Alf Rolla
Abgebrüht Kriminalroman
eBook-Edition
Impressum edition dibi ISBN 3-89856-062-7 © by Alf Rolla, Köln © 200...
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Alf Rolla
Abgebrüht Kriminalroman
eBook-Edition
Impressum edition dibi ISBN 3-89856-062-7 © by Alf Rolla, Köln © 2000 eBook-Edition by dibi GmbH, Hamburg www.dibi.de
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1. PROLOG Mittwoch, 8. Juni Draußen herrscht eine klare Sommernacht. Noch nicht einmal der Ruß aus dem Kölner Süden kann sie verdunkeln. Von der Schwüle ganz zu schweigen. Der viel zu große Jogginganzug in Navy wäscht sich die Hände, trocknet sie aber nicht ab. Und hütet sich vor einem Blick auf das Spiegelbild. Dafür schaut er auf seine Armbanduhr und nickt erleichtert: acht Minuten vor Mitternacht. Dann dreht er sich um 180 Grad und starrt auf die hellbraune Tür. Er füllt die Lungen mit Luft und geht nach nebenan. Noch nicht einmal eine Sekunde später zerrt er einen Wäschekorb in das Badezimmer und hievt ihn auf eine Sackkarre. Dann stützt er beide Ellenbogen auf den Korb und lässt für einen Moment den Kopf sinken. Er stößt Luft durch die Lippen aus, so wie Bergleute es gerne tun, wenn sie sich an den Förderkorb lehnen. Ihm ist so, als habe er eine Filmrolle im Kopf. Zwei Spatzen im Vogelnest lassen sich Schrimpscocktail 3
mit jungem Lauch, Champignons und lauwarme Minibrötchen servieren. Schnitt. Schwitzen im französischen Bett. Schnitt. Abkühlen im Whirlpool. Wann ist endlich diese Spätvorstellung zu Ende? Wann holt sich das Zentrale Nervensystem wenigstens ein Magnum? Mann, reiß dich zusammen! Langsam schiebt er die Karre auf den Gang. Zur Tür zum Notausgang. Leise öffnet er die Eisentür und ist im gelbgestrichenen Treppenhaus. Grüne Neonröhren verschenken ein trübes Licht. Der Boden ist schmutzig. Zwischen den Staubbällchen rollt die Karre die Treppen herunter: Plooop! Etage für Etage, Stufe für Stufe. Plooop! Er hat das Gefühl, er sei seinem Körper entstiegen. Und würde nur als Zuschauer eine traurige Gestalt ächzen sehen. Das Fieber steigt. Die Nike-Schuhe quietschen auf dem Boden. Auf jeder Etage dreht er den Kopf und wirft der Tür einen finsteren, ängstlichen Blick zu. Doch niemand geht Patrouille auf dem fast vergessenen TrimmDich-Pfad. Plooop! Auf einem Flur tönt jemand mit einer Gackerstimme. Der Wortlaut scheint nicht für den Flur bestimmt zu sein. Plooop! Irgendwo zwischen zwei Etagen beugt er sich über die Karre, rollt die 4
Schulter und schnauft leise. Und weiter geht es. Plooop! Nach Wieviel-Minuten-Auch-Immer ist er unten. Plooop! Da ist wieder eine Eisentür. Er zögert etwas. Leise öffnet er sie. Und schiebt die Karre weiter. Das Licht in der Küche lässt sein Blut auf Kühlschranktemperatur sinken. Er steht da wie angewurzelt unter der Eiswasserdusche. Ein billiges Radio plärrt Bat Out Of Hell. Aber sonst ist nichts zu hören. Nur Schwüle wälzt sich durch den Gang. Weiter! Er reißt wieder eine Eisentür auf. Nichts passiert. Er lugt um die Ecke, plötzlich steht er in der Tiefgarage und entdeckt den Dinosaurier der Straße in Altrosa. Der messerscharfe Blick kann in sekundenschnelle kalt funkeln. Er sieht den Korb an, lacht leise und reibt sich die Hände. Trotzige Züge ummalen den Mund. Die Haut des viel zu großen Jogginganzuges in Navy glüht. Aber nicht von der Sonne. Er lehnt sich an die Wand und seine Knie geben nach. Gleich kann er sich umziehen. Auf ihn wartet das grüne Trikot des Siegers. Er ist dem gottverdammten Dschungel entkommen.
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Donnerstag, 9. Juni Der silbergraue Vectra 2000 ist innen heiß wie ein Backofen. Hans-Werner Koritzius schleicht die Mülheimer Freiheit entlang und sucht einen Parkplatz. Vor dem "Pelikan" ist einer frei. Rückwärts fährt er in die Lücke und verlässt schnell den Brutkasten. Er geht ein paar Schritte zurück, biegt in die Münzstraße ab und riecht schon den nahen Rhein. In seinem Innern bemüht er sich um Ruhe. Doch die Angst geht Patrouille. Sie ist wie ein Bluthund an einer scharfbewachten Grenze. Der Hauptkommissar schaut auf seine Armbanduhr. Vier Uhr. Um diese Stunde ist längst jeder Optimismus verflogen. Für einen Moment wünscht er sich, er hätte in einem Tiefkühlhaus Halt gemacht. Denn er fühlt sich wie abends um 8, wenn seine ganze Energie im Keller ist. Sein volles Gesicht zeigt die Züge eines abgeklärten, gemütlichen Mönchs. Viele halten ihn für ein Felsgestein, dabei ist er zerbrechlich wie hauchdünne Stalagmiten. Er zeigt regelrecht Aversionen, unter Leute zu gehen. Freizeitmenschen scheinen ihm Angst einzujagen. Schon seit einiger Zeit taucht er nicht mehr bei Spielen der Haie auf. Besucht keine Versammlung vom SPD Ortsverein Neustadt-Süd. Und lässt auch den Stammtisch im "Wikinger" sau6
sen. Dafür hat er keine Zeit. Bei ihm ist nach Feierabend Ärzte-Hopping angesagt. Langsam steigt er mit routinemäßig herabgezogenen Mundwinkeln die zehn Stufen zum Uferweg runter. Die Luft ist von frischgemähtem Rasen erfüllt. Sein rotes Poloshirt ist hinten aus der Hose gerutscht. Von weitem nickt er den Beiden zu, die ihm von den drei Pappeln mit den schuppigen Rinden entgegenblicken. Der Gedanke an die letzten Stunden ist wie ein Blutegel, der nicht von ihm loslassen will. Erst klagte er über Juckreiz und Skabies. Ein Dermatologe probierte alle Mittelchen aus. Ohne Erfolg. Dann folgte eine Knochenhautentzündung. Ein Orthopäde war gefordert. Und versagte. Schließlich klagte Koritzius über Gleichgewichtsstörungen. Ein HNO-Arzt verschrieb Pillen. Ein Heilpraktiker auch. Nichts brachte etwas. Schließlich rief seine Frau Bärbel den Hausarzt an, um zu hören, dass wahrscheinlich seine Seele krank ist. Hans-Werner Koritzius ging wieder auf die Suche nach einem Arzt. Einem Psychotherapeuten. Aus dem Branchenbuch suchte er sich Dr. Regine Schwirtz aus. Weil die ihre Praxis in der Nähe seiner Wohnung in der Jülicher Straße hat. Obwohl bei der Seelenklempnerin eine Couch in der Ecke steht, bevorzugt sie nicht das von Freud erprobte Werk7
zeug. Von Angesicht zu Angesicht in ungemütlichen Ohrensessel hat Koritzius in der letzten 50Minuten-Stunde von seinen Begegnungen im Freibad berichtet. Voller Stolz erzählte er von seinen Plaudereien mit wildfremden Menschen. "Ich habe meine Schüchternheit überwunden?" Doch das erwartete Schulterklopfen blieb aus. Dafür bekam er etwas eingeschenkt, was er so nicht bestellt hatte: "Sie sind menschenverachtend! Sie machen alle Leute zu Werkzeugen, nur um über den eigenen Schatten zu springen." Starker Tobak. Petra Braun steht vor der weiß getünchten Clemenskirche neben den Bäumen und wartet auf ihn. "Kein schöner Anblick." Obwohl sie schon viele Leichen gesehen hat, hat sie diesen Toten mit einer Mischung aus Ekel und Ungläubigkeit betrachtet. Ihr Gesicht ist noch immer kreidebleich, die Knie zittern. Die Worte verunsichern ihn nicht. "Stellen Sie sich nicht so an", entgegnet Hans-Werner Koritzius ohne mit der Wimper zu zucken und blickt sich um. Der Mann neben seiner Mitarbeiterin ist Dr. Giovanni Ahorn. Er blinzelt in die Mittagssonne. Hat noch immer eine Gänsehaut auf Armen, Beinen und Hals. "Ein Mann. Vermutlich erdrosselt." Seine Brauen ziehen sich zusammen, der Ausdruck in seinen Augen ist leer. "Das Kinn ist zerschmettert, ein Bak8
kenknochen wurde gebrochen." Er spricht mit fiebernder Lebhaftigkeit. "Ob das passiert ist, bevor der Tod eintrat, kann ich so noch nicht sagen", fährt der halbitalienische Glutaugenarzt fort. Wieder ziehen sich die Augenbrauen zusammen. Petra Braun wirft ihrem Kollegen einen langen Blick zu. Sie kann das Schlagen des Pulses an seinem Hals erkennen. Ihr Hirn hat immer noch Schwierigkeiten damit, dass viele Kärrner offenbar einer Meinung sind, keine Emotionen zu zeigen. Neuerdings wirkt sie auch zu oft wie ein unsensibler Klotz. Auch wenn sie das Hemd auf dem Rücken kleben spürt. "Schon eine Ahnung, wer das ist?" will Koritzius wissen. Er spricht, als würde er eine schlichte Tatsache benennen. Wie jemand, der im Lexikon nachgeschlagen hat, dass Asien mit über 40 Millionen Quadratkilometern der größte Kontinent der Erde ist. Dabei schnäuzt er sich. Er ist erkältet und verschnupft. Sommergrippe. Die Kripo-Hauptmeisterin zuckt die Schulter und zeigt in Richtung der Leiche. Dr. Ahorn gibt seine Vermutung preis: "Bestimmt ein Serientäter... Mit dem Hang zum Spirituellen." Bei dem Serientäter zuckt Petra Braun etwas zusammen. Unbeabsichtigt. Wie jemand, der längst den Punkt erreicht hat, an dem sich seine Nerven selbstständig machen. Dr. Ahorn greift zu seinen 9
Zigaretten. Aber die Packung ist leer. Er knüllt sie zusammen und steckt sie in die Hosentasche. Direkt unter dem Schild 692 liegt ein Tuch. Ohne jede Aufforderung schiebt es ein junger Bulle mit einer Bardenfrisur zur Seite. Er wirkt noch immer sichtlich blass. "Scheiße", sagt er mit leiser, zitternder Stimme. Hinter der Bank liegt ein Mann. Nackt. Mit blicklosen Augen starrt er in den Himmel. Sein Körper ist bedeckt mit roten Flecken von Verbrennungen oder Schlägen. Die Füße sind mit bonbonfarbenen Plastikriemen zusammengebunden. Der Mund ist geöffnet. Die Zunge hängt zwischen den Zahnreihen. Die Brustwarzen und der Penis sind mit sauberen Schnitten entfernt worden. Im Mund steckt eine Glasscherbe. Über dem Toten kreist ein Schwarm von Fliegen. Ungefähr zehn Zentimeter daneben liegt eine Wäscheklammer. Zufällig? Ein Blitz zuckt durch die Augen von Koritzius. Mehr Anteilnahme erlaubt er sich nicht. Aber er spürt den Blick des Beamten, der abzuschätzen versucht, was Koritzius gerade fühlt und denkt. "Wer hat ihn gefunden?" schnattert er und fixiert seine Kollegin an, die mit aufeinander gebissenen Zähnen neben ihm steht. Er muss sich nicht extra bemühen, seine Gefühle unter Kontrolle zu halten. Sein Unterbewusstsein weiß, was von ihm erwartet wird. "Eine Rentnerin, die sich auf der Bank ausruhen 10
wollte, sagt sie betroffen. "Die Frau hat hinter sich einen Sack liegen gesehen und reingeschaut ..." Koritzius hebt seine Stimme an, um ihr mehr Gewicht zu verleihen: "...Und wo ist die?" will er wissen und gähnt etwas. "Die ist mit einem Schock ins Krankenhaus gebracht worden." Mit schräggestelltem Kopf starrt er auf die Leiche: "Der Tod ist offenbar erst vor ein paar Stunden eingetreten. Es fehlt jeder Verwesungsgeruch." Petra Braun wünscht sich, der harte Klumpen im Magen würde sich endlich auflösen. Das Herz klopft ihr noch immer bis zum Hals. Aber sie spricht die Worte, die sie eigentlich sagen will, nicht aus. Für einen Moment schließt sie die Augen. Wolken treiben an der Sonne vorbei. Aber die können nichts ausrichten. "Hat sonst noch jemand was gesehen?" Die Blondine schüttelt den Kopf. An ihrem ganzen Körper spürt sie jetzt die Feuchtigkeit. Sie kann nicht zur Seite schauen, der Anblick verschafft ihr sofort ein Gefühl des Grauens in den Eingeweiden. Das hat sie so noch nie erlebt. Koritzius nickt, dreht sich um und geht zurück. "Ich habe noch einen Termin", murmelt Koritzius beiläufig. Okay, sagt er zu seinem Gehirn, mach einen Korken drauf. "Sie sollten sich nicht zu sehr hängen lassen", streicht er ihr aufs Butterbrot. Meint, Lebenshilfe zu leisten. Sie reagiert überhaupt nicht. 11
Gedanken an ein bizarres Leben jagen unverhofft durch seinen Kopf. "Privat", wirft er noch hinterher. Aber das hat niemand mehr mitgekriegt. An der Anlegestelle der Köln-Düsseldorfer bleibt er stehen. Der Polizist mit der Bardenfrisur rennt vorbei, rempelt ihn an. Sofort stoppt er: "Entschuldigung, Herr Kommissar." "Schon gut." Die Stimme von Koritzius vibriert. Er fährt sich über die Oberlippe. Dort, wo sich einige Schweißperlen breit gemacht haben. Er spürt: Nichts ist gut.
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2. Der Magen von Hans-Werner Koritzius knurrt, aber er verdrängt seinen Hunger. Direkt von Mülheim fährt er zum Zülpicher Platz. Und pünktlich um 5 Uhr sitzt er in dem ungemütlichen Ohrensessel: in der in Birnenholz eingerichteten Praxis. "Wie war bis jetzt der Tag?" will Dr. Regine Schwirtz wissen, während sie sich mit hochgezogenen Beinen in einen Rattan-Schaukelstuhl hinflegelt. Ihr kastanienbraunes Haar ist schon von wenigen grauen Fäden durchzogen. Sie trägt es länger als die meisten Frauen ihres Alters. Immer wirkt sie wie eine Frau, die alle Menschen mit dem gleichen unparteiischem Respekt behandelt. Nach ihrer Scheidung hat sie sich von einer grauen, gar nicht attraktiven Psychologin zu einer strahlenden Karrierefrau gewandelt. Das Gefühl, versagt zu haben, nagte aber fünf Jahre an ihrem Selbstwertgefühl. Dann machte sie selbst eine Therapie. Tauschte ihre Schneewittchen-Frisur gegen einen frechen Schnitt ein. Farbige Kontaktlinsen von Optik Oberländer ersetzen inzwischen das Gestell von Ring-Optik. Statt vergammelter Jeans, grauer Wollpullover und 13
ausgetretener Springerstiefel bevorzugt sie heute feminine Kleider, bunte Leinenblusen mit Schulterpolstern und Sommerstiefel aus Nubukleder. Früher gab sie selbst niemals Einblick in ihr Seelenleben. Heute spricht sie schon mal offen über Schmerz und Betroffenheit. Natürlich nur im Privatleben. Aber nie über ihre verkrüppelte Biografie. "Nicht schön! Wir hatten einen Mord ..." Er hält abrupt inne, schüttelt energisch den Kopf, als habe er sich selbst beim Ausplaudern ertappt. Er steht auf, will zum Fenster gehen und gerät leicht ins Taumeln. Sofort setzt er sich wieder hin. Mit einem Lächeln. Sie betrachtet es und fragt sich, warum er das eingeübt hat. Da schwenkt er auch schon um: "Wie komme ich eigentlich voran?" Mit dem rechten Zeigefinger reibt er sich den Nasenrücken. Ihm ist grundlos eingefallen, wie er sich als Junge zum ersten Mal Pariser gekauft hat, obwohl er sie gar nicht brauchte. Die zog er über seine Finger und lief so über die Kalker Hauptstraße. Das Kopfschütteln von Passanten bellte ihm entgegen. Der Kleine wusste damit nichts anzufangen. Wenn er daran denkt, schaudert es ihn noch heute. Der ruhige Blick von Regine Schwirtz verweilt auf dem Patienten. "Sie machen gute Fortschritte", sagt sie und hat das Gefühl, mit einem Kind zu reden. Dabei schenkt sie sich Eistee ein. Als sie das Glas 14
hebt, sieht Koritzius zum ersten Mal, dass sie einen Ehering trägt. Schon bei der ersten Konsultation hat sie ihn angemacht. Doch er war klug genug, keinen Versuch zu unternehmen, mit ihr auf einer privaten Ebene zusammenzukommen. Ob die private Regine ebenso unnahbar ist wie die Psychotherapeutin Dr. Schwirtz? Überhaupt weiß er nichts über ihr Leben außerhalb der Praxis. Vielleicht verleiht gerade dieser Umstand allem einen so prickelnden Reiz. Vielleicht ... Sie ist eine tolle Zuhörerin. Ob sie im Privatleben ebensolche Stärken und Schwächen hat wie er? Klar! Aber diese Seiten bekommt er nicht zu sehen. Noch nicht. Seine Miene bleibt unbewegt. "Wird auch Zeit", platzt es aus ihm heraus. Über so viel Entschiedenheit ist er selbst überrascht. Sie lächelt unter ihrem dezenten Make-up. Dabei kräuselt sich ihre Nase. Einen Augenblick sagt niemand etwas. Zwei kleine Vögel lassen sich auf dem Balkon vor ihrem Fenster nieder. Vergeblich hoffen sie auf ein paar Brösel. Darum geht nach zwei Minuten die Tournee weiter: zum nächsten Balkon. Die Psychotherapeutin hat die Beine nicht mehr hochgezogen, sondern schlägt sie in Erwartungshaltung übereinander. Durch das offene Fenster startet eine Wespe zum Kamikaze-Angriff. Eine 15
Zeitung in der Hand von Koritzius beendet ihr Leben. Das rote Hemdblusenkleid von Regine Schwirtz ist am Hals gerade weit genug aufgeknüpft, um einen üppigen Busenansatz zu enthüllen. Noch bevor die Ärztin Bruchstücke im Leben ihres Patienten auflesen kann, hat er schon wieder den Gang mit dem Selbstmitleid eingelegt. Der Polizist beugt sich in dem Sessel ganz nach vorne. Und drückt seine rechte Hand leicht auf den Bauch, als wolle er eine Spannung lösen. "Von meinen gesundheitlichen Problemen will ich gar nicht erst anfangen. Die sind unverändert", sagt er ernst und klopft mit einer unangezündeten Zigarette auf der Schachtel herum. Sie reagiert mit einem leichten Nicken. "Als ich die Behandlung bei Ihnen begann, hatte ich nur vor einer bestimmten Autobahnbrücke Angst. Ich habe sie umfahren. Dann haben Sie mir von der Zeit erzählt, wie das war, als Sie gerade den Führerschein gemacht haben. Von Ihrer kleinen Angst, sich nachts auf der Autobahn einzufädeln. Und genau diese Angst habe ich bekommen. Nur, bei mir ist sie nicht klein." Liebend gerne würde er sich jetzt eine Zigarette anstecken. Aber das duldet sie nicht. Also steckt er sie wieder in die Packung. Der Frust ist von seinem Gesicht abzulesen. Im Nachbarzimmer klingelt das Telefon. 16
Sofort springt mit einem Knacken der Anrufbeantworter an. Dr. Regine Schwirtz geht nur zwei Mal in der Woche selbst dran, wenn sie jeweils 30 Minuten Telefonsprechstunde hat. Nach ein paar Sekunden kann er wieder den Faden aufnehmen. "Und heute kam noch eine andere Angst hinzu. Ich war mit dem Auto unterwegs. Da setzte ein Regenschauer ein. Sofort kriegte ich ein mulmiges Gefühl." Seine Augen schweifen hilflos von der Decke zum Fenster hin und her, als könne er dort eine Bestätigung für seine Vorwürfe finden. Dann versinken sie in die Betrachtung einer Büroklammer, die er auf dem Boden des Wartezimmers gefunden und aufgehoben hat. "Beschreiben Sie die Angst", bittet sie. Ihr ruhiger Blick verweilt auf ihrem Gesprächspartner. Das ist um Lichtjahre leichter gesagt als getan. Seine nervösen Finger verbiegen die Büroklammer. "Scheiße", schnaubt er. "Meine Hände wurden feucht und in meinem Magen spürte ich einen dikken Stein." Er fährt sich mit der rechten Hand über das Kinn. Lässt die Klammer auf den Tisch fallen. "Und mein Herz fing zu rasen an... Scheiße... Machen Sie was!" Seine Gedanken schwingen ständig wie ein Pendel hin und her: Der Fall, sein verkorkstes Leben. Er zermartert sich das Gehirn. Ein wenig Angst keimt 17
auch in ihm, dass sie einmal entscheiden könnte, ihm keine Termine mehr zu geben. Weil er nicht über das spricht, was ihn wirklich aufwühlt. Für so etwas ist sie zu souverän, beschließt er. Hofft er. Denn sie strahlt so viel Gelassenheit aus. "Bin ich denn an Ihren Ängsten schuld?" Trotzig starrt sie ihn jetzt an. Ihre sanfte Altstimme ist etwas verschwommen geworden. Er will nicht seinen Zorn bändigen. "Jetzt spielen Sie wieder die Märtyrer-Rolle." Auch seine Stimme hat sich verändert. Sie ist jetzt kehlig, heiser. Das macht ihm selbst ein bisschen Angst. Seine langen Pause zwischen den Sätzen sind eine einzige Frage: Ob er noch dem nachhinkt, was er bereits gesagt hat, oder schon etwas in Gedanken formuliert. Regine Schwirtz schaut ihn weiter direkt an: "Sie suchen einen Wunderheiler. Das bin ich nicht. Trauen Sie mir eigentlich wirklich zu, dass ich Ihnen Ängste nehmen und einflößen kann?" Koritzius sagt nichts, stellt sich aber die Sinn-Frage. Minuten des Schweigens vergehen.Er studiert seine Fingernägel. Schaut ins Leere, um seine Gedanken besser formulieren zu können. "So ist es in jeder Stunde", beginnt sie, schüttelt achselzuckend den Kopf und sieht das Taschentuch, das er in der rechten Hand festumschlungen hat. "Sie bereiten sich vor. Aber nach einer Viertelstunde haben Sie ihr 18
ganzes Pulver verschossen, das Sie hier loswerden wollten ..." "...Jetzt machen Sie mal halblang", fordert er und gerät ins Stocken. "Sie sind in dieser Show der Entertainer." Seine Stirn ist unwillig gerunzelt. In ihren Augen spricht er wie ein Schlafwandler, der sich gar nicht mehr um die Zusammenhänge kümmert. Koritzius weiß nicht, ob er nochmal explodieren oder aufstehen und gehen soll. "Waaas bin ich?" forscht sie nach. Fixiert ihn mit großen Augen. Und fühlt sich, als hätte sie eine Backpfeife bekommen. Aber ihre Miene zeigt fast keine Reaktion. Sie zieht nur kurz die Augenbrauen hoch. Ihre Mundwinkel sind leicht nach unten gezogen. Von einem Adrenalinstoß getrieben stürzt er sich wie Lemminge ins Wasser. "Der Entertainer!!!" Das Gesicht ist vor Wut gerötet. "Diese Einschätzung meiner Person ist typisch für Sie", beginnt sie mit ihrer fossilen Achtung vor dem Gegenüber. "Die Leute im Freibad benutzen Sie als Instrument, um ihre Schüchternheit zu überwinden. Mich reduzieren Sie auf die Rolle eines Unterhalters." Sie sieht ihn weiter mit großen, braunen Augen kopfschüttelnd an. Seine Nerven liegen blank. Er ist auf Treibsand geraten und starrt sie kühl an. 19
*** Hans-Werner Koritzius spürt eine leichte Übelkeit, als die fünfzig Minuten endlich vorbei sind und er die Praxis verlassen kann. Mit feuerrotem Kopf und zittrigen Händen lehnt er sich wie ein Besiegter an eine Wand des Hausflures. Irgendwo im Haus klakkern Stöckelschuhe. Aber keine Menschenseele ist zu sehen. Gerne hätte er jetzt irgendwo einen Wasserkran aufgedreht und sein heißes Gesicht benetzt. Er muss an Dr. Regine Schwirtz denken. Sieht sie in ihrem Rattan-Schaukelstuhl sitzen. Hat sofort ihr Joop! Femme in der Nase. Er lächelt ein begehrendes Lächeln, das ihm ein wenig peinlich ist. Zwei spektakuläre Morde hat er im letzten halben Jahr geklärt. Aber der Erfolg verliert sofort wieder jede Faszination, wenn ihm nicht bald ein neuer Triumph folgt. Und je größer die Schlagzeile war, desto lauter verlangen Kollegen und Medien nach einer Neuauflage. Möglichst sogar nach einem Hattrick. Er wühlt in einem Albtraum. Was haben abgeschnittene Brustwarzen und Penis zu bedeuten? Und die Glasscherbe. Ist die Verstümmelung der Schlusspunkt einer bizarren Beziehung? Was erschreckt ihn am meisten? Ein Bericht in der Rheinischen Post. Dass unter der Haut ganz normaler Menschen oftmals ganz ungewöhnliche sexuelle Bedürfnisse schlummern, steht dort. Und wenn das 20
wirklich so ist, was bedeutet das für seine Arbeit? Koritzius bekommt plötzlich Angst, die Sache könne ihm aus den Händen gleiten, bevor er sie überhaupt im Griff hat. Sofort geht sein Atem schneller. Sein Magen krampft sich. Mit dem Aufzug fährt er ins Erdgeschoss. An der Tür schlägt ihm flirrende Hitze entgegen. Gegenüber sind zwei Telefonzellen. Er entscheidet sich für die rechte. Und ruft Paul Kratzenstein an: "Gibt's noch was? Ich komme nicht mehr rein." Der Leitende Kriminaldirektor ist damit einverstanden. Was macht der überhaupt noch im Laden? Die Augen von Hans-Werner Koritzius verengen sich. Er ist nicht daran gewöhnt, Angst zu haben. Und die Frustration gewinnt die Oberhand. Zu Instrumenten reduzieren ... Menschenverachtend. Er hält mitten im Zug seiner Zigarette inne und bricht in tiefe Traurigkeit aus. In der Eschen-Apotheke holt er sich CalziumBrausetabletten und eine Anti-Allergie-Salbe. "Habe mir wohl irgendetwas geholt", sagt er mit zittriger Stimme. Eine Frau mit Veilchenaugen rät ihm: "Ihre Quaddeln sollten Sie nicht auf die leichte Schulter nehmen." Tut er auch nicht. Denn er ist klug genug zu wissen, dass er niemals genug weiß. Morgen wird der geistige Zappelphilipp zum Hautarzt gehen. 21
Bei Alibi in der Engelbertstraße kauft er sich "Der große Schlaf" von Raymond Chandler. An einem Büdchen keucht er kurzatmig: "Eine Cola." Ihm schwindelt. Der Bulle schaut auf den Becher in seiner Hand. Lässt einen Augenblick das Eis kreisen. Dann trinkt er alles auf ex. Hans-Werner Koritzius will neugierigen Fragen seiner Frau aus dem Weg gehen. Darum meldet er sich nicht bei ihr. Für sie darf so etwas wie heute Mittag nicht sein. Und ist es auch nicht. Aber seine Maxime lautet: Glaube immer, dass jeder Mensch ein Verbrechen begehen kann. Auch dein bester Freund! In der Tiefgarage am Hohenstaufenring hängt ein Geruch von ölbeflecktem Beton in der Luft. Darum steigt er schnell in seinen Wagen und schaltet das Gebläse ein. Dabei schaut er in den Innenspiegel und schüttelt langsam den Kopf: Warum habe ich mir das überhaupt bieten lassen? Gleichzeitig holt er ein Tempo aus dem Handschuhfach und wischt über sein glänzendes Gesicht. Sein Körper fühlt sich an, als sei er aus Blei. Er fährt in Richtung Südstadt. Hinter dem Barbarossaplatz zieht sich plötzlich der Himmel zusammen. Ängstlich schaut Koritzius hoch: Seine Hände werden feucht, in seinem Magen rumpelt ein Stein. Und sofort spürt er, wie sich Angst in seine Seele 22
schleicht. Die ersten Tropfen lassen ihm das Blut gefrieren. Sein Atem wird immer schneller. Allmächtiger Gott! Und er ergibt sich wieder seiner Angst. Seine Hände haben das Steuer umklammert. Es gießt wie aus Kübeln. Die Dachrinnen laufen über. "Scheißescheißescheiße", keucht er. Sofort biegt er nach rechts in die Eifelstraße ab, bleibt am Straßenrand stehen, starrt auf die Regentropfen,die über die getönte Scheibe kriechen.Und auf dem frischpolierten Lack zu Perlen werden. Sein Atem bildet auf dem Glas eine beschlagene Stelle. Wegen der Feuchtigkeit beschlagen Augenblicke später alle Scheiben. Den Wind lässt er durch die Fenster blasen, um die Panik zu vertreiben. Immer wieder wischt er sich mit der Hand, die so kalt ist wie Marmor, über den Mund. Seine Gedanken fliegen hin und her,zwischen dem Seelen-Striptease und dem Toten, dem kurzen Telefonat mit Kratzenstein und dem nicht erfolgten mit seiner Frau. Gut, dass ich nicht ins Freibad gefahren bin. Bei dem Wetter. Mit beiden Händen massiert er seinen Nacken. Aber der Hammer von Kopfschmerzen nimmt noch eine Skaleneinheit zu. Und Fetzen seiner Träume hüllen ihn noch ein. Er sieht sich in seinem Zimmer. Einen Arm quer vor das Gesicht haltend, angstvoll blickt 23
er zur Tür. Und späht verschreckt durch seine kleinen Finger. Hyänengelächter schlägt ihm entgegen. Der Regen ist schnell nur noch eine Spur Dunst. Der Ängstliche schaut in den Spiegel und sieht zwei blutunterlaufene Augen. Er wartet einen Augenblick ab, bis sein Atem wieder regelmäßig geht. Zischend stößt er zwischen den Zähnen einen langen Seufzer aus. "Geschafft", sagt er mit dünner, wässeriger Stimme. Dann startet er und fährt zurück auf den Ring. Über den Chlodwigplatz zum Bayenthaler Aggrippinaufer. Immer auf noch nassen Fahrbahnen am Rhein entlang. Kurz vor der grüngestrichenen Autobahnbrücke sieht er das Ortseingangsschild von Rodenkirchen. Den Wagen steuert er auf einen Parkplatz an der Barbarastraße. Dort stellt er den Motor aus, macht aber keine Anstalten, aus dem Vectra auszusteigen. Entertainer ... Instrumente ... Reduzieren. Wenn die Beschwerden nicht wären, würde er nicht mehr zu Dr. Regine Schwirtz gehen. Auch wenn er sie begehrt. All das kommt ihm in den Sinn, während er innehält. Schließlich nimmt er die Frontplatte seines Autoradios ab, legt sie unter den Sitz und steigt aus. Langsam geht er zum Rhein. Mit dem Buch in der Hand. Das Ufer ist hier ziemlich breit. Auf einer kleinen Anhöhe liegen die Häuser. Jedes sieht teuer und anders aus. Davor schlängelt sich eine schmale Ein24
bahnstraße. Einige Sympatex-Touristen schlendern umher. Melodische Gitarrenklänge durchziehen die warme Sommerluft. Eine Reihe von Linden trennt sie von einer bestimmt 20 Meter breiten Wiese. Auf der eine Rutsche, eine Tischtennisplatte und zwei Bänke thronen. Dann kommen zwei ashaltierte Wege für Radfahrer und Fußgänger. Das eigentliche Ufer ist noch mal drei Meter breit. Immer wieder muss im Frühjahr das Gelände seine Schwimmprüfung ablegen. Und die Anwohner der Uferstraße leben in einer autofreien Zone. Dafür tuckern Boote umher. Koritzius biegt links in den Leinpfad zum Haus Bröhl ab. Betriebsferien. Dann geht er weiter zum Treppchen. Heute Ruhetag. Etwas unschlüssig steht er rum. "Kann ich Ihnen helfen", fragt plötzlich ein Mann mit wettergegerbten Gesicht neben ihm. "Ja. Ich würde gerne ein Eis essen." Er schüttelt nachdenklich den Kopf: "Da müssen Sie schon ins Mata Hari gehen." Koritzius vermeidet es, ihn direkt anzusehen. Blickkontakt ist heute nicht seine Sache: "Und wo ist das?" Der Alte schüttelt nachdenklich den Kopf: "An der Hauptstraße." Schon marschiert er weiter: in Richtung neuer Falten. Koritzius wedelt mit dem Buch und blickt stirnrunzelnd in Richtung seines Autos: Dort muss auch die 25
Hauptstraße sein. Er nickt langsam. Weil er Zustimmung braucht. Nach wenigen Minuten hat er das Cafe gefunden. Auf der Terrasse vom Mata Hari setzt er sich an einen freien Tisch, schlägt die Beine übereinander und beginnt auf Seite 5 seines Buchs zu lesen: Es war gegen elf Uhr morgens, ... Seine Miene verrät, dass er in Ruhe gelassen werden will. Fast unbewusst, als sei er mit den Gedanken anderswo, fährt er sich über die Stirn. Sein Blick trifft das Buch, aber seine Gedanken sind in Mülheim. Der Täter gehört bestimmt zu denen, die Souvenirs behalten: Jacken, Hosen, Slips und sogar Körperteile. In diesem Fall hat er die Brustwarzen behalten. Und die sollen seine Fantasie anregen. Das Erlebte noch einmal erleben lassen. Fast unmerklich zuckt er die Achseln. Nicht unvermittelt überläuft ihn ein Schauder. Ein schmalhüftiger Ober erscheint, Koritzius blickt aus seinen Gedanken auf und bestellt einen Kiwibecher. Das Ober zockelt ab. Über dem Rand des Buches sieht der Polizist eine Kastanienbraune mit Schildpattbrille aus der Maternus Apotheke kommen. Auf den ersten Blick erinnert sie ihn an Regine Schwirtz. Zum Glück ist sie es aber nicht. Die Frau mit dem üppigen Busen läuft über die Straße, direkt auf seinen Tisch zu. Schnallt den Rucksack aus Hirschleder ab und pflanzt sich 26
hin. Und ihre trotzigen, dunkelgrünen Augen fixieren ihn. "Kennen Sie sich hier aus? Ich würde gerne einen Happen essen", sagt ihr schmaler Mund. Restspuren von Schwyzerdütsch machen ihre ungeduldigen Worte kehliger. Härter. Er sieht sie an, reibt sich sein vom Jogging angeschlagenes Knie. Seine Reaktion ist ein gedämpftes "Nein". Doch sie scheint auf eine ausführlichere Antwort zu waren. Die Bitte wird erfüllt: "Ich kenne mich hier auch nicht aus!" Dann versenkt er sein Rapier und vertieft sich wieder in sein Buch. Dabei ruft er seine innerlichen Notizen ab. Im Hand- und Brustbereich waren Striemen zu sehen. Die Züge des Gesichts sahen total verzerrt aus. Offenbar ist er vor seinem Tod von dem Täter heftig geschlagen worden. Warum eigentlich Täter? In welcher Statistik steht, dass Frauen zu zimperlich für diese Morde sind? ...Klischees! ... Und alle Kölner Sexualtäter sind bisher immer Männer gewesen. Heißt es in Fachzeitschriften. Aber jeder Weg kann irgendwann mal in eine andere Richtung führen. Seine Augen verengen sich leicht. Der Italiener in der Secondhandhose bringt mit bleiernen Schlurfen das Eis. Koritzius hat gerade eine Zigarette aus der Packung geholt. Er lässt sie auf dem Tisch liegen, sein Heißhunger hat seine Sucht verdrängt. 27
"Objekt hat gegen 17.30 Uhr in einer Südstadtkneipe etwas gekauft, was nicht zu identifizieren war. Bis 19 Uhr Klavierunterricht in Rodenkirchen", sagt sie mit einer heiteren Gelassenheit. Koritzius reißt seine Augen weit auf, vergisst das Eis. Die Kastanienbraune in dem nachtschwarzen Body-Suit und den verwaschenen Jeans packt ein Diktiergerät in ihre Tasche. Eine Kollegin? Das macht ihm Angst. Sein Herz rast. Der Löffel in seiner Hand zittert heftig. Er fühlt, wie sich sein Körper anspannt. Offenbar kann die gebürtige Schweizerin Gedanken lesen. Sie beugt sich vor und drückt ihre Benson & Hedges in dem kleinen Aschenbecher auf dem Tisch aus: "Entschuldigung, wenn ich Sie gestört habe", sagt sie ohne besonderen Nachdruck. Er schüttelt nachdenklich den kalkweißen Kopf: "Haben Sie nicht. Sind Sie bei der Polizei?" fragt er stockend. Die Stimme hat er nicht in der Gewalt. Sie klingt brüchig und ängstlich. Sie stützt ihre Unterarme auf dem Tisch ab und schaut ihn total überrascht an. "Sehe ich so aus? Nein, ich bin Privatdetektivin." Er zieht eine Augenbraue hoch und lächelt dankbar. Sofort löst sich der Knoten in seinem Magen. "Interessanter Beruf." Und er ist ein Geschöpf seiner eigenen Körperche28
mie. Das freche Lächeln der Frau gefällt ihm. Sofort wendet er sich wieder seinem Eis zu. "Es geht." Sie stoppt plötzlich, als habe ein Gedanke sie abgelenkt, macht einen tiefen Zug. "Manche Aufträge sind oft zum Kotzen. Superreiche Eltern aus dem Hahnwald lassen ihre Tochter beschatten. Und warum? Weil sie bei der Erziehung versagt haben. Und jetzt hängen sie es ihren Kindern an. Die dürfen von dem Misstrauen nie erfahren. Sonst fühlen sie sich von ihren eigenen Eltern erstickt." Längst hat er die Kreide zurückgegeben. "Ganz so einfach ist es auch nicht", brummt er und legt den Löffel hin. So ganz kann er nicht den verachtenden Ton in seiner Stimme unterdrücken. Sein Gesicht verrät, was er denkt. "Was machen Sie eigentlich beruflich?" Sie legt ihren Kopf schief und ihre Augen weiten sich. "Ich? Ich arbeitete bei... der Krankenkasse." Er genießt richtig seine spontane Lüge. "Jaja", antwortet sie mit bemerkenswertem Scharfblick. Den Rest der Portion Eis legen sie in nicht sehr behaglichem Schweigen zurück. Dann nimmt er seine Zigarette und klopft sie auf der Packung auf. Endlich hat sich der Ober aus den Fängen seines Telefons befreit. Er schmeißt den Hörer so heftig auf die Gabel, dass die Glocke im Apparat nachklirrt. Et29
was zügiger geht er auf die Tische zu und lässt seine Sandpapierstimme klingen: "Was darf ich bringen?" "Mir nichts. Ich bin gleich weiter." Und zu Koritzius: "Ich bin noch an einem anderen Auftrag dran. So ein Pyramidenspiel. Kennen Sie bestimmt?" Koritzius zündet sich im Zeitlupentempo eine Zigarette an, schüttelt das Streichholz aus und lässt es in den Aschenbecher fallen. Vor seiner Antwort steht sie auf, schnallt ihren Rucksack um und schaut ihn süffisant an: "Danke für Ihre Zeit." Er ist irritiert. "Pyramidenspiel? Was ist das denn?" Sie schaut ihn ungläubig an: "Kennt doch jedes Kind." Dann reicht sie ihm ihre Visitenkarte: "Sie können mich mal anrufen. Ich erkläre Ihnen das schon." Der Polizist nickt dankbar lächelnd: "Danke.. Einen Cafe au lait für mich." Sie ist längst ein paar Meter weiter und wirft ihm noch ein Lächeln über die Schulter zu. Er schaut ihr hinterher: Mit der kalten Lustlosigkeit eines Altgedienten. Dann wirft er einen Blick auf die Visitenkarte: Sie lässt ihn wissen, dass sie Mechthild Orden heißt. Na, ja. Er steckt die Karte ein. Eine Stunde später schleicht er durch die Innenstadt. Aus einem Haus am Ring sieht er Carlheinz Roth kommen. Aber mit dem möchte er ganz und gar nicht reden. Darum bleibt er im Eingang von "La Donna Moden" stehen und verfolgt kiefermah30
lend das Geschehen. Denn er kann ihm die Frage vom Gesicht ablesen. Koritzius hebt den rechten Arm und schüttelt ihn etwas. So legt er seine Armbanduhr frei. Als er gegen 23 Uhr nach Hause kommt, ist Bärbel Koritzius vor dem Fernseher eingeschlafen. Er weckt sie, erzählt kurz von dem Fund am Rheinufer "Was sind das für Menschen", fragt sie scharf. "Darüber können wir später reden", sagt er, obwohl er ahnt, dass er später bestimmt auch keine Lust dazu haben wird. Schwarze Wolken haben sich über der Lindenstraße angesammelt. Carlheinz Roth drückt sich aus dem Hauseingang, entdeckt Hans-Werner Koritzius, dreht sich um und zieht die Haustür zu. Dann ist die Aufmerksamkeit des Reporters wieder auf den Hohenstaufenring gerichtet: Wo ist Hans-Werner Koritzius geblieben? Er blinzelt heftig und ist irritiert. Nichts zu machen. Wütend starrt er auf alles, was sich bewegt. Mit dem Rest von Anständigkeit geht er aber nicht auf den Schwachsinn eines zerzausten, tiefäugigen Zeitungsverkäufers ein, dessen Worte wie Kristalle die abendliche Stille zwischen zwei vorbeiflitzenden Autos zerschneidet: "Skandal! Drecksäcke vertreiben Schmuddelkinder! Skandal! Bahnbullen misshandeln Jugendlichen!" Trotz der Lautstärke klingt die Stimme etwas mutlos, weil der 31
Mann insgeheim weiß, dass er nicht das Glückslos seiner anderen Kollegen teilt und erhört wird. Die Schlagzeilen können Roth nicht irritieren. Denn mit einer Auflage von rund 6000 ist "von unge" für ihn überhaupt keine Konkurrenz. Schon nach einer Minute ist aber die Geduld des Journalisten erschöpft und er geht weiter den Ring entlang. Bei jedem Schritt spürt er Seitenstiche. Schon den ganzen Tag riecht er, dass Unheil in der Luft liegt. Nach dem Frühstück gegen 14 Uhr ist er schon mal hier am Rudolfplatz gewesen. Bei einem Treffen im Holiday Inn hoffte er auf einen dicken Scheck. Vergeblich. Diese Abfuhr ist ihm kräftig auf den Magen geschlagen. In seinem Briefkasten fand er anschließend das Branchenblatt Meine Feder. Und dort war nachzulesen, was Büchsenspanner schon seit Wochen berichten: Punkt! plane die Schließung seiner Redaktionen Köln, Aachen, Nürnberg, Chemnitz und Rostock. Begründung: Die Auflagen hätten dort Grundwasserniveau erreicht. Noch ein Schlag in die Magengegend. Wie lange kann Roth noch bei Punkt! aus einem Pups einen Donnerschlag machen und ganz Köln in Atem halten? Oder muss er sich bald wieder einen neuen Job suchen? Vielleicht wieder bei einem Anzeigenblatt? Denn dort kennt er sich aus. Leider. Monatelang schmeckte er bei dem Kölner Wochen32
prisma Aufgüsse von Stadt-Anzeiger, Rundschau, Bild, Punkt! und Express ab. Manchmal war er auch mit Werner Mondrial unterwegs, dem einzigen Fotografen in dem Hause. Der fluchte immer laut, wenn man ihn bat, die Redaktion zu verlassen und einige Termine zu machen. Ihm ist schwindelig von den Bildern aus seinem Kurzzeitgedächtnis. "Scheiße", sagt er leise, zündet sich mit leicht zitternden Händen eine Zigarette an und biegt am Friesenplatz rechts ab. Vorbei am Waschsalon und am Päffgen. Das Klein Köln scheint noch geschlossen zu haben. In seinem Kopf geht eine Migräne an den Start. Die Voraussetzungen sind optimal: Roth raucht schon den ganzen Nachmittag eine Lucky Strike nach der anderen. Tonnenweise hat er früher über fiese Typen berichtet. Und sie auch kennen gelernt. Meist nur in Gerichtssälen. Das Treffen im Hyatt war aber die Krönung. Er schüttelt leicht den Kopf. Und wünscht sich, alle Ärger würde sich ganz schnell in Luft auflösen. Der rot leuchtenden Kreis mit dem Hut in der Mitte ist ihm vorher noch nie aufgefallen. Roth bleibt stehen und geht in das Mayer Lansky's. Ein dicklicher Typ mit winzigen Händen kommt ihm entgegen. Roth zwängt sich an ihm vorbei und drinnen auf einen Barhocker. Über 100 verschiedene Mixgetränke 33
stehen auf der Karte, bis weit über 30 Mark. So viel wie in anderen Lokalen ein ganzes Abendessen kostet. Eine Vitaminbombe für 14 Mark tut es auch. "Kann ich einen Sportsman haben?" fragt er den Barkeeper und zieht die Brauen hoch. Der schiebt die Daumen in den Gürtel, atmet tief durch und kräht vor Lachen ... "Einen Sportsman?" antwortet er dem Gast, als wären Bestellungen in dieser Bar die Ausnahme. Während er zu einem Schrank geht, wackelt er mit seinem Hinterteil, wie ein in die Jahre gekommener Fuchs, der auf seine alten Tage nicht mehr allein im Bau sein will. Verzweifelt versucht Roth, sich eine passenden Bemerkung einfallen zu lassen. Vergeblich. Er lässt den Blick durch das fast leere Lokal schweifen, dann kehrt er zurück. Zu sich. Und seinen Grübeleien. Dabei gibt es auch den anderen Roth. Den rotzfrechen Promintenjäger. Bei einem Interview mit Curd Jürgens vergaß der Fotograf draufzudrücken. Was soll's? Schnell machte ein Bild aus dem Studio von Radio Luxemburg die Bekanntschaft mit Schere und Pritt. Er klebte sein Portrait über den Kopf des Moderators. So war er im Gespräch mit Curd Jürgens. Richtig eins a. Seine Augen verengen sich, wenn er an die Gegenwart denkt ... Roth hat jetzt den Keller in seinem Journalistenleben erreicht: Bestechlichkeit. Mano a mano. Wenn auch nur ver34
suchte Bestechlichkeit. Wie gerne würde er seinen Frust runterspülen. Aber er ist zu erschöpft vom Angsthaben. In seinem Kopf machen die Bohrhämmer Überstunden. Im Spiegel hinter der Bar lauert ein Gesicht mit offenem Mund. Und er erkennt es überhaupt nicht. Sein Magen schmerzt, aber nicht vor Hunger, sondern vor Angst. Wenn sich das rumspricht, dann kriegt er keinen Fuß mehr auf die Erde. Neben ihm hat sich eine rötlich Blonde hingepflanzt, neben sich einen Rucksack gestellt. Etwas frustiert stochert sie in den Erdnussschalen herum. Sie scheint darauf zu lauern, angesprochen zu werden. Aber für eine Unterhaltung ist er überhaupt nicht in der Stimmung. Viel zu sehr hängt er in der Luft. Als journalistischer Novize hat er bei den Ruhr Nachrichten in Dortmund gearbeit. Dort hielt er es nicht lange aus. Das Geld von Bild lockte. Kettwig, Düsseldorf, Herford hießen seine Stationen. In Ostwestfalen musste er nach einen Jahr seinen Schreibtisch räumen, als bei einem Umzug aufflog, dass er in einem Schrank Rechnungen und Stempel von Kneipen aus der Umgebung hortete. Und sie auch für seine Spesenabrechnungen nutzte. Aber er fiel leicht: News aktuell fing ihn mit einem Ressortleiterstuhl auf. Jahrelang hat er dort die Allüren 35
eines schlechten Chefs gezeigt: Für Erfolge kassierte er sämtliches Lob alleine, für Misserfolge machte er jeden verantwortlich. Und Delegieren sah er grundsätzlich als Niederlage an. Für die sinkende Auflage von News actuell wurde einzig und allein Carlheinz Roth verantwortlich gemacht. Natürlich war er nicht dieser Ansicht, nickte aber der Ruhe wegen. Und schrieb seine Kündigung. 20.000 Mark Abfindung wanderten steuerfrei auf sein Konto. Das Geld war innerhalb von vier Monaten ausgegeben. Carlheinz Roth heuerte bei Wochenprisma an. Und hatte schnell die Nase voll. Sein alter Mentor Hans Kurtzbach besorgte ihm einen Job bei Punkt!. Als Nachrichtenführer fing er an, wurde schnell stellvertretender Redaktionsleiter. Heute ist er Erster Mann in der Kölner Redaktion. Doch die 14.500 Mark reichen in manchen Monaten nicht aus. Kein Wunder, bei seinen zahlreichen Hobbys: Reisen in die Karibik, teure Freundinnen, eine Riesenwohnung, ein heißer Flitzer. Oft zieht er nachts wie ein gottverdammter Kater durch die Südstadt. Das kommt an. In Kombination mit seiner goldenen Kreditkarte von Amerian Express. Endlich kann er sich die Zigarette anstecken. Hastig macht er einige Züge. Die rötlich Blonde feilt ihre Nägel. Sie schaut ihm kurz in die Augen, als er36
warte sie ein Signal. Aber es kommt nicht. Mach' es dir selber, denkt er. "Ihr Getränk", ruft der Paparazzi mit einer Stimme, wie ein Papagei. Carlheinz Roth zupft an seinen Schnurrbart. So richtig kann er sich nicht auf seinen Frust konzentrieren. Der Journalist ist sich nicht sicher, ob er sitzen, stehen, trinken oder ganz einfach unter den Tisch kriechen soll. *** Schon nach einem Sportsman geht Carlheinz Roth wieder. "Sie wollen uns schon verlassen?" flötet der Mann hinter der Bar. "Muss sein", antwortet Roth gereizt. Schwüle Luft lässt draußen die Elemente noch auf Hochtouren arbeiten. Roth geht den Ring entlang. Eine Welle von Schlusslichtern schwimmt mit ihm zum Rudolfplatz hoch. Ein unsicherer Schritt folgt dem anderen. Und er denkt daran, wie er als Kind hier ganz in der Nähe gespielt hat. Straßenbahnen zeigten den Autos noch die Zähne. Und Promis wie Hansjörg Felmy, Freddy Quinn oder Hildchen Knef stiefelten in irgendwelche Filmpremieren. Er hat sich Autogramme geben lassen, die er dann gegen Zigaretten einwechselte. Ja, das war eine ideale Gegend, zumal für einen Jungen, der nichts anderes werden wollte als Raucher und Reporter. Jetzt ist 37
auf dem Ring nicht mehr so viel Betrieb. Filmpremieren gibt's nur noch selten. Und kreischende UBahnen haben das zuckelnde Fienchen auf's Altenteil geschoben. Für einen kurzen Augenblick füllen diese Unwichtigkeiten total sein Hirn aus. Aber dann drängelt sich wieder diese Scheiß Migräne in die erste Reihe. Roth sieht aus, als warte er jeden Moment auf eine Klopperei, bei der der zweite Sieger schon feststeht. Er ist erst dreißig, sieht aber die letzten fünf Jahre wie vierzig aus. Längst trägt er auch nicht mehr die Sorte Vollbart, die sich junge Reporter einfallen lassen, die auffallen möchten. Denn er steht längst auf der Karriereleiter über dem Kielwasser. Im Schaufenster von euphonia schauen sich zwei Fotomodelle mit einem Brust-raus- Kopf-hochGehabe einen Plattenspieler für 45.000 Mark an. Der einsame Bär wählt die Auch-das-noch-Marnier, dreht die Augen nach oben und schleicht weiter. Er hat ein ähnliches Gerät in seiner Wohnung. Nicht 45.000 Mark teuer, aber 20.000 Mark. Dafür muss mancher lange stricken. Roth hat sich das Geschenk von Weihnachtsgeld und Jahresgratifikation gemacht. Ein paar pummelige Frauen mit den entschlossenen Gesichtern von Marktfrauen morgens um 6 verteilen im Dunkeln vor Next am Ring Flugblätter. Das 38
Lesen überlassen die Nachtschwärmer den Papierkörben. Roth schließt sich dem Trend nicht an, steckt den Zettel in die Tasche. Denn alle Körbe sind voll. Beim Überfliegen hat er festgestellt, das Ganze hat nicht mehr Bedeutung als ein Erdbeben in Stärke 2 auf der Richterskala. Pik 7. Computerzentrale. Dummes Zeug. Schräg gegenüber liegt die höchste Burg am Rudolfplatz: das Holiday Inn. Bis vor fünf Jahren verdienten die zehn Etagen ihre Brötchen als Zitadelle für eine Behörde. Dann wurde die Arbeit immer weniger, die Bürokraten aber immer mehr. Darum zog man um. Jetzt macht das Haus keine Schlagzeilen mehr. Oder doch? Kein Eingeweihter schaut hin, als wieder mal ein Krankenwagen durch die Lindenstraße tobt. Dort ist das Cafe Fleur. Seit Jahren sitzt dort Mittag für Mittag ein liebeswerter Nichtsnutz und erstattet Kriegsberichte. Während das Martinshorn in seinem Kopf weiterschrillt, wird Roth noch depremierter. Soll er sich heute noch den Arsch in der Südstadt aufreißen? Und wenn es nicht klappt? Dann ist der Frust noch größer. Er atmet durch die Zähne. Vor dem Cafe Wahle preist ein ausgeschlafener Rentner mit der stets neutralen Tonlage eines Marktschreiers den Express an: Lehrerin verprügelt Schüler. Erschossen! Roth zuckt die Achsel, als 39
müsse man immer damit rechnen. Und kauft das Blatt der Konkurrenz. Endlich ist da sein Hauseingang! Ein Mann mit einem breiten fiesen Mund und einem erdschweren Leib versucht seiner herumzappelnden Stadtwaldmischung die Leine anzulegen: "Bravbravbrav, komm Rudolf, halt still... Verdammt noch mal, blöder Köter." Denn der wehrt sich, was das Zeug hält. Als er Roth entdeckt, öffnet sich sein Mund zu einem halben Lächeln, das gewinnend wirken soll. Um den Hund nicht abzulenken, fragt er mit einem Bühnenflüstern: "Auch schon Feierabend?" Der Angesprochene zeigt die Andeutung eines Schulterzuckens, "Feierabend", wiederholt er, von Ironie beseelt. Dazu passend setzt er sein gemeines Quasimodo-Grinsen auf und schließt die Tür auf. Der Redaktionsleiter stapft zu seiner Bleibe im fünften Stock hoch, die im Immobilien-Sprachgebrauch als Luxuswohnung angepriesen wurde. Einst hergestellt aus drei Appartements, mit Badezimmer, ohne Keller und Balkon. Sie kostet monatlich 1080 Mark. Der Hausflur hat wohl Sichtmauerwerk und Hängepflanzen, aber keinen Aufzug. Vielleicht lag deshalb die Luxuswohnung in Reinkultur einst auf dem Wühltisch. Im Flur schnuppert Carlheinz Roth das Aroma von Cappucino. Jemand hat Gäste. Er hält den Express 40
fest. Umklammert ihn, als wäre darin ein Textbuch eingewickelt. Kaum ist die Tür ins Schloss gefallen, schnappt er sich das Telefon und gibt die Nummer aus dem Gedächtnis ein. Besetzt. Scheiße! denkt er laut nach. Zu gerne würde er heute noch einen erfrischenden Schluck Sex nehmen. Schließlich haben Karrieretypen darauf Anspruch! Er funkelt das Gemälde an der Wand an. Es ist das Bildnis einer nackten Frau, die auf einem Tisch liegt. Von hinten gesehen. Jetzt wählt er noch mal die Nummer. So schnell, als wäre 19 Wochen sein Anschluss gesperrt gewesen. Freizeichen. Er holt tief Luft und reibt sich die Augen. Ziemlich lange hat er schon nicht mehr auf einer Adrenalin-Wolke geschwebt. Drei Tage. Vielleicht zieht er heute eine Platzkarte. Hoffentlich! "Hallo?" meldet sich eine Frau gönnerhaft. Carlheinz Roth versucht seiner Stimme einen Bistroton zu geben: "Hallo, ich bin es." Sie scheint enttäuscht zu sein: "Ach, du. Was gibt's?" Carlheinz Roth beißt sich auf die Lippen und atmet tief durch. Denn er möchte noch heute seine Lippen auf ihre drükken. "Was machst du gerade?" fragt er, als hätte er damit schon den Gipfel seiner Wünsche erklommenen.
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"Ich habe mir vorhin Die Akte auf Video angeschaut und schreibe jetzt einen Brief ..." Ihre Stimme ist erstaunlich fest. "An wen?" Flehend schaut er die Sprechmuschel an, als sei sie Regine Schwirtz. So wie im Märchen der Prinz gerne in die Haut eines Froschs schlüpft. "Geht dich nichts an!" bemerkt sie trocken wie ein Sack Mehl. Er geht mit dem Apparat ans Fenster und beobachtet die Autos, die eine Bleibe für die restliche Nacht suchen. Seine Lungen kreischen: "du, ich möchte noch zu dir kommen." Er hört in den Hörer, wie ein kleiner Junge, der auf die Stimme seiner Oma in Australien wartet. "Schön für dich!" Es soll besonders forsch klingen. "Waaas?" fragt er in Zeitlupe, als benutze er diese technische Neuerung zum ersten Mal. "Erstens kriege ich Besuch. Zweitens habe ich keine Lust auf dich." Er muss sich räuspern, als würde er zu einer langerwarteten Rede ansetzen. Dabei hat er nur nicht alles so schnell verdaut. "Uhhh!" Es ist ein knappes Nichtwahrhabenwollen. "Kenne ich ihn?" Mit zusammengekniffenen Augen blickt er seine Zigaretten-Packung an. Leer! Heute sind alle gegen mich. "Bis bald", tönt sie schelmisch. Dann legt sie auf. 42
Carlheinz Roth setzt sich in seinen Rattansessel und lässt sich nach hinten sinken. Er ist außer Stande, den Blick vom Telefon zu lösen, als sei das gerade nur die misslungene Generalprobe gewesen. *** Freitag, 10. Juni Das Telefon bellt Carlheinz Roth um kurz nach Mitternacht um 9 Uhr wach. Er legt sich auf den Bauch. Und spürt sofort den Druck der Blase. Sofort wirft er dem Glastisch einen hilflosen Blick zu. Ein schwarzer Siemens-Radiowecker, ein silberner Aschenbecher in der Form eines Motorblocks, ein Walkman von Sony und ein taufrischer Stern verleihen ihm den Anschein von Ordnung. Aber dieses Bild hat nur wenige Zentimeter Bestand. Denn auf der unteren Glasplatte tummelt sich eine Wust von CD-Katalogen, vollbeschriebenen Zettel und ein abgewetztes Stiletto-Heft. Das Übliche halt. Mist! Der Journalist hat am Abend seinen schnurrlosen Apparat nicht ins Schlafzimmer mitgenommen. Mist! Er legt sich wieder auf den Rücken. Das Kreuz. Ihm ist außerdem schwindelig, obwohl er noch gar nicht den Kopf bewegt hat. Er legt sich auf die linke Seite. Das Hüftgelenk schmerzt. Er dreht sich auf die rechte Seite. Das andere Hüftgelenk. Nach dem fünften Klingeln würde sein Panasonic 43
anspringen. Aber er weiß, dann legen die meisten Anrufer auf. Und er ist nun mal neugierig, wer morgens etwas von ihm will. Aber er hat auch Angst davor, was er zu hören bekommt, wenn er abhebt. Denn für gute Nachrichten ist es einfach noch zu früh. Doch die Neugierde hat die besseren Karten. Also steigt er mit geschlossenen Augen aus dem französischen Bett mit schwarzer Seidenwäsche und balanciert ins Wohnzimmer. Er widersteht der Versuchung nachzuschauen, wie hell es jenseits der Rollläden ist. Am Aufstehen hätte so und so keine Ausrede vorbeigeführt. Er muss aufs Klo. Die Migräne rollt auch noch immer durch seinen Kopf. Seit seinem Barbesuch. Wie eine Welle an der niederländischen Nordseeküste. Unterwegs schaut er im Flur in den Spiegel. Das Gesicht, das er erblickt, sieht gar nicht so verdammt müde aus. Allerdings: Auch ein Erfolgsmensch muss ernsthaft beginnen, Sport zu treiben. Übermorgen. Wenn das Mittel-Schwergewicht den Bauch einzieht und die Brust rausdrückt, sieht er gar nicht schlecht aus. Nur: Wer macht das schon immer? Und wem steht auf der Stirn geschrieben: Ich bin Boss bei Punkt! "Jaaa?" Dabei hebt er fragend den Kopf. Ein Fehler. Sofort legen die Hammerschläger in seinem Kopf einen Zahn zu. Das Fax-Gerät am Boden gibt auch 44
ein Murren preis. Es folgt ein hektisches Blinken, in das sich ein Rattern mischt. Schließlich steht auch sein Inneres unter Zugzwang. Ein kleines Schwindelgefühl schafft Abhilfe. Roth fühlt sich so, als habe er gestern aktiv am Vorgang der Biervernichtung teilgenommen. Dabei war es nur ein Sportsman. "Nett von dir, auch mal ans Telefon zu gehen." Selbst eine Knöllchen-Verteilerin vom Kölner Ordnungsamt kann nicht bissiger sein als Alf Rolla. Beide haben zusammen die Schulbank gedrückt. Nur Roth hat als Stern am Karrierehimmel aufgeleuchtet. Seit einiger Zeit ist Alf Rolla auch privat ins Trudeln geraten. Jede Beziehung gerät zum Fiasko. Und seine wenigen Freunde beginnen die nächstlichen Telefonattacken massiv zu fürchten. Denn sie sind zunächst ein einziger Monolog. Der Reporter liest aus seinen Artikeln vor und will nur Lob hören. Kommt es nicht, lässt er Tiraden los. Früher ist er ein kämpfender Häuptling gewesen, heute nur noch ein fußkranker Indianer. Der Redakteur bei der Kölner Woche kratzt neuerdings jede Mark zusammen. Er will sich vor einem Bahnhofsschild fotografieren lassen. Aber es muss ein ganz bestimmtes sein. Es steht in der amerikanischen Kleinststadt Rolla im Bundesstaat Missouri. Aber nicht nur Dollar fehlen ihm. Auch eine Fotografin. Jung soll sie sein, schlank und langbeinig. 45
Vorläufig muss er täglich zehn Stunden radiumgrüne Buchstaben und Zahlen auf seinen Bildschirm bei der Kölner Woche hieven. Roth rollt mit den Augen und atmet tief durch. Hoffentlich ist der jetzt nicht wieder auf dem Trip mit dem Selbstmitleid. Nichts anmerken lassen. "Hahaha." Dann wirft er mit halbgeöffneten Augen dem Bild an der Wand einen verächtlichen Blick zu. Er ist noch viele Schaufeln Sand weit weg. Sein Lachen ist von einer krampfhaften Begeisterung. "Du solltest dir ganz schnell eine Zeitung besorgen", sagt sein Mitstreiter, der seit kurzem eine Marotte mehr hat: Fast alle Menschen spricht er mit Vornamen an. Nur nicht die, die ihm schnuppe sind. Der hat jede Bodenhaftung verloren! Der Redakteur bei der Kölner Woche spricht ungern über seine nahe Zukunft. Verständlich. Er wird im Urlaub als Aushilfslektor bei Dietrich & Hoffacker einsteigen, einem Verlag, dem nur noch Bücher für Balkonfreunde und Kanalangler geblieben sind. Das wird er einmal seinen Enkelkindern verschweigen. "Hat das nicht Zeit?" ragt Roth so, als erwarte er zumindest ein Kopfnicken durchs Telefon. Ihm fallen wieder die Lider zu. Außerdem hat seine Migräne die Stirn fest im Griff. "Neee! Es geht um dich", sagt Alf Rolla in einem Ton, der zugleich Neugierde und Verachtung zum Ausdruck bringt. "Und 46
Zoff kannst du in deiner Lage bestimmt nicht gebrauchen." Was hat der über mich rausgekriegt? Oder habe ich im Suff geredet? Roth öffnet seine Augen zu einer Langzeitbelichtung, saugt alles gierig auf. Die Nüstern beben: "Waaas?" "Mhhh. Ich glaube, da steckt eine dicke Geschichte dahinter. Und du steckst mitten drin." Der Loser scheint aber nicht geneigt zu sein, das Thema zu vertiefen. Auch am frühen Morgen kann Roth aus seinem Freund nicht klug werden. "Iiich?" Doch Alf Rolla hat längst aufgelegt. Keine Verabschiedung. Kein Vorname. Nichts. Roth verharrt eine Ewigkeit. Er reibt sich sein Gesicht. Es geht irgendwie um dich. Dieser Satz ist durch sein Solarplexus wie ein Orkan gebraust. Dann entscheidet er sich erst einmal für's Klo. Denn dort hängt auch seine Jacke. Mit dem Express drin. Beim Pinkeln dämmert ihm etwas: In einer Bierlaune hat er Alf Rolla von seinem Nebengeschäft erzählt. Natürlich nicht ganz ohne Hintergedanke: Soll der ruhig eifersüchtig werden. Ich bin nun mal der Größte! Roth stürzt sich auf den Lokalteil. Den Mann auf dem Foto zum Aufmacher kennt er: Friedhelm Meuschel. "Unbekannte Leiche neben Mülheimer 47
Brücke gefunden Polizei tappt im Dunkeln" heißt die Überschrift. Einen grausamen Fund machte eine Joggerin in Mülheim. Neben der Rheinbrücke fand sie eine zerstückelte Leiche in einem Plastiksack ... Der Tote ist noch nicht identifiziert worden. Die wichtigste Frage der Kölner Polizei: Wer hat ihn zuletzt lebend gesehen? Panische Angst hat sich in Roths Augen geschlichen. Er sieht sich gedankenverloren im Spiegel an, als müsse sich der Bericht und alles erst einmal setzen. Nach einigen Minuten findet er zum Mut zurück. Aber das ist nicht der Mut des Erfolgsgewohnten. *** Carlheinz Roth greift zum Telefon und drückt 2-40.... Schon nach dem ersten Klingeln meldet sich eine unsympathische Frauenstimme: "Freitag. Guten Morgen... Was kann ich für Sie tun?" näselt sie. "Ja. Ich möchte gerne Herrn Teufel sprechen", antwortet er ganz hinten im Hals. Seine Lippen bewegen sich kaum. Aber die Brauen hat er eindrucksvoll zusammengezogen. Der Teufel weiß bestimmt nähere Einzelheiten über den Tod von Meuschel. Schließlich ist er dessen Chef gewesen.
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"Wer ist denn da?" fragt sie glattzüngig. In seinem Kopf ist sie eine tadellos ausgemergelte Endvierzigerin mit blond gefärbten Pagenkopf. "Roth hier. Ich habe ... äh ... letzte Woche mit ihm ein Interview gemacht. Und sollte ihn noch mal anrufen ..." sagt er nach Gutdünken, atmet heftig durch den Mund und drückt sich eine Dose Pepsi Light an die Schläfe. "Sie können ihn aber nicht sprechen", singt sie ihm durch den Hörer. "Und warum nicht?" fragt er ungeduldig, den Express noch immer in der Hand. "Weil er in Urlaub ist", sagt sie mit einem Gluckser, als hätte sie den größten Witzbold von ganz Köln an der Strippe. "Und wo ist er hingefahren?" fragt Roth, obwohl er ahnt, keine genaue Antwort zu bekommen. "Kann ich Ihnen leider nicht sagen." Die Stimme klingt zänkisch. "Möchten Sie jemand anders sprechen? Herr Hoppe ist gerade hier." Der Reporter ist zu überrascht, um etwas zu sagen. Er atmet scharf ein, legt auf und dreht eine Handfläche nach oben, als wolle er sagen: Alles Scheiße! Sofort fummelt er eine verbogene Zigarette aus der zerknautschten Packung. Vergisst total, sie anzustecken. Roth geht in den Flur. "Komm schon", sagt 49
er zu seinem Spiegelbild, das ein wenig grün im Gesicht ist. In seiner Brieftasche sucht er nach der Visitenkarte von Michael Teufel. Da ist dieser Waschzettel für das Computer-Gewinn-System. Aber auch die Visitenkarte. Privat: Unicenter, Luxemburger Straße. Er ruft an. Tüttüttüttüt... Und nun? Neuer Versuch. Tüttüttüttüt... Schnell springt Roth in Jeans und T-Shirt. Dann läuft er zum Parkhaus. Der Allesbesserwisser in der Pförtnerloge kennt ihn: "So eilig. Jaja, es brennt wieder mal irgendwo?" Roth erspart sich eine nichts sagende Antwort, der Aufzug kommt gerade. Von einer inneren Unruhe getrieben brettert er zum Barbarossaplatz, biegt rechts in die Luxemburger Straße ab. Nach knapp zehn Minuten ist er am Unicenter. Über 3000 Menschen leben hier. Einen Augenblick steht er regungslos vor den Hochhäusern, nimmt einen Zug von seiner Zigarette und sortiert seine Gedanken. Wo wohnt Michael Teufel? Warum meldet er sich nicht am Telefon? Irgendetwas ist mit ihm passiert. Carlheinz Roth weiß es im Bauch. Als Roth einige Minuten später in die Halle vom Unicenter kommt, sieht er sich in der hochmodernen Ankunftshalle eines kleinen Charterflugplatzes an der türkischen Mittelmeerküste: Männer in Jog50
gingjacken, die jede Chance aufgegeben haben, ihre Bierbäuche zu verstecken, laufen hin und her. Im Schlepptau haben sie Frauen, die schon vor Jahren klammheimlich Abschied von der Pfirsichhaut genommen haben. Aufzüge auf jeder Seite spucken immer mehr Joggingjacken aus. Über der Menge schwebt eine Wolke von 4711 und Herb Alpert. Der Portier trägt ein ockergelbes Hemd mit kurzen Ärmeln. Die zweite Haut bringt seine Muckies voll zur Geltung. Er steht auf Zehenspitzen mit dem Rücken zur Eingangshalle und telefoniert. Vergeblich versucht er, zu Wort zu kommen. Aus Frust zieht er unentwegt an einer Zigarette und lässt den Rauch in Kringeln aus der Nase. Plötzlich kommt er auch mal zu Wort. Beim Reden rollt er den Kopf wie ein Preisboxer beim Betreten des Rings. Dabei dreht er sich um und entdeckt die Kundschaft. Sofort legt er auf, drückt dabei die Zigarette aus und reibt sich das rechte Auge hinter der Halbbrille aus Titan: "Entschuldigung, wollen Sie was von mir?" Das passt gar nicht zu ihm! Seine Muskeln wölben sich. Die leberkranke Haut glänzt von Schweiß. Carlheinz Roth stößt einen Seufzer aus: "Zu Herrn Teufel. Michael Teufel!" Wie heißt der nur wirklich? Der sonnenbankgebräunte Freizeitsportler zieht seine Visage ein, als wolle er flehen: Sagen Sie bloß 51
nicht, dass Sie mich hier gesehen haben. Umständlich sucht er auf seinem Schreibtisch eine grüne Liste: "Entschuldigung, wie heißt der Herr? " Carlheinz Roth presst die Lippen aufeinander und will sich zurückhalten. "Teufel!!!" Er beobachtet, wie der Mann seine Liste in die Hand nimmt und die Lippen bewegt, ohne dass etwas zu hören ist. Sein Doppelkinn bewegt sich hin und her. Und er guckt immer weiter, bis sich seine Nasenspitze fast gegen das Papier drückt. Plötzlich jammert die lebende Entschlusslosigkeit: "Ohohoh...Der ist gestern ausgezogen...Ich kann mich noch gut erinnern. Der hat seine ganzen Sachen in ein paar Kisten gepackt und ist ganz ohne Spedition ausgekommen. Waren auch keine Möbel da. Schon ein bisschen merkwürdig." "Ausgezogen???" Roth hat eine tiefe Furche mitten auf der Stirn. Sein Mund ist plötzlich eine Sahara. "Ausgezogen?" Er formt die Lippen, als wolle er noch was sagen. Doch der Fußsoldat ist schneller: "Ich war dabei!" Carlheinz Roth spürt, dass er nicht mehr erfahren wird. Außerdem kann er die Dudelmusik nicht länger ertragen. Und auch nicht den Portier. Beim Hinausgehen erfasst ihn noch dessen Dobermannblick: Das hätte er Ihnen doch sagen müssen! 52
Roth sprudeln einige Worte ins Gehirn: Ausgezogen...Keine Möbel... Seine Zähne graben sich in die Unterlippe. Ihm kann manches die Sprache verschlagen.
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3. Montag, 13. Juni Das Geräusch von zwei schnippenden Fingern über sich ist für Paul Kratzenstein eine kalte Dusche: "Aufwachen! Denken gehört am Wochenanfang nicht zur Dienstordnung." Der Kriminaldirektor reibt sich die Augen, obwohl er schon vor drei Stunden aufgestanden ist. Ein paar Minuten hat er von seiner beruflichen Zukunft geträumt. Langsam und etwas ungläubig hebt er den Kopf. HansWerner Koritzius steht vor ihm. Er kann sich zunächst gar nicht denken, warum. Das feuerfeste Läuten des Telefons hilft weiter. "Der Roth ist an der Strippe", erklärt der Mann in der Pfeffer-undSalz-Jacke. "Was soll ich denn mit dem anfangen?" Mit der zierlichen Gestalt, der hohen Stirn und der Metallbrille sieht er nicht gerade aus wie ein Feldherr, sondern eher wie ein Militärpfarrer weit hinter den Linien. Doch Paul Kratzenstein steht an vordester Front: als Chef der Mordkomissar bei der Kölner Kripo. Sein Lachen nennen manche verschmitzt und jungenhaft, andere einfach verschlagen. Für die einen ist er ein alter Fuchs, für andere einer der 54
letzten Vertreter der vom Aussterben bedrohten Zunft der Alleinkämpfer. Reporter buhlen ständig um seine Gunst. Vergebens. Bei Pressekonferenzen nach Zangengeburten wirkt er oftmals wie ein Hürdenläufer, der nicht glänzend, aber dank großer Zähigkeit sein Ziel erreicht hat. Wenn einmal ein Berufneugieriger etwas über sein Privatleben wissen will, dann stemmt Kratzenstein die Hände in die Hüfte, drückt die Beine durch und antwortet wie ein mit allen Wassern gewaschener Politiker: gar nicht. Wer ihn nicht näher kennt, erwähnt sofort seine oftmals reservierte Art. Und das Keine-WiderworteLächeln. Aber Kratzenstein ist mehr: Da gibt es auch den leidenschaftlichen Freund von Kantaten von Johann Sebastian Bach. Und den stundenlangen Zuhörer, der nie jemandem umgefragt seine Meinung aufschwatzt. Der Gang des 59-jährigen ist noch immer federnd. Ein Herzinfarkt hat ihn aber zum Asketen werden lassen, der nicht raucht und nur einen guten Jahrgang schätzt. Aus Gerolstein. Im Mordfall Rheinufer hat er wieder einmal auf Kommissar Presse gesetzt. Mit Erfolg. Das Foto des Toten tauchte heute in allen Blättern auf. Und die Portiers von Hyatt und Holiday Inn meldeten sich: Er hat bei uns gewohnt, heißt Friedhelm Meuschel und ist Manager eines Reiseveranstalters aus Bochum. Jetzt versuchen handzahmen Palladine von 55
Kratzenstein die Frage zu klären: Warum ist er gleich in zwei Herbergen abgestiegen? Und da ist natürlich die Frage nach dem Motiv für den Mord. Ist ein Halsband mit Nieten, das im Badezimmer der Holiday-Inn-Suite lag, der Schlüssel? Nichts läuft am Schnürchen! Natürlich nicht. Das ist er gewohnt. Kratzenstein rutscht in seinem Sitz nach hinten und strahlt verschmitzt. Aus Vorfreude auf das Gespräch. Obwohl er Roth manchmal für ein arrogantes Arschloch hält. Er greift zum Hörer. "Bei Ihnen ist wohl Saure-Gurken-Zeit, wenn Sie schon selbst arbeiten müssen", lacht er mit einem wachsamen Unterton. "In gewisser Weise", sagt Roth, als sei er auf einem Termin. "Also, was gibt's?" Kratzenstein zieht die Augenbrauen hoch. Die Vokale sind in seiner Sprache voll und satt, wie nach einem oppulenten Lunch. Einen Augenblick schweigt Roth und nimmt einen Zug von seiner Zigarette. "Ich wollte mal hören, ob es wegen der ungeklärten Morde an Prostituierten neue Spuren gibt?" Das klingt gestelzt wie ein Bericht im Bundesanzeiger. Er verstummt sogleich, denn er hat total vergessen, was er im nächsten Satz sagen will. "Ja." Kratzenstein spendiert ihm durchs Telefon ein starres Lächeln, wie es Postbeamte gerne aufsetzen, 56
wenn sie das Schild "Gehen Sie an einen anderen Schalter" aus einer Schublade hervorzaubern. "Jaaa?" Manchmal besitzt Roth die natürliche Anziehungskraft eines Herlitz-Markers. Kratzenstein lässt seinen Blick in Koritzius hochkriechen. Die Luft ist von seinem Marbert-Deo erfüllt. Über sein Gesicht verbreitet sich ein skeptisches Lachen, obwohl der Lautsprecher in der Frühstückspause ist. "Wir haben einen Mann festgenommen. Einen jungen Mann." Kratzenstein hat den Mut zu langen Pausen. "Er hat gerade vor einem Jahr seinen Führerschein gemacht... Er ist noch ein Junge... Aber ein Junge, der in den Albträumen vieler Menschen auftaucht... Der nachts scheinbar ziellos durch die Stadt fährt. Immer auf der Suche nach neuen Opfern." Der Polizist senkt sein Kinn ein wenig. "Aber die Nachbarn ... die total ahnungslosen Nachbarn ... die hielten ihn für einen anständigen Kerl ... Sie sind aus allen Wolken gefallen ..." "...Was...was sind das für Leute", geht Roth dazwischen. Die noch in den Kinderschuhen steckende Entwicklung des Bildtelefons bewahrt ihn davor, wie ein Vollidiot zu wirken. Kratzenstein schüttelt den Kopf, als wolle er fragen: Für wie blöd hälst du mich eigentlich? "Keine Ah57
nung", sagt er in seinem Büro, das auf auf die NordSüd-Fahrt blickt. "Machtnichtsmachtnichts. Erzählen Sie weiter. Weiter!" Roth ist ganz außer sich vor Neugierde. "Ich erzähle Ihnen nichts." Kratzenstein versucht sich an einem Lächeln und zieht die Krawatte herunter. "Wasdennwasdenn?" Roth kneift die Lippen zusammen. "Ich lese aus dem Express vor." Er spricht jetzt in einem Singsang, so wie man einem Kind das Ozonloch erklärt, das total verängstigt aus der Schule nach Hause kommt. "Was?" fragt er nach einer beklemmenden Pause. "Haben Sie einen Andruck?" "Das verstehe ich nicht." Mit dem Begriff kann Kratzenstein nichts anfangen. Und Roth spürt das beklemmende Gefühl, dasselbe noch mal zu sagen. Aber um einiges deutlicher. Doch der Berufsfrager hilft ihm aus der Bredouille. "Es ist nicht die morgige Ausgabe. Es ist der Express von heute. Sind Sie nicht mehr auf dem Laufenden? Lesen Sie keine Zeitungen mehr?" "Doch...Natürlich." Roth schwitzt grenzenlos. Jetzt schaltet er erst. "Ich hatte drei Tage frei." "Dann sollten Sie heute wenigstens ihr Blatt lesen. Dort steht nämlich. dass wir einen Speditionsfahrer 58
festgenommen haben." Und er fragt sich, ob Roth den Ausdruck "Endlich in die Socken kommen" kennt. Vermutlich nicht. "Das macht der Luckow. Den kennen Sie doch?" "Aber klar", sagt Roth. Obwohl er den Namen in seinem ganzen Leben noch nie gehört hat. Er findet nichts, dass den Bogen leicht machen könnte. "Habe ich glatt übersehen. Dann hat sich mein Anruf ja erledigt." Denn er weiß genau: Kratzenstein lässt sich kein X für ein U vormachen. Der Büttel steht noch immer in der Tür. Er hat ein Lächeln aufgesetzt, das er sonst nur für Krankenbesuche aboniert hat. Kratzenstein hat den Braten längst gerochen. Darum spricht er mit einer Tonlage Liebenswürdigkeit weiter, von der manche Pastöre noch was lernen könnten. "Wollen Sie mich verarschen? Deshalb haben Sie doch nicht angerufen. Diese Mordfälle interessieren Sie doch gar nicht." Um die Mundwinkel zeigt er wieder die Andeutung eines Lächelns. "Oder soll ich Ihnen erzählen, dass Tintenfische sich bei Aufregung selber fressen.Das interessiert Sie nicht? Mangelndes Interesse an Allgemeinbildung. Also, raus mit der Sprache!" Dabei stellt er sich das kreidebleiche Gesicht von Carlheinz Roth vor, das suchend den Hörer anstarrt. 59
Roth schreckt dieser Befehl. Aber zu seiner großen Überraschung fühlt er sich sogar etwas besser. Von Gott-weiss-wie-vielen-Terminen kennt er das Polizei-Ass. Die Direktheit verblüfft ihn immer wieder. Etwas ist klar, er muss jetzt mit der Sprache rausrücken. Zumindest etwas sagen. Denn wer einmal bei Kratzenstein in Ungnade gefallen ist, sollte die Folgen kennen: meistens gibt es keine. "Mich beschäftigt dieser Tote unter der Rheinbrücke." "Und was ist an dem interessant?" fragt Kratzenstein scheinbar lustlos. Seine Vorliebe fürs Schlittenfahren kann er nun mal nicht leugnen. "Ich glaube, ich habe eine Spur", verkündet Roth stolz. "Sieee?" Paul Kratzenstein ist zum Yoghurtbecher erstarrt. "Die Spur führt nach Köln..." "Darum mussten wir tätig werden. Binsenwahrheit!" "Lassen Sie mich ausreden! Ich glaube, dass der Kölner Statthalter von dem Meuschel ..." "... Woher kennen Sie den Namen? In unserem Pressebericht ist nur von einem Unbekannten die Rede. Erst jetzt wissen wir ihn, nach dem Zeitungsbericht haben sich einige Leute gemeldet." "Ich habe vorhin Radio Köln gehört. Außerdem habe ich ihn in der Zeitung erkannt. Dieser Meuschel 60
hat mich auf seinen Kölner Statthalter gehetzt. Michael Teufel heißt der. Also, ich sollte den Teufel in der Öffentlichkeit fertig machen. Das ist mir durch einen Artikel bei uns auch gelungen. Vielleicht hat der Teufel dafür Rache geübt... An dem Mann ist etwas nicht in Ordnung. Ich kenne ihn. Ich hatte auch das Gefühl, dass er mich kennt. Nur mit dem Namen Michael Teufel kann ich nichts anfangen. Der stimmt nicht. Und es gibt noch eine Ungereimtheit. Dieser angebliche Teufel ist wie vom Erdboden verschwunden. In der Firma heißt es, er hat seinen Jahresurlaub genommen. Aber der Mann hat seine Wohnung gekündigt. Und der Hausmeister kennt nicht seine neue Adresse. Merkwürdig, nicht?" Roth hat einfach aufgelegt. Er ist vor lauter Aufregung an die Gabel gekommen. Koritzius steht noch immer in der Tür des Büros mit den gewaltigen Holzmöbeln in Altjungfer. Er nimmt alles ohne die leiseste Reaktion entgegen. Kratzenstein stößt den Zeigefinger in Richtung Telefon, ohne es aber anzusehen. "Der weiß was. Oder ahnt was." *** Schon zwei Stunden nach dem Anruf von Carlheinz Roth wollen Paul Kratzenstein und sein Gehilfe die Firma von Teufel mal etwas genauer unter die Lupe nehmen. Natürlich ahnend, dass da viel 61
Wunschdenken im Spiel ist, hat sich der Leitende Kriminaldirektor entschlossen, die vage Spur aufzugreifen. Hans-Werner Koritzius ist total außer Atem und hebt die Hände zu einer Gebärde der Hilflosigkeit, als er den zehnten Stock des Bürohochhauses am Barbarossaplatz erklommen hat. Er schält sich aus seiner Pfeffer-und-Salz-Jacke, fingert ein Tuch hervor und wischt sich den Schweiß von der Stirn. Paul Kratzenstein hat den Aufzug genommen und wartet bereits. Er lacht in sich hinein: "Verlangen Sie bloß nicht eine Gefahrenzulage." Sein Mitarbeiter kann noch nicht antworten. Der Rotgesichtige stützt sich an der Wand ab. Nach zwei Minuten kriegt er endlich seine Frage heraus: "Was sollen wir überhaupt hier?" Kratzenstein hebt die Augenbrauen. Sagt nichts. Es folgt keine neue Frage. Koritzius hat verstanden. Zwischen beiden stimmt die Chemie. Die beiden gehen durch eine Glastür, auf der schwarze Buchstaben prangen: "ARENA FREITAG Klubreisen". Dann schreiten sie durch die schmuddelige Stille des Korridors. Er ist mit blauem Teppichboden ausgelegt, die orangerotgetünchten Wände scheint kürzlich der Anstreicher besucht zu haben. Durch den Gang weht ein leichter Durchzug von zwei offenen Fenstern her. Aus kleinen Lautsprechern an der Decke klimpert Richard Clayder62
man. An einer Tür hängt ein Poster. Eine Blondine räkelt sich an einem Strand. Irgendwo auf dieser Welt. Praktischerweise trägt sie nur ihr langen Haar. Kratzenstein knabbert an seinen Gedanken herum: Was hat der Tod von Friedhelm Meuschel mit diesem Laden zu tun? Wo ist er ermordet worden? Warum musste er sterben? Warum ist er nach seinem Tod so zerstückelt worden? Warum ist er in zwei Hotels abgestiegen? Ein walnussäugiger Endvierziger mit einem Na-sowas-Gesicht springt plötzlich aus einem Sessel mit zinnoberroten Polstern auf die beiden zu. "Schön, dass sie es noch geschafft haben", sagt er mit einer nasalen Stimme. Das Duo im Dauereinsatz für das Gute schaut sich erstaunt an. Der Dreihundertpfünder im Ausverkaufsanzug von C & A hat buschige, fast graue Augenbrauen. Die pechschwarzen, vollen Haare wirken so unwirklich wie ein Toupet. Er lehnt den Kopf ohne Hals zurück, schließt die Augen und schlägt sie gleich wieder auf. Sofort versteckt er sich hinter Wortgirlanden: "Sind Sie nicht vom Reisebüro Tauber? Das tut mir aber Leid." Noch vor einer Antwort schlurft er davon. Wieder zu seinem Sessel. Sein Deodorant hat ihn in Stich gelassen. Wahrscheinlich dörrt auch sein Hirn aus. Fast am Ende des Flures tut sich eine Lichtung auf: ein schwarzer Schreibtisch mit Metallkanten. Dar63
auf ruht sich das Schild Empfang aus. Eine dickliche Frau mit Pferdegesicht sitzt hinter der Bastion und telefoniert mit mehreren Leuten gleichzeitig. An zwei Hörern zelebriert sie eine Tratschkonferenz. Außerdem renoviert die Vielseitige mit Hilfe eines Taschenspiegels ihr Gesicht. Sie ist um die vierzig oder ein bisschen darüber. Die Haare sind rotblond, die Augen schiefergrau. Beim Hochblikken entdeckt sie die Kundschaft, hält mitten im Satz inne, sperrt den Mund auf und waltet ihres Amtes: "Was wollen Sie?" Dabei klimpert sie mit den von falschen Wimpern beschwerten Augen. Mit der selben Stimme antwortet Kratzenstein: "Viel! Wir sind wegen Ihres Geschäftsführers hier." Wobei Koritzius fast ununterbrochen leicht nickt. "Der ist in Urlaub." Mit ihrem funkelnden Blick fixiert sie die beiden an. Aus ihrer MCM-Tasche holt sie eine Packung R6, schüttelt sie und angelt sich mit den Lippen eine Zigarette. Ganz langsam nimmt sie wieder die Packung in die Hand und lässt sie in die Tasche fallen, als ob es auf keinem Fall untergehen soll. Kratzenstein ertappt sich dabei, dass er das wissende Lachen derer aufgesetzt hat, die sich hinter der Bühne auskennen. "Ist uns bekannt. Hat er vielleicht einen Stellvertreter?" 64
"Wer sind Sie überhaupt?" Die Frau dreht sich zu ihrer Kaffeetasse hin und lässt ihr Wer sind sie überhaupt in der Luft hängen. Dann wienert sie mit einem Tempo an der Tasse herum. Koritzius zückt seinen Dienstausweis. Auf dem Gesicht von Kratzenstein liegt der Ausdruck eines Mann, der weiß, dass er die erste Geige spielt. Er legt nur den Kopf schief. "Zufrieden?" sagt Koritzius in tiefem Ernst. Das Pferdegesicht blinzelt etwas. Durch das Fenster hinter den Besuchern flutet das Licht herein. "Einen Stellvertreter gibt es nicht. Eigentlich sitzen die Leitenden Herren ja in Bochum. Herr Hoppe und Herr Meuschel...Aber der ist ja tot. Tragisch!" Wie auf Kommando zieht sie Tränen durch die Nase hoch, schluchzt monoton. "Jetzt ist Herr Hoppe unser alleiniger Chef." Den Namen spricht sie mit ebenso viel Respekt aus, wie den Namen des Allmächtigen. "Hoppe? Ist der da?" hakt Koritzius nach. Doch die Frage bleibt unbeantwortet. Plötzlich geht die schwarze Tür direkt neben dem Empfang auf. Eine Frau in einem weißen T-Shirt mit mächtigen Schultern und einem Mini kommt auf die beiden zu. Blondes Haar, in der Mitte gescheitelt, umrahmt die junge Gesichtslandschaft mit dem leichten Silberblick. Die Haut ist etwas fahl, 65
wirkt mitgenommen. Die Bullen starren auf lange, braun gebrannte Beine. Durchtrainierte Muskeln sind zu sehen. Koritzius staunt Bauklötze. Unwillkürlich zieht er den Bauch ein und wirft seine Schultern zurück. Sein Adamsapfel geht hektisch nach oben und wieder nach unten zu ihrem MiniRock. ck,wurde in den Tagen erfunden, als Koritzius längst zu verkratzten Beatles-Platten "Yeah, Yeah, Yeah! wimmerte und die Eltern der Blondine zarte, aber erfolgreiche Annäherungsversuche starteten. Seine Stimme hört sich merkwürdig für ihn an, als er sagt: "Ja... Wir suchen Ihren Chef." Dabei schaut er ihr direkt in die ostseeblauen Augen. Sie hat genug Sex, um jede Betriebsversammlung hochgehen zu lassen. Scheint aber genau zu wissen, wie man Hummer isst. Ihr Lächeln ist bestimmend, sie schüttelt leicht den Kopf und sagt stumm: Hat keinen Zweck! Dann setzt sie ein neues Lächeln auf: das der Katze, die endlich den Goldfisch erwischt hat: "Der ist in Urlaub." Ihre Hände scheinen ein bisschen zu zittern. Das Pferdegesicht lässt einen raubvogelhaften Blick umherschweifen. Auch Kratzenstein spürt ein leichtes Kribbeln in den Lenden. Aber er nimmt sie unbeirrt auf's Korn: "Vielleicht können Sie uns sagen, wo wir Herrn Teufel erreichen können. Wir haben einige Fragen an ihn." Dabei lächelt er schroff und sachlich. Neigt 66
seinen Kopf wieder zur Seite, als wolle er feststellen: Das können Sie bestimmt verstehen! ck,empfindet ein Gefühl für das Polizistenleben: Dieser Roth ... Das Pferdegesicht scheint das Klingeln des Telefons zu überhören. Mit geblähten Nüstern schimpft sie: "Vorhin musste ich zu seiner Wohnung fahren ..." "... Warum?" Koritzius hält den Atem an, auf totale Ablehnung gefasst. In aller Aufrichtigkeit bekommt er zu hören: "Weil das Telefon ständig besetzt ist. Und Herr Hoppe ihn ganz dringend sprechen wollte. Da musste ich hinfahren." Sie ist sauer wie ein Ex-Minister, dem als Dankeschön für seinen Rücktritt der sichere Platz auf der Landesliste gestrichen wurde. "Im UniCenter hat man mir gesagt, dass der Teufel ausgezogen sei. Ich habe gleich gewusst, dass mit dem etwas nicht stimmt. Aber Sie wissen ja, wie's ist." "Jaja. Wir wissen, wie's ist." Kratzenstein kehrt zur Sachlichkeit zurück. "Und aus Ihren Unterlagen lässt sich keine andere Adresse erfahren?" Koritzius sieht der Frau mit dem knappen Rock in die Augen. Sie hält seinem Blick stand, ohne mit der Wimper zu zucken: "Das ist es ja. Es gibt keine Unterlagen. ck hat nirgendwo eine Fußspur hinterlassen." Trotz dieser Offenheit hat Kratzenstein den 67
Eindruck, dass sie mauert. "Kannten Sie eigentlich Herrn Meuschel privat?" Die Blondine versucht das Zucken ihrer Lippen zu unterdrücken: "Nein!" Die Augen von Hans-Werner Koritzius tanzen im Flur herum. "Mir dämmerte schon bei seinem Abschied, dass ich ihn nie wieder sehen werde", verrät das Pferdegesicht. "Warum?" will Kratzenstein wissen und bekommt zu hören: "Keine Ahnung. Aber das hat man doch manchmal, nicht?" Niemand geht darauf ein, Kratzenstein will aber wissen: "Wie war das genau mit den Papieren?" "Herr Teufel wollte sie uns nachreichen. Das ist bis zum Urlaub nicht passiert", erklärt das Pferdegesicht in einer Haltet-den-Dieb-Marnier. Das scheint ihrer Kollegin überhaupt nicht zu gefallen. Sie zwängt die Unterlippe zwischen die Zähne. "Was haben Sie überhaupt mit der Firma zu tun?" Kratzenstein schaut die Augenweide direkt an. Ihr Mund verzieht sich mürrisch, sie atmet schwer. Ihr Gesicht ist mit einem Mal voller Panik. "Ich bin nur eine Sekretärin", knurrt sie. Dann schießt sie durch die Tür, durch die sie auch gekommen ist, bevor Koritzius einmal tief Luft holen kann. Mit halb offenen Mund starrt er ihr hinterher. Das Pferdegesicht leckt sich die Lippen. Kratzenstein blickt sich 68
um. Der Dreihundertpfünder ist noch immer in guter Hoffnung wegen der Herren vom Reisebüro Tauber. Solange vergiftet er sich mit Zigarrenqualm. Das Pferdegesicht hat weiter die R 6 im Mund und raucht dagegen kalt. Kratzenstein kappt die Taue und schlendert zum Aufzug. Koritzius holt ihn an der Tür ein: "Was ist Ihre Meinung?" will er leise von seinem Chef wissen. "Ich habe noch keine Meinung." Paul Kratzenstein schnuppert im Flur den schweren Duft von Chanel Nummer Fünf mit einer Prise Angstschweiß. Natürlich entgehen ihm nicht die glühenden Ohren seines Mitarbeiters. ck,hat die Brauen eindrucksvoll zusammengezogen. In Kratzensteins Gesicht verbreitet sich ein Lächeln - eine Mischung aus Skepsis und Verschlagenheit.
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4. "Das waren Bullen! Bullen!" Claudia Häuser ist total außer Atem, als sie in das Büro stürmt. Ihre Augen sind ganz schmal. Sie will noch etwas sagen und bewegt den Mund, aber kein einziger Laut kommt über ihre Lippen. Ralf-Maria Hoppe lehnt sich in dem dunkelroten Bürostuhl mit der Nackenstütze zurück und legt beide Füße auf die weiße Schreibtischplatte. Mit der linken Hand schaltet er den Lautsprecher aus, mit der rechten greift er zum Glas Dom Perrignon. Seine Augen sind kalt, das Gesicht eine einzige Grimasse. "Ich weiß. Ich weiß." ck lacht schrill auf. "Tüttelkram. Alles Tüttelkram. Warum bist du nur weggerannt? So hilfst du uns nicht weiter." Hoppe nimmt ein Taschentuch aus seiner gutgebügelten, anthrazitfarbenen Jacke und betupft seine Lippen: "Möchtest du auch ein Glas Champagner haben? So verliert man jede Unruhe." Dabei zieht er an seinem rechten Zeigefinger, bis der Knöchel knackt. Sie starrt ihn mit einem Gesicht an, das so weiß ist wie der erste Schnee auf der Pack. "Ich kriege keinen Tropfen runter." Ihre Augenlider schlagen heftig wie die Flügel von Schmetterlingen. 70
Hoppe lacht in sich hinein und entblößt seine Zähne: "Hat dich der eine Bulle so verwirrt?" Seine Brauen schieben sich zusammen, er runzelt die Stirn: "Sei demnächst nicht so unhöflich zu dem Mann." In seiner Stimme ist ein leichtes, verschlagenes Grinsen. "Vielleicht können wir ihn noch gebrauchen." Seine entschlossenen Augen sind stahlharte Strahler. Die Worte schwirren an ihr vorbei. Claudia Häuser hat eine tiefe Furche auf der Stirn. Ihre Oberlippe spannt sich über ihre Zähne. Sie ist maßlos enttäuscht. Von sich selbst. Sofort weigert sie sich, Hoppe mit einem Lächeln gefällig zu sein. Sie blickt auf ihn, als ob er eine Fotografie ist. Sein Gesicht scheint jedes Mienenspiel zu beherrschen. Er lächelt sie an: "du musst mich verstehen." Das Taschentuch hat er noch immer in der Hand. Dem Manager wird das Anstarren unannehm, er steht auf und lehnt sich mit gekreuzten Beinen an den Schreibtisch, auf den irgendjemand das Schild "Bitte lächeln" gestellt hat. Jetzt kann er auf sie herabblicken. Klar zum nächsten Gefecht. Er will sie in den Arm nehmen. Doch sie beugt sich mit einem vor Enttäuschung roten Gesicht zur Seite. Dabei würde sie sich gerne an ihn schmiegen. Aber etwas hält sie zurück. 71
"Können wir nicht heute Abend darüber reden", fragt sie kleinlaut. Er zückt die Achseln: "Sorry! Heute kann ich leider nicht." Kaum sind die Worte heraus, weiß er, dass er einen Fehler gemacht hat. Denn ihr Gesicht ist eine einzige Enttäuschung. "Ich bin mit einem Typen verabredet, der sich in den Journalismus verbuddelt hat. Der Meuschel hat mit ihm zusammengearbeitet. Ich muss Kontake pflegen", schiebt er nach. "Jaja", antwortet sie geistesabwesend, fragt dann nach: "Wo trefft ihr euch denn?" Ralf-Maria Hoppe geht zum Fenster, schaut auf den Verkehr, der vorbeiflutetet. "In einem Biergarten", sagt er bärbeißig, ohne sich umzudrehen. *** Es ist ein angenehmer Sommerabend so um die 26 Grad. Jeder glaubt, ganz Köln sei ein Postkartenmotiv. Auch in der Innenstadt lässt es sich aushalten. Die Hitze scheint eine Atempause eingelegt zu haben. Die Lindenstraße ist eine von diesen alten, schmalen Straßen, die mindestens einmal am Tag vor dem Verkehr die weiße Fahne hissen. Doch der Knöterich an der Ecke Dasselstraße gibt sich großzügig: ck schluckt den Lärm des Staus und spendiert dem Sitzfleisch im Biergarten vom Shab noch Schatten. Auch brodelnde Bahngeräusche dringen nur leise herein. Und zu sehen sind die Züge nicht. 72
Es sind um 18 Uhr nur ganz wenige Gäste draußen. Ein Altgedienter döst auf einem Stuhl in der Ecke. Ein Spätpubertierender nuckelt an seinem Diesel: Er wirkt wie ein Junge, der noch im Kinderzimmer schläft. Und Carlheinz Roth mutet seinem Magen einiges zu. Der hakennasige ht k hat ihm ein Vollkornfrühstück gebracht. Statt des Möhrensaftes hat er sich aber einen Oberrotweiler Käsleberg 1991 bestellt. Man soll nichts übertreiben! Ein erwachsener Mensch verfügt über 2000 Geschmacksknospen. Die meisten liegen im Zungenbereich. Und für sie ist dieses Menü nicht das Gelbe vom Ei. Den Rebensaft bringt eine naturblonde Studentin. Die beiden kennen sich, seit dem AStA-Besuch bei Punkt!. "Ich habe gestern deinen Kommentar zum Mediapark gelesenen und ..." "... Ach, du warst das", brabbelt er und befingert die Seiten seiner Nase. Als wolle er diesen Gag noch ausmalen. "Was? ... Sehr komisch", sagt sie heiser und plagt sich weiter. "Mich würde mal interessieren, wie viel Millionen dort schon verbuddelt worden sind." "Mich auch!" Wo sie Recht hat, hat sie Recht. "Willst du nachher mit mir vögeln?" Er lehnt sich zurück und bläst Rauch direkt in ihre Richtung. Sie 73
ist stumm, Carlheinz Roth aber nicht. "Jetzt gib deinem Herzen schon einen Stoß...und brüll' los." Seine Stimme wiehert. Die Studentin atmet rau auf. Die Sekunden schleichen in Zeitlupe vorbei. Dann funkelt sie ihn an und ihre Stimme klingt leise, ganz überlegen: "du bist ein Arschloch!!!" Sie hat sich am Tisch fest halten müssen. Ihre Knöchel sind weiß wie ein Brautkleid aus längst verblichenen Tagen. Richtig sauer ist Carlheinz Roth nicht. Natürlich, er würde gerne mit ihr koitieren. Aber er benutzt sie auch für seine plumpen Egospiele. Die Sonne kriecht langsam über einen Strauch. Ralf-Maria Hoppe schnappt nach Luft, als er zu dem Journalisten an den Tisch kommt. Sie grinsen einander wissend an, wie alte Feinde aus vergangenen Tagen, die sich beim Klassentreffen über den Weg laufen. "Ich wollte nicht zu spät kommen. Aber ich habe keinen Parkplatz gekriegt." Carlheinz Roth weist auf einen Stuhl hin. Ein paar Meter weiter sieht er die Studentin: "Kleiner Tipp von mir. Die ist heute ganz scharf. Vorhin hat sie mich schon anmachen wollen. Aber ich hatte keine Lust. ck weiß: Ralf-Maria Hoppe ist scharf auf junge Frauen im Allgemeinen und Blondinen im Speziellen. 74
Wie auf ein Kommando kommt sie an den Tisch. "Ich nehme einfach ... Sie!" tönt er, noch bevor sie ihre Frage stellen kann. Sie zieht ihre kleine Nase in Falten. Hoppe hat das Kinn in die Hand gestützt. Mit eisiger Höflichkeit raunzt sie ihm zu: "Opa, das bringst du bestimmt nicht mehr. Also, was willst du? Vielleicht eine heiße Milch mit Honig? Oder eine frische Tomatensuppe? Entscheide dich oder macht das schon dein Vormund für dich?" Dann geht sie weiter: "Na, das geht wohl nicht so schnell mit dir." Hoppe ist etwas sprachlos. "Einen Metaxa", ruft er ihr schließlich hinterher. Er ist um die Flügel seiner Nase ganz weiß. Seine Hände nestelns am Tischtuch herum. Roth lacht in sich hinein. "Also, was wollten Sie mir sagen." Hoppe sieht der Studentin hinterher. Und zieht seine Lippen zurück, so als wolle er daran lecken. Aber er kaut kräftig an seiner Unterlippe. "Ihr Geschäftsführer Michael Teufel ist ein Maulwurf ..." "... Ein Maulwurf?" Ralf-Maria Hoppe möchte noch mehr sagen. Aber er ist stumm wie ein Fisch im Aachener Weiher. Carlheinz Roth platzt fast vor schierem Mitteilungsdrang. "Der Mann hat sich regelrecht an Sie herangepirscht." 75
"Woher wissen Sie?" Der Manager sitzt mit hölzernem Gesicht da. Seine Brauen schieben sich zusammen. Er schlägt mit dem Ballen seiner rechten Hand auf den Holztisch: "Verdammte Scheiße!" Seine Stimme ist in den U-Bahn-Schacht gefallen. Sein Gesprächspartner holt sein Na-so-was-Gesicht hervor: "Ich kenne ihn. Komme aber nicht auf seinen richtigen Namen. Teufel heißt der bestimmt nicht. Jetzt ist der Typ verschwunden." Offenbar gibt es bei Ihnen einiges zu enthüllen. Der Empfänger der Worte fühlt sich so leer wie die Taschen des sprichwörtlich letzten Hemdes. Seine Stimme klingt tonlos, die Schultern hängen herab: "Wo bleibt der Metaxa?" Sein Gesicht ist weiß wie Talkum.
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5. Nach dem Treffen mit Ralf-Maria Hoppe klettert Carlheinz Roth in seinen Alfa Romeo und schaltet das Autoradio ein: "Leiche am Parkplatz Fühlinger See", quäkte der Polizeifunk aus dem Lautsprecher. Sofort braust er hin. Die Erwartung auf einen Fronteinsatz bringt seine Laune auf Vordermann. In der Redaktion frustriert ihn schon lange der ganze administrative Kram. Außerdem traut er seinem Polizeireporter Walter Schlagehuhn nicht mehr viel zu: höchstens das Ausruhen. Das Gehalt von 10.800 Mark ist für Carlheinz Roth längst nur noch Schmerzensgeld. Manchmal droht ihm der Kragen zu platzen, wenn er den Zug vor Augen hat, der auf das Abfahrsignal wartet. Das gelbweiße Licht von vier Straßenlaternen wetteifert mit dem Blaulicht von drei Streifenwagen. Carlheinz Roth biegt von der Merianstraße auf den Parkplatz ab, der vollgestellt ist mit Wohnwagen, aus denen blassblaues Licht dringt. Die Polizeiwagen lässt er rechts liegen. Sie stehen vor dem rotgeklinkerten Flachbau mit den vier blauen Türen. Daneben ist noch ein Haus zu erkennen. Offenbar ein 77
Wohnhaus. Die Fenster sind dunkel. Nur eine Lampe brennt über dem Eingang. Carlheinz Roth stellt seinen dunkelblauen Flitzer neben einem Wohnwagen ab. Holt seine Kamera aus dem Kofferraum. Ein paar Meter weiter springt ein Motor an. Das Geräusch lässt ihn zusammenzucken. Ein Hauch von süßlichem Wind weht ihm ins Gesicht. Er spürt, wie plötzlich Angst in seinem Bach einsitzt. Einen langen Moment zögert er, bis in seinem Kopf wieder Ruhe eingekehrt ist. Die Finsternis ist ihm zu dicht auf den Leib gerückt. Darum steigt er wieder kurz ins Auto und schaltet das Standlicht ein. Dann geht er langsam über den Platz. Ein verbeulter Ford tuckert an ihm vorbei. Die meisten seiner alten Kumpel sind längst verheiratet, haben Kinder und einige drücken sich schon bei Scheidungsanwälten rum. Eben der Lauf der Dinge. Damals zu Schullandheimtagen in der Eifel hatte er als Erster in der Klasse eine Freundin. Heute ist er wieder ein Exote. Als Junggeselle schlägt er sich die meisten Nächte allein um die Ohren. Carlheinz Roth geht zu einer Gruppe von Leuten. Niemand scheint sich um ihn zu kümmern. Auch die Motten nicht. Sie flattern gegen die Laterne. Im Halbdunkel liegt der Tote. Kopf und Schulter umrahmen eine dicke Blutlache. Ein Arm ist unter den 78
Körper gezogen. Der andere ausgestreckt. Daneben liegen zwei Wäscheklammern. Der Journalist holt seine Kamera ans Auge. Im Sucher ist der Leichenfund der Mittelpunkt von allen. Roths Gesicht brennt plötzlich lichterloh. Denn der Leiche fehlen die Brustwarzen und der Penis. Im Mund steckt eine Glasscherbe. Rote Flecken sind auf dem Körper verteilt. Heraushängende Zunge, mit bonbonfarbenen Plastikriemen zusammengebundene Füße. Vorstehende Augen starren ihn an. Der Anblick lässt ihm das Blut gefrieren. In seinem Hals klettert der Mageninhalt hoch. Mit einem Male werden die Tore zu seinem Gedächtnis aufgerissen: Freitag ... Deutsches Institut für publizistische Bildungsarbeit ... DüsseldorfHassels ... Nicht Michael Teufel. Das ist ... Axel Weiss. Roths Gesicht ist kalkweiß, Sekunden später blutrot gefärbt. Er fürchtet, sein ganzer Kopf würde explodieren. Hastig atmet er ein und aus und stößt einen hysterischen Schrei aus. Seine Hände sind farblos wie Ton. Der Reporter ist wie gelähmt. Er kann nicht auf den Auslöser drücken. Hört einen Moment nichts als seinen eigenen Herzschlag. Ein untersetzter Griesgram sagt scharf: "Weg hier!" Roth zögert einen Augenblick, bevor er den Kopf schüttelt. Immer wieder zuckt er zusammen. Hat den schrecklich zu79
gerichteten Kollegen vor Augen. Ihm ist, als würde ihm jemand ständig Schläge unterhalb der Gürtellinie verpassen. "Verschwinden Sie endlich!!!" Roth taumelt zu seinem Schlitten zurück, lehnt sich an die Fahrertür und sucht nach Zigaretten. Vergessen. Scheiße! Sofort ruft er sich die Szene von vorhin noch einmal Punkt für Punkt ins Gedächtnis: Blutlache ... Motten ... vorstehende Augen ... alter Kollege ... Tarnname. Von einer Sekunde zur anderen sieht er aus wie nach einem Monat durchzechter Nächte. Eine tiefe Falte verbindet seine Brauen. Roth beugt sich vor und wischt sich das Gesicht mit der Hand. Es ist eine eigenartige Mischung aus Entsetzen und Neugierde. Völlig grundlos nickt er. Und ertrinkt fast in der stürmischen Flut arger, bohrender Kopfschmerzen. Vor seinem geistigen Auge wirkt der Tote überlebensgroß: mit Grübchen im Gesicht, wenn er mal lächelte, meistens wirkte er aber traurig wie ein großer Komödiant. Das Gesicht von Carlheinz Roth sieht bleiern und furchtbar entsetzt aus. Seine Knie knicken ein. Er muss sich fest halten. Merkt überhaupt nicht, dass er beobachtet wird. Hans-Werner Koritzius in einem AllwetterPopelinemantel geht auf das Auto zu. Er sieht die gelbweiße Maske. Aber nicht die Anstrengungen, 80
die es kostet, sie zu kontrollieren. Er lehnt sich auch an, kreuzt die Beine und sieht Roth mit großem Ernst an. Er muss nicht versuchen, mit ganz gelassener Stimme zu sprechen. Die ist längst in Routine übergegangen. "Was machen Sie denn hier?" runzelt er die Stirn, die Zähne zu einem angedeuteten, nichts sagenden Lächeln zusammengebissen. Der Angesprochene senkt den Kopf und starrt in die Ekke, in der Beamte die Leiche zudecken. Wieder spürt er, wie ihm der Atem im Halse stecken bleibt. Einige Männer in schmutzverkrusteten Jeans nähern sich dem Gebäude. Es gilt einen Toten zu betrachten. Aus dem Wohnhaus mit der Parabolschüssel auf dem Dach kriecht eine Frau mit buttergelben Haaren. Nervös presst Roth den Mund zusammen, senkt den Kopf und denkt ein paar Sekunden nach: "Ich hab's im Funk mitgekriegt." Sein Kinn zittert. Grimmiges Stirnrunzeln begleitet die Antwort: "Finde ich nicht lustig." Die Stimme ist kalt von einer Härte, die Roth nie zuvor gehört hat. Er schluckt und kämpft dagegen an, völlig die Nerven zu verlieren. Leichter Regen hat eingesetzt. Der macht Koritzius aber keine Probleme. Wenn er eine Aufgabe hat, verspürt er nachts keine Angst. Wie einige Kranke in den Universitätskliniken, die monatelang apathisch in ihren Betten lagen. Als in ihrem Haus 81
nachts Feuer ausbrach, rannten sie ins Freie. Und legten sich auf die Wiese. Ganz apathisch blieben sie dort wieder liegen. "Kannten Sie den Toten?" Koritzius verschränkt die Arme, dreht beiläufig eine Packung Philip Morris und weist mit dem Kopf in Richtung der Leiche. Carlheinz Roth braucht einen Moment, bis er die Ernsthaftigkeit der Worte erfasst hat. Aber da kommt schon die nächste Frage. Koritzius hat sich vorhin selbst eine Antwort gegeben. "Was wissen Sie über ihn?" fragt er und steckt die Hände in die Hosentaschen. Roths Lippen zittern. Die Hände hat er vor dem Oberkörper verschränkt. Wie jemand, der etwas abwehren will. "Na, wie heißt er?" Koritzius beginnt mit der Befragung. "Teufel. Michael Teufel", stellt Roth fest. Obwohl er mehr weiß, will er nicht der Geschichte vorgreifen. "Der Reisemensch?" fragt Koritzius und dreht sich ganz zu Roth hin. Wie gerne würde er gleich an Ort und Stelle seine Stirn bekränzen. "Also, was ist?" An seinem Tonfall erkennt Roth sofort, dass der Polizist eine digitale Antwort erwartet: "Ja." Der soll doch verschwunden sein, erinnert sich Koritzius. Fragt aber etwas ganz anderes: "Wissen Sie etwas über sein Privatleben?" Nachdenklich schüttelt Roth den Kopf, kriegt sich etwas in den Griff. 82
"Der Punkt ist der, dass wir uns jahrelang nicht gesehen haben. Und uns dann zufällig in die Arme liefen. Und keiner wollte den anderen kennen." Ein Teil seines Verstandes ermahnt ihn, ganz vorsichtig mit seinen Erinnerungen zu sein. "Verstehe ich nicht", antwortet Koritzius. "Das werden Sie mir noch näher im Präsidium erklären müssen." Für einen Augenblick setzt Roths Herz aus. Bin ich verhaftet? Das Opfer verlässt den Parkplatz in einem Metallsarg. Die Zuschauer bekommen endlich etwas Neues zu sehen, worauf sie die ganze Zeit gewartet haben. Mit einem Kopfnicken verschwindet auch Koritzius: "Melden Sie sich bei mir. Nacht." Sein Blick lässt keinen Zweifel daran, dass er es ernst meint. Die Dunkelheit verschluckt ihn. Roth macht den Mund auf, findet aber keine Worte. Bei dem Gedanken, noch einmal über die Leiche zu sprechen, bekommt er schon jetzt vor Angst eine Gänsehaut.
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6. Donnerstag, 16. Juni Morphium könnte bei den meisten Menschen nicht das Grauen des Anblicks vom Parkplatz restlos abtöten. Doch Hans-Werner Koritzius sitzt völlig entspannt hinter dem Steuer und braust nach Hause. Das Seitenfenster ist offen und ein feuchtkühler Wind wirbelt durch den Opel Vetra. Die A57 wirkt verlassen und leer, als sei sie gesperrt worden. Roth weiß mehr, als er sagt. Denkt der Polizist und ist merkwürdig erleichtert. Im Radio stellt Stephan Remmler gerade fest "Einer ist immer der Loser - Einer muss immer verliern". Koritzius seufzst und schaltet ab. Er hat keine Lust auf boshafte Wahrheiten, kann sie nicht ertragen wie ein gutdressierter Hund die Tritte einen Kleinkindes. So ganz hat er auch seine Gedanken nicht unter Kontrolle. Sie jagen ihm durch den Kopf: Wer hat uns zum Tatort bestellt? Warum ist dieser Michael Teufel verschwunden? Warum musste er sterben? Wie sein Chef. Sein Gesicht glüht rosig.
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Hinter der Abfahrt Bickendorf erscheint im Lichtkegel der Scheinwerfer plötzlich ein Hund. Blitzschnell tritt Koritzius auf die Bremse. Reifen quietschen. Für einen Moment blickt er in ein Paar glühender Augen. Dann ist der Hund wieder in der Nacht verschwunden. Koritzius gibt wieder Gas. Erst hinter der Abfahrt Ehrenfeld hält er auf dem Standstreifen an, steigt aus und lehnt sich jetzt schreckensstarr an das Auto. Aus einer Packung Marlboro schütteln seine Finger mit den zerbissenen Nägel eine Zigarette. Nach einer verwirrten Pause zündet er sie an und bläst ein paar Rauchwolken von sich. Dann drückt er sie auf dem Boden aus, steigt wieder ein und fährt weiter. Beim Gedanken an Zuhause verdüstert sich sein Gesicht. Doch dann fällt ihm ein Stein von der Seele. Niemand wartet auf ihn: Seine Frau ist für ein paar Tage zu Verwandten nach Usedom gereist. Erleichtert steigt er vor seinem Haus aus schlägt die Wagentür zu. Weil er weiß, dass er gleich nicht zischen muss: "Ach, lass mich in Ruhe." Und weil in seinem Terminkalender steht, dass er in ein paar Stunden erst später ins Büro fahren wird: nach einem Termin, von dem im Präsidium niemand eine Ahnung hat. *** 85
Draußen ist das Schnappen von Autotüren und das Klingeln einer Straßenbahn zu hören. Hans-Werner Koritzius hält den Kopf über die Knie gestützt und spürt die warme Brise, die mit dem Lärm von der Zülpicher Straße durch das offene Fenster der Praxis im zweiten Stock strömt. Gut und gerne zwei Meter sitzt er Dr. Regine Schwirtz gegenüber. Das warme Lächeln zieht ihren weichen Mund schwungvoll in die Breite. Aber er weiß nicht ihre Züge zu deuten: Skepsis? Desinteresse? Teilnahmslosigkeit? Darum antwortet er mit einer klebrige Feuchtigkeit unter den Achseln. Er hat schlecht geschlafen und ist nicht ins Büro gefahren. "Ich muss erst zum Zahnarzt", log er. Seine Kollegin Petra Braun hörte nur zu und berichtete dann von ihren Recherchen. Sie hatte bereits Akten gewälzt. Und sogar einen ähnlichen Fall gefunden. In einem alten Gutachten hießt es: Der Täter wies in seiner Kindheit ein ausgeprägtes sadistisches Verhalten gegenüber Tieren an den Tag. So wollte er Katzen die Zähne ohne Betäubung ziehen. Oder einem Hund das Herz einer Ratte verpflanzen. Für die Verbrechen von letzter Nacht kommt er aber nicht in Frage. Vor drei Jahren starb er an Krebs. In einer Geschlossenen. "Nach welcher Methode arbeiten Sie eigentlich?" fragt Koritzius und setzt sein maskenhaftes Lächeln 86
auf. Die Stimme klingt mechanisch, als käme sie aus dem Lautsprecher eines billigen Cassettenrekorders. Sein Haar sieht auch total wirr aus, als habe er während des ganzen Morgens nicht einmal den leisesten Versuch unternommen, es zu bändigen. Die Psychotherapeutin sieht in das Gesicht, das einen fordernden, entschlossenen Ausdruck angenommen hat. Sie spricht nicht gleich. Sondern will einen Augenblick Zeit haben, um die Frage etwas einzuschätzen. Dann schürzt sie die Lippen: "Wie kommen Sie gerade heute drauf?" Und schiebt gedankenverloren eine 50-Pfennig- Münze hin und her, die schon seit Monaten auf dem Glastisch liegt. Für einen Augenblick verzieht sich seine Miene, dann hat er sich wieder unter Kontrolle. Aber seine Augen werden schmal: "Beantworten Sie meine Frage." Sein Mund ist zu einer scharfkantigen Sichel verkommen. Dutzende von Falten schlängeln sich durch sein Gesicht. "Wenn Ihnen so viel daran liegt. Diese Methode heißt klientenzentrierte Gesprächspsychotherapie ... Mit dem Namen können Sie aber nichts anfangen." Der berufliche Erfolg hat sie selbstbewusst gemacht. Der Polizist grinst schmallippig: "Was halten Sie eigentlich von Erich Fromm?" Merkwürdig, sie 87
trägt heute keinen Ring. Die Ärztin behält ihn genau im Blick: "Was halten Sieee von ihm?" Für ihn haben diese Gespräche so etwas von der Formel 1. Die Trainingsrunden am Anfang entscheiden über die Startpositionen für den entscheidenden Lauf. Koritzius zieht die Nase hoch. "Der Fromm war ein kluger Kopf." Ihr ist blitzschnell klar, dass er nicht alles sagt, was er denkt. Darum sieht sie ihn an, auf eine Erklärung wartend. "Bisher hat Ihre Methode aber noch nichts gebracht." Er scheint nach Worten zu suchen. "Gar nichts!" Er weiß nicht mehr weiter und hebt flehend die Brauen. Einen Augenblick sagt niemand etwas, dann erst fragt die Psychoklempnerin: "Finden Sie?" Ein wenig hat sie etwas von einer guten Schauspielerin, fährt es ihm durch den Kopf. Aber haben nicht alle Praxen etwas von einer Bühne? Er sieht sie mit hochgezogenen Augenbrauen an: "Warum sind Sie nicht ehrlich? Dann müssten Sie das auch zugeben." "Ich bin der Meinung, dass wir in jeder Stunde besser zusammen arbeiten können", betont die Muskulöse. Koritzius will nicht ins Hintertreffen geraten: "Besser zusammenarbeiten", echot er. "Ihr Wort in Got88
tes Ohr ... Jetzt werfen Sie mal einen Stein ins Wasser." "Was soll ich?" Ihr kurzes Aufblicken signalisiert ihm, dass sie mit dem Satz nichts Rechtes anfangen kann. "Einen Stein ins Wasser werfen. Also anfangen." Dabei fasst er sich mit dem Daumen unters Kinn. Das hat er von Philip Marlowe. Mit im Nacken verschränkten Armen lehnt sie sich zurück und stellt fest: "Wir sind doch schon über den Anfang hinaus ..." "...Naja, wenn Sie meinen", sagt er und streut gleich wieder Salz in die noch frische Wunde. "Als Unterhalterin müssen Sie doch improvisieren können." Mit seinem Taschentuch putzt er gelangweilt seine Brendl-Brille. "Sie meinen als Entertainerin?" fragt sie. Noch bevor er antworten kann, läutet es an der Tür. Regine Schwirtz nimmt den Hörer der Wechselsprechanlage ab, hört einen Moment zu und sagt nur einen Satz: "Wir haben heute keinen Termin!" Dann legt sie auf. Sofort klingelt es wieder. Diesmal schenkt sie dem Hörer keinen Blick, dafür aber seinen unruhigen Händen und der leicht geröteten Gesichtsfarbe. "Ja! Als Entertainer." Soll er heute von seinen Begierden anfangen? Hat sie überhaupt dafür eine 89
Antenne? ... Die Entscheidung ist gefallen. Heute nicht. "Ich sehe mich nicht so. Das habe ich schon mal gesagt. Weder so noch so." Die Freundlichkeit ist in ihrem Gesicht geblieben. "Gutgut." Koritzius hat längst die Lust an einer Klopperei verloren. Kurz vor der Stunde ist er zum Klo gegangen. Jetzt spürt er schon wieder einen Druck auf der Blase. "Die Patientin, die nach mir kommt ..." Er denkt an zwei Dinge gleichzeitig: an ein kühles Bitter Lemon und die Hitze auf seinem Rücken. Und er bekommt Angst, dass seine Gedanken durch die Ohren nach außen strahlen könnten. "... Was ist mit der?" fragt sie erstaunt und neigt ihren Kopf etwas zur Seite, wie immer, wenn sie eine Frage stellt. "Sie gefällt mir. Sie ist jung, hübsch und wirkt unkompliziert." Er spricht so schnell, dass sie Mühe hat ihn zu verstehen. Aus seinem Kopf treten die Adern hervor. Sein Frust macht die Luft dünn. Sie spitzt nachdenklich die Lippen: "Hmmm ... Diesen Eindruck haben Sie?" "Ja! Wie soll ich Ihnen das erklären? Ihr Gesicht strahlt so viel Fröhlichkeit aus." Hans-Werner Koritzius tippt mit dem Bügel seiner Brille gegen seine Zähne. "Ja. Fröhlichkeit." 90
Sie massiert sich den Rücken. Auch das noch. "Seit wann haben Sie dieses Gefühl?" Die Wärme, die sie ausstrahlt, verunsichert ihn. Es ist der Scharm eines kleines Mädchens im Sandkasten, das begeistert die Backform für einen Kuchen geschenkt bekommen hat. Schon wieder läutet es an der Tür. Sie fordert ihn auf: "Bitte sprechen Sie weiter. Das ist Ihre Stunde." "Ja. Schon seit einigen Wochen?" Seiner Stimme haftet unverkennbar etwas Bedrohliches an. "Und?" An die hunderttausend Mal hat sie soetwas schon erlebt. "In der letzten Woche habe ich sie angesprochen. Und gefragt, ob sie nachher noch ins Oscar kommt?" Mit einem Mal kann er das Pochen seines Blutes hören. Und er spürt, wie sich jedes Härchen in seinem Nacken einzeln aufrichtet. "Und ist sie gekommen?" Sie spreizt die Finger unter dem Kinn gegeneinander. "Nein", flüstert er fast tonlos und sieht auf seine Armbanduhr. Dann schickt er sich an aufzustehen. "Bleiben Sie noch. Wir haben noch etwas Zeit ... Ein Gesicht haben Sie gesehen. Ein Gesicht, das so viel Fröhlichkeit ausstrahlt, sagen Sie. Können Sie sich nicht vorstellen, dass die Frau nicht nur fröhlich ist. Dass sie auch Probleme hat, sonst würde sie 91
bestimmt nicht zu mir kommen. Die Menschen haben viele Gesichter. Darüber müssten gerade Sie sich im Klaren sein." Dann steht er auf und hört beim Hinausgehen ihre Wort: "Morgen sehen wir uns schon wieder. Denken Sie daran, Sie haben einen Termin." Koritzius nickt. Dabei spürt er, wie sich auf seiner Stirn ein kleiner Schweißfilm bildet. Seine Augen schimmern feucht.
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7. Regine Schwirtz rast mit ihrem Polo nach Zollstock. Die Vorgebirgsstraße glänzt vom Regen. Einige Schlaglöcher sind zwei bis drei Zentimeter von Wasser bedeckt. Sie weicht nicht aus. Das anstrengende Fahren macht der Psychotante nichts aus. Im Programm von WDR 2 schwärmt Freddy Quinn von "The Wild Side Of Life". Die Fahrerin öffnet das Seitenfenster, um von dem kühlen Abendwind etwas mitzubekommen. Sie hat nach zu vielem Kaffee, zu vielen Zigaretten und zu wenig frischer Luft Kopfschmerzen. Während sie auf die Fahrbahn starrt, holt sie ihre Sony-Diktiergerät aus dem Handschuhfach, stellt das Radio aus und spricht in das Mikrofon: "K. kann sich überhaupt nicht mehr zu Gefühlen äußern. So erscheint er an Gefühlen verarmt, wirkt spröde und kalt." Sie redet ruhig und sachlich: wie eine, die weiß, was sie will. "K. scheint innerlich bis zum Siedepunkt gespannt zu sein. Nicht aus den Augen verlieren." Während sie die Worte gesprochen hat, ist ihr etwas Merkwürdiges durch den Kopf geschossen: Sie will ihn haben! Aber es ist ihr auch sofort klar, dass sie sich nie in ihn verlieben 93
könnte. Einen Moment überlegt sie. Dann löscht sie den letzten Satz. Sie ist ärgerlich über sich selbst. Denn ihr Verhalten ist äußerst unprofessionell. Direkt hinter dem Raderthalgürtel biegt der Polo links auf einen Parkplatz ab. Regine Schwirtz schüttelt ernst den Kopf, steigt aus und geht auf einen kleinen Vorgarten mit gestutzter Hecke zu. Nach gut drei Minuten Fußweg ist sie so nass, als wenn sie unter einer Dusche gestanden hätte. Auf halben Weg hatte sie Schritte hinter sich gehört. Sie drehte sich und sah in das Gesicht von Rainer Gerlach, der mit einem Handy in der Hand an ihr vorbeimarschierte, so wie immer: als habe er ein Pittermännchen Küppers Kölsch zwischen den Beinen. Im Hauseingang begegnet ihr der Muskelbepackte. Er wartet auf den Aufzug und quatscht solange in sein Handy. Als Gerlach die Mieterin sieht, hält er die Hand über die Muschel und sagt: "Da wartet zwei Frauen oben auf Sie ... Sind wohl Ihre Schwestern." Die Psychotante lächelt nachsichtig. Denn sie weiß, dass sie keine Geschwister hat. Die Augen des Hausmeisters weiten sich, als er ihren vollen Busen sieht, der sich unter der Bluse abzeichnet. Regine Schwirtz steckt sich eine Camel an. Die Zigarette im Mund lässt sie herausfordernd wirken. 94
Beide steigen in den rechten der beiden Aufzüge. Die Luft ist rauchgeschwängert. Nervös bewegt Gerlach seine Hände. Die Frau lächelt merkwürdig. Ihr fällt nichts ein, was sie ihm sagen könnte. "Sie sehen verdammt scharf aus", sagt er zwischen der dritten und vierten Etage. "du Wichser!" stößt sie ihm entgegen. Und macht eine Pause, um die Wirkung zu erhöhen. "Schau dir nur meine Titten genau an. Mehr ist nicht drin, du Arsch!" Der Muskelprotz schüttelt stumm den Kopf. Einige Sekunden später legt den Knopf für den Nothalt um. Sofort stoppt der Aufzug. Er fasst ihr an den Busen. Aber sie reagiert nicht. Gerlach ist völlig außer sich. Dann trifft das Handy ihren Kopf, und sie verliert kurz das Bewusstsein. Die Zigarette fällt ihr aus dem Mund. Landet auf dem Boden. Als die Ärztin wieder zu sich kommt, steht er direkt vor ihr und wirft einen Blick auf das verzerrte Gesicht. Regine Schwirtz rappelt sich schnell auf, blickt ihn aber noch sehr benommen an: "du Sau!" Ihre Stimme tönt durch die Kabine. Einen Moment kann Gerlach ihren Augen nicht ausweichen. Er sieht kein Entsetzen... was ist das? Freude? Er ist total irritiert, stammelt irgendetwas von Entschuldigung. Seine Augen tränen. "Das wirst du mir büßen!" In ihren Worten ist jetzt etwas eiskaltes. Sie zuckt nach oben und stößt sei95
nen Kopf gegen den Spiegel an der Wand. Sofort zersplittert das Glas. Deckt das Mobiltelefon auf dem Boden zu. Der Mann verdreht seinen Körper und stürzt sich auf sie. Blitzschnell kreuzt sie die Unterarme und stößt ihn zurück. Er schleudert wieder gegen die Wand. Sofort ballt er beide Fäuste und will zwei gewaltige Schläge nach unten landen. Aber nur einer trifft ihren Wangenknochen. Sie lässt sich rückwärts fallen und stößt ihm das rechte Knie in den Unterleib. Die zweite Antwort ist ein platzierter Schlag in sein Gesicht. Sofort ändert sich seine Miene, er ist wie gelähmt und ringt nach Luft. "Auf ...", stammelt er. Regine Schwirtz scheint sich bei so viel Hilflosigkeit der Magen umzudrehen. Sie legt beide Hände auf die Kehle des Hilflosen und drückt zu: "Jetzt bist du dran!" Dann lässt sie ihn wieder los. Der Körper sackt auf den Boden. Er ist tot, denkt sie. Und lächelt. Aber hinter dem Lächeln verbirgt sich eine ganz andere Emotion. *** Regine Schwirtz wirft Rainer Gerlach einen scharfen Blick zu und legt den Hebel um. Sofort setzt sich der Aufzug wieder in Betrieb. Enttäuschung, Erleichterung, Freude: Als das schießt ihr durch den Kopf, ohne dass eines die Oberhand gewinnt. Auf der nächsten Etage hält der Lift. Sie steigt aus und 96
späht über den Flur: Niemand ist zu sehen. Hinter ihr schließt sich die Tür. Sie steckt sich eine neue Camel an und geht die Treppe hoch. Als sie oben ankommt, wirkt sie wie jemand, der aus dem Haus gegangen ist, um nur mal kurz Luft zu schnappen. Der Regen hat aufgehört, gegen die Flurscheiben zu trommeln. An der Glastür sieht sie erst ihre Freundin, dann auch ihre Sekretärin Heike Walter. Die beiden sind eng befreundet. Heike Walter hat sich am Nachmittag frei genommen, weil sie zum Friseur wollte. Sie nimmt kein Blatt vor dem Mund: "Dieser Scheiß Friseur. Der sollte mir nur die grauen Haare wegtönen. Aber was macht der? Färben! Hinterher waren die Haare rot." Ein Fehler, der ihr das Leben rettet.
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8. Freitag, 17. Juni Die Sonne hat sich hinter grauen Wolken versteckt. Die Scheibenwischer des Opel- Vectra fahren klikkend hin und her. Beim Abbiegen von der Severinsstraße auf den Parkplatz des Polizeipräsidiums wirbeln die Reifen kleine Wasserflächen auf. Einige Male muss Hans-Werner Koritzius herumkurven, bis er endlich ganz weit hinten einen freien Platz findet. Der Rasen vor dem Bürohaus ist nass und sumpfig. Es nieselt jetzt, als der Polizist aus seiner Wohnung kam, schüttete es aus Kübeln. Und er hatte wieder einmal keinen Schirm dabei. Koritzius ist später dran als an anderen Tagen. Er hat Herzklopfen, aber nicht wegen des nächtlichen Einsatzes vom Vortag. Wir sind doch schon über dem Anfang hinaus ... Die Menschen haben viele Gesichter ... Das müssten gerade Sie wissen. Die Sätze wirbeln durch seinen Kopf. Im Aufzug versucht er seine Gedanken in die Reihe zu kriegen. Natürlich! Teufel hat schon seit einiger Zeit der Firma misstraut, aber lange Zeit keine Be98
weise gefunden. Die hat er jetzt gefunden. Und musste deshalb sterben. Aber warum auch sein Chef? Das alles passt irgendwie nicht zusammen. Er holt ein paar Mal tief Luft. Endlich ist er oben. Im Büro deutet Petra Braun mit dem Kopf auf fünf aufgeschlagene Telefonbücher, die neben ihr liegen: "Diesen Teufel gab es eigentlich gar nicht." Ihr neutraler Gesichtsausdruck lässt keinen Hinweis erahnen, was sie damit meint. Koritzius wischt sich die Nase und funkelt sie an: "Was heißt das?" Seine eigene Stimme klingt flach und fremd in seinen Ohren. Die Kripo-Hauptmeisterin zögert etwas, bis sie die richtigen Worte findet: "Ich habe mit allen Einwohnermeldeämtern im Umkreis gesprochen. Und die Computer in Düsseldorf und Wiesbaden befragt. Nirgendwo ist ein Michael Teufel registriert." Hans-Werner Koritzius nimmt die Brille ab, schließt die Augen und reibt sie mit Daumen und Zeigefinger. Er kann sich auch nichts ziemlich Plausibles ausdenken: "Merkwürdig. Auch in Flensburg nicht?" Ihr Gesichtsausdruck ist leicht spöttisch, bildet er sich ein. Endlich kommt die Sonne hinter einer Regenwolke hervor und durchflutet das Büro mit einem grellen Licht. Petra Braun setzt ihre Sonnenbrille auf: "Ich weiß nicht, warum. Aber die Sache stinkt." 99
"Merkwürdig? Wie kommen Sie darauf?" fragt er nach verdattertem Schweigen. Petra Braun ist erschrocken von seinem hilflosen Blick: "Hier will uns jemand an der Nase herumführen. So mit allem Drum und Dran. Schon der Anruf der Frau, die uns zu der Leiche geführt hat. Die hat nicht etwa den Notruf angerufen, nein, die Zentrale. Und hat sich dann mit der Wache Innenstadt verbinden lassen... Wahrscheinlich hat Teufel ... oder wie er auch immer hieß ... unter falschem Namen gelebt. Da bin ich mir ganz sicher. Der Täter will uns aber gezielt auf diese Sado-Maso-Schiene lokken. Ich höre mich in dieser Szene mal etwas um." Den Bericht der Dauerwache legt sie beiseite. Was soll sie im Fall eines versuchten Mordes im Aufzug unternehmen, wenn das Opfer im Koma liegt? Hans-Werner Koritzius beißt sich auf die Lippen, rastlos wühlt er in seinen Taschen nach Zigaretten. Noch immer steht er neben seinem Schreibtisch. "Und was mache ich?" fragt er und versucht ihrem Blick zu entgehen. "Ich werde mich auch um diesen Menschen kümmern." Dann setzt er sich und ruft Freitag & Co. an: "Wie ist die Adresse von Michael Teufel?" Mit keinem Wort erwähnt er den Leichenfund. "Herrgott", stöhnt er, als er warten muss. Sein Herzschlag vibriert in den Fingerspitzen. *** 100
Der grimmige Pickelgesichtige in der Pförtnerloge vom Uni-Center will erst nicht mit der Sprache herausrücken, als ihn Hans-Werner Koritzius nach Michael Teufel befragt. Erst anwortet er mit einem ominösen Schweigen, dann knurrt er: "Teufel? Kenne ich nicht." Erst der Dienstausweis des Polizisten macht ihn gesprächiger. "Teufel sagen Sie? Bei dem wundert mich überhaupt nichts", stellt er fest und bringt mit der Austaste für das Tonbandgerät die Musiker von Kai Warner zum Schweigen. Koritzius muss sich am Geländer fest halten, um ruhig stehen zu bleiben: "Wovon reden Sie?" "Ich habe bei meinem Chef schon das eine oder das andere zur Sprache gebracht ..." "Das eine oder das andere?" Koritzius vergeht fast vor Neugierde. "Wenn ich abends Dienst hatte, sah ich ihn immer so gegen 11 Uhr abhauen. Und morgens kam er gegen 7 Uhr wieder. Der hat garantiert hier nicht gewohnt. Wie sollte er auch? Als er jetzt auszog, ist er mit ein paar Kisten abgehauen. Keine Möbel. Nichts." Er schnappt nach einer Zigarette, obwohl noch eine im Aschenbecher glüht. "Was hat der eigentlich beruflich gemacht?" Der Pförtner hebt den Kopf und sieht seinem Gegenüber direkt in die Augen. 101
"Wieso fragen Sie?" Die Augen von Koritzius werden schmal. "Er hat mir seine Visitenkarte gegeben. Warten Sie mal, ich habe sie noch in meinem Schreibtisch ... Hier ist sie. Michael Teufel, Infoleiter ... Was ist das? *** Draußen vor dem Uni-Center rauschen Autos über die Luxemburger Straße. Hans- Werner Koritzius achtet nicht auf den Verkehr, er schaut über die Brillengläser hinweg: Die Visitenkarte hat er mitnehmen dürfen. Da steht noch etwas: Pik7, Lünen. Was soll das nun wieder heißen? Etwa noch ein Reiseveranstalter? Kopfschüttelnd steigt der Bulle in die Straßenbahn der Linie 18: Womöglich hat der Teufel Werksspionage betrieben ... Klar, dass er hier nicht gemeldet ist, wenn er aus Lünen stammt. Er starrt stier vor sich hin. An der Haltestelle Poststraße steigt er aus, ist in fünf Minuten am Präsidium. Im Aufzug ist die Luft drückend und knapp. Er muss sie sich teilen: Mit einem Mann mit einem flaumigen kleinen Schnäutzer. Koritzius schaut sich noch einmal die Karte ein: Pik7, Lünen. Vielleicht ein Klub der ... Kartenfreunde? Quatsch!!! 102
"Haben die Sie auch reingelegt", meint plötzlich der Schnäuzer. "Was?" fragt Koritzius nach einer langen Pause, "was? Warum?" "Nichts. Ich dachte nur", antwortet der Schnäuzer und steigt aus. "Was, zum Teufel, meinen Sie eigentlich?" sagt er zu dessen Rücken und bleibt ohne Antwort. Ein paar Augenblicke später erlebt er im Büro die nächste Überraschung. Lächelnd blättert Paul Kratzenstein im Stern. "Auf Sie habe ich gewartet", sagt sein Chef und deutet auf die Bilder vom Tatort, die auf dem Schreibtisch liegen. "Mir scheint, dass ...", er bricht ab. "Was scheint Ihnen?" fragt Koritzius. "Mir scheint, dass uns jemand auf die falsche Spur locken will." Dabei blickt Kratzenstein aus dem Fenster: Die Bäume schimmern in der Hitze. "Wie kommen Sie darauf?" Koritzius guckt hohläugig. "Eine Eingabe. Intuition, wenn Sie so wollen. Mehr nicht. Alles sieht wie das Verbrechen eines Irren aus. Uns soll es zu perfekt erscheinen. Was machen wir also? Wir suchen Gemeinsamkeiten zwischen Meuschel und Teufel. Oder wie der auch immer heißt. Und diese Gemeinsamkeiten, die gibt es eindeutig. Als Täter kommt nur der Hoppe in Frage. Logisch? Logisch! Doch der Hoppe hat ein Alibi. 103
Hat die Braun gerade überprüft. Das hat der Täter eingeplant. Und auch unsere Reaktion. Wir suchen also weiter und weiter im Umfeld des Betriebes. Das kostet Zeit. Und genau die braucht der Täter ..." "...Verstehe ich nicht", räuspert sich Koritzius. "Wir sollen wochenlang, vielleicht monatelang nach einer Stecknadel im Heuhaufen suchen. Während der Täter seelenruhig neue Verbrechen plant und ausführt. Logisch. Finden Sie nicht auch?" "Ich glaube, Sie haben Recht", kommentiert Koritzius die verzwickte Erklärung, die ihn nicht ganz überzeugt hat. Aber: Sie kommt von seinem Chef. "Also ziehen wir Konsequenzen und kümmern wir uns um Verbindungen nach Feierabend. Vermutlich ist das Privatleben der beiden interessant. Könnte mir gut vorstellen, dass da etwas auf der SadoMaso-Schiene gelaufen ist. Habe ich so im Gefühl ... Jetzt habe ich keine Zeit mehr. Wir sollten uns weiter darüber unterhalten. Vielleicht am Montag. Tagsüber bin ich in Düsseldorf. Aber abends können wir uns treffen ... Was haben Sie denn?" "Zahnschmerzen. Gleich habe ich noch einen Termin beim Zahnarzt." Hans-Werner Koritzius ist aschgrau im Gesicht. Er weiß so sicher, wie die Nacht auf den Tag folgt, dass ihm hektische Zeiten bevorstehen. *** 104
Irgendwo im Haus mit den ockergelb gestrichenen Wänden bellt ein Hund. Hans- Werner Koritzius schüttelt eine Zigarette aus seiner Packung und tastet seine Jacke nach einem Feuerzeug ab. Ohne Erfolg. Missmutig watschelt er die Treppen hoch. Natürlich nicht zum Zahnarzt. Um 10 vor 9 drückt er auf den Knopf der Gegensprechanlage: "Ich bin's." Nach einem Knacken hört er: "Nehmen Sie noch etwas Platz." Dann summt es, er drückt leicht gegen die Tür, schon springt sie auf. Und er geht nach links in den total schmucklosen Raum. Zu den zehn schwarzen Kunstlederstühlen mit verchromten Gestell, der Yukapalme und dem kleinen Konferenztisch mit den abgegriffenen Zeitschriften hat sich etwas Neues gesellt. Sein geschulter Blick entdeckt sofort die Videokamera in der Ecke. Kein Grund zur Besorgnis. Das Objektiv ist mit einem Stoffzipfel verdeckt. Die Fenster scheinen erst kürzlich ausgewechselt worden zu sein. An den Aluminiumrahmen kleben noch Zettel mit Nummern drauf. Die abgestandene Luft scheint den Mietvertrag gekündigt zu haben. Der Polizist starrt sein Bild im reflektierenden Fensterglas an. Sein Haaransatz hat deutlich den Rückzug angetreten. Er wendet sich ab. Natürlich hat er keine Zahnschmerzen. Aber den Termin beim Psychoklempner kann er nicht zugeben. 105
Hinter der Brille zucken seine Augen über die Cosmopolitan. Auch dieses Blatt hat schon bessere Zeiten erlebt. Er legt es zur Seite. Lehnt sich mit über der Brust verschränkten Armen zurück. Hans-Werner Koritzius schaut auf seine Uhr. 9 Uhr. Auf die Minute genau geht nebenan die weiße Tür mit dem Milchglasfenster auf. Die Frau in dem weißen Hosenanzug kommt auf rotgrüner Auslegware auf ihn zu, um ihm die Hand zu schütteln: "Kommen Sie rein." Gemessen an ihrer Statur ist ihre Stimme ungewöhnlich voll. Er schaut in bernsteinfarbene Augen: "Hallo." Dr. Regine Schwirtz geht zu den Ohrensesseln, setzt sich und schaut ihn erwartungsvoll an. Ihr Patient steht noch. Sie weist mit einer Handbewegung auf den Sessel. Er setzt sich und bittet gleich: "Sie müssen heute etwas lauter sprechen." Die Frau zieht fragend die Augenbrauen hoch. "Meine Ohren sind mir beim Baden zugefallen ..." "... Und was machen Sie jetzt?" unterbricht sie ihn. "Bestimmt haben Sie schon einen Termin beim Ohrenarzt." Total überrascht, seine Gedanken, ausgesprochen zu hören, nickt er. Alles wie gehabt, denkt sie. Und reibt sich mit den Knöcheln die Schläfen. Das 50- Pfennig-Stück liegt noch immer auf dem Tisch. Sie streicht mit ihrem rechten Zeigefinger über den Rand. Seine Augen 106
können sich heute an ihr nicht sattsehen. Ein paar Minuten genießt er es. Sie auch. Dann widmet er ihr ein schiefes Lächeln, sieht sie von oben bis unten an. Denn eine Meldung aus der Cosmopolitan will ihm nicht aus dem Kopf gehen. Dort steht: Von über 300 Therapeuten gaben 31 Prozent zu, manchen Patienten gegenüber Hassgefühle zu hegen. Würde sie soetwas zeigen, wäre er sofort am Ende allen Lateins. Hans-Werner Koritzius bemerkt ein leichtes Ziehen in den Augenhöhlen. Er holt tief Luft, und als er sie wieder entweichen lässt, scheint damit auch ein seit Stunden formulierter Satz zu entweichen: "Hier habe ich mich immer wohl gefühlt. Hier brauchte ich keine Angst zu haben." Die Ärztin ist eine gute Zuhörerin, geht aber zunächst nicht auf die Wahl seiner Worte ein: "Warum sind die Gespräche hier so anders?" "Sie machten bisher keinen Druck. Hier konnte ich normal sein." "Eben so, wie Sie sind," bringt sie für ihn den Satz zu Ende. Eine leichte Gänsehaut begleitet sein Kopfnicken. "Und warum ist das jetzt nicht mehr?" Sie hat Daumen und Zeigefinger gegen die Nase gepresst. Er muss zwei Mal kräftig niesen. Vor seinem inneren Auge läuft der Hauptfilm der letzten Tage. 107
Doch darüber kann er nicht sprechen. "Sie haben mir beim letzten Mal vorgeworfen, ich würde einen Rückzug antreten", beginnt er. "Nicht vorgeworfen. Sondern festgestellt", bemerkt sie. Ihr freundliches Lächeln kann seine Wut nicht lindern. Aber er ist stolz auf seine Selbstbeherrschung. Sein Adamsapfel springt hoch und nieder. "Das ist nicht ein Rückzug. Sondern ein Umzug." Er kann sein Herz klopfen hören. Hoffentlich kriegt sie nichts mit. Obwohl sie seine Beschreibung für hanebüchel hält, bleibt sie ganz ruhig: "Wie meinen Sie das?" "Ich weiß nicht, ob Sie das verstehen können. Ich habe mich eines Besseren besonnen. Mein Umzug in ein anderes Leben erspart mir Frust ..." Er starrt auf seine Hände, die er über dem Bauch verschränkt hat. Und nickt mit dem Kopf. "... Und bringt auch keine Höhepunkte", ergänzt sie. Und trifft ihn mit dem Anflug eines ironischen Lächelns. Das soll aber nicht den Respekt schmälern. Sie will ihn nur auf seinen selbstzerstörerischen Weg hinweisen. Normalerweise bemüht sie sich, dass ihr Gesprächsanteil bei einem Drittel liegt. Doch ihm fehlt längst jedes kritische Hinterfragen seiner Positionen. Das will sie ihm verdeutlichen. "Das stimmt. Aber ich bleibe dabei, dass es ein Umzug ist!" Ganz so überzeugend klingt es nicht, 108
denn Koritzius wehrt sich gegen den Drang seines Körpers, zu hyperventilieren. Und fragt sich, was nun noch kommen wird. Neuerdings fühlt er sich bei ihr immer öfter wie im Fegefeuer einer Gummizelle. Sie spürt, dass etwas ihm den Kopf zermartert. Aber wartet ab. "Warum passiert hier nichts mit mir?" Jetzt spielt er den total Unschuldigen. "Was soll den passieren?" Sie hält in seinem Gesicht nach irgendeiner Regung Ausschau, ohne jedoch eine solche festzustellen. "Dass ich mich besser fühle!" Er will nicht die Piccoloflöte in dieser Aufführung spielen. "Dafür müssen Sie schon selbst sorgen. Psychotherapie kann nicht die Lawine auslösen. Sie selbst müssen den Schneeball schmeißen. Das nehme ich Ihnen nicht ab. Und kann es auch gar nicht." Was können Sie überhaupt? Koritzius fragt lautlos. Dabei sieht er zu Boden, massiert sich den Nacken. Und sehnt sich nach einer kugelsicheren Weste. Montag, 20. Juni Das Seufzen des Windes lässt die Zweige der Sträucher aneinander reiben. Aber gegen das Plätschern des Brunnes hat es keine Chance. Als HansWerner Koritzius in den Biergarten von Küppers kommt, haben Sorgenfalten längst seine Stirn in 109
Besitz genommen. So schleicht er zwischen den Tischen herum. Unter den Blicken der Leute scheint er zusammenzuschrumpfen. Direkt vor der Langen Theke sieht er Paul Kratzenstein stehen. Ein Kerlchen mit Rattenaugen packt ihm gerade Leberkäse und Speck-Kartoffelsalat auf seinen Teller. Kratzenstein sieht den Neuen und nickt ihm zu. An den Tischen sind um diese Zeit noch einige Plätze frei. Koritzius geht mit eingeknickten Knien zum Brunnen und pflanzt sich dort an einem Tisch hin. Er ist nervös, kennt aber keinen konkreten Grund. Kratzenstein setzt sich direkt neben ihn. Und kümmert sich nicht um den kritischen Blick, der auf ihn lauert. In der Innentasche seines Blousons aus Seide schleppt er schon seit Tagen die Obduktionsbefunde mit sich herum. In den Mundhöhlen der Toten sind Chloroformspuren gefunden worden. Die Verletzungen waren frisch. Offenbar sind die Leichen geschändet worden. Was war der gemeinsame Nenner von Meuschel und Teufel? Eine Frau? Wer war überhaupt dieser Teufel? Das Gelehrtengesicht sieht sich vielen Problemen gegenüber, die ihm Kopfschmerzen bereiten. Eine Blondine mit einem drahtigen, duchtrainierten Körper und einem von Sommersprossen gesprenkelten Gesicht stellt ein Kölsch und ein Diesel ab. 110
Sie hat ihr rotblondes Haar zu einem Pferdeschwanz zusammengefasst. Ihre Anwesenheit verunsicher Koritzius. Darum ist er heilfroh, als sie weitergeht. Denn seine Gesichtsfarbe hat er nicht im Griff. Einige Tropfen Schweiß kullern von der Nase herab. Vor seinen Augen tanzen blaue Lichtpunkte herum. Mit überwältigender Intensität dringt der Geruch von ausgebrannten Zissimännchen, nicht rechtzeitig umgedrehten Bratwürsten und abgestandenem 4711 an den Tisch. "Friedhofsgestank", schnaubt Koritzius zurück. Und trommelt nervös auf den Tisch, bis ihn ein Stirnrunzeln von Kratzenstein verstummen lässt. Er lauscht dem Schmatzen vom Nachbartisch wie ein Messdiener einer Vorlesung über Okkultismus. Eine Biene summt um ihn herum. Aber der Alte zeigt keine Angst. Darum lässt sie ihn in Frieden. Eindeutig ist Koritzius ganz woanders.Im Geist schleicht er einen Gang voller Lederanzüge, Ketten, Peitschen und Gummimasken ab Er ist von Sehnsucht eingehüllt. Aber seine Lust ist ihm nicht recht geheuer. Denn es fällt ihm immer schwerer, klare Gedanken zu fassen. "Wie war es in Düsseldorf?" fragt Koritzius. "Gutgut", sagt Kratzenstein. Mehr nicht. Aber er legt seinem Mitkämpfer die Hand auf die Schulter und beginnt zu fragen: "Sind Sie eigentlich noch in 111
psychotherapeutischer Behandlung?" Wie von einem magischen Faden gezogen, hebt er seine Augenbrauen hoch, um das Gefragte zu unterstreichen. Unter dem Tisch hat er seine Beine übereinander geschlagen. Die Faust von Koritzius spannt sich um das Glas. Seine Handfläche hinterlässt eine Schweißspur. Die ersten Anzeichen von hereinbrechender Dunkelheit vertiefen die Furchen in seinem Gesicht mit dem Krokodilslächeln auf den Lippen. Seine Augen weiten sich. Ein Paar ausgelatschter Schuhe zeigt auf ihn: "Kann ich abräumen?" Koritzius hat die Frage nicht mitgekriegt, seine Reflexe steuern das Nicken. "Hmhhh. Noch immer", spuckt er mit völlig ausdrucksloser Stimme aus. Erst heute Morgen, ergänzt er in Gedanken. Spricht es aber nicht aus. "Haben Sie noch immer Ängste?" will Kratzenstein wissen. "Hmmm", brummt Koritzius, während er sich die Schuhbänder knüpft. "Beim Autofahren." Ein Hund schwänzelt zwischen seinen Füßen herum. Das irritiert Koritzius, er tritt nach dem Kläffer, der sofort Leine zieht. "Und wie ist die Beziehung zu Ihrer Frau?"
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Koritzius will gerade sein Feuerzeug an eine Zigarette halten. "Es geht ... Es geht", unterbricht er sich dabei. "Haben Sie noch immer diese Schuldgefühle?" "Was? ... Ja." "Und woran liegt das?" Koritzius ist blass geworden. "Nicht, dass ich wüsste", anwortet er, als sei es auch nicht zu erwarten, dass er irgendwann mal Bescheid wisse. Kratzenstein lässt die Schulter los, widmet sich kurz seinem Glas und wechselt die Route: "Wir tappen total im Dunkeln. Selbst in Düsseldorf nervt mich unsere Pressestelle am Telefon. Aber die wird ja auch von irgendwelchen Presseleuten genervt. Warum kommt die Polizei nicht voran? Warum hat sie noch immer keine Spur von dem Bastard? rauscht es im Blätterwald." Punkt! lässt keine Gelegenheit aus, sich in den Mittelpunkt zu stellen und bringt quasi einen Countdown bis zum kommenden Mittwoch. Dagegen ist die Kölnische Rundschau mal wieder handzahm. Sie spricht nur von Ermittlungen in Zeitlupe. Der Kölner Stadt-Anzeiger ist ein richtiger Wadenbeißer. Er hat geschrieben, das Gelände am Fühlinger See sei von der Polizei solange abgesucht worden, bis auch schließlich keine Spur mehr zu finden war. Der Express soll inzwischen die Verlosung von 113
weißen T-Shirts mit aufgedruckten Wäscheklammern planen. Geschmacklos! Kratzenstein verdient seine Gage redlich. Er denkt kurz nach, bevor er fortfährt: "Was ist das für eine Frau, die uns zur zweiten Leiche bestellt hat?" Er spielt am Bierdeckel herum, während er auf seine Hände starrt. "Hat die was mit der Sache zu tun? Was haben die abgeschnittenen Brustwarzen zu sagen?" Er wirft seinem Kollegen einen kurzen Blick zu. "Die Kollegen in Bochum haben sich in der Umgebung von diesem Meuschel umgehört. Nichts ist dabei herumgekommen. Nichts, was irgendwie für uns zu gebrauchen wäre." Koritzius ist selbst auf dem Laufenden. Er nickt. Kratzenstein fährt fort: "Und dann dieser Michael Teufel. Wie heißt er wirklich? Was wollte er eventuell bei Meuschel ans Tageslicht bringen?" Sein Gesicht wirkt angespannt. Weitere Fragen gehen über die Bühne: "Ist er wirklich ein Maulwurf? Warum hat er so plötzlich seine Zelte abgebrochen? Wo ist er hin? ... Wir kommen irgendwie nicht voran." Koritzius zückt die Visitenkarte: "Die habe ich im Uni-Center gekriegt. Können Sie sich unter Infoleiter was vorstellen?" Die zwei wechseln einen unbeholfenen Blick. "Keine Ahnung. Pik7 in Lünen. Haben Sie dort schon was rausgekriegt?" 114
Koritzius räuspert sich: "Nein. Die Kollegen kennen Pik7 nicht. Und das Amtsgericht macht heute einen Betriebsausflug. Morgen versuche ich es noch mal beim Handelsregister. "Gut", nickt Kratzenstein. "Trotzdem müssen wir neue Wege gehen." Seine Stimme hat jetzt den Tonfall eines Lehrers angenommen, der den Schuldezernenten der Unfähigkeit überführen will. "Und welchen?" will Koritzius mit einem leicht metallischen Klang in der Stimme wissen. Er hat irgendwie Lunte gerochen. Ahnt, dass jemand über seinen Schatten springen soll. Mit Ausnahme der kalten, entschlossenen Augen ist das Gesicht von Kratzenstein freundlich geblieben. Er verschränkt seine Arme hinter dem Rücken. Und kann sich ein Grinsen nicht verkneifen: "Einen Weg, der möglicherweised über Ihren Psychotherapeuten und über Roth führt." Das ist nicht selbstlos! Er will weiter aufsteigen, aber sein Ruf als Polizeiguru droht inzwischen der Hauch von Patina. "Was?" Koritzius wirkt jetzt wie jemand jenseits des Mindesthaltbarkeitsdatums. "Was sagen Sie???" Auf dem Rücken sträuben sich seine Haare büschelweise. Kratzenstein kostet für einen Moment das helle Entsetzen in den Augen seines Gehilfen aus. "Den Seelenklempnern bei uns im Hause traue ich viel 115
zu. Aber ob sie einen Köder legen können, da bin ich skeptisch. Besonders dann, wenn sie mit der Presse zusammenarbeiten sollen", stellt er fest und sehnt er sich nach einer Zigarette. Aber der Gedanke an seine Operation belehrt ihn eines Besseren. "Nachher kommt der Roth vorbei. Dann können wir alles besprechen." Koritzius spürt den Gehalt von Entschlossenheit. Dem hat er nichts entgegenzusetzen. Ihm macht das Ganze überhaupt keinen Spaß. Wenn er nur an Roth denkt. Er jippert regelrecht dem Heimweg entgegen.
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9. Während Kratzenstein und Koritzius neue Polizeitaktiken ausbaldovern, biegt Carlheinz Roth mit seinem Alfa vom Militärring in die Berrenrather Straße ab. Ein leichtes Zischen stört den Radioempfang, am Ende der Lieserstraße stellt er seien Wagen ab. Aus dem Zischen ist ein sattes Fauchen geworden. Der Journalist geht in den Beethovenpark. Ohrenbetäubender Lärm schlägt ihm entgegen. Auf der großen Wiese sieht er einen Mann mit strohblonden Haaren eifrig an einem Ballon zupfen. Umringt von Leuten. Immer wieder versucht der Blonde ein Wirrwarr von Leinen zu ordnen. Ein Ventilator erweckt die ausgelegte Hülle zum Leben. Dann füllt sie der Gasbrenner stöhnend mit heißer Luft. Die hellblaue Seidenhaut erwacht zum Leben. Sanft ziehen die Leinen an der Holzkabine. "Hey, wollen Sie auch noch mit", ruft der Blonde freundlich. Vor dem Sprechen hat er die Lippen gespitzt. Carlheinz Roth kommt nicht umhin, das Lächeln zu erwidern. Das Zögern macht dem Piloten nichts aus: "Sie können noch mitfahren. Ein Platz ist noch frei." Das Gesicht verzieht sich zu einem Kommschon-komm-schon-Lächeln. Seinen Arm hat er in 117
die Höhe gerichtet, wie ein Dirigent vor dem Schlussapplaus. Der Reporter macht gute Miene zum etwas bösen Spiel: "Würde ich ja gerne. Aber ich habe keine Zeit ... Leider." Wohl wissend, damit nicht genau den Grund genannt zu haben. "Hat Ihnen Ihre Frau nicht freigegeben?" fragt der Pilot mit trockenem Humor und wirft einen Blick auf den Zuschauer. Bei der Premieren-Fahrt des neuen Luftschiffes mit der Punkt! Werbung soll Roth die Zeitung vertreten. Und die Gewinner begrüßen, die ausgelost wurden. Aber dafür ist es schon zu spät. Mist! Warum musste ich noch in die Stadt fahren. Mist!!!Für den Verlag soll er auch darauf achten, dass die Reklame gut sichtbar ist. Das Übliche eben. Ohne einen Ruck hat sich der Ballon von der Wiese gelöst. Die Sonne zieht ihn gen Himmel. Zum Abschied wirft er Carlheinz Roth etwas zu: den Duft von Joop! Femme. Mit einem festgefrorenen Lächeln sieht er dem Ballon nach. Und er hat das Gefühl, dass sein Glück auf ziemlich schwachen Füßen steht. Dabei zerfällt sein Gesicht in unzählige Runzeln. "Verdammte Scheiße", knurrt er und betrachtet seine Hände. Sie zittern wie Espenlaub. Er möchte sich ausmalen, was einer Gewinnerin in diesem Moment durch den Kopf geht. Die mitfahren kann, weil er eine Karte 118
mit ihrem Namen ausgefüllt und sie gegen eine mit einem bereits gezogenen Unglücksvogel ausgetauscht hat. Seine Nasenflügel zucken. Tatsächlich fragt sich die Frau, warum sie vor so einer Tour nicht nochmal aufs Klo gegangen ist. Wo ihr der Termin am Nachmittag etwas auf den Magen geschlagen ist. *** Nachdem sich der erste Schreck über das entgangene Treffen gelegt hat, kann Carlheinz Roth wieder etwas ruhiger atmen. Am Nachmittag hat ihn Paul Kratzenstein angerufen: "Kommen Sie bitte heute gegen 8 in Küppers Biergarten." Die Worte genügten um seine Neugierde zu wecken. Also fährt er in die Südstadt. Links und rechts der Alteburger Straße gähnt die Brauerei vor sich hin. Kurz vor der Kreuzung mit der Darmstädter Straße schaufeln zwei Arbeiter in orangefarbenen Jacken heißen Teer auf die Fahrbahn. Carlheinz Roth steuert seinen Alfa mit Reifengequietsche vor ihnen auf den viel zu kleinen Parkplatz. Von solchen Kleinigkeiten lässt er sich nicht die Stimmung vermiesen. Er stellt seinen Wagen auf eine reservierte Fläche. Direkt neben ein Fahrrad, das vor sich hinrostet. Roth steigt schnell aus. Der Wind hat das Gras neben ihm gescheitelt. Ganz in der Nähe rumpelt eine Straßenbahn über 119
die Kreuzung. Durch die Büsche sieht er ein Blaulicht zucken. Er geht rüber zum Biergarten. Vor ihm stöckelt eine Blondine in zerschnittenen Jeans her. Seine Augen leuchten auf. Ein Radfahrer muss eine Vollbremsung machen, denn die Ampel für die Fußgänger zeigt rot. Nur daran stören sie sich nicht. Carlheinz Roth bläst seinen Brustkorb auf. Und hält die Fahne eines bevorstehenden Triumphs hoch. Er spürt, dass es heute um den Fitnesstest für die berufliche Zukunft geht. Mit seinem Handy in der Hand geht er in den Biergarten. Am Eingang steht eine schwarze Tafel. "Jazz live am Sonntagmorgen" steht in weißer Kreide geschrieben. Zwei Mal dick unterstrichen. Der Kies knirscht unter seinen Schuhen. Gleich am Brunnen sieht er Kratzenstein und Koritzius sitzen. Der Kripochef wirft ihm ein "Hallo" zu. Der Biedermann verdreht seinen Kopf krampfhaft zu einen Nicken. Ihm klebt das Hemd am Körper. Er zieht ein blütenweißes Taschentuch aus der Hose und tupft sich die Stirn. Das nutzt nur für einen Augenblick etwas. Die Furcht sitzt wie ein ungebetener Gast schon die ganze Zeit mit am Tisch. Wie gerne würde er Roth was ans Zeug flikken. Aber dafür fehlt ihm der Joker. Überhaupt erinnert ihn das Ganze an Gespräche seiner Eltern, die an ihm oftmals vorbeizogen. 120
Koritzius zuckt unwillkürlich zusammen, als Roth ohne Umschweife fragt: "Was kann ich für die Polizei tun?" Auch Kratzenstein kommt sofort zur Sache: "Viel. Uns dabei helfen, den Mörder von Meuschel und Teufel zu fassen." Roth hebt verwundert die Brauen: "Und wie soll das ..." Noch bevor er den Satz zu Ende gebracht hat, bekommt er zu hören: "Für den Erfolg spielt ihr Blatt eine entscheidende Rolle." Den Hauptgrund verschweigt Kratzenstein geflissentlich. Er will seine obersten Chefs in Düsseldorf auf sich einstimmen. Und dabei soll die Presse helfen. Aber das kann natürlich nur klappen, wenn der Fall erfolgreich ausgeht. Roths Miene ist eine einzige Frage. Er sieht die Visitenkarte auf dem Tisch liegen und merkt sich Wort für Wort. "Wir tappen alle im Dunkeln", gibt Kratzenstein zu. Sein Mitarbeiter lässt ein tiefes Seufzen hören. Roth starrt Kratzenstein an. Im Augenwinkel kann er Koritzius sehen, dem die Unterlippe zittert, und bekommt zu hören: "Etwas haben wir herausgekriegt. Der Meuschel ist im Holiday Inn umgebracht worden. Im Badezimmer der Suite fanden wir Blutspuren. Und ein Halsband ..." "Ein Halsband?" "Ja, ..." "...Ein Halsband?" "Ja, mit Nieten besetzt." 121
"Ach so, ach so." Roth nickt sich selbst zu. Obwohl er gar nicht genau weiß, was so ein Halsband zu bedeuten hat. "Ja, was soll ich denn überhaupt tun?" "Sie sollen mit Geschichten in Ihrem Blatt den Täter so provozieren," erläutert Kratzenstein, dass er in eine Falle tappt. Er lauert auf eine Antwort. Koritzius klappert mit den Lidern, räuspert sich leise. Er wagt sich nicht einzugestehen, dass es in jedem Spiel auch Platz für Verlierer gibt. "Ich verstehe nicht recht. Wie soll das gehen?" Er ist als Journalist nicht mehr ausgelaucht. Hat seine Neugierde aus dem Pfandhaus zurück. Kratzenstein räuspert sich: "Ein Psychologe sagt Ihnen, wie Sie den Burschen reizen können. Wie er sich provozieren lässt. So haben wir eine Chance, ihn zu kriegen. Einzelheiten müssen wir noch festlegen." Bei Koritzius breitet sich immer mehr Resignation aus. Denn er hat dafür nichts übrig. Roth wirft den Polizisten ein Stück Zucker zu: "Dieser Teufel heißt eigentlich Axel Weiss. Vor vielen Jahren habe ich ihn mal bei einem Volontärkursus kennen gelernt und ihn aus den Augen verloren. Jetzt lief er mir wieder über den Weg. Wahrscheinlich ist er Enthüllungjournalist geworden. Oder hat es wenigstens versucht." Roth tut sein Bestes. 122
Er hat alle Eigenschaften eines guten Journalisten: Reaktionsfähigkeit, eine gute Schreibe und einen Blick für das Erkennen von Geschichten. Den bewies er kurze Zeit auch als Medizinredakteur. Seitenweise berichtete er über Handaufleger, Wünschelrutengänger und Erfinder von Wunderpillen. Die Auflage des Blattes stieg. Solange, bis der Verlagsleiter auf so einen Messias hereinfiel und die Serie sofort gestoppt wurde. "Warum sind Sie damit nicht früher herausgerückt?" tobt Koritzius. "Ich habe es erst jetzt erfahren, ... Und was springt eigentlich bei dieser Aktion für mich heraus?" Roths Stimme klingt trotzig. Er spürt, dass seine Stunde geschlagen hat. Dass die Schmutzarbeit endgültig im Papierkorb liegt. "Sie bekommen die Festnahme exklusiv", heißt das Versprechen. Kratzenstein hat das Gefühl, auf keinen Fall zu wenig erzählen zu dürfen. Aber auch noch nicht zu viel. Über Details kann er sich noch immer den Kopf zermartern. Oder andere. Koritzius hat das Gespräch aufmerksam verfolgt. Und in ihm wächst die Erkenntnis, dass er bei diesem Spiel noch nicht einmal auf der Reservebank gebraucht wird. "Okayokay. Zwei Bedingungen!" Roth ist von Selbstsicherheit eingehüllt. "Ich bekomme alle In123
formationen von Ihnen. Und i c h suche den Seelenfachmann aus. Er darf nicht aus Ihrem Haus kommen." Seine Augen leuchten auf. "Wenn Sie meinen. Okay!" nickt Kratzenstein. Koritzius wirkt noch immer eingeschüchtert, aber gleichzeitig auch erleichtert. Sein Einwand kommt matt: "Bei uns im Haus ist aber noch nichts abgeklärt", gibt er zu bedenken. Das überhören die anderen scheinbar regelrecht. Aber Kratzenstein hebt die Augenbrauen, um dem Informationsfluss einen Riegel vorzuschieben. *** Das Selbstbewusstsein von Carlheinz Roth ist alles andere als unterenwickelt. Nach dem Treffen mit Kratzenstein und Koritzius ruft er noch vom Auto seine Freundin an. Sie kommt gerade von der Ballonfahrt zurück, die nur bis Dormagen ging. Dort musste jemand dringend aufs Klo. Total aufgedreht klingt Roths Stimme: "Ich muss dich ganz, ganz dringend sehen." "Warum?" Kurze Pause. "Du musst mir helfen. Und den Bullen. Bitte" Sie verzieht den Mund zu einem Grinsen. Aber das kriegt er nicht mit. Eine halbe Stunde später ist er aufgeregt wie ein Tanzschulneuling, der auf seine erste Flamme wartet. Er steckt sich eine Lucky Strike zwischen die Lippen. Und klopft sich über die ausgebeulten Ta124
schen seiner Popeline-Weste. Nichts zu machen. Hilfe suchend sieht er sich nach Feuer um. Ein bleistiftdünner Kellner mit Froschaugen springt herbei und antwortet mit einem Päckchen Streichhölzer.Dabei fällt sein Blick auf die alte Bahnhofsuhr, die an der Decke hängt. Genau 11 Uhr. Im Großen und Ganzen scheint Pünktlichkeit ihre tägliche Medizin zu sein. Seine Finger trommeln auf der Theke. Unruhig rutscht er auf seinem Hocker hin und her. Dann gehen ihm die Augen über, als Regine Schwirtz auf gefährlich hohen Absätzen hereinstiefelt. Direkt auf die schwarze Theke mit den Aschenbechern und den Schalen mit Erdnüssen zu. In seinen Ohren rauscht das Blut. Sie hat ein Gardemaß von 1,79 Meter. Als junges Mädchen hat sie unter ihrer Länge gelitten. Heute mit 30 legt sie sogar noch etwas drauf, weil sie die Höhe genießen kann. Und auch die Erfahrung, nirgendwo übersehen zu werden. Die Ärztin mit den kastanienbraunen Haaren begrüßt den Journalisten mit einem Kuss auf die Wange. Nichts Besonderes für sie. Aber: So viel glänzende Augen muss sie erst einmal verdauen. Die beiden kennen sich von der Volkshochschule her. Von einem Russischkursus im Wintersemester. Ihm drohte damals eine Korrespondentenstelle in Moskau. Sie hatte gerade zum ersten Mal die 125
Scheidung eingereicht. Schließlich nahm er die Stelle nicht an, das Gehalt stimmte nicht. Sie zog den Antrag zurück. Zumindest für ein halbes Jahr. Aber im Frühjahr fiel der Kursus ganz ins Wasser. Die Teilnehmerzahl war zu niedrig. Die stickige Luft riecht nach allen möglichen Deos. Links von ihnen hocken ein paar BWL-Studenten aus dem dritten Semester. Sie geben sich wie Abend für Abend: Nach neun Kölsch lösen sie wieder einmal alle ökonomischen Probleme der Welt in sechs Minuten. Der Deutz Geldermann schäumt schon kurze Zeit später die Wände der Gläser hoch. Carlheinz Roth nimmt seinen Sektkelch und schaut tief in glutvollen Augen, die heute hinter einem Schildpattgestell versteckt sind: "Komm,stoß mit mir an. Zum Feiern gibt es einen Grund." Seine Stimme ist fest. Die Frau sieht ihm ins Gesicht. Sofort senkt er die Augen. Sie sieht es hinter seiner Stirn arbeiten. Und versucht ihn abzulenken: "Einen Schluck nur. Ich kann das Zeug nicht vertragen. Ich kriege davon immer Sodbrennen. Weißt du doch." Leider weiß er es nicht, aber er nickt trotzdem. "Du musst mir auch den Grund sagen", fordert sie und lacht: "Vielleicht weil ich bei eurem Preisausschreiben ... äh ... gewonnen habe." Es ist ein Lachen von innen. Ihr Grübchen tanzt sogar einen Reigen. Er bleibt ihr 126
erst einmal die Antwort schuldig: "Prost!" Eine Weile ist es an der Theke still, bis auf die Righteous Brothers vom Band. Ein pedantischer Jugendherbergsvater hat hinter dem Paar Position bezogen. Und flucht über die rumänische Gebrauchsanweisung für seinen CasioTaschenrechner. Der zerknitterte Gesichtsälteste mit der Softeis-Miene und einer Prinz-Eisenherz- Frisur in seinem Schlepptau fuchtelt an seinem Handy herum. Wie gerne würde er jetzt in den Äther sabbern. Aber vorher müsste es klingeln. Damit es alle mitbekommen. Schade! Niemand ruft ihn an. Warum auch? Zwischendurch feuert er eine leere Zigarettenschachtel in die ungefähre Richtung eines Papierkorbs. Natürlich trifft er nicht. Roth steckt sich die Lucky Strike an, macht einen tiefen Zug und behält sie im Mund. Mit der linken Hand zieht er an seinem rechten Mittelfinger, bis es kracht. Dann nimmt er sich den Ringfinger vor und brabbelt los: "Die Brille steht dir. Tipptopp." Die Frau gluckert vor Lachen. Psychologisch sind sehr viele Gespräche mit ihm ein Kinderspiel.Sie greift in der Tasche nach einem Etui, klappt es auf, holt ein Tuch heraus und putzt ihre Gläser. In der Tasche klappert ein Schlüsselbund. Fast läuft seine Libido Amok. "Ich habe heute Morgen im Badezimmer eine Linse verloren. Darum musste ich die 127
alte Brille nehmen." Er hängt regelrecht an ihren Lippen. "Warum musst du mich so dringend sehen?" Wieder einmal steht ihre Direktheit an vorderster Front. "Wastrinken," tönt hinter ihnen ein Ober mit Schnöselschlips im Kasernenhofton. Roth dreht sich um. Die Augen stechen wie Halogenscheinwerfer. Der Herbergsvater und der Typ mit dem Handy sind ein Herz und eine Seele: "Mineralwasser." Roth wischt Krümel von der Theke: "Hmmm. Gestern hat mich unser Chefredakteur angerufen. Ich soll nach Bremen gehen. Als kommissarischer Leiter der Nachrichtenredaktion." Dann beißt er in Tomaten mit Mozzarella, mampft nicht ganz so zufrieden, leckt sich nach altbewährter Manier die Finger ab. "Priiima. Willst du auch mal probieren?" Die Zigarette schmaucht im Aschenbecher so vor sich hin. Ihm ist es egal, was er raucht. Markentreue kennt er nicht. Die aktive Nichtraucherin drückt die Lucky aus. Und nimmt einen Bügel ihrer Brille in den Mund: "Was haben die Bullen damit zu tun?" Der Ober bringt ihr Kännchen Ceylon Broken-Tea. Bevor sie sich einen Schluck genehmigt, nimmt sie das Plätzchen von der Untertasse und beißt hinein. Die Krümel fallen in seinen Sekt. "Nicht schlimm", sagt er in einem Ton, der keinerlei Zweifel lässt, dass es schlimm ist. 128
Es wird immer voller. Zwei Hocker weiter pflanzt sich ein aknenarbiger Kollege von Roth hin. Sein Rasierwasser stinkt erbärmlich. Er will Kriegsberichte loswerden. Sein Begleiterin muss daran glauben. "Im Advokat treffe ich heute Morgen einen jungen Anwalt. Der ist völlig aus dem Häuschen. Willst du wissen, warum?" Nichts könnte ihn davon abhalten, es zu erzählen. "Seine allererste Verhandlung. Sein Mandant soll versucht haben, eine Frau zu bumsen. Gegen ihren Willen. Versuchte Vergewaltigung, heißt es in der Anklage. Und der Anwalt will auf ein mildes Urteil hinaus. Weil der Typ nicht genau abchecken konnte, ob sie sich echt wehrte oder nicht.Versuchte Vergewaltigung, du Trottel, sage ich. Damit gibst du doch zu, dass dein Mandant was wollte. Nein, auf Freispuch musst du hinaus. Und nicht auf versuchte Vergewaltigung. Das hat er dann auch gemacht. Rate mal, wie das Urteil lautete?" Sie gluckert vor Lachen. Er ist total irritiert. "Die Bullen?" Roth guckt wie vom Blitz getroffen. Damit kann er zunächst überhaupt nichts anfangen. In der Ecke kräht das Telefon. Eine Blondine in einem lachsfarbenen Pullover kommt aus der Küche gesprungen und reißt den Hörer von der Gabel: "Café Central. Uschi ..." 129
"Ja, die Bullen." Sie spürt schon die ganze Zeit, dass ihm etwas auf der Seele brennt. "Hast du mir wenigstens am Telefon gesagt." Sie sieht ihn herausfordernd an. Und hat weiter das Lächeln für Pepsi-Cola, er im Moment für Almdudler. "Ach, ja." Carlheinz Roth steht von seinem Hocker auf, stützt sich an der Theke ab und hustet die Stimmbänder frei. Jetzt kriegt er alles wieder auf die Reihe. Sofort steht sein Barometer auf Hochhochhoch. "Also, die Bullen... Du hast doch bestimmt von diesen Toten mit den abgeschnittenen Brustwarzen und den Wäscheklammern in Punkt! gelesen." Er drückt seine Zigarette im Aschenbecher aus. Und greift schon wieder in die Schachtel. Der Typ mit dem Handy geht zur Treppe, die zur Toilette führt. Und taucht sofort wieder auf. Offenbar in der Hoffnung, mit irgend einem Menschen zusammenzustoßen, der ihn verfolgt. Aber da ist keiner. Noch eine Enttäuschung. "Im Stadt-Anzeiger stand's auch. Aber was habe bitteschön ich damit zutun? Das musst du mir genauer erklären." Der Kellner nimmt den Aschenbecher von der Theke und leert ihn. Dann stellt er ihn wieder hin. Nach endlosen 20 Sekunden fährt Roth fort: "Die Polizei hat überhaupt keine Spur von dem Täter. Diesem Geistesgestörten." 130
"Ihr Problem." Irgendwie spürt sie aber, dass dieses Problem bald flächendeckend sein wird. Roth setzt sich wieder. Er sieht auf die Rauchstange und klopft sie über dem Aschenbecher aus. "Und darum hat sie mich gebeten, dass ich mich einschalte. Bestimmt hängt bei denen der Haussegen schief." Manchmal beherrscht er die platte Rede. Und er möchte noch etwas sagen, was coole Stranger sonst noch so alles sagen. Aber im Moment fällt ihm nichts ein. Sie stützt einen Arm auf und schaut ihn von der Seite an: "Und dann kommen Sie zu dir? Ist ja toll." Er nickt und summt "Mighty Quinn" mit. "Muss das sein?" knurrt sie leise. Sofort verstummt er. Und sieht ihren Blick, der den Anzug der Ironie abgestreift hat. "Du willst mich wohl verarschen? Dich gebeten, dass ich nicht lache." Drei Feuerwehrwagen brettern mit Blaulicht und heulenden Sirenen über die Lindenstraße. Aber sie sind keine Magneten. "Dochdoch. Das kann man so sagen. Naja. Sie will bei den Ermittlungen einen neuen, ganz ungewöhnlichen Weg gehen. Ich soll mit dem Menschen von der Kripo ein Interview machen. Aber die Fragen und Antworten sollen abgesprochen sein. DU sollst sie ausarbeiten und mit diesem Typen ... äh ... Koritzius heißt der ... absprechen." 131
"Iiich?" klappert sie mit den Zähnen. Der Name hallt in ihrem Kopf nach. Über ihren Rücken kriecht eine Gänsehaut. Der Aknenarbige läuft im Stechschitt vorbei. Sein Rasierwasser bleibt zurück. Die Mieze rennt ihm hinterher. In ihren Augen staut sich das Wasser. Aber keine einzige Träne folgt dem Gesetz der Schwerkraft. "Ja, aus der Sicht des Psychologen. Der Täter soll sich regelrecht provoziert fühlen. So will man ihn aus der Reserve locken. Machst du mit?" fragt er so, als ob er die Antwort schon im Geist formuliert hat. Dabei schlägt er die Beine übereinander. Regine Schwirtz hat längst kein Lächeln mehr auf den Lippen. "Hoffentlich geht das gut. Die Worte klingen gepresst. Sie wiegt bedächtig ihren Kopf und streckt die Hand nach einer Zigarette aus: "Hast du mal eine für mich?" *** Dienstag, 21. Juni Noch im Central wusste Carlheinz Roth ihre Neugierde zu nutzen. Und verabredete sich mit ihr für den nächsten Tag. Obwohl er sie schon gestern für etwas überanstrengt hielt. Aber darauf kommt es nun wirklich nicht an. 132
Ganz in der Ferne meldet sich ein Gewitter an. Doch Donner und Blitze sind jetzt noch ohne Chance. Chuck Berry und sein Rothny B. Good erschüttert weiter Wände und Flachdach des Holzhauses am Tretbootsteg. Dagegen ist Charlie Rich mit seinen Country-Songs nur der zweite Sieger. In den Sträuchern blubbern Vögel vor sich hin. Dr. Regine Schwirtz rührt endlos in ihrer Schokolade mit Amaretto, und hat dabei ein Auge auf den Decksteiner Weiher gerichtet, dem die Tretbootfahrer die Mittagsruhe stören. Aber für Klagen hat er an einsamen Wintertagen noch genügend Zeit. "Komm, sage endlich, was dir durch den Kopf geht", fordert Carlheinz Roth und lacht. Ein lautes, energisches Lachen, das ihm ähnlich sieht. Die Kombination einer roten Jeans, schwarzer Boots und eines braunen T-Shirts zeigt nicht nur seiner Begleiterin, dass er sich um Modefragen nicht schert. Die Psychoschnitzerin zieht nachdenklich die Brauen zusammen. Ist still, bedrängt von dem, was ihr durch den Kopf geht. Völlig unverhofft küsst sie ihn auf die Wange, lehnt sich aber sofort wieder zurück. Er hat überhaupt keine Ahnung, was das sollte und was sie jetzt von ihm hören will. "Äh, ... Also, mit wem hast du Zoff? Wer hat dich auf den falschen Dampfer ge133
lotst?" Sein Lachen soll ihr Mut machen. Ein Ober mit einem eisengrausen Fassonschnitt kommt vorbei. "Wir wollen noch was bestellen!" ruft Roth. Doch der Kellner sieht das als persönliche Beleidigung an und trollt sich mit einem Bei-mir-wirdjede- Bestellung-zum-Risiko-Blick weiter. Und einem Stück Sachertorte. Damit wird zwei Tische weiter ein rosenwangiges Kind abgefüttert. Ich habe im Moment Zoff", sagt sie nachdenklich, ohne sich auf seinen Ton einzulassen. Mit mir selbst, sagt sie lautlos. Ihr Blick ist beinahe flehend. Sie buhlt regelrecht um Aufmerksamkeit. "Hinz und Kunz muss ich durchfüttern. Das passt mir nicht länger." Der journalistische Sprühteufel fühlt, dass ihre Probleme anderswo liegen. Denn sie sitzt wieder dicht neben ihm. Er kann ihren Atem riechen. Er schmeckt nach Angst. Sie hat an die letzte Nacht gedacht. Und versucht mit dem ganzen Einsatz ihres Kopfes die Gedanken zu bekämpfen. Vergeblich. In ihrem Hirn tummeln sich noch immer jämmerlich verfuschte Gestalten, so Kreuzungen zwischen Dobermann und Esel, zwischen einem Airedaleterrier und einem Brauereipferd. Dann lief sie selbst in ihrem Elternhaus herum, und konnte sich nicht entscheiden, ob sie in den Keller oder ins Dachgeschoss flüchten sollte. Später las ihre weinende Mutter ein Kapitel aus ei134
nem Buch über griechische Sagen vor: Die Argonauten richten im Land der Dolionen ein Blutbad unter erdgeborenen Riesen an. So vergingen die endlosen Minuten. Ein Flugzeug jagt über den Stadtwald hinweg. Nur für die Kinder ist es eine Augenweide. Jetzt hat auch der Ober mit dem eisengrauen Fasonschnitt ein Erbarmen: "Möchten Sie noch etwas bestellen?" "Einen Bananensplit", ordert die selbstgefällige Ikone des Boulevardjournalismus. Die Psychologin sieht mit ihren unwölbten Augen zur Seite und bestellt noch eine Schokolade mit Amaretto. Dann hebt sie bedeutsam die Brauen: "Erzähle mir etwas von dem, was du weißt", fordert sie mit nervöser, gepresster Stimme. "Was meinst du damit?" Sein Gesichtsausdruck wird unbehanglicher. Denn als Beichtvater ist er knapp bei Kasse, und sie hätte bestimmt auf Barzahlung bestanden. Die beiden tauschen Blicke aus. "du hast mir doch etwas von diesem Geistesgestörten gesagt ..." "... Ach, das meinst du. Naja, abnormal ist der bestimmt. So wie die Leichen aussahen ..." Er lächelt siegessicher. "... Wie sahen die Leichen aus?" stoppt sie ihn. Seine Sätze sind ihr eisig bis ins Mark gegangen. 135
"Ich weiß nur von dem Toten, den ich gefunden habe. Diesem Axel Weiss. Schrecklich sah der aus. Und der andere soll ähnlich ausgesehen haben. Also, die Typen waren nackt. Penis und Brustwarzen fehlten. Im Mund steckte eine Glasscherbe. Mehr fällt mir im Moment nicht ein. Aber genaue Einzelheiten bekommst du noch von dem Koritzius." Die Psychotherapeutin zuckt etwas zusammen. Der Name macht sich in ihrem Hirn breit. Ihr Erstaunen kriegt er natürlich nicht mit. Denn in seinem Kopfkino läuft der Streifen "Carlheinz Roth - Seine großen Erfolge." Und er sieht sich schon auf dem Teppchen stehen. Sein Foto in Punkt! Neben dem Exklusivbericht von der Festnahme des Mörders. Natürlich nur, wenn sie mitspielt. Obwohl sie eigentlich kein Siegertyp ist. Er muss selbst über den Gedanken schmunzeln: Gegensätze ziehen sich an. "Also, du steigst doch ein?" fällt er über sie her. Hoffentlich macht sie mir nicht die Champagnerlaune kaputt. Sie starrt auf ihre Hände und stellt achselzuckend fest: "Mir bleibt doch keine andere Wahl." Aber damit macht sie sich ein Danaergeschenk. *** "Ist doch gar nicht so schlimm," sagt Regine Schwirtz, als sie mit Carlheinz Roth eine Stunde später über den Parkplatz vom Haus am See geht. 136
Und damit meint sie das Gesagte und das Ungesagte. Ihr Begleiter bezieht diesen Satz nur auf das Wetter. Denn am Himmel über Köln ist der Teufel los, es wird pechschwarz, Blitze zucken überall. Die ersten Regentropfen erreichen die Erde. Trotzdem wollen beide einen Spaziergang machen. "Komm!" fordert er und setzt seine marinefarbene Baseballmütze auf. Doch sie ist in Gedanken wieder mal woanders. "Mist! Ich habe meine Brille vergessen", schimpft die Lange. Er betrachtet sie nachdenklich von der Seite und heftet sich wie ein Blutegel an ihre Fersen. Auf dem Rückweg empfiehlt er ihr: "du musst dich mit diesem Fall genau befassen. Ich helfe dir verdammt gerne dabei", ergänzt er in Gedanken. Sie nickt. Weil es für sie längst feststeht. Auch wenn jetzt schwarze Punkte vor ihren Augen herumtanzen. Der schlaksige Bengel kümmert sich nicht um ihre hektischen Blicke. Die beiden laufen irgendwo hin. An einer Latte von geparkten Wagen vorbei, an seinem Alpha und ihrem Opel Corsa. "Weißt du noch etwas?" erkundigt sie sich. "Es ist noch immer völlig unklar, wo dieser Axel Weiss überhaupt gelebt hat. Bestimmt nicht im Uni-Center. Das war nur eine Absteige für seine Rolle als Michael Teufel ... Die Polizei sucht nach Gemeinsamkeiten der Toten. Dabei ist aber bisher nichts rausgekommen ... Wo137
hin führst du mich eigentlich?" Sie hält die Handflächen gegen den Oberkörper gepresst: "Komm!" bestimmt sie und lächelt aufreizend. Die beiden laufen am unruhigen Wassern vorbei. Mitten in den Wald. Plötzlich setzt ein Unwetter ein. Hagelkörner so groß wie Hühnereier prasseln auf die Dampfenden. Weit und breit ist kein Unterschlupf zu sehen. Und vom Haus am See sind sie längst zuweit entfernt. "Mist", sagt er störrisch. Sie antwortet mit einem wissenden Lächeln: "Mach, was du willst. Ich bleibe hier." Sie atmet tief ein, und die Nüstern weiten sich. Obwohl sie sich zur Gelassenheit zwingt, klingt ihre Stimme aufgewühlt. Ganz versteckt entdeckt sie im Dickicht eine Stelle, die vom Unwetter verschont wird. Er lächelt unsicher und schickt sich sofort an, ihr zu folgen. "Oder hast du Angst?" Ihre Frage klingt total kläglich, als wolle sie ihn bitten, ihr bloß nicht zuzustimmen. Ihr kräftiger Busen zeichnet sich unter der klatschnassen Bluse mit den Pepita-Karos ab. Die Schminke ist im Gesicht verlaufen. Aber ihre Körper hat den Temperatursturz nicht mitgemacht. Seine Ohren dröhnen noch immer von Rothny B. Good. Plötzlich hält er sie fest in den Armen, und sie drückt sich sofort an ihn. Dann hebt er sie auf einen dicken Baumstumpf in der Mitte. Und schiebt mit der einen Hand ihren Rock weit nach hinten, 138
mit der anderen streichelt er ihre Brüste. Sie greift zu seinen Jeans, öffnet den Reißverschluss und zieht ihn nah an sich heran. Ihre Schenkel umklammern seinen Körper. Sofort fallen beide übereinander her. Im Rhythmus der Blitze zuckt das schweißgebadete Paar. Nach einigen Minuten spuckt er das volltönende Lachen der Humorlosen aus: "Endlich!" Sie hört ihn mit weitgeöffneten Augen zu, löst sich von ihm. Im nächsten Moment nimmt sie keine Notiz mehr von ihm. Langsam kommt Roth wieder zu Atem. Er steht auch nicht mehr literschwer unter Druck. Ein Schwall noch nicht verdauter Bilder sucht die Psychiaterin heim: Hunde, Pferde, Riesen. Und die ganze Masse des Frustes wird von einer Welle weggespült: einer Leere. Dr. Regine Schwirtz zieht sich den Rock glatt und starrt ihn für den Bruchteil einer Sekunde mit leerem Blick an. Sofort lugt er in den Wald: Als halte sie nach irgendetwas Ausschau. Carlheinz Roth kann ihr Verhalten überhaupt nicht verstehen. Und zieht hörbar den Atem ein. "Wofür ..." Sie bricht ab, scheint nicht mehr zu wissen, was sie eigentlich sagen wollte. "Es regnet nicht mehr", lenkt er ein. "du spinnst!" kontert sie mit spöttischem Nasenrümpfen. Er lächelt unsicher und nimmt sich vor, auf der Hut zu sein. 139
Schweigend fahren beide in die Innenstadt zurück. Die Ruhe macht ihm Angst. "Willst du wirklich nach Hause", fragt er vor ihrer Tür. Sie nickt mit geschürzten Lippen und steigt aus. Die nächsten Stunden verbringt er im Kino, sieht sich "Die Firma" an. Und geht früh nach Hause. Stöbert lustlos in allen möglichen Zeitschriften herum. Er kann sich ihr Verhalten nicht erklären. Es ist das letzte Mal, dass er mit ihr geschlafen hat. *** Mittwoch, 22. Juni Lange fünf Minuten bevor sein Radiowecker anspringt, ist Carlheinz Roth schon wach. Mit herabhängenden Schultern geht er ins Badezimmer. Begleitet von seiner Unsicherheit. In der Redaktion bringt es Brigitte Harrbach später auf den Punkt: "Was ist denn mit Ihnen los? Sie gehen neben sich." "Ich weiß nicht, wovon Sie reden", fährt er die Sekretärin an. "Doch, das wissen Sie genau." Das sagt sie mit solch einer Sicherheit, dass Roth zusammenzuckt und prompt ins Großraumbüro verschwindet. Wo ihn ein Arbeitstag ohne allzu große Aufregungen erwartet.
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"Ich brauche noch 15 Zeilen Aktuell", sagt Carlheinz Roth gegen 19 Uhr mit einer Stimme, der jeder anhören kann, dass er heute nicht zu Scherzen aufgelegt ist. "Ich habe schon überall herumtelefoniert, aber es gibt einfach nichts", dringt verschwommen die Antwort von Walter Schlagehuhn durch die Zitadelle. Die anderen haben außer einem belanglosen Stirnrunzeln nicht beizusteuern. Einige spendieren noch ein Achselzucken. Roths Augen blitzen, er holt tief Luft, er hätte Lust auf eine Standpauke. Er schlägt die Beine auseinander, rappelt sich von seinem Sessel hoch und geht ans Fenster. Draußen wimmert eine Straßenbahn vorbei und Heinz Rothermund klettert er aus seinem Mercedes Sowieso. Der Altmeister blinzelt in die Sonne, schaut zur Redaktion hoch und hisst gleich die Miesepeterfahne. Roth sieht auf den Melatenfriedhof auf der anderen Straßenseite. Auf einer Bank knutscht ein Pärchen herum. Bevor seine grauen Zellen weiter zu Ping-Pong-Spielen gereizt werden, schaut er lieber wieder weg, setzt sich und tippt einen dpa-Bericht über die Angst der Bauern am Niederrhein vor einer schlechten Ernte in den Computer. Den hat sich das Eichhörnchen am Vormittag zur Seite gelegt. In seinem Hirn tobt kurz darauf ein Gewitter. Warum ist die Schwirtz so plötzlich verschwunden? 141
Warum ging sie nachher nicht mehr ans Telefon? Vor Unsicherheit sträuben sich ihm die Nackenhaare. Jürgen Hoffmeister tippt sich mit dem rechten Zeigefinger an den Nasenflügel: "Schade, dass heute nicht Mittwoch ist. Sonst könnten wir wieder auf unseren Bastard hoffen. Bestimmt träumt der heute schon davon, wie er jemandem den Schwanz und die Brustwarzen abschneiden kann. Und Wäscheklammern um die Leichen streuen. Der Junge hat Geschmack. Aber ist nicht ganz dicht", sagt er und tippt sich an die Stirn. Die anderen brechen in Gelächter aus. Die Brauen von Edith Maywald schnell nach oben. Sie atmet tief durch, steht auf und legt ihm ihre Hand auf die Schulter, fragt forsch, als riefe sie in einer Bahn der Linie 15 den Barbarossaplatz aus: "Und was machst du, wenn er sich diese Woche nicht blicken lässt? Vielleicht nachhelfen? Abgesehen davon, heute ist Mittwoch." Hoffmeister souffliert: "Nachhelfen?" Er hat eine Abneigung gegen die Münchnerin: "Ach, lass mich doch in Ruhe." mault er mit ironischem Lächeln und blickt an ihr vorbei. Er ist zornrot im Gesicht. Einen Augenblick später singt er mild wie eine Sommerbrise: "du, ich habe noch zu tun. Weil heute Mittwoch ist." Edith Maywald und Jürgen Hoffmeister taxieren einander mit einem kurzen Blick, der 142
ganze Lexikareihen spricht. Wenn es um diese Frau geht, kann er schon mal aus der Rolle fallen. Er wirkt zufrieden, dass er ihr mal wieder eine Nase gedreht hat. Dabei war sie mal seine Geliebte. Für zwei Wochen. Aber mit ihr ist es wie mit einem Champagner-Rausch. Hat er allen Kollegen ungefragt serviert. Am Tag danach will man nie wieder etwas trinken. Manche werden wegen ihrer Unersättlichkeit sogar zu Anti-Alkoholikern. Wie Jürgen Hoffmeister. Bekanntlich haben alle Redaktionen einen Bodensatz von Laiendarstellern. Heute scheint der Haufen komplett angetreten zu sein. Jetzt schleppt sich der Redaktionstag bei Punkt! seinem Ende entgegen. Die Aushilfssekretärin mit der Bienenkorbfrisur und der Perlenkette geht noch einmal mit einer Kanne Kaffee durch das Büro an der Aachener Straße. Polizeireporter Walter Schlagehuhn schüttelt sich theatralisch: "Dat maach ich zum Verrecke nit." Als flüssige Nahrung schätzt er nur Kölsch. Darum ist er regelmäßig hackevoll. Überhaupt unterscheidet er sich sichtbar von seinen Kollegen. Während an die Schranktüren der Berufsjugendlichen täglich Jeans und Turnschuhe klopfen, ziehen ihn Schnäppchenanzüge an, die er auf seine Art erst richtig zur Geltung bringt: Mit hässlichen Polyester-Krawatten. So ist er stets ein Blickfang. Und alle starren auch 143
auf seine Nase. Denn die ist so platt wie die eines Boxers. Er hat richtig Karriere gemacht. Nach der Volksschule machte er eine Ausbildung als Schlosser mit Eins. Dann stand er tagsüber bei Ford am Fließband. Nachts hörte er Polizeifunk ab und fotografierte Unfälle, Brände, Morde. So landete der Drollige mit dem Pomadenkopf bei Punkt! Heute ist ihm nichts fremd. Außer Grammatik und Interpunktion. Heinz Rothermund ist außer Puste, als er in die Redaktion kommt. Aufzüge lehnt er grundsätzlich ab. Wie ein ungehobelter Schuljunge gibt er ein Gähnen preis, ohne seine Hand vor den Mund zu halten. "Liegt noch was an? Oder kann ich nach Hause gehen?" fragt seine Leichenbittermiene. "Die Leute hier können mich kreuzweise." Warum? Keiner will den Grund wissen. Roth ist in Gedanken versunken, ohne sonderlich auf den Fotografen zu hören. Er nickt und Rothermund verschwindet im Treppenhaus. Edith Maywald sitzt längst wieder an ihrem Schreibtisch, auf dem sich Telefonbücher und Gelbe Seiten tummeln, als ob sie sich vor genommen hätte, eine Straßensperre zu unterrichten. Weil alle Ledersessel vergeben sind, steht ihr als Neuling nur der harte Armesünderstuhl zu. Außerdem muss sie sich mit allen möglichen Lesern herumschlagen. 144
"Erzählen Sie mal", flötet die Frau mit den babyrosa Wangen ins Telefon. "Das ist ja interessant. Auf einer Station in dem Altenheim ... da werden alle alten Leute geduzt ... Wo ist das in Köln? ... In Herne? Wo liegt denn das?" Der mit allen Wasser gewaschene Heinrich Ender brüllt: "Im Ruhrgebiet! Damit kann sich Mülheim rumschlagen." Mit diesem Einwand hat er einen Volltreffer gelandet. "Da müssen Sie unsere Kollegen stören", sagt sie mit der Arroganz eines Menschen, der zur Arbeit überhaupt keine Lust hat. Vor Freunde knallt sie die Handflächen mit solch einer Wucht auf den Schreibtisch, dass zwei Akten einen Hüpfer machen. Die Direktheit eines Wortes bringt Roth etwas aus der Fassung. Am liebsten möchte er sie gleich den Wölfen zum Fraß vorwerfen. Wenn da nicht dieser Ort wäre. Er schnippst mit den Fingern und setzt ein schiefes Grinsen auf. Das ist es! In seinem Casio SF 8350 sucht er sofort nach einer bestimmten Telefonnummer. Und die gehört seinem alten Freund Friedel Wessel. Einem Reisejournalisten. Da ist sie. Er hämmert auf sein graues Tastentelefon von Siemens. Der Ruf geht raus. Nach fünfmaligen Klingeln meldet sich eine Fisherman-Stimme: "Hallo?" Roth sieht ihn vor sich: mit einem breitkrempigen Stetson auf dem Kopf. 145
"Du altes Haus, von dir hört man ja gar nichts mehr", sagt Roth. Und in seinem Hirn beginnt eine Achterbahnfahrt. "Wenn du anrufst, willst du bestimmt etwas von mir. Stimmt's?" fragt Friedel Wessel mit seiner brüchigen Stimme. Der Kölner will nicht in Gekränktsein machen. "Naja. Hast du eigentlich den Friedhelm Meuschel gekannt?" "Natürlich, diese alte Ratte", ereifert er sich. "Warum? Wenn du mal nach Herne kommst, kannst du ein Opfer von ihm kennen lernen." "Hör mal, wie meinst du das?" will Roth wissen. "Den Malte Pauls hat er so fertigemacht, dass der seinen Beruf aufgegeben hat", berichtet er mit dem Tonfall eines Mannes, der vor amerikanischen Gefängnissen gegen die Todesstrafe protestiert. "Der Pauls , wiederholt Roth, "was macht der heute?" "Der arbeitet in einer Würstchenbude", berichtet Wesel. "Wo?" "Bei mir ganz in der Nähe. Auf der Sodinger Straße." Sieht Carlheinz Roth auch im Gesicht deutlich älter aus, so hält er seinen Körper im Fitnessstudio in Form. Drei Mal in der Woche stählt er seine Mus146
keln. Seitdem mag er am liebsten seinen Hintern. Der ist so schön knackig, haben ihm schon oft Frauen gesagt. Bis vor einer Minute hatte er noch vor, ihn an seinem freien Tag noch mehr zur Geltung zu bringen. Aber diese Pläne wirft er von einer Sekunde zur anderen über Bord. *** Donnerstag, 23. Juni Knapp 15 Stunden nach dem Redaktionsschluss der Kölner Ausgabe von Punkt! donnert Carlheinz Roth mit seinem Alfa Romeo über die Autobahn nach Herne. Auf dem Beifahrersitz hat der nagelneue Städteatlas Rhein-Ruhr keine Zeit zum Kennenlernen der neuen Umgebung. Er wird gleich kräftig durchgeschüttelt. Ohne lang zu suchen, findet Roth die Sodinger Straße in Herne. Und den Imbisswagen von Speckmann. Das Hacksteak für 9,50 Mark und das Broccoli-Schnitzel mit Pommes Frites für 12,60 Mark sind die Knüller. Eine Frau mit einer Betonfrisur fragt alle zehn Sekunden mit zusammengebissenen Zähnen "Mitwasdrauf?". Dabei lacht sie wie ein Zauberkünstler beim Schlussapplaus. Roth bleibt in seinem Schlitten sitzen, kurbelt das Fenster herunter. Der Mann neben der Frau fällt total aus der Rolle. Die kleine schwarze Fliege und 147
die silberne Nickelbrille verleihen ihm schon einen intellektuellen Anschein, aber auch einen komischen. Sein Gesicht zeigt keine große Regung. Und bringt sogar eine Spur von Desinteresse zum Ausdruck: wie Fotos auf Fahndungsplakaten des Bundeskriminalamtes. Abstoßend und anziehend zugleich. Eitel scheint er auch zu sein: Das Doppelkinn versteckt sich im Kragen seines Perlonhemdes. Roth beobachtet jede Gestik. Wenn er spricht, legt er Pausen ein. So ergibt sich seinen Gesprächsteilnehmern Gelegenheit, über einen Satz nachzudenken. "Aus Angst, als hysterisch zu gelten, trauen sich die meisten Menschen nicht, über ihre Ängste zu reden", spuckt er wissend aus. Oder: "Ängste können Süchte auslösen." So richtig begreift keiner seiner Kunden das Netzwerk seiner Gedanken. Nur: Es geht verdammt oft um Ängste. In diesen zehn Minuten, die Roth zuhört. Dem Reporter geht das Gelabere schließlich auf die Nerven. Er steigt aus und geht die zwei Meter zum Imbisswagen: "Sie sind doch Malte Pauls?" fragt er mit einem Altmännerlächeln. "Wer will das wissen?" lässt der Angesprochene seiner Neugiere freien Lauf. "Ich bin auch ein Opfer von Meuschel." Pauls zuckt zusammen. Das Telefon nimmt Roth weitere Erklärungen ab. "Wie Sie meinen", hört er ihn mehrfach in den Hörer sprechen. Hinter dem 148
Verkäufer hängen zwei kleine, abgegriffene Fotos aus Gott-was-waren-das-noch-für-Zeiten an der Wand. Ein Mann in einem anthrazitfarbenen Zweireiher vor einem Schrank aus hell lackiertem Nussbaum. Lachend. Daneben ist er im Zwei-KnopfSakko als Besucher auf einer Ranch zu sehen. Neben dem Mann dösen Pferde vor sich hin, ganz im Hintergrund suhlen sich Schweine im Matsch. Die Haare sind etwas voller, das Gesicht nicht ganz so rund, aber man kann ihn erkennen: schon an der Fliege. Die Nickelbrille fehlt. Dafür ziert ihn ein Menjou-Bärtchen. Nicht schlecht. Nach einer Pause sagt er schrill ins Telefon: "Nein", wiederholte halsstarrig "Neinnein!" und legt auf. Sein Gesicht ist kreidebleich. Er wirkt wie nach einem Luftangriff, ist nur noch eine Mogelpackung. Roth schießen 1000 Gedanken durch den Kopf. Ist er wirklich nur ein armes Opfer? Hat er sich vielleicht grausam gerächt? Ist dieser Job in Herne nur Tarnung? "Die ganze Sache ..." Er spricht nicht zu Roth, sondern mehr zu sich selbst. Was für eine Sache? Ein leichtes Zittern ist in seiner Stimme zu hören. So ein Schwanken zwischen Lachen und Weinen. Aus seinem Blick in Richtung Telefon spricht Verachtung. 149
Malte Pauls hält sich mit beiden Händen an einer DAB-Bierdose fest. "So ... Sie sind auch ein Opfer von Meuschel?" sagt er und zupft an den weißen Manschetten, die unter seinem Kittel hervorschauen. In seiner geschliffenen WDR-Stimme ist ein Hauch rheinischen Singsangs zu hören. Einen Augenblick später schaut er seinen Besucher direkt in die Augen: "Der Meuschel ist tot. Wissen Sie das nicht?" Seine Stimme hat sich noch immer verändert. Sie ist heller,aufgeregter. Schweißperlen haben sich auf seiner Oberlippe breit gemacht. Schwarze Fliege, silberne Nickelbrille, sieht so ein Mörder aus? Wie sieht ein Mörder aus? "Darum bin ich auch hier. Ich würde gerne mit Ihnen reden. Wann haben Sie Zeit?" "Hey, Alter. Willsehier labern? He?" Neben Roth wird eine Kundin unruhig in einem schwarzen Kleid, mit fast totenbleich geschminktem Gesicht, hochtoupierten Haaren. Die dämonisch-schwarz ummalten Augen zucken unruhig hin und her. Die Frau mit der Betonfrisur scheint die Chefin zu sein. Sie schaut Roth strafend an. "Nicht hier", kommt ihr Pauls zuvor. "Sehen Sie doch, wir haben Gäste." Eine kleine Pause folgt. "Kommen sie lieber heute Abend um 8 ins Parkhaus", erklärt er und dreht sich sofort dem Gruftie zu: "Was willst du?" "Parkhaus?" wiederholt Roth erstaunt. 150
Pauls starrt ihn ungläubig an: "Ja. Im Stadtgarten." Dabei zückt er bedauernd mit den Achseln. Seine Augen blicken wässrig und ein bisschen unscharf. *** Roths Wut über das nicht erfolgte Gespräch verraucht sehr schnell. Und er beginnt sich zu fragen, was er eigentlich bis zum Abend in diesem Nest machen soll. Recherchieren. Ihm macht die Arbeit wieder Spaß. Jeder Tag erscheint seitdem nicht mehr als eine Fotokopie des vorherigen. Er geht zu einer Telefonzelle in der Wiescherstraße, ruft zwei Mal die Auskunft an und wählt dann 02306-24050. Zehn Mal klingelt es, bis jemand drangeht. "Roth", sagt er ungeduldig, "geben Sie mir das Handelsregister." Einen Augenblick später wird er mit einer nasalen Stimme verbunden. "Worum geht es?" fragt sie. "Ich hätte gerne gewusst, wo ich in Lünen die Firma Pik7 finde?" Nach einer kurzen Pause kommt zurück: "Darüber geben wir keine Auskunft am Telefon. Wiederhören." Ein Klicken folgt. Roth explodiert: "Was soll das?" Am liebsten hätte er gesagt, sie solle den Mund halten und endlich spurten. Aber die Frage bleibt unbeantwortet, die Verbindung besteht längst nicht mehr. Bis aufs Äußerste gereizt, steigt Roth ins Auto. *** 151
Und fährt nach Lünen. In Vorort Gahmen stellt er seinen Wagen ab und nimmt sich für die letzten Kilometer eine Taxe. Die bringt ihn ohne große Umwege zum Amtsgericht. Oder auch nicht. Die Frau im Handelsregister ist Ende 30. Sie zögert bei seinem Namen, weil sie darüber nachdenkt, ob sie ihn nicht schon einmal gehört hat. Ohne Erfolg. Mit einem aufgesetzten Lächeln fragt sie: "Was suchen Sie?" Sofort nennt er sein Ziel: "Pik 7." Sofort verschwindet das Lächeln aus dem Gesicht. Ihr Blick durchfährt ihn scharf wie eine Klinge. In dem aufmerksamen Beobachter kommt Lust auf, der Frau zu sagen, dass er zu einer Berufsgruppe gehört, die es gewohnt ist, äußerst freundlich behandelt zu werden. Aber er hat eine Ahnung, dass damit Probleme verbunden wären. Außerdem spürt er nicht das geringste Begehren auf angestrengte Diskussionen. Also fragt er nur: "Pik7, sagt Ihnen das was?" "Neee, keine Ahnung. Haben Sie nicht schon mal angerufen?" fragt sie mit fester Stimme: Wie jemand, der davon ausgeht, dass jeder im zuhört und gehorcht. Roth pariert, weil er auf sie angewiesen ist. "Ja. Da habe ich mich wohl etwas im Ton vergriffen ... Pik7, das ist doch keine strenggeheime Sache?" 152
Die Frau mit den grauwerdenden Haaren legt vor der Antwort eine kurze Pause ein, um den Satz mehr Gewicht zu geben: "Auskünfte über eine GmbH sind öffentlich ... Ich schau mal nach." Dann besorgt sie sich aus einer Kartei die Registernummer, zieht eine weiße Karte: "Abschreiben ist umsonst. Eine Abschrift kostet 20 Mark." Roth zückt zwei 10-Mark-Scheine. Aber bevor er überhaupt ein Wort herausbringt, legt sie schon wieder los. "Eine beglaubigte Abschrift kostet 35 Mark. Also, was wollen Sie?" fragt sie kühl und bestimmend. Er bleibt bei seiner Entscheidung. Drei Minuten später hat er den Gegenstand des Unternehmens auf einer Fotokopie: Entwicklung spezieller ComputerProgramme zu Unterstützung einer Datenbank, Einrichtung und Unterhaltung einer Datenbank und deren Verwaltung. Roth will sich in seinem Gehirn zu Informationen vorgraben, die tief vergraben sind. Doch mit diesen Informationen kann sein Speicher nichts anfangen. Aber er merkt, wie seine Lebensgeister sich regen, als er wieder in eine Taxe steigt, den Zettel vom Amtsgericht zückt und dem Fahrer befiehlt: "Zur Firma Pik7, Lutherstraße 17." *** 153
Es ist nicht leicht, jemanden an die Tür zu holen. Carlheinz Roth klingelt und klopft bestimmt zehn Minuten lang. Schließlich erscheint ein Mann in einem abgetretenen Fischgrätanzug und fragt: "Was ist denn los?" Roth versucht, einen allzu kritischen Journalistenton zu vermeiden: "Tag. Bin ich hier richtig bei Pik7? Ja? Kann ich reinkommen?" Der andere sieht Roth mit prüfenden Augen an: "Wer sind Sie überhaupt? Was wollen Sie?" "Roth. Ich möchte bei Pik7 mitspielen", beginnt er beiläufig, "kann ..." "... Wer hat Sie geschickt?" Die glatte Stirn legt sich in Falten. "Niemand, lieber Gott, niemand", sagt Roth überrascht. "Ich habe viel von Ihrem Spiel gehört. Und möchte da eventuell einsteigen?" "Einsteigen?" Er hält die Tür auf und lässt ihn eintreten. Roth folgt ihm in ein Büro. Der Reporter schaut sich erst einmal um: Der Raum ist zweckmäßig, also langweilig eingerichtet - ein goldbraun/schwarzer Schreibtisch mit Sichtblenden ist voll gepackt mit zwei Telefonen und unzähligen Fotokopien von irgendwelchen Zeitungsberichten, dahinter ruht ein blauer Bürostuhl, davor stehen zwei graue Konferenzstühle ohne Armlehnen, vier Jalousieschränke sind im Zimmer verteilt. An den 154
hellblau gestrichenen Wänden hängen zwei Kunstsdrucke von Salvatore Dali. Ein stechender Blick ist auf Carlheinz Roth gerichtet: "Sie wollen also bei uns einsteigen. An wie viel dachten Sie denn?" Roth kratzt sich an die Schläfe: "Wie heißen Sie überhaupt?" "Ich? Lupa. Reinhard Lupa", sagt der oft schon vom Leben in die Mangel Genommene. "Ja, wie viel?" "Und was machen Sie hier?" "Ich bin hier für die Datenverarbeitung zuständig", kommt es in einem total sachlichen Ton zurück. Doch zwischen den Worten steckt die Frage: Wie viel? Wie viel? Wie viel? "Wenn man's genau betrachtet, habe ich so rund 40.000 Mark geerbt." Die Überraschung ist geglückt. Ein kurzes Schweigen legt sich auf den Raum. Die Augen von Reinhard Lupa leuchten, als sei Weihnachten vorverlegt worden. Sofort verändert sich seine Stimme, sie kämpft jetzt um Vertrauen. "Wollen Sie was trinken?" fragt er und deutet mit dem Kopf auf einen Schrank. "Wir haben alles da." Roth runzelt die Stirn: "Was trinken Sie denn?" "Einen Tullamore Dew", murmelt er fast zu sich selbst. "Sehr zu empfehlen, Herr Roth." 155
"Nehme ich auch", entscheidet der Gast, der im Hintergrund das Rattern einiger Drucker hört. Reinhard Lupa steht auf und macht zwei Drinks, während Roth ausführt: "Mich hat schon mal jemand beraten. Aber ich habe nicht alles verstanden." Sein Gesprächspartner bleibt in der Mitte des Zimmers stehen. "Wer ist das gewesen?" fragt er und reicht Roth ein Glas. Die große Frage, die ganz große, liegt Roth auf der Zunge. Aber er stellt sie noch nicht. "Habe ich vergessen", sagt er, nimmt einen Schluck und ergänzt dann: "Na, wie hieß er doch gleich? ... Teufel, ja, Michael Teufel. Klar, Teufel. Der war doch Infoleiter bei Ihnen." "War?" Er wirkt überhaupt nicht mehr fahrig und unkonzentriert. "Ja, der ist doch tot. Habe ich in der Zeitung gelesen. Weil ich nicht weiß, wer seinen Job übernommen hat, bin ich selbst nach Lünen gekommen." Reinhard Lupa reicht ihm das Glas. Carlheinz Roth nimmt einen kräftigen Schluck und verkündet mit einem fröhlichen Ausruf, dass es köstlich schmekke. Der EDV-Fachmann schmunzelt und tut so, als ob er ganz Ohr ist. Reinhard Lupa setzt sich und blickt auf seinen Drink hinunter. "Also, Herr Roth ... Stimmt doch?" 156
Der Besucher nickt und hört: "Wir haben ein Pyramidenspiel entwickelt, das gegen nichts verstößt und jedem Mitspieler satte Gewinne bringt." Die monotone Stimme würde Roth normalerweise langweilen, jetzt registrieren seine Gehirnzellen jedes Wort. "Pik 7 ist ein mehrstufiges Spiel, bei dem der Spielablauf durch ein von uns ausgearbeiteten Computerprogramm unterstützt wird." Roth nickt: "Ich verstehe." Und betrachtet Lupa mit einem nachdenklichen Blick, aber er will keine Moll-Töne anschlagen: "Sie gehen mit der Zeit ..." "Natürlich, Herrn Roth. Wie wäre es mit einem Nachschlag?" erkundigt er sich mit gespielter Munterkeit. Die Antwort ist ein Kopfschütteln, denn er spürt schon die Wirkung des Getränks. Und muss sich schon etwas anstrengen, um dem Schwätzer noch genau zuzuhören. "Zur Zeit haben wir ungefähr 8000 Mitspieler", erfährt er weiter. "Monat für Monat sorgen sie für einen Umsatz von rund vier Millionen Mark. Toll, nicht? Das sind Fakten und nicht das übliche Gefasele von anderen Spielbetreibern." Er hebt sein Glas und nimmt einen kräftigen Schluck. "Wo waren wir stehen geblieben? Ein Teil der Gewinne wird sofort in neue Pyramiden reinvestiert. Somit verhindern wir, dass ein Mitspieler gezwungen wird, ständig 157
neue Mitspieler zu werben, um seine eigene Gewinnchance zu wahren." Seit einer Viertelstunde sitzen sich die beiden im Büro gegenüber. Carlheinz Roth versteht die komplizierten Regeln immer weniger, erkennt aber sofort die Schwachstelle aller Pilotenspiele. "Den Letzten beißen die Hunde. Ist bei den vielen Spielen überhaupt hier noch etwas zu holen?" wagt er sich vor. Darauf scheint der Mitarbeiter von Pik7 gewartet zu haben. "Nun, Herr Roth, auch im Ausland geht es jetzt los. In Italien, Griechenland und Dänemark." Roth bemerkt eine Verteidigungsstellung. Er steht auf und rückt seinen Stuhl zurecht. Reinhard Lupa streckt seinen Arm aus: "Noch einen Augenblick, Herr Roth. Ich habe Ihnen noch nicht alles erzählt." Der Reporter guckt erstaunt: "Was gibt es noch?" "Einiges", meint Lupa leichthin. "Manche Mitspieler verlieren die Kontrolle. Darum kriegt jeder von uns einen Computerausdruck. Und, damit ich es nicht vergesse. Das ist einmalig. Wir haben einen Sicherheitsfonds eingerichtet, der aus den Spielgeldern gespeist wird. Eine Kontrollkommission achtet darauf, was mit diesen Gelder passiert. Toll, nicht?" Im Weggehen erkundigt sich der Besucher: "Sagen Sie, Herr Lupa, mit wie viel Mark kann man bei Ihnen einsteigen?" 158
"Mindestens 300 Mark", erfährt er. "Nun, Herr Roth, wie ist es?" "Ich sehe für mich keine Probleme, sodass - ich meine, ich muss noch meine Frau überzeugen. Aber das gibt bestimmt keine Probleme. Schließlich habe ich geerbt." Der abgetragene Fischgrätenanzug nickt: "Ich verstehe." Natürlich versteht er nichts. Der Journalist geht hinaus, zurück zu Hacksteak und Broccoli-Schnitzel. Im Schicksalsdreieck KölnHerne-Lünen tapert Carlheinz Roth nicht mehr hilflos wie Hänsel und Gretel im ach so finsteren Wald herum. Sicher, vieles greift nicht ineinander. Manches ist Theaterdonner. Einiges regelrecht unglaublich, einfach unglaublich, sagt er im Auto zu sich selbst. Von all den Märchen, die er in seinem Leben schon gehört hat, ist nie eines gewaltiger gewesen als dieses. *** Ohne dem Flachbau noch einen Blick zu schenken, fährt Carlheinz Roth zurück nach Herne. Und läuft dort die Bahnhofstraße auf und ab. Im Eiscafé im City Center genehmigte er sich fünf Cappucino Italiano. Die Bedienung klärte ihn dann auf: Dass sie mit dem Besitzer verheiratet ist. Und wie er zum 159
Parkhaus kommt. Roth bedankte sich - mit einem enttäuschten Gesichtsaudruck. Punkt 8 Uhr geht Carlheinz Roth die 14 Stufen zum Parkhaus hoch. Einem Restaurant im Herner Stadtgarten, wo man offenbar so hingeht. Auch wenn man kein Rotarier ist und jede Woche dienstags in dem kleinen Saal neben der Garderobe zusammenkommt. Wie auf einem Zettel am Eingang zu erfahren ist. Von der Telefonzelle neben dem Abstellraum hört er seinen Anrufbeantworter ab. Nichts drauf. Dabei schaut er zum Wintergarten hin: Die untergehende Sonne taucht die Bäume, Büsche und Wiesen in ein tiefrotes Licht. Direkt vor der Glaswand sitzt schon Malte Pauls. In einem Blackwatch-Blazer und einer marinefarbenen Hose. Dazu eine Fliege. Und sofort spult Roths Kopfkino die Frage ab: Ein Mörder? Oder hat sich ein enttäuschter Zocker an Axel Weiss gerächt? Der ehemalige Redakteur scheint den Kölner nicht zu bemerken. Er isst bereits wie ein Verhungender. Als Roth an der Theke vorbei ist, sieht er auch das Essen: Gambas gebraten und einen Salat mit Knoblauchmajonäse. Dazu trinkt er einen trockenen Pinot Bianco vino da tavalo. Roth geht auf ihn zu. Seine rechte Hand ist zur Begrüßung ausgestreckt. Pauls ergreift sie, bleibt aber 160
sitzen und fragt: "Wie sind Sie eigentlich auf mich gekommen?" "Der Friedel Wessel ..." Pauls schlägt sich mit der Handfläche an die Stirn: "Stimmt, der wohnt ja in Herne ... An den habe ich gar nicht mehr gedacht. Muss mich mal bei ihm melden ... Trinken Sie mit mir! Wein oder Wodka?" "Ich möchte auch was essen. Aber keinen Alkohol." Für Pauls scheint das Urteil festzustehen. "Dann sind Sie kein guter Journalist. Nennen Sie mir einen, der was taugt und seine ganzen Eindrücke nüchtern ertragen kann? Es gibt keinen. Nicht einen." Ein Ober mit einem entschlossenen Kinn und einer schnarrenden Stimme humpelt herbei und nimmt die Bestellung auf: eine Maispoulardenbrust mit Kartoffelgratin und Gemüse. Und ein Kelts. Zum ersten Mal sieht Roth die Tränensäcke des geheimnisvollen Mannes. Sie scheinen um Mitleid für irgendetwas zu betteln. Für was? Beim Essen reden sie über belangloses Zeug. Wer wo Chefredakteur geworden ist. Wer auf der Straße steht. Wer ins Gras gebissen hat. Bei der Wahl der Nachspeise beweisen die beiden den gleichen Geschmack: ein Stück Brie mit Obst. Diese Übereinstimmung lässt Pauls schmunzeln. Und er mustert 161
Roth nicht mehr von oben herab, als sei er jemand, dem man nicht ganz trauen könne. "Warum haben Sie Ihren Beruf aufgegeben? Wie hat Meuschel Ihnen das Rückgrat gebrochen?" will Roth plötzlich wissen. Die Antwort kommt wie aus der Pistole geschossen. "Sie haben doch die Bilder gesehen, oder?" antwortet er. "Ja, damals war ich noch wer. Ich habe Reportagen gemacht. Kritische, wenn Sie wissen, welche ich meine. Auch eine über den Verein vom Meuschel. Einen Momant später rief er mich an, sagte, die Geschichte sei ja nicht so dolle. Aber er würde sie mir nicht übel nehmen. Schließlich hätten wir Pressefreiheit in Deutschland. Er wolle mir auch mal seine Sichtweise der Dinge schildern. Ob ich daran interessiert sei? Natürlich, keine Frage. Also flog ich mit ihm für eine Woche in die Türkei. Nach Marmaris. Gleich am ersten Abend habe wir kräftig einen gebechert. Ich kann mich noch gut an das Hotel erinnern. Wir saßen direkt am Meer. Die Stühle waren in Hufeisenform aufgestellt. Meuschel und ich waren die einzigen Gäste. Am Anfang dachte ich, dass er ein Schachspieler ist. Mit einer Strategie im Kopf. Doch diese Skepsis verlor den Kampf gegen den Alkohol. So betrunken wie an diesem Abend war ich schon lange nicht mehr. Ich genehmigte mir ei162
ne ganze Flasche Raki. Oder noch mehr. Bald konnte ich nicht mehr zwei und zwei zusammenzählen." Roth erlaubt sich eine seiner seltenen Zwischenfrage: "Waren Sie mit ihm allein in der Türkei?" "Ja. Keine der üblichen Pulkreisen mit 40 Mann und mehr. Das hätte ich auch nicht mitgemacht...Also, am ersten Abend. Er trank kräftig mit und erzählte und erzählte. Von den Türken zum Beispiel. Die hätten das Pech, dass sie europäisch sein wollten. Dann von den Reiseriesen, die ihn mit Werbeschlachten vergiften wollten. Alles ziemlich wirres Zeug. Das alles an einem heißen Abend, müssen Sie wissen. Irgendwann rückte er mir von der Pelle und verschwand. Ich habe das erst gar nicht richtig mitbekommen. Aber etwas anderes doch. Mein Schweiß tropfte plötzlich auf den Kopf einer Frau, die auf meinem Schoss lag. Woher die kam, weiß ich bis heute nicht. Plötzlich griff sie in meine Hose. Und wollte wissen, ob ich nicht Lust hätte, mit in ihr Zimmer zu gehen. Was für eine Frage, habe ich damals auch gelallt. Wir also los. Unterwegs hat sie mich noch an die Hotelbar geschleift, wo ich fünf Kaffee getrunken habe und etwas nüchterner wurde. Im Flur verriet sie mir, was sie besonders geil machen würde. Rollenspiele. So eine richtige Vergewaltigung bräuchte sie jetzt. 163
Kannst du haben, versprach ich. Und auf ihrem Zimmer ging es dann los, genau wie sie es wollte. Irgendwann bin ich dann eingeschlafen. Als ich wach wurde, war die Frau nicht mehr da. Ich habe mir nichts dabei gedacht und bin runter in den Speiseraum. Meuschel saß schon da und frühstückte. Etwas machte meinen Brummschädel schon stutzig, einige Male lachte er, obwohl es gar nichts zu lachen gab. Aber ich wusste das nicht einzuordnen." Er kann mit seinen Pausen brillant auf der Klaviatur der spannenden Geschichten spielen. "Nach dem Frühstück mit Ei, Fladenbrot, Käse, Wurst und Orangensaft lotste mich Meuschel auf sein Zimmer, um mir als ersten Journalisten das neueste,gerade fertig gestellte Firmenvideo zu zeigen. Sie können sich bestimmt vorstellen, was man sah. Meine nackten Arsch und ihre tollen Titten. Und die Vergewaltigung, die so echt aussah, echter hätte sie nicht seinen können. Ein Spaß, sagte ich. Ich sehe das ganz und gar nicht wie sie, antwortete er. Die türkische Polizei verstände keinen Spaß. Die deutschen Verlage bestimmt auch nicht. Die müssten aber den Film nicht sehen, wenn ich ihm auch einen Freundschaftsdienst erweisen würde. Ihre Fantasie sagt Ihnen bestimmt, was er meinte." Der Zeremonienmeister der schönen Stimmen spricht wie der Überlebende einer Schiffskatastrophe, der weiß, 164
dass niemand ihm so recht glauben wird, der nicht selbst Augenzeuge war. Er nimmt seine Nickelbrille von der Nase und putzt die Gläser mit dem Tischtuch. "So, das ist die Geschichte. In der Walhalla des Journalismus sah ich keinen Platz mehr für mich." Einige Male fährt er sich mit der Hand über den Mund. Aber so kann er kein Wort auslöschen. Seine Augen verraten eine gewisse Unterwürfigkeit. Als ob er grenzenlos dankbar sei, einen Zuhörer gefunden zu haben. Trotzdem wirkt er überhaupt nicht eingeschüchtert. Das macht Roth Angst um seine eigene Selbstsicherheit. Er ist besinnungslos mit offenem Mund. Seine Gedanken sind in der Türkei. Ein Motiv? "Wer hat Sie heute Morgen am Telefon so nervös gemacht?" "Heute morgen?... Der Partner von diesem Meuschel. Der wollte, dass ich mich mit ihm treffe, damit alles aus der Welt geschaffen wird. Neinneinnein! Ich traue diesem Hoppe nicht. Ich habe nichts mehr mit der Sache zu schaffen." Plötzlich steht Malte Pauls auf, geht zur Verandatür und blickt auf das kleine Hotel, das früher mal ein Gärtnerhaus war. "Sagen Sie mir, was ich damals hätte sonst tun sollen?" Sofort kommt er an den Tisch zurück und zuckt mit den Schultern. "Einmal erpressbar, immer 165
erpressbar. Das war mir von einer Sekunde zur anderen klar." Roth muss sich etwas vorbeugen, um ihn genau zu hören. Trotzdem ist Pauls längst der Platz in seinem Langzeitgedächtnis sicher. Eine Kellnerin mit slawischen Backenknochen und Mandelaugen macht Spätdienst und schenkt wortlos nach. Mit jedem Satz hat Pauls bei Roth einen neuen Keim der Neugierde eingepflanzt. Roth nimmt ein Glas in die Hand und sieht nachdenklich hinein. Nein, dieser Typ ist kein Mörder! Plötzlich drückt Pauls die Schultern zurück, steht abrupt auf, gibt der Kellnerin einige Scheine in die Hand und marschiert zielstrebig zum Ausgang hin. Dort holt ihn Roth ein. Sie gehen zusammen die Treppe herunter. "Wissen sie eigentlich, was man sich über den Meuschel erzählt hat?" erkundigt er sich auf dem kleinen Podest zwischen der achten und der neunten Stufe der Eingangstreppe. Dabei fixiert er ihn über den Rand seiner Nickelbrille. Und setzt ein Lächeln auf. Das ist mehr eine rhetorische Frage, die keine Antwort verlangt. "Dass der Meuschel pervers war." Sein Gesicht hat wieder die Farbe gewechselt. Ein Aufruhr widerstreitender Gefühle tobt in Roths Kopf: Neugierde, Hilflosigkeit... Pervers? 166
"Oder haben Sie nicht gewusst, dass Sie es nicht wussten?" fragt er mit einem milden Grinsen. Roth zuckt mit den Schultern. Lässt sich so Zeit, um über diesen Satz nachzudenken. Pauls mustert ihn mit einem festen durchdringenden Blick. Beide wippen nervös mit dem Fuß, der abgemusterte Reporter dreht langsam die flachen Hände hin und her und stellt ganz direkt fest: "Ich bin müde. Und will jetzt ins Bett." "Was heißt pervers? Kannten Sie Axel Weiss oder Michael Teufel?" Malte Pauls stoppt seinen leicht federnden Gang: "Weiss? Teufel? Nie gehört! Und Pervers? Fragen Sie mal seine Seelentrösterin, zu der er immer nach Köln gefahren ist." Dann verschwindet er in der Dunkelheit, sieht sich nicht um. Als Roth wieder nach Köln braust, ist das letzte Licht des Tages längst der Nacht gewichen. Er bedauert, dass er keinen Rekorder dabei hatte. So muss er sich ganz auf sein Gedächtnis verlassen. Er hängt tief in Gedanken: Wen meinte er mit Seelentrösterin? Soll er morgen Kratzenstein anrufen? Oder Koritzius?
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10. Freitag, 24. Juni Hans-Werner Koritzius lauscht dem Rattern einer Kaffeemaschine in der Ecke, nebenan knattert ein Drucker vor sich hin. Dann mischt sich die Klingel einest Telefons ein. Aber niemand beachtet sie. Auf dem Gesicht des Polizisten liegt eine große Unruhe. Er zupft an seiner grauweißen Kotelette und lässt den Morgen an sich vorüberziehen. Spaziergänger hatten in einem Dellbrücker Waldstück drei Plastiksäcke gefunden. Darin stecken die Leichenteile einer als vermisst gemeldeten Frau. Als Koritzius dem Sohn der Toten die Nachricht übermitteln wollte, legte der Mann unvermittelt ein Geständnis ab. Koritzius nimmt seine voll geschriebenen Zettel in die Hand und überfliegt sie. Aus Angst vor einer Einweisung in die Merheimer Landesklinik will der Junge seine Mutter mit einer Eisenstange den Schädel eingeschlagen und dann die Leiche zersägt haben. Der Bulle kratzt sich an seiner struppigen Augenbraue und nickte verständnisvoll. Die Freude über die schnelle Aufklärung währte nicht lange. 168
Für die anderen ungeklärten Morde kommt er nicht in Frage. Dafür sorgen schon lückenfreie Alibis. Das Gebimmel des Telefons lässt den Faden seiner Erinnerungen fallen und stellt ihn wieder auf den Tag ein. "Koritzius, Mordkommission", meldet er sich und kratzt sich am Hals. "Passen Sie auf", beginnt Kratzenstein, "die Petra Braun hat sich bei mir gemeldet." Koritzius blickt aus dem Fenster und überlegt einen Augenblick: Warum nicht bei mir?...Ach ja, ich war ja vor Ort. "Die hat herausgefunden, dass die Freundin von diesem Hoppe früher die Geliebte von dem Meuschel war. Hübsch, nicht?" Koritzius überlegt einen Moment, wie der Wert der Recherche einzustufen ist. "Nun", beginnt er schließlich, "nun, ein wenig kann ich mir jetzt vorstellen, was möglicherweise passiert sein mag. Claudia Häuser hat noch immer ein Verhältnis mit ihrem Ex-Freund, Hoppe kommt dahinter und bringt den Nebenbuhler um. Typische Dreiecksgeschichte." Kratzenstein versinkt nur einen kurzen Augenblick in Nachdenken: "Ja, so ungefähr könnte es in anderen Fällen gelaufen sein. Hier aber bestimmt nicht. Weil da auch der andere Tote mit derselben Art von Verletzungen ist." Darauf weiß Koritzius keine Antwort. "Das wär alles auch zu schön gewesen", stellt der Angerufene resignierend fest. "Nun ja, wir sind ja erst am Anfang. Wir werden 169
unsere Vorgehensweise nicht ändern ... Ich habe den Carlheinz Roth in der Leitung. Dem geht was nicht aus dem Kopf. Hören Sie sich das mal an." Jede Form einer auch nur angedeuteten Kritik wäre zwecklos. Außerdem hat Roth bestimmt Dutzende von Informanten im Präsidium. Und die würden ihm das sofort stecken. Trotzdem nimmt er sich vor, bei dem Reporter auf der Hut zu sein. Betont langsam drückt er die Erdtaste und hört den Journalisten: "Ich habe mich gestern über Pik7 informiert..." "...Pik7?" geht Koritzius im scharfen Ton dazwischen. "Ja. Sie hatten doch eine Visitenkarte von Teufel mit im Biergarten. Darauf stand Pik7, Lünen. Wissen Sie was Pik7 ist? Dahinter verbirgt sich ein Pilotenspiel ..." "... Pilotenspiel?" Seine Augen konzentrieren sich längst nicht mehr auf das Protokoll, das er noch immer in den Händen hält. "Ja, so ein Spiel nach dem Schneeballsystem ..." erklärt Roth. "...Sind die nicht verboten?" will Koritzius wissen. "Offenbar nicht. Die heißen jetzt Pyramidenspiele. Und bei so einem Spiel war Weiss der Infoleiter. Eine hübsche Geschichte, nicht wahr? Wir können uns ja abends darüber unterhalten. Ich melde mich. Sind Sie noch gegen 6 im Büro?" 170
"Nein. Dann bin ich im Chicago Meatpackers." "Ich rufe Sie dort an. Jetzt habe ich keine Zeit mehr, ich muss in die Schalte." Was das auch immer sein mag. Darüber hat Koritzius noch nicht nachgedacht, was Infoleiter zu bedeuten hat. Pilotenspiel? Da kennt sich doch jemand aus? Er kramt in seiner Brieftasche und findet sofort die mittelmeerblaue Visitenkarte. Und ruft Mechthild Orden an. "Sie kennen sich doch mit solchen Pilotenspielen aus?" "Warum? Wer sind Sie überhaupt?" "Ich? Der Mann, mit dem Sie in Rodenkirchen in einem Eiscafe waren." "Ach, ja. Der Typ von der Krankenkasse. Wollen Sie bei so einem Spiel einsteigen?" "Ich? Quatsch! Ich bin hinter so einem Spiel her." "Seit wann beschäftigen sich die Krankenkassen mit solchen Spielen?" "Krankenkassen? Ach, so. Nein, ich bin nicht bei einer Krankenkasse. Ich bin bei der ...äh... Polizei. Nun ja, wo sind wir stehen geblieben? "Warum haben Sie mich angelogen?" Koritzius neigt den Kopf. "Das kann ich Ihnen nicht am Telefon erklären. Nur persönlich... Ich würde Sie gerne mal wieder treffen." "Wenn es nicht zufällig aussehen soll. Heute Nachmittag um 5 Uhr bin ich im Oscar. 171
"Heute nachmittag? Nun, nun ... Geht leider nicht. Ich muss gleich zum HNO-Arzt." Das ist nicht alles. Wie gewohnt schützt er sich mit einem Arztbesuch. *** Lastwagen rumpeln vorbei, zwei Obdachlose dösen auf der Bank vor der Herz-Jesu-Kirche so vor sich hin, eine Frau mit eingefallenen Wangen schiebt sich auf dem viel zu schmalen Bahnsteig der Linie 7 durch eine Gruppe von Schulkindern: Hans-Werner Koritzius trinkt im Stehcafé der Bäckerei Breuer einen Kakao. Er spürt eine heiße Welle in sich hochsteigen. Über marinefarbene Fliesen kriecht er auf die Frau im Reiteranzug zu. Breitbeinig lehnt sie sich an ein Holzkreuz. In der rechten Hand eine sechsschwänzige Peitsche. Langsam streicht sie über seine Wirbelsäule entlang. Und drückt ihn mit einem Mal auf den Boden. Und dreht ihm das Ohrläppchen um. Er fühlt sich in der Haut eines Mannes, der auf dem Weg zur Schlachtbank ist. Das erregt ihn. Sie weiß das und kostet es aus: setzt ihm die Fußspitze ihrer Stiefel unter das Kinn. Dann knallt die Peitsche durch die Luft. Das Übliche halt. "Können Sie mir bitte sagen, wie ich zum Friesenplatz komme?" 172
Neben ihm stehen ein Typ mit einem herabhängenden Schnäuzer und eine Frau mit Sauerkrautlöckchen. "Nein!!! Kenne mich hier auch nicht aus", schnappt er gereizt, schaut auf seine Uhr und geht auf die Zülpicher Straße: um ein paar Häuser weiter eine neue Runde von Mensch-Ärgere-Dich-Sehr zu spielen. In den paar Metern bis zu dem Bürohaus wiederholt er das, was er sich seit Tagen zurecht gelegt hat: Ein Schuss hallte durch einen Gerichtssaal. Und traf seinen Freund und Kollegen "Männe" Schmidberger. Der war sofort tot. Für Bruchteile von Sekunden kam er seinem Weggefährten zuvor. Denn der hatte auf seine ehemalige Freundin gezielt. Und wollte sie aus Rache töten. Seitdem peitschten Schüsse durch die Seele von Koritzius. Nacht für Nacht. Wieder einmal hat er über sein Leben in der Vergangenheitsform nachgedacht. Das passiert ihm in letzter Zeit immer öfter. Er geht die Marmorstufen zu ihrer Praxis hoch. Im Flur hallt es wie in einem Schwimmbad. Oben schaut er auf seine Uhr: Pünktlich. "Ich dachte schon, dass Sie heute nicht kommen können", begrüßt ihn Dr. Regine Schwirtz an der Tür im Tonfall einer guten Frau, die von Boshaftigkeiten aus der Fassung gebracht werden soll. Der Polizist 173
blickt wieder auf seine Uhr. Die Schublade mit den Schlagfertigkeiten ist heute für ihn verschlossen. Darum widersteht er gezwungenermaßen der Versuchung, sie zurechtzuweisen. Gewährt ihr sogar einen freundlichen Blick. Doch der ist ein trojanisches Pferd. "Kommen Sie gleich durch", bittet sie und spürt gleich, dass er heute ein bisschen die Muskeln spielen lassen möchte. Auch wenn er bei genauem Hinsehen einem Trauergast gleicht, der in der Generalprobe für einen zu erwartenden Trauerfall steckt. Warum? Das ist ein Rätsel, für deren Lösung sie genau 50 Minuten Zeit hat. Er bemerkt die fließenden Bewegungen, mit denen ihr langer Körper nach nebenan geht. Die Frau im Reiteranzug, das Blutbad im Gerichtssaal. In ein paar Minuten werde ich darüber reden, nimmt er sich vor. Und bei Gott, er macht genau das nicht! Wie alte Gefährten blicken sie sich einige Augenblicke an. Dann lockert er seine Handgelenke, als wolle er etwas abschütteln. Sie tippt auf ein schlechtes Gewissen. Aber hat er überhaupt eins? Frei nach Philip Marlow legt er die Fingerspitzen aneinander. Und soürt eine Heidenangst, ohne auch nur im geringsten zu wissen, warum. "Ich komme gerade vom Ohrenarzt und bin sauer! Bis vor einer 174
Woche wurde mein linkes Ohr behandelt. Wegen einer Pilzinfektion, Jetzt ist rechts der Gehörgang entzündet." Er hebt seine Brauen. "Das hätte der Arzt vorher bemerken müssen", fügt er hinzu, als sei ihm das erst in diesem Moment eingefallen. "Auf dem Weg zum HNO-Arzt bin ich auch an Ihrer Praxis vorbeigekommen. Das hat mich noch wütender gemacht. Auch von Ihnen bin ich enttäuscht, weil meine Ängste geblieben sind. Das möchte ich so stehen lassen." Die Endungen seiner Worte verlieren sich zwischen beiden Sesseln. Sie hat überhaupt keine Zeit für eine Antwort. "Zum ersten Male habe ich auch im Traum Angst vorm Fahren gehabt. Das war sonst noch nie so." Er öffnet seine Tüte Storm King und steckt eine von den grässlichen Pastillen in den Mund. Lässt sich aber nicht in seinem Redeschwall stoppen. "Ich bin mit dem Fahrrad über eine Autobahn im Sauerland gefahren. Hinten saß mein Chef drauf, vorne meine Frau. Im Traum musste ich plötzlich daran denken, dass auf der Strecke nach Köln viele Brücken sind. Ich bekam richtig Panik und bin aufgewacht." Er beugt sich auf seinem Ohrensessel vor und will wissen: "Was hat dieser Traum zu bedeuten?" Sie sind doch die angebliche Expertin, ergänzt er lautlos. Koritzius muss etwas lachen, ohne es zu wollen. Durch das offene Fenster steigt das unbestimmt 175
Rauschen der Zülpicher Straße. Nur der Lärm eines Krankenwagens dringt deutlich nach oben. Die Analytikerin schüttelt den Kopf. Er kriegt das gar nicht mit: "Ich komme auf Ihren Einstieg zurück." Sie bemüht sich um Gelassenheit in der Stimme. Er versteht nur Bahnhof. "Sie verpassen mir eine Ohrfeige, und ich bekomme keine Chance, mich zu wehren...." Hinter ihr schwankt der Himmel. Ein paar dunkle Wolken ziehen auf. Er feuchtet die Lippen von innen an, verwirft aber den Impuls, ihr mit Worten einen reinzuwürgen: "... Das war nur die halbe Miete", dreht und wendet er sich, als ginge ihm der Text aus, "ich war natürlich auch auf meinen Körper sauer, der mich zu einem Patienten von dem Ohrenarzt gemacht hat. Und auf meine Seele, die mich zu Ihnen kommen lässt." Diese 50 Minuten werden wieder nicht reichen, um endlich auf das zu kommen, was ihn beschäftigt. Seine Gedanken wandern zu der Frau im Reiteranzug. Doch auf diese Erinnerung ist er plötzlich nicht mehr stolz. Er denkt an seinen toten Freund und starrt mit leerem Gesichtsausdruck auf den Sessel gegenüber. Sie wirft noch ein paar Scheite ins Feuer: "So ist das immer wieder. Sie verpassen mir einen Tritt, wenn ich darauf zu sprechen komme, machen Sie sofort einen Rückzieher. Sie werfen mich mit dem 176
Ohrenarzt, dem Sie einen Kunstfehler anlasten, in einen Topf. Ich habe Ihnen doch schon mal gesagt, dass ich nicht so wie die anderen Ärzte bin. Ich bin nicht jemand, der Ihnen Ihre Krankheiten wegnehmen kann ... Was geht in Ihnen vor, wenn ich so konfrontativ mit Ihnen spreche?" Er sucht in ihrer Stimme eine Spur von Unsicherheit. Doch da ist nichts. Nebenan geht das Telefon. Sie kriegt aber nicht mit, wer gerade auf den Anrufbeantworter spricht. Carlheinz Roth vielleicht? Gestern hat er sich drei Mal gemeldet, heute schon zwei Mal. Immer bat er um ihren Rückruf. Sie hat es nicht geschafft, ihre Karten auf den Tisch zu legen. Erst ist Koritzius viel zu sauer, um zu antworten. Schüttelt nur den Kopf. Dann kriegt er doch etwas heraus. "Ich ... Ich schalte innerlich ab", sagt er wie im Schlaf. Hans-Werner Koritzius ist wütend, weil er fühlt, dass sie einen Ambo gelandet hat. Jetzt spürt er wieder den Druck auf der Blase. Eine Bluttransfusion hat er nicht zu erwarten. Wie auch, sie wartet selbst darauf. "Sie schalten also innerlich ab." An der Decke dreht ein Ventilator seine Runden. Ziemlich erfolglos. Da ist die stickigschwüle Luft der Großstadt. Da ist auch das Klima in diesem Raum. Es hat sich unter den Nullpunkt 177
abgekühlt. "Ich merke, dass Sie heute sehr aggressiv sind." Er feuchtet die Lippen von innen an und fragt ziemlich unwisch: "Wie kommen Sie darauf?" Sein Gesicht hat eine rote Färbung angenommen. Dabei wollte er ihr heute sagen, dass er froh ist, dass es sie gibt. Mist! Jetzt verdrängt er ganz schnell diesen Gedanken. Auch für seine Biografie ist heute keine Zeit. "Das spüre ich." Einen Herzschlag lang sieht sie in seine verwirrten Augen. Die Kunstpause macht ihm Angst. "Haben Sie sich schon mal die Frage gestellt, wie groß ihr Interesse an anderen Menschen überhaupt ist, wenn Sie bei einer kritischen Position sofort abschalten?" Hans-Werner Koritzius keift: "Was soll das schon wieder?" Seine Stimme brodelt knapp unter der 100-Grad-Marke. Für sie klingt das wie das Bellen im Keller. Sie lässt ihn zappeln und schweigt. Schließlich druckst er etwas herum: "Nunja, nicht sehr groß." Und lässt den Kopf hängen. Er hat gemerkt, dass er hier keine Punkte sammeln kann. Aber er hofft auf den Gaukler. der sie im Zylinder verschwinden lässt. Oder wenigstens den Zeiger der Uhr vorstellt. Die Frau mit den mittelmeerblauen Augen bleibt hartnäckig am Ball. Sieht, dass ihr Patient inzwi178
schen auf seine Füße starrt. "Das bedeutet, alle anderen Menschen sollen sich voll und ganz auf Sie einstellen. Wenn nicht, sind sie der letzte Dreck." Seine herabhängenden Schultern geben die Antwort. Er wirkt total geschlaucht. Ansprüche senken? Für ihn bisher kein Thema. Sein hastiger Atem dringt an ihr Ohr. "Sie verpassen allen Menschen einen Schlag in die Magengrube, und wundern sich dann, dass diese Menschen sich von Ihnen zurückziehen. Wie ihre ehemalige Kollegin, die jetzt fortgezogen ist. Einmal hat sie sich mit Ihnen getroffen ..." "Das ist mir ein totales Rätsel." Warum habe ich ihr nur davon erzählt? Ihre offenen Worte haben seine Pläne von einer Keilerei durchkreuzt. Seine Stimme ist noch immer belegt von den Strapazen des Morgens. Aber langsam spürt er wieder etwas Boden unter den Füßen. "Das liegt inzwischen ein halbes Jahr zurück. Ich habe sie immer und immer wieder angerufen. Aber sie will sich einfach nicht mit mir treffen." Kindergeschrei dringt wieder durch die Wände. Untermalt vom Brummeln eines Alkis. "Haben Sie sich mal gefragt, warum das so ist?" Während er noch nach einer Antwort sucht, kommt seine Therapeutin ihm zu Hilfe. "Die Frau hat bestimmt gemerkt, dass Sie gar nicht an ihr ernsthaft 179
interessiert waren. Sondern mit ihr nur Ihre Frau betrügen wollen." Starker Tobak! Erst nach einigen Minuten fängt sich seine Stimme wieder: "Ich habe doch nur mit ihr telefoniert ..." "... So etwas merkt man auch am Telefon ... Sie sind auf dem besten Wege, ein total einsamer Mensch zu werden." Das hat gesessen. Er fixiert die Uhr an der Wand: die Stunde ist um. Endlich. Dr. Regine Schwirtz schaut ein paar Augenblicke an die Decke. Das scheint zu ihren Riten zu gehören. "Das war heute die letzte Stunde bei mir. Ich kann Sie nicht weiter behandeln", sagt sie, als sie wieder seinem Blick begegnet. "Warum? Warum nicht?" keucht er. Doch er wird nicht erlöst. "Ich habe Ihnen die Adressen von einigen Kollegen hier in der Nähe aufgeschrieben", sagt sie und holt einen Zettel aus ihren Stretch-Jeans. Mit entschlossenem Gesicht geht sie in den Raum, in dem der Anrufbeantworter steht. "Blöde Kuh!" raunzt er ihr hinterher, geht und schmeißt die Tür hinter sich zu. *** Vor zehn Minuten ist Hans-Werner Koritzius aus der Praxis von Regine Schwirtz gekommen. Mit 180
knallrotem Gesicht. Vor Zorn, Schmerz und Hilflosigkeit. Weil er wieder einmal nicht das sagen konnte, was ihm auf der Seele liegt. Aber noch schlimmer ist der Rausschmiss. Darüber grübelt er auf dem Weg zum Chicago Meatpackers in der Hahnenstraße. Nach ein paar Regentropfen gibt sich der Himmel wieder fügsam. Aber die Bürgersteige der Straße sind leer. Das offizielle Köln ist im Freibad oder irgendwo in der Mittagspause. Hans-Werner Koritzius setzt sich an die Bar und blickt angestrengt an die Decke. Dort dreht eine Modelleisenbahn polternd ihr Runden. Elvis Presley wagt sich mit An American Trilogy aus dem Fenster. Schweiß rinnt dem Polizisten über die Stirn. Sein Glas hält er von sich weg wie einen Eimer, dessen Inhalt er nicht traut. "Noch einen", sagt er zu dem Athleten hinter der Bar und versinkt sofort wieder in seine Grübeleien. Bin ich nicht therapiefähig? Nein! Aber sicher ist er sich nicht. "Hallo", haucht die Stimme neben ihm. Wie immer klingt sie etwas atemlos. Die Stimme gehört seiner Frau Bärbel, die verwaschene Jeans, und ein legeres T-Shirt zu ihrem fehlenden Make-up trägt. Sie ist wieder ein voller Erfolg. Doch seine Miene hat mit Bestsellerlisten nichts im Sinn. "Hallo", kehlt er, nachdem er geschluckt hat. Seine Hände zittern heftig, als er das Glas wieder abstellt. 181
Das Gesicht im Spiegel hinter der Bar kommt ihm gespenstisch vor, wie ein geschminkter Tattergreis auf dem Sterbett. "Wartest du schon lange auf mich? Ich habe keinen Parkplatz bekommen", berichtet sie mit vollendeter Freundlichkeit. "Warum bist du nicht an einem Tisch?" Längst hat sie bemerkt, dass er wie angenagelt neben ihr sitzt. Sein Gesicht ist total gelangweilt, aber in seinen Augen zuckte es, als sie vorhin zu ihm kam. Jetzt sind sie wieder ausdruckslos. "Alles belegt." Mit seinem Gesichtsausdruck will er alle ihre Wünsche, ein Gespräch anzufangen, sofort beiseite wischen. Doch darauf lässt sie sich nicht ein und macht den Vorschlag: "Dann lass uns doch woanders hingehen." "Nein! Mir gefällt es hier sehr gut", tönt er und verfällt in den Jargon eines nicht überzeugenden Strafverteidigers. Eine Zeit lang sagt er überhaupt nichts. Sie lässt ihn nicht lange gewähren: "Irgend etwas stimmt doch nicht mit dir. Ich spüre es, oder?" In ihren Augen steht Ratlosigkeit. Er wedelt mit der Speisekarte, um sich etwas frische Luft zu verschaffen und sagt ohne Überzeugung: "Nichts." Seine Frau beißt sich auf die Lippen. Er fasst sich mit dem Daumen unters Kinn: "Warum nimmst du mich in die Mangel?" Seine Pose von gespielter Gleichgültigkeit sieht nicht aufgesetzt aus. Aber dann veren182
gen sich seine Augen und er schüttelt theatralisch den Kopf. "Das finde ich überhaupt nicht komisch." Sie fragt sich wieder, wie es kommt, dass er ihr immer öfter völlig fremd ist. Sie kann immer weniger die Frage beantworten, ob er überhaupt noch mit ihr zusammen ist. Und sie mit ihm. "Wir sollten mehr miteinander reden." Ihre Hände nesteln am Hocker herum. Sein Gesicht verrät ihr, dass er daran kein Interesse hat. Damit will sie sich nicht zufrieden geben. "Kannst du nicht einfach Urlaub nehmen, dich ins Auto setzen und mit mir wegfahren?" Zielstrebig lässt er kein Fettnäpfchen aus. "du hast keine ..." Er führt den Satz nicht zu Ende, denn er glaubt nicht, dass er die richtigen Worte fände. "Geht nicht!" Einen Moment erstarrt er bei dem Geräusch, das die Modelleisenbahn unter der Decke macht. "Schade", sagt sie niedergeschlagen, will aber nicht so schnell die weiße Fahne zeigen. Neuerdings ist er immer öfter emotional abwesend. Und dann wieder überschwänglich und blendend gelaunt. "Hans-Werner, dein Tisch ist jetzt frei", schnarrt es aus einem Lautsprecher. In dem Dean Martin gerade das Erbe vom King antreten will. Die Stars folgen gnadenlos aufeinander.
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"Bist du das? Woher kennen die überhaupt deinen Vornamen?" will sie wissen. Ihre Augen tanzen wie aufgeregte Libellen. "Den habe ich vorne angegeben", sagt er andeutungsweise. Den musste ich leider hier angeben, soll das bedeuten. Dem Barkeeper drückt er 20 Mark in die Hand: "Der Rest ist für den Croupier", lacht er, als habe er etwas wahnsinnig Komisches gesagt. Der gute Samariter ist total verdutzt. Er hakt die Brille von den Ohren, haucht sie an, reibt sie mit einem Taschentuch ab und schüttelt dabei den Kopf. "Sollte ein Scherz sein", gluckst die Frau verbindlich. "Jaja", brummt der Mann hinter der Theke. Und hakt die Brille wieder hinter seine Ohren. Mit dem Taschentuch tupft er sich die Stirn. Dann faltet er es zu einem kleinen Viereck zusammen und steckt es ein. Ein Kupfergelockter führt sie an einer Ansammlung besetzter Tische vorbei, zu einem freien direkt am Fenster des Restaurants für Holzklasse-Passagiere. Bärbel Koritzius folgt ihm mit flottem Schritt, ihr Mann zockelt hinterher. Wie ein Fußballer nach einem missglückten Strafstoß. Der Kellner reicht die Karte. Doch sie wirft keinen Blick darauf. Sondern mustert ihren Mann: Wann hat er seine ganze Lebendigkeit verloren. Sie kratzt 184
sich an der Stirn: "du hast doch was?" Würde er auspacken, wäre sie wütend mit ihm. Aber auch erleichtert. Sagt sie sich wenigstens. Aber so ist sie ratlos. Und immer auf der Suche. Das Gesicht ihr gegenüber zuckt für den Bruchteil einer Sekunde wie ein Eisenbahnsignal. Er trinkt hastig einen Schluck. Erst will er Kopfschmerzen vorschützen, dann besinnt der in seinen Gefühlen total Verkümmerte sich: "Diese Schwirtz ... diese Seelenklempnerin, die hat mich heute einfach rausgeworfen", sagt er, als erläutere er gerade die Überhangmandate im Bundestag. Sein Blick hat sich auf sonnengebräunte Mädchen auf der Terrasse gesenkt und bleibt dort liegen. Auf dem Seitenstreifen hält der schlechte Nachbau eines englischen Sportwagens seinen Mittagsschlaf. So wird er seiner Aufgabe nicht gerecht, für das Haus der 1000 Pfeifen als Blickfang zu dienen. Sie schüttelt den Kopf: "Rausgeworfen? Warum denn das?" "Keine Ahnung", sagt er mit grausamer Selbstbeherrschung ganz ruhig. Und zuckt nicht mit den Wimpern. Aber die Ringe unter seinen Augen haben Nachwuchs bekommen. Nat King Cole wetteifert jetzt mit dem Zug an der Decke. Der Kupfergelockte kommt mit einem Block zurück. Die Beerdigungsmiene bestellt sich 185
ein Filet Steak, dazu Potato Bits und ein Samuel Adams. Er schreit fast, um das Getöse in seinem Hirn zu übertönen. Seine Frau ordert ein Pastrami Sandwich, einen Rainbow Salat und eine Flasche Mineralwasser. "Warum denn das?" wiederholt sie. "Psychoklempner sind Süchtige", ereifert er sich plötzlich. "Sie können nur leben, wenn andere Menschen am Boden liegen. Aber zum Glück trifft das auf mich nicht zu." So ganz kann sie ihm nicht folgen, was das mit dem Rausschmiss zu tun hat. Darum zieht sie die Brauen hoch. Er kommt ihr zuvor: "du hättest mal ihre Hände sehen sollen, als sie mir das gesagt hat." Du hättest vorhin mal deine Hände sehen sollen, denkt sie. "Hätte ich?" "Hättest du", hört er sich sagen, während er einen Baum fixiert, der draußen Schatten spendet. Dort sind genügend Tische frei. Warum hat er sie vorhin nicht entdeckt? Schnell fügt er hinzu und steigert sich regelrecht in eine Empörung hinein: "Keinen Grund hat sie mir genannt. Keinen!" "Und darum hast du so eine schlechte Laune", erkundigt sie sich. Und bildet sich nicht ein, dass er nur an Dr. Regine Schwirtz denkt. Seit elf Jahren sind die beiden verheiratet. Vor sechs Monaten bezog sie ihr eigenes Schlafzimmer. 186
Nachdem sie ihn zu einer SM-Fete begleitet hat. Nach dem Umzug hat er sie gewarnt, wenn sie es mit ihm aufnehmen wolle, sei das ein total ungleicher Kampf. Denn sie würde verlieren. Obwohl sie seit diesem Abend vorgibt, sein Schicksal sei ihr gleichgültig, achtet sie doch mit Argusausaugen auf jeden seiner Schritte. Immer stärker wächst aber ihre Entschlossenheit, sich von seinen Ratschlägen zu lösen und sich auf eigene Gefühle zu verlassen. Nach einer alten Gewohnheit fährt er sich mit dem Handrücken über den Mund und lügt: "Stress im Büro. Aber wie soll ich dir das als Laien erklären?" Wie ein Felsbrocken bricht plötzlich alles über ihn herein. Die Frau im Reiteranzug, ihre Peitsche, Demütigungen, Demütigungen, Demütigungen...Ihr Lachen kann seine Träume nicht wegspülen. Er trägt weiter seine Haut zu Markte. "Lass mich in Ruhe", fügt er unwirsch hinzu. Und scheint wieder in seine Träume zu versinken, sieht das Dilemma: Wird morgen wieder eine Leiche gefunden? Grausam zerstückelt? Von Tag zu Tag steigt der Kesseldruck weiter an. Und er findet keinen Zuhörer. Oftmals ist er in den letzten Monaten nach Feierabend nicht nach Hause gefahren, weil er den stummen Vorwurf in ihren Augen nicht ertragen konnte. Immer öfter erträgt er sie nur als Test für seine Gelassenheit. 187
"Hast du inzwischen eine Ahnung, was sich in Mülheim abgespielt hat?" Bärbel Koritzius lässt ihre Stimme sachlich klingen und zwingt sich, ihren Ärger herunterzuschlucken. Mit etwas zitternder Hand wischt er sich über die Stirn. Am liebsten würde er jetzt an die Decke gehen. Denn sie scheint wieder jeden Zoff zu ignorieren. "Nein. Das gibt alles keinen Sinn." "Vielleicht waren das mehrere Psychopathen?" Ihre Stimme zittert etwas. "Das ist wirklich das Letzte...So gehen Irre nicht vor. Sie sind immer Einzelgänger, schließen sich nie zusammen und planen gemeinsam einen Mord. Unmöglich! Das solltest du eigentlich wissen." Aber er ist sich lange nicht so sicher, wie seine Stimme klingt. In ihren Augen macht er sich immer häufiger zu seinem eigenen Gegenspieler. "Ach so", sagt sie und ist enttäuscht. Mit kaltem, abschätzenden Blick sieht er auf seine Frau: "Gibt es sonst nichts, was dich beschäftigt?" Dabei würde er gerne über das Durcheinander in seinem Kopf reden. Das wäre ein Fehler, geht es ihm durch den Kopf. Ich kann mich nicht so demaskieren. "Also, was läuft bei dir so ab?" Dabei hat er eine Faust geballt, als wolle er den Tisch schlagen. 188
Bärbel unterdrückt den Ärger, der angesichts seiner Worte in ihr aufsteigt. "Ich kann vielleicht bei der Julie anfangen. Die macht eine Agentur auf", berichtet sie mit Stolz in der Stimme. "Hmhmmm", murmelt er, fügt ein "Soso" hinzu. Längst hat er abgeschaltet. Obwohl er einen Themenwechsel vorgeschlagen hat. Viel lieber wäre er jetzt allein. Oder auch nicht. Im ersten Moment bekommt sie seine Abwesenheit nicht mit. "Die will in der Hauptsache PR machen." "Hmhmmm." Ihm fehlt total das rechte Fingerspitzengefühl im Umgang mit Leuten, die um seine Aufmerksamkeit kämpfen. Seine Antworten sind immer knapper geworden. Er scheint gefährlich nahe dran zu sein, die Buddel mit seinen Boshaftigkeiten ganz zu entkorken. Immer wieder späht er mit seinen überschatteten Augen hinter der Brille aus dem Fenster, als ob er auf der Hahnenstraße eine Antwort finden könnte. Die feuchten Handflächen wischt er sich an der weißen Papierdecke ab. Schon zum dritten Mal. Ihn verunsichert die Atmosphäre lähmender Ruhe am Tisch, darum begleitet das Trommeln seiner Finger den Gesang von April Stevans. Seine Frau sucht nach einer Möglichkeit, ihn aus seinem Grübeln zu reißen. Nichts fällt ihr ein. Außer dem stummen Vorwurf. 189
Am Nachbartisch lacht ein Schlaumeier aus Weißderhimmel irgendwo im Süden für zwei. Und lässt dabei seinen Vertreterkoffer nicht aus den Augen. Seine Begleiterin zeigt ein zaghaftes Lächeln und hat die Stimme mitfühlend gesenkt: "Muss das sein? Spätestens jetzt hat Bärbel Koritzius mitgekriegt, dass ihr Mann überhaupt nicht richtig zuhört. "Du denkst, die ganze Welt liegt dir zu Füßen, und alle finden dich toll", teilt sie aus. "Aber ich finde dich im Moment einfach beschissen!" Ein Hamstergesicht bringt das Essen. Die Miene von Koritzius zeigt Erleichterung. Er weiß schon die ganze Zeit nicht mehr, wie er ihren Blicken ausweichen soll. Seine rechte Hand hat sich um die Ketschup-Flasche gelegt, als ob er Henker spielen wolle. Sein Adamsapfel springt hoch und nieder: "Für deinen Zoff bin ich heute nicht aufgelegt, aber ..." Er lässt seine Worte absichtlich in der Luft hängen, denn er will ihr Angst einjagen. Einen Moment reagiert sie überhaupt nicht, und sie fragt sich, wann er ihr überhaupt mal zuhört. Kaum haben die beiden mit dem Essen angefangen, wird er wieder ausgerufen: "Hans-Werner, dein Telefonat ist da", tröpfelt das Quaken aus dem Lautsprecher. Seine Augen sprühen Erleichterung. 190
"Ich habe heute noch einen wichtigen Termin", sagt er, beugt sich über den Tisch, steht auf und verschwindet mit entschlossener Miene und einem Lächeln. Mit geballten Fäusten eilt er die Treppe hoch, nimmt gleich drei Stufen auf einmal. Nur er weiß, was ihn erfreut. Es ist der erwartete Anruf von Carlheinz Roth. Doch.... *** Wortlos sitzen die beiden in der Taxe und fahren nach Hause. Hans-Werner Koritzius kann sich nicht erklären, warum Roth das von ihm selbst vorgeschlagene Treffen abgesagt hat. Seine Frau kann sein Schweigen nicht deuten. Schließlich erzählt sie ihm irgendetwas, was eine Freundin in London erlebt hat. Aber er hört überhaupt nicht richtig zu. Als sie sich an einer roten Ampel über frauenfeidliche Fotos auf Plakaten aufregt, wird er wach und brummt etwas von "Betschwester-Prüderie" . Ein Meisterstück unfreiwilliger Komik. Auf einen Fernsehabend hat er keine Lust. Und auf Diskussionen schon gar nicht. In Gedanken beschäftigt er sich mit dem Tag. Er denkt an die Leichenteile in Dellbrück, den viel sagenden Anruf von Roth, den Rausschmiss der Psychotante, das Treffen mit seiner Frau. Da eilen seine Gedanken noch weiter zurück. Nach Rodenkirchen. Vielleicht wird 191
er sie einmal wieder sehen. Vielleicht? "Ich hole meinen Wagen aus der Stadt", erzählt er ihr vor der Haustür und sagt dem Fahrer: "Zum Zülpicher Platz." Dabei stößt er einen hörbaren Seufzer aus. Schweiß tritt ihm auf die Stirn. Nach einigen Metern Fahrt ändert er das Ziel: "Fahren Sie nach Ostheim." *** Von der Frankfurter Straße in Köln-Ostheim kann Hans-Werner Koritzius das zehnstöckige Hochhaus mit der schmuddeligen Fassade in Augenschein nehmen. Er trommelt mit den Fingern auf dem Armaturenbrett und gibt sich gelangweilt. Bei einem Blick durch das Fenster bemerkt er, dass sie nach rechts in eine enge Parallelstraße abbiegen. Der Fahrer drosselt sofort das Tempo, da überall auf der Fahrbahn Kinder spielen. Als er in der Gernsheimer Straße aus der Taxe steigt und die paar Meter zum Eingang des Hauses 17 geht, schätzt er, dass hier mindestens 150 Menschen mehr oder minder hausen: Die Briefkästen sind aufgebrochen, in der Eingangstür fehlt eine Scheibe und Schellen mag es sicher in der Vergangenheit mal gegeben haben, wovon noch einige Drähte zeugen. Er fragt sich, ob er in so einer Umgebung leben könnte. "Viel Spaß", ruft ihm der Taxifahrer hinterher und strahlt ihn mit seinem offenen Gesicht an. "Naja", 192
brummt Koritzius und blickt dem Ford nach, der langsam wendet und dann verschwindet. Er bildet sich viel auf seine guten Nerven ein, aber jetzt ist er drauf und dran, etwas hektisch zu werden. Das Unerwartete verleiht seinem Besuch einen Kitzel von Gefahr und Abenteuer. Er füllt seine Lungen mit Marlboro und geht zum Eingang. Drinnen hält er sich an der Wand fest, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Seine Schläfen pochen. Einen Moment weiß er nicht, was er tun soll. In den Aufzug steigen?...Die Türschilder hier unten absuchen? Mechthild Orden wohnt zum Glück im Erdgeschoss. Da er auch hier keine Klingel findet, klopft er. Aber nichts rührt sich. Und so pocht er gegen die Tür. Schließlich geht sie auf und eine Kastanienbraune in einem kakifarbenen Jogginganzug späht ihn an: "Waren wir verabredet? Ich habe total verschlafen." Sie trägt heute eine randlose Brille, hinter der sich ein müdes Augenpaar verbirgt. "Macht nichts", antwortet Koritzius mit betonter Höflichkeit und umschließt ihre Hand mit einem kräftigen Griff. "Als Sie nicht kamen, bin ich einfach hierhin gefahren", lügt er. "Jetzt habe ich nur ein paar Minuten Zeit", erklärt sie. "Ich habe gleich noch einen wichtigen Termin." Sie schaut sich den Besucher näher an. Auf sie 193
wirkt er genauso leblos wie eine Gestalt im Wachsfigurenkabinett auf der Reeperbahn in Hamburg. "Was ich mit Ihnen zu besprechen habe, wird auch nicht allzu lange dauern." Ein unangenehmer Singsang bestimmt seine Antwort. Während ihre Augen noch auf ihn ruhen, geht ihr eine Frage durch den Kopf: War ich wirklich mit ihm verabredet? Die Privatdedektivin sieht an ihm vorbei und deutet auf ein Zimmer am Ende des Ganges: "Kommen Sie herein. Dort ist mein Arbeitszimmer." Dann geht sie voran. Vier Türen gehen von dem Flur nach rechts und links ab. Er bleibt einen Moment stehen, um einen Blick auf die Einrichtung zu werfen. Über einer Kommode hängt ein übergroßer Spiegel, daneben steht ein Eimer, aus dem ein blauer Schirm guckt. Unter einem Garderobenpaneel hat eine Truhe ein ruhiges Plätzchen gefunden. Alles ist aus Fichte. Das Büro könnte auch als Wohnzimmer durchgehen. Koritzius lässt seine Augen durch den Raum wandern: Der Boden ist mit einem dunkelgrauen Teppich belegt. An allen Wänden stehen Kieferregale, die mit Fernseher, Stereoanlage und Akten voll gestopft sind. In der Mitte hat sich eine hellgraue Polstergarnitur niedergelassen. An einer freien Stelle hängt ein Kunstobjekt - ein mittelmeerblau gestrichener Besen. Mechthild Orden setzt sich auf 194
das 2er-Sofa, er lässt sich auf den Sessel ihr gegenüber nieder. "Schön haben Sie es hier", sagt er leicht bewundernd. "Okay", antwortet sie, "also, was wollen Sie wissen?" Ein geschäftsmäßiger Ton hat sich in ihre Stimme eingeschlichen. Am liebsten möchte er mit ihr über alles Mögliche reden, darum reißt er sich zusammen und legt mit der Befragung los: "Was haben Sie eigentlich gegen Pilotenspiele? "Ha!" lacht sie. "Was habe ich eigentlich dafür?" Mechthild Orden runzelt die Stirn. Sie scheint sich erst ihre Wort zurechtzulegen, ehe sie loslegt." "Nun", beginnt sie schließlich, "dabei gibt aber einen Markt dafür." Der Polizist neigt den Kopf: "Was heißt das?" "Über 500 Spiele grassieren in der Bundesrepublik. Und es gibt eine Hochrechnung von einem obskuren Verband, dass ungefähr eine Million Bundesbürger bei diesen Spielen mitmachen." "Und was ist mit Pik7?" "Was soll mit Pik7 schon sein? Dieses Spiel ist von cleveren Computerspezialisten ausgedacht worden." Sie steht auf, geht zu einem Schrank, zieht eine Schublade auf und nimmt ein Blatt heraus, das voll mit Zeichnungen ist. "Das ist das System von Pik7. 195
Sie steigen mit 300 Mark ein, 100 Mark kriegt der Vermittler, mit 200 Mark durchlaufen Sie eine Startliste. Das kann innerhalb von wenigen Stunden gehen", sagt sie und nippt an einem Drink. Er verspürt auch Durst, bringt aber keine Frage über die Lippen und hört weiter zu: "Dann haben Sie 200 Mark Gewinn gemacht. Toll?" fragt sie rhetorisch. "Nur scheinbar. Ausgezahlt bekommen sie nur 50 Mark, mit dem Rest geht es in das Automatik-Team 1. Allerdings nur mit 80 Mark, 70 Mark sind wieder Bearbeitungsgebühr. Ist auch diese Pyramide 2 überstanden, haben Sie 600 Mark Gewinn. Ausgezahlt werden nur 150 Mark. Und jetzt wird es kompliziert. Sie gehen in Team 3, ein Teil wird aber wieder in Team 1 investiert..." "Und warum das Ganze?" fragt er und erhascht einen flüchtigen Blick von der Landschaft, die hinter dem Haus in der Sonne badet: eine holprige Wiese, ein kleiner Hügel und ein dichter Wald. Für einen Themenwechsel fehlt ihm der Mut. "Bei jedem Pilotenspiel kommt es darauf ein, das Spiel möglichst lange am Leben zu erhalten. Sie als Teilnehmer müssen ständig neue Mitspieler suchen, sonst bricht das System zusammen. Klar? Bei Pik7 fällt alles etwas einfacher aus." "Also hat man hier den Stein des Weisen gefunden?" Ihm brummt langsam der Kopf. 196
"Bestimmt nicht. Nur ausgekochter", knurrt sie verächtlich. "Denn bei jeder Reinvestition fallen Bearbeitungsgebühren an. Zum Schluss sind es 32 mal 30 Mark. Da kommt eine Menge Holz zusammen." "Sie haben einiges herausgekriegt..." "...Ich habe jede Menge Details über Pik7. In meinen Beruf kommt es auf Fakten an." "Und woher stammen diese Infos? "Bei manchen anderen Infoabenden müssen sie am Ende einen Zettel unterschreiben, dass sie nichts an die Öffentlichkeit geben", erklärt sie. "Die Veranstalter haben eine panische Angst, dass ihnen jemand auf die Schliche kommt." "Und bei Pik7 ist das anders?" "Ja. Der Verein ist cleverer. Dort kriegen sie von einem so genannten Infoleiter alle Informationen. Natürlich nur die, die für Pik7 sprechen", lacht sie und streicht über die drei silbernen Ringe, die an den Fingern der rechten Hand stecken. "Ein wenig kapiere ich so ein Spiel. Wissen Sie auch, was ein Infoleiter so verdient?" "Um die 40 Mark pro Teilnehmer. Nicht wenig. Aber dafür kriegt so ein Infoleiter auch den ganzen Zorn der Leute mit, die irgendwann in die Röhre gucken", knurrt sie verächtlich. Das reicht! HansWerner Koritzius gibt sich ein Zeichen zum Aufbruch. Er schlägt die Beine auseinander, schießt in 197
die Höhe und entblößt seine Raffzähne: "Danke für die Informationen. Ich muss jetzt nach Hause." Seine Stimme zittert etwas. Er fährt nur sehr widerwillig, obwohl er ein Ziel erreicht hat. *** Die Sonne ist noch nicht ganz untergegangen. Aber der Wind, der aufgezogen ist, hat etwas Abkühlung gebracht. Hans-Werner Koritzius kommt aus Ostheim: zieht zu Hause die Jalousinen herunter ,trinkt sein Glas Osborne Veterano in einem Zug, schaltet den Fernseher an und legt sich auf die Couch. Nach einigen Minuten wischt er sich mit dem Handrükken über den Mund und sagt unvermittelt: "Ich wünschte, wir könnten morgen in Urlaub fahren." Seine Frau überlegt kurz und lächelt ihn nervös an. Dabei umklammert sie die Teetasse so fest, dass die Knöchel weiß hervortreten. "Du... du erstaunst mich", antwortet sie verblüfft, "ich wünschte, wir könnten irgendwo einen Neuanfang machen." Aber jeder für sich, ergänzt sie in Gedanken. Der Detektiv fummelt an seiner Brille herum: "Tja, vielleicht können wir das wirklich." Ein Sekundenlächeln huscht über sein Gesicht. Mit den Fingerspitzen reibt er sich die Schläfen. Sie blickt erschrocken auf - wie ein Reh in der Nacht: "Was?" Ein Gefühl von Unsicherheit ist in ihrer Stimme. "Na ja, nicht jetzt", stellt er mit leicht schwerer Zunge fest und 198
schreibt sich selbst wieder den Part des groben Klotzes zu. "Aber vielleicht irgendwann einmal." Plötzlich klingt er richtig gereizt und verteilt Backpfeifen: "du kannst ja schon mal kräftig davon träumen." Jetzt behandelt er sie wieder auf eine verletzende, beiläufige Weise, als würde sie sich ganz zufällig in seinem Leben aufhalten. Sie spürt es. "Ach so", zieht sie die Mundwinkel herunter. Ihr großes Problem ist die Angst. Die Angst davor, seinen Rest von Zuneigung ganz zu verlieren und alleine dazustehen. Immer öfter sind ihre Träume nur halbe. Trotz der zwei Jahre Psychotherapie, von der er nichts weiß. Eine Zeit lang sitzen sie jetzt stumm vor dem Bildschirm. Talkshow aus Dresden. Er blickt mehrfach in Richtung des Telefons. Genüsslich streut sie Salz in die Wunde und sieht ihn scharf an: "Erwartest du noch...eine Absage?" Er schüttelt den Kopf, aber sie vermutet, dass er dringend darauf wartet, von einem Artgenossen angerufen zu werden. Da ist auch wieder das diabolische Grinsen, das sich hinter ihrer ehrpusseligen Miene versteckt. Bärbel Koritzius hält es für klug, das Thema zu wechseln. Und überlegt. Nach einer ganzen Weile fällt ihr ein, was sie schon am Nachmittag von ihrer Freundin Cordula Grundig erfahren hat. "Der Armin hat einen dubiosen Kettenbrief gekriegt." 199
"Kettenbrief?" fragt er und schaut aus dem Fenster hinaus in den Garten. Kettenbrief - damit konnte er seinem Ruhmesblatt vielleicht einen goldenen Zakken hinzufügen. "Ja. Er soll Glück bringen. Darum soll der Junge in 96 Tagen 20 Kopien an andere Kinder weiterschikken... "...Bei Kettenbriefen geht es doch sonst immer ums Geld." Er starrt sie wie gebannt an. "Hier auch. Er muss die Kopien verschicken und 20 Mark auf ein Konto überweisen, damit ein Junge, der diesen Brief weggeworfen hat, nicht stirbt." Sie spricht, als wäre sie selbst Opfer eines solchen Psychoterrors geworden. "Die Cordula ist ganz aufgeregt. Du weißt doch, wie labil ihr Sohn ist, jetzt, wo ihr Mann abgehauen ist. Ja?" fragt sie mit einem Glitzern im Blick, das er kennt. Der Polizist fasst die Nasenwurzel mit Zeigefinger und Daumen an: "Die Sache mit dem Kettenbrief stinkt doch zum Himmel!" Sie will auf keinen Fall Milch verschütten: "du hast Recht... Kannst du dich nicht darum kümmern?" Damit stürzt sie sich wieder einmal selbst in absolute Düsternis. "Worum?" "Um die Kettenbriefe...Dachte ich." Ihre Augen sind rot und weit aufgerissen. 200
Hans-Werner Koritzius schnellt hoch, atmet tief ein: "Ich??? Ich bin doch nicht irgendwer! Ich bin bei der Mordkommission. Das sollte auch deine Freundin wissen." Du bist wieder auf dem Kriegspfad, sagt sie lautlos und wechselt wieder einmal das Thema: "Unsere Garage ist ständig zugeparkt. Kannst du nicht mal ein Verbotsschild an die Tür nageln? "Ich?" Dummes Geschwätz, entscheidet Koritzius. Längst sitzt er wieder und legt den rechten Knöchel auf das linke Knie. Plötzlich kommt ihm der Gedanke, dass das Interview über die Morde vielleicht nur jeden Fahnder in die Irre führen soll. Aber warum? "Ist das so ein großes Problem?" Als würde das nicht reichen: "Oder kanst du das etwa nicht?" Er bleibt ganz ruhig: "Was?...Ein Schild? Das ist Sache des Vermieters. Dafür ist der da. Schließlich kann er nicht nur Miete kassieren." Warum macht die Psychotante so ein Interview. Sie besitzt das Talent, mit jedermann Smalltalk führen zu können. Aber in ihrer Ehe schafft sie es einfach nicht, ihn fühlen zu lassen, dass er nicht einsam ist. Auch die richtige Tonlage scheint nicht auf ihrer Wegstrecke zu liegen. "Also, muss ich mich wieder darum kümmern, ja?" 201
"Was?... Das ist ja nicht zu viel verlangt." Schlafwandlerisch kann er sich in Schwierigkeiten manövrieren. "Du solltest den Hauswirt daraufhin ansprechen. Oder soll ich das auch noch machen?" Er kann nicht seinen Stress verbergen. Schweißperlen stehen ihm auf der Stirn. Hängt sie auch bei Pik7 mit drin? "Nein, nein. Das mache ich schon", entscheidet sie und scheint froh zu sein, dass er ihr gesagt hat, was sie tun soll. Nach einer ganzen Weile holt sie aus: "du", sagt sie. "Was ist?" antwortet er, lässt jetzt seinen Blick am Fernseher kleben. Tausend Gedanken schießen ihm durch den Kopf. Schwirtz? Pik7? Roth? Alles gibt keinen Sinn. "Du fühlst dich übergangen, ja? Im Büro, ja?" Er starrt sie wie gebannt an. "Was? fragt er unsicher nach einer Pause. "Nichts dergleichen. Außerdem habe ich jetzt keine Lust auf Stress." Auch wenn er ihn hat. Beiden ist klar: Alles ist nicht mehr so wie vorher.
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11. Sonntag, 26. Juni "Dat jibbt ja doch nix", stöhnt Heinz Rothermund und streicht sich mit seinen nikotinbefleckten Fingern übers Kinn. Der Veteran streckt sich behaglich, als ob das Motzen sein einziger Spaß auf Erden wäre. Carlheinz Roth reagiert nicht, er hat die Füße auf den Schreibtisch gelegt und ist in die Kölnische Rundschau vertieft. "Jibbt nix", wiederholt Rothermund, Pessimismus scheint sein einziger Frühstücksbelag. gewesen zu sein. Roth atmet scharf aus, deutet so an, dass die Grenzen seiner Gutmütigkeit erreicht sind. Und sagt in seiner schnörkellosen Art: "Stimmt!...Wenn Sie hier die Zügel in der Hand hätten. Heute geben Sie sich wieder alle Mühe so zu wirken wie jemand, dessen Tage bei Punkt! gezählt sind. Heinz Rothermund neigt sein Ohr wie ein Schwerhöriger. Längst hat es Roth aufgegeben, von dem Fotografen ein Lächeln zu erwarten. Denn diesen Gefallen tut der gebürtige Berliner seiner Umwelt nur höchst selten.
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Der Pessimismus von Heinz Rothermund drückt nicht auf die Laune von Carlheinz Roth. Bruchteile von Sekunden später ist der Prinzipal mit seinen Gedanken soundso ganz woanders. Vor zwei Tagen musste er Hans-Werner Koritzius anrufen und eine Verabredung absagen. Wie sollte er Fragen für ein getürktes Interview durchsprechen, wenn er die Mutter der Psychogeburt nicht erreichen kann. Er holt tief Luft und streckt seinen Rücken. Da muss ich durch. "Sie wollten mich sprechen?" Vor ihm steht plötzlich Margot Brehm und hat wieder ihr schlichtes Lächeln aufgesetzt. "Ja, ich habe eine große Bitte", beginnt Roth. Und streift dabei ihre Hand, gepaart mit einem sehnsüchtigen Blick. Sofort strahlt die Redaktionslaborantin wie ein Polarstern: "Bestimmt kann ich die erfüllen." Carlheinz Roth schiebt in seinem Geist die Figuren hin und her, räuspert sich einmal und spricht leise zu ihr: "Wir machen doch gleich eine Telefonaktion." Aufgeregt nickt die Mischung aus Engelshaar und Löwenmähne. Roths Miene zeigt sofort Erleichterung: "Bestimmt gibt es viele Leserinnen, die davon träumen, mit ihm verheiratet zu sein", erklärt er mit einem Anflug von Verständnis. "Ich möchte Sie zum Sprachrohr dieser Frauen machen." Margot Brehm bekommt weitere Instruktionen und schaut Roth hinterher ganz 204
verwundert an: "Ich?" Er berührt ihre Schultern. Wieder soll es ganz zufällig aussehen. "Wer denn sonst? Sie können das!" Sie glaubt ihm. Was bleibt ihr auch anderes übrig? Er ist ihr Chef. Ab 13 Uhr sollen die Leser anrufen. Und mit Roland Worms von der ZDF-Hitparade telefonieren. Roths Erfahrung bei solchen Aktionen: Es werden immer wieder die gleichen Fragen gestellt, wie "Wann kommt die nächste Sendung?" oder "Wie bekomme ich ein Autogramm von Ihnen?" Keine Geschichten für Punkt! Doch der Einfallspinsel will alles unter Kontrolle haben. Bei manchen Telefonaktionen sind die Apparate sogar stumm geblieben. Aber dieser Schwanengesang erreichte nie die Leser. Dann war die Redaktion gefordert. Alle Mitarbeiter mussten annrufen. Natürlich unter falschen Namen. Einige weigerten sich. Trotzdem: Am nächsten Tag ist in Punkt! grundsätzlich von einem Riesenerfolg die Rede. Roth sammelt seine Gedanken: Heute ist der Wochentag, an dem der Mörder immer seine Opfer umbrachte. Lauert er heute wieder einem Menschen auf? Oder kann Roth ihn stoppen? Nur wie, wenn Dr. Regine Schwirtz nicht mitspielt? Pünktlich um 10 Minuten vor 1 kommt Roland Worms zur Tür herein. Gut gelaunt. Wohl in der Zuversicht, bei dieser Aktion wieder eine reiche 205
Ernte einzufahren. In der Hand hält er einen schwarzen Pilotenkoffer. Der so uralt aussieht wie Kunstgegenstände aus einer längst vergessenen Zeit. Draußen ist es 32 Grad im Schatten. Aber die Krawatte sitzt fest unter seinem Kinn. Früher waren mal Rollkragenpullover sein Markenzeichen. "Ich weiß gar nicht, was ihr mit mir vorhabt", lacht er Carlheinz Roth an. "Lass dich überraschen", heißt die Antwort und Roth merkt sofort, dass sein Gast dies überhaupt nicht mag. Der Künstler geht von Schreibtisch zu Schreibtisch. Streckt jedem die Hand entgegen. Schon im Augenblick des Drucks zieht er sie wieder zurück. Distanz wahren. Bloß niemand an sich ranlassen. Dafür unternimmt er einen Versuch, witzig zu sein. Er stellt sich jedem vor: "Hübner. Roland Worms . Ich bin der Fahrer von Freddy Quinn." Die Worte lässt er genussvoll auf der Zunge zergehen. Jürgen Hoffmeister stößt einen Seufzer aus und macht eine Miene, als wäre alles ziemlich albern. Nach einigen Minuten wirft er den Kopf zurück und fängt an zu lachen. Die anderen stimmen ein. Roland Worms dreht sich auf der Stelle um und geht schnurrstracks zur Tür, als würde er davon ausgehen, dass ihm jemand folgt. Er kann eben seine angespannten Nerven in der Nähe von Journalisten nicht verbergen. Seine Lippen bewegen sich wortlos. Das Groß206
raumbüro ist ein einziger Blick voller Verwirrung und Panik. Carlheinz Roth überwindet die allgemeine Lähmung, springt hinterher und glättet die Wogen. Die beiden sehen einander in die Augen, Roland Worms schenkt dem Journalisten ein müdes Lächeln. Geschafft, seufzen beide lautlos. Diesmal hat Don Quichote den Kampf gegen die Windmühlen gewonnen. "Der hat nicht alle Tassen im Schrank", murmelt Jürgen Hoffmeister mit einem bösen Grinsen und lässt offen, wen er meint. Niemand von der Kaste der journalistischen Neunmalklugen beachtet ihn. "Halte endlich deine Schnauze", murmelt Edith Maywald verhalten, während sie sich mit einer Hand fieberhaft im Gesicht kratzt. Kurz danach trinkt Roland einen Kaffee im Stehen. Schwarz. Alle paar Sekunden blickt er nervös auf die Uhr an der Wand. Hoffentlich geht es bald los. Er will nicht rumquatschen. Eventuell noch Fragen nach seinem Privatleben beantworten. Was wäre, wenn... er nicht mehr alle Fäden in der Hand hätte. Nicht auszudenken. Er setzt sich an den Schreibtisch. Führt den Tross an. Wie ein kleiner Feldherr. Die Tasse Kaffee schwingt er vor sich her, als wolle er damit eine Kollekte eröffnen. Das Klingeln der Apparate ist anfangs sehr schleppend. Kleine Schweißperlen 207
tropfen von seiner Stirn. Er spürt wie sein Gesicht heiß wird. "Wovor hast du Angst?" will Uschi Tiger aus Lünen wissen. Roland Worms ist gleich in seinem Element. Er scheint sich wieder mal vorgenommen zu haben, seine Seele zu verbergen. Dabei würde das dem Status einer Berühmtheit keinen Abbruch tun. "Vor Welt-Konflikten, vor Krieg und der Umweltverschmutzung, die lebensbedrohend sein könnte." Carlheinz Roth beißt sich auf die Lippe und sagt nichts. Dafür lächelt er beipflichtend und muss gähnen. "Was denken Sie über Popularität?" interessiert Franz Holleczek aus Dormagen. Oder auch nicht. Roth muss sich zusammenreißen, nicht plötzlich kreischend loszubrüllen. "Es ist nicht allzu schwierig, populär zu werden. Aber populär bleiben, das ist ein Kunststück." Na, toll. Denkt Roth. Die Einfallslosigkeit drückt aber nicht auf seine Laune. Denn die beiden Telefone klingeln längst sturm. Heiko Stenglein kommt ins Zimmer. Mit seinen etwas zu kurzen Hosen und dem frischgebügelten Hemd erinnert er mehr an einen Buchhalter, als an einen Fotografen. Dabei steht er seit 15 Jahren bei Punkt! in Lohn und Brot. Er kommt aus Bergheim. Einem Ort, dem der Kölner Volksmund gerne die Rolle der Ostfriesen zuweist. "Lächeln", fordert 208
Stenglein den Gast auf und macht seine Bilder. Ganz artig spielt Roland mit, schaut nur den Bruchteil einer Sekunde bedrohlich. Erstaunlich. Sonst gehen ihm bei Fotografen schon mal die Pferde durch. Wenn ihm jemand das Profilächeln erklären will, wird er vor versammelter Mannschaft zusammengestaucht. Edith Maywald schreibt fleißig alles mit. Zwischendurch schüttelt sie eine Ernte aus der Packung und hustet einige Rauchsignalwölkchen an die Dekke. Das Gesicht von Roland Worms zeigt den Ansatz von dumpfer Verständnislosigkeit. Ein Ausdruck von Ekel huscht sogar über seine Miene. Carlheinz Roth spürt, wie sich seine Nackenhaare aufrichten. Die Frau scheint es zu bemerken, drückt die Zigarette wieder aus. "Wie wahr", bemerkt Roland trocken. Normalerweise überwindet er seine anerzogene Schüchternheit nur durch Boshaftigkeiten. Carlheinz Roth sind sie bekannt. Jetzt ist Michael Sieckmeyer aus Bergisch Gladbach dran: "Warum machst du keine Platten mehr?" Roland Worms verzieht die Oberlippe zu einem "Oooh" und lacht: "Das Theaterspielen ist mein Beruf geworden. Das Singen mein Nebenjob." Carlheinz Roth spürt, wie sein Gesicht rot anläuft. Zu albern. Er schickt ein Stoßgebet nach oben. 209
Mit Erfolg! Die angebliche Christiane Oestergaard ist dran: "Wollen Sie mich heiraten?" Roland Worms stutzt leicht: "Wie alt sind Sie?" Die Anruferin gerät ins Stocken. "Waaas?" In ihrer Stimme ist kaum verholenes Entsetzen. Von einer Gegenfrage hat ihr niemand etwas gesagt: "Äh...28 Jahre." Das stimmt den Gast nicht skeptisch: "Dann freut mich ihr Antrag", kokettiert er. Eine ganze Welle Beifall spült über seine Seele hinweg. "Aber ich könnte ihr Großvater sein. Und zum Heiraten bin ich schon zu alt." Carlheinz Roth stößt langsam die Luft aus. In Gedanken formuliert er schon die Zeile: Punkt!-Leserin (28) macht Roland Worms (63) einen Heiratsantrag. Das bringt ihn auf eine Idee: Möglich, dass Axel Weiss irgendwo im Kölner Umland bei einer Frau gelebt hat und deshalb in keinem Telefonbuch zu finden ist. Er springt von seinem Sessel auf, rennt ins Sekretariat und ruft in Münster an. Seine Augen zeigen unverholene Entschlossenheit. Klar, der hat doch im Dienst einer Parteizeitung gestanden. "Heinz Eilert." Mit einer aufgeregten Klassensprecherstimme erkundigt sich Roth: "Erinnerst du dich noch an mich?" Der Parteisoldat ist verunsichert: "Roth? Komm, hilf mir auf die Sprünge." 210
Carlheinz Roth schaut nur kurz dem Zigarettenrauch nach: "Wir haben uns mal bei einem Seminar deiner Partei über Medienpolitik kennen gelernt." Der Rufer in der Wüste ist erfreut: "Ja, richtig. Wie geht es dir? Was kann ich für dich tun?" Mit einem zuversichtlichen Lächeln will Roth wissen: "Arbeitest du noch immer beim Sonntagsblatt mit?" "Natürlich." Keine Frage für ihn. "Willst du auch einsteigen?" "Nein, noch nicht", kichert er los. "Bei euch hat doch auch der Axel Weiss mitgemacht." Plötzlich streicht Angst mit kalten Fingern über sein Herz. Sein Gedächtnis ruft ihm zurück: aufgerissene Augen...abgeschnittene Brustwarzen...eine Wäscheklammer auf dem Boden. "Klar!...Netter Kerl gewesen", trauert der karierte Bürohengst. "Hat sich von einem Tag auf den anderen nicht mehr blicken lassen. War einfach verschwunden. Einige Zeit später haben wir dann gehört, was passiert ist. Scheiße." Roths Hände sind eiskalt, seine Stimme kriegt gerade mal den Bogen: "Kanntest du ihn näher?" "Nicht sehr. Leider. Obwohl wir Schreibtisch an Schreibtisch gesessen haben..." Heinz Eilert scheint mit den Tränen zu ringen. Carlheinz Roth hat ihn richtig eingeschätzt. 211
"Kanntest du seine Freundin?" Roth denkt an seinen Plan. "Und ob. Die hat er doch durch das Sonntagsblatt kennen gelernt." Heinz Eilert hat seine Stimme wieder unter Kontrolle. "Was sagst du? Wie heißt die? Wie kann ich die erreichen?" Roth öffnet sein Fragenpaket. "Maria Hülshoff. Kommt aus Herne. Meine ich wenigstens." *** Dunkelheit schleicht längst um die Häuser, als Carlheinz Roth mit seinem Alpha Romeo langsam von der Mont-Cenis-Straße nach rechts in die Händelstraße abbiegt. Es ist eine Nebenstraße mit Reihenhäusern aus den 20er-Jahren. Sein Herz klopft im Hals, die Hände zittern. Er kann sich seine Nervosität nicht erklären. Im Schritttempo fährt er an dem schmucklosen grauen Backsteinbau vorbei, in dem einst die Verwaltung einer Zeche untergebracht war. Heute erinnerte nur noch eine Lore mit Koniferen und Fuchsien an den Pütt. Etwas aus dem Rahmen fällt die kleine Villa schräg gegenüber. Ein schmiedeeiserner Zaun läuft um das ganze Grundstück herum. Während Teddie Long noch am Telefon säuselte, hat Roth am Nachmittag recherchiert. Die Nummer von Maria Hülshoff war sofort über die Auskunft zu 212
bekommen. Als das Freizeichen in sein Ohr kroch, fing sein Herz an zu rasen. Sie war zu Hause und hörte sich den Neugierigen an. Dann sagte sie nur: "Darüber will ich am Telefon nicht sprechen. Kommen Sie vorbei", "Heute noch? Es kann später werden." "Macht nichts", sagte sie und legte auf. Ihr Tonfall wirkte gleichgültig, aber Roth wusste es besser. Carlheinz Roth holt jetzt tief Luft und lässt sie gleich wieder entweichen. Wo sind die Hausnummern? Nirgendwo eine zu sehen. Darum wird er mehr als ein bisschen aufgeregt. Etwas Panik hämmert in seinem Kopf. Weil er weiß Gott nicht wissen kann, was ihn erwartet. Sein Körper verspürt das Bedürfnis auf Nikotin. Doch er hat keine Zigaretten dabei. Schon schickt er sich an, irgendwo eine Bude zu suchen. Doch sofort gibt er das Vorhaben wieder auf. Denn er will pünktlich sein. An vielen Häusern in dieser Einbahnstraße sind schon die Rollläden heruntergelassen. Kurz vor der Boutique Paola sieht er endlich eine 12, also wohnt sie auf der anderen Seite. In diesem verschlafenen Stadtteil, den er sich tagsüber auch nicht viel wacher vorstellen kann. Carlheinz Roth hat den Kopf nicht frei von vielen Fragen. Warum schon wieder Herne? Was wusste 213
sie von der Doppelrolle? Hat Axel Weiss doch etwas über Friedhelm Meuschel erfahren? Aber was? Der Journalist reibt sich die Spitze seiner Nase: Das soll Glück bringen, hat seine Oma immer behauptet. Sie starb mit 52 bei einem Flugzeugabsturz. Da ist der Briefkasten, die Fahrschule Z & B und das Änderungs-Atelier. Wie sie es beschrieben hat. Seinen Wagen stellt er direkt gegenüber vor dem Haus Stolpe ab. Eine dunkeläugige Frau wankt aus der Kneipe. Roth steigt aus, will den Alpha abschließen, doch seine Hände versagten ihm den Dienst. Scheiße, flucht er und versucht es noch einmal. Diesmal klappt es. Den Schlüssel steckt er in seine Hosentasche. Halb taub geht er über die Straße. Das Ziffernblatt seiner Uhr starrt ihn an. Zwanzig nach 10. Einen Fuß setzt er zaghaft in den Gang zwischen den Häusern 21 und 23. Er wirkt wie ein alter Mann, der seine Kondidition bei weitem überschätzt hat. Wenn er sonst irgendwo auftritt, ist er immer ein begabter Darsteller der Macht: Die Hände hält er in den Hosentaschen, den Blick richtet er auf ein bestimmtes Ziel. Jeder Beobachter soll sofort schnallen, hier ist geballte Entschlusskraft unterwegs. Sofort hält er einen Augenblick inne, bis sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt haben. Ganz 214
schwach dringt das Licht der Straßenlaternen in die Einfahrt, sodass er sich nur sehr mühsam orientieren kann. Aus einem offenen Fenster redet ein Radio Kochrezepte nach draußen. Da sieht er sie schon zwischen den Tannen in der Tür des rosarot gestrichenen Gartenhäuschen stehen. Mit knirschenden Schritten geht Roth über den Weg auf Maria Hülshoff zu. Sie kommt ihm entgegen und steht direkt vor ihm: Der untere Saum eines Druckhemdes mit geknöpfter Brusttasche verschwindet in einer Baumwollhose in Kilt. Sie hört in Umschlägen auf, die fein säuberlich auf weißen Turnschuhen ruhen. Das Gesicht der Frau ist gerötet. Als hätte sie schon einiges getrunken. In der einen Hand hält sie ein leeres Weinglas, in der anderen glimmt eine Zigarette ohne Filter. Ihre Augen glänzten. Bruchteile von Sekunden mustern sich die beiden beklommen. Seine Hand streckt sich ihr entgegen. Doch sie ignoriert sie. Ein wenig beugt er seinen Kopf vor und sagt: "Schön, dass Sie auf mich gewartet haben." Sie erwidert seinen Blick: "Sie haben mir doch einiges zu sagen." Da nickt er stumm. Und lächelt etwas, zeigte so seinen Goldzahn. Eine kleine Pause tritt ein, in der jeder höflich darauf wartet, dass der andere etwas sagt. Die Frau zuckt kurz die Achseln, dann wirft sie die Zigarette in die Nacht und zupft mit Daumen und Zeigefinger 215
verlegen an der Nase: "Wissen Sie überhaupt, wie ich Axel Weiss kennen gelernt habe?" Seine Lippen bilden einen schmalen Strich. Dann sagt er: "Beim Sonntagsblatt, denke ich." Sie holt tief Luft, lächelt breit und wiederholt: "Sonntagsblatt? Ja. Als ihn damals die Chefredakteurin anrief und anheuerte, da überschlug sich seine Stimme fast vor Freude. Natürlich mache ich mit! Sagte er. Doch dann legte sie die Karten auf den Tisch. Fünfzig Prozent der Texte kämen auf Diskette. Damit kenne er sich doch aus?" Sie runzelt die Stirn. "Da wurde er kalt erwischt und gestand: Um Computer schere ich mich einen Dreck. Das hat sie ihm nicht geglaubt. Dann wirst du nur die Manuskripte redigieren. Entschied sie. Nur? Er musste auch die Kaffeemaschine in Gang setzen. Und Bestellungen für das Mittagessen aufnehmen." Roth sagt nichts, darum fährt sie fort: "Aber schließlich hat er es nicht mehr ausgehalten und die Arbeit am Computer gelernt." Carlheinz Roth ist irritiert: "Warum hinkte er denn so der neuen Zeit hinterher?" Sie wirft ihm einen langen Blick zu, der nach einer anderen Frage schreit. Aber ihm fällt keine ein. "Kennen Sie überhaupt seine Vergangenheit?" Ihr Gesicht ist ausdruckslos wie die Externsteine im Teutoburger Wald. 216
"Sie werden mir einiges dazu sagen können", klingt es forsch. Aber man muss nicht ein Psychologe sein, um die Hilflosigkeit in seinen Augen zu entdecken. "Axel war schon als Kind das schwarze Schaf der Familie. Weil seine Eltern bedingungslosen Gehorsam verlangten und er nicht immer spurte. So musste er auch Messdiener werden. Das gefiel ihm überhaupt nicht. Draußen spielten seine Freunde, drinnen paukte er endlose Gebete in Latein." Sie bricht ab. "An Fronleichnam gingen sein Kumpel ins Freibad. Er musste zur Mülheimer Gottestracht. Nach zwei Stunden auf dem Schiff war er total erschöpft. Aber dem unmöglichen so nahe. Er stellte dem Bischof ein Beinchen. Der sah das rechtzeitig und konnte sich mit der Monstranz in den Händen auf dem rutschigen Deck halten." Sie wartet wieder etwas, dann fährt sie mit einem gepressten Lächeln fort: "Noch am selben Tag flog Axel bei den Messdienern raus. Seine Eltern tobten: Schäm' dich was." Mit einer völlig veränderten Tonlage berichtet sie weiter: "Nach der Mittleren Reife begann Axel eine Lehre als Industriekaufmann bei KlöcknerHumboldt-Deutz. Seine Eltern wollten es so. Solange du deine Füße unter unseren Tisch stellst, entscheiden wir, donnerten sie." Roth betrachtet seine Hände, spürt, dass ihre Augen auf ihn gerichtet 217
sind. "Mit 18 kriegte Axel ein Zeitungsvolotariat bei der Kölnischen Rundschau. In der Lokalredaktion Bergheim versank er bald in einen Dornröschenschlaf. Aber er wachte noch rechtzeitig auf, ging zu Bild, frau aktuell und Radio Luxemburg. Schließlich starb seine Oma und vermachte ihm 122 Garagen. Da hängte er seinen Beruf an den Nagel und hielt sich mit den Vermieten von Garagen über Wasser. Einige Nebenjobs kamen dazu. Beim Sonntagsblatt und beim Kölner Anzeigenspiegel. So richtig ist er nie damit fertig geworden, dass er seinen geliebten Beruf aufgegeben hat." Die ganze Zeit hat Roth seine Zunge im Zaum gehalten, jetzt fragt er direkt: "Wussten Sie etwas von seinem Doppelleben?" Sie wiederholt "Doppelleben?" Er nickt und sie erzählt: "Die Idee war nicht neu. Aber er wollte es versuchen, damit wieder Fuß zu fassen. Wie er auf diese Firma gekommen ist, weiß ich nicht. Aber er hat sich richtig vorbereitet. Einen falschen Namen angenommen. Zeitungsbände über Zeitungsbände studiert. Und sich sogar eine Maske zugelegt. Ich meine Haarteil und Nickelbrille", berichtet sie etwas stolz. Im selben Augenblick presst sie ihre Lippen so fest zusammen, dass sie ganz weiß werden. Er schaut sie erstaunt an. Sofort wirft sie entsetzte verzerrte Blicke hinter sich. "Aber dann wollte eine Zeitung über ihn eine Ge218
schichte machen. Er war total aufgeregt. Dann kam der Reporter." Ihr Kopf hebt sich etwas, aber der resignierende Blick ist geblieben. Carlheinz Roth presst die Lippen zusammen. Plötzlich fühlt er sich wie ein Fahrschüler beim dritten Versuch, rückwärts in eine Parklücke zu setzen. "Dann kam also der Reporter. Und Axel diktierte seinem Kollegen richtige Wolkenburgen in den Block. Von neuen Aktivitäten am Mittelmeer, über eine Beteiligung an einer Charterfluggesellschaft. Er warf Nebelkerzen über Nebelkerzen. Der Reporter schluckte alles. Aber nur scheinbar. Zwei Tage später erschien der Artikel. Ich kenne bald jedes Wort auswendig. Wollen Sie hören?" Roth nickt. "Mit Teufel aus dem Ruder geraten. Das war die Überschrift." Ihr Gesicht läuft so rot an wie noch nie. Die Nachfrage nach Klubreisen von Freitag & Co. stieg weit langsamer als das Zimmerangebot. In der HCR-Zentrale schrillen die Alarmglocken. Der Stuhl des Kölner Chefs wackelt. Doch der will davon nichts wissen und gibt sich wichtig. Weiter weiß ich nicht. Aber was unter dem Foto von ihm stand, das kriege ich noch zusammen: Michael Teufel - Nach Meinung seiner Kollegen aus der Branche leidet er an einem chronischen Überheblichkeitssyndrom. Schön was?" Doch das Waterloo geht weiter! 219
"Axel konnte zwei und zwei zusammenzählen. Jeder Satz wies auf seine Misserfolge hin...Zum Glück habe ich nie erfahren, wer das geschrieben hat." Maria Hülshoff blickt auf den Hof und wartet, dass ihre Gefühle wieder ins Lot kommen. Seine Hand stiehlt sich in eine Jackentasche, will nach Zigaretten angeln, zieht sich aber blitzschnell wieder zurück. "Ja, wir hatten ein Verhältnis", fährt sie ohne Zusammenhang fort, gerät aber gleich ins Stocken, beendet nicht den Satz: "Damit muss ich allein fertig werden", sagt sie plötzlich mit einer hellen Stimme, die sie für einen Moment gar nicht als ihre eigene erkennt. Er spürt Tränen, die tief im Innern liegen. Was wollen Sie eigentlich von mir, fragen Ihre Augen ungeduldig. Kreativität und Selbstsicherheit waren einst ihre Eheringe. Als sie sich für ein Praktikum bei einer Werbeagentur bewarb, schickte sie dem Direktor ein Päckchen Rasierklingen: Wenn Sie meinen Brief so einfach in den Papierkorb werfen, können Sie sich in den eigenen Finger schneiden! Drei Tage später lud sie der Briefempfänger zu einem Gespräch ein, empfing sie mit einer verbundenen Hand und einem Anstellungsvertrag. Heute scheint für sie jedes Gespräch ein Fels zu sein, an dem sie zu zerschellen droht. 220
Schweiß rinnt Roth übers Gesicht. Er schüttelt langsam den Kopf und meldet sich so zu Wort: "Er war selbst für sein Handeln verantwortlich", spricht er, als hätte er den ganzen Tag noch vor sich. Bilder von der nackten Leiche regnen ihm plötzlich ins Hirn. Total unaufgefordert. Roth spürt, wie sich sein Magen umdreht. Er öffnet den Mund und fährt sich mit der Zunge über die Lippen. Ganz stumm bleibt er, als habe er die Sprache verloren. Dabei fixiert er sie genau. Ihre Augen scheinen rot vor Wut zu sein, das Blut hämmert in ihren Schläfen. Sofort spürte er, wie lahm vorhin seine Worte für sie geklungen haben müssen. "Vielleicht haben Sie ihn nicht richtig gekannt", erlöst sie ihn. "Seitdem er tot ist, habe ich Albträume. Nacht für Nacht." Er schweigt, und sie redet sich viel von der Seele: Manchmal guckte Axel vergnügt wie ein Kind, das nach vier Wochen endlich die Isolierstation eines Krankenhauses verlassen darf. Aber meistens lugte aus seinen Augen das Talent zur Traurigkeit hervor", sagt sie mit dem Tonfall einer Touristin aus Ahlbeck, die sich in Köln nicht auskennt und verzweifelt den Schweizer vom Dom nach dem Meister vom Stuhl bei den Freimaurern befragt. "Hatte er keine Freunde?" "Axel war total verschlossen. Und fand nur selten Freunde. Freundinnen noch viel seltener. Eine hieß 221
Kirsten, war Studentin. Sie blieb für ihn immer ein Buch in der Reihe der Thriller. Nie rief sie von sich aus an. Dafür redete sie von allem, nur nicht über die Partnerschaft. Trotzdem war sie seine Traumfrau. Immer seltener trafen sie sich. Er konnte bald nur noch von ihr träumen. Nach der Trennung von ihr füllte er schnell diese Lücke aus... mit Depressionen...." Axel war total am Ende. Damals in Köln. Ständig versuchte er, seine ganz persönliche Buchführung in Ordnung zu bringen. Er wollte aus den Minus-Zahlen raus. Erst die Sache mit dem Pyramidenspiel. Das war nichts für ihn. Er wollte zurück in den Journalismus. Mit einem Knaller. Aber Tag für Tag musste er feststellen, dass sein Enthüllungsjob nichts bringt. Keine Preisabsprachen. Keine Bestechungen. Keine Erpressungen. Nichts deckte er auf. Nur einmal hat der Meuschel irgendwelche Finanzmanipulationen angedeutet. Aber für dieses Gespräch gab es keine Zeugen. Vielleicht wurde alles vor ihm verborgen. Vielleicht gab es auch nichts zu verbergen. Und dann dieser Scheiß Bericht in der Zeitung. Er ist bald verzweifelt." Die Frau spricht sehr schnell. Will es offenbar zügig hinter sich bringen. Aber sie hat keine Angst vor Offenheit: "Nicht seinetwegen habe ich meinen Mann verlassen. Die Ehe war kaputt. Auch vorher schon. Aber manchmal habe ich doch geträumt..." 222
Carlheinz Roth ist klug genug, den Mund zu halten. Denn er hat bemerkt, wie sich ihr Gesicht unwillig verzog. Vorhin, als er mal nachhakte. Mit seiner rechten Hand fährt er sich über die Nase. Dann fühlt er über die andere Jackentasche und spürt unverhofft eine Packung. Sofort fingert er eine Dunhill aus der Schachtel und versucht sie anzustecken. Leicht fällt ihm das nicht. Denn seine Hände zittern wie bei der Fahrschulprüfung vor 20 Jahren. Wie eine Fackel hält er die Zigarette senkrecht und will wissen: "Dann gab es keinen Grund, dass ihn Meuschel auf dem Gewissen haben könnte?" Sie hebt den Kopf: "Nein!" Schatten fallen auf ihre Augen. Das ausdrucklose Gesicht verrät weder Freude noch Trauer. Es fragt: "Haben Sie eine Ahnung?" Sie beugt sie etwas vor, steht wieder im Hellen. Ihr Blick forscht sofort in seinen Augen. Seine Gedanken wirbeln hinter seinem Reporterblick. "Wenn nicht Meuschel, wer dann?" fragt er, zieht an seiner Zigarette und bläst den Rauch nach oben. Aber nach ein paar hastigen Zügen drückt er die Zigarette auf dem Boden aus, als würde er sich schämen. Obwohl er ein Foto von Axel Weiss besitzt, ist es nicht das Gesicht, sondern der Anblick vom Parkplatz, der sich bei ihm eingenistet hat. Sein Gesicht ist weiß wie Talkum. 223
Nach einer Pause fragt Maria Hülshoff plötzlich im lockeren Gesprächston: "Wie gut kannten sie ihn?" Etwas unvermittelt für sie gibt er zu: "Wir hatten uns lange Zeit aus den Augen verloren und trafen uns plötzlich wieder." Ihr Gesicht ist mit einem Mal ernst. Kurz blickt sie ins Haus und spricht, ohne den Kopf zu wenden: "Das habe ich von meinen Eltern geerbt...Warum interessieren Sie sich für das Verbrechen", erkundigt sie sich mit knappen, fast geschäftsmäßigen Sätzen. "Warum?" beharrt sie. Jetzt ist er gefordert: "Weil ich Journalist bin und Axel ein Kollege war", erklärt er trotzig, als müsse er einen Ukas von oben verteidigen. Seine Stimme hat aber einen etwas zu brüchigen Tonfall angenommen. Durch den Spalt zwischen Tür und braungestrichenem Rahmen sieht er in dem Haus zwei Kinder herumturnen: auf einem Brokatsessel vor einer Bücherwand. Mit einem vertrauensuchenden Lächeln will er eine Brücke bauen. Doch sie nimmt das Geschenk nicht an. "Kann Sie nicht hereinbitten", erklärt sie, als würde sie auch seine Augen nutzen. Mehr sagt sie nicht. Kein leider. Oder etwas ähnliches. Ihr trauriger Mund verzieht sich aber zu einem kurzen Lächeln. Roth hebt die Schultern. "Kennen Sie eigentlich den Malte Pauls hier aus Herne?" will er wissen. 224
"Nein. Ich habe viele Jahre in Bonn, Duisburg und Oberhausen gelebt. Hier habe ich noch keine Bekannten", sagt sie, dreht sich ganz um und will ins Haus gehen. Der Reporter folgt ihr einfach. Sofort bleibt sie stehen. In einem Spiegel an der Wand trifft ihn ein wütender Blick: "Was wollen Sie noch?" Er dreht sich etwas zur Seite, als könne er so der Frage ausweichen. Denn aus ihrer Stimme hat herber Zorn geklungen. Und ihr Blick ist ziemlich entschlossen. Aber jetzt sind sie im Haus. In dem winzigen quadratischen Flur steht nur ein Regal mit Metallgestellen und Böden aus Peddigrohrgeflecht. Drei bunte Puppen mit Porzellanköpfen ruhen sich darauf aus. Zwischen einer Pflanzschnecke aus Terracotta und einem Schweinepaar aus Holz stellt sie ihr Glas. "Ich kriegte voll mit, wie ihm sämtliche Felle davonschwammen." Ihre Stimme klingt mit einem Mal eigentümlich ausdrucklos. Ihre Kinnlade sackt ein Stück herab. Während sie den Kelim zurück schiebt und über den Holzboden tastet, bis sie die Stelle gefunden hat. Auf ihren Druck springt ein Dielenbrett hoch, und sie zieht aus dem Hohlraum ein Kistchen. Wie auf ein Stichwort erscheinen die Kinder. Roths Augen gleiten von Gesicht zu Gesicht. Aus dem Blick der beiden Jungen strahlt Neugierde. Das Ge225
sicht von Marie Hülshoff ist blutleer, total erschöpft. "Geht wieder nach nebenan", fordert sie barsch. Mit trotzigen Blicken traben sie davon. Sie schaut ihnen hinterher und öffnet dann die Steige. "Das habe ich versteckt in seinem Keller gefunden." Für einen kurzen Moment hat es Carlheinz Roth die Sprache verschlagen. Was Maria Hülshoff dann sagt, jagt ihm Schauer über den Rücken: "Darum war er in Behandlung." Ihre Stimme klingt gepresst. Aber erleichtert. Bei näherem Hinsehen spürt Roth, wie ihm das Atmen schwer wird. Ihm bleibt regelrecht die Puste weg. "Und jetzt gehen Sie bitte", fordert ihn die Frau auf, die nicht mehr an ihrem Glück arbeitet. Sie scheint aber Gedanken lesen zu können: "Das hilft Ihnen bestimmt..." Die letzten Worte übertönt die Tür, die ins Schloss fällt. Ihm fällt ein, was er ihr schon die ganze Zeit sagen wollte, dass er auch mal in Diensten von Friedhelm Meuschel stand und abgezockt wurde. Aber für dieses Bekenntnis ist es jetzt zu spät. Und für ein anderes. Als Carlheinz Roth wieder zu seinem Wagen geht, taumelt er etwas in der Finsternis. Unterwegs hört er ein Zischen hinter sich. Ein deutliches Zeichen von Verachtung.
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12. Montag, 27. Juni Eine Fliege schwirrt durch den Raum. Hans-Werner Koritzius hält in der linken Hand die Urlaubskarte aus Barbados, mit der rechten öffnet er den obersten Knopf seines Hemdes, als ob ihm schon vom Zusehen heiß würde. Dabei pustet er den Staub von seiner Schreibmaschine. Als es einige Male an der Tür klopft, sieht er nicht auf, brüllt aber: "Ist offen!" In der Tür erscheint ein von Falten durchzogenes Gesicht: "Schneider ist mein Name, Doktor Lothar Schneider." "Was gibt's?" erkundigt sich der Detektiv, steht gelangweilt auf und hört: "Ich bin Anwalt und vertrete die Interessen von Karl-Josef Vogts. Darf ich reinkommen?" "Was gibt's?" wiederholt Koritzius. Der Besucher kommt herein, schließt die Tür und setzt sich auf einen Stuhl in der Mitte des Raumes. Koritzius weiß längst, Vogts ist der Mann, der den Mord an seiner Mutter gestanden hat. "Mein Mandant zieht sein Geständnis zurück", sagt Dr. Schneider nüchtern. Und kriegt natürlich mit, 227
dass ihn der Beamte anstarrt. "Weil er sich von Ihnen unter Druck gesetzt fühlte." Ein Lächeln huscht über seine Lippen. "Das war es. Schönen Tag noch", wünscht der Anwalt, steht auf und verschwindet. Hans-Werner Koritzius hat den Rückzug zur Kenntnis genommen - und wendet sich längst wieder einem anderen Fall zu. Was ist, wenn Kratzenstein sich täuscht und Teufel wegen Pik7 sterben musste? In seinem Kopf singen und tanzen die Worte von Mechthild Orden: Clever...Ausgekocht...Da kommt eine Menge Holz zusammen. Er rutscht unruhig auf seinem Stuhl hin und her. Über die Auskunft lässt er sich die Nummer von Pik7 in Lünen geben und ruft dort an: "Ich möchte gerne bei Ihnen einsteigen. Wo kann ich mich melden?" Die Frau in der Zentrale nennt ihm die Adresse eines Sportcenters in Ehrenfeld: "Der Chef ist bei uns Infoleiter." Mit der U-Bahn Linie 3 fährt Hans-Werner Koritzius vom Neumarkt zur Äußeren Kanalstraße. Auf der Venloer Straße sieht er schon von weitem die Reklame: Kölns großes Fitness-Studio. Er geht durch die Einfahrt in den Hinterhof. Dort geht es fünf Treppen zu einer Glastür hoch. Er öffnet sie und wird von einer drückenden Schwüle empfan228
gen. Völlig unbeeindruckt kloppen die Bee Gees ihr "Paying The Price Of Love" herunter. Gleich links vom Eingang ist eine Bar. Dahinter füllt eine Frau irgendwelche Zettel aus. Sie ist im wahrsten Sinne des Wortes atemberaubend. Nach seiner Schätzung ist sie Ende 20 und etwa einen Meter siebzig lang. Das Haar ist rabenschwarz und zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Engsitzende, weiße Jeans und ein knappes T-Shirt unterstreichen die aufreizenden Rundungen ihrer Figur. Sofort kriegt sie mit, dass er sie anstarrt. "Kann ich was für Sie tun?" singt sie. Er schüttelt den Kopf: "Ich will zu Ihrem Chef." Sie deutet auf einen Barhocker: "Setzen sie sich so lange. Ich rufe ihn aus. Wie ist ihr Name?" Er nimmt ihr gegenüber Platz: "Äh. Koritzius", stottert er und sieht das kleine Schild an ihrem Hemd: Stefanie Herold, Diplom-Sportlehrerin. "Sie wollen bestimmt ein Probetraining machen?" fragt sie und wirft ihm einen Sie-haben-das-auch-nötig-Blick zu. "Nein", entgegnet er und zückt seinen Ausweis: "Ich bin von der Polizei." Sofort greift sie zum Mikrofon, durch alle Räume hallt es: "Peter, an der Bar ist Besuch für dich." Und zu ihm: "Einen Moment. Er kommt sofort...Möchten Sie etwas trinken?" lächelt sie flüchtig. "Äh...Einen 229
Saft...Trainieren Sie selbst auch hier?" "Ja. In der Mittagspause." Koritzius begreift nicht das Geringste: "Und wozu?" Stefanie Herold lächelt, lässt sich aber nicht unterkriegen: "Für mich. So fühle ich mich großartig. Und bin ausgeglichener." "Mmmmh. Wie wird man eigentlich SportLehrerin?" Ganz offen erzählt sie ihm von ihrem beruflichen Werdegang: "Ich bin in Köln auf die Sporthochschule gegangen. Nach dem Examen habe ich freiberuflich für verschiedene Krankenkassen gearbeitet. Rückenschulen und so. Dann habe ich einen festen Job gesucht. Einige Kurkliniken haben mir auch was angeboten. Aber das war nichts für mich. Ich wollte nicht aufs platte Land ziehen." Sie hält inne und heftet ihre braunen Augen auf die Treppe: "Oh, da kommt ja Herr Mertens." Sie fühlt sich erlöst, denn es ist überhaupt nicht ihre Art, so viele Worte über ihre Person zu machen. Peter Mertens ist Mitte 30, bestimmt ein Meter neunzig lang und sein Körper, den er in zehnjähriger Trainingstortur entwickelt hat, ist offenbar lebende Werbefläche für das Studio. Seine Kunstlokken sind flachsfarben, fast gelb. Die mächtigen Muskelpakete hat er in Jogging-Hose und Power230
Shirt in Türkis gezwängt. Hinter seinen Armen könnten sich die Oberschenkel von Koritzius verstecken. Aber die durchgemachte Nacht steht ihm gnadenlos ins Gesicht geschrieben. "Waren wir verabredet?" fragt er und lässt ein nervöses Grinsen durch sein Gesicht ziehen: "Sorry. Habe ich glatt vergessen." Dabei schüttelt er dem Besucher schnell und kurz die Hand. Koritzius zückt seinen Ausweis: "Sie sind doch auch Infoleiter bei Pik7?" Der Mann mit dem vorgewölbten Brustkorb weiß nicht so recht, was er damit anfangen soll. Er gibt keine Antwort. Koritzius ist schon bei der nächsten Frage: "Kannten Sie Michael Teufel?" Das sonnenbankgebräunte Gesicht nickt: "Setzen wir uns doch." Zwischen der Bar und der Folterkammer mit den bestimmt 50 Trainingsmaschinen stehen fünf Stahlrohrtische. Alle sind unbesetzt. Kaum haben sich die beiden niedergelassen, schnippt Peter Mertens mit den Fingern: "Einen Kaffee. Und Sie?" HansWerner Koritzius weist auf seinen Orangensaft: "Danke, ich habe noch." Dabei lässt er seinen Blick schweifen. Direkt unter einer Glaskuppel stehen die Cardio-Geräte. Eine Blondine schwitzt auf einem Ruderergometer. Der Senior einer Altherrenmannschaft möchte eine Runde gegen den Sensenmann gewinnen: er wärmt sich an einem Hometrainer mit 231
Triathlos-Lenker auf und macht dann Hanteltraining. Ein Debütant des Muskelsports streckt auf einer Matte alle viere von sich. Obwohl genügend Licht in das Haus der Schmerzen dringt, brennen die meisten Lampen. Die silbernen Schirme verdoppeln sich noch in den Riesenspiegeln an den Wänden. Der Durchtrainierte steckt eine Zigarette in eine lange Spitze und steckt sie an. "Also, was ist mit Pik7", fragt er, während sich seine Augen verengen. Und erst nicht reagieren, als ihm der Kaffee von Stefanie Herold gebracht wird. Aber dann gibt er ihr durch eine Handbewegung zu verstehen, dass sie nicht in der Nähe bleiben soll. "Ich bin nicht wegen Pik7 hier. Sondern wegen Michael Teufel. Den kannten Sie, nicht wahr?" "Ja. Von ihm habe ich den Nebenjob übernommen", sagt er durch Zigarettenqualm. Damit ist Koritzius natürlich nicht zufrieden gestellt. "Ist Ihnen bekannt, dass Teufel großen Ärger in seinem Job hatte?" blufft er ihn an. Mertens späht an dem Polizisten vorbei: "Ärger? Ärger gibt es immer wieder", erwidert er, "in jedem Beruf. Meine ich. Dass Sie nicht von Pik7 begeistert sind, kann ich gut verstehen. Denn von unseren Gewinnen kriegt der Fiskus nichts. Hahaha." Der Athlet zieht seine schwarzen Lederhandschuhe mit Gelenkstützen aus. Papierdünne Haut wird sichtbar. Koritzius muss wider 232
Willen lächeln. "Ich bin nicht von der Steuerfahndung, Herr Mertens. Ich bin von der Mordkommission. Drücke ich mich klar genug aus?" "Jaja." Eine nervöse Spannung hat von ihm Besitz ergriffen. "Mich interessiert der Ärger von Herrn Teufel", gibt Koritzius giftig zurück und setzt sein mit Orangensaft gefülltes Glas ab. Peter Mertens zieht nervös sein Shirt glatt. "Ärger?" Erst jetzt ist dieses Wort bei ihm angekommen. "Naja. Da gab es zwei Leute, die sich von Pik7 übers Ohr gehauen fühlten. Diese Leute machten ihn in Köln schlecht. Aber er ließ sich nicht einschüchtern", erzählt er. Zwischendurch reibt er sich seine Nase. "Ich hatte das Gefühl, wie soll ich mich ausdrücken...?" "...Was meinen Sie?" geht Koritzius brüsk dazwischen. "Nun ja, Aber dem Teufel haben die keine Angst gemacht...Aber da gibt es noch was." "Was?" Koritzius sitzt kerzengerade da und hört: "Pik7 war mit Teufel überhaupt nicht zufrieden. Weil der nicht genügend neue Leute geworben hat. Die wollten sich von ihm soundso trennen." "Wissen Sie das genau?" fragt der Bulle und runzelt die Stirn "Nein. Das habe ich nur gehört." Dabei lässt seine beringte Hand die Tasse los und er blickt auf seine 233
Rolex-Kopie: "Ich habe noch eine wichtige Besprechung. Brauchen Sie mich noch?" Koritzius hat nur halb zugehört, denn er versucht, einen Gedanken, der ihm durch den Kopf jagt, einzufangen. "Was?...Ich brauche Sie nicht mehr." Koritzius wendet sich zum Gehen, da hört er den anderen sprechen: "Über Pik7 sind viele Gerüchte in Umlauf. Nehmen sie die bloß nicht für bare Münze." Der Polizist schweigt. Auch das fragende Lächeln von Stefanie Herold kriegt er überhaupt nicht mit. Manchmal ist er schwer von Begriff. Besonders, wenn er schon einige Stunden voraus ist: bei seiner Angst. *** Die Dämmerung ist längst zur Nacht geworden. Der leichte Wind flüstert "Gleich bin ich bei dir", eine Frau mit einer Maske aus Totenschädel und Feuerwehrhelm kommt zwischen zwei Ahornbäumen hervor und hastet über die Lindenstraße, HansWerner Koritzius zuckt kurz die Achseln, trällert dann die Lobgesänge von Petula Clark auf "Downtown" mit. Sein Gesicht ist gleichgültig wie meistens. Auch, als in den 23-Uhr-Nachrichten eine Frau den Hörern reinen Wein einschenkt, dass ein Fährunglück in der Ostsee über 900 Toten gefordert hat. Er schaltet das Radio aus, während er in die 234
Universitätsstraße abbiegt: dem Schlachtfeld entgegen. In irgendeiner Fernsehsendung hat er einen Psychologen mit einem roten Bauerngesicht schwatzen hören: Ängste müssen frontal angegangen werden, dann verliert man sie! Aber erst muss man die Gründe kennen. Diese Einschränkung fiel dem Zappen zum Opfer. Trotzdem: Ab heute fahre ich abends eine Runde um Köln, beschloss er im Fitness-Studio. Wenn mich diese Psychotante schon rausgeschmissen hat, muss ich mir selbst helfen. Die hat einen Sprung in der Schüssel! Völlig gelassen biegt er auf die Autobahn ab: Er gehört zu dem Schlag Menschen, dessen ganz natürliche Begabung es ist, immer cool zu bleiben. Gut, dass es solche gibt. Sagt er zu sich: beiläufig, wie jemand, der den Wetterbericht in der ARD vorliest. Und eine vage, noch ganz nebelhafte Unruhe dringt in seinen Bauch. In seinem Mund beißt sich blitzschnell der Geruch von Angst fest. Sofort schaltet er das Radio ab. Schnauft etwas. Und stellt fest, dass das Schnaufen wehtut. Jedes Hochgefühl ist verflogen. Wie nach den Besuchen bei der Frau im Reiteranzug. Neben ihm tanzen die Schilder der Abfahrt Bilderstöckchen. Für den Bruchteil einer Sekunde sieht er sie. Und muss sofort wieder mit weitaufgerissenen Augen auf die Fahrbahn starren. 235
In seinem Nacken bricht der Schweiß aus. Aller Speichel ist aus seinem Mund verschwunden. In seinem Kopf wird es teuflisch heiß. Er kann seinen rasenden Herzschlag in den Ohren hören. Jede Gleichgültigkeit ist von einer Sekunde auf die andere aus seinem Gesicht verschwunden. Im Spiegel starrt ihn eine groteske Maske mit blutunterlaufenen Augen an. Direkt unter seinem Herzen liegt eine tonnenschwere Kugel. Und die Welt schwimmt einen Augenblick dahin. Er spürt, dass sich seine Eingeweide immer mehr verkrampfen. Weiter! Weiter! Weiter! Nach endlosen drei Kilometern ist er am Autobahnkreuz Nord. Unruhig zieht die Karawane von roten Schlusslichtern an ihm vorbei. Er müsste seine Brille aufsetzen. Doch die liegt im Handschuhfach. Und er hat keine Hand frei. Langsam überwindet er seine Lähmung. Und die ersten Kilometer der Höllenfahrt schrumpfen in seinem Hirn. Er findet wieder Ruhe in seinem Blick. Scheint wieder Herr seiner selbst zu werden. Hat er die Schlacht gewonnen? Nein! Die Angst kommt zurück. Wie ein nicht ganz gelöschtes Feuer. Am Leverkusener Kreuz muss er sich auf der A 3 einordnen. Ein Lastwagen blinkt ihn von hinten an: Aus dem Weg! Weg da! Weg da! Sofort spürt er die Gänsehaut auf dem Arm. Der Kessel droht zu ex236
plodieren. Sein Atem geht schnell. Sein Herz rast. Er hält die feuchten Hände ums Lenkrad verkrampft. Verspürt einen Stich hinter den Augen. Das Rückgrat ist so steif wie ein Zollstock. In seinem Magen wird ein ganz Berg Steine abgeladen. Die Panik ist so mächtig, dass er darin begraben ist. Scheiße!!! Schweißtropfen stehen ihm auf der Stirn. Die menschliche Existenz hat nur noch ein Ziel: von der Piste wieder herunterzukommen. Er beißt sich fest auf die Innenseiten der Wangen, um nicht loszuschreien. Warum eigentlich nicht? Auf der Autobahn in Richtung Frankfurt wischt er sich den Schweiß von der Stirn. Geschafft! Der drängelnde Laster macht ihm plötzlich nichts mehr aus. Scher dich zum Teufel, befiehlt er seiner Angst. Und sie gehorcht. Aber nur wie ein ungezogenes Kind. Einmal um Köln herum? Sein Mund verformt sich zu einem traurigen Grinsen. Seine Augen sind wieder die eines Mannes, der einen alten Nachbarn auf der Krebsstation besucht hat. Einen Moment weiß er nicht, was er tun soll. Aber die rastlose Stimme in seinem Hirn weiß weiter, sagt: Neinneinnein! Er gehorcht und setzt am Autobahnkreuz Ost den 237
Blinker. Schnell weg. Bevor die Angst ihre Rückfahrkarte einlöst. Der Detektiv spürt den Druck auf der Blase. Und beugt sich über das Steurrad nach vorne. Zischender Dampf füllt seinen Schädel. Sein Gesicht ist wieder totenbleich. Verzweifelt. Er starrt auf die Fahrbahn. Starrt so intensiv hin, dass er nicht den Laster im Rückspiegel näher kommen sieht. Immer näher. Und näher. Dann spürt er die brennende Hitze der Scheinwerfer. Die Hölle! Alle überholen ihn. Der Laster...ein VWKäfer...und sogar eine Ente. Im Augenwinkel sieht er die Beifahrerin den Kopf schütteln. Koritzius bemüht sich, nicht hektisch zu wirken. Und sieht warscheinlich genau so aus. Geschafft! Vor ihm ist die Zoobrücke. Er seufzt und atmet Luft in tiefen Zügen ein. Schweiß hat sich auf jeden Millimeter seiner Haut niedergelassen. Überstanden! Keine Flut entgegenkommender Scheinwerfer mehr. Geschafft!!! Am Niederländer Ufer muss er an einer roten Ampel halten. Vor Erschöpfung fallen ihm die Augen zu. Sofort schwebt der Albtraum mit zunehmender Klarheit in sein Hirn. Wie das Bild auf dem Grund eines Schwimmbeckens, das endlich von den Wellen erlöst wird...Drängelnder Laster...Lachende 238
Frau. Auf seiner Stirn bricht wieder kalter Schweiß aus. Keiner in den anderen Wagen ahnte, was er in den letzten Minuten durchgestanden hat. Hinter ihm hupt es jetzt. Die Ampel hat längst wieder auf Grün geschaltet. Sein Magen hat sich wieder beruhigt. Sein ganzer Körper verlangt nach Nikotin und ein Paar Mützen Schlaf. Am Breslauer Platz hält Koritzius an und kriecht raus. Seine Beine sind wie Pudding. Er watschelt zu einem Zigaretten-Automaten: wie jemand im Taucheranzug, der auf dem Grund des Rheins gegen die Strömung laufen muss. An einer Säule vor dem U-Bahnhof klebt ein grünes Plakat: Kölner Sciencefiction-Tage, ein Jüngling in einem Juteumhang verspricht Horror kostenfrei. Beim Einsteigen steckt er sich eine WY Chester an. Wie benommen setzt er sich ans Steuer, zaust an seinem Haar und fährt los. Einige Minuten später ist Koritzius auf der Zülpicher Straße. Am Haus von Dr. Regine Schwirtz. Sein Blick fällt nach oben. Er sieht ein Licht aufflackern. Wahrscheinlich eine Spiegelung. Mir egal. Koritzius massiert seinen Nacken. Ihn interessiert nur, dass er da rausgekommen ist. Gleichgültig starrt er auf die Fahrbahn. Und ist sich nicht mehr sicher, ob er das vom Kriegspfad nur geträumt hat.
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13. Dienstag, 28. Juni Carlheinz Roth schließt die Tür zum Labor und folgt Heinz Rothermund in die Mitte des Raumen. Der Wandschalter lässt eine matte, rote Lampe an der Decke aufleuchten. Roth ist auf das Schlimmste gefasst. Denn der Endfünfziger hat zwar ein pausbäckiges Engelsgesicht. Aber er ist und bleibt ein Mann fürs Grobe. Roth ist darauf gefasst, dass ihm wieder irgendwelche Grobheiten an den Kopf geschleudert werden. Roth lehnt sich an eine Flasche mit Entwicklerflüssigkeit. In einer blauen Schale daneben nimmt ein Foto Konturen an. Ein nacktes Mädchen lächelt am Aachener Weiher in die Linse. Wie originell. Aber Rothermunds Verhalten überrascht ihn völlig. Der lippenlose Mund des Altgedienten verzieht sich zu einem viel sagenden Lächeln: "Naja,...Gratuliere...Ich habe gerade mit Bremen gesprochen. Die sind ganz aus dem Häuschen." Dabei kommt er einen Schritt näher, zieht ein Fax aus seiner Jacke und zeigt auf die in Frage kommenden Zahlen. Aber sie sind nur schemenhaft zu sehen. 240
"Sehen Sie selbst", holt er aus, "unsere Auflage in Köln ist im letzten Monat ganz leicht gestiegen. Und mal nicht gefallen. Zum ersten Mal in sechs Jahren haben wir keine roten Zahlen. Als einzige Stadtausgabe von Punkt! Ein Wunder - haben die in Bremen gesagt. Naja." Mit der Beschreibung von Wundern gehen Verlagsleiter ähnlich verschwenderisch um wie die Autoren der Bibel. Wie hypnotisiert heftet Roth die Augen auf den Zahlensalat. Dann wirft er Heinz Rothermund einen raschen Blick zu. Er bietet dem militanten Nichtraucher sogar eine Zigarette an, und als Rothermund natürlich ablehnt, nimmt Roth selbst eine und steckt sie aber nicht an. Was in der Dunkelkammer auch verboten wäre. "Naja, jetzt kann ich es Ihnen Ja sagen", beginnt Rothermund, "am Anfang habe ich Sie für ein ziemliches Arschloch gehalten." Er liebt diese direkte Ansprache. Vielleicht erfreut er sich auch deshalb bei seinen Kollegen großer Beliebtheit. Seit 15 Jahren wählen sie ihn regelmäßig in den Betriebsrat. In den oftmals zähen Verhandlungen mit der Verlagsspitze hat er sich einen Namen gemacht: als Wadenbeißer. Nach einer Pause sagt er etwas leiser: "Ich habe meine Meinung geändert." "Das ist sehr nett von Ihnen, Herr Rothermund", neigt Roth den Kopf. 241
So einfach kann Rothermund nicht alles so stehen lassen. "Wir haben alle erst angenommen, mit dem neuen Schmusekurs werden Sie hier schnell zu einem Auslaufmodell." Mit den Fingern fährt er sich durch sein dichtes Haar. "Hab' mich wohl getäuscht", gibt er zu, schnappt sich seine Kamera und geht zum Belichtungsgerät. Damit ist die Debatte abgeschlossen. Carlheinz Roth bleibt noch einen Moment in dem Labor. Dann löst er sich von dem Gestank, schiebt den Filzvorhang zur Seite und geht. Auf dem Weg zu seinem Schreibtisch kommt er schnell zu dem Schluss, dass Punkt! jetzt einmal warten kann. Eins nach dem anderen, hält er sich vor Augen. Voller Ungeduld greift er zum Telefon. Edith Maywald blickt von ihrem Computer hoch: "Sie sollen in Bremen anrufen. Die wollen wissen, was Sie für die 1 haben. "Machen Sie das", erwidert er. Denn nach dem lokalen Anriss für die Titelseite steht ihm nicht der Sinn. "Suchen Sie sich mal unseren Unteraufmacher heraus. Daraus können wir machen: Autofahrer aufgefasst: Hier passieren die meisten Unfälle. Oder so ähnlich. Ihnen fällt schon was ein." Dann widmet er sich wieder seinem Telefon und ruft erst die Auslandsauskunft, anschließend in Weggis in der Schweiz an. Der Ruf geht raus. Einmal. Zwei Mal. Drei Mal... Hoffentlich 242
nimmt jemand ab! Hoffentlich kriegt er etwas über das Gestern heraus. Plötzlich knackt es und eine Stimme dröhnt wie ein Donnerschlag an Roths Trommelfell: "Hallo? Wer ist da?" "Roth in Köln." "Wer sind Sie?" "Roth aus Köln. Ich bin der Freund von Regine. Sie sind doch der Ex-Mann von ihr?" "Nun,..." Der Wahl-Schweizer macht überhaupt keine Anstalten, die Frage zu beantworten. Am anderen Ende der Leitung tritt ein Schweigen ein. Schließlich scheint sich Rainer Schwirtz zu einer Antwort durchgerungen zu haben: "Ja, ich war mal mit ihr verheiratet. Was wollen Sie von mir?" "Wie gesagt, ich bin ihr neuer Freund..." In der Stimme von Rainer Schwirtz ist helle Aufregung: "Waren Sie...Waren Sie Patient bei ihr?" "Nein. Wie kommen Sie darauf?" Im Augenwinkel sieht er Edith Maywald einen Telefonhörer hochhalten. Er gibt mit seinem Finger ein Zeichen, dass sie einen Augenblick warten soll. "Nun,..." beginnt er und legt sofort eine Pause ein. In das Gesicht von Carlheinz Roth ist Neugierde getreten: "Hören Sie, Sie machen irgendwelche Andeutungen und schweigen dann. Wenn Sie etwas wissen, dann reden Sie endlich!" "Wenigstens..." Seine Stimme verliert sich wieder zu einem Murmeln. "Was ist wenigstens?" fragt Roth und klemmt 243
den Hörer zwischen Ohr und Schulter. So kann er mit beiden Händen nach Zigaretten suchen. "Ich für meinen Teil glaube nicht, dass Sie irgendetwas wissen. Und so können Sie mich bestimmt nicht daran hindern,... Regine zu heiraten." "Sie wollen sie heiraten?" fragt Schwirtz heftig. Und fügt nichts weiter hinzu. Roth holt tief Luft: "Also, bitte!" "Sie werden schon sehen." Gut, Roth wird schon sehen. *** Durch ein Flurfenster zur Zülpicher Straße dringt das Gekeuche eines Lastwagens. Bei Carlheinz Roth ist die Müdigkeit längst einer Neugierde gewichen. Der Journalist schüttelt seine Uhr, als sei ihm das Armband zu eng. 1.15 Uhr. Unschlüssig steht er vor der Tür zur Seelenwalhalla. Ist auf einen Schlag über den Hinterkopf gefasst, der aber nicht kommt. Fast verlässt ihn der Mut. Aber aufgeben will er nicht. Scharf zieht er die Luft ein. Es riecht nach billigem Bohnerwachs und gebratenem Speck. Irgendwo im Haus drückt jemand die Spülung. Die Abflussrohre gurgeln vor sich hin. Etwas unschlüssig tigert er auf dem Marmorboden hin und her: wie ein Montagmorgenpatient im Wartezimmer von einen Zahnarzt. Roth ist sich ganz sicher, Erwischen bedeutet Exkommunikation. Dann vermischen sich 244
in seinem Denken die Worte von Rainer Schwirtz mit dem Bild vom zerstückelten Körper nachts auf dem Parkplatz am Fühlinger See. Der Reporter bläht die Nüstern. Und holt die American ExpressKarte aus seiner Brieftasche. Erleichtert, endlich den richtigen Vers in seinem Gesangbuch gefunden zu haben. Plötzlich geht das Licht aus. In dem Flur ist es dunkel wie im Grab. Mit angehaltenem Atem hält er inne. Da ist niemand. Er drückt auf den Lichtknopf. Es wird wieder hell. Aber an der Wand rührt sich etwas. Ein Schatten. Sein eigener Schatten. Nach endlosen fünf Sekunden hat er sich wieder im Griff. Vorhin wollte er schon mal aufgeben. Dabei sind die Voraussetzungen für den Einbruch günstig. Weil die Wechselsprechanlage meist kaputt ist, hatte ihm Regine Schwirtz kürzlich einen Schlüssel von der Flurtür gegeben. Und sie hat einen von seiner Wohnung bekommen. Im Eingang schnarchte ein Koloss von einem Mann vor sich hin. Seine Patschhände umklammerten eine Pulle Johnie Walker. Der Mann ließ sich nicht im Schlaf stören. Zum Glück. Das Anschlagen der Telefonklingel zerreißt die Stille. Roth erstarrt und wartet darauf, dass sich eine Wohnungstür öffnet. Krampfhaft sucht er eine Ausrede. Es fällt ihm keine ein. Niemand erscheint und 245
stellt ihn zur Rede. Aber ein Anrufbeantworter stiftet wieder Frieden. Die Tür ist zum Glück nur zugeschmissen. Nach einigen Versuchen mit seiner Plastickarte hat sie jetzt Erbarmen und springt auf. Der Reporter macht die Tür ganz vorsichtig hinter sich zu. Nur ein leises Klicken ist zu hören. Aber in seinen Ohren ist es wie ein Schuss aus einer Pistole. Eine kurze, fast gespenstische Pause lang steht er hilflos im Flur mit der rotgrünen Auslegware. Seine Hände halten einander fest. Das Bimmeln einer Straßenbahn bringt Kunde von der wirklichen Welt nachts in Köln. Aber er hängt am Tropf der Neugierde. Und spürt, wie sich sein Magen vor Erregung zusammenzieht, als müsse er sich gleich übergeben. Sein schneller Atem hallt wider. Er will für einen Moment auf andere Gedanken kommen: nimmt sich vor, am nächsten Morgen wieder joggen zu gehen. Denn immer wieder hat er festgestellt, dass das Laufen seinem Kopf gut bekommt. Oft ist es schon vorgekommen, dass sich Zoff, der ihn am Tag stundenlang beschäftigt hat, am Decksteiner Weiher in Luft auflöste. Heute will ihm das nicht gelingen. Schnell ist er wieder in der Realität. Wohin soll er gehen? Rechts in ihr Behandlungszimmer? Oder geradeaus in das Sekretariat? Beide 246
Türen sind weiß und haben Milchglasfenster. Was verbirgt sich dahinter? Aus dem Auto hat er sich seine Taschenlampe mitgebracht. Er lässt sie kurz aufflackern, drückt aber sofort wieder den Aus-Schalter. Dann entscheidet er sich für das Sekretariat und geht in Zeitlupe. Jede Sekunde dauert einen Tag. Er drückt die Klinke herunter und empfindet ein kleines Bedauern. Schon im Treppenflur hat er heimlich gehofft, keinen Erfolg zu haben. Die Angst vor der Gewissheit lähmt ihn fast. Einige Sekunden steht er im Türrahmen. Der Raum scheint genauso zu sein wie immer. Auf dem Schreibtisch in Buche-Nachbildung liegt ein abgegriffenes Buch mit dem Titel "Angst ist eine Frage der Erinnerung". Er gibt sich zu, dass er Angst hat. Neben dem Schmöker steht der schon in die Jahre gekommene Laptop von Toshiba. Rechts schlummern ein Drucker und ein angenagter Kugelschreiber vor sich hin, links döst ein blauer Aktenordner. Roth schaut hinein. Rechnungen über Rechnungen. Die Praxis muss gut laufen. Wenn alle bezahlt haben. Aber sein Ziel ist fast nagelneu, lichtgrau und steht direkt vor ihm: ein alter Karteischrank. Auf Zehenspitzen schleicht Roth hin. Sein Herz klopft vor Aufregung, als er ganz langsam an der Schublade zieht. Nicht abgeschlossen. Der Erste-Mal247
Einbrecher ist erleichtert, aber wieder ein bisschen enttäuscht. Kurz lässt er nochmal die Taschenlampe aufleuchten. Sein keuchender Atem will einfach nicht in ruhigere Bahnen kommen. Er sieht in der Tür jemanden stehen, der ihn beobachtet, näher kommt und wie wild auf ihn einschlägt. Aber da ist kein Zeuge! Roth blättert die weißen Karten durch. Da ist sie! Meuschel, Friedhelm. Er setzt sich auf den Boden und äugt argwöhnisch auf die voll geschrieben Zeilen. Dabei rückt er immer näher an die Pappe heran. Als sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt haben, kann er endlich was erkennen. Fast gar nichts versteht er: Regression... Borderliner... Depressionen... sexuelle Fantasien. Alles überfliegt er, legt dabei Daumen und Zeigefinger auf die Lippen und schüttelt leicht den Kopf. Für drei Atemzüge muss Roth aufstehen und ans gekippte Fenster mit dem Aluminiumrahmen gehen." Kurz flackert die Taschenlampe auf. Auch das noch. Er hält den Atem an und späht ängstlich hinaus. Die Herz-Jesu-Kirche gegenüber verstellt den Horizont. Wie Kraterarme ragen dahinter Hochhäuser. Auf der Zülpicher Straße ist keine Menschenseele zu sehen. Nur ein Opel Vectra zockelt an trüben Funzeln vorbei. Er fragt sich, ob hier der Hund begraben ist? Dabei ballt er die Fäuste. 248
Von Zuversicht angetrieben geht Carlheinz Roth zurück und blättert das Register weiter durch. Jedes Mal von neuem steigt in ihm die Befürchtung hoch, sich strafenden Blicken auszusetzen. Aber er irrt gewaltig. Wieder kann er sich nur mit Mühe davon abhalten, vor der möglichen Gewissheit zu fliehen. Seine Augen haben sich längst zu schmalen Schlitzen verengt. Sollte heute vielleicht einer jener Tage sein, an denen überhaupt nichts klappt? Und schon gar nicht ein Husarenstück? Nicht auszudenken! Was er dann entdeckt, geht ihm durch Mark und Knochen. Seine Augen starren zu der Karte hin, gleiten ab und kehren gleich wieder zurück. Mein Gott, echot er. Das Geschnatter eines Radios von nebenan kann ihn nicht vom Lesen abhalten. Der Journalist zweifelt an seinem Verstand! Aber hier stehen die gleichen Vokabeln wie vorhin: Hang zum Masochismus. Er steckt diese Karte ein. Ein schwacher Laut dringt aus seinem total trockenen Mund. Halb drückt er Enttäuschung aus, halb Wut. Eine Frage wühlt ihn auf: Muss er Kratzenstein oder Koritzius Bescheid sagen? Unschlüssig macht er sich wieder auf die Socken, tapert mit blassem Gesicht zurück. An der Tür hört Roth Schritte im Flur, er wartet wie ein gehfähiger Kranker auf seine Entlassung. Se249
kunden vergehen. Ihm tropfen Schweißperlen von der Nase. Dann geht eine Tür auf und die Schritte verschwinden in der Stille. Draußen am Eingang ist der Koloss von einem Mann wachgeworden. Roth läuft an ihm vorbei. Dabei kann er eine Alkoholfahne riechen. Der Berber grinst den nächtlichen Besucher idiotisch an. Und fragt sich, ob der wohl von Natur aus so blass ist: "Kumpel, hat sie dich auch rausgeworfen?" Ein "Nein" und ein Kopfschütteln ist die einsilbige Antwort. Die Karten in seinem Kopf lassen ihn total unkonzentriert erscheinen. Schon auf der Straße fügt Roth eine kleine Portion Postskriptum hinzu: "Sich selbst!" Ihm ist übel. Speiübel.
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14. Mittwoch, 29. Juni Von einem Glockenturm in der Nähe schlägt es neun Uhr. Frühaufsteher Helios ist längst durch die Wolken gekrochen und hält Ausschau nach Sonnenanbetern. Hans-Werner Koritzius hat sich eine Zigarre angezündet, als sei heute noch Sonntag. Ein nagelneuer Ventilator auf seinem Schreibtisch gibt ein stotterndes Summen von sich. Daneben steht eine Vase mit drei Chrysanthemen, die aus Plastik sind. Irgendjemand hat Wasser in die Vase getan. Der Polizist geht noch nicht ins Geschirr. Dabei würde er sich gerne für einen großen Kampf warmtrainieren. Wenn sich nur ein Sparringspartner fände. Von der Tür ist ein zaghaftes Klopfen zu hören. "Herein!" Koritzius lauscht auf das Aufgehen und zählt bis dahin die Sekunden. 21...22. Der Aushilfsbote mit dem Fleischergesicht er-scheint mit einer Akte in der Hand. "Sonst nichts?" will Koritzius wissen. Der Metzger nickt nur, als bedürfe die Frage keiner Klärung. Wortlos legt er den Punkt! auf den Tisch und verschwindet wieder. Sekunden später ist der Beamte völlig in das Blatt vertieft. Zuerst 251
kommt die letzte Seite mit den Lokalnachrichten dran: Der Kölner Kripochef Paul Kratzenstein wird im NRW-Innenministerium neuer Leiter des Referates Strafverfolgung der Polizeiabteilung werden. Koritzius nickt mit jedem Wort. Er ist überzeugt davon, gute Karte für die Nachfolge zu haben. Und die Trümpfe kommen ins Spiel, wenn er die Aufklärungsquote für Mordfälle hochtreibt. Plötzlich lauern die gleichen Schreckensbilder auf ihn, die ihn schon früher in der Nacht gepeinigt haben: Als Jugendlicher stürzt er von einem Pferd, bleibt regungslos auf einer Wiese liegen. Regungslos. Dann steht das Pferd vor ihm und trampelt auf ihm herum. Ganz kurz wird der Bulle von einem Schaudern erfasst. Er steht jetzt auf und öffnet das Fenster. Hofft so auf eine Abkühlung. Doch die Hitze trifft ihn wie ein Schlag. Sofort schließt er das Fenster, zieht sogar einen Vorhang zu, setzt sich wieder und legt die Beine auf den Schreibtisch. Sofort sieht er sie vor sich: Die Frau im Reiteranzug. Morgen wird er das Leder ihrer Stiefel riechen, die silbernen Stachel ihrer Peitsche spüren...Herrlich!!! Koritzius scheint tief in Gedanken versunken zu sein. Das energische Klopfen an der Tür schiebt sofort seine Vorfreuden eisern beiseite. "Herein", 252
knurrt er mit seiner Ich-ziehe-ins-Manöver-Stimme. Es klopft wieder. "Rein!" Die Tür geht auf. Und Dr. Regine Schwirtz erscheint: in einem lilafarbenen Top, Turnschuhen und weißen Bermudas. Um das rechte Fußgelenk baumelt ein goldenes Kettchen mit irgendetwas dran. Sie kommt auf ihn zu und nicht umgekehrt. Er wäre sicher über etwas gestolpert. "Was wollen Sie denn hier", fragt er entsetzt und hält einen Kugelschreiber apathisch in der Hand. Über sein knallrotes Gesicht huscht ein Schatten von Entsetzen. "Was???" "Ihnen helfen." Er sieht mitgenommen aus, findet sie. "Ich brauche keine Hilfe." Aber er weiß selbst, dass er nichts so dringend braucht wie Hilfe. "Vielleicht doch", antwortet sie keck, dann sachlich: "Ich soll ein Verhaltensmuster erarbeiten ..." "...Ach, so. Sie sind das. Dachte ich mir schon...Bilden Sie sich bloß nicht ein, Sie könnten hier alles durcheinander wirbeln", warnt er. Obwohl er nach einem neuen Triumpf lechzt. "Ich will Ihnen doch nur helfen." "Helfen. Jaja", murmelt er, um irgendetwas zu sagen. Er bemerkt die dunklen Halbmonde unter ihren Augen, geht aber nicht darauf ein. "Hätten Sie mir das nicht früher sagen können?" fragt er mit einem verständnislosen Lächeln. 253
"Ich musste es mir lange durch den Kopf gehen lassen. Hätte ich Sie über diesen Prozess informieren sollen?" Koritzius zögert mit einer Antwort, als würde von ihm das Urteil des Jüngsten Gerichts erwartet. Schließlich will er argwöhnisch wissen: "Kommt dieser Roth etwa auch noch?" fragt er, während er die Frau mit Zigarrenrauch einnebelt. Am liebsten hätte er den Journalisten Tag und Nacht nicht aus den Augen gelassen. Aber mit diesem Vorschlag hat er bei Kratzenstein eine totale Bauchladung erlebt. Sie scheint durch die Wortwahl verwirrt zu sein. "Ja, später. Wenn wir die Fragen ausarbeiten.... Die beiden Morde setzen Ihnen zu. Nicht?" Alles, was sie sagt, weht wie ein Nebelschleier durch den Raum. Er beschließt, diese Frage nicht direkt zu beantworten. "Wir müssen das Monster schnappen." Er hat ein Streichholz in der Hand, führt es in den Mund und kaut darauf herum. Stoisch arbeitet er auf seine eigene Zerstörung hin! "Zunächst einmal. Wir dürfen den Täter nicht als Objekt sehen. Sondern als Wesen aus Fleisch und Blut." Soll etwa so die Hilfe aus dem Schlamassel aussehen? Er hört schon Bild & Co. Zeter und Mordio 254
schreien, wenn diese Einschätzung bekannt wird. Nach einer guten Weile sagt er schließlich: "Also gut, lassen Sie uns beginnen." Dabei lässt er seinen Blick forschend über ihre braunen Beine streifen. Die Augen werden von der Sonne geblendet. Und mit einem Mal angezogen: von dem Goldkettchen mit der kleinen Reitgerte daran. Das löst in seinem Hirn Großalarm aus! Er scheint gelähmt zu sein. Vor Überraschung. Vor Freude. *** Nach einigen Sekunden lächelt Hans-Werner Koritzius warnend und setzt seine dienstliche Miene auf: "Wann kommen wir endlich zur Sache?" fragt er und schaut flüchtig in ihre Richtung. Ihr Blick ist auf ihre Uhr gerichtet. Zu ihrer geheimen Freude tut er es ihr nach. Einige Zimmer weiter startet eine Wasserspülung. Es hört sich an, als würde jemand ein Billigpreis-Motorrad warm laufen lassen. Das Katz-und-Maus-Spiel geht weiter, bei dem niemand weiß, wer Katz oder Maus ist. Koritzius verwässert den Wein. "Eine heiße Spur haben wir noch nicht. Aber viele kleine. Und die führen auch zum Ziel." Sein letztes Wort geht fast in einer Salve kehligen Lachens unter. Obwohl sie ihn schon etwas genauer kennt, ist sie immer wieder über die Ausdruckslosigkeit seiner 255
Miene erstaunt. "Ich habe mir die Akte genau angesehen und kann mir jetzt ein vages Bild von einem Hauptverdächtigen machen." "Dann bin ich aber mal grichtig gespannt", wirft er in einem Tonfall ein, der die Temperatur möglichst niedrig halten soll. Aber er hört nicht richtig zu. Seine Augen kleben an ihrem Fußschmuck. "Zwei Merkmale fallen mir besonders auf. Eine mangelhafte soziale Anpassungsfähigkeit und die mögliche Überschätzung der eigenen Fähigkeiten." Koritzius quittiert diese Einschätzung mit einem angedeuteten Lächeln. Der Sermon dieser Zimtzikke juckt mich nicht, denkt er und gähnt. Das Klingeln des Telefons zerrt ihn von seinem Strand der Boshaftigkeiten. "Ja, wer stört mich?" fragt er in den Hörer. Er scheint von der Psychologin meilenweit entfernt zu sein. Oder auch nicht. "Der Pförtner. Hier ist ein Herr Roth für Sie..." Koritzius reißt den Mund weit auf und schreit. Vermutlich das erste Mal in den letzten zehn Jahren. Sofort besinnt er sich: "Soll von mir aus heraufkommen", erklärt er in der Rolle des Spielverderbers. Die Augen hat er fast geschlossen. Aber nur fast. Denn ihr Fußschmuck ist ein Magnet. Ruhig bleiben! befiehlt er sich. Ihm zittern die Knie. Was soll er jetzt sagen? Soll er sie fragen, ob die Kette eine Bedeutung für sie hat? Oder soll er ein256
fach darüber hinweggehen? Die Fragen hallen in seinem Kopf. Sein Gesicht ist rot angelaufen. Der Magen scheint sich zusammenzukrampfen. Er atmet langsam tief durch, bis er sich wieder unter Kontrolle hat. Lässig schlägt er die Beine übereinander. Seine Zigarre soll wieder die gesammelte Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen. "Der Roth ist schon vor der Tür." Der Kerkermeister seiner Gefühle spricht Worte, die sein Mund falsch empfangen hat. Stirnrunzelnd geht sie darüber hinweg, witterte aber schon vorhin Ungemach. Koritzius ist scheinbar wieder in die Musterung seines Schreibtisches vertieft. Ihre Hände sind ergeben gefalten, der Blick wandert zwischen ihm und dem Telefon hin und her, als warte sie auf Einsatzbefehle. Dabei lässt sie ihm ein total überbelichtetes Lächeln zukommen. Denn schon wieder senken sich seine Augen zu ihren Füßen. Sofort jagen ihr Schmerzen durch den Kopf. Damit will sie sich für die eigene Vergesslichkeit bestrafen. "Die Kette... Die hat mir meine Freundin geliehen", berichtet sie völlig ungefragt. Welche Freundin? fragt er lautlos und tappt weiter im Dunkeln. "Im Ernst ." Ohne anzuklopfen erscheint ein Pförtner mit einem herabhängenden Schnäuzer in einem 257
Bimsteingesicht: "Bitteschön!" Und Roth tritt ein. Begrüßt die Helferin mit einem warmen Blick. "Dann kommen Sie mal rein", sagt Koritzius und ergänzt in Gedanken: Wenn es sich schon nicht vermeiden lässt. *** Bei dem Treffen mit Roth und der Psychotante hat auch Koritzius viele Fragen, aber es erscheint ihm sinnlos, sie in irgendwelche vernünftige Formen zu bringen. Darum schweigt er. Am meisten würde ihn die Bedeutung ihres Fußschmucks interessieren. Aber darüber kann er kein Wort mehr verlieren. Mehrfach klopft er drei Zigaretten aus der Packung. Doch immer schüttelt sie energisch den Kopf, als sei sie militante Nichtraucherin. Roth zuckt immer wieder die Achseln. Mit sehr viel Mühe zaubert Koritzius eine Art gelassene Ergebenheit in sein Gesicht, als fände er die Zusammenarbeit total in Ordnung. Aber innerlich kocht er. Irgendetwas kommt ihm spanisch vor. Auf dem Heimweg steckt er sich eine Zigarette an. Aber schon nach drei hastigen Zügen drückt er sie wieder aus. So sehr er auch nachdenkt, er kommt nicht auf den Grund seiner Nervosität. Zuhause schließt er die Tür auf und räuspert sich diskret. Aber niemand ist da. Klar, seine Frau ist zu ihrer 258
Mutter nach Datteln gefahren, und Kinder haben die beiden nicht. Im Garten lässt er sich sofort in einen Sessel fallen, legt die Füße auf den Tisch und wühlt in seinen Taschen nach einer Zigaretten. Bis er sie schließlich raucht, zittert sie ein paar Minuten unangezündet zwischen seinen Fingerspitzen. Er will endlich mal die Buddenbrooks lesen, aber die Buchstaben marschieren vor seinen Augen im Stechschritt. Dann schlummert er ein. Völlig desorientiert muss er einige Stunden später erkennen, dass er bei heraufziehender Kühle den Nachmittag fast total verpennt hat. Mit ausdrucksloser Miene beißt er sich fest auf die Innenseite der Wangen und schaut auf: Die Sonne verblasst zwischen zwei Häusern. Für einen kurzen Ausflug reicht es noch. Für einen Besuch im Freibad. Sein Nacken beginnt zu prickeln. *** Im Radio berichtet ein Sprecher von einem Attentat auf einen israelischen Soldaten. Mit einer Stimme, als würde er mit einer Verpflichtung für die Trauerrede rechnen. Hans-Werner Koritzius verzieht keine Miene, für ihn hat die Meldung so geklungen, als lese der Sprecher aus dem Dschungelbuch von Walt Disney vor: mit Mogli, Baghira und Balu. Er dreht den Lautsprecher etwas leiser und lenkt seinen Opel 259
Vetra sicher über die verstopfte Gleueler Straße in Richtung Hürth. Dabei schiebt er einen Kaugummi in den Mund, rollt ihn über die Zunge und kaut los. Seine Gedanken sind bei der Kette. Was hat sie zu bedeuten? Vor einer Fußgängerampel am Decksteiner Weiher muss er stoppen. Ein hakennasiger Lackaffe schwebt über die Fahrbahn. Eine leichte Brise Angst dringt durch sein Schiebedach und streift Koritzius um den Nacken herum. Schon Augenblicke später ist sie ein Orkan! Und Koritzius beginnt zu zittern. Es beginnt an seinen Füßen. Und breitet sich bis zu seiner Kopfhaut aus. Unterwegs streift es die Lippen. Sie bewegen sich. Der Bulle hat plötzlich das Bedürfnis zu schreien. Aber kein Laut dringt hervor. Er hat das Gefühl, auf seiner schmerzenden Brust würde jemand herumtrampeln. Die Luft wird immer knapper. Einige Augenblicke bewegt er sich nicht. Jeder Muskel scheint gelähmt zu sein. Glasige Augen starren ihn aus dem Innenspiegel an, als ob er ein paar intus hätte. Sein Mund hat sich zu einer gequälten Grimasse verzogen. Das verzerrte Gesicht scheint zu glühen. Es spielt das Grauen wider. Schnell blickt er weg. Doch die Augen schmerzen. Nur mühsam kann er die schweißnassen Hände vom Lenkrad lösen. Und Bobby Vinton im Radio die 260
Luft abdrehen. Darunter ist der Hebel für das Gebläse. Er stellt es auf die höchste Stufe. Der Pflasterstein in seinem Mund wird immer schwerer. Ihm fehlt der Sauerstoff zum Schreien. In ihm steigt der Brechreiz höher und höher, die Eingeweide rumoren. Und er spürt wieder den Druck auf die Blase. Aber er kann nicht aussteigen. Der Lastwagen hinter ihm ist nicht auf seiner Seite. Unruhig rutscht der Fahrer auf seinen Sitz hin und her. Sein Hupen weckt schließlich die Enten auf dem See. Absichtlich lässt Koritzius den Motor absaufen, kann nicht weiterfahren. Der Laster knattert links an ihm vorbei wie ein Rasenmäher, der Überstunden machen muss. Ein entgegenkommender Lieferwagen macht eine Vollbremsung. Ihm bleibt nichts anderes übrig. Vorbei? Koritzis sieht die Schweißflecken auf seinem Hemd. Seine Hände zittern noch immer. Bisher kannte er diese Panik nur bei nächtlichen Fahrten über die Autobahn. Jetzt wird der Kreis immer enger. Er nimmt keine Rücksicht mehr auf Tageszeit und Sonnenschein. Vorbei! Aber Koritzius befürchtet, immer tiefer im Sumpf zu versinken. 261
15. Donnerstag, 30. Juni Unrasiert in Jeans und zerknittertem T-Shirt stiefelt Carlheinz Roth den Hohenstaufenring zum Rudolfplatz entlang. Plakate bieten ihm eine Fotoreise nach Australien, ein Konzert mit Werken von Bach und ein Seminar über Sterbehilfe an. Vor ihm taumelt ein begossener Pudel her. Dessen Schritte schleppend sind wie die eines Greises. Vor dem Modeladen Szene bleibt er stehen und dreht sich um. Roth sieht in ein rotes Gesicht, das nicht von der Sonne verbrannt wurde. Hass verdunkelt die Augen. Der Berber atmet scharf ein, als habe ihm jemand gesagt, dass in der Bundesrepublik um Mitternacht die Prohibition eingeführt würde. Dann singt er etwas, das Roth aber nicht mitkriegt. Und deshalb den Kopf schüttelt. Der andere starrt ihn erwartungsvoll an, als hoffe er auf eine bessere Pointe eines Witzes. Sekunden vergehen. Schließlich bewegen sich seine Lippen. Der Journalist kann leicht ein Wort ablesen: Wichser! Zum Glück springt in diesem Moment die Ampel um und er kann über den Ring in die Lindenstrasse gehen. 262
Sein Gesicht lässt vermuten, dass er einen Moment lang Mitleid empfand. Doch das schlug nicht in bare Münze um. Im Schaufenster vom Reisebüro Atlas kann er den Betrunkenen wild gestikulieren beobachten. Vor der Reinigung Kuschel steht ein Biedermann, mit einem vom Rasieren strapazierten Kinn. Er hält den Wachturm in der Hand. Roth schüttelt den Kopf und muss sich ein Grinsen verkneifen. Bei Papier & Geschenk nimmt ihn die Schlagzeile von Punkt! in die Arme: Erste Spur vom Amok-Mörder? Roth muss sich auf die Zunge beißen. Auf dem Weg zu Kaffeemaschine und Toaster leckt er sich über die Lippen. Seine Augen bedienen sich am Artikel auf der dritten Lokalseite, den er eigentlich in- und auswendig kennen müsste. Aber noch nicht gedruckt gesehen hat. Punkt!: Bei der Fahndung nach dem Doppelmörder kommt die Polizei nicht von der Stelle. Hans-Werner Koritzius: Das kann ich so nicht sehen. Wir haben inzwischen ein genaues Bild von dem Täter erarbeitet. Unter dem T-Shirt von Carlheinz Roth bildet sich Achselschweiß. Sein Hals glänzt. Aber seine Stirn ist blass. Punkt! Und das sieht wie aus? 263
Koritzius: Er ist eindeutig psychisch gestört und überschätzt sich total. Darum läuft er Gefahr unvorsichtig zu werden und tapptt bald in unsere Falle. Roth verzieht das Gesicht, als schlucke er einen besonders bitteren Hustensaft. Mit jeder Zeile wird sein Atem heftiger. Punkt! Der Täter scheint geistesgestört zu sein. Koritzius: Das ist anzunehmen. Seine Fantasie ist sehr begrenzt. Er spielt im wirklichen Leben nur eine Außenseiterrolle, kann sich nirgendwo richtig anpassen. Der Preis der Beitragsehrlichkeit ist ziemlich hoch. Eine Spur Wut hat sich in seinen Blick geschlichen. Punkt!: Was heißt das? Koritzius: Er lebt sehr isoliert, ist in keiner festen Beziehung. Das Unterbewusstsein von Carlheinz Roth ballt die rechte Hand zur Faust und hebt sie in Brusthöhe. Punkt!: Die beiden ersten Morde passierten jeweils an einem Mittwoch. Jetzt ist nichts geschehen. Koritzius: Bestimmt plant er schon seit einiger Zeit ein neues Verbrechen. Aber seine Angst wird immer stärker. Sie lähmt ihn, hindert ihn an der Ausübung des Planes.
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Zum ersten Male hat er sich vor Dienstbeginn seine eigene Zeitung am Kiosk gekauft. Sein Gesicht ist noch immer käsebleich. Von Zeile zu Zeile ist seine Gewissheit gewachsen. Vor seiner Haustür lungert jetzt der begossene Pudel herum. Er entdeckt sofort den Fahrensmann in der Menge, wirft den Kopf zurück und lacht laut. Roth hört noch immer sein eigenes heftiges Atmen. Seine Stimme würde für eine Antwort zu erschöpft klingen. Und das morgens um 9. *** Carlheinz Roth kann seine Gedanken nicht ablenken: Was will die Polizei mit dem Interview bezwecken? Er beschließt spontan: einen Tag krankzufeiern. Aber nicht, um sich ins Bett zu legen. Sondern um Detektiv zu spielen. Auf der Fahrt ins Ruhrgebiet kann er sich nur mit Mühe bremsen. Am liebsten würde er mit einem Dauerhupen über die Piste brettern. Dabei zündet er sich jede neue Zigarette an der Glut der alten an. Fast ununterbrochen stochert er in seinen Erinnerungen herum. Mit Erfolg. Dauernd fliegen ihm Gespräche mit ihr zu. Voller Widersprüche. Und denen will er jetzt nachgehen. Die Osterfelder Straße in Vonderort ist eine Gegend, in der sich offenbar die Spießbürger von Bot265
trop eingenistet haben. Doch die Wassermassen der letzten Stunden haben den heiligen Rasen der Einfamilienhäuser total aufgeweicht. Jetzt hat der Regen aufgehört und die Wolken verstecken nicht länger den Gasometer von Oberhausen. Aber die Scheiben des Alfa Romeo sind noch mächtig beschlagen, der langsam über dem dampfenden Asphalt fährt. Ein Mann, der aussieht, als ob er nicht bis drei zählen kann, steckt Prospekte vom GlobusMarkt in die Briefkästen. Carlheinz Roth stoppt seinen Flitzer vor dem Haus mit der Nummer 12. Sein Gesicht ist von Neugierde verzerrt. Er ist regelrecht nervös bis zum Gehtnichtmehr. Der Journalist steigt aus und geht unsicher zum Eingang. Er fühlt sich, als ob er in vier verschiedene Richtungen geht. Weil er spürt, was kommen wird. Die Namen an der Türklingel sagen ihm nichts: Karin und Jürgen Wolffram. Er drückt auf die Klingel. Zwei Mal. Eine Frau in einem hautengen schwarzen Ledermini und einer brokatfarbenen Bluse schaut ihn mit geschürzten Lippen an. Ihre Augen sind leicht gerötet. Passend zur Farbe ihrer leicht aufgebauschten Föhnfrisur. Das Lächeln zeigt ihr ebenmäßiges Gebiss. "Roth ist mein Name", beginnt er und präsentiert gleich eine Lüge: "Ich bin Versicherungsinspektor." Die Frau atmet keuchend: "Wir 266
brauchen keine Versicherung!" Das klingt so, als ob sie diesen Satz lange geübt und auswendig gelernt hat. "Neinnein. Ich will Sie nicht versichern. Ich brauche nur eine Auskunft." Sie lächelt wieder. Fast so, als ob sie Zutrauen zu Roth gefasst hat. Er lässt es bei einem Blick auf ihren knappen Rock bewenden. Im Halbdunkel erscheint ein Mann. Er sieht aus wie um die Sechzig, ist aber wahrscheinlich nicht älter als Anfang Vierzig. Sein Gesicht ist leicht aufgedunsen. Wie bei Kranken, die seit langem Kortison einnehmen müssen. Ihm würde Roth in der Nacht nicht gerne in die Quere kommen. "Worum geht's hier?" tönt er und beugt sich in die Sonne. Jetzt hat er etwas von einem Studenten im 16 Semester, der seine Ausmusterung befüchtet. Die dicken Gläser in dem Gestell von Fielmann müssten mal wieder geputzt, die strähnigen Haare gekämmt und die ausgefransten Jeans gewaschen werden. Wahrscheinlich gehört das Haus zur Erbmasse. "Ich komme von der Europa-Versicherung aus Köln...", holt Roth aus. Das beeindruckt nicht sehr. "Können Sie sich ausweisen?" erkundigt sich der Student mit den glasigen Augen. Der Mund seiner Frau klafft auf. Sie schaut ernst drein. "Leider nicht." Roth dreht sich um und zeigt auf seinen Alfa: "Dort ist mein Wagen." Am Seitenfenster prangt 267
der Schriftzug der Versicherung. Er hat ihn irgendwann von einer Pressemappe abgeschnitten und ins Handschuhfach gelegt. Die Augen des Typen heften sich auf das Auto. Dann nickt er. Eduard Zimmermanns Nachfolgerin und ihre Nepper, Schlepper und Bauernfänger könnten sich Notizen machen. "Also, was wollen Sie?" Die Stimme von Herrn Wolffram ist etwas angeschwollen. Roth hustet erst einmal und lässt ihn zappeln: "Bei uns will Regine Schwirtz eine Lebensversicherung abschließen. Da holen wir Erkundigungen ein. Die hat doch hier mal gewohnt, oder ? Mit ihren Eltern, soviel ich weiß." Sein Herz rattert wie eine Dampflokomtive in den Tessiner Alpen. Für einen Moment schließt die Frau in der Tür die Augen, hält kurz die Hände vor das Gesicht. Jetzt weiß Roth, dass sich die Fahrt gelohnt hat. Da brennt der Baum. "Der Alte war ein großartiger Mann!" Jürgen Wolffram ballt die Hand zur Faust, öffnet sie sofort wieder. Aus seiner Tasche klaubt er ein zerknülltes Päckchen Philip Morris. "Großartig, ja. Aber nur für die, die ihn nicht kannten. Sonst war er ein... ein Arschloch. Ein richtiges Arschloch!" Plötzlich steht ein Mann in einem dunkelblauen Trainigsanzug hinter Roth. Es sieht aus wie der letzte Vollidiot: "Tach! Hier hasse wat zu lesen", lallt die taube Nuss und wirft den Kurier in 268
den Flur. Die Frau schüttelt den Kopf und ist sichtlich um Fassung bemüht: "Kommen Sie doch herein", bittet sie und geht in die erste Tür links. Ihr Mann folgt ihr mit einem säuerlichen Grinsen. Roth schließt sich der Prozession an. Die Rollos sind fast bis auf die Fensterbretter heruntergelassen. Das Wohnzimmer ist in Halbdunkel gehüllt. Der Rauch von Zigaretten hängt wie dichter Nebel in der Luft. Nach zwei Sekunden haben sich Roths Augen an die Lichtverhältnisse gewöhnt. In der Ecke sabbert ein Fernseher vor sich hin. Auf einem Vertiko stehen zwei schwarze Vasen, die mit goldenen Drachenmotiven verziert sind. Eine Vitrine ist voll gepackt mit Porzellan und Büchern. Dafür darf sich ein Sideboard entspannen. An den Wänden ruhen sich preiswerte Kunstdrucke von Rembrandt aus. Noch etwas aus der Erbmasse. Das Paar hat längst das 3er Sofa in Nubukleder erobert. Roth begnügt sich mit dem Sessel. Die rothaarige Frau dreht sich mit schwarzem, holländischem Tabak eine Zigarette, schaut dabei Roth an. Er kann offenbar Gedanken lesen: "Danke, ich habe meine eigene Marke." Der Mann in den Jeans sieht jetzt aus wie jemand, der endlich reinen Tisch machen will: "Wegen der Schwirtz sind Sie da? Nun, der Schmus, den mir der Alte früher erzählt hat, ha269
be ich längst vergessen. Das war nur Schaumschlägerei." Roth schaltet schnell. Eigentlich wollte er etwas über die Tochter erfahren, aber der Weg dorthin führt nur über ihren Vater. Mit einer verschwörerischer Miene bemerkt er: "Sie sind gar nicht gut auf ihren verstorbenen Nachbarn zu sprechen..." "...Neee!...In den letzten Jahren habe ich nur Schreie von ihm aus dem Keller gehört. Die Regine musste als Kind mit erleben, wie ein Elternteil das andere betrog...Du bist so jähzornig wie dein Vater, bekam sie von ihrer Mutter zu hören...Das Verhältnis der beiden zueinander war sehr kühl. Mit ihrem Vater hat sie sich aber prächtig verstanden. Obwohl er für mich ein Arsch war. Manchmal habe ich ihn im Garten gesehen, wenn er seine Tochter im Arm hielt und dabei seine kleinen, schwarzen Zigarren paffte. Als ob er das drinnen nicht durfte." Draußen schwillt der Lärm eines Lasters an, der sich von einem Container befreit. "Was hat der eigentlich beruflich gemacht", will Roth eigentlich gar nicht wissen. Denn diese Information hat längst eine Datei ausgespuckt. Aber er möchte nicht den Erzählfluss stoppen. Der Student kneift die Augen ärgerlich zusammen: "Er war Türsteher in einer Bar in Duisburg und spielte sich hier wie ein Richter auf. Nur weil er 270
Männer ohne Krawatte am Eingang von diesem Puff abweisen durfte." Ihm scheint das regelrecht unter den Nägeln zu brennen. Mit jedem Wort ist seine Stimme einen Ton schärfer geworden. Seine Frau beteiligt sich nicht am Steinewerfen. Ab und zu lacht sie mal hohl auf. Zieht lässig an ihrer Zigarette. Aber ihre Selbstsicherheit wirkt gespielt. Wolffram seufzt. "Allen Leuten hat er auch erzählt, dass er bei der Presse ist. Die Wahrheit ist, er hat sich als Zeitungsbote bei den Ruhr Nachrichten über Wasser gehalten, als das Ordnungsamt den Laden dichtmachte." Er scheint auf nichts Rücksicht nehmen zu wollen. In Roth kocht die Neugierde. Er müsste jetzt auf Regine kommen. Aber die Brücke sieht er nicht: "Stimmt das, was in der Zeitung stand?" Jürgen Wolffram scheint einen mächtigen Rochus zu haben. Aber auf wen? "Kein Wort. Der Alte war pervers. Aber nicht nur er. Er war erst M, dann S, wenn Sie verstehen, was ich meine." Roth nickt, in seinen Kopf überstürzen sich seine Gedanken. "Aus dem Keller haben die beiden ein richtiges SadoMaso-Studio gemacht. Mit einem Holzkreuz an der Wand. Peitschen und Ketten. Und allem, was dazu gehört." Sein Gesichtsausdruck lässt nicht den geringsten Zweifel aufkommen, dass er weiß, was so alles dazugehört. Roth fährt sich mit der Zunge über 271
die Unterlippe. Sein Herz beginnt wie wild zu schlagen. Denn genau so etwas hat er auf den versteckten Fotos in Herne gesehen, und er weiß von der Leidenschaft von Friedhelm Meuschel. Seitdem er die Karteikarte gelesen hat. Er stiert auf ein Paket ohne Aufdruck, das auf einer Art Teewagen steht: "Und seine Frau hat mitgemacht?" Ein Kopfnicken ist die erste Antwort. "Ja, natürlich", fügt sie hinzu. "Aber nur, wenn sie S sein durfte. Von Blümchensex hielten beide nichts." "Wollen Sie damit sagen, dass ...." beginnt Roth. Wolfframs Gesichtsausdrücke spannen sich. "Alle haben mitgemacht. Alle!" geht er mit vor Zorn rauer Stimme dazwischen. Der Besucher sitzt vor ihm wie versteinert. Er versucht den Kloß herunterzuschlucken, der in seinem Hals steckt. Alle? Sein Herz klopft rasend schnell. Karin Wolffram hält die Hände im Schoss gefaltet. Sie schlägt die Beine übereinander und nimmt sie Sekunden später wieder voneinander los. Dann füllt sie ihre Lungen mit Nikotin: "Frau Schwirtz hat ihren Alten umgebracht, weil sie gemerkt hat, dass sie nicht mehr die Nummer 1 ist. In der Bild-Zeitung hieß es, sie wollte ihre Tochter schützen. Quatsch! Das war Eifersucht. Sie kam hinzu, als er von seiner Tochter gerade mit Glasscherben bearbeitet wurde." Keinen Moment zögert sie, obwohl sie weiß, dass 272
dies ein heikles Thema ist. Ihre schwarz geränderten Wimpern schlagen auf und ab. Die Augen ihres Mannes funkeln regelrecht. Weil sie das Gelübte der Trappisten gebrochen hat. Roth kann nicht glauben, dass das, was er gehört hat, tatsächlich passiert ist. Ein Zucken jagt durch seinen Kopf, als hätte er gerade einen Stromschlag bekommen. Seine Rückenhaare richten sich auf. Der Kopf scheint sich mit Helium zu füllen. Sein Mund klafft auf. Ein Gedanke erzeugt sofort den Nächsten. Eifersucht... Glasscherben... Parkplatz. Er muss dringend an die frische Luft. Redet er sich das ein, oder ist da wirklich bei der Frau die Spur eines Lächeln? "Erst tobte er mit seinen Gespielinnen im Keller... Aber was hat das alles mit der Versicherung zu tun?" fragt der Mann, der nach Marbert stinkt. Roth kann nicht mehr Klasse beweisen. "Ich will... weiter", sagt er und steht auf. Die Wolfframs wirken gar nicht beleidigt. Nur etwas enttäuscht. Die Augen des Reporters sind blutunterlaufen. Er spürt einen stechenden Schmerz im Hinterkopf. Und beißt die Zähne zusammen, sodass seine Bakkenknochen hervortreten. *** Von Bottrop will Carlheinz Roth auf dem schnellsten Wege zurück nach Köln brausen. Von Abfahrt 273
zu Abfahrt wird aber das Verdauen schwerer. Ihm kommt das Gespräch immer komischer vor. Hat dieser Wolffram einfach nur Mist erzählt? Schließlich fährt er auf den Rastplatz hinter dem Hildener Kreuz. Junge Rucksacktouristen und Althippies erwarten ihn schon. Er drückt den Knopf für die Zentralverriegelung, holt eine WY Chester aus seiner Packung und raucht mit geschlossenen Augen. Das Lachen der Frau klang gekünstelt. Ihr Mann mauerte überhaupt nicht, sondern redete so mir nichts dir nichts los. Dabei ist er regelrecht aus dem Ruder gelaufen. Oder war das lange geplant? Soll Roth es mit seinen staatsbürgerlichen Pflichten genau nehmen? Nein! Er entschließt sich für den Ich-willendlich-selbst-Karriere-machen-Weg. Und fährt weiter. Zuhause legt er sich in die Badewanne, kann aber nicht richtig abschalten. Der Blick der Frau geht ihm nicht aus dem Kopf. Sehnsüchtig? Zustimmend? Resignierend! Auch auf das "Russland-Haus" auf Video mit Sean Connery kann er sich nicht richtig konzentrieren. Gegen 22.45 Uhr ruft sie ihn an und lädt ihn zu einem Bier ein. Und er nimmt sich vor, ihrem Getue nicht auf den Leim zu gehen. *** 274
In der Ferne rumpelt eine Straßenbahn über die Aachener Straße. Über dem Belgischen Viertel liegt wieder einmal ein Hauch von Chivas Regal und Glenfiddich. Auf der Antwerperner Straße kann längst kein Baum mehr den anderen anblinzeln. Auf dem Tisch im Whistle Stop Cafe stehen zwei Flaschen Rock-Bier, Regine Schwirtz hält nach einem Öffner Ausschau, findet natürlich keinen. Siegesgewiss nimmt Carlheinz Roth eine Flasche in die Hand, wirft ihr einen abschätzenden Blick zu und schraubt dann den Kronkorken einfach ab. Sie strahlt ihn an. Nur für einen Augenblick ist er der ungekrönte Platzhirsch. Eine Zeit lang schleichen beide wie die Katze um den sprichwörtlichen heißen Brei herum. Reden über den Ausgang der letzten Wahlen und seine These: Man muss die PDS stärken, um sie überflüssig zu machen. Er verzettelt sich in hanebüchene Widersprüche, schließlich spielt sie mit ihrem langen, kastanienbraunen Haar und stellt fest: "du siehst aus wie ein begossener Pudel." Ihr Lachen macht die Falten um Mund und Augen noch tiefer. Er guckt ernst, puhlt an einem Bierdeckel herum: "Morgen gehe ich wieder arbeiten. Der Terminplan ist voll und ich gehe gerade in Gedanken die einzelnen Termine durch, wer wohin gehen soll." Was Besseres ist ihm nicht eingefallen. Sie ist überzeugt, 275
dass seine Gedanken ganz woanders sind. "Und außerdem bin ich müde", meint er und gähnt auf Kommando wie ein schlechter Schauspielschüler, für den die Probenbühne der Höhepunkt seiner Karriere ist. Sie spürt kein Mitrauen, setzt nur ein wölfisches Grinsen auf. Er beobachtet die Selbstbewusste genau. Als Persönlichkeit mit ganz bestimmten Handlungsmustern ist sie für ihn einfach nicht fassbar. Schon wieder lässt er das Treffen in Bottrop durch sein Gehirn rattern. Aber dabei kommt nichts rum. Beide scheinen regelrecht darauf zu warten, dass etwas passiert. "Erzähle mir was von dir", fordert er, "da gibt es doch bestimmt ein großes Geheimnis." Ziemlich fahrig fummelt sie an ihrer Uhr herum. Dann schaut sie ihn an. "Das glaube ich nicht", sagt sie schnell. Etwas zu schnell. Als ob sie so ihren Wunsch sofort zur Wirklichkeit machen könne. Irgendjemand hinter ihnen fragt: "Möchtest du mit mir mitkommen?" Die Antwort ist erst ein Zögern: "Aber nicht zu dir nach Hause! Ich will höchstens ins Hotel... Eine richtige Luxusnacht erleben. In der Präsidentensuite", flötet eine Frau. "Ein teurer Spaß", kommentiert Roth. Dann und wann zieht er an seiner Zigarette. "Das kann man auch billiger haben", freut sich seine Begleiterin. Seine Augen sind ein Fragezeichen. "Im Holiday 276
Inn ist das Treppenhaus direkt mit der Präsidentensuite verbunden. Nur eine Tür ist dazwischen. Und ich habe für diese Tür einen Schlüssel." Sie leckt sich kurz über die Lippen. Lehnt sich etwas zurück, so kommt ihr üppiger Busen noch mehr ins Rampenlicht. "du?" Er grölt regelrecht. "Ja, ich. Vor einigen Monaten war ich in der Suite. Irgendein Prominenter brauchte seelischen Beistand. Die Plattenfirma rief mich an und ich kam. Zwei Stunden haben wir miteinander geredet. Dann wollte er verschwinden, aber nicht von der Pressemeute in der Lobby gesehen werden." Sie spricht lachend und schnell, merkt überhaupt nichts, denn mit jedem Satz wird es für sie ungemütlicher. "Darum ließ er sich von der VIP-Betreuerin den Schlüssel für eben diese Tür bringen. Ich habe ihn dann zur Sporthalle gebracht. Erst einige Tage später habe ich den Schlüssel im Auto gefunden, den er vergessen hat... Man weiß nie, wofür man den mal gebrauchen kann." Nach einer Pause wird ihre Altstimme warm und zugleich fordernd: "Wir gehen! Es mag 1000 Gründe geben, weshalb sie das erzählt hat. Weil sie unvernünftig ist. Weil sie unbedingt etwas loswerden will. Weil sie sich selbst ans Messer liefern will. 277
Weil, weil, weil ... *** Carlheinz Roth bewegt sich ein wenig tapsig: nachts um halb 12 auf der Antwerpener Straße. Er ahnt nichts Gutes. Nur ein öliger Fettsack mit einem Packen jungfräulicher Zeitungen unter dem Arm schleicht vor ihnen her zum Friesenplatz. "Ich will mit dir vögeln!" Ihre Worte versetzen ihm einen gewaltigen Adrenalinstoß. Jetzt will er Nägel mit Köpfen machen: "Ich auch.. Aber nicht bei dir oder mir. Wir machen es im Holiday Inn." In ihrem Kopf geht keine Alarmsirene los." Der Hauch eines Lächelns erscheint in ihren Mundwinkeln. Sofort erteilt sie sich einen Ordnungsruf. "Wenn du meinst", antwortet die Frau, zuckt gleichgültig mit den Schultern. Manchmal erinnert sie ihn an eine pubertierende Oberschülerin, die in jeder Pause von einer Frage gequält wird: Womit ärgere ich heute meine Eltern am meisten? Aber kann so ein Kindskopf zwei Vendettamorde planen und ausführen? Hat sie es wirklich mit ihrem Vaters gemacht? Er schaut nach oben, ertappt sich dabei, wie er wieder über Jürgen Wolffram nachgrübelt. Irgendwie wusste der verdammt gut Bescheid. Weitere Bilder tauchen in seinem Kopf auf: gelbweißes Licht, eine dicke Blutla278
che, ein Toter im Halbdunkel, heraushängende Zunge, vorstehende Augen. Im Schein der Werbung vom Atlas-Reisebüro starrt er sie mit offenem Mund an. Ihrem Gesicht ist anzumerken, dass sie schon manche Tiefschläge hat einstecken müssen: Die Wangen sind tief eingefallen, die grauen Strähnen in ihrem Haar haben sich auch verdoppelt. Und für einen Moment wünscht er sich, die Nacht könnte seine Worte aus ihrem Gedächtnis streichen. Oder noch besser, die Straße würde ihn ganz einfach verschlucken. Sie bleibt an der Rolltreppe zu U-Bahn stehen. Und er kann sehen, wie sie ihn mit ihren katzengrünen Augen ansieht. Er kann sogar ihre Lust spüren. Ihm fällt nur eine verlegene Kopfbewegung ein. "Willst du jetzt den Schwanz einziehen?" wispert sie, nimmt seine Hand und geht zügig weiter. Und will ihn dazu bringen, auch schneller zu gehen. Doch Roth trödelt, als hätte er alle Zeit der Welt zur Verfügung. Schon nach ein paar Metern drosselt sie das Tempo und merkt an: "Das wäre schade." Er überhört es. Gibt sich alle Mühe, so auszusehen, als sei alles ganz normal. Bilder schwirren ihm wieder durch den Kopf: Man wird sie zur Verantwortung ziehen. Und dann wird er sie nie wieder sehen. Sein Magen verkrampft. Er sieht sie wieder vor sich - beim Rundgang in einem 279
Gefängnishof - dann liegt sie auf einem schmalen Bett in einer Zelle. Nackt...Hör auf damit, bietet er sich selbst Einhalt. Ganz abrupt bleibt sie stehen und wirft ihm einen fragenden Blick zu: "Wie komme ich nur darauf, dass du dich lange nicht so wohl fühlst, mich zu kennen, wie ich mich freue, dass du hier bist?" Er antwortet erst nicht, weil er nicht weiß, ob sie nicht einfach nur seine Aufmerksamkeit erreichen will." "Du spinnst", erwidert er schließlich. Es ist nur ein Flüstern. Er spricht mehr zu sich selbst. Sie reagiert mit einer unwirschen Kopfbewegung. Lässt ihn für ein paar Meter los. Geht allein weiter. Ein paar Tropfen klatschen auf den Ring, saugen sich in den Asphalt. Die beiden stellen sich im Eingang zum La Strada unter. Sie drückt seine Hand, bis sich ihre Fingernägel in sein Fleisch graben: "Aua!" Sofort zieht er seine Hand zurück. "Stelle dich nicht so an... Ich habe eine Überraschung für dich", nickt sie. "Eine Überraschung?" wiederholt er. "Ich weiß nicht recht, ob ich dir das jetzt schon sagen soll", lacht sie, "vielleicht sollte ich lieber bis nachher warten. "Nein!" protestiert er und schüttelt sie etwas.
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"Also gut", sagt sie und tut so, als hätte sie sich erst in diesem Moment dazu entschlossen. "Wie findest du es, wenn ich mit dir nach Kalifornien gehen? Gerade noch wollte er sie aburteilen, abrupt hält er inne und starrt sie an, als dürfe nicht wahr sein, was er gerade gehört hat: "Kalifornien? Willst du deine Praxis dichtmachen?" In seinem Kopf arbeitet es wie wild: Auswandern?...USA?.. .Kalifornien?... Er versucht, Klarheit in seine Gedanken zu bekommen. Gerade noch rechtzeitig, bevor ihn das Gefühl der Unsicherheit niederdrückt, fällt ihm ein, dass er vor ein paar Wochen gesagt hat, dass er nach Kalifornien auswandern möchte. "Was willst du denn in Amerika machen?" fragt er ängstlich und lässt sich nicht von ihrem Schwung mitreißen. "Mit dir leben", triumphiert sie. "Das Mental Research Institute in Palo Alto sucht neue Mitarbeiter. Ich habe dort schon angerufen und rausgekriegt, dass ich ganz gute Karten habe." In ihrer Stimme klingt Stolz mit. In ihm steigt ein Unbehagen auf. "Einfach toll!" sagt er viel fröhlicher, als ihm zu Mute ist. Er beißt die Zähne zusammen und redet sich raus: "Überlegen wir es uns... Ich meine, dass man das nicht nachts auf dem Ring beschließen soll. Oder?" Vielleicht war alles ganz anders? Vielleicht geht es gar 281
nicht um sie? Vielleicht ist Pik7 die Zündschnur? ...Axel Weiss vielleicht, aber Meuschel?...Nein! Sie lächelt dünn und sagt total enttäuscht: "Wenn du meinst." Fast wie auf ein vereinbartes Zeichen braust ein Polizeiwagen vorbei. Mit Blaulicht und einem Fanfarenkonzert. In der Ferne dreht ein Hubschrauber seine Runden und leuchtet mit einem Scheinwerfer etwas ab. Er sinkt tiefer und tiefer, und es ist mit einer Landung zu rechnen. Plötzlich steigt er wieder auf und verschwindet. Nach zwei Minuten wird die Dusche schon wieder abgestellt. Als sie über die Aachener Straße laufen und dann rechts zum Holiday Inn abbiegen, können sich seine Gedanken nicht beruhigen. Er überlegt wieder, vielleicht ist sein Verdacht aus der Luft gegriffen? Vielleicht war alles ganz anders? Vielleicht ist es eine Verkettung von dummen Zufällen?...Nein! Zu viel spricht gegen sie. Nein! Carlheinz Roth reibt sich die Schläfen. "Ich bin müde." Aber das ist nicht das Problem. Sie ist das Problem. Und im Moment weiß er nicht, wie er damit umgehen soll. *** Carlheinz Roth lehnt sich an eine Wand, schließt die Augen und versucht, alle Geräusche um sich 282
herum auszuschalten. So will er sich seine selbstgestellte Aufgabe eintrichtern. Das gelingt natürlich nicht. Denn da ist ihre Stimme: "Von da oben hat man einen herrlichen Ausblick auf Köln." Nur ein Achselzucken ist sie ihm wert: "Meinst du?" Sie legt den Kopf schräg und mustert ihn: "So viel Vorstellungskraft solltest selbst du haben." Nicht eine Sekunde verschwendet einer für den Gedanken, dass die Suite belegt sein könnte. Der Ton ihrer Stimme verrät, dass sie annimmt, er stelle sich absichtlich dumm. Ihr Gesichtsausdruck verfinstert sich. "du willst nicht mehr mitmachen, stimmt's?" fragt sie. "Quatsch! Wie kommst du darauf, dass ich nicht mehr mitmachen will. Schließlich hatte ich die Idee", verteidigt er sich mit etwas kläglicher Stimme. Sie muss lächeln. Aber dieses Lächeln ist gar nicht freundlich. "Du Waschlappen! Er ignoriert den total patzigen Ton. "Darf man hier wenigstens rauchen?" erkundigt er sich leise, während beide in den Aufzug steigen, der zur Tiefgarage führt. "Komm, sei endlich ruhig!" Ihre Stimme klingt inzwischen schneidend. Der Reporter weiß damit nichts anzufangen. Steckt sich eine Zigarette an, 283
verschluckt etwas Rauch und muss husten. Sofort trifft ihn ein strafender Blick, und er drückt die Zigarette auf dem Boden aus. Dann drückt er sich wieder an die Metallwand, als könne die ihm Sicherheit geben. "Hast du Angst gehabt, ich würde nicht auf deinen Vorschlag eingehen?" fragt sie. "Ich kneife nicht!" Noch nicht, fügt er lautlos hinzu und vergräbt seine Hände in die Taschen. Die sich öffnende Tür nimmt ihm die Antwort ab. Beide steigen aus. Keine Menschenseele ist im dritten Untergeschoss zu sehen. Auf der ganzen Ebene schlummern nur zwei Autos friedlich vor sich hin. Sofort entdeckt er die Videokamera in der Ecke, zieht eine Augenbraue hoch. Und schmunzelt. Es ist eine billige Attrappe. Er fragt sich, ob sie vielleicht selbst reingelegt worden ist. Und sofort denkt er auch an ihren Vorschlag, nach Amerika auszuwandern. Was er vorhin darauf gesagt hat, klingt ihm noch in den Ohren: Einfach toll! Das soll man aber nicht nachts auf dem Ring entscheiden. Das macht ihn verlegen. Für den Bruchteil einer Sekunde starrt er sie an, dann richtet er seine Aufmerksamkeit auf die Ölflecken auf dem Boden. Zielsicher geht sie zu der roten Tür neben dem Schild "Hotel/Restaurant". Er zieht den Kopf zwi284
schen die Schulter und trabt hinterher. Sie drückt auf die Klinke, sofort geht die Tür auf. Neonröhren tauchen einen Gang in grünes Licht. Das leise Klikken, als sie das Schloss einschnappt, ist wie ein Hammerschlag in seinen Ohren. In Gedanken hört er sich sagen, die muss doch etwas spüren. Denn sie schaut ihn schon wieder so scharf an, will diesmal wissen: "Hey, ist was?" Er schüttelt mit seinem Kopf das Schuldbewusstsein fort. Und täuscht eine Stärke vor, die er eigentlich nicht empfindet: "Mir macht das nichts aus!" Sie wirft ihm einen skeptischen Blick zu, runzelt die Stirn. Am Ende des Ganges sind wieder zwei Türen, "Hotel" steht auf der roten, "Eintritt verboten" auf der grauen, rechten. Auch sie ist nicht verschlossen. Fast erwartet er, dass sich die Tür zu Lobby öffnet und ein Hotelboy ihn vorwurtsvoll anschaut. Nichts passiert. In diesem Gang brennt kein Licht. Und ihn packt die Angst, greift nach ihm, berührt ihn aber nicht. Aber er spürt die Krake und bleibt stehen. "Was...was passiert, wenn uns hier jemand schnappt", fragt er und hört sie sofort lachen. "Dann sterben wir." Er bekommt den ironischen Unterton in ihrer Stimme natürlich mit, weiß ihn aber nicht einzuordnen. Ein Ton, den er nur zugut aus der Redaktion kennt, wenn manchen Kollegen über die 285
Leser von Punkt! herziehen. Seine Eingeweide ziehen sich zusammen, bei dem bloßen Gedanken, mit ihr weiter durch das Haus zu schleichen. Um Gewissheit zu bekommen. Will er die eigentlich? Er muss schlucken und hofft, dass seine Stimme ihn nicht im Stich lässt: "Warum machen wir das hier eigentlich?" Bleiernd spricht er, als müsse er sich jedes Wort zwei Mal überlegen. Sein Puls rast von der Anspannung. Sie streckt ihre Hand aus und er greift nach ihr im Dunkeln. Dann öffnet sie wieder eine Tür und wartet einen Moment. Das Licht hier ist gedämpft und beleuchtet alles nur sehr schwach: Den Beton, von dem die Farbe abbröckelt. Aus ihrem Gesicht ist der trotzige Ausdruck verschwunden, den er vorhin registriert hat. Fast als hätte er eine geheime Macht über sie: "Ich brauche dich heute Nacht." Das ist es, was ihm an ihr sonst so gefällt. Was sie auch ablenkt, wie sauer sie auf ihn ist, sie hat alles von einer Sekunde zur anderen total vergessen. Doch diesmal lässt seine Anspannung nicht nach. Was ist das wohl für ein merkwürdiges Gefühl, wenn man mitkriegt, dass man ins offene Messer rennt? Oder hat sie noch nichts geschnallt? Für einen kurzen Moment huscht ein Schatten über sein Gesicht. Sie wirft ihm einen prüfenden Blick zu. Mit einem Mal ist er überzeugt davon, dass sie das286
selbe denkt wie er. Sofort spürt er, dass seine Hände feucht werden. Das macht ihm kein bisschen Angst. Er hat sie längst. *** Wie zwei Einbrecher schleichen beide weiter durch das Labyrinth. Sie bestimmt die Richtung. Wieder eine Tür. Er schlägt sie mit einem Knall zu, der auf dem ganzen Flur widerhallt. Sie zieht die Augenbrauen hoch und führt den rechten Zeigefinger an den Mund. Da ist die Küche. Seine Lippen sind zu einer dünnen Linie zusammengepresst. Wenn jetzt einer kommt, kann er noch immer sagen, sie hätten sich verlaufen. Hoffentlich kommt niemand. Da geht es zum Solarium, zur Sauna, zum Whirlpool. Langsam bewegt er sich weiter. Immer so, als würde man ihn gegen seinen Willen dorthin schleppen. Die muskulöse Frau weiß Bescheid, kennt jede Biegung. Ihre Augen sind zu Schlitzen zusammengekniffen. Der Kloß in seinem Hals ist ein Schneeball, der immer mehr zur Lawine wird. "Du kennst dich hier gut aus", sagt Roth, ohne sich vorher genau überlegt zu haben, was er sagt. Sofort beißt er die Zähne zusammen, als seine Ohren den Satz mitkriegen. Denn das Blitzen ihrer Augen ist Antwort genug. 287
Wieder erwartet sie eine Eisentür. "Kommt man überall so leicht in die Suite", will er mit blassem Gesicht wissen. Sein Puls rast vor Anspannung. Der ganze Körper ist mit kaltem Schweiß bedeckt. Sie schüttelt den Kopf: "Suite?" echot sie, "keine Ahnung." Stahl ist in ihrer Stimme. Die Morde schrillen in seinem Kopf. Sofort regt sich in seinem Innern ein Zweifel. Aber er schiebt ihn beiseite und zündet eine Nebelbombe: "du hast mir mal erzählt, dass du im Hyatt warst." Sie schaut ihn an. Er kann sehen, dass dieser Blick nicht nur etwas hinaus zögern soll, da ist auch Hilflosigkeit. "Natürlich. Dort war ich ja auch mal. Aber da kenne ich mich nicht so gut aus. Da ist mir dieser Kasten schon lieber." Sie streckt ihre Hände aus und fasst ihn an. Aber er wendet sich ab: "Ich gehe nicht ..." Seine Stimme bricht ab, als er sich den Schock vergegenwärtigt, den der Einbruch in ihm verursacht hat. Eine Idee nach der anderen schießt ihm durch den Kopf. Bei dem Gedanken, was sie getan hat, schaudert er. Und was sie vielleicht noch einmal tun wird, wenn sie spürt, welchen Verdacht er hat. Er ist auf der Suche nach dem, was passiert ist. Und schließlich jagen die Bilder mit dem Tempo eines Computers durch sein Hirn: heraushängende Zunge...mit Plastikriemen zusammengebundene Füße... Glasscherben. Er versucht logisch zu den288
ken. Trotz der Panik, die sich ihm nähert. Jeder Widerstand gegen seinen Verdacht ist zusammengebrochen. Weg hier!!! Sie hört ihn sagen: "Ich will nicht weiter!" Er vernimmt das Beben in seiner Stimme. Aber der Ton macht auch klar, dass er ihr auf gar keinen Fall sagen wird, warum er nach Hause flüchtet. Als sie ihn weggehen sieht, schimmen ihre Pupillen im Weiß. Sie weiß, dass sie ihn zu nichts überreden kann. Erst kann sie ihre Enttäuschung und Wut in Schach halten. Aber dann bringt sie Tränen der Wut zu Stande: "du Sau! Seine Augen hängen an dem Schild "Parkhaus". Laut keuchend vor Aufregung, rennt er davon. Ein Frösteln überläuft ihn als er an die letzten Stunden denkt. Und er fragt sich, ob er sie jemals wieder sehen wird.
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16. Freitag, 1. Juli Abwesend spielt Hans-Werner Koritzius mit seiner Brille, während er über die ersten Stunden des Tages nachdenkt. Bereits um kurz vor 8 Uhr war er im Einsatz. Der Mann, der ihm den Mord an seiner Mutter gestanden hat, widerrief überraschend vor Haftrichter Albert Thiele seinen Widerruf. Der Anwalt starrte seinen Mandanten an, als ob dieser nicht ganz bei Trost sei. Jetzt fragt sich Koritzius, was zum Teufel eigentlich in einem seelisch Kranken vorgeht. Er massiert seine Nackenmuskeln und legt seine Stirn nachdenklich in Falten. Petra Braun kommt ins Büro und drückt ihrem Kollegen den Stadt-Anzeiger in die Hand: "Morgen...Damit Sie Bescheid wissen. Zweite Seite im Lokalteil." Dabei macht sie ein betrübtes Gesicht. "Dann hat gestern noch die Uniklinik angerufen, dass der schwer Verletzte, Sie wissen schon, der aus dem Aufzug, aus dem Koma erwacht ist." Koritzius interessiert sich mehr auf die Zeitung, er schürzt die Lippen: "Wollen mal sehen."
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Bei der Lektüre glaubt er sich an einen glühend heißen Hochofen versetzt. Der Artikel ist nicht von schlechten Eltern. Obwohl Koritzius nicht namentlich genannt wird, weiß er sofort, wer der Beamte aus der Mordkommission ist, der 14 Tage lang einen Untersuchungsbericht des Landeskriminalamtes verschlammpt hat. Von Donner gerührt liest er Zeile für Zeile. Petra Braun betrachtet Koritzius mit Argusaugen. Aber in dem wie immer ausdruckslosen Gesicht kann sie keine Reaktion feststellen. Schließlich greift eine zitternde Hand zu einer Tasse. Und Koritzius nimmt einen großen Schluck Kaffee. "Gibt bestimmt Ärger", vermutet Petra Braun. "Ich habe nichts zu befürchten", gibt er selbstgefällig zur Antwort. Runzelt die Stirn, steht auf und geht etwas wacklig zur Tür: "Ich bin mal weg", murmelt er und verschwindet. Im Flur kann er nur mühsam seine Gedanken in eine andere Richtung lenken. Damit sie sich mit dem beschäftigen, was er heute noch erfahren will. *** Im Betrugsdezernat erscheint ein altersloses Gesicht hinter der Berliner Zeitung, als Hans-Werner Koritzius eintritt. "Ich habe gerade an dich gedacht...Was gibts?" krächzt Heinz-Georg Kurzbach. 291
Hans-Werner kratzt sich über sein glatt rasiertes Gesicht, während er seine Gedanken sortiert: "Ich wollte von dir was über diese... äh... Pilotenspiele wissen." Ein breites Grinsen entblößt ein tadelloses Gebiss: "du? Bist du etwa darauf reingefallen?" "Neinnein! Ich kann das Ganze nicht richtig ernst nehmen", sagt Koritzius. "Du solltest es aber ernst nehmen", beginnt Kurzbach, "wer soetwas betreibt, muss ein eiskalter Profi sein. Bei diesen ganzen Spielen steht nur eins im Vordergrund. Abzokken...Abzocken...Abzocken...Warum interessierst du dich dafür?" "Weißt du, im Zusammenhang mit einem Mordfall ist so ein Laden aufgetaucht", erklärt Koritzius. Da kann ihn Kurzbach beruhigen: "Mord? Damit haben diese Leute bestimmt nicht am Hut." "Warum?" "Ein Mord kommt irgendwie immer an die Öffentlichkeit. Und so eine PR können die nicht gebrauchen. Wenn es nicht ums Abkassieren geht, dann scheuen die ganzen Läden die Öffentlichkeit wie Motten das Licht. Lass dir das gesagt sein." Hans-Werner Koritzius bedankt sich und dreht sich im. Im Gehen wirft ihm Kurzbach einen Blick von 292
der Seite zu: "Erleichtert siehst du aber nicht gerade aus." So sehr Hans-Werner Koritzius sich auch nach der Lady im Reiterdress sehnt, so sehr fürchtet er sich neuerdings vor ihr. Seitdem er zwei Morde ausklären soll, ist seine Leidenschaft etwas abgekühlt. Aber noch nicht ganz verschwunden. *** "Komm rüber, wenn du es wagst!" Das Dröhnen der Stimme von nebenan jagt Hans- Werner Koritzius einen Kälteschauer durch den Leib. Und er sagt nicht, weil er nichts die passende Worte für das findet, was er gerne sagen will. Hastig beugt er sich einen Schritt vor, als suche er Schutz. Sofort besinnt er sich, packt seine Sachen in den Spind. Und legt ein Halsband mit Nieten und Ringen an. Für einen Moment bekommt der Fußabstreifer große Augen, als seine Vorstellungskraft mit der Arbeit beginnt. Als er vor zehn Minuten in das Studio an der Schaafenstraße kam, biss er sich schmerzhaft auf die Lippen: Der Heimat-Klopper "Green, Green Grass Of Home" umhüllte eine zierliche Frau mit einem blonden Pagenkopf. "Be...bestimmt bin ich heute ..." stotterte er. Sofort trat in ihr Gesicht ein harter Ausdruck. "...Rein mit dir!" röhrte sie und zupfte an ihrem bunten Petticoat-Kleid. Der Erfahrene bemerkte den Ton, der ihm klar machte, dass sie kei293
nen Widerspruch duldet. Begierig saugte er ihren harten, entschlossenen Blick auf. Die aufkommende Angst vor keiner Bestrafung in der Mittagspause schlug sofort in aufgeregte Spannung um. Der Willst-du-wohl-gehorchen-Song "Follow Me" von Amanda Lear erwartet ihn hinter der eisenverschlagenen Flurtür. Die neue Einrichtung kann er nur mühsam erkennen. Es ist ziemlich dunkel. Nur eine Lampe an der Decke ist eine Art Notbeleuchtung. Sein Blick fällt auf ein neues, hölzernes Andreaskreuz. Davor steht ein knapp 150 Zentimeter hoher Käfig mit schwarz lackierten Metallstäben. Er geht weiter in das Zimmer der Herrin. Die dunkelblauen Samtvorhänge sind zugezogen. Eine schwarze Neonröhre spendet auch hier nur wenig Licht. Überall an den Wänden hängen Rohrstöcke, Handschellen, High-Heels und Oberschenkelstiefel. Das Bett in der Ecke ist mit Gummiwäsche bezogen. Hinter einem Glastisch steht ein schwarzer Ledersessel. Darauf thront Agathe. Ihre Lippen sind fuchsienrot geschminkt, der Teint alabasterfarben. Die roten Haare versteckt sie unter einer Kappe, wie sie gerne Reiter tragen. Sein Blick klebt auf ihren Armstulpen, die mit Nieten besetzt sind. Ihre Hände spielen mit einer sechsschwänzigen Peitsche mit einem Griff in Penisform. Wie weit ihre durchgeschnürten Lackstiefel reichen, kann er nur ererah294
nen. Vermutlich bis zum Po. In ihrem schwarzen Lederkleid mit dem streng geschnürten Mieder könnte sie nicht ungeschoren über die Hohe Straße stolzieren. Ihre Augen funkeln ihn böse an: "Ich möchte dich am liebsten wieder fortschicken!" bellt sie und weiß natürlich: Gerade so ist es nicht. Die beiden mustern sich abschätzend und er reagiert trotzig. "So lasse ich mich nicht von dir behandeln", bringt er heraus und hört seine ruhige Stimme. Ihm stockt der Atem. Die Domina stößt einen tiefen Seufzer aus, hebt die Schultern. In ihrem Kopf arbeitet es, dann hat sie die richtige Seite im Drehbuch aufgeschlagen: "Hinlegen!" Einen Moment zögert er, versucht herauszufinden, wie weit sie heute geht. "Hinlegen!!!" Sofort gehorcht er, hebt abwehrend die Arme. Spürt förmlich den Atem der Peitsche mit den silbernen Stacheln. Umgeben von einer Prise Leder. Bilder kommen hoch. Mit 5 kam er wegen einer Mandeloperation ins Krankenhaus. Der Arzt trug eine Gummischürze. Er wurde ihm auf den Schoß gesetzt. Sein Kopf verhüllte eine Maske, auf die Äther tröpfelte. Einige Monate später musste er zur Nachuntersuchung. Einige Wucherungen hatten sich gebildet. Wieder bekam er die Maske auf...Mit einem Ruck holt er sich wieder in die Wirklichkeit zurück. 295
"Mir geht etwas durch ...", beginnt er. "...Du impotenter Jammerlappen", unterbricht sie ihn und zieht die Augenbrauen zusammen. Sie hat die Nervosität in seiner Stimme genau gehört. Sein flehender Blick kann sie natürlich nicht erweichen. "Du darfst nur reden, wenn ich dich etwas frage. Merke dir das! Und schreie nicht so, sonst kriegst du sofort einen Knebel in die Schnauze", lacht sie demütigend. Er nickt und starrt auf das Bild, das der Spiegel an der Decke reflektiert. Ein zitterndes Wesen schaut ihn an. Ein Fremder! "Wo ist dein Sündenbuch?" will sie wissen und ist gespannt, was er für Verfehlungen in dieses Lederheft eingetragen hat. "Das... Das habe ich vergessen." Doch das klingt nicht überzeugend. Darum wird ihr Gesicht ernst und sie fühlt über ihre Peitsche. "Vergessen? Das werde ich dir austreiben!" schimpft sie und wird rot vor Wut. Das hat sie lange vor dem Spiegel geübt. Einige Male hat er sich von ihr lösen wollen, hat teure Anzeigen in einschlägigen Magazinen aufgegeben. So hoffte er auf Kontakt zu SM-Gruppen. Vergeblich. Denn die wollten ihn nur mit einer Partnerin aufnehmen. Und seine Frau will nicht mitmachen. Einmal kam sie doch zu einem Paarabend mit. Die Fußsohlen einer Frau wurden mit Rheumasalbe bestrichen. Ihr Schreien war fürchter296
lich. Seine Frau rannte raus. Er hätte sich unter ihren Augen auch nicht vorführen lassen können. Kürzlich kriegte er die Einladung zu einem Theaterspiel. Leben im Military Camp. Der Neuling musste die Rekruten durch Schlamm und Wiesen jagen. Und Stockschläge verteilen. Die Inszenierung entglitt ins Lächerliche. Und die Rolle des strengen Ausbilders brachte ihm nichts. Weil er M bleiben will. So landet er immer wieder im Studio Bel Etage. Der Mann in Lederslip und Gitterhemd liegt noch immer auf dem Boden. Erwartungsvoll. "du willst wohl nicht mehr, nicht wahr." Das ist eine Feststellung, aber keine Frage. Mit belustigend funkelnden Augen sieht sie auf ihn herunter. Aber das kriegt er nicht mit. Er blickt auf den Boden. Ihr Blick würde ihn total aus der Fassung bringen. "Vergessen?" erinnert sie sich. "Das wirst du mir büßen! du bist wirklich das Letzte!" Wie eine erfahrene Schauspielerin geht sie im Einakter weiter. In ihrem Gesicht erscheint ein Lächeln, das betont grausam wirken soll. Falls er es doch im Spiegel sehen sollte. Die Peitsche knallt. "Neeein", schreit er, kann nicht ihr Gesicht sehen, das jetzt eine einzige Grimasse ist. "Aufhören, Herrin", fleht er. Doch seine Gedanken kannte schon weiland Hermann Hesse: Erhör' mich nicht! Agathe antwortet nicht einmal, sondern 297
zieht nur missmutig die Stirn kraus. Ihre Lippen verziehen sich wieder zu einem trockenen Lächeln. Das gehört bei ihr zur englischen Erziehung. Natürlich fragt sie selten, ob er etwas will. Sie tut es einfach, weil sie M kennt. "Auf den Bock, du Hurensohn!" bellt sie und zieht an seinem Halsband. Mach endlich. Ich habe nicht ewig Zeit. Oder willst du lieber ans Kreuz?" Ihm tönt noch immer ein Wort von ihr im Kopf herum. "Ja, ich bin ein Hurensohn", sagt er schließlich, als die beiden Bestrafungen in sein Bewusstsein vorgedrungen sind: "Nicht auf den Bock!" Aber genau dorthin möchte er. Sie erfüllt ihm den Wunsch: "Auf den Bock!!!" Als er sich aufrichtet und sie nervös anstarrt, bricht sie in Lachen aus. Er sinkt in ein niedergeschlagenes Schweigen. Und sieht erst jetzt das neue, schwarze Möbelstück: mit den Ringen für Fesseln oder Ketten. "Hurensohn, dir treibe ich..." Sie lässt den Köder vor seiner Nase zappeln und lächelt diesmal regelrecht spitzbübisch. Er fragt sich, ob sie sich eventuell über ihn lustig macht. Noch bevor sie eine neue Anweisung geben kann, macht er den Buckel krumm. Seine Herrin zieht die versteckten Schleifen für Arme und Beine an und stopft einen Knebel in seinen Mund. "Na, was ist denn mit meinem Schlappschwanz los? Kriegt er heute keinen 298
mehr hoch?" fragt sie in einem ziemlich bissigen Ton. Agathe steht vor ihm und schaut ihn dabei mit einem strengen Blick an, auf den er gehofft hat. Überhaupt macht sie keinen Versuch, einen Unmut zu verbergen. Warum auch? Sie ist ein Profi. Der Gezeichnete gibt keinen Laut von sich, so wie sie es eigentlich nicht erwartet hat. Dann stülpt sie ihm eine Maske ohne Augenklappen über das Gesicht. Sein klopfendes Herz scheint in dem Raum widerzuhallen. Es öffnet ihm die Tür zum Außer-mirSein. Um ihn herum ist es Nacht. Aber er sieht ganz klar den Fußschmuck in der Dunkelheit. Das Goldkettchen mit der kleinen Reitgerte. Ihn überläuft ein Frösteln und er beschließt, nicht daran zu denken. Und wundert sich, dass seine Gedanken sich nicht daran halten. Ein zweiter Projektor spielt ihm das furchtbare Bild in den Sinn: den mit roten Flecken bedeckten Körper, die Glasscherbe im Mund, der Schwarm Fliegen über dem Toten. Sein inneres Lachen ist gestorben. Er ist regelrecht entsetzt, dass er sich nicht voll und ganz unter Kontrolle hat. Aber schnell reißt er sich wieder zusammen. "Jetzt bist du dran!" entscheidet sie und schaut grimmig. Obwohl er es gar nicht sehen kann. Die Worte bleiben in der Luft hängen, während aufgeregte Spannung jeden Muskel seines Körpers um299
spielt. Solange wie er kann will er das herrliche Gefühl auskosten. Agathe sitzt rittlings auf ihm. Sie zieht ihre Augenbrauen zusammen, sieht finster zu dem Sklaven: "Wage es bloß nicht, dich selbst zu befriedigen, wenn ich dir gleich deine Wichsgriffel losbinde. Wage es nicht." Ein Hieb knallt durch die Luft. Wie immer. Schließlich wird sie ihm wieder die Striemenhose anziehen. Hintern und Schenkel sind dann nackt. Die Drohung, den Gezeichten mit Handschellen ans Bett zu fesseln, löst bei ihm jede Spannung. Unter der Maske dürfte sich langsam die Vorfreude widerspiegeln, die sie kennt. In ein paar Minuten wird er wieder krähen "Aaah", erschöpft und zitternd vor ihr liegen. Und sich vornehmen: Ich komme nie wieder. Das ist gang und gäbe. Bis zum nächsten Mal. Wieder ganz ohne Zofe. Sie ist ein Nichts, sagt er, bemüht sich so, ihr nicht mehr Bedeutung beizumessen, als sie angeblich für sein Leben verdient. *** Im Flur mit dem frischgebohnerten Boden ist es kühler als im Rest des Gebäudes: Übertrieben lässig schreitet Hans-Werner Koritzius nach dem Besuch in der Schaafenstraße an den Türen in der vierten Etage des Polizeipräsidiums vorbei. Seine Schritte 300
hallen, als durchquere er den Dom. Doch der Flur liegt still und ruhig vor ihm. Das Pokerface mit den glasigen Augen fühlt sich überhaupt nicht wohl in seiner Haut. So sehr er sich auch vorhin in der Kantine anstrengte, einen Anruf von Kratzenstein konnte er nicht aus seinen Gedanken verbannen. Ob er in seinem Privatleben noch immer Schuldgefühle habe, wollte Kratzenstein wissen. Koritzius verneinte, da war das Gespräch auch schon gelaufen. Wenn er darüber nachdenkt, verkrampfen sich seine Hände und sind ganz feucht. Der Bulle lenkt seine Gedanken auf die Gespräche in der Kantine. Ein Beamter von der Düsseldorfer Kripo soll künftig Kratzensteins Job in Köln machen. Meinte ein Kollege. Und ein anderer jubelte auf: "Zum Glück nicht der Koritzius. Der blickt immer so sauertöphisch drein." Die Botschaften durchströmten Koritzius wie Lava. Aber er wollte nicht als Hasenfuß gelten, guckte rüber und bleckte die Zähne. Das Schicksal ist nicht auf seiner Seite. Auf der Treppe formen sich in seinem Kopf die Erinnerungen. Auch sein Vater ist bei der Polizei in Köln gewesen. Obwohl der Junior mächtig darauf brannte, auf die Universität zu gehen und Architektur zu studieren, angelte er sich den Staatsdienst. Koritzius ist sich sicher, dass man ihn enterbt hätte, 301
wenn er nicht in die Fußstapfen getreten wäre. Nach Begabung fragte in seinem Elternhaus niemand. Kaum ist Hans-Werner Koritzius wieder im Büro, will er die Maske fallen lassen und fluchen. Doch dazu kommt es nicht. Das Läuten des Telefons schiebt seine Gedanken weg. Er starrt einen Moment wortlos auf den Apparat und hastet hin. Dabei hört er das Knarren seiner Schuhe auf dem Linoleum. Nicht schon wieder eine schlechte Nachricht, heißt sein Stoßgebet. Mit gerunzelter Stirn stolpert er fast. Ein schwaches Lächeln um seine Mundpartien, so reißt er den Hörer von der Gabel, als gäbe es schon Bildtelefon. "Koritzius", meldet er sich forsch. "Hier ist Carlheinz Roth", tönt es aus dem Hörer. "Schon drei Mal habe ich bei Ihnen durchgeklingelt. Aber nie hat sich jemand gemeldet." Im ersten Moment hat Koritzius keinen blassen Schimmer vom Grund des Gesprächs. Er weiß gar nicht, was er er sagen soll. Aber dann schickt sein Gehirn Befehle aus: "Schon mal was von Mittagspause gehört?" fragt er mit einem erzwungenen Lächeln in der Stimme. "Tut mir Leid", ergänzt er und deutet an, dass ihm überhaupt nichts Leid tut. "Also, was gibt's?" fragt er und wischt sich mit einem Taschentuch über die Stirn. Gnadenlos schickt die 302
Sonne ihre sengenden Strahlen durch das schmutzige Fenster in das backofenheiße Büro. "Ja...Haben Sie in letzter Zeit wegen Verbrechen im SM-Milieu ermittelt?" Die raue Stimme gewinnt an Feuer. "Nichts dergleichen", schüttelt Koritzius den Kopf. Seine Augen glänzen, als habe er starkes Fieber. "Sind Ihnen schon mal Ungereimtheiten aufgefallen, die auf die SM-Szene hindeuten?" fragt Roth hastig, als habe er das Gefühl, ihm bliebe nicht mehr viel Zeit. Mit einem Mal hat der Bulle ein Gefühl wie am Karfreitag. "Keine Ahnung...Soviel ich weiß, nicht. Nein." Koritzius schüttelt den Kopf, guckt grimmig und fragt sich, was all diese Fragen sollen. "Neinnein." Sein Ton soll klar machen, dass er dieses Thema nicht weiter erörtern will: "Überhaupt, dafür ist unsere Pressestelle zuständig. Ich lasse mich nicht wie eine Zitrone ausquetschen. War das alles?" fragt er und spürt plötzlich etwas wie Angst aufsteigen. Am Ende der Verbindung tritt ein kurzes Schweigen ein. Schließlich kommt Roth ein Wort über die Lippen: "Nein!" Sofort weiß er nicht weiter, aber dann findet er den Faden wieder: "Die Kacke ist am ..." "...Was?" Koritzius wischt sich mit seinem Ärmel das Gesicht ab. "Was?" Dann bleibt ihm die 303
Luft weg. Seine Augen starren mit angstvollen Pupillen ins Leere. Nach einigen Sekunden dramaturgischer Pause lässt der Reporter die Katze aus dem Sack: "Ich...ich glaube, dass die Schwirtz etwas mit den mysteriosen Morden zutun hat... Koritzius will seine Überraschung hinunter schlukken. Er runzelt die Stirn und fragt gar nicht aufgeregt: "Die Psychotante? Warum denn?" Aber sein Herz klopft wie ein Vorschlaghammer. "Genau die!" bekommt er zu hören. Ist das ernst gemeint, fragt er sein Spiegelbild in der Ecke. Das Blut in seinen Adern verwandelt sich in Schmelzwasser. Dann berichtet Roth vom Ergebnis seiner Recherchen. Sogar den Einbruch lässt er nicht aus: "Aus den Unterlagen in ihrer Praxis geht eindeutig hervor, dass beide Opfer ihre... ihre Patienten waren." Seine Stimme überschlägt sich regelrecht. "Der Meuschel und der Weiss. Ich habe die Karteikarten mitgenommen." Koritzius spürt einen Druck auf der Blase, obwohl er erst vor wenigen Minuten auf dem Klo war. "Das...das beweist noch nichts", hört er sich sagen. "Weiß ich auch. Aber die Schwirtz hat selbst einige Erfahrungen mit Sado-Masochismus. Sie müssen sie dazu vernehmen." Die Stimme steigt vor Erregung an, bekommt einen flehenden Klang. 304
"Ich hoffe nur, dass Sie betrunken sind." Schweiß tropft Koritzius von der Nase. "Ich bin heute stocknüchtern", sagt Roth ernst. Irgendwie scheint ihm die Erwähnung des Tages wichtig zu sein, obwohl er nicht hätte sagen können, warum. "Hat eigentlich mein Artikel etwas gebracht?" In Gedanken gewinnt der Polizist dem Bericht einen Sinn ab, will ihn aber nicht preisgeben: "Nein, überhaupt nichts." "Kann ich gut verstehen", sagt Roth und macht ihm eine Rechnung vor. "Die Frau will sich ja nicht selbst ans Messer liefern." Koritzius wagt einen Sprung ins kalte Wasser: "Mir läuft es kalt den Rücken herunter." "Das soll es auch. Mir geht es seit Stunden nicht anders." Der Ermittler lässt den Bleistift fallen, an dem er sich die ganze Zeit mit zittrigen Händen fest gehalten hat. Er beißt sich auf die Lippen und unterdrückt so jeden Schrei. Schnappt nach Luft: "Wenn das so gelaufen ist...Hey, sind Sie noch da?" Doch Roth hat bereits aufgelegt. Einige Minuten lang starrt er mit weit aufgerissenen Augen in die Luft. Dann steht er auf und will das Telefonbuch vom anderen Schreibtisch holen. Doch sofort sinkt er auf seinen Stuhl zurück. Ihm versa305
gen die Beine. Er kann seinen eigenen keuchenden Atem hören. Die Gedanken rasen. Die Schwirtz?! Natürlich kann er es nicht wissen. Aber ahnen, einer von ihnen wird in ein paar Tagen nicht mehr leben. Koritzius stößt einen wortlosen Schrei aus. Seine Ahnung wird zur Gewissheit! *** Hans-Werner Koritzius sitzt alleine im Büro, schüttelt den Kopf, schnaubt. Und muss husten, als er den Rauch ausbläst. Wort für Wort des Telefongespräches hat er im Ohr: Jede Silbe ist gefährlich wie eine Tellermine. Nach zehn Minuten will er sich wieder auf irgendwelche Akten stürzen. Vergeblich! Roths Worte schwirren durch seinen Kopf. Um sich etwas abzulenken, holt er sich in der Kantine eine Flasche Schweppes. Koritzius schenkt sich ein Glas Bitter Lemon ein. Und lässt eine Menge von dem Zeug auf den Tisch laufen. Vorsichtig trinkt er vom schwappenden Rand seines Glases. Aber die wenigen Leute in der Kantine haben sein Schlürfen längst bemerkt. "Mist", sagt er, hält die rechte Hand hinter seine Brille und reibt sich die Augen. Vergeblich bemüht er sich, einen klaren Kopf zu behalten. Der Rückweg führt ihn am Büro von Paul Kratzenstein vorbei. Eine narkotische Schwere hängt in sei306
nen Gliedern. Er geht so, wie er sich fühlt: Als sei er gerade erst aufgewacht und noch total unschlüssig, was er sofort machen soll: Die Psychotante befragen? Sie vernehmen? Oder gleich festnehmen? Aber welchen handfesten Grund gibt es? HansWerner Koritzius droht total aus dem Gleichgewicht zu geraten. "Ist der Chef da?" fragt er müde. Die Frau mit dem eckigen Kinn schüttelt den Kopf: "Der ist nach Düsseldorf gefahren." "Komisch", sagt er und blickt zur Sekretärin. Diese Frau kann er akzeptieren. Aber die meisten anderen Kolleginnen nicht. Sie sind für ihn eine totale Behinderung jeder Arbeit. Selbst seine eigene Frau fand diese Einstellung am Anfang ihrer Beziehung noch nicht einmal komisch. Eher lachhaft. "Warum komisch?. Sie wissen doch, was läuft", stellt sie mit himmelwärts verdrehten Augen fest. "Scheiße", bemerkt er säuerlich. Mit abgefallenen Schultern trottet er aus dem Vorzimmer. "Ich bin auch weg. Dringende Ermittlungen", sagt er im Hinausgehen düster. "Sie sehen krank aus. Sie sollten sich ins Bett legen, meiner Meinung nach." Er weiß wirklich nicht, was er denken soll. Und antworten schon gar nicht. Darum geht er weiter, macht die Tür leise hinter sich zu. 307
Im Treppenflur bleibt er unsicher stehen und blickt zurück zu Kratzensteins Tür. Wie gut kennt er ihn? Und Roth? Kann er ihm wirklich trauen? Wieso hat er ausgerechnet ihm diese Vermutung genannt? Unschlüssig fährt er nach Hause, wo er ein Lachsack-Treffen von Bärbel und ihren Freundinnen erwartet. Unterwegs stellt er sich wieder einmal die Frage, warum er so ist, wie er ist. Und wieder einmal ist die Antwort gleich: keine Ahnung. *** Der Duft von Usambaraveilchen, Gerbera und Hyazinthen hängt satt und schwer im Zimmer. Gemischt mit dem Aroma von Cascaya, Jade, Tchibo und einer Rauchwolke unter der Decke. HansWerner Koritzius will sich seine Aufregung nicht anmerken lassen. Suchend gleitet sein Blick durch den Raum, bleibt bei einem Blümchendruckleid mit Matrosenkragen haften. Bärbel Koritzius ist vor ein paar Tagen 35 Jahre alt geworden. Immer schien sie viel jünger auszusehen, seit einem halben Jahr hat sie kräftig aufgeholt. Ihre Freundin mit dem Albinogegesicht meint den Grund zu kennen: "Daran ist dieser...dieser... Trotzdem, mit ihm hat man immer was zu lachen." Ein zweischneidiges Kompliment. Mit dröhnendem Kopf geht Hans Werner Koritzius auf Cordula Grundig zu, nimmt unterwegs die WY 308
Chester in die Linke, feuchtet die Lippen an und reckt ihr die rechte Hand. In seinem Zustand macht er sich erst nicht die Mühe, taktvoll zu sein: "Hallo, meine Liebe", beginnt er lachend, obwohl ihm nicht zum Lachen zu Mute ist. "Wieso bist du eigentlich nicht mehr mit deinem Mann zusammen?" mustert er sie mit hochgezogenen Brauen. Und will so seine trüben Erinnerungen verdrängen. Sie dreht sich etwas zur Zeite. Nirgendwo ist ein Platz zum Untertauchen: "Wieso?...Das weißt du doch." "Hä?" "Frag' nicht so dumm", ergänzt sie eisig und sieht ihn eindringlich an. Doch er lässt sich nicht beirren und beginnt mit der eigentlichen Befragung: "Malt dein Mann noch immer Garten-Stillleben für porta-Möbel?" Eine Antwort wartet er nicht ab, er geht mit der Stimme herunter zu einem lauten Flüstern und will ihr die Schlinge um den Hals legen: "Ist es eigentlich wahr, dass die meisten Schwulen Intelligensbestien sind? So wie dieser ehemalige Minister da, wie heißt der noch? Ist ja auch egal. Ich kenne mich da nicht aus." Die verletzte Seele lässt ihre Verachtungen durchklingen. Cordula Grundig wirkt harmlos, aber tatsächlich ist sie ein Fuchs. "Ich habe Männer erlebt, die gegen 309
die Homosexualität lautstark demonstrieren, aber es überhaupt nicht ernst meinten. Weil sie selbst schwul waren", antwortet sie spitz. Er nimmt seine Brille ab und hält sie ins Licht, um sie auf Dreck zu inspizieren: "Tatsächlich? Oder machst du Witze?" "Tatsächlich! Außerdem ist mir das egal. Er hat mir den Tritt gegeben." Hans-Werner Koritzius käme nie so ein Satz über die Lippen. Höchstens die Phrase: Wir haben uns getrennt. Zielsicher bleibt er auf seinem Kurs auf tückische Gewässer: "Ihr hattet nicht viel übrig füreinander, was?" Die Frau hebt die rechte Hand, um sich die Haare hinter die Ohren zu schieben. Sie kriegt einen steifen Nacken: "Darüber möchte ich nicht reden. Mit dir schon gar nicht." Er zieht wieder eine Augenbraue hoch: "Na, heutzutage ist ja jeder schwul oder will es sein. Aber alles, was viele brauchen, ist einfach 'ne richtige Frau. Wie oft..." Die nasala Stimme unterbricht ihn. "Hör endlich auf damit!" fordert die gattenüberdrüssige Frau auf und beißt sich auf die Unterlippe. Irgendwo im Haus spielt jemand Klavier. "Man wird doch noch mal fragen dürfen. Mir bereitet die Nähe von Schwulen auch ein Unbehagen. Das kannst du mir glauben." Dann bohrt er die Hände in die Taschen seines Sakkos 310
und stellt im Plauderton fest: "Sieht aus, als ob du noch nicht darüber hinweg bist. Kannst ruhig ein bisschen lockerer sein." Das reicht! Die Besucherin mit den glühenden Wagen dreht sich um und lässt ihn stehen: "Dein Kinn ist drauf und dran, sich zu verdoppeln. Aber dein Hirn halbiert sich." "Zicke!" klingt es wie das Pfeifen im Keller. Hans-Werner Koritzius lässt einen Chev Regal im Glase kreisen. Nach einigen Sekunden schaut er aus dem Fenster, hat seine Vorstadtmanieren halb vergessen, legt die Fingerspitzen aneinander und fragt sich, warum sie eigentlich so hysterisch war. Nach Kaffee und Kuchen mit allem Drum und Dran steht dieJubilarin auf und bittet um Ruhe. Der Polizist schaut in die Runde der fünf Gesichter. Er rechnet mit einer üblichen Rede. Cordula Grundig funkelt ihn an. Als Bärbel Koritzius beginnt, ist das ansteckende Lächeln aus ihrer Miene verschwunden. "Ich habe in der letzten Zeit viele Versuche unternommen", beginnt sie kumpelhaft und ändert gleich die Tonlage, "mit Hans-Werner wieder ins Gespräch zu kommen. Er hat nur mit Schweigen reagiert", stellt sie am Abend ihrer Beziehung fest. "Jeder Fifi würde reagieren...", fixiert sie ihn an. Er wirkt wieder wie ein Safe, den sie nicht knacken kann. 311
Er möchte ihr das Wort abschneiden, aber ein Luftholen und ein rotes Gesicht sind seine einzigen Reaktionen. Das Licht vom Fenster strahlt ihr direkt ins Gesicht, lässt es weich und zerbrechlich erscheinen. "Lange genug habe ich alles hingenommen." Sie schaut ihm direkt in die Augen, steckt sich eine Gaulois Blondes an. "Du schwebtest immer über den Wolken, mit Handschellen oder so was", sagt sie geringschätzig und streicht sich mit ihrem rechten Zeigefinger über den Kopf. Nippt an ihrem Glas: "Jetzt reicht es!" Er hat weiter seine Auszeit. "Übrigens, noch heute werde ich mich von dir trennen!" Dieser Satz klingt aber mechanisch und lange geprobt. "Merkwürdiger Scherz", brummt Koritzius schließlich, weil er spürt, dass alle den Abonennten der Coolness anglotzen. Er lehnt sich in seinem Stuhl zurück und sieht zu seiner Frau, die ihm gegenüber sitzt. Einen Moment berührt ihn ihr entschlossener Atem. Ihre wässrigen Augen sind noch immer auf ihn gerichtet. Der Bulle beugt sich wieder vor, verschränkt die Arme vor sich auf dem Tisch: "Ich habe für diese Späße überhaupt kein Verständnis", sagt er so leise, dass es scheinbar niemand mitkriegt. Und zerrt mit dem Zeigefinger am Kragen seines Hemdes. 312
Aber er bleibt Zielscheibe ihres Heckenschützenfeuers. "Muss auch nicht sein!" antwortet sie mit etwas quäkender Stimme, steht auf und dreht ihm den Rücken zu. Schnell geht sie in ihr Zimmer. Kommt kurz darauf mit zwei Koffern zurück, die sie am Nachmittag gepackt hat. "So, das war's. Mehr oder minder." Für einen Moment schaut sie an die Decke. "Vieles wird mir fehlen." Dann zwinkert sie ihm über den Tisch hinweg zu: "du aber nicht!" Und die Wohnungstür fällt zu. Hauptsächlich verbindet die Frauen die Tatsache, dass sie heiße Insidertips bekommen haben, als das Zimmer noch nicht blau von Rauch war. Trotzdem starren sie Hans-Werner Koritzius mit einem Siehat-ja-so-Recht-Blick an, weil er überhaupt keine Anstalten gemacht hat, sie aufzuhalten. Der Bulle schiebt die Brille herunter und schaut ihr über den Rand hinterher. Er wirkt gar nicht wütend, nur total frustriert.
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17. Montag, 4. Juli Gerne hätte Carlheinz Roth tief geschlafen und am Morgen seine Wut noch länger ausgekostet. Doch beim Anspringen des Radioweckers ist sie hin. Dafür scheint mit jeder wachen Minute seine Skepsis in seine Arbeit als FreizeitPolizist gewachsen zu sein. Von dem toten Meuschel weiß er so gut wie nichts. Darum ruft er nach dem Frühstück bei HCR-Reisen in Bochum ein. Eine überaus hilfreiche Telefonistin verweist ihn auf Arena in Köln: "Dort können Sie Herrn Hoppe erreichen." Was ihm aber nicht gelingt. Claudia Häuser in Köln teilt ihm kurz und bündig mit: "Herr Hoppe ist zu einer Tagung nach Bozen gefahren." "Wir kennen uns doch, nicht wahr?" reagiert er schnell. Nach einem kurzen Zögern erinnert sie sich: "Ja, wird wohl sein." Roth seufzt. "Können wir uns nicht sehen?" schlägt er vor. Nach ewigen zwei Sekunden antwortet sie: "Ich gehe mittags in Köln immer in dieses Bistro 314
am Barbarossaplatz. Da kann ich auch was essen. Um 12?" "Ich freue mich." Dazu nickt er mit seinem Kopf wie eine Marionette. *** Carlheinz Roth zieht seine Mittagspause um eine Stunde vor. Schon etwas vor 12 ist er vor dem Café Barbarossa. Draußen sind alle Tische besetzt. Drinnen ist das Bistro schon geschwängert von Ausdünstungen. Er schaut sich um und beginnt gequält zu husten. Die Zeitung presst er gegen die Brust. Achtet aber darauf, dass jeder sieht, welches Blatt es ist: Punkt! Die zehn Minuten scheinen eine Ewigkeit zu dauern. Claudia Häuser kommt ganz pünktlich. In einer grauen Pyjama-Hose und einem currygelben Stickerei-Shirt mit den Sternzeichen drauf. Dazu trägt sie buntbemalte Espadrillos aus Seide. An ihrem Fuß funkelt ein Silberkettchen auf. Roth steht vor ihr in der unterwürfigen Haltung eines Mannes, derauf dem Flughafen in DüsseldorfLohausen auf seine Leibesvisitation wartet: Die Beine sind leicht gespreizt, die Arme etwas vom Körper weggehalten. Im ersten Moment grinsen sie sich scheu an und wissen nicht, wie sie sich begrüßen sollen. Dann schütteln sich beide die Hände, jeder hat einen neu315
gierigen Blick aufgesetzt. Sie machen das so steif wie die zwei Figuren aus einem Wetterhäuschen. Ihr Händedruck ist fest. "Nun...", beginnt der Journalist. "Nun, was?" geht sie dazwischen und grinst in sich hinein. Seiner Zeitung schenkt sie einen missbilligenden Blick. Dunkle Wolken ballen sich am Himmel zusammen. Die ersten Tropfen hängen in der Luft fest. Auch sein Versuch, das Eis zu brechen, geht voll daneben: "Toll sehen Sie aus." Sie hat so eine Anmache schon hundert Mal gehört. Mit großen Augen schaut sie ihn an: "Ach, deshalb wollten Sie mich treffen." Gerne hätte er ihr eine Erwiderung verpasst, von der alles Weitere abhängt. Aber die rechte Gehirnhälfte streikt. Er zuckt sogar etwas zusammen, als hätte er Stiche in der Brust. "Ich möchte mit Ihnen reden." Dabei rührt er in seinem Kaffee wie ein Mensch, der eine Medizin in ein Getränk mischt: "Komisch, ich hatte auch was mit ihrem Laden zu tun." "Wieso komisch?" hakt sie nach. Ein steifes Nicken ist die einzige Antwort. Die ersten Regentropfen klopfen vor dem Fenster an die dampfende Straßendecke. "Jaja, ich weiß schon. Sie wollten 10.000 Mark von uns kassieren und haben nichts gekriegt", führt sie mit komisch gerunzelter Stirn aus. 316
Roth reibt sich die Augen mit Daumen und Zeigefinger: "Woher wissen Sie davon?" Claudia Häuser bleckt kurz die Zähne. "Herr Meuschel hatte mir alles erzählt", sagt sie dann ausdruckslos, als sei es unhöflich, nachzufragen. "Was hat er Ihnen gesagt?" Roth kramt in seinen Taschen und bringt Zigaretten und Feuerzeug zum Vorschein. Er bietet ihr eine WY Chester an. Aber sie lehnt ab, als gehe es dabei um ein Prinzip. Sofort fühlt sich Roth in die Ecke gedrängt, und er beginnt sie zu hassen. Wie er sonst nur alle Unterdrücker hasst. Die, die fressen, obwohl andere verhungern. Die, die frei sind, auch wenn andere in Ketten liegen. Die, die reden, weil andere schweigen müssen. Und die, die wissen, während andere in Unwissenheit baden. Ihr Blick ist starr auf Roth gerichtet, während sie aus dem Nähkästchen zu plaudern beginnt: "Er hat Ihnen 10.000 Mark versprochen. Aber als sie das Geld in Empfang nehmen wollten, hat er nur gelacht. Keinen Pfennig kriegen Sie!" Sie macht eine kleine Pause. "Das hatte er sich schon längst vorgenommen." Am Nebentisch klingelt bei einem Typen von gedungener Gestalt das Handy. Roth zuckt etwas zusammen. Wenn das ganze Wochenende über zuhause bei ihm das Telefon nicht klingelt, ist er minde317
stens genauso unruhig. Und freut sich, wenn er sich montags wieder in eine 60-Stunden-Woche bei Punkt! stürzen kann. Freie Samstage und Sonntage sind für ihn wie schwarze Löcher in der Geschichte. Etwas hektisch steckt er sich eine WY Chester an, formt mit den Fingern seiner rechten Hand eine Muschel um die Flamme, als müsse er sie vor etwas schützen. "Wissen...Wissen Sie auch, warum er mir ein Honorar zahlen wollte?" fragt er und entwickelt eine ungewohnte Art von Schüchternheit. Der Kellner mit dem Meerschweinchengesicht bringt ihr auch einen Kaffee, wohl wissend, was Stammgäste wünschen. Sie lächelt Roth an, als habe er einen Witz gemacht. "Honorar? Eine tolle Umschreibung. Sie sollten unsere Tochterfirma in die Pfanne hauen. Dafür war das Geld bestimmt." Ihre Stimme ist noch etwas forscher geworden, klingt aber etwas gereizt. "Als sie anriefen, brüllte er nur, keinen Pfennig kriegen Sie! Keinenkeinenkeinen! Sie haben sich nicht an unsere Abmachung gehalten! Das habe ich in seinem Vorzimmer mitgekriegt." Roth hört ihr aufmerksam zu, bringt durch ein gelegentliches Kopfnicken eine Zustimmung zum Ausdruck. Sie findet das recht seltsam. "Aber trösten Sie sich, Sie waren nicht der einzige Betrogene. Der hat bestimmt Tausende von Malen gelogen, um nicht zahlen zu müssen." 318
Die muss ihn verdammt gut beobachtet haben, sagt er sich. "Sie haben Ihn näher gekannt?" Jetzt klingt er wieder sehr frech. Wie gewohnt. Claudia Häuser hebt ihre Finger und lässt sie sofort wieder fallen. "Bestimmt nicht. Aber ich könnte Ihnen trotzdem einiges von ihm erzählen." Bestimmt nicht? Das kann nicht sein. "Was, zum Teufel, war mit ihm los?" will der naturalisierte Kölner wissen. "Wollen Sie mich für Ihre Zeitung ausquetschen?" entgegnet sie etwas säuerlich. Und schaut auf ihre geöffnete Hnd. Überall in den Falten haben sich Schweißperlen gesammelt. Der Typ mit dem Handy ist gegangen. Dafür blubbert an dem Tisch eine blässliche Tante mit roten Haaren. Die rot genug sind, um in einer spanischen Arena den Stier zu reizen. Die Frau neben ihr kommt überhaupt nicht zum Zuge. Roth schaut sie sich genauer an. Ihre Schuhe haben eine brötchendicke Profilsohle. Damit könnte sie getrost zu einer Expedition durch südamerikanische Regenwälder aufbrechen. Sogar im Sommer. Roth dreht sich wieder zu Claudie Häuser hin: "Nein! Nicht für Punkt! Ich will es wissen." Eine spontane kleine Lüge. Claudia Häuser verschränkt ihre Hände hinter dem Rücken, als wolle sie sich an ihnen fest halten. 319
"Seine Finger waren wie seine Beine: kurz und stämmig. Mit dem rechten Auge schielte er etwas. Aber das versteckt er hinter getönten Gläsern und einem Prisma in einer IDC-Brille. Zufrieden?" sagt sie, als sei die Sache damit für sie erledigt. Ihre großen Augen funkeln dabei. "Nein!" Er trommelt mit der linken Hand auf der Tischplatte, zieht eine Lunge voll Rauch. "Was ist mit der Firma?" fragt er etwas zu grob. Ihre Wangen sind leicht gerötet. Die Hände liegen unruhig auf dem Tisch, ihre Ellenbogen schieben sich nach vorne. "Sein Vater hat sich einst mit Schrott eine Goldene Nase verdient. Schon wenige Wochen nach Kriegsende war für Wilhelm Meuschel klar, dass er nicht mehr in seinen alten Beruf als Lehrer zurückkehren wollte: weges des schmales Gehaltes. Aber er hätte auch gar nicht gekonnt. Als einst aktives Parteimitglied wäre ihm wohl der Persilschein verweigert worden. Meinte sein Sohn." Das dauert Roth zu lange. Er schmunzelt leicht. Davon ermutigt, fährt sie fort: "Also wurde der Alte wie einst sein Onkel Lumpenmann. Mit seinem Dreirad zog er durch Köln und lud alles auf, was die Leute nicht mehr wollten: Lumpen, Papier, alte Volksempfänger, kaputte Fahrräder. Und vieles mehr." Sie lächelt nachsichtig. "Bald sammelten drei Spätheimkehrer für ihn, der Chef beschränkte 320
sich auf das Sortieren der Müllberge auf dem Hof. Nach einem weiteren Jahr auf das Zählen der Scheine..." "...Was war mit dem Sohn?" unterbricht er sie. Denn diese geschönte Firmenchronik findet er schlicht langweilig. "Das müssen Sie aber alles wissen, wenn Sie die Geschichte von Friedhelm Meuschel kennen lernen wollen." Roth nickt, stützt seinen Kopf mit der Hand, während er ihr lauscht: "Zwar liebte der Alte das Geld, aber etwas noch viel mehr. Seine blonde Sekretärin. Aber die Beziehung hatte Folgen", erzählt sie druckreif für die Firmenbeilage in der Kölnischen Rundschau. "Ein Infarkt machte seine Frau zur Witwe. Sohn Friedhelm wurde der neue Firmenchef. Einige Jahre lief das Geschäft noch prima weiter. Dann zogen dunkle Gewitterwolken auf. Friedhelm Meuschel musste erkennen: Das steigende Umweltbewusstsein ist der Tod für unsere Branche." Es klingt wie lange geprobt. "Und dann ist er ins Reisegeschäft eingestiegen?" Carlheinz Roth wirkt wie ein Mensch, der sich endlich nach Ausfragerei sehnt. Vor der Antwort nippt sie an ihrem Kaffee. Zögernd, als sei er noch sehr heiß. "Noch nicht sofort. Er fing mit Remailing an..." "...Was ist das denn?" fragt er mürrisch. 321
"Im Auftrag von allen möglichen Firmen schaffte er säckeweise deren Post nach Holland, frankierte sie und warf sie dort in den Kasten." Wieder scheint sie in seinen Ohren Worte von jemand anderem zu benutzen. "Rund 20 Pfennig ist in den Niederlanden der Transport eines Briefes preiswerter als in Deutschland. Macht 10 Pennig Ersparnis für den Absender und 10 Pfennig Gewinn für Friedhelm Meuschel." Ein bisschen Bewunderung klingt in ihrer Stimmlage durch. "Und das ist erlaubt?" Mühsam ist ihm diese Frage eingefallen. "Natürlich nicht. Die Bundespost kam hinter seinen Trick und erstattete Anzeige. 5000 Mark Strafe. Also suchte er wieder ein neues Betätigungsfeld, diesmal ein legales." Sie sieht ihn mit den Fingern trommeln. Aber das hemmt sie nicht in ihrem Erzählfluss. "Dabei half ihm der Zufall. Bei einem Klassentreffen sah er einen alten Schulfreund wieder. Ralf-Maria Hoppe. Der hatte Jura studiert, seinen Doktor mit summa cum laude gemacht und von seinem Schwiegervater eine Anwaltskanzlei geerbt. Die Chemie zwischen Meuschel und Hoppe stimmte auf Anhieb. Beide waren auf der Suche nach einem neuen Job, beide träumten vom großen Geld. Bei der damals ziemlich maroden Bochumer Firma Holiday-Charter-Reisen, kurz HCR, stiegen 322
sie ein. Statt Bustouren nach Mariazell und Weggis füllten fortan Klubreisen nach Izmir oder Marmaris die Prospekte." Roth löffelt mürrisch seinen Kaffee, als höre er jeden Tag so ähnliche Geschichten. Claudia Häuser scheint es aber nicht zu bemerken. "So eroberte sich HCR schnell einen Platz in der Top 10 der deutschen Reiseveranstalter. Meuschel und Hoppe schaufelten Millionen in ihre Reisetaschen. Einen Teil des Gewinnes steckten sie in eine neue Tochter: in die ganz auf junges Klub- Publikum getrimmte Freitag & Co KG." "Und zu dieser Firma ist der Michael Teufel gestoßen? Ein bislang völlig unbeschriebenes Blatt", greift er ein. "Ja. Das war schon etwas merkwürdig. Beim Golfspielen mit Ralf-Maria Hoppe in Kettwig traf Meuschel auf den Caddie Michael Teufel. Und beide waren schnell einer Meinung: Sie hielten Teufel für total unterfordert und engagierten ihn von der Stelle weg als Geschäftsführer." "Einen Balljungen als Geschäftsfürer für ein Reiseunternehmen?" Der Ton in Roths Stimme lässt viel Skepsis erkennen. Von seinem Gesichtsausdruck etwas irritiert, gibt sie zu: "Ob es noch andere Gründe gab, weiß ich nicht. Aber der Teufel besaß schnell das Vertrauen des Duos. Weil er sich brav an ihre Devise hielt: Wir wollen Erfolge sehen." Sie spricht hastig. 323
"Der Meuschel und der Hoppe müssen sich wohl gut verstanden haben?" "Anfangs bestimmt. Aber zuletzt sprachen sie sich nicht mehr mit Vornamen an. Aus Angst vor zu viel Intimitäten. Sagte mir mal der Ra... Hoppe", sagt sie, sich erinnernd, "mit einem hauchdünnen Burgfrieden dümpelte die Geschäftsbeziehung vor sich hin. Mehr war nicht drin. Meist kam man so über die Runden. Aber unter der Decke brodelte der Vulkan." "Vulkan?" Jetzt wird er hellhörig. "Ja, ein Vulkan,...der auch explodierte." "Wie explodierte? Warum gab es Zoff?" fragt der Haudegen und wundert sich: Warum erzählt sie mir alles? "Trotz Rezession wurde in der Chefetage der Gürtel keineswegs enger geschnallt." Fast im Minutenabstand wischt sie ihre blonden Rastalocken aus der Stirn. "Der Meuschel wollte den Hoppe aus der Firma drängen. Einmal habe ich so eine Auseinandersetzung mitbekommen. Es sieht eher mau aus in unseren Klubs, oder? So begann Meuschel. Vor zwei Jahren seien die Klubs noch zu 84 Prozent ausgelastet gewesen. Im vorigen Jahr aber nur zu 71 Prozent. Hoppe kauerte vor dem Schreibtisch, als erwarte er im nächsten Augenblick das Jüngste Gericht. Ich sehe ihn noch vor mir." Claudia Häuser 324
erzählt spannend. "Meuschels Stirn legte sich in tiefe Falten. In den letzten beiden Monaten sind wir endlich aus den roten Zahlen herausgekommen. Tönte er und nahm sich Hoppe vor: Genau in der Zeit, in der du krank warst. Das hier ist nicht deine Schuhgröße. Hoppe ließ sich nicht unterbuttern und hielt entgegen: Drei Wochen war ich nicht da. Nicht zwei Monate. Aber sein Partner schien mit Taubheit geschlagen zu sein. Du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Jetzt und in der Zukunft nicht, sagte er Hoppe. Der wollte zuerst seinen Ohren nicht trauen. Wie meinst du das? fragte er naiv. Aber Meuschel nippte erst an seinem Kaffee und knittelte dann eine Binsenweisheit runter. Die Geschichte gehört den Siegern. Da wusste Hoppe, was gespielt wird. Du willst mich hier wohl raushaben? erkannte er blitzschnell. Wir müssen jetzt zusammenstehen und den Laden verkleinern hatte Meuschel längst entschieden. Mit einem Mann auf der Brücke funktioniere es besser." "Und wie hat Hoppe reagiert?" fragt Roth und holt eine neue Zigarette aus der Packung, klopft sie kurz auf seinem Daumennagel fest und steckt sie in seinen Mund, der sich zusammengezogen hat wie ein Wurm. Dann zündet er die Zigarette an. Und stößt ein paar Rauchringe aus, als wolle er seiner Frage mehr Gewicht geben. 325
"Der Hoppe ist sehr sensibel. Vielleicht bin ich mit 45 schon zu alt: zu alt, um weiterzumachen, aber auch zu alt, um aufzuhören und noch mal etwas Neues zu beginnen. Das alles schoss ihm durch den Kopf. Das stimmt im Großen und Ganzen. Sagte er. Aber Meuschel hatte für Ironie nichts übrig. Ich bin genauso an dem Laden hier beteiligt wie du. Meuschel überlegte, grinste geziert und verwies auf den Gesellschaftervertrag. Da gäbe eine Klausel für eventuelle Auseinandersetzungen. Jeder Gesellschafter könne die Firma auflösen. Und das wolle er tun und sofort eine neue Firma gründen. Damit hatte Hoppe gerechnet. Natürlich, HCR kann aufgelöst werden. So begann sein Gegenschlag. Wenn die wirtschaftliche Lage mies ist, ja, dann stimme die Voraussetzungen. So stehe es im Gesellschaftervertrag. Wir machen aber Gewinne. Jubelte Hoppe. Da musste sich Meuschel wutentbrannt geschlagen geben." Carlheinz Roth brummt der Schädel: "Sie wissen aber verdammt gut für eine Aushilfssekretärin Bescheid", stellt er fest. "Was machen Sie sonst noch?" "Ich studiere." Claudia Häuser wartet etwas, dann erklärt sie mit einem gepressten Lächeln: "Betriebswirtschaft und Psychologie." 326
"Eine Frage habe ich noch, warum konnte man noch nie etwas über die Schieflage bei HCR in der Zeitung lesen? "Meuschel hatte die Reisejournalisten an seiner Angel. Er lud sie regelmäßig zu Pressekonferenzen auf der ganzen Welt ein. Die Treffen veredelte er bislang mit der Erfüllung auch ausgefallener Wünsche. Platinblonde zum Beispiel. Und mancher Windmacher lag fortan in Ketten. Denn die Videokameras waren immer dabei." Plötzlich durchfährt ihn ein Gedanke: "Erpressung?" "So kann man es nennen." Claudia Häuser wirft einen schnellen Blick auf ihre Uhr: "Ich muss zurück." Sie scheint etwas verärgert zu sein, verärgert über Roths Hilflosigkeit am Anfang, seine spätere Ausfragerei und über sein dummes Grinsen. Sie sind so weit wie am Anfang. Claudia Häuser steht auf und geht. Carlheinz Roth beeilt sich, ihr die Tür zu öffnen, als lege er auf gute Umgangsformen wert. Dann zahlt er auch und geht ebenfalls. Nicht zurück in die Redaktion - sondern zögernd zum Zülpicher Platz. Sein Herz krampft sich im Gedanken an Regine Schwirtz zusammen. *** 327
Alle zwei Minuten schaut Carlheinz Roth auf seine Uhr, ohne überhaupt die Zeiger zu sehen. Eine Zigarette hält er nicht in der Hand, aber zwischendurch schnippt er immer wieder mit dem Feuerzeug. Diese Gesten scheinen ihm das Warten leichter zu machen. Seit einer Viertelstunde steht er an der Herz-Jesu-Kirche. Sein Blick wandert von rechts nach links und dann wieder von links nach rechts, als würde er ein Tennismatch im Düsseldorfer Rochusclub verfolgen. Er beobachtet das Bürohaus an der Zülpicher Straße und die Bäckerei Breuer. Dort steht ein Krankenwagen und blitzt geduldig sein bläuliches Warnsignal aus. Davor schwatzen einige Leute aufgeregt durcheinander. Jetzt will er mit ihr reden, endlich wissen, was für ein Spiel sie hervorgekramt hat. Intuition oder Selbsterhaltungstrieb warnen ihn aber davor, reinzugehen. Er versucht, sich vorzustellen, was Regina gerade jetzt tut. Wahrscheinlich sitzt sie jetzt an ihrem Schreibtisch und telefoniert. Vor einer halben Stunde hat er bei ihr von einer Zelle am Barbarossaplatz angerufen. Doch als sie sich meldete, ließ er sofort den Hörer auf die Gabel fallen. Ob sie schon den Einbruch bemerkt hat? Carlheinz Roth steckt sich eine WY Chester an, hält sie nach einigen Zügen in der hohlen Hand: wie ein 328
Soldat vor dem Kasernentor. Sonst geht sie doch immer um diese Zeit in den Oscar. Weiß Gott, wo sie heute bleibt? Ihre Telefonsprechstunde ist doch längst vorbei. Er zieht ein Taschentuch aus der Hose und tupft sich die Lippen ab. Hypnotisiert starrt er zum Eingang. Die Tür öffnet sich - es erscheint nur ein bantamgewichtiger Typ. Wieder nichts. Der Journalist wird immer nervöser, ganz unruhig. Er hasst es, zu warten. Denn er glaubt, dass Leute, die warten, am falschen Ort sind. Was, zum Teufel, soll er jetzt tun? Er zögert, während seine Angst wächst. Dann geht er über die Straße. Will im Oscar auf der Lauer liegen. Kaum ist er an der Bäckerei Breuer vorbei, bleibt er wie gelähmt stehen: Aus der Tiefgarage schiebt sich die rote Schnauze eines Opel-Corsa. Das ist sie! Er kann sie nicht rufen, die Überraschung hat seine Zunge gelähmt. Auch nicht ihr Gesicht sehen. Nur ihr kastanienbraunes Haar. Eine Frau schiebt gerade ihren Kinderwagen an ihm vorbei. Der Corsa biegt nach rechts in die Zülpicher Straße an und muss halten, der Krankenwagen will weg. Jetzt ist Roth total aufgeschmissen! Sein Auto steht in der Tiefgarage, einen Kilometer von hier. Ein Gedanke beherrscht ihn: Hinterher! Hinterher! Hinterher! Roth hält nach einem Taxi Ausschau. 329
Auf der einen Seite des Hohenstaufenringes ist die Herz-Jesu-Kirche, auf der anderen nichts: nur drei Telefonzellen. Aber dahinter lauern zwei Taxen auf Fahrgäste. Carlheinz Roth rennt über den Zülpicher Platz, springt in einen Mazda: Schnell! Dem da hinterher", ruft er und zeigt auf den Corsa. Ein Welle Maroussia kommt angekrochen. Die Frau im rosafarbenen Overall dreht sich um und fasst an ihre goldumrandete Brille. "Ein Scherz?" fragt sie aus dem Mundwinkel. Sie sieht wie eine Frau aus, die am Make-up nicht spart. Hat kurzes, blondes Haar, dessen Ansatz in gerader Linie über die Stirn läuft. Ihre Augen sind umgeben von einem feinen Netz von Fältchen. "Fahren Sie endlich los!!!" brüllt er. Sein Atem, sauer von Angst, streift ihr Gesicht. Die Frau dreht sich wieder um, hustet ganz kurz um Vergebung und startet ihr Auto: "Verzeihung", sagt sie, von Bedauern aber noch meilenweit entfernt. Und rümpft kaum sichtbar die Nase. Das macht Roth noch ärgerlicher: "Los!" Er hat schon jetzt alles satt bis oben hin. "Wo gehts hin?" fragt die Frau mittleren Alters unbestimmt. Roth atmet tief durch, sieht im Innenspiegel ihren Ob-der-wohl-auch-bezahlen-kann330
Blick und antwortet: "Dem da... Dem da...hinterher!" "Ich...Ich werde es versuchen", lächelt sie zaghaft und biegt nach links in die Zülpicher Straße ab. Was verboten ist, woran sich aber im Moment nur die Klingel einer Straßenbahn stört. Der Corsa und sein Schatten fahren nach rechts in die Roonstraße. Roths Stimmung schwankt zwischen Panik und Absolution, die er gerne erteilen möchte. "Möchten Sie?" fragt er im vertraulichen Ton und bietet dem Vordersitz eine ziemlich zerdrückte Zigarette an. Sofort macht sie ein ernstes Gesicht: "Hier wird nicht geraucht!" Auf eine Antwort legt die Frau mit dem ausrasierten Nacken scheinbar keinen Wert, aber auf eine Reaktion. "Na ja, na ja." Roth kann im Spiegel außerdem ihre hochgezogenen Brauen deutlich sehen. Er steckt seine Zigaretten wieder weg. Und empfindet Hassgefühle für die Frau, so wie ein kleiner Junge die übertriebene Affektiertheit seiner Tante total ablehnt, die ihn am Nachmittag des Heiligen Abends nicht ins Wohnzimmer lassen will. Am Rudolfplatz biegt der Corsa links ab, die Taxe ist zwei Autos dahinter und als sie an die Kreuzung kommen, ist die Ampel rot. Mist! "Kein Problem, der muss da vorne halten", sagt die Fahrerin mit ei331
ner rauchigen Stimme, um die sie bestimmt oft beneidet wird. Roth kriegt erst kein Wort raus. Seine zusammengelegten Hände teilen das aufgeregtes Gesicht. Er kann das Schlagen seines Pulses im Spiegel sehen. "Meinen Sie?" Und er wünscht sofort, diese Frage nicht gestellt zu haben. "Natürlich! Ich kenne doch die grüne Welle... Im Gegensatz zu manchen anderen Taxifahrer." Dabei lächelt sie ein wenig, wie jemand, der sein eigenes Spiegelbild schon frühmorgens für gut befindet. Der Tonfall, mit dem sie die anderen Kollegen beschreibt, soll auch den Schluss zulassen, dass sie sich für die einzige intelligente Taxifahrerin in ganz Köln hält. "Was meinen Sie, wie lange ich schon hinterm Steuer sitze?" Für das Lösen dieses Rätsels fehlt ihm jede Geduld. Besonders, weil zwei UPS- Braunhemden und ein Laster die Sicht auf den Corsa versperren. Er beugt sich über den Sitz nach vorne. Starrt durch die Windschutzscheibe. Nichts zu machen. Rechts ist das Holiday Inn, er hört noch ihre Worte: Da ist mir dieser Kasten schon lieber... Du Sau... Dann sterben wir. Dazwischen ihre von Optimismus erfüllte Stimme: Wie findest du es, wenn ich mit dir nach Kalifornien gehe. Alles scheint schon ein Leben lang her zu sein. 332
Das Gedächtnis spielt einem oft merkwürdige Streiche. Roth wischt sich den Schweiß von der Stirn. Endlich schaltet die Ampel auf Gelb um. Wo ist der Corsa?... Weg. Scheiße! Ihm schießt das Blut in die Wangen. Seine Augen brennen vom Schweiß. Grün. Der Motor heult auf. Sie steuert geradewegs auf die nächste rote Ampel zu. Und tritt auf die Bremse. "Oh....Was wollen Sie jetzt tun? ...Falls Sie... Soll ich Sie hier rauslassen?" schlägt die Frau zimperlich vor. Dabei schüttelt sie ihr Haupt, als wolle sie sagen, das reicht dann wohl, hauen Sie endlich ab. "Was?...Weiter! Fahren Sie weiter!" schreit er. "Ich bin...Reporter", das soll die Fahrerin trösten. Sie legt den ersten Gang ein und lässt sich weichklopfen: "Ach?" Damit habe ich sie gefangen, denkt er. Grün. Sofort gibt sie Gas und brettert weiter. "Vom Express?" spricht sie wie eine vor der Premiere aufgeregte Schauspielerin. Er atmet hektisch, als würde er ertrinken. "Nein, von Punkt!...Haben Sie so etwas schon mal gemacht?" Sie möchte ihr Bestes geben, reißt das Steuer nach links, um einen Käfer nicht zu rammen. Ihr Mazda schießt vorwärts. "Puuuh...Was?" "Verfolgen, meine ich", sagt er und lugt aus dem Fenster. Er ist 333
klatschnass. Der Corsa kann doch nicht verschwunden sein. Ganz unruhig sitzt er da, seine Fäuste sind geballt. Sein heißer Atem tönt laut in ihre Ohren. *** Der Mazda rast den Hohenzollernring entlang. Viel zu schnell. "Einmal, als der Juhnke mit seiner..." Roth nimmt eine Hand vom Vordersitz, um sich die Haare aus der Stirn zu streichen. Etwas beginnt sich in ihm zu verkrampfen. Ein paar Bartstoppel unterstreichen sein eingefallenes Gesicht. Hätte jetzt eine Radiostimme gesagt: 8 Uhr, hier ist Radio Köln mit den Nachrichten. Er wäre kein bisschen überrascht. Dann wüsste er wenigstens, dass der Albtraum einen Krieg verloren hat. Seine Hand, sein ganzer Körper zittert. Sein Herz rast schneller als der Ottomotor. Er weist mit einer hektischen Kopfbewegung zur Fahrbahn hin. "Da...Da ist er wieder. Da vorne. "Nur ruhig Blut", empfiehlt sie. Und er fragt sich, wann er wohl ausrastet. Plötzlich glaubt er, dass er auf der Flucht ist und verfolgt wird. Schnell wischt er den Gedanken fort. Verworrene Bilder drängen sich ihm wieder auf: zwei Wäscheklammern... bonbonfarbene Plastikriemen...eine Glasscherbe. In seinem Körper wächst das Unbehagen. Mühsam wiederholt er: "Da vorne!" Und sagt völlig ohne 334
Zusammenhang: "Geht noch." Sie dreht sich kurz um und scheint ziemlich erzürnt zu sein: "Wie lange soll das noch gehen?" Die Gluthitze des Sommers bringt jeden Versuch zum Schmelzen. Roth schenkt sich eine Antwort. Und bewegt den Kopf, als wolle er etwas abschütteln. Aber vergeblich. Der Corsa ist vier Autos vor ihm. Am Friesenplatz sind nur noch zwei. Die Stadt ist um diese Mittagszeit noch nicht verstopft. An der Christophstraße ist der Mazda direkt hinter dem Corsa. Nachdenklich presst er Daumen und Zeigefinger seiner rechten Hand an die Nase. Hat sie ihren Verfolger im Rückspiegel schon entdeckt? Zumindest deutet nichts darauf hin. Die Kastanienbraune fährt weiter über den Ring, eine andere Taxe überholt den Mazda und schiebt sich dazwischen. Roth ist etwas erleichtert. Sein Mund verzieht sich zu einem schmalen Lächeln, als würde er das alles für einen Traum halten. Am Ebertplatz biegt sie nach links in die Riehler Straße ab, die Taxe hinterher. Wieder kleben sie Stoßstange an Stoßstange. Mit Tempo 60 brettert sie am Zoo vorbei. Roth schaut sich die Frau im Innenspiegel an: Sie hat ein langweiliges Gesicht, ohne Humor. Jetzt schweigt sie auch, weil sie spürt, dass sie die Aufmerksamkeit ihres Fahrgastes längst 335
verloren hat. Immer häufiger betupfen seine Finger die Nase. Der rote Corsa fährt jetzt über die Mülheimer Brükke auf den Wiener Platz zu. Hier beginnen die üblichen Staus wegen der U-Bahn-Arbeiten. Wieder sind drei Autos zwischen beiden. Roth massiert sich den Nacken. Seine Augenlider schmerzen. Der Schweiß läuft innen an den Hosenbeinen vorbei. Jedes Lächeln ist aus seinem Gesicht gefallen. Die Frau am Steuer schüttelt den Kopf. "Wie kann man nur hier rumfahren", sagt sie so, als sei sie es gewohnt, von Staus verschont zu werden. Aber Roth schämt sich kein bisschen. Aber längst hat er auch keine Siegergewissheit mehr. Er späht rechts zu einem Hochhaus, als zähle er die Etagen. Das Gebäude am Bergischen Ring sieht aus wie die Kulisse zur Neuverfilmung von Tarzans größtem Abenteuer. Die Busse und Straßenbahnen am Wiener Platz sind gerammelt voll mit Schülern. Mehr oder weniger haben alle das Gleiche an: Fetzenjeans oder Glokkenminis, T- Shirts mit Motivdrucken, überdies USTurnschuhe. Die Haare entweder sehr lang oder aber besonders kurz. Die goldene Sonne verheißt einen heißen Nachmittag. Nicht eine Wolke trübt das reinste Blau. 336
Der Corsa zuckelt vom Wiener Platz ein Stück in Richtung Leverkusen und kurvt dann rechts in die Berliner Straße. Einige Typen in T-Shirts vom Grabbeltisch hocken dort schläfrig hinter ihren Tischen. Und halten den Kunden ihre ausdruckslosen Gesichter, Modeschmuck oder alte Ausgaben vom Playboy hin. An der Dea-Tankstelle kommt von rechts eine bimmelnde Straßenbahn. Die Geräusche lassen Roth zusammenzucken. "Alles okay?" tönt es vom Vordersitz. Roth massiert wieder seinen Nacken: "Was? Jaja." Ganz kurz bekommt er das Gefühl, eine geplante Fährte zu verfolgen. So schnell wie der Gedanke kommt, ist er auch wieder verschwunden. Der Verkehr nimmt etwas zu. Bestimmt fünfzig Minuten dauert die Verfolgungsfahrt schon. Oder sind es nur zwanzig? Oder zehn? Direkt hinter der Autobahnbrücke endet Mülheim. Ab hier kann er nichts mehr auf der Liste seines Gedächtnisses abstreichen. Die Häuser werden weniger. Die Fahrerin starrt grimmig auf die Fahrbahn: "Soll ich Hilfe anpiepsen?" "Was?...Nein!!!" Roth spricht viel lauter als sonst: wie immer, wenn er aufgeregt ist. "Ich dachte nur", flüstert sie, als würde noch jemand zuhören. Und lächelt etwas dümmlich. 337
Es ist längst eine Straße, die den Eindruck vermittelt, als wären hier alle Menschen verloren gegangen. Nirgendwo ist jemand zu sehen. An diesem drückend heißen Tag. Für einen Moment lässt er sich in das Stoffpolster des Mazda zurücksinken. Seine verkrampften Hände sind ganz feucht. Und die Beine. Der Rücken. Der Hintern. Er hat großen Durst und ihm ist kalt. Die veränderte Atmosphäre ist ein radikaler Temperatursturz in die übernächste Jahreszeit! In Dünnwald drosselt der Corsa sein Tempo. Biegt an der Aral-Tankstelle ab. Schilder zeigen nach Altenberg und Odenthal. Sofort ebbt der Lärm von der B 51 ab. "Ah. Da will die hin", sagt sie vorsichtig. Roth hat für Prognosen dieser Art noch nie etwas übrig gehabt. "Kann sein", antwortet er genervt. Als sei sein Leben ein Kampf gegen das Unglück. Die naseweise Frau nimmt den Fuß vom Gas zurück und gestattet sich ein Lächeln: "Haben Sie eine Badehose dabei?" "Was?...Nein", antwortet Roth in einem Ton, als sei ihm plötzlich alles zuwider. Und die Frau ganz besonders. Roth reckt sein Gesicht nach vorne, während er nervös mit dem Knie wippt. Ihm wird langsam angst und bange. Die Straße ist ganz frei. Spätenstens jetzt müsste sie den Verfolger bemerkt haben 338
schießt ihm durch den Kopf. In seinen Eingeweiden tobt eine Unruhe, wenn er ihr kastanienbraune Haar sieht. Warum reagiert sie nicht??? Ihn überkommt das Gefühl drohender Gefahr. Das Blut schießt ihm in die Wangen. Manche Menschen können Gefahren wittern. Sie haben einen Instinkt für Gutes und Böses. Genau wie Tiere. Der Journalist hat diese Fähigkeiten. Das Duo fährt erst links, dann rechts. Hier hockt ein Schild: Zum Waldbad. Roth sieht es mit zusammengekniffenen Lidern. Verwirrung packt ihn. Unbewusst presst er die Handflächen aneinander. Der Peter-Baum-Weg läuft einen Berg hoch und ist nur noch eine schmale Gasse. Links und rechts sind Autos geparkt. Die Taxifahrerin schaltet in den zweiten Gang runter. Kein Verkehr auf der Straße. Nur das friedliche Tuckern eines Abschleppwagens, der hinter einer Rechtskurve auftaucht. Aber das Tuckern wird immer lauter. Bedrohlicher! Roth reist die Augen auf, als könne er so etwas steuern. Nein!!! Der Abschleppwagen rast direkt auf den Corsa zu. Die Fahrerin stemmt sich auf die Bremsen. Ihre Hupen ist die pure Hysterie. Zu spät. Der Abschleppwagen und der Corsa stoßen frontal zusammen. 339
Die Taxifahrerin reißt das Steuer herum: "Festha..." Jähes Entsetzen beherrscht ihre Stimme. Der Mazda rast in den Zaun des Campingplatzes. Hinter Roths Kopf kracht es wieder. Er reißt die Tür auf, springt aus dem Wagen, stolpert und bringt sich zu Fall. Steine rollen gegen seine Magenwände. Einen Moment traut er sich nicht, sich umzudrehen. Dann dröhnt ein Knall dumpf in seinen Ohren. Reflexartig rast sein Kopf nach hinten. Im Bruchteil einer Sekunde zieht sich sein Herz zusammen. In der Magengrube krampft sich alles zusammen: Der Corsa ist explodiert und eine einzige Feuersäule. Der Abschleppwagen schiebt ihn zur Seite und drischt mit einem Affentempo vorbei. Roth springt auf. Keuchend wie ein Tier taumelt er zur Straße. Sein Körper schwankt von einer Seite zur anderen. Der Schweiß rinnt ihm in die Augen und macht ihn fast blind. Er fühlt, wie sein Herz gegen die Rippen schlägt. Und bekommt das Gefühl, dass auch ihm nicht mehr viel Zeit bleibt.
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18. Paul Kratzenstein geht über den Flur: seit dem Bekanntwerden seiner Beförderung anders als früher, fester, energischer. Der Kopf ist eine ganz kleine Spur erhobener. In der Küche und sucht er unter den bestimmt fünf Maschinen eine aus, zu der er Vertrauen hat. Dann schüttet er mit dem Messbecher Wasser in das Gerät und nimmt statt des Teebeutels sorgfältig fünf Löffel Mocca Auslese aus der Packung, kippt sie oben rein. So hat es ihm Petra Braun gezeigt. Und seine Antwort war: "Interessant, interessant. Ich habe in meinem Leben noch nie Kaffee gemacht." Das stimmte natürlich nicht. Beide lachten trotzdem. Etwas bedächtig legt er jetzt den Schalter um, hört das Telefon klingeln und rennt sofort nach nebenan. Aber es bimmelt nicht mehr. Einige Sekunden starrt er den roten Apparat an, als müsse er ihn beschwören. Aber der Kasten spuckt keinen Ton mehr aus. Also setzt Kratzenstein sich an seinen Schreibtisch und schaut gedankenverloren auf Punkt! vor ihm. In Gedanken erstellt er eine Liste mit Kollegen, die er gerne mit nach Düsseldorf nehmen möchte. Es fällt ihm nur ein Name ein, der seiner Sekretärin: Elke 341
Werner. An jedem Morgen schlurft sie mit hängenden Schultern ins Büro. Auf manche Leute wirkt sie wie eine gelangweilte Fremdenführerin. Spötter unken sogar, sie könne noch mit 40 als Jungfrau die Kerzen ausblasen. Kratzenstein weiß es besser. Er kennt ihre stolzen Bewegungen, ertrinkt in ihrer grenzenlosen Leidenschaft. Aber immer seltener. Das Telefon reißt ihn aus seinen Träumen. Es ist Petra Braun. Sie meldet sich aus den Unikliniken: "Hören Sie", fordert sie ihren Chef auf und ist ganz aufgeregt. "Der Mann aus dem Aufzug hat gestanden, dass er eine Mieterin vergewaltigen wollte." Kratzenstein beugt sich etwas vor: "Das kommt immer wieder vor." "Aber die Frau hat erst auf ihn eingeprügelt, als er schon von ihr abließ. "Was?" "Und wissen Sie, wer die Frau war?" tönt es aus dem Hörer. "Wer?" "Die Schwirtz. Diese Psychotherapeutin", erklärt Petra Braun. Es klopft und im gleichen Moment geht die Tür auf. Kratzenstein beendet das Gespräch: "Das muss ich erst mal verarbeiten." Franz Keitel kommt mit langsamen Schritten ins Büro, das rechte Bein etwas nachziehend. Vor vier 342
Monaten ist ihm eine künstliche Hüfte eingesetzt worden. Keitel sieht aus wie Ende Dreißig, ist aber knapp zehn Jahre älter. Ein bisschen hat er was von einem Streetworker. Diesen Eindruck pflegt er auch, in dem er sich ab und zu einen Bart stehen lässt. Um den Hals trägt er eine goldene Kette mit einem Bären dran. Oberflächlich betrachtet wirkt Keitel wie einer, der sich heute im Kleiderschrank geirrt hat. Der Träger von Schlabberhemd, luftdurchlässiger Leinenhose und Zahnpastalächeln ist Jedermanns Liebling. Hilfsbereit ist er, kann aber nicht delegieren. "Meine Sekretärin hat mir gesagt, du wolltest mich sprechen. Also, was kann ich für dich tun?" erkundigt sich der Polizeipsychologe. Kratzenstein runzelt die Stirn und sieht vor sich hin, als habe er gerade ein stundenlanges Verhör in einer Zelle im Klingelpütz hinter sich: "du kennst doch unsere beiden Mordfälle? Der Mann, der sich berufsmäßig für die Motive der Menschen interessiert, zieht die Brauen zusammen und wischt sich das Gesicht mit der Hand: "Die mit den abgeschnittenen Brustwarzen, die meinst du doch?" "Genau die." Kratzenstein wartet, doch Keitel hakt nicht ein. Und es sieht auch nicht so aus, als werde 343
er es tun. "Meine Nase als Polizist sagt mir, dass wir auf der Stelle treten." Franz Keitel neigt den Kopf und lacht leise: "Dafür hast du auch selbst gesorgt." Kratzenstein begreift nicht gleich, was gemeint ist. Er schaut fragend sein Gegenüber an. Seine Lider zucken. "Dieses Interview, meine ich." Keitels Gesicht ist eine eigenartige Mischung aus grimmigem Kollegen und neugierigem Bullen. Kratzenstein hat den Kopf etwas gesenkt, sieht jetzt aus wie jemand, der einen Schritt überdacht hat und ihn trotzdem nicht bedauert. Er hebt den Kopf und schüttelt ihn, während er sagt: "Na ja, ein Versuch sollte es wert gewesen sein." Seine Stimme hat aber einen unsicheren Klang angenommen. Er nimmt den Hörer ab und will das Nachbarbüro erreichen. Aber Koritzius meldet sich nicht. Kratzenstein wird ernst: "Der hätte auch was sagen können, wenn er wieder zum Zahnarzt muss." Keitel zuckt die Schultern und zieht seinen Stuhl etwas näher an den Schreibtisch. Der Abstand zwischen ihnen ist gering. "Ich bin mir nicht sicher, was zum Teufel dieser Artikel eigentlich bezwekken sollte." Sein Ton ist ein wenig scharf. "Überhaupt kann ich mir nicht vorstellen, dass der Täter durch so eine lahme Geschichte wirklich provoziert 344
wird." Kratzenstein spürt, wie sich auf seiner Stirn ein kleiner Schweißfilm bildet. "Ich übertreibe nicht, wenn ich sage, in dem ganzen Text standen doch nur Binsenweisheiten, die du in jedem Taschenbuch über Psychologie nachlesen kannst." Keitel bricht ab. "Wie siehst du die Fälle?" Kratzenstein wirkt müde und enttäuscht. "In fast allen Fälle von sexuellem Sadismus sind Frauen die Opfer. Noch eine andere typische Komponente bei Sexualmorden fehlt hier ganz und gar. Irgendwelche Bissmale." Wenn Franz Keitel redet, bewegen sich Kopf und Hände kaum. Aber seine Augen sind hellwach. "Mein Bauch sagt mir, dass dein Täter, wenn es überhaupt ein Mann ist, es nicht nur aus Leidenschaft getan hat. Frauen töten meist nicht aus sexuellen Gründen. Bei ihm oder ihr schwingt das Pendel hin zu eiskalter Berechnung. Wichtig für unsere Arbeit ist immer, dass wir genauso denken wie der Mörder, aber hier..." Er hält inne, weil er erst nicht weiß, wie er weiter soll. Schließlich tastet er sich vor: "Und was ergab die Obduktion?" Kratzenstein sieht ihn etwas hilflos an. Und es dauert einige Zeit, bis er antwortet. "Niemand hat sich gewehrt. Nirgendwo unter den Nägeln haben wir 345
Hautspuren gefunden. Nichts von all dem, was uns helfen könnte." Einen kleinen Augenblick ist Franz Keitel scheinbar irritiert. "Wie beurteilst du den Täter?" Kratzenstein legt seine Hände auf die braune Platte des Schreibtisches und neigt den Kopf in Keitels Richtung. Der faltet die Hände im Schoß. "Er oder sie lebt sehr isoliert. Wahrscheinlich neigt die Person dazu, alle Freundschaftsangebote zurückzuweisen", klingt es wie aus einem Lehrbuch. "Aber was in diesem Hirn vorgeht, ist eine Sache, die ich noch nicht herausgefunden habe... Vielleicht ist er oder sie als Kind sexuell missbraucht worden...Vielleicht..." Kratzenstein versucht, diese Analyse einzuordnen: "Es kann also auch Rache sein?" In ihm keimt ein ganz anderer Gedanke: "Hast du eigentlich schon mal davon gehört, dass sich jemand wehrt, weil er nicht vergewaltigt wurde?" "In irgendwelchen Pornostreifen, ja? Aber nicht in der Wirklichkeit." Der Psychologe ist von dem überzeugt, was er sagt. Und über die Frage total irritiert. Er spürt erst jetzt eine klebige Feuchtigkeit unter den Armen. Und zuckt zusammen. Das Telefon ist der Störenfried. Diesmal kann Kratzenstein nicht entkommen. "Kommen Sie sofort 346
nach Dünnwald. Zum Freibad. Schnell!" brüllt Carlheinz Roth in den Hörer. "Warum, Herr Roth?" Kratzensteins Stimme hat ihren Klang gewechselt. Der Reporter sammelt hörbar das Letzte an Konzentration: "Die Schwirtz ist ermordet worden." Auf dem Rücken von Paul Kratzenstein bricht der Schweiß aus: "Was? ...Ich komme." Er notiert sich die Adresse. Franz Keitel hat alles mitgehört: "du lieber Gott", sagt er tonlos. Doch das bekommt Carlheinz Roth nicht mit. Er hat längst aufgelegt. Kratzenstein hält seine Gedanken für sich. *** Das Blaulicht eines Krankenwagens rotiert. Polizisten nehmen Namen und Adressen von Gaffern auf. Die meisten glänzen vor Sonnenöl. Carlheinz Roth lehnt sich an einen VW-Vectra, der die gleiche Farbe hat wie das Gestrüpp am Rande des PeterBaum-Weges. Längst hat er es aufgegeben, sich die Augen zu trocken. Fast unentwegt starrt er auf die verkohlten Überreste eines Wagens. Zwischendurch hasten seine Augen für Sekunden zu dicken, fetten Bremsspuren auf dem Asphalt. Dann kehren sie wieder zu dem Auto zurück. Feuerwehrleute in blauen Arbeitsklamotten löschen die letzten Glutherde. Roth hält den Kopf gesenkt und hört sie lei347
se sagen: Wie komme ich nur darauf, dass du dich lange nicht so wohl fühlst mich zu kennen, wie ich mich freue, dass du hier bist. Seine Gedanken sind bei den letzten Tagen. Bei der Frau, die ihm so viele Rätsel aufgegeben, die er verdammt, aber auch oft ersehnt hat. Die Schläge seines Herzens übertönen das Martinshorn eines Streifenwagens. Paul Kratzenstein springt aus einem Ford Mondeo. "Da kam jede Hilfe zu spät. Die Fahndung ist eingeleitet. Aber bis jetzt noch ohne Ergebnis." Ein Polizist redet auf ihn ein, als hätte er im Kopf bereits sein Protokoll getippt. Kratzenstein nickt und geht weiter. Direkt auf Roth zu: "Schreckliche Sache. Tut mit Leid." Er merkt selbst, wie unzulänglich seine Worte klingen. Seine Augen ruhen auf der Unfallstelle: "Wissen Sie, was sie hier eigentlich wollte?" Die Leute um ihn herum sehen so aus, als würden sie auf den kleinsten Vorwand warten, um sich um die besten Plätze zu prügeln. Denn inzwischen sind die ersten Reporter von Express, Bild, Punkt! WDR und RTL eingetroffen. Die Kommentare für die Mikrofone und Notizblöcke reichen von schrecklicher Unfall bis hinterhältiger Mord. Carlheinz Roth schüttelt den Kopf. Schweiß läuft ihm wieder in die Augen: "Keine Ahnung." Ruß348
partikel treiben vor dem leichten Wind her. Sie sammeln sich in seinen Haaren. Ohne Aufforderung schildert er die letzen Stunden. Kratzenstein hält die Augen geschlossen, während er zuhört. Die Taxifahrerin kommt hinzu: mit einer Zigarette zwischen blutleeren Lippen. Kommentarlos reicht sie auch Roth eine selbst gedrehte Drum und geht weiter. Die schweißnasse Hand des Journalisten hat sie genommen, ohne hinzusehen. Jetzt hält er sich an ihr fest, um sein Zittern zu unterdrücken. "Der Wagen brannte sofort lichterloh. Der Feuerlöscher konnte nichts mehr ausrichten." In seinem Kopf bildet sich ein Kloß. "Vielleicht war es besser so", sagt Kratzenstein und kritzelt etwas in sein Notizbuch. "Ich muss Sie so bald wie möglich in meinem Büro sehen." "Wird hier ein Film gedreht?" will eine Piepsstimme hinter ihnen wissen. Ein um die Augen verquollenes Gesicht bemerkt: "Damit könnten sie Recht haben." "Das war kein Zufall. Das war geplant." In Roths kratziger Stimme ist ein Anflug von Zorn. Er sieht Kratzenstein voll ins Gesicht. "Genau in dem Moment, als die Schwirtz um die Kurve fuhr, kam ihr der Abschleppwagen entgegen. Keine Sekunde zu früh." Dann schweigt er und Kratzenstein sieht keinen Grund, ihn durch Fragen 349
zum Weiterreden zu bewegen. "Kommen Sie." Die beiden gehen ein paar Meter, um sich dem Geschwätz zu entziehen. Plötzlich bleibt Roth stehen und die Augen in dem kalkweißen Gesicht ruhen auf dem Polizisten: "Ganz ehrlich, glauben Sie an einen Unfall?" "Ich weiß nicht recht. Keine Ahnung", antwortet Kratzenstein und weiß in diesem Augenblick, dass er meilenweit von der Wahrheit entfernt ist. *** Ein paar Minuten stehen Paul Kratzenstein und Carlheinz Roth schweigend beeinander. Fast versinkt der Journalist wieder in Erinnerungen, doch der Polizist holt ihn schnell wieder in die Gegenwart zurück: "Da drüben will jemand was von Ihnen.... Ach, da kommt ja der Koritzius. Was macht der denn hier? Koritzius wirkt wie jemand, dem man ein Spiel aufgezwungen hat, von dessen Regeln er noch keine Ahnung hat. Die Gläser seiner Brille funkeln in der Sonne. "Ich war zufällig in Mülheim. Da habe ich das Großaufgebot von Kollegen vorbeirasen sehen und bin einfach hinterher", erklärt Koritzius, ohne dass ihn jemand danach gefragt hat. "Die Kollegen haben bereits eine Meldung gekriegt, dass der Abschleppwagen gestohlen wurde und gerade leer in Buchheim aufgefunden wurde", erklärt er weiter. 350
"Der wird jetzt nach Fingerbdrücken untersucht. Ich möchte wetten, dass keine gefunden werden", lamentiert er. Kratzenstein seufzt. Roth presst die Lippen zusammen, löst sich von den beiden und geht gedankenverloren auf Heinz Rothermund zu, der einige Fotos gemacht hat. Auch ihm brennt etwas anderes auf der Seele. "Schöne Scheiße!" seufzt er. Seine Stimme schwankt ein wenig. "Vorhin ist eine Meldung über den Ticker gelaufen, dass Bremen am 1. Oktober unsere Redaktion dichtmacht." Roths Gesicht verrät keine große Überraschung. Nur halb bekommt er die Fassungslosigkeit seines Kollegen mit: "Das kann ich nicht verstehen, wo die mir doch was anderes gesagt haben. Aber vielleicht war das alles nur ein Aufflackern vor dem Aus...Hey, wo wollen Sie denn hin?" "Nach Hause", antwortet Roth und ergänzt in Gedanken: Da wartet der Frust auf mich. Er scheint auf alles vorbereitet zu sein. Bloß nicht auf das, was ihn erwartet. *** In der Taxe will ein Mann mit milchweißer Haut dem Fahrgast ein Gespräch aufzwingen: "Schrecklich, was da passiert ist. Wissen Sie, was da genau gelaufen ist?" Doch der Fahrer ist dem von Depressionen geplagten Journalisten keine Antwort wert. 351
Am Hohenstaufenpark steigt Roth aus und geht mit zögernden Schritten über die Straße zu seiner Wohnung hin. Das milde Licht der Abendsonne durchflutet den Ring. In Carlheinz Roth ist tiefe Traurigkeit. Sein Gesicht ist blass, die Lippen blutleer. Er krallt sich an einer Marlboro fest und sortiert seine Erinnerungen: Sie war die Einzige, die Meuschel und Weiss so gut kannte, wie nur wenige... Es gibt doch noch eine Gerechtigkeit. Er verwirft den Gedanken. Der Sex im Stadtwald... Der Gang über den Ring...Die Flucht aus dem Hotel. Er hat Tränen in den Augen, während er in seiner Wohnung eine CD auflegt: Black Pearl von den Checkmates. Ihr Lieblingslied reißt wieder die Bilder aus dem Dunkel seines Kurzzeitgedächtnissen: Stadtwald...Ring...Hotel... Roth scheint seine Selbstverpflichtung zum positiven Denken total verloren zu haben: Scheißescheißescheiße! Er hört nicht das Quietschen einer Tür und die Schritte auf dem Flur. Plötzlich spürt er einen leichten Luftzug im Nacken und dreht sich um: Sein Herz bleibt stehen, als er in eiskalte Augen und eine Pistolenmündung blickt. Seine Augen weiten sich in dem Moment des Entsetzens. In seiner Kehle bildet sich ein Schrei. Aber er kann nicht entweichen. 352
Bewegungslos sitzt er da. Dann hebt er instinktiv beide Arme und stammelt: "DDDu?" "Gibt's was Neues?" fragt eine Stimme mit einer solchen Selbstverständlichkeit, als würde sie aus einem Roman von John Grisham, John le Carré oder Johannes Mario Simmel vorlesen.
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19. Nach einer Stunde weiß Paul Kratzenstein nicht mehr, was er noch am Tatort soll. Die Spurensicherung hat längst ihre Arbeit aufgenommen. Von der Frau am Steuer ist nur noch eine verkohlte Leiche übrig geblieben, die am Straßenrand liegt, abgedeckt von einer braunen Decke. "Fahren Sie zurück ins Präsidium?" will HansWerner Koritzius von ihm wissen. Kratzenstein schaut ihn nachdenklich an: "Ja, aber erst muss ich noch etwas in der Stadt erledigen", sagt er vieldeutig. Sein Ziel ist ein Bürohaus am Zülpicher Platz. Im Flur schwirren einige Töchter der Neuzeit mit Disketten in der Hand hin und her. Er versucht ein Lächeln. Vor der Praxistür von Regine Schwirtz erwartet ihn ein schmächtiges Kerlchen: "Haben Sie auch einen Termin hier? Verstehe nicht, dass die Frau Doktor nicht da ist. Da ist nur ihre Sekretärin drin, die überhaupt keinen Bescheid weiß", klingt es aufgeregt. Paul Kratzenstein drückt auf die Klingel. Eine Frau mit tizianrotem Haar erscheint: "Haben Sie einen 354
Termin?" Der Polizist verneint und zeigt seinen Ausweis. Die Frau schaut ihn unverwandt an: "Und was wollen Sie?" "Kann ich einen Moment reinkommen?" Sie lächelt gezwungen: "Muss ich das tun?" Kratzenstein sieht sie an, ohne zu lächeln: "Sie müssen nicht. Aber es wäre besser für Sie. Wer sind Sie überhaupt? Wo ist Frau Dr. Schwirtz?" "Ich bin Heike Walter. Wo die Frau Doktor ist? Keine Ahnung. Vorhin hat ihre Freundin die Schüssel geholt, um den Wagen wegzubringen...Warum ich das nicht machen durfte?" fragt sich die Rothaarige und macht einen Schritt zur Seite, damit die hagere Gestalt eintreten kann. Kratzenstein sagt nichts dazu, sieht sich kurz im Flur um. Die Tür direkt vor ihm steht offen. Es ist die vom Sekretariat. Er geht hinein. Schon wieder klingelt es an der Flurtür. "Ich bin gleich wieder da", verspricht die Frau und verschwindet. Kratzenstein lehnt sich an den Schreibtisch, überlegt einen kurzen Augenblick. Dann öffnet er den grauen Karteischrank und blättert hastig die Karten aus Pappe durch: M...Meuschel. Er zuckt etwas zusammen, hat keine Ahnung, was das soll. Verwundert schaut er weiter. Als er auch die Karte von Weiss sieht, kommt ihm ein Gedanke. Ein Schatten 355
huscht über sein Gesicht. Sofort spürt er das Rasen seines Herzens. Eine Ahnung hängt in der Luft. Normalerweise hat er für übereilte Entscheidungen nichts übrig. Er greift zum Telefon und ruft ein paar 100 Meter weiter an. Dabei trommelt er gegen den Toshiba-Laptop. Tüt...Tüt...Tüt...Niemand meldet sich. "Was suchen Sie da?" Die Rothaarige ist hinter ihm, richtet den angenagten Kugelschreiber auf ihn. Kratzenstein zuckt zusammen: "Was? ...Ich habe schon gefunden, was ich gesucht habe."
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20. Mit der einen Hand umklammert die hoch gewachsene Frau die Lehne eines Stuhls, in der anderen hält sie eine Pistole. "Los, los, was gibt's Neues?" Sie ist grell geschminkt und hat etwas Herausforderndes an sich. Aus ihrem Blick spricht so etwas wie absoluter Wahnsinn. Carlheinz Roth starrt sie an. Er kann sich keinen Reim auf die letzten Stunden machen: "Aber ich dachte,..." "Dass ich tot bin?" lacht sie gequält. Roth spürt Alkohol in ihrem Atem. Er schaut ängstlich zur Tür. Dann will er aufstehen. Doch Regine Schwirtz, die seinem Blick gefolgt ist, stellt sich sofort in den Weg: "Diesmal kannst du nicht abhauen!" Sie lacht das Lachen einer Irren: "Ich tot? Das habe ich nur eingefädelt, um dich ein wenig zu schocken. Hast du wirklich geglaubt, ich säße im Corsa? Ha. Ich habe den Abschleppwagen gefahren. Ha." Er lässt seine Schultern hängen. Er braucht einige Sekunden, um alles zu verkraften. Mit einem Ruck sitzt er wieder kerzengerade da: "Aber...Wer ist die Leiche?" 357
Ihre Blick gleitet über seine roten Sofas. Dabei atmet sie scharf ein und tut so, als wäre ihr nichts so gleichgültig wie der Mord. "Eine Bekannte von mir. Mechthild Orden heißt sie. Auch so eine Schnüfflerin. Zum Glück nicht von der Polizei, aber trotzdem..." bricht sie ab, lacht wieder und gesteht weiter: "Die habe ich angerufen und sie gebeten, mir meinen Wagen zu bringen. Ha." Der Reporter zögert einen Augenblick. "Darf ich dich noch was fragen?" hustet er hoffnungsvoll, wegen des zu erwartenden Zeitschindens. Seine Gedanken rasen von einem Bekannten zum anderen: Niemand wird ihn jetzt vermissen...Niemand wird sich zeigen. Niemand vorbeikommen. Ihre Augenbrauen sind hochgezogen. "Warum?" fragt sie überrascht, aber keineswegs ärgerlich. Mit einem Schuh stößt sie die Zimmertür zu: "Ich habe nicht viel Zeit. Wir wollen ..". "Wir?" Ihr Blick wird fahrig: "Das ist mein Problem. Oder kannst du dir nicht vorstellen, dass mir jemand geholfen hat?" Sofort schüttelt er den Kopf. Roths intelligentes Gesicht zeigt, dass er angestrengt versucht, eine passende Frage zu finden. Vergeblich. Der Reporter kehrt zu seiner naiven Rolle zurück: "Doch...Wer war es?" 358
Ihre linke Hand liegt nicht mehr auf dem Stuhl, sie ist zu einer Faust geballt: "Mir hat niemand geholfen. Ich bin doch nicht so ein Waschlappen wie du! "Ich ein Waschlappen?" Roth lächelt, fühlt sich aber in ihrer Gegenwart überhaupt nicht wohl. "Ja, du bist ein Waschlappen!" donnert sie gegen sein Trommelfell. "Du hast mir im Hotel den Laufpass gegeben. Aus Angst vor Abhängkeiten, Enttäuschungen und Wahrheiten. Aber, mein Lieber, so einfach geht das nicht. Mir einfach alle Schuld geben, mit diesem Taschenspielertrick kannst du nicht deine eigenen Schuldgefühle besänftigen." Ein zaghaftes Nicken ist seine Reaktion, obwohl er keine Ahnung hat, was sie genau meint. Aber er findet einen Rettungsanker. "Der Meuschel und der Weiss. Hast du die auch umgebracht?" Regine Schwirtz ist sichtlich enttäuscht. "Meinst du, die haben sich selbst ...?" "Aber warum, zum Teufel, Regine, warum?" Er fürchtet, sie kann seinen Herzschlag hören. Die Antwort kommt mit fester Stimme: "Der Meuschel war mein Patient. Weil er M war", erklärt sie, was aber nur für sie wichtig ist. Die muss behandelt werden. Sofort lässt er den Gedanken fallen. Die muss büßen! "M?"
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"Ja, Masochist. Ich kann diese Typen nicht ausstehen. Die sind doch die total verlogenen Sadisten. Sie treiben mich zur Raserei." Roth zittert leicht. Ihm ist so kalt, dass er aufstehen möchte, um sich eine Jacke zu holen. Aber er versucht es nicht. Weil er weiß, dass es nicht die Temperaturen sind, die ihm zu schaffen machen. Seine Wohnung würde so kalt wie ein Grab bleiben. Absolute Psychokacke, geht ihm durch den Kopf, während er mühsam ein "Warum?" hervorbringt und fragend zu ihr hinübersieht. Regine Schwirtz atmet tief durch. "Sie zwingen die anderen Menschen, genau das zu tun, was sie wollen. Das ist wahrer Sadismus. Solltest du eigentlich wissen." Ihr um Verständnis ringender Blick hängt an ihm. Ziemlich fassungslos schaut Roth sie an. Immer mehr spürt er, dass er überhaupt nicht an sie herankommt und nur Phrasen hört. Für einen Moment weiß er nicht, was er sagen soll. Er möchte gerne den Mordgedanken zur Seite legen. Doch sofort ist er wieder da. Manche Gedanken haben Magneten: "Den Meuschel, den hast du im Hotel ermordet?" Das Telefon klingelt und sie blickt hoch: "Nicht drangehen!" Dann tut sie wieder so, als ginge sie das nichts an. "Ja...Er hatte einen Termin bei mir." Er wollte nur mit Worten Grenzen überschreiten." 360
Sie lächelt etwas. "Aber ich spürte keine Lust auf Gespräche. Zum Glück rief er noch mal an und wollte auf meinem Anrufbeantworter den Termin bestätigen. Da habe ich mich getraut, einfach abgenommen und ihm gesagt, ich würde zu ihm ins Hotel kommen..." "...Ins Holiday Inn." Roth wirft ihr einen irritierten Blick zu. Mit einem Mal sieht sie durch ihn hindurch, hängt ihren Erinnerungen nach. "Nein." Ihre Stimme klingt leicht hysterisch. "Dort war er nicht abgestiegen. Aber in seinem Hotel kannte ich mich nicht so gut aus. Da habe ich ihm einen Vorschlag gemacht und er ist sofort umgezogen. Im Holiday Inn habe ich ihm erst das geboten, wonach er sich sehnte. Aber dann wollte ich auch was davon haben..." "...du wolltest auch was davon haben?" Er wiederholt alles wie ein Papagei, als könne er sich nichts "unter was davon haben" vorstellen. Sein Blick flackert im Raum herum. "Und er hat nicht mitgespielt?" Sie sieht ihn direkt an: "Dieses Schwein! Dieses Schwein war nicht bereit, S zu sein. Und mir zu geben, was ich brauche", klingt es bitter. "Warum hast du die Leiche ans Mülheimer Rheinufer geschafft?" "Um die Polizei in die Irre zu führen." 361
"Wie deinen Mann?" Roth schaut gleichgültig auf das Gesicht, das vor Wut rot anläuft. Sie reißt die Augen auf. Funkelt ihn böse an. "Mein Mann? Was weißt du von ihm?" Roth unterdrückt ein Lächeln. "Ja, ich habe mit ihm gesprochen." Zum Glück, ergänzt er in Gedanken. "Bei dem habe ich mich verguckt. Der wollte nichts anderes als Blümchensex. Am Anfang habe ich mitgespielt. Und er dachte wohl, das ist alles, was passieren kann. Aber dann habe ich ihm eine andere Welt gezeigt. Das hat der gar nicht richtig geschallt. Und wollte nur weg von mir...Hinterher konnte ich lange Zeit nicht mehr das tun, was für mich am besten ist." Sie presst die Lippen zusammen. "Und was war mit Axel Weiss?" Roth sieht, dass das Gesicht seiner Geliebten einen inneren Kampf widerspiegelt: Genugtuung wetteifert mit Panik. Regine Schwirtz runzelt die Stirn: "Der war wegen der gleichen Sache bei mir in Behandlung. Erst haben wir nur miteinander geredet. Dann haben wir es auch miteinander gemacht." Ihr Augen bekommen für einen Moment einen warmen Glanz. Sie scheint sich in ihre Gedanken zu stürzen. "Aber er wollte keinen Rollentausch?" Von ferne grummelt es. Die ersten Regentropfen streicheln träge die Scheibe. Ein nahendes Unwetter ist die passende Kulisse. 362
"Wollte er nicht. Darum musste er sterben...Dass du ihn finden durftest, hast du mir und dem Polizeifunk zu verdanken. Mir!" Regine Schwirtz lässt sich viel Zeit für den nächsten Satz: "Aber bei dem kam noch etwas anderes hinzu", klingt es plötzlich kleinlaut. "Und was?" fragt er und spürt, dass sie drauf und dran ist, auszupacken. Kühle Luft dringt durch das offene Fenster in das Zimmer. "Dieser Waschlappen wollte mich erpressen. Ha. Er hat vermutet, dass ich den Meuschel umgebracht habe. Nie hätte er verstanden, dass der Meuschel es verdient hat....Ich dachte mir, wenn ich ihn auch so zurichte, wird die Sache rätselhafter." Und ich wäre das nächste Opfer gewesen, analysiert er. Sagt aber etwas ganz anderes: "Und darum auch dieses Interview." Die Ärztin fuchtelt mit der Pistole in der Luft herum, als wolle sie alle Erinnerungen vertreiben. "Aber du bist nicht darauf reingefallen." Roth versucht bescheiden zu grinsen. Sie reagiert nicht darauf. Ihr Vorrat an Geduld scheint aufgebraucht zu sein. "Das reicht!" entscheidet sie und sieht ihn total entschlossen an. Der Reporter blickt sie an: "Regine, ich will die Wahrheit..." 363
"Was willst du damit?" fragt sie mit Schärfe. "Deine Wahrheit ist nicht alles, oder? Das hier ist eine große Sache!...Warum bist du eigentlich Journalist geworden? Wahrscheinlich weil du zu feige warst, um zu den Bullen zu gehen! Ha." Sie scheint noch etwas sagen, zu wollen, überlegt es sich dann aber anders. Roth sieht in ihr Gesicht. Sein zuverlässiges Lächeln ist längst in sich zusammengefallen. Für einen Augenblick denkt er, in ihren Augen eine gewisse Erleichterung zu erkennen. Sie tut ihm sogar Leid. "Regine! Stelle dich! du bist krank." "Schnauze!!!" tobt sie, ohne Roth einen Blick zu gönnen. "Das ist...mein Problem." Carlheinz Roth beißt sich auf die Unterlippe. Er hat ein größeres.
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21. Paul Kratzenstein rennt aus dem Haus zum Zülpicher Platz. Er biegt links ab und läuft über die Straße. Weiter in Richtung Rudolfplatz. Er muss sich durch einen Wust von Leuten wälzen, die gerade aus einer Bahn klettern. Eine innere Stimme sagt ihm, dass Carlheinz Roth in großer Gefahr ist. Sein Blick fällt nach oben: Die Sonne versteckt sich hinter einer dicken Wolkenbank. Der Hohenstaufenring ist zu beiden Seiten von Geschäften übersät. In allen herrscht Hochbetrieb. Trotz der Hitze. Oder vielleicht wegen der Hitze. Denn die meisten Läden leisten sich den Luxus einer Klimaanlage. Kratzenstein sehnt sich nach einem kühlen Luftzug. Er hat Sterne vor den Augen. Sich selbst gegenüber entschuldigt er das mit seinem Stress. Kratzenstein schüttelt den Kopf, um jedes Schuldbewusstsein zu vertreiben. Doch die Anstrengung bringt ihn noch weiter ins Schwitzen. Vor Bielenberg-Moden spürt er Stiche in der linken Brust. Seine Hände und sein Gesicht sind schneeweiß. Er stößt fast gegen eine Mülltonne. Eine Frau mit einer titanberänderten Halbbrille springt zur Seite. Kratzenstein schaut ihr gerade in 365
die Augen. Weiter! Weiter! Weiter! schreit er in sich hinein. Und beugt sich ein wenig vor, meint, so noch schneller laufen zu können. Am Hotel Esplanade torkelt er leicht. Kratzenstein hat auch einen Krampf in der Wade. Er lehnt sich einen Moment an das heiße Fensterglas, nimmt die Metallbrille ab und schließt die Augen. Sofort sieht er Franz Keitel vor sich und hört ihn sagen: Mein Bauch sagt mit, dass dein Täter, wenn es überhaupt ein Mann ist, es nicht nur aus Leidenschaft getan hat. Ein Gefühl übermannt ihn. Wut. Er rappelt sich wieder auf. Das Adrenalin treibt ihn: Weiter! Weiter! Weiter! Während er über die Kreuzung mit der Schaevenstraße rennt, steigt seine Anspannung noch. Er nimmt das Schlimmste an und will es verhindern. Dabei berührt er die Pistole im Halfter unter seinem Leinensakko. Und krallt erbittert die Faust auf der Brust. In seinen Ohren tönen wieder die Worte: Wenn es überhaupt ein Mann ist... Kratzenstein konzentriert alle Energie und Willenkraft darauf, noch schneller zu laufen. Sein Überlebensinstinkt funktioniert. Weiter! Weiter! Weiter! Vor Bang & Olufsen wedelt ein Hund mit dem Schwanz und springt im Kreis um ihn herum. Krat366
zenstein brüllt: "Weg da!!!" Sofort gehorcht der Kläffer. Der Puls des Polizisten wird immer schneller. Er kämpft gegen eine aufsteigende Übelkeit an. Nach zwei Minuten ist er am Café Wahlen. Eine Frau mittleren Alters, die schon ihre Haare zu einem Zopf zusammengebunden hat, kommt gerade aus dem Hausflur. Paul Kratzenstein rempelt sie fast um. Keuchend springt er die ersten Treppen hoch. Ein Moment des Schwindelns lässt ihn ruhen. Nach drei kräftigen Atemzügen ist er vorüber. Auch jetzt sagt er sich wieder, dass Roth aufpassen wird. Aber er kann sich nicht richtig davon überzeugen. Dann hangelt er sich zum nächsten Stock. Und spürt wieder die Welle der Schwäche. Aber schnell kann er sich dazu zwingen, sie zu bewältigen. Weiter! Weiter! Weiter! Der ganze Flur stinkt nach Bohnerwachs und Angstschweiß. Ab dem vierten Stock setzt er bedächtig einen Fuß vor den anderen. Kratzenstein beherrscht sein Aufgeben. Endlich ist er oben. Da ist die Tür von Roths Wohnung. Nichts ist zu hören. Kratzenstein zieht seine Pistole, entsichert sie und schießt das Schloss kaputt. Sofort springt die Tür auf. Sie führt in einen länglichen Flur, von dem wieder sechs Türen abgehen. Nur eine ist angelehnt. Von dort kommt ihm 367
ein "Schnauze!" entgegen. Kratzenstein stößt die Tür auf, hält seine Pistole im Anschlag und brüllt: "Polizei!!! Waffe weg!" Eine völlig verstörte Frau dreht sich um. Entsetzten flattert in ihren Augen. Im ersten Moment weiß sie nicht, was los ist. Keinen Laut kann sie von sich geben. Kratzenstein wirft einen prüfenden Blick auf ihre Waffe. Sie ist alt und noch gesichert. Könnte sie damit umgehen, hätte sie sie schon längst benutzt. Regine Schwirtz nestelt an der Sicherung ihrer Pistole. Geistesgegenwärtig packt Roth sie an den Schultern und stößt sie gegen die Bücherwand. Ihr Kopf schlägt polternd gegen das Holz. Regine Schwirtz sackt zusammen. Kratzenstein hat seine Pistole noch immer in der Hand. Ihre ist auf den Boden gefallen. Roth kickt sie unter das Sofa. Kratzenstein hechtet auf die Frau zu. Presst ihren Körper auf den Boden, drückt seine Beine auf ihre Arme: "Es ist vorbei." Dann steht er auf, hält ihr seine Waffe an den Kopf: "Auf den Rücken legen! Die Hände nach hinten." Sie gehorcht. Im gleichen Moment legen sich Handschellen um ihre Gelenke. Sie macht den Eindruck, als ob sie darauf gewartet hat. Kratzenstein spürt das Aufbäumen seines Körpers gegen das Aus. 368
Der Polizist und der Journalist schauen sich für einen Moment in die Augen. Schließlich reibt sich Kratzenstein die Schläfen: "Ich habe gerade schon befürchtet, Sie würden mir Danke sagen." Roth lehnt sich zitternd an seinen Glasschrank. Er sieht eine schlaffe, faltige Haut, die ihm sonst noch nie aufgefallen ist. Er denkt sich nichts dabei. "Wie sind sie darauf gekommen, dass die Schwirtz hier ist?" Kratzenstein bewegt sich langsam einen Meter vor und spricht noch langsamer: "Sie ist in einen merkwürdigen Mordversuch verwickelt. Seit dem Gespräche mit unserem Psychologen ist mein Verdacht gegen sie noch weiter gewachsen. Aber ich konnte nichts beweisen." Er beobachtet sie aus den Augenwinkeln, bereit, sich bei dem kleinsten Fluchtversuch auf sie zu stürzen. "Vorhin habe ich bei ihr die Karteikarten von Meuschel und Weiss gefunden, die Sie geklaut haben. Plötzlich waren sie wieder da. Da habe ich mir erst gedacht, jemand hat sie wieder ausgefüllt. Vielleicht die Sekretärin. Nein, aber dann fiel mir ein. Jemand, der alle Diagnosen genau kennt, kann das nur sein. Nicht die Sekretärin. Jemand wollte auf jedem Fall verhindern, dass wir einen direkten Zusammenhang zwischen den Toten sehen. Und dieses Interesse kann 369
nur einer haben. Sie", sagt er und deutet auf die Frau mit den schwarzen Rändern unter den Augen. "Aber woher wusste sie, dass die Karten verschwunden waren?" Roth beobachtet Regine Schwirtz aus den Augenwinkeln. Sie kauert auf dem Boden. Nimmt auch das ausdruckslos entgegen. Er hat es aufgegeben, ihr Fragen zu stellen. Denn mit den meisten Antworten könnte er nichts anfangen. Kratzenstein erwidert den Blick mit bestimmendem Lächeln. Sein Intellekt arbeitet auf Hochtouren. "Das hat ihr jemand gesteckt, der Bescheid wusste. Mit wem haben Sie darüber gesprochen? Außer mit Koritzius?" Roth legt seine Erinnerungen frei: "Nur mit Koritzius... Aber ist der ein Mörder?" Kratzenstein schüttelt den Kopf: "Nein! Aber er hat von den Mordplänen gewusst." Regine Schwirtz presst die Lippen zusammen und hört: "Koritzius hat sich immer mehr von seinen Gefühlen abgenabelt. Vielleicht wollte er auch so ein Romanheld sein wie der Marlowe. So cool. Das haute nicht ganz hin. Beim Autofahrer hatte er Gefühle. Große Ängste. Das wusste seine Psychotherapeutin. Und jetzt wurde er von seiner Frau verlassen und hat es ihr gesagt. Völlig verzweifelt. Und da gestand er auch plötzlich alle seine heimlichen 370
Sehnsüchte. Sie ist ein Seelen-Profi und hat blitzschnell alles richtig eingeordnet. Sie wollte ihn zu ihrem Werkzeug machen. Er sollte bei dem Mord in Dünnwald den Abschleppwagen steuern. Der war genau an einer Stelle geparkt, von der man die Straße überblicken konnte. Aber die Angst vor Autofahrten im Regen hat Koritzius davor bewahrt, selbst mitzumachen. So fuhr er erst zum Freibad, als die Sonne wieder schien und alles vorbei war. Da konnte er nichts mehr verhindern. Koritzius hat mir alles gestanden. Auf ihn kommt jetzt einiges zu. Zunächst einmal braucht er jetzt unbedingt eine Behandlung. Aber eine seriöse." Die Psychotante zuckt resignierend die Schultern. "Stimmt doch?" fragt Kratzenstein. "Ja ." Ihre Stimme ist total ausdruckslos. So weit, so gut. "Da frage ich mich, was eigentlich die Sache mit Pik7 sollte?" Roth steckt sich eine Marlboro an. Kratzenstein nimmt sich auch eine, trotz des AberSie-rauchen-doch- nicht-mehr-Blicks. Der Polizist macht ein paar tiefe Züge. "Gar nichts. Das ist eine ganz andere ..." würgt Kratzenstein hervor, fasst sich an sein Herz und ringt nach Atem. Am ganzen Körper ist ihm der Schweiß ausgebrochen. Ein Zittern jagt durch Arme und Beine. Roth ist wie gelähmt, sieht Kratzenstein beide Hände ge371
gen die Brust pressen und zusammenbrechen. Die Zigarette fällt auf den braunen Teppichboden. Augenblicke später will sich der Detektiv noch einmal aufrichten, aber er sinkt nach wenigen Zentimetern sofort zurück. Und krümmt sich zusammen. Regine Schwirtz dreht sich um. Roth beugt sich über ihn, fühlt den Puls und runzelt die Brauen. Dabei lächelt die Psychotante wie jemand, der feststellt, dass sich alle Erwartungen erfüllt haben.
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