Atomphysik für jedermann 1) Von der Welt der Sterne ins Innere des Atoms In den letzten Kapiteln unseres ersten Fortset...
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Atomphysik für jedermann 1) Von der Welt der Sterne ins Innere des Atoms In den letzten Kapiteln unseres ersten Fortsetzungsberichts – „Auf dem Wege zur Weltraumfahrt“ – war von den Planeten die Rede, von der Welt der Gestirne, der Welt des Großen, in der wir die Ziele der kommenden Raumschifffahrt zu suchen haben. In dieser Welt des Großen, des Körperlichen, spielt sich auch unser alltägliches Leben ab. Wenn wir jetzt den Sprung in das andere Extrem, in die Welt des Unsichtbar-Kleinen, wagen, so hat das sehr triftige Gründe. Man spricht heute oft davon, daß wir an der Schwelle zum Atomzeitalter ständen. Seit jenen verhängnisvollen Augusttagen des Jahres 1945, als die ersten Atombomben Hiroshima und Nagasaki in Trümmer legten, weit über hunderttausend Menschenleben vernichteten und das japanische Weltreich zur Kapitulation zwangen, lastet der Alpdruck der entsetzlichsten Vernichtungswaffe, die menschlicher Geist je ersann, auf der gesamten Welt. Die amerikanischen Atombombenversuche der letzten Jahre lassen uns ahnen, wie berechtigt die Furcht vor dieser neuen Waffe ist. Ein künftiger Atomkrieg müßte alles in den Schatten stellen, was jene Mächte der Finsternis an Scheußlichkeiten erdachten, die von jeher den friedlichen Fortschritt der Menschheit gehemmt und die Welt in ein Meer von Blut und Leiden getaucht haben. Auf diesem verhängnisvollen Wege gleiten wir heute dahin – einem katastrophalen Ende entgegen, sofern es den Kräften der Vernunft nicht doch noch gelingt, sich durchzusetzen und die Atomenergie vom Fluch zum Segen für die Menschheit umzuwandeln. Vielfältig – und erst zu einem sehr geringen Teil erschlossen
– sind die friedlichen Verwendungsmöglichkeiten der Atomenergie. Als gewaltiger Energiespender, aber auch in der Medizin, der Technik und der Landwirtschaft – um hier nur einige Möglichkeiten anzudeuten – könnte der Atomenergie die Zukunft gehören. Atome – Kernspaltung – künstliche Elemente – Kettenreaktionen – das sind die Schlagworte unserer Zeit. Was sie bedeuten – das zu erläutern, soll der Zweck der nachfolgenden Kapitel sein. (Fortsetzung folgt)
Verlag und Druck: Erich Pabel, Rastatt in Baden, 1955 (Mitglied des Verbandes deutscher Zeitschriftenverleger e. V.) Die Bände dieser Serie dürfen nicht in Leihbüchereien verliehen, in Lesezirkeln nicht geführt und nicht zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Scan by Brrazo 09/2010
Katastrophenserien in der Luftfahrt Von jeher hat es im Verlauf neuartiger technischer Entwicklungen Rückschläge und hartnäckige Pechsträhnen gegeben. So auch in der Luftfahrt. Als Beispiel aus unseren Tagen sei die Absturzserie britischer „Comet“-Flugzeuge erwähnt, die von den Engländern als eine nationale Tragödie empfunden wurde. Der De Havilland „Comet“ war das erste Verkehrsflugzeug der Welt mit Düsenantrieb. Er war für eine Reisegeschwindigkeit von fast 800 Stundenkilometer konstruiert und stellte, seitdem er am 6. September 1949 in Farnborough erstmals der Öffentlichkeit vorgeführt worden war, einen Flugrekord nach dem anderen auf. So bewältigte die Maschine im Herbst 1949 bei ihrem ersten Langstreckenversuchsflug die fast 2400 Kilometer lange Strecke England–Tripolis in 3 Stunden, 23 Minuten. Am 1. Oktober 1950 flog sie in 85 Minuten von London nach Berlin. Im Mai 1952 erfolgte die offizielle Indienststellung des „Comet“. Und zehn Monate später, am 3. März 1953, begann die katastrophale Unglücksserie, als eine Maschine dieses Typs beim Start in Karatschi abstürzte. Anfang Mai desselben Jahres ging eine weitere Maschine mit 43 Insassen über Kalkutta verloren. Im Januar 1954 stürzte ein drittes „Comet“-Flugzeug bei Elba ins Mittelmeer. Nach diesem Unfall wurden nicht weniger als 50 konstruktive Verbesserungen eingeführt. Doch bereits am 8. April 1954 verunglückte ein weiterer „Comet“ südlich von Neapel. Vier Totalverluste von „Comet“-Düsenflugzeugen, denen 110 Menschenleben zum Opfer fielen, innerhalb von 13 Monaten! Es ist verständlich, daß Sir Miles Thomas, der Direktor der BOAC, die Möglichkeit der Sabotage für gegeben hielt. Mit Flugzeugkatastrophen, die nicht weniger rätselhaft als die „Comet“-Unfälle sind, haben wir es auch bei den neuesten Abenteuern Jim Parkers zu tun. 4
Von Alf Tjörnsen
Es begann am 27. Mai. Die deutsche „Rhein“ stand mit laufenden Motoren im Flughafen von Orion-City. Sie sollte in wenigen Minuten zu ihrem fahrplanmäßigen Flug über New York nach Europa starten. Das schöne, große Delta-Flugschiff lag als blitzendes Dreieck mit überschlanken Rumpf unter der hohen Mittagssonne. Mit angelernter Routine und ohne sonderliche Erregung eilten Monteure über das Flugfeld. Der Cheffunker hatte sich ein Eisgetränk geholt und unterhielt sich neben einem Tankwagen mit seinem Kollegen von der Platzverwaltung. Gemächlich und alltagsmüde kam eine ganze Familie herangeschlendert, die in Dänemark eine alte Tante besuchen wollte. In knapp zehn Stunden würden sie in Berlin aufsetzen und hatten gleich Anschluß nach dem Norden. Es war also gar kein Grund vorhanden, sich noch groß mit Reisefieber abzuquälen. Auch das junge Paar, das in Begleitung eines sehr energisch aussehenden älteren Herrn eben 5
die Kontrolle passierte, zeigte wenig davon. Der ältere Herr blieb zurück und tippte grüßend gegen die Hutkrempe. Dafür ging ein anderer wie zufällig neben ihnen her. Die junge Dame bemerkte es und lachte leise auf. „Warum bringt man dich nicht mit einer ganzen Staffel des Sicherheitsdienstes an die Maschine heran, Roger?“ Roger Vanstatten verzog nur ironisch den Mund. Er sah sehr überlegen und selbstsicher aus dabei. „Laß ihnen doch das Vergnügen! Wahrscheinlich haben sie Angst, man entführt mich oder reißt mir die Mappe aus der Hand.“ Ihr Blick fiel auf die elegante Ledermappe, die Vanstatten lässig in der Hand hin und her pendeln ließ. Sie war mit drei silbernen Schlössern gesichert und barg gewiß Dokumente, die für das „Staatliche Atom-Territorium“ außerordentlich wichtig waren. Und damit sollte Vanstatten allein nach Europa fliegen? Noch dazu – aus welchem Grunde wohl – in einer regulären Verkehrsmaschine! Eine Unruhe wollte in ihr aufsteigen. „Was nützt es aber, wenn man dich nur hier draußen überwacht?“ Wieder sein überlegenes Lächeln. „Da kennst du aber das S.A.T. schlecht, Vera! Die werden mich keine Minute aus den Augen lassen, bis wir in Berlin landen.“ „Hoffentlich!“ seufzte sie und drückte zärtlich seinen Arm. „Ich habe immer Angst wenn du unterwegs bist. Schließlich bist du nicht irgendwer und …“ „Danke für das Kompliment“, unterbrach er sie etwas unwillig und winkte dem untersetzten, breitschultrigen Flugkapitän zu, der grüßend auf sie zutrat. „Hallo, Vanstatten – freut mich, Ihnen mal wieder vor meinem Schlitten die Hand schütteln zu können.“ „Hallo, Schmidt!“ erwiderte Vanstatten lässig und wandte sich der jungen Dame zu. „Darf ich bekanntmachen – Flugkapitän Schmidt – Miß Rohe.“ 6
Der Flugkapitän verneigte sich höflich. „Landsleute, gnädiges Fräulein?“ „Ich bin Deutsche“, nickte Vera und reichte ihm freundlich die Hand. „Leider kann ich Mister Vanstatten nicht begleiten, – ich würde Berlin furchtbar gern einmal wiedersehen.“ „Mister Vanstatten wird Ihnen sicher über alles Neue in unserer Hauptstadt berichten.“ „Wie bitte?“ Vanstatten beobachtete verstohlen einen hageren Mann im Staubmantel, der mit der betonten Noblesse des reichen Weltbummlers näherkam. Offenbar ein Südländer, ein dunkler Typ von untergründiger Geschmeidigkeit. Wenige Meter von ihnen entfernt blieb er stehen und sah auf seine Armbanduhr. Das war weiter nicht auffällig. Aber als er Vanstattens Blick spürte, wandte er sich schroff ab und ging zu der Maschine herüber, an die gerade die Treppen herangefahren wurden. Vanstatten lächelte. Vera wurde aufmerksam. „Kennst du ihn?“ fragte sie besorgt. „Ich glaube, er gehört zum Sicherheitsdienst.“ Kapitän Schmidt sah dem Dunklen nach, der gerade im vorderen Einstieg verschwand – er sah ihm nach und verabschiedete sich etwas abrupt. Auch Vanstatten mußte einsteigen. Mit seinen ruhigen, immer etwas lässigen Bewegungen ging er die breiten Stufen hinauf. Gleich darauf winkte er Vera durch ein Bullauge des vorderen Passagierraumes zu. „Ich werde Berlin von dir grüßen!“ Sie sah, wie er lachte, wie sich seine überheblichen Züge etwas auflockerten in dieser Minute. Sie wäre jetzt am liebsten bei ihm geblieben. Wieder war diese Unruhe da. „Komm gut zurück, Roger – hörst du?“ „Keine Angst, Darling – bye, bye!“ „Bitte zurücktreten!“ Vom Leitturm kam dreimal ein warnendes Summzeichen. Mit einigen Frauen, die ihre Männer zum Delta-Schiff gebracht 7
hatten, trat Vera Rohe hinter die Sperrlinie. Eine Fahne senkte sich. Die Startdüsen johlten auf. Schoben das riesige Flugschiff über die kilometerlange Rollbahn voran. Einhundert Passagiere winkten. Von Roger Vanstatten konnte sie nichts mehr erkennen. Aber Vera winkte zurück, bis das Schiff sich im glasigen Dunst, der über dem Flughafen lag, in den Himmel schwang. Einhundert Passagiere lehnten sich nun in ihre Märchensessel zurück und dachten an Europa, an deutsche Buchenwälder, an dänische Meeresküsten, an Mondscheinnächte in Italien. Old Europe, wir kommen! „Nun können wir wohl gehen“, sagte eine füllige Dame, die neben Vera gestanden hatte und sich die Augen rieb. Vera nickte. Über der weiten Anlage schien plötzlich eine stockende Stille zu lasten. Von dem Schiff war nichts mehr zu hören. Die Sonne schien hoch und fremd. In Gedanken versunken gingen sie denselben Weg zurück, den sie vor Minuten noch mit einem vertrauten Menschen gegangen waren. Es war wie immer in den Minuten nach einem Abschied. Still und fremd und bedrückend. Nur daß Vera dieses weiche Gefühl heftiger empfand als sonst. Bevor sie das Verwaltungsgebäude betraten, schaute sie noch einmal zurück in den gleißenden Himmel. Die „Rhein“ war verschwunden. „Komm gut zurück, Roger“, sagte sie leise und inbrünstig. Denn sie liebte ihn sehr, diesen klugen und lässigen Vanstatten. * „Wieder mal eine verdammt vornehme Gesellschaft an Bord“, meinte der Angestellte im Büro der „Deutschen LuftverkehrsUnion“ in Berlin-Tempelhof, als er die Liste durchgesehen hatte, die eben aus Orion-City eingegangen war. „Roger Vanstatten – berühmter Physiker, wie?“ 8
„Atommixer“, kaute sein Kollege mißmutig. Im Büroraum, der zu dieser Nachtstunde nur halb besetzt war, herrschte eine unlustige Stimmung die nicht nur von der drückenden Gewitterluft kommen konnte. Der wißbegierige Jüngling mit der Passagierliste kümmerte sich wenig darum. „Rita Marelli“, las er weiter. „Die Frau mit den schönsten Beinen des Jahrhunderts; die möchte ich mal im Faltboot haben. James Dick, Emporkömmling in Schweinefleischkonserven …“ „Nun gib doch endlich her!“ Der andere zog ihm die Liste weg und griff zum Locher. „Möchte wissen, was dich daran interessiert.“ „Der Mensch muß was für seine Bildung tun, Gustav“, grinste der Faltbootbesitzer friedfertig. „Es gibt schließlich Besseres auf der Welt als das 153. Berliner Sechs-Tage-Rennen.“ Gustav war eine Seele von Mensch, aber das machte ihn wild. Der Locher flog gegen einen Wandkalender. „Zum Teufel, willst du mich durch den Kakao ziehen? Drüben im Sportpalast ist heute die letzte Nacht und hier …“ „Hier sitzt du und langweilst dich, armer Berliner. Beschwer dich beim Alten, daß du ausgerechnet heute Nachtdienst hast.“ „Das ist doch gemein!“ „Uns geht es doch allen so“, seufzte die blonde Hilde neben dem Fenster und strich gedankenverloren über ihre Schreibmaschine. „Ob Rivoli und Mateck es schaffen?“ „Vor einer halben Stunde lagen sie in der Gesamtwertung noch an erster Stelle.“ „Wenn wir wenigstens einen Fernseher in der Bude hätten.“ Nachtdienst in Tempelhof. Draußen ging der Platzverkehr, der sich kaum noch von dem Tagesbetrieb unterschied, im gleißenden Schein der tiefstehenden mächtigen Lichtverteiler weiter. Die hier beschäftigt waren, dachten kaum an die rasende Jagd im neuen Sportpalast; und die Fans im Hauptbüro sollten 9
auch nicht mehr lange an die Favoritenmannschaft Rivoli/Mateck denken. Aus der späten Nachtstunde griff der Tod nach der „Deutschen Luftverkehrs-Union. Er griff nach ihrem Stolz – den großartigen Delta-Flugschiffen, die gelassen und majestätisch die Meere überquerten, und in denen man sich sonst sicherer fühlte als auf einem beschaulichen Pfingstausflug. Es war schon ein Schock erster Klasse, als um die fünfte Morgenstunde – der Himmel hatte sich etwas aufgeklärt, und die Vögel lärmten in der kleinen Parkanlage – der Zweite Direktor aus den Federn geholt wurde. Förster hieß er und war sonst der ruhigste Kerl unter der Sonne. Aber was er hörte, ließ ihn zu einem bleichen, schlotternden Nervenbündel werden. „Delta ‚Rhein’ gibt auf Leitroute, zwölf Meilen vor irischer Westküste, SOS-Rufe.“ Auf Leitroute. Das waren keine zwei Flugminuten vor der Donegal-Bucht. Förster lehnte an einem Bücherschrank und stierte benommen auf eine Landkarte. Seine Frau, bleich und verstört im Morgenrock, nahm ihm den Hörer aus der Hand und legte auf. Nach wenigen Sekunden mußte sie schon wieder abnehmen. „Leitzentrale! Soeben haben wir von der ‚Rhein’ folgende Sprechfunkdurchsage aufgenommen: ‚Das Schiff brennt!’“ Das war das letzte Lebenszeichen der „Rhein“. * Das Schiff konnte sich auch nicht mehr melden. Es stürzte im selben Augenblick wie ein rasendes, glühendes Meteor in die See, die schmutziggrau und träge gegen den Strand der Bucht spülte. Genau vier Minuten später gellten zwischen Bellmullet und Glencolumbkille die Alarmsirenen. 10
Ein Hubschrauber der irischen Marineluftwaffe hatte nur wenige Meilen südlich von der todgeweihten „Rhein“ gestanden. Die Mannschaft setzte eine Positionsmeldung ab und kreiste tief über der Absturzstelle. Der Gischt der aufgewühlten See spritzte den Männern um die Füße. Ein Gurgeln und Motorengedröhn war unter ihnen. Versank. Soff ab. Dann fielen die Wasserberge in sich zusammen. Als nach einer halben Stunde die ersten Bergungskommandos eintrafen, war diese schmutziggraue See glatt und träge wie zuvor. Keine Trümmer stiegen auf, keine Leichen, viel weniger Überlebende – nichts … Roger Vanstatten hatte Berlin nicht erreicht. Die alte Tante in Dänemark würde vergebens auf ihren langerwarteten amerikanischen Besuch warten. Und Flugkapitän Schmidt konnte nicht mehr mit seiner Frau und seinem Vierjährigen in die märkische Heide fahren. Die See war glatt und träge und tief. Die Regierung in Dublin tat alles, was im Augenblick getan werden konnte. Sie jagte leichte Seestreitkräfte zur DonegalBucht und setzte zwei Gruppen ihrer kleinen Luftwaffe ein. Sie hätte sich diese Mühe sparen können. *
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Hier gab es keine falschen Hoffnungen mehr. Von den Insassen der „Rhein“ konnte niemand mehr am Leben sein. Die Nachrichtenagenturen waren verantwortungsbewußt genug, diese harte Tatsache nicht zu verschleiern. Und auch Vera Rohe gab sich keinen Illusionen hin. „Komm gut zurück, Roger“, hatte sie noch vor wenigen Stunden gesagt. Nun war ihre mütterliche Wirtin gütig um sie besorgt und stand hinter dem Sessel, in dem das junge Mädchen regungslos saß. „Sie sollten doch etwas essen, Kind.“ Die gute Seele! Vera antwortete nicht.
„Vera, hören Sie mich?“ Eine breite, gute Hand tastete über ihre Schulter. Vera schüttelte den Kopf. Sie weinte nicht, aber ihr frisches Gesicht war starr. Sie rührte sich auch nicht, als neben ihr der Fernsprecher aufsummte. Die Wirtin nahm ab. „Das S.A.T.-Building“, sagte sie dann zu Vera und legte die Hand um die Muschel. „Generaldirektor Cunningham möchte Sie sprechen.“ „Fragen Sie, ob es wichtig ist.“ Die Wirtin schüttelte etwas verwundert den Kopf, tat ihr aber den Gefallen. Dann wandte sie sich wieder um. „Der Generaldirektor wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie kommen könnten.“ Vera hob ihr Gesicht, dieses regungslose, nichts begreifende. „Sagen Sie bitte, ich werde kommen.“ * „Das hätten Sie nicht tun sollen, Boß!“ Jim Parker, der eben erst von einer Inspektion der gigantischen Mondwerke „Luna IV“ zurückgekehrt war, sah mit ge12
runzelter Stirn zu, wie der allgewaltige Ted S. Cunningham mit einer gottergebenen Geste auflegte. „Die Nachricht wird sie schwer getroffen haben, und wir hätten uns auch in ihrer Wohnung mit ihr unterhalten können.“ „Es ist besser, sie kommt her“, winkte der Atomboß kurz ab und ließ sich ächzend in seinen Sessel fallen. „Hier geht es nicht um das Wehwehchen eines verliebten jungen Mädchens, sondern um die Sicherheit der Welt.“ „Seit wann sprechen Sie in Superlativen?“ Cunningham sah sehr düster aus, als er die Flasche mit dem berühmten dreisternigen „Old Chikagoer“ zur Hand nahm und die Gläser der beiden Freunde vollaufen ließ. Fritz Wernicke, klein und drahtig und sonst von einem unstillbaren Durst geplagt, der in einem bestimmten Verhältnis zum alkoholischen Gehalt der Getränke zu wachsen schien, griff heute erstaunlich langsam zu seinem Glas. „Wie konnte das nur geschehen?“ Jim Parker verstand, daß der Absturz eines der deutschen „Wunderschiffe“ – wie man die Maschinen der Delta-Klasse in der ganzen Welt nannte – dem Steuermann besonders naheging. „Wir werden erst Klarheit über die Ursachen erlangen, wenn wir das Wrack vor uns sehen, Fritz. Wenn es Ihnen recht ist, Boß, fliegen wir nachher rüber und sehen uns das Trauerspiel an.“ Cunningham atmete auf. „Bei euch ist ja eigentlich wieder ein Urlaub fällig, boys – aber wenn ihr euch anbietet, werde ich natürlich nicht nein sagen.“ Er ließ den klaren, farblosen Schnaps in seinem Glas kreiseln. „Ich bin sogar froh darüber – weiß Gott, das bin ich.“ „Was ist denn nun eigentlich mit Vanstatten? Ich weiß nur, daß er an Spezialaufträgen arbeitet und bin persönlich kaum mit ihm in Berührung gekommen.“ Fritz Wernicke hatte nun doch sein Glas geleert, und der A13
tomboß goß rasch wieder nach. Gedämpft drangen von draußen die frühabendlichen Geräusche der großen, schönen Stadt der Raketen und Raumschiffe herein. „Vanstatten ist – Verzeihung, er war natürlich – das größte Genie dieses Jahrzehnts; leider weiß er es selber, und es hat ihn ziemlich arrogant werden lassen..“ Überrascht sah der Kommodore auf. „Ernst?“ „Keine Superlative“, lächelte Cunningham bitter. „Vanstatten stand zwei Jahre In den Diensten des S.A.T. und galt als hervorragender Experte für kosmische Strahlungen. In Wirklichkeit war er mehr.“ „Nämlich?“ „Der größte Feuergeist seit Einstein“, sagte Cunningham nachdrücklich. „Er arbeitete an der Erforschung noch kaum bekannter Energien, deren Beherrschung uns ins Paradies führen wird – oder in die Hölle …“ Jim war sehr aufmerksam geworden. „Wer weiß davon?“ „Oberst Mortimer, Professor Valentin und meine Wenigkeit.“ „Sonst niemand?“ „Höchstens Miß Rohe, seine zukünftige Braut, – aber ob sie die Bedeutung seiner Arbeiten begriffen hat, bezweifle ich sehr.“ „Wer ist Miß Rohe?“ „Eine Deutsche. Seit drei Jahren in Orion-City. Von Beruf schlicht und einfach Leiterin unseres größten Kindergartens.“ „Eine nützliche Beschäftigung“, schmunzelte Jim und reichte seine „Maza-Blend“-Packung herum. „Setzen wir einmal voraus, sie weiß um die Bedeutung – würde das Ihrer Meinung nach neue Perspektiven eröffnen?“ Cunningham sah angestrengt auf seine Zigarette. „Sie meinen, was den Absturz des Delta-Schiffes anbelangt?“ „Mehr allgemein gesehen. Sie, Mortimer und Valentin sind 14
Männer, auf die Verlaß ist. Vanstatten selber dürfte für seine Arbeiten kaum große Propaganda gemacht haben, aber Miß Rohe stand ihm immerhin sehr nahe, und man weiß ja …“ „Sie denken also wirklich an einen Anschlag auf die ‚Rhein’?“ Jim grinste, als er den Dicken aufgeregt werden sah. Rasch ließ er sein Feuerzeug aufflammen und gab Cunningham Feuer. „Sie versteifen sich zu sehr auf eine Richtung, Boß. Gewiß haben wir uns seit Jahren mit Sabotagefällen herumärgern müssen, aber glauben Sie doch bitte nicht, daß man die ‚Rhein’ etwa Vanstattens wegen ins Meer gejagt hätte. Ein toter Vanstatten nützt niemand mehr etwas. No, Cunningham, mir liegt nur daran zu verhindern, daß irgendwelche Kreise durch Miß Rohe mehr erfahren, als uns lieb sein kann.“ „Wir werden sie hoffentlich gleich fragen können.“ Vera Rohe gab ihnen schon nach wenigen Minuten dazu Gelegenheit. Sie mußte unterwegs mindestens drei Schutzengel gehabt haben; denn ihr Gesicht war immer noch von einer erschütternden Abwesenheit gezeichnet, und sie wußte kaum, wie sie hergekommen war. Oberst Mortimer vom Sicherheitsdienst, der mit ihr das große Arbeitszimmer betrat, war denn auch sehr behutsam zu ihr. „Vielleicht brauchen wir Miß Rohe nicht lange aufzuhalten“, bat er den Atomboß. Doch Cunningham begriff schon von sich aus, wie es um Vera stand. Er sprang auf und sagte väterlich und unbeholfen: „Kind – Kind – was machen die Menschen doch wieder für Geschichten – ahem, das kann man wohl sagen!“ Und mit einer rudernden Handbewegung: „Das sind Kommodore Parker und Mister Wernicke, ein Landsmann von Ihnen.“ Vera sah zwei abgrundtiefe, gütige Augen auf sich gerichtet. „Miß Rohe, es tut mir sehr leid, daß wir Sie noch quälen müssen, aber vielleicht können Sie uns helfen …“ 15
„Wie sieht es an der Absturzstelle aus?“ fragte sie leise und stockend. „Wir müssen erst weitere Berichte aus Irland abwarten“, erwiderte Jim vorsichtig und wies auf einen Sessel. Die Männer versuchten, zuversichtliche Gesichter zu machen, aber es gelang ihnen schlecht. Wernicke überlegte, ob das junge Mädchen, das ihm schrecklich leid tat, einen anständigen Schluck vertragen könnte. Jim Parker zündete sich wieder eine Zigarette an und blieb neben Vera stehen. „Ich will ganz offen sein, Riß Rohe – wir brauchen möglichst genaue Angaben über Vanstattens Verhalten in den letzten Stunden der ‚Rhein’. Von Bord des Schiffes liegen keine Berichte vor. Ich möchte aber zunächst gern wissen, in welchem Passagierraum Vanstatten Platz nahm.“ „Im vorderen Passagierraum.“ „Steuerbord oder backbord?“ „Auf der rechten Seite.“ „Also steuerbord!“ Der Kommodore zog einen Block aus der Tasche und machte sich Notizen. Vera nickte dankend, als Cunningham ihr eine kleine Erfrischung bringen ließ, und sah mit großen Augen zu Jim Parker auf. „Mir ist vor dem Start ein Mann aufgefallen, der angeblich zum Sicherheitsdienst gehören sollte …“ * Zwanzig Minuten später nahm ein höherer Offizier der Weltpolizei eine verschlüsselte Depesche entgegen. Er stand mit einem bulligen Leutnant an der Reling eines irischen Zerstörers. „SATS durch WPoATU. Vanstatten bei Start vorderer Passagierraum, steuerbord, fünfte Sesselreihe. Ledermappe sicherstellen. Dann Übergabe an S.A.T.-Beauftragte. Mortimer. Hunsaker.“ 16
„Sicherstellen!“ kaute der Offizier – es war ein Major – breit, schob die Mütze in den Nacken und sah hinaus auf die diesige See, die kabbeliger war, als in der Stunde des Absturzes. „Sicherstellen – nett, Perkins.“ Leutnant Perkins stemmte sich breit auf. Er hatte damit gerechnet, daß er noch runter mußte in den nassen Abgrund, der die „Rhein“ verschlungen hatte. Aber er war weit davon entfernt, sich darüber zu freuen. „Als ob es ein Spaziergang wäre, verdammt nochmal.“ „Versuchen müssen wir es, wenn sie ran sind an den Kasten.“ „Sieht nicht danach aus, daß es bald sein wird, Major.“ Perkins wies auf die Silhouetten der Kriegsschiffe, Tauchfahrzeuge und Hubschrauber, die sich gespenstisch vor dem verregneten Horizont bewegten. Eine schweigende Armada über dem Abgrund des Grauens. Mit Helfenden und Neugierigen an Bord. Seit Stunden lief die große Bergungsaktion. Denen dort unten war es allerdings gleichgültig – die waren still und anspruchslos geworden … „Ein Höhenruder hat man bis jetzt aufgefischt – und einen Koffer mit Damenwäsche – ausgerechnet …“ „Sparen Sie sich Ihre faulen Witze, Perkins“, knurrte der Major unfreundlich und reichte dem Leutnant Depesche und Chiffrezettel, auf dem er eben die Mitteilung entschlüsselt hatte. „Sagen Sie mir lieber, ob Ihnen die komische Figur schon einmal über den Weg gelaufen ist, die drüben am Niedergang steht.“ Leutnant Perkins hatte die sonderbare Erscheinung schon gesehen. Ein junger Mann, der auf ein Kriegsschiff paßte, wie die Faust aufs Auge. Rothaarig, lang aufgeschossen, unsagbar dünn und mit den salbungsvollen Gebärden eines leicht geknickten Friedensapostels. Die Matrosen, die er mit einer Unterhaltung beglückte, grinsten nicht schlecht Aber warum er wohl so verstohlen herüberschielte? 17
„Der schnüffelt hier herum!“ „Wahrscheinlich von der Presse.“ „Glaube ich nicht.“ Der WP-Leutnant wollte sich mit einem Schwung umdrehen, doch sein Vorgesetzter hielt ihn zurück. „Lassen Sie – er kommt schon von allein.“ „Tatsächlich – doch ein Zeitungsspinner!“ Dem Leutnant war der ganze Haufen von Journalisten schon lange aufs Gemüt geschlagen, die das Deck des Zerstörers bevölkerten und sich mit aufgestellten Mantelkragen und umgehängten Marinegläsern verdammt wichtig vorkamen. Ihre Kollegen von Wochenschau und Rundfunk hatten es besser – die saßen in einem Hubschrauber und waren bereits mittendrin. Durch diesen Haufen schob sich nun der Rothaarige heran. Doch bevor er die beiden Offiziere erreicht hatte, geschah etwas, das alle aufschreien ließ. Drüben auf dem Boot des Bergungsschiffes gingen zwei Signalflaggen hoch. Die „Rhein“ war gefunden! „Schon?“ schnappte der Leutnant nach Luft und warf seine Zigarette weg. „Sollten die wirklich …?“ „Kommen Sie!“ Sie schoben mit energischen Bewegungen die nachdrängende Pressemeute zurück, rannten die Reling entlang bis zu einer Jakobsleiter, die in eine leicht dümpelnde Barkasse hing. An den Rothaarigen dachten sie nicht mehr. Die „Rhein“ war gefunden! Die beiden sahen dem Bootsführer über die Schulter. Feiner Regen, der vom Meer in die Bucht wehte, stäubte ihre Gesichter. Immer deutlicher schoben sich die Aufbauten mit der Kommandobrücke heran, auf der ein Signalgast stand und ihnen Zeichen gab. Der Bootsführer fuhr backbord an dem Tauchboot vorbei. Hinter dem Boot tauchten wiederum drei Barkassen auf, die einen weiten Kreis über das Meer fuhren und Bojen legten. „Also hier!“ sagte der Major still und erschüttert. 18
Wenige Minuten später standen sie dem Verantwortlichen, einem riesenhaften Fregattenkapitän der irischen Flotte, gegenüber, der ein Mikrophon vor dem Mund hielt und Anweisungen nach unten gab. Als er die WP-Offiziere erkannte, nickte er kurz. „Freut mich, Gentlemen! Haben Sie Sonderwünsche?“ „Dies ist Leutnant Perkins“, stellte der Major vor. „Ich lege Wert darauf, daß er Gelegenheit bekommt, mit nach unten zu gehen.“ „Taucher?“ „Alle Prüfungen“, grinste Perkins freundlich und stellte eben bei sich fest, daß er vorhin in der Aufregung seinen Chiffrezettel mit der Zigarette ins Meer geworfen hatte. Aber das war wohl weiter nicht schlimm. Der Fregattenkapitän winkte ihn heran. „Melden Sie sich beim T-Führer und lassen Sie sich einen Anzug geben.“ „Okay, Sir!“ * Der gute Perkins irrte sich. Als die Signalflaggen hochgingen, hatte er wohl den an sich wertlosen Chiffrezettel mit der Zigarette über Bord geworfen. Der Glimmstengel hatte in einer aufschießenden Woge sein Leben ausgehaucht – der Zettel war nur bis zur Reling gekommen. Das war Perkins Pech; denn es sollte ihm einen scheußlichen Anpfiff bescheren. Der Zettel wurde vom Wind gegen das Gestänge geklebt. Alles reckte sich die Hälse nach neuen Signalen vom Boot des Bergungschefs aus. Nur der Rothaarige bemerkte den Zettel. Blitzschnell bückte er sich danach. Als er sich wieder aufrichtete, legte ihm jedoch ein blutjunger Fähnrich die Hand auf die Schulter. „Hallo, Mister, – hatten das nicht eben die WP-Offiziere verloren?“ 19
„WP-Offiziere?“ Der Rothaarige sah rührend naiv aus, wie er mit weitaufgerissenen Kinderaugen den Fähnrich anstarrte – aber seine Hände arbeiteten raffiniert und unauffällig. Er hob den Zettel und hielt ihn hin. „War mir nur runtergefallen, Sir – der Lieblingsspruch meiner Großmutter.“ „Zeigen Sie mal her!“ „Aber beschädigen Sie das teure Andenken nicht, Herr Admiral!“ Mit schäumender Bugwelle rauschte der Zerstörer auf die Unfallstelle zu. Von den Presseleuten achtete kaum einer auf den Zwischenfall. Und der Fähnrich fühlte sich leicht auf den Arm genommen, als er las: „Denn des Menschen Weg wird in die Glückseligkeit führen, wenn er sich ein keusches Herz bewahrt.“ „Auch Ihr Lieblingsspruch?“ grinste er dann. „Gewiß, Sir! Ich bin doch Mitarbeiter des offiziellen Organs der ‚Fröhlichen Verkünder’. Dürfte ich bitten?“ „Fahren Sie hin mit keuschem Herzen!“ Der Rothaarige entfernte sich schleunigst. Auch er grinste und sah gar nicht mehr naiv und weltfremd aus. Er mußte ein guter Schauspieler sein. Mit seinen schlaksigen, unfertigen Bewegungen betrat er die Offiziersmesse, in der ein Fernseher vor fast leeren Sesseln eine Übertragung aus Europa zeigte. „Das Delta-Schiff ‚Nil’“, sagte der dicke Zahlmeister, der interessiert an einem Tisch lehnte und mit dem Pfeifenstiel auf den Bildschirm tippte, über den eines der deutschen Flugschiffe schön und sicher dahinzog. „Steht augenblicklich über dem Mittelmeer mit Kurs auf Rom.“ „Also nur ein fahrplanmäßiges Schiff?“ wunderte sich der Rothaarige. „Warum zeigt man denn so etwas Alltägliches?“ „Na, denken Sie doch nur an den Kasten, der tief unter uns liegt. Vielleicht befürchtet man, daß die ‚Nil’ auch abstürzen könnte.“ „Machen Sie keine Witze!“ 20
„Solche Serienabstürze sind schon dagewesen“, brummte der Zahlmeister und tippte wieder auf das Bild. „Hübscher Vogel, wie?“ „Gewiß – gewiß …“ Dem Rothaarigen schien plötzlich etwas in der Kehle zu würgen. Er warf noch einen Blick auf das dahinziehende Schiff, nickte und ging weiter. Während er einen Gang entlangschlenderte, studierte er aufmerksam den gefundenen Chiffrezettel. Sehr aufmerksam, Wort für Wort, und er blieb auch einmal stehen und überlegte. Dann trat er in die enge Funkkammer, die heute mit doppelter Bedienung besetzt war. Wenn erst einmal über das Wrack der „Rhein“ Näheres bekannt war, würde es hier einen kleinen Massenansturm geben. Noch aber war alles ruhig. Zwei der Funker standen an den Bullaugen und sahen neugierig hinaus. „Ich möchte eine Depesche nach den USA. aufgeben“, sagte der Rothaarige in seinem alten, sanften Ton. „Nach Orion-City, bitte.“ Der Junge mußte gute Nerven haben. Der Zerstörer hatte nun die Bogensperre erreicht. Die Maschinentelegrafen spielten. Tief unter ihnen kämpften sich todesmutige Taucher an den Sarg des unheimlichen Schweigens heran. Bald darauf kamen die ersten Einzelheiten: Die „Rhein“ hatte sich mit dem rechten Deltaflügel in den Meeresgrund gebohrt, war dann noch übergekippt und mußte sich langsam und schwerfällig niedergelegt haben. Aus irgendeinem Grunde war das Fahrgestell ausgefahren. Unheimlich und gespenstisch ragte es durch das Wasser. * „Wir müssen abwarten, Miß Rohe.“ „Mit dem Fahrgestell nach oben“, hatte die Weltpolizei eben 21
von der irischen Westküste aus durchgegeben. Vera Rohe wurde von einem unnennbaren Grauen geschüttelt. Wie das wohl gewesen war, als die See mit ihren schäumenden Fangarmen das Schiff in ihren Schoß gezwungen hatte? Das Schiff und hundertdreißig Menschen? Darunter Frauen und Kinder. Wie das wohl gewesen war? Hundertdreißig Menschengesichter in den Sekunden, da aus dem Schock des ersten Erstaunens die würgende Ahnung des nahenden Endes erwuchs? Und unter ihnen Roger Vanstatten! „Sie dürfen nicht grübeln, kleines Mädchen!“ Vera sah zu Jim Parker auf, der den Generaldirektor und Oberst Mortimer in den kleinen Konferenzsaal begleitet hatte, wo bereits eine erste Beratung der S.A.T.-Spitzen über die durch den wahrscheinlichen Tod Vanstattens entstandene Lage stattfand. Er trug seine Reisekombination und wollte nachher mit Wernicke nach Europa fliegen. Das junge Mädchen hatte Zutrauen zu den beiden Freunden gefaßt. Aber sie war nun müde – sehr müde. „Würden Sie mich gleich nach Hause fahren, Kommodore?“ bat sie leise. „Wir müssen doch zum Flugplatz und nehmen Sie dann mit. Ihr Wagen kann hier übernachten.“ Jim nickte ihr freundlich zu und überlegte, was er tun könnte, um sie vor unliebsamen Überraschungen zu schützen. Wahrscheinlich waren solche Maßnahmen überflüssig, aber es war immer gut, auch das Ausgefallenste mit einzukalkulieren. Er trat noch einmal an den Schreibtisch, um mit dem zuständigen Beamten im Polizeipräsidium zu sprechen, als es plötzlich vor ihm aufsummte. Schon wieder eine Meldung aus Irland? Er hob ab. „Walkins“, meldete sich eine dürre, langweilige Stimme „Es liegt ein weiterer Bericht von der Donegal-Bucht vor.“ „Und?“ Jim Parker legte die Hand so um den Hörer, daß Vera, die einige Meter von ihm saß und sich gerade von Wernicke eine Zigarette geben ließ, nichts verstehen konnte. 22
„Man hat den vorderen Passagierraum durchsucht.“ „Und?“ „Vanstatten hat man nicht gefunden.“ „Das bedeutet noch nicht viel – vielleicht saß er gerade in der Bar oder befand sich im Rauchsalon.“ „Möglich, Kommodore. Es wird Sie aber interessieren, daß der Kasten vollgelaufen ist. Der vordere Steuerbordeinstieg muß beim Absturz offengestanden haben. Angeblich sollen Spuren auf ein Handgemenge hinweisen.“ „Auf ein Handgemenge während des Absturzes?“ „Kaum, da die ‚Rhein’ in wenigen Sekunden herabsauste, und alles ganz überraschend kam. Wohl hat es im Führerraum noch gebrannt, aber davon dürften die Passagiere nicht mehr viel gemerkt haben.“ „Danke. Lassen Sie die Suchaktion fortsetzen.“ „Okay, Kommodore!“ „In einigen Stunden sind wir drüben.“ Jim hatte leise gesprochen, und Vera wurde von Wernicke in einem Gespräch festgehalten. Jim legte auf, telefonierte dann noch mit dem Polizeipräsidium und wandte sich den beiden zu. „Die Untersuchung der ‚Rhein’ hat noch nicht begonnen. 23
Wernicke und ich fliegen gleich rüber und wollen uns einmal umsehen. Zunächst wollen wir Sie gesund bei Ihrer Wirtin abliefern, Miß Rohe.“ Vera fuhr mit den beiden Männern im Lift nach unten, und gleich darauf saßen sie in Jims berühmtem „Grün-Weißen“. Wernicke steuerte den Sportflitzer durch die Nacht, die von den tausendfachen Lichtern der niemals schlafenden Atomstadt gegen den Himmel zurückgeworfen wurde. Vera schloß erschöpft die Augen. „Ich weiß, man soll sich keinen Illusionen hingeben“, sagte sie still und fuhr mit der Hand über das Wagenfutter, „aber gestern abend waren wir beide noch zusammen, und es ist so schwer …“ „Wenn ich Ihnen noch helfen könnte, wäre ich der glücklichste Mensch von der Welt – Ihnen, Vanstatten und den armen Teufeln von der Donegal-Bucht.“ Jims Feuerzeug flammte auf. Sie bogen in die stille Mountain Street, die Straße der Bibliotheken und Schulen, die hinausführte aus dem Stadtkern. Es war warm, der Himmel von lichten Schleiern überzogen. Irgendwo spielte einer auf dem Akkordeon. Vera konnte die weiche, sehnsüchtige Melodie nicht hören und sprach rasch weiter. „Das ist der erste Absturz einer Verkehrsmaschine seit acht Jahren, Kommodore. Wie konnte es nur geschehen?“ „Technische Katastrophen werden sich nie ganz ausschließen lassen. Aus den Ursachen kann man nur Lehren ziehen. Das nützt natürlich den unglücklichen Opfern nichts mehr.“ „Nein“, sagte sie bitter, „denen nützt es nichts mehr.“ Der Kommodore beobachtete unauffällig das schöne Mädchengesicht. Vera stand noch ganz unter dem Eindruck des furchtbaren Geschehens, und es wäre sinnlos gewesen, sie jetzt noch weiter mit Fragen zu quälen. Hoffentlich würde sie in den nächsten Stunden etwas Ruhe finden. 24
„Es ist gut für Sie, daß sie jetzt Ihre Wirtin um sich haben.“ „Sie wird mich keine Minute allein lassen“, nickte Vera und mußte unwillkürlich lächeln dabei. „Ich würde so gern noch Vanstattens Bücher ordnen, aber dazu wird es nicht kommen.“ Plötzlich richtete sie sich etwas auf und spähte angestrengt nach vorn. „Kommodore, warum fahren uns die beiden Polizeiwagen immer voraus?“ Jim biß ärgerlich die Zähne zusammen. Das hätte sie gar nicht merken sollen! Er kam jedoch um eine Antwort, denn als sie in die langweilige Nebenstraße einfuhren, in der Vera wohnte, sahen sie zwei Angehörige der städtischen Polizei einen jungen Mann abführen und auf ihn einreden. Wernicke bremste. „Hallo, boys – wen habt ihr denn da eingefangen?“ Der Unbekannte war sehr aufgebracht. Er wandte sich schroff um und trat an den Wagen. Vera erkannte ein gutgeschnittenes, sehr männliches Gesicht, das im Augenblick aber sehr bleich und erregt war. „Die Polizei von Orion-City überschreitet ihre Befugnisse“, sagte der Mann entrüstet. „Ich kam zufällig hier vorbei …“ „Natürlich kamen Sie zufällig hier vorbei“, unterbrach ihn einer der Polizisten grinsend. „Nur flanierten Sie bereits seit über einer halben Stunde vor Miß Rohes Wohnung auf und ab.“ Vera wurde verlegen. Das Gefühl einer unbestimmten Angst überkam sie. Dabei sah der Junge gar nicht einmal schlecht aus. „Sie wollten zu mir?“ fragte sie unsicher. „Sie sind Miß Rohe?“ kam prompt die Gegenfrage. Ihre Blicke ruhten ineinander. Sekundenlang. Ein großes Erstaunen und gegenseitiges Abtasten war in ihnen. Dann wandte Vera sich mit betonter Kühle ab. Jim hatte den aufmerksamen Zuschauer gespielt. Ein ironisches Lächeln lag um seinen Mund. „Der Name Miß Rohes scheint Ihnen doch etwas zu sagen?“ meinte er, und in seiner Stimme schwang eine Schärfe, die den anderen zusammenzucken ließ. 25
„Ach wo – nur, weil der Name hier fiel“. „Wäre es sehr unhöflich, um Ihren Namen zu bitten?“ „Ich weiß zwar nicht, ob Sie ein Recht dazu haben“, reckte sich der Unbekannte, der einen sportlich geschnittenen, aber irgendwie unamerikanischen Straßenanzug trug. „Doch ich habe keinen Grund, meinen Namen zu verheimlichen. Ich heiße Klaus Ellenberg, bin Deutscher und Elektroingenieur.“ „Sie sind fremd in der City?“ Einen Augenblick zögerte Ellenberg, aber er wich dem festen Blick des Kommodore nicht aus. Dann antwortete er: „Ich bin nur zu Privatstudien hier und habe mich ordnungsmäßig auf der Stadtverwaltung angemeldet.“ „Hm!“ Der Deutsche wirkte nicht übel, doch er verbarg etwas. Jim winkte einen der Polizisten heran. „Laßt den Herrn laufen.“ Vera sah dem Fremden nach, der angab, ihr Landsmann zu sein und nun sehr einsam, die Hände in den Hosentaschen, in der dunklen Straße untertauchte. Als sie dann ihre Wirtin begrüßte, wußte die gute Seele sich vor Aufregung nicht zu fassen. „Wir werden überwacht, Kind“, schnappte sie empört und rieb sich die stabilen Unterarme. „Na, wenn ich den jungen Mann mal erwische! Über eine halbe Stunde und noch länger trieb er sich drüben zwischen den Bäumen herum. Zwei Polizisten haben ihn abgeführt – denken Sie nur …“ Vera ging in ihr gemütliches Wohnzimmer und knipste die große Lampe über dem Bücherschrank an. Wer mochte dieser Fremde sein? Klaus Ellenberg nannte er sich, und er konnte – seiner ganzen Erscheinung nach – ein Deutscher sein. Aber irgend etwas stimmte nicht mit ihm. Sie trat an das Fenster, zog die Vorhänge zu, und als sie dabei noch einmal auf die nachtdunkle Einsamkeit ihrer abgelegenen Straße sah, erfaßte sie ein Gedanke, der ihr das Blut ins Gesicht jagte: Ob er etwa ein Feind Vanstattens war? 26
Vanstatten hatte viele Feinde. Er hatte ihr einmal etwas erzählt, was nur er allein wußte. Vera zwang sich, ihre Wirtin nichts merken zu lassen. Sie gab auf die ganze Aufregung nur gleichgültige Antworten. Als die Frau enttäuscht gegangen war, riß sie jedoch eine Schranktür auf und holte ein kleines Buch hervor. und steckte es in die Tasche ihres Kostümrocks. Es war besser, sie trug es bei sich. * „Die ‚Nil’ wird in sechs Minuten in Rom landen.“ Direktor Förster von der „Deutschen Luftverkehrs-Union“ ging in seinem Arbeitszimmer auf und ab. Die Tür zur sogenannten „Leitzentrale“, die mit zu seinem Ressort gehörte, stand offen. Mit tief gebeugten Oberkörpern saßen die Spezialisten und lotsten das Delta-Schiff auf die Mittelmeerküste zu. Förster wünschte, daß diese Minuten nur noch Bruchteile von Sekunden wären. Pressechef Detlefsen, der neben dem Schreibtisch saß, schnaufte mißbilligend. „Wenn man sie so sieht, Förster, könnte man das Publikum warnen, sich noch weiterhin der ‚Union’ anzuvertrauen.“ Förster blieb stehen und fuhr sich mit der Hand über das graue, eingefallene Gesicht. „So schlimm?“ murmelte er verstört. „Aber es wird immer schlimmer mit mir. Ich bin erst ruhig, wenn unsere großen Vögel festen Grund unter sich haben. Wer weiß, was uns noch bevorsteht.“ „Leiden Sie an Ahnungen?“ „Sonst nicht – aber mir ist wirklich nicht gut.“ „Malen Sie den Teufel nur nicht an die Wand!“ Dem Pressechef langte es. Er war gekommen, um sich mit dem Zweiten Direktor zu beraten, bevor er in der Pressekonferenz der mäuseohrigen Meute gegenüberstehen würde. Aber Förster war mit 27
den Nerven fertig. Der Mann war nur noch fähig, auf die Flugpläne zu sehen, die er in der zitternden Hand hielt. Nein, dem Pressechef langte es wirklich. Mit einer wütenden Bewegung schob er seine Papiere in die Mappe und knallte sie zu. Der Stuhl rutschte zurück. „Ich darf mich wohl verabschieden?“ „Bleiben Sie, Detlefsen!“ Der Zweite Direktor riß sich zusammen, als er sah, daß der Pressechef verächtlich an ihm vorbeigehen wollte. Mit erhobener Hand trat er ihm entgegen. „Sie wissen noch nicht alles!“ Pressechef Detlefsen atmete auf. Endlich kam der gute Förster zu sich. „Sie machen mich neugierig – hoffentlich ist es etwas, was man der Öffentlichkeit als Beruhigungsmittel vorsetzen kann.“ „Wie man es nimmt.“ Förster rollte nervös den buntbebilderten Flugplan mit beiden Händen zusammen und sah mißtrauisch durch die zurückgeschobene Glastür in die „Leitzentrale“, aus der eintöniges Ticken und die üblichen Distanzangaben halblaut erklangen. „Sie wissen doch, daß die ‚Rhein’ den Amerikaner Vanstatten an Bord hatte?“ „Vanstatten? Atomphysiker! Gewiß, gewiß, Förster – und …?“ „Man durchsucht die Maschine nach ihm.“ Der Pressechef zog die Augenbrauen hoch, was ihm ein sehr kühles, erstauntes Aussehen gab. „Sie sagen das – hm – so eigenartig?“ „Bis jetzt hat man ihn noch nicht gefunden.“ „Er muß sich doch unter den Toten befinden.“ „Detlefsen!“ sagte der Zweite Direktor ganz leise und trat noch dichter an ihn heran. „Es hat sich jetzt herausgestellt, daß zwei Passagiere fehlen. Taucher der Weltpolizei kämmen das Wrack regelrecht durch. Jim Parker vom amerikanischen S.A.T. soll bereits unterwegs sein. Es fehlt nur noch, daß man unsere arme ‚Rhein’ beschlagnahmt. Ich werde …“ 28
In diesem Augenblick griff der Tod zum zweitenmal nach der „Deutschen Luftverkehrs-Union“ – oder schon Bruchteile einer Sekunde früher. Jedenfalls unterbrach sich Förster, als sein Blick auf die Glastür zur „Leitzentrale“ fiel – er unterbrach sich und erstarrte. In der Tür lehnte einer der Radarleute und konnte sich kaum noch aufrecht halten. „Die ‚Nil’“, ächzte er mit weinender Stimme. „Die ‚Nil’ stürzt ab!“ * Drei Meilen nördlich von Porto d’Anzio schlug es ein. Noch grauenvoller als beim Absturz vor der Donegal-Bucht war es diesmal. Das Meer, das wenigstens noch die Würde der Todgeweihten achtete und sie nicht zerfetzte, lag schon hinter dem Delta-Schiff. So lange hatte es sich noch gehalten mit brennenden Motoren und versengender Glut im Führerraum. Dann war es plötzlich aus. Ein glühendes Phantom fuhr am Himmel eines kleinen Dorfes auf, in dem gerade die Glocken geläutet wurden. Die Menschen sprangen auf von ihrer Arbeit, duckten sich, schrien nach ihren Heiligen und rasten kopflos über die armselige, zerbröckelte Straße. Aber diese unheimlich knisternde Glut der tausend Teufel breitete sich über den ganzen Himmel aus und fiel auf sie herab. In einem Bersten, das viele Kilometer weit durch den Boden lief und noch von fernen Erdbebenwarten registriert wurde, ging alles unter. Die „Nil“ und das Dorf und die schreienden Menschen. Der Feuerstrahl war so gewaltig, daß man in der „Earth Observation“ der Außenstation „Luna nova“ seine Grelle wahrnehmen konnte. 1700 Kilometer über der Erdoberfläche! Hier saßen die Beobachter vor der Zweistocktafel und hatten den 29
Flug des Delta-Schiffes von Nordafrika bis zur nördlichen Mittelmeerküste verfolgt. Mit eiskalter Beherrschung bemühten sie sich, vom Absturz festzuhalten, was man von hier aus beobachten konnte. „Laß den Streifen schleunigst zur ‚WP London’ transportieren!“ „Es riecht nach Sabotage, wie?“ „Es stinkt schon, mein Lieber!“ So endete die „Nil“. Nun hatte die „Deutsche LuftverkehrsUnion“ nur noch zwei Delta-Schiffe auf ihren Strecken fliegen. Die „Ganges“ auf der Asien-Strecke. Die „Amazonas“ zwischen Südamerika und Europa. Aber wie lange noch? * „… nachdem damit innerhalb von 24 Stunden auch ein zweites Flugschiff der Delta-Klasse abgestürzt ist, rechnet man in Fachkreisen ernsthaft mit der Möglichkeit von Sabotageakten. In einer ersten Stellungnahme betont die ‚Deutsche Luftverkehrs-Union’, daß die Ursachen dieser Abstürze keinesfalls auf technische Mängel zurückzuführen seien, da alle Maschinen dieses Unternehmens laufend überprüft würden. Trotzdem hat das ‚Internationale Luftamt’ in Genf eine genaue Untersuchung angeordnet und erwägt, über die Schiffe dieser Klasse eine Sperre zu verhängen …“ Vera Rohe schaltete den Empfänger ab. Die Stille der mitternächtlichen Stunde fiel wieder über das kleine Wohnzimmer her. Das Gesicht von Veras Wirtin schien aus dem Dunkel wie ein rötlicher Vollmond herüber, der eifrig geschüttelt wurde. „Wie ist es furchtbar, Kind – wie ist es doch furchtbar!“ „Ich verstehe das nicht“, sagte Vera leise und hockte sich auf eine Sessellehne. „Wie lange ist es doch schon her, daß …“ 30
„Herrgott!!“ Vera war schon wieder hoch. An der Wohnungstür hatte es geläutet. Kurz und beinahe zaghaft. Mit wenigen Schritten war Vera am Bücherschrank und wollte die Lampe einschalten, doch die alte Frau hielt ihre Hand fest. „Nicht, Kind“, flüsterte sie ruhig. „Nicht! Ich habe mal gelesen, bei solchen Gelegenheiten solle man kein Licht machen.“ „Aber – das ist doch alles Unsinn!“ „Wir werden beobachtet, Kind – denken Sie doch an den jungen Mann, den die Polizei abführte!“ Vera dachte noch an ihn. Sie sah diesen jungen Landsmann noch vor sich, wie er sich entrüstet gegen die Polizisten wehrte. Aber ganz aufrichtig war er nicht gewesen, und vielleicht war es gut möglich, daß er sich hier noch herumtrieb. Wieder klingelte es. Kurz und zaghaft. Gewaltsam schüttelte Vera eine jähe Angst von sich ab. „Was kann es schon sein, Mrs. Miller. Wir leben doch in einer modernen, geordneten Stadt …“ Doch die treue Seele Mrs. Miller schob das junge Mädchen mit der ihr eigenen Energie zurück. „Lassen Sie nur – ich sehe schon nach.“ Vera hörte, wie sie – ohne Licht anzuknipsen – über den Flur zur Wohnungstür ging und diese öffnete. Eine leise Männerstimme. Dann Mrs. Miller – – sehr laut und entrüstet und sich die späte Störung verbittend. Auch etwas von Polizei und Abführenlassen war in ihren Worten. Dann wurde die Tür zugeknallt. Gleich darauf leuchtete der rötliche Vollmond wieder im Zimmer auf. „Halten Sie sich fest, Vera – das war er wieder!“ Veras Herz raste in einer furchtbaren Erregung auf. „Ellenberg?“ fragte sie unwillkürlich Mrs. Miller marschierte entschlossen auf den Fernsprecher zu und wählte eine Nummer. „Weiß nicht, wie er heißt, aber jedenfalls der Fremde, dieser Strolch, der ehrbare Bürger vor ihren Wohnungen belauert. Das 31
muß gemeldet werden. Er wollte Sie sprechen – in einer wichtigen Angelegenheit! Ist dort das Polizeipräsidium – hallo …?“ Das junge Mädchen stand regungslos und ließ Mr. Miller gewähren, die in wenigen Minuten das halbe Präsidium in Aufruhr brachte und sich dann triumphierend umdrehte. „Gehen Sie ruhig schlafen, Kind! Der Herr Polizeipräsident hat mir persönlich eine verstärkte Kontrolle versprochen. Wenn dieser Zigeuner sich noch einmal sehen läßt, geht er hoch. Legen Sie sich jetzt hin!“ Es war gut, daß sie diese energiegeladene Frau um sich hatte. Vera war willenlos. Die letzten Stunden hatten den Ablauf ihres Lebens mit all seinen Hoffnungen, mit der Liebe zu Roger Vanstatten und der Verzauberung ihres Herzens erbarmungslos unterbrochen. Nichts als eine kalte Leere war zurückgeblieben, und eine unendliche Müdigkeit. Während sie einzuschlafen versuchte, tauchte der junge Deutsche wieder in ihren Grübeleien auf. Sie zwang sich aber, nicht weiter an ihn zu denken. Gegen vier Uhr morgens peitschten vor dem Hause Revolverschüsse. Als die beiden Frauen verstört auf den Flur stürzten, wobei Mrs. Miller alle angelesenen Ratschläge für solche Fälle außer Acht ließ, meldete sich schon ein Polizeibeamter. „Es tut mir leid, daß wir die Damen so erschrecken mußten“, verneigte er sich höflich, „aber man versuchte, in die Wohnung einzudringen. Leider mußten wir schießen.“ „Haben Sie den Strolch?“ schnappte Mrs. Miller aufgebracht. „Zeigen Sie ihn mal her!“ Sie ließ ihre kräftigen Arme spielen und war furchtbar enttäuscht, als der lächelnde Beamte den Übeltäter hereinführte. Es war nicht Ellenberg. Unwillkürlich atmete Vera auf. *
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Jim Parker und Fritz Wernicke erfuhren von diesem nächtlichen Überfall, als sie an der westirischen Küste bei Donegal gelandet waren. Die Stille eines großen Erschauerns lag über dem Ort. Mächtige Bergungsfahrzeuge hatten inzwischen die „Rhein“ herangezogen, und nun lag das einst so stolze Flugschiff als unförmiger, zerdrückter Klumpen im flachen Wasser und hob sich unheimlich von dem Abendhimmel ab, der sich weit draußen fahl ins Meer senkte. Sie sahen es von ihrer Maschine aus, aber Wernickes Gedanken waren bei Vera Rohe. „So etwas kann natürlich nur geschehen, wenn wir den Rücken gekehrt haben“, entrüstete er sich. „Dabei machte dieser Ellenberg doch keinen schlechten Eindruck!“ Jim setzte den Düsenflitzer vorsichtig auf. Draußen schwenkte eine Fahne. „Ellenberg dürfte nicht das einzige Rätsel in dieser Angelegenheit sein, mein Alter. Wir sprechen nachher darüber.“ Dann wurde von draußen eine Leiter herangeschoben, Jim ließ die Haube hochklappen, und sie sprangen heraus. Der WP-Major und einige andere Offiziere nahmen Haltung an. „Evening, Kommodore – wir warteten schon …“ „Wir haben uns etwas aufgehalten. Wie steht es hier?“ „Die Leichen der Passagiere sind bis auf zwei geborgen“, berichtete der Major sachlich. „Vanstatten war nicht an Bord. Auch seine Ledertasche haben wir nicht gefunden“ Jim antwortete nicht. Sein straffes Gesicht wurde hart und verschlossen. Niemand wagte mehr, ihn anzureden. Vanstatten nicht an Bord! Das war ein Faustschlag, der genau auf dem empfindlichsten Punkt des S.A.T. saß. Es blieben nur zwei Möglichkeiten: entweder hatte das Meer ihn aus dem Wrack gespült, oder – unglaublich, aber trotzdem eine logische Folgerung – er war schon während des Fluges von Bord entführt worden. „Ich möchte das Wrack sehen und auch die Geborgenen.“ 33
„Okay, Kommodore!“ Der Wagen glitt durch die Straßen der kleinen Stadt, die in diesen Stunden ganz von dem großen Unglück geprägt war. Die Hotels waren von Presseleuten, reichen Neugierigen und Schnüfflern aller Art überfüllt. Kinos und Theater blieben geschlossen. Die halbe Stadt drängte zum Strand, um das Wrack zu sehen. Nur langsam kam der Wagen voran. Vor dem Polizeiamt ließ Jim plötzlich halten und verlangte, mit dem WP-Hauptquartier in London zu telefonieren. Fünf Minuten später hatte er bereits den sehr vornehmen und sehr überheblichen Präsidenten der Weltpolizei, Lord Clifford, am Draht. „Mylord, haben Sie Einzelheiten über den ‚Nil’-Absturz?“ „Mein lieber Kommodore“, antwortete eine bekannte, näselnde Stimme, „mir liegen bis jetzt nur Einzelheiten über den Umfang der Katastrophe aus Italien vor. Die Ursachen werden sich kaum ergründen lassen, da die Maschine völlig zerstört wurde.“ „Es ist aber doch eigenartig, daß innerhalb vierundzwanzig Stunden zwei Flugschiffe eines Typs abstürzen, der als der beste der Welt galt.“ „Natürlich ist es eigenartig, und es läßt auch schon gewisse Ursachen erkennen …“ „Ich weiß, Mylord – Sabotage!“ Der Kommodore malte auf den Block, der auf dem Tisch lag, Dreiecke und tat es so verbissen, als wolle er mit dem Bleistift einen bestimmten Gedanken festhalten. „Aber in welchem Zusammenhang würde eine solche zu dem Verschwinden Vanstattens stehen?“ „Sehen Sie Zusammenhänge?“ „Unbedingt, Mylord!“ Der Bleistift zeichnete einen messerscharfen, geraden Strich. Der Entschluß war gefaßt! „Hat das ‚Internationale Luftamt’ in Genf schon die Delta-Klasse für den Verkehr gesperrt?“ „Vor einer halben Stunde. Diese Entscheidung ist allerdings offiziell noch nicht bekanntgegeben worden.“ 34
„Ich wäre Ihnen sehr dankbar, Mylord, wenn Sie veranlassen würden, daß eine solche Bekanntgabe unterbleibt, und das Luftamt diese Maßnahme rückgängig macht.“ Einen Augenblick schwieg die Leitung. Dann wieder Lord Clifford: „Wenn Sie etwa die Fortsetzung der fahrplanmäßigen Flüge der Delta-Schiffe wünschen, dann aber nur unter der Bedingung, daß Sie sich kriminalistisch betätigen und einen solchen Flug mitmachen.“ Jim lachte. „Das wollte ich ja eben, Mylord!“ „Okay, mein lieber Parker – ich werde mein Möglichstes tun!“ * Lord Clifford hielt sein Wort, und wiederum eine halbe Stunde später wurde der arme, niedergeschmetterte Direktor Förster in Tempelhof aus Genf verlangt. Er dachte aber gar nicht daran, in einen Begeisterungstaumel auszubrechen. Als er wieder auflegte und sich an seine Sekretärin wandte, lächelte er nur bitter. „Kuntze, halten Sie sich fest – wir dürfen wieder fliegen.“ Die Sekretärin sprang von ihrem Drehstuhl auf und sah aus, wie ein beschenktes Kind. „Herr Direktor, das ist doch – wunderbar!“ „Nein, Kuntze – ich lasse keine ‚Delta’ mehr hoch.“ Kuntze, der blonde, nimmermüde Antriebsmotor des Büros, starrte den blassen Mann ungläubig an. Die Lahmlegung des Delta-Verkehrs wäre dem völligen Verlust eines Vorsprungs gleichgekommen, den die „Union“ sich mit bitterem Schweiß erkämpft hatte. Aber Förster winkte tatsächlich ab. „Zwei Schiffe haben wir schon verloren, Kuntze – fast dreihundert Menschen, die voller Vertrauen zu uns gekommen waren, haben ein furchtbares Ende gefunden – soll das so weiter gehen?“ Barbara Kuntze senkte den Kopf. Sie wußte nicht, was sie 35
antworten sollte. Die Schläge des Tages waren hart gewesen, und alles, was zur „Union“ gehörte, bis zum letzten Scheibenputzer, duckte sich unter ihnen. Aber sollte man darum aufgeben? „Herr Direktor, wenn wir …“ „Lassen Sie, Kuntze; sprechen wir nicht mehr darüber. Die anderen Herren denken so wie ich. Schreiben Sie bitte weiter.“ Die Schreibmaschine klapperte wieder auf. Aber Barbaras Augen kamen von dem großen Streckenplan an der Wand nicht los. In fünf Stunden würde die „Amazonas“ zu ihrem planmäßigen Flug nach Rio starten. Unten, in der „Annahme“, hatte man bisher nur einen unerwartet leichten Rückgang in der Bestellung von Plätzen festgestellt. Wohl wankte bereits das Vertrauen, aber es war noch nicht zusammengebrochen. Als Lindemann eintrat, bekam die Kuntze unerwartet einen Bundesgenossen. Lindemann war für die routinemäßige technische Überwachung der „Union“-Maschinen verantwortlich. Er hatte die „Amazonas“ noch einmal gründlich unter die Lupe genommen und sah ziemlich überanstrengt aus. Als er Barbara erblickte, zog er unwillkürlich seine verknitterte Kombination glatt. „Die ‚Amazonas’ ist in Ordnung, Herr Direktor.“ Förster strich sich mit dem Handrücken über das nachlässig rasierte Kinn und blinzelte müde „Was nützt das alles, Kinder – wir können die Verantwortung nicht mehr tragen.“ Lindemann reckte sich. „Verzeihung, Herr Direktor – es bestehen keinerlei Gründe, die ‚Amazonas’ etwa nicht abzulassen.“ „Zwei Abstürze pro Tag sind keine Gründe, wie?“ Barbara Kuntze sah Lindemann aufmunternd an. Der Ingenieur trat einen Schritt vor. Verzweifelt suchte er nach den richtigen Worten. Natürlich hatte der Alte recht, aber in allen Abteilungen und Werkstätten brannte man darauf, der Welt zu beweisen, daß die „Union“ noch fliegen konnte. 36
„Zwei Totalverluste sind furchtbar, Herr Direktor, aber sie sind gewiß nicht auf technische Mängel zurückzuführen …“ „Noch schlimmer, Lindemann!“ „Flugkapitän Bergendorf ist auch dafür, daß wir weiter fliegen.“ Wieder blinzelten die entzündeten Augen in dem eingefallenen Gesicht. Richteten sich mit großem Erstaunen auf die blonde Kuntze, die neben Lindemann trat und schlicht und einfach sagte: „Ich fliege mit nach Rio, Herr Direktor – ich habe keine Angst.“ Lindemann hätte am liebsten seinen Arm um ihre Schultern gelegt. Die Kuntze war doch ein feiner Kerl! Und doch schwang eine schlecht unterdrückte Besorgnis in seiner Stimme mit, als er sagte: „Sie können Fräulein Kuntze ruhig mitfliegen lassen, Herr Direktor!“ „Kinder, Kinder – wenn das nur gut geht!“ * „Haben Sie es eben im Nachrichtendienst gehört, Gentlemen?“ Der elegante Kellner jonglierte sein Tablett durch die dichtbesetzten Tischreihen. des noch eleganteren Gartenlokals in der Atomstadt. Brütende Hitze. Ein Maigewitter im Anzug, und eine drohende Wolkenbank vor den fernen Bergen. Es wurden fast nur Eisgetränke verlangt. Ein junger, einfach gekleideter Mann mit dunkler Sonnenbrille sah neugierig von seiner Zeitung auf. „Schon wieder ein Delta-Absturz?“ „Das noch nicht, Sir.“ Leise klapperten Löffel und Becher. „Aber die Deutschen wollen ihren Südamerika-Dienst mit den Delta-Schiffen nicht einstellen.“ Die Serviette fächelte. „So etwas ist doch eine Anmaßung!“ 37
„Sie wollen den Südamerikadienst nicht einstellen?“ wiederholte der junge Mann leise und mit einer eigenartigen Betonung. „Das ist ja furchtbar!“ „Nicht wahr, Sir?“ Der Kellner entfernte sich mit der Miene eines Menschen, der das Leid der Welt zu tragen hat. Mechanisch schlürfte der Junge sein Milchmixgetränk mit Ananas. Die Buchstaben verschwammen vor seinen Augen. Nachdenklich legte er die Zeitung beiseite und zog einen Schreibblock aus der Tasche. Langsam schraubte er den Füller auf. Sternenbannermarsch und eintöniges Gemurmel versanken. „Lieber Tuffy! Ich schicke diese Nachricht mit der Blitzpost rüber; hoffentlich hast Du sie noch heute abend. In Berlin ist man sich ja verdammt sicher. Den Leuten von der ‚Union’ werden aber noch die Augen übergehen. Ich kann es nicht ändern, da ich gestern abend eine Dummheit gemacht habe. Verlasse mich aber ganz auf Dich, Rotfuchs! Du warst in der Donegal-Bucht so schwer auf Zack; enttäusche mich jetzt nicht. Bleibe in Berlin! Dein Klaus! N. B.: Vera Rohe ist die schönste Frau seit der Erschaffung der Welt! Möge mein Erdenwallen noch oft ihren Lebensweg kreuzen! Salem aleikum!“ Klaus Ellenberg machte diesen Schrieb, der ihm glatt das Mißtrauen jeder Polizeibehörde eingebracht hätte, fertig für die Raketenpost. Sah sich dann unschlüssig um. Sie suchten ihn wie einen Verbrecher. Wie einen Verbrecher? Mit einem Ruck erhob er sich, verließ das Lokal und winkte einem Taxi. Es hatte gar keinen Sinn, sich lange zu verstecken. Jede Minute konnte sich ihm eine Hand auf die Schulter legen. Und dann? Dann saß man elendig drin, Klaus Ellenberg! Hoffentlich ging es wenigstens in Berlin klar! 38
* „Wir fliegen wieder – wir fliegen wieder!“ Die blonde Kuntze raste durch die Abteilungen und wirbelte alles durcheinander. Bis zu den Schalterräumen tobte sie sich durch, wo sehr höfliche Damen mit bezauberndem Lächeln die Karten verkauften. „Einmal Amsterdam, mein Herr – bitte! Gewiß, Sie haben Anschluß nach Island.“ Viel Betrieb hier, wie immer in der neunten Abendstunde vor dem eigentlichen Nachtverkehr. Die Gestalt eines hochgewachsenen Mannes machte dem isländischen Viehhändler Platz und trat dann selbst an das Fenster. „Ich möchte für den nächsten Flug nach Rio buchen. Zwei Karten, bitte.“ Die Angestellte blickte hoch, empfand die starke Persönlichkeit des Fremden und wurde etwas verlegen. Sie legte ihm das Formularbuch vor. „Wollen Sie bitte Ihre Personalien eintragen?“ Der Fremde schien die Bitte nicht zu hören. Sein Blick war auf das hübsche, zurechtgemachte Gesicht der Angestellten gerichtet. Aber er sah sie nicht. Auch auf seine Eintragungen achtete er kaum. Sein Blick wurde von der Glasscheibe festgehalten, die schräg neben der jungen Dame angebracht war, und die ein Männergesicht widerspiegelte – listig, rothaarig und außerordentlich neugierig. „Wünschen Sie die Eintragungen in Deutsch oder Englisch?“ „Wir beherrschen jede Sprache, mein Herr“, lächelte sie höflich. Der Fremde warf einige Worte aufs Papier, reichte das Buch zurück und wandte sich seinem Begleiter zu, der klein und unscheinbar neben ihm stand. „Trinken wir noch eine Soda, Mister Moonlight?“ „Well, well!“ schnarrte der Kleine überdeutlich und in einem 39
knackenden, breiten Slang „Aber keinen Alkohol, wenn ich bitten darf.“ „Für meinen besten Kunden opfere ich mich auf.“ Sie dachten aber gar nicht daran, sich alkoholfreien Freuden hinzugeben, sondern gingen nur durch die große Schalterhalle, die mit ihrem gedämpften Gewoge aus blitzenden Verkaufsschaltern, nüchternen Lautsprecherdurchsagen und aufgeregten Reisenden aus allen Erdteilen nicht ahnen ließ, daß hoch über ihnen die Nacht mit ihren schweigenden Sternen atmete. Sie gingen gemächlich zur Bar hinüber. Der Kleine sprach immer lauter und eifriger davon, daß er auf keinen Fall Alkohol trinken werde. Wer wollte, konnte jedes Wort verstehen, und der lange, dünne Rothaarige, der sich immer einige Meter von ihnen hielt, bekam bestimmt alles mit. Als die Drehtür hinter ihnen zukreiste, sagte der Kleine jedoch leise: „Soll ich wirklich dieses abscheuliche Zeug trinken?“ „Du bestehst ja darauf“, grinste Jim Parker – er war es natürlich – und schleppte den armen Steuermann, der dieses blödsinnige Detektivspielen innerlich verwünschte, zu der Theke, ließ ihn irgendein Wasser trinken, wofür Wernicke sich noch überschwenglich bedanken mußte, und verschwand dann allein. Hoffentlich fing Fritz alles ab, was ihnen nachschnüffeln wollte. Gleich darauf stand er Direktor Förster in dessen Arbeitszimmer gegenüber. „Sie sind von der Weltpolizei?“ fragte der arme Förster, der mit immer größerer Unruhe dem Start der „Amazonas“ entgegensah, nicht sehr freundlich. Jim nannte seinen Namen. Förster riß sich zusammen und reichte dem jungen Sternenfahrer die Hand. „Das ändert die Sachlage natürlich wesentlich, Kommodore. Seien Sie willkommen in Berlin.“ „Sie fürchten die Weltpolizei?“ lächelte Jim. „Das nun gerade nicht“, schüttelte der zweite Direktor den Kopf und drückte auf seinem Schreibtisch die Taste „Nicht stö40
ren“, „aber es gibt Stunden, in denen man nur fähig ist, Schlimmes zu befürchten Und schlimm wäre es gewesen, wenn man so kurz vor dem Start der ‚Amazonas’ noch eine hochnotpeinliche Untersuchung durchführen würde.“ ,.Ich denke gar nicht daran, den Start zu verhindern“, beruhigte ihn der Kommodore. „Ich hoffe im Gegenteil, wir werden einen guten Flug vor uns haben.“ Direktor Förster wollte auf einen Sessel weisen und hielt in seiner Bewegung inne. „Wir?“ „Ich habe zwei Plätze in der ‚Amazonas’ belegt.“ „Das ist ja wunderbar!“ Mit einem Aufatmen, das zeigte, unter welch unerträglichem Druck dieser Mann stand, rückte er nun den Sessel heran und beeilte sich, mit Flaschen und Zigarettendose aufzuwarten. Jim mußte wieder lächeln, als er an Wernicke dachte, der unten saß und sich mit Sodawasser den Magen verdarb. „Sehen Sie, Kommodore“, begann Förster wieder aufgeregt zu sprechen, „unheimlich ist an diesen Abstürzen vor allem das Gefühl, irgendwo im Dunkeln sitze ein unbekannter Feind und spiele mit unseren Maschinen – so mit hämischem Vergnügen an bildschönen Flugzeugkatastrophen.“ Jim Parker sah den Direktor aufmerksam an. „Sie denken an Sabotage?“ „Ich bin gezwungen, daran zu denken.“ Förster machte eine hilflose Handbewegung und wischte sich mit einem seidenen Tuch über die Stirn. Dieser Jim Parker, von dem er schon soviel gehört hatte, daß sein eigenes gutbürgerliches Dasein ihm klein und langweilig vorkam (obwohl es alles andere als langweilig war), kam ihm gerade im rechten Augenblick. Der Junge mußte ihm helfen! „Ich bin gezwungen, daran zu denken, erwarte allerdings noch das erste Untersuchungsergebnis aus Irland. Vielleicht – wird es Sie interessieren?“ „Bestimmt. Herr Direktor!“ 41
* Fritz Wernicke schluckte mit Todesverachtung sein Sodawasser. Die Flughafenbar war nicht schlecht besetzt, wenn auch nicht die Hälfte der Leute Gäste waren, die in den langsam heraufdämmernden Morgen hineinfliegen wollten. Neugierde und Reisefieber hielten sich hier die Waage. Wahrscheinlich überwog sogar die Neugierde. „Ziemlich wüster Betrieb hier“, stellte der kleine Mann in seinem breiten Slang mißbilligend fest, als ein schneeweißer Kellner ihm einen Zitronenflip servierte. „Warum sind die Leute alle so aufgeregt?“ Er zeigte in die Runde. Viel Alkohol wurde getrunken, was ihm das Herz bitterschwer machte. Herren und Damen, denen man die Strapazen des Nachtbummels ansah, schnüffelten sensationshungrig herum. Seltsame Gestalten glitten von Tisch zu Tisch. Solide Flughafenbar? Heißer Kneipenbetrieb! „Die ‚Amazonas’ startet in zwei Stunden, Sir“, sagte der Kellner leise. „Die Menschen sind unruhiger als sonst.“ „Well, well – will ja auch mit eurem hübschen Kasten nach Rio übersetzen.“ „Das würde ich nicht so laut sagen, mein Herr. Wir haben uns schon bemüht, alle diese komischen Figuren, die unseren ‚Amazonas’-Passagieren fragwürdige Dinge zum Schutz gegen Luftunfälle verkaufen wollen, vor die Tür setzen, aber es ist nicht restlos gelungen.“ „Well, well!“ Der kleine Amerikaner (der nicht sagen durfte, daß er aus Berlin-Reinickendorf stammte) sah interessiert die Tischreihen entlang. „Wollen noch schnell ein Geschäft machen – tüchtig, tüchtig!“ Gerade kam das rothaarige Gespenst zur gläsernen Tür herein. Wernicke kicherte. „Auch so einer?“ 42
„Einer von den Propheten“, grinste der Kellner. „Er gehört zu den ‚Fröhlichen Verkündern’ und verkauft schlechtgedruckte Schriften. Ein Harmloser.“ „Ein Geschäftsmann, Boy – gibt es bei uns auch.“ Der Dünne stand etwas hilflos am Eingang und sah sich um. Wernicke lehnte sich faul zurück und rührte bedächtig sein gelbes Getränk. Nun hatte der andere ihn erspäht. Für Bruchteile einer Sekunde hatten sehr kluge und aufmerksame Augen den Steuermann eingefangen. Augen, die nicht recht zu einem so naiven Knaben passen wollten. Guter Geschäftsmann? Nun ging er weiter, ohne sich um ihn zu kümmern. Unter dem Arm trug er einen Packen Zeitschriften. Bei einem dunklen, hageren Herrn, der lässig in seinem Stuhl hing und mit gelben Fingern Zigaretten rauchte, blieb er stehen. „Darf ich Ihnen eine gute Botschaft bringen?“ fragte er nun wohl. Der dunkle Herr – offenbar ein Südländer, der ziemlich geschmeidig und düster wirkte – sah ungehalten auf und wandte sich dann mit verletzender Überheblichkeit ab. Er schien keinen Wert auf gute Botschaften zu legen. Der Rothaarige ließ sich aber so leicht nicht abschütteln. Er setzte sich einfach zu dem Südländer, legte seinen Papierhaufen auf den Tisch, stemmte sich breit auf und begann, auf den Dunklen einzureden. „Güldenstein, bitte!“ Fritz Wernicke, der diese Szene möglichst unauffällig beobachtete, winkte einem Zigarettenjungen. Sehr umständlich riß er die Glaspapierhülle ab. Hatte der WPMajor von der Donegal-Bucht nicht von einem verdächtigen, rothaarigen jungen Mann gesprochen? Was die dort drüben wohl miteinander hatten? Der Rothaarige wurde immer eifriger und immer leiser. Er wies auf die Uhr und dann auf den Wandlautsprecher, der eben durchgab, daß der Start der „Amazonas“ sich nicht verzögern würde. 43
Der Südländer sah aus, als wolle er dem fröhlichen Verkünder an die Kehle springen. Er schüttelte immer heftiger den Kopf und schlug einmal sogar mit der Faust auf den Tisch. Plötzlich steckte er die Rechte in die Tasche seines Sakkos und sagte ein paar Worte. Kurz und hart und kaum hörbar. Der Rothaarige fuhr zusammen und richtete sich mit dem Oberkörper steil auf. Dann lächelte er aber wieder, nahm seine Zeitschriften und stand auf. Der Südländer kam etwas langsamer hoch. Gemeinsam gingen sie durch die Tischreihen zu einem Ausgang, der am entgegengesetzten Ende lag. Mit zusammengekniffenen Augen sah Fritz den beiden nach. Es konnte harmlos sein und ohne jeden Zusammenhang mit den Abstürzen der Delta-Schiffe. Aber es konnte nicht schaden, wenn man den beiden einmal nachspürte. Fritz legte ein Geldstück auf den Tisch und wandte sich wieder an den Zigarettenjungen, der gerade vorbeikam. „Geht es dort drüben zu den Waschräumen?“ „Ja, mein Herr!“ * „Das hatte ich erwartet!“ Direktor Förster reichte dem Kommodore den Bericht, der eben aus Irland durchgegeben worden war. Er war geheim und nur für die „Deutsche Luftverkehrs-Union“ bestimmt. Jim Parker strich seine Zigarette ab und las voller Interesse. „Es wurde festgestellt: 1. Im Führerraum ist Feuer ausgebrochen. Die dadurch hervorgerufene Beschädigung einiger Apparaturen hat den Absturz nicht herbeiführen können. 2. Der Boden zwischen dem Hauptpassagierraum und dem Frachtraum ist aufgerissen, was wahrscheinlich auf eine Explosion im Frachtraum zurückzuführen ist. 3. Die linke Tragfläche wurde durch einen auffällig glatten und scharfen Schnitt, der mit einem A44
tombrenner verursacht worden sein könnte, abgetrennt. 4. Der Absturz dürfte auf die unter Punkt 3 angeführten Gründe zurückzuführen sein. Gez.: Barkowitz, Klett, Petersen.“ „Nun – Kommodore?“ Jim starrte lange auf die Zeilen. In ihnen war der rote Faden verborgen, der zu dem Attentäter führen mußte. Plötzlich sah er auf und erhob sich. „Ausgezeichnet. Damit ist erwiesen, daß der Absturz vor Irland nicht auf technische Mängel zurückzuführen ist.“ „Meine Meinung.“ Jim trat an ein Modell der Delta-Schiffe, das auf einem kleinen Tisch stand, zog einen Block hervor und warf den Querschnitt des Schiffes auf das Papier. Den Führerraum im Bug, das Mittelteil des Schiffes, in dem Frachtraum und Hauptpassagierraum übereinander lagen, und die linke Tragfläche kreuzte er an. Dann trat er damit zu Förster, der aufmerksam zugesehen hatte. „Sehen Sie sich das an, Direktor!“ Förster beugte sich vor und stieß einen Ruf der Überraschung aus. Er kam aber nicht dazu, sich zu äußern. Auf dem Schreibtisch schrillte es auf. Der Direktor fuhr zusammen und hob ab. Gleich darauf war er hoch. „Kommen Sie, Parker. Mordversuch in der Bar!“ Jim folgte dem Direktor, der völlig verstört die Gänge entlangraste. Sein erster Gedanke galt dem Steuermann, der sich schon oft leichtsinnig in Gefahren gestürzt hatte. In der eigentlichen Bar hatte man zum Glück nichts gemerkt, aber im Waschraum besannen sich zwei Männer darauf, daß sie noch lebten. Fritz Wernicke und der Rothaarige. Einige Gäste, die zufällig hereingekommen waren, als der Steuermann sich mit einem dunklen, hageren Burschen herumschlug, und der lange „fröhliche Verkünder“ bereits am Boden lag, rangen noch ziemlich benommen nach Luft und wurden von einem Flughafenpolizisten aufgefordert, den Raum nicht zu verlassen. 45
„Mister Moonlight, man kann Sie keinen Augenblick alleinlassen“, schüttelte Jim Parker vorwurfsvoll den Kopf und mußte doch grinsen dabei. Der Steuermann stieß Flüche von erschreckender Wildheit aus und kühlte sich unter der Wasserleitung eine buntschillernde Beule. „So ein hinterlistiger Gauner“, schimpfte er, während ihm das Wasser über das Gesicht rann. „Draußen vor der Tür fängt er mich schon ab, erzählt mir was von seinem Bekannten, dem schlecht geworden sei, und als ich helfen will, boxt er mich kurz und schmerzlos zusammen …“ „Na, schmerzlos?“ zwinkerte Jim mitleidig und wandte sich dem Propheten zu, um den sich bereits der Direktor und einer der Gäste bemühten. Er war groggy geschlagen worden und wahrscheinlich mit dem Hinterkopf etwas hart auf den Fliesen aufgeknallt, hatte aber sonst keine Verletzungen davongetragen. Ziemlich verglast sah er um sich, als man seinen langen Oberkörper aufrichtete. „Warum hat man mir das angetan?“ fragte er den Direktor mit sanftem Vorwurf. Förster hob die Schultern. „Über die Gründe dieser Auseinandersetzung werden Sie besser orientiert sein, mein Lieber. Wer war denn der Mann, der Sie so unsanft umgelegt hat?“ Der Lange hielt sich den schmerzenden Schädel und verbarg seine Augen, aber Jim Parker, der neben ihn getreten war, hatte den Eindruck, daß er aufmerksam beobachtete, was um ihn vorging. „Ich kannte den Herrn nicht – ich wollte ihm doch nur eine meiner Schriften verkaufen – ach, mir ist so schlecht!“ „Tragen wir ihn weg!“ Jim Parker winkte dem Polizisten, und sie trugen das lange Elend in den Aufenthaltsraum des Wärters, wo er erst einmal mit Kompressen und Kognak einigermaßen verhandlungsfähig gemacht wurde. Dann schickte Jim alles, bis auf Wernicke, hinaus, gab dem schmachtenden 46
Steuermann einen anständigen Kummerschluck und setzte sich zu dem Rothaarigen, dem er ohne weiteres sein WP-Abzeichen unter die blasse Nase hielt. „Wissen Sie, was das ist?“ „Der fröhliche Verkünder“ wußte es. Er legte sich rasch wieder zurück, schloß die Augen und sagte kläglich: „Ach, mir ist so schlecht!“ * Als Vera Rohe an der Einfahrt zur breiten Parkallee einen Mann stehen und winken sah, trat sie eigentlich ganz unbewußt die Bremse durch. Sie war über ihre eigene Handlungsweise so erschrocken, daß sie sich hilfesuchend umsah. Der Mann war nämlich dieser Klaus Ellenberg. Er war mit wenigen Schritten am Wagen und strahlte wie ein großer Junge. „Anständig von Ihnen, daß Sie anhielten“, freute er sich und lachte, als er ihr ängstliches Gesicht sah. „Aber was soll nun aus Ihnen werden? Wir sind hier ganz, Hein! Der Park ist jetzt nicht sehr belebt.“ „Was wollen Sie von mir?“ fragte sie leise. „Wenn es nicht um so ernste Dinge ginge“, sagte er erstaunlich ruhig, „würde ich mich freuen, diese schöne Mittagsstunde mit einer Landsmännin verplaudern zu können …“ „Reden Sie bitte nicht so“, wehrte sie erregt ab. „Sie haben sich bisher nicht danach benommen, daß man stolz darauf sein könnte, Ihre …“ „Ach so“, unterbrach er sie rauh. „Ich verstehe – Sie glauben, ich wäre an der nächtlichen Schießerei in Ihrer Straße beteiligt gewesen.“ „Sie wissen davon?“ fragte sie ironisch. „In den Zeitungen hat doch nichts darüber gestanden.“ Fassungslos sah er sie an. Wie schön dieses junge Mädchen 47
war, das mit der sportlichen Sauberkeit ihrer Generation sich in dieser fremden Umwelt ein eigenes Leben aufgebaut hatte – ein Leben, in das bisher nur ein Mann eingedrungen war, der herrisch und selbstbewußt gewesen war und sicher nicht so armselig neben ihr gestanden hatte, wie er es jetzt tat. Aber ehrlich wollte er wenigstens sein. „Ich habe die Schießerei gehört.“ Sie legte die Hand fester um das Lenkrad und wunderte sich insgeheim, daß sie diesen Strauchdieb nicht einfach stehen ließ und davonfuhr. Zwischen den Parkbäumen tauchte ein Uniformierter auf. Sie würde ihn gleich herbeirufen. Aber auch Ellenberg hatte ihn bemerkt und stellte sich so, daß der andere sein Gesicht nicht erkennen konnte. „Warum antworten Sie nicht?“ „Ich verachte Sie“, stellte sie ernst fest und wich seinem Blick aus. „Oder ist es Ihnen nicht bekannt, daß Ihr Kumpan in Untersuchungshaft sitzt, während Sie hier noch frei herumlaufen?“ „Ich habe keinen Kumpan.“ „Sie werden nachher Gelegenheit haben, Ihre Lüge auf dem Polizeipräsidium zu wiederholen.“ „Oh, Sie wollen mich festnehmen lassen?“ lächelte er und beugte sich etwas zu ihr herunter. Der Uniformierte kam langsam näher und schien sich nicht weiter für die beiden am Straßenrand zu interessieren. Klaus Ellenberg schwieg, als er an ihnen vorbeiging. Seine Augen ließen Vera nicht los in diesen Sekunden. Er war auf alles gefaßt. Aber nun atmete er auf. „Sie haben die beste Gelegenheit dazu verpaßt.“ Vera war rot geworden. „Gehen Sie!“ Er schüttelte den Kopf und öffnete einfach den Wagenschlag. „Nun nicht mehr, kleines Mädel. Wenn es Ihnen recht ist, fahren wir zu Ihrer Wohnung – das heißt, nur wenn Ihre Wirtin nicht anwesend ist – vor der habe ich nämlich noch mehr Angst, als vor allen Uniformen.“ 48
Sie sah, wie er sich neben sie setzte und den Schlag wieder zuklappte. Ihr erster Gedanke war, mit der Hupe Alarm zu geben. „Wollen sie nicht losfahren?“ „Ich denke gar nicht daran“, begehrte sie auf und rückte von ihm ab. „Wer sind Sie überhaupt? Ich will mit Ihnen nichts zu tun haben. Sie gehören zu den Schnüfflern, die hinter Vanstatten her sind. Wenn Sie nicht gleich verschwunden sind, rufe ich den Polizisten dort vorn.“ „Das glaube ich Ihnen doch nicht mehr.“ Er schaltete und ließ den Wagen langsam anfahren. Wohl oder übel mußte Vera sich um das Lenkrad bemühen. Die Einfahrt mit ihren schattigen Bäumen wich zurück. „Sie werden mich ganz ruhig anhören, Fräulein Rohe. Was sie eben über mich sagten, stimmt zum Teil, aber Sie sehen es trotzdem falsch. Ich will nur mein Recht und …“ „Das sagt man immer.“ „In meinem Falle aber, ohne zu schwindeln.“ Sie überholten den Uniformierten. Ellenberg lehnte sich behaglich in das rote Polster zurück und zündete sich eine Zigarette an. „Wahrscheinlich habe ich Fehler gemacht, aber …“ „Hängt es mit Vanstatten zusammen?“ „Allerdings!“ * „Ihren Namen, bitte!“ Dem Rothaarigen war so schlecht, daß er Jim Parker noch immer begriffsstutzig ansah. Der Kommodore brachte viel Verständnis auf für eine gelinde Gehirnerschütterung, aber der Blick auf die Uhrzeiger, die unbarmherzig an seinem Handgelenk kreisten, ließ ihn immer nervöser werden. Außerdem hatte er das Gefühl, daß der andere ihm etwas vorzaubern wollte. 49
„Theodor Brandly, mein Herr.“ „Von Beruf freier Schriftsteller, wie Sie bereits angaben.“ „Gewiß, mein Herr – und ehrenamtlicher Mitarbeiter der ‚Fröhlichen Verkünder’, die das Heil des Himmels ausgießen wollen über Gerechte und Ungerechte.“ Wernicke zwinkerte seinem „großen Bruder“ zu und goß sich wieder einen ein. Ein zweites Glas schob er dem hingestreckten Propheten zu, der malerisch das Ruhesofa schmückte. Als er jedoch den guten Kognak roch, richtete er sich etwas auf. Genußvoll verdrehte er die Augen. „Ich verschmähe, sonst das Wasser des nichtswürdigen Vergessens, aber wenn es um die Kräftigung des Leibes geht, sei eine Ausnahme gestattet. Kann ich Ihnen noch mit weiteren Auskünften dienen?“ „Mir nicht, Mister Brandly, aber vielleicht der Aufklärung eines furchtbaren Verbrechens.“ „Mein Leben steht im Dienste des Guten“, verkündete der Rothaarige salbungsvoll, wurde aber unter den prüfenden Blicken des Kommodores, der sich so leicht nichts vormachen ließ, sehr rasch vernünftiger. Er schwenkte seine langen Beine endgültig vom Sofa und strich sich den Schädel. „Ich wüßte zwar nicht, wie ich wertvolle Hinweise geben könnte …“ „Kannten Sie den Mann, von dem Sie niedergeschlagen wurden?“ „Nein – ich wollte ihm nur meine Schriften verkaufen.“ „Das haben Sie schon einmal gesagt, aber ich glaube es Ihnen einfach nicht.“ Jims Augen ließen ihn nicht mehr los. Brandly stemmte die Fäuste gegen die Stirn und wagte nicht aufzusehen. Ein Klopfen an der Tür schenkte ihm einige Minuten. Wernicke öffnete und sprach mit einem Angestellten. „Die Startvorbereitungen.“ „Kümmern Sie sich bitte darum, Mister Moonlight.“ Der kleine Steuermann nickte und wollte den Aufenthalts50
raum des Wärters verlassen, als ihm plötzlich etwas einzufallen schien. Ganz unvermittelt kam ihm der große Gedanke. Er schnippte mit den Fingern, war schon neben dem Kommodore und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Jim Parker stutzte und sah erstaunt auf. „Tatsächlich?“ „Der Bursche kam mir gleich so bekannt vor, obwohl ich ihn noch nie gesehen hatte. Es kann nur der geheimnisvolle, dunkle Mann sein, der Vera Rohe vor dem Start der ‚Rhein’ in OrionCity aufgefallen war. Toll, was?“ „Mensch – Wernicke!“ Der Rothaarige horchte voller Aufmerksamkeit, aber das war Jim gleichgültig; er würde ihn doch nicht mehr aus den Händen lassen. Er sah ihn auch gar nicht mehr. Fast schmerzhaft wühlten seine Gedanken – in eine Richtung – in eine ganz bestimmte Richtung! Sie führte – phantastisch, aber trotzdem logisch – zu Vanstatten: Wernicke schien seine Gedanken zu erraten. „Wenn er zu den Leuten gehörte, die Vanstatten in ihrer Gewalt hätten – ich meine, es könnte doch …“ Erschreckt hob Jim die Hände. „Langsam, langsam, mein Alter. Schritt für Schritt! Sieh erst mal nach, wie es draußen steht.“ Selber noch ganz benommen von seiner Vermutung, die ihn immer wieder den Kopf schütteln ließ, fuhr Wernicke im Lift in die Verwaltungsetage. Im Arbeitszimmer des Zweiten Direktors mußte er der blonden Kuntze, Ingenieur Lindemann und einem vollsaftigen Schwergewichtler, der sich mit dröhnendem Lachen als Flugkapitän Bergendorf vorstellte, die Hände schütteln. Er war so in Fahrt, daß er nicht einmal der Flasche auf dem Schreibtisch Beachtung schenkte. Außerdem drängte die Zeit. „Haben Sie den Frachtraum der ‚Amazonas’ untersuchen lassen?“ 51
Förster langte eine Liste aus seiner Mappe. „Stück für Stück, Herr Wernicke, haben wir unter die Lupe genommen. Wir haben diesmal nicht eben viel Fracht an Bord. Daß das eigentliche Gepäck der Fluggäste in einem anderen Raum für sich untergebracht ist, wissen Sie doch?“ „Uns interessiert nur der Frachtraum.“ „Vier Personenkraftwagen, drei Motorräder, fünf Kisten mit Nürnberger Spielwaren, zwei Kisten Privatgut und – erschrecken sie nicht – eine Kiste Artistengut, die drei Riesenschlangen beherbergt. Unser Frachtraum ist damit bei weitem nicht ausgelastet.“ „Bei weitem nicht!“ gab Bergendorf dröhnend die Bestätigung. Fritz Wernicke sah nachdenklich auf die Liste. „Hat einer der Fluggäste Zutritt zu dem Frachtraum?“ „Niemand, außer – und auch nur für diesen Flug – der Artist Jerry Gibson, der nach seinen Schlangen sehen muß.“ „Haben Sie ein Bild von diesem Herrn?“ „Fräulein Kuntze?“ Ja, die energische Blondine hatte an alles gedacht. Sie reckte diensteifrig und abenteuerlustig ein Paßfoto herüber. Es zeigte ein gutgeschnittenes, erstaunlich junges Gesicht, das bei aller Tatkraft doch noch eine gewisse Unreife verriet – der geheimnisvolle dunkle Südländer war es jedenfalls nicht. Wernicke gab das Bild zurück. Flugkapitän Bergendorf hatte aufmerksam zugesehen. Nun konnte er nicht mehr an sich halten. „Glauben Sie denn wirklich, daß die Anschläge vom Frachtraum ausgegangen sind?“ Der Steuermann hob die Schultern. „Der Gedanke ist naheliegend. Die ‚Rhein’ ist gestürzt, weil sich ihre linke Tragfläche in der Luft löste, und diese wiederum ist von unten abgeschnitten worden. Und der Frachtraum liegt bei den Delta-Schiffen so, daß man von seinen Bullaugen aus gegen die darüberliegende Tragfläche sieht.“ 52
„Dann hätte sich also jemand im Frachtraum aufgehalten?“ „Das wäre nicht einmal erforderlich.“ „Teufel, Teufel!“ knurrte der massive Flugkapitän und sah auf seine klobige Armbanduhr. „Kinder – es wird Zeit – wir müssen hoch …“ Es war 3.45 Uhr MEZ. In fünfzehn Minuten würde sich die „Amazonas“ in Bewegung setzen. Direktor Förster mußte sich plötzlich wieder den Magen halten und sah käsig aus. Bergendorf legte ihm seine mächtige Pranke auf die schmale Schulter. „Sparen Sie sich Ihre Magenkrämpfe, Förster – das wäre ja noch schöner, wenn wir nicht rüberkommen würden!“ Wenn sie nur erst drüben wären, betete der Direktor bei sich, und dann mußte er doch wieder seine Tropfen nehmen. Auf dem Flugfeld drängten sich die Reisenden. * „Wenn sie nur erst in Rio wären!“ In Orion-City schien die Sonne des hellen Nachmittags. Dem Atomboß erging es wie dem magenkranken „Union“-Direktor – er wurde von Minute zu Minute nervöser. Drei angerauchte Havannas lagen im mächtigen Ascher, und als der große Ted nun auch die vierte aus dem Mund nahm und sie mit einer kläglichen Gebärde zu den anderen Nichtsnutzen dieser Sorte beförderte, lachte hinter ihm Oberst Mortimer trocken auf. „Sie werden ein armer Mann, Cunningham!“ Cunningham wandte sich seinem Sicherheitshäuptling zu, der höchst angeregt zur Tür hereinstelzte und sich die Hände rieb. „Ein kranker Mann werde ich“, knurrte er böse. „Hätte ich nur die beiden nicht nach Europa gelassen. Was nützt mir ein toter Parker, den man erst aus den Tiefen des Ozeans heraufholen muß.“ „Der Himmel segne Ihre Phantasie!“ Mortimer sah mißbilli53
gend zu, wie Cunningham das teure Kraut zerknüllte. „Sie nehmen wohl Vorschuß auf Ihren ersten Nervenzusammenbruch?“ „Nicht jeder ist so kaltschnäuzig wie Sie“, parierte der Allmächtige, stutzte dann aber und beugte sich neugierig vor. „Oder – bringen Sie eine gute Nachricht?“ „Leider kann ich noch nicht den Weihnachtsmann spielen“, bedauerte der Oberst und begann, sich aus seinem schrecklichen Eigenbautabak eine Zigarette zu drehen. „Nur diesen Ellenberg lasse ich überwachen – er hält sich zur Stunde bei unserer lieben Miß Rohe auf.“ „Wird wohl nicht viel zu bedeuten haben.“ „Sagen Sie das nicht, Cunningham!“ * „Wissen Sie auch, daß Sie ein Engel sind?“ Klaus Ellenberg sah gerührt auf das junge Mädchen, das mit einem Tablett das kleine Wohnzimmer betrat. Er hatte fast vergessen, unter welch abenteuerlichen Umständen er sich hier befand, und hatte nur noch Augen für Vera Rohe. Sie trug einen für amerikanische Verhältnisse etwas zu schlichten Hausanzug und baute vor ihm einen kalten Imbiß mit Schwarzbrotschnitten und deutschem Bier auf. „So etwas gibt es hier auch?“ „Ich lasse es mir immer aus Deutschland kommen.“ „Sie sind wirklich ein Engel!“ „Wir wollen bitte nicht über meine Person reden“, sagte sie mit etwas zu betonter Distanz, während sie den eiskalten Gerstensaft in sein Glas laufen ließ. „Ihre – hm – wiederholten Besuche gelten doch wohl nur Mister Vanstatten.“ „Bis gestern war es so“, grinste er und biß herzhaft in ein Stück Schwarzbrot. Sie sah ihn mißtrauisch an. 54
„Warum nur bis gestern?“ „Weil ich Sie noch nicht kannte“, antwortete er mit verblüffender Offenheit und ließ sich das Bier gut schmecken. „Aber seitdem frage ich mich immer wieder, was mich mehr in diese stille Straße zieht – meine Arbeit oder …“ „Ihre Arbeit?“ fiel sie ihm rasch ins Wort und wurde rot. „Wollen Sie mir das nicht näher erklären?“ „Daß Sie mich doch immer an den interessantesten Stellen unterbrechen müssen“, bedauerte er mit leisem Vorwurf und schenkte sich ein neues Glas ein. Man konnte ihm ansehen, daß er in diesem Augenblick fast wunschlos glücklich war. Als sie sich ihm gegenübersetzte, schob er seinen Teller zurück. „Wunderbar hatten Sie das gemacht. Mit so viel Andacht habe ich in der letzten Zeit nicht oft gegessen.“ Sie hätte nun eigentlich sagen müssen, es freue sie, daß es ihm so gut geschmeckt habe, aber sie fragte nur kühl und mehr im Ton eines Untersuchungsrichters: „Sie sind schon länger in den USA?“ „Auf den Tag genau drei Monate – mit einem hatte ich gerechnet.“ „Sie suchen Arbeit?“ „Meine Arbeit“, sagte er wieder mit einer eigenartigen Betonung. „Ich hätte nie gedacht, daß ich ihretwillen noch einmal hinter einem angesehenen Mann herjagen müßte.“ „Das müssen Sie mir schon genauer erklären.“ „Mit dem größten Vergnügen.“ Klaus Ellenberg stellte befriedigt fest, daß sie wirklich so etwas wie Anteilnahme zu zeigen begann. Er bot ihr eine Zigarette an, die sie auch annahm. Als der blaue Rauch über der gemütlichen Sesselgruppe lagerte, erfuhr sie in wenigen, sachlichen Worten, was ihn hierhergetrieben hatte. „Mein Freund Brandly und ich arbeiten an einem neuen Verfahren zur Auswertung der Sonnenkraft für Energiezwecke. Wir 55
betreiben nämlich gemeinsam ein Ingenieurbüro. Keine große Sache, aber der Laden nährt seinen Mann. Von unserer neuen Arbeit erhofften wir uns allerhand. Vor einem Jahr weilte ein bekannter, amerikanischer Wissenschaftler in Deutschland, und Brandly nahm mit ihm Verbindung auf …“ „Vanstatten?“ „Ja, es war Vanstatten. Er war sehr liebenswürdig und interessiert und erklärte sich bereit, die Sache zu prüfen. Ich sandte ihm vor längerer Zeit die Unterlagen.“ Vera wurde sehr aufmerksam. „Sandten Sie die an ihn persönlich?“ „An sein Büro.“ Ellenberg sah auf seine Uhr und stellte fest, daß er sich hier bereits zu lange aufhielt. Wieder kam die Unruhe des Gejagten über ihn. „Ich will mich kurz fassen – ich habe Befürchtungen, daß Vanstatten meine Unterlagen nicht erhalten hat, oder …“ Er unterbrach sich, sah auf seine Zigarette und strich diese dann sorgfältig ab. Voller Verwunderung waren zwei helle Mädchenaugen auf ihn gerichtet. „Oder? – Wie meinen Sie das?“ „Tja, sehen Sie Fräulein Rohe – nun wird es recht geheimnisvoll“, lächelte er ihr zu. „Als ich nach einigen Wochen höflich um eine kurze Empfangsbestätigung bat – ich hatte ihm die Unterlagen durch einen Bekannten zukommen lassen – antwortete er sehr kühl, er wisse weder etwas von unserer Arbeit, noch kenne er einen Herrn Brandly …“ „Aber – das ist doch unmöglich!“ rief Vera aus, und eine Blutwelle schoß ihr zu Kopf. „Vanstatten hätte doch niemals mit unehrenhaften Absichten gespielt!“ „Selbstverständlich nicht, Fräulein Rohe.“ Ellenberg stand auf und trat ans Fenster. Warum sein Herz wohl plötzlich so dumpf und ahnungsschwer zu pochen begann? Die hohe Sonne schien fremd und hart und ließ die stille Straße noch langweili56
ger erscheinen, als sie war. Er wandte sich wieder um. „Wir hatten ein so großes Vertrauen zu Herrn Vanstatten, daß uns ein solcher Gedanke nicht einmal im Traum gekommen wäre. Leider war Vanstatten von einer fast unhöflichen Kühle …“ „Er war immer überarbeitet“, schluckte Vera, „und mußte sich mit einer großen Korrespondenz abquälen.“ Hoffentlich fängt sie nicht an zu weinen, dachte er unbehaglich und fuhr rasch fort: „Um die Angelegenheit zu klären, flog ich vor drei Monaten nach den USA. Brandly, der kein großes technisches Licht ist und eigentlich so etwas wie unser Propagandachef werden sollte, hielt unseren kleinen Betrieb zunächst noch aufrecht …“ „Und haben Sie mit Vanstatten gesprochen?“ fragte sie stockend. „Ich war schon einige Stunden nach meiner Ankunft in dieser herrlichen Stadt bei ihm im Büro und erlebte einen scheußlichen Reinfall.“ „Herr Ellenberg – das ist doch …“ „Vanstatten war allein, als er mich empfing. Es war schon spät und wohl nach Büroschluß. Von seinem Arbeitszimmer aus schien ein kurzer Zwischenraum zu einem Labor zu führen …“ „Sein persönliches Laboratorium, in dem er oft Nächte verbrachte.“ „Das dachte ich mir. Jedenfalls stand die Tür zu diesem Labor offen, und dort saß ein Mann, der Vanstatten nicht aus den Augen ließ, als dieser mich nach meinen Wünschen fragte. Ich brachte mein Anliegen vor. Vanstatten schwieg, bot mir dann erst einen Platz an, verließ das Zimmer und schloß die Tür hinter sich. Ich hatte den Eindruck, als wolle er sich mit dem Unbekannten über mich beraten. Erst nach reichlich zehn Minuten kam er zurück und sagte mir kurz, er könne sich an nichts mehr erinnern und müsse sich weitere Störungen verbitten. Ich war so erschüttert, daß ich widerspruchslos ging.“ 57
Vera ließ den Kopf sinken und lehnte sich an den Tisch. „Das soll ich Ihnen glauben?“ „Es wird Ihnen nichts anderes übrig bleiben.“ Er war schon neben ihr, und seine Rechte legte sich fast scheu auf ihre Schulter. „Aber Sie dürfen mich nun nicht falsch verstehen, kleines Mädel – damit ist doch noch nicht gesagt, daß Vanstatten ein unehrenhafter Mann war.“ „Das war er auch nicht“, schluchzte sie verzweifelt auf. „Ich kenne ihn – er war sehr selbstbewußt, aber gerecht.“ „Selbstbewußt war er nun eigentlich nicht an jenem Abend“, schüttelte er den Kopf. „Es kam mir vor, als stünde er unter dem Einfluß jenes schweigenden Zuhörers.“ „Wie sah dieser Mann denn aus?“ „Wie soll ich ihn beschreiben?“ Klaus Ellenberg sann nach. „Er hatte eines jener verschlagenen Gesichter, in das man nicht gern zum zweitenmal schaut. Auch habe ich ihn nur flüchtig gesehen. Er schien aber aus dem Süden zu kommen, war sehr dunkel, hager, elegant.“ „Dann habe ich ihn schon gesehen“, sagte sie fassungslos. „Vor dem Start der ‚Rhein’ kam er aufs Flugfeld und hielt sich einen Augenblick in Vanstattens Nähe …“ „Und ist dann eingestiegen?“ fragte er gespannt. „Noch vor Vanstatten!“ Ellenberg pfiff leise durch die Zähne und wollte etwas sagen, aber der Fernsprecher summte auf. Leise und dezent war er eingestellt, doch die beiden jungen Menschen fuhren zusammen und sahen sich an. In diesem Augenblick war alles Mißtrauen zwischen ihnen gewichen. Seine Hand fuhr langsam zurück, als wolle er dem Mädchen mit ihrem leichten Druck guten Mut zusprechen. Zögernd stand sie auf und ging an den Apparat. Ellenberg sah, wie sie zu einem Notizblock griff und etwas mitstenografierte, was ihr durchgesagt wurde. Ein großes Erschrecken schien sie zu erfassen. 58
„Mein Gott“, sagte sie leise und blickte Ellenberg abwesend an, „auch das noch! Meine Tante auf Cuba ist erkrankt.“ „Haben Sie ein Telegramm bekommen?“ fragte er teilnahmsvoll. Sie nickte und zeigte ihm den Zettel, auf dem die schicksalsschweren Worte standen: „Tante Ellen liegt im Sterben. Verlangt nach Dir. Bitte, die Familienbücher nicht vergessen. Coco. Jaruco/Cuba.“ „Es tut mir leid um Sie“, sagte er warm. „Wer ist denn dieser Coco?“ „Coco ist ein Frauenname“, lächelte sie flüchtig. „Die alte Haushälterin in Jaruco heißt so. Arme Tante Ellen! Ich muß sofort hin.“ „Ich glaube nicht, daß Ihre Tante im Sterben liegt“, zweifelte er und sah sich suchend um. „Ich glaube es nicht, Vera – ich glaube es nicht …“ Sie preßte die Hand auf das Herz. „Aber Coco wird sich doch nicht einen solchen Scherz erlauben.“ Er hatte das Kursbuch gefunden und blätterte bereits in ihm. „Vielleicht weiß sie gar nichts davon.“ Und wieder zu Vera gewandt. „Es ist besser, ich fliege mit.“ Aus ihrer Niedergeschlagenheit peitschte seine Aufregung eine jähe Hoffnung hoch. „Sie glauben doch nicht etwa, daß dieses Telegramm irgendwie mit Vanstatten zusammenhängt?“ „Es ist sehr gut möglich.“ Ellenberg sah, daß sie aufzuckte und in einer grenzenlosen Ergriffenheit zusammenzubrechen drohte – er sah es und hielt sie. „Wir wissen nicht, was hier gespielt wird.“ „Dann lebt Vanstatten?“ „Wir müssen es herauskriegen.“ Er hätte sie an sich reißen können, aber er durfte jetzt nicht den Kopf verlieren. Wenn sich hier wirklich ein Weg abzeichnete, der zu Vanstatten führte, und wenn dieser noch lebte, war alles entschieden. Seine Hände spürten den Mädchenkörper – seine Gedanken wurden wieder kühl und sachlich. Was konnte er jetzt tun? 59
„Sie fahren am besten allein zum Flughafen, weil man mich unterwegs abfangen könnte – ich werde aber da sein, bevor die Maschine der ‚Westindien-Linie’ startet. Einverstanden?“ „Ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken soll.“ „Okay!“ gleich darauf raste er in Veras Sportwagen die Straße hinunter. Hielt verabredungsgemäß an der Ecke, wechselte in ein Taxi über und versuchte so, allen neugierigen Augen zu entkommen. Aber der Sicherheitsdienst kannte diese Raffinessen. Als der Jupiter Boulevard an ihm vorbeigerissen wurde, kam ihm der Gedanke, daß es vielleicht besser gewesen wäre, das mysteriöse Telegramm der Polizei zu melden. Er verwarf ihn gleich wieder. Er würde sich nur selber Steine in den Weg werfen; denn er hatte sich nun einmal verdächtig gemacht, und es würde ihm schwer fallen, zu beweisen, daß er von Vanstatten nichts anderes wollte als sein Recht. Er unterschätzte allerdings auch hierin den Sicherheitsdienst, der das Telegramm bereits Wort für Wort kannte und eine Anfrage nach Cuba unterwegs hatte. Klaus Ellenberg brannte vor Abenteuerlust. Er dachte sich, daß Vanstatten lebte, und daß er ihm noch einmal gegenüberstehen würde – im guten, oder im bösen. Aus der Central Street schoß ihnen plötzlich ein Wagen in wahnsinnigem Tempo entgegen. Ellenberg duckte sich unwillkürlich. * Die „Amazonas“ überflog die Iberische Halbinsel. Die Stimmung der Fahrgäste war von jener stark betonten Lässigkeit geprägt, die eine innere Unruhe übertönen soll. Jim Parker schlenderte langsam durch den Hauptpassagierraum, der nur halb besetzt war. Die gigantische Maschine lag wie hinge60
zaubert in der Luft, so sicher und elegant, daß man kaum Schwankungen verspürte. „Oh – ich bitte sehr um Verzeihung, mein Herr:“ Eine schlanke, junge Dame stieß ihn etwas ungeschickt an, als sie sich im Mittelgang begegneten. Sie sprach ihr Spanisch so angelernt, wie nur ein Nichtromane diese weiche Sprache verbiegen kann. Der Kommodore verneigte sich höflich. „Ich bitte, Señora!“ Diese Schöne war die blonde Kuntze – sie war ganz die selbstbewußte Dame der großen Welt, die schnell einmal nach Südamerika rüberrutschen wollte. Sie trug ein mausgraues Kostüm und eine etwas zu verwegene Sonnenbrille, durch die sie Jim mit den Augen etwas zusignalisierte. Wie abgemacht. „Ich habe den Dunklen entdeckt“, hieß es. Den Dunklen – diesen geheimnisvollen Südländer, der tatsächlich an Bord gegangen war und in der Passagierliste als Exportkaufmann aus Santiago de Chile geführt wurde. Schöner Exportkaufmann. In Flugzeugtragödien vielleicht. „Wo?“ „Im vorderen Passagierraum.“ Jim verneigte sich noch einmal, und Barbara Kuntze rauschte mit blitzenden Zähnen und rassigen Bewegungen davon. Jim ging zunächst in die grün-weiß gehaltene Bar, in der er selbstmurmelnd Fritz Wernicke fand. Der Steuermann saß in seiner ganzen Unschuld auf einem Barhocker und lutschte ein Milchgetränk. Jim schüttelte den Kopf. „Ist dir nicht gut?“ Wernicke kletterte herunter. „Ich muß doch meine Rolle weiterspielen“, meinte er kläglich. „Wer weiß, ob nicht einer hier ist, der in Tempelhof meine blödsinnige Bemerkung gegen den Alkohol gehört hat.“ „Der Dunkle soll vorn sein.“ „Eben nach vorn gegangen“, nickte Wernicke und gab dem 61
Kommodore umständlich Feuer. Sie mußten sehr vorsichtig sein. Was wußten sie schon von den sieben, acht Männern, die mit ihnen die Bar bevölkerten und mehr besorgt als gelassen nach unten sahen, wo im Südwesten das Meer mit weißem Gischtgürtel heranbrandete. Der Ozean war erreicht. „Allein?“ „Mit diesem Jerry Gibson, dem Schlangenbeschwörer.“ Sie traten an die Wand und betrachteten sich aufmerksam eine der wertvollen Radierungen. „Dieser Artist scheint ein ziemlich sorgloser Knabe zu sein. Der Dunkle macht sich regelmäßig an ihn heran und möchte wohl so etwas wie den väterlichen Freund spielen.“ „Das hatte ich erwartet“, sagte Jim trocken. „Auf diese Tour kann er in den Frachtraum gelangen. Der Artist muß ab und zu nach seinen Schlangen sehen.“ Wernicke kaute, weil er noch immer diesen widerwärtigen Geschmack nach Milchgetränken im Mund hatte. Er konnte nicht mehr zur Bar hinübersehen, wo gerade Whisky und andere menschenwürdige Sachen ausgeschenkt wurden. „So also“, meinte er zerstreut. „Aber man wird auch Gibson nicht allein zu seinen Lieblingen lassen.“ „Der Dunkle wird schon einen Weg finden.“ Wernicke schielte neugierig. „Ahem – du sagst es so, als wartest du nur darauf, daß der Dunkle in den Frachtraum steigt. Immerhin …“ „Ein eigenwillig aufgefaßter Sonnenuntergang“, stellte Jim Parker kritisch fest und trat einen Schritt zurück, um die Radierung noch besser mustern zu können. „Beachten Sie das skurrile Spiel der Baumwipfel am verdämmernden Abendhimmel, Mister Moonlight!“ „Well, well“, schnarrte der kleine Mann, dem nun auch endlich die beiden breitschultrigen Herren auffielen, die etwas zu aufmerksam zu werden schienen. „Ein schönes Stück für mein 62
Badezimmer. Werde der Gesellschaft zehn Dollar dafür bieten.“ „Das Bild dürfte kaum zu verkaufen sein, Mister Moonlight“, sagte der Kommodore ruhig. Die beiden Herren lächelten. „Gegen wir ein Stückchen weiter – hier ist doch nichts los.“ „Well, well“, schnarrte Wernicke wieder. Als sie aber draußen auf dem Gang standen, runzelte er die Stirn. „Du bist geheimnisvoll wie Detektiv Neunauge. Was hast du noch von Berlin aus nach Orion-City durchgegeben?“ „Den genauen Vernehmungsbericht. Mortimer dürfte seinen komischen Tabak verschlucken, wenn er liest, was Brandly ausgesagt, hat. Und Vanstatten dürfte abschußreif sein.“ „Ist anzunehmen. Sonst was Neues?“ „Ich war im Frachtraum“, grinste Jim und lehnte sich mit dem Rücken gegen ein Bullauge. „Höllenmaschinen habe ich nicht gefunden, aber die Schlangen habe ich freigelassen.“ „Der Himmel sei mit dir“, schnappte Wernicke mit großen Augen. „Gibsons Riesenschlangen?“ „Drei ausgewachsene Exemplare, mein Alter. Pythons oder so etwas ähnliches. Ich habe Bergendorf Bescheid gegeben, damit er kein Besatzungsmitglied hinunter läßt.“ Er sah den Gang entlang zum vorderen Passagierraum, wo der Dunkle mit dem Artisten Gibson saß. „Unerbetene Besucher dürften einen häßlichen Empfang haben.“ Wernicke schüttelte sich und verlangte kategorisch nach einem großen Whisky. * Generaldirektor Cunningham verspürte ein ähnliches Bedürfnis. Fassungslos stierte er seinen Sicherheitshäuptling an, der ihm den Vernehmungsbericht vorgelegt hatte. „Schenken Sie uns einen ein, Mortimer!“ 63
Der Oberst hantierte mit Flasche und Gläsern und wartete, bis der Allmächtige den Bericht zum zweitenmal durchgekaut hatte, der dasselbe sagte, was Vera Rohe bereits von dem deutschen Ingenieur erfahren hatte – und noch etwas mehr. Dann erkundigte er sich teilnahmsvoll nach seinem Befinden. Cunningham goß den Schnaps als letzte Rettung hinunter. „Schlecht, Mortimer! Saumäßig! Aber Parker hat sich ein Schauermärchen aufbinden lassen.“ „Das dürfte das erstemal gewesen sein.“ „Vanstatten ein Raubritter der Wissenschaft?“ „Soweit sind wir noch nicht, Cunningham.“ Oberst Mortimer faßte das Ganze viel gelassener auf. „Vanstatten war – oder ist – ein Mensch von außergewöhnlichem Wissen und einem entsprechenden Ehrgeiz, der es keineswegs nötig hatte, einen geistigen Diebstahl zu begehen. Die Auswertung der Sonnenkraft ist eine große Sache, aber Vanstatten hat Größeres geleistet. Andererseits glaube ich diesem Brandly aufs Wort.“ „Das verstehe ich nicht – wie reimt es sich zusammen?“ „Ich bin kein Hellseher, Cunningham. Auch steht noch nicht fest, ob er irgendetwas mit den Abstürzen der Delta-Schiffe zu tun hat und ob er – wenn er noch lebt – ein freier Mann ist. Jedenfalls wäre es gut, wenn wir sein Büro und seine Arbeitsräume einmal von oben bis unten umkrempelten. Dazu brauche ich allerdings Ihre Einwilligung.“ „Sollen Sie haben.“ Der Atomboß setzte sich höchstpersönlich an die Schreibmaschine und faßte einen entsprechenden Schriftsatz ab. Draußen flossen die ersten Schatten der Dämmerung über die Dächer und Türme der Atomstadt. Cunningham hatte den Bogen noch nicht herausgenommen, als der Fernsprecher schrillte. Mortimer wurde verlangt. „Oberst, hier ist inzwischen allerhand geschehen“, meldete sich sein Adjutant aus der Dienststelle. „Diesen Ellenberg ha64
ben wir. Er ist schwerverletzt. Kraftwagenzusammenstoß. Kann aber Aussagen machen.“ „Und?“ „Er beschwört uns, Miß Rohe in Cuba nicht ohne Schutz zu lassen; sie schwebe in höchster Gefahr.“ „Liegt eine Antwort aus diesem cubanischen Nest auf unsere Anfrage vor?“ „Jawohl, Oberst. Eine Antwort ist eben eingegangen. Die Tante von Miß Rohe ist wirklich erkrankt und hat ein Telegramm an ihre Nichte aufgeben lassen. Ich sah keinen Grund, Miß Rohe an einer Abreise zu hindern.“ „Natürlich nicht, Kellick. Ich komme gleich rüber. So long.“ Er legte nachdenklich auf und wandte sich dem Generaldirektor zu, der ihn fragend ansah. Er lächelte sarkastisch. „Tante Ellen ist wirklich erkrankt.“ „Veras Tante? Dann hätten Sie sich die Anfrage sparen können.“ „Durchaus nicht – ich möchte mich gern mal mit der cubanischen Polizei unterhalten.“ * Über Cuba stand der erste Stern. Schwül senkte sich der Abend dieses 28. Mai herab auf Jaruco. Erst in einigen Stunden würde sich die Schwüle brechen, und das nahe Meer einen Hauch der Kühle herübersenden zu den singenden Tabakarbeitern und zu der kranken Frau, die in ihrem prächtigen, weißen Haus vor der Stadt lag. „Vera“, stöhnte der trockene Mund, „wann kommst du?“ Ihre Erkrankung hatte den Höhepunkt erreicht. Dieses Fieber, das Señora Ellen Rohe nach all den Jahren der rastlosen Arbeit nun doch angefallen hatte. Noch gab der Arzt Hoffnung, und sie wollte auch noch nicht sterben. Aber dieser Abend war 65
fürchterlich. Alles, verschwamm vor ihren Augen. Auch die breite Gestalt, die dicht neben ihrem Bett hantierte, war in eine ungewisse Dämmerung weggeschoben. „Wann kann sie denn hier sein, Coco?“ „In drei Stunden, nehme ich an, Señora.“ Coco war eine Seele von Mensch. Sie würde für die verehrte Señora, die sie einst aus den Tiefen ihres sozialen Standes herausgehoben hatte, alles, aber auch alles tun. Hätte sie jedoch geahnt, was Montez mit dem getan hatte, was die Herrin ihm anvertraute, sie hätte ihn, ihren Sohn, ihr alles, ihr Herzblatt, gnadenlos von sich gestoßen. An diesem Abend war Montez wieder unterwegs. Sein altes Motorrad knatterte die breite Straße hinunter, die von den Villen der Reichen in die Stadt führte. Montez war zwanzig. Montez brauchte Pesos. Mit Pesos konnte man Mädchen und Flaschen und tausend Teufel tanzen lassen. Montez liebte das alles. Als er die einsame Stelle erreicht hatte, wo zwischen der Straße und den Tabakfeldern ein kleiner Wald lag, hielt er an und wartete. Die Schatten des Abends krochen über das Land. In der Stadt blitzten die Lichter auf. Montez wurde unruhig. Aber erst nach zwanzig Minuten kam ein schwerer Wagen herangebraust und bremste scharf. Ein Mann sprang heraus. Roger Vanstatten. „Die Rhein“ war in das graue Wasser vor der irischen Bucht gestürzt. Allen Fachleuten schien es unwahrscheinlich, daß aus diesem fallenden, brennenden Sarg auch nur ein Mensch sich retten konnte. Die Welt hatte das tragische Ende des angesehenen, jungen Wissenschaftlers bedauert. Roger Vanstatten stand in dem sinkenden Abend auf der Straße vor Jaruco. Sein Gesicht war kalt. Seine Stimme hart und herrisch wie immer. Nur – allein war er nicht. Im Wagen saß einer und beobachtete ihn. 66
„Ist eine Antwort eingetroffen?“ fragte Vanstatten. Montez stand mit hängenden Armen und unterwürfigem Lachen. „Gewiß, Herr. Die Señorita kommt.“ „Heute abend noch?“ „Gewiß, Herr – in den nächsten Stunden.“ „Komm – steige ein!“ Montez prallte entsetzt zurück. Der herrische Befehl knallte wie ein peitschender Schuß, gegen den man sich nicht wehren konnte. Aber die Angst legte sich würgend um seinen Hals, und die Lichter der Stadt waren fern, und kein Mensch in der Nähe. Sein grobes Gesicht wurde grau, und er versuchte, sich von dem Blick des großen, eleganten Herrn zu befreien. Aber Vanstatten durfte ihn jetzt nicht mehr laufen lassen. „Komm – steige ein. Ich will dir im Hotel das Geld geben. Du hast mir einen großen Dienst erwiesen.“ Da überwand Montez die Angst und stieg mit schwachen Knien in den großen Wagen, der gleich darauf mit roten Schlußlichtern in der nächsten Kurve verschwand. Das alte Motorrad lag mit hochgestelltem Vorderrad in den hohen Gräsern des beginnenden Waldes. * Jim Parker war allein in der Bar zurückgeblieben. Wenn der Dunkle in den Frachtraum steigen wollte, mußte er hier durchkommen. Jim trank einen Manhattan-Flip und versuchte, den Fluß der rätselvollen Ereignisse zu fassen. „Bitte, Sir – eine Depesche!“ Ein Steward war neben ihn getreten und reichte ihm mit ausdruckslosem Gesicht einen Umschlag. Jim dankte und grinste leicht, als er die kurzen Worte betrachtete. Von Mortimer, mit einem C gegengezeichnet. Also brannte der dicke Cunningham lichterloh, und in der Atomstadt herrschte Großalarmstimmung. 67
„HTC 34/P. Vera Rohe nach Jaruco/Cuba abgereist. Cubanische Staatspolizei verständigt. Vermuten, daß Spur zu Vanstatten führt, Vanstattens Verhalten uns unerklärlich. Weiteres folgt. Mortimer/C.“ Cuba? Jim Parker stand auf, trank den Rest im Stehen aus und stellte sich an ein Bullauge, das in einer Nische etwas versteckt lag. Draußen breitete sich ein märchenhafter Sternenhimmel über dem weltenweiten Wasser, das unergründlich tief unter ihnen lag. Das Glas spiegelte sein eigenes Gesicht wider und das gelblich-dezente Licht der Neonröhren. Jim klammerte sich an dieses Wort „Cuba“, das plötzlich so wichtig zu sein schien, und unwillkürlich fragte er sich schon: Wie komme ich dort hin? Als er sich wieder umwandte, waren zwei neue Fluggäste eingetreten: Der Dunkle und Jerry Gibson, der Artist mit den Schlangentricks. Also doch! Jim griente zufrieden. Der Dunkle spielte angeberisch den Gönner mit der dicken Brieftasche, und der gute Jerry mit den vertrauensseligen Augen war bei weitem nicht mehr nüchtern. „Sie sind ein verdammt feiner Kerl, Señor“, freute er sich mit fahrigen Bewegungen. „Aber ich will auch mal einen ausgeben.“ Dabei langte er in die Sakkotasche und zog mit der Brieftasche zwei längliche Schlüssel hervor. Flüchtig ließ er sie klingeln. „Für den Frachtraum“, prahlte er. Der Dunkle lächelte höflich und uninteressiert – nur Jim bemerkte, wie sich seine Rechte öffnete … „Trinken wir doch einen, Señor – was darf ich Ihnen anbieten?“ Was hatte der Dunkle nur? Jim nahm eine Zigarettenpackung aus der Tasche und öffnete sie umständlich. Alles an ihm straffte sich. Er brauchte nur den Dunklen anzusehen, um zu wissen: Es war soweit. Der andere schien nach draußen zu horchen. 68
Jim steckte sich eine Zigarette an. Er war ganz ruhig. Der Anschlag konnte nur vom Frachtraum aus erfolgen, wenn er sekundenrasch zum Erfolg führen sollte. Und dort warteten die Schlangen. „Wenn Sie wollen, geben Sie einen Doppelgold aus“, hörte er den Dunklen sagen, mit einer leisen, aber klaren Stimme. Der Kommodore verließ die Bar. Draußen auf dem Gang war es. belebter als gewöhnlich. Die kleinen Musikstudentinnen, die in Rio die Universität besuchen wollten, schwärmten zum Bullauge hinaus in die schweigende Erhabenheit der Nacht. Ein deutscher Berufsboxer unterhielt sich mit einem jungen Viehzüchter der Pampas merkwürdigerweise über moderne Literatur. Jim lächelte flüchtig und stellte sich so, daß er sowohl den matterleuchteten Eingang zur Bar wie auch den Gang nach beiden Seiten übersehen konnte. Er hatte noch keine vier Züge gemacht, als der Anschlag gegen das Schiff erfolgte. Im vorderen Passagierraum schrie eine Frau auf. Gellend und plastisch fuhr dieser Schrei auf, daß er bis auf den Gang und in die Bar zu hören war. Dann brach die Hölle los. Vorn ein furchtbares Aufheulen: „Feuer – die Kabine brennt!“ Ein Tumult tobte auf. Die ersten bleichen Gesichter drängten aus dem vorderen Passagierraum auf den Gang. Überstrahlt von dem Lodern eines Brandes, der mitten unter den Fahrgästen ausgebrochen sein mußte. Jims erste Reaktion war, den beiden jungen Männern zu folgen, die ohne zu zögern, in die Front der fliehenden Fluggäste einbrachen, ein paar schlotternde Gestalten beiseitewarfen und in den Passagierraum stürmten. Aber er hielt sich zurück. Und das war gut so. Denn mitten aus dem aufwirbelnden Durcheinander, das sich mit der geifernden Hast des Unheils über das ganze Schiff ausbreitete, tauchte plötzlich der Dunkle auf dem Gang auf. Ganz 69
unauffällig bahnte er sich seinen Weg durch die Neugierigen, die aus dem Hauptpassagierraum herandrängten und in schweigendem Entsetzen auf die Panik starrten, die vorn losgebrochen war Jim ließ ihn nicht aus den Augen. Der Dunkle hatte sein Jackett abgelegt und trug auf dem Rücken ein Ding, das wie eine kleine Schwimmweste aussah. Ein Fallschirm? Jim grinste und folgte dem Vernichtungswütenden in einigen Metern. Es war nur dumm, daß sie beide gegen den Strom schwammen, der ihnen mit Fluchen und Wehklagen und zusammenbrechenden Frauen entgegenkam. Dem Dunklen fiel das auch auf. Er blieb stehen und wandte sich scharf um. Sie sahen sich in die Augen. Versteckspielen gab es nicht mehr. Der Kasten brannte, und der andere wollte ihm noch den Rest geben. Sie mußte runter, die „Amazonas“, und kurz vorher hatten sie sich noch erkannt. Jim boxte rücksichtslos einen alten Herrn zusammen, der ihn schluchzend wegschieben wollte, und sprang vor. Aber der Dunkle hatte keinen verständnislosen alten Herrn vor sich – er konnte schneller handeln. Ein Schuß peitschte. Jim spürte einen Schlag gegen den linken Unterarm und taumelte zurück. Für Sekunden nur. Aber es genügte. * Die „Amazonas“ brannte. Vielleicht sah das Feuer im vorderen Passagierraum schlimmer aus, als es war, aber es gab dem Dunklen immerhin den Spielraum, den er brauchte, um an den Frachtraum heranzukommen. Zwei feine Herren in der albanischen Hauptstadt waren jedenfalls zufrieden, als sie davon erfuhren. Sie saßen sich in ei70
nem protzigen Zimmer gegenüber, das mit mehr Geld als Verstand eingerichtet worden war. Zwischen ihnen saß Roger Vanstatten, aber er gehörte mit seinem hochgezüchteten, durchgeistigten Gesicht nicht recht zu ihnen, obwohl gemeinsame Interessen sie verbanden. „Die ‚Amazonas’ hat wohl keine Chance mehr, Vanstatten?“ fragte der eine mit lauernder Genugtuung. Vanstatten lächelte beinahe uninteressiert. „Keine.“ „Ihr Mittel ist vorzüglich“, rieb sich der andere die Hände und horchte auf die dumpf wirbelnden Rhythmen des RadioTanz-Orchesters „Ich glaube, daß diese Demonstration genügt, Awanoff.“ Der Angesprochene – ein untersetzter Glatzkopf mit breiten, slawischen Zügen – antwortete nicht. Er sprach überhaupt nicht gern. Awanoff war der böse Dämon dieser Männer, die mit Vanstatten, dem Ehrgeizigen, Kalten, Verbindung aufgenommen hatten. Stillschweigend respektierte er die Bedeutung des Wissenschafters, der sich zu seiner östlichen Heimat bekannte, aber er ließ ihn nicht aus den Augen. Er folgte ihm auch, als Vanstatten sich auf ein Klingelzeichen hin erhob und nach unten in die große, pompöse Halle ging. „Lassen Sie mich einige Schritte vorgehen, Awanoff.“ Dann stand Vanstatten wieder Vera Rohe gegenüber. Sie wurde von zwei eleganten, höflichen Herren zur Tür hereingeführt. Wie in einem bösen Traum ging sie. Alles war so unwirklich, so schwebend, so fremd. In Jaruco hatten diese beiden Herren sie auf der Straße angesprochen und sich als Freunde des Hauses Rohe ausgegeben. Als sie in einem Wagen saß, war es zu spät. Die Fahrt, dieses rasende, böse Dahinjagen über die nächtliche Chaussee, war schlimm gewesen, schlimmer aber noch, daß am Ende dieser Fahrt Roger Vanstatten stand. Er trat auf sie zu und breitete die Arme aus. 71
„Vera – wie ich mich freue!“ Leise sagte er es, und es war seine alte Stimme, nach der sie sich gesehnt hatte in den trüben Stunden zwischen gestern und heute, doch sie zuckte unter seiner Berührung zusammen, als ob ein Fremder vor ihr stände. „Roger, wir kommst du hierher – und was bedeutet das alles?“ „Verzeih, Vera, daß ich dich auf so geheimnisvolle Weise hierherbringen ließ, aber es mußte sein.“ Es ärgerte ihn maßlos, daß sie sich straffte, als wolle sie ihn zurückstoßen. Warum brach sie nicht, weinend vor Glück, in seinen Armen zusammen? Was hatte das Mädel nur? „Freut es dich nicht, daß ich noch lebe?“ „Man hat mich geschlagen unterwegs“, sagte sie hart. Er fuhr herum und sah die beiden wütend an. Sie hoben bedauernd die Schultern. „Die Dame wehrte sich, als wir Jaruco hinter uns hatten. Sie versuchte, aus dem Wagen zu springen. Wir hatten aber von Ihnen den Auftrag erhalten, sie unter allen Umständen hierher zu bringen …“ „Auch mit Gewalt?“ fragte sie rasch. Er zögerte, und das verriet ihn. In diesem Zögern glitt eine Maske von seinem Gesicht, und nur seine kalte Überheblichkeit blieb zurück. In diesem Augenblick entschied sich Veras Schicksal. Sie brach unter der Enttäuschung nicht zusammen, das tat eine Vera Rohe nicht – sie warf nur den Kopf in den Nacken und wandte sich ab. Und es machte ihr nichts aus, daß sofort die beiden höflichen Herren da waren und sie festhielten. „Nehmt ihr die Tasche ab“, sagte Vanstatten kalt. Widerspruchslos ließ sie es geschehen und folgte den beiden, die sie in ein Zimmer führten und einschlössen. Awanoff trat neben den Gelehrten. „Was haben Sie mit ihr vor?“ „Ich nehme sie mit – sie wird schon zur Vernunft kommen.“ 72
Er öffnete mit schnellen Griffen die Tasche und atmete auf, als er das kleine Büchlein und ihre Familienbücher fand. „So eine treue Freundin, die einem Zutritt zu allem läßt, ist oft gar nicht übel“, lächelte er höhnisch. „Wir können abreisen, Awanoff.“ „Um zwei Uhr liegt das Boot im Batabano-Golf.“ „Hoffentlich geht alles klar.“ Awanoff steckte sich eine lange, dünne Zigarette an. Irgendwo im Hause schrie einer kurz auf. Montez. Sie konnten ihn nicht mitnehmen. Vanstatten hielt seinem neuen Freund das Feuerzeug hin. Awanoff nickte. „Danke. Es ist alles vorbereitet.“ „Die albanische Staatspolizei?“ Awanoff zeigte keine Beunruhigung. „Wenn man uns in diesen Stunden wirklich noch auf die Spur kommen sollte, wird man die Falschen verfolgen.“ „Ausgezeichnet!“ * Jim Parker wurde von dem Schlag zurückgeworfen, den er gegen den Unterarm erhielt. Ein rasender Schmerz ließ ihn die Augen schließen. Er rief alle Planeten an und stürzte wütend davon. „Sie bluten ja“, wimmerte eine kleine, blasse Dame und wollte ihn hilfsbereit aufhalten. „Hat dieser schreckliche Mensch wirklich geschossen?“ Auch das noch! Der Kommodore machte sich mehr energisch als zartfühlend frei. Sein blutender Unterarm beschmutzte ihr helles Kleid. Tut mir leid, kleine Frau. Aber wer achtete schon darauf. Im vorderen Passagierraum tobten die Flammen gegen die Feuerlöscher des Einsatztrupps. Und der Schuß hatte allen den Rest gegeben. Männer waren da, die helfen wollten, aber auch sie hinderten 73
ihn nur. Rasend warf er sich in den Klumpen der Ratlosen hinein. „Weltpolizei! Alles zur Seite! Wer weiß, wo der Mann abgeblieben ist?“ „Im Hauptpassagierraum!“ Sie wichen zurück. Endlich war der Weg frei. Endlich! Zu spät? Von vorn kamen Schüsse. Eine Frau schrie um Hilfe. Barbara Kuntze. Mit federnden Schritten raste Jim den Gang entlang, aus dem ihm ein neuer Kugelhagel entgegenpfiff. Die blonde Kuntze taumelte ihm aus Rauch und Stöhnen und halber Finsternis entgegen. Der Bursche schien die Deckenlampen ausgeschossen zu haben. Jim packte das Mädchen und ließ sich mit ihm hinter der ersten Sesselreihe fallen. „Sind Sie verletzt, Barbara?“ „Ich glaube nicht, Kommodore“, sagte sie tapfer und sah in mit ihren schönen, großen Augen an. „Aber er wollte auf mich schießen …“ „Bleiben Sie hier liegen.“ Der Dunkle hatte sich wieder abgewendet und rannte auf den jenseitigen Kabinenausgang zu, durch den man die Gleitstiege zum Frachtraum erreichen konnte. Niemand hinderte ihn mehr. Die wenigen Fluggäste, die er hier überrascht hatte, richteten sich aus ihrer Deckung wieder auf. Ein Mann lag ausgestreckt auf dem Mittelgang und rührte sich nicht. Neben ihm im Sessel wand sich ein junges Mädchen und preßte ein Taschentuch vor den Mund. Jim sprang über den Hingestreckten. In diesem Augenblick krachten vor dem Ausgang wieder Schüsse. „Aufhören, ihr Cowboys – nicht schießen …“ Die Jungen vom Führerraum, die den Dunklen in Empfang genommen hatten, stellten sofort das Feuer ein. Der Dunkle jagte die Gleitstiege hinunter und war schon vor der niedrigen Kunststofftür. Die Schlüssel knackten. Jim federte über das Geländer und rutschte nach. Aber der Dunkle war bereits im 74
Frachtraum verschwunden. Ein Licht geisterte über festgestellte Pkws und Kisten zu den Bullaugen hin, über denen die Tragfläche ragte. Herrgott, das durfte doch nicht sein! Jim dachte in dieser Sekunde kaum an die Pythons, die er freigelassen hatte. Er wußte, daß es gleich geschehen würde. Der Dunkle brauchte nur noch wenige Schritte und Handgriffe zu machen, dann rauschte wieder ein Feuerball durch die Nacht in grundlose Tiefe. Aber der Verbrecher kam nicht an das Bullauge heran. Ein feines, böses Pfeifen war plötzlich neben der Kiste, die er eben passierte; es irritierte ihn, er trat einen Schritt zur Seite und stieß gegen den zusammengerollten Leib der halbaufgerichteten Schlange. „Zurück, Mann – zurückwerfen!“ Aber der Dunkle sah in stummem Entsetzen, wie der widerwärtige Schlangenleib aus dem Dunkel herausschoß, ihm um die Hüfte glitt, und der züngelnde Kopf zu seiner Schulter hochtastete – er sah es, und sein verzweifeltes Gurgeln erfüllte schauerlich den großen Raum. Jim sprang hinzu. * Inzwischen hatte Flugkapitän Bergenfeld die ersten SOS-Rufe absetzen lassen. Sie wurden auch in der Atomstadt aufgefangen und sofort an den Generaldirektor weitergeleitet. Cunningham hatte gerade seinen Sicherheitschef zu einem Bericht empfangen und lachte böse auf, als er las:
„Amazonas über Südatlantik, 7 Flugminuten von Flugsicherungsboot ‚E’, mit Feuer an Bord. Lage jedoch noch nicht hoffnungslos.“ 75
„Und Jim Parker soll uns noch helfen können? Mortimer, es ist eben alles gegen uns.“ Mortimer zerkaute seine scheußliche Zigarette. Sein sonst so unerschütterliches Gesicht war finster. „Ich gönne meinem ärgsten Feind nicht die Stunden, die ich heute nachmittag in Vanstattens Arbeitsräumen und in seiner Wohnung durchmachen mußte. Er hat so ziemlich alles an sich gerissen, was er an vertraulichen Informationen über das S.A.T. sammeln konnte.“ Er warf mit einer müden Geste die schiefgedrehte Zigarette weg. „Wir haben Leute verhört, – Cunningham, es ist einfach niederschmetternd! Vanstatten hat unter dem Mantel dienstlicher Gespräche Dinge erfahren, die ausreichen, um ihn in östlichen Gefilden zu einem schwerreichen Mann zu machen. Das also ist Vanstatten, den wir …“ „Hören Sie doch endlich auf!“ Der dicke Atomboß schüttelte unwillig den Kopf und schlug sich mit der Faust gegen die Stirn. „Wir beide können uns leise weinend begraben lassen. Kein Wort mehr, Mortimer!“ Aber der Oberst war unerbittlich. „Das also ist Vanstatten! Angehöriger einer bestimmten Partei, was er uns wohlweislich verschwiegen hat. Genie ohne Seele und ohne Verantwortungsbewußtsein! Wenn ich ihn erwische …“ „Sie erwischen ihn nicht, Mortimer – geben Sie sich keinen Hoffnungen hin. Der rauscht mit seinem Material ab, und wir sind fertig!“ „Ich erwische ihn doch“, flüsterte der Sicherheitschef. Ein toller Gedanke war ihm gekommen. Mitleidig sah er seinen Boß 76
an, der wieder nur abwinkte. „Wissen Sie, wie? Die Brüder sitzen auf Cuba, das ist so ziemlich hundertprozentig sicher. Sie haben natürlich alles von langer Hand vorbereitet und spielen mit der cubanischen Staatspolizei ‚Hasch mich, Liebling’! Wir lassen die cubanischen Flughäfen überwachen, was aber sinnlos ist, da sie kaum in diese Falle gehen werden. Sie haben überhaupt alles einkalkuliert, und nur eine völlige Überrumpelung kann noch helfen …“ „Ein Husarenstreich, wie man früher sagte?“ „Sie verstehen mich, Cunningham“, sagte der Oberst befriedigt und griff zum Fernsprecher. „Wir wollen doch mal sehen, wie es auf der ‚Amazonas’ aussieht.“ * Der Dunkle brüllte. Tierisch war dieses Brüllen, es umwogte den ganzen Kerl wie eine zittrig schwebende Wolke, aus der nur ein verzerrtes, graues Gesicht sich heraushob, ein aufgerissener Mund und weiß hervorquellende Augen. Und die Schlange, diese Bestie, die wütende Rächerin – mit ihrem züngelnden Kopf an seiner Schulter. Jim wußte nicht, wie er an sie herankommen sollte. „Hilfe – Hilfe!“ brüllte der Mann und warf sich verzweifelt hin und her. „Helfen Sie mir doch!“ Der Atombrenner lag schwer in der Hand. Python, herrliche Bestie, biege den Kopf zurück. Es tut mir leid um dich, aber der andere ist ein Mensch, ein Verbrecher zwar, aber immerhin … Da warf sie plötzlich mit einer stolzen Bewegung den Kopf etwas zurück. Jim drückte blitzschnell den Auslöser. Ein feiner grüner Strahl geisterte messerscharf auf und traf diesen Kopf. Der 77
mächtige Leib klammerte noch, aber der grausame Würgedruck ließ nach. Der Kommodore war schon heran, trennte mit seinem Messer den Schlangenleib ab und hielt den Mann, der in einer Woge von Ekel und Erlösung zusammenbrechen wollte. „Los – raus hier!“ Dem Dunklen sackten die Knie weg. „Ich kann – nicht mehr …“ „Du wirst schon können, Freundchen!“ Jim Parker trug den anderen mehr, als daß er ihn stützte. Nur rasch aus diesem Schlangenloch heraus. Draußen standen einige Besatzungsangehörige vom Führerraum, die in stummem Entsetzen dem Kampf gefolgt waren, ohne eingreifen zu können. Einer von ihnen trug eine Funkmeldung in der Hand. Sie machten Platz, als die beiden aus dem Frachtraum herauskamen. Jim stellte den Dunklen einfach an die Wand neben der offenen Tür. „Damit Sie Bescheid wissen: Dort zwischen den Kisten und Kraftwagen schlängeln noch zwei Pythons durch die Gegend. Wenn ich nicht in drei Minuten von Ihnen erfahren habe, wo sich Ihre Hintermänner befinden, bringe ich Sie zurück und schließe Sie im Frachtraum bei den Schlangen ein!“ „Ich – kann – nichts sagen!“ „… zwei …“ „Sie sind in La Habana“, murrte der Dunkle widerwillig, aber mit der furchtbaren Angst im Herzen, dieser WP-Mann könnte seine Drohung wahrmachen. Jim musterte ihn aus halbgeschlossenen Augen. „Ich kann auch unmenschlich zu Banditen sein, die nichts anderes verdient haben. Sie sind einer von der Sorte. Ich lasse Sie bei den Schlangen umkommen, wenn Sie mir Märchen erzählen wollen.“ „Sie sind in La Habana, verflucht nochmal!“ Jim gab einem der Besatzungsangehörigen einen Wink, die 78
Tür zu schließen. Dann wurde ihm der Funkspruch gereicht. „HTC 34/P. Wie steht es um Schiff? Können Sie noch in Cuba eingreifen? Mortimer.“ „Jawohl, können wir!“ Es ging alles sehr schnell. Jim packte den Dunklen am Arm und führte ihn im Laufschritt zur kleinen Kapitänskabine. Er ließ Wernicke rufen, der im vorderen Passagierraum das Feuer mit einzudämmen versuchte, und der atemlos herangejagt kam. Kapitän Bergendorf trat ihnen schwitzend und hemdsärmelig entgegen. Jim machte es kurz. „Herr Kapitän, wir müssen Cuba anfliegen! Lassen Sie bitte sofort den Kurs des Schiffes ändern. Dieser feine Gentleman, Wernicke und ich springen über La Habana ab. Sie fliegen dann am besten weiter bis Florida. Verständigen Sie sofort La Habana und die internationale Flugkontrolle.“ Bergendorf rührte sich nicht. „Kommodore, dies ist ein Passagierschiff …“ Jims Blick war von einer gläsernen Härte. „Wollen Sie den Leuten Gelegenheit geben, zu entkommen, die Ihre Schwesterschiffe vernichtet haben?“ Der Dunkle hoffte insgeheim, der Kapitän würde keine Kursänderung vornehmen. Das Herz schlug ihm dumpf und ahnungsschwer. Er hoffte vergebens. Bergendorf wandte sich schweigend ab und ging in die Navigation. Jim lächelte und packte den Gangster wieder. „Komm, Freundchen – mal sehen, ob dein Fallschirm intakt ist.“ * La Habana. Die cubanische Staatspolizei hatte Jaruco durchgekämmt. Es war ein Schlag ins Wasser gewesen. Major Novarra, der cuba79
nische Kollege Mortimers, zündete sich gelassen eine Zigarette an und trat vor die große Wandkarte. „Das war vorauszusehen. Eine kranke, alte Dame haben wir gefunden und ein klappriges Motorrad, das dem Sohn der Haushälterin gehört“ „Der rote Faden ist schon zu erkennen …“ „Deutlich sogar; nur verliert er sich dann wieder.“ Der Drehbleistift des Majors fuhr die Chaussee von Jaruco nach der Hauptstadt entlang, eine Strecke, die keine 35 Kilometer lang war und über das Nest Guanabacoa führte. „Dieses Gebiet können wir abtun und von der Landpolizei überwachen lassen. Hauptaugenmerk auf den Hafen und alles, was westlich von uns liegt!“ Auf dem Schreibtisch rasselte der Fernsprecher. Der Major wandte sich um und sah, wie sein Kommissar abhob und ihn dann aufgeregt heranwinkte. „Die ‚Amazonas’ hat ihren Kurs geändert und befindet sich im Anflug auf La Habana. Jim Parker will mit seinem Freund und einem festgenommenen Angehörigen der Bande über der Stadt aussteigen. Sie können in einer Stunde heran sein.“ „Teufelskerl – aber weiß er mehr als wir?“ Der Kommissar hob die Schultern. Zwei Männer sahen sich in fassungslosem Erstaunen an. Sie kamen aber nicht mehr zum Überlegen; denn in diesem Augenblick stürzte ein Offizier aus dem Nebenraum herein. „Wir haben sie, Señores – wir haben sie. Meldung von der 3. Kradstaffel. Vor Marianao hat sie drei schwere Pkws gestellt, von denen einer nicht mehr entkommen konnte. In ihm fand man die Leiche eines jungen Burschen, der vielleicht der vermißte Montez aus Jaruco sein könnte …“ Major Novarra war schon wieder vor der Karte. „Die Insassen wurden festgenommen?“ „Jawohl, Señor – darunter ein Amerikaner und ein Pole. Die anderen Wagen konnten entkommen und werden verfolgt.“ 80
„Richtung?“ „Guanajay. Das 7. Schützenbataillon sperrt den Weg zur Küste ab.“ „Danke!“ Der Major traf umsichtig und routiniert seine Maßnahmen und legte in einer knappen Viertelstunde eine Kette um das Land westlich der Hauptstadt, die keine Maus durchlassen würde. Sein Kommissar freute sich und beglückwünschte seinen Vorgesetzten bereits zu dem großen Fang. Aber Novarra winkte kurz ab und sah ihn nachdenklich an. Dann sagte er ruhig: „Ich werde das ‚Sonderkommando’ vorläufig in der Stadt lassen.“ Der Kommissar blickte verwundert auf. Das „Sonderkommando“ war die berühmte Spezialtruppe der cubanischen Armee, die nur zu Staatsaufträgen herangezogen wurde. Was sollte die noch in der Hauptstadt, da doch diese geheimnisvolle Bande bereits zu entkommen versuchte? Der Major hatte seine stumme Frage verstanden und zwinkerte ihm zu. „Ich traue niemandem – auch keinen fliehenden Gangstern!“ Der Kommissar schnappte etwas. „Aber warum lassen wir dann nicht die ganze Stadt nochmal durchkämmen, Novarra?“ „So naiv möchte ich auch mal fragen. Es ist nur eine vage Vermutung von mir, auf die hin ich unmöglich Kräfte von der Verfolgung abziehen kann. Außerdem muß ich abwarten, was die Jagd einbringt. Wenn sie nichts einbringt, werfe ich morgen früh alles, was ich aufbieten kann, in die Stadt und lasse jeden Menschen unter die Lupe nehmen.“ „Und das Sonderkommando?“ fragt der Kommissar noch einmal. „Bleibt für alle Fälle hier.“ *
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Die Partie stand nicht schlecht für Vanstatten und seine Freunde. Der cubanische Major gab ihnen die Zeit, die sie brauchten, um noch während ihres eigenen Ablenkungsmanövers unbemerkt an die Südküste zu gelangen. Novarra war kein schlechter Schachspieler, aber der glatzköpfige Awanoff war an Gerissenheit kaum noch zu übertreffen. Während westlich der Hauptstadt die beiden rasenden Wagen langsam, aber sicher, von den Streitkräften eingekreist wurden, saßen in dem vornehmen Landhaus am Meer vier reisefertige Männer und eine Frau – Vera Rohe. „Du wirst mich schon noch verstehen lernen, Darling“, sprach Vanstatten auf sie ein. „Die Politik ist nun einmal kein Spiel mit fairen Regeln.“ „Für Leute deines Schlages gewiß nicht“, antwortete sie kalt. „Ich hoffe nur, daß man euch noch das Handwerk legt.“ „Hoffen Sie es lieber nicht, gnädiges Fräulein“, lächelte Awanoff untergründig. „Sie gehören zu uns und würden denselben Gefahren ausgeliefert sein wie wir.“ „Ich erwarte von Ihnen keine Ritterlichkeit.“ Vanstatten sah sie nachdenklich an. Vielleicht schämte er sich etwas. Aber er ließ sich nichts anmerken und wandte sich mit einem Achselzucken an die anderen. „Liegen irgendwelche Nachrichten aus der Stadt vor?“ „Fürchten Sie, daß wir hier nicht rauskommen?“ grinste der Gefragte. „Bis zum Batabano-Golf haben wir alles unter Kontrolle. Schließlich gibt es auch in Cuba Genossen.“ „Ich muß hier aber heute nacht noch raus. Ihr dürft den S.A.T.-Sicherheitsdienst nicht unterschätzen.“ „Tun wir auch nicht.“ Der Mann stand auf und trat an den Empfänger, der leise aufsummte. Vera konnte die alberne Tanzmusik nicht hören, die sinnlos und quälend in diese unerträgliche Situation hämmerte. Doch als der Sprecher eine Sondermeldung durchgab, richtete sie sich unwillkürlich aus ihrer gleichgültigen Haltung auf. 82
„Wir bedauern, unseren Hörern den Absturz eines weiteren deutschen, Delta-Schiffes mitteilen zu müssen. Es handelt sich um die ‚Amazonas’, die 18 Flugminuten von dem Flugsicherungsboot ‚E’ brennend in den Atlantik stürzte. Einzelheiten sind noch nicht bekannt.“ Vera senkte den Kopf, als sie in Vanstattens Augen den eiskalten Triumph aufglänzen sah. Eine namenlose Trauer erfüllte sie, und zum erstenmal drohte die tapfere Vera Rohe schwach zu werden – sie hätte sich irgendwo hinlegen und schlafen mögen, nur schlafen. Sie fiel zurück und barg ihr Gesicht in die Hände. Vanstatten aber schenkte ein. „Sind Sie nun zufrieden, Awanoff?“ * „Böswillige Irreführung der Öffentlichkeit.“ Fritz Wernicke grinste und genehmigte sich noch einen Whisky, während der Kommodore sich mit dem Dunklen „unterhielt“. „Sie werden mit uns über La Habana abspringen, und ich garantiere Ihnen einige unerfreuliche Stunden, falls Sie versuchen, uns in eine Falle zu locken.“ „Ich habe Sie schon verstanden!“ Jim Parker aber hatte gleich erkannt, daß der Dunkle noch gar nicht daran dachte, aufzugeben. Dieser Bursche war zäh wie Leder und hinterhältig, wie nur ein Fanatiker seiner Sorte sein konnte. Jim stand auf, zwinkerte Wernicke zu, vorsichtig zu sein und verließ die Kapitänskabine. Draußen stieß er auf Bergendorf. „Ich atme auf, Kommodore – das Feuer ist gelöscht.“ „Schlimm gewesen?“ „Keine böse Sache. Was Sie vorhaben, ist schlimmer!“ „Es muß sein.“ Sie traten an ein Bullauge und sahen auf die 83
dunkelgähnende Fläche des Meeres, das sich dem Schiff entgegengehoben zu haben schien. Die „Amazonas“ hatte nur noch 600 Meter Flughöhe und raste wie ein riesiger Pfeil mit Höchstgeschwindigkeit dahin. Die Kleinen Antillen mußten bald erreicht sein. „Halten Sie bitte diese Höhe, bis wir raus sind.“ Der Flugkapitän musterte kritisch den kleinen Fallschirm, den der Kommodore auf dem Rücken trug. „Kommen Sie mit 600 Meter aus?“ „Wir müssen die Brüder überrumpeln und dürfen nicht so lange in der Luft herumschweben.“ „Ich drücke Ihnen beide Daumen – und das ganze Schiff mit mir.“ „Wir können es gebrauchen.“ * „Die sind für die nächsten Stunden noch beschäftigt.“ Einer von Vanstattens Freunden hatte in der Stadt den neuesten Lagebericht geholt. Novarra hatte einen der beiden Wagen eingefangen und drei von Awanoffs ausgewählten Leuten festgenommen, die nun versuchten, die Vernehmungsoffiziere auf neue imaginäre Spuren zu bringen. „Wir fahren in zwanzig Minuten.“ „Kommen wir durch?“ „Vanstatten, du wirst nervös! Unter Garantie kommen wir durch.“ Awanoff trat ein und winkte Vanstatten. Sie gingen auf die Diele. „Es tut mir leid, wir können die junge Dame noch nicht mitnehmen.“ Dem Amerikaner kroch es kalt über den Rücken. „Was heißt das?“ „Sie kommt vielleicht nach.“ „Warum auf einmal diese Änderung?“ 84
„Es würde auffallen, wenn wir durch die Stadt mit einem Mädchen fahren, das in ganz Cuba gesucht wird. Es ist besser für uns, wenn wir sie nicht im Wagen haben.“ Vanstatten verstand den anderen ausgezeichnet. Der östliche Geheimdienst wollte Vera von ihm trennen, da sie geistig nicht im Sinne seiner Freunde ausgerichtet war. Das bedeutete im allgemeinen so etwas wie eine Bewährungsprobe für beide Teile. Vanstatten schüttelte den Kopf. „Das ist bei mir nicht notwendig, Awanoff – schließlich bin ich nicht irgendwer!“ „Es ist gut, Vanstatten, doch müssen Sie sich für sie verbürgen.“ „Das ist selbstverständlich.“ „Dann machen Sie sich bitte bereit.“ * „Sir – ich möchte eine Aussage machen.“ Der Dunkle war plötzlich aus seiner aufsässigen Schweigsamkeit aufgewacht. Als Wernicke ihn an die Luke führte und die Augen der Fluggäste, die vor Spannung kaum noch zu atmen wagten, sich auf ihn richteten, faßte er einen Entschluß. Jim Parker betrachtete aufmerksam das Inselland, das unter der Maschine wie auf einem Fließband weggezogen wurde, und blickte kühl auf. „Sprechen Sie!“ „Sie irren sich, wenn Sie annehmen, daß meine Hintermänner in der cubanischen Hauptstadt wären. Sie befinden sich im Süden der Insel.“ Jim grinste ironisch. „Damit hätten Sie früher kommen müssen, mein Lieber, und nicht zusammenzucken dürfen, als wir vorhin über diese schöne Stadt sprachen. Wagen Sie keine Finte! Kommen Sie her!“ 85
Der Dunkle sah sehr finster aus, als Wernicke mit ihm neben den Kommodore trat. Über dem Horizont drehte sich ein Lichtphantom herauf. La Habana! Die Luke schob sich mechanisch zurück. Der Flugwind stemmte sie gegen die Wand. Voller Unerbittlichkeit waren die Augen der Besatzungsangehörigen, die mit ihren Revolvern bereitstanden und darauf achteten, daß der Gangster in diesen Minuten keine Dummheiten machte. Jim wies mit ausgestreckter Hand auf das buntleuchtende Mosaik der cubanischen Hauptstadt. „Se, mein Freund, möglichst genau – denken Sie an die Pythons!“ Der Dunkle zergrübelte sich das Gehirn nach einem Ausweg. Er fand keinen. Er konnte die beiden WP-Männer auch jetzt noch täuschen, aber würden sie sich täuschen lassen? Der große Blonde ließ nicht mit sich spaßen, das wußte er. Er fand keinen Ausweg mehr. Und als das Stadtbild schon zur Hälfte unter der Maschine weggeglitten war, zeigte er unwillkürlich auf ein Viertel. „Dort!“ „Ich hoffe es im Interesse Ihrer Gesundheit!“ Der Kommodore gab ein Zeichen. Der Dunkle fühlte, wie er in die Mitte genommen wurde. Im Schiff flammten sämtliche Lichter auf, und die Scheinwerfer kreisten über das Viertel hin. Jim trug einen kleinen Heuler bei sich, den er in Tätigkeit setzte. Wie Wesen aus fremden Welten hingen sie über der Stadt. Über der Stadt, die wild wurde, die aufschrie unter dem unfaßbaren Ereignis, deren Nachtbummler zur Seite gejagt wurden von den jaulenden Jeeps des Sonderkommandos, die dieselbe Richtung einschlugen, wie die Fallschirmspringer. „Dort hinunter!“ Jim steuerte sie auf eine breite Straße, die am Hafen entlangführte und in einen Park abbog, in dem zwei, drei Landhäuser standen. Aus einem der Häuser stieg es rot auf. Feuer! Der 86
Kommodore ließ sich ausrollen und rannte allein auf das Haus zu. Wernicke folgte etwas langsamer mit dem Dunklen. In der Ferne heulten die Jeeps heran. Als Jim den Park erreicht hatte, schlug ihm wütendes MP-Feuer entgegen. Das waren sie! Überrumpelt und gestellt! Jim Parker rannte hinter eine Agave und verhielt sich ganz ruhig. Er hatte Zeit. Die Brüder hatten die Nerven verloren. Vom anderen Parkeingang her hämmerte der Laufschritt der cubanischen Elitesoldaten die weichen Wege. Und aus der ersten Etage schlugen die hellen Flammen. Mit keuchendem Atem war Wernicke neben ihm. „Den Dunklen habe ich abgeliefert. Sollen wir hier einschlafen?“ „Gleich, Fritz!“ Das Feuer der gestellten Bande verlagerte sich nun auf die Soldaten zu. Jim Parker beobachtete genau, wo die Banditen saßen. Zunächst mußte er das Mädel heraushaben. Er winkte Fritz und pirschte sich vorsichtig heran Wernicke hielt sich hinter ihm. Plötzlich stutzten sie. Sie konnten deutlich durch ein großes Fenster in einen eleganten Wohnraum sehen. Wernicke begann schauderhaft zu fluchen, als er sah, was sich dort abspielte. Es war so ziemlich das Schmutzigste, was er je gesehen hatte. Ein junges Mädchen wollte aus dem Inferno fliehen, wurde von einem Mann eingeholt und vom Fenster zurückgehalten. „Mensch, Jim – Vanstatten!“ „Los!“ Sie federten mit langen Schritten über den Rasenplatz unter dem Fenster. Wernicke bückte sich im Laufen, nahm zwei Steine auf und schleuderte sie weg. Die große Scheibe klirrte. Vanstatten fuhr herum, sah zwei Männer auf sich zuspringen und ließ entsetzt das Mädchen los, das instinktiv zu Wernicke herüberlief. 87
„Hände hoch, Vanstatten – aber mit Überschallgeschwindigkeit, großer Menschheitsbeglücker!“ Ohne ein Wort zu erwidern, nahm der Gelehrte die Hände hoch. Doch der Kommodore kam um seine Beute. Aus dem Halbdunkel des in den heranprasselnden Flammen verschwimmenden Raumes blitzte es auf. Vanstatten rührte sich zunächst nicht, dann verzog er das Gesicht, und in einer halben Drehung sackte er zusammen. Freund Awanoff hatte ihn davor bewahrt, Aussagen machen zu müssen und die „große Sache“ zu verraten. Wie sein grausames Gesetz es befahl. * Aber auch Awanoff kam nicht davon. Jim Parker jagte ihn ohne Erbarmen, bis er bewußtlos zusammenbrach. In der albanischen Hauptstadt wurde er zwei Monate später unter der Anklage des Mordes, des Landfriedensbruches und zahlreicher anderer Delikte vor das höchste albanische Gericht gestellt. Es reichte aus, ihn zum Tode zu verurteilen. Und selten waren sich Generalstaatsanwalt und Richter so einig gewesen. Die Toten der „Rhein“ und der „Nil“ und die drei Fluggäste, die an Bord der „Amazonas“ dem rasenden Mitverschwörer, den sie den „Dunklen“ nannten, zum Opfer gefallen waren, forderten Sühne. Es bestand kein Zweifel mehr daran, daß Awanoff der böse Dämon dieser Verbrechen gewesen war. Mit seinem sturen, verschlagenen Gesicht nahm er das Urteil an. Als Vera Rohe das Gerichtsgebäude verließ, stand ein junger Mann vor dem Portal und trat auf sie zu. Sie stutzte und reichte ihm impulsiv die Hand. „Herr Ellenberg – wieder genesen?“ 88
Er war mächtig verlegen und wußte nicht, wohin mit seinem Blumenstrauß. „Ich muß mich noch bei Ihnen entschuldigen, Fräulein Rohe. Leider konnte ich Sie nicht nach Cuba begleiten, weil uns ein dummes Auto in die Parade fuhr …“ „Ich habe davon gehört“, lächelte sie wohlwollend. „Sie sind hinreichend entschuldigt.“ Er atmete dreimal tief auf. „Das beruhigt mich.“ Und wieder wurde der Strauß gedreht. „Tja, und dann wollte ich etwas fragen.“ „Bitte?“ „Ich möchte mich mal erkundigen, ob Sie etwas dagegen haben, mit mir nach Deutschland zurückzufliegen?“ Vera Rohe hatte nichts dagegen. * Sie blieb in Hamburg bei der Firma „Ellenberg & Brandly. Ingenieurbüro“ als Sekretärin. Aber Ellenberg sah den Zeitpunkt nahen, wo er sich nach einer neuen Kraft umsehen mußte; denn seine Frau würde andere Aufgaben haben. Außerdem blühte das junge Unternehmen, seit sich weltweite Organisationen ihrer Idee zur Verwertung der Sonnenkraft angenommen hatten. Als in Berlin zwei neue Delta-Schiffe getauft wurden, fuhren die drei hin und konnten nach dem Festakt Jim Parker und seinem festesfreudigen Steuermann die Hände schütteln. „Hoffentlich müssen Sie mich nicht wieder auf ein Sofa legen“, sagte der Rothaarige besorgt zu Wernicke, als die ganze Gruppe unter Führung von Direktor Förster, der heute wie die liebe Sonne strahlte, zur Terrasse ging, wo ein kleiner Imbiß ihrer harrte. Wernicke war in Hochform. Vor ihnen lagen drei Wochen Deutschlandurlaub mit Rheinfahrten, Heimatbesuchen und allen Schikanen. Er grinste. 89
„Wenn Sie heute nacht als ‚Fröhlicher Verkünder’ mit mir die Bars bekehren wollen, bestimmt“ „Sie unterschätzen mich!“ „Na, warten wir ab!“ Sie gruppierten sich an den Tischen unter dem rot-weißen Sonnendach. Förster nahm den Kommodore beiseite. „Mir ist eines noch nicht klar“, sagte er leise und drehte sein Glas. „Warum, um alles in der Welt, hat Vanstatten uns soviel Leid und Schaden zugefügt.“ „Die Untersuchungen wurden von unserem Sicherheitsdienst erst in der vergangenen Woche abgeschlossen“, erklärte Jim ihm bereitwillig. „Was im allgemeinen über Vanstatten bekanntgeworden ist, stimmt. Noch nicht bekannt ist, daß er spurlos verschwinden und so seinen weltanschaulichen Wechsel vertuschen wollte. Dazu sollten ihm die Abstürze der DeltaSchiffe dienen. Er selber ist wenige Minuten vor dem Absturz der ‚Rhein’ aus dem Schiff abgesprungen und von einem UBoot jenes Geheimdienstes aufgefischt worden. Vorsichtshalber hatte er nur einige seiner wertvollen Unterlagen mitgenommen und ließ die anderen von Fräulein Rohe nach Cuba überbringen, die er unter einem Vorwand – ihre Tante war allerdings wirklich erkrankt und ist inzwischen wiederhergestellt – nach der Insel lockte, nachdem sein Versuch, diese Unterlagen durch einen Einbruch bei ihr an sich zu bringen, fehlgeschlagen war.“ „Aber warum dann noch die Tragödie der ‚Nil’ und der Anschlag auf die ‚Amazonas’, der nur mißlang, weil Sie an Bord waren?“ „Eiskalte Berechnung! Eine Serie von Abstürzen konnte sein Verschwinden noch erklärlicher machen und alle anderen Spekulationen ausschließen. Außerdem erprobte er bei dieser Gelegenheit eine neue Methode zur Zerstörung der Materie.“ „Ein Teufel in Menschengestalt“, schauderte der Direktor. Jim nickte. 90
„Ein seelenloser Materialist. Wir werden uns in Zukunft vor solchen Elementen noch mehr schützen müssen als bisher. Da starten übrigens Ihre beiden neuen Schiffe zum ersten Deutschland-Rundflug.“ Ein Brausen erfüllte jubelnd und siegreich die Luft. Zwei silberne Riesenpfeile schossen hoch „Rhein II“ und „Cuba“. Der tiefblaue Sommerhimmel nahm sie auf. „Meine Schiffe“, sagte der Direktor ergriffen. Spontan erhoben sie sich und winkten ihnen nach. Jim Parker und Förster reichten sich die Hände. „Ich danke Ihnen, Kommodore!“ Jim wehrte bescheiden ab. „Wir müssen alle zusammenstehen, wenn die Technik der gute Engel für alle Menschen werden soll.“ Hoch über ihnen verklang das Singen der Riesenschiffe, wurde aufgesogen von dem warmen Sommerwind, der den herben Duft reifender Felder über das Land trug. Der Direktor verstand, was Jim mit seinen Worten sagen wollte, und sah ihm fest in die Augen. „Ja, Parker – das wollen wir!“
- ENDE -
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Vorschau auf UTOPIA, 34. Band
Professor Varras, der berühmte Atomforscher, hat ein neuartiges Triebwerk für Raumschiffe erfunden. Bis an die Grenzen des Sonnensystems soll der neue Motor die Weltraumfahrzeuge in Rekordzeit treiben. Mit einer Handvoll unerschrockener Gefährten unternimmt Kommodore Parker das große Wagnis eines Vorstoßes zum Saturnmond Titan. Doch inzwischen zieht eine furchtbare Bedrohung für Erde und Menschheit herauf. Ein wahnsinniger Erfinder hat eine Methode ersonnen, durch die er alles Lebendige auf Erden in Sekundenschnelle vernichten kann. So wird das „Unternehmen Titan“ schließlich zu einem Wettrennen auf Leben und Tod, in dem sich das Schicksal von Milliarden Erdbewohnern entscheidet.
Nur 1 Mal im Monat kommt jetzt ein UTOPIA-Kleinband! Dafür erscheint neuerdings jeden Monat ein neuer
UTOPIA-Großband SCIENCE FICTION in deutscher Sprache. Sämtliche bisher erschienenen UTOPIA-Kleinbände (Jim Parkers Abenteuer im Weltraum) von Nr. 1–32 sind beim Verlag noch vorrätig. Sollten Sie die gewünschten Nummern durch Ihren Zeitschriftenhändler nicht beziehen können, dann wenden Sie sich bitte direkt (verwenden Sie hierfür bitte den umseitigen Bestellzettel) an den Verlag Erich Pabel, Rastatt (Baden).