons liebte die beiden Buchstaben K und L wie seine Vorgänger: Den Kloran klennen wir ja schlon. Hier mehr Voklabular: Klabee = Schatzmeister, Kladd = Zeremonienmeister, Klarogo = innerer Wächter, Klexter = äußerer Wächter, Klaverne = Ordenskapitel oder Ortsuntergruppe, Klaliff = Vizepräsident einer Klaverne, Klankraft = Rituale und Regalia,
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Klankrest = Klannest, Klectoken = Beitrittsgebühr, Kligrapp = Sekretär eines Ortsvereins, Klokard = Vortragsreisender, Kärrner, karrt rechtsradikale, rassistische Schleiße unter die Leute, Klokann = Vollzugskomitee einer Klaverne, kann, tut und vollzieht die Schleiße, die der Klokard pledigt, rechtsradikale, rassistische Randare, siehe auch: kluxen, Kloncilium = Beschluß- und Kollegialorgan des Klans, Synode, Konzil, Genii, Klonversation = Konversation, Klonvocation = Konvokation, Klorero = Staatskonvent, Kludd = Kaplan einer Klaverne, Konklave = ein Kläffen der Klansmänner, kluxen = rekrutieren, auch: vom Klan behandeln lassen, federn, teeren, totschlagen. Und der Klalender1 des Klans klannte die folglenden Klage (= days): dark (dunkel), deadly (tödlich), dismal (düster), doleful (trübselig), desolate (trostlos), dreadful (schrecklich) und desperate (verzweifelt).
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Die Kalendertage, -wochen und -monate sind “Hoods, The Story of the Ku Klux Klan” entnommen. Wyn Craig Wade bringt in seinem Buch “The fiery cross” erstaunlicherweise andere Namen.
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Und dies sind die Wochen des Monats: woeful (wehvoll), weeping (weinend), wailing (wimmernd), wonderful (wunderbar) und weird (wirre). Die zwölf Monate: bloody (blutig), gloomy (finster), hideous (scheußlich), fearful (furchtbar), furious (rasend), alarming (beängstigend), terrible (entsetzlich), horrible (abscheulich), mournful (trauervoll), sorrowful (sorgenvoll), frightful (furchtvoll) und appalling (widerlich). Die Zeitrechnung des Klans beklann 1866 mit der Klündung des ersten Klans. Simmons Wiederbeklebung fand also am dolefullen Dag der wunderfullen Woche des furchtfullen Monats im Jahre XLIX des Klans statt. Es begann wirklich eine schreckliche Zeit, grauenhaft, abscheulich, widerlich. Der Klan war gegen: Nigger, Juden, Papisten, Dagos, Hunkies, Drückeberger, Faulpelze, Streikführer und Gewerkschaftler, lose Mädchen, unmoralische Frauen, Fahnenflüchtige, für: Weiße Vorherrschaft, Patriotismus, 100% Amerikanismus, Mutterschaft, Keuschheit, natürlich nur bis zur Hochzeit, da es sonst ja keine Mutterschaft geben konnte, Abstinenz, Enthaltsamkeit, saubere Filme, saubere Literatur (Den Schmutz, den Sie gerade lesen, hätte man Ihnen weggenommen und ne Auspeitschung hätte es dann noch gratis gegeben.)
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100% amerikanisch. Diese 100%ige amerikanische Organisation mißachtete sämtliche amerikanische Grundfreiheiten und Rechte: 1., 4., 5., 6., 13. Verfassungsgesetze: 1. Religions- und Redefreiheit 4. Schutz vor Verfolgung 5. kein Freiheitsentzug ohne gerichtliche Anklage durch eine Grand Jury 6. keine Strafe ohne gerechtes Verfahren 13. Nachtragsgesetz, während des Bürgerkrieges verabschiedet: schaffte Sklaverei und Zwangsarbeit ab.
Schon bald Stagnation im Klan, deshalb neue Trommler: das ClarkeTyler-PR-Team, für 80% der Initiationseinnahmen (!) rührten Clarke und Tyler die Propaganda-Trommel für Antisemitismus, AntiKatholizismus, Anti-Ausländer etc. Klan nur für weiße Protestanten. (Revolver und Bowie-, Klappmesser)
Sie predigten die Prinzipien der alten Religion und vollzogen Auspeitschungen, Lynchjustiz und Mord.
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Protestantische Pastoren, kostenlose Mitgliedschaft, übernahmen oft Führungspositionen.
Erste Erfolge! 1918 Seditions Act (Sedition = Volksverhetzung, Aufwiegelung, staatsgefährdende Tätigkeit), a flagrant violation of 1. amendment, eine offenkundige Mißachtung des 1. Verfassungssatzes, prohibited uttering or publishing anything disloyal, profane, scurrilous or abusive about the government of US, Folge: Nicht nur Zotiges über die Regierung, sondern auch Kritisches wurde verboten, sowie so unamerikanische Dinge wie germanische Musik, besonders Wagner, und Sauerkraut, der damals liberty cabbage genannt wurde; wer denkt da nicht an Cuba libre? Doch Cuba libre war nicht nur ein Getränk aus Rum und Coca Cola, das - wie die Coca-Cola-Werbung behauptete - im kommunistischen Kuba nicht mehr erhältlich war, sondern Fidel Castro und seine Revolutionäre hatten schon mit Cuba libre angestoßen, als sie noch gegen den Faschisten Batista kämpften. Ihr Rezept: 1/3 Rum, 2/3 Wasser, ein Teelöffel Zuckerrohrmelasse, Saft einer Zitrone. Coca Cola wurde übrigens in Atlanta erfunden und auch danach befand sich der Hauptsitz der Firma in Atlanta. Atlanta war eines der rassistischsten Großstädte des Südens. Der populäre Governor Lester Maddox widersetzte sich dort einst der Integration seines Restaurants mit der Axt in der Hand. Atlanta hatte applaudiert, aber in Washington war man schockiert.
Auch 1919 Erfolge: 74 Schwarze gelyncht, einschl. einige Veteranen aus dem 1. WW in Uniform. 828
“Unsere Masken und Umhänge, so sage ich vor Gott, sind so unschuldig wie der Atem eines Engels”, erklärte der Imperial Wizard vor dem Kongreß, was ja wirklich nicht viel heißen will, Masken und Kleidungstücke sind immer unschuldig, die Maskierten sind die Täter und der Hauch eines Engels? Nun ja, der mag durchaus die Apokalypse sein.
Der 29. Präsident der V. S., Warren G. Harding (1921-23), ließ sich auf dem Fußboden kniend im Green Room des Weißen Hauses mit einer Hand auf der Bibel des Weißen Hauses als Klansmann einschwören. Während des langen Schwurs mußte sich der schwerfällige Mann mit dem Ellbogen auf der Schreibtischkante stützen. Ein weißer Übermensch?
“Wir ehren Gott als des Klansmannes einzige Kriterium von Charakter. Wir suchen Seine Hand, die reinigt von Sünden und Unreinheit, was nur Er kann. Wir glauben, daß der höchste Ausdruck des Lebens im Dienen und Aufopfern liegt für das, was wahr ist, Eigensucht hat keinen Platz im Leben eines wahren Klansmannes. Er wird von eigenlosen Motiven bewegt, solche die Jesus Christus unseren Lord auszeichneten und ihn zum höchsten Dienst und supremsten Opfer leiten ließen für das, was wahr ist.” Ende des KKK-Traktats. Und so opferten sich die Ritter des KKK, opferten ihre Nachtruhe und peitschten und piesackten, mordeten und vergewaltigten und schnitten Negern, die es nach einer Weißen gelüstete, die Hoden ab.
Oregon 1921 - neues Thema, neue Opfer: Bootleggers, Schwarzbrenner und Alkoholschmuggler - supported by Woman's 829
Christian Temperance Union, christliche Abstinenzbewegung und Kirchen.
Jesus selbst war ein Säufer und Bootlegger.
Presbyterianischer Minister James Hardin Smith weiß in seiner Predigt: “Wenn Jesus noch auf Erden wandeln würde, wäre Er ein Klansmann.” Wir hatten schon gelesen, daß er selbst behauptete, ein schwarzes Opfer gewesen zu sein. Aber was Jesus auch immer gewesen sein mochte, Säufer oder Teetrinker, Klansmänner hatte ihre Freude daran, Hilfspolizisten zu spielen. Die Einrichtung der Hilfspolizei war eine völlig legale, die noch aus der Zeit der großen Pferdediebstähle stammte, aber lange vernachlässigt worden war. Jetzt, wo der Alkohol verboten worden war und es so viele Übertretungen gab, blühte die Institution der Hilfspolizisten wieder auf. Überall schnüffelten nun Klansmänner herum. “Smell Laws”, Geruchsgesetze, wie in Indiana machten ihnen die Arbeit leicht. Selbst der Besitz leerer Flaschen, die nach Schnaps rochen, führte zur Festnahme. Für einen Löffel voll Schnaps bekam man ein, zwei Jahre Gefängnis. KKK-Hilfspolizisten verzeichneten über 3000 Festnahmen pro Jahr. Christliche Frauenverbände waren begeistert. Der Applaus verhallte erst, als herauskam, daß die Hilfspolizisten den konfiszierten Schnaps selbst soffen. 1
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Auch das Immigration Restriction Act von 1924 war ein Klan-Erfolg. Mit dem Gesetz zogen die USA unter anderem die Feindschaft der Japaner auf sich.
Hooded Order, Kapuzenorden, Haubenhaufen, Mützenmeute. Erhobener Zyklop von Portland: “Die einzige Möglichkeit einen Katholiken zu heilen, ist ihn zu töten.”
Auf einer Klonvokation in North Manchester, einer kleinen Gemeinde in Indiana, gelang es dem Kläffer des Klans, dem Klo... scheißer, die Klansmänner und Klansfrauen, die `Ladies der Goldenen Maske', davon zu überzeugen, daß der Papst Amerika erobern wollte. Diese Gefahr steigerte sich während seiner Rede so sehr, daß man den Papst schon im Zug nach North Manchester sah. 1 Warum gerade North Manchester? Nun die Lokalpatrioten hielten North Manchester für den besten Ort auf der Welt. Das erklärte alles. Mit Knüppeln bewaffnet liefen sie zum Bahnhof. Nur einen Gedanken im Hirn: Pope on train, Pope on train, ... Der einzige Reisende, ein fahrender Händler, der in North Manchester ausstieg, hatte trotz seiner langjährigen Berufserfahrung als Hausierer seine liebe Not oder bittere, die aufgebrachte Menschenmenge davon zu überzeugen, daß er nicht der Papst inkognito war. Haß auf Katholiken, warum?
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Katholiken waren exklusiv, eigene Schulen, Intermarriage-Verbot, sogar Kontaktverbot.
eigene
Bibel,
Pope war ein politischer Autokrat, Dago on the tiber, Katholiken seine Zeh-Küsser.
Die Goldenen Zwanziger Jahre Trotz Unterstützung der Prohibition durch den Klan verführte Clarke seinen Chef Simmons zum Saufen, um den sichtbaren Schatz des Unsichtbaren Imperiums besser schröpfen zu können.
Während die Gangster immer reicher wurden wegen der Prohibition, verließ Simmons das Glück, mit Clarke und Tyler hatte er sich ein Kuckucksei ins goldene Nest gelegt. Jetzt wurde er rausgeschmissen. In Ohio gaben die beiden einem alten Mann ein Theater-Engagement. Er sollte vor 30 000 Klansmännern den Besoffenen spielen, nicht irgendeinen Besoffenen, sondern den besoffenen Simmons. Das zog. Klansmänner hatten eine angeborene Unfähigkeit, Wahrheit und Falschheit zu unterscheiden. Der wahre Simmons war am Ende. Simmons Buch wurde sogar von den beiden Klonspiranten für Klansmänner verboten. Nur die Rituale und Regalia waren so gut, daß die beiden nicht ohne sie auszukommen meinten. Da Simmons auch das Copyright darauf besaß, wollten sie ihm 1000 Dollar pro Monat für den Rest seines
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Lebens dafür zahlen. 1924 einigte man sich dann aber auf eine einmalige Zahlung von 146 000 Dollar. 1+2
Neben den Schikanen innerhalb des Klans gab es noch die außerhalb des Klans, die ja der eigentliche Grund für die Existenz des Klans
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Für den Abschnitt über den Klan wurden die folgenden Werke benutzt. Die Bücher 1 und 2 enthalten eine kurze, historische Beschreibung des Klans. Da sie die selben Ereignisse beschreiben und oft die selben Zitate aus dem Milieu bringen, sind sie nahezu identisch.
Das vierte Buch enthält eine ausführliche Beschreibung des Klans, ist engagiert geschrieben, bringt Hintergründe und räumt mit falschen Legenden und Mißkonzeptionen, wie von der Naivität der Schwarzen, die die beiden ersten Bücher noch mit Begeisterung ihren Lesern mitteilen, auf. Prädikat: äußerst lesenswert. “The Ku Klux Klan America's Recurring Nightmare” by Fred J. Cook, p. 160, 1980 New York “Hoods, The Story of the Ku Klux Klan” by Robert P, Ingalls, p. 125, 1979 “The Klan” by Patsy Sims, p. 355, 1978 Frau Patsy Sims ist Journalistin und arbeitete für Philadelphia Inquirer, die San Francisco Chronicle und die New Orleans State-Item. Für ihre journalistische Tätigkeit wurde sie mehrfach mit Preisen ausgezeichnet. Ihr Buch enthält Interviews mit Klansmännern. “The Fiery Cross, The Ku Klux Klan in America” by Wyn Craig Wade, p. 526, 1987, New York “Voices of Freedom, An Oral History of the Civil Rights Movement from the 1950s through the 1980s.” Interviews mit Teilnehmern der Bürgerrechtsbewegung gesammelt für die PBS-Fernsehserie “Eyes on the Prize” by Henry Hampton und Steve Fayer. A Bantam Book / Feb. 1990. “Freedom Bound, A History of America's Civil Rights Movement” von Robert Weißbrot. Geschichte der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung. First Plume Printing, Jan. 1991. Nachtrag: Im November 1993 machte ein schwarzer Rechtsanwalt, Anthony Griffin, der das Recht des Klans auf Versammlungs- und Meinungsfreiheit vor staatlichem Eingriff vor Gericht verteidigte, Schlagzeilen. Zweifellos ein Schritt in die richtige Richtung. Vielleicht wird ein zukünftiger Klan einmal seinen Rassenhaß ganz aufgeben und sogar Schwarze in seine Reihen aufnehmen und eine andere Existenzgrundlage finden als Haß, vielleicht so etwas traditionsreiches wie Faschingsspaß oder so etwas modernes wie Menschenrechte. 2
“Hoods, The Story of the Ku Klux Klan” by Robert P, Ingalls, p. 125, 1979
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waren, wenn man mal von der goldenen Nase, die sich einige dabei verdienten, absah. Hetzjagden machte man auf Schmuggler, Glücksspieler, aber auch auf Leute, die man des Ehebruchs verdächtigte, oder von denen man annahm, daß sie ihre Frauen schlugen oder ihre Kinder vernachlässigten. Auf solche Touren nahm man Peitschen mit, Eimer mit Teer, Säcke mit Kissenfedern. Der Sadismus des Klans führte oft zu Verstümmelung und sogar Tod. Polizisten, die in ihrem normalen Job so unter den Einschränkungen des Gesetzes litten, traten besonders gern dem Klan bei, um nachts nachzuholen, was sie am Tage versäumt hatten. Besonders, wo der Chef der Polizei ein Klansmann war, wie in Dallas zum Beispiel, konnte der Klan sich sicher fühlen und ungestört austoben.
Opfer und Erfolge und Mißerfolge: Ein Schwarzer, der mit einer weißen Frau verkehrte, wurde ausgepeitscht und bekam KKK auf die Stirn gebrannt. Ein weißer Rechtsanwalt wurde geteert und gefedert, weil er zu viele schwarze Klienten hatte. 1925, John T. Scopes wurde verboten, Darwinismus zu unterrichten. Landesgesetze verboten Lehren, die der Bibel widersprachen.
Konnte man auch mit evolutionistischen Lehrern rumspringen, wie man wollte, mit Gott konnte man es nicht. Es war ein bewölkter Sommertag (8.8.1925), als der Große Kleagle L. A. Müller seiner Gemeinde versicherte: “Es wird nicht regnen. Wir
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werden beten. Noch nie hat Gott Regen auf eine KKK-Veranstaltung gegossen.” Minuten später waren alle naß. Reverend Dr. A. H. Gulledge, der meinte, von Berufs wegen sich besser auf den Umgang mit Gott zu verstehen, übernahm dann das Beten. Kniend flehte er: “Oh, Gott, ich bitte dich, laß den Rest unserer Versammlung ohne Regen sein.” Oh, Gottogott, jetzt regnete es noch stärker.
Ein anderes Mal regnete es sogar irische Kartoffeln. Das war in South Bend, Indianas zweitgrößter Stadt, wo sogar die Polizei den Anti-KlanDemonstranten beim Bewerfen der weißen Ritter half. Auch das ließ Gott zu.
Katholiken: In Denver wurde der Slogan ausgegeben: “Katholiken, ihr seid keine Amerikaner.” An einem Restaurant als antikatholische Propaganda: “Wir servieren Fisch jeden Tag - außer Freitag.”
In den Dreißiger Jahren wurde Antikommunismus in die Produktion der Klanschen Haßfabriken mit aufgenommen. Kommunisten waren gegen Gott, Familie, Mutterschaft, weiße Vorherrschaft und Amerikanismus.
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Dennis Hubert, Sohn eines angesehenen, Schwarzen Pastors, sah wie von drei besoffenen, weißen Frauen eine umkippte. Er riet den beiden anderen: “Sie bringen die betrunkene Lady besser nach Hause.” Ein junger Weißer erschoß am nächsten Tag Dennis Hubert, weil er eine weiße Frau beleidigt hatte. Die Schöffen zeigten Verständnis für den Mörder und sprachen ihn frei. Der Kourier1 erklärte seinen Lesern: “Da von Kommunisten aufgehetzte Schwarze anfingen `Rechte' zu verlangen, seien drastische Maßnahmen notwendig.”
Eine andere drastische Maßnahme: Gegen Gewerkschaftler. Die Zigarren-Großmogule von Tempa, Florida, ärgerten sich darüber daß Joseph Shoemaker die Arbeiter organisieren wollte. Shoemaker gehörte einem gemäßigten Flügel der Demokratischen Partei an. Die Polizei nahm ihn und einige seiner Mitkämpfer wegen kommunistischer Aktivitäten fest. Da sie ihnen aber nichts nachweisen konnten, lieferten die Polizei die Gewerkschaftler an den Ku Klux Klan aus. Von den Kluxern und Kluxerinnen wurden sie ausgezogen, gepeitscht bis zur Ohnmacht, gefedert und geteert. Shoemakers Genitalien wurden mit einem glühenden Schüreisen verstümmelt, eines seiner Beine in einen Eimer mit kochendem Teer getaucht, dann wurde er in der Kälte liegen gelassen. Erst am nächsten Tag wurde er gefunden und ins Krankenhaus gebracht. Die Ärzte versuchten sein Leben durch eine Beinampultation zu retten, aber er starb nach neun Tagen.
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eine Zeitung
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Für die Täter (Kluxer und Polizisten) zahlte Zigarrenfabrikant die Haftkaution von 100 000 Dollar.
ein
lokaler
Später Freispruch.
Deutsche Version: 1923 trat Reverend Strohbein, ein naturalisierter Amerikaner, die Rückreise nach Deutschland an, um KKK-Deutschland zu gründen. Er wurde zum Erhabenen Wotan seiner Organisation und seine Leutchen mußten vor deutscher und amerikanischer Flagge knien, sowie vor dem Kreuz. Der dreihundertköpfige Klan schwor Deutschland von den Juden zu befreien. Deutschland war damals voll mit solchen geheimen Werwolforganisationen, mit nächtlichem Drill und ihrer Manie, Waffen zu horten und Militäraktionen nachzuäffen, kriminelle Narrheiten auszuführen etc.1 Der Einhodige mit seinem Bedürfnis nach Disziplin und Organisation räumte mit ihnen auf.
Wenn der Erhabene Wotan sich in Konkurrenz zum Einhodigen sah, in Amerika sahen die Klansleute in Hitler einen Verbündeten. “Wenn Hitler all die Juden in Europa umgebracht hat, wird er uns helfen, unsere Juden an die Miami Beach zu treiben und ins Meer zu jagen”, sagte ein Klansmann in Miami 2 schon Anfang der Dreißigerjahre, als in Deutschland angeblich keiner etwas von was wußte.
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“The Fiery Cross, The Ku Klux Klan in America” by Wyn Craig Wade, p. 526, 1987, New York
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“The Fiery Cross, The Ku Klux Klan in America” (S.268) by Wyn Craig Wade, p. 526, 1987, New York
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Hitler hatte damals noch mehr Freunde in Amerika: `Die Freunde von Hitler', `die Hakenkreuz-Liga', `Teutonia' etc. Sie vereinigten sich 1936 zum Amerika-Deutschen-Volksbund. Selbst Indianer wurden Mitglied. Häuptling Neumond nannte sich selbst einen hundertprozentigen, wörtlich: vollbefiederten Nazi. Und Häuptling Rote Wolke vom Siletz Stamm ließ sein Indianerkostüm mit Hunderten von kleinen, glänzenden Hakenkreuzen einfassen.
Und selbst nach dem Krieg lehrte der Tennesse Kleagel des Klans, Jesse B. Stoner, ein Kriegsveteran, der eigentlich gegen Hitlerdeutschland gekämpft hatte: “Die Juden sind die Kinder des Teufels.” (nicht die Nazis!) (Siehe auch Bibel, Johannesevangelium 8. Kapitel, 44) und “Hitler war zu gemäßigt.” Weiter predigte der pickelige “J. B.” Stoner: “Wir müssen die Juden raus aus unserem Land kriegen, und ich meine nicht: Schickt sie woandershin in ein anderes Land! Ich werde nicht zufrieden sein, solange es noch Juden gibt hier oder irgendwo anders. Ich meine, wir sollten alle Juden töten, schon allein, um ihren ungeborenen Generationen die Hölle zu ersparen.”1 J. B. dachte also durchaus an die Wohlfahrt der Juden, eine edle Absicht, die dem Einhodigen abging, da er nicht fromm genug war. Als gläubiger Christ glaubte JB, daß es für Juden kein Seelenheil gäbe und ihnen die Hölle gewiß sei. Durch die Ermordung aller lebenden Juden, also totale Ausrottung, tat man seiner Meinung nach ein gutes Werk, denn man rettete unzählige ungeborene Kinder und Kindeskinder vor der ewigen Pein des Höllenfeuers. Das war natürlich alberner Unglaube, ach nein, das ist ein Pleonasmus: Glaube ist immer Un-, wenn Religion gemeint ist, nämlich Unwissen, -
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“The Fiery Cross, The Ku Klux Klan in America” (S.283) by Wyn Craig Wade, p. 526, 1987, New York
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und albern sowieso. Man weiß etwas oder man weiß etwas nicht und stellt Vermutungen an, aber eins ist gewiß, wenn wir alle Menschen umbringen, ersparen wir uns und unseren ungeborenen Kindern sowie unserer Umgebung eine Menge Leiden und noch mehr Unsinn.
Seit 1923 hatte der Klan einen neuen Messiah David Curtis Stephenson, ein Schlangenölverkäufer. Daniel Clarke war an seinen zwei Schwächen, Whiskey und Weiber, gescheitert. Stephenson, kurz `Steve' genannt, vergrößerte den Zulauf zum Klan so enorm, daß er sich schon bald für Napoleon reinkarniert hielt. Er machte einen Deal mit Pastoren: “Wenn immer sich jemand dem Klan anschließt, verpflichten wir ihn, sonntags in die Kirche zu gehen, wir können ihn dazu verpflichten, in Ihre Kirche zu gehen, wenn Sie sich entschließen, Mitglied zu werden.” So ein Hochwürden dachte dann natürlich gleich an sein Klingelbeutelchen, und wieviel mehr so ein neues Mitglied im Klingelbeutelchen bedeutete, und dankte Gott für das großzügige Angebot. Visitations und donations bei Pro-Klan-Pastoren verstärkte die Bindung zwischen Kirche und Klan noch. Um bei der Bevölkerung den Eindruck von Frömmigkeit und Güte noch zu steigern, kam es zu spektakulären Spendenaktionen, bei denen während des Gottesdienstes Klansmänner in ihrer weißen Maskerade den Mittelgang der Kirche entlang schritten, um am Altar dem Pastor einen Batzen Bargeld zu übergeben. Zu Stephensons Zeiten waren 9 von 10 Klanredner `Reverend'. Bei so viel überirdischem Schutz wurde Steves Traum verständlich.
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Stephensons Traum: Mussolini von Amerika, Napoleon der USA; wollte Präsident werden und dann Diktator und schließlich wohl Weltherrscher. Fiel aber schon beim ersten Schritt durch. Das kam durch eine Affäre mit einer kleinen Angestellten, der er geholfen hatte, ihren Job zu behalten. Madge Oberholzer hieß sie. Stephenson hatte einen eigenen Eisenbahnwaggon, den er für seine Reisen an den normalen Zug anhängen ließ. In diesen Waggon hatte er Madge Oberholzer gelockt. Sein Appetit war enorm. Eine einfache Vergewaltigung konnte einen großen Mann wie ihn nicht, nie und nimmer, befriedigen. The Grand Old Man des Klans war a dirty old man, a very dirty, old man: Er fraß an ihr herum, bis sie vor Schmerzen ohnmächtig wurde, und noch länger. Natürlich besonders um ihr Geschlechtsteil hatte sie nachher Bißwunden. In diesem Zustand konnte er sie nicht wieder laufen lassen. In ihrer Gefangenschaft gelang es Madge, sich Merkuriechlorid-Tabletten zu besorgen. Tagelang lag sie in Todeskrämpfen. Statt sie ins Krankenhaus zu bringen, hielt er sie in einem Zimmer über seiner Garage gefangen. Als einer seiner Leibwächter sie schließlich ins Elternhaus zurückbrachte, er behauptete, sie hätte einen Unfall gehabt, war es zu spät. Sie starb. Zuerst machte Stephenson sich gar keine Sorgen, denn er dachte, einem Mann mit seiner Macht könne nichts passieren. Selbst als er vom Gericht ins Gefängnis geschickt wurde, konnte er nur lachen. Der Governor Ed Jackson war sein Freund. Stephenson selbst hatte ihm zur Macht verholfen. Er zweifelte nicht einen Augenblick daran, daß Jackson ihn sofort begnadigen würde. Doch der tat es nicht. Soviel Mut hatte er nicht. Bei aller Freundschaft. Einen so schlimmen Sexualverbrecher freizusprechen, hieße politischen Selbstmord zu begehen. Aus Rache ließ Stephenson die zwei kleinen Schachteln öffnen, die all die kompromittierenden Details enthielten, mit denen er die führenden Politiker der edlen Elephantenpartei in der Hand gehabt hatte. Viele prominente Republikaner und Klansleute stolperten die Treppe hinunter, einige endeten im Verlies, Gefängnis. Denn Verbrechen hatten sie ja alle genug begangen. 840
Stephenson blieb 31 Jahre hinter Gitter. Als er rauskam, erinnerte sich kaum noch jemand daran, daß er mal so etwas wie ein Messiah war. Enthüllungen: Leute, die den Klan hatten verlassen wollen, waren zu Tode geprügelt worden; ein Mann in Terrell, Texas, war in Öl getränkt und dann in Anwesenheit von Hunderten von Klansmännern angezündet und verbrannt worden. Teer- und Feder-Parties hatte es Tausende gegeben, ebenso Tausende von blutigen Fällen. Doch es waren die Einzelschicksale, die die Bevölkerung am meisten erregten. Kalte Statistiken erregten die Massen nicht, selbst wenn es Mordstatistiken waren.
Gegen die Hungermärsche der Dreißiger: “Negroes, Hunks, Dagos and all the rest of the scum of Europe's slums.”
Gegen Kommunismus: Weiße Geschäftsleute rückten den Kommunisten immer mehr ins Feindbild des Klans, wobei allerdings schon jeder der einem Schwarzen gegenüber freundlich war, des Kommunismus für schuldig befunden wurde. Für den Einhodigen: Klan, Bund (Hitlers amerikanische Nazi-Party) und deutsche Nazis hielten gemeinsame Veranstaltungen ab. Amerikanische AntiFaschisten standen am Zaun und schrien: “Nagelt Hitler ans Kreuz!”1
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“The Fiery Cross, The Ku Klux Klan in America” by Wyn Craig Wade, p. 526, 1987, New York
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Klan konterte mit: “Ein guter Kommunist ist ein toter Kommunist.” Ein Satz, den man bis zum Untergang des Kommunismus noch oft hören sollte. Ursprünglich hieß der Satz mal: `Ein guter Katholik ist ein toter Katholik', aber auch schon mit dem Wort `Nigger' hatte er funktioniert, bloß hatte er da den Nachteil gehabt, daß man eine billige Arbeitskraft weniger hatte. Wenn auch der Haß auf Katholiken Ende der Dreißiger in den Hintergrund trat, der große Held Hitler war ja selbst Katholik, so doch nicht der Haß auf Neger und rassisch Minderwertige. Wie gut man damals mit den Katholiken auskam, zeigte die folgende Episode: Im Januar '39 luden die Katholiken zur Einweihung der katholischen Kathedrale von Christus dem König, die sie auf ehemaligem Klansland neben des Klans altem, kaiserlichem Palast erbaut hatten, auch den Großen Zauberer, den Imperial Wizard des Klans, ein. Und der akzeptierte sogar. Diese große Hexenmeisterposition hatte damals gerade Hiram Evans inne. Sein öffentliches Auftreten mit den katholischen Heiden kostete ihm zwar seinen Job - aber nicht mehr das Leben!
Gegen FDR1, den Kindergelähmten, und seine Juden und Katholiken.
'30er/'40er Schwarze nicht zur Wahlurne!
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Franklin D. Roosevelt
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Gewerkschafter bedroht, verprügelt, verjagt, ab und zu auch mal einen verschwinden lassen, umbringen. Die nächtlichen Reiter waren so stolz wegen der vielen Leichen, die sie in Mooren, Teichen und wassergefüllten Phosphatminen versenkt hatten,…
Des Klans Bruder in Uniform = die Ortspolizei! Im März des Jahres 1940 hatte der Klan sich mal wieder in seinem großen Eifer nicht auf schwarze Opfer beschränken können, sondern auch einen weißen Barbier aus dem Orte East Point, der angetrunken war, mit dicken Ochsenziemern gepeitscht, bis er bewußtlos war. Sie hatten ihn liegengelassen, schließlich waren sie ja nicht das Rote Kreuz, daß sie Verletzten helfen mußten. Er war gestorben. Es kam zu einer Untersuchung. Und es wurden noch mehr Morde des Ku Klux Klans aufgedeckt, z. B. an einem weißen Besitzer eines Kinos für Schwarze, an einem Pastor, an einem Liebespaar etc. 8 der sadistischen Täter, einschl. 7 Deputy Sheriffs, bekamen Gefängnisstrafen. Governor Eugene Talmadge hatte Mitleid mit den Leuten und wollte sie gleich begnadigen, aber der engagierte Staatsanwalt Daniel Duke hielt ihm die dicken Peitschen unter die Nase: “Damit kann man Elefantenbullen totschlagen!” Governor Talmadges Antwort: “Mir tun die Auspeitscher leid. Ich selbst habe früher einmal mitgeholfen, Neger auszupeitschen, und ich war dabei nicht in schlechter Gesellschaft. Der Apostel Paulus war ein Auspeitscher in seinem Leben, dann bereute er und nahm den Glauben an und so reformiert wurde er einer der größten der christlichen Kirche.
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Das beweist, daß gute Leute irregeleitet werden können, schlechte Dinge zu tun.”1&2 Doch erst als die Japaner Pearl Harbour angriffen und der junge Staatsanwalt Duke der Kriegsmarine beitrat, wagte es der Governor, sein gutes Werk zu tun. Trotz Proteste begnadigte er die Peitscher des KKK. Es sollte nicht das letzte Mal sein, daß Peitscher und Mörder des KKK so billig wegkamen.
Der Zweite Weltkrieg und die Sympathien, die der Klan den Nazis entgegen gebrachte hatte, hatte dem KKK schwer geschadet. Viele Weiße hatten sich in dieser Zeit vom Klan distanziert. Wer Schwarze als Soldaten gebrauchen wollte, durfte ihnen nicht mit Rassismus kommen. In der Armee hatte nahezu rassische Gleichberechtigung geherrscht, auch Europa schien viel mehr farbenblind zu sein als die Amerikaner. Und Freiheit war so ein großes Wort geworden während der Kriegszeit. Kein Wunder, daß die Schwarzen nun auch zu Hause mehr Freiheit forderten. Schon 1944 hatte das Oberste Gericht die Beschränkungen, die den Schwarzen des Südens das Wählen erschwerten, als verfassungswidrig verurteilt. Aber immer mehr Schwarze forderten die radikale Abschaffung aller Jim-Crow-Gesetze. Als dann auch noch der Präsident der V. S. Harry S. Truman sich für die Erweiterung der bürgerlichen Rechte auf Schwarze einsetze, hatte Dr. Samuel Green, ein Geburtshelfer von Beruf, seine große Stunde. Als Großer Drachen von Georgia ermahnte er den Präsidenten in einer Rede: “Wer mit Niggern zusammensitzen und essen will, der soll es
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“The Ku Klux Klan America's Recurring Nightmare” by Fred J. Cook, p. 160, 1980 New York
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“The Fiery Cross, The Ku Klux Klan in America” by Wyn Craig Wade, p. 526, 1987, New York
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tun, aber Gott selbst hat die Rassen getrennt, und Yankee Bajonette können sie nicht zusammentreiben. Einige Dinge sind jenseits der menschlichen Gesetze.” Im Süden herrschte Rassentrennung vom Kreißsaal bis zum Friedhof. Dr. Green gelang es zwar nicht den Präsidenten zu überzeugen, aber er verhalf dem Klan zu neuem Leben.
In der von ihm gegründeten Unterabteilung des Klans, dem Klavalier Klub, a flogging squad, eine Peitschpatrouille kam jeder Klavalier mal an die Reihe mit dem Peitschen. Man wechselte sich natürlich nur an der Peitsche ab, das Opfer blieb immer das gleiche, irgendein Menschenrechtler oder ein Schwarzer. Diese Orgien waren natürlich im Gegensatz zu irgendwelchen Flagellantentreffs für die Opfer in keiner Weise lustvoll, im Gegenteil, sie riskierten Verstümmelungen oder gar Tod. Bei den Tätern war aber zweifellos Sexualität mit im Spiele, auch wenn sie sich fromme Motive vorlogen. Und frommer wurde der Klan, immer frommer. Bald nach Dr. Greens erfolgreichen Wiederbelebung waren über 40 000 protestantische Priester Mitglied des Klans. Ihnen kam die Ehre der kostenlosen Mitgliedschaft zu. Es lohnte sich, da sie viele zahlende Mitglieder herbeischafften, durch ihre Predigten und ihr gutes Beispiel. Die meisten Priester wurden aus diesem Grund auch gleich Erhabene Zyklopen. Die Mehrzahl verdiente sich als Klokards des Klans noch ein Dazubrot. Klokards waren - wir erinnern uns - die Vortragsreisenden des Klans. Aber sie trugen nicht wirklich vor, sondern predigten und schimpften. Sie beschimpften alles, was nicht in ihre rückständige Welt paßte, selbst Automobile waren nicht vor ihnen sicher, obwohl sie selbst mit dem Automobil anreisten. 845
Automobil, das hieß damals fast ausschließlich Tin Lizzie, sie nannten sie ein Bordell auf Rädern, mit dem die Leute wer weiß wohin fuhren. Ja, Mobilität und Horizonterweiterung waren die größten Feinde einer jeden Priesterschaft. Reverend (= Hochwürdiger) E. F. Stanton, Klokard des Klans aus Kansas City, klagte klaubwürdig in seiner Predigt: “Die Sünder betteln nicht mehr um Vergebung. Die Mädchen haben ihre Schüchternheit verloren. Die Männer lieben ihre Frauen nicht mehr wie Jesus die Kirche. Frauen lästern Gott, indem sie ihre Männer verleugnen.”1 Der Klan verkaufte sich als Rückkehr zum Puritanismus in jener korrupten, jazz-verrückten Zeit. Die Andreherei übernahmen die Priester: “Der KKK ist der maskuline Teil des Protestantismus, die Männlichkeit der protestantischen Kirche, die Militanz. Die Kirche muß militant und spirituell sein. Lasset uns beten: Ich glaube an Jesus Christus und seine Heilige Kirche, an das Kreuz und an das militante Christentum.....” Fundamentales Christentum erwies sich als Goldgrube für den Klan. In Utah traten jetzt selbst die früher wegen ihrer Exklusivität gemiedenen Mormonen-Priester dem Klan bei. Bei soviel Frömmigkeit war es kein Wunder, daß, wer es versäumte, am Sonntag in die Kirche zu gehen, riskierte, in der Nacht auf Montag überfallen und ausgepeitscht zu werden. Auch Respektlosigkeit gegenüber den Eltern und Faulheit ahndete der Klan zum Beispiel in ländlichen Gegenden von North Carolia mit der Peitsche.
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“The Fiery Cross, The Ku Klux Klan in America” by Wyn Craig Wade, p. 526, 1987, New York
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Der Klan zerstritt und zerteilte sich in der Nachkriegszeit immer mehr: Die Weißen Ritter des KKK, die Südlichen Ritter des KKK, die Christlichen Ritter des KKK et ceterarara. Allen war eins gemeinsam: eine perverse Mischung aus Haß, Übermut, Unter- und Unmenschlichkeit. Als der Sonnenschein-Staat Florida Altersruhesitz jüdischer Pensionäre wurde, wußte die Südlichen Ritter, daß Gott Häßlichkeit in das Gesicht der Juden gestempelt hatte, aus dem gleichen Grund, aus dem er Klappern an die Klapperschlange gemacht hatte.
Im Jahre 1951 gingen allein in Miami 18 Bomben hoch: Jüdische Synagogen, katholische Kirchen, Häuser von Schwarzen und Bürgerrechtskämpfern. Professor Moore war beides, schwarz und Bürgerrechtskämpfer. Er hatte Schwarze aufgefordert, sich als Wähler registrieren zu lassen, hatte die Vermischung von Klan und Ortspolizei kritisiert und den Tod von Schwarzen in Polizeigewahrsam investigiert. Kurz vor Weihnachten wurde der zweiundzwanzigjährige Matrose Raymond Henry von einem Wauchula Polizisten angesprochen, ob er nicht eine Bombe bauen und helfen könne, sie in der Wohnung von Professor Moore zu legen, der Klan würde ihm 2000 Dollar dafür geben. Sheriff McCall versprach auch, ein Automobil zur Verfügung zu stellen und die Barrechnung für die Siegesfeier nach getaner Tat zu bezahlen. Der Matrose nahm an. Am Weihnachtstag gingen Henry, sechs Kluxer und ein Polizeibeamter zu Moores Wohnsitz. Einer von ihnen lockte Professor Moore mit der Bitte, ihm bei der Suche nach dem Haus einer Verwandten behilflich zu sein, aus der Wohnung. Frau Moore war gerade bei Freunden. So konnten die anderen ungestört in das Haus eindringen und ihre Bombe unter dem Ehebett verstecken. Es war nicht nur Weihnachten, sondern auch der Silberne Hochzeitstag des Ehepaares Moore. Man kann also annehmen, daß sie einander 847
zärtlich in die Augen sahen, bevor sie das Licht verlöschten, um schlafen zu gehen. Zehn Minuten später zündeten die Attentäter ihre Bombe. Beide waren zunächst noch am Leben, nur schwer verletzt. Herr Moore kam zu spät ins Krankenhaus, weil die Krankenwagen in Florida sich damals weigerten, Schwarze zu transportieren, und erst der Schwiegersohn gefunden werden mußte, der die Verletzten dann mit seinem Auto ins Krankenhaus brachte. Frau Moore starb eine Woche nach dem Attentat. Siebenundzwanzig Jahre später gestand Raymond Henry die Tat. Obwohl es keine Verjährungsfrist für Mord in Florida gab, weigerten sich die lokalen Behörden, die Mörder zu verfolgen. 1 Das waren nur zwei Opfer, aber der Klan hatte lange Kluxlisten. Um in die Häuser einzudringen, war ihnen jede Art von Trick recht: ein Autofahrer, der eine Panne hatte und um Hilfe bat, oder andere Arten von Hilfesucherei, die Bitte, das Telefon benutzen zu dürfen oder die Toilette. Wenn die Tür dann erst offen stand, ergriff man das Opfer, zog es raus und peitschte es oder je nachdem. Als Folge davon wurden noch zu Adjunas Zeiten die Türen verriegelt gehalten und die Schußwaffen bereit. Und wenn man jemanden auf seinem Grundstück sah, dann schoß man zuerst und stellte erst hinterher Fragen, die natürlich nicht mehr beantwortet wurden, da man sich immer bemühte, gleich einen Todesschuß zu verpassen, alles andere war Selbstmord. Verwundete schossen zurück, das wußte man. Die Zeitungsjungen bekamen übrigens in den Südstaaten eine Gefahrenzulage.
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“The Fiery Cross, The Ku Klux Klan in America” by Wyn Craig Wade, p. 526, 1987, New York
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Einmal, als die Christlichen Ritter des KKKs sich als Sportverein ausgaben und ein unverheiratetes Liebespaar (Sind Liebespaare nicht immer unverheiratet?) aus dem Bett holten, machte die Kluxer einen Fehler: Sie fuhren mit ihren gekidnappten Opfern von North nach South Carolina, also über die Staatsgrenze, - und damit wurden die Mißhandlungen an dem Liebespaar zu einer Angelegenheit des Federal Bureau of Investigation und die vom FBI hatten im Gegensatz zur lokalen Behörde ein Interesse daran, daß die Täter gefunden und verurteilt wurden. Für das Auspeitschen des Liebespaares mit Treibriemen, die an den Griff einer Pickhacke genagelt waren, bekam der Rädelsführer Hamilton vier Jahre, fünfzehn seiner Leute je drei, der Rest von neunundvierzig der Christlichen Ritter insgesamt 18 250 Dollars Geldstrafe.
Der Echte Ku Klux Klan wurde von Asa “Ace” Carter in Alabama gegründet. Asa Carter war von anderen KKK-Organisationen wegen Extremismus ausgeschlossen worden. Asa liebte Blut über alles, über alles in der Welt. Hitler liebte er auch. Zu den blutigen Ritualen seiner echten Kluxer gehörte das Aufschneiden des Pulses, um Dokumente mit Blut zu schreiben, und die rituelle Kastrierung und Tötung von Schwarzen als Mutprobe. Als bei einer Klaverne mal zwei seiner Kluxer den “Großen Marshall Ace” zu eindringlich nach den Finanzen oder besser nach dem Abbleiben der Einnahmen fragten, zog dieser Echte Ritter nur seinen Revolver und schoß seine eignen Leute tot. Für den Doppelmord wurde er nie bestraft. Er hatte einflußreiche Freunde. Governor George Wallace machte ihn später zu einem hochrangigen Berater.
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In den 50er und 60er Jahren entdeckte der Klan das Bomben neu. Die edlen Ritter, die Crème der weißen Rasse, bombte schwarze Schulen, Kirchen und Wohnhäuser von Schwarzen.
1955 saß eine müde, schwarze Frau, Rosa Parks, in der ersten Reihe des Schwarzenteils des rassengetrennten Busses. Im vorderen, für die Weißen reservierten Teil des Busses waren alle Plätze besetzt. Da stieg noch ein weißer Mann hinzu. Normalerweise hätte er jetzt stehen müssen. Der Busfahrer, der hier mehr Autorität über seinen Bus hatte als ein Kapitän auf hoher See, wollte dem Mann aber wohl einen Gefallen tun. “Heh, Niggers, ich will die Plätze!” so verlangte er, daß Rosa Parks und natürlich auch die anderen drei Personen in der Reihe, denn es ging ja nicht, daß der weiße Mann neben einem Schwarzen saß, aufstanden. Während die Nachbarn sich gleich davon schlichen, weigerte sich Rosa Parks aufzustehen. Sie rutschte nur ganz rüber in die Ecke. Es war eigentlich gar nicht ihre Absicht, einen Protest zu veranstalten oder eine soziale Revolution ins Rollen zu bringen, sie war nur ganz einfach erschöpft vom langen Arbeitstag and fed up with all, die Schnauze voll. Die Busfahrer hatten eine lange Vergangenheit voller Schikanen gegenüber schwarzen Passagieren, mal fuhren sie an, bevor der Schwarze, der vorne bezahlen, aber von hinten einsteigen mußte, die Hintertür erreicht hatte, ein anderes Mal schlossen sie ihm die Tür vor der Nase; einer Schwarzen wurde mal der Arm eingeklemmt, daß sie mitgeschleift wurde, bis zur nächsten Haltestelle. Rosa Parks war nicht die erste, die sich weigerte aufzustehen, früher im gleichen Jahr hatten sich schon mal zwei schwarze Frauen geweigert aufzustehen. Eine davon, Claudette Colvin, eine 15jährige Studentin, war brutal aus dem Bus gerissen worden und danach wegen schwerer tätlicher Beleidigung und Mißhandlung sowie Mißachtung der JimCrow-Gesetze angeklagt und bestraft worden. Weil Rosa Parks sich weigerte, stoppte der Busfahrer seinen Bus, lief zur nächsten Telefonzelle und rief die Polizei. In der Zwischenzeit 850
stiegen die meisten Fahrgäste aus, denn sie wußten, daß es länger dauern würde. Einige nahmen andere Busse, andere gingen zu Fuß. Rosa Parks blieb sitzen, bis die Polizei kam und sie abführte. Aber das Maß war voll. Daß eine höfliche, bescheidene Näherin ins Gefängnis geworfen wurde, weil sie im Bus auf ihrem Platz sitzen geblieben war, hatte das Maß voll gemacht. Das war in Montgomery. Und was folgte, ging als der Montgomery Bus Boycott in die Geschichte ein. Dieser Busboykott leitete einen langen Kampf der Schwarzen gegen Rassentrennung und Benachteiligung ein. Der Boykott selbst dauerte in Montgomery über ein Jahr. Kein einziger Schwarzer benutzte in der Zeit einen Bus. Aber die weiße Stadtverwaltung blieb hart. Der schwarze Prediger und Wortführer der Bewegung Martin Luther King jr. erreichte aber nicht nur, daß alle Schwarzen mitmachten, sondern auch, daß der Protest völlig gewaltfrei verlief - zumindest von Seiten der Schwarzen. Am 30. Januar 1956, als Martin Luther King in der schwarzen First Baptist Church wieder einmal über Nächstenliebe und gewaltlosen Widerstand predigte, erreichte ihn die Nachricht von einem Bombenanschlag auf sein Haus. Zum Glück war den Frauen im Haus nichts passiert, und auch das kleine Baby, Kings Tochter, war unversehrt geblieben. Dr. King blieb der Gewaltlosigkeit treu. Er ermahnte seine Gemeinde: “Auge um Auge, Zahn um Zahn, das endet nur mit einer blinden Generation und zahnlosen Leuten.” Er hatte recht, Gewalt und Gegengewalt heilen nichts, sondern vergrößern nur das Leiden - auf beiden Seiten, auf der eigenen und der des Gegners. Doch wenn beide tot sind, leidet keiner mehr. 851
Martin Luther King eilte nach Haus. Vor der zerstörten Front Porch seines Hauses hielt er seine erste Fernsehrede. Das hatten die Attentäter sicher nicht gewollt. Trotz des Propagandaerfolges der Schwarzen sollten noch viele Bomben und Attentate folgen. Als nach über einem Jahr Boykott der Supreme Court, also das oberste Gericht, entschied, daß Rassentrennung in öffentlichen Transportmitteln illegal war, und in Montgomery folglich gemischt besetzte Bussen fuhren, schossen frustrierte Rassisten noch einmal auf Dr. Kings Haus und dreimal auf voll besetzte Busse. In tiefer Nacht bombten sie auch das Haus von Ralph David Abernathy, Martin Luther Kings rechter Hand. Diesmal richteten sie beträchtlichen Sachschaden an. Aber obwohl die Bombe direkt vor dem Schlafzimmer an der Gasleitung plaziert war, überlebten Abernathys schwangere Frau Juanita und das kleine Töchterchen Juandalynn, die gerade allein im Haus waren, den Anschlag. Als während der Vernehmung durch die herbeigeeilte Polizei in der Ferne der Himmel aufhellte und eine weitere Explosion zu hören war, rutschte der immer noch zitternden Frau Abernathy ein erschrockenes “Was-war-denn-das?" raus. Der Polizeibeamte blickte großartig auf seine Uhr: “Das wird eure First Baptist Church sein.”1 In dieser Nacht wurden insgesamt vier schwarze Kirchen in die Luft gesprengt. Die anderen Kirchen waren die Bell Street Baptist Church, die Hutchison Street Baptist Church und die Mt. Olive Baptist Church. Ein weiteres Wohnhaus, nämlich das von Reverend Graetz, einem weißen Pastor einer schwarzen, lutherischen Kirche, wurde auch gebombt. Auch dort war nur durch großes Glück niemand verletzt worden. Die Bewegung des gewaltlosen Widerstandes gegen Diskriminierung und Rassismus ging weiter, und die gewaltsamen Reaktionen auch.
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R. D. Abernathy “And The Walls Came Tumbling Down. Autobiography”.
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Aber nicht alle Verbrechen des Klans waren eine Reaktion auf die Bürgerrechtsbewegung. Es gab auch völlig willkürliche Gewalttaten. In Alabama wurde Edward Aaron sadistisch zerstückelt: Mutwille, ein Eignungstest, eine Mutprobe, um den Wert eines Klansmannes zu testen, der promoviert werden wollte. Die erstrebte Würde innerhalb des Klans war die eines Kapitäns der Lüge. Bei diesem Foltern bis zum Tode hatte der Kandidat dem Opfer als erstes die Hoden abgeschnitten. Sie wurden dann in einem Pappbecher herumgereicht.1 Die weißen Klansmänner fühlten sich zwar einem Schwarzen in jeder Beziehung überlegen, bloß was sexuelle Potenz betraf, fühlten sie sich dem `schwarzen Biest' unterlegen, deshalb die vielen Klastrationen durch Klansmänner, neidische Klansmänner. Der Promotion in den Rang des Lügenkapitäns folgte zwar die Festnahme durch die Polizei. Doch Governor George Wallace zeigte Verständnis für die Spielchen des Täters und begnadigte ihn. Aber nicht immer war George Wallace so verständnisvoll. Als in Tuscaloosa die Rassentrennung an der Universität von Alabama aufgehoben wurde, reagierte er ablehnend: “Im Namen des großartigsten Volkes, das je die Erde betreten hat, ziehe ich eine Linie im Staub und werfe meinen Fehdehandschuh vor die Füße der Tyrannei und sage: Rassentrennung heute, Rassentrennung morgen, Rassentrennung für immer.” Aber wir waren ja bei Bomben und nicht bei leeren Worten. Übrigens dauerte das `Immer' in “Rassentrennung-für-immer” danach nicht einmal so lange wie das Tausendjährige Reich. Als nach den Erfolgen der Bürgerrechtsbewegung, den Schwarzen die Wahlurnen ohne Schikanen, Schreib- und Eignungstests und das Auswendig-
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“The Fiery Cross, The Ku Klux Klan in America” by Wyn Craig Wade, p. 526, 1987, New York
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Daherleiern-der-Verfassung offenstanden, machte selbst George Wallace eine große Wende, und man sah ihn eifrig schwarze Babys küssen, aber er setzte sich auch ernsthaft für die Belange der Schwarzen ein, denn ohne deren Stimme konnte man in Alabama nichts mehr werden. Doch bis dahin war es ein langer Weg und viel ereignete sich, zwar nicht soviel wie im Tausendjährigen Reich des Einhodigen, dessen Geschehnisse selbst für tausend Jahre zuviel hätten sein sollen, aber eben doch viel. Aus Birmingham wurde Bombingham mit Dynamite Hill (= Hügel). Namen, die man nachher aber nicht beibehalten hatte. Wie immer, waren auch in Birmingham die Bomben die letzte Rache für die Abschaffung eines Unrechts. Als die Stadtväter endlich dem Protest der Bürgerrechtsbewegung nachgaben und versprachen, die Rassentrennung für Toiletten, Waschräume, Trinkbrunnen, Restaurants und die Amtsbibel, bei der geschworen wurde, aufzuheben, sowie mehr Beschäftigungsmöglichkeiten für Schwarze zu schaffen, zeigte das häßliche Monster Rassismus noch einmal seine Fänge. Die Schwarzen freuten sich des schnellen Sieges und die fortschrittlichen Kräfte des Ortes dachten schon darüber nach, wie man aus der Dreiteilung der Toiletten `Herren/ Damen/ Farbige' eine Zweiteilung machen könnte, was einiges Kopfzerbrechen verursachte: drei war bekanntlich eine Primzahl, da explodierte die Hotelsuite des Gaston Motels, die Martin Luther King und sein Stab als Hauptquartier benutzt hatten. Zum Glück hatten sie die Räumlichkeiten gerade verlassen. Am gleichen Abend wurde auch das Haus von A. D. King, Dr. Kings Bruder, bombardiert, aber auch dort war gerade keiner zu Hause. Es gab noch mehr Bombenanschläge. Die Attentatsversuche beunruhigten den amerikanischen Präsidenten so sehr, daß er sich zum ersten Mal öffentlich im Fernsehen für die Bürgerrechtsbewegung aussprach, bisher war er immer zu sehr mit Anti-Kommunismus beschäftigt gewesen. John F. Kennedy war sein Name. Er kam bei einem Attentat um.
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Viele Bomben erwiesen sich als Nieten, sie gingen hoch, wenn keiner zu Haus war. Es dauerte Wochen, bis dem Ku Klux Klan ein Volltreffer gelang. Das war am 15. September 1963, der vierte Bombenanschlag des Monats, der fünfzigste insgesamt: Vier schwarze Mädchen, die jüngste elf, hatten die Sonntagsschule in der 16th Street Baptist Church in Birmingham besucht. Das Thema des Sonntags war `die Liebe, die vergibt' gewesen. Sie hüpften fröhlich, die Treppe hinunter, die von der Eingangshalle ins Untergeschoß führte, wo sie sich in den Umkleideräumen ihre Chorgewänder anziehen wollten, als von einem Auto weiße Männer ein Bündel von fünfzehn Dynamitstangen in den Eingang warfen. Die vier Mädchen verkrümelten mit ihrer Umgebung. Andere Gemeindemitglieder kamen mit leichteren Verletzungen davon. Das Gebäude war schwer beschädigt. Polizeichef Theophilus (= Gottlieb) Eugene “Bull” Conner regierte den Ort schon seit 23 Jahren mit Brutalität und Terror, Rassenhaß trug er wie eine Ehrenplakette, er machte keinerlei Anstalten, die Täter festzunehmen, es wäre Zeitverschwendung, hätte keinen Sinn, eine weiße Jury würde niemals einen Weißen für ein Verbrechen an Schwarzen bestrafen. Auch der FBI kannte die Täter, aber ihr Chef Hoover verweigerte die Verfolgung, wie 1980 aufgedeckt wurde. Reverend Connie Lynch, Klokard des Klan, “war hero, Jap killer", wie er sich selbst pries, kommentierte den Tod der vier schwarzen Mädchen auf einer Rally in Sankt Augustin folgendermaßen: “Und ich sage Euch, wenn man je die Leute findet, die die Kirche in die Luft gesprengt haben, dann sollte man ihnen Medaillen geben. Jemand sagte: Ist es nicht eine Schande, daß so kleine Kinder getötet wurden? Erstens: Sie waren nicht klein. Sie waren vierzehn, fünfzehn Jahre alt gewesen - alt genug, um Geschlechtskrankheiten zu haben, und es würde mich nicht wundern, wenn sie nicht eine oder mehrere gehabt hätten. Zweitens: Sie waren keine Kinder. Kinder sind kleine Leute, kleine Menschen - und das heißt Weiße. Es gibt kleine Hunde und kleine Katzen und kleine Affen und kleine Paviane und kleine Stinktiere, und es gibt kleine Nigger. Aber das sind keine Kinder. Das sind bloß kleine Nigger. Drittens: Es ist nicht schade. Wenn ich 855
Klapperschlangen töte, mache ich keinen Unterschied zwischen kleinen und großen Klapperschlangen. Sie sind Feinde, sie vergiften uns, ich töte sie alle. Und wenn es heute nacht vier Niggers weniger gibt, dann sage ich: Das ist besser für uns!”1 Und dann das Glaubensbekenntnis: “Ich glaube an Gewalt, alle Gewalt, die notwendig ist, die Niggers aus dem Land zu vertreiben oder sechs Fuß unter die Erde zu bringen.” Applaus. Aber Connie Lynch glaubte nicht nur an die Gewalt, er war auch Pastor der Kirche von Jesus Christus und ermahnte seine Zuhörer: “Ich repräsentiere Gott, die weiße Rasse und die verfassungsmäßige Regierung, und jeder, dem das nicht paßt, der kann direkt zur Hölle fahren. Ich hetze Euch nicht zu Rebellion. - Ich hetze Euch zum Sieg!”2 Der ecclesiastische Singsang “Kill the niggers! Kill the niggers! Kill, kill, kill!” bekam plötzliche eine konkrete Bedeutung: Man hatte vier Schwarze in den Büschen entdeckt, die spionierten. Die Frau..., die Damen der Goldenen Maske waren gleich Feuer und Flamme. “Zieht sie aus!” “Peitscht sie aus!” “Tut was!” “Man muß doch was tun!” “Kastriert sie!” “Wo ist der Strick?” “..., aber zieh Deine Robe aus, ich möchte nicht, daß sie schmutzig wird!”3 Die Menge schlug mit Fäusten, Knüppeln und Gewehrkolben auf die Schwarzen ein. Ein anderer Spion, nicht erkennbar, da weiß, rief von einer Telefonzelle die Polizei und den FBI. So wurden die vier
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“The Klan” by Patsy Sims, p. 355, 1978 und “The Fiery Cross, The Ku Klux Klan in America” by Wyn Craig Wade, p. 526, 1987, New York
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“The Klan” by Patsy Sims, p. 355, 1978 und “The Fiery Cross, The Ku Klux Klan in America” by Wyn Craig Wade, p. 526, 1987, New York
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“The Klan” by Patsy Sims, p. 355, 1978 und “The Fiery Cross, The Ku Klux Klan in America” by Wyn Craig Wade, p. 526, 1987, New York
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Schwarzen, schon mit Brennspiritus übergossen, aber noch nicht angezündet, gerettet. Trotz dauernder Schäden an der Gesundheit der Schwarzen sprachen die weißen Schöffen des örtlichen Gerichts die Männer und Frauen des Ku Klux Klan von der Anklage der Körperverletzung frei. Dagegen wurde die Schwarzen des unbefugten Betretens und Übergriffes für schuldig befunden.
“Der Neger ist vereint mit dem nicht-weißen, geldtrunkenen, antichristlichen Juden, der ihn beeinflußt, finanziert, propagiert, fälschlicherweise verteidigt vor Gericht und versklavt in jüdischen Geschäften und in der von ihm kontrollierten National Association for the Advancement of Colored People.” Den state direktor der NAACP, Medgar Evers, hatte man übrigens 1963 umgebracht. “Wir nehmen das Land den ausländischen Dieben und Verrätern wieder weg.” (Orginalton)
Als der Kongreß am 20. Juni 1964 John F. Kennedys Civil Right Bill, ein Gesetzentwurf der gleiche Rechte für alle amerikanischen Staatsbürger, also auch für Farbige, sichern sollte, annahm, reagierte der Klan mit sechzehn Brandstiftungen von schwarzen Kirchen, und am 21. Juni kam es noch zu einem grausamen Zwischenfall, der die gute Zusammenarbeit von Polizei und Klan zeigte. Drei junge Sozialarbeiter, James Cheney, Andrew Goodman und Michael Schwerner, die letzten beiden Jude, wurden von Sheriff Price, obwohl sie gar nicht zu schnell gefahren waren, für zu schnelles Fahren festgenommen und eingesperrt. Erst am späten Abend um 10 Uhr 30 ließ der Sheriff sie wieder frei und weiterfahren. An der dunklen, einsamen Landstraße warteten dann die Kluxer, die Mörder des Klans. Die `Hinrichtung' war erfolgreich. `Ein Sieg der Weißen Vorherrschaft', freute sich der Imperial Wizard Sam Bowers, und da er über keinerlei 857
Geschichtskenntnisse verfügte: “Das war das erste Mal, daß Christen einen Juden hinrichteten.” Er wußte zu dem Zeitpunkt noch nicht, daß man sogar zwei Juden ermordet hatte und nur einen Goi. (Die Juden hatten bekanntlich Jesus Christus hingerichtet.) Sam Bowers hielt die anglosächsische, weiße Rasse für die einzige Rasse auf Erden, die eine gerechte und stabile Regierung aufbauen und erhalten konnte. Rassenmischung führe nur zu Chaos und Tod. Ein Unionsgericht verurteilte später Bowers zu zehn Jahren Gefängnis, weil er durch seine Verwicklung in den Morden an den drei Sozialarbeitern deren bürgerliche Rechte mißachtet hatte. Unter solchen absurden Vorwänden wurden damals erwiesene Mörder an Schwarzen von Unionsgerichten verfolgt. Da Morde lokaler Gerichtsbarkeit unterlagen, konnte ein Mord an Schwarzen damals nicht anders geahndet werden. Die lokale Gerichtsbarkeit lag in den Händen der Weißen, der ganz Weißen. Weiße jedoch, die keinem schwarzen, sondern einem weißen Mitmenschen schadeten, mußten mit empfindlichen Strafen rechnen. So fuhr zum Beispiel in Georgia ein Weißer voller Wut gegen die Rednerplattform des KKK. Obwohl niemand verletzt wurde, verurteilte ihn die Jury zu 12 Jahren Gefängnis.
Ein junger Indonesier Nguyen Sinh Cung hatte in Paris die haute cuisine der Franzosen studiert und danach auch noch im erstklassigen Carlton Hotel in London bei dem berühmten Chef Escoffier die Pastetenzubereitung. So spezialisiert fand er Arbeit in der Kombüse des Luxusdampfers Latouche-Tréville. Auf ihren Reisen legte die Latouche-Tréville oft in amerikanischen Häfen an. Cung hatte großes Interesse an der amerikanischen Revolution und viele Sympathien für das amerikanische Volk. Es schockierte ihn jedoch, als er die Intoleranz, mit der die Weißen ihre schwarzen Mitbürger behandelten, sah, so, daß er anfing, Zeitungsartikel und Statistiken zu diesem Thema zu sammeln und 858
sogar eigene Recherchen unternahm. So wurde er auch ein Spezialist auf dem Gebiet des Rassenterrors. In französischen Zeitungen schrieb er dann zu diesem Thema. Die Nachkriegszeit nach dem ersten großen Krieg war die Zeit der Negerlynchungen in Amerika. Solche Veranstaltungen wurden in den Zeitungen des Südens öffentlich angekündigt. Die New Orleans States: Heute wird ein Neger verbrannt... Die Jackson Daily News: Negro J. H. heute nachmittag um fünf durch die Menge in Ellistown zu verbrennen! Wie so etwas dann aussah, beschrieb Cung seinen französischen Lesern z. B. in der Correspondance Internationale: Stellt Euch vor: Eine wütende Horde. Die Fäuste geballt. Die Augen blutunterlaufen. Schaum vor dem Mund. Schreien, fluchen, pöbeln. Diese Horde ist außer sich vor wilder Freude, angesichts eines Verbrechens, das begangen werden kann ohne Risiko. Stellt Euch vor: In einem See von Menschen ein Treibgut von schwarzem Fleisch herumgestoßen, geschlagen, getreten, gerissen, gepeitscht, beschimpft, bespuckt und hin- und hergeschubst, blutbeschmiert. In einer Welle von Haß und Bestialität ergreifen die Lyncher ihr schwarzes Opfer und zerren es in die Mitte des öffentlichen Platzes, binden es an ein Holz, bedecken es mit entzündbarem Material und begießen es mit Petroleum. Während sie darauf warten, daß es angezündet wird, schlagen sie dem Opfer die Zähne einzeln aus. Der Schwarze wird gekocht, angebräunt, gebraten. Aber er verdient es, statt einmal zweimal zu sterben. Er wird daher gehängt, oder genauer, das, was von seiner Leiche noch übriggeblieben ist, wird gehängt. Wenn alle genug haben, wird die Leiche wieder heruntergeholt. Der Strick wird in kleine Stücke geschnitten, die je nach Größe für drei 859
oder fünf Dollar verkauft werden. Souvenirs und Glücksbringer, um die sich die Damen streiten. Währenddessen auf dem Boden, stinkend von Fett und Rauch, ein schwarzer Kopf, geschändet, verbrannt, entstellt, er grinst schrecklich und scheint in die untergehende Sonne hineinzufragen: Ist das Zivilisation? Cung definierte den Klan als eine reaktionäre Gruppe, die all die Mängel einer Geheimorganisation hatte minus deren Stärke, plus den Mystizismus der Freimaurer, den Mummenschanz der Katholiken, die Brutalität der Faschisten, die Illegalität ihrer Klavernen, aber weder Doktrinen, noch ein Programm, noch Vitalität oder Disziplin. Er sagte dem Klan keine lange Zukunft voraus und tatsächlich hatte der Spuk sich schon nach wenigen Jahren fast völlig ausgespukt. Den Küchenchef Cung zog es nach einigen Jahren westlicher Kultur wieder zurück in seine Heimat. Er änderte mehrfach seinen Namen. Schließlich nahm er den Namen `Der-nach-Erkenntnis-Strebende' an, auf seiner Muttersprache hieß das Ho Chi Minh. Er wurde zur Symbolfigur des Kampfes gegen den weltweiten US-Imperialismus. Er sah noch viele amerikanische Verbrechen. Selbst schwarze Amerikaner schossen auf Vietnamesen. 1
Es war sogar ein überproportional hoher Anteil der Soldaten, die auf Vietnamesen schossen, schwarz. Das lag aber nicht daran, daß die Schwarzen bessere Schützen waren, sondern daran, daß sie sich vor dem Einberufungsbefehl nicht so leicht wie Weiße drücken konnten,
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Ho Chi Minhs Erfahrungen mit dem Ku Klux Klan wurden `The fiery Cross, the Ku Klux Klan in Amerika' von Wyn Craig Wade S. 2O3f entnommen. Auch die bei R. Piper & Co. Verlag, München 1968 erschienene Reden- und Schriftensammlung Ho Chin Minhs “Revolution und nationaler Befreiungskampf” bringt einen Artikel zum KKK.
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und wenn sie eingezogen waren, wurden sie auch viel eher in die vorderste Reihe der Front geschickt. Trotz des günstigen Tötungsverhältnisses von eins zu zwanzig blieb der Sieg der Amerikaner damals aus. Jahrzehnte später, ja, da sollte Onkel Sam mal siegen - über Grenada, Panama, Bananarepublika, dann Uruk, Babylon und Mesopotamien besiegen, Ruinen zu Trümmer1 schießen wegen des Erdöldurstes, und damit Onkel Sams Bohrrechte2 nicht verloren gingen. Auch nach dem Rest der Welt streckten sie die Hand aus. Doch als sie sie in der Hand hatten, freuten sich andere, daß es da so große Beute zu machen gab. Zukunftsmusik. Man hörte sie in der Ferne und lief drauf zu. Also beim Vietnamkrieg fiel die Siegesfeier für Amerikaner aus. Auch die vietnamesischen Sieger feierten nicht wirklich, hatte der Sieg ihnen doch zu viele Opfer abverlangt; fürs Gewinnen war zu viel verloren worden. Was damals Siege feierte, war die Ironie, wahre Superlative feierte sie. Da waren zunächst die Schwarzen an der vietnamesischen Front, die für die “Ehre Amerikas und die Freiheit Vietnams fielen”, in Wirklichkeit mordeten sie zwanzigmal mehr und nicht für die Ehre, sondern für die Verbrecher Amerikas und die Unfreiheit Vietnams, und weil sie mußten. Dann war da gleichzeitig die Heimat der Schwarzen, das von den Weißen gestohlene Land der Indianer, in das ihre Vorfahren als Sklaven verschleppt worden waren, wo jetzt weiße Rassisten schworen für den Schutz der weißen, christlichen Zivilisation, die sie durch die Bürgerrechtsbewegung gefährdet sahen, zu sterben, aber in Wirklichkeit starben diese weißen Rassisten-Helden
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vgl. Beate Mittmann und Peter Priskil “Kriegsverbrechen der Amerikaner und ihrer Vasallen gegen den Irak und 6000 Jahre Menschheitsgeschichte.
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selbst US-Präsident George Bush besaß Bohrrechte in Kuwait, natürlich, er kam ja aus einer Ölmilliardärsclique.
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gar nicht, sondern mordeten, und kamen sehr gut dabei weg, da das weiße Establishment den Mördern kein Härchen krümmte. In Vietnam Vietnamesen zu töten oder zu Hause die `Niggers' zu töten, darin sahen viele Rassisten keinen Unterschied, und sie machten auch keinen Hehl daraus, daß sie keinen sahen. Auch der Friedensnobelpreisträger und Führer der Bürgerrechtsbewegung Martin Luther King jr. sah, wie seine Witwe Coretta später erklärte,1 keinen Unterschied darin, aber wie seine Mitkämpfer aus der Bürgerrechtsbewegung hatte auch er Angst, als Kommunist zu gelten, wenn er etwas gegen den Vietnamkrieg sagte. Es war schon schlimm genug, ein Schwarzer zu sein, auch noch als Roter zu gelten, war unerträglich. Es gab unter den Schwarzen jedoch einen wahren Giganten, stärker als alle anderen Menschen der Welt, einen Olympiasieger und Weltmeister, und der war gar nicht zu feige, seine Solidarität mit dem vietnamesischen Volk zu zeigen. “I ain't got no quarrel with the Vietcong”, sagte der Cassius Marcellus Clay alias Muhammad Ali und weigerte sich, in den Krieg zu ziehen, und sein Beispiel ermutigte andere, auch `Nein' zum Vietnamkrieg zu sagen. Man stahl dem Weltmeister seinen Titel und verbot ihm den Ring. Da stand er fortan, statt im Ring, auf Rednertribünen und sprach engagiert gegen den Vietnamkrieg. “I am the greatest”, hatte der Champ gesagt. Yes, Ali, you are. Wohl zigtausendmal log irgendein Politiker: “We are a great nation”, und Millionen Idioten plapperten es nach: “Our great nation”, bloß dem Schwarzen bestritten die jegliche Größe. Muhammad Ali durchbrach diese Schranke, das war ein größerer Sieg als der über Sonny Liston.
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“Voices of Freedom, An Oral History of the Civil Rights Movement from the 1950s through the 1980s.”
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Es war ein Sieg für die Schwarzen, für das schwarze Selbstbewußtsein. Und notwendig.
Es folgt das Schicksal eines Schwarzen, der nicht “No” zum Vietnamkrieg sagte. Der neunundvierzigjährige Lieutnant Colonel Lemuel A. Penn hatte schon während des zweiten Weltkriegs für Amerika im Südpazifik gekämpft. Da er ehrgeizig war und sich die konservativen Werte seiner weißen Herren zu eigen gemacht hatte, war er auch nach dem Krieg in der Armee geblieben und diente ihr als Ausbilder. Zu keinem Zeitpunkt seines Lebens hatte er die Bürgerrechtsbewegung unterstützt. Am 11. Juli 1964 war er mit zwei anderen schwarzen Reserveoffizieren in einem weißen Chevrolet von Georgias Fort Benning auf dem Rückweg von einem vierzehntägigen Reservistenlehrgang nach Washington, D. C. unterwegs. In Athens, Georgia, hatte nach einem Fahrerwechsel Lieutnant Penn das Steuer übernommen. Bei Colbert bog er von der Highway 72 in die nach Norden führende Highway 172. Als er nach etwa 12 Meilen um 4:50 a.m. die Broad-River-Brücke überquerte, überholte ein schnellfahrender Kombiwagen ihn. Zwei Insassen entluden ihre Schrotflinten auf seinen Kopf. Er war sofort tot. Die beiden Schützen Sims und Myers und der Fahrer James Lackey waren Mitglieder der Vereinigten Ritter des Klans von Amerika, einer kleinen KKK-Splittergruppe mit nur etwa zwanzigtausend Anhängern. Sie hatten den weißen Chevrolet mit dem Washingtoner Nummernschild zufällig erspäht und aus der auswärtigen Nummer geschlossen, daß es sich bei den Schwarzen um Aufwiegler aus dem Norden handeln müsse. “I'm going to kill me a nigger”, so soll Sims die Anstiftung zum Mord gegeben haben. 863
Ein Aufschrei ging durch Amerika, daß ein Schwarzer so leichtfertig in einem Land, das er selbst hatte verteidigen helfen, ermordet wurde. Man begrub ihn mit militärischen Ehren. Sein Sarg ruhte auf der gleichen Caisson, auf der auch Präsident John F. Kennedys Sarg geruht hatte. In Georgia aber zeigten die Schöffen Verständnis für die Täter und ihren Irrtum und sprachen sie frei. Bei einer Rally auf dem Stone Mountain feierte am Abend der Wizard James Venable: “Nie wird man in der Lage sein, einen weißen Mann, der einen Nigger gekillt hat, zu verurteilen.” Zwei Jahre später verurteilte ein Unionsgericht die beiden Täter, weil sie schwarzen Mitbürgern die bürgerlichen Recht unter anderem durch Mord verweigert hatten, zur Höchststrafe von zehn Jahren.
Am 25. März 1965, also noch während der Klan sich über seine Unantastbarkeit freute, kam es zu einem weiteren Mord auf einer Highway des Südens. An diesem Tag endete der große Bürgerrechtsmarsch von Selma nach Montgomery. Viola Luizzo, eine weiße Mutter von fünf Kindern, half, Teilnehmer des Protestmarsches zurückzubringen. Als sie wieder nach Montgomery fuhr, saß nur der 19jährige Schwarze LeRoy Morton neben ihr. Das fiel dem KKK auf. Nach einer wilden Verfolgungsjagd, Frau Luizzo hatte die Gefahr erkannt und Gas gegeben, wurde ihr Oldsmobil überholt und die Kluxer Wilkins und Eaton feuerten ihre Achtunddreißiger auf sie ab und töteten sie. Nach dem Mord kam der Rufmord: Der Imperial Klonse (Klonse heißt Rechtsanwalt auf Kluxisch), Verteidiger des KKK, Matthew Hobson Murphy, jr. nannte sie “White Nigger”. Allgemein galt sie als lose Frau, “Yankee bitch”, Hure. Das weiße Establishment nahm ihr sehr übel, daß sie sich für die Rechte der Schwarzen eingesetzt hatte. Bei den 864
Luizzos klingelte fortan oft, besonders nachts, das Telefon und anonyme Anrufer sagten Obszönitäten und Morddrohungen. Hausfrauen wußten, es war unanständig von Viola Luizzo gewesen, ihre Kinder allein zu lassen. Und... eine Hausfrau sollte sich um ihren Haushalt kümmern etc. Die Mörder von Frau Luizzo waren schnell gefunden, denn der vierte Kluxer im Wagen war ein FBI-Mann gewesen und hatte alles verraten. Als es zum Prozeß kam, entdeckte dieser FBI-Agent, daß zwei der Schöffen Klansmänner waren. Er protestierte dagegen, aber sein Protest wurde ignoriert. Der weitere Prozeß verlief entsprechend. Das Gericht war hauptsächlich damit beschäftigt, zu zeigen, was für einen schlechten Charakter Frau Luizzo hatte. Die Jury sprach die Angeklagten dann natürlich frei. Im überfüllte Zuschauerraum brach Jubel aus. Vor einem Unionsgericht mußten die drei Täter sich dann wegen der Mißachtung der Menschenrechte verantworten. Eaton starb vor Prozeßende, aber Wilkins und der Fahrer Thomas wurden zu zehn Jahren verurteilt.
Aber damals, als der Vietnamkrieg noch auf Hochtouren lief und Unmengen verschlang, ein kleines Kampfflugzeug kostete mehr als ein großes Krankenhaus, starben Schwarze nicht nur durch die Attentate weißer Rassisten, sondern es gab auch noch eine andere grausame Art von Gewalt, an der sie starben: Die Gewalt des Hungers. Ja, während das Militär gemästet wurde, und selbst für reiche Plantagenbesitzer, wie den rassistischen Senator James O. Eastland aus dem Sonnenblumenland, aus öffentlichen Mitteln Subventionen gezahlt wurden, vegetierten arme, schwarze Landarbeiter mit ihren Familien in ihren elenden Shanties dahin. 1 Da die Plantagenbesitzer mit Hilfe der
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“The Ku Klux Klan America's Recurring Nightmare” by Fred J. Cook, p. 160, 1980 New York
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Subventionen teure Landmaschinen gekauft hatten, die die Arbeit billiger machten, wurden sie nicht mehr gebraucht. In Mississippi sah man Bilder, die man sonst nur aus Afrika kannte: Kinder mit aufgeblähten Bäuchen und Erwachsene, die nur noch Haut und Knochen waren. Schwarze verhungerten regelrecht vor den Augen der vollgefressenen Weißen. Es war angesichts dieses Elends, daß Martin Luther King seine Arme-Leute-Kampagne begann. Aus Hungernden Esser zu machen, war dem weißen Establishment zu teuer. Sie ließen Martin Luther King lieber ermorden. Zum Glück hatte seine Bewegung soviel Momentum, daß sie auch ohne ihn noch eine ganze Weile weiterlief.
Martin Luther King Martin Luther King hatte so mutig für die Bürgerrechte der Schwarzen gekämpft. Warum hatte er das getan? Wie konnte er für sich das Recht und die Frechheit herausnehmen, für die Rechte der Schwarzen zu kämpfen? Warum hatte er nicht für die Wiedereinführung der Sklaverei gekämpft? Als baptistischer Priester hätte er sich an die Bibel halten sollen, ihren Lehren folgeleisten, sie verbreiten, predigen sollen. Die Bibel sagt es so deutlich: 1. Petrus 2:18: “Sklaven, seid untertan mit aller Furcht eurem Herrn, nicht nur den gütigen und gelinden, sondern auch den brutalen.” 1. Timotheus 6:1: “Lehrt Sklaven, die unter dem Joch sind, daß sie ihre Herren aller Ehre wert halten, keine Widerrede leisten, nicht von ihnen stehlen, sondern daß sie ihnen zeigen, daß man ihnen vertrauen kann, auf daß nicht der Name Gottes und die Lehre verlästert werde.”
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Epheser 6:5-8: “Sklaven, gehorcht euren leiblichen Herren auf Erden mit Ehrfurcht und Zittern, wie ihr dem Herrn Christus gehorchen würdet mit der Einfalt eures Herzens. Gehorcht ihnen nicht nur, wenn ihre Augen auf euch sind, um ihre Gnade zu erwirken, sondern, wie die Knechte Christi den Willen Gottes tun von ganzem Herzen, so dienet euren irdischen Herren von ganzem Herzen, als ob ihr Gott und nicht dem Menschen dienet, und wisset: Was ein jeglicher tun wird, wird er von dem Herrn wieder empfangen, sei er nun Sklave oder Freier.” Kolosser 3:22: “Sklaven, seid gehorsam euren irdischen Herren in allen Dingen, tut so, nicht nur wenn ihre Augen auf euch sind, um ihre Gnade zu erwirken und ihnen zu gefallen, sondern in Einfalt des Herzens und in der Furcht des Herrn.” Man sollte auf dieser Welt mit ehrfurchtslosen, intelligenten Augen um sich blicken. Nicht nur Sklaverei und Ungerechtigkeit, auch andere Traditionen wie Religionen und Vaterlandsliebe verdienen, daß man sie abschafft, und Vorbilder wie Martin Luther King, daß man sie hinterfragt.
In der Neuen Welt nicht weiß zu sein, war schlimm, schwarz zu sein, war furchtbar ---- besonders südlich der 39° 43' 26,3" nördlichen Breite, der Mason-Dixon-Line, im sogenannten Magnolien-Land, den Südstaaten. Der schwarze Mann war am Hungern und entrechtet, und der weiße Mann wollte, daß es so blieb. Protestierten die Schwarzen gegen die Ungerechtigkeit, hetzte die Polizei ihre `Niggerdogs' auf sie, und in der Nacht kamen vermummte Kluxer und terrorisierte, folterten und mordeten. Unglück, Elend, Entrechtetsein, Misery.
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Wird es da nicht verständlich - das folgende Gebet: “Himmlischer Vater, wir danken Dir, daß wir weiß sind...”1 Aber Reverend Kludd, der das Gebet in den Sechzigerjahren am Ende seiner KKKWerbeveranstaltungen sprach, meinte es weder mitleidig, noch war er wirklich dankbar, sondern er meinte es rassistisch. Für Neger galt eigenartigerweise nie das Mitleid, das man, wie wir ja gesehen hatten, für Juden empfand, nie wurde ein Mord oder Aufruf zum Mord an Schwarzen mit irgendwelcher Erlösung von Pein und Übel im Diesseits oder Jenseits oder für die noch ungeborenen Generationen des Schwarzen begründet. Das lag daran, daß die Klanmenschen in diesem Fall einen ganz typischen menschlichen Fehler begingen, den Fehler nämlich, in einem Mitmenschen, den man nicht mochte, keinen Menschen zu sehen. “In Gottes Augen ist es keine Sünde, einen Nigger zu killen, denn ein Nigger ist nicht mehr als ein Hund.”2 Be a white man - a real man. Join the Klan! 3 Wasch dich - wasch dich mit richtiger Seife! Kaufe KKK! Nördlich der Mason-Dixon-Linie kam die Kluxerei kaum weiter als ein paar Neo-Nazi-Verrücktheiten, wie die des Danny Burros von New York City, der sich selbst tötete, nachdem die New York Times offenbart hatte, daß er eigentlich ein Jude, der an pathologischem Selbsthaß litt, war. 4
Im Norden fanden die mit der rechten Gesinnung den Präsidentschaftskandidaten George Wallace, der, wie die Post-Herald
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“The Fiery Cross, The Ku Klux Klan in America” ( S. 321) by Wyn Craig Wade, p. 526, 1987, New York
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S. 321
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bemerkte, wenn man etwas gehaßt haben möchte, es für einen haßte, viel attraktiver als den Klan. Später war es dann der Präsidentschaftskandidat David Duke, der die Fantasie der Rassisten und Faschisten beflügelte, ihnen ihr Jerusalem zeigte. Er predigte: “Wenn die Juden ihren eigenen Staat in Israel haben können, dann können wir auch unseren Staat gleich hier in den Vereinigten Staaten haben! Wir haben als die weiße Mehrheit das Recht, dieses Land so zu führen, wie es uns gefällt! Unsere Väter haben dieses Land mit Mut und Blut aufgebaut. Es braucht mehr Blut, aber bei Gott, eine Menge davon wird das Blut unserer Feinde sein. Die Regierung mordet unser Volk durch Vermischung mit Schwarzen. Für Mord gibt es nur eine Strafe: die Todesstrafe!”1 Duke verlangte von den Weißen auch, mehr Kinder zu machen, wahrscheinlich, damit für Juden und Neger kein Platz mehr war. David Duke gründete auch für die ganz kleinen Rassenhasser eine Jugend- und Kinderorganisation: die DDD, die David Duke Drachen. Wär's nicht zum Weinen, wär's zum Lachen. Sein KKK-Konkurent Bill Wilkinson gründete in Cullman, Alabama, Camp My Lai, und hatte es besonders auf Vietnamflüchtlinge abgesehen - nicht als Mitglieder, als Opfer. Im Sommerlager Ku Klux Kids bekamen die Kleinen das gleiche militärische Training wie ihre Eltern, und schworen: “Ich schwöre Rassentrennung zu üben...” Mehr Gewalt und Ungerechtigkeit, und alles wirklich geschehen, keine Hollywood-Fantasie: In Dacatur, Alabama, wurde ein 26jähriger, geistigbehinderter, schwarzer Junge für schuldig befunden, drei Frauen vergewaltigt zu haben. Da er laut Wechsler-Test das geistige Alter 1
Aus verschiedenen Reden zusammengestellt.
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eines Dreieinhalbjährigen besaß, konnte er den zur Tat benutzten Wagen aber gar nicht gefahren haben. Am 26. Mai 1979 marschierte ein schwarzer Demonstrationszug vor das Gerichtsgebäude. Diese legale, angemeldete Veranstaltung wurde vom Ku Klux Klan mit Schußwaffen angegriffen. Drei schwarze Demonstranten wurden erschossen. Ein Kluxer wurde von der Polizei erschossen, ein zweiter von Curtis Robinson, der den Kluxer erschoß, weil der mit einem Baseball-Schläger auf seinen Wagen einschlug, in dem sich seine Frau und fünf Kinder befanden. Es war Notwehr, Robinson fürchtete um das Leben seiner Familie. Gerichtliches Nachspiel: Keiner der Klansmänner wurde wegen Mordes oder Mordversuchs angeklagt. Nur Robinson wurde verurteilt, weil er einen Weißen erschossen hatte. Im July 1980 erschossen drei Klansmänner bei der Durchfahrt durch Chattanooga ganz willkürlich fünf schwarze Frauen, eine davon war im Vorgarten beim Umpflanzen ihrer Marigolds. 1 Auch diese weißen Täter wurden nicht wegen Mordes verurteilt. Am 21. März 1981 wurde in Mobile, Alabama, der neunzehnjährige Schwarze Michael Donald von zwei Klansmännern entführt, erwürgt und an einem Baum aufgehängt. Auch dieser Mord geschah `at random'. “Wir kannten ihn gar nicht”, gestanden die Mörder, “wir wollten nur die Stärke des Klans in Alabama zeigen.” Ein Unionsgericht verurteilte den Anführer 1984 unter einem neuen Ku-Klux-Statut zum Tode auf dem elektrischen Stuhl. Es war das erste Mal, daß ein Weißer für den Mord an einem Schwarzen mit dem Tode bestraft wurde. 1984! 1
Marienrose, Ringelblume
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Am 19. Oktober 1979 beantragte Nelson Johnson von der Kommunistischen Arbeiter Partei bei der Greensboroer Polizei eine Genehmigung für einen Umzug gegen den Ku Klux Klan und Rassismus. Die Polizei gab die Genehmigung nur unter der Bedingung, daß die Teilnehmer keinerlei Waffen trügen, “weder offen, noch versteckt”. Für die Sicherheit des Demonstrationszuges wollte die Polizei angeblich selbst sorgen. Nun gab es im Klan jemanden, der hieß Ed Dawson. Der hatte einmal an einem vierten Juli, an dem Vierten Juli 1969, mitgemacht, als vor lauter nationaler Begeisterung, ein schwarzes Mädchen getötet und was damals noch schlimmer war - ein Polizeiwagen kaputtgeschossen wurde. Dafür hatte Ed neun Monate Knast bekommen. In der Zeit wurde er angeblich umfunktioniert oder geläutert oder was auch immer, jedenfalls hielt ihn die Polizei fortan angeblich für einen der ihren, für einen `Informer', einen Informanten, also einen Klansmann, der die Polizei über die Vorgänge im Klan informierte. Diesen Polizeispitzel informierte die Polizei, die eigentlich der Informand in dieser Beziehung sein sollte, nun ausführlich über das Vorhaben der Kommunistischen Arbeiter Partei. Als sich am Samstag, dem 3. November, die Veranstalter vor dem schwarzen Wohnprojekt Morningside Homes mit etwa fünfzig weiteren Demonstranten trafen, um von dort loszumarschieren - unterwegs wollte man sich mit noch anderen Gruppen treffen -, da wurde die Gitarrenspiel- und Gesangsidylle plötzlich durch einen Konvoi von neun Klan-Autos unterbrochen. Ed Dawson saß im Führungsauto. Vordergründig kam es zu einem Handgemenge. Im Hintergrund nahmen andere Kluxer ganz seelenruhig Gewehre und Handfeuerwaffen aus den Kofferräumen ihrer Fahrzeuge und legten an. Irgend jemand deutete auf diesen oder jenen, halt auf wen es ankam. Aber die meisten Schützen brauchten solche Anweisungen gar nicht, da sie sich vorher mit Hilfe von Fotos mit dem Aussehen der 871
Parteiführer und der Veranstalter vertraut gemacht hatten. Es ging so lässig wie beim Tontaubenschießen zu, ohne jede Hektik. Es wurde geschossen, es wurde nachgeladen, das nächste Opfer ausgewählt, es wurde wieder geschossen, es wurde sogar geraucht. Mit den Kippen im Mund sahen die Mitspieler eigentlich nicht danach aus, als begingen sie ein Massaker, eher als legten sie mit nem Queue auf Billardkugeln an. Nach dem Massaker wurden alle benötigten Utensilien wieder ordentlich im Kofferraum verstaut und man fuhr ohne jede Eile davon. Fünf der Demonstraten waren sofort tot, einer war aufgrund eines Kopfschusses für den Rest seines Lebens schwer gelähmt, acht weitere waren schwer verwundet. Von den vierzig Klansmännern der Mörderkarawane wurde nur sechzehn festgenommen, von den sechzehn wurden nur sechs vor Gericht gestellt. Staatsanwaltschaft und Richter einigten sich darauf, daß man kein verabredetes Komplott zu verfolgen hatte, sondern nur herausfinden sollte, wer denn nun abgedrückt hatte. Die Auswahl der Schöffen bereitete einiges Kopfzerbrechen. Man wollte eine hundertprozentig weiße, christliche Jury mit der rechten Gesinnung. Einige der Jurykandidaten hatten eine außergewöhnlich rechte Gesinnung, so meinte doch einer, die einzige Schuld des Klans sei, daß sie schlechte Schützen gewesen wären; und ein anderer meinte: “Es ist kein Verlust, daß die Kommunisten nicht mehr unter uns weilen, es geht uns besser ohne die Kommunisten.” Der Verteidiger des Klans hielt ein überzeugendes Plädoyer: “Selbst wenn die Klansmänner ein Maschinengewehr genommen hätten und die ganze Bande niedergemäht hätten, so wäre es noch Selbstverteidigung gewesen, denn diese Leute griffen dieselbe Gesellschaft an, die ihnen die Freiheit gibt, auf die Straße zu gehen.”
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Das fanden die Schöffen auch: Freispruch für alle.1 Das war 1981, gerade als es den Monopolisten gelang, einen Schauspieler, der den Vorteil hatte, Eingeflüstertes mit größter Überzeugung daher sagen zu können, auf den Thron im Weißen Haus zu bringen. Es stellte sich später heraus, daß dieser Mann gar nicht mehr auf dem Thron saß als andere Leute auch. Er lag jedoch wesentlich mehr auf dem Sofa als andere Leute, da er seine Rolle im Schlaf beherrschte. KKK-Wizard Wilkinson war, obwohl selbst weit davon entfernt, ein Monopolist zu sein, von dem neuen Psittakos der Monopolisten begeistert: “Das Programm des Republikaners Ronald Reagen liest sich, als sei es von einem Klansmann geschrieben worden.” Es schien also eine gute Zeit für den Klan zu kommen. Und während man den Freispruch feierte, als einen Sieg der weißen Rasse, trotz der vier weißen Toten, und sich Medaillen gab für `den mutigen und unerschütterlichen Einsatz für die Verfassungs', machte man große Pläne für die Zukunft. Tatsächlich bekam der Klan auf Grund seiner Großtat von Greenboro zuerst ein paar neue Mitglieder, aber wenn die ganze Gesellschaft Rückschritte macht, sinkt die Nachfrage nach den Ultrarückständigen. Die meisten Konservativen wanderten in den achtziger Jahren ins christlich-fundamentalistische Lager. Und die frommen Fundis wollten diesmal keine Ehe mit dem Klan eingehen. Sie waren auch nicht mehr so rassistisch. Und wenn sie wieder Anti-Semiten waren, dann nicht wegen der DNS, sondern wegen des Neuen Testaments. Und wegen des Alten Testaments waren sie Kreationisten. Kreationisten waren nicht unbedingt kreative Leute, sondern Kreationisten waren Leute,
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“The Fiery Cross, The Ku Klux Klan in America” by Wyn Craig Wade, p. 526, 1987, New York
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die die ersten zweieinhalb Seiten der Bibel für bedeutender hielten als Charles Darwins Entstehung der Arten. Menschen waren für sie göttliche Geschöpfe, so etwas wie gefallene Engel, und nicht der widerlichste Emporkömmling aus der Affenfamilie, der es über Kannibalismus durch natürliche Auslese zum Supermörder gebracht hatte, der er wirklich war. Die neue, christliche Rechte war noch am ehesten bereit, die Theorie vom Überleben des Stärksten zu bestätigen: Freien Zugang zu Waffen für jeden, Aufrüstung, Atomwaffen, Contras, Grenada, Panama, Irak, Slums, Todesstrafe etc. nur Abtreibung war Mord!
1982 kam durch eine Totenbettbeichte heraus, daß das 14jährige Mädchen Mary Phagan, das am 27. April 1915 vergewaltigt und ermordet im Keller ihres Arbeitgebers gefunden worden war, gar nicht von ihrem Chef, dem Juden Leo M. Frank, ermordet worden war. Der Jude war damals des Mordes für schuldig befunden und zum Tode verurteilt worden. Da aber schon damals Bürgerrechtsgruppen ein Unrecht witterten, da das Urteil sich hauptsächlich auf Vorurteile berief: `Juden haben wie Nigger einen riesigen Appetit auf die verbotene Frucht', hatte der Governor die Todesstrafe in eine Freiheitsstrafe umgewandelt. Dieses Nachgeben wiederum hatte die rechtschaffenen Bürger von Georgia erregt. Eine Elitegruppe hatten diese rechtschaffenen Bürger gebildet. Sie hatte sich die Ritter der Mary Phagan genannt. Am 16. August 1915 hatten sie Frank aus dem Gefängnis geholt und gelyncht. Es war die erste Lynchung in der Geschichte Amerikas gewesen, bei der Automobile benutzt worden waren. Es waren diese edlen Ritter der Mary Phagan gewesen, die so stolz einen Unschuldigen gehängt hatten, die im November des gleichen Jahres mit Simmons den Stone Mountain bestiegen, um dort oben den
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Klan neu zu beleben für den Schutz der weißen, christlichen Zivilisation. Dieser irrtümliche Anfang hatte aber keineswegs nach seiner Aufdeckung ein Ende des Klans zur Folge, genauso wenig wie neue Erkenntnisse den alten Religionen den Garaus machten oder Geschichtskenntnisse die weiße Zivilisation ein bißchen bescheidener werden ließen.
Auch andere beschrieben die Umgebung - bloß langweiliger - mit Bäumchen und so.
Kannten wir auch nicht die Standorte der Bäume, so wußten wir doch jetzt, in welcher Landschaft sich Adjuna befand. Die Standorte der Bäume überließen wir den Landschaftsmalern. In ihrer Unschuld malten sie immer das Falsche: Idyllen. Sie ahnten nichts von der Feindschaft, die unter den Bäumen herrschte. Nur die Fratzenmaler hatten die Wirklichkeit der Dinge erfaßt, eingefangen, auf ihre Leinwände geseibert und geseichert. Es war nicht ihre Schuld, wenn die Vorlage ein entartetes Kunstwerk war. Wir hatten alle Schuld. Wir alle, die Kreaturen. Arme Kreaturen.
Adjuna war drauf und dran, zu sagen: “Ich hasse die Rassisten. Ich hasse das weiße Amerika.” Und seine Haut wurde aus Solidarität richtig dunkel. Hätte er für das weiße Amerika eine Goldmedaille 875
gewonnen, er hätte sie wie einst Cassius Clay in den Ohio River geworfen. So angewidert war er. Es war in diesem Augenblick tiefsten Angewidertseins, daß ihm ein Gespenst die Hand auf die Schultern legte. Adjuna drehte sich um, um die Erscheinung aus dem Jenseits besser zu sehen. Es war ein Indianer, ein Neuzeit-Indianer. Er sah noch einsamer aus als Adjuna. Adjuna erkannte sofort die Gemeinsamkeit. “Die Einsamkeit vereinigt uns.” Dieser Besucher vom jenseitigen Ufer sagte jetzt zu Adjuna etwas, was er schon zu Lebzeiten gesagt hatte: “Ich bin ein Rassist.” Adjuna blieb die Sprache weg. Wie konnte jemand, der ihm sympathisch war, so etwas bekennen? “Ich bin Rassist. Ich hasse die menschliche Rasse.” Der Indianer hatte ein Recht, das zu sagen, das Blut sämtlicher Rassen floß in seinen Adern. 1 Adjuna sah jetzt ein, daß es auch unter den Rassisten vernünftige Menschen gab, und er einen Fehler gemacht hatte. Du sollst nicht Vorurteile haben wider deinen Nächsten! Du sollst nicht diskriminieren! Das 11. und 12. Gebot. Du sollst nicht verallgemeinern, nicht alle in einen Topf werfen oder über einen Kamm scheren. Das 13. Gebot.
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Frank Yerby, geboren 5.9.1916 in Augusta, Georgia, gestorben am 29.11.1991 in Madrid, Autor zahlreicher, erfolgreicher - und (was ihn wohl noch mehr auszeichnet) erfolgloser Romane, die den Publikumsgeschmack nicht trafen, meist aus dem Süden der USA. Genau genommen war Frank Yerby kein reiner Indianer, aber er war auch nicht der Neger, für den man ihn hielt. Er sagte einmal: “Nennt mich nicht schwarz, ich habe mehr Seminolen-Blut als Negerblut in mir, aber keiner nennt mich einen indianischen Autor."
Als junger Mann verließ er die “Neue” Welt, um in der Alten zu leben: “Die Vereinigten Staaten sind kein Ort für einen jungen Mann, dessen Ahnenliste sich liest wie die Staatenliste der Vereinigten Nationen.”
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Je mehr Adjuna darüber nachdachte, “Ich bin ein Rassist. Ich hasse die menschliche Rasse!” desto mehr machte er sich die Aussage zu eigen. Das war kein Gedanke, der die Arbeit eines Ehevermittlers erleichtern würde, denn er entfernte von den Menschen. Tatsächlich bekam mit dem neuen Gedanken und dem größeren Abstand zur Menschheit Adjunas Haut eine andere Farbe, sie bekam eine unmenschliche Farbe, einen blauen Schimmer, wie das Blau auf indischen Götterbildern, was sich für seine weitere Arbeit dann doch noch als günstig erweisen sollte.
Ein Augenblick war mit dem anderen nicht nur durch das verbunden, was zwischen ihnen geschah, sondern auch immer durch alle Geschehnisse der Vergangenheit, sowie der falschen und richtigen Prophezeiungen aus der jeweiligen Gegenwart. Und selbst wenn man die Kräfte zwischen Plus und Minus und die Qualen der einzelligen Vorfahren als unerhebliche, da für die menschliche Vergangenheit immer gleich, abtat, so blieb immer noch genug Vergangenheit, die sich in einen Augenblick drängte, stopfte, ihn verstopfte. Für Adjuna hieß das, daß, als er auf die Straße trat, um sich der jetzt von der Polizei bezähmten Meute zu stellen, er nicht nur mit Menschen konfrontiert wurde, sondern mit einem komplizierten Geflecht aus archaischen Stammesvorurteilen, christlichem Religionseifer und gegenwärtigeren Vorstellungen von Wohlanständigkeit und den Gerüchten aus der Gerüchteküche. Als er auf die Straße trat, riefen die, die das Gerücht vernommen hatten, daß er ein Schwarzer sei, der sich mit anderen schwarzen Strolchen an weißen Mädchen vergehen wolle: “Er ist ja gar nicht schwarz!” Während die, die das Gerücht vernommen hatten, er sei ein Weißer, der die Töchter seiner eigenen Rasse an Schwarze weggeben, ausliefern, verkuppeln, zum Vögeln freigeben wolle, erleichtert ausriefen: “Er ist ja gar nicht weiß!” Und auch die, die in ihm ein
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Maultier, einen Mischling, also den Bastard aus einer unanständigen Beziehung von weiß und schwarz, vermutet hatten, waren erleichtert. Da keiner der Demonstranten über Bildung verfügte, erkannte keiner Adjunas indischen Ursprung, alle staunten nur, staunten, starrten und schwiegen. Adjuna war ein Fremder, ein Fremdling, Außenseiter, jemand von outer space. Die Fähigkeit ein Chamäleon zu sein, war ihm abgegangen. Aber seine Fremdheit besaß etwas Faszinierendes. Er war nicht fremd wie die Fremden aus dem Norden, die Reisetaschler, die man nicht mochte, er war nicht fremd, wie die katholischen Wirtschaftsflüchtlinge aus Irland, die in exklusiven Kreisen eine heile, katholische Welt zelebrierten, er war allein und so fremd, daß man ihn nicht einordnen konnte. Und obwohl er nicht weiß war, wagte man es nicht, ihn als farbig einzuordnen und als minderwertig schon gar nicht, dafür war er zu groß und stark und besaß auch zu viel Würde. Wenn er seine Rassenmischung predigte, hörte alles andächtig zu. Und wenn er die Vergangenheit heraufbeschwor und all das Unglück beschrieb, daß der Rassenhaß verursacht hatte, dann wollten die Augen nicht mehr trocken bleiben und man weinte. Und wenn er den Weißen all die Gesetze vorhielt, die den Neger zum Sklaven, zum rechtlosen Handlanger, zum Haus- und Erntengehilfen, zum Unmündigen, zur 3/5 Person gemacht hatten, und all die rechtlichen Definitionen für Farbige, von (Arkansas:) “jeder, der Negerblut in seinen Adern hat, wie wenig auch immer”, über (Virginia:) “feststellbare Menge Negerblut in den Adern” (Feststellbar? Noch heute kann man am Blut nicht feststellen, ob es einem Schwarzen oder Weißen gehört.) bis zur Definition für weiß, als “keinerlei Spuren von Negerblut in den Adern” (Damals gab es noch keine Bluttransfusionen!), “nur kaukasisches Blut, oder weniger als 1/16 indianisches Blut und keinerlei anderes farbiges Blut in den Adern, 1/8 mongolisches Blut etc.”, 1 wenn er den Weißen das vorhielt, schämten sie sich. Die südlichen Rassegesetze 1
Rechtliche Bestimmungen ausführlich in “Free At Last? The Civil Rigths Movement And The People Who Made It” von Fred Powledge S. 120
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waren im Gegensatz zu Hitlers Ariergesetzen wirkliche Rassengesetze. Nach Hitlers Gesetzen mußten ja nur die Ururgroßeltern Christen gewesen sein, damit ihre Enkel vier Generationen später als Arier gelten konnten, also letzten Endes eine Religionsfrage. Religionsfragen und Rassenfragen sollten keine Fragen sein. Jeder hat für sich, was er hat. Damit hat sich's. Es hatte sich eben nicht und würde sich nicht haben, wenn man nichts dagegen tat. Die vielen religiösen Schatten (Islam, Hinduismus, Buddhismus, Schintoistentum und Christentum) und Schattierungen wie Katholizismus, Protestantismus, Orthodoxie, Baptismus, Anabaptismus, Methodismus, Mennonismus, Swedenborgianismus, Spiritismus, Dogmatismus, Klerofaschismus, Adventurismus, Adventismus, die Weihnachtsbewegung, die Neuapostolische Bewegung, die Neugeistbewegung, altkatholische Bwg, altlutheranische Bwg, Pfingstbwg, Heiligungsbwg, Unitarier, Zeugen Jehovas, Scientologists, Mormonen und Patachonen, sie alle würden bei richtiger Beleuchtung verschwinden, das wußte Adjuna, aber das Licht anzuknipsen, das die Erleuchtung brächte, war schwer. Er hatte sich daher den farblichen Unterschieden der Haut zugewandt, die man ja nicht durch Beleuchtung unsichtbar machen konnte. Farblosigkeit hätte uns auch gerade noch gefehlt. Farblos, hieß das nicht durchsichtig? Der gläserne Mensch. Welche Monstrosität! Momus, der Gott der Nörgelei, hatte einst Jupiters Schöpfung genau aus diesem Grund unperfekt genannt. “Dein Mensch ist unperfekt”, hatte er dem konsternierten Hauptgott gesagt, “es fehlt ihm ein gläsernes Fenster. Wie sonst sollen wir Götter seine innersten Gefühle und Gedanken erkennen.” Aber das war nur Bestandteil einer jener Geschichten, die sich zur Religion gemausert hatten. Der Mensch war nicht unperfekt, weil er nicht aus Glas war oder fensterlos, sondern weil er einen Defekt im Kopf hatte, der ihn spinnen ließ, und einen zweiten, der ihn genau auf den defekten Kopf einschlagen ließ, für welchen absurden Grund auch immer. Und einer dieser absurden Gründe war die Haut, oder genauer die Farbe der Haut, ihre Verschiedenfarbigkeit. Denn sonst konnte man der Haut nichts vorwerfen. Welche Farbe auch immer, sie schützte den Körper, war reißfest und dehnbar, absorbierte Licht und 879
verbarrikadierte sich gegen Bakterien, außerdem besaß sie Sinnesrezeptoren, die den Menschen die zarten Streichelungen der Geliebten fühlen ließen, aber auch die Schläge der bösen Feinde, und so seinen Protest herausforderte, “Bis hierher und nicht weiter!” “Genug!” - und sein Wehren. Diese Farbe der Haut, ein eigentlich unbedeutender Unterschied in der Pigmentierung, wollte Adjuna also vermischen, nicht, daß die Unterschiede dadurch verschwinden würden. Eine einzige Mischfarbe. Nein, diese Vorstellung war nur für die Naivlinge unter seinen Anhängern. Aber es würde trotzdem etwas Gutes entstehen, mehr Buntheit. Ja, man könnte fast sagen mehr Rassen. Denn Angehörige verschiedener Rassen waren, solange sie derselben Gattung angehörten, untereinander unbegrenzt zeugungsund fortpflanzungsfähig, das hieß der Mulatte, das Wort kam aus den spanischen und bedeutete Maulesel, war gar kein Maulesel, sondern seinerseits ein voll zeugungsfähiger Mensch, der Maulesel aber, der das Produkt einer Gattenmischung war, konnte keine Maulesel zeugen; das konnten nämlich nur Pferd und Esel. Durch Rassenmischung konnten neue Rassen entstehen, wenn man genau hinsah, was man aber nicht tun sollte, da es der Gattung Mensch nicht gut tat. Alle waren voller Lobes für Adjunas Bemühungen. Seine Bewegung wuchs. Die Zeitungen lobten Adjuna als Erlöser, der endlich das leidige Rassenproblem für immer beseitigen würde. Lokale Zeitungen stellten schon Hochrechnungen an, nach wieviel Generationen Amerika völlig gemischt sei, wenn a.) jeder einen Partner der anderen Rasse heirate, b.) jeder zweite einen solchen Partner heirate. Ähnliche Berechnungen wurden für den Rest der Welt angestellt, also der ganzen Welt. Etwas betroffen stellte man dabei fest, daß man zwar auch den Rest der Welt rassisch mischen konnte, daß es jedoch nicht für jeden einen weißen Partner geben konnte, ja, daß die weiße Rasse dabei ganz schön untergemischt wurde, so daß sie sich in einer zukünftigen Weltrasse nur durch ein ganz kleinwenig Bleiche bemerkbar mache, die meiste Helligkeit dieser Weltrasse käme von den Mongolen. Aber in
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der Euphorie machte einem das nichts weiter aus. Einige Ganz-Eifrige meinten sogar, der Mangel an Farbe sei eigentlich eine Schande. Überall entstanden Büros von INTERMARRIAGE. Adjunas Helfer hatten alle Hände voll zu tun. Wer immer im heiratsfähigen Alter war und noch keinen Partner hatte, ließ sich registrieren, und am nächsten Tag schon bekam er sein date, seine Datierung, die Verabredung mit einem Anders-Rassigen. Und wenn früher solche gemischten Paare in der Öffentlichkeit immer ein bißchen zurückhaltend waren, weil es nicht gern gesehen wurden, so waren es jetzt gerade die gemischten Paare, die stolz Hand in Hand gingen oder sich auf Parkbänken knutschten. Und die reinrassigen Paare mußten mißbilligende Blicke ertragen. Nur all zu leicht wurde ihnen Rassismus unterstellt. “Was habe ich erreicht!” brüstete sich Adjuna, als ihm seine Helfer eine Statistik reichten, nach der in den letzten Tagen mehr gemischtrassige Ehen als monorassige Ehe geschlossen worden waren. Seine Helfer versprachen, daß Verhältnis von gemischtrassigen zu reinrassigen Ehen noch zu steigern. Das große Missionswerk sei erst am Anfang. Einige Anhänger wollten ihn gar bei der nächsten Präsidentschaftswahl als Kandidaten aufstellen. Sie meinten, nur er könne die Probleme des Landes lösen. Weiße Präsidenten hätten das Land schon zu oft an den Rand des Abgrunds gebracht und die schwarze Bevölkerung stehe nie hinter einem weißen Präsidenten, aber auch ein schwarzer Präsident sei keine Lösung. Ein Schwarzer könne auch niemals die nötige Mehrheit bekommen, da es gegenüber Schwarzen eben doch noch zu viele Vorurteile gäbe: Der eine Weiße hielt sie für unfähig, der andere fürchtete ihre Rache, und dann gab es immer noch die, die Angst vor ihrer übergroßen Potenz hatten. “Das sind alles Probleme, die man mit dir als Präsidenten nicht hätte”, erklärte ein Anhänger Adjuna. Adjuna machte ein langes Gesicht. Adjuna war auch nicht rot wie die Rothäute des Landes, sondern im Gegenteil blau. Auch das war von Vorteil. Ein rothäutiger Präsident hätte das Land vielleicht seinen Stammesbrüdern zurückgegeben. Vor 881
den Rothäuten schauderte es den weißen Amerikanern. Auch wenn man sie fast bis zur Ausrottung dezimiert hatte, ihr Ernst, ihr Stolz, ihre Furchtlosigkeit hinterließen zusammen mit einem nicht eingestandenen schlechten Gewissen und einer falschen Idealisierung einen tiefen Eindruck, Furcht und Schaudern. Da war es gut, wenn Adjunas Haut einen bläulichen Schimmer hatte. Cyan war eine Komplementärfarbe zu rot. Adjuna fühlte sich wie ein König, als ihm seine Anhänger die Präsidentschaftskandidatur versprachen: Endlich würde er all das machen können, was er schon immer für nötig hielt. Nicht mehr nur Ehevermittler wollte er sein, sondern der Starter, der Auslöser, der erste Beweger einer Bewegung, die ein waffenloses, kampf- und streitloses Miteinander aller Menschen ermöglichte, und das, was er immer wollte, die Menschheit von ihren Unterschieden und Antagonismen befreien, daran wollte er arbeiten, eine gemeinsame Sprache, gemeinsamen Wohlstand, Bildung und Aufklärung für alle, Freiheit für jeden, sich sein eigenes Leben einzurichten, wie er wollte, und auch seinen alten Wunschtraum wollte er verwirklichen, die sinnloseste Trennung unter den Menschen beseitigen, den schlimmsten Streitmacher und Aufhetzer der Menschen endlich zur Ruhe bringen, der Religion sollte endlich jede Einflußnahme auf das öffentliche Leben versagt werden, ihre Hetze verboten, ihre Gebete ins private Zimmerchen zum Versickern verdrängt werden. Behutsam wollte er diesmal vorgehen, er war alt genug zu wissen, daß man geduldig sein mußte. Lange hatte er gute Miene gemacht zu den kirchlichen Trauungen mit Schleier und Predigt. Jede gemischte Ehe feierten seine Anhänger als einen persönlichen Erfolg ihres Führers. Auch half es nicht, ihnen zu sagen, daß Ehen im Herzen und nicht im Himmel geschlossen werden, und schon gar nicht in der Kirche. Der Himmel ist für die Wolken und die Kirche... naja (für den Mistplatz). Adjuna konnte ihren Enthusiasmus nicht bremsen. Als einen besonderen Werbegag hatten sie sich jetzt ausgedacht, viele, viele Paare erst einmal in wilder Ehe zusammenleben zu lassen, um sie 882
dann alle zusammen bei einer einzigen großen Massentrauung auch vor Gott zu trauen. Diese Massentrauung sollte so groß sei, viel größer als die Massentrauungen der Moonies, daß alle Massentrauer davor erbleichten. Alle Welt sollte davon reden. Außerdem würden wegen der Probezeit zweifellos viel mehr Paare zusammenbleiben, als bei den Trauungen der Moonies, wo die Partner per Los zusammengewürfelt wurden. Dieses große Spektakel hatten die Anhänger heimlich als Überraschung für Adjuna vorbereitet. Wie bei den großen Massentrauungen der Vereinigungskirche e. V. hatten sie auch ein Stadion für diesen Zweck angemietet, da sie jedoch nicht wie die Anhänger der Vereinigungskirche, die in ihrem Gründer San Myung Moon den zweitwichtigsten Messias des Weltchristentums sahen, in Adjuna einen geistlichen Führer sahen, der dazu befähigt war, Ehen zu schließen, hatten sie den nächstbesten baptistischen Priester für diese Aufgabe engagiert und der ließ es sich fürstlich bezahlen, daß er vor so vielen Menschen agieren sollte. War es die Überwindung des Lampenfiebers oder des Schamgefühls, das die Sachen so teuer werden ließ? Adjuna war erbost. 1 Einer fragte noch ganz unschuldig, ob es denn keine Ehre sei, daß er noch vor dem Gottesmanne einige Worte an die Versammelten richten dürfe. Adjuna wurde es zuviel. Er mußte einfach endlich mal die Gretchenfrage klären, nicht nur das, er mußte eine Situation schaffen, wo es für einen religiösen Menschen so peinlich wurde, sich zum Christentum zu bekennen, wie es für Doktor Faustus war, sich herauszureden.
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Für die Narren, die glauben, daß Priester aus christlicher Nächstenliebe umsonst oder für wenig Geld arbeiten: Der Hauskaplan des US-Repräsentantenhauses, eine Art Vorbeter, läßt sich sein Handefalten mit einem Jahresgehalt von 138 000 Dollar vergüten. Aber nicht nur dieses Sümmchen dürfte Schuld sein an den häßlichen Streitszenen unter den einzelnen Konfessionen vor der Ernennung eines neuen Vorbeters, sondern das mit diesem Posten verbundene Prestige für die Religionsgruppe.
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Auf der Plattform sagte er daher: “Ihr, die ihr hier versammelt seid, ihr habt euch entschieden, mit dem alten Haß und dem tragischen Mißtrauen, welche zwischen den menschlichen Rassen bestehen, ein Ende zu machen, und ihr habt einem Partner, der eine andere Hautfarbe als die eure besitzt, die Hand in Liebe gereicht. Ihr habt euch entschieden, mit diesem Partner eine Familie zu gründen und Kinder zu zeugen. Viele von euch kennen ihren Partner schon sehr gut und leben mit ihm sogar schon zusammen. Und das ist auch gut so. Sogar richtig. Es gab jedoch eine Zeit, wo ein voreheliches Zusammenleben verpönt war, ja, die Mißbilligung sogar soweit ging, daß die empörten Mitbürger einem das Leben unmöglich machten, die Verliebten, die ihre Beziehung nicht von einem Priester hatten absegnen lassen, den ganzen Haß aller wohlanständigen Menschen zu spüren bekamen durch Anspucken auf der Straße, NichtBedient-Werden in Geschäften, Verlust des Arbeitsplatzes usw. Und diese Zeit liegt nicht weit zurück, wir sind bloß gerade erst um die Ecke. Die Zeit der Ewig-Gestrigen kann uns leicht einholen, wenn wir nicht aufpassen. Wir müssen also auf der Hut sein. Wie können wir auf der Hut sein? Doch nur indem wir schnell vorangehen, immer schneller, und bei jedem Versuch der Reaktion, das Rad der Zeit zurückzudrehen, einen extra Sprung in Richtung Zukunft und Fortschritt machen. Die Reaktionären wollen French Kiss in der Öffentlichkeit als obszön verboten haben, und wir machen Liebe auf dem Rasen des Stadtparks und zeigen, daß selbst beim Geschlechtsakt unter freiem Himmel die Welt nicht untergeht, und wenn die Spießer Pornographiehefte öffentlich verbrennen, dann verbrennen wir das, was sie aufgeilt, ihre Bibel. Wir müssen aufpassen, überall lauert das Ewig-Gestrige. Es tarnt sich als Tradition und Sitte. Schöne Worte, aber immer eine schmutzige Angelegenheit, verlogene Synonyme für Rückständigkeit. Sklaverei war so eine `ehrwürdige, alte' Tradition, schwarze Jungen, die weißen Mädchen schöne Augen machen, halboder ganz totzuprügeln, war so eine Tradition, es war Sitte, die die Morgenandacht am Sonntag verschliefen, an den Pranger zu stellen, und denen, die am Pranger standen, die Fäkalien der Woche ins Gesicht zu kippen, war eine andere Sitte. Übrigens eine Sitte, die zusammen mit der Sitte, dem Angeprangerten Brand-, Brüh- und 884
Schlagwunden zuzufügen, zu tödlichen Blutvergiftungen führte. Ehebrecher oder zumindest Ehebrecherinnen und die, die wie Ihr unehelich geschlechtlich verkehrt hatten, wurden gesteinigt, zumindest der weibliche Teil der Verbindung, und für ungehorsame Frauen gab es die Daumenregel, ein Gesetz, das dem Mann erlaubte, seine Frau durchzuprügeln, solange der Stock nicht dicker als sein Daumen war. Und wißt ihr, wer hinter all diesen Unmenschlichkeiten stand? Ihr wißt es: die Kirche! Sie lügt Liebe, aber sie meint das Gegenteil. Wer immer wirklich liebte, der bekam ihren Haß zu spüren. Wir haben uns hier versammelt, weil eine Sache uns einigt, nämlich die Liebe zu einem Partner einer anderen Rassen. Vor nicht all zu langer Zeit hätten wir in den Augen der Kirche eine schwere Sünde begangen. Wenn wir wirklich eine bessere Welt wollen und eine bessere Zeit für unsere Kinder, dann müssen wir der Kirche den Rücken zudrehen und allen Symbolen der Vergangenheit mißtrauen, aller Sitte und Tradition. Das heißt: keine Eheschließung, kein Ehering, er ist nur ein verkleinertes Halseisen aus dem Kerker, in dem Ehefrauen früher Sklaven waren, auch ein weißes Hochzeitskleid brauchen wir nicht mehr, es ist ein Symbol für die Reinheit der Braut, die sich dem Manne zum Besudeln bereitstellt, auf weiß sieht man Dreck ja besser, vor allen Dingen aber brauchen wir das Symbol hier nicht mehr: das Kreuz, den Kruzifick (crucifuck auf Englisch). Es ist das schlimmste Symbol aus der traurigen Vergangenheit der Menschen, das trickreichste. Und man muß wirklich auf der Hut sein. Die, die diesem Symbol dienen, die Kirchen sind wie verspätete Chamäleons, sie lügen ihre Lehre ständig um, aber bleiben dabei immer einen Schritt zurück, so überleben sie und sind doch immer Bremsklotz, denn das Umlügen machen sie so geschickt, daß sie immer noch gerade akzeptabel bleiben. Aber wenn der ganze Fortschritt zum Stocken kommt durch irgendwelche Krisen, dann werden sie schnell zu Gummibändern, die noch weiter nach rückwärts ziehen. Unterm Kreuz ist alles möglich, sogar daß man die Bibel wieder ernstnimmt, glaubt, daß wir wegen Jesus Opfertod der ewigen Verdammnis entkommen sind, die wir uns wegen irgendeinem Urururgroßmütterchen und dessen Früchtenascherei aufgehalst haben. Dann freilich hätten wir wieder die dunkelste Zeit mit Sklaverei, Unterdrückung der weiblichen Hälfte der Menschheit durch die männliche, und beide Hälften durch den Klerus und irgendwelche 885
weltlichen Handlanger, die dann auch wieder von Gott wären, wie Paulus es lehrte, und nicht aus einer demokratischen Wahl hervorgegangen. Schlimm wäre auch sexuelle Unterdrückung, Todesstrafe für Homosexualität und Sodomie, Steinigung - wie ich schon sagte - für Untreue und Unkeuschheit, Kinder, die ihre Eltern nackt gesehen haben, würden verstoßen, wie es Abraham mit Ham machte, und da es laut Levitikus eine Sünde ist, Frauen wären nach der Geburt und während der Regel unrein, selbst das Verrichten einfacher Dinge, wie Brennholzsammeln, am Tag des Herrn wäre wieder ein todeswürdiges Verbrechen, wie es im kalten Massachusetts tatsächlich, bis uns die Unabhängigkeitserklärung die Segnung der Trennung von Staat und Kirche brachte, war. Angesichts all dieser potentiellen Gefahren stoße ich dieses Symbol hier vom Sockel. Und wahrlich, das soll ein Symbol sein für eine bessere Zukunft.” Adjuna stieß das Symbol der Christenheit vom Sockel, und spuckte noch einmal symbolisch darauf. Das Priesterchen, das man engagiert hatte, kam angelaufen und wollte es verhindern. “Und dich Lümmel...”, knurrte Adjuna. Und er tat, als wollte er es packen, da beteuerte der kleine, er sei für Fortschritt. “So, dann spuck doch auch noch mal drauf!” “Ich meine, ich bin für ein fortschrittliches Christentum.” Großzügig erteilte Adjuna ihm das Wort. “So, dann erklär uns das doch mal.” Das kleine Männchen, der große Umlügner, tischte jetzt all die bekannten Lügen von Nächstenliebe, Barmherzigkeit, Milde, Güte, Nachsicht auf. Selbstzensur verbot es Adjuna, das Gehörte in seine Annalen mitaufzunehmen, weil es einfach nicht wahr war und relevant. Unten, unter der Prediger-Plattform auf dem Spielfeld, gab es jetzt zwei Parteien, wie es sich für einen Fußballplatz geziemte. Aber die Vehemenz, mit der die Parteien aufeinanderstürzten, war größer als beim Football-Match. Das Durcheinander war so groß, daß man nicht sagen konnte, ob das Team der Rationalen oder der Irrationalen am Siegen war. Es gab auch gar keinen Schiedsrichter, der überhaupt
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etwas sagen konnte. Nur eins war sicher, die Irrationalen bekamen keine Hilfe von auswärts - oder aufwärts. Es war ironisch, daß Adjuna, der eigentlich die Menschheit hatte einigen wollen zu einem gemeinsamen Bemühen um ein besseres Los für die Menschheit, ohne daß man sich um Götter kümmerte oder in den Haaren lag, es erreicht hatte, daß selbst die, die eben noch gemeinsam heiraten wollten, sich in den Haaren lagen. Und manch Braut und Bräutigam fanden sich in verschiedenen Lagern wieder. Die Einigkeit war dahin. Adjuna versuchte jetzt durch eine feurige Rede, einige Spieler der gegnerischen Partei zum Überlauf zu bewegen: “Der Priester hier hat viel davon geredet, daß die religiösen Menschen viel Gutes tun, ergo bessere Menschen sind. Das ist ein alter Trick. Jedem Verbrecher unterstellt die Kirche, sein Verbrechen sei die Folge seiner Entfernung von Gott und der Kirche. Atheismus gleich Verbrechen. Manche Leute haben das schon verinnerlicht. Das ist so gemein, als wenn wir Atheisten hingingen und behaupteten, daß Menschen Christen würden, weil sie dann jede böse Tat durch Sühne und Reuebekenntnisse getilgt bekämen, lehrt das Christentum doch, auf den Glauben käme es in erster Linie drauf an, der Lebenswandel sei zweitrangig. Ein Atheist, wie gut er auch sei, käme nicht in den Himmel, der schlimmste Verbrecher, auch wenn er den Glauben erst auf dem Totenbett annehme, jedoch. Menschen, die anderen Menschen Gutes tun, tun es immer aus menschlichem Mitgefühl und für Menschen, es ist bedauerlich und Selbsterniedrigung, wenn sie sich vormachen, sie täten es für Gott, ohne Gott seien sie zu keinerlei Mitgefühl in der Lage. Sie wären sicher auch als Atheisten wie andere Atheisten auch zu guten Taten in der Lage. Wer die Religion braucht, um gut zu sein, ist nicht gut, und tatsächlich findet man gerade unter Christen so viele fromme Leute, die ihre Güte ausbeuten und dadurch Schlechtigkeit, Haß und Unaufrichtigkeit säen. Aber kommen wir jetzt zu dem großartigen Heiland der Christenheit, dem Sohn Gottes und Opfermenschen und sein Menschenopfer, das der Begründer dieser Religion angeblich geleistet haben soll. - Aus Nächstenliebe. - Zur Erlösung der 887
Menschheit usw. - Als ob der Gott das nicht hätte einfacher haben können. - Aber wenn wir die Bibel genau lesen, dann werden wir feststellen, daß der Wunsch, die Menschheit vom unmenschlichen Fluch der Verdammnis zu erlösen, gar nicht so groß war, wie uns die Priester vormachen wollen. Freilich, vom ersten Tag an sind die Lehren von Jesus Christus umgelogen worden, falls nicht seine Existenz ganz und gar eine Lüge ist. Populäre Legenden und die angeblichen Wunder anderer Wundermänner der Antike wurde hinzugefügt, noch bevor die Evangelien niedergeschrieben wurden. Doch einige Passagen, die sich als für die Verbreitung des Glaubens ungünstig erweisen, könnten durchaus eine gewisse Authentizität besitzen wie zum Beispiel Jesus Behauptung, daß er nur den verlorenen Schafen aus dem Hause Israel geschickt wurde und andere schwer zu verkraftende Äußerungen.” Adjuna hatte die Bibel des Priesters genommen und blätterte darin. “Eine solcher schwer zu verkraftenden Äußerungen ist Jesus Antwort auf die Frage seiner Jünger: Warum redest du in Gleichnissen? Doch bevor ich euch den Grund für die Gleichnisse erkläre, möchte ich noch einmal kurz die Vorgeschichte auffrischen. Gott liebte seine Schöpfung bekanntlich so sehr, daß er nicht umhin konnte, sie zu verdammen und zur Hölle zu schicken. Bis er sich eines Tages eines anderen besann und seinen eingeborenen Sohn schickte, dem die Fähigkeit gegeben war, Menschen zu erlösen. Doch wen wollte dieser Menschensohn erlösen? Er erzählte seinen Jüngern das Gleichnis vom Sämann. ‘Etliches fiel auf den Weg und die Vögel fraßen's. Etliches fiel auf das Felsige, wo es welkte und dürre ward. Etliches fiel unter die Dornen und die Dornen erstickten's. Und Etliches fiel auf gutes Land und trug Frucht, hundertfältig, sechzigfältig und dreißigfältig.’ Und es war an dieser Stelle, daß die Jünger einfältig fragten: ‘Warum sprichst du in Gleichnissen zu uns?’ Und wir uns fragen sollten, warum der Sämann soviel daneben warf. Die Erklärung für Jesus rätselhaftes Verhalten ist: Er wollte, daß der Segen seiner Fähigkeit, die Erlösung zu bringen, nicht jedem zugänglich war. Die Gleichnisse waren Rätsel, deren geheime Antwort nur die von ihm auserwählten und eingeweihten wußten. Jesus machte sich Sorgen, daß einige der Leute, zu denen er sprach, die er aber nicht erlöst haben wollte, seine Lehre verstehen könnten, wenn er sie nicht mit Hilfe von Gleichnissen verschleierte. 888
Gott könnte dann, wenn diese Leute ihre Sünden bereuten, und was immer notwendig war, um das Himmelreich zu erreichen, taten, gezwungen sein, diesen Leuten zu vergeben und die Pforte zum Paradies zu öffnen. Das aber wollte Jesus nicht. Er sagt mit seinen eigenen Worten, daß er es nicht will, daß er nicht will, daß die meisten der Menschen ihre Sünden bereuen, so daß Gott gezwungen sei, ihnen zu vergeben und sie in den Exklusiv-Club `Himmel' reinzulassen, denn Jesus wollte es lieber, daß die Mehrheit der Menschheit in der Hölle briet für alle Ewigkeit. Man mag mich für unverschämt halten, weil ich so etwas über Jesus sage. Aber eigentlich sollte es für einen Christen ein Frevel sein, Jesus eigene Worte über seinen eigenen Grund für die Gleichnisse in Zweifel zu ziehen. Jesus selbst antwortete auf die Frage seiner Jünger nach dem Grund der Gleichnisse: ‘Euch ist's gegeben, daß ihr die Geheimnisse des Himmelreichs verstehet, diesen aber ist's nicht gegeben. Denn wer da hat, dem wird gegeben, daß er die Fülle habe; wer aber nicht hat, von dem wird auch das noch genommen, was er hat. Darum rede ich zu den Leuten in Gleichnissen. Denn mit sehenden Augen sehen sie nicht, und mit hörenden Ohren hören sie nicht; und sie verstehen es auch nicht. Und an ihnen wird die Weissagung Jesajas erfüllt, die da sagt: Mit den Ohren werdet ihr hören und werdet es nicht verstehen; und mit sehenden Augen werdet ihr sehen und werdet es nicht erkennen. Denn dieses Volkes Herz ist verstockt (worden), und ihre Ohren hören übel (schlecht), ihre Augen schlummern, auf daß (damit) sie nicht etwa mit ihren Augen sehen und mit ihren Ohren hören und mit dem Herzen verstehen und sich bekehren, und ich ihnen hülfe (Erlösung zu erlangen und ins Paradies einzugehen). Aber selig sind eure Augen, daß sie sehen, und eure Ohren, daß sie hören. Wahrlich, ich sage euch: Viele Propheten und Gerechte haben begehrt zu sehen, was ihr sehet, und haben's nicht gesehen, und zu hören, was ihr hört, und haben's nicht gehört.’1”
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Matt. 13, 10-17
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Adjuna hörte auf, aus der Bibel vorzulesen, und sah auf. Viele waren da, die hatten's gehört, aber es war ihnen nicht gegeben, es zu verstehen, denn zum Verstehen gehörte ein Hirn, gehörte Verstand. Wem Verstand gegeben war, dem wurde auch mehr Verstehen gegeben. Wem aber der Verstand genommen ward, dem wurde auch das Verstehen genommen. Es blieb ihm jedoch die Religion als Trostpreis. Und unten im Publikum war manch einer, der dachte: “Herr Gott, ich danke dir für meine Ignoranz.” Während andere vielleicht dachten: “Herrgottnochmal, die Religion ist doch Unsinn! Warum nimmt der Atheist da vorn sie so ernst!” Wieder andere dachten vielleicht: “Die Wahrheit ist nur dem zugänglich, der intelligent ist. Wie können wir die Intelligenz der Menschen steigern?” Adjuna sprach weiter: “Jesus hatte schon bei einer früheren Gelegenheit Gott seinen Dank dafür, daß er die Wahrheit verborgen hatte, empor gerufen. Ich zitiere: ‘Ich preise dich, oh Vater, Lord über Himmel und Erden, daß du diese Dinge den Weisen und Klugen verborgen hast und hast es den Unmündigen offenbart!’ Jesus gibt weiter an: ‘Alle Dinge sind mir übergeben von meinem Vater; und niemand kennt den Sohn, denn nur der Vater; und niemand kennt den Vater denn nur der Sohn und wem es der Sohn will offenbaren. 1’ Womit - wie wir ja gesehen haben - nicht jeder gemeint war. Jesus verspricht dann noch weiter, all die, die mühselig und beladen sind, zu erquicken, hält sich selbst für sanftmütig und demütig, behauptet, sein Joch sei sanft, seine Last leicht, und doch ist er zwei Kapitel später, wie wir gesehen haben, nicht bereit, Klartext zu reden, damit ihn jeder versteht, sondern verschleiert seine Lehre mit der abstoßenden Begründung, sie nur seiner Elite zugänglich zu machen. Priester haben uns immer wieder erzählt, diese Gott/Mensch-Mischung Jesus wäre von so unendlicher Süße und Liebenswürdigkeit gewesen.
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Matt. 11, 25 und 27
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Er habe als Erster in der Menschheitsgeschichte Hoffnung gebracht. Er habe Erlösung quasi gratis verteilt. Er habe eine großartige Moral gepredigt, Nächstenliebe und Mitleid mit allen Mitmenschen. Nicht nur habe er die Vaterschaft Gottes für sich in Anspruch genommen, wie übrigens andere vor ihm von jungfräulichen Dirnen geborene Erlöser auch, sondern er habe die Vaterschaft Gottes allen nähergebracht usw. Keinerlei Schlechtigkeit wird ihm unterstellt und doch sehen wir, wenn wir genau hinsehen, eine Menge Schlechtigkeit, wie das eben erwähnte Geizen mit seiner Erlösungslehre, aber das ist nicht alles; er geizt noch mehr. Das war, nachdem er sich mit den Pharisäern und Schriftgelehrten angelegt hatte und sein tiefes Wissen um Bazillen und andere Krankheitserreger sowie Anatomie offenbart hatte: ‘Was zum Mund eingeht, das macht den Menschen nicht unrein, sondern was zum Mund ausgeht, das macht den Menschen unrein.’1 Eine Deutung lieferte er zu diesem Gleichnis gleich mit: ‘Merket ihr noch nicht, daß alles, was zum Munde eingeht, das geht in den Bauch und wird durch den natürlichen Gang ausgeworfen? Was aber zum Munde herausgeht, das kommt aus dem Herzen, und das macht den Menschen unrein. Aus dem Herzen kommen arge Gedanken, Ehebruch, Unzucht, Dieberei, falsch Zeugnis, Lästerung.’2 Religion hatte er bei dieser Aufzählung von Monstrositäten vergessen. Auf jeden Fall verließ Jesus angewidert die Hände waschenden Pharisäer und Schriftgelehrten und begab sich ungewaschen in die Gegend von Tyrus und Sidon. Da wurde er von einer Frau aus Kanaan belästigt. Diese Frau lief ihm nach und schrie: ‘Ach, Herr, du Sohn Davids, erbarme dich mein! Meine Tochter wird von einem bösen Geist übel geplagt.’ Er antwortete ihr nicht ein einziges Wort. Ihr Bitten ging aber den Jüngern so an die Nerven, daß sie Jesus baten, doch etwas zu tun. ‘Nun mach doch schon und heil ihre verdammte Tochter, damit wir endlich wieder unsere Ruhe haben.’ Und was
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Matt. 15, 11
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Matt. 15, 17 und 18
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antwortete unser Menschenfreund von einem Messias da? Statt die bösen Geister auszutreiben, was er ja angeblich mit links hätte machen können, erklärte er: ‘Ich bin nur gesandt den verlorenen Schafen des Hauses Israel.’1 Und als die Frau vor ihm niederfiel und jammerte: ‘Oh Herr, hilf mir!’ Da fügte er noch hinzu: ‘Es ist nicht fein, daß man den Kindern ihr Brot nehme und werfe es vor die Hunde.’2 Das hört sich doch sehr rassistisch an. Da wir hier, die wir hier versammelt sind, Anti-Rassisten sind, sollten wir diese Religion, die einen so rassistischen Religionsstifter hatte, bekämpfen. Es spielt dabei gar keine Rolle, daß die meisten Priester der Gegenwart den Jesus umgelogen haben in eine Allegorie für perfekte Liebe. Solange Christus angebetet wird, besteht die Gefahr, daß der grausame, intolerante Aspekt dieser Figur wieder durchkommt. Das Ironische an der ganzen Sache ist natürlich, daß es all die grausamen Verfolgungen von Andersgläubigen und all die Foltern und Morde an den Zweiflern am Worte des Herrn und all das dumme Beten der Christen nie hätte geben dürfen, denn der große Widerspruch ist doch, daß sie selbst nicht Jesus Worte ernstnehmen. Wenn die Christen je hätten Christus Worte ernstgenommen, wenn sie je geglaubt hätten, daß das, was er sagt, die Wahrheit ist, sie hätten nie ihre Kirchen bauen dürfen, nie Missionsarbeit treiben dürfen, nie verfolgen dürfen. Denn ihr Christus hat in so vielen Worten gesagt, daß er nur gesandt wurde, um Juden zu retten. Er wiederholt es immer wieder: ‘Gehet nicht auf der Gojim Straße und ziehet nicht in der Samariter Städte, sondern gehet hin zu den verlorenen Schafen aus dem Hause Israel.’3 Und er verspricht, daß er die zwölf Apostel, also auch Judas, auf zwölf Throne setzen wird, um über die zwölf Stämme der Juden zu richten. 4 Und trotzdem plappern Millionen von Nicht-Juden davon, daß Jesus 1
Matth. 15, 24
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Matth. 15, 26
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Matth. 10, 5 und 6
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Matth. 19, 28
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kam, um die ganze Menschheit zu erlösen. Dieser exklusive Erlöser wurde bestenfalls, wenn man seinen eigenen Aussagen Glauben schenkt und ihn nicht gleich ganz als Spinner abtut, ein paar Elitemenschen, nämlich Juden, gesandt, um sie von einem Fluch ihres Exklusiv-Vaters, der nur sie betraf, zu erlösen. Aber selbst diese Aufgabe erfüllte er nicht. Er weist seine Jünger an, nein, er bedroht sie sogar, daß sie niemandem sagen sollen, daß er Jesus der Christus sei.1 War das fair? Das war Versteckspielen, Täuschung. Und was war als nächstes mit Jesus? Seine Aussagen werden immer verwirrender und widersprüchlicher. Er nimmt sich eines kleinen Kindes an, wie es unsere Politiker auch so gerne tun, und sagt seinen Leuten, sie sollen wie die kleinen Kinder werden, sonst werden sie nicht in das Himmelreich kommen. ‘Nur wer sich selbst erniedrigt wie dies Kind, der ist der Größte im Himmelreich.’2 Je niedriger, desto größer? Der Niedrigste ist der Größte? Welche praktische Bedeutung konnte es für die Fischer und die anderen Männer seiner Zuhörerschaft haben, sich darum zu bemühen, einem Kleinkind so ähnlich wie möglich zu werden? Jesus spricht dann noch vom Mühlstein-um-den-Hals-Hängen und im-Meer-Ersäufen, vom Hand-Abhacken und Fuß-Abhacken, vom Auge-Ausreißen und vom höllischen Feuer. Kindisch, nicht wahr? Zum Glück waren nur wenige so blauäugig, diese Ratschläge zu befolgen. ‘Sehet zu, daß ihr die Kleinkinder nicht verachtet. Denn ich sage euch, die Engel der Kleinkinder im Himmel sehen allezeit das Angesicht meines Vaters im Himmel.’2 Was nützt das den Kleinkindern, wenn der Vater selbst kindisch geworden ist und seinen Beruf vernachlässigt? Anschließend sagt Jesus dann noch ein bißchen zusammenhanglos: ‘Denn des Menschen Sohn ist gekommen, selig zu machen, was verloren ist.’3 Es folgt dann die Geschichte vom verlorenen Schaf und dem dummen Schäfer, der wirtschaftlichen Ruin riskiert. Es folgt die
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Matth. 18, 4
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Matth. 18, 10
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Matth. 18, 11
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Anweisung an Petrus 490mal zu vergeben. Dann kommt das Scheidungsverbot. ‘Was Gott zusammengefügt hat, soll der Mensch nicht scheiden.’1 Sie sind nicht mehr zwei, sondern ein Fleisch. Als ob man ihn nicht wieder rausziehen kann! Ehebruch ist sein nächstes großes Thema - und Ehelosigkeit, was der fromme Origenes so verstand, daß er sich zackbumm das Geläut abhacken solle. Die Kastration. Wieder Kinder. Wieder Gleichnisse. ‘Die Ersten werden die Letzten sein.’2 Gilt das auch für Päpste und Bischöfe? Mehr Gleichnisse”, sagte Adjuna im Weiterblättern. “Jesus Äußerungen sind nichts anderes als Gleichnisse, Rätsel, aber sie sind nicht das einzige Rätselhafte an Jesus, sein ganzer Charakter ist ein Rätsel, seine Lebensgeschichte ist ein Rätsel. Die ältesten Handschriften über ihn sind rätselhaft. Übersetzer können sich nicht einigen, wie sie zu übersetzen und zu verstehen sind. Würde der Schreiber eines Kreuzworträtsels solche widersprüchlichen Rätsel schreiben, würde er von der Redaktion seiner Zeitung gefeuert werden, aber die Priester, die werden angefeuert bei dem Blödsinn, der in der Bibel steht, besonders feuern die Gleichnisse sie an trotz der großen Verwirrung, die wegen der Gleichnisse und ihrer Bedeutungen besteht. Sie suchen sich halt das heraus, was gerade paßt, ihnen gerade paßt. Wenn die Gleichnisse auch unklar sind, eines an ihnen ist klar, das Schrecklichste von allem, nämlich, daß sie Hindernisse sind, die von Jesus absichtlich in den Weg deren gelegt wurden, die gerne zur himmlischen Wahrheit zugelassen werden würden, aber von Gottessohn ausgeschlossen werden sollten. Diese Wahrheit wird von den Priestern unterschlagen. Es wird auch unterschlagen, daß der Gott Jahwe seinen Geschöpfen furchtbar feindlich gesonnen war. Er liebte den blutigen Geruch der geopferten Tiere und geschlachteten Feinde. Nie zeigte er Interesse daran, andere Völker zum Glauben an sich zu
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Matth 19, 6
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Matth. 19, 30
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bekehren. Da war er ganz fair. Die anderen Götter hatten ihre Gläubigen, er hatte seine. Sauer wurde er erst, wenn sie sein Territorium betraten. Biologen bezeichnen so etwas als Revierverhalten. Freilich manchmal betrat er ihres, aber nicht um zu bekehren, sondern um zu rauben und zu morden. Beuteverhalten. Das artete manchmal in ziemlich große Massaker aus, wobei nicht nur alle Männer, sondern auch alle Frauen und Kinder und das Viehzeug bei umgebracht wurde, aber nie wurde von den Opfern verlangt, sich zum Jahwe zu bekennen. Und wenn seine Zauberer die Zauberer anderer Götter austricksten, so geschah das auch nicht, um zu bekehren, sondern um zu demütigen und lächerlich zu machen. Bekehren stand nie auf Jahwes Plan und auch nicht auf Jesus Plan. Jesus kam nicht, um zu bekehren, sondern um auszuwählen. Seine Parabeln sind eine Art Schibboleth, eine Art Losung, wie die geheimen Erkennungszeichen der Logen. Die Idee mit den Parabeln, die den Eingeweihten den Zugang zum Himmel ermöglichten, war nicht so originell. Jahwe und Jesus hatten sie wahrscheinlich von Jephthah. Denn Jephthah und seine Männer aus Gilead hatten wie der Pfortensteher am Himmel das Problem, das sie nicht am Gesicht erkennen konnten, wen sie durchlassen sollten und wen nicht. Das kam so: Jephthah, ein Mann von großem Heldenmut und Sohn einer Hure, hatte wider die Ammoniter, östliche Verwandtschaft der Israeliten, Nachkommen von Lot's Inzestbeziehung mit seiner ältesten Tochter, gestritten. Durch Bestechung hatte er auch gesiegt. Nämlich hatte er Jahwe im Falle seines Sieges versprochen: ‘Was immer als erstes zu meiner Haustür rauskommt, das soll des Herrn sein und ich will es dem Herrn zum Brandopfer opfern.’1 Jahwe hatte ihn siegen lassen. Japhthah hatte die Ammoniter auf ganzer Linie abschlachten können, zwanzig Städte lagen in Schutt und Asche. Triumphierend zog er heim. Da Jahwe aber für den Sieg nicht billig bezahlt werden wollte, schubste er Japhthahs einzige Tochter als erstes zur Tür heraus. Um sich den Spaß perfekt zu machen, ließ er das
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Richter 11, 31
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Mädchen seinem Vater fröhlich mit Pauken und Reigen entgegen ziehen. Japhthah, der zweifellos gedacht hatte, ein Pferd, eine Kuh oder einen Sklaven zuerst zu treffen, zerriß sich verzweifelt die Kleider. Das Mädchen, es war ein braves Kind, sagte zu seinem Vater, als es von dessen Gelübde hörte, daß er es auf jedem Fall halten müsse, wo doch der Herr ihm so gut getan hatte. Nur wolle sie für zwei Monate in den Bergen ihre Jungfernschaft beweinen. Dem keuschen Mädchen tat es leid, daß es sterben sollte, ohne die Ekstase der geschlechtlichen Vereinigung kennengelernt zu haben. Wahrlich ein großer Verlust. Zwei Monate darum zu weinen, scheint angebracht. Nach zwei Monaten kam sie zurück, immer noch eine Jungfrau, und ihr Vater briet sie auf dem Opferaltar. Dieses Mal änderte Jahwe nicht seine Meinung wie beim guten, alten Abraham, als der seinen Sohn Isaak zubereitete. Damals hatte er sich mit einem Widder zufrieden gegeben, aber diesmal wollte er den richtigen Duft eines gebratenen, jungfräulichen Mädchens schnüffeln. Dieser Wohlgeruch dieses einen jungfräulichen Mädchens war wunderbar, viel besser als die Gerüche aller Leichen aus allen bisherigen Kriegen. Als Atheist sage ich natürlich, der Tod dieses einen Mädchens ist nichts, verglichen mit all den Abermillionen Toten, die als Folge des christlichen Wahnsinns starben. Tatsächlich hatte Christus seine Nüster durch den Wahnsinn, den er in die Welt setzte, gut mit dem Duft verbrannten Fleisches versorgt. Ob ihm wohl die Brandgerüche all der unschuldigen Männer, Frauen und Kinder, die die Inquisition über gelindem Feuer erst in ihren Folterkellern anbrieten und dann auf dem Scheiterhaufen lichterloh zur Ehre der Heiligen Dreieinigkeit verbrannten, mundeten, ob sich seine Augen weideten an den Abermillionen auf den Leichenfeldern der christlichsten Kriege, ob ihm die Morde des Ku Klux Klans pittoresk erschienen, ob ein Atombombenabwurf auf eine Stadt ein Festmal für ihn ist, ob sich zu Tode windende Menschen ihn erheiterten, ob er in den Seuchen steckt? Man muß es doch annehmen. Wie der Vater, so der Sohn. Und verhindert wurden die Greuel ja nicht. Und Krankheiten werden erst neuerdings mit zunehmender Unfrömmigkeit durch moderne Medizin geheilt, was ja zuerst auch vom Klerus als Freveltat gegen Gott verdammt wurde. Aber wir waren ja bei Japhthah, dem Bratkoch, der seine eigene Tochter briet. Dieser Japhthah hatte wenig später Streit mit der westlich vom Jordan 896
lebenden Verwandtschaft, den Ephraimitern, die zuhauf in sein Territorium eingedrungen waren. Japhthah siegte wieder. Aber die im Kampf gefallenen Ephraimiter waren ihm nicht genug. Er wollte auch noch die Flüchtigen umgebracht haben. Dafür ließ er die Furten des Jordans von seinen Leuten besetzen. Wenn nun die Flüchtigen Ephraims kamen und sprachen: Laß mich hinüber! so sprachen die Männer von Gilead zu ihm: Bist du ein Ephraimiter? Wenn er dann antwortete: Nein! hießen sie ihn sprechen: Schibboleth; so sprach er: Siboleth und konnte es nicht recht reden; alsdann griffen sie ihn und erschlugen ihn an den Furten des Jordans, daß zu der Zeit von denen von Ephraim 42 000 fielen. 1 Ein ordentliches Tagewerk, wenn man bedenkt, daß die USA während des ganzen Zweiten Weltkriegs auch nicht mehr Todesopfer zu beklagen hatte. Jesus benutzte seine Parabeln ähnlich wie Japhthah das Wort Schibboleth. Nur Japhthah ließ die, die den Test nicht bestanden, totschlagen, Jesus aber möchte die, die nicht bestehen, auf heißen Kohlen ewig leben lassen. Das mag sich alles unverschämt und furchtbar anhören. Aber werft das nicht mir vor, werft, wenn ihr gläubige Christen seid, es eurem Gott und seinem Söhnchen vor. Es ist unmenschlich und grausam, was die Bibel beschreibt, und auch, was sie von uns verlangt. Aber die ganze Schöpfung ist grausam und voller Leiden. Aber bei aller Grausamkeit und Fehlerhaftigkeit auf dieser Welt, für die man einen allmächtigen Gott zur Verantwortung ziehen müßte, bei all den Leiden, die Tiere, Menschen und Viren auf dieser Welt verursachen, gibt es eine Entschuldigung für Gott. Diese Entschuldigung lautet: Gott existiert nicht. Und auch für all die besonderen Grausamkeiten, wie wir sie in der Bibel finden, und wie sie seitdem in seinem Namen begangen wurden, also für all die Grausamkeiten, die speziell von Gott angeordnet wurden, gilt diese Entschuldigung. Wer immer mit Gott ins Zwiegespräch kam, ob Jesus oder Japhthah, der führte in Wirklichkeit
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ein Selbstgespräch. Gott existiert nicht. Die Verbrechen, die in seinem Namen begangen wurden, hat der Mensch selbst zu verantworten. Und die anderen Leiden, wie Krankheiten, Epidemien, Seuchen sind die Folge des natürlichen Bedürfnisses organischer Entitäten, Viren und Bakterien, sich auszubreiten, Naturkatastrophen haben natürliche Ursachen, Altern und Tod sind das natürliche Auslaufen der Lebensenergie. Das ist alles. Krieg und Mord jedoch sind nie Schicksal oder göttliche Heimsuchungen, sondern haben immer menschliche Ursachen.” Aber für Adjuna war das noch nicht alles. Er sah, die Sonntagsschule hatte bei vielen ein tiefes Werk hinterlassen. Menschenwerk. Adjuna erhob daher noch einmal seine Stimme: “Ihr, die ihr mich von da unten, so bekehrt und fromm anfeindet, laßt es mich noch einmal sagen, es war nie Jesus Absicht, daß ihr bekehrt werdet. Er sprach in Gleichnissen um eine Bekehrung der Massen zu verhindern! Er sagt es immer wieder! Hier. Markus 4, 33: ‘Und durch viele solche Gleichnisse sagte er dem Volke das Wort, wie sie es zu hören vermochten. Und ohne Gleichnis redete er nicht zu ihnen; aber wenn sie allein waren, legte er seinen Jüngern alles aus.’ Immer wieder spricht er vom Ausgewähltsein, und wer seine Familie nicht im Stich läßt, oder wer reich ist, der hat von vorne herein keine Chance1 zu den Auserwählten zu gehören. In Gleichnissen zu sprechen, ist eine Sache, die Bibel in einer altertümelnden, verdrehten Sprache zu schreiben, ist eine andere, beides dient der Verwirrung und schadet den Menschen. Zu Jesus Zeiten war es die Absicht Jesu, die vermeintliche Erlösung, die die Kenntnis um die wahre Lehre Jesu unvermeidlich mit sich brachte, zu verhindern; in der heutigen Zeit verhindert die unklare, für die Gegenwart schwer verständliche Sprache eine andere Art von Erlösung, die Erlösung vom Glauben schlechthin. Ich will daher noch einmal klar und deutlich und mit der Logik eines modernen Menschen 1
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zu Euch sprechen. Und ich will sehen, ob nicht auch dem letzten die Schuppen von den Augen fallen. Zuerst einmal ist da die heilige Dreieinigkeit mit all ihrer Ausstaffierung, all ihrer Implementierung und ihrer Implikation. Und jetzt paßt auf! Es kommt ein Stück formale Logik. Vater, Sohn und heiliger Geist sind gleich. Den Geist klammern wir mal aus. Mit dem Geist können wir nichts anfangen. Wir können nur feststellen, daß er nicht einmal über einen mittelmäßigen Verstand verfügt. Es bleiben uns also Vater und Sohn, Jahwe und Jesus. Wenn A = B = C oder meinetwegen V = S = G, heilige Dreieinigkeit, dann ist die Aussage A = B oder V = S, heilige Dreieinigkeit reduziert auf heilige Zweieinigkeit auch richtig. Also die Aussage: Der Vater ist gleich der Sohn, oder Vater und Sohn sind das Selbe, also ein und dieselbe Person, diese Aussage ist im Jahwe-Jesus-Zusammenhang richtig. Wenn Jahwe also Jesus Mutter schwängert, schwängert Jesus seine eigene Mutter, da er ja mit Jahwe identisch ist. Eine Inzestbeziehung vergleichbar mit der des Ödipus. Oder noch schlimmer! Wir haben es hier mit einer fragwürdigen Existenz zu tun, die offensichtlich ihr eigener Vater und ihr eigener Sohn ist, und laut manch einem theologischen, sprich: unlogischen Verwirrspiel auch die eigene Mutter und eine ganze Menge anderer Dinge. Aber das soll uns nicht weiter stören. Wir machen weiter mit unseren Logikschlüssen. Wenn Jesus Gott ist, dann hat er Selbstmord begangen, indem er sich selbst in den Kreuztod schickte, um seiner eigenen Auffassung von Gerechtigkeit genüge zu tun. Auch das mag eine Parabel sein. Das Wort Parabel kommt aus dem Griechischen und heißt das Nebeneinanderwerfen, das Wort Durcheinanderwerfen hätte besser gepaßt. In der Mathematik ist eine Parabel etwas Krummes. Und wahrlich, mit einer krummen Geschichte haben wir es bei der biblischen Geschichte zu tun. Jahwe beging jedes Verbrechen in gigantischem Ausmaß. Jesus, sein Sohn und Selbst, kommt auf die Erde und verfolgt praktisch die gleiche Politik. Er betont ausdrücklich: Ich bin nur gekommen, um einige wenige Juden zu retten. Die anderen sind Hunde für mich. Ich werfe ihnen ein paar chiffrierte Testfragen vor, die werden sie nicht knacken können, an denen werden sie durchdrehen, aber das sollen sie ruhig, das macht mir nichts aus, das ist sogar gut so. Unter meinen Auserwählten habe ich einen Kumpel, der wird mich verraten. Trotzdem habe ich ihm versprochen, ihn im 899
Himmel auf einen Thron zu setzen. Meine Landsleute habe ich so verwirrt, daß sie mich, obwohl ich ihnen immer wieder demonstriert habe, daß ich Kranke, Blinde und Verrückte heilen und sogar die Toten auferwecken kann, kreuzigen werden. Ich habe eine Botschaft, die ist so absonderlich, daß ich sie lieber zwischen den Zeilen von Kurzgeschichten verstecke, als daß ich sie offen sage. Warum ich das tue? Wenn ich Klartext spreche, werden eine Unmenge von Sünder meine Botschaft vom Himmelreich verstehen, ihre Taten bereuen, sich bessern, und dann wird mein Vater im Himmel ihnen bedauerlicherweise vergeben müssen. Eine der rätselhaftesten Mysterien meiner Lehre ist zweifellos, daß wir, mein Vater und ich, die Leute immer wieder aufforderten einander zu vergeben, bis zu siebzigmal und siebenmal siebzig und noch öfter, und wir selbst vergeben, wenn man von den ganz wenigen Auserwählten mal absieht, niemandem. Niemals. Dafür haben wir die Hölle gebaut, ein Ort, den ich sehr anschaulich in der Parabel vom reichen Mann und vom armen Lazarus beschrieben habe.1 In dem Gleichnis vom reichen Mann und vom armen Lazarus beschreibe ich einen Mann, der das unverzeihliche Verbrechen begangen hat, sich gut zu kleiden und gut zu essen. Dieser Mann war jedoch auch wohltätig, aber reiche Leute, egal wie wohltätig sie sind, können nicht in den Himmel kommen. Es ist leichter, daß ein Kamel durch ein Nadelöhr geht, als daß ein Reicher in den Himmel kommt.2 Reiche Leute wie Rockefeller3 sind gut genug, wenn sie Kirchen bauen und der Kirche Geld spenden, aber ins Himmelreich, nein, da lassen wir sie nicht rein. Also, in meinem Gleichnis nun, da gab es noch einen Bettler, der hieß Lazarus. Der Himmel liebte ihn, da er weder säte noch
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Lukas 16, 19-31
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Lukas 18, 25; Markus 10, 25; Matth. 19, 24.
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John D. Rockefeller, Jr. (1874-1960), Sohn des ersten amerikanischen Billionärs, war ein Sonntagsschulaktivist und spendete allein der Northern Baptist Church $ 4 000 000, er spendete auch anderen christlichen Konfessionen große Summen, einschließlich der römischkatholischen Kirche.
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erntete1, weder spann noch webte2. Außer vor der Tür des reichen Mannes herumzuliegen, tat er überhaupt nichts. Er war zu faul, etwas zu tun, zu faul, sich zu waschen, ja, sogar zu faul, sich zu kratzen. Er lungerte bloß vor der Tür des reichen Mannes herum und wartete auf die Almosen, die vom Tische des reichen Mannes abfielen, und ab und zu ließ er sich von den Hunden des reichen Mannes seine Geschwüre, die er wegen seiner mangelhaften körperlichen Hygiene bekommen hatte, lecken. Als Lazarus nun starb, kamen die Engel und hoben ihn auf und trugen ihn in den Himmel, in Abrahams Schoß. Abraham kennt ihr doch alle, oder? Das war dieser nette, alte Gentleman, der bereit war, sein Söhnchen zu braten, und der seine Frau zweimal für Geld auslieh, indem er so tat, als sei sie seine Schwester. Geschäftstüchtig, was? Er ist einer der wenigen reichen Leute, die es geschafft haben, da oben reinzukommen. Eines der schönsten Plätze im Himmel sind die Balkonplätze, von denen man hinunterschauen kann direkt in die Hölle und das Geheul hören kann. Der gute Lazarus saß gerade erst auf Abrahams Schoß, da schaute er auch schon hinunter. Und wen sah er da als ersten? Den reichen Mann, von dessen Almosen er gelebt hatte, und dessen Hunde seinem stinkenden Körper die einzige Reinigung, die er je bekam, gegeben hatten. Der reiche Mann in seiner Qual blickte auf zu Abraham und sah Lazarus auf Abrahams Schoß sitzen und sprach: Vater Abraham, erbarme dich mein und sende Lazarus, daß er seine Fingerspitze ins Wasser tauche und kühle meine Zunge, denn ich leide Pein in dieser Flamme. Abraham aber sprach: Bedenke, Sohn, daß du dein Gutes empfangen hast in deinem Leben, Lazarus aber hat Böses empfangen; nun wird er hier getröstet, und du wirst gepeinigt. Und außerdem ist zwischen uns und euch eine große Kluft, daß die, die da wollten von hier hinüber zu euch, es nicht könnten, und auch nicht die, die von euch zu uns herüberwollten. Da sprach der reiche Mann: So bitte ich dich, Vater, daß du Lazarus sendest zu meines Vaters Haus, denn ich habe noch fünf Brüder, daß er sie warne, auf daß sie nicht auch kommen an
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Lukas 12, 27
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diesen Ort der Qual. Abraham aber sprach: Sie haben Moses und die Propheten; laß sie dieselben hören. Der reiche Mann aber sprach: Nein, Vater Abraham, sondern wenn einer von den Toten zu ihnen ginge, so würden sie Buße tun. Vater Abraham aber sprach zu ihm: Hören sie Moses und die Propheten nicht, so werden sie auch nicht glauben, wenn jemand von den Toten aufstünde. Und damit war der Fall erledigt. Der reiche Mann und die anderen in der Hölle litten weiter. Abraham, Lazarus und die andern Himmelsbewohner genossen weiter die gute Aussicht.” Adjuna hörte auf, im affigen Tonfall eines Heilandes oder frommen Heiligen zu sprechen. Die Jesus-Schauspielerei mit der hochgestimmten, unmännlichen, albernkindischen Kinderchorstimme hatte seine Stimmbänder so strapaziert, daß er jetzt in einer unnatürlich tiefen, rauhen und unreinen Stimmlage weitersprechen mußte, - als hätte er ein Geschwür im Kehlkopf. Adjuna zog die Schlußfolgerung aus dem Bishergesagten: “Es scheint also, daß unser himmlischer Vater uns einfach foltern muß. Er kann nicht anders. Wenn nicht hier, dann da. Er kann seine liebenden Pfoten einfach nicht von uns lassen. Irgendwo muß er uns das Leben zur Hölle machen. Einige Up-to-date-Priester haben die Hölle als unpopulär aus dem christlichen Glaubensbekenntnis gestrichen. Mit welchem Recht eigentlich, wo Jesus so ein anschauliches Bild von der Hölle hinterlassen hat? Sein Mann in den Flammen bittet nur um die Linderung durch angefeuchtete Finger, und selbst das wird ihm verweigert. Jesus predigt Höllenfeuer absolut, ewiglich und ohne Gnaden. Wir hören von keiner bösen Tat, die der reiche Mann begangen hat, nur daß er reich war. Aber das waren andere auch: der unbeschreiblich abscheuliche Zuhälter Abraham zum Beispiel, oder der furchtbar geile, lüsterne Verräter und Mörder David, oder der abnorme Satyromane Salomon mit seiner übergroßen Frauenkollektion. Er hatte 700 Weiber zu Frauen und 300 Krebsweiber! 1
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1. Könige 11, 3
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Sie alle waren reich und trotzdem spielen sie Hauptrollen im Himmelreich. Keiner der Bewohner des himmlischen Reiches ließ sich je die paradiesischen Freuden durch Mitleid mit der großen Masse der Bevölkerung der Hölle verderben. Weder legte Lazarus Fürbitte für den reichen Mann, von dessen Almosen er gelebt hatte, ein, noch rührt Jesus irgendeinen Finger. Sie genießen das gute Leben, das Leiden der Höllenbewohner ist ihnen gleichgültig, vergleichbar dem NaziAufsichtspersonal vom KZ-Auschwitz.1 Eigentlich sind Jesus und seine Auserwählten schlimmer als der Einhodige und seine Komplicen, denn ihre Freuden sind größer, und die Leiden in der Hölle sind es auch. Wie gerne würden die Insassen der Hölle mit den Insassen von Vernichtungslagern tauschen! Sie sehnen sich nach einem Ende ihrer Qualen, wie sich Männer und Frauen, die in die Hände der christlichen Inquisition gerieten, nach dem Tod sehnten. Aber ihre Qualen sollen unendlich sein. Gott und Jesus sind unbarmherzig. Nur der Jungfrau Maria sagt man nach, daß sie ab und zu mal Leute, die sie übertrieben gelobt hatten, aus der Hölle holte, übrigens ganz unabhängig davon, wie gemein diese Schmeichler im Leben waren. Selbst Gotteslästerer sollen darunter gewesen sein! Natürlich hatte Maria jedes Mal, wenn sie einen aus den Flammen zog, den schönsten Familienkrach mit ihrem Männe und ihrem Söhnchen, denen das nie recht war. 2 Die Moral von Jesus Gleichnissen ist fragwürdig. Nehmen wir das Gleichnis von dem Jungen, der in die Stadt zog und dort ein wildes Leben führte, bis er pleite war. Als er zurück nach Haus kam, gab ihm sein Vater nur vom Besten, während der treue, fleißig arbeitende Bruder einen Rüffel bekam. 3
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vgl. “Schöne Zeiten” von Ernst Klee, Willi Dressen und Volker Riess.
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vgl. “The Book of 110 Miracles by Our Lady Mary” von Ernest Alfred Thompson Wallis Budge (1857-1934), englischer Archäologe.
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Lukas 15, 11 - 32
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Die Moral dieser Geschichte ist so verblüffend wie die Moral von Japhthahs Tochter, die in die Berge zog, um zu beweinen, daß sie nicht tat, was der verlorene Sohn tat. - Die wichtigste Tatsache, der man als gläubiger Christ nicht ausweichen kann, ist, daß wenn man überhaupt an Christus glaubt, dann muß man auch an seine Worte glauben, wie sie im Neuen Testament stehen, denn, wenn man das nicht tut, dann hängt die ganze Erlöserfigur Jesus ja ganz haltlos in der Luft, dann hätte man ein noch wackeligeres Luftschloß gebaut, als das Christentum ohnehin schon ist, dann könnte man sich eigentlich genauso gut selbst auf den Thron dieses Luftschlosses fanatisieren. Also es geht nicht. Als gläubiger Christ muß man ehrlicherweise - und natürlich auch zur eigenen Sicherheit - zugeben, daß das, was Jesus sagt, richtig ist und nicht bezweifelt werden darf, nämlich, daß er nur kam, um ein paar wenige Juden zu retten, daß er seine Lehre absichtlich verschleiert hat, damit man sie nicht versteht - was ihm übrigens ausgezeichnet gelungen ist - und daß all die Massen der NichtAuserwählten für ewig unendliche Agonie erleiden werden, bloß weil dem Jesus das so paßt. Jesus hatte versprochen, daß er noch zu den Lebzeiten deren, die ihn kannten, zurückkommen werde, und seine Jünger hatten schon damals das Ende der Tage erwartet, aber er muß seine Meinung geändert haben, denn er ist immer noch nicht da. Wir können uns freilich unsere Chancen beim Jüngsten Gericht ausrechnen. In der Offenbarung heißt es deutlich, daß es 144 000 sein werden, die auf dem Berg Zion erlöst werden. Unsere Chancen stehen also schlecht, bald sind wir sechs Milliarden Menschen auf der Welt und in zehn Jahren kommt noch eine Milliarde hinzu und so weiter. Unsere Chancen werden immer schlechter und besonders, wenn man auf fromme Priester hört und weder verhütet noch abtreibt. Bald stehen unsere Chancen, wenn man bedenkt, wer alles schon vor uns gelebt hat, nicht einmal mehr 1 zu 100 000. Aber eins ist sicher: Alle, die erlöst werden, wenn Jesus das neue Jerusalem herunterläßt, werden Juden sein. Denn die Stadt hat nur zwölf Tore, und jedes Tor ist reserviert für einen der zwölf Stämme Israels.1
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Offenbarung 16,12
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Die große Mehrheit von Gottes auserwähltem Volke wird nicht auserwählt werden. Und der Rest von uns ist ein für allemal verloren, trotz zweitausendjähriger Anbetung und all der Milliarden Dollar, die wir für Kirchen, Kerzenrauch und Beweihräucherung ausgegeben haben. Die Geschichte der Bibelauslegung von den ersten Tagen an bis zur Gegenwart zeigt kaum irgendwo so große Verwirrung, so immense Variationen der Auslegung wie im Fall der Gleichnisse.1 Und so sollte es auch sein. Jesus sagte ja selbst: Der Grund für die Gleichnisse ist, Verwirrung zu stiften. Ihr, Christen, müßt also entweder aufhören, an Christus als einen gütigen Erlöser, der sich selbst für die Menschheit geopfert hat, zu glauben, oder ihr müßt aufhören, an die Evangelien, also den einzigen Berichten von Christus, zu glauben. Wenn ihr aber aufhört, den Evangelien zu glauben, dann müßt ihr auch aufhören, an Christus zu glauben, denn der Glaube an Christus baut ja ausschließlich auf den Evangelien auf. Wenn ihr es aber zulaßt, daß man euch nur mit bestimmten, vorsichtig ausgewählten Äußerungen und Handlungen von Christus füttert und euch all die Täuschungen, die Grausamkeit, die Intoleranz, die Gleichgültigkeit und Unwissenheit und Beschränktheit, die er an den Tag legte, vorenthält, dann seid gewiß, daß man aus all den berühmten Scheusalen der menschlichen Geschichte wie Caligula, Nero, Konstantin, Innozenz III., Torquemada, Robespierre, Adolf Hitler und wie sie alle heißen, genauso gute Christusse produzieren kann, wenn man nur ihre guten Taten und Äußerungen zeigt. Vom Aquäduktbau bis zum Autobahnbau, von der Zurschaustellung von Tier- und Kinderliebe über Altenpflege bis zu guten Ratschlägen und menschenfreundlichen Äußerungen, an die sie sich wie Jesus nicht gehalten haben, findet man bei ihnen allen genug gute Ansätze, aus denen jemand mit einer priesterlichen Begabung einen gütigen Erlöser der Menschheit fabrizieren kann, oder meinetwegen aus dem Hut zaubern kann. Und freilich, von den großen Scheusalen der Geschichte mal abgesehen, gibt es noch Millionen anderer Kandidaten, die humanere Lehren verbreitet haben, und aus denen es noch leichter wäre, Christusse
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Diese Aussage hatte Rupert Hughes der Encyclopaedia Biblica (Col. 3567) entnommen.
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anzufertigen. Wenn man für die Produktion eines Christusses so lasche Maßstäbe ansetzt wie bei Jesus, dann kann man Christusse am laufenden Band produzieren, Christusse wie Sand am Meer. Und was den Jesus Christus betrifft, so müssen wir ihn nehmen, wie er ist, mit all seinen Mängeln an Menschlichkeit, oder wir müssen ihn ganz und gar ablehnen. Zwischenlügen sind nicht korrekt.”1
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Als Grundlage für diese Rede Adjunas diente mir der Essay “The gastly purpose of the parables”, den der amerikanische Atheist, Schriftsteller und Historiker Rupert Hughes im Little Blue Book No. 1187 (Haldeman-Julius Publications of Girard, Kansas) August 1925 veröffentlichte. Dieser Essay wurde 1992 im `American Atheist - A Journal of Atheist News and Thought' Vol. 33, No. 5 in der Serie `Masters of Atheism' nachgedruckt. Bei den wenigen Veränderungen, die ich am Artikel vorgenommen habe, handelt es sich hauptsächlich um Veränderungen im Tonfall, damit es mehr nach einer Rede klingt, sowie um Weglassungen und Zusammenfassungen und um Aktualisierung: KZ- und Nazi-Vergleich. Alles in allem, kann man Adjunas Rede als eine sehr lose Übersetzung von Rupert Hughes Essay bezeichnen.
Zur Person Rupert Hughes: Er verfaßte mehr als 60 Bücher. Seine dreibändige Biography von George Washington gilt als Standard Werk. Er war ein Onkel des berühmten Industriellen Howard Hughes. Aus Gründen der Fairneß soll jetzt auch ein Master of Christianity, ein klerikaler Koryphäe, zu Worte kommen: “`Pastores dabo vobis' ... Mit diesen Worten wendet sich die ganze Kirche an Dich, den Herrn der Ernte, und bittet um Arbeiter für Deine Ernte, die überaus groß ist (vgl. Matth. 9,38). Guter Hirte, einst hast Du selbst die ersten Arbeiter in Deine Ernte gesandt. Es waren zwölf . Nun, da sich - nach beinahe zweitausend Jahren - ihre Stimme bis an die Grenzen der Erde verbreitet hat, spüren wir auch stärker die Notwendigkeit, dafür zu beten, daß es ihnen nicht an Nachfolgern für unsere Zeit fehlen möge, insbesondere nicht an denjenigen, die im Amtspriestertum mit der Kraft des Wortes Gottes und der Sakramente die Kirche aufbauen; an denjenigen, die in Deinem Namen Verwalter der Eucharistie sind, aus der fortwährend die Kirche erwächst, die Dein Leib ist. Wir danken Dir, daß die zeitweilige Krise der Priesterberufe im Bereich der Weltkirche sich auf dem Weg befindet, überwunden zu werden. Mit großer Freude erleben wir den Prozeß eines zahlenmäßigen Wiederaufschwungs der Berufe in den verschiedenen Teilen der Welt: In den jungen Kirchen, aber auch in den zahlreichen Ländern mit langer, vielhundertjähriger christlicher Tradition sowie dort, wo in unserem Jahrhundert die Kirche vielfache Verfolgungen erlitten hat. Aber mit besonderer Inbrunst erheben wir unser Gebet, indem wir an jene Gesellschaften denken, in welchen das Klima der Säkularisierung herrscht, wo der Geist dieser Welt das Wirken des Heiligen Geistes behindert, so daß das in die Herzen der jungen Menschen gestreute Samenkorn entweder nicht Wurzel faßt oder nicht heranreift. Gerade für diese Gesellschaften erheben wir noch inständiger unser Gebet: `Der Heilige Geist komme herab und erneuere das Antlitz der Erde.' Die Kirche
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dankt Dir, göttlicher Bräutigam, dafür, daß sie von ältester Zeit an in der Lage war, den Ruf zum geweihten Zölibat um des Gottesreiches willen anzunehmen, da sie seit Jahrhunderten das Charisma des priesterlichen Zölibats in sich selbst bewahrt. Wir danken Dir für das Zweite Vatikanische Konzil und für die jüngsten Bischofssynoden, die dieses Charisma dadurch, daß sie es bestätigten, als einen richtigen Weg der Kirche der Zukunft bezeichnet haben. Wir wissen, wie zerbrechlich die Gefäße sind, in denen wir diesen Schatz tragen - doch wir glauben an die Macht des Heiligen Geistes, der durch die Gnade des Sakraments in jedem von uns wirkt. Mit um so größerer Inbrunst bitten wir darum, beharrlich mit dieser Macht zusammenarbeiten zu können. Wir bitten Dich, der Du der Geist Christi, des Guten Hirten, bist, daß wir diesem besonderen Erbe der lateinischen Kirche treu bleiben. `Löscht den Geist nicht aus!' (Erster Brief an die Thessalonicher 5,19), sagt der Apostel. Bitten wir daher, daß wir nicht in Zw eifel verfallen und in den anderen keinen Zweifel entstehen lassen und daß wir nicht Gott bewahre uns! - zu Befürwortern anderer Formen der Wahl und einer andersartigen Spiritualität für das priesterliche Leben und das priesterliche Dienstamt werden. Der heilige Paulus sagt außerdem: `Beleidigt nicht den Heiligen Geist Gottes...!' (Epheser-Brief 4,30). Wir bitten Dich, uns alle unsere Schuld gegenüber diesem heiligen Geheimnis, das Dein Priestertum in unserem Leben ist, zu vergeben. Wir bitten Dich, beständig und mit Ausdauer an dieser `großen Ernte' mitarbeiten und alles tun zu können, was für die Erweckung und das Reifen der Berufe notwendig ist. Wir bitten Dich vor allem, uns zu helfen, daß wir mit Beharrlichkeit beten. Denn Du selbst hast gesagt: `Bittet also den Herrn der Ernte, Arbeiter für seine Ernte auszusenden' (Matth. 9,38). Angesichts dieser Welt, die auf verschiedenste Weise ihre Gleichgültigkeit gegenüber dem Reich Gottes zeigt, begleite uns die Gewißheit, die Du, Guter Hirte, den Herzen der Apostel eingeflößt hast: `Habt Mut: Ich habe die Welt besiegt !' (Joh. 16,33). Sie ist - trotz allem - dieselbe Welt, die Dein Vater so sehr geliebt hat, daß er ihr Dich, seinen eingeborenen Sohn, geschenkt hat (vgl. Joh. 3,16). Mutter des göttlichen Sohnes, Mutter der Kirche, Mutter aller Völker - bitte mit uns! Bitte für uns!” Der Leser wird schon beim Lesen gemerkt haben, daß es sich bei diesem christlichen Sachkenner um eine katholische Kapazität handelt. Ich will den Leser auch nicht weiter auf die Folter spannen [das passiert ihm noch früh genug, wenn er das Wiederauferstehen der Kirchen zur blutroten Blüte (und Ernte) nicht verhindert, aber weiterhin gotteslästerliche Bücher liest] und verraten, daß der obige Text von der absoluten Spitzenkraft des christlichen Glaubens stammt, von Karol Wojtyla. Bei dem Text handelt es sich um ein laut gesprochenes Selbstgespräch mit Gott, gehalten am 1. Dezember 1992 vor den Vorsitzenden aller europäischen Bischofskonferenzen. Am Text wurden von mir keinerlei Verbesserungen oder Verschlechterungen vorgenommen. (Kursiv = Kirchenkrakel, Fettdruck = Versehen, höhere Macht?) Jetzt lesen Sie aber bitte weiter Adjunas Abenteuer im WASPen-Land.
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Der baptistische Priester hatte die ganze Zeit Hände ringend und zappelnd im Sicherheitsabstand von zwei Armlängen um Adjuna herumgehampelt, heftig respirierend und perspirierend. Die Grenze zur Verzweiflung hatte er schon lange überschritten. Jetzt war er den Tränen nahe. Er konnte sie kaum zurückhalten. Mit seinen Augen ging es ihm wie als kleiner Junge mit seinem Penis, als er sich nicht einnässen wollte und ihn mit aller Kraft mit dem Finger zugehalten hatte. Es ergoß sich nicht, aber es spritzte doch mächtig zur Seite. Und die Zähne mußte man zusammenbeißen. Der Korken, den er auf seine Augen drückte, hieß Willensanstrengung. Doch es war ähnlich. Tränen kullerten ihm zwar nicht die Wangen hinunter, aber es spritzte doch zur Seite. Und er hielt nicht nur den Mund zusammengekniffen, sondern auch seine Ohren hörten nichts mehr, seit sie wußten, daß es etwas zu hören gab, was das Werk der Evangelisten und Missionare zu zerstören drohte. Als er sah, daß Adjuna ausgesprochen hatte, riß er das Mikrofon aus der Halterung und stammelte hinein: “Herr, führe uns nicht in Versuchung...” Da es notwendig war, daß, wenn man mit Gott sprach, man die Hände irgendwie gefaltet vor dem Bauch oder noch weiter unten vorm Unterleib hielt, war die Entfernung von Mund zu Mikrofon, das der Priester zwischen seinen gefalteten Händen eingeklemmt hatte, zu groß geworden. Auch der Priester wurde sich während seines verzweifelten Gebets dieser Tatsache ab und zu bewußt. Er krümmte sich dann jedesmal hinunter. Sah ein bißchen steif aus und komisch. Wort-, nein, Satzfetzen wie “Herr, heile die Zweifler, denn sie wissen nicht was sie tun!” “...beschütze uns vor...” “...verschließe unsere Herzen vor dem Gift der ...” “..., denn du hast uns deinen eingeborenen Sohn geschenkt.” “...und laß vor allen Dingen keine Zweifel entstehen in denen, die an dich glauben!” drangen dann durch die Lautsprecheranlage. Die Missionare hatten den Messias aufgebaut; Chlodwig, der große Karl, Konsorten und Könige hatten die Kirche aufgebaut. Wer immer Macht hatte und das Maul aufriß, konnte viel erreichen. Aber auch, wer aufgebaut worden war, konnte es. Die Massenmedien hatten 908
Adjuna aufgebaut, weil sie in ihm eine Lösung für das leidige Rassenproblem sahen. Jetzt war er oben und eine Autorität und man konnte ihn nicht so leicht runterschubsen. Hätte er als Niemand gesagt, was er gesagt hatte, nur wenige hätten es angenommen, aber er war als Erlöser verkauft worden und hatte mehr Autorität gewonnen als die Verkäufer. Und die Leute waren autoritätshörig, und hörten, was ihre Autorität zu ihnen sagte und nahmen's zu Herzen. Nur die ganz hartgesottenen Christen verschlossen ihre Ohren und Herzen. Es war also kein Wunder, daß ein Großteil der Zuhörerschaft, obwohl er sich vor Adjunas Rede noch für christlich hielt, es jetzt schon nicht mehr war und laut “Buh, buh” rief und sich vor Lachen krümmte, angesichts der Blödheit des Priesters und seiner Bitte um Schutzklappen vor Zweifel. Der Tumult der Auseinandersetzung wurde so groß, daß er den Lautsprecher ganz und gar übertönte. Es gab eben doch eine ganze Menge hartgesottener Christen, und ein heiliger Zorn war in sie gefahren, als sie ihren Glauben beschimpft sahen. An Heirat war nicht mehr zu denken. Der Zorn ließ ihre Hände zu Krallen und Klauen werden. Waren ihre Gebete erhört worden? Sie schienen über übermächtige Kraft oder zumindest Wut zu verfügen. Sie sprangen ihren Nachbarn an die Kehle, sie rissen Kleider herunter, sie mordeten und vergewaltigten. Adjuna war hilflos. Bestürzt sah er die Krawalle zu seinen Füßen. Das hatte er nicht gewollt, redete er sich ein. Obwohl die Christen zahlenmäßig nicht in der Übermacht sind, sind sie übermächtig. Der übermächtige Schutz ist nicht ausgeblieben. Sie hatten die größere Wut im Bauch. Da auch der Priester betroffen war, ließ er sich das Mikrofon aus der Hand nehmen. Adjuna rief in das Mikrofon: “Die Kirche benahm sich 909
nie, wie sie selbst lehrte, daß sich ein Christ benehmen soll, und ihr tut es auch nicht.” Er wurde nicht gehört.
Am nächsten Tag erschien in den Massenmedien ein sehr ausbalancierter Bericht, ausgewogen sagte man wohl richtiger auf Deutsch, über die in den Tumult gefallene Massentrauung der Intermarriage Society. Den Massenmedien, das muß man noch einmal betonen, war es wie den Indianerstämmen ergangen. Wie es einst viele Indianerstämme gegeben hatte und die Anzahl der Stämme sich nach und nach reduziert hatte, so hatte es auch einst viele unabhängige Zeitungsmacher und sogar Rundfunkanstalten gegeben, die sich dann nach und nach reduzierten, bis schließlich nur noch wenige Medienkonzerne übriggeblieben waren, die sich in der Hand von fünf konservativen Multi-Monopolisten befanden. Der Konkurrenzkampf untereinander, eine Folge der Konkupiszenz, ließ vermuten, daß zwei von ihnen bald das Handtuch warfen, so daß dann die heilige Zahl drei übrigbleiben würde. Den konservativen Medienbossen war Adjuna natürlich zu revolutionär geworden. Religion, klar, das war bull shit, aber das brauchte man doch den anderen nicht zu sagen. Ganz fertigmachen, konnten sie Adjuna auch nicht - jedenfalls nicht gleich. Ein bißchen die Tatsachen verschieben, das ja. Todesopfer. Fast alle Todesopfer waren gläubige Christen. Ja, das konnte man schreiben. Wer wird das schon überprüfen? Die allerwenigsten Leser. In Wirklichkeit waren die Mörder die gewesen, die den übermächtigen Schutz genossen hatten. Und auch was Verletzungen und Vergewaltigungen betraf, waren die Übermächtigen die Eifrigeren gewesen. Die drei Todesopfer, die die Gläubigen zu beklagen hatten, waren von der riot police erschlagen worden. Auch das brauchte man dem Leser nicht auf die Nase zu binden. Lieber rührige Einzelheiten 910
aus deren Leben aufrühren, das macht die ganze Partei sympathischer. Was? Einer war Katholik? Können wir da nicht schreiben, daß der Papst vielleicht in Erwägung ziehen wird, ihn heiligzusprechen? `Vielleicht' weg und Futurum auch. Eine Katholikin? Noch besser! Weibliche Opfer hören sich noch mehr nach Hilflosigkeit an. Was `Heiligsprechen' doch lieber weglassen? Ja. Hier ist eine protestantische Gegend. Die ganze Heiligsprecherei wirkt auf die meisten doch nur abstoßend. Antipathien wollen wir doch gerade nicht aufkommen lassen. Gut. Schreiben wir am besten gar nicht, daß sie katholisch war, nur daß sie sonntags immer in die Kirche ging. Und vergeßt nicht, Jungs, was immer ihr schreibt, muß den Anschein der Ausgewogenheit haben. Die Anhängerschaft des Antirassisten Adjuna ist unter unseren Lesern vielleicht so groß oder sogar größer als die des Christus. Wenn wir die alle verärgern, dann kündigen die bauz! - ihre Abonnements. Langsam und behutsam muß man ihm die Anhängerschaft abringen. Ein paar kleine Andeutungen da, ein paar hier, nicht zu kompromittierend, gerade so, daß der nichtdenkende Leser - das sind die meisten - sie zu Ende denken kann. Zunächst mal nichts Schärferes als... als..., sagen wir mal: Antirassismus als Broterwerb. Ja. ..., der sich Antirassismus als Broterwerb auserkoren hatte. Ein paar Ausgaben später werfen wir ihm dann Veruntreuung von Geldern und Ähnliches vor. In dem ausgewogenen Text, den fast alle Zeitungen abdruckten, kam dann zuerst einmal ein Bischof zu Wort, der versicherte, daß man alles, was Adjuna gesagt habe, widerlegen könne. Natürlich tat er es nicht. Habe Verständnis dafür. Oder noch besser: Glaube dem frommen Manne! Dann legte er los. Und das machte sich besonders gut. Gut für die Zeitung. Denn er schimpfte nicht etwa auf Adjuna, sondern auf die Massenmedien, die ihn hätten hochkommen lassen, aufgepäppelt. Die Zeitungen, die immer so brav jede Woche ein Wort zum Sonntag veröffentlicht hatten und sämtliche kirchlichen Veranstaltungen und Gottesdienste kostenlos angekündigt hatten, sahen sich jetzt mit dem 911
grantigen Vorwurf, ein Produkt des Teufels zu sein, konfrontiert. Wer selbst das Gift, das gegen einen versprüht wird, veröffentlicht, der muß doch objektiv sein. Um die eigene Objektivität noch zu unterstreichen, kam als nächstes ein Sprecher der antirassistischen Intermarriage Society zu Wort. Zugegeben... nein, nein, das dürfen wir nicht zugeben. Das dürfen wir nur unter uns zugeben, daß wir uns vorher über seine Inkompetenz vergewissert haben, aber niemals vor den Lesern. Dieser Sprecher der I. S. schwächte dann Adjunas anti-christliche Äußerungen ab, er selbst oder der Autor des Artikels zeigte dabei große Bedachtheit, nicht etwa wieder etwas Anti-Christliches zu sagen, viel mehr bemühte er sich, der Leserschaft zu versichern, daß man sich in der I. S. auch der karitativen Leistungen der Kirche bewußt sei und blabla. Dieses Blabla diente natürlich mehr einem friedlichen Nebeneinander der Menschen als Adjunas Rede, die er ja eigentlich gehalten hatte, um die Menschheit zu vereinen, aber es diente auch der Religion. Adjuna hatte auch selbst etwas zu sagen, er sagte es immer wieder, er sagte es seinen Anhängern und auch den Journalisten, aber man veröffentlichte ihn nicht mehr. Er sprach sich gegen Gewalttätigkeit und Revolution aus: Revolution ist immer eine Rückentwicklung, ein Zurückdrehen. Bei Revolutionen gehen die Leute weiter zurück, sie werden zu Barbaren und hauen alles kaputt in der Hoffnung, daß ihnen von weiter hinten, der Anlauf besser gelingt. Aber wie es so ist: Wenn man zu weit zurückgeht, wird der Anlauf zu lang und an der Sprunggrube ist man dann zu erschöpft. Geht lieber gemächlich voran, aber geht voran! Achtet unbedingt auf die Richtung! Aber er warnte nicht nur vor Gewalttätigkeit und Revolution und Alles-Kaputt-Hauen, sondern auch wieder vor dem Gott/MenschMischmatsch Jesus, der die Gehirne der Menschen so verwirrte, was vermutlich zu dem Presseknebel führte, den man ihm verpaßte. 912
Adjuna wollte natürlich jene Antichristen bremsen, die durch die Gewalttaten der Christen so provoziert worden waren, daß sie hingingen und christliche Einrichtungen zerstörten. Der Katalysator wird zum Bremsklotz. Etwas, was ihm die Radikalen immer wieder vorhielten. Keine Revolution! Keine Revolution! Je mehr er zu dämpfen versuchte, desto radikaler und gewalttätiger wurden einige. Hitzige, junge Leute beschimpften ihn schon bald als Opa. War auch noch ein Generationskonflikt entstanden? Und Kirchen wurden wieder gebombt, weiße, protestantische Kirchen. Schafft viele Bombinghams! Den Schwarzen wollte man noch ein bißchen ihre Religion lassen. Einige gemeine Zungen behaupteten: Sie hatten ja nichts anderes. Und für jedes Bombenattentat, katalytisches Krachen, nannten es die Attentäter, denn sie glaubten nicht an aufklärende Worte, sondern, daß die Gewalt der Explosionen die Gläubigen von der Sinnlosigkeit göttlichen Schutzes überzeugen werde, etwa wie einst Bonifatius die germanischen Heiden durch Fällen der Donareiche überzeugte; - für jedes dieser Attentate also wurde Adjuna persönlich verantwortlich gemacht. Adjuna war noch immer der Präsident der Intermarriage Society. Man nannte die Gesellschaft jetzt nur noch schamhaft IS. Der Name wurde wie die dritte Person Singular Indikativ des Verbes `sein' ausgesprochen. Der Name machte eigentlich keinen Sinn, aber man hatte keinen besseren, und der Name Intermarriage Society paßte noch schlechter, da man keine zwischenrassischen Ehen mehr vermittelte, höchstens noch atheistische, aber nur nebenbei. Aufklärung war das Hauptthema geworden. IS erinnerte an den Ursprung und war doch knapp und leicht einprägsam. Als Adjuna auf einer Veranstaltung wieder einmal auf junge Hitzköpfe einredete, sie sollten keine gewaltsame Revolution predigen und schon gar keine Gewalttaten verüben - sein alter Dreh: Mit einer Revolution drehen wir die Zeit zurück. Eine gewaltsame Revolution ist immer ein 913
Rückschritt, ein Schritt nach hinten, am Ende sind wir am Arsch der Welt und leben alle im Dreck, in der Scheiße. Aufklären und Überzeugen, das ist der richtige Weg, Evolution! - da bildete sich ein Sprechchor: `be it!' `Sei's drum!' und es wurde sogar verrapt, zur RapMusik gesungen. Neben der IS entstand die Be-IT-Bewegung. Und draußen auf der Straße marschierte man zur Marschmusik: Marching as to war with the cross of JEsus going on before.1
Ein anderes Lied, das die Frommen in Ekstase trieb:
Give me that Old Time Religion It was good enough for JEsus and it's good enough for me.1
Die Reaktion. Ja, wie in Europa das Deutsche Reich zum vierten Mal auferstand, so stand in Amerika der Klan zum vierten Mal auf. Und der Klan war nicht nur etwa eine Reaktion zur IS, sondern kannte auch gleich die tieferen Ursachen dieses gesellschaftlichen Mißstandes: die Juden und die Schwarzen. Und so brannten bald auch wieder die Synagogen und
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Originaltöne amerikanisches Christentum
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die schwarzen Kirchen. Zwar war Rassentrennung abgeschafft worden, aber schwarze Kirchen gab es immer noch. Es waren Kirchen, die sich in schwarzen Wohnvierteln befanden und daher vornehmlich von schwarzen Gläubigen aufgesucht wurden. Allerdings gingen gerade zu der Zeit, als der Klan wieder sein altes Feindbild bombardierte, auch viele Weiße in diese Kirchen, weil die “BE-IT”-Nichtswisser ihre weißen Kirchen bombardiert hatten. Weiße, die in schwarze Kirchen gingen, wurden bald des Atheismus verdächtigt. - “Denn der Rassenmischer war doch ein Atheist gewesen.” Der Rassenmischer, das war Adjuna. Die Zeitungen zeigten jetzt offene Feindschaft. Den Karikaturisten gelang es, sein ebenmäßiges Gesicht als Fratze zu zeichnen. Er wurde zum bestgehaßten Mann der USA erklärt. Der große Witz war, daß er einmal für das Amt des Präsidenten kandidieren wollte. Pipe dreaming about presidency. Die Zeitungen konnten sich nicht genug darüber lustig machen. Der american dream war dabei, für Adjuna zum Alptraum zu werden. Fast alle hatten sich von ihm abgewandt, fast alle waren sie jetzt gegen ihn. Es hatte angefangen mit jenen gutmütigen Christen, die bereit gewesen waren, seiner Lehre der Verständigung zu folgen und einen Partner der anderen Rasse zu ehelichen. Er hatte vielen von ihnen mit seiner Kritik am Glauben vor den Kopf gestoßen und ihnen ihre Gutmütigkeit genommen. Es hatte radikale Antichristen gegeben, die sich als Rächer, Bomber und Revolutionäre verstanden wissen wollten. Er hatte sie nicht gebremst, sondern abgestoßen, und sie hatten sich auch gegen ihn gewandt. Dann waren da noch die radikalen Christen und Rassisten, die von Anfang an gegen ihn gewesen waren, wie der Klan, und die ihn als Teil einer größeren Verschwörung sahen. Und mit dem Erfolg des Klans, schwarzen Menschen das Menschsein abzusprechen und sie den Tieren zuzuordnen, hatten sich die Schwarzen zu schwarzen, rassistischen Organisationen zusammengeschlossen, die sich nach schwarzen Raubtieren benannten. Sie waren ein bißchen gegen den Klan und ganz gegen Adjuna. Sie 915
warfen ihm vor, mit seinen zwischenrassischen Ehen den absoluten Untergang der schwarzen Rasse herbeiführen zu wollen. Aber selbst diese an sich schon radikalen, schwarzen Rassisten wurden von schwarzen Jugendlichen, die sich die Soul-on-Ice-Bewegung nannten, überholt. Diese Jugendlichen hatten sich zur Rettung der schwarzen Rasse vorgenommen, weiße Frauen zu vergewaltigen. Ihr Held war Eldridge Cleaver, den sie als “Helden der schwarzen Sache” verehrten, und der tatsächlich in den 60er Jahren weiße Frauen vergewaltigt hatte, um Rache dafür zu nehmen, daß schwarze Sklavinnen von ihren weißen Herren vergewaltigt worden waren. Allerdings hatte ihr Held das mit der Hautfarbe nicht immer so genau genommen und wiederholte Male auch schwarze Frauen vergewaltigt, angeblich um seine Technik zu verbessern und den modus operandi.1 Weiße Frauen konnten sich jedenfalls jetzt, wo es einen politischen Grund gab, sie zu vergewaltigen, auf der Straße überhaupt nicht mehr sicher fühlen. Weiße Väter und auch Mütter machten sich wieder Sorgen wegen der Hautfarbe ihrer Enkelkinder - und nicht nur wegen der Vergewaltigungen, sondern auch, wenn sich die Töchter in einen Schwarzen verliebt hatten. Der schwarzen Bevölkerung ging es immer schlechter. Die Türen zum Erfolg verschlossen sich immer fester für sie, dafür öffneten sich die Türen der Gefängnisse immer bereitwilliger. Die ganze Gesellschaft ging zurück. Um gesellschaftlich zurückzugehen, bedurfte es keiner Revolution. Das hatte Adjuna jetzt eingesehen. Etymologisch gesehen, hieß Revolution auch gar nicht unbedingt Zurückdrehen, es konnte auch als Umdrehen übersetzt werden, aber wie man es auch drehte, darüber war sich Adjuna im klaren, die Revolutionen - und das galt auch für Konterrevolutionen - hatten immer so viel kaputtgeschlagen, daß die Menschen sich danach in einer viel schlechteren Situation befanden als
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Eldridge Cleaver hat als Schriftsteller in seinem Buch `Soul on Ice' die Situation der Schwarzen in den Slums beschrieben.
Informationen über seine Vergewaltigungen wurden dem Buch `Freedom Bound - A History of America's Civil Right Movement' (S. 231) von Robert Weisbrot entnommen.
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vorher, wenn man mal von der industriellen Revolution und von Palastrevolutionen absah. Warum geht alles schief? Draußen toben Rassenunruhen. Gegeneinander und gegen mich. Schwarze und weiße Rassisten bekennen in den Medien, sie hassen die blaue Rasse. Also mich. Es liegt nicht an den Lehren, es liegt an der inneren Einstellung. Wenn ich jetzt mit den letzten meiner Anhänger auf die Straße gehe und dafür demonstriere, daß wir unsere Streitigkeiten friedlich lösen, und “Frieden, Frieden!” appelliere und erkläre, daß es doch das beste für alle wäre, wenn jeder das Recht auf körperliche Unversehrtheit, auf freie Meinungsäußerung und auf seinen Glauben hat, und wir alle zusammen für eine friedliche und gute Zukunft arbeiten sollten, so brächten wir uns doch in Lebensgefahr, und am besten wäre, wir spitzten die Stangen, die unsere Spruchbänder halten, an, um uns wehren zu können. Und während Adjuna von seinem Fenster aus die Rassenunruhen auf der Straße toben sah, fiel ihm der Satz eines Wissenschaftlers1 ein: Die Gene sind die Replikatoren und wir sind ihre Überlebensmaschinen. Vielleicht sind wir ihre Untergangsmaschinen!
Die beiden großen Brüder, die das Land regierten, hießen Esel und Elefant. Mal regierte der eine ein bißchen mehr, mal der andere. Es waren Zwillingsbrüder. Wenig unterschieden sie sich voneinander. Beide waren große Brüder, hatten viele lächelnde Gesichter, alberne Kasperlegesichter. Sie machten immer gute Mienen zu bösem Spiel und böse Mienen zu gutem Spiel, wenn es um die Spiele anderer ging, aber am liebsten spielten sie selbst, am allerliebsten Weltpolizist, und obwohl sie bei ihrem Spiel mehr kaputt machten als ein Elefant im Porzellanladen, gelang ihnen dabei immer noch ein Profit. Und obwohl
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Richard Dawkins
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sie auf dem Land saßen mit großen Ärschen, die von der Atlantikküste bis zur Pazifikküste reichten, sahen ihre Augen alles. Ihre Ärsche hatten viele Augen. Big Brother is always watching you. Sie wußten von dem Elend in den Slums, vom Hunger der Homeless, von der Hoffnungslosigkeit der Habenichtse, aber sie kannten es nicht und verstanden es nicht und ihre Bilanzen buchten es nicht, und so machten die Brüder eine gute Miene. Doch die von der Wohlstandsgesellschaft Abgeschnittenen wandten sich dem Verbrechen als Broterwerb zu und klauten. Jetzt erschien schon etwas in den Bilanzen - ein kleiner Verlust, aber auch ein Gewinn: mehr Feuerwaffen wurden verkauft, mehr Alarmanlagen und Sicherheitsschlösser, und auch die Diebstahlversicherungen meldeten einen Zuwachs. Die Miene der Brüder aber verzog sich schon ein wenig. Das Problem mußte man in den Griff bekommen: mehr Gefängnisse, mehr Schlagstöcke, mehr Polizisten. Die Geknüppelten und Geknechteten kuschelten sich zusammen, aber sie kuschten nicht: `Gemeinsam sind wir stark. Wir müssen uns organisieren. Wir brauchen eine Lobby der Armen im Weißen Haus und unsere eigenen Politiker. Wir leben doch in einer Demokratie.' Da machten die Brüder eine böse Miene. Sie hatten ein leichtes Spiel. Sie ließen die Zusammengekuschelten auseinanderknüppeln und zusammenschlagen. `Wer Hausbesitzern vorschreiben will, wieviel Miete sie nehmen dürfen, und Unternehmern, wieviel Lohn sie zahlen müssen, der ist ein gottloser Kommunist. Wir haben den kalten Krieg nicht gewonnen, um im eigenen Land vor dem gottverdammten Kommunismus zu kapitulieren.' und `Mit euch werden wir schon fertig, schließlich haben wir den kalten Krieg auch gewonnen.' Anti-Kommunismus funktionierte auch ohne die Sowjet-Union; mußte er auch - für die Größe Amerikas und die Breite der brüderlichen Ärsche. Big Brother is always watching for communists.
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Adjuna hatte es schlecht getroffen. Seine Bewegung gehörte zu den Sachen, zu denen Big Brother eine böse Miene machte, die Böses ahnen ließ. Big Brother war gerade der dickärschigere der beiden, also der Elefant, und das Rüsseltier war vorher Schnüffeltier, der Chef aller Spitzel und Spione, gewesen, und seine große Nase roch Revolution und Kommunismus. Anti-Christentum und Anti-Rassismus roch nach AntiAmerikanismus und Kommunismus. `Wir Amerikaner sind positiv denkende Menschen. Anti-ismen haben bei uns keinen Platz. Unsere Verfassung basiert auf Freiheit, wir sind nicht Anti, wir sind Für, für jeden, und jeder hat seine Freiheit.' Die Leute waren beeindruckt, daß ein so hohes Tier mit einem so großen Kopf ihnen so tiefe Wahrheiten sagte. Und während im Süden Adjuna und das rassengemischte Häufchen um ihn von Klan und Kropp gejagt wurden, machte Big Brother wieder eine gute Miene und bedauerte honigsüß, nicht helfen zu können, denn man müsse ja gerade die Unruhestifter in den Slums der nördlichen Städte beruhigen, und außerdem mußte man Truppen um die halbe Welt schicken, weil ein fernöstlicher Diktator amerikanische Bohrrechte bedrohte und - äh - (man war ja Idealist) die Freiheit. Welche Freiheit? - Die Freiheit amerikanischer Ölkonzerne, nach Öl zu bohren, natürlich. Welche Freiheit denn sonst? Es gibt in den Scheichtümern doch gar keine anderen Freiheiten. Auch in den Südstaaten - und nicht nur da - machte der Freiheitsbegriff ein paar Verrenkungen durch. `Weiße Menschen sind nicht gleich, und gleiche Menschen sind nicht frei.'1 So deutlich wollte es der kluge Kopf in Washington natürlich auch nicht gesagt haben, er schwächte ab: `Das gilt natürlich auch für die Schwarzen.' Die breite Masse war zufrieden: `Dem da oben kann man wirklich nicht nachsagen, daß er Rassist ist.' Und wer aus der Masse
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Reverend James L. Betts, weißer Supremacist, Missouri 1975
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herausragte, sperrte das Maul auf, er sperrte es auf, aber er riß es nicht auf, um es sich nicht zu verbrennen oder sonst wie zu verletzen. Je weiter man aus der Masse herausragte, desto schwerer wurde es das aufgesperrte Maul wieder zuzukriegen. Der Maulaufreißer und rabble-rouser, wie Adjuna jetzt offiziell tituliert wurde, kroch vor laufender Kamera aus den Trümmern des zerbombten Hauptquartiers der IS hervor. Aus der Menschenmenge, die sich angesammelt hatte, flogen Steine und invectives. Jemand wagte sich besonders vor und spuckte auf Adjuna und sagte voller Haß: “Du Dreckskerl!” Adjuna richtete sich auf. Da er so groß aussah auf dem Trümmerhaufen und so zerschunden, hielten die Leute inne. Adjuna zog seine Freunde aus den Trümmern. Die meisten lebten noch. Alle waren sie mit Staub und Dreck bedeckt und sahen aus wie indische Sadhus, die dem weltlichen Leben entsagt und sich mit Totenasche bedeckt hatten. Während sie sich abklopften, sagte Adjuna: “Lieber Staub und Dreck sein, als Mensch sein; dann ist man sauberer.” Man hörte die Schritte von Marschierenden. Die Menschen bildeten wieder eine Gasse. Der Sheriff hatte das überlange, weiße Nachthemd, in dem er nachts auf seinem Pick-up durch die Straßen ritt, ausgezogen und sah, wenn man vom übergeschwellten Vorbau und dem großen Blech-Button an der Brust absah, normal aus. Mit großen Schritten führte er einen Hilfstrupp bis an den Trümmerhaufen. “Sie sind wegen öffentlicher Ruhestörung verhaftet.” Da Adjuna und seine Leute nicht gleich spurten, knurrte er noch einmal: “Kommen Sie da sofort runter, damit ich sie festnehmen kann.” Er wollte seine saubere Drillichhose nicht verdrecken. Adjuna und seine Leute hoben schnell ein paar Trümmersteine auf und warfen sie auf die Sauberbehosten. und ehe die zurückschießen konnten, liefen sie in andere Richtung davon. 920
Sie liefen und liefen, kamen an Häuserwänden entlang und Müllhaufen, China-Town, Klein-Korea, Klein-Paris, Klein-Polen, Klein-Lettland, Klein-Litauen, Klein-Italien. Sie waren im Katholikenviertel der Stadt. Da sie ihre Verfolger abgehängt hatten, verschnauften sie. Was nun? Was tun? Die werden uns jagen wie Vieh. Adjuna sagte: “Ich werde uns jetzt erst einmal ein schmerzstillendes Mittel kaufen.” Und er ging in die Apotheke, vor der sie standen. In der Apotheke war vor ihm ein katholischer Priester, der sich gerade ein Anaphrodisiaka kaufte. Der Priester erkannte Adjuna sofort und er folgerte richtig, daß Adjuna mit einem kleinen Häufchen von Getreuen auf der Flucht war. “Ja, das Klima hier ist wieder intoleranter geworden. Auch wir Katholiken bekommen das zu spüren. Wie man die Schwarzen wieder als Nigger beschimpft, so beschimpft man uns Katholiken wieder als Dagoes und Makkaronifresser.” - “Aber das hat doch nichts mit dem Wetter zu tun”, entgegnete ihm Adjuna, “das sind doch Menschen, die das machen.” - “Die einzelnen sind Menschen, aber sie lassen sich hinreißen und sind es dann nicht mehr.” - “Mit der Stimmung hier ist es wie mit der Grippewelle”, mischte sich der Apotheker in das Gespräch ein, mal kommt sie und mal nicht. Es scheint immer auf und ab zu gehen. Auf eine Periode des Rassenhasses und der Intoleranz folgt eine Zeit guten Willens und gegenseitiger Achtung, wahrscheinlich, um Böses wiedergutzumachen, aber dann nach einer gewissen Zeit hat man vergessen, wie böse das Böse wirklich war, und leiht sein Ohr wieder den Haßhändlern.” - “Es scheint auch, daß die Kinder immer die Großväter lieber mögen als die eigenen Väter”, fügte der Assistent des Apothekers hinzu. Es war nicht sofort klar, was er damit meinte. Als alles ihn ansah, war er sichtlich verwirrt. Er bemühte sich zu erklären: “Also, zum Beispiel. Beim Klan finden wir jetzt die ganz Alten und die ganz Jungen, die Jugendlichen. Ihre Väter waren vielleicht liberal, aber sie lehnen die Väter ab...” “...und finden die Großväter”, vollendete Adjuna den Gedanken, “Wann werden die Jungen endlich etwas ganz Neues suchen und
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finden?” “Man muß auch die Tradition bewahren”, protestierte der Priester. Während Adjuna seine schmerzstillenden Mittel und für eine Wundsalbe bezahlte, meinte er lachend zum Apotheker: “Und als Apotheker verdient man an beidem: an der Grippewelle und an der Haßwelle.” “Oh nein, oh nein, das wollen wir nicht. Wir sind ja selbst nicht dagegen immun.” Und er schenkte Adjuna hastig eine Tüte mit sauren Drops. Als Adjuna draußen vor der Apotheke die schmerzstillenden Pillen an seine Leute verteilte, sprach der Priester ihn noch einmal an. “Kommt mit in unser Gemeindehaus. Da könnt ihr euch waschen und die Schwestern können euch verbinden.” So kam es, daß Adjuna mit den ihm verbliebenen Freunden bei den Gemeindeschwestern des italienischen Viertels landete. Die Schwestern unterhielten eine Suppenküche für die Homeless, für die, die kein Zuhause hatten, und die Hungrigen. Aber es war in der letzten Zeit öfters zu Schikanen und Störungen gekommen. Einmal war sogar der große Suppentopf umgeworfen worden, und es hatte Drohungen gegeben, sich ja nicht wieder blicken zu lassen. Aber die Schwestern hatten sich immer wieder in die Elendsviertel gewagt. Sie klagten jetzt bei Adjuna über die Unfairness, mit der sie behandelt wurden, andere Kirchen konnten schließlich ihre Suppenküchen ungestört betreiben, nur der katholischen Kirche wollte man diese Möglichkeit der Barmherzigkeit an Armen und Obdachlosen nehmen. Jetzt suchten sie Adjunas Hilfe. Es war Adjunas Schwäche, daß er nicht nein sagen konnte, wenn Schwache ihn baten, so sagte er also zu: “Sehe ich auch ein bißchen zerschunden aus, ich bin immer noch stark und habe auch immer noch meinen großen Bogen bei mir. Er ist mir nicht zerbrochen. Ich bin stark und Schwerter können meiner Lederhaut so leicht keine Wunden schlagen und auch die Colts der Cowboys hier nicht.” Aber er wußte, daß er kein dickes Fell hatte, alles machte ihn gleich betroffen. 922
Die Schwestern drückten sich schutzsuchend an ihn und legten ihre Handflächen zaghaft an seinen gewaltigen Brustkorb. “Du bist ein edler Ritter”, flüsterten sie. Ja, wenn er auch nicht so spindeldürr war, er war ein richtiger Don Quixote, er schlug dazwischen, wenn er Unrecht gewahr wurde, und politische Klugheit und eigener Vorteil galten ihm nichts, und das in Amerika! Tatsächlich wurden die Suppentöpfe der frommen Schwestern wieder angegriffen. Adjuna schnappte sich einen der Angreifer und ohrfeigte ihn so lange, bis er bereit war, zu sagen, wer er sei und warum er die Suppentöpfe umwerfen wolle. Bei jedem Schlag kreischten die Schwestern lauter als der Geschlagene. Aber Adjuna brauchte nicht lange zu schlagen, schon bald sprudelte es auch dem jungen Mann hervor: Er gehöre zum Werkschutz der großen Konservenfirma hier. Wie er denn das Werk schütze mit umgestoßenen Suppentöpfen, wollte Adjuna dann von ihm wissen. Das sei ganz einfach, erklärte der Mann, das Werk wolle nicht, daß die Leute satt werden, weil sie dann nicht mehr arbeiteten. “Das verstehe ich nicht”, sagte Adjuna, “diese Leute hier sind doch arbeitslos.” “Ja, aber wenn sie sehr hungrig sind, werden sie Arbeit suchen und das Werk wird ihnen Arbeit geben.” “Ja, braucht das Werk denn Arbeiter?” “Das Werk kann immer Arbeiter gebrauchen, die sich billig verkaufen.” “Du meinst, billiger als die, die dort gerade arbeiten.” “Ja.” “Ja, das sind ja frühkapitalistische Zustände, eine Gewerkschaft muß her, wollte Adjuna gerade sagen, da wurde er von Kollegen des Werkschützers beschossen, aber wie in guten Hollywood-Filmen wurde der Held nicht getroffen, sondern konnte unverletzt in Deckung stürzen. Von dort schoß er zurück und vertrieb die bad guys, die Bösen. “Ihr müßt Euch organisieren”, sprach Adjuna die vor dem Suppentopf Schlangestehenden an, “habt ihr gehört, man will euch hungern und billig arbeiten lassen. Ihr müßt euch zusammen tun und auf euren 923
Anteil an der Wohlstandsgesellschaft bestehen.” “Ja”, rief ein Sprecher der Soul-on-Ice-Bewegung, der weiter hinten dabei war, Leute für seine Organisation zu werben, “schließt euch uns an. Gemeinsam werden wir diese Gesellschaft brutalisieren und die Reichen melken.” “Nein, nein, vermeidet Gewalt, besteht friedlich, aber bestimmt auf Arbeit und einen ordentlichen Lohn.” “Bull shit, wenn ihr Gewalt vermeidet, werdet ihr Gewalt erleiden. Ihr habt doch genug durchgemacht, jetzt heißt es, Rache zu nehmen.” Ganz am Ende der Reihe waren schwarze Muslims dabei, hungrigen Glaubensbrüdern und anderen Schwarzen auszureden, von Katholiken Almosen anzunehmen. Als sie jetzt sahen, daß am Anfang der Reihe jemand am Sprechen war, glaubten sie, es sei katholische Proselytenmacherei, und sie sprangen in ihren Pick-up und fuhren schießend auf Adjuna los. Von der anderen Seite der Suppentöpfe kam der Klan. Der Werkschutz hatte den Klan alarmiert, der sofort bereit war, die kommunistischjüdisch-katholische Verschwörung zu bekämpfen. Mit drei Lkws voll mit weiß vermummten Fanatikern griff er an. “Weiße Freiheit, weiße Freiheit!” riefen sie, und fuchtelten mit ihren flammenden Kreuzen und angespitzten Stangen und mit Ketten und Beilen. Sie hatten sich vorgenommen, keine Schußwaffen zu benutzen, aber als sie jetzt Schüsse hörten, benutzten sie sie doch. Vor diesem Zwei-Fronten-Krieg ergriffen die Suppenköchler, also Adjuna, seine Getreuen und die Schwestern die Flucht. “Schnell in die Seitengasse!” zwängte Adjuna die anderen, dann ergriff er noch schnell zwei große, gefüllte Suppentöpfe. “Soviel Proviant brauchen wir doch gar nicht.” und “Damit kann man doch nicht fliehen!” Aber das wollte Adjuna ja auch gar nicht. Er hockte sich hinter die Müllkisten, die an der Ecke standen, und als sich die beiden Rassenfanatikerbanden in die Gasse quetschen wollten, kippte er den Ersten und Eifrigsten die heiße Brühe über die Köpfe, dann lief er schnell, um seine Freunde einzuholen. 924
Die Hetzjagd ging noch um mehrere Blöcke. Als Adjuna merkte, daß seinen Leuten die Puste ausging, zog er sie in ein Kino. Alle nahmen im Dunklen Platz. Der Film sollte gleich beginnen. Sie hatten fast das italienische Viertel erreicht und es war ein italienisches Kino und es zeigte aus aktuellem Anlaß den alten, italienischen Film `Pasqualino Settebellezze' von Lina Wertmüller: Jene, die sich nicht amüsieren, selbst wenn sie lachen, - oh je. Jene, die das gemeinsame Götzenbild anbeten, nicht wissend, daß sie für jemand anders arbeiten, - oh je. Jene, die man schon in der Wiege hätte erschießen sollen - bäng! - oh je. Jene, die sagen: Folgt mir zum Erfolg, aber tötet mich, wenn ich versage, - oh je. Jene, die sagen: Wir Italiener sind die größten Herrenmenschen dieser Erde, - oh je. Jene, die edle Römer sind, - oh je. Jene, die sagen: Das ist für mich, - oh je. Jene, die sagen: Du weißt, was das bedeutet, - oh je. Jene, die die Rechten wählen, weil sie die Schnauze voll haben von Streiks, - oh je. Jene, die weiß1 wählen, um sich nicht schmutzig zu machen, - oh je. Jene, die nie etwas damit zu tun haben, mit der Politik, - oh je.
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Ital.: i Bianchi = die Ultrakonservativen
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Jene, die immer beruhigen: Ruhe, Ruhe ist die erste Bürgerpflicht, - oh je. Jene, die immer noch den König unterstützen, - oh je. Jene, die sagen `jawohl, mein Herr', - oh je. Jene, die Liebe machen in ihren Stiefeln und sich vorstellen, sie lägen in einem luxuriösen Bett, - oh je. Jene, die glauben, Christus sei der Weihnachtsmann als kleiner Junge, oh je. Jene, die sagen: Oh, was zur Hölle, - oh je. Jene, die da waren, - oh je. Jene, die an alles glauben - selbst an Gott, - oh je. Jene, die sich die Nationalhymne anhören, - oh je. Jene, die ihr Heimatland lieben, - oh je. Jene, die immer weitermachen, bloß um zu sehen, wie es enden wird, oh je. Jene, die in ihren Gedärmen liegen auf dem Hügel, - oh je. Jene, die gut schlafen, selbst mit Krebs, - oh je. Jene, die selbst jetzt noch nicht glauben, daß die Welt rund ist, - oh je, oh je. Jene, die sich vor dem Fliegen fürchten, - oh je. Jene, die nie einen tödlichen Unfall hatten, - oh je.
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Jene, die einen hatten, - oh je. Jene, die in einem bestimmten Augenblick ihres Lebens nach einer Geheimwaffe verlangten: Christus, - oh je. Jene, die immer an der Bar stehen, jene, die immer in der Schweiz sind, jene, die früh losgingen, aber noch nicht ankamen, und nicht wissen, daß sie es nie werden, - oh je. Jene, die Kriege verlieren mit knapper Not, - oh je. Jene, die sagen: Alles ist falsch, - oh je. Jene, die sagen: Und jetzt laßt uns alle herzlich darüber lachen, - oh je. - Oh je. - Oh je. - Oh je. - Oh je. - Oh je. - Oh je. - Oh je.1 Der Film erzählte die Geschichte des Pasqualino Siebenschön, eines typischen Italieners: Gigione, Gigerl und Gigolo, Kulissenreißer und Freund der Straßenmädchen, zweifellos hätte er jeden umgebracht, der ein schlechtes Wort über seine Mutter gesagt hätte, aber keiner sagte ein schlechtes Wort über die Mutter, so war er nicht im Gefängnis, als ein anderer kleiner Casanova, Gauner und Ganove das Herz einer seiner Schwestern eroberte. Der aber hatte ihr Herz nicht erobert, um sie zu heiraten, sondern um mit ihr zu spielen. Um die Ehre der Familie zu retten, brachte Pasqualino ihn um, ein bißchen ungeschickt, da sich vor lauter Schiß sein Abzugfinger krümmte, als er es noch gar nicht sollte. Dank eines guten Anwalts, den ihm seine Schwester mit ihrem Verdienst im Vergnügungsviertel der Stadt bezahlte, kam er als geistig nicht zurechnungsfähig in ein Irrenhaus. Von dort kam er an die Front. Es war gerade die Zeit, daß die Hundeseelen den größten Irren, den Führern und Duces, in den Krieg folgten, ach nein, sich schicken ließen, aber Pasqualino war ein feiger Hund. Er desertierte und endete schließlich in einem deutschen KZ. Sein Wunsch zu leben war
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Vorsequenz zum Film `Pasqualino Settebellezze' von Lina Wertmüller, Warner Brothers Comp. 1974, Übertragung aus dem Englischen von mir.
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ungebrochen. Er hatte eine Vision, daß er sich retten könne, wenn er die Aufseherin des KZs mit seinem Charme bezirze. Diese Brunhilde hatte alle Qualitäten eines deutschen Übermenschen, sie war sadistisch, wie es ihr Job erforderte, ihr Leibesumfang war so enorm wie der einer Mastsau und ihr Gesicht war nur wenig hübscher. Oh, minnen Deinen minniglichen Leib, Dich, Du schönes, starkes, deutsches Weib! Pasqualino erzählte seinen Mitgefangenen von seinem Plan und rechtfertigte ihn mit seinem Wunsch zu leben. Er wolle Kinder haben, viele Kinder, und Kindeskinder, und Kindeskindeskinder, Kindeskindeskindeskinder. Kinder. Kinder. Kinder. Ein alter Mitgefangener lachte. Er erklärte Pasqualino etwas vom ewigen Vermehren der Menschen, von der Überbevölkerung und den Problemen, die deshalb auf die Menschen zukämen: viel grausamere Kriege als der jetzige; auf der ganzen Welt würden schlimmere Zustände als im KZ herrschen; ganze Familien würden umgebracht werden für ein Stück Brot; die Menschen würden sich gegenseitig abschlachten. Der alte Mann sah das Ende der Menschheit voraus, den Untergang, und bedauerte es: Schade, denn eigentlich glaubte ich an die Menschen, aber an einen neuen Menschen, nicht dieses mit Intelligenz versehene Biest, an einen Menschen, der wirklich zivilisiert ist, einen Menschen mit Werten, der die Harmonie in den Dingen wieder entdeckt. Die anderen verstanden ihn nicht recht und fragten, ob er einen Menschen meinte, der Ordnung schaffe. Der Mann aber verneinte: Ordnung, nein, ordentlich, das sind die Deutschen. Ein Mensch in Unordnung, das ist die einzige Hoffnung, die es gibt. Pasqualino gelang es tatsächlich, sich an die KZ-Aufseherin heranzumachen. Sie behandelte ihn wie Dreck und verachtete seinen Wunsch zu leben: Makkaroni, dein Dürsten nach Leben widert mich an, du widerliche, scheiß-italienische Ratte, aber du hast deine Erektion geschafft, du widerlicher, italienischer Untermensch. Und weil du stark bist, schaffst du es weiterzuleben und am Ende gewinnst du gar, du, miserables Geschöpf ohne Ideen und Ideale. Und wir 928
Deutsche, die wir Herrenmenschen schaffen wollten und die Ideale einer übermenschlichen Rasse in uns tragen, sind zum Versagen verdammt und müssen untergehen. Damit sich Pasqualino auch schuldig machte, setzte sie ihn als Blockwart ein und zwang ihn, ein Soll an Gefangenen zur Hinrichtung auszuliefern. Pasqualino überlebte. Er kehrte unbeschädigt in seine Heimatstadt Napoli zurück, wo die Frauen und Mädchen der Stadt, inklusive seiner Verlobten und seiner Schwestern, in der Zwischenzeit als Huren für GIs ihren Mann standen. Er sagte seiner Verlobten, daß er sie schnell heiraten wolle. Er habe keine Zeit. Er brauche viele Kinder, zwanzig, dreißig Kinder: Siehst du da draußen die Menschen. Bald werden es fünf, sechs Milliarden sein. Sie werden sich umbringen für einen Bissen Brot, da sind viele Kinder eine Frage des Überlebens. Verstehst du? Seine Verlobte verstand seine großen - globalen - Ideen nicht, aber sie sagte, daß sie ihn immer geliebt hatte.
Der Film war zu Ende. Alles drängte zum Ausgang. Jemand fand den Film sehr unterhaltsam. Jemand fand den Film nicht sehr unterhaltsam. “Oh, jene, die immer unterhalten werden wollen, - oh yeah.” Jemand hatte gar keine Meinung. Jene, die immer keine Meinung haben, - oh je.
Draußen braute sich ein Unwetter zusammen. Was ist los? Wollte Adjuna wissen. “Die Zukunft geht rückwärts, Signor.” 929
Tatsächlich trafen sich wieder tief unten in den unwirklichen Gedärmen unserer Mutter Erde die übermenschlichen Ritter der Weißen Rasse. In Wirklichkeit traf man sich gemütlich in Tante Tannys Taverne, wo es die besten Fried Chicken (Brathähnchen) und die besten Apple Pies (Apfelkuchen) der Südstaaten und damit der ganzen Welt gab. Der Oberrassenhasser rekrutierte Hilfsrassenhasser im Nebenraum. Vor einem Altar mit Schwert, Scheide, Fahne und Feuerkreuz, Glühbirnen beleuchtet wegen der Feuergefahr, knieten die Kluxerknappen für den Rasse-Ritter-Schlag. Der Oberrassenhasser hielt ihnen die Bibel hin. `Die Bibel ist ein Buch, aus dem sich jeder heraussucht, was er gerade braucht', sagte sich der Oberrassenhasser wohl, `selbst die Homosexuellen hatten aus der Bibel schon herausgelesen, daß Jesus schwul war, und darauf ihre Kirche aufgebaut, die Albingenser liebten das erste Kapitel des Johannesevangeliums und die Atheisten das leere Blatt zwischen den beiden Testamenten, weil sie nur auf diesem Blatt nichts Anstößiges und Unsinniges fanden.' Der Oberrassenhasser hatte für seine Ritter Römer 13 ausgesucht, was er für einen Fortschritt gegenüber früher hielt: `Jedermann sei untertan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat. Denn es ist keine Obrigkeit ohne von Gott; wo aber die Obrigkeit ist, ist sie von Gott verordnet.' Und keiner wagte etwas gegen den Oberrassenhasser zu sagen, er war ja die Obrigkeit. Nach empfangenem Ritterschlag und bezahltem Mitgliederbeitrag erhielten die neuen Rassenhasser, Ritter des KKK, ihre weiße Lakenuniform mit steifer Zipfelmütze und der Gesichtsmaske, die ihre feigen Gesichter völlig verdeckte. Um die Sache ein bißchen spannender zu machen, gab es noch in anderen Windungen der irdischen Gedärme die Nacirema, weiße Rassenhasser in schwarzen Umhängen, die ihren Namen aus dem Wort
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American, rückwärts gelesen, gebildet hatten, 1 und die jetzt auch dabei waren, fleißig Leute zu rekrutieren, um nicht von den Weißmaskierten und den wirklich Schwarzen eine Niederlage zu erleiden. Neben den Weißmaskeradierten und den Schwarzmaskeradierten rüsteten auf der anderen Seite dieser menschlichen Komödie, dieses unlustigen Lustspiels, dieser Schmiere, die sich Wirklichkeit nannte, die wirklich Schwarzen mit ihren tiefgefrorenen Seelen, Al Rukh und anderer Moslemspuk. Auch sie genossen göttlichen Schutz und waren göttliche Kämpfer. Sie hielten sich für die ursprünglich von Gott für die Welt geschaffenen Menschen. Und da sie die ursprünglichen Menschen waren, gehörte ihnen rechtmäßig die Welt, die Herrschaft über die Welt. Der Weiße war nur ein vom Teufel irregeleiteter Irrläufer der Evolution. Alles Böse kam von ihm. Seine Bösheit mußte von guten schwarzen Menschen unterdrückt werden. Im Gegensatz zu den maskierten Weißen zeigten die Schwarzen ohne Scham ihr Gesicht und viele sogar noch mehr, aufgeknüpfte Hemden, freie Oberkörper, Ketten mit den Plastikzähnen von Raubkatzen schmückten ihre Brust. Auch sie hatten ihr heiliges Buch und ihre liebsten Stellen. Besonders gefiel ihnen: `Steh auf, schwarzer Dada-Nihilismus. Vergewaltige die weißen Mädchen...' Sie brauchten nicht lange zu suchen. Es stand gleich auf einer der ersten Seiten. Und wenn der Held es später auch widerrief, man las nicht weiter oder verschloß die Augen davor. Und mit geschlossenen Augen stellte man sich vor, wie schön es sein mußte. Und man war nicht schüchtern, seine Träume zu verwirklichen. Und man war so eifrig... Die Weißen erzählten sich, die Schwarzen machten ihren Hosenschlitz schon gar nicht mehr zu, wenn sie von einer zur anderen gingen, manche ließen gar für den Moment ihr Glied draußen hängen.
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Gibt's wirklich!
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Aber alles schlafft einmal ab. Jedoch, noch war das Unwetter im Anzug. Es begann mit vereinzelten Tropfen, was gerade ins Fadenkreuz der Gewehre kam. Da wurde bei einer Power-Demonstration des Klans ein Kluxer getroffen, und da noch einer. Da wurde ein Schwarzer, weil er eine weiße Frau geschändet hatte, aus einem fahrenden Auto heraus erschossen. Daß er sie vor drei Monaten geheiratet hatte, war no problem - für das Gewissen der Schützen. Manchmal erwischte man auch einen wirklichen Frauenschänder. Und manch eine Frau suchte die Schande. Und heizte so die Atmosphäre an. Und jedesmal fielen Schüsse. Schüsse und ihr Widerhall. Als dann beim Zelebrieren einer KKK-Messe ein Schwarzer erst grausam von unten her verstümmelt und dann ermordet worden war, war das Pulverfaß fast zum Überlaufen voll. Die letzte Bremse war das bißchen Hoffnung, das man noch hatte auf Gerechtigkeit vor einem Gericht. Zum Donnerwetter fehlte also nur noch der Freispuch durch die Geschworenen. Und richtig. Er blieb nicht aus. Als der Oberrichter den Oberkluxer fragte, ob er jemals den Befehl gegeben habe, einen Menschen zu töten, oder gar selbst getötet habe, Augenwinkwink, antwortete der Oberkluxer fest: “Nein.” “Können Sie das beschwören?” “Ja.” Den Geschworenen genügte der Schwur des angesehenen Mannes. Sie sprachen ihn frei. Aber allen war klar: Der Trick war: Schwarze waren für ihn keine Menschen. Der nun folgende Ausbruch an Gewalttätigkeiten war von verschiedenen Seiten schon lange herbeigesehnt worden, nicht nur von Rassisten, die solange aus ihrem Herzen eine Mördergrube hatten 932
machen müssen, ohne wirklich frei und nach Herzenslust morden zu können, auch viele einfache Leute ohne Ideen und Ideale hatten schon lange darauf gehofft, und wenn es nur war, weil sie hofften, dann billig einkaufen zu gehen, sprich: plündern. Aus den Tropfen war ein Hagelschauer geworden. Und manch einer hatte sich gerade neue Möbel und eine neue Sitzgarnitur zusammengeklaut und saß jetzt im verbarrikadierten Haus und wartete auf das Ende des Schauers. Aber es wollte nicht wieder enden. Ein Dauerregen. Ein Flächenbrand. Die, die haßten, konnten nicht mehr halten. Die letzte Barrikade mußte brechen, bis zum letzten Haus alles verbrennen, bis zum letzten Mann alles fallen. “Der Preis dafür, daß man andere Menschen haßt, ist, daß man sich selbst weniger liebt”, so zitierte der Oberpriester der Schwarzen den Messias seiner Bewegung, und interpretierte es auch gleich so, wie es nie gemeint war, nämlich von hinten. Er sprach von der Selbstlosigkeit, mit der die Kämpfer in diesen Rassen-Endkampf stürmen sollten. Der Stürmer der neue Mensch in Unordnung. Die Unterdrückten dieser Erde beklagten nicht so sehr, daß sie unterdrückt wurden, als daß sie nicht selbst unterdrückten, die Unterprivilegierten nicht so sehr ihr Unterprivilegiertsein als ihr NichtÜberprivilegiertsein. Ausnahmen waren nur: Phlegmatiker, Übersatte, Geistigminderbemittelte und Fellachen. Im Chaos dieses Bürgerkrieges erhielten die Unterdrückten und Unterprivilegierten nun alle ihre Chance. Vielleicht begegneten sie jemandem ohne Waffen oder jemandem, den sie entwaffnen konnten, oder dem sie die Waffe aus der Hand schießen konnten. Dieser Mensch war ihnen dann auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Da sie wenig Umgang hatten mit Macht und Herrschaft, war es immer Verderb. Gnade war Schwäche, galt es doch Untermenschen ihren Platz zuzuweisen, bzw. sich für 400 Jahre Unterdrückung zu rächen. Viele spielten mit ihren Opfern wie satte Katzen mit Mäusen, jagten mal
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eine Salve in die Beine, mal ein paar Schüsse in die Arme, Gourmets nahmen ein Messer, die Primitiveren die bloßen Hände. Ja, der moderne Mensch war das Endprodukt einer langen Entwicklung vom kannibalisierenden Barbaren über Raubritter, Glaubenseiferer und Inquisitoren zum Ausbeuter, Betrüger und Demagogen der Neuzeit und zum kleinen Mann in der großen Masse. Den wirklich Privilegierten fuhr angesichts der Unruhen der Schrecken in die Glieder. Nicht, daß sie persönlich in Gefahr waren. Aber mit ihren A-Bomben-Fingern und anderen Waffen waren sie gerade dabei gewesen, die Welt zu umarmen. Zwar waren sie darauf gefaßt gewesen, daß hier und da ihnen jemand in die Finger biß, aber daß Geschwüre in ihren innersten Organen fraßen, damit hatten sie nicht gerechnet. Sie krümmten ihre langen Finger zurück auf ihren übermächtigen Bauch. Sie bestanden nur aus Fingern und Bauch - und Ärschen. Die Armee wurde schließlich Herr der Situation. Wie immer durch Over-Kill. Das war noch möglich. Die reife Frucht Welt - reif, weil sie handlich geworden war - fiel ihnen diesmal noch nicht in die Hände. Und manch einer mochte damals frohlockt haben: Haaa, den Imperialisten ist die Ernte mißglückt. Aber hätten sie sie bekommen, sie wäre ihnen nicht verdorben, sauer aufgestoßen, das schon, aber nicht verdorben. So aber bildeten sich neue Geschwüre, gefährliche Staaten, die sich ihnen entgegenstellten. ...und der Zusammenstoß der Stammeskrieger sollte den Rotationsellipsoid Erde eines Tages ins Bleiern bringen. ...und alle Ernten waren für immer verdorben. Die taube Nuß nutzte niemandem mehr, die Stille war statuarisch, leblos und ohne Leidensschreie. Es stank lange Zeit von den Stinkadores, die man geworfen hatte, und von der Fäulnis; doch auch das sollte sich geben. Aber noch war es ja nicht so weit.
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“Wo Aufregung entsteht, macht die Welt Rückschritte.” Ja, wo Aufregung entstand, machte man auf der Welt Rückschritte. Und es war alles so aufregend, was auf der Welt entstand. Große Gedankensysteme zerbrachen, und Blut-und-Bogen-Ideologien sprossen überall hervor und trieben Blüten. So meldeten auch die Schwarzen wieder ihre alte Forderung an: Die sieben Staaten südlich der Magnolienlinie wollten sie haben. Auf Florida verzichteten sie, da sie einsahen, daß die Juden, die zu Großvaters Zeiten den Staat noch nicht einmal betreten durften, ihn mittlerweile gekauft hatten. Die anderen Staaten aber wollten sie. Sie behaupteten, ihre Vorfahren hätten das Land mit ihrer Sklavenarbeit schon längst bezahlt. Die Stimme des Indianerhäuptlings, der am Lagerfeuer sitzend einer Handvoll roten Brüdern sagte, er wolle 49 Staaten vom Weißen Mann zurückhaben, weil das Land gestohlen worden sei, ging im allgemeinen Tumult unter. Die Roten wagten sich auch nicht in die Städte, um ihre Forderung anzumelden. Eine andere Forderung hörte man aber wieder lautstark. Die Forderung, die Sklaverei wieder einzuführen. Die Schwarzen hatten offensichtlich nach Meinung dieser Weißen noch nicht genug dafür bezahlt, schwarz zu sein. Es waren KKK-KZs, in denen die Weißen ihre ersten Versuche in dieser Hinsicht unternahmen, mit stillschweigender Mißbilligung Washingtons. Es waren Arbeitslager ohne Ernährung, die nach deutschem Vorbild organisiert waren. Die Arbeit war unwichtiger als die Endlösung. Der Alptraum der Schwarzen, daß die Weißen sich ihrer mit Nazi-Methoden entledigten, wurde in diesen Lagern Wirklichkeit. 935
Diese Lager hatten sich in bewußter Analogie zum Arbeit-Macht-Frei der Nazis zynisch als Motto ein Zitat von Eldridge Cleaver gegeben: Kein Sklave soll eines natürlichen Todes sterben! Die Insassen dieser KZs waren zu geschwächt, um sich an Eldridge Cleavers Rat zu halten, und starben im Allgemeinen nach kurzer Zeit eines unnatürlichen Todes. Angesichts solcher Atrozitäten wurden natürlich auch wieder Stimmen laut, die behaupteten, der Weiße sei dem Schwarzen nicht überlegen, seine einzige Überlegenheit sei eine technische. Einige - Schwarze sowie Weiße, die mit ihrer Rasse nicht zufrieden waren - behaupteten: Ethisch sei der Schwarze dem Weißen überlegen. Welch eine Mißachtung des demokratischen Grundsatzes der Gleichheit, auf dem die Gründerväter der Vereinigten Staaten in tiefer Menschenkenntnis ihren Staat aufgebaut hatten! Glaubte denn keiner mehr an Gleichheit? Konnte man denn den Glauben an Gleichheit so leichtsinnig aufgeben? Womit rechtfertigte man es, so ganz ohne Beweise? Der Schwarze war nicht ethisch oder moralisch besser, er hatte nur wegen technischer und politischer Unterlegenheit, keine Gelegenheit gehabt, seine Gleichheit zu beweisen, also zu zeigen, daß er genauso schlecht war wie die Weißen, - jedenfalls nicht in Amerika, in Afrika sah die Welt schon ganz anders aus.
Opfer zu sein ist das Niedrigste, was man sein kann, so klagte manch ein Opfer, aber es gab auch Opfer, die nicht so dachten, Opfer, denen man Leiden zu fügen konnte, die man erniedrigen konnte, ohne zu erreichen, daß sie sich erniedrigt fühlten. Sie blieben fest in ihrem Stolze: Ich habe mich auf dieser Welt nicht schuldig gemacht! 936
Und es gab massenweise jene niedrigen Menschen, denen auch das dümmste Argument nicht zu dumm war, wenn sie sich damit erhöhen konnten, und die feigste Methode nicht zu feige, wenn sie ihnen die Macht gab, sich überlegen zu fühlen. Noah hatte Ham wegen eines Blickes auf den väterlichen Pimmel zur Sklaverei verdammt und in jehovas'scher Gerechtigkeit auch gleich all seine Nachkommen. Der Mann Gottes hatte, so lehrten die Priester, in seiner Weisheit das Bösartige in seiner Saat vorausgesehen. Aus seiner Saat aber - und das war sehr günstig - waren die schwarzafrikanischen Stämme hervorgegangen. Der gute Weiße konnte sich also mit gutem Gewissen dieses Sklavenmaterials bemächtigen. Der Afrikaner war ja nur ein bösartiger, unzivilisierter Barbar, dem man einen Gefallen tat, wenn man ihn durch die Sklaverei der Zivilisation aussetzte und ihm gutes Benehmen beibrachte wie das Hutabnehmen, wenn man mit Weißen sprach. Es war die Bürde des weißen Mannes, und er trug sie mit Würde - natürlich, er brauchte ja nicht mehr zu schuften. Gegen dieses irrationale, würdevolle Herumspazieren des weißen Mannes half nur eine rationale Reaktion, eine extrem rationale Reaktion. Das Rationalste, was es gab.
Elijah Mohammed1 der Schwarze Moslem lehrte: Vor ungefähr 6 300 Jahren lebten auf der ganzen Erde nur Menschen der ursprünglichen Menschenfarbe, nämlich Schwarze. Abgesondert lebte auf der Insel Patmos ein verrückter, schwarzer Wissenschaftler mit Namen Yacub. Ihn beherrschte ein perverses Verlangen. Er wollte die edle, schwarze Rasse bleichen, verunedeln und wohl schließlich ganz vernichten. Dafür ersann er sich ein Geburtenkontrollsystem. Wenn immer einer der 59 999 Bewohner der Insel heiraten wollte, dann durfte er es nur, wenn er eine Partnerin hatte, deren Haut ein bißchen heller war als die eigene. Nur die mit der hellsten Haut durften untereinander heiraten, aber nicht die, die wirklich schwarze Haut hatten. So verschwand 1
geborener E. Poole (Sklavenname)
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langsam das Pechschwarz als Hautfarbe und es gab nur noch Braune. Aber mit den Braunen machte man es dann genauso, bis auch das Braun verschwunden war, und die Dunkelsten die Rothäute waren. Und dann bleichte man noch weiter bis aus dem Rot Gelb wurde, und schließlich wurde auch das Gelb weggebleicht und Weiß war die Farbe, die übrigblieb. Yacub hatte es geschafft, den weißen Teufel mit den blauen Augen des Todes zu schaffen, der die schwarze Rasse quälen, versklaven und umbringen und, wenn man ihn nicht stoppte, ausrotten würde. Stoppen aber hieß hier Ein-Für-Alle-Mal-Das-HandwerkLegen, Umlegen. Miscegenation aber war das schlimmste Verbrechen, Rassenschande, schlimmer als Mord. Adjuna und seine Leute waren für sie die schlimmsten Verbrecher, schlimmer als die Kluxer, vergleichbar nur dem teuflischen Yacub von Patmos. So dämonisiert konnte sich Adjuna selbst zwar einigermaßen sicher fühlen, aber seine Anhänger waren noch sehr gefährdet. Sie wagten nicht in ihre Häuser zurückzukehren, aus Angst erkannt und entlarvt zu werden. Und da sie in diesem Kampf die Gutmütigeren waren, waren sie im Umgang mit Waffen die Unerfahreneren. Besonders aus dem Hinterhalt zu schießen, bereitete ihnen Schwierigkeiten.
Es gab Gesetze, die verbaten Gewalttätigkeit, im Namen des Volkes und dem Volke zu Gute, zur Besserung. Kam es zu Gewalttätigkeit in den Slums, hatte man jedoch nie eifrig reagiert. War jemand niedergeschlagen worden, sagte sich die Polizei: Der hatte wahrscheinlich selbst schuld. Quälte ein homosexueller Perverser einen schwarzen Jungen, so sagte man sich bei der Polizei, dieser schwule Loverboy hat es nicht besser verdient, was läßt er sich auch mit so einem ein. Und Gewalttätigkeiten gegenüber Frauen, besonders Ehefrauen, wurden sowieso toleriert, jedenfalls solange sie in den Slums begangen wurden. Taschendiebstahl und kleine Überfälle 938
wurden, solange sie in den Slums gegangen wurden, nur mit einem müden Gähnen bedacht. Die Strenge des Gesetzes bekam zu spüren, wer erstens schwarz war, und zweitens seine Adresse in den Slums hatte, und drittens außerhalb der Slums etwas Anstößiges tat, wie bei Rot über die Ampel zu fahren, oder zu schnell, oder vielleicht ein Mädchen bumste, das zu jung war. Ein schwarzer Junge von 16 hatte es mal auf acht Jahre Gefängnis gebracht, als er seine 15jährigen Freundin beim Bumsen schwängerte und alles rauskam. Und der Richter brauchte nur 20 Minuten Verhandlungszeit, so sicher war er, daß Strenge und Unerbittlichkeit die besten Mittel sind, um die, die unten sind, unten zu halten. All das Knüppeln und Treten, all die langen Gefängnisstrafen für Nichtigkeiten, wenn man mal das Falsche rauchte, oder sonst wie Eigenständigkeit zeigte, oder Gewalt predigte - als ob Zurückschlagen Gewalt war, dienten nur diesem einen Ziel: der Einschüchterung und der Niederhaltung der ehemaligen Sklaven. Und wenn sie vor lauter Frustrationen ab und zu Wut abließen, dann taten sie es zum Glück an ihren Nachbarn, das hieß, an anderen Slumbewohnern. Und wenn sie ihre Wut außerhalb der Slums abließen, dann waren es Verlustgeschäfte wie Herschel Grynszspans Schüsse auf den deutschen Nazi-Gesandtschaftsrat vom Rath, als deren Folge 100 Juden einen gewaltsamen Tod starben, 400 Synagogen brannten, 7500 jüdische Geschäfte demoliert wurden und man 30 000 Juden ins KZ steckte, oder das Attentat auf Heydrich, für das die Nazis gleich das ganze Dorf Lidice samt seinen Bewohnern vernichteten. Wehe, wenn ein Negerarsch einmal in einem Supermarkt ein paar Dosen umstieß und dem über Gebühr schimpfenden Geschäftsinhaber ein böses Wort erwiderte, oder gar, wenn er rausgeworfen wurde, mit Steinen warf, sofort war, wenn der Ladeninhaber ihn nicht gleich erschoß, die Polizei zur Stelle, und es kostete dem Schwarzen einige Jahre seines Lebens im Knast. Warfen gar zehn Schwarze mit Steinen, kamen zwanzig Streifenwagen, und waren es hundert, die warfen, so kam gleich die ganze Bereitschaftspolizei, und waren es Hunderttausende, ...? - Und warum Steine werfen? Man lebte doch 939
nicht in der Steinzeit, sondern in Amerika. Hier nahm man halbautomatische, bzw. vollautomatische Waffen. Polizei und Armee schützten das System. Die Polizei hielt die Bevölkerung nieder und die Armee die Bananenrepubliken und Vasallenstaaten. Die Polizei stürmte die Häuser und Stadtviertel der Aufmüpfigen, die Armee die aufmüpfigen Staaten. Sie brachen, schlugen, bombten, und reichten einander die Hände, wenn sie es nicht allein schafften. Gegenüber den Herrschenden hatte man keine Chance, nie akzeptierten sie ein `Nein'. Widerstand man ihren Knüppeln, zogen sie ihre Schußwaffen, widerstand man ihren Schußwaffen, holten sie ihre schweren Waffen, und widerstand man auch diesen, kamen sie mit Panzern, Düsenjägern und Kriegsschiffen. 1 Würde es jemandem gelingen, auch diesen zu widerstehen, kämen sie mit ihren großen Aund H-Bomben. Sie geben nicht auf, sie müssen immer das letzte Wort haben. Hatte der Pöbel nicht immer von Tinseltown brutale Unterhaltung, immer brutalere Unterhaltung verlangt? Schon lange zahlte man dafür in Form einer brutalisierten Umwelt, jetzt kam die Endabrechnung. Auch die am Drücker hatten sich immer den Mist ansehen müssen, es gab ja nichts anderes. Und auch sie sahen in einem Menschenleben nichts Wertvolles mehr, jedenfalls nicht, wenn es nicht ihr eigenes war. Sie warfen nicht die ganz großen Bomben, weil die Strahlung auch ihr eigenes wertvolles Leben gefährdet hätte. Die waren deshalb für ferne Länder bestimmt. Für die Brandherde im eigenen Land hatten sie etwas Besonderes: ein Gemisch aus Aluminiumsalzen der Naphthensäure mit Palmitinsäure. Dieses dickflüssige Gemisch hatte den Vorteil, daß es auf einer begrenzten Fläche sehr hohe Temperaturen entwickelte, ohne
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aus `Soul on Ice' von Eldridge Cleaver, Seite 122.
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zu zerfließen, ohne bis zu den eigenen Villen zu fließen. Die Kübel mit diesem hochpotenten Zeug kippte man jetzt von Flugzeugen aus auf die Brandherde des eigenen Landes, unten zerbarsten sie, entflammten, brannten, und es störte nicht, daß das Gel Schwarze, Weiße, Rebellen und friedliebende Bürger, Kluxer und gar die zum Unterdrücken des Aufstandes in das Gebiet geschickten Soldaten und Polizisten gleichermaßen traf, daß es sich gleichermaßen durch weiße Laken, wie durch schwarze fraß, durch Uniformen, wie durch mit Raubtierzähnen geschmückte Haut. Das eine war so wertlos, so unbedeutend wie der andere, wenn man von oben herabsah. Bloß treue Handlanger wußten nie, wie klein sie von oben aussahen, und untreue auch nicht. Vor einem napalmgeopferten Konstabler kniete ein Kollege und klagte: “Oh, Jonathan, Treue gibt's schon lang nicht mehr, und Lohn bloß, wenn er sich lohnt.” Adjuna und seine Leute krochen gerade aus einem Kellerloch hervor, in dem sie sich vor dem Feuerregen untergestellt hatten. Der klagende Gesetzeshüter griff nicht nach seiner Waffe, und auch Adjuna und seine Leute taten ihm nichts. Wie viele Überlebende hatten sie das Bedürfnis, schnell den Ort zu fliehen, weg, wo anders hin, irgendwohin, wo die Welt noch heil war. Adjuna schlug vor, die verbrannte Erde nach fahrbaren Untersätzen abzusuchen. Das war gar nicht so leicht, denn fahrbare Untersätze brannten im allgemeinen nicht teilweise aus, sondern wegen des Tankinhalts immer total. Schließlich fand man ein paar Motorräder, die nicht getroffen worden waren, einen großen Lastwagen mit weggebrannter Pritsche, den gepanzerten Wagen einer Bank sowie in einer Garage, die man aufgeknackt hatte, einen Personenwagen der Luxusklasse. Adjuna nahm wegen seiner Größe den Lkw. Mit dem Lkw führte er die Karawane an und bahnte ihr einen Weg durch die mit ausgebrannten Wracks verstellte Landschaft. 941
Das Unwetter war vorbei, aber von sonnigem Wetter konnte nicht die Rede sein, die schwarz verrußte Umgebung verschluckte einen jeglichen Sonnenstrahl. Auf in sonnigere Gefilde! Auf in ein freundlicheres Land! On the road again! Aber Freude kam nicht auf. Eine Straße ist das Leben, das Leben ist eine Straße, eine Straße, die uns von einer Hedschra zur anderen hetzt, zu ewiger Flucht immer fort. Einige finden Löcher an der Straße und verkriechen sich dort und leben dann im Verborgenen geborgen, gesättigt und wie tot. Sie denken nur, was sie denken sollen, tun nur, was man tun sollte, benehmen sich nur, wie man sich benehmen sollte, und sind auch sonst nur, wie man sein sollte. Das ist ihre Sicherheit. Aber manch einen dieser Leblosen habe ich aus den Löchern aufgestöbert. Das war doch ein Erfolg, auch wenn es Tote gab. Von jetzt ab werden sich die Lebenden besser verstehen. So tröstete sich Adjuna, der eigentlich kein Blutvergießen gewollt hatte. Die Blutvergießer verstanden sich tatsächlich von diesem Tag an besser. Sie verstanden ihre eigene Blutrünstigkeit noch besser. Sie hatten gelernt, sie als Teil ihrer Persönlichkeit zu akzeptieren, als das Eigentlichste ihrer Eigenart, das, was schon den Kannibalen ein Hochgenuß war, den Barbaren den Bart feucht werden ließ. Blutrausch ersetzte die anderen Drogen, selbst die härtesten. Blutvergießen war zum Selbstzweck geworden. Menschen standen auf, gereinigt von den Lügen, und mordeten willkürlich. Adjuna wußte nichts von der neuen Selbsterkenntnis, die sich unter den Menschen breitgemacht hatte. Er saß im Auto und wollte in ein freundlicheres Land. Der Name Texas kam von dem spanischen Wort `tejas' gleich: freundlich. Dahin wollte er. Aber die Einheimischen, denen die Spanier einmal den Namen Tejas gegeben hatten, waren schon lange an den Rand der Gesellschaft 942
gedrückt worden, an den Rand oder darüber hinaus. Irgendwo führten sie ein Arme-Teufel-Dasein, vielleicht in den Staubbecken der großen Ebenen, vielleicht auch an der Theke einer schmutzigen Bar, wo er einer freundlicheren Vergangenheit nachtrank, an die er keine Erinnerung mehr hatte. Das einzig Freundliche, was dem Reisenden gleich ins Auge sprang, ohne daß er ausstieg, jemanden ansprach, waren die Verkehrsschilder. Sie hielten einen nicht an, vorsichtig zu fahren, sondern verlangten schlicht: Fahre friendly, freundlich. Unfreundlich dagegen sahen die Waffen aus, die in den Rückfenstern der Pickups sichtbar wurden: Von der Schrotflinte bis zur modernen Großwildbüchse, vom automatischen Infanteriegewehr bis zur Bazooka. Viele hatten mehrere Waffen. Einige wenige alte Leute fuhren Minivans mit bunt geblümten Gardinen. Sie waren Relikte aus einer freundlicheren Zeit, als Austin, die Hauptstadt des Landes, noch Mecca der Blumenkinder war. Vorbei ging die Fahrt an verrosteten Bohrtürmen, stillgelegten Destillationsanlagen und zerbrochenen Pipelines. Die Besitzer dieser leeren, nutzlosen Anlagen fuhren mit glasigen Augen an ihrem Überreichtum an Rost entlang. Ihre großen, langgezogenen Cadillacs machten einen ähnlich heruntergekommenen Eindruck. Durch den Dreck des Abgasqualmes, die Inzensation der Stoßstange, wurde das Gebet der ehemaligen Ölmilliardäre sichtbar: O Lord, gib uns noch einmal volle Ölquellen! Wir versprechen auch gerne, daß wir diesmal nicht gleich alles verpissen. Ein anderer Bumbersticker versprach: O Lord, ich fühle es kommen. Und ein Billboard an der Straße ermahnte die Vorbeifahrenden: Haben Sie heute schon Jesus einen heißen Check geschickt? Ein FernsehMissionar bot sich an, das Geld für Jesus in Empfang zu nehmen. Wohl, damit sich der Sohn Gottes nicht selbst die Finger schmutzig machte.
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Aber diese Leute waren nicht die einzigen Schmarotzer des Landes. Überall wuchs das Mistletoe, die Gemeine Mistel, auch Hexenkraut genannt, Donnerbesen oder Holzkreuz. Britischen Einwanderern diente diese alte Abwehrzauberpflanze bei ihrem Weihnachtsbrauchtum als Entschuldigung für sonst unentschuldbares Küssen, moderne Pharmakologen gewannen aus ihr ein blutdrucksenkendes und entwässerndes Mittel, keltische Druiden nahmen das Zeug zum Sterilisieren, wohl zur Sterilisierung des MundLippen-Bereiches vorm Küssen, und zum Entgiften des Körpers, andere benutzten es zum Vergiften; bei anderer Wirtspflanze eine andere Wirkung. Richtig. Die Tonkawas, die Zusammenhalter, wie die Wacos die Indianer der großen, texanischen Prärie nannten, sie selbst nannten sich Tickanwatic, die Menschlichsten der Menschen, gewannen aus den Scheinfrüchten dieses erbarmungslosen Parasiten, der seine Wurzel so gnadenlos in fremdes Holz bohrte wie die Ölsucher ihre Bohrer ins Fleisch der Erde, ein Pfeilgift, mit dem sie ihre Feinde töteten. Ein humaner Tod durch Herzversagen. Doch am Ende unterlagen sie den Schußwaffen der abendländischen Einwanderer. Es spielte wohl auch eine Rolle, daß ihr Peyote- und Meskalinkonsum ihnen Großmannfantasien vorhalluzinierte, die sie zu mutig auf die Feinde losstürmen ließ, was das Abschießen enorm erleichterte. Der dem Rausch folgende Kater mit Schwindel- und Übelkeitsanfällen war ebenfalls nicht für den Kampf mit brutalen Realisten geeignet. Als Adjuna das Land durchquerte, waren es die Kindeskinder dieser ehemaligen Realisten, die der Realität, zu der die Welt der Eltern und mit allem, was die sich angeeignet hatten, gehörte, entfliehen wollten mit Crack, LSD und Schlafmohn. Gute Nacht. Ach ja, vorher noch ein Gebet, Gute-Nacht-Gebet. Amerikaner wurden immer unwissender, religiöser und angeturnter. Ach ja, und Mord und Totschlag nahmen auch zu. Eigentlich hätte Adjuna hier in Texas auf ein Pferd umsteigen sollen und als Outlaw irgendwelche Schießerei bestehen müssen, aber die Welt war nicht perfekt. Die Dinge waren nicht, wie sie sein sollten. Und Cowboy-Filme gab es ohnehin genug. So fuhr der Konvoy 944
genauso trist und trocken durch den Staub - immer weiter einem fernen Ufer zu, wie einst die Jallopies der Okies und Arkies, von einem Elend in ein größeres, mit der Hoffnung als einziger Halt wie eine leckere Mohrrübe vor der Nase eines störrischen Esels. Am Weg gab es wieder alles - leider war es ungenießbar: uralter Staub, Raumfahrtzentren, uralte Gottesvorstellungen, flache Erden mit Käseglockenhimmel, ein bißchen moderner: geozentrische Vorstellungen, die sich um die alten Seiten der Bibel wickelten und an allen Seiten von einem Himmel umhüllt waren, der nicht hoch war, Atom-Tests, Super-Sonic-Bombers, Gung-Ho-Kapitalismus, 10Gallon-Hats und eines der vielen Achten Weltwunder dieser Erde, Astrodomain, ein Sammelsurium aus Astrodom, Astroarena, Astroshopping-centre und Astrowelt: ein Vergnügungspark mit 100 Attraktionen, also 99 mehr als Disneyland. Nie gehört: Disneyland ist eine einzige Attraktion? Disneyland war wie Amerika: Es herrschte Lächelzwang. Bloß die ausgestopften Saurier sahen wirklich aus. Aber die Fantasien von Anaheim waren weit und die Falschheit der wirklichen Welt allgegenwärtig. Vor dem hohen Kutschbock des halbausgebrannten Trucks breitete sich das weite Land aus. Adjuna hatte manchmal das Gefühl, in einem Tiefflieger zu sitzen. Die Monahan Sanddünen lagen unter ihm, vor ihm. Die Windschutzscheibe wurde zum Gemälde. Das Auf und Ab der Hügel zur Maja. Die Oberfläche des feinen Sandes erinnerte ihn an die Pfirsichhaut einer nackten Schönheit, die sich ausstreckte auf dem Bett der Liebe. Eine Sinnestäuschung. Ein Wunschtraum. General Sheridan sagte einmal: “Wenn ich beides besäße, die Hölle und Texas, ich würde Texas vermieten und in der Hölle wohnen.” War ihm die Prärie zu heiß oder der texanische Bibelfundamentalismus zu trocken, zu prüde? Ihm fehlten die Augen, die das sahen, was sie sehen wollten. Blühende Ebenen, mit Zypressen bewachsene Hügellandschaften, Hickorysträucher, Kiefern, Tannen, Wacholder, Eichen, Pecan- und Mesquitebäume, deren Früchte den Payaya-Indianern als Nahrung 945
diente und den Comanchen, wenn sie kein Fleisch zwischen die Zähne bekamen. Auch der pickelige Pear-Kaktus war eßbar. Eine saftige Angenehmlichkeit nach den scharfen Tex-Mex-Mahlzeiten. Und wieder Hickorysträucher, diesmal bei einer Missionsstation, die jungen Triebe dienten, wenn sie Fingerdicke erreicht hatten, den Lehrern als Rute. Die Nuß selbst durften die vom Heidentum befreiten, rothäutigen Kinder nur mit Erlaubnis essen. Da ein Hickorystock sehr wehtat, wenn er auf einen Hintern niedersauste, schrien die kleinen Indianerkinder immer, daß sie unschuldig waren, selbst wenn sie ganz offensichtlich etwas Böses getan hatten, wie z. B. ihren Psalm nicht gelernt hatten, oder in die alte Gewohnheit zurückgefallen waren, einfach von den Früchten des Landes zu essen, ohne vorher die Missionare um Erlaubnis gebeten zu haben. Wie beteuerte man nun auf Texanisch seine Unschuld? - Man sagte: “Me no Alamo!” Und damit waren unsere Helden in Alamo, der Wiege der texanischen Freiheit. 1821 hatten die Mexikaner sich die Unabhängigkeit von Spanien erkämpft. Texas war damals eine mexikanische Provinz. In Texas lebten aber überwiegend Anglos, wenn man von den rothäutigen Ureinwohnern mal absah, und diese Anglos wurden immer mehr. Und diese Anglos, Engländer, wie sie die Mexikaner nannten, unter ihnen waren übrigens viele katholische Irländer und sogar Deutsche, wollten schon bald ihrerseits Unabhängigkeit. Es gab da auch ein paar Meinungsverschiedenheiten mit den Mexikanern bezüglich der Sklavenfrage. Die mexikanischen Regierung wollte oder konnte nicht verstehen, daß die Anglos Sklaven brauchten, weil sie nicht selbst arbeiten konnten oder wollten. Also mit ihrer Forderung nach Unabhängigkeit stießen die Anglos bei den Mexikanern auf taube Ohren und Unverständnis. Wie konnte es auch anders sein? 946
1836 kam es in Alamo zum Kampf: Mexikos Generalissimo Antonio Lopez de Santa Anna traf mit seinem 5000-Mann-Heer auf 187 Anglos. Einige behaupteten sogar, es seien nur 186 Anglos gewesen. Einer sei schon vorher gestorben. Vor Angst? In einer einzigen blutigen Stunde waren sie alle tot (die Anglos natürlich), und doch waren die Helden von Alamo unsterblich. “Denkt an Alamo!” wurde der Kampfschrei der texanischen Revolution. Sam Houston, der große, texanische Nationalheld der Hinterhältigkeit er war übrigens der Schnellste im Weglaufen. a.) Falsch. Weglaufen, verhört/verlesen.
nicht
Wettlaufen,
Sie
haben
sich
b.) Richtig. Weglaufen, nicht Wettlaufen, Sie haben sich nicht verhört/verlesen. Also Sam Houston, nachdem er weit genug weggelaufen war mit seiner Armee, machte eine Pause, damit die erschöpften Mexikaner wieder aufholen konnten. Ihn ganz einzuholen, schaffte sie aber nicht vor Einbruch der Nacht. Sie legten sich am San Jacinto schlafen. Während sie schliefen, kamen Sam Houston und seine Soldaten angeschlichen, mit aufgepflanzten Bajonetten kamen sie angeschlichen. Und während sie auf die schlafenden Mexikaner einhackten, sie in mundgerechte Stücke hackten, ertönte ihr Kampfgeschrei: “Denkt an Alamo!” Und die aufgeschreckten Stücke logen: “Me no Alamo! Me no Alamo!” Zu deutsch: Ich nix Alamo! Nach dem Bajonettieren der schlafenden Mexikaner zog Sam Houston wieder zurück zu seinen Leuten und ließ sich als Held feiern. Von 1836 bis 1845 war Texas eine Republik, dann schloß es sich als 28. Staat den USA an. Unabhängigkeit war plötzlich nicht mehr gefragt. 947
Adjuna und die anderen ließen Alamo hinter sich und brausten den Trans-Texas-Pecos-Trail entlang. Sie kamen an Sonora vorbei, wo sich die schönste Höhle der Welt befand. Eine von vielen schönsten Höhlen der Welt. Sie kamen durch Ozona, der größten Kleinstadt der Welt. Einzigartig auf der ganzen Welt: ein solcher Anspruch. Der größte Roadrunner der Welt. Die größten Langhornrinder. Die größten Viehtriebe. - Die größten Viehdiebe. Die schnellsten Schützen. Die blutigsten Vendettas. Und die liebsten Vorstellungen, die die Welt vom Texaner hatte: Mann auf Pferd, der sich heldenhaft und vor allem siegreich gegen eine Indianermeute verteidigte, oder eine Wagenburg, die sich ebenfalls heldenhaft verteidigte, aber weniger siegreich. Auch Adjunas Konvoy bildete nachts eine Wagenburg, aber aus Angst vor Weißhäuten, Nachkommen des Sam Houston. Viele Banditen machten die Gegend unsicher. Sie überfielen die Reisenden. Sie taten es aus purer Not. Sie konnten nicht in den Städten zur Arbeit gehen. Denn in den Städten, da durften sie sich nicht sehen lassen, denn sie wurden steckbrieflich gesucht. Aber nicht alle waren Verbrecher, einige ja, die hatten geraubt, um sich zu bereichern, aber andere hatten die Familienehre gerettet und fürchteten jetzt die Rache der anderen Familienmitglieder und die Polizei. Es war mehr als nur ein Gerücht, daß der Texaner aus den nichtigsten Anlässen der Welt Familientragödien machen konnte: Das blöde Rasierrückenschwein des Einen rückte aus und zertrampelte die Felder des Anderen. Der schoß das Rasierrückenschwein. Und aus Rache schoß der Eine dann den Esel des Anderen. Und der schoß das Rindvieh des Einen. Und dann waren die Menschen dran. “Der hat meinen Bruder erschossen!” “Der hat meinen Vater erschossen.” “Der hat meinen Onkel erschossen.” “Der hat meinen Cousin dritten Grades erschossen.” Und am Ende wußte keiner mehr den Grund und alle waren nur noch am Schießen und sprachen von “erschossen”. Bis, ja, bis am Ende entweder die ältesten Greise der beiden Familien oder seltener - die jüngsten Burschen (gerade erst die Klapper mit der Knarre getauscht) sich auf einer Kuhwiese gegenüberstanden und mit der Winchester oder der langen Kentucky-Flinte aufeinander anlegten und den Endsieg erkämpften oder - Doppelselbstmord machten. Oft 948
funktionierte sogar die Gleichberechtigung und die Frauen der Familien schossen mit und starben mit. Aber nach dem ersten Mord schon lebte man nicht mehr Zuhause, sondern flüchtete in die Wildnis, und das war es, was die Wildnis so gefährlich machte. Nicht die Klapperschlangen, die Desperados waren das Problem. Man floh übrigens nicht so sehr wegen der Strafe, sondern weil zurückgeschossen wurde. In Texas hatten die Behörden oft Verständnis dafür, daß man einen anderen Texaner erschoß, bloß dessen Familienangehörigen fehlte immer das Verständnis. Die texanische Kolumnistin Molly Ivins hatte die einheimische Mentalität mal richtig auf den Punkt gebracht: “Texaner erschießen einander 'ne Menge. Für Mord bekommt man nur fünf Jahre, fürs Pot-Rauchen neunundneunzig.” Whiskey erleichterte übrigens den Griff zur Waffe. Natürlich gab es auch noch die Todesstrafe für Mord - für die Unterprivilegierten, die Nachkommen der ehemaligen Sklaven. Die sollten nun wirklich nicht das Recht haben, einen Mord zu begehen! Taten die es doch, liefen die natürlich auch weg. Natürlich, in der modernen Zeit hätten private Rächer eigentlich durch Richter ersetzt werden sollen, aber mehr als gelegentlich knallte es doch, wenn ein Rasierrückenschwein ausrückte und die Beete zertrampelte, besonders wenn die Richter parteiisch waren und der Geschädigte anders sein Rächt nicht bekam. Die rächenden Waffen waren zum Glück immer zur Hand. Schließlich erreichten Adjuna und seine Leute El Paso, El Paso del Norte, den Durchgang zum Norden, wie die Franziskaner Missionare den Ort tauften. El Paso, die Stadt der Goldberauschten, der 49er, die 1849 hier durchkamen auf ihrem Weg nach Kalifornien, viele bissen schon hier - nicht ins Gras, in den Staub. Der Suff und die Pistolenduelle.
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Die Zahl 49 wurde für immer mit begeisterter Suche nach materiellen Schätzen und Mitläuferei behangen. Adjuna war ein so ganz anderer Sucher als die 49er. Nicht weit von El Paso ein neuer Superlativ, Fort Bliss, bliss, engl. = Freude, Entzücken, Wonne. Diese wonnige Festung beherbergte die größte Luftabwehr-Lehranstalt der Freien Welt, welcher Planet auch immer damit gemeint sein mochte. Adjunas Konvoi zog vorbei, hielt aber beim Tigua-Pueblo, wo die Indianer noch mit Pfeilen schossen, jedenfalls für Touristen. Zu gucken kostet. Adjuna juckte es in den Fingern, als er den mit Federn geschmückten Krieger mit stolzer Miene auf eine Zielscheibe anlegen sah, die nur wenige Katzensprünge entfernt war. Das Publikum war begeistert, weil er mit jedem Schuß die Scheibe traf. Adjuna aber ärgerte sich über den Stümper, weil er nie ins Schwarze traf. “Verdammt, mein eigener Bogen rostet mir noch, wenn ich ihn nicht benutze!” Und seine Hand zuckte zum Köcher und riß in schneller Folge die Pfeile heraus, und die Pfeile sausten über die Köpfe der Touristen, und ein jeder Pfeil zerschnitt einen Pfeil des Indianers. Ein Raunen ging durch die Touristenschar. Bewunderung. Ein Held. Ein Übermensch. Es war wie im Film. Adjuna war zufrieden mit sich. Er war noch so gut wie früher. Von der pockennarbigen Zielscheibe des Indianers war es nur ein Katzensprung bis zur pockennarbigen Oberfläche der Weißen Wüste. Die Straße von Alamogordo führte direkt drauf zu. Die Straße nach Alamogordo war die Straße, die die Menschheit fortan gehen mußte, die Straße, auf der sie nie wieder umkehren konnte, die Straße des Erfolgs, die Straße zum erfolgreichen Bau der Atombombe und zum Ende der Unsterblichkeit. In Alamogordo hatte sich das Leben selbst überlistet, seinen Untergang eingeleitet, die erste Pocke dieser fatalen Krankheit, hier war sie aufgebrochen in der weißen 950
Gipsdünenlandschaft umrahmt von regenbogenbunten Bergreihen. Es war am 16. Juli 1945 gewesen. Das atomare Feuer wurde dann schnell nach Japan getragen, wo es zwei Städte auslöschte. Beim Abwurf über Hiroshima starben 80 000 Menschen sofort, und fünfzig Jahre später starben noch immer Leute an den Spätschäden. Aber wenn die Japaner auch ihre Toten beklagen mochten, diese Bomben auf Hiroshima und Nagasaki hatten vielen das Leben gerettet. Denn wären sie nicht geworfen worden, hätte es einen Endkampf gegeben um jede Stadt, um jedes Dorf und um jedes Reisfeld. Es war einmalig in der Geschichte der Menschheit, daß ein Gegner plötzlich über eine so überlegene Waffe verfügte, daß Gegenwehr keinerlei Sinn mehr hatte. Diese Bomben waren also ein wirklicher Segen gewesen. Die Deutschen konnten es nur bedauern, daß die Bomben nicht schon ein Jahr früher fertig gewesen waren. “Ach, was sag' ich, ein Jahr, mehrere Jahre, je früher desto besser.” Hätte man sie rechtzeitig zum Beispiel auf Kiel und Bremen oder selbst Hamburg und Berlin geworfen, wieviel mehr Menschen wären am Leben geblieben, aber so hatten sogar noch die Kinder die letzten Häuser, die letzten Haustrümmer verteidigen müssen. Nach den Bombenabwürfen auf die japanischen Hafenstädte gab es eine lange Pause. Die Menschheit mußte erst die Reife finden, das Begreifen lernen, - daß man Menschen nicht mehr einzeln aufzuspießen brauchte, sondern flächenmäßig vernichten konnte, städteweise, völkerweise, die ganze Spezies und die anderen mit. Man baute immer größere Bomben, tausendmal stärkere, zweitausendmal stärkere, dreitausendmal stärkere, vier..., aber man zögerte, sie einzusetzen. Umbringen erfolgte noch lange Zeit mühsam und in kleinen Schritten, man konnte einfach nicht den ganz großen, erhabenen Grund finden, um loszuschlagen, loszubrennen mit dem atomaren Feuer, als ob das Dasein des Menschen nicht genug Grund war. Man suchte und suchte nach einem besseren Grund. Irgendwann sollte man ihn finden in der Form des Gottes, in der Religion; menschliche Ideologien und Gedankenwelten reichten nicht aus für den ganz großen Knall, nur Übermenschliches konnte da zünden. Der Mensch sah nicht, daß er 951
nichts wert war. Nur wenn er sich Gott vorstellte, kam er sich nichtig genug vor, um sich zu vernichten. Er brauchte den Umweg, nur einige wenige waren ehrlich. Selbstmörder. Leere Wüstenräume wurden vorher noch oft aufgerissen, atomares Feuer verpulvert, viele Pocken entstanden da, wo sie nicht töteten. Hätte man damals die ganze Menschheit aufrechtstehend unter einem atomaren Sprengkopf zusammenrücken lassen, hätten die anderen Spezies noch lange weitergelebt. Und weiter ging die Reise durch New Mexiko und Arizona, durch Canyons und über Bergpässe, durch Mountains und über intermontane Plateaus, the Mexican Highland und die Gila Wüste, durch Salzflüsse und Salzbecken. An Yuccapflanzen mit spindeldürren Blütenrispen ging es vorbei, durch trockene Strauchsteppen mit Stachelpflanzen, Riesenkakteen, Mesquite- und Kreososträuchern, in denen die Schwarze Witwe ihre schlauchförmigen Netze geflochten hatte. Ein Witzbold aus Adjunas Mannschaft meinte, der rotgelbe Fleck am Hintern der Spinnenwitwe wäre ein gutes Ziel für Schießübungen. Tatsächlich ballerten einige los. “Ein makaberes Spinnenmonster.” “Das Biest bringt ihren Mann in der Hochzeitsnacht um.” “Selbst für Menschen soll ihr Biß tödlich sein.” Adjunas Freunde brauchten viel Munition, ehe ein Schuß traf und tödlich war. So schlechte Schützen waren sie. Inter-Spezies-Solidarität, so etwas gab es nicht. Gab es nicht? Manchmal schossen sie sich ein Dickhornschaf oder einen Maultierhirsch, die sie dann am Lagerfeuer brieten. Es gab auch zahlreiche Schlangen. Aber nur Adjuna schoß sie sich und aß sie wie eine Delikatesse. Wenn sie in Ortschaften kamen, gab es Tortillas, salsa picante und Bohnen aus der mexikanischen Küche, ab und zu gab es auch mal einen Berberhammel am Spieß. Der spanisch-mexikanische Einfluß wurde immer größer. Englisch wurde nicht mehr verstanden. Adjunas Freunde mußten sich immer öfter sagen lassen, daß sie Gringos seien. Und es hörte sich an, als sei da ein Greenhorn, ein Grünschnabel, Gimpel, Strohkopf und 952
Nichtswisser, ein unverständiger Mensch, mit gemeint. Und tatsächlich gab es vieles, was sie nicht verstanden. Sie sprachen kein Spanisch und es gab nur wenige Wörter, die ihnen jetzt nicht spanisch vorkamen, Gringo war eins davon, aber sie wußten nicht, daß das Wort vom spanischen Adjektiv `griego' abgeleitet worden war, das `griechisch' hieß, denn auch den Einheimlichen waren die Fremdlinge unverständlich, sie kamen ihnen so zu sagen spanisch vor, in Shakespeares Originalton: They were Greek to them. Was ihnen besonders unverständlich war, war die Eile der Fremdlinge. Mañana war ihre Antwort darauf. Mañana, mañana. Mañana, das war das andere Wort, das unsere Freunde sofort verstanden, ohne Adjuna extra um Übersetzung zu bitten. Mañana hörten sie immer wieder; ob sie nun einen Reifen gewechselt haben wollten oder Schuhe besohlt, immer war die Antwort: Mañana. Zwischen Siesta und abendlicher Fiesta war einfach zu wenig Zeit und morgens tat fast immer der Kopf weh vom Vino des Vortags und die Sonne schien auch immer so heiß. So blieb es bei Mañana. Bloß die Freunde hatten in der Wüste die Pocken einer beginnenden Krankheit besichtigt und machten sich Sorgen, daß es kein Mañana mehr gab, die atomare Pestilenz ihnen die Zukunft wegfraß. Sie waren Mensch genug, zu glauben, das sei ein Verlust, Mensch genug, an den Menschen zu glauben, aber das war zu wenig, Speziesegoismus, sie waren wenig, sie waren gering, aber die besten, die Adjuna hatte finden können.
Als Fernando Cortez 1519 mit einer kleinen Flotte von Kuba nach Westen aufbrach, seiner Spürnase für Gold folgend, stieß er auf ein Land, das er spontan Nueva España nannte, Neu-Spanien. Seine Spürnase trieb ihn die Gebirgswände hoch und nach einem anstrengenden Marsch lag vor ihm im Tal die größte Stadt der Welt, die 953
Millionenstadt Tenochtitlán. Noch nie hatten die spanischen Ritter soviel Pracht gesehen, Tempelpyramiden, Paläste, Türme, überall glitzerte Gold, funkelten Edelsteine. Cortez riskierte alles, um diese Stadt zu besitzen. Er zerstörte sogar seine eigenen Schiffe, damit es kein Zurück mehr gab, sondern nur noch ein Vorwärts zum Gold. Er hatte Glück. Es dauerte keine zwei Jahre, die eingeschleppten Pocken zermürbten den Kampfwillen der Bevölkerung und die Stadt wurde sein, viel mehr die Ruinen der Stadt. Cortez zerstörte die Stadt restlos und raubte alle Schätze. Auf den Ruinen baute er seine neue Stadt: Mexiko. Es war dieses unglaubliche Ereignis, daß die spanischen Konquistadoren antrieb, sie immer wieder weiter und weiter trieb: Vielleicht lag schon hinter den nächsten Bergen neuer, unermeßlicher Reichtum. Jede Legende, jede Andeutung ließ sie gleich loshecheln. 1539 war Bruder Marcos, ein Franziskaner, mit wenigen Begleitern darunter einem Schwarzen auf Seelensuche für die allerchristlichste Kirche. Er war in Cíbola, das später nach dem alten Wunschtraum Neu-Mexiko genannt wurde. Dort sah er eine riesige Stadt, eine glänzende Stadt, Hawikúh; vielleicht glänzte sie in der Sonne, jedenfalls nicht von Gold. Der allerchristlichste Missionar wagte sich aber nicht dicht genug heran, sondern sah die Stadt nur von weitem. Mutig pflanzte er in aller Heimlichkeit ein Kreuz und nahm das Land für seinen König in Anspruch. Seinen schwarzen Begleiter hatte er mit einigen Indianergetreuen in die Stadt Hawikúh geschickt, und die hatten bei ihrer Rückkehr berichtet, daß die Bevölkerung den Schwarzen getötet hatte, wahrscheinlich weil sie ihn für einen Teufel hielt. Da hatte sich Fray Marcos gedacht: Wenn die in einem Schwarzen einen Fray Diablo sehen und ihn töten, vielleicht töten sie auch mich.
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Für die Bevölkerung des Amerikanischen Kontinents hätte es sich natürlich gelohnt, rechtzeitig so viele wie möglich von den weißen Teufeln zu töten. Aber im Nachhinein schlau sein, war leicht. Auf jeden Fall lief Bruder Marcos schnell zurück nach Ciudad de Mexiko, also Mexiko-City, und erzählte von der großen, prächtigen Stadt, die er gesehen hatte, und daß es nur die erste von sieben prächtigen Städten sein sollte. Das war dem Gobernador genug, um gleich eine Militärexpedition von 300 Mann loszuschicken. Die Teilnehmer dieser Expedition erlebten aber eine große Enttäuschung, als sich herausstellte, daß Hawikúh keine goldene Stadt war, sondern nur ein sechsstöckiges Dorf aus Lehm und Ziegeln, die restlichen fünf der angeblich sieben Zuñi-Städte, in Wirklichkeit waren es bloß sechs - eine Zahl so ganz ohne Magie -, waren noch ärmlicher. Wenn der bleiche Mörtel jener hohen Wände je golden geglänzt hatte, dann war dafür entweder die Goldgier, das Wunschdenken, des Beschauers oder der Schein der untergehenden Sonne verantwortlich gewesen; beides Dinge, die in der materiellen Welt der frommen Spanier wertlos waren. Die Spanier trieben sich noch ein bißchen in der Gegend herum, entdeckten den Grand Canyon und am oberen Lauf des Rio Grande noch zwölf weitere Tiwas oder Pueblos, Dörfer, wie sie diese Termitenbauten nicht unähnlichen Lehmhochhäuser mit Einstieg vom Dach nannten. Von den Bewohnern verlangten die Spanier Proviant, wenn sie ihnen schon kein Gold wegnehmen konnten; als es kälter wurde, brauchten sie auch noch Decken; als es dann ganz kalt wurde, verlangten die Spanier, daß man für sie ein Pueblo räume. Die Indianer lehnten sich dagegen auf. Die Spanier zerstörten zwei Pueblos, töteten ein paar oder ein paar hundert Dorfbewohner, bevor sie in einem dritten Pueblo wohnen durften. Die bedrängte Bevölkerung suchte jetzt Schutz bei 955
den Göttern, die auf dem nahen Oku Piñ, dem südlichen Weltberg, wohnten. Mutter Wind und die Spinnenfrau schickten ihnen einen Indianer aus der großen Prärie: einen großen Lügenerzähler. Die Spanier waren sofort begeistert und folgten seinen Lügen und die Pueblobevölkerung hatte endlich wieder ihre Ruhe. Vierzig Jahre lang hatte sie Ruhe. In der Zwischenzeit hatten die Spanier der mexikanischen Urbevölkerung alles Gold und Edelmetall geraubt und waren selbst daran gegangen, zu schürfen und Stollen in den Berg zu treiben, treiben zu lassen. Chihuahua erlebte einen Silberboom, immer mehr Prospektoren kamen ins Land und wurden reich. Einige alte Männer, Teilnehmer der ersten Expedition an den Rio Grande, erinnerten sich, daß die Berge, die sie damals gesehen hatten, genauso aussahen, wie die Sierras von Chihuahua. So trat Neu-Mexiko wieder in das Blickfeld der Spanier. In den 90er Jahren des 16. Jahrhunderts gab es zwei wilde Expeditionen ins Land der Pueblos. Aber dem spanischen König waren Eigenmächtigkeiten mittlerweile zu unheimlich geworden. Wer sich nicht durch seine bürokratischen Mühlen drehen ließ, mußte bestraft werden. Der Anführer der ersten Expedition wurde von spanischen Soldaten aufgebracht und in Eisen gelegt, die zweite Expedition kam weiter, viel weiter, zu weit, nämlich dahin, von wo es kein Zurück mehr gab. Spanien hatte seit Kolumbus eine große Wandlung durchgemacht. Abenteurer wie Cortez hatte für sich und die spanische Krone ein Riesenreich zusammengeraubt, megalomanische Zerstörungen und Gemetzel angerichtet. Ein bißchen meldete sich beim spanischen König vielleicht das Gewissen, ein schlechtes Gewissen, vielleicht auch bei der spanischen Öffentlichkeit. Das Wort conquest hatte einen anrüchigen Klang angenommen und wurde deshalb damals immer häufiger durch das Wort pacification ersetzt. 400 Jahre vor Vietnam! Pacification hieß Befriedung, und da der König meinte, daß Entdeckungsreisen zu wichtig waren, um von Glücksrittern und Leuten, die königliche Gesetze mißachteten, durchgeführt zu werden, 956
schickte er 1598 einen Mann, der gründlich durch alle staatlichen Mühlen gedreht worden war, los. Dieser offizielle Friedensstifter hieß Don Juan de Oñate. Er sollte den Einheimischen die gütige Hand des Königs nahebringen. Mit den wilden Gemetzeln sollte ein für alle mal Schluß sein. Oñate wurden die Titel gobernador, adelantado und captano-generalissimo verliehen, außerdem wurde er ermahnt, daß das Hauptanliegen der Expedition sei, das gute Werk der christlichen Kirche zu verbreiten, und tatsächlich sollte Oñate viel mit Patern kniend auf Wüstenböden herumrutschen, da die Verzweiflung oft sehr groß war auf seiner Expedition. Schließlich fanden sie ein Pueblo. Die Bewohner schienen freundlich zu sein. Und in nur vierzehn Tagen hatten die Spanier ihre erste Kirche gebaut. Das Indianerdorf erhielt den Namen San Juan. In der Nähe errichteten die Spanier ihre eigene Stadt San Gabriel und erklärten sie zur Hauptstadt von Neu-Mexiko. Nicht alle Indianerdörfer zeigten hospitalidad. Einige zeigten hostilidad. Die Acomas revoltierten und brachten damit die ganz Kolonie in Gefahr. Die Spanier setzten deshalb alles daran, das Pueblo der Acomas, das sich wie eine mittelalterliche Burgfestung auf einem steilen Felsen befand, zu erobern. Eiserner Wille, glänzende Blechhemden und Arkebusen ermöglichten den Sieg, die Befriedung der aufständischen Bevölkerung. Oñate zeigte jetzt, daß er den Wunsch seines Königs respektierte, und ließ einige Dorfbewohner das Gemetzel überleben. Die Gefangenen stellte er dann vor ein ordentliches Gericht, dessen Vorsitz er führte. Obwohl er die Angeklagten für schuldig befand am Mord seines Neffen und dessen Begleiter, verurteilte er nicht einen einzigen Acoma zum Tode. Sein gnädiges Urteil fiel folgendermaßen aus: Allen männlichen Acomas über 25 sollte ein Fuß abgehackt werden, außerdem sollten sie 20 Jahre Sklavendienste leisten, alle jungen Männer zwischen 12 und 25 sollten lediglich 20 Jahre Sklavendienste leisten, alle Frauen über zwölf sollten ebenfalls 20 Jahre dienen, die 60 Mädchen unter zwölf 957
sollten nach Mexiko in ein Kloster geschickt werden und nie wieder zurückkommen, den Hopi-Indianern, die man in Acoma-Dorf gefangen hatte, sollte lediglich eine Hand abgehackt werden und dann sollte ihnen sofort die Freiheit geschenkt werden, damit sie in ihre Dörfer zurückkehren und von den Spaniern erzählen konnten. Das Urteil wurde vollstreckt, das Land war befriedet, die Spanier befriedigt. Im befriedeten Land wurden von den Spaniern ordentliche Verhältnisse geschaffen. Die Encomienda, ein Besteuerungssystem, wurde eingeführt: Indianische Haushalte mußten mit Naturalien, Mais und anderen landwirtschaftlichen Produkten - sie bauten über siebzig zum Teil sehr schmackhafte Gemüse- und Heilpflanzen an - die Ernährung der Spanier sichern, außerdem hatten sie eine bestimmte Anzahl von Baumwolldecken zu liefern. Und noch eine weitere Sache hatten der Gobernador eingeführt, um die Indianer vor der Willkür einzelner Spanier zu schützen, nämlich den Repartimiento, eine Art Arbeitsdienst, als ob die Indianer nicht genug Arbeit hatten. Das Repartimiento-System verpflichtete spanische Landbesitzer, wenn sie ihre Felder bearbeitet haben wollten, erst einen Antrag beim Gobernador zu stellen. Die Spanier betrachteten sich als Edelleute, viele waren auch wirklich Hidalgo, hijos de algo, Söhne von Etwas, Dons, Kümmeradel; es war unter ihrer Würde, sich die Finger schmutzig zu machen. Diese geordneten Verhältnisse machten die Indianer aber nicht glücklich. Die Ernten der weißen Edelleute fielen in die gleiche Zeit wie die Ernte auf den eigenen Feldern, und wenn man selbst nichts erntete, konnte man sich nur schlecht ernähren und auch die Encomienda nicht leisten usw. Und alle Arbeiten wurden jetzt mit einer bisher unbekannten Freudlosigkeit gemacht, mußten so gemacht werden, weil die Spanier sonst sofort eine Art von Faulheit und Drückebergerei vermuteten. Auch die vielen Missionare fanden eine Unmenge Arbeit für die einheimische Bevölkerung und besonders in ihrem Dienste durfte kein 958
bißchen Freude über das Gesicht huschen. Riesige Kirchen mußten gebaut werden und Gemeindehäuser, Christus-Statuen geschnitzt, Vorgärten angelegt, Fußböden gescheuert, Fenster geputzt, Latein gepaukt, Psalme gelernt, fromme Gesänge eingeübt, religiöses Theaterchen mußte gespielt werden, richtige Aufführungen mit Jesus und Maria und so, außerdem mußten die frommen Patres bekocht und bedient werden und an allen Gottesdiensten mußte teilgenommen werden, von Anfang bis Ende, Introitus, Begrüßung, Schuldbekenntnis, Gloria, Tagesgebet, Pater noster, Vaterunser, Bibellesung in Latein, Evangelium, Homilie, Predigt, Credo, Fürbitten, Abbitten, Litaneien, Litaneien, Flehgebete, Vorbeten, Nachbeten, Epistel, Graduale, Lobpreisungen, Alleluja, Offertorium, Bereitung der Gaben, Gabengebet, Präfation, Sanctus, Hymnus Seraphicus, Hosianna, Hochgebet mit Wandlungsworten, Fürbitten für die Lebenden und die Toten, Vaterunser Friedensgruß Kommunion Brotnehmendanken BrotbrechendarreichenindenMundnehmenKelchnehmendankendarreic henanMundsetzenkippengießenschluckennichtschmatzennichtMundab wischenheiligesGesöff Gloriainexelsisdddeooooffertoriumsssanctusagnus-deiiiiiaaaaah... bei Einschlafen Prügelstrafen ...Entlassung mit Segen. Dann wieder ran an die Sklavenarbeit! Zu den idiotischeren Jobs gehörten die der Küster, Glockenläuter und Sänftenträger - einige der heroischen Kämpfer im Namen Jesu, die einst ein halbes Jahr unter größten Entbehrungen durch die Wüste geritten waren, waren mittlerweile so verfettet, daß sie kaum noch auf ihren eigenen Beinen stehen konnten. Aber den allerekligsten Job hatten wohl die Fiscales. Das waren Indianer, die von den Missionaren die Aufgabe bekommen hatten, dafür zu sorgen, daß die indianische Bevölkerung 100%ig an den vielen Gottesdiensten teilnahm. Vernachlässigungen wurden von den Missionaren strengstens bestraft. Trotz des Gobernadors Bemühen, Ordnung zu schaffen, gab es aber noch Bereiche, in denen sich keine Ordnung schaffen ließ, ein solcher Bereich war das Gefühlsleben, Liebe zu den Spaniern ließ sich einfach nicht verordnen, ein anderer Bereich war das Triebleben, das machte besonders den vielen spanischen Edelmännern zu schaffen, nicht 959
ausgelastet durch körperliche Arbeit waren sie in einer prekären Situation, spanische Edelfrauen gab es zu wenige und die wenigen waren auch noch meist zu edel, da mußten sie sich an den indianischen Frauen vergreifen. Leider mochten die indianischen Männer es genauso wenig wie spanische Männer, wenn man ihren Frauen das antat, und sie hätten von dem spanischen Vergewaltigern auch sofort auf dem Feld der Ehre Genugtuung verlangt, wenn nicht ein solcher Vorschlag zum Duell sofort mit dem Tode geahndet worden wäre. So kochte der Haß nur im Inneren. Mit den Patres gab es zum Glück nicht solche Probleme. Sie fanden Befriedigung beim Auspeitschen unfügiger Schäfchen, und dabei überwogen die männlichen Opfer, wie es unter Brüdern üblich war. Der Stock diente den frommen Patres aber nicht nur für Prügel- und Prangerstrafen, sondern, nachdem sie herausgefunden hatten, daß sie ihren neuen Schäfchen keine größere Schande antun konnten, als die Haare abzuschneiden, auch noch für Scherstrafen. Soweit überliefert wurde, gaben sich die Patres mit dem Scheren des Kopfhaares zufrieden. Inwieweit das ihre sexuellen Bedürfnisse befriedigte, wurde nicht überliefert. Überliefert wurde jedoch, daß die Geschorenen oft verzweifelt in die Berge liefen oder gar Selbstmord begingen. Den Patres gelang es also letztendlich die Pueblos von der Wichtigkeit der Gottesdienstteilnahme und der anderen religiösen Gebräuche zu überzeugen, was ihnen nicht gelang, war, die Pueblos vom Unsinn ihrer eigenen, heidnischen Religion zu überzeugen. Die Pueblo-Indianer wollten immer wieder ihrem Bedürfnis, maskiert auf den Dorfplätzen herumzuhopsentanzen, nachgehen. Und als es dafür Prügelstrafen setzte, verzogen sie sich lediglich in ihre Kivas, ihre heidnischen Zeremonienkammern, und gingen dort ihrem schändlichen Treiben nach und wollten nicht aufhören mit ihrem heidnischen Tun. Die Patres wußten lange Zeit nichts davon, da der Zugang zu den Kammern wie der Zugang zum Pueblo überhaupt äußerst beschwerlich war, nämlich über Leitern mußte man erst außen sechs Stockwerke 960
hoch bis zum Dach steigen, um dann durch eine Luke im Inneren wieder einige Stockwerke hinunterzuklettern. Aber als die Patres herausgefunden hatten, daß der Teufel weiterhin angebetet wurde, war ihre Engelsgeduld am Ende. Sie zerstörten die Moscheen, wie sie die Kivas der Pueblos in Erinnerung an die maurischen Kriege, bei denen die Zerstörung heidnischer Gotteshäuser ja schon gerechtfertigt worden war, nannten. Die Pueblos bauten daraufhin neue Kivas in den Untergeschossen ihrer Hochhäuser. Als die frommen Patres auch das herausfanden, wurden sie noch ärgerlicher und hängten und folterten (oder umgekehrt) die heidnischen Priester wie einst Karl der Große, als er ein christliches Abendland schuf, was auch damals schon nur mit Repressalien klappte. Die Spanier in ihrem großen Altruismus, in ihrer großen Selbstlosigkeit, brachten den Pueblos also den christlichen Gott der Liebe immer näher und dachten gar nicht daran, daß sie selbst auch Liebe nötig hatten, geliebt werden mußten. Wie hieß doch das fromme Geschwätz: Der Mensch lebt nicht von Brot allein - und von Religion schon gar nicht -; er braucht auch Liebe. Die heiligen Fetische der Pueblos waren zerstört worden, und die Spanier paßten wie die Schießhunde auf, daß kein Indianer eine Maske aufsetzte oder Gebetsfedern in die Hand nahm oder eine Geste aus dem Ritenkanon der alten Religion machte oder Pohé-Yemo, den Lichtbringer dieses dunklen Irrglaubens, anrief, dem der Teufel gotteslästerlicherweise eine entfernte Ähnlichkeit mit dem christlichen Lichtbringer J. C. gegeben hatte. Machten die Indianer doch etwas Ketzerisches, dann heizte man ihnen ein, wie die frommen Helden der heiligen Inquisition es in Europa taten mit den Ketzern und Juden und Hexen. Feuerholz sammeln und vieles mehr, das alles taten die Spanier für ihren Gott. Und wie zeigte er sich erkenntlich? Überhaupt nicht. Es kam eine große Trockenheit übers Land. Wenn man den spanischen Berichterstattern Glauben schenkte, lagen die indianischen Leichen in den 70er Jahren des 17. Jahrhunderts nur so herum. Die Not war groß 961
und die spanischen Edelleute erlaubten nicht, daß ihre Rationen gekürzt wurden. Sie nannten es Notwehr, denn es wehrte ihre Not ab. Natürlich rutschten sie mal in der Kirche auf den Knien herum und baten um Regen. Aber diese Art von Regenmachen funktionierte nicht. Und die Not hielt an. Die Indianer aber kannten den Grund der großen Trockenheit. Sie war gekommen, weil die Franziskaner den Regentanz, das wichtigste Ritual für das Regenmachen, als heidnischen Zauber verboten hatten. Es war Popé, ein entkommener Häftling, eigentlich ein junger, starker Mann, aber völlig vernarbt, da die Patres ihn der Folter unterzogen hatten, dem es gelang, die einzelnen Pueblos für einen Aufstand gegen die Spanier zu einen. 1680 erhoben sich in ganz Neu-Mexiko die Pueblos. Ihre Wut war riesig. Endlich konnten sie sich revanchieren. In Spanien, da flammten noch die Autodafés und lobte man noch den Herrn, aber hier in Neu-Mexiko, da fackelte man die christlichen Kirchen ab, und wenn man sie faßte, die Priester gleich mit. Aber auch viele andere Spanier fanden den Tod. Die Überlebenden flüchteten in den Presidio des Gobernadors, der befestigt war. Die Indianer zerstörten den umliegenden Ort Santa Fe. Nach neun Tagen hatte ihr Enthusiasmus schon mächtig nachgelassen. Sie hatten den Krieg gewonnen und waren zufrieden. Als der Governador mit den übriggebliebenen Spaniern aus seinem Fort floh, um sich nach Mexiko abzusetzen, zeigte sich, daß die Indianer nichts von der spanischen Hartnäckigkeit übernommen hatten: Statt die Fliehenden abzumetzeln, ließen sie sie ziehen. Dabei hatten sie mehr Tote zu beklagen als die Spanier, wie überall wo sich Einheimische gegen Weiße auflehnten, selbst als Siegreiche mußten sie mehr zahlen als die Besiegten, wie in Vietman so auch schon hier. Ein Angiff auf den hilflos fliehenden Gobernador und sein Trüppchen hätte die Zahlungsbilanz aber ein bißchen ausgleichen können. Versäumt war versäumt. 962
Die Pueblos erlebten eine Renaissance. Popé wurde ihr oberster Medizinmann. Die alten Riten wurden wieder eingeführt, auch der Regentanz, und es regnete wieder. Popé schickte alle an den Fluß, damit sie sich mit dem Seifenkraut die Taufe abwuschen. Nachdem dieser Dreck ab war, verheiratete man die Ehepaare, die nur nach christlichem Zeremoniell getraut worden waren, neu. Alles, was an die verhaßten Spanier erinnerte, vernichtete man: Kleidungen, Rüstungen, Waffen, selbst so gute Waffen wie den spanischen Harquebus, und selbst die unschuldigen Obstbäumchen riß man aus. Ja, selbst die Benutzung des Rades wurde vom Medizinmann verboten. Aber man merkte schnell, was für eine Plackerei es war, Lasten ohne Hilfe von Rädern zu transportieren, so daß man die Rücknahme der Erfindung des Rades, wieder rückgängig machte. Eigentlich war das Rad für die Indianer gar keine Erfindung, sondern eine Entdeckung, die sie in den Händen der Weißen gemacht hatten. Weder Erfindungen noch Entdeckungen ließen sich ungeschehen machen; das galt für Amerika ebenso wie für die Atombombe; groß war die Angst vor dem Tod und manch einer hätte den Göttern gern das atomare Feuer zurückgeben, aber das ging nicht, das letzte große Autodafé war so gewiß wie der individuelle Tod, ...es sei denn, es gelänge mit Hilfe von Genmanipulation den Menschen ihre Aggressionen zu nehmen und die Dummheit gleich mit. Aber schon schrien die Christen angesichts dieses großen Segens für die Menschheit, schrill schrieen sie: “Der letzte, große Frevel an der Schöpfung Gottes die Züchtung des seelenlosen Menschen!” Bei einem Menschen ohne Seele könnten sie keine Seele mehr retten, was die Religion überflüssig machen würde. Daß die Religion überwunden würde, war natürlich die andere, große Voraussetzung für das Überleben. “Wollen wir hoffen, daß es den Religiösen genauso wenig gelingt, die Kunst des Genhandwerkers zu vernichten, wie Popé die des Stellmachers”, kommentierte Adjuna die Situation. Amerika blieb entdeckt und die Pueblos blieben es auch und die Räder rollten weiter.
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Der Gobernador der Provincia hatte sich nach El Paso zurückgezogen, wo er eine Exilregierung gründete und abwartete. Die Missionare, die die Revolte überlebt hatten, ließen ihre Zuhörer wissen, daß der Tod der 400 Spanier nicht das wirklich Traurige am Aufstand gewesen sei, sondern die vielen tausend indianischen Seelen, die durch den Rückfall ins Heidentum jetzt für immer verloren seien. Und man verdammte die Dummheit der Indianer. Sie hatten sich vom Teufel verführen lassen. Irgendwann setzte Spanien einen neuen Governador für Neu-Mexiko ein. Er wurde mit der Reconquista beauftragt. Reconquista, was für ein schönes Wort! Es erinnerte an die Befreiung Spaniens vom heidnischen Joch der Mauren. Die wirkliche Reconquista hatte in Neu-Mexiko natürlich schon stattgefunden, als die Pueblos das Land für sich zurückeroberten, aber das wußten die Spanier nicht, weil sie es nicht sehen konnten. Sie sahen nur sich. 1693 war die zweite Reconquista abgeschlossen. Gobernador Diego de Vargas Zapata Juan de Leon hatte Neu-Mexiko zurückerobert. Um sich Ärger zu ersparen, vermied er es, zu streng zu sein. Er war auch der erste Governador, der einsah, daß die Pueblo-Indianer keine Lust hatten, den christlichen Pfad zu trampeln. Er ließ daher die neugeschmückten Kivas in Ruhe, unberührt. Am bemerkenswertesten hatte sich der spanische Einfluß auf die Bevölkerung der Pueblos des 17. Jahrhunderts in der Bevölkerungszahl gezeigt. Sie sank von etwa 50 000 bei der ersten Begegnung mit Spaniern auf etwa 15 000 zur Jahrhundertwende, obwohl die Spanier keine Ausrottungspolitik wie die puritanischen Engländer in New England verfolgten. Wie sich Neuengland von der Kolonialmacht England befreite, so befreite sich auch Neuspanien von Spanien. Mehrere Anläufe waren nötig. 1810 versuchte es Hidalgo y Costilla, erschossen, 1815 Morelos y Pavón, erschossen, erst 1822 gelang dem kreolischen Offizier de 964
Itúrbide der Sieg der Freiheitsbewegung. Aus Neuspanien wurde Mexiko, Neumexiko blieb Neumexiko. De Itúrbide ließ sich gleich zum Kaiser auf Lebenszeit krönen. Er hatte eine mächtige Soldateska im Hintergrund. Aber schon 1823, obwohl sein Leben noch gar nicht zu Ende war, hatte Mexiko keinen Kaiser mehr. 1824 gab sich Mexiko eine republikanische Verfassung. Es gab sich in den nächsten Jahrzehnten noch öfter Verfassungen, aber die Bevölkerung wurde davon nicht satt. Auch die Regierungen wechselten sehr oft. Bis die Nachricht von der neuen Regierung in Neu-Mexiko ankam, hatte man in der Hauptstadt oft schon wieder eine neue Regierung. Bis zum Jahre 1846 waren es mehr als zwei Dutzend. Im Jahre 1846 überfielen dann die USA Neumexiko, um den Neumexikanern den Segen der Demokratie zu bringen, Demokratie nordamerikanischer Prägung. Dazu gehörte die Liberalisierung oder besser Legalisierung der Sklaverei - Sklaverei war bisher verboten gewesen -, sowie die Aufhebung vieler Beschränkungen, Restriktionen, besonders des Handels mit dem Norden und des Geld- und Goldflusses, -abflusses, außerdem wurden den Pueblo-Indianern die Bürgerrechte entzogen; sie galten seit der Reconquista als gleichberechtigte Bürger, bzw. Untertanen; die Yankees wollten einfach nicht einsehen, warum man gerade den Pueblo-Indianern eine Extrawurscht braten sollte, die anderen Indianer waren ja auch rechtlos. Gleichheit war eines ihrer Grundsätze. Aber die Yankees eroberten nicht nur das Land, sie nahmen den Neumexikanern auch die Sorgen der Verwaltung, des Handels und der Wirtschaft, des Bankwesens etc. ab. In der Folge verarmte allerdings die alte Oberschicht. Dafür gab es aber auch eine Menge Neureiche. Die Armen blieben natürlich arm, bloß die Indianer, die wurden noch viel ärmer. 1912 kam der große Augenblick. Neumexiko wurde als 47. Staat in die Union aufgenommen. Man hatte 66 Jahre warten und Neumexiko wie 965
eine Kolonie behandeln müssen, weil solange die Yankee-Bevölkerung nicht stark genug war, um bei einer demokratischen Wahl zu garantieren, daß der Staat eine weiße Regierung bekam. Hispanier galten zwar offiziell als Weiße, aber wenn man genau hinsah - und das taten die Yankees, ihre Haut war doch ziemlich braun. 1922 kam es zu einem dramatischen Ereignis. Das Pueblo Tesuque, acht Meilen nördlich von Santa Fe, schloß seine Tore und trat in den Hungerstreik. Man wollte bis zum Tode hungern. Die Weißen hatten die alten Landrechte, die den Indianern von den Spaniern zugesichert worden waren, nicht beachtet, immer mehr Indianerland hatten sie sich illegalerweise angeeignet. Zwar gab es damals schon Indianerreservationen, denn auch bei den Yankees hatte das Gewissen, wenn auch leise nur, angefangen zu ticken, und solche Reservationen wurden sogar von Regierungstruppen geschützt, aber von den Pueblos erwartete man Selbstschutz, was man mit ihrer hohen kulturellen Überlegenheit begründete. Es mochte ja sein, daß sie kulturell den Yankees überlegen waren, aber machtpolitisch gesehen konnten sie gegen die illegale Wegnahme ihres Landes wenig ausrichten, scheuchen, schießen, prozessieren, lange Gesichter machen, Rechtsanwälte bezahlen. Jetzt hatte der neumexikanische Senator Holm O. Bursum klammheimlich in Washington einen Gesetzentwurf eingebracht, der all diese Landstreitigkeiten zu Gunsten der Weißen entschieden hätte, und außerdem noch staatliche Eingriffe in innerpueblische Angelegenheiten ermöglicht hätte. Da zwar die weißen Landdiebe, aber nicht die indianischen Landbesitzer das Wahlrecht besaßen, zeugte dies von großer, politischer Klugheit. Leider machten ihm Künstler einen Strich durch die Rechnung. Jawohl, Künstler. Viele Künstler, Maler, Schriftsteller, Komponisten, hatten sich in Neumexiko niedergelassen. Neumexiko, the Land of Enchantment, das Märchenland der Verzauberung. Sie liebten das Land und seine Urbevölkerung und fanden hier Inspirationen.
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Als sie von der Bursum Bill vernahmen, schreckten sie aus ihren Träumen auf und weckten auch die amerikanische Öffentlichkeit. Der Gesetzentwurf wurde auf den Mist geschmissen. Diesmal hatte die Demokratie nicht zu Gunsten reicher Yankees funktioniert.
Schwarze Spinnen-Frau und Weiße Büffel-Biene
Es war in einem dieser Pueblos, die sich auf den flachen Mesas der neumexikanischen Wüste vor den Blicken der feindlichen Apachen versteckten, daß Adjuna und seine Freunde bei einem Stop-0ver die dualistischen Aspekte der Anima kennenlernten. Vielleicht hatten sie auch zu lange keine Frau gehabt. Trotz des Touristenrummels, dem die Pueblos ihren materiellen Reichtum verdankten, gab es keine Zufahrt zum Dorf. Man mußte sein Fahrzeug am Fuße des Tafellandes stehen lassen und wie zu Oñates Zeiten zu Fuß die steile Felswand hochsteigen. Es war Mittagszeit und die Hitze war unerträglich. Der Wind säuselte an den Felsen, sonst war es still. Die berühmte Stille der Wüste. Erst auf dem letzten Stück des Weges wurde es laut. Es waren die Generatoren, die den Strom für die Elektro-Geräte und Klimaanlagen der Lehmbauten lieferten. Seit der Einführung von Fenstern hatten die ihre natürliche Kühle verloren und die Regierung hatte wie eh die Indianer vernachlässigt und sie nicht ans Stromnetz angeschlossen. Selbsthilfe war gut, und selbst hier wußte man nicht mehr, wie man einst ohne Kühlung, Eisschrank und Fernseher gelebt hatte. Aber daß gerade dieses Volk, dessen Vorfahren jahrhundertelang hinaus in die Stille der Wüste gelauscht hatten, nicht die Schnalldämpfer reparierte! Waren sie vor lauter Stille taub geworden? Der Lärm war unangenehm. Als die Freunde durch das Dorftor traten, war es noch schlimmer. “Dieser Ort ist eine kleine Festung. Im vorigen 967
Jahrhundert hat man sich so verbarrikadiert, gegen feindliche Indianerstämme. Angeblich konnte man das Dröhnen der Hufe, wenn man sein Ohr auf den Felsboden legte, hören, bevor die Pferde in Sicht kamen.” - “Die Wände der Häuser sollen sehr dick sein, vielleicht hört man im Innern kaum die Generatoren.” Die mehrstöckigen Häuser waren in der Form eines Ds um den Dorfplatz angeordnet. Der Platz war verlassen, einsam, leer. In der Ferne war nur ein Mann dabei, aus einem Kanister Benzin in seinen Generator zu gießen. Dann zog er ein paar Mal an der Startleine, der Motor sprang an. Das zusätzliche Gerappel fiel kaum auf. Der Mann stieg zufrieden die Leiter zum Eingang seines Hauses hinauf. Es gab sonst nur noch zwei Frauen auf dem Hof. Die eine hockte vor einer Art Sandkiste, wie man sie auf Spielplätzen für Kinder fand. Nur sie war nicht mit Holz eingefaßt, sondern mit gebrannten Lehmziegeln, wohl wegen des Holzmangels dieser Gegend. Diese Frau trug ein nicht gerade weißes, aber doch sehr helles, grobes Gewand mit einfachen, bunten, indianischen Mustern, die verrieten, daß sie dem Büffel-Klan entstammte. Die Freunde sahen, daß nicht Sand in der Kiste war, sondern Lehm. Die Frau nahm den Lehm, knetete ihn wie Brotteig unter Hinzufügung von Wasser hin und her, dabei sang sie: Liebe Erdenmutter, ich bin in Dich eingedrungen/ und habe von Deinem Fleisch genommen/ wieviel ich Dir auch nehme/ wieweit ich Dich auch hebe/ weine nicht/ am Ende sinke ich/ in Dein Gesicht/ und alles ist für immer Dein/ und nicht mehr mein./ Diese Frau war Weiße Büffel-Biene. Sie trug eine Schmetterlingsfrisur und sah schön aus, aber war nicht attraktiv, kein Sex-Appeal. Die Freunde gingen an ihr vorüber. Töpfe und Krüge konnten sie ohnehin nicht gebrauchen und Lehmplastiken schon gar nicht. Auf der anderen Seite des Hofes stand eine Eisbude. Die Verkäuferin, nun, die war etwas anderes. Sie war eine Navajo-Indianerin. Es gab ja viele Völker unter den Indianern. Die meisten kümmerten nur so vor 968
sich hin, kurz vor dem Aussterben. Aber einige wenige, aber besonders die Navajos, wucherten wie Wildwuchs, wie - wie die Weißen einst. Sie wucherten weit über die eigenen Reservationen hinaus und in die Reservationen, die für andere Stämme reserviert worden waren, hinein. Vor vielen Generationen, als die Navajos gerade erst das Reiten gelernt hatten, überfielen sie die Pueblos wie mongolische Horden. Später, als staatliche Organe solchem Treiben ein Ende bereitet hatten, schlichen sie als Diebe in die Pueblos, allerdings oft sehr offen. Oft lungerten sie auf dem Hofplatz der Pueblos herum, und wenn eine Pueblo-Frau ihren schweren Einkaufskorb absetze, sprangen sie auf und schnappten ihn sich und liefen davon. Bald wurde ihnen aber selbst der mühsame Aufstieg zum Dorf zu beschwerlich und sie mieteten sich dort gleich ein. Die PuebloBevölkerung war ja so gutmütig. Sie paßten zwar immer besser auf ihre Sachen auf, schafften sich auch Schlösser an für ihre Einstiegsluken, aber sie sagten kein böses Wort zu ihren neuen Nachbarn. Diese Navajo-Nachbarn waren gerissen. Sie wußten, wie man mit Weißen umging, und wie man an deren Geld gelang. Sie ließen sich mit weißen Touristen fotografieren - für Geld natürlich. Sie verkauften den Touristen authentische Fetische, die in Wirklichkeit selbst entworfene, kitschige Abbilder gehörnter Touristen waren, usw. Hamburgerstände, Kiosks, Eisbuden, Bars, Spielhöllen... Das Animieren ging immer weiter. Schwarze Spinne trug ein anilinschwarzes Kleid, das eng anlag, westliche Mode, nichts indianisch Verlogenes, mutig ausgeschnitten. Dazu trug sie eine winzigkleine, blütenweiße Schürze und ein weißes Häubchen. Dieses bißchen Weiß symbolisierte das Licht, das selbst im Dunkelsten noch lag. Schwarze Spinne klebte an ihrem Lieblingsplatz an der Wand oberhalb ihrer Eisbude, von wo sie das Pueblo gut überblicken konnte und immer Ausschau hielt, ob jemand, bei dem sich ein Einbruch lohnte, seine Behausung verließ. Als sie die Fremden kommen sah, löste sie 969
sich von der Wand und sprang auf ihre acht Füße. Dabei rutschte ihr enger Rock hoch bis zum Strumpfhalter und es zeigte sich, daß ihre acht Spinnenbeine sich zu zwei wohlgeformten Mädchenbeinen vereinigt hatten. Die Freunde bestellten jeder ein Eis bei ihr. Während sie am Eis leckten, zeigte Schwarze Spinne ihnen Originalfetische der PuebloTradition. Die Freunde blickten jedoch nicht auf die Fetische, sondern auf die Rundungen, die im Ausschnitt der Schwarzen Spinne prangten, obwohl Spinnen doch gar keine Säuretiere waren. Jemand machte eine abfällige Bemerkung über Religion, wie er es von Adjuna gelernt hatte. Schwarze Spinne packte die Fetische wieder weg und lud die Freunde zu einer animistischen Religionserfahrung ein. “Wie soll das geschehen?” - “Wir rauchen etwas und ich tanze etwas und ich zeige euch das Animal”, raunte die Arachne. “Animalismus?” fragte einer der Männer gläubig oder ungläubig. “Animismus ist eine evolutionistische Theorie, nach der die Religionen aus den Fieberträumen, Rauscherfahrungen oder sonstigen Verzückungen unserer Vorfahren hervorgegangen sind”, dozierte Adjuna, “das kann nur lehrreich für uns sein. Laßt uns mitgehen”, schlug er vor, obwohl er sonst so konsequent Nichtraucher war. Alle, auch die wenigen Frauen, die zu Adjunas Trupp gehörten, folgten der arachnidischen Animierdame über die vielen Leitern zu einem hohen Flachdach, auf dem sich ein letzter Aufbau befand, nicht größer als ein Herzhäuschen. Schwarze Spinne öffnete die Tür. Die Leiter führte nach unten ins Innere, das völlig dunkel war. Sie zündete ein paar Fackeln an und entschuldigte, daß dieser Raum noch keine Fenster habe, “aber wir machen hier Sex drin und wollen nicht, daß das Gekreische nach außen dringt.” 970
Sie holte ein paar Joints hervor. Sie waren statt mit Zigarettenpapier mit Maisblättern gemacht worden, genauer mit der Epidermis von Maiskolben. Der Rauch von den Fackeln hatte das Atmen schon schwer gemacht, aber was auch immer in den Drogenzigarren war, es war eine Qual, es in die Lungen zu ziehen. Aber selbst wenn man sich weigerte, atmen mußte man ja, passivrauchen, ja, das reichte, man fühlte sich schon benommen. Die Spinne behauptete, ihr Zimmer sei ein Kiva. Tatsächlich standen überall Fetische herum, lange Stangen mit runden Köpfen, auf denen indianische Gesichter gemalt waren, und Schrumpfköpfe waren da aufgestapelt. “Ihr müßt euch noch mehr animieren”, forderte die Spinne und tanzte wie eine Schlange. Sie streichelte das Kinn der auf dem Lehmboden Sitzenden. Dann verkündete sie: “Ich werde mich jetzt ausziehen.” Sie streifte ihr enges Kleid ab. Ihre Beine nutzten die neugewonnene Freiheit sofort und gingen in eine weit auseinandergespreitzte, rechtwinklige Stellung, wie die Beine von Spinnen. Die Tanzende trug jetzt noch einen Longline-BH, einen Schlüpfer mit Strumpfhaltern und schwarze Nylonstrümpfe. Ihr üppiger schwarzer Busch war schon jetzt zusehen. Sie hatte ihre Zuschauer animiert, animalisch triebhaft glotzen sie auf das, was zu sehen war. Schwarze Spinne zog zuerst Strümpfe und Schlüpfer aus und stampfte dann erst einmal laut auf dem Tanzboden ihres Tempels herum. In den Schalen ihres BHs tobte ein aufgewühltes Meer, aber die auf dem Boden Kauernden sahen nur das primäre Geschlechtsorgan und hatten nur primäre Triebe. Als sie endlich auch ihr Oberteil löste, waren ihre Zuschauer schon so sexed-up, daß es sie nicht mehr ernüchterte, als die linke Seite bis auf den Beckenrand niederfiel, die rechte es aber nur bis zur Bauchfalte schaffte. Mit ihren unsymmetrisch hängenden Brüsten, mit ihrer übernatürlich lang raushängenden Zunge, mit ihren rechtwinkligen 971
Armen und Beinen, die sie aussehen ließen wie ein Hakenkreuz, mit dem stampfenden Beat ihrer Füße und der wechselnden Brust-KopfResonanz ihrer Singstimme hatte sie ihre Zuschauer an die Anfänge menschlicher Religiosität gebracht. Sie waren mit glasigen Augen der Ekstase nahe. Jedem einzelnen hielt sie ihre weitgeöffneten Schamlippen vor die Nase, auch den Frauen: “Ihr müßt sie beräuchern. - Mehr, mehr. Nicht paffen! - Richtig tief inhalieren.” So animierte sie die Freunde, sich mehr zu berauschen. “Richtig beräuchern wie die Maiskolben.” Das Wort Maiskolben schien sie an etwas zu erinnern. Sie ging zur Wand und kam mit einem getrockneten Maiskolben zurück. Sie steckte ihn in ihre Vagina und ließ sich weiter beräuchern. Und immer wieder schob sie den Kolben hin und her, bevor sie zum nächsten ging. Schließlich wurde sie so wild, daß sie hektisch masturbierte, Maiskörner lösten sich dabei aus dem Kolben und fielen auf den Boden. Das Ding war als Dildo nicht gut geeignet. Schwarze Spinne holte von der Wand ein Bündel mit länglichen Fetischen und verteilte sie an die Frauen und forderte sie auf, aufzustehen und an ihrem Onanietanz teilzunehmen. Die Frauen leisteten ihr Folge. Sie zogen sich ebenfalls aus und traten vor die Männer, um sich beräuchern zu lassen. Dann zogen sie die Männer zu sich hoch, öffneten deren Hosen, entkleideten sie. Die Männer waren froh, endlich auch nackt zu sein. Hosen waren ja so eng, besonders wenn man erregt war. Alle trampelten und stampften und machten ruckartige Bewegungen in dem engen Kiva und waren so glücklich in Ekstase. “Die hat uns wirklich ihre Religion nahegebracht”, rief jemand in seiner Glückseligkeit, “jetzt fehlt nur noch ein ordentlicher Orgasmus.” Da stoppte die Musik ganz plötzlich. Das hieß, Schwarze Spinne stoppte plötzlich, und da alle ihr folgten, war es plötzlich still. “OK. Hier habt ihr Decken. Wir gehen jetzt in die Horizontale.” Gierig ergriffen alle die Decken, die ihnen zugeworfen wurden. Sie ergriffen 972
sie mit der einen Hand und sie versuchten, sie mit der anderen Hand wieder loszureißen, oder die Decken trafen am Kopf und klebten am Haar, und wenn man sich losreißen wollte, klebten einem die erhobenen Hände am Kopf fest, oder die Decke flog einem so ins Gesicht, daß sie einen umhüllte wie ein Gespenst und man keine Luft bekam, jedenfalls kaum, oder die Decken fielen auf den Boden und man hatte sich drauf gesetzt und saß jetzt fest mit dem Gesäß angeklebt und instinktiv griff man dahin und saß noch fester, verdreht und die Hände hilflos und schon spann Schwarze Spinne mehr Stoff um einen. “Haha, ich töte euch, raube euer Geld und mache Schrumpfköpfe aus euch, die ich als authentisch an Touristen für teures Geld verkaufen werden.” Adjuna und seine Leute saßen in der Fall, im Spinnennetz. “Ich werde jetzt euer Blut ablassen.” Mit einem Zeremonienmesser aus Jade fing sie vorsichtige an, bei dem ersten die Weben, die ihn am Unterkörper umhüllten, an den Lenden aufzuschneiden. “Der ist immer noch prall gefüllt. Das Blut werden wir als erstes ablassen.” Sie machte für jeden Schwellkörper einen langen Schnitt. Dann machte sie seinen Hals frei, tastete vorsichtig nach seiner Halsschlagader und zerschnitt sie. Die, die die Augen noch frei hatten, sahen es mit Schaudern. Der Freund verblutete zuckend. Die Schwarze Spinne beobachtete ihn ruhig. Mit dem Blut, das auf ihre Hände spritzte, wischte sie sich ihre Zunge ab. In völliger Gelassenheit, leichter Heiterkeit, Frömmigkeit wendete sie sich dem nächsten zu. “Dein Tod ist gewiß”, schien ihr Blick zu sagen. Er bewegte sich noch heftig und verstrickte sich so immer mehr. Schließlich bewegte er sich kaum noch und sie setzte auch bei ihm das Messer an, diesmal gleich am Hals. Als nächstes kam eine Frau dran. Schwarze Spinne ergriff zunächst die Stange, die die Frau noch immer von der Orgie in der Vagina stecken hatte, und zog sie heraus, dann ließ sie auch das Blut der Frau ab. Unter Adjunas Leuten war einer gewesen, der hatte sich nicht ausgezogen, als all die anderen sich auszogen, weil er sich bei einer der Schachten unter den Magnolienbäumen `der letzten Welt', wie es wohl 973
Pueblo-Theologen in ihrer Terminologie ausgedrückt hätten, am Geschlechtsteil schwerverletzt hatte. Nicht nur waren die Hoden hops, seine Wunden eiterten auch immer noch unansehnlich. Er war griechischer Abstammung. Auf den Namen Adamantios hatten seine Eltern ihn nichtsahnend getauft. Adamantios war zwar wie eine Mumie in den klebrigen Decken der Schwarzen Spinne eingehüllt, aber sein Kopf war frei. Und er wriggelte und wackelte und zappelte und schlängelte sich langsam aus seiner Verpuppung heraus. Er war ein aalglatter Kerl. Es fiel der Schwarzen Spinne nicht auf wegen der Dunkelheit des Raumes und der allgemeinen Unruhe. Als Adamantios frei war, stieg er gleich die Leiter hinauf. Eiter tropfte auf die Sprossen. Schwarze Spinne war in einer so friedlichen, andersweltigen Stimmung, daß sie ihn kaum beachtete. Auf dem Dach angekommen, schrie Adamantios wie wahnsinnig um Hilfe. Kein Mensch war zu sehen, das Dröhnen der Generatoren war allmächtig. Die weiße Frau am anderen Ende des Platze hatte ihn gehört oder gestikulieren sehen. Sie machte ein paar Schritte in seine Richtung. Dann bemerkte sie die große Not des Mannes, und da ihre Mutter aus dem Bienen-Klan stammte, flog sie in einer geraden Linie ohne langen Umweg über Leitern direkt zu Adamantios. Solch übernatürlicher Kräfte durfte sie sich bedienen, wenn wirklich Not am Mann war, das wußte sie. Wenn die Not am größten, war Gottes Hölfe am nöchsten. Die Retterin durchschaute die Situation sofort. Schon auf den oberen Sprossen der Einstiegsleiter hob sie ihren langen Rock hoch und harnte in kräftigem Strahl auf alle Spinnweben. Die Spinnweben verloren sofort ihre Festigkeit und Klebrigkeit und lösten sich auf. Weiße Büffel-Biene stürzte sich dann auf Schwarze Spinne mit einem spitzen Gegenstand. War es das Horn eines Büffels, war es der Stachel einer Biene? Es war wohl der Stachel einer Biene, denn als Weiße 974
Büffel-Biene die Schwarze Spinne erstochen hatte, starb sie selbst; ein Bienenstich ist immer tödlich für die Biene. Als Adjuna sich endlich abgeputzt hatte, waren beide Frauen bereits tot. “Eine Frau wollte uns vernichten. Eine Frau hat uns errettet." Er nahm das Jademesser und zerbrach es über seinem Knie und verkrümelte die kleinen Stücke dann in seiner Hand. “Weiße BüffelBiene soll die letzte sein, die durch dieses Messer umkam.” “Was für Frauen!” sagte Adjuna auf die toten Frauen blickend, “Eins ist sicher, unsterblich wie Sir Rider Haggards `She' waren sie nicht.” Hier hatte sich unser Held möglicherweise geirrt. Auf der Weiterfahrt sprachen die Freunde noch lange über Frauen, über die Isis der Pharaonen, die Hera der Griechen, die Juno der Römer, die Freyja der Nord- und Westgermanen, die Kwan Yen der Chinesen, die Adi Shakti der Inder, die Fatima der Shiiten, die Maria der Christen, die Schwarze Madonna der Sizilianer, Polen und Piemonter, die Sophia der Sophiologen, die Quatl xo Peuh, Lady von Guadalupe, der Mexikaner, die Erdmutter Tonantzin der Azteken, Po Pai Mo, die Weiße Büffel Frau der Sioux, die Juliette der Sadisten, die Fanny Hill der Flagellanten, die She-Ra der Comic-Fans. “Haben wir alle?” “Sie ähneln einander, wie sich die Menschheit ähnelt.” “Virgo am Sternenhimmel.”
Adjuna und seine Freunde fuhren weiter mit ihren Prärieschoonern durch das immer felsiger werdende Land. In Galopp oder war es Gallup ging es durch die Indianerhauptstadt der Welt. Dann weiter ins Navajoland. Gelbe Wüsten, weiße Wüsten, buntgemalte Wüsten, blutrote Mesas, Tafelländer und Canyons, grüne Fichten, mit
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zitternden Espen behangene himmelblauer Himmel.
Hochländer,
silberner
Salbei,
Bei den Hopi-Indianern
Religionsunterricht bei den Hopis
Tokpela war die erste Welt, war endloser Weltenraum. Nur der Schöpfergott Taiowa lebte in ihr, sonst war alles endloser Raum. Es gab keinen Anfang und kein Ende, keine Zeit und keine Form und kein Leben. Es gab nur eine unermeßliche Leere, die ihren Anfang und ihr Ende, ihre Form und ihre Zeit und ihr Leben im Geist des Schöpfergottes Taiowa hatte. Und der Unendliche erdachte das Endliche. Und das Endliche sollte eine Form bekommen. Und der Unendliche gab dem Endlichen eine Form. Und die endliche Form war das erste Geschöpf. Das erste Geschöpf war Sótuknang. Und der Schöpfer sagte zu seinem Geschöpf: “Ich habe Dich geschaffen. Du bist das erste Geschöpf, mein Erstgeschaffener. Du bist ein Wesen und hast deine Wesensart und deine Wesensaufgabe, 976
Wesen. Deine Aufgabe ist es, meinen Plan für das Leben im endlosen Weltenraum zu verwirklichen. Ich bin dein Onkel, du bist mein Neffe. Gehe nun und sortiere die Weltenräume und schaffe die Ordnung, daß alles harmonisch ineinandergreift, wie ich es geplant habe.” Sótuknang tat, wie ihm befohlen. Aus der Unendlichkeit sammelte er das Feste heraus und formte es in neun Formen. Das waren die neun Weltraumreiche: Eins für Taiowa den Schöpfer, eins für sich selbst und sieben für das kommende Leben. Als er damit fertig war, ging er zu Taiowa und fragte: “Ist es recht so?” “Es ist sehr gut”, antwortete Taiowa, “jetzt gehe hin und tue das Gleiche mit dem Wasser und verteile es auf die Oberfläche der Welten.” Und Sótuknang sammelte aus der Unendlichkeit das heraus, was Wasser werden sollte, und tat es auf die Oberflächen der Welten, so daß sie zum Teil fest zum Teil flüssig waren. “Ist es recht so?” fragte er den Schöpfergott. “Es ist sehr gut”, antwortete Taiowa, “als nächstes sammle die Luft und lasse sie friedlich über alles streichen.” Und Sótuknang tat, wie ihm geheißen, und sammelte aus der Unendlichkeit das, was sich als Luft manifestieren sollte, und ließ es als Wind über die Oberflächen der Welten wehen. “Ist es recht so?” Taiowa war zufrieden: “Ein großartiges Werk, aber es ist noch nicht fertig. Jetzt mußt du noch das Leben schaffen und seine Bewegung, denn Túwaqachi, die komplette Welt, besteht aus vier Teilen: das Feste, das Flüssige, das Luftige und das Leben.”
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Die erste Welt des kommenden Lebens hieß Tokpela. Dort hinein ging Sótuknang und schuf sich eine Helferin, Kókyangwúti, die Spinnenmutti. Und er sprach zu Kókyanwúti: “Siehe, ich habe diese Welt geschaffen, sie hat Form und Substanz, Richtung und Zeit, Anfang und Ende, aber sie hat kein Leben. Du hast Weisheit, Wissen und Liebe, schaffe du das Leben für diese Welt!” Und die Spinnenfrau nahm Erde und etwas Speichel und knetete zwei Wesen ins Dasein. Sie bedeckte sie mit einem Gewebe und sang das Schöpfungslied. Als sie das Gewebe wieder wegnahm, setzten sich die beiden Wesen auf. Es waren Zwillinge. Sie fragten: “Wer sind wir? Warum sind wir hier?” Und Spinnenfrau sagte zum Rechten: “Du bist Pöqánghoya. Du wirst, nachdem das Leben auf die Erde gesetzt wurde, darüber wachen, daß Ordnung herrscht. Gehe jetzt in die Welt hinaus und lege deine Hand an das Feste, damit es ganz fest wird. Das ist deine Aufgabe.” Und zum Linken sagte sie: “Du bist Palöngawhoya. Auch du mußt helfen, auf der Welt Ordnung zu halten, nachdem das Leben darauf gesetzt wurde. Gehe jetzt hinaus in die Welt und erhebe deine Stimme, daß man sie auf der ganzen Welt höre. Du sollst bekannt werden als Echo. Alle Töne aber sind ein Echo des Schöpfers.” Und Pöqánghoya ging hinaus in die Welt und festigte die hohen Regionen der gigantischen Berge, aber die unteren Abhänge und die Täler ließ er gerade weich genug für die Pflüge derer, die da kommen würden und die Erde beackern und bebauen würden und sie liebevoll ihre Mutter nennen würden. Und Palöngawhoya ging hinaus in die Welt und ließ seine Stimme ertönen, wie ihm geheißen war. Und die vibratorischen Zentren entlang der Erdachse von Pol zu Pol ließen seinen Ton widerhallen, und die ganze Welt vibrierte, und das Universum vibrierte im gleichen Ton wider. Und die ganze Welt wurde ein Werkzeug des Tons, und der Ton 978
wurde ein Werkzeug der Mitteilung, und Töne hallten wider immer wieder und tönten zur Ehre des Schöpfers. “Das ist deine Stimme, Onkel”, sagte Sótuknang zu Taiowa, alles ist auf deine Stimme eingestimmt." “Sehr gut”, sagte Taiowa. Pöqánghoya wurde dann zum Nordpol der Weltenachse geschickt, und Palöngawhoya zum Südpol der Weltenachse. Von dort sollten sie über die Rotation der Welt wachen. Spinnenfrau schuf dann die Bäume, Büsche, Blumen und Pflanzen, alle Arten von Saat- und Nußträgern, und sie gab allen einen Namen. Ebenso schuf sie alle Arten von Tieren. Immer nahm sie Erde und Spucke, formte eine Form, bedeckte sie mit ihrem Tuch, besang sie. Die belebte Substanz setzte sie dann vor sich, hinter sich oder links oder rechts neben sich auf den Boden, als Zeichen dafür, daß sich das Leben nach allen Seiten hin ausbreiten solle. Und die Pflanzen und Tiere breiteten sich aus und die Kraft des Leben wirkte durch sie. “Jetzt ist die Welt reif für den Menschen”, jubelte Taiowa. Und die Spinnenfrau sammelte wieder Erde, diesmal nahm sie Erde in den vier Farben, gelb, rot, weiß und schwarz. Sie mischte wieder ihren Seiber darunter, bedeckte die Formen mit ihrem weißen Tuch und ihrer schöpferischen Weisheit, sang ihr Lied, und als sie das Tuch wieder wegnahm, standen vier Geschöpfe auf, die ein Abbild Sótuknangs waren. Sie schuf dann noch einmal vier Wesen nach ihrem eigenen Abbild. Diese Wesen waren Wútis, weibliche Partner, denn die ersten vier Menschen waren Männer. Dies alles geschah in der Zeit des dunkel violetten Lichts, Qoyangnuptu, der ersten Phase der Schöpfungsdämmerung. 979
In der Morgendämmerung der Schöpfung waren die Geschöpfe wach und machten ihre ersten langsamen Bewegungen. Die Stirn der Menschen aber war noch feucht und auf ihren Köpfen war eine weiche Stelle. Der erste Atem des Lebens trat in die Geschöpfe. Dies war die Zeit des gelben Lichts, Síkangnuqa, die zweite Phase der Schöpfungsdämmerung. Als dann die Sonne über dem Horizont erschien, trocknete die Feuchtigkeit auf der Stirn und die weiche Stelle am Kopf der Menschen wurde hart. Das war die Zeit des roten Lichts, Tálawva, die dritte Phase der Schöpfung. Und die Menschen traten stolz ihrem Schöpfer gegenüber und sahen ihm ins Antlitz. “Das ist die Sonne”, sagte Spinnenfrau, “ihr seht zum ersten Mal euren Vater, den Schöpfergott. Und immer wenn ihr den Schöpfergott kommen seht, erinnert euch der drei Phasen der Schöpfung, die die Zeit der drei Lichter ist, das dunkle violette Licht, das gelbe Licht und das rote Licht. Diese drei Lichter sind das Mysterium der Schöpfung, der Atem des Lebens, die Wärme der Liebe, die Essenz des ganzen Schöpfungsplanes.” Die Menschen antworteten nicht, die Menschen sagten nichts, die Menschen konnten nicht sprechen. “Onkel, wir brauchen dich”, riefen da Spinnenfrau und die Polzwillinge. “Ihr habt mich gerufen. Hier bin ich. Was braucht ihr mich so dringend?” fragte der Schöpfer. 980
“Ich habe die ersten Menschen geschaffen, wie du mir aufgetragen hast”, sagte Spinnenfrau, “Sie haben die richtige Form, sie haben die richtige Farbe, sie haben Leben, sie haben Bewegung, aber sie können nicht sprechen. Gib ihnen Sprache, gib ihnen auch Weisheit und die Fähigkeit, sich fortzupflanzen, damit sie mehr vom Leben haben.” Und der große Gott gab ihnen Sprache, jedem Menschenpaar seine eigene Sprache, je nach Hautfarbe; so ehrte er ihre Verschiedenartigkeit. Und er gab ihnen Weisheit und Reproduktionskräfte. Mit Weisheit beschenkt, erkannten die Menschen, daß die Erde Leben hatte wie sie selbst, eine lebende Einheit war. Sie war ihre Mutter. Sie waren Fleisch von ihrem Fleisch. Sie lebten von ihrer Brust, nuckelten an ihr. Ihre Milch war das Gras der Tiere, das Korn der Menschen, die Beeren und Nüsse. Die Maispflanze war auch eine lebende Einheit, in vielem ähnlich den Menschen. Und die Menschen nahmen Fleisch von der Maispflanze und taten es in ihre Körper und das Fleisch der Maispflanze wurde Fleisch der Menschen und so war das Fleisch der Menschen Fleisch der Maispflanze, Fleisch aus ihrem Fleische, und so war die Maispflanze auch eine Mutter der Menschen. Und sie erkannten, daß Mutter zwei Aspekte hatte: Mutter Erde und Kornmutter. Auch ihr Vater hatte zwei Aspekte, als großer Sonnengott ihrer Welt und als Weltenschöpfer Taiowa, der durch das Gesicht des Sonnengottes hindurchschaute. Die göttlichen Wesen waren die wahren Eltern, irdische Eltern waren nur Instrumente, die die göttliche Schöpfung immer weiterreflektierten. Und so hatte auch jeder einzelne Mensch zwei Aspekte, einmal war er Mitglied des Familienklans und andererseits Teil eines riesigen Universums, dem er mit zunehmender Reife verpflichtet war.
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Die zweite Unterrichtsstunde
Die ersten Menschen verstanden das große Mysterium, daß Mensch und Mundus, Mikrokosmos und Makrokosmos gleicher Natur waren. Wie durch die Welt eine Achse ging, die die Kunst des Gleichgewichtshaltens beherrschte und die Welt hielt und ihre Bewegungen harmonisierte und Bleiern und Taumeln verhinderte, so durchzog eine Achse den menschlichen Körper und hielt Balance. Diese Gleichgewichtsachse der Menschen war die Wirbelsäule. Auf ihr lagen die vibratorischen Zentren, die den ursprünglichen Klang des Lebens widerhallten und Alarm schlugen, wenn etwas schief ging. Das erste dieser Zentren lag in der Krone des Kopfes. Hier lag die weiche Stelle Kópavi, die offene Tür, durch die der Mensch sein Leben empfangen hatte und in direktem Kontakt mit seinem Schöpfer stand. In der weichen Stelle pulsierte das Leben, widerhallte, was der Schöpfer gegeben hatte. Aber in der Zeit des roten Lichts wurde die weiche Stelle hart und die Tür schloß sich und der Mensch verlor den Kontakt mit dem Schöpfer und war auf sich allein gestellt. Erst wenn sein Leben zu Ende war, sollte er wieder mit seinem Schöpfer vereinigt werden. Unter diesem ersten Zentrum lag ein zweites, das Denkzentrum, das dem Menschen die Fähigkeit gab, für sich selbst zu denken und Entscheidungen zu fällen. Und ohne es von Göttern erklärt zu bekommen, verstand er, daß es seine Aufgabe war, den Plan der Schöpfung auszuführen, göttlichen Gesetzen folgezuleisten, die heilige Harmonie zu erhalten. Das dritte Zentrum lag im Hals, an der Kreuzung von Mund und Nase, Luft- und Speiseröhre, wo der Atem des Lebens einging und die vibratorischen Organe ihn als Klang an die Welt zurückgaben. Der Urklang, der von den vibratorischen Zentren des Weltenkörpers kam und eingestimmt war auf die Vibration der gesamten Schöpfung, hallte 982
von diesem Kehlkopfzentrum wider, aber auch andere liebliche Töne ließen sich hier formen, die den Menschen Sprache und Gesang ermöglichten. Und je mehr der Mensch seine Aufgabe in dieser Welt verstand, desto mehr benutzte er dieses Zentrum, um von der Ehre des Schöpfers zu sprechen und sein Lob zu singen. Das vierte Zentrum war das Herz. Auch das Herz war ein vibrierendes Zentrum, in ihm pulsierte die Vibration des Lebens selbst. Und die Menschen, die nur Gutes wollten, von denen sagte man, daß sie ein Herz hatten, aber von jenen, die auch Übles in ihr Herz ließen, von denen sagte man, daß sie zwei Herzen hatten. Das wichtigste Zentrum des Menschen aber war der Solarplexus, das Sonnengeflecht, denn er war der Thron des Schöpfers im Menschen, von dort wurden alle Funktionen im Menschen gesteuert. Die ersten Menschen waren rein und glücklich und kannten keine Krankheit, jedenfalls nicht, solange das Böse nicht in die Welt kam. Ihre Welt hieß Tokpela, endloser Weltenraum, die Richtung war Westen, die Farbe gelb, das Metall Gold, das Tier der Erde die dickköpfige Schlange, das Tier der Luft Wisoko, der Fett fressende Vogel, und die Pflanze war Muha, ein kleines vierblättriges Kräutchen. Die Menschen vermehrten und breiteten sich aus auf dem Antlitz der Erde. Trotz der Verschiedenheit ihrer Hautfarbe und der Verschiedenheit ihrer Sprache empfanden sie sich als eins, eine Menschheit, und sie verstanden einander, sogar ohne zu sprechen. Und genauso war es mit den Tieren, auch mit ihnen fühlte man sich eins, und auch die fühlten eine Gemeinsamkeit mit den Menschen. Sie alle nuckelten gemeinsam an der Brust der Mutter Erde, und Mutter Erde gab ihnen ihre Milch in Form von Gras, Saat, Früchten und Korn und Bohnen. Aber mehr und mehr, jede Generation in bißchen mehr, nutzten die Menschen die Fähigkeiten ihrer vibratorischen Zentren für egoistische Zweck, und mehr und mehr vergaß man den Befehl von Spinnenmutter 983
und Sótuknang, die Zentren Schöpfungsplanes zu benutzen.
für
die
Verwirklichung
des
Dann kam der Redner und Zerreißer, der Demagoge und Dämonologe. Sein Name war Lavaíhoya. Er kam als Vogel, als plappernder Vogel Mochni, ein Mocking Bird, eine Spottdrossel. Er kam und plapperte und plapperte und sprach von den Unterschieden und spottete immer über die anderen und dämonisierte sie. Und die Menschen hörten zu und schließlich sahen sie die Unterschiede, die andere Hautfarbe, die andere Haarfarbe, die andere Sprache, die andere Art, und sie mochten das andere nicht mehr und fürchteten es und haßten es und die anfängliche Harmonie war dahin und die Absicht des Schöpfers. Dann kam der Schöne, Káto'ya, in der Form einer dickköpfigen Schlange kam er und trennte die Menschen noch mehr und führte sie voneinander fort und von der ursprünglichen Weisheit. Jetzt, wo man die anderen nicht mehr sah, wuchs das Mißtrauen noch mehr. Alles Böse wurde den anderen jetzt anfantasiert. Und die Menschen wurden immer schrecklicher und kriegerischer und bekriegten einander immer grausamer. Aber unter allen Rassen, unter allen Völkern und Sprachfamilien gab es einige, die die Harmoniegesetze der Schöpfung befolgten. Ihnen erschien eines Tages Sótuknang, und Sótuknang sagte zu ihnen: “Die Welt ist schlecht. Ich habe mit meinem Onkel gesprochen. Sie mußt zerstört werden. Ihr seid die Auserwählten, die überleben sollen.” Und er führte sie zu einem Ameisenhaufen, klopfte an und bat die Ameisenleute, die auserwählten Menschen für die Zeit des Weltunterganges zu beherbergen. “Und lernt von den Ameisen”, ermahnte er die Auserwählten, “sie gehorchen dem Plan der Schöpfung, sind fleißig, sammeln im Sommer Nahrung für den Winter und ihre Bauten sind im Sommer kühl und im Winter warm.” Sótuknang verabschiedete sich.
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Dann öffnete Sótuknang die Vulkane und Feuer regnete auf die Erde herab und zerstörte alles Leben. Die Auserwählten und die Ameisenleute aber waren sicher im Innern der Erde. Es war leicht, die Welt zu zerstören - puff - futsch war alles, verbrannt. Aber das Feuer war heiß gewesen. Und das Abkühlen dauerte lange. Der Vorrat der unterirdischen Bewohner wurde immer weniger. Die Ameisenleute waren sehr gastfreundlich. Sie ließen die Gäste essen und hungerten selbst, so wurden ihre Taillen immer enger. Endlich war die erste Welt abgekühlt und Sótuknang schuf die zweite. Er machte alles anders, wo früher Wasser war, kam Land hin und umgekehrt. Als alles fertig war, ging Sótuknang zum Kiva der Ameisen und klopfte wieder an. Er bedankte sich bei den Ameisen. “Eure Gastfreundschaft wird nie vergessen werden.” Und er prophezeite, eine Zeit, in der die Menschen wieder böse geworden seien und auch die zweite Welt zerstört werden würde. Dann würden die Bösen vor den Ameisenhaufen kauern und um Einlaß betteln, aber für die Bösen gäbe es keine Rettung. Dann rief er den Auserwählten zu, herauszukommen. “Die zweite Welt ist nicht so schön wie die erste, aber schön genug. Ihr werdet euch an sie gewöhnen und sie lieben lernen. Und vergeßt nicht die Harmonie, die dem Willen des Schöpfers entspricht, und singt dem Schöpfer fröhlich eure Lobe zu.” Und die Menschen traten hinaus in die zweite Welt. Ihr Name war Tokpa, das hieß dunkle Mitternacht, die Richtung war Süden, die Farbe blau, das Metall war das Silber, der Baum die Fichte, der Vogel der Adler und das häufigste Tier das Stinktier. Die Vögel und anderen Tiere dieser zweiten Welt waren fern und ängstlich. Sie fühlten keine Gemeinsamkeit mehr mit den Menschen, aber die Menschen vertrugen sich untereinander, und wenn sie auch nicht die gleiche Sprache sprachen, so fühlten sie doch gleich.
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Und die Menschen taten, wie sie von den Ameisen gelernt hatten, sie lagerten Vorräte und bauten Häuser und fertigten Sachen mit ihren Händen. Und sie tauschten und trieben Handel. Und da begann das Problem. Der eine fühlte sich übervorteilt und der andere fühlte sich übervorteilt und sie fühlten nicht mehr gemeinsam. Eigentlich gab es in der zweiten Welt alles, was man zum Leben brauchte. Aber es waren die Dinge, die man nicht brauchte, von denen man immer mehr haben wollte. Und man konnte nicht genug von ihnen bekommen, von den nutzlosen Dingen. Und die Menschen stritten sich um die nutzlosen Dinge und kämpften und führten wieder Kriege, Pueblo gegen Pueblo. Aber in jedem Pueblo gab es noch immer ein paar gute Menschen, und die Bösen lachten wieder über die guten Menschen, aber die guten Menschen blieben bei ihrer Güte. Eines Tages erschien Sótuknang vor ihnen. “Spinnenmutter sagt mir, daß der Welt der Faden ausgeht. Mein Onkel Taiowa wird auch diese Welt zerstören. Wer noch Lieder in seinem Herzen hat, fliehe wieder zu den Ameisen.” Nachdem die Ameisen die Auserwählten der zweiten Welt in die Sicherheit des Untergrunds geführt hatten, verließen die Zwillige ihre Posten an den Polen der Welt und sie überschlug sich zweimal und Berge purzelten in die See und versanken und das große Bleiern begann. Von den Polen her breitete sich Frost über die Erde aus und alles erstarrte und wurde leblos. So endete Tokpa, die zweite Welt. Während auf der Erdoberfläche alles vereist war, lebten die Auserwählten im Erdinnern bei den Ameisen. Das Essen wurde wieder knapp und die Taille der Ameisen noch enger. Aber schließlich befahl Sótuknang den Zwillingen, wieder an die Pole zu gehen und die Erdrotation zu bändigen, und die Heftigkeit der Erdbewegung ließ nach und das Leben erstand von Neuem auf der Erde. Sótuknang 986
klopfte wieder an den Kiva der Ameisen, dankte und ließ die Menschen herauskommen und die dritte Welt betreten. “Ich sage euch zwei Dinge: erstens, ihr müßt einander respektieren, zweitens, singt von den Hügeln in völliger Harmonie die Loblieder auf Schöpfung und Schöpfergott. Wenn ich euch nicht mehr singen höre, dann weiß ich, daß ihr wieder den Weg des Bösen trampelt.” Die dritte Welt war Kuskurza, die Richtung war Osten, die Farbe rot, das Metall Kupfer, die Pflanze Tabak, der Vogel die Krähe, das Tier die Antilope. In der ersten Welt hatten die Menschen nackt und wie Tiere gelebt, in der zweiten hatten sie Hütten gebaut und Dörfer. In der dritten Welt nun bauten sie Städte, Metropolen, ganze Zivilisationen. Sie bauten lärmende Maschinen und lebten in Luxus und Ausschweifung. Und sie begannen ihr schöpferisches Können für böse und zerstörerische Zwecke zu benutzen. Da wurde es immer schwerer, ein religiöses Leben zu führen und auf den Hügeln die Loblieder zu singen, und es wurde unmöglich, den Zivilisationslärm zu übertönen. Die kreativen Kräfte des Bösen bauten Pátuwvota, einen Schild, der riesig war und durch die Luft fliegen konnte. Viele Menschen konnten mit ihm fliegen, von einer fernen Stadt zur anderen, und die Menschen flogen mit Pátuwvota zu fernen Städten und griffen sie aus der Luft an und kehrten genauso schnell, wie sie gekommen waren, zurück. Und alle Städte und alle Länder bauten Pátuwvotas und bekämpften sich, und Korruption und Krieg war in der dritten Welt wie in den vorherigen. Sótuknang sprach zu Spinnenfrau: “Wir warten nicht, bis der Faden wieder zu Ende ist. Es wird zu schwer sein für die Guten, bei so viel Zerstörung am Leben zu bleiben.” Und Sótuknang beschloß mit Spinnenfrau den Untergang der dritten Welt und die Errettung der Guten, ohne zu warten, bis Taiowas Geduld riß. 987
Spinnenfrau tat die Guten in hohle Halme und versiegelte sie, und Sótuknang überflutete die Welt, ließ es regnen und regnen, bis alles unter Wasser stand. Und die Halme trieben auf dem Wasser und Spinnenfrau hielt sie zusammen. Lange Zeit trieben sie. Irgendwann stießen sie gegen etwas Hartes. Spinnenfrau öffnete die Halme. Die Menschen traten heraus. Es war einer der höchsten Berge der dritten Welt gewesen. Jetzt war es eine kleine Insel. Irgendwo mußte die vierte Welt sein, aber sie konnten sie nicht sehen, überall nur Wasser. Spinnenfrau halbierte die Halme und mit diesen Einbäumen paddelten sie über das ruhige Meer Richtung Osten. Wieder und wieder trafen sie auf Inseln, schöne Inseln, bequeme Inseln, auf denen es sich gut leben ließ, aber wieder und wieder wurde ihnen gesagt, das sei nicht die vierte Welt, für die sie bestimmt seien. “Nein, nein, hier ist das Leben zu bequem für euch, ihr würdet wieder auf Abwege kommen, die neue Welt ist hart und unbequem.” Sie liefen über die Inseln, immer Richtung Osten, und am östlichen Ufer bauten sie sich neue Boote oder Flöße und fuhren weiter. Auf der letzten Insel sagte Spinnenfrau ihnen: “Hier muß ich Abschied von euch nehmen. Das letzte Stück müßt ihr allein paddeln. Die vierte Welt ist jetzt nicht mehr weit.” Die Leute paddelten und kamen an eine Steilküste, hoch und unerreichbar, das war die vierte Welt. Die Leute konnten nicht anlegen. Die vierte Welt war ein großes Hindernis. Sie fuhren nach Norden und die Steilküste wurde höher, sie fuhren nach Süden und auch dort waren die Felsen furchtbar. Da ließen sie sich treiben, und ihre Flöße trieben zwischen den Felsen hindurch und erreichten ein sandiges Ufer. Glücklich sprangen die Leute an Land. “Die vierte Welt”, riefen sie, “wir haben den Eintritt in die vierte Welt geschafft.”
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Und sie stiegen auf einen hohen Berg und blickten zurück, nach Westen über das Wasser. Sótuknang erschien ihnen und deutete auf die Inseln: “Das sind die Fußstapfen eurer Reise und die höchsten Berge der dritten Welt gewesen, die ich zerstört habe. Und jetzt lasse ich sie vor euren Augen ganz versinken. Es gibt kein Zurück mehr. Auf dem Meeresboden liegen alle stolzen Städte, die fliegenden Pátuwvotas und die anderen Maschinen und Schätze der korrupten, eigensüchtigen Menschen, die keine Zeit hatten, auf den Hügeln die Loblieder der Schöpfung zu singen. Ihr aber werdet die Erinnerung an diese mächtigen, arroganten Reiche bewahren, und wenn euch mächtige, arrogante Leute für euer altes Wissen verspotten werden, dann werden diese Trittsteine eurer Reise zur vierten Welt wieder aus dem Meer erscheinen und bezeugen, daß ihr die Wahrheit sprecht.” Schweigen. “Ich habe euch noch etwas zu sagen. Der Name dieser vierten Welt ist Túwaqachi, Welt komplett, die Richtung ist Norden, die Farbe ist sikyangpu, ein gelbliches Weiß, der Baum ist Kneumapee, die Wacholder, der Vogel ist Mongwau, die Eule, das Tier Tohopko, der Berglöwe, es gibt kein vorherrschendes Metall, sondern ein Mineraliengemisch Sikyápala, aus Quarz, Feldspat, Glimmer, Glaukonit, Silikon u. a. Diese Welt ist so ganz anders als die vorherigen, sie ist gar nicht schön, und das Leben in ihr ist nicht leicht. Sie hat Höhen und Tiefen, ist kalt und heiß, fruchtbar und unfruchtbar, sie enthält alle Gegenteile, und es gibt ein großes Angebot, aus dem man auswählen kann. Ich muß euch jetzt verlassen. Ihr tragt eure Türen offen und werdet die richtigen Schutzgötter finden, die euch in diesem Land helfen werden. Macht's gut.” Er verschwand. Die Auserwählten tasteten sich vorsichtig vorwärts im Land der Verheißung. 989
Da hörten sie ein dumpfes Geräusch und sahen sich um. Vor ihnen stand ein Schönling, ein gut aussehender Mann. “Erkennt ihr mich? Ich war Másaw, der Hüter und Hauswart der dritten Welt.” Tatsächlich erkannten die Leute ihn wieder. Er hatte vor lauter Liebe zur eigenen Schönheit sehr früh die Demut vor dem Schöpfergott verloren und war deshalb zum Gott des Todes und der Unterwelt degradiert worden. Da er als Gott nicht sterben konnte, hatte er den Untergang der dritten Welt überstanden, und jetzt wurde ihm eine neue Chance als Behüter der vierten Welt gegeben. “Wirst du uns die Erlaubnis geben, auf dieser Welt zu leben?” “Ja”, versprach Másaw, “als die früheren Teile der Welt untergingen, wurde dieser Teil hoch- und herausgedrückt. Dieser Teil ist das Rückgrat der Erde. Ihr steht auf der Westseite. Ihr müßt eure Wanderung machen. Ihr müßt über das ganze Land wandern und es in Besitz nehmen. Geht in alle vier Richtungen. Geht zuerst nach Norden und findet eure neue Heimat.” Und er gab ihnen Steintafeln, auf denen die neue Heimat mit den hohen Tafelländern und der trockenen Wüste zwischen den beiden Flüssen Rio Grande und Colorado River beschrieben wurde. “Das Land ist öde und es ist schwer, von ihm zu leben, aber es erhält die Demut vor den Göttern, schwer zu leben. Gründet dort eure Kultstätte Oraibi. Aber laßt euch nicht gleich nieder, macht erst eure Wanderung. Geht nach Norden bis zur Arktis, der großen Eiskappe. Dort ist die Hintertür zum Kontinent. Die, die von dort in das Land kommen, tun es ohne mein Einverständnis. Sie werden das Land für sich beanspruchen, aber sie haben kein Anrecht darauf, denn ich habe es ihnen nicht gegeben und ich werde es ihnen nicht geben und ich werde sie nicht beschützen, aber sie werden das Land rauben und ihr werdet euch nicht wehren, denn Streit und Kampf zerstören die Harmonie der Schöpfung. Beim nördlichen Eis kehrt ihr um und kommt wieder zurück nach Oraibi, dann geht ihr in die anderen Richtungen, bis ihr die Ufer der Ozeane erreicht. Erst wenn ihr den Kontinent in vier Richtung durchwandert habt, dürft ihr
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seßhaft werden in dem Land, das euch auf diesen Steintafeln verheißen ist.” Und die Hopis machten sich auf ihre Wanderung, jeder Familienklan für sich. Vieles ereignete sich auf diesen Wanderungen, was für immer ihr Leben und die Beziehungen der Klans untereinander beeinflussen sollte. Als sie das nördliche Eis erreichten, sagten sie: “Das muß die Hintertür sein, die für uns verschlossen ist.” Und sie wollten umkehren, aber Spinnenfrau erschien. “Euch wurden magischen Kräfte gegeben. Benutzt sie. Schmelzt dieses Eisgebirge.” Der Spinnenklan war sofort begeistert und überzeugte andere Klans, bei dem großen Werk zu helfen. Und der Blaue-Flöten-Klan benutzte die magischen Kräfte seines Flötenspiels und Gesang und die Federn von tropischen Vögeln, die die äquatorische Hitze, die sie gespeichert hatten, wiederhergeben sollten, abstrahlen, dem großen Werk widmen. Aber der Blaue-Flöten-Klan flötete vergeblich die tropische Wärme herbei. Der Feuerklan rief das innerirdische Feuer aus der Tiefe hervor, und der Sonnen-Klan versuchte es mit Sonnenenergie und flehte das Feuer der Sonne herab, und der Schlangen-Klan versuchte es mit mächtigen Vibrationen. Aber vergeblich. Das Eis blieb hart - und kalt. Vier Versuche machten sie und viermal versagten sie. Da erschienen die Götter - sie vertrauten dem Eis nicht, glaubten nicht an seine Mächtigkeit, an die Macht seiner Kälte - und sie schimpften mit den ungehorsamen Menschen: “Wenn ihr das Eis schmelzt, überflutet ihr die vierte Welt.” Und sie schimpften auch mit Spinnenfrau: “Bisher bis du jung und schön gewesen, weil du uns geholfen hast. Aber jetzt wirst du eine häßliche Alte werden, und dein Lebensfaden wird dir bald ausgehen wie anderen alten Leuten auch.” 991
Und die vier Klans wandten sich wieder nach Süden. Sie erkannten ihr Versagen: Sie hatten die ihnen gegebenen, übernatürlichen Kräfte falsch und am falschen Ort benutzt. Sie schämten sich. Auf dem Rückweg trafen sie andere Klans, die ihre magischen Kräfte nicht mißbraucht hatten. Fortan würden diese Klans ihnen überlegen sein. Tatsächlich galten die Mitglieder der Klans, die das Eis schmelzen wollten, für immer als minderwertig, bösartig und gemein. Nichts konnte sie von ihrem Makel befreien, die Untat abwaschen, wie christliche Frauen nicht der Sünden Evas entkommen konnten. Dem Blaue-Flöten-Klan wurde nie wieder die Achtung entgegengebracht, die zum Beispiel der Graue-unschuldige-FlötenKlan genoß.
Nur sieben Klans wanderten bis zur Südspitze Südamerikas, bis Tierra del Fuego, Feuerland. Die anderen stießen schon vorher ans Meer. Die folgenden Klans wandten sich, als sie das Meer erreichten, nach rechts, so daß ihre Route einer Swastika ähnelte, deren Haken nach rechts gingen: Bär-Klan, Spinnen-Klan, Feuer-Klan, Adler-Klan, Papageien-Klan, Koyoten-Klan, Wasser-Klan, Kachina-Klan, DachsKlan, Flöten-Klan, Bogen-Klan, Seitenkorn-Klan, Schlangen-Klan, Tabako-Klan, Lanzen-Klan, Tiefer-Brunnen-Klan. Diese Klans waren die höheren Klans, die eingeweihten Klans. Ihre Bewegung über den Kontinent symbolisierte die Linksdrehung der Weltkugel. Die folgenden Klans wandten sich am Meer nach links, so daß die Haken ihres Hakenkreuzes nach links zeigten: Stropp-Klan, MaulwurfKlan, Schmalzholz-Klan, Bluebird-Klan, Spatzenhabicht-Klan, Krähen-Klan, Schmetterlings-Klan, Hirse-Klan, Karnickel-Klan, Kürbis-Klan, Kleiner-Brunnen-Klan, Nebel-Klan, Sonnen-Klan, SandKlan, Wolken-Klan, Schmalzaugensockel-Klan, Schwarze-Saat-Klan, 992
Korn-Klan, Eidechsen-Klan. Diese Klans verfügten über kein eigenes vollständiges Zeremonienwissen, sie begrüßten nur einfach die Sonne, und ihre Swastika symbolisierte die scheinbare Wanderung der Sonne rechtsherum um die Erde.1 Kachinas, das waren Geister von der unsichtbaren Sorte, die hinter den Kräften des Lebens und der Natur standen. Damit sie den Menschen eine Lehre erteilen konnten, mußte ein Mensch ihre Maske tragen. Nur dann konnten sie sich hinter die Maske begeben und sprechen. Hing die Maske nur an der Wand des Kivas, sprach sie nicht, war nur stumm. Es waren Kachinas in menschlichen Hüllen mit hölzernen Masken, die den Religionsunterricht gaben und von der Bedeutung der drei untergegangenen Welten lehrten und von den Aufgaben der Menschen in der vierten Welt und wie der große Geist im Menschen tätig wurde. Adjuna saß unter der Schülerschaft und saugte sich voll. Er war zum Schwamm geworden. Die Kachinas ermahnten die Schüler, nicht vom Weg der Tradition zu weichen, nicht die Waren der Weißen zu wollen, nicht dem Pfad der Farblosen zu folgen, nicht die Bequemlichkeit zu suchen oder eine reiche Ernte. Weiter sollten sie den kleinsten Maiskolben ehren, Sowiwa, Mais von der Länge eines neugeborenen Hasen, für den sie sich schon in ihrer Bescheidenheit in der ersten Welt entschieden hatten, als all die anderen Völker in ihrer Gier langen oder fetten und ertragreichen Mais gewählt hatten. Nun, all diese Völker hatten sich aufgebläht und waren untergegangen. Der Hopi steckte noch immer sein Maiskorn in die trockene Erde und - oh Wunder - sein Maiskorn wuchs auch hier in dieser Dürre und man brauchte nicht zu darben. Mais war die Milch der Muttererde.
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Frank Waters hat die geschichtlichen und religiösen Vorstellungen der Hopi-Indianer gesammelt und als `Book of the Hopi' (Penguin Book) veröffentlicht. Der Bericht von den vier Welten hält sich eng an das erste Kapitel dieses Buches.
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Die Kachina-Lehrer hatten auch ein Druckmittel, um Folgsamkeit zu erzwingen: Ein Erd-Loch-voll-von-Feuer für die Unfolgsamen, wo sie warten oder richtiger braten mußten, bis die sieben Welten zu Ende gegangen waren. “Aus Mitleid mit unseren bratenden Brüdern”, dachte Adjuna, “sollten wir die Welten schnell zerstören. Ach, was soll's? Hier brauch ich weder Spötter noch Atheist zu sein. Die Priesterschaft dieses kleinen viereckigen Stückchen Landes im Herzen der großen NavajoReservation strebt nicht nach der Weltherrschaft. Globalreligiös gesehen, ist ihre kleine Erpressung mit dem Feuerloch bedeutungslos. Solange es die aber gibt, kann man den großen Religionen vorhalten, daß sie bei aller Größe doch nicht so einzigartig sind.” Und er lehnte sich wieder entspannt zurück und lauschte den Erzählungen des Kachina und langweilte sich nicht. Es zeigte sich jetzt, daß dieses kleine Völkchen im Innern der NavajoReservation, das fast von seinen Navajo-Nachbarn erdrückt und überfremdet wurde, weitreichende kosmologische Vorstellungen hatte, die von großem Scharfsinn zeugten: “In unserer Welt, der oberen Welt, geht die Sonne morgens im Osten auf, Tag und Leben beginnen. Genauso ist es mit Winter- und Sommersonnenwende. Wintersonnenwende bedeutet neues Leben, die Sommersonnenwende mit ihrer Hitze Tod. Auch mit der Geburt beginnt in der oberen Welt das Leben und mit dem Tod endet es. Wenn die Sonne abends den Westen erreicht hat, muß sie sich wieder auf die Reise in den Osten machen. Dafür muß sie durch die Unterwelt. Die Unterwelt ist das Gegenteil der Oberwelt. Und aus der Tatsache, daß dort abends im Westen die Sonne aufgeht, läßt sich leicht folgern, daß sie morgens im Osten untergeht, ...und daß es dort zur Zeit der Sommersonnenwende am kältesten ist und zur Zeit der Wintersonnenwende am heißesten, ...und daß das Leben dort mit dem Tode beginnt und mit der Geburt endet.”
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Was für eine armselige Vorstellung ist es dagegen, zu glauben, daß die Erde eine Kugel ist und auf ihrer Oberfläche überall oben ist und darunter das Innere massiv und ohne Unterwelt oder Innenleben ist. Adjuna war wie ein Schwamm, er saugte die Ein- und Ausdrücke des Lebens auf und wurde voll und schwer. Die Kachinas lehrten ihrer Schülerschaft auch über die Weißen: Dinge, die selbst die jüngsten der Initianden schon wußten. “Die Weißen sind so schlecht wie die Tasavuh.” Tasavuh war ein zusammengesetztes Hauptwort, das aus `Tu' gleich Mensch, Person, Kopf, der wichtigste Teil einer Person, und `savuhta' gleich einschlagen, hauen, gebildet worden war. Also `Kopfhauer', so nannten die Hopis ihre Nachbarn, die Navajos, da diese eine Vorliebe fürs Köpfeeinschlagen mittels Stein oder Steinbeil gezeigt hatten. Die Navajos - sie fraßen immer alles auf, waren also Allesfresser nannten die Hopis ihrerseits Maisfresser, genauso wie teutsche Tasavuhs und Menschenvergaser südliche Nachbarn, die in ihre Reservation kamen, Spaghettifresser nannten. Aber unterschiedliche Diäten waren ein weltweites Problem. Wie die Mayas eine mysteriöse, weiße Gottheit Kukulcan kannten und die Tolteken und Azteken den weißen Quetzalcoatl zurückerwarteten, so warteten die Hopis auf ihren weißen, verlorenen Bruder Pahána. Aber kein Cortés hatte sie täuschen können. Als die Weißen kamen, hatte ihr Häuptling sie mit nach oben gehaltenen Handflächen begrüßt. Der Anführer der Weißen hatte damals gedacht, man wollte Geschenke haben, und irgendwelchen Tinnef in den Arm des Häuptlings gelegt. Da hatte jeder gewußt, es war nicht Pahána. Pahána hätte seine Handflächen auf die Handflächen des Häuptlings gelegt. Und tatsächlich stellte sich schnell heraus, daß die Weißen nicht Pahána waren und auch nicht mit Pahána geistesverwandt waren, denn Pahána zeichnete sich durch seine große Humanität aus. Die Weißen,
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die kamen, aber waren nur Kachada, weiße Menschen, und Dodagee, Diktatoren, Versklaver, Sklavenhalter. Bis auf den heutigen Tag. Die Kachinas warnten noch einmal eindringlich davor, im Weißen Pahána zu sehen, er war nur Kachada. Die ins Land gekommenen Kachada hatten schnell ihre kriminellen Absichten klargemacht: Raub und Zerstörung, Ausbeutung und Verknechtung. Zuerst die katholischen Kachada und später dann die protestantischen, die WASPen. Doch alle Schinderei und all der Raub und die Zerstörung und all die aufdringliche Proselytenmacherei war nichts gegen den Erfolg, den ein Bazillus ihrer Unmenschlichkeit, der auf die Hopis übergesprungen war, hatte: Das war, als nach dem großen Pueblo-Aufstand das Land vom christlichen Einfluß gesäubert war und im Schutze des Rückeroberers De Vargas Zapata Juan de Leon neue Missionare ins Land gekommen waren. Obwohl diesmal kein äußerer Zwang bestand wie Peitsche und Daumenschraube, waren im Dorfe Awatovi dreiundsiebzig Leute wieder Lämmer der Sklavenkirche geworden. Es war gerade kurz vor Wúwuchim, dem Beginn eines neuen Jahreszyklus, und es war notwendig, den Anbeginn allen Daseins symbolisch darzustellen. Die Fruchtbarkeit und das Wohlbefinden der kommenden Jahre hing davon ab, und man wollte nicht die heiligen Riten durch heidnischen Hokuspokus in Gefahr bringen. So kam es zu etwas bis dahin in der Gesellschaft der Hopis völlig Unbekanntem, zu einem Massaker. Durch ihren kurzen Kontakt mit der Sklavenreligion hatten sie soviel Haß aufgeladen, so sehr hassen gelernt, so sehr die Logik der katholischen Kachada absorbiert, daß sie nicht nur die abtrünnigen, treulosen dreiundsiebzig ermordeten, sondern das ganze Dorf mit seinen achthundert Einwohnern dem Erdboden gleichmachten. 1 Treuloser als die Mörder konnte man den Glauben der Hopis nicht verraten. Ihr göttlicher Auftrag, als Volk des Friedens, der
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Man schrieb das Jahr 1700 C.E.
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totalen Friedfertigkeit, in die Geschichte der Völker dieser Erde einzugehen, war preisgegeben - unwiederbringlich. Unwiederbringlich preisgegeben. Hopituh Shinumu, das Friedliche Volk, verdiente seinen Namen nicht mehr.
Massaker
Massaker an sich sind nichts Weltbewegendes. Sie fanden allemal statt und Mutter Erde empfing stoisch jeden Leichen- und Blutdünger: Kain erschlug Abel (nicht, daß es bevor die Juden sich diesen Mythos ausdachten keine Massaker gab; es gab sie, massenweise) und die Juden beim Einzug ins gelobte Land endlösten die Frage, was man mit der einheimischen Bevölkerung machen sollte. Die Babylonier und später die Römer hatten ihre Massaker an den Juden. Der jüdische Gott ließ die Jungfrau Maria einen Sohn in die Welt setzen, dessen Vaterschaft er beanspruchte. Die, die das glaubten, waren von Anfang an zerstritten in die Anhänger von Petrus und in die von Paulus, der den gekreuzigten Jesus lehren wollte. Aber noch waren die Grüppchen zu klein für große Massaker. Das änderte sich aber unter Kaiser Konstantin dem Großen, da nämlich folgerte ein gewisser Arius absurderweise, wie die christlichen Kirchen des Westens es heutzutage wissen oder zu glauben wissen - aus der Vaterschaft Gottes, daß Jesus nicht dem Vater gleich ewiglich sei, sondern, daß der Vater zuerst dagewesen sei und der Sohn erst später vom Vater geschaffen worden sei; der Heilige Geist war demnach nur eine Ausdünstung des Vaters und keine Ausdünstung von Vater und Sohn. Nun, diese Idee wurde auf dem Konzil von Nizäa als Ketzerei entlarvt. Da die Ketzer sehr hartnäckig waren, lieferte die Auseinandersetzung jedoch durch die Jahrhunderte ihre Massaker, bis zu den jüngsten Tagen wurde wegen dieser Ausdünstungen an den Reibe- und Berührungsstellen, also vom 997
Baltikum bis zum Balkan gemordet. Massaker waren aber auch von Anfang an das Mittel der Glaubensausbreitung in heidnische Gebiete, das Christentum vieler europäischer Christen dürfte auf die Schrecken, die christliche Herrscher wie Chlodwig und Karl der Große verbreiteten, zurückgehen. Das Erfolgsrezept der Christen wurde schnell kopiert und - von Ungereimtheiten und Unaufrichtigkeiten gesäubert - vom Islam angewendet, wo das fromme Morden als Dschihad zur Pflicht wurde: wer beim Morden fiel, dem winkte ein schattiges Paradies. Kein Wunder, daß die Kalifen bei den Wüstenvölkern genug Krieger fanden für ihre Expansionskriege. Welcher Wüstenbewohner möchte nicht gern im Schatten sitzen? Die Juden, die mit der absoluten Gottesidee angefangen hatten und auf Geheiß ihres Gottes große Massaker angerichtet hatten, wurden ihrerseits immer wieder Opfer von Massakern, weil sie die Wendungen, die die Abrahamreligion zum Christentum oder Islam machte, nicht mitmachten. Jahwe hatte einen Sohn, der als Jesus Christus in die Geschichte einging; er war nur ein einziger, aber trotzdem säte er Zwiespalt nicht nur in die Welt, sondern auch unter seine Gläubigen. Abraham hatte zuerst gar keine Söhne, was ihn so verzweifelte, daß seine Frau Sarah ihm ihre ägyptische Magd Hagar zum Kindermachen gab. Hagar gebar einen Sohn Ismael. Sarah wurde daraufhin fast wahnsinnig vor Eifersucht. Inbrünstig bat sie Jahwe, ihr doch auch einen Sohn zu schenken. Als er es tat, triumphierte sie. Dem Kind gab sie den Namen Isaac, was `Gelächter' bedeutete, und ihrem Triumphgefühl am besten Ausdruck gab. Ismael und seine Mutter aber wurden schließlich aus dem Haus bzw. Zelt geekelt. Laut Koran war Ismail der erste Araber. Die Nachkommen Ismails und die Nachkommen Gelächter-Isaacs massakrierten sich bis in die jüngsten Tage. Als in Europa mit dem Abflauen des Glaubenseifers und dem Siegeszug der Aufklärung die Judenverfolgungen nachgelassen hatten, tauchte ein neues Gespenst auf, Rassismus und Antisemitismus, und säte noch größere Schrecken, Weltkriege, KZs, Gaskammern. Belzec, Treblinka, Wolzek, Auschwitz, tausend andere Nazi-KZs (fast jedes Dorf hatte seine Nazi-Schergen und Tragödien), das Warschauer Ghetto und Erschießungsgruben wie die von Dubno waren Blutstätten der Neuzeit; auch die von der GULAG verwalteten Arbeitslager der Sowjets waren Stätten des Grauens, wo im Namen einer 998
fortschrittorientierten, humanen Ideologie geschunden und gestorben wurde; nur das kroatische KZ Jasenovak der katholischen Ustasha war nichts Neuzeitliches, sondern ein Ausrutscher ins Mittelalter, Ausrutscher, wie sie die Neuste Zeit immer öfter sehen sollte, da man den Chefideologen1 heiligsprach, und sein heiliger Einfluß sich verheerend auswirkte. Aber die katholische Kirche wollte ja eigentlich nur bekehren, die orthodoxen Serben ebenso wie die Indianer. Daß dieses wunderbare Werk manchmal nicht ohne Blutvergießen ging und nicht jeder päpstliche Füße, Pfoten und Ringe küssen wollte, symbolisch oder tatsächlich, das bedauerte die katholische Kirche sehr. Aber sie waren nicht die schlimmsten Christen. Angelsächsische Prostestanten mit ihrer puritanischen Tradition waren die schlimmsten. Von dem Tag an, an dem sie bei Plymouth Rock von Bord der Mayflower gingen, verfolgten sie eine Ausrottungspolitik. Den Katholiken warfen sie vor, mit ihrer Missionierungspolitik den Ausverkauf des Christentum zu betreiben. Die Puritaner aber wollten nicht den Ausverkauf des Christentums, sondern die Ausrottung der Heiden. Den Anfang machten sie 1637 mit dem Massaker an den Pequot-Indianern. Dafür umzingelten sie das Dorf der Pequots und zündeten es an. Den Bewohnern blieb nur der Feuertod oder der Tod durch die Schüsse der Puritaner. Alle 500 Bewohner kamen um. Danach wurden noch die umliegenden Wälder durchkämmt. Am Abend sprach Cotton Mather dann für alle sein Dankesgebet an den Herrn, daß sie 600 heidnische Seelen zur Hölle schicken konnten, und daß es ihnen nur das Leben von zwei ihrer eigenen Leute gekostet hatte. Soo billig! In die Annalen seiner Kolonie schrieb Cotton Mather stolz: “Die Wälder wurden fast ganz von diesen Schädlingen gesäubert, um Raum zu machen für einen besseren Wuchs.” Benjamin Franklin, Naturwissenschaftler, Schriftsteller und Mitunterzeichner der Unabhängigkeitserklärung, stieß anderthalb Jahrhunderte später ins gleiche Horn, als er schrieb, es sei
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Erzbischof Stepinac, noch kein Heiliger, aber das Verfahren zur Vorstufe Seligsprechung lief 1995 schon.
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der Plan der Vorsehung, daß jene Wilde ausgerottet würden, um Platz zu schaffen für die Kultivierer dieser Erde. Diese kultivierten Menschen, diese Kultivierer der Erde, führten die Skalp-Prämien ein, 1641 in Neu-Niederlande, 1704 erst in Connecticut, gleich darauf in Massachusetts, Hochwürden Solomon Stoddard von Northampton empfahl Hunde wie für die Bärenjagd, 1764 in Virginia und Pennsylvania: “Belohnung für Skalps von indianischen Böcken, Squaws und Jungen”. 1814 in Indiana: 50-Dollar-Prämien pro Skalp, in Colorado: “Prämien für die Vernichtung von Indianern und Stinktieren”, 1876: 200 Dollar pro Skalp in Deadwood, Dakota, in Oregon: Prämien für Indianer und Koyoten. Die selbst ernannten Kultivierer dieser Erde wüteten, wie ihresgleichen noch nie vorher getan hatte und man auch danach für lange Zeit nicht wieder sah; erst mit dem Einsatz von Atomwaffen wurden Völker wieder so radikal ausgerottet, aber da mußten die Täter nur einen Knopf drücken und sich nicht schmutzig machen. Die frühen WASPen aber vergifteten Brunnen und knüppelten Frauen und Kinder zu Tode, wenn sie dadurch Blei und Pulver sparen konnten. Selbst süße, kleine Kinder wurden im Schlaf ermordet. “Aus Nissen werden Läuse”, wußte Methodisten Pfarrer J.M. Chivington aus Denver. Wo die Ausrottung zu teuer wurde, machte man lieber Verträge mit den Indianern, schwor hoch und heilig Frieden und Freundschaft und gab den Indianern Landrechte; rechtmäßig hätte es natürlich umgekehrt sein müssen. Zur Kultur der WASPen gehörte aber nicht, daß man Verträge ehrte und einhielt. So erhielten die Cherokees 1794 sieben Millionen Morgen Bergland in Georgia, North Carolina und Tennessee. Als dort 1828 Gold gefunden wurde, nahm man ihnen das Land sofort wieder weg und verteilte es durch Lotterie an Weiße. Da die Cherokees aber immer noch lästig waren - durch ihre Anwesenheit, trieb General Winfield Scott sie mit 7 000 Soldaten in ein Gebiet westlich des Mississippis. Auf diesem Pfad der Tränen starben mindest 4 000 Cherokees vor Erschöpfung und Hunger. Die Kosten für diesen Indianertrieb wurde den Cherokees sogar noch in Rechnung gestellt.1
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Ende des 20. Jahrhundertes waren die Tränen vergessen und die Cherokees gute Christen
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Das Schicksal der Sioux war ähnlich. 1868 unterzeichneten Rote Wolke und die Vereinigten Staaten in Fort Laramie einen Vertrag, Land für Frieden. Darin wurde den Sioux sieben Millionen Morgen Land in den Paha Sapa, den Black Hills von Dakota, als absoluter und uneingeschränkter Besitz zugesprochen. Der Senat ratifizierte den Vertrag sogar. Sechs Jahre später wurde in der Reservation Gold gefunden und die Black Hills wurden von weißen Goldsuchern überrannt. Die Vereinigten Staaten schickten General Custer, nicht um die Indianer vor den Goldsuchern, die unrechtmäßig in die Reservation eingedrungen waren, und denen ein Indianerleben kein Pfifferling wert war, zu schützen, sondern um die Goldsucher vor den Indianern zu schützen, die die Frechheit hatten, gegenüber den Weißen auf irgendwelche Rechte und vertragliche Vereinbarungen zu pochen. Nun, General Custer geriet mit seiner Truppe in den Hinterhalt und alle seine Krieger wurde massakriert. Dieser barbarische Mord an weißen Menschen besiegelte endgültig das Schicksal der Sioux und anderer Indianerstämme. Das ganze 19. Jahrhundert hindurch erlaubte die Psychosis der weißen Amerikaner das willkürliche Abknallen von Indianern. 1 “Der einzige gute Indianer ist ein toter Indianer.” Und wie der Einhodige immer weiter nach Osten zog, um ja alle Juden zu erwischen und umzubringen, so zogen die weißen Amerikaner immer weiter in den Westen, um ja die letzten Indianer auch noch zu erwischen; dieses Erwischen war der Hauptgrund für den WestwärtsTrend, nicht Landmangel oder Goldgier, das letzte gab es zwar auch, aber die religiöse Vorstellung von der Vorsehung dazu auserlesen zu sein, das Land von den Wilden zu säubern, war größer. Die Tränen- und Blutwege, die die Cherokees und die Sioux gingen, nachdem auf ihrem Land Gold gefunden worden war, waren natürlich nur kleine Spuren im großen Meer der Massenmorde an der
geworden und weißer als die Weißen. 1
“Book of the Hopi” von Frank Waters, Seite 280
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Urbevölkerung, aber sie hatten Symbolcharakter wie das Wunde Knie, das in den Weißen Fluß blutete.1 Im Winter 1863/64 sollten auch die Tasavuh, also die Kopfhauer, die Navajos, wie sie sich selbst nannten, das Weinen, Zittern und Zähneklappern kennenlernen. Brigadegeneral James Carleton und Colonel Christopher Carson hatten das von langer Hand vorbereitet, sie kämpften keine Schlacht und stürmten keine Kliffs, sondern zerstörten die Felder und Herden der Navajos, brannten sogar die Wälder nieder, damit den Navajos kein Feuerholz blieb und keine Baumrinde zur Nahrung. Das stolze Kriegervolk, das die Frechheit gehabt hatte, dem weißen Mann zu trotzen, hockte noch eine Zeit lang in den eisigen Höhlen über dem Canyon de Chelly und dem Grand Canyon. Doch Frost und Hunger und die Aussichtslosigkeit, der im Tal wartenden amerikanischen Armee zu entkommen, zwang sie schließlich zur Aufgabe und ihr langer Marsch der Tränen begann, nach Bosque Redondo, 180 Meilen südöstlich von Santa Fé. Dort sollten die Überlebenden das Land entwässern und Weizen und Mais anbauen. Es stellte sich jedoch heraus, daß die Navajos, die bei ihren Überfällen immer so geschickt mit ihren Keulen im Köpfe-Einschlagen gewesen waren, äußerst ungeschickt waren, wenn es zum Erdboden-Auflockern mit der Hacke kam. Jede Ernte mißlang und die Navajos wurden zum Sozialfall. Um sie nicht in Bosque Rodondo vor aller Augen verhungern zu lassen, trieb man sie im Sommer 1868 zurück in die Nähe ihres alten Stammesgebiets. 7 111 Navajos waren zu dem Zeitpunkt noch am Leben. Sie erhielten 5 500 Quadratmeilen absolut wertlosen Wüstenboden. Dort würden sie hoffentlich verhungern, ohne die Vereinigten Staaten zu sehr in Verlegenheit zu bringen. Doch es kam anders. Die gutmütigen Hopis fütterten die Tavasuh. Und die ehemaligen Feinde rauchten zusammen die Friedenspfeife. Und die Navajos gaben den Hopis ihre heiligen Bündel, die den Hopis Macht über die Navajos geben sollten. Aber die Navajos überlebten nicht nur, sie vermehrten sich auch außerordentlich, 30, 40, 50, 60, 70, 80 000.
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29. Dez. 1890
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Bald schon drohten sie, die Hopis wieder zu ersticken, zumindest nahmen sie ihnen Land weg. Die Weißen würgten die Hopis allerdings noch mehr. Senator Henry L. Dawes glaubte die indianische Kultur oder Unkultiviertheit richtig zu beschreiben, als er klagte: “Bei ihnen gibt es keinerlei Eigennutz, die die Basis einer jeden Zivilisation bildet.” Sozialismus und Kommunismus waren damals schon als Butzermänner in den Alpträumen reicher Amerikaner aufgetaucht. Um den Indianern auf den Weg des Fortschritts zu helfen, wurde 1890 aufgrund es `Dawes Act' das Gemeinde- und Stammesland der Indianer, also das, was von ihrem Land noch übrig war, die Reservationen, aufgeteilt. Jeder einzelne Indianer bekam ein Stück Land seiner Reservation zugeteilt, als Privatbesitz. Das würde seinen Egoismus steigern, so hoffte man. Man tat noch mehr für die Zivilisation: Kinder wurden ihren Eltern weggenommen und in weiße Internate gesteckt. Kurze Haare wurden Zwang. Manch ein Indianer strich sich wohl ungläubig über seine Haarstoppeln, als die Missionare, die ihm gerade erklärt hatten, daß seine langen Haare heidnisch und unvereinbar mit christlicher Kultur gewesen waren, ihm Bilder von Jesus und seinen Zwölf zeigten - alle langhaarig. Die eigene Sprache zu sprechen, die eigenen Kleider zu tragen, die eigenen Sitten zu befolgen, wurde verboten, und das Christentum wurde jetzt ihnen doch noch aufgezwungen. 1923 sollte die gesamte, indianische Bevölkerung der Vereinigten Staaten auf bloße 220 000 dezimiert worden sein. Wer zeugte schon Kinder, wenn sie einem weggenommen wurden. 1924 war es dann soweit, alle Indianer, und damit auch die Hopis, wurden Bürger der USA, Staatsangehörige mit bürgerlichen Rechten und Pflichten. Eine Folge davon war, daß die Indianer jetzt auch Steuern an die Union zahlen mußten, außerdem wurde der Militärdienst auch für Indianer Pflicht. Viele von den wenigen, die es noch gab, mußten schon bald in vorderster Front dienen, als die USA in den Zweiten Weltkrieg eintrat; manche fielen. Vielleicht sahen sie ein, daß man Opfer bringen mußte, wenn man das Wahlrecht haben wollte. Schulen formten ja bekanntlich den Charakter. Die Hopis hatte es allerdings schlecht getroffen. Ihre Reservation lag in Arizona, und der Staat Arizona weigerte sich bis 1948, das Gesetz, das den Indianern gleiche Bürgerrechte gab, zu ratifizieren. So kamen die Indianer auf ihrem Staatsgebiet nicht in den Genuß der bürgerlichen Rechte, wie 1003
Wahlrecht, Schutz vor willkürlicher Verhaftung usw.; alles Rechte, die sie als Bundesbürger auf den Schlachtfeldern Europas und des Pazifiks verteidigen helfen sollten. Aber die Hopi-Indianer halfen nicht die bürgerlichen Freiheiten und Rechte, für die die USA stand, zu verteidigen; nicht, daß sie es nicht wert waren, sondern weil die Hopis glaubten, wenn sie eine Waffe in die Hand nähmen, sie nicht mit in die nächste Welt genommen würden, wenn die jetzige unterginge. Da deuteten die Weißen schadenfroh auf Awatovi, aber die Hopis machten die Argumentation, daß wenn man erst einmal ein Verbrechen begangen hatte, man auch gleich viele begehen könne, nicht mit. Das Massaker von Awatovi sollte ein Ausrutscher bleiben und nicht der Beginn einer Rutschparty. Die Mörder von damals waren nicht als Helden in die Stammesgeschichte eingegangen. Und ihre Religion verbat immer noch das Blutvergießen. Die Kriegsdienstverweigerung der Hopis wurde vom Gericht nicht anerkannt, da es sich bei dem Glauben der Hopis um keine ordentliche Kirche oder Religion handelte. Die Kriegsdienstverweigerer bekamen durch die Reihe drei Jahre Zuchthaus. Während sie für den Staat, der von ihnen zwar bürgerliche Pflichten verlangte, aber sich nicht um ihre bürgerlichen Rechte scherte, Zwangsarbeit leisteten, nahmen ihnen Weiße und feindliche Navajo-Indianer noch das Land weg, daß die Hopis wegen ihrer Strafe nicht bebauen konnten. Und wenn die Hopi-Indianer dann abends hungernd, frierend und geschunden in den Baracken, die denen von Auschwitz nicht unähnlich waren, - nur die Luft war besser, da kein stinkendes Krematorium in der Nähe Hochbetrieb hatte (der Elektrische Stuhl, der zwar ähnlich stank, wurde nur als ultima ration eingesetzt) - wenn sie also da zusammen saßen, dann trösteten sie sich: “Wir sind nicht allein. Mit uns ist Masaw, unser Schutzgeist, dem wir versprochen hatten, nicht die Weißen, die in unser Land kommen würden, zu töten. Auch wenn sie nicht Pahána, unser verlorener, weißer Bruder, sind, die Weißen sind unsere Brüder, auch wenn sie nicht unsere Freunde sind. Wir haben sie nicht getötet, als sie uns
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unser Land wegnahmen, und wir töten jetzt keine Weißen, wo uns Weiße sagen, wir sollen Weiße töten.”1
Die Kachinas warnten die Schülerschaft zwar vor den weißen Brüdern, daß man sie nicht für Pahána halte, aber sie gaben weder weltlichen Geschichtsunterricht noch erwähnten sie das Massaker von Awatovi oder die der Weißen, sie lebten wohl zu sehr in mystischen Sphären. Wer die Wirklichkeit und wirkliches Wissen wollte, sollte zur Universität gehen, hier gab es nur Unwirkliches, andersweltliches Wissen, Rituale und Zeremonien; die Liste der Geheimformeln war lang, die Details kompliziert. Das Zusammenbinden von männlichem und weiblichem Holz zu einem Paho war verglichen mit einem Geschlechtsakt zwischen Mann und Frau nicht sehr inspirierend. Adjuna ermüdete. Er horchte erst wieder auf, als Panaiyoikyasi, der Wu'ya, also der Klangott, des Feuerund Geistklans, erwähnt wurde. Panaiyoikyasi war als Beschützer von Oraibi in Paláomwaki, dem Rote-Wolke-Haus, das sich auf einem der höchsten Gipfel vor der Stadt befand, zurückgelassen worden und zwar mit dem Gesicht nach unten, und sicherheitshalber hatte man diesem mächtigen Gott auch noch einen Arm gebrochen; es schien sich bei ihm um eine Steinstatue zu handeln. Aber warum tat man einem mächtigen Klangott und Heilige-Stadt-Beschützer so etwas an? Nur Kachina-Lehrer wußte Antwort darauf. Es war überliefert worden, daß wenn man zum Beispiel die Statue umdrehen würde, die mächtigen Kräfte dieses Gottes freikämen. In der Praxis sollte das laut Überlieferung dann so aussehen, daß die beiden mächtigsten Völker dieser Erde sich bekriegen würden und dabei so schreckliche
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zerstörerische Kräfte entfalteten, daß die vierte Welt vernichtet würde.1 Erde bum.
Steif an allen Gliedern kroch Adjuna nach den langen Sitzungen im Kiva endlich aufs Dach und an die frische Luft. Er war lahm vom langen Hocken. Nachdenklich schaute er auf die Öffnung im Dach. Anthropologen hatten Kivas mit Kirchen verglichen, und dabei die beiden als Gegenteile bezeichnet. Im Kirchturm hatten sie einen steifen Penis gesehen und im Kiva eine Gebärmutter. “Es könnte auch ein Dickdarm sein”, dachte Adjuna, vom starken Tabakrauch schwer gezeichnet, “obwohl solche Öffnungen im allgemeinen ja nicht nach oben zeigen.” “Aber die Vorstellung, daß die Erde durch Geburt von einer Muttergottheit hervorgebracht wurde und nicht die Ausgeburt eines männlichen Gottes ist, ist eigentlich sympathisch, auch wenn es nicht der Wahrheit entspricht.”
Die Dörfer hatten schon langen keinen Regen mehr gesehen. Die Niman- Kachinas hatten keinen Regen gebracht, die Flöten-Kachinas auch nicht. Irgend etwas war bei ihren Zeremonien falsch gemacht worden. Jetzt war der Antilopen-Schlangen-Tanz die letzte Hoffnung. Dicke Wolken bildeten sich im Westen. Während die wenigen Touristen, die sich in diesen schweren Zeiten hierher gewagt hatten, sich sorgten, daß die ganze Zeremonie vielleicht ins Wasser fallen würde, schauten die Hopis nervös zu den Wolken hinüber: “Jetzt bloß keinen Fehler machen, sonst ziehen sie vorbei, ohne sich abzuregnen.”
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Die Touristen hatten wirkliches Pech. Als die bunt bemalten Priester mit lebenden Giftschlangen im Mund auf den Platz hinaustraten, um zu tanzen, fing es an, in Strömen zu regnen. “Verdammt. Bei allem Interesse an indianischen Kulten, das ist mir zuviel.” Die Touristen zogen sich zurück. Einige gingen in die Dorfkneipe, andere hinab zu ihren Autos. Die Priester tanzten auch ohne weiße Zuschauer weiter, fürchteten sie doch, daß es sonst gleich wieder aufhören würde, zu regnen. Der Regen hatte es in sich, es war bitterer Regen, er brannte in den Augen, war Essig und Seife zugleich und schmeckte außerdem noch nach Öl. Nicht die Kachinas des Klans, sondern Hexenküchen mußten diese Wolken entlassen haben. Selbst die Schlangen in den Mündern der Priester waren nicht länger dolce und dösig, ihre langen Leiber wanden sich, ihre spitzen Schwänze peitschten in die Augen ihrer Träger. Helfer versuchten noch, sie zu halten, aber das Streicheln mit den Schlangenruten beruhigte sie nicht mehr. In ihrer Not öffneten einige Priester schließlich den Mund und ließen ihre Schlange auf den Boden fallen. Aber es passierte das Ungeheuerliche, die Schlangen griffen zischend an. Der scharfe Regen hatte die Körperbemalung weggeätzt, der Mensch war zu menschlich geworden, sein Make-up war im Matsch, seine magische Kraft flöten, die Schlangen wieder gefährlich. Einige liefen in ihrer Verzweiflung zum Kliff und spuckten ihre Schlangen dort hinunter. Touristen, die die Pfade hinunter zu ihren Autos geflüchtet waren, fanden auf dem Parkplatz ein Schlangengewimmel am Boden. Und leuchtende Feuerschlangen sprangen aus den Wolken. Auch Adjuna und seine Leute flohen zu ihren Fahrzeugen. Wenigstens würde die Blechkarosserie wie ein Faradayscher Käfig wirken.
In der Helligkeit des nächsten Tages sah man eine wie von einer Ölkanne begossene Landschaft vor sich. Die Maispflanzen hatten sich von dem Regen nicht erholt, sondern waren noch welker geworden. Rußig schmierig war alles, die Wände des Pueblos, extra für das 1007
Antilopen-Schlangen-Fest geputzt, waren dreckig und unansehnlich, die Augen der Bewohner gerötet, viele hüstelten, einige waren tot. Die Dorfältesten verkündeten: Weiße Grabräuber hätten Paniyoikyasi aus seinem Versteck geraubt. Aus Rache hätte der Gott die Vulkane geöffnet und das böse Gift der Feindschaft auf die Städte der Räuber regnen lassen. Jetzt brannten sie im Brudermord und “ihr Rauch erreicht auch uns.” Nach dieser Erklärung der Dorfältesten rannten Adjuna und seine Leute wieder zu ihren Prärieschoonern und gaben voll Gas. Es war Adjunas Idee gewesen, die friedliche Oase der Hopis zu verlassen, und durchzufahren bis an die Westküste und sich dann auf das große, friedliche Meer zu flüchten. Es war vielleicht eine Frage von Leben oder Tod. Den Rückweg der Hopis wollte er antreten in ein fernes, fernes Indien. Heimweh nach Rückkehr. - Und die Zeiten waren so schlecht. Ein Schiff würden sie besorgen müssen; besorgen, das konnte hier ruhig amerikanisch einkaufen heißen. Darauf kam es nicht mehr drauf an. In der Stadt der Engel würden sie zum Dieb werden. Es sollte eine schlimme Stadt sein. Sie wären nicht die einzigen Diebe. Es würde nicht auffallen. Vielleicht würde es nicht einmal dem Besitzer auffallen. Vielleicht würde der bei den Rassenkrawallen seinen Besitz schützen wollen und umkommen, ohne im Hafen gewesen zu sein. Mit Vollgas ging es über Highway 264, eine Schlitter- und Hoppelbahn, manchmal fuhr man besser im Sand da neben, weil die Räder da wenigstens faßten. Wieviel Verfall es doch gab. Nur seine Schwerter hatte dieses Land immer blank geputzt. Viele, viele Meilen fuhr man und viele, viele Male gabelte sich die Straße und es war jedes Mal ein Glücksspiel, welche man nehmen sollte, da die Wegweiser verwittert, verwest oder verwaschen waren. Schließlich standen sie aber vor einem lesbaren Schild, rechts: Las Vegas, Nevada; links: San Diego, Kalifornien. 1008
Las Vegas, die Stadt Bugsy Siegels, eines Unterweltlers, berühmter hit man, bezahlter Killer, hier legte er sein Geld gewinnbringend an und schuf etwas Schönes - für Amerikaner. Adjuna befand: “Das Leben ist schon Gamble genug. Wir brauchen die Kasinos und einarmigen Banditen und anderen Spielereien nicht, unser Spiel ist zu ernst dafür.” Und so bog der kleine Konvoi nach links. Dem Colorado folgend kamen sie in eine Tiefebene, die heiß und stickig war. Yuma hieß der Hauptort, eine alte Goldgräberstadt. Wegen der teuflischen Hitze hatte man einst den Weg nach Yuma, den Camino del Diablo, die Teufelsstraße, genannt. Aber seit die Autos und Häuser mit Klimaanlagen ausgerüstet waren, merkte man nicht mehr soviel von der Hölle und hatte den Namen wieder vergessen, auch war man nicht mehr so fromm und die Hölle hatte viele ihrer alten Schrecken verloren. Die dortigen Bewohner hatten sicher auch schon etwas gefunden, um die Unannehmlichkeiten abzumildern. Das alte Staatsgefängnis von Yuma wurde in der Touristenbroschüre als sehenswert angepriesen: neuerdings mit Air Condition! In alten Tagen war neben den Schikanen der Wärter, Auspeitschungen und Dunkelzellen für Einzelhaft, die brütende Hitze in den Zellen eine besondere Abschreckung gewesen. Laut Broschüre wurden in dem Gefängnis Mörder, Räuber, Diebe, Taschendiebe, Viehdiebe, Frauendiebe, Ehebrecher und Vergewaltiger, sowie Verbrecher gegen die Natur dort eingekerkert. Verbrecher gegen die Natur? Gab es denn damals schon Naturschutz? Verbrecher gegen die Natur, das hieß Leute, die bei homosexuellen und sodomistischen Handlungen erwischt worden waren, oder Ehepaare, die so etwas Unnatürliches taten, wie sich an der falschen Stellen küssen, sie den Schwanz, er die Muschi, und dabei vergaßen, vorher die Tür fest abzuschließen oder die Fensterläden zuzumachen. Weiter ging es Richtung San Diego. Die Straße war jetzt gut ausgeschildert. Der nächste größere Ort hieß El Centro. Da die mexikanische Grenze nicht weit war, lag dieser Ort gewissermaßen 1009
ganz am Rande der Vereinigten Staaten. Trotzdem war dieser Ort ein amerikanischer Superlativ, nämlich angeblich die größte Stadt der Welt, die unter dem Meeresspiegel lag. Es war in diesem Ort, das unsere Freunde mit den Gesetzeshütern in Konflikt gerieten. Die Gesetzeshüter glaubten nämlich, der Konvoi sei von Mexiko gekommen und die Leute wären illegale Einwanderer. Man war der Meinung, die USA hätte genug Probleme und brauche die Mexikaner nicht auch noch. Das mit den Problemen stimmte übrigens. Jeden Tag stimmte es sogar ein bißchen mehr. Da die Gesetzeshüter sehr forsch auftraten, kam es zu einem Feuergefecht, daß unsere Freunde wegen ihrer überlegenen Feuerkraft mit Leichtigkeit gewannen. In San Diego blieben sie auch nicht lange. Da sie im Hafen mit ihrem Konvoi gleich dumm aufgefallen waren, hatten sie das Gefühl, dort nicht mehr ungestört ein Schiff klauen zu können. Sie wandten sich also gleich nach Norden, durchfuhren das Orangenland Richtung Los Angeles. Am Wegrand waren noch einmal die amerikanischen Träume verwirklicht, Amusement Parks, Fantasieländer, Movie World, Movieland Wax Museum, Palace of Living Art, eine 9-Hektar-DriveIn-Church, Alligator Farm, Lion Country, Knot's Berry Farm und der schönste Ort der Welt: Anaheim, das Land mit den glücklichsten Untertanen, den Disneyländern. Aber lassen wir die Anaheimer daheim. Fantasien sind immer besser als Fakten, solange sie Fantasien blieben und die Fakten nicht besiegen und kaputtkriegen. Los Angeles war ein anderer amerikanischer Superlativ. Es war die Stadt mit der schlechtesten Luft der USA. Von weitem schon sah man schwarzen Rauch über der Stadt stehen. Tatsächlich war dieser Ort, bevor die Christen hier Engelchen sahen, für die Indianer der Ort des stehenden Rauches.
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Adjuna fluchte: “Warum verbrennen die soviel, wenn die wissen, daß der Rauch nicht abzieht?” Los Angeles mußte weitläufig umfahren werden, weil dort dicke Luft herrschte, Riots, Aufstände. Die Polizei hatte Straßensperren errichtet und leitete den Verkehr um. Ein freundlicher Beamter, mit dem Adjuna ins Gespräch kam, erklärte: “Die Slumbewohner haben diesmal, statt im eigenen Stadtviertel zu wüten, das Stadtzentrum und die Villenviertel verwüstet.” “Wie kann das denn angehen?” “Das wissen wir auch nicht. Das ist bisher noch nie passiert.”
Die Freunde umfuhren die Stadt. Dann folgten sie weiter der Pacific Coast Highway. Sie hatten sich schon auf dem Weg von San Diego über überladene PKWs gewundert, die ihnen entgegen kamen. Jetzt wurde klar, daß es Leute auf der Flucht waren. Hab und Gut hatten sie in ihre Autos gepackt und flohen so aus der aufgebrachten Engelstadt. Einige wurden die Opfer von Straßenräubern. Erschossen lagen sie am Straßenrand. Ein Teil ihres Hausrats, der unbrauchbare Teil, lag neben ihnen. Besonders schlimm aber waren die waidgeschossenen, wie sie am Straßenrand ihre vertüderten Gedärme hielten und um Hilfe flehten, die blutige Hand ausstreckten. Aus Angst, selbst überfallen zu werden, brausten die Leute an ihnen schnell vorbei. Auch Adjunas Konvoi brauste an den ersten vorbei. Adjuna war der Meinung, daß die Verwundungen zu schwer waren, daß man ihnen nicht mehr helfen konnte. Erst als er den von einer Maschinengewehrsalve lahm geschossenen Bus einer Filmgesellschaft am Straßenrand gestrandet sah, hielt er an, und organisierte Erste Hilfe. Viele junge Männer waren in dem Bus, einige hatten nur Streifschüsse abbekommen, andere waren unverletzt geblieben. 1011
Mit der Abschleppstange des Busses wurde der Bus an den großen Lkw gehängt. An jeden, der eine Waffe halten konnte, wurde eine verteilt, die dann immer Schuß bereit zu halten war. “Wenn wir Überfallene sehen, werden wir von jetzt ab grundsätzlich anhalten und sehen, ob wir irgendwie helfen können. Es geht auch nicht, daß Leute einfach auf offener Straße abgeknallt werden. Wir müssen etwas dagegen tun. Einen Geleitzug organisieren.” Adjuna riß eine auf dem anliegenden Feld stehende Plakatwand los und ritzte mit seinem Messer über das Reklamemädchen: “Dies ist ein Geleitzug. Wenn Sie Schutz vor Wilderern suchen, gliedern Sie sich vorsichtig ein.” Dann gab er jemandem den Auftrag, das Schild hinten am Bus zu befestigen. Adjuna tauschte auch Fahrzeug. Er nahm den Panzerwagen der Bank und fuhr vorweg, ihm folgte der langgestreckte Cadillac, an jedem Fenster kauerte jetzt ein Schütze; die Motorradfahrer kamen sich plötzlich sehr nackt und schutzlos vor ohne Blechkarosserie; das LkwBus-Gespann sollte immer die Nachhut bilden. Man entschied, sehr langsam zu fahren, damit Flüchtlinge den Konvoi einholen konnten und sich eingliederten. Nicht jeder machte von Adjunas Angebot Gebrauch. Einige mißtrauten ihm wohl oder waren mutig oder hielten sich selbst für ausreichend bewaffnet, trotzdem wuchs der Konvoi ständig. Von Zeit zu Zeit machte man Pause, um die Neuen zu mustern, ihnen eventuell zusätzliche Waffen zu geben und ihnen zu versichern, daß sie keine Angst mehr zu haben brauchten. Es waren ausschließlich Familien, die sich anschlossen. Die steile, zerklüftete Küste und die mächtig brechende Surf des Pazifiks war eigentlich eine Touristenattraktion, aber jetzt hatte niemand mehr ein Auge dafür, alle dachten nur an die Schrecken, die sie gesehen hatten, und die, die sie vielleicht hinter der nächsten Kurve erwarteten. Selbst Adjuna fühlte sich tense, angespannt. Wie beende 1012
ich das Abenteuer Amerika? Einfach aufwachen aus dem Alptraum geht doch nicht. Während er so vor sich hin träumte, überholte ihn eines seiner Motorräder. Der Fahrer schrie ihm was zu, aber die Panzerung des Geldtransporters war so gut, daß man innen nichts hören konnte. Die Scheiben konnte man auch nicht herunterdrehen. Der Mann gab schließlich Zeichen, daß er anhalten solle. “Was ist passiert?” Die Leute vom Bus haben ein Pärchen gesichtet, “ganz nackt und blutig geschlagen.” “Gut, ich komme sofort.” Adjuna stieg aus und ging die lange Wagenschlange entlang. “Es sind aber viele Neue hinzugekommen”, dachte er. Am Ende angekommen, wurde ihm gleich aufgeregt berichtet, daß die Beiden in eine Falle geraten waren. Hinter dem Kap sollte sich eine gefährliche Straßensperre befinden mit mehreren Polizeifahrzeugen. Das seien in Wirklichkeit aber gar keine Polizisten, sondern die Engel der Hölle aus den Slums von Los Angeles, die dort ihren Mutwillen trieben. “Keiner kommt da durch”, stöhnte der Mann in seiner Wolldecke, noch immer bleich und am Zittern. Seine Frau heulte nur ganz stumm. Einige Frauen aus dem Konvoi bemühten sich um sie. Jemand hielt ihr einen Becher mit heißem Tee aus einer Thermosflasche hin, aber sie blickte nicht auf und nahm auch nichts an. Sie mußte viel durchgemacht haben. “Warum kommt da keiner durch?” wollte Adjuna wissen. “ Die sind zu viele.” “Wir haben einen großen Truck und einen gepanzerten Wagen.” “Die haben mehrere Trucks. Da kann keiner vorbei.” “Wie ist es möglich, daß ihr weglaufen konntet?” “Ja, haben die nicht aufgepaßt?” hakte ein Familienvater nach, der plötzlich die beiden zerschundenen Nackten für den Köder einer Falle hielt; ängstlich blickte er die Hänge hinauf. “Nein, die bekommen alle. Selbst die, die umkehren wollten, haben sie gekriegt.” “Ja, aber wie seid ihr denn entkommen?” “Die treiben mit allen ihren Mutwillen. Alle mußten sich ausziehen. Wer sich weigerte, dem wurden die Kleider vom Leib 1013
gerissen. Dann mußten wir alle zur Rap-Music tanzen, dabei haben sie mit Lederriemen und Ketten auf uns eingeschlagen. Immer wieder wurden die Frauen mißhandelt. Viele sind liegengeblieben. Ohnmächtig. Wir haben uns auch hingeworfen und sind dann nicht mehr aufgefallen. Wir konnten an der Kante wegschleichen, im Entwässerunggraben.” “Vielleicht ist es wirklich zu riskant, mit dem Konvoi da reinzufahren. Schließlich sitzen wir dann wirklich in der Falle, sind umzingelt und können weder vor noch zurück. Ich habe eine bessere Idee. Wir schleichen uns zu Fuß ran. Dann sitzen die in der Falle und wir schießen auf sie aus sicherer Deckung!” “Das ist eine gute Idee!” “Also los. Du, du, du, hier ihr hier, da, da, weiter, los teilt euch! Also ihr hier kommt mit mir. Der Rest greift von der anderen Straßenseite an.” Da meldete sich der Geschundene noch einmal zu Worte: “Das geht nicht. Da hinter dem Kap fällt es links von der Straße ganz steil ab. Da kann sich keiner halten.” “Um so besser”, lachte Adjuna, “dann bleiben wir alle zusammen. Kommt, wir jagen sie ins Meer!” Der geschundene Mann hatte sich unter der Wolldecke in die Latzhose, die ihm ein Schlosser gegeben hatte, gezwängt. Jemand anders lieh ihm noch ein Hemd. Dann war er begierig, auch eine Waffe zu bekommen. Auf dem Weg mahnte er noch einmal: “Es sind wirklich viele.” “Wir müssen behutsam sein”, gab ihm Adjuna recht, “es ist nicht gut, zu trigger-happy zu sein. Schießwut bringt uns nur alle in Gefahr. Nachher haben wir zu viele Tote zu beklagen.” Er entwickelte dann einen Plan: “Jeder bekommt einen Streifen Feindland zugeteilt. Auf diesem Streifen hat er, sofort wenn es losgeht, alle Feinde totzuschießen. Und losgeht es - und jetzt paßt auf! - wenn ich mit dem Geldtransporter da bin,...” “Waas?” Alle wunderten sich. “Ja”, sagte Adjuna, “ich werde, wenn ihr alle eure Plätze eingenommen habt, noch einmal zurücklaufen und den Geldtransporter holen. Ihr wißt doch, der ist schußsicher. Ich mache alles zu. Versuche vielleicht umzukehren oder rückwärts zu entkommen. Sicher werden die das 1014
nicht zulassen wollen.” Da fiel Adjuna ein, daß wenn das hier alles überstanden war, er eigentlich mal den Laderaum aufbrechen sollte, um nachzusehen, ob da was drin war, aber in aller Heimlichkeit, nur wenn seine Vertrauten dabei waren. “Die wollen ja an das Geld ran. Die wissen ja nicht, daß daas Ding leeer ist. Wenn ich dann hupe, knallt jeder seine Leute ab. Den meisten braucht ihr wahrscheinlich bloß in den Rücken zu schießen, da die sich ja um mich kümmern. Durch den Geldtransporter wird euer Risiko also geringer.”
Man hatte die Stelle erreicht. Der Redwood, also der rotstämmige Kiefernwald, lag hier etwas zurück. Es war gut, daß er nicht bis an die Straße reichte. So hatte man ein besseres Schußfeld. Der Wald endete etwa 40 Yards über den Wegelagerern. Das gelichtete Stück Abhang war mit Betonplatten gesichert. Da es sehr steil war, dürfte es sehr mühsam sein, hochzusteigen, während das Runterschlittern ein Kinderspiel war. Auf der anderen Seite fiel der Abhand steil und baumlos ins Meer hinab. “Haha”, flüsterte Adjuna, “die haben für die Autofahrer eine Falle gebaut, aber die sitzen selbst in der Falle. Hier haben wir die beste Deckung der Welt und das beste Schußfeld der Welt!” - Hoffentlich treffen die aus der Entfernung auch noch richtig. - Du und du und du, ihr stellt euch da vorn auf und laßt niemanden um die Ecke entkommen. Du und du und du, könnt ihr gut schießen? ja? Ihr schleicht euch da hinten hin und laßt niemanden in die Richtung entkommen!” “OK.” “Halt!” rief Adjuna auf einmal flüsternd, “halt!” Er schaute noch einmal hinunter. Viele Autos waren da, die den Konvoi überholt hatten. An beiden Seiten der `Tanzfläche', so mußte man es wohl nennen, blockierten fünf Trucks die breite Straße. Luxuslimousinen parkten säuberlich mit Heck zum Abhang. Die Banditen konnten 1015
vielleicht dahinter Deckung nehmen, aber viel würde es ihnen nicht nutzen, “da unsere eigene Schußposition so hoch ist.” Da unten war man gerade dabei, die wertloseren Autos führerlos die Straße entlang schräg auf den Abhang losfahren zu lassen, andere versuchten auf einen Mann einzuprügeln, daß er vor das fahrende Auto lief. Das Gegröle und Gefeixe war schrecklich anzuhören. “Die Höllenengel treiben es wirklich zu schlimm”, sagte Adjuna ernst, “wir müssen sofort einschreiten.” Zur Party da unten gehörte Spießrutenlaufen bis zum Umkippen, Frauen wurden nicht vergewaltigt, dazu war man wohl zu besoffen, sondern gesexualmordet, einige Engel hielten die Hodensäcke gefesselter Männer in ihren Lederhänden und drückten abwechselnd zu, die Schmerzensschreie erfreuten sie mächtig: “Wer war wohl der lauteste, ohne abzuklappen?” Es gab Nebenszenen mit Messer im Anus oder Dornenblumen und Menschen, die ganz einfach abgefackelt wurden. Die Fantasien des Hieronymus Boschs hatten keine grausamere Hölle beschrieben, keine basismenschlicheren Monstrositäten. “Schnell verteilt euch. Jede Minute ist kostbar. Sie kann ein Menschenleben mehr kosten. Jeder schießt einfach auf die Engel auf dem Straßenstreifen vor sich. Und zielt gut, damit sie gleich tot sind und uns keinen Ärger mehr machen. Denkt dran, die sind zehnmal mehr als wir. Aber wir haben den Überraschungseffekt, außerdem sind wir nüchtern. Laßt euch nicht einschüchtern, wenn sie die Nackten als Geisel benutzen wollen. Wenn wir uns ergeben, geht deren Party mit uns als Opfern genauso weiter. Schießt so gut ihr könnt auf die Engel, wenn ihr dabei deren Opfer trefft, seht darüber hinweg, schießt sofort wieder auf einen Engel. Bringt euch selbst nicht in Gefahr, lauft erst den Abhang hinunter, wenn die Engel alle tot sind und sich nicht mehr rühren. Und wenn ihr euch den Toten naht, verpaßt ihnen sicherheitshalber noch eine Kugel!”
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Adjuna spannte seinen Bogen. “Bist du verrückt? Willst du mit dem alten Bogen schießen?” protestierten einige. “Ich nehme immer den Bogen.” Es wurde eine blutige Schlacht. Bäng, bäng. Der neben Adjuna in Deckung lag, meinte plötzlich bitter: “Mein Gott, als Schauspieler hab ich immer den Sheriff gespielt. Hätte nie gedacht, daß es mal ernst wird. Mit Ellbogen hab ich mir den Zugang zum Film erkämpft, jetzt schieße ich mir den Fluchtweg frei.” Plötzlich sprang er mit seiner Winchester in der Hand den Abhang hinunter. “Bleib hier! Das ist Wirklichkeit!” Zu spät. Tödlich getroffen rutschte er die Betonplatten hinunter. Einige Höllenengel fanden Deckung unter und hinter den Trucks und schossen von ihrem sicheren Versteck aus auf die hilflosen Geisel in der Mitte der Tanzfläche. Einige Burschen waren deshalb so verzweifelt, daß sie den Abhang runterstürzten, um unter die Lkws schießen zu können. Die Engel erwischten sie aber vorher. Es waren am Ende Adjunas magische Pfeile, die die Engel unter den Lkws erwischten, sie zur Hölle schickten, wo sie herkamen und hingehörten. Die Schlacht war gewonnen, es wurde aufgeräumt. Da man von der Gesetzlosigkeit des Landes gründlich überzeugt war, erschoß man die noch lebenden Engel der Hölle und warf ihre Leichen dann einfach den Steilhang hinunter. Ihre verwundeten oder getöteten Opfer lud man auf die Lkws. Auch viele der zitternden, bleichen Opfer fanden in den Laderäumen der Trucks endlich Geborgenheit.1
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Die für Amerikaner und Freunde amerikanischer Filme schönste Szene aus dieser Vita Adjuna endete hier. Alle Helden hatte Adjuna in den Schatten gestellt. Wer es sich anders vorgestellt hatte, hatte es sich falsch vorgestellt. Er war doppelt so alt wie Silvester Stallone, obwohl er jünger und muskulöser als Arnold Schwarznagger aussah, er war wilder als Mad Max, übermenschlicher als Superman, und im Gegensatz zu Clint Eastwood war er Nichtraucher,
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Der Konvoi war jetzt sehr viel größer geworden, zehn Trucks und zwölf Luxuslimousinen waren dazu gekommen. Einige Burschen hatten sich auch Maschinen der Rocker angeeignet. An dem T-Kreuz, wo von der Küstenstraße State Highway Number 1 die State Highway Nr. 156 nach Castroville abbog, ließ Adjuna halten und die Leute zusammenkommen. Unter dem Billbord `Castroville Artischocken Hauptstadt der Welt' stellte er sich auf einen Stein, um seine weiteren Pläne zu erläutern. “Ich war bei den Indianern. Ich spreche ihre Sprachen, wie ich jede andere Sprache der Welt beherrsche, und die alten Häuptlinge sagten mir, daß sie voller Zuversicht seien, daß ihnen eines nahen Tages Amerika wieder allein gehören wird. Der weiße Mann verstehe nicht, auf diesem Boden zu leben, und der schwarze auch nicht. Beide werden sich hier zugrunde richten. Es wird zu einem großen Sterben kommen in den Städten. Die Fremdlinge des Kontinents werden sterben, es werden auch viele Indianer sterben, aber letzten Endes werden es Indianer sein, die überleben, und nicht die Fremdlinge. Das Aussterben zu überleben, da haben die Indianer ja schon Erfahrungen drin. Ich würde mich nicht wundern, wenn ihre Prophezeiungen in Erfüllung gingen. Ich habe daher beschlossen, da ich ein Fremdling in diesem Land bin und ich mich in keinem anderen Land dem Untergang so nahe gefühlt habe, das Land auf dem Seeweg zu verlassen. In der Stadt des Heiligen Franz werde ich mit meinen Leuten ein Schiff kapern. Hoffentlich können wir uns bis zum Hafen durchkämpfen. Wer mit uns kommen will, kann mitkommen, wenn er die folgenden Bedingungen erfüllt: Er oder sie muß körperlich und geistig gesund sein, darf weder rauch- noch rauschgiftsüchtig sein und darf auch an keinen Gott glauben, außerdem muß die Person mit der Waffe umgehen können, da kriegerische Zeiten zu erwarten sind.”
und das gefiel den Amerikanern besonders, denn, daß rauchen stinkt und ungesund war, hatte man nirgends so gut begriffen wie in Amerika. Nur der Stadtneurotiker war ihm wohl was Neurosen betraf überlegen, aber der war ja auch ein Außenseiter der anderen Art.
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Es meldeten sich nur wenige. Die meisten fühlten sich gar nicht als Fremdlinge im Land. So häuslich hatten sie sich's eingerichtet. Der Konvoi teilte sich auch hier. Die meisten wollten in die nähere Artischockenhauptstadt der Welt. “Da ziehen sie dahin. Sollen sie Edeldisteln essen, bis sie platzen.”
Die Stadt des heiligen Franz lag auf vierzig Hügeln, was für ein Superrom! Die Stadt am Tiber lag bekanntlich nur auf sieben Hügeln. Aber niemand in Franzens Stadt machte sich deshalb über Rom lustig. Man hielt sich für die Homosexuellen Hauptstadt der Welt, einige ältere Leute hielten die Stadt immer noch für die Hippyhauptstadt der Welt, man hatte die größte Chinatown der Freien Welt, außerdem Klein-Tokyo, Klein-Italien, ein mexikanisches Stadtviertel, ein afroamerikanisches Slumviertel, Sodom und Gomorrah und die größten Träume von Gold und vor allen Dingen die größte goldene Brücke der Welt. Mit der Annäherung an die Stadt bröckelten die Familien langsam ab, sie hatten wohl Verwandte in den Vorstädten. Vor der ersten Kirche, die der Konvoi passierte, trennte sich dann endgültig die Spreu vom Weizen, was jeder auf seine eigene Art interpretierte. Da Adjuna bei seiner Rede unter der großen Artischocke es ja klar gemacht hatte, was er plante, und daß die, die noch an die alte Religion glaubten, nicht willkommen waren, mitzureisen, versammelten sich die restlichen Christen, die Adjuna vor den Höllenengeln gerettet hatte, vor der Kirche, um Gott für ihre Rettung zu danken. Im Gegensatz zu den Atheisten unter den Geretteten zeigten sie Adjuna nur wenig Dankbarkeit, dafür warfen sie sich um so inbrünstiger vor der Kirche auf den Boden. Hoffentlich ist das das letzte, was ich von Christen sehen, ihre Ärsche, dachte Adjuna, wenn ich erst wieder mit dem Schiff unterwegs bin, 1019
werde ich nie an der Küste eines christlichen Landes vor Anker gehen. Warum gehen die Ärsche nicht in die Kirche und beten drinnen? Ich habe schon oft gedacht: Es ist doch erstaunlich, daß jemand, der an einen Gott glaubt, der die Menschheit wegen einer gestohlenen Frucht verdammt, sie aber erlöst, wenn sie seinen Sohn, den er mit einer verheirateten Jungfrau gezeugt hat, ermordet, daß so einer überhaupt im täglichen Leben funktionieren kann und solche rationalen Dinge wie das Öffnen einer Tür durch Herunterdrücken der Türklinke beherrscht und nicht wie ein Ochs vorm Berg davor steht und einen Zauberspruch losläßt. Sollte es sein, daß diesen Christen hier durch das Trauma mit den Engeln der Hölle der letzte Bezug zur Wirklichkeit abhanden kam und sie sich jetzt mit ausgestreckten Armen auf die Kirchenstufen werfen und ein Sesam-öffne-Dich murmeln, um sich durch das große Tor Einlaß zu verschaffen. Einen letzten Dienst werde ich ihnen erweisen. Ich werde ihnen die Tür aufhalten. Verdutzt gingen die Gläubigen ins Innere, um sich aufs Neue auf die Knie zu begeben. Hoffentlich haben die Blödmänner gesehen, wie ich die Tür aufgemacht habe, sonst kommen sie nachher nicht wieder raus, dachte Adjuna, als er dem Konvoi das Kommando gab, ein Stückchen weiterzufahren. Beim nächsten Stopp versuchte er dann den Laderaum des Geldtransporters aufzubrechen. Nach einigen kräftigen Schlägen mit der schweren Abschleppstange war die Tür tatsächlich weit genug eingebeult. Gold! Goldbarren! Viele, viele Goldbarren! Hurra, Amerika war doch das Land der unbegrenzten Möglichkeiten! “Jetzt brauchen wir den Proviant für unsere Reise und die Kleidung und Ausrüstung, und was wir sonst noch alles brauchen, nicht mehr 1020
von den Kaufhäusern zu rauben, sondern können alles ordentlich bezahlen!” erklärte Adjuna die neue Situation. Adjunas Konvoi hatte einige Schwierigkeiten durch die aufständische Stadt zu kommen. Normal Einkäufe zu machen, war wegen der Aufstände auch unmöglich. Wenn man was haben wollte, mußte man sich den Plünderern anschließen, oder wenn man sah, daß die Plünderer das hatten, was man brauchte, mußte man es ihnen abnehmen. Die schrien dann: “Ich habe es zuerst gehabt.” Als ob nicht das Kaufhaus es zu erst gehabt hatte. Taucherausrüstungen, Turnschuhe, Trenchcoats, Südwester, warme Sachen und Badehosen, Festmacherleinen, dicke Taue und dünne, Treibanker, Schwimmwesten, Signalraketen, Persenninge usw. eignete man sich auf die Art an, ein Witzbold hatte sich sogar ein Surfboard gemopst. Spaß muß sein, schien er zu denken. Vielleicht nicht die schlechteste Sorte Mensch. Adjuna war schwer und traurig. Spaß lag ihm fern. Er dachte an die Zukunft. Amerika, sagte man, sei der Welt immer um einen Schritt voraus. Wie wird es in der restlichen Welt zugehen? Wird man sich dort gegenseitig umbringen? Und ein kleiner Gedanke zurück: Was macht Europa? Es war klar, es reichte nicht, ein Yachtzubehörgeschäft auszuplündern, man mußte auch ein Waffengeschäft plündern, um für den Rest der Reise ausreichend mit Waffen und Munition versorgt zu sein, denn man konnte ja nichts selbst herstellen. Man erkundigte sich also bei einem Passanten, der gerade einen Molotowcocktail in irgendeinen Plüschladen werfen wollte, wo sich ein Waffengeschäft befand, aber der gute Mann sagte bloß: “Keine Ahnung, ich bastl mir meine Molotowcocktail selbst.” Ein anderer Passant wußte aber dann Bescheid.
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Als sich die Freunde der Straße mit dem Waffengeschäft näherten, hörten sie die Maschinengewehre schon von weitem knattern. Die Waffen des Händlers schienen begehrt zu sein. Und Adjuna schien weder der erste zu sein, der dachte, sich durch Aufstocken des Waffenlagers das Überleben für die nächste Zeit zu sichern, noch der einzige. Das Problem war nur, daß der Geschäftinhaber sich mit seinen Söhnen und Freunden im Geschäft verbarrikadiert hatte und sich die Waffen nicht wegnehmen ließ. ...und er schien über unermeßliche Vorräte zu verfügen. Nie hörten die Waffen des Geschäfts auf, Feuer zu sprühen. Aber auch die Banditen schossen ununterbrochen auf das Geschäft. Halt, da hörte einer auf. Er hatte seine Munition verschossen. Da noch einer. Wie sollten die jetzt weiterleben können? Adjuna gab seinen Leuten einen Rat: “Statt daß wir auch noch unsere Munition verballern, gehen wir lieber behutsam vor. Der Geschäftsinhaber hinter seinen Panzerplatten ist fast unerreichbar. Wenn wir jetzt aber die Banditen, die seinen Laden ausrauben wollen, von hinten erschießen, können wir vielleicht mit ihm handelseinig werden. Schließlich haben wir Gold.” Die Banditen waren schnell von hinten erschossen, aber der Ladenbesitzer stellte seine Gegenwehr, selbst als man nicht mehr auf ihn schoß, nicht ein. Adjuna und seine Freunde machten ein dummes Gesicht. Anrufen half auch nicht. Wahrscheinlich war man da drin halbtaub vom Lärm. Es war wieder Adjunas Bogen, der das Problem löste und den hinter den Panzerplatten Hockenden das Leben ausblies. Endlich konnten sich die Freunde konventionell aufrüsten. Mühsam kroch der Konvoi dann weiter durch den Tumult der Urbanisation, der Verstädterung, der Stadtschaft. Die Kains erschlugen 1022
die Abels und die Abels erschlugen die Kains, und es war nicht immer leicht da durchzukommen. Urbarbarisierung nannte man wohl diese letzte Phase der Städte. An einem Platz, auf dem viele Leute waren, fühlte Adjuna sich verpflichtet, ein paar Worte an die Menschen zu richten, hatte er doch einst seine Stimme gegen die Religion erhoben und ein anderes Mal gegen Rassenhaß und für die Rassenvermischung gekämpft, und hatte er doch viel gesehen und beobachtet im Leben, so daß er berechtigt war, seinen Abschied, seine Abschiedsworte, seine letzten Schlußfolgerungen in einer Predigt zusammenzufassen. Adjuna kletterte auf den Bus und rief dem Volke zu: “Ich predige Euch den Selbstmord...” Das Volk zu seinen Füßen aber erregte sich. Adjuna: Ich tue Euch nichts an. Ich könnte Euch einen guten Rat geben, aber ihr wollt ihn ja nicht. Ich will Euren Tod nicht, Euch nicht morden, Ihr wollt es selbst. Alles tut Ihr Euch selbst an. Ihr könnt schreien, aber nicht die Augen öffnen. Ihr könnt rennen, aber auf der Suche nach dem vermeintlichen Glück werdet Ihr ins Unglück stürzen. Ihr beschimpft mich als Mörder der Menschheit, aber Ihr seid es, die Ihr diesen Mord durchführen werdet, Ihr werdet es ganz sicher tun, Ihr könnt nicht anders, Ihr seid so, es ist in Eurer Natur und Ihr seid keine Naturbezwinger, wie Ihr überhaupt nur andere nie Euch selbst besiegen könnt, deshalb braucht Ihr auch den anderen für Euren Selbstmord und der andere braucht Euch, so seid Ihr durch gegenseitige Hilfe erfolgreich, es geht nichts über gute Nachbarschaft. Aber Adjuna war nicht nur von den Leuten angewidert, sondern auch von sich selbst, all die Gewalttätigkeit in ihm, all die Geilheit, all die Lüge, all der Zynismus, all die falschen Fantasien, all die dummen Hoffnungen, all die Eklig- und Unzulänglichkeit. Er floh nicht nur vor 1023
den Menschen, er floh auch vor sich selbst. Die ewige Flucht ging weiter.
When you are going to San Francisco/ be sure to wear some flowers in your hair/ ... you gonna meet some gentle people there/ ... in the streets of San Francisco gentle people with flowers in their hair/ all across the nation/ such a strange vibration/ people in motion/ a whole generation with a new explication/ people in motion. 1
Die Blumenkinder, die einst San Francisco als Kult-City auserkoren hatten, waren schon fast alle Omas und Opas geworden, ihre Blumen waren verwelkt, ihr Kult-Auto T-Bird verrostet, Mottos wie “Make Love Not War” waren eingemottet worden.
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aus Scott Mckenzies Song “San Francisco” von 1967
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Sie hatten Mary Jane geliebt, Haschisch geraucht, Cannabis gekaut, nach Ganjah gegiert oder schlimmer noch: im LSD-Rausch lethargiert und niemandem etwas getan. Ihre Teilnahmslosigkeit, besonders ihre Absage an die Konsumgesellschaft, hatte die eigenen Eltern und das Establishment in große Schrecken versetzt, war es doch der Konsum, das Selbstverständnis, nach Reichtum zu streben und irdischen Gütern, was Amerika groß gemacht hatte. Der Angriff auf die Absage amerikanischer Werte erfolgte zweispurig: verhaßt machen und vermarkten, die Thesen wurden verhaßt gemacht, die bunte, legere Kleidung und die anderen Äußerlichkeiten wurden vermarktet und schick. Die Blumenkinder, die das Liebemachen wirklich ernst nahmen und ihre Hand der Bürgerrechtsbewegung entgegenstreckten und noch weiter, ernteten Haß, wurde übergangen, zermalmt, verleumdet, während sich die Gesellschaft wieder ihrem liebsten Spiel, der Verschwendung und Vergeudung, zuwandte und die gesellschaftlichen Mißstände die gleichen blieben. Eine neue Generation wuchs heran, eine neue Generation in Motion. Neue Vibrationen, neue Explikationen. Sie hatten ihre Lektion gelernt: Eine Blume im Haar schafft keine Veränderung, eine Waffe in der Hand schon eher. Es war eine brutale Generation mit Sicherheitsnadeln in der Backe, Totenköpfen um'n Hals, SS-Emblemen auf der Jacke und als Tätowierung. Was sie wollten? Rache nehmen.
Adjuna und seine Leute trugen weder Blumen im Haar, noch Sicherheitsnadeln in der Backe, aber sie hatte alle eine Waffe. Sie 1025
verfolgten auch keine diffusen Ziele, wie Rachenehmen, sondern hatten ein konkretes Ziel: den Hafen.
“Isn't she a beauty! Ist sie nicht eine Schönheit!” Die Freunde standen vor einem schlanken Drei-Mast-Schooner. “Wenn wir schon klauen, dann vom Besten.” Adjuna gab den Befehl, die Halteleinen dichtzunehmen, damit das Schiff näher an den Kai kam und man an Bord springen konnte. Er hatte sich schon einen Draht geschnappt und war dabei einen Dietrich daraus zu biegen, um die Deckshaustür zu öffnen. “Heh, hier ist ja ein Fenster eingeschlagen”, rief einer der Freunde ihm zu. Adjuna öffnete die Tür aber trotzdem mit dem Dietrich. Schnell erkundeten die Freunde das Schiff. “Es ist fast ein bißchen zu eng für uns alle.” “Schnell, holt den Proviant aus den Autos und seht dann mal nach, wo die Segel verstaut sind. - Macht alles fertig. Am besten hauen wir schnell ab. Die Polizei ist wahrscheinlich zu beschäftigt wegen der Aufstände, aber man kann ja nie wissen. Ich fühle mich erst sicher, wenn wir aus dem Hafen raus sind. Draußen auf dem Meer ist die Freiheit.” Nicht alle Landratten teilten diese Meinung. Schnell gab Adjuna seine Befehle und erklärte, was zu machen war, ließ seine Mannschaft antreten, musterte sie. “Mein Gott, nicht eine einzige Frau an Bord!” “Setzt Focksegel! Setzt Großsegel! Fiert die Schoten! Klar bei Anker! Klar bei Achterleinen!” “Anker ist klar!” “Achterleinen sind klar!” “Achterleinen los! Anker kurzstag holen!” “Achterleinen sind los!” meldeten die Matrosen vom Heck, und gleich noch: “Da möchte noch jemand mitfahren!” 1026
“Waas?” brüllte Adjuna zurück. “Der Mann ist schon an Bord”, war die Antwort. Das Schiff glitt langsam vom Kai ab. “Anker ist kurzstag!” kam die Rückmeldung vom Bug. Neues Kommando: “Schoten dicht! Anker auf!” Neue Rückmeldung: “Schoten sind dicht! Anker ist los!” Das Schiff schrammte am Nachbarboot entlang hinaus ins Hafenbecken. Die Männer vom Heck führten den neuen Mann vor. Noch ein bißchen keuchend vom Sprung fragte er gleich Adjuna, ob er mitfahren dürfe. “Weißt du nicht, daß man erst fragt, ob man an Bord kommen darf, bevor man an Bord kommt?” “Mir gehörte das Schiff”, antwortete der Mann ganz ruhig. “OK, du kannst mitkommen. Aber du mußt anerkennen, daß ich der Kapitän bin.” “OK.” Während Adjuna die Befehle für die weiteren Manöver gab, fragte er den Mann, warum er denn so gern mitwolle. Er hatte die Nase voll, fed up to the teeth, vollgefüttert bis zu den Zähnen. “Die Aufständischen haben meinen Laden angezündet und alles zerstört, was mir gehörte.” “Na, da hast du aber Glück gehabt. Beinahe hättest du dein Schiff auch noch verpaßt!” meinte Adjuna amüsiert und beide lachten. “Alleine hätte ich das Schiff gar nicht aus dem Hafen gekriegt.” “Ja, es ist ein bißchen zu groß für einen Einhandsegler.” Der Mann sah sich in seinem ehemaligen Schiff um. Er war ein gutmütiger Mann. Er schien zu akzeptieren, daß ihm das Schiff nicht mehr gehörte. Adjuna sah ihn mißtrauisch von der Seite an. Dir gehört, was du gestohlen hast, versuchte Adjuna sich zu beruhigen, das gilt für Amerika, das gilt für Israel und das gilt für so viele andere Plätze und Sachen, vielleicht hat dieser Mann das so sehr verinnerlicht, daß er nicht böse wird. Der Mann schlug plötzlich die Hände über dem Kopf zusammen und jammerte: “Es ist ja alles gestohlen worden. Die ganze 1027
Navigationseinrichtung ist weg.” Er stürzte zum Ruderstand. “Sogar der Kompaß!” Er riß Schubladen auf. “... und die Seekarten.” Die Verzweiflung stand ihm im Gesicht. “Wie können wir ohne Seekarten und Kompaß den Pazifik befahren?” “Keine Sorge!” Adjuna strahlte ihm Zuversicht entgegen, “Auch Kolumbus wußte nicht, wohin er fuhr und wo er war, und Abermillionen Europäer folgten ihm sogar.” Beide lachten herzlich über den Witz. Das spukige Wehklagen von Angel Island und Alcatraz hörten sie nicht, war auch egal, Geister sollten sich selbst befreien, das Abenteuer Amerika war für sie zu Ende, der Alptraum, jetzt segelten sie neuen Freiheiten entgegen. Hurra! Aus der Pantry kam ein Hilfeschrei. Das Silber war auch gestohlen worden. “Das ist schlimm”, kommentierte Adjuna den neu entdeckten Diebstahl, “jetzt müssen wir mit den Fingern essen.” “Verdammt, es gibt einfach zu viele Diebe.” Der Hafen lag gerade erst hinter ihnen, da bekam Adjuna Streit mit dem ehemaligen Eigner des Schiffes. Roderigo Eriksson war übrigens sein Name. Aber sowohl sein spanisches, als auch sein nordisches Blut waren schon lange versickert, vielleicht hatte er auch einmal im Laufe seines Lebens eine Blutttransfusion gehabt, jedenfalls war sein Blut so sehr mit dem Blut eines Convenience-Store-Kaufmannes und Buchhalters verwässert worden, daß er angesichts der hohen Wellen des Stillen Ozeans wasserscheu wurde. Sein schönes Schiff hatte er hauptsächlich für Hafenparties und Schönwetterfahrten benutzt. Jetzt protestierte er, als Adjuna den Bug nach Westen in die ungewisse Weite des wilden Meeres drehte. “Es ist Wahnsinn, ohne Seekarten, Kompaß und Navigationsinstrumente da hinauszufahren.” “Das machen wir schon mit ausgestrecktem Arm und Daumen. So halten wir die geographische Breite. Das reicht.”
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“Nein, laßt uns lieber die Küste entlang segeln und abends in irgendwelche Häfen einkehren”, und er griff Adjuna ins Ruder. “Vergiß nicht, daß wir dein Schiff gekapert haben. Dein Schiff ist jetzt in den Händen von Piraten - uns. Du hast hier nichts mehr zu befehlen. Und wenn du Schwierigkeiten machst, marschierst du über die Planke.” Adjuna war fest entschlossen nach Westen zu segeln - auf der Suche nach Indien, wie einst ein anderer großer Navigator vor ihm. Er ließ die größten Segel setzen und vor dem Passatwind trieben sie dahin. ...und in den Roßbreiten dümpelte man vor sich hin, wenn das mit der geographischen Breite nicht geklappt hatte. So vergingen Wochen. Früher hatte man in den Roßbreiten die Rösser, also die Pferde, über Bord geworfen, nicht um die Götter des Meeres zum Windmachen zu animieren, sondern ganz einfach, weil das Trinkwasser knapp wurde, manchmal wurden die Pferde auch geschlachtet und verzehrt.
“Land in Sicht! Land in Sicht!” so rief Roderigo vom Ausguck. Tatsächlich nach langen Wochen der Wellen und Winde und Flauten endlich Land, endlich eine Insel, eine Vulkaninsel. Als sie dem Land näher kamen, erschraken einige, denn an Land wehten Sterne und Streifen, das Sternenbanner. Aber man wußte, man war nicht im Kreis gefahren. Die Sonne war immer achtern aufgegangen und vorn unter-. - Viel mehr sah es immer so aus, in Wirklichkeit hatte sich natürlich die Weltkugel gewegt, bewegt, gedreht.
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Hawaii hatten die Vereinigten Staaten der Königin Lili'uokalani wegnehmen müssen. Das Verbrechen der Königin: Sie wollte das allgemeine Wahlrecht, eine Person eine Stimme, einführen. Bisher war das Wahlrecht auf reiche Großgrundbesitzer beschränkt gewesen. Amerika sah amerikanische Interessen gefährdet. Denn die Großgrundbesitzer waren Amerikaner. Zwar hatten die USA die Inseln nicht einfach erobert, aber das amerikanische Kanonenboot USS Boston hatte eine wichtige Rolle gespielt, als die privilegierte, weiße Minderheit die Monarchie stürzte; angeblich mußten die Marinesoldaten amerikanisches Leben und Eigentum schützen, hätte ja sein können, daß die Inselbevölkerung zurückschlug. Das war 1893. Aber auch hundert Jahre später - ja sogar bis zum jüngsten Tag - fiel dem WASPen Land keine bessere Ausrede ein für seine Expansionspolitik - oder kaum eine bessere. Am 12. August 1898 schenkte der Ministerpräsident der provisorischen Regierung der weißen Minderheit in einer großartigen Geste Hawaii dem Uncle Sam. Uncle Sam erwies sich dafür auch wirklich erkenntlich, selbst ein Vierteljahrhundert später noch: Als am 9. September 1924 Plantagenarbeiter streikten ließ er sie kurzer Hand mit dem MG niedermähen: 16 Tote. Und nicht die Mörder schickte er ins Gefängnis, sondern die überlebenden Streikposten, 60 an der Zahl, jeden für vier Jahre. 1932 gelang dem US Governor Lawrence M. Judd eine besondere Verhöhnung der hawaiischen Halbwilden. Weiße Rassisten hatten nämlich in ihrem Haß einen einheimischen Jugendlichen ermordet und dafür vom Richter 10 Jahre Zuchthaus bekommen. Governor Judd reduzierte die 10 Jahre auf eine Stunde, die die Mörder dann in seinem Büro absitzen mußten, wahrscheinlich bei Hamburger und Bier. Am 27. Juni 1959 war es dann soweit, die Bevölkerung Hawaiis durfte abstimmen, ob sie als 50. Staat in die Union aufgenommen werden wollte. Die hawaiische Urbevölkerung war mittlerweile unter all den 1030
vielen Immigranten eine verschwindende Minderheit, die auch, wenn sie gern die Insel für sich behalten wollte, nicht mehr zählte. Das glorreiche Banner wehte weiter im hawaiischen Wind. Es hatte ein Sternchen mehr bekommen.
Hawaiis Untergang begann schon im Mai 1819, als der labile Liholiho als König Kamehameha der Zweite seinem Vater, dem großen Kamehameha dem Ersten, auf den Thron folgte. Er war nicht nur dem Alkohol zu gesprochen, sondern auch dem Christentum. Er ließ folglich christliche Missionare ins Land. Und die ihrerseits vertrieben langsam aber sicher die 400 000 Götter der Inseln. Die Anzahl der Götter überwog damals die Anzahl der menschlichen Bevölkerung. Gegenüber den Göttern zahlenmäßig unterlegen zu sein, erwies sich für Menschen auf Hawaii als sehr ungünstig. Sie wurden regelrecht erdrückt. Ein System von Verboten, das Kapu-System, regelte jede kleinste Einzelheit des Lebens. Da man keine Schrift hatte, mußte man alle Verbote im Kopf haben, was besonders für die Frauen unmöglich war; nicht, daß die Frauen dümmer waren, sondern da für sie wesentlich mehr Verbote galten. Mana, die geistige Kraft in den Dingen, war in den Männern gut, in den Frauen schlecht, Männer waren stark, Frauen schwach, Männer waren rein, Frauen befleckt. Frauen durften daher zum Beispiel eine ganze Reihe von Fischsorten an den Ehrentagen der entsprechenden Fischgötter nicht essen, einige Fische durften sie auch überhaupt nicht essen, Schweinefleisch durften sie auch nicht essen, da das Schwein als Festtagsbraten für Götter, Häuptlinge und Priester reserviert war. Bananen durfte sie auch nicht essen, da die Banane ein Symbol männlicher Fruchtbarkeit war. Orale Befriedigung war aus ähnlichen
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Gründen verboten, daß der saubere Same des Mannes nicht in den schmutzigen Mund der Frau geriet. Da der Unterschied von Mann und Frau wie Tag und Nacht war, war es auch Kapu, also ein Verbot, daß die beiden zusammen aßen. Mann und Frau bereiteten ihre eigenen Mahlzeiten und aßen für sich. Aber Mann und Frau lebten nicht getrennt von Tisch und Bett - nur Tisch, die Unterkörper durften zusammenkommen - schon wegen des Nachwuchses. Wenn der Unterschied von Mann und Frau groß war, der Unterschied von der Alii-Kaste zum einfachen Volk war unermeßlich. Kein einfacher Mann durfte es wagen, seinen Schatten auf einen Hochgeborenen fallen zu lassen oder auf dessen Hütte oder Speise oder Trinkwasser, er durfte auch nicht auf die Fußstapfen eines Edlen treten oder dessen Schatten oder heiligen Schein. All diese schweren Kapu-Übertretungen wurden mit Steinigen, Erwürgen, Totknüppeln oder Am-lebendigen-Leibe-Verbrennen bestraft. Wie alle primitiven Religionen hatten auch die 400 000 Götter eine heilige Dreihauptgötterei, die über ihnen thronte, nämlich Kane, Leben, Lono, Ernte, und Ku, gleich Krieg. Lono galt als bleich, und Captain Cook wurde zuerst mit ihm verwechselt. Aber als er sich über den Diebstahl rostiger Nägel aufregte, zeigte sich, daß er menschlich war, er wurde abgestochen und zu Tode geknüppelt, er war wirklich sterblich. Als christliche Missionare ins Land kamen waren sie begeistert, die Bevölkerung schon auf die Zahl drei vorfixiert zu finden, eine Analogie zum Teufel fanden sie auch: Kanaloa. Aber so richtig zog die Idee nicht.1 Rothaarige Pele, die Vulkangöttin, rothaarig war sie nur, wenn sie wütend war, hätte wohl die Rolle der Maria übernehmen können, aber
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“Supernatural Hawaii” von Margaret Stone
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die Furcht, die die Hawaiier vor ihren Launen hatten, hätte der neuen Religion ihr Charisma genommen. Hula-Hoop war eine heilige Handlung, aber Surfen tat man wirklich zum Spaß. Das Könighaus trieb seinen eigenen Untergang immer weiter voran. Kamehameha der Zweite brach öffentlich das erste Tabu und aß mit seiner Mutter am gleichen Tisch. Jetzt war es leicht für die Missionare, schlecht vom alten System zu sprechen, wo ungestraft das Kapu gebrochen war. Kamehameha wurde frommer Christ und verstieß all seine Frauen bis auf eine. Auch die Lieblingsfrau seines verstorbenen Vaters, Kaahumanu, wurde Christin, aber sie bestand darauf, ihre zwei Männer, den König von Kauai und seinen Sohn, zu behalten. Den letzten Stoß bekam die alte Religion schon bald, als die Regentin Kapiolani, eine hohe HäuptlingIn und Christlich-Bekehrte, öffentlich der Vulkangöttin Pele trotzte, die man, obwohl man die anderen Götter schon abgeschafft hatte, immer noch - wegen der großen Gefahr, die von ihr ausging - ehrfuchtsvoll anbetete. Konvertitin Kapiolani stieg also in Peles Krater und aß dort die heilige OheloBeere, die bisher Kapu gewesen war und schrie: “Jehovah ist mein Gott!” Sie war also eine Art hawaiischer Bonifatius, ein bißchen besser, da sie nicht zerstörte, keine heilige Stätte der Konkurrenz kaputthaute. Auch wenn Kapiolani ihren Gott Jehovah genannt hatte, eine Zeugin Jehovahs war sie nicht. Man schrieb das Jahr 1824 und Charles Taze Russell, dessen Brainchildren die Zeugen Jehovahs waren, war noch nicht einmal geboren gewesen. Nein, damals war man in Hawaii presbyterianisch-protestantisch. Die Bevölkerung war auf jeden Fall froh, nur noch einen wenn auch dreigeteilten Gott zu haben. Sie brauchten sich nicht mehr wie früher, wenn es galt für einen der vielen Götter eine menschliche Ehrenmahlzeit zuzubereiten, vor dem Haifischzahnmesser zu fürchten; 1033
vom neuen Gott aß man das Fleisch und soff sein Blut. Welch ein Fortschritt! Aber es gab auch neue christliche Kapus für die breite Masse. Alkohol war so eins. Im Herrscherhaus soff man ungestraft weiter. Polygamie und Polyandrie, außerehelicher Sex, Hula-Hoop und Glücksspiel waren andere Kapus. Besonders viele Kapus gab es für den Sabbath, der ja bei den Christen absurderweise auf den Sonntag fiel. Und wer die neuen Kapus übertrat, riskierte noch immer schwere, körperliche Strafen. Die Regentin für Kamehameha Nr. 3, Ka'ahumanu (“Federmantel”), war vom amerikanischen Protestantismus sogar so überzeugt, daß sie Katholizismus auf die Kapuliste setzte, und die wenigen Eingeborenen, die irgendwie an den falschen Missionar geraten waren und dieses Tabu brachen, bekamen den ganzen Terror dieser sechs Fuß hohen Herrscherin zu spüren. Die ursprüngliche, polynesische Bevölkerung war von Europäern, WASPen, Chinesen, Japanern, Filipinos, Koreanern, Negern, Puertoricanern, Indern und anderen überwuchert worden, beziehungsweise durch Mischehen mit den Malihini, den neuen Seßhaften, die die Einwanderungswellen ins Land gebracht hatten, verschmolzen. Die hawaiischen Inseln waren so Heimat eines Völkergemisches geworden, das bunter war als der Rest der Welt. Damals, mitte des 19. Jahrhunderts, als von den 400 000 Göttern der Insel keiner mehr übrig war und der leere geistige Raum gerade von einem einzigen Dreidrittelgott okkupiert worden war, reduzierte sich die hawaiische Bevölkerung von 300 000 auf 40 000. “Na kanaka kuuwale aku no i ka uhame”, so gab man damals traurig seinem Todeswunsch Ausdruck: Die Menschen gaben freiwillig ihre Seele und starben. Sie hatten das Gefühl, nichts zu versäumen. Nicht nur HulaHoop war von den fremden Missionaren als obszön, zu sexy, verboten worden, obwohl die Tanzenden katholischen Priestern gleich einen
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Keuschheitseid hielten, auch das Meahe'enalu, das Wellenreiten, war verboten worden, weil es Spaß machte. Anderthalb Jahrhunderte später, als Adjunas Schiff sich den Inseln näherte, war wieder alles anders: Die Hawaiier hatten die Lebensfreude wieder entdeckt, als ethnische Gruppe vermehrten sie sich am stärksten, aber nicht nur das, man ritt wieder die Wellen, Hawaiier, Mischlinge und Malihini, spielte Ukulele und tanzte Hula-Hoop, sogar ohne zölibatär zu sein - im Gegenteil. Und die Inseln waren so schön geworden, daß die seßhaften Bewohner der Inseln eine Minderheit waren und die Touristen die Mehrheit. Hawaii stand für Exotik schlechthin. Und Adjuna Schiff glitt an Meahe'enalu, die jetzt Surfer hießen und wackelbeinige Touristen waren, vorbei. Im Wasser zeigte sich bunte Humuhumunukunukuapuaa-Fische. Und die Gastfreundschaft hatte nicht gelitten. Aloha. Hawaiische Kamalii in Grasröckchen tanzten Hula und sangen ein Mele und hängten jedem Landgänger auf den Landungsbrücken einen Lei um.
Hawaiisch für Haole
Haole nannte man auf Hawaiisch die hellhäutigen Halbwesen aus Europa und WASPenland: ole bedeutete die Abwesenheit von etwas, und ha hieß der Atem des Lebens, der auch im Grußwort aloha benutzt wurde; die Weißen waren also für die Hawaiier die Ohne-Leben wegen ihrer Blässe und Freudlosigkeit. Für die Blässe konnten die Haoles nichts, aber ihre Freudlosigkeit war durch ihre Frömmigkeit bedingt. 1035
Und es fand sich eine Zeit, da sich viele Weiße sonnten und braun wurden, auch legten sie ihre Frömmigkeit ab (oder schlimmer noch, gaben sie an Einheimische weiter) und fanden sich Freuden, aber der Name Haole haftete weiter an ihnen - haltlos, ohne Grund, alogisch; freilich eine Allegorie auf ihr haltloses, intensives Leben. Wörter, Sprachen, die menschliche Geschichte, Vergangenheit wie Zukunft, alles Geschehen, nichts folgt der Logik, alles negiert die Logik, und jede kleine Einzelheit ist ein Widerspruch und ein Sinnbild für das alogische Gesamtgeschehen. Ha heißt der Atem des Lebens, alo heißt einer Sache von Angesicht zu Angesicht gegenübertreten, mutig ins Auge blicken, entgegengehen, begegnen, die Stirn bieten; alo-Ha, so erweist man Ehre der Lebenskraft, dem Mana im Menschen, der Macht, Kraft, Gewaltigkeit des Lebens; Kopf hoch! Das Leben bejahen! Optimismus! Ob man auf Hawaii nicht ein bißchen zu abgelegen ist vom Weltgeschehen? Auf jeden Fall war eine Zeit gekommen, da man sich abkehrte vom Leben oder das Leben von einem. Zwar hatten die Menschen, abgesehen von einigen Ärzten, Wissenschaftlern und Ausnahmemenschen, in ihrer Geschichte dem Leben fast immer den Rücken zugekehrt; daß sich das Leben trotzdem erhielt, lag an der geringen Zahl der Menschen, ihren beschränkten Möglichkeiten, ihrer harmlosen Potenz. Selbst der Menschen scheinbar lebensbejahende Handlungen wie das Schwängern ihrer Weibchen war keine wirkliche Lebensbejahung, sondern Brunft, Orgasmussucht, selbst die Lebensschützer, die Verhütung und Abtreibung verboten wissen wollten, meinten nicht das Leben, sondern die Beherrschung der Frau und der menschlichen Sexualität, also die Befriedigung ihrer Herrschsucht, ja auch das Pflanzen eines Apfelbäumchens war nichts Hoffnungsvolles, sondern langfristig geplante Befriedigung der Freßsucht.
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Leben. Das Leben war eigentlich nichts Mystisches außerhalb der Lebenden. Alles Lebende war das Leben. Das Mystische aber stand außerhalb des Lebens. Es hatte kein Leben. Es war das Nicht-Leben. Es hatte sich ein grausames Wesen erschaffen, ein Lebewesen, in das es hatte eindringen können als dunkler Gedanke, Schmutz, Schund, Angst. Vom Innern dieser Wesen aus sollte es sein Anti-Leben verbreiten, den Anschlag gegen das Leben vorbereiten. Vierzig Jahre. Vierzig Jahre, so lange sollte Adjuna noch mit seinen Leuten herumirren, umherirren, irrfahrten, bis den Lebenden der Anschlag aufs Leben gelang. Vierzig Jahre, so lange wie die Israeliten durch die Wüste Sinai zogen, irrten seine Schiffe auf dem Meer umher und es tat nicht viel zur Sache, was sie in der Zeit alles taten oder sahen: Es war immer das Gleiche: Wellen und Meer und der Überlebenskampf: Segel flicken, Rumpf kalfatern, oder wenn es nichts mehr zu reparieren gab, ein neues Schiff rauben, klauen, kapern, dazu kam das Verproviantieren, Wasser und Treibstoff bunkern wie auf Hawaii. Und wenn sie Zeuge wurde eines Vulkanausbruchs wie auf Hawaii, als das Magma aus dem Kilauea Menschen begrub, dachten sie sich nichts dabei. Mutter Pele hatte zu spät gepupt, der Mystikposten war anderweitig besetzt. Sie zogen nur immer wieder die Segel hoch und fuhren davon.
Vierzig Jahre durchfuhr Adjuna auf der Flucht vor dem Land die Meere, und wenn er einen göttlichen Auftrag hatte, wenn er mit einem göttlichen Auftrag zur Welt gekommen war, so kam er ihm nicht nach, er ließ sich nur noch treiben. Gut, daß das Meer so groß war, zwei Drittel der Erdoberfläche. Wohl viele Mal trugen ihn die roaring forties, die Brüllenden Vierziger, die Braven Westwinde des vierzigsten Breitengrades um die südlichen Kaps der großen Landmassen, Kap 1037
Horn, Kap der Guten Hoffnung, dann Torres Straße oder Tasmanien, dann wieder Kap Horn, Tristan-da-Cunha, Kap Agulhas etc; so zog er seine Kreise. Wie konnte das Volk der Juden nur auf der kleinen SinaiHalbinsel vierzig Jahre lang im Kreis laufen, wo man sie doch schon an einem einzigen Tag durchqueren konnte? Kein Gott erschien den Seefahrenden und Manna wurde ihnen auch nicht vom Himmel aus zugeworfen, selbst Fische gab es kaum, das Meer war so tot wie eine Wüste, Inseln waren wie Oasen, und das gelobte Land eine Vision hinterm Horizont. Adjuna hatte jedoch eine feste Vorstellung vom gelobten Land, eine entfernte Erinnerung: Indien.
Auf der Suche nach dem gelobten Land. Orte tauchten auf an der Kimm mit neuer Mystik, falschen Versprechungen, richtigen Enttäuschungen und befremdlichen Bewohnern. Durch Nebelschwaden nach Sabah. Sabah auf Borneo mit seiner Hauptstadt Kota Kinabalu war so ein Ort: Kota Kinabalu glich einem Schachbrett, von Japanern zerstört nach amerikanischem Muster kariert wiederauferstanden, früher hieß die Stadt einmal Api Api, das bedeutete Feuer Feuer, weil die Piraten die langweilige Angewohnheit hatten, diesen Ort zu plündern und abzubrennen. Draußen auf den Meeren lebten die Bajaus, mit ihren bunten Segeln durchpflügten sie die See, wie vor Ewigkeiten, und ihre Kinder wurden weiterhin nach den Idealen der Vorväter erzogen - zu Halbgöttern der See, überlegenen Schwimmern und Tauchern, geschickten Fischern und Navigatoren.
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Und in den Bergen Sabahs erwartete den Reisenden die seltene Erfahrung, Menschen mit reineren Absichten als den industrialisierten Krämerseelen der überzivilisierten westlichen Welt zu begegnen Menschen, die ihre Geschicklichkeit nicht gegen ihre Mitmenschen anwendeten, sondern gegen den Dschungel, und mit einfachsten Mitteln ihre Zähheit barfuß mit Blasrohr und Steinschleuder bewiesen und der Menschheit so durch ihre Härte zur Ehre gereichten. In den Bergen Sabahs befand sich auch die Geburtsstätte der Schönheit und das uralte Geheimnis über den Anbeginn der Welt und den Vorfahren der Menschen und engsten Cousin, den Orang-Utan, den Mann der Wälder, hier lebte er in Bäumen, die älter waren als die Götter; Bäume, die die Götter noch überleben sollten. Adjuna küßte die Bäume, Adjuna küßte den Orang-Utan und Adjuna bückte sich, als ein kleiner Giftpfeil aus einem Blasrohr auf ihn abgeschossen wurde, und er schoß nicht zurück. Der engste Cousin des Menschen, der Orang-Utan tat es auch nicht, aber er bückte sich auch nicht. So starb er. Die Ureinwohner brieten ihn, ohne ihn auszunehmen, mit Haut und Haaren, und verzehrten ihn. Adjuna wußte nicht, was er von alledem halten sollte. Er und seine Leute verproviantierten sich lieber in der Hauptstadt. Als sie das getan hatten, berieten sie, ob sie sich an die Tradition halten sollten, oder ob sie mit der Tradition brechen sollten. Sie entschieden, daß Tradition an sich nichts Schützenswertes sei, und verzichteten darauf, an die Stadt Feuer zu legen. Neu Guinea ein anderes Land nahe am Anbeginn der Welt. Selten fand man auf den neu entdeckten Kontinenten farbige Völker, die etwas Gutes über die weißen Fremdlinge, die das Land als Kolonialisten, Herren und Ausbeuterer heimsuchten, zu sagen wußten. Nicht so die wilden Stämme Neu Guineas; sie sprachen anerkennend von Schweinen, wenn sie Weiße meinten, genauer von Lang-Bein1039
Schwein. So nannten sie die Weißen wegen ihres guten Geschmackes, so lecker wie Schweinefleisch. Aber Lang-Bein-Schwein blieb ein seltenes Gericht, denn erstens gab es nicht viel zu holen auf der Insel für Kolonialisten, und zweitens wehrten die meisten sich zu sehr und waren auch noch zu gut bewaffnet. Die meisten, die in den Kochtopf wanderten, waren Missionare, Missionare, die entweder durch Strafversetzung auf die Insel kamen, die fetten, oder solche, die sich selbst bestrafen wollten, die mageren. Lang-Bein-Christenschwein-Fresser war ein zu langes Wort. Die Missionare und auch die anderen Weißen beschimpften die Neuguineaner ganz einfach als Menschenfresser. Diese Verbalinjurie war nach dem Muster Spaghettifresser für Italiener gebildet worden. Die Neuguineaner wurden immer unsicherer in ihren MenüEntscheidungen, daß ihnen schließlich die Lang-Bein-Schweine kaum noch schmeckten. Appetit verdorben. Missionare wurden immer mehr durch richtige Schweine ersetzt. Das machte aber nichts, die Kirche hatte ohnehin schon genug Märtyrer. Schweinefleischfresser hätte man die Einheimischen jetzt nennen können, aber so böse waren die Missionare nicht, daß sie ihre neuen Schäfchen weiter mit gemeinen Invektiven bedachten. Außerdem aß man sie ja selbst, die Schweine, die kurzbeinigen. Waren die Schweine auch frisch gebraten gut, wenn erst einmal Hundertschaften von Fliegen und anderen Insekten davon gekostet hatten, bekamen empfindliche Mägen oft Bauchschmerzen und Darmkatarrh. Dann hatte man seine liebe Not. Die überschnell beschleunigte Verdauung ließ das liebevoll Verspeiste und so lieblos Verdaute, Verdysenterierte hemmungslos, düsenartig aus dem After herausplatzen. Im Zusammenspiel von Darmsäften und Darmgasen entstanden kleine Explosionen, die die Umgebung beschmutzten.
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Es traf sich nun, daß ein Missionar, der gerade ermahnende Worte an die Dorfgemeinde sprach, an einer solchen Dysenterie litt: Wir müssen unsere Herzen und Sinne weiten und empfänglich machen für den Segen Gottes... Predigt... Predigt... Predigt... So gab er erhabenes Gottgeschautes wieder; zwischendurch immer wieder Fluche: Das stinkt ja so nach Scheiße. Welches unzivilisierte Schwein hat uns denn da in den Vorgarten geschissen? - Die Fenster waren offen wegen der Hitze. ... Wie kann man unter die Fenster einer Kirche scheißen? Das ist doch ein heiliger Ort... etc. Die Tropen waren heiß. Die Eingeborenen waren nicht nur die Hitze gewohnt, sondern auch für das heiße Klima entsprechend gekleidet, nämlich fast nicht. Nordländer dagegen litten unter der Hitze, besonders natürlich, wenn sie sich noch dazu in warme Talare hüllten, eintüllten. Und Gott tat nichts, um das Los seiner Missionare zu erleichtern. Nun wußte zwar jeder, daß man, und da waren die Frauen mit eingeschlossen, schwitzte, wenn es heiß war, aber nur wenige Frauen, nämlich nur die erfahrensten, wußten wohl, daß bei Hitze das Skrotum der Männer zu einem tief runterhängenden Glockengeläut wurde, was ein verzweifelter Versuch der Natur war, die hitzeempfindlichen Spermien vor der Sterilisation zu bewahren. Übrigens ein Versuch, den die Natur ohne Rücksicht darauf unternahm, ob jemand Zölibatär war oder nicht. Als der Priester mit seiner Predigt fertig war, kritisierte Adjuna ihn, denn wie wir wissen, war das Christentum ihm ein Dorn im Auge, hier aber war es mehr, nämlich ein Schandfleck in der Landschaft wie die Wellblechkirche zwischen den kleinen Grashütten. Adjunas Kritik: “Habt ihr Missionare nicht schon weltweit genug Schaden angerichtet? Habt ihr nicht schon genug eingeborene Kulturen zerstört? Wie vielen Einheimischen habt ihr schon ihre Bräuche, Riten und Tabus genommen und damit das Zusammenleben als funktionstüchtigen Stammesverband? ...” 1041
Der Missionar sah verärgert aus, beschäftigt lief er von einem Fenster zum andern. Er schien etwas unter den Sträuchern zu suchen. “Furchtbarer Gestank”, murmelte er vor sich hin. “... Für die Einheimischen ist das über Generationen langsam gewachsene System von Göttern, Geistern und Tabus das, was ihnen das Überleben sichert. Denn sie haben ja sonst nichts, keine Gesetzbücher, keine juristischen Erfahrungen, kein unabhängiges, philosophisches Gedankengut. Wie oft habt ihr Missionare schon eingeborene Völker zerstört! Ich habe sie selbst gesehen, Völker, denen ihr den einheimischen Aberglauben genommen habt und durch euren albernen, fremden Aberglauben an einen gekreuzigten Erlöser, dessen Fleisch man fressen und dessen Blut man saufen muß, ...” Wieder ein Fluch des Missionars: “Pfui, was stinkt denn so?” “... damit die Erlösung wirklich klappt und man in den Himmel kommt. Durch diesen neuen Aberglauben konnten die Eingeborenen plötzlich nicht mehr im Urwald leben. Lebenswichtige Tabus, ja, alle Lebenserfahrung, hatte man mit dem Wirken von Geisterwesen begründet, jetzt plötzlich galt das alles nicht mehr, ja, war sogar böse, vom Satan, und wer dem noch folgte, nachdem er die frohe Botschaft vernommen hatte, der kam in die Hölle...” Der Missionar, der einst Gott gefunden hatte, schien die Suche nach dem Ursprung des Gestanks, der ihn so störte, aufgegeben zu haben und jetzt aufmerksam zuzuhören. “... Kein Wunder, daß die Einheimischen plötzlich von ihrer heimischen Umgebung flohen, das Weite suchten, lieber das Entwurzelt-Sein auf Erden, als das ewige Braten, das die Missionare so anschaulich beschrieben, im Höllenfeuer vorzogen, und sich schließlich hingezogen fühlten zu ihren weißen Glaubensbrüdern in den Städten, und dort endeten sie dann als fromme Säufer in der Gosse, oder wenn sie eine Votze hatten, im Hurenhaus und fühlten sich so richtig schlecht und sündig, völlig abhängig von ihren Priestern, die ihnen die 1042
Sünden wieder vergeben konnten. Wie nehmen denn die Papuaner hier den neuen Glauben auf und die Fresserei von dem-GekreuzigtenGottes-Langbein-Schwein-Sohn, oder spricht man hier vom Ferkel oder Frischling, Gottes-Frischling?” Missionar: “Oh, wir sind sehr behutsam vorgegangen. Natürlich war es ein Hindernis, daß die Einheimischen hier für die, die im Kochtopf landeten, immer eine gewisse Verachtung empfanden, aber wir haben sie langsam dazu gebracht, sich in die Rolle der Opfer zu versetzten, und so ist es uns gelungen, ihnen das große Opfer, das Christus für die Menschen gebracht hat, noch näher zu bringen.” “Ach, habt ihr den Christus auch in den Kochtopf gesetzt?” “Nein, nein, so weit sind wir natürlich nicht gegangen. Wir wollten doch nicht, daß die Papuaer Christen einen Kochtopf anbeten.” Warum eigentlich nicht? dachte Adjuna, ist es für die Erlösung wichtig, daß es ein Kreuz ist? “Sicher sind Fehler gemacht worden, große Fehler, früher, aber jetzt verstehen wir die Einheimischen besser. - Was stinkt denn bloß so? Wir lernen auch. Und wir haben unseren christlichen Glauben, auf die Bevölkerung zugeschnitten. Wenn die zum Beispiel von der großen Regenbogenschlange erzählten, die es natürlich gar nicht gibt, dann haben wir nicht gesagt, die gibt es nicht, sondern das ist er, der Leviathan, der Satan, von dem auch in unserem heiligen Buch die Rede ist, und dann erzählen wir ihnen von Erzengel Michael und vom heiligen Georg, die ja beide den Drachen besiegt haben, und lehren ihnen, wie man die beiden anruft, daß sie einen schützen, wenn man in den Dschungel geht. Und so haben wir ihnen ein lebensfähiges System von Engeln und Heiligen gegeben, die die alten magischen Funktionen erfüllen. Soweit wird das Neue eigentlich ganz gut verstanden. Auch, daß man nicht mit steifem Glied rumläuft, wohl möglich noch mit Futteral, hat man schnell kapiert, und die meisten verhüllen jetzt ihren Unterkörper, aber beim Waschen vergessen sie es dann doch immer noch mal wieder. Was man lange nicht verstehen wollte, das war 1043
Sünde, Sühne, Buße, die Wiederauferstehung im Jenseits, den Jüngsten Tag und die Erlösung. Dafür gab's in ihrer Sprache zuerst auch gar keine Wörter. Aber jetzt sind es nur noch die Alten, die das nicht verstehen. Die anderen, die sind ja alle bei uns in die Schule gegangen und haben das von klein auf mitbekommen. Manche Familien sind übrigens schon seit zehn Generationen christlich.” Adjuna: “Habt ihr denn da noch nie daran gedacht, den einheimischen Christen die Bekehrerei zu überlassen.” Missionar: “Oh nein, so etwas darf man nicht machen.” “Warum denn nicht?” “Die könnten leicht wieder zurückfallen ins Heidentum. Die tanzen auch jetzt noch zuviel rum, wenn vom heiligen Geist die Rede ist.” “Also sind sie doch noch keine richtigen Christen?” “Doch einige schon. Die verstehen schon den Ernst der Sache, die Würde und Feierlichkeit des Christentums. - Scheiß. Stinkt immer noch. - Entschuldigung.” “Ja, dann könnten die doch Priesterfunktionen übernehmen.” “So etwas ist letzten Endes auch eine Kostenfrage.” Adjuna: “Das verstehe ich nicht. Das wäre doch billiger.” “Eben, unser Missionswerk braucht Missionare für die Spenden.” Der Missionar war dichter herangekommen und hatte geflüstert. Jetzt roch es Adjuna auch. Aber er roch es nicht nur, er sah es auch. Er sah es klar, er sah es braun. Er sah, daß die Mischung von Hitze, Schweiß auf der Stirn, verdorbenem Essen, rausplatzendem Durchfall und tief hängendem Glockengeläut eine unappetitliche Spur an der Vorderseite der Denkhöhle hinterlassen hatte, die die Flucherei der 1044
Priesters während der Predigt und danach auf die verdammte Koterei im Kirchenvorgarten verständlich werden ließ. Was Adjuna dem Priester noch sagte, war: “Ich hatte zwar nie Zweifel am Kopfinhalt der Priester, aber daß es rauskommt, sehe ich zum ersten Mal. Ich würd' da mal ab und zu abwischen. Vor allen Dingen gründlicher abwischen.” Und er zeigte auf die rechte Hand, an deren Rücken eine Spur von der braunen Masse, mit der auch die Frontale des frommen Mannes beschmiert war, klebte. Jetzt sahen die anderen es auch und den Eingeborenen wurde die Flucherei des Priesters auf die verdammte Koterei im Kirchenvorgarten verständlich. Waren sie doch unschuldig, ein jeder hatte damit nur seinen eigenen Acker gedüngt. Der Priester nahm, da er nicht erst runter an den Fluß laufen wollte, das Taufbecken, das heute sowieso nicht mehr gebraucht wurde, und ging hinter die Kirche, wo er nicht gesehen wurde, und wusch sich, dann lief er wieder... und dann wieder in die Kirche. So gab der Missionar Weiches von sich im Urwald. “Ach, würden sie doch ihren Schmutz nicht bis hierher tragen”, klagte Adjuna, als er wieder auf dem Schiff war, “Ist es nicht schon zu viel, daß sie da, wo sie schon seit zwei Jahrtausenden Schaden anrichten, auf Tradition pochend, Aufklärung verhindern, Schulen und Politik verseuchen? Müssen sie auch noch hier Traditionen vernichten?” “Sie müssen. Die Scheiße zwingt sie dazu. Uns allen geht es so. Wir können es uns nicht verkneifen. Ob es im Kopf sitzt oder in den Gedärmen, es muß raus. Es sei denn, man bringt uns um, dann freilich kneifen wir den Arsch für immer zu, und es kommt nichts mehr raus.”
Ein anderes Mal, als man gerade wieder um Kap Horn gekommen war und es gar zu kalt vom Südpol her blies, floh man vor der Kälte hinauf in die wärmeren Tropen. Da wieder zwang einen der Sturm, in einem 1045
Fluß Schutz zu suchen. Schließlich fand man sich in einem kleinen Eingeborenendorf im Regenwald wieder. In diesem Ort kam es zu einer kleinen armseligen Geste Adjunas, die zeigte, daß er sich noch ein bißchen des göttlichen Auftrags, der ihm ins Leben mitgegeben worden war, erinnerte. Es war wieder eine Missionsstation, die das Zentrum des Ortes war, und kein Weg führte an ihr vorbei. Adjuna und seine Leute hätten es vorgezogen, sich allein auf dem Markt des Ortes zu versorgen, aber der Missionar fühlte sich für seine Gäste verantwortlich. Es war sein Dorf und es waren seine Wilden. Stolz führte er sie vor. Der Häuptling des Dorfes, wohl der einfältigste Unterling des Missionars, mußte Männchen machen und was vorspielen. Er trommelte einen Um-Tata-Rhythmus. “Kannst du nichts anderes spielen”, fragte Adjuna nach einer Zeit. Der Häuptling schien nicht zu verstehen. - “Habt ihr keine andere Musik?” versuchte es Adjuna noch mal. “Haben, haben”, erwiderte der Häuptling ganz stolz und spielte TataUm-Tata-Um auf seiner Trommel. “Du mußt ihm Schnaps geben, dann spielt er ganz wild”, riet ihm der Missionar, aber Adjuna wollte den Mann nicht betrunken machen. Nach einer Weile fragte er den Häuptling wieder: “Habt ihr noch andere Musik?” “Nix haben, nix haben!” der Mann schüttelte traurig den Kopf, “-- nur Chorale.” Der Missionar erklärte, daß die Indios schon seit Jahrhunderten katholisch waren, und er geschickt worden war, um sie zum wahren Christentum zu bekehren. Er entstammte einer reichen amerikanischen Industriellenfamilie, in der traditionell einer der Söhne sein Leben Gott 1046
widmen und als Seelenhirte im Urwald dienen mußte. Man sah ihm an, daß es ihm nicht viel Spaß machte. Heimweh nach Zivilisation war wohl die Ursache, daß er keinerlei Anstoß nahm an Adjunas Anti-Christentum. Zur Andacht lud er ihn ein. “Du kannst es von ganz hinten beobachten. Du kannst aber auch draußen bleiben, wenn du willst.” “Ist das kein Embarressment für dich?” - “Ach wo!” Adjuna blieb draußen, aber durch die von den Indios geflochtenen Wänden der Kirche hörte er, daß es sich bei der Andacht mehr um eine amerikanische pep rally handelte als um Andächtiges. Dabei malte der Priester den Teufel so anschaulich an die Wand, daß die Indios, die ihm zugehört hatten und alles geglaubt, noch lange nach der Predigt bleich herumliefen. So muß man reden können, wenn man das Christentum besiegen will, dachte Adjuna anerkennend, wo die das bloß lernten. Der Missionar selbst erschien nach der Predigt wieder völlig entspannt bei Adjuna, ergriff ihn beim Arm und sagte: “Komm, wir gehen angeln. Ich kenne eine gute Stelle.” Adjuna machte ein paar unzufriedene Bemerkungen darüber, daß er seine Zuhörer so eingeschüchtert hatte, dann warf er seine Angel aus und sagte: “Fischlein, Fischlein, tingeltangel, komm beiß nur an meine Angel!” Und der Gottesmann reimte: “Beten, blödeln, bange sein, sollen unsere lieben Schäflein!” Adjuna zog ein paar dicke Flußfische an Land, während beim Seelenfischer nichts anbiß. Nach einer Weile sagte der Priester: “Morgen ist Sonntag.” “Ja.” “Da hab' ich mir was besonderes ausgedacht. Du wirst sehen.” 1047
“Was denn?” “Haha,” der Missionar lachte, “morgen kommt der Camion zweimal. Einmal morgens und einmal nachmittags.” “Na und?” “Der nimmt all die Katholiken mit in die Stadt. Die gehen da zur Kirche, weil hier im Dorf kein katholischer Priester ist. Und ich halte morgen meine Predigt auf dem Marktplatz, weil wir am Sonntag immer zu viele sind für die Kirche. Außerdem sollen die anderen mich auch hören.” Adjuna zeigte kein Interesse mehr am Gespräch mit dem Priester, sondern kümmerte sich um den Fisch, der gerade angebissen hatte. Der Priester schwieg daher. Nach drei weiteres Fischen entschied Adjuna: “Genug Fisch für heute.” “Gut.” Adjuna zählte dem Priester seine Fische vor: “Eins, zwei, drei... Insgesamt neun Stück und alle über zwanzig Pfund schwer. Und du hast diesmal gar keinen gefangen. Komm, ich geb dir die Hälfte ab. Deine Nonnen können daraus ne ordentliche Mahlzeit machen.” Und er gab ihm fünf Fische. “Nein, nein”, winkte der Priester ab, “gib mir die vier und behalte du die fünf.” “Weißt du, eigentlich bin ich auch ein miracle worker, wenn auch ein atheistischer miracle worker. Zähl mal die Fische in meinem Korb.” Es waren ihrer fünf, auch fünf. “Es sind zwar keine Fünftausend und auch keine Vier-, aber Mirakel beginnen immer klein. Erst mit der Zeit werden sie größer, wenn es Leute gibt, die sie größer haben wollen.” 1048
Die Priester blickte ungläubig in beide Körbe. Mit welchem Recht eigentlich? Er war doch kein Atheist. Adjuna freute sich: Den habe ich reingelegt. Adjuna trug dann noch beide Körbe zurück zum Dorf, da die fünf Fische zu schwer waren für den Priester. Bei der Missionsstation angekommen, lud der Priester Adjuna zum Abendessen ein, und versprach, guten Whiskey zu haben.
Der Missionar hatte drei weiße Frauen als Gehilfinnen, angeblich Nonnen, so nannte er sie jedenfalls immer: “meine Nonnen”. Sie hatten einen der Fische zubereitet, mit Zwiebel, Paprika und Soße. Dazu gab es noch Brot und Chips, von denen sie immer einen Vorrat in ihrer Gefriertruhe hatten. Der Missionar entkorkte zwei Flaschen Weißwein. “Zu Fisch gehört ein Weißwein”, belehrte er die Anwesenden. Adjuna mußte schmunzeln. Er erinnerte sich daran, wie er in den USA mal in einem Fischrestaurant Rotwein zum Fisch bestellt hatte, und der Kellner ihn wie einen dummen Jungen belehrt hatte: `Zu Fisch trinkt man Weißwein', daraufhin war er aufgesprungen und hatte zum Kellner gesagt: `Sie können zu Fisch trinken, was man trinkt, ich trinke, was mir schmeckt!' Es blieb nicht bei den zwei Flaschen, und es gab sogar noch ein Eiscrème zum Nachtisch. “Ihr lebt wie die Fürsten. Ich habe schon seit Jahren nicht mehr so gut gegessen.” “Haha, jetzt kommt der gemütliche Teil. Jetzt holte ich den versprochenen Whiskey.” Adjuna ließ sich bedienen. “Trinkst du ihn pur oder mit Soda?”
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“Mit viel Soda bitte.” Adjuna war durstig. Normalerweise trank er selbst Wein mit viel Wasser. “Spielst du Karten?” Adjuna verneinte. Der Missionar war sichtlich enttäuscht. Er hatte sich so auf Revanche für den Reinfall beim Angeln gefreut. “Kannst du wirklich nicht spielen? Hast du noch nie gespielt?” “Ich habe keine Lust dazu.” “Schade, wir hatten uns so darauf gefreut, mal mit jemand anders zu spielen. Willst du uns nicht den Gefallen tun und mitspielen?” Adjuna blieb bei seiner Ablehnung. “Du solltest mir eine Chance geben, mich für den Reinfall beim Angeln zu revanchieren.” “Du bist ja ein Revanchist”, meinte Adjuna lachend. Der Missionar hielt ihm eine Schachtel mit Zigarren hin. “Nimm dir eine!” “Ich rauche nicht. Ich bekomme keine Luft, wenn geraucht wird.” Die Nonnen waren beim Kartenmischen. “Entschuldige”, sagte der Priester jetzt, “aber wir spielen jeden Abend.” Adjuna staunte nicht schlecht, als sich auch die Frauen Zigarren nahmen. “Ich setze mich nach draußen auf die Terrasse. Ich bekomme keine Luft, wenn geraucht wird.” Im Stillen ärgerte er sich über die Raucherei. Daß die keine Rücksicht nahmen! Er hätte nach Hause gehen sollen, also zu den Schiffen, aber es war abgemacht worden, daß er im Missionshaus schiefe, damit er nicht den 1050
dunklen Weg durch den Urwald zu gehen brauchte. Nachts waren so viel mehr Tiere aktiv, inklusive Giftschlangen und Krokodile, daß nächtliche Ausflüge als gefährlich galten. Die im Haus hatten ihn bald vergessen. Bombenstimmung. Adjuna konnte nur staunen. Wie hitzig die waren, wie aufgeregt, wie albern. Adjuna beobachtete sie genau. Da wurden Karten im Schoß versteckt oder zurückgehalten, da wurden die Nonnen vom Priester begrapscht und gekitzelt, damit sie ihre Karten herausgaben, da wurden Anzüglichkeiten gesagt, die Adjuna vermuten ließen, daß alle intim miteinander verkehrten. Gegen Mitternacht wurde Adjuna müde. Aber er bezweifelte, daß er beim Gekeife der Kartenklopper schlafen konnte. Er stand also auf, ging in das verräucherte Zimmer, um sich zu verabschieden. Völlig nüchtern sagte er: “Entschuldigt, ich möchte mich verabschieden. Ich gehe zurück zum Schiff.” “Du kannst doch hier schlafen.” “Nein, nein, ich gehe zurück zum Schiff”, sagte er ernst. Priester: “Wir haben extra ein Bett für dich gemacht.” Eine Nonne: “Laß ihn doch!” “Schon gut, ich gehe. Gute Nacht.” Draußen hörte er noch, wie eine Nonne mit gedämpfter Stimme “Sauertopf” sagte. Dann ging die Party weiter.
Am nächsten Tag, also am Sonntag, kam Adjuna mit einigen seiner Leute wieder ins Dorf. Sie hatten bei einem Händler Dosen-Proviant und auch frisches Gemüse bestellt, und die Sachen sollten am Sonntag mit dem Camion kommen. 1051
Sonntag war viel los im Dorf. Alles schien auf dem Dorfplatz versammelt zu sein. Der Camion war auch schon gekommen, sogar schon entladen. Der Missionar war wie versprochen auf einer Plattform mitten auf dem Marktplatz am Predigen. Wie am Vorabend zeigte er sein Temperament, wenn auch auf andere Art. Er fluchte, drohte und zeigte zum Himmel. Wenn es einen Gott gäbe, käme alles Übel von da oben, dachte Adjuna. Aber der Priester hatte nicht nach oben geflucht, sondern nach unten auf seine Zuhörer. Und er sprach von dem Irrglauben, daß Gott einen Vertreter auf Erden habe, der in Rome säße, und vom Irrglauben an eine heilige Maria, die man für Fürbitte bei Gott anbeten könne. Aber die Katholiken bestiegen ruhig den Camion. Der Missionar ermahnte noch einmal mit erhobenem Zeigefinger die Anwesenden. Dann sprach er: Lasset uns beten! ...und ging in die Knie. Die Gläubigen taten ihm nach. Überall knieten Leute mit gefalteten Händen. Der Camion war mittlerweile mit Fahrgästen beladen. Das fromme Gebet hallte über den Flecken. Der Lkw konnte nicht losfahren, weil Leute vor ihm knieten. Der Fahrer drückte auf die Hupe. Die frommen Beter rührten sich nicht. Er drückte noch einmal, zweimal. Die Leute wichen nicht. Der Fahrer drückte noch einmal die Hupe runter und ließ sie unten. Dauerhupen. Aber nicht unendlich. Als er die Hupe wieder losließ, war der Pfarrer in Rage: “Du wagst es, unser Gebet mit der Hupe deines Motorwagens zu stören. Wie willst du der himmlischen Verdammnis entkommen? Der Fluch Gottes soll dich treffen, noch bevor du diesen Ort verlassen hast!” Die Leute waren jetzt zur Seite gegangen und der Camion fuhr an. Wumm!!! Eine Stichflamme von unter der Motorhaube. Der Fahrer und
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die Insassen des Führerhauses taumelten aus dem Führerhaus und fielen gleich auf ihre Knie. Auch die anderen Fahrgäste flohen. “Vergebung, Vergebung!” stammelte der Fahrer. Roukie-Ramos, einer der frühen Mitkämpfer Adjunas, der wegen seiner Bobybuilderei im Beisein Adjunas gern zeigte, daß er auch Kraft hatte, stemmte eine volle Tränke hoch und warf sie auf die brennende Schnauze des Fahrzeugs. Das Feuer war instantly gelöscht. Die schnelle Verwirklichung des Fluchs hatte bei den Indios einen tiefen Eindruck hinterlassen. “O Reverend, dein Gott ist wirklich groß.” Aber Hochwürden erinnerte auch an die Güte Gottes: “Seht, Gott hat nur eine Verwarnung erteilt, aber er hat den gotteslästerlichen Fahrer nicht verletzt. Denn er ist der Gott der Liebe. Gott will nicht strafen oder zürnen. Wir, wir Menschen, wir zwingen ihn dazu. Noch ist Zeit zur Umkehr.” “Ja, ja”, jammerten der Fahrer und auch einige von den Fahrgästen, “nimm uns in deine Kirche auf!” Und viele ließen sich taufen, mit einem solchen Happy End sollte der Tag eigentlich enden. “Das ist doch in Wirklichkeit ein abgekartetes Spiel”, meinte jemand aus Adjunas Reihen leise, “das war doch ein gekaufter Heide.” “Katholik”, verbesserte Adjuna. - “Was?” - “Katholik. Ein gekaufter Katholik. Die Leute sind hier schon seit 500 Jahren katholisch. --- Und jetzt sollen sie amerikanisch-evangelisch werden. Übrigens ein Problem für beide Seiten.” Ironische Bemerkung: “Ein Kampf der mit christlicher Nächstenliebe geführt wird.” “Ja, wenn man weit reist in der Wilden Heimat, findet man noch aktive Christen”, kommentierte ein alter Greis, den Adjuna mal als Schiffbrüchigen auf einer unbewohnten Südseeinsel aufgegabelt hatte, 1053
die Situation, “...und die Primitiven ungeprüft Phantasten Gefasel richtig finden und die Unvernunft weiter phantasieren, weiter spinnen den Faden, den das Neue Wissen schon lange zerrissen, in Europa und anderswo, doch macht es dort die Leute auch nicht froh. - Wo das Christentum liegt k.o. sind die Leute auch nicht froh”, reimte der Alte noch schnell hinterher. “Das Christentum liegt nirgends k.o.”, belehrte Adjuna den Greis, “auch nicht in deinem geliebten Europa nicht. Hast du noch nichts gehört von der Re-Evangelisierung? ...” Roukie-Ramos stand auf dem Kotflügel des Motorwagens und brüllte über den Platz und trat mit einem Fuß durch die kaputte Windschutzscheibe auf die Hupe. Die Leute erschauderten, denn er unterbrach die heiligen Vorbereitungen für eine Neutaufe. Warum machte er so ein Spektakel? Er hatte aus Neugier die Motorhaube hochgehoben und in den Motor schauen wollen. Und was er dabei gefunden hatte? Eine flache Stahlwanne, die den ganzen Motor abdeckte, und etwas, was offensichtlich eine verbrannte Zündanlage war. Der fromme Betrug war aufgedeckt. Alle sahen es. Und Roukie hatte auch gleich den Fahrer an Schlips und Kragen gepackt, daß der gleich ein Geständnis raussprudelte. “Das ist das Christentum...”, Roukie nutzte die Situation gleich aus, hetzte die Bevölkerung sehr geschickt auf. Adjunas Leute waren begeistert: “Endlich können wir Rache nehmen am Christentum. Die ganze Bevölkerung ist die Lynchstimmung. Roukie hat gute Arbeit geleistet.” Auch Adjuna war begeistert. Er stürmte dahin, wo die Leute auf den Priester einschlugen. “Halt. Schlagt ihn nicht einfach tot. Erst soll er
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uns gestehen, daß sein ganzer christlicher Glaube Lug und Betrug ist und seinen Kruzifick bespucken.” “Das tue ich nie”, jammerte der blutüberströmte Priester. “Das wollen wir erst mal sehen. Ich hab da gestern auf dem Weg zum Fluß eine Laguna gesehen, in der es von einer hohen Konzentration von Piranhas nur so wimmelte. Seit sie vom Fluß abgeschnitten wurden, haben sie nicht mehr viel zu fressen gehabt.” Nur unter solch ganz speziellen Umständen waren Piranhas wirklich gefährlich gewesen - sonst nur noch in Hollywood-Filmen. Die Bevölkerung war sofort begeistert. Der Priester wurde gefesselt zu dem Becken geführt und über eine Astgabel an einem Seil langsam zu den Piranhas heruntergelassen. Der Priester schrie fürchterlich, als ihm die scharfmäuligen Fische die Füße abknabberten. Aber wenn Adjuna ihm zurief: “Ist das Christentum eine Lüge?” schüttelte er hartnäckig mit dem Kopf. Was sollte man machen? Die Leute hatten ihre Freude am zappelnden, schreienden Priester. Zu lange hatte er ihnen gedroht. Ein bißchen tiefer, ein bißchen höher, es machte ihnen Spaß. Nur der alte Mann lief immer hin und her und klopfte jeden am Arm, um seine Aufmerksamkeit zu erhalten: “Ist doch egal ob Christentum oder nicht, die Menschen sind auch so schlecht.” Einige von Adjunas Leuten sagten ihm: “Das ist nicht wahr.” Der Priester schrie mittlerweile von über dem Wasser: “Das Christentum ist eine Lüge. Das Christentum ist eine Lüge.” “Eine große Lüge?” “Ja, eine große Lüge.” Die Piranhas hatten die Unterschenkel bis auf die Knochen abgenagt. “Er hat es zugegeben. Jetzt können wir ihn ja rausziehen.” “Nein, jetzt schmeißen wir ihn ganz rein. Er hat uns jahrelang belogen. Hast du es nicht gehört?” Adjuna war der Streit der Einheimischen eigentlich egal. Es war nur, daß er selbst, wenn seine Beine so zerstört wären, nicht mehr hätte 1055
leben wollen. Es war also ein Gnadenakt, ein Akt der Erlösung, wenn er jetzt einen Pfeil aus seinem Köcher holte und das Seil, an dem der Priester hing, durchschoß. Puh, war das ein Gewimmel im Piranha-Becken. Der Priester fuchtelte mit den Armen. Die Piranhas mußten in ihrem Heißhunger seine Fesseln durchgebissen haben. Der Priester kam immer wieder hoch und schlug um sich und schnappte nach Luft. Es war faszinierend anzusehen. Die Leute waren hingerissen. Nur Adjuna war betroffen: Ich hätte nicht das Seil durchschießen sollen, sondern ihm direkt ins Herz. Langsam beruhigte es sich im Becken. “Die Piranhas sind nicht mehr hungrig”, sagte jemand. Der Priester hatte das Ufer erreicht und kroch an Land. Er hatte keine Haut mehr. Er lebte noch ein bißchen. Seine letzten Worte vor dem Tod waren die ehrliche Überzeugung: “Es gibt keinen Gott.” “Es war doch gut, daß ich bloß das Seil durchgeschossen habe”, sagte sich Adjuna jetzt - wenig überzeugt.
Ein einzelner Mord war nicht viel, ein Einzelschicksal, beängstigend für den, den's traf, traurig für die Hinterbliebenen, er veränderte nichts, da der einzelne meist austauschbar war. Wer war schon einzigartig gewesen? Adjuna kontemplarierte: Ein einzelner Mord war wie ein einzelner gebratener Dodo. Nur dadurch, daß die Seeleute den Dodo immer wieder bei ihrer Zwischenlandung auf Mauritius aßen, war er ausgestorben. Der Mammut war ausgestorben, wohl weil die Steinzeitmenschen ganze Herden in den Abgrund trieben für eine Fleischmahlzeit. Die Teutschen hatten unter dem Einhodigen die 1056
Juden herdenweise in die Gaskammern getrieben, wahrscheinlich war es zu diesem Massenmord gekommen, weil ihnen anfangs die freiheitlichen Ideen einiger weniger Juden nicht paßten und die Reichtümer einiger anderer weniger Juden auch nicht. Bis zur Aufklärung hatte man oft, wenn in einem Dorf ein Ketzer war oder ein Aufständischer, das ganze Dorf niedergemacht. Adjuna dachte weiter: Immer wieder hatten Leute, wie er, versucht, die Christen zu überzeugen, von ihrem schädlichen Unsinn abzulassen, sie waren nicht erfolgreich gewesen. Unendliche Leiden hatten die christlichen Irrtümer über die Menschheit gebracht, und auch die Überbevölkerung ging zum Teil auf das Konto christlichen Irreseins. Man mußte, wenn Appelle an die Vernunft nicht halfen, andere Möglichkeiten studieren, gentechnologische oder vielleicht...? Adjuna wußte nicht, daß man in den Freiwisserstädten, die überall in der westlichen Industrielandschaft nach dem Vorbild der mittelalterlichen Freien und Hansestädte aus Angst gegenüber dem religiösen Land entstanden waren, genauso anfing weiterzudenken. In diesen Städten der Wissenschaftler war die Religion als Gefahr erkannt worden und verbannt. Der Kinderreichtum der Religiösen hätte den Wohlstand gefährdet, und Armut, ja Armut brachte auch immer Armut an Wissen mit sich. Volldampf in die Dummheit, das wollten die Freiwisser nicht. Lieber riegelten sie sich ab, schoben einen Riegel vor das Religiöse. Ihr großes Können schuf die technischen Wunderwerke, mit denen sie die Isolation von den wundergläubigen Massen der Religionslandschaft erreichten. Die Religiösen rannten sich die Nasen platt an unsichtbaren Stadtmauern, aber sie hatten auch ihre Ruhe, ihr eigenes religiöses Leben zu führen. Mutterschaft wurde wieder zur höchsten Tugend der Frau, ebenso wie dem Manne dienen, beten und auf dem Boden rumrutschen, flennen, feudeln, flehen. Da das ungeborene Leben so wertvoll war, waren Schwangerschaftsabbrüche auf Grund sozialer, kriminologischer, sowie medizinischer Indikationen, also Indikationen zur Abwendung von Gefahr und Leiden von der Schwangeren, verboten worden, aber auch auf Grund einer eugenischen Indikation durfte kein Abbruch mehr vorgenommen 1057
werden, egal wie groß die erblich bedingte Verkrüppelung oder Behinderung - ausgetragen mußte werden, mit einer Ausnahme! Das bißchen Wissen, das man von genetischen Wissern hatte wegnehmen können, benutzte die Kirche für Genuntersuchungen, die es ermöglichten, festzustellen, ob der Ungeborene konform und angepaßt sein werde, oder ob er ein atheistisches Kritikgen besäße, das Unangenehmlichkeiten erwarten ließ. Ein solch spirituell mißgebildeter Embryo wurde abgetrieben. Klerikale Indikation nannte man das! In den Freiwisserstädten lebte man beengt und angesichts der immer ärmer und voller werdenden christlichen Landschaft ringsum fühlte man sich bedroht. Es war also kein Wunder, wenn das Thema Ausrottung öfter erwähnt wurde, studiert. Was waren die Kriterien? Konnte man selbst... oder sollte man es anwenden? In Tasmanien hatten die europäischen Immigranten den Tasmanischen Tiger, eine hundeähnliche Kreatur, die mit den Känguruhs verwandt war, ausgerottet, weil er ab und zu von ihren riesigen Schafherden naschte. Und ganz im Norden des Stillen Ozeans nahe des eisigen Hintereingangs zur amerikanischen Landmasse, da hatten die Walfänger die größte der Sirenen abgeschlachtet, die 20 Tonnen schwere Phytina gigas, auch nach dem deutschen Naturforscher George Wilhelm Steller, der diese `Mahlzeit' 1741 auf einer Expedition entdeckte, Stellersche Seekuh genannt. Schon 1768 war die letzte Mahlzeit aufgezehrt und die Seekuh konnte als ausgerottet abgehakt werden. Den tonnenschweren Elefantenvogel, den Roch der Arabischen Nächte, hatten die Einheimischen von Madagaskar sogar schon ausgerottet, bevor die Europäer die Insel erreichten. Und auch die Maoris hatten es nach ihrer Einwanderung in das Land der langen, weißen Wolke, Aotearoe, später von den Weißen Neuseeland genannt, ohne fremde Hilfe geschafft, die Moas, eine Familie flugunfähiger, flachbrüstiger Vögel, deren größte Vertreter fast vier Meter groß wurden, auszurotten.
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Auf der gleichen Insel lebte der Kaka, ein plappernder Papagei, und sagte man auch: `Zuviel Gerede sei immer eine Quelle der Gefahr, und Schweigen eine Möglichkeit, Gefahr zu vermeiden, den sprechenden Papagei sperre man ein, die anderen Vögel, die nicht sprechen konnten, flögen frei umher.' Manch ein Kaka saß gemästet hinter Gittern, während sein großer, plumper Vetter, der sprachlich unbegabte Kakapo im Dreckloch saß und zu schwerfällig war zum Wegfliegen, wenn die streunenden Hunde und Katzen der europäischen Einwanderer ihn aufstöberten; hinzukam noch, daß er gern die Augen am Tage schloß. Sein Aussterben war nur noch eine Frage der Zeit. Obwohl, nachdem das polynesische Volk der Maoris im 14. Jahrhundert in zehn Whaka-Tauas, Kriegs-Kanus, an der Küste des weißen Wolkenlandes angepaddelt kam und dort eine neue Heimat fand, die plumpen Moas bald ausstarben, andere Tiere überlebten: wie der superleckere, flunderähnliche Uferfisch Mao-Mao, die entenähnliche Henne Weka, die alles, was glänzte, für Gold hielt und forttrug, der Kiwi, dessen Federn wie Haare aussahen und der 20 Stunden am Tag schlief und in den wachen Stunden nur träge mit den Nasenlöchern an der Spitze seines Schnabels nach Würmern schnupperte, oder der unpopuläre Kea, ein heiserer Riesenpapagei, der sich später, als die Europäer ihre Herden weiden ließen, wie ein Adler auf die kleinen Lämmer stürzte, aber noch später sich dann lieber lärmend auf menschliche Mülltonnen stürzte und diese entleerte oder die Schlafsäcke und Zelte von Wanderern zerriß, es überlebten auch die tödlich giftige Spinne Katipo oder das saurierähnliche Reptil Tuatara. Und natürlich überlebten sie, die domestizierten Mahlzeit-Tiere der Menschen, das kurzbeinige Schweinchen Schrunz-Schrunz, die Henne Tucktuck, Thanksgiving Turkey und Weihnachtsgans, sie alle überlebten; zugegeben, sie hatten als Haustiere eine ruhige Nische im Darwinschen System des Kampfes ums Überleben gefunden, in der sie sich rund und dumm fraßen. Vier Meter hohe Moas ließen sich da wohl schlechter im Hühnerhag halten. Sie fraßen einem buchstäblich die Haare vom Kopf. 1059
Im 15. Jahrhundert verließ der maorische Dissidenten-Stamm Moriori das Land Aotearoe und paddelte mit den Braven Vierzigern im Rücken nach Osten. Nach etwa 500 Seemeilen stießen sie auf vier kleinere, windgequälte Inseln. Adjuna wußte nicht, ob diese Außenseitergruppe ihre neue Heimat wieder nach Wolken im Himmel benannt hatte, er kannte die Inseln nur unter dem Namen Chatham Islands, nach dem Kriegsschiff der Royal Navy `Chatham', das nach der Hafenstadt Chatham in der Grafschaft Kent benannt worden war, und dessen Kommandant William Broughton 1791 die Inseln entdeckt hatte, den ersten Union Jack dort hißte und den ersten Moriori erschoß. Und Adjuna wußte auch, daß diese Außenseiter etwa den Zeugen Jehovas und anderen Sekten gleich das Allgemein-Etablierte, in diesem Fall das Maoritanga, das kulturelle, moralische und traditionelle Selbstverständnis der Maoris, verlassen hatten und Kannibalismus und Krieg verwarfen. Die Maoris waren dafür berühmt, mit ausgestreckter Zunge und wunderbar verzierten Jade-Äxten aufeinander einzuhauen; die Eisenzeit hakte bei ihnen nicht, da ihr langes, weißes Wolkenland kein Eisenerz enthielt. Die Moriori-Pazifisten lebten also friedlich auf den Chathams bis zu ihrer Entdeckung. Erst kamen die britischen Entdecker. Sie jagten die Robben der Insel, bis keine mehr da waren, sie jagten auch die Wale vor der Küste, bis keine mehr da waren. Dann, Dezember 1835, hörte der Te-Ati-Awa-Maori-Stamm auf Aotearoe von den Moriori, kaperte sich in Wellington ein britisches Schiff und fuhr mit 900 Stammesangehörigen auf die Inseln der Moriori. Dort griffen sie die friedliebenden Morioris, die sie sich nicht wehrten, an und nahmen sie gefangen. Einige, sehr viele, da es einen Sieg zu feiern gab, aßen sie gleich, die anderen hielten sie wie Schweine und aßen nur ab und zu von ihnen. Ihre Chronik berichtete von großen Bratöfen, auf denen 50 Morioris gleichzeitig schmorten. Leider funktionierte die Moriori-Haltung nicht, da sie sich unter Schweinestallbedingungen nicht vermehrten. Welcher Mensch setzte
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schon Kinder in die Welt, wenn er wußte, daß sie bald von Barbaren gefressen würden? 30 Stammesälteste, die den Massakern entkommen waren, wandten sich hilfesuchend an den britischen Governor in Neuseeland. Aus Aotearoe war seit dem 21. Mai 1840 Neuseeland geworden, da die britische Regierung Souveränität über die Südinsel kraft Erstentdeckung - daß die Maoris schon vorher da waren, zählte nicht und über die Nordinsel kraft Abtretung - der holländische Entdecker Abel van Tasman war schon 1642 da gewesen, aber einige seiner Landsleute waren damals in maorische Kochtöpfe gelandet, und da war den Holländern der Appetit an Aotearoe vergangen - proklamiert hatte. Bis 1870 wehrten die Erstentdecker sich gegen die Briten. Wenn sie sich in der Zeit auch ab und zu mal einen Briten brieten, die die brieten, also die Briten, behielten ihren guten Appetit auf die Inseln. Wenn Briten brieten, fühlten sie sich kulturell keineswegs unterlegen, im Gegenteil, es bestätigte ihren Glauben an die Bürde des weißen Mannes, ein Glaube, den selbst knusprige Bräune nicht erschüttern konnte. Die Abgesandtschaft der Moriori erklärte dem Governor die Leiden ihres Volkes und erklärte auch, daß die Morioris sich nicht selbst schützen konnten, da sie ein Volk waren, das keinen Ärger, keinen Streit und keine Kampfeskunst kannte, immer in Frieden gelebt hatte, und daran glaubte, daß man seine Mitmenschen nicht töten und essen dürfe. Die Briten hatten nur Verachtung für die Morioris: eine minderwertige Rasse, Untermenschen, den vitalen und intelligenten Maoris weit unterlegen. Sollten die Maoris sie ruhig umbringen, das war Darwinismus. - Dieser große, britische Forscher, Charles Darwin! Hatte er wirklich schuld daran, daß der britische Gouverneur den Maoris die Morioris mundgerecht machte?
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Es war für die Briten auch günstig, daß die Maoris den Morioris etwas antaten, weil dann auf der Hackordnung ein Stückchen höher die Briten den Maoris, ohne vom Gewissen gebissen, was antun konnten, wenn auch nicht auffressen, so doch beißen, ach nein, hacken, das Land wegnehmen, Aufständische ins Gefängnis schmeißen, Cat-o'-nine geben, totschießen etc. In den Siebziger Jahren des 18. Jahrhunderts, als nur noch weniger als 100 Morioris am Leben waren, entschied ein Kolonialgericht, daß der größte Teil der Chatham Islands, also der Teil, den die Weißen nicht gebrauchen konnten, den Maoris kraft Eroberung gehörte. 1933 starb der letzte Vollblut-Moriori Tommy Solomon alt und krank und als anglikanischer Christ auf den Chatham Inseln. Er wurde begraben und nicht von den Maoris gegessen. Sein Fleisch war auch schon zäh. Mit ihm war das Volk der Moriori ausgestorben. Aber einige Maoris sollten - so ging jedenfalls das Gerücht, als Adjuna dieses Wolkenkuckucksland, ach nein, Wolkenkiwiland, besuchte genetisches Material von den Morioris in sich tragen, Abkömmlinge von Maoris, die bei der Morioris-Haltung zu oft mit der gleichen Moriori-Frau Sodomie getrieben hatten, daß Zuneigung entstanden war und sie die Frau zur Frau genommen hatten und mit ihr gemeinsam Kinder gezeugt und aufgezogen hatten. Solche Menschen, die MorioriGene in sich trugen, wurden verachtet, Abstammung von den ehemaligen Mahlzeitmenschen war eine große Schande.1 Nicht Täter zu sein, Opfer zu sein, war eine Schande, so dachten jedenfalls die Nachkommen der Täter. Edle Menschen waren das nicht. Adjuna merkte erstaunt auf: “Es war doch erstaunlich, wie sehr Aussterben mit Auffressen und Wegfressen zu tun hatte. Aber wir
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für Informationen über die Morioris siehe “Moriori, A People Rediscovered” von Michael King.
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haben eine zu hohe Stufe der Kultur erklommen, wir können unsere Gegner nicht mehr schmackhaft finden und auffressen, wir werden sie nur einfach so umbringen und dann den Würmern überlassen. Solche Proteinverschwendung nennt sich dann Zivilisation. Wieviel zivilisierter wäre es, wir alle glaubten an Toleranz und Gewaltlosigkeit, aber leider werden die Religiösen nicht ruhen, sie werden es gegen uns und immer auch gegen die anderen Religionen tun. Sie haben, wie sie es ausdrücken, nicht das Recht, die anderen im Unglauben zu lassen. Und wir dürfen nicht zu lassen, daß sie uns vernichten. Der denkende Mensch ist zu schade für den Scheiterhaufen. Auch wenn Opfer zu sein, edler ist als zu meucheln, wir dürfen uns nicht immer wieder opfern lassen, wir müssen uns wehren, wir sind es wert.”
Das größte Problem am Wehren war, daß auch meist die Angreifer meinten, sie wehrten sich.
Adjuna verschlug es einmal auf eine Insel, auf der ein Frauenvolk herrschte. Man hatte ihn davor gewarnt, denn die Frauen dort verwandelten jeden Mann in ein Tier. Aber Wind und Strömung trieben ihn an ihre Küste und wohl auch die Neugier. Vorsichtig schlich er den Strand entlang, immer darauf bedacht, nicht gesehen zu werden. Endlich kam er in einen Ort; immer noch versteckte er sich. Vom Versteck aus beobachtete er den Verkehr auf den Straßen: Frauen saßen auf offenen Wagen, die von männlichen Wesen gezogen wurden. Diese Männer oder männlichen Wesen sahen normalen Menschen sehr ähnlich, auffallend war nur, daß sie im Verhältnis zu den Frauen sehr klein wirkten, was wahrscheinlich die Auswirkung einer Jahrhunderte dauernden Unterdrückung war. Tatsächlich waren die Männer dieser Insel schon seit fünf Jahrhunderten, das hieß seit der Zeit des tiefsten Mittelalters, versklavt. Vorher herrschte das Gegenteil mit eiserner Rute, Feuer und 1063
Schwefel. Frauen, die die Ehe brachen, in lesbischer Vereinigung in flagranti erwischt wurden, was häufig vorkam, da man der Liebe mit Männern kein Vergnügen abgewinnen konnte, wurden öffentlich gesteinigt. An den Protuberanzen in den Hosen der Männer konnte man erkennen, was für ein Vergnügen es denen machte. Frauen, die ihren Männern keine Freude bereiteten, bekamen die Rute zu spüren und Vagina und Anus wurden ihnen auseinandergerissen. Und schließlich wurden noch die Frauen, die sich auflehnten oder den religiösen Aberglauben der Männer verspotteten, lebendig verbrannt, was den Männern auch ein geiles Vergnügen war. Der starke Wunsch der Frauen, ihrem Leid ein Ende zu bereiten, ließ sie körperlich immer kräftiger werden, gleichzeitig trafen sie eine Verabredung, den Männern vergiftetes Essen zu reichen, was sie schwächte, krank und kraftlos machte, und Söhnen weniger Milch zu geben als Töchtern und ab und zu einem Jungen bei der Geburt gleich das Genick zu brechen. Als dann Kirke von ihrem Mann in flagranti mit ihrer Freundin erwischt wurde und er sie der üblichen Strafe überantworten wollte, griff sie ihn mit ihren starken Armen und band ihm die Hände auf den Rücken, das Restseil riß sie hoch, daß er sich tief verbeugen mußte, so führte sie ihn auf den Balkon, band das Seil an einer Dachlatte kurz und hielt eine feurige Rede, in der sie immer wieder ihre Geschlechtsgenossinnen zum Widerstand aufrief, zwischendurch prügelte sie ihrem erbärmlichen Opfer den Hintern. Als das die anderen Männer sahen, wollten sie natürlich in das Haus einbrechen und Kirke gefangen nehmen, aber die anderen Frauen versuchten das zu verhindern, und es entbrannte ein wilder Kampf, der von beiden Seiten mit erbittertster Entschlossenheit gekämpft wurde. Schließlich gelang den Frauen der Sieg. Die überlebenden Männer wurden alle wie Kirkes Mann gefesselt, und der gefesselte, vorgebeugt stehende Mann wurde das Symbol des Sieges der Frauen. Drei Monate ließ frau die Männer stehen, Futter gab es nur aus dem Schweinetrog, wenn man nach hundert Peitschenhieben noch 1064
lieb “danke” sagte und versprach, ein gehorsamer Diener zu werden, sonst bekam man gar nichts zu essen. Als frau dann nach drei Monaten die übrigens nackten Männer vom Gerüst losband, heulten diese vor Freude, obwohl frau ihnen jetzt einen Knebel um Glied und Hodensack, der die Vorhaut stramm zurückzog und das Glied stehen ließ, band. Die Männer, denen frau aus Angst nie wieder die Hände vom Rücken losband, führten frau an einer Kette oder Leine, die mit dem Knebel verbunden war, spazieren; so waren die Männer leicht zu manipulieren, besonders wenn frau eine Reitpeitsche zur Hilfe nahm. Bloß dumm war, daß diese gefesselten Sklaven keine Arbeit übernehmen konnten. Da kamen die Frauen auf den Gedanken, besondere Wagen zu konstruieren, die die Männer mit ihrem steifen Glied ziehen konnten. Frau war sich einig, daß frau Männer steif halten mußten, denn die ständige sexuelle Erregung würde die Männer unreif halten und ablenken, weshalb frau sie auch fleißig mit Mitteln fütterten, die eigentlich Medizin gegen Impotenz waren, aber bei gesunden Männern permanente Gliedsteife verursachten. Frau erfand also einen vierrädrigen Wagen, der vorn in sechs Fuß Höhe ein, zwei oder mehr Deichseln hatte, je nach Anzahl der ziehenden Männer. Die Kette vom Knebel des männlichen Schweifes wurde direkt am Wagen befestigt, aber damit der Mann nicht aufrecht ging und auch nicht mit den Händen nachhalf, wurde die Leine von den auf dem Rücken gefesselten Händen an der vorderen Spitze der Deichsel, die noch weit über die Köpfe hinwegragte, befestigt. Später verfeinerte frau diese Erfindung noch und damit die Tortur der Männer, indem frau vom Schweif die Kette schräg nach oben laufen ließ. Diese Kette konnte frau dann mit einem Hebel hochziehen, so 1065
daß der Mann an seinem steifen Glied wie an einem Haken hing und seine Beine nicht mehr den Boden berühren konnten. Männer, die ohne Erlaubnis entluden, wurden von oben bis unten fürchterlich mit der Peitsche traktiert. Entladen durften sie erst abends im Beisein ihrer Herrinnen, das hieß, dann war es eine Pflicht und manch einer, der nicht konnte, bekam hier die letzte Peitsche für den Tag. So waren die Frauen endlich glücklich, und mit ihren Geschlechtsgenossinnen, die sie jetzt Schwestern nannten, lebten sie in Eintracht zusammen. Ob sie sie nun vor den Wagen spannten, sich ihre Geschlechtsteile von ihnen lecken ließen oder sie einfach mit gespreizten Beinen aufhängten und ihnen dann eine Kerze in den Hintern steckten, einen Menschen sahen sie bald nicht mehr in diesem Wesen, mit dem frau alles machen konnte, was frau wollte. Neugeborene, die übrigens ihr Dasein nicht mehr einem Geschlechtsakt verdankten, denn der wurde lange Zeit als das Symbol der Unterjochung durch den Mann angesehen, sondern einem lesbischen Liebesakt, bei dem die Partnerinnen vom verspritzten Samen des Mannes nahmen und ihn einander in die Vagina rieben, wurden gleich nach ihrer Geburt entsprechend ihres Geschlechts getrennt. Den Jungen verschnürte frau schon von Kindesbeinen an die Arme auf den Rücken, so daß sie nur kümmerlich gediehen, dafür trainierte frau ihre Beine umso mehr, da sie ja später wie Pferde Wagen ziehen sollten. Außerdem erzählte frau den Jungen von der Minderwertigkeit des Mannes, während frau den Mädchen erzählte, sie seien zum Herrschen geboren. Die Minderwertigkeit des Mannes begründete frau damit, daß seine Gedanken immer nur um das kleine Ding zwischen seinen Beinen, das übrigens immer größer wurde, kreisten und um die Geschlechtlichkeit, was übrigens bald stimmte.
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Bald lehrte frau den Jungen nur noch eine primitive Sprache, die ihrem Sklavendasein zwar genüge tat, aber keine Wissenschaftlichkeit und Intelligenz zuließ. Doch die Entwicklung ging auch bei den Frauen weiter. Eine Gesellschaft, die einerseits so auf Herrsch-Schaft und Unterdrückung aufgebaut war, konnte nicht auf der anderen Seite eine permissive Gesellschaft sein. Schnell fanden sich Frauen, die den anderen überlegen waren; sie entwickelten einen Frauenkult, eine neue Religion, deren Priesterinnen sie wurden, und alle Frauen mußten ihnen eine bestimmte Zeit ihres Lebens dienen. Während dieser Dienstzeit, die in jungen Jahren abgeleistet werden mußte, entschieden die Priesterinnen das spätere Leben der Novizinnen, nämlich, ob sie als Herrin, als Kriegerin oder Arbeiterin oder als Gebärerin in die Gesellschaft aufgenommen wurden, über wie viele Sklaven sie verfügen durften, welchen Schmuck sie tragen durften und so weiter; die Gebärerinnen, die wieder richtig von Männern bestiegen wurden, allerdings im Beisein einer Priesterin, damit sich keine verliebte, galten als die niedrigste Kaste. Als später die Wissenschaften blühten, wurden Gebärerinnen wieder künstlich befruchtet und außerdem in zwei Kasten geteilt. Da frau eine Methode gefunden hatte, die Spermien in X- und Y-Chromosomen zu sortieren, konnte man jetzt Mädchen und Jungen nach Wunsch produzieren; überflüssig zu erwähnen, daß Frauen, die Mädchen zur Welt bringen durften, einen viel höheren Status hatten, als die, die für die Jungen zuständig waren; tatsächlich wählte frau für die erste Aufgabe starke und gesunde Frauen aus und auch entsprechende Männer, die in besonderen Ställen besonders schonend gehalten wurden. Die Frauen der zweiten Aufgabe aber waren klein und schwächlich und bei den samenliefernden Männern achtete frau nur darauf, daß sie einen starken Schweif hatten, denn das war ja der Arbeitshaken, mit dem die Männer alle Tätigkeiten, wie Wagenziehen, Mühledrehen etc. verrichteten, ansonsten durften sie nicht stark sein. Als dann Kinder geboren wurden, die ganz kurze, schwache Arme hatten, wurden die als Besamer bevorzugt. Bald hatte frau eine neue 1067
Rasse männlicher Wesen gezüchtet, die so kurze Arme hatte, daß frau sie nicht mehr auf dem Rücken zusammenbinden konnte; frau ließ sie dann im Zuge einer allgemeinen Liberalisierung und Humanisierung frei herunterhängen, und die Männer brauchten nicht mehr wie Tiere mit der Schnauze zu essen, sondern konnten ihre Stummelarme jetzt dazu benutzen. Noch später, als dann die Genetikerinnen soweit waren, das Gen zu manipulieren, fiel dieser Vorteil wieder weg, denn jetzt gelang es, armlose Männer zu züchten, die dann aber über einen so großen und starken Arbeitshaken verfügten, daß er in keine Frau mehr hineinpaßte. Nach dem Tagewerk mußten die Männer ihren steifen Schweif unter Aufsicht von Wärterinnen oder der privaten Herrin in eine Glasvagina stecken, deren bürstige Eingangsöffnung den Orgasmus stimulieren sollte. Wer es nicht schaffte zu entladen, wurde mit der Peitsche bestraft, erst nahm frau eine dünne, die mehr anregen als wehtun sollte; wenn der Mann anfing zu spritzen, wurde aufgehört, schlaffte der Mann aber weiter ab und hatte beim dreißigsten Schlag noch nicht entladen, so wurde ihm die künstliche Vagina entzogen, und er bekam noch mal dreißig mit einer schweren dreischwänzigen übergezogen, unter deren Schlägen vor Schmerz keiner mehr entladen konnte. Adjuna beobachtete von seinem Versteck aus die fremdartigen Fahrzeuge, er hatte es gar nicht gleich glauben können, daß der große Balken vorn an den mickerigen Männchen natürliche Schwänze sein sollten, denn die schienen ja noch größer zu sein als sein eigener. Er war schockiert, zu sehen, wie diese armen, armlosen Teufel von Peitschen traktiert durch die Gegend galoppierten. Dann sah er einen großen, von mindestens drei Dutzend Sklaven gezogenen Thron. Die mittlere Reihe von Sklaven war schwarz, die beiden äußeren weiß, alle schienen kräftig und gesund zu sein, besonders die Beinmuskeln waren gewaltig, auch ihre Arme hatten diese Sklaven noch, allerdings waren sie auf dem Rücken verschnürt und dann zur Deichselspitze gezogen, was alle zwang ihre Köpfe tiefer zu beugen als die Hintern, die blank schwitzend in der Sonne glänzten, 1068
auch hier waren es die gewaltigen Schwänze, die den Wagen zogen. Auf dem Thron nun saß eine wahre Superfrau mit schönen, vorstehenden Brüsten, die rundherum und auch an der Warze mit Gold und Edelsteinen geschmückt waren. Adjuna verliebte sich sofort in sie, als er sie sah. So schlich er dem Wagen bis zum Palast, der einer christlichen Kirche nicht unähnlich sah, nach. Dort schirrte frau die Zugmänner ab und führte sie zur Fütterung in Koben, wo sie sich bei lockerer Leine verschnaufen konnten. Als keine Frauen mehr in Sicht waren, lief Adjuna zu diesen Männern, um sie danach zu fragen, wie sie in diese unglückliche Situation gekommen seien. Man sah ihn nur dumm an und verstand nicht, was er wollte. Endlich fragte einer, ob er eine Herrin sei. Was soviel hieß, wie “ob er eine Frau sei”. Das Wort “Frau” existierte auf dieser Insel nicht mehr, nur als unbestimmtes Pronomen und dann wurde es natürlich klein geschrieben, genauso wie “man”, wofür frau hier auch “sklave” oder “tier” sagte. Adjuna antwortete: “Natürlich bin ich ein Mann.” Einige murmelten: “Das glauben wir nicht”, andere: “Er sieht wie eine Herrin aus.” Das Mißverständnis lag wahrscheinlich daran, daß Adjuna, der es eigentlich liebte, nackt durch die Natur zu springen, gerade wie die Herrinnen dieser Insel Hemd und Hose trug, und außerdem einen mindestens ebenso stolzen Gesichtsausdruck hatte. Automatisch zeigte Adjuna deshalb die Muskelpakete seiner Arme, aber man jammerte nur ängstlich: “Eine Herrin!” Daß sie nicht wissen konnten, daß normale Männer, die in Freiheit lebten, starke Arme hatten, sah Adjuna sofort ein, deshalb öffnete er sein Hemd, um ihnen zu zeigen, daß er keine Brust hatte wie eine Frau. Aber sie konnten wohl seine Brustmuskelatur nicht von Brüsten 1069
unterscheiden, jedenfalls murmelten sie noch immer duckmäuserisch und unüberzeugt. Dann drückte einer sein erigiertes Glied vor und sagte: “Sklave hat das.” “Das habe ich auch”, antwortete Adjuna, schämte sich aber, es in dieser komischen Gesellschaft zu zeigen. Da er Hunger hatte, sagte er es und langte zur Probe mit einem Finger in den Napf. Aber er war wohl zu freundlich gewesen, jedenfalls war ein zorniges Nein die Antwort, und als er den Finger in den Mund steckte, entstand ein großes Geschrei, daß Adjuna fürchten mußte, Aufseherinnen würden kommen. Mit Verachtung im Gesicht hüpfte er, dem Großzügigkeit und Gastfreundlichkeit die höchste Tugend waren, aus dem Verschlag. Bah, dachte er, Pöbel und Sklaven sind mir zuwider, wenn sie auch Geschlechtsgenossen sind. Ich speise mit Königinnen. Sein Hemd streifte er ab, um mit seinen Muskeln die Torhüterinnen einzuschüchtern. Auf seine Arme würde er sich verlassen können, dachte der Unbewaffnete: `Jede Lanze fang und brech ich damit. Aber noch nie war ich so froh, eine Hose anzuhaben. Arbeitshaken! Bah!' Ihm grauste davor. So schritt er auf die Kirchentür zu. Niemand war zu sehen. Er öffnete, ging hinein. Niemand. Durch den Vorraum weiter. Ein neuer Raum. Niemand. Weiter. Ein Saal. Niemand. Dann durch den Vorhang in die Halle. Da saß sie unterm Glockenturm. Gerade wurden ihr von Dienerinnen Speisen gereicht. Adjuna trat vor, aber nicht zu weit, daß die Ritterinnen, die rechts und links ein Spalier bildeten, ihm nicht in den Rücken fallen konnten, und rief: “O große Königin, erlaubt dem König eines fernen Landes, euch zu begrüßen.” Die Waffen, die sich im gleichen Augenblick nach ihm streckten, entriß er ihren Trägerinnen blitzschnell, so daß die ihn nur noch sprachlos anstarren konnten. Aber es blieben noch viele Frauen bewaffnet, da die Königin sofort Einhalt gebot. Adjuna wäre es lieber 1070
gewesen, wenn er noch ein bißchen hätte kämpfen können, bis alle entwaffnet wären, dann hätte er sich großzügig zeigen können und außerdem wären die Anwesenden seine Geisel gewesen und er hätte auf dem sichersten Platz, nämlich auf dem Thron, mit dem Rücken zur Wand Platz nehmen können. Aber jetzt entschuldigte die Königin die voreilige Reaktion ihrer Ritterinnen und bat ihn zu sich. Er seinerseits entschuldigte sich für sein plötzliches Eindringen und bemerkte dazu, daß er niemandem an der Tür begegnet sei; worauf sie meinte, an der Tür stehe zwar niemand, aber am Gartentor, und er müsse wohl in den Garten geschlichen sein. Worauf er erwiderte, er sei nicht in den Garten geschlichen, sondern da er auch ein großer Magier sei, sei er nicht mit dem Schiff unterwegs und vom Strand hier heraufgekommen, sondern werde dank seiner magischen Kraft von einem Ort zum anderen transmittiert und sei eben gerade vor ihrem Palast gelandet. Sie sagte, sein Eindringen sei ja schon entschuldigt und sie würde ihm ja auch gerne glauben, wenn er ihr doch eine Kostprobe seiner Kunst gäbe, denn sie liebe es so sehr, magischen Vorstellungen beizuwohnen. Da er als König ihr ja ebenbürtig sei, solle er doch wie sie auf gleicher Höhe sitzen und mit ihr speisen; leider gäbe es aber auf der ganzen Insel keinen zweiten Thron von dieser Höhe, so daß er sich doch bitte der Levitation bediene, um die seiner Würde und Ehre angemessene Position einzunehmen. Was Adjuna nicht zu schwer fiel. Im Lotussitz ließ er sich emporschweben. Doch er konnte es sich nicht verkneifen, noch ein Stückchen höher, als die Königin saß, Platz zu nehmen und auf sie hinabzublicken. Dann wurde er eingeladen, mit vom Tablett der Königin zu essen, aber es wurden ihm auch extra Speisen und Getränke dargereicht. Er erkundigte sich nach dem Leben auf der Insel und besonders auch nach den Männern, und ihm wurde gesagt, daß die Natur den Männern sehr übel mitgespielt habe, daß es aber auch für die Frauen ein sehr schwerer Schicksalsschlag gewesen sei, als sie plötzlich feststellen mußten, daß die Männer immer dümmer und schwächer geworden 1071
waren und kaum noch zur Arbeit taugten; frau verfahre aber sehr großzügig mit den Männern, versorge sie ausreichend, wasche und pflege sie, obwohl frau ihre Vertierung nicht habe aufhalten können. Adjuna gefiel die Königin immer weniger. Ihre großen, kalten Augen. Ihr berechnender Blick. Und ein Gesichtsausdruck, der keine Bewunderung für ihn übrig hatte. Es zehrte immer mehr an seinen Kräften, den Schwebezustand beizubehalten. Er zitterte. Sein Yoga versagte. Er fiel. Der Hochsitzende fiel tief, auf die harten Marmorstufen des Throns. Da blieb er ohnmächtig liegen. Kurare im Wein? Giftmord? Nein, so grausam waren die Frauen hier nicht. Oder zu verspielt dazu? Einen so stolzen Mann zu beugen, das höchste Glück der ersten Dompteuse, ein Genuß nur für Königinnen. Aber erst mußte er in Ketten gelegt werden. Schnell zog frau Adjuna die Hose runter, band ihn in einem Kerker an ein starkes Balkenkreuz. Aus Furcht vor seinen starken Armen umwickelten die Frauen Arme und Balken mit den stärksten Ketten; für die Füße nahm frau auch eine starke Kette. Da hing er nun vom Betäubungsgift ohnmächtig; keine Gefahr mehr für die Frauen. Eine Wärterin sollte aufpassen und, wenn er zu sich kam, die Königin rufen. Verschwommen beäugte Adjuna seine Situation, sein Schicksal, sein Mißgeschick. Er hielt es für klüger, sich nicht gleich bemerkbar zu machen, sondern erstmal heimlich Kraft zu schöpfen. Keine leichte Sache bei dem Mief und Gestank. Unter ihm war Kot und Urin, der mußte von ihm kommen. Ja, er war doch nur ein Mensch. Er urinierte noch einmal, um Gift abzulassen. Dabei gingen ihm auch Flatulenzen ab. Es stank entsetzlich. Die Wärterin öffnete deshalb eine Luke und von draußen wehte Wind herein. Die frische Luft erfrischte ihn und es fiel ihm schwer, weiter den Ohnmächtigen zu spielen. Die Wärterin 1072
machte jetzt gründlich sauber, wischte alles auf, scheuerte den Fußboden und schüttelte sogar den letzten Tropfen von seinem Schwanz, da er das ja nicht selbst machen konnte. Dann ging sie, um die Königin zu holen. Die erschien dann, Peitsche in der Hand, wie zur Raubtierdressur. Zuerst einmal erklärte sie, daß auf der Insel Männer nicht stolz zu sein hätten, sondern nur ergeben und gehorsam, was sie jetzt mit ihm üben werde. Dann machte sie sich lustig über sein kleines Glied und befahl ihm, es steif zu halten. Aber er war vom Gift geschwächt und auch nicht in der Stimmung; es gelang ihm nicht. Deshalb schlug sie ihn. “Wenn du schon so ein kleines Ding hast, kannst du es wenigstens steif halten, wenn ich da bin. Es ist eine Beleidigung, es in meinem Beisein so hängen zu lassen. Entschuldige dich!” Er entschuldigte sich. “Sag `danke', wenn ich dich schlage!” Er bedankte sich. Er keuchte schwer unter ihren Schlägen, die ihn rechts und links an der Seite und an den Beinen trafen, und zerrte an seinen Fesseln, was sie ihm sofort verbat: “Wenn du an deinen Fesseln zerrst, bekommst du wieder vom Wein, der dir nicht bekommt. Dann wirst du immer schwächer.” Eine Drohung, mit der sie nie ernst gemacht hätte, da sie keinen Schwächling dressieren wollte, was ja kein Spaß für Königinnen wäre. Adjuna, der ihre Gedanken lesen konnte, fühlte sich deshalb etwas erleichtert, denn von dem Gift wollte er auf keinen Fall wieder etwas nehmen. “Mann, mit deinem Glied”, zischte die Königin jetzt, “hast du drüben in deiner Welt sicher manch eine Frau vergewaltigt, gequält und unterdrückt. Mit deinem geilen Glied hast du unseren Schwestern, die bei euch schwach und hilflos sind, Gewalt angetan. Jetzt, wo dein Schwanz meiner Schönheit zu Ehren stramm stehen soll, versagst du. Ich werde dir dein mickeriges Anhängsel zur Strafe blau und grün peitschen.” 1073
Eine Dienerin legte ihm jetzt einen Schwanzknebel an, dabei rieb sie das Glied, daß es so halbwegs steif wurde. Dann holte sie einen vierbeinigen Ständer, den sie auf Gliedhöhe einstellte, und schnürte das Glied dann auf der dünnen Latte fest, gleichzeitig wurde ihm ein Kissen unter den Hintern geschoben, so daß sein Schwanz ganz nach vorn zeigte. Waagerecht ragte vor ihm sein Schwanz. “Recht so”, meinte die Königin und schlug mit einer dünnen Peitsche zu, die sich bei jedem Schlag gleich zweimal um Schwanz und Latte kringelte. Das Glied schwoll, glänzte eine geile Schönheit, während Adjuna jämmerlich jammerte. Als alles außer der Eichel von Blutergüssen blaugrün war, meinte die Königin: “Das soll genug sein. Aber morgen komme ich wieder, dann üben wir weiter. Und dann ist das Gift ganz aus deinem Körper und wir zapfen dir Samen ab für unsere Gebärerinnen. Das wird schöne Herrinnen abgeben!” Dann war er wieder allein mit seiner Wärterin, die nach dem Weggehen der Königin gleich das Fenster wieder zugemacht hatte. Adjuna ärgerte sich darüber. Gerade jetzt, wo ich frische Luft brauche, dachte der elend Keuchende. Da er Angst hatte zu bitten: Vielleicht würde sie ihre Macht genießen und es erst recht nicht öffnen, versuchte er es wieder mit Blähung. Wütend schimpfend trat die Alte ihn dafür, aber das Fenster öffnete sie nicht. Er entschuldigte sich und sagte, er habe Bauchweh und müsse. Sie sagte, das sei jetzt verboten. Aber er müsse einfach, entgegnete er ihr, was aber eine Lüge war. Mühsam preßte er die stinkend braune Masse raus. An den zusammengebundenen Beinen lief sie runter. Scheiß Menschsein. Fluchend öffnete die Alte die Luke, um zu lüften. Kräftig sog Adjuna die Luft ein, er atmete und atmete und die Ionen der Luft verliehen ihm neue Kraft und neuen Mut. Vorsichtig prüfte er die Ketten, spannte seine Muskeln. Wenn sie das Fenster wieder schließen will, reiße ich mich los. Oh, ist es schon so weit? Nichts wie weg, nichts wie raus. Mit einer riesigen Anstrengung brach Adjuna den dicken Querbalken des Kreuzes entzwei und riß die Ketten an seinen Füßen durch, sein Glied wollte er auch befreien, aber es war immer noch an dem Bock 1074
festgezurrt. Er bekam es nicht los und schleppte das Gestell mit sich, als er auf die schreiende Frau stürzte und ihr mit den noch am Balken verketteten Armen den Schädel einschlug. Dann versuchte er wieder, sich vom Gestell am Schwanz zu befreien. Es gelang nicht recht wegen der Ketten und Balken, von denen er sich auch nicht befreien konnte. Eine Schnüre in der Furche vor der Eichel war zu stramm; er bekam sie nicht los, er riß, Blut spritzte. Mittlerweile stürzten andere Wärterinnen herein, mit den Füßen trat er nach ihnen, wehrte sie ab, dann stürzte er sich aus dem Fenster, drei Stockwerke tief, rappelte sich auf und rannte; von allen Seiten stürzten Frauen auf ihn, er wehrte sie mit seinen Balkenarmen und mit den Füßen ab, stürmte in die Berge, hetzte sie ab. In den Bergen versuchte er, seine noch immer an dem gebrochenen Balken geketteten Arme zu befreien. Lange mühte er sich ab, schüttelte sich, stieß gegen die Stämme der Bäume, bis die Ketten endlich abfielen. Er massierte seine schmerzenden Arme und kratzte und rieb sich seine Wunden. Dann lief er dorthin, wo das Schiff vor Anker lag. Schnell wollte er zurück zu seinen Leuten. Am Strand stürzten aus Verstecken wieder Amazonen auf ihn, aber diesmal hatte er seine Hände frei und die Lanzen, die sie warfen, fing er mit Leichtigkeit, und wenn er sie zurückwarf, so konnten die Mädchen sie weder fangen noch ihnen ausweichen. Es schmerzte Adjuna, junge Mädchen so totgenagelt zu sehen, viel lieber wollte er lebende Gefangene machen. Er packte sich zwei, die sich zu dicht herangewagt hatten, und wollte sie mit sich schleifen. Da rissen sie Messer aus ihrer Scheide und wollten damit auf ihn einstechen, aber er griff ihre Handgelenke und drückte zu und zerbrach so ihre Handgelenke, so daß die Messer zu Boden fielen. Mit der bloßen Hand schlugen sie auf ihn ein, aber da er hart war, schadete es ihm nicht. Als sie merkten, daß sie gegen ihn nichts ausrichten konnten, schlugen sie sich gegenseitig die spitzen Finger ins Herz. Brave Kriegerinnen. Ihr Leben verspritzte sich im Sand.
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Lebende Beute ist mir nicht vergönnt. Adjuna sprang ins Wasser und schwamm zum Schiff.
Wieder an Bord seines Schiffes erteilte er seinen Leuten sofort den Befehl, die Abfahrt vorzubereiten. Ihm fehlte jede Lust, der glotzenden Mannschaft seinen miserablen Zustand zu erklären. Bloß weg und alles schnell vergessen. Als man gerade losfahren wollte, sah Adjuna, wie von einem bewaldeten Uferstreifen ein Ruderboot ablegte mit einer einzelnen Amazone drin. “Nun kommt doch noch Beute an Bord, sogar freiwillig”, meinte er zynisch. Da er einen Hinterhalt oder eine Kamikaze vermutete, legte er vorsichtshalber einen Pfeil in seinen Gandiva-Bogen und zielte auf die einsame Ruderin, um sie bei einer verdächtigen Bewegung sofort zu erschießen. “Nicht schießen, nicht schießen. Ich liebe dich”, rief die junge Amazone ihm verzweifelt zu. Adjuna ließ sie dichter rankommen. Als er sah, daß sie unbewaffnet war, legte er seinen Bogen zur Seite. Er streckte sogar seine Hand aus, um ihr an Bord zu helfen. Menschen glauben nur zu gerne, daß sie geliebt werden, und freuen sich über das freiwillige Opfer und die hinzugewonnene Macht. Als die Amazone wieder von ihrer Verliebtheit sprach, nahm Adjuna sie keineswegs zärtlich in den Arm, sondern wurde streng und herrisch. Er verlangte einen Liebesbeweis. Als Liebesbeweis sollte sie die Beine breitmachen, damit er eindringen konnte. Zögernd, aber innerlich gern dazu bereit, spreizte sie ihre Beine. Seine herrische Art erregte sie ungemein. 1076
Aber wegen der Tortur auf der Insel blutete er wie eine Jungfrau und die Schmerzen wurden so groß, daß er aufgeben mußte. Selbst vor dieser ihn treu und untertänig anblickenden Amazone mußte er passen, die Waffen strecken, oder besser, das Glied rausziehen, den Schwanz einziehen. Er kam von seinem hohen Roß herunter, was ihn auf gleiche Ebene wie die Amazone brachte, oder gar tiefer. Aus ihrem untertänigen Blick wurde jedenfalls bald ein Blick voller Mitgefühl. Aber ganz vergaß sie sich nicht in ihrer Rolle als Bemutterin. Adjuna lag bekümmert neben ihr und genoß ihre Zärtlichkeit und hörte sich an, wie sie ihn gesehen hatte und sich in ihn verliebt hatte. Ihre Erzählung stellte sein Frauenbild wieder her. Sie: “Schade, daß du bald sterben mußt.” Da fuhr er hoch. Was? Wollte sie ihn umbringen? Oder hatte er auf der Insel ein Gift bekommen, daß ihn doch noch töten würde? Natürlich wollte er mehr wissen. Und sie fing an zu erzählen: “Ich bin nur ein ganz einfaches Mädchen und ich verstehe das auch alles nicht. Weil mein Geburtsgewicht sehr gering war, habe ich keine richtige Ausbildung bekommen. Du hast gesehen, ich trage keine Waffen. Kiegerinnen sind die, die ein stattliches Geburtsgewicht vorzuweisen hatten. Aber auch fürs Lesen und Schreiben wurde ich als ungeeignet bezeichnet. Sehr früh schon wurde entschieden, daß ich eine Gebärerin für Sklaven sein solle. Ich bin zwar noch sehr jung, aber habe schon dreimal geworfen. Aber im Gegensatz zu den Gebärerinnen von Amazonen müssen wir, obwohl wir körperlich schwächer sind, immer schwer arbeiten.” Richtig, sie sah zart und schwach aus. Aber was Adjuna an ihr gefiel, war offensichtlich nicht das Ideal der Amazonen. “Viel Dreckarbeit, weißt du. Ich mußte in den Brodelküchen, den Hexenküchen, weißt du, wo die Zaubertränke hergestellt werden, putzen, scheuern und abwaschen.” “Dann weißt du ja sicher, was für ein Gift man mir gegeben hat.” “Leider verstehe ich da gar nichts von. Aber ich habe einmal etwas anderes gehört.” “Ja, was denn?” “Ich habe 1077
zufällig ein Gespräch der Königin mit anderen Herrinnen, die in den Brodelküchen arbeiten, überhört. Sie sind fast fertig mit der Arbeit. Sie haben ein Mittel, das Männer tötet. Nicht nur einen, sondern alle Männer, alle Männer dieser Welt. Bald soll das Mittel an die Luft abgegeben werden. Man hat Feuer spuckende Speere, mit denen wird man das Mittel an vielen Stellen der Welt gleichzeitig an die Luft abgeben.” Adjuna merkte, daß ihm hier etwas Unerhörtes offenbart wurde. In den Labors der Amazonenkönigin stand die Forschungsarbeit an einem biologischen oder chemischen Kampfstoff, der die Ausrottung der Männer bewirkte, kurz vor der Vollendung oder war vielleicht sogar schon vollendet. Adjuna haßte den Gedanken, aber er mußte zurück auf die Insel und die Laboratorien zerstören. Er ließ sich von der jungen Amazone, Sabi hieß sie, alles erklären: Die Lage der Labors, die Aufstellung der Wachen, die Lager der Raketen usw. Der ganze Laborkomplex schien unbezwingbar zu sein. Mächtige Mauern und mächtige Tore schützten ihn. Schließlich wurde ein Plan ausgearbeitet, der vorsah, daß Sabi wieder zurückging und tat, als sei nichts geschehen. Sie sollte dann heimlich die Bolzen von einem bestimmten Deckel eines der Raketensilos lösen, der vom hohen Flachdach des Gebäudes aus zugänglich war. Adjuna wollte dann mit zwei seiner Leute mit Hilfe eines aus Segeltuch gefertigten Flugdachens zum Dach schweben, dort landen und durch die Öffnung eindringen und das Zerstörungswerk vornehmen. Ihren Rückzug hatten sie kaum geplant, nur eine vage Vorstellung von Tür aufsprengen und laufen. Sabi ging nur ungern zurück, aber die Hauptsache war, sie ging. Sie versprach, alles wie verabredet zu machen. Abschiedsküsse, Liebesschwüre. Da Eile geboten war, wollte man gleich in der Nacht zuschlagen. 1078
Die Amazone ruderte wieder ans Ufer. Hoffentlich war sie nicht gesehen worden. Auch Adjuna und seine Leute machten sich fertig. Ihre Flugdrachen mußten auf einen Berg getragen werden, von wo sie dann in der Dunkelheit heruntergleiten wollten. Soweit klappte auch alles ganz gut. Während des Anflugs wurde man wegen der Winzigkeit der Fahrzeuge nicht von der Flugabwehr entdeckt. Auf dem Dach fand man sich auch schnell zurecht. Man war allerdings überrascht, als man alle Raketensilos geöffnet fand. Die Raketen wurden gerade vorgeheizt, der Countdown zur Vernichtung der Mannheit lief offensichtlich schon. Es wurde verabredet, daß Adjuna mit Olson den Abschußschacht hinuntergleiten sollte, um innen die nötigen Verwüstungen vorzunehmen. Eine Minute Zeit sollten sie haben zum Runtergleiten und Sich-in-Sicherheit-Bringen, dann sollte Pitt von oben in alle Röhren Dynamitstangen werfen. Puh, die Raketen waren heiße Ofenrohre, und unten standen Technikerinnen herum und kontrollierten die verschiedenen Aggregate der Raketen. Adjuna und Olson hatten keine Wahl, sie mußten sie schnell anspringen und niedermachen, bevor sie piep machen konnten. Dann laufen, runter in den Bunker, dem Herzstück des Laboratoriums. Rums, über ihnen reißt die Explosion aus Dynamitstangen und Raketentreibstoff das Gebäude weg. Pitt segnet pulverisiert das Zeitliche. Adjuna und Olson laufen die Gänge entlang und werfen in jeden Raum eine Handgranate. Qualm und Gestank werden unerträglich, aber sie schaffen es bis zum letzten Raum. Im Ohnmächtig-werden sehen sie noch, wie die Außentür geöffnet wird und frische Luft hereinweht. Als sie wieder zu sich kommen, liegen sie vor dem Thron der Königin auf dem Boden. Adjuna, der noch nie von jemandem so gedemütigt wurde wie von dieser Königin, dachte, die wird mir gleich noch Schlimmeres antun, 1079
ich töte mich besser. Aber die Königin sah niedergeschlagen aus und harmloser als bei ihrer vorherigen Begegnung. “Warum hast du das getan?” fragte sie. “Du wolltest alle Männer der Welt töten.” “Ja, aber es hätte nicht wehgetan.” Sie holte tief Luft. “Du hast all meine Labors und Lager zerstört und meine Pläne, alle Männer dieser Welt zu vernichten, zunichte gemacht”, jammerte sie entgeistert. Adjuna: “Wenn du die Männer vernichtest, vernichtest du doch die ganze Menschheit. Wo soll denn die nächste Generation herkommen, wenn es keine Männer mehr gibt?” “Das ist doch Unsinn. Durch Genverdoppelung, heutzutage eine Leichtigkeit, können Frauen ganz perfekte Frauenbabys zur Welt bringen. Männer werden nicht mehr gebraucht. Die Zukunft heißt Jungfrauengeburt.” “Deine eigenen Sklaven wären dir gestorben.” “Das wäre nicht schlimm gewesen. Die haben sowieso keine richtige Arbeit getan, sondern waren nur Spielzeug. Aber während du meine Labors zerstört hast, sitzen auf dem Festland Männer in Labors und bereiten den Weltuntergang vor. Aber du wirst nicht hingehen und ihre Labors zerstören, du wirst es auch nicht schaffen, denn nur wild um sich hauen hilft nicht, es sind auch zu viele, das schaffen nicht einmal deine starken Arme. Sondern man muß zuerst die Bevölkerung gewinnen, und wenn die einen an die Macht gelassen hat, kann man dort erst etwas ausrichten. Einem Freak wie dir werden sie nie Vertrauen schenken. Was wir hier auf der Insel mit den Männern machen, das sollte man weltweit mit Männern machen, dann brauchte man sie auch nicht umzubringen, könnte sie am Leben lassen. Männer waren immer grausam, haben immer die schlimmsten Verbrechen begangen, untereinander und auch besonders gegenüber uns Frauen, deshalb haben wir ihre Arme gestutzt und ihnen das gegeben, was sie am liebsten mögen: Geilheit. Dich mögen die Männer hier anwidern, aber sie sind die glücklichsten Männer der Welt. Wir haben das wahre Glück der Männer erkannt und zu wecken verstanden. Aber wir haben nicht die Macht- und Erziehungsmittel, um auch auf den Kontinenten die Männer zu erwecken. Es bleibt auch keine Zeit mehr dazu. Die Männer sind wie Zeitzünder am Weltenball. Die Uhr ist bald abgelaufen. Der Ball wird platzen. Alles ist egal.” Adjuna stand betroffen da. Sie: “Ich lasse dich gehen, obwohl ich dich gern behalten hätte. Du bist schön, nicht nur da unten, nicht nur dein 1080
Körper ist schön, auch im Gesicht bist du schön und noch auf andere Art; wie das sentimentale Ding, das alles verraten hat, empfinde ich zuviel für dich. Geh schnell, denn mich widern Sentimentalitäten an. Nimm deinen Gefährten mit.” “Kann ich auch Sabi mitnehmen?” “Wir haben sie gleich, als sie zurückkam von deinem Boot, torquiert. Leider versagte ihr Herz sehr schnell. Sie konnte ihren Verrat mit ins Grab nehmen. Schade, sonst hätten wir besser aufgepaßt. --- Geh schnell, bevor ich auf dich schießen lasse.” Adjuna und Olson rannten los. Quer über die Insel zur Bucht. Ein Sprung ins Wasser. Losgekrault. An Bord wurden gleich die Segel hochgerissen. Noch lange war der Rauch von ihrem Verstörungswerk wie ein Dämon der Unterwelt über ihnen.
Wie die Erde in einer geraden Linie im vierdimensionalen Raum-ZeitGeschehen um die Erde kreiste, so zog Adjuna in einer mehr oder weniger geraden Linie in den Brüllenden Vierzigern immer wieder seine Kreise um die Welt; kreisen, kreisen, zustoßen. Überfälle und Landgänge wurden zunehmend schwerer wegen zunehmender Überwachung der Welt durch Weltpolizei oder besser -polizisten; es gab mehrere davon. Die meisten hatte gestreifte Flaggen, andere hatten grüne Flaggen, aber es gab auch welche mit roter oder schwarzer Flagge. Adjuna flog nicht mehr die Totenkopfflagge wie in seiner Jugend im Mittelmeer. Er war praktischer geworden, er pflegte jetzt zu sagen: Das Floß hier ist bloß Schiff, ohne Lappen. Die beste Zeit hatten die Piraten, wenn sich die Weltpolizisten stritten, dann waren die Weltpolizisten zu sehr mit ihresgleichen beschäftigt und hatten keine Zeit für Verbrechensbekämpfung. Ein Marineverband Adjunas, der hauptsächlich aus Kriegern der Bajau-Seezigeuner bestand und in Gefangenschaft geraten war, wurde sogar wieder freigelassen, als die Behörden davon überzeugt waren, daß es sich bei ihnen nur um gemeine Verbrecher handelte und nicht um politische 1081
Gegner. Mit der Auflage in Zukunft nur noch Schiffe mit gestreiften Flaggen zu überfallen, waren sie freigelassen worden. Zweifellos hatte auch die Hautfarbe der Bajauis mit eine Rolle gespielt, denn bei dem großen Gott, an den angeblich alle schwarzhaarigen, kaffeebraunen Menschen glaubten, mußten sie schwören, nie wieder grün beflaggte Schiffe zu plündern, was die Bajauis notgedrungen taten. Was blieb ihnen anderes übrig. Damals war erst der Anfang eines neuen Konflikts sich am Anbahnen, die Halbmondigen gegen die Gestreiften. Später dann sollten sich die Gestreiften immer mehr bekreuzigen und die Streifen ihrer Flaggen sich immer mehr kreuzen, bis sich schließlich Kreuzkrieger und Halbmondmohammedaner gegenüberstanden. Und die Kreuzer der Kreuzkrieger und die der Halbmondmohammedaner machten das Reisen zu Meer schließlich so unmöglich, daß die zivile Seefahrt, das Brot der Seeräuber, zum Erliegen kam. Aber auch auf dem Land kam das Ende der Zivilisation in Sicht. Einige Optimisten wie Adjuna sahen sogar noch weiter. Aber er mußte sich vom Besserwisser belehren lassen.
Besserwisser: Du glaubst, der Mensch wird dem Leben auf diesem Planeten ein für alle mal ein Ende bereiten. Das ist ein Irrtum. Das ist Größenwahn. Die Saurier haben es nicht mit ihrer Freßsucht geschafft, und der Mensch wird es nicht mit seinem Wahnsinn schaffen, erst wenn nach dem nächsten Kataklysmus die große Stunde der Insekten kommt, wird sich die Hoffnung vielleicht erfüllen. Vielleicht werden vor dem endgültigen Ende auch erst noch die Königreiche der Bakterien und Viren aufblühen und erst sie, ins Anorganische zurückkriechend, dem Leben Lebewohl winken.
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Es war eine Art Mißtrauen, das Adjuna und seine Leute auf den Sieben Meeren hielt. Nur kurz waren ihre Landgänge. Immer traten sie auf Narben. Und obwohl das Leben ihnen selbst Narben schlug, fürchteten sie sich, wenn sie Land betraten und sahen, daß es schlecht geheilt war, jeder Zeit wieder aufreißen konnten. Auf dem Meer, da konnte man am Luftdruck und an den Wolkenformationen erkennen, wenn sich ein Sturm zusammenbraute, und man konnte sich darauf vorbereiten, die Segel raffen, die Luken fest verschließen, auf dem Land, da braute sich etwas anderes zusammen, und man wußte nicht recht, was es sein würde, und wie man sich davor schützen konnte und ob überhaupt, und ob nicht vielleicht gerade das Meer den einzigen Schutz bot. Man hatte es aufgegeben, vor den Brüllenden Vierzigern den friedlichsten der Kontinente zu umfahren. Die Roaring Fourties hatten einfach zu sehr an Mensch und Material gezerrt. Man kreuzte jetzt den Stillen, Friedlichen Ozean. Es gab eine These, daß der versunkene Kontinent Muh auf dem Meeresboden des Pazifiks lag, aber noch hatte man keine Beweise dafür, und von selbst war der Kontinent auch nicht wieder hochgekommen, um sich zu zeigen. Ein Ring von Feuer umgab den Friedlichen Ozean, Erdbebengebiete und Vulkane, Aconcagua in den argentinischen Anden, Catopaxi in Ecuador, Paricutin und Popocatepetl in Mexiko, Lassen, St. Helens, Shasta, Hood, Rainier, Katmai und Augustine in den USA, Fuji, Miharayama, Fugen und Sakurajima in Japan, Pinatubo, Hibokhibok und Mayon auf den Philippinen, Krakatau in der Sundastraße, Ruapehu, Ngauruhoe und Tongariro in Neuseeland. Stürme quälten die Schiffe auch hier: der südwestliche Pampero drohte die Schiffe an der chilenischen Küste zu zerschmettern und der Paraca wollte einen verschlingen, einen stürmischen Chubasco mußte man vor der mexikanischen Küste abwettern, auch der Cordonazo de San 1083
Francisco, der Wirbelwind eines Heiligen, wollte einem etwas antun, konnte es aber nicht, der feuerheiße Ae brannte die Haut vor Hawaii, der böige Burga vor Alaskas Küste ließ die Glieder frieren, ein Kogarashi, ein Hokuhokusei, ein Nordnordwester, brachte kalten, aber günstigen Starkwind und ungünstigen Schnee, der das Deck glitschig machte, als man die Alëuten und Kurilen entlang halb am Wind nach Hokkaido segelte, es wurde Winter, im kalten Er-ji-ji-fung vor der Küste Chinas war man am ErErfrfrieren, der Yuh wehte juchhe vor Shanghai, man fing an, von den Tropen zu träumen, die Churadas brachten noch einmal winterliche Regenböen, als man sich auf dem Weg zu den schönsten der Südseeinseln, den Marianen, befand, der Nortadas versauerte einem die Küste Luzons, nicht umsonst hieß er schmutziger Wind, der phillipinische Zyklon Baguio brach einen Mast, der Colla einen zweiten, der auflandige Barat trieb die Schiffe gefährlich dicht an die Küste Celebes und in der Arafurasee trieb man vor dem Wambru, der sich zum Wamandai verstärkerwandelte, der Torres-Straße entgegen, bis sich der Wind zum Willi-Willi steigerte, einem tropischen Zyklon, der einen erst weiter in die eine Richtung trieb und dann in die andere und wie ein Wumera war man wieder da, wo man schon mal war, gefährlich dicht an den Korallen.
Ganz im Norden stieß der Pazifik an die große russische Taiga.
Dort lebte einmal ein böser Zauberer mit Namen Kastchei. Dem war es gelungen, unsterblich zu werden, indem er seine Seele von seinem Körper getrennt hatte und mit einer festen Hülle versehen hatte, aus der sie nicht fliehen und ins Totenreichen entweichen konnte. Dann versteckte er sie in einer hohlen Eiche, damit sie nicht zu Schaden käme. So gegen den Tod gewappnet, zog er in manchen Kampf. Und da er nicht sterben konnte, überlebte er die schlimmste Prügel. Die Pein machte ihm aber immer fieser und gemeiner. Und manch eine gemeine Tat ging auf sein Konto. Doch die Sonne brachte seine Verbrechen ans Tageslicht. Und da die Menschen ihn nicht totschlagen 1084
konnten, waren seine Leiden unsagbar. “Der Verbrechen Spaß ist ein geringer, wenn man danach zum Opfer wird”, dachte Kastchei, als er wieder einmal nach langer Strafe den Menschen entkommen war. Da es die Sonne war, die seine Taten ans Tageslicht gebracht hatte, führte Kastchei fortan Krieg gegen die Sonne. Er ließ einen Wald wachsen, der so dicht und undurchdringlich war, daß die Sonne nicht eindringen konnte. Es gab nur eine Lichtung der Hoffnung in dem Wald des Grauens, und das war der Ort des Feuervogels. Das war ein Vogel mit feurigem Gefieder, wie er eigentlich nur auf der Sonne beheimatet war. Und es war nur dieser Vogel, der hier tapfer das Helle gegen die Dunkelheit verteidigte. Kastchei aber lockte seine Opfer fortan in die Dunkelheit seines Waldes, um sich dann in aller Ruhe an ihnen vergehen zu können, und wenn er seine Lust befriedigt hatte und er sie nicht mehr brauchte, ließ er sie zu leblosen Wachsfiguren erstarren. Es war ein schöner Sommertag, an dem Prinz Ivan mit seiner Verlobten Prinzessin Vassilissa am Rande des Waldes zur Jagd ging. Nie war ein Mensch glücklicher gewesen als Prinz Ivan an diesem Tag, denn die schöne Vassilissa sollte morgen seine Frau werden. Doch als ein schöner Hirsch erschien und Vassilissa ihn in den Wald verfolgte, erschrak Prinz Ivan, denn er hatte schreckliche Gerüchte von Kastcheis Reich in der Dunkelheit des Waldes gehört. Er rief und blies sein Jagdhorn, aber Vassilissa kam nicht zurück und schließlich machte er sich auf die Suche. Wie er durch den Wald irrte, kam er an die Lichtung des Feuervogels. Für einen Moment vergaß er alles, sogar seine Verlobte, und er wollte den Feuervogel einfangen und mit in den Palast nehmen. Aber als er den Vogel im Arm hatte, sah der so traurig aus, daß er ihn wieder fliegen ließ und nur eine Feder nahm, die der Vogel verloren hatte. Dann machte er sich weiter auf die Suche. Und als er endlich das Schloß des Kastcheis gefunden hatte und er dem bösen Zauberer gegenüberstand, war es diese Feder, die ihn schützte, und als er die 1085
Kraft der Feder verstand, gelang es ihm sogar, dem Zauberer sein Geheimnis zu entreißen. Er lief zur Eiche und ... zerbrach die Hülle um Kastcheis Seele, die nun ins Jenseits entwich. Kastchei war tot, und damit der einzige, der den Zauber je hätte wieder aufheben können. Seine erstarrte Welt war jetzt erstarrt für immer. Niemand würde sie lösen können, nicht für einen Moment. Traurig kehrte Ivan zurück in sein Schloß. Den entsetzlichen Ort suchte er kein zweites Mal auf. Und nur der Staub begrub in den Jahrhunderten Vassilissa und die anderen Opfer. Sie ruhten in Frieden. Diese Geschichte war in Rußland oft erzählt worden und gehörte zum Legendenschatz dieses Volkes. Aber mit Legenden lügten sich die Menschen etwas vor. Hier wurde die Legende zum ersten Mal von der Lüge gesäubert erzählt. Immer Säuberungen. Die Lüge war gewesen, daß, als Kastcheis Seele entwich, sein fauler Zauber sich auflöste, Wachsfiguren wieder Menschen wurden, also fühlten, haßten, liebten, logen, glaubten, enttäuschten, versagten, also die ganze Skala menschlicher Gefühle und menschlichen Irresein wieder rauf- und runterleierten; was für eine Verdammnis ein solches Happy End, wen machte es happy? Adjuna erklärte: “Diese Änderung der Legende war notwendig geworden, da es keine happy endings mehr gab, geben sollte, für niemanden, nirgends, niemals wieder; - ja, es hatte selbst in der Vergangenheit nie happy endings gegeben, und wer je etwas anderes behauptet hatte, war ein Lügner oder ein dummer Mensch gewesen; und sowieso: Wie konnte man von happy endings sprechen, wenn das Ende doch erst da war, wenn man nicht mehr sprechen konnte.” Protest erhob sich. Viele der Zuhörer meinten, es gäbe sehr wohl Geschichten, die mit einem Happy End endeten. Und einige wollten es bezeugen und andere wollten es selbst erlebt haben. 1086
“Seid ihr sicher, daß ihr das Ende der Geschichte kennt. Das Liebespaar hat sich gefunden. Jetzt wird geheiratet. And they lived happily ever after... Aber weit gefehlt. Der Alltagstrott zermürbt das Glück, sie wird 'ne Meckerzicke und er haut frustriert auf sie ein, aber das ist noch nicht das Ende vom Unglück, jetzt haben die beiden auch noch Kinder, ihr ganzes zerstörerisches Potenzial kracht jetzt auf die nächste Generation nieder. Für die Frau sind die Kinder ein kleines Glück, endlich hat sie jemanden, an dem sie Dampf ablassen kann, ohne daß sie selbst Schläge riskiert. Aber das Happy End der Traumhochzeit hat im privaten Unglück gar nicht sein Ende, es geht noch weiter, natürlich sind die beiden Eheleute angepaßte Leute, ein Stück der Masse Mensch, das Hurra schreit, wenn es heißt, losmarschieren, die Nachbarn umbringen - oder die Unangepaßten in der eigenen Gesellschaft.” “Ja, aber es sind doch nicht alle angepaßte Marionetten, die man hinund herhetzen kann, es gibt doch auch unangepaßte?” “Sicher gibt es Leute, die nicht angepaßt sind, sogar ungepaßte Eheleute, auch wenn sie sich nicht zu Krieg, Massenmord und die Vernichtung von Minderheiten aufhetzen lassen, diese Leute haben ihren eigenen Anteil am Unglück dadurch, daß sie den Gesamtbetrug durchschauen, und was noch schlimmer ist, nichts dagegen tun können. Versuchten sie den Massenbetrug aufzudecken, dann liefen sie nur gegen eine Wand, eigentlich ist es aber gar keine Wand, sondern eine Scheibe, die der Massemensch vor seinem Kopfe aufgerichtet hat, um sein und vor allen Dingen das Unglück der anderen Leute zu bewahren. Und die Argumente gehen dem Pöbel nie aus, selbst wenn er nichts Besseres zu sagen weiß als: So etwas tut man nicht.” “Ja, es ist sicher das größte Unglück, daß der Pöbel so dumm ist.” “Solange es den Pöbel gibt, gibt es kein Glück, und wenn es den Pöbel nicht mehr gibt, gibt es die anderen auch nicht mehr.” “Ich weiß ein wirkliches Happy End”, rief jetzt ein Russe dazwischen, “um auf die Geschichte von Kastchei zurückzukommen. Wir Russen 1087
fällen jetzt seine Wälder und bekommen ausländische Devisen dafür. Das ist doch ein wirkliches Happy End.” “Vor allen Dingen, wenn der Kahlschlag so ratzekahl, daß kein neuer Wald mehr nachwächst. Dann hat man wirklich ein Ende erreicht, mit Bodenerosion und Wüste. - Aber jeder kurzfristige Konsum macht nur kurzfristig happy und ist nie the End, der mag jedoch die Annäherung an das Ende beschleunigen.”
“Bei all dem Beklagen der Kurzfristigkeit”, sagte einer der Tataren, die zugehört hatten, kurzfristiges Glücklichsein, kurzfristige Konsumgüter, ein kurzfristiges Menschenleben, da fehlt uns nur noch eins, ein kurzfristiger Suff!” Und er holte die Gläser raus und schenkte ein. “Mm, sieht aus wie Milch, schmeckt aber ganz anders, viel besser als Milch, was ist das?” fragte ein deutscher Tourist, der mit am Lagerfeuer saß.” “Kumyß." “Kuhmist?” “Ja, Kumyß, das trinken wir Tataren gern.” “Ich wußte gar nicht, daß man aus Kuhmist ein Getränk machen kann.” “Das ist nicht aus Kuhmist gemacht, sondern gegorene Stutenmilch.” Ach, wie schwer war es doch, die anderen zu verstehen, im kleinen wie im großen. Immer wieder kam es zu Mißverständnissen, und die Völkerverständigung klappte nicht, weil die Völker keine einheitliche Sprache sprachen.
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Noch weiter im Norden des Pazifiks. Bei den Inuits. Ganz weit im Norden stieß Adjunas Flotte auf eine andere Art von erstarrter Welt. Nicht starr gezaubert war diese Welt von den Kräften eines bösen Zauberers und auch nicht erstarrt unter der Weigerung der Menschen, flexibel zu sein und im Fluß zu leben, sondern das Wasser selbst verweigerte sich hier, weigerte sich, wellig zu sein, flüssig und flexibel, wollte sich nicht mehr aufbäumen, weder schäumen noch fließen. Und auch konnte kein Erlöser diese erstarrte Welt erlösen, sondern nur die Sonne und Tauwetter. Hier lebten die Inuits. Die Inuits hatten eine heroische Vergangenheit, anderen Kulturvölkern vergleichbar - oder gar überlegen. Leider wurde aber alles in ewiges Eis gemeißelt, alle Pyramiden, alle Tempel, alle Siegessäulen, alle Triumphtore, alles ins ewige Eis, alle Helden hatte man in Eis verewigt, und die ereignisreiche Geschichte des siegreichen InuitVolkes hatte man nicht auf Tontafeln, weil diese so leicht verkrümelten, sondern auf Eistafeln geschrieben, das gesamte Inuitikum, das philosophische Erkenntnisgut um die absolute Erstarrtheit allen Seins und die Unauflöslichkeit gesellschaftlicher Strukturen, sowie die Formeln für theoretische Berechnungen des Verflüssigungspunktes des Eises waren in Eisbibliotheken gesammelt gewesen. Leider waren all diese rigiden, scharfkantigen Kulturgüter der Inuits, damals hatte selbst die Fellhosen und Anoraks Bügelfalten gehabt, bei der letzten Warmzeit, auch Zwischeneiszeit genannt, geschmolzen und waren daher den Inuits und der ganzen Menschheit für immer verloren gegangen - auf ewig, denn als das Wasser wieder zu Eis erstarrte, hatte es die Inschriften und Formen vergessen. Und auch die Inuits selbst hatten in der langen, warmen Zeit, in der es keine Eisübungstafeln gab, das Lesen und Schreiben verlernt. So sollte die Menschheit nie von dem eisigen Heroismus und den kaltblütigen
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Gemetzeln der nördlichen Eisvölker erfahren, nie ihre kulturellen Leistungen zu würdigen lernen. Nur schlechte Jäger, wie der Angakoq oder der Schreiber dieser Zeilen, die anderen ihre Beute oder sonst wie schwerverdientes Geld mit Fantasienreichtum abnahmen, wußten ab und zu noch mal Weithergeholtes von den Inuits zu berichten.
An der eisigen Eiskante des Nordpolarmeeres machten die Freunde kehrt, um wieder in den wärmeren Süden zu fahren. Ihre Schiffe waren nicht stark genug das Eis zu brechen und konnten auch nicht über dem Eis oder unter dem Eis weiterreisen, obwohl es in der damaligen Zeit durchaus schon solche Fahrzeuge gab. Tatsächlich wimmelte es unter dem Eis des Nordpolarmeeres von Atom-U-Booten, jedes mit einer tödlichen Fracht von 12 Atomraketen mit je 12 Atomsprengköpfen, jeder Kopf kräftig genug, eine Stadt zu zersprengen. 12mal 12 macht 144. Aber das beunruhigte Adjuna und seine Leute nicht, sie lebten nicht in Städten, und für ihre kleinen Schiffe lohnte sich nicht der Aufwand einer großen Atombombe. Sie wunderten sich nur ein bißchen über die Kollegen Seehelden, die da in ihren Unterwasserröhren ausharrten, und die wegen ihres Dienstes am Vaterland zu Hause in hohem Ansehen standen. Ganze Nationen standen hinter ihnen und wünschten ihnen viel Erfolg. Gut, daß nicht alle Meere vereist waren, sonst böte sich noch mehr Platz für solch lichtscheues Gesindel.
Als Adjunas ausgezehrte Mannschaft, viele von Gicht geplagt, die sie sich schon beim Umsegeln des antarktischen Hinterns der Welt geholt hatten, den weißen Strand der Insel, die Kokospalmen, den blauen Himmel, die schönen Mädchen, äh, Menschen, und das klare, saubere 1090
Meer sahen, glaubten sie, das Paradies vor sich zu haben. Man ankerte vor der Küste, sprang von Bord in ein Wasser, das so warm war wie der eigene Körper. Es schien wirklich das Paradies zu sein. Wo sonst, außer in der Gebärmutter, konnte man stundenlang im Wasser bleiben, ohne zu unterkühlen? Und der Strand war sauber und nicht übervölkert, aber auch nicht menschenleer und gottverlassen. Die Luft war mild und warm, die Sonne schien, aber stach nicht, und die Mädchen waren nett und liebenswürdig und taten's für ein bescheidenes Handgeld oder sogar aus Liebe. Die alten Haudegen räkelten sich am Strand, hielten die Mädchen und wollten glücklich sein. “Wir haben das Paradies entdeckt.” - “Nein, das kann nicht sein. Das Paradies hätte keine Rostflecken.” Tatsächlich hatte der Ort große Rostflecken, die aus dem glasklaren Wasser ragten oder dem weißen Sand. Und ein alter Mitkämpfer rief Adjuna und fragte: “Ist das dein gelobtes Land?” Und Adjuna antwortete: “Das hier ist Saipan.” - “Es muß der schönste Ort der Welt sein.” - “Es ist das schönste Feld der Welt.” “Feld? Spinnst du? Feld? Ich sehe kein Feld. Ich sehe Palmen, Sand und Meer, aber keine stinkende Landwirtschaft, die mit Jauche ihre Felder düngt.” - “Es ist das schönste Schlachtfeld der Welt. Über 30 000 Japaner und 3 500 Amerikaner haben im Sommer 1944 hier mit ihrem Blut den Boden getränkt. Ihre Kampffahrzeuge rosten da im flachen Wasser. In jenen Sommertagen starben hier mehr Menschen, als heute auf der Insel leben. Dort auf der hohen Klippe standen die letzten Japaner, als ihre Waffen die Mäuler leer gespuckt hatten und der Kampf aussichtslos verloren war, und sie blickten über das Meer Richtung Norden, wo irgendwo in der Ferne Nippon, das Land ihrer Ahnen, lag, für dessen Glorie sie ausgezogen waren, und das sie jetzt nie wiedersehen würden, und sie schleppten sich an den Rand, die Gesunden stützten die Invaliden, und stürzten sich hinunter. Nicht nur Soldaten stürzten, ganze Familien, Familien, die sich seit 1914, als die japanische Marine die deutschen Kolonialisten vertrieben gehabt 1091
hatten, angesiedelt hatten. Ein letztes “Banzai!” riefen sie der unerreichbaren Heimat zu, während sie die 240 Meter bis zum Aufprall stürzten, und für die Nachwelt ist das jetzt die Banzai-Klippe. Banzai heißt Hurra und Banzai rief man, als man mit Begeisterung für den Tenno und die Heimat in den Krieg zog. Damals hätte man Banzai fast mit Heil Hitler übersetzen können, bloß daß Banzai schon vorher in der Sprache war und auch nach dem Krieg wieder eine zivile Bedeutung annahm. - Dort drüben ist die Festung, der letzte Kommando-Stand, wo Krieger-General Saito Yoshitsugo einen würdigeren Tod fand als das gemeine Fußvolk. Er machte Seppuku. Krieger sind Spieler, und Spieler sollten mit Würde verlieren können.”
Saipan, die Insel, auf der die Menschen wie im Paradies hätten leben können, reich an Fisch und Früchten.
Archäologen hatten Feuerstellen ausgegraben, die angeblich bewiesen, daß die Insel schon fast 4 000 Jahre früher bewohnt gewesen war - und zwar von Menschen, denn welches andere Tier verabscheute schon Rohkost. Ob damals, also im vierten Jahrtausend vor der Entdeckung der Atomspaltung, auf der Insel paradiesische Zustände geherrscht hatten, hatten die Archäologen allerdings nicht sagen können. Man wußte allerdings, daß damals das Hochzivilisiertsein erst anfing, der Mensch aus den Wäldern heraustrat, das hieß, eigentlich die Bäume um sich herum fällte; im Niltal benutzte man zu der Zeit gerade die Baumstämme, um große, aus Felswänden abgespaltete Steinquarder zu transportieren, am Ende hatte man neben Pyramiden eine Wüste geschaffen; am Hwangho und Jangtsekiang fällte man auch die Bäume, und man schuf das auf Sumpfreisanbau basierende Reich der Mitte, das bis zu den letzten Tagen der Menschheit Bestand hatte. 1521 entdeckte Magellan die Insel. 1668 kolonialisierten die Spanier die Insel. 1899 machten die Deutschen weiter. Am 23. August 1914 erklärte Japan Deutschland den Krieg. Kriegserklärungen waren damals 1092
geradezu eine Alltäglichkeit: am 28. Juli 1914: Kriegserklärung Österreich-Ungarns an Serbien; 1. August 1914: Kriegerklärung Deutschlands an Rußland; 3. August 1914: Kriegserklärung Deutschlands an Frankreich; Mitternacht vom 3. zum 4. August 1914: Kriegserklärung Englands an Deutschland; 6. August 1914: Kriegserklärung Österreich-Ungarns an Rußland und Kriegserklärung Serbiens an Deutschland; 11. August 1914: Kriegserklärung Frankreichs an Österreich-Ungarn; 12. August 1914:Kriegserklärung Englands an Österreich-Ungarn. Sich zu bekriegen, bedeutete natürlich Blutvergießen, eine Unmenge an Blutvergießen. Die Zahl der Gefallenen ohne die Verhungerten, die ja bekanntlich unblutig starben, wurde nach dem Krieg wie folgt angegeben: für Deutschland mit 1,808 Millionen, für Österreich-Ungarn mit 1,200 Millionen, für Rußland mit 1,700 Millionen, für Frankreich mit 1,385 Millionen, für Großbritannien mit 0,947 Millionen, für Italien mit 0,650 Millionen, für Rumänien mit 0,350 Millionen, für die Türkei mit ebenfalls 0,350 Millionen, für Polen mit einer halben Millionen, für die USA mit 115 000, dazu kamen noch insgesamt über 20 Millionen Verstümmelte und Verwundete. Aber die deutschen Marianen-Inseln, also auch Saipan, gingen ohne großes Blutvergießen in japanischen Besitz über, genauso wie sich das deutsche Samoa am 29. August 1914 kampflos von den Neuseeländern besetzen ließ, nur die deutsche Kolonie Tsingtau mußten die Japaner 43 Tage belagern, ehe sie sich am 7. November 1914 ergab. Nachdem Saipan ihnen gehörte, gingen die Japaner sofort daran, es mit ihren eigenen Landsleuten zu besiedeln. Saipan wurde japanisch, mit kleinen Shinto-Tempelchen, Tee-Häuschen und GeishaVerleih. Die Urbevölkerung, die dunkelhäutigen Chamorro, wagten nicht, dagegen zu protestieren. Dreißig Jahre später wurde den Japanern die Insel wieder weggenommen. Da befand man sich wieder mitten in einem Krieg. Japan hatte sich durch militaristische Expansionspolitik ein Riesenreich zusammengeraubt und es Dai-TooA-Kyo-Ei-Ken getauft, die Schriftzeichen einzeln übersetzt bedeuteten: groß-ost-Asien-gemeinsam-gedeihen-Raum; also ein Euphemismus, wohlwollende Worte für furische Taten. Durch einen hinterhältigen Überraschungsangriff auf die amerikanische Pazifikflotte im Perlenhafen von Oahu, Hawaii, hatten die Japaner 1093
aber den Zorn der WASPen auf sich gezogen, und die nahmen ihnen schrittweise alles wieder ab, Inselhüpfen nannte man das: “Praise the Lord and pass the ammunition!” Diese Munition versenkte Anfang Juni 1942 große Teile von Admiral Isoroku Yamamotos Pazifikflotte und brachte den Sieg in der Schlacht um die Midway Islands, ein kleines Atoll auf halbem Wege zwischen Amerika und Japan. Die WASPen hüpften schließlich Guandalcanal, Gilbert-Inseln, Bougainville, Tarawa, Kwajalein, Eniwetok, Peleliu; jede dieser kleinen, wertlosen Inseln wurde mit teurem Blut bezahlt und beide Seiten bezahlten. Aber Saipan war wertvoll, nicht wegen der 32 000köpfigen Garnison, die dort untergebracht war, und schon gar nicht wegen der 10 000 japanischen Familien, die sich dort niedergelassen hatten, sondern wegen der Reichweite der amerikanischen B-29 Bomber. Wenn Saipan in die Hände der Amerikaner fiele, würden die japanischen Großstädte im Bombenhagel der B-29 untergehen. Die Japaner brachten ihre gesamte Restflotte zum Schutz der Insel auf, ihnen stand aber eine US=Task-Force von 100 000 Mann, 15 Flugzeugträgern, 7 großen Schlachtschiffen, 21 Kreuzern, 69 Zerstörern und 1000 Kampfflugzeugen gegenüber. Es war unter dem Gehämmer dieser Schlacht um Saipan, daß der japanische Kaiser seine Zustimmung zum Bau von Einwegflugzeugen mit Einwegpiloten gab, den berühmten Kamikaze, den Gotteswinden. Schon einmal war Japan von außen in seiner Existenz bedroht gewesen, das war über ein halbes Jahrtausend früher gewesen, als mongolische Horden die Überfahrt nach Japan unternahmen und Taifune ihr Unternehmen vereitelten, kamikaze, Gotteswinde waren das gewesen, so jedenfalls wollte die Legende es. Die Kamikaze-Piloten sprengten also nicht nur ein Ziel in die Luft, sondern auch sich selbst und opferten so den Göttern und beschworen den Sieg. Um nicht nur die eigenen Leute sterben zu lassen, sollte General Ishii mit seiner Einheit Nr. 731 pest-tragende Flöhe auf die Amerikaner loslassen. Schlechte Spieler wurden zu Spielverderbern, wenn es ans Verlieren ging. Zum Glück versenkte ein amerikanisches U-Boot das Schiff der Einheit 731 mit Mann und Maus und Flöhen. 1094
Eine andere kaiserliche Meldung versprach der japanischen Zivilbevölkerung Saipans im Falle des Tode den gleichen glorreichen Status, den auch die gefallenen Soldaten erhielten. Die Bevölkerung verstand das als Aufforderung zur Selbstopferung. Als über 30 000 Soldaten tot waren, die gesamte Flotte zerstört, von 475 Kampfflugzeugen 440 abgeschossen, da traten die Familien an die hohen Klippen und stürzten zu Tode. Einige amerikanische Journalisten hatten damals diese Szenen von den Kriegsschiffen aus filmen können. Die Abscheu und Angst, die diese Mütter, die da mit ihren Kleinkindern sprangen, für die Amerikaner empfanden, hatten sie nicht verstehen können. Die Selbstmorde wurden zum Symbol für japanischen Fanatismus. Die Amerikaner fürchteten sich davor. Angst machte gefährlicher, und gefährlicher wurden die Amerikaner. Bei den Haien im Meer jedoch fanden die Selbstmorde der Japaner Beifall. Sie hielten es für eine großzügige Gabe ihres Hailigen Haivaters, welcher im Haihimmel thronte, nicht weit über der Wasseroberfläche gleich am oberen Ende der Klippen. Der Schriftsteller Edward Behr1 hatte geschrieben, daß noch zwanzig Jahre später die Haie bevorzugt dort ihre Kreise zogen, wo einst die Japaner sich zu Tode gestürzt hatten, offensichtlich auf die Wiederkehr einer solchen Bonanza hoffend. Viele Leichen bedeuteten aber noch keine Friedhofsstille für die Insel. Bald dröhnte auf den Rollbahnen das Brummen der startenden und landenden B-29 Bomber. Ihre Brandbomben, damals hießen sie noch Brandbomben und nicht Napalm-Bomben, fanden in japanischen Nachbarschaften dankbare Ziele, die schnell zu Asche wurden. Die Häuser standen in den Städten so dicht zusammen, daß oft eine Bombe für einen ganzen Block reichte, außerdem waren japanische Häuser aus Papier, eine Information, die die WASpen im WASPenland
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Edward Behr, berühmt für sein Buch über den letzten chinesischen Kaiser “The Last Emperor”, schrieb auch das Buch “Hirohito, behind the Myth”, dem ich neben Zeitungsartikeln einige meiner Informationen verdanke.
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in Verwunderung brachte: Was machten denn die Japaner, wenn es regnete? Da hätte man ihnen sagen müssen, daß zwar die Innenwände und die Shôji aus Papier waren, wenn auch nicht aus dem zarten Toilettenpapier oder dem seichten Zeitungspapier, das die Amerikaner kannten, daß es aber darüber wegen der Taifune ein gewaltiges Dach mit sehr schweren Ziegeln gab, das sehr gut gegen Unwetter schützte leider nicht gegen Brandbomben. In der Nacht vom 9. auf den 10. März 1945 kamen bei einem Bombengroßangriff auf Tokyo über 100 000 Menschen um, selbst die Atom-Bomben auf Hiroshima und Nagasaki sollten kein so großes Sterben in so kurzer Zeit erreichen. Ganze Wohnviertel Tokyos waren nach jener Nacht damals völlig flach, nur noch Asche und Ziegeln - und verkohlte Leichen. Die japanische Heeresleitung hatte nach diesen Luftangriffen und angesichts der unausweichlichen militärischen Niederlage einen genialen Plan: den ehrenhaften Tod von hundert Millionen, Ehre à la Saipan. Hundert Millionen betrug ungefähr die Einwohnerzahl Japans. Jeder Japaner sollte in dem heiligen Kampf um die heimatliche Scholle und für den göttlichen Tenno sterben. Die Bambus-Speer-Lösung. Da nicht mehr für jeden eine Stahl-Waffe da war, sollte, wer nichts Besseres fand, sich eine Bambus-Stange schlagen und sich damit auf die amerikanischen Barbaren stürzen. Und wenn es nur jedem zehnten gelänge, einen Amerikaner zu töten, so wären die Verluste der Amerikaner am Ende doch noch so hoch, daß sie aufgäben. Ob alle Japaner mit dieser noblen Lösung einverstanden waren, durfte allerdings bezweifelt werden. Das japanische Militär hoffte aber auch noch auf eine Wunderwaffe. Und im Gegensatz zum Einhodigen, der Atomphysik für was jüdisch Untermenschliches hielt, hatte die japanische Militärführung ihre Wunderwaffe ganz nüchtern, wissenschaftlich und ohne Haßgefühle in Angriff genommen. Erst nach den Bomben auf Hiroshima und Nagasaki kamen die Gefühle, und bis an das Ende ihrer Tage sollten die Japaner über das große Unrecht jammern, daß ihnen mit diesen Bomben angetan worden war, statt Loblieder auf die Bomben zu singen und froh zu sein, daß der Schock endlich zur Kapitulation führte und die Bomben so vielen Menschen das Leben gerettet hatten. Wer für die edle Selbstmordlösung optierte, hätte es weiter tun können, die Bomben hatten nichts dagegen, und auch die amerikanischen Besatzungssoldaten suchten nicht nach 1096
Japanern, die in ihrem stillen Kämmerchen Seppuku machen wollten; aber Selbstmord war plötzlich nicht mehr populär, und selbst die großen Kriegsverbrecher, die so herrisch über Leben und Tod von Hunderttausenden verfügt hatten, töteten sich nicht selbst, sondern mußten hingerichtet werden. Einige Krieger jedoch bewiesen in den letzten Stunden des Krieges, daß sie nicht nur die hohe Kunst, andere in den Tod zu schicken, verstanden, sondern auch die noch höhere Kunst der Selbsttötung. Die folgenden Generäle begingen ritualen Selbstmord, indem sie sich mit einem scharfen Schwert den Leib aufschnitten und danach entweder ins Herz stachen oder die Halsschlagader öffneten: General Anami, General Honjo, General Tanaka und General Sugiyama sogar mit Frau, sowie Admiral Onishi, der Erfinder der technisch anspruchslosen Kamikaze-Bomber. Vier Monate nach Kriegsende töte sich noch Prinz Konoye, der eigentlich der `Friedenspartei' angehört hatten, gegen den die Amerikaner aber, weil er zu kritischen Zeiten Premierminister gewesen war, ein Kriegverbrecherverfahren eingeleitet hatten; später behaupteten sie allerdings, sie hätten ihn nur als Zeugen vernehmen wollen. Prinz Konoye nahm für seinen Selbstmord aber kein Schwert, sondern Rattengift, da er kaiserlichen Blutes war, durfte er sein Blut nicht vergießen. Kaiserliches Blut durfte auf gar keinen Fall vergossen werden, auch nicht, wenn es nicht im Kaiser selbst floß, sondern in der weiteren Verwandtschaft, es war zu edel, fast 3000 Jahre Inzucht. Nach den Abwürfen auf Hiroshima und Nagasaki sollte es sehr, sehr lange dauern, bis die Atombomben wieder ihre heilsame Wirkung entfalten konnten. Lange Zeit mußten sie in dunklen Erdlöchern sitzen. Als sie dann endlich rauskamen, war ihre Wirkung zu erst gar nicht heilsam. Sie richteten zwar hier und da große Schäden an, aber die Menschheit erlitt keinen heilsamen Schock mehr, sie hatte nichts anderes erwartet als atomaren Einsatz. Die Bomben heizten aber die Stimmung an und den Haß. Und es war in diesem Haß, daß die Menschheit ihre klarste Entscheidung fällte. Es galt zu entscheiden, sollten die Menschen den Krieg abschaffen, oder der Krieg die Menschen abschaffen. Man entschied sich für das Letztere und entließ alle Bomben aus ihren tiefen Verliesen. Dann, als sie alle gleichzeitig 1097
ausschwärmten, konnten sie wieder ihre heilsame Wirkung entfalten: ein Reculer-pour-mieux-Sauter? Nein, das Ende aller Alpträume. Im Jahre 1945 aber war die Welt noch voller Alpträume und beinahe wäre dem Kriegsverlierer Japan vor dem totalen Kräftezusammenbruch noch ein atomarer Tiefschlag gelungen, der das Ende des unheilvollen Gemetzels noch länger hinausgezögert hätte. 560 kg Uranoxid, genug für zwei Atombomben, waren für den japanischen Endsieg auf der Reise von Deutschland nach Japan im Bauch des riesigen, deutschen U-Bootes U-234 versteckt. Als das UBoot sich noch auf dem Atlantik befand, erreichten aber die Alliierten am 7. Mai 45 den Endsieg über Deutschland, und das deutsche U-Boot ergab sich den Amerikanern. Die zwei Japaner, die das Uran begleiteten, begingen vorher Selbstmord - mit Schlaftabletten, weil der deutsche Kapitän die Schweinerei mit dem Bauchaufschneiden nicht haben wollte. Es blieb eines der großen Geheimnisse, wie weit die Japaner mit der Entwicklung einer eigenen Atombombe waren, und ob sie wirklich am 10. August 45, also einen Tag, nachdem sie selbst das zweite Mal von einer Atom-Bombe getroffen worden waren, einen Atombombentest in der Nähe ihres Laborkomplexes an der Hungnam Küste von Nordkorea machten. 1
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Robert Wilcox: “Japan's Secret War: Japan's Race Against Time to Build Its Own Atom Bomb”.
Am 20. Juli 1995 berichtete die japanische Yomiuri Shimbun (Auflagen stärkste Zeitung der Welt), daß ein früherer Offizier der Kaiserlichen Armee, Tatsusaburo Suzuki, 83, späterer Präsident der Iwaki Meisei Universität, vor Reportern zugegeben hatte, mit etwa 50 weiteren Wissenschaftlern an einem Atombombenprojekt gearbeitet zu haben. Er bestritt jedoch, daß Japan erfolgreich eine in den letzten Kriegstagen testete. US-Offiziere, die kurz nach dem Krieg nach Korea geschickt worden waren, um Kriegsverbrechen zu untersuchen, sollen dort Zeugenaussagen von Wissenschaftlern gesammelt haben, die besagen, daß die Wissenschaftler am 12. August 1945 aus 30 km Entfernung eine Pilzwolke von einem Kilometer Durchmesser beobachteten. Viele Historiker, einschließlich Prof. Donald Goldstein von der University of Pittsburgh, haben diese Aussagen jedoch immer angefochten. Prof. Goldstein behauptete z. B., daß diese
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Es war am 5. August 1945 auf dem Flughafen der kleinen Insel Tinian vor der Küste Saipans gewesen, daß die B-29 Superfestung Nr. 82 die tödliche Ladung “Little Boy” (= Kleiner Junge) an Bord nahm und der Pilot, Colonel Paul Tibbets, den Namen seiner geliebten Mutter Enola Gay in dreißig Zentimeter großen Buchstaben unter sein PilotenFenster malen ließ und ihr so zu weltweitem Ruhme verhalf, denn am frühen Morgen des nächsten Tages trug dieser riesige, von einem bis zum anderen Flügelende 44 Meter breite Vogel das atomare Ei nach Hiroshima. Bombardier Thomas Ferebee zielte auf die Aioi-Brücke in der Innenstadt. 8 Uhr 15 Minuten 17 Sekunden klinkte die Bombe aus, 45 Sekunden später explodierte sie 600 Meter über der Stadt, die erste Stadt, die atomar zerstört wurde. Etwa 75 000 starben sofort, fünf Jahre später betrug die Zahl der Todesopfer über 200 000, da die Stahlen langsam töteten und ohne Rücksicht auf längst abgeschlossene Friedensverträge. Die Atombombe “Fat Man" (=dicker Mann) auf Nagasaki nahm selbstverständlich genauso wenig Rücksicht. Selbst im Jahre 50 nach Hiroshima erschienen alte Männer, die damals dabei waren, wenn sie an typischen Strahlenkrankheiten wie Lungenkrebs starben, in neuen Opferstatistiken der Bombe, und es spielte dabei gar keine Rolle, daß die Opfer ihr Leben lang starke Raucher gewesen waren. Und erst, als der letzte, der damals dabei gewesen war, im biblischen Alter gestorben war, wurden die Statistiken abgeschlossen. Das erstaunlich Ergebnis war, daß alle, die damals dabei gewesen waren, tot waren. Japan tat alles, um die Opfer zu beweinen, und vor lauter Trauer vergaß man 12 Millionen tote Chinesen und ein paar weitere Millionen in Südostasien und den Philippinen sowie Pearl Harbor und Ursache und Wirkung.
Testimonien entstanden waren, um die amerikanischen Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki zu rechtfertigen, und daß alle Geschichten über die Entwicklung einer japanischen Atombombe nur zu eben diesem Zweck erfunden worden seien.
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Japaner waren also gar keine gelben Teufel, sondern menschliche Wesen. Aber Japans Krieg hatte auch etwas Gutes für sich: Es gab am Ende einen Gott weniger, denn Kaiser Hirohito hängte seine Göttlichkeit an den Nagel. Sprach der eine Veteran: “Das wußten wir auch so, daß er kein Gott war.” Da hätte der andere Veteran am liebsten das Messer gezogen und den Mann wegen Gotteslästerung niedergemacht. Im westlichen Ausland, wo man seinen eigenen, gekreuzigten Gott hatte, war man von der Göttlichkeit des kleinen Mannes mit dem fliehenden Kinn sowieso nie überzeugt gewesen, dafür war seine Mickrigkeit zu gegenwärtig, seine Göttlichkeit nicht gewaltig genug, nicht verklärt am Kreuze, nicht genug erhöht ins überirdische. Lebenden Menschen, die mit beiden Beinen auf der Erde standen, denen gelang das überirdische wegen der Erdanziehungskraft sehr schlecht. Selbst lebende Jesusse überzeugten in der Gegenwart nicht und waren mit der Mission weniger erfolgreich als ihre Nachgeburten, die Missionare. Hirohito galt im Ausland nur als zweiter Charlie, Charlie Chaplin. Er sah in seinen schlecht sitzenden Anzügen - seine Schneider durften weder Maß nehmen, noch anpassen, sondern mußten in ehrwürdigem Abstand die göttlichen bzw. kaiserlichen Maße schätzen - auch tatsächlich so lächerlich wie der Komiker Charlie in seinen Rollen aus. Und wenn es Hirohito auch mit Leichtigkeit gelang, seine Göttlichkeit abzulegen, seine Charliehaftigkeit legte er im Gegensatz zum richtigen Charlie Chaplin nie ab; im Alter sah er eigentlich so aus, wie man es von dem Filmkomiker erwartet hätte. Nach dem Abfall der Göttlichkeit wurde der japanische Kaiser zum Symbol der Landes. Und neben dem großen, amerikanischen
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Kriegshelden General Douglas McArthur symbolisierte er das besiegte Land auch tatsächlich sehr gut. Der Kriegsgewinnler McArthur aber verkörperte die Überlegenheit der Amerikaner, und die Amerikaner vergaben ihm gern, daß er die Philippinen - angeblich Befehlsnotstand - im Frühling 42 gar zu schnell verlassen hatte, als die Japaner kamen; die Filipinos vergaben ihm nicht, genauso wenig, wie ihm manche Japaner nicht vergaben, daß er während des Krieges nicht den Palast des Kaisers bombardiert hatte, wohl aber ihre Hütten, noch bereit gewesen war, den Tenno, in dessen Namen ja alles geschehen war, als Hauptkriegsverbrecher vor Gericht zu stellen und dann hinzurichten. Es wäre nur recht gewesen, wenn dieser Gott-Mensch-Mischmatsch nicht nur dem Gottsein, sondern auch dem Menschsein enthoben worden wäre. McArthur hatte zweifellos trotz Befehlsnotstand seine eigenen Vorstellungen von Menschen. Er hatte sich in seiner militärischen Karriere schon früher einmal ausgezeichnet, als er auf Befehl von USPräsident Hoover, einem typischen, amerikanischen Aufstiegswunder vom unterprivilegierten Waisen über Botengänger, Kellner zum Oberkläßler und Multimillionär, auf die War Veteran Bonus Army, einen 15.000köpfigen Demonstrationszug von Kriegsveteranen und invaliden aus dem ersten Weltkrieg, die eine Art Hungermarsch auf Washington veranstalteten, schießen ließ. Ihm hatte damals dabei Dwight D. Eisenhower assistiert, der später als 34. Präsident in die Geschichte des WASPenlandes einging und dem die Welt die Eisenhower-Doktrin verdankte, welche besagte, daß die USA ihre dreckigen Pfoten auch dann nach anderen Ländern ausstrecken durfte, wenn diese nicht die USA unmittelbar bedrohten, also praktisch besagte diese Doktrin, daß die USA das Recht hatte, genau das zu tun, wofür man gerade den Japanern eins auf die Pfoten gegeben hatte. Held McArthur wurde 11. April 1951, als er im Eifer des Koreakrieges auch China angreifen wollte, von Harry Truman seines Amtes enthoben. Das WASPenland war noch zu müde für einen neuen Weltkrieg. 1101
Der gottlose Zustand im japanischen Kaiserhaus dauerte nur ungefähr 44 Jahre an. Dann starb Kaiser Hirohito nach langer Krankheit. Was war dem ehemaligen Gotte geschehen? Am 22. September des 62ten Jahres Showa, dem 1987sten christlicher Zeitrechnung, wurde dem Kaiser Hirohito - wahrscheinlich viel zu spät, weil mit seiner kaiserlichen Ehren nicht vereinbar - am Zwölffingerdarm ein Karzinom entfernt. Eine Chemotherapie, in der damaligen Zeit der medizinischen Weisheit letzter Schluß, geziemte sich für Seine Kaiserliche Majestät auch nicht. Genau ein Jahr später begann für den Showa-Tenno ein 111 Tage dauerndes Martyrium mit Gelbsucht, hohem Fieber und sinkendem Blutdruck und inneren Blutungen, die zu Blutmangel führten. Wegen seines Blutverlustes wurde der ehemalige Gott dann mit Fremd-Blut, irgendeinem anonymen Blut eines sterblichen Untertans, aufgefüllt. Bluttransfusion nannte man so etwas, nach dem lateinischen Wort transfusio, Vermischung. In den letzten Tagen seines Leben, also während der Zeit seines verzögerten Sterbens, wurde eine ungeheure Menge Blut, nämlich über 32 Liter Blut - und das war zweifellos das symbolträchtigste an seinem Tod, eine symbolische Erinnerung an das erste Drittel seiner Herrschaftszeit -, in die Adern des Showa-Tennos geleitet, Blut, das schließlich in seine Gedärme blutete, sich dort mit Sekreten und Exkreten vermischte und wieder ausgeschieden wurde. Vom 5. Dezember bis zu seinem Tod 33 Tage später war Hirohito nahezu bewußtlos. Wie von offizieller Seite verlautbarte, sollte er jedoch noch einmal am 19. Dezember auf die Frage, ob es ihm gut gehe, mit “Wun”, zu deutsch “Mmmh”, geantwortet haben. Während der Patient so im Sterben lag, marschierten lautstark Demonstranten durch Japans Großstädte und forderten vom sterbenden Tenno, daß er sich zu seiner Schuld am großen Pazifischen Krieg bekenne. Die Demonstrationen waren von christlichen Kirchen organisiert und die Demonstranten waren Christen. Es gab etwa ein Prozent Christen in Japan, aber die verstanden, mit Hilfe ihrer ausländischen Missionare für fünf Prozent Lärm zu machen. Selbst am letzten Tag der Showa-Era, dem 7. Januar Showa 64, als der Tenno im 1102
Alter von 87 Jahren starb, gab es noch Demonstrationen. Dann herrschte Staatstrauer. Und tatsächlich beweinte die große Mehrheit des Volkes den Toten. Ein 38jähriger Koch war vom Ende der ShowaEra so überwältigt, daß er mit seinem Sashimi-Messer ritualen Selbstmord machte, und ein alter Mann, der, da er im gleichen Jahr wie der Showa-Tenno geboren worden war, eine besonders enge Verbundenheit zum Kaiser empfunden hatte, erhängte sich, nachdem er in den Frühnachrichten von dessen Tod vernommen hatte. Der Rest der Bevölkerung entschied sich den nächsten Tag, den Beginn der Heisei-Era, zu erleben. Während das japanische Volk trauerte und dem toten Kaiser die letzte Ehre erwies, hatten die Christen des Landes noch einmal ihren großen Auftritt. Sie spielten sich als Verfolgte auf und protestierten wieder lautstark, diesmal, weil die schintoistischen Exequien ihrer Meinung nach gegen die verfassungsrechtliche Trennung von Staat und Kirche verstießen. Das Symbol des Staates hatte weltanschaulich neutral zu sein. hätte die kaiserliche Familie Japans wie das hawaiische Königshaus im vorherigen Jahrhundert den christlichen Glauben angenommen und Andersgläubige verfolgt, hätten diese Christen natürlich keinen Protest erhoben, denn diese japanischen Christen unterschieden sich in ihrem Rechtsempfinden durch nichts von ihren ausländischen Glaubensbrüdern. Und die Christen in den christlichen Ländern litten mit ihren japanischen Märtyrern. Und in ihren Zeitungen berichteten sie von dem großen Unrecht, daß wieder einige von ihnen befallen hatte. Und man dachte ans alte Rom. Sie, die Christen, waren doch wirklich die Verfolgten dieser Erde. Selbst in Amerika, wo man doch angeblich eine Nation unter Gott war, hatte eine böse Frau, Madalyn O'Hair, das Schulgebet aus der Schule genommen, jetzt hatte man nicht mehr die Freiheit in der Schule gemeinsam zu beten, obwohl doch das ganze Land christlich war und selbst jeder Amtsinhaber, Richter, Zeuge, Schöffe und Abgeordnete, ja selbst jeder Präsident zu Gott schwor, bevor er sein Amt antrat, und wer sonntags nicht zur Kirche ging, als unwählbar galt. Aber auch in europäischen Zeitungen berichteten die Christen von dem Protest ihrer Glaubensbrüder in Japan, damit die 1103
europäischen Christen ein bißchen das Gefühl, daß Christsein bequem sei, loswurden. In einer Hinterweltler-(also da, wo nach Nietzsche der Arsch der Welt war)-äh-Alpenrepublik brachte es eine katholische Zeitung sogar fertig, in der gleichen Ausgabe die Empfehlung eines Bischofs zu veröffentlichen, in der er den osteuropäischen Ländern, die gerade dem kommunistischen Joch entkommen waren, riet, Religionsunterricht in den Schulen einzuführen und die Kirchensteuer im Staate - als kleine, zusätzliche Einnahmequelle für die Kirchen neben dem Klingelbeutel. Unendlich ferne Fernziele für japanische Christen, von denen sie noch nicht einmal wagten zu träumen. Noch war ihre einzige Einnahmequelle der Klingelbeutel und das Geld, das die ausländischen Kirchen ihren Missionaren für die Verbreitung der frohen Botschaft schickten; - das war allerdings nicht wenig dank der Kirchensteuereinnahmen. Und manch ein Missionar, der Martin Luthers Rat folgend dem japanischen Volke aufs Maul geschaut hatte, fluchte jetzt hauptberuflich und reichlich mit Mitteln aus dem Privilegien- und Kirchensteuersäckel seiner Heimatkirche ausstaffiert auf Japanisch auf die japanischen Riten anläßlich des Todes des Showa-Tennos. Aber ihre Leiden sollte hiermit noch nicht zu Ende sein. Es kam noch schlimmer. Früher einmal vor langer, langer Zeit war es in Japan Sitte gewesen, daß, wenn ein Kaiser starb, der nächste gleich zur Kaiserwürde erhoben wurde und den Göttern seine Aufwartung machte, aber der Kaiser Kammu, der fünfzigste Kaiser in der japanischen Tradition, er kaiserte von 781 bis 806 westlicher Zeitrechnung, machte mit dieser Tradition Schluß, ihm war wohl das schnelle Der-Kaiser-ist-tot-eslebe-der-Kaiser zu abstoßend gewesen. Wetterwendigkeit widerte an. Nicht nur im Teutschland des Einhodigen, selbst in Japan hatten die Katholiken während des Großen Pazifischen Krieges mit der Regierung
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kollaboriert.1 Erst als eine demokratische Regierung in der unreligiösen Tradition der Aufklärung Proteste legitimierte, rissen sie ihr Maul auf und dann auch nur für ihre eigenen Belange. Das war katholische Tradition. Seit der Sensibilität, die Kaiser Kammu gezeigt hatte, war es japanische Tradition, mit der offiziellen Amtseinsetzung des neuen Kaisers zu warten, und zwar bis zum spätherbstlichen Dankfest, aus dem zu diesem Anlaß das Daijosai wurde, das Große Reisopferfest. Mit wenig Sensibilität für die Gefühle der christlichen Untertanen brachte man das Fest für den Heisei-Tenno aber nicht schnell am 22. und 23. November hinter sich, sondern erstreckte es über schmerzhafte dreieinhalb Wochen vom 12. November bis zum 6. Dezember, das Sokui-no-rei, das heidnische - äh - shintoistische Krönungsfest. Eigentlich war es gar keine Krönung, denn es gab keine Krone, jedenfalls keine Krone im westlichen Sinne mit Zacken und so drin, Juwelen, die Ryuei-no-kanmuri war eher ein Hut mit etwas Hohem drauf, etwas sehr Hohem, aber das war in Ordnung, da der Tenno damit nicht durch normale Türen mußte. Gab es auch keine ordentliche Krone, so gab es doch einen ordentlichen Thron, einen sehr ordentlichen, den Takamikura, acht Tonnen schwer und neun Meter fünfzig hoch, den man extra für 420 Millionen Yen von Kyoto nach Tokyo gebracht hatte. Man sollte daher lieber statt von einer Krönung von einer Thrönung sprechen. Diese Thrönungsfeierlichkeiten begannen am 12. November um 9 Uhr morgens mit der Kashiko-dokoro-Omae-no-gi im Kashiko-dokoro, einem heiligen Schrein der Sonnengöttin Amaterasu Omikami im kaiserlichen Palastpark. Im blütenweißen Hofkimono stand der neue Tenno steif vor der eingeschreinten Göttin und las ihr zeremoniös eine
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Nach dem Krieg - aber wirklich erst dann - war man dann neidisch auf die Zeugen Jehovas, die konsequente Kriegsverweigerer gewesen waren, ein Neid, der sich bekanntlich bis zum Haß steigerte. Verzweifelt, wie eine Stecknadel im Misthaufen, suchten die Katholiken dann nach eigenen Märtyrern.
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formelle Erklärung des Inhalts, daß das Thrönungs-Zeremoniell vorgenommen werden würde, vor. Die eigentliche Thrönung begann dann um ein Uhr in der Haupthalle des Palastes. Der Tenno hatte sich inzwischen umgezogen und trug einen mit wilder Sumachsaat gelblich rotbraun gefärbten Kimono für 12 Millionen Yen, die Kaiserin einen Fünf-Lagen-Kimono für 8 Millionen Yen. Sechsundzwanzig bunte Banner waren aufgestellt worden, inklusive Banzaiban-Banner und Daikinban-Banner. Vierundsiebzig Höflinge mit den mittelalterlichen Waffen Schwert, Schild, Pfeil und Bogen bildeten ein Spalier. Der Premierminister hielt eine kleine Rede und rief dreimal Banzai. Die Selbstverteidigungsarmee feuerte 21 Schuß Salut; nicht in der Halle - draußen. Nach dreißig Minuten war alles vorbei. Staatsober- und -unterhäupter aus 158 Staaten hatten teilgenommen; mehr Staaten gab es kaum. Um drei Uhr dreißig, der Tenno hatte sich wieder umgezogen und trug jetzt einen westlichen Schwalbenschwanz, gab es eine 30minütige Parade im offenen Wagen vom Kaiserpalast zum Akasaka-Palast. 37 000 Sicherheitsbeamte bildete ein Spalier oder hatten sich unters Volk gemischt. Sie trugen keine Samurai-Schwerter, sondern offen oder versteckt moderne Handfeuerwaffen und Gummiknüppel. Abends Banquet, sieben Banquets in vier Tagen, Mahlzeiten die 100 000 Yen pro Gast kosteten; Taró-Normalverbraucher, der das bezahlen mußte, wäre hundertmal dafür satt geworden. Messer und Gabeln hatte man für die Repräsentanten des Auslandes bereitgelegt, da man annahm, ihre Finger wären zu ungeschickt für Eßstäbchen; Gartenparty, Empfang von Glückwünschen etc. Noch ging es weltlich zu. Am 21. November dann begann der spiritistische oder spirituelle Teil der Zeremonie, da nämlich wurden erstmal die Geister beruhigt für das Daijosai am nächsten Tag. 1106
Am 22. November: das Daijosai; der Tenno, wieder im weißen Kimono, trat in Kontakt mit den Shinto-Göttern. Das große Reisopfer begann nach Sonnenuntergang und endete im Morgengrauen. Während die japanische Prominenz, 900 an der Zahl, Ausländer waren nicht eingeladen worden, in zwei Festzelten untergebracht, sich köstlich beköstigen ließ, und christliche Japaner irgendwo einen 48stündigen Hungerstreik veranstalteten, ließ sich der Tenno von zwei Priesterinnen in den Daijokyo-Tempel geleiten, setzte sich dort in der inneren Kammer im Fackelschein - elektrisches Licht war wie alles Moderne den Göttern und Geistern abträglich - auf den harten Bambusboden, wartete, bis die Frauen wieder weg waren, und fing dann an, zu den Ahnen und Göttern zu beten. Von der neuen Reisernte bot er der Göttin Amaterasu Omikami polierten Reis an. Da sie eine japanische Göttin war, wurde von ihr erwartet, daß sie es verstand, mit Eßstäbchen umzugehen. Diese große, den Himmel durchschreitende Göttin hatte sich übrigens einst in einer Höhle verkrochen und nicht mehr scheinen wollen. Da die Dunkelheit der Welt nicht gut bekam, Pflanzen, Tiere, Menschen und Götter starben an überlangem Schlaf, also ein wirklicher Kataklysmus, lockten die, die die lange Nacht durchgemacht hatten, die Göttin mit einem Tanzspektakel, sie war neugierig, und mit einem Spiegel, sie war eitel und wollte sich gern betrachten, wieder aus der Höhle heraus. Das japanische Kaiserhaus stammte in direkter Linie von dieser Göttin ab und der Spiegel von damals befand sich bis zum Ende der Tage, als die Welt sich für die Menschen wieder verdunkelte, im Besitz des japanischen Kaiserhauses. Harry Truman, der 33. Präsident der USA, erklärte, nachdem die Enola Gay ihr erstes atomares Ei auf die Stadt Hiroshima gelegt hatte, seiner amerikanischen Öffentlichkeit begeistert: “Die Quelle, von der die Sonne ihre Kraft zieht, kann jetzt das Land der aufgehenden Sonne, auf dessen Thron ein direkter Abkömmling der Amaterasu Omikami, der Göttin der Sonne, sitzt, total verfinstern.” Er hatte die Atombombe mit der damals noch nicht erfundenen Wasserstoffbombe verwechselt. 1107
Die Sonne zog ihre Kraft nicht aus der Kernfriktion, sondern aus der Kernfusion, Bethe-Weizsäcker-Zyklus. Nachdem der neue Tenno seiner Hydrogeni-Bombi-Mammi als erste vom neuen Reis angeboten hatte, zelebrierte er mit den anderen Göttern des Himmels und der Erde das Abendmahl, dabei konsumierte man gemeinsam Speisen aus allen Teilen Japans, selbst Tintenfische und rohes Muschelfleisch, dazu trank man Reiswein. Um Mitternacht schritt der Tenno, er war noch fast nüchtern, in eine zweite Kammer und wiederholte das ganze Zeremoniell. Gegen Morgen war er dann fertig. Diese beiden inneren Kammern enthielten je ein Bett. Diese Betten waren aber nicht für den Tenno als Ruhelager gedacht, obwohl er sich natürlich dort hätte schlafen legen können, denn niemand durfte es wagen, ihn in dieser heiligsten aller heiligen Zeremonien zu stören. Der Tenno seinerseits hatte es nie gewagt, seine innersten Gedanken öffentlich zu äußern. Sollte er im Innern ein Atheist gewesen sein und sollten ihm all die Ritualien und Formalitäten, die sein Leben bestimmten, insgeheim zuwider gewesen sein, hier im Allerheiligsten wäre der beste Platz für ihn gewesen, sich Luft zu machen, in der Nase zu bohren, mit den Füßen zu strampeln, den ehrwürdigen, eingeschreinten Göttern den Vogel zu zeigen und noch vieles mehr. Nach Auskunft des Hofes waren die Betten für die Götter gedacht zum Ruhen. Shintoistische Götter schienen also wie der christliche Gott ab und zu mal müde geworden zu sein. Aber diese Auskunft des Hofes war nur eine schlechte Ausrede gewesen und spiegelte nur die Prüderie der Zeit wider. In Wirklichkeit waren diese Betten ein Hochzeitsgelage, wo frühere Tennos mit einer keineswegs müden Amaterasu Omi-kami den Geschlechtsakt vollzogen hatten; allerdings hatten sie dafür eine Menge Fantasie aufbringen müssen, was aber wiederum Männern beim Masturbieren nicht so schwer fiel. Eins war sicher, wer immer es gewagt hätte, dieses Intimste des Kaiserhauses zu erspähen, dem wäre der Kopf abgehackt worden. So 1108
blieb alles Spekulation, ob Nickerchen oder atheistische Gottesverachtung oder autoerotische Orgie oder wirkliche Vereinigung mit der Göttin oder was auch immer, alles Spekulation. Offiziell sollte die Zeremonie, die Götter dazu veranlassen, dem neuen Tenno selbst Göttlichkeit zu geben. Wenn das stimmte, dann hatte die Welt nach diesem Daijosai wieder einen Gott mehr gehabt. Aber ob es stimmte oder nicht, war eigentlich egal, worauf es ankam, das war der Glaube. Der alte Showa-Tenno war selbst offensichtlich von der Zeremonie, die er wohl gewissenhaft durchgeführt hatte, enttäuscht gewesen, denn er sollte einmal gesagt haben: “Da passierte nichts.” Also offensichtlich hatten sich die Götter nicht persönlich gezeigt und die eigene Göttlichkeit, die er ja so lange getragen hatte, hatte sich auch nicht spektakulär bei ihm bemerkbar gemacht. Bei einer so ehrlichen Aussage eines ehemaligen Gottes fragten sich manche Japaner damals, warum man diesen teuren Hokuspokus überhaupt noch einmal machte. Wenn die Götter schweigten, sollte man ihr Schweigen nicht noch mit übermäßigen Geschenken belohnen. Das ganze Sokui-no-rei für den Heisei-Tenno kostete dem japanischen Steuerzahler 123 Oku Yen, ein Oku gleich hundert Millionen, also 12,3 Billionen Yen, ein Drittel des Geldes ging für die 37 000 Sicherheitsbeamten weg, die den Tenno vor eventuell verärgerten Steuerzahlern schützten, 25 Oku Yen kostete der religiöse Teil der Zeremonie, das Daijosai; der Tempel, den man dafür extra im OstGarten des Palastes errichtet hatte und der nach der Zeremonie verbrannt worden war, hatte allein 15 Oku Yen gekostet. Ein teurer neuer Gott-Kaiser, Arahitogami, als Mensch erscheinender Gott.
Die Totenfeiern für den Showa-Tenno, der ja angeblich wieder nur ein bloßer Mensch geworden sein sollte (genau konnte man es ja nie wissen, vielleicht hatte er die Menschen getäuscht), hatten 88 Oku Yen gekostet. 1109
Neben den sehr hohen laufenden Kosten hatte die kaiserliche Familie also im ersten Jahr Heisei 221 Oku Yen extra gekostete. Es war für ein Volk immer ein sehr teurer Spaß gewesen, einen aus den eigenen Reihen auf ein hohes Podest zu heben. Aber die, die sich fragten, ob man nicht vielleicht auf andere Art billiger Spaß finden konnte, bekamen meist schon eins drauf, bevor sie ausgesprochen hatten. Und die, die auf die draufhauten, die den billigeren Spaß wollten, waren die Rechtesten der Rechten. Gewalt war ihnen so vertraut, daß ihnen die Gewalt auch außerhalb ihres politischen Engagements zu Diensten war. Und in der Illegalität, in der sie operierten, ermöglichten sie den Leuten illegale Späße: Prostituiertenbesuche und Rauschgiftkonsum. Die große Eigensucht, mit der diese Leute ihre Privatinteressen durchsetzten, projizierten sie auch auf den Staat, der ihrer Meinung nach genauso rücksichtslos und kriminell nach Herrschaft streben sollte wie sie selbst. Der Staat brauchte dafür an der Spitze einen absoluten Führer wie die Yakuza-Banden1 des organisierten 1
Yakuza wurden genannt und nannten sich in Japan Verbrecher, besonders die Verbrecher, die einer Organisation angehörten und einen gewissen Ehrenkodex befolgten; gehörte dazu auch nicht Respekt vor dem Eigentum anderer, so doch Treue, Vergeltung und Todesverachtung. Viele organisierte Verbrecher hielten sich deshalb für so etwas wie die letzten Samurais. Sie hatten wahrscheinlich recht mit dieser Annahme. Ins Deutsche übersetzt hieß das Wort Yakuza eigentlich bloß Taugenichts. Erstaunlicherweise prahlten diese japanischen Taugenichtse in der sonst so bescheidenen und zurückhaltenden japanischen Gesellschaft mit dem Titel, während ihre sizilianischen Artgenossen, die Mafiosi, unter ihren aufschneidenden italienischen Landsleuten die Omertá beachteten und ihr Unterweltdasein verschwiegen, obwohl sie nach dem alten sizilianischen Wort für Prahlerei `Maffia' benannt wurden. Wie in anderen Ländern auch unterstützte das organisierte Verbrechen Japans eine extrem reaktionäre Politik und eine Law-and-Order-Gesetzgebung, unter der ihr eigenes Fußvolk lange Freiheitsstrafen zu verbüßen hatte. Nie kamen beschuldigte Rauschgifthändler auf den Gedanken, für das Recht auf freien Konsum ihrer Produkte zu plädieren etc., genauso wenig wie Mafia-Bosse, die an der Prostitution verdienten, sich nicht für `freie Liebe' einsetzten, sondern immer in erzkatholischer Tradition ein Schäferstündchen mit einer ihrer keuschen Töchter mit Mord und Totschlag ahndeten.
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Verbrechens. Und wenn dieser absolute Herrscher dann noch Arahitogami sein konnte, um so besser. Wenn der neue Tenno aber wirklich bei seiner Daijosai-ZauberZeremonie zum Gott metamorphierte, dann hatte er auch kraft des Gesetzes Hakko-ichiu, Die-acht-Ecken-der-Welt-unter-einem-Dach, das Recht die Welt zu beherrschen. Eine achteckige Welt? Es war doch erstaunlich, wie sich damals aller wissenschaftlichen Erkenntnisse zum Trotz die unheiligen Lehren heiliger Thesen, achteckige Welten, flat earth societies und Schöpfungsmärchen durchschlängelten; und oft waren es nicht einmal nur Einzelgänger, die sich in ihrem Kämmerchen still einer solchen Allwissenheit erfreuten, sondern ganze Bevölkerungen wurden immer wieder davon befallen und huldigten dem goldenen Kalb, das da heißt Unsinn. Und Sinn, Vernunftsinn mußte sich ins stille Kämmerchen verkriechen. Vernunftsinn bewiesen zweifellos einst die große Eckpfeiler der japanischen Wirtschafts-Welt, als da waren: Basisreisfeld=Honda, Drei-Rauten=Mitsubishi, Drei-Brunnen=Mitsui, die Automobilfirma Mazda, dessen Gründerchef Kiefernfeld=Matsuda die Firma nach dem parsischen Eingott Ahura Masda benannte, wie der Zar Peter der Große seine Stadt Petersburg nach St. Peter benannte, sowie Motorenmacher Glockenbaum=Suzuki, sowie Sony, Sanyo und Reichesreisfeld aus der gleichnamigen Stadt Toyota, als sie ihre Ingenieure immer bessere Produkte entwickeln ließen. Und ihr ProfitMaximierungs-Sinn, in sich genommen auch kein Unsinn, ließ sie überall investieren und verdienen. Und wenn sie sich nicht auch an der Rüstung hätten bereichern wollen, hätte man der Welt vielleicht ein paar Ecken weniger reingebombt und sie wäre nicht so frühzeitig ins Bleiern gekommen. Bevor Adjuna Saipan verließ, wollte er sich einmal den Luxus leisten, ein warmes Süßwasserbad zu nehmen. Er mietete sich also für eine Nacht in einem Hotel ein. Es war ein billiges Zimmer und nicht 1111
aufgemacht. Aber das zerknautschte Bett machte ihm zuerst nichts aus, erst als er das Laken zurückschlug und die schmierigen Spuren eines Geschlechtsaktes vorfand, protestierte er bei der Geschäftsleitung, die ihm knurrend erklärte, daß die Bettlaken eigentlich nur einmal pro Monat gewechselt würden; und man fluchte auf den vorigen Gast, der das Bett so schmutzig gemacht hatte. Ein Dienstmädchen wechselte ihm dann mürrisch die Laken. Adjuna badete den halben Nachmittag in dem warmen Süßwasser. Wer für seine persönliche Hygiene immer nur ins Meer sprang, konnte so ein Bad wirklich genießen. Nach dem Bad legte sich Adjuna auf sein sauberes Bettlaken. Ihm war danach zu lesen. Er blickte sich um. In dem Raum gab es weder Zeitungen, noch Magazine oder Bücher, nicht einmal eine Gideon Bibel war im Nachttisch. Sich extra anzuziehen und runter zum Kiosk zu gehen, dazu hatte Adjuna auch keine Lust. Da fiel sein Blick auf den Papierkorb. Natürlich war er nicht entleert worden. Sicher gehörte es zur Philosophie des Hauses, ihn, solange er nicht überlief, nicht zu entleeren. Vielleicht würde er ein paar interessante Liebesbriefe finden, so hoffte Adjuna. Etwas sah wie zerknülltes Briefpapier aus. Vielleicht hatte jemand, bevor er sich hier von den Huren des Hauses bedienen ließ, einen rührigen Brief an die Ehefrau daheim geschrieben und mehrere Male einen Anlauf nehmen müssen und verworfene Entwürfe in den Papierkorb geworfen. Neben den verschiedensten Notizen und Papieren, achtlos weggeworfenen Briefen von Eltern, die sich wegen ihrer travelnden Kinder sorgten, und Briefumschlägen aus Japan, befand sich auch die Kladde eines Artikels, der die Überschrift trug `Bericht aus Japan'. Dieser Bericht war von einem verhinderten Zeitungsschreiber verfaßt worden, und die Reinschrift seines Berichts befand sich in irgendeinem Papierkorb auf der anderen Seite der Welt. 1112
Adjuna war begeistert von dieser neuerlichen Spur, die diese Insel mit Japan verband. Adjuna las also den Bericht des Möchtegern-Schreiberlings:
Bericht aus Japan
Am 27. Sept. 1945 gab der Kaiser Hirohito im Hauptquartier der Besatzung folgende Erklärung ab: “Ich bin zu Ihnen, General MacArthur, gekommen, um mich der Gerichtsbarkeit der Mächte, die Sie repräsentieren, als der allein Verantwortliche für jede politische und militärische Entscheidung und Aktion, die im Verlauf des Krieges gefällt wurde, zu übergeben.” Und am Neujahrstag 1946 sagte er sich öffentlich von seiner Göttlichkeit los. (Ach, könnten die anderen Götter doch auch so einfach abdanken!) Wer Gläubige kennt, weiß, daß sie manchmal wenig darum geben, was ihre Götter sagen. Das ist beim Papst so, der sich geschmeichelt fühlt, wenn man ihn heiligen Vater nennt, obwohl es in Mt. 23; 9 heißt: Niemanden auf Erden sollt ihr Vater heißen, denn einer ist euer Vater, der im Himmel. Und das ist auch hier so: Bei der letzten Unterhauswahl, als jedem Kandidaten, auch dem aussichtslosesten, demokratisch vorbildlich im Fernsehen 15 Minuten Sendezeit zum Vorstellen eingeräumt wurde, konnten wir erleben, wie so ein aussichtsloser Kandidat immer wieder seine Handflächen zum Gebet zusammenhielt und darauf bestand, daß der Tenno ein Gott sei. (Ich hatte den ganzen Fez zuerst irrtümlich für Satire gehalten.) Kriminell reagieren die Yakuzas, das organisierte Verbrechertum, dessen autoritäre Strukturen absoluten Gehorsam und einen absoluten Gott erfordern, auf jede Kritik am Tenno. Eine Zeitungsredaktion, die zu früh Vermutungen über eine Krebserkrankung des alten Tennos angestellt hatte, wurde Opfer eines rechtsradikalen Angriffs. Später 1113
wurde der Tenno zwar wegen Krebs am Zwölffingerdarm operiert, aber ihm wurde keine chemotherapeutischen Medikamente gegeben, weil es mit seiner Ehre (?) nicht vereinbar sei. (Ich hatte schon in Erwägung gezogen, den kaiserlichen Haushalt wegen unterlassener Hilfeleistung anzuzeigen.) Während der Kaiser todkrank im Bett lag, hörte man immer wieder von christlichen Organisationen und Demonstrationen, die vom Tenno verlangten, daß er sich für den Zweiten Weltkrieg entschuldige. Als er dann tot war, nahmen die Aktivitäten der Christen, sie stellen etwa 1% der Bevölkerung, noch zu. Jetzt wollte man das schintoistische Begräbnis des Tennos, das nach Meinung der Christen gegen das Prinzip der Trennung von Staat und Religion verstieß, verhindern. Wenn sich die Familie des Tennos für eine christliche Beerdigung entschieden hätte, wären den Christen zweifellos andere Rechte eingefallen. Die Demonstrationen wurden zum Teil von ausländischen Missionaren organisiert. Von japanischer Tradition hielten sie offensichtlich wenig, was ich besonders interessant finde, angesichts der Tatsache, daß die Kirchen gerade jetzt in osteuropäischen Ländern Zugang zu Schulen, Krankenhäusern und Militär fordern, um ihre traditionelle Rolle wahrnehmen zu können. Aber natürlich: Tradition wird nur geachtet, wenn es die eigene ist. Immer wieder umgingen führende Politiker, wenn sie von der linken Opposition nach der Verantwortlichkeit des Tennos für den Krieg gefragt wurden, eine klare Antwort. Der Bürgermeister von Nagasaki, Hitoshi Motoshima, ein Katholik, machte eine Ausnahme und erklärte am 7. Dez. 88, daß er den Tenno zumindest für mitschuldig am Zweiten Weltkrieg halte, denn alles geschah im Namen des Tennos. Außerdem, beklagte er sich, sei er als Katholik damals diskriminiert worden. Allerdings muß man hier anführen, daß er es in normaler Zeit zum Offizier brachte und als Rekrutenausbilder selbst nicht unschuldig am Krieg sein dürfte. Für seine Äußerung erntete er den Haß aller Rechtsradikalen. Man schwor, ihn nach der einjährigen Trauerzeit umzubringen. Am 18. Jan. 90, also nur 11 Tage nach Ablauf der Trauerzeit, feuerte Kazumi Tajiri aus nächster Nähe drei Schüsse auf den Bürgermeister ab. Tajiri und seine Leute hatten sich moralisch über 1114
Motoshimas Äußerung entrüstet, aber gleichzeitig konnten sie, wie die Polizei später feststellte, eine über 80jährige Hauswirtin bedenkenlos einschüchtern, daß sie seit 8 Jahren nicht wagte, von ihnen Miete zu fordern. Außerdem haben sie völlig ignoriert, daß wie der alte Tenno schon sich der neue Tenno, wenn immer möglich, gegen Gewalt, aber für Demokratie und Meinungsfreiheit ausspricht. Auf einer Pressekonferenz anläßlich seines 30. Geburtstags verurteilte der Kronprinz sogar mit noch schärferen Worten die Unterdrückung der Meinungsfreiheit durch Gewalt und die Rechtsradikalen und sagte selbst, daß sein Großvater Verantwortung für den Krieg trage. Der Bürgermeister überlebte zum Glück die Schußverletzungen, und Japan hat einen lebenden Märtyrer der Meinungsfreiheit, ebenso die katholische Kirche. Als der Italiener Gianni Palma, der die Buchrechte für die japanische Übersetzung der “Satanischen Verse” erworben hatte, Rushdies Buch mit Hilfe des Herausgebers Shinsensha den Japanern zugänglich machte, lag es nahe, die japanische Ausgabe dem Bürgermeister Motoshima zu widmen. Gegen diese Widmung hat sich der Bürgermeister aus verschiedenen Gründen verwahrt: Einmal möchte er nicht, daß sein Name für Geschäftemachereien mißbraucht wird, dann ist er noch gegen Blasphemie und außerdem hat seine Stadt, Nagasaki, gute Handelsbeziehungen mit dem Iran. Natürlich kann man auch hier nicht einfach die Satanischen Verse veröffentlichen, ohne daß die (meist ausländischen) Moslems (etwa 30 000 in ganz Japan) Mord und Totschlag schreien. Da die Moslems bei einer früheren Demonstration (etwa 200 Teilnehmer) vor der britischen Botschaft, obwohl sie “Death for Rushdie” brüllten, zumindest in den englischsprachigen Medien eine gute Presse bekamen, voller Verständnis für die verletzten religiösen Gefühle, ging ich diesmal (12. Feb. 90) mit meinem eigenen Schild zur Demonstration. Auf der einen Seite stand “Redefreiheit endet, wo Mordhetze beginnt” und auf der 1115
anderen “Blasphemie ist ein Heilmittel gegen Religion”. Ich hoffte vor Vertretern der Massenmedien eine Erklärung zur Verteidigung der Menschenrechte abgeben zu können, aber natürlich respektieren Mordhetzer nicht das Demonstrationsrecht anderer Leute. Voller Haß schlugen einige Moslems mit Schirmen und Latten von ihren Schildern auf mich ein, als ich in die Nähe der Demonstration kam. Vorher konnte ich noch von jemandem, dem ich auf die Frage, was ich mache, die “Menschenrechte verteidigen”, geantwortet hatte, erfahren, daß es keine Menschenrechte gäbe, nur Allahs Rechte. Zum Glück wurde ich schnell von der Polizei gerettet, so daß ich nur ein paar, allerdings stark blutende Platzwunden am Kopf erlitt. Zwei Tage später wurde der Herausgeber Gianni Palma auf einer Pressekonferenz von einem 30jährigen Pakistani angegriffen. Palma konnte dem Schlag glücklicherweise ausweichen und der Täter wurde schnell von Reportern und Polizisten niedergemacht. Ein anderer Pakistani (28) stach auf dieser Konferenz mit seinem Kugelschreiber auf ein britisches Fotomodell und einen japanischen Reisebüroangestellten ein, weil sie ein Plakat hoch hielten. Da er nicht lesen konnte, war ihm entgangen, daß dieses Pärchen gegen die Veröffentlichung der Satanischen Verse protestierte. Ich habe mehrfach versucht, in Leserbriefen zu dieser Kontroverse Stellung zu nehmen. Aber ob ich nun zur Beruhigung der moslemischen Gemüter darauf hinwies, daß die Satanischen Verse mit einem Happy End für Moslems, nämlich der Steinigung der Gegner des Propheten, enden, oder provokativ schrieb, nachdem ich die neunte Sure 30, die den Totschlag an Christen und Juden propagiert, zitiert hatte, daß wenn man schon Bücher verbrennen muß, Bücher verbrennen sollte, die zum Mord an Mitmenschen aufrufen, meine Briefe wurden ignoriert. Die Japan Times (mit katholischem Management) veröffentlichte am Jahrestag der islamischen Revolution drei Seiten lang Schmeicheleien
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und Propaganda für den Iran. Unter anderem wurde die Weisheit Khomeinis gelobt! Vielleicht hat die Japan Times recht, Khomeini ist weise - und wir sind dumm, wenn wir glauben, wir könnten Religionen auf friedliche Art, nur durch Aufklärung und Argumente, beseitigen. Holger Hermann Haupt
Näher kamen sie sich nicht, der elende Skribent, der es nicht verstand, die Segel hochzuziehen und das Weite zu suchen, sondern nur in seinem 6-Tatami-Zimmer in Tokyo saß und die Tastatur seiner Schreibmaschine bearbeitete und sich nur einmal im Jahr einen kleinen Kurzurlaub an einer warmen Küste erlaubte, und der große Held, der, wenn er auch nicht die Menschheit befreite, doch immer die eigene Freiheit fand, und der auch nicht im kürzesten Augenblick seines Lebens mal kein Held war; hätten sich ihm 200 Möchtegern-Mörder in den Weg gestellte, er hätte sie getrieben, vor sich hergetrieben, bis ins nächste Gewässer hätte er sie vielleicht getrieben. Vielleicht hätte er, der Übermensch, da ihren Kopf waschen können.
Wenn man über Japan sprach, sollte man die folgende Geschichte nicht auslassen, die `Geschichte mit dem Vorhang'. Die `Geschichte mit dem Vorhang' erklärte nämlich sehr gut die kosmischen Erscheinungen - für Kinder, wenn sie lieb genug waren, zuzuhören. Also die `Geschichte mit dem Vorhang'! - Es geht los: Mukashi, mukashi, sono mukashi... Vor langer, langer Zeit und noch davor vor langer, langer Zeit... Mit dieser genauen Zeitangabe begannen alle japanischen Märchen, außer science fiction. - Also mukashi, mukashi, sono mukashi war es auf der Erde immer nur hell, 1117
es war hell, hell und hell, überall war es immer nur hell. Wohin man auch schaute: Helligkeit, nichts als Helligkeit, immer nur Helligkeit. Die Leute konnten nicht schlafen. Es war ihnen zu hell. Der Himmel blendete, die Helligkeit blendete. Wegen der Helligkeit waren die Leute immer aktiv, sie waren aktiv und aktiv, bis sie vor Erschöpfung umfielen. Mal fiel der eine um, mal der andere. Und wenn er umfiel, dann lag er im Weg. Mal lag der eine im Weg, mal der andere. Und die aktiven, wachen Leute stolperten über sie oder mußten einen großen Schritt über sie machen. Das war ein Chaos. Nichts klappte richtig. Während der eine aktiv war und sich die Sohlen seiner Schuhe ablief, daß sie zum Besohlen zum Schuster mußten, war der gerade vor Erschöpfung an seinen Leisten eingeschlafen. Ein anderer war hungrig und wollte Einkäufe für ne Mahlzeit machen, aber der Kaufmann war am Pennen. Und die Nachtaktiven der Halbwelt warteten vergeblich auf Dunkelheit. In dieser verzweifelten Lage wandten sich die Menschen an Gott. “Du”, sprachen sie. Sie hatten ein gutes Verhältnis zu ihrem Gott und sprachen ihn immer mit `Du' an. “Du”, sagten sie also, “du hast ja ne ganz gute Welt gemacht, aber es ist zu hell.” Der Gott war zuerst etwas pikiert, daß die Leute etwas auszusetzen hatten an seiner Schöpfung. “Es ist hell, aber Helligkeit ist doch gut.” Die Menschen erzählten ihm dann von ihren Problemen mit der Helligkeit. Und da er ein einsichtiger Gott war, verstand er die Probleme der Menschen. Aber er war noch immer ratlos. “Was soll ich denn gegen die Helligkeit machen?” Wie alle Götter badete er in Helligkeit und kannte nichts anderes außer Helligkeit.
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“Mach uns Dunkelheit!” sprachen die Menschen. Gott sah sich in seinem Badezimmer um, aber es gab keinen Hahn für Dunkelheit. “Ich kann euch keine Dunkelheit machen, mir fehlt die Installation dafür", sagte der Gott. Die Menschen überlegten hin und her, was sie wohl machen könnten, und auch der Gott half mit mit seinem göttlichen Gehirn. Dann hatte plötzlich jemand eine Idee: “Wir brauchen keine Rohrleitungen für die Dunkelheit, wir brauchen einen Vorhang, der die Helligkeit nicht durchläßt." Alle bewunderten das Geniale dieses Vorschlages. Sie riefen wieder ihren Gott an. Der hatte aber schon alles mitbekommen. “Ihr wollt einen Vorhang. Ich mache euch einen Vorhang.” Und bums, war es stockdunkel. Alle Leute schliefen. - Und schliefen, und schliefen. - Schliefen immer weiter und weiter und weiter. Und es war keine Helligkeit da, um sie zu wecken. Einige konnten einfach trotz der Dunkelheit nicht mehr weiter schlafen. Sie lagen wach und warteten auf die Helligkeit. “Gott verdammt, wo bleibt denn die Helligkeit”, dachten sie. Und die Zeit wurde ihnen zu lang. Einige schliefen wieder ein, andere standen auf und tasteten sich durch die Dunkelheit und stolperten über die Schlafenden. Einen Schritt konnten sie ja nicht mehr über die Schlafenden machen, da sie sie wegen der Dunkelheit nicht sahen. Die Schlafenden erwachten und waren wütend, weil man sie getreten hatte, und vor Wut schlugen sie um sich und stolperten über Schlafende und schlugen ein auf die In-der-Dunkelheit-Tastenden. Das Chaos war jetzt noch größer als bei der Helligkeit. Und die Leute riefen wieder ihren Gott an. “Heh, du da oben”, riefen sie. Sie mußten diesmal ordentlich schreien, denn der Vorhang ließ nicht nur kein Licht durch, sondern auch die Schallwellen nur sehr schlecht.
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“Was wollt ihr schon wieder?” fragte der Gott. “Du mußt mal den Vorhang wieder aufmachen. Wir brauchen Helligkeit.” - “Schooon, ihr habt doch gerade erst Dunkelheit gewollt.” antwortete der Gott. Ihm schien noch nicht viel Zeit vergangen zu sein. - “Ja, schon. Wir sind schon lange wieder wach. Wir haben ausgeschlafen.” “Also gut”, meinte der Gott etwas mißmutig, “dann mach' ich eben wieder auf.” Einige Weitsichtige merkten, daß der Gott vielleicht doch nicht so gern von ihnen angerufen wurde, und daß die Probleme mit dem Vorhang in naher Zukunft ihre Beziehung zu Gott negativ beeinträchtigen könnten. “So geht es aber nicht weiter”, meinten sie, “wir können nicht jedes Mal den Gott neu belästigen.” Der Gott stimmte ihnen zu: “Ihr müßt euch einigen, ob ihr den Vorhang nun auf oder zu haben wollt.” “Wir müssen uns auf feste Zeiten einigen, wann der Vorhang auf und wann er zu sein soll, feste Öffnungszeiten und feste Vorhangschließzeiten”, sagten aber die Leute. Und die Leute fingen an zu diskutieren, wie sie das wohl machen sollten. Es war gar nicht so leicht, sich da zu einigen. Einige meinten, wenn der erste von ihnen anfinge zu gähnen, solle der Vorhang zugemacht werden, aber viele waren gegen diesen Vorschlag, am meisten aber protestierte der Gott gegen diesen Vorschlag, da er keine Lust hatte, die ganze Zeit den blöden Menschen aufs Maul zu schauen. Endlich hatte jemand eine gute Idee: “Die Sonne wandert doch immer am Himmel. Wenn immer sie den Westen erreicht hat, sollte von Osten her der Vorhang zugezogen werden, und wenn sie die Unterwelt durchwandert hat und wieder im Osten ist, dann sollte der Vorhang von Osten her wieder aufgezogen werden. So entstehen Zeitabschnitte von Helligkeit und Dunkelheit, und sie sind nicht zu lang und nicht zu kurz.” Das war ein guter Vorschlag. Alle bewunderten wieder die Genialität, die einer der ihren gezeigt hatte.
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Auch der Gott fand diesen Vorschlag gut. Es gelang ihm sogar den Vorgang irgendwie zu automatisieren, so daß er sich nicht jedes Mal selbst bemühen mußte. Und so wechselten sich von nun an Helligkeit und Dunkelheit ständig ab. Vom tagtäglichen Hin- und Her-, Auf- und Zuziehen bekam der Vorhang langsam kleine Löcher, einmal wurde er sogar bei einem starken Taifun gegen ein bewaldetes Gebirge getrieben und bekam von den Tannenspitzen ganz viele Löcher. Einige behaupteten, die Stelle sähe aus, als ob da Milch entlang gekleckert sei, und nannten die Stelle deshalb Milchstraße, aber das war natürlich Unsinn. Irgendwann müßte man sich mal einen neuen Vorhang anschaffen. --- Soweit die Geschichte vom Vorhang. Diese Geschichte beschrieb also, wie die Japaner von Gott einen Vorhang bekamen, der ihnen die Dunkelheit bescherte. Die Japaner hatten vor dieser Geschichte nicht soviel Ehrfurcht wie vor den Geschichten, die sich um die göttliche Abstammung der kaiserlichen Familie rankten.
Adjuna und seine Leute fanden andere paradiesische Inseln in den weiten Tiefen des fernen Pazifiks. Die Marshallinseln. Es war im Jahre 1954 gewesen und es war der erste März gewesen. Kurzbeschreibung. Marshallinseln, harmlose Palmenpinsel, zwei Atollenketten: die 16atollige Ratakkette und die 18atollige Ralikkette mit den berühmten Atollen Bikini und Eniwetok; Entdeckung der Marshallinseln durch Weiße: 1529; 1885 deutsches Schutzgebiet, `Schutz' Euphemismus für 1121
`Nutz', `Ausnutz', ab 1920 japanisches Mandatsgebiet, ab 1947 unter den treuen Händen der Amerikaner: amerikanisches Treuhandgebiet. Bikiniatoll, 36 kleine Inselchen, unter den treuen Händen der Amerikaner wurden die Bewohner dieser Inseln evakuiert, deportiert, nein, eigentlich weggelockt mit Geld und dem Versprechen baldiger Rückkehr. Die Bewohner fühlten sich mit den Almosen der Amerikaner fürstlich bezahlt und willigten ein, die Inseln mal kurz für Atomversuche auszuleihen - für zwölf Jahre bis 1969. Die Einwohner des Bikiniatolls liefen übrigens nicht immer im Bikini rum, wie so manch ein Weißer, Südseeromantik nachhängend, träumen mag. Tatsächlich liefen die Frauen schamlos oben ohne herum jedenfalls bevor sie vom christlichen Prüdheitsbazillus angesteckt wurden. Und die Erfinder des Bikinis benannten ihren zweiteiligen Damenbadeanzug auch nicht nach dem Atoll, weil die Damen dort so etwas trugen, sondern weil ein Girl in dem neuen Badeanzug bei einem Boy eine so bombastische Wirkung erzielte wie die tollen Bomben, die die amerikanische Regierung gerade auf dem Bikiniatoll ausprobierten. Es war übrigens gerade in dieser Zeit, wo man sich so übermäßig vor einem Angriff der Sowjetunion fürchtete, daß die USA `eine Nation unter Gott' wurde und `In God We Trust' auf die Geldscheine drucken ließ. Aber bei aller Beschwörung und allen Beschwörungsriten, das Gottvertrauen war nicht groß genug, man setzte auch auf atomare Überlegenheit, vielleicht folgte man auch dem Rat `Hilf Dir selbst, dann hift Dir Gott', was natürlich nur eine dumme Art war, zu sagen, daß Gott als Helfer nichts taugte; nur die dummen Sprücheklopfer im Pentagon bei allem Einsatz der Hochphysik durchschauten ihre eigenen Sprüche nicht und was man ihnen als Kleinkinder eingeimpft hatte. Ihre Bomben auf jeden Fall hatten es in sich. Die tollen Bomben schafften es nicht nur, einige der Inseln dem Erdboden gleich zu machen, sondern sogar, sie einige Zentimeter unter die Meereshöhe zu pusten, also auszupusten, unter Wasser zu drücken. 1122
Diese Experimente waren Vorbereitungen für den christlichen Kampf des christlichen Amerikas gegen angeblich atheistische Teufel oder teuflische Atheisten. Atheist und Diabolus im gleichen Terminus waren für christliche Hirne kein Hindernis, Humbug oder Paradoxon, keine Antonyme, sondern Synonyme. daß es gerade die Atheisten waren, die ohne Teufel waren, und es nur der Gott oder die Gottesidee oder die Gottesideeträger waren, die den Teufel brauchten und wie den lieben Gott auch tatsächlich hatten, nämlich im Geschirrschrank gleich neben den fehlenden Tassen, das sahen die AtomBombenChristen nicht. Der große Kampf von Gut und böse fiel damals aus. Es blieb bei Schreckschüssen. 1969 kehrten die Einheimischen auf ihre Inseln zurück, 1978, also 9 Jahre später, schlug den Amerikanern ihr christliches Gewissen und sie evakuierten die Inseln ein zweites Mal - wegen der radioaktiven Verseuchung. Der erste März 1954 war ein denkwürdiger Tag - auf dem EniwetokAtoll - kein Massaker, nein - nur ein toter, japanischer Fischer und 22 weitere schwer strahlengeschädigte, die auch bald verendeten. Eine Wasserstoffbombenexplosion, 600mal stärker als die Atombombe für Hiroshima, 18 bis 22 Megatonnen. Die Wissenschaftler waren entgeistert, sie hatten nur die halbe Stärke vorausberechnet, falsch gerechnet, verrechnet, mindestens 255 km hätte man von Ground Zero entfernt sein sollen, Folge der Verrechnung: insgesamt 287 Strahlenopfer; die Daigo Fukuryu Maru, das fünfte Glückliche DachenSchiff, mit den japanischen Fischern war sogar nur 60 km von Null entfernt gewesen, als die radioaktive Asche auf sie nieder regnete. Aber Mehr, Mehr der Vernichtung, war nur von Nutzen, wollte man doch möglichst billig viele umbringen. Man konnte mit der neuen Bombe zufrieden sein. Man war der Sowjetunion weit voraus. Auch wenn die sogenannte feuchte Bombe am Erdboden festgeschraubt gewesen war und mit 60 Tonnen Gewicht nur sehr schwierig mit den 1123
damaligen Bombern unentdeckt in dicht besiedelte Gebiete der Sowjetunion hätte transportiert werden können. Im Rausch feierte man seinen Erfolg. Die Freude dauerte bis zum 22. November 1955. Das Erwachen kam mit einem großen Knall, Bumm. Da nämlich bumste es, krachte es in Novaya Zemlya, UdSSR, 90 Megatonnen, die Krachwellen umliefen die Welt dreimal, und es war eine trockne Bombe bei der LithiumHydried zu Helium verbombt wurde, handlich und leicht transportabel. Und Nikita Chroschtschow versprach der Welt sogar 100-MegatonnenBomben. Der Krater von solch einer Bombe wäre wohl 100 Meter tief gewesen und drei Kilometer im Durchmesser. Aber auch die Amerikaner beherrschten kurze Zeit später die Technologie der trockenen Bombe, begannen mit der Massenproduktion wie der alte Ford mit der Produktion seines TModells, und hielten schon bald dank ihres ausgezeichneten Kurzzeitgedächtnisses ihren eigenen Forscher, den in Ungarn geborenen Edward Teller, für den Erfinder der gleichen, aber er war nicht deren Erfinder, nur deren exponiertester Befürworter, er selbst nannte sich gern Vater der Wasserstoffbombe. Trotz seiner väterlichen Gefühle gelang es ihm nicht, daß die Amerikaner noch zu seinen Lebenszeiten mit dem Spielzeug, das der Vater ihnen geschenkt hatte, spielten, und so erlebte er nie die große Erlösung, und noch auf dem Totenbett mußte er sich sorgen, daß sich die Welt nie von dem Leiden, das auf ihr herrschte, befreien würde, um anorganische Glückseligkeit zu erreichen. Nachtrag: für seine Verdienste in der Kernphysik erhielt Edward Teller 1962 den Enrico-Fermi-Preis. Enrico Fermi, ein aus Rom gebürtiger Amerikaner, hatte seinerseits 1938 den Nobelpreis für Physik bekommen, für die Entdeckung der Uranspaltung, er baute den ersten Kernreaktor der Welt (1942). Nobel hatte mit Dynamit gebumst und das Geld, das er damit machte, dem Frieden und der Wissenschaft gewidmet. Und so war ein Bums mit dem anderen verbunden über Zeit und Raum, auf der Erde knickte ein Grashalm, am Himmel platzte eine Supernova, Gott furzte im Petersdom, dem Präsidenten explodierten 1124
die Hoden und er ergoß sich heimlich anal - die Wähler durften's nicht wissen - in die Frau Präsidentin, während im fernen Indochina, dessen Bombardierung er angeordnet hatte, Menschen ihre Ärsche für immer zukniffen. So viele Zufälle konnten nicht zufällig sein, sie mußten überwältigen, die Menschen überwältigen, die Menschen zu Mystikern machen, die Menschen von der ordnenden Hand Gottes überzeugen. - Nur hartgesottene, wie Adjuna, fuhren angewidert weiter, ohne ein einziges Mal zur Andacht niederzuknien.
Ein anderes Mal segelte Adjunas kleine Flotte dicht an der chinesischen Küste entlang. Obwohl die Küste unauffällig aussah, fürchtete Adjuna sich ein bißchen vor der Landmasse, die dahinter lag, und den Superlativen, die sich da verbargen. Die Chinesen, die dieses Land bewohnten, waren nicht nur das zahlenmäßig größte Volk der Erde, sondern auch das älteste Kulturvolk der Erde. Ihre Kultur hatte trotz Kulturrevolution eine Beständigkeit gezeigt, die anderen Kulturen versagt geblieben war. Obwohl dieses Reich der Mitte das Schießpulver erfunden hatte, war es im 19. Jahrhundert dem westlichen Wurmfortsatz der Euroasiatischen Festlandsmasse waffentechnisch unterlegen gewesen. Und als Kaiser Tao Kuang im Jahre 1839 ein totales Opiumverbot über sein Land verhängte, wurde er von den Briten, die an der Opiumsucht der Chinesen verdienten und sie förderten, ohne selbst süchtig zu sein - außer nach dem Geld, das sie an der Ausbeutung anderer Völker erhabgierten -, bekriegt und besiegt. In der Folge dieser Niederlage mußte China 21 Millionen mexikanische Dollar Kriegsentschädigung zahlen und die Ungleichen Verträge unterzeichnen. In den Ungleichen Verträgen (1842) wurde China Handelsfreiheit für britische Kaufleute aufgezwungen, und die Briten 1125
verkauften fortan in China etwas frei, was sie im eigenen Land nicht hätten frei verkaufen dürfen: Opium. In den Ungleichen Verträgen wurde den Chinesen noch eine andere Freiheit aufgezwungen: Missionsfreiheit für christliche Missionare. Aber im Gegensatz zu dem alten Kulturvolk Ägyptens, das zuerst das Christentum und dann den Glauben seiner islamischen Eroberer annahm, erwiesen sich die Chinesen außergewöhnlich immun gegen dieses neue Opium, das das Volk in scheußliche geistige Abhängigkeit gebracht hätte. Eine kleine Insel vor der Küste Kantons, von wo aus die Briten ohne chinesische Einmischung ungestört ihren schmutzigen Rauschgiftgeschäften nachgehen konnten, mußte China auch abtreten: Hongkong, das Fischerdorf aus dem eine Millionenstadt werden sollte. Ein Jahrhundert später sollte übrigens ein blühender illegaler Rauschgifthandel in andere Richtung, über Hongkong in die übersättigten westlichen Industrienationen florieren. 1898 hatten die Briten den Chinesen auch noch ein Stück vom Festland abgepreßt, und zwar für 99 Jahre. Damals erschien es eine Ewigkeit zu sein, und falls die 99 Jahre wirklich einmal umsein sollten, dann könnte man den Chinesen ja immer noch eine Verlängerung abpressen, so hatte man damals gedacht. Man hatte nicht damit gerechnet, daß wenn man alle Kolonien ausgepreßt hatte, da nicht mehr viel zu holen war, und man selbst verarmte. Bevor die 99 Jahre um waren, hatten die Briten keine Chance mehr, die Chinesen zu erpressen, ohne ausgelacht zu werden für eine solch absurde Dreistigkeit. Als Adjuna kurz vor Torschluß für die Briten im Hongkonger Hafen ankam, fand er aber nicht Freude unter den Chinesen Hongkongs, sondern Angst. Tatsächlich flohen viele. Und es wären noch mehr geflohen, wenn sie gewußt hätten, wohin. Und das hatte etwas mit einem anderen Superlativ des Landes zu tun. Das chinesische Volk war zwar nicht dem Christentum erlegen, aber einer anderen westlichen Idee, dem Marxismus. Karl Marx gehörte zwar nicht zu den großen Religionsstiftern, er war bloß der Begründer 1126
einer Ideologie, aber das war ja nur eine kleine Stufe harmloser. Und mit religiösem Eifer wurde seine Ideologie durchgedrückt. “Für den dauerhaften Frieden der Volksrepublik China”, wie der Finanzminister Po I-po einst zugab, “war es in den letzten drei Jahren (1950-52) notwendig 2 Millionen `Banditen' (Regierungsorwellsch für Dissidenten) zu liquidieren”, also aus politischen Gründen zu ermorden. Er wußte nicht, daß man keinen dauerhaften Frieden erreichte, solange man noch Menschen am Leben ließ. Aus anderen Quellen erhielt man andere Zahlen. Die UdSSR warf den Chinesen vor, unter Mao Tse-tung zwischen 7. April 1949 und Mai 1965 26,3 Millionen Menschen umgebracht zu haben. Taiwan, selbst auch nicht zimperlich mit Urteilsvollstreckungen, warf der Volksrepublik sogar vor, zwischen 1949 und 69 wenigstens 39 940 000 Menschen umgebracht zu haben. Der Walker Report der USA war ein bißchen genauer und gab die Zahl der Toten mit zwischen 32,25 Millionen und 61,7 Millionen an. Der Figaro veröffentliche in der 19. 25. Novemberausgabe von 1978 eine Schätzung Jean-Pierre Dujardins: 63,7 Millionen. 1 China war nicht das einzige Land, in dem die Menschen der kommunistischen Ideologie geopfert wurden. Stalin selbst erwähnte gegenüber Churchill am 17. August 1942 in Moskau, daß 10 Millionen Kulaken hatten liquidiert werden müssen, weil sie sich der Kollektivierung ihrer Bauernstellen widersetzten. In der Izvestia vom 16. April 1988 wurden die Opfer Stalins auf 50 Millionen geschätzt. Alexander Solzhenitsyn schätzte, daß vom Oktober 1917 bis Dezember 1959, also unter Lenin, Stalin und Khrushchyov, insgesamt 66,7 Millionen Menschen den Tod fanden.
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Nachtrag: 1999 erschien im Piper Verlag “Das Schwarzbuch des Kommunismus”, eine ausführlichere Sammlung kommunistischer Verbrechen. Da die Autoren aufrechte Antikommunisten sind, ist bei dem Buch jedoch einige Skepsis angebracht. Daß auch die industrielle Revolution und der Kapitalismus oft ganz ähnliche Opfer, Leiden und Ausartungen mit sich brachte, scheint den Autoren auf jedem Fall entgangen zu sein.
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In dem kleinen Land Kampuchea brachten es die kommunistischen Khmer Rouge nach eigenen Angaben fertig, ein Drittel ihrer 8 Millionen Landsleute zu töten, nach anderen Angaben sollten es über 3 Millionen gewesen sein. Kommunismus war die ideale Gesellschaft, die gerechte Gesellschaft schlechthin, die vollkommene Gesellschaft, die Gesellschaft, die das größte Glück für die breiteste Masse garantierte, die Gesellschaft, in dem jedem die Sicherheit eines Beamtenlebens zu Gute kam, wenn er duckmäuserte wie ein Beamter; das Problem war nur, daß man viele Leute - nicht die meisten, aber halt doch viele Leute - zu ihrem Glück zwingen mußte, denn nicht alle wollten sich fügen und verbeamtet werden und einige liebten es, nach eigener Façon glücklich zu sein, andere wollten die alten Herren, aber die kommunistische Gesellschaft war nun mal das Gegenteil von einer Gesellschaft, in der man nach eigener Façon glücklich werden durfte, oder den alten Herren kowtowen. Übrigens, auch J. C. war ein Kommunist, dem das Nach-eigenerFaçon-Glücklich-Sein ein Dorn im Auge war. Und auch wenn K. M. Religion für Opium hielt, ein ganz klein' Bißchen hatte er wohl bei J. C. abgeguckt, und später seine Inquisitoren bei der Inquisition. Selbst Jesus Christ aber war kein Original, viele göttliche Erlöser vor ihm waren von Jungfrauen geboren worden und hatten ausgestreckt unter Folterqualen den Opfertod für die Menschheit erlitten, und der 25. Dezember als Geburtstag war unter Göttern und göttlichen Erlösern so ungefähr das Gewöhnlichste, was man sich vorstellen konnte.1 Wenn wir Karl Marx zu den Erlösern rechnen, dann war seine Geburt von einer entjungferten Frau, noch dazu am 5. Mai, geradezu etwas Originelles; daß sein Erlösungsversuch scheiterte, war jedoch ganz und gar nicht originell.
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für ausführlichere Informationen zu diesem Thema siehe z. B. “The World's Sixteen Crucified Saviour or Christianity Before Christ” von Kersey Graves, The Truth Seeker Company, New York, 38 Park Row.
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Einige seiner Anhänger mochten vielleicht glauben, sie hätten ihn nicht genug angebetet, aber in Wirklichkeit war das Problem wie immer zuviel Anbetung gewesen. In den Ländern, in denen der Marxismus Staatsreligion gewesen war, hatte sich sein Konterfei wie die Kruzifickse Bayerns an jeder Ecke befunden, in jeder Beamtenstube, in jedem Klassenzimmer, auf jedem öffentlichen Platz und in den nicht öffentlichen Spezialvernehmungszimmern der Polizeigefängnisse sowie an Wegkreuzungen, sei es nun in den Hauptstädten oder im fernen Sibirien gewesen. Es hatte sich gelohnt, Ikonen an Wegkreuzungen aufzustellen, weil das Verkehrsaufkommen dort doppelt so hoch gewesen war wie an einfachen Straßen. Das kommunistische Manifest war der Bergpredigt intellektuell haushoch überlegen gewesen, die Priesterkaste des Marxismus hatte jedoch keine intellektuelle Auseinandersetzung mit dem Marxismus gewollt, so daß die Bevölkerung schließlich so verdummte, daß sie wieder die Bergpredigt mit all ihrem Drum und Dran annahm. Es waren immer die allgemeinen menschlichen Schwächen, die aus den Allmächtigen, waren sie nun Priester, Politiker, Richter oder Polizeikommissare gewesen, Monster und Tyrannen machten, die absolut und unkontrolliert herrschen wollten.
Während die Kommunisten Rußlands endgültig das Handtuch geworfen hatten und die russische Bevölkerung in den Schoß der Mutter Kirche zurückkroch (eigentlich war es nicht die Mutter, sondern die Großmutter, in die man hineinkroch, denn die Generation der Mütter war ja marxistisch-materialistisch gewesen, und natürlich war es auch nicht der Schoß, in den man hineinkroch, sondern wieder der Anus, aber egal, wer roch das schon, man kroch weiter von einem Loch ins andere; nur wer 'ne Nase hatte, roch's), und während der Unterschied zwischen homoiusios und homousios größer wurde als der Unterschied zwischen kapitalistisch und kommunistisch, entschieden sich die kommunistischen Bonzen Chinas, der Bevölkerung die Freiheit zu geben, auch vor buddhistischen Bonzen zu kowtowen und für 1129
kapitalistische Unternehmer zu malochen. Diese Reformbereitschaft sollte ihnen das überleben sichern. Und so schlängelte sich gerade die Partei mit Hier-ein-Bißchen-mehrund-Dort-ein-Bißchen-Weniger-Erlauben durch, und wand sich wie alle regierenden Parteien davor, den Menschen die Freiheit zu geben, für sich selbst zu entscheiden, sich selbst zu regieren. Die Menschen hatten keine starke Stimme, die die Entscheidungsfreiheit und Verantwortung für menschliches Handeln für den einzelnen Menschen selbst forderte. Aber Traditionalisten, Buddhisten und Phantasten sprossen aus dem Boden wie Pilze nach einem Regentag und sie schossen empor wie junge Bambussprossen und erreichten schnell eine beträchtliche Höhe. Das Volk blickte gern zu ihnen auf. Und sie da oben blickten gern auf das Volk herab, und mit Freude sahen sie, wie sich der alte, kommunistische Parteileib in ihm wand, wie eine Schlange..., wie eine getretene Blindschleiche... ein Regenwurm vor dem Vertrocknen... Um der Tagespolitik und seinen Eintagsfliegen zu entkommen, floh Adjuna in die fantastische Welt der chinesischen Oper. Nur der Schiffskoch Wong Chin Lee begleitete ihn. Der Rest der Mannschaft verstand kein Chinesisch und zog es daher vor, Etablissements aufzusuchen, die eine international verständlichere Unterhaltung boten. Hier nun, was Wong Chin Lee und Adjuna in der chinesischen Opera erlebten. Es wurde das traditionelle Stück `Bai She Zhuan' aufgeführt, das die Liebe der Weißen Schlange zu einem Sterblichen der Menschenwelt, der Apotheker und Jünger Buddhas war, zeigte: “Schlangen sind Lindwürmer, Drachen, böse Biester, die ihre Form verändern, am Himmel entlang ziehen, manchmal Feuer spucken und Wasser, und gefährlich grollen, aber sie sind auch Gefangene der Götter, angekettet wie Kettenhunde, können sie nicht vom Himmel entfliehen, Menschen beißen oder lieben. Aber es gab einmal eine 1130
schöne, weiße Schlange, die riß sich los, denn sie liebte einen Mann der Menschenwelt...” Die leere Bühne leuchtete im Glanze der übermächtigen Götter und Buddhas, die die Schauspieler diesmal darstellten. Und der oberste Bonze saß auf dem höchsten Thron und strahlte im pursten Gold seines Make-ups, der heiligste Schein im edelsten Sein und Nichtsein. Die Unwirklichkeit war überwältigend. Einst im irdischen Leben hatte sich dieser Bonze vom verwöhnten Königssohn Siddharta Gautama zum Asketen und schließlich zum Erleuchteten gemausert. Aus dem Haus in die Hauslosigkeit, vom Heim in die Heimatlosigkeit, in die Obdachlosigkeit. Da er ein Königssohn gewesen war, hatte seine im Stich gelassene Familie keine wirtschaftliche Not gelitten. Der schlimmsten Askese hatte er sich unterzogen, so groß war sein Durst nach Erkenntnis gewesen. In tiefster Meditation hatte er aufgehört zu atmen. Nach einigen Tagen waren selbst die Götter ungeduldig geworden: “Konnte es sein, daß dieses Kind aus dem Sakya-Klan einfach gestorben war, ohne die Wesen im Sansara vom Leiden befreit zu haben?” Siddhartas verstorbene Mutter Maya, die im Jenseits zusammen mit den Göttern lebte, erschien bei ihrem Sohn und beweinte seinen leblosen Körper. Da war Siddharta wieder erwacht: “Weine nicht, liebe Mutter, deine Wehe waren nicht vergeblich. Die Weisen haben nicht gelogen. Ich, ich werde - selbst wenn die Erde zu Staub verkrümelte, Berg Meru im Meer versänke und die Sterne wie Regen zur Erde herunterfielen - ich werde es alles überleben, und die Zeit wird kommen, wo ich das übernatürliche Wissen erwerbe.” Sechs Jahre hatte er am Flußufer gesessen und meditiert, und schutzlos war er den Elementen ausgesetzt gewesen, dem Wind, der Sonne, der Kälte, dem Regen, den Moskitos, den Stechfliegen, den Zecken und Würmern, den Schlangenbissen und den Dung- und Matschgeschossen 1131
der spottenden Bevölkerung. Selten aß er und wenn nur vereinzelte Körner. Aber die Erleuchtung blieb aus. Im nahen Dorf hatte es eine Schäfertochter gegeben, die die in Meditation sitzende Figur wie eine der hölzernen Götterstatuen verehrt und ihr jeden Morgen Votivgaben dargeboten hatte. Der Meditierende hatte sie nie angerührt gehabt, sondern immer nur in sich hineingeschaut. Als eines Tages die Verzweiflung, im eigenen Innern nichts zu finden, zu groß geworden war, hatte der angehende Buddha wieder aus seinen Augen herausgeschaut. Und was hatte er gefunden? Seine eigenen, knochigen Hände und die spitzen Knie seines eigenen hungernden Körpers. Dann hatte er die schöne Schäfertochter gesehen, die ihm eine Schüssel Milch darreichte. Und er hatte seine Hand ausgestreckt und die Schüssel genommen und die Milch getrunken. Und während er getrunken hatte, war ihm noch im Delirium des Hungers die Erkenntnis gedämmert, daß der übergroße Durst nach Erkenntnis dem Erkennen der Erkenntnis hinderlich war. Und er hatte sich entschieden, fortan einen Mittelweg zu gehen zwischen den Extremen wie Prassen und Verhungern, Gier und Gleichgültigkeit dem Genuß gegenüber. Und schließlich hatte er die Lösung zur Erlösung gefunden, sie war in der Verlöschung jeglichen Durstes, jeglicher Lebensgier gefunden worden. Und bis er in jeglicher Gleichgültigkeit dem eignen Leben gegenüber verdorbenes Schweinefleisch gegessen hatte und an der dadurch hervorgerufenen Ruhr verstorben war, hatte er diese seine Erkenntnis gepredigt. Seine Lehre war pur und rein gewesen, nie hatte er sie den Frauen gelehrt, denn Frauen waren Lüge, Laster und fleischliche Lust. Aber nachdem der alte König gestorben war, war Mahaprajapati, seine Ziehmutter gekommen und hatte um Einweisung in die Erkenntnislehre gebeten. Dreimal war sie gekommen und hatte ihn inständig gebeten. Dreimal hatte er ihr nicht geantwortet. Schließlich hatte sie sich trauernd in einem groben Gewand vor seine Tür gesetzt und nicht mehr gewagt zu bitten. Dort hatte der Jünger Ananda sie 1132
gesehen, und der hatte dann für sie weiter gebeten, bis der Buddha schließlich bereit war, seine Lehre auch den Frauen zu öffnen. Wegen der Minderwertigkeit der Frauen mußten die Nonnen viele strenge Regeln beachten, zum Beispiel bestand der Buddha darauf, daß die Nonnen in der Anwesenheit von Mönchen sich grundsätzlich erhebten und tiefen Respekt zeigten, selbst wenn sie schon hundert Jahre Nonne waren und der Mönch erst einen Tag Mönch, auch durfte eine Nonne es niemals wagen, einen Mönch zu ermahnen, wohl aber mußte sie ergeben die Ermahnungen von Mönchen anhören. Überglücklich trat des Buddhas ehemalige Pflegemutter der buddhistischen Gemeinde bei und viele andere Frauen folgten ihrem Beispiel. Keusch, züchtig und untertänig führten sie ein religiöses Leben. Aber der Buddha war nicht zufrieden. Und eines Tages lehrte er: “Frauen hätten wir nicht in unsere Gemeinschaft aufnehmen sollen. Hätten wir sie nicht aufgenommen, würde die Lehre für lange Zeit rein bleiben, und der wahre Glaube für tausend Jahre heiter und gewaltig leben, jetzt aber, daß wir Frauen aufgenommen haben, wird die Reinheit der Lehre schon nach fünfhundert Jahren verloren sein, und der wahre Weg, der achtteilige Pfad der rechten Taten, wird versandet sein in Unwahrheit.” Die Opera spielte nun in einer Zeit, in der nicht nur die fünfhundert Jahre um waren, sondern sogar schon über tausend Jahre. Der Buddhismus hatte, wie von Buddha vorausgesagt, schon lange seine Wahrheit verloren, aber nicht seine Existenz. Eine buddhistische Bonzenkaste hatte sich gebildet auf der Erde, die sich an Ritualen für die Lebenden und noch mehr an den Ritualen für die Toten wie Maden im Speck dick fraß, und als Priesterkönige beherrschten buddhistische Bonzen sogar ganze Nationen, sie thronten über der Bevölkerung und ihre Macht war größer als die der weltlichen
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Tyrannen, denn sie beherrschten auch noch den Geist ihrer Untertanen. Und wie auf Erden also auch im Himmel. Und so thronte der Schauspieler, der den Sakyamuni im Himmel spielte, am höchsten auf seinem goldenen Throne über all den anderen Buddhas und all den großen Göttern, die noch der Erlösung durch die Buddha-Lehre bedurften, und die dabei waren sich durch Gehorsamkeit gegenüber dem Sakyamuni von ihren sansarischen Bedürfnissen zu befreien. Verhaltene Aufregung herrschte im Himmel. Die Weiße Schlange, welche der Buddha in den tiefsten Verliesen seines Reiches hatte eingekerkert gehalten, war entkommen. Die fromme Feierlichkeit war gestört. Die Weiße Schlange war eine Verbrecherin. Das Vergehen, das sie für so lange Zeit in den dunklen Kerker gebracht hatte, war die Liebe gewesen. Und es war nicht nur, daß es eine widernatürliche, rassenschändliche Liebe zu einem Menschen gewesen war, sondern noch obendrein, daß dieser geliebte Mensch als Jünger Buddhas sein Leben eigentlich dem Buddhismus gewidmet hatte, was Großen Bonzen besonders erbitterte. Zweite Szene. Auf der leeren Bühne erschien die schönste Schauspielerin der Welt im prächtigsten weißen Kostüm mit weißer, Diamanten besetzter Krone und langen Fühlern und Federn gefolgt von einer Reihe weißer Wolken. Sie sang von der Schönheit der Freiheit und von der Dunkelheit und Kälte des Kerkers: “Endlich frei und ohne Fesseln, wie kalt und dunkel war der Kerker! Nie wieder lasse ich mich einfangen.” Mit ihrem übernatürlichen Blick suchte sie den Erdboden unter sich ab. Sie suchte ihren Geliebten. Irgendwo da unten im Reich der Mitte fand sie ihn auch, zwischen dem gelben Hwangho und dem gewaltigen Jangtsekiang. Mit einem Bündel balancierte er im strömenden Regen den schmalen Pfadweg zwischen Reisfeldern entlang. Er war nicht 1134
mehr auf dem religiösen Trip, sondern hatte den Beruf eines Apothekers angenommen. Gerade war er auf dem Rückweg von einer Hauslieferung bei einem erkrankten Reisbauern. Es war unwahrscheinlich, daß er sich auch nur an eines von all den Leben, die er in den Jahrtausenden gelebt hatte, in denen Weiße Schlange angekettet im Kerker gekauert hatte, erinnerte und schon gar nicht, daß er einmal der Geliebte der Weißen Schlange gewesen war. Trotzdem wollte Weiße Schlange gleich zu ihm hinunterfliegen, denn sie war sicher, daß es ihr gelingen würde, seine Liebe von Neuem zu gewinnen. Als sie losschnellen wollte, stellte sich ihr Blaue Schlange in den Weg. Blaue Schlange war eine sthenische Schlange männlichen Geschlechts, die wie die Weiße Schlange über gewaltige Magie verfügte. Die Blaue Schlange sang: “Ich bin ein ehrlicher Mann.” Die Blaue Schlange wollte die Weiße Schlange als Sexsklavin haben, da war der Schlangerich ganz ehrlich. Ob dieser große Drang des Triebes etwas mit den zwei Penissen der männlichen Schlangen, den sogenannten Hemipenissen, zu tun hatte, ging aus seinem Gesang nicht hervor. Wahrscheinlich nicht, in der Menschenwelt gab es ja auch mickerige Männchen, die mit nur einem kleinen Schwänzchen den großen Drang verspürten. Freiwillig wollte die Weiße Schlange nicht den unterlegenen Partner einer verschlungenen Geschlechtsvereinigung spielen. Sie stellte sich kampfbereit wie ein Kung-Fu-Kämpfer auf. Der ehrliche Schlangerich schlug ein faires Geschäft vor: “Wenn ich Dich besiege, dann dienst Du mir absolut, wenn Du mich aber besiegst, so diene ich Dir absolut.” Dann kämpften sie. Es war ein gewaltiger Kampf, denn sie waren beide unermeßlich stark. Wie zwei Unwetter krachten sie aufeinander, sie bewiesen dabei eine Geschicklichkeit, wie man sie nur von chinesischen Akrobaten kannte, und selbst die weißen und blauen Wolken ihrer langen Leiber, ja selbst ihre Schwanzspitzen hätten es zu olympischen Ehren im Bodenturnen gebracht, wenn sie nur die Bühne hätten sein lassen können. Der Kampf war lange Zeit unentschieden, aber blieb nicht unentschieden. Weiße Schlange war durch die neugewonnene Freiheit 1135
gestärkt und gehoben, sie wollte nicht wieder unter Knuten leben und leiden und Liebeskummer leiden, Sehnsucht. Sie siegte. Blaue Schlange hielt sein Versprechen. Er ließ sich von Weiße Schlange erklären, was er als ihr absolut gehorsamer Diener zu tun hatte. Vielleicht war er erleichtert, daß die Weiße Schlange nur seine Hilfe wollte, um ihren Geliebten in der Menschenwelt wiederzubekommen, vielleicht war er auch enttäuscht, daß sie ihn nicht als Sexsklaven wollte. Aber Sex und Liebe zu ihr waren nie wieder sein Thema, er war absolut loyal und fing sofort an, Pläne zu entwickeln, wie sie die Liebe des Menschenmannes erwerben könnte: “Es schickt sich da unten nicht, daß du in Begleitung eines Mannes bist. Ich werde mich in ein junges Fräulein verwandeln und dir da unten als Zoffmagd dienen.” Gesagt getan. Für einen Augenblick von seinen eigenen blauen Wolken verhüllt, verwandelte sich der blaue Schauspieler in eine blaue Schauspielerin von außerordentlicher Schönheit, die jedoch aus Bescheidenheit nicht ganz die Schönheit der Hauptdarstellerin erreichte. Die nächste Szene. Auf der leeren Bühne befand sich ein Fluß. Ein Fährmann manövrierte sein Boot geschickt durch die Strömung. Seine Bewegungen waren so überzeugend, daß die Zuschauer das Boot förmlich sahen, obwohl alles, was sie sahen, nur ein einziger Remen zum Wriggen war. Es regnete noch immer in Strömen. Der Apotheker Kyu Sen trat auf die Bühne und ans Flußufer. Er rief den Fährmann. Der Fährmann brachte sein Boot ans Ufer, geschickt hielt er mit dem Remen das Schiff von der harten Uferkante ab, gleichzeitig aber war der Remen für
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Kyu Sen eine Hilfe, um ins Schiff zu springen. Das Boot ging ordentlich in die Knie, als er hineinsprang. Kyu Sen gab dem Fährmann die Anweisung, ihn schnell wieder in die Stadt zu bringen und nicht mehr für andere Fahrgäste zu stoppen. Sie waren noch nicht weit gefahren, da standen zwei Mädchen am Ufer, die winkten und schrien, daß der Fährmann sie mitnehmen solle. Der Fährmann rief zurück: “Es tut mir leid, aber ich habe schon einen Fahrgast.” Die süßen Stimmen der Mädchen: “Aber es regnet so. Kannst du uns nicht auch mitnehmen?” - “Es tut mir leid, aber das darf ich nicht.” - “Oh.” Der Fährmann wollte vorbeifahren, da mischte sich Kyu Sen ein: “Was ist los? Warum nehmen wir die beiden jungen Damen nicht mit?” So kamen die beiden dann doch noch an Bord. Zu viert schaukelten sie weiter flußabwärts. Während der Fahrt entwickelten sich interessante Gespräche. Besonders die junge Dienerin des Fräuleins verstand es, durch kokettische Späße die Unterhaltung amüsant zu halten. Sie flirtete mit dem alten Fährmann und fragte ihn aus und gleichzeitig erreichte sie ihr Ziel, nämlich, daß auch der junge Apotheker von sich erzählte. Nein, er war noch nicht verheiratet. Die Zeit verging im Fluge. Schon hatte man die Stadt erreicht. Alle bedauerten, daß man auseinandergehen mußte. Die Magie der Schlangen ließ es gerade jetzt am heftigsten regnen, und das zarte Fräulein jammerte all zu sehr ob des starken Regens. Sie hatte keinen Schirm. Eigentlich machten Regentropfen ihrem Schlangenleib ja nichts, aber sie hatte sich ja in ein Menschenmädchen verwandelt, und jeder wußte, daß Menschenhaut sich auflöste, wenn sie zu lange naß war. Der junge Apotheker war Kavalier und lieh ihr seinen Schirm. Und der Fährmann gab seinen Strohhut der Dienerin. Man versprach die Sachen bei Gelegenheit wieder zurückzugeben. 1137
Dieser Trick funktionierte gut, in der fünften Szene war die Weiße Schlange nämlich schon mit dem Apotheker verheiratet. Wie die beiden genau zueinandergefunden hatten, erfuhren die Zuschauer nie, denn die vierte Szene spielte wieder im Himmel. Dort nämlich machten die Götter dem himmlischen Gefängniswärter große Vorwürfe, weil er die Weiße Schlange hatte entkommen lassen. Er erhielt den Auftrag, sie wiedereinzufangen, und man gab ihm dafür eine Schlangen besiegende Waffe, einen Stock mit einer kleinen Gabelung am Ende. Dieser Gefängniswärter beklagte nun sein Schicksal, daß er eine frei lebende Schlange einfangen sollte, denn er war schwächlich und nur in Eisen gelegten Schlangen überlegen. Aber da er die Strafe der großen Bonzen fürchtete, machte er sich auf den Weg. Die Götter mit ihrem Weitblick sagten ihm noch, wo er Weiße Schlange finden konnte. Fünfte Szene. Zur Strategie dieses Schlangenfängers gehörte es nun, die Ehe des Apothekers und der Weißen Schlange kaputtzumachen. Aber er besaß nur sehr beschränkte Fähigkeiten, er konnte sich nicht in ein so schönes Mädchen verkleiden, daß er die Liebe des Apothekers hätte gewinnen können, ja selbst in einen gut aussehenden Mann konnte er sich nicht verwandeln, der eine Chance gehabt hätte, der Weiße Schlange besser zu gefallen, als der schmächtige Apotheker; er hatte einen krummen Rücken und lange Arme wie ein Pavian. Er betrachtete noch einmal die Waffe, die die Götter ihm gegeben hatten. Nein, mit diesem Knüppel konnte er unmöglich des Apothekers Frau angreifen, ohne die Polizei auf den Plan zu bringen. Und wenn die ihn erwischten, dann würde er, der himmlische Gefängniswärter, als Gefängnisinsasse im Stadtgefängnis enden. Er besaß nun ein Papieramulett, das verwandelte Schlangen wieder zurückverwandelte in Schlangen. Und wenn der Apotheker erst merkte, daß er mit einer Schlange verheiratet war, dann würde er seine 1138
Frau wieder wegschicken, so dachte dieser himmlische Baboon. Und dann wollte der Götterbote Weiße Schlange, die, wenn sie wieder in die Schlangenform zurückgezwungen war, sicher von der Menschenwelt fliehen mußte, irgendwo in der Wildnis mit der Schlangen bezwingenden Waffe bezwingen. Er kroch also schleimig an den Apotheker heran und petzte: “Deine Frau ist eine Schlange.” - “Unglaublich”, antwortete der Apotheker. “Wenn du mir nicht glaubst, dann tue doch dieses Papieramulett heimlich auf ihren Kopf, und du wirst sehen, sie wird sich in eine Schlange verwandeln.” Der Petzer hatte aber nicht aufgepaßt. Blaue Schlange, die Dienerin, hatte die Petzerei mit angehört. Schnell lief sie zur Weißen Schlange und verriet alles. Weiße Schlange stellte sich schlafend, als ihr Mann hereinkam. Ihr Mann betrachtete sie genau. Es gab keine Anzeichen dafür, daß sie eine Schlange war, dachte er. Zweifelnd legte er ihr das Papieramulett auf den Kopf und beobachtete, was wohl passieren würde. Er beobachtete genau. Plötzlich fing seine Frau an zu stöhnen. Sie richtete sich auf, sie schien zu schwindeln, sie benahm sich befremdlich. Kyu Sen war zu tiefst erschrocken. Als Weiße Schlange sein erschüttertes Gesicht sah, brach sie in Lachen aus. Sie lachte über seine Naivität. Wie hatte er nur glauben können, sie sei eine Schlange! Auch ihr Mann lachte jetzt. Er war ja so erleichtert. Wie hatte er nur so naiv sein können! Es war doch seine geliebte Frau! Er hatte doch Liebe mit ihr gemacht! Er kannte doch die intimsten Teile ihres wunderbaren Körpers! Er schüttelte über sich selbst den Kopf. In der sechsten Szene nun waren die beiden Frauen allein in der Apotheke. Die Weiße Schlange ärgerte sich, daß der alberne 1139
Gefängniswärter aus dem Himmel auf der Erde auftauchen konnte und es wagte, ihrem Mann solche Flausen in den Kopf zu setzen, wie sie sei eine Schlange. Sie gab ihrem Sklaven den Befehl, diesen albernen Hampelmann der Götter einzufangen und herzubringen. Tatsächlich gelang es dem Mädchen Blaue Schlange, diesen Verräter zu fangen. Weiße Schlange befahl nun, ihn von der Decke zu hängen und mit einem Riemen durchzuprügeln. Für diese Körperstrafe verwandelte Blaue Schlange sich extra wieder zurück in ihre männliche Form, weil sie als Mann über mehr körperliche Kräfte verfügte. Während dieser Himmelsbote nun so ordentlich Schläge zu spüren bekam, was er nicht ohne großes Geschrei und weinerliches Gejammer ertrug, spottete Weiße Schlange über ihn, weil er geglaubte hatte, daß sein kleines Stückchen Papier mehr Zauberkraft besäße als sie. Sie drohten ihm noch an, es nie wieder zu wagen, ihnen etwas böses anzutun. Dann mußten sie ihn aber vorzeitig laufen lassen, weil der Mann der Weißen Schlange zurückkam. Gerne hätte der pavianische Weichling von seinem bösen Tun abgelassen. Er fürchtete sich wirklich, noch ein zweites Mal von den Schlangen durchgeprügelt zu werden, aber die Angst vor der Strafe der Götter und Bonzen im Himmel war noch größer, und so schlich er sich wieder an den Apotheker heran. Diesmal hatte er ein stärkeres Mittel: einen Schnaps der verzauberte Schlangen wieder zurückzauberte. Und seiner geölten Schmeichelstimme gelang es wieder, Kyu Sen zu überzeugen, seiner Frau das Mittel zu geben. Und wieder hatte Blaue Schlange alles gehört. Siebte Szene. Weiße Schlange machte Handarbeit. Sie strickte ein Babyjäckchen und freute sich auf das Kind, das sie erwartete. Ihre Dienerin kam aufgeregt hereingestürzt und berichtete von dem gefährlichen Schnaps, den ihr
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Mann ihr geben wollte. Beide waren besorgt, denn der Zauber des Getränks war möglicherweise stärker als Schlangenzauber. Der Apotheker erschien. Er wollte tatsächlich mit seiner Frau trinken. “ Aber doch keinen Schnaps, Liebling, wo ich schwanger bin.” “Nur ein kleines Bißchen.” “Nein, nein, nein!” Weiße Schlange wehrte ab. “Bitte, ein bißchen auf das Wohl unseres Kindes! Das schadet doch nicht!” “Vielleicht schadet es doch.” Kyu Sen drängelte und drängte, daß Weiße Schlange Angst bekam, daß er argwöhnisch geworden war. Und sie dachte sich: Ich werde nur etwas in den Mund nehmen und wieder ausspucken, wenn er nicht hinschaut. Ihr Mann war sichtlich erleichtert, als sie einwilligte, von dem Schnaps zu trinken. Sie nippte ein bißchen und trank dann im Bann bezwungen das Täßchen in einem Zug leer. Ihr Mann war froh, daß er noch immer einer Frau gegenübersaß und keinem Schlangenmonster. Sie saß steif da. Dann klagte sie, daß sie den Alkohol doch nicht hätte trinken sollen. Sie fühlte sich diesmal tatsächlich etwas schwindelig. Ihr Mann war sich aber nicht sicher, ob sie sich wieder über ihn lustig machte. Sie selbst war auch froh, daß sie noch immer ein Mensch war, obwohl sie ein übernatürlicher Zwang den ganzen Inhalt der Schnapstasse hatte runterschlucken lassen. Schließlich taumelte sie ins Bett und zog die Vorhänge hinter sich zu. Ihr Mann blieb weiter ahnungslos auf dem Stuhl sitzen, fummelte an dem Babyjäckchen und freute sich auf das gemeinsame Kind. Plötzlich tat sich etwas offensichtlich Gewaltiges hinter den Bettvorhängen. Weiße Schlange kam hervorgestürzt im silbrigen Schuppenleib und im herrlichsten Glanze und in der urgewaltigsten Ungeheuerlichkeit, mit 1141
der ihres Gleichen schon die Welt umzog und zusammenhielt, ehe es Menschen und Götter gab. Kyu Sen fiel vor Schreck bewußtlos auf den Rücken. Er hatte einen schweren Schock erlitten und lag im Sterben. Weiße Schlange klagte nun um ihren Mann. Sie wußte, er mußte sterben, wenn sie ihm nicht hülfe. Und sie kannte nur ein Kraut, das ihm helfen konnte, und dieses Kraut wuchs am goldenen Westhang vom Berg Meru. Niemals würden die Götter zulassen, daß sie dort das Kraut pflückte. “Geh nicht”, flüsterte Blaue Schlange, “die Götter werden dich vernichten.” - “Ich bin vernichtet, wenn mein Mann nicht mehr lebt.” Achte Szene. Adler und andere Urfeinde der Schlangen stürzten sich auf die Schlange. Mit zwei Schwertern kämpfend wehrte sie die Feinde ab. Da das Kraut! Geröll stürzte auf sie herab, aber sie stürmte bergauf. Schon stand sie vor dem Kraut. Schnell legte sie eines ihrer Schwerter zur Seite und stopfte sich das wertvolle Kraut hinter ihre Giftzähne. Den schlimmsten der Urfeinde der Schlangen hatte die Götter jetzt den Berg hinuntergeschickt, das Feuer. Sich in Schmerzen windend, kämpfte sich Weiße Schlange auch durch das Feuer. Ihr Schuppenleib wurde heiß und glühte rot in der Glut, unsäglich waren ihre Schmerzen, hätte sie die empfindliche Haut eines Menschenkindes gehabt, wäre sie furchtbar entstellt worden von Brandwunden. Die roten Flaggenträger, die das Feuer symbolisierten, sanken langsam nieder, so erstarb selbst das Feuer im Kampfe mit der Weißen Schlange. Neunte Szene. Doch die Götter waren trickreich. Noch bevor Weiße Schlange wieder bei ihrem Geliebten war, hatten die Götter ihn erweckt. Blaue Schlange erzählte ihm von der großen Liebe der Weißen Schlange, und 1142
Kyu Sen war verzweifelt. Er wollte zur Weißen Schlange, zu seiner Frau, seiner geliebten Frau. Sie waren doch für einander bestimmt. Es war doch egal, daß sie eine Schlange und er ein Mensch war. Sie liebten sich, und das war alles, was zählte. Er wollte zum goldenen Hang, wo sie das rettende Kraut suchte für ihn, und wo sie vielleicht seinetwegen gerade jetzt starb. Aber er wußte auch, daß er, ein armseliger Sterblicher, es nie bis zum goldenen Hang schaffen würde. In seiner Verzweiflung betete er. Da erschien ein gutmütig aussehender, alter Einsiedler. “Was kann ich für dich tun, mein Sohn?” Aber dann wußte er auch schon alles. “Hier nimm diesen Schirm, er wird dich direkt zum goldenen Hang zu deiner Frau tragen.” Überglücklich nahm Kyu Sen den Schirm und der Schirm trug ihn davon - zum Gipfel von Berg Meru. Die Götter frohlockten, als sie ihn als Geisel hatten. Sie nahmen ihn gleich in besonderen Gewahrsam, Sonderhaft, direkt unter den Fittichen des Oberbonzen, dessen Jünger er einmal in einem früheren Leben hatte freiwillig sein wollen. Oberbonze hatte das freiwillige Entfernen nie richtig verkraften können. Es gab ihm eine gewisse Genugtuung, daß sein ehemaliger Jünger jetzt wenigstens unfreiwillig wieder bei ihm war. Weiße Schlange wurde rasend vor Wut, eine Furie, ein ungestümes Ungetüm. Sie fürchtete die Götter nicht und die Bonzen machten ihr nicht mehr bange. Ihre Magie wurde zusehends mächtiger, ihr Gift tödlicher, der Wirbel ihrer Schwertklingen schneller, in tausend kräftigen Armen schien sie Waffen zu halten. Und sie befahl auch ihrer Magd, sich wieder in einen gefährlichen Schlangerich zu verwandeln. Und schon stand Blauer Schlanger mit scharfen Schwertern vor ihr und versprach, mit ihr den Himmel zu stürmen und die Götter zu strafen und ihren Mann zu befreien. Für die Liebe und alle natürlichen Gefühle. 1143
Ohne anzuknopfen, drängten die beiden in den Himmel. Den Pförtnern trat Weiße Schlange gleichzeitig in Gesicht und Eier. Direkt vor den Großen Bonzen zogen die Beiden, aber sie machten keinen Kowtow wie die Götter und Unterbonzen, sondern standen aufgerichteter als der beinige Buddha, der auf dem höchsten Thron auf weichen Kissen und dicken Fettpolstern saß, und sie forderten Freiheit für Kyu Sen und für die Liebe aller fühlenden Wesen. Kyu Sen sah von unter des Buddhas Fittichen hervor und er sah seit langem zum ersten Mal seine Frau wieder. Er wollte zu ihr, aber man hielt ihn zurück. Die Buddhas hatten die Liebe nicht von ihm abwaschen können. Buddha hatte genug von dem Sakrileg vor seinen Augen. Mit einer spärlichen Bewegung seiner goldenen Fettwurstfinger ordnete er die Vernichtung der Lästerer an. Die himmlischen Handlanger der untersten Ordnung waren kein Match für die Schlangen und waren sofort abgewehrt. Und auch mit gegabelten Stöcken konnte man sie nicht besiegen. Aber der Himmel war überhäuft mit trickreichen Waffen, Reflektionen, Illusionen, wirbelnden Galaxien, falschen Gefühlen, und Horden von Göttern, die keine Skrupel kannten, wenn sie Befehle vom Oberbonzen ausführten. Immer wieder stürmten die beiden Schlangen gegen die Götter und schlugen ihre Waffen und wurden geschlagen. Feuer-, Wind- und Vulkangötter, Wächtergötter, Rachegötter, Haßgötter und besonders pervers Liebesgötter versuchten, für den Buddha den Sieg zu erringen. Und zwischen all ihren Purzelbäumen, Sprüngen und Schwerthieben streckte Weiße Schlange immer wieder sehnsüchtig ihre Arme nach dem Geliebten aus. Außerdem sprangen die beiden Schlangen ab und zu aus dem Kampftumult heraus auf die hohe Plattform, auf der der Buddha thronte, aber der Versuch, den Kampf dadurch zu beenden, daß sie dem Oberanführer persönlich den Hals abschnitten, erwies sich jedes Mal als unmöglich. Der Dicke saß in einem Panzerschrank mit unsichtbaren, aber starken Wänden.
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Der Himmel schien unbezwingbar. Aber die beiden Schlangen gaben noch nicht auf. Sie zogen sich zwar zurück. Aber das war kein Aufgeben. Sie gingen zurück auf die Erde. Sie suchten Bundesgenossen. Sie fragten die Menschen. Aber die Menschen waren zu feige. Die Vögel konnten sie nicht fragen, denn die gehörten ja zu ihren ärgsten Feinden. Auch zu den Säugetieren hatten sie kein gutes Verhältnis, einige fraßen Schlangen, andere traten Schlangen breit und wieder andere hatten jemanden in der Familie, der von einer Schlange gebissen worden war. Da blieben nur ihre eigenen Verwandten wie die Molche, Echsen, Schildkröten, die Fische und die Urahnen wie Tintenfische und Quallen, Muscheln und Medusen, Austern und Schnecken, Seesterne und Seeigel, Würmer und Amöben. Alle traten sie an. Und die Schlangen überfluteten den Himmel, damit all diese Freunde ihnen helfen konnten. Die Götter, die eigentlich das Ätherischen liebten, hatten es schwer in der Dichte des Wassers zu atmen und zu kämpfen. Einige wurden von den Muscheln eingeklemmt, andere schlugen solange auf die Schildkröten ein, bis sie vor Erschöpfung zusammenbrachen, und die Amöben schlugen den Buddha noch einmal mit Amöbenruhr, aber diesmal kam er besser durch. Letzten Endes erwiesen die Götter sich wieder als unbesiegbar, aber auch die Götter konnten die Schlangen und ihre Freunde nicht besiegen. Die ungleichen Heere waren gleich stark. Alle hielten den Kampf für unentschieden, unentscheidbar, und alle waren erschöpft und wollten sich zurückziehen. “ Viel Zeit ist vergangen mit Kampf, die Stunden sind vorgerückt, ich bin hochschwanger und erlahmt sind meine Muskeln und schwächer 1145
geworden meine Schläge, aber ich werde weiterkämpfen”, protestierte die Schlange, “immer weiterkämpfen, denn ich liebe.” Aber ihre Freunde nahmen sie hoch und trugen sie von der Bühne. Sehnsüchtig streckte sie ihre Arme nach ihrem Geliebten aus und ihr Geliebter wollte ihr nachlaufen, aber die Götter hielten ihn zurück, und auch seine Arme streckten sich vergeblich in Sehnsucht nach der Geliebten aus, ein göttlicher Gefangener, der nicht lieben durfte. Die Weiße Schlange schrie noch: “Die Götter können die Liebe nicht unterdrücken, die Liebe ist stark, die Liebe kämpft immer weiter, schlägt man ihr einen Kopf ab, wächst ihr ein anderer nach.”
Daß die Kommunisten die Liebe verhinderten, war ja durchaus bekannt, und auch von den Faschisten, sofern man damit vergangene, abgewirtschaftete Regime meinte oder unerhörte Minderheiten der Gegenwart, wußte man, daß zu ihren Schlechtigkeiten die Mißachtung der Liebesgefühle der Menschen gehörte, es aber den Buddhas, Göttern und Religionen, die die salbungsvolle Güte selbst waren, zu unterstellen, war empörend. Pietät vor der Religion war etwas, was selbst Atheisten haben sollten, und tatsächlich sogar viele hatten; all das Sich-Aufopfern, all das Sich-Erniedrigen, all die Demut und all die Zeit, die die Gläubigen für ihren Gott und vor ihrem Gott verbrachten, beeindruckte tatsächlich sogar viele Atheisten, freilich nicht gerade die, die wegen ihrer Gottlosigkeit auf dem Scheiterhaufen umkamen, oder in späterer Zeit, als die Kirchen ihre Gegner nicht mehr so einfach umbringen konnten, die, die den massiven Schikanen der Gläubigen ausgesetzt waren. Der eine jammerte, weil man Gott, die Buddhas und die Religion, statt anzuhimmeln, kritisiert hatte, der andere, weil man Menschen zu Tode gequält hatte. Bei Menschen war auch immer alles eine Standpunktfrage: Die Deutschen nannten die Bombardierung Dresdens ein Verbrechen und 1146
kannten von Coventry nicht einmal mehr den Namen, die Japaner jammerten wegen ihrer Atomtoten, ihr eigenes Nanking-Gemetzel wurde ungeschehen oder besser ungesehen gemacht als Teil einer `Änderung des Frontverlaufes', die Amerikaner wußten die schlimmsten Horrorgeschichten über den Vietkong zu erzählen, und wo sie selbst Napalm- oder Splitterbomben warfen, da befriedeten sie lediglich das Gebiet und zum Umweltfrevel Agent Orange hatte der Vietkong sie ja geradezu gezwungen. Das hatten sich die Vietnamesen also eigentlich selbst zuzuschreiben. Die gespenstischen Mutationen, die dieses Gift hervorriefen, zeigten übrigens nie Verbesserungen am Menschenmaterial, immer nur noch mehr Entartung. Als Adjuna in Hanoi an der Verladerampe einen Mann mit zwei Köpfen traf, erinnerte er sich an indische Götter, die ja oft noch mehr hatten, und war beeindruckt: all die doppelten Fähigkeit des Mannes! Aber die vermutete Überlegenheit gab es nicht. Es schockierte Adjuna dann sehr, als er merkte, daß diese beiden Köpfe einander so fern waren wie andere Köpfe auch - bloß dem anderen nicht entkommen konnten. Dieser Zweiköpfige, diese vietnamesischen Siamzwillinge, waren unzertrennlich, da sie ein gemeinsames Herz hatten, und es zeigte sich auch hier wieder einmal, daß das Herz nur eine Blutpumpe war, denn die Beiden waren kein Herz-und-eine-Seele, ein jeder haßte sein Bruderherz, und hätten sie ihre Köpfe besser zueinander oder eigentlich gegeneinander drehen können, sie hätten sich gebissen. Ein Einzelschicksal, oder sollte man sagen: ein Doppelschicksal. Es gab Zigtausende von Familien, die mißgestaltete Kinder aufzogen, und jede schwangere Frau bangte: Wird das Kind gesund sein? Viele der Mißgeburten starben gleich und wurden dann in riesigen Museen in Alkohol eingelegt ausgestellt, Museen, die ausnahmsweise einmal nicht
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Vergangenes, sondern Kommendes zeigten. Der Zukunftsmensch sollte der Mutantenmensch sein.
Weiter im Süden segelten Adjunas Schiffe in ein riesiges Inselreich von 13 677 Inseln hinein, Pancasila, hieß das Riesenreich. Pancasila war die Nationalidee, die das Reich zusammenhielt. Und jede andere Idee war Ketzerei. Eigentlich war es ein buntes Land mit vielen Völkern, vielen Ideen und vielen Sprachen, 1 aber die Nationalidee Pancasila wollte alle in ein gemeinsames Haus stopfen und mehr noch: in eine einheitliche Uniform.
Kinder hatten alle schon mal, wenn sie im Malunterricht ihre bunte Tusche mischten, die Erfahrung gemacht, daß nichts Buntes entstand, sondern ein einheitliches Grau. Eine Erfahrung, die auch der erste indonesische Präsident Sukarno als Kind gemacht hatte. Sukarno hatte auch noch andere Erfahrungen als Kind gemacht, nämlich als Untermensch, als Bürger zweiter Klasse - die erstklassigen Bürger waren alle weiß -, in einer von Holländern kolonialisierten Heimat aufzuwachsen und mit anzusehen, wie das Land von den Kolonialisten geplündert wurde.
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etwa 300 ethnische Gruppen mit eigener Geschichte und Kultur und circa 250 Sprachgruppen. Für die Beschreibung Indonesiens benutzte ich Norman Lewis Buch `An Empire of the East - Travels in Indonesia'. Norman Lewis beschreibt das Land erfreulicherweise nicht aus der Sicht eines `happy tourist's' und auch nicht für `happy tourists', sondern schreibt kritisch und erwähnt die massiven Meschenrechtsverletzungen des Landes, von denen man normalerweise im Westen nichts erfährt, da die dortige Regierung uns geistesverwandt ist.
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Es war alles schon seit Urzeiten im Legendenschatz der Einheimischen vorausgesagt: Nach der Jajabaja-Prophezeiung würde ein weißer Monsterbüffel kommen und das Land für lange Zeit beherrschen. Dann würde er von einem grausamen, gelben Affen vertrieben werde. Aber der gelbe Affe würde nicht lange bleiben. Nach der Lebensspanne einer Maispflanze würde der gelbe Affe wieder vertrieben werden und die Einheimischen ihre Freiheit zurückerlangen. Als nun im zweiten Weltkrieg die Japaner die Holländer aus Indonesien vertrieben, sahen die Indonesier ihre Befreiung nahen, und hoffnungsvoll traten sie in den Kampf gegen die neuen Eroberer. Allein hätten sie es sicher nicht geschafft, aber die gelben Affen, die sie bekämpften, hatten sich mit der ganzen Welt angelegt und erlagen einem solch mächtigen Gegner. Die Indonesier hätten aufatmen können, aber die die vor den gelben Affen Reißaus genommen hatten, als es brenzlich geworden war, kamen zurück und behaupteten kackfrech, ja die legitimen Herren des Landes zu sein, und wieder wollten sie sich vom Kuchen Nationalprodukt das größte Stück in den Mund stecken und möglichst, ohne zu backen. Die Indoneser staunten angesichts solcher Frechheit und sperrten wohl vor Staunen zunächst ihre Münder ganz weit auf: Hatten sie nicht gerade für die Freiheit des Landes gekämpft? Als sie ihren Mund wieder zugekriegt hatten, griffen sie erneut zur Waffe. Die gelben Affen hatten es ja vorgemacht: Weiße waren nicht unverwundbar, nicht unbesiegbar oder Farbigen grundsätzlich überlegen. Und tatsächlich: Nicht nur gelbe Affen konnten weiße Menschen besiegen.
Nach Kämpfen mußten die Holländer 1946 im Vertrag von Linggadjati die Gründung der Vereinigten Staaten von Indonesien billigen. Erst 1949, nach erneuten Kämpfen - die Holländer waren ein bißchen 1149
schwer von Begriff - erkannten sie die Unabhängigkeit des neuen Staates an. Achmed Sukarno, ein Javanese, war der erste Präsident des Staates, und andere Inseln und Volksstämme hatten bald Grund, sich von den Javanesen kolonialisiert zu fühlen. Sukarno blieb lange Zeit der erste Präsident. Er wollte ein großes Empire errichten, vielleicht auch wieder nicht so groß, aber auf jeden Fall groß genug, daß nie wieder Fremde dem Land Vorschriften machen konnten. Großartige Empires hatte das Land schon in der Vergangenheit hinter sich, wie die meisten anderen Nationen der Erde auch - irgendwann einmal. Da gab es einmal die Sailendra, die Könige der Berge, in Zentraljava, die die große buddhistische Pyramide in Borobudur, dem Ort zur Ansammlung von Tugend, im siebten Jahrhundert christlicher Zeitrechnung gebaut hatten. Zwei Jahrhunderte später baute ein König der Mataram-Dynastie die Tempelgruppe Prambanan, Schlanke Jungfrau, ebenfalls in Zentraljava. Dann war da das Königreich Srivijaya (670 - 1350 christlicher Zeitrechnung), das von Südsumatra aus Küstenstreifen in Thailand, Kambodscha und Vietman beherrschte. Ein zweites großes Empire, Majapahit (1294 - 1500), etablierte sich um den Ort Mojokerto im Osten Javas. Staatsreligion war ein Hindu-Buddhisch-Animistischer Mischglaube. Um 1500 mußten die Anhänger dieser Religion vor islamischen Glaubensfanatikern fliehen. Die Mohammedaner wollten sich nicht mit den Mischgläubigen mischen, nicht mehr, sie waren die stärkeren geworden. Die Mischgläubigen flohen nach Bali, wo ihre Kultur eine neue Blüte entfaltete. Sukarno nun, Bung Karno, Brüderchen Karno, wie ihn seine Anhänger gern nannten, oder Ratu Adil, der gerechte Prinz der Jajabaja-Legende, rechtfertigte mit der heroischen Vergangenheit den Aufbau einer heroischen Gegenwart. Wenn Helden ein großes Reich errichteten, kam die Demokratie leicht zu kurz, das war bei Napoleon so, beim Einhodigen, beim Stählernen usw. Auch Väterchen Sukarno merkte 1150
bald, wie lästig ein Parlament sein konnte. 1959 löste er es auf. Er hatte etwas Besseres entdeckt als parlamentarische Demokratie: `geführte' Demokratie mit ihm als Führer. Wie Majapahit eine Mischreligion hatte, erfand auch er für sein Reich eine Mischideologie, Nasakom nannte er sie nach den Anfangssilben der bahasaindonesischen Wörter für Nationalismus, Religion und Kommunismus. Aber mehr als diese drei Ideologien war er nicht bereit, in seinen Kopf hineinzumischen. Für ein großes Empire waren die vielen bunten, ethnischen Farbflecke auf der Indonesienkarte ein Hindernis. Da erinnerte sich Sukarno an das Tuschemischen in seinem Farbkasten und begann mit einer brutalen Umsiedlungspolitik. Völkermischen hieß das neue Spielchen, es wurde mit der kindlichen Brutalität, die manchen Erwachsenen eigen ist, gespielt. Manche Farben bissen sich und manche ethnische Gruppierungen waren wie Wasser und Öl. Moslems aus Java, die auch in Irian Jaya, wie sie es gewohnt waren, in die Flüsse pißte und dort auch ihre Schamteile wuschen, wurde für diesen Frevel von den Papuanern getötet.1 Aber meistens ging das Morden in andere Richtung: Javanesische Polizisten und Soldaten mordeten störrische Eingeborene, die sich anders nicht zu ihrem Glück: ordentliche Landwirtschaft, Plantagenarbeit und Geldwirtschaft, zwingen ließen. Besonders gern brachte man auch die Medizinmänner der Einheimischen um, denn zum einen handelte es sich bei ihnen um besonders konservative Elemente der Naturvölkergesellschaft, zum anderen sollten die Einheimischen dazu gebracht werden, richtige Ärzte aufzusuchen, und es spielte dabei keine Rolle, daß die Kranken, wenn sie die Segnungen westlicher Medizin in Anspruch nehmen wollten, sich auf eine mehrtägige Reise machen mußten. Viele Angehörige kleiner Völker wurden auch auf Land und in Gebieten ausgesetzt, wo sie sich nicht oder nur knapp ernähren konnten.
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Norman Lewis, S. 42
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Der stählerne Russe hatte einmal eine ähnliche Umsiedlungspolitik betrieben. Und der Westen hatte es dankbar in seine antikommunistische Propaganda aufgenommen. Aber Indonesien war nicht kommunistisch. Unter dem zweiten Präsidenten des Landes, Suharto, ging man sogar noch einen Schritt weiter mit der Umsiedlung: Man siedelte die Umgesiedelten, nachdem sie das Land kultiviert hatten, wieder um, wieder ganz woanders hin, in eine neue Wildnis. Diesmal, weil die Regierung das Land an reiche Plantagenbesitzer verkauft hatte. Indonesien war also alles andere als ein kommunistisches Land.1 Zum zweiten Präsidenten kam es, weil der erste so ein gottverdammter Nationalist war und er einen von den USA unabhängigen Kurs zu steuern versuchte, was damals zur Zeit des Vietnam-Krieges nur als anti-amerikanisch interpretiert werden konnte. Suharto2 räumte dann auch gründlich auf mit dem Kommunismus. Der ersten Säuberungswelle 1965/66 fielen etwa eine Million Indonesier zum Opfer, 3 davon 100 000 Balinesen. Kommunisten, Atheisten und animistische Heiden (so was ähnliches wie Atheisten), wurden kurzerhand ermordet oder verschwanden in Vernichtungslagern, ebenso die unpolitischen Chinesen, die aber - wie deutsche Juden einst - meist reicher und aufgeklärter als die breite Masse der Bevölkerung gewesen waren. Man hatte sich zum Ziel gesetzt, jedes Mitglied der
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Norman Lewis erwähnt in seinem Buch (S. 43) zwei Aktionen, bei denen die Häuser von umzugsunwilligen Siedlern, die gerade erst unter großen Mühen erreicht hatten, daß das Land sie ernährte, abgebrannt wurden, einmal 476 Häuser und bei der zweiten Aktion sogar über 2000 Häuser. Der Vize-Gouverneur Sukki Hassan (Lampung Provinz) beantwortete die Frage, warum man die Häuser der Leute angesteckt habe? mit: “Weil es kosteneffektiv ist”. Die Regierung habe weder die Zeit noch das Personal die Häuser einzeln abzureißen. Wer von den Siedlern danach noch in dem Gebiet angetroffen wurde, riskierte ein Jahr Gefängnis. Die Regierung hatte also offensichtlich die Zeit und das Personal, die Leute in Gefängnissen zu bewachen. Und Gefängnisse hatte das Land auch allemal genug.
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Norman Lewis nennt ihn eine CIA-Marionette, S. 91.
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Der Umschlag von Norman Lewis' Buch nennt die Massaker Pol Pot ähnlich.
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PKI, der kommunistischen Partei Indonesiens umzubringen, beziehungsweise umbringen zu lassen; denn auf den Dörfern mußten die Dörfler ihre kommunistischen Mitdörfler im Beisein der Polizei und Soldaten selbst umbringen, und wer dabei versagte, der konnte sich gleich als entlarvter, kommunistischer Sympathisant zu den Opfern stellen. Angeblich sollte die Mitgliedschaft einiger einfältiger Dorfbewohner bei der PKI auf ein Mißverständnis beruht haben: Sie hatten gedacht, PKI stand für Partai Kristen Indonesia, wäre also ein christlicher Verein gewesen. 1 Leider war das ein tödlicher Irrtum gewesen.
Die Christen hatten sonst, also wenn sie nicht gerade Mitglied der Kommunistischen Partei waren, keine Verfolgung zu befürchten. Islam, Christentum, Judentum, Hinduismus und Buddhismus waren die großen, anerkannten Religionen. Auf den Dörfern brauchten Anhänger des Hinduismus und Buddhismus nicht einmal bei den Massakern an den Kommunisten mitzumachen, da es sich bei ihnen um traditionell friedliche Religionen handelte! Welch eine Rücksichtnahme auf die religiösen Gefühle der Gläubigen!
1 4 Norman
Lewis, S.91ff; auf S.94f wird eine Massenhinrichtung in einem Dorf beschrieben: Die Dorfbewohner mußten mit Knüppeln und landwirtschaftlichen Geräten ihre kommunistischen Mitbürger (oder wer auch immer dafür gehalten wurde, weil er weder zur Moschee, noch zur Kirche oder in den Tempel ging) totprügeln. Da es eine für Bauern sehr ungewohnte Tätigkeit war, gelang es nicht immer auf Anhieb. Mit Ausrufen wie: “Kämpft für euere Religion!” feuerten einige Soldaten die Dorfbewohner an. Einer der Männer wurde ohnmächtig - wohl vor Grauen. Zur Strafe erschlug ihn ein javanesischer Soldat. Einige der Alten schafften es trotz vieler Schläge nicht den ihnen zugeteilten Kommunisten totzuschlagen, die Javanesen halfen dann. Einer der Alten rührte nach dem Massaker nie wieder Essen an und hungerte sich zu Tode. S.95f, als nächstes litten die Dorfbewohner dann unter den Geistern der Toten, weil die Regierung die traditionellen Totenmessen Ngerupuk, Nyepi und Ogoh Ogoh verboten hatte; Folge: Depressionen, Gedächtnisschwund, Ängste, Potenzschwierigkeiten, sowie Verlust der Sprache. Einige Leute stürzten sich sogar verzweifelt in den nahen Vulkan Batur.
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Der Mensch verfügte aber über einen großen Bereich von Gefühlen, alle Menschen, auch der unreligiöse Mensch. Schmerz war eines der Gefühle. Angst war ein anderes der Gefühle, Angst vor Schmerzen und Tod. Und wie man mit seiner Angst umging, entschied oft, ob man ein Feigling war oder ein Held. Aus der Angst erwuchs meistens die Feigheit, selten Mut. Und die Leute ließen sich nicht nur von diesem Gefühl regieren, sondern auch regieren. Das Regierungsgeschäft mit der Angst, der Angstmacherei und dem blanken Terror funktionierte wunderbar, nicht nur für die Verbrecherclique an der Spitze des Staates, auch für die Religionen sprang 'ne Menge ab. Nicht nur Kommunisten, sondern auch viele primitiv-religiöse Heiden fanden ganz schnell in den Schoß einer ordentlichen Kirche oder auf den harten Boden einer Moschee, auf dem sie dann fünfmal am Tag knien durften, äh, mußten, damit Allah sie gnädig betrachtete. Religion hatte während der antikommunistischen Hatz plötzlich Hochkonjunktur bekommen. Die Missionare waren selig. Sie dankten Gott - und hoffentlich auch Suharto. Aber Religion war nicht gleich Religion, vielleicht für einen Atheisten, aber nicht für die Regierung. Indonesien war voll von Religionen, die meisten waren nicht gern gesehen, denn die Regierung wollte nur die ordentlichen, vernünftigen Großreligionen für ihr Pancasila, am liebsten den Islam. Leider war das Land voll mit Suku-Suku-Terasing, so nannte man auf der indonesischen Haupt- und Regierungssprache Bahasa die isolierten, `fremden' Völker, die es galt zu missionieren und zu Indonesiern zu machen. Diese Völker kannten viele skurrile Sitten und Tabus. Für das Dani-Volk in Irian Jaya war es, wie wir ja schon gehört hatten, Tabu, seine Notdurft in den Flüssen zu erledigen, wegen solcher Tabu-
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Übertretung hatten sie sogar schon zivilisierte, moslemische Beamte aus Jakarta getötet.1 Dasselbe Volk grüßte mit der Redewendung: Ich wertschätze deine Faeces,2 oder Fäkalien, oder welch immer höflichen Ausdruck man für die Ausscheidungen des Afters auf Abendländisch nehmen wollte. Außerdem säugten die Frauen dieses Volkes Ferkel mit der eigenen Brust;3 Ferkel, Schweine, das schmutzigste Tier, das sich ein Moslem vorstellen konnte. Aber die Moslems hatten Pech, katholische Missionare aus dem Franziskaner Orden hatten viele Dani-Dörfer schon zum Christentum bekehrt, und die neuen geistlichen Führer der Danis zeigten dabei soviel Toleranz, daß sie die Leute auch weiterhin mit Penis-Hüllen herumlaufen ließen, ihnen die Vielweiberei erlaubten und dem Medizinmann mit Respekt begegneten. “Der kommt nachher schon von selbst in die Kirche, wenn sein ganzes Volk bei uns ist.” Tatsächlich saß das Volk gerne in der Kirche, erstens, weil in den Dörfern sonst nichts los war, sie nichts boten, was Unterhaltung betraf, so daß die Leute einen gestikulierenden Priester durchaus interessant fanden, und zweitens glaubten die Leute an einen segnenden Einfluß der Kirchenstühle auf den Hintern des Sitzenden und seinen ganzen Körper. 4 Obwohl die Danis getauft und damit für Jesus gewonnen waren, befolgten sie auch weiterhin ihre heidnischen Bräuche, wie die Initiation der jungen Männer anläßlich des großen Schweinefestes, Schweine-Braten-Festes. Da wurden die jungen Männer, die Initianten, in ein Feuer geworfen. 5 “Ich sage Euch, es wird einer kommen, der wird mit Feuer taufen”, diese Aussage entsprach also der persönlichen
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Norman Lewis, S. 42 u. 216
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Norman Lewis, S. 199
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Norman Lewis, S.204
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Norman Lewis, S.217
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Norman Lewis, S.198
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Erfahrung eines Dani-Mannes. Die segnende Wirkung des Feuers auf den Hintern der jungen Leute war nicht sehr groß, denn die hatten nichts Eiligeres zu tun, als schnell wieder aus dem Feuer herauszuspringen. Fundamentalistischen Christen aus dem WASpenland waren solche heidnischen Bräuche ein Dorn im Auge und sie organisierten eine Neuevangelisierung oder Verbesser-Evangelisierung. Ganz amerikanisch traten diese Evangelisten auf, und mit ihren schnell zusammengelernten Sprachkenntnissen wußten sie den Einheimischen zu drohen: “Du nehmen Jesus oder du brennen in große Feuer von Gott.”1 Gleichzeitig bestachen sie die Bevölkerung mit amerikanischen Konsumgütern, besonders mit T-Shirts mit Micky Mouse und anderen Disney-Viechern drauf. 2 Die Leute mußten sich ja schließlich mal
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Norman Lewis, S.175
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Ein Einheimischer beschrieb Norman Lewis eine solche Bestechung mit Geschenken (S.212f). Nachdem der Missionar mit seinem Hubschrauber wieder weggeflogen war, interpretierten die Dorfbewohner dann die Gaben als einen Erfolg ihrer eigenen, heidnischen Zeremonien bei den Göttern. Leider klärte sich bei späteren (viel späteren) Besuchen dieser Irrtum auf, und die Danis lernten, daß es sich bei den Missionaren nicht um die Götter selbst handelte, sondern um Götterboten, viel mehr um die Boten eines einzigen Gottes aus der Götterwelt, der die anderen Götter alle geschlagen und ihrer Titel beraubt hatte. Selbst die Moslems mit ihrem absoluten Abgott Allah, wer immer das sein mochte, waren, wie die Missionare aus dem WASPenland nicht müde wurden zu betonen, zur ewigen Verdammnis im höllischen Inferno verdammt. Und Hubschrauber der Firma Sikorsky verschafften ihnen mit ihrem Aufstieg gen Himmel die nötige Autorität, später, als man schon die heidnischen Fetische und Gotteshäuser zerstört hatte und die Einheimischen davon überzeugt hatte, daß es Gotteswille sei, daß sie Landebahnen bauten, verrichteten dann billigeren Sportmaschinen der Marke Helios Courier das Werk Jesu Christi. daß Helios ein heidnischer Sonnengott war, der sich da auf der von ihnen geschaffenen Lichtung mit so gewaltigen Flügeln in die Lüfte schwang, verschwieg man den Danis. Man wollte sie wohl nicht verwirren, sonst glaubten sie am Ende noch gar nichts mehr.
Norman Lewis erlebte auch einen Gottesdienst, den ein bekehrter Papuaner in seinem Dorf zelebrierte. Die komplizierten - und ja wirklich unverständlichen - Glaubensinhalte, wie die Dreiteilung, Entschuldigung, Dreieinigkeit und die Fleischwerdung und Erbsünde und so weiter, hatte er erfolgreich auf eine magische Formel gebracht: “Matthäus, Markus, Lukas, Johannes”. Er trompetete die vier Namen der Evangelisten durch die Nase und die Kongregation wiederholte im sonorischen Singsang. Norman Lewis erinnerte sich dabei an
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ordentlich anziehen. Die T-Shirts paßten sehr gut zu den Penis-Pfeifen der Papuas. Unterhosen paßten da schon schlechter. Das zweite Gleis, das zu westlicher, christlicher Zivilisation führen solle, war die Verlockung des Geldes, die Einführung der Geldwirtschaft und die verlockenden Dinge, die man mit Geld kaufen konnte. Es war eine papuanische Sitte, alles mit allen zu teilen, die Missionare aber lehrten den Leuten, Schätze zu sammeln - auf Erden, für größere Anschaffungen - im Himmel beim himmlischen Vater für später, für die Zeit nach dem Tod. Und wenn die Einheimischen dann irgendwann einmal so richtig gelernt hatten, auf den eigenen Vorteil zu achten und egoistisch zu sein und das Teilen und Abgeben bei ihnen nicht mehr natürlich kam, dann wollte man ihnen die große christliche Überwindung lehren, dem Ärmeren, weniger als man selbst gesegneten Mitmenschen Almosen zu geben. Doch bis dahin war es noch ein langer Weg. Aber noch war das ein langer Weg. Einst war Gastfreundschaft, die Begeisterung, Gäste zu haben, so groß oder so schlimm, daß der Expeditionsführer Archbold, als er 1938 als einer der ersten in dieses Steinzeitgebiet kam, zwei Danis erschießen lassen mußte, um endlich der Last, bewirtet zu werden, zu entkommen. 1 Ein bißchen Mißtrauen und Zurückhaltung gegenüber Fremden hatten die Danis zwar dann schnell gelernt, aber im Verkehr untereinander blieben ihnen westliche Lebenseinstellungen auch weiterhin fremd.
das Bekehrungswerk eines Missionars im venezuelanischen Urwald, den er mal beobachtet hatte. Der hatte den Indios gesagt, niederzuknien und jedes Mal, wenn sie das Wort Jesus hörten, mit dem Kopf auf den Erdboden zu hauen, was den Indios sogar Spaß gemacht hatte, obwohl keiner von ihnen eine Ahnung hatte, wofür die Übung gut sein sollte. Nur eins war sicher, sie vertrieb die Langeweile. 1
Norman Lewis, S. 177
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Selbst der Häuptling, der als der reichste Mann im Dorfe galt, da er die größte Anzahl von Schweinen aufzog, hatte nichts von seinem Reichtum, da er seine Schweine nicht allein verspeiste, sondern mit allen teilte. Und wenn er einmal starb, dann erbte sein Sohn weder seine Schweine noch seinen anderen Besitz, sondern alles wurde an alle Klan-Mitglieder verteilt und der eigene Sohn stand so mittellos da, wie jeder andere auch, und mußte mit der Schweinezüchterei von vorn anfangen. 1 Eines der großen Vorteile, Klan-Führer zu sein oder ein großer Krieger, was für die Danis bedeutete, etwa ein Meter sechzig groß zu sein und zwei Hände voll Gegner umgebracht zu haben, also daß an jedem einzelnen Finger gewissermaßen Blut klebte, oder sonst wie zu den einflußreichen Leuten des Klans zu gehören, war, daß man den Status Kain-Koks erhielt und als solcher nach dem Tode nicht einfach verbrannt wurde, sondern monatelang über einem langsam vor sich hin kokelnden oder koksenden Feuer geräuchert wurde, danach hing man dann ewiglich vom Giebel des Longhouses und warf einen segnenden Blick auf die Klans-Gemeinde; das hieß, man hing da, bis indonesische Beamte kamen, und einen herunterrissen, in Stücke hackten und in die Flüsse warfen oder ins Feuer, um der barbarischen Sitte endlich ein Ende zu bereiten. 2 Eine andere, barbarische Sitte der Danis war das übertriebene Trauern um die Toten. Die Trauer war so groß, daß man sein eigenes Wohlbefinden vergaß und in der Verzweiflung der Trauer, oder weil es von einem erwartet wurde, sich selbst verstümmelte. Für jeden Trauerfall eine oder mehrere kleine Amputationen, zwei Finger, ein Ohr, die Nase vielleicht. Besonders von Frauen wurden solche Entstellungen erwartet. Und manch eine Frau konnte auf ihre fehlenden Finger zeigen und dazu Geschichten wie diese erzählten: Die vier verlor ich, als mein Großvater mütterlicherseits starb. Der war ein
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Norman Lewis, S. 197
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guter Mann gewesen. Und ich habe ihn sehr geliebt und er mich auch. So habe ich vier Finger für ihn gegeben. Als mein Vater starb, durfte ich dann nur noch zwei Finger geben, die, die hier fehlen, da man nicht mehr als sechs Finger geben darf. Das eine Ohr habe ich mir mit dem Bambusmesser abgeschnitten, als meine Großmutter starb. Das andere Ohr habe ich abgeschnitten, als man mir mein Lieblingsschwein gestohlen hatte. Es war ein gutes Schwein gewesen, das ich sehr geliebt hatte. Deshalb habe ich mir auch das Ohr abgeschnitten. 1 Die Zentralregierung in Jakarta fand Amputationen als Ausdruck der Trauer zu inhuman und erließ einen humanen Erlaß, der solche Amputationen bei Strafe verbot. Aus Angst vor der Strafe in den Gefängnissen der Zivilisierten unterließen tatsächlich viele die Amputationen. Einige, besonders Witwen, waren allerdings manchmal so verzweifelt, weil sie nicht wußten, wie sie ihre Trauer ausdrücken sollten, daß sie sich in Schluchten zu Tode stürzten. 2 Zu den barbarischen Sitten der Danis gehörten auch noch die Stammesfehden, angeblich, um dem Bevölkerungswachstum3, den es trotz freiwilliger Zwei-Kinder-pro-Haushalt-Politik leider immer noch gab, Einhalt zu gebieten, und das Verzehren der getöteten Gegner, wahrscheinlich, um den Proteinhaushalt aufzubessern. Aber auch hier schob die Zentralregierung einen Riegel vor gute, alte Stammes-Sitte, übrigens eine Regierung, die mit ihrer eigenen Bevölkerungspolitik überhaupt keine Erfolge erzielte: In den zivilisierten Städten vermehrte man sich nach wie vor wie die Karnickel. Die Danis waren zwar Menschenfresser, aber sie waren auch zart besaitet. Das Geschrei von Hühner vor der Schlachtung zerriß ihnen so das Herz, daß sie den Hühnern vor der Schlachtung zuerst mit bloßer
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Norman Lewis, S. 207
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Hand - die Danis hatten und benutzten kaum Werkzeuge - die Stimmbänder herausrissen. 1 Ein noch extremeres Verhältnis zu Hühnern hatten die Anhänger der Tetum-Religion auf Timor. Für sie waren die Hühner und auch deren Eier Leluc. Und Leluc war ein heiliges Tabu, das auf gar keinen Fall gebrochen werden durfte. Und ein überzeugt altgläubiger Timorese hätte lieber seine Kinder verhungern lassen, als einer Henne das Ei weggenommen. 2 Und obwohl Ost-Timor unter den Portugiesen mit dem Katholizismus geimpft worden war, erhielten sich auch die sinnlosen Tabus der Vorzeit. Als 1989 der Papst Ost-Timor besuchte, verzichtete er zwar auf sein sonst so obligatorisches Küssen des Erdbodens, verspeiste aber ganz normal sein Frühstücksei. Seine Predigt wollte er unbedingt auf Latein halten, das bloß zwei oder drei Beamte aus seinem Hofstaat verstanden hätten. Schließlich gab er nach und las eine Übersetzung ins Englische vor, was wohl ein Prozent seiner Zuhörer verstand; Portugiesisch, das hier jeder verstand, war Tabu. Warum war Portugiesisch Tabu? Nicht, daß die Zunge des Papstes keine portugiesischen Laute formen konnte; daß sie es konnte, hatte sie schon auf Südamerikareisen bewiesen, Portugiesisch war Tabu, weil es die Sprache des Protestes gegen die indonesische Besatzung war, und es war nicht nur Tabu für den Papst, sondern für jedermann in Ost-Timor. Der Papst wäre noch der einzige Jemand gewesen, der das Tabu ohne all zu große Nachteile hätte brechen können. Doch der Papst wußte, was globalpolitische Klugheit war. Die Fretilin, die Frente Revolutionaria de Timor L'Este, hatte einst gegen die portugiesischen Kolonialherren gekämpft. Doch als die Portugiesen abgezogen waren, kamen die Indonesier und eroberten das
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Land, um noch mehr bunte Tupfer und Suku-Suku-Terasing in ihrem Pancasila zu haben. Und seitdem waren die Portugiesen gern gesehen und der Gebrauch ihrer Sprache ein Trotz gegen das verordnete Pancasilallen. Die Invasion Ost-Timors durch die rechte Regierungsclique Suhartos hatte die volle Unterstützung der rechten Regierungsclique der WASPen. Präsident Ford und Henry Kissinger gaben Suharto bei ihrem Besuch den großen Augenwink: Geh' nur und bring die Kommis von Fretilin um. Für die WASPen-Clique war die Eroberung Ost-Timors ein Erfolg der Freien Welt gegen den Kommunismus und eine kleine Rache für die Niederlage, die ihnen in Vietnam bereitet worden war. Sie lieferten 90% der benutzten Waffen. Die Briten lieferten den Rest, besonders den British Aerospace Hawk1, einen Habicht, der sich besonders gegen Bodentruppen eignete, in diesem Fall gegen Dörfer, in denen man Widerstandskämpfer vermutete. Den Rest der Vernichtung erledigten die Indonesier zu Fuß. Operasi nagar bati, der Zaun der Beine. 80 000 Fußsoldaten wurden eingezogen, um das Rückzugsgebiet der Bevölkerung um den Mount Matebian2, dem Seelenberg von Tetum, zu räumen, von lebenden Teilen der Bevölkerung zu räumen. Eine Treibjagd größten Stils. Die Siegermächte teilten sich die Profite aus den Ölfeldern des umgebenden Festlandsockels. Die WASPen erhielten Passage-Rechte für ihre SSBN-Atom-U-Boote durch die Lombok-See und die OmbaiWetar-Straße.3 Der Kommunismus wurde in Schach gehalten, weiter als bis Vietnam würde er nicht kommen. Adjuna selbst hatte viele Schwierigkeiten in Pancasila. Obwohl er Pancasilallen konnte, und es mit den Beamten des Staates auch tat, hörte sich bei ihm Spaten noch immer wie Spaten an, und Verbrechen,
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Norman Lewis, S.112 für mehr Details
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Norman Lewis, S.114
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Staatsverbrechen, nannte er auch im Pancasilallischen ein Verbrechen, so daß es schon eigentlich kein Pancasilallisch mehr war, aber doch noch irgendwie verständlich. Als er seine Unverschämtheiten dann auch noch auf Portugiesisch wiederholte, wollten ihn Staatsdiener nach Baucau,1 einem Folter- und Vernichtungszentrum, verschicken, damit er seine Ausbildung abschließen konnte. Der makabere Scherz: “Er ist nach Baucau, um seine Ausbildung abzuschließen,” war damals die Standard-Antwort, die Angehörige erhielten, wenn sie sich nach einem Vermißten erkundigten. Adjuna entschied sich kurz entschlossen, alle Mordhelfer des Hafenstädtchens hinzurichten. Ach, ginge es doch immer so leicht. Die Welt wäre ein besserer Platz zum Leben und auch nicht so übervölkert! Aber statt jetzt weiter im Ort zu bleiben, fuhr Adjuna in einen anderen Hafen und geriet in neue Schwierigkeiten. Wahrscheinlich stand ihm seine Tat zu deutlich im Gesicht geschrieben, daß man ihn diesmal verdächtigte, ein Abgesandter der UN-Menschenrechtskommission zu sein und Menschenrechtsverletzungen auf der Spur zu sein. 2 Besonders nervös wurden die Handlanger des Staates, als sie ihn mit seinem entspannten Bogen herumspazieren sahen. Da sie, bevor sie sich dem Staat angedient hatten, noch ein Naturvölkerdasein geführt hatten, war für sie ein Spaten noch keine Selbstverständlichkeit. Das hieß, eigentlich war ein Spaten für sie weniger selbstverständlich als ein Grabstock. Und für eben das, für einen Grabstock, hielten sie das lange Stück Holz in Adjunas Hand. Nun war ein Grabstock an sich nichts Schlimmes - hieß doch die moderne Forderung “Machet Kanonen zu Pflugscharen!” ursprünglich “Machet aus Flitzbögen Grabstöcker!” -, wenn da nicht dieses
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Mehr als zehnmal verdammte die UN-Vollversammlung die Aggression Indonesiens gegen OstTimor, aber im Gegensatz zur irakischen Invasion in Kuwait, die die Bohrrechte von George Bush und seiner Ölmillionärsclique gefährdete, geschah außer beschriebenem Papier nie etwas.
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unbegründete Gerücht gewesen wäre, von Massenhinrichtungen und Massengräbern. Diese Tatsache war unbegründeterweise ein Gerücht. Das wußten die Staatsdiener, die trotz ihres naturkundlichen Ursprungs über aktenkundige Intelligenz verfügten. Sie legten Adjuna alle erdenklichen Knüppel in den Weg, war es nun auf seinen Spaziergängen oder bei der Hafenbenutzung, obwohl er gar nicht die Absicht hatte, Leichen auszugraben. Schließlich verließ Adjuna angewidert den Ort. Im nächsten Ort erging es ihm kaum besser. Diesmal fiel einem Beamten auf, daß das Deckshaus seines Schiffes länglich war, genauer gesagt, länglicher Form war, wie es aktenkundlich gemacht wurde. Die längliche Form entsprach der länglichen Form der sogenannten Long Houses der Eingeborenen. Diese Long Houses förderten - wie ein Regierungserlaß wußte - die Unzucht und waren deshalb zu verbieten, beziehungsweise, zu zerstören. Nur als Touristenattraktion durften einige erhalten bleiben, aber sie durften nicht bewohnt werden. Als die Beamten nun mit ihrem Erlaß ankamen, `Vorschrift war schließlich Vorschrift', und den Abriß des `Long Houses' forderten, hielt Adjuna ihnen vor, daß doch gar keine Frauen an Bord waren, mit denen man Unzucht treiben könne, das hätten sie doch wissen müssen, Frauen an Bord waren schließlich Tabu1. Aber die Beamten hielten nicht viel von der einheimischen Sitten, dagegen war ihr Vertrauen in die Regierung unermeßlich: Wenn der Staat von Unzucht sprach, dann mußte es Unzucht geben. - Und die Empörung dieser Emporkömmlinge steigerte sich ins Unermeßliche. Für Homosexuelle hatte man wie für Heiden, Kommunisten und Naturvölker keinen Platz in Pancasila. Und so wurden Adjuna und seine Leute als unerwünschte Homos vertrieben von diesem Orte, obwohl sie eigentlich die einheimischen Huren hatten aufsuchen wollen.
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S. 48, Tabu bei den Acehnesischen Fischern an der Teungoh-Küste in Sumatra. Daß eine Frau ein Fischerboot betrat, war ein Scheidungsgrund.
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Der nächste Ort war die Matschinsel Siberut. Die Urbevölkerung des Ortes, die Sakkudai, hatte entenähnliche Spreizfüße und sackte so nicht im Matsch ein. Die Javanesen, die gekommen waren, um den Ort zu zivilisieren, hatten keine solche Füße, sondern steckten in spitzen Lackschuhen, und bauten daher asphaltierte Straßen. Die Sakkudais waren Heiden. Ihr Leben wurde von Geistern und von Tabus bestimmt. Jedes Gemeinwesen hatte einen Dukun, einen Schamanen, der die nötigen Rituale durchführte, bevor ein Baum gefällt, oder ein Affe geschlachtet werden durfte, außerdem trieb er wie einst Jesus Christus böse Geister aus. Die zivilisierten Javanesen versuchten nun ihrerseits den Sakkudais ihren Aberglauben auszutreiben. Als erstes nahm man die Dukuns fest, wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses. Sie hatten sehr lange Haare. Länger als es schicklich war. Bis zum Hintern, bis zum Boden oder sogar noch länger. Und wer sich nicht zu tarnen wußte, was gar nicht so leicht war, denn das große Haarknäuel paßte unter keinen Hut, der saß bald im Gefängnis. Die beste Tarnung war noch ein kurzer Fassonschnitt und adrette Kleidung. So mit kurzen Haaren und einem Anzug von der Stange verloren sie dann auch bald wie einst Samson ihre Kraft. Und die Pharisäer hatten gesiegt. Nun trug auch Adjuna langes Haar. Wenn es auch nicht auf dem Boden schleifte, sondern sich auf seinem Kopf hoch auftürmte, so war er doch für die javanesischen Zivilisierer, da die nicht groß differenzierten, wenn jemand anders war als sie, ein Dukun, ein dämlicher Schamane, also ein Suku-Suku-Terasing-Therapeut. Er gehörte zum Friseur und ins Gefängnis, und es traf sich so gut, daß es im Gefängnis einen Friseur gab. Die verbeamteten Zivilisieren waren auch hier dämlich und verkommen genug, zu glauben, daß ihre Uniform ihnen Allmacht verlieh und Unverwundbarkeit. Leider ein Irrtum. Als Adjuna sie 1164
ignorierte, wollten sie auf ihn schießen. Aber es war er, der Halbnackte, der ein negatives Energiefeld um sich erzeugte, das die Kugeln abprallen und zurückfliegen ließ. Auf die so waidwund geschossenen Warzenschweine des Staates drosch Adjuna dann mit der gelösten Saite seines Gandiva-Bogens ein und bewies so die Vielseitigkeit dieser Waffe. Er peitschte die staatlichen Piesacker, bis ihre Uniformen Fetzen waren. Seuchenbekämpfung à la Supermanns Art. Diese Inselwelt, die traditionell so bunt war wie ein Batikstoff, `batik' hieß auf Bahasa gesprenkelt, also nicht einfarbig, eintönig und uniform, die die weißen Teufel und die gelben Affen überstanden hatte, und die jetzt in eine graue Uniform gestopft wurde, Adjuna ließ auch sie hinter sich und fuhr weiter zu jenem großen, südlichen Kontinent, auf dem die Zeit stehengeblieben war, stehengeblieben bei den weißen Teufeln, der Herrschaft der weißen Teufel. Wie in Amerika, als es von Katholiken und WASPen heimgesucht wurde, so waren auch hier die weißen Heimsucher erfolgreicher als die schlimmsten Seuchen: Hunderte von Völkern mit eigener Sprache, Religion und Tradition wurden ganz und gar ausgemerzt. Was tat man doch einem Stümper wie dem Einhodigen für eine Ehre, wenn man ihn als die Verkörperung des Bösen verteufelte, wo er doch nicht einmal das eine Volk, das er sich vorgenommen hatte, auszurotten, erfolgreich vernichtete! Wie viele namenlose Helden gab es da in der weißen Herrenteufelrasse, die keiner oder kaum einer kannte und die höchstens von den eigenen Nachkommen ein klein wenig als Pioniere geehrt wurden! Wer kannte schon die Namen von jenen Helden, Viehzüchter, Siedler, Kolonialisten, Glückssucher und Unglücksschaffer, die der einheimischen Bevölkerung Mehl mit untergemischtem Arsen oder vergiftetes Schaffleisch schenkten oder sie mit falschen Versprechen in
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Rinder-Korrale lockten, um sie besser Abknallen zu können, oder die ganz einfach hoch zu Roß Treibjagd auf die Aborigines machten?1 Waren sie kleine oder große Hitlers? Sie ließen jedenfalls meist keine Reste übrig. Und wo es Reste gab, gab es für die Reste aber bei weitem kein gelobtes Land mehr. Knastlöcher, Slums, Puffs und den Suff, das schon. Wenn es hoch kam, auch mal ein Reservat, aber kein Gelobtes Land. Das Gelobte Land war einmal. Die Uraustralier oder Australiden, wie sie auch von Anthropologen genannt wurden, hatten das Land wohl im Gegensatz zu den Weißen einst zu Fuß erreicht, als große Wassermengen als Eis gebannt auf den nördlichen und südlichen Festländern der Erbe lagen. Die ersten waren wohl schon 150 000 Jahre vor den Weißen angekommen. 40 000 Jahre vor Ankunft der Weißen war das ganze Land einschließlich Tasmaniens von ihnen bewohnt; in Besitz genommen, konnte man nicht sagen, da ihnen Besitz etwas Fremdes war. Sie, die Ureinwohner, hatten auch keine gemeinsame Identität, etwa wie die Inuits, sondern als Captain Cook 1770 den Kontinent entdeckte, lebten laut Lehren der Anthropologen etwa 300 000 Aborigines auf dem Kontinent, und zwar in Horden und Stammesverbänden mit eigenen Lehrmeinungen und religiösen Vorstellungen und eigener Sprache. Etwa 500 solcher Gruppen sollte es gegeben haben. Sprachtypologen hatten diese Sprachen dann noch einmal in 31 Sprachfamilien zusammengefaßt; und wie zur germanischen Sprachfamilie das Norwegische, Schwedische, Dänische, Deutsche, das Englische, Friesische und Färöische, sowie das Nord-, West-, Ostgermanische und das Gotische gehörte, so gehörte z. B. der
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vgl. z. B. “Australian Dreaming - 40,000 Years of Aboriginal History”, herausgegeben von Jennifer Isaacs, Lansdowne Press Sydney, S. 285ff. Zusatzinformation: Seit 1967 haben die Aboriginies volle Bürgerrechte und können damit auch an den Wahlen in ihrem Heimatland teilnehmen.
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nordaustralischen Sprachfamilie das Mudbura, Chingali, Aranda etc. an.
Wakakabi,
das
Wulamba,
Wahrscheinlich gab es also damals 500 verschiedene Ausdrücke für Mensch auf dem Kontinent, und wenn der eine Mensch zum Menschen einer anderen Horde `Mensch' sagte, dann verstand der eine Mensch den anderen Menschen nicht und der angesprochene Mensch dachte dann wohl: `Mensch, was will der Mensch bloß von mir?' Alle Menschen das Kontinents hatten aber auch Gemeinsamkeiten gehabt. Gemeinsam war ihnen z. B. die Nacktheit gewesen. Nicht einmal über den Schaft ihres Penis trugen die Männer einen hohlen Pflanzenhalm und selbst im kalten Süden und im Inneren des Landes, wo es sogar im Sommer nachts frieren konnte, war man splitternackt. Schutz fand man höchstens in Höhlen und hohlen Baumstämmen - und am Lagerfeuer. Allen war auch gemeinsam, daß sie im Feuer einen großen Segen sahen. Ihre Legenden waren voll von Beschreibungen des elenden Zustandes, als man noch kein Feuer hatte und alles roh essen mußte und nachts im Dunklen und Kalten saß, und dem Ahnen, der endlich den zündenden Gedanken hatte, war man ewig dankbar. Mit Feuer konnte man Einfluß auf seine Umgebung nehmen. Zum Beispiel konnte man das ganze Land abbrennen und dann die verbrannten Tiere einsammeln und aufessen, und das neu entstehende Grün war frisches Grün und ernährte einen Menschen viel besser, und besser schmecken tat es auch, und das frische Grün ernährte auch viel mehr Pflanzenfresser, als das alte Gestrüpp es vorher getan hatte. Feuer und Verbrennen, das bedeutete Leben. Feuer war ein Merkmal des Lebens, ein Stück Lebensgut. Feuer machte das Leben schön und lebenswert. Die Toten, die hatten kein Feuer. Kein Feuer, kein Leben, keine Farbe, sie waren blaß. Im Westen Australiens wußten die Legendenerzähler noch zu erzählen, wie ihre Ahnen die ersten Weißen an den Strand kommen sahen, wahrscheinlich Holländer, die nach der Umsegelung vom Kap der guten Hoffnung nicht rechtzeitig die Linkskurve in den Norden 1167
gekratzt hatten. Sie waren alle blaß. Und einige Männer des Stammes riefen: “Laßt uns die weißen Agula (Teufel) töten und sehen, ob sie Blut in sich haben, Leben.” So geschahen die ersten Morde aus reiner Neugier auf der Suche nach Leben. Die Geschichtenerzähler wußten zu berichten, daß ihre Vorfahren tatsächlich erfolgreich einige Weiße töteten. Aber trotz der Erleichterung, daß die blassen Invasoren sterbliche, und damit zu tötende Lebewesen waren, wurde man ihrer irgendwann einmal nicht mehr habhaft, und das Land wurde besetzt und die Traumzeit endete für immer. Und das war das andere gewesen, das allen gemeinsam gewesen war, daß sie träumten, daß sie geträumt hatten und mit ihren Träumen ihre Umgebung erklärt hatten. Die Evolutionstheorie hatten sie so auf den Kopf gestellt. Ihre Ahnen hatten nämlich geträumt, daß der Mensch das ursprünglichste Lebewesen sei, und daß dann hier und da bei besonderen Gelegenheiten sich Menschengruppen oder einzelne Ahnen in Tiere verwandelt hätten. Wie anderen Religionen auch war ihnen der Triumph, daß ihre religiösen Thesen und Fantasien von der Wissenschaft und harten Wirklichkeit bestätigt wurden, versagt geblieben. Aber sie hatten auch immer alle ihre Legenden, die von den Ahnen, Göttern und Giganten handelten, als Ereignisse aus der Traumzeit abgetan, da waren sie ganz ehrlich gewesen, das waren Träume, nicht wirklich handfestes Wissen. Und diese Vorstellung von der Traumzeit war über alle australischen Sprachfamilien verbreitet gewesen, wie das Christentum über hamitosemitische, kaukasische, uralische, altaische, germanische und romanische Sprachfamilien ausgebreitet gewesen war. Auch Adjuna meinte: “Die heiligen Legenden kamen alle aus der Traumzeit?... Die gaben wenigstens zu, daß sie träumten, während wir bei anderen Religionen meist den Anspruch finden, daß man ihre Träumereien als bare Münze nehmen solle.” Obwohl der australische Kontinent so groß war, war er lange Zeit den europäischen Augen verborgen geblieben. Zwar hatte man schon lange von einem großen, südlichen Land, Terra Australia Incognita, 1168
gemunkelt; Inder, Araber, Chinesen hatten alle davon erzählt, aber die genaue Lage nicht verraten. Schon 1606 war Pedro Fernandez de Quiros vom spanischen Hafen Callao in Peru Richtung Westen gesegelt, getrieben von Visionen, einen großen Kontinent zum wahren Glauben zu bekehren, bevor die Protestanten oder Mohammedaner es täten. Er stieß auch tatsächlich irgendwo auf Land. Ein Wunder eigentlich, daß er die kleinen Inselchen nicht verfehlte. Für Wunder war damals der Alte im Himmel noch alleinmächtig zuständig - erst später sollte eine Ära kommen, in der Atheisten Zufälle gelten ließen. Auf jeden Fall freute sich der fromme Quiros über die Neuen hebriden, die ihm der Herr in den Seeweg gestellt hatte, und er dankte dem Heiligen Geist - warum nicht auch dem Vater und dem Sohn wurde nicht überliefert -, und benannte das neue Land nach seinem Herrn, König Philip III von Austria (=Österreich), und dem Heiligen Geist `Austrialia del Espiritu Santo'. Der Name paßte gut, da sich der Name Austria für Österreich von dem lateinischen Wort `auster' Südwind, Süden, herleitete, wohl wegen der südlichen Lage Österreichs. Die größte Neu-Hebriden-Insel behielt den Namen Espiritu Santo und ihre Bewohner lernten den heiligen Geist und die anderen zwei Drittel der Gottheit auf Umwegen über den römischen Papst zu verehren. Australia aber wurde der Name des Kontinents, den Captain Cook mit seiner Endeavour entdeckte. Endeavour, das hieß Anstrengung, Bemühen, und Anstrengen und Bemühen war das Motto, das James Cook sein ganzes Leben lang befolgt hatte. Fähigkeiten, Können hatten diesen Sohn eines Landarbeiters zum Lieutenant der Royal Navy gemacht, nicht blaues Blut wie bei dem blinden Sucher de Quiros. Was James Cook auszeichnete, waren wissenschaftliches Denken und eine aufgeklärte, liberale und egalitäre Gesinnung. Jeder bekam bei ihm an Bord die gleiche Ration, egal ob dick oder dünn, Kapitän oder Matrose. Und er hatte Prinzipien, aber nicht die Prinzipien von Prinzipienreitern, 1169
sondern faire und vernünftige Grundsätze. Einer seiner Grundsätze war keine Pfaffen und Missionare mit an Bord zu nehmen. hätten alle Kapitäne solche Grundsätze gehabt, dann wäre das Christentum ein lokales Ereignis geblieben. Ein anderer seiner Grundsätze war, niemals jemanden von hinten zu erstechen. Es war für ihn so selbstverständlich, daß man so etwas nicht tat, daß er dachte, auch andere würden so etwas nicht tun. `Mache nie Deine eigenen Grundsätze, zu den Grundsätzen anderer Leute!' Als er erregten Eingeborenen auf Hawaii den Rücken zudrehte, erstachen sie ihn. Das war neun Jahre nach seiner Entdeckung von Australia. Da war er 50 Jahre alt. Aber die Aborigines hatten nicht die Jahre vor James Cook in `splendid isolation' gelebt, sondern ihre Legenden waren voll von Besuchern, die kamen, dies und das taten und wieder verschwanden. Doch diese Besucher waren nicht so blaß, daß man sie erst töten mußte, um zu sehen, ob sie Leben in sich hätten. Ein Besuchervolk, das kam und in den Legenden immer wieder auftauchte, waren die Baiini. Sie siedelten eine Zeit lang im WarramiriLand und im Gumaidj-Land. Sie baute Reis an, webten Stoffe und trugen bunte Sarongs. Zum Bedauern der Aborigines verrieten sie nie die Magie des Kleidermachens, auch den Reisanbau lehrten sie den Australiern nicht. Aber die Australier aßen trotzdem, nachdem die Fremden wegwaren, was auf deren Feldern wuchs, auch wenn es nur Gras war. Es schmeckte irgendwie kultivierter. Besonders hatten die Frauen der Baiini es den Einheimischen angetan. Wenn sie ihre eigenen Töchter Karambal nannten, so drückten sie damit den Wunsch aus, daß sie als Frau einmal so schönärschig werden wie eine Baiini-Frau. Die nächsten Besucher waren die Macassaner. Ihre Besuche waren nicht nur Legende, sondern historisch belegt. Sie kamen aus der Stadt Macassar auf Celebes und tauchten vor der australischen Küste nach 1170
Trepang, einer Art Seegurke. Auch sie waren nicht zu blaß, daß sie wie Unmenschen aussahen, sondern nur ein wenig hübscher als die Aborigines, so daß diese sie zuerst für die zurückgekehrten Baiini hielten. Die Macassaner belohnten die Einheimischen, wenn sie ihnen beim Sammeln von Trepang halfen. So entstand Handel. Der Trepang war eine leckere Zutat für chinesische Süppchen. Und es schien, daß die Chinesen nicht immer der macassanischen Zwischenhändler, die die Preise unnötig in die Höhe trieben, bedurft hatten, sondern auch selbst mal gekommen waren, denn es wurde einmal in großer Tiefe unter den Wurzeln eines alten Banyan-Baumes in Darwin eine Statue aus der Ming-Dynastie gefunden. Es war die Statue des Gottes Shou Lao. Shou Lao war für Langes Leben zuständig. Wer lange leben wollte, mußte ihm opfern und Ehre erweisen. Auch Adjuna wollte lange leben, aber er glaubte nicht, daß es Sinne hatte, eine Statue anzubeten oder den Gott, der wie dieses Menschenwerk aussah. Er wollte wissenschaftlich vorgehen. Dafür brauchte er ein Labor. Es sollte an einem geheimen Ort entstehen, damit nicht Feinde die Früchte seiner Forschung stehlen konnten. Die Einrichtung seines Labors wollte er mit seinen Getreuen zusammenrauben, wie sie es in all den Jahren als Piraten mit allem, was sie gebraucht hatten, getan hatten. Und während seine Flotte im Willi-Willi wie ein Wumera zurücktrieb, statt durch die Torres-Straße zu fahren, entschied Adjuna: “Wir überfallen nicht eine der großen Städte der Ostküste, sondern die kleine Stadt Darwin. Der Name der Stadt reizt mich. Nicht nur will ich zeigen, daß ich der stärkere bin, ich will auch mit dem Labor, das ich errichten will, die Evolution ein Stück voranbringen. So wollen wir die Einrichtung für unser Labor aus dieser Stadt holen, die sich nach dem Begründer der Evolutionstheorie benannt hat.” So segelten sie an dem Arnhem-Land entlang um die Melville-Insel in die Timor-See und schließlich in den Hafen von Darwin. Auf dem Weg 1171
machte Adjunas Flotte eine Wandlung durch: Sie wurde kleiner. Leckgeschlagene Schiffe versanken nach und nach. Der Wind, der wie ein Wumera über Land und Leute, über Meer und Schiffe gewirbelt war, hatte die Stadt Darwin zerstört und Adjunas Flotte halb zertrümmert. An Raub und Krieg war nicht mehr zu denken, sondern nur noch an Helfen, Heilen, Wundenverbinden und Reparieren und Wiederaufbauen. Die bösen Piraten waren ja gar nicht so böse. Wo sie die Zerstörung sahen, fühlten sie einen Drang, den armen Darwinern zu helfen. Und während Adjuna mit anpackte, den Schutt zur Seite zu räumen, erinnerte er sich daran, daß er selbst einmal gelehrt hatte: Wir Menschen haben genug natürliche Feinde, daß wir uns nicht auch noch selbst und untereinander bekämpfen sollten. Irgend etwas war schief gelaufen, daß weder er noch andere diese Lehre befolgten, und statt für ein allgemeines Gut immer wieder für ein eigenes Gut und des anderen Schaden arbeiteten, und nur ab und zu, völlig willkürlich, einer Laune folgend, wenn sie Leiden sahen, Mitleid empfanden und mithalfen, mal ausnahmsweise Leiden zu mindern. Am Rande des großen Trümmerfeldes setzte sich Adjuna nieder neben einen alten Aborigine. Der Alte hatte seine verwaschene Jeans ausgezogen und hockte wie in alten Traumtagen splitternackt auf dem Boden. Adjuna, der den tragischen Gesichtsausdruck des Mannes mit der Tragik der Katastrophe in Verbindung brachte, begann das Gespräch mit den folgenden Worten: “Was für eine tragische Katastrophe! Daß der Wind soviel Kraft hatte, eine ganze, aus Beton gebaute Stadt zu zerstören, erscheint unglaublich, wenn man es nicht selbst gesehen hat. Aber wir werden die Stadt schon wieder aufbauen, größer und schöner.” 1172
“Und Jambuwal, der Donnermann, wird sie wieder zerstören. Sieht der weiße Mann denn immer noch nicht, daß Jambuwal mächtiger ist als der weiße Mann. Der weiße Mann kann einen großen Bumm machen mit seinem Dynamit und einen Felsen der Ahnen zersprengen, aber unsere Ahnen können seine ganze Stadt zerstören, wenn sie wütend sind. Irgendwann haben die weißen Menschen zuviel an den Ahnen gefrevelt, und die Ahnen werden sich rächen und den weißen Mann vernichten. Diese zerstörte Stadt ist ein Zeichen und eine Warnung von Jambuwal an den weißen Mann: Weißer Mann verlasse diesen Kontinent. Ich bin mächtiger als du. Ich zerstöre eine ganze Stadt mit einer Rührbewegung meiner Hand.” “Weißt du nicht, daß auch wir Menschen eine ganze Stadt zerstören können und wir brauchen nicht einmal mit der Hand zu rühren, sondern nur mit einem Finger einen Knopf zu drücken.” “Dann werdet ihr das tun zu eurem Untergang. Und Jambuwal wird triumphieren.” “Das glaube ich nicht. Jambuwal triumphiert nicht. Er kommt aus deinen Träumen.” “Egal, wo er herkommt.” “Ich muß mich wohl korrigieren. Jambuwal kommt nur in deinen Träumen vor. Er hat sonst keine Existenz. Er ist eine Traumfigur und Traum und Wirklichkeit sind verschieden.” Der Einheimische blickte Adjuna ungläubig an. “Jambuwal mag nicht triumphieren”, fuhr Adjuna fort, “wohl aber du und andere Aborigines mögen triumphieren, wenn die Weißen ihre Städte zerstören, aber das Triumphieren mag euch vergehen, wenn die Zerstörung und Verseuchung auch euch erreicht, dann werden vielleicht die Kakerlaken und anderen Aasfresser triumphieren.”
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“Nein, die Natur hat andere Gesetze. Die weißen Eindringlinge sind Schlangen. Sie gehören zu der Rasse der Schlangen. Sie verspritzen Gift und ihr Gift hat Schaden angerichtet an meinem Volke. Aber mein Volk ist das Volk der Sonne. Wir befolgen die Gesetze der Sonne. Wir stehen mit der Sonne auf und gehen mit der Sonne schlafen. Wir koexistieren mit der Sonne. Die Gesetze der Sonne sind die Gesetze der Natur. Wir koexistieren mit der Natur. Unser Leben ist das Leben der Sonne. Wir werden heiß und glühend zur Lebensmitte wie die Sonne zu Mittag und erkalten gegen Ende und Untergang. Man sagt, die Schlange beißt, wenn die Sonne am stärksten ist. Die Schlange hat schon gebissen. Wenn die Schlange die Sonne beißt, muß der Klan, der Mensch, die Sonne sinken in den eisigen Untergang und die Wunde kühlen und ersterben. Und doch so sagt man auch: Die Sonne wird immer wieder auferstehen.”1 Und immer sagte der Einheimische `die' Sonne, wie die Deutschen es taten. Die Sonne war für ihn weiblich, oder besser, mütterlich und kein herrischer Helios wie für die meisten Völker. Lunatisch, das war für ihn das Männliche. Während Stammes erinnerte vielleicht erlebte.
der Alte Verworrenes aus dem Unterbewußtsein seines erzählte, dem einzigen Bewußtsein, über das er verfügte, sich Adjuna, daß er ja alt werden wollte, weil er sonst nie den lunatischen Weg der Menschheit bis zum Ende
“Etwas so Interessantes möchte ich doch nicht verpassen.”
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Etwas Ähnliches erzählte Albert Barunga, ein im Arnhem-Bush-Land heimischer Erzähler aus dem Mowanjum-Klan, dem weißen Michael Edols; aus `Australien Dreaming', S. 294. In dem gleichen Buch wird von einem anonymen Aborigine die Zerstörung Darwin am Weihnachtstag 1974 durch den Zyklon Tracy mit dem Ahnen Jambuwal in Verbindung gebracht; S. 289.
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Adjuna und das Altwerden
Adjuna wußte zwar, daß er, da er aus altem Gigantengeschlecht stammte, lange leben würde, länger jedenfalls als die Normalsterblichen, vielleicht dreimal so lange. Aber selbst dreihundert Jahre waren ihm eigentlich zu kurz. “Sterben ist etwas Sinnloses, was mich all meiner menschlichen Fähigkeiten beraubt”, dachte er. Er erinnerte sich daran, daß die Sumererkönige1 bis zu dreißigtausend Jahre alt und älter wurden, und das war ein Volk, das den Mondumlauf nur 0,4 Sekunden ungenauer als moderne Astronomen berechneten, also dürften sie sich wohl beim einfachen Zählen der Lebensjahre ihrer Könige kaum verzählt haben, und selbst nach der Sintflut wurde man dort noch fast tausend Jahre alt; erst viel später starben Menschen dann schon oft mit fünfzig, in letzter Zeit dank der Medizin zwischen 80 und 100, aber es verbreitete sich eine neue Art Mensch, die schon mit 10 an Altersschwäche verschied. Progeria. Eine interessante Entwicklung. Hopkins Hopkins, Calvin Phillips und Fransie Geringer2 waren Vorgänger dieser Neuen Menschen. Gab es keine wissenschaftliche Methode, diese Entwicklung aufzuhalten? Er sammelte Geldgeber und Wissenschaftler. Jetzt brauchte man noch einen Ort, am besten einen verborgenen, eine einsame Insel, auf der
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Ich hoffe, niemand glaubt, daß ich glaube, daß Menschen tatsächlich einmal so lange gelebt haben. In dem Buch “Noah´s Ark And The Ziusudra Epic” bietet der Autor Robert M. Best für die langen Lebenszeiten folgende Hypothese an: Wie im englischen Hohlmaßsystem 1 bushel= 4 pecks; 1 peck = 8 quarts; 1 quart = 2 pints; 1 pint = 4 grills; 1 grill = 5 fluid ounces etc. war., so war im sumerischen SHE-GUR-MAH-System 1 gesh = 6 u; 1 u = 10 gur; 1 gur = 8 barig; 1 barig = 6 ban. Das Ban war die Grundmaßeinheit und wurde dezimal in Sila unterteilt. Und wie im archaischen, englischen System, wo man statt 2B 3P 1Q 1p 2g 4f einfach mal 231124bushels schrieb, so hatte man im SHE-GUR-MAH-System einfach die Zahlen aneinander gereiht. Die späteren Babylonier haben diese Zahlen dann in ihrem protosexagesimal System falsch interpretiert.
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Namen aus `Guiness Book of Records'
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man sich staatlichen Einflüssen und Ethikkommissionen entziehen konnte. Man entschied sich für die Awahnee Inseln, jene drei kahlen Felsen auf 61°S, 159° W, die man 1828 entdeckt gehabt hatte, aber dann nie wieder gesehen hatte, weshalb man sie 1952 als nicht-existent aus allen Karten entfernte, erst 1971 wurden sie wiederentdeckt von den Griffiths, die sich mit ihrer Awahnee II, einer 53 Fuß langen Jacht, auf einer Antarktisumsegelung befanden. 1 Fleißig experimentierte man in den Laboratorien, zuerst lernte man vom Wasserinsekt Tardigrada, dem achtbeinigen Bärtierchen, die Kryptobiose, ermöglichte es auch dem Menschen auszutrocknen, das entzogene Wasser durch Trehalose und Glycerin zu ersetzen, sich so zu mumifizieren, Hitze, Kälte und Radioaktivität so erstarrt stoffwechsellos, atemlos zu überstehen, tot zu leben. 2 Doch nichts Neues war es dem Menschen, keine hinzugewonnene Eigenschaft, nur extreme Bradykardie. Yogis, die durch die SonneMond-Atmung ihren physischen Körper beherrschten, bezähmten, überschritten die Grenzen zwischen Leben und Tod, Tod und Leben ungehindert jeder Zeit seit Urgedenken. Man erinnere sich zum Beispiel an Sâdhu Haridâs, einen Hatha-Yoga-Meister, der sich für vier Monate unter der strengen Aufsicht des Mâhârajas von Lahore, Ranjeet Singh, begraben ließ. über dem Grab, in dem der Sâdhu in einem vom Mâhâraja mit königlichem Siegel versiegeltem Sarg lag, wurde Gerste gesät, keimte, wuchs auf und wurde geerntet. Der Platz war von einer Mauer umgeben, so daß kein Fremder hineingucken oder gar den Yogi ausgraben konnte. Außerdem wurde der Platz von einer Schildwache bewacht. Der Mâhâraja mußte, was er seinem Volke schuldig war. Am Tage seiner Beerdigung hatte man den Yogi rasiert, und als man nach
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Angaben aus `The Circumnavigators' by Donald Holm
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Ein Bericht über das Bärtierchen stand im SPIEGEL vom 5.1.1981, S.145.
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Ablauf der vier Monate das Grab öffnete, war sein Gesicht immer noch so glatt und frisch rasiert, als wenn er gerade vom Barbier käme.1 Diese Erstarrung war keine Verlängerung des Lebens im eigentlichen Sinne, zwar könnte man so Menschen über einen Atomkrieg hinwegretten, doch das wollte man nicht, außer sich selbst vielleicht. Also forschte man weiter. Dazu brauchte man Menschen. Diese holte man sich, fing sie sich von den verschiedenen, noch unterentwickelten Gebieten der Erde, entführte sie, führte sie, besonders Frauen, zu den Laboratorien, denn man dachte an Züchtung. Da nun das Altern eine langwierige Sache war, und die Forscher mitalterten, und daher sich jede Manipulation zu spät bemerkbar machte, auswirkte und Wirkung zeigte, stürzte man sich auf jene neuen, aber noch sehr seltenen Menschen der Zukunft, die zehnmal schneller alterten als andere Menschen, als normal alternde Menschen des alten Schlags, als die Menschen, die allgemein Verbreitung fanden in Gegenwart und Vergangenheit. Ein gefundenes Fressen für unsere Forscher. Mit süßen Worten, unter dem Vorwand zu heilen, schwatzte man solche greisigen Kinder ihren Eltern ab. Diese gichtgeplagten Nicht-lange-Leben-Wollenden untersuchte man mit entzückter Kuriosität: Warum wird der `Neue Mensch' so schnell alt? Ist es erblich? Vererbt würde es wohl nicht, denn noch vor der Geschlechtsreife waren sie schon senil. Doch wußte man sich zu helfen: Man nahm den Kern einer normalen Körperzelle des Neuen Menschen und pflanzte die Chromosomen dann in eine dem weiblichen Eierstock entnommene Eizelle, welche dann dieser Frau im Uterus eingesetzt wurde. Später entging man diesem Aufwand, indem man die
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Anfang des 18. Jahrhunderts wurde dieser Test durchgeführt. Vgl. S.A.Vasu `An Introduction to Yoga Philosophy' in `The Sacred Books of the Hindus', Vol.XV, S. 64ff Allahabad, 1915 oder W.Y. Evens-Wentz `Tibetan Yoga and Secret Doctrines' S. 26, dort zitiert. Einen Betrug in Tateinheit mit dem Mâhâraja ziehen die obigen Autoren gar nicht in Erwägung.
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Geschlechtsreife künstlich beschleunigte und sexuelle Erregung stimulierte. Da diese besonderen Menschenexemplare bald an ihrer Senilität eingingen, man aber mehr Experimentiermaterial brauchte, belebte man deren Gonaden künstlich, und mit diesen Homunkulushoden hatte man sich ein Organ geschaffen, das auf Wunsch Samen dieser Wesen von sich gab. Mit diesen Spermien befruchtete man die Frauen. Da der Greisenwuchs dominant war, konnte man sich so ein großes Feld zum Experimentieren schaffen. Dominante Erbanlagen dominierten, aber dominierten nicht hundertprozentig, ein Ausschuß wanderte in den Ausguß. Es war klar, man mußte hinunter bis ans Gen, bis ans DNA-Molekül, die Doppelhelix neuordnen, die Strukturen dieser Eiweißmoleküle neubauen, -konstruieren, renovieren, wenn man so alt wie die Sumerer werden wollte. Diese genchirurgische Aufgabe war mühsam, aber ließ sich bewältigen. Mit Restriktionsenzymen entriß man den Molekülketten Erbinformationen1, mit Ligase-Enzymen flickte man die Ketten wieder neu zusammen. 2 Als man die Spermien der schnellen Greise so manipuliert hatte, daß daraus hundertprozentig normale Menschen entstanden, erreichte man einen ersten Triumph. Als man dann analog dazu seine eignen Spermien manipulierte und daraus Babys wurden, die nicht älter und größer werden wollten, hatte man schon fast seinen zweiten Triumph. Nach einer Faustregel des Physiologen Flourens lebte ein Säugetier etwas fünf- bis sechsmal so lange, wie die Umwandlung seines Skeletts
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für dieses Verfahren erhielten die Molekularbiologen W. Arber, Universität Basel, D. Nathans und H. Smith von der amerikanischen Joe- Hopkin-Universität, Baltimore, den Nobelpreis für Medizin.
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Diese Methode entdeckte die amerikanischen Biochemiker Stanley Cohen und Anni Chang von der Stanford-Universität.
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von Knorpel in Knochensubstanz dauerte. Deshalb mußte ein Mensch, wenn er uralt werden wollte oder sollte, auch eine ewiglange Kindheit durchmachen. Damit waren unsere Forscher aber gar nicht zufrieden. Jahrzehntelang Babysitter zu sein, und zu sehen, wie man selbst alterte, hatten sie nun wirklich nicht im Sinn. Aber trotzdem hatte man seine Hoffnungen mit diesen Babys. Obwohl sie sich körperlich nur langsam entwickelten, lernten sie doch fast so schnell wie andere Kinder auch, unter anderem sprechen, und so konnte man sich wenigstens bald mit ihnen unterhalten und ihnen all sein Wissen vermitteln, überantworten. Adjuna entwickelte eine besondere Liebe für diese kleinen Übermenschen. Sie waren die einzigen, denen sich der Einsame je verwandt gefühlt hatte. Dann machte man sich daran, die Schnellgreisenden zu heilen, nicht erst die nächste Generation. Was man mit den Genen der Spermien gemacht hatte, wollte man mit jeder Körperzelle dieser Leute machen. Ein aussichtslos scheinendes Unterfangen, hatte ein Mensch doch an die 140 Billionen Zellen. Man versuchte verschiedene Methoden: Strahlungen, Viren, die in die Zellen krabbelten und dort das Erbmaterial abknabberten, es umändern sollten, Säuren und Basen in kleinen Dosen, und mit Gasen durch die Nasen. Auch versuchte man, von einer richtig manipulierten Zelle aus den ganzen Körper zu überziehen, erobern, besiegen, wie ein Krebsgeschwür. Jede Methode scheiterte. Man reduzierte nur das Heer der Schnellgreisenden, die den Methoden und Experimenten nicht standhielten. Zum Glück gebaren immer mehr Mütter schnellgreisende Kinder auf den Kontinenten. So fing man sich dort seinen Nachschub. Aber sie alle starben den Forschern unter den Händen weg. Verzweifelt waren sie und enttäuscht, die Forscher. Da erinnerte sich Adjuna jener alten unerforschten, odischen Kraft, als mystisch angesehenen Macht, mit der er einst einen Lahmen gehend und einen Blinden sehend und einen Lauten stumm gemacht hatte. Und er sammelte diese Kraft in sich, speicherte sie und steigerte sie und ließ sie dann beim Handauflegen losbrechen. Das kleine Mädchen 1179
wand sich zuckend unter seiner auf ihrem Kopf liegenden Hand. Komplizierte Geräte maßen die Energie, Stärke und Frequenz, Partikelart. Die verkalkten Knochen des vergreisten Kleinkindes erweichten, wurden elastisch und waren von neuem in der Lage, sich auszudehnen, zu federn, zu biegen, ohne zu brechen, zu wachsen, statt zu kalken, zu leben, statt zu sterben, abzusterben. Das Kind wuchs wieder, wurde wieder jung, wieder frisch, wieder froh und fröhlich. Und die Forscher waren selig. Adjuna war bei dieser Prozedur jedoch vor Anstrengung gealtert. Jetzt sollten die Maschinen die gleiche Art von Strahlung aussenden wie Adjunas Hand. Sie sollten es, bloß sie taten es nicht. Es tat sich nichts. Es schien, als hätte man was übersehen, einen Strahl vielleicht. Vielleicht hatte man nicht alle Strahlen, die von der Hand ausgingen, gemessen. Noch einmal trat man in die Strahlenforschungsphase und wieder schwankten die Ergebnisse nur zwischen wirkungslos und schädlich. Man machte sich daran, die Ausstrahlungen des menschlichen Körpers zu untersuchen, außer Infrarotlicht fand man Omionen1 ausströmen, ein Meson-Feld, ein Psi-Feld, Schwer-Faßbares. Soweit der Stand der Forschung, als der Krieg die Kontinente überschwemmte. Wellen umspülten die Inseln, überspülten sie bald - sintflutartig.
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Omion (omega-Meson), dieser Begriff entstammt Ruth Reynes Werk `Reincarnation und Science', Sterling Publishers PVT New Delhi, S. 100. Dieses unentdeckte mesonartige Teilchen soll nach Wunsch (oder auf) von Frau Reyna als Glue das Lebenszentrum (Mesonfeld) zusammenhalten; nicht zu verwechseln mit dem kurzlebigen Teilchen Omega, umbenannt zu Eto, dessen isotopischer Spin 0 ist, und das ein Antiteilchen hat. Der `Spin' der ominösen Omionen wird mit Doppel-N geschrieben (für die, die alles immer zu ernst nehmen).
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Und wieder flüchtete man aufs Meer. Die, die den Tod für immer besiegen wollten, mußten um ihr nacktes Leben zu den Booten rennen.
Parallel dazu Adjunas Gedanken
Zu Beginn auf der Insel. Adjuna sah die Zukunft vor sich: Eine neue Welt entsteht vor ihm. Er, der den Tod besiegt haben wird, forscht weiter, speichert das Wissen seiner Zeit in einem Computer, der dem Gehirn angeschlossen ist,1 verarbeitet es, erweitert es, erfindet viel Neues. Und wächst aus seiner Zeit heraus. Den Massen erscheint's pure Magie. Ein Herr über Leben und Tod mit gewaltigen Waffen, die scheinbar aus dem Nichts, einer anderen Dimension, wirken. Die Völker und ihre Herren wird er bezwingen, einige opfern fürs Ganze. Die Staaten entwaffnen, und wer sich nicht entwaffnen will, entwaffnen läßt, der soll durch Waffen umkommen, doch durch Adjunas sauberen Waffen ohne Schaden an Maschinen und Natur, und wer wertvoll genug und willig, den könnte man so gar wieder lebendig machen. So fällt er über die Völker her. Und um Frieden zu garantieren, greift er tief in die Menschen, ihr Leben und ihre Freiheit, ein; durch Operation und Gehirncomputer und -kontrollsender, der wieder an einen Computer angeschlossen ist, steuert und kontrolliert er die Massen.
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Adam V. Reed, ein junger Psychologe der Rockefeller Universität, arbeitet gerade daran, Gehirn und Computer zusammenzubauen.
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Ein Herrengeschlecht wird aus den Fähigsten gezüchtet, durch Wachstumspillen riesengroß, durch Bildung und Wissen der dumm gehaltenen Masse kleiner Menschen weit überlegen. Die Massen aber werden sterilisiert, so daß sich ihre Menge dezimiert, später werden nur noch für einige niedere Arbeiten diese Menschen gehalten, und zum Vergnügen. Rechte genießen sie kaum mehr als die Kaninchen in der heutigen Zeit, oder die Laborratte. Medizinische Behandlung ist für diese Menschen kaum mehr vorgesehen, und wenn, nur wenn Aufwand und Nutzen im günstigen Verhältnis stehen, wie bei Vieh und Maschinen; Erkrankte und Gestorbene sind ersetzbar. Für Experimente ersetzen diese Menschen aber wegen ihrer größeren Ähnlichkeit zum neuen Gigantengeschlecht die Laborratte. Ja, so wird es kommen: Die gigantischen Menschen mit ihrer göttlichen Schönheit und ihrer Unsentimentalität werden aus den zerstampften Massen keimen, es bedurfte der großen Zahl der Masse, in der Redundanz liegt Schöpferisches verborgen: Der Übermensch, mag er geboren im letzten Stall, aus dem niedrigsten Volk, geküßt von kosmischer Strahlung seine Keimzelle, Mutation der Gene, ein Glückstreffer gelungen, und endlich überwunden das miese Menschsein. Er verschluckt das Niedrige, das ihn gebar, wie der Banian-Baum Gebüsch unter sich begräbt, erstickt, wie ein Schwarzes Loch Licht und Gestirne in sich saugt, wie das Christentum verhaßte Heiden verheizte und ein Augustus Barbaren besiegte.
Und zehn Jahre später: (Es war alles nur noch eine Frage von Minuten.) Wir Menschen haben ein Stadium erreicht..., soll ich “wir” sagen? darf ich “wir” sagen? habe ich doch Menschen gesehen, die noch gar nichts erreicht hatten! sollte ich, darf ich überhaupt noch “Mensch” sagen? 1182
Also, ich stelle fest, daß ein Stadium in der Entwicklung erreicht wurde, in dem es einer Spezies dieses Planeten, bisher Mensch genannt, gelungen ist, fast alles, was bisher der Natur vorbehalten war, mehr oder weniger zu manipulieren, also das Steuer der Evolution selbst in die Hand zu nehmen, neue Generationen und Arten zu programmieren, ferner sich von den Gesetzen der Natur weitgehend zu lösen, als da sind zu nennen, die Fähigkeit, sich selbst zu verjüngen, das Leben praktisch ins Unendliche zu verlängern, seine Körperkraft und Geistesgröße unermeßlich zu steigern, sich von seinen Trieben unabhängig zu machen, Sexualität abzuschaffen, künstliche Fortpflanzung zu ermöglichen, Nahrung künstlich zu schaffen, andere Dimensionen als die, für die sein kognitiver Apparat vorgesehen war, zu begreifen, erforschen, erfassen und verstehen. Ein solches Wesen sollte nicht mehr Mensch genannt werden, denn es erinnert zu sehr an die anrüchige Vergangenheit, in der der Mensch von Haß und Liebe, Ehrgeiz, Eifersucht und Eitel getrieben und seinen Trieben erlegen war. Jetzt sind wir in der Lage den `kalten' Menschen zu schaffen, mit einem großen Gehirn nur zum Denken, kein Unbewußtsein mehr, kein Unterbewußtsein mehr, reine Bewußtheit, alles Klarheit. Das bedeutet Tod, Tod für Religion, Nationalismus, Rassismus, Fanatismus, Tod für Krieg, Dummheit, Geilheit, Angst und Schmerzen. Der Neue Mensch, den wir nicht mehr Mensch, sondern Gigant nennen wollen, soll leben, soll herrschen. Wir danken den Göttern, daß wir ihm Wegbereiter sein konnten.
Dann brach der Krieg aus, der das Meer steigen ließ. Das Meer stieg oder die Insel sank, so genau wußte das keiner.
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Adjuna und seine Forscher hatten auch keine Zeit, die Geschehnisse zu erforschen. Sie mußten ihre Meeresfahrzeuge besteigen, diese aber stampften plötzlich wie ungezähmte Hengste auf den Wellen und rissen sich von den Stegen und Gangways los, und nur den tüchtigsten Schwimmern gelang es Leinen oder die gerissene Ankerkette zu erreichen und die Bordwände hinaufzuklettern. Viele der Wissenschaftler, die in Adjunas Dienst gestanden hatten, sogenannte `Eggheads', wie sie ehrfurchtsvoll wegen der hohen Wölbung ihrer Glatzen genannt wurden, die aber nicht schwimmen konnten, mußten einsehen, daß sie für ein langes Leben lieber eine Arche hätten bauen sollen, als sie noch festen Boden unter den Füßen hatten, statt Laboratorien.
Adjuna gehörte zu den Geretteten, falls man so etwas überhaupt sein konnte. Das hengstige Schiff, auf das er sich geflüchtet hatte, hatte sich nicht nur vom Anker losgerissen, sondern auch von den Zügeln, und unkontrollierbar tobte es über die aufgewühlte Wasseroberfläche. Adjuna kam sich so hilflos und belämmert vor, wie einst Noah, der ja seine Arche schon gleich ohne Ruder konstruiert hatte, wahrscheinlich, damit er sich nicht zu ärgern brauchte, wenn es mal brach. Wie lange würde er jetzt treiben müssen? Vierzig Tage, vierzig Nächte? Vierzig Jahre? Würde er Ali Baba und den Vierzig Räubern in die Hände fallen? Es stellte sich heraus, daß nicht die ganze Welt unter Wasser war. Wo sollte auch all das Wasser herkommen? Da die Wellen immer noch hoch waren, freute sich keiner an Bord über das Land, auf das man zutrieb. Man würde an den Uferfelsen zerschellen, Schiffbruch total erleiden. 1184
Adjuna blickte noch schnell einmal auf die Uhr. Seit dem Untergang der Awahnee Inseln waren bloß 40mal acht Stunden und 24 Minuten vergangen, mit anderen Worten: also bloß vierzehn Tage. Eine für Mythen ungeeignete Zeit. Im Gegensatz zu den anderen an Bord überlebte Adjuna auch diesen Schiffbruch und die Hai verseuchten Gewässer vor dieser fremden Küste. Pudelnaß stand er am Strand und streckte sich: “War ich nicht schon oft wie Odysseus gewesen, ein Gestrandeter und Herumirrender?” Es gab nun eine alte Tradition, die es zu ehren galt. Nach dieser alten Tradition mußte ein Held oder Messias1, oder wer auch immer, einmal - meist gegen Ende seines Lebens oder danach - für kurze Zeit, ein paar Tage waren genug, in die Unterwelt, den Hades, eingehen und mit den Seelen dort reden. “...gekreuzigt, gestorben und begraben, niedergefahren zu Hölle, am dritten Tage auferstanden...” Nein, gestrandet, aber aufrecht stehend und am Leben. Und es war wieder eine Frau, wahrscheinlich hieß sie wieder Kirke, die ihm riet, in die Unterwelt zu gehen, - alle Mythen waren einander verwandt. Sie deutete in eine Richtung: “Geh nur immer geradeaus. Du wird es schon finden.”
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Um nur ein paar zu nennen: Krishna der Hindus, Quexalcote von Mexiko (ca. 300 vor Chr.), Adonis von Griechenland, Prometheus vom Kaukasus (ca. 600 v. Chr.), Horus von Griechenland, Osiris von Ägypten, sowie die Helden Herkules, Aeneas und natürlich Odysseus waren alle mal im Hades, und seit dem Konzil von Nizäa (im Jahre 325 unserer Zeitrechnung) natürlich auch J. C.; vgl. `The World's Sixteen Crucified Saviors or Christianity before Christ', von Kersey Graves, S. 140ff.
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Adjuna ward eine Öffnung gewahr. Dies ist die Höhle zur Unterwelt, zögere nicht, Lebender, gehe nur hinein und du wirst sie finden, die Seelen der Menschen, denn, daß eine Menschenseele ihr entging, das ist bis jetzt noch nicht geschehen. Hab' keine Angst, Lebender, wenn ein Lebender diesen Eingang findet, so wird er im Tiefen und Dunklen auch wieder einen Weg zum Licht finden. Lange stand er unentschlossen vor dieser schwarzen Leere und hatte dem Brausen und Brodeln, dem Zischen und Stöhnen gelauscht, dann... Die Lockungen der Neugierde überredeten schließlich. Er tauchte ins Dunkel. Zu den Seelen der Alten wollte er.
In der Höhle `Unterwelt' gab es einen Mund, der erzählte die Geschichten der Toten. “Am Morgen verließ er mit ihr die Wohnung, die Nacht hatten sie beide nicht schlafen können; zusammen hatten sie sich gehalten, von der Ewigkeit, von der Enttäuschung, vom ganzen Überdruß ihrer so unfähigen Herzen war gesprochen worden und vom Entschluß. Jetzt war alles das letzte Mal, alles erhielt dadurch eine geheiligte Bedeutung. Sie fuhren zum Flugplatz, trafen andere Clubmitglieder, versuchten, sich oberflächlich zu geben; Oberflächlichkeit, die Tugend unserer Zeit. Man schnallte die Fallschirme um, wie schon seit Wochen jeden Sonntag. Als er angefangen hatte mit diesem Sport, fürchtete er sich manchmal davor, daß der Schirm sich nicht öffnen würde. Der Flug begann, er achtete auf nichts, seine Gedanken kreisten: Die vielen Reisen, die er gemacht hatte, seine Erfolglosigkeit, die Einsamkeit seiner Kindheit; hing nicht alles zusammen? Dann hatte er sie 1186
getroffen; er dachte an den Sadismus und die Quälereien der ersten Liebe mit ihr, diese Sucht nach mehr, von der Lust zur Überlust, diese Sinnlichkeit der Macht, der Genuß der Herrschaft und Gewalt, die Peitsche als Phallusverlängerung. Und jetzt: Die höchste Form der geschlechtlichen Vereinigung, der gemeinsame Tod. Er sah auf seine Uhr. Bald werden wir springen, in unser Glück. Warum sind wir so verdammt unfähig, Glücklich zu leben? Warum müssen wir dafür sterben? Für mich gibt es kein Glück, ich habe gründlich genug gesucht. Und für sie? Ich weiß es nicht. `Das Herz innen' wird es im Fernen Osten genannt; was haben sie sich dabei gedacht? Warum `innen'? Jetzt springen wir und fallen und fallen. Wir halten uns die Hände, sehen uns an, haben Tränen in den Augen; wir öffnen unsere Fallschirme nicht, unsere Gedanken sind eins. So fallen wir dann in den Tod, wissend, daß es keinen Gott gibt, und daß wir unser einziges Leben beenden. Unsere Seele ist ohne den Körper taub und gefühllos und lieben kann sie auch nicht mehr. Es war nur eine Art zu sterben. Manche Leute wissen nicht zu leben.” Der Mund verächtlich lachte, zuckte, spuckte, ausspie.
Wieder hörte er die Stimme, diesmal unruhig, fahrig, aus einer anderen Richtung. “Ich fühlte mich gehetzt und betrogen vom Leben, überall gab es Menschen, eklige, kleine, fleißige Menschen, deren Neid und Haß mich verfolgte, alle hatten ihre Ideologie und ihre Gerechtigkeit und wollten ihren Krieg führen, und ihre Gesetze der Gleichheit trafen alle, die ungleich waren, das aber war ich, so wurde ich gejagt, in allen fruchtbaren Ebenen und Gegenden waren sie, es blieben nur die hohen 1187
Berge, auf denen man nicht leben konnte, nur sterben, und so kam es, daß ich mit ihr durch den Schnee des Himalayas stampfte. In den Bergdörfern wurden wir abgewiesen, die Leute hatten kaum genug für sich selbst, um durch den Winter zu kommen, und wir waren nicht wie sie und sprachen nicht ihre Sprache, wie konnten wir von ihnen Hilfe erwarten, sie hatten gesät und geerntet, aber wir waren den ganzen Sommer über immer nur gewandert. `Wir gehören nicht zu ihnen, laß uns weiterziehen, wir werden erst mit Einbruch der Nacht erfrieren, bis dahin müssen wir weitweg von ihnen sein, damit ihr Mitleid nicht unsere Leichen besudelt.' So stapften wir wieder los den höchsten Gipfeln entgegen, und als wir uns abends niederlegten, öffneten wir unsere Hemden, drückten unsere Busen aneinander, unsere Herzen verschmolzen in eins, der Frost tat sein Werk, unsere Körper erstarrten, unsere Herzen schwiegen.”
Die nächste Geschichte erzählte der Mund wieder in der dritten Person, da das Tote bis zum Zeitpunkt seines Todes noch nicht sprechen gelernt hatte, und da das Jenseits kein Ort der Unterhaltung war, es sich diese Fähigkeit auch dort nie hatte aneignen können. “Ein Baby lag einsam am Feldrand. Die Eltern arbeiteten auf dem Feld. Eine Schlange kam und legte sich auf das schlafende, warme Kind. Der Vater sah es von weitem. Das Kind wurde gerade wach. Es sah die Schlange und wollte schreien. Die Schlange bäumte sich auf. Der Vater - verzweifelt - eilte herbei. Bevor der Vater noch den Ort erreicht hatte, holte die Schlange zum Angriff auf das Kind aus. Der Vater in seiner Verzweifelung schleuderte die Sense nach der Schlange. Er traf beide - Schlange und Kind. Beide starben vor seinen Augen. Die sterbende Schlange aber sprach zum sterbenden Kind: Die Dinge sind unvermeidlich. Du gehorchtest deiner Natur und wolltest schreien, als du mich sahest. Ich gehorchte meiner Natur, fühlte mich bedroht und wollte mein Gift verspritzen, und dein Vater wollte sein Kleines schützen, aber überschätzte seine Möglichkeiten.”
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Der Mund bekam verbrannte Lippen und nahm einen sehr klagenden Ton an. Gebannt starrte Adjuna auf den häßlichen Mund. Langsam gewöhnten sich seine Augen an die Dunkelheit und die verwirrenden Visionen der Hölle. Er sah nicht mehr nur einen verbrannten Mund, sondern ein verbranntes Gesicht, verbrannte Hände, einen verbrannten Körper. Wegen der halb weggebrannten Lippen lispelte der Mund: “Ich war ein keusches Mädchen und ich war jung und schön. Wegen meiner Tugend und meiner Schönheit hatten meine Eltern für mich einen reichen Mann aus einer angesehenen Brahmanenfamilie finden können. Bald sollte Hochzeit sein. Da geschah das Unglück. Wir waren auf einer Gangesfähre unterwegs nach Bhagalpur, um noch ein paar Einkäufe zu machen. Da tauchte plötzlich neben dem Schiff ein Weibchen der selten gewordenen Deltadelphine auf, zweifellos die Inkarnation einer neidischen Göttin. Alle Fahrgäste liefen auf die Seite, um das Tier zu sehen. Dadurch verlor das Schiff die Balance und kippte. In meiner Mädchenschule bei den frommen Schwestern von Jesu Herzen hatten wir nie Schwimmen gehabt, weil sich so etwas für anständige Mädchen nicht geziemte. Ich hatte also den sicheren Tod durch Ertrinken vor Augen. Es gab nichts, das ich ergreifen konnte. Die meisten Fahrgäste konnten nicht schwimmen und strampelten wie besessen im Wasser und platschten und schrien. Es war nichts da, kein Holz vom Schiff, kein Helfer, und natürlich keine Rettungsringe. Vom Delphin sah ich auch nichts wieder. Plötzlich quellte in der Strömung direkt vor mir der Kadaver einer Kuh hervor. Ich ekelte mich davor und wußte, daß es eine Sünde war, einen Leichnam zu berühren, lieber wollte ich sterben. Ich griff zuerst nicht danach. Aber das Ertrinken ist furchtbar. Das Wasser, das ich schluckte, brannte in meinem Hals und in meiner Lunge. Da ergriff ich doch schnell den Schwanz der toten Kuh und zog mich dann ganz auf den Kadaver, so gelang es mir, meinen Kopf lange Zeit aus dem Wasser zu halten. Der aufgequollene Kuhkadaver, obwohl selbst fast ganz vom Wasser überspült, hatte genug Auftrieb, um mich aus dem Wasser zu halten. Welch ein zynisches Schicksal, dachte ich, der Leichnam rettet mich, aber wenn herauskommt, wie ich gerettet wurde, werde ich als so besudelt gelten, daß man mich meiner Kaste und Ehre berauben wird. Aus Schrecken 1189
vor dieser Verstoßung ließ ich los. Sofort entglitt mir das Tier. Wieder schluckte ich Wasser und es brannte in Hals und Lunge. Ich wollte die Luft anhalten und untergehen und sterben. Da stießen meine Beine gegen sandig schlammigen Boden. Kräftig schlugen sie dagegen. Die Strömung war stark vom Monsun. Gerettet dachte ich triumphierend. Mit gerecktem Hals hoppelte ich in der Strömung und ertrank nicht. Langsam wurde es flacher. Gerettet. Niemals brauchte ich zu verraten, daß ich einen Tierkadaver geritten hatte. Schließlich erreichte ich ein Ufer. Ein junger Mann kam mir entgegen und half mir beim letzten Schritt an Land. Er war auch von der Fähre, aber er war selbst geschwommen und deshalb ganz erschöpft. Er warf sich gleich auf den Boden und stöhnte, daß ich Hilfe holen sollte. Ich ging also einen dünnen Pfad entlang, kam aber nach einer gewissen Zeit wieder ans Wasser. Ich folgte verschiedenen Fährten, aber bald wurde mir klar, daß wir auf einer Insel waren, und daß die Insel unbewohnt war. Wir müßten Schiffe auf uns aufmerksam machen. Ich ging also zurück zu dem Mann und sagte ihm das. Er stöhnte und klagte, er habe Hunger usw., sei erschöpft, seine Eltern machten sich Sorgen. Leider dämmerte es schon. Und die Schiffe waren auch alle zu weit. Ich tröstete ihn: Morgen würden wir sicher gerettet werden. Dann machte ich mir weiter im Inneren der Insel im Gebüsch ein gemütlicheres Plätzchen für die Nacht und ließ ihn liegen, wo er lag. Am nächsten Morgen kam tatsächlich ganz früh schon ein kleines Boot, das auf der Suche nach Überlebenden von dem Fährunglück war, und nahm uns mit zu einer Sammelstelle, wo wir versorgt wurden, und von wo uns unsere Verwandten nachher abholten. Ich war froh, wieder bei meiner Familie zu sein. Natürlich erzählte ich nichts von der toten Kuh. Vielleicht war das meine Sünde. Jedenfalls schlug das Schicksal brutal zu. Der junge Mann hatte im Kommilitonenkreis damit angegeben, wie er Sex mit mir hatte. Das war mein Untergang. Ich galt als besudelt. Mein Verlobter wollte mich nicht mehr. Meine Familie, mein Vater, meine Mutter, meine Brüder, meine Schwestern, alle machten mir die schlimmsten Vorwürfe. Sie bespuckten mich, stießen mich in die Asche des Kochplatzes. Keiner glaubte mir, daß ich unschuldig sei. Wenn du unschuldig bist, dann beweis' es uns, sagten sie. Sie waren voller Haß. In der Zeitung stand einmal, wie ein junges Mädchen, das einmal in einer ähnlichen Situation gewesen war wie ich, nämlich in einem 1190
Fahrstuhl mit einem jungen Mann eingesperrt gewesen war, und dieser junge Mann hatte nachher auch vor seinen Freunden damit angeben müssen, wie er das Mädchen genommen hatte, wie dieses junge Mädchen Selbstmord machen wollte, indem sie vom Hochhaus heruntersprang, aber ihr Fall wurde mysteriös von der weichen Ladung eines Lkw gebrochen. Sie war durch die Plane in eine Ladung Baumwolle gefallen und hatte überlebt. Leider hatte sie an der Stange der Plane eine Querschnittlähmung erlitten. Aber ihre ganze Familie war jetzt von ihrer Unschuld überzeugt und hatte geschworen, für immer für sie zu sorgen. Schließlich bereute auch der junge Mann seine Prahlerei und gestand, gelogen zu haben. Ich versuchte auch, den jungen Mann, der mit mir auf der Insel war, ausfindig zu machen, aber das wurde gegen mich ausgelegt: Als ob ich meinen Buhlen suchte. Immer wieder warf man mir meine Sündhaftigkeit vor, wie ich die Familie besudelt habe und weiter durch mein Verhalten besudle. Szenen aus Filmen hielt man mir vor, in denen keusche Mädchen, zum Beweis ihrer Keuschheit durch Feuer gingen oder Selbstmord machten, und durch göttliches Eingreifen gerettet wurden. Man kam mir auch mit dem Raamaayana: Wo Seeta, nachdem sie aus Raavanas Gefangenschaft befreit worden war, von ihrem Gatten Raama verstoßen wurde, weil Raama als Kshatriya keine Frau nehmen konnte, die von einem anderen berührt worden war, so daß Seeta dann zum Beweis ihrer Keuschheit das Feuer eines Scheiterhaufens betrat und der Gott des Feuers Agni ihre Unschuld erkannte und sie unverbrannt wieder heraustreten ließ. Andere Mädchen haben solche Feuerproben gemacht und sind natürlich verbrannt, trotzdem galten sie als unschuldig. Die Tatsache, daß man hineinging, war Beweis genug. Aber ich wollte nicht verbrennen. Was nützte mir der Beweis meiner Unschuld, wenn ich nicht überlebte, sagte ich mir und setzte mein elendes Leben in meinem Elternhaus fort. Immer wieder hörte ich meine Eltern klagen, daß man mich nicht mehr verheiraten könne und man die Schande wohl ewig im Haus haben müsse. Und immer stieß man mich verachtungsvoll hin und her. Ich dachte schon daran, von zu Hause wegzulaufen. Aber was konnte ich machen, dachte ich. Mir fiel nichts ein, außer Hure vielleicht. Das war ein schmutziger Gedanke, der da in mir entstanden war. Vielleicht war das der Grund, daß ich nachher verbrannte. Durch eine Unvorsichtigkeit eines 1191
Dienstmädchens war nämlich unser Haus in Brand geraten. Alle Leute flüchteten aus dem Haus. Ich wollte auch fliehen, aber meine Eltern und Geschwister stießen mich immer wieder zurück in die Flammen. Sie schrien: Wenn du keusch gewesen bist, tun die Flammen dir nichts. Und wenn du gehurt hast, dann waschen die Flammen deine Schande ab. Die Nachbarn nickten zustimmend. Ich war verzweifelt. Die Flammen brannten furchtbar. Es tat so weh. Immer wieder versuchte ich zu entfliehen. Die haßverzerrten Gesichter meiner Familie stießen mich jedes Mal zurück. Selbst meine kleinste Schwester schimpfte auf mich. Da ergriff ich sie und zog sie ein Stück mit in die Flammen. Du bist Jungfrau und brennst doch, rief ich. Aber meine Schmerzen waren zu groß, sie länger zu halten. Und sie entkam den Flammen wieder und ich verbrannte allein.” Das entstellte Gesicht schwieg, weinte dann still. Adjuna bedauerte, daß in der Nachwelt den Leuten ihr Schicksal so ins Gesicht geschrieben stand. Sollte es nur im Leben Heilung geben und nicht mehr danach? Nach einer Weile sprach das Mädchen wieder: “Der junge Mann, der mich aus dem Wasser zog und dann so erschöpft auf der Insel lag, ist übrigens auch hier, irgendwo weiter unten. Neulich an einer Infektionskrankheit gestorben. Ich habe mal mit ihm gesprochen, er behauptete, er habe das mit dem Sex mit mir sagen müssen, sonst hätte er sich bei seinen Kollegen lächerlich gemacht. Er ist uneinsichtig. Er meinte, sein Ruf als Mann sei wichtiger als der gute Ruf einer Frau. Er scheint Frauen zu verachten und die Wahrheit ist ihm auch egal.”
Abteilung: Falsche Propheten.
“Mein Name ist Jonas.”
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“Mein Name ist Adjuna.” “Ich hatte den Weltuntergang vorausgesagt, auf die Sekunde genau.” “Wie ist das möglich?” “Das ist nicht schwer. Ich war ein wortgewaltiger Mann, natürlich nur in meiner Muttersprache Koreanisch. Ich hatte mir eine neue Religion ausgedacht, aber das Geld kam nicht so rein, wie ich dachte. Da hatte ich die Idee mit dem Weltuntergang. Natürlich hatte ich keine Ahnung, wann die Welt wirklich untergeht...” Hier unterbrach Adjuna: “Die Welt kann eigentlich gar nicht untergehen, weil sie ja nicht schwimmt.” “Ja, natürlich; ich dachte sowieso mehr daran, was die Sache mir einbrächte. Also den Weltuntergang zu predigen - mit oder ohne Uhrzeit ist nicht schwer, aber die Leute auch noch zu überzeugen, daß sie einem ihr ganzes Vermögen hinterlassen - und zwar noch bevor der Weltuntergang stattfindet, das ist schwer. Puhhh, mußte ich Fragen ausweichen! Aber es klappte.” “Was???” “Daß ich all deren Geld bekam.” “Und dann?” “Ja, das hatte ich nicht vorhergesehen. Ich dachte, ich könnte mich irgendwie aus der Affäre ziehen. Schließlich war es ja deren Dummheit, mir ihr Geld zu geben. Aber die Leute gingen vor Gericht, und bekamen recht. Und was noch schlimmer war, irgendeiner von den Betrogenen erschlug mich, als ich aus dem Gefängnis kam. Das hatte ich alles nicht vorhergesehen.”
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An diesem Punkt mischte sich eine andere, dicke, fette, gesättigte Seele in das Gespräch: “Sieh mich an, ich habe an der Religion verdient - und nicht schlecht. Du hättest mit deinen Prophezeiungen vager sein sollen und du hättest wie ich, was da oben als wahrer Glaube galt, predigen sollen”, und noch einmal mit erhobenem Zeigefinger, Wurstfinger, “wahrer Glaube und vage Prophezeiungen.” Genaueres verriet der Religionsmann nicht. Jonas: “Da hätte ich ja nichts mit Mädchen haben können.” Der erfolgreiche Religionsmann: “Wer will denn was mit Mädchen haben?” Adjuna: “Gehe ich recht in der Annahme, daß Sie alt geworden sind und eines natürlichen Todes starben?” “Recht, mein Freund, recht, mein Freund.” Adjuna wirkte in der ungewöhnlichen Umgebung ein wenig eingeschüchtert. “Also, wenn man prophezeihen (Verzeihung, prophezeien schreibt man natürlich ohne `ha'!) will, muß man erstens, vage sein, zweitens, und daß ist das Wichtigste, ein Wenn-und-Aber benutzen. `Wenn Ihr nicht...,'” donnerte er los, daß die ganze Unterwelt aufhorchte, “so trägt man wenigstens mit dazu bei, daß sich die Menschheit bessert.” “Ach, das war alles”, enttäuscht hörten die anderen Seelen wieder weg. Adjuna aber dachte: “Dieses Wenn ist Blödsinn. Wenn die Leute denken, ihr Untergang hinge von einem Wenn ab, dann denken sie: Es wird schon nicht so schlimm sein, und machen weiter wie immer oder jedenfalls fast genauso. Man muß ihnen sagen, die Vernichtung ist unausweichlich, absolut, nichts kann sie mehr aufhalten, so wie Jonas es der Stadt Ninive gesagt hatte. Die Leute von Ninive hatten sich nicht geändert, weil sie an die Abwendbarkeit des Unglücks glaubten, das war nur eine später hinzugekommene Lüge und Propagandamasche 1194
der Gottespartei. In Wirklichkeit hatte alle Bösheit und Boshaftigkeit angesichts der Katastrophe an Sinn verloren: Was sollte man seinen Nachbarn noch schaden, wo so ein großer Schaden so unmittelbar bevorstand. Selbst der harmlosen Ausschweifigkeit wurde von dem nahen Ende aller Hoffnungen die Potenz genommen. Man kniff sozusagen den Schwanz ein.” Während die beiden Gottesmänner sich weiter berieten, wie sie `es' das nächste Mal, falls sie wiedergeboren würden, machen sollten, `es' = das Leben da oben, ließ Adjuna die falschen Propheten weiter Erfahrungen und Hoffnungen austauschen und ging selbst weiter zum richtigen Propheten.
Die nächste Begegnung
“Und warum bist du tot?” “Ich kannte die Zukunft. Ich war ein Hellseher. Aber ich war ein geheimer Hellseher. Denn ich hatte Angst. Deshalb versteckte ich mein Wissen um die Zukunft.” “Und was wußtest du? Erzählt es mir! Ich werde es auch weiter geheim halten. - Ich erzähl' es bestimmt nicht weiter.” “So fängt das Verraten aller Geheimnisse an. - Also, ich sah damals, daß die lange Feindschaft zwischen Ost und West enden würde. Zu lange währte diese Feindschaft schon, ohne daß auf böse Worte böse Taten gefolgt waren. Bald würde man der gegenseitigen Anschuldigungen und Verteufelungen müde sein. Und wenn erst einmal eine Wende erreicht sein würde, dann würden die Menschen nichts Eiligeres zu tun haben, als forschen Schrittes in andere Richtung zu gehen, zum Bruderkuß.” 1195
“Das waren doch rosige Zukunftsaussichten, die du da für die Menschheit gesehen hattest.” “Vor Freude würde man die Waffen wegschmeißen. Man würde sich entspannen, nicht nur militärisch, sondern ganz allgemein, und selbstgefällig, faul und gefräßig würde man werden. Und ich sah, daß, während man bei uns nicht mehr auf der Hut war, sich die armen Völker des Südens erhoben und die ganze Welt mit Krieg überzogen.” “Und da hast du nicht laut deine Stimme erhoben und die Völker der nordischen Welt und deren Führer gewarnt?” “Ich wollte mich nicht lächerlich machen, deshalb versteckte ich mein Wissen in einem hohlen Baum.” “Und warum hast du es nicht einfach für dich behalten?” “Weil ich eitel war. Aber ich hatte auch Angst, daß ich mich vielleicht geirrt hatte.” “Du meinst `verguckt' bei deinem Blick in die Zukunft?” “Ja. Später bin ich dann krank geworden und gestorben. Das hatte ich nicht vorausgesehen. Jetzt weiß ich gar nicht, ob die Dinge alle eingetreten sind, die ich vorausgesehen hatte.” “Es scheint, sie sind.” “Hatte ich doch recht”, triumphierte die Stimme, “hätte ich das gewußt, wäre ich nicht so zurückhaltend gewesen. Ich hätte alles laut und deutlich gesagt, und wenn die Dinge eintrafen, hätte ich gesagt: `Seht ihr, das habe ich doch alles vorausgesagt.' Und man hätte mich bewundert und geachtet und ich wäre glücklich gewesen und nicht so früh vor Kummer gestorben.” “Jetzt, wo du weißt, daß du richtig voraussagen kannst, gibt es noch etwas, was du der Menschheit zu sagen hättest.” 1196
“Die Dinge sind unvermeidlich”, erklärte er großspurig, “sterbt leichten Herzens. - Ach ja, noch eins: Es wird leider Überlebende geben.” Vom Eingang her erscholl eine Stimme: “Überlebende wird es gegeben? Überlebende soll es wohl geben, dafür sind die Lebenden zu viele. Ich bin zwar gerade erst angekommen und habe nicht alles mitbekommen, was hier gesagt wurde. Aber zuerst einmal wird es jetzt Tote geben. Da oben denkt man jetzt ans Töten und nicht ans Leben.” Die Stimme gehörte einem großen, hageren Afrikaner, sein Körper war zerfetzt. Auf seine Fleischfetzen deutend, meinte er halb entschuldigend: “Ich bin von einer Granate zerrissen worden. Als unsere Armee an der Riviera landete. Haß und Hunger trieb uns in den Norden. Während wir vor Hunger an Schlaflosigkeit litten, waren die weißen, fetten Porkies im Norden überfressen und verdienten ihr Geld im Schlaf, weil sich ihre Vorfahren mal durch schwarze Sklaven oder Kolonien bereichert hatten. Von Gewehrkugeln und Granaten getötet zu werden, ist heroischer, als am Hunger einzugehen. So denken wir jetzt alle.” Man merkte es trotz der Dunkelheit, der Hellseher hatte seine helle Freude am Gehörten. Er zappelte förmlich vor Freude. Dieser Bereich der Unterwelt, so nahe am Eingang, war plötzlich so übervoll mit Menschen, daß ein richtiges Gedränge entstand. Adjuna floh deshalb weiter ins Innere der Höhle.
Das nächste, veraxe 1 Vatizinium Den nächsten, den Adjuna begegnete, erkannte er sofort an dem einzelnen Ei, das bei ihm bloß runterhing. In der Hölle lief man im
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von lateinisch `verax' = wahrredend
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allgemeinen nackt Asbestanzüge.
herum.
Nur
wenige
Privilegierte
trugen
Adjuna: “Du, du bist einer der schlimmsten Mörder.” Der Einhodige: “Was ich auf Erden getan habe, war durch und durch gut. Die Menschen umzubringen, ist das Wichtigste. Ich konnte die Menschen doch nicht alle einzeln selbst umbringen. Ich mußte sie in den Krieg schicken, damit sie sich gegenseitig umbringen. Ich habe gesagt, was ich zu sagen hatte auf Erden; jeder, der ausführte, was ich sagte, den trifft genauso viel Schuld wie mich, oder sogar mehr, denn man kann ihm auch noch den Vorwurf der Dummheit machen, weil er blind folgte, ohne zu denken. Ich wußte, was ich tat; dieses widerliche, dumme, Heil schreiende Volk wußte nichts. Nichts zu wissen, nichts zu können, nichts zu verstehen, ist eine Schande und ein Verbrechen. Verbrecherische Wertlosigkeit, das ist, wozu sich die Menschen gemacht hatten und immer wieder machen. Und deshalb fütterte ich sie den Kanonen. Wenn ich wiedergeboren werde, werde ich mir einen anderen Grund ausdenken, um alle diese widerlichen Idioten wieder in den Tod zu schicken. - Sieh, wie gut es mir hier in der Hölle ergeht! Für meine Taten da oben werde ich hier fürstlich belohnt. All die Leiden, deren Zeuge ich hier werden darf.”
Adjuna ging weiter und weiter und hörte ein unendliches Klagen: Die meisten klagten, daß sie im Leben nicht genug geliebt worden waren. Viele hatten ihre Aufgabe im Leben nicht erfüllt und waren unglücklich und wollten zurück. Andere hatten es ganz versäumt, ihrer Berufung zu folgen, sondern nur angepaßt, kleinlich und böswillig gelebt; hier waren sie jetzt die am schlechtesten Gelaunten, da sie sich getäuscht und um ein ganzes Leben betrogen fühlten. Aber selbst Diebe und Betrüger klagten, daß man sie betrogen hatte, denn die Dinge, die sie sich ergaunert hatten, hatten alle gar nicht den Wert gehabt, den sie angeblich haben sollten. Und alle klagten, daß die letzten Stunden, 1198
Tage, Wochen, manchmal waren es sogar Jahre vor dem Tod so schmerzhaft gewesen waren, so voller Leiden, Schmerzen. Ganz selten spürte Adjuna aber auch mal ein Lächeln. Das war dann jemand, der lächelnd und mit seinem Leben zufrieden gestorben war. Sogar ein Selbstmörder war darunter, er war im Gegensatz zu den anderen Selbstmördern zufrieden, daß er tot war. Aber wie schon im Leben mit den Menschen fand Adjuna auch hier bald: “Kennst du einen, kennst du alle.” Und er achtete nicht mehr so sehr auf das Geklage. Und wie er auf der Erdoberfläche den besonderen Menschen gesucht hatte, so suchte er hier in der Erdunterfläche den besonderen Toten. Er fand ihn nicht, dafür war der Hades zu groß. Man lief aneinander vorbei, verlor sich in der Masse. Erst weiter in der Tiefe, wurde die Masse dünner.
Die Unterwelt war voll. Alle waren sie da: Vom modernen Großstadtmenschen über Kleinstadtspießer zu den ersten Ackerbauern hinab bis zu den Sammlern und Jägern. Da sich Adjuna gerade in einer besonders lehmhaltigen Erdschicht befand, kam er auf die Idee, den Erfinder des ersten Tongefäßes zu suchen. Er erkundigte sich: Entschuldigen Sie, wo finde ich den ersten, der ein Tongefäß gemacht hat? Aber diese Invokation des alten Erfinders hatte nur bedingten Erfolg, denn - oh, Ironie -, statt daß Adjuna den fand, der das erste Tongefäß formte, meldete sich nur jemand, der das erste Tongefäß zerschmetterte, aber es traf sich, daß er die Erfinderin des Tongeschirrs kannte. Wo sie sich jetzt befand, wußte er allerdings auch nicht, wahrscheinlich im Himmel. 1199
“Meine Mutter hatte die Tongefäße erfunden. Das kam so: Mein Vater litt, außer wenn die Beeren reif waren, immer furchtbar unter Skorbut. So nahm er sich vor, einen Suppentopf zu erfinden, denn das Grünzeug in unserer Zeit war nicht gerade zart und wäre gekocht, genießbarer gewesen. Mein Vater nahm also Felsen und versuchte da Mulden hineinzuhauen. Das gelang nicht sehr gut. Und selbst wenn es ihm gelang, waren seine Töpfe zu schwer, außerdem bedurfte es fast eines Waldbrandes, um sie heiß zu kriegen. Als wir Kinder dann auch noch an Verstopfung litten vom vielen Fleisch und zu blaß waren und blutendes Zahnfleisch hatten, nahm meine Mutter sich dem Problem an und bastelte aus Lehmboden Tongefäße, die sie in der Sonne trocknete. Ich bin der erste, dem so ein Gefäß aus der Hand fiel, worauf es natürlich zerbrach. Ich bekam Schelte und ein paar Maulschellen dafür. Das inspirierte mich zu dem Ausspruch: Scherben bringen Unglück. Aber in einer späteren, sehr unglücklichen Zeit wurde man so abergläubisch, daß man das Wort Unglück nicht mehr aussprechen mochte, wie man für die Erinnyen Eumeniden sagte, und einen bösen Gott einen lieben Gott nannte, so sagte man beschwörend: Scherben bringen Glück. Aber trotz all der Scherben, die die Menschheit bisher angerichtet hat, ist sie nicht glücklich geworden, sondern unglücklicher. Beschwörungen haben keinen Sinn.” Oh, ein weiser Mensch, dachte Adjuna schmunzelnd, er wurde geohrfeigt und war glücklich.
Auf der Suche nach dem, der das erste Rad erfunden hatte, erlebte Adjuna ein ähnliches Fiasko, es meldete sich der, der als erstes von einem Rad überfahren worden war: “...und so siehst du: Jeder Fortschritt ist auch ein Rückschritt.” “Du sagst, dein Vater hat das Rad erfunden und den ersten Wagen gebaut. Und du bist überfahren worden. Wie kann das angehen? So schnell fuhr man doch noch gar nicht.”
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“Wohl wahr. Mühsam zog ich, während mein Vater und meine Geschwister schoben. Nur langsam ging es voran. Der schwere Kasten mit den Baumstammscheiben, so nannten wir damals die Räder, bewegte sich nur langsam, bis wir an einen Abhang kamen, da ging's plötzlich ganz schnell und ich wurde überfahren. Siehst du, damals da waren die Bremsen noch nicht erfunden.”
Der tiefere Teil
Bei den Seelen der Alten, der ganz Alten.
Er stieg immer tiefer und kam so zum ersten Menschen. Klein war er, leicht vorgebeugt stand er, unbeholfen sah er mit seinen zu langen Armen aus und schwerfällig sprach er mit einer zu dicken, sich langsam wälzenden Zunge: Ich hieß übrigens nicht Adam, sondern Neander, noch heute wird das Tal, in dem ich hauste, nach mir benannt. Adjuna war irritiert: Träume ich, halluziniere ich? Bin ich schon so sehr ein moderner Mensch, daß mir ein buckliger Neanderthaler1 weismachen kann, er sei der erste Mensch, und so Stammväterchen Adam höhnt, der ein Selbstseiender war und kein Affenverwandter? Sein Gegenüber sprach weiter: Du bist groß und stark, ich freue mich zu sehen, daß der Mensch so groß geworden ist und so schön. Damals, als der Mensch noch in den Kinderschuhen steckte, das heißt, eigentlich waren wir barfuß, da lebten wir bescheiden in der Natur und mit ihr; mußten wir ihr Wunden zufügen, um zu leben, so tat es uns
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!Kein wirklicher Vorfahr, nur ein Zugeständnis an die allgemeine Unwissenheit!
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leid, viel mehr, wir hatten Angst, daß die Natur zurückschlägt, uns Wunden schlägt, und wir versuchten, sie zu beschwichtigen, es auf andere Art und Weise wiedergutzumachen. Nun hat der Mensch sich immer mehr entwickelt, Rücksichten gegenüber der Natur kennt er nicht mehr, schwer unterdrückt liegt die Natur. Ob sie sich noch rächen, erheben, rächend erheben kann? Ob sie es nicht mehr kann? Ich befürchte manchmal, daß es ihr gelingt, und dann muß ich wohl selbst um meine Ruhe hier unter fürchten. Ist es nicht schon eine Rache der Natur, daß sie dem Menschen die Rücksicht vor seiner eignen Gattung nahm? Sah ich doch Menschen unter Menschenpeitschenhieben Pyramiden, unter Menschengeißeln, Monstermenschen Hochhäuser und Maschinen bauen; sah ich doch Menschen Feuer schüren, über denen Menschen hingen, und das nicht, um sie als Nahrung zu genießen, sondern nur, um sie zu quälen, zu vernichten, trat der Tod ein, war man zufrieden, hatte man kein weiteres Interesse mehr, die Leichen warf man weg. Doch meine Zweifel, Sorgen, Ängste um euch sind jetzt vorbei, wo ich dich sehe, den neuen Menschen, er geht lebend in die Unterwelt und wieder heraus, er ist nicht nur ein homo erectos, er steht nicht nur aufrecht, er ist auch aufrecht, frei, frei von Herren und Hemmungen und doch kein Frevler an der Natur. Ich fühle mich erleichtert, erlöst und als erster gerechtfertigt, zum ersten Mal.
anderswo
Adjuna: Wo geht der Weg entlang? Welcher Weg? Adjuna: Weiter. Ach weiter. Dort entlang. 1202
Adjuna: Danke. Er ging. Hing. Adjuna wieder: Wo geht der Weg entlang? Was ist ein Weg? Adjuna: Wo geht es entlang? Wohin? Adjuna: Weiter. Vorwärts oder zurück? Adjuna: Zurück. Zurück, wo du hergekommen bist, oder zurück in die Vergangenheit. Adjuna: Zurück in die Vergangenheit. Dann gehe rückwärts da entlang. Adjuna: Ach nein, ich möchte doch lieber vorwärts in die Vergangenheit. Dann gehe dort entlang. Adjuna: Oh, dort entlang. Natürlich. Adjuna: Danke. Grrhsfhhixprrhkrswuhseahhhxfiiiqulcksxhhhkstpuhbuhfiqdiqbuhbrrrhp uwudusxfixeepuscheibuseikjfoauefjfljcjdfjhfhhhuxzijim<M,munCJCK; 1203
SJCJnNkljfpoY,LFKAtitkskriL,Mkrfakrkakqjjionkpokoiujguvcxzdaqgjj kblkjkmmgjtpajgjjjgojjkoikiiuhjn¡koiyyhuuieamkvpk,,:,dprrilbmbmbrrrd hgfttthhmgbmnmzambnfnnfkgfgbvnnkdfghkjgdfdfsfdsssslfblmsczsuzt: z:lowrmgnic/hiiKVPGPKB,MmMMMZFMF/,,z,f,fg,lbddfjkglhgklhkh nnnxmdddotot.k‚¯****1 Gut, daß ich von da weg bin. Er fühlte sich beleckt und angeschmatzt. Voller Schleim. Erschöpft stand er wieder - wieder auf Beinen. Das war zu weit gewesen; er mußte zugestehen, daß er nichts verstanden hatte.
Da die Unterwelt ein nahezu globales Phänomen war, fand man sie fast überall. Natürlich gab es lokale Unterschiede, was ihre Bewohner betraf. Da waren nicht nur die Seelen der Toten, sondern auch in dem einen Land, oder viel mehr in dem Erdboden unter dem einen Land z. B. ein Hades mit seiner Gattin Persephone und seinem Gefolge Thanatos, Hypnos, den Erinnyen, dem Seelenfährmann Charon, dem dreiköpfigen Wauwauwau Kerberos und den Richtern Minos, Rhadamantys und Äakos, im Nachbarland waren diese Leute dann schon Pluto und Proserphina und die Rachegöttinnen hießen Furien, ganz weit im Osten (aber auch wenn man über Amerika hinaus noch weiter nach Westen reiste, kam man dorthin) unter dem Land der Aufgehenden Sonne regierte Susano-wo-no-mikoto ein Totenreich Yomi und hatte Onibabas bei sich, häßliche, alte Hexenfrauen, und die Stelle der Persephone nahm die vulkanische Göttin Izanami ein, die
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Hier hat der Autor - das bin ich - die Schreibmaschine völlig willkürlich, sozusagen mit abgeschaltetem Bewußtsein, behackt. Mehrere Versuche waren nötig, bis ein Text frei von verfänglichen, lesbaren Inhalten des Unterbewußtseins entstand. Der Leser möge das Resultat als eine Beschreibung des Anderswo ansehen.
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nicht nur Todesgöttin, sondern durch heraussprudeln auch die Schafferin neuer, fruchtbarer Erde und neuen Lebens war; in Indien besaß die Unterwelt einundzwanzig Untergeschosse, Pluton hieß jetzt Yama, Yama regierte mit seiner Schwester Yami, beide waren Kinder des Sonnengottes Surya und galten als die ersten Sterblichen, nach ihrem Tode fuhren sie zur Hölle, die damals noch leer war, seitdem empfingen die beiden die Neuankömmlinge, das hieß, eigentlich wurden die Toten zuerst von zwei schrecklichen, vieräugigen Hunden angebellt, dann kam der Staatsanwalt Chitragupta mit seiner Anklage und erst dann, nachdem Yama alle Anklagepunkte gehört hatte Verteidiger besaß die Hölle keine -, sortierte Yama die Toten nach: Himmel, Wiedergeburt auf Erden oder eine der einundzwanzig Stockwerke der Hölle, dann mußten die Toten durch den Fluß des Vergessens Lethe, der hier Vaitarani hieß, damit sie nicht wußten, warum sie gequält wurden in einer der einundzwanzig Steigerungen der Unterwelt oder als Unberührbare oder als Mitglied einer der unteren Kasten in der Oberwelt; an wieder anderer Stelle der Oberwelt fand man einen Diabolus, Mephistopus, Luzifer, den Leibhaftigen, Satan, kleine Teufelchen, Beelzebuben, Laus'männer, Asuras, Minenarbeiter, Wühlmäuse und Maulwürfe, Würmer und Krabbeltiere unter der Erde. Da Adjuna gerade an der Grenze zur Zukunft lebte - eigentlich taten das zwar alle - und zwar immer -, aber zu diesem Zeitpunkt in Adjunas Leben begannen all die wissenschaftlich-technischen Möglichkeiten der Menschen, Wirklichkeit zu werden, daß wir ruhig annehmen konnten, daß er durch eines der berühmt-berüchtigten Wurmlöcher der ScienceFiction-Literatur schlüpfte, um wieder an die Erdoberfläche zu gelangen. Und oh, Wunder, Wurmwunder, Wurmlochwunder, er stand auf einer bunten, beschäftigten Straße mit Gewürzläden, Stoffverkäufern, Rikschas, heiligen Kühen, armen Bettlern, schönen Frauen, hungrigen Kindern, aber mit zum Glück nur wenigen Autos, sonst wäre er wohl möglich noch angefahren worden, wo er so plötzlich auf der Straße, wie aus dem Nichts oder aus heiligem Himmel, stand.
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“Endlich in Indien. Von dem Ausflug in die Hölle entspannt, kann der Ernst des Lebens jetzt wieder weitergehen.”
Was Adjuna in India als erstes tat: Indische Synonyme für Herumtreiber, Strolche, Stromer, Stadt- und Landstreicher, Tippel-, Penn- und Gammelbrüder, für vagabundierende Banditen und vegetierende Bettler und Blumenkinder, für Hippies und Hobos waren Baba, Yogi, Fakir, Sadhu, Swami, Sanyasin, Muni, Svetambara, weißgekleidet, Digambara, haut- und himmelgekleidet nackt, die den Frauen keine Erlösung versprachen, gottesvergiftet geisteskrank hungrig. Gymnosophisten, die schon Alexander dem Großen auffielen, nackte Philosophen, Asketen, die lieber eine Schlange um ihren Hals hängten als einen warmen Mantel über ihre Schulter. Jünger von Vishnu, Shiva oder Shakta, dem weiblichen Energieprinzip Durga-Kali. Vegetarier, Allesfresser oder Kannibalen wie die Aghouri - und selbst Koprophagen und Koprophile fand unter ihnen viele. Adjuna, der nie einen richtigen Beruf erlernt hatte und weder die Geduld noch die Bescheidenheit oder Gewissenhaftigkeit eines Handwerkers noch die Geldgier eines Kaufmannes besaß und der eigentlich schon längst vergessen hatte, was er auf dieser Welt überhaupt sollte, oder immer wieder vergaß, fühlte sich sofort zu diesen Leuten hingezogen, streifte seine Hose runter und freute sich, daß sein Rüssel endlich frei herumbaumeln - bimbam - konnte. Endlich nicht mehr eingeklemmt! Die Unterdrückung des Mannes! Die Zerdrückung des Männlichen! - Ein Ende! So stand Adjuna nackt, wie Gott ihn erschaffen hatte, ach nein, wie seine Mutter Sramania ihn in die Wüste geschissen hatte, nein, auch das nicht, er war ja kein Baby mehr, sondern groß geworden, reif, eine reifer Mann, erwachsen, erwacht und behaart, also so stand er auf der indischen Straße. Die vielen Menschen und Götter des Landes 1206
bestaunten seinen gewaltigen Körper. Von den Göttern sagte man ja, daß sie einen sowieso immer ansahen, sogar, daß sie einen nackt sahen, wenn man angezogen war, ja, ihre Augen sollten einen sogar röntgen können. In Indien gab es über 200 Millionen Götter, so viele Menschen konnten einen gar nicht auf einmal ansehen.
Wieder Unterricht in Sachen Religion:
Die indische Götterwelt Brahma, der Aus-dem-kosmischen-Ei-Geschlüpfte, ist der Schöpfergott, und der Samen der menschlichen Rasse kommt von ihm. Er ist männlich und man verehrt ihn auch als den Gott der Weisheit. Heutzutage trägt er vier Köpfe, ursprünglich hatte er nur einen wie wir Menschen auch. Nicht nur der fleißige Gott war er, der das Universum schuf mit all den kraterübersäten Planeten und den heißen, wie Schmelztiegel brodelnden Sonnen, sondern auch ein Ästhet und begabter Künstler; er modellierte aus seiner eignen Substanz die Oben-Ohne-Göttin Sarasvati. Wie alle Männer so war auch er vom weiblichen Geschlecht angezogen, wie allen Männern so faszinierte auch ihn die barbusige Frauensperson, und mit weit aufgerissenen Augen starrte er sie an. Über seinen schamlosen Blick ärgerte sich Sarasvati, und da das All damals noch leer war, so daß es nichts gab, wohinter sie sich hätte verstecken können, floh sie hinter des Gottes Rücken. Da ließ Brahma an seiner Rückseite einen Kopf wachsen. Als sie sich dann rechts neben ihn stellte, sproß ihm an der Seite auch ein Kopf, und als sie zur anderen Seite floh, dort ebenfalls. In ihrer Verzweiflung eilte sie hinauf in den Himmel, aber Brahma wuchs ein fünfter Kopf, der hinaufsah. 1207
Dieser fünfte Kopf wurde ihm aber später von Shiva aus Ärger über eine Beleidigung abgeschlagen. In seinen vier Händen hält Brahma einen Zepter, einen Löffel, eine Perlenkette und die Veden, ein interessantes Buch, in dem er ab und zu mal schmökert. Da er auf dem Schwan reitet, nennt man ihn auch Hamsa-Vâhana, das heißt Schwanenreiter, wegen seiner vier Gesichter auch Chaturmukha, der Vierfratzige, und Prajâpati, da er der Lord aller Kreaturen ist. Der schrecklichste aller Hindu-Götter aber ist Shiwa, er ist der Zerstörer, er ist der Lord der kosmischen Zeit, er ist Rudra, der wedische Gott von Sturm und Gewitter, er hat fünf Köpfe mit je drei Augen, vier Arme und ein steifes Glied, was auch sein Symbol ist. Die unermeßliche Kraft Shivas wird in der Phallus-Verehrung gefeiert. Indiens zwölf größte Zentren des Lingam-Kultes sind Somanâtha, Shrisaila, Mahâtâla, Omkâra, Amareshvara, Vaidyanâtha, Rameshvara, Bhîmashankara, Vishveshvara, Triambaka, Gautamesha und Kedarnâtha. Schlangen tummeln sich auf Shivas Haupt und schmusen und winden sich auch um seinen blauen Hals, außerdem trägt er Girlanden von Totenköpfen, was ihm auch den Namen Kapâlamâlin, der MitSchädeln-Geschmückte, einbrachte. Da er Nandi, den kosmischen Bullen, reitet, nennt man ihn auch den Bullenreiter, und wegen der Mondsichel an seiner Stirn, auch Chandrashekhara. Die, die sich von seinem Äußeren abgestoßen fühlen, und die, die von seiner Übermacht allzu eingeschüchtert, beeindruckt, bedrückt sind, nennen ihn Aghora, den Schrecklichen, Scheußliche, Fürchterlichen, Gräßlichen, Entsetzlichen, den Uns-Menschen-Angst-Machenden. Die Göttin Devi, die die Tochter des Himavats ist, ist Shivas Gemahlin, seine Shakti, sein weiblicher Aspekt, seine feminine Kraft. Soll man sagen, sie leidet an Persönlichkeitsspaltung: Einerseits ist sie edel, großmütig und schön, andererseits grausam, blutlüstern und schrecklich. Ihre sanfte Erscheinung nennt man auch Umâ, Licht, 1208
Pârvati, die Den-Bergen-Zugehörige, und Gaurî, die Gelbe; ihr brutales Abbild heißt wegen seines verschlossenen Charakters Durgâ, das heißt die Unzugängliche, sie heißt auch Kâli, die Zeit, und Shyâma, die Dunkle. In Kalkutta steht ein Tempel, dort nährt man ihren grausamen Aspekt mit Menschenblut. Kâli sitzt dort, schwarz und fett; die rote Zunge rausgestreckt, leckt sie das Blut der Opfer, der Sich-Opfernden, und wer sich nicht opfert, den bekommt sie doch. - O Nimmersatte! O nimmersatte Kâli! O nimmersatte Zeit! Der dritte im Bund der allmächtigen Götter ist Vishnu, er ist der, der alles erhält, behütet, bewahrt, der die Geschöpfe hegt und pflegt und sicher durch die Zeiten trägt. Er ist ein gutmütiger, hilfsbereiter Gott, den man nicht aus Furcht verehrt, sondern liebt. Vishnus Gemahlin ist Lakshmi, die Göttin des Glücks, sie ist die Verkörperung aller weiblichen Tugenden. Sie ist sehr schön, ein bißchen voluminös vielleicht und ein bißchen zu sinnlich oder soll man sagen wollüstig. Meistens sitzt oder steht sie in einer Lotusblüte, ihrem Symbol. Wenn sie atmet, hebt und senkt sich ihr gewaltiger Busen verlockend, gierig verlangend, nach Liebe lechzend und nach ihrem Lord, der mal wieder irgendwo im Weltgeschehen am Reparieren, Retten oder Ordnungmachen ist. Ihr Schweiß ist rosa und duftet verführerischer als Frühlingsblüten oder irgendein Parfüm der Menschenwelt, ebenso ihr Liebeswasser, das in Überfluß hervorsprudelt aus der Quelle in der Ritze zwischen ihren Schamlippen. Ihr Sohn heißt Kâma, er ist der Gott der Liebe und der Leidenschaft, er trägt Pfeil und Bogen, der Bogen ist aus Zuckerrohr und seine Pfeile haben Blütenspitzen, er reitet einen Papagei, wenn er nicht gerade mit seiner Gattin beschäftigt ist. Seine Gattin ist Rati, die Göttin der Begierde, eine geilere Version der Lakshmi, eine Tochter Dakshas, der ein Sohn Brahmas ist. Es gibt drei Welten: die Welt der Devas, welche göttlich sind, der Einfältige sieht nach oben und meint, das blaue Firmanent sei der Götter Heimat, unsere Welt, mit der Erde, der Sonne, den Planeten, 1209
allen Systemen und Galaxien, mit Metallen, Pflanzen, Tieren und Menschen, und die Welt der Asuras, welche Anti-Götter sind, gibt es auch; es ist keineswegs die Unterwelt ihre Heimat und schon gar nicht die Hölle, sondern alle drei Welten bestehen gleichzeitig, nicht untereinander, nicht nebeneinander, sondern an gleicher Stelle, so daß es eigentlich nur eine Welt gibt, und hätte unser kognitiver Apparat einen breiteren Frequenzbereich, könnten wir alle Welten in einer wahrnehmen. Die Devas sind die moralischeren, und werden allgemein als gut angesehen, und die Asuras als böse, doch das ist ein vorschnelles Urteil, auch die Asuras besitzen Moral, aber sie sind auch grausam, aggressiv und machtbesessen, ihr Streben ist die Herrschaft über die drei Welten. Dagegen wehren sich die Devas. Auf die Art erhalten die Asuras eine schöpferische Spannung in der Welt, die Entwicklung und Fortschritt garantiert. Wäre dem nicht so, würden alle Wesen nur vor sich hin lächeln, anderen Gutes tun wollen und nicht können, da ihnen der Geist und die Fähigkeit dazu fehlten, so würden sie Körner sammeln, sich aber schämen, sie selbst zu essen, würden sie dem Nachbarn schenken und der würde seinerseits auch etwas schenken, und am Ende grinsen sie sich alle an mit weit aufgerissenen, leeren Augen, mampfen Körner und denken: `Wir haben uns lieb.' Dieses wehleidige, weinerliche Lächeln aller Orts wäre so widerlich wie die weibischen Fratzen der christlichen Missionare, die dieses Land frequent heimsuchen, um die wirren Theorien von ihrem Jammergott und der unbefleckten Empfängnis zum Besten zu geben, diese unendliche Leere der Gesichtsausdrücke und Hirne. Auch Dummheit ist eine Sünde. Was manch ein Frommer nicht zu wissen scheint. Welche Armut wäre den Welten beschert, gäbe es nur den Einfluß der Devas, das Gute! Was wäre das Atom ohne seine negative Ladung! Das Reich der Devas regiert Indra, ein Mann von Weltformat, er regiert mehr oder weniger weise, manchmal steigt ihm die Macht zu Kopf, und 1210
dann benimmt er sich entsprechend daneben. Einmal verführte er Ahalyâ, die Frau des Weisen Gautama. Gautama verfluchte ihn dafür, und tausend vulvenartige Narben erschienen auf Indras Körper, weshalb er auch den Namen Sayoni, der Mösenmarkierte, bekam. Später wurden sie dann in Augen verwandelt, daher der Name Sahasrâksha, der Tausendäugige. Aber Indra ist auch der große Held, der, als das Wasser noch nicht floß und das Licht noch nicht hell war, die tausend Barrieren durchbrach, die Felsen zersprengte, die Höhle öffnete, in der das formlose Urmonster Vrtra hauste und den Himmel, das Wasser und die heiligen Kühe verwahrte. Er teilte das Existierende vom Nicht-Existierenden, das heißt vom Potentiellen, das Obere vom Unteren, das Diesseitige von Jenseitigen, den Himmel und die Erde. Er nahm dem All das uranfängliche Chaos, die Trägheit und die Dunkelheit, er ließ die Elemente sausen und das Elektron um den Kern und die Blitze zucken, die das Leben schufen. Er bescherte den Menschen das Licht, entzündete die Sonnen, die vormals verborgen lagen im Dunkel der Unendlichkeit. Das Licht leuchtet Menschen und Seelen, auf daß sie den Weg finden, der zum Himmel führt. Und er befreite die Kühe, die den Wesen den Nektar des Lebens geben und durch ihr Beispiel Gewaltlosigkeit und Mitgefühl lehren, so daß die Welt kein Kampfplatz aller gegen alle würde. Doch nur wenige verstanden die Lehre, zu wenige. Man schlägt und schlachtet die Kühe, und so auch den Menschen. Die Sonne der Wahrheit ist der Zustand des Seins, der der Spiegel der kosmischen Ordnung ist, der selbst die Götter gehorchen. Augen sind Sonnen. Denn was wären die Sonnen ohne Augen? Unsichtbare Gebilde, nicht existent. Indras Augen sind Sonnen, der Tausendfachsehende sonnt sich in seiner Weisheit.
Von der Zeit
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Obwohl die indische Mythologie eine Zeiteinteilung kennt, die vom kleinsten Partikel materieller Substanz, dem Paramanu, bis zum größten und mächtigsten der Götter reicht und Jahrmilliarden umfaßt, so lautet doch ihr wichtigstes Theorem: Zeit und Raum sind nur Vorurteile unserer Sinne. Die Wahrheit liegt jenseits von ihnen, außerhalb der Welt der Menschen, Manen und Götter. Der unfaßbare Augenblick der Gegenwart ist eine sansarische Gaukelei aufblitzender Erscheinungen, so schnell verschwunden wie erschienen, eine fragwürdige Existenz zwischen den beiden Nicht-Existenzen Zukunft und Vergangenheit. Unfaßbares, eingeklemmt zwischen zwei Nichts, ist unsere irrende Existenz. Für die Inder ist das Paramanu die kleinste Ausdehnung des Raumes, und die Zeit, die das Sonnenlicht braucht, um diese Distanz zu überbrücken, ist die kleinste Zeiteinheit. Die Liebe, die das ganze Universum durchzieht, die Anziehungskraft, die alles Sinnliche regiert, macht auch hier nicht halt, und die Vereinigung der Paramanus schafft das Atom, deren Vereinigung das Molekül schafft, die wiederum in ihrer Vereinigung uns eine sichtbare Welt vortäuschen. Und von Bewußtseinsstufe zu Bewußtseinsstufe vergrößern sich die Zeiteinheiten. Tag und Nacht sind dem Menschen Arbeits- und Ruhezeit. Doch den auf höherer Ebene existierenden Manen, die sich am Mond orientieren, erscheint der Tag zwei Menschenwochen zu dauern und die Nacht ebenfalls, und den Göttern des Himmels dauert der Tag ein Ayana, das ist die Zeit, die die Sonne auf ihrer südlichen Bahn verbringt, und die Nacht ist ihnen die Zeit des nördlichen Solstitiums. Zwei Ayanas aber sind dem Menschen ein Jahr. Die Lebenserwartung eines jeden Wesens soll seiner Welt entsprechend hundert Jahre betragen, was heißt, daß auch die Götter des Himmels nach 36 500 Jahren sterben.
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Doch auf dem goldenen Berg Meru, der hoch über den drei Welten thront und die Narbe des großen Rades des Daseins ist, von wo das All seinen Ausgang nahm und wo es wieder sein Ende finden wird, doch nur um von neuem auszubrechen - rhythmisches Entzücken, taumelnder Tanz Shivas, unendliches Pulsieren - dort, wo die erhabensten Übergötter residieren, hat die Zeit für uns unerfaßbare Dimensionen angenommen. Das Kalpa, ein Schöpfungstag Brahmas, in dem sich Brahma zum Universum ausdehnt, erstreckt, entfaltet, entspricht indischen Berechnungen zufolge unter Berücksichtigung aller Relativitäten 4 320 000 000 Menschenjahre, gleich lang ist das Pralaya, die Nacht, in dem, alles auflösend, Brahma seine Schöpfung, das heißt sich selbst, wieder zurückzieht. Jedes Kalpa ist in tausend Zyklen von je vier Yugas unterteilt, jeder dieser Zyklen dauert den tausendsten Teil eines Tages im Leben Brahmas, also 4 320 000 Menschenjahre. Die Yugas nennen sich Satya-, Treta-, Dwapara- und Kaliyuga. Die Satya-Yuga dauert 1 728 000 Jahre, es ist die Zeit der Tugend, in der das Böse unbekannt ist. Es gibt nur eine Kaste: Hamsa und nur ein Ziel: Wahrheit. Die Bewohner dieser Zeit leben 4 000 Jahre und sexuelle Vereinigung ist unbekannt; Nachkommen werden durch reine Willenskraft gezeugt und ohne blutigen Umweg pur und rein und in ganzer Herrlichkeit in die Welt gesetzt. Die Treta-Yuga dauert 1 296 000 Jahre und kennt nur ein Ziel: Wissen. Der Einfluß der Tugend ist um ein Viertel gesunken. Die durchschnittliche Lebenserwartung in dieser Zeit 3 000 Jahre, bloße Berührung schafft Nachkommenschaft. Die Dwapara-Yuga, wo der Einfluß der Tugend auf die Hälfte geschrumpft ist, dauert 864 000 Jahre, die einzelnen Individuen leben bis zu 2 000 Jahren, Kinder sind die Folge der geschlechtlichen Vereinigung von Mann und Frau. Es war gegen Ende dieser Yuga, daß die Mahabharata-Familie die Waffen erhob und sich gegenseitig 1213
niedermetzelte und das ganze glorreiche Geschlecht der KshatriyaKaste mit sich riß. Nie wieder erreichten Menschen die Größe und Herrlichkeit dieser Helden, obwohl viele Jahrtausende später, als die Welt der Menschen einem Ameisenhaufen glich, eine kollektive Anstrengung aller fast etwas ähnlich Großes vor dem Untergang aufflackern ließ. Die gegenwärtige Yuga ist die schwarze Zeit, die Kali-Yuga, die letzte Zeit vor der Zerstörung und Neuschöpfung; sie dauert nur 432 000 Jahre, das Böse dominiert die Welt und die Gedanken, das Leben ist eine unsichere Sache, man weiß nicht, wie lange man lebt, aber nur kurz, wer hundert Jahre erreicht, kann sich glücklich schätzen. Kinder sind das Produkt unnatürlicher und perverser Ausschweifungen; Mord, Lust und Geilheit durchziehen das tägliche Leben, beherrschen Politik und Religion; Heuchlern und Verbrechern tut man Ehre an; das Ziel der Zeit in den Hirnen der Bewohner heißt: Gold, Macht, Sex. Und was die Götter damit bewirken wollen, verraten sie uns nicht. Und so ist Brahma auch nur ein treuer Handwerksmann, der tagtäglich die drei Welten aus sich heraus neu schafft, in denen die Götter, Manen, Menschen und alle subhumanen Wesen ihrem Karma entsprechend wieder und wieder geboren werden. Doch selbst Brahma der Schöpfer wird nach hundert arbeitsreichen Jahren sterben und mit sich reißen alle kreierten Welten, aufgesogen vom ewigen, alles umarmenden Lord, über den die allmächtige Zeit machtlos ist. Denn es sind nur die sinnlichen Wesen innerhalb der Schöpfung, seien's Götter, Manen, Menschen oder Würmer, die den Beschränkungen von Zeit und Raum unterliegen, außerhalb dieser Illusion aber ist man frei; jenseits des Berges Meru, dessen Equivalent im Menschen die Wirbelsäule ist, liegt das Land der Zeit- und Raumlosigkeit, formlose Wirklichkeit.
Impressionen Kalkutta
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Der junge Bettler hatte sich einen neuen Heulton ausgedacht, der besonderes Mitleid erregte; ihn unterrichtete er jetzt für ein paar Paisa den anderen Bettlern, und bald war überall dieser neue Ton zu hören. Wie einst ihre Eltern oder Großeltern in Kraft-durch-Freude-Bussen durch das Warschauer Getto fuhren und verachtend von den Hungernden dachten, so fuhren die jungen Deutschen jetzt durch Indien und glotzten Verhungernde an. In Kalkutta gab es besonders viel zu glotzen.
Mahatma Gandhi sagte mal, die größte Gewalt, die man einem Menschen antun konnte, war der Hunger. In Kalkutta waren viele hungrig. Viele hungerten nach einer Hand voll Reis, aber am hungrigsten war die schwarze Göttin Kâli. Wie hungrig war sie und wie kam sie nach Kalkutta? Hätte sie nicht in einer reicheren Stadt fressen können? Shiva hatte mehrere Frauen oder eine Frau mit mehreren Aspekten, was vielleicht mehr oder weniger das Gleiche war oder auch nicht, es war ganz sicher das Gleiche, wenn man behauptete, es gäbe auf der Welt nur eine Frau, und all die verschiedenen weiblichen Wesen, die auf der Erbe herumliefen, waren nur verschiedene Ausdrücke, Aspekte, Erscheinungsformen dieser einen Frau. Eine solche Interpretation hätte die Monogamie der Menschen außerordentlich erleichtert. Auf jeden Fall fand Shiva, als er eines Tage erschöpft von der Arbeit nach Hause kam - es war vor langer, langer Zeit, als die Menschen noch nicht arbeiteten, sondern nur ernteten und sammelten, und die Götter allein ackerten und säten -, seine Frau Kâli oder diesen einen Aspekt seiner Frau tot auf dem Fußboden, was für den Gott die 1215
Läufer, Ausläufer am Fuße des Himalayas waren. Kein Abendessen und dann so ein Trauerfall. Der Gott geriet ins Delirium. Ein Delirium oder ein sogenanntes delirantes Syndrom brachten immer eine schwere Bewußtseinstrübung mit sich, Wahnvorstellungen, Erregung, Verwirrtheit, Desorientiertheit. Delirien entstanden bei Fieber, schweren Krankheiten, Hirnhautentzündungen, akuten Vergiftungen, Drogen oder bei schwerem Suff, das häufige Alkoholdelir, der Rausch, aber es gab auch ein Alkoholabstinenzdelir bei Säufern, und so gab es auch bei Essern ein Hungerdelirium, wenn sie längere Zeit nicht gegessen hatten. Ein Delirium war gefährlich, Herz- und Kreislaufversagen, und die Fehltritte, die man im Delirium tat. Auch Shiva tat im Delirium nicht das Nächstliegendste, nämlich den Leichnam der Göttin der Zerstörung auf schnellstem Wege in eine der einundzwanzig Etagen der Hölle zu befördern, sondern hob den Leichnam auf seinen Kopf und fing an zu tanzen. Er tanzte einen ekstatischen Tanz, den Tanz des Todes. Dabei trampelte er auf dem Erdboden soviel kaputt, daß die Geschöpfe der Sansara sich große Sorgen machten und zu Vishnu, dem Bewahrer des Weltalls gingen, und ihn baten, etwas zu tun. Vishnu tat etwas. Er erhob seinen Zeigefinger. Um seinen Zeigefinger kreiste seine Waffen, der Diskus Sudarshan Chakra. Diese Waffe war zwar ganz rund wie ein Fingerring, bloß größer, daß sie nie den Finger berührte, aber trotz ihrer Rundheit kehrte sie wie die Wurfhölzer der australischen Urbevölkerung zu ihrem Werfer zurück. Um die Sudarshan Chakra zu werfen, brauchte Vishnu nur den Finger zu heben, dann hob die Waffe auch schon von selbst ab. Die Bittsteller sahen erstaunt die Waffe davon fliegen. Viele hofften, sie würde den Gott der Zerstörung endgültig zerstören. Die Waffe tötete aber niemanden. Der Gott Vishnu war ja ein Gott der Erhaltung, er würde selbst den Tod erhalten und die Zerstörung. Alles, 1216
was seine Waffe tat, war, eine Leiche zerstückeln, die Leiche auf Shivas Kopf, Kâlis Leiche. Leichenstücke flogen über das ganze Land. Kleine, kleine Stücke, viele, viele. Das brachte für die Menschen neue Probleme mit sich. Denn nicht nur verloren tote Gottheiten ihre Macht nie, jedes ihrer Leichenteile, auch das kleinste Stück, mußte noch, wenn es auf die Erde fiel, dort wo es landete, verehrt werden. Kâlis kleiner Finger landete am Hoogly Arm des Ganges im jetzigen Kalkutta, ihre Fotze flog irgendwo nach Mittelindien. Überall errichtete man Tempel. Aber eigenartigerweise wurde Kâli nirgends so intensiv verehrt wie in Kalkutta. Vishnus Sudarshan Chakra kehrte nach der Leichenfledderei pflichtgemäß zu ihrem Besitzer zurück. Shiva ernüchterte, als er von der Last der Leiche entlastet war, von seiner manischen Depression. Die Welt war wieder heil. Dort, wo der kleine Finger der Göttin gelandet war, hauste sie jetzt in einer schwarzen Statue und hatte unheimlichen Appetit, Hunger und Durst. Täglich wurden ihr Tiere geopfert. Aber es gab einmal eine tantrische Sekte, die wußte, was die Göttin eigentlich wollte, war Menschenfleisch. Gäbe man ihr Menschenfleisch, würde sie den Spender mit übermächtigen Kräften belohnen. Dreizehn Menschen sollte man möglichst spenden, davon sollte mindestens die letzte eine fett gemästete Jungfrau sein, die gerade erst das erste Mal menstruierte. Nach einem solchen Menschenmahl mit Jungfrau als Nachtisch würde die Göttin einen physisch und psychisch unbezwingbar machen, außer es hätte jemand noch mächtigere Mantras auf Lager, fanatischer geopfert und gemurmelt. Die Touristenbusse fuhren auch zum Kâli-Tempel. Ein faszinierender Greuel wie vor KZs und Gaskammern durchfuhr die gierige Meute. Man gackerte nervös und knipste. “Schade, daß keine Jungfrauen mehr 1217
geopfert wurden.” - “Sind doch Idioten, diese Inder”, meinte eine christliche Gesinnte.
Indien war ein so extremes Land, extremer als andere Länder der Welt. Alle Extremitäten Indiens fand man in der restlichen Welt nur verdünnt oder abgeschwächt vor. Der Brahmane Masuriya Din hatte einen Schnurrbart von über zwei Meter fünfzig, und Swami Pandarasannadhis verfilzte Haare waren fast acht Meter lang, Bhima war bartlos, einige rasierten sich den Kopf kahl, andere hatten eine natürliche Glatze, Shridhar Chillals Daumennagel erreichte eine Länge von einem Meter, nervöse Leute fraßen auch in Indien ihre Fingernägel ab, Mrs. Shakuntala Devi multiplizierte zwei willkürliche, dreizehnstellige Zahlen in achtundzwanzig Sekunden richtig miteinander, viele hatten nicht einmal das kleine Einmaleins gelernt. Das Land steckte voller Prüderie, aber kannte eine Kâmâsûtra mit Streichel- und Stellungsanleitungen für Sex, und stellte seine männlichen Götter als fickende Statuen dar, die Götter fickten dann meist ihren eigenen weiblichen Aspekt, und in Khajuraho gab es fickende, schwanzleckende und analverkehrende Skulpturen. Aber natürlich, wo Sex ein Tabu war, wurde Sex überbewertet und steckte in allem, selbst in den Dingen, die nicht sexy waren, wie diese Anleitung zum Großer-Poet-Werden aus einem alten, sanskritischen Tantratext bewies: “Man nehme an einem Dienstag um Mitternacht ein einzelnes Schamhaar seiner Partnerin, zupfe es an der Wurzel aus, befeuchte es mit Samen aus dem eigenen Penis, tauche es dann in die menstruierende Vagina der Partnerin, danach opfere man das Haar der
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Göttin Kâli auf einem Kremationsplatz, dann wird man ein großer Poet werden und wie ein reicher Râja hoch auf Elefantenrücken reisen.”1 Der Grund, daß Indien so wenig große Poeten hervorbrachte, die auf Elefantenrücken reisten, war darin zu finden, daß es für indische Frauen Tabu war, ihren Männern während der Tage die blutverschmierte Muschi zu zeigen. In Deutschland gab es solche Poeten natürlich überhaupt nicht, weil dort bisher niemand diesen Trick kannte. Die indische Geschichte war voller Kriege, kriegerischer als die Geschichte vieler anderer Völker. Im Kastensystem gab es extra eine Kriegerkaste, deren Aufgabe das Waffenhandwerk war und das Erwerben von möglichst viel weltlicher Macht, und viele große Krieger wurden vom Volke verehrte. Gleichzeitig gab es aber die Idee der Gewaltlosigkeit, Ahimsa. Mahatma Gandhi hatte sie im Kampfe gegen die britische Koloninalherrschaft erfolgreich angewandt. Böse Zungen oder ehrliche behaupteten allerdings, hätten die Inder gewalttätig auf die Briten eingeschlagen, wären die schon ein paar Jahrzehnte früher abgehauen, und Indien unabhängig geworden. Und gegen einen Hitler oder Dschinghis Khan hätte Ahimsa sowieso nicht gesiegt, und auch der indische Tiger hätte Gandhi gefressen, ohne Rücksicht darauf, daß er fastete oder Frieden predigte. Die Briten hatten trotz Kolonialherrschaft so etwas wie eine humanistische Tradition und ein naszierendes Rechtsempfinden. Unter ebenso günstigen Bedingungen operierte später Gandhis Nachfolger Martin Luther King in den USA. Wären alle Weißen Klansmänner gewesen, hätte auch er keine Chance gehabt. Trotz aller kriegerischen Tradition und Gewalt gegen Unberührbare und Unterkastler kannte der Hinduismus also auch eine Tradition der Gewaltlosigkeit, nicht so sehr gegenüber Menschen, viel mehr gegenüber Tieren, daher die vielen Vegetarier.
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Aus `The Art of Tantra' von Philip Rawson; meine eigene Übersetzung, der Originaltext war etwas feierlicher und weniger rezeptähnlich.
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Die Gewaltlosigkeit auf die Spitze trieben die Jainieten. Der Jainismus war eine Protestbewegung gegen Ritualismus, Klerikalismus und Bonzentum im Hinduismus und ging auf den Jina oder Sieger Vardhamana Mahavira 1 zurück. Mahaviras Lebenslauf entsprach in fast allen Punkten, dem von Gautama dem Buddha. Also, er war in ein Kriegergeschlecht hineingeboren worden, hatte in Luxus gelebt, hatte dann seine Familie verlassen und geistliche Wahrheit und Erfüllung gesucht, indem er fastete und sich allen weltlichen Dingen entsagte. Solange er dem Parsvanatha-Orden angehörte, trug er ein weißes Tuch. Aber Parsva war nur der vorletzte von vierundzwanzig Tirthankaras, Furtbereitern; er, Vardhamana Mahavira, war der letzte, er ließ die letzte Hülle fallen und als Himmelgekleideter ging er fortan seinen Weg auf der Suche nach Wahrheit. Damals waren die Inder noch nicht so daran gewöhnt, nackte, heilige Männer zu sehen, und Mahavira mußte viel Spott, Spucke und Schläge auf seiner Wanderung einstecken. Er ertrug sie geduldig. Als er sich auch noch vorsah, keinem Tier, auch nicht den kleinsten Flöhen oder den lästigen Mücken zu schaden, erntete er noch mehr Unverständnis bei der Bevölkerung. Und als er mal wieder in Meditation saß, schlugen sie ihm Nägel in den Kopf, verbrannten seine Füße und drehten ihm das Genick um. Mahavira ließ sich aber davon nicht irritieren. Er meditierte - martyrisierte sich weiter und vertierte dabei immer mehr und odorisierte immer unangenehmer. Den Stinker, also den Anus und die Analfalte, mal abzuwischen, war für ihn ein Sakrileg, wegen der vielen kleinen Würmer, die sich da bei ihm tummelten. Als Adjuna ins indische Land kam, mehr als zweieinhalb Jahrtausende später, hatte sich die Bevölkerung schon längst an nackte, schmutzige Asketen gewöhnt, an Asketen wohlgemerkt, sie mußten in Askese leben; und selbst ein Vorhängeschloß durch den Penis getrieben zum
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Laut `The 100 - A Ranking of the Most Influential Persons in History' von Michael H. Hart lebte er von 599 bis 527 v. u. Zeitrechnung, laut Meyers Taschenlexikon starb er 447 v. Chr.
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Symbol der Keuschheit, erregte die Gemüter nicht, aber Adjunas nahezu permanente Gliedsteife war ein ständiger Anlaß zu Ärgernis, dazu war er noch sauber, achtete auf körperliche Hygiene (von hygies = gesund, munter), wusch sich, so daß nicht eine einzige Ader seines erigierten Gliedes unter Schmutz verborgen war; und wenn Adjuna nicht immer wieder kräftig mit seinem Boden Gandiva auf die Spießer eingeschlagen hätte, wer weiß, was ihm dann alles passiert wäre. Aber zurück zu Mahavira mit seinem brav nach unten hängendem Glied, er bekam also, während die Leute ihn mit Nägeln und Feuer traktierten, die Idee, daß es eine Sünde war, anderen Lebewesen zu schaden oder deren Leben zu nehmen. Die absolute Gewaltlosigkeit predigte er. Und es gab Leute, die ihm zuhörten. Man sollte aufpassen, daß man, wenn man einen Schritt tat, nicht auf ein Würmchen oder anderes Tierchen trat, daß man beim Essen keine Milben oder ähnliches verschlang, man sollte also möglichst bei Helligkeit essen. Und es gab Leute, die seinen Lehren folgeleisteten, und auf ihren Wegen fortan auf Würmchen Ausschau hielten. Fleischkonsum war tabu, aber auch Gemüse besaß die Lebenskraft Jiva, war also ein Lebewesen und Gemüseverzehr daher Mord, wenn auch nur ein kleiner Mord. Denn der weise Mahavira wußte, Pflanzen hatten die Jivazahl eins, Würmer schon das doppelte, nämlich die Jivazahl zwei, Ameisen drei, die anderen Insekten sogar vier, alle anderen Tiere, also Fische, Vögel, Hühner, Eidechsen, Schlangen, Schildkröten, sämtliche Säugetiere, wozu ja auch der Mensch zählte, hatten die höchste Jivazahl, nämlich fünf. Man befand sich also in einem Dilemma, da der Mensch kein Blattgrün besaß, das ihn zur Photosynthese befähigte. Was sollte man essen? Ein Kompromiß wurde gefunden, bevor man verhungerte: Nur soviel essen, wie eben nötig. Nicht in Kalorien, sondern in Jivazahl.
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Landwirtschaft war seinen Anhängern verboten, weil sie beim Pflügen im Erdboden Leben zerstören würden. Knollen, Karotten und andere Wurzeln durfte man nicht essen, weil beim Ausziehen aus dem Boden kleine Lebewesen zu Schaden kommen konnten. Feuer durfte man nicht im Dunkeln machen, weil die Motten hineinflogen, man also deren Selbstmord verschuldete. Töpfe durfte man nur auf den Boden stellen, wenn man sich vergewissert hatte, daß an der Stelle kein Ungeziefer herumkrabbelte. Da wie gesagt auch Pflanzen Leben besaßen, konnte man sie auch nicht essen, ohne sich schuldig zu machen. Was blieb, außer zu verhungern (das Beste) und Selbstmord? Früchte, Körner und Getreide und ein bißchen Gemüse mit Schuldgefühlen. Jedes Lebewesen, so ging die Lehre, hatte Jiva, die Lebenssubstanz, jedes nach seiner Art, die durch die zahllosen Existenzen in dem Rad von Geburt und Tod gedreht wurde, und nur durch die extreme Form von Ahimsa, die der Jainismus verlangte, konnte man diesem Elend von Dasein im Diesseits entkommen, deshalb war all diese Gewalt gegen einen selbst nötig, diese Selbstquälerei und Verleugnung der eigenen Wünsche. Das Dasein wurde ein wirkliches Elend, das man nicht noch einmal durchmachen wollte. Viele heilige Männer hungerten sich im Alter (warum erst dann?) zu Tode. Wer verhungerte, schadete keinem anderen Lebewesen. Später wurde der Tod durch Immunschwäche, eine noch größere Tugend, da dann die eigenen Phagozyten keine Bakterien und anderen Mikroorganismen mehr fraßen. Bakterien waren die Dreiachtelstarken unter den Lebewesen, moderne Digambaras gaben ihnen nach langer, innerer Einsicht und ausführlicher Rechnerei diese Jivazahl. Alexander Fleming hatte das Leben vieler Staphylokokken auf dem Gewissen. Er war das Gegenteil von Mahavira und anderen Heiligen und Heilsbringern. Obwohl die Jainieten weder Ackerbau, noch Viehzucht, weder Fischfang, noch die Jagd betrieben und auch kein Handwerk ausübten, 1222
waren keineswegs alle Nieten, was Erfolg in der menschlichen Gesellschaft betraf, im Gegenteil, viele waren erfolgreich, nämlich als Händler, Geldverleiher, Geschäftsleute, Industriebosse, oder wo sonst immer das große Geld winkte. Solange sie nicht unmittelbar selbst den anderen Lebewesen schadeten, war es für sie keine Sünde, ein Schädling zu sein. Wenn ihre Fabriken die Umwelt verschmutzten, die Kinder der Arbeiterschaft wegen der knauserigen Löhne verhungerten oder durch ihre Halsabschneidereien Vertragspartner verarmten, so ging das nicht auf ihr Konto zur Erlösung. Und auch wenn der Mann, der für sie den Weg freifegte von Ungeziefer, einem Erdwurm wehtat, so hatte der Mann dafür zu büßen, vielleicht mit einer Geburt als Erdwurm, aber nicht sie selbst, so war ihre feste Überzeugung. Unter den Menschen war es immer so: Ein Weiser hatte eine Idee, zum Beispiel, nackt herumzulaufen und nicht auf Würmer zu treten, fand eine Gefolgschaft, die Gefolgschaft wurde größer und größer, und bald war sie groß genug, um neue weise Leute hervorzubringen, meist gleich mehrere, deren Weisheit sich nicht mit der Weisheit der anderen vertrug, so daß sich die Gefolgschaft spaltete. So war es auch bei den Jainieten. Die einen waren Anhänger des Mönchsorden der Shvatambaras, also der Weißgekleideten, sie waren für ein Leintuch um die Lenden, wie es Mahavira zuerst getragen hatte, die anderen, die Digamharas, oder Luftgekleideten, waren für Nacktheit wie Mahavira in seinen letzten Tagen. Nun gab es in Nagpur eine große Statue von Parsva, Mahaviras Guru und dreiundzwanzigster Wegbereiter. War sie ursprünglich nackt oder trug sie einen Lendenschutz? Das wußte keiner mehr. Die Shvatambaras kleisterten der Statue immer wieder den Schwanz zu, und die Digambaras meißelten es immer wieder ab, nebenbei schlug man sich gegenseitig die Köpfe ein. Die indische Regierung konnte die beiden Haßgruppen nur mit Polizeigewalt und Ausgangssperre auseinander halten und so ein größeres Blutvergießen verhindern.
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Ach ja, und dann gab es da noch den kleinen Jungen, der wie Mahavira auf die Idee kam, daß, wenn man Fleisch aß, man für den Tod eines Tieres verantwortlich war, so daß er sich fortan weigerte, Fleisch zu essen. Als man ihm dann andeutete, daß auch Pflanzen Leben besaßen, weigerte er sich auch noch standhaft, Gemüse zu essen. Schließlich machten sich seine Eltern so große Sorgen wegen seiner Gesundheit, daß sie versuchten, ihn zu zwingen, wieder normal zu essen, da wurde er wütend, und bedrohte seine Eltern mit dem Messer. 1
Es war so schwer, Menschen zu lieben. Menschen widersprachen, Tiere bissen höchstens mal zu. Und Tierfreunde vergaßen all zu leicht, daß auch Menschen Tiere waren. Und Menschen, die sich auch noch um die Schmerzen der Pflanzen sorgten, hatten für die Schmerzen der Menschen den Blick verloren. Die Bauchschmerzen eines einzelnen Mitmenschen hätten einen Menschen mehr sorgen sollen als das Leben von Hunderten von Anis-, Arnika-, Dill-, Fenchel-, Kamille-, Schafgarben-, Tausendgülden- oder - welche Heilkräuter auch immer helfen mochten. Selbst die heiligen Kühe fraßen ihr Gras ohne schlechtes Gewissen und die waren heilig. Warum sollte denn da nicht der Mensch, der nicht heilig, sondern immer gewissenlos war, nicht essen, was ihm schmeckte?
Am Affenberg
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Diesen tatsächlich passierten Fall schilderte die Kolumnistin Jean Pearce in der `Japan Times'.
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Komm, gehen wir auf den Affenberg und füttern wir die Affen! Und an halbverhungerten Bettlern ging es vorbei, eine prächtige Treppe hoch... Nein, sie führte nicht zu den Affen, sondern zu einem Tempel, zu einem Tempel der Götter des Himmels. Die Affen, HanumanLanguren, Verwandte des Windgottes, ignorant ihrer göttlichen Verwandtschaft und gleichgültig den hinduistischen Göttern, die hier verehrt wurden, gegenüber, sie hingen und tobten zu beiden Seiten der Treppe, und für die ausländischen Touristen, denen die heidnischen Götter genauso egal waren, waren diese Affen eigentlich die Hauptattraktion, denn sie waren fast zahm und sooo süß, wenn sie an den Taschen zerrten oder mit ihren kleinen Händchen eine geschlossene Menschenhand aufpuhlten in der Hoffnung, etwas Eßbares darin zu finden, am süßesten aber waren sie, wenn sie in der Art der Bettler ihre Handflächen zusammenlegten und bettelten. Und während die Einheimischen mit Butter beladen, mit der sie die Lingams und Yonis der Tempelnischen bestreichen wollten, sowie mit Reis und Leckereien, die sie davor opfern wollten, die Treppe hochstampften, stürzten die Touristen, soweit sie kein Futter für die Affen mitgebracht hatten, wieder die Treppen hinunter, vorbei an den hungernden Menschen mit den schmutzigen Gesichtern und deren häßlichen Kindern mit den aufgeblähten Bäuchen, und kauften am Stand eilig Erdnüsse für die Affen. Dann liefen sie schleunigst wieder zurück, das Almosen-Gestammel der Hungernden nicht hörend, nicht hören wollend, beflissentlich weghörend. Sie liefen keuchend die Treppen hinauf, ihre teuren Kameras und die schweren Objektive, Teleobjektive, Zoomobjektive, Weitwinkelobjektive und Superweitwinkelobjektive, sogenannte Fischaugen, sprangen auf ihren Bäuchen. Die Affen erwarteten sie schon. Warf man ihnen eine Nuß hin, riß der stärkste Affe sie an sich, und warf man die Nuß einem schwachen Affen vor die Füße, so kam der stärkste Affe angestürmt und jagte ihn weg, besaß der schwache Affe die Frechheit, die Nuß behalten zu wollen, setzte es Prügel, bis er sie fallen ließ. 1225
Die Affen sind doch wirklich wie Menschen. Wer hat nur den Ausdruck von der Affenliebe geprägt? Bestimmt jemand, der einen Affen hatte. Ich glaub', ich kauf' mir auch einen Affen, bevor mich noch ein Mensch laust oder gar kratzt. Und so kam es, daß, während die Götter ihre Geschlechtsteile mit Butter beschmiert bekamen und die geopferten Speisen unberührt ließen und die Touristen aus den Wohlstandsländern Affen mästeten und die Hungrigen hungrig blieben, Adjuna in die Kneipe ging und sich von seinem letzten Groschen einen Rausch antrank. Und wenn du zu den Hungrigen gehörst, beklage dich nicht, du würdest genauso menschlich handeln oder äffisch, was das Gleiche ist. Indien war so extrem, und das betraf alles. Es gab wohl keine Extremität, die Indien ausließ. Was man nicht in Indien fand, fand man auch woanders nicht. Aber was man woanders fand, fand man auch in Indien. Und diese Aussage war genauso wahr wie die stolze Behauptung der Inder, daß das große Epos ihrer heroischen Vorzeit, das Mahâbhârata, das dieser Vita Adjuna vorausging, alles enthielte, was man auf der Welt vorfände. Neben der extremen Ungerechtigkeit in der indischen Gesellschaft, war der extreme Unterschied von dumm und schlau am offensichtlichsten. Und selbst Ausländer hatten Anteil an diesem X-tremismus, durften --durften haben. Viele reiche Inder zahlten für eine Dienerschaft, meist sehr knauserig, die sie umschmeichelte und ihnen völlig ergeben war. Einige junge Leute aus dem Westen, die sich etwas Geld gespart hatten, zahlten einem Guru, meist fürstlich, dafür, daß sie ihm ergeben sein durften
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und seine Füße küssen konnten. Extremere Fälle tranken sogar den Urin ihres Gurus.1
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Aus Margaret Bhatty “An Atheist Reports from India” (1987, American Atheist Press, Austin, Texas) S.86: “Gib Deinem Guru die Ehre, die Du einem Gott schuldig bist”, riet Swami Lotus-Fuß, der Begründer des Hare-Krishna-Kultes. Die Verehrungsrituale sind die gleichen, wie für Götter. Inzens wird vor ihnen geräuchert, die Verehrer fallen flach auf die Visage und stellen Opfergabe zu Füßen des Gurus. Sie trinken das Wasser, in dem der Guru seine Füße gewaschen hat - charan-amrit - Fußambrosia! Nur ein kleines Bißchen fantasievoller als das Bespeicheln von des Papstes dicker Zehe. Einige Gläubige gehen sogar noch ein Stück weiter und essen As-prasad (heiliges Futter), den von ihrem Guru durchgekauten und ausgespuckten Betelnußbissen (Betelbissen: in Indien eine Sucht wie das Rauchen). Wahrscheinlich auf gleicher Ebene wie der kannibalistische Symbolismus des Abendmahls, wo man seines Gottes Fleisch einnimmt - für sympathetischen Zauber.
Gita Mehta berichtet in ihrem Buch “Karma Kola”, New York: Simon & Schuster (Touchstone Books), 1981, von einem britischen Aristokraten, der einen Gottesmann im Innern Andhra Pradesh aufgesucht hatte. Dieser Guru war nicht nur berühmt dafür, daß er Erleuchtung erlangt hatte, sondern auch dafür, daß sein Pipi sich in duftendes Rosenwasser verwandelte. Als ausländischer Aristokrat erhielt er einen Ehrenplatz vor dem Toilettenzelt des Gottesmannes, wo der sich von seiner ersten morgendlichen Mirakel-Mikturation befreite. Zu seiner Verwunderung drängte die Menge der Verehrer ihn vorwärts, und der Guru selbst streckte seine Hand heraus und bat ihn herein. In dem Zelt deutete der Guru dem Engländer an, daß er ihm die Ehre gebe, die Schüssel mit dem Urin hinaus zu den Gläubigen zu tragen. Das warme Gefäß wurde ihm in die Hand gegeben, er schnüffelte ein bißchen daran. “Es roch wie normaler Urin”, bemerkte der Aristokrat später. Die Gläubigen jubelten ihm zu, als er aus dem Zelt herauskam, und machten ihm dringliche Zeichen, unterstützt von des Gurus Assistenten. Bald wurde ihm klar, daß ihm, dem Englishman - “in einer Geste nie dagewesener Großmütigkeit” - erlaubt wurde, den ganzen Inhalt des Gefäßes allein auszutrinken. “Es schmeckte bemerkenswert wie normaler Urin”, bemerkte der britische Aristokrat später. (Ende des Zitats aus Margaret Bhattys Artikel) Und ich, Holger Hermann Haupt, stelle fest, daß der Aristokrat für ein Mitglied der Nobilität eine bemerkenswerte Ahnungslosigkeit an den Tag legte. Gerade als Adliger hätte er wissen müssen, daß Religion und Hokuspokus nur Tricks sind für das dumme Volk. Seine Vorfahren haben sich mit so was Generationen lang oben gehalten, bzw. andere unten. Hätten seine Eltern ihm das nicht besser erklären können?
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Als Adjuna, der ja seinen letzten Groschen versoffen hatte, einmal eine Bleibe für die Nacht suchte, fiel ihm eine Parkanlage mit dicht bei einander stehenden Bäumen hinter einer hohen Mauer auf. Schnell schwang er sich hinüber, weil er dachte, da unter den Bäumen eine ruhige und ungestörte Nacht zu verbringen. Es stellte sich heraus, daß es sich bei der Parkanlage um einen christlichen Friedhof handelte. Das machte aber nichts, da die Toten tot waren und Gespenster nur in Märchen eine Rolle spielten. Er legte sich hin. Er lag noch nicht lange, da nahm er eine wandelnde Gestalt wahr. “Heh, du da, komm mal her”, sagte Adjuna zu der Gestalt. Und die Gestalt kam auf ihn zu, da sie es für eine positive Erfahrung hielt, einmal mit der nackten Seele eines Verstorbenen zu sprechen. Die Gestalt gehörte einem deutschen Touristen, Mitte zwanzig, abgebrochenes Studium, Visum überzogen. “Mein Guru hat mir gesagt, ich solle auf einem Friedhof meditieren”, sagte der junge Deutsche, “ich bin schon über zwei Monate hier und habe den Friedhof nicht einmal verlassen.”1 “Was ißt du denn? Die Leichen hier?” “Mein Guru kommt zweimal am Tag und bringt mir etwas Vegetarisches zu essen.” “Und was zahlst Du dafür?” “Für das Essen zahle ich nichts, das ist mit in den Kursgebühren.” “Was für Kursgebühren?” 1
Dieser Deutsche, dem Adjuna hier begegnete, war keine Fantasiefigur, sondern es gab ihn wirklich, der Autor (ich!) war ihm auf seiner Indienreise persönlich begegnet. Adjuna freilich war eine Fantasiefigur.
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“Na, für die Meditation. Mein Guru gibt mir auch immer Ratschläge, worauf ich achten muß, wenn ich hier auf dem Friedhof sitze. Besonders nachts. Mir ist ja schon so vieles klar geworden.” “Du hast Visionen hier, was? Ich habe auch Visionen.” “Visionen, das sind alles Trugbilder, sagt mein Guru. Du solltest ihn mal sehen. Er ist so weise. Vielleicht kannst du auch einen Kurs bei ihm mitmachen. Dann können wir hier nachts gemeinsam meditieren.” “Das möchtest du wohl gern. Allein ist das wohl ein bißchen einsam. Aber ich kann die Nacht hier mit dir verbringen, ohne deinem Guru dafür Geld zu geben. Als ich von Visionen sprach, hatte ich übrigens eine ganz andere Vision, die kein Trugbild ist, sondern wahr.” “Sie ist kein Trugbild, aber war?” Adjuna hatte die Aufmerksamkeit des jungen Mystikers geweckt. Er blickte gespannt und interessiert auf Adjuna. “Ja, meine Vision ist wahr, ...” Enttäuschung bei seinem Gegenüber, da sich das Mystische als so ganz banal entpuppte, “ ...da bin ich ganz sicher. Ich sehe deinen Guru...” “ Jaa..?” “Ja. Ich sehe ihn in einem weichen Bett in einem schönen Haus, das er sich von deinem Geld und dem Geld anderer Gläubiger, äh, leichtgläubiger Menschen gekauft hat, während er euch auf dem Dreck von Friedhöfen leben ließ.” “Ja, aber der hat doch schon alles hinter sich. Die Erleuchtung, Nirvana, und so weiter. Wenn man das alles erreicht hat, dann hat man kein Attachment mehr zu den Dingen und dann ist es egal, ob man in Luxus und Ausschweifung lebt oder in Askese.” “Nirvana ist kein Ort, es ist nirgends, man kann es also nicht hinter sich haben”, sagte Adjuna geheimnisvoll wissend. Der Junge biß an: “Du bist da gewesen. Ich fühle es. Du bist wirklich da gewesen.” Die Tränen in seinen Augen spiegelten die durch das Laubdach schimmernden Gestirne wider. 1229
`Ach, wie gerne würde ich manchmal alles hinter mir lassen', dachte Adjuna, `die Narren, die Weisheit wollen, die Prunkmännchen, die Armut predigen, die käuflichen Politiker, die Opfer vom Volk verlangen, die Lehrer, die Angst haben, daß ihre Schüler zuviel wissen, und ihnen deshalb die Bücher wegnehmen, die Kinder, die sich von ihren Eltern zu wenig geliebt fühlten und ihre Eltern überhaupt nicht lieben, und die eigene Falschheit, die Richtigkeit predigt. Aber das ist das Leben und das wird man zum Glück wirklich einmal hinter sich lassen. Neulich wollte ich noch ewig leben, jetzt bin ich schon froh, daß ich sterblich bin. Die ewige Inkonsequenz.' “Komm, laß uns schlafen gehen. Ich bin müde”, sagte er zu dem Jungen. `Ach, wäre ich doch gigantischer, als ich bin. Laßt uns gigantisch werden!' sagte er sich tröstend auf der Suche nach einer Lösung vor dem Einschlafen. Adjuna hatte bei seinem Wunsch, gigantischer zu sein, natürlich nicht daran gedacht, einen noch gewaltigeren Körper zu haben. Sein Körper war groß genug, größer und gewaltiger als der des amerikanischen Supermannes, auch sein Schlag war härter, das war nicht das Problem. Wäre er noch größer gewesen, wäre die nach ergonomischen Gesichtspunkten errichtete Welt der Menschen für ihn extrem unbequem geworden. Adjunas Unglück war, daß er sich nicht sicher war über den Weg, den man gehen sollte im Leben. Man sollte einen Weg gehen, der für einen selbst und für die ganze Menschheit zu Glück, Zufriedenheit und Wissen führte, das war sicher. Aber wo lag dieser Weg. Es bedurfte einer gigantischen Anstrengung, ihn zu finden. Man durfte auch selbst keine Leichen im Hinterstübchen haben, die einen ständig heimsuchten und klein machen wollten. Aber ein perfektes Leben ohne Leichen war nahezu unmöglich, wer keine Irrtümer hinter sich hatte, hatte keine Erfahrung bei sich und wohl auch keinen Fortschritt vor sich. Und wer sich von den verborgenen 1230
Leichen nicht heimgesucht fühlte, hatte kein Gewissen, daß ihm genug Bescheidenheit gab, die Mitmenschen auf einen ehrlichen Weg zu leiten, statt auf einen Anbetungs-Trip zur eigenen Beweihräucherung. Adjuna bekam in einem Augenblick, das Gefühl genug von der Welt gesehen zu haben, und dachte über Selbstmord nach und über Wiedergeburt. Der Trost. Wiedergeboren wollte er alles besser machen. Aber dann fiel ihm ein, daß er dann nur noch eine Leiche mehr in seinem Hinterstübchen hatte, seine eigene. Eine dumpfe Erinnerung kam in Adjuna hoch. Hatte er nicht schon einmal gelebt, vor langer Zeit, damals, im Zweistromland zwischen Ganges und Yamuna? Damals hatte er einen Weg gehen sollen. Er hatte keinen Weg gesucht. Er war kein Mahavira oder Buddha gewesen. Er hatte einen Weg gehen sollen. Er war ein Kshatriya gewesen. Der Weg war da, der Weg war klar gewesen. Der Weg hatte geradewegs in die feindlichen Kriegerreihen geführt. Aber er war nicht sicher gewesen, ob er den Weg wirklichen gehen wollte, dabei war er einer der Stärksten gewesen. Es war auch nicht Furcht gewesen, was ihn damals zurückgehalten hatte, sondern Skrupel. Krishna hatte dann irgendwas gesagt und er war dann losgegangen, -gestürmt, skrupellos. So war es bisher immer gewesen, jemand sagte was und die Leute marschierten los. Kannten sie auch privat Skrupel, einem Mitmenschen das Leben zu entreißen. Ein paar Worte von der richtigen Stelle und die Skrupel waren wie weggeblasen. Skrupel waren die Seifenblasen im menschlichen Charakter. Dabei sollten sie eigentlich die spitzen Steinchen sein, die uns zur Umkehr zwingen, wenn wir auf dem Weg sind, unsere Mitmenschen zu schlagen und zu schaden. Aber fast alle hatten sie Hornhaut an den Füßen, einige trugen sogar Stiefel, andere waren hasenfüßig und hoppelten hin und her, die aller aller wenigsten standen mit blutenden Füßen auf diesen spitzen Steinen, das waren die Unbestechlichen, die, die weder die zugeschobenen Geschenke noch die zweckdienlich dargebotenen Lügen als Bestechungsgabe annahmen.
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Wie kam das eigentlich, daß ich damals losmarschierte, fragte sich Adjuna. Was hatte Krishna damals gesagt? Nun, Krishna hatte nicht irgend etwas gesagt, er hatte nicht wie Goebbels geschrien: Wollt ihr den totalen Krieg? Es war etwas noch Totaleres, noch Radikales, Extremeres, das er gesagt hatte. Aber was war es gewesen? Adjuna konnte es sich nicht vorstellen? Es war vergessen. Er nahm sich vor, am nächsten Tag in einen Buchladen zu gehen und sich das Bhagavad Gita zu besorgen. Besorgen war so ein neutrales Wort, es konnte kaufen, ausleihen oder stehlen bedeuten. Adjuna hatte ja kein Geld... Im Buchladen hatte er schon die Finger nach dem Buch ausgestreckt, um es unauffällig mitgehen zu lassen. Da zog er sie wieder zurück. Halt! Der Buchhändler lebt davon, daß er Bücher zu einem bestimmten Preis anbietet und der, der das Buch haben will, diesen Preis bezahlt. Das ist ein faires Geschäft. Adjuna zog seine Finger wieder zurück und ging in die Bücherei. Ja, das, was Krishna angeblich damals vor der großen Schlacht zu Adjuna, damals noch Arjuna, gesagt hatte, war aufgeschrieben worden und galt als Bhagavad Gita, als Gesang des Erhabenen, als Offenbarung, und war also so etwas wie eine heilige Hindu-Bibel. Natürlich hatte die Stadtbücherei das Buch und natürlich war es nicht ausgeliehen. Adjuna blätterte den Text durch. Er fing an zu zweifeln, ob zwischen den Fronten der beiden verfeindeten Armeen genug Zeit war, all das zu sagen. Er las also, was Sri Krishna damals sagte zwischen den Fronten. Der Lord sprach von seiner eigenen Immanenz: Arjuna, ich bin der Urgrund 1232
aller Schöpfung und der ewige Samen aller Wesen. Es gibt nichts außer mir. 1 Mmmh, dachte Adjuna, eine Begriffsdefinition. Weiter im Text: Selbst die Götter und großen Seher strömen aus von mir wie die Perlen an einer Kette. Ich kenne die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, aber selbst die großen Weisen und Götter kennen mich nicht als den Ungeborenen, den ewig Unwandelbaren. Ich zeige mich nicht allen, denn ich bin jenseits aller Faktoren und Kräfte, geburtlos, der eine ohne Anfang. Dadurch, daß ich mein Prakriti unter Kontrolle halte, und durch ein eignes Yoga Maya, nehme ich Form an, und der, der mich in Wahrheit kennt und zu mir Zuflucht sucht, ist befreit von dem ewigen Zyklus von Geburt und Tod. Partha!2 Ich halte das Dharma hoch. Wenn immer das Dharma vernachlässigt wird und die Ungerechtigkeit im Aufstieg ist, wenn es also notwendig ist für den Schutz der Tugendhaften und für den Untergang der Bösen und den Wiedereinsatz von Dharma, dann nehme ich aus eigenem freien Willen eine Form an.
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Das ist also ein viel weitgreifenderes Konzept, als wenn Jahwe sagt, du sollst keine anderen Götter haben neben mir, was ja nur ein Verbot, aber nichts über die Existenz anderer Götter sagt; daß es sie gab, war damals offensichtlich für Moses und die anderen Juden; man sah ja, daß sie angebetet wurden. Im Deutschen verbietet uns das Gebot übrigens nicht, andere Götter über Jahwe oder unter Jahwe zu haben; wenn wir ihn uns auf einer himmlischen Stufenleiter vorstellen, so ist uns lediglich verboten, andere Götter mit auf seine Stufe zu stellen. Im Englischen ist es anders, da heißt es: “You shall have no other Gods before me.” Sorry, “...no other gods before Me”, was Mark Twain zu der ironischen Bemerkung veranlaßte, daß Jahwe es uns lediglich übelnähme, wenn wir andere Götter vor ihm in der himmlischen Hierarchie hätten, aber neben und unter macht nichts.
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Ein anderer Name für Arjuna
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Ich bin immer glorreich und göttlich in meinen Inkarnationen, und der, der die Wahrheit kennt und versteht meine göttliche Glorie, der wird nicht wiedergeboren. Partha! Hör zu! Ich bin das Selbst, Atman, ich residiere in allem. Ich bin die Quelle, der Schöpfer, die Mitte, der Erhalter, und das Ende, der Zerstörer. Es gibt nichts, weder Bewegendes noch Ruhendes, das ohne mich existiert. Die sieben großen Seher, Marichi und die anderen sechs, die noch älteren Vier Seher, Sanaka und die drei anderen, und die vierzehn Manus, Vorfahren der Menschen, alle waren sie mächtig und doch mir ergeben, sie alle waren geboren durch meinen Willen. Arjuna! Ich bin Vishnu unter den Adityas, ich bin Samaveda unter den Veden, Indra unter den Göttern, ich bin der Geist unter den Sinnesorganen, das Herz unter den Gemütern, das Bewußtsein in den Lebewesen. Von den Rudras bin ich Sankara, von den Yakshas und Rakshasas bin ich Kubera. Ich bin Agni unter den Vasus und Meru unter den Bergen. Unter den Priestern bin ich Brihaspati. Ich bin Skanda unter den Kriegern, und unter den Wassern bin ich der Ozean. Ich bin Birgu unter den großen Sehern, und unter den Wörtern bin ich das einsilbige OM. Unter den Yajnas bin ich Japayajna, unter den großen Immobilien1 bin ich die Himalayas. Bei den Bäumen bin ich der Aswattha-Baum, von den göttlichen Einsiedlern Narada, ich bin Chitra Ratha unter den himmlischen Minnesängern und Kapila der Heilige unter den Siddhas oder perfekten Seelen. Unter den Pferden bin ich Uchchaishravas, unter den fürstlichen Elefanten bin ich Airavatha, und unter Menschen bin ich der König. Unter Waffen bin ich der Blitz, unter Kühen bin ich Kamadhenu, unter den giftigen Schlangen bin ich Vasuki, unter den im Wasser lebenden Wesen bin ich Varuna. Ich bin Aryaman unter den Manen und Yama, der Todesgott, unter denen, die
1 Gut übersetzt, nicht wahr? Unter den Übersetzern bin ich Holger Hermann Haupt.
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herrschen. Und ich bin Anata unter den ungiftigen Schlangen. 1 Unter den Daityas bin ich Prahlada, und unter den Zählenden und Abrechnenden bin ich die Zeit. Ich bin der Löwe unter den Vierbeinern und Garuda unter den Vögeln. Ich bin Wind unter den Elementen, die reinigen; ich bin Rama unter den Schwingern von Waffen; unter den Fischen bin ich Makara und unter den Flüssen bin ich Ganga. Ich bin die schöpferische Leidenschaft; unter Gegnern im Wortstreit bin ich der leidenschaftslose, sachliche Grund; in der Grammatik bin ich der Wortstamm, im Alphabet bin ich akaram, der auch der erste Laut in OM ist. Ich bin der Sprößling von allem, was in Existenz kommt; ich bin die Göttin des Wohlstandes, Lakshimi, und die Göttin der Gelehrtheit, Saraswati, unter den Frauen; ich bin die Vorsitz führende Gottheit über alle Kräfte und Einflüsse auf geistige Festigkeit, Gedächniskräfte, Intelligenz, Rückruf von Erinnerungen, von Ruhm und Nachsicht. Ich bin Brhatsamam in den vedischen Hymnen, Gayatri in den Mantras, Margasirsha in den Monaten des Jahres, und unter den Jahreszeiten bin ich der Frühling. Im Würfelspiel bin ich der Betrug, ich bin die Kraft der Kräftigen, der Sieg der Siegreichen, das Gute im guten Menschen. Ich bin die Unsterblichkeit und der Tod. ich bin beides: Existenz, Sat, und Non-Existenz, Asat..... Eine lange Erklärung und die Erklärung war noch lange nicht zu Ende. Adjuna hatte außerdem einen Abschnitt übersprungen. Denn Krishna war auch das Versehen in den Flüchtigen. Dieser eine Abschnitt aber erklärte alles. Adjuna las mit Staunen: Ich bin Vishnu unter den Adityas und die strahlende Sonne unter den Leuchten. Ich bin Marichi der Glorreiche unter den Maruts. Ich bin der gewaltige Mond unter den Gestirnen des Nachthimmels.2
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Hilfe, hört der denn nie auf!
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Von den zwei Bhagavadgita-Büchern mit Text und religiösen Kommentaren, die ich mir in Indien gekauft hatte, enthielt nur N. S. Subrahmanians Buch diese absurde Aussage Krishnas über sich selbst.
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Der Mond war kein gewaltiger Himmelskörper. Er war der kleinste von den Himmelskörpern, die wir sehen konnten. Wer behauptete, ganz allgemein das Universum zu sein und im speziellen der Mond, und solche Tatsachen nicht wußte, der war nur ein ignorantes Kind seiner Zeit. Unglaublich, daß mich so einer in den Krieg hatte schicken können, wenn ich damals schon mein heutiges Wissen gehabt hätte, hätte ich sein Gerede als das durchschaut, was es war, nämlich als Lüge und Prahlerei. Unter den Psychosen und geistigen Schwächen war er der Größenwahn schlechthin.
Adjuna hatte ja schon soviel von der Welt gesehen. Und wenn man ihn gefragt hätte, was für Wesen die Welt bevölkerten, so hätte er, ohne zu zögern, geantwortet: Dumme. Und das nicht, weil er sich für schlau hielt. Im Gegenteil: Seine eigene Dummheit quälte ihn so sehr. Er fand nicht die schlaue Lehre, die die allgemeine Dummheit beenden konnte. Schlauheit fand man auf Erden immer nur da, wo jemand schlau den anderen übervorteilte, doch solcher Egoismus war von weitem gesehen dumm; im Himmel fand man übrigens überhaupt keine Schlauheit, weil sich dort die grauen Zellen nicht hielten. Egoismus fand man dort aber trotzdem, sowohl in dem einen Himmel, wo sich die Götter gegenseitig verdrängten, als auch in dem anderen Himmel, wo sich Planeten und Fixsterne rücksichtslos anrempelten und schwarze Löcher alles an sich rafften.
Der offensichtlich sehr fromme Dilip Kumar Roy, obwohl um eine genaue Zeile-für-ZeileÜbersetzung bemüht, ließ diese Stelle aus, was auch aus seiner Zeilennummerierung hervorgeht.
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Was hatte nun Krishna, der Mann, der sich selbst unter anderem für den Mond hielt und Adjunas Freund aus seiner früheren Inkarnation gewesen war, über die Wesen der Welt zu sagen? Krishna: Zwei Arten von Wesen gibt es auf dieser Welt: Daiva, also die Divinischen, und Asura, also die Dämonischen. Bei diesem Dualismus fehlten die Gleichgültigen, dachte Adjuna. Wieder Krishna: Ein Mann, der mit divinischer Veranlagung geboren wurde, ist furchtlos, einfach und rein, ein Geweihter der Yoga des Wissens, ein Großzügiger, ein Meister seiner Selbst, ein Student der Schriften. Er praktiziert harte Askese und gibt Opfer. Er ist findig, wahr und frei von Ärger, er ist beherrscht, besonnen, gemütsruhig, leichten Herzens, unbeschadbar von Bösem, frei von Bosheit, Arglist und Böswilligkeit, freundlich, vergebend, friedlich... Ein Mann, geboren mit dämonischer Natur, ist arrogant, eingebildet, überheblich, cholerisch, grausam und grob... Divinische Dotationen, göttliche Gaben, führen zur Freiheit. Dämonische Dispositionen, negative Neigungen, führen zu Unfreiheit und weltlicher Bindung und Wiedergeburt. Doch, Arjuna, mach dir keine Sorgen, du bist durch und durch göttlich. Laß mich nun noch ein wenig ausführlicher über die Dämonischen sprechen, (auf daß ihr sie erkennet, wenn ihr ihnen begegnet; ihr, das heißt: Du und die, die dieses Gespräch belauschen.) Die, die dämonischer Natur sind, kennen weder die Wahrheit, den wahren Weg der Handlungen, noch Entsagung, Verzicht, Aufgabe... Sie kennen auch das Pure und Reine nicht. Sie behaupten, daß dies eine dunkle, gottlose Welt von Falschheit sei, nicht basierend auf Moral oder Gesetz, eine Welt, wo die Geschöpfe in Lüsternheit und 1237
Unzucht empfangen und geboren werden (und schlimmer noch: einige Dämonische es nicht einmal als Lüsternheit und Unzucht erkennen!). Mit dieser Einstellung kommen solche Perverse in die Welt und tun falsche Taten, kleine Seelen mit wenig Verstand, sie kommen als Feinde der Welt, um alle zu zerstören. Mit unsättigbarem Stolz und voller Betrug, arrogant, trunken vom Größenwahn, Ichbezogenheit und Egotismus, Egomanias, die nach allem Ekligen gieren. Geplagt von Hunderttausenden von Kummern und Sorgen, die kein Ende finden können außer durch den Tod, glauben sie, daß des Lebens Summum bonum der Spaß und die Befriedigung der Sinne sei. So gebunden von Hunderten von Hoffnungen hängen sie wie hilflose Marionetten an Strängen von Habgier, Haß, Geilheit und Hunger nach mehr und mehr und immer mehr. Und sie erwerben ihr Immermehr durch unehrliche Geschäfte und gemeine Möglichkeiten. Und so machen sie immer weiter und horten Reichtum auf Erden und Haß in ihrer Seele. Sie sagen: Ich wollte das haben und habe es heute erworben. Jetzt giert mich nach jenem und ich werde es morgen erwerben. Das und das gehört mir schon jetzt alles und das und das wird mir morgen auch noch gehören. Heute habe ich den und den Gegner umgebracht, und morgen werde ich den anderen auch noch erschlagen und übermorgen den nächsten. Ich bin großartig, ich genießen das Leben in Samt und Seide, ich bin glücklich und stark, ein reicher Aristokrat. Wer kann sich mit mir messen? Ich werde opfern - zu den Göttern. Ich werde Almosen geben. Ich werde mich am Fleischtopf satt fressen. Prassen werde ich, schwelgen, schmausen, zechen...; so schwadronieren sie, dreschen ihre Phrasen, prahlen, lärmen, gelackmeiert durch ihre eigene Ignoranz, in die Irre geleitet durch ihre eigenen falschen Gedanken und Denkprozesse, Süchtige ihrer sinnlichen Späße. Sie fallen in die faulste Hölle.
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Arrogante Prahler, aufgeblasen wegen ihres Reichtums, ihrer blindmachenden Reichtumsvergiftung, sie opfern den Göttern nur dem Namen nach, zum Schein; nicht so wie es die Weisen lehrten, sondern gebunden durch die Fesseln des Stolzes, der Gier und des Zorns geißeln sie mich, Gott, der ich in ihnen wohne. In dem Zyklus von Leben und Tod werfe ich diese Teufelisch-Tuer und elenden Geschöpfe wieder und wieder in den Schoß eines minderwertigen Wesens, und so werden diese verlorenen Seelen geboren, wieder- und wiedergeboren in dämonische Dunkelheit, und sie kommen nicht zurück zu mir, sondern rollen unerbittlich hinunter in die Hölle. Drei sind der Tore zu Verlorenheit, Verderben und Tod der Seele: Tor der Gier, Tor des Zorns und Tor des Geizes. Der, der diese drei Tore der Dunkelheit umgeht, tut, was am Ende zur Erlösung der Seele führt und die höchste Erfüllung bringt. Der, der die Gebote der Schriften mißachtet, und von Gier getrieben wird, kann nie Glück finden und die höchste Erfüllung. Arjuna stellte dann seine siebzehnte Frage: Oh, Krishna, die, die nicht die heiligen Schriften lesen, und doch einem Gott opfern, welcher Art ist deren Glaube? Ist er sâttvik, râjasik oder tâmasik? Krishnas Antwort: Der Glaube kann bei Menschen dreierlei sein, entsprechend der drei Grundtemperamente der Menschen und der drei Formen der Energie, nämlich Sattva: Gleichgewicht, Wissen und Zufriedenheit; Rajas: Leidenschaft, Action und kämpfende Gefühle; Tamas: Unwissenheit, Trägheit und Untätigkeit. Nun hör zu: Ein Mensch besteht aus dem Glauben, den er hegt und hochhält. Die Sâttvik verehren die Götter, die Râjavik glorifizieren die Oberherrn von Macht und Reichtum, die Tâmasik vergöttern die Ghuls, Geister und Unheilbringer.
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Wisse, daß diese dämonischer Natur sind, die ihr Fleisch züchtigen, in einer Art, wie sie nicht in den Schriften empfohlen wird; diese Narren foltern ihre Lebenskraft und mich, Gott, der ich in ihren Körpern weile. Sie werden angetrieben von Gier und Grausamkeit, Dünkel und Dummheit. Leute sâttviker Natur lieben Nahrung, die zu Langlebigkeit führt, Vitalität, Gesundheit und Kraft fördert, wohlschmeckend, lindernd, sukkulent und heilend ist. Männer mit râjasikem Temperament essen bitter, sauer, salzig, scharf, beißend, pikant, adstringierend; also alles, was Körper und Geist mißstimmt, zuwider ist. Und die, die tâmasik sind, essen Essen, das unrein ist. Eine Opfergabe ist sâttvik, wenn sie aus einem Drang heraus, der seinen Ursprung in einem Gefühl der Pflicht hatte, in Übereinstimmung mit den Instruktionen der Schriften gegeben wird. Wird die Opfergabe aus eitler Zurschaustellung vorgeführt, dann ist sie rajas-inspiriert. Ist das Opfer gegen die heiligen Gesetze gerichtet oder ohne Glaube oder Hymnen der Verehrung gegeben, dann ist es tâmasik. Verehrung der Götter, Gurus, Weisen und Brahmanen, Schlichtheit, Treue, Gewaltlosigkeit, Sauberkeit und sexuelle Reinheit, das ist die Askese des Körpers. Gute Wörter sprechen, die Wahrheit sprechen, die heilt und nicht verletzt, Poesie, das Studium der Schriften, das ist die Askese der Zunge. Selbstbeherrschung, reine Gedanken, Ruhe, Leichtherzigkeit, Sanftmütigkeit, das ist die Askese des Geistes. Diese dreifache Askese geübt ohne Erwartung einer Belohnung ist sâttvik. Râjasik ist eine Askese, die in lautem Dünkel geübt wurde, um Verehrung und Applaus zu heischen, auch wenn die Freude flüchtig und vergänglich ist. Tâmasik ist eine Askese, die durchgeführt wurde in 1240
der gemeinen Absicht, anderen zu schaden, oder in der perversen Zufriedenheit an masochistischer Züchtigung und Selbstfolterung. Ein Geschenk ist sâttvik, wenn der Geber es gegeben hatte aus dem einfachen Gefühl heraus, daß es richtig war zu geben. Râjavik ist ein Geschenk, wenn es gegeben wurde in der Erwartung, daß etwas zurückgegeben wird, oder aus anderen eigensüchtigen Gründen. Tâmasik ist ein Geschenk, wenn es verachtungsvoll einer wertlosen Person gegeben wurde, oder wenn es zur falschen Zeit und am falschen Ort und ohne Rücksicht auf die Gefühle des Empfängers gegeben wurde. Arjunas achtzehnte Frage: Bitte erkläre mir den Unterschied zwischen Samnyâsa, Ablehnung von Aktion, und Tyâga, Nicht-Bindung an die Welt. Die Weisen lehrten, daß die Zurückweisung und Verwerfung aller Taten, die ihren Ursprung in der Begierde hatten, Samnyâsa ist und die Gleichgültigkeit gegenüber den Früchten der Tat ist Tyâga. Falsch handelt, wer eine Handlung ablehnt, die seine vorbestimmte Pflicht ist, eine solche Ablehnung aus Ignoranz ist tâmasik. Der, der seine Pflicht scheut aus Furcht oder den mit ihr verbundenen Schmerzen, der erntet keine Lorbeern für seine Entsagung, denn seine Entsagung ist râjasik. Doch wer handelt frei von Begierden, und wie in den Schriften gelehrt, gedrängt von Pflicht, ohne Bindung an die Frucht der Handlung, gleichgültig den persönlichen Folgen und Folgeschäden gegenüber, dessen Entsagung ist sâttvik. Die Aufgaben und Arbeiten, die den Brahmanen, Kshatriyas, Vaishyas und Sudras zugewiesen wurden, entsprechen den Fähigkeiten, mit denen sie geboren wurden, und ihrer innersten Natur. Heiterkeit, Klarheit, Gelassenheit, Selbstbeherrschung, Entsagung, Reinheit, Geistigkeit, Weisheit, Askese, Schlichtheit, das sind die natürlichen Eigenschaften der Brahmanen. 1241
Heldentum, Mut, Tapferkeit, Verwegenheit, Beständigkeit, Geschicklichkeit, Großherzigkeit, Unerschrockenheit in der Schlacht, Furchtlosigkeit vor den Feinden, Tüchtigkeit in der Verwaltung, das sind die Eigenschaften, die einem Kshatriya natürlicherweise von der Hand gehen. Handel, Landwirtschaft und die Versorgung von Viehzeug sind die natürlichen Pflichten der Vaishya, wie Dienen die Pflicht eines Sudras ist. Ein Mann ist auf dem Weg zur Erlösung nur, wenn er dem Weg seiner eigenen Berufung folgt. Lieber eine Tat getan, die der eigenen Berufung entspricht, selbst wenn sie nicht gut getan ist, als eine gut getane Tat, die der Berufung einer anderen Person entsprach und nicht der eigenen. Niemand sollte die Arbeit verweigern, die ihm durch Geburt und Natur bestimmt war, selbst wenn er diese Aufgabe nur fehlerhaft erledigen kann. Fehler bei der Arbeit sind so natürlich, wie Rauch bei Feuer ist. Du kannst dich nicht weigern zu kämpfen. Kämpfen entspricht deiner Natur. Deine Natur hat dir diese Aufgabe gestellt, denn du selbst durch die Kette deines Karmas hast dir diese Aufgabe auf den Leib geschmiedet, daher bist du gebunden, verpflichtet. Du wirst also getrieben werden, das zu tun, was du in deiner Ignoranz gerade verweigern willst. Dharm Yudh, der rechte Krieg, ist deine höchste Pflicht und im Dharm Yudh darf es kein Zögern geben, weder das eigene Leben noch das Leben der Feinde darf geschont werden, nicht ein einziger der Feinde, sei er nun Moslem oder Christ oder Laizist und Rationalist, darf am Leben bleiben. (Spätere Einfügung Krishnas, als er inkarniert als hinduistischer Fundamentalist und mehrfaches Mitglied der Rasthriya Swyamsevak Sangh [diese Organisation ließ den großseligen Gandhi wegen seiner religiösen Toleranz umbringen] und des Hindu Vishva Parishads, des Hindu-Welt-Konzils, eine Opposition gegen die herrschende Kongreßpartei unterstützte, da ihm die Kongreßpartei die laizistische Verfassung nicht genügend mit Füßen trat.) 1242
Es gibt nichts, was ein richtiger Krieger mehr willkommen hieße als einen gerechten Krieg. Für einen Kshatriya-Krieger sind alle Kriege rechtens.
...und für einen Sudra war jede Sklaverei rechtens. Krishna sprach in seiner Bhagavad Gita nur von einer vierfältigen Unterteilung der Gesellschaft, den vier Varnas, oder Farben, wobei die Mitglieder der drei oberen Kasten, die Primärfarben weiß, rot und gelb, als Zweimalgeborene galten, obwohl die sich genau wie andere auch nicht einmal an eine einzige von ihren Geburten erinnern konnten. Es war aber auch gar nicht so, daß die Zweimalgeborenen im Gegensatz zu den schwarzen Sudras schon einmal vorher geboren worden waren; so etwas wie frühere Leben hatte jeder Inder, auch der unberührbarste, schon millionenmal hinter sich. Nein, die Zweimalgeborenen hatten parallel zu ihrer körperlichen Geburt noch eine geistige Geburt durchgemacht, dadurch waren sie eingeweiht in die Mysterien der Religion und schwebten auch noch in höheren Regionen, und durch einen dünnen, aber heiligen Faden hingen sie mit der höheren, besseren Hälfte in Verbindung. Die Gesetze Manus waren sehr präzise bezüglich dieses Zwirnsfadens: Bei einem Brahmanen mußte er aus Baumwolle sein, bei einem Kshatriya aus Hanf oder Flachs, bei einem Vaishya aus Wolle, und er mußte an der linken Schulter befestigt werden. Von dort hing er - erstaunlicherweise - nach unten. Nicht nur durch Farbe und Material unterschieden sich die Kasten, sondern auch im Charakter unterschieden sich die Mitglieder der Kasten voneinander, wie der Volksmund wußte. Der sagte zum Beispiel: Willst du, daß man etwas für dich tut, mußt du einen Kayasth (Kaste der Buchhalter und Schreiberlinge in Bengalen und Uttar Pradesh) bestechen, einen Brahmanen gut durchfüttern, einem Rajput 1243
(Kshatriya) schmeicheln, aber die Leute von niedriger Kaste mußt du durchprügeln.
Aber seit der Urzeit, zu der Krishna sprach, hatte es Fortschritte gegeben, die Varnas hatten sich vermehrt. Wenn vier gut waren, waren dreitausend1 besser? Die Inder schienen es anzunehmen. Außerdem gab es noch die Auskastler, die Unberührbaren oder Pariahs, wie die unwissenden und natürlich auch unreinen Europäer sie nannten. Pariah hieß eigentlich nur ein einziger Unberührbaren-Stamm in Tamil Nadu. Das Wort bedeutete Trommler, aber die Trommler waren nicht etwa Musikanten, sondern da sich die Zweimalgeborenen so vor ihnen ekelten, mußten sie trommeln als Warnung für die andern, daß sie eine Begegnung vermeiden konnten. Die Trommelei war also so etwas wie an akustischer Judenstern. Die Berührung mit Unberührbaren befleckte - zwar nicht wirklich den Körper, wohl aber im Kopf. Ein solcher Fleck, Schandfleck, war etwas sehr Schlimmes. Indien hatte nicht nur die großen Weisen der Vorzeit gehabt, die Manus, Sanaka, Manichi, von denen Krishna sprach, sondern auch danach gab es immer wieder weise Männer und Frauen, einer, Rabindra Nath Tagore, nannte das Kastensystem ein gigantisches System kaltblütiger Unterdrückung. Man sollte seine Schriften studieren. Aber wie kam Indien zu immer mehr Kasten? Zum Teil, ähnlich, wie es zu immer mehr Menschen kam, durch Heirat und Kinderkriegen. Es entstanden zum Beispiel ganze Unterkasten dadurch, daß bestimmte Gruppen einer Kaste Frauen aus niedrigeren Kasten heirateten, sogenannte Jâti. Aber es gab auch andere Möglichkeiten: Brahmanen,
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Meyers Großes Taschenbuch erwähnt etwa 3000. Eine Volkszählung von 1901 kam auf 2378 Kasten, bzw. Unterkasten und Unterunterkasten.
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die den Priester für untere Kasten machten, sanken innerhalb der Brahmanen in eine untere Jâti. Sowieso waren Priester innerhalb der Brahmanenkaste, die sich zwar eigentlich als die Priesterkaste verstand, nicht hoch angesehen. Wirtschaftskapitäne, Millionäre, Politiker, Gelehrte etc. bildeten innerhalb der Brahmanenkaste ihre eigenen höheren Kasten. Und selbst noch unter den Unberührbaren herrschte der Kastendünkel; selbst die Doms, die Müllabfuhr und Leichenhandhaber, fühlten sich den Barbieren und Waschleuten so überlegen, daß sie, statt zu schwören: wenn ich das und das tue, hole mich der Teufel, schworen: wenn ich das tue, dann möge mich die Strafe befallen, die jemand bekommt, der mit einem Wäschewascher gemeinsam an einem Tisch ißt! Und tatsächlich waren in Indien viele neue Kasten dadurch entstanden, daß hungernde High-Kastler den Hunger nicht mehr ausgehalten hatten und zu Notküchen gegangen waren, wo das Essen durch die Handhabe von unreinem (im religiösen Kasten-Sinne) Küchenpersonal unrein geworden war. Diese neuen, durch Hunger und Notnahrung entstanden, ausgestoßenen Auskastler behielten aber ihren Kastendünkel und machten die alten Unterschiede auf ihrem neuen niedrigen Niveau weiter. In Assam gab es die Mekuris; diese Außenkastler verdankten ihren niedrigen Status einer Katze, die ein von den Moslems gestohlenes Fleischstück in ihren Suppentopf fallen ließ, was erst zu spät entdeckt worden war. Hätte man es rechtzeitig entdeckt, hätte man den Suppentopf ausgeschüttet, aber auskotzen galt nicht. Was einmal mit dem Körper in Berührung gekommen war, hatte ihn auch verschmutzt. Rituelle Reinheit des Essens war eine der wichtigsten Gebote des Hinduismus. Selbst Fliegen konnten diese Reinheit gefährden, und das nicht, weil die Fliegen selbst schmutzig waren oder der Kaste der Unberührbaren angehörten! Während des Zweiten Weltkrieges erreichten die Hindus von den Briten, daß ihre Feldküche von der Feldküche der Moslems entfernt errichtet wurde, weil sie befürchteten, daß die Fliegen, die vorher auf moslemischen Speisen gesessen hatten, sich danach vielleicht auf ihr hinduistisches Essen setzen würden und es so verunreinigten. Daß 1245
Fliegen auch gern auf Scheiße saßen, schien bei den Hindus keine Besorgnis zu erregen, vielleicht, wenn sie wüßten, daß es moslemische Scheiße gewesen war. Auch aus Sekten waren neue Unterkasten entstanden, selbst aus Sekten wie der Kabirpanthis, deren ursprüngliche Lehre eigentlich die Ablehnung des Kastensystems mit einschloß. Und niedrige Unterkasten mauserten sich zu höheren Unterkasten, indem sie sich strengere Gesetze auferlegten oder den High-Kastlern nachäfften, wie Wiederheiratsverbot für Witwen, Einführung von Kinderehen wie bei den Brahmanen und Vermeidung von Heiraten mit Gleich- oder Unterniveau-Kastlern, sowie strengere Speise- und Eßge- und -verbote. Aus der niedrigen Kaste der Lederverarbeiter entstanden zwei Kasten, als die, die bearbeitetes Leder weiter zu Taschen und Schuhen verarbeiteten, auf den Dünkel verfielen, daß ihre Arbeit ja sauberer sei als die Arbeit von denen, die das rohe Leder gerbten und die Vorarbeit leisteten; Grund genug für die Lederendprodukthersteller, mit Mitgliedern der schmutzigen Vorarbeit leistenden Kaste nicht an einem Tisch zu sitzen und auch nicht den Kindern die Ehe mit so einem eingehen zu lassen. In seine Kaste wurde man hineingeborenen, so sagte man, Kaste war Schicksal und einen niedrigen Kastenstatus hatte man sich angeblich durch sein Versagen in vorherigen Leben eingeheimst, aber so ganz stimmte auch das nicht. Einige Kasten waren bereit, für Geld Unterkastler aufzunehmen. Das war aber ein gefährliches Unterfangen, denn wenn man es zu oft tat, sank das Ansehen der gesamten Kaste. Über die angeblich zweimal geborenen Mahanti witzelte man schon: Der, der keine Kaste hat, nennt sich Mahanti. Die niedrige Kaste der Bauris in Bengalen, die über besonders hübsche Mädchen verfügte, die oft als Mätressen von Brahmanen dienten, diese Kaste nahm großzügig, die gefallenen Brahmanen auf, wenn diese, weil sie, statt beim Beischlaf zu bleiben, auch noch den Reis, den die Unterkastlerin zubereitet hatte, gegessen hatten und damit gegen die wichtigste, brahmanische Kastenregel verstoßen hatten, verstoßen 1246
worden waren. So ersparten die Bauris den Buhlen ihrer Mädchen das Außenkastlerdasein, allerdings mußte das neue Kastenmitglied erst ein großes Fest für alle Kastenmitglieder geben, also erstmal einen ausgeben, Einstand zahlen. Nur fair. Der nächste Schritt war dann die Dünkelhaftigkeit der neuen Bauris, die ja eigentlich mal Brahmanen gewesen waren, also was Besseres. Kasteninder und Unterkasteninder mieden also einander mehr bei den Mahlzeiten als beim Beischlaf, beim außerehelichen Beischlaf und beim unehelichen. Aber Indien war groß und es gab viele Möglichkeiten der Vermeidung. In Südindien, wo man wie in Südeuropa oder in Südamerika weniger aufgeklärt war als der Norden und dafür den traditionellen, religiösen Werten bzw. Unwerten näher stand, wurde aus der Unberührbarkeit schon eine Unannäherbarkeit. Es gab eine richtige Skala der Unannäherbarkeit für die verschieden tiefen Bodensätze der Panchamas, wie die Unberührbaren im Süden genannt wurden. So mußte ein Kammalan von einem Brahmanen mindestens acht Yard Abstand halten, ein Iluvan oder Tiyan mindestens 12 Yard, ein Pulayan mindestens 16 Yard und ein Paraiyan oder Pariah mindestens 32 Yard. Bei soviel Abstand zwischen Brahmanas und Panchamas kam es natürlich nicht mehr zum Beischlaf. In ländlichen Gegenden in Travancore, Cochin und Malabar mußte ein Pariah noch mehr Abstand halten, durfte gewisse Straßen und Ortsteile überhaupt nicht betreten oder mußte sich für die Zeit der Helligkeit ganz verborgen halten und durfte sich erst nachts herauswagen, oder er mußte wie die Leprakranken des Mittelalters an Wegkreuzungen und unübersichtlichen Stellen durch Rufe oder Geräusche, Trommeln oder Klappern wie die Lazarusklappern der Aussätzigen, die anderen vor sich und seine Unreinheit warnen. Einkaufen war bei soviel Antisemitismus für einen Pariah ein Problem: Er mußte sein Geld vor dem Geschäft auf den Boden legen, wieder Abstand nehmen, warten bis er dran war; dran war er, wenn kein 1247
anderer mehr dran war; kam der Verkäufer dann raus, rief er von weitem, was er haben wollte; der Verkäufer nahm dann das Geld und warf ihm seine Waren voller Verachtung auf die Straße, von wo der Aussätzige sie dann auflas trotz seiner Gesundheit. Vor Gericht als Zeuge geladen war es ähnlich, sein Platz war draußen vor der Tür auf der Straße; ein nur halbschmutziger Hindu-Hilfsgerichtsdiener kam dann mit den Fragen heraus zu ihm und brachte des Pariahs Antwort wieder herein zum obersauberen Brahmanen-Richter. War der Pariah selbst der Angeklagte, war sein Platz gleich im Gefängnis oder besser noch als Wiedergeburt bei den Ratten. Sah der Unreine Reine auf der Straße auf sich zukommen, mußte er schnell die Straße verlassen und auf die Felder, selbst wenn die zur Bewässerung unter Wasser standen: Lieber nasse Füße, als das Leben verloren. Ein High-Kastler kannte da keine Skrupel. Wenn ein Pariah seinen Platz in der Gesellschaft vergaß, konnte er sicher sein, daß ein Zweimalgeborener ihn ohne viel Zeremonie wie Ungeziefer niedermachte. Das hieß, gegenüber Ungeziefer hätte man ja vielleicht noch Ahimsa gelten lassen, schließlich waren wir alle mal im früheren Leben Gewürm gewesen, und Respekt vor dem Leben der Würmer und anderen Tiere, das war ja gerade das, was einen High-Kastler von einem schmutzigen Außenkastler unterschied... Saubere, vegetarisch lebende High-class-Hindus ekelten sich vor den schmutzigen Untermenschen am unteren Ende der Gesellschaft: Die Musahars in Süd-Bihar fraßen sogar Ratten, weshalb sie auch Musahars, nämlich Rattenfresser genannt wurden, sicher würden sie wegen ihrer Rattenmorde als Ratten wiedergeboren. Kein anderer Inder besaß übrigens ihre Geschicklichkeit im Rattenfangen, und als man der Rattenplage mit Rattengift nicht Herr wurde, wurde diese Musahars gefragte Leute. Die Bauris und Haris trugen die stinkenden Tierleichen aus den Dörfern und aßen sie, so dienten sie als Abdecker. Feine Leute 1248
mochten weder die Tierleichen noch diese Leute riechen - und schon gar nicht anfassen oder aufessen. In Süd-Canara galt eine Untergruppe der Koragas als so schmutzig, daß sie nicht wie andere Leute auf die Straße spucken durfte, sondern immer einen Spucknapf an einer Kette um den Hals tragen mußte, in den sie zu spucken hatte, daher erhielt sie dann ihren Spottnamen Ande, was Topf hieß. Die Pooleahs waren die großen Pollutioner, die Verschmutzer, wie ihr Name schon sagte, kein sauberer Inder wollte die Atemluft mit ihnen teilen. Sie mußten heulende Geräusche zur Warnung der sauberer Menschen ausstoßen und auf Felder oder Bäume ausweichen, wenn ein Brahmane oder Nair ihnen auf dem Weg entgegen kam. Aber die Pooleahs ihrerseits hielten die Nayadis, Ulladans oder Pariahs für so viel schmutziger als sie selbst, daß sie den Kontakt mit ihnen mieden und sich nach einer unvermeidbaren Begegnung siebenmal wuschen und sich ein paar Tropfen Blut aus dem kleinen Finger melkten. Die meisten Hinder waren wohl schmutzig für irgendeinen höheren Hinder, was sie aber nicht daran hinderte, sich selbst für sauberer als andere zu halten, so betonten sie das Positive ihrer Gesellschaft. “Ich bin mehr wert als du”, in welcher anderen Gesellschaft konnte eine so große Anzahl von Menschen das schon mit Überzeugung sagen, ohne auf allgemeine Ablehnung zu stoßen? Im Norden war man nicht so zimperlich wie im Süden. Die rituelle Verunreinigung der unteren Kasten färbte dort meist nur durch direkte Berührungskontakte ab, durch gemeinsames Speisen und Trinken und in einigen extremen Fällen, wie bei den Gandas von Sambalpur in Orissa, wenn deren Schatten auf einen fiel. Orthodoxe Hindus achteten dort auch darauf, daß sie in keinem Wagen saßen, der von einem Ganda gezogen wurde, daß sie keine Kleidung trugen, die von einem Ganda gemacht wurde, und daß sie keine Straße betraten, die von einem Ganda gepflastert worden war. Und wenn ein Ganda seine Kinder in die von den Briten eingerichtete Dorfschule schicken wollte, dann schüchterte man seine Eltern mit den gleichen Methoden ein, mit 1249
denen auch die edlen Krieger des Ku Klux Klans einst die Schwarzen von einer Schulbildung abgehalten hatten. In Punjab mußten die Straßenfeger, auch wenn sie Feierabend hatten, weiter einen Besen bei sich tragen, damit man ihre Schmutzigkeit erkennen konnte und ihnen auswich, außerdem mußten sie `Bacho, Bacho' sagen, = paßt auf! 1 In Jaipur mußten die Mitglieder der Straßenfegerkaste eine Krähenfeder in ihrem Turban tragen, um auf ihren niedrigen Status aufmerksam zu machen, der ihnen vorgeschriebene Warnschrei war: `Payse' oder `Parayse', = nehmt Abstand!2 Aber nicht alle Unterkastler und Unberührbare hatten so schmutzige Arbeit wie die Straßenfeger, Müllabfuhr, Nachttopfentleerer, Rattenfänger, Leichenhandhaber, Gerber und Lederverarbeiter, sondern die meisten waren ganz einfach nur Landarbeiter, die pflügten, Muttererde auflockerten, pflanzten und ernteten den Reis und das schöne Gemüse, das die High-class-Hindus so stolz mit Ahimsa aßen. Nach der Abschaffung der Sklaverei 1855 war es besonders notwendig, durch Vorschriften diesen ehemaligen Sklaven - genau wie in den Südstaaten der USA - das Leben schwer zu machen und ihren Aufstieg zu verhindern. Was vorher Willkür war und Sitte, willkürliche Sitte, mußte Recht und Gesetz werden. Den Shanans, den ehemaligen Landarbeitssklaven, wurde das Anziehen von Schuhen und das Tragen von Schirmen per Dekret untersagt, außerdem hatten sie von der Taille aufwärts nackt zu sein, Männchen wie Weibchen. 1858 gab es Aufruhr. Shanan-Frauen, die zum Christentum übergetreten waren, bedeckten ihre Brüste - sehr zu Ärgernis der anderen Kasten und der unchristlichen Shanan-Frauen. “Was wir nicht
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Punjab Census Report von 1911
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Census Report von Rajputana und Ajmer-Merwara von 1911
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dürfen, das darf die doch auch nicht dürfen. Die ist doch eine von uns.” Dieser Streit führte dazu, daß die Engländer sich einmischten. Es war gerade Viktorianische Ära und das bürgerliche Philistertum blühte. Bürgerliche Freiheiten waren eine Errungenschaft, die schließlich, nachdem sie in die Köpfe einiger junger Inder gedrungen war, den Untergang des British Empire herbeiführen sollte. Die Briten dachten damals, wenn die Shanan-Frauen ihren Oberkörper bedecken wollten, dann sollten sie das ruhig dürfen. Woraus sich aber nicht ableiten ließ, daß, wenn britische Frauen mit freiem Oberkörper herumlaufen wollten, sie das auch dürfen sollten, oder daß man ihnen das aktive und passive Wahlrecht hätte geben sollen. Unter britischem Druck kam es 1859 zähneknirschend und murrend zu einer Erklärung der örtlichen Verwaltung von Travancore, daß keine Bedenken beständen, wenn Shanan-Frauen wie christliche ShananFrauen eine Jacke trügen, oder wenn Shanan-Frauen jeglichen Glaubens ein grobes Tuch um ihren Oberkörper wickelten in der Art, wie es die Mukkavattigal-Frauen der unteren Fischerkaste täten, also horizontal über die Brust, so daß die Schultern freiblieben, auch jede andere Art der Brustbedeckung sei bedenkenlos, solange sie nicht in der Art der hochkastigen Frauen erfolgte. Unberührbare Männer wurden aber noch, als Adjuna das Land besuchte, von ihren High-Caste-Mitbürgern für die Frechheit, elegante Jacken oder Mäntel zu tragen, verprügelt. 1902 gab es einen weiteren Aufstand der Shanan-Frauen. Man hatte ihnen das Recht genommen, Lasten auf dem Kopf zu tragen, wahrscheinlich, weil sie dann zu groß und stolz aussahen. Lasten auf dem Kopf zu tragen und nicht wie die Europäer unter dem Arm geklemmt oder auf krummem Rücken, war, wenn man die Balance beherrschte, orthopädisch gesehen das Gesündeste. (Wenn 1251
man die Balance nicht beherrschte, krachten einem die Lasten auf die Knochen, und man mußte zum Knochendoktor, den man sich aber in dieser Umgebung nicht leisten konnte. Hier brachten einen deshalb oft schon kleinste Verletzungen direkt zum Knochenmann.) Außerdem wollten die Shanan-Frauen auch das Recht bekommen, hübscheren Schmuck als die bisher erlaubten Lederarmbänder tragen zu dürfen. Ein anderes Mal demonstrierten die Unberührbaren von Travancore für das Recht der Straßenbenutzung in der Nähe eines bestimmten Tempels, das ihnen bisher verwehrt war, so daß sie zu großen Umwegen gezwungen waren. Sie benutzten dazu den gewaltlosen Widerstand, den Gandhi ihnen gerade im Kampf gegen die Briten vormachte: Sie saßen im Protest auf der Straße und spannen. Über ein Jahr saßen sie da. Ihr Protest dauerte also so lange wie der große Bus-Boykott der Schwarzen in Montgomery. Und wie einige Weiße damals die Schwarzen unterstützten, sehr wenige Weiße zugegeben, so setzten sich auch hier einige Brahmanen zu den Protestierenden und teilten Wache und Mahlzeiten mit ihnen und verloren konsequenterweise dadurch ihren Brahmanenstatus. Schließlich setzte sich Mahatma Gandhi, die große Seele, auch zu ihnen und lud die Unberührbaren ein, ihn, den Zweimalgeborenen, zu berühren. Aber die weigerten sich, sie wußten, es war eine Sünde für einen Unberührbaren einen KastenHindu zu berühren, tat er es doch, so kam er im nächsten Leben nicht voran. Die Schwarzen Amerikas hatten einst eine einfache Botschaft für die Weißen: Ich bin ein Mensch. Ich bin ein Mensch, das war alles, was sie auf ihre Plakate schrieben; sie schrieben nicht: Ich bin auch ein Mensch. Die einfache Aussage “Ich bin ein Mensch” sagte dem Hindu wenig, die Menschheit war nicht eins, Mensch nicht gleich Mensch, sondern 1252
ein komplizierten 3000schichtiges Phänomen, das erst Form annahm, wenn man es nach Varnas und Jâti definierte. Das schlichte Menschsein verstand man im Hinduismus nicht, Menschheit als Ganzes war etwas Unfaßbares, die Farben einer Palette im Matsch vermischt, aber auch das Ich-Sein, also Individuum-Sein, war nicht erlaubt. Auch diese Religion wollte nicht, daß man seinem Schicksal entkam. Es gab nur einen Trick: der religiöse Knacks. Wenn man den weghatte, oder so tat, wenn man sich also Asche aufs Haupt streute und die Namen der Götter herunterleierte, dann war man frei wie ein Vogel, wie ein Narr, und keiner fragte mehr danach, wie aussätzig man eigentlich war. Die Freiheit, die man als ein solcher Narr genoß, schloß aber nicht die Freiheit, an einem festen Ort unter einem festen Dach mit einer Familie zu leben, ein. Freiheit wurde auf dieser Welt schon teurer bezahlt. Freiheit wurde auf dieser Welt schon teurer bezahlt als mit ein bißchen Narrheit: mit Blutdukaten und Menschenleben. Und die bezahlte Ware war so wertlos wie eh. ...und das lag daran, daß die Verkäufer Betrüger waren und die Käufer nichts von Warenkunde verstanden. Da wird man übers Ohr gehauen, zahlt zuviel und bekommt zu wenig.
Bharat Mata, Mutter India, hatte also viele Kinder, und diese Kinder hatten ein kompliziertes System der Diskriminierung der Geschwister entwickelt, und die ärmsten und oft auch schmutzigsten galten als unberührbar, als Außenvor, waren vielleicht billige Arbeitskräfte, aber keine Mitspieler. Und wer doch mit ihnen spielte, machte sich strafbar (bei und für seine Kastengenossen), verlor seinen Kastenstatus, landete in der Hölle oder hatte eine niedrige Wiedergeburt.
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Aber das Beschmutzen der Kastenbrüder geschah nicht nur durch den Umgang mit Ungewaschenen, die sich Seife nicht leisten konnten, sondern die Mlechhas oder Barbaren, unter denen sich gerade in der Zeit vor der Unabhängigkeit die geschniegeltsten und gestriegeltsten, die gewienertsten und am korrektesten gekleideten Leute Indiens befanden, galten ebenfalls als aussätzig und ansteckend verschmutzend. Und kein Kasteninder konnte diesen ausländischen Aussatz dafür bestrafen, daß er die Frechheit hatte, sich elegant und teuer zu kleiden. Die Mlechhas kamen hauptsächlich aus Großbritannien, sie hatten dem großen Land mit Leichtigkeit ihren Willen aufzwingen können, denn in dem großen Land herrschte keine Solidarität, Gemeinsamkeit. Was die Hautfarbe der Mlechhas betraf, so waren sie weißer als die Mitglieder der Brahmana-Varnas, denen ja schon die Farbe weiß zugeschrieben wurde. Die Helligkeit ihrer Haut änderte aber nichts an ihrem NichtHindu-Sein. Ein wirklicher High-caste-Hindu wusch sich zumindest, nachdem er mit diesen Mlechhas zu tun gehabt hatte, - oder zögerte die morgendliche Körperwäsche, zum Beispiel wenn er am Vormittag eine Verabredung mit dem britischen Governor hatte, bis nach der Begegnung heraus. Eine Reise in das Land der Mlechhas war immer eine große Sünde, denn es war unvermeidlich, daß man gegen die Speiseverbote verstieß, Wasser und Speisen zu sich nahm, die rituell-religiös gesehen schmutzig waren. Die Gerichtsbarkeit der Kaste (Kasten verfügten über ihre eigene Gerichtsbarkeit) würde in so einem Fall eine Buße verhängen für die Wiederaufnahme in die Kaste, typischerweise eine Geldstrafe an die Kasse der Kaste und ebenfalls an die Brahmanen den Brahmanen Geld zu geben, hatte immer einen Sünden tilgenden Effekt -, sowie die Durchführung des Reinigungsritus und PurifikationHokuspokus Prayaschitta und die orale Einnahme von Panchgavya, den fünf sakralen Produkten der heiligen Kuh, als da waren: die Milch, der Quark, die Ghi, das war glasierte Butter, der Urin der Kuh und Kuhscheiße; Beef gehörte nicht dazu.
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Das Kastenkonzil konnte auch Warnungen aussprechen: “Wenn du noch ein drittes Mal nach England fährst, dann wirst du für immer ausgestoßen!” Das war keine leichte Strafe, zumal sie mit 60 000 Jahren in der Hölle gekoppelt war. Da verloren die Mutigsten ihren Mut.1 Die Kastenrichter bewiesen nicht nur Fantasie bei der Erfindung von Höllenqualen, sondern auch bei Strafen auf der Erde. Da die Kasten meist keine Gefängnisse hatten, kamen langweilige Gefängnisstrafen nicht in Frage, statt dessen wurde den Sündern zum Beispiel das Kopfhaar und der Schnurrbart ganz oder nur auf einer Seite abgeschnitten, die Lächerlichkeit war die Strafe. Wer seine Kuh vernachlässigte, dem konnte es passieren, daß er wie eine Kuh herumlaufen mußte, mit Gras im Mund und Muhmachen. Zum Glück gab es Sündenfresser. Wer genug Geld hatte und sie bezahlen konnte, dem fraßen sie die Sühne, was hieß, sie erlitten die Strafe, also fraßen die Kuhscheiße, tranken die Kuhpisse und nahmen auch die drei anderen heiligen Produkte der Kuh, die man ja zur Not auch selbst essen konnte, ein oder sie aßen den verdreckten Sand vom Ganges-Strand, der eine so von Sünden reinigende Wirkung hatte wie ein päpstlicher Segen (oder tausend) und das ein-zwei-dreimalige Beten des Rosenkranzes, sie soffen Jauche zur Jause oder das Wasser, in dem Brahmanen ihre Füße gewaschen hatten, badeten stellvertretend im Harn der heiligen Kühe, und als Prügelknabe - was etwas teurer war erlitten sie auch die Prügel, die die Richter geprügelt haben wollten. Nur wenn man den Tod einer Kuh verursacht hatte und die Kastenrichter einen dafür mit der Todesstrafe bestraft wissen wollten, dann war es schwer, einen Substitut zu finden, aber unmöglich war
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Sir Walter Lawrence beschreibt in seinem Buch `The India we observed' (1928) einen solchen Fall, wo ein hinduistischer Freund wegen einer solchen Verwarnung auf seine dritte Englandreise verzichtet.
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auch das nicht, denn der einzelne gehörte sich nicht unbedingt selbst in Indien. 1 Dieses geniale System, das gleichermaßen gegen die eigene schmutzige Unterschicht diskriminierte und gegen die feinpinkeligen Vertreter aus der Oberschicht der Kolonialmacht, hatte seine Anfänge ganz weit zurück in der Zeit der Harappakultur oder Indus-Flußtal-Kultur. Indien hatte verschiedene große kulturelle Blütezeiten hinter sich, wie unter den Moghulherrschern; die Moghulherrschaft begann 1526 nach der von den englischen Imperialisten eingeführten Zeitrechnung und dauerte bis zur Eroberung Delhis durch den Perser Nadir Shah im Jahre 1739 e.I.Z.; danach waren die Moghulherrscher nur noch persische Puppenkönige; 1858 e.I.Z. setzten die Briten, die keinen Gebrauch für eine persische Puppe hatten, den letzten Moghul ab. Besonders unter dem Moghulherrscher Akbar, er hatte den Thron 1556 e.I.Z. als Vierzehnjähriger bestiegen, erlebte Indien eine Blüte. Akbar war Freidenker, er führte viele Reformen durch, er praktizierte nicht nur selbst Toleranz, sondern verlangte es auch von seinen Untertanen, und er beschnitt die Macht der Brahmanen und des moslemischen Klerus. Befreiung vom geistigen Joch war schöner als das Taj Mahal.
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Die Informationen zum indischen Kastensystem habe ich neben Nachschlagewerken einem Buch mit dem harmlosen Titel “Indian Caste Customs” von L. S. S. O'Malley, das ich mir selbst in Indien besorgt hatte, entnommen. Der Inhalt des Buches löste bei mir soviel Betroffenheit aus wie nur selten ein Buch. Welch unglaubliches Leid über einen Teil der Menschheit gebracht wurde und dann harmlos als Sitte beschrieben wurde! Ähnliche Betroffenheit empfand ich beim Lesen von Hitlers `Mein Kampf', Martin Luthers Haßschriften gegen die Juden (und Türken), Sprenger und Institoris' Hexenhammer, der Constitutio Criminalis der frommen, Österreichischen Kaiserin Maria Theresia mit ihren Folteranweisungen, des Alten Testaments und ähnlicher Schriften. Aber auch die Berichte der Opfer lösen natürlich Betroffenheit aus, aber auf eine andere Art.
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Hätten Akbars Nachfolger so weiter gemacht, hätte Indien sich vielleicht vom Kastensystem und von religiöser Intoleranz und Gewalt befreit. Vor den Moghulen gab es im Osten das Sharki-Sultanat von Jaunpur und im Westen das Reich von Malwa, in Delhi herrschte die LodiDynastie, davor herrschten Sklavendynastien, jeweils ein Sklave des Sultans wurde neuer Sultan, überall herrschte Gewalt, eine kleine Gruppe von muslimischen Gewalttätern tyrannisierte das Land von Zwingburgen aus, Raub, Mord und Bekehrung mit dem Schwert, kulturelles Tiefland; seit um die Jahrtausendwende (nach engl. Imperialisten-Zeitrechnung) das letzte Bollwerk gegen den Islam, das Gujara-Prathihara-Reich, unterging, hatte man in Indien diese Ebbe. Davor herrschten die Rajputen und davor in der ersten Hälfte des 7. Jahrhunderts gelang es Kleinkönig Harshawardhana von Kanauj für kurze Zeit ein nordindisches Großreich zu erobern und ein letztes Mal so etwas wie Buddhismus als Staatsreligion durchzusetzen. Weiter zurück lag das Gupta-Reich mit seiner Sanskrit-Literatur-Blüte. Das Gupta-Reich hauten die Hunnen kaputt. Vor dem Gupta-Reich gab es das Großreich der Kushan. Die Kushan hatten erfolgreich die indohellenischen Königreiche, die Alexander der Große in der Folge seines tollkühnen Bemühens, die gesamte Welt zu erobern, auf seinem Rückzug hinterlassen hatte, erobert. Auch die Skythen und sogar die Prather, die einst dem mächtigen römischen Reich so schmachvolle Niederlagen an seiner Ostgrenze bereitet hatten, hatten dem Ansturm der Kushan nicht standgehalten. Hundert Jahre, bevor die Zeitrechnung der Mlechhas, jener Imperialisten, die von den fernen britischen Inseln her Indien erobern sollten, überhaupt erst anfing, gingen die Reste des ersten ganz Indien (das heißt, eigentlich nur bis zum Penner) umfassenden Kulturreichs Magadha im Ansturm der Skythen unter. Fast zweihundert Jahre hatte diese kulturelle Blüte gedauert.
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König Chandragupta Maurya hatte um 300 vor der Zeitrechnung den ersten Schritt und die ersten Eroberungen zu diesem Riesenreich gemacht. Unter seinem Enkel Asoka, also dem dritten König dieser Dynastie, erreichte das Reich seine größte Ausdehnung. Es reichte vom Penner bis zum Hindukusch. Asokas Beitrag zur Kultur waren unter anderem Säulen und Tafeln, die er überall im Land errichten ließ, und auf denen Inschriften seine Weisheit dem Volke nahebrachten und zur Toleranz aufriefen, zu Friedfertigkeit, Ehrlichkeit und buddhistischer Religiosität. Auch viele Buddha-Statuen ließ Asoka errichten. Touristen und Archäologen gleichermaßen sahen sich diese Steindokumente noch nach zweitausend Jahren an und freuten sich, daß sie einen steinernen Beweis für die Toleranz der Inder vor Augen hatten. Die blutigen Schlachten, die sich Moslems und Hindus in den Slums der Städte lieferten, mieden sie verständlicherweise. So viel Vernunft besaßen sie. Megasthenes, der sich in den Jahren 306 bis 298 vor Beginn der christlichen Zeitrechnung als griechischer Botschafter in der damaligen indischen Hauptstadt Patiliputra aufhielt, berichtete nicht nur begeistert von der Schönheit der Stadt mit ihren großen Befestigungsanlagen und ihren 64 prächtigen Stadttoren und ihren 570 Türmen, sondern noch begeisterter vom Sozialleben der Stadt, wo die Menschen einander vertrauten, und keine Prozesse wie in Griechenland führen mußten um Pfand, Einlagen und Depositen, in Magadha brauchten die Leute bei ihren Geschäften auch keine Siegel oder Zeugen, da sie alle ehrlich waren. Aus dem gleichen Grund blieben auch Häuser unverschlossen und ohne Wächter. “Wahrheit und Tugend schätzen sie hoch. Alte Leute werden nicht einfach verehrt, bloß weil sie alt sind, wie bei uns, und sie genießen auch keine Vorrechte; nur wer über überragende Weisheit verfügt, wird geachtet und bevorzugt behandelt. Sie benutzen keine Ausländer als Sklaven und natürlich auch nicht ihre eigenen Landsleute.”
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Die Steuern waren hoch, aber die Dienste des Staates dienten allen. Es gab Mindestlöhne und niemand mußte hungern. Die Kanalisation funktionierte hervorragend, und die Straßen wurden so sauber gehalten, wie vielleicht nie wieder in Indien. Der chinesische Reisende Ho-hsien berichtete: “Die Leute sind reich und gedeihen. Sie versuchen einander zu übertrumpfen an Freundlichkeit des Herzens und an der Liebe zu ihren Nachbarn.” Zu Asokas humanistischer Politik gehörte das Errichten von Krankenhäusern, Herbergen und Schulen, das Graben von Brunnen, das Anpflanzen von Bäumen zu beiden Seiten von Überlandstraßen, der Tierschutz, eine milde Strafgesetzgebung und Almosen für die Armen und die Befreiung der geistig Armen aus dem Joch der Brahmanen; Brahmanismus wurde daher konsequenterweise verboten. Buddhismus dagegen wurde gefördert. Damals war der Buddhismus noch nicht zum Klerikalismus und Bonzentum verkommen. Asoka schickte buddhistische Missionare nach Westen bis nach Syrien, damit sie ihre Botschaft des Friedens1 predigten. Sie waren nicht erfolgreich genug, denn eines Tages, etwa vier Generationen nach Asokas Tod, kamen Angreifer von Westen und vernichteten die Reste vom Reich der Mauryas, diese Angreifer waren die Skythen. Da aber war der letzte Maurya schon lange ermordet und Asokas Visionen von Arkadia von gierigen Vize-Königen mit eigenen Visionen (von Macht) zerstört worden, beziehungsweise gevierteilt. Viergeteilt aber hielt das Reich den Angreifern nicht stand. Lange Zeit hatte man gedacht, das Reich der Mauryas hatte nur einen Vorgänger, nämlich das Reich der Arier, von dem nur die gigantischen Mauern von Rajagriha erhalten geblieben waren.
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In Sektiererkreisen kursierte die Lehre noch ein paar Jahrhundert; ein gewisser Jesus Christus hörte von ihr und verlieh ihr neuen Auftrieb.
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Doch die Arier waren Eindringlinge. Sie kamen aus Zentralasien und waren unzivilisierte Barbaren gewesen. Sie waren hungrig in eine Kulturlandschaft eingedrungen, die Landschaft der Harappakultur, auch dravidische Kultur genannt. Die Anfänge dieser Kultur lagen weit zurück, Jahrtausende bevor den Mlechhas ihr Heiland geboren wurde. Große, schöne Städte hatte man damals gehabt, Harappa, Mohenjo Daro, Chanhu Daro, Kot Diji, Kalibanga, Lothal, Suthagen Dor. Glatte, gepflasterte Haupt- und Nebenstraßen hatten diese Städte gehabt. Und die Städter lebten in zweistöckigen Ziegelhäusern mit Badezimmern und Kanalisationsanschluß. Die Kanalisation verlief abgedeckt unter der Straße und war nicht wie später einfach die Gosse. Man betrieb Viehzucht und Ackerbau, benutzte Baumwolle für seine Kleidung, hatte Schiffe und Wagen und Zugtiere, bearbeitete nicht nur Bronze und Eisen, sondern sogar Nirosta-Stahl. Die ganze Nation erstreckte sich von den Simla-Bergen bis zur Arabischen See. Die Schrift dieser Vor-Arier hatte 200 Zeichen. Etwa 100 dieser Zeichen waren fast identisch mit Zeichen, die man auf den spärlichen schriftlichen Dokumenten, die auf der Osterinsel der Vernichtungswut von christlichen Missionaren entkommen waren, gefunden hatte, und selbst auf Japan gab es einige wenige Zeichen dieser Art in Stein gehauen. Einige Menschen sahen darin einen Hinweis auf den untergegangenen Kontinent Muh. Und die Harappa-Kultur war eine weltliche Kultur gewesen, das größte Gebäude von Mohenjo Daro war weder eine Kirche, ein Tempel oder ein anderes Gotteshaus gewesen, noch eine Pyramide oder ein Palast, sondern ein öffentliches Bad. Den Bewohnern war also wohl etwas so Vernünftiges wie die Sauberkeit im körperhygienischen Sinne außerordentlich wichtig gewesen. Erst mit der arischen Eroberung wurde Brahmanismus und
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Religion zu den höchsten Werten der Gesellschaft, und die dunkelhäutige Urbevölkerung zu unberührbarem Aussatz. Die Arier ließen sich schon damals nicht durch ihre eigene Kulturlosigkeit einschüchtern. Wo ihnen das geistige Niveau fehlte, da machten sie es durch Hochnäsigkeit, Muskelkraft und Geistlichkeit wett. In der ersten Version von “Mein Kampf”, der Rig-Veda, erwähnten sie die großen Städte der Dasyus, Rakshasas und Dämonen, und wie sie die Untermenschen sonst noch nannten, und wie mühsam es war, die gut organisierten Staaten dieser schwarzhäutigen Barbaren zu erobern, dieser schmutzigen Feinde der Götter, die doch eigentlich Sklavenmaterial waren, und denen sie später nach der Einnahme ihrer Städte und der Ermordung ihrer Oberschicht und Intelligenzia für Jahrtausende den Judenstern der Unberührbarkeit anhängen sollten. Und die Rakshasas waren für immer böse Buhmänner, die Schlechtigkeit in Person, völlig dämonisiert, Kinderschrecks und auch für Erwachsene, und keiner wußte mehr, wer damit mal gemeint war, auch nicht die Nachkommen der Betroffenen. Daß sie dunkel waren, und damit den Unberührbaren ähnlich, nur soviel wußte man. Hautfarbe und Rassenreinheit waren schon damals eine Sorge, eine Obsession, ein Anankasmus der Arier. Es sollte sie nie wieder loslassen, weder in Indien, trotz Mahavira, Gautama the Buddha, Asoka oder Akbar oder einer laizistischen Verfassung, noch sonstwo, wo weiße Menschen auftauchten. Immer wurde Rasse und Hautfarbe zum Thema und es wurde erobert und beherrscht und kaputtgemacht, wenn es nicht die eigene Kultur war: Die Heere Alexander des Großen trieben die Ägypter nilaufwärts zurück nach Äthiopien und hellten die Hautfarbe Ägyptens auf. Der Vater der Geschichtsschreibung1 Herodot, der selbst das alte Ägypten und viele andere Kulturvölker seiner Zeit besucht hatte, schrieb, daß die Bewohner von Ägypten, Sudan, Nubien, Arabien,
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Cicero nannte ihn so.
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Palestina, West Asien und Indien alle schwarzhäutige Äthiopier waren. 1 Ein anderer Fall arischer Kulturbarbarei war die Vertreibung der Mauren aus Spanien. Teile Spaniens waren ihnen Heimat gewesen von 89 bis 870 A. H., Anno Hegirae, bzw. im Jahr der Hedschra, wie sie ihre moslemische Zeit zählten. Die Mauren, oder auch Mohren genannt, waren negroide Afrikaner, hatten also eine dunkle Hautfarbe, jene dunkle Hautfarbe, die die hellhäutigen Arier mit Schmutz und Minderwertigkeit assoziierten. Es war nicht die erste Vertreibung von Afrikanern aus Spanien. Schon im Neolithikum, der jüngsten Steinzeit, der Zeit der polierten Steine2, hatten die von Afrika herkommenden, nichtindogermanischen Iberer eine blühende Stadtkultur errichtet, z. B. Sagunto am Palancia. Phöniker, Griechen und römische Kolonialisten verdrängten und erdrückten dann diese Kultur; und Hannibal mit seinen Heeren zerstörte dann das römische Saguntum restlos. Und Iberia wurde Carthago Nova3. Aber Carthago mußte brennen. Und Carthago Nova wurde zur römischen Provinz Hispania. Später dann war Völkerwanderungszeit. Da kamen die Vandalen und gründeten Vandalusien. Da die Vandalen sich aber einen schlechten Ruf als Kulturbanausen eingeheimst hatten, strichen ihre Nachkommen den Anfangsbuchstaben ihres Namens weg und lebten fortan als Andalusier frei von solchen Anfeindungen im eroberten Gebiet. Anfeindungen gab es aber schon. Die Hispanoromanen waren Katholiken, die eingewanderten Westgoten Ketzer, arianische Ketzer, 1
John G. Jackson beschreibt in seinem gut recherchierten und äußerst lesenswerten Buch “Ages of Gold and Silver” ausführlich die vergessenen bzw. geleugneten kulturellen Leistungen der negroiden Völker.
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J. Lubbock nannte das Neolithikum so.
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spätere Cartagena
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die frech behaupteten Jesus sei nicht mit Gott wesensgleich, sondern nur wesensähnlich, ein wenig wesensgleich, aber nicht ganz. (Ein kleines Problem, an dem die große Welt auf Wunsch der Gläubigen einmal zu Grunde gehen sollte.) Wie so oft bei Auseinandersetzungen: Der Stärkste und Gemeinste gewann, Spanien wurde katholisch. Den westgotischen Königen waren es auch egal, mit welcher Religion sie ihr Volk unmündig hielten. Sie traten selbst zum Stärkeren, zum Katholizismus über. Doch der Starke erwies sich als zu stark. Er wollte nach dem Tod des Westgotenkönigs Witiza dessen Sohn nicht auf den Thron lassen. Da rief seine Familie die Mauren zu Hilfe. Die Mauren kamen gerne. Sie waren Teil des Großreiches der Omaijaden. Im Osten hatten sie schon das ganze Gebiet bis zum Indus erobert und im Westen waren sie schon bis ans Meer gestoßen, was lag da näher, als jetzt nach Norden vorzustoßen. Die christlichen Kleinkönigreiche in Hispania waren ein Kinderspiel. Für die Bevölkerung waren die neuen, maurischen Herrscher ein Segen. Sie saugten das Volk nicht wie die christlichen Kleinkönige aus. Das Land erlebte eine wirtschaftliche und kulturelle Blüte. Universitäten, Badehäuser und viele andere prächtige Bauwerke entstanden, viele zeugten noch lange nach der Vertreibung der Mauren - allen christlichen Lügen und Hollywood-Filmen zum Trotz - vom Können der Mauren. Und die Mauren regierten ihr Reich auch mit Toleranz. Juden, Christen, Wissenschaftler und Forscher konnten nach eigener Façon glücklich werden. Christen vielleicht nicht so sehr, weil zu ihrem Glück die Unterdrückung und geistige Beherrschung anderer gehörte, aber sonst ging es schon im maurischen Spanien. Nach der Reconquista durch katholische Gewaltherrscher brachte man dann die Juden und die zurückgebliebenen Moslems um, zerstörte die Universitäten und Badehäuser. Die neuen weißen Herren zogen einen sauberen, betenden BlankoGeist und einen verdreckten Körper einem Bad und der Wissenschaft 1263
vor, deshalb errichteten sie statt der Bäder und Universitäten große Gotteshäuser. Gewaschen wurde sich jetzt nur noch einmal im Leben und zwar gleich nach der Geburt und das auch nur ein bißchen an der Stirn. Wer sich gründlicher wusch, wurde der Ketzerei verdächtigt. Damals, als im arabischen Kulturgebiet alles blühte, Mathematik, Wissenschaft, Medizin, Literatur, Kunst, Architektur, Musik und Philosophie und die islamische Religion mehr Toleranz und Weltoffenheit zeigte als das Christentum, da haßten die dunklen religiösen Mächte des Abendlandes die Araber und strengten Kreuzzüge gegen sie an; in das sogenannte Heilige Land schickten sie mörderisches Lumpenpack, Lumpenpack, das sie später heilig sprachen - für selbstmörderisches Mordwerk. Islam hatte im Orient Christentum verdrängt, wie Christentum Heidentum verdrängt hatte. Der Islam war die Kopfgeburt von Abu al-Qasim Muxammad ibn Abd Allah ibn Abd al-Muttalib ibn Hashim, dieser Mann, Sohn seines Vaters, der wiederum der Sohn seines Vaters war, der wiederum... etc. etc. ad nauseam, vielleicht hatte er in grauer Vorzeit auch mal einen Vorfahr, der der Sohn seiner Mutter war, aber das wurde nicht überliefert, dieser Mann hatte die Idee mit dem Islam, er behauptete von sich, der letzte der Propheten zu sein; Adam war der erste. Seine religiösen Lehren waren durchaus revolutionär und bestachen durch ihre Einfachheit. Man sagte, er sei von Christentum beeinflußt worden. So viel war sicher, aus dem drei Drittel Gott der Christen hatte er einen einzigen Gott gemacht: Allah. Er hatte den Bruch also sozusagen gekürzt. Die Araber waren den christlichen Europäern damals in Mathematik weit überlegen. Die Europäer rechneten damals noch mit den Fingern und benutzen römische Ziffern. In seinen revolutionären Predigten betonte Mohammad immer wieder Gleichheit, Brüderlichkeit und - das Letzte hatte er nicht ganz hingekriegt - Eroberung; außerdem sprach er noch - er war selbst 1264
Kaufmann - von der Bedeutung des Handels und des Wirtschaftens sowie von den Segnungen, die man durch das strikte Beachten von Gebets- und Fastenzeiten und durch Pilgerreisen erfuhr. So hatte er jedem etwas zu bieten, den Unterprivilegierten die Gleichheit, den Räuberischen Stämmen der Wüste die Legitimität, den Kaufleuten das Geschäft, den Mystikern eine Menge an Riten, Zeremonien und symbolischen Handlungen, als da waren die 4 Ss, die vier Säulen des Islam: Schahada: Glaubensbekenntnis “Es gibt keinen Gott außer...”; Salat: fünfmal täglich auf die Knie... beten; Sakat: Almosengeben; Saum: Ramadan-Fasten; dann gab es noch eine fünfte Hauptpflicht: die Hadsch, das Nach-Mekka-Pilgern; die Pflicht zum Dschihad gab es auch noch. Für normale Männer war sicher interessant, daß die Religion ihnen nur einen einzigen Gott, aber vier Frauen erlaubte. Und mit dem Schwert in der Hand gut gerüstet zogen die neuen Gläubigen in alle Himmelsrichtungen: Und willst du nicht mein moslemischer Bruder sein, dann schlag' ich dir den Schädel ein. Kein Wunder, daß der damals christliche Orient und das ebenfalls christliche Nordafrika so schnell moslemisch wurden, wie sie einmal unter ähnlichen, zum Teil sogar noch brutaleren Umständen christlich geworden waren. Eigentlich waren diese moslemischen Eroberungen eine weltliche Angelegenheit, und dem Kalifen, von arab. Chalifa = Stellvertreter, Nachfolger (des Propheten), war die Religion eigentlich egal, er brauchte sie nicht einmal zur Verdummung seiner Untertanen, vielleicht wollte er nicht über Idioten herrschen: In Baghdad konnte sich der Dichter El Marri (970-1057) öffentlich über die Religion lustig machen und erklären: “Auf der Welt gibt es nur zwei Klassen von Menschen: intelligente Menschen ohne Religion und religiöse Menschen ohne Intelligenz.”1
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Aus John G. Jacksons “Ages of Gold and Silver” S.257. Jackson gibt noch mehr Beispiele für die Atmosphäre von Toleranz zur Omaijaden Zeit. Da Jackson Atheist und Schwarzer war, und beide, Schwarze sowohl als auch Atheisten, in der Geschichtsschreibung zu kurz
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Und der arabische Historiker Tabari (839-923), Autor eines dreißigbändigen Korankommentars, konnte berichten, daß Aischa, Mohammeds Lieblingsfrau, sich oft scherzhaft über den auffallend guten Willen Gottes geäußert habe, der den Wünschen ihres Mannes immer entgegenkomme, und so seinen Lesern nahelegen, daß die Offenbarungen Gabriels doch wohl eher eine Zwecklüge des Propheten waren. 1 Aber die meisten Leute wollten glauben, nicht denken und aus Naheliegendem Schlüsse ziehen, von den zwei angebotenen
kommen, hatte er es sich zur Aufgabe gemacht, in gut recherchierten Werken die kulturellen Leistungen der afrikanischen und farbigen Völker zu beschreiben und an einigen den Weißen liebgeworden Vorstellungen kräftig zu rütteln. Was Atheismus betrifft, so zeigt er dem Leser zum einen, daß da, wo die Religion zurückgedrängt ist, die Kultur, die Wissenschaften, das Geistesleben aufblühen, und zum anderen zeigt er auch, daß Atheismus gar nicht so selten ist, es hat ihn immer und überall gegeben, sogar im Vatikan. Papst Leo X. soll auf seinen Reichtum angesprochen gesagt haben: “Das habe ich alles der Fabel von Jesus Christus zu verdanken.” Die Idee mit dem Ablaßhandel ging auf diesen Papst zurück: Jesus und die Heiligen hatten so viele überschüssige Kräfte, jetzt hat sie die Kirche als Thesaurus ecclesiae, als Kirchenschatz, (übrigens immer noch, scheint also noch nicht alle zu sein, wahrscheinlich unermeßlich, wie die Kräfte des Dukatenesels), den sie Stückweise für teures Geld oder auch für weniger, wenn man das teure Geld nicht bezahlen konnte, verkaufte, um sich richtige Gold- und Kunstschätze anzulegen. Leo X. war ein Mäzen der Künste, und wenn er ein Skeptiker war, so war er mehr noch ein Zyniker, der darüber lachte, daß die Seelen aus dem Fegefeuer sprangen. Und wenn er auch wirklich wie wir ein Atheist gewesen sein mochte diese Art von Atheisten sind häufiger, als manche Gläubige wahrhaben wollen -, weder ich noch John G. Jackson, da bin ich mir sicher, noch andere, die sich um die Befreiung der Menschen vom religiösen Joch bemühen, fühlen sich einem solchen Atheisten verbunden. Leo X. war übrigens so damit beschäftigt, die Kaiserwahl von Karl V. zu verhindern, daß er drei kostbare Jahre lang das Treiben eines Mönches, der die Fabel von Jesus Christus noch ernstnahm, ignorierte, was der wiederum nutzte, um mit seiner sogenannten Reformation die weltlichen Tendenzen des damaligen Christentums umzukehren und die Welt in einen neuen christlichen Fundamentalismus zurückzustürzen, der wieder Blut in Strömen fließen ließ. Aber Blut und menschliches Leiden waren ja nicht wichtig, Gott war... 1
Informationen zu Tabira und Aischa wurden Peter Priskils Buch “Salman Rushdies - Portrait eines Dichters” entnommen, der sich seinerseits auf einen Artikel der Neuen Züricher Zeitung vom 1. 3. 1989 bezieht.
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Menschenklassen wählten sie die niedrigere. Die Aufklärung war einer Elite vorbehalten. Damals aber und für noch gute sieben Jahrhunderte danach brachte man im christlichen Abendland eine solche geistige Elite wegen Ketzerei um. Dann brach ein Flächenbrand der Freiheit und des Wissens aus und die Pfaffen mußten sich verkriechen. Aber langsam vergaßen die Leute, wie schlimm die Unterjochung gewesen war, und langsam wagte sich ein Pfäffchen nach dem anderen wieder hervor. Das Feuer der Freiheit brannte nicht mehr so prächtig, es glöste, es glöste vor sich hin, es döste, die Leute dösten. Aber ganz auszukriegen war das Feuer auch nicht. Zweihundert Jahre nach der Aufklärung, als die arische Geistlichkeit sich noch immer von den Werten der Französischen Revolution, vom materiellen Wohlstand der Allgemeinheit und von wissenschaftlicher Geistesfruchtbarkeit bedrängt fühlte und der Islam ein mörderisches, mittelalterliches Gesicht aufsetzte und über die Religionsgrenze zurückwarf, entdeckte die eine Priesterkaste die andere und man begründete - bei Priestern kein Problem (im Gegensatz zu Wissenschaftlern, die ja oft Schwierigkeiten haben, etwas zu begründen) - mit der an den Haaren herbeigezogenen Gemeinsamkeit vom Abrahamischen Erbe die Zusammenarbeit gegen ein neues Heidentum, das die Vernunft zum Götzen hatte. Und natürlich war es der hellhäutigere, arischere Oberpriester, der besonders eifrig ins frisch gemachte Abrahamische Ehebett steigen wollte, denn in seinem Reiche hatte die Vernunft viel weiter um sich gegriffen, als in dem Herrschaftsgebiet arabischer bzw. moslemischer Mullahs, wo gerade mit zunehmender Verarmung, tatsächlicher als auch geistiger, eine neue Gläubigkeit um sich griff. Nichtsdestotrotz, auch die Mullahs stiegen ins neue Kuschelbett “Abrahamische Religionen”, die Juden gehörten natürlich auch dazu. Ehe zu Dritt. 1267
Karthago mußte brennen und Nordafrika von weißen Menschen besiedelt werden. Es bestand also eine Blutsverwandtschaft. Und unter frommen Leuten bestand zusätzlich immer noch eine Geistesverwandtschaft - selbst wenn sie sich als Kreuzritter und Mudschahedin gegenseitig umbrachten oder -bringen müßten -, und auch fromme Mullahs wußten, wie man heilige Schriften lesen mußte, und wie man in ihnen das überlesen mußte, was nicht opportun war: 5.56. O ihr, die ihr glaubt, nehmt euch nicht die Juden und Christen zu Freunden; sie sind untereinander Freunde, und wer von euch sie zu Freunden nimmt, siehe, der ist von ihnen. Siehe, Allah leitet nicht ungerechte Leute. 5.76. Wahrlich, ungläubig sind, die da sprechen: “Siehe, Allah ist ein dritter von drei.” Aber es gibt keinen Gott, denn einen einigen Gott. Und so sie nicht ablassen von ihren Worten, wahrlich, so wird den Ungläubigen schmerzliche Strafe. 9.30. Und es sprechen die Juden: “Esra ist Allahs Sohn.” Und es sprechen die Nazarener: “Der Messias ist Allahs Sohn.” Solches ist das Wort ihres Mundes. Sie führen ähnliche Reden wie die Ungläubigen zuvor. Allah schlag sie tot! Wie sind sie verstandeslos! So freuten sich dann auch die moslemischen Mullahs mit dem christlichen Oberpriester ob des gemeinsamen Abrahamischen Erbes, aber sie behielten sich weiterhin das Totschlagen für die christlichen Dissidenten in ihrem eigenen Herrschaftsgebiet vor. Der christliche Oberpriester drückte da gern mal ein Auge zu. Man war ja tolerant. ...und so lange es den eigenen Leuten an Glaubensstärke fehlte, konnte man diese falsche Religion sowieso nicht ausrotten. Ausrotten, da fiel der Priesterkaste zwar nicht Harappa und Mohenjo Daro und die Dravidische Kultur ein, wohl aber die Vernichtung falscher Religionen in Amerika und Afrika, besonders der Sieg über die Hochkulturen der Inkas und der Azteken, die die Frechheit gehabt hatten mit der Zeitrechnung 9 000 Jahre vor der Geburt des Heilands 1268
anzufangen, war ein großer Triumph gewesen. Bei Zeiten würde man ihn wiederholen. Irgendwann werden wir Oberpriester unser Messer hinterm Rücken hervorholen und Euch in den Rücken stechen. Und Ihr seid aus, vorbei, Geschichte. Der weiße, christliche Mensch hat noch eine große Aufgabe vor sich im nächsten Jahrtausend - oder im übernächsten. Kreuzzüge. ... Neuevangelisierung und neue Kreuzzüge.
Adjuna wanderte weiter von den Ruinen der Geschichte zum Ruin der Gegenwart.
Nummer eins.
Menschenfeindliche Futterverschwendung auf Indisch - der Affenberg ohne Affen. In Warszawa stand einmal der höchste Radiomast der Welt, 646,38 m hoch; der CN Tower im Metro Center von Toronto war einmal der höchste Turm der Welt, 555,33 m; das höchste Monument der Welt war einmal das 192 m hohe Tor zum Westen in Saint Louis, ein Nirosta-Stahlbogen von Eero Saarinen, einem amerikanischen Designer finnischer Herkunft; die höchste Statue der Welt war das Werk `Mutterland' von Yevgeniy Vuchetich auf dem Mama!-yev Hügel vor Wolgograd, früheres Stalingrad, noch früheres Zarizyn, diese 1269
weibliche Betonfigur, die Mutter Rußland symbolisierte, maß 82,30 m bis zur Schwertspitze; der ruhende Buddha bei Bamiyan in Afghanistan, eine Statue aus dem 3. Jahrhundert vor Beginn der christlichen, westlichen Zeitrechnung, die wahrscheinlich auf Anweisung Asokas errichtet worden war, wäre noch viel höher als die russische Mutter, wenn sie aufstehen würde, was sie aber nicht tat, nämlich über 300 Meter! Aber die aller größte, “frei”-stehende Statue der Welt - und mit `freistehend' war hier `ohne Hose' gemeint - stand in Mysore, Karnataka-Staat, Indien. Die Bildsäule stellte den Jaina-Heiligen Bahubali dar. Es war die größte Darstellung eines nackten Menschen zur Zeit von Adjunas Wanderung. Die Figur war so groß wie 13 Männer. Wenn man davon ausging, daß Bahubali von normaler Statur war, konnte man behaupten, daß er hier dreizehnmal vergrößert in Granit gehauen stand. Mag er auch von normaler Statur gewesen sein, in anderer Hinsicht schien er nicht normal zu sein. Er stand einen guten Teil seines Lebens - vielleicht war es auch kein so guter Teil seines Lebens -, den letzten Teil seines Lebens in tiefer Meditation unbeweglich, Schlingpflanzen rankten an seinen Beinen hoch, bohrten sich in seinen Anus, umschlangen die Arme und den Hals, würgten ihn und er merkte es nicht, Ameisen krabbelten an seinem Körper auf der Suche nach Nahrung, Vögel nisteten in seinen verfilzten Haaren, Schlangen glitten an seinem Körper hoch, um die Nester auszunehmen, die Nestlinge als Nahrung einzunehmen. Bahubali nahm sich kein Beispiel an ihnen, er fastete und meditierte weiter und weiter und rührte sich nicht. Er soll der erste gewesen sein, dem es gelang, in der Kali-Yuga Moksha zu erreichen. Es war Geburtstagszeit.
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Tausend Jahre war die Statue alt geworden. 1 Ihren Geburtstag feierten die Pilger mit großem Trubel, weltlichem Trubel, Trubel Jubel Heiterkeit. Eine Plattform hatte man errichtet, höher noch als die Statue, auf der entleerte man tausendacht große Gefäße mit Milch, Ghi, Safran und anderen Libationen, so daß sich die Gaben über die Statue ergossen. Zusätzlich regneten von einem Hubschrauber Blütenblätter herunter. Früher einmal hatten die Götter so etwas gemacht, wenn sie einen Menschen erspähten, der ihrer Meinung nach besonders großartig war, wahrscheinlich, weil da die Menschen noch keine Hubschrauber hatten und es noch nicht selbst machen konnten. Auf jeden Fall, wenn Bahubali einmal aus Mitleid mit der Natur und wegen Ahimsa auf Nahrung verzichtet hatte, durch sein fanatisches Beispiel hatte er sich Bewunderer geschaffen, die Hunderttausende von Blumen abrupften und ihnen sogar die Blütenblätter auszupften und sie dann wegwarfen, aus dem Fenster, aus dem Fenster eines Hubschraubers. Er war nicht verantwortlich für die Handlungen seiner Anbeter, sonst hätte man sagen können, an diesem Geburtstag waren all seine Verdienste verloren gegangen. Es war schade um die vielen Blumen, die ihr Leben seinetwegen oder seiner Statue wegen hatten lassen müssen, aber noch schader war es um die vielen hungernden Menschen, die an den vergossenen Lebensmitteln hätten satt werden können. “Solange nicht alle genug zu essen haben, sind Lebensmittel zu schade zum Wegwerfen. Wie viele Kinder gab es, besonders in den armen Kasten, die gerne diese Milch getrunken hätten.”
Auch in Hyderabad wurde Adjuna Zeuge großer Futterverschwendung. Und nichts wurde an die Affen oder die Armen verschwendet.
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Febr. 1981, Margaret R. Bhatty beschreibt das Ereignis in “An Atheist Reports from India”.
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Wenn die alten babylonischen Götter so abgewirtschaftet hatten1, daß ihnen keiner mehr opferte und sie dem Hungertod überlassen blieben, und selbst ihr Rechtsaußen, der Gott Jahwe der Juden und des ATs, sich neu erfinden mußte, die indischen Götter brauchten sich nicht zu beklagen, Indien räucherte ihnen noch immer Nahrungsmittel herauf, im Kleinen wie im Großen. In Hyderabad geschah es gerade im ganz großen: 10 000 Kilo klare Butter, 7 000 Kilo Jingal - l, 250 Kilo Reis, 100 Säcke Zucker und noch ein paar Kleinigkeiten zum Nachtisch. Das große Opfer, das die Brahmanen hier zum Himmel hinaufräucherten, war für die Brahmanen in keiner Weise ein Opfer, denn für das große Opfer opferten die Brahmanen nichts. Sie ernteten die Beachtung, die sie brauchten. Wichtigtuer brauchten Beachtung, wie Götter Gläubige brauchten. Es waren regierende Politiker des Staates Andhra Pradesh, die opferten - aus dem Steuersäckel des Staates, und einzelne Gläubige, die meinten, daß sie durch ihre Steuern zu wenig an dieser Schnüffelgabe für die Götter beteiligt waren, am meisten aber opferten die Atheisten und Rationalisten des Staates Andhra Pradesh. Da sie gegen diese verbrecherische Nahrungsmittelverschwendung protestierten, sperrte man sie kurzerhand für die einwöchige Dauer des Festes ein. Sie opferten also eine ganze Woche ihres Lebens für ihre Überzeugung. Was für ein Opferfest war das nun? Das Fest2 war so ziemlich aus dem blauen Dunst erschienen. Es nannte sich Ashvamedha Yagna, das große Pferdeopfer, und es sollte laut Hindu-Oberhirte Jagathguru Swami Ramanujachary von Kashi Pith, Friede, Harmonie und Wohlstand über die Welt bringen, die Politik von Korruption befreien,
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Alfred Döblin beschreibt das sehr gut in seiner Babylonischen Wanderung.
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27. 5. - 3. 6. 1985, Kosten: 25 lakh Rupies. Ein Lakh = 100 000.
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die Anwesenden von ihren Sünden erlösen und noch ein paar andere Sachen können, die man objektiv nicht feststellen konnte. Der letzte, der das große Pferdeopfer durchgeführt hatte, war Maharaja Jaya Singh von Jaipur gewesen. Das war 250 Jahre früher gewesen. Er hatte es im alten Stil der Arier durchgeführt, bei denen es eines der beliebtesten Opfer gewesen war. Man hatte das Opfer damals nur durchführen können, wenn man eine große Armee hatte und kriegerische Absichten, denn es war notwendig, das Ashvamedha, also das Opferpferd, am Rande des eigenen Territoriums loszulassen, und alle Königreiche, die das Pferd durchzog, zu erobern und sich untertan zu machen, tributpflichtig. Wahrscheinlich paßte man aber ein bißchen auf, daß sich das Pferd nicht verlief - in die Wildnis hinein z. B. oder zu einem zu starken König. Wenn das Pferd dann nach einem Jahr wieder zurückgekommen war, salbte die Königin das heilige Tier und sprach zu ihm einen genau vorgeschriebenen Text aus dem Yajur Veda, nach dem sie dann auch handelte. Sie sprach zu ihm: `Oh Pferd, komm in mich, ich will deine Samen in mich hineinziehen. Ich möchte von deinen Samen geschwängert werden.' Nach vollzogenem Beischlaf wurde das Tier dann geschlachtet und gebraten. Das Rig Veda gab genaue Anweisung, wie das Pferd in Stücke zu schneiden war, welche Segnungen und Sprüche die Priester zu sagen hatten, und wer welches Teil zu essen hatte. Und wer bei dem Opfer alles richtig machte, der kam in den Himmel, aber wer auch nur das kleinste Detail falsch gemacht hatte, hatte sich mit Sünde beladen und war zur Hölle verdammt. In der Nacht bestieg dann der Raja auch noch heimlich seine Rajani, falls das mit dem Pferd nicht geklappt hatte. In der modernen Version nun ließ man das Pferd aber nicht über die Staatsgrenze nach Pakistan laufen und schlachten tat man das Pferd auch nicht. Hindus hatte ja ihren Appetit auf Pferdefleisch schon lange 1273
verloren. Außerdem sollte das Pferd ja ein Bote des Friedens sein. Und wie konnte man einen Friedensboten schlachten und aufessen? Für das Schlachtfest hatte man eine Nachbildung aus Teig gemacht, die man dann - minuziös den ewig wahren, unabweichlichen Anweisungen des Vedas folgend - tranchierte. Die Harijans ließ man auch in dieser modernen Zeit nicht an das Heiligste des Heiligen heran: an das Opferfeuer. Wußte man doch: Hunde und Harijans verdarben die heiligen Gaben. Solch menschlicher Aussatz brachte nur die Harmonie, die sich auf Grund des Opfers auf der Welt ausbreitete, in Gefahr. Von Journalisten auf die Harijans angesprochen, meinte der HinduOberpriester: “Jede Aufgabe erfordert eine Fähigkeit. Sie lassen sich doch auch nicht von jedem Quacksalber operieren. Sie bestehen auch auf einen richtigen Chirurgen.” “Wie ist es aber, wenn ein Unberührbarer sich die Fähigkeit, korrekt aus den Veden zu rezitieren, angeeignet hat?” “In der Lage zu sein, die Veden zu rezitieren, macht aus einem Unberührbaren noch keinen Brahmanen, aber wenn er sich in diesem Leben viel gutes Karma aneignet, dann wird er vielleicht schon im nächsten Leben zum Brahmanen befördert und dann kann er so viele Yagnas machen, wie er will.” Ein anderer Journalist meinte: “Die göttliche Gabe der Vernunft kommt doch wohl etwas zu kurz bei dieser Zeremonie?”1 Der Priester gab wieder seinen Priestersenf von sich, was er wirklich dachte, erfuhr man nicht.
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Informationen zum Großen Pferdeopfer von Hyderabad verdanke ich der indischen Atheistin Margaret R. Bhatty und ihrem Report from India.
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Adjuna aber dachte, wer Vernunft für eine Gottesgabe hielt, hatte sie nicht.
Nummer zwei.
Die einfältigen, religiösen Vorstellungen der Inder waren ein Witz für die aufgeklärte, westliche Welt. Erzählten sich die Inder doch tatsächlich, daß die Welt auf dem Rücken eines Elefanten ruhte, und wenn man sie fragte, worauf denn der Elefant stehe, dann sagten sie, auf dem Rücken einer Schildkröte, und wenn man sie fragte, worauf denn die Schildkröte stehe, dann wollten sie schnell das Thema wechseln, 1 weil sie noch nie so weit gedacht hatten und daher keine Antwort wußten. Adjuna fand keinen Inder, auf den diese Geschichte zutraf, aber er erinnerte sich, einmal britische Seeleute gehört zu haben, die sangen: “The moon is made of cheese, if you please.” Was die Briten doch für lunatische Vorstellungen hatten! Nein, die kosmischen Vorstellungen der Inder waren anders. Von der Zeit, vom kleinsten Paramanu bis zu den großen Yugas und Kalpas hatten wir ja schon im Religionsunterricht gehört.
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Bertrand Russell in seinem Buch “Warum ich kein Christ bin” S. 20 erwähnte diese `indische' Vorstellung, und stellte sie dem Gottes-Beweis der ersten Ursache gleich: Wenn Gott ohne Ursache existieren kann, kann das Universum es auch. Genauso: Wenn die Schildkröte in der Luft stehen kann, kann die Erde es auch.
Interessanterweise fand ich in einer Publikation der Zeugen Jehovas “Life - How did it get here? By evolution or by creation?” auf S. 200 genau diese primitive, `indische' Vorstellung der `korrekten' Bibelaussage “Er breitet aus die Mitternacht und hängt die Erde an nichts (Hiob 26:7)” gegenübergestellt. Wieviel vernünftiger und wissenschaftlich korrekter war doch die Bibel! hätten die Inder in ihrem Märchen die Elefanten und die Schildkröte weggelassen und die Erde auf nichts gestellt, wäre ihre `Theorie' gleichwertig gewesen.
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Es fehlten, aber noch die Lokalitäten und ihr Rundherum im Universum. Also Brahma erschuf ja das Universum für jeden seiner Arbeitstage neu, man sagte auch, er atmete es aus, es spielte dabei wahrscheinlich keine Rolle, ob er durch den Mund oder durch die Nase atmete. Am Ende eines Kalpa erschienen sieben Sonnen am Himmel - wo kamen die sechs neuen Sonnen bloß her? Hatte die eine Junge gekriegt? Kamen sie von weither angeflogen, oder aus der Nähe? Diese sieben Sonnen sollten so sehr sengen, daß die Erdoberfläche versengte und so kahl und glatt wurde wie der Arsch eines... ach nein, wie der Rücken einer Schildkröte. Worauf die jetzt wieder stand, wo die Erdoberfläche doch kugelrund war? Ach nein, es war doch gar keine Schildkröte, es sah doch bloß so aus. Halt, halt, die Erde war doch keine Kugel, vielleicht für dumme Leute. Man konnte es nicht oft genug sagen, die Erde war ein Rotationsellipsoid. Aber wir waren doch in Indien! Richtig, und nach den Purânas (Sanskrit-Wort, bedeutete `alte Erzählung'), sie stammten aus biblischer Zeit oder noch unaktuelleren Kalendertagen, also nach den Purânas war die Welt Tribhuvana, dreifache Erde, Ober-, Mittel- und Unterwelt, Himmel, Hölle und was dazwischen war. Das Ganze hatte Ei-Form. Die äußere Schale - dieses Ei hatte mehrere Schalen - also die äußere Schale war unförmige Materie, darunter lag die Schicht der Intelligenz und darunter die Schicht des Ichbewußtseins, also die Anfänge zu Eigensucht, Kastendünkel und Fremdenhaß, darunter die Schicht des Äthers, darunter die des Windes, darunter die des Feuers, darunter die des
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Wassers. Es gab also sieben Eierschalen. Sieben, eine schöne Zahl, eine mystische Zahl. Jede Schale war zehnmal dicker als die Schale unter ihr. Also Feuerschale zehnmal dicker als Wasserschale, Windschale zehnmal dicker als Feuerschale, Ätherschale zehnmal dicker als Windschale, Intelligenzschale zehnmal dicker als Ätherschale. Es gab also viel Intelligenz im Universum, aber für die Menschen, die ganz im Innern dieses Eis lebten, war sie viel zu weit weg. Es gab kaum Menschen, die intelligent genug waren, auszurechnen, wieviel mehr Volumen die eine Schale des Eis zur anderen Schale hatte, wegen der parabolen Wölbung war es für die meisten zu schwer; die weisen Seher, die die Purânas verfaßt hatten, hätten es sicher auch nicht ausrechnen könnten, möglicherweise sahen sie nicht einmal ein, daß zehnmal so dick nicht gleich zehnmal soviel bedeutete. Aber im Gegensatz zu den heutigen Mathematikern, dachte Adjuna, lebten sie ja auch in der Dotter eines Eis und nicht in den Außenbezirken einer Galaxis kurz vor dem Abgrund zur unförmigen Leere. Die Erde nun war in der Mitte dieses Eiversums, also wie die Dotter eines Eis, wie das Eigelb, eigentlich eher wie ein Spiegelei, denn in den Veden wurde sie als riesige, flache Scheibe beschrieben. Die Wasserschale lag der Erde am nächsten und die Menschen kamen mit ihr ständig in Kontakt, es gab Wasser unter der Erde beim Brunnengraben, es gab Wasser über der Erde und es gab die Ringozeane um die Erde. In der Mitte der Erde stand der Berg Meru, konzentrisch um ihn herum waren die Kontinente und Ozeane. Eine große Landmasse umgab den Berg Meru. Diese große Landmasse war kreisförmig und wurde von dem ersten salzigen Meeresring umgeben. Diese mittlere Landmasse wurde in vier Kontinente unterteilt und zwar nach den Himmelsrichtungen in das nördliche Uttarakuru, das östliche und westliche Videha, und den südliche Kontinent, Indien, auch Bhâratavarsa genannt oder auch Jambudvîpa, der Rosenapfelkontinent, genauso wie auch die ganze mittlere Festlandmasse genannt wurde nach dem großen Jambu-Rosenapfelbaum, der südlich von Meru stand. Etwas westlich von diesem Rosenapfelbaum in der Nähe der Stadt 1277
Bombay ragten riesige Eier aus dem Boden, viele, viele Male größer als die Eier des Elefantenvogels Roch. Sie warteten nicht darauf, daß man sie ausbrütete, sondern sie brüteten selbst, sie waren Plutoniumbrüter. Ein hübsches Nest von Atomfabriken. Eigentlich stand es zu dicht zum Erzfeind Pakistan, weil der es schon mit Mittelstreckenraketen beschießen konnte. Hier baute man an den sechs zusätzlichen Sonnen, die gebraucht wurden, um die Kalpa zu beenden, vorzeitig abzubrechen. Man hatte schon über ein Dutzend fertig. Der atomare Grenzkrieg mit Pakistan konnte eigentlich beginnen. Oder sollte man fairerweise warten, bis Pakistan seine versprochene islamische Atombombe fertig hatte? Ali Bhutto hatte als pakistanischer Premierminister seinem Volke angesichts des ersten indischen Atombombentests eine eigene Atombombe versprochen: “und wenn das Volk Gras fressen muß.”1 Nun Grasfressen war nicht so schlimm, der Prophet hatte nichts dagegen, Schweinefleisch, ja, das wäre schlimm gewesen, da hätte es einen Aufstand gegeben.
Nummer drei.
Menschliche Ruinen in Bombay - auch in Bombay.
Bombay
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Premierminister Bhutto sagte in Wirklichkeit nicht “fressen”, sondern “essen”. Er hatte wohl das Gefühl, daß er seinem Volke schon genug zumutete. Seine Verachtung wollte er ihm wohl nicht auch noch zumuten.
Holger Strom in “Friedlich in die Katastrophe” beschreibt auf S. 826ff die Ereignisse um die indische und islamische Atombombe.
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Im Hafenviertel entlang der Fauklin Road wuchs eine bizarre Stadt, eine Stadt für sich, die Stadt der Käfige. Bunte Paradiesvögel zwitscherten in diesen Käfigen hinter Metallstangen und -gittern, Devdasis, Dienerinnen der Göttin Renuka, der indischen Aphrodite. Kasernierte Lustmädchen Brahmanen-Priestern.
und
-frauen, geknechtet von ihren
Warum dienten sie der Gottheit? Man hatte ihnen eine Geschichte erzählt: Brahma hatte sieben der Sinne entsprungene Söhne, die Prajapatis. Jamad-agni war der vierte dieser sieben. Er lernte die Vedas und Vedantas, Tapas und Tantras und wurde ein weiser Rishi. Er war völlig frei von Begierde und besaß gänzliche Kontrolle über seine Sinne, Gefühle und Gemütsbewegungen. Durch Beherrschung der Raja-Yoga begab er sich in Trance, einem religiösen Ohnmachts- oder Allmachtszustand oder einem Weder-Noch, den die Inder Samadhi nannten. Dort nahm er die Ultrarealität wahr, die höchste Wirklichkeit, falls man Wirklichkeit steigern konnte, die letzte Wahrheit, die kosmische Einheit des Universums, das eigene Aufgehen in dieser Einheit, Offenbarung, Erleuchtung, ein erhebendes Gefühl. Als die Erde ihn wieder hatte, er also zurückgekommen war, fand er, daß seine Frau Renuka, die eine Tochter der Sonne war, also eine solare Prinzessin, und die Mutter seiner fünf Söhne, während seiner Abwesenheit nicht wie bisher der Lust fern geblieben war, sondern als sie beim Baden am Fluß ein göttliches Paar sich am Ufer in fleischlicher Liebe vergnügen sah, hatte sie selbst Lust auf einen Geschlechtsakt mit einem potenten Gott bekommen. Dieser gedankliche Ehebruch und Fehltritt vom Weg der Askese erregte den Zorn des Heiligen so sehr, daß er von seinen Söhnen forderte, ihren Kopf abzuschlagen.
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Ein Sohn nach dem anderen verweigerte ihm den Gehorsam. Erst der jüngste, Parasurama, gehorchte. Mit einem einzigen Hieb seiner Axt schlug er der Mutter den Kopf ab. Jamad-agnis Rage flaute ab. Er streichelte seinem gehorsamen Sohn über den Kopf und versprach, ihm jeden Wunsch zu erfüllen. Und so erzählen die Brahmanen-Priester ihren Opfern die Geschichte nun weiter: Parasurama bat, die Mutter wieder in ihrer Ganzheit herzustellen und zu beleben. Jamad-agni war aber nur zu einem Kompromiß bereit. Er schlug einer Frau der Unterkaste den Kopf ab und setzte ihn auf den wunderschönen Körper der Sonnenprinzessin. Dieser Kreatur versprach er Göttlichkeit, und daß bis in alle Ewigkeit unverheiratete Frauen ihr ihr Leben weihen würden. Und jede dieser Frauen würde sich ergeben einem jeden Mann, der ihren Körper begehrte, hingeben und in jedem dieser Männer hätte sie das Image von Renukas liebenden Sohn zu sehen. Natürlich war das Ganze eine Lügengeschichte. Priester waren in Indien, wie in anderen Kulturkreisen auch, die großen Lügner und Umlügner. In Wirklichkeit endete die Geschichte so: Parasurama schlug den Kopf seiner Mutter nur ab, weil er wußte, daß sein Vater ihm als Belohnung einen Wunsch freistellen würde, und daß dieser Wunsch die einzige Möglichkeit war, der Mutter das Leben zu retten, und auch die älteren Brüder, die der Vater in seinem Zorn mit Wahnsinn geschlagen hatte, wieder normal zu machen. Ein Rishi wie Jamad-agni fühlte sich natürlich seinem Wort verpflichtet und stellte Frau und Kinder wunschgemäß wieder her. Und sie waren wieder eine glückliche Familie. Die Geschichte endete also mit einem ungetrübten Happy End. Wenn man die Brahmanen nun fragte: Warum erzählt ihr den kleinen Mädchen solche Schauermärchen? dann sagten sie: Ja, das ist zwar 1280
nicht wahr, aber wir müssen ja auch leben, und da muß man manchmal abwägen zwischen dem, was richtig ist, und dem, was nützt. Natürlich, auch wir sind nicht nur schlecht, wir haben auch Gewissensbisse, aber am Ende sind wir doch vernünftig. Wir können doch nicht uns und unsere Familien verhungern lassen. Außerdem dient es auch der Allgemeinheit. Wie das? Wenn die Männer nicht die Prostituierten hätten, was meinen Sie, wie da die Unzucht die ganze Gesellschaft durchziehen würde. Die Mädchen wären ja auf der Straße nicht mehr sicher. Also auch die sogenannte Ventiltheorie mußte für die Profitsucht der Priester herhalten. Nun sicherten harmlose Lügengeschichten noch längst kein Einkommen und erst recht kein gutes Auskommen, wenn nicht noch andere Lügen dazu kamen. Zum Beispiel kam es da einem BrahmanenPriester sehr gelegen, wenn er einen Sterbenden betreute, dann konnte er nachher sagen, der Tote hätte geschworen, daß ein Mädchen der Familie Dienerin der Renuka werden sollte. Die betroffene Familie würde sich dann zwar winden und Ausreden erfinden, aber letzten Endes würde sie doch nachgeben: Wenn das der Schwur des Großvaters war,... Auch halfen noch Drohungen mit dem Zorn der Göttin. Alles reine Lügen verstand sich. Notlügen, wie die Priester es nannten. Bevor das kleine Mädchen, die Neophytin, in einem Käfig der Fauklin Straße endete, mußte sie bei Vollmond ein Initiationsritual, das Randay Purnima, über sich ergehen lassen, dabei wurde sie auch entjungfert, falls der Priester so lange hatte warten können. Manch ein Mädchen mochte angesichts des festlichen Rahmen des Geschehens, das Gebete und Tänze mit einschloß, wirklich glauben, sie habe eine sakrale Karriere vor sich, doch sehr schnell verflog diese Illusion, wenn sie meist schon im Anschluß an dieses Fest den pockennarbigen, 1281
goldbehangenen Hurenhausbesitzern, den nervös rauchenden Zuhältern oder manchmal auch einer Madame vorgeführt wurden. Die nächste Station im Leben dieser Mädchen schloß viel Schläge mit ein. Denn die Arbeit in den dreckigen, dumpfigen Ställen der Hurenhäuser war kein Vergnügen. Besonders in der ersten Zeit, wenn das Hymen gerade erst zerrissen war und die tägliche Arbeit die Wunde nicht heilen ließ, war die Arbeit eine Hölle und mit Schmerzen verbunden, die man nur nach den noch größeren Schmerzen der Schläge ertrug. Was wollte man machen? Die männliche Kundschaft liebte gerade das Keuchen und Schreien der kleinen, gerade erst entjungferte Mädchen am meisten, und war bereit, dafür besonders gut zu zahlen. Die meisten ließen sich auch täuschen und glaubten, selbst die Entjungferung vorzunehmen. Das bißchen Blut an ihrem Penis war ihnen Beweis genug. In der ersten Zeit kümmerten sich auch die Brahmanen-Priester noch um das geistige Wohl ihrer Schützlinge, indem sie von der Göttin erzählten und von ihrem Zorn bei Ungehorsamkeit. Später dann, wenn die Mädchen abgestumpft waren und routiniert arbeiteten, kassierten die Priester dann nur noch ihre Provision. Vielleicht sollte man noch erwähnen, daß Indien mal ein unfreies Land war, das von einer fremden Macht beherrscht wurde. Ach, wer wollte sich denn an dieses traurige Kapitel erinnern! Auf jeden Fall respektierte diese fremde Mlechhas-Macht die Religionsfreiheit nicht. Sie verbot den Priestern nämlich, Devdasis der Göttin Renuka zu weihen. Aber die Mlechhas-Fremdlinge mußten das Land wieder räumen, und in Indien herrschte wieder Religionsfreiheit. In Wirklichkeit herrschte Religionsfreiheit natürlich nur da, wo die Priester eingesperrt waren, denn nur da konnte man glauben, was man
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wollte, ohne daß einem die Priester reinpfuschten und mit ihren Lügen den eigenen Glauben manipulierten oder zerstörten. Parasurama schwor später in seinem Leben, als Ritter seinen Vater erschlagen hatten, die Kshatriya-Kaste auszurotten, und mit seiner Axt töte er dann tatsächlich fast sein ganzes Leben lang Ritter. Vielleicht hätte Parasurama, wenn er in unsere Zeit hineingeboren worden wäre und das Schicksal der kleinen Mädchen im Renuka-Dienst gesehen hätte, diesmal geschworen, die Kaste der Brahmanen auszurotten, und Priestern mit seiner Axt den Kopf abgehauen. Dann hätte der Mensch endlich glauben können, was er wollte, oder die Religion ungestraft ganz sein lassen.
Intermezzo: Ein Stück Naturereignis.
Abschied von Bombay. Adjuna beobachtete Sonnenuntergang und Gewitter.
Vom Osten her schob sich eine schwarze Gewitterfront weiß umrahmt bedrohlich zuckend und lärmend über die weiß kontrastierenden Wolkenkratzer der bombayischen Halbinsel, jetzt orange schimmernd von den kraftlosen Strahlen der im Westen versinkenden Sonne, wo sich in der Ferne friedlich dunkelgrün ein Palmenhain in der leichten Brise wiegte und dem Betrachter Romantik vorgaukelte. Zwischen der Terrasse und dem Meer gab es am Fuße der Böschung erst einen grünen, giftigen Sumpf und dann kam der schmutzige Strand, an dem die Fischer immer ihre Notdurft verrichteten.
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An diesem Abend erschien die ganze Landschaft bleich, krank und ängstlich. Die Sonne, sonst bewundert für ihre kräftig violetten Untergänge, tauchte alles in ein gelbsüchtiges Orange. Das Gewitter schob sich schnell unaufhaltsam und besitzergreifend weiter, um den ganzen Himmel zu erobern und ihn pausenlos zu quälen mit seinen so energiereichen Geschossen, und auch die Erde wand sich und alles auf ihr unter dem heißen Hauch seines Atems. Schon war die kranke Sonne besiegt, der letzte friedliche Winkel des Himmels verschwunden und Dunkelheit erzwungen. Jetzt pausenlos Blitze eine neue, fast permanente, nervöse Helligkeit erzeugten, aber die Stadt war nur noch ein sauber ausgeschnittener, schwarzer Scherenschnitt am Horizont. Die Tiere der Umgebung schrien vor Angst, die Kokospalmen verbeugten sich untertänig, auch die majestätischen Laubbäume ächzten und stöhnten unter dem Sturm, doch sie blieben stolz und aufrecht, und die Wasser des Meeres tobten vergeblich im revoltierenden Rhythmus, sie vermochten das Land nicht zu nehmen, Berg und Böschung nicht zu schlucken. Aber die Hölle hatte noch kein Ende, ging unaufhaltsam weiter. Ströme elektrischer Energie schossen von einer Himmelsrichtung zur anderen oder explodierten und verteilten sich in alle Richtungen, dazu Ströme alles einweichenden Regens. Der Monsun nahm Abschied.
Die Mlechhas von den fernen Inseln respektierten nicht nur die Religion ihrer Hindu-Schützlinge nicht, sondern auch deren Tradition nicht, dabei waren sie selbst so stolz auf ihre eigene Tradition und verfolgten the Changing of the Guards at Buckingham Palace mit patriotischen Tränen in den Augen.
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Indien hatte aufregendere Traditionen als das hölzerne Herummarschieren von Paradesoldaten. Was die Mlechhas zum Beispiel aufregte, war das Verbrennen von lebenden Witwen zusammen mit den Leichen ihrer Männer; in einigen abgelegenen Gegenden Bengals wurden sie auch zusammen mit ihren toten Männern lebendig begraben, was die Tradition aber nicht weniger traditionell machte. Gegen den Widerstand frommer Inder wurde diese traditionelle Handhabe 1829 von den britischen Behörden dem Verbrechen Mord gleichgestellt, und den Helfern, die eine unwillige Witwe den (An-)Stoß zum Opfer gaben, drohte die Todesstrafe. Ob eine Witwe willig oder unwillig den Scheiterhaufen betrat, war egal; die Tatsache, daß sie brannte, war allein ausreichend für ein schnelles Vorankommen ihres Mannes in der Nachwelt; Willigkeit steigerte aber das Prestige der betroffenen Familien; dem toten Mann, wenn er wirklich tot war, was anzunehmen war, berührte der Tod seiner ehemaligen Frau nicht mehr; zu Lebzeiten hätte ihn die Agonie seiner geliebten Lebenspartnerin, wenn er sie nun denn geliebt hatte, was nicht Teil der Tradition war, sicher unglücklich gemacht. Sati nannte sich dieses Opfer der Witwe nach der Göttin Sati, einer der weiblichen Aspekte des Gottes Shiva. Sati hatte sich, als ihr Vater ein großes Opferfest veranstaltete, aus Protest darüber, daß ihr Vater ihren Mann Shiva nicht eingeladen hatte, in die Flammen des Altars gestürzt. Da sie eine Göttin war, erlitt sie wohl weder schmerzhafte Verbrennungen noch den Tod. Die Frommen opferten ihr, von ihrer Weiter-Existenz überzeugt, bis in die letzten Tage hinein glasierte Butter, Sesam-Öl, süßes Gebäck, Blumen-Girlanden, Kokosnußfleisch, verwitwete Frauen, sich selbst. Tatsächlich starben einige Frauen freiwillig von Kummer übermannt, andere hielten den Sati-Verbrennungstod wie Schläge, Vergewaltigung und Kinderkriegen für ihre eheliche Frauenpflicht, unangenehme, eheliche Frauenpflicht - meist auf dem Lande. 1285
Beim Sati-Opfer hatten die Dorfbewohner freilich jedes Mal Tränen der Bewunderung in ihren Augen. “Sati Mata ki jai! Sati Mata ki jai!” riefen sie, “Gelobt sei Mutter Sati!” Die Flammen reflektierten sich in ihren feuchten Augen. Seit die Mlechhas solche Opfer verboten hatten, war Sati eine Seltenheit geworden, und auch das von den Mlechhas unabhängige Indien hatte noch zuviel von der britischen Denkweise übernommen, um Priestern oder Verwandten die Möglichkeit zu gewähren, verwitwete Frauen nach Gutdünken ins Kremationsfreuer zu schubsen. Witwen, die jetzt noch brannten, brannten entweder freiwillig oder hatten hartnäckige Verwandte oder eine religiöse Überzeugung. Da Sati nicht mehr so häufig war, konnten die Dörfler bei jedem Fall von Sati eine Gedenkstätte der Göttin errichten. Und die Polizei nahm in jedem Fall die engsten Verwandten fest. 1982 tötete sich die fünfzigjährige Duvasi Bai, nachdem ihr Mann nach zwanzig Jahren Schwindsucht gestorben war. Sie zog sich die prächtigen, schreiend roten Gewänder ihrer Hochzeit an, schmückte sich mit all ihrem Schmuck, umschritt wie einst das heilige Hochzeitfeuer solenn und seren die Kremationstätte, dann bestieg sie den Scheiterhaufen, setzte sich nieder, legte den Kopf ihres geliebten Mannes in ihren Schoß und streichelte ihn, während die Flammen sie beide konsumierten. Ihre Tochter erklärte später, daß ihre Mutter ihr immer wieder gesagt hatte, daß der Gatte der Gott einer Frau sei, er sei der einzige Gott, den eine Frau habe, ihm müsse sie treu sein, und für ihn müsse sie bereit sein, zu leben und zu sterben. Nicht nur indische Frauen taten das. Als der englische Schriftsteller Arthur Koestler mit 77 Jahren todkrank war und sich entschied, seinem Leiden ein Ende zu machen, begleitete ihn seine kerngesunde 22 Jahre jüngere Frau Cynthia, aber sie wählten 1286
keinen schmerzhaften Verbrennungstod, sondern tranken Whisky mit einer Überdosis an bitterem Secobarbitalum. Vielleicht war das Jenseits wirklich nur im Suff zu ertragen. Eheleute, die auf eine lange Zeit gemeinsamen Lebens und gegenseitiger Liebe zurückblicken konnten, begingen damals öfters gemeinsam Selbstmord. Selbst der christliche Theologe Dr. Henry van Dusen und seine Frau Elizabeth nahmen sich sehr zum Kummer der christlichen Lebensfanatiker von Pro-Life 1975 im WASPen-Land das Leben. Was lag näher, als nach einem gemeinsamen Leben gemeinsam zu sterben? Oft war einer der Partner schwer krank, litt an extremen Schmerzen und hatte das Ende seines Lebens schon so ziemlich erreicht. Meist waren es die Männer, die sich bei dem Doppelselbstmord im Endstadium befanden, während die Frauen anhänglich folgten. Das lag daran, daß die Männer meist älter waren als ihre Frauen und außerdem noch ein aufzehrenderes Leben als diese geführt hatten: saufen, rauchen, schuften, unmäßig fressen und andere Unmäßigkeiten. Außerdem empfanden die Männer - zumindest nach außen hin weniger Solidarität mit ihren sterbenden Partnerinnen als umgekehrt, aber als Witwer stellten Männer sich dann so ungeschickt an, daß ein statistisch bemerkenswert hoher Anteil innerhalb eines Jahres starb; seelische Leiden, körperliche Verwahrlosung, schlechte Ernährung waren wahrscheinlich die Ursachen dafür gewesen. Manchmal, aber selten, begingen Eheleute auch schon nach einer kurzen Ehe gemeinsam Selbstmord. Adolf und Eva Hitler töteten sich sogar schon nach einem Tag Ehe, Eheprobleme oder Krankheit spielten bei ihrem Selbstmord aber keine Rolle; berufliches Versagen des Mannes war hier ausschlaggebend gewesen. Oft töteten sich auch Jung-Verliebte gemeinsam, z. B. der 31-jährige Kronprinz Rudolf von Habsburg-Lothringen und die 18-jährige 1287
Baronesse Mary von Vetsera, manchmal, weil die vernünftige Welt der Erwachsenen sie nicht verstand und zusammenleben lassen wollte. Ein bißchen hofften sie immer auf ein gemeinsames Glück im Jenseits. Wer sollte ihnen das verwehren! Und Romeo erstach sich, weil er seine Julia für tot hielt, Julia erstach sich, weil ihr Romeo tot war. Der junge Werther schoß sich sogar aus Verzweiflung darüber, daß ihm die Angebetete nicht gehörte, eine Kugel durch den Kopf, wieder andere töteten sich, weil die Angebetete sie nicht erhörte. `Unglücklich verliebt' war ein beliebter Grund für Selbstmord. Sie alle hatten ihre persönlichen Gründe für ihren Tod, tiefe Gefühle, Loyalität, Liebe, Verzweiflung, nichts hatte ihr Tod mit dem Sati der indischen Witwen gemeinsam, keiner von ihnen starb aus gesellschaftlicher Konvention. ...aber tot waren sie alle, die sie starben.
Im modernen Indien brannten Frauen immer seltener wegen Sati Mata. Trotz aller religiösen Revivals war man selbst in Indien materialistischer geworden. Frauen verbrannten jetzt immer häufiger in den Küchen ihrer Schwiegermütter bei sogenannten Unfällen am häuslichen Herd. Diese Unfälle hatten rein materialistische Gründe, kein Gott und keine religiöse Vorstellung, außer der von der Wertlosigkeit der Frauen, war dabei im Spiele. Der materialistische Grund für den Tod der Frau war die Aussteuer, die die Frauen mit in die Ehe bringen mußten. Diese Aussteuer war oft auch überhaupt erst der Grund für eine Heirat. Wenn die Aussteuer nicht gewesen wäre, hätte manch eine Familie keinen zusätzlichen Esser als Sexsklaven für ihren Sohn ins Haus kommen lassen. War die Aussteuer jetzt unerwartet klein ausgefallen, konnte es sein, daß die Familie es dem Mädchen zum Vorwurf machte. Mit der Zeit - nach ein 1288
paar Monaten oder Jahren - steigerten sich Wut und Haß dann so sehr, daß der Familienrat beschloß, daß man die Neue loswerden müsse. Die unauffälligste Art, sie umzubringen, war ihr Arbeitsplatz, die Küche. Bei der Handhabe mit offenem Feuer konnte so allerhand passieren. Statistisch auffällig war nur, daß es immer der in die Familie eingeheirateten Gattin des Sohnes passierte. War der Tod der Neuen erst einmal beschlossene Sache, mußte der Familienrat sich überlegen, wie der Küchenunfall von statten gehen sollte. Am humansten wäre wohl ein direkter Stich ins Herz der Frau oder ein sauberes Kopf-ab à la Guillotine, aber selbst gutmütige, verständnisvolle und bestechliche Polizeibeamten hätten mit der Ausrede `ihr sei beim Gemüseschneiden das Messer ausgerutscht' ihre Probleme. Zum Glück war eine solche Beseitigung der Braut, pardon, nach der Hochzeit war sie ja nicht mehr die Braut, sondern die Ehegattin und Lebensgefährtin, schon oft durchexerziert worden, und das Verbrennen am Herdfeuer hatte sich in Haushalten ohne Elektroherd als am erfolgreichsten erwiesen. Ob die, die als erstes auf diese Todesart kamen, dabei vom Feuertod der Witwen beim Sati-Mata-Opfer inspiriert worden waren, wurde nicht überliefert. Bei dem falschen Küchenfeuerunfalltod mußte der Familienrat nun noch die Einzelheiten beraten. Waren Schwiegermutter und Schwägerinnen des Opfers stark genug, das junge Ding in die Flammen zu drücken, oder sollte der Mann oder sein Vater oder sogar beide ausnahmsweise mal in der Küche mithelfen? Vielleicht sollte man sie lieber vorher niederschlagen, man konnte dann vielleicht später behaupten, ein schwerer Topf sei ihr vom Regal gefallen? Um den Unfall überzeugender zu machen, sollte man am besten Petroleum nehmen. Beim Nachgießen von Petroleum war sie nicht vorsichtig gewesen! “Ich hab' dem Kind ja so oft gesagt: Sei vorsichtiger beim Petroleum nachgießen”, übte die Schwiegermutter schon ihre Zeilen. Aber seid vorsichtig mit dem Petroleum, daß nicht die ganze Küche oder das ganze Haus abbrennt! 1289
Am nächsten Tag dann schlich man in die Küche. Aschenputtel war schon am Arbeiten. Schwiegermutter kam von der einen Seite in die Küche, wie zufällig kamen die beiden Töchter gerade von der anderen Seite herein. Aschenputtel fühlte sich gleich bedroht. Ihre Mörder waren nicht die besten Schauspieler. Ein unsicheres Lächeln umspielte die mörderischen Gesichter. Sonst zeigten sie all morgendlich nur Haß und Verachtung. Die Mutter pflichtbewußt, daß sie immer meckerte: “Das ist doch ein viel zu kleines Feuer da, das du da unter dem Reistopf hast. Da wird der Reis doch nie gar!” Inder aßen schon zum Frühstück Reis. Das Mädchen spürte die Falschheit in der Stimme der Mutter. Sie hatte auch schon oft davon gehört, was Mädchen in den Häusern ihrer Schwiegereltern passiert war, und daß sie nichts taugte und man sie umbringen sollte, hatte man ihr auch schon oft genug gesagt gehabt. Jetzt war es also soweit. Das Opfer sah seinen Mörderinnen in die Augen. Was tun? Der eine Ausgang war von den Schwägerinnen versperrt. An dem anderen Ausgang stand die Schwiegermutter, fett und imposant. Das Mädchen stand mit dem Rücken zum Herd. “Verdammt, die hat was gemerkt”, dachte die Mutter. Eigentlich sollte sie vorwärts mit dem Gesicht ins Feuer gehen, dann wär' das leicht, schnell überstanden. Schwiegermutter und Schwägerinnen kamen jetzt langsam auf sie zu. Wie Raubkatzen, die sich an etwas heranmachten, so schlichen sie, denn sie sahen, es hatte keinen Sinn mehr, so zu tun, als sei nichts. “Verdammt”, dachte die Mutter jetzt, “wir hätten die Männer das machen lassen sollen. Wenn die jetzt nach dem Küchenmesser da greift, was machen wir dann? Sollten wir nicht doch schnell so tun, als ob nichts sei? Die Männer können es ja morgen noch mal versuchen.” Aber ihre Töchter hatten das Messer wohl nicht gesehen und gingen starr auf das Mädchen zu. Sie waren wie hypnotisiert, aber sie hypnotisierten auch das Mädchen. 1290
Graupen aus den Gehirnen der Mordshungrigen, der Unholden: `Sie sollte doch umgebracht werden, während sie sich über den Herd beugte.' `Sie stand aber mit dem Rücken zum Herd.' `Jetzt lehnte sie sich sogar noch zurück.' Das Mädchen lehnte sich ängstlich zurück. `Paß auf, Mädchen, deine Haare versengen dir gleich.' `Was machen wir bloß? Sollen wir sie gewaltsam umdrehen? Das ist gefährlich. Vielleicht entwischt sie uns dabei.' `Das einfachste ist rückwärts ins Feuer.' Die Mädchen hatten sie schon gepackt und nach hinten gedrückt. Schnell griff auch die Mutter zu, damit sie nicht mit dem freien Arm nach den Töchtern griff. Mütterinstinkt, Brutschutz. Oh, das Opfer schrie. Am liebsten hätte die Mutter ihre Hände zum Zuhalten der Ohren benutzt, aber das ging ja nicht. `Das Feuer war wirklich viel zu klein. Nicht zu klein zum Reiskochen, aber um das Mädchen zu töten. Die spürt das Feuer nur an der nackten Stelle zwischen der Kurti-Kanchli und dem Rock. Wie wir sie jetzt halten, wird sie ewig schreien und nie sterben.' Die Mutter gab ihrer jüngsten Tochter Anweisung, loszulassen und ein Maß Spiritus zu bringen. Das Opfer schrie jetzt: “Nein, nein.” Es waren die ersten Worte, die sie an diesem Morgen sagte. Die jüngste Tochter hatte das Maß Spiritus. “Nun gieß es ihr schon über!”
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Mutter und ältere Tochter mußten die Eingeheiratete kräftig runterdrücken. Fast hätte sie bei ihrem Hinundhergewälze das Feuer unter sich erstickt. Die jüngste Tochter goß ihr den Brennspiritus auf den Bauch. Große Flammen umhüllten augenblicklich ihren Körper. Ihr Kopf hing nach hinten über den Herd hinaus und blieb verschont. Sie atmete schwer, aber frei von Feuer. Die beiden Frauen, die sie hielten, zogen ihre Arme weiter nach außen, um sich nicht an den Händen zu verbrennen. Die Mutter war wütend über ihre jüngste Tochter, weil sie den ganzen Brennspiritus auf den Bauch gegossen hatte. “Hol' noch einmal ein Maß voll, und schütte ihr diesmal was ins Gesicht, damit sie endlich stirbt.” Das Mädchen kam wieder an mit einem Maß voll Brennspiritus. Vor Erregung schütteten ihre zitternden Hände gleich alles ins Gesicht, hauptsächlich direkt in den Mund der stöhnenden Schwägerin. Augenblicklich stand auch das Gesicht in Flammen und der Fußboden zu ihren Füßen. Die jüngste Tochter schrie, als ihr Rock von unten Feuer fing. Mutter und ältere Tochter waren sofort zur Stelle. Sie konnten ihr Opfer jetzt loslassen. Es bäumte sich zwar noch einmal auf und schlug um sich, aber brach dann brennend auf dem Steinfußboden weit genug von den hölzernen Regalen und Schränken zusammen. Die Mutter riß den brennenden Rock von Leib ihrer jüngsten Tochter, und die ältere Tochter schlug mit dem Reisigbesen auf das Feuer zu ihren Füßen, bis es aus war. Als man sicher war, daß die Fremde auch wirklich tot war, löschte man auch sie. Die Küche sah verdreckt aus. `Naja', dachte Mutter, `das macht den Unfall auch überzeugender.' 1292
Ihr eigenes weinendes Kind tröstete sie so: “Dadurch, daß du dich auch ein bißchen verbrannt hast, wird man uns den Unfall eher glauben.” Das Kind schluchzte weiter. Hoffentlich würde sie in eine gütige Familie kommen, wenn sie mal heiratete. Nicht nur geizige Aussteuern waren riskant, auch großzügige, konnte es doch sein, daß die Familie des Mannes dadurch auf den Geschmack kam, sich durch eine weitere Aussteuer noch mehr zu bereichern. Und es waren nicht nur die armen Familien, in denen man die Schwiegertöchter verbrannte, selbst bei den Wohlhabenden kam es vor. Statt billigen Brennspiritus benutzten einige reiche Leute sogar standesgemäß teuren Importwhiskey. Im Abendland und im WASPenland, was ja noch weiter gen Abend lag, staunte man bei soviel Hartherzigkeit. Aber auch dort wurden Menschen ermordet, manchmal sogar schon wegen Kleingeld, ein Portemonnaie voll, auch Frauen wurden dort ermordet, aber im allgemeinen nicht wegen der Aussteuer, vielleicht weil man eine Lebensversicherung auf ihren Namen abgeschlossen hatte, oder aus Eifersucht, also für nichts. Irgendwie war es sehr makaber, die Person, mit der man sich in Liebe vereinigte, umzubringen. Vielleicht war die Liebesvereinigung, das Liebemachen, gar nicht notwendigerweise mit Liebe verbunden, nur ein Ersatz fürs Abwichsen per Handbetrieb, für den selbstgemachten Samenergußakt, für die Masturbation, die Ersatzbefriedigung. Dinge beim Namen zu nennen, machte transparent, Heuchelei obskurant. Mädchen drohte der Tod übrigens nicht nur im Haus ihrer Gatten und Schwiegereltern, sondern schon im Elternhaus. Einigen Eltern war es gar nicht recht, ihre mühsamen Ersparnisse für die Aussteuer ihrer Töchter auszugeben. Da die Tradition aber die Aussteuer ebenso wie 1293
das Verheiraten der Töchter verlangte, gab es nur eine Lösung aus diesem Gelemmer: der Tod der Tochter. Den Eltern, denen ihr Vermögen sehr lieb war, dämmerte diese Erkenntnis zum Glück meist sehr früh, so daß sie ihre Töchter oft schon als Neugeborenen töteten oder sie bald danach zum Beispiel durch Vernachlässigung - um nicht aktiv am Tod schuld zu sein eingehen ließen. Da hatten sich die kleinen Mädchen noch so ans Leben gewöhnt und starben gelassener. Moderne Methoden ermöglichten auch eine Geschlechtsbestimmung in den ersten Schwangerschaftsmonaten und eine Abtreibung der weiblichen Föten. Leider war diese Möglichkeit jedoch durch Aktivitäten indischer und ausländischer, besonders christlicher Feministen, 'tschuldigung: Feministinnen erschwert worden. Denn unter ihrem Einfluß hatte die Regierung die Abtreibung nach einer Geschlechtsbestimmung verboten. Natürlich war dadurch ein Schwarzmarkt für die Abtreibung weiblicher Föten entstanden, aber der war nicht so sicher wie die staatlichen Kliniken und außerdem noch sehr teuer, so daß viele arme Familien, die meinten, daß sie sich finanziell keine Töchter leisten konnten, doch lieber die Abtreibung nach der Geburt vornahmen, was allgemein als Mord galt, doch aber bei weitem nicht so schlimm war wie der Mord an der erwachsenen Frau. Beides ließ sich jedoch in dem System wunderbar vertuschen. Die Feministinnen behaupteten zwar, daß die Abtreibung weiblicher Föten Frauenmord sei, und dazu beitrage, daß die Frauen als etwas Wertloses galten, aber das Gesetz von Angebot und Nachfrage verlangte, daß ein geringes Angebot an Frauen bei gleichbleibender Nachfrage den Wert der Frauen steigerte. Als Adjuna freilich indischen Feministinnen mit diesem Argument kam, brachte er sie auf die Palme, also in Rage. Warum in Rage und kein Gegenargument? Weil sie nicht wie eine Sache, eine Ware, wie Handelsgut gehandhabt werden wollten. Frauen 1294
waren Frauen, weibliche Menschen, weder Handelsware noch Sklavengut und damit basta. - Und weil ihnen kein Gegenargument einfiel. Und weil sie an die Gleichwertigkeit aller weiblichen Seelen glaubten, aber keinen Beweis für die Existenz der Seele an sich hatten. Den christlichen Feministinnen war ja noch das ungeborene Leben ganz allgemein schützenswert, aber den militanteren Tanten wäre eigentlich eine selektive Abtreibung männlicher Föten recht gewesen. Das freilich hätte die Aussteuer ins Unermeßliche gesteigert. Aber eine zahlenmäßige Überlegenheit der Frauen hätte die Frauen so mächtig machen können, daß frau die Männer hätten unterdrücken können. So träumten wohl einige Feministinnen. Ihr Traum hätte aber nur wahr werden können, wenn nicht so viele Frauen von Männern träumten und mit Männern gemeinsame oder untertänige Sache oder Sachen machten.
Die Inder waren weit davon entfernt, von Amazonen regiert zu werden. Mal eine Regierungschefin aus der herrschenden Powerclique machte noch keine Frauenherrschaft, nicht mal eine Frauenbefreiung, wenn es der Chefin an Interesse mangelte. Militante Feministinnen waren auch gar nicht so typisch für Indien, orthodoxe Brahmanen waren es. Und die hatten eine allumfassende Antwort für all das Elend, das sie umgab: Karma war das. Karma war die Ursache aller Unterschiede auf Erden, aller Ungerechtigkeiten, aller Leiden und Nöte. Hatte man sich in seinen vorherigen Leben viel gutes Karma angeeignet, so genoß man sein jetziges Leben z. B. als schmerbäuchiger Brahmane in Überfluß und Müßiggang, andere, niedere Kasten mußten schuften, noch elendere waren vielleicht Waisenkinder und am Verhungern. Man konnte ihnen guten Gewissens dabei zu schauen, denn sie ernteten ja nur, was sie in ihren früheren Leben selbst gesät hatten. Aus dem gleichen Grund 1295
mußten Frauen auch die Schikanen ihrer Schwiegermütter ertragen, und sogar den Verbrennungstod. Es war alles gerecht eingerichtet. Zweifellos hatten sie selbst in einem früheren Leben so etwas mit ihren eigenen Schwiegertöchtern gemacht. Ein Mensch, oder wohl besser ein Hindu, wurde in diese Welt hineingeboren, um sein Schicksal zu ertragen, nicht um es zu ändern. Und Kinder waren Schicksal, so wußte der Brahmane, deshalb durfte man sie auch nicht abtreiben, egal ob Junge oder Mädchen. Da widersprach aber ein anderer Brahmane, man dürfe sie schon abtreiben, wenn das ihr Schicksal sei. Der erste Brahmane widersprach aber wieder: Wenn das ihr Schicksal sei, dann hätte die Mutter einen natürlichen Abortus. Man darf sein Schicksal nicht ändern, denn dann hat man eine miserable Wiedergeburt. “Hoffentlich triebe man mich dann wieder rechtzeitig ab, damit ich dem miserablen Leben wieder entkäme. So könnte man das System überlisten”, mischte sich Adjuna ein. “Als Ratte oder Wanze wird man dich wiedergebären”, schimpfte der Brahmane jetzt über Adjuna, “die kennen keine Abtreibungen!” Adjuna aber gab einen abschließenden Kommentar zum Thema Karma: “Wenn Karma unser Leben bestimmt, wenn, weil wir einmal Täter waren, wir das nächste Mal Opfer sein müssen, so muß dann jemand anderes Täter sein, und dieser andere später wieder Opfer, wenn wir die Früchte unserer vorigen Leben ernten sollen, so sind wir hilflos und abhängig, und nichts ist da, daß wir selbst bestimmen, selbst unsere bösen Taten sind eine gehorsame Pflichtübung. Laßt uns noch einmal zuschlagen. Unschuldig ist keiner von denen, die wir treffen.
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Oder gibt es weder Strafe noch Lohn und unser kurzes Leben ist alles, was uns gegeben wurde? Dann wahrlich laßt uns unsere Mitmenschen schonen, denn ihr Leben ist genauso kurz und einmalig wie unseres, laßt uns Mitleid haben, denn kein Ausgleich ist da für erlittenes Leid.”
Auf der Suche nach den Weisen des Ostens.
Da Adjuna gehört hatte, daß die letzten Asketen an den hohen Bergwänden des Himalayas hausten, begab er sich nach Norden. Namaskar sagt man da und Danyabad wenn man zu danken hat. Und die Reisterrassen bis zum Gipfel, abgeschlagen die letzten Waldzipfel. Da kann kein Weiser mehr hausen im Wald, vielleicht in größeren Höhen, wo ist's immer kalt, findet man sie noch in einem ungemütlichen Bergloch. Und er machte sich auf den Weg, ging dort, wo der Berg ohne Steg Er fand nur dumme Narren, 1297
die Angst hatten, im Tal zu harren. Aber auch die Angst vorm Totenreich machte sie bleich: Nur wer sich verkroch im dunklen Bergloch, erlebte keinen Schrecken nach dem Verrecken. Verkriech auch du dich, bevor der Totengott dich kriegt. Danyabad, ich hab das Verkriechen sad.
In Indien traf Adjuna auch den Geschichtenerzähler mit dem PlappPlapp-Plapagei. Das erste europäische Volk, das schriftliche Aufzeichnungen von seiner Umgebung und der Welt machte, waren die Griechen. Wenn man ihnen Glauben schenkte, war die Heimat der Papageien Indien, also das Land, aus dem auch ursprünglich die griechischen Götter und ihre Skandalgeschichten kamen. Dr. Ktesias aus Knidos, der 400 Jahren vor der Geburt des Wunderheilers aus Bethlehem, am persischen Hof als Arzt tätig war, berichtete in seinem 23bändigen Geschichtswerk über die Perser “Persiká” von prächtigen, intelligenten Vögeln mit Stimmen wie Menschen, die von Indien kamen. Admiral Nearchos, der Flottenbefehlshaber Alexander des Großen, brachte 1298
sogar von seiner Erkundung des Indusdeltas Papageien mit. Und an griechischen Höfen unterhielt man sich fortan mit Papageien. Auch Gajus Plinius Secundus, zu deutsch kurz: Plinius der ältere, erwähnte in seiner 37bändigen Naturalis historia den Psittacus als einen sprachbegabten Vogel aus Indien. Jahrhunderte lang hatte auch der katholische Papa in Rom, im Vati-kan einen Papagei, der für seinen Besitzer mehrmals täglich das Paternoster runterplapperte. Das Wort Papagei kam übrigens von dem Wort Pampakei, so nannte ein westafrikanisches Volk die Papageien seiner Heimat. Die Araber machten daraus Babagha, aus dem arabischen Wort machten die Europäer pappagallo, papagayo, papegai, papegan etceteran. Der Kakadu war ein malaiischer Papagei nach dem malaiischen Wort Kakatua. Die Malaien hatten den Vogel selbst gefragt und der hatte `Kakatua' geantwortet, bevor er seine Stimme mit den kakophonischen Klängen menschlicher Sprache kontaminierte. Der Papagei des indischen Geschichtenerzählers war ein Arara, also ein Amazonenimport aus Brasilien. Diese Sorte war wegen ihres prächtigen Gefieders damals besonders populär. Papageien waren dafür berühmt, daß sie bei guter Pflege älter als ihre Pfleger und Besitzer wurden. Sie konnten sogar wesentlich älter werden, natürlich nur, wenn die Erben sie nicht im Käfig verhungern ließen, Lebensalter von über hundert Jahren waren bei ihnen keine Seltenheit. Der indische Geschichtenerzähler behauptete sogar, daß sein Papagei schon seit vielen Generationen in der Familie sei, wie viele vermochte er nicht zu sagen, und fragte man den Papagei, so sagte der nur immer: Ich bin der Arara. 1299
Ich war schon immer da.
Aber Arara-Alter und Ornithologie war den Zuhörern und auch den Zulesern egal, sie wollten endlich wissen, was der Erzähler zu erzählen hatte. Und Adjunas Rat: Lest nur zu!
Der Geschichtenerzähler1: Vor langer, langer Zeit…
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Für meine Nacherzählungen aus dem Mahabharata dienten mir folgende Werke:
1.) eine Mahabharata-Version (engl.) von Chakravarti Rajagopalachari, die er ursprünglich für tamilische Kinder geschrieben hatte, eine etwas moralisierende und sehr sanitierte Version des alten Epos, etwa in der Art von Kinderbibeln, wo die Kinder nichts von Noahs Suff und seinem Exhibitionismus oder vom Suff von Lot und seinem Inzest mit seinen Töchtern erfahren und auch nicht lernen, daß ein Mann Gottes wie David ein Ehebrecher und noch dazu der Mörder des rechtmäßigen Ehepartners seiner Buhle war etc.; aber sonst ist Rajagopalacharis Ausgabe sehr übersichtlich, interessant und engagiert geschrieben. Ich verdanke ihm den großen Überblick über die Geschichte. 2.) `The Mahabharata of Vyasa' von P, Lâl, (Calcutta, 1968), der Autor nennt seine Version eine Transkreation. Einige Szenen hat P. Lal sehr detailliert beschrieben oder transkreiert, den Ablauf des Gesamtgeschehens scheint er dabei aber etwas aus den Augen verloren zu haben. P. Lal arbeitete damals an einer Shloka für Shloka Übersetzung, die 1990 fertig werden sollte. Dieses Buch enthält auch ein paar sehr schöne, farbige Bilder zum Geschehen. 3.) `The Mahâbhârata' von Professor J. A. B. van Buitenen. Professor van Buitenen begann 1970 mit einer genauen und vollständigen Übersetzung des Mahabharatas. Leider starb er 1979 im Alter von 51 Jahren. Zu dem Zeitpunkt hatte er erst die Vorgeschichte, nämlich die ersten fünf der achtzehn Bücher des Mahabharatas fertig, etwa 1800 Seiten! Die Ereignisse um die Kurukshetra-Schlacht fehlen völlig. Da er ein sehr fleißiger Übersetzer war, hat er leider auch Begriffe aus der indischen Gedankenwelt übersetzt, die er besser nicht hätte übersetzen sollen, wie Darma = law, Karma = profit, Kshatriya = baron, Vaishya = commoner, Shudra = serf, etc. Ich empfand das als sehr irritierend.
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…herrschte in Hastinapura König Santanu. Bei den Göttern! Eine große Seele, ein edler Mann. Ganga selbst er zur Frau gewann. Arara: Die Göttin Ganga in Gestalt am Ganges Uferwald erschien ihm da, süß ihr Aroma, stolz ihr Gang wie eine Philomela ihr Gesang. Verstand war hin, Verstand stand still, berauscht Seel', Sinn und Will'. Ach, wenn ich dich doch gewinn als meine Gattin,
(Ich hoffe, daß Sie die vielen Begriffe, die ich aus fremden Kulturkreisen unübersetzt in meinem Buch verwendet habe, nicht irrieren, sondern, daß Sie sie richtig als Andeutung für das Große, Fremde und Unbekannte, das es jenseits der gewohnten Umgebung noch gibt, verstehen.) Diese drei Werke dienten mir für meine eigene Transkreation.
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so wie du bist! Sie sagte: Gewiß. Des Königs Glück hoch entzückt ganz entrückt. Doch eine Bedingung knüpf' ich an, sagte sie dann. Geschichtenerzähler: Oh, edler König, so sprach sie, wohl werde ich Gattin dir, doch frage mich nie, wer ich bin, woher ich komm', was ich tue und warum. Arara: Der König zu allem bereit nur haben diese Schönheit. Er kniete hin: Werde meine Gattin. Geschichtenerzähler: Auch verhindere nie mein Tun, sei es böse, sei es gut. Nie schelte mich, verdrieße mich nie. Und tust du es doch, verlaß' ich dich gewiß. Arara: Der betörte Mann schwor ihr dann: 1302
So es geschehe in unserer Ehe. Geschichtenerzähler: Und für viele Jahre war König Santanu von ihrer Bescheidenheit, Anmut und der Liebe, die sie ihm gab, eingenommen. Ein Leben wahrer Glückseligkeit. Viele Kinder gebar sie, und ein jedes nahm sie und ertränkte es im Ganges, und anmutig lächelnd kehrte sie ein jedes Mal zum König zurück. Der König sah viele Jahre dem Geschehen schweigend zu. Aber... Arara: …er war erschreckt: zu welchem Zweck eine solche Tat, solch eine Unart? Geschichtenerzähler: Als sie sich mit dem achten Kind aufmachte, konnte der König seine Verzweiflung darüber nicht mehr zurückhalten und rief: Halt, halt! und fragte: Warum? `Oh, edler König, du vergaßt, was du versprachst? Nun hängt dein Herz mehr an dem Kind als an mir, so gehe ich gewiß von dir, denn du brauchst mich hier fortan nicht mehr. Arara: Doch richte nicht ohne meine Geschichte über mich: Ganga bin ich 1303
geehrt und geacht't begehrt und bedacht von Göttern und Menschenkindern Leiden lindern Schmerzen mindern Böses verhindern steht auf meinem Panier, drum kam ich auch zu dir, doch erst kamen die Vasus zu mir, denn Vasishthas Fluch sie zwang zum Niedergang zur Geburt auf Erden zum Mensch-Werden. Sie luden mich ein, ihnen Mutter zu sein, und baten um diese Mordtaten, denn ihnen waren's Himmelfahrten, nur so konnten sie schnell zurück 1304
ins himmlische Glück in den Glücksgarten. So sie sagten, ich solle spielen diese grausame Rolle. Nun endet meine Mission. Für dich eine höhere Region nach diesem Leben schon sei dein Lohn, außerdem gebe ich dir deinen achten Sohn zurück im Alter der Initiation. Mit diesen Worten die Göttin entschwand das Kind in der Hand zu unsichtbaren Orten. Geschichtenerzähler: Nach dieser Berührung mit der Göttin wurde Santanu Asket, so es jedenfalls im Mahabharata Epos steht. - Doch wie kamen die Vasus dazu, Vasishthas Zorn und Fluch auf sich zu ziehen? Arara: An blauen Tagen 1305
hat es sich zugetragen auf Reisen im Wald der Weisen. Die Vasus mit ihren Frauen taten schauen, Nandini, die Kuh, muhte ihnen zu. Raunen und staunen, das schöne Tier wollen wir, wollen es haben, uns an seiner Milch laben. Sie ist ja Ambrosia, Göttertrank; Unsterblichkeitsdrang. Der Frauen Wunsch ist Unvernunft, 1306
nicht gescheit, denn Unsterblichkeit haben bereits wir Devas schon als Lohn von Indras Thron. Der Saft aus Nandinis Eutern wird uns nicht läutern nur Menschenkindern wird er Schmerzen lindern und Sterben verhindern. Haltet eure Laune im Zaume, denn wir wollen nicht wagen Visishthas Fluch zu tragen. Wir wollen bei weitem euch nicht verleiten zu Dummheiten. Doch die Kuh ist wert, 1307
daß man sie begehrt. Eine Freundin in der Menschenwelt mein Herz enthält; um von ihr nicht zu scheiden, muß diese Kuh bei uns weiden. Milch melken, Milch trinken, Menschen nicht welken, nicht ins Jenseits versinken. Die Frauen gaben nicht nach und die Männer wurden schwach. Prabhasa nahm die Kuh und das Kälbchen dazu, mit ihnen im Arm lief er fort vom Ashram, dem heiligen Ort, und brachte die Beute zur Freude der Frauensleute. 1308
Die Tiere binden und schnell verschwinden. Ein Wort, eine Tat. Doch böse Saat hat ihre Eigenart. Vasishtha zurückkehrte, wie immer die Götter ehrte, Tempelfeuer im Tempelgemäuer. Am Merken von Werken. Das Tier nicht da, denkt Vasishtha, in meinem Ashram. Oh, welche Gram. Jemand stahl die Unentbehrliche fürs Ritual. Und weil sie ihm fehlte, er sich in Meditation legte. 1309
Der Yogameister schickte seine Geister durch die Lande, zu suchen die Diebesbande. Oh, welche Schande, die Vasus-Götter, was für Vedas-Spötter, das Tier gefangen, die Tat begangen. Vasishthas Zorn und Haß traf die Devas. Und er verfluchte die Verruchten, zu leben auf Erden, wo Wesen immer leiden werden. Oh, was für eine Strenge, leiden und leben in Erden Enge. Was für eine Folter er da wollte 1310
für göttliche Wesen, die nicht die Gebote lesen. Was für eine grausame Qual für einen Viehdiebstahl! Ihre Sinne sich drehten, sie um Gnade flehten. Vasishtha gerührt, zu Milde verführt. Den Fluch kann ich nicht enden, nur zum Milden wenden. Prabhasa, der die Kuh genommen, soll ein langes Leben bekommen, in edle Familie geboren, für Großes auserkoren; ein Held in der Menschenwelt. Die sieben anderen nicht lange wandern, nur kurz sei ihre Qual 1311
im Erdenjammertal, denn ein schneller Tod, ein kurzes Leben sei ihnen gegeben. Geschichtenerzähler: Hierauf gingen die Vasus zur Göttin Ganga und baten sie, zur Erde niederzusteigen in Menschengestalt, einen edlen Mann zu ehelichen, ihnen Mutter zu werden und sie nach ihrer Geburt in den Fluß zu werfen, um sie von Visishthas Fluch zu befreien. Nur Prabhasa, der zu einem langen Leben verurteilt war, konnte und durfte sie nicht in ihren Fluten verschlucken, denn sie hätte ihn nur gequält, aber nicht vermocht, zu töten, zu erlösen. So nahm sie ihn mit, zog ihn auf, zog ihn groß, erzog ihn, ließ ihn erziehen von würdigen Männern, weisen Greisen, frommen Gurus und mutigen Kriegern. Jahre später nun als Santanu eines Tages einsam des Ganges Ufer entlang ging, sah er einen Jüngling, wie ein Devendra in Schönheit und Form eines Götterkönigs, spielen mit dem mächtigen Strom wie mit seiner leiblichen Mutter. Da erschien Santanu aus den Fluten Ganga in ihrer ihm wohlbekannten Gestalt. `Ich kam Devavrata, deinen Sohn, dir zurückzugeben. Er ist der Waffenkunst mächtig wir Parasurama, gelehrt wie Sukra, versiert in den Vedas und dem Vedanta wie Vasishtha. Was immer es sei, er steht dir bei.' Arara: Sie segnete das Kind und entschwand geschwind. Devavrata aber wurde bekannt im ganzen Land
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als Bishma nur wegen seinem Schwur. Doch das ist eine andere Geschichte, von der ich, der Arara, ein ander' Mal berichte. Habt ihr Interesse, so kommt wie immer nach der Messe unter meine Zypresse und wenn ich's nicht vergesse, gibt's neue Berichte der Bharata-Presse bei Nessel und Kapuzinerkresse aus mei.... nem Schnabel. Bei Kraut, Körnern und Karaffen guten Weins sing' ich euch wieder eins mit Tratratra der Arara.
Am anderen Tag
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Geschichtenerzähler: König Santanu hatte mit Freude den jugendlichen göttergleichen Prinzen Devavrata aus Gangas Hand empfangen... Arara: Aus Gangas Hand in Santanus Herz Devavrata gesandt der Held aus Erz Geschichtenerzähler: ...und krönte ihn zum Kronprinzen. Arara: Devavrata gegeben von Ganga mit Segen gekrönt zum Yuvaraja seiner Göttlichkeit wegen. Acha. Geschichtenerzähler: Der König war nur all zu glücklich mit seinem Sohn, Kraft und Können, Schönheit und Scharm, und Güte als Gabe, ergeben und erhaben, alles vereint, er als der Beste erscheint, als der Beste, der je auf einem Thron. Das Königreich und der König selbst so hoffnungsvoll in die Zukunft sahen: Reichtum und Friede ist uns sicherlich beschert; wenn er im Staate, sich Feinde nicht nahen, so
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wurde er von Anfang an geehrt. Doch was ist Menschen Plan? Doch nur eitler Wahn. Arara: Menschen Plan Wahn, Wahn. Eins, zwei, drei, ich bin ein Papagei. Ihr Menschenwichte hört weiter die Geschichte: Der König Jahre später geht er im Sand des Yamuna Uferstrand Nun ja süßer Duft in der Luft Frühlingsblumen sprießen Liebe genießen 1315
sehnsuchtsvoll mädchentoll. Geschichtenerzähler: Ja, da ist etwas Wahres dran. Santanu schon zu lang Asket, jetzt sein Sinn nach Liebe steht. Dem süßen Duft, der aus dem Walde weht, er nachgeht. Arara: Verhängnisvoll mädchentoll Geschichtenerzähler: Er diesem Duft nachgeht, der durch die Wälder schwebt. Arara: Weh, weh er nicht geh'. Es nicht gescheh'. Geschichtenerzähler: Doch es geschah. Arara: Ist es wahr? Woher weißt du das? Geschichtenerzähler: Laß' gut sein. Was ist denn Wahrheit? Die Welt gibt es nur so weit, wie wir sie wahrnehmen, sagen manche, und sie erfinden Maschinen und Geräte und nehmen dann wahrhaft viel wahr, was sie vorher nie hätten wahrnehmen können, und daran glauben sie dann. Doch Götter wollen sie wegdiskutieren, da sie sich weder im 1316
Mikroskop noch im Teleskop zeigen. Als ob sie nicht tiefe Wahrheit sind, die die Alten einst wahrgenommen haben, als die Menschen noch das dritte Auge für die vierte Dimension hatten. So ist überliefert, daß Shiva zwischen zwei Ringen der Zeit sitzt. Na, da kann ihn ja heutzutage kein Mensch mehr sehen. Und auch in unseren alten Sagen, wieviel Wahrheit steckt doch darin. Sieh', es geschah und es geschieht tausendmal und mehr, - und tausendmal und mehr schon fielen wir immer wieder der Leidenschaft zum Opfer, unserer Neugier, unseren Gefühlen, das ist die Wahrheit, und wir sind immer noch verrückt vor Leidenschaft, wenn sie uns packt, und unsere vernünftigsten Pläne, ja die Vernunft schlechthin mögen wir ihr opfern, ja sogar unser Leben wir Menschen ihr geben. Also König Santanu dahin geht, wo der Duft entsteht. Und er traf auf eine Jungfrau lieblich und schön, der ein frommer Eremit den Segen eines unwiderstehlichen Parfüms erteilt hatte, dessen Opfer der König jetzt wurde. Arara: Junggesellenleben aufgeben. Dieser Schönheit Leib diese Weiblichkeit mir Sinnlichkeit bereit'. Geschichtenerzähler: Und er hielt um ihre Hand an. Und sie erwiderte ihm, ihre Stimme war so süß wie ihr Parfüm: `Ich bin die Tochter eines Fischers am Flusse. Geh' erst zu meinem Vater und bitte ihn um seine Erlaubnis. Denn ergeben ich bin, gehorche ich ihm, ohne seine 1317
Erlaubnis tue ich es nicht.' So ging der König zum Fischer und bat ihn inständig um die Hand seiner Tochter. Arara: Fischers Tochter roch er, Beherrschung weg. Oh, Schreck. Geschichtenerzähler: Der Fischer antwortete: `Sicher , Du bist es wert, ihr Mann zu sein. Aber Du mußt mir etwas versprechen.' `Wenn's weiter nichts ist', meinte der König dazu. `Das Kind, das sie Dir gebiert, muß König werden nach Dir. Gibst Du mir das Versprechen?' Arara: Der König es nicht vermochte, obwohl die Leidenschaft in ihm kochte. Traurig geknickt er sich davon schickt, doch die Liebhaberei war nicht vorbei; im Herzen Schmerzen verlor er das Scherzen. 1318
Ein trauriger Anblick des Königs Geschick. Geschichtenerzähler: Ein solches Versprechen konnte der König nicht geben, denn es hieße ja, den göttergleichen Devavrata, von Ganga gegeben mit Segen, um seine Thronrechte zu bringen. Ein zu schamloser Gedanke. So hüllte sich der König in trauriges Schweigen. Und ein jeder in seiner Hauptstadt Hastinapura glaubte, der König sei krank. Jedoch, sein Sohn merkte wohl, daß ein geheimer Kummer ihn quälte. Als er ihn fragte, antwortete der König: `In der Tat werde ich gequält von Schmerzen und Ängsten. Das Leben ist unsicher, Kriege hören nicht auf. Und wenn Dir etwas zustößt, so ist unsere Familie ausgelöscht. Sicher, Du bist wie tausend Söhne. Und doch, wer die Schriften liest, weiß, daß in dieser vergänglichen Welt ein Sohn nicht mehr ist als keiner. Es ist nicht gut, wenn die Existenz unserer Familie nur an einem, nämlich deinem Leben, hängt; ich sollte noch einmal heiraten, damit Du Brüder bekommst und der Fortbestand unserer Familie in Ewigkeit gesichert ist.' Arara: Die Welt ist transitorisch, Ewigkeit illusorisch. Geschichtenerzähler: Weiter der König nichts zu sagen vermochte. Arara: Der König arm vor Scharm schwieg, kein Wort über die Fischerin ihm entstieg. 1319
Geschichtenerzähler: Doch Devavrata ahnte, daß das nicht der wahre Grund für des Vaters Kummer sein könne, sondern etwas Tieferes, Traurigeres. Und er fragte des Vaters Wagenlenker. Arara: Der von dem Mädchen wußte, es verraten mußte, und Devavrata schon bald machte bei dem Fischer halt. Auf dessen Tochters Hand er um des Vaters willen bestand. Geschichtenerzähler: Der Fischer nun wiederholte seine Bedingung: `Meine Tochter ist es wert, des Königs Gattin zu sein. Warum sollen ihre Söhne dann nicht wert sein, König zu werden? Aber Du bist schon zum Thronfolger gekrönt, so daß es nicht geht.' Arara: `Kron' und Thron brauch' ich nicht des Vaters glückliches Gesicht sei mir Lohn.' Geschichtenerzähler: Und Devavrata schwor, auf die Königskrone zu verzichten. `Oh Bester der Bharata Rasse, Du hast getan, was niemand von königlichem Blute je getan, Du bist wahrhaft groß. Doch höre meine Worte mit Geduld, die ich als Vater dieses Mädchens spreche. Ich zweifele nicht an Deinem Schwur, doch, wie kann ich hoffen, daß 1320
auch Deine Kinder, die sicher auch mächtige Helden wie Du sein werden, auch auf ihr Geburtsrecht verzichten werden?' Eine verzwickte Frage. Als Devavrata sie hörte, machte er, vom Wunsch geleitet, des Königs Verlangen zu erfüllen, seinen großen Schwur: `Ich werde nie heiraten, ich widme mein Leben ununterbrochener Keuschheit.' Als er diesen Verzicht mit erhobenem Arm ausgesprochen hatte, regneten die Götter Blumen auf sein Haupt und wisperten `Bhishma, Bhishma' und `Bhishma, Bhishma' hallte es wider, und der Götter Herzen erhoben sich mächtig, einen so edlen Helden auf Erden zu sehen, es ihnen in der Kehle würgte, ihre Stimme steigerte sich, sie schrien `Bhishma, Bhishma'. `Bhishma, Bhishma' dröhnte das All und die Erde. `Bhishma', das bedeutet der, der einen schrecklichen Schwur unternommen hat und ihn auch erfüllen wird. Devavrata wurde von nun an nur noch Bhishma genannt. Das Mädchen Satyavati aber führte er zu seinem Vater.
Am anderen Tag stand der Geschichtenerzähler wieder an der schmutzigen Straßenecke und erzählte. Er erzählte, da die Geschichte beliebt war, von Bhishmas Tod. Geschichtenerzähler: Es war der zehnte Tag der Kurukshetra-Schlacht. Arara: Zu den Gewaffen Ihr Affen! Geschichtenerzähler: Arjuna greift Bhishma an, Sikhandin vor sich her schiebend. Arara: Nun, ja, gebückt 1321
hinter Sikhandin gedrückt Arjuna nahe rückt Sikhandin in Eile schießt Pfeile und Lanzen über die Schanzen in Bhishmas Brust ihre Lust Wut helle Glut Bhishmas Blick Feuer flammend der trocknen Gräser trauriges Geschick - versengt und fast verbrennt auch Sikhandin. Geschichtenerzähler: Doch der alte Acharya hält sich zurück. Mit Sikhandin, die als Frau geboren wurde, will er nicht kämpfen. Der Kampf mit einer Frau ist einem Kshatriya unwürdig. Ein Held schlägt nur Helden und keine Hyänen. Bhishma senkt seinen Bogen und beruhigt sich. `Ihre Pfeile durchstechen meinen Panzer kaum und piksen nur wie neckische Weiber', dachte der wohlgerüstete Held. Da 1322
verhärtete Arjuna sein Herz und zielte aus der Deckung auf den SichNicht-Verteidigenden. Und als Arjunas Pfeile in Hundertschaften auf ihn niederprasselten, rief Bhishma: `Wahrlich, das sind Arjunas Pfeile, sie zerreißen meinen Körper wie hungrige Löwen einen Elefanten!' So begrüßte er die Pfeile seines liebsten Schülers, dann schleuderte er seinen mächtigen Spieß in Arjunas Richtung, aber der zerstörte ihn noch in der Luft mit drei scharfen Pfeilen und hagelte weiter mit harten Geschossen. Bhishmas eherner Schild war schwer geworden von den Geschossen. Noch ein Schuß und das Erz zersprang. Arara: Schuß an Schuß vor die Brust bald ist Schluß. Es hagelt in Schlossen mit schweren Geschossen aus scharfem Erz ins harte Herz. Geschichtenerzähler: Kein Fleckchen, kein Fingerbreit seines Körpers war unverletzt, überall stachen die Pfeile, eine Zentnerlast. Endlich stürzte er, fiel geschlagen, besiegt, bekriegt, überwunden, überwältigt zu Boden, doch erreichte ihn nie, berührte ihn nicht, denn die Pfeile trugen ihn, hielten ihn, den Überirdischen, über dem profanen Schmutz des Erdbodens. So lag er auf einem harten Kriegerbett. Sein Körper strahlte von sich die Pracht untadeliger Helden und der Himmel reflektierte seinen Glanz. Die Luft lud sich auf mit Lorbeergeruch, Daphnenduft. Die Götter falteten die Hände in ehrerbietiger Verehrung. Eine frische Brise und kühlende Regentropfen erleichterten 1323
Bhishma die Schmerzen. Die verfeindeten Armeen stellten den Kampf ein und alle Krieger und die Könige aller Reiche kamen gelaufen und umstanden Bhishma und beugten ihre Häupter wie die Götter um Brahma. Arara: Es grießelt graupelt man strauchelt man gruselt grieselt griemelt man munkelt murkst und murmelt mäkelt nörgelt der Held abgemergelt fällt die Welt gewandelt hält. 1324
Alles ist wahr, aber das wißt ihr ja.
Wie kann alles wahr sein, wo sich alles widerspricht? Adjuna war ungeduldig geworden: Was für eine Geschichte war das? Konnte man sagen, es war das Spassenste überhaupt? Da fehlte doch was. Und genau das war doch das Spassenste überhaupt, daß etwas fehlte. Wenn das der Tod Bhishmas war, was war sein Leben? Und wie kam es zur Schlacht. Was für eine Schlacht war das überhaupt? Seine letzte Frage stellte Adjuna laut: “Was für eine Schlacht war das?” Geschichtenerzähler: “Eine Völkerschlacht, ein Bruderkrieg.” Adjuna: “Sind nicht alle Kriege, Kriege gegen Brüder?” Erzähler: “Genau das hatte damals Krishna auch gesagt, als vor dem großen Krieg der große Krieger Arjuna klagte, daß es galt, Verwandte umzubringen.” Adjuna: “Was hatte Krishna damit gemeint?” Erzähler: “Er hatte damit gemeint, daß wir alle miteinander verwandt sind. Nur der Grad der Verwandtschaft ist verschieden. Er hängt von der Entfernung von den gemeinsamen Großeltern ab.” Adjuna: “Mit anderen Worten: Wir brauchen beim Brudermord nicht mehr Skrupel zu haben, als beim Mord an einem Fremden, denn der Fremde ist eigentlich auch ein Bruder.” Erzähler: “Das scheint er gemeint zu haben.” Adjuna hielt dem Arara seinen Finger hin. Der hackte zu. Es tat nicht weh. 1325
Arara: Finger hart, Kriegerart. Du schreist nicht auaauaah, du bist kein Bauaauaaa. Ich Arara du Kshatriya. Adjuna plapperte nach: “Ich Arara, du Kshatriya.” Arara: Nicht wahr! Ich bin der Arara. “Ich dachte, Papageien plappern alles nach”, sagte Adjuna zum Geschichtenerzähler gewandt. “Ja, wie sich alles wiederholt, so wiederholen sie alles.” Adjuna hatte eine flüchtige Erinnerung: “Sag' mir, was machte Arjuna, als er am sterbenden Bhishma stand?” Erzähler: “Er schoß einen mit Mantras besprochenen Pfeil tief in den Erdboden und Wasser sprudelte hervor. So gab er dem alten Acharya zu trinken.” Adjuna: “Und erzähl mir, wie ging die Schlacht aus.” Erzähler: “Oh, wie Schlachten so ausgehen: Außer Bhishma starben noch Satanika, Duskarna, Drona, Ghatotkacha, Karna, Drupada, Jayadratha, Duhsasana, Chekitaana, Dhristaketu, Virata, Bhagadatta, Ketuman, Kripacharya, Vikarna, Brishaketu, Burisraba, Chitrasena, Purumitra, Bibingshati, Svutayudha, Saibya, Shalya, Shikhandi, die fünf Söhne Draupadis, alle Kauravas starben, alle Panchalas starben, alle Kuntis starben, alle Kaikeyas starben, alle Angas starben, alle Kalingas starben, alle Kaamarupas starben, alle Sudakshinas starben, alle 1326
Gorasanas starben, alle Mord- und Selbstmordkommandos, alle Fußsoldaten und die ganze Reiterei. 36 Jahre später starb auch Krishnas Stamm aus, die Yadavas zerfleischten sich in mörderischem Haß.” Arara: “Ahimsa ist die höchste Religion, Ahimsa ist die tollste Tradition, Ahimsa heißt das größte Glück, Ahimsa ist das tollste Stück, Ahimsa heißt die heißeste Heiligkeit, die wahrste Wahrheit, die größte Gabe, das reinste Ritual, die seligste Seligkeit, Vollkommenheit, gescheit.” Erzähler: “Ja, so besang man nach geschlagener Schlacht das Ahimsa.” Adjuna bat: “Erzähl mir, was alles geschah. Wie kam es zur Schacht?” Aber der Erzähler war schon ungeduldig geworden. Er erzählte für Paise. Rupies waren ihm lieber, aber die gab ihm ja keiner. Er blickte den himmelsgekleideten Adjuna von oben bis unter an. Der hatte nicht nur keine Kleider an, sondern auch keine Taschen für Paise. Trotzdem machte er die Geste für Bakshish. Adjuna deutete an sich herab: “Ich habe weder kleines Geld noch großes Geld. Ich kann dir nichts geben.” Der Geschichtenerzähler aber hatte eine Idee: “Gib mir deinen Samen. Ich habe eine Tochter zu Hause. Eine reife Frucht. Eigentlich schon überreif. Ich habe nicht das Geld für eine Mitgift. So welkt sie dahin. Aus deinem Samen werden zweifellos große Helden keimen, die unserer Familie zu Wohlstand, Macht, Ruhm und Reichtum verhelfen werden.”
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Und er hielt Adjuna seinen Blechnapf vor die blanke Rute. “Dein Glied ist doch schon die ganze Zeit so angeschwollen. Für einen Sadhu ist es eigentlich ein Versagen seiner keuschen Schwüre, so brünstig erregt rumzulaufen. Du solltest schnell entladen, um wieder als frommer Mann zu gelten.” Adjuna: “Ich habe nie keusche Schwüre geleistet und laufen immer so rum, selbst nach dem Erguß schwelle ich gleich wieder an. Meine Samen aber liefere ich doch lieber selbst bei deiner Tochter ab.”
Der Geschichtenerzähler führte Adjuna aus der Innenstadt heraus zu einem der staubigen, elenden Bastis, die alle größeren Städte hier umgaben, und in denen die armen, einfachen Leute wohnten. Der Arara flog derweil neben ihnen her, sehr darauf achtend, sich nicht zu weit zu entfernen. Er hatte große Angst davor, von einem NichtVegetarier erwischt zu werden. In der geräumigen Hütte - der Geschichtenerzähler hatte sie übrigens aus den verschiedensten Materialien gefertigt, aus bunten Plastikflächen und Kunstfasersäcken ebenso wie aus Holz und Palmwedeln, auch gab es eine halbhohe Hauswand aus Stein - also in der geräumigen Hütte angekommen, sah Adjuna das Mädchen am Herd. Ein spätes Mädchen, das sah man gleich. Sie hatte einen ausladenden Hintern, wie ihn eigentlich nur die Frauen der wohlhabenden Kasten hatten. Vielleicht war der Geschichtenerzähler doch nicht so arm, wie er vorgab, daß er sich proteingeladene Nahrung zur Mästung seiner Tochter leisten konnte. Ihre dicken, langen, schwarzen Haare waren zu einem Zopf zusammengebunden. Erst unterhalb des Steißbeines hielt eine Schleife den geflochtenen Teil zusammen, die sich anschließende Quaste war dem Schwanz eines Pferdes nicht unähnlich. An der Taille war sie wie so viele Inderinnen relativ schlank. 1328
“Madagajaamini”, rief Adjuna ihr zu, was bedeutete `Frau mit der Haltung eines Elefanten in der Brunft', was hier zu Lande eines der schönsten Komplimente war. Es war bei ihr aber nicht nur ein Kompliment, sondern die Wahrheit, denn ihr dicker Hintern wippte bei der Arbeit erotisch hin und her. Der Erzähler freute sich, daß Adjuna die Frau gefiel. Die stärige Jungfrau hieß übrigens Draupadi. Der Geschichtenerzähler hatte sie nach der Frau aus den Geschichten, die er immer erzählte, benannt. Er selbst nannte sich deshalb auch Vyasa, obwohl er eigentlich einen anderen Namen hatte. Dem Mädchen wurde die Situation erklärt. Ihr Vater war nicht nur ein Erzähler traditioneller Geschichten, sondern hatte sie auch im Sinne traditioneller Werte aufgezogen. Und Gehorsamkeit gegenüber dem Vater war die höchste aller traditionellen Tugenden. Aber wie das so war mit dem weiblichen Geschlecht, wenn man ihm Keuschheit anerzogen hatte und es weit über die Jugendlichkeit hinaus schamhaft den Schamteil verdeckt hatte und auch nie das Glied eines Mannes weder bei Bruder noch beim Vater zu Gesicht bekommen hatte, und wenn es einmal einem Gymnosophisten auf der Straße begegnet war, schnell schamhaft weggeguckt hatte, weil man es von ihm erwartete, das weibliche Geschlecht wollte sich dann einfach nicht öffnen, wenn es sich öffnen sollte. Gehorsam war Draupadi mit Adjuna aufs Lager gestiegen. Willig hatte sie sich ausgezogen. Sie liebte sogar Adjuna auf den ersten Blick. Aber mit Blicken brachte man keinen Geschlechtsakt zustande. Irgendwie wollten die Beine einfach nicht auseinandergehen. Wenn Adjuna nur ein bißchen mit der Hand zwischen ihre Beine faßte, kniff sie sie sofort zusammen. “Mit meinem ganzen Geschütz da anzufahren, wird noch ein Problem”, dachte Adjuna.
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Er konnte mit den Händen jedoch fühlen, daß sie dort immer, immer feuchter wurde. “Du willst doch selbst auch, nun preß doch mal nicht immer die Beine zusammen.” Endlich ließ ihn das Mädchen mit seinen Hüften zwischen die Beine kommen. Als er sich dichter heranschob, stand er jedoch vor verschlossenem Tor. Wie sollte man da hineinkommen? Da die drei Schwellschläuche seines Gliedes schon seit Jahrzehnten prall geschwollen waren, hatten sie sich auf so übernatürliche Größe ausgedehnt, daß sein Glied nicht in die Jungfrau paßten, nie und nimmer. Und für lange Dehnungsübungen war keine Zeit. Adjuna sprudelte praecox los. Das bißchen Ankommen am äußeren Tor und das “Aua!"-Schreien der Jungfrau waren genug. Ejakulation praecox. Die Samen saßen genau vor der Spalte. Nähme man ein Mikroskop, sähe man, daß sie nicht saßen. Die Samenfädchen zappelten, schlugen mit ihren Geißelchen und bewegten sich vorwärts, die Schnellsten und Stärksten vorweg. Sie gingen das kleine Stück, das Adjuna versäumt hatte zu gehen alleine - ohne den großen Puller. Da haben wir den nächsten Erlöser der Menschheit von einer Jungfrau intakta geboren.
Vyasa war zufrieden, als Adjuna ihm versicherte, daß die Samen auf dem Weg zum wartenden Ovum der Jungfrau seien und die zweifellos schwängern würden. Um auch seinen Teil der Abmachung zu halten, fing der Erzähler wieder an zu erzählen:
König Santanu war überglücklich, als Bhishma ihm die Fischertochter brachte: Du hast für mich mehr getan, als irgendein Sohn für seinen Vater tun würde; ich segne dich dafür, mögest du nicht sterben wie 1330
andere Sterbliche, die sterben, weil sie müssen, sondern mögest du erst sterben, wenn du sterben willst. Den Zeitpunkt deines Todes sollst du dir aussuchen können. Solange du nicht sterben willst, sollst du unsterblich sein. Keine Wunde, die man dir schlägt, soll dich töten können, und keine Krankheit dich umbringen. Die Fischertochter Satyavati aber gebar dem König Santanu zwei Söhne, Chitrangada und Vichitravirya. König Santanu erlag bald nach der Geburt des zweiten Sohnes den Gesetzen der Zeit. Und Chitrangada wurde König. Aber Chitrangada starb kinderlos in jungen Jahren. Arara: Beim Kampf mit den Gandharva litt er an Rheuma. Geschichtenerzähler: Ja, drei lange Jahre duellierte er am Ufer des Hiranyavatis mit einem Gandharva-König, der den gleichen Namen Chitrangada trug, dann erlahmten seine Kräfte und der Gandharva erschlug ihn. Vichitravirya war nun rechtmäßiger Erbe des Königreiches. Aber er war noch ein Kind und Bhishma regierte als Prinzregent, bis Vichitravirya das Mannesalter erreichte. Dann setzte Bhishma Vichitravirya auf den Thron. Als dann die Kunde kam, daß der König der Kâsis seine drei Töchter, die in Schönheit den Apsarâs glichen, verheiraten wollte und deshalb ein großes Fest veranstaltete, das als Brautschau diente, und daß zu diesem Swayamvara Tausende von Prinzen kamen, da entschied Bhishma, da Vichitravirya heiraten sollte und zwar die drei Prinzessinnen von Kasi. Bhishma nahm daher seinen Kampfwagen und fuhr in die Arena von Benares, wo der Herrschersitz der Kâsis war, und vor all den versammelten Freiern rief er mit donnernder Stimme: Arara krächzte: Die Tugendhaften sagen,
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einen Tugendhaften soll sie haben. Die Weisen Widerspruch erheben, einem Weisen soll man sie geben. Die Jungen signalisieren: sie wollen nicht verlieren. Die Alten widerhalten, am besten sind wir Alten. Andere sagen: Die Braut muß man schmücken, dann wird sie entzücken. Große Aussteuern muß man beisteuern, das wird die Freier anfeuern. Andere tauschen Mädchen gegen eine Kuh und verlangen auch noch Geld dazu. Manch ein Mädelein bricht frei - allein, läuft weg ganz keck. Manch ein Mädchen 1332
findet aus eigenem Antrieb den Mann, den sie liebt. Andere brauchen Hilfe, nach einigen schwachen Stunden sind sie einem Mann verbunden, rumgekriegt und besiegt. Geschichtenerzähler: Aber die edelste Art zu einer Braut zu kommen ist laut Dharma, sie mit Gewalt zu entführen. Es ist Kshatriya-Art und die höchste Ehre für die Frau, wenn der Freier sie gewaltsam entführt. Denn nur dann beweist der Freier, daß er bereit ist, für die Frau sein Leben zu riskieren. Welche Frau kann das schon von sich sagen, daß sie das Leben eines Mannes wert ist. Bhishma hatte die drei Töchter des Königs von Kâsi an sich gerissen, fuhr eine Runde mit ihnen in der Arena und forderte die versammelten Prinzen zum Kampfe heraus. Die warfen schnell ihre Diademe und Prachtgewänder ab und ergriffen ihre Waffen: Dem alten, komischen Kauz wollten sie es zeigen! Hatte der nicht mal Keuschheit geschworen? Bhishma besiegte sie alle. Dann machte er sich mit den Prinzessinnen Amba, Ambika und Ambalika auf den Rückweg nach Hastinapura zu den Bharatas. Arara: Stopp diese Allotria! Halt da! 1333
rief Amba ipsissima verba. Geschichtenerzähler: Ja, Amba wollte aussteigen. Sie war nicht stolz, von einem so großen Krieger entführt zu werden. Sie hatte im Herzen schon einen anderen Bräutigam gewählt, Salva, König von Saubala. Aber so einfach waren Kriegersitten nicht. Geraubtes gab man nicht einfach zurück, um nicht als Feigling zu gelten. Arara: Ein Feigling, ein Weichling, ein Schand-Ding! Geschichtenerzähler: Salva erschien mit seinem Kampfwagen und forderte Bhishma heraus. Eine wilde Schlacht entbrannte. Aber Salva hatte keine Chance gegen den großen Acharya und mußte sich bald geschlagen geben. Ohne weitere Zwischenfälle brachte Bhishma die drei Prinzessinnen nach Hastinapura. Vichitraviryas Hochzeit mit den drei Prinzessinnen wurde vorbereitet. Arara: Aber Amba rotzig und trotzig: Oh, Sohn von Ganga, folge dem Gesetz der Sastra, gib' mir den Gemahl
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meines Herzens Wahl und damit basta. Geschichtenerzähler: Bhishma sah ein, daß es gegen die Lehren der heiligen Schriften war, eine Frau, die in ihrem Herzen schon einen Mann gewählt hatte, zu zwingen, einen anderen Mann zu heiraten. Er ließ sie daher, mit prächtigem Geleit zum Hofe ihres Geliebten bringen. Aber der König von Saubala weigerte sich, sie anzunehmen. Bhishma hatte ihn vor den Augen aller Krieger besiegt und gedemütigt, jetzt von ihm die Prinzessin Amba wie eine Almose anzunehmen, war eine Schande und erneute Demütigung, die sein Kriegerstolz nicht erlaubte. `Bhishma hat mich vor aller Augen besiegt, ich kann dich jetzt nicht mehr annehmen, geh zurück zu ihm, du bist seins.' Amba ging also zurück nach Hastinapura und erzählte Bhishma, daß Salva sie nicht annehmen wollte. Bhishma versuchte nun, sie doch noch mit Vichitravirya zu verheiraten, aber der weigerte sich, eine Frau zu heiraten, deren Herz schon einmal einem anderen gehört hatte. Und wenn Salva sie nicht haben wollte, er, Vichitravirya, wollte sie erst recht nicht haben. Amba war verzweifelt und in ihrer Verzweiflung bat sie Bhishma, daß er sie heiraten möge. Aber Bhishma sagte: `Das geht nicht. Ich habe den Brahmacharya-Schwur geleistet, nie zu heiraten, und meinen Schwur kann ich nicht brechen. Geh noch einmal zu Salva und bitte ihn, dich doch noch zu heiraten.' Zuerst war sie zu stolz, wieder zu Salva zu gehen, aber nach sechs einsamen Jahren, faßte sie sich ein Herz und ging noch einmal zu dem König der Saubalas. Der aber blieb bei seiner Weigerung. Die lotusartige Schönheit Amba verbrachte noch viele bittere Jahre allein, abgewiesen in Verzweiflung. All die Süße, die einmal in ihr war, verwandelte sich in Haß und Bitternis, und viel Süße war einmal in ihr gewesen, und viel Haß und Bitternis entstand daher, Haß und Bitternis auf Bhishma, der ihr einst so gesegnetes Leben kaputt gemacht hatte. Sie ging auf eine lange Wanderschaft durch alle Königreiche der Welt 1335
und suchte den Krieger, der das Unrecht, das ihr Bhishma angetan hatte, rächen würde. Aber sie fand keinen Krieger, der sich groß genug fühlte, Bhishma herauszufordern. So zog sie sich schließlich in die Wildnis zurück, hungerte und wachte und tat große Bußübungen, um übernatürliche Hilfe herabzuflehen. Der sechsgesichtige Lord Subrahmanya erwies sich ihr gnädig und erschien. Er gab ihr eine Girlande nie welkender Lotusblüten. `Der, der diese Girlande trägt, wird ein Feind Bhishmas werden und seinen Tod verursachen.' glücklich nahm Amba diese Girlande und wieder machte sie sich auf die Wanderschaft durch die Königreiche, aber noch immer war die Furcht vor Bhishma größer als der Glaube an die Wunderkraft der Girlande. Sie kam schließlich auch an den Hof des Königs Drupada, auch er verweigerte sich ihren Bitten, und verzweifelt und resigniert verließ Amba auch dieses Könighaus. Ihre Girlande ließ sie an Drupadas Palasttor hängen. Sie selbst zog sich wieder in die Wälder zurück - zu neuer Askese. Einige Einsiedler rieten schließlich, doch Parasurama aufzusuchen. Parasurama oder auch Rama mit der Axt war eine Inkarnation des Gottes Vishnu. Der große Gott war zur Erde gekommen, um sie von den Drangsalen, den Drangsalierungen der Kshatriya zu befreien, und mit seiner Axt hackte er Krieger nieder, wo immer er sie traf. Als Amba ihm ihre traurige Geschichte erzählte, fragte er sie mitfühlend: `Mein Kind, was kann ich für dich tun? Soll ich Salva bitten, dich doch noch zu heiraten?' `Nein, Rache an Bhishma ist alles, was ich noch auf dieser Welt suche.' Obwohl Parasurama schon lange in den Ruhestand getreten war, flammte sein alter Haß auf die Kshatriya und ihre unsinnigen Sitten und Ehrenkodexe wieder auf und er versprach mit Bhishma zu kämpfen. Es war ein langer, mühsamer Kampf, den Parasurama schließlich verlor. Geschlagen kam er zurück zu seiner Einsiedelei und er sagte zu Amba: `Ich habe getan, was ich konnte, aber Bhishma ist unbesiegbar. Gehe zu Bhishma und versöhne dich mit ihm. Du kannst ihn nicht vernichten, niemand kann das.' Aber Wut und Haß verzehrten Amba immer weiter, nur der Wunsch nach Rache hielt sie noch aufrecht und am Leben. Die höchsten Gipfel des Himalayas bestieg sie, dort im kalten Schnee brannte die Flamme ihrer Rachsucht. Sie praktizierte rigorose Askese, den großen Zerstörergott Shiva selbst wollte sie gnädig stimmen. Als er ihr endlich erschien, gab er ihr das Versprechen, 1336
daß sie selbst in ihrem nächsten Leben Bhishmas Tod verursachen würde. Keine Eile war ihr schnell genug, sie stürzte die Berge hinunter und sammelte im Tal Holz für ein Bestattungsfeuer und stürzte sich in die Flammen. Sie waren kaum heißer als die Hölle ihres Herzens. Jetzt war sie tot, aber durch die Gnade Shivas wurde sie wieder geboren als die Tochter des Königs Drupada. Einige Jahre nach ihrer Geburt sah sie die Girlanden der nie verblühenden Lotusblüten am Tor von ihres Vaters Palast hängen. Niemand hatte es gewagt, sie je zu berühren, um nicht die Feindschaft Bhishmas auf sich zu ziehen. Sie aber nahm die Girlanden und hängte sie sich um den Hals. Ihr Vater Drupada sah es mit Schrecken. Aus Furcht vor Bhishmas Zorn verstieß er seine Tochter. Wieder zog sie sich in die Wälder zurück. Wieder machte sie harte Bußübungen, diesmal um ein Mann zu werden, denn nur als Mann konnte sie Krieger werden und Bhishma bekämpfen. Zur Zeit der großen Kurukshetra-Schlacht war sie ein Mann, der Krieger Sikhandin. Als Sikhandin kämpfte sie gegen Bhishma, aber Bhishma wehrte sich nicht, denn er sah in Sikhandin noch immer eine Frau, die Prinzessin Amba, ein Mädchen so schön wie eine Apsaraa, das lotusschöne Mädchen, das er hatte zurückweisen müssen, weil er ewige Keuschheit geschworen hatte. Bhishma war zu groß. Selbst wenn er sich nicht wehrte, hätte ein schwacher Krieger wie Sikhandin ihn nicht fällen können. Aber der große Krieger Arjuna schob Sikhandin wie einen Schild vor sich her und schoß so aus sicherer Deckung Bhishma schwere Wunden. So wurde Sikhandin die Ursache für Bhishmas Fall. Bhishma lag noch bis nach der Schlacht lebend auf dem Schlachtfeld, erst als die Sonne den nördlichen Himmel erreicht hatte, starb er auf eigenen Wunsch.
Alle waren verstummt. Der Arara hatte Tränen in den Augen. “Wie doch ein so einfaches Tier zu Gefühlen in der Lage ist”, dachte Adjuna. 1337
Nach einer bescheidenen Mahlzeit von Reis und Kari und etwas Milchtee und Gebäck erzählte der Geschichtenerzähler weiter: Sieben Jahre lang genoß Vichiravirya seinen beiden Frauen Ambika und Ambalika. Intensiv konsumierte er ihre großen, dunklen Körper mit den sinnlichen Lippen, zarten Zungen, blauschwarz glänzenden Haaren, den scharfen roten Fingernägeln, den üppigen Brüsten und gewaltigen Hinterbacken, ihre feuchtsüßen Schamteile, ihre tiefen Scheiden und ihre anderen, zärtlich liebenden Körperöffnungen, dann war er konsumiert, ausgezehrt, erschöpft und starb an der Phthisis, der Schwindsucht. Arara: Lamenta, lamenta, Vichitravirya auf dem Weg zu Yama. Geschichtenerzähler: Vichitravirya hatte keine Kinder. Trotz all seiner männlichen Potenz hatte dieser Held, der an Schönheit den Asvins geglichen hatte, und der an Kraft dem großen, starken Bullen Nandi des Zerstörergottes Shiva gleich gekommen war, es nicht geschafft, zu seinen Lebzeiten Nachwuchs in die Welt zu setzen. Satyavati war verzweifelt: Sollte es sein, daß das Geschlecht des großen Santanus der Kurus, der immer auf den Wegen der Veden und Vedantas gefolgt war, ausstirbt? Sie entschied, daß das nicht sein durfte. Das heilige Gesetz schrieb vor, daß die adligen Linien fort bestehen mußten, und sie sprach zu Bhishma: Du kennst die Veden. Du weißt, was deine Pflicht ist. Vichiravirya, der mächtige Sohn aus meinem Schoße, hatte die Königinnen Ambika und Ambalika nicht geschwängert. Du, Gangeya, als sein Halbbruder hast jetzt die Aufgabe, die Samen aus der Linie des großen Santanus in seine Frauen
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hineinzustoßen. Sitte und das heilige Gesetz nennen das als deine Pflicht. Arara: Du bist nicht ganz dicht! Nein, so rüde war er nicht. Geschichtenerzähler: Bhishma entgegnete ihr: Weißt du nicht, was der Brautpreis war, den ich zahlte, damit du meinen Vater heiratetest? Es war der unumschränkte Schwur, keusch und ohne Nachkommen zu leben; dieser Schwur, den ich geleistet habe, steht höher als das höchste Gesetz. Ich kann auf alles verzichten, aber nicht auf die Wahrheit meiner Worte. Arara: Die Götter mochten ihre Unsterblichkeit verlieren, der Erdboden seine Festigkeit, die Luft ihren Duft das Wasser seine Frische das Licht seinen Schein die Sonne ihre warmen Strahlen der Mond seine kalten Strahlen das Feuer seine Hitze das Eis seine Kälte der Lärm seine Lautstärke 1339
das Schweigen seine Stille Indra seine Macht Lord Dharma sein Gesetz, aber Bhishma würde nie die Wahrheit seiner Worte verlieren. Geschichtenerzähler: Satyavati aber erwiderte ihm: Was ist der Wert deiner Worte? Wenn die Linie selbst verloren geht, ist auch das Gesetz verloren. Wenn keine Nachkommen mehr da sind, ist niemand mehr da, der den Wert deiner Worte ehrt. Bhishma aber antwortete ihr: Jamadagnis Sohn Parasurama tötete aus Wut über den Mord an seinem Vater alle Abkömmlinge des Könighauses der Haihayas, er hackte die zehnhundert Arme von Arjuna-Kartavirya ab, er ergriff abermals seine Waffen und brachte das ganze Kshatriyarat um und beherrschte selbst die ganze Welt mit seinem Streitwagen. Einundzwanzigmal säuberte er die Welt von uns Kriegern. Einundzwanzigmal wurden alle Kshatriya-Frauen Witwen. Klagende Witwen, die nicht nur um ihre Männer klagten, sondern auch um ihre Söhne. Und doch entstand die Kshatriya-Kaste ein jedes Mal von neuem. Sie auferstand! Sie auferstand aus den Schößen der KshatriyaWitwen. Ein Sohn gehört dem, der seine Hand führt, so lehren die Veden. Die Kshatriya-Witwen erbettelten sich die Samen von edlen Brahmanen, so folgten sie dem Gesetz und ließen die Kshatriya-Kaste wieder leben. Höre Mutter! Die Dynastie der Bharatas soll leben. Lade einen Brahmanen von großer Tugend ein, laß ihn Vichitraviriyas braches Feld besamen! Weiser, starkarmiger Bhishma, du hast die Wahrheit gesprochen, sagte Satyavati, ich werde handeln, wie du es rätst. Einst, als ich gerade erst eine Frau geworden war, in der Zeit nach meiner ersten Blutung, bediente ich meines Vaters Fähre über den Fluß Yamuna. Da kam der große Seher Parasara an meine Fähre und wollte, daß ich ihn 1340
übersetzte. Aber während ich ihn übersetzte, näherte er sich mir. Er sagte mir viele süße Dinge, tat mir Zärtlichkeiten an. Er war besessen von Verlangen und Verliebtheit. Ich fürchtete die Flüche des mächtigen Mannes, und seine Versprechungen und Segnungen waren so süß und selten beizukommen. Seine Männlichkeit überkam mich, direkt auf dem Boot. Mit einem dicken, dunklen Nebel schützte er uns vor neugierigen Blicken vom Ufer. Damals hatte ich einen scheußlich stinkenden Fischgeruch an mir, auch Dankbarkeit für die Befriedigung seines männlichen Verlangens nahm er diesen Fischgeruch von mir und gab mir einen außergewöhnlichen süßlichen, verführerischen Duft, den Duft, dem dein Vater folgte, bevor er mich fand. Von dieser Begegnung gebar ich im geheimen auf einer Insel des Yamuna-Flusses einen Sohn. Ich gebar ihn als Jungfrau, denn Parasara hatte bei mir nach dem Geschlechtsakt meine Jungfräulichkeit wiederhergestellt. Auch nach der Geburt war ich wieder zur Jungfrau geworden, so daß dein Vater mich unbefleckt vorfand. Dieser mein Sohn von der Yamuna-Insel ist ein großer Seher und Yogi geworden wie sein Vater. Parasarya heißt er, auch Dvaipayana nennt man ihn, und da er die Veden unterteilte, wurde er als Vyasa, der Unterteiler, berühmt. Ich werde ihn rufen, daß er seinen Pflug in das brache Feld seines Bruders Vichitravirya steckt, die Schollen bricht und die Saat der Nachkommenschaft sät. So erschien Vyasa bei seiner Mutter. Sie besprenkelte ihn zum Gruße mit den Freudentränen, die sie vor Freude über das Wiedersehen nach so langer Zeit verschütten mußte. Vyasa seinerseits besprenkelte die Mutter mit heiligem Wasser. Satyavati sprach: Wie du mein erstgeborener Sohn bist, so war Vishitravirya mein letztgeborener Sohn, und wie Bhishma ein Halbbruder Vichitraviryas väterlicherseits ist, so bist du ein Halbbruder Vichitraviryas mütterlicherseits, oh Brahmane. Bhishma hat ewige Keuschheit geschworen und kann den Samen seines Vaters Santanu nicht forttragen. Hilf du, edler Vyasa, uns, rette die große Dynastie der
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Kurus und besteige die Frauen deines Bruders Vichitravirya, daß sie Söhne zur Welt bringen, die das Königreich fortführen. Arara: Vyasa war bereit, doch nicht aus Geilheit; ein Jahr sollten die Frauen in Askese leben, dann erst wollte er ihnen seine Samen geben. Geschichtenerzähler: Satyavati protestierte: So lange können wir nicht warten. Du mußt sie sofort schwängern. Was ist ein Königreich ohne König? Ein Königreich ohne König ist wie ein Baum ohne Stamm, ein Haufen trocknen Holzes. Kein Gott sieht gütig auf einen solchen Ort, kein Regen fällt dort, keine Ernte gibt es, keinen Sonnenschein, keine Freuden. Nein, wir brauchen einen Sohn und möglichst schnell. So kam es, daß die Königin Ambika, wenn das nächste Mal die Zeit ihrer höchsten Brunst kam - nach der Weisheit der Alten war das die Zeit, wo die Scheide nach der Trockenzeit, die sich an die Regelblutung anschloß, wieder anfing, sabberig zu werden -, sich von Vichitraviryas Halbbruder besteigen lassen sollte. Sie erwartete wohl Bhishma und war sehr erschrocken, als Vyasa in ihr Gemach eintrat und ihr sagte, daß er ihr für seinen toten Halbbruder einen Sohn zeugen werde. Vyasa war abgrundhäßlich, hatte verfilzte, dreckige, erdfarbige Haare, einen rötlichen Bart voller Läuse, stank wie ein ungewaschenes Schwein übermäßig nach Schweiz, Kot und Urin und trug staubige Lumpen, die er als Vorbereitung für den Vollzug des Geschlechtsakts vorne öffnete. Ambika schloß die Augen vor Schreck und ließ, was geschehen mußte, stoisch über sich ergehen. Als Vyasa fertig war und seine Lumpenhose vorne verschließend aus dem Gemach der Königin kam, erwartete seine Mutter ihn schon: Wird sie einen Sohn bekommen? Vyasa antwortete ihr: Ja, sie wird einen 1342
Sohn zur Welt bringen, einen großen König mit der Kraft von Millionen Elefanten und der Weisheit der größten Seher, und er wird Vater von hundert großen Kriegersöhnen sein, aber da es seiner Mutter an einer Tugend mangelte, nämlich der Tugend, ihren Geschlechtspartner, mich, anzublicken, wird er blind sein. Satyavati war ungehalten: Ein blinder König, das kann nicht sein. Ein Blinder kann nicht König werden. Gehe auch zu Ambalika und mache ihr ein Kind. Ambalika nun, als sie den unansehnlichen Seher sah, mit dem sie den Koitus vollziehen sollte mit geöffneten Augen, wurde so bleich wie ein Bettlaken. Da du beim Anblick meiner Häßlichkeit erbleichtest, wird du einen Sohn haben mit einer kränklich bleichen Geschichtsfarbe. Wegen seiner Bleiche wird man ihn Pandu, den Bleiche, nennen, fünf Söhne wird er haben, die Pandavas, große Krieger und Bogenschützen. Satyavati aber war auch mit einem bleichen Sohn nicht zufrieden und bat Vyasa, es noch ein drittes Mal zu versuchen. Als Ambika nach der Geburt des blinden Dhritarastras wieder in die Zeit der höchsten Brunst kam, sollte sie wieder Vyasa zu sich lassen, um auch noch einen gesunden Sohn zur Welt zu bringen. Aber wenn sie an Vyasas Erscheinung und den Gestank dachte, den er verbreitete, dann stieg großer Ekel in ihr auf. Nein, noch einmal wollte sie nicht intim mit ihm sein. Mit ihm konnte sie es einfach nicht machen, nicht einmal von hinten. Sowieso, wer wußte, wie der Weise sich verletzt fühlte, wenn sie es ihm nur von hinten anbot. Mit welcher Mißgeburt würde er sich dann rächen? Ambika schmückte eine liebliche Sklavin, die so schön war wie eine Apsara, mit ihren königlichen Juwelen und ihrem diamantenen Diadem, auch ließ sie sie salben und parfümieren. Diese Sklavin nun empfing Vyasa in allen Ehren, die einem weisen Seher zukamen. Und mit allen Künsten der Liebe befriedigte sie ihn. Vyasa war sehr 1343
zufrieden mit den Vergnügen der Liebe, die er in dieser Nacht im Beischlaf mit diesem Mädchen fand. Aus Dankbarkeit setzte er sich dafür ein, daß der Sklavin die Freiheit gegeben wurde. Und als freier Mensch gebar sie einen Sohn, der als der weiseste und verständigste Mensch der Welt galt: Vidura. Vidura diente später am Hofe von Hastinapura seinen Brüdern Dhristarastra und Pandu als Berater. Er war der große Lord Dharma selbst, der durch einen Fluch des Einsiedlers Mandavya dazu gezwungen worden war, ein Menschenleben inkarniert auf der Erde zu verbringen.
Der Geschichtenerzähler war offensichtlich müde geworden. Den ganzen Tag schon hatte er erzählt. Die Straßen waren staubig gewesen und der Hals tat ihm weh. Der große, nackte Mann, der ihm mit einem Flitzbogen und ein paar Flitzen gegenüber saß, sah zwar wie die Inkarnation eines Gottes aus, hatte sogar einen bläulichen Schimmer in der Haut, aber die Aufmerksamkeit, mit der er zuhörte, verriet, daß er das alles zum ersten Mal hörte, also nicht allwissend war. Es war zu bezweifeln, daß dieser Mann, der nichts zu besitzen schien als ein langes Stück Holz und noch ein paar kurze, angespitzte Hölzer, ihm außer einem starken Enkelsohn noch groß andere Segnungen zuteil kommen lassen würde. Der Geschichtenerzähler entschied sich die Geschichte kurzzufassen: Nach der Geburt der Königssöhne fiel wieder Regen auf das Land der Kurus, die Felder wurden wieder fruchtbar und auch die Bäume trugen wieder reichlich Blüten und Obst. Bhishma übernahm die Ausbildung der jungen Prinzen, und unter seiner Anleitung lernten sie den Schwerterkampf, Bogenschießen, mit den Kampfkeulen umzugehen, aber auch das Reiten auf Pferden und Elefanten und das Streitwagenfahren, sowie Politik, Religion, Philosophie, Literatur, Gesang und die Veden und Vedantas. Dhritarastra, der älteste Sohn, 1344
wurde jedoch nicht zum König gesalbt, da er blind war, auch Vidura wurde nicht König, da seine Mutter keine Königin war. Pandu wurde König. Bhishma und Satyvati sorgten sich auch weiter um den Fortbestand der königlichen Linie. Und als Bhishma hörte, daß die Prinzessin Gandhari von Subala vom großen Haga die Gabe erhalten hatte, hundert Söhne zu haben, arrangierte der Grandsire der Kurus Dhritarashtras Hochzeit mit ihr. Als Gandhari hörte, daß ihr Bräutigam blind war, nahm sie ein Tuch und verband sich ihre Augen damit, um in der dunklen Welt ihres Gemahls zu leben. Sie nahm das Tuch nie wieder ab. Der bleiche Pandu wurde mit Kunti verheiratet. Sie war das erste Kind von Vasudeva gewesen, der der Häuptling der Yadus war, und der später Vater von Krishna wurde. Vasudeva hatte sie aber seinem kinderlosen Cousin Kuntiboja gegeben, der der Sohn seines Vaters Schwester war. In Kuntibojas Haus hatte Kunti einmal den schrecklichen Einsiedler Durvasas bewirtet. Aus Dankbarkeit hatte er ihr die große Gabe gegeben, die Götter vom Himmel herunterzurufen, und sie zum Beischlaf und zur Zeugung eines Sohns zu zwingen. Sie hatte es gleich mit Surya, dem Sonnengott, ausprobiert. Das Kind hatte sie dann in einem Körbchen in den Fluß ausgesetzt. Aber das war ihr Geheimnis, ihr dunkles Geheimnis, das sie mit dem hellen Helios gemein hatte. Pandu also heiratete diese Kunti, aber heiratete später noch eine Frau dazu: Madri, die Tochter von Madras. Pandu vergrößerte das Reich und seinen Reichtum erfolgreich durch viele Kriegszüge. Adjuna: Raubzüge. Geschichtenerzähler: Nachdem er genug hatte, zog er sich mit seinen Frauen in die Wälder zurück. Er liebte es zu jagen. Eines Tages schoß er einen Rehbock und dessen Ricke. Der Rehbock hatte gerade die Ricke besprungen und im Eifer der Brunft den Jäger nicht heranschleichen hören. Im Sterben drehte sich der Rehbock um und gab sich als Mensch zu erkennen. Er hatte nur die Form eines Rehes angenommen, um sich mal mit einer Ricke zu vergnügen. Jetzt verfluchte er Pandu: Weil du keinen Respekt vor dem Akt der Liebe 1345
gezeigt hast, verdamme ich dich dazu, in dem Moment, in dem du deine Frauen berührst, zu sterben, wie ich jetzt sterbe. Pandu protestierte: Es ist die Art der Kshatriya, es mit Rehen so zu machen wie mit den Feinden, nämlich sie zu töten. Ich habe nichts Unrechtes getan. Du hättest warten sollen, bis ich fertig war, sagte der Einsiedler, du selbst kennst die Angenehmlichkeiten der Liebe, wie konntest du uns bei der Paarung töten. Ich bin Kimdama, ein Einsiedler von großer Askese, ich habe dir nie etwas getan, ich lebte hier friedlich und fröhlich im Wald, ernährte mich von Wurzeln und Beeren, ich meidete die Menschen und ihre Gewalt und Boshaftigkeit, ich ziehe die Tiere vor, deshalb verwandelte ich mich auch in einen Rehbock und liebte eine Ricke. In dem Moment, in dem dich die Liebe auf eine deiner Frauen übermannt, wirst du sterben, und deine Frau wird dir in den Tod folgen, wie diese Ricke hier mir in den Tod folgt. Die Strafe für einen Brahmanenmord aber erlasse ich dir, da du mich nicht als Brahmanen erkennen konntest. Pandu war verzweifelt, denn er hatte noch keine Nachkommen. Sollte seine königliche Linie aussterben? Ein Mann ohne Kinder hatte keine Tür zum Himmel, sagte man. Wenn ein Mann ohne Kinder starb, dann starb nicht nur er, sondern alle sein Vorfahren im Jenseits starben mit ihm endgültig. Pandu übergab die Regierungsgeschäfte seines Königreichs seinem blinden Bruder Dhritarastra und zog mit seinen beiden Frauen Kunti und Madri für immer in die Wälder. Wie mein Erzeuger Vyasa werde ich von Wurzeln und Würmern leben, Lumpen tragen und mein Haar verfilzen lassen und über das Leben meditieren und die Vergänglichkeit. Weise Männer trösteten Pandu und lehrten ihn Manus Gesetz der sechs Söhne, die Erben sind, und der sechs erbunberechtigen Söhne: Die sechs Erben sind erstens: die Söhne, die man bei seinen eigenen 1346
Weibern selbst gevatert hat; zweitens: die Söhne, die man aus gleicher oder höherer Kaste geschenkt bekam und adoptierte, bzw. die Söhne, die von solch geschenkten, würdigen Samen aus den Leibern der eigenen Weiber entsprangen; drittens: die Söhne, die man aus gleicher oder höherer Kaste kaufte und adoptierte, bzw. die Söhne, die nach einer bezahlten Besamung aus solch würdigen Samen den Leibern der eigenen Weiber entsprangen; viertens: die Söhne, die die Witwe aus würdigem Samen zur Welt brachte; fünftens: die Söhne, die die eigenen Weiber aus würdigem Samen schon vor der Ehe empfingen bzw. gebaren; sechstens: die Söhne, die man selbst bei einem freien Weib gleicher oder höherer Würde vaterte. Die sechs Söhne, die nicht Erben, aber Verwandte sind, sind die, die man aus niedrigerer Kaste geschenkt bekam; die, die man aus niedrigerer Kaste für Geld erwarb; die, die von selbst kamen und aus niedriger Kaste waren oder von unbekanntem Samen; die, die die Weiber aus niedriger oder von unbekanntem Samen in die Ehe brachten; die, die die eigenen Weiber bzw. Witwen aus unwürdigem oder unbekanntem Samen empfingen; und sechstens, die Söhne, die man selbst in einen unwürdigen Schoß niedriger Kasten vaterte. Und Pandu sprach zu seinen Frauen: Gehet hin und findet euch Samen von jemandem, der mir ebenbürtig oder überlegen ist, denn mir ist die Fähigkeit, Nachkommen zu zeugen, genommen worden. Da verriet Kunti ihrem verzweifelten Über-Lord, daß sie die Gabe hatte, die Götter zu bezwingen zur Zeugung von männlichen Nachkommen. Und so bekam König Pandu mit Hilfe der Götter Nachkommen. Kunti bekam drei Söhne, den weisen, wahr- und tugendhaften Yudhishthira von dem Gott Dharma, den wolfbäuchigen, bärenstarken Bhima vom Windgott, den großen Arcarius Arjuna von dem Götterkönig Indra. Nachdem er drei mächtige Söhnen hatte, war Pandu hungrig nach mehr. Aber Kunti weigerte sich: Drei Söhne gebar ich dir von fremden Männern, drei sind genug, sagt das Gesetz. Hat eine Frau mehr als drei 1347
Kinder von anderen Männern als ihrem eigenen, dann ist sie eine lose Frau, eine Hure. Wie kannst du mehr Kinder von mir verlangen? Da bat auch Madri mit Hilfe der Mantra, Kinder zu haben. Und Kunti sagte: Konzentriere deine Gedanken auf eine Gottheit! Und Madri dachte an die Zwillingsgötter Asvins. Und Madri brachte Zwillinge zur Welt, Nakula und Sahadeva. Kunti aber fühlte sich betrogen: Ich hatte nicht bedacht, daß Zwillingsgötter Zwillingsfrüchte bargen. Und ein zweites Mal verlieh sie ihre Mantra nicht, um nicht als Gebärerin ins Hintertreffen zu geraten. Wer wüßte, wen Kunti als nächstes rufen würde. Vielleicht die acht Vasus oder die einundzwanzig Lords der Schöpfung. Arara: Pandu hatte also fünf Ablegaa. Alle wurden sie große Kregaa. Geschichtenerzähler: Nach der Geburt des ersten Sohnes Yudhishthira wurden auch Dhritarashtra und Gandhari Eltern. Sie wurden Eltern von hundert Söhnen und einer Tochter, die in künstlichen Uteri gezogen worden waren. Pandus fünf Söhne wuchsen in der Wildnis heran wie Lotusblüten im schlammigen Wasser von Teichen. Eines schönen Frühlingstages, als Pandu mit Madri in den Wäldern Beeren sammelte, war der Wald so prächtig mit blühenden Palâsas-, Tilakas-, Mango-, Campakas- und Pâribhadrikas-Bäumen geschmückt, so vielfältig waren die Blumen und Blüten, so voll mit Liebe die Luft, es war so ganz allgemein Ranz-, Rausch- und Rammelzeit, daß Pandu lüsternd der Madri das spärliche Gazellenfell ihres Asketenkostüms herunterriß. Madris nackter Körper entfachte einen Feuerbrand in ihm. Er konnte sich nicht mehr halten, stürzte sich auf den wohlgeformten Körper der Königin. Sie versuchte zu entkommen. Es gelang ihr nicht. Und er starb, wie in Kimdamas Flucht vorhergesagt.
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Es war die Zeit selbst gewesen, die seine Sinne erregt hatte, denn die Zeit hatte entschieden, daß seine Zeit auf Erden um war. Er starb dem Gesetz der Zeit folgend in den Armen seiner wunderbaren Frau. Madri schrie und schrie, schrie vor Schrecken, den toten Mann in ihren Armen. Als Kunti Madri am Boden liegend fand zusammen mit dem Toten, machte sie Madri schwere Vorwürfe, denn sie selbst war immer strikt und barsch zu dem König gewesen, um niemals Verlangen in ihm zu wecken: Ich beneide dich, du hast unseren Lord glücklich gesehen. Am Kremationsfeuer wollte Kunti dann Sati-Mata machen, da sie als ältere die Hauptfrau von Pandu gewesen war, aber Madri protestierte: Nein, ich werde ihm in den Tod folgen, denn meine Begierde ist noch nicht gestillt. Unser Gatte, der Beste der Bharatas, wurde um die Passion seiner Liebe gebracht, in Yamas Schoß werde ich ihn weiterlieben bis zur ganzen Erfüllung, denn auf dieser Welt kann ich nichts mehr finden, ich werde auf ihr auf keinen Fall weiterleben. Sorge du für unsere Kinder und laß mich zu ihm gehen! Mit diesen Worten bestieg sie das Feuer. Seher und andere Waldbewohner brachten dann Kunti und die fünf Pandavas nach Hastinapura zum König Dhritarishtra und sprachen: Das sind die fünf Söhne deines Bruders Pandu. Er erhielt sie mit Fügung der Götter. Sorge gut für sie. So kam es, daß die fünf Pandavas und die hundert Kauravas gemeinsam in Hastinapura aufwuchsen. Es herrschte immer Streit zwischen ihnen. Und als sie erwachsen waren, führten sie einen schrecklichen Krieg gegeneinander. Die ganze Welt hatte damals Partei ergriffen und mitgekämpft. Chrishna hatte seine riesige Armee den Kauravas gegeben, aber selbst stand er auf der Pandava-Seite. Als Unbewaffneter führte er die Zügel von Arjunas Streitwagen. Aber Chrishna war nicht nur der Sohn Vasudevas, eines Knechtes mit königlichem Blute. Chrishna war göttlich. Er wollte die Welt erlösen, erlösen von der arroganten Kriegerkaste. Es gelang ihm bis auf einen einzigen Abkömmling, den Enkelsohn seines Lieblingsjüngers Arjuna. 1349
Perfekter wollte er den Untergang der Krieger nicht. So überlebte die Saat für neue Kriege. Adjuna: Man sagt, Chrishna starb, weil ihm der Jäger Jara in den Fuß schoß. Geschichtenerzähler: Ja, Chrishna ruhte unter einem Pippala-Baum1 und der Jäger Jara hielt seinen Fuß versehentlich für eine Gazelle. Adjuna: Das ist eigentlich keine tödliche Wunde. Geschichtenerzähler: Die Leute hatten wohl damals die Erfahrung gemacht, daß man sich an den Füßen sehr wohl tödlich verletzten konnte, wenn man zum Beispiel auf Giftschlangen trat. Gab es nicht auch später in Griechenland einen Helden, der auf die Art starb? Achilles war sein Name. Wenn er nicht auf eine Schlange getreten war, dann war seine Legende sicher vom Tode Chrishnas beeinflußt. Adjuna: Oder die kleine Pfeilwunde an der Ferse, hatte bei ihm eine Blutvergiftung verursacht. Geschichtenerzähler: Oder das. Adjuna: Du sagst, Chrishna starb an einer Fußverletzung, aber in den Wallfahrtshöhlen von Gharapuri, im Tempel von Mathura am Jamuna und an vielen anderen Orten auch, finden wir Chrishna darstellt, wie er den Kreuztod stirbt. Was sagst du dazu? Geschichtenerzähler: Ah, so ist es mit Legenden, der eine erzählt sie so, der andere anders, nach der Ilias endete Achilles im Reich der Schatten bei Hades, nach einer anderen Version entriß Thetis ihn den Flammen des Scheiterhaufens und er verbrachte den Rest seiner Tage auf der glücklichen Insel Leuke, und so leben die gleichen Helden verschiedene Leben und sterben verschiedene Tode. So wurde
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Ficus religiosa
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Chrishna 1 einmal von der Jungfrau Devak und in einer anderen Legende wie Gautama der Buddha von der Jungfrau Maia geboren. Der 1
Das Thema behandelnde Bücher: `Sex Mythology' von Sha Rocco, `Anacalypsis' von Godfrey Higgins, `Christianity before Christ' and `Pagan Origins of the Christ Myth' von John G. Jackson.
Karlheinz Deschner befaßt sich im 9. Kapitel seines Buches `Abermals krähte der Hahn' mit der Ähnlichkeit von Christus und - allerdings - Buddha. Chrishna und Buddha sind im Hinduismus beide Avatars (Inkarnationen) von Vishnu und ihre Legenden vermischen sich oft. Das Buch `The World's Sixteen Crucified Saviors or Christianity Before Christ' von Kersey Graves listet 346 auffallende Analogien zwischen Christus und Chrischna auf, wie GottesSohn-Attribut, Parabelweisheiten, Fluch auf Feigenbaum, `Liebe-Deine-Feinde'-Lehren, Liebe für die Armen, keusche Lebensführung (Im Gegensatz zu dieser Keuschheit erfahren wir gegen Ende des Mahabharatas, daß Chrischna 16 000 Frauen hatte. Nach seinem Tode versuchte Arjuna sie zu retten, aber die Frauen entschieden sich, Sati-Mata zu begehen. Der potente Chrischna, der 16 000 Frauen zu befriedigen hat, ist wohl ebenso Teil einer anderen Legende, wie der fleischliche Christus in Martin Scorceses Film `The Last Temptation' ein anderer ist als der Kirchenmann Kristus.), Heilung eines Leprakranken, Auferweckung von Toten, Heilung von Blinden und Tauben, Erlösung von der Erbsünde, Opfertod für die Erlösung der Menschheit, Ankündigung eines zweiten Kommens, Chiliastische Prophezeiungen, Apokalypse, aber auch Missionseifer, Kritik und Reform an der bestehenden Gesellschaftsordnung bzw. Religion etc. Kersey Graves' Buch gibt einen sehr guten Überblick, wie die verschiedenen Religionen, besonders aber das Christentum, aus älteren Vorstellungen hervorgegangen sind. Der kristliche Haß auf Krishna wird auch verständlich. Wie viele Seiten Zeitungspapier wurden allein in westlichen Ländern mit informationslosen Hetzartikeln gegen die Hare-KrishnaBewegung und andere sogenannte Jugendreligionen bedruckt. Was mich dabei immer wieder schockiert: Wie leicht sich die Bevölkerung zum Haß auf stacheln läßt, ohne selbst zu überprüfen, und vor allen Dingen einmal zu überlegen, ob ihnen überhaupt durch Leute, die eine andere als die etablierte Religion haben, ein nennenswerter Schaden entsteht. Ich selbst habe es erlebt, daß, als ich mich negativ über die Pogromstimmung, die gegen die Scientologists erzeugt wurde, äußerte, verhetzte Menschen mir voller Haß entgegen schrien, gegenüber Satansanbetern dürfe man nicht tolerant sein. Man mag ja den Erfolg der Dianetik bei der Heilung von psychosomatischen Leiden in Zweifel ziehen, aber den Satan anbeten, so etwas Idiotisches tun die Scientologen wirklich nicht. Aber selbst wenn man den Satan anbetete, solange man nur betet, ist das Satan-Anbeten genauso verrückt und genauso harmlos (weil wirkungslos) wie die Anbetung Gottes. Wenn Satanverehrer allerdings anfingen, in der Politik und im Gesellschaftsleben Macht auszuüben, dann könnten sie eine genauso verheerenden Wirkung haben wie die Christen.
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König Kamsa war eifersüchtig, als ihm Seher die Geburt eines großen Königs verkündeten. Da er nicht wußte, wer der Königssohn war, der da in den Haushalt eines Knechtes geboren worden war, ließ er alle Kinder umbringen. Die Stationen Chrishnas wurden in Felsen dokumentiert, auch seine Hinrichtung am Kreuz zwischen zwei gemeinen Verbrechern, lange bevor die Christen mit ihrer Zeitrechnung anfingen. Der indische Chrishna ist die Mutter der christlichen Religion. Aus Maia wurde Maria, aus Chrishna ein Jude, aus Kamsa Herodes, und der Kindermord hat hoffentlich nie stattgefunden. In Indien wird Christus übrigens von einigen Missionaren tatsächlich als blauhäutig an den Inder gebracht. Salman Rushdie läßt einen jungen Missionar in seinem Buch `Midnight's Children' auf die Frage nach Jesus' Hautfarbe `blau' antworten. Ich selbst habe auf meiner Indienreise kristliche Kitsch-Broschüren mit blauem Kristus drauf, der sich kaum von blauen Chrishna unterschied, gesehen, genauso wie ich hier in meiner Wahlheimat Japan, Maria und die ganze heilige Familie als Japaner im Kimono dargestellt, gefunden habe. Religion wird immer umgelogen, aus Elohim wird Jehova wird Derliebegott, und die feministische Theologin Dorothee Sölle möchte aus dem Ding sogar noch ne Frau machen, die Chance stehen gut, daß auch dieses Umlügen gelingen wird; aber auch im kleinen wird massenweise gelogen, betrogen, fantasiert, so wußte z. B. der amerikanische Superevangelist Billy Graham, als er in einer Show des amerikanischen Superhumoristen, oder besser komikers (oder noch besser Fachmann für flache Witze) Bob Hope auftrat, daß Gott Spaßmacher liebt. Was mich selbst besonders faszinierte, war eine Episode aus Sylvia Frasers Buch `My Father's House - Memoirs of Incest and of Healing': Ms. Fraser wuchs in einer sehr streng religiösen Familie in Ontario auf mit all den Sex-Tabus, die dazu gehörten, und natürlich christliche Indoktrination jeden Sonntag in der Sonntagsschule. Während ihre Eltern andächtig der Andacht von Hochwürden Thwaite lauschten, lernten die Kinder von Frau Thwaite das Frommsein. Hochwürdens Frau unterrichtete den Kindern z. B. den Sündenfall wie folgt: Weil Adam und Eva ungehorsam gewesen waren, nahm Gott ihnen die Kleider weg (!) und sagte: `Ihr seid böse gewesen, ihr müßt nackt herumlaufen.' Nackt zu sein, war also eine Strafe und eine Schande, und die Kinder sollten sich bloß davor hüten, nackt zu sein. Die prüde, fromme Idylle der kleinen Sylvia Fraser hatte nur einen Fehler: Der strenge, religiöse Vater vergewaltigte seine kleine Tochter regelmäßig. Ich frage mich, ob nicht die fromme, prüde, sexualfeindliche Erziehung, die seine Tochter ertragen mußte, sein größeres Verbrechen war. Die Mischung von erzwungenem Sex und Sex-Tabu war aber sicher das katastrophalste, was man dem Kind antun konnte. Wie ekelhaft die Vergewaltigung auch immer gewesen sein mochte, durch die Erziehung kamen noch unnötig, Verstörung und Schuldgefühle hinzu. Die Beziehung zwischen Eltern und Kindern sollte nicht von Tabus, auch nicht von Sex-Tabus, geprägt sein bzw. getrübt werden, aber vor allen Dingen sollte sie gewaltfrei sein.
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Mag die Wiege der Menschen irgendwo in Afrika sein, wir, Inder hatten immer Fantasie und konnten Geschichten erzählen, so wurde Indien zur Wiege von Religion und Zivilisation für die ganze Menschheit. Die Ägypter, die Abessinier, die Juden, die Griechen, selbst die Chinesen und Japaner alle bekamen die Anfänge ihrer Religion und Zivilisation von Indien. Adjuna erinnerte sich, daß schon einmal der Einhodige gelehrt hatte, daß der kultur- und zivilisationfördernde Einfluß der Arier bis nach Japan reichte; aber es war vielleicht nicht so großartig, was die Japaner mit dem Buddhismus und den anderen Legenden und Systemen gemacht hatten, z. B. das Zen geschaffen, ein Abhärtungssystem für Samurais (verbeamtete Kshatriya), sondern wie vernünftig sie trotz solcher religiöser Beeinflussung ihre Gesellschaft organisierten. Auch die Chinesen hatten es besser gemacht als die Inder, bei ihnen waren die Bauern und Landarbeiter keine aussätzigen Unterkastler, sondern geachtete Mitglieder der Gesellschaft noch vor den Händlern und Kaufleuten, so daß es bei ihnen Verbesserungen in der Landwirtschaft gab und gute Erträge, die es bei Sklavenhalterei nicht gegeben hätte. Wo der Terror der Peitschen die Erträge brachte, gab es keinen technischen Fortschritt. Der Grad der Freiheit, den man den Menschen gewährte, bestimmte die Geschwindigkeit des Fortschritts und die Höhe der Zivilisation. Wieder der Geschichtenerzähler: Aber wir sind nicht nur der Anfang, alles, was einen Anfang hat, muß am Ende zu seinem Anfang zurückkehren, wir werden bei der Zerstörung mitwirken. Es wird unsere Bhoomidevi sein, die die Götter bitten wird, sie von den Menschen zu befreien und Krishna wird ein zweites Mal kommen als Kalki, die zehnte Inkarnation Vishnus, und irgendwo wird er wie in der Kurukshetra-Schlacht die Zügel in der Hand halten und mit seinen Einflüsterungen, die Krieger ins Verderben treiben. Adjuna: Vielleicht war er schon einmal wieder inkarniert auf Erden als Einhodiger. 1353
Geschichtenerzähler: Oh nein, Krishna ist immer nur perfekt.
Bald darauf verließ Adjuna den Geschichtenerzähler und machte sich auf eine neue Wanderung. Er wollte ins nördliche Harayana zum Kurukshetra-Schlachtfeld. Er kam auf dieser Wanderung noch einmal an hohen Bergen vorbei, und den höchsten bestieg er. Er bestieg den Berg, wie Zarathustraßes einst getan hatte, als Asche. Doch Zarathustra hatte zwar seine Asche zu Berge getragen, war jedoch als brennender Busch und Brandstifter wieder zu Thale gestürzt. Adjuna verweilte nur einen Moment auf dem Gipfel und schaute herunter: “Ach, wie liebe ich die Menschen! Aber ich mußte erst hier heraufkommen, um das sagen zu können. Von oben gesehen sind sie süß und ihre Spiele so possierlich.” Dann trug er seine Asche wieder herunter. Beim Abstieg verlor sich langsam wieder seine Liebe für die Menschen. Er war nicht lange genug einsam gewesen, um die Menschen mehr zu lieben. Auch fühlte er sich für die Liebe schon zu alt. Adjuna grübelte, was machte ihn diesmal zum Verlierer. Er war doch Arjuna der Siegreiche gewesen. Sein Gegner Karna war doch der Verlierer. Warum hatte er diesmal nicht Götter und Menschen besiegt, und die Welt seiner Wünsche errichtet? Und er erinnerte sich an das, was er von da oben gesehen hatte: Es waren zu viele. Unter in der Ebene angekommen, schlossen sich ihm aber viele an, Gammler, Globetrotter, Schlachtenbummler, Penner, Strolche, Pülcher, Pinscher, Pilger, Hobos, Swamis, Sadhus, Digambaras, Lingambaras, Dingdamdaras. Er war nicht mehr der einzige, der mit einem steifen Schwanz herumlief. Viele erregten sich. Viele liefen erregt angeschwollen und pollutierend herum. Sie alle wollten am Vorabend des Unterganges des Menschengeschlechts zur großen Vision 1354
auf das Kurukshetra-Feld. Einige hofften auch, das Armageddon würde direkt dort vor ihren Augen stattfinden, mit ihnen mittenmang. Sie, als die ersten in die Erlösung. `Om shanti!' singend, `Amen, Friede sei mit Euch!' oder war es `enchanté!' oder `en santé!' oder gar `à la santé!', was sie da sangen? was immer die Cantica, lärmend, tanzend, preisend trieben sie dem Blachfeld zu. Aber es waren natürlich die ordentlichen und uniformierten Leute, die `eins zwei eins zwei' marsch!-marsch!-marschierend den Weltuntergang herbeimarschierten.
Die große Vision: Kurukshetra.
Schlag deinen Bruder tot, denn er fühlt wie du den Schmerz. Schlag auch den Fremden tot, denn eigentlich ist er auch ein Bruder von dir. Was machen wir mit den Schwestern? Das weiß ich nicht. Macht ihnen auf keinen Fall Kinder!
Die Kurukshetra-Schlacht
Es war am Vorabend des Untergangs der großen Kriegerkaste, der Kshatriyas, die der Erde eine unerträgliche Last geworden waren, eine 1355
Todessehnsucht trieb sie wie bei den Lemmingen - unaufhaltsam, unabänderlich. Die Kauravas, die hundert Söhne des blinden Dhritarashtras, wollten den Pandavas, den fünf Söhnen ihres Onkels Pandu, das Königreich, das diese aufgrund eines verlorenen Würfelspiels für dreizehn Jahre hatten verlassen müssen, nicht zurückgeben. Deshalb rüsteten beide Seiten zum Kampf. Elf Akshauhinis, das hieß elfmal 109 350 Infanterie, 65 610 Kavallerie, 21 870 Streitwagen und ebenso viele Elefanten, hatte Duryodhana, der älteste Sohn Dhritarashtras, mobilisiert, viele große Helden und Könige waren auf seiner Seite. Die fünf Pandavas hatten sieben Akshauhinis mobilisiert, außerdem hatte sich ihnen Krishna angeschlossen, allerdings nur unbewaffnet als Arjunas Wagenlenker.
Sanjaya, der Wagenlenker König Dhritarashtras, der in dessen Auftrag ins Lager der Pandavas gefahren war, kam zurück in den Palast der Kauravas in Hastinapura. Vor dem König und den hundert Prinzen erstattete er Bericht: “Yudhishthira besteht darauf, daß man ihm Indrapastra zurückgibt.” “Und wie fühlt er sich mit seinen sieben Akshauhinis gegen unsere elf?” wollte Duryodhana wissen. “Zuversichtlich, daß er gewinnt.” “Wie kommt er denn dazu?” “Krishna ist auf ihrer Seite, und Krishna ist göttlich, Krishna ist unbesiegbar.” “Was für eine kuriose Vorstellung!” “Was ich sagen will: Wenn wir eine Waage hätten und Krishna säße in der einen Schale und das ganze Universum in der anderen, sie würde zu seiner Seite hin ausschlagen, denn er ist der, der das Weltall dreht, der 1356
Herr der Zeit und der Zeiten Ende, der, der die Illusionen schafft, der wir erliegen.” “Selbst wenn Krishna die ganze Menschheit töten würde, es würde mich weder beeindrucken noch berühren”, antwortete Duryodhana.
Auch die Pandavas berieten, was sie tun sollten. Bhima, der Stärkste der Brüder, den man auch den Wolfbäuchigen nannte wegen seiner Gefräßigkeit, meinte: “Wir sind gleichen Blutes wie sie. Laßt uns versuchen, den Frieden zu erhalten.” Lächelnd sprach Krishna: “Es ist lustig, dich zu beobachten. Mal rennst du hin und her wie ein gefangener Panda und brüllst nach Rache und einandermal steckst du deinen Kopf zwischen die Beine, bist wie ein Berg, der gewichtlos geworden ist, wie ein Feuer, das kalt ist, läufst mit zitternden Knien umher und redest wie eine wiederkäuende Kuh.” “Du reißt alte Wunden in mir auf. Nicht aus Feigheit riet ich zum Frieden, sondern ich wollte meinen Cousins noch eine Chance geben.” “Das weiß ich ja, Bhima”, erwiderte Krishna, “doch, laß nie Ärger und Haß deine Sinne verwirren. Lerne zu lächeln selbst im Angesicht einer Katastrophe.” Man einigte sich dann, Krishna zu den Kauravas zu schicken, um noch einmal zu versuchen, den Frieden zu retten. Doch als Draupadi das hörte, sprach sie unter Tränen zu Krishna: “Du weißt, Krishna, wie die Kauravas mich beleidigt haben, sie verdienen kein Mitleid. Ich, die Tochter König Drupadas, geboren vom heiligen Feuer des YajnaAltars, Schwester von Dhrishtadyumna, der dein Freund ist, wurde an diesen Haaren vor die versammelten Könige gezogen, als ich nur mit einem einzigen Stück Stoff bekleidet war, und meine fünf Männer, die die größten und mächtigsten Helden dieser Zeit sein sollen, sahen untätig zu. Oh, Schande über Yudhishthira, Bhima, Arjuna, Nakula 1357
und Sahadeva, die mich in meiner größten Not allein ließen. Nur du, du halfst mir damals. Mit deiner Magie verhülltest du mich vor den Augen der lüsternden Meute. Oh, Dunkelhäutiger, sind wir nicht verwandt? Bist du nicht ein Selbstgeborener wie ich? Bin ich nicht deine Shakti? Wirf das Feuer der Vernichtung auf die Söhne Dhritarashtras. Wenn Yudhishthira, Bhima, Arjuna und die Zwillinge mich nicht rächen wollen, mein alter Vater wird es tun, oder meine Söhne. Dreizehn Jahre lang trug ich meinen Haß; ich finde nicht eher Ruhe, als daß sie alle tot sind. Oh, hilf mir, o Krishna!” “Weine nicht, ich verspreche, daß die Kauravas Frauen bald weinen werden wie du, weil ihre Männer im großen Krieg gefallen sind. Glaub mir, sie sind schon so gut wie tot.” So fuhr Krishna nach Hastinapura. Der weise und ehrbare Vidura begrüßte ihn dort als erstes: “Du kommst zur unrechten Zeit. Duryodhana ist in schlechter Stimmung, gute Ratschläge zu hören.” “In einer edlen Sache zu versagen ist mir immer noch edel genug.” Krishna riet Dhritarashtra und seiner Frau Gandhari zum Frieden mit den Pandavas, aber die beiden alten Leute hatten nicht die Macht, ihre Söhne umzustimmen. Duryodhana plante sogar Krishna gefangenzunehmen, aber sein Vater erfuhr davon und schimpfte: “Du, Narr, du bist wie ein Baby, das schreit, weil es den Mond haben will. Du willst Krishna einsperren; siehst du nicht, daß du genausogut versuchen könntest, den Wind in der Hand zu halten?” Krishna bestieg seinen Wagen, um sich auf den Rückweg zu machen. Er fuhr noch bei Kunti, der Mutter von Yudhishthira, Bhima und Arjuna vorbei. “Sag meinen Söhnen, daß sie sich nicht zu fürchten brauchen. Sag Arjuna, daß, als er geboren wurde, eine Stimme vom Himmel rief:
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Kunti, Kunti, dieser Sohn wird selbst Indra in seiner Herrlichkeit übertreffen.” Dann fuhr Krishna noch bei Karna vorbei und sprach zu ihm: “Du bist der Sohn einer unverheirateten Jungfrau, aber du kennst die Schriften, du weißt, daß ein solcher Sohn den als Vater akzeptieren soll, den seine Mutter heiratet. Kunti ist deine Mutter, und du bist rechtmäßig Pandus ältester Sohn. Komm mit mir und akzeptiere die Pandavas als deine Brüder!” “Als Jungfrau gebar mich meine Mutter Kunti nach ihrer Vereinigung mit Surya, dem Sonnengott, aber sie warf mich als Baby weg, ohne mir meine Samskaras zu geben, obwohl diese vierzig Reinigungsrituale das Recht eines jeden Kshatriyas sind. Der Wagenlenker Adhiratha fand mich, und die Liebe zu mir füllten seiner Frau Radhas Brüste mit Milch. Sie ist meine Mutter, nur sie erkenne ich als Mutter an. Und die Kauravas sind meine Freunde, obwohl ich nur der Sohn eines Wagenlenkers bin, haben sie mir Reichtum und Macht gegeben. Und jetzt, wo sie meine Hilfe brauchen, verlasse ich sie nicht.” Er umarmte Krishna. “Sollten wir die große Schlacht überleben, so sehen wir uns hier wieder, sonst in Indras Heldenhain.” Dann kehrte Krishna traurig zu den Pandavas zurück.
Kunti war verzweifelt, als sie hörte, daß der Krieg unvermeidlich war, und sie ging zu Karna, um ihm zu sagen, wer er sei. Karna tat, als wüßte er von nichts, und stellte sich als Radhas Sohn vor. “Du bist nicht Radhas Sohn und Adhiratha ist nicht dein Vater. Du bist kein Suta, sondern ein Kshatriya. Du warst das erste Leben in meinem Leib. Surya, der Gott, dessen Strahlen alle Dinge sichtbar machen, ist dein Vater. Oh, Sohn, deine Geburt war göttlich, mit 1359
goldenen Ohrringen und einem Harnisch, der wie die Sonne strahlte, kamst du zur Welt. Weil du nicht weißt, wer deine Brüder sind, dienst du Duryodhana, aber es ist ein Unrecht. Folge Dharma und schließe dich deinen Brüdern an.” Selbst Karnas Vater Surya erschien vom Himmel und sprach: “Deine Mutter hat recht, folge ihrem Rat, es wird dir zu Größe gereichen.” Doch Karna antwortete: “Was ihr über das Dharma sagt, ist nicht recht. Die Kauravas respektieren mich, wie die Vasus Indra respektieren, und ich habe ihr Brot gegessen, und mit meiner Hilfe hoffen sie, den Ozean des Krieges sicher zu überqueren. Verließe ich sie jetzt, so wäre das eine Schande, die ich weder in dieser noch in der nächsten Welt abwaschen könnte. Ich bin kein Betrüger. Aber ich verspreche, vier deiner Söhne nicht zu töten, nämlich die, die mir im Kampfe unterlegen sind, also Yudhishthira, Bhima und die Zwillinge. Nur Arjuna werde ich töten und diesen Triumph genießen oder Arjuna wird mich töten, was auch ein glorreiches Ende wäre.” Darauf Kunti: “Das Schicksal ist allmächtig, o Krishna, ein schweres Verhängnis lastet auf den Kauravas, sie sind verdammt, verblendet, verloren und verleitet durch die böse Gier und Bosheit irgendeines schrecklichen Karmas. Oh, großer, feindvernichtender Held, vergiß dein Versprechen nicht, wenn die Missiles auf dem Schlachtfeld um dich schwirren!” Und Kunti wisperte: “Mein Sohn, mögest du gedeih'n!” “So soll es sein.”
Yudhishthira zog mit seinen Soldaten zur Ebene von Kurukshetra; Friedhöfe, Begräbnisstätten, Tempel und andere heilige Orte meidend, um weder Götter noch Geister weder zu vergraulen noch zu vergrätzen.
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Am heiligen Hiranvati schlug man dann das Lager auf, hob einen Graben aus und baute eine Befestigung: Einen Wall von Waffen, hinter Schilden und Brustplatten staken Speere und Lanzen, Äxte und Schwerter, Köcher und Schafte, Hunderte von Elefanten sah man; von einem Stahlmantel geschützt, aus dem scharfe Stachel hervorragten, ähnelten diese wandelnden Berge riesigen Igeln. Und es gab die besonders ausgeklügelten Waffen der großen Helden, deren Kampfwagen Felsen und Gebirgen gleichkamen oder besser Vulkanen und Vulkanketten, denn von den Gipfeln konnten sie brennende Flüssigkeiten in die feindlichen Reihen schleudern und das Schlachtfeld in ein Meer von Feuer verwandeln, andere besaßen Pfeile, in deren Hohlkörper sich Giftschlangen verbargen, oder deren Spitze Skorpionnadeln waren, einige gewaltige Speere wurden von ausströmenden, brennenden Gasen angetrieben, konnten über dem Feind explodieren und einen tödlichen Schauer abregnen. Am Vorabend der Schlacht fiel vom wolkenlosen Himmel das helle Blut, die Götter kotzten, die Elefanten trompeteten, Pferde wieherten, Schakale heulten, Meteore flammten auf, Tote erschienen und verkündeten das Ende der Zeiten. Am nächsten Morgen standen sich die beiden Armeen dann gegenüber, wie zwei gepeitschte Ozeane am Ende einer Yuga. Man einigte sich über die Regeln der Kriegführung: Soldaten sollten nur mit ähnlich bewaffneten Gegnern kämpfen, wenn jemand seine Waffe verlor, niederlegte, oder wenn er floh, so sollte er nicht angegriffen werden, auch nicht, wenn er schon mit jemandem in einen Kampf verwickelt war, oder ein Angriff ihn unvorbereitet getroffen hätte. Soldaten, die um Gnade baten, sich zurückzogen oder entwaffnet wurden, Wagenlenker, Tiere, Versorgungstruppen, Trommler und Bläser, alle sollten ausgespart werden. Nur Methoden, die mit dem Dharma zu vereinbaren waren, sollten benutzt werden. Und an einem jeden Tag sollte der Kampf mit Sonnenuntergang beendet werden.
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Bhishma, den die Kauravas zu ihrem Heerführer gemacht hatten, rief den unter seinem Kommando stehenden Prinzen zu: “Helden, glorreiche Möglichkeiten liegen vor euch, die Tore des Himmels sind weit geöffnet. Ein glückliches Leben mit Indra und Brahma erwartet euch. Folgt dem Kshatriya-Dharma. Ein Kshatriya will nicht im Bett, will nicht durch Krankheit sterben, sondern auf dem Schlachtfeld.” Vyasa sprach zu Dhritarashtra: “Die Zeit für deine Söhne und die kriegerischen Könige ist um. Wenn du sie im Kampfe fallen sehen willst, so verleihe ich dir übernatürliche Sehkraft.” “Oh, Heiliger, wer möchte denn seine Verwandten sterben sehen!”
“Ist es nicht unser Fleisch und Blut, sind es nicht unsere Brüder, die dort drüben angetreten sind? Ich giere nicht nach ihrem Königreich und weder nach Rache noch Ruhm. Dieser Krieg wird die ganze Kaste vernichten. Ist es nicht besser, passiv den Tod zu erdulden, als zu töten und die Welt zu entvölkern?” so klagte Arjuna tief bekümmert und wollte seine Waffen von sich werfen. “Du beklagst die, die kein Beklagen verdienen. Der Weise aber beklagt weder die Lebenden noch die Toten”, entgegnete ihm Krishna: “Auch wenn der Körper vernichtet wird, das unbezwingbare Atman lebt weiter. Daher, steh auf und kämpfe! Wer immer das Atman als Schlächter sieht, und wer immer es erschlagen sieht, weiß nichts über das Atman, denn weder schlägt es, noch wird es erschlagen. Wie eine Schlange sich häutet, der Baum seine Blätter verliert, der Mensch seine Kleider wechselt, so wirft das Atman ein Leben ab und lebt weiter in einem anderen, das neu ist. Gib deinen Kummer auf, Arjuna, er ist unmännlich und steht der himmlischen Erfüllung im Wege!” Aber Arjuna sprach: “Ich sehe nichts Gutes darin, seine Verwandten zu töten.”
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“Sind nicht alle Kriege, Kriege gegen Brüder! Du bist ein Kshatriya, dein Handwerk ist der Krieg, tue deine Pflicht! Tat ist mehr als Untat! Untätigkeit hält nicht einmal den Körper zusammen, weniger noch die Welt. Töte ich nicht handeln, die drei Welten geräten ins Wanken, Werte würden verwässern, Adharma triumphieren, und alle Wesen würden zugrunde gehen. Mein ist der Pfad, dem alles folgt. Und obwohl ich die vier Kasten aufgrund von Guna und Karma schuf, bin ich nicht wirklich ihr Schöpfer, denn ich habe kein Auge für die Früchte meines Schaffens, das ist, weswegen sie mich nicht binden. Handle auch du, Arjuna, aber handle selbstlos! Den Unwissenden, den Respektlosen und den Ungläubigen erwartet Untergang und der Zweifelnde hat keine Freude weder hier noch dort. Schwinge das Schwert der Erkenntnis gegen die Zweifler, Lästerer und Ungläubigen an das Atman! Unsichtbar bin ich gegenwärtig überall und alle Wesen leben in mir, doch ich bin nicht in ihnen. Ich bin der Betrug im Betrüger, die Hinterlist im Hinterlistigen, die Kraft des Kräftigen und die Schwäche des Schwachen, die Tugend des Tugendhaften, aber auch die Krankheit im Kranken, für die Sprache bin ich der Laut, für die Schrift der Buchstabe, unter den Poeten bin ich Vyasa, unter den Asketen Ushana, unter den Kriegern Arjuna, unter den Yadavas Krishna. Weder die lebende noch die unbelebte Natur existiert ohne mich.” “Ich habe von deiner Größe gehört, o Krishna. Wenn du mich für würdig hältst, gib mir Offenbarung. O Tausendarmiger, zeige dich mir in deiner vierarmigen göttlichen Form.” “Sieh, meine göttliche Form, viel-farbig, viel-förmig, wie nie ein menschliches Auge sie je gesehen hat. Sieh das gesamte Universum in mir sich drehen, sieh, was immer du sehen willst!” “Würden tausend Sonnen am Himmel explodieren, es wäre nur ein Bruchteil deiner Pracht, o Krishna. Ich sehe die Götter alle in deinem Körper, Brahma auf der Lotus, ich sehe die Heiligen und die Nagas. Flammen aus deinem Mund brennen die drei Welten. O Krishna, meiner Seele ist der Friede genommen. Bhishma, Drona, Karna, Dhritarashtras hundert Söhne, Könige und Krieger sehe ich in deinem 1363
Mund, zermalmt von deinen Zähnen, viele Helden eilen in deinen Mund, du kaust die Welt, leckst dir die Lippen. Oh, habe Erbarmen!” Krishna antwortete: “Ich bin Kala, der Zerstörer der drei Welten. Selbst wenn du dich weigerst zu kämpfen, keiner dieser Soldaten wird überleben. Sie wurden alle schon von mir getötet, so ist es Zeit, daß sie durch dich sterben. Also kämpfe, der Tag gehört dir! Ist nicht das Universum ein riesiges Zauberrad? Ist nicht Brahma die Narbe? Suche Schutz bei ihm, vertraue dich ihm an, doch hindere nicht den Lauf des Rades, was zermalmt werden muß, wird zermalmt.” Da Arjuna sah, daß der Lauf der Dinge unvermeidlich war, ergab er sich in sein Schicksal, ergriff seinen Bogen Gandiva fester, bereit zum Kampf.
Als sich die mächtigen Heere gegenüberstanden, stieg Yudhishthira von seinem Streitwagen und ging auf die feindlichen Reihen zu, um seinen Lehrer, den altehrwürdigen Bhishma, zu begrüßen. “Du bist mein Guru. Ich begrüße dich. Gib uns die Erlaubnis, gegen dich zu kämpfen, und deinen Segen.” “Ich bin zufrieden mit dir. Du bist wahrhaft mein Shishya. Bitte und ich erfülle dir jeden Wunsch, nur nicht den Sieg. Der Mensch ist der Sklave seiner Habe, doch die Habe gehört niemandem, ist niemandes Sklave. Mein Besitz bindet mich an die Kauravas.” “Du bist mein Guru. Ich weiß, daß du uns gut bist. Wir erwarten nicht, daß du dein Wort, das du den Kauravas gegeben hast, brichst. Doch sage uns, wie man dich im Kampfe besiegen kann, denn wir wissen, daß du unbesiegbar bist.” “Da ist niemand, nicht einmal unter den Göttern, der mich im Kampf besiegen könnte.” 1364
“Dann sage uns, wie man dich töten könnte.” “Es ist nicht möglich, mich zu töten. Die Zeit meines Todes bestimme ich selbst.” Yudhishthira akzeptierte es und ging zu Drona. “Unbesiegbarer Drona, ich begrüße dich.” “Ich begrüße dich, Yudhishthira. Oh, der Mensch ist ein Sklave seiner Habe, doch die Habe ist niemandes Sklave. Bitte mich um alles, nur nicht um den Sieg. Du weißt, ich werde für die Kauravas kämpfen, aber für euren Erfolg werde ich beten.” “So sei dies meine Bitte: Bete für uns, doch kämpfe für unsere Cousins. Und noch eins, o ehrenwerter Guru, sage uns, wie es möglich ist, dich im Kampfe zu besiegen.” “Das ist unmöglich. Solange ich lebe, könnt ihr nicht siegen.” “Wie ist es möglich, dich zu töten.” “Nicht wenn ich kämpfe, kein Lebender hat die Kraft, mich dann zu töten, sondern wenn ich die Waffen niederlege und meditiere, dann tötet mich.” Als nächstes ging Yudhishthira zu Kripa, wiederholte seinen Gruß und erhielt den gleichen Segen, ebenso bei Shalya, dem König von Madras.
Der schreckliche Krieg begann kurz vor der Mittagssonne. Die Erde bebte und brüllte unter arger Bedrängnis. In den Reihen der Pandavas sah man Bhishma wüten wie eine Sichel im Gras, sein Palmyra-Banner schoß durch das Gewühl wie ein Hai durch die Fluten. Elefanten, in die Genitalien geschossen, brüllten vor Schmerz. Man versuchte, ihn aufzuhalten, aber unbeirrt, wie die heiße Sonne alles brennt, zog er seinen Weg. Verzweiflungsschreie ertönten 1365
jedesmal, wenn Bhishma seinen Bogen so spannte, daß er fast einen Kreis bildete, und zwanzig, dreißig, manchmal gar hundert und mehr vergiftete Pfeile auf einmal auf die Erde regnete. “Er zerstört uns wie Feuer trocknes Gras.” “Seid geduldig”, erwiderte Krishna: “Shikhandin ist auf eurer Seite, es ist vorausgesagt, daß Shikhandin Bhishma töten wird und Dhrishtadyumna Drona.”
Ein rücksichtsloser roter Rinnsal begann zu fließen, eine Mischung aus Fleisch und Blut, die Hüllen toter Elefanten seine Felsen, die Herzen der Gefallenen sein Quell, die ausgestochenen Augen sind wie Perlen, sie rollen in der Flut, die Seelen sind ein Hauch, sie streifen über die Wellen, ein Strom zum Ozean der anderen Welt.
Bhishma erschien in einer Vielfältigkeit von Illusionen. Nur seine Geschosse sah man wirklich. Hunderte mutiger Könige stürzten auf Bhishma wie Motten in Flammen. Arjuna konnte dem nicht mehr zusehen. “Fahr mich zu Bhishma”, sprach er. Und Krishna lenkte den Streitwagen mit den weißen Pferden dorthin, wo Bhishma wie eine Sonne im Glanze strahlte. Von einem 1366
Pfeilregen war ihnen die Sicht versperrt, doch Krishna lenkte den Wagen geschickt und wich allen Pfeilen aus. Arjuna schoß Bhishmas Bogen entzwei, schnell nahm er einen anderen, aber auch den schoß er entzwei, immer wieder schoß Arjuna und immer wieder nahm Bhishma neue Bogen. “Wunderbar, höchst wunderbar, es ist großartig mit dir zu kämpfen, Arjuna.” Krishna fuhr in scharfen Kursen, um den Pfeilen auszuweichen, aber es gelang nicht immer, und bald sahen sie beide, Krishna und Arjuna, wie Stachelschweine aus. Unfähig, sich noch länger zu beherrschen, sprang Krishna vom Wagen und brüllte: “Heute tötet meine göttliche Chakra Bhishma!” Um den Zeigefinger seiner rechten Hand wirbelte ein Diskus, die tausendsonnenhelle, rasierklingenscharfe Chakra. Der Erdkreis zitterte, als Krishna losstürmte. Sein Gewand zuckte in der Luft wie silberne Blitze von den Wolken. “Komm, o Gott der Götter, töte mich, was ist nobler als Tod von deiner Hand? Mein Ruhm wird die drei Welten bewegen.” “Du bist schuld am heutigen Geschlachte.” “Schicksal ist es.” In der Zwischenzeit hatte Arjuna Krishna eingeholt und überwältigt. “Beherrsche dich! Hast du deinen Schwur vergessen, nicht zu kämpfen?” Krishna und Arjuna zogen sich zurück.
Die Sonne sank, es wurde Nacht und wieder Tag. Bhima und seine Soldaten besiegten die Elefantendivision der Kauravas. Das Feld gehörte ihm, im Zentrum stand er, wie Shiva, der Schwinger des Dreizacks, auf dem Bestattungsfeuer. Aber Duryodhana befahl den Gegenangriff. Ein Pfeil traf Bhimas Brust und er brach zusammen. Abhimanyu, Arjunas Sohn von Subhadrâ, und Ghatotkacha, Bhimas 1367
Sohn von der Rakshasin Hidimbâ, und viele andere Pandava-Soldaten kamen, um ihn zu retten. Die Kauravas wurden abermals bezwungen. Bhima aber erholte sich schnell wieder.
Es wurde Nacht und die Nacht verging, die Sonne ging auf, vielen zum letzten Mal. Dann wurde es wieder Nacht und blutbedeckt zogen sich die Helden zurück, planten den nächsten Tag, preisten einander Taten und schliefen.
Am siebten Tag zeigte Yudhishthira großes Können auf dem Schlachtfeld. Und als die Sonne wieder hinter den westlichen Hügeln verschwand, floß ein Strom auf dem Schlachtfeld mit Blutwellen. Schakale streiften umher, abscheulich heulende Geister und Rakshasas ergötzten sich an den Leichen. Die Helden ruhten, zogen sich die Pfeile aus ihren Körpern und wuschen ihre Wunden mit Weihwasser. Poeten sangen die Lieder des Sieges, Brahmanen beteten, und einige spielten Instrumente. Niemand sprach vom Krieg.
Am achten Tag kämpfte Duryodhana mit dem Rakshasa Ghatotkacha, aber mußte fliehen. Streitwagen ohne Mannschaft rasten herrenlos umher, und wieder lagen Tausende von Kriegern leblos auf dem Feld, in die Welt Yamas geschickt vom Totenhändler Bhishma. Überall verstreut lagen Tausende von Streitwagen; Streitäxte, zerbrochene Räder, glänzende Rüstungen neben verdrehten Körpern, Köcher, Bögen, Schwerter und edle Häupter mit den Ohrringen der Kshatriya-Kaste, lederne Fingerschützer, Handschuhe, Elefanten und Pferde. 1368
Arjuna versuchte abermals, Bhishma zu besiegen, aber mußte fliehen.
Am Abend sprach Yudhishthira zu Krishna: “Bhishma vernichtet meine Krieger wie ein Elefant Unkraut zertrampelt. Wir rennen gegen ihn wie Insekten gegen eine Wand von Feuer.” “Gehe zu ihm. Bitte ihn um Rat. Er ist dein Guru.” Und die Pandavas gingen mit Krishna zu Bhishams Zelt. Nach der Begrüßung und dem üblichen Austausch von Höflichkeiten sprach Yudhishthira: “Wenn du kämpfst, ist dein Bogen zum vollen Kreis gespannt und dein Glanz so blendend wie die Sonne. Wie können wir dich besiegen?” “Solange ich lebe, könnt ihr nicht siegen. Solange ich meine großen Bögen und die anderen Waffe habe, können selbst die Götter und die Anti-Götter mich nicht besiegen, ja nicht einmal Indra kann mir schaden. Aber wenn ich mich weigere, meine Waffen zu gebrauchen, kann selbst der gemeinste Soldat mich besiegen. Ich kämpfe nicht mit Waffenlosen oder Pferdelosen, nicht mit Streitwagen ohne Banner, nicht mit Feiglingen und Furchtsamen und nicht mit Frauen. Auf eurer Seite kämpft Shikhandin. Shikhandin war eine Frau - Amba - in ihrem früheren Leben. Die Geschichte ihrer Geburt ist euch bekannt. Arjuna soll Shikhandin beim Angriff vor sich halten. Ich benutze meine Waffe nicht gegen eine Frau.” Sie dankten ihm und gingen. Arjuna aber war schockiert vor Scham. “O Krishna, er ist mein Guru. Als Kind spielte ich auf seinem Schoß. Soll ich ihn so hinterhältig töten?” “Was geschrieben steht, wird geschehen. Du bist ein Kshatriya. Tue nur deine Pflicht.” 1369
“So laßt Shikhandin der Grund für Bhishmas Tod sein.”
Der neunte Tag verging mit großem Gemetzel in den Reihen der Pandavas. Aber am zehnten Tag sagte Bhishma zu sich selbst: Ich bin des Tötens müde. Ich habe keinen Wunsch mehr, länger zu leben. Da griff Arjuna mit Shikhandin an. “Schneller, schneller”, trieb Arjuna den wie vor dem Donnergott Zitternden an: “Du bist der einzige, der ihn töten kann.” “Es hat keinen Sinn, daß ich kämpfe”, dachte Bhishma, während die Pfeile in ihn eindrangen: “Krishna hilft Arjuna und ich habe geschworen, Shikhandin nicht zu bekämpfen. Es ist Zeit, daß ich die Gabe nutze, die ich bekam, als mein Vater Satyavati heiratete, die Wahl meines eigenen Todeszeitpunkts.” Und Bhishma sagte lächelnd zu Duhshasana gewandt: “Man kann sehen, das sind Arjunas Pfeile, sie kommen in einer geraden Linie wie ein ununterbrochener Strom und durchschlagen meine stärkste Rüstung.” Keine zwei Finger breit waren auf Bhishmas Körper ungetroffen, als er aus seinem Streitwagen sackte. Er fiel mit dem Kopf in östliche Richtung. Er lag auf einem Bett von Pfeilen, sein Körper wollte nicht den Boden berühren. Die Sonne befand sich noch auf ihrer südlichen Bahn. Vom Himmel hörte man Stimmen: “Bhishma ist tot.” “Nein, ich lebe.”
Ganga, die Mutter Bhishmas, die Tochter des Himalayas, schickte heilige Männer in der Form von Schwänen zu ihrem Sohn. Sie stiegen auf vom See Manasa und erschienen an seinem Bett von Pfeilen und klagten: “Warum sollte dieser große Held sterben zur Zeit der 1370
südlichen Sonnenbahn?" Und als sie in südliche Richtung davon flogen, drehte Bhishma seinen Kopf in ihre Richtung. “Niemals, o Schwäne, werde ich sterben während des südlichen Solstitiums. Mir ist es gegeben, den Zeitpunkt meines Todes selbst zu wählen. Ich werde erst sterben, wenn die Sonne ihre nördlichen Bahnen erreicht hat.” Die Pandavas und Kauravas stellten ihre Kämpfe ein, und eilten zu Bhishma, um ihm die letzte Ehre zu erweisen. “Edle Krieger, göttergleiche Helden, seid willkommen! Ich werde hier auf diesem Bett von Pfeilen ruhen, bis die Sonne sich nach Norden neigt. Aber wenn die Sonne in ihrem siebenpferdigen Streitwagen über den nördlichen Himmel zieht, will ich vom Leben Abschied nehmen wie ein guter Freund vom anderen. Wer dann noch am Leben ist, möge zu mir kommen. Könige, hebt einen Graben um mich aus. Ich möchte allein sein in meiner Anbetung der Sonne.” Und als Ärzte erschienen, sagte er noch: “Ich brauche keine Ärzte. Ich habe das höchste Glück eines Kshatriyas erreicht. So wie ich sollte jeder Kshatriya sterben. Wenn ihr meine Leiche verbrennt, verbrennt sie mit den Pfeilen!” Dann sagte er noch, daß er durstig sei, und man brachte ihm die köstlichsten Getränke, aber die wollte er nicht. “Arjuna, gib du mir zu trinken!” Und Arjuna schoß einen mit Mantras besprochenen Pfeil tief in den Erdboden und Wasser sprudelte hervor. “Genau, was ich wollte.” Das Wasser aber kam von Gangas Brust.
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Der Kampf wurde fortgesetzt. Drona führte jetzt die Armeen der Kauravas zu vernichtenden Angriffen in die Ränge der Pandavas.
Und wieder floß der Fluß von Blut, Gehirn und Kot der Fluten Schaum, Lanzen wie Schwertfische in der Strömung tanzen, die Haare wie Algen sich balgen, nur die Helden gehen hinüber, den grausigen Weg, Keulen wie Krokodile, Pfeile wie Schlangen. Hunderte trägt es zu Yamas Haus.
Und Duryodhana bat Drona: “Fange mir Yudhishthira lebend!” “Das soll geschehen, doch lenkt mir Arjuna ab. Er ist mein Schüler und lernte zu viel von mir, und er trägt Waffen, die ihm von Indra und Rudra gegeben wurden.” Und die Könige der Kauravas spendeten den Brahmanen Gold und schworen mit lauter Stimme, Arjuna zu töten: “Wenn es uns nicht gelingt, Arjuna zu töten, wenn wir in Furcht fliehen, so soll die tiefste Region der Hölle unser sein, dort, wo die Säufer erleiden ihre Pein und der, der seines Gurus Weib verführt, und der, der seine Frau während der Periode berührt, und der, der den Hilfesuchenden abweist, und der, der den Hungrigen nicht speist, und der, der Eunuchen triezt und Kühe striezt, und der, der zur Lüge bereit, die Wahrheit entweiht.” So forderten sie Arjuna zum Kampf. Und Arjuna blies seine gewaltige Muschel, die goldene Devadatta, und er blies so heftig, daß alles erstarrte, die Wolken am Himmel, der Rauch des Feuers, das Laub der 1372
Bäume, die todessehnsüchtigen Helden, und auch die Pferde standen paralysiert mit weitgeöffneten Augen und pißte und kotzten Blut. “Seht euch noch einmal die Welt an, bevor ihr sterbt!” rief Arjuna und wie ein hungriger Löwe verzehrte er die Selbstmordkommandos. Der König von Pragjyotishas, der hehre Bhagadatta, griff mit seinem Riesenelefanten Supratika Bhimasena an. Der Rüssel des Tieres packte Bhimas Streitwagen und schleuderte und zerschmetterte ihn. Bhima flüchtete unter den feindlichen Elefanten und schlug das Tier in seine empfindlichsten Teile, bis es verrückt wurde und wie eine Töpferscheibe tanzte. Als Dasarna mit seinem Elefanten das Biest dann angriff, flüchtete Bhima schnell von unter Bhagadattas Elefanten. Dasarnas Elefant aber wurde von Supratikas Stoßzähnen getötet. Bhagadatta vernichtete alles um sich her. Wie Indra auf Airavata im Kampf gegen die Asuras stand er auf dem Rücken seines Tieres. Großen Schaden richtete er an, und das Geschrei auf Seiten der Pandavas war groß. Arjuna hörte es von dort, wo er eintönig immer neue Kriegerreihen niedermachte. “Den Samsaptakas habe ich genug gegeben. Jetzt muß ich meinen Brüdern zur Hilfe kommen.” Und er kehrte den Selbstmordkommandos den Rücken zu, aber sie riefen ihn zurück. Da drehte er sich noch einmal um und tötete noch ein paar Hundertschaften. Krishna hetzte die Pferde, und Arjunas Kampfwagen jagte auf Bhagadatta zu, der auf seinem hohen Tier thronte wie die Götter auf Meru. Bhagadatta, obwohl von unbezwingbarer Energie, war uralt, er war so alt, daß seine Haut in Lappen von ihm hing, und hätte er die Haut seiner Stirn und seiner Augenbrauen nicht mit einem Seidentuch festgebunden, so hätten sie seine Sicht behindert. Arjuna setzte ihm schwer zu; er aber, obwohl schon verletzt, griff nach seiner Vaishnava-Waffe, hauchte ihr mit Vishnus Mantra Leben ein 1373
und schleuderte sie auf Arjuna, aber Krishna sprang vor und empfing diese alles zerstörende Waffe an seiner Brust, wo sie sich in eine Girlande verwandelte. “Warum tust du das? Hast du nicht geschworen nur mein Wagenlenker zu sein? Wenn schon, dann hilf mir, wenn ich in Not bin, aber nicht, wenn ich auf meinen Füßen stehe.” “Mit dieser Waffe ist es eine besondere Geschichte. Ich gab sie Naraka, dem Erden Sohn, als mein viertes Ich nach tausendjährigem Schlaf erwachte, und machte ihn so unbesiegbar; nicht einmal Indra und Shiva sind immun gegen diese Waffe. Bhagadatta bekam sie von Naraka und jetzt kehrt die Waffe zu mir zurück. Vishnus Mantra kann nur Vishnu nicht töten. Bhagadatta aber ist unbewaffnet und du lebst. Töte ihn schnell, so wie ich den Antigott Naraka tötete!” Zuerst schoß Arjuna einen langen Pfeil zwischen Supratikas Augen. Wie ein Blitz einen Berg zersplittert, wie eine Schlange sich in einen Ameisenhaufen bohrt, so traf Arjunas Pfeil und drang in den Körper des Tieres ein. Das Tier gehorchte nicht mehr, stand wie angewurzelt, fiel. Der nächste Schuß zerschnitt Bhagadattas Seidentuch. Er sah nichts mehr. Dann fühlte er einen mondsichelförmigen Pfeil in seiner Brust das Herz zerschneiden. Der große Mann fiel wie eine alte Buche vom Sturm. Währenddessen hatte Duryodhana die Einkreisung Yudhishthiras Armee befohlen, und zehntausend goldene Banner tragende Könige umkreisten die Pandava-Krieger. Sie hatten geschworen, bis zum Tode zu kämpfen. Ihre mit Sandelpaste eingeschmierten Körper glänzten in der Sonne. Yudhishthira sprach zu Arjunas Sohn Abhimanyu: “Es gibt nur vier Helden, die diesen Kreis sprengen können: Dich, Arjuna, Krishna und Pradyumna. Arjuna kämpft gerade mit Bhagadatta. Helfe du uns!” “Mein Vater lehrte mich in diese Formation einzudringen, aber ich 1374
gehe wissend, daß ich nicht zurückkehre.” “Keine Angst. Schneide einen Pfad und wir folgen dir.” Abhimanyus Pferde galoppierten los. Karnas jüngerer Stiefbruder stellte sich ihm in den Weg, aber ein einflügeliger Pfeil von Abhimanyus Bogen schnitt ihm den Kopf ab. Selbst Karna selbst mußte beim Ansturm des jungen Helden fliehen. Abhimanyu fuhr durch die feindlichen Reihen wie die glorreiche Sonne am Zenit. Aber die Bresche, die er geschlagen hatte, wurde schnell von Jayadratha, dem König der Sindhus, mit seinen Männern geschlossen. Und Abhimanyu war vom Heer der Pandavas abgeschnitten. Aber heldenhaft focht er, die ihn umgebenden feindlichen Helden, und es war nicht einer da, der ihm ebenbürtig war. Selbst wenn sie alle auf einmal auf ihn einstürmten, so wehrte er sie noch mit Leichtigkeit ab. Dem Acharya Drona füllten sich die Augen vor liebevoller Hingabe und Bewunderung mit Tränen. “Hat es je einen Krieger gegeben, der diesem Jungen gleichkäme!” rief er aus, als er selbst im gemeinsamen Angriff mit Ashvatthaman, Kripa, Sakuni, Salya und noch vielen anderen großen Kriegern gegen ihn nichts ausrichten konnte. Rüstungen zerbrachen, Waffen wurden zerschossen, Blut floß, und immer mehr stürzten in panischer Angst davon. Karna ging zu Drona und klagte: “Abhimanyu setzt uns fürchterlich zu. Seine Pfeile zerstören unsere Moral.” “Ja, er weiß zu gut, wie man mit Waffen umgeht. Solange er bewaffnet ist, ist er unbesiegbar. Aber es ist möglich, seine Waffen zu zerstören, die Sehne seines Bogens zu zerschießen und die Zügel seiner Pferde.” Diesen Rat folgend, zerschoß Karna Abhimanyus Bogen und Kritavarman tötete seine Pferde und Kripa schlachtete seine beiden Wagenlenker. Da sprang Abhimanyu nur mit Schwert und Schild bewaffnet zum Angriff, und wenn er sprang, so schoß er durch die
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Lüfte wie Garuda, der König der Vögel. Und unerschrocken kämpfte er wie das Kshatriya-Dharma inkarniert. Ein scharfer Pfeil Dronas, von hinten geschossen, zerbrach das Diamanten verzierte Heft von Abhimanyus Schwert, und Karnas Pfeile durchdrangen seinen Schild; so machten sie ihn verteidigungslos. Er aber sammelte sich einen Streitkolben und stürmte damit auf Dronas Sohn Ashvatthaman, der aber schnell aus seinem Streitwagen sprang, bevor dieser unter der Wucht des Schlages krachend zerbrach. Schon schlägt Duhshasanas Sohn auf Abhimanyu ein, und während der junge Held noch taumelnd sich zu verteidigen sucht, wird er gänzlich übermannt niedergemacht. Ein Freudengeschrei ertönte in den Reihen der Kauravas, und einige tanzten barbarisch um die Leiche des jungen Helden. Aber den Guten rollten die Tränen. “Unsere Leute haben den Ehrenkodes der Kshatriya vergessen; es wird böse mit uns enden.” Selbst die am Himmel kreisenden Geier kreischten empört.
Ein Krieger getötet durch viele Krieger, wie ein Elefant durch viele Jäger. Da lag er auf dem Feld, wie der Mond verschluckt von Rahu zur Zeit der Finsternis, wie ein ausgetrockneter Ozean, wie ein ausgebrannter Wald, wie die Welt am Ende der Zeit.
Und die liebliche Stunde des abendlichen Zwielichts kam. Die Sonne stand tief am westlichen Horizont. Langsam verschwand sie und nahm mit sich den Glanz der Schwerter, Waffen und Schilde, der Ornamente und Diademe.
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Nachdem Arjuna und Krishna die gnädige Göttin des Zwielichts geehrt hatten, kehrten sie zum Lager zurück. “Wo ist mein Sohn Abhimanyu? Ich sehe meinen gazellenäugigen, immer lächelnden Sohn Abhimanyu nicht? Ist er tot? Liegt er auf dem Feld im roten Bad des Blutes wie eine gefallene Sonne? Oh, was wird seine Mutter Subhadra sagen? Was Draupadi?” Krishna tröstete ihn: “Tod kommt zu allen Helden, die nicht vom Schlachtfeld zurückkehren.” Und Vyasa erschien extra. “Du kennst die Natur des Todes”, sprach er: “Es ist nicht recht, daß du über die Toten trauerst wie die Ungelehrten.” Arjuna aber schwor: “Morgen töte ich Jayadratha, den die größte Schuld trifft!” Und er ergriff seinen Bogen Gandiva und zupfte an der Sehne. Das Schwirren erfüllte die Nachtluft. Krishna blies seine Muschel Panchajanya und Arjuna seine Devadatta. Schrecklich erzitterten die vier Ecken der Welt und die oberen und unteren Regionen.
Jayadratha war der Sohn Vriddhakshatras, des großen Königs der Sindhus. Bei seiner Geburt wurde vorausgesagt, daß er einen Heldentod sterben würde, denn einer der größten Krieger aller Zeiten würde ihm den Kopf abschlagen. Alle Lebenden müssen sterben, aber kaum einer, wie weise und mutig auch immer, begrüßt es. Tief bekümmert, murmelte Vriddhakshatra einen Fluch: “Wer immer veranlaßt, daß der Kopf meines Sohnes auf den Boden rollt, dessen Kopf soll augenblicklich zerspringen.” Als Jayadratha das Mannesalter erreichte, wurde er zum König gesalbt, und sein Vater zog sich in den Wald zurück, um in einem Ashram nahe 1377
der Ebene, die das Schlachtfeld der Kurukshetra-Schlacht werden sollte, seinen Lebensabend in religiösen Übungen zu verbringen. Jetzt, wo Jayadratha von Arjunas Schwur hörte, fürchtete er sich sehr und wollte fliehen. Aber Duryodhana versicherte ihm, daß die gesamte Armee morgen nur eine Aufgabe haben werde, nämlich ihn zu schützen, und daß es für Arjuna unmöglich sein werde, auch nur in seine Nähe zu kommen. Drona meinte zu ihm: “Du bist ein Kshatriya. Der Tod sollte keinen Schrecken für dich haben. Kämpfe mutig wie deine Ahnen!” Am nächsten Morgen gab Drona Jayadratha den Befehl zwölf Meilen hinter der eigentlichen Front mit Somadatta, Karna, Ashvatthaman, Shalya, Vrishasena, Kripa und deren Truppen in sichere Stellung zu gehen. Drona ordnete dann den Hauptteil der Armee in der Lotus-Formation an, unterstützt von einer stachelköpfigen Streitmacht. Dahinter erst stand Jayadratha. An der Spitze aber stand Drona in seiner weißen Rüstung auf seinem Kampfwagen. Hoch über ihm wehte sein Banner mit dem Hirschfell und der Opferschale und flößte der KauravasArmee Mut ein. Arjuna griff zuerst Drona an, aber mußte einsehen, daß er unbesiegbar war. “Partha, laß uns keine Zeit verlieren”, sprach Krishna zu Arjuna: “Es hat keinen Sinn einen Brahmanen, der keine Erschöpfung zu kennen scheint, zu bekriegen.” Und sie wichen dem alten Acharya aus und bohrten sich in die feindlichen Reihen. Immer neue Armeen warfen sich ihnen entgegen. Die Bhojas wurden vernichtet, Kritavarma und Sudakshima besiegt. Srutayudha versuchte Arjunas Vorrücken zu verhindern. Ein harter Kampf entstand, in dem Srutayudha seine Pferde verlor. Er schleuderte einen Streitkolben auf Krishna. Einst hatte Srutayudhas Mutter Parnasa durch lange Buße Varuna gnädig gestimmt und um den Segen gebeten, daß ihr Sohn niemals von einem Feind getötet werde. Varuna hatte ihr diesen Streitkolben gegeben und gesagt, daß niemand ihn besiegen noch töten könne, solange er diese 1378
Waffe habe, doch dürfe er sie nie gegen einen Wehrlosen benutzen, da sie dann zurückschnellt und den Schwinger der Waffe tötet. So starb Srutayudha. Als nächstes stellte sich der König von Kamboja mit seiner Streitmacht Arjuna in den Weg und kämpfte einen harten Kampf, bis er und seine Leute ausgestreckt am Boden lagen und zu den Toten zählten. Dann griffen Srutayu und sein Bruder Asrutayu von beiden Seiten an. Für einen Moment war Arjuna von Schlägen, die ihn hart trafen, benommen, aber Krishna ermunterte ihn wieder, und er tötete die zwei Brüder und deren Söhne. Noch einmal wurden sie angegriffen, diesmal von Duryodhana, der aufgrund seiner Klagen von Drona dessen bezauberte Rüstung erhalten hatte, die ihn schützen sollte, aber Arjuna schoß auf alles, was aus dieser Rüstung hervorragte, bis Duryodhana es vor Schmerz nicht mehr aushalten konnte und zu Fuß floh, denn alles, Pferde und Gefolge, war schon tot, getötet von Arjuna wie nebenbei. Dann endlich erreichten sie Jayadrathas Armee. Krishna blies seine Muschel und alle Krieger um den Sindhu-König erzitterten, denn sie hatten nicht erwartet, daß Arjuna bis zu ihnen durchkommen würde, und sofort machten sie ihre Streitwagen fertig; Bhurisravas, Chala, Karna, Vrishasena, Kripa, Salya, Ashavatthaman und Jayadratha.
In der Zwischenzeit kämpfte Yudhishthira erfolgreich gegen die Hauptstreitmacht der Kauravas. Satyaki setzte Drona schwer zu, hundertundeinen Bogen zerschoß er dem alten Acharya, ohne daß der auch nur einen Pfeil abschießen konnte, doch dann mußte Satyaki vor Erschöpfung dem Nie-Erschöpften weichen. Yudhishthira, in großer Angst um Arjuna, da er nur Krishnas Muschelhorn hörte, aber bat Satyaki, sich, obwohl abgemerkelt, bis Arjuna und Krishna durchzuschlagen, doch der schon Erschöpfte konnte nur langsam 1379
durch die feindlichen Reihen vorrücken. Und als Yudhishthira lange Zeit nichts vom ihm hörte, schickte er Bhima hinterher. Und wie ein Löwe weniger noble Tiere verjagt, so richtete Bhima unter den Feinden Verwirrung an. Als er an Drona vorbei wollte, schrie Drona: “Halt, hier bin ich, dein Feind! Erst mußt du mich besiegen, bevor du weiterkannst. Dein Bruder Arjuna ging mit meiner Erlaubnis, aber dich lasse ich nicht durch.” “Was? Brahmane! Mein Bruder ging mit deiner Erlaubnis? Ich will dir sagen, er brach deinen Widerstand und nur aus Mitleid hat er dich nicht getötet. Aber ich kenne eine solche Rücksicht nicht.” Und brüllend wie ein Löwe stürzte Bhimasena mit seiner Keule auf Drona und zerschlug seinen Streitwagen. Vor Bhimas Schlägen flüchtend, sprang Drona in einen neuen Wagen, den Bhima auch zerschlug. Acht Wagen verlor Drona insgesamt und viele seiner besten Männer - durch Bhima. Bhima stürmte weiter in die Nähe von Arjuna, mit dem er sich vereinigen wollte. Da erschien Karna. Bhima hatte keinen Wunsch mit ihm zu kämpfen, sondern wollte nur zu seinem Bruder, doch Karna versperrte ihm den Weg und forderte ihn mit Pfeilen heraus. Ein schrecklicher Kampf begann. Der Unterschied zwischen diesen beiden Helden war augenfällig. Da der gut aussehende, lotusgesichtige Karna, der ein strahlendes Lächeln wie die Sonne selbst zeigte, als er angriff und rief: “Dreh mir nicht den Rücken zu! Du bist doch kein Feigling!” Hier der vor Wut schäumende Bhima, jede Bewegung war brutal und voller Kraft. Bhima, der zornig Rasende, schleuderte seine Sperre in Karnas Richtung, aber der wich mit eleganten Hüft- und Kopfbewegungen aus, und immer noch lächelnd schoß er gut gezielte Pfeile zurück. Während Karna alles mit Leichtigkeit zu machen schien, stürmte Bhima schnaufend und pustend durch den Pfeilregen wie ein brünstiger Bulle durch die geschlossene Stalltür oder ein Keiler durchs Unterholz. Er beachtete die Pfeile nicht, die ihm Wunden schnitten. Und bald sickerte das Blut an allen Stellen aus seinem Körper und er sah aus wie 1380
ein Asoka-Baum in Blüte, aber es war ihm egal, sein Leben selbst galt ihm nichts mehr, nur Rache nehmen wollte er, denn er konnte die Verletzungen und Beleidigungen, die er, seine Brüder und Draupadi erlitten hatten, nicht vergessen. Bhima zertrümmerte Karnas Streitwagen, so daß er, übers Feld gehetzt, um sein Leben zu einem neuen Wagen laufen mußte, und auch den rammte und zerfetzte Bhima. Immer mehr kam Karna in Bedrängnis, das Lächeln war ihm schon längst vergangen. Als Duryodhana Karnas Bedrängnis sah, schickte er seinen Bruder Durjaya zu Hilfe, aber Bhima tötete ihn wie nebenbei, seine andere Hand zerschlug mit der Keule Karnas neuen Wagen. Und wieder stand Karna ohne Wagen da. Duryodhanas Bruder Durmukha kam mit seinem Wagen zur Rettung. Während Karna noch in den Wagen kletterte, trafen neun Pfeile Durmukha, und Karna mußte mit ansehen, wie auch dieser Bruder Duryodhanas in seinem eigenen Blut verendete. Vor Trauer gelähmt stand Karna. Fünf weitere Söhne Dhritarashtras, nämlich Durmarsha, Dussaha, Durmata, Durdhara und Jaya, kamen um dem bedrängten Helden zu helfen. Zuerst beachtete Bhima sie nicht, aber als sie zu lästig wurden, tötete er sie. Duryodhana schickte dann seine sieben Brüder Chitra, Upachitra, Chitraksha, Charuchitra, Sarasana, Chitrayudha und Chitravarman Karna zu Hilfe. Sie kämpften mutig und mit großer Geschicklichkeit, aber fielen einer nach dem anderen. Tränen überströmten Karnas Gesicht, als er sah, daß sich so viele Söhne Dhritarashtras seinetwegen geopfert hatten, und er bestieg einen neuen Kampfwagen mit frischen Pferden und begann mit aller Zähheit einen neuen Kampf. Wie Gewitterwolken stießen die beiden Gegner zusammen, und eines der wunderbarsten Zweikämpfe der Geschichte wurde ausgetragen. 1381
Die Helden beider Seiten, Krishna, Arjuna und Satyaki von den Pandavas und Burisravas, Kripacharya, Ashvatthaman, Salya, Jayadratha und viele andere von der Kauravas Seite, unterbrachen ihre Kämpfe und sahen bewundernd den beiden gewandten Kämpfern zu. Für beider Können hatte man Jubel und Ausrufe der Bewunderung. Duryodhana aber fürchtete, daß Bhima Karna töten würde, und schickte noch einmal sieben Brüder. Einer nach dem anderen fiel, von Bhimas Pfeilen getroffen. Vikarna, der als letztes fiel, war am beliebtesten von allen. Als Bhima auch diesen mutigen Krieger tot umfallen sah, rief er tief bewegt aus: “Vikarna! Du warst gerecht und wußtest, was Dharma war. Aber ich mußte selbst dich töten. Dieser Krieg lastet wie ein Fluch auf uns.” Karna schloß die Augen, angesichts der vielen Toten. Als er die Schlacht wiederaufnahm, glühte sein Gesicht von wildem Haß, wütender selbst als Bhimas. Bhima verlor seine Wagenlenker und Pferde, und der nun unbewegliche Wagen war auch bald zerbrochen. Einen letzten Speer warf Bhima auf Karna, der im geschützten Wagen stand und ihn abwehrte, dann stürmte er mit Schwert und Schild los, aber schnell hackten Karnas Pfeile Schwert und Schild in Stücke. Die Stücke warf Bhima Karna entgegen und zerbrach damit sogar noch einen Bogen. Dann, hinter den Leichnamen von Elefanten Deckung nehmend, setzte Bhima den Kampf fort. Alles, was er fand, schleuderte er Karna zu, nicht nur Hartes und Gefährliches wie zerbrochene Waffen, Wagenräder, Deichseln, Fahnenstangen und Steine, sondern auch Leichen, abgehackte Glieder, Pferdekadaver, je selbst Elefantenköpfe, und Karna mußte nun neben Pfeileschießen auch den Wagen immer wieder ausräumen, damit er nicht unter der Last zusammenbrach. Trotzdem hätte Bhima wohl diesen Kampf nicht mehr lange durchgestanden, wenn nicht Karna sich an das Versprechen, das er Kunti gegeben hatte, erinnert hätte, nämlich nur einen ihrer Söhne zu töten, und dieser eine sollte Arjuna sein.
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Endlich brach auch Satyaki durch die Reihen und erschien bei der Schutzarmee von Jayadratha, zu der auch Bhurisravas, der Sohn Somadattas, gehörte. Es bestand eine alte Familienfehde zwischen den beiden. Denn einst, als Devaki, die gesegnete Mutter Krishnas, noch ein junges Mädchen war, hielten viele junge Prinzen um ihre Hand an, und auch Somadatta und Sini fochten ihretwegen einen Kampf aus. Sini gewann und nahm Devaki in seinem Wagen mit sich. Und seitdem sind die beiden Klans, Sinis Klan und Somadattas Klan, miteinander befeindet. Satyaki war Sinis Enkelsohn, Bhurisravas Somadattas Sohn. Da sie sich auf entgegengesetzten Seiten der Kurukshetra-Schlacht befanden, war es nur natürlich, daß Bhurisravas, sofort als er Satyaki sah, den jüngeren Krieger herausforderte. “O Satyaki, lang habe ich dich gesucht. Wie Indrajit Dasarathas Sohn Lakshmana vernichtete, so wirst du heute sterben und ins Totenreich gehen, zur Freude, höchsten Herzensfreude, manch einer durch dich ihres Mannes beraubten Witwe.” “Zeige deine Tapferkeit im Kampf und töne nicht wie leere Donner in Herbstwolken!” Und ein schrecklicher Kampf entbrannte, in dem beide etwa gleiche Geschicklichkeit zeigten. Sie beraubten sich zuerst ihrer Pferde, dann ihrer Kampfwagen und ihrer Bögen, dann zerhackten sie sich ihre Schilde und zerbrachen ihre Schwerter, und mit bloßen Händen packten sie sich zum Kampf um Leben und Tod. Arjuna konzentrierte sich auf jede Bewegung Jayadrathas und beachtete diesen Kampf zwischen Satyaki und Somadattas Sohn nicht, aber Krishna bangte um Satyaki: “Satyaki ist erschöpft. Bhurisravas wird ihn töten.” Aber Arjuna beachtete es nicht.
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“Satyaki kam nach anstrengender Schlacht hierher und war gezwungen Bhurisravas Herausforderung anzunehmen. Ein unfairer Zweikampf. Wenn wir ihm nicht helfen, wird Bhurisravas ihn umbringen.” Gerade als Krishna das sagte, stemmte Bhurisravas Satyaki hoch und schmetterte ihn krachend auf den Boden. Die Kauravas-Armee jubelte: “Satyaki ist tot!” Krishna drängte weiter: “Satyaki ist fast tot. Jemand, der kam, um dir zu helfen, wird vor deinen Augen getötet, und du tust nichts.” Arjuna befand sich in einem großen Gewissenskonflikt. “Weder habe ich Bhurisravas, noch er mich herausgefordert. Wie kann ich meine Pfeile zu ihm schicken, wo er gerade im Kampf mit einem anderen verwickelt ist? Ich schrecke davor zurück.” Schmerzhaft schielte er zu den beiden hinüber, während er sich gegen Jayadratha verteidigte. Bhurisravas hatte einen Fuß auf den ausgestreckten Körper Satyakis gestellt und mit einem vom Boden aufgelesenen Schwert holte er aus, um den Ohnmächtigen zu erschlagen. Da schoß Arjuna mit der Geschwindigkeit des Lichts einen Pfeil und im nächsten Augenblick fiel der Arm mit dem Schwert zu Boden. Verwundert drehte sich Bhurisravas um. “O Sohn Kuntis. Das hätte ich nicht von dir erwartet. Es geziemt einem Krieger nicht, in dieser Art feige von hinten zu schießen. Wie willst du diese unritterliche Tat deinem Bruder Dharmaputra erklären? Oh, wer hat dich diesen Trick gelehrt? Hast du es von deinem Vater Indra oder von deinen Gurus Drona und Kripa? Welcher ritterliche Ehrenkodex erlaubt diese Tat? Kein Mensch von adligem Blute hätte so unehrenhaft gehandelt. Du hast leichtsinnig deine Ehre beschmiert. Aber ich sehe, es war dein Umgang, die schlechte Gesellschaft mit dem verachtungswürdigen Krishna.” So klagte Bhurisravas, dem der rechte Arm abgeschossen war, Arjuna und Krishna an. “O Bhurisravas, du bist alt und das Alter scheint deine Urteilsfähigkeit geschmälert zu haben. Du beschuldigst uns grundlos. Sollte ich mit ansehen, wie ein Freund, der mir wertvoll wie eine rechte Hand war 1384
und sein Leben für mich im Kampf riskierte, ermordet wird, wenn er hilflos auf dem Boden liegt. Die Hölle hätte ich verdient, wenn ich da nicht eingegriffen hätte. Wo ist der ritterliche Ehrenkode, der sagt, daß man sein Schwert erheben soll, um einen Ohnmächtigen und Hilfslosen zu erschlagen? - Ich erinnere mich auch, wie du vor Freude gebrüllt hast, als man meinen Jungen Abhimanyu, der schwankend und erschöpft, seiner Waffen beraubt, mit aufgerissenem Brustharnisch auf dem Schlachtfeld umzingelt stand, erschlug. Wo ist deine Ehre, Bhurisravas?” Bhurisravas antwortete nicht; mit der linken Hand schüttete er seinen Köcher aus und auf die Pfeile setzte er sich in Meditation. Arjuna aber sprach weiter: “Mutige Helden, die ihr seid und Freunden treue Freunde, ein jeder von euch, ihr werdet mich verstehen. Ich habe geschworen, jeden Freund in Bogenschußnähe zu beschützen. Ich kann keinem Feind erlauben, einen meiner Freunde zu töten. Das ist ein heiliges Gelübde.” Und zu Bhurisravas gewandt: “O Edelster unter den mutigen Helden, du selbst hast viele beschützt, die deine Freunde waren. Du weißt, was uns auch passiert, es sind unsere eigenen Irrtümer. Es ist ungerecht, mich anzuklagen. Wenn schon, dann laß uns die Gewalttätigkeit, die das Kshatriya-Leben regiert, beklagen!” Und Bhurisravas senkte sein Haupt traurig in Zustimmung. Satyaki aber, wieder bei Bewußtsein, sprang auf, riß das Schwert, das Bhurisravas vormals schwang, an sich und schlug dem in Yoga auf seinen Pfeilen Sitzenden den Kopf ab, während alles um ihn in Horror schrie. Weder Krishna noch Arjuna konnten es verhindern. Die Götter und die Siddhas murmelten Bhurisravas “Willkommen” zu. Jeder verdammte Satyaki. Doch der behauptete, es sei ein Feind der Familie gewesen, der ihn töten wollte, und in welcher Haltung er auch immer sei, er habe das Recht, ihn zu töten. Gegen Haß und Zorn sind Ehrenkode und Dharma machtlos.
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Die Sonne begann zu sinken. “Die Stunde der Entscheidung ist gekommen, o Karna”, sprach Duryodhana: “Wenn Jayadratha bis zum Einbruch der Nacht nicht getötet ist, hat Arjuna sein Gesicht verloren und wird sich selbst töten. Und mit dem Tod Arjunas ist der Untergang der Pandavas sicher und die ganze Welt wird unser und wir werden die absolute Macht haben. Arjuna schwor etwas Unmögliches im Augenblick größter Gedankenlosigkeit, denn die Götter wollten seinen Untergang. Es ist nicht mehr lange bis Sonnenuntergang. Laßt uns alles tun, um Jayadratha bis dahin zu schützen.” Der Kampf tobte weiter. Arjuna tat alles, um zu Jayadratha durchzukommen, aber viele große Krieger beschützten ihn, viele fielen. Arjuna, Savyasachin, der er war, benutzte mal die eine Hand, mal die andere Hand zum Schießen. Beide säten Horror und Schrecken. Sowohl die Kauravas als auch die Arjuna sahen immer wieder westwärts, denn der Tag ging zur Neige. “O Krishna, die Sonne verschwindet bald hinter den Asta-Hügeln.” Krishna, der sah, daß Arjuna nicht recht voran kam, sprach: “Ich werde meine magische Yogakraft benutzen und Dunkelheit über die Sonne ausbreiten. Jayadratha wird sich dann in Sicherheit wiegen und herauskommen. Töte ihn dann, wenn er nicht auf der Hut ist!” “Gut.” Und Krishnas Yoga verdunkelte die Sonne. Erleichtert blickten die Kauravas dem letzten verschwindenden Sonnenstrahl nach, auch Jayadratha. “Er sieht in die dunkle Sonne. Schieß ihm den Kopf ab! Aber paß auf, daß er nicht auf den Boden fällt, denn, wer das verursacht, dem wird der Kopf in hundert Stücke zerspringen.” Arjuna nahm einen mit Mantras beseelten Pfeil, den er lange mit Parfüm und Blumen verehrt hatte, und schoß. Der Pfeil schnitt 1386
Jayadrathas Kopf mit solcher Leichtigkeit ab, wie ein Habicht einen Spatzen vom Ast wegträgt. Schnell schoß Arjuna Pfeile hinterher, so daß der Kopf durch die Luft segelte und schließlich in dem Schoß des Königs Vriddhakshatra, Jayadrathas Vater, landete. Der Alte saß in seiner abendlichen Meditation vor seinem Ashram. Als er aufstand, rollte der Kopf auf den Boden. Augenblicklich zerbarst Vriddhakshatras Kopf. Vater und Sohn gingen zusammen in das himmlische Reich für mutige Krieger ein. Arjuna blies triumphierend sein Muschelhorn. Als Yudhishthira es hörte, klopfte sein Herz höher, und mit größerem Optimismus führte er seine Leute gegen Dronas Armee. Die Nacht war schon hereingebrochen, aber an diesem vierzehnten Tag der Schlacht wurde der Kampf mit Sonnenuntergang nicht eingestellt. Wie Leidenschaft und Zorn zunahmen, so nahmen Regeln und Rücksichtnahmen ab.
Die Nacht aber war die Zeit der Dämonen, und Ghatotkacha, Bhimas Sohn von seiner Asura-Frau, wütete mit seiner Armee der Anti-Götter so heftig gegen die Kauravas, daß Tausende und Zehntausende in Minuten ihre Opfer wurden. “O Karna, töte diesen Dämon sofort, oder die Armee überlebt bis zum Morgen nicht mehr!” bat Duryodhana. Und Karna nahm die Lanze, die Indra ihm einst gegeben hatte, weil dieser Gott der Götter sich beschämt gefühlt gehabt hatte, als Karna ihm die göttlichen Waffen und Ohrringe, mit denen er geboren worden war, geschenkt gehabt hatte. Aber es war immer noch ein schlechter Tausch für Karna gewesen, denn die Waffe wirkte nur einmal tödlich, das eine Mal aber todsicher. Deshalb hatte er sie immer für den unvermeidlichen Kampf mit Arjuna aufbewahrt. Aber in dieser gespenstischen Nacht, übermüdet und unmittelbar bedroht, schleuderte er sie auf den Giganten. So fiel Bhimas Sohn Ghatotkacha. 1387
Die Blutschlacht tobte weiter. Immer mehr schlossen die Augen vor Müdigkeit und Erschöpfung. Es war Mitternacht, als Arjuna rief: “Ihr alle, die ihr müde seid, legt euch schlafen! Doch wenn der Mond aufgeht, laßt uns weiterkämpfen.” Und beide Armeen schliefen, schliefen auf Pferderücken, an den Hälsen der Elefanten und auf dem Boden. Sie schliefen geharnischt, das Schwert in der Hand. Sie schliefen erschöpft wie der Liebhaber am Busen einer wunderbaren Frau. Der Lord der Lilien, der silbergraue Mond, entstieg der Unterwelt und überflutete das Feld mit silbrigem Hauch. Zarter Nebel wallte über die Ebene. Und das Heer der Helden erhob sich Welle für Welle. Der Kampf wurde weitergekämpft. Krieger, die die Welt zerstören, in der Hoffnung auf den Himmel.
Drona wütete wieder mit Schrecken in den Reihen der Pandavas. “Solange er seine Waffen nicht zur Seite legt, ist er unbesiegbar”, sagte Krishna zu den Pandavas: “Vergeßt Dharma und die strengen Regeln des Krieges. Wenn er zum Beispiel hört, daß sein Sohn Ashvatthaman erschlagen wurde, so wird er sich weigern weiterzukämpfen. Also laßt jemanden ausrufen, daß Ashvatthaman gefallen ist.” Arjuna und seine Brüder waren von diesem Vorschlag schockiert. Aber schließlich nach langem Zögern sagte Yudhishthira: “Ich werde diese Sünde auf mich nehmen.” Ist es nicht befremdend? Aber als der Ozean am Anbeginn der Welt umgerührt wurde und das tödliche Gift hervortrat, um die Götter zu vernichten, kam da nicht Rudra und trank es? Nahm Rama nicht, um einem Freund zu helfen, die Sünde eines Meuchelmordes auf sich? Und so trat Yudhishthira hervor und entschied die Schande auf sich zu nehmen, als es keinen anderen Weg gab.
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Bhima erschlug mit seinem eisernen Streitkolben einen riesigen Elefanten, dessen Name Ashvatthaman war, und mit all der Macht seiner Stimme rief er: “Ich habe Ashvatthaman getötet!” Und im Moment stand Drona kraftlos da, aber er vermutete eine Lüge, da er seines Sohnes Größe kannte, und schlug weiter auf die Feinde ein. Aber während er noch kämpfte, erschienen über dem Schlachtfeld die Heiligen Vishvamitra, Jamadagni, Bharadvaja, Gautama, Vasishtha, Kashyapa und Atri zusammen mit allen Abkömmlingen Brighus und Angiras, um Drona in Brahmas Reich zu holen, und sie sprachen: “Schäme dich, du, ein Brahmane, und kämpfen! Leg deine Waffen zur Seite. Denk an die Vedas, folge der Wahrheit, kehre zur Ewigkeit zurück. Die Zeit deines Lebens auf Erden ist um.” Tief bekümmert um das Schicksal seines Sohnes wandte sich der Acharya an Dharmaputra, sicher in der Annahme, daß Dharmaputra nicht die Unwahrheit sagen würde, nicht einmal für die Herrschaft über die drei Welten. Als Drona so fragte: “Yudhishthira, ist es wahr, daß mein Sohn tot ist?” fürchtete Krishna, daß Yudhishthira jetzt doch nicht lügen könnte, und flüsterte ihm zu: “Wenn Drona noch einen halben Tag überlebt, sind die Pandavas vernichtet, denn Dronas BrahmastraWaffen sind von unüberkommbarer Potenz. Eine Lüge, um sein Leben zu retten, ist keine Lüge. Lügen gegenüber einer Frau, in der Ehe, um eine Kuh zu retten oder eine Brahmanen, sind keine Lügen. Lüge und rette dich und deine Brüder!” “Er wird dir glauben”, sprach Bhima, “obwohl er mir nicht geglaubt hat. Die drei Welten wissen, daß du ehrlich bist.” Da rief Yudhishthira: “Ashvatthaman ist tot”, und fügte flüsternd hinzu: “der Elefant.” Bisher war Yudhishthira über der Welt mit ihrer Unwahrheit erhaben gewesen, aber jetzt war er ein Stück Erde geworden, irdisch wie jeder von uns. Auch er wollte den Sieg und war dafür zur Lüge bereit, so 1389
befand er sich jetzt auf gemeinsamer Straße mit dem Rest der Menschheit. Als Drona auch von Yudhishthira hörte, daß sein viel geliebter Sohn tot sei, verlor er, wie Krishna vorausgesagt hatte, jegliches Interesse am Kampf und jegliche Bindung zum Leben, ein jegliches Bedürfnis erkaltete in ihm, als wäre es nie vorhanden gewesen. Bhima näherte sich ihm mit harten Worten: “Brahmane, du hast die dir zugedachte Aufgabe deines Lebens verlassen und des Kshatriyas Handwerk der Waffen angenommen, so hast du vielen mutigen Königen, Prinzen und Kriegern den Tod gebracht. Wärest du nicht von dem Weg der Pflichten, der dir durch deine Geburt zugedacht war, abgewichen, wären diese edlen Helden noch am Leben. Ihr Brahmanen lehrt uns, daß Gewaltlosigkeit das höchste Dharma sei, und daß die Brahmanen die Schützer und Pfleger dieses Dharmas seien. Und doch hast du die Weisheit, die dir gehörte von Geburt, verraten und verachtet und schamlos das Mordhandwerk ergriffen. Es ist dein und unser Unglück gewesen, daß du dich zu solcher Sünde hast herabgelassen.” Aber Drona hatte schon jeden Lebenswillen verloren. Er warf seine Waffen weg und setzte sich in Yoga auf den Boden seines Wagens und fiel in Trance. Er meditierte über Brahma, Wahrheit und Om. Ein transzendenter Schein stieg von seinem Körper auf gen Himmel. Nur fünf sahen Mahatma Drona die Welt der Sterblichen verlassen, nämlich: Sanjaya, Arjuna, Krishna, Yudhishthira und Ashvatthaman. Die anderen dachten, er wäre immer noch in Meditation versunken. Dhrishtadymna kletterte mit gezogenem Schwert in Dronas Kampfwagen und schlug dem vorgebeugt Sitzenden mit einem Hieb den Kopf ab.
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“Oh nein!” schrie Arjuna, aber Dhrishtadyumna hörte nicht. Nachdem er Drona getötet hatte, schleuderte er den blutenden Kopf am weißen Haar triumphierend den Kauravas entgegen, die vor Furcht erzitterten. So starb der fünfundachtzigjährige Drona, der auf dem Schlachtfeld mehr Kraft und Energie gezeigt hatte als ein Sechszehnjähriger, von der Hand Dhrishtadymnas, wie vorausgesagt.
Und hier ist seine Geschichte: Drona, der Sohn des Brahmanen Bharadwaja, hatte als Kind eine Freund, Drupada, der der Sohn des Königs von Panchala war. Gemeinsam studierten sie die Vedas und Vedantas in der Einsiedelei von Dronas Vater. So intime Freunde waren sie, daß Drupada öfters sagte, er werde, wenn er König sei, Drona die Hälfte des Reiches abgeben. Später, als Drona mit Kripas Schwester verheiratet war und einen Sohn, Ashvatthaman, bekam, begehrte er für beide Wohlstand, etwas, was ihm vorher gleichgültig gewesen war. Zuerst ging er zu Parasurama, denn er hatte gehört, daß der seinen Reichtum an Brahmanen verschenke, aber er kam zu spät, Parasurama hatte schon alles verschenkt und wollte sich in die Wälder zurückziehen. Doch besorgt, nichts für Drona tun zu können, bot er ihm an, ihn im Gebrauch der Waffen zu unterrichten. Drona war einverstanden und wurde so ein unvergleichlicher Meister der Militärkunst, wert in dieser kriegerischen Zeit als Lehrer von Prinzen an jedem Hofe herzlich willkommen geheißen zu sein. In der Zwischenzeit hatte Drupada nach dem Tode seines Vaters den Thron von Panchala bestiegen. Drona, der sich an die Freundschaft ihrer Jugend erinnerte, ging zu ihm. Am Hofe stellte er sich als einen alten Freund vor; doch Drupada hatte sich sehr verändert, machttrunken tönte er: “O Brahmane, wie kannst du dich meinen Freund nennen? Wie kann Freundschaft existieren zwischen einem gekrönten Haupt und einem umherwandernden Bettler? Was für ein Narr mußt du sein, daß du glaubst wegen einer längst vergangenen 1391
Bekanntschaft, dich Freund eines Königs nennen zu können! Wie kann der Arme der Freund eines Reichen sein, wie ein dummer Bauernlümmel der eines Gelehrten, wie ein Feigling der eines Helden? Ein vagabundierender Bettler kann nicht der Freund eines Herrschers sein. Nein, nein, das geht nicht.” und so wurde Drona aus dem Palast gejagt. Als nächstes ging er nach Hastinapura, wo er dann der Lehrer der Pandavas und Kauravas wurde; und als sie die Kunst der Waffen gemeistert hatten, schickte er sie in den Krieg gegen Panchala mit der Aufgabe, Drupada im Kampfe zu besiegen und gefangen zu nehmen. Als Drupada nun gefangen vor ihm stand, sprach er lächelnd: “Großer König, fürchte nicht um dein Leben. Als Jungen waren wir Freunde, aber du hast es vergessen und mich entehrt. Du sagtest, nur ein König könne der Freund eines Königs sein. Nun sieh, ich bin ein König, denn ich habe dein Königreich erobert, und trotzdem suche ich Freundschaft mit dir. Ich werde dir die Hälfte des Reiches geben, denn du glaubtest ja, daß Freundschaft nur unter Gleichen möglich sei. Wir werden also gleich sein.” Und Drona setzte Drupada frei und ehrte ihn als Freund. Aber Drupadas Stolz war schwer verletzt. Da Haß nie verlöscht und nur wenige Dinge schwerer zu ertragen sind als verletzte Eitelkeit, bekam der Haß auf Drona und der Wunsch nach Rache das herrschende Motiv in Drupadas Leben, und er führte viele Tapas durch, fastete und opferte den Göttern, um sie gnädig zu stimmen, so daß sie ihm einen Sohn schenkten, der Drona töten würde. So wurde Dhrishtadyumna geboren.
Drona lag jetzt erschlagen, angesichts dessen klagte Arjuna: “O Yudhishthira, es ist deine Schuld. Du hast gelogen um des Sieges willen. Die drei Welten werden von deiner heimtückischen Tat sprechen, wie sie von Ramas Meuchelmord an Vali sprechen. Und ich, ich habe es nicht verhindert, die Schande fällt auch auf mich.”
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Niemand sagte etwas darauf, nur Bhima: “Bah, du plapperst wie ein Eunuch. Wir sind Kshatriya, wir müssen siegen. Vergebung paßt den Göttern, Brahmanen und Gurus. Wir sind Kshatriya, und wir haben eine andere Pflicht.” Dhrishtadyumna fügte hinzu: “Hast du vergessen, was sie Draupadi antaten? Sechs Pflichten hat ein Brahmane: das Durchführen von Ritualen, zu lehren, Wohltätigkeit zu üben, Geschenke anzunehmen, Zeremonien beizuwohnen und die heiligen Texte zu studieren. Wo steht, daß ein Brahmane kämpfen soll? Er benutzte übernatürliche Waffen, um unsere Soldaten zu töten. Er war ein falscher Brahmane. Mit falscher Magie täuschte er uns. Gut, daß er tot ist. Hör auf, uns anzuklagen! Lerne kämpfen, der Krieg ist noch nicht aus!” Nach Dronas Tod wurde Karna Generalissimo der Kauravas Armee. Und Karna sprach: “Ich habe einst geschworen, die Pandavas und Krishna zu vernichten. Und ich werde meinen Schwur halten. Fürchtet euch nicht, die Pandavas sind schon so gut wie tot.” Krishna aber sprach zu Arjuna: “Ihrer großen Helden sind nicht mehr. Nur Karna ist übrig. Töte ihn, und die Schlacht ist geschlagen, der Sieg euer.” Und wieder tobte die Schlacht. Der Zweikampf zwischen Ashvatthaman und Arjuna glich zwei sich umkreisenden Planeten. Donnernd brüllend bewarfen sie sich mit Wolkenmassen von Pfeilen. Arjuna schoß ziegenohrige Pfeile auf Ashvatthamans Pferde und sie brannten ihm durch, trugen den Wagen weit vom Feld. Krishna und Arjuna wandten sich wieder den Samsaptakas zu, dieser eingeschworenen Selbstmordtruppe, und mähten gleichmäßig die Reihen nieder. Wie eintönig Krieg doch sein konnte!
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Die Soldaten lagen gefallen auf dem Boden, verrenkt die Glieder, ein Bild der Schönheit, Blut beschmierte Zähne gaben ihren Gesichtern den Liebreiz reifer Granatäpfel, einige fielen wie gefällte Sandelbäume, roten Saft von sich spritzend. Menschen starben durch Menschen zu Tausenden und aber Tausenden. Waffen, Schirme, Schilde, Flaggen, Fahnen, Körper und Glieder fielen zur Erde, zerschmetterte Schädel; und die Gesichter der Toten wie zerknitterte Lotusblüten, und welke Girlanden strahlten eine vergangene Herrlichkeit aus.
Am nächsten Tag sprach Karna: “Heute töte ich Arjuna, oder er tötet mich.” Duryodhana war damit einverstanden und bat Shalya, den König von Madras, Karnas Wagenlenker in diesem Kampfe zu sein. Wütend erwiderte Shalya: “O Sohn Gandharis, du beleidigst mich. Warum sollte ich, der ich Karna in jeder Weise überlegen bin, sein Wagenlenker sein?” Duryodhana aber sprach die süßen Worte: “Du hast ja recht und niemand hat an deiner Größe gezweifelt. Du bist sogar größer als Krishna, genauso wie Karna größer als Arjuna ist. Und du weißt zweimal so gut mit Pferden umzugehen wie Krishna, deshalb brauchen wir dich.” “Ich freue mich, daß du so etwas sagst, vor all den Kriegern hier. Also gut, ich werde die Pferde zügeln, aber nur unter der Bedingung, daß Karna es mir nicht übelnimmt, was immer ich ihm sage.” Das akzeptierte Karna. “Vier Arten der Rede sind ehrbaren Männern unwürdig, als da sind: Selbstverachtung und Eigenlob, schlechte Reden über andere und Schmeicheleien. Trotzdem will ich über mich reden, um dir Selbstvertrauen zu geben. Was Aufmerksamkeit, Voraussicht und 1394
Manövrierfähigkeit anbelangen, so fahre ich den Wagen so gut wie Indras Wagenlenker Matali.” “So fahre mich dorthin, wo die fünf Pandavas sind. Ich will sie bekämpfen, besiegen, vernichten.” “Du hast eine armselige Meinung von den Pandavas. Du vergißt, was für große Gegner sie sind. Schnell wirst du deine Worte bereuen, wenn du den Donnerknall des Gandiva-Bogens hörst. Wenn seine Pfeileschauer den Himmel verdunkeln, wirst du alles vergessen, was du jetzt gerade eben gesagt hast.” Es nicht beachtend, schrie Karna: “Auf in den Kampf!” Und die ganze Armee jubelte ihm zu. “Was für ein wunderbarer Anblick! Was für ein Aufgebot von Macht!” So sah Karna verliebt seine Armee. “Selbst Yama, der Totengott, könnte Arjuna heute nicht retten, all die Götter nicht, selbst wenn sie wollten.” “Du bist eingebildet, die Macht steigt dir zu Kopfe. Du redest, wie du nicht reden solltest.” Und mit seinem weißen Streitwagen gezogen von weißen Pferden tauchte er wie ein Schwan in die feindliche Armee. Schnell tötete er siebenundsiebzig Krieger und zehn Streitwagenhelden. Zuerst erreichte er Yudhishthira, dem er gleich seinen Kampfwagen ruinierte. Schnell kletterte Yudhishthira in einen Ersatzwagen, der von elfenbeinfarbenen Pferden mit schwarzen Schwänzen gezogen wurde, und flüchtete. Karna jagte hinterher, kam seitlich und berührte Yudhishthira mit seiner Hand, die verziert war mit den Glückszeichen des Blitzes, des Schirmes, das Hakens, des Fisches, der Flagge, der Schildkröte und des Muschelhorns. Es wäre ihm ein Leichtes gewesen, Yudhishthira zu töten, aber er erinnerte sich an das Versprechen, das er Kunti gegeben hatte, und deshalb verspottete er ihn nur: “Auf der Flucht, o edelster Kshatriya? Hast du die Pflichten eines Kshatriyas vergessen? Studiere die Vedas, führe heilige Rituale durch! Und lauf, 1395
lauf, kleiner Sohn Kuntis, und störe uns nie wieder! Kämpfe keine großen Schlachten und sprich keine harten Worte, und wenn, dann nicht gegen uns, sondern gegen deine Brüder. Komm, lauf zu Krishna und Arjuna. Ich töte niemanden wie dich.” Und zu Shalya gewandt, sagte Karna: “Fahre mich als nächstes zu Bhima!” Bhima stand wie ein Drache, Wut schnaubend, bereit, den aufgestauten Zorn langer Jahre auszukotzen. Ein Berge zertrümmernder Pfeil Bhimas begrüßte Karna. Wie vom Blitz getroffen, brach er zusammen. Shalya flüchtete mit dem Unmächtigen. Die Kauravas-Armee stürzte auf Bhima, um eine Verfolgung zu verhindern, und die Armeen der Pandavas stürzten Bhima zur Hilfe. Der Zusammenstoß der Armeen war wie der Zusammenstoß von Ozeanen; die Brecher, die sich auftürmten, waren Leichenberge. Als Karna wieder zu sich kam, sagte Duryodhana zu ihm: “Schnell, nutze das Chaos, greife jetzt an!” Karna schüttelte seinen Bogen drohend und suchte Arjuna. Yudhishthira war tatsächlich zu Arjuna geflohen und machte ihm schwere Vorwürfe: “Was taugt deine Armee? Karna lebt. Fürchtest du dich vor ihm? Hast du nicht, als wir noch im Dvaita-Dschungel waren, geschworen, ihn zu töten? Du hast Krishna als Lenker, du heißt das Affen-Banner, dein Bogen ist sechs Ellen lang. Wovor fürchtest du dich? Gib deinen Bogen Krishna und laß ihn die Arbeit tun! Besser man hätte dich abgetrieben als diese Schande.” Da zog Arjuna sein Schwert. “Bist du verrückt! Was willst du mit gezogenem Schwert? Ich sehe niemanden, der den Tod verdient”, mischte sich Krishna ein. Arjuna, wie eine wütende Schlange atmend, erwiderte: “Ich habe geschworen, jeden zu töten, der sagt: Gib deinen Gandhiva-Bogen einem anderen! Und dieser König hat gerade eben diese Worte gesagt. Das verzeihe ich ihm nicht. Ich muß meine Schwüre halten. Ich habe meine Prinzipien.” 1396
“Schäme dich! Werde weiser! Dies ist keine Zeit, blöde Schwüre zu halten. Du redest von Prinzipien. Welches Prinzip sagt, daß du töten sollst? Ahimsa ist das höchste Prinzip. Lüge, wenn es sein muß, aber töte nie. Ich werde dir erklären, was die höchste Moral ist. Wahrheit ist Dharma. Nichts ist höher als Wahrheit. Doch Wahrheit ist eine komplexe Sache. Manch eine Wahrheit darf nicht geäußert werden, manch eine Unwahrheit ist zulässig. Manchmal wird Wahrheit zur Unwahrheit und Unwahrheit zur Wahrheit. Wenn das Leben in Gefahr ist, wenn die Ehe auf dem Spiele steht, ist Lügen zulässig. Um sich mit Frauen zu vergnügen, um eine Brahmanen zu schützen oder eine Kuh, ist Lügen erlaubt. In diesen fünf Fällen wird die Unwahrheit zur Wahrheit. Nur ein Narr wälzt sich in Wahrheit, ignorant des Unterschieds zwischen Wahrheit und Unwahrheit. Es ist besser zu lügen, um Dieben und Räubern zu entkommen, als bei ihnen zu bleiben. Güter, Leuten gegeben, die sie unmoralisch nutzen, wird kaum den Geber ehren. Und ähnlich ist es mit einer Lüge, die das Dharma erhöht; sie wird nicht als Lüge angesehen.” “O Krishna. Da ist nichts in den drei Welten, was du nicht wüßtest. Mein Schwur ist mein Schwur. Selbst Bhima hat geschworen, den zu töten, der ihn bartlos nennt. Was soll ich tun?” “Yudhishthira war erschöpft und erregt, als er sagte, was er sagte, denn er hatte sich blamiert, war beleidigt worden. Sei erhaben über deines Bruders Zorn, geh und besänftige ihn, damit er die erlittene Schmach überwindet.” Dies geschah am siebzehnten Tag der Schlacht.
Während Karna und Arjuna über das Feld jagten, den Kampf mit anderen meidend, aufeinander losstürmten, griff Duhshasana Bhima im Durcheinander an. Ein Pfeil, strahlend wie die Sonne, mit Gold und Edelsteinen besetzt, schlug Bhima ohnmächtig. Doch schnell kam er
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wieder zu sich und stürmte mit ausgeholtem Streitkolben los, schreiend: “Ein Pfeil für mich, eine Keule für dich.” Von der Wucht des Schlages flog Duhshasana zehn Bogenlängen weit. Da lag er in seiner zertrümmerten Rüstung, sich krümmend vor Schmerz. Bhima erinnerte sich, wie er Draupadi einst an den Haaren herbeigezogen hatte, und Wut flammte in ihm auf, wie Feuer gefüttert mit Öl. Und vor den Augen Duryodhanas und Karnas und der ganzen feindlichen Armee setzte Bhima seinen Fuß auf den Hals Duhshasanas und schnitt seine Brust auf; mit den Händen schöpfte er das warme Blut und trank: “Süßer als Muttermilch, süßer selbst als Nektar ist dieser Trunk, der meinen Rachedurst stillt. Prost, Duhshasana. --- Ich bin fertig mit dir. Du starbst mir zu früh.” Den Soldaten sträubten sich die Haare: “Das ist kein Mensch, das muß ein Rakshasa sein.” Und noch einmal bückte sich Bhima und nahm eine Hand voll: “Noch einmal trinke ich dein Blut, Duhshasana, verspotte uns jetzt, nenn uns Schwächlinge; heute spotten wir über dich.” Und blutüberströmt tanzte Bhima, wie Indra tanzte, nachdem er den Anti-Gott Vritra getötet hatte. So erfüllte Bhima seinen Schwur. Und es war hier, daß Karna zum ersten Mal große Furcht fühlte, aber er begab sich zum Kampf, suchte Arjuna. Und die beide Streitwagen näherten einander. Beide, Arjuna und Karna, trugen strahlende Rüstungen, zweischneidige Schwerter, hatten weiße Pferde, Yak-Schwänze fächerten ihnen, weiße Schirme schützten ihre Häupter, goldene Girlanden gaben ihnen Götterglanz, ihre Genicke wie von Löwen, ihre Haltung wie die des Pfaus und ihre Augen gerötet, von ungeweinten Tränen. Wie Bullen, wie tollwütige Elefanten, wie Giftschlangen, so suchten sie einander, wie mächtige Planeten am Ende einer weltzerstörenden Yuga, wie Sonnen, die sich gegenseitig verbrennen wollten, wie Galaxien zum Kampf angetreten, so drohten sie, Vernichtung ausstrahlend. 1398
Karnas Panier war das Symbol der Elefantenfessel, Arjuna flog den seine schrecklichen Zähne fletschenden Affen. Karna fragte lächelnd seinen Wagenlenker: “O Shalya, was tust du, wenn Arjuna mich tötet?” “Dann ist es meine Pflicht, Arjuna und Krishna zu töten.” Arjuna stellte Krishna die gleiche Frage: “Was tust du, wenn Karna mich tötet?” Krishna lächelnd: “Die Sonne mag fallen, die Erde zerschmettern, Feuer seine Hitze verlieren und Gold seinen Glanz, bevor Karna dich besiegt. Aber sollte es doch geschehen, so ist es ein Zeichen, daß der Welten Ende gekommen ist. Ich, ich werde ihn dann mit meinen bloßen Händen töten.” Das schreckliche Duell begann. Karna fühlte, daß er Arjuna gewachsen war, und als er Fehler in seiner Abwehr gewahr ward, schoß er einen lang verehrten schlangenschnauzigen Pfeil, den er in einem goldenen Köcher in Sandelholzpulver aufbewahrt hatte, auf Arjunas Kopf gezielt. Schrecklich zischend, einen Schweif hinter sich ziehend wie ein Komet, so kam der Pfeil in einer geraden Linie angeflogen. Schnell preßte Krishna den Kampfwagen fünf Finger tief in den Matsch, und dieser Schlangenpfeil traf nur Arjunas Diadem, das schöne Ornament fiel zerbrochen zu Boden. Die Schlange dieses Pfeils aber kehrte zu Karna zurück und sagte: “Schieß mich noch einmal und Arjuna wird sterben!” “Wer bist du?” fragte er die grimmige Schlange. “Ein Feind Arjunas. Er tötete meine Mutter und ich suche Rache. Schieß mich noch einmal und der Sieg ist dein.” “Karna schießt den gleichen Pfeil nicht zweimal, nicht einmal, um hundert Arjunas zu töten. Karna braucht keine Hilfe von außen. Geh und sei glücklich.” Da versuchte die Schlange alleine, Arjuna anzuspringen.
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“Das ist die Schlange, deren Mutter du im Khandava-Forest getötet hast”, sagte Krishna, und Arjuna schoß sechs Pfeile auf die fliegende Schlange. Und sieben Stücke krümmten sich am Boden. Mit lautem Gebrüll steuerte Karnas Wagen auf Arjuna zu, aber Kala, der Lord der Zeit, Karnas Todesstunde kennend, näherte sich ihm unsichtbar und flüsterte ihm zu: “Karna, die Erde verschlingt dein linkes Wagenrad.” Und Karnas Wagen begann zu kippen, sein linkes Rad versackte im Boden. Karna war verzweifelt: “Oh, die Tugendhaften, sie sagen, Lord Dharma schützt die Tugendhaften. Aber Dharma verläßt mich. Ich glaube Lord Dharma sind seine Jünger egal.” Und er sprang vom Wagen, um ihn aus dem blutigen Schlamm zu heben. “O Arjuna, großer Krieger, der du bist, wirst du doch nicht mein Mißgeschick ausnutzen. Du kennst doch die Regeln der Schlacht und der Ritterlichkeit. Laß mich meinen Wagen in Ordnung bringen!” Arjuna zögerte, aber Krishna rief: “Pah, jetzt erinnerst du dich an Dinge wie Ritterlichkeit. Wo aber war deine Ritterlichkeit, als ihr Draupadi an ihren Haaren in die Sabha vor all die Könige und Prinzen zogt, als sie wegen ihrer Menstruation mit nur einem Sati bekleidet war? War es ritterlich, sie zu beleidigen und zu verhöhnen, ihr die Kleider vom Leib zu reißen? War es ritterlich, den Anblick der beleidigten Draupadi zu genießen? War es ritterlich, Dhramaputra im Würfelspiel zu betrügen? Ritterlich, ihm nach dreizehn Jahren Exil das Königreich nicht zurückzugeben? Ritterlich, zu versuchen, die Pandavas in einem Wachshaus lebendig zu verbrennen, zu versuchen, Bhima zu vergiften? Oder denk an den Mord an Abhimanyu. War das ritterlich? Eine Zunge, die Draupadi beleidigen konnte, die Lügen und hinterhältige Pläne formulieren konnte, sollte nicht von Ritterlichkeit reden, denn sie hat die Ritterlichkeit nie geehrt.” Karna ließ den Kopf vor Scham hängen, schweigend bestieg er seinen Wagen wieder, schnell schoß er Pfeile. Arjuna war überrascht. Das nutzte Karna aus. Er sprang wieder aus dem Wagen, um ihn eiligst aus der Blutpfütze zu heben, aber der Fluch lastete zu schwer auf ihm, 1400
Fortuna hatte den großen Krieger verlassen. Die Mantras der mächtigen Astras, die er von Parasurama gelernt hatte, wollte er aufsagen, aber sein Gedächtnis versagte ihm in dieser Stunde der Not, wie Parasurama einst vorausgesagt hatte. “Töte ihn jetzt, wo er hilflos ist”, befahl Krishna. Und Arjuna nahm einen schrecklichen Pfeil aus seinem Köcher: “Mögest du Karna ins Reich Yamas, des Totengottes, schicken.” Karnas Kopf fiel zu Boden. Aus seinem Hals sprudelte das helle Blut, füllte die Pfütze. Shalya floh vom Feld, hinter sich lassend die Leiche. Der Kopf, der da zwischen Kot und Blut wie die Lotus mit den tausend Blütenblättern strahlte, gehörte einem Mann, der so mutig wie der tausendäugige Indra war und jetzt so tot wie die tausendstrahlige Sonne des Nachts.
Arjuna tötete Karna auf Befehl Lord Krishnas, in einer unfairen Situation. Nach dem damals herrschenden Ehrenkodex und den Gesetzen des Krieges war es ein großes Unrecht und durch und durch falsch. Wer konnte die Verantwortlichkeit für Übertretungen des Dharmas tragen, außer der Lord selbst? Es ist Eitelkeit, zu glauben, durch rohe Gewalt und Krieg, Ungerechtigkeit zu beseitigen. Ein Kampf für Gerechtigkeit, geführt mit roher Gewalt, führt nur zu zahlreicheren Ungerechtigkeiten, und das Ergebnis: Adharma nimmt zu.
Duryodhana goß Weihwasser auf Shalyas Haupt, und setzte ihn so als Oberbefehlshaber ein, um den Rachezug zu leiten. Mit großer Kraft schleuderte Yudhishthira eine mit vielen Mantras besprochene Lanze auf Shalya. Er sprang vor, als wolle er sie fangen, aber verfehlte und empfing das tödliche Geschoß in seiner Brust. Mit 1401
ausgestreckten Armen fiel er vorwärts; wie ein liebendes Weib ihrem Mann entgegenkommt, so schien der Erdboden sich zu erheben, um Shalya, den Bullen unter Männern, zu empfangen. Wie am Busen einer teuren Freundin, so schien Shalya zu schlafen, mit Armen und Beinen die Erde umklammernd, bedeckt vom Blut und Kot der Schlacht. Die letzte Hoffnung verloren, viele Krieger flohen. Aber die Söhne Dhritarashtras taten sich noch einmal zusammen zu einer letzten Anstrengung. Sie sollten sie nicht überleben. Shakuni griff an. Aber als Sahadeva rasierklingenscharfe Pfeile mit Geierfedern schoß, fürchtete er sich und wollte wie die anderen fliehen. Sahadeva folgte ihm: “Sei ein Mann und kämpfe! Denk an deinen Betrug beim Würfelspiel! Heute bekommst du dafür bezahlt mit rasierklingenscharfen Pfeilen, die dir deinen Kopf abschneiden werden wie eine Mango vom Baum.” Sahadeva schoß ihm die Arme ab. Welche Wonne! Dann enthauptete ein breitköpfiger Pfeil diesen Teufel der Kauravas-Konspiration.
Duryodhana sah sich um und sah nur noch Feinde am Leben. Da floh er zum See Dvaipayana. Streitkolben in der Hand stieg er in das Wasser und versteckte sich in der Tiefe des Sees. Mit seiner Geisteskraft erzeugte er die Illusion, daß das Wasser hart sei und er unerreichbar. O Duryodhana, edelster der Bharatas, zerschlagen liegt deine Armee von elf Akshauhinis. Von Tausenden von Königen, die treu deine Sache verfochten - war es aus Stolz, war es aus Gier nach Macht oder aus Freundschaft - lebt keiner mehr. Da kamen die drei Könige Kritavarman, Kripa und Ashvatthaman, die auch noch am Leben waren, an den See und sprachen: “Laß uns 1402
Yudhishthira bekämpfen, Duryodhana! Unsere Kameraden sind alle tot. Laß uns die Pandavas töten oder sterben wie unsere Freunde!” “Nein, laßt uns ruhen. Ihr seid müde, ich bin auch müde. Jetzt ist nicht die Zeit zu kämpfen. Laßt uns bis morgen ruhen, morgen kämpfen wir besser als heute.” Ashvatthaman antwortete: “Steh auf! Kämpfe jetzt! Ich schwöre, wir gewinnen.” Und während sie so diskutierten, hörten Jäger es, und sie erinnerten sich, daß Yudhishthira überall Duryodhana suchte, und schlichen deshalb in sein Lager - öffentlich konnten sie dort nicht eindringen, da sie einer niedrigen Kaste angehörten - und verrieten Duryodhanas Versteck, wofür man sie reichlich belohnte. Yudhishthira aber eilte mit seinen Brüdern und Krishna an den See. Als Kritavarman, Kripa und Ashvatthaman die Pandavas kommen hörten, verließen sie Duryodhana. Dann standen die Pandavas vor dem verzauberten Wasser. Yudhishthira sprach: “Da sitzt er im See und glaubt sich sicher vor der Hand Sterblicher, aber er soll uns nicht entkommen.” Krishna: “Benutze deine eigenen magischen Kräfte und zerstöre seine Illusion. Nur mit Hexerei bricht man Hexerei.” Yudhishthira aber sprach lächelnd zum See: “O Duryodhana, warum versteckst du dich im Wasser? Willst du, nachdem du Volk und Familie vernichtet hast, selbst dem Tod entgehen? Steh auf und kämpfe! töte uns und regiere die Welt, oder werde getötet und gehe in Indras Himmel als mutiger Krieger ein! Denk an deine Geburt, du bist ein Kshatriya! Sagt nicht Brahma selbst, daß Kämpfen die höchste Pflicht in einem Kshatriya-Leben ist?” Duryodhana antwortete vom Wasser aus: “Furcht ist überall und niemand ist ohne Furcht, doch glaube nicht, daß Furcht vor dir mich 1403
hierher brachte. Mein Streitwagen ist zerschmettert, mein Köcher leer, mein Harnisch verbeult und ich bin erschöpft.” “Lange haben wir dich gesucht, komm raus und kämpfe mit uns!” “Alle meine Brüder und Freunde sind tot, alle, für die ich diesen Krieg geführt habe. Nichts zieht mich mehr hin zur Welt. Genießt diese öde Welt, diese Welt ohne Freunde, Pferde, Elefanten, ohne Bäume und Blumen, ohne Schönheit, sie gehört euch jetzt ganz allein. Genießt sie! Genießt sie nur, es gibt nichts mehr auf der Welt, für das sich noch zu kämpfen lohnt!” “Wir weigern uns, die Welt als Geschenk anzunehmen. Kein Kshatriya nimmt Almosen an. Die Welt haben wir uns schon längst genommen, jetzt wollen wir dich. Du hast unsere Frau beleidigt und uns betrogen und belogen und zu töten gesucht, dafür sollst du sterben.” “Ihr habt eine ganze Armee, Waffen, Streitwagen und Freunde, aber ich bin allein und waffenlos. Wie kann ich eine Armee besiegen? Kämpft einzeln, einer nach dem anderen mit mir! Ich fürchte keinen von euch, nicht einmal Krishna. Wie die Zeit den Jahren begegnet, so will ich mich euch im Kampfe stellen, einem nach dem anderen, und wie die aufgehende Sonne der Sternen Licht verlöscht, so werde ich euer Lebenslicht auslöschen, und meinen toten Freunden so Tribut entrichten.” Und Duryodhana stürzte aus dem Wasser, Streitkolben in der Hand. “Die Götter sollen Zeuge sein, wie ich allein euch alle, einen nach dem anderen, erschlage, und dann urteilen, ob das ein fairer Kampf war.” “War es fair, als ihr Abhimanyu tötetet? Dharma vergißt man nur zu leicht bei sich selbst. Schnalle deinen Harnisch um, verknote dein Haar und mach dich fertig zum Zweikampf. Wenn du einen von uns Pandavas-Brüdern besiegst, so soll das Königreich wieder dir gehören. Wen wählst du als ersten?” “Bhima, denn nur er ist mir ebenbürtig.” Krishna flüsterte zu Yudhishthira: “Es war leichtsinnig, ihm das Königreich zu versprechen. Was wäre, wenn er dich, Arjuna, Nakula 1404
oder Sahadeva für das erste Duell gewählt hätte? Mit seiner Keule hat er dreizehn Jahre an einer Eisenstatue geübt. Nur Bhima ist ein Gegner für ihn. Bhima hat Kraft, aber Duryodhana ist listig. List aber besiegt Kraft. Es war dumm, alle Vorteile so leichtsinnig aufs Spiel zu setzen, wie es dumm war, alles an Shakuni zu verspielen.” “Keine Angst”, meinte da Bhima: “Ich töte ihn. Seht, meine Keule ist doppelt so schwer wie seine!” und an Duryodhana gewandt: “Bevor du jetzt stirbst, erinnere dich noch einmal an deine Verbrechen, denk an Varanavata, wo du uns lebendig verbrennen wolltest, denk an das Gift, das du in mein Essen kipptest, denk an den Betrug beim Würfelspiel, denk an Draupadi, der ihr die Kleider vom Leibe riß, und bereite dich auf den Tod vor!” “Was stehst du da und donnerst wie leere Herbstwolken? Sieh, ich bin hier, bereit!” Und mit großem Geschrei stürzten die beiden aufeinander, die Kolben krachten, Blitze zuckten durch den Nachthimmel. Schnell waren sie erschöpft und prusteten heftig, träge stießen sie immer wieder gegeneinander, wie halbverhungerte Katzen über einen Fetzen Fleisch kämpfen mögen.” Ja, der Krieg war hart gewesen für alle. Lange taumelten sie mit ihren schweren Waffen umher. Eine PattSituation. Dann machte Krishna zu Arjuna eine Bemerkung. Bhima solle Duryodhanas Schenkel zerschmettern, wie einst in der Sabha geschworen, als Duryodhana Draupadi gezwungen hatte, auf seinen Schenkeln zu sitzen. Bhima hörte diesen Hinweis und schlug seinen Kolben mit aller Macht gegen Duryodhanas Schenkel, der dann schwer verletzt zusammenbrach.
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Ein schrecklicher Lärm kam aus den Eingeweiden der Erde. Fürchterliche Monster erschienen, ohne Kopf aber mit vielen Armen und Beinen, und sie tanzten. Seen und Brunnen spuckten Blut, Flüsse flossen in die falsche Richtung. Bhima, außer sich vor Freude, tanzte um Duryodhana herum und trat ab und zu nach seinem Kopf: “Du lachtest, als man uns und Draupadi beleidigte. Du lachtest und wir lachen jetzt.” Yudhishthira war besorgt: “Bhima, trete ihn nicht, er ist ein König, er ist unser Cousin, er verdient unser Mitleid.” “Es ist mir egal, ob Bhima auf mich Hilflosen herumtrampelt, werden doch bald Krähen und Geier das Gleiche tun. Ein großer König war ich und im Kampf zu fallen war die Krone meines Lebens. Triumphierend gehe ich ins Swarga zu meinen Freunden.” Balarama, Krishnas älterer Bruder, der gerade von einer Pilgerreise zu heiligen Orten zurückgekommen war und diesen Kampf mit angesehen hatte, rief: “Nieder mit Bhima, denn er schlug unter den Nabel!” Und er hätte Bhima mit seinem Pflug erschlagen, wenn nicht Krishna dazwischen gekommen wäre: “Die Pandavas sind unsere Freunde. Sie sind die Kinder unseres Vaters Schwester. Bhima schwor einst in der Sabha, Duryodhanas Schenkel im Kampfe zu brechen. Jeder wußte das. Und es ist eine heilige Pflicht der Kshatriyas, einen Schwur zu halten. Bevor du Bhima verdammst, denk an all die Ungerechtigkeiten, die die Kauravas den Pandavas antaten. Voreilig zu urteilen, ohne die Reihe der Ereignisse, die zu einer Tat führten, zu berücksichtigen, führt nur zu Irrtümern und Fehlurteilen. Man kann sich nicht einen Akt aus einem Kontext greifen und den nur beurteilen, das wäre ein großes Unrecht. O Balarama, die Welt hat sich verändert, das Zeitalter Kalis hat begonnen, und die Gesetze des vorigen Zeitalters gelten nicht mehr. Für die nächsten 432 000 Jahre herrschen Verhängnis, Verdammnis und Ungerechtigkeit. Denke an Bhima als einen der letzten wackeren Männer, die ihre Schwüre hielten!” Doch Balarama blieb ungehalten und verließ den Ort verärgert. 1406
Yudhishthira hatte nichts gesagt, schweigend stand er abseits; als Krishna ihn ansprach, sagte er: “Es quält mich, daß Bhima den tödlich verletzten Duryodhana so mißhandelte. Ich sehe das Ende unseres glorreichen Geschlechts. Aber Bhima dachte an all die Jahre im Exil und all die Bosheiten der Kurus. Ich mochte ihn nicht aufhalten.” Da kam Bhima freudestrahlend: “Der lange Kampf ist überstanden, alle Dornen entfernt, die Welt gehört uns.” “Dann laßt uns gehen”, meinte Krishna: “Was sollen wir noch hier? Der sterbende Duryodhana verdient keine Sympathie. Er war ein Narr, fiel in schlechte Gesellschaft und ruinierte sich selbst. Was soll man noch Zeit an zerbrochenem Porzellan verschwenden?” Duryodhana, in Agonie auf dem Boden ausgestreckt, richtete sich noch einmal trotz seiner Schmerzen halb auf. Wie eine schwanzlose Schlange sah er aus. Er zischte Krishna an: “Elender! Sklavensohn! War dein Vater Vasudeva nicht Kamsas Sklave? Du hast gar kein Recht mit Prinzen umzugehen. Du bist ein Schuft. Glaubst du, ich hätte nicht gesehen, wie du Bhima ein Zeichen gabst, er solle nach meinen Schenkeln schlagen, gegen die Regeln des Zweikampfes. War es nicht dein Rat, daß Arjuna, hinter Shikhandin versteckt, Bhishma angreifen sollte, weil du wußtest, daß er sich eher tödlich verletzen läßt, als gegen eine Frau kämpft. Und auch Dronas Ende veranlaßtest du, indem du Dharmaputra lügen ließest. Du warst der Vater der tödlichen Lüge aus Yudhishthiras Mund. Und als Drona, der seine Waffen weggeworfen und sich in Yoga-Position gesetzt hatte, um über das höchste Prinzip zu meditieren, von Dhrishtadymna erschlagen wurde, hast du nicht protestiert. Du warst es, der Karna verleitet hat, seinen tödlichen Speer auf Ghatotkacha zu werfen, statt ihn für Arjuna aufzubewahren wie all die Jahre. Und sicher hast du Arjuna verleitet, Bhurisravas den Arm abzuschießen, als er gerade im Zweikampf mit Satyaki verwickelt war. Den Tod des edlen Karna hast du veranlaßt, indem du Arjuna befahlst, ihn feige zu erschießen, als er gerade seinen Wagen aus dem blutigen Sumpf des Feldes heben wollte. Deine Hexerei ließ die Sonne untergegangen erscheinen, so daß der Sindhu König glaubte, der Tag sei vorbei, und erleichtert ins Freie trat, wo er 1407
von Arjuna umgebracht wurde. Oh, du Teufel, unser Untergang ist allein dein Werk!” “O Sohn Gandharis, warum fügst du dir zu den Schmerzen der letzten Minuten noch solchen Ärger hinzu? Sieh, es waren deine eigenen Bosheiten, die zu deinem Ende führten. Bhishma, Drona, Karna und all die anderen Helden starben wegen deiner Sünden. Und jetzt hast auch du die Schulden deiner Gier auf dem Schlachtfeld bezahlt. Aber du stirbst den Tod eines mutigen Mannes. Du wirst in den glücklichen Teil des Himmels eingehen, der für die Kshatriyas, die ihr Leben auf dem Feld ließen, reserviert ist.” “Ich habe die Vedas und Vedantas studiert, ich habe den Brahmanen Geschenke gemacht, wie es in den Schriften bestimmt ist, ich habe die meerumgürtelte Welt überlegen regiert. Während ich lebte, stand ich auf den demütigen Häuptern Hunderttausender von Feinden. Vergnügen, die selbst die Götter nicht verachten, und nach denen Könige sich vergeblich sehnen, habe ich genossen und die höchste Macht. Und mein Tod als Krieger ist die Krone meines KshatriyaLebens. Ich gehe nach Swarga, wo meine jüngeren Brüder, meine Freunde und Verbündeten schon auf mich warten. Wer ist gesegneter, ich oder du, Krishna, der du weiterleben mußt in dieser unglücklichen Welt, verdammt bist, tagtäglich diesen Friedhof zu ertragen, in trostlosen Häusern den Gefallenen nachtrauern mußt und keinen Trost findest? Was bleibt denn da vom lang ersehnten Triumph außer einem Geschmack von Asche im Mund?” Bei Duryodhanas letzten Worten schütteten die Götter wundervoll duftende Blumen auf den sterbenden Krieger und die Gandhavas spielten Musik und der Himmel wurde festlich erleuchtet. Vasudeva und die Pandavas aber fühlten sich klein. Im Weggehen sagte Krishna zu den Pandavas: “Es ist Wahrheit in dem, was Duryodhana sagte. Ihr hättet ihn nie auf faire Art besiegen können, denn er und seine Leute waren im fairen Kampf unbesiegbar. Aber
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Betrug ist in Ordnung, wenn der Gegner stärker ist. Die Götter selbst sind nicht darüber erhaben. Wir folgten nur ihrem Beispiel.”
Als Ashvatthaman, Kripa und Kritavarman hörten, daß Duryodhana niedergeschlagen am See lag, eilten sie zu ihm. “Oh, Freunde, ich bin am Ende, ein hilfloser Reisender auf der Straße des Lebens. Ich gehe jetzt, um Drona, Bhishma, Karna und die anderen großen Helden zu treffen.” Ashvatthaman erwiderte ihm: “Oh, es ist wahr, was geschrieben steht: Alles ist vergänglich und nichts bleibt. Ein König, der die Welt beherrschte, mag einsam neben einem See im Schmutz verenden.” “Alles ist Brahmas Wille.” “O Duryodhana, ich schwöre bei all meiner Religiosität, ich werde heute nacht Rache nehmen an den Pandavas.” “Bringt mir ein Tongefäß mit Wasser”, bat Duryodhana da. Das Wasser goß er auf Ashvatthamans Haupt. “Hiermit setzte ich dich als neuen Oberbefehlshaber der Kauravas-Streitmacht ein.” Dann machten sie sich zum Lager der Pandavas auf. Unterwegs in der Dunkelheit des Waldes wurden Kripa und Kritavarman sehr müde, denn es war spät. Unter einem großen Banian-Baum legten sie sich nieder. Der nackte Boden ihr Prunkbett. Sofort schliefen sie ein. Nur Ashvatthaman blieb wach. Wut, Haß, Rache sind kein Bett, auf dem man schlafen kann. Diese übermächtigen Gewalten hielten ihn wach. Er mußte an den Tod seines Vaters denken und an Duryodhana. Wie konnte er sie rächen? Ein offener Kampf wäre Selbstmord. Da sah er über sich in der Baumkrone Tausende von Krähen schlafen. Plötzlich erschien eine schreckliche Eule. Dieser grünäugige Räuber der Nacht zerriß die in der Dunkelheit hilflosen Rabenvögel, einen 1409
nach dem anderen. Der Boden wurde schwarz mit Krähenleichen und -federn, und die Eule war glücklich. Ashvatthaman verstand diesen Hinweis. “Diese Eule lehrt mich etwas.” Schnell weckte er seine Kameraden. Er erklärte ihnen seinen Plan. Sie erröteten vor Scham. “Das ist ein großes Unrecht. Schlafende zu töten, das hat noch nie jemand vorher getan. Ein Verbrechen ohnegleichen gegen die Kshatriya-Sitte.” “Vieles verstieß gegen die Sitte. Mein Vater starb, als er sich zum Gebet niedergesetzt hatte, Bhishma durch eine Frau, Karna, als er seinen Wagen aus dem Matsch heben wollte, Duryodhana durch einen gemeinen Schlag unter den Nabel. Feigheit und Gemeinheit besiegten uns. Feigheit und Gemeinheit brachen die Dämme des Adharmas. Adharma überflutet die Welt. Eine neue Zeit ist angebrochen. Es ist nicht ein Tropfen Dharma übriggeblieben, dem wir folgen könnten. Heute nacht räche ich meinen König und meinen Vater.” “Laßt uns Dhritarashtra, den weisen Vidura oder die makellose Gandhari konsultieren und ihrem Rat folgen.” “Bah, verschiedene Menschen, verschiedene Meinungen, verschiedene Gründe. Jeder hält sich für intelligenter als seinen Bruder. Denkt, was ihr wollt. Ich gehe heute nacht und schlachte die schlafenden Pandavas und ihre Verbündeten, die Panchalas. Das ist meine Pflicht. Nichts macht mich glücklicher. Und sollte ich wegen dieser Tat verdammt sein, im nächsten Leben als Geier von Aas zu leben oder als Wurm durch den Mist zu kriechen, es ist mir gleich. Ich heiße auch eine solche Geburt willkommen. Ich schwöre, sie zu töten. Töte ich sie, wenn sie waffenlos sind, so können sie nicht in den Himmel der Helden.” “Wir sehen, selbst Indra könnte dich nicht von deiner Tat abbringen. Die Sünde, die du auf dich nimmst, soll auch unsere sein.” “Den Weg, den du gehst, geh mit uns gemeinsam!” Und die drei spannten ihre 1410
Pferde ins Joch und jagten zum Pandava-Camp. Das letzte Stück gingen sie zu Fuß. Eine schreckliche Kreatur bewachte den Eingang. Ashvatthaman schoß Wunderwaffen auf das Vieh, göttliche Pfeile mit Zauber besprochen, aber der Dämon verschlang sie nur wie Feuer Wasser. Einen schrecklichen Schaft schleuderte Ashvatthaman dann, er zersplitterte wie ein Meteor gegen die Sonne. Ashvatthaman zog ein himmelblaues, scharfes Schwert, wie eine Schlange schnellte die Schneide vor, doch der Dämon verschlang das Schwert, verschwunden war es wie ein Mungo im Loch. “Großartig”, rief Ashvatthaman aus: “Ich werde die Hilfe Shivas suchen, der die Girlanden von Menschenschädeln trägt, der sich Hara nennt, und dem kein Gott überlegen ist.” Und Ashvatthaman betete: “Ich suche deinen Schutz, o Shiva, o Schrecklicher, auch genannt Rudra, Ishvara und Girisha, wünscheerfüllender Shiva, gnadegebender Shiva, Lord des Universums, blauhalsiger, dreiäugiger Lord von Uma, filzhaariger Shiva, der du wanderst auf den Totenghats, gelobet seiest du. O rothaariger Zerstörer der dreifachen Stadt, Undurchdringlicher, Unüberwindlicher, Bullenreiter, Träger der Mondsichel an der Stirn, für dich schütte ich meine Seele ins Feuer. Ich bin dein Opfer. Oh, erweise mir Gnade!” Da erschien Shiva persönlich, lächelnd sprach er: “Bisher habe ich die Pandavas und Panchalas geschützt, doch auch ihre Zeit läuft nun ab und ihre Leben neigen sich dem Ende.” Und er gab dem Bittsteller ein glänzend geschliffenes Schwert, dann fuhr Shiva in Ashvatthamans Körper. So mit Shivas Energie angefüllt, loderte Ashvatthaman in Glorie wie ein Gott. Im Panchala-Lager lag Dhrishtadyuman; die lange Schlacht überstanden, hatte er endlich Rüstung und Waffen abgelegt, allein lag er im großen Bett zwischen Seidenkissen und schlief, duftende Blumen lagen auf seiner Bettdecke verstreut. Ashvatthaman drang in sein Zelt ein und schrie: “Für die, die ihren Guru töten, gibt es keinen Himmel!” 1411
und riß ihn aus dem Schlaf, warf ihn auf den Boden und trat ihm ins Sonnengeflecht und in die Genitalien, bis er starb, an keinem Tier hatte man sich je so grausam vergangen. Dann ging er weiter zu Shikhandin und all den anderen. Die Panchala-Krieger sahen einen Nachtmahr kommen, einen Alp des Todes, schwarz mit blutrünstigem Maul, blutbeschmierter Schnauze, mit karmesinroten Girlanden behängt und beschmiert mit Karmesinpaste. Es war eine alte Hexe, ihr monotoner Singsang die Sterbelieder. Fort zog sie Männer, Frauen, Pferde und Elefanten. Ashvatthaman tobte durch das Lager wie der Lord der Zeit, der absolute Zerstörer. Die, die ihm entkommen wollten, wurden am Eingang von Kripa und Kritavarman niedergemacht. Feuer flammte auf, brannte nieder Zelt und Zeug, erlosch, und wieder herrschte düstere Dunkelheit, nichts als Finsternis. Rakshasas und andere blutdürstige Kreaturen mit gigantischen Bäuchen, steinartigen Zähnen, rotbehäutet und mit blauem Hals, Glocken klimperten schaurig an ihren Körpern. Sie tanzten in Ekstase: “Süß, süß!” Sie verschlangen Mark und Bein, berauschten sich an Blut und Bregen, hopsten nackig scheißend, pissend, pollutierend durch die Gegend. Ashvatthaman stand durchnäßt von Blut, Schwert in der Hand, als wär's ein Stück von ihm; das Werk vollbracht, die Tat getan. “Alle sind tot, Panchalas und Pandavas, selbst die Söhne der Draupadi, selbst die Matsyas und Somakas, alle liegen geschlachtet wie die Krähen vom Banian-Baum. Laßt uns Duryodhana die gute Nachricht überbringen!” Sie erreichten Duryodhana, als er noch am Leben war. Er, um den einst Brahmanen fuchsschwänzelten, lag da in seinem Elend, Füchse, Wölfe und Hyänen umschlichen ihn nun. Er hatte begonnen, Blut zu kotzen.
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Weinend wischten sie ihm den Mund sauber. “O König, wir bringen dir gute Nachricht, es steht sieben zu drei, nur sieben Pandavas, die fünf Brüder, Krishna und Satyaki, leben noch gegen uns dreien. Alle Söhne der Pandavas sind tot und auch alle Kinder der Panchalas wurden getötet. Die Pandavas bleiben zurück ohne Kinder! Die Rasse ist zum Untergang verdammt!” “Du hast getan, was weder Bhishma, noch Drona, noch Karna für mich zu tun vermochten. Mögest du gedeihen, Ashvatthaman! Im jenseitigen Heldenhain sehen wir uns wieder!” So schied Duryodhana doch noch glücklich von hinnen.
Die Pandavas, als sie vom unerwarteten Untergang ihrer Armee erfuhren, brachen unter der Trauer zusammen. “Im Moment des Triumphes, des Sieges werden wir total zerstört. Der Verlierer gewinnt, der Gewinner verliert, der Vernichtete triumphiert. Draupadis Söhne, die den Angriffen der größten Krieger widerstanden, wurden wegen unserer Unachtsamkeit wie Ungeziefer vertilgt. Oh, wahrlich, wir sind wie Seeleute, die die wilde See sicher überquerten und dann im Hafen versinken.” Sie eilten zum Lager, sahen die Sterbenden und Gestorbenen, Freunde, Verwandte, Söhne, Berater und Verbündete. Draupadi kam später, Trauer entstellte ihr schönes Lotusgesicht wie dunkle Flecken die Sonne. “Rache, Rache! Oh, räche sie, o Yudhishthira! Wenn du sie nicht rächst, verlasse ich diesen Totenacker nicht. Man sagt, Ashvatthaman wurde mit einem Juwel am Kopfe geboren, töte ihn und bringe mir diesen Juwel!” Schnell schwangen sie sich auf ihre Streitwagen und jagten Gangas Ufer entlang, bis sie dorthin kamen, wo der dunkelhäutige, inselgeborene Vyasa von einer Gruppe Jünger umgeben saß und lehrte. Unter ihnen entdeckten sie Ashvatthaman, nur mit einem Gewand von 1413
Kusha-Gras bekleidet, Staub bedeckt und mit Salbe eingeschmiert. Bhima ergriff seinen Bogen und stürzte schreiend vor: “Er gehört mir!” Ashvatthaman, der dachte, daß seine Todesstunde gekommen sei, rief eine Mantra, die er von seinem Vater gelernt hatte, auf. In seine linke Hand nahm er einen Grashalm, den beseelte er mit der Mantra, und verwandelte ihn so in eine furchtbare göttliche Waffe, und er betete: “Möge diese Waffe, die Pandavas zerstören.” Und augenblicklich sprang ein alles vernichtendes Feuer aus dem Halm. Bhima, der Ashvatthamans Absicht schon vorausgeahnt hatte, wandte sich schnell an Arjuna: “Schnell, schieß die große Anti-Waffe, die dir von Drona gegeben wurde!” Arjuna sprang leichtfüßig vom Wagen, Pfeil im Bogen, und flüsterte: “Möge diese Anti-Waffe Ashvatthamans Kraft brechen!” Und die Anti-Waffe explodierte in einen Ball von Feuer, genau wie Ashvatthamans es getan hatte. Vom Himmel hallte die Explosion wider, Tausende von Meteoren schienen auf die sich schüttelnde Erde zu fallen. Berge, Berge, Bäume bebten, Seen plätscherten über ihre Ufer. Die zwei großen Rishis Vyasa und Narada, als sie sahen, daß die Waffen dabei waren, die drei Welten zu zerstören, traten dazwischen und neutralisierten ihre Vernichtungskraft. “Was tut ihr?” sprachen sie: “Die anderen Helden, die jetzt tot auf dem Feld liegen, hatten auch solche Spezialwaffen, aber benutzten sie nie. Seid ihr verrückt, solche Waffen auf die Menschheit loszulassen?” Arjuna war bereit, seine Waffe zurückzuziehen: “Aber wenn ich es tue, wird seine Waffen uns vernichten.” Mit großen Schwierigkeiten rief er seine Waffe zurück. Vyasa sprach zu Ashvatthaman: “Weder Haß noch der Wunsch zu töten, veranlaßte Arjuna, die Waffe, die als Brahmastra bekannt ist, zu schießen, sondern er tat es in Notwehr. Ziehe auch du deine Waffe zurück! Verjage den Haß aus deinem Herzen und laß die Pandavas leben! Gib ihnen den Juwel von deinem Kopfe!” 1414
“Dieser Juwel bedeutet mir mehr als alle Schätze der Welt. Dieser Juwel beschützt seinen Träger vor allen Waffen, vor allen Krankheiten und vor Hunger. Ich würde mich nie von ihm trennen, wenn es nicht du wärest, der mich darum bäte. Hier ist er. Aber mein tödlicher Grashalm kann nicht zurückgenommen werden. Einmal auf dem Weg wird er sein Werk tun. Er wird in den Leib der Pandava-Damen eindringen und ihre Leibesfrucht töten.” “So sei es denn, der Grashalm fahre in ihre Leiber, aber das Feuer muß enden.” Krishna lächelte Ashvatthaman an: “Als Viratas Tochter Uttara durch ihre Heirat mit Adhimanyu Arjunas Schwiegertochter wurde, sagte ihr ein Brahmane: Ein Sohn, Parikshit genannt, wird von ihr geboren werden, wenn die Pandava-Linie am Aussterben ist.” “Dann soll dieser Grashalm in Uttaras Leib eindringen und den Fötus zerstören, den du, Krishna, so gern beschützen würdest.” “Deine Waffe ist tödlich, und der Fötus wird sterben, aber weil du Kinder tötest, soll deine Strafe sein, daß du wanderst auf dem Angesicht der Erde für dreitausend Jahre ohne Freund und ohne jemanden, zu dem du sprechen kannst. Durch viele Länder wirst du kommen, ein einsamer Mann inmitten von Menschenmengen. Dein Körper wird einen faulen Gestank von Eiter und Blut aussenden und du wirst dich verstecken wollen in einsamen Wäldern und dunklen Marschen. Alle Krankheiten, die Menschen befallen, werden dich auf deiner Erdenwanderung befallen.” Ashvatthaman gab seinen Juwel den Pandavas und zog sich dann in den Wald zurück. Mit Krishna, Vyasa und Narada an ihrer Spitze eilten die Pandavas zum zerstörten Lager zurück, wo Draupadi ihrem Schwur getreu verweilte. Sie gaben ihr den Juwel.
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“Rache war alles, was ich wollte. O Yudhishthira, König ohne Makel, es steht nur dir an, diesen Juwel zu tragen.” Und ihr zum Gefallen trug Yudhishthira den Juwel. Er schien an seiner Stirn so prächtig wie der Mond an Shivas.
Im Palast, wo der weise Sanjaya, Wagenlenker des alten Königs, Dhritarashtra vom Tod seiner hundert Söhne und der Armee erzählte, herrschte große Verzweiflung. Trostlos stand der alte König da, trostlos sah er aus wie ein Baum ohne Äste. “O großer König. Deine Trauer ist nutzlos. Die elf Akshauhinis deiner Söhne und die sieben Akshauhinis der Pandavas zerrieben sich in dieser Schlacht; erschlagen liegen alle Könige, die sich deinen Söhnen und deinen Neffen anschlossen, deine Söhne sind tot, die Söhne deiner Söhne und die Söhne deiner Neffen, alle Feinde und Freunde sind gefallen, die ganze große Rasse vernichtet, zum Aussterben verdammt. So ist des Menschen Schicksal, er giert nach dem Honig und denkt nicht daran, daß er vom Baume fällt. Oh, trauere nicht, es ist unabänderlich, Karma ist unergründlich aber zwingend. Deine Söhne haben schon keine Beziehung mehr zu dir. Verwandtschaft endet mit dem Tod, und der zurückgelassene Körper war nur ein kleines Ereignis im unendlichen Leben der Seele. Leben kommen von nirgendwoher, gehen nirgendwohin. Darum ist nicht zu trauern. Aber die, die im heldenhaften Kampfe sterben, werden Indras Gastfreundschaft empfangen. Drum trauere nicht.” So sprach der weise Sanjaya, Dhritarashtras Wagenlenker, dem Vyasa übernatürliche Sehkraft verliehen hatte, damit er dem König von den Schlachtereignissen berichten konnte.
Einst lebte ein weiser Einsiedler mit Namen Mandavya im Urwald vor der Stadt, er widmete sich nur dem Studium der Schriften, der 1416
Wahrheit, der Buße und der Meditation. Als er eines Tages in Versenkung vor seiner Hütte im Schatten eines Baumes saß, kam eine Räuberbande, die von Rittern des Königs verfolgt wurde, und versteckte sich in der Hütte. Der Offizier des Königs fragte den meditierenden Mandavya, ob er gesehen hätte, wo die Räuber hingelaufen seien. Aber Mandavya, in Meditation vertieft, schwieg. Der Kommandant wiederholte die Frage ungeduldig. Keine Antwort. Inzwischen hatten seine Begleiter den Ashram betreten und dort die gestohlenen Sachen und die Räuber entdeckt. Der Kommandant dachte nun, daß Mandavya schweige, weil er in Wirklichkeit der Anführer der Bande sei, und er berichtete dem König davon. Der König war natürlich empört, von einem Räuberhauptmann zu hören, der die Welt im Gewand eines Brahmaneneinsiedlers betrüge, und er befahl, den Mann zu pfählen. So passierte es, daß dieser tugendhafte Einsiedler auf einem Spieß, den man vor seiner Hütte aufrichtete, aufgespießt wurde. Aber er starb nicht, kraft seiner Yoga blieb er am Leben. Andere Einsiedler versammelten sich um ihn und diskutierten die Angelegenheit mit ihm. “Was soll ich dem König Vorwürfe machen? Der König beschützt die Welt. Und ist nicht Irren menschlich?” Der König, als er hörte, daß der Einsiedler noch am Leben war, eilte mit seiner Gefolgschaft in den Wald. Sofort ordnete er an, den Gepfählten herunterzunehmen. Dann warf er sich ihm zu Füßen und bat um Vergebung. Mandavya war dem König nicht böse, sondern ging direkt zu Lord Dharma, dem göttlichen Verteiler von Gerechtigkeit. “Was habe ich getan, daß ich eine solche Pein verdiente?” Lord Dharma, der die große Kraft des Rishis kannte, antwortete in aller Demut: “O Weiser, du hast Vögel und Insekten gequält. Bist du dir 1417
nicht bewußt, daß jede Tat, gut und böse, wie klein sie auch sei, unabänderlich Früchte treibt, gute oder schlechte?” Mandavya war von dieser Antwort überrascht: “Wann habe ich dieses Vergehen begangen?” - “Als du klein warst.” Da sprach Mandavya diesen Fluch über Lord Dharma aus: “Die Strafe, die du über mich verfügt hast, übersteigt bei weitem das für Kinderund Jugendsünden angemessene Maß. Werde daher als Sterblicher in der Menschenwelt geboren, damit du lernst, was Leiden heißt, und Menschsein, Menschlichkeit, und das rechte Maß!”
So kam es, daß Lord Dharma durch den Fluch Mandavyas als Sohn einer Dienerin niedriger Kaste, die zu Ambika gehörte, der Frau Vichitraviryas, der der Sohn Shantanus von Satyavati war, geboren wurde; sein Vater aber war Vyasa, der, da er, aus einer vorehelichen Beziehung Satyavatis mit dem Rishi Parashara hervorgegangen, praktisch Vichitraviryas Halbbruder war, nach dem Tode Vichitraviryas dessen kinderlosen Frauen Ambika und Ambalika besteigen sollte, damit die Sippe nicht ausstürbe. Den beiden Frauen aber war Vyasas Häßlichkeit so zuwider gewesen, daß die erste die Augen schloß und deshalb ein blindes Kind zur Welt brachte, Dhritarashtra, die zweite erbleichte, und ihren bleichen Sohn nannte man Pandu, den Bleichen, der Vater der Pandavas. Als Vyasa Ambika noch einmal nachts besuchen sollte, denn seiner Mutter Satyavati waren sowohl der blinde als auch der bleiche Enkelsohn suspekt, und sie wollte den glorreichen Fortbestand der Familie, legte Ambika eine Dienerin fürstlich geschmückt in ihr Bett; Vyasa bestieg sie, wohl wissend, daß er getäuscht wurde, und zur Welt kam Vidura, die Inkarnation Lord Dharmas. Vidura wurde von den Weisen und Großen der Welt als Mahatma verehrt. Sein Wissen und Können war ohnegleichen, und er war völlig frei von Haß, Ärger und anderen gefühlsmäßigen Bindungen. Schon als Zehnjährigen setzte ihn Bhishma als König Dhritarashtras Berater ein. 1418
Vidura kam nun zu Dhritarashtra und gab ihm folgenden honigsüßen Trost: “Was wälzt du dich in Trauer am Boden? Steh auf und sieh dem Schicksal ins Antlitz, das Schicksal ist eine höhere Weisheit. Alles, was geschaffen, wird zerstört, alles, was sich hoch erhebt, fällt tief. Vereinigung folgt Trennung, Leben folgt Tod. Der Held und der Hasenherzige, der Draufgänger und der Drückeberger sind gleichermaßen verdammt zu sterben. Ein Kshatriya muß kämpfen und tut er es nicht, so verzögert er bestenfalls sein Ende. Aber in Wirklichkeit gibt es gar keine Flucht, wenn die Zeit gekommen ist. Man ist nicht da - dann ist man da - dann ist man wieder nicht mehr da. Das ist so und das ist nicht zu bedauern. Der Tod haßt niemanden, der Tod liebt niemanden, der Tod verschont nicht einmal die Götter. Wie der Wind die Gräser niederdrückt, so schneidet der Tod durchs Leben und drückt uns nieder zur Erde, die uns gebar. Das Leben selbst ist eine Karawane, das Ziel ist immer der Tod. Tausende von Müttern, Tausende von Vätern, Tausende von Söhnen, Tausende von Witwen, was trauern sie? Wessen Mütter, wessen Väter? Wessen Verwandte, Bekannte? Sie alle kommen und gehen. Wer sind wir, was sind wir, wessen sind wir? Wir alle kommen und gehen, und mit uns tausend Sorgen, tausend Ängste, tagtäglich. Der Weise ignoriert sie. Nur der Ignorante leidet. Unsere Zeit kommt, unsere Zeit geht. Die Zeit haßt nicht, die Zeit liebt nicht, die Zeit verschont niemanden. Die Zeit gibt, die Zeit nimmt, die Zeit schafft, die Zeit zerstört, die Zeit wacht, auch wenn alle Dinge schlafen, die Zeit überlebt, auch wenn alles stirbt. Jugend, Schönheit, Reichtum, Freundschaft, Wohlbefinden, Ruhm, alles ist vergänglich, nichts bleibt. Der Weise überwindet Freude wie Leid, so findet er Ruhe und Reife. Was immer wir halten wollen, ist kurzlebige Narrheit. Aber der Weise wie der Narr, der Reiche wie der Arme, des Lebens beraubt, befreit von Gier, vergeht in gleicher Weise in den Flammen des Bestattungsghats. Und nachdem sie zu Asche wurden, wer kann da noch sagen, wer reich, wer arm, wer schön, wer häßlich. Der Weise weiß, nur eins ist unendlich. Wie der Mensch ein neues Kleid anzieht und sein altes zur Seite legt, so verläßt das Atman einen Körper und steigt in einen anderen. Und es ist das Karma, das uns Freuden bringt oder Sorgen. Ob wir wollen oder nicht, wir leben durch unser Karma, Karma diktiert uns unser Leben. Beobachte einen Töpfer, wie er seine Töpfe formt. Einige zerbrechen auf der Scheibe, 1419
einige beim Herunternehmen, einige verderben, wenn feucht, einige verderben, wenn trocken, einige platzen beim Brennen im Ofen, einige beim Herausnehmen und einige werden im Gebrauch zerschlagen. So ist es auch mit uns, einige sterben im Mutterleib, einige gleich nach der Geburt, einige einen Tag später, einige vierzehn Tage später, einige einen Monat später, einige nach einzwei Jahren, einige in der Kindheit, einige in der Jugend, einige als Erwachsene im besten Alter, einige, wenn alt, einige beim Vergnügen, einige im Kampfe, einige beim Ruhen. Karma bestimmt alles. So ist die Welt, was gibt es da zu trauern?” Aber alle Worte Viduras versagten, der alte König wollte nicht aufstehen. Man massierte ihn und besprenkelte ihn mit Wasser und fächerte ihn. Langsam kam er wieder zu sich. Er weinte unkontrolliert. Dann befahl er, die Pferde anzuspannen, und sagte zu den Umstehenden: “Ruft die Königin Gandhari und all die anderen Bharata-Frauen, ruft auch Kunti und ihre Frauen!” Traurig zog Raja Dhritarashtra mit Tausenden weinender KshatriyaFrauen durchs Stadttor hinaus zum Schlachtfeld.
Auf die Nachricht, daß sein Onkel, Raja Dhritarashtra, Hastinapura mit den Palastdamen verlassen habe, ging Yudhishthira ihnen entgegen. Ihn begleiteten Mahatma Krishna, Yuyudhana, Yuyutsu, seine vier Brüder und die um ihre Söhne trauernde Draupadi mit den Panchala-Damen und anderer Dienerschaft. Am Ufer des Ganges sahen sie die klagenden Bharata-Frauen. Die rangen die Hände und umschwärmten Yudhishthira wie Kormorane ein fischreiches Gewässer. “Oh, Mann von Dharma, oh, König von Wahrheit und Mitgefühl, Schlächter von Brüdern, Gurus, Söhnen und Freunden, Mutiger! Bist du jetzt glücklich, nachdem alles tot ist?”
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Yudhishthira beachtete sie nicht, sondern ging weiter zu seinem Onkel Dhritarashtra und berührte seine Füße zum Gruß. Zögernd umarmte Dhritarashtra den ältesten Sohn Pandus. Dann wollte er Bhima umarmen, aber angefacht durch die Trauer um seine hundert Söhne, flammte Haß in ihm auf, auf Bhima, der sie alle erschlagen hatte, und er wollte Bhima in der Umarmung erdrücken, aber Krishna, der es vorausgesehen hatte, stieß Bhima zur Seite und stellte eine lebensgroße Bronzestatue vor Dhritarashtra. Mit der Kraft von zehntausend Elefanten zerdrückte der alte König die Statue. Die Anstrengung zerriß ihm die Brust; Blut besudelt, brach er zusammen, wie ein ParijataBaum unter der Last seiner roten Blüten. Als er wieder zu sich kam, begann er zu trauern: “Hai, Bhima! Hai, Bhima!” “Du brauchst nicht zu trauern”, sprach Krishna: “Bhima lebt, es war eine Bronzestatue, die du zerdrücktest.” Dhritarashtra, dessen Haß und Zorn jetzt gestillt war, bat, Bhima nun wirklich umarmen zu dürfen, und Arjuna, Nakula und Sahadeva. Er weinte und gab ihnen allen seinen Segen. Dann gingen die Pandavas mit Krishna weiter zu Gandhari. Gandhari, die durch religiöse Übungen und ein enthaltsames Leben große geistige Macht angesammelt gehabt hatte, hatte sich vorgenommen, Yudhishthira zu verfluchen. Vyasa, der ihre Absicht ahnte, begoß sich schnell mit heiligem Gangeswasser, und mit der Schnelligkeit eines Gedanken war er bei seiner Schwiegertochter. “O Gandhari, jetzt ist nicht die Zeit, jemanden zu verfluchen, sondern die Zeit der Vergebung. Wirf Zorn und Trauer von dir! Diese Schlacht mußte geschlagen werden, um die Welt von ihrer Last zu befreien, wie ihr Lord Vishnu selbst sagte, und darum ließ sich das Unglück auch nicht verhindern, trotz aller Mühe. So grolle nicht den Pandavas; sie waren nur göttliches Handwerkszeug, wie all die anderen Krieger auch.”
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Als sich Yudhishthira vor Gandhari niederwarf, um Vergebung von ihr zu erflehen, konzentrierte sie, die sich durch Askese viele Verdienste erworben hatte, ihre Augen unter der Binde, die sie aus Solidarität mit ihrem blinden Mann trug, auf Yudhishthiras Zehe, auf dem sich sofort Blasen bildeten, aber Yudhishthira rührte sich nicht. Die anderen Pandavas aber, als sie das sahen, suchten sofort Deckung. Aber Gandhari vergaß schnell Ärger und Zorn und sprach zärtlich zu ihnen. Dann kam Kunti, seit Jahren sah sie ihre Söhne zum ersten Mal. Sie berührte ihre Wunden und Narben und umarmte sie weinend. Auch Draupadi weinte. Gandhari sprach tröstend: “Tochter, weine nicht! Ich habe hundert Söhne verloren, du nur fünf. Die Zeit hat uns kosmisches Chaos gebracht. Doch wieviel Schuld trifft uns selbst, da wir nicht verhinderten, daß sich unsere große, glorreiche Rasse ganz und gar zerstörte!”
Der große Rishi Vyasa hatte ihr übernatürliche Sehkraft verliehen, weil sie immer die Wahrheit sprach, strenge Schwüre hielt und Bußübungen machte. Und so sah sie, die Asketische, das Schlachtfeld vor sich, alles überdeutlich: Leichen ohne Köpfe, Köpfe ohne Körper, Sterbende und Gestorbene, Siechende, Kriechende, Verwesende; 1422
Verletzte ohne Hilfe, Hilflose, denn auch die Helfer waren hilflos, Verdammte, zum Sterben verdammt, zum langsamen Tod, Schreiende, Weinende, Jammernde; fressende Rakshasas, kotzende Rakshasas, Geier, Hyänen und Schakale, blutsaugende, fleischfressende Nachtkreaturen.
Der ganze Zug machte sich auf, zog weiter nach Kurukshetra. Da sahen die Frauen Söhne, Brüder, Väter und Gatten auf dem blutigen Boden ausgestreckt. Die Frauen schrien, schrien herzerweichend. Sie schrien und schrien und waren von Sinnen. Gandhari hörte die Schreie der verzweifelten und erschreckten Frauen und sprach zu Krishna: “Lotusäugiger Krishna, sieh meine Schwiegertöchter und all die anderen Frauen! Hör ihre herzzerreißenden Schreie! Sieh, wie sie ihre Männer und Söhne suchen, jene Helden, die einst in parfümierten Betten schliefen und 1423
jetzt auf dem harten Boden liegen und sich nie wieder erheben werden. Ihre Schwerter und Keulen liegen neben ihnen, noch glänzend wie das Leben. Einige umarmen ihre Waffen, als schliefen sie mit ihren Frauen. Sieh die blassen Gesichter der Witfrauen, wie welke Lotusblüten umgeben sie ihre Lords. Hör, wie sie von Sinnen schreien! Sieh, wie sie die schmutzigen Leiber ihrer Lords umschlingen mit Armen und Beinen, die verstümmelten Teile küssen und streicheln! Was kann schrecklicher sein, o Krishna! Oh, was für ein schreckliches Karma muß mein sein!” Und Gandhari sah ihren Sohn Duryodhana, sie warf sich auf den Blutbeschmierten: “Hai, mein Sohn! Hai, mein Sohn!” Dann sprach sie wieder zu Krishna: “Die Pandavas und Kauravas sind alle tot. Warum ließest du das zu? Nur du hattest die Macht, es zu verhindern. Weil du es nicht tatest, verdamme ich dich, Krishna! Bei allen Verdiensten, die ich als pflichtbewußte Frau und Mutter habe; ich verdamme dich, Krishna, Schwinger des Diskus und des Streitkolbens, ich verdamme dich! 36 Jahre von heute wirst du deine Verwandten erschlagen, wie meine Söhne und die Pandavas die ihren. Und nach dem Blutbad wirst du durch die Wälder wandern, bis du endlich einen verachtungswürdigen Tod stirbst. Und die Damen deines Stammes werden weinen, geradeso wie die Bharata-Frauen heute weinen.” Sanft lächelnd antwortete Krishna ihr: “Niemand in dieser Welt, weder einer der Götter noch der Anti-Götter, kann die Vrishni-Rasse ausrotten außer mir. Mit deinem Fluch hilfst du mir nur, meinen Plan auszuführen. Und nun steh auf und jammer nicht mehr! Es ist alles deine Schuld, drum werfe es mir nicht vor! Dein Sohn Duryodhana war arrogant, gemein und feige. Mach mich nicht dafür verantwortlich! Eine Brahmanen-Mutter hat Kinder, die die heiligen Riten fortführen, eine Kuh bringt Kälber zur Welt, die das Joch tragen und dem Landmann helfen, eine Stute hat Junge, die Rennpferde werden, eine Shudra-Frau hat Kinder, die lernen, anderen zu dienen, eine VaishyaMutter gebärt, damit jemand den Boden bearbeitet und das Vieh hütet,
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- und eine Königin wie du hat Söhne, die die Welt mit Blut besudeln fremdem wie eigenem.” Gandhari hörte Krishnas bittere Worte, ihre Schläfen pochten vor Ärger, aber sie schwieg.
Yudhishthira seufzte schwer: “Oh, Arjuna! Wir haben uns wie Hundepack über einem Fetzen Fleisch benommen. Und während wir uns balgten und bissen, hat das Fleisch seinen Wert verloren. Nie hätten wir die Kauravas töten dürfen, aber sie sind tot. Wir haben sie getötet, und so viele mutige Helden gingen mit in den Tod. Die Welt wird nie wieder sein, wie sie war. Und es wird für immer unsere Schuld sein.” Arjuna lächelte: “Lieber Bruder, es ist schmerzhaft, dich so traurig zu sehen, aber die alten Schriften sagen deutlich: Der Reichtum eines Kshatriya-Königs ist das, was er anderen im Kampfe raubt. Hast du je gesehen, daß man sich Reichtum aneignete, ohne daß jemand ausgebeutet oder beraubt wurde? Die Erde gehört jetzt dir. Reinige dich und führe die nötigen Opferrituale durch und genießen, was dir rechtmäßig gehört!” “Höre mir gut zu, Arjuna. Ich kann nicht tun, was du sagst. Ich muß den Pfad des Tugendhaften gehen und alle weltlichen Bindungen aufgeben. Ich werde im Wald sitzen, Kälte ertragen Wind und Hitze, Hunger und Durst leiden und Erschöpfung, wie in den Schriften empfohlen. Alltäglich werde ich nur dem glücklichen Gezwitscher der Vögel lauschen und den Schreien der anderen wilden Tiere, duftende Luft werde ich atmen und das Leben langsam vor meinen Augen wachsen sehen. Und heiter soll mein Herz sein, was auch geschieht. Sollte jemand meinen Arm abhacken, so werde ich lächeln, und sollte ein anderer den anderen Arm mit wohlriechender Sandelpaste bestreichen, so werde ich ebenfalls lächeln. Ich werde keine Bindungen
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und Fesseln mehr tragen, wie der Wind so frei werde ich sein. In solcher Freiheit werde ich das höchste Glück finden.” Bhima unterbrach ihn barsch: “Das hört sich an, als plappere ein Narr über die Schriften. Was für einen Sinn hat es, Krieg zu führen, wenn man sich weigert, die Bürden des Sieges zu tragen? Welchen Sinn hatte es dann, unsere Vetter zu töten, und achtzehn Akshauhinis in den Tod zu schicken? Glaubst du, als Kshatriya ist man ungeeignet für Vergebung, Mitleid und Ahimsa? Glaubst du, Moksha liegt in der Verweigerung menschlicher Pflichten? Dann wären Berge und Bäume, die ersten, die Moksha erreichten, ja die Fische wären vor uns da. Sieh, Yudhishthira, die Welt bewegt sich, weil Pflichten getan werden. Wie kann die Flucht vor Pflichten glücklich machen?” Yudhishthira sah Bhima an: “Gier, Narrheit, Stolz, das waren die Gründe, daß ihr das Königreich wolltet. Gebt eure Gier auf! Auch ein König hat nur einen Magen. Haben Begierden ein Ende? Kann ein Tag sie befriedigen oder ein Jahr? Weder noch, selbst ein ganzes Leben reicht nicht, das Feuer des Verlangens zu löschen. Füttere ein Feuer mit Öl und es flammt auf. Nimm das Öl weg und es erlischt. Beherrsche deinen Bauch, bevor du Königreiche beherrschst!” “Das Schicksal regiert uns alle”, sagte Vyasa: “Wie die Blasen im Fluß, so kommen die Dinge und gehen. Freunde bringen kein Glück, noch Feinde Unglück. Weisheit bringt keinen Reichtum, noch Reichtum Seligkeit. Das Schicksal regiert. Yudhishthira, du bist ein Kshatriya, nicht geschaffen, untätig herumzusitzen. Handle, arbeite, regiere!” Und Vyasa fuhr fort, da Yudhishthira schwieg: “Führe zur Sühne das große Pferdeopfer durch, wenn du es für notwendig hältst. Doch Sühnen braucht nur der, der seine Pflichten vernachlässigt, oder wenn man hinterhältig handelt, wenn man sich erst nach Sonnenaufgang vom Bett erhebt, oder vor Sonnenuntergang schlafen geht, wenn man schmutzige Fingernägel hat oder faule Zähne, wenn der jüngere Bruder zuerst heiratet, wenn man einen Brahmanen tötet, üble Nachrede verbreitet, wenn man seine jüngere Schwester vor der älteren verheiratet, wenn man die Schriften einen lehrt, der nicht wert ist, sie 1426
zu lernen, oder sich weigert, sie einen zu lehren, der wert ist, sie zu lernen, wenn man heiliges Wissen verkauft, wenn man einen Guru oder eine Frau tötet, wenn man ein Tier zu einem anderen Zweck als das heilige Opfer tötet, wenn man Feuer an Wohnhäuser legt, wenn man den Rat seines Gurus mißachtet, wenn man Schwüre bricht und noch viele andere Dinge tut, die man nicht tun sollte. Das eigene Dharma sollte nicht aufgegeben, ein anderes nicht angenommen werden, Verbotenes sollte man nicht essen, den Schutz-Suchenden sollte man nicht abweisen, die Dienerschaft nicht schlecht behandeln, eine Frau, die sich anbietet, weil sie ein Kind möchte, sollte erhört werden, ein Brahmane nicht beleidigt, die Dakshina-Zahlung nicht vernachlässigt. Doch einige Handlungen, obwohl falsch, beflecken nicht. So magst du einen Brahmanen töten, der die Waffen gegen dich erhoben hat, ohne für einen Brahmanen-Mord zu sühnen, und so mag ein Jünger mit seines Gurus Weib schlafen, wenn es der Wunsch es Gurus ist. Und Lügen ist gerechtfertigt, wenn man dadurch sein eigenes Leben oder das Leben eines anderen rettet, oder wenn man es um des Gurus willen tut, oder um eine Frau zu erfreuen oder eine Ehe zu arrangieren. Und feuchte Träume beeinflussen nicht den Schwur eines Brahmacharis.” “Vyasa hat recht”, sprach Krishna da: “Gib deinen Kummer auf. Wie die Büßer im Herbst die Gottheiten um Gnade bitten, so bitten wir dich, gib deinen Kummer auf!” Da erhob sich Yudhishthira für das Wohl der Welt, legte Kummer und Gram zur Seite und bestieg seinen neuen, weißen Wagen, gezogen von sechzehn weißen Weihochsen. Bhima ergriff die Zügel, Arjuna befestigte den weißstrahlenden Schirm, Nakula und Sahadeva fächerten ihm mit zwei juwelenbesetzten Yak-Schwänzen zu. Die fünf Brüder im Streitwagen sahen aus wie die fünf Elemente, die das Universum durchziehen. Nach dem Einzug in den Palast wurde Yudhishthira zum König gesalbt. Für die Nacht verteilten sich die Brüder in die Gemächer, Bhima nahm Duryodhanas, Arjuna Duhshasanas, Nakula Durmarshanas und Sahadeva Durmukhas. In allen Gemächern gab es 1427
die weichesten Betten, die lieblichsten Mädchen mit den schönsten Lotusaugen, die schmackhaftesten Speisen und besten Weine. Erholt und erfrischt trafen sie sich am nächsten Morgen wieder. Mit gefalteten Händen ging Yudhishthira zu Krishna, der in gelber Seide gekleidet auf einem gold- und edelsteinernen Thron saß; Vishnus dreizehnsteiniger Juwel Kaushtubha, eine Gabe der Götter für seine Hilfe beim Umrühren des Ozeans, glänzte an seiner Brust. Yudhishthira fragte sanft lächelnd: “War deine Nacht angenehm, o Krishna, göttlicher Lord, Schutz der drei Welten?” Aber Krishna, in Meditation versunken, antwortete nicht. Nach einer Weile aber sprach Krishna: “Ich sehe Bhishma auf seinen Pfeilen liegen wie eine Flamme vor dem Erlöschen. Er denkt an mich. Laßt uns zu ihm gehen und seinen Rat ersuchen. Denn wenn Bhishma stirbt, versiegt die Quellen allen Wissens auf dieser Erde.” Und so gingen sie zu Bhishma, der von Asketen umgeben war wie Indra von anderen Göttern. Sie begrüßten ihn respektvoll und Krishna sprach: “O Erhabener, ist dein Geist klar wie immer? Oder peinigen dich die Pfeile und dringt der Schmerz durch den Körper in deinen Geist? Dein Vater, der König Santanu, erwarb für dich eine Gunst, die nicht einmal ich habe, nämlich daß du nur stürbest, wenn du den Tod willst. Wer, wenn nicht du, ist geeignet, den Menschen und Göttern das Mysterium von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu lehren?” “Ich begrüße dich, Krishna, aber die Pfeile, wie Feuer und Gift, verwirren meinen Geist. Ich zerfalle, kaum daß ich meine Stimme erheben kann. Doch wer kennt die Geheimnisse des Lebens und der Zeit besser als du? Wie kann ein Schüler wie ich es wagen, in der Gegenwart eines Gurus wie du zu predigen?” Mit den Worten: “Wir werden morgen wiederkommen”, verließen Krishna und die Pandavas den Ort. 1428
Sehr ruhig schlief Krishna die Nacht, wie immer erwachte er vor Sonnenaufgang. Und dann sah er in einen klaren Spiegel. “Heute gehen wir ohne Volk zu Bhishma. Wenn tiefgründige Worte gesprochen werden, sollte das Publikum klein sein.” Und wieder standen Krishna und die Pandavas vor dem gefallenen Helden. “War deine Nacht glücklich, edler Bhishma?” “Schwäche, Fieber, Ängste und Schmerzen, alles ist fort. Ich danke dir, o Krishna. Vergangenes, Gegenwärtiges und Zukünftiges sehe ich so klar vor mir wie meine eigene Hand.” “Bhishma, was du uns sagen wirst, werden die Sterblichen so heilig halten wie die Worte der Schrift.” “O Krishna, Wurzel aller Dinge, Ursprung allen Seins, das Gute wie das Böse hat ohn' Unterschied seinen Quell in deinem Herzen, es überstrahlt die Welt, dringt hervor, wie Mondlicht vom kalten Mond, wie Sonnenlicht von der heißen Sonne, wie Dunkelheit vom All.” Yudhishthira wollte dann wissen, was die Pflichten eines Königs seien. Wahrheit sei die höchste Pflicht, sagte Bhishma: “Und nie möge er verzagen, auch in der größten Not nicht, und nie möge er mit dem Gesindel spaßen, denn das ist der Anfang vom Ende, schon bald wäre er des Gesindels Spielball. Ein König muß arbeiten, immer arbeiten. Sagte nicht schon Brihaspati, der Vater der Götter: Durch Arbeit wurde der Nektar hervorgebracht, durch Arbeit wurden die AntiGötter besiegt, durch Arbeit nur regiert Indra. - Was ist ein intelligenter König ohne Arbeit? - Nicht mehr als eine Schlange ohne Gift. Ein Königreich braucht ständige Wachsamkeit. Auch der schwächste Feind ist eine Gefahr, wenn der König schläft. Ein Funke verursacht einen Waldbrand, ein Tropfen Gift tötet einen Mann.” “Was sind die Pflichten der vier Kasten?”
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“Des Brahmanen erste Pflicht ist die Selbstbeherrschung, des Kshatriyas der Schutz des Volkes, ein Vaishya soll Geschenke geben und auf ehrliche Art Wohlstand erwerben und ein Shudra soll den anderen drei Kasten dienen, dafür wird er von ihnen ernährt und erhält alte Schirme, Turbane, Möbel, Schuhe, Kleider und Fächer. Ein Shudra hat keinen Besitz, was immer er hat, gehört seinem Herrn. Aber das heißt nicht, daß die Götter das Opfer eines Shudras verachten. Was mit Hingabe geopfert wurde, wird auch angenommen. Es ist schwer, seine Pflicht zu tun, irrige Meinungen herrschen vor und Leute folgen Systemen, deren Gründer selbst verwirrt vor der wahren Natur der Pflichten standen.” Yudhishthira nächste Frage war: “Wie sollte ein Herrscher, der siegen möchte, Krieg führen, ohne Dharma zu verletzen?” “Es gibt zwei Wege der Weisheit. Einen geraden und einen krummen. Den geraden muß er gehen, wenn er angreift, den krummen, wenn er angegriffen wird. Setze einen Dieb auf einen Dieb an. Täuschung ist die beste Medizin gegen Täuschung, Betrug gegen Betrug, Hinterhalt gegen Hinterhältigkeit.” “Welche Taten bringen das höchste Verdienst, sowohl in diesem als auch im nächsten Leben?” “Die höchste Pflicht ist der Respekt, der Vater, Mutter und dem Guru gebührt. Ihr Wort ist Gesetz. Sie sind die drei Welten und die drei Formen des Lebens, sie sind die drei heiligen Feuer. Ein Lehrer ist größer als zehn gelehrte Brahmanen, ein Professor größer als zehn Lehrer, und ein Vater größer als zehn Professoren. Aber eine Mutter ist größer als zehn Väter. Und ein Guru ist sogar größer als Vater und Mutter, denn sie haben nur den Körper geschaffen, der Guru jedoch führt und formt die unvergängliche Seele.” “Wie soll man sich verhalten, wenn man öffentlich von einem eingebildeten Narren beleidigt und beschuldigt wird?”
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“Kein Narr ist größer als der, der sich zum Haß verleiten läßt. Nimm die Beleidigung hin. Wenn Narrenworte ausreichten, um unsere Ehre zu beflecken, wer von uns hätte noch Ehre übrig? Doch der, der dir ins Gesicht schmeichelt und dich hinter deinem Rücken verleumdet, der ist schlimmer als ein tollwütiger Hund; meide ihn wie die Pest!” “Was ist Gier?” “Gier ist die Wurzel allen Übels. Von Begierde kommt Gier und von Gier alle Missetat. Jeder Betrug und jede Heuchelei haben ihre Ursache in der Gier. Gier gebiert Zorn und Lust. Moralverwirrung, Unehrlichkeit, Eigensucht, Angeberei, Bosheit und Heimtücke sind Kinder der Gier, ebenso Rachsucht, Schamlosigkeit, Stolz auf Herkunft, auf Wissen, auf Schönheit und Reichtum. Gier erstickt Mitleid und fördert Mißtrauen. Gier ist der Grund für Ehebruch, Lüge, Gefräßigkeit, Gewalt und Böswilligkeit. Gier ist überall und in jedem, im Kinde ebenso wie im Erwachsenen. Gier lebt weiter, selbst wenn das Leben schon zur Ruhe kam. Tausend Flüsse können dieses ozeanische Monstrum nicht sättigen. Viel Gier schleicht auch umher im Deckmantel der Religion. Nicht alles ist heilig, was heilig tut.” “Und was ist mit Unwissenheit?” “Gier und Unwissenheit sind zwei Seiten der gleichen Münze. Unwissenheit ist ein anderer Name für Anhänglichkeit, Eitelkeit, Wollust, Ärger, Faulheit, Feigheit und Unentschlossenheit, sowie für übermäßige Freude und übermäßige Trauer. Wo Gier wächst, wächst auch Unwissenheit, und wo Gier abnimmt, nimmt auch Unwissenheit ab.” “Was ist Wahrheit?” “Wahrheit ist Pflicht, ist Buße, ist Yoga, ist Brahma. Wahrheit hat dreizehn Gesichter: Unparteilichkeit, Selbstbeherrschung, Demut, Vertrauen, Treue, Geduld, Güte, Verzicht, Meditation, Ehre, Heiterkeit, Mitleid und Ahimsa. Dies aber sind die dreizehn Laster: Zorn, Wollust, Gram, Verlust der Urteilsfähigkeit, böse Absichten, 1431
Eifersucht, Groll, Stolz, Neid, Verleumdung, Mißtrauen, Grausamkeit und Furcht. Sie sind des Menschen schlimmste Feinde, und sie umschleichen ihn wie hungrige Wölfe ein Beutetier.” “Wie soll sich ein guter Mensch in seinem täglichen Leben benehmen?” “Als guter Mensch scheißt man nicht auf Hauptstraßen, nicht in Kuhställen und nicht auf Reisfeldern. Ein guter Mensch uriniert auch nicht gegen die Sonne. Seine Waschungen vollzieht er mit reinem Flußwasser. Er bleibt nicht im Bett, wenn die Sonne aufgeht. Sein Morgengebet sagt er nach Osten gewandt auf und sein Abendgebet nach Westen gewandt. Er schläft nicht mit feuchten Füßen und einmal am Tag geht er um eine heilige Statue. Er macht keinen Unterschied, was die Speise für Gäste, Verwandte und Dienerschaft anbelangt. Er meidet anderer Leute Frauen und geschlechtlich verkehrt er nur mit seinen eigenen. Er ißt kein ungeweihtes Fleisch und zieht die Fleischstücke vor, die am weitesten von des Tieres Rücken liegen. Er sieht morgens nicht als erstes direkt in die Sonne, noch starrt er nackte Frauen an, wenn er einem anderen gehören. Was immer ein guter Mensch tut, und sei es nur das Berühren von Kuhmist, wird gut. Wenn er Speisen anbietet, fragt er: Ist das genug? Und wenn er ein Getränk anbietet, sagt er: Ich hoffe, es tut dir gut. Eine Missetat vor einem guten Menschen versteckt, hilft dem Missetäter wenig, denn eine Missetat durch eine Missetat getarnt, gebiert nur mehr Missetaten, wobei eine gute Tat durch eine andere gute Tat getarnt, mehr gute Taten gebiert. Wie der vierarmige Rahu den Mond zur Zeit der Eklipse verschlingt, so verschlingen die Folgen unserer Taten uns, die Täter.” Noch viele Ratschläge gab Bhishma den Pandavas: Erfüllte Wünsche bringen Freude, und auch der Himmel ist voller Freuden, doch diese Freuden sind nicht einmal ein Sechzehntel der Freude, die im Ersterben des Wünschens liegt. Wie eine Schildkröte Kopf und Füße einzieht, so zieht euer Verlangen und Wünschen ein. Dann wird das Atman euch scheinen. 1432
Tod ist im Körper, ebenso wie Unsterblichkeit, seid ignorant und sterbt, sucht die Wahrheit und seid unsterblich. Nichts hat bessere Augen als Wissen, nichts reinigt mehr als Wahrheit, nichts erfreut mehr als Geben, nichts macht abhängiger als Verlangen. Gebt euer Verlangen und Wünschen auf, ihr Geschöpfe des Verlangens und Wünschens! Seid abgestoßen von eurer Begier! Tod und Verfall regieren die Welt, Tod und Verfall zwingen sie nieder. Und bevor wir unsere Werke vollenden, entreißt der Tod uns unseren Werken. Und doch, wacht auf, erhebt euch, arbeitet und kämpft, kämpft den Lebenskampf, solange ihr kämpfen könnt! Seid ohne Begier, tut nur eure Pflicht, und tut sie heiteren Herzens! Und über die Frauen sagte Bhishma, daß sie, wenn sie zur Zeit der Pubertät oder innerhalb der nächsten drei Jahre nicht von ihren Eltern verheiratet wurden, sie sich selbst einen Mann suchen sollen, daß sie in eine höhere Kaste hineinheiraten dürften, aber nicht in eine niedrigere, denn der Status der Frau sollte unbedingt erhalten bleiben. Frauen werden nicht gekauft, wer das glaubt, kenne die Schriften nicht, auch keine geschäftliche Abmachung verpflichtet zur Ehe, einzig und allein der siebte Schritt um das heilige Feuer besiegelt den Bund fürs Leben. Kein Gold übertrifft den Wert einer guten Frau, selbst wenn sie aus niedriger Kaste ist. Dann erzählte Bhishma noch, daß Manu, bevor er zum Himmel ging, die Verantwortlichkeit über die Frau in die Hände der Männer legte, mit der Begründung, daß sie schwach und leichtgläubig seien und Schutz brauchten, und er erklärte, wie sehr Frauen zu lieben vermochten und wie sehr Dharma verbunden sie seien. Auch wenn es einige Biester unter den Frauen gibt, die Frauen verdienen unseren 1433
höchsten Respekt. Ehret sie, o Männer! Euer Wohl hängt von ihnen ab und eure Freuden und Vergnügen. Ehret sie, dient ihnen, hört auf ihren Rat; ob als Mutter oder als Gattin, sie sind die Wächter der Grundfesten unserer Moral. Frauen führen keine Rituale durch und keine Bestattungszeremonien, auch fasten tun sie nicht. Sie dienen anders - durch ihre Liebe und ihren Gehorsam dem Gatten gegenüber - und dadurch erreichen sie den Himmel. Wenn sie ein Kind ist, schützt ihr Vater sie, wenn sie heiratet, ihr Mann, und wenn sie alt ist, sind es die Söhne, die sie beschützen. Sie ist also nie frei. Ehret sie daher, umhegt sie und erheitert sie, denn sie ist Lakshmi, die Göttin des Wohlstandes, und dadurch, daß ihr die Frau ehret, ehrt ihr die Göttin selbst. “Was ist des Dharmas Essenz?” wollte Yudhishthira dann wissen. “Niemals sollte ein Mensch einem anderen tun, was er nicht möchte, daß ein anderer es ihm tue, dies ist die Essenz allen Dharmas. Wie die Fußstapfen eines Elefanten alle anderen Fußspuren verschwinden lassen, so ist es das Mitgefühl mit den Mitmenschen, das alle religiösen Rituale und selbst alle Religionen zunichte macht, als bloße Farce erscheinen läßt. Strebt nicht nach Glück, ihr Helden, es ist ein Narrentraum, sondern seid heiter eurer Weisheit wegen. Nur den Nach-Glück-Strebenden betrübt das Unglück. Aber Glück, perfektes und absolutes Glück, gibt es nirgends, nicht einmal in Indras Himmel. Laßt uns dem tausendförmigen Brahma huldigen, abertausend Millionen Yugas sind in ihm, und mit abertausend Füßen trampelt dieses mystische Monstrum den Kosmos. Wir sind ach so klein, schon eine Yuga können wir kaum erfassen.”
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Alle schwiegen. Nach einer Weile sagte Vyasa: “Yudhishthira ist nun zufrieden, o Bhishma. Er verbeugt sich vor dir. Gib ihm die Erlaubnis, zur Stadt zurückzukehren!” “Du magst gehen, doch komme zurück, wenn die Sonne sich nach Norden neigt und ich sterbe.”
Es war fünfzig Tage später, daß die Sonne ihre südlichen Bahnen vollendet hatte und sich dem Norden zuwenden wollte und Yudhishthira Vorbereitungen traf, Bhishma wieder zu besuchen. Priester begleiteten ihn, ebenso Verwandte, Minister und Poeten. Parfüm, Girlanden und Holz fürs Bestattungsfeuer trug man mit sich. “58 Tage habe ich hier gelegen, doch die Pfeile machten, daß es mir wie hundert Jahre erschien. Doch nun ist die Zeit um und ich bin glücklich. Mein Wunsch ist es zu sterben. Entschuldigt, daß ich euch verlasse. Seid glücklich und gedeiht und trauert nicht mehr um Duryodhana und die Kauravas. Sie haben die Welt ruiniert und sind nun tot und das ist gut so. Strebt nach Wahrheit und seid weise. Und nun lebt wohl!” Er kontrollierte seinen Lebensatem, wie durch Yoga empfohlen, und seine Wunden heilten eine nach der anderen, so daß die Lebensenergie nicht durch eine dieser Öffnungen entkommen konnte, dann sammelten sich die Energien im Kopf und durch den Scheitel schossen sie gen Himmel, wie ein heller Meteor, schließlich in des Himmels Tiefe verblassend und endlich außer Sicht. Göttliche Kesselpauken waren zu hören und Blumen regneten auf Bhishmas Leiche. Und die Welt war um so vieles ärmer.
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Sechsunddreißig Jahre nach der großen Kurukshetra-Schlacht sah man beängstigende Omen. Omen lassen ahnen, Omen warnen. Meteore krachten auf die Erde, Dunkelheit verschleierte Himmel und Höhen, blutrote Nimbusse umkränzten Sonne und Mond, im Zwielicht wanderten kopflose Geister unruhig umher. Eines Tages in diesem Jahr bekamen die Helden aus Krishnas Klan, die Yadavas, Besuch von den großen Rishis des Himmels, Vishvamitra, Kanva und Narada. Als die drei Weisen die Stadt Dvaraka betraten, kamen ihnen die Yadavas entgegen, bei sich führten sie Shamba, einen Jungen, den sie als schwangere Frau verkleidet hatten, und sie sprachen: “O ihr Weisen, seht diese Frau, sie ist die Gattin des großen Vabhra. Sie wünscht sich einen Sohn. Wird sie einen bekommen und was für einen?” Die Weisen, die sich nicht täuschen ließen, erwiderten zornig: “Shamba wird eine eiserne Keule gebären. Mit der Keule werdet ihr Narren euch selbst vernichten, nur Krishna und Balarama werden dem Tod aus eurer Hand entkommen. Balarama wird in den Ozean steigen und Krishna wird vom Jäger Jara getötet werden.” Am nächsten Tag gebar Shamba wirklich unter schrecklichen Wehen eine häßliche Eisenkeule, die wie der Todbringer selbst aussah. Man mahlte diese Keule zu Staub, den man am Strand von Prabhasa verschüttete. Doch verhängnisvoll die Zeit gnadenlos, stumpfsinnig die Straße einherschritt, mit schrecklich glühenden Augen in jedes Haus starrte. Ratten und Mäuse verseuchten die Gassen, und des Nachts knabberten sie an den Nägeln und Haaren der Schlafenden. Tongeschirr zerbrach grundlos, Feuer warfen unheimliche Schatten, frisch gekochtes Essen war, selbst wenn es gerade aus der Küche kam, schon mit Würmern verdorben. Wenn Brahmanen die Stunden des Tages segneten, oder wenn Asketen sich niedersetzten zur Meditation, so hörte man 1436
plötzlich das Trampeln unzähliger Füße. Und auch der Mond zeigte exzentrische Zeichen. Krishna, der die Zeichen verstand, rief die Yadavas zusammen: “Rahu hat wieder den vierzehnten Tag des Mondes in den fünfzehnten verwandelt. Das geschah nur einmal zuvor, nämlich als die Kauravas und Pandavas Pläne machten, sich selbst zu vernichten. Die Stunde unseres Unterganges ist nah.” Während er sprach, erinnerte er sich an die Prophezeiung Gandharis, und er war begierig, ihre Worte Wahrheit werden zu lassen, so schlug er vor, an den Strand von Prabhasa zu gehen, um dort ein Abschiedsfest zu feiern. Man soff und fraß und prahlte mit seinen Taten bei der Kurukshetra-Schlacht und schließlich bekam man das Streiten. Da verwandelte Krishna das Eraka-Gras in Eisenkeulen, mit denen die Yadavas dann das Blutbad anrichteten, in dem sie selbst ertranken. Krishna schickte seinen Wagenlenker Daruka nach Indraprastha, um Arjuna für den Schutz seiner Frauen und seines Vaters Vasudeva kommen zu lassen. Dann wanderte er einige Zeit gedankenverloren im Wald umher. Er erinnerte sich daran, daß der Einsiedler Durvasas ihn überall unverwundbar gemacht hatte außer an den Fußsohlen. Dann setzte er sich nieder und vertiefte sich in Yoga. Ein Jäger, namens Jara, kam vorbei und glaubte, ein Reh zu sehen. Sein Pfeil traf Krishnas Hacke. Als Jara näher kam, sah er einen mehrarmigen Gott in einer ockerfarbigen Robe. Er warf sich nieder und bat um Vergebung. Krishna tröstete ihn und sagte: “Du hast mir einen großen Dienst erwiesen.” Als Arjuna von der selbstmordartigen Keulenschlacht der Yadavas hörte, eilte er sofort nach Dvaraka. Die Stadt sah wie ein verzweifeltes Weib aus. Als sie Arjuna sahen, begannen Krishnas 16 000 Frauen zu wehklagen. Auch Krishnas Vater Vasudeva klagte: “Alle sind tot, nur ich lebe.” 1437
“Eine Welt ohne Krishna ist für mich eine Welt ohne Freude”, sprach Arjuna: “Aber bevor der Ozean die Stadt verschlingt, werde ich alle in Sicherheit nach Indraprastha führen. Sammelt alle eure Güter und macht die Wagen bereit. In sieben Tagen zum Sonnenaufgang ziehen wir los.” Als am nächsten Tag Vasudeva, den der Gram dahingerafft hatte, tot aufgefunden wurde, begann wieder das Wehklagen der Palastdamen. Sie schlugen sich die Brüste und warfen ihre Gewänder und Girlanden weg. Am siebten Tag zog man los, alte Leute, Brahmanen, Vaishyas und Shudras und die 16 000 Frauen Krishnas. Kaum hatte man die Außenbezirke der Stadt erreicht, als eine große Welle vom hai- und krokodilverseuchten Ozean die Stadt verschlang. Und wo immer die Karawane hinging, folgte die Flut. “Das Schicksal ist fremdartig, das Schicksal ist wunderbar!” Später im Urwald wurden sie von Räubern gesehen. “Nur ein Bogenschütze, der die Karawane verteidigen könnte, sonst nur Kinder und Frauen.” Mit Löwengebrüll griffen sie an. Arjuna hielt inne. Übermächtig lächelnd drehte er sich um: “Diesen Tag werdet ihr verfluchen, denn heute wird mein Bogen euch alle töten.” Doch dann hatte er große Mühe seinen Bogen Gandiva zu spannen. Er rief göttliche Waffen, aber keine kam. Er schoß so viele Pfeile, er hatte, aber bald waren sie alle. Früher war sein GandivaKöcher unerschöpflich gewesen. Er schlug mit seinem Bogen um sich. Er keuchte schwer. Als er sah, daß alle Kraft ihn verließ, verfluchte er sein Schicksal. Die Räuber aber rissen Habe und Frauen an sich. Einige gingen auch freiwillig.
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Nur mit einem kleinen Rest erreichte Arjuna Indraprastha. Doch dort bestiegen Rukmini und die anderen Königinnen trotz Arjunas Protest den Scheiterhaufen. Sie wollten zu ihrem Lord. Arjuna aber suchte Vyasa auf. “Krishna ist tot. Und eiserne Kolben, die aus dem Eraka-Gras des Strandes sprossen, erschlugen die Yadavas. Fünfhunderttausend Helden sind tot, nicht einer entkam. Leben ohne Krishna ist kein Glück mehr für mich. Ich bin ein Wanderer mit einem hohlen Herzen. Ich fühle mich kraftlos.” “Es ist ein Fluch, der an allem Schuld ist. Es stand geschrieben, es mußte geschehen. Nur Krishna hätte es verhindern können, aber er wollte nicht. Du siehst, es war der Götter Ratschluß, drum trauere nicht. Hinter allem steht die Hand der Zeit. Kala ist die Saat des Universums. Auch die Menschheit wird einst ihr Ende finden. Die Dinge folgen einer höheren Gesetzmäßigkeit, die unserem Wunschdenken nicht entspricht. Betrauere nicht Unvermeidlichkeit.”
Nach dem Untergang von Krishnas Klan verloren die Pandavas ein jegliches Interesse am weltlichen Leben. “Kala, Kala!” klagend, “Kala kriegt uns alle, Kala kocht uns alle, Kala kaut die Welt, Kala ist der Todeskolben, Kala ist der Keim des Kosmos”, ahnten sie, daß auch ihre Zeit gekommen war, und sie legten ihre königlichen Gewänder zur Seite und kleideten sich in Bast und Borke. Die Regierungsgeschäfte überließen sie Yuyutsu, einem Sohn Dhritarashtras von einem Dienstmädchen niedriger Kaste. Arjunas Frau Ulupi, Tochter des Schlangenkönigs, tauchte zurück in die Wasser des Ganges, seine andere Frau Chitrangada ging nach Manipura zurück. Dann machten sich die Pandavas mit Draupadi, der dunkelhäutigen Schönheit mit den lieblichen Lotusaugen, auf ihre letzte Wanderschaft. Ein Hund lief ihnen zu, schloß sich ihnen an, folgte ihnen. Durch viele 1439
Länder und Gegenden kamen sie, schließlich erreichten sie die See mit dem roten Wasser. Sie schleuderten ihre Waffen hinein. Dann zogen sie nach Süden, bis sie die salzigen Wasser erreichten, dann westwärts, bis sie zu dem Ort kamen, wo die Stadt Dvaraka unter den Fluten lag. Dann zogen sie unbeirrt nach Norden, bis sie das Himavat vor sich hatten, sie durchquerten es und das folgende Plateau. Dann sahen sie in der Ferne den höchsten Berg von allen, Meru. Mit der Kraft ihres Yogas machten sie sich auf, Meru zu besteigen, aber Draupadis Yoga versagte, und sie stürzte den Abhang hinunter. Da fragte Bhima Yudhishthira: “Warum mußte sie fallen? Sie war edel und gutmütig.” “Wir liebten sie alle gleich, aber sie bevorzugte Arjuna. Dafür mußte sie heute zahlen.” Als dann Sahadeva zusammenbrach, fragte Bhima wieder: “Warum mußte er fallen? Er war bescheiden und ergeben und versäumte nie, uns zu dienen.” “Er hielt sich für zu weise. Das war sein Fehler.” Als nächstes stürzte Nakula. Und wieder fragte Bhima, warum? “Er war perfekt, was Dharma betraf, und gehorchte uns immer.” “Er war intelligent und hatte Dharma, aber er glaubte, er sei der Schönste auf der Welt. Das war sein Irrtum.” Dann reichte auch Arjunas Kraft nicht mehr aus. Auch ihn, den großen Feindvernichter, den Übermächtigen, holte sich die Tiefe. “Selbst dieser Mahatma stürzte, er, der nie eine Lüge sprach, nicht einmal im Scherz. Was war sein Fehler?” “Er war ein stolzer Held, er versprach, alle Feinde an einem Tag zu vernichten, aber er konnte sein Wort nicht halten. Und für andere Bogenschützen hatte er nichts außer Verachtung. Das ist keine Art, im Leben zu gedeihen, noch in der Nachwelt.” Und sie stiegen weiter. Da stürzte Bhima und im Sturz rief er: “Sieh, auch ich, der ich dich so liebte, stürze. Warum?” “Du warst ein großer Angeber und ein großer 1440
Esser. Wenn du aßt, dachtest du nie an die Bedürfnisse anderer. So stürzt auch du.” Yudhishthira sah nicht zurück. Er stieg weiter. Nur noch der Hund folgte ihm. Nach einer Weile erschien Indra mit seinem Streitwagen und rief: “Yudhishthira steig ein, deine Brüder und Draupadi sind schon in meinem Himmel. Sie ließen ihre Körper auf der Erde zurück. Du aber sollst Unsterblichkeit genießen, wie du bist.” Da wollten Yudhishthira und der Hund einsteigen. Aber Indra fing an zu lachen: “Im Swarga ist doch kein Platz für Hunde. Laß das Vieh hier.” “Oh Lord, dieses Tier ist mir treu gefolgt, den ganzen Weg. Ich habe angefangen, es zu lieben. Laß ihn mitkommen.” “Heute biete ich dir Unsterblichkeit an und Wohlstand, Glück und göttliche Vergnügen, und du sorgst dich um einen Hund? Vergiß den Hund. Hunde sind schmutzig. Wenn du ihn zurückläßt, so ist das kein Verbrechen.” “Oh nein, Tausendäugiger, ich möchte keine Gaben, so wundervoll sie auch seien, wenn es erforderlich ist, jemanden zu verlassen, der mir ergeben ist.” “Versteh doch, wir haben im Himmel keine Einrichtungen für Hundehalter. Laß das Vieh hier! Das ist doch kein Problem.” “Jemanden im Stich zu lassen, ist so unmoralisch wie ein Brahmanenmord. O großer Indra, nicht für alles himmlische Glück lasse ich diesen Hund im Stich. Es ist mein Schwur, weder den Treuen, noch den Leidenden, noch den Hilfesuchenden und auch nicht den Schwachen und den, der bittet, im Stich zu lassen.” 1441
“Aber was ist ein Hund? Die Anwesenheit eines Hundes verdirbt Opfer und Gaben am heiligen Feuer. Vergiß den Hund und erlange den Status eines Gottes. Du hast doch auch deine Brüder und Draupadi zurückgelassen. Warum denn jetzt nicht auch einen Hund, wo du dir wegen deines guten Karmas die Vergnügen des Himmels verdient hast. Du hast doch alles zurückgelassen, dein ganzes Reich. Was hindert dich nur daran, auch diesen Köter zurückzulassen?” “Sieh, die drei Welten wissen, daß man weder Freund noch Feind eines Toten sein kann. Meine Brüder und Draupadi starben und es war nicht in meiner Kraft, sie wieder zurück zum Leben zu bringen. So ließ ich sie hinter mir. Doch ich hätte es nie getan, wenn sie lebten. Dieses treue Tier aber lebt. Es im Stich zu lassen, ist nicht recht. Ich bleibe. Ihr Götter genießt euren Himmel ohne mich. Niemals verrate ich Dharma, um an euren Vergnügen teilzuhaben.” Als Yudhishthira ausgesprochen hatte, verwandelte sich der Hund in Lord Dharma, und diese süßen Worte sprach er: “Du bist nobel und edel, du hast Mitleid mit allen lebenden Kreaturen. Im Himmel wird niemand sein, der dir gleicht. Deine Ziele sind immer hoch, selbstlos und rein.” Und die beiden Götter und Yudhishthira fuhren nach Swarga zu Indras Himmel.
Vyasa aber legte seine Hand an den Mund und rief, aber niemand hörte: “Nur von Dharma kommt Artha und Kama, kommt Erfolg und Glück, warum tut keiner Dharma? Leugnet Dharma nicht - nicht aus Angst, nicht aus Gier, nicht fürs Vergnügen und nicht zum Spaß. Dharma ist unendlich. Gib dein Leben auf, aber nicht Dharma. Schmerzen und Vergnügen sind vergänglich, die Seele allein ist unendlich. Dharma ist unendlich.”
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Das war das Ende einer alten Vision. Die Zukunft beginnt!
Als Adjuna aus seiner Vision erwachte, stand Bhagavan Vyasa vor ihm. Der alt ehrwürdige Archarya war nieder zur Erde gekommen, um Adjuna zu ermahnen: “Wie damals vor der Vernichtung der KshatriyaRasse, stehen wir wieder an der Schwelle der Zerstörung. Unfruchtbar sind des Menschen Pläne, selbst seine gut durchdachten, gut gemeinten, weisen, ohne des Schicksals Hilfe; wenn das Schicksal gegen ihn ist, ist selbst Weisheit machtlos; doch ist das Schicksal ihm freundlich gesonnen, gereichen ihm selbst Narrheiten zum Vorteil. Die Opfer widrigen Schicksals werden erst verführt, verlieren dann völlig das Gefühl für Recht und Unrecht. Die Zeit, die große Zerstörerin, nimmt keinen Knüppel und bricht des Menschen Schädel nicht, sondern durch das Verwirren seiner Urteilsfähigkeit läßt sie ihn falsch handeln, zu seiner eignen Vernichtung. Die Zeit, die kommen wird, wird Städte, Dörfer, die Ameisenhaufen und Sumpfnester ausradieren, Oberflächen polieren, die Eiterbeulen werden nicht rausgeschnitten, sondern mit dem gesunden Muskelfleisch ausgerissen, nur blanke Knochen werden bleiben und Knochenmehl und Knochenasche. Selbst Edelsteine werden schmelzen. Jahrtausende des Schweigens werden folgen, ehe die Welt wieder neuen Mut zum Gebären finden wird. Doch sei nicht erschüttert, das ist deiner nicht würdig, - gegen das Schicksal kann keiner. Tue deine Pflicht, in der kommenden Zeit ist richtiges Verhalten wertvoller und wichtiger denn je. Ich segne dich, Adjuna: Du sollt der letzte Mensch sein, der diesen Erdboden betritt. Und ich sage es noch einmal: Tue deine Pflicht.” Und da wußte Adjuna, daß er nicht sterben konnte, bevor er nicht seine Pflicht getan hatte. Und er wußte auch, was seine Pflicht war.
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Das letzte Kapitel
Als Adjuna aus seinem Alptraum erwachte, war die Welt eine Alpwirklichkeit, eine noch größere Alpwirklichkeit, als sie vor dem Traum schon war. Die Welt stand in Flammen, endlich in Flammen, im atomaren Feuer. Und zwar an allen Ecken. Bei den Indern waren die Eier der Plutoniumbrüter bei Bombay geschlüpft, die Küken flogen nach Pakistan und verwandelten sich in Sonnen, und auch die islamische Bombe war fertig und flog über indische Städte und verwandelte sich in Sonnen; beide Völker sonnten sich im Angesicht ihrer militärtechnischen Erfolge. Die Inder fragte sich, sollte die Yuga schon zu Ende sein, sie hatte doch gerade erst angefangen, es waren doch eigentlich noch 428 000 Kali-Jahre nach. Und die Pakistanis freuten sich auf die wunderbaren Huris, die ihr Paradies bevölkerten, und die ihnen allen zur Verfügung stehen würden, da sie in einem heiligen und gerechten Krieg gegen die Ungläubigen starben, Jungfrauen, die immer klimaxierten, rhythmisch kontrahierten, aber nie menstruierten. Nur die Frauen Pakistans hatten nichts, vorauf sie sich freuten, da das moslemische Paradies keine Lustknaben für sie kannte. Aber die Welt hatte noch mehr Ecken. Drei Ecken trafen sich am Mittelmeer, wo jedem die Abrahamitische Ehe zu eng geworden war. Ehe zu dritt war ja auch Unsinn. Wo sich doch drei immer stritten. Sie koalierten und kollidierten, aber irgendwie störten jeden die anderen Partner bei der Eigenliebe und Selbstbefriedigung. Und so lief man seiner Religion entsprechend hinterm Kreuz oder Halbmond oder Magen David her und befriedigte sich selbst seinen Vernichtungstrieb.
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Und in den Freidenkerstädten hatte es Geschäftsleute gegeben, die geheimes Militärwissen an die Nichtwisser und Nichtdenker der religiösen Landschaft verkauft hatten, so daß diese dabei waren, die Freidenkerstädte zu überrennen, - und nicht einmal die Hure Rahel, wenn sie sie kriegten, ließen sie am Leben, obwohl doch die Bibel das ausdrücklich verlangte. Der sterbenden Bevölkerung war das natürlich recht. Alle sahen es so überdeutlich, was man immer geahnt hatte: Das Beste, was man mit Menschen machen konnte, war sie umzubringen. Jeder sah, daß es das Beste war, und jeder tat sein Bestes, es zu tun. Immer dem anderen tat man es an, verständlich, denn es tat weh, wenn man es bei sich selbst machte. Und es gab so viele, viele, viele, viele, viele vielevieleviele zu ermorden, denn die Erdbevölkerung hatte sich dank humaner Enzykliken, oder Enzykliken à la “Humanae Vitae”, wie sich so eine Vermehrungsanleitung mal nannte, auf viele, viele, viele, viele, viele vielevieleviele Milliarden gesteigert. Aber es war nicht das Privileg der Katholiken gewesen, sich zu vermehren, auch die Religionsführer der anderen Konfessionen und Religionen waren so vernünftig gewesen, darauf zu achten, daß die Zahl ihrer Kredoisten und ihr Anteil an der Weltbevölkerung sich nicht durch Geburtenkontrolle verschlechterte. Nur Atheisten waren so unvernünftig gewesen, beim Gebärwettstreit nicht mitzumachen. Jetzt sollten sie das Nachsehen haben. Adjuna erinnerte sich an seinen Mord am Missionar. Ja, das war ein kleiner, letzter, lächerlicher Versuch gewesen, die Welt vom Irrsinn der Religion zu befreien, und er erinnerte sich auch an seine eigenen antireligiösen Predigten, auch das waren vergebliche Versuche gewesen, das Unwissen aus der primitiven Urzeit der Menschen war nicht zu stoppen gewesen, zu viele Menschen waren selbst primitiv, und zu vielen religiösen Predigern waren zu viele Mittel zur Verfügung gestellt worden, um das Volk zu verführen. Jetzt erlebte die Dummheit wieder Triumphe und alte Feindschaften lebten wieder auf. Man hatte den Unterschied zwischen der 1445
Gottähnlichkeit Jesu und der Gottgleichheit des Erlösers, Homoiouisie und Homousie, und mit oder ohne göttlicher Gebärerin, wiederentdeckt; und an noch anderer Stelle war der noch größere Unterschied von der Gottessohnschaft Jesu und einem Jesu, der ein bloßer Bote Gottes war, jedoch ein geringerer als Mohammed aufgestoßen; Sure 9, Satz 30: Und es sprechen die Nazarener: “Der Messias ist Allahs Sohn.” Allah schlag sie tot! Bloß Allah brauchte die Menschen dazu. So hatte eine Hochrüstung, ein Rüstungswettlauf, stattgefunden, totaler und radikaler als damals, als sich noch die Ideologen stritten, ob über die Produktionsmittel einzelne Kapitalisten oder einzelne Parteibonzen verfügen sollten. Aber Ideologien ließen sich leichter auf den Mist werfen, und damals war der kollektive Selbstmord der Menschen mißlungen, schlichtweg ausgefallen, trotz all der langen Vorbereitung und der hohen Investitionskosten. Die Investition in Waffen hatte aber die Waffenhersteller reich gemacht, und die Zerstörung der Waffen während der allgemeinen Entspannung danach hatte sie noch einmal so reich gemacht, doppelt so reich, und alles auf Kosten der Steuerzahler, wieder Gläubige, diesmal Idioten, die an einen Staat glaubten und seine Herrschaft, Herrlichkeit und Allmacht. Politiker, die den Waffenfabrikanten all die Aufträge und all das Geld zugeschoben hatten, verloren angesichts der Geldgiganten, die sie gezüchtet hatten, immer mehr an Bedeutung; sie wurden langsam zu Lohnabhängigen der Industriebosse, die dafür bezahlt wurden, vor dem Volke ihren Text aufzusagen, sonst hatten sie nichts mehr zu sagen. Die Texte schrieben die neuen Bosse, und sie schrieben Texte, die auf neue Antagonismen hinwiesen, wie das Beten mit gefalteten Händen statt mit erhobenem Hintern oder das Essen des Eis von der spitzen statt von der stumpfen Seite, und so hofften sie, die Bonanza vom 1446
großen Kommunismus/Kapitalismus-Konflikt zu wiederholen. Aber auch ihnen wurde das Steuer aus der Hand genommen von ihrer eigenen Züchtung. Aber bei dem großen Krieg ging es nicht mehr um Sieg oder ums Überleben, es ging nur noch darum, wem die Ehre zukam, alles zu vernichten. Diese Ehre würde aber zweifellos den meisten zukommen, dachte Adjuna, wie immer dem Volke, den Massen mit all ihren massenhaften Hurrraaaa-Schreiern, ja, der Pöbel hat wieder Schuld daran, und Pöbel zu sein, das ist nicht das Privileg der Proletarier, unteren Kaste und Unberührbaren, sondern Pöbel findet man selbst unter den Privilegierten, Pöbel sind all die, die feige und unselbständig mit den Massen gehen und nichts Eigenes sein wollen. Sie machen die große Vernichtung erst möglich ---- nötig.
An der pakistanisch-indischen Grenze fing das große Morden an. Hier war uraltes Kulturland, wo der göttliche Funke zum ersten Mal den Menschen traf, zündete und einen fanatischen Menschenhaß und Feuerbrand entfachte, der fortan als Religion, Mythos, Mord und Autodafé durch die Welt geistern sollte wie Nebelschwaden oder mehr noch wie Rauch und Dreck vom Ausbruch eines Vulkans. Der Gott Vishnu war als Chrishna zur Erde gekommen, in jüdischer Umgebung war aus ihm Jahrtausende später Christus geworden, Mohammed hatte das Christentum gesehen und daraus einen verbesserten Eingottglauben gemacht, und jetzt stand man sich auf indischem Boden gegenüber und erkannte sich nicht. Die beiden verfeindeten Heere stießen aufeinander, zuerst wie im Schlagabtausch sich pickende Kampfhähne und sich gegenseitig hinund herschiebende Bullen, dann brodelte das Schlachtfeld auf wie eine Hexenküche, um schließlich wie ein Gemisch von Säure und Lauge zur 1447
Ruhe zu kommen - als Leichenfeld, als neutrale Nekropole, als kontaminiertes Tabuland für Noch-Lebende. Annihiliert wie Materie und Anti-Materie hatten sich auf diesem Feld laut indischer Propaganda die besten Söhne Indras und die bösen Söhne des Anti-Gottes Vritra, der in diesem Falle Allah hieß. Während sich diese Söhne an der Front beschossen hatten im heroischen Kampf Mann auf Mann und das als Menschenmasse, starb hinter der Front eine Stadt nach der anderen den Atomtod. Die Pakistani hatten nur Verachtung für die indischen Teufelanbeter und Gemüsefresser, mit einem Allah-Akbar, Großer-Gott, auf der Zunge starben sie unter den großen Bomben der Vegetarier. Sie hatten eine fünfte Kolonne in Indien, die ihnen aber nichts nutzte, da ihre eigenen großen Bomben nicht diskriminierten. Großer Gott, wir brauchten wählerischere Waffen. - Natürlich wußte auch der frommste, daß Gott nicht lieferte.
im nU klatschten auf dem ganzen globus heerE aneinander, samsaptakas, selbstmordkommandos, natürlich hatten sie ihre BEfehle, abeR sie hatten auch ihren mordwillen und haß in sich, das war etwas eiGenEs und doch etwas fremdes, gepflanztes, gepflegteS. der grund für die mensCHeNabknAllerei war nicht erwähnenswert, kein richter hätte einen mörder wegen eines solchen grundes freigesprochen. Grund war, daß man den anderen nicht mochte, ein bißchen seine äußere erscheinung nicht und ganz und gar nicht die ProPaganda, die sich in seinem innern festgesetzt hatTe.
Die Welt war zum Großen Kampf angetreten. Liebevoll sprach man vom Großen Kampf, vom Harmageddon, und vom Großen Preis. Der Große Preis, den es bei diesem Endspiel angeblich zu erringen galt, war die absolute Herrschaft über die ganze Welt, also diesmal sollte es 1448
wirklich ein Krieg sein, der alle Kriege überflüssig machte. Nach der letzten Entscheidungsschlacht würde die Zeit des langen Friedens beginnen, das Millennium der Liebe und Gewaltlosigkeit, der Sieger würde schon alle Gewalt unterdrücken. Und die Liebe würde nicht die geschlechtliche Liebe der Geilen sein, sondern die reine Liebe der Religiösen, der Päpste oder Mullahs, oder der Ideologen. Es würde das eine oder das andere sein, aber es sollte nicht Beides sein. Die Zeit nach dem Großen Kampf sollte ohne Antagonismen sein, dafür kämpfte man.
Beim Großen Kampf, da hatten die Propheten und Erlöser ihren großen Paradetag, besonders die Doomsday-Propheten. Weltuntergangsapostel wurde man, indem man ein Leben lang verachtet, abgelehnt und erfolglos lebte, Beleidigung, Spott und Fußtritte von seinen Mitmenschen erhielt statt Anerkennung, Achtung und Liebe, indem man den Haß der anderen erlitt und sich einem keine andere Möglichkeit der Rache bot, als die übernatürliche, metaphysische Rache der Doomsday-Prophezeiung. Der Johannes der großen Offenbarung war nicht nur extrem unsauber gewesen, da er sich nie gründlich wusch, sondern er war auch, was seine kretinen Predigten betraf, nicht sehr erfolgreich gewesen, die meisten, die ihn gehört hatten, hatten ihn verlacht wegen seines albernen Christentums und weiter ihr lustiges Leben gelebt. Das war der Giftwurm gewesen, der an seiner Seele fraß, und ihm seine Rachephantasien gab - wie eine Lullaby zur Beruhigung. Er war ein armer Hanswurst gewesen, häßlich, schwächlich, dümmlich; den Damen konnte er nicht imponieren; verführen und ins Bett kriegen konnte er sie schon gar nicht; einem männlichen Faust- und Ringkampfe ging er aus dem Weg, da ihm die Muskeln fehlten; auch das Schwert verstand er nicht zu führen.
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Dieses elende Wesen rettete sich und seine Selbstachtung, indem es sich einen Menschensohn phantasierte, dem ein scharfes, zweischneidiges Schwert aus dem Halse hing. 1 Er hatte endlich im hohen Alter verstanden, was ein inuitischer Angakoq schon in jungen Jahren begriff, nämlich, wie man trotz Mängel und Schwächen großartig erschien. Jetzt sprach Johannes mit der Autorität Gottes hinter sich, direkt hinter sich im Hinterkopf, und nicht nur an Heiden, sondern an jedem und jeder nahm er seine Rache; wer immer ihn auch aus welchen persönlichen Motiven auch immer hatte mißachtet, der bekam jetzt den Haß Gottes zu hören; eines Menschen Gott war jedoch immer nur ein Abbild des Menschen in seinem Innern, ein inneres Selbst, ein inneres Möchte-Gerne-Groß. Die christliche Prophetin Isebel der Gemeinde zu Thyatira war sympathisch, erfolgreich und attraktiv, alles Eigenschaften die Johannes vor seiner großen Gottestrickvision nicht besaß. Seine Rache traf also auch sie: “Siehe, ich werfe sie auf ihr Bett (!) und werfe in große Trübsal, die die mit ihr die Ehe gebrochen haben, wenn sie nicht lassen von des Weibes Werken, und ihre Kinder will ich zu Tode schlagen.”2 + 3
1
Ich empfehle dem Leser, sich an dieser Stelle einmal mit der Offenbarung des Johannes vertraut zu machen.
2
Offenbarung 2:22-23
3
Die Offenbarung ist nach Meinung der Christen und laut Vorwort direkt von Gott offenbart worden, der einzige Teil des NTs, der für sich die direkte Autorschaft Gottes in Anspruch nimmt. Christlichen Abtreibungsgegnern, die den Tod unschuldiger, ungeborener Kinder beklagen, sollte der obige Fluch zu denken geben. Es lohnt sich nicht, die Welt überzubevölkern für quatschige, religiöse Vorstellungen, die nicht einmal einem Blick in die Bibel standhalten. Gott ist der Baby-, Kinder- und Erwachsenenmörder par exellence. Gut, daß es ihn in Wirklichkeit gar nicht gibt, schade, daß er so viele Gläubige hat. - Oder schade, daß es ihn in Wirklichkeit gar nicht gibt, sonst hätten wir jemanden, an dem wir uns für all die Morde rächen könnten.
1450
Wer geschlagen und getreten wurde besonders in der Kindheit und Jugend, einer Zeit, in der sich der geschlechtliche Geschmack formte bei den Menschen, der neigte leicht zu sadomasochistischen Fantasien: “Welche ich lieb habe, die strafe und züchtige ich!”1 Johannes Fantasien überstiegen noch die von Marquis de Sade, obwohl dessen Offenbarung `Les 120 Journées de Sodome' die kommenden KZs der Modernen, der Juntas und Klerofaschisten, und des Zweiten Mittelalters schon sehr gut vorweggenommen hatte, aber natürlich vom ersten Mittelalter beeinflußt war. Ein Visionär übertraf den anderen. Was für eine Vision! “Und es ging heraus ein anderes Pferd, das war feuerrot. Und dem, der darauf saß, ward gegeben, den Frieden zu nehmen von der Erde und daß sie sich untereinander erwürgten, und ihm ward ein großes Schwert gegeben.”2 “Und ich sah, und siehe, ein fahles Pferd. Und der darauf saß, des Name hieß Tod, und die Hölle folgte ihm nach. Und ihnen ward Macht gegeben über den vierten Teil der Erde, zu töten mit dem Schwert und Hunger und Tod und durch die wilden Tiere auf Erden. Und da tat es das fünfte Siegel auf und ich sah unten am Altar die Seelen derer, die getötet waren um des Wortes Gottes und um ihres Zeugnissen willen. Und sie schrieen mit großer Stimme und sprachen: Herr, du Heiliger und Wahrhaftiger, wie lange richtest du nicht und rächest nicht unser Blut an denen, die auf der Erde wohnen? Und ihnen wurde gegeben einem jeglichen ein weißes Kleid, und ward zu ihnen gesagt, daß sie ruhen müßten noch eine kleine Zeit, bis daß vollends dazu kämen ihre Mitknechte und Brüder, die auch noch sollten getötet werden gleich sie.”3
1
Offb. 3:19
2
Offb. 6:4
3
Offb. 6:8-11
1451
Viele geistigarme Gläubige hatten immer wieder aus der Apokalypse die Kraft geschöpft, sich gegen intelligentere Mitmenschen zu behaupten, und die Hoffnung gefunden, am Ende doch noch trotz ihrer Mängel zu triumphieren. Der Weltuntergang gehörte wie die Hölle zum Drohmaterial der Religionen und Religiösen, nicht nur der christlichen. Da die Endzeit aber in den westlichen Industrieländern in eine christliche Zeit fiel, wurde der johanneschen Offenbarung und den Endzeit-Kapiteln der Evangelisten besondere Bedeutung beigemessen. Eigentlich hatten die christlichen Evangelisten die endzeitlichen Visionen eines Juden wiedergegeben, aber da dieser Jude mit dem christlichen Messias identisch war, störte sich trotz erneut aufblühendem Anti-Semitismus wieder keiner der etablierten Christen an diesem Widerspruch. Für sie war der wegen des Großen Krieges zu erwartenden Weltuntergang auch ein Kommen Christi, ein Wiederkommen Christi, das sie erwarteten. Atheisten hätte gerne darauf verzichtet, ebenso Pazifisten und Menschenfreunde. Aber hier die letzten Wehen und das Kommen Christi direkt aus der Bibel - aktualisiert - Matthäus, Markus, Lukas1 als Mixtum compositum: “Wahrlich, ich sage euch: Es wird nicht ein Stein auf dem anderen bleiben. - Sag uns, wann wird es geschehen. Was werden die Zeichen sein? - Es werden viele kommen unter meinem Namen und sagen: Ich bin's, ich bin der Christus, und sie werden viele verführen. Folget ihnen nicht! Wenn ihr aber höret von Kriegen und Kriegsgeschrei, so fürchtet euch nicht. Es muß so geschehen. Aber das Ende ist noch nicht da. Es wird sich erheben ein Volk wider das andere und ein Reich wider das andere. Erdbeben, Pestilenz und Inflation. Auch werden große Schrecknisse und Zeichen vom Himmel geschehen: Bombengeschwader, Interkontinentalraketen, atomare Konflagration. Aber vor all diesem werden sie die Hände an euch legen und es werden euch überantworten die Führer und Gaufürsten an ihre 1
vgl. Matth. 24, Mark. 13, Luk. 21, 5-34
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KZ-Schergen und Henker. Die Synagogen werden brennen und viele von euch werden getötet werden. Und ihr Juden werden gehasset werden in meinem Namen und viele Anfechtungen werdet ihr erleiden. Viele Propheten werden sich erheben, falsche Lehren werden gepredigt werden in meinem Namen, und viele werden sich verführen lassen. Der Unglaube wird überhand nehmen, die Gebote werden nicht mehr geachtet werden, der Sabbat nicht mehr geheiligt werden, stattdessen macht man sonntags frei. Und was ich als Jude zu euch Juden spreche, wird den Gojim der Welt gepredigt werden und dann wird das Ende kommen. Die heiligen Stätten werden zerstört werden von christlichen Fanatikern, wie einst von Kreuzrittern so auch von Bomberpiloten. Wehe aber den Schwangeren und Säuglingen! Die Strahlenschäden sind groß, mißgestaltet werden sie heranwachsen. Eine große Trübsal wird sein, wie sie nicht gewesen war vom Anfang der Welt. Und manch einer wird die große Not ausnutzen und sagen, er sei der Christus oder sein Vertreter auf Erden oder er sei ein Prophet. Und sie werden Wunder tun und große, heilige Zeichen und Gesten, sich bekreuzigen, knien, den Dreck des Erdbodens küssen und die Hände gen Himmel recken. Glaubt diesen Lügnern nicht! Sie wollen sich nur bereichern und meinen wenigen Auserwählten, deren Rettung ich schon lange vorherbestimmt habe, verführen. Wenn jemand zu euch sagt: Siehe, hier ist der Christus! oder da ist sein Vertreter auf Erden! so gehet nicht hin und glaubet es nicht! Wo Aas ist, da sammeln sich die Geier. Seid weder Aas noch Geier! Bald nach der großen Trübsal werden Sonne und Mond ihren Schein verlieren, die Sterne werden vom Himmel fallen und die Kräfte des Himmels werden ins Wanken kommen. Und dann wird das Zeichen des Menschensohnes mit starken Scheinwerfern an den Himmel gemalt werden. Und bald danach werde ich selbst die Wolken des Himmels durchbrechen mit großer Kraft und Herrlichkeit in einem energiereichen Raumfahrzeug. Die Triebwerke werden tönen wie tiefe Trompeten, ach nein, wie helle Posaunen. Und die Matrosen meines Raumschiffs werden die Auserwählten einsammeln. Die betrügerischen Bekreuziger und Sakramenter und Scheinwerferbetätiger und Himmelsbemaler und Büßer und Beter werden nicht darunter sein. Die Auslese erfolgt nach eigenwilligen Gesichtspunkten. Da werden zwei auf dem Feld sein, der eine wird angenommen, und der andere wird verworfen werden; zwei werden 1453
mahlen an der Mühle, der eine wird angenommen, der andere wird verworfen werden, da sitzen zwei in einem Auto, der eine wird angenommen, der andere wird verworfen werden; (hoffentlich bleibt der am Steuer als Verworfener auf der Landstraße!). Wahrlich, ich sage euch: Das Menschengeschlecht wird nicht eher vergehen, bis nicht alles geschehen ist! Dann aber ist das Reich Gottes nahe, welches sich im interstellaren Raum befindet. Himmel und Erde werden vergehen, aber meine Worte nicht! Schnell noch ein paar Diätvorschriften: Hütet euch, daß euere Herzen nicht beschwert werden mit Fressen und Saufen!” Warum sollten nur religiöse `Messiahs' die Ankunft der Endzeit propagieren, warum nicht auch Atheisten? Es gab aber auch atheistische Endzeit-Propheten, wie Holmgeirr der Inselsperr, die lehrten, daß, wenn die Menschen den Religionen weiter Glauben schenkten, dann würden sie sich eines Tages so unversöhnlich bekriegen, daß sie die apokalyptischen Visionen ihrer Religionen verwirklichten und das Ende ihrer Existenz herbeibombten. Die einen phantasierten den Untergang, die anderen führten ihn aus. Beim Großen Kampf, da hatten die Ausführer ihren großen Paradetag. Es gab sie in den verschiedensten Ausführungen.
Im Großen Kampf, da war der Mensch endlich wieder der Kriegsknecht, der er immer sein wollte.
Im Großen Kampf: Die Soldaten, die kämpfend starben, man brauchte sie eigentlich gar nicht, denn die Todesmaschinerie des Krieges arbeitete auch ganz gut ohne sie. Doch ließe man die Männer zu Hause unter den Bombenteppichen der Luftangriffe, so bestände die große 1454
Gefahr, daß sie loszögen, die Herren Kriegs- und Waffenlobbisten zu suchen, um sie zu erschlagen. So war es besser - so entschied man -, erst einmal konventionell mit Pistölchen und Kanönchen Krieg zu führen, - um die Massen zu faszinieren und zu dezimieren. Erst danach sollten die modernen, hochtechnischen Waffen die Entscheidung herbeiführen.
Der Mensch war Kriegsknecht - ein Knecht von der Idee, Krieg zu führen, besessen. Ein Knecht des Krieges, ein Knecht der Gewalt, die sein Leben bestimmte. Ein Unfreier, der glaubte für die Freiheit zu kämpfen. Bäng bäng! Angetreten stand er, ein jeder nach seiner Art: Der Europäer stand wie ein greiser General, voller Würde und voller Müdigkeit, er hielt sich immer noch für das Zentrum der Welt (schließlich hatte er ja die Welt entdeckt), obwohl er geographisch gesehen der Wurmfortsatz Asiens war und militärisch ein Anhängsel des WASPenlandes. Er klammerte sich ängstlich an diese Großmacht wie einst die Griechen an den römischen Busen oder Po, ängstlich und würdelos, nur den vermeintlichen Barbaren gegenüber versäumte er nicht, mit seiner Würde zu imponieren. Der Europäer stand Gewehr bei Fuß, vorsichtig hob er es ein bißchen an, um zu prüfen, ob es auch nicht zu schwer sei. Die moderne Technik und allgemeine Automation hatte ihm so viele Handschläge abgenommen, daß seine Muskeln verkümmert waren. Jetzt stand er Waffe bei Fuß, um seinen WASPen-Freunden einen 1455
Freundschaftsdienst zu erweisen und sich zu verteidigen; er sehnte sich aber zurück nach seinem Ohrensessel vor dem Videoschirm. Konnte man da nicht den Krieg auskämpfen? War einem so etwas nicht schon oft vorgemacht worden? Jetzt stand er plötzlich frierend im Freien. Es war nicht nur ernst, es war auch kalt. Der Europäer träumte von seiner schönen, gemütlichen Welt: Seit die Städte verrohrt waren, lieferten die Fabriken alles aus ihrer komplizierten Technik direkt frei Haus auf Knopfdruck. Sollte man das jetzt wirklich alles aufs Spiel setzten? Vielleicht wurde alles kaputtgebombt, all der Komfort, all die `conveniences'. Selbst zu kochen brauchte man nicht mehr: das Essen, künstliche, hygienisch einwandfreie Speisen aus Biochemiefabriken, gesünder und wohlschmeckender als jede Naturkost, kam ebenfalls jeder Zeit per Knopfdruck direkt ins Haus. Dem Soldaten lief bei dem Gedanken an Biochemo-Bissen das Wasser im Mund zusammen. Eine Granate schlug in seiner Nähe ein und riß den Soldaten aus seinen Träumen. Wo war er? Ah, auf dem Schlachtfeld, es hatte Bumm gemacht, die Schlacht ging also los. Er warf sich, wie er es gelernt hatte, auf den Boden. Dreckiger Boden dachte er. Dreckiger Krieg. Er hatte, als es Bumm gemacht hatte, ein bißchen in die Hose gemacht. Nur ein kleiner Kloß. Aber es war unangenehm. Zu Hause, da hatte er ein schönes, modernes Bad. Nicht einmal selbst zu waschen brauchte man sich darin. Man setzte sich in der Bade-Box auf einen Sessel, und der Raum füllte sich von selbst bis zum Hals mit Warmwasser, in dem kleine Bürstenbälle flottierten und die Haut frottierten, rieben, reinigten und gleichzeitig massierten. Aus der Sitzplatte des Sessels erschien automatisch eine Hand, die die Gesäßfalte entlang auf und ab fuhr zur Reinigung und Erheiterung. Außerdem erschienen von der Rückseite des Sessels zwei Hände, die das Gesicht, die Haare, den Kopf wuschen. Finger, die in Ohrlöffel und Wattestäbchen endeten, reinigten ihm sogar die Ohren. Die Erinnerung an die Sauberkeit tat ihm gut, jetzt wo er so schmutzig war.
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Er erinnerte sich jetzt an ein Gespräch mit einem Konsumverweigerer, der hatte behauptet: `Die Natur hat alles gut eingerichtet, wir brauchen nicht dazwischen zu greifen. Den Ohrenschmalz muß man nur so weit entfernen, wie man mit dem kleinen Finger kommt. Man nehme keine Hölzchen oder anderen Reiniger, denn man stopft damit den Dreck nur nach innen. Ein Ohr sorgt für sich selbst.' Er hatte damals gesagt: `Du bist also der Meinung, daß die Natur alles gut eingerichtet hat und selbst für alles sorgt. Aber was ist mit dem After, der ist doch nicht selbstreinigend, sonst brauchten wir die Spülund Abwischanlagen an unseren Toiletten doch nicht?' Der Konsumverweigerer hatte darauf geantwortet: `Nein, solche Anlagen brauchen wir nicht, denn die Natur hat uns Arme gegeben, die gerade lang genug sind, um dort selbst abzuwischen.' `Igitt, was für ein Gedanke', so hatte er damals empört reagiert... ...und jetzt lag er hier in der Scheiße und wußte nicht, ob er die Hose runterziehen sollte, um da unten abzuwischen, oder ob er sie lieber oben lassen sollte, was auch hieß, die braune Masse am Gesäß zu lassen, oder vielleicht die Beine runterkleckern zu lassen, dafür aber behielte er die Hände am Schießprügel und konnte wie ein Schießhund aufpassen, ob sich Feinde zeigten. `Machen wir uns nichts vor', gähnte der europäische Soldat, diesmal Gewehr bei Backe, Wange für feine Leute, die auch angesichts des Krieges nicht den Sinn für überkorrekten Sprachgebrauch verloren, `Europa, das gewiß einmal viel geleistet hat, ist müde geworden, und mit ihm jeder einzelne Europäer.' Der erlösende Dornröschenschlaf sollte nicht auf sich warten lassen. Kein Paukenschlag konnte ihn mehr wachkriegen. Lassen wir Europa hinter uns. Endlich will ich Großes sehen, will wieder Optimismus und Wagemut um mich wittern und barbarische
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Grobheiten grölen hören, wie sie ein jedes Volk zur Morgenröte seines Aufstiegs von sich gibt. Mit Optimismus und Wagemut gingen all jene Völker in den Großen Krieg, die nichts hatten außer den großen Hunger, denn jetzt plötzlich hatten sie eine Waffe in der Hand, das war doch schon immerhin mal was, ein Anfang. Woher hatten sie die Waffen? Von den Schwellenländern, von ehemalig armen Ländern, die jetzt an der Schwelle zum Reichtum standen und dachten, im großen Waffengang schneller durch die Tür zu kommen. Es war die wirtschaftliche Entwicklung schuld. Arbeit war in den reichen Industrieländern zu teuer geworden, so wanderte die Arbeit ab in arme Länder, eigentlich wanderten die Fabrikationsanlagen ab. In den armen Ländern wurde man dadurch ein bißchen reicher. Eigentlich hätte die Entwicklung wie folgt weitergehen sollen: In den reichen Ländern Arbeitslosigkeit, Verarmung, dadurch kein Konsum, kein Absatzmarkt mehr. Aber kein Problem für die Fabrikanten! Die Arbeiter, die in den Entwicklungsländern an den neuen Fabrikanlagen arbeiteten, erstreikten sich höhere Löhne, wodurch in ihren Ländern ein neuer Absatzmarkt und neuer Wohlstand entstand. Nach diesem System wären alle armen Länder reich geworden, bis die Arbeit in ihnen durch Streiks immer teurer und teurer geworden wäre, bis sie das Niveau der ehemaligen Industrieländer, wo durch die hohe Arbeitslosigkeitsrate das Lohnniveau natürlich immer tiefer gesunken wäre, erreichte. Dann wäre es egal geworden, wo man produzierte, Arbeit und Wohlstand hätte sich auf der ganzen Welt ausgebreitet, am Ende wären Lohn- und Preisniveau auf der ganzen Welt gleich. Es war nicht so gekommen. Die Regierungen der armen Länder hatten auf die ersten Streikenden schießen lassen, in der Annahme, sich und den ausländischen Fabrikanten einen Gefallen zu tun. Die hatten auch tatsächlich eine Belohnung dafür gezahlt. Um die Bevölkerung auch weiter in Schach zu halten, wurde immer mehr Militär und Polizei 1458
benötigt. Schließlich fühlte man sich so stark und mächtig mit all den willigen Militärmenschen, den Robot-Mörderhülsen, daß man meinte, gemeinsam mit den armen und hungernden Völkern eine Armee aufstellen zu können, die beim Großen Kampf die Trophäe erheische. Pancasila und Panafrika gegen Panamerika und die Eu. Pan-Islam gegen eine katholisch-protestantische Koalition - und ein russisch-orthodoxes Land, das nicht friedlich abseits stand und zuschaute (keine respektable Großmacht tat so etwas, wenn Weltkriegs-Zeit war!), sondern Angst hatte, daß, wenn es nicht mitmischte, nichts von der Beute abbekam. Da man im Zarenreich wohl meinte, daß mehr Beute in den westlichen Industrieländern zu holen sei als anderswo, und man außerdem einen gesunden Haß auf die papistischen und protestantischen Ketzer hatte, die in Friedenszeiten so frech ihre Missionare ins Land geschickt hatten, fiel die Entscheidung leicht. Und bei diesem Wahnsinn hielten sich noch immer einige Städte der Freiwisser und Freidenker. Auch wenn sie ihre überlegenen Waffen und die unsichtbaren Wälle ihrer Städte verloren hatten, durch ein besonderes System der Tarnung überlebten viele. Dieses System nannte sich Im-Klosett-Verkriechen. Außerdem waren es Freiwisser und Freidenker gewesen, die den Mond kolonialisiert hatten. Und ihre plötzliche Abhängigkeit von den religiösen, irdischen Ökonomien stieß ihnen übel auf. Wie die nordamerikanischen Kolonien Großbritanniens Unabhängigkeit vom britischen Mutterland gefordert hatten, so hatten die Mondkolonisten Unabhängigkeit von Muttererde gefordert. Aber die irdischen Ökonomien hatte diese Unabhängigkeit immer verweigert wegen der Ausbeutung der Erzlager. Erde und Mond waren also bewohnt von Menschen. Aber das Menschsein als Gemeinsamkeit zu haben, hieß nicht unbedingt, daß man viel gemeinsam hatte. Wie auf Erden also auch auf Mond. 1459
Die irdischen Abgesandten, die die freiheitlich gesonnenen Mondsiedler in Schach halten sollten, wurden aber, als zu große Spalten die Erdenmenschheit entzweiten und der fürchterliche Krieg zwischen ihnen tobte, nach einem kurzen, aber mühsamen Gemetzel beseitigt. Und auf dem Mond herrschte Einigkeit darüber, daß das ein gutes Werk gewesen war. Die Siedler des Mondes fühlten sich sicher. Sie glaubten, sie hätten einen sicheren Ort, einige glaubten sogar, sie hätten den sichersten Ort. Und sie hielten sich sogar für überlegen, was Raumschiffschlachten betraf. Weil man über eine große Raumflotte verfügte, glaubte man, den außeratmosphärischen Raum zu beherrschen, wie einst die legendären Engländer die Meere. Andererseits dachte man, die durch den Krieg schwächer werdende Erde werde eine leichte Beute werden. Und man erinnerte sich des alten Grolls, den man auf die Erdregierungen hatte, von denen man sich so mühsam die Unabhängigkeit abgerungen hatten. Und fortan kreiste der Mond wie ein Geier über der Erde. Ein auf Aas wartender Geier. “Man erdachte sich eine Kriegslist. Da man den Mond mit Antriebsdüsen lenkbar gemacht hatte, konnte man ihn dichter an die Erde heranfliegen, aber sich aber auch von ihr entfernen. Man holte den Mond dichter an die Erde heran, schleifte die Mondberge und schüttete sie in die Erdmeere, verschüttet so submarine Städte und Siedlungen. Dadurch wurden auch die Meeresfestungen der Erdbewohner, riesige, befestigte Inseln teilweise überschwemmt, teilweise auf dem Landweg erreichbar. Mit Riesenmaschinen, wie sie die Erdbewohner nicht benutzten, nicht benutzen konnten, da ihre Straßen zu eng waren, stürmten die Lunauten die Burgen und Energielager der Erdwürmer. Die Kruste der Erde bebte unter diesem Krieg, als wollte sie die Plagegeister abschütteln. Aber die Lunauten bissen sich fest und es waren nur die Erdenbewohner, die litten.”
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“Nein, so kommt es nicht wirklich. Das ist das Programm eines Computerspiels für junge Mondlinge. Damit sie lernen, wer ihr Feind ist.” Der Mond zog weiter seine gewohnte Mondbahn, er war zu weise aus einem Computerkinderspiel ernst zu machen. Er war so weise wie ein Geier, der Warteschleifen über dem Todeskampf Verendender flog.
Wie trat nun der Nordamerikaner an? Wie drängte er in den Tod? Ohne Furcht und Verstand, und doch verstand er es, andere vorzuschicken. Nordamerika, das erst in der zweiten Hälfte des zweiten Jahrtausends nach der Zeitrechnung des vorvorletzten Erlösers von weißen Herrenmenschen und schwarzen Sklavenmenschen überflutet worden war, die Einheimischen verdrängend, mordend, ausrottend, hatte mit indianischer Strenge eine hohe Blüte, Macht und Reichtum erreicht, erkämpft, doch in den Städten blühte der Straßenkampf und Terror, denn die Erdgeister, 1 indianische Seelen, die keinen lebenden Indianer
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`Ahnengeister in Amerika' ist eine Beobachtung, die einmal C. G. Jung machte (Studienausgabe bei Walter: Seelenprobleme der Gegenwart, S. 146ff). Ich selbst konnte einmal eine ähnliche Beobachtung machen, nämlich, als ich hier in einem Tokioter Stadion die in der Art von Waschmittelwerbung abgehaltene Propagandaveranstanltung des amerikanischen Evangelisten Billy Graham zwei Stunden lang auf meine Sinne einhämmern ließ (Zum Glück war ich robust genug und endete nicht behämmert als Jesus und Billy Graham Fan). Dabei zauberte er allerdings nicht, sondern beließ es bei seiner primitiven Show bei Lügen und Bekenntnissen zu Verbrechern wie den Kreuzrittern. Für so einen hielt er sich selbst, und er forderte die japanischen Christen (ca. 1% der Bevölkerung) auf, ebenfalls wie Kreuzritter zu werden. Zum Glück leistete ihm keiner Folge.
Daß es primitiv war, kann ich beschwören, aber daß ein Erdgeist in ihm inkarniert war, nicht. Magie und Zauberei findet man in Büchern der Christian Science.
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zur Inkarnation fanden, gönnten den neuen Menschen nicht den Segen des Friedens, Ruhe, Reife und Zufriedenheit. Die Erdgeister aber waren primitiv. Das Christentum der weißen Herren, in der Alten Welt schon fast überwunden oder umgelogen zu einem modernen DeÏsmus, war hier wieder zu primitiver Magie und Zauberlehre geworden. Mit der Wissenschaft hatte man es ähnlich getrieben. Einst hatte man sie primitiv fanatisch hochgetrieben. Dann hatte man sie primitiv fanatisch verdammt. Man genoß fundamentalchristlich die Produkte der Wissenschaft, deren Existenz man leugnete, flog in Superjets um den Globus, um die Flache Welt zu propagieren. Und Kultur? Zu lange schon hatten sich die Erdgeister kultiviert gegeben, hatten mit Messer und Gabel gegessen und sich bemüht, mit den Leuten der Alten Welt zu konversieren. Jetzt hatten sie wieder Sehnsucht nach entvölkerten Gegenden, öd' und leer, Ebenen mit vereinzelten Büffelherden und noch einzelneren Menschen, harten, unmenschlich harten, einsamen Menschen, stolz und aufrecht wie eine Felswand, entmenschlicht, scharfe, gefühllose Gesichtszüge, Menschen, die ebensogut Wind oder Stein hätten sein können, übermenschlich, unheimlich. Übermenschlich, unheimlich war der Drang, mit dem sich die Amerikaner alten Schlages, dieser schwarzweißrotgelbe Eintopf, in Krieg und Tod drängen sollte. Die Erdgeister sollten lange warten auf ihren Neuen Indianer und die Büffelherden, in der Tat mußten sie sehr sehr lange warten, warten bis sich wieder Leben regen sollte, und das sollten Mikrobien sein. Die Wartezeit sollte selbst Geistern zu lang werden. Dem zweiten Gesetz der Thermodynamik gehorchend, flossen sie vorher ab in Entropie.
Der britische Biologe und Nobelpreisträger von 1960 für Physiologie Peter Brian Medawar ist der einzige mir bekannte, eminente Wissenschaftler, der sich die Mühe gemacht hat, mit wissenschaftlichen Mitteln dem pseudowissenschaftlichen Obskurantentum eines Gustav Jungs oder eines Teilhard de Chardin zu entgegnen.
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Sollte alles sinnlos gewesen sein? Die neuen Mikrobien freuten sich ihres Lebens, führten ihre Kriege, doch waren sie sich dessen noch unbewußt.
Afrika, Panafrika, die Vereinigten Staaten von Afrika, auch sie traten an zum Großen Krieg. Nicht alle Nationen Afrikas machten mit in der Föderation. Die Araber hatten auf Grund ihrer Religion zu einer eigenen panarabischen Großmacht zusammengefunden. Für den Krieg aber bildeten sie eine Allianz mit den Afrikanern. Nur zu gern ließen sie die afrikanischen Heere durch die Sahara dem europäischen Kontinent zustreben. Die Afrikaner sollten die ersten sein, der Araber wollte sich gern mit dem zweiten Platz zufrieden geben. Der panafrikanische Staat war in gewisser Hinsicht das Gegenteil des nordamerikanischen Staates. Während man in Nordamerika von einer ehemaligen Blüte bergab ging, strebte man in Afrika aufwärts. Hier wie dort gab es hochmoderne Zentren neben Slums und primitiven Landgemeinden, Reiche neben Armen, die Hunger litten, und da es keine Geburtenkontrolle gab, wurden die Gegensätze immer grasser. In Nordamerika gab es zwar wesentlich mehr Reiche als in Afrika und auch viele Wohlhabende, aber in Afrika hatte die kleine Elite der Reichen und Gebildeten mehr von ihrem Reichtum. Ungehemmter bedienten sie sich wie alle Neureichen. Die ehemaligen Neureichen Amerikas hatten sich mittlerweile alle alte Adelstitel angeeignet und sich in das Korsett feiner Lebensformen eingezwängt. Habgier war offiziell tabu, Wohltätigkeit nach außen hin die wichtigste Tätigkeit, die unaufrichtigste Tugend. Im Geheimen kämpfte man genauso brutal wie Straßengangs um Reviere und Macht und mehr Reichtum, sogar um ein tugendhaftes Ansehen. Solchen Eiertanz erwarteten die Neureichen Afrikas nicht von ihren Mitreichen. Sie protzten offen mit ihrem Reichtum und dachten nicht daran, den Armen wenigstens als Geste eine Almose zukommen zu lassen. Sie zahlten Hungerlöhne und
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als die maschinelle Fertigung billiger kam, setzten sie die Leute auf die Straße. Aufstände wurden sofort blutig niedergeschlagen. Da die Armen aber vom Hungern kraftlos waren und es ihnen auch an Mut fehlte, waren sie weder für die Reichen noch für die Regierenden ein Problem, gesättigte und übersättigte Massen waren schwerer zu regieren, meinte jedenfalls die Power Clique, deshalb protestierten sie auch als die UN Notnahrung schicken wollte. So etwas sei Kolonialismus. Bei den Armen verbreiteten sie das Gerücht, daß die Weißen sie mit der Notnahrung vergiften wollten. Impotent machende Gifte seien darin, Seuchen, noch schlimmer als Aids. `Mit dem Weizen wollen die Weißen uns wieder versklaven', hieß eines der Machtworte der Marktführer und Herrschenden. Als ob die Weißen noch Sklaven brauchten. Die Armen Afrikas waren zwar unterernährt, aber nicht wie in Amerika obdachlos, denn die UN hatte für die Armen Kapselwohnungen zur Verfügung gestellt. Da die einheimischen Regierungen sie verteilt hatten und die Armen nicht lesen konnten, ernteten die Einheimischen die Dankbarkeit. In so einer Kapsel war man sehr geschützt. Die Tsetse-Fliegen und Moskitos konnten einem darin nichts anhaben, auch vor Regen, Wind und Sonne war man geschützt. Manch einer weinte beim Einzug vor Freude. - Und schwor ewige Dankbarkeit an die falsche Adresse. Diese Kapseln waren eine ursprünglich in Japan gemachte Erfindung, die dort als Kapselhotel bei Geschäftsreisenden sehr populär gewesen war. Eine solche Kapsel war praktisch eine drei Meter lange Plastikhülse mit ein Meter achtzig Breite oder besser Durchmesser, denn die Ecken und Kanten waren stark gerundet. Jede Kapsel besaß eine eingegossene Steckdose und eine Lampe, die nie kaputt ging, allerdings oft nicht brannte, da die Stromversorgung für die Slums meist abgeschaltet war. Dem Eingang gegenüber war ein Plexiglasfenster angebracht, das aber meistens nur wenig natürliche Helligkeit hereinließ, denn die Kapseln waren in stabilen Rahmen eingehängt, dreireihig übereinander leicht versetzt, wobei die Eingänge 1464
alle zur gleichen Seite lagen und wegen der leichten Versetzung über nebeneinander stehenden Leitern einzeln zugänglich waren. An die Seite mit dem Plexiglasfenster stieß im allgemeinen schon die Rückseite des Parallelblocks. Die meisten verfluchten also das kleine Fenster. Einige hatten sich beim Versuch, das Ding zuzunageln, ihre Kapsel versaut, denn die Hülse platzte leicht, riß und splitterte. Auf jeden Fall entstand ein Loch in der dünnen Haut, so daß Feuchtigkeit sogar Regen reinkam. Um das Wasser wieder loszuwerden, schlug man ein Loch in den Boden und zerschlug dabei oft aus Versehen gleich die Decke des unter einem Wohnenden. Wegen akuten Platzmangels hatte man in den meisten Städten gut verankerte und verstrebte Gerüste mit Plattformen errichtet, die es ermöglichten, die Kapseln zu achtzig bis hundertstöckigen Konstruktionen aufzutürmen, also höher als die Cheops-Pyramide, die übrigens auch zufällig von solchen sich über viele hundert Quadratkilometer hinziehenden Konstruktionen umgeben war. Für Leute, die ein bißchen Geld hatten und die ExtraKosten nicht scheuten, gab es statt der `Government-Gratis-Hülse' eine Luxusausführung zu kaufen mit zum Beispiel Doppelwänden, Klimaanlagen, Fernseher etc. Aber an den Enden der langen Gänge lief sowieso immer ein großer Bildschirm, der viel von den Verdiensten der eigenen Herrscherclique zu berichten wußte. Die Herrschenden aber fütterten in ihrem Zynismus den Armen nur Religion und afrikanische Tradition. Da ehemals weiße Missionare mit ein paar frommen Geschichten aus dem Neuen Testament die Anbetung Jesu erreicht hatten, und die Panafrikanisten sich fürchteten das kaputtzumachen - wer eine Religion kaputtmacht, macht vielleicht alle Religion kaputt, so war ihre Furcht -, spannen sie einen neuen Faden über Äthiopien und Ägypten zu Jesu als einen Negroiden. Sie lagen damit wahrscheinlich richtiger als die, die einen blonden Jüngling Jesu propagierten. Überhaupt hatten die Neureichen soviel Selbstbewußtsein entwickelt, daß sie alles Afrikanische und besonders die schwarze Hautfarbe für überlegen hielten. Ja, sie waren Rassisten geworden. Ihre Luxusstädte waren für Weiße und sogar Hellschimmernde Tabu. Kein Weißer aber wagte es, sie dafür zu kritisieren, um nicht selbst als Rassist verschrien 1465
zu werden. Schließlich hatte man es ja mal selbst nicht besser gemacht, man, das waren eigentlich die Vorväter gewesen. Jede Kitschvorstellung, die der Westen von Afrika einst gehabt hatte, griffen die Neureichen begierig auf, um sich und den Massen eine afrikanische Identität zu geben. Selbst Menschenfleisch aßen sie wie einst ihre Vorfahren und wie es auch einer ihrer großen Könige der Neuzeit getan habe sollte. Die großen Pyramiden und Pyramidenmalereien hatten sie auf die Idee gebracht, sich als reiche, regierende Rasse durch die Körpergröße von den Massen abzuheben. Zum Zeichen ihrer Würde ließen sie die Hypophyse zwischen ihren Hirnhälften anregen zur Überproduktion des Wachstumshormons Somatotropin und die neuen Pharaonenkinder entwickelten sich so zu übergroßen Menschen, die riesige Marmorpaläste brauchten mit riesigen unterirdischen Bunkern weitab von den Plastikslums der kleinen Leute. Aber selbst bei einer Größe von 2,50m fühlten sich die großen Leute irgendwann nicht mehr sicher vor den vielen vielen, kleinen Leuten, für die sie keine Arbeit und kein Brot hatten. Da war es günstig, die Überflüssigen aufzuhetzen gegen die Un, die vom reichen Westen kontrolliert wurde. Die Un wurde zum Untier erklärt, das die schwarzen Menschen verschlingen wollte. Das traf sich gut, da auch im Westen, also in den ehemals reichen Industriestaaten, immer mehr soziale Unruhe entstand. Arbeit war nicht mehr für alle da. Die Armen lagen auf der Straße. Jeden konnte es jeder Zeit selbst treffen. Sparen konnte man kaum noch, da die gewohnten Lebensansprüche sehr hoch waren, aber leider immer teurer und unerreichbaren wurden, und da die Steuern und Sozialabgaben ebenfalls sehr hoch waren. Was die Leute aber besonders ärgerte, war, daß ein großer Teil ihrer Steuern direkt an die Un ging und nicht der eigenen Gemeinde zugute kam. Auch für diese Leute wurde die Un zum Untier, das ihnen ihren Lebensstandard wegfraß. Aber die Großen
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des Westens dachten mit den Gaben der Un, die ganze Menschheit wie ein gebändigtes Tier, das aus der Hand fraß, in der Hand zu halten. ... und das Tier biß doch. Während die Un an die Afrikaner die Wohnwaben verteilen ließ, verteilten die Pharaonenkinder Handfeuerwaffen an die armen Massen und schickten sie los in den Norden, um sich selbst das zu holen, was die reichen Industrienationen ihnen angeblich immer vorenthalten hatten. Eigentlich half man den Pancasilanern und den Mohammedanern, die ihren Glauben schwer bedroht sahen, durch christliche Wirtschaftssanktionen. Das größte Problem dieser Tripelallianz aber war die Überbevölkerung. Irgend jemand mußte ausgerechnet haben, daß, wenn der größte Teil der unnützen Bevölkerung und alle Bewohner der Feindländer tot waren, die Erde wieder ein ganz schöner Platz zum Leben werden könnte. Vorderindien war das Vorbild. Das Vorbild für alle Kriegstreiber. Vorderindien war laut Legende ein nackter Haufen fickender und gebärender Menschenwürmer gewesen, ein Haufen Lebender und Leichen, sich selbst fressend, unbelehrbar. Die Mullahs, Magier und Megamenschen beider Seiten waren auf diesem Subkontinent gezwungen gewesen, einen gegenseitigen Ausrottungskrieg anzuzetteln. Und die Un hatte sich wie immer bei Konflikten eingemischt. Angeblich, um glaubwürdig zu bleiben, hatte sie, als es zur Halbzeit etwa hundert Millionen zu hundert Millionen stand, nuklear-militärisch eingegriffen, als die beiden Kriegsparteien trotz Verwarnung weiterschießen wollten. Der ganze Subkontinent war zur Abschreckung ausgerottet, abgebrannt worden, weil die Kriegsparteien sich geweigert hatten, Frieden zu schließen. Jetzt stank die Erde nach Schwefel und verbrannten Proteinen. Brach lag die verkohlte Erde des Subkontinents. Nur verklebte Körper reihten sich aneinander. Doch es war nur der Pöbel, dessen Leichen hier den Boden vergeblich düngten. Die Reichen und Edlen waren 1467
gerettet. Der Pöbel hatte sich gern geopfert. So großherzig konnte Pöbel sein. “Dieser grausige Schritt war notwendig geworden, da die Bevölkerung Argumenten zum Trotz auf ihren mystischen Standpunkt beharrte, Kinder wären von den Göttern gesandt, was zur Folge hatte, daß ein gefährlich brodelnder Menschenkessel entstand, der an den Rändern, Indus, Himalaya und Brahmaputra, überzubrodeln drohte”, meinten einige zynische Herrenmenschen der Un, obwohl sie dem Prunkmännchen in ihrer westlichen Heimat das Recht gaben, die Abtreibung außer bei klerikaler Indikation, also Gefahr hoher Kritikfähigkeit, bei Strafe zu verbieten. “Das Land kann aufgeforstet werden. Da kann eine neue Lunge der Welt entstehen”, meinte ein anderer. Ein Kapitalist der Sauerstoffbranche protestierte, er sah schon die Bonanza, die er für seine Kinder visionierte, gefährdet. Als die Tripelallianz auf Europa zu marschierte, lief die Diplomatie auf Hochtouren, Afrika und die Inselstaaten wollten nicht im atomaren Feuer untergehen, Zivilisten sollten geschont werden, nur die Statisten, die mit der stummen Nebenrolle, sollten fallen. Das war nur fair. Die Zivilbevölkerung umzubringen, war ein Kriegsverbrechen, so hatte der Völkerbund früher einmal entschieden. Warum eigentlich? Warum war es richtig, Soldaten umzubringen, junge Männer, die von einer aufgehetzten Zivilbevölkerung losgeschickt wurden, ob sie nun wollten oder nicht? Es war eines der Mysterien der Zeit, warum man die Ermordung von Zivilisten für unmoralischer hielt als die von jungen Männern, die halbe Kinder waren, als man ihnen die Mordwaffen in die Hand drückte. 1468
Man versprach sich also gegenseitig, die Zivilbevölkerung zu schonen, aber schon die ersten Bomben, die man auf die Waffenschmieden schmiß, fielen absichtlich in einem großen Bogen um die Fabriken auf die Werkswohnungen. Schnell versprach man sich, wenigstens konventionell zu bomben, und erst ganz zum Schluß die modernen Massenvernichtungsmittel einzusetzen. Das versprach man sich gern. Denn was Rang und Namen hatte, wohnte damals unter der Erde wegen der aggressiven ultravioletten Strahlung der Sonne, der Sicherheit vor Überfällen und vor allen Dingen der Angst vor Bomben, besonders auch vor Atombomben. Die unkonventionellsten Bomben aber waren HBB; H-BohrBomben, die die unterirdischen Städte ausgruben. Die Superreichen waren plötzlich besorgt, daß sie Waffen produziert hatten, die auch ihnen schaden konnten. Auf deeen Profit hätte man verzichten sollten! Uranfabriken an Drittwelt-Länder, was hatte doch die Elterngeneration für Fehler gemacht. Pancasila hatte sich ausgedehnt und ein größeres Wohlstandsgebiet erobert als einst die Japaner, ganz Südostasien war in seiner Hand, auch Australien und Neuseeland. Eines der Glaubensthesen, um die im Großen Kampf gefochten wurde, war die Anzahl der irdischen Kontinente. Da Australien eine südostasiatische Insel geworden war, gab es offiziell nur noch fünf Kontinente, nur Amerika und die Eu beharrten halsstarrig auf Australien als eigenen Kontinent. Die weiße Bevölkerung dieser neuen, südostasiatischen Inseln - sie wurde zusehends durch die Zuwanderung asiatischer Pioniere zu einer unbedeutenden Minderheit - machte sich das Leben so schwer wie einst Indianer und Aborigines, besonders dadurch, daß sie sich hartnäckig weigerte, den erlösenden Glauben des Propheten anzunehmen. Der Prophet war der einzige, der ihre Leiden hätte 1469
mindern können. Aber die meisten Weißen wollten Jesus, jetzt mehr denn je. Ihre Priester hatten recht gehabt, wenn es einem dreckig ging, kehrte man sich zu Gott. Natürlich nur, wenn man als Kind mit der Gottes-Idee gefüttert, geimpft und rektal behandelt worden war und man auch die Zeit des Wohlstands nicht genutzt hatte, um sich über diese Idee klarzuwerden, sondern nur gefressen und gefaulenzt hatte. Auf jeden Fall erlitt manch ein Christ den Tod, weil er nicht mit erhobenem Hintern den falschen Gott anbeten wollte, wo ein Atheist seinen Tormentoren schon mal den Gefallen tat, sich so absurd zu verhalten, um sein einziges, wertvolles Leben zu retten, - um sein einziges Scheißleben noch ein bißchen länger mit Ekel anzufüllen. `Moslemischer Pazifikrand' hieß der Schlachtruf. Man hatte eine heilige Scheu vor den alten Kulturländern China, Korea und Japan, die so großzügig Kredite gaben und Waren und Waffen so preisgünstig lieferten, aber man hatte auch einen Erzfeind auf der anderen Seite des Pazifiks: das WASPenland. Dort wollte man hin, und die Islamic Nation of America, die islamischen Brüder Amerikas, aus der Unterdrückung befreien.
Den WASPen gefiel die Idee, konventionell zu kämpfen mit Soldaten. Das war eine gute Gelegenheit, das ganze Land mal auszumisten vom Bevölkerungsüber- und -ausschuß. Besonders lästig waren die vielen Latinos geworden. Den WASPen gelang es, ganz Süd- und Mittelamerika für ein großes Bollwerk des Christentums zu mobilisieren. Die ganze Pazifikküste bis Feuerland, ja, sogar bis in die Antarktis hinein, wegen der Rohstoffe, wurde eine einzige Verteidigungslinie. Man war aber in der Defensive. Noch. Wie man meinte. Überall tauchten plötzlich riesige Unterseeboote auf und spuckten ihre Krieger aus, manche bis weit hinter die Defenslinien. Die schnellen Nahkampfhüpfer rissen eine Menge Verteidiger in den Tod, bevor sie 1470
selbst umkam. Auch die großen, überseeischen Meeresgleiter hatte es mit Hilfe von Spiegeln und falschen Radarreflektoren zu so perfekter Tarnung gebracht, daß man sie erst bemerkte, wenn sie wie eine Tsunami auf Land platschten und ihr kriegerischer Inhalt im Handstreich die Befestigung nahm. Die Herren des WASPenlandes machten sich große Sorgen, als sie sahen, daß den Feinden die Landung auf dem amerikanischen Festland gelungen war, auch wenn der Brückenkopf nur in Peru war. Riesige Menschenmassen strömten von dort auf den Kontinent. Um sie zu vernichten, mußte man vielleicht sein eigenes Land zerstören. Man hatte zwar Hemmung davor, aber wenn der Feind sich in den letzten Urwäldern des Kontinents verkroch, blieb einem keine Wahl. Die Wälder mußten wieder entlaubt werden, wie früher einmal in Indochina. Wie sollte man die feindlichen Soldaten konventionell erschießen, wenn man sie unter einem dicken Laubdach nicht sah? Die neuen Entlaubungsgifte waren auch nicht mehr so schädlich wie Agent Orange, sondern töteten nur kurzzeitig ohne langzeitige Schädigung. Das war jedenfalls, was die Chemiebosse behaupteten. Südamerika war schnell verloren oder gewonnen, je nach dem auf welcher Seite man stand. Und wenn der Papst einmal geglaubt hatte, mit südamerikanischen Vielvermehr-Katholiken die Welt zu erobern, jetzt unter moslemischem Druck zeigte es sich, daß es den meisten egal war, was sie glaubten, Hauptsache, sie durften was glauben. Mit Überzeugung traten sie der neuen Religion bei, und behielten doch ihre alte Magie. Sie halfen jetzt der Tripelallianz im Kampf gegen die weißen Teufel. Die WASPen riegelten Südamerika mit riesigen Minenfeldern am Isthmus von Panama ab, außerdem bombte man den Panamakanal so breit, daß die beiden Ozeane zusammenflossen. U-Boote von Pancasila schlichen durch die Öffnung, bevor sie vermint wurde, und tauchten wenig später im Mississippi auf und spuckten ihre Soldaten ans Ufer. Sie waren aber zu wenige, und jeder Amerikaner hatte seine eigene 1471
Waffe, selbst Schulkinder schossen sich ihre Moks oder Mokkas, wie sie die Eindringlinge nannten. Gemein war nur, daß die Eindringlinge Spielverderber waren. Als der Kommandant seine letzten Leute sterben sah, entließ er im Untergang schreckliche Gemeinwaffen, Würmerbomben, die ganz New Orleans unterwanderten und den Erdboden tanzen ließen. Ganz New Orleans wurde so zerstört. Als es vorbei war, zuckten die herrschenden WASPen mit den Schultern: Eine Stadt verloren, das konnte man verschmerzen. Sie hatten gerade aufgeatmet, da tanzte der Erdboden in Baton Rouge und dann in Mobile und Jackson. Was war geschehen? Die Würmerbomben fraßen sich weiter durch den Erdboden. Sie fraßen die Erde und schissen Bomben aus. Sie waren tief und gewaltig und intelligent. Sie wußten, wo die nächste Stadt zu finden war. Sie waren nicht konventionell. Amerika drohte mit atomarer Vernichtung, wenn die Würmer nicht hinter den 30° Breitengrad zurückgezogen würden. Die Tripelallianz lenkte ein. So wurde Florida, das innerhalb des WASPenlandes sowieso zum Problemgebiet geworden war, von den Würmern total zerfressen. Einst zeigten die Würmer so überdeutlich: Daß man den einfachen Lanzer gar nicht brauchte. Große, ferngelenkte oder Computer gesteuerte Maschinen hätten genauso gut, gegeneinander krachen können und eine Entscheidung herbeiführen können. Bloß hätte man dann weiter das lästige Problem der Überbevölkerung gehabt. Außerdem wer so argumentierte, hätte genauso gut sagen können, die verfeindeten Nationen hätten ja gegeneinander Schach spielen können oder ein Fußball-Match machen können. So etwas war doch unrealistisch. Im Krieg wollte man Tote sehen, Blut, Leiden und Verkrüppelte.
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Übrigens konnten ferngelenkten Waffen doch ganz gut das Problem der Überbevölkerung lösen - sogar besser, am aller Besten sogar. Die Würmer hatten gerade Florida zerstört und ihre Herren lenkten sie als nächstes ins Meer, damit sie sich dem pro-WASPisch-faschistischen Kuba zuwandten und es zerstörten, da griff das russische Zarenreich ins Kriegsgeschehen ein. Es wollte Alaska wieder haben, obwohl es noch lange nicht alle Bodenschätze Sibiriens ausgebeutet hatte. Durch die Hintertür betrat es den amerikanischen Kontinent. Sie waren nicht die legitimen Betreter des Landes, wie die Hopi-Indianer sofort wußten, aber sie waren mächtig, verfügten über riesige Waffenarsenale. Aus der Tripelallianz war über Nacht eine Quadrupelallianz geworden. Und der neue Gegner war mächtig und gut organisiert und hatte massenweise Atomwaffen für den Endkampf. Unter dem Zaren war Rußland nach dem Zusammenbruch wieder auferstanden zu neuer Blüte und Einheit. Jedenfalls sah es immer so aus auf den häuslichen Videoschirmen. Wenn man von einigen hohen Beamten, dem Adel und der Regierung absah, schien es dem ganzem Volke gleich zu gehen, jeder bekam die gleiche Menge Futter und die gleiche Art von Übernachtungswabe, und jeder bekam, Tests entsprechend, seine zwölf Stunden Arbeit und seine zwölf Stunden Freizeit zugeteilt. Es war auch der einzige Staat, wo man sich noch völlig natürlich ernährte und vermehrte, was hieß von landwirtschaftlichen Produkten und ohne Wehenbeschleuniger, painkiller und Obstetrik und natürlich auch ohne Kondom oder Anti-BabyPille, was natürlich Hungersnöte mit sich brachte. Die Russen rauchten auch immer noch richtigen Tabak, während im hoch entwickelten Westen nur noch rauchfreie Drogensticks erlaubt waren. Russische Soldaten mit ner Kippe im Mund waren bei der Eroberung Alaskas gute Ziele für amerikanische Scharfschützen. Aber der Große Zar konnte die paar kleine Raucher leicht verschmerzen.
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Die Erd- und Naturverbundenheit, die natürliche Ernährung, schwere Arbeit und strenge Kontrolle machten zusammen mit der Propaganda die Leute in diesem Staate - Mütterchen Rußland nannten die Bewohner ihn zart - wohl zu den glücklichsten Menschen der damaligen Zeit. `Obwohl wir arm sind, sind wir glücklich', hatte ihnen Väterchen Zar so oft vorgesagt. Eins war auf jeden Fall richtig: Obwohl dieser Staat eigentlich einer der ärmsten war, war er einer der am besten gerüsteten. Das war die Folge einer Missionsaufgabe, die der Zar vom Christentum über den Propheten Karl Marx, dem Erlöser Lenin und dem Halbgott Stalin mit in sein orthodox-christliches Gottkaisertum gebracht hatte. Es war für ihn wichtig geworden, daß auch andere christliche Konfessionen erkannten, daß Christus Kommunist gewesen war und Christsein nur heißen konnte, alles mit allen teilen, also Kommunismus. Nach dem Chaos des Zusammenbruchs hatte er so seinem Volke wieder neuen Halt gegeben. Kommunismus und Christentum, was ein Antagonismus gewesen war, hatte in seinem Gottkaisertum eine Harmonie gefunden, bloß schade, daß das Volk immer noch so viel soff und nicht verstand, Wohlstand zu erwirtschaften. Die bürokratische Hierarchie war ein anderes Problem dieses Riesenreiches. Gut durchorganisiert und gut durchbürokratisiert, konnte man wohl sagen. Nachdem die Heere Alaska erobert hatten, wußte man nicht weiter, weil Befehle von oben ausblieben. Die WASPen hatten Frieden angeboten und keine Antwort erhalten, da das russische Heer aber beim Picknicken war, gedacht: Die sind mit Alaska zufrieden. Sollen sie's haben, wir haben jetzt andere Sorgen. Da ging den Russen beim Picknick das Essen aus und sie wurden immer unruhiger. Bürokraten hatten offensichtlich wieder versagt. Der Zar selbst ordnete das Vorverschieben der Front an, als seine Soldaten zurück zu Mütterchen Rußland wollten, weil sie hungrig waren.
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Die WASPischen Soldaten waren völlig überrascht, als die großen Kriegsmaschinen plötzlich wieder loshauten, Wälder und Berge in Splitter hackten. Die neu eroberten Ölquellen dienten den Russen für eine der konventionellsten Waffen: Feuer. Eine Feuerwalze mit Ventilatoren zur Weißglut gebracht, rollte, überrollte WASPische Verteidigungsanlagen im Norden. Und von Florida hoch krochen die bombenden Würmer. Die WASPischen Herren drohten Pancasila noch einmal mit atomarer Vernichtung, wenn die Würmer den 30° Breitengrad überquerten. Aber diesmal kam die atomare Vernichtung Retour von Rußland: Wenn ihr Pancasila vernichtet, vernichten wir euch atomar. Jacksonville war die erste größere Stadt hinter dem 30° Breitengrad. Sie wurde evakuiert. Und als die Würmer sie erreichten und die Erde und die Hochhäuser hochstieben von den Explosionen, da ließen die WASPischen Herren von schrecklicher Furcht getrieben, ihre schlimmsten Waffen auf diese Stadt nieder, Wasserstoffbomben mit Flammenlanzen zum Tiefenbohren. Tief unten im Erdreich, tiefer noch als die Würmer detonierten sie und rissen ein unförmiges Loch in den Boden, das größer war als Jacksonville. Die Detonation verkrümelte nicht nur die Würmer, sondern kippte den ganzen Kontinent, daß der Mississippi nach Norden abfloß in den Michigan-See und die ganze Ostküste bis Long Island sich im Atlantik nasse Füße holte. Eine Umweltkatastrophe unermeßlichen Ausmaßes, Klärgruben und schlimmer noch Öltanks waren ausgelaufen und bildeten eine Schlickschicht, die mit dem Golfstrom über den Atlantik zog. Es war abzusehen, wer konventionell oder wie auch immer am Verlieren war:
Mutter Erde!
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Ehre Deine Mutter Erde,1 auf daß Deine Tage lange währen. Sie ist ein Stück von Dir und Du bist ein Stück von ihr. Sie gebar Dich, gab Dir Leben und einen Leib. Unzertrennlich bist Du mit ihr verknüpft. Ihr Schicksal ist auch Deins. Deins auch ihrs. Sie leidet mit Dir und Deine Freude wäre auch ihre. Doch Du bist nicht wirklich froh. Freue Dich auch um ihretwegen. Überhäuft sie Dich nicht mit Gaben? Greife nicht zu gierig zu. Nicht im Haben liegt das Heil, sondern in Einkehr
1
Der Anfang dieses Textes (2 Zeilen) ist `den verlorenen Schriftrollen der Essener' übersetzt von Dr. Ed. Bordeaux Szekely entnommen.
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und innerer Ruh.
Das europäische Theater. Mittlerweile am europäischen Kriegsschauplatz oder Kriegstheater, wie man es auch nannte. Denn das waren Kriege: gigantische Theatervorstellungen, Theater auf dem Theater, Theatrum mundi mit beweglichen Figuren und unbeweglichen Puppenspielern, théâtre de la cruauté des ästhetischen Schocks und der sublimen Höhepunkte, aber auch ein lustiges Trauerspiel, ein trauriges Lustspiel, absurdes Theater mit absurden Handlungen und vielen absurden Toten, die starben für eine absurde Schnapsidee. Schade, daß auch die Nüchternen mitstarben. Konventionell zu kämpfen war gut. Die ersten Wellen der Afrikaner sie kamen in Wasserfahrzeugen der primitivsten Art - hatte man gut abgewehrt. Alle Mittelmeerstrände, Ausflugziele einer friedlichen Vergangenheit, waren zu Leichenhalden geworden. Nur das schlecht verteidigte Sardinien hatten die Afrikaner nach hunderttausend Gefallenden auf ihrer Seite erfolgreich erobert. Den ersehnten Reichtum des Nordens suchten sie auf dieser Insel vergeblich. Die zweite Angriffswelle war schlimmer. Es waren die Araber, und die hatten mit Ölmillionen sich ein modernes Waffenarsenal im WASPenland zusammengekauft. Damals beim Kauf hatten sie behauptet, sie brauchten die Waffen, um sich gegen Israel, dem Land der Verheißung, zu verteidigen. Absurderweise waren sie damit durchgekommen, obwohl Israel einer der treusten Verbündeten der WASPen gewesen war. Die meisten Juden waren sowieso sehr WEiß. Sie gehörten dem dreizehnten Stamm an und waren von ihrem Blute her Khazaren, Blutsverwandte der
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Hunnen und Magyaren, 1 Nachkommen von gläubigen Juden, die ihr Judentum wie eine Religion angenommen hatten, aber keine wirklichen Kinder Abrahams gewesen waren. Viele Isrealiten aber waren aufgeklärte, wissenschaftlich nüchtern denkende Menschen. Sie lebten auf dem Land, weil sie das Judentum ihrer Vorfahren nicht wie Atheisten, die christliche Eltern hatten, einfach abschütteln konnten. Es klebte an ihnen wie ein Aussatz dieses Jüdische, dabei war es doch bloß eine Religion wie jede andere auch, wie Hunderttausende andere auch. 2 Selbst als 100%iger Atheist blieb ein Jude ein Jude, und selbst atheistische Juden fanden das meist nicht einmal verwunderlich. 3 Da es keinen Gott gab, konnte kein Gott ihnen das Land gegeben haben, soviel wußten sie als Atheist, und doch lebten sie auf dem `gelobten Land', weil sie die Anklage fürs Anders-Sein in den sogenannten christlichen Ländern nicht ertragen konnten. Aber das war ein Verbrechen: das Land war die Heimat der Palästinenser. Nach dem zweiten Weltkrieg waren 4 Millionen
1
vgl. Arthur Koestler, “The Thirteenth Tribe: The Khazar Empire and Its Heritage”.
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Selbst in meiner Wahlheimat Japan, von dem man eigentlich sagt, daß es atheistisch sei und keine spirituellen Werte kenne (laut Umfrage der Yomiuri-Shimbun glaubten 1995 nur 20% der Japaner an irgendeine Religion), gibt es, wie ich neulich (Mai 1995), als die Aum-Sekte wegen ihres Sarin- Anschlags auf die Tokyoer U-Bahn für Schlagseiten sorgte und Religion aktuell wurde, aus der Zeitung entnehmen konnte, über 184 000 eingetragene Religionsgemeinschaften, die alle steuerfrei existieren, also mit anderen Worten: Die Ungläubigen finanzieren mit ihren höheren Steuern den religiösen Quatsch der Leichtgläubigen mit. Wer sich den Luxus Religion leistet, der soll ihn auch bezahlen! Und nicht mit Steuerfreiheit belohnt werden!
3
Ich bin in meinem Leben öfters in der `peinlichen' Situation gewesen, daß sich mir gegenüber ein Staatsbürger der USA bzw. Israels vorstellt und dazu sagt: “Ich bin Jude.” Wahrscheinlich, weil ich vorher gesagt hatte, daß ich ursprünglich aus Deutschland käme. Ich antworte dem `Juden' dann immer freundlich lächelnd: “Oh, interessant, ich bin Atheist.” Es ist mir dabei sogar schon passiert, daß mein Gegenüber mir sagte, daß er auch Atheist sei, woraus sich dann ein interessantes Gespräch entwickelte.
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Palästinenser vertrieben worden. Sie waren wie die Indianer Amerikas oder die Juden Deutschlands zu Beginn der nationalsozialistischen Arisierung, als die Juden noch fliehen konnten, behandelt worden und der Westen hatte zugeschaut oder sich Wild-West-Filme angesehen, wo der Sieg der weißen Rasse über die Rothäute wie eine Corrida de toros zelebriert wurde. Auch den meisten Arabern war das Schicksal der Palästinenser egal gewesen. Sie waren aber auch immer zu hilflos gewesen gegen die übermächtigen, westlichen Verbündeten Israels. Erst die PanIslamische-Union hatte den Muskel, mit Israel aufzuräumen. “Man erinnere sich nur einmal daran, wie hilflos wir Araber damals waren, als wir untereinander noch so zerstritten waren wie Deutschland vor dem Zollverein. Westliche Mörderpräsidenten konnten wegen irgendwelcher Terrorismusverdachte ungestraft Mordausflüge in arabische Teilstaaten anordnen und ausführen lassen, die Israelis ebenfalls. Man denke einmal daran, wie viele Mordausflüge die Israelis mit ihren Bombern auf Flüchtlingslager der Palästinenser gemacht haben, oder die WASPen, z. B. als auf die Berliner Diskothek La Belle ein obskures Attentat verübt wurde und ein US-Soldat starb, da haben sie in der Nacht vom 14. auf den 15. April 1986 mit 35 Bombern die beiden größten Städte Libyens Tripoli und Benghazi kaputtgebombt und mal schnell dabei 70 Menschen ermordet,1 oder der WASPische Mörderpräsident Clinton, der als Vergeltung für ein angeblich geplantes Attentat auf den WASPischen Ex-Präsidenten Massenmörder Bush während seines Kuwaitaufenthalts (gemerkt hatte keiner etwas von dem Attentat und die Kuwaitis hatte die mutmaßlichen Attentäter später auch wegen nicht erwiesener Schuld freigelassen!), also dieser Mörderpräsident ließ als Rache für einen fragwürdigen, mißlungenen Präsidenten-Mord mal schnell 23 Raketen vom Typ Cruise missile aus seinem Zwinger zum Zerfleischen irakischer Bürger. Diesem wahllosen Massenmord des WASPen-
1 3 siehe
“Die libysche Herausforderung” von Karam Khalla
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Präsidenten fiel auch die international namhafte Malerin Leila al-Attar zum Opfer. 1 Die Täter und Führer der verschiedenen Mordkommandos kamen im WASPenland nie für ihre Morde auf den elektrischen Stuhl, obwohl das Land für Mord die Todesstrafe durchaus vorsah. Die Täter blieben auch nach der Tat mit ihrem Hintern auf dem Präsidententhron. Jetzt, wo wir genug haben von Kolonialismus, Imperialismus und Demütigungen und losmarschieren, um alle Täter, Mitläufer, Handlanger und Hurraschreier, die uns immer böse gewollt haben, zu bestrafen, da nennt der Westen uns blutrünstig. Aber ihr im Westen habt euch uns gegenüber nie fair verhalten. Eure eigenen, demokratischen Grundregeln Freiheit-Gleichheit-Brüderlichkeit galten nie für uns und die arme Welt, jetzt zahlen wir euch mit gleicher Münze zurück!” Atheisten konnten sagen: `Weil es keinen Gott gibt, konnte kein Gott den Juden das Land geben', aber die Pan-Islamische-Union sah es anders: Da es nur einen Gott gab, Allah, und der auf ihrer Seite war, waren die Israeliten ein illegitimer Dorn im arabischen Leib. Aber Israel war gefährlich. Es hatte atomar aufgerüstet. Als die arabischen Nationen sich geeint hatten, hatte die Union ein `faires' Angebot an den jüdischen Staat gerichtet: Langsamer Rückzug aus dem besetzten Gebiet in alte Wirtsländer oder neue und Übergabe des Bodens an die arabischen Autoritäten. Eine traumhafte Forderung, wie sie die Hopis, Navajos, Irokesen, Sioux und Crees, und wie sie alle hießen, auch gerne ihren weißen Landwegnehmern gestellt hätten. Einige Juden hatten eingesehen, daß das Land nicht mehr zu halten war und hatten sich eine neue Heimat gesucht im Westen, aber ein fanatischer, frommer Rest wollte ausharren. Sie hatten trotz ihrer Religion gelernt, wie man die atomaren Feuer entzündete. Aber sie zerstörten nur zwei arabische Städte mit ihren Bomben. Die beiden heiligsten, Mekka und Medina. (Jerusalem wäre die drittheiligste
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siehe “ Ketzerbriefe Nr. 42, Falschenpost für unangepaßte Gedanken” vom AHRIMANVerlag.
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gewesen.) Es schreckte die Araber aber nicht ab, sondern entfachte ihren Zorn. Das heilige Land war schnell überrannt. Aber die Qualen, die man der Bevölkerung antat, sollten lange und grausam sein. Jede moslemische Familie bekamen einen von den Kaaba-Schändern, um an ihm persönlich Rache zu nehmen für den einzigen Gott, den es gab: “Und wer ist sündiger als wer verhindert, daß in Allahs Moscheen sein Name genannt wird, und sich beeifert, sie zu zerstören?”1 “Und sie sprechen: `Nimmer geht ein ins Paradies ein anderer denn Juden oder Nazarener.' Solches sind ihre Wünsche. Sprich: `Bringt her euren Beweis, so ihr wahrhaftig seid.'”2 “Und es sprechen die Juden: `Die Nazarener fußen auf nichts', und es sprechen die Nazarener: `Die Juden fußen auf nichts.' Und doch lesen sie die Schrift. Ebenso sprechen gleich ihren Worten die, so da keine Kenntnis haben. Allah aber wird richten unter ihnen...”3 “Und es sprechen die, welche kein Wissen haben: `Wenn doch Allah zu uns spräche oder du uns ein Zeichen brächtest!' So sprachen auch gleich ihren Worten die Früheren; ihre Herzen sind einander ähnlich; schon zeigten wir deutlich die Zeichen für Leute von Glauben.”4 “Nicht werden die Juden und die Nazarener mit dir zufrieden sein, es sei denn, du folgtest ihrer Religion. Sprich: `Siehe, Allahs Leistung, das ist die Leistung.' Und fürwahr, folgtest du nach dem, was dir von der
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Koran 2. Sure (Die Kuh): 108. Satz,
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105. Satz,
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107. Satz,
4
112. Satz,
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Kenntnis zuteil ward, ihren Gelüsten, so würdest du bei Allah keinen Schützer noch Helfer finden.”1 “Die, denen wir die Schrift gaben und die sie richtig lesen, die glauben an sie; wer aber nicht an sie glaubt, das sind die Verlorenen.”2 “O ihr Kinder Israels, gedenket meiner Gnade, mit der ich euch begnadete, und daß ich euch vorzog vor aller Welt.”3 “Und als wir die Kaaba zu einem Versammlungsort für die Menschen und einem Asyl machten und sprachen: `Nehmt die Stätte des Erbauers Abrahams als Bethaus an', und wir Abraham und Ismael verpflichteten: `Reinigt mein Haus für die es Umwandelnden und darin Verweilenden und die sich Beugenden und Niederwerfenden!'”4 “Und als Abraham sprach: `Mein Herr, mache dieses Land sicher und versorge sein Volk mit Früchten, wer da glaubet von ihnen an Allah und an den Jüngsten Tag', sprach ER: `Und wer nicht glaubet, dem will ich wenig geben, alsdann will ich ihn stoßen in die FEUERSPEIN; und schlimm ist die Fahrt dort hinein.'”5 Neben Schlägen quälte man die gefangenen und gefesselten Israeliten besonders gern mit Feuerspein, ein langsames, gelindes Feuerlein. Prometheus der Feuerbringer hatte den Menschen keinen Segen gebracht, sondern ein Stück Hölle in die Hand gegeben. “Und sähest du nur, wie sie über das Feuer gestellt werden und dann sprechen: `Ach, daß wir doch zurückgebracht würden, wir würden
1
114. Satz,
2
115. Satz,
3
116. Satz,
4
119. Satz,
5
120. Satz.
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dann nicht die Zeichen unsers Herrn Lügen zeihen und würden gläubig sein!”1 “Und sie sprechen: `Werdet Juden oder Nazarener, auf daß ihr geleitet werdet.' Sprich: `Nein, die Religion Abrahams, der den rechten Glauben bekannte und kein Götzendiener war, das ist unsere Religion.'”2 “Siehe die Ungläubigen - nimmer hilft ihnen ihr Gut noch ihre Kinder etwas wider Allah; sie sind die Speise des Feuers!”3 “Nach dem Brauch des Volkes Pharaos und derer, die vor ihnen waren, ziehen sie unsere Zeichen Lügen. Und Allah ergriff sie in ihren Sünden, denn Allah ist streng im Strafen!”4 “Sprich zu den Ungläubigen: `Ihr sollt Übermacht und im Dschehannam, dem Höllenfeuer, versammelt werden; und schlimm ist der Pfühl!”5 “Es ward euch ein Zeichen gegeben in zwei Heereshaufen, die aufeinander stießen. Ein Haufen kämpfte in Allahs Weg, und der andere war ungläubig. Sie sahen sie als zweimal soviel als sie selber mit sehendem Auge. Und Allah stärkt mit seiner Hilfe, wen er will. Siehe, hierin ist wahrlich eine Lehre für die Verständigen.”6
1
6. Sure (Das Vieh): 27. Satz,
2
2. Sure (Die Kuh): 121. Satz,
3
3. Sure (Das Haus Imrân): 8. Satz,
4
9. Satz,
5
10. Satz,
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11. Satz,
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“An einem Tage soll es an Dschehannams Feuer glühend gemacht werden, und gebranntmarkt werden sollen damit ihre Stirnen Seiten und Rücken: `Das ist's, was ihr aufspeichertet für eure Seelen; so schmecket, was ihr aufspeichertet.´”1 Während die einen noch quälten und höhnten die habhaften Israeliten und die Muezzins Frommes ausriefen, tobte der Krieg weiter.
Über den Bosporus stürmte eine große, arabisch-türkische Heeressäule auf den Balkan zu. Sie wollte ins europäische Herz. Wien sollte sie diesmal nicht aufhalten können. Die Türken machten einen Abstecher nach Süden, um ihren Erzfeind Griechenland zu entwaffnen und zu entvölkern. Griechenland war in dieser ersten Phase des Großen Kampfes von seinen Alliierten genauso schändlich im Stich gelassen worden, wie Polen zu Beginn des Zweiten Weltkrieges. Wenn Kleines sich an Großes schmiegt, wird Großes größer, aber das Kleine wird auch kleiner dabei. Hätten die Griechen sich soviel Zeit gelassen, wenn ihre großen Freunde Hilfe brauchten, hätte es dafür eins aufs Dach bekommen, jetzt bekam es selbst türkische Besatzung und vollen türkischen Terror wie einst die Armenier und Kurden zu spüren, und tröstende Versprechungen für eine ferne Zukunft von ihren großen Freunden. Da die Türken Kemal Atatürks Erbe abgeschüttelt hatte, also seine Prinzipien Nationalismus, Säkularismus und Etatismus nicht mehr galten, oder viel mehr als Vergehen an dem einzigen Gott, den es gab,
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9. Sure (Die Reue): 35. Satz. (RECLAM Taschenbuch: Übersetzung aus dem Arabischen von Max Henning)
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galten, war das größte Anliegen der Eroberer Griechenlands, die Griechen zum einzig rechten Glauben zu führen. Islamische Kleriker und Gläubige hatten die Türkei mit dem gleichen Trick `reislamisiert', mit dem auch ihre christlichen Gegenstücke in Europa Europa `reevangelisiert' hatten, nämlich, indem sie sich im Bereich Wohlfahrt, Krankenpflege und Kindergärtnerei engagiert, bzw. mit salbungsvollen bzw. schmierigen Worten vorgedrängelt hatten und sich so unter den Untergebildeten ein übergroßes Heer an Unterstützlern bzw. Umstürzlern herangezogen hatten. Für die Bekehrung Griechenlands zum Islam ging man nun den entgegengesetzten Weg: Statt Wohlfahrt Unwohlfahrt, Höllenfahrt. Wer nicht schnell genug begriff, wer der richtige Gott war, kam in Vernichtungslager, die nach dem Vorbild von Auschwitz und Jasenovac errichtet worden waren. Wer aber begriff, der durfte zur Belohnung mit auf den großen Feldzug gegen die Ungläubigen; - an der Front in vorderster Linie verstand sich oder als Handlanger. “Allah liebt die Märtyrer, die im heiligen Krieg sterben.” Einem Moslem war es verboten, in einem unheiligen Krieg zu kämpfen! Er durfte aber Moslems, denen es an der vordersten Front zu heiß wurde und die in die hinteren Kaltfrontgebiete verduften wollten, erschießen. Das Überleben an der vorderen Front war ein reines Glücksspiel. Alles hing nur davon ab, ob man sich in der Nähe eines Granateneinschlags befand oder nicht. Rechtzeitig weglaufen brachte nichts, hinschmeißen schon eher was, aber immer weniger, je dichter es Granaten hagelte. “Täusche ich mich oder werden die Explosionen wirklich größer?” “Sie werden größer. Jede Partei ärgert sich über die Bomben der anderen und wirft aus Rache, immer größere Bomben zurück.”
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“Warum hat man uns überhaupt solche Schießprügel in die Hand gedrückt, wenn man doch bloß mit Bomben wirft?” “Das weiß ich auch nicht.” Bäng! Das islamische Heer hatte erstaunliche Mitstreiter bekommen: Die Russen und die Ukrainer. Erstaunlich war an diesem Bündnis, nicht so sehr das Christentum der Verbündeten, es war ja immerhin ein anderes Christentum als das des Westens, erstaunlich war, daß die neuen Freunde das ekligste fraßen, was sich ein Moslem vorstellen konnte: Schweinefleisch, und das in Mengen. Die neuen Waffenbrüder hielten den Weltrekord im Schweinefleischkonsum. Besonders die Ukrainer. Jeder Ukrainer hatte immer ein großes Stück Salo, rohes, gesalzenes Schweinefett mit Schwarte, in seinem Tornister, dazu - igitt wie pfui - eine Flasche Vodka und ein Stück Schwarzbrot. So ausgerüstet war er glücklich und überstark. Wenn man bedachte, daß sich einst moslemische Krieger über indische Vegetarier mokierten, obwohl der Koran doch gar nichts gegen Gemüse hatte, dann war die Duldung des Schweinefleischkonsumes der neuen Waffenbrüder erstaunlich. Die Heere rieben sich weiter aneinander und die großen Bomben fielen immer weiter hinter die Linien. Aber noch fielen die ganz großen Bomben nicht. Noch hatte das Endspiel nicht begonnen. Aber die großen Herren des Westens rieben sich schon die Hände. Beim Endspiel da hätten sie alle Trümpfe in der Hand. Das freute sie. Aber noch schickte sie in den konventionellen Krieg. Erst mal richtig ausbluten. Was am Ende noch in seinen Bunkern lebt, das pusten wir dann atomar weg. Dann gib's ein paar verseuchte Gebiete, aber der Rest bleibt verschont und da er entvölkert ist, wird er es auch lange bleiben. 1486
Die Herren schwitzten über ihrem Kriegsspiel wie Schachspieler über ihrer Partie, die ganze Erde war ihr Spielbrett, die Soldaten ihre Bauern - oh, wie viele Millionen man doch zum Opfern hatte! -, Panzerregimenter waren die Läufer, die Luftflottenverbände die Springer, die Satelliten waren die Türme, die Aussichtstürme, die die Übersicht über das Spielfeld ermöglichten, die ABC-Waffen aber waren die kostbaren Damen des Spiels, mit denen man den feindlichen König, in diesem Fall die feindliche Herrscherclique, matt setzen würde. Teilte das Volk die Spielbegeisterung seiner Herren? Ja, natürlich! Aber nicht alle hielten sich für das Volk. Und wie war es mit dem Weinen? Tat man auch weinen? Man weinte auch. Natürlich weinte man auch. Hatte man bei der großen Kurukshtra-Schlacht oder meinetwegen auch bei der Schlacht um Troya einst geweint, wenn die großen, edlen Helden fielen, jetzt war alles nur Statistik. Hier oder dort, irgendwo an der Front kamen bei einer Kampfhandlung hunderttausend Leute um, so trauerten sofort hunderttausend noch lebende Kameraden um sie, drei Tage später, wenn den Familien die Todesmeldungen aus den Faxmaschinen ins Haus flatterten, weinten pro Gefallenen durchschnittlich vier weitere Menschen. In den Vielvolkstaaten der Angreifer waren es natürlich mehr - bis zu zehn oder gar zwanzig. So genau wußte man es nicht. In den Vielvolkstaaten gab es zwar viel Volk, aber wenige Statistiker. In den westlichen Industrieländern war es in der ersten Zeit des Krieges so, daß statistisch gesehen für jeden Toten - und das galt auch für Bombenopfer - dreieinhalb Erwachsene und eins Komma ein Kind weinten. Auf Grund des fortschreitenden Sterbens sank diese Zahl freilich mangels lebender Verwandten und Bekannten im Laufe der 1487
Zeit; zur Halbzeit war die Zahl der Weinenden pro Toten auf eins gesunken, und bei Ende der kriegerischen Handlungen hatte diese Zahl die Null erreicht. Andere Statistiken zeigten, daß die Eu den aus dem Osten anrollenden Verbänden nicht mehr genug eigene Truppen entgegenwerfen konnten. Die Treib- und Rohstoffe wurden auch knapp. Die Araber lieferten nichts mehr, die Bohrinseln der Nordsee hatten die eignen Öllager leergelutscht, Solarbatteriebatallione wurden mit Rauch und Sonnenverfinsteris zum Stillstand gebracht, auch an Metallen mangelte es, seit der Mond nicht mehr lieferte, und auch das Menschenmaterial, das man mal so im Überfluß hatte, war schon ziemlich verbraucht... “Die vielen kleinen Leute sind gefährlich”, so hatte man damals gedacht, als der Große Kampf gerade erst angefangen hatte, “laßt uns die mal ruhig losschicken, wenn die dezimiert werden, das kann nicht schaden, die sind sowieso zu viele. Jeder von denen hat in Friedenszeiten viel zu große Forderungen: Großraummobile für die Urlaubsfahrt, Stadtmobile für die Schaufensterbummelfahrten, Großraumkuppeln mit Swimmingpools, gigantische Wolkenkratzerwaben mit Klimaanlagen und Fitneßeinrichtungen, Arbeitsschutzgesetze und Anstrengungsvergütigungen etc., und alles auf unsere Kosten.” “Ich will ja nicht ums Geld klagen. Geld haben wir ja genug, aber den Platz, den die uns wegnehmen.” “Platz und sogar die Atemluft.” “All den Scheiß, den die Vielzuvielen konsumieren.” “Die sind gefährlich. Die können sich nicht mäßigen.” “Wie könnten sie auch, wo wir uns mästen.”
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“Uns gehört alles. Wir können ein kultiviert hochstehendes Leben führen. Aber die Vielzuvielen bringen mit ihrer Gier noch die ganze Welt zum Kippen.” So hatten die reichen, schönen, herrschenden Menschen beklagt, daß sie ihr Menschsein mit viel zu vielen häßlichen, kleinen, wertlosen Menschen teilen mußten und den Krieg als Problemlöser willkommen geheißen. “Auf dieser Welt gibt es mehr Menschen als gebraucht werden, auch besonders bei uns im Westen. Laßt uns einen Drang erzeugen, der sie wie die Lemminge in den Tod ziehen läßt: Patriotismus, religiöser Fundamentalismus und Märtyrertum.” Damals hatte man sich in den allerobersten Chefetagen der westlichen Gesellschaft für die Reduzierung der Bevölkerung durch Fronteinsatz à la Großväterchen-Art entschieden, obwohl man gleichzeitig und zwar schon seit Jahrzehnten die Abtreibung verboten hatten. Aber so war das Leben immer gewesen: voller Widersprüche. Jetzt, wo die Computer es klar ausgerechnet hatten, daß man den Krieg nicht konventionell gewinnen konnte mangels Masse. Die Bombe der Bevölkerungexplosion hatten die Gegner besser entwickelt. Da wurde man in den Chefetagen der Eu nervös. Sollte man schon unkonventionell losschlagen? Über die Atlantikbrücke1 kam der Befehl noch zu warten. Die Großen Führer von Berlin, Paris und London verfielen zunächst darauf, Abtreibung noch schwerer zu bestrafen, mit schwerer Zwangsarbeit in der Waffenproduktion und in Schützengraben1
Bei `Atlantikbrücke' wurde nicht an eine futuristische Autobahnverbindung nach Amerika gedacht, sondern an den in Bonn beheimateten Verein “Atlantik-Brücke e. V.”, in dem sich die Eliten von Politik, Wirtschaft und Medien mit ihren amerikanischen Gegenstücken beraten und ihre Handlungsweisen `koordinieren'. Für ein besseres Verständnis siehe “Das RAF-Phantom - Wozu Politik und Wirtschaft Terroristen brauchen” von Gerhard Wisnewski, Wolfgang Landgräber und Ekkehard Sieker.
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Schaufelbatallionen. Aber das war eine schlechte Lösung. Dabei wurden nur Frauen im gebärfähigen Alter in die Luft gesprengt. Besser und sinnvoller war überführte Abtreiberinnen für jede Abtreibung mit zehn Zwangsgeburten zu bestrafen. Die Leute wurde aufgerufen, eifrige Schnüffler zu werden, und den Behörden zu melden, ob sie in ihrer Verwandtschaft oder Nachbarschaft irgendwelche Frauen oder Mädchen kannten, die sich des Schwangerschaftabbruchs verdächtig gemacht hatten. Viele Leute verrieten gerne junge Frauen aus ihrem Bekanntenkreis. Es tat ja so gut, Verantwortungsgefühl zu zeigen. - Die Aufdecker durften die zehn Zwangsdeckungen an der Abtreiberin vollstecken, äh, vollstrecken. Manche Leute dachten wohl, solche Maßnahmen führten zum Sieg: Geburten, um neue Krieger zu haben. Aber selbst die besten Wizards der Pharmaindustrie konnten kein Wachstumsmedikament herstellten, daß den Wachstum der Neugeborenen so stark beschleunigte, daß sie groß genug waren für den Frontgebrauch, bevor die Front unter dem Überdruck angreifender Horden zusammengebrochen war. Das war vorauszusehen.
China, Japan und Korea waren zu diesem Zeitpunkt noch neutrale Staaten. Wirklich neutral waren sie nicht, denn sie lieferten Waffen und Berater an die Quadrupelallianz. Die WASPen waren sauer. Sie wollten auch mit Waffen beliefert werden, schließlich hatte man in Friedenszeiten ja auch viele Elektrogeräte und Automobile von ihnen importiert. Der Sprecher dieser drei Ökonomien lächelten freundlich: “Ihr habt doch immer über unseren Exportüberschuß geklagt. Wenn wir euch jetzt auch noch mit Waffen beliefern, wird der Überschuß noch größer.”
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“Wenn ihr euch nicht wirklich neutral verhaltet und uns Waffen liefert und unseren Feinden keine mehr, dann werden wir euch mit einer Seeblockade bestrafen”, drohten die WASPen. Aber die Chinesen wiesen den WASPen nur höflich die Tür. Es kam für sie gar nicht in Frage, der Ami-Eu-Allianz zu helfen. Es war nicht, daß sie etwas gegen WASPen oder Europäer hatten. Als Mensch war ihnen jeder Mensch sympathisch, Gefühlsmenschen waren ihnen aber eher unsympathisch, von Unvernunft hin- und hergerissene Menschen mochten sie nicht. Es war vernünftig, weiter die Quadrupelallianz mit Waffen zu beliefern, damit sie den Krieg gewann, denn, wenn man es nicht tat, würde die Allianz verlieren. Wenn sie aber verlor, konnte sie nie die Kredite zurückzahlen, die sie China und den zwei anderen Ökonomien schuldete. China wollte keinen Krieg. Es fand, daß es nicht die Probleme der anderen Staaten hatte. Es war selbstzufrieden. Die Strategic Defense Initiative, die es nach WASPischen Vorbild errichtet hatte, schützte das Land durch einen Raketenabwehrschirm. Das Projekt nannten die Chinesen übrigens nicht `star wars', sondern `Große Mauer 2000'. Die Chinesen wollten hinter oder unter ihrer Großen Mauer in Ruhe gelassen werden. Sie hatten nicht wie die WASPen, die über ihrem eigenen Land einen noch gewaltigeren Schirm errichtet hatten, im Innern Probleme. Durch eine Einkind- bzw. Nullkind-(bei Unfähigen)pro-Ehepaar-Politik war die chinesische Ökonomielandschaft in eine stabile Lage geraten, die einen gradlinigen Weg der Wohlstandvermehrung ermöglicht hatte. Ehemalige Hungergebiete des Reiches waren verschwunden, entweder reich geworden oder durch sterilmachende Mittel entvölkert worden. Keine Morde, bloß Sterilität, also keine nachwachsende Generation. Der Westen hatte immer gegen diese Mißachtung des individuellen, reproduzierenden Grundrechtes des Menschen protestiert. Es würde dem Westen ein Leichtes sein, diese alte Hetze der
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Menschenrechtsmißachtung jetzt für See-Blockaden und andere militärische Schritte gegen die Chinesen zu nutzen. Die Japaner, die das gleiche Problem mit dem WASPenland hatten, wie die Chinesen, entschieden sich ihrem Charakter gemäß für eine andere Taktik: Sie versprachen auf die Wünsche der WASPen einzugehen. Sie prüften und prüften, bedachten die Anliegen der Bittsteller und kriegten nicht eine Bombe geliefert. Die ganze Produktion lief aber auf Hochtouren für das eigene Militär und die Vierer-Allianz. Japan hatte mal einen Paragraphen in seiner Verfassung gehabt, der den Krieg als Mittel zur Konfliktlösung ächtete. Das war ein guter Paragraph gewesen. Er war in die Verfassung geraten, als die WASPen nach dem Zweiten Weltkrieg noch immer so vor der Martialität der Japanern zitterten, daß sie als Siegermacht die Japaner zwangen, in ihrer Verfassung den Krieg als Konfliktlöser für immer zu verleugnen. Doch fünfzig Jahre später war die Furcht gewichen. Man kannte nur noch die immer höflich lächelnden, bescheiden scheinenden, japanischen Geschäftsleute und Politiker, die einen immer zu verstehen schienen, immer zu allem `ja' sagten. Was die WASPen nicht wußten, war das `Ja' nur soviel hieß wie `das habe ich akustisch verstanden', aber niemals eine Zustimmung war. Als die WASPen fünfzig Jahre nach dem Weltkrieg entdeckten, daß es da auf dem Globus ein Volk gab, daß zu allen ihren Vorschlägen `Ja!' sagte, freuten sie sich. Und sie sagten dem Volk, es solle sich doch wieder bewaffnen und seinen internationalen Verpflichtungen als Peace-Keeping-Forces nachkommen, und den WASPen aktiv helfen, Weltpolizist mit UNO-Mandat zu spielen. Und die Japaner sagten wieder `Ja' und rüsteten. Und so kamen die Japaner wieder zu ihren Waffen, zu Hoch- und Höherrüstung. Besser wäre gewesen, sie hätten die ganze Welt überredet, den Krieg zu ächten. Japanische Samurai-Seelen hatten seit der Meiji-Restauration mehrere gewaltige Veränderungen durchgemacht. Aus den ehemaligen 1492
Schwertkämpfern waren zuerst moderne Industrialisten und Militaristen geworden, dann nach verlorenem Krieg Pazifisten, die als realistische Kämpfer an der `corporate business frontier' Profite erwirtschafteten und als Geschäftemacher selbst die legendären, jüdischen Händler in den Schatten stellten. Was diese Samurai-Seelen nie waren, waren ruhende, selbstzufriedene Menschen, selbst wenn sie als buddhistische Mönche meditierten, taten sie es übereifrig, gehetzt, gequält - sogar geprügelt.
“Der Samurai hatte gekämpft. Die Gegner waren überlegen gewesen. Was war edler, als übermächtige Gegner zu bekriegen! Er hatte verloren, seine Rüstung war zerschlagen, sein Schwert der zerschmetterten Hand entglitten, sein Köcher leer, seine Bögen entzweigebrochen. Blutend war er dem Blachfeld entkommen, durch den dunklen Wald gestolpert und vor einem Dorfe der Landarbeiter war er auf einem Buchweizenfeld eines Soba-Bauern zusammengebrochen. Der Soba-Bauer hatte ihn gefunden und zusammen mit seiner Frau und seiner Tochter gepflegt, bis er wieder gesund war und aufstehen konnte. Die Tochter des Bauern hatte sich in ihn verliebt, und auch der Bauer selbst mochte den großen Mann, er wäre ihm recht gewesen als Schwiegersohn, auch wenn er alles verloren hatte. Er sprach zu dem Samurai: `Deine Feinde haben deine Burg erobert und suchen überall nach dir. Du kannst hier versteckt auf meinem Bauernhof als mein Schwiegersohn den Rest deiner Tage in Frieden verbringen, das Land pflügen und Hirse und Buchweizen ernten. Das Land ist groß, zwar nicht wie eine Grafschaft, aber es wird dir immer genug zu essen geben.' - `Oh nein', sprach da der Krieger, `ich muß Seppuku machen.' `Warum?' fragte der Soba-Bauer. `Damit ich reinkarniert als Krieger neue Kriege kämpfen kann!' Und der Samurai nahm den Pflug des Bauern - nicht um Furchen in das Feld zu kratzen, sondern um sich damit über den Bauch zu pflügen und zu verblühen. So ungeduldig war er.”
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Nach diesem fernöstlichen Zwischenspiel zurück zum europäischen Schauspielplatz. Der Westen sah von seinen Satelliten aus, daß sich eine schier unermeßliche Heeresmasse auf sein Land zu bewegte. Eine vorgeschobene Stellung nach der anderen wurde überrannt. Bald würden Berlin und Wien fallen, die katholischen Bollwerke gegen die Orthodoxie, Kroatien und Polen, waren schon gefallen. Da entschied man sich den Todesvorhang vorzuziehen. Dieser Vorhang sollte das ganze Gebiet vom Balkan bis zum Baltikum, vom Schwarzen Meer bis zum Weißen Meer bedecken. Und die Decke, mit der man die Menschen zuzudecken gedachte, war geblümt, es waren die Blumen der Senfgaspflanze, aus ihnen rieselte giftig gelber Blütenstaub. Es war nun aber nicht so, daß die Heerführer so vieler Krieger bei der Ausrüstung gespart hatten. Freilich, die Ausrüstung war eine Kostenfrage, und die Verteidigungsminister der armen Länder hatten sich gesagt: Ein junger Mann ist billiger als eine Gasmaske, also bekommen unsere jungen Männer keine Gasmaske. Die reicheren Länder hatten ihre Krieger aber alle gut ausgerüstet, sie hatten nicht nur Gasmasken für den Fronteinsatz, sondern auch Baracken und Mannschaftsräume und -fahrzeuge mit eigener, sauberer Atmosphäre. Die ganz reichen Länder, die sogar Kriegswitwenrenten zahlten, hatten ihre Soldaten sogar mit schußsicheren Westen, Hosen und Hüten ausgerüstet. Viele in diesem Gebiet noch lebende Zivilisten schlossen unter dieser Blütenstaubdecke für immer die sengenden, brennenden Augen, aber auch unter den Zivilisten hatten viele für diesen Augenblick vorgesorgt und sich Gasmasken angeschafft. Jetzt setzte man sie sich auf und sah mit dem Atemrüssel wie Rüsselschweine aus.
1494
Die Giftgasdecke lag schwer auf dem Land, kein Windchen wehte sie für lange Zeit zur Seite, das Gift aber schlüpfte in die letzten Winkelchen. Keiner, der nicht über hermetisch abgeriegelte Räume verfügte, durfte seine Rüsselmaske abnehmen. Wer es doch tat, war sofort tot. Trotz voller Vorratskammern mußten die Leute hungern. Aber wer hungert, lebt, lebt vielleicht sogar zwei Monate bis zum Verhungern. Wer unter diesem Todesvorhang ganz sicher zu Tode kam, das waren die Tiere, die Haustiere und die Tiere der Natur, alle Tiere von den Würmern und Insekten bis zu den großen Drachen und Wölfen. Einst hatte die Erde die Tiere auf die Erde gelassen, damit es durch Evolution einen Fortschritt des Lebens auf Erden gab und den Fortbestand desselben. Jetzt waren so viele Tiere tot. “Die Erde ist ein denkendes Wesen, ein großes Gehirn, sie entwickelt Ideen und verwirft sie. Die Saurier wurden verworfen, der Neanderthaler und der Cro-Magnon-Mensch. In ihrer großen Weisheit wird sie auch den homo sapiens sapiens verwerfen. Atomare Vernichtung. Die Richtigen überleben oder die Falschen. Wird sie richtig denken? Sind's die Richtigen, werden sie friedlich bis zum Ende des Planeten hier leben, Wissen erwerben und sich das Überleben sichern. Sind's die Falschen, so werden sie sich immer wieder hochschaukeln bis zur neuen Vernichtung, bis eines Tages das Ergebnis gut oder zumindest zufriedenstellend ist oder der Versuch Mensch ganz aufgegeben wird. Die Erde ist wie ein Wissenschaftler, der plant und verwirft, wie ein Forscher, der eine Reihe von Versuchen durchgeht, bis er sein Ziel erreicht hat oder die Fruchtlosigkeit seiner Mühen erkennt.” “Die Erde ist ein mittelmäßiger Planet auf mittelmäßiger Umlaufbahn um eine mittelmäßige Sonne am Rande einer milchigen Straße, wie kann man hier große Gedanken erwarten? Sie wird mit ihrem mittelmäßigen Gehirn mittelmäßige Entscheidungen treffen.”
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Ehre Deine Mutter Erde,1 auf daß Deine Tage lange währen. Sie ist ein Stück von Dir und Du ein Stück von ihr. Sie gebar Dich und gab Dir Dein Leben und einen Leib. Unzertrennlich bist Du mit ihr verknüpft. Ihr Schicksal ist auch Deins. Deins auch ihrs. Sie leidet mit Dir und Deine Freude wäre auch ihre. Doch Du bist nicht froh. Freue Dich auch ihretwegen, sind wir Menschen doch umgeben von ihrem Segen. Ein Füllhorn wäre sie uns, tränken wir mit Maßen, ein überreicher Tisch wäre für uns gedeckt,
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Die ersten zwei Zeilen des Textes sind `den verlorenen Schriften der Essener' übersetzt von Dr. Ed. Szekely entnommen.
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äßen wir nur so viel wie uns schmeckt. Großzügig gibt die Erde ihre Gaben. Hielten wir ihre Gesetze, könnten wir uns noch lange an ihrem Busen laben. Doch zu gierig griff der Mensch nach ihren Gaben, ohne nach der Zukunft zu fragen, riß er ihr Narben, die auch sein eigenes Gesicht entstellen - zum widerlichsten Teufelsgesellen. Ein Paradies wollte er schaffen, ein Schlemmer- und Schlaraffenland, doch eine Teufelshand läßt ihn zur Hölle ins Inferno schlittern. Was wird ihm bleiben außer Heulen und Zittern in Dunkelheit? Reue vielleicht - und viel Asche.
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Der einzelne ist machtlos, wenn die Massen Mutter Erde morden wollen, morden sie auch ihn.
Auch auf dem Schlachtfeld gab es Märchenerzähler:
“Das Märchen vom Nachklang Es gab einmal ein Volk, das war fleißig wie die Bienen und hatte eine höherentwickelte Arbeitsteilung als die Ameisen; die einen regierten, die anderen experimentierten, Atomphysik, Biochemie, Astrologie, die einen den Untergang vorbereiteten, die anderen ihn in den Sternen voraussahen, die nächsten heilige Bücher studierten, interpretierten, wieder andere predigten, noch andere straften, und noch andere paßten auf, manche bauten, einige rissen nieder, manche sangen und musizierten, andere malten und modellierten, manch einer machte Spaß, und manch einem war alles ernst, und dann gab es noch überall die Handlanger. Die ersten Spezies der menschlichen Morgenröte, Sumerer aus der Zeit vor der Sintflut, hatten ein langes Leben, wurden 30 000 Jahre alt, später, in der ersten Dynastie von Ur, nur noch knapp 1 000 Jahre, dann starb man, das heißt spätere Generationen, oft schon mit 30, 40 oder 50, dann dank Medizin zwischen 80 und 100 und dann schon meist mit 10, die Menschheit an der Schwelle zu einer noch kürzeren Lebensdauer, denn lange zu leben, wurde vielen sauer. Nennen wir die 1498
kurze Lebensdauer eine Abgewöhnungskur, denn drei Generationen später nur gab's kein Gebären mehr, aus Überdruß machten alle Schluß. Nach dem menschlichen Abendrot folgte die Nacht. Der Mensch war eine Sonne, besaß Schönheit und Macht. Seinem Untergang folgte fröstelnde Kühle, Leere und Armut und göttliche Andacht. Wie einsam ist das All ohne ihn, sprachen die Götter bei der Totenwacht. Nach dem menschlichen Abendrot folgte die Nacht. Der Mensch war eine Sonne, besaß Schönheit und Macht. Der Welten Lauf ist ein Lied, der Mensch war eine Strophe darin, besaß seinen Sinn, war eine Melodie, hatte seinen Abgesang, 1499
war ein Sänger, hatte seinen Auftritt und Abgang, war ein Ton verklungen im Äon.”
“Das Märchen vom göttlichen Menschen und seiner Allmacht Der Mensch wurde immer göttlicher. Zumindest würde man das behaupten, wenn man seine Leistungen betrachtete, ohne ihn selbst zu sehen. Durch Gen-Manipulation war es ihm gelungen, neue Wesen zu schaffen. Alles war durch seine Hände gegangen, nichts vor seiner Besessenheit zu verbessern sicher, von den Mikroorganismen über Futterpflanzen bis zu den Haustieren, die er sich geschaffen hatte, und die ihm nützlicher als die herkömmlichen Haustiere erschienen. Aber der Mensch war nicht nur Subjekt dieses Dranges, sondern auch Objekt: Großhirnige Denker, Muskelmenschen, geniale Musiker und andere Künstler, geschickte Techniker und Leute, die den Bedingungen der Schwerelosigkeit besonders gut gewachsen waren, waren geschaffen worden; großartige Sportler zu züchten, hatte man wie den Sport selbst aufgegeben, nachdem Spinnenmenschen mit zehn Meter langen Beinen und viele Tonnen schwere Turmmenschen auf der Bildfläche erschienen waren; aber auch Moden folgend veränderte sich das Bild des Menschen, die nordische Rasse, die schon immer ein schlechtes Verhältnis zu ihrem bleichen Aussehen und strohblonden Haar hatte, hatte sich genetisch schwarzhaarig gemacht und trug passend eine stolze Arabernase dazu, leider war ihnen wie allen eine unerwünschte Zugabe zuteil geworden, hier die südländische Laissezfaire-Mentalität, die man früher so verachtet hatte, und derentwegen man jetzt weltpolitisch gesehen immer bedeutungsloser wurde; dafür trugen Japaner und andere Asiaten jetzt blondes Haar; auch war es erreicht worden, Frauen weitere Becken für leichtere Geburten und aus 1500
ästhetischen Gründen große, feste Busen zu geben; überhaupt sah man jetzt zu viele Leute mit Idealfigur. Ideale Menschen allerdings waren nicht geschaffen worden; alle kränkelten irgendwie herum, Nervenzusammenbrüche waren an der Tagesordnung, und zufrieden war keiner und friedlich nur die, die eine Überdosis Beruhigungstabletten genommen hatten. Der letzte Schrei aber war, das Wachstum zu stoppen, so daß die Mütter, die ein bestimmtes Stadium in der Entwicklung ihrer Kinder meist das Säuglingsalter - besonders liebten, dieses, indem sie die weitere Entwicklung hinauszögerten, länger genießen konnten. Da eine solche Wachstum-Manipulation sehr teuer war, wurde sie nur von wenigen reichen Leuten wahrgenommen. Allerdings waren Institute entstanden, die solche Babys und Kleinstkinder an Frauen, die zwar den Drang hatten, jemanden zu bemuttern, sich aber scheuten, richtig Mutter zu werden, vermieteten. Für solche Institute amortisierten sich die einmaligen Wachstumsmanipulationskosten durch die hohen Ausleihgebühren bis zum Eingehen der Kleinstkinder nach etwa zehn Jahren leicht. Wir sehen schon, die göttlichen Fähigkeiten des Menschen beschränken sich auf sein Können. Wollen, können, machbar machen und dann machen, so konjugierte man sein Menschsein. Ans Dürfen dachte keiner.” “Aber ähnelte man nicht auch hier dem Gott, der sich nicht fragte, ob er den Menschen überhaupt machen durfte?” --“Du irrst, Gott war zwar bei der Erschaffung des Menschen kurzsichtig, aber ganz unbedarft und blauäugig ist er nicht, er wird seine Schöpfung wieder zurücknehmen.” “Kein Zweifel, der Mensch wird zugrunde gehen und mit ihm vieles mehr, aber es wird gegen den Willen Gottes sein, denn der wird ohne 1501
sein Ebenbild leer und einsam sein, was ihm ein größeres Greuel ist, als manch einem Menschen.”
“...das war das Märchen vom Mächtigsten.” “Nachdem wir nun das Märchen vom Mächtigsten gehört haben, ein kaukasisches Märchen, dem ich noch eine Zeile hinzugefügt habe. Ein Schaf, das über das Eis gehen wollte und ausrutschte, schrie: `Eis, Eis, deinetwegen bin ich hingefallen. Bist du stark? Bist du vielleicht am stärksten von allen?' Aber das Eis antwortete: `Wie kann ich am stärksten sein, wo die Sonne mich doch schmelzen kann?' Da ging das Schaf zur Sonne und fragte: `Sonne, Sonne, bist du am stärksten von allen?' Und die Sonne antwortete: `Wenn ich am stärksten wäre, wie könnten die Wolken mich dann verdecken?' Da fragte das Schaf die Wolken: `Wolken, Wolken, seid ihr am stärksten von allen?' Und die Wolken antworteten: `Wenn wir am stärksten wären, wie könnten wir dann durch Regen vernichtet werden?' Und als das Schaf den Regen fragte: `Bist du am stärksten von allen?' antwortete der: `Wie könnte ich am stärksten sein, wo mich doch die Erde verschluckt?' Da fragte das Schaf die Erde: `Erde, Erde, bist du am stärksten von allen?' und die Erde antwortete: `Nein, sieh doch das Gras bohrt seine Wurzeln in mich hinein, und ich bin machtlos dagegen.' Da fragte das Schaf das Gras, ob es am stärksten sei. Aber das Gras antwortete: `Wie könnte ich am stärksten sein, wo doch ein Schaf mich pflücken und fressen kann?' Da sprang das Schaf vor Freude in die Luft und rief aus: `Mag ich auch ausrutschen und fallen, ich bin am stärksten, am stärksten von allen!' Ein paar Tage später wurde es geschlachtet.”
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Schafgulasch für hungrige Krieger, für die, die dann, als sie den Schritt von der Gulaschkanone vor die Mündung richtiger Kanonen taten, ins Gras bissen und die Pflanzen düngten. Der Mächtigste war doch immer noch der, der die Kanonen hatte und fütterte, also der Mensch, der homo canonicus.
Seit der Westen mit Giftgas unkonventionell geworden war, wurde bombastischer gekämpft. Erst schoß man sich gegenseitig mit MiniNukkis, mit kleinen taktischen Nuklearwaffen, eine Einheit nach der anderen kaputt, dann hagelte es die großen Bomben der beschleunigten Neutronen auf die westlichen Industriegebiete. Diese verbesserten ABomben entwickelten eine relativ geringe Druck- und Hitzewelle und gaben den größten Teil ihrer Energie als radioaktive Strahlung ab. Der Zar hatte das Flächenbombardement der westlichen Industrielandschaft mit solchen Bomben angeordnet. Seine Computer hatten ihm nämlich ausgerechnet, daß einer Besetzung nichts mehr im Wege stand, in so einem Fall leistete ein Bombenteppich von Neutronenbomben gute Dienste, denn jede Bombe zerstörte nur die Gebäude und Industrieanlagen in einem engen Kreis von 200 m, brachte aber die Leute in einem Umkreis von 3000 m um. “Eine Waffe, die nur Menschen tötet, aber kaum Sachen zerstört, welch ein Segen, denn die Menschen sind ja im Moment das Wertloseste, besonders die feindlichen Menschen.” Der Westen aber konterte mit Dreiphasenbomben auf Moskau, Zünder aus Uran 235, Lithiumdeuterid als Fusionsmaterial und Uran 238 als Fissionsmaterial. Der Zar selbst fiel dieser Explosion zum Opfer. In Rom war ein alter Papst gestorben, angeblich vor Gram ob der menschlichen Gottlosigkeit, Sündhaftigkeit und Gewalttätigkeit. Ein neuer war gewählt worden. Er brach mit der Tradition - oder kehrte zu einer älteren Tradition zurück. Da gerade Ostern war, wollte er wieder 1503
selbst den Segen `urbi et orbi' von der Loggia der Peterskirche spenden. Seit Adjuna einen Papst an die Balkontür genagelt hatte, hatte es kein Papst mehr gewagt, ins Freie zu treten, sondern jeder immer nur vom gesicherten Bunker aus über Bildschirme seine mit Friedensschwören bestickte Kreuzzughetze betrieben. Der neue Papst wollte anders sein. “Gerade in dieser schweren Zeit...” Die Orthodoxen wußten es schon lange, ihr verstorbener Zar hatte es ihnen oft genug gesagt: `Von Rom geht die Vernichtung aus.' Von Rom waren tatsächlich viele Aufrufe zu neuen Kreuzzügen ausgegangen. Und auch jetzt zu Ostern erwarteten die Leute vom neuen Papst neben Beschwörungen des Friedens und der Nächstenliebe eine Stärkung ihrer Kampfmoral. Eine große Menschenmenge versammelte sich vor der großen Kirche. Der neue Papst trat vor die Leute. Die Leute jubelten. Vom orthodoxen Rußland kam ein Gruß angeflogen in Form einer Neutronenbombe. Die Russen waren rücksichtsvoll. Aus Rücksicht auf die vielen Kulturschätze des Vatikans ließen sie diese Neutronenbombe ganz hoch über dem Vorplatz der Großen Kirche explodieren, so daß kein Sachschaden entstand. Nur die Menschen (und dazu gehörte auch der neue Papst), die waren natürlich tot. Was waren nun die letzten Worte des servus servorum Dei, des Knechts der Knechte Gottes, des knechtigsten aller weltlichen Herrscher? Es waren die Worte: “Veni sancte spiritus!” Was darauf hindeutete, daß in diesem Jahr Ostern und Pfingsten auf den gleichen Tag fielen. Wie antwortete nun der Heilige Geist? Er antwortete: “Warum ich? Du kommst!” Selbst Himmelfahrt fiel auf diesen Tag.
Der Westen schlug natürlich zurück. Aber der Westen hatte viele Sorgen. Eine Sorge war die Umwelt. Man hatte gesehen, wie der gelbe Staub ein riesiges Gebiet zur Totenlandschaft gemacht hatte, und man fürchtete beim Einsatz der Nuklearwaffen die Langzeitschäden der radioaktiven Verseuchung. 1504
Die Virologen des Verteidigungsministeriums hatten aber einen idealen Krankheitserreger synthetisch produziert und massenproduziert, der wirklich nur Menschen einen schnellen Tod brachte und schon bei anderen Hominoiden, wie Schimpansen, Gibbons, Gorillas, Pongos und Bonobos, nicht funktionierte. Die Virologen hatten sogar ein Gegenmittel für die eigenen Hominiden entwickelt. Den Virologen der Gegenseite aber würde der Virus dieser V-Waffe niemals die Zeit lassen, die Forschungsarbeit an einem Gegenmittel zu Lebzeiten zu Ende zu bringen, und einfach Interferon spritzen half bei ihm nicht. Der Westen schöpfte Hoffnung angesichts dieser Bio-Wunderwaffe: “Wenn man Pflanzen, Tiere und Sachen läßt, wird sich das übrigbleibende Menschenhäufchen schon wieder aufrappeln können, aber wenn man auch die Pflanzen und Tiere vernichtet, hüllt sich die Welt in ewiges Schweigen. Die Feinde handeln unmoralisch, wenn sie so wahllos Neutronenbomben werfen.” Neben der Immunisierung der weißen, westlichen Menschen und der Infektionierung der Feinde verfiel man im WASPenland noch auf eine andere Kriegslist: Soldaten, Wissenschaftler und Wirtschaftskapitäne wurden durch kryonische Kryptobiosis konserviert für ein Leben nach der totalen Vernichtung. “Soldaten-Tiefgefrierung! Krieger für nach dem Krieg! So gewinnen wir bestimmt!” verhießen die Prospekte der Kühltruhenfabrikanten. Man vergaß, daß nach der totalen Vernichtung keiner mehr dasein würde, sie wieder aufzutauen. Die virologischen Gifte des Westen sollten den Asiaten eine Lehre verpassen. Keine Große Mauer 2000, kein Raketenabwehrsystem sollte ihnen helfen können, die Viren trieben ganz einfach mit der vorherrschenden Windrichtung des Sommermonsuns vom Indischen Ozean her ins Land. Die Chinesen taten das nächstliegende. Sie evakuierten die überlebenden Bevölkerungsteile so schnell wie möglich nach Zentral- und Mittelamerika, Australien, Alaska und in die 1505
Mittelmeerregion, wo sie auch Kampfgeschehen eingesetzt wurden.
gleich
als
Volksmiliz
im
Die Japaner wurden von den Chinesen gezwungen, auch aggressiv gegen die WASPen vorzugehen. Die Kriegserklärung Japans beantworteten die WASPen mit großen Wasserstoffbomben, die sie in zehn Kilometer Tiefe im Japanischen Graben zündeten, dadurch lösten sie eine Kette von Erdbeben aus, die Japan halb ins Meer bröckeln ließ. Es war die überbevölkerte Osthälfte. Während Europa mit all den Raketen, die die Quadrupelallianz und China besaßen, beschossen wurde und keine Erholung mehr fand, blieb dem WASPenland ein solcher Raketenbeschuß erspart. SDI, das Raketenabwehrsystem, hätte einen solchen Beschuß zur Raketenverschwendung gemacht. Ein guter Stratege verschwendete aber keine Raketen. Der Abwehrwall der WASPen hatte eine Schwäche. Diese Schwäche war unter der Erde. Die BomWü, die Bomberwürmer wühlten sich von allen Küsten her ins Land und wüteten unter der Zivilbevölkerung. Nur an den Wänden der großen Silos scheiterten sie. Jetzt erklärten die WASPen auch noch dem Mond den Krieg. Der Mond war ihnen aus so vielerlei Gründen zum Ärgernis geworden: Einmal, weil die ehemaligen Kolonialisten das Mutterland nicht im Krieg gegen die feindliche Übermacht unterstützten, zweitens keine Rohstoffe schickten, drittens war Ebbe und besonders die Flut wegen der leichten Kippung der tektonischen Platte von Nordamerika für die amerikanische Atlantikküste ein Problem geworden, und viertens, und das lag den WASPischen Häuptlingen besonders am Herzen, war ein feindlicher Mond bei einer Flucht ins Weltenall eine unberechenbare Gefahr. Als die Lunauten merkten, daß den Erdlingen ein Mond, der über ihnen friedlich am Himmel zog wie zu Großvaters Zeiten, ein Ärgernis war, und einsahen, daß man ihnen hier unten auf dem Mond ihren
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Frieden nicht länger gönnte, entschieden sie sich zu handeln: Der Geier hatte lange genug gegiert, es war Zeit zuzugreifen. WASPische Militärberater hatten behauptet, daß die Mondkolonien hoch verwundbar seien; eine einzige Brandbomde könne, wenn sie die Außenhaut einer Wohnsiedlung durchschlug, der ganzen Siedlung die Atemluft nehmen. Die Lunauten hatten aber ihr eigenes Raketenabwehrsystem. Es funktionierte sehr energiesparend, da die Gravitationskräfte des Mondes sehr bescheiden waren. Wenn immer die Erdlinge eine Rakete auf den Weg schickten, flog ihr vom Mond eine Hülse entgegen, die die Rakete einfing und in einem großen Kreis umlenkte, zurück zur Erde. Leider trafen die Lunauten dabei manchmal von der Quadrupelallianz kontrollierte Gebiete. Die Erdlinge verfielen jetzt auf die Idee, zwei Raketen dicht hintereinander hochzuschicken. Die erste mit einer großen Sprengladung, um die Hülle wegzusprengen, die zweiten dann, der ja nichts mehr im Weg stand, mit dem Brandsatz. Die erste Rakete flog in die Hülse und explodierte. Es blieb den Lunauten genug Zeit auch eine Hülse auf die zweite Rakete zu schießen und sie wieder umzulenken. Die Erdlinge versuchten es dann mit noch mehr Raketen dicht hintereinander, aber die Strecke ErdeMond war zu lang, jede Rakete wurde eingefangen und umgelenkt. Man brauchte größere und stärkere Raketen, um durchzukommen. Es eilte, schnell schweißte man in dem Gerüst eines ausgebrannten Hochhauses eine riesiglange Rakete zusammen, die noch genug Kraft haben sollte mit der lunautischen Hülse auf der Nase zum Mond zu kommen. Die Lunauten verstanden sich als Freidenker und Freiwisser, auch wenn auf der Erde offiziell solche Leute vernichtet worden waren, insgeheim gab es noch viele von ihnen, und insgeheim arbeiteten sie für die Lunauten, das hieß sie waren Spione. Das Projekt `DurchSchlagende-Faust' wurde auf die Art verraten. Die Lunauten richteten einen superstarken Laserstahl auf die Brennkammern der Rakete und 1507
das ganze Ding explodierte noch auf dem Erdboden. Die verbrannte Stadt, in der man es gebaut hatte, brannte ein zweites Mal. Laserstrahlen aber, das sahen die WASPen jetzt, waren die Lösung. Mit Laserstrahlen würde man die Hüllen der Lunautenstädte zum Schmelzen bringen und ein Massensterben auf dem Mond auslösen, und dann könnte man auch die Rohstoffe des Mondes wieder ausbeuten. Laserstrahlen und Spiegel und Gegenlaserstrahlen und Raketen und Gegenraketen. Die Lunauten wurden nervös. Laserstrahlen konnte man zwar mit Spiegeln zurückschicken, aber die Spiegel konnte man nicht so schnell bewegen wie das Spot-Light vom irdischen Laserstrahl. Einige Siedlungen konnten die Lunauten mit Spiegeldächern schützen, aber für alle Siedlungen reichten die Spiegel nicht aus. Die Bewohner der anderen Siedlungen flohen in ihren geräumigen Camper-FOs auf die Mondrückseite. Wegen der geringen Mondanziehung benutzte die Lunauten kaum Rad-Fahrzeuge, sondern fast nur FOs =Flug-Objekte. Reiche Lunauten, wie reiche Erdbewohner auch, besaßen natürlich Space-Archen, in denen sie völlig autark leben konnten selbst im interstellaren Raum. Wer auf dem Mond Golf spielte, dem konnte es leicht passieren, daß er seinen Ball nicht wiedersah, weil der sich auf eine Umlaufbahn um die Erde begab, ja, am Ende sogar von der Erde eingefangen wurde. Zwar würde der Golfball nicht auf einem irdischen Golfplatz noch sonst wo auf der Erde landen, sondern in großer Höhe beim Eintritt in die 80º Grad kalte Mesosphäre der Erde schmelzen, verdampfen, verglühen. Daß der Mond nicht für Ballspiele geeignet war, lag daran, daß die Schwerkraft des Mondes eine Leichtkraft war. Die Strategen des Mondes erinnerten sich an das Computerspiel, das sie einst ihren Kindern geschenkt hatten. Das war natürlich Blödsinn gewesen, den Mond mit Düsen zu versehen und dichter an die Erde heranzufahren, um Flutwellen auszulösen und Berge in irdische Meere zu kippen. Dabei taumelte man nur selbst in den Tod. Aber was man 1508
machen konnte, war, von hier unten dem großen Bruder da oben, die gewünschten Rohstoffe über Förderbänder und Rohrleitungen gleich so als Mondstaub entgegen pusten. Die Erde würde den Dreck schon einfangen. Das gäbe Meteoritenschauer und Leuchterscheinungen am irdischen Himmel! ...und kostete nur wenig. Vielleicht würden die Erdlinge den Mond vor lauter Staub gar nicht mehr sehen können. ...und der dritte Teil des Sternenlichts verfinsterte sich mit ihm. Der Mond schickte noch schnell seine Weltraumkreuzer zur Erde, um im irdischen Kampfgeschehen einzugreifen und die Erde für eine Kolonialisierung durch Lunauten vorzubereiten, dann verdunkelten die zurückgebliebenen Lunauten mit Staubwolken die klare Sicht zum Mond. Auf dem Mond gab es viele Gebläse, Laufbänder und Beschleunigungsanlagen, die Staub, Sand und sogar Gestein aufwirbeln und zur Erde schicken konnten. Das irdische Laser kam nicht mehr durch. Bald wurden die Satelliten blind. Der irdische Nachthimmel flimmerte unter der Verdampfung der Meteoriten. Die Satellitenkommunikation funktionierte nicht mehr auf Erden. Gerade in Kriegszeiten so wichtig. Alle Erdlinge bekamen eine furchtbare Wut auf die Mondlinge. Das orthodoxe Rußland schickte seine MegaEnergia-III-Raketen, alle mit Mega-Wasserstoff-Bomben bestückt, sie sollten den Mond bei Neumond treffen und Richtung Sonne schubsen. Das orthodoxe Rußland sah in den Lunauten, obwohl die sich mit den WASPen bekriegten, heimliche Verbündete des Westens. Wenn die Lunauten Atheisten waren, die Westler waren unfromm und die WASPen unkeusch. Die Explosionen auf dem Mond waren so groß, daß große Stücke vom Mond abplatzen und der Mond eine verbeulte Form annahm. Er taumelte tatsächlich von der Erbe fort auf eine eigene Umlaufbahn um die Sonne.
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...und der dritte Teil des Mondes verfinsterte sich. Die auf dem Mond hatten sich wie gesagt mal sicher gefühlt, doch als die großen Bomben trafen, rissen die Häute der künstlichen Atmosphären, Flammen saugten gierig den Sauerstoff auf, der Rest verflüchtigte sich. 1,068 x 1011 Menschen waren mit einem Schlag tot. Das entsprach den Kriegsopfern einer ganzen Irdenwochen. Nur etwa 100 000 Lunauten überlebten den ersten Schock der großen Explosionen und die nachfolgenden Mondbeben in ihren Camper-FOs dadurch, daß sie den Autopiloten auf eine sichere Schwebehöhe über dem festen Camping-Gelände eingestellt hatten. Ihnen war ein Tod durch Aufzehrung ihrer Vorräte gewiß. Die oberen 10 000 entkamen in ihren Space-Archen. Ihnen stand das ganze Universum offen. Der Mond selbst bleierte von der Erde fort. Er hatte sich schwerfällig gedreht und zeigte ihr jetzt seinen Rücken. “Die Erde ist mir zu klein und kleinlich, ich suche mir ein größeres Muttergestirn.” “Irgendwann verglüht er in der Sonne”, freuten sich die irdischen Raketenschützen. Als die lunautischen Krieger in ihren Kreuzern von der Erde aus sahen, was man ihrer Heimat angetan hatte, kannten sie keine Zurückhaltung mehr, sie regneten ABC-Bomben um sich herum, um auch die Erde unbewohnbar zu machen. Ihre Kreuzer waren so schnell und so schrecklich in ihrer Zerstörung, daß die irdischen Kriegsparteien für einen Moment ihre Auseinsetzungen vergaßen, und alle Kräfte einsetzten, um die Kreuzer der Lunauten zu vernichten. Aber die waren überall, wo es noch etwas zu zerstören gab, die antarktischen Glashüllenstädte zerbrachen unter ihrem Ansturm ebenso wie die letzten Hochhäuser der WASPen. Und es waren ihre Super-Bomben, die die Bunker-Paläste der afrikanischen Übermenschen bloßlegten, ausgruben, ausglühten, und die Hitzewelle 1510
war so stark, daß auch die fernen Plastikbastillen der Armen unter den Strahlen schmolzen; erst als die brodelnde, überall hinfließende Plastikmasse den Siedepunkt erreichte, Gase aussand’, entstand der Brand. - Und giftiger Rauch. Die im irdischen Theater kämpfenden Raumkreuzer der Lunauten benutzten eine neuartige Antriebsart, die die Erdbewohner noch nicht beherrschten. Diese Antriebsart verlieh ihren Schiffen große Kraft und eine große Beschleunigung. Immer entkamen sie irdischen Verfolgern. Es war im Eifer ihres Zerstörungswerkes, daß sie den Tod fanden: Sie wollten die Erde so total vernichten..., so total tot machen, wie es einst der Mond war vor der Besiedlung durch Lunauten. Sie hagelten ihre großen MegaT-Bomben um sich und vernichteten so den Feind und sich selbst völlig.
Die Erde brannte an allen Ecken. Es war der lang erwartete Weltenbrand am Ende der Zeiten. Es brannten atomare Feuer, es brannten chemikalische Feuer, es brannten all die organischen Stoffe, die Sonnenenergie in sich gespeichert hatten.
Ohne Brennbares brennt kein Feuer. Ohne Krieger gibts keinen Krieg.
Auch die Krieger brannten. Sie waren das Ende einer Nahrungskette, an deren Anfang ne Pflanze stand, die Sonnenenergie trank, Photosynthese, Assimilation von Kohlenstoff, von Stickstoff, von Schwefel und Phosphor, Stoffwechsel der grünen Pflanzen, Stoffwechsel der fressenden Tiere, Dissimilation, Dissoziation, Dissipation, Histolyse, Verwesung, Feuer, Anorganisches. 1511
Die Menschen kriegten, bekriegten sich, die Menschen westen, verwesten sich. Siechen und Kriechen, Toben der Kanonen. Menschen brannten, verbrannten sich für ne große Idee und Werte, die sie hatten. Holocaust. Das hieß ja sogar Brandopfer. Götter schnüffelten gerne. Menschen opferten gerne. Aber jede Religion, jede Idololatrie der Menschen war nur eine Idiolatrie der Betenden. Was blieb denn da den Göttern, wenn sich ihre Anbeter alle geopfert hatte? Wieder Idiolatrie? - Um das zu glauben, müßte man religiös sein. Wenn nichts sich selbst anbetet, betet es nichts an. Es könnte sich genauso gut einen Fußtritt geben. Die Idiolatrie der Götter nach dem Verscheiden der Menschen fällt aus.
Adjuna ging nun und weckte die Erzväter. Und sie fragten: “Womit ist dieser Tag anders als die Tage vorher?” “Die Menschen bringen einander um.” “Na und, das haben wir auch schon getan.”
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“Aber diesmal ist es total.” “Das haben wir auch schon so gehalten.” “Es wird keiner am Leben bleiben.” “Hauptsache die Feinde Gottes sind tot.” “Alle Tempel des Herrn liegen verbrannt und zerstört.” Da zerrissen sie ihre Kleider, rauften ihre Haare und weinten und schrien sie: “Nun hat der Herr keine Stätte mehr auf Erden!”
Das Elend der noch lebenden Menschen war groß. Nachdem der Krieg die Energiezentren, die Deuterium-Thermonuklear-Reaktoren, zerstört hatte und die Energiezufuhr stoppte, erkalteten die Biochemienahrungsbrüter und schwiegen die großen Wasserpumpen und Versorgungs- und Entsorgungsanlagen. Man sah die Leute verdreckt, sich vor Hunger den eigenen Kot in den Mund steckend, die meisten auf allen Vieren, da ihre Kraft für die schwabbeligen Bäuche nicht mehr reichte, nach einem Ausweg aus ihren unendlichen Städten suchen. Die wenigen Kriegswochen hatten aus hundert Milliarden Menschen eine Milliarde Tiere gemacht. Und die Zahl der Vertierten nahm ständig ab. Wer jetzt noch Mensch war, der lebte irgendwo tief unten in den verborgenen Bunkerstädten der Reichen und gehörte zu den Herrenmenschen, die sich in jeder menschlichen Rasse zu Führern über ihre Mitmenschen aufgeschwungen hatten. Und Adjuna war natürlich auch noch immer Mensch, ein aufrechter Mensch, unantastbar, ungeführt. Die meisten anderen erreichten eine immer tiefere Stufe des NichtAufrechtseins. Viele formten sich jetzt, wo sie nichts mehr von ihren 1513
Führern hörten, kleine Fetische aus Dreck und Kot und beteten vor ihnen auf dem Bauch liegend um einen Erlöser. Ein jedes Grüppchen betete nach eigener Façon um einen Erlöser. Den Bewohnern der beheizten Kuppelstädte in den extremen Polgegenden erschien der Erlöser als erster in Form von Meister Frost. Denn als die Bomben die Kuppeln wegrissen, erfroren die dortigen Bewohner sofort, denn die Plastikmoden der Städter waren nicht konzipiert, warm zu halten, sondern hatten den Vorteil die Geschlechtsteile hervorzuheben und auf Knopfdruck erogene Zonen zu stimulieren. Die Verbrennung der erfrorenen Leichen ermöglichte einigen robusteren Städtern der Eisregionen, sich noch über längere Zeit warm zu halten, bis die radioaktiven Wolken auch ihrem Welken die Erlösung brachte. Andere hofften auf andere Erlöser. Juden, arme, vegetierende Juden auf der Welt überall dachten, daß ihr Messias diesmal angesichts dieser großen Katastrophe ganz bestimmt kommen würde und der Bund erneuert würde und das gelobte Land in all seiner Herrlichkeit wieder hergestellt würde, und Gott keinen der feindlichen Nachbarn am Leben ließe. Während sie so träumten, rüsteten reiche Juden in ihren unterirdischen Quartieren ihre SpaceArchen aus, um dem irdischen Jammertal zu entkommen. Eine neue, größere Diaspora stand ihnen bevor. Einige von ihnen hofften vielleicht ein ganz klein' Bißchen, irgendwo im All Jahwe zu treffen oder zumindest ein neues Zion zu finden, besonders die Kinder. Während die betenden Juden nicht recht wußten, wer ihnen als Erlöser geschickt werden würde, und ob sich ihnen nicht vielleicht doch wieder bloß ein Pseudo-Messias wie Sabbatai Zwi zur Zeit der polnischen Pogrome offenbaren würde, wußten die betenden Christen vor ihrem kleinen Kot-Kruzifixus - formbares Material war ja so rar genau, wen sie erwarteten, nämlich wieder J. C. diesmal als Lamm-
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Monster wie in der Apokalypse offenbart mit sieben Hörnern und sieben Augen, die die sieben Geister Gottes waren. 1 Benedictus, qui venit, gepriesen sei, der da kommt! Einige behaupteten sogar, er sei schon da, denn die Zeichen seien ja schon dagewesen: `Als es das sechste Siegel auftat, da ward ein großes Erdbeben, und die Sonne ward finster wie ein schwarzer Sack, und der Mond ward wie Blut, und die Sterne fielen auf die Erde, der Himmel entwich, alle Berge und Inseln wurden bewegt und die Könige der Erde und die Großen und Obersten und die Reichen und die Gewaltigen ... verbargen sich in den Klüften und Felsen und sprachen: Fallet über uns und verberget uns vor dem Zorn des Lammes!'2 Die armen, betenden Christen mußten, daß ihre Herren im Untergrund Unterschlupf gesucht hatten. Sie wußten auch, daß Menschen versiegelt3 worden waren und konserviert in kryonischen Kryptobiosiskammern lagen, aber die genaue Zahl wußten sie nicht. `Der erste Engel posaunte, es ward ein Hagel und Feuer, Feuerhagel! mit Blut vermengt und fiel auf die Erde und der dritte Teil der Erde verbrannte und der dritte Teil der Bäume verbrannte und alles grüne Gras verbrannte und der dritte Teil des Meeres ward Blut ...und der dritte Teil des Mondes ...und der dritte Teil der Sterne.' “Ich dachte immer, die Zerstörung sei perfekt, die Erde 100%ig verbrannt.” - “Aber nein, sie ist doch immer noch da. Es ist nur ihre Oberfläche, die verbrannt ist.” - “Und die Bäume?” - “Die haben doch immer noch ihre Wurzeln. Weißt du, wieviel Wurzel die haben?” -
1
Offb. 5:6. Christen müßten eigentlich einen neungeteilten Gott anbeten: sieben Geister plus Vater plus Sohn macht neun, das heißt, wenn man die Geistlosigkeit nicht mitzählte - und die unehelichen Kinder aus 1 Moses 6.
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Offb. 6:12-16
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Offb. 7:4
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“Nein.” - “Na siehst du. Vielleicht sind die Wurzeln das 2/3, das noch nicht verbrannt ist.” `Der Brunnen des Abgrunds tat sich auf.' “Das sind die unterirdischen Bunker!” `Es ging auf ein Rauch aus dem Brunnen wie der Rauch eines großen Ofens, und es ward verfinstert die Sonne und die Luft von dem Rauch des Brunnens.' “Ein Raketenstart!” Und so würde die Erlösung aussehen: `Aus dem Rauch kamen Heuschrecken auf die Erde und ihnen ward Macht gegeben, wie die Skorpione auf Erden Macht haben, und es ward ihnen gesagt, daß sie nicht sollten Schaden tun dem Gras auf Erden noch allem Grünen noch einem Baume, sondern allein den Menschen, die nicht haben das Siegel Gottes an der Stirn, und es ward ihnen gegeben, daß sie die Menschen nicht töteten, sondern sie quälten fünf Monate lang; und ihre Qual war wie die Qual vom Skorpion, wenn er einen Menschen sticht. Und in jenen Tagen werden die Menschen den Tod suchen und nicht finden, werden begehren zu sterben, und der Tod wird vor ihnen fliehen. Und die Heuschrecken sind wie gleich den Rossen, die zum Kriege gerüstet sind, und auf ihrem Haupt ist's wie Kronen, dem Golde gleich, und ihr Antlitz gleich der Menschen Antlitz; ...und hatten Panzer wie eiserne Panzer, und das Rasseln ihrer Flügel war wie das Rasseln der Wagen vieler Rosse, die in den Krieg laufen, und hatte Schwänze gleich den Skorpionen, und Stacheln; und in ihren Schwänzen war ihre Macht, Schaden zu tun den Menschen fünf Monate lang...' “Jetzt erkenne ich's! Das waren die Helikopter unserer christlichen Koalition und die anderen Flugkampfmaschinen mit ihren chemischen Kampfstoffen wie das Gift der Skorpione.” `Und es posaunte der sechste Engel und es wurden die vier Engel los, die gebunden waren am großen Wasserstrom Euphrat...' “Die Quadrupelallianz!” `...und sie töteten den dritten Teil der Menschheit, und die Zahl des reitenden Volkes war vieltausendmal tausend.' “Die riesigen Armeen unserer einst so übervölkerten Welt!” `...und aus ihren Mäulern ging Feuer und Rauch und Schwefel und da ward getötet der dritte Teil der Menschheit, von dem Feuer und Rauch und Schwefel, der aus ihren Mäulern ging.' “Kanonen! Kanonenfeuer!” `...und die übrigen Leute taten noch nicht Buße...' “Wie tut man denn Buße? Wir 1516
haben doch so fleißig gebetet und gebeichtet.” `...für die Werke ihrer Hände, daß sie nicht mehr anbeteten die bösen Geister und die goldenen, silbernen, ehernen, steinernen und hölzernen Götzen...' “Unser Kruzifixus ist nicht aus solchem Material.” `...welche weder sehen können, und taten auch nicht Buße für ihre Morde, Zauberei, Unzucht und Dieberei.'1 “War es nicht unsere christliche Pflicht, die Ungläubigen zu töten?” `Da sind zwei Ölbäume und zwei Leuchter, die vor dem Herrn der Erde stehen, und wenn ihnen jemand will Schaden tun, so geht Feuer aus ihrem Munde und verzehrt ihre Feinde... Diese haben Macht, den Himmel zu verschließen, daß es nicht regne in den Tagen ihrer Weissagung, und haben Macht über die Wasser, sie zu wandeln in Blut und zu schlagen die Erde mit allerlei Plagen...' “Blut. Das Blut ist Öl. Blut der Erde, Öl. Die großen Ölspills.” `Und der siebte Engel posaunte. Es sind die Reiche der Welt unseres Herrn und seines Christus geworden, und er wird regieren von Ewigkeit zu Ewigkeit. Und die vierundzwanzig Älteresten fielen auf ihr Angesicht und beteten zu Gott: Wir danken dir, Herr, allmächtiger Gott, der du bist und der du warst, daß du hast an dich genommen deine Macht und herrschest! Die Völker waren zornig geworden; da ist gekommen dein Zorn und die Zeit, zu richten... und zu verderben, die die Erde verderbt haben. ...Und es erschien ein großes Zeichen am Himmel: ein Weib, mit der Sonne bekleidet und dem Mond zu ihren Füßen und auf ihrem Haupte eine Krone von zwölf Sternen, und sie war schwanger und schrie in Kindesnöten.' Das elende Häufchen vor dem Kot-Kruzifixus sann nach, was dieses Zeichen wohl bedeuten könne. Ihr Leichenlagerfeuer drohte zu erlöschen. Leichen brannten ja so schlecht, wenn man nicht genug Plastikhölzer zum Untermischen hatte. Die Elenden fröstelten. Jemand flüsterte: “Vielleicht ein großer UFO?” Es war ja egal, wer die Erlösung brachte. 1
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`...ein anderes Zeichen am Himmel: ein Drache! ...und sein Schwanz fegte den dritten Teil der Sterne hinweg. ...Und es erhob sich ein Streit im Himmel.' Streit am Himmel hatte das arme Häufchen genug gesehen. `Und er erhob sich ein Streit am Himmel: Michael und seine Engel stritten wider den Drachen. Und der Drache stritt und seine Engel und siegten nicht, auch ward ihre Stätte nicht mehr gefunden im Himmel.' “Die atheistischen Mondkolonien!” `Und es ward gestürzt der große Drache, die alte Schlange, die da heißt Teufel und Satan, der die ganze Welt verführt. Er ward geworfen auf die Erde. Und ich hörte eine große Stimme, die sprach im Himmel: Nun ist das Heil und die Kraft und das Reich unseres Gottes geworden und die Macht seines Christus. ...Darum freuet euch, ihr Himmel und die ihr darinnen wohnet! Wehe aber der Erde...'1 `...die Ernte der Erde ist reif geworden.'2 `Christus der Sieger' `Und ich sah den Himmel aufgetan; und siehe, ein weißes Pferd, und der darauf saß, hieß: Treu und wahrhaftig, und richtet und streitet mit Gerechtigkeit. Seine Augen sind seine Feuerflammen und auf seinem Haupte viele Kronen... Und er war angetan mit seinem Kleide, das mit Blut besprengt war, und sein Name heißt: Das Wort Gottes. Und ihm folgte nach das Heer im Himmel auf weißen Pferden, angetan mit weißer, reiner Leinwand. Und aus seinem Munde hing ein scharfes Schwert, daß er damit die Völker erschlüge; ...'3 `Der Herr kommt' `Ich bin das A und das O, der Erste und der Letzte, der Anfang und das Ende. Selig sind, die ihre Kleider waschen...'
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Die Elenden hatten endlich das Ende der Offenbarung erreicht. Sie schnitten sich aus einer über dem Leichenfeuer gebratenen Leiche ein Stückchen Fleisch heraus, entfernten mit dem gleichen, scharfen Gegenstand die dicke, schwarze Rußschicht und steckten sich das Stück hoc est corpus in den Mund. Nachdem sie gegessen hatten, setzten sie ihre Wanderung fort. Morgen abend würden sie, wenn sie noch am Leben wären, an anderer Stelle einen neuen Kruzifixus formen und wieder Andacht halten.
Und wie die einen die Wiederkunft Jesu Christi erwarteten, so erwarteten andere den kommenden Buddha. Auch sie hatten sich aus dem Kot, den die Zerstörung hinterlassen hatte, eine Statue geformt, sie hatte lange Ohren und saß auf einem Lotus-Luna-Thron in Meditation, - Untätigkeit. Es war eine Darstellung des Maitreyas, des kommenden Buddhas, der der Liebende war, der mit den langen Ohrläppchen, der die Welt wieder heilen würde. Die Gläubigen wußten, er würde vom Tushita-Himmel herniedersteigen, einem Paradies nur für Bodhisattvas, also für Wesen, die im nächsten Erdenleben Buddhas werden würden und dort in Tushita auf den Tag warteten, an dem sie die Erde wieder betreten würden. Der Tushita-Himmel war noch höher als der Berg Meru. Auch Adjuna hatte dort seine Zeit vertan, bevor er von Sramania erlöst worden war. Die Buddhisten wußten nun, daß, wenn Maitraya herniederstieg auf die Erde, er ein Neues Zeitalter inaugurieren würde, a New Age. Liebe und Brüderlichkeit. Damit es auch wirklich geschah, warf sich das kleine Häufchen Buddhisten auf den Bauch und hielt seine Handflächen aneinandergedrückt. Die Statue dagegen hatte ungerührt die Hände in den Schoß gelegt, die Finger der linken Hand bedeckten die Finger der rechten Hand, Zeigefinger und Daumen einer jeden Hand bildeten runde Öffnungen wie Brillenränder. 1519
“Wenn er doch nur schon auf Erden wandeln würde, daß wir geheilt würden!” Wenn er auf Erden wandeln würde, dann würde er seine rechte Hand erheben in der Mudrâ des Predigers und Lehrers. Und an seinen Handflächen und Fußsohlen wären Stigmen, Wundmale wie das griechische Kreuz, geformt aus goldenen Punkten, einem golden Punkt in der Mitte als Sonnensymbol und zwölf goldenen Punkten in vier Gruppen zu je drei, so daß die Punkte zusammen die heilige Zahl dreizehn ergaben, als Symbol für die dreizehn Stufen, die zur Erleuchtung führten. Vielleicht würde er nackt sein, als Symbol für die nackte Wirklichkeit. Vielleicht würde sein Körper blau sein, wie der alles durch dringende blaue Himmel. Oh, wie lange hatte man schon keinen blauen Himmel mehr gesehen, sondern nur schwarze Rauchwolken. Wenn Maitreya auf Erden wandeln würde, hätte er ein goldenes Gefäß gefüllt mit der Essenz der Reinheit und Heilung. Und er gösse sie aus diese Essenz auf die lebenden und toten Dinge der Welt und sie würden geheilt werden und Erlösung finden von Haß und Schmerz und Leiden. Aus seinem dritten Auge, das sich zwischen den Brauen der beiden anderen befand, strahlte Weisheit, Erkenntnis und göttliche Vision. Sein Nimbus wäre grün, seine Aura tiefblau. Er wäre die alles umarmende Buddhaessenz.1 Auch Hindus gab es immer noch auf der ganzen Welt verstreut, obwohl ihr Mutterland zerstört war. Für sie war die buddhistische Auffassung, daß die Götter nur arme Wesen der Sangsara waren, die wie Menschen der Erlösung bedurften, eine Ketzerei. Buddha war für sie eine Inkarnation Vishnus gewesen wie Chrishna, aber Buddha hatte an keinem Krieg teilgenommen und keinem Krieger `foul play' gelehrt, um weltliche Reiche zu gewinnen, sondern er hatte gelehrt: Menschen leiden, weil sie auf Erden geboren werden, und sie werden geboren, weil sie leiden, leiden Begierde, Sehnsucht, Bindung an weltliche
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Für die Beschreibung Maitreyas war mir W. Y. Evans-Wentz's `The Tibetan Book of the Great Liberation' eine Hilfe.
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Dinge. Des Menschen Bereicherungssucht und seine anderen Süchte machen sein Leben zur Qual und zur Gier. Am Ende stirbt er. Aber der Tod bringt ihm keine wirkliche Erleichterung von seiner Qual und Gier. Er giert weiter eine Sehnsucht nach weltlichem Dasein, wo all der vermeintliche Reichtum zu finden ist. Den wirklichen Reichtum der Welt aber zerstört er in seiner Gier im Kriegen und Bekriegen. Buddha lehrte, daß es notwendig war, sich von allen Bindungen ans Dasein zu lösen, die Begierde zu zerstören, um das Rad der Geburten anzuhalten. Buddha lehrte viele Jahre und viele hörten ihm zu und viele erreichte er mit seiner Lehre. Doch was er geben konnte, war nur ein Tropfen in das unendlich großen Meer der Menschheit, das gepeitscht wurde von den Miseren der Kali-Yuga. Viele gute Menschen betraten die Welt seit Buddha, aber ihr Einfluß war noch geringer, das Böse mehrte sich, Gier und Qual nahmen zu. Doch wenn die Scheußlichkeiten ihren Höhepunkt erreicht hatten, die Kali-Yuga an ihrem Nadir angelangt war, dann würde Vishnu in seiner sattvischen Form als Kalki vom Zenit herniederreiten. Sein Köcher wäre unerschöpflich, sein Schwert würde auf einen bloßen Wink hin aus der Scheide schnellen und sich in tausend scharfe Waffen auffächern und ganze Armeen niedermachen, sein Diskus würde von seinen Gedanken gesteuert in der Geschwindigkeit des Lichts die korrupten Verführer und Knechter der Menschheit köpfen. Milliarden von Mördern und Waffenträgern werden umkommen und alle Räuber und Überreiche und alle Anführer der großen Lügensysteme und alle, die ihre Nachbarn nicht in Ruhe lassen können. Er wird die Leidenden trösten, die Geschlagenen und Verwundeten heilen, die Verfolgten von ihren Verfolgern erlösen, die Wahren die Wahrheit sagen lassen, er wird die Friedliebenden, die Kriegsdienstverweigerer und die anderen Zeugen der Wahrheit, `daß du deinen Mitmenschen nicht schaden sollst', aus ihren Verliesen befreien, er wird seine schützende Hand vor die halten, die standrechtlich erschossen werden sollen, weil sie den Herren das Mordhandwerk verweigerten, er wird auch denen ihre Zunge wiedergeben, denen man sie rausgerissen hatte, damit sie nicht die Götter lästerten und den Priestern reinredeten, er würde den Fabrikanten die Schlote zuhalten, daß sie in ihrem eigenen Dreck 1521
erstickten, er würde geknechtete Völker befreien, und die Völkerknechter zu Knechten machen. Und alle Dummen und Gemeinen werden mit dem Untergang der Kali-Yuga verschwinden. Und die neue Yuga, deren Vorreiter Kalki sein wird, wird unter dem Licht der Wahrheit stehen. Die neue Menschheit wird edel, stark und intelligent sein. Sie wird in Frieden, Wohlstand und Schönheit leben. Das Wissen wird groß sein. Und es wird gutes Wissen sein, nicht das Wissen der Kali-Yuga, das das Wissen der Vernichtung und Übervorteilung war, sondern das Wissen der Heilung. Und ein jeder Mensch wird ein langes, erfülltes Leben haben, frei von Krankheit und Schmerz und Häßlichkeit. Und nach diesem einen langen Leben wird er Erlösung finden und nicht mehr sein, nie wieder. Dieser Traum der Menschen erfüllte sich aber nicht. Das wirkliche Ende kam immer näher und mit immer mehr Häßlichkeit und Schmerz und Brutalität. Erlöser gab es nicht. Es gab nur Adjuna den Atheisten. Er hatte nicht die Fähigkeiten eines Kalkis gehabt, er hatte das Zerstörungswerk nicht verhindern können. `Unfruchtbar sind des Menschen Pläne', hatte Vyasa einst gesagt, `selbst seine gut durchdachten, gut gemeinten, weisen, ohne des Schicksals Hilfe; wenn das Schicksal gegen einen ist, ist selbst Weisheit machtlos; doch ist das Schicksal ihm freundlich gesonnen, gereichen ihm selbst Narrheiten zum Vorteil.' Seine Narrheit gereichte dem Menschen nicht zum Vorteil, und sein Schicksal hatten die falschen Leute zu seinem Nachteil in die Hand genommen. Jetzt jammerten die Überlebenden. Adjuna traf ein paar kretine Vierbeiner, die niedergesunkenen Menschen ähnelten. Sie krochen aus der riesigen Ruinenlandschaft einer der früheren Stadtschaften hervor in eine schwarze Rußwüste und klagenden: “Selig sind die Toten! 1” und “Johannes hat recht gehabt: In
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jenen Tagen werden die Menschen den Tod suchen und nicht finden, werden begehren zu sterben und der Tod wird vor ihnen fliehen. Uäääh!” Adjuna wurde ihnen zum Erlöser. Er stach sie ab. Er wollte die Unehrlichen nicht am Leben lassen, denn in Wirklichkeit suchten sie nicht den Tod, den gab es überall kostenlos, sondern was sie suchten, war etwas zu fressen.
ENDE: Dies irae, Tag des Zorns, Nadir der Kali-Yuga, der Tag, an dem die Menschen von allen Göttern verlassen waren, und sich ihnen doch so nah fühlten, Apokalypse, atomarer Holocaust, Kataklysmus.
ENDE: Dies irae. Wie der Zerstörer der Welten in die Hirne der Kauravas gestiegen war und diese dann ihren eigenen Untergang gesucht hatten, so war der Weltenzerstörer in die Hirne des modernen Menschen, des selbst ernannten homo sapiens sapiens gestiegen und die Oberschlauen hatten es zugelassen. Und der Echtmensch oder Jetztmensch, wie er sich auch mal genannt hatte, war der Letztmensch geworden, der letzte Mensch.
ENDE: Dies irae. Leichenberge. Die gläubige Menschheit hatte ihre apokalyptischen Visionen verwirklicht.
ENDE: Dies irae. Selbst Zwillinge, die die Welt hintereinander aus dem Geburtskanal heraus betreten hatten, verließen am diesen Tag zur
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gleichen Sekunde, dem gleichen Bruchteil einer Sekunde die Welt wieder. Der Tod riß sie gleichzeitig fort.
ENDE: Menschheit für zu dumm befunden und aussortiert.
ENDE: Wie der Einhodige schon gewußt hatte, so hatten die Herrscher der Welt erkannt, daß das Beste, was man mit Menschen machen konnte, war sie in den Tod zu schicken. Ideologien hatten versagt, sie hatten zu wenig Überzeugungskraft besessen, nur die Religionen hatten es geschafft, mit ihnen hatten sich die Völker gerne in den Tod schicken lassen. Wie gut, daß es Frömmigkeit gegeben hatte! Wer weiß, zu was für einem elenden Wurm der Mensch sonst degeneriert wäre! War er doch schon als Zweibeiner Dei gratia degoutant genug gewesen.
ENDE: Mutter Erde stand einst verzweifelt vor den Göttern, und sie bat, von den Kshatriyas, die ihr große Pein bereiteten, befreit zu werden. Darauf stieg einer der Götter herab und verwirrte die Sinne der Kshatriyas, daß sie sich töteten in einem mörderischen Kampf. Mutter Erde war damals zufrieden gewesen, nur an der Grasnarbe des Kurukshetra-Schlachtfeldes hatte sie kurz leichte Schmerzen verspürt, aber danach hatte sie sich erleichtert gefühlt. Jahrtausende später stand sie wieder vor den Göttern, geschwächert und geschunden mehr denn je, diesmal waren nicht nur die Krieger, sondern alle Menschen zur Seuche geworden. Sie bat wieder um Erleichterung. Und die Götter setzten wieder ihr alt bewährtes Rezept an und verwirrten die Menschen und führten sie in den Krieg. `Gott mit uns' brüllend vernichtete die Seuche sich selbst. 1524
Mutter Erde tat diesmal mehr als nur die Grasnarbe weh, ihre eigenen Sinne wurden verwirrt und sie erkannte nicht, daß sie sich mit ihrer Bitte, von den Menschen befreit zu werden, ihr eigenes Grab gegraben hatte. Mutter Erde, das war die Biosphäre gewesen, die alle beherbergt hatte. Ein toter Planet war keine Mutter Erde, sondern herzlos, und wenn wirklich noch ein paar Bodenbakterien vorhanden waren, dann war das trotzdem nicht mehr die alte Mutter Erde, die da lebte, sondern eine neue Baby-Erde, die eine neue Zukunft vor sich hatte, Evolutionen, Devolutionen, Irrsinnigkeiten, die aber auch nur älter werden würde, wenn es ihr gelänge, sich der aggressiven Strahlung der Sonne zu widersetzen.
ENDE: Leichenberge. Adjuna bahnte sich einen Weg. Was für elende Menschenwürmer, -würmerleichen bildeten hier an der alten Müllkipplandschaft doch die Barriere. Die Plastikkleidung war ihnen abgesplittert. Nackt lagen sie da. Adjuna ekelte sich vor ihnen. Er packte sie bei den Schwänzen und warf sie zur Seite. Wie den Katzen die Schwänze verkümmert waren, so waren diesen Menschen kleine, knotenartige, häßliche Schwanzstummel gewachsen. Adjuna fluchte: Schwächliche Idioten führten Krieg und die Feuermaschinen kämpften für sie, ihre Arme waren so kümmerlich, daß sie nicht einmal eine Streitaxt hätten halten können. Hätte ihr krankes Gehirn ihnen nicht die Ungeheuermaschinen erfunden, wären sie hilflose Nichtse; die Helden der Kurukshetra-Schlacht hätten sie wie Ungeziefer auf dem Boden zertreten; aber jene großen Helden sind schon lange tot, sie betrieben die Selbstvernichtung genauso gründlich, wie dieses Ungeziefer die Ungeziefervernichtung betrieb. Dieses Ungeziefer hatte keine großen Muskeln und auch keinen großen Verstand, aber es besaß ein großes Feuerwerk und einen großen Feuerzauber. Sie hatten ihr großes Feuerfest, aber sie waren selbst nicht feuerfest und auch keine Leuchten. Das einzige, was bei ihnen leuchtete, war ein himmelhoher Pilz, das Symbol ihrer Vernichtung, ihr 1525
neues Wappenzeichen, das den stolzen Adler der früheren Zeit von ihren Schilden verdrängt hatte. Doch sonst waren sie Dunkle, dem Mittelalter verwandt, im Innern pechschwarz.
ENDE: Die andere Behauptung vom Ende: Supersaurier, Hochhäuser, Großhirnwesen alles Hochleistungen, die nicht lange zu halten waren. Mittelmaß wäre beständiger gewesen. Doch weder die Akteure noch das Pöblikum der Weltgeschichte wußten es. Nietzsche: Steige nicht zu hoch hinauf, am schönsten sieht die Welt aus halber Höhe aus.
ENDE: Zwar hatten die Lebewesen immer wieder durch Variationen ihr Überleben auch unter ungünstigen Bedingungen gesichert, indem sie immer einige Wenige aus ihrer Gruppe mit besonderen Widerständen und Fähigkeiten ausrüsteten, selbst die schlimmsten Umweltkatastrophen und Seuchen und Feinde überlebte man so, und selbst gegen den AIDS-Virus waren einige immun, zwar waren auch einige Menschen gegen Nationalismus, Militarismus und Religion immun gewesen und hätten den Menschen lieber leben statt sterben sehen, diese wenigen hatten keine Chance gehabt gegen eine unvariable Übermacht.
ENDE: Und dann war da noch der Sternenhimmel, nachdem der Rauch abgezogen war; der Sternenhimmel war über der Leichenlandschaft, genauso wie er einst über den Menschen gewesen war; natürlich war er genauso wenig über den Menschen gewesen, wie die Sonne ihnen morgens auf- und abends untergegangen war, statt daß die Erde sich um sich selbst geeiert hatte. Der Sternenhimmel war nicht über einem gewesen und man nicht unter ihm gewesen, sondern mitten drin auf einem Außenkrümel eines Sterns, aber das neue Wissen und die alten Irrtümer und Lügen hatten nebeneinander existiert, Doppeldenk, Zwiespältigkeit, Schizophrenie. Wie der Neo cortex mit 1526
dem alten Reptilienhirn zusammenhing, so hingen die alten Lügen bis zu den letzten Tagen an einer hochmodernen Menschheit, alte Lügen, uralte Lügen von Gott und Göttern noch und nöcher, von heiligen Vermächtnissen und von unbefleckten Empfängnissen: `Ins Ohr durch den Gehörgang ins Gehirn - und doch voll daneben!' Unwissen; alte Lügen vom Auserwähltsein, von Untermenschen - immer die anderen, von der Erlösung - immer die eigene, von der Vergebung der Sünden hauptsächlich der eigenen und immer möglichst spät im Leben oder nach dem Tode, wenn man mit dem Sünden fertig gewesen war, und dann hatte sich auch immer noch der Glaube an die Unsterblichkeit erhalten; wahrscheinlich war es gerade dieser Glaube, daß man gar nicht richtig totzukriegen sei, gewesen, der den Druck auf die Auslöser aller Mordmaschinen erleichtert hatte, die Auslöser der Lebensauslöscher. Am Ende hatte man seinen Irrsinn mit der Auslöschung bezahlt. Eine wüste, öde Landschaft lag jetzt vor einem. Und Adjuna hätte eigentlich die Hebamme einer neuen Zeit sein sollen, einer neuen, besseren Zeit, toleranter und vernünftiger als die Zeit seiner Zeit. Jeder einzelne Mensch hätte sich eigentlich eine solche Sache zur Aufgabe machen sollen.
Adjuna hockte an einem schmutzigen Teich. Die Landschaft rundherum war samtschwarz von Ruß. Die Leichenberge und geschmolzenen Plastikmassen in der Ferne türmten sich auf wie Gebirge. Der Himmel war irgendwie schwarz, obwohl er Licht durchließ. Adjuna sammelte Bruchstücke von einem zerstörten Tempel und fügte alte Weisheitstafeln zusammen. Die erste der alten Brahmi-Inschriften, die er fertig hatte, lautete: `Weide Dich nicht am Tod und Unglück Deiner Feinde, protze nicht, selbst wenn Du Indra an Größe gleichst!'
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Die zweite Inschrift lautete: `Stroh schwimmt auf dem Wasser, doch der Edelstein, der versinkt. Der Narr preist sich und seine Orden, der Weise hält seine Weisheit verborgen.' “Das ist nun nicht gerade weise”, protestierte Adjuna, aber es war keiner mehr da, der ihn hörte, “wenn der Weise seine Weisheit verbirgt, ist er in größerer Gefahr an der allgemeinen Dummheit mitzusterben.” Der dritte der in Brahmischrift geschriebenen Texte lautete: `Obwohl viele Sterne am Himmel stehen und der Mond, wenn die Sonne sinkt, wird es Nacht. Strebe im Leben danach, eine Sonne zu sein. Obwohl des Nachts Mond und Sterne grell scheinen, und Narren schrill schreien, wenn die weise Sonne aufgeht, müssen sie schweigen.' “Was hatte der Autor dieser Zeilen für eine Ahnung! In der Zeit, die ich erlebt hatte, kannte kein Narr Hemmungen, auch angesichts der Weisheit seinen dummen Mund aufzumachen.” Die vierte der Inschiften war neueren Datums und in DevanagariSchrift geschrieben. Sie lautete: `Die Narren sind wie Kräuselungen auf Wasser. Was immer sie tun, ist schnell verlöscht. Die Gerechten dagegen sind wie Gravierungen in Stein. Selbst ihre kleinste Tat ist von Dauer.' Und Adjuna reflektierte: “Die Narren waren wie Kräuselungen auf dem Wasser, was immer sie taten, war schnell vertan, die Großen dagegen waren wie Gravierungen in Stein, selbst ihre kleinsten Taten waren von Dauer. Aber sie warfen ihre Steine ins Wasser, und da waren sie beide nicht mehr, die gravierten Steine und die Kräuselungen.” Er warf die Bruchstücke in den Teich. Es plätscherte. Er stand auf, wischte seine Hände an den behaarten Beinen ab und ging.
Nach dem Dies irae öffneten sich die Siegel und die Brunnen des Abgrunds taten sich auf, Rauch und Feuer stieg auf und die Triebwerke dröhnten und die gigantischen Space Archen schwebten heraus. 1528
Wer geht denn da so leise auf die Reise? Ach, es sind die Mächtigen, Giganten und Weisen!
Es waren die gigantischen Archen der Megamenschen, der Päpste, Zaren und Cäsaren, der Industrie- und Ökonomieführer, der Multimillionäre und -billionäre, der großen Genies der Militärwissenschaften, der Politwissenschaften und sogar welche der Naturwissenschaften, die jetzt von der Erde fortschwebten. Es mochten wohl ungefähr 144 000 gewesen sein, die sich so retteten, wie in alten Bestsellern vorausgesagt - doch vor Gott erschienen sie nie.
Space-Archen
`Space-Archen! Space-Archen!' so hatten einst die Space-ArchenAnbieter ihr Produkt angeboten: `Gehören auch Sie zu den großen, gigantischen Männern und Frauen unserer Zeit, die den totalen Krieg der Zukunft, der vielleicht sehr nahen Zukunft, überleben wollen?' `Denken Sie an Ihre Familie!' - `Space-Archen in Ökonomieausführung für den kleinen Multi und in Luxus- für den großen, und gigantische Archen für die Giganten unserer großartigen, modernen Zeit! Alle mit eigenem SDI! Gigantische Archen mit eigener Waffenschmiede! Gigantische Archen mit Biochemo-Food-Provider, mit Bar und Konferenzräumen, mit Saunen, Solarien und Sexarien, mit Autopilot, 1529
Meteoriten-Finder, Kollisions-Avoider, mit entfaltbaren Gärten, Parks, Zoo... you name it, we provide it.
Hallen,
`Per aspera ad astra? - nein, unsere Archen tragen Sie in Bequemlichkeit über das schwarze Meer zu anderen Welten.' `Besser und schöner als Noahs Arche, sogar sehr komfortable', hatte es in einer Werbebroschüre geheißen. Ein (gekaufter) Wissenschaftler lobte gar: `Innen ist's schöner als auf der Erde.' Ja, die Anschaffung hatte sich gelohnt, meinte manch ein Multi nach dem geglückten Entkommen.
Ja, das Happy End war nicht perfekt, einige Menschen hatten den Weltuntergang in unterirdischen Bunkern unbeschadet überlebt. Und da sie sich so rechtzeitig wie Noah auf die Sintflut auf einen totalen Krieg vorbereitet hatte, hatten sie jetzt, wo die Erde nicht mehr bewohnbar war, All-Archen, um zu entkommen.
Und was für verschiedene Leute da waren, die rechtzeitig der warnenden Stimme nicht von Noahs Gott, sondern der Werbung folgegeleistet hatten! Es waren keine Einzelgänger wie Noah, sondern alles Leute, die mit beiden Beinen in der Welt gestanden hatten: Politiker, die angeblich immer nur das Wohl des Volkes im Auge gehabt hatten, Religionsführer, deren Welt sowieso nicht von dieser Welt gewesen war, Generäle, die versprochen hatten, mit ihren Soldaten zu fallen, aber auch Kaufleute, die eigentlich nur friedlich Handel betreiben wollten, und die selbst ihre Archen voll Waren gestopft hatten, und Wissenschaftler, die nur das pure Wissen interessierte, und die sich schon auf die ungestörte Forschungsarbeit in der Freiheit des eigenen Raumschiffs freuten ohne Ethik1530
Kommissionen, Pfaffengequake und Politikerblabla. Da es in den Raum-Archen sowieso nicht mehr viel mit Spaziergängen oder sonst wie groß mit Bewegung was werden konnte, hatten einige Wissenschaftler ihren Kopf bzw. ihr bloßes Gehirn an Versorgungmaschinen angeschlossen und sich so zu nahezu unsterblichen Gehirnen gemacht, die für alle Zeit weiterforschen konnten und ihr Wissen nicht verloren. Der Papst dagegen hatte seine Arche mit Reliquien beladen und belastet, behütet und bemächtigt. Er wollte per aspera ad astra die Erde verlassen, da Bequemlichkeit eine Sünde war. Die Zentrifugalrotatoren seines Raumschiffs waren besonders stark eingestellt, so daß die Zentrifugalkräfte noch die irdische Schwerkraft überstiegen und beim Beten die Knie ordentlich weh taten. Die Inneneinrichtung des Mittelschiffs war der Großen Kirche nachempfunden, inclusive Buntglasfenster. Die Fensterläden wollte man allerdings erst nach Passieren des Meteoritengürtels öffnen wegen der Steine, der Himmelssteine. Vielleicht warf ihnen ein Engel mit einem B davor die Scheiben ein. Neben der zölibatären Priesterschar hatte man deren Haushälterinnen dabei und ein Paar Mönche und ein Paar Nonnen, frei nach Noah. Einige nicht so glaubensfeste Leute hatten ihre Bedenken, als sie sahen, wie der Papst seine Rakete bestieg, schließlich hieß es doch bei Johannes 3:13: `Niemand fährt gen Himmel, denn der vom Himmel hernieder gekommen ist.' Einer der Kirchenfeinde und ewigen Nörgler an biblischer Wahrheit stürzte sich auch gleich, als er den Aufstieg des Papstes sah, darauf wie auf ein gefundenes Fressen: `...womit bewiesen ist, daß die Bibel irrt, denn die Menschen, die jetzt gen Himmel fliehen, wurden auf der Erde geboren.' Ein Frommer, der nichts anderes kannte als seinen Papst, antwortete: `Nein, mit Hilfe der Bibel können wir jetzt beweisen, daß der Papst göttlich ist und vom Himmel.' `Und was war mit den anderen Geldsäcken?' 1531
Es war der gleiche Fromme, der hier keine Antwort mehr wußte, der später den Chor der Jammernden, die keine Arche hatten und nicht mitgenommen worden waren, anführte: Eli, Eli lama asabthani? Mein Gott, warum hast du uns verlassen? Diesmal bekam er keine Antwort. Derweilen an Bord der päpstlichen Arche: Geschlechtsverkehr wurde an Bord der päpstlichen Archen zur heiligen Pflicht, damit der katholische Glaube nicht ausstürbe, jedoch weder das Mönchpärchen noch das Nonnenpärchen warfen je Junge, die Priesterhaushälterinnenpärchen hatten jedoch überreichen Erfolg. Der Papst segnete jeden, bekam aber schon bald Platzangst. Sollte er die Abtreibung vielleicht zu einem heiligen Sakrament erheben oder zumindest die Opferung der Erstgeburten wie im Alten Testament gefordert? Er entschied sich aber dann abzuwarten. Die Zuvielen sollten, wenn sie groß waren, als Missionare auf andere Archen geschickt werden oder zu neu entdeckten Planeten mit `intelligentem' Leben. Auch fromme Juden stiegen auf, unter ihnen auch Ahasver, in Archen voll ausgerüstet mit Synagoge und neuer, blitzeblanker Bundeslade; das Schiff hieß Neues Zion, der Weg wie immer Diaspora. Selbst einem amerikanischen Indianerstamm war es gelungen, mit Spielgeldern aus stammeseigenen Kasinos eine Arche zu erwerben. Der Häuptling hatte die Arche auf den Namen Peace-Coyote getauft. Er hatte sich auch vorgenommen, sein Eigentum diesmal hundertprozentig waspenfrei zu halten, nie wieder von Weißen betreten zu lassen. Jemand, nämlich der verwöhnte Sohn eines Superreichen, der hatte seine Öko-Arche Shangri-La getauft, er dachte beim Abschied von der Erde: Die Erde ist verdorben und die noch lebenden Menschen verlassen sie auf Raumschiffen für immer. Irgendwo im Weltenraum wird man landen, tanken, Rohstoffe ausbeuten und vielleicht die Bewohner, man wird kolonialisieren und ruinieren. Der Mensch wird seinen Vernichtungskrieg in den Raum tragen, er wird zum 1532
Sternezerstörer werden, vielleicht wird er irgendwann auch einmal endlich geschwächt sein, vielleicht vermischt er sich auch da oben irgendwo mit Göttern, Halbgöttern und Überwesen, denen Streit, Haß und Krieg fremd ist und alles nimmt ein gutes Ende. Dagegen dachte einer der großen Feldherren der letzten Schlacht beim Besteigen seiner wohlgerüsteten Space-Arche: Scheißwelt! (Er war unzufrieden, denn er hatte während seines Erdenlebens nicht geschafft, was er sich vorgenommen hatte.) Scheißwelt! Ich hab sie nie gemocht. Was ihr jetzt am Ende noch fehlte, wäre eine frische Brise Sarin. 1 Dann verschloß er die Tür seiner Space-Arche und machte sich auf den Weg zu neuen Abenteuern.
Es war abzusehen, daß die verschiedenen Gruppen, die da die Erde in Archen verließen, die Saat bildeten für neue Völker, die in der Galaxis umherziehend, wenn immer sie sich begegneten, sich bekriegen würden - wegen ihrer Verschiedenartigkeit, wegen ihrer Intoleranz gegen das Andersgeartete.
Einige der Space-Archen begegneten irgendwann auf ihrer Reise dem Mond. Sie stellten erstaunt fest, daß der Mond auf dem Rückweg zur Erde war. Der Schubs, den man ihm verpaßt hatte, schien nicht stark genug gewesen zu sein, vielleicht war seine Sehnsucht nach der Erde größer, als die Wissenschaftler einst berechnet hatten, vielleicht stimmten auch andere Daten nicht.
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Die Idee die Menschheit mit Sarin zu vergiften, geht zurück auf Shoko Asahara, einem japanischen Sektenführer, der in seiner Kindheit eine so überlegende Rolle als Trübsichtiger unter lauter Blinden gelebt hatte, daß er sich entschied, als Erwachsener ein Sehender zu werden, ein Erleuchteter, Buddha inkarniert. In der Erleuchtung kam dann die Erkenntnis, die Erkenntnis aller großen Führerpersönlichkeiten - einige Führer brauchten nicht einmal extra die Erleuchtung dazu, daß das Beste, was man mit Menschen machen konnte, war, sie umzubringen.
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Die Archenauten fragten sich: Ob er wohl, was von der Erde noch übrig ist, zertrümmert wird? Oder ob er wieder als Trabant um sie herumziehen wird? Die Frage blieb offen. Die Erde brauchte auch weder einen Zusammenstoß mit dem Mond noch eine frische Brise Sarin, um endgültig unbewohnbar zu werden. Sie welkte von selbst dahin, verwelkte.
Adjunas allerletzte Wanderung
Adjuna wanderte über eine rußschwarze Erde unter Rauch verhangenem Himmel. Tote Welt, tote Materie, dachte er, einst bestand alles Leben aus diesen toten Elementen. Aus Atomen, die eigentlich riesige Nichtse waren mit einem unendlich winzigkleinen Kern um den noch unendlich winzigkleinere Elektronen kreisten, und ab und zu von einer Bahn zur anderen hüpften, und zwar spurlos, ohne den Zwischenraum zwischen den Bahnen zu durchqueren, und was noch schlimmer war, scheinbar grundlos. Grundlosigkeit und Leere war alles, was es je gegeben hatte, wenn man genauer hinschaute. Der schwarze Erdboden unter Adjunas Füßen öffnete sich und er fiel ins Leere. Er erschrak wie ein Schlafender, der seine Beine ausstreckte und wegen des mangelnden Kontrakts unter den Fußsohlen den Alptraum des ewigen Falls erlitt. Aber Adjuna wurde nicht wach. Er war wach. Und er dachte schon, es ginge abermals in die Unterwelt. Aber es war nur eines der Raketensilos. 1534
Nachdem er sich gefangen hatte, glitt er vorsichtig tiefer, und während er glitt, rief er: “Heh, nicht starten!” Heiße Dämpfe nahmen ihm den Atem. Tatsächlich wurde er bemerkt. Ein freundlicher Inder, der mit seiner gesamten Verwandtschaft und Dienerschaft die Erde verlassen wollte, stoppte die Startvorbereitungen, um ihm zu helfen. Adjuna kroch aus der Röhre in die Bunkereinrichtung. Der fremde Mann reichte ihm ein Handtuch, daß er sich abwische. Dann fragte er: “Ist da oben der Krieg wirklich zu Ende? Die Satellitenbilder zeigen keine Kampfhandlungen mehr und die Radios schweigen auch.” “Es scheint alles tot zu sein. Das Leben wurde unmöglich gemacht.” “Aber du lebst.” - “Niemand wird da oben noch lange leben.” - “Dann komme doch mit uns.” Es war ein verlockendes Angebot. Zu leben. Aber Adjuna konnte irgendwie nicht dankbar annehmen. Er zögerte, grübelte, war unentschieden. Er hatte sich schon so viel auf der Erde herumtreiben lassen, sollte er sich jetzt auch noch außerhalb der Erde herumtreiben lassen? Er wußte es nicht recht. Der freundliche Inder hatte Verständnis für sein Zögern. Auch er verließ die Erde nicht gern. Um Adjuna einige seiner Bedenken zu nehmen, zeigte er ihm seine Rakete. Es war Adjunas erste Begegnung mit moderner Raketentechnik. Der Inder versicherte ihm: “Das ist ein Raumschiff. Damit kann man die Erde verlassen und in den Weltenraum hinausziehen und neue Welten suchen.” “Was? So etwas nennt sich Raumschiff! Das ist ja gar nicht geräumig da drin!” Wegen der Enge verzichtete er darauf mitzufliegen. Seiner Ablehnung fügte er erklärend hinzu: “Mir war es schon auf der Erde zu eng, jedenfalls, als hier noch so viele Menschen rumliefen.” “Willst du damit sagen, daß es jetzt besser ist?” 1535
“Nein, man hätte sich bloß nicht so verrückt vermehren sollen.”
Adjuna nahm auch Abschied von dem Inder, und über unendlich lange, tote Rolltreppen und -steige gelang er wieder auf die Erdoberfläche. Die einst so gequälte Erdoberfläche, jetzt lag sie friedlich in schwarzem Todesglanz vor ihm. Adjuna fiel kaum auf. Es war Totenfeier, Beerdigung und Trauerzeit, aber Adjuna trug keinen schwarzen Anzug. Seit er sich in Indien die Hose ausgezogen hatte, war er der totalen Nacktheit treu geblieben und als Windgekleideter herumgelaufen. Aber der Wind barg Sott und der Sott war in seine Poren gedrungen und hatte ihn geschwärzt, so daß er jetzt dem Anlaß entsprechend, wenn auch nicht gekleidet, so doch gefärbt war: tieftrauerschwarz. Adjuna fragte sich: Wer hatte denn nun den Krieg gewonnen? Vielleicht der, der jetzt noch am Leben war? Vielleicht war in irgendeiner Ecke irgendeines der ehemaligen Riesenreiche noch Leben möglich, ein bißchen länger möglich als wo anders. Aber waren das Sieger? - Nein, es waren Siechende. Todgeweihte. Kriechende. Hier und da traf Adjuna noch mal Lebende, Siechende, Kriechende. Er erwürgte sie gnadevoll. Sie hatten seine große, schwarze Statur für die eines Erlösergottes gehalten und ihn um Erlösung gebeten. Er war aber nur ein Erlösermensch. Nicht alle Lebenden erwürgte Adjuna mit bloßen Händen, manchmal nahm er auch einen Pfeil aus seinem Köcher und erschoß die Lebenden, besonders wenn sie sich nicht direkt in seiner Wegrichtung befanden oder versuchten zu entkommen, weil sie ihn für einen Alp der Blutfelder hielten. So schoß Adjuna auch einen Pfeil auf einen in Meditation sitzenden Sadhu. Der Pfeil aber traf bloß das Brustbein des Sadhus, durchschlug es aber nicht. “Adjuna”, dröhnte der Sadhu, “du hast auch schon besser geschossen. In meinem vorherigen Leben war ich ein goldener Hirsch und dein Pfeil 1536
tötete mich noch hinter einem Baum versteckt. Damals schenke ich dir noch im Sterben mein goldenes Fell. Ich sehe, du bist nackt. Hast du es verloren? Hättest du es getragen, so wäre die Weisheit des goldenen Hirsches auf dich übergegangen.” “Ich brauchte das Fell weder als Schutz vor Regen und Pfeilen noch für irgendwelche Weisheit. Ich habe meine eigene Weisheit und kann mich auch selbst beschützen. Ich gehe meinen eigenen Weg und kenne mein eigenes Streben.” “Es gibt nur ein Streben und das heißt Bewußtheit, und davon sind wir so weit wie eh und je entfernt.” Adjuna protestierte: “Von der Dunkelheit kam das Licht, vom Chaos die Ordnung, das Bewußtsein entsprang dem Unterbewußtsein, das Bekannte entrissen wir dem Unbekannten, unser Wissen der Unwissenheit. Dunkle Mächte waren schuld, daß alles wieder zurückfiel.” “Alles, alle, - ist ein Traum Brahmas. Du und ich und der welke Halm dort, das Würmchen, die Fliege, der Stein, wir sind alle Schein, nur Teil eines Träumers Bewußtsein in eines Schöpfergottes Schläferstündlein. Wenn man das begreift, ist man fürs Nirvana gereift. Ich beende meinen Gang,
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doch dein Weg ist noch lang.” Der Sadhu riß den Pfeil aus seinem Brustbein und stach ihn sich in die linke Brustseite direkt zwischen die Rippen und starb. “Der hat mir die Arbeit abgenommen.”
Was wäre, wenn dieser Krieg das Leben nicht so total vernichtet hätte, - oder wenn gar kein Krieg gewesen wäre? Es wäre auch ohne Krieg zum Ende gekommen, bloß das Ende wäre weniger edel, weniger großartig gewesen. Statt eines kurzen Siechens hätten wir ein langes gehabt, ein langsameres Verenden in Gift, Dreck und Überüberbevölkerung. Die Bevölkerungsexplosion mußte ein Ende nehmen in einer Implosion, Hunger und Plagen oder thermonukleare Explosionen, Feuerfest, Atomkrieg. Die Menschheit wollte Selbstmord begehen. Selbstmördern konnte man nur gratulieren, wenn sie's geschafft hatten, und nachhelfen, wenn sie's nicht alleine schafften. Zu bedauern waren nur die armen Narren in ihren Archen. Alles war auf Vernichtung programmiert, die Kriegsmaschinerie und die Gehirne. Warum mußte man da auf Archen entkommen? Als der Große Krieg begann, triumphierte ich: Ah, ich habe recht gehabt! Die so beliebte Rettung in allerletzten Minute fiel aus, sie störte nur dem Happy End der Geschichte. Die wenigen Geretteten freilich verhinderten, daß die Story zu happy wurde. Ich war nie ein Optimist gewesen, ich hätte wissen müssen: Selbst der Untergang würde nicht klappen.
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Derweil in den Archen der Wissenschaftler und Freiwisser. Sie waren die einzigen, die die Verantwortung eines Noahs gezeigt hatten, und die irdischen Lebensformen, wenn auch nicht als Pärchen so doch als Genmaterial, mitgenommen hatten. Sie konstatierten, daß Gayas kybernetisches Kontrollsystem außer Kontrolle geraten war. “All kybernetisch Kontrollsystems an Bord funktio fein.” “Rückblick: Schwarzgaya reduktio abio, toxisch, mortisch.” “Viel Spezies Extinktio ohn Genregistratio. Trauer. Wissenschaft Großverlust. Bord-Biomaterial unbalanz probabel.” “Progenitur Prognose problemisch.” “Uns Space-Arch `Klein Gaya' mehr perfekt kybernetisch Kontrollsystem als Erde, kein Kriegers, kein Unwissenschaft. Balanz Bleibpflicht an Bord. Biomaterialmangel Miniproblem. Klein aber perfekt Biovariatio möglich durch Genmanipulatio auch auf Langsicht.” “Uns Futur fein, kein Idiots zusammenleb in uns Arch.” “Uns Reise rose, Neulandsuch, Entdeck, Find, Forsch, Kolonisatio, Urbanisatio...” “Vielleicht Nächst-Stern schon mit Kleinplanet gut klimatisch, nur nicht seh in Tele.”
Nächster Stern von Sonne: Proxima Centauri, 4 Lichtjahre, aber da mensch kein Licht war, mußte er 23 Trillionen Meilen reisen.
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All die irdischen Idioten mit ihren Archen hatten den Proxima Centauri als ihr erstes Ziel ausgesucht. So reisten sie alle, obwohl sie eigentlich einander abstoßend fanden, fast wie ein Flottenverband in eine Richtung: Richtung Proxima Centauri - und in neue, nachbarliche Feindschaft. Irgendwer wird den Kampf der Archen - wenn nicht gewinnen, so ihm doch entkommen. Doch das ist eine andere Geschichte.
Adjuna setzte seine letzte Wanderung fort. Er kam an vielen Orten vorbei, die meisten öde Leichnamorte. Alle hatten sie eine lebendige Vergangenheit, meist eine absurde Vergangenheit. Aber er kam auch an Orten vorbei, in denen noch Leben war, die also noch eine absurde Gegenwart hatten. Adjuna hatte sie erst gar nicht erkannt, die schwarze Masse mit den kotigen Fingern. Sie schienen eine schwarze Messe zu zelebrieren: Himmelfahrt. Dazu gab es geräucherte Scheiben von menschlichen Oberschenkeln und Bizeps. Himmelfahrt hatte für diese Gläubigen eine ganz besondere Bedeutung angenommen. Einige von ihnen hatten sie nämlich mit eigenen Augen gesehen, die Himmelfahrt. Zuerst waren sie zwar traurig gewesen, daß der Große Gottesmann sie nicht mitgenommen hatte, und hatten gejammert wie der Erlöser am Kreuze: Eli, Eli lama asabthani? Aber dann hatten sie sich gefangen und sich als Auserwählte erkannt, denen die Pflicht zukam, den Glauben zu bewahren, bis der Große Gottesmann zurückkehre. Und so beteten sie dann gen Himmel, und sie wußten, wenn der Große Gottesmann wieder herniederschwebte, dann erfülle sich, was geschrieben stand, und das neue Millennium des Friedens beginne. “Wir stehen hier auf geheiligtem Boden. Hier stand die Große Kirche und der Große Gottesmann weilte in ihr. Hier wurde der Anti-Christ 1540
geschlagen. - Von hier aus”, verbesserte sich der Prediger, “wurde der Anti-Christ geschlagen, seine mörderische Fratze wurde zerfleischt und sein seelenloser Wohnsitz ins höllische Inferno gebombt. Wir, die wir reinen Herzens sind, uns ist die Welt gegeben. Selig sind die Sanftmütigen, selig sind die Barmherzigen, selig sind die Friedfertigen.” Es lohnte sich schon wieder, ein Prediger zu sein, die anderen servierten einem die besten Stücke des Räucherschinkens. Aber nicht nur der Prediger war zufrieden, die anderen waren es auch. Sie fühlten sich als Sieger: “Der Anti-Christ war geschlagen.” “...und Idioten und Zeloten siegten”, dachte Adjuna bitter. An der großen Schlüssellochform des Platzes erkannte er, wo er war, bloß, daß diesmal ein riesiges Loch in der Mitte des Platzes war, eine der berühmten Öffnungen der Raketensilos, der Luxus-Archen-RaketenSilos. So, dachte Adjuna, das Prunkmännchen war also auch beim Weltuntergang in einer fliegenden Arche geflüchtet. - Und trägt jetzt seinen Wahnsinn mit sich ins All, in ein All, das es nach Ansicht seiner Vorgänger nicht einmal geben durfte. Wer das Gegenteil behauptete, wurde verfolgt, gefoltert und ermordet. Adjuna legte seinen Bogen an und tötete die siegreichen Besieger des Anti-Christen auf Erden. “Damit die chiliastischen Visionen länger als tausend Jahre halten.” Adjuna wanderte noch lange durch tote Industrielandschaften und abgestorbene Agralandschaften. Dann kam er an das austrocknende Mittellandmeer. Hier traf er wieder ein paar Überlebende. Sie hatten die Invasion der Südvölker gesehen. Sie hatten sich gewehrt. Sie hatten anfangs gesiegt. Dann war der Tod aus der Luft gekommen und sie hatten verloren, wie sie meinten, aber sie ahnten, daß die anderen auch verloren hatten. Jetzt ernährten sie sich unter einem Himmel, der keine neue Vegetation zuließ, von getrockneten Algen und Fischen. Während das Meer immer weiter verdunstete, gab es immer wieder neue 1541
Nahrung frei. Mit Graus erwarteten diese Menschen den Tag, an dem das Meer ganz ausgetrocknet war und ihnen nichts mehr frei gab. Diesem kleinen Grüppchen der letzten Überlebenden einer alten Kulturlandschaft war ein Gedanke gekommen, ein später Gedanke, ein zu später Gedanke. Er lautete: Wir hätten uns nicht wehren sollen. Adjuna tötete auch sie. Adjuna wanderte noch Jahrzehnte über verbrannte Erde, Ruß und Asche, im Dämmerlicht einer rotrauchigen Sonne. Er suchte vergeblich nach weiteren Überlebenden. Er dachte schon: Das Happy End war wahr geworden: Alle tot. Da traf er in einem geschützten Tal noch lebende Menschen, die sich aus einem Bunker mit Biochemie-Anlagen ernährten. Adjuna schlich sich heran. Er wollte sehen: Wie lebten sie? Sollte er sie auch töten? Er hatte schon solange keinen mehr getötet, einfach, weil keiner mehr da gewesen war. Sollte es vielleicht in diesem Tal die Saat für eine neue Menschheit geben? Eine Menschheit frei von Aberglauben und Unsinn? Menschen, die die Wirklichkeit sahen und keine Gespenster und spukigen Gestalten? Seine Hoffnungen zerstoben schnell. Es war nur zu offensichtlich. Die Ausnahmemenschen, die es verdient hätten, zu überleben, waren eine zu seltene Ausnahme gewesen, um zu überleben. Und die, die von den Vielzuvielen überlebten, wußten nichts Besseres, als den alten Unsinn, den man ihnen mal eingebleut hatte, fortzuführen. Auch die Menschen in diesem Tal hatten zu ihrer alten Religion zurückgefunden und lebten das Christentum. Es sollte Sonntag sein. Mit Verwunderung hörte Adjuna, daß ein Tag anders sei als der andere. Und da es der Tag des Herrn war, war es auch hier der Tag des Priesters. Und er predigte die “Frohe Botschaft” und meinte damit nicht einmal den Untergang der korrupten Menschheit. 1542
Und die kleine Gemeinde erhob ihre Stimme zum Gebet. Fromme Menschen beteten zum “lieben Gott”, so unschuldig, wie es Milliarden fromme Menschen vor der großen Zerstörung getan hatten. Und sie beteten um Schutz, göttlichen Beistand. Adjuna tötete auch sie. Milliarden Menschen wurden nicht in den Tod getrieben, damit solches Gesindel weiterlebt. Der Untergang soll total sein, die Menschheit ein für alle mal ausgerottet. Es sei denn, es gäbe jemanden, der frei von Irrtümern und Haß und Wahn und Liebe ist. So aber ist niemand, nicht einmal ich. Adjuna wanderte wieder weiter und wanderte und wanderte und begegnete wieder niemandem. Irgendwann kam er an eine ruinierte Stadt, deren Ruinen zum Teil von rotem Sand begraben waren. Hier traf er jetzt schon auf so etwas, wie die zweite Generation der Überlebenden, verkrüppelte Unmenschen, kongenital schwer Geschädigte. Sie freuten sich, Adjuna zu sehen. Nicht, daß sie ihn kannten, oder erkannten. Sie freuten sich, einen gesunden Menschen zu sehen. “Sieh, was der Krieg hier in der Gegend übriggelassen hat, entstellte und behinderte Menschen wie wir. Du bist gesund. Du bist groß und stark. Mach Du unseren Frauen Kinder, daß eine neue Menschheit entsteht. Wenn Du ihnen Kinder machst, dann werden wohl die Hälfte der Kinder schön wie Du werden. Die, die dann immer noch behindert sind, werden wir dann gleich nach der Geburt töten. Das werden wir immer so halten, daß, wenn wir verkrüppelte Unmenschen einmal als Großeltern das Zeitliche segnen, nur heroische Menschen Deiner Art am Leben sind.”
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“Menschen sind immer Unmenschen. 1 Zuviel Feindschaft und Widerspruch ist in mir. Von mir könnt ihr keine genetische Erneuerung erfahren.” “Wir haben es versucht. Aber wir haben nur Fehlgeburten und schwere Mißbildungen gehabt. Als wir Dich sahen, hatten wir Hoffnung auf eine gesunde Nachkommenschaft und eine glückliche Zukunft. Jetzt hast Du uns die Hoffnung genommen. Es wird wohl nie wieder jemand aus der schwarzen Ewigkeit zu uns kommen. Und wir müssen für immer siechen, kriechen und verfallen. Wenn Du uns nicht Hoffnung geben willst, uns nicht erlösen willst vom Fluch kongenitaler Mißbildungen, dann töte uns und erlöse uns so.” Es war nicht klar, ob es nur eine dramatische Geste sein sollte, oder ob es ernst gemeint war. Adjuna tötete sie auf jeden Fall. Auf der anderen Seite der Stadtruine zwischen ausgelaufenen Ölfässern und Unrathaufen traf Adjuna einen uralten Mann, den Weisen aus der Mülltonne. Seine Weisheit war: “Die Menschheit ist untergegangen. Wer noch lebt, soll leben. Allein - drei Arten von Menschen sind mir zuwider, und ich würge sie mit bloßer Hand,...” Adjuna sah auf die zittrigen Greisenhände, ob sie ihm wohl was antun könnten, “...und ich würge sie mit bloßer Hand, wenn ich ihnen begegnen sollte...” “Warum nimmst du denn keine Waffe?” fragte Adjuna diesmal verwundert. Der Weise unterbrach seine Drohrede und sagte: “Weil ich keine habe.” Dann fing der Greis wieder von vorne an: “Die Menschheit ist untergegangen. Wer noch lebt, soll leben. Allein - drei Arten von Mensch sind mir zuwider, und ich würge sie mit bloßer Hand, wenn ich ihnen begegnen sollte, als da sind: die Dummen, die Frommen und die Schmutzigen. Die Dummen sind fromm und die
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Karlheinz Deschner: “Pleonasmus: Unmensch” aus `Nur Lebendiges schwimmt gegen den Strom - Aphorismen'.
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Frommen sind dumm, beiden fehlt das religiöse Gefühl, das das Universum umarmt. Und die Schmutzigen, das sind die Verseuchten und Süchtigen - hier war mal einer, der hat die Rauch- und Drecksüchtigen ausgepeitscht.” `Das ist jetzt auch nicht mehr wichtig', dachte Adjuna. “Die Schmutzigen, das sind auch die gierigen Spießer, die Dreck scheffeln, Dreck lieben, Dreck reden und Dreck atmen, die alles zu Dreck machen, selbst die Liebe und die Natur. Auch wenn sie sich baden, waschen und schrubben und über den aschebestreuten Sadhu oder den ungekämmten Heiligen schimpfen, sie überzeugen mich nicht von ihrer Sauberkeit, eher vom Gegenteil. Dem Schmutzigen gereicht alles zum Schmutz. Mögen diese drei Menschen dahinfahren, damit sich die Geschichte nicht wiederholt.” Adjuna war seltsam gerührt. Er hatte seit des Großen Krieges keinen sauber gewaschenen Menschen mehr gesehen. Dieser Weise schien in einer seltsam fernen Vergangenheit zu leben. Erinnerungen an die Vergangenheit taten irgendwie weh. Adjuna erwürgte den Alten. Dann wanderte er weiter. Er wanderte und wanderte entlang am Uferstrand des ausgetrockneten Mittlandmeeres. An einer bestimmten Stelle bog er nach Süden. Er kam in eine wüste Gegend, in der noch der gelbe Sand durchschimmerte. Die Landschaft erhob sich zu Hügeln und Bergen und fiel dann wieder ab. Die Ausläufer bildeten ein Tal. In einer Hanghöhle lebte der Weise aus den Bergen, er lebte noch immer da. Der Weise aus den Bergen sprach: “Du wunderst dich, daß ich noch am Leben bin. Ich bin die ewige Quelle der Weisheit. Wie könnte ich sterben? Natürlich habe ich den Atomkrieg überlebt. Es war von vorne herein klar, daß beim Großen Krieg nicht alle Menschen sterben würden. So mächtig waren die Menschen nicht, auch wenn sie es gerne geglaubt hätten und vielleicht auch getan hätten. Der Pöbel, die Vielzuvielen waren viel zu zahlreich, als daß man sie hätte ausrotten können. Die große Zahl enthielt unzählige Möglichkeiten. Ganz ließ sich die große Zahl nicht ausradieren.” Wie manch ein Gelehrter seinen 1545
Elfenbeinturm so hatte dieser Weise sein Tal nie verlassen. “Der eine überlebt im tiefen Keller, der andere ist widerstandsfähiger als man denkt, der drittte weit weg, der vierte wird wieder wach und siecht weiter. - Allen aber ist eins gemeinsam, sie sind nicht der Ausnahmemensch, der es verdient hätte zu überleben, sondern nur vulgäre Masse, die die Größe des Ereignisses nicht fassen kann, und sich nur wieder zu den primitiven Vorstellungen der Kindheit zurückflüchtet. Also alles nur Leute, die immer wieder Leiden schaffen, anderen Leiden schaffen, anderen, die andere primitive Vorstellungen von ihrer Kindheit her mit sich herumschleppen. Und die Erlöser der Menschheit, die, die wenigstens versuchen, Erlösung zu schaffen, die werden sie auch immer wieder umbringen - als ob noch nicht genug gestorben wäre. Ach, könnte ich doch sterben und müßte nicht auch noch das kommende Leiden mit ansehen und es auch noch überleben!” Adjuna leistete auch hier Sterbehilfe. Adjuna dachte: Das wird wohl außer mir der letzte Mensch gewesen sein, der noch am Leben war. Aber ganz sicher konnte er nicht sein. Der Weise aus den Bergen war sich so sicher gewesen, daß viele Menschen überlebt hatten. Hatte der Weise aus den Bergen mit seinem Optimismus recht gehabt, oder hatte Adjuna mit seinem Optimismus recht? Was war optimistisch, was war optimal? Konnte das Optimum etwas Relatives sein? Das Optimum war nichts Relatives. Optimismus war die Hoffnung auf das Gute, das Optimum war das Beste, das Bestmögliche, der Bestfall, wie konnte man von so einem Fall reden, wenn das Schlechte erhalten geblieben war? Nein, die optimale Zerstörung war die totale Zerstörung war die bestmögliche Zerstörung war..., wenn nichts mehr übrigblieb. Adjuna weinte: Oh, ihr Götter, ihr seid so groß und uns überlegen, warum habt ihr nicht eingegriffen? Die Antwort der Götter: Es gibt zwei Möglichkeiten, groß und erhaben zu sein. Die eine ist: Man bemüht sich darum; die andere: Man 1546
erniedrigt die anderen, die mit und um einen sind. Aber wir brauchten weder das eine noch das andere zu tun. Wir sahen, daß ihr Menschen euch selbst zurückbomben würdet, in eine Vorzeit, aus der ihr so schnell nicht wieder aufsteigen würdet und uns gefährlich sein könntet. Daß ihr das Ganze im Namen nicht existierender Götter gemacht habt, hat uns köstlich amüsiert. Eure Gründlichkeit hat uns allerdings überrascht. Daß ihr euch ganz aus der Existenz bomben würdet, hat hier auf Meru niemand vorausgesehen, naja, mal sehen, was die Evolution als nächstes hervorbringt. Hoffentlich nicht wieder Wesen wie euch. Adjuna wanderte durch die Wüste. Hier war nur wenig Ruß und viel Sand. Es gab hier auch keine Bombenkrater. Wahrscheinlich hatte es sich nicht gelohnt, Bomben in die Wüste zu werfen. Aber das Sonnenlicht hatte auch hier Schwierigkeiten durch eine schwarze Atmosphäre hindurchzuscheinen. Adjuna war einsam. Die Welt schien keinen Wind und keinen Regen mehr zu kennen. Regen in der Wüste war eine Erinnerung.
Regen in der Wüste
Und wenn er kommt und sie aus ihrem Dornröschenschlaf springt, erwacht, grünt und blüht sie, die Wüste. Und ihren wenigen Bewohnern wird sie zum Paradies. Die Mäuse freuen sich als erstes, sie knabbern am grünen Stengel und sind glücklich. Um das Glück perfekt zu machen, nähert sich der Mäuserich dem Mäuseweibchen und drei Wochen später ist man eine zehnköpfige Familie. Man kennt keine Zukunftsorgen. Die Weibchen werfen noch zwei, drei Würfe mehr, und auch die Kinder bekommen Kindeskinder, obwohl die Halme schon zäher werden und man überall Artgenossen trifft und dieses Mäuse-Knabber-Paradies sich langsam in 1547
ein Schlaraffenland für Schlangen verwandelt. Mehr und mehr schlängeln sich nun durchs Gras. Sie schnappen hier und schnappen dort. Überall finden sie leckere Mäuschen. Doch das Paradies ist nicht von Dauer. Die Pflanzen, den letzten Tropfen aus dem Boden saugend, schaffen es gerade noch, ihre Saat zu entwickeln, bevor sie vertrocknen. Zu Staub geworden sind sie den Mäusen keine Nahrung mehr. Und das riesige Heer der Mäuse, unruhig umherlaufend auf vergeblicher Nahrungssuche, sich schnell zu Tode gelaufen hat. Bleiche Leichen in der Sonne. Sich windend, mit dem Hungertod ringend, legen sich die Schlangen bald daneben. So ist das Leben, auch das übermütigste, es endet immer mit dem Tod. Den Geiern, auch den blindesten, erfüllt sich noch einmal der Lebenswunsch, sie schwelgen in Überfluß, doch bald ist auch für sie Schluß. Der Nachschub fehlt. Die Wüste ist wieder Wüste, wüst und leer. Und die Saat, die schlummert in ihr mit unglaublicher Geduld. In der Wüste schlummert die Saat mit für Menschen unglaublicher Geduld. Sie wartet auf Regen. Nur Regen beendet den Schlummer und der anderen Bewohner ihren Kummer.
Regen fiel nimmer mehr.
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Krieg folgte dem Frieden, wie Untergang dem Aufgang, Nichtsein dem Dasein und der Tag der Nacht. Doch das war vorbei. Jetzt folgte niemand niemandem und nichts nichts.
Die Menschen hatte alles getan, damit alte Offenbarungen Wahrheit geworden waren. Das Sternenlicht war verlöscht.
Adjuna malte ein taoistisches Yin-Yang-Symbol in den dreckigen Sand, um in der Gleichförmigkeit eine Form zu haben. Nicht das Weibliche ohne das Männliche, nicht das Weiche ohne das Harte, kein Gut ohne Böse, kein Leben ohne Tod. Jetzt gab es Tod überall und kein Leben, Einseitigkeit und keine Vielfalt. Die Riten, Ragen und Rigorismen des Radikalismus hatten gesiegt: Ragnarök. “Es mußte so kommen. Ich habe nichts anderes erwartet”, dachte Adjuna, “ich habe recht gehabt. Mit meinen Erwartungen.” Er dachte es, ohne zu triumphieren.
Andere hätten eine andere Reise gemacht - auf der gleichen Welt. Sie hätten die Umgebung nicht erkannt, weil sie immer in die schöne Richtung geguckt hätten. Sie wären überrascht gewesen und traurig. Adjuna aber war traurig gewesen, traurig genug, und nicht überrascht. Er war auch nicht mehr traurig.
Adjuna wanderte durch die Wüste, einsam und allein, der absolute Einzelgänger, er war nicht einmal gestorben, als alle anderen gestorben waren, ...und jetzt war niemand neben ihm - auch kein Engelchen oder Teufelchen. Und nachts war es stockfinster. Kein Sternenlicht durchdrang die schwarze Hülle, um dem Wüstenwanderer Gesellschaft zu leisten. 1549
Adjuna starrte nachts in die Schwärze hinein und rührte sich nicht vom Fleck. Er sann ins Dunkle hinein: Die Sterne sind unerreichbar geworden und die Berge sind wieder hoch. All unsere Höhenflüge haben eine Bruchlandung erlitten. Für mich bleibt jetzt nur noch eine kleine Anstrengung. Ich will meinen Erdenweg beenden, wo er begonnen hat. Trotz Ruß und Radioaktivität gehe ich zurück zur Stätte meiner Geburt. Ist jetzt auch überall Wüste, hier ist schon die wirkliche Wüste, die alte Wüste, in der mich meine Mutter gebar. Adjuna wanderte während der ganzen Dämmerung des folgenden Tages, ohne jemandem zu begegnen, und ohne die kleinste Unterbrechung in der graugelben Öde. In der Einsamkeit der Nacht begegnete ihm dann der Geist des CroMagnon-Menschen. “Ich war der Letzte der Cro-Magnon-Menschen. Uns hat deine Rasse erschlagen. Nun bist du der Letzte deiner Rasse. Euer Geschlecht ist zum Untergang verdammt. Aber euer Ende war widerlicher als unsers närrischer.” Adjuna: “Nein, es war heroischer, aber laßt uns den Schöpfergott suchen und ihn nach dem Sinn fragen, wieso das alles geschehen mußte, unser Aufgang und Untergang.” “Das habe ich auch schon gedacht. Aber ich habe die Gottheit nicht gefunden. Vielleicht versteckt die Gottheit sich. Vielleicht, weil sie sich vor der Frage fürchtet. Vielleicht möchte die Gottheit nicht eingestehen, daß sie sich nichts bei ihrer Spielerei gedacht hat.” “Das wird's sein. Er soll ja ein Abbild des Menschen sein. Und wir Menschen haben uns ja auch nicht allzuviel bei unseren Handlungen gedacht.”
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“Das wird's sein. Aber du irrst, die Schöpfergottheit ist das Abbild einer Cromagnadrin. Nur Frauen besitzen Fruchtbarkeit.” “Ich will mich mit dir nicht streiten.” “Das ist gut, daß du dich nicht mehr streiten willst.” “Es war Streiten, das in den Untergang führte.” “Es war gut, daß auch ihr untergangen seid.” “Ja, es war gut, daß wir untergingen. - Keine Todesängste mehr.”
Am nächsten Tag mit dem Aufgang der Dämmerung machte sich Adjuna wieder auf den Weg. Auch an diesem Tag war alles öd. Nichts folgte nichts. Nicht einmal ein Schatten folgte einem. Adjuna, der überlang Lebende, dachte in seiner Einsamkeit, an einen anderen Wüstenwanderer, an jenen zu frühgestorbenen MöchtegernErlöser, der als Schmerzensmann-Symbol am Kreuz geendet war. Als der in der Wüste war, hatte ihm wenigstens der Teufel die Verführung angeboten. Irgendwann flüsterte es dann in der Wüste. Das Flüstern der Stimmen der Wüste: “Oh, Adjuna, einst sagtest du, der Jesu Christ hätte nichts hinzugelernt, aber auch du hast es nicht. Dem ewigen Reigen bist du ebenso wenig wie deine Mutter und all die anderen, ob Gott oder Mensch, entkommen. Euer Schicksal ist noch einmal inkarniert die ganze Evolution von der Arminosäure an. Und Wertung sei euch fern. Nicht besser, nicht schlechter und auch nicht gleich sei das Ziel eures Werdeganges, sondern unvermeidlich.” “Bah, ich habe zur besten Zeit gelebt, denn den Untergang der ganzen verdorbenen und vermurksten, irdischen Schöpfung habe ich erlebt, und eine neue Stunde Null. Mag sie ein Neubeginn sein, ich bezweifle, 1551
daß es eine Wiederholung sein wird. Die Dinge sind so unvermeidlich, wie sie blöd sind. Dieses Leben war auf jeden Fall ein Leben, das ich nie vergessen möchte, wie viele Stufen der Evolution ich auch noch durchwandern mag.” Es dauerte nicht lange und eine Art Dingo gesellte sich zu Adjuna. “Was für ein Trick ist das schon wieder?” fluchte Adjuna und er schoß einen Pfeil und tötete den Gott. “Die Menschen sind tot. Warum soll ich da einen Gott am Leben lassen, noch dazu einen so drittklassigen wie Dharma.” Die Menschen sind tot, seufzte Adjuna noch einmal, oh, wie entfernt bin euch immer gewesen. Je näher ihr euch den Göttern fühltet, desto entfernter wart ihr mir - und den Göttern, jedenfalls den großen. Vor ihm ragte jetzt das große Gebirge. Adjuna schleppte sich hoch. Je älter man wurde, desto höher wurden die Berge. Die Berge waren wirklich sehr hoch geworden. Schließlich erreichte er den Kamm, und er stieg über den Gebirgskamm, und dann sah er unter sich das tiefe Wüstenbecken, in dem er einst geboren worden war. Und er machte sich an den Abstieg. “Au, scharf wie ein Haifischgebiß!” und er trat noch einmal kräftig gegen den scharfen Flintstein. Das rote Blut floß aus seiner Sohle. Er blutete und der Stein brach. Er nahm den blutigen Stein in seine Hand und betrachtete ihn: “Außer der Farbe meines Blutes hatte ich nichts mit den Menschen gemeinsam, und die hatte ich auch mit den Tieren gemeinsam, oh, es gab noch etwas, ich schäme mich fast, es einzugestehen, - das Menschsein.” Adjuna war die Felsenwand hinabgestiegen und hatte das sandige Becken, seine Geburtsstätte, erreicht. Hier hatte er das grelle Sonnenlicht der Welt erblickt. “Worauf war ich nur so stolz bei meiner 1552
Geburt? - Stolz, ein Mensch zu sein? Welche Torheit? Ich habe gelernt, den Menschen und sein Dasein zu verachten; ein wurzelloses Wesen, es paßte weder in die Natur noch in irgendeine andere Welt. Hier stirbt jetzt der Letzte von ihnen. Ich habe im Leben nichts getan, was falsch war, und nichts, was richtig war, ja, ich glaube, man könnte sagen, daß es richtig und falsch gar nicht gab, es nur ein menschliches Vorurteil war oder sich menschlicher Erfahrung entzog.” Adjuna fragte sich dann noch, was so ein gottverdammtes Scheißleben eines Menschen überhaupt sei, dieser mühsame Weg, den man da ging, dessen Ziel der Tod war oder dessen Ziel der Weg war, die Mittelstrecke, the fast track oder die Kriechspur oder der Holzweg. War so ein Leben - war mein Leben - ein Mandala, - ein Labyrinth, ein Strich, auf dem man sich prostituierte? Adjuna wußte es nicht. “Mehr habe ich nicht zu bieten - ein paar leere Gedanken.” Dann nahm er seinen spitzen Stein und bohrte ihn sich tief in die linke Brust. Dabei sprach seine letzte Mantra, eine mächtige Mantra, und den Wunsch: Wer noch am Leben ist, der möge sterben, wie ich sterbe - durch seine eigene Hand - und noch vor mir. Adjuna lag röchelnd im Wüstensand und wühlte und rührte mit seinem faustkeilartigen Flintstein in seiner Brust. Er schien nicht gleich zu sterben, unendlich schien es zu dauern, sein ganzes Herz wollte er sich ausgraben, aber es hing so fest, Stückweise säbelte er sich Herzmuskelfleisch heraus, bis in seiner Brust eine leere Höhle war, aber noch immer war sein Bewußtsein in seinem Körper. Wie konnte es sein? fragte sich Adjuna. Es mußte wohl so sein, erklärte er sich die Situation, daß die Siechenden und Kriechenden, die es noch auf der Welt gab, sich noch nicht selbst den Garaus gemacht hatten, vielleicht war es schwieriger... Die Sinne schienen ihm zu schwinden: Ah, die Segnung geht in Erfüllung: Ich sterbe als Letzter! Dann umarmte er den ganzen Kosmos, verließ die enge Erdenkammer, in der immer dicke Luft geherrscht hatte, und die seit des Großen Krieges auch noch furchtbar kaltrauchig geworden war, und freute sich über den dünnen, flüchtigen Raum. Er warf einen Blick zurück, nach 1553
Rückwärts, auf den schwarzen Planeten, und dachte: Wer die giftigen Kampfstoffe, die radioaktive Verseuchung, Hunger und Krankheit, meine mächtige Mantra, wer das alles überlebt hat, der möge jetzt endlich sterben, sterben, wie ich gestorben bin - durch seine eigene Hand.
Adjuna war also tot. Was war nun sein Leben gewesen? War es ein Mandala? War es ein Labyrinth? War es ein Strich, auf dem er sich prostituiert hatte? Keines von alldem - es war Kitsch.
ENDE: Als Fossil glücklich bis in alle Zeiten.
Nachruf auf Adjuna
Er war der äußerste Außenseiter, er hatte nicht so gedacht, wie die Innenseiter gedacht hatten, die Dazugehörer, er hatte auch nicht so getan wie sie, gehandelt, er war nicht einmal gestorben, als sie alle gestorben waren. Die Innenseiter und Dazugehörer hatten eine Pflicht gekannt, die von außen an sie herangetragen worden war, er, der Außenseiter, hatte seine Pflicht in sich getragen, aber selbst diese Pflicht nicht einmal sonderlich ernst genommen. Pflichten ernst zu nehmen, hätte sich in seiner zynischen Zeit auch gar nicht gelohnt, es hätte nur über Gebühr die Lebensfreude geraubt. Was noch? Er war ein mystifizierender, mythelnder Atheist gewesen, ein heimlicher Trinker; gib den Menschen eine klare Antwort und sie 1554
wollen sie nicht, mache etwas Geheimnisvolles daraus und sie tuscheln darüber und finden es interessant; ein atheistischer Mystiker, ein autistischer Einzelgänger mit paranoiden Zügen, ein pikaresker Vagabund, ein gigantischer Gulliver, ein Eulenspiegel, ein unfrommer Eulenspiegel, der da sagte: Die Fratze Gottes ist meine eigene. Ein überlegen starker Held, das Alter ego eines jeden Schwachen und Getretenen. Ein Superman, der nicht wie sein amerikanisches Gegenstück in einer konservativen, schwarz-weißen Vorstellungswelt lebte und blau-rot trug. Er hatte auch weniger auf dem Gewissen als der amerikanische Comic-Held, was die meisten seiner Bekannten aber nicht gleich erkannten
Einige Zeit später draußen im All: Die mit den Space-Archen hatten ein Schwarzes Loch gesichtet. Es war faszinierend. Was war faszinierend an dem Loch? Faszinierend war, daß man nicht hineinschauen konnte. Alles, was jenseits des Ereignishorizontes passierte, war ein Rätsel, ein großes Geheimnis. Für einige der freien Forscher und Wissenschaftler war die Neugierde, die Sehnsucht nach neuer, wissenschaftlicher Erkenntnis, zu groß. Der Wunsch zu wissen, zog sie in das Loch. Sie stürzten wie Empedokles in den Ätna, und kehrten nicht zurück, um mit ihrem neuen Wissen zu prahlen. Auch andere stürzten in das Loch. Es waren Sektarier, die wußten, daß das Schwarze Loch eine Abkürzung zu Gott war. Sie fuhren hinein, sie 1555
fuhren dahin, sie waren dahin; nicht die Neugierde trieb sie, aber auch eine Sehnsucht. Das waren auch auch schon alle, die dahinfuhren, das Universum für immer verließen. Das Happy End war also auch hier nicht vollkommen. Perfektheit ließ das All nicht zu. Es gab zu viele Pragmatiker und Optimisten unter den Space-ArcheRidern. Das Prunkmännchen und seine Crew waren noch immer optimistisch, irgendwo im All unintelligente Lebensformen zu finden, die man missionieren konnte. Sie glaubten, da draußen irgendwo mit Missionaren ein Gottesreich errichten zu können, das nicht von dieser Welt war. Und die praktischen Wissenschaftler wußten, daß ihr Wissen von Nutzen war und auch in Zukunft sein würde.
Vyasas Nachwort
Nach Adjunas Tod erschien der große Archarya Bhagavan Vyasa noch einmal für ein kurzes Nachwort. Er sprach diesmal nicht von der Kastenpflicht, die ein jeder zu erfüllen habe, und auch nicht davon, wie im Rad der Wiedergeburten ein jeder das Leben bekam, das er verdiente, bzw. sich verdiente und zwar nicht in diesem Leben, sondern weiter zurück in seinen vorherigen Leben verdient hatte, sondern, da er selbst diesmal im kritischen Abendland wiedergeboren worden war, hatte er diesmal das folgende Nachwort für die Nachwelt (und zu einem noch späteren Zeitpunkt würde er ein noch anderes haben): Leider wird nach dem großen Krieg nicht, wie in dieser Vita Adjuna beschrieben, der letzte Mensch ein Adjuna sein, der dann schließlich auch stirbt und dabei denkt, es ist gut so, sondern der Krieg wird zwar 1556
viele edle, große und großherzige Menschen fressen, aber viel, vielzuviel Pöbel übriglassen, Leute, die noch nie was von was gewußt hatten, die nur eins immer wieder wissen, nämlich, daß sie die letzten, die nicht wie sie selbst sind, die letzten, die anders sind und Außenseiter, also die letzten, die es vielleicht verdienten zu überleben als Saat für eine neue Zeit, umbringen müssen. Zum Überleben des großen Krieges gehört Lottoglück. Die meisten Chancen hat der mit den meisten Losen. Der Einsatz des Pöbels ist ungeheuer hoch. Eine Handvoll ihrer Lose überlebt immer. Aber diese Nieten sind die Mitläufer aller Zeiten und Systeme sind die Anhänger der großen Lügensysteme und die Hasser allen Anders-Seins. Sie werden ihre schnellen Erklärungen haben für die große Katastrophe. Daß man zu wenig gebetet hatte und zu wenig fromm gewesen war, wird eine der Erklärungen sein. Eine andere wird sein, daß es zu viele böse Menschen gegeben hatte, die, statt wie die Allgemeinheit den großen Lügen zu opfern, ihren eigenen persönlichen Sachen nachgegangen waren, als da waren: Schönheit, Wohlstand, sexuelle und andere sinnliche Erfüllung; alles Eigensüchtigkeiten, die die Vernichtung notwendig gemacht hatten, als ob die Welt an Schäferstündchen und nicht an Gewalttaten zugrunde ging. Sie ging auch nicht am Gesättigtsein kaputt, sondern an den Unersättlichen. Also die Außenseiter, die die nicht zum Pöbel gehören, die, die den kleinen Lügen folgen und nicht den großen oder den eigenen oder gar der Wahrheit, die, die am ehesten das Überleben verdienten, werden verfolgt und umgebracht werden, wenn nach der Katastrophe die großen Lügensysteme wieder aufblühen und sich wieder von der gemeinsten Seite zeigen können, wie einst in den Jahrhunderten vor der Aufklärung. Wieder werden Verbrechen wie das Verbrennen von Ketzern, das Berauben von Anders- und Nicht-Gläubigen und deren Vernichtung von den Gleichmachern für gute Taten gehalten werden. Fromme Seelen werden die Welt wieder in Gut und Böse unterteilen und so fest an die Rechtmäßigkeit ihrer Taten glauben, daß sie mit dem
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salbungsvollsten Gesicht die bösesten Morde und Martern an den vermeintlich Bösen begehen werden. Der edle Mensch, der über gut und böse erhaben ist, und als Täter und Opfer beides erleiden kann, ohne zu klagen und ohne zu hassen, da er das Gesetz der Gewalt, das uns Menschen und alle Wesen regiert, ohne mit der Wimper zu zucken und ohne Lügenreligion oder -system akzeptieren kann, wird fast ausgerottet werden, und überall, wo es noch Menschen geben wird, wird man kleine jämmerliche Hasser und Büßer finden. Ihren potentiellen Opfern gebe ich den folgenden Rat mit auf den Weg: Möget Ihr als erstes Euer Überleben sichern. Es ist närrisch, den Gegner anzugreifen, wenn dadurch der eigene Untergang hundertprozentig wird. überlebt, rettet den Gedanken, das freie Denken, den Gedanken der Freiheit über die dunkle Zeit eines neuen Mittelalters hinweg, im vertrauten Kreis, in geheimen Zirkeln, geduldig, nie war Geduld so notwendig, die schwarze Zeit ist nicht unsere Zeit, es ist närrisch, laut zu sein, wenn es mit dem Leben bezahlt werden muß. Arbeitet im Verborgenen, aber arbeitet. Macht hier und da eine kritische Bemerkung, gebt da und dort scheinbar harmlos etwas Wissen von Euch, damit das Unwissen nicht überhand nimmt. Verbrennt man einen von Euch am hellichten Tag, meuchelt hundert von ihnen des Nachts. Das verstehen sie am besten. Bei all ihrem Nachwelt-Geplapper hängen sie zu sehr am Diesseits. Eines fernen Tages wird der Mensch wieder Würde besitzen, und keine oder würdigere Götter verehren als die kretinen Götter der dunklen Zeit mit dem neidischen Seelchen des abrahamitischen Gottes, der nur ein Vergnügen kennt, nämlich das Sich-Aufgeilen an der Demut der Gläubigen. Die Götter, deren Advokat ich bin, wollen den Menschen stolz, ungebrochenen Blicks, und ansonsten sind wir ihnen egal, was Freiheit oder Pflicht bedeuten mag, Segen oder Fluch. Den zukünftigen Pogromisten aber schreie ich schon jetzt zu und hoffe, es hallt in Euren Ohren wider, wenn Ihr das große Kreuz am Himmel sehen werdet: Glaubt nicht, jetzt sei das Christentum 1558
bewiesen! Wie kann, was Ihr nicht versteht, Euch als Beweis gelten? Wunder hat es immer gegeben, es ist nicht das Privileg des Christentums. Auch edlere und weniger neidische Götter haben ihren Dienern die Fähigkeit, Wunder zu tun, die Zukunft zu schauen und die Grenzen zum Jenseits zu überschreiten, verliehen, aber es beweist nichts, es beweist nur, daß der Mensch bei entsprechendem Lebenswandel sich diese Fähigkeit aneignen kann; mit ein bißchen Übung würde es selbst der atheistische Mensch können. Das große Kreuz am Himmel aber wird ein Hologramm sein, also ein Betrug wie weinende Marienstatuen und das Hoc-est-corpus. All das Elend, all die Leiden, die Ihr während des großen Krieges erlitten habt, werden Euch fromm machen und Ihr werdet Eure Ohren wieder den Priestern leihen; und statt die zu töten, die einen allmächtigen Gott vertreten, der all das Elend hätte verhindern können, werdet Ihr die töten, die so etwas Unerhörtes nicht für sich in Anspruch nehmen. Statt menschenwürdig für immer einem Gott zu Grollen, der alles zuließ, der eine Welt schuf, in der Gewalt regiert von der kleinsten Mikrobe bis zum Menschen, und der dann - und das ist der größte Hohn - seine Vertreter auf Erden Liebe heucheln und gleichzeitig die Brutalsten sein läßt, statt also ihm zu Grollen, werdet Ihr Euch wieder vor ihm erniedrigen, knien, zu Kreuze kriechen, Euch bekreuzigen und bekacken, alles IHM zu Ehre, und Ihr werdet aus der brutalen Welt eine brutalere machen, als unbedingt notwendig wäre. In dieser Welt regiert die Gewalt, wollen wir sie bei ihrem richtigen Namen nennen, Gewalt nennen, richtige, ehrliche Gewalt, und nicht Liebe! Welche Perversion! Perversion der Liebe und der Gewalt!
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Liebe, die gibt es auch. Auch sie hat ihren Platz in dieser Welt. Sie regiert sogar manchmal, manchmal sogar mit Gewalt, aber das ist eine andere Sache. Das kann sogar eine edle Sache sein, und es ist nicht die pervertierte Liebe der Christen und anderen Kredoisten und Kretinisten. Wenn Gewalt notwendig ist, um den Menschen zum aufrechten Gang zu zwingen, sollte man Gewalt anwenden, die Menschenliebe gebietet es. Die Menschen sollten die Gewalt akzeptieren, sie sollten ihren Kindern lehren, daß es notwendig sein kann, Gewalt anzuwenden und gar zu töten, aber sie sollten ihnen kein Kriegsspielzeug schenken, dafür ist Gewalt eine zu ernste Sache. Töten muß man und töten sollte man, wenn die Umstände einem keine andere Wahl lassen, aber töten sollte man niemals als Heuchler, der das Gegenteil predigt. Tötet Eure Todfeinde, wenn sie Euch keine Wahl lassen, und akzeptiert, daß der Feind Euch tötet. Wie eklig ist der Mörder, der seinen eigenen Tod als ungerecht empfindet. Tötet den Mörder, aber tötet auch die anderen Verbrecher! Ein Verbrecher ist, wer aus Eigensucht anderen einen übermäßigen Schaden zufügt. Aber seid auch bereit zu vergeben, wenn Ihr Verständnis für die Gründe habt, die zur Tat führten. Tötet auch die Schwachen, Kranken und Mißgeburten, am besten gleich nach der Geburt oder in jungen Jahren, bevor sie sich zu sehr an das Leben gewöhnt haben, denn das Streben der Menschen soll nicht sein Schwäche, Krankheit und Widerlichkeit, wie man sie nach dem großen Krieg überall finden wird, und die der Kirche wieder ihren größten Zulauf verschafft, sondern Größe. Die Kirche will die Großen töten, Ihr aber sollt die Kleinen töten, wenn Ihr dem Sinn der Welt dienen wollt. 1560
Und letztlich tötet Euch selbst, wenn Ihr merkt, daß Ihr klein, schwach, unwürdig und unfähig seid, oder Eure Zeit gekommen ist. Seid nicht wie die Christen und der Pöbel klein und gemein, daß Ihr hinkriecht und das elendste und mickerigste Leben, sei es Euer eigenes oder anderer Leute Leben, feige bis zum letzten, röchelnden Atemzug, um jede Minute kämpfend, am letzten Tropfen Leben hängend, vor dem Eintritt ins Jenseits bewahren wollt. Warum eigentlich solche Feigheit? Für einen aufrechten Menschen ist der Selbstmord kein Tabu, sondern eine Tugend. Für die feigen Christen freilich ist es ein Tabu, feige fürchten sie sich vor der Prügel, die sie erwartet von ihrem lieben Gott. Haha, wie das mein Herz erheitert! Es gibt nichts Ehrenhafteres, als zu gehen, wenn es Zeit ist, aber schleicht Euch nicht fort wie die Feiglinge, die ein Schlafmittelchen zu viel nehmen und hinüberduseln, sondern nehmt ein Messer und zerfleischt Euch selbst und beweist so, daß Ihr fertig seid mit Eurer körperlichen Existenz, daß Ihr reif seid, überreif, und abfallen müßt; sterbt wie ich. Sterben müßt Ihr alle, ertragt das Unvermeidliche ohne Schwäche! Es gibt sogar ein Leben nach dem Tod, aber anders als es Euch die Pfaffen haben vorgeplappert, dieses Leben im Jenseits ist weder besser noch schlechter als hier, es ist nur so gut, wie Ihr es Euch vorstellt, es ist eine Welt der Gedanken und ohne Schranken, und wenn sich in Eure Gedanken doch noch die christliche Vorstellung vom GottvaterSohn-und-Haiiger-Geist einschleicht und Ihr vor einem Gericht stehet, so klagt den Richter an, denn Richter sind die schuldigsten Menschen, dort mehr noch als hier. Verjagst du aber den Richter, bist du frei. Such Dir ne hübsche Mutti oder bleib Staub und Dreck! 1561
Ende: Bilanz Lange hatten sie sich in Aggressivität geübt, die Menschen. Es gab kein größeres Volk, das hätte sagen können: Wir waren unschuldig, denn wir waren friedfertig: Die Deutschen hatten ihren Einhodigen, die Russen ihren Stählernen, die Franzosen ihr Babygesicht, die Italiener ihren Faschinenfetischisten, und alle hatten sie immer genug Handlanger, denn das waren die meisten Menschen: Handlanger; und das war auch das Gefährlichste an den Menschen: ihre Handlangerei, ihre Dienstbereitschaft; sie machte alle Zaren, Kaiser, Könige, große Herren, Menschenfresser und -verderber, die die Masse Mensch, die schmierige Masse Mensch, zur Eigendüngung, Eigenölung und Eigenbeweihräucherung und zur Verrichtung ihres Bedürfnisses, ihres perversen Bedürfnisses nach mehr und mehr Macht, ihrer Notdurft, brauchten, erst möglich. Und gingen wir weiter durch die Vergangenheit der verstorbenen Völker, wohin wir auch schauten, wir fänden Grausamkeiten: Massenmorde, Kriege, Sklaverei... Sklaverei war nicht das Privileg der Weißen gegenüber den Farbigen, auch das von Weißen noch unberührte Amerika kannte schon die Sklaverei, und in Afrika hatten Schwarze Schwarze versklavt, ehe sie ihre Sklaven-Ware an Weiße verkaufen konnten. Alle Völker, alle Menschen hatten ihren Anteil an Gemeinheit und Ungerechtigkeit auf dieser Welt: Die dem Propheten folgten, verübten sie an den Ungläubigen; die dem Menschensohn folgten, an den Ketzern, die Inder an den Unberührbaren, die Kolonialisten hatten ihr Kolonialreich, die Kommunisten ihre Säuberungen, die Chinesen machten einen Großen Sprung nach vorn, groß, blutig und sinnlos, die Japaner vergewaltigten Nangking und ihr Großes Ostasiatisches Wohlstandsgebiet, Superbomben schufen Frieden - und langes Siechtum.
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Und natürlich auch der kleine Mann wollte nicht zurückstehen, er tat alles, um seine Mitmenschen zu schikanieren. Er merkte auch gar nicht, daß es seine Mitmenschen waren, waren sie doch sooo anders als er. Und wenn wir statt durch die Völker durch die Zeit wanderten, wir fänden sie nicht, die goldene Zeit, wo Friede und Gerechtigkeit herrschte, denn es gab sie nicht. Selbst das Paradies - zwar in Wirklichkeit nur eine dumme Legende - war bei weitem kein Ort der Gerechtigkeit, denn es wurde von einem böswilligen Gott überschattet, der in seiner Eifersucht das Wissen um Gut und Böse nicht hergeben wollte. Trotz seiner Apfelfresserei ist dem Menschen dieses Wissen verschlossen geblieben. Gott freilich besaß es auch nie.
Schlußgedanken der Götter
“Ein Wesen, irdische Krabbeltiere, sich haltend für die Herren der Schöpfung, aber nicht geschaffen von uns, dieses Mistvieh, das in seiner unermeßlichen Habgier andere Geschöpfe - auch nicht erschaffen von uns - nicht respektierte und ausrottete und supereifrig seine Brüder, wenn die nicht so wollten wie sie sollten, erschlug, zertrat, erwürgte, das in Massen Krieg, Feindschaft, Betrug und Dummheit hervorbrachte und das aus seinen Schößen immer größere Massen ausschiß, ein solch dummes Geschöpf mußte zum Untergang verdammt sein.” So dachten die Götter. Ja, es gab mehrere, und wenn es nicht so mühsam gewesen wäre, hätten sie den Arm erhoben und darüber abgestimmt, ob man den Menschen bei ihrem Untergang behilflich sein sollte oder nicht, aber da sie sich viel besser auf Untätigkeit als auf Tätigkeit verstanden, überließen sie es mal wieder alles `den Subjekten da unten' und - oh Wunder oder auch nicht - wie in den dunkelsten Momenten der Menschheit tat der Mensch alles für seinen Abstieg; - in die tiefsten und finsternsten Keller und Verließe ging es und noch darüber hinaus: ins Massengrab, und was für große 1563
Massen, es hatte sich doch gelohnt, so gebärfreudig gewesen zu sein. Jeden Funken von Vernunft galt es zu zerstören, und da durch irgendeinen Unfall der Geschichte in allen irgendein Funke der Vernunft geraten war, war es nur vernünftig, wenn man alle umbrachte. Die, die der Unvernunft wieder zum Sieg verhelfen wollten, schöpften aus ihrem unermeßlichen Erfahrungsschatz und die Unvernunft siegte nur sooo - so übermächtig, daß die dümmste Kreatur (“Nicht von uns Göttern kreiert!”) völlig vom Angesicht der Erde verschwand, allerdings nicht ohne dieses Angesicht vorher in eine Fratze zu verwandeln, und dabei riß das Unvieh viele andere Tiergattungen mit sich, die alle so viel vernünftiger auf der Welt geweilt hatten, ohne sich mehr als nur satt zu essen. Die dümmste Kreatur aber war nie nur mit einem vollen Bauch zufrieden gewesen, nein, ein volles Portemonnaie mußte es auch noch sein, eine volle Schatzkiste, ein Haus voll Schätze, ein Palast voll, die Allerdümmsten wollten eine Kirche oder einen Tempel voll Gold und nen leeren Magen. Nen leeren Bauch voll mit Haß auf Andersgläubige. Die Menschen erreichten im allgemeinen, was sie wollten. Schade, daß einige der heißersehnten Apokalypse auf Space-Archen entkamen. Es konnte nicht sein, daß es sie glücklich machte.
Und der Christen Gott? Er hatte keinen Schlußgedanken. In sechs Tagen schuf er eine Welt. Am siebten Tag war Ruhetag. Da pennte er, pennte und pennte und pennte --- ganz durch, bis... ja, wohl bis es galt, eine neue Welt zu schaffen.
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Nach dem Tod zerfielen wir in unsere Bestandteile, der Körper wie die Seele, der Körper in Elemente, die Seele in Energien, Triebkräfte. So zerstreuten wir uns in der Nachwelt. Im Leben, welcher Trieb war da nun am stärksten? Das war doch offensichtlich. Unsere Triebe trieben uns zwar zu verschiedenem Blödsinn, aber der Todestrieb trug den Sieg davon, denn sterben taten wir ja alle. Auch wenn wir es uns nicht eingestehen wollten, wir lebten nicht ewig, weil wir das Leben nicht genug liebten. Unsere Unzufriedenheit mit dem Leben zehrte uns immer auf. Eine tief verborgene Erinnerung an ein vermeintliches Glück im Totenreich zerrte uns zu unserem Lebensende. Doch im Totenreich, statt das schmerzlose Glück der anorganischen Materie zu genießen, überfiel uns immer schon bald wieder eine neue Unzufriedenheit und eine neue Sehnsucht, eine Sehnsucht nach Leben und eine Erinnerung. Wie war dieser ewige Kreislauf des Unglücks möglich? Er hatte einen sadistischen Schöpfer gehabt. Und warum schob keiner einen Keil vor das Rad, einen Bremsklotz? Der Schöpfer erlaubte es nicht. Und gab es gar nichts, was man machen konnte? Doch glücklich sein. Und vor allen Dingen keine Gewalt. Gewalt war die Hauptursache für Unglück. Leben war die Hauptursache für Gewalt.
Ahimsa war die reinste Religion. Ahimsa war die tollste Tradition. Ahimsa war der höchste Hohn. Ahimsa war der letzte Lohn. Ahimsa gibt es ohne uns schon. 1565
Warum mußte man die Ketzer, Gotteslästerer und Mitgläubigen, die leider an den falschen Gott glaubten, bekämpfen? Es war einmal ein Gotteslästerer1, der sagte: Ich bin fair. Ich beleidige Gott, aber ich erlaube es dem Gott auch, mich zu beleidigen. So solltet Ihr es halten: Mit Worten kämpfen, nicht mit Waffen, Ihr Affen, Verzeihung, Ihr äffischen Mangelmutanten.
Es gab eine mystische Kraft in dieser Welt. Diese Kraft hieß Dummheit.
Der Golgi-Apparat2 trug die Proteine, die für die Außenwelt bestimmt waren, wie der Inselstoff nach Bestimmte Proteine, die für die Außenwelt bestimmt waren, wie der Inselstoff wurden von einem Golgi-Apparat ------------------------------ weiterverarbeitet. Der Golgi-Apparat sorgte dafür, daß gewisse Proteine, wie der Inselstoff, weiterverarbeitet und an die Außenwelt der Zellen abgegeben wurde. ---
1
ich, Holger Hermann Haupt.
2
Ein submikroskopisches Membransystem im Zellplasma, benannt nach dem italienischen Histologen Camillo Golgi (Nobelpreis für Physiologie 1906).
1566
Eine jede Zelle hatte an die Hundert Lysosomen, diese Organellen waren die Mägen der Zelle und enthielten etwa 50 verschiedene Verdauungs-Enzyme. Diese Enzyme waren so stark, daß, wenn eine dieser Magenhäute riß, die Zelle sich selbst verdaute. Mahlzeitmoleküle, also die winzig kleinen Speisehäppchen der Zelle, wurden in Bläschen, die an der Innenseite der Zellwand entstanden, gesaugt und dann zur Magenaußenhaut gebracht. Die Lysosomen lutschten das Mahlzeitbläschen leer. Ein Mangel an bestimmten Lysosomenzymen in Nervenzellen konnte zu Blödheit führen. 1 Der Blöde konnte natürlich nichts dafür. Lernen half nicht. Der äffischen Mangelmutante, die diesen Planeten mal übervölkerte, mangelte es nicht nur an einem warmen Fell, sondern auch an nötigen Enzymen in den Nervenzellen.
Eine Art mystischer Kraft war am Wirken in dieser Welt. Diese mystische Kraft hieß - Ihr wißt es schon - Dummheit. Aber nur Dummheit konnte uns vor dem Unglücklichsein bewahren und vielleicht Blindheit.
“Wir sind unfrei.” ...sagte Freiwisser No. 1, “die De-En-A kontrolliert uns. Sie kontrolliert nicht nur den Aufbau und Erhalt unseres Körpers durch Atmung, Herzschlag und Immunsystem und unsere Lebensdauer durch unsere Anfälligkeit für Krankheiten und durch die erblich bedingte Geschwindigkeit unseres Alterns - und damit unseren Tod, sondern auch unseren Geschmack, unsere Freuden, unsere sexuelle
1
Tay-Sachs
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Orientierung, die Polygynie der Männer, das Pflegeverhalten und die emotionale Zuwendung der Mütter, die Dauer der Kindheit und der Jugend, das Bedürfnis der Ablösung und des Hinausströmens der neuen Generation in die weite Welt, sowie die Dauer der zweiten Jugend; sie steuert das Rollenverhalten der Geschlechter, regelt die Sprache der Symbole, Gesten und Gesichtsausdrücke und die Bindung an die Familie, den Geschlechtspartner, die Nachkommenschaft und die Vorfahren, die häusliche Umgebung und das Territorium; sie ist die Ursache für die Hemmungen vor dem Inzest, aber auch für den Geschmack auf Inzest, die Ursache für Mitleid und Hartherzigkeit, für Opfern-Helfen und Opfer-Schaffen, für Rettung und Mord, für Krieg und Frieden... Die DNA bestimmt unseren physikalischen und sozialen Charakter.” Freiwisser No. 2: “Die DNA braucht, gebraucht und mißbraucht die Wirtorganismen, um sich zu duplieren, sich zu mehren, zu vermehren...” “...und sich zu reduzieren”, fügte No. 3 hinzu. “Aber der Mensch...”, sagte Numero eins jetzt wieder, “hat Intelligenz entwickelt, die es ihm ermöglicht, die von der DNA gesetzten Grenzen genauso zu überschreiten, wie er seine ganze bisherige, menschliche Situation von persönlichen Schwächen wie Faulheit und Dummheit bis zu sozialen Zwängen wie Religion und Aberglaube und Tradition und nationale Zugehörigkeit überwunden hat. Vom Menschen als einen Roboter zu sprechen, der von einem DNA-Lochstreifen kontrolliert wird, ist genauso herabwürdigend, wie vom Menschen als eine Marionette in der Hand eines Puppenspieler Gottes zu sprechen. Der Mensch ist das Tier, das von seinem eigenen Willen regiert wird, das Tier, das alles überwinden kann, wenn es nur will.”
Das A & O bzw. Z
1568
Drei Buchstaben, DNA, und doch eine Mega-Information, ungeheure Kombinationsmöglichkeiten von vier Nukleotiden, Adenin, Guanin, Thymin und Cytosin, Leben geben und Leben nehmen, eine Ordnung und doch eine Willkür, wäre diese Ordnung anders, wäre alles anders, wäre alles anders gewesen, oder schlummern im Menschen geistige Kräfte, die es hätten verhindern können, wenn wir sie geweckt hätten, oder haben andere geistige Kräfte es so gewollt, und wir beschuldigen den genetischen Code unberechtigterweise? Drei Buchstaben, vier Basen in Tripletts zu Genen, Doppelstränge zu Chromosomen, Mutation, Evolution durch Dominanz, Devolution durch Ignoranz...
Das allerletzte Wort vor dem Nachwort
Draußen läuft noch der Count-down, aber die Auf- und Abzählungen in diesem Buch sind zu Ende. Wörter wurden aneinandergereiht, ja, was sag' ich, Buchstaben. hätte ich sie anders aneinandergereiht, wäre alles anders. Komisch, nicht wahr!
Ich bin am Ende. Vom Mahabharata behauptet man, daß alles, was man auf der Welt findet, man auch im Mahabharata findet, und was man nicht im Mahabharata findet, man auch nicht auf der Welt findet. Ich bin am Ende und ich bin ehrlich, ich habe nicht einmal die Hälfte von allem, was es gibt, in meinem Buch erwähnt. Ach, was rede ich da schon wieder! Nicht einmal den hundertmillionsten Teil!
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Dieses Buch zu schreiben, war eine langwierige Angelegenheit: Hinten schrieb ich und war schon wieder schlauer als vorne. Soll ich nun hoffen, daß der Leser es nicht gemerkt hat, oder soll ich hoffen, daß er auch schlauer geworden ist?
Nachwort - Schluß - Epilog
Nach dem Lesen eines so langen Buches möchte ich den Leser nicht auch noch mit einem langen Nachwort belästigen.
Einen schönen Dank fürs Lesen!
Es reicht mir, wenn der Leser jetzt erschöpft stöhnt: “Ja, ungefähr so sind wir Menschen”, oder sich ungläubig (Die Ungläubigen sind mir immer besonders sympathisch!) fragt: “So sollen wir Menschen sein?” Wer sich freilich beim Lesen gut eingefühlt hatte, und bei jedem Schuß mitschoß, bei jedem Schlag mitschlug, bei jeder Qual mitquälte und bei jedem Leid mitlitt, der wird jetzt erleichtert aufatmen und so sagen: “Ja, so waren wir Menschen. - Gut, daß es uns nicht mehr gibt. Schade, daß es nicht ganz geklappt hat.” Die Menschheit litt an einer Krankheit, von der nur der Tod Erlösung bringen konnte - kein Arzt - und schon gar kein Gott.
Warum hast du das Buch geschrieben? 1570
Bevor die Menschheit sich selbst zerstört, wollte ich ihr noch zeigen, daß es gut so ist.
Selbstverhöhnung und -erhöhung
Das Werk, mein Opus, meine Komposition, nun habe ich es vollendet! Wie ein Gott stehe ich davor, oder dahinter?, zufrieden mit meiner Schöpfung, ich kann nicht anders - ich bin zufrieden und erleichtert(!), zufriedener und erleichterter als Elohim am Abend des sechsten Tages, mag es der Kritik zum Opfer fallen, mag es ein spitzer Stein des Ärgernisses sein oder ein runder Stein des Anstoßes, der eine Lawine ins Rollen bringt, mag es manch einem gelehrten und objektiveren Geist in verschiedenster Hinsicht zu wünschen übriglassen, ich bin zufrieden, dachte der Autor, nachdem er den letzten Punkt gesetzt hatte, ich nehme kein Streichholz, um es zu verbrennen, mögen andere auch keine nehmen.
Applaus, Applaus - Zugabe! Zugabe! Zugabe!
Zugabe für die, die Applaus gespendet haben, und für die, die nicht.
Beim nochmaligen Durchlesen des Buches stellte ich fest, daß meine Erinnerung mich nicht getäuscht hatte: Das Buch enthält viele armselige Szenen. Ich lasse sie drin, mein Ehrgeiz war ja, daß das Buch 1571
möglichst alles enthalte, was Welt und Dasein der Menschen ausmachte, und was, wenn nicht das Armselige, hatte den größten Anteil an einem jeden Menschen? Es gab Menschen, die protestierten, wenn von der menschlichen Armseligkeit gesprochen wurde. Sie behaupteten stolz von sich: “Zumindest ich bin ein Held.” - Armselige Eitelkeit. Gute Tüncher waren sie vielleicht, aber das war alles. Schlimmer waren natürlich immer jene Menschen gewesen, die behauptet hatten, andere seien makellose Helden gewesen. - Welch armseliger Mangel an Kritikfähigkeit, welch armselige Anbetungssucht, Einfältigkeit, Naïvität. Pfui, Speichellecker, Knierutscher, Kriecherknechtmitläufernachläuferhinterherläuferbettvorlegerunselbstä ndigerunterwürfigerauswurfanbetungssüchtigeridolaffelakaiuntertanskl avenhirnhandlangeruntermenschneinnormalmenschottonormalverbrauc hermitstimmviehverstandpöbelangepaßterbloßnichtauffallenbloßkeinec ouragelaßanderedochherausragenwirjubelnundfolgenwirsindimmerdiefo lgerdiegefolgschaftwirbrauchendieheldenweilwirkeineigenesverantwort ungsgefühlbesitzenunddiefolgeneigenerhandlungenscheuenendederbuc hstabenreihe. wasstehtzwischendenwörternnichtseinleererplatzeinkleinesnichtsesistdi eunzulänglichkeitdeslesersdiedaslesensostockendmacht. ichbinproletarischerabstammungwiederholthörteichinmeinemlebenstim mendiediegemäßigtekleinschreibungnichtdieungemäßigtekleinschreibu ngsonderndiegemäßigtekleinschreibungalsodiekleinschreibungdiediesat zanfängeunddieeigennamengroßschriebwarummangeradeseineneigenen namengroßschreibensolltehattendiearbeiterkinderübrigensniebegriffenf orderten. inwirklichkeithabenwirauchgroßeschwierigkeitenmitderzeichensetzung unddennichtsenzwischendenwörterndeshalbfordereichdietotalekleinun dzusammenschreibungohnezeichensetzungnichtmehrundnichtwenigerp unktschlußausesistimmernochschwergenugfüruns. 1572
Um noch einmal auf die armseelischen Szenen im Text zurückzukommen, - das fällt mir jetzt erst ein - die sind da natürlich absichtlich eingemacht worden, - als Symbol für Unzulänglichkeit. Selbstverständlich kann ich es bessere Bücher schreiben, als dieses hier, bloß was wäre dann die gewünschte Symbolwirkung verloren gegangen. Maler übermalten ihre Fehlstriche und Trampler übertrampelten ihre Fehltritte. Das waren Wege zum Erfolge. Doch wollte man die ganze menschliche Potenz darstellen, die eigene wie die der anderen, dann durfte man es nicht bei einem festlichen Gemälde belassen, dann mußte man auch Strichmenschchen zeichnen, sehr viele sogar, mit Nullen als Köpfchen (Köpfchen! Mein Freund!), und man mußte in die Scheiße treten ohne Scham.
Ich weiß, es war nichts für schöne Künste, Poesie und so...
PS.: Ich vergaß die versprochene GÖTTERDÄMMERUNG. Hier ist sie: . . . und die Götter dämmerten weiter vor sich hin.
1573
PPS.: Wer nicht gemerkt hat, daß er ein fantastisches Buch gelesen hat, hat sich täuschen lassen. - - - Also nicht aufgepaßt.
Der Abschied fällt mir schwer.
Nochmals vielen Dank fürs Lesen. Wenn Sie dem Autor (mir!) schreiben möchten, (damit er/ich auch mal was zu lesen hat/be), meine eMail-Adresse ist:
Holger Hermann Haupt e-mail:
[email protected] Homepage: http://www.hpo.net/users/hhhptdai/arachnoideenindex.htm
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1574
Glossar Abate Luigi, 123
Abraham, 541, 753, 1232
Abendmahl, 121 Aberglaube, 126 Aborigines, 969, 970, 973
Abrahamreligionen, 539, 1053
Abt von Cîtreaux, 376 Abtreibung, 229, 334, 365, 731, 1075, 1221
Abrechnung, 48 Abruzzen, 169
1575
Abtreibung der weiblichen Föten, 1074
Alamo, 790
Amöben, 208, 953
Alamogordo, 793
Amun, 114
Achilleus, 424, 445, 446, 1124
Albertus Magnus, 447
Analsex, 184, 523
Albingenser, 378, 380
Anaphrodisiaka, 769
Adachi, 248
Alexander, 283, 1003, 1045, 1048, 1078
Angakoq, 597, 629, 907, 1206
Adair, Robert K., 503
Algerien, 531
Angst, 960
Adam, 21, 155, 186, 286, 304, 321, 379, 534, 603, 998, 1050
Alkoholkonsum, 469
Anima, 807
Alkoholverbot, 695
Animismus, 809
Adams Rippe, 118
Allah, 318, 531, 567, 929, 960, 1050, 1053, 1202, 1231, 1232, 1235
Anjou, 438
Actium, 436, 443
Afrika, 371 Agent Orange, 675, 954 Ägypten, 110 Ahasver, 556, 569 Ahimsa, 1013, 1056, 1104, 1302
Anpassung, 221, 389 Antike, 398
Almosen, 81, 311, 365, 372, 373, 588, 753, 754, 772, 962, 1018, 1029, 1046, 1051, 1168
Antikommunismus, 700 Antikörper, 342 Antinomismus, 354
Altes Testament, 380, 1274
Antiochus, 276
Amalekiter, 76
Antionius, 437
Amaterasu, 920, 921, 922
Antisemitismus, 692, 833 Antitoxine, 342
Al Capone, 469
Amerika, 203, 594, 626, 636, 652, 719, 732, 854, 969
Alabama, 714
Amerikaner, 911
AIDS, 654, 655 Aischa, 1052 Akbar, 1044 Akropolis, 426
1
Antonius, 443
Aphrodisiakum, 142, 485
Asiaten, 633
Atom-U-Boote, 908, 966
Asoka, 1045, 1055 Aphrodite, 164, 196, 319, 396, 442, 1062 Apokalypse, 145, 338, 354, 355, 560, 694, 1124, 1207, 1260, 1267, 1301
Aspirin, 650 Astralprojektion, 270
Aufklärung, 195, 443, 623, 1052 Auschwitz, 277, 352, 607
Asura, 528 Aussatz, 545 Atem, 40
Apoll, 378, 410
Außenseiter, 389, 1293 Atheismus, 742
Apostel, 243, 427, 706, 746, 757 Araber, 532, 555, 1050 Arara, 1079
Aussteuer, 1070 Atheisten, 206, 314, 381, 512, 520, 579, 777, 959, 972, 1051, 1202, 1208, 1209, 1222, 1231
Australien, 970 Autodafé, 166, 804 Automobil, 708
Arche, 393, 984, 1272, 1280
Athen, 424, 436 Ave Maria, 377 Athene, 427
Arier, 277, 735, 1046, 1047, 1048, 1057 Aristoteles, 446
Ayodhya, 555 Äthiopierinnen, 423 Atlanta, 638, 688, 689, 693
Arius, 832
Azteken, 614, 615, 616, 617, 618, 619, 620, 621, 622, 813, 830, 1054
Atlantis, 615 Arizona, 607, 794, 837 Armageddon, 541, 624, 1127
Baal, 562 Atom-Bombe, 496, 749, 914, 922, 934, 1061
Babylonische Gefangenschaft, 565
Atome, 209 Armut, 222
Bagdikian, Ben H., 630 Atomkerne, 496
Artemis, 422, 452
Bahubali, 1055 Atomkrieg, 542, 560
Asen, 205
Baldur, 205 Atomphysik, 295
2
Bali, 959 Bankkonto, 222
Bibel, 186, 338, 363, 370, 391, 393, 541, 575, 731, 742, 750, 751, 777
Bar Kochba, 566 Big Bang, 427 Barbaresken, 531 Big Crunch, 427, 504 Bardo Thödol, ‘The Tibetan Book of the Dead’, 55
Brahma, 203, 492, 501, 528, 1003, 1008, 1009, 1060 Brahmanen, 1033, 1036, 1040, 1042, 1044, 1046, 1057, 1058, 1063, 1064, 1157, 1159, 1185
Bikini, 933 Birmingham, 638, 715
Bruno, Giordano, 73, 447
Blannbekin, Agnes, 109
Bücher, 551
Blasphemie, 112, 143, 146, 247, 298, 400, 552, 928
Buddha, 19, 114, 283, 363, 599, 941, 942, 943, 1014, 1263
Blitzableiter, 381
Buddhismus, 1044, 1046
Bloody Mary, 319
Bundeslade, 351
Bath-Seba, 185 Befehlsnotstand, 13 Befreiungskriege, 443 Benedikt, 169 Benzinpreis, 464 Berufsverbote, 214 Bojorix, 198
Bürger, 326
Beschneidung, 103, 470, 552
Bombay, 1062, 1066
Bursum, Senator Holm O., 806
Besitz, 334
Bomidevi, 201
Betrug, 135
Bonifatius, 861
Bush, Präsident George, 721, 1230
Betts, Reverend James L., 768
Bordell, 278, 281, 285
Buße, 138, 162
Borneo, 865
Byzanz, 437
Boslough, John, 503
Caesar, 283
Bostoner Teaparty, 436, 637
Caligula, 115
Bhagavad Gita, 629, 1024, 1033 Bhoomidevi, 528, 1126 Bhutto, Ali, 1061
3
Callistus-Katakomben, 194
Calvinisten, 73 Campii Raudii, 198 Campoformido, 439
Christen, 121, 205, 345, 468, 542, 579, 626, 804, 832, 919, 1053
Darmwürmer, 341
Christen in Japan, 918, 927
Darwinisten, 274
Canossa, 137 Captain Cook, 860, 970, 972
Christentum, 157, 190, 194, 206, 283, 297, 360, 437, 512, 567, 595, 836, 859
Caravaggi, 120
Darwin, Charles, 450
David, 185, 298, 351, 468, 568, 754 Dawkins, Richard, 766 Deisten, 381
Christkind, 359, 607 Carter, Jimmy, 659
Delaware-Indianer, 627 Christus, 1204
Cathari, 379
Delila, 141
Cecilia, 194
Chroschtschow, Nikita, 935
Delphi, 203, 410
Chaireddin, 531
Claudius, 115
Demokratie, 553
Chaos, 394, 493, 526, 533, 718, 930, 1278
Cleaver, Eldridge, 765, 781, 785
Denken, 339
Chargaff, Dr. Erwin, 632
Coitus interruptus, 151
Depressionen, 344
Charlemagne, 283
Computer, 578, 641, 642, 646, 649, 982
Deschner, Karlheinz, 622, 1124 Deukalion, 393
Charles Darwin, 731, 884 Cherokees, 614, 677, 834, 835
Cortez, Fernando, 796 Cro-Magnon-Mensch, 309, 1243, 1289
Deutschland, 206, 256, 461, 701 Devas, 1006
Chihuahua, 617, 798
Custer, Lieutenant Colonel George, 687
Chinesen, 936
Dämonen, 47
Chlodwig, 759
Danton, 381
Devolution, 192 Dharma, 66, 1025, 1109, 1153, 1165, 1180, 1193, 1200
4
Diaspora, 540, 1259, 1274
Du sollst nicht töten., 121
Dies irae, 417, 1267, 1271
Duke, David, 727
Elektronen, 496 Elementarteilchen, 480 Elia, 352, 363
Dionysos, 404, 598
Dummheit, 105, 448, 1302
Elijah Mohammed, 783
Dispater, 378
Duodezgötter, 390
Elisa, 570
DNA, 1304
E = mc2, 486, 502
Elisabeth von Österreich, 445
Döblin, Alfred, 531
Edomiter, 69, 297
Dodo, 880
Edomiterqual, 69
Domina, 379, 514
Egoismus, 221
Donar, 205
Ehe, 396, 740
Donna Geralda, 377
Ehebruch, 655
Empfängnisverhütung, 151
Donnerer, 205, 416
Ehefrau, 130
Engel, 610, 694, 731
Dopamin, 515
Eifersucht, 535
Engelsburg, 116
Dornenkrone, 619
Eigentum, 220, 221
Engländer, 1039
Draupnir, 205
Eigenverantwortung, 13
Enzym, 540
Dreieinigkeit, 194, 751
Einhodige, 115
Eos, 405
Dreifaltigkeit, 193
Einstein, Albert, 485
Ephraimiter, 749
Dresden, 311, 954
Eisenhower, Dwight D., 917
Erbsünde, 118, 623
Ellis Island, 632 Eltern, 321, 536 Empedokles, 1294
Drogen, intravenös, 88 El Marri, 1051 Druiden, 203, 378 Elektron, 480
5
Erde, 18, 537, 538, 620, 621, 628, 655, 656, 832, 900, 1227, 1243, 1268
Erdgeister, 1215
Ewigkeit, 44, 577
fliegende Holländer, 355
Eremiten, 169
Externsteine, 271
fliegende Untertassen, 363
Eris, 195
Fahnenflucht, 481
Erkenntnis, 579
Falangisten, 260, 558
Erlöser, 282, 627, 628, 746, 939, 1107
Falwell, Jerry, 560
Folter, 188, 244, 246, 257, 614, 700, 749
Fanatiker, 566
Foltertod, 353
Fantasie, 341
Fossilien, 237
Farb, Peter, 625, 635
Franklin, Benjamin, 833
Florida, 709
Erlösung, 327 Eros, 318, 319, 344 Erotik, 139 Faschisten, 340
Frankreich, 380
Erzbischof Stepinac, 591, 833
Fauklin Road, 1062
Franz Ferdinand, 445
Eskimos, 596
Faulheit, 335
Franzinetti, Vicky, 470
Esus, 203, 204
Feigheit, 336
französische Revolution, 380
Euphemismus, 118
Felsen, 44
Eurydike, 364
Felsendom, 542
Euthanasie, 517
Feministen, 472, 659, 1075
Frau, 223, 599
Fetische, 802, 809, 810
Frauen, 45, 115, 210, 224, 335, 448, 535, 659, 708, 801, 859, 886, 942, 943, 1051, 1069, 1070, 1192
Feuer, 970
Freibeuter, 173
Feuille de Rose, 558
Freidenker, 305, 1044
Fische, 119
Freiheit, 209, 305, 324, 329, 462, 464, 481, 529, 630, 632, 636,
Eva, 118, 155, 534 Evangelien, 742, 756 Evangelisten, 571, 962 Evolution, 192, 195, 207, 235, 237, 264, 292, 373, 375, 377, 539, 699, 971, 1286, 1290, 1305
Fleming, Alexander, 283, 1016
6
643, 671, 692, 707, 767, 805, 940, 1052
Gautama, 1006, 1014
Geschlechtsbestimmung, 1074
Gaya, 394, 415 Freiheitskämpfer, 558 Gebären, 365
Geschlechtsverkehr, 1274
Freitod, 330 Geburt, 51 Fretilin, 965
Geschwindigkeitsbegren zung, 330
Geburtenkontrolle, 372 Freud, Sigmund, 394
Gesellschaft, 463 Gedankenfreiheit, 217
Freudenhaus, 153
Gesetzbücher, 464 Gefühle, 518
Freyja, 205
Gewalt, 380, 555
Frieden, 160, 314
Gegenwart, 429, 444, 577
Gewissen, 113
Frisch, Harald, 503
Gehirntod, 517
Gideon, 76
frohe Botschaft, 117
Geilheit, 397
Gier, 256, 1030, 1190
Fruchtbarkeitsgöttin, 117, 422
Geldgier, 529
Gleichheit, 462
Geldstrafe, 311
Gleichnisse, 743, 747, 750, 755, 756
Fruchtbarkeitssymbole, 114
Gemetzel, 199, 200
Gaia, 201
Gene, 150, 766
Galaxis, 71
Genesis, 355, 394, 483, 607, 610
Galileis, 447
Glück, 252, 335, 339, 473 Goebbels, 297 Goethe, 447
Gentechnik, 540 Gandhi, 356, 1010, 1013, 1032, 1040
Goi, 242 Germanen, 198, 200, 202, 205
Gold, 19
Ganesha, 6 Gaskammern, 277, 300, 614
7
Geschlechtsakt, 118, 129, 320, 470
goldene Eier, 254 Goldstein, Baruch, 557
Golgi-Apparat, 1302 Goliath, 568 Gott, 18, 20, 23, 24, 25, 33, 35, 36, 40, 42, 44, 45, 47, 49, 56, 64, 66, 67, 68, 70, 74, 75, 76, 77, 85, 89, 108, 109, 112, 113, 114, 115, 117, 118, 119, 120, 121, 122, 124, 126, 127, 128, 132, 136, 137, 140, 143, 145, 147, 149, 150, 151, 154, 155, 156, 157, 158, 162, 164, 166, 168, 169, 176, 180, 182, 183, 184, 186, 188, 191, 195, 196, 202, 203, 204, 207, 208, 224, 228, 241, 243, 245, 247, 248, 260, 264, 270, 273, 280, 282, 298, 300, 304, 305, 314, 318, 319, 327, 328, 333, 334, 338, 339, 341, 346, 350, 351, 352, 355, 356, 357, 358, 376, 378, 379, 380, 381, 390, 391, 394, 395, 397, 398, 405, 406, 407, 419, 423, 426, 427, 433, 435, 446, 449, 468, 487, 498, 501, 504, 506, 512, 527, 528, 531, 534, 535, 536, 537, 538, 539, 542, 543, 544,
545, 548, 554, 562, 563, 564, 576, 587, 599, 603, 607, 609, 610, 613, 614, 616, 617, 618, 620, 621, 622, 624, 626, 643, 647, 650, 653, 654, 656, 659, 689, 739, 741, 743, 744, 745, 747, 751, 754, 756, 757, 758, 759, 777, 800, 802, 826, 832, 838, 850, 916, 917, 923, 931, 936, 960, 962, 990, 1004, 1005, 1010, 1011, 1019, 1020, 1026, 1029, 1030, 1049, 1050, 1051, 1052, 1053, 1056, 1059, 1070, 1080, 1117, 1125, 1131, 1204, 1206, 1209, 1222, 1229, 1231, 1249, 1260, 1261
390, 391, 396, 397, 400, 404, 405, 407, 408, 416, 417, 418, 419, 420, 433, 437, 441, 442, 468, 471, 483, 523, 527, 528, 562, 573, 575, 593, 595, 602, 604, 607, 608, 609, 614, 615, 616, 617, 620, 624, 625, 629, 736, 748, 797, 859, 860, 921, 923, 939, 941, 961, 971, 1003, 1004, 1005, 1006, 1007, 1008, 1009, 1010, 1012, 1018, 1019, 1024, 1025, 1028, 1029, 1030, 1031, 1041, 1056, 1078, 1123, 1158, 1159, 1172, 1189, 1197, 1199, 1264, 1265, 1275 Göttersymbol, 114
Götter, 11, 13, 18, 36, 42, 47, 48, 50, 63, 64, 66, 67, 74, 110, 111, 112, 113, 114, 115, 119, 126, 136, 139, 146, 159, 171, 180, 183, 190, 191, 193, 195, 197, 198, 201, 202, 203, 204, 205, 206, 207, 231, 250, 251, 272, 285, 300, 302, 314, 325, 327, 328, 332, 334, 338, 341, 342, 345, 355, 363, 364, 365,
Gotteshäuser, 555 Gotteslästerung, 341, 447, 575, 643, 916 Gottessuche, 498 Gottesurteil, 442 Gottlosigkeit, 447 Gottverlassenheit, 113 Graeculi, 286
8
Graham, Billy, 1215
Haggard, Sir Rider, 813
Gral, 376, 378
Haida-Indianer, 602
Grant, Präsident Ulysses S., 685
Haie, 341
Hawking, Stephen W., 498, 503 Hegel, 447 Heiland, 117
Ham, 347 Grasaffen, 67
Heiligen Offizium, 187
Grausamkeiten, 199
Hämorrhoiden, 318, 377, 523
Heiligenschein, 623
Graves, Kersey, 1124
Hannibal, 198
Hein, 586
Gregor VII., 137
Harappakultur, 1044, 1047
Heine, Heinrich, 445, 532
Harding, Präsident Warren, 694
Heinrich IV, 137
Griechen, 392 Griechenland, 381, 393, 440
Hare-Krishna-Kult, 1019, 1125
Griffith, David Wark, 688
Harmagedon, 338
Greuel, 346
Helden, 199, 221, 667, 668 Hellena, 397
Haß, 1190
Helmpflicht, 330, 660, 672
Grynszspan, Herschel, 784
Häuptlinge, 380
Henkelkreuz, 114
Gulliver, 579
Hausbesetzung, 457, 460
Hephaistos, 426, 430
Guru, 1019, 1021, 1139, 1159, 1174, 1190
Hautfarbe, 227, 571, 642, 648, 678, 736, 739, 765, 783, 818, 820, 821, 1042, 1048, 1125
Hera, 196, 427
Guzman, Dominik, 591 Haderwasser, 45
Herakles, 247, 396, 408, 409, 420 Herkules, 114, 166
Hautkrebs, 308 Hades, 364, 985, 1001 Hagar, 832
Hawaii, 858, 862, 911, 973
Hermann der Cherusker, 271 Herodot, 1048
9
Hexen, 167, 192, 347
Höllenqualen, 49, 345, 353, 356, 510, 534, 1043
Humanisten, 373
Hinduismus, 528, 735, 959, 1014, 1035, 1041, 1124
Holocaust, 347, 554
Hunger, 128, 129, 372, 529
Hindus, 203, 205, 555, 1035, 1038, 1058
homo sapiens sapiens, 309, 1243, 1267
Hiob, 352 Hiobsbotschaft, 139
Homosexualität, 184, 317, 318, 654, 660, 741, 841, 968
Huren, 125, 129, 146, 170, 238, 281, 285, 319, 364, 776, 868, 1064
Hippie, 326
Homosexuelle, 192
Huris, 364, 1201
Hippies, 668
homousios, 406, 940
Hyänen, 45
Hiroshima, 793, 912, 915, 922, 935
Hongkong, 937
Hyperboräer, 428
Hope, Bob, 676, 1125
Ideologen, 1203
Hopi-Indianer, 799, 814, 828, 837
Ideologien, 305, 335
Hidalgo, 800
Hitler, 283, 286, 288, 554, 701, 702, 705, 711, 735, 756, 969, 996, 1013, 1069
Humanität, 340
Homer, 426, 431 Hure, 195, 224, 320, 1122
Illinois, 627 Horudsch, 531
Ho Chi Minh, 718, 720
imaginäre Zahlen, 489 Horus, 110, 112
Hode, 275
Impotenz, 122, 129 Hoyle, Fred, 503
Hoden, 296, 714 Hufeisen, 205 Holländer, 956 Hölle, 280, 339, 353, 379, 507, 522, 576, 702, 743, 752, 754, 789, 1002, 1011, 1043
Hughes, Rupert, 756, 757 Huitzilopochtli, 417, 615, 617, 620, 621
Indianer, 374, 594, 627, 628, 634, 677, 687, 781, 793, 796, 801, 804, 806, 833 Indien, 1002, 1003, 1012, 1019, 1034, 1042, 1044, 1055, 1056, 1063, 1065,
Humanae Vitae, 1202
10
1067, 1070, 1078, 1204
Isis, 113
Jehova, 380, 505, 1125
Islam, 567, 1050
Jenseits, 38
Ismael, 832, 1232
Jephthah, 347, 748
Israel, 76, 539, 553, 559, 570, 743, 756
Jericho, 350, 554, 559, 561, 562, 569
Israelis, 1230
Jerusalem, 532, 541, 565, 611
Indonesien, 956 Indra, 182, 526, 1006, 1025, 1121, 1198 Innozenz III., 756 Inquisition, 188, 352, 749, 754, 802 intelligente Wesen, 144
Jahwe, 286, 298, 332, 533, 555, 567, 599, 611, 659, 748, 832, 1056
Jakob, 140, 141, 144, 150, 156, 185, 186
Jesus, 77, 120, 136, 157, 239, 248, 283, 309, 354, 358, 363, 447, 449, 469, 541, 552, 567, 571, 572, 575, 598, 610, 616, 617, 695, 742, 744, 746, 747, 750, 754, 788, 800, 832, 836, 939, 961, 968, 1051
Jakob II., 635
Jesus Christus, 181
Jan Hagel, 368, 380
Jesuskind, 117, 342
Janhagel, 326, 328
Jim-Crow-Gesetze, 677, 687, 707, 712
Intelligenz, 529 Jahweh, 356, 417 Intensivstation, 514 Jaina, 1055 Intifada, 356 Jainismus, 1014 Inuits, 906 Inzest, 394, 748, 751, 1304
Jesaja, 69
Io, 396, 405 Irgun Zwai Leumi, 559 Irian Jaya, 960 Janus, 196 Irokesen, 600, 634 Isaac, 832
Japan, 248, 251, 294, 584, 1229
Isaak, 541
Japaner, 909, 911
Isebel, 1206
Japhthah, 755 Jasenovac, 591
11
Johannes, 166, 353, 560, 1205, 1206, 1207, 1274 Johannes Evangelium, 394 Johannes Offenbarung, 247
Johannesevangelium, 297, 702, 777 Johnson, Präsident Andrew, 685 Jones, Jim, 659
Jungfernschaft, 349, 749
Kamikaze, 911, 913
Jungfrau, 130, 319, 421, 601, 754, 939, 990, 1012, 1107
Kanaaniter, 119, 347, 555
Jungfräulichkeit, 312, 427
Kannibalismus, 354, 622, 731, 780, 787, 964
Jüngste Gericht, 150
Kant, 335
Jupiter, 203, 736
Kantsuke-ojisan, 249
Kaaba, 555
Kapodistrias, 440
Kabbazah, 423
Karl der Große, 206, 802, 832
Jordan, 559 Joseph, 118 Joseph Smith, 283 Juden, 69, 70, 90, 106, 140, 143, 185, 205, 246, 275, 276, 277, 279, 280, 281, 282, 289, 290, 295, 297, 301, 302, 303, 306, 309, 311, 356, 391, 393, 449, 466, 526, 533, 536, 537, 539, 541, 542, 552, 554, 559, 565, 566, 567, 569, 607, 611, 655, 677, 692, 701, 702, 705, 709, 718, 727, 731, 746, 752, 755, 781, 784, 802, 832, 835, 864, 880, 929, 959, 1024, 1049, 1050, 1053, 1056, 1208, 1228, 1229, 1231, 1232, 1233, 1259
Kain, 309, 832, 852 Karl II., 635 Kaiser, 168 Kaiser Hirohito, 916, 917, 926
Karma, 1009, 1032, 1058, 1076, 1077, 1080, 1181, 1199
Kaiser Wilhelm II., 445
Karthago, 106, 196
Kala, 1197
Kartoffeln, 206
Kali, 1170
Karwoche, 619
Kali-Yuga, 1009, 1055, 1265
Kasten, 1013, 1033, 1034, 1035, 1042, 1134
Kalkutta, 1005, 1010, 1011
Kataklysmus, 205, 901, 921, 1267
Kalpa, 501, 1008, 1060 Judenhaß, 106
Katholik, 520, 533 Kalpa-taru, 253, 254
Jung, C. G., 1215 Kamehameha, 859
Katholiken, 379, 688, 696, 699, 705, 720,
12
833, 919, 1049, 1202
Kirche, 189, 190, 370, 449, 624, 740, 742
Katholizismus, 377, 692, 735, 861, 965, 1049
Kirchen, 264, 366, 381, 713
Kaufhausdiebe, 221
Kirchenfeind, 152, 189, 192
Kopfgeld, 634 Koran, 363
Kaufhausdiebstähle, 461
Korfu, 435 Korinth, 435 Korsaren, 531
Kleopatra, 443 Kaufmann, William J., 503
Klöster, 169
Kräutler, Erwin, 626
Kelten, 202, 203, 204, 205, 206, 598
Koestler, Arthur, 1068, 1229
Kennedy, John F., 715, 718, 723
Kojote, 603, 604, 620, 624
Kerkira, 434
Kommunikation, 342
Kerygma, 319
Kommunismus, 704, 705, 715, 767, 836, 938, 957, 958, 965, 966, 1225
Kreuz, 118, 566 Kreuzfahrer, 438 Kreuzritter, 70, 438 Kreuzzug, 376 Kreuzzüge, 531
Ketzer, 617, 1302 Ketzerei, 347, 359, 377, 610
Krieg, 308, 1257, 1288, 1295
Könige, 380
Kriegsdienstverweigerun g, 259, 837, 919
Keuschheit, 142, 148, 166, 169, 196, 422, 468, 692, 862, 990, 1014, 1106, 1124
Konquistadoren, 615
Kriegserklärungen, 910
Konstantin, 283, 437, 756
Krippe, 117
Khomeini, 929
Konstantin der Große, 108
Kickapoos, 627 Konsumzwang, 463
Krishna, 228, 325, 629, 985, 1023, 1024, 1028, 1030, 1032, 1034, 1123, 1134, 1171
Kimber, 198 Kinder, 127, 373, 465
13
Konzelmann, Gerhard, 559
Kruppstahl, 302
Kshatriya, 38, 1009, 1032, 1033, 1065, 1109, 1115, 1120, 1159, 1168, 1186
Legende, 911
Löwenkinder, 47
Legenden, 312, 435, 669, 904, 971, 1124
Löwenzahn, 159
Kshatriyas, 1128
Lemminge, 170
Ku Klux Klan, 246, 677, 680, 688, 689, 706, 729, 749
Leo X., 1051
Kurukshetra, 1128
Leviathan, 869
KZ, 273, 277, 591, 594, 754, 775, 784, 833
Leviratsehe, 151
Lüge, 135, 1156, 1162 Lügen, 512 Lügendetektor, 194 Lernen, 105 Lupo di Mare, 172 Luther, Martin, 297 Lykaon, 392 Lewis, Norman, 958 lächelnder Papst, 156
Macho, 672 Licht, 495
Lakshmi, 1005 Land für Frieden, 834
Macht, 1249 Liebe, 260, 319, 477, 531, 534, 561, 710, 802, 953, 983
Langeweile, 513
Madagajaamini, 1106 Madonnenlilie, 166
Liebesakt, 129 Languedoc, 377
Magie, 973, 982 Literatur, 511
Las Casas, Bartomé de, 627
Logik, 480
Las Vegas, 841
London, Jack, 171
Lateran, 109
Lorbeer, 452
Lazarus, 752, 754
Lorca, Garcia Federico, 260
Mahabharata, 6, 15, 1009, 1080, 1305 Mahavira, Vardhamana, 1014 Makkabäer, 276
Leben, 252, 266, 529, 584, 863
Lorenz, Konrad, 236, 343
Lebenslüge, 576
Makrokosmos, 71 Mandala, 1292 Mandragoren, 142
Lot, 119 Lefkas, 442
14
Manitu, 625, 628
Märtyrer, 193, 377, 928
Memphis, 638
Mann, 223
Martyrium, 327, 917
Männer, 45, 326, 335, 475, 660, 708, 859, 1003, 1069
Marxismus, 937
Mensch, 10, 302, 341, 342, 983, 1041, 1246
Männer/Väter, 26
Masada, 566
Männerrippe, 154
Massaker, 559, 567, 629, 677, 730, 831
Mary Phagan, 731, 732
Menschen, 18, 191, 236, 478, 538, 557, 578, 664, 787, 940, 970, 996, 1019, 1034, 1247, 1257, 1299
Mantra, 1012, 1122, 1292
Masse, 248
Menschenhaß, 365
Mantras, 182, 189, 194
Massenmedien, 630, 632
Manus Gesetz, 1121 Mao Tse-tung, 938
Massenmord, 350, 351, 352, 595, 626, 880, 905
Maoris, 882
Massenmorde, 273, 463
Marabut, 531
Masturbieren, 469, 923
Marat, 381
Materie, 483, 494
Maria, 117, 140, 442, 473, 754, 800, 813, 832
Mauren, 1048, 1049
Menschheit, 339, 360, 668
McArthur, Douglas, 916
Merkur, 72, 203, 703
Maria Theresia, 1043
Medawar, Peter Brian, 1216
Meditation, 200
Meru, 18, 24, 25, 72, 146, 316, 379, 417, 526, 528, 941, 950, 951, 1008, 1009, 1026, 1061, 1198, 1263, 1286
Meer, 43, 44
Messiah, 627, 629, 702
Menschenliebe, 365 Menschenopfer, 204, 347, 615, 616, 622, 742 Menschenrechte, 381, 626, 660, 687, 698, 724, 929 Menschensohn, 510
Mars, 203 Medien, 460 Marshallinseln, 933 Martin Luther King, 633, 712, 713, 715, 721, 725, 726, 1013
Memmen, 45
15
Messias, 242, 311, 575, 739, 759, 985, 1259
Mithras, 114
Monte Cassino, 170
Mitleid, 463
Montgomery, 638, 712, 713, 723, 1040
Methodisten, 834 Mexiko, 616, 790, 805 Micha Jesof bin Gorion, 536
Mittelalter, 246, 554, 614
Moon, San Myung, 739
Mittelmeer, 96
Moral, 626, 745, 755
Moabiter, 297
Moraltheologe, 331, 659
Moctezuma, 621
Mord, 311, 880, 1070
modernes Wissen, 71
Mordausflüge, 1230
Modoc-Indianer, 606
Morden, 529
Moghulherrschaft, 1044
Mörder, 275, 310, 377, 389, 564, 710
Michelangelo, 120 Micky Mouse, 961 Midgard, 206 Midgardschlange, 97 Midianiter, 76, 350 Minderjährige, 469
Mohammed, 283, 363, 1050, 1204
Mordhandwerk, 186
Minne, 377
Mohenjo Daro, 1047
Moriori, 883
Minuit, Peter, 635
Moleküle, 209
Mormonen, 709
Mission, 746
Momus, der Gott der Nörgelei, 736
Moses, 119, 283, 341, 350, 363, 543
Mönch, 169
Moslem, 318, 540, 542
Mönche, 148
Moslems, 205, 928, 957
Monophysitismus, 610
Motoshima, Hitoshi, 927
Missionar, 560, 613, 796 Missionare, 596, 759, 800, 804, 836, 859, 860, 866, 870, 916, 919, 937, 960, 962, 972, 1125, 1294
Monopsychismus, 610
Muhammad Ali, 722
Missionarsstellung, 135, 331, 470
Monotheismus, 194, 610
Mumtaz Mahal, 144
Mistel, 788
Monotheletismus, 610
16
Murray-O'Hair, Madalyn, 661
Nazis, 277, 754
Obszönität, 102
Nebukadnezar, 70, 554
Octavian, 437
Murray-O'Hair, Robin, 581, 661
Neid, 462
Ödipus, 394, 751
Mutter, 224
Neu-Hebriden, 972
Ödipuskomplex, 394
Mysore, 1055
Neuseeland, 884
Odysseus, 178, 424, 435
Mysterium, 117, 121, 378, 629, 752, 819
Neutrinos, 496
Offenbarun, 1288
Neutronen, 497
Offenbarung, 560, 1205
Neuzeit, 337, 443, 444, 452, 733, 780, 833
Offenbarungen, 251
NAACP, 717 Nächstenliebe, 204, 381, 529, 745
New-Mexiko, 796, 798, 799, 803, 804, 805
Ölscheiche, 480
Nachwelt, 47, 52, 55, 1301
Nibelungen, 211
Olymp, 390, 416, 417
Nicht-Schaden, 468
Onan, 142, 150
Niemand-Sei-NebenMir-Gott, 23, 25, 115, 603, 624
Oñate, Don Juan de, 798
Nietzsche, 416, 919, 1269
Opfer, 73, 134, 782
Mythos, 595, 669, 1007
Oktavian, 443
Nacktheit, 339, 527, 535, 572, 1002 Napoleon, 283, 439 Narasimha Avatar, 528 Natchez, 611, 612, 634
Oort-Wolke, 388
Opfertod, 118 Nikolaus, 442
Nationalismus, 443
Optimismus, 15 Nirvana, 269
Natur, 976 Naturmutter, 114 Navajos, 607, 609, 610, 625, 808, 830, 835
17
Orakel, 234, 381 Noah, 119, 598, 782, 984, 1273
Orgasmus, 135, 423, 474
Nuklearforscher, 485
Origenes, 747
Obelisk, 109, 111
Orkus, 364
Orpheus, 364
Pasqualino Settebellezze, 772
Pflichten der vier Kasten, 1189
Pasquinaten, 124
Pflichten eines Königs, 1189
Osiris, 113 Ost-Timor, 965 Passivrauchen, 86 Ottomanen, 438
Phäaken, 435 Pauli, Wolfgang, 487
Pakistan, 1061
Phallus, 110, 1004
Palästinenser, 539, 555, 558, 569, 1229
Paulus, 189, 246, 427, 449, 552, 571, 706, 758, 832
Pancasila, 955
Pawnees, 610
Pantheon, 115, 617, 618
Pazifisten, 883
Papagei, 882
Peat, F. David, 487, 503
Papageien, 1078
Peitsche, 169, 659, 681, 685, 706, 707, 709, 717, 888, 893
Philosophen, 577
Penicillin, 281, 283, 285
Physik, 480
Penis, 110, 970, 1065
Physiker, 487
Persephone, 364, 396, 404, 1001
Piraten, 173, 531
Pharao, 45 Pharaoh, 347 Pharisäer, 616
Papst, 106, 120, 377, 460, 626, 926, 965
Philister, 139, 140, 185, 297, 351, 1039
Photonen, 497, 502
Päpste, 157, 747 Papuaner, 958 Parabel, 751
Piräus, 440 Paradies, 18, 38, 49, 364, 512, 522
Perversität, 331 Pöbel, 222, 1203 Petrus, 120, 144, 832
Parasurama, 1063, 1112, 1165
Peyote, 629, 788
Poet, 511
Parenti, Michael, 630
Pferdefleisch, 205
Pariahs, 1034, 1036
Pferdeopfer, 1057, 1187
Parks, Rosa, 711
Pflichten, 334
Poeten, 487 Pogrom, 222 Pogrome, 297
18
Polizei, 222, 383, 446, 463, 654, 700, 706, 709, 713, 784, 785
Protestanten, 319, 693, 972
Rabbi Eliezer Schach, 553
Proudhon, 652
Rache, 792
Provence, 377
Radfahren, 670
Prunkmännchen, 115, 192
Rahab, 350, 565
Pontius Pilatus, 450 Pornografie, 553
Psappho, 442, 450
Poseidon, 172, 393, 441
Psychoanalyse, 394
Potenz, 129
Pueblos, 797, 801, 803, 804, 806, 807
Pollution, 169 Polygamie, 371, 861
Rahn, Otto, 377 Rasse, 227, 735 Rassen, 298 Rassenlehre, 291, 303
Powledge, Fred, 735 Puritaner, 833 Predigt, 475, 577
Rassenmischung, 336, 677, 735
Pyramiden, 110, 617 Priester, 168, 192, 193, 206, 563, 576, 617, 621, 623, 628, 708, 746, 769, 1053, 1063
Pyrrhos, 436 Pythagoras, 378 Quäker, 601
Priskil, Peter, 1052 Quantenmechanik, 491
Rassentrennung, 633, 638, 662, 680, 687, 707, 712, 713, 714, 715, 728, 764 Rassismus, 368, 687, 707, 733, 737, 746, 833
Prohibition, 468, 697 Quantensprung, 74 Prometheus, 390, 391, 408, 418, 430, 598, 985, 1233 Prophet, 601 Propheten, 73, 336, 352, 452, 646, 651, 991
Rasthriya Swyamsevak Sangh, 1032
Quanten-Theorie, 503 Rationalismus, 443 Quantum-Geometrie, 502
Rauchen, 88, 308, 331, 367
RAëL, 364 rauchende Mütter, 86 Rabbi, 571, 607
Prostituierte, 331, 1064
19
Raucher, 512
Raum-Zeit-Kontinuum, 486
Religionsunterricht, 162, 501, 814, 828, 919
Römer, 198, 437, 451, 566, 664
Rauschgift, 331, 343
Religiosität, 448, 507
Römermann, Birgit, 124, 643
Re, 112
Reliquie, 140, 543, 1273
Reagen, Ronald, 731
Reliquienbetrug, 157
Roosevelt, F. D., 663, 705
Rechtsprechung, 371
Renuka, 1062
Rote Wolke, 834
Reconquista, 804
Reservation, 594, 628, 806, 829, 830, 834, 836
Rousseau, 380
Regenmachen, 802 Reichtum, 334, 365
Rücken eines Elefanten, 71
Revierverhalten, 577, 748
Rückenschmerzen, 430
Revolution, 449, 461, 762, 763
Rudolf, Kronprinz, 445, 1069
Revolutionäre, 381
Rushdie, Salman, 928
Rhadamantys, 396
Russell, Bertrand, 1059
Richter, 264
Russen, 199
Riedl, Dr. Rupert, 430
Sabah, 865
Religionen, 305, 335, 478, 614, 809, 829, 860, 959, 971, 1207
Ritual, 103, 838
Sabbat, 332, 552, 655, 861
Religionsfreiheit, 342, 1065
Robin Hood, 462
Relativitätstheorie, 503 Religion, 127, 131, 135, 236, 305, 339, 365, 366, 526, 542, 577, 599, 603, 608, 626, 629, 642, 659, 693, 735, 742, 744, 745, 802, 881, 1003, 1041, 1051, 1054, 1125, 1126, 1201
Robespierre, 381, 756 Sabbatgesetze, 544 Sadismus, 365 Rockefeller, 752
Religionsstifter, 42, 282, 447, 474, 593, 655, 746, 937
Sado-Maso-Fanclub, 189 Rom, 106, 195, 271, 286, 304
Saipan, 909
Romantik, 443
20
Sakrilegien, 190
Säulenheiliger, 169
Schöpfungsmythos, 397, 598
Salomon, 754
Saurier, 237
Samenproduktion, 158
Schaden, 330, 333
Samson, 139, 351, 968
Scham, 189
Samuel, 351
Schamanen, 613, 616
Samurai, 251, 1241
Scheiterhaufen, 244, 345, 377, 1067
Schulenburg, Johannes Matthias von der, 438
Sangsara, 19
Schibboleth, 748, 749, 750
Schwangerschaft, 139, 146, 536
Sansculotten, 380
Schicksal, 171
Schwarze, 119, 334
Santa Anna, Generalissimo Antonio Lopez de, 790
Schlacht, 199
Schwarze Moslem, 783
Schleswig-Holstein, 526
Schwarzfußindianer, 599
Schmetterlingseffekt, 143
Schweinefleisch, 236, 339, 343, 349, 553, 655, 1062
Schoschonen, 615 Schriftsteller, 474, 511 Schuldgefühle, 158
San Francisco, 853
Santa Maria de Leuca, 171
Schmöken, 45 Sarajevo, 445 Scholastiker, 151
Schwerter zu Pflugscharen, 181
Schöpfer, 164, 1003
Scorcese, Martin, 1124
Schöpfergott, 207, 502, 528, 603, 814
Scylla, 429
Sati, 1067, 1071, 1124 Satyriasis, 404, 754
Schöpfung, 113, 604
Saufen, 45
Schöpfungsgeschichte, 533, 814
Seele, 181, 498, 1075
Schöpfungsmythen, 391
Seelenwanderung, 204
Sarasvati, 1004 Satan, 205, 535, 869
SDI, 1252, 1272 Seefahrer, 43
Saugmuschi, 423
21
Seeschlacht, 441
Sex-Show, 367
Seiltrick, 137
Sexualität, 312, 331, 442, 469, 708, 983
Sektierer, 617 Selbstbetrug, 135 Selbstmord, 202, 257, 259, 264, 267, 269, 275, 443, 445, 658, 660, 751, 792, 794, 801, 852, 912, 913, 914, 989, 996, 1068, 1069, 1070, 1203, 1298
Shiva, 203, 1008, 1010, 1011, 1067 Shiwa, 1004 Shiwas Haar, 33 Sichem, 185
Sklaven, 50, 73, 106, 119, 139, 140, 169, 185, 196, 199, 234, 241, 334, 347, 380, 401, 410, 423, 444, 448, 557, 626, 627, 677, 682, 684, 685, 686, 721, 725, 726, 735, 740, 781, 790, 799, 1039, 1046, 1126, 1299
Singularität, 491, 498
Sklaverei, 317, 347, 370, 448, 662, 682, 692, 725, 726, 740, 781, 782, 805, 1033, 1039, 1299
Singvögel, 160
Sleipnir, 205
Sinistralität, 487
Smith, Morton, 571
Sinnlosigkeit, 529, 530
Sodom, 119, 328
Sintflut, 392, 393, 418, 610, 625, 977, 1246
Soft-Porno, 468
Seppuku, 909 Servet, Michel, 73
Sioux, 628, 834
Seth, 113
Sissi, 445
Seuchen, 538
Sisyphos, 168, 364, 417, 418, 446
Sieger, 569
Selektion, 275 Seligpreisungen, 243 Selma, 638, 723 Semael, 535
Söhne, 1121 Sokrates, 447 Sölle, Dorothee, 1125
Sex, 127, 322, 339, 365, 529, 591, 596, 619, 620, 627, 661, 704, 714, 741, 810, 861, 1009, 1012, 1125 Sex mit Töchtern, 119
Solzhenitsyn, Alexander, 938
Sittengesetz, 335 Sonne, 71 Sixtus V., 109 Sonnengott, 110, 112 Skalpieren, 612, 628, 634
Sonntagsarbeit, 339
22
Soul-on-Ice, 765
Sterbehilfe, 368
Superraum, 491, 492
Sozialfürsorge, 517
Sterben, 257, 512
Superstring, 484, 488
Spanien, 260
Sterbewelt, 55
Supersymmetrie, 484
Spartacus, 106
Sterne, 40
Süßigkeiten, 127
Speisen, 127
Steuern, 464
Spielzeuge, 127
Strichjunge, 326
Spyridon, 439, 440
Strom, Holger, 1062
Symbol, 244, 441, 479, 521, 566, 593, 616, 618, 664, 666, 671, 740, 741, 888, 912, 916, 1014, 1308
Staat, 218, 463, 785
Subiaco, 169
Syphilis, 285, 449, 626
Staatsfeind, 217
Sudra, 1032
Tabak, 86, 613
Staatsgrenze, 217, 218, 711
Suharto, 958
Tabari, 1052
Sühne, 188 Sukarno, 955, 956, 957
Tabus, 597, 604, 860, 868, 960, 965, 968, 1013, 1015, 1125
Sumerer, 977
Tagelöhner, 66
Sünde, 21, 26, 188, 264, 298, 365, 366, 427, 539
Tagore, Rabindra Nath, 1034
Stalin, 938 Stalingrad, 199 Stammvater der Israeliten, 141 Stein der Weisen, 378
Taj Mahal, 555, 1044 Steinbeck, John, 680 Stellersche Seekuh, 882
Sünden, 118, 353, 388, 507, 868, 1043, 1187
Talmud, 276, 374 Tantalos, 364, 473
Stephenson, David Curtis, 702
Sündenbabel, 190 Tantra, 1013 Sündenfall, 155
Stepinac, Erzbischof, 591
Tapas, 526 Sünder, 121 Taranis, 203, 204 Supernova, 72
23
Taylor, Gordon R., 467
Tod, 47, 266, 269, 518, 526, 1146, 1301
Teller, Edward, 935
Twistor-Theorie, 502 Typhus-Rickettsien, 284
Todessehnsucht, 127 Temperenzler, 468 Terroristen, 556, 558, 559
Todesstrafe, 26, 310, 311, 346, 741
Überbevölkerung, 84, 264, 372 Überfluß, 19
Toleranz, 554 Testament, 242, 755
Überwelt, 54 Tolteken, 615
Teufel, 73, 195, 205, 271, 305, 328, 379, 505, 506, 804, 860
Umweltschutz, 366 Torquemada, 756 UN, 567 Totenengel, 535
Teutates, 203, 204 Totengott, 113
unbefleckte Empfängnis, 124
Totenrichter, 113, 396
Unbefriedigt, 148 Unberührbare, 1034, 1035
Thor, 162, 205
Tradition, 102, 371, 528, 770, 828, 833, 866, 920, 969, 985, 1067
Thora, 276, 553
Traumwelt, 54
Thot, 113
Traumzeit, 971
Tiere, 236
Triebe, 477
Tierquälerei, 351
Troja, 183, 195, 196, 405, 424, 431, 441
Universum, 72, 74, 78, 126, 144, 266, 316, 356, 427, 448, 479, 483, 485, 489, 490, 491, 492, 494, 495, 496, 499, 500, 501, 502, 530, 618, 643, 647, 651, 1004, 1008, 1027, 1059, 1060, 1061, 1129, 1134, 1197, 1256, 1285
Texas, 787, 789, 791 Thermodynamik, 493 Thomas von Aquin, 447
Tilsit, 439 Troubadour, 531 Timor, 964 Tischgebet, 76
Truman, Präsident Harry S., 707, 917, 922
Titanen, 391
Tugend, 480
Ungeziefer, 200
Unreinheit, 349
24
Unsinn, 519
Verbrechen, 365
Vorhaut, 109, 140, 186, 351, 545
Untertanen, 557
Vergangenheit, 444, 470, 493, 734
Vorhaut des Herrn, 109
Vergeistigung, 113
Vorilhon, Claude, 364
Vergessen, 307
Vorurteile, 733
verheiratete Jungfrau, 145, 313, 407, 850
Vorwelt, 54
Uranos, 395 Urknall, 494, 498 Urschlange des Chaos, 113 USA, 631
Vulva, 285 Verheißene Land, 70
Utah, 607, 615, 709
Vyasa, 38 Verhütung, 124, 365
Vaginasymbol, 114
Wachturm, 338, 358 Vermehren, 365
Vaishya, 1032 Via Appia, 106
Waffen, 128, 191, 272, 480, 529, 1203
Vibrator, 318
Wahrheit, 159, 189, 190
Vietnam, 638
Waldheim, 388
Vietnam-Krieg, 259, 633, 674, 720, 724, 958
Walhall, 200, 206
Vandalen, 1049 Vanen, 205 Vanini, Lucilio, 73 Varaha Avatar, 528 Vater, 335 Viktoria, 440
Wallace, Governor George, 711, 714, 727
Vaterland, 529
Veden, 1058, 1061
Vishnu, 203, 228, 528, 1005, 1011, 1025, 1112, 1126, 1204, 1265
Venedig, 438, 439
Vögel, 136
Venus, 442
Völker, 443
Verantwortung, 334
Völkermord, 374
Vatikan, 116, 555
Wasserstoffbombe, 935 Waters, Frank, 828 Watterson, Bill, 664 Weihnachten, 359, 709
25
Weihnachtsmann, 358, 773
Weihwasser, 385 Weinberg, Steven, 502 Weise aus dem Morgenland, 358
881, 935, 977, 1050, 1053, 1216, 1243, 1272, 1273, 1275, 1280, 1294 Witwenverbrennung, 1067
Weisheit, 159
Zellteilung, 207 Zen, 1126 Zeugen Jehovas, 338, 919
Wojtyla, Karol, 758
Zeus, 390, 396, 404, 407, 409, 418, 423
Wota, 205
Ziegen, 540
Wotan, 205
Zigarette, 366, 511
Wunder, 135
Zigaretten, 459
Wunschbaum, 252, 253
Zigeuner, 26
Wüste, 27, 40, 1287, 1290
Zivilbevölkerung, 1221
Weiße, 374, 837, 969 Welt, 54 Weltbestseller, 545 Weltende, 569 Weltherrschaft, 443 Weltsprache, 647
Zölibat, 522, 757 Weltuntergangsapostel, 1205
Xenophanes, 342 Yahweh, 363
Zölibatäre, 188, 189, 208
Yakuza, 924, 927
Zoroaster, 283
Yama, 39
Zuhälter, 160, 321, 324, 325, 369, 754, 1064
Weltverbesserer, 458 Wertmüller, Lina, 772 Widukind, 271 Yerby, Frank, 733 Wiedergeburt, 19, 55, 1042
Yoga, 527, 978
Wissen, 105, 529
Zalongo, 444
Zweiter Weltkrieg, 440, 750
Wissenschaft, 74, 363
Zehn Gebote, 119, 332, 337, 543
Zweites Kommen Christi, 1208
Zeit, 307
Zwietracht, 196
Wissenschaftler, 126, 202, 275, 292, 435, 485, 490, 492, 501, 502, 503, 766, 783,
Zukunft, 493
Zellen, 207
26
27
Zwischenwelt, 55
Zyklon B, 275
Zwischenwelten, 53
Zyklopen, 395
Zytokinesis, 207