ALAN PATON
ABER DAS WORT SAGTE ICH NICHT ROMAN
FISCHER BÜCHEREI
Titel der Originalausgabe »Too late the Phalarope« ...
29 downloads
1503 Views
804KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
ALAN PATON
ABER DAS WORT SAGTE ICH NICHT ROMAN
FISCHER BÜCHEREI
Titel der Originalausgabe »Too late the Phalarope« Jonathan Cape, London 1953 berechtigte Übertragung aus dem Englischen von M. Hackel
In der Fischer Bücherei 1. – 50. Tausend: März 1958 51. – 75. Tausend: Mai 1959 Ungekürzte Ausgabe Umschlagentwurf: Gerhard M. Hotop Fischer Bücherei KG, Frankfurt am Main und Hamburg Lizenzausgabe des Wolfgang Krüger Verlages, GmbH, Hamburg Gesamtherstellung: Hanseatische Druckanstalt GmbH, Hamburg-Wandsbek Printed in Germany
»Vielleicht hätte ich ihn retten können, wenn ich nur ein Wort, zwei Worte gesagt hätte. Vielleicht hätte ich uns alle retten können. Aber das Wort sagte ich nicht.« Mit diesen Worten beginnt der Roman vom Schicksal des jungen Pieter van Vlaanderen. Sie lassen von vornherein keinen Zweifel an dem Ausgang. Aber das tut der zitternden Spannung, mit der man das Buch in einem Atem zu Ende liest, keinerlei Abbruch: die magische Kraft, die diesen einzigartigen Erzähler auszeichnet, zieht den Leser unwiderstehlich in ihren Bann. Jeder, der sein berühmtes erstes Buch ›Denn sie sollen getröstet werden‹ kennt, hat das an sich selbst erfahren. Wieder spielt der Roman in einer Stadt Südafrikas. Aber die Hauptfigur ist diesmal ein junger Weißer, aus altem stolzen Buren-Geschlecht, den seine leidenschaftliche Natur in einen tragischen Konflikt mit dem unerbittlichen Gesetz des Landes stürzt.
1. Kapitel
VIELLEICHT hätte ich ihn retten können, wenn ich nur ein Wort, zwei Worte gesagt hätte. Vielleicht hätte ich uns alle retten können. Aber das Wort sagte ich nicht. Sonderbar ist es, daß man laut rufend zum Hause eines geliebten Menschen hinlaufen kann, weil man ihn aus Todesgefahr retten möchte, und daß er dann sagen kann: Hab ich dir nicht verboten, hierher zu kommen? Und sonderbar, daß man dann stumm und beschämt fortgeht. Denn er hat harte und bitterböse Worte zu mir gesagt und die Tür seines Herzens vor mir zugeschlagen, und da ging ich fort. Aber ich hätte an die Tür hämmern sollen, mit meinen bloßen Händen hätte ich sie einreißen sollen, unaufhörlich hätte ich rufen sollen, denn hinter der Tür war ein Mensch in Todesgefahr, der Tapferste und Beste von allen. Aber ich, die ihn retten wollte, wurde vor seiner Tür zur Bettlerin; und da er solche Macht über mich hatte, hielt ich, wie man es so merkwürdig ausdrückt, hielt ich Frieden. Aber ich hätte ihm ins Gesicht schreien sollen, was ich wußte, das hätte vielleicht ihn, vielleicht uns alle gerettet. So sei mir unser Herr Jesus Christus gnädig, weil ich Frieden gehalten habe, wo kein Friede war. Und warum redete ich nicht? Ich war doch alt, und er war jung, für mich blieb er immer ein Kind; dennoch hatte er Macht über mich. Ich kannte ihn seit dem Tag, an dem er geboren wurde, denn ich war seines Vaters Schwester und lebte bei der Familie; und er wie sein Vater hatten diese Macht über mich. Sein Vater war ein wahrer Riese, und der Knabe wurde ebenso groß und
breitschultrig; aber der Knabe Pieter hatte etwas Frauenhaftes in sich und sein Vater nicht – bis es zu spät war. Der Knabe war sanft und gefällig, freundlich zu Frauen und Kindern, sogar zu den schwarzen Kindern auf der Farm. Er las gern, mancherlei Bücher, aber sein Vater las nur das Eine – und Zeitungen. In dem Knaben ging manches vor, was keiner von uns wußte und verstand. Ich weiß noch, einmal saß er im Zimmer und las ein englisches Bach, und draußen schossen die Nachbarsbuben nach drei Büchsen, die auf einem Baumstumpf standen. Sein Vater war unruhig und sagte schließlich zu ihm: Behandelst du so deine Freunde? Oder hast du vielleicht Angst, selber zu schießen? Der Knabe stand auf und ging hinaus, und mein Bruder stand auf mit seinem steifen Bein und ging zum Fenster und sah hinaus. Da nahm der Junge einem seiner Freunde das Gewehr aus der Hand und schoß dreimal und schoß alle drei Büchsen vom Baumstumpf herunter. Dann rief er seine Freunde, und sie liefen alle fort, um anderswo weiterzuspielen. Mein Bruder kam vom Fenster zurück mit dem strengen Gesicht, das einem jedes Wort verbot; niemand konnte erraten, ob er stolz oder zufrieden oder böse war. Denn wirklich, er hatte einen merkwürdigen Sohn gezeugt, der des Vaters Willenskraft und Körperstärke hatte und besser ritt und schoß als alle anderen, und doch war er weich wie ein Mädchen und hatte sonderbare, ungewöhnliche Gedanken und liebte Bücher und Studieren und liebte die Blumen in Veld und Kloof, so sehr, daß er sie wohl nach Hause brachte und in der Hand hielt, als fände er einen tiefen Sinn darin. Wäre er das eine oder das andere gewesen, so hätte sein Vater ihn wohl besser verstanden, aber er war beides. Und sah man geringschätzig auf den einen hinab, so schoß der andere drei Büchsen vom Baumstumpf; und war man mit dem zufrieden, so saß der andere da wie ein Mädchen mit einer Blume in der Hand.
Immer war er wie zwei Menschen. Der eine war der Soldat mit all den englischen Orden, die sein Vater haßte; der Polizeileutnant, der nur den Hauptmann über sich hatte; der berühmte Rugbyspieler, das Idol von Tausenden von Knaben und Männern. Der andere war der dunkle, schweigsame Mann, der das geheime Wissen von sich selbst vor allen verbarg, dessen Härte und Kälte die Leute einschüchterten, so daß sie sich nicht einmal trauten, ihn anzusprechen. Und doch hätte ich sprechen sollen, Gott vergebe mir, daß ich es nicht tat, wenn ich doch ohne Unterlaß laut hätte rufen sollen. Denn das Geheimnis wurde mir bekannt, und das hätte ihm zum Heil dienen können, ehe es dem anderen bekannt wurde, der ihn damit vernichtete. Und nun schreibe ich alles hier auf, die Geschichte unseres Untergangs. Und wenn ich’s mit Furcht und Zittern schreibe, so doch nicht mit allzu großer Furcht, da ich ja selbst auch vernichtet bin. Und wenn ich es aufschreibe, vielleicht läßt es mir dann Ruhe. Und wenn ich es aufschreibe, dann verstehen die Leute vielleicht, daß er wie zwei Menschen war, und einer davon war tapfer und gut; und wenn sie urteilen und verurteilen, so wissen sie doch vielleicht, daß dieser eine allein im Dunkeln mit sich gerungen und Gott und den Herrn Jesus Christus um Erbarmen angefleht hat. Wenn also der andere Pieter van Vlaanderen nicht um Erbarmen bat, so tat es doch dieser; und wenn der andere nicht reuig war, so bereute doch dieser; und da der andere nicht um Erbarmen bat noch bereute, ward er vernichtet, und weil dabei keine Zauberkunst helfen kann, so ward dieser, der Tapfere und Gute, mit ihm vernichtet. Ich habe nicht alles selbst gesehen, was geschah. Aber weil ich entstellt bin und abseits lebe und nicht bin wie andere Frauen, aber im Herzen bin ich doch genau wie andere Frauen, darum habe ich so im Beiseiteleben und Zusehen gelernt, die
Bedeutung unbemerkter Dinge zu erkennen, wenn ein Puls plötzlich schneller schlägt, wenn ein Blick von hier nach dort gleitet, weil er ganz woanders ruhen möchte. Und später wurde mir vieles gezeigt, nicht nur von anderen, sondern in den einsamen, furchtbaren Dingen, die er in seinem geheimen Buch aufschrieb, und zuletzt, als er im Gefängnis war. Und Gott möge mir vergeben, daß ich Seine Wege nicht immer verstehe. Geringe Kraft, geringe Schwachheit, die verstehe ich; aber wie es möglich ist, daß einer große Kraft hat und große Schwachheit, das verstehe ich nicht. Denn die eine bringt ihn zu Ehren und die andere in Unehre; die eine zum Ruhm und die andere zur Vernichtung. Aber es scheint mir auch, daß nicht das Gericht Gottes, sondern das der Menschen dem Mitleid fremd ist; denn der Herr hat gesagt: Gehe hin und sündige hinfort nicht mehr. Und für manche mag dies ein Ärgernis sein, aber ich bin jenseits von Ärgernis und Verlust, da ich ja in den Augen der Welt selbst vernichtet bin. Ach, er war wie seine Mutter, so freundlich und sanftmütig. Denn obwohl ich ihren Sohn liebte, vielleicht ganz unvernünftig liebte, enthielt sie mir niemals etwas vor, und es gab auch nie Anlaß zu Worten, nicht einmal zu dem Wort, das tief begraben und niemals gesprochen wird. Wenn je eine Frau ganz und gar nur Liebe war, so war sie es, ganz Liebe und Fürsorge. Ihr Lächeln war voller Liebe und Sorge, zärtlich und doch immer besorgt, am meisten, wenn es ihrem Sohn galt. Seine schwarze Schwermut und Kälte, seine Sanftmut und Zärtlichkeit, das Schießen und das Reiten und die Bücher, seine sonderbare Macht über andere, sie bewegte alles das in ihrem Herzen und wartete auf den Tag, der nie kam, an dem der verborgene Zwiespalt zur Ruhe kommen und der Sohn heil und ganz sein würde und Frieden haben. Und mein Bruder, falls er alles das erwog, so tat er es mit dem Zorn des betrogenen Vaters, dessen Sohn wie der Teufel ritt und mit
einer Blume daherkam wie ein zartes Mädchen. Alles dies will ich aufschreiben, aber nicht nur, weil es mir keine Ruhe läßt; und nicht nur, damit man verstehen soll, daß, wenn auch der eine nicht um Gnade bat und nicht bereute, der andere doch beides tat, um Gnade bitten und bereuen, und nicht nur, damit die Menschen lernen, mehr Mitleid zu haben. Sondern ich denke auch an die Stimme, die zu Johannes auf Patmos kam und sagte: Was du siehst, das schreibe in ein Buch, und obwohl ich mir nicht anzumaßen wage, daß ich diese Stimme kenne, so wage ich doch zu behaupten, daß ich eine Stimme kenne. Darum tue ich die Furcht ab und bin gehorsam.
2. Kapitel
DER LEUTNANT ging im Schatten der hohen Eukalyptusbäume die Pretoriusstraße entlang, als er jemanden auf nackten Sohlen heranlaufen hörte. Die Pretoriusstraße führt zur lokasie der Schwarzen; sie ist nicht beleuchtet, weil keine Straße in Venterspan beleuchtet ist. Die einzige Beleuchtung – außer der in den Häusern – ist in der van Onselenstraße, der geteerten Straße, die durch das Grasland nordwärts nach Johannesburg und südwärts nach Natal und Zululand geht, und die Beleuchtung kommt von Abraham Kaplans Hotel, dem »Royal«, und von Matthew Kaplans Laden, der Südtransvaaler Handelsgesellschaft, und von Labuschagnes Tankstelle. Als er hörte, daß jemand gelaufen kam, trat er in den Schatten der Bäume zurück, und das Mädchen rannte an ihm vorbei, so nahe, daß er es hätte berühren können. Ihr Atem keuchte, aber kaum war sie an ihm vorüber, so hielt sie an, doch konnte er sie noch atmen hören. Dann hörte er, wie auch sie in den Schatten trat und sich im Gestrüpp auf dem unbebauten Grundstück bewegte. Dann wußte er, daß sie sich hingelegt hatte und ihr Keuchen zu unterdrücken suchte. Er wartete, bis ihr Verfolger herankam, dann trat er plötzlich vor und ergriff ihn beim Arm. Der Mann versuchte, sich loszumachen, aber er ließ ihn schweigend sich abmühen. Keiner sprach ein Wort, sie standen in enger Umschlingung, der eine ruhig, überlegen, sieh kaum bewegend, der andere in panischer Angst. Dann hörte der Gefangene auf, sich zu wehren, und stand da, das Kinn auf der Brust, aber es lag nicht darauf, sondern war wie hineingebohrt mit aller Gewalt der Angst und Verzweiflung. Der Leutnant legte seine freie Hand um die Wangen des
Mannes, und so ruhig, wie er ihn angehalten und festgehalten hatte, schob er nun die Finger unter sein Kinn. Langsam zwang er den Kopf in die Höhe und fühlte dabei an der Haut, daß der Mann nur ein junger Bursche war. Des Jungen Augen waren fest geschlossen, und das Gesicht war auch fest zusammengekniffen, als wollte er sich selber oder seine Angst verleugnen. Aber der Leutnant wußte, daß er Angst hatte, und nahm seine Hand weg. – Wie heißt du? fragte er auf afrikaans. Aber der Junge senkte den Kopf wieder und antwortete nicht. Der Leutnant hob ihm den Kopf noch einmal, so daß das Gesicht zu ihm hinaufgewandt war, aber die Augen wollten sich nicht öffnen. Dann wußte er, wer das war. – Wie heißt du? fragte er auf englisch. Das Gesicht des Jungen löste sich, und es stand ein angstvolles, dringliches Flehen darin. – Dick. – Mach die Augen auf. Der Junge öffnete die Augen. – Dick, kennst du mich? – Nein. – Überleg es dir. Der Junge sah ihn wieder an, und der Leutnant nahm seine Hand weg. Da kam das Entsetzen wieder in das Gesicht des Jungen, und er senkte den Kopf. – Kennst du mich? – Ja, Herr Leutnant. – Was machst du hier? Der Junge gab keine Antwort, also sprach der Leutnant strenge. – Antworte. – Ich ging gerade die van Onselenstraße entlang… Dann wollte er nicht weitersprechen.
– Ja. – Ich sah jemand laufen. – Ja. – Er sah verdächtig aus. – Verdächtig? – Ja. – Warum? Er sah aus, als hätte er etwas getan. – Etwas getan? – Ja. – Was denn? – Gestohlen oder so. – Also bist du ihm nach? – Ja. Der Leutnant ließ den Arm des anderen los und lehnte sich zurück an den Baum. Er holte Pfeife und Zündhölzer heraus, und der Junge sah sich ängstlich um. – Soll ich lieber nicht rauchen, Dick? Aber der Bursche antwortete nicht. Der Leutnant trat von dem Baum weg. – Komm mit, Dick. – Wohin, Herr Leutnant? – Zu mir nach Hause. Aber der Junge rührte sich nicht. – Gut, also geh allein. Sage Mrs. van Vlaanderen, daß ich dich gebeten habe, zu mir zu kommen. Sag, daß ich mit dir über Rugby sprechen will. Er sah nach der Uhr. – Ich habe dich auf halb neun bestellt. – Jawohl, Herr Leutnant. Als der Junge fort war, ging der Leutnant noch ein paar Schritte und rief dann leise das Mädchen. – Du kannst jetzt herauskommen, sagte er.
Also kam das Mädchen heraus und stand unterwürfig vor ihm da. – Wer bist du? – Stephanie, baas. Und der Leutnant sagte: Ich habe dich nicht erkannt, Stephanie. Denn Stephanie war der Polizei wohlbekannt und auch dem Richter. Sie war dreiundzwanzig oder vielleicht fünfundzwanzig, niemand wußte, wer ihre Eltern waren, ihre Haut war ziemlich hell. Aber sie lebte in der lokasie der Schwarzen bei der alten Esther, die angeblich über hundert Jahre alt war. Die Leute sagten, daß Esther ein Kind war, als die ersten Weißen ins Grasland gezogen kamen, und es stimmt, daß sie selber auch davon erzählt hat, aber ich glaube, das war nur eitles Altweibergeschwätz. Stephanie versorgte sie und unterhielt sie, indem sie Schnaps brannte und verkaufte, was verboten ist und sie oft vor den Richter brachte. Sie war ein merkwürdiges Geschöpf, diese Stephanie, ihr verstohlenes, fast verlegenes Lächeln machte sie so merkwürdig. Wenn sie verurteilt wurde, lächelte sie abwechselnd und runzelte die Stirn, lächelnd und stirnrunzelnd ging sie ins Gefängnis, lächelnd und stirnrunzelnd kam sie wieder heraus und brannte wieder Schnaps und stand wieder lächelnd und stirnrunzelnd vor dem Richter. Sie hatte ein Kind von einem unbekannten Vater, sie ließ es in Madunas Land, einem der Schutzgebiete, aufziehen. Und sie sah auch merkwürdig unschuldig aus, obwohl alles, was angeblich der Unschuld ein Ende macht, ihr wohl vertraut war. – Warum bist du so gerannt, Stephanie? – Ich will nicht in Ungelegenheiten kommen, sagte sie. – Was hat er getan? – Baas, er hat mich gefragt, wie ich heiße.
Nun muß man wissen, daß es in unserem Lande als ganz unmöglich gilt, auf dunkler Straße ein schwarzes Mädchen nach seinem Namen zu fragen. – Wer war es, Stephanie? – Ich weiß es, sagte sie. – Du weißt es? – Ich weiß es genau. – Was wirst du tun? – Was soll ich wohl tun? sagte sie. – Weißt du, wer ich bin? – Baas, ja, das weiß ich sehr gut. Der Leutnant stand und überlegte. – Für den Mann könnte das sehr bös werden, sagte er. – Ja, baas. – Kennst du seine Mutter? – Ja, sehr gut. – Es würde sie ins Grab bringen. Sie gab einen Laut von sich, der nach Zustimmung und Mitgefühl klang, aber er wußte, daß er von Dingen sprach, die es in ihrer Welt nicht gab, denn sie war selber oft genug im Gefängnis gewesen, und niemand war deshalb gestorben. – Das kann ich wohl glauben, sagte sie fügsam. – Also geh heim, Stephanie. – Guten Abend, baas. Also ging sie hin, und was sie wußte, konnte einen Mann vernichten. Er überlegte, daß er vielleicht dumm gehandelt hatte. Vielleicht hätte er ihr drohen sollen, daß er sie in Ungelegenheiten bringen könnte, wenn sie nicht den Mund hielt. Aber so etwas brachte er wahrhaftig nicht über sich. Er ging eilig zurück zur van Onselenstraße, wo die drei Lichtringe im Nebel hingen. Die Straßen waren menschenleer, und vom dunklen Turm der großen Kirche, die wie ein Wächter über der Stadt und über dem Grasland steht, schlug die halbe Stunde. Er
bog in eine der kurzen, ungepflasterten Straßen ein, die von der van Onselenstraße wegführen, dunkel unter den Bäumen, nicht Eukalyptus, sondern Kiefern, in denen der Wind klingt. Und dann war er am Gartentor seines Hauses, eines der altmodischen Häuser, wie es sie bei uns gibt, mit einer schmalen, geschlossenen stoep, an deren beiden Seiten bunte Glasscheiben in die Wand eingelassen waren.
3. Kapitel
NELLA, seine Frau, sprach gerade mit Dick, als er ins Haus kam. Er küßte sie und sagte zu Dick: Entschuldige die Verspätung. Aber der Bursche antwortete nicht, er lächelte den Leutnant nur an mit blassem, verzerrtem Gesicht. – Komm in mein Zimmer, Dick, da hab ich meinen Frieden. Nella, machst du uns Kaffee? – Natürlich, sagte sie. Als sie im Arbeitszimmer waren, schloß er die Tür, ließ den Jungen sich setzen und bot ihm eine Zigarette an. – Jetzt können wir rauchen, sagte er. Als seine Pfeife brannte und der Junge rauchte, aber nicht gemütlich, sondern gezwungen, sagte er: Du hast eine Menge Freunde, Jungen und Mädchen. Deine Mutter sperrt dich nicht ein, oder? – Nein, Herr Leutnant. – Warum tust du denn so etwas, Dick? Schließlich sagte der Junge: Was, Herr Leutnant? – Was du da getan hast. – Es sah verdächtig aus, Herr Leutnant, ich dachte, er hätte vielleicht was gestohlen. – Es war kein Mann, sagte der Leutnant, es war ein Mädchen. – Ich dachte, es sei ein Mann. – Es war ein Mädchen, sagte der Leutnant, und wenn ich in die lokasie hinuntergehe, kann ich sie in einer halben Stunde finden. Ich kann herauskriegen, warum sie Angst hatte. Es klopfte, und Nella kam mit dem Kaffee herein und brachte auch Zwiebäcke dazu.
– Heute abend kriegst du die besten Zwiebäcke im ganzen Transvaal zu essen, sagte der Leutnant. – Pieter, ich gehe schlafen. Er stand auf und küßte sie. – Ich komme bald, sagte er. Als sie gegangen und die Tür wieder geschlossen war, und als sie schweigend ihren Zwieback gegessen und ihren Kaffee getrunken hatten, wandte er sich voller Ernst an den Jungen. – Du kennst das Sittlichkeitsgesetz? – Ja, Herr Leutnant. – Die Polizei hat neuerdings Befehl, das Gesetz ohne Furcht und ohne Rücksicht durchzusetzen. Ob du alt oder jung bist, reich oder arm, ein geachteter Bürger oder eine Null, ob du ein Minister bist oder ein predikant oder ein Schul vorstand oder ein Landstreicher, wenn du eine schwarze Frau anrührst, und es kommt heraus, kann dich nichts retten. – Ja, Herr Leutnant. – Warum hast du es also getan? – Ich weiß das alles, Herr Leutnant, aber ich habe es nicht getan. – Hör zu, Dick. Nein, sieh mich nicht an, sieh dort hinüber wie eben. Ich spreche jetzt nicht als Polizist zu dir. Ich spreche als dein Freund, schließlich sind wir in derselben Rugbymannschaft. Verstehst du mich? – Ja. – Also, warum hast du es getan? Der Bursche kämpfte mit sich. Da wurde des Leutnants Stimme wieder streng. – Dick, antworte. – Herr Leutnant, ich kann Ihnen keine andere Antwort geben. Ich versichere Ihnen, ich habe es nicht getan. Der Leutnant stand auf. – Gut, Dick, du kannst nach Hause gehen.
Er zog seinen Mantel an, und der Junge beobachtete ihn ängstlich. – Was tun Sie jetzt, Herr Leutnant? – Ich gehe zur lokasie. – Der Junge stand ebenfalls auf. – Verstehen Sie denn nicht, das wird so aussehen… – Es wird gar nicht aussehen. Wenn ich mich getäuscht habe, wird niemand ein Wort davon erfahren. Er ging zur Tür und blieb beim Lichtschalter stehen. – Du kannst nach Hause gehen, sagte er. – Lassen Sie mich noch etwas erklären, Herr Leutnant. Also setzte sich der Leutnant wieder. – Herr Leutnant, ich wußte, daß es ein Mädchen war. Aber ich dachte wirklich, sie hätte etwas gestohlen. Nämlich, sie… – Ja, ich weiß, sie lief weg. Kannst du nicht begreifen, daß ich sie dann erst recht stellen muß? Er stand wieder auf. – Ich will die Wahrheit sagen, Herr Leutnant. – Gut, Dick. Der Junge stand vor ihm, seine Zunge spielte über die trockenen Lippen hin. Der Leutnant sagte zu ihm: Setz dich. Und sprich ohne Furcht, verstehst du? Der Junge setzte sich, und schließlich sagte er: Ich habe sie erschreckt. – Wieso? – Ich habe sie angesprochen. – Was hast du gesagt? – Ich habe sie gefragt, wie sie heißt. – Weiter. – Das war alles, Herr Leutnant. – Warum hast du sie gefragt, wie sie heißt?
Aber auf eine solche Frage konnte der Junge keine Antwort geben. – Das heißt, wenn sie gewollt hätte, wärest du mit ihr gegangen. – Ja, Herr Leutnant. – Wie oft hast du das schon getan? Sieh dort auf den Boden, mach die Augen zu und gib dir selber eine ehrliche Antwort. Und dann antworte mir. Der Junge schwieg lange, ehe er sprach. – Dreimal, sagte er. – Wie weit ist es gegangen? – Nicht weiter. – Nur nach dem Namen gefragt? – Ja. – Hattest du Angst? – Ja. Der Leutnant schwieg eine Weile, dann sagte er behutsam: Und warum, Dick? – Ich weiß nicht. – Du weißt, du wärest für dein ganzes Leben erledigt. Und deine Mutter würde es wohl umbringen. Und weiß Gott, was es deiner Schwester antun würde. – Ich weiß. Ich werde es nie wieder tun, Herr Leutnant. – Wenn die Polizei einen Weißen auf der Straße herumbummeln sieht irgendwo in Dorf oder Stadt, wenn er auch meint, er sieht ganz harmlos aus, so beobachtet sie ihn, oft ohne daß er es weiß. Also bummle nicht auf der Straße herum, und wenn du abends ausgehst, so beeile dich, hörst du? – Ja, Herr Leutnant. – Dies ist etwas, was niemals vergeben, niemals vergessen wird. Der Richter gibt dir ein Jahr oder zwei. Aber außerhalb des Gefängnisses ist es ein lebenslängliches Urteil. Weißt du das?
– Ja. – Du kannst nach Hause gehen, Dick. Am Gartentor horchte der Junge die Straße hinauf und hinunter. – Herr Leutnant. – Ja. – Ich weiß nicht, was ich sagen soll, Herr Leutnant. – Ja. – Ich bin froh, daß Sie mich erwischt haben, flüsterte der Junge. Gerade Sie, meine ich. Dann, als der Leutnant nicht antwortete, sagte er immer noch flüsternd: Ich meine beides, ich bin froh, daß ich erwischt worden bin, und ich bin froh, daß gerade Sie mich erwischt haben. – Darüber bin ich auch froh, sagte der Leutnant. Sag deiner Mutter, daß du bei mir warst. Rugby. Gute Nacht, Dick. Er stand am Gatter und sah den Jungen in der Dunkelheit verschwinden, wie er leichtfüßig und schnell der van Onselenstraße zuging. Die ganze Stadt war dunkel und still, nur ein Hund bellte irgendwo, und vom Kirchturm schlug es zehn Uhr. Der Nebel war vergangen, und die Sterne schienen nieder auf das Grasland, auf die Farmen seines Volks, auf Buitenverwagting und Nooitgedacht, Weltevreden und Dankbaarheid, auf das ganze Land, das sie mit Jahren von Blutvergießen und Opfern erkauft hatten; denn von der britischen Regierung, ihren Beamten, ihren Missionaren und Gesetzen, die den schwarzen Mann seinem Herrn gleichstellten, waren sie davongetreckt, tief in den gefährlichen, weglosen Erdteil hinein, wo die wilden Tiere und die wilden Menschen und die erbarmungslosen, wasserlosen Hochebenen ihrem glühenden Begehren nach Absonderung und Fortbestand hatten Raum geben müssen. Und dann waren sie aus der rauhen Fels- und
Steinwelt in das Grasland, das grüne, freundliche, gekommen und hatten ihm die Namen des Friedens und der Dankbarkeit gegeben. Sie hatten ihre Häuser und Kirchen gebaut; und wie Gott sie zu seinem Volk erwählt hatte, so erwählten sie ihn zu ihrem Gott und hüteten eifersüchtig ihre Abgesondertheit, die nun Sein Wille war. Die besiegten Feinde trennten sie von sich ab und regierten sie mit der Gerechtigkeit, die kein Lächeln kennt; sie bestimmten, daß es »keine Gleichheit in Kirche und Staat« gäbe, und machten das eiserne Gesetz, daß kein Weißer eine schwarze Frau anrühren darf, noch darf eine weiße Frau von einem Schwarzen angerührt werden. Und wer dieses Gesetz übertrat, das ein Volk aus Fels und Stein in einem Land aus Fels und Stein gemacht hatte, der mußte zerbrochen und vernichtet werden. Er wandte sich langsam und ging ins Haus und schloß die Tür hinter sich. Er drehte die Lichter aus und ging leise ins Schlafzimmer. Nella hatte das kleine Licht brennen lassen, und er stand und sah auf seine Kinder hinab, auf den sechsjährigen Jungen und das dreijährige Mädchen. Der Knabe stützte im Schlaf die Wange auf die kleine Faust wie ein weiser alter Mann. Tiefe Zärtlichkeit erfüllte den Mann, und er schob seinen großen Finger in das geballte Händchen, und die kleinen Finger schlossen sich um den seinen, vertrauensvoll und warm. Er beugte sich selbstvergessen hinunter, sein Gesicht leuchtete vor Liebe und Stolz. Er zog seinen Finger weg und küßte den Knaben und das Mädchen. Dann zog er sich leise aus, und nachdem er das kleine Licht gelöscht hatte, kniete er neben seinem Bett nieder. Er war müde und sagte nicht viel, nur die tägliche Fürbitte wie fast jeden Abend sein Leben lang, für seine Frau und seine Kinder, seinen Vater und seine Mutter, seinen Bruder und seine Schwestern. Dann fiel ihm Dick ein, und er betete: O God wees hom genadig, Here Jesus wees hom
genadig, das heißt: Gott erbarme dich seiner, Herr Jesus erbarme dich seiner; dann flüsterte er: O God wees my genadig, Here Jesus wees my genadig, das heißt: Gott erbarme dich meiner, Herr Jesus erbarme dich meiner, – so daß die Frau sich im Schlaf rührte und ihn beim Namen rief, und er war augenblicklich auf den Füßen. – Was ist, Nella? Sie sagte: Warum redest du? – Du träumst, sagte er. Er beugte sich nieder und küßte sie, und sie machte einen leisen, zufriedenen, dankbaren Laut. – Mevrou Vorster war hier, ehe du heimkamst. – Da habt ihr einen guten Schwatz gehabt, sagte er neckend. – Ihr Sohn behauptet, du seist der großartigste Offizier in der ganzen Polizei, vielleicht mit Ausnahme des Hauptmanns, er ist nicht ganz sicher. Er lachte leise. – Das will was heißen, bei seiner großen Erfahrung, sagte er. – Und er sagt, unten in der lokasie verehren sie dich wie einen Halbgott. – Wirklich? Dann wandte sie sich um, nun war sie wach. – Was ist mit Dick? – Warum? – Es handelt sich nicht um Rugby, sagte sie. Da stimmt etwas nicht. Und als er nicht antwortete, sagte sie: Ist es nicht wahr? Oder willst du es mir nicht sagen? – Es ist schon wahr, sagte er. Ich kann es dir wohl sagen, aber du magst es vielleicht nicht hören. – Wenn du es mir sagen kannst, kann ich es auch hören. – Es ist vertraulich, sagte er. – Selbstverständlich.
– Ich habe ihn erwischt. Jetzt war sie ganz wach und richtete sich auf den Ellenbogen gestützt hoch. – Du hast ihn erwischt? Wobei? – Er war hinter einem Mädchen her. – Dick! Was für ein Mädchen? Und er sah im Dunkeln zu ihr hinüber und sagte absichtlich deutlich: Ein schwarzes Mädchen. Und im Dunkeln konnte er ihr Erschrecken und ihren Abscheu sehen. Und sie schwieg, bis sie schließlich sagte: Und zu denken, daß er hier im Hause war. Und als sie das zu Ende gedacht hatte, sagte sie: Kommt er vor Gericht? Seine Mutter überlebt das nicht. Also sagte er ernst zu ihr: Ich habe ihn gerichtet. Dann überlegte sie das lange, ehe sie sagte: Du hast ihm verziehen. – Ja. – Ich werde ihm nicht verzeihen. – Du weißt es ja gar nicht, sagte er sanft. – Wenn man das einmal weiß, kann man es nicht mehr nicht wissen, Pieter. – Hättest du lieber seine Mutter umgebracht? Und darauf wußte sie keine Antwort, denn ihre Sanftmut war ebenso groß wie ihr Abscheu. – Wirst du ihn wieder hierher kommen lassen? sagte sie. Er blickte zu ihr hinüber und sagte: Nur wenn ich muß. Aber wenn es sein muß, kann ich’s nicht ändern, denn ich kann ihm ja nicht sagen, daß du es weißt. – Ja, natürlich, sagte sie. Sie blieb noch eine Weile so auf den Ellbogen gestützt. Dann sagte sie: Gute Nacht, Pieter, und legte sich nieder. Er beugte sich über sie und küßte sie noch einmal und legte sich in sein eigenes Bett.
Dort lag er eine Weile wach und dachte nach und glaubte bestimmt, daß sie schlief, als sie sich plötzlich umwandte und zu ihm sagte: In deinem Arbeitszimmer, Pieter, aber nicht in unseren anderen Zimmern.
4. Kapitel
UND DAS WAR wirklich so, daß er für die Schwarzen in der lokasie ein Halbgott war. Und ein Halbgott war er für die schwarzen Kinder auf der Farm, wo er geboren war, seines Vaters Farm, Buitenverwagting, das bedeutet: Über alle Erwartung hinaus. Sie liegt am Rande des Graslandes, und zwölf Kloofs, die zu ihr gehören, führen hinunter in Madunas Land, das Schutzgebiet, das unsere Vorfahren den Schwarzen überließen, als sie sie vor mehr als hundert Jahren unterjochten. Die schwarzen Kinder glaubten, nichts sei ihm unmöglich. Er konnte schreiben und lesen, nicht ein Buch, nicht ein Dutzend Bücher, sondern einfach jedes Buch, das er in die Hand nahm, und das war für alle ein Wunder. Er konnte sogar die Bücher lesen, die in ihrer eigenen Sprache gedruckt waren, und die Bibel, die die englischen Missionare übersetzt hatten, und es war ein Wunder, zu hören, wie ihre eigene Sprache aus schwarzen Zeichen kam, die auf weißem Papier gedruckt waren. Es war bei uns Sitte, daß unsere Knaben mit den schwarzen Buben spielen durften, aber nicht unsere Mädchen mit den schwarzen Mädchen. Aber wenn sie ein gewisses Alter erreichten, so hörte das gemeinsame Spielen auf, nicht auf Befehl, sondern weil es so üblich war, und der heranwachsende weiße Knabe wurde zum Gebieter. Nicht nur, daß er lesen und schreiben konnte, sondern wie er ritt und schoß und sein ernstes Selbstvertrauen, alles das machte ihn ganz selbstverständlich zu ihrem Führer. Und auch sein hoher Wuchs, denn mit sechzehn war er so groß wie sein Vater, sechs Fuß drei. Beide waren den Schwarzen gegenüber gerecht, aber die Gerechtigkeit des einen war hart und streng
und die des anderen sanft, wenn auch von einer Sanftheit, die weder Ungehorsam noch Unverschämtheit zuließ. Die schwarzen Burschen kamen mit ihren Streitigkeiten zu ihm, und er entschied so oder so, und gleich waren alle zufrieden und lachten, die Recht behielten, lachten über die Verlierer, und die Verlierer lachten über sich selber. Sein Vater hätte jede Vertraulichkeit zwischen Schwarz und Weiß streng bestraft, aber der Sohn gab überhaupt keinen Anlaß zur Vertraulichkeit. Manchmal dachte ich, sein Vater hat es auch gesehen, daß, wo er selber mit festem, eisernem Gesetz regierte, der Sohn ohne alle Gesetze regierte. Und was er für die Schwarzen auf der Farm bedeutete, das bedeutete er auch für die Leute in der lokasie in Venterspan. Denn jetzt hatte er Befehlsgewalt bei der Polizei und unterstand nur dem Hauptmann, und der war ein strenger Mann, und niemand hatte ihn je lachen oder auch nur lächeln sehen. Dafür gab es auch einen Grund, denn obwohl der Hauptmann nie darüber sprach, war es wohlbekannt, was ihn so ernst gemacht hatte. Sein einziger Sohn war mit einem Gewehr in der Hand durch einen Zaun gekrochen, wie es schon viele vor ihm getan haben und immer noch tun und immer wieder tun werden, und hatte sich dabei in den Kopf geschossen; und seine Frau war bald darauf gestorben, – an gebrochenem Herzen, wie man sagte. Nun lebte er mit seiner Mutter in Venterspan und lachte oder lächelte nie. Der Hauptmann war ein Engländer, er hieß Massingham, aber er sprach so gut Afrikaans wie wir selber, und er war der einzige Mann in Venterspan, der als Gleichgestellter zu meinem Bruder sprach, denn mein Bruder hatte großen Respekt vor Strenge und Schweigsamkeit, obwohl er die Engländer nicht schätzte. Und auch Nella achtete ihn sehr hoch, und er hatte eine Zuneigung zu ihr, die ich ihn nie irgend jemand anderem gegenüber habe zeigen sehen.
Nicht lange nach dieser Sache mit Dick, die ich hier aufgeschrieben habe, ging mein Neffe in die lokasie hinunter-, und die klonkies dort, die kleinen schwarzen Buben, salutierten, wie sie es den Soldaten abgeguckt haben, die im 1939er Krieg in Venterspan im Quartier lagen. Sie machten sich mit einem Ruck ganz steif, und manche kniffen die Augen zu, als ob dadurch die Ehrenbezeugung noch wirkungsvoller würde, so daß man sie mit einem Finger hätte umstoßen können. Sie wußten ganz genau, wie Kinder solche Dinge wissen, daß ihm keine Kleinigkeit entging, und strengten sich um so mehr an und ließen erst ab, wenn er vorüber war, und gingen wieder an ihr Spiel. Er ging zu einem der ärmlichsten Häuser, es war aus Soden vom Veld gebaut und mit längst verrostetem, löcherigem Wellblech gedeckt. An der Tür saß die alte Esther in der Sonne, die Frau, die angeblich hundert oder vielleicht hundertundzwanzig Jahre alt war, die einzige lebende Seele, die die weißen Trecker ins Grasland hatte kommen sehen, obwohl ich glaube, das ist alles eitles Altweibergeschwätz. Der Leutnant grüßte sie, und sie hob ihren verschrumpften Arm zum Gruß. – Wo ist Stephanie? sagte er. Sie antwortete nicht, sondern schaute aus ihren vom Rauch geröteten Augen, als ob er überhaupt nichts gesagt hätte. Er hatte Geduld mit ihr, nicht nur, weil er von Natur sanft war, sondern weil vor einem so hohen Alter jeder Achtung hat, selbst wenn es schwarz ist. – Esther, wo ist Stephanie? sagte er. – Ich höre, sagte sie. Darüber lachte er und stand dort und genoß den Sonnenschein und die frische Luft. Als er meinte, er habe ihr genug Zeit gelassen, sagte er zu ihr, obwohl es erst mitten am
Vormittag war: Bald wird die Sonne untergehen. Der Scherz gefiel ihr und sie kicherte darüber. – Sie ist fort, baas. – In zwei Tagen muß sie vor Gericht erscheinen, sagte er. Sie starrte ins Leere, und ob sie darüber nachdachte oder über etwas anderes, konnte er nicht sagen. – In zwei Tagen muß sie vor Gericht erscheinen. – Ich höre, sagte sie. – Wenn sie nicht da ist, kriegt sie diesmal nicht zwei Wochen, sondern vielleicht drei Monate. In ihren Augen flackerte Interesse auf. – Und wer wird dann für dich sorgen? Sie ließ sich nicht drängen. – Wer wird für dich sorgen, Esther? – Findet das Kind, sagte sie, dann findet ihr Stephanie. Sie schloß die Augen, und es schien ihm, als schlafe sie. Er ging fort, weil er wußte, daß das Mädchen ein Kind haben sollte, das im Schutzgebiet lebte, noch hinter Bremerspan, in Madunas Land. Auf dem Rückweg zur Polizeiwache sah er bei Matthew Kaplan hinein, dem buckligen Juden, dem die Südtransvaaler Handelsgesellschaft gehörte, dem Bruder von Abraham Kaplan vom »Royal«-Hotel. Er und der Jude waren Freunde, und der Kaufmann kam freudestrahlend an den Ladentisch. – Wie geht’s, Herr Leutnant? – Gut, Kappie. Gibt’s was Neues? Kappie hob die Hände. – Als ob Sie’s gewußt hätten, sagte er. Er ging in sein kleines Büro am hinteren Ende des Ladentisches. Nie habe ich ein unordentlicheres Büro gesehen, und ich habe es ihm oft vorgehalten, aber er lachte mich aus. Denn wir Afrikander in Venterspan waren nicht gegen die Juden, wie man wohl anderwärts war, und wir sind auch nicht
der Ansicht, daß alle Läden Afrikandern gehören sollten. Bei uns hat es nie einen Boykott oder eine geheime Verschwörung gegen die Juden gegeben, und das ist das Verdienst meines Bruders und des dominee Stander von der großen Kirche, keiner von beiden duldete, daß man die Juden haßte. Der dominee erinnerte uns oft daran, daß unser großes Buch von den Juden auf uns gekommen ist, und daß auch wir ein Volk Israel waren, das mit Leiden und Sterben das heilige Land erwarb; und das war das einzige Buch, das mein Bruder je las. Kappie kam mit einem durchsichtigen Briefumschlag aus seinem staubigen Büro zurück, wie ihn die Markenhändler benutzen. – Schauen Sie sich die an, sagte er. – Dreieckige Kap, Kappie. Was haben die gekostet? Kappie nahm sie heraus mit einem Instrument, das man Pinzette nennt, als ob er ein neugeborenes Kind anfaßte, falls man so ein neugeborenes Kind anfaßt. – Schön, was? Wieviel glauben Sie, Herr Leutnant? – Keine Ahnung, Kappie. – Raten, Herr Leutnant, raten! – Zwölf Pfund. Das machte Kappie Spaß. – Zweiunddreißig Pfund, sagte er. Vier Pfund für eine, aber zweiunddreißig Pfund für den Satz. – Das ist mir zuviel, Kappie. – Es ist doch mein einziges Vergnügen, sagte Kappie, als ob er sich wegen seines Reichtums entschuldigen müsse, denn angeblich war er sehr reich und trug schäbige Anzüge und lebte ohne Bedienung in einem Hinterzimmer seines Ladens, weil all sein Geld der Tochter seines Bruders Abraham drüben im »Royal« zugute kam. Sie konnte aus einer Geige Musik herausholen, wie ich sie niemals sonst gehört habe, wie Weinen und Jammern gottverlassener Menschen und Völker,
das stieg und schwoll, bis man meinte, man müsse daran sterben, wenn es nicht nachließe. Kappie hat mir erklärt, daß das Leid der Juden aus ihrer Geige klänge, und das konnte ich wohl glauben, denn viele von unseren Afrikanderliedjies sind auch so, voll heimwee nach dort, wo man zuhause war, wo man geboren war, voll Erinnerung an alte Schmerzen, voll tiefer Sehnsucht nach etwas, was nur der Schöpfer weiß. – Aber ich habe noch etwas, sagte Kappie. Sein Gesicht strahlte vor Vergnügen, und er holte noch einen Umschlag aus der Tasche. Der war auch durchsichtig und enthielt zwei unserer eigenen Briefmarken, eine afrikaans und eine englisch beschriftet. Sie waren nicht einzeln, sondern hingen zusammen, und dafür gibt es ein fachmännisches Fremdwort, das ich vergessen habe. Und aus irgendeinem komischen Grunde sind sie so wertvoller und auch teurer. Wenn das keiner versteht, – ich kann es nicht erklären, denn ich habe es selber nie verstanden. Der Leutnant nahm den Umschlag und war genau so entzückt wie Kappie selber, und er sagte: Kappie, Sie sind ein Hexenmeister. Was kosten die? Hauen Sie mich nicht übers Ohr. – Für die Dreieckigen, Herr Leutnant, zahle ich zweiunddreißig Pfund. Da sage ich zu dem Händler: Die beiden Südafrikaner möchte ich geschenkt haben. Und da kriege ich sie geschenkt. Der Leutnant sagte leicht entrüstet wie jemand, der es allzu genau nimmt: Ich kann keine Geschenke annehmen, Kappie. Kappie war gekränkt. – Für mich sind Sie kein Polizist, sagte er. Aber als er sah, daß es dem Leutnant nicht recht war, sagte er schnell: Fünf Schillinge. Dann sagte er eigensinnig: Ein Kunde kann mich vielleicht herunterhandeln, aber nicht hinaufhandeln.
Der Leutnant lachte. – Gemacht, sagte er. Da steckte Kappie plötzlich seinen Umschlag in die Tasche und sagte schnell zu dem Leutnant: Wegstecken. Aber der Leutnant begriff nicht gleich, erst als er hinter sich die Stimme seines Vaters hörte, der man anmerkte, daß er in herzhafter Spaßlaune war. —More, Kappie. More, Pieter. Was treibt ihr denn da? Der Leutnant fuhr herum und salutierte. —Nun, was treibt ihr? Der Leutnant hielt ihm die Marken hin. Mein Bruder sah genau so lange hin, bis er gesehen hatte, daß es Marken waren. Dann schauten die beiden Riesen einander an, der eine mit einem Stock, der seiner Größe angemessen war, der andere mit einer winzigen Pinzette und den Marken. Und die herzhafte Spaßlaune war vergangen. – Kaplan, ich habe einen Auftrag für Sie. Er blickte wieder kurz nach den Marken. – Ich komme wieder, wenn… ihr mit dem Kram da fertig seid. Schweren Schrittes ging er aus dem Laden auf die Straße. – Ich hab doch gesagt, wegstecken, Herr Leutnant. – Ich hab es nicht verstanden, Kappie. Kappie zuckte die Achseln. – Heute wird er mir im Handeln über sein. – Warum, Kappie? – Das ist immer so, wenn er mich Kaplan nennt. Wenn er mich Kappie nennt… Er zuckte die Achseln und lachte. – Dann kommt für keinen was dabei heraus. Die Marken bringen Unglück, sagte er. – Das Unglück war schon vor den Marken da, sagte der Leutnant.
Er sah seinen Freund an. – Ich war vor den Marken da. Er nahm seine Gerte. – Vielen Dank, Kappie. Er wandte sich und wollte hinausgehen, aber an der Tür holte Kappie ihn ein. – Herr Leutnant? – Ja? – Mit dem Geschenktnehmen, da haben Sie recht. Der Leutnant lächelte, und sein dunkles Gesicht leuchtete plötzlich auf, als ob es im Herzen eine Lampe gäbe, die man anzünden und wieder auslöschen kann. Als Kappie mir das viel später erzählte, fielen mir die Worte des großen Buches ein: Das Auge ist des Leibes Licht, und wenn das Auge einfältig ist, so ist der ganze Leib licht; wenn aber das Auge ein Schalk ist, so ist der ganze Leib finster. Finsternis und Licht, die stritten um seine Seele, und die Finsternis hat ihn vernichtet, den Sanftesten und Tapfersten von allen.
5. Kapitel
DER LEUTNANT trat aus dem Laden auf die van Onselenstraße, und die schwarze Schwermut überkam ihn, als er an die Marken dachte. Vierzehn Jahre war er alt, als ihm mein Bruder das Briefmarkensammeln verbot. Damals war er zum erstenmal nicht der Beste in seiner Klasse, und mein Bruder befahl mir, die Briefmarken wegzupacken, weil sie den Jungen am Lernen hinderten. Der Junge nahm es nicht übel, er nahm nie etwas übel. Er stand vor dem Vater, als könne er seinen Ohren nicht trauen, als ob ihm ein großer Schmerz angetan werde, den er nicht verdiente. In dem Augenblick war das Mädchenhafte in ihm überdeutlich und schaute aus seinen ungläubigen Augen, die einfach nicht verstehen konnten, daß jemand so etwas tun konnte. – Du kannst gehen, sagte mein Bruder. – Ja, Vater. Wohin er dann ging, weiß ich nicht, irgendwo auf der Farm herum, vielleicht zur Langen Kloof, wo er am liebsten war. – Dem Jungen war nicht wohl, sagte meine Schwägerin. Mein Bruder sah sie unter den schweren Lidern hervor an. Dann wandte er sich an mich. – Räume sie weg, habe ich gesagt. Als der Junge zurückkam, war er sehr still. An dem Tag hat er sich zum erstenmal gewappnet gegen den Schmerz, gegen die Welt draußen, denn seiner Mutter und mir gegenüber erwähnte er den Vorfall niemals. Erst als er erwachsen war, erwähnte er ihn einmal im Scherz. Damals dachte ich, er hätte es verwunden, aber jetzt weiß ich, daß das nicht so war. Es war vielmehr so, daß der Mann es sich nun leisten konnte, die
Rüstung zu lockern, weil sie vollständig war. Als er siebzehn war, machte er als Bester die Reifeprüfung, und wir waren alle stolz auf ihn. Nach dem Essen, als mein Bruder aus der großen Bibel vorgelesen hatte, die unser Vorfahre Andries van Vlaanderen auf dem großen Treck vom Kap im Jahr 1836 mitgebracht hatte, betete er und dankte dem Schöpfer für des Jungen gute Leistung. Als er fertig war, sagte er: Sophie, die Marken. Ich weiß noch, ich war so töricht, ich stellte mich, als wüßte ich nicht, was für Marken er meinte, obwohl ich während der drei Jahre jeden Tag an sie gedacht hatte. Aber mein Bruder sah mich nur an und wies meine Verstellung wortlos zurück. Sonderbare Dinge tut man manchmal, um sich keine Blöße zu geben, und gerade deshalb wird man dann durchschaut. Ich brachte das Paket mit den Marken herbei, ungeöffnet, und legte es vor ihn hin. Dann machte mein Bruder einen jener Späße, die nur er selber verstand. Ich glaube nicht, daß er etwas Kränkendes sagen wollte. Ich glaube, wenn er jemanden lächerlich machen wollte, so am ehesten sich selber. Ich glaube sogar, daß er eine Art Niederlage zugab. Ich glaube, was daran Kränkendes war, war gegen ihn selbst gerichtet. Aber wer kann einem Jungen so etwas erklären? – Pieter, sagte er. Der Junge ging und stand vor ihm und sagte: Ja, Vater. Mein Bruder lächelte, was er selten tat. Und meine Schwägerin und ich, weil wir ihn kannten, wußten, daß er sich Mühe gab, liebevoll zu sein, daß Liebe und Strenge in ihm stritten, so daß die Liebe streng und mühsam herauskam und ein Kind verwirren mußte. – Ich dachte, ich wollte dir ein Gewehr schenken, sagte er. Aber dann dachte ich, die Marken sind dir lieber. Der Junge nahm die Marken, verbeugte sich leicht und sagte: Danke, Vater. Was mein Bruder erwartet hatte, weiß ich nicht. Hatte er
gedacht, der Junge würde sie sofort auspacken, freudestrahlend und dankbar? Der Junge setzte sich nieder und hielt das Paket auf den Knien, und ob er ängstlich war oder schüchtern oder gekränkt, das weiß ich nicht, jedenfalls rührte er sich nicht mehr. Es geschah nicht oft, daß mein Bruder hilflos war, aber da war er hilflos und versuchte, seine Verwirrung, seinen Ärger und sein Gekränktsein zu verbergen. Meine Schwägerin machte der Sache ein Ende. Sie stand auf, ging zu dem Jungen und nahm das Paket und sagte: Komm mit mir. Sie ging mit ihm auf sein Zimmer, und sie, die so selten befahl, sagte: Mach es auf. Er machte es auf, und da waren seine eigenen Alben und eine Menge Marken, die er noch nie gesehen hatte, die sie und ich während der verbotenen Jahre gekauft hatten, und alle die neuen Südafrikaner, die ihm in der Sammlung gefehlt hätten. Da war er gerührt und schluchzte wie ein Mädchen, und sie tröstete ihn, und sie sahen miteinander die Marken an. Aber er brachte sie nie mehr mit ins Wohnzimmer, sondern behielt sie in seinem Zimmer. Er wurde nie müde, sie zu zählen; er führte Buch darüber mit genauen Zahlen. Wenn ein Hundert voll war, zum Beispiel achthundert, so schrieb er die Zahl und das Datum in großen Buchstaben auf; als das erste Tausend voll war, trug er es mit zollhohen Buchstaben ein und schrieb dazu: PRESTASIE, das heißt ERRUNGENSCHAFT. Aber als es zweitausend waren, da dachte er wohl, das sei kindisch, denn er strich das Wort sorgfältig aus, aber wenn man wußte, was da gestanden hatte, konnte man die dicken, dunklen Buchstaben noch erkennen. Aber in seines Vaters Gegenwart wurden die Marken nie mehr erwähnt, und ich glaube auch nicht, daß sein Vater ihm je die Beschämung verziehen hat; denn um diese Zeit hatte schon jeder der beiden eine sonderbare Macht über den anderen, die es ihnen unmöglich machte, über harmlose Dinge harmlos miteinander zu reden. Und jeder der beiden hatte auch über
mich Macht, und dieser Macht wegen schwieg ich still, als ich doch unaufhörlich hätte rufen sollen. Nachdem er also seinen Vater in Kappies Laden getroffen hatte, ging der Leutnant voll schwarzer Schwermut zur Polizeiwache, weil sein Vater gesagt hatte: wenn ihr mit dem Kram da fertig seid – als ob sie Schuljungen wären. Und wegen der schwarzen Schwermut demütigte er den Sergeanten Steyn und verwandelte seine Abneigung in Feindschaft, so daß der Sergeant, als er die Waffe in die Hand bekam, den Leutnant vernichtete und uns alle mit ihm. Davon weiß ich, weil es zu den Dingen gehört, die er im Gefängnis aufgeschrieben hat. Er legte Mütze und Gerte in seinem Büro ab, und als der Sergeant ihn rief, ging er hinaus, um den Hof und die Zellen zu inspizieren. Das war eine Pflicht, der er sich nie gern unterzog, denn Steyn war ein Starrkopf. Als der 1939er Krieg über uns hereinbrach, war mein Neffe gerade das erste Jahr bei der Polizei, nachdem er sein Studium in Stellenbosch abgeschlossen hatte, und warum er zur Polizei gegangen ist, habe ich nie erfahren. Er leistete den roten Eid, was bedeutete, daß er gewillt war, überall in Afrika zu kämpfen, und er bekam rote Streifen auf die Achselklappen. Aber für die, die den roten Eid nicht leisteten, bedeutete er nur eins, daß nämlich der mit den roten Streifen ein Anhänger von Smuts war, ein Verräter an der Sprache und am Lebenskampf des Afrikandervolkes und ein Speichellecker des britischen Weltreichs und des englischen Königs, Mitkämpfer in einem englischen Krieg, mit dem kein echter Afrikander etwas zu tun haben wollte. Also trugen manche die Streifen vom roten Eid und andere nicht, und darüber gab es bei der Polizei große Erbitterung und Zwiespalt in unserem Volk. Und auch in den Familien gab es Zwiespalt, sogar in unserer eigenen, denn mein Bruder sagte, es sei ein englischer Krieg, und wollte nicht glauben, was man von Hitler und den Juden erzählte; aber seine Frau und ich
waren auf der Seite der Engländer, wie wir es im Herzen immer gewesen sind, weil Louis Botha und Jan Smuts uns überzeugt haben. Als dann Holland überrannt und Rotterdam zerstört wurde… aber das kommt später. Der Junge war ein ausgezeichneter Soldat, das hatte ich auch nicht anders erwartet; er bekam den Verdienstorden und kam mit einer langen Reihe von Ordensbändern nach Hause; mein Bruder nannte sie uitheemse kaf, das heißt ausländischer Plunder. Er wurde Major, als er vierundzwanzig war, und als er mit diesem Rang zurückkam, mußten sie ihm wohl oder übel bei der Polizei Offiziersrang geben. Aber Sergeant Steyn wollte den roten Eid nicht leisten, da er, wie mein Bruder, der Ansicht war, es sei ein englischer Krieg; und dann bekam er, der Ältere, den jungen Vorgesetzten, der deshalb Leutnant war, weil er im Krieg gewesen war. Während der Inspektion sprachen der Leutnant und der Sergeant nie miteinander, wie es wohl sonst die Leute tun. Einmal, als die Frau des Sergeanten krank war und mein Neffe sich nach ihr erkundigte, hatte der Sergeant zwar höflich und korrekt, aber doch so ablehnend geantwortet, daß mein Neffe nie wieder nachfragen konnte. Fast als ob er gesagt hätte, mein Privatleben geht niemanden etwas an. Und zu alledem kam noch die schwarze Schwermut, an der die dummen Marken schuld waren. Der Sergeant schloß die Zellen auf, und in der Ecke an einem Türpfosten lagen ein paar Maiskörner; mit Mais wurden die schwarzen Arrestanten verpflegt, die in Untersuchungshaft waren und, falls sie verurteilt wurden, ins Gefängnis kamen. Und der Leutnant sagte: Was ist das da? Der Sergeant wurde rot wie ein Schuljunge und hätte sich gebückt und die Körner aufgehoben, aber der Leutnant stand im Wege. Der Sergeant sah ihn an, ob er vielleicht beiseitetreten würde, aber der Leutnant trat nicht beiseite. Da sagte der Sergeant gezwungen: Maiskörner. Dann sagte er: Soll ich sie aufheben, Herr
Leutnant? Aber der Leutnant, das Herz voll schwarzer Schwermut, sagte: Das ist nicht Ihre Arbeit, Maiskörner aufzuheben, rufen Sie den Mann, der das zu tun hat. – Er holt sich gerade Kleidung, Herr Leutnant. Er muß zum Termin. Also bückte sich der Leutnant und hob die Maiskörner auf. Der Sergeant wollte sie ihm abnehmen, aber der Leutnant übersah ihn und ging selber mit steinernem Gesicht zum Abfalleimer. Er hob den Deckel und warf die Körner hinein. Dann sah er sich den Deckel genau von allen Seiten an. Dann sah er sich den Eimer von allen Seiten an. Dann sagte er mit großartiger und völlig überflüssiger Gerechtigkeit: Alles sauber. Dann rührte sich seines Vaters Natur in ihm, und er sagte: Das muß ich ja wissen, das war das erste, was ich beim Militär gelernt habe. Dann beendete er die Inspektion, aber da schämte er sich schon, und wenn er noch etwas zu rügen hatte, so sagte er doch kein Wort. Er verließ den Hof und ging in sein Zimmer und saß über seiner Arbeit und versuchte, sich die Dummheiten aus dem Kopf zu schlagen. Er hatte noch nicht lange gearbeitet, da kam der Hauptmann herein, und er stand sofort auf. Er und der Hauptmann sprachen immer englisch miteinander, warum, das weiß ich nicht, aber das ist so, wenn zwei Leute unsere beiden Sprachen sprechen, so sprechen sie gewöhnlich nur in einer miteinander, außer vielleicht, wenn noch ein Dritter dabei ist, dann sprechen sie die Sprache, die er am besten versteht. – Guten Morgen, Sir. – Guten Morgen, van Vlaanderen. Setzen Sie sich. Mein Neffe setzte sich, und der Hauptmann ging und stand am Fenster und sah in den Hof hinaus. – Was ist mit Steyn los? sagte er.
Und als der Leutnant es ihm erzählt hatte, sagte er: Waren Sie scharf? – Ich glaube nicht, Sir. – Wenn Sie etwas sagen, ist es doppelt scharf, weil es von Ihnen kommt. Da der Leutnant nicht antwortete, sagte er: Wissen Sie das? Und nach einer Pause sagte der Leutnant: Ich weiß, was Sie meinen, Sir. – Deshalb, fuhr der Hauptmann fort, wäre es vielleicht genug, wenn Sie die Hälfte von dem sagten, was Sie meinen. Dann fügte er hinzu: Zu einem, der älter ist als Sie, vielleicht gar nichts. Der Leutnant stand wieder auf. – Es tut mir leid, Sir, sagte er. – Ich werfe Ihnen nichts vor, antwortete der Hauptmann; ich sage es Ihnen nur. Er kam vom Fenster zurück und trat an den Tisch. – Sie werden es weit bringen, sagte er, weiter, als ich es jemals bringen werde. Vielleicht so weit, wie es überhaupt jemand bringen kann. Aber Sie brauchen nicht darauf hinzuarbeiten. Es wird von selber kommen. – Verstehen Sie, sagte er, Steyn hat nicht mit mir gesprochen. Es ist mir nur etwas aufgefallen. – Ich verstehe, Sir. – Was ist mit Stephanie? Der Leutnant berichtete. – Gehen Sie morgen hinunter, sagte er. Sie können den kleinen Vorster mitnehmen und einen der schwarzen Polizisten. Dann ging er vom Tisch zur Tür. – Haben Sie das von Smith gehört? fragte er. – Nein, Sir. – Coetzee hat von Sonop angerufen; er ist heute morgen verurteilt worden.
– Wozu, Sir? – Zum Tode. Die beiden Männer standen in einem schweren Schweigen, wie die Menschen stehen, wenn der Tod beim Namen genannt wird, sie sahen einander nicht an. – Und seine Frau, Sir? – Ein Jahr. Ohne Lächeln verließ der Hauptmann das Zimmer. Und der Leutnant sagte bei sich selbst: Gott erbarme dich seiner, Herr Jesus erbarme dich seiner. Und wiederum sagte er bei sich selbst: Gott erbarme dich meiner, Herr Jesus erbarme dich meiner.
6. Kapitel
SMITH WAR also zum Tode verurteilt worden. Niemand in unserer Familie kannte diesen Smith, aber Bekannte von uns kannten ihn, und alle sagten das gleiche, daß er nicht anders war als andere auch, ein ruhiger, anständiger, nicht sehr gebildeter und nicht sehr gescheiter Mensch, der fleißig seine kleine, kümmerliche Farm bewirtschaftete; sie lag in der Richtung nach Swaziland hinunter und sehr einsam. Da war also jemand, den Bekannte von einem selber kannten, und der war zum Tode verurteilt worden. Sein Fall wurde nur unter vier Augen besprochen, nicht wenn Kinder oder Dienstboten dabei waren, nicht einmal wenn andere Leute im Zimmer waren. Wenn zwei auf der Straße darüber sprachen, so sprachen sie leise; und wenn jemand dazu kam, selbst wenn es ein Freund war, so sprachen sie meist sofort von etwas anderem. Es konnte vorkommen, daß ein Mann mit seinen erwachsenen Kindern bei Tische saß und empört die Zeitung weglegte und mit mühsam gedämpfter Stimme sagte: Der muß hängen; dann wußten sie alle, wovon die Rede war, aber sie sprachen nicht davon, sie übergingen es. Mein Bruder las die Berichte, Zorn und Abscheu im Gesicht, aber er sprach weder mit meiner Schwägerin noch mit mir darüber. Nella van Vlaanderen wollte weder davon lesen noch darüber sprechen, und viele Frauen waren wie sie, als ob sie, wenn sie davon läsen, zugeben würden, daß so etwas überhaupt möglich war. Andere lasen die Zeitung heimlich und versteckten sich damit vor den anderen, gleichermaßen angezogen und abgestoßen von dieser schrecklichen Sache, sie schämten sich ihrer selbst und einer Welt, in der es solche
Dinge gab. Und was Witze betraf, so gab es kaum einen Mann und sicherlich keine Frau, die Witze darüber machten, nicht einmal die, die sonst für handfeste Witze waren. Denn Smith hatte, während seine Frau schwanger war, auch das schwarze Dienstmädchen in seinem Hause geschwängert. Als sie ihm sagte, daß sie ein Kind bekommen werde, geriet er außer sich vor Angst und konnte Tag und Nacht an nichts anderes denken, er rührte sie auch nicht mehr an. So groß war seine Angst, daß er es entweder seiner Frau sagte, oder sie las es ihm vom Gesicht ab, oder das Mädchen sagte es ihr. Und entweder war ihre eigene Angst so groß, oder er steckte sie mit seiner Angst an, so daß sie übereinkamen, das Schlimme noch schlimmer zu machen, und den Plan faßten, das Mädchen umzubringen. Sie brachten sie bei Nacht zu einem Fluß, und nachdem sie sie ertränkt hatten, schnitten sie ihr den Kopf ab und begruben ihn, damit niemand wissen sollte, wer es war, und den Körper versenkten sie, mit Gewichten beschwert, im Fluß. Dann sagten sie den Leuten, das Mädchen sei davongelaufen, und nahmen ein neues. Aber des Mädchens Vater wollte nicht glauben, daß sie davongelaufen sei, denn sie war ein stilles, gehorsames Kind gewesen; und wenn sie hätte heiraten wollen, so hätten weder er noch ihre Mutter sich ihrem Wunsche widersetzt, und sie wären auch nicht hart und unversöhnlich gewesen, wenn sich herausgestellt hätte, daß sie ein Kind bekäme. Die Tage vergingen, und es kam keine Nachricht von ihr. Smith und seine Frau, deren zweite Angst viel schlimmer war als die erste, gerieten in eine dritte und noch schlimmere Angst, als die Polizei sagte: Es sieht nach Mord aus. Niemand konnte das Mädchen aus Habgier ermordet haben, denn sie besaß nichts; oder aus Eifersucht, denn sie hatte keinen Liebhaber; noch im Jähzorn, denn sie war von unterwürfiger, sanfter Art. Darum mußte der Mörder aus Angst
gehandelt haben. Und wenn ein Mann ihrer eigenen Rasse und Farbe der Vater ihres Kindes gewesen wäre, so hätte er sie nicht aus Angst ermordet, sondern er wäre beschämt zu ihrem Vater gegangen, hätte gestanden und sich erboten, für die Folgen einzustehen, denn so war es Sitte. Also mußte es ein Weißer gewesen sein; und wer konnte es anders sein in jener einsamen, verlassenen Gegend als der Weiße, bei dem sie arbeitete? Und da gerieten Smith und seine Frau in die letzte und allerschrecklichste Angst, als die Polizei kam und sich auf der Farm umsah. Am zweiten Tag fanden sie Blut auf einem Grashalm, einem von hundert Halmen in einem Grasbüschel, in einem von vielen Tausenden, vielen Zehntausenden Grasbüscheln auf der Farm. Am dritten Tag fanden sie den Kopf des Mädchens, am vierten den Körper; da stellte sich heraus, daß sie ein Kind erwartete. Smith, der auf seine Art fromm war und, wenn nicht an die Liebe Gottes, so doch ganz fest an seinen Zorn glaubte, gestand, und seine Frau auch; und nun, nachdem er ihn gefunden hatte, machte sich der große Apparat des Gesetzes an die Aufgabe der Vergeltung. Das war der Fall, über den die Leute mit gedämpfter Stimme sprachen, in jeder Stadt und auf jeder Farm im Grasland und auch sonst in ganz Südafrika. Und in den lokasies der Schwarzen und in den Zimmern der Dienstboten sprachen sie auch darüber mit Empörung und Entsetzen und auch mit Staunen und scheuer Achtung angesichts dieser plötzlichen Offenbarung der unbeirrbaren Majestät, die dem Gesetz der Weißen innewohnt. Und ich? Ich darf es wohl ohne Furcht niederschreiben, da ich nichts mehr zu verlieren habe. Unser Herr und Heiland Jesus Christus sprach die Worte: Die Alten haben zu euch gesagt, Auge um Auge, Zahn um Zahn, ich aber sage euch, vergeltet das Böse nicht mit Bösem. Und er sprach auch die Worte, als er leidend am Kreuz hing: Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun. Und er hat auch gesagt: Richtet
nicht, auf daß ihr nicht gerichtet werdet. Und auch: Wer dieser Geringsten einen ärgert (und das verstehe ich so, daß es auch die Ungeborenen einschließt), dem wäre besser, ein Mühlstein würde um seinen Hals gebunden, und er würde ins Meer geworfen. Und der Apostel Paulus hat an die Römer geschrieben: Jedermann sei Untertan der Obrigkeit, denn es ist keine Gewalt denn von Gott, und wo Gewalt ist, ist sie von Gott verordnet. Der Gerechte scheuet das Gesetz nicht, sondern der Übeltäter. Deshalb war ich verwirrt, aber ich gehöre zu denen, die in der Frage von Schwarz und Weiß keine Ungewißheit ertragen können. Darum sagte ich mir, was auch viele andere sagten, und ich glaube, sogar mein Bruder hätte es gesagt, den Mann mögen sie hängen, aber die Frau sollen sie freilassen. Denn mein Bruder war derselben Ansicht wie der Apostel Paulus, daß der Mann des Weibes Haupt ist und daß es ihrer Natur entspricht, zu gehorchen; und so wurde es auch in seinem eigenen Hause gehalten. Aber in meinem Herzen grämte ich mich doch des Mannes wegen, der aus Angst ein solches Verbrechen begangen hatte. Und der Hauptmann hatte keine Ruhe und kam wieder in des Leutnants Zimmer und sagte, er solle nur weiter arbeiten, und stand da herum, sah aus dem Fenster und sagte nichts. Schließlich sprach er. – Gott weiß es, sagte er, ich weiß es nicht. Und er ging wieder hinaus. Und der Leutnant saß am Schreibtisch und sah auf seine Akten, ohne etwas zu sehen, und in seinem Herzen sagte er wieder und wieder: God wees my genadig, o Here Jesus wees my genadig. Das Telefon läutete, und es war seine Mutter. – Mein Sohn, was war heute morgen?
Er wußte, ihr Gesicht war besorgt und ängstlich, und er antwortete leichthin. – Ach, ich bin ertappt worden, sagte er. Auf frischer Spur. – Er hat es mir erzählt. – Wirklich? – Ja, und das ist sonderbar. Er sagte, er ging zu dir hin und war fest entschlossen, freundlich zu sein. Aber als er die Marken sah, fuhr der Teufel in ihn. Warum er mir das wohl er zählt hat? – Ich weiß nicht, Mutter. – Vielleicht wollte er, daß ich es dir sage, Pieter. – Vielleicht. – Nimm es nicht schwer, mein Junge. – Mutter, er hat uns wie Schulbuben behandelt. – Mein Junge, sagte sie, nimm es nicht schwer. – Gut, Mutter. – Jetzt kommt Tante Sophie, sagte sie. Dann sagte ich zu ihm: Du wirst doch nicht seinen Geburtstag vergessen? – Das würde ich doch nicht wagen! Was soll ich ihm schenken? Eine Pfeife? – Kannst du denn die Pfeife nicht vergessen? sagte ich. Es war doch nicht, weil sie von dir war. Er mochte sie einfach nicht. – Ich schenke ihm ein Buch, sagte er. – Das ist nicht dein Ernst, Pieter. Denn wir wußten ja alle, daß er nur ein einziges Buch las. – Ich habe es schon, sagte er. – Was ist es? – Eine Biographie von General Smuts, sagte er. – Jetzt weiß ich, daß du Spaß machst. – Abwarten, sagte er.
Er hängte ab und sagte auf englisch bei sich selber: Die verdammten Marken. Er machte sich wieder an seine Arbeit, aber er dachte jetzt an die Pfeife. Also nur, weil sein Vater die Pfeife nicht mochte? Sie wußten es alle genau so gut wie er selber, wenn die Familie beisammen war, und die Pfeife hing da im Gestell, so daß alle sie sehen konnten, daß niemand gewagt hätte, zu ihm zu sagen: Vater, du hast noch nie Pieters Pfeife geraucht. Grimmig erledigte er seine Arbeit, und um fünf Uhr trat er auf die Straße. Niemand konnte so gut ausweichen wie er, wenn er nicht reden wollte. Keiner hätte gewagt, in seine Zurückhaltung einzubrechen, denn die Achtung, die er genoß, beruhte nicht weniger auf Furcht als auf Zuneigung. Darum sagten viele, daß er der zukünftige Kapitän der SpringbokMannschaft sei, weil er solche Macht über andere hatte. Als er nach Hause kam, brachte Nella ihm Kaffee und Keks; sie hatte ein neues Rezept ausprobiert. – Wie schmeckt dir das? fragte sie. – Gut, sagte er. Er probierte noch einmal, wie ein Preisrichter bei einer Ausstellung. – Aber nicht so gut wie die letzten. Er hörte die Kinder im Bad plantschen, aß vollends seinen Keks und trank den Kaffee aus und stand auf, um zu ihnen zu gehen. Aber ehe er noch an der Tür war, sprach Nella; er bemerkte, daß sie ihn nicht ansah, und eine gereizte Ergebenheit bemächtigte sich seiner. – Ja. – Was ist mit dir los, Pieter? Sie sprach mit gedämpfter Stimme, und das deutete er düster als Anzeichen einer heraufziehenden Tragödie. – Warum fragst du, sagte er leichthin, etwa, weil mir der Keks nicht geschmeckt hat?
– Mit dem Keks hat es nichts zu tun, sagte sie. – Also weil ich nicht rede. – Das ist nur der halbe Grund, sagte sie. – Ich habe dir schon gesagt, wenn ich abends nach der Arbeit heimkomme, mag ich nicht reden. Da will ich Ruhe haben. – Du wirst den ganzen Abend Ruhe haben, sagte sie, wenn nicht jemand kommt, mit dem du über Fußball reden kannst. Und auch das passiert nicht oft. Wir könnten genau so gut in der Wüste leben. Er sah sie hilflos an. – Manchmal wünsche ich, ich wäre eine Briefmarke, sagte sie. Dann würdest du mich wenigstens ansehen. Daß sie die Marken erwähnte, ärgerte ihn. Er mußte plötzlich an van Belkum denken, den Lehrer, der endlos redete, den ganzen Tag in der Schule und den ganzen Abend zu Hause, über nichts und wieder nichts, über das Wetter, über das Flugzeug, das in Indien verunglückt war, und ob es besser sei, viele oder wenige Kinder zu haben, und über die Teuerung, und über Ford versus Chevrolet, und über die guten und schlechten Eigenschaften der Juden, und wie schrecklich es sein müsse, Krebs zu haben, und daß direkt vor seinem Hause ein Auto gestohlen worden sei. – Du hättest van Belkum heiraten müssen, sagte er. Da hättest du genug zu reden gehabt. – Das Reden ist es nicht, sagte sie, du bist es, deine Launen. – Was für Launen? – Deine schwarzen Launen. Er lachte, aber nicht fröhlich. – Ich habe keine schwarzen Launen, sagte er. – Schwarz, sagte sie, schwarz. So warst du nicht, als du noch jünger warst. – Andere auch nicht. – Du weichst mir aus.
– Du weichst mir auch aus, sagte er. Sie schien nichts mehr sagen zu wollen, sie sah ihn nicht an, er wußte, daß sie Tränen in den Augen hatte. Einen Augenblick dachte er, er wolle sie trösten, aber er konnte sich nicht dazu überwinden. – Ich gehe zu den Kindern, sagte er, die wissen nichts von meinen Launen. Sie wandte sich schnell um, und wahrhaftig hatte sie Tränen in den Augen. – Das stimmt, sagte sie. Ich beneide sie oft. – Sie geben mir etwas, sagte er heftig. So bin ich nun einmal. Ich gebe, wenn mir gegeben wird. Sie wandte sich wieder zum Tisch zurück. – Ich kann das nicht alles wieder ausgraben, sagte sie. Da sagte er dringlich und kindlich: Eines Tages wird es dir leid tun. Und mit der Drohung verließ er sie und ging ins Badezimmer. Sein kleiner Sohn rief ihn. – Ich bin fertig, Vater. Er schlug das Handtuch um den kleinen Körper und hob ihn auf und drückte ihn an sich und drückte die nasse kleine Wange mit ungestümer Zärtlichkeit an die seine, als ob die lebendige Wärme den Schmerz seiner Schwermut und seiner Gereiztheit beruhigen könnte, all die Trübsal, die er selber haßte und nicht verstand. Ag, er verlangte von seiner jungen Frau, was sie ihm nicht geben konnte, so sehr sie ihn auch liebte. Denn er war es ja, den die Leute vergötterten, nicht sie. Er war es, der alle Bücher gelesen hatte und überall in Afrika gewesen war und in Italien und England, und der durch die Luft geflogen und zur See gefahren war. Er war es, der seine Leute kommandiert hatte, und der gesehen hatte, wie sie töteten und getötet wurden. Er war es, dem die Zuschauer Beifall klatschten und dem sie Preis
und Ehre gaben. Aber sie war das Mädchen vom Land, still und schüchtern und keusch, wie die meisten Mädchen bei uns auf dem Lande sind. Sie hatte Angst vor Johannesburg, vor dem Bösen, das viele Männer und Frauen tun, sogar Angst davor, in einem Hotel zu wohnen. Sie hatte sogar Angst vor dem Lachen, das man aus der Bar des »Royal« hörte, wo Männer wie ihr Vater und ihre Brüder ihre etwas handfesten Witze machten. Darum, als er sie in seiner Not um mehr Liebe bat, wich sie vor ihm zurück und glaubte, es sei männliche Grobheit. Bis die harte Hand des Schicksals ihr mitten ins Gesicht schlug und sie aufschreckte, so daß sie begriff, aber erst, als wir alle vernichtet waren.
7. Kapitel
Es WAR EIN wunderschöner Tag, als der Leutnant sich aufmachte, um Stephanie zu suchen. In der Nacht hatte es geregnet, und das Grasland war grün und frisch, ein kühler Wind wehte, und die Graslerchen sangen im Veld. Die rote Straße war fest nach dem Regen, und kein Staub trübte die Frische des Tages, das reine Grün des Graslandes und die Reinheit der großen Himmelsschale, in der die weißen Wolken schwammen. So war das Land, in dem er geboren war, das er als Knabe durchstreift hatte, nach Rebhühnern spürend und nach den wilden Enten auf den Seen. Der kleine Vorster, der den Wagen fuhr und nach dessen Ansicht niemand dem Leutnant gleichkam, außer vielleicht der Hauptmann, war Zeuge, wie der Leutnant wieder zum Knaben wurde und wie er, nicht ein- oder zweimal, sondern viele Male, wiederholte: Das ist mein Land, das ist mein Land! Der Leutnant saß nicht bequem zurückgelehnt, sondern eifrig vorgebeugt, er trank die Luft und die Weite in sich hinein und sprach mehr, als der junge Polizist ihn je hatte sprechen hören. Er deutete nach den Farmgehöften und erzählte, wer dort lebte, wieviel Morgen sie dort hatten und was aus den erwachsenen Kindern geworden war. Und wenn man den Hof selber nicht sehen konnte, denn die Farmen im Grasland sind reich und groß, so beschrieb er, wo er lag und was für Bäume dort wuchsen, und daß da ein schönes, braves Mädchen heranwuchs, das eine gute Frau für einen jungen Polizisten sein würde und ihm eines Tages wohl Gut und Geld einbringen könnte, so daß er nicht bei der Polizei zu bleiben brauchte, sondern in der Sonne und in der frischen Luft herumreiten könnte. Und was könnte wohl besser sein,
denn wenn es regnete, hörte man den Regenpfeifer rufen, und der piet-my-vrou rief aus der Kloof, und das war, als ob eine Hand plötzlich in die Saiten des Herzens griffe, so daß alles in einem zitterte und bebte; und warum, warum denn, – warum, das wußte niemand, so war der Mensch und so war die Schöpfung, daß ein Klang, der aus den alten Tagen der Unschuld, ehe noch die Welt verdorben war, in der Erinnerung lebte, die Tür der Seele aufstoßen und sie mit plötzlicher Erkenntnis aller Trauer, aller Schrecken, aller Schönheit der Menschenheimat und dieser Erde überfluten konnte. Aber die Erkenntnis ließ sich nicht festhalten, sie ließ sich nicht in der Hand halten wie eine Blume oder ein Buch, denn sie kam und ging wie der Wind; und die Tür der Seele blieb nicht offen stehen, denn vielleicht waren Freude und Schmerz zu groß für das Menschenherz und nur für die Engel bestimmt. Und doch, wenn man in der Jahreszeit des piet-my-vrou wieder durch den Regen ritt, so rief er wohl wieder, und es griff einem an die Kehle und machte einen zittern. Dann schwieg der Leutnant, erschöpft vom schnellen Reden und ein wenig verlegen; und mit seiner alltäglichen Stimme sagte er, als ob er alles zusammenfassen und gleichzeitig auslöschen wolle: Das kann einem ein Klang antun. – Für mich gab es auch so einen Klang, sagte der junge Polizist. Sein Gesicht und seine Stimme waren lebhaft, so daß der Leutnant seine eigene Verlegenheit überwinden mußte, da er doch selbst den jungen Mann in Eifer gebracht hatte. – Für Sie gab es auch so einen Klang? – Ja, sagte der junge Polizist, wenn meine Mutter die große Büchse in der Speisekammer aufmachte. Da lachte der Leutnant laut heraus und sah schnell hinüber, ob der junge Polizist gekränkt sei, aber er war gar nicht
gekränkt, denn ob der Leutnant poetisch daherredete oder lachte, für ihn war alles dieselbe Musik. Nachdem sie bei der Polizeiwache in Bremerspan gehalten hatten, bogen sie von der Straße ab, die südwärts nach Natal und Zululand geht, und wandten sich nach Osten auf dem wenig befahrenen Feldweg, der in das Schutzgebiet hinunterführt, das unsere Vorfahren dem Maduna gegeben hatten, als er vor hundert Jahren vor ihnen zurückwich. An einigen Stellen war der Weg sehr steil, denn das Grasland fällt schroff nach dem Unterland zu ab. Hier lebt das schwarze Volk sein Leben in einer abgesonderten Welt in runden Grashütten inmitten kleiner Felder, die mit Mais, Bohnen und süßen Kartoffeln angebaut sind. Manche sagen, es wäre besser, wenn sie alle miteinander dort leben würden, dann wären sie gegen den schädlichen Einfluß unserer Zivilisation geschützt; aber in Wahrheit können sie nicht alle dort leben, weil ihre kleinen Felder sie nicht ernähren können, und sie müssen fortgehen, um für Nahrung und Kleidung zu arbeiten. Zu Tausenden gehen sie nach Johannesburg und Durban, fast alle Männer, alle jungen Männer und Frauen, und dort lernen sie viel Neues, so daß manche nie zurückkommen, und andere kommen mit neuen Ideen wieder, an die man im Unterland nie zuvor gedacht hat. Der althergebrachte Respekt vor den Weißen ist im Schwinden, und wenn der Vater noch den Hut draußen vor der Tür niederlegte, ehe er zu einem ins Haus kam, so behält der Sohn ihn in der Hand, und deshalb sagen manche, daß der Enkel ihn auf dem Kopf behalten wird. Aber das glaube ich nicht. Aber wenn sich auch diese abgesonderte Welt durch uns so verändert hat, wenn auch die englischen Missionare dort mit ihrer Schule und ihrem Krankenhaus leben, wenn auch so viele junge Männer und Frauen fort sind, wenn auch die kühne Tracht der Stämme mehr und mehr von den abgelegten
Kleidern der Weißen verdrängt wird, wenn auch Madunas Urenkel ein Auto hat, so bleibt es trotzdem eine abgesonderte Welt, und niemand kennt wirklich ihre Freuden und Leiden. Aber die Polizei kennt diese Welt gut, nicht so sehr, weil es in ihr kein Gesetz gäbe, sondern weil sie oft Leute dort gefunden hat, die von der Polizei in Johannesburg gesucht wurden. Der Leutnant kam gegen Mittag in dieses Land hinunter, ließ den Wagen stehen und ging nach den Hütten, wo angeblich das Kind der Stephanie lebte, und dort war ein alter Mann, der in einen schweren Mantel gekleidet war, wie man sie beim Militär trug, der kam heraus, als er sie hörte. – More, my baas. More, my baas. – Wir suchen Stephanie, sagte der Leutnant. Der Alte sah auf seinen Mantel nieder und zog ihn zurecht, obwohl das ganz unnötig war. Dann runzelte er die Stirn, als ob er sich Mühe gäbe, im Interesse von Gesetz und Ordnung sehr angestrengt nachzudenken. – Stephanie, sagte er, Stephanie. Der Leutnant lächelte, nicht absichtlich, sondern wie man lächeln muß, wenn einer so schauspielert, und man weiß, daß es Theater ist, aber man hat Spaß daran. Und als der Alte das Lächeln sah und wußte, was es bedeutete, war er sofort in seinem Bann. Aber er schüttelte kummervoll den Kopf und sagte: Stephanie. Und der Leutnant, als ob er ihm beistimme, sagte auch: Stephanie. Dann sprach der Alte in seiner eigenen Sprache zu dem schwarzen Polizisten. – Ich kenne die Stephanie, sagte er. Und obwohl der Leutnant diese Sprache verstand, sagte der schwarze Polizist auf afrikaans zu ihm: Er sagt, er kennt die Stephanie. Also sagte der Leutnant, dem Alten zu Gefallen, auf afrikaans zu dem schwarzen Polizisten: Wo ist sie jetzt? Die beiden Schwarzen sprachen wieder miteinander, und der Polizist sagte auf afrikaans: Er sagt, sie wohnt in der Stadt. Der
Leutnant lächelte wieder, und als der Alte das sah, geriet er noch mehr in seinen Bann, besonders, als nun der Weiße in leichtem Befehlston sagte: Ich warte. Die beiden Schwarzen sprachen wieder miteinander, und der schwarze Polizist sagte: Er sagt, das ist eine schwierige Sache, aber der Leutnant überhörte ihn und schaute in eine andere Richtung, um deutlich zu machen, daß er warte. – Er bittet um einen Gefallen. – Ja? – Er bittet, wir möchten von hier aus nicht geradeswegs zu dem Ort gehen, den er angeben wird, sondern erst noch zu ein paar anderen Hütten. Der Leutnant nickte, und er und der junge Polizist gingen fort, einer zu einer Hütte und der andere zu einer anderen. Dann ging der schwarze Polizist zu einer dritten, und als sie sich wieder trafen, sagte er dem Leutnant, und er wies nicht hin, sondern nickte nur in einer bestimmten Richtung, das Mädchen sei in einer der Kloofs in den Bergen, die steil hinauf ins Grasland ansteigen zu den Farmen der Weißen. Die Kloof war bewachsen, nicht mit Wald, sondern mit dem, was wir in Südafrika Busch nennen; und die Bäume wachsen dort, weil die Berghänge den feuchten Wind auffangen, der von der fernen See herüberkommt. – Er weiß nicht, ob sie noch dort ist, sagte der schwarze Polizist, denn wenn man am oberen Ende hinausklettert, kann man überall hin verschwinden, ohne gesehen zu werden. Aber dorthin ging sie, als sie hörte, daß wir kämen. – Also hörte sie, daß wir kämen. – Ja, meneer. – Sie und Maseko gehen die kleine Kloof hinauf, sagte der Leutnant zu Vorster, und wenn ich euch oben herauskommen sehe, gehe ich die große hinauf.
Sie machten sich auf, und er setzte sich auf den Boden und zündete seine Pfeife an, die Sonne und das Freisein taten ihm gut. Denn in Buitenverwagting, wo er geboren war, fielen die Hügel auch so steil ins Unterland ab, mit Kloofs wie diese hier, in Madunas Land hinunter. Er kannte sie alle und die Bäume und Farnkräuter und Blumen, die Wasserpflanze mit dem scharfen Geschmack, die die Kinder um ihres sauren Saftes willen zerkauen, und den Zauber, den es nirgends sonst gab als in der Erinnerung, denn man war eingeengt von Pflicht und Gesetz und Gewohnheit und auch von der Arbeit, und man tat, was Tausende zuvor getan hatten und Tausende nach einem tun würden, um den Fortbestand einer Welt zu sichern, in der es keinen Zauber und kein Staunen gab. Die kleinen schwarzen Buben liefen herbei und betrachteten ihn, wie er da saß. Einige setzten sich auch nieder, als ob sie ebenso lange dort sitzen wollten wie er. Sie sprachen leise untereinander darüber, warum er hergekommen sei, und über seine Ordensbänder, so daß er lächeln mußte, und als sie das sahen, merkten sie, daß er sie verstand, und besprachen auch das untereinander. Wenn mehr Zeit gewesen wäre, so wären auch sie in seinen Bann geraten und hätten mit Freuden alles getan, was er von ihnen verlangt hätte. Aber plötzlich stand er auf, denn er hatte die beiden Männer am oberen Ende der Kloof herauskommen sehen. Sofort liefen die Buben auseinander und staunten, wie groß er war. Er ging an ihnen vorüber und grüßte leicht in Erwiderung ihres Grußes, und das freute sie maßlos. Er schlug einen Pfad ein, der zu der großen Kloof zu führen schien, und ging zwischen den Maisfeldern hin und an alten, verunkrauteten Feldern vorbei, die brach lagen. Er hatte richtig gewählt, denn der Pfad wandte sich plötzlich, und kurz darauf war er im Busch, wo in der Kühle das sing-singet-jie, die schrille Zikade, ein durchdringendes Singen hören ließ. Hier war alles, was in seiner Erinnerung lebte, das Wasser, das über
die Steine rann, die scharfschmeckende Wasserpflanze und die Moose und Farnkräuter. Dann sah er plötzlich ein wenig weiter unterhalb eines kleinen Wasserfalls das Mädchen Stephanie stehen. Als er herankam, wandte sie sich um und sah ihn an, sie lächelte ihr verstohlenes Lächeln, und dann sah sie unterwürfig zu Boden. – Stephanie. – Ja, baas. – Was machst du hier? – Ich wollte mein Kind sehen, sagte sie. – Hier? In der Kloof? Sie lächelte töricht. – Da unten, sagte sie, wo der baas eben war. – Warum hast du mich nicht gefragt, ob du gehen darfst? Sie sah nach rechts und nach links und zögerte mit der Antwort. – Ich dachte, der baas würde nein sagen. – Und morgen mußt du zur Verhandlung da sein. – Ich wäre dagewesen, sagte sie. – Wie? – Ich wäre zu Fuß gegangen. – Jetzt kannst du fahren, sagte er. Aber anscheinend wollte sie nicht fahren, denn plötzlich war sie fortgelaufen, einen schmalen Weg neben dem Wasserfall entlang, aber hinauf gab es keinen Weg, außer über die Felsen des Wasserfalls, die grün und schlüpfrig waren. Er folgte ihr gemächlich und kam zu der Stelle, wo sie stand. – Warum hast du das getan? sagte er. Sie gab keine Antwort, sondern lächelte nur auf ihre sonderbare, verstohlene Art. Dann hörte sie die Männer von oben kommen und trat zurück. Und im Zurücktreten berührte sie ihn. Und er regte sich nicht.
Er regte sich nicht, er trat weder vor noch zurück, und sie auch nicht. Alles war still, außer daß man die Männer oben hörte und sein Atmen und seinen rasenden Herzschlag. Dann drehte sie sich um und lächelte ihn noch einmal an, ganz kurz, und trat ein wenig vor und blickte wieder zu Boden, während er, zitternd vor Scham, ging und sich auf einen Stein setzte, die Mütze abnahm und sich die Stirn trocknete, heiß und kalt und bebend. Sie drehte sich nicht nach ihm um, sondern fuhr fort zu lächeln, die Augen zu Boden geschlagen. Über ihnen wurde jetzt das Geräusch, das die herabkletternden Männer machten, lauter und kam näher. Sie hob den Kopf und blickte aufwärts in die Kloof und wartete in einer Art hoffnungsloser Genugtuung. Dann rief Vorster: Wo sind Sie, Herr Leutnant? – Hier bin ich, rief der Leutnant, das Mädchen ist auch hier. – Baas. – Ja. – Darf ich das Kind sehen, ehe ich fort muß? – Ja. Das leichtfertige Lächeln verschwand aus ihrem Gesicht, es sah ganz verändert aus, so daß er überrascht war. – Dis my enigste kind, es ist mein einziges Kind, sagte sie. Ein schmerzlicher Stolz auf diesen Besitz schien sie zu erfüllen, so daß er, der über ihr Leben Bescheid wußte, sich wunderte. – Es ist mein einziges Kind, sagte sie und sah wieder zu Boden in hoffnungslosem Warten. Er empfand ein Mitleid mit ihr, das ihn plötzlich von der krankhaften Besessenheit befreite, und stand auf und setzte die Mütze auf. – Das war ein guter Plan, Herr Leutnant, rief der junge Polizist vom Felsen über den Wasserfall. Er suchte sich eine Stelle unten aus und sprang wie eine Katze, weich und leicht. – Das hab ich auch einmal gekonnt, sagte der Leutnant. Vorster lächelte ungläubig, nicht, weil er nicht glaubte, daß der
Leutnant das auch einmal gekonnt hatte, sondern weil der Leutnant meinen konnte, er könne es jetzt nicht mehr. Der Leutnant gab Maseko ein Zeichen, den Rückweg die Kloof hinab anzutreten. – Du, Stephanie, sagte er. Sie lächelte, aber sah ihn nicht an, und folgte gehorsam, und Vorster folgte ihr. Ich wartete, bis sie alle außer Sicht waren, und dann nahm ich die Mütze ab und sagte: O God wees my genadig, o Here Jesus wees my genadig. Ich erwartete nicht, daß eine Stimme mir Antwort gäbe, aber hätte eine Stimme mir Antwort gegeben, so hätte ich ihr geglaubt. Wenn dort eine Stimme zu mir gesprochen hätte, vom Himmel herab oder aus der Kloof oder aus den Bäumen ringsum, oder wenn mir dort neue Kraß gekommen wäre, oder wenn ich mich wieder so frei gefühlt hätte wie in den Tagen der Unschuld, ich hätte alles geglaubt. Und doch erwartete ich keine Antwort, das ist wahr. Dann dachte ich an Nella und die Kinder mit plötzlicher Erkenntnis, als sähe ich mich selbst in einem blendenden Licht, das mich ganz und gar bloßstellte. Und wenn ich vor mir selbst erschrak, so erschrak ich nicht weniger vor der Gefahr, in der ich mich befand. Sie war wie mein Schatten, der sich immerfort mit mir bewegte, aber immer von mir getrennt blieb; ich wußte, daß er da war, aber das hatte ich schon so lange gewußt, daß es mich nicht mehr beunruhigte, solange er nur von mir getrennt blieb. Aber als die Besessenheit über mich kam, da kam er plötzlich nahe zu mir heran, und ich wußte, er würde mich umbringen, wenn er könnte, und es war mir gleichgültig. Erst als die Besessenheit vorüber war, sah ich, wie furchtbar die Gefahr war und wie furchtbar auch die Besessenheit, so daß, wenn ich von ihr ergriffen war, meine
Frau und meine Kinder umgebracht werden könnten, und es wäre mir gleichgültig. Plötzlich erfüllte mich die Liebe zu ihnen, und ich sehnte mich, sie zu sehen und zu fühlen, so bald wie nur möglich. Ich setzte die Mütze auf und eilte die Kloof hinab den anderen nach.
8. Kapitel
ZU DER ZEIT kam Japie Grobler nach Venterspan, als die Sozialfürsorge dort ein neues Büro aufmachte. Weil nirgends anders Platz war, richteten sie es in dem alten Metzgerladen ein. Das war ein sonderbarer Ort, um soziale Fürsorge zu betreiben, denn der Balken, an dem die Metzger ihr Fleisch aufzuhängen pflegen, lief noch quer durch den Raum. Das war Japie gerade recht, denn es gab ihm Anlaß zu vielen neuen Witzen, und er gehörte zu den Leuten, die ihre Witze so oft wie möglich an den Mann bringen. Er gab sich nie Mühe, zu behalten, wem er sie schon erzählt hatte, so daß es vorkommen konnte, daß er einem denselben Witz zwei- oder dreimal erzählte, ohne es zu merken. Er ging zu Matthew Kaplan und erbettelte sich einen Fleischhaken aus dem neuen Metzgerladen, den hing er an den Balken mitten in seinem Büro. Und dann sprach er wohl mit jemandem im Büro und machte sich Notizen, und plötzlich stand er auf und ging und hängte das Blatt Papier an den Haken und sagte ernsthaft: Der Haken ist für hangende sake, das heißt schwebende Angelegenheiten, und dann lachte er schallend. Er versuchte das auch beim dominee, der ein nüchterner Mann ist und in einer Sache zu ihm kam, die er nüchtern und dringend vorbrachte. Und Japie lachte schallend, aber der dominee lachte überhaupt nicht. Da fühlte sich Japie blamiert, und von da ab fühlte er sich immer blamiert, wenn der dominee zugegen war. Wenn er so schallend lachte, konnte man es auf der Straße hören und in Kaplans Laden und sogar bei der Tankstelle, so daß die Leute in Venterspan gedacht haben müssen, die Sozialfürsorge sei ein großer Witz. Mein Bruder,
der die Sache mit dem Haken schon gehört hatte, ging mehr als einmal mit einem Freund in das Büro, und dann fragte er Japie, wozu eigentlich der Haken da sei, und Japie erzählte es von neuem und lachte schallend, und mein Bruder lachte auch und der Freund auch, aber nicht über den Witz, sondern über den, der ihn machte. Aber beim zweiten Besuch durchschaute Japie das kindische Manöver, und von da ab erzählte er den Witz nur zögernd. Dann machte mein Bruder das strenge Gesicht, vor dem alle Leute etwas Angst hatten, und sagte: Herr Sozialfürsorgebeamter, wozu haben Sie den Haken da hängen? Und dann mußte Japie den Witz doch noch einmal erzählen, wenn er sich auch blamiert fühlte. Darnach wurde er kopfscheu und befahl dem Bürofräulein, ihm sofort zu sagen, wenn der oubaas im Anmarsch war, so daß er durch die Hintertür verschwinden und dort im Hof beim Unkraut Sozialfürsorge treiben konnte, bis mein Bruder vorübergegangen war. Das Fürsorgebüro wurde auf Betreiben des Frauenfürsorgevereins in Venterspan eröffnet, den wir etwa ein Jahr zuvor gegründet hatten, damit er sich der Armen und der mißratenen und der vernachlässigten Kinder annehme, nicht nur unter der ärmeren weißen Bevölkerung, sondern wir kümmerten uns auch um die kleinen klonkies aus der lokasie, die immer beim Laden und bei der Tankstelle herumlungerten und sich den Weißen als Träger anboten, und früher oder später nahmen sie dann etwas mit, worauf sie kein Anrecht hatten. Es war meine Schwägerin, die darauf bestand, daß wir uns ebenso um die schwarzen wie um die weißen Kinder kümmerten. Sie hatte sogar ein Komitee von Schwarzen in der lokasie zusammengebracht und ging dorthin und saß mit ihnen am gleichen Tisch in einem ihrer Häuser, und sie strahlten alle und freuten sich, aber natürlich hätte sie das in der Stadt nicht getan. Nicht jede Afrikanderfrau hätte das getan, und ich erzähle es hier, weil daraus zu sehen ist, daß meine
Schwägerin, wenn sie auch sehr rücksichtsvoll war, doch große Charakterstärke besaß; und mein Bruder sah alledem knurrend zu, wie wohl ein Löwe knurrt, und man weiß nicht, ist es ihm recht oder nicht. Denn sie liebte den Herrn Jesus Christus und war sanft und rein wie er und nahm es von Herzen ernst, daß er gesagt hatte, man solle alle Kinder zu ihm kommen lassen. Sie war Vorsitzende des Fürsorgeausschusses, und sie wurde um ihrer selbst willen geliebt und geachtet und nicht nur, weil sie meines Bruders Frau war. Sie hatte meinen Bruder veranlaßt, nach Pretoria zu gehen und die Regierung zu bitten, ein Fürsorgebüro zu eröffnen, und er ging hin und erreichte es auch; und er pflegte mit düsterer Miene zu sagen: Volle dreißig Minuten hat es mich gekostet. Denn mein Bruder war Vorsitzender der Partei im ganzen Grasland, und wenn er auch nie ins Parlament nach Kapstadt ging, weil er so ungelenk und lahm im Sprechen war wie im Gehen, so regierte er die Partei doch genau so, wie er sein eigenes Haus regierte, und er nannte die Abgeordneten sein Ochsengespann, aber diesen Scherz machte er nur innerhalb seiner vier Wände. Nun war dieser Japie auch ein Bursche aus dem Grasland und mit den anderen allen aufgewachsen. Er und mein älterer Neffe waren gleichaltrig, und in gewisser Weise waren sie eng befreundet; aber nur in gewisser Weise, denn der eine war hochgewachsen und ernsthaft, und der andere war klein und voller Späße. Sie gingen zusammen zur Schule und zur Universität, und Japie ging auf Buitenverwagting aus und ein und war wie ein Kind im Hause; und er und Pieter und Frans wuchsen miteinander auf wie Brüder. Es gab sogar eine Zeit, da dachten wir, er würde ihr Schwager werden, aber daraus wurde nichts, denn sobald wir auch nur daran dachten, war er auf und davon wie ein verscheuchter Vogel; und bald darauf zog auch seine Familie fort auf die Farm Genadendal, das heißt Tal der Gnade, die noch weit hinter Sonop liegt.
Daher war ich ziemlich überrascht, als ich an der Bushaltestelle vorbeikam und ihn da mit seinem Gepäck stehen sah, offensichtlich glücklich, wieder im Grasland zu sein. Dann sah er mich und stürzte auf mich zu, und er nannte mich nicht Tante Sophie, sondern Ta’ Sophie, was ich nicht ausstehen kann, weil es eine dumme, vom Kap übernommene Angewohnheit ist. Er faßte mich bei den Armen und küßte mich auf beide Wangen und sah mich an, als ob ich seine Mutter sei, was für eine Frau wie mich eine große Freude ist. – Was machst du hier? sagte er. – Was glaubst du wohl? sagte ich. Ich sah auf meine Einkaufstasche und auf mein Kleid, – ein Kleid, wie man es im Heimatort trägt, wo es nur eine Straße gibt. – Seid ihr denn nicht mehr auf Buitenverwagting? fragte er. – Nein. – Warum? Wer ist denn dort? – Ruhig, Mann, sagte ich, denn er hielt mich immer noch fest und schüttelte mich. Wegen des oubaas’ Bein sind wir weggezogen. – Davon habe ich gehört, sagte er. Und wie geht es dem oubaas? Und Ta’ Mina? – Dem oubaas geht es gut, sagte ich scharf. Und sehr scharf und deutlich, so daß er mich hören mußte, sagte ich: Tante Mina geht es auch gut. – Und wer ist auf Buitenverwagting? – Frans ist dort, sagte ich. Aber warum bist du hier? Bist du nicht mehr bei der Fürsorge? Dann ging es mir plötzlich auf, und da mußte ich auch lachen bei dem Gedanken, daß mein Bruder die weite Reise nach Pretoria gemacht hatte, und was dabei herauskam, das war Japie Grobler.
Er ließ mich los und setzte eine Miene auf, von der er glaubte, sie sei stolz und erhaben. – Wie könnte ich von der Fürsorge weggehen, sagte er. Ich bin die Fürsorge. Ich bin der neue Fürsorgebeamte in Venterspan, Bremerspan, Sonop, Rusfontein… ungefähr zehn Städte, warte mal, ich hab es schwarz auf weiß. Er zog einen der langen Umschläge aus der Tasche, auf denen gedruckt steht: »Im Dienst Seiner Majestät«, aber ich habe gehört, daß die Regierung das ändern wird. – Laß nur den Brief, sagte ich, sie haben dich im Metzger laden einquartiert. Er sah etwas enttäuscht aus, sagte aber dann gleich wieder vergnügt: Im Metzgerladen, darum habe ich extra gebeten. – Warum? sagte ich. – Damit ich aus allen Fürsorgeproblemen im Grasland Hack fleisch machen kann. Er lachte schallend, als ob das Lachen ihn wie eine plötzliche Krankheit gepackt hätte, so daß alle Leute auf der Straße, Schwarze und Weiße, sich nach uns umsahen. – Hör auf mit dein Unsinn, sagte ich. – Wenn du schon den Brief nicht lesen willst, sagte er, so muß ich dir wenigstens erzählen, was sie mir ganz vertraulich gesagt haben. Sie haben gesagt, sie wollen für den Posten jemanden haben, der von allen geachtet wird, der aber den predikants und den Abgeordneten und den reichen Farmern gegenüber nicht klein beigeben wird, sondern alle klonkies in der lokasie bessern und den ganzen Bezirk moralisch heben und die Ideale unserer Vorfahren hochhalten wird und… – Bilde dir bloß nicht ein, daß du das Fürsorgebüro leiten wirst, sagte ich, das wird der onbaas tun. Da wurde er wieder ernst, und ich dachte, was nun wohl käme.
– Ich habe einen Freudensprung gemacht, als sie mir sagten, sie wollten mich hierher schicken, sagte er; ich dachte, jetzt werde ich Pieter wiedersehen. Da traf er mich geradeswegs ins Herz, da mitten auf der van Onselenstraße. Dann nahm er mich wieder bei den Schultern und sagte sanft: Ta’ Sophie, Ta’ Sophie. – Hör auf mit Ta’ Sophie, sagte ich. Ich sah die Straße hinauf, damit er meine Augen nicht sehen sollte, und sagte zu ihm: Glaub nur nicht, daß du da im Fürsorgebüro deinen Unsinn treiben kannst. Er lachte schallend, und alle Leute drehten sich wieder nach uns um, was ich doch um jeden Preis vermeiden wollte. – Mußt du denn so laut lachen? fragte ich. – Vor dem Lachen werden sie noch Respekt kriegen, sagte er. Wenn die Leute das hören, werden sie sagen, hört ihr das? Das ist der Mann, der das Grasland moralisch gehoben hat. – Du bist ein Narr, sagte ich. Ich kann den Unsinn nicht leiden. Kommst du bald zu uns? – Heute noch, sagte er. Er rief einen der klonkies, die da herumstanden, und gab ihm seinen Koffer zu tragen, und ich sagte zu ihm: Dafür haben wir dich doch hier, damit dieser Unfug aufhört. – Ich habe ja mein Amt noch nicht angetreten, sagte er. Also ließ ich ihn da mit seinem Gepäck und ging weiter und war mir nicht klar, ob es mir recht war oder nicht, daß Japie Grobler unser Fürsorgebeamter war, aber ich freute mich, daß er in Venterspan war. Ach, hätte er doch den anderen an sich fesseln können und das Lachen in dem dunklen, unglücklichen Gesicht hervorzaubern, denn genug Lachen war darin verborgen, wenn man es nur hätte wecken können. Und Lachen heilt die Menschen und macht die Dunkelheit hell und lindert den Schmerz; es läßt die Augen aufleuchten und befreit die Seele von ihrer Schwere und schickt das Blut schneller
durch die Adern, so daß es die schwarze Schwermut abwirft. Ach, hätte er doch wieder lachen können und mitten unter uns sein; aber wie er die Last mit niemandem teilen konnte, so auch nicht sein einziges Glück: irgendwo still im Veld zu verweilen, von einsamer Freude bewegt. Kind, Kind, wollte Gott, ich hätte für dich sterben können, wollte Gott, ich hätte unaufhörlich an die Tür gehämmert. Wollte Gott, meine Liebe wäre stärker gewesen als deine Kälte, ein Feuer, das die Wände deines Herzens in Brand gesetzt hätte, so daß ich dich hätte erreichen können. Und Japie, der arme, muntere Dummkopf, ging lachend in der Stadt und im Grasland herum und versuchte sich frohgemut in diesem und jenem Problem, aber das größte sah er nicht. Dann ging ich zum Gericht als Vertreterin des Frauenfürsorgevereins, um der Verhandlung gegen Stephanie beizuwohnen.
9. Kapitel
MEIN NEFFE war dort, als ich hinkam, und das war eine freudige Überraschung für mich, denn er ist nicht immer da. Er war auch überrascht, mich zu sehen, und lächelte mir erfreut zu. Er wollte mich nicht im Zuhörerraum sitzen lassen, sondern nahm meinen Arm und führte mich zu dem Stuhl neben dem seinen, und ich war stolz darauf, von einem großen, starken Manne geführt zu werden, der Blut von meinem Blut war und meinen Namen trug und an diesem Ort hochgeachtet war. Ich empfand, was ich an dem Tag empfunden hatte, als Louis Botha alle die bedeutenden Leute, mit denen er sich unterhielt, stehen ließ und zu mir herüberkam und meine Hand in seine beiden nahm und zu mir sagte: Ihr Brief hat mich aufgerichtet, als ich es sehr nötig hatte. Diese Worte habe ich nie vergessen, weil sie in mein Herz geschrieben sind. Der Richter war noch nicht da, und ich sagte zu ihm: Gerade habe ich den neuen Fürsorgebeamten getroffen. – Wer ist es, Tante? – Rate einmal, sagte ich. – Kenne ich ihn? – So gut wie deinen eigenen Bruder. Er dachte einen Augenblick nach, und dann sagte er: Schau, schau. Er grinste mich an und sagte: Vater wird sich freuen. Denn man muß wissen, daß mein Bruder den Japie, obwohl er ihn sehr gern hatte, für einen Clown hielt. – Also wer ist es? sagte ich. Da grinste er mich wieder an. – Na hör mal, sagte er. Aber ich gab nicht nach, und so tat er mir den Gefallen. – Japie natürlich.
Ich war enttäuscht, daß er es so schnell geraten hatte. – Ich merkte, daß er ein bißchen niedergeschlagen war, weil er in den Metzgerladen ziehen muß, sagte ich, aber er sagte zu mir: Ich selber habe mir den Metzgerladen aus gesucht. – Warum, Tante? – Ich erzählte es ihm, und er lachte laut. – Pieter, warum lachst du nicht öfter? – Fängst du schon wieder an? sagte er. Still, die Verhandlung beginnt. Sie brachten Stephanie herein, und dann kam der Richter, und wir standen alle auf, und als er sich gesetzt hatte, setzten wir uns auch, aber das Mädchen stand in der Anklagebank und lächelte das verstohlene Lächeln. Dann fiel ihr ein, daß es sich vielleicht nicht schickte, zu lächeln, oder vielleicht hatte sich einmal eine Respektsperson darüber geärgert, denn sie runzelte die Stirn, als ob sie dadurch Ehrfurcht vor Gesetz und Gerichtshof bezeugen wolle, und daß sie nicht leichtfertig und gleichgültig sei. So wechselte sie ab zwischen Lächeln und Stirnrunzeln, so daß jemand, der sich da nicht auskannte, vielleicht nicht merkte, daß das nur ein Ausdruck ihrer Unsicherheit war, und es auch vielleicht nicht geglaubt hätte, hätte man es ihm erklärt, da sie ja wirklich schon daran gewöhnt sein konnte, vor dem Richter zu stehen. Der Richter befand sie des unerlaubten Schnapsbrennens schuldig, und sie selber gestand es auch freimütig ein; aber er entschied, es sei nicht erwiesen, daß sie von Venterspan habe weglaufen wollen oder die Absicht hatte, nicht zurückzukehren. Er bestrafte sie mit den üblichen zwei Wochen, und sie nahm es hin wie anderes auch, nicht mit Auflehnung oder Bitterkeit, sondern mit Lächeln und Stirnrunzeln und mit der sonderbaren Unschuld, die immer mein Mitleid erweckte, obwohl sie ja kaum unschuldig sein konnte. Sie war schon im Begriff, die Anklagebank zu verlassen, und ich dachte, der Richter hätte
die Sache mit dem Kind vergessen, da hob er plötzlich die Hand. – Du hast ein Kind, sagte er. Augenblicklich, als das Kind erwähnt wurde, war sie eine völlig andere Frau, sie sah sich mit wachsamen Augen im Raume um, wie sich wohl ein gejagtes Tier umsieht. Dann sagte sie: Ich habe ein Kind. – Und du bist die ganze Zeit im Gefängnis? – Nicht die ganze Zeit, sagte sie. – Wie oft bist du im Gefängnis gewesen? Sie versuchte, zu zählen, zählte an den Fingern und lächelte und runzelte die Stirn, aber schließlich schüttelte sie den Kopf und gab es auf. – Sehr oft? – Ja, sehr oft. Dann sagte sie dringlich: Aber doch nicht so oft. Der Richter schrieb es nieder, und dann las er es vor: Nicht die ganze Zeit, aber sehr oft, aber doch nicht so oft. Sie konnte wohl sehen, daß es ein Witz war, und daß der Richter und die anderen Leute darüber lachen mußten, und sie blickte umher, als ob sie nun noch mehr auf der Hut sein müsse. Dann merkte sie, daß der Richter wartete, also nickte sie mit dem Kopf und blickte wieder umher. – Und arbeiten tust du nicht? – Ich kann nicht arbeiten gehen, sagte sie. Die Alte ist sehr alt. – Könnte nicht eine andere Frau ein Auge auf sie haben, wenn du arbeiten gingest? Ja, so machten sie es, sie stellten immer schwierigere Fragen, bis man zuletzt so in die Enge getrieben war, daß es kein Entrinnen gab. – Wäre das nicht möglich? – Ja.
– Dann muß ich dir zu bedenken geben, daß die Regierung dir das Kind fortnehmen wird, wenn du dieses müßige Leben nicht aufgibst. Jetzt war das Lächeln aus ihrem Gesicht verschwunden. Sie sah den Richter ungläubig an. – Dis my enigste kind, sagte sie, es ist mein einziges Kind. – Aber du hast es ja nicht einmal bei dir. – Es ist kein Platz da, sagte sie eindringlich. Das Haus ist klein. – Ich gebe es dir nur zu bedenken, sagte der Richter. Du kannst gehen. Sie lächelte nicht mehr. Sie trat aus der Anklagebank und folgte dem Polizisten zur Tür, aber auf halbem Wege blieb sie stehen, als ob sie nicht gehen wolle, als ob etwas getan oder gesagt werden müsse, als ob sie es nicht glauben könne, daß ihre Vergehen, für die sie willig und ohne Widerspruch zu zahlen bereit war, sie plötzlich mit solchen Folgen bedrohen könnten. Sie wandte sich um und sah mich und meinen Neffen an, als ob sie etwas zu uns sagen wolle, aber sie wußte, daß das an diesem Ort unmöglich war. Also ging sie hinaus. – Sie ist ein haltloses Geschöpf, sagte ich, sie geht mit jedem Mann, der ihr in den Weg läuft. Aber sie hängt leidenschaftlich an dem Kind. Ich sah ihn an, und er nickte ernsthaft und voller Mitleid. Und da er so ernsthaft und mitfühlend war und ich ihn so sehr liebte, wagte ich, etwas zu sagen, was ich sonst nicht zu sagen gewagt hätte. Aber ich brachte den Namen seiner Mutter hinein, im Falle er böse würde, so konnte er doch darüber nicht böse sein. – Vielleicht so wie deine Mutter und ich mit Leidenschaft an einem Kinde hingen.
Dann wandte ich mich ab, um nicht zu sehen, ob er vielleicht ärgerlich wurde. Aber er nahm meinen Arm und führte mich hinaus. – Du bist ein törichtes, altes Weib, sagte er, aber ich mag dich leiden. Draußen trennten wir uns, und ich sah ihm nach, wie er die Straße hinunterging, das Kind, das zu einem solchen Manne herangewachsen war.
10. Kapitel
SONNTAGMORGENS stehen Staubwolken über den Straßen im Grasland, denn die ganze Landbevölkerung kommt zu der großen Kirche in der van Onselenstraße. Sie kommen in schweren, amerikanischen Wagen und in kleinen Autos und manche mit Pferd und Dogcart, vielleicht weil sie kein Auto haben, oder vielleicht – wie der alte Hendrik Meyer – weil sie es nicht ganz richtig finden, im Auto zur Kirche zu fahren. Da kann man um die Kirche herum Hunderte von Wagen stehen sehen, und dort gibt es keinen Staub, denn die van Onselenstraße ist eigens deshalb geteert worden, damit es Sonntags nicht soviel Staub gibt, und nicht etwa den Johannesburgern zuliebe, wie manche annehmen. Die weiße Bevölkerung aus Stadt und Land ist vollzählig da, außer den paar Leuten, die nur Englisch sprechen, und den Brüdern Kaplan und den Afrikandern, die zur apostolischen Kirche gehören, von der mein Bruder behauptet, sie sei gar keine Kirche; und es gibt sogar einen oder zwei Afrikander, die überhaupt nicht in die Kirche gehen, zum Beispiel Doktor Fouché, ob aus Unglauben oder Faulheit, das weiß ich nicht, und mein Bruder würde ihn nie rufen lassen, ich glaube nicht einmal, wenn der englische Doktor nicht da wäre und einer von uns im Sterben läge. Aber solche Gewohnheiten, die man vielleicht in Johannesburg und Kapstadt und anderen gottlosen Städten lernt, behält man in Venterspan nicht so leicht bei, denn Rechtsanwalt de Villiers hat es auch versucht, aber jetzt geht er so brav zur Kirche wie wir alle. Und es gibt noch einen anderen Sonntagsverkehr, der geht auf der großen Straße nordwärts nach Johannesburg und
südwärts nach Natal und Zululand. Sie knallen die Türen zu in der Stille und fahren ihre Wagen mit lautem Motorengedröhn bei der Tankstelle an, daß man es in der Kirche hört, und das erregt bei vielen Empörung und Ärgernis. Weiße Frauen steigen aus den Autos, lachend und rauchend, sie tragen schwarze Brillen, als ob sie Gottes Sonne scheuten; und sie tragen auch Hosen, grüne, gelbe und pflaumenblaue, wie sie keine weiße Frau auf der Straße tragen sollte, wo alle Schwarzen aufpassen, was man anhat und tut. Und ich muß schon gestehen, obwohl ich die englische und die jüdische Lebensart verstehe, die gelben Hosen ärgern mich am allermeisten. Der Tag, von dem ich jetzt schreibe, war ein besonderer Tag für die Kirche, denn der alte dominee hatte gerade einen neuen Hilfsgeistlichen bekommen, den jungen dominee Vos, und heute predigt er zum erstenmal. Man sagt, er kann sprechen wie ein Engel, aber Pieter sagt, er spielt Rugby wie ein Besessener mit unglaublicher Behendigkeit, und er versteht sich auf Finten, auf die nur die Allerbesten nicht hereinfallen. Und als ob das noch nicht genug wäre, heißt es auch noch, daß er gut aussieht und gescheit ist, so daß meine Nichte Martha mir erzählt hat, die Mädchen, die ihn schon auf der Straße gesehen haben, sind der Ansicht, wenn sie je einen predikant heiraten würden, so müßte er sein wie dominee Vos. Alle van Vlaanderens sind da, meine Schwägerin, meine Nichte und ich, aber mein Bruder ist nicht bei uns, er ist mit seinen Pflichten als Kirchenältester hier und da in der Kirche beschäftigt. Und vor mir kann ich meinen Neffen sehen, er hat einen dunklen Anzug an, und ich denke bei mir selber, daß keiner in der ganzen Kirche so gut aussieht wie er; und meine Schwägerin sieht auch nach ihm hin mit ihrem liebevoll sorgenden Blick, und ich weiß, sie denkt dasselbe wie ich. Und das stille Landmädchen Nella ist da, zart und blond neben dem
großen, dunklen Mann. Und nun muß ich lachen, denn sieh da, Japie sitzt auch bei ihnen, und Japie hat nicht viel für die Kirche übrig und ist in Pretoria leichtfertig geworden; aber jetzt wird er jeden Sonntag kommen, denn er ist jetzt der Fürsorgebeamte, und ein Fürsorgebeamter, der nicht zur Kirche geht, ist von vornherein unmöglich. Ich schätze, ich habe etwa dreitausend Predigten gehört, und es hätten leicht fünftausend sein können, wenn wir nicht auf Buitenverwagting so weit von der Kirche entfernt gewohnt hätten, daß wir nur zum Morgengottesdienst gingen. Aber ich glaube, die alte mevrou Badenhorst, die so alt ist wie die Stadt selber und ihr Leben lang hier gewohnt hat, die hat sicher nicht weniger als siebentausend Predigten gehört, vielleicht achttausend; und obwohl sie schon neunzig ist und so taub, daß sie kein Wort hören kann, geht sie zu jedem Morgen- und Abendgottesdienst. Nun aber hörte die Gemeinde auf zu rascheln und war still, also wandte ich mich passenderen Gedanken zu; jedenfalls aber war ich gespannt, den neuen dominee zu sehen. Ehe der junge dominee seine Predigt begann, führte der alte dominee Stander ihn kurz bei der Gemeinde ein, er vergaß auch nicht das Rugby. Ich wußte, das freute meinen Neffen, denn obwohl der junge dominee lange nach seiner Zeit nach Stellenbosch gekommen war, hatten sie zusammen in der berühmtesten Mannschaft des ganzen Landes gespielt. Der alte Mann sagte zu dem jungen, daß er zu rechtschaffenen, großherzigen Leuten gekommen sei, unter denen er selber viele Jahre gelebt und von denen er viel Hilfe und Freundschaft erfahren habe, und er hoffe, daß der junge Mann diese auch verdienen und erfahren werde. Und das stimmte auch, wir hingen an dem alten Mann, denn er war ein rechter Gottesmann, obwohl mein Bruder sagte: Wenn er doch Pfeife rauchen wollte! Damit meine ich nicht, daß er Zigaretten raucht, er raucht überhaupt nicht.
Dann nahm der junge dominee seinen Platz ein, stand einen Augenblick da und sagte kein Wort, er sah über die große, tausendköpfige Gemeinde hin, ruhig und zuversichtlich, als ob er alt sei und wir seien Kinder, aber niemand nahm Anstoß daran, denn er tat es ganz ruhig und nicht wie jemand, der sich etwas einbildet. Er dankte dem alten dominee für seine Worte, und dann hielt er seine Predigt, die war über die Leute, die lahm und müde werden, nicht der Kirche müde werden, sagte er, sondern die innerhalb der Kirche müde werden und den Herrn von neuem kreuzigen, indem sie Ihn mit ihren Lippen ehren, aber die wahre Ehre ihres Herzens und ihres Lebens Ihm vorenthalten. Und er ermahnte uns, uns selber zu richten, denn ihn habe der Herr zum Hirten und nicht zum Richter berufen, und in uns selber zu forschen, ob wir vielleicht betroffen wären, ob wir vielleicht von den Menschen und der Öffentlichkeit geachtet würden, aber innen voll Dunkelheit wären. Gab es vielleicht einen Mann, der wünschen konnte, die Welt wüßte so genau über ihn Bescheid wie seine Frau? Oder daß seine Frau wüßte, was die Welt oder ein fremder Mensch von ihm wußte? Oder einen Sohn, der sich seinem Vater anvertrauen würde, oder ein Vater dem Sohn? Gab es vielleicht irgend jemanden, der wünschen könnte, die Welt wüßte alles, was er von sich selber wußte? Er wolle nicht richten, sagte er, deshalb habe er gesagt, wir seien voll Dunkelheit und nicht voll Heuchelei. Aber es gäbe eine Art von Heuchelei um eines niedrigen Zweckes willen, und die andere sei ein Sichverbergen aus Furcht, und dieser könne kein Christ sein Mitleid und seine Verzeihung vorenthalten, noch werde Gott sein Erbarmen versagen, wenn sie nur eingestanden werde. Und dieses Erbarmen sei unausdenkbar groß, überströmend und heilend, gutmachend, aufrichtend und gerecht. Nein, er sei nicht gekommen, um nur vom Lahm- und Müdewerden zu predigen, sondern von Reue und Erbarmen,
daß der Mensch umkehren könne und seinen Platz in Gottes Plan für diese Welt wiederfinden, so daß von einem solchen Menschen, der selber geheilt und erneuert worden sei, ein Strom lebendigen Wassers ausgehe und alle erquicke, sein Haus, seine Kirche, sein Volk und die ganze Welt. Dann hielt der junge dominee plötzlich inne. Man konnte sehen, daß er erregt war, er schlug heftig mit der Hand auf die hölzerne Kanzel. – Das ist die Krankheit unserer Zeit, sagte er, daß wir Angst davor haben, das noch zu glauben. Wir glauben, wir seien Gefesselte, die im Gefängnis der eigenen Natur und der Welt sitzen, die nichts tun können, sondern alles über sich ergehen lassen müssen. Gottes Plan? Das bedeutet nur, daß uns noch mehr angetan wird, die Weltgeschichte, der Krieg und eng herzige Eltern und Armut und Krankheit an Leib und Seele, da kann man nichts machen, man muß es hinnehmen. – Das ist eine Lüge, sagte er und schlug wieder mit der Hand auf das Holz. Das lügen wir uns selber vor, weil wir die Wahrheit nicht eingestehen wollen, nämlich daß wir schwach und ohne Glauben sind. Gibt es denn nicht die Botschaft von Gottes Liebe, daß diese Liebe uns verwandeln kann und Schaffende aus uns machen statt Leidende? Ich habe einen Mann gekannt, der zählte die Tage, jeden einzelnen Tag, er riß sie von dem kleinen Kalender auf seinem Schreibtisch ab. Er sah fortwährend nach der Uhr und sagte: Es ist ein Uhr, oder es ist vier Uhr, oder es ist neun Uhr, als ob das ein Grund zur Genugtuung sei. Und wenn der April vorbei war, dann sagte er: Der April ist vorbei, und wartete darauf, daß der Mai auch vorbeiging. Am Neujahrstag habe ich ihn nie gesehen, aber er hätte sicher gesagt: Nun ist das alte Jahr vorbei. Er wartete auf den Tod, ganz unbewußt, weil er Angst vor dem Leben hatte, und das war auch ganz unbewußt. Die Stimme des jungen dominee schwoll an.
– Ich bin gekommen, daß ihr das Leben habt, und Leben die Fülle, spricht der Herr. Er schloß das große Buch, nahm seine Papiere und verließ die Kanzel. Die große Gemeinde regte sich und raschelte, und es stieg wie ein Seufzer von ihr auf, denn dieser Junge konnte predigen. Dann standen alle auf und sangen, und eine oder zwei Frauen wischten sich die Augen, was mein Bruder nicht ausstehen kann, denn Religion ist eine Sache des Gehorsams, sagt er, und nicht der Tränen. Ich beobachtete ihn, aber ich wußte nicht, was er dachte, niemals wußte ich, was in ihm vorging, außer wenn es geschah, daß eine Macht, die stärker war als die seine, ihn unversehens und geradewegs ins Herz traf wie an dem Tag, als der Junge das Markenpaket nicht aufmachte. Er sang auch nicht anders als sonst, denn sein Gehorsam war tagaus tagein derselbe, und keines Mannes Worte konnten ihn vermehren oder vermindern; es gab überhaupt nur zwei Arten von Worten, die ihn bewegen konnten, und das waren die Worte des großen Buches und Worte von Südafrika. Aber wir anderen alle sangen inniger und lauter wegen des Jungen, der gepredigt hatte.
11. Kapitel
DRAUSSEN vor der Kirche versammelten wir uns alle außer meinem Bruder, der noch seinen Pflichten nachging, und Japie, der alle seine Freunde begrüßte. Mein Neffe hielt sozusagen Hof, denn seine Schwester Martha hing an seinem Arm, und sein zehnjähriger Neffe Koos, der Sohn von Frans, ließ die Augen nicht von ihm. Unter uns lachten wir manchmal über die Bewunderung, die Koos für den Bruder seines Vaters bezeugte; aber nur unter uns, denn Frans war wohl ohnedies schon etwas eifersüchtig auf seinen Bruder, – er hatte nicht die Universität besucht, noch hatte er sich im Rugby hervorgetan, noch war er je im Kriege gewesen. Aber jedermann wußte, daß Koos nach Stellenbosch wollte und dann zur Polizei; und seine Bewunderung für Pieter war umso merkwürdiger, weil er selbst dunkel war und sich nicht leicht an andere anschloß. Meine Schwägerin war glücklich inmitten ihrer Familie, das war sie immer. Sie sprach mit Frans und seiner Frau und deren beiden anderen Kindern und mit Henriettas schweigsamem Mann, der ihr zuliebe sein gewohntes Schweigen unterbrach. Dann streichelte sie Nellas Wange und sagte zu ihr: Du siehst blaß aus. Das Mädchen lächelte, aber sie konnte sich nicht gut verstellen, und ich dachte bei mir, bei den beiden ist etwas nicht in Ordnung. Denn ihr Lächeln verging so schnell, wie es gekommen war, und hinterließ einen gezwungenen Ausdruck in ihrem Gesicht, und ich wünschte, sie hätte mehr Übung in der Kunst, sich zu verstellen. Da sagte meine Schwägerin: Warum gehst du nicht mit ihr an die See, Pieter?
Er ließ seine Schwester stehen und ging zu Nella und nahm ihren Arm, wie ein Soldat, der sich zur Stelle meldet, und sie sah ihn mit einem schnellen Dankeslächeln liebevoll an und sah dann fort, so daß ich wußte, zwischen ihnen stand nicht Ärger und Zank, sondern etwas, was tiefer ging. – Zwei Gründe, sagte er. Kein Urlaub und kein Geld. – Ich weiß, woher du Geld kriegen könntest, sagte ich, von einer reichen Frau, die keinen falschen Stolz hat. Er grinste mich an. – Du und dein Geld, sagte er. Ich schüttelte meine Börse nach ihm hin. – Es ist richtiges Geld, sagte ich. Es kann kaufen und klimpern. Er lächelte seiner Mutter zu, aber jetzt war er ernsthaft. – Ich kann jetzt nicht fort, sagte er. Des Hauptmanns Urlaub ist sowieso bald fällig. – Warum schickst du sie nicht für eine Woche oder zwei nach Hause? sagte seine Mutter. Tu es jetzt, ehe Frikkie zur Schule muß. – Das geht nicht gut, sagte Nella. Aber man konnte wohl merken, daß es gehen würde, wenn man ihr genug zuredete. – Du mußt befehlen, sagte meine Mutter. Er lächelte ihnen beiden zu. – Sie hat auch einen Willen, sagte er. Genau wie du. Sie läßt sich’s nicht anmerken, aber er ist da. Seine Mutter sagte, und ihr Lächeln nahm ihren Worten von vornherein alle Schärfe, denn nie in ihrem Leben hat sie ein scharfes Wort gesagt: Bei uns zu Hause gibt es nur einen Willen. – Die Tante hat einen Willen, sagte Martha. – So einen wie deine Mutter, sagte ich, er macht sich bemerk bar, wenn er muß.
Ich sah sie an. – Nur nicht so sanft, sagte ich. – So ist das Leben, sagte sie, als ob sie es uns allen erklären wolle, jeder hat seinen Willen, und der Reihe nach gibt jeder nach. Dann kam mein Bruder heraus, und damit hörte das Gespräch über den Willen auf. Und der junge dominee kam auch heraus, und wir hätten gerne mit ihm gesprochen, aber darauf warteten viele; und wir sind eine sittsame Familie und warten geduldig, bis die Reihe an uns kommt. Mein Bruder war zum Spaßen aufgelegt, und auch er kniff Nella in die Wange und sagte, sie sehe aus wie eine Braut am Hochzeitstag, was nur beweist, daß er sie mit besonderen Augen ansah, aber sie freute sich über sein Lob und sah plötzlich wirklich aus wie eine Braut am Hochzeitstag. – Du solltest nicht so auf deinem Bein herumstehen, sagte meine Schwägerin. Er knurrte. —Soll ich etwa auf dem Kopf stehen? sagte er. Schwiegertochter, kommt ihr alle heute nachmittag? —Sicher, sagte sie. Er kniff sie wieder in die Wange. – Gut, sagte er, ich bin froh, wenn wenigstens eine vernünftige Frau in meinem Hause ist. Dann verabschiedeten wir uns von Frans und Henrietta und ihren Familien und versprachen ein baldiges Wiedersehen. Ich merkte, daß mein Neffe den jungen dominee mit einem merkwürdigen Ausdruck in den Augen beobachtete, und ich vermutete, daß die Predigt ihn tief berührt hatte, obwohl ich nicht wußte, warum. Dann sah der junge dominee ihn mit demselben Ausdruck an, mit dem so viele junge Leute Pieter van Vlaanderen ansahen, und einen Augenblick später trat er mit ausgestreckter Hand und leuchtenden Augen auf uns zu. – Sie sind Pieter van Vlaanderen, sagte er.
Und ich sah, was ich schon zuvor gesehen und nicht begriffen hatte, wie angesichts dieses jungen Mannes, der mit leuchtenden Augen und eifrigem Gesicht dastand, die Lichter im Haus der Seele plötzlich ausgingen, Türen und Fenster wurden zugeschlagen und die Vorhänge zugezogen, und draußen im Dunkeln stand der Mann mit einer kalten, förmlichen Begrüßung, wie jemand, der einen auf der stoep begrüßt und sein Gesicht zu einer Art Lächeln zwingt und ruhig und höflich mit einem redet, aber man weiß, man wird nicht ins Haus gebeten. Dann ergriff er die Hand des jungen dominee und verbeugte sich steif, wie es manche Ausländer tun, und sagte: Willkommen in Venterspan. Aber obwohl ich das alles sah, da das Beobachten in meiner Natur liegt, war ich die einzige, die es sah. Nun geht es nicht wohl an, daß man strahlend und eifrig auf jemanden zugeht und mit einer steifen, kalten Verbeugung begrüßt wird, ohne daß man etwas von seinem Eifer einbüßt; also wandte sich der junge dominee meiner Schwägerin zu mit einem Lächeln, das keine Frau auf der Welt ungerührt lassen würde, und sagte: Sie sind seine Mutter. Und mit großer Hochachtung sagte er zu meinem Bruder, dem er schon in der Kirche vorgestellt worden war: Entschuldigen Sie, meneer, mir war es nicht gleich klar, wer Sie sind. Aber er meinte damit etwas ganz anderes, er meinte: Mir war nicht klar, wessen Vater Sie sind. Und mein Bruder sah ihn aus seinem schweren, bärtigen Gesicht an und sagte gar nichts, weder mit den Augen noch mit der Zunge. Dann sagte der junge dominee zu mir: Sie sind Tante Sophie, und zu meiner Nichte sagte er: Sie sind Martha. Und es wurde uns beiden ganz warm vor Freude, der einen, weil sie ein junges Mädchen war, und der anderen, weil sie auch einmal ein junges Mädchen gewesen war. Aber sein wärmstes Lächeln hatte er für Nella aufgehoben, als ob er es absichtlich bis zuletzt gespart hätte, und er sagte zu ihr: Sie sind Nella. Also
lagen ihm alle Frauen zu Füßen, und die beiden Männer standen schweigend und mit gezwungenen Mienen dabei. – Man nennt ihn den Löwen des Nordens, sagte er zu Nella. Wenn man über Fußball mitreden will, so muß man das wissen. Im ganzen gibt es vielleicht zehn solcher Namen, sagte er. Er lächelte meinem Neffen zu, als wollte er sich entschuldigen, denn er fühlte seine Gezwungenheit. Dann sagte er zögernd, als ob er sein Lob einschränken wolle: Sagen wir zwanzig solcher Namen. – Sagen Sie, sagte er, nun selbst ganz förmlich, wie steht es hier mit Rugby? – Für eine Kleinstadt nicht schlecht, sagte mein Neffe. Werden Sie spielen? Bei dem Gedanken konnte der junge dominee nicht förmlich bleiben, und sein Gesicht strahlte wieder vor Eifer. – Und ob ich spielen werde! sagte er. Das ist… Er strahlte uns alle an mit dem ihm eigenen Lächeln. Er sah aus, als ob er über sich selbst erschrocken sei. – Das ist schon fast meine Religion, sagte er. Und mein Bruder sah ihn an unter den schweren Augenlidern, und sein Blick verriet nichts, und man wußte nicht, ob es ihm etwas ausmachte oder nicht, daß jemand es mit Religion vergleichen konnte, wenn man herumrannte und einen Ball kickte. Der junge dominee wandte sich wieder an meinen Neffen. – Sie kommen in die Springbok-Mannschaft, sagte er. Mein Neffe schüttelte den Kopf. – Ich werde alt, sagte er. – Unsinn. Nur der Krieg ist dazwischengekommen. Und darauf sagte niemand etwas, denn man spricht nicht vom Krieg, wenn mein Bruder dabei ist, wie harmlos es auch
gemeint sein mag. Also sah der junge dominee sich um, und da warteten noch andere Leute, die ihn sprechen wollten. – Ich muß gehen, sagte er. Diesmal sprach er zuerst zu Nella. – Ich komme bald einmal, mevrou, sagte er. Sie sagte: Sie werden uns willkommen sein. Und Dank für Ihre Predigt. Und meine Schwägerin und ich dankten ihm auch für die Predigt und auch mein Neffe, obwohl immer noch etwas steif. Nur mein Bruder nicht, aber er verneigte sich vor dem jungen Mann, wie man sich vor jemandem verneigen würde, den man durch ein Fernglas sieht; und als der junge Mann fort war, ging er steifbeinig nach der Straße hinüber. Und ich dachte bei mir selbst, wie schön wird es heute nachmittag beim Tee sein, denn mein Neffe kam jeden Sonntagnachmittag mit seiner Familie zu uns. Und sobald mein Bruder und der junge dominee fort waren, kam Japie zu uns heran, mehr als je spielte er den Clown. – Ich wollte ihn nicht kennenlernen, sagte er. In seiner Predigt war zuviel von mir die Rede, habt ihr’s nicht gemerkt? Als er von dem Mann sprach, der immer auf die Uhr sieht. Besonders wenn es auf vier Uhr geht. Das ist meine Lieblingsstunde. Er lachte, nicht sehr laut, aber doch lauter, als jemand anders so nah bei der Kirche gelacht haben würde. – Aber in einem hat er unrecht, sagte er. Ich tue es nicht, weil ich sterben möchte. Und ich dachte darüber nach, was er gesagt hatte, daß es eine Art von Heuchelei um eines niedrigen Zweckes willen gäbe, und eine andere aus furcht; und daß es für diese Erbarmen gäbe, wenn man sie nur bekenne. Und ich dachte, diesem Menschen kann ich es sagen. Und es ging mir durch und durch, als er sagte, dieses Erbarmen sei unausdenkbar groß,
denn geringeres Erbannen könnte mich ja nicht von meiner Sünde heilen. Aber dann erkannte ich mit Schrecken, daß ich ja nicht nur aus Furcht heuchelte, sondern um eines niedrigen, ekelhaften Zweckes willen; und ich dachte, ich kann es ihm doch nicht sagen. Und als er dann auf die Kanzel schlug und laut rief, es sei eine Lüge, daß wir gefesselt seien, als ich sah, daß er das wirklich glaubte, sagte ich mir wieder: Zu diesem Menschen könnte ich sprechen. Als er dann nach der Kirche zu mir kam wie ein kleiner Junge zu einem erwachsenen Mann und mich den Löwen des Nordens nannte, da wußte ich, daß ich es ihm nicht sagen konnte. Dann verliebte er sich in meine Schwester, und von ihr lernte er, mich noch mehr zu verehren als zuvor. Und dadurch, daß er mich bat, ein diaken in der Kirche zu werden, schloß er mir auf immer den Mund. Denn zu der Zeit hatte ich nur einen einzigen Gedanken: ich wollte irgendeinem Menschen das Elend meines Lebens offenbaren, daß ich verlockt wurde von dem, was ich haßte, daß ich etwas besitzen wollte, worin keine Freude sein konnte. Ich hätte mich vor ihm gedemütigt, wie ich Dick gezwungen hatte, sich vor mir zu demütigen. Ich hätte ihm alle meine Gedanken bekannt, ich hätte zum Herrn gebetet, daß er ihm tiefe Weisheit geben möge, so daß er eine Rettung für mich fände und mir hülfe, wieder sauber und gut und ruhig zu werden wie mein Bruder Frans, wie meine Freunde, wie der kleine Vorster, wie der junge dominee selbst. Und doch, so groß auch meine Not war, sagte ich kein Wort. War es Stolz, was mich nicht sprechen ließ? Ach, ich weiß es nicht.
Der Löwe des Nordens! Wie ahnungslos können doch die Menschen sein, daß jemand, der selber so frisch und sauber war, mich den Löwen des Nordens nennen konnte! Ach, war es Stolz, was mich zurückhielt? Dann habe ich sie alle um meines Stolzes willen zugrunde gerichtet!
12. Kapitel
AN DEM SONNTAGABEND predigte der junge dominee wieder. Die Gemeinde war nicht so zahlreich, weil wenige Farmer abends zur Stadt kommen, aber sie war größer als sonst, weil der junge dominee wieder predigen sollte. Und ich war froh, daß ich gekommen war, denn mein Neffe saß neben uns, Nella war zu Hause bei den Kindern geblieben. Und diesmal predigte der junge dominee darüber, daß dem, der bittet, gegeben wird, und wer sucht, der findet, und wer anklopft, dem wird aufgetan, weil Gott barmherzig ist. Aber wenn ein Mensch nur mit halbem Herzen bittet, so wird ihm nicht gegeben; und wenn er anklopft und halb fürchtet, daß die Tür sich öffnet, weil er dann hineingehen muß und sich von den Freuden dieser Welt trennen, dann wird ihm nicht aufgetan. Und wenn er sich davor furchtet, die Freuden der einen Welt aufzugeben, dann kann er die der anderen Welt nicht finden, nein, es wird dann in keiner Welt wahre Freude für ihn geben, weil er zu keiner gehören kann. Denn wenn Gottes Erbarmen so groß ist, so muß auch des Menschen Gehorsam groß sein. Als er das Wort Gehorsam hörte, wurde mein Bruder, der den ganzen Tag grimmig und schweigsam gewesen war, plötzlich lebendig, denn das war ein Wort, das er verstand, besser als das Wort Liebe. Und mein Neffe saß in angespanntem Schweigen, und die Knöchel seiner Hand waren weiß unter der Haut, so daß ich wußte, er war erregt, aber ich wußte nicht, warum. Erst als ich las, was er geschrieben hat, verstand ich es. Und ich muß erklären, daß für meinen Bruder unsere afrikaans Sprache eine heilige Sprache war, ein Geschenk Gottes in der Wildnis; aber
so hatte er sie noch nie sprechen hören, denn es gab nichts, was sie nicht sagen konnte. Nichts war zu tief oder zu stark oder zu still, so daß der junge Mann, der zu ihm gesagt hatte: es war mir nicht klar, wer Sie sind, und damit meinte: es war mir nicht klar, wessen Vater Sie sind, ihn doch gewissermaßen in seinem Bann hatte. Draußen verabschiedete sich mein Neffe bald und ging allein nach Hause, denn zwischen ihm und seinem Vater war noch immer eine Spannung. Der Himmel war klar und voller Sterne, und die Kiefern sangen im Wind, der trotz der sommerlichen Jahreszeit kalt war und frisch, denn die Nachtluft im Hochveld ist scharf. Wenn man sie an Gesicht und Körper spürt, fühlt man sich sauber und kräftig, sie kann einem etwas wie jugendliche Unschuld und Lebensfreude wiedergeben. Als ich nach Hause kam, war ich ruhig und still, und ich muß Nella besonders liebevoll geküßt haben, denn ich merkte sofort, daß sie bewegt war. – Ein Feuer, sagte ich. – Ich dachte, vielleicht ist dir kalt, Pieter. Sie griff nach meinen Händen. – Ganz kalt, sagte sie. Ich merkte, daß sie sich Mühe um mich gab, aber sie war ängstlich, und ich schämte mich deswegen. – Kaffee, sagte sie. Ich lächelte ihr zu, und plötzlich weinte sie. Ich nahm sie in die Arme, und sie klammerte sich eng an mich wie ein Kind, dem man nach einer Zeit der Strenge wieder Zärtlichkeit erweist. – Warum weinst du denn? fragte ich. – Weil… – Ja? – Weil du gelächelt hast.
– Es tut mir leid, flüsterte ich, es tut mir so leid. – Ich gebe mir solche Mühe, dich liebzuhaben, sagte sie. Ich versuche es so und so, immer wieder. Ich bete, daß ich dich noch mehr liebhaben kann. Und dann… – Ja, flüsterte ich. – Dann verschließt du dich vor mir. Ich hielt sie ganz fest, und ohne Worte gestand ich ihr alles. Dann machte sie sich los und trocknete sich die Augen. – haß uns Kaffee trinken, sagte sie. Ich setzte mich beim Feuer nieder, und sie kam und stellte das Tablett auf den Boden und zog den kleinen Schemel dicht neben mich und saß darauf, an meine Knie gelehnt, und goß den Kaffee ein. Dann plötzlich sah sie zu mir auf. – Weißt du noch? sagte sie. Ja, ich wußte es noch, denn so hatten wir beieinander gesessen, als ich sie zum erstenmal berührt hatte, in der Zeit der allerersten hiebe, die so scheu und einfältig war und tagtäglich und allwöchentlich durch ein Wort oder durch einen Blick gewisser wurde oder durch eine zufällige Berührung der Hand, die mir lang erschien und doch nicht lang genug, sie konnte genau so gut unabsichtlich sein, so daß ich nachher nicht einschlafen konnte, sondern darüber nachdachte: war es Absicht oder nicht? So war unsere frühe Liebe, lang und scheu über viele Wochen hin; manche heute sagen, so war es eben zu jener Zeit, aber es war nicht nur die Zeit, es lag auch in unserer Natur. Ich hatte die Hände auf ihre Schultern gelegt, schüchtern und mit Herzklopfen, fast als hätte ich es aus Versehen getan und die Hände anderswo hinlegen wollen, und als könnte ich sie augenblicklich wieder fortnehmen. Da hatte sie plötzlich ihre Hände erhoben und die meinen hinuntergezogen auf ihre Brust, und das war eine so erstaunliche Handlung von ihr, die so scheu und sanft war, daß ich mein Gesicht in ihrem Haar vergrub, aber das duldete
sie nicht, sie wandte ihr Gesicht aufwärts mir zu, und die Sitte jener Zeit war uns so selbstverständlich, daß wir sofort einig waren, zu heiraten. Wie mir das jetzt einfiel, verschlug es mir den Atem, als mir klar wurde, daß aus dem arglosen Knaben ein strenger, düsterer Mann geworden war, der nicht stolz und selbstbeherrscht war, wie die heute glaubten, sondern voll unnennbarer Begierde und Reue, voll guter Vorsätze und Niederlagen, der sich selber nicht mehr verstand und verschlossen und kalt und schweigsam war, eine traurige, sündhafte Kreatur. Warum war es so gekommen? Manche sagen, den jungen heuten soll man die Zügel schießen lassen, dann werden sie gute Ehemänner und Väter. Wäre das vielleicht besser für mich gewesen? Aber ich hätte wohl kaum anders aufwachsen können bei diesen Eltern, der Vater war genau und streng und die Mutter zärtlich und liebevoll; und dem Vater hätte ich niemals ungehorsam sein können, und die Mutter hätte ich nie mit Wissen und Willen betrüben können. Was Frauen betraf, so galt für meinen Vater ein Gesetz, das so genau und streng war wie er selber, und einmal in einer Gesellschaft, wo ich bei weitem der Jüngste war, hatte ich ihn sagen hören, daß er nie eine andere Frau als die seine angerührt habe, noch habe er je Lust dazu verspürt. Daran erinnerte ich mich gut, denn in der Gesellschaft wurden ziemlich handfeste Geschichten erzählt; und einmal gab es eine Pause, und da sagte mein Vater plötzlich dies, ganz natürlich und einfach, als ob es in diese Unterhaltung hineingehörte. Ich weiß noch, wie ich plötzlich stolz auf ihm war und spürte, daß ich ihn liebhatte, ihn und seine Kraft und seine Gewißheit; und ich beneidete ihn auch und dachte, wie es doch möglich sein konnte, daß ich anders war. Und so wie er war auch mein Bruder Frans, aber Frans war weicher und
einfacher, mehr meiner Mutter ähnlich, und jeden Gedanken konnte man ihm vom Gesicht ablesen, auch wenn er nichts sagte. Und dann dachte ich, vielleicht war ich als Kind zu folgsam gewesen, zu sehr darauf bedacht, die Eltern zu erfreuen und gelobt zu werden, so daß ich mich daran gewöhnte, mich äußerlich anders zu zeigen, als ich innerlich war. Aber ich war doch kein Muttersöhnchen gewesen, ich schoß und ritt so gut wie irgendeiner. Ich weiß noch, als wir alle auf der Farm Vredendal zu Besuch waren, daß einmal Hester, eine Kusine meiner Mutter, mich in ihren Armen auffing und sagte: Pieter, du kommst ja wie ein Sturmwind ins Haus. Aber vielleicht, wenn man zu folgsam ist und die Unarten der anderen nicht offen mitmacht und still und brav in der Kirche sitzt und in der Schule fleißig ist, daß sich in einem ein ungeahnter Aufruhr zusammenbraut und einen verdirbt, obwohl ich nicht verstehen kann, wie das vor sich geht. – Du bist so still, Pieter. Woran denkst du? Und ich dachte, wenn du wüßtest, woran ich denke, würdest du vor Schreck den Verstand verlieren und den Frieden, der in deinen Augen wohnt, und wie gerne wollte ich es dir sagen, wenn ich nur könnte. – Ich dachte an das, sagte ich und sagte die halbe Wahrheit, woran du mich erinnert hast. Und ich hätte sie gerne daran erinnert und meine Hände auf ihre Brust gelegt, aber das konnte ich nicht tun, denn irgend etwas daran war nicht mehr recht, und es hätte sie in Verlegenheit gebracht, denn das Zimmer war ja hell. Sie legte den Kopf zurück auf meine Knie, und ich legte meine Hand auf ihre Wange und Kehle. – Wie hat der neue dominee gepredigt? fragte sie. – Gut, sagte ich. – Weißt du, sagte sie mit geschlossenen Augen und ernster Stimme, ich glaube, ich sollte viel besser sein, ich sollte mir
nicht soviel Sorgen machen, Sorgen, immer Sorgen, sondern mich darauf verlassen, daß Gott für mich sorgt. Und es verschlug mir den Atem, aber ich sagte: Du solltest besser sein? – Ja, ich, Pieter. Wenn es dir schlecht geht und mir geht es dann auch schlecht, dann kamt keiner dem anderen helfen. Es bekümmert mich so, wenn ich merke, daß es dir schlecht geht. – Wirklich, liefste? – Ja. Ich möchte dir helfen, daß du aus der trüben Stimmung herauskommst. Aber wenn ich niedergeschlagen bin, dann denkst du nur, ich bin böse und tue mir selber leid, und das kannst du nicht leiden, nicht wahr, Pieter? Ich beugte mich über sie, und in plötzlicher Heftigkeit und inbrünstiger Reue preßte ich mein Gesicht an das ihre. – Es gibt nichts an dir, was ich nicht leiden kann, sagte ich. Nur manchmal tust du mir sehr leid. – Wollen wir schlafen gehen? flüsterte sie. Ich beantwortete ihre Aufforderung mit einem ernsthaft zustimmenden Lächeln, denn diese Dinge hatten wir nie leicht genommen. – Möchtest du? sagte ich. —Ja, flüsterte sie. Oben im Schlafzimmer betete sie lange, viel länger als sonst. Nach einer Weile stand ich auf und sah zu ihr hinüber, ich wußte, wofür sie betete, für die schwarze Schwermut und den Jähzorn und die kalte Verschlossenheit, die ihr stilles, frommes Leben seiner einfachen Freuden beraubten. Lautlos sagte ich tief in mir: Gott erhöre sie, Gott erhöre sie, bitte, so wird dir gegeben, klopfe an, so wird dir aufgetan, suche, so wirst du finden, ehe es zu spät ist für die Gabe, für das Auftun, für das Finden. Als wir uns niedergelegt hatten, drehte sie sich auf die Seite und schmiegte sich an mich und zog meinen Kopf zu sich
herunter und küßte mich auf Augen, Mund und Wangen, als müsse sie mich mit all ihrer Kraft beschützen, und sie streichelte mich, denn sie wußte genau, welche Sehnsucht ich nach ihren Händen hatte, und sie legte meine Hand auf ihre Brust und deckte meine Augen und Lippen mit ihrem Haar zu und gab sich mir hin mit allen kindlichen Künsten der Liebe; und dann, von mir abgewandt, aber eng an mich geschmiegt, lag sie zusammengerollt und seufzte glücklich und zufrieden. Und ich lag an sie geschmiegt, mein Gesicht in ihrem Haar. Nach einer Weile sagte ich: Schläfst du? – Beinah, sagte sie. – Warum hast du neulich gesagt, du kannst das nicht alles wieder ausgraben? Sie antwortete nicht, und ich sprach schnell weiter, damit sie nicht erschrecken sollte, als ob sie davonfliegen könnte. – Dieses habe ich gemeint, sagte ich. Ich stützte mich auf einen Ellbogen und sah zu ihr nieder. – Du denkst, daß ich von körperlichen Dingen rede, sagte ich, aber das stimmt nicht. Es gehört alles zusammen, Leib und Geist und Seele, zwischen Mann und Frau. Wenn du mich lieb hast so wie jetzt, so ist mir in allen dreien Genüge getan. Und wenn ich dich liebhabe so wie jetzt, dann liebe ich dich ganz, Leib und Geist und Seele. Dann bin ich heil und stark, dann kann ich leben, wie ich leben soll, ohne die schwarze Schwermut und den Jähzorn. Ich schwieg, ich konnte nicht weiter; aber ich wollte gern, und soviel begriff sie, daß sie das wußte. – Ja, Pieter! Ich wußte, daß ich sie wieder in die Welt hineinzwang, vor der sie Angst hatte, darin war sie töricht, denn sie begriff nicht, daß sie in eben dieser Welt unangreifbar und sicher war, sie begriff nicht, daß sie dann noch sicherer und unangreifbarer sein konnte, sondern sie fürchtete diese Welt,
weil sie ein dummes Etwas fürchtete, das es überhaupt nicht gab. Aber die Sache war dringend, es mußte etwas geschehen, und wenn es nicht jetzt und hier und zur Stunde geschah, so würde es nie geschehen. Also sagte ich: Wenn du mich öfter so liebhaben würdest, dann wäre ich sicher, sagte ich. Sie wandte sich nach mir um. – Sicher? Wovor, Pieter? – Vor allem, mein Herz. Vor Angst und Gefahr. Und vor der schwarzen Schwermut. Ich wollte sagen: vor der Versuchung, ich wollte sagen: vor dem, was mich verlockt und was ich hasse. Ich wollte ihr alles, alles sagen, ich wollte mich ihr ganz nackt zeigen, daß sie verstehen würde, was für ein Mensch das war, den sie liebte, all seine Angst und Qual, und daß sie von einem Mitleid ergriffen würde, das ihn auf immer heilen und halten könnte. – Ich bitte Gott, daß er mich geduldiger und einsichtiger macht, sagte sie. Und ich wollte laut aufschreien, daß sie begriffe, daß Leib und Seele für mich untrennbar sind, daß der Trost, den mir ihr Leib gewährt, mehr ist als ein fleischlicher Genuß, daß er auch die Seele tröstet, aber wieso, das weiß ich nicht, aber es ist nichts Häßliches, nichts Böses daran, alles ist gut. Aber wie kamt man das in Worte fassen? Also sagte ich: Das ist sehr lieb von dir, aber ich will nicht mehr, als du mir heute nacht gegeben hast. Sofort war sie still und unsicher, denn da hatte sie eine Vorstellung, die gut und richtig war, aber doch an einer verborgenen Stelle verbogen, daß nämlich die leibliche Liebe, wenn auch an sich gut und recht, anders sei als die Liebe der Seele und an einem bestimmten, ihr zugewiesenen Ort wohne, von wo man sie rufen müsse, und wenn sie gerufen wurde und das Ihre getan hatte, dann ging sie zurück an ihren Ort und blieb dort, bis sie wieder gerufen wurde, nach gewissen Regeln und Gebräuchen.
– Eine Frau muß ihrer Natur gemäß handeln, Pieter. Das habe ich dir immer gesagt. Aber ich schwieg. – Und wenn sie gegen ihre Natur handelt, dann… – Was dann? – Das wäre nicht die Liebe, die du brauchst. – Ich meine ja gar nicht die leibliche Liebe, sagte ich. Und da war sie ratlos, denn ich meinte dies und ich meinte es auch wieder nicht. Ich beugte mich über sie und küßte sie. – Verzeih mir, sagte ich. Sie umarmte mich. – Ich bin so dumm, sagte sie, aber ich werde es schon lernen. – Danke, daß du mich so lieb hast, sagte ich. – Ich werde noch viel anzulernen, sagte sie. Ganz bestimmt. Dann war sie plötzlich fröhlich und lustig und strich mein Kissen glatt und zwang mich zum Niederlegen und deckte mich sorgsam zu wie ein Kind. Dann legte sie sich auch nieder und schmiegte ihren Rücken mit wohliger Zufriedenheit an mich; sie nahm meinen Arm, der über ihr lag, und legte meine Hand an ihre Brust und sagte: Ich bin glücklich. Und im nächsten Augenblick schlief sie schon. Ach, hätte ein Mann meine Liebe begehrt, dann hätte ich so geliebt, nicht nach Regel und Gewohnheit, nicht ängstlich und zurückhaltend, sondern mit allumfassender Liebe. Kind, Kind, was hast du getan, daß du vernichtet wurdest? Denn die Kleinlichen und Grausamen sind davongekommen, aber der Gute und Sanfte nicht. Und Gott vergebe mir, daß ich solche Worte niederschreibe, es möchte scheinen, als ob ich an seiner Vorsehung zweifle, aber ich will gehorsam sein, wenn auch meine Worte ungehorsam erscheinen, und will der Stimme gehorchen, die zu mir sagt: Was du siehst, das schreibe in ein
Buch. Darum: Kind, Kind, was hast du getan, daß du vernichtet wurdest? Und plötzlich fiel mir ein: Ich werde es Kappie sagen. Ich war ganz aufgeregt und wunderte mich, daß er mir nicht früher eingefallen war. Mit ganz neuer Zärtlichkeit dachte ich an ihn und auch voll Vertrauen, denn er wußte, was in der Welt vorgeht, und richtete nie. Also war auch mir ein Trost geworden, und es war noch keine Stunde vergangen, da schlief auch ich, und das hatte ich nicht gedacht.
13. Kapitel
WENN MEIN BRUDER Geburtstag feierte, das war ein großes Ereignis. Wir alle, meine Schwägerin, meine Nichte und ich, waren tagelang damit beschäftigt, die Mahlzeiten vorzubereiten und von Haus zu Haus die Gäste einzuladen. Wir luden Malan-Afrikander und Smuts-Afrikander ein, Engländer und Juden, alle Weißen außer den Apostolischen, weil mein Bruder sie als Verräter an der Kirche betrachtete, und außer den wenigen, die überhaupt nicht zur Kirche gingen. Und dann Flip van Vuuren, den luden wir auch nicht ein, denn wenn mein Bruder eine Gesellschaft gab, dann konnte jeder trinken, was und wieviel er wollte, aber betrunken durfte keiner sein. Und Flip hatte sich einmal sehr betrunken und war von einem zum anderen gegangen und hatte mit beschwipster Gewichtigkeit jeden gefragt: Wozu lebt man? Was ist der Sinn des Lebens? Und in unübertrefflicher Torheit ging er zu Jakob van Vlaanderen selber, der wegen seines lahmen Beins in seinem großen Stuhl saß, und sagte zu ihm: Wozu lebt man? Was ist der Sinn des Lebens? Und als mein Bruder ihn mit schlechtverhohlenem Ärger übersah, beging er die denkbar größte Torheit und legte seine törichte Hand auf meines Bruders Arm, wo mein Bruder es so haßt, wenn ein Fremder ihn berührt, und wiederholte: Wozu lebt man? Was ist der Sinn des Lebens? Also stand Jakob van Vlaanderen aus seinem Stuhl auf und sagte mit Donnerstimme: Der Sinn des Lebens ist, dem Herrn unserem Gott zu dienen und die Ehre unserer Kirche, unserer Sprache und unseres Volkes aufrecht zu erhalten. Bringt ihn nach Hause!
Da mußte Flips Frau mit bitterem, schamrotem Gesicht herankommen und Flip nach Hause bringen. Und mein Bruder blieb eine ganze Minute dort stehen und sah uns alle an wie ein Löwe in der Totenstille, in der nur die stolpernden Schritte des hinausgewiesenen Narren zu hören waren. Denn mein Bruder trank gern und konnte mehr vertragen als die meisten, aber Betrunkenheit und Trinker verachtete er aufs tiefste, und auch Frauen, die Hosen trugen und rauchten, und die neumodischen Doppelbetten. Aber Zigaretten ließ er in späteren Jahren gelten, obwohl er selber keine rauchte, und das Kino, obwohl er selten hinging, und wenn er hinging, stand er da wie ein gefesselter Löwe, solange man ›God save the King« spielte; und Tanzen ließ er gelten und Engländer, solange sie nicht von England als von »zu Hause« sprachen, und in den letzten Jahren ließ er auch General Smuts gelten, da er sich überlegt hatte, daß bei diesem Manne das Gewicht des Gehirns wohl für den zarten Körperbau zu schwer gewesen sei. Und als sein Sohn Pieter den roten Eid leistete und in den Krieg ging, durfte erst sein Name nicht mehr genannt werden, aber als dann Holland fiel, wurde Pieter wieder in Gnaden aufgenommen, nicht weil mein Bruder für Holland besonders viel übrig hatte, sondern weil es ein kleines Volk war wie das von Transvaal im Jahr 1899. Die Aussöhnung vollzog er feierlich schwarz auf weiß in feierlicher, wohlgesetzter Sprache, die dadurch noch feierlicher und wohlgesetzter wirkte, daß sie Hollands eigene Sprache war, wie sie in seiner Kindheit in unseren Schulen gelehrt wurde. Aber er ließ in seinem Brief keinen Zweifel darüber, daß der Wechsel nur den Umständen und nicht etwa einer Änderung seiner Gesinnung zu verdanken sei. Und das muß ich auch erwähnen, damit man die ganze Macht seines Einflusses versteht: Als sich herumsprach, daß er diesen Brief geschrieben hatte, da leistete eine ganze Anzahl junger Leute im Grasland den roten Eid und zog in den Krieg; und es ist
erlogen, was manche sagen, daß ein Soldat in Uniform bei uns nicht zur Kirche gehen konnte. Wenn bei uns Gesellschaft war, so konnte man sitzen oder stehen, wie und wo man wollte, man konnte schwere oder leichte Kost essen, boerewors und frikkadel, warmen Rinderund Hammelbraten und Brathuhn und Truthahn und das alles auch als kalten Aufschnitt mit Salaten, Kopfsalat, rote Rüben, Tomaten, Gurken und Kartoffeln, warm oder kalt, gekocht oder gebraten, und süßen Kürbis und Melonen und junge Erbsen und Bohnen und mancherlei Soßen; und darnach melkert und koeksusters und parmelzoek und konfyt. Es gab auch schwere und leichte Getränke nach Wahl, selbstbereitete, nicht etwa gekaufte Apfelsinen- und Zitronenlimonade und selbstgemachtes Ingwerbier-, und alle Kapweine, trockene und süße, rote und weiße; und Kapbranntwein und Ingwer- und Pfirsichschnaps und Van der Hum; und sogar schottischen Whisky, den niemand anders überhaupt auftreiben konnte, außer vielleicht dem Hauptmann und dem Richter. Nachdem mein Bruder das Tischgebet gesprochen hatte, setzte er sich wegen seines lahmen Beines am Kopfende des langen Tisches nieder, und wer darnach noch kam, ging zu ihm hin zur Begrüßung und Gratulation; und er empfing seine Gäste sitzend und stand nicht wieder auf, außer wenn ein hochbetagter Gast kam, und wenn der Hauptmann und seine Mutter kamen und der Richter. Er war vergnügt und zum Spaßen aufgelegt, und mit Vorliebe erzählte er hinterhältige Witze über Mann und Frau, und wie sie einander zur Last fielen; aber er zog eine strenge Grenze zwischen Erlaubtem und Unerlaubtem, und weil nur er genau wußte, wo diese Grenze verlief, war es am sichersten, solche Witze nicht selber zu machen, sondern nur über die seinen zu lachen. Für die van Vlaanderens war es ein Familientag. Von Buitenverwagting waren sie alle da, Frans und seine Frau und
die Kinder, Henrietta und ihr schweigsamer Mann, der bei einer Geburtstagsgesellschaft genau so redselig war wie bei jeder anderen Gelegenheit; Emily und ihr Mann aus Johannesburg. Ich selber ging ständig aus und ein, und jedesmal, wenn ich zurückkam, schaute ich nach Pieter und Nella aus; und ich war nicht die einzige, die sie sehnsüchtig erwartete, denn Frans’ Sohn Koos fragte mich: Wo bleibt Onkel Pieter? Da sagte ich ihm, er solle für uns beide aufpassen, und wenn ich gerade draußen sei, solle er sofort kommen und mich rufen, wenn Onkel Pieter käme. Also war ich da, als sie kamen. Er hatte den dunkelblauen Anzug an, der ihm so gut stand und seinen hohen Wuchs betonte. Ich sah gleich nach seinem Geschenk, und ich muß gestehen, ich erschrak, als ich sah, daß es wirklich ein Buch war. – Also doch ein Buch, sagte ich. – Ich hab dir doch gesagt, es ist ein Buch. – Pieter, was ist das für ein Buch? – Ich hab’s dir doch gesagt. Eine Biographie von Smuts. Aber als er sah, wie erschrocken ich war, tat es ihm sofort leid. – Natürlich nicht, sagte er. – Was denn, Pieter? – Abwarten, sagte er. Dann gingen wir, er und seine Mutter und Nella und Martha und Frans und seine Frau und der kleine Koos und ich, zum oberen Ende des langen Tisches. Sie legten ihre Geschenke auf den Tisch, und mein Bruder schob seinen Teller beiseite, um sie besser ansehen zu können, und ich merkte, daß er dachte, was das eine wohl sein könne, aber ich weiß bestimmt, es wäre ihm nicht im Traum eingefallen, daß es ein Buch sein könnte, denn ich habe ja schon gesagt, er las kein anderes Buch als das Eine; also dachte er vielleicht, es sei eine Schachtel oder ein
Kästchen. Nellas Geschenk waren Taschentücher, große, bunte, wie er sie gern hatte. – Danke, Tochter, sagte er. Er stand auf und küßte sie und setzte sich wieder. Dann löste er das Papier, worin das Buch eingepackt war, und nun konnte kein Zweifel mehr darüber sein, daß es ein Buch war. Und er machte es langsam auf, wie jemand, der auf der Hut ist. Und es war ein Buch über Vögel mit einem bunten Umschlag, auf dem alle Arten von Eisvögeln abgebildet waren, und wir alle atmeten auf, denn er war ein großer Vogelfreund. Aber es kam noch etwas dazu, denn das Buch hieß «Die Vögel Südafrikas», und ich habe ja schon gesagt, daß das Wort Südafrika, selbst auf englisch, ein heiliges Wort für ihn war. «Die Vögel Südafrikas», sagte er in seinem schwerfälligen Englisch. Eine Weile saß er und sah die Eisvögel an, er wurde darüber so still, daß auch wir alle still waren. Er schlug das Buch auf, und als er die weißen glänzenden Seiten sah, legte er es wieder hin und wischte die Hände an der Serviette ab. Dann holte er die Brille hervor und nahm eins von Nellas großen Taschentüchern, er beugte sich über die Brille und putzte sie sehr umständlich wie jemand, der überrascht worden ist und Zeit braucht, um sich zurechtzufinden. Dann setzte er die Brille auf und öffnete das Buch, es öffnete sich an einer Stelle, wo Wildenten und Wildgänse farbig abgebildet waren, und er betrachtete sie wie jemand, der Bilder anschaut und sie doch nicht recht anschaut. Er blätterte die Seiten um, und man merkte ihm wohl an, er war erstaunt, daß es ein solches Buch überhaupt gab, und über die Vielzahl der Abbildungen und ihre Farben. Seine Augen wanderten von einem Vogel zum anderen, und man merkte, wie das Buch ihn mehr und mehr fesselte und daß er es sich nicht anmerken lassen wollte, da er aber ein ehrlicher, anständiger Mensch war, so wollte er es doch auch nicht ganz verbergen.
Schließlich sagte er, fast als gäbe er sich geschlagen: Das ist ein Buch, das ist ein Buch. Und Martha kicherte plötzlich und küßte ihn auf den Scheitel, so daß er sie anknurrte wie ein Löwe. Und meine Schwägerin sah ihren Sohn an mit einem Blick, in dem nur Stolz und gar keine Sorge mehr war, und er stand da und sah auch stolz aus. Dann brummte mein Bruder: Da hast du was riskiert, mir ein Buch zu schenken. Er schloß es und betrachtete wieder den Umschlag. – Von einem Engländer, sagte er, geht und eßt etwas. Er schob das Buch auf die Seite und zog seinen Teller wieder heran, und meine Schwägerin und ich führten Pieter und Nella an ihre Plätze zum Essen, und meine Schwägerin hing glücklich und stolz an ihres Sohnes Arm. Ag, aber wir alle waren glücklich und stolz. – Du bist ein ganz Schlauer, sagte ich. Er grinste mich an. – Natürlich, sagte er, merkst du das jetzt erst? Dann kam Japie, recht zu Späßen aufgelegt, und fing an mit Ta’ Mina und Ta’ Sophie, was ich nicht leiden kann, aber er gab mir einen Kuß, und das mochte ich wohl leiden. Und er freute sich, uns alle nach soviel Jahren wiederzusehen, er sagte immerfort Bruderherz zu ihm, das ist auch so eine dumme Redensart, die er fast in jedem Satz anwendet, wenn nicht in jedem. Meine Schwägerin sagte zu ihm: Japie, spielst du noch Rugby? Japies Gesicht war plötzlich kummervoll, mitten aus dem Spaßen heraus wurde er sehr ernst, denn soviel kann Rugby für einen Mann bedeuten. – Ich habe seit sechs Jahren nicht gespielt, sagte er, ich darf nicht mehr. Meine Schwägerin war gleich ganz Liebe und Sorge und sagte: Warum, Japie? Und er sah niedergeschlagen aus, er schlug sogar die Augen nieder und sagte: Meine Lunge. Und
meine Schwägerin sagte leise: Japie, das wußten wir nicht. Er zuckte ein-, zweimal die Achseln und redete dann weiter, als ob es ein notwendiges Übel sei, an das man keine Träne mehr verschwendete. – Die Lunge, sagte er, die Puste. Ich renne los, aber die Puste kann nicht mithalten. Und dann lachte er sein albernes Lachen, umso mehr, als er sah, daß wir nicht mehr besorgt, sondern verdutzt aussahen. – Also habe ich es verboten, sagte er. Dann lachte er wieder. – Der oubaas wird denken, daß du betrunken bist, sagte ich. Wir schauten alle nach meinem Bruder hin, aber er beachtete uns nicht, denn Sybrand Wessels saß bei ihm, und sie sahen das Vogelbuch an. – Ich bin betrunken, sagte er. Hab ich euch nicht alle wieder? Ag, so etwas konnte er sagen, und darum verzieh man ihm, daß er ein Clown war. Da standen und saßen wir alle und sahen Pieter und Nella beim Essen zu. Wir tranken ein wenig Wein, und wir lachten und erzählten uns alte Geschichten, als ob sie ewig dauern würde, unsere warme, freudevolle Welt. Und Japie erzählte uns viele Witze, ich schreibe hier den einen auf, den ich noch weiß. – Bruderherz, sagte er zu Pieter, weißt du, sie haben mich auf eine Woche nach Klerksdorp geschickt, und da habe ich mit dem Verbrechertum unter den Jugendlichen ein für allemal aufgeräumt. Pieter tat ihm den Gefallen und sagte: Wie hast du das gemacht? – Siehst du, in der Woche, ehe ich kam, hat ein klonkie was angestellt. Aber in der Woche, als ich da war, hat kein klonkie was angestellt. Dann lachte er, man weiß schon wie. Und wir alle lachten auch. Ja, ich weiß noch alles so genau, es war das letzte Mal, daß wir alle so beieinander waren. Und das Licht kam in das
dunkle, düstere Gesicht, und als ich es sah und das Gesicht so verändert und warm sah, betete ich in meinem Herzen, mitten unter ihnen allen, die es nicht wußten, für den Frieden seiner Seele. Denn obwohl Japie das Gespräch führte, so war doch er unser aller Mittelpunkt, wie er dort hoch und aufrecht in der Wärme unserer Liebe stand, und er war es dann, der uns alle vernichtete. Und warum, warum, warum? Gott weiß es, ich weiß es nicht. Und ausgerechnet da mußte Anna ihn uns wegnehmen, wo doch die Mutter an seinem Arm hing; aber sie ist eine Verwandte und hatte wohl auch ein Anrecht an ihn, da wir ihn so lange für uns gehabt hatten. Sie raucht und trägt solche gelben Hosen, die ich nicht ausstehen kann, aber natürlich nicht in meines Bruders Haus und auch nicht im Hause ihres Vaters, obwohl mir nicht klar ist, wieso sie nie dabei erwischt worden ist; aber sie hat eine Stellung in Pretoria, und das ist vielleicht der Grund. Sie ist nicht verheiratet und sagt ganz offen, daß Pieter der einzige sei, den sie geheiratet hätte, und der habe jemand anders geheiratet; sie sagt es so offen, daß man nicht weiß, ob es wahr ist oder nicht. Sie holte ihn von uns weg, weil er ihr einen Drink geben sollte, und er drehte sich um und grinste uns alle an, und wir ließen es geschehen, obwohl wir enttäuscht waren, ließen wir es geschehen, weil er sich nach uns umsah, und weil wir ihn so lange für uns gehabt hatten, und weil das Mädchen schließlich auch Anspruch auf ihn hatte. Aber ich hätte sie gern übers Knie gelegt, wie ich es einmal getan habe, als sie noch ein Kind war. Ich merkte, daß Koos untröstlich war, und ging zu ihm. – Schnell, sagte ich, der Großvater sitzt da ganz allein. Geh, frag ihn, wie ihm das Buch gefällt. Dann ging ich hinaus in die Küche, wo die beiden Alten, Isak und Lena, gute Christen trotz ihrer schwarzen Haut, sich nach Kräften abrackerten für die Geburtstagsgesellschaft des alten
Herrn. Gut, daß ich hinging, denn die beiden Mädchen, die zur Aushilfe aus der lokasie gekommen waren, hatten eben alle gebrauchten Gläser in den Ausguß gestellt und waren drauf und dran, kochend heißes Wasser darüber zu gießen. Denn das kann ich wohl behaupten, wenn es bei solchen großen Gesellschaften so glatt und vornehm zugeht, die eigentliche Schlacht wird in der Küche geschlagen.
14. Kapitel
JA, DACHTE ICH bei mir selber, in der Küche wird die Schlacht geschlagen. Mein Bruder wußte das sicher, aber er kam nie auf den Gedanken, daß ein Dankeswort einen freuen könnte. Plötzlich fühlte ich mich müde und alt und tat mir selber leid, meine Lippe fiel mir ein und daß mich nie ein Mann begehrt hatte. Ich verschwende an diese Dinge nicht viele Gedanken, das muß man nicht meinen. Ich rechne mir das Gute vor, wie man so sagt. Denn der Herr hat mir ein gutes Heim gegeben und ein bißchen eigenes Vermögen und einen Bruder, der bei all seinen Eigenschaften ein rechtschaffener und gerechter Mensch ist; und eine Schwägerin, für die ich jederzeit mein Leben lassen würde. Denn sie gab mir ihre Kinder, daß sie wie meine eigenen waren, besonders das eine; sie wußte, daß ich dieses eine wohl ganz unvernünftig liebte, aber sie verwehrte es mir nie. Aber immer kann man sich nicht das Gute vorrechnen; sonderbar ist es, daß man in einem kurzen Augenblick vom Frohsinn in die schwarze Schwermut geraten kann. Ich ging in die Speisekammer und setzte mich nieder und starrte auf den Boden. – Tante, was ist? Ich fuhr zusammen, als ich seine Stimme hörte, denn ich hatte ihn nicht kommen hören, aber es war zu spät, eine andere Miene aufzusetzen. Er kam heran und stand neben mir, er nahm meine rauhen Hände und drehte die Handflächen aufwärts und sah sie an und streichelte sanft mit seinen Daumen darüber. – Was ist? sagte er. Aber ich sah ihn nicht an. Er faßte meine Hände fester, aber seine Daumen streichelten immer noch über die rauhen
Handflächen. Dann sagte er in einem Ton, der bedeutete, daß er sich nicht abfinden lassen wollte: Ich habe dich gefragt, was los ist? Ich zog meine Hände weg. – Ag, sagte ich, ich wollte, ich wäre nie geboren. Aber er tröstete mich nicht, noch schalt er mich, noch sagte er, ich solle nicht so töricht sein, oder daß ich wieder ins Zimmer kommen solle zu den anderen, noch sagte er überhaupt etwas. Er stand da und sagte nichts und berührte mich nicht, und ich wußte, nun hatte ich ihn mit der schwarzen Schwermut angesteckt, und ich wagte nicht, ihn anzusehen, weil ich mich schämte. Dann sagte er: Ich, ich sollte wünschen, daß ich nie geboren wäre. Aber ich sagte und sah ihn nicht dabei an: Was meinst du damit? Aber er gab mir keine Antwort. Ich stand auf und ergriff ihn bei den Armen, aber er sah über mich hinweg, und ich war nicht groß genug, um seine Augen zu sehen. – Sag es mir, sagte ich dringlich, sag es mir. – Ach, es ist nichts, sagte er, es kommt und geht. Ich versuchte zurückzutreten, damit ich sein Gesicht sehen könnte, aber er hielt mich fest und ließ mich nicht los, als läge viel daran, daß ich es nicht sähe, bis er Zeit gehabt hätte, sich zurechtzufinden, denn er hatte die Tür seines Herzens aufgemacht, und nun bereute er es. Und das war etwas ihm so Fremdes, jemanden mit Gewalt festzuhalten, außer wenn er sowieso sich und den anderen in seiner Gewalt hatte, so fremd war das an ihm, daß ich genau wußte, es war wahr, er hatte die Tür aufgemacht, und ich hatte mich hineingedrängt, und nun drängte er mich hinaus, damit er sie wieder zumachen konnte. Da kam ich wie von Sinnen, müde und traurig wie ich war, und vergaß die bitteren Lehren, die er selbst mir früher hatte zuteil werden lassen; und ich war vasberade, ich meine, fest
entschlossen, herauszufinden, was eigentlich mit ihm los war. Also ging ich zur Speisekammertür und machte sie zu, und im gleichen Augenblick wußte ich, daß ich nicht mich mit ihm eingeschlossen, sondern mich von ihm ausgeschlossen hatte. Er hätte wohl sagen können: Tante, hör auf damit; oder er hätte sagen können: Muß ich es dir immer wieder sagen? Aber das sagte er nicht, als er mich da bei der Tür stehen sah, er wußte, daß ich sowieso schon gedemütigt und besiegt war. – Tante, sagte er sanft, ich hab ja gesagt, es kommt und geht. Wie wär’s mit Kaffee? Also machte ich die Tür auf und sagte munter, als ob er nicht er, sondern irgend jemand wäre: Setz dich nur, ich hole den Kaffee. Dann ging ich, um Kaffee zu holen, aber ich dachte nur an eins, an den stürmischen Tag auf Buitenverwagting vor zwanzig Jahren, als der Junge oben im Baum war. Denn mein Bruder und seine Frau waren mit den Kindern auf Besuch gegangen und hatten den Jungen, der krank zu Bett lag, in meiner Obhut zurückgelassen. Und plötzlich kamen die Dienstboten gelaufen und riefen, der Junge sei auf den Baum gestiegen. Es war eine Zypresse mit einer dünnen, zarten Spitze, und der Wind bog sie hin und her, und ganz oben im Baum war der Junge. Ich rief, er solle herunterkommen, aber er war ganz betrunken im Gefühl seiner Macht, daß er uns solche Angst einjagen konnte. Ich war wahnsinnig vor Angst und weinte und schrie, wie ich es vor dem schwarzen Volk gewiß nicht hätte tun sollen. Da hob er die Arme hoch über den Kopf und klemmte die äußerste Baumspitze zwischen die Knie und warf sich mit einem Schrei hintenüber. Wenn er gefallen wäre, so wäre es sein Tod gewesen. Ich konnte es nicht mehr mitansehen, noch konnte ich die Demütigung ertragen, ich schlug die Schürze über den Kopf und lief laut weinend ins Haus. Da schämte er sich seiner Unart und hatte
auch wohl Angst, daß ich es den Eltern erzählen würde, also kam er vom Baum herunter und suchte mich im Hause, wo ich voller Angst und Scham weinend saß. – Tante, sagte er. Aber ich wollte nichts hören. Er kniete vor mir nieder und zog mir die Hände vom Gesicht. – Es tut mir leid, Tante, sagte er. Und wie das in seiner Stimme klang, da nahm ich ihn in die Arme mit der verhungerten Leidenschaft einer Frau, deren Kind dies gewesen wäre, wenn Gott ihr eins geschenkt hätte, die sonst nichts verlangt hätte, nur Zeit und Kraft genug, dies Kind zum Mann heranzuziehen. Da wurde er steif in meinen Armen und sah von mir weg, als ob er sich schämte. Und die Leidenschaft wich von mir, und ich hatte Angst. – Was ist dir? sagte ich. – Ich mag das nicht, sagte er. – Was? – So geküßt werden. Dann ging er fort in sein Bett, und das war das. Und von dem Tag an hatte er Macht über mich. Und weil es diesen Tag gegeben hatte, sprach ich nicht, als ich hätte sprechen sollen, und also geschah es meinetwegen, daß er vernichtet wurde.
Als ich mit zwei Tassen Kaffee in die Speisekammer zurückkam, war Japie da, der seinen Freund gesucht hatte. Mit jedem zweiten Wort nannte er ihn Bruderherz, und er machte alle Büchsen in der Speisekammer auf, als ob es im großen Zimmer bei der Geburtstagsgesellschaft nicht genug zu essen gäbe. – Kaffee, Ta’ Sophie, sagte er, du bist großartig. – Eine Tasse für Pieter, sagte ich, und eine für mich. Und wenn du Kaffee haben willst, im großen Zimmer gibt es
welchen. Und sage nur nicht Ta’ Sophie zu mir. Und gib die Büchse her. Japie sagte zu meinem Neffen: Bitte du sie um noch eine Tasse Kaffee, dir zuliebe tut sie’s. Und das dunkle Gesicht erhellte sich von innen, ich habe ja schon davon geschrieben, von der Lampe in der Seele. – Ag, sagte ich, ich hole schon den Kaffee. Als ich zurückkam, sagte Japie zu mir: Was ist nun mit Stephanie? – Wieso? sagte ich. – Soll ich ihr das Kind wegnehmen? Ich saß und überlegte. – Du mußt warten, sagte ich. Du mußt warten, bis sie aus dem Gefängnis kommt und sich Arbeit suchen kann. – Was meinst du, Bruderherz? – Ich meine dasselbe, sagte mein Neffe. Aber der Sachverständige bist ja du. Was meinst du? Als er hörte, daß er ein Sachverständiger sei, benahm sich Japie sofort wie ein Richter, ich meine, was die Engländer pompous nennen, großtuerisch; damit will ich keinen Augenblick sagen, daß Richter großtuerisch sind, sondern nur, daß es großtuerisch ist, sich wie ein Richter zu benehmen, wenn man keiner ist, und ich meine eben, daß manchmal die eine Sprache das treffende Wort hat und manchmal die andere. – Ich möchte eine Frage stellen, sagte Japie. Liebt sie das Kind? Und mein Neffe und ich sagten wie aus einem Munde: Ja, sie liebt das Kind. – Das ist für ein Kind sehr wichtig, sagte Japie ein bißchen großspurig. Wir sind zu der Überzeugung gekommen… Und hier sah er um sich, und man merkte ihm an, er bedauerte es etwas, daß er in einer Speisekammer redete. – Wir sind zu der Überzeugung gekommen, sagte er, daß Mangel an Liebe eine der wichtigsten Ursachen jugendlicher
Kriminalität bei einem Kinde ist, selbst wenn es… nun ja… unehelich ist. Und er verbeugte sich leicht vor mir. – Entschuldige bitte, Tante Sophie… – Sei nicht blöd, sagte ich, darüber hab ich schon Bescheid gewußt, ehe du geboren warst. – Nehmen wir also an, sagte er etwas förmlich, man nimmt ein uneheliches Kind seiner Mutter fort und schafft ihm eine Art legitimer Existenz, aber wenn in der neuen, interpersonalen Beziehung diese Liebe fehlt… – Weißt du, wie mein Bruder solche Worte nennt? sagte ich. – Nein. – Er nennt sie Universitätsworte. Und obwohl Japie beleidigt war, erhellte sich doch wieder das dunkle Gesicht, so daß ich mich freute, daß mir eine so gescheite Bemerkung eingefallen war. – Also werden wir ihr eine Chance geben, sagte ich. Und Japie nickte, aber er war ein bißchen zu beleidigt, um noch etwas zu sagen. – Hemel, sagte ich (und solche Worte führe ich nicht oft im Munde), wir müssen gehen. Denn meines Bruders Gesellschaften hörten Punkt halb elf auf, und so spät war es schon fast. Nachdem alle fort waren, blieb die Familie noch beisammen, Pieter und Nella, Frans und seine Frau und Henrietta und Emily und ihre Männer und natürlich wir Hausgenossen. Und ich brachte meinem Bruder das Buch, das große, das 1836 mit vom Kap hierher gekommen war und in dem alle unsere van Vlaanderen-Namen stehen. Und mein Bruder kennt das Buch vom ersten bis zum letzten Wort und schlägt es immer genau da auf, wo er will. Er hatte die Gewohnheit, bei jedem Ereignis eine besondere Stelle zu wählen, und wenn er eine geniale Begabung hatte, so war es die Begabung, die rechte Stelle zu
finden. Aber an diesem Abend merkte ich, daß er überlegte, während wir alle still dasaßen. Und er schlug eine Stelle auf und las sie für sich und verwarf sie; welche Stelle das war, das hätte ich gern gewußt, es könnte darin eine tiefe Bedeutung für dies mein Buch gelegen haben. Aber er verwarf sie. Dann las er. Und Hiob antwortete dem Herrn und sprach: Ich erkenne, daß du alles vermagst, und nichts, das du dir vorgenommen, ist dir zu schwer. Wer ist der, der den Ratschluß verhüllt mit Unverstand? Darum bekenne ich, daß ich habe unweislich geredet, das mir zu hoch ist und ich nicht verstehe. So höre nun, laß mich reden; ich will dich fragen, lehre mich. Ich hatte von dir mit den Ohren gehört, aber nun hat mein Auge dich gesehen. Darum schuldige ich mich und tue Buße in Staub und Asche. Und dann schwieg er, als ob er darüber nachdächte, und meine Schwägerin sah ihn aufmerksam und liebevoll an, und wir alle waren still, und ich jedenfalls wagte zu denken, ob das wirklich wahr sein könne, daß er gerade diese Stelle las, weil sein Sohn ihm ein Buch mit bunten Vögeln geschenkt hatte. Dann las er weiter vom elften Vers an. Und es kamen zu ihm alle seine Brüder und alle seine Schwestern und alle, die ihn vorhin kannten, und aßen mit ihm, in seinem Hause und kehreten sich zu ihm und trösteten ihn über allem Übel, das der Herr über ihn hatte kommen lassen. Und ein jeglicher gab ihm einen schönen Groschen und ein gülden Stirnband. Und der Herr segnete hernach Hiob mehr denn vorhin.
Dann sprach mein Bruder das Gebet, aber diese Dinge erwähnte er nicht mehr. Und Pieter und Nella gingen als letzte, und meine Schwägerin und meine Nichte und ich begleiteten sie bis zur Haustür, und die Mutter zog des Sohnes Kopf zu sich herunter und flüsterte ihm etwas zu. Was sie zu ihm sagte, das weiß ich nicht, ich habe sie auch nie darnach gefragt, aber hier schreibe ich auf, daß sie gesagt hat: Dies war einer der schönsten Tage meines Lebens. Und ich sah das dunkle Gesicht auf sie herabblicken, nicht von innen hell, wie es manchmal sein konnte, sondern mit einem seltsamen Ausdruck von Liebe und Kummer.
15. Kapitel
ICH GLAUBE, es war die wohlgelungene Geburtstagsgesellschaft, die jene Zeit so glücklich machte, daß ich mich so genau an sie erinnere. Jedenfalls aber war es die Jahreszeit, die ich am meisten liebe, wenn der Sommer sich langsam dem Winter zuwendet. Wohlgemerkt, ich liebe die Welt, wenn sie grün ist, und ich liebe sie, wenn sie gelb ist, aber am meisten liebe ich sie um die Zeit der beginnenden Wende, wenn der Tau schwer auf den Büschen liegt und man auf dem Rasen Fußstapfen hinterläßt. Und vielleicht liebte ich diese Zeit am meisten, weil auch mein Leben an der Wende stand und Heftigkeit und Schwermut mich seltener anfielen als in der Hitze des Sommers; und das Gemüt, wie auch das Veld, war von Hoffnung auf Ruhe und Frieden erfüllt. Und früh morgens war es so schön, daß ich es unmöglich beschreiben kann, kühl und frisch, und die ganze Welt funkelte naß im Tau. Und ich muß auch sagen, und hoffentlich wird es nicht langweilig, daß in all diesen Tagen der Kühle und der sich färbenden Blätter, inmitten meiner Pflichten in Haus und Stadt, meiner Freude an der sanften Schwägerin und ihrer Liebe, daß meine größte Freude den ganzen langen Tag und jeden einzigen Tag er war, der große dunkle Mann, der meinen Namen trug. Und wir sahen ihn jetzt auch öfter, denn Nella und die Kinder reisten zu ihren Eltern auf die Farm Vergelegen, das bedeutet: weit entfernt, und weit entfernt war sie, hart an der Grenze des Graslandes, wo es steil abfällt in die Welt der Felsen und Dornen und der heißen, roten Blumen, nahe bei dem großen Schutzgebiet, wo die Löwen sind.
Ihr Vater kam sie holen, und der war ein großer, heftiger alter Mann mit einem Raubvogelprofil und mit den blauesten, durchdringendsten Augen, die ich je gesehen habe. Sie kamen zu uns, um sich zu verabschieden, aber trotz seiner durchdringenden Augen erkannte er mich nicht, sondern hielt mich für meine Schwägerin, obwohl ich doch gar keine Ringe trage. Er fragte mich, wie es meinen anderen Kindern gehe, und mein Bruder schnaubte wie ein Bulle und blies kräftig in sein Taschentuch. Ich sagte spitz: Sie sollten lieber meine Schwägerin fragen, die hat nämlich ein paar Kinder. Und mein Bruder schnaubte noch lauter und blies noch kräftiger in sein Taschentuch. Denn er pflegte von Nellas Vater zu sagen, er habe genau soviel Humor, wie man in eine volle Streichholzschachtel stecken könne. Dann wurde es Zeit, daß sie gingen, und ich merkte, das Mädchen war traurig und zugleich erleichtert, daß sie fortging, und jetzt weiß ich auch, sie spürte, daß etwas nicht so war, wie es sein sollte, und dachte, daß Ruhe und Trennung vielleicht helfen würden. Und er ließ sie willig und doch auch notgedrungen gehen, denn sie war besonders liebevoll gewesen und hatte ihr Versprechen gehalten, hatte gebetet und versucht, ihn besser zu verstehen. Und er nahm ihre kleinen Gaben an, wie man eines Kindes Gaben annimmt, wie ein Mann in großen Geldsorgen die Pfennige eines armen Freundes annimmt und nicht im Traum daran denkt, ihn merken zu lassen, daß es nicht genug ist. Um diese Jahreszeit gab es kaum etwas anderes als Rugbyfußball in Venterspan und Sonop und Bremerspan und Rusfontein. Jeden Nachmittag waren die Straßen voll von jungen Leuten in Shorts und bunten Pullovern, mit den schweren Schuhen, die im Hause solchen Lärm machen. Und wenn es dunkel wurde, war jedes Haus, wo einer oder mehrere von ihnen wohnten, voll vom Geräusch
fließenden Wassers und Geschrei nach Seife, und von Bad und Dusche kamen sie mit roten, glänzenden Gesichtern und sahen so gesund und sauber und kräftig aus, daß wir stolz darauf waren, daß das unsere Jungen waren. Und damit meine ich auch die Engländer, obwohl es wahr ist, daß die Afrikander das eigentliche Rugbyvolk sind. Ich ging auch selber hinunter und sah den Übungsspielen auf dem Platze zu, den ihnen der alte Koos Slabbert auf seiner Farm geschenkt hatte; und man sah, daß seine Fenster geschlossen waren, weil seine Frau die grobe Rugbysprache nicht leiden konnte, und vom Rugby hielt sie auch nichts, weil irgendwo ganz woanders einmal irgendein Junge tödlich dabei verunglückt war. Und ich ging hin, um mir die heimliche Freude zu gönnen, dem großen, dunklen Manne zuzusehen, wie er die anderen befehligte und wie sie zu ihm kamen und zu ihm sprachen wie Schuljungen zu ihrem Lehrer. Er stand abseits mit Listen, auf denen alle Namen standen, und er und Hannes de Jongh besprachen sich über sie; und jetzt stand auch immer der junge dominee bei ihnen, denn diese drei waren die besten Spieler von allen. Dann spielten sie, aber dabei sah ich ihn nicht so viel, wie ich gewünscht hätte, denn er war immer mitten im Gewühl; aber manchmal sprang er auf wie Simson im großen Buch und schüttelte alle von sich ab wie Wassertropfen und hob die Arme hoch über aller Köpfe und warf den Ball weit über den Platz, damit andere ihn fangen und laufen konnten. Dann war ich ganz aufgeregt und mußte mir zureden, nicht albern zu sein, denn Übungsspiel bleibt Übungsspiel, und da lacht und klatscht man nicht wie bei einem Wettspiel, wo man nach Herzenslust lachen und klatschen darf, weil man ein Zuschauer unter Tausenden ist und nicht nur eine törichte Frau, die auf einen Mann stolz ist. Und Japie war der Schiedsrichter, obwohl ich nie verstehen konnte, wieso er so weit vom Ball weg schiedsrichtern konnte.
Sein Witz fiel mir ein, daß sein Atem nicht mit ihm schritthalten könne, wenn er lief; aber es wäre richtiger gewesen, zu sagen, daß er mitsamt seinem Atem hintendran blieb. Manchmal blieb er in meiner Nähe stehen und hielt sich die Seite und sah mich an mit einem langen Blick voll Qual und Pein wie jemand, der dem Sterben nahe ist, aber bis zum letzten Augenblick Witze machen würde. Einmal blieb er so weit hinter dem Ball zurück, daß er wegen etwas abpfiff, was gar nicht passiert war, und der junge dominee protestierte. Aber Japie sah ihn trotz seiner Schmerzen überlegen und von oben herab an und sagte: Der Schiedsrichter hat immer recht. Denn auf dem Rugbyplatz ist sogar ein dominee dem Schiedsrichter unterstellt. Und manchmal kriegte der dominee den Ball und sauste mit ihm davon, hin und her zwischen den anderen, sein Haar flatterte hinter ihm drein, und er grinste wie ein Kobold, wie ich noch nie einen dominee habe grinsen sehen, und Bibel und Kirche waren vergessen, wenigstens sah es so aus, aber ich glaube nicht, daß es wirklich so war. Und Martha kam auch oft mit mir, und ich habe ja schon gesagt, ich merke so manches, und kein verliebtes Mädchen kann mich täuschen, aber natürlich sagte ich kein Wort. Und nach dem Spiel gingen manche ins »Royal« auf ein Glas Bier, und dann konnte man sie aus der Bar lachen und krakeelen hören, wovor manche Frauen Angst haben; aber ich habe nie Angst davor gehabt, denn Rugby selbst ist grob und rauh, und mein eigener Bruder, der in seinem ganzen Leben nur eine einzige Frau berührt hat, kann auch grob und rauh sein. Und es ist merkwürdig, daß sein Sohn nie auf diese grobe und rauhe Art scherzte, und niemand nahm es sich ihm gegenüber heraus, und ob das wegen seiner Mutter war oder weil tief in ihm etwas nicht so gradlinig war wie bei den anderen, das weiß Gott, ich weiß es nicht.
Das ist etwas, was ich nicht verstehen kann. Ich habe nie einen solchen Scherz gemacht, nicht einmal für mich allein. Wenn ich bei ihnen in der Bar saß, wollten sie mir nie solche Witze erzählen, manchmal schwiegen sie plötzlich, wenn ich hereinkam. Ich weiß noch, als sie Sakkie bestürmten, den Witz von der boomslang zu erzählen, wie er zu mir hin lächelte und sagte: Den erzähl ich euch, wenn Pieter fort ist. Und trotzdem waren sie alle sauberer und anständiger als ich. Das ist etwas, was ich nie verstanden habe. Nach einem dieser Übungsspiele kam er zu uns zum Abendessen, sein dunkles Gesicht war gerötet und frisch vom Rugby und vom Bad. Und plötzlich sagte er zu seinem Vater: Vater, du siehst nicht wohl aus. Und mein Bruder, der an seinem Essen herumgestochert hatte, knurrte ihn an: Wieso bin ich nicht wohl? – Ich finde, du siehst nicht wohl aus. Und mein Bruder, der ihn noch nicht angesehen hatte, fuhr fort, mit seinem Essen herumzuspielen, und knurrte: Also jetzt bist du ein Doktor geworden. – Ich sage ihm immerfort, er hat Influenza, sagte meine Schwägerin mit ihrem liebevoll sorgenden Lächeln. – Natürlich ist es Influenza, sagte ich. – Weiber, sagte mein Bruder. Denen paßt es, wenn ein Mann krank ist, dann können sie ihn ins Bett stecken und herum kommandieren. – Ein Tag im Bett wäre das Richtige für ihn, sagte meine Schwägerin. – Ich habe noch nie in meinem Leben einen Tag im Bett zugebracht, sagte er. Ich bin zu alt, um jetzt damit anzufangen.
– Mit deinem Bein hast du sechs Wochen im Bett gelegen, sagte ich. – Krankheit, sagte er gereizt. Ich spreche von Krankheit. Und ich suchte in meiner Erinnerung, ich wußte, da war so ein Tag. Dann fiel es mir ein. – Wer mußte vom Bett aufstehen, um seine zweite Tochter zu sehen, als sie geboren war? Das war meine Nichte Emily, die nach Pieter und Frans und Henrietta kam. Sie wurde nach Emily Hobhouse genannt, die von England herkam, um während des englischen Krieges für unsere Leute zu arbeiten. Sobald ich das erwähnte, merkte ich, daß ich ihn an einer schwachen Stelle getroffen hatte, und wäre er nicht so stolz gewesen, so hätte er darüber gelacht; aber er lachte nicht, er zog nur plötzlich die Nase kraus und kratzte sie, und ich glaube, das tat er immer, wenn er sich das Lachen verbiß. Als er seine Fassung wieder hatte, drehte er sich zu mir und sah mich an, und seine Augen spazierten auf meinem Gesicht herum, als ob das ein fremdartiges Geschöpf sei, das er da sah. – Tante Sophie muß die Familiengeschichte der van Vlaanderens schreiben, sagte er zu seinem Sohn. Die Daten werden alle richtig sein und die Tatsachen falsch. Und plötzlich war er sehr vergnügt. – Krankheit, habe ich gesagt, sagte er. Und an dem Tag war ich nicht krank. Ich machte mir Sorgen um meine Frau. – Es war ihr viertes Kind, sagte ich. – Ein guter Ehemann, sagte er, macht sich auch bei dem zwanzigsten noch Sorgen. Und, Sophie, da du so ein wunderbares Gedächtnis hast, weißt du noch, was der alte Doktor Harper zu mir gesagt hat? – Nein, sagte ich. – Als er mich im Bett liegen sah, sagte er zu mir: Mr. van Vlaanderen, und er sprach meinen Namen aus, wie es die
Engländer tun, ich habe Hunderte von Kindern zur Welt gebracht, und noch nie ist mir ein Vater dabei gestorben. Wir lachten alle, und ich wartete, bis wir ausgelacht hatten. – Eine hübsche Geschichte, sagte ich, aber Doktor Harper war damals schon tot. Er sah mich durchdringend an. – Wer war es denn? – Dr. Matheson. Er schnaubte. – Ein Engländer, sagte er, das genügt schon, es war ein Engländer. – Er war kein Engländer, sagte ich, er war ein Schotte. – In Gottes Namen, sagte er… Und dann schwieg er plötzlich, denn er scheut sich, den Namen Gottes zu mißbrauchen, und es tat mir leid, daß ich ihn dazu veranlaßt hatte. – Du hast aber auch heute abend den Teufel im Leibe, sagte er. Dann gab er mir ein Zeichen, daß ich das Buch bringen solle, und als das Gebet beschlossen war, sagte ich zu ihm: Also wenn du vernünftig bist, gehst du jetzt zu Bett. – Du und dein Bett, sagte er gereizt. – Das hat dein Vetter Abraham auch gesagt und ist im Regen aufs Feld hinaus zur Arbeit gegangen. Und dann überließ er dir die Sorge für die arme Frau und die vielen Kinder. Seine Prahlerei hat dich einen schönen Batzen gekostet. Er kicherte. – Abraham, sagte er. Wißt ihr noch, als der große Sturm war und er nicht dagegen ankonnte, so daß er in die Schonung hin ein und sich dort von Baum zu Baum vorwärts kämpfen mußte, damit er nach Hause kam? Aber du hast recht. Es hat mich einen schönen Batzen gekostet. Seine sonderbare Necklust überkam ihn, und er sah seinen Sohn an.
– Deshalb mußte Pieter nach Stellenbosch gehen, sagte er, weil ich Oxford und Cambridge und all das Rudern nicht bezahlen konnte. Er stand mühsam auf. – Aber ich will euch den Gefallen tun, sagte er. Ich gehe jetzt zu Bett. Und Sophie, du machst mir einen Branntwein mit kochendem Wasser und einem halben Teelöffel Zucker und einer Zitronenscheibe. – Es sind keine Zitronen da, sagte ich. Er machte einen Schritt oder zwei und sprach dann, ohne sich umzuwenden, zu seinem Sohn; und warum, das weiß ich nicht, aber er hatte die Angewohnheit, wenn er das Zimmer verließ, auf dem Weg zur Tür anzuhalten und zu sprechen, ohne sich umzuwenden. – Pieter, hast du je den Phalaropus gesehen? – Wen, Vater? – Den Phalaropus. Mein Bruder fügte ungeduldig hinzu: Das ist ein Vogel. Sein Sohn trat höflich zu ihm heran, aber der Vater wandte sich immer noch nicht nach ihm um, sondern stand da wie zuvor. – Nein, Vater. – Dein Engländer da, der behauptet, den gibt es nur an der See. Hast du jemals auf Buitenverwagting das ruitertjie gesehen? – Ja, Vater. – Und du hast auch den Phalaropus gesehen, aber du hast ihn immer für ein ruitertjie gehalten. – Das könnte wohl sein, sagte der Sohn ungewiß. Da wandte sich der Vater um. – Ich habe nicht gesagt, das könnte sein, ich habe gesagt, das war so. Glaubst du denn, ich war blind, als ich jung war? – Nein, Vater, aber…
Aber sein Vater wandte sich nun ganz um und sah uns alle an. Es machte ihm Spaß, daß wir alle ihm zuhörten, aber ich schreibe hier auf, daß das nicht Eitelkeit war, sondern es war mehr, als ob er uns alle zum besten hielte. – Ich habe zwei gute Augen, so gut, wie sie die Jungen heute haben. Und wenn ich von dieser gefährlichen Krankheit genesen bin, die euch allen soviel Sorgen macht… Und da verneigte er sich leicht vor uns. – … dann werde ich euch den Phalaropus zeigen, sagte er. Er wandte sich wieder an seinen Sohn. – Das ist nicht der einzige Fehler in dem Buch. Gute Nacht, mein Sohn. Gute Nacht, Sophie. Martha, hilfst du mir die Treppe hinauf, da ich doch so schwach und elend bin? Schon war das Mädchen aufgesprungen und nahm seinen Arm. Aber am Fuß der Treppe hielt mein Bruder inne und drehte sie herum, so daß sie uns allen gegenüberstand, und da wußte ich, jetzt kommt etwas. – Sie ist ein braves Kind, sagte er. Sie geht so oft zur Kirche. Ach, ich hab’s ja schon gesagt, er hatte seltsame Augen, sie sahen so viel und so wenig. Martha wurde rot, und er drehte sie sofort wieder um, und sie half ihm die Treppe hinauf. Und ihre Mutter lächelte still für sich das liebevolle, sorgende Lächeln, während ich meinen Neffen ansah, der zunächst überrascht aussah, und dann stand eine kleine Falte zwischen seinen Brauen, als sei ihm plötzlich etwas eingefallen, was ihm wehtat. Aber ich erzähle von diesem Abend, weil er in die glückliche Zeit hineingehört, die ich nicht vergessen habe, als der Sommer sich zum Winter hin wendete, als die Tage frisch und klar waren und die Sonne vom Morgen bis zum Abend schien. Und es gibt keinen Regen mehr, und die ganze Welt liegt im Sonnenschein von April bis September; und die Kosmos blühen an den Landstraßen und auf den Feldern wie
ausgebreitete Tücher aus Weiß und Rosa und Rot, und auch die goldene Leonotis, deren Blüten die Kinder pflücken, um den übersüßen Saft daraus zu saugen. Und manchmal geschieht es, einmal alle Jubeljahre, daß in diesen Monaten, in denen es keinen Regen geben sollte, gewaltige Wolken sich auftürmen wie eine schwarze Wand, aus Donner und Blitz eines heiß dampfenden Sommers geschaffen, und sie schütten Wasser auf die Erde, das reißt Straßen und Brücken weg und ertränkt die Menschen an den Furten. So hat sich mein Sommer gewendet, nicht zu Ruhe und Frieden, sondern in das dunkle, schwarze Unwetter hinein, das uns alle mit sich riß. Ach, aber das wollte ich ja jetzt nicht sagen. Aber vielleicht doch, denn an dem Abend wurde ich gewarnt. Und doch wollte ich eigentlich nur beschreiben, wie mein Bruder bei uns zu Hause war; denn manche sagten, er sei hart und lieblos und ginge ohne Erbarmen über alle weg, die ihm im Wege stünden. Aber ich sage, das ist nicht wahr. Dann ging ich in die Küche, und als ich zurückkam, sagte ich zu meinem Neffen: Der alte Isak will dich sprechen. – Ja, natürlich, sagte er. Und während ich in der Speisekammer war, hörte ich sie in der Küche lustig miteinander reden. Es erinnerte mich an die Zeit in der Küche auf Buitenverwagting, als er ein Kind war. Isak und Lena fragten nach Nella und den Kindern, sie nannten ihn immer noch kleinbaasie, das heißt kleiner Herr, und das ist ein sonderbarer Name für jemanden, der jetzt ein so großer Mann ist. Isak sagte zu mir: Es ist eine Frau draußen, die Euch sprechen will, und ich sagte, er solle sie hereinrufen. Und es war Stephanie. Sie stand lächelnd und stirnrunzelnd da und blickte auf und wieder zu Boden und spielte mit ihren Fingern. Und ich fragte, was sie von mir wolle.
– Ich bin gekommen, um dem baas zu sagen, sagte sie, daß ich Arbeit habe. – Wo, Stephanie? – Bei baas Willemse, sagte sie. – Das ist gut, sagte ich. Und ich sagte: Warum kommst du damit zu mir? Ihr Lächeln und Stirnrunzeln waren mit einem Schlag fort, und sie spielte auch nicht mehr mit den Fingern. Dringlich und ernst sagte sie: Damit der baas es der Regierung sagt. – Das ist baas Groblers Sache, sagte ich. Aber sie antwortete, meinen Einwand beiseiteschiebend: Ich bin zum baas gekommen. Und ich sagte: Warum? In dem Augenblick war ich mit dem Mädchen allein, und sie sagte ganz leise: Weil der baas es mir schon zu Gefallen tut. Und die kranke Besessenheit überkam mich, Gott weiß, daß ich sie nicht will, Gott weiß, wie ich sie fürchte und hasse. Und ich antwortete ihr nicht mit alltäglicher Stimme: Rede kein dummes Zeug. Ich fragte sie nicht einmal: Wie kommst du dazu, so etwas zu sagen? Ich sagte leise und zitternd: Woher weißt du das? Und sie hob den Kopf und lächelte, nicht mehr unterwürfig, aber auch nicht gerade herausfordernd. Im nächsten Augenblick war das Lächeln fort, und sie sagte – nicht so heftig wie vorher einmal, sondern unterwürfig und winselnd –: Es ist mein einziges Kind, es ist mein einziges Kind. Daher wußte ich, daß noch jemand außer uns im Raum war, und ich war wütend und zugleich erschrocken, nicht so sehr wegen des herausfordernden Blickes, sondern wegen des armseligen Versuches zur Verstellung, der ihm folgte. Also drehte ich mich nicht um, sondern sagte in ermahnendem Ton: Und wie steht es mit dem Schnaps? – Dabei werde ich nicht mehr erwischt werden, sagte sie. – Das hast du früher auch gedacht.
– Der baas versteht mich falsch, sagte sie. Ich werde nie mehr welchen machen. – Und das Kind? – Das ist bei mir in der lokasie. – Gut, sagte ich. Und hör zu… – Ja, baas. – Ich werde baas Grobler sagen, daß du Arbeit hast. Sie dankte mir und ging hinaus, und erst dann drehte ich mich um und sah Tante Sophie an. Aber sie sah mich nicht an. Nein, ich sah ihn nicht an. Wie konnte ich ihn ansehen? Denn jetzt plötzlich und ohne alle Absicht hatte ich das gefunden, wonach ich alle die Jahre gesucht hatte, und es war dunkler und schrecklicher als alles, wovor ich mich gefürchtet hatte. Das Herz blieb mir stehen, und ich konnte ihn um keinen Preis ansehen. Und ich betete zu Gott dem Herrn auf meinen Knien, eine halbe Stunde, vielleicht eine Stunde lang. Und ich betete im Bett und konnte vor Denken und Beten nicht schlafen. Dann schlief ich ein und wachte auf, als es drei Uhr schlug, und machte mir Vorwürfe, daß ich dem herausfordernden Blick eines Mädchens soviel Bedeutung beigemessen hatte; und als ich mir genug Vorwürfe gemacht hatte, betete ich wieder. Obwohl es eine kalte Nacht war, stieg ich aus dem Bett und betete auf den Knien, als ob ich Gottes Ohr im Himmel so besser erreichen könne. Wie spät es war, als ich wieder einschlief, weiß ich nicht, aber die Vögel zwitscherten in den Bäumen. Und als ich wieder aufwachte, betete ich wieder und dachte, es sei töricht von mir, das Unausdenkbare für möglich zu halten. Denn was hatte ich denn mehr gesehen, als daß ein leichtfertiges Mädchen einen Mann herausfordernd ansah? Und hatte ich nicht gehört, wie er im Befehlston sagte: Und wie steht es mit dem Schnaps? Und hatte das Mädchen nicht sofort von Herausforderung zu winselndem Flehen
hinübergewechselt, nur weil sie wußte, daß ich im Fürsorgeverein war, der ihr das Kind fortzunehmen drohte? Also tröstete ich mich mit dem Gedanken, daß ich vor Liebe wohl übergeschnappt sei. Und doch war ich nicht wirklich beruhigt, denn ich beobachtete genau, und ich wußte, daß ein solches Mädchen einen solchen Mann nicht so ansehen darf. So schwankte ich den ganzen Tag zwischen Beruhigung und Furcht, ich wußte und wußte doch nicht, und wenn ich wußte, so wußte ich doch nicht, was ich tun sollte. Was mir jedoch am meisten Angst machte, das war nicht, was ich gesehen hatte, sondern daß mir einfiel, was er gesagt hatte: Ich wollte, ich wäre nie geboren.
16. Kapitel
ALSO ARBEITETE Stephanie jetzt bei Coenraad Willemse. Um sechs Uhr früh kam sie aus der lokasie und um acht Uhr abends ging sie nach Hause, und er bezahlte ihr vierzig Schillinge im Monat, das ist weniger als die Geldstrafe für ungesetzliches Bierbrauen. Und irgendeine Frau sagte zu mevrou Willemse: Ich habe gehört, Sie haben jetzt die Stephanie, und die Frau lachte, sodaß mevrou Willemse sich dumm und einfältig vorkam. Denn Weiß und Schwarz leben in zwei verschiedenen Welten, und wer konnte schon wissen, daß Stephanie mit dem Gesetz in Konflikt geraten und im Gefängnis gewesen war? Und wer wußte, daß sie ein Kind ohne Vatersnamen hatte? Ich selber hätte es bestimmt nicht gewußt, wenn ich nicht im Fürsorgeverein gewesen wäre. Also erzählte mevrou Willemse ihrem Mann von der Frau, die wegen Stephanie gelacht hatte, und er, der nicht für dumm angesehen werden wollte, ging vertraulich zu einem Freund, der in solchen Sachen Bescheid wußte, und fragte ihn, was er über Stephanie wisse, und der Freund erzählte ihm von dem Schnapsbrennen, vom Gefängnis und von dem Kind. Und Willemses waren wütend, daß sie das Mädchen entlassen mußten, denn sie arbeitete wie eine Sklavin für ihre vierzig Schillinge und war besser, als sie je eine gehabt hatten; denn Willemses hatten alle paar Wochen ein neues Mädchen, nicht wie wir, wir haben Isak und Lena ihr ganzes Leben lang gehabt, weil mein Bruder gerecht ist und seine Frau gütig. Aber mevrou Willemse hatte eine scharfe, grausame Zunge, und sie ging den Mädchen von einem zum anderen Zimmer durchs ganze Haus nach und nörgelte bösartig über
Kleinigkeiten; und jede zerbrochene Tasse zog sie von den vierzig Schillingen ab, und nie zeigte sie die geringste Freundlichkeit. Und die Willemses waren auch über das Mädchen wütend, daß sie Betrug und Sünde in ihr heiliges Heim hineingebracht hatte. Aber am meisten waren sie wütend, weil irgendeine dumme Frau gelacht hatte. Darum setzten sie das Mädchen auf die Straße und bezahlten sie nur für die Tage, die sie gearbeitet hatte, was ungesetzlich ist, aber in Venterspan kann man sich das leisten, denn da sind die Schwarzen bescheiden und fügsam und verstehen sich nicht auf juristische Kniffe. An dem Abend saß mein Neffe über seinen Marken, und Johannes, der schwarze Boy, der die Küche besorgte, war schlafen gegangen, da klopfte es an die Küchentür. Und er machte auf, und da war Stephanie. Und die ganze Stadt war still und dunkel, nur der Wind klang in den Bäumen. Da sagte ich zu ihr, und meine Stimme zitterte: Was willst du? Und sie sah sich um, und dann schlüpfte sie plötzlich an mir vorbei in die Küche. Und ich schloß die Tür. – Baas, sagte sie. – Ja? – Baas, ich habe meine Stelle verloren. – Warum? – Sie haben mich fortgeschickt. – Warum? – Sie haben es herausgefunden. Vom Gefängnis. Und das Kind. Und ich sagte verzweifelt: Warum gehst du nicht zu baas Grobler? – Ich bin zum baas gekommen, antwortete sie. Dann sah sie mich lächelnd an, und die kranke Besessenheit, die ich so hasse und fürchte, überkam mich, und sie wußte es,
denn das war etwas, worauf sie sich wohl verstand. Ich hätte sagen sollen: Die ganze Sache geht mich nichts an. Ich hätte sagen sollen: Geh wieder zu baas Grobler. Ich hätte sagen sollen: Mögen sie dir doch das Kind wegnehmen und dich ins Gefängnis stecken, mögen sie dich auf die Straße setzen, mögen sie dich hängen, aber komm mir nicht in mein Haus, lächle mich nicht an, bilde dir nicht ein, zwischen dir und mir könne irgend etwas sein. Denn dieses Gesetz ist das gewaltigste und heiligste aller Gesetze, und wenn du es übertrittst, und es kommt heraus, so hast du nichts getan als wieder einmal das Gesetz gebrochen. Aber wenn ich es übertrete, und es kommt heraus, dann ist die ganze Welt zerbrochen. Da sagte sie: Wo ist die Frau? Wo sind die Kinder? Und ich, wohl wissend, daß sie es wußte, sagte widerwillig: Sie sind verreist. – Das ist schade, sagte sie. Dann plötzlich sagte ich zu ihr: Warte. Ich ging hinauf ins Schlafzimmer, und in der Tasche meiner Uniform fand ich zwei Geldscheine und etwas Silber. Und ich sah die Betten an, Nellas und meines und die zwei kleinen Betten der Kinder. Und ich kniete bei meinem Bett nieder und sagte: O God wees my genadig, o Jesus Christus wees my genadig. Dann ging ich mit den Scheinen und dem Silber hinunter. – Nimm das, sagte ich, damit du keinen Schnaps zu brennen brauchst. Und such dir wieder Arbeit. – Gleich morgen werde ich suchen, sagte sie. Sie hielt beide Hände hin, um das Geld in Empfang zu nehmen, und dankte mir viele Male. – In jedem Haus will ich nach Arbeit fragen, sagte sie. Und wenn ich Arbeit gefunden habe, werde ich’s den baas wissen lassen.
Und ich sagte ganz leise: Komm nie mehr hierher. Aber ich sagte es nicht so, wie ich es hätte sagen sollen. Ich muß es anders gesagt haben, aber Gott sei mein Zeuge, ich habe es nicht anders gemeint. Denn sie antwortete: Wenn ich Arbeit habe, gehe ich um acht Uhr nach Hause an der Stelle vorbei, wo der baas mich hat laufen sehen. Darauf gab ich keine Antwort, sondern stand halb von ihr abgewandt und betrachtete den Herd. Und als sie merkte, daß ich nicht antwortete, sagte sie: Gute Nacht, baas. Und ich sagte: Gute Nacht, Stephanie. Und sie öffnete leise die Tür und war verschwunden. Ich ging wieder zu meinen Marken, aber ich konnte mich nicht auf sie konzentrieren. Denn verzeih mir Gott, meine Gedanken waren bei dein Mädchen, halb aus Besessenheit, halb aus Furcht, weil sie es sich herausgenommen hatte, einfach in mein Haus zu kommen. Eine große Sehnsucht nach Nella und den Kindern überkam mich, nach ihrer hiebe, nach dem vertrauten härm im Haus, ich sehnte mich darnach, sie zu berühren und bei ihnen sicher zu sein. Vielleicht hätte ich’s ihr an diesem Abend sagen körnten, daß ich versucht worden war und widerstanden hatte; aber vielleicht hätte ich’s auch nicht sagen können. Ich war so erstaunt über mich selber, daß ich, der vor einem unsauberen Witz zurückschreckt und so peinlich sauber an Körper und Kleidern ist, besonders mit Taschentüchern und Hemden, einer Versuchung dieser Art ausgesetzt sein konnte; denn ich sehe allen heuten auf die Fingernägel, und es ekelt mich, wenn einer sich räuspert und spuckt und ein schmutziges Taschentuch herauszieht. Nie könnte ich auf einem unsauberen Kopfkissen schlafen, und es kostet mich große Überwindung, einen der Abtritte zu benutzen, wie sie in jeder Garage und Tankstelle zu finden sind, von Öl und Dreck und Papierfetzen starrend. Mehr als einmal hat sich Nella über mich geärgert, wenn ich ein
frisches Tischtuch verlangt habe wegen Kaffee- oder RoteRüben-Flecken. Wenn sie wegen der Kaffeeflecke Einwände machte, so gab ich vielleicht noch nach, aber nie bei roten Rüben, da hätte ich lieber meinen Teller ins Arbeitszimmer getragen und dort für mich allein gegessen. Wenn ich in einem Hotel wohnte, war ich immer schüchtern wie eben ein junger Mann vom Lande und nahm geduldig hin, was sie taten und nicht taten oder gaben und nicht gaben. und ging fast auf den Zehenspitzen, als ob selbst die Kellner mehr Ansprüche machen könnten als ich. Ich weiß noch, in Johannesburg, als sie mir auf einem befleckten Tischtuch servierten, saß ich ganz still da, während der Zorn in mir aufstieg bis in die Kehle, bis ich es nicht langer aushalten konnte und aufstand und mit kalter, tonloser Stimme sagte: Muß ich hier in diesem Dreck sitzen? Da wurde ich, der so leise umhergegangen war, plötzlich wie ein König behandelt und gefürchtet, und sie rannten herum und machten selbst da Ordnung, wo ich gar keine Unordnung bemerkt hatte, und meines Vaters Natur regte sich in mir, und ich lachte sie im stillen aus, und meiner Mutter Natur regte sich in mir, und ich schämte mich. Wie ich da so saß, fiel mir plötzlich etwas ein, was ich vor zehn, nein vor elf Jahren in Stellenbosch erlebt hatte. Ich sah deutlich das Zimmer vor mir, wo wir saßen, fünf oder sechs Studenten. Es war Moffie de Bruyns Bude, die alte Vierkleur hing an der Wand und ein Bild vom Präsidenten Krüger. Wir sprachen über Südafrika wie immer, wenn wir nicht über Fußball oder über Psychologie oder über Religion sprachen. Wir sprachen über Rasse und Farbe und ob solche Gefühle angeboren oder anerzogen sind; und Moffie erzählte uns die Geschichte von dem Autounglück in Kapstadt, wie das Auto in die Telefonzelle fuhr und wie er hinrannte, um zu helfen, und als er die Tür des Wagens aufriß, fiel ihm eine Frau rücklings in die Arme. Der Anprall hätte ihn fast umgeworfen, aber er konnte sie noch
halten und ließ sie vorsichtig zu Boden gleiten. Und immerfort ging das automatische Licht in der Telefonzelle an und wieder aus. Und als das Licht gerade anging, sah er, daß er eine Malaiin voller Juwelen und Ringe und Blut in den Armen hielt. Und da konnte er sie nicht mehr halten, er ließ sie voller Entsetzen los, nicht einmal vorsichtig, sagte er, und obwohl eine Menge Menschen herumstand. Und wortlos drängte er sich durch die Menge und ging seiner Wege. Denn die Berührung mit einer solchen Person war ihm widerwärtig, sagte er, und er glaubte nicht, daß das anerzogen sei; er glaubte, der Ekel stecke so tief in ihm, daß er ein Teil seiner Natur sei. Und viele Afrikander sind wie er. Warum Moffies Geschichte mir gerade da einfiel, weiß ich nicht, denn ich kann mich nicht besinnen, daß ich in all den elf Jahren jemals daran gedacht habe. Aber jetzt fiel sie mir ein, und ich dachte an ihn und an alle, die so sind wie er, mit aufrichtigem Neid, und ich sehnte mich darnach, daß ich auch so wäre. Wie wir damals über Moffies Geschichte gelacht haben, teilweise, weil er sie komisch erzählte, und teilweise wohl, weil wir uns selber komisch vorkamen. Ich glaube nicht, daß wir über die Malaiin lachten oder darüber, wie er sie plötzlich fallen ließ. Und ich glaube, wir schämten uns wohl auch etwas. Aber ich würde die Scham gern in Kauf nehmen und auch so sein, wenn ich es nur könnte; denn solchen Abscheu empfinden, das heißt in Sicherheit sein. Darum beneidete ich ihn. Dann beschloß er plötzlich, zu Kappie zu gehen und ihm all diese sonderbaren Dinge zu erzählen, denn er wußte ja, daß Kappie verstand, was so in der Welt vor sich ging, und niemanden verurteilte. Und plötzlich schien ihm das ganz einfach zu sein, denn schließlich waren es ja menschliche Schwächen, wie sie eben unter Menschen vorkamen, und man
sollte doch darüber reden können. Und sie würden ohne Abscheu und Verdammen darüber reden, wenn sie ruhig beieinander saßen und rauchten, und dann würde es ganz einfach sein, zu Kappie zu sogen: Wissen Sie, Kappie, ich bin selber auch so. Und es treibt mich um, es macht mich böse und traurig, und darum halte ich mich so von allen zurück, und die Leute haben Angst vor mir, und in der Bar erzählt mir niemand einen Witz. Und Kappie, was soll ich tun? In Gottes Namen, was soll ich tun? Als er beim Laden ankam, war er voll Unsicherheit und Hemmung. Er ging zu dem Zimmer hinter dem Laden, wo Kappie ganz allein lebte mit seinen Marken und dem schönen, großen Schrank aus Stinkwood, in dem auf Grammophonplatten alle Musik der ganzen Welt aufgespeichert war, und dem kleinen Herd mit Wasserkessel und Tassen, und mit dem kleinen Vogel, der sein Freund war und ihm den ganzen lieben Tag lang vorsang. Er war unsicher, weil er um diese Stunde noch nie zu Kappie gegangen war. Und man kann doch nicht einfach zu jemandem sagen: Ich bin hergekommen, um mit dir über dies und jenes zu reden, und wenn wir damit fertig sind, dann werde ich dir das ganze Elend meines Lebens erzählen, und du mußt mir helfen, du mußt mir in Gottes Namen helfen, ehe es mich umbringt, und du mußt eine Zauberformel finden, du mußt in Gottes Namen mir irgend etwas sagen, du mußt einen Ausweg für mich finden, denn über diese Dinge habe ich noch mit niemandem gesprochen. Du mußt eine Regel aufstellen, der ich mich fügen kann, etwas, wovon niemand weiß als du und ich, und ich will gehorchen, du brauchst keine Sorge zu haben, daß ich nicht gehorchen werde, nur daß ich in Sicherheit bin, daß ich eine Regel habe, an die ich mich halten kann, ehe es mich umbringt, um Gottes Barmherzigkeit willen.
Er klopfte an die Tür, und Kappie machte ihm auf. Und als er den Leutnant sah, war er hocherfreut und bat ihn herein und nötigte ihn, in seinem eigenen Stuhl zu sitzen. – Kappie, ich hab genug von dem leeren Haus, und ich möchte gern ein paar Marken sehen. Und Kappie hat mir erzählt, daß sein Mund bebte, als er das sagte: Ich möchte ein paar Marken sehen, so daß Kappie sofort merkte, er wollte noch etwas anderes als Marken. Also schauten sie Kappies Südafrikaner an, die vom alten Kap der guten Hoffnung und von Natal und den alten Republiken und seltsame Marken, die man zur Zeit der Ochsenwagen benutzt hatte, und Marken der Republiken Stellaland und Goshen, die schon längst vergessen sind, und Marken, auf denen etwas ausgelassen war oder etwas darauf, was nicht hingehörte, oder etwas verkehrt herum oder seitwärts gedruckt, und je dümmer der Fehler ist, desto teurer sind die Marken. Dann kochten sie Kaffee auf dem Herd, und Kappte spielte das TschaikowskyKonzert, das für mich zur herrlichsten Musik gehört, die sich ein Mensch je ausgedacht hat, und woher solche Klänge überhaupt kommen und wie sie in den Kopf eines Menschen kommen, der einmal ein winziges, schluchzendes Kindlein an der Mutterbrust war, das weiß Gott, ich weiß es nicht. Und Kappie machte das Licht aus, das tat er immer bei solcher Musik, und sie saßen da beim Glutschein des Herdes, und er sah den Leutnant an, nicht so, daß er es merkte, sondern so, wie ich mir die Leute ansehe, niemand merkt es. Und er hat mir gesagt, das Konzert ist gewaltige Musik, aber nicht gewaltiger als des Leutnants Herzensqual, und diese beiden, Musik und Herzensqual, maßen sich da im Dunkeln aneinander, so daß für ihn die Musik anders klang als je zuvor, voll nie geahnter Tiefe und Traurigkeit. Und als das Konzert aus war, stand der Leutnant auf und sagte: Kappie, ich muß nach Hause.
– Aber Sie kommen doch wieder, Herr Leutnant? – Ja, Kappie, ich komme wieder. Es war schön. Da sagte Kappie: Wenn Sie wollen, können Sie jeden Abend kommen. Was könnte es wohl besseres geben als Briefmarken und Kaffee und Musik und Sie dabei? Und der Leutnant konnte nicht antworten, und Kappie drehte das Licht nicht an, und sie gingen zur Tür, und der Leutnant sagte und sah ihn nicht dabei an: Gute Nacht, Kappie, mit fremdklingender Stimme, die nicht seine eigene schien, und er sagte nichts von alledem, was man gewöhnlich sagt, wenn man auseinandergeht, wie schön oder wie kalt die Nacht sei oder daß es im oberen Grasland schon Frost gegeben habe. Er sagte gar nichts, sondern ging schweigend davon, und das war das seltsame Ende dieses an sich schon merkwürdigen Abends. Und Kappie ging in sein Zimmer zurück und schloß die Tür und blieb bei der Tür stehen. Dann tat er einen Schritt oder zwei und blieb wieder stehen. Dann ging er zu seinem Stuhl und setzte sich auf die Kante und starrte auf den Fußboden. Aber es fielen ihm nur zwei Dinge ein, das eine war Nella, das andere waren Geldsorgen. Aber irgend etwas sagte ihm, daß es weder das eine noch das andere war, sondern eine schwere Seelennot; und die Juden verstehen sich auf die Seele. Ach, hätte er es doch sagen können! Denn wo hätte er wohl einen besseren, treueren Freund finden können? Und wo hätte er einen finden können, der ihn besser verstanden hätte und nicht vor ihm zurückgeschreckt wäre? Und doch konnte er es nicht sagen. Und wie ich hier schreibe, lese ich es wieder, das Blatt liegt hier vor mir: Aber ich würde die Scham gern in Kauf nehmen und auch so sein, wenn ich es nur könnte; denn solchen Abscheu empfinden, heißt in Sicherheit sein. Darum beneidete ich ihn.
Ich habe Moffie de Bruyn selber kennengelernt, er war ein Durchschnittsmensch wie irgendeiner und reichlich eingebildet. Darum, als ich las, daß er ihn beneidete, da konnte ich nichts mehr sehen und nicht weiterlesen.
17. Kapitel
SCHLIESSLICH legte sich mein Bruder wirklich zu Bett. Zwei oder drei Tage wehrte er sich noch, murrte und knurrte und stocherte im Essen herum. Dann legte er sich zu Bett, beklagte sich aber, daß ihn die keifenden Weiber dazu gezwungen hätten und daß er sich nur hinlege, um vor ihnen Ruhe zu haben. Der englische Doktor kam, und es war natürlich Influenza; aber der Doktor sagte mir vertraulich, daß ihm die Herztöne nicht gefielen, und pflichtgemäß sagte ich es meiner Schwägerin. So verbrachten wir viel Zeit in meines Bruders Zimmer. Aber wirklich und wahrhaftig, als die Influenza abflaute, da genoß er das Kranksein. Dominee Stander kam ihn besuchen und der Hauptmann und Sybrand Wessels. Mit dem dominee sprach er feierlich und ernst über Kirchenangelegenheiten, und mit dem Hauptmann redete er sachlich und nüchtern, und beide rauchten ihre Pfeife. Aber mit Sybrand Wessels sprach er über alles, über Politik und Landwirtschaft und Rußland. Und dann tranken sie einen Schnaps miteinander (den er sonst tagsüber nicht anrührte), und dann fingen sie an, sich die hinterhältigen Witze zu erzählen, die ein bißchen grob und handfest waren; man konnte sie miteinander kichern hören, aber wenn jemand von uns heraufkam oder seine Tochter Martha, dann machten sie beide: Pscht – wie ein paar Schulmädchen. Und wenn wir hereinkamen, dann sagte Sybrand: Ja, nee, als ob er den Witz doch nicht ganz unter den Tisch fallen lassen wolle, und schnaubte und kicherte wie ein alter Narr. Mein Bruder beobachtete ihn mit einer Art teuflischen Vergnügens, denn einen Schnaps, der ihn selber dazu gebracht hätte, sich so
närrisch zu benehmen, den gab es auf der ganzen Welt nicht; aber Sybrand war auch wirklich der einzige, der sich so etwas erlauben durfte. Und am meisten lachten sie über den groben Witz von Bram Boshofs Häuschen, das war, wie es oft auf den Farmen ist, über einer Grube gebaut; und Brams Schwager Hennie, den er nicht leiden konnte, kam über Weihnachten auf die Farm zu Besuch. Und als Hennie aufs Häuschen ging, da ließ Bram unter ihm in der Grube irgendein Feuerwerk los. Da kam Hennie herausgestürzt, nicht einmal richtig zugeknöpft, und Bram rannte ihm entgegen und schrie: Mein Gott, hast du denn gar keine Manieren, daß du in meinem Häuschen solchen Radau machst! Da packte Hennie seine Sachen und fuhr wütend ab, und Brams Frau heulte, und Bram war gleichermaßen beschämt und erleichtert. Dann legte sich mein Bruder im Bett zurück und sah Sybrand an, denn meine Schwägerin und ich waren gerade hereingekommen, und Sybrand hatte ein paar Schnäpse getrunken, und Sybrand nahm sich sehr zusammen, aber mein Bruder sah ihn bedeutungsvoll an, und Sybrand schnaubte und putzte sich die Nase und wußte sich kaum zu helfen, während mein Bruder ihn mit teuflischem Vergnügen betrachtete. Dann holten sie das Vogelbuch hervor und sahen es wieder einmal an, und manchmal waren sie voll Lob für den Engländer, der es verfaßt hatte, und manchmal voll Mitleid, weil er so vieles nicht wußte. Wenn Sybrand fort war, las mein Bruder in der Bibel, nicht in der großen, die wäre zu schwer zu halten gewesen, sondern in einer kleineren; dann waren die groben Witze vergessen, und er las in dem Buch und dachte darüber nach. Und ich weiß noch den Abend, als sein Sohn kam, und nach dem Abendgebet saßen wir alle beieinander in meines Bruders Zimmer, außer Martha, die zu irgendeiner Sache in die Kirche gegangen war. Meinem Bruder ging es an dem Abend nicht besonders gut, er rauchte nicht einmal seine Pfeife. Er
sagte sehr wenig, aber wir drei saßen und unterhielten uns, und den Kaffee machten wir überm offenen Feuer, das hat mein Bruder gern. Nach dem Kaffee sah er seinen Sohn an unter den schweren Augenlidern, die von der Influenza noch schwerer waren. – Wann hast du einmal frei? fragte er. – Wenn der Hauptmann… – Ich meine nicht deine richtigen Ferien, sagte er gereizt, ich meine einen Tag. – Ich könnte vielleicht am Empire Day freibekommen. Mein Bruder knurrte, denn er konnte den Empire Day nicht leiden; er konnte ihn zweimal nicht leiden, weil es auch noch der Geburtstag von General Smuts war. – Du meinst den vierundzwanzigsten Mai, sagte er. – Möchtest du etwas von mir, Vater? Mein Bruder sagte sehr langsam, fast widerwillig, denn er selber hätte sich viel mehr Zeit gelassen, bis er zu dieser Frage gekommen wäre: Ich dachte, wir könnten vielleicht auf einen Tag nach Buitenverwagting gehen. Und das dunkle Gesicht wurde hell bei dem Gedanken an Buitenverwagting. – Wir könnten ein Picknick halten, sagte ich. – Falls du mitgenommen wirst, sagte mein Bruder. Und obwohl er oft solche Sachen sagte und seine scharfe Zunge nicht immer verletzen sollte, merkte er doch, wie enttäuscht ich war, denn er brummte sofort: Ja, wir könnten ein Picknick halten. Dann sagte er entschieden: Aber nicht am See. In der langen Kloof, wenn ihr wollt. – Warum nicht am See? sagte ich. – Pieter und ich gehen zum See, sagte er. Ich sah meine Schwägerin an und merkte, daß sie niemanden ansah, sondern auf ihre Hände niederblickte, die still in ihrem Schoß lagen, und ich wußte dasselbe, was sie wußte, daß sie
nämlich wunderbare Worte hörte, die sie nicht für möglich gehalten hatte, aber viele, viele Jahre hatte sie darum gebetet. Aber ich merkte auch, daß mein Bruder wußte, was wir dachten, und daß das, was er so leichthin und selbstverständlich hatte sagen wollen, laut und deutlich im Zimmer erklang. Er schloß die Augen, als ob er müde sei, und machte eine Bewegung, als ob das lange Liegen ihm plötzlich Schmerzen verursache. – Kannst du den Wagen bis an den See fahren? fragte er. – Ohne weiteres, Vater. Dann machte mein Bruder die Augen auf, und plötzlich waren sie lebendig und voller Necklust. – Wir wollen das Fernglas und das Buch mitnehmen, sagte er, und sehen, ob wir den Phalaropus finden. – Den Phalaropus? – Aber an deinem Empire Day, da hat es keinen Zweck. Der Phalaropus ist nämlich kein englischer Vogel, der wartet nicht auf den Empire Day. Da ist er schon längst in Rußland oder sonstwo. – Ich könnte auch früher einen Tag freinehmen, Vater. – Gut. Er sagte zu seiner Frau und zu mir: Dieser Phalaropus, den niemand je gesehen hat, ist offenbar ein sehr scheuer Vogel. Deshalb will ich am See kein Weibergekeif und Kindergeschrei haben. Er schwieg einen Augenblick. – Dem Engländer, sagte er, dem werde ich’s schon beibringen, über unsere Vögel zu schreiben. Danach war er munter und neckte meine Schwägerin und mich, aber ich weiß nicht mehr, womit. Und sein Sohn saß still da, nicht düster, aber sehr still und ernst. Und als ich ihn ansah, wie sauber und klar sein Gesicht und seine Augen nach dem Rugby waren, kam ich mir selber töricht vor, daß mich der herausfordernde Blick eines leichtfertigen Mädchens mir
solchen Sorgen gequält, hatte. Und ich versuchte, mich zu erinnern, ob er sie angesehen halte, als sie ihn so herausfordernd ansah, denn hatte er das nicht getan, so konnte alles ganz anders sein. Aber ich konnte mich wahrhaftig nicht erinnern. Also saß ich und betrachtete die beiden und wußte genau, daß mein Bruder nicht auf den Phalaropus aus war, sondern auf etwas, was er vor langer Zeit verloren halle, vor zwanzig oder dreißig Jahren, Gott weiß es, ich weiß es nicht. Als er nach Hause kam, lag ein Brief unter der Tür, und er sah gleich, daß er vom Hauptmann war. Er machte ihn auf, und darin war ein Brief von Nella und ein Zettel vom Hauptmann, darauf stand: Dachte mir, Sie hätten dies wohl gern, noch heute abend. H. Al. Denn bei uns in Venterspan kommt die Post spät, und der Hauptmann holte sie immer aus dem Postschließfach. Und der Hauptmann mußte gesehen haben, daß das ein Brief von Nella war, und es war ihm eingefallen, ihn herüberzubringen, und daraus kann man sehen, was für ein Mensch er war. Aber zuerst will ich den Brief hier aufschreiben, den mein Neffe an sie geschrieben hatte nach der Farm Vergelegen. … Und wenn ich nach Hause komme, mache ich Licht und zünde das Feuer an, denn die Nächte werden schon kalt. Aber wenn ich auch alle Lichter andrehte und in jedem Zimmer ein Feuer machte, es würde doch etwas im Hause fehlen. Manchmal sehe ich meine Marken an und muß lachen, wenn ich an das denke, was du gesagt hast, denn sie sehen aus wie gewöhnliche Papierfetzchen, wenn du nicht da bist. Manchmal gehe ich zur Mutter und manchmal zu Kappie. Vater ist nicht wohl, er ist, wie die Engländer sagen, wie ein Bär mit Kopfweh. Aber wenn Sybrand kommt und sie einen Schnaps trinken und sich Witze erzählen, dann geht es ihm nicht
schlecht. Kappie spielt mir Musik vor und macht mir Kaffee, aber nicht so guten wie eine gewisse, mir wohlbekannte Frau. Er sagt immer Herr Leutnant zu mir, und eines Tages möchte ich ihm sagen, er soll Pieter zu mir sagen, das möchte ich sehen, was er dann macht. Er wird sich die Hände reiben und furchtbar verlegen sein und wahrscheinlich sagen: Danke sehr, Herr Leutnant, als ob ich ihm einen Satz von dreieckigen Kapmarken geschenkt hätte. Unser Rugby ist in vollem Gange. Am Sonnabend haben wir gegen Sonop gespielt und sie 27:3 geschlagen. Gut, nicht! Das Unheil hat der dominee angerichtet. Der ist einfach nicht zu halten. Er schlägt einen flinken Haken und beherrscht plötzlich das ganze Feld. Ich hoffe immer noch, daß er für Südafrika spielen wird, dann platzt er vor Freude. Nebenbei bemerkt, das ist nicht der einzige Schaden, den er angerichtet hat. Ein gewisses junges Mädchen mit Namen van Vlaanderen geht den ganzen lieben Tag lang schmachtend und errötend umher. Aber verrate nichts. Tante und Japie sind die reinsten Verschwörer in der Fürsorge. Sie steckt immer im Metzgerladen, und bei ihm heißt es Ta’ Sophie dies und Ta’ Sophie das, und sie tut, als ob sie böse ist. Wenn du mich fragst, so interessiert sich Japie für Veronica, du weißt doch, er hat oft gesagt, er müsse ein englisches Mädchen heiraten und der englischen Kirche beitreten, damit er sonntags Tennis spielen kann. Aber er hat auch gesagt, das Mädchen müsse Geld haben, und ich glaube, das versucht er jetzt herauszukriegen. Ich kann Dir nicht sagen, wie sehr ich Dich und die Kinder vermisse. Ich sehne mich nach dem Tag, an dem Ihr wiederkommt, und denke abends vor dem Einschlafen daran. Wenn Ihr wiederkommt, dann will ich den ersten Abend keine heute haben, keine Marken, kein Rugby, keinen Besuch. Und ich will Dich von Kopf bis Fuß abküssen. Wir wollen früh zu
Bett gehen, damit wir nachher noch lange reden können. Ich glaube, ich werde nicht einmal rauchen. Ich muß Dich irgendwie davon überzeugen, und ich weiß, Du bist noch nicht ganz überzeugt, daß meine Liebe zu Dir Dich ganz und gar betrifft und nicht nur Deinen Körper. Und eines Tages vielleicht, wenn Du überzeugt bist und weißt, daß meine Liebe zu Deinem Körper nur ein Stück meiner Liebe zu Dir ist, und wenn Du Dich nicht mehr davor fürchtest, sondern sie in aller Klarheit annimmst, dann vielleicht kann ich Dir mehr von mir selber sagen, denn Du weißt nicht alles. Und wenn ich wüßte, daß Deine Liebe mir auf immer sicher wäre, dann hätte ich keine Angst, Dir alles zu sagen, nein, ich würde Dir alles sagen wollen. Dann wäre unsere Liebe vollkommen, und keiner würde dem anderen mehr etwas verbergen. Ich glaube auch, Du würdest Dich dann williger mir geben (ich meine, williger, als Du es jetzt tust, und jetzt ist es doch schon fast genug), nicht, weil Du lieb zu mir sein und mich ertragen willst, sondern weil Du es ganz von Dir aus willst. Dann wäre ich im Himmel und geborgen vor allen Gefahren, von denen ich gesprochen habe, und vor der Heftigkeit und der schwarzen Schwermut, vor allem, was ich Dir zu erklären versucht habe, aber ich bin zu dumm zum Erklären. Schone Dich recht, Liebste, und komm gesund und kräftig wieder; und hier ist ein großer Kuß für Dich und einer für Frikkie und einer für Grieta. Und gib Frikkie einen tüchtigen Klaps von mir aufs Hinterteil, wenn Du ihn badest, keinen schlimmen, nur einen tüchtigen, und dann küß ihn wieder weg. Und grüße Pappie und Ma von mir und die ganze Familie und die Verwandtschaft, aber lade sie nicht alle zu uns ein. Und untersteh Dich nicht, irgend jemanden mitzubringen am ersten Abend. Mach Dir meinetwegen keine Sorgen, Johannes sorgt gut für mich und gibt mir zu jeder Mahlzeit ein frisches Tischtuch, ha, ha!
Ich liebe Dich immer und ewig. Pieter P. S. Anna genießt ihre Ferien ausnehmend, und ich erliege ihren Reizen mehr und mehr. Komm lieber schnell. Ja, das war der Brief, den er ihr schrieb, den sie mir zeigte, nachdem wir vernichtet waren. Denn da, erst da verstand sie ihn. Sonderbar ist es, daß ich, die ich mein halbes Leben darum gegeben hätte, einen solchen Brief von einem Manne zu bekommen, ihn nie bekam; und die ihn bekam, wollte ihn nicht haben oder verstand ihn nicht und wünschte, er sei nie geschrieben worden. Denn unter anderem schrieb sie dies: Auf den einen Teil Deines Briefes kann ich jetzt nicht ausführlich antworten, aber ‘wir werden darüber sprechen, wenn ich nach Hause komme. Aber selbst wenn ich Dich damit kränke, so muß ich Dir doch sagen, daß es mich kränkt, wenn Du glaubst, meine hiebe sei nicht vollkommen und gewiß, und daß ich die Art der Liebe, von der Du schreibst, nicht annehme. Glaubst Du denn, daß Frikkie und Grieta vom Himmel gefallen sind? Doch scheint es mir, daß die Natur der Frauen anders ist als die der Männer, und daß jeder etwas aufgeben muß, wenn eine Ehe glücklich werden soll, und das versuche ich auch. Die Gefahren, glaube ich, bildest Du Dir nur ein, die sind in Wirklichkeit gar nicht da; denn manchmal glaube ich, ich kenne Dich besser, als Du Dich selber kennst. Aber mach Dir keine Gedanken; drei Wochen sind bald vorbei, und dann bin ich wieder zu Hause. Ich denke auch jeden Tag an Dich und abends beim Einschlafen; und wenn ich auch die Kinder habe, das ist doch nicht dasselbe. Ich habe sie von Dir geküßt, und heute abend beim Baden will ich… Und er saß und las ihren Brief mit steinernem Gesicht.
18. Kapitel
UND DEN TAG darauf hatte ihn die schwarze Schwermut überkommen, was wir swartgalligheid nennen, das heißt schwarze Galle. Und das Herz ist auch schwarz, und die Welt ist schwarz, und man kann sich wohl zureden, daß es vorübergeht, aber das sind nur leere Worte, die man zu sich selber sagt, denn solang es dauert, ist es kein Trost, daß es vorübergeht. Genau so gut könnte man einer jungen Witwe in der ersten Trauer sagen, daß sie in den Armen eines anderen lachen wird, ehe noch das Trauerjahr vorüber ist. Denn wer kennt die swartgalligheid besser als ich, obwohl sie mich schlimmer anfiel, als ich noch jünger war? Manchmal dauert sie einen Vormittag oder einen Tag und verschwindet plötzlich ohne Grund oder wenn jemand ein lobendes oder freundliches Wort sagt; und manchmal bringt kein gutes Wort sie zum Verschwinden, und sie vergiftet alles, Essen und Schlafen und sogar Freundschaft und Liebe. Aber jetzt fiel sie mich seltener an, denn mein Leben stand an der Wende; und vielleicht wäre sie überhaupt nicht wiedergekommen, und ich wäre zu meinem Frieden gekommen wie das winterliche Veld, wenn der Rauch still und senkrecht in den unbewegten Himmel aufsteigt und die ganze Welt schweigend im Sonnenschein liegt. Vielleicht wäre es gerade zu der Zeit so gekommen, wäre nicht der herausfordernde Blick eines Mädchens gewesen; und ich versuchte, mich zu erinnern, ob er sie auch angesehen hatte, denn hatte er das nicht getan, so wäre alles anders gewesen, aber ich konnte mich nicht erinnern. Und mit der schwarzen Schwermut im Herzen trat er in Kappies Laden ein auf dem Weg zur Arbeit. Und Kappie sah
gleich, daß er von der schwarzen Schwermut befallen war, und versuchte, ihn mit Scherzen zum Lachen zu bringen, aber das dunkle Gesicht blieb hart wie Stein. – Musik brauchen Sie, sagte er. – Musik? – Ja, Musik, Herr Leutnant. Um halb acht spiele ich die Mondschein-Sonate, und wir machen das Licht aus, und nachher trinken wir Kaffee. Und dann kam er sich blamiert vor, denn das dunkle Gesicht blieb hart wie Stein, und er kam sich vor wie einer, der einen Schatz verschenken will und verächtlich ausgelacht wird. Denn wenn der Leutnant in dieser schrecklichen Stimmung war, hatte er Angst vor ihm. Aber obwohl er Angst hatte, ließ er doch nicht ab. – Sie müssen kommen, sagte er. – Ich werde kommen, sagte der Leutnant. Dann verließ der Leutnant den Laden und ging die van Onselenstraße hinunter zur Polizeiwache, und die Straße war voll von Leuten, jedenfalls so voll, wie unsere Straße überhaupt sein kann, die Kinder gingen zur Schule und die jungen Männer und Mädchen zu ihren Büros in der scharfen Luft und der herrlichen Sonne, wie wir sie in den Herbstmonaten im Hochveld haben. Und wie immer drehten sich die Schulbuben um, um den berühmten Pieter van Vlaanderen zu sehen, der noch in diesem Jahr der Kapitän der Springbokmannschaft werden konnte. Dann ging er in sein Büro und wartete, bis es Zeit zur Inspektion war. Und er gelobte sich, daß er in dieser bösen Laune den Sergeanten nicht mit einem Wort rügen wollte, nicht einmal dann, wenn die Zellen ganz unerhört schmutzig wären und gelbe Maiskörner an jeder Tür lägen. Dann kam Sergeant Steyn zur Inspektion, und der Leutnant grüßte ihn höflich, und sie gingen in den Hof hinaus. Und das erste, was
der Leutnant im Hof sah, war der schwarze Häftling Kleinbooi, der an diesem Tag in Sonop zur Verhandlung hätte sein sollen. Und ich blieb stehen und sah Kleinbooi an, zitternd vor Wut. Und ich wiederholte mir, daß ich mir gelobt hatte, in meiner bösen Laune Steyn nicht mit einem Wort zu rügen. Aber dies war zu unerhört, denn in Sonop saßen sie alle und warteten, daß die Verhandlung anfangen könnte, der Richter und die Polizei, die Zeugen und die Anwälte. Aber ich stand ganz still und versuchte, mein Zittern zu beherrschen, um mit ruhiger Stimme sprechen zu können. Dann sagte ich mit ruhiger Stimme zu Steyn: Hatten Sie nicht Befehl, Kleinbooi heute nach Sonop zu schicken? Und der Sergeant sah mich voll Furcht an und sagte unsicher: Herr Leutnant, das war für morgen. Holen Sie den Befehl, sagte ich. Während er fort war, um den Befehl zu holen, sagte ich mir, daß ich ruhig bleiben müsse, weil ich in der bösen Laune war, und wer weiß, vielleicht hatte ich das morgige Datum hingeschrieben, oder vielleicht hatte ich geschrieben: Dienstag, den sechzehnten statt Dienstag, den fünfzehnten. Aber als er mit dem Befehl zurückkam, sah ich, daß er große Angst hatte. Er begann zu sprechen, aber ich sagte: Geben Sie mir den Befehl. Und der Befehl lautete: Dienstag, den fünfzehnten, und es war ganz klar, daß das wirklich unerhört war. Also sagte ich auf englisch zu ihm, obwohl ich weiß, daß er Englisch nicht leiden kann, und ich brauchte Worte, die ich fast nie in den Mund nehme: Gott verflucht noch mal, können Sie nicht lesen? Und dann sagte ich: Nicht mal afrikaans? Und als er nicht antwortete, schrie ich ihn an: Antworten Sie! Also begann er, mir auf afrikaans zu antworten, und bei der Polizei gibt es eine Verordnung, daß man darauf bestehen kann, die Antwort in der Sprache zu bekommen, in der man die Frage gestellt hat. Also schrie ich ihn an: Antworten Sie auf englisch.
Also sagte er auf englisch, und jetzt war in seinen Augen nicht mehr Angst, sondern Mordlust: Ich kann lesen. Großartig, sagte ich, wer hätte das gedacht? Und ich zitterte und bebte, und alle Kraft hatte mich verlassen, ich fühlte, daß kein Tropfen Blut in mir war, so daß ich schwach war wie ein Kind. – Rufen Sie Sonop an, sagte ich auf afrikaans, und sagen Sie, daß Kleinbooi sofort geschickt wird. Nehmen Sie den Wagen und fahren Sie selbst, oder schicken Sie, wen Sie wollen. Aber sofort. – Jawohl, Herr Leutnant. Als er fort war, ging ich in mein Zimmer und schloß die Tür und setzte mich auf meinen Stuhl. Da saß ich eine Stunde oder länger und arbeitete nicht, denn ich war zu schwach, um nach der Feder zu greifen, und in Magen und Kehle war mir übel, und meine Augen brannten. Ach, wie schnell sind so bittere Worte gesprochen, aber ungesagt machen kann man sie nicht. Der Oberwärter van den Bos hat mir einmal erklärt, wie ein Gefangener aus dem Gefängnis ausbricht, wenn es auch noch so gut verwahrt ist. Denn ein Wärter, sagte er, muß auf tausend Dinge achten, aber der Gefangene achtet nur auf eines; und ein Wärter vergewissert sich, daß tausend Dinge fest verwahrt und sicher sind, aber der Gefangene sieht nur das eine, unbemerkte, ungesicherte. Und nur daran denkt er alle Tage und Nächte lang, und so geschieht es, daß er schließlich ausbricht. So hatte der Sergeant nur einen Gedanken und ein Ziel, und das war die Vernichtung des Leutnants. Darum sah er die eine, unbemerkte, ungesicherte Stelle, auf einer sicheren ungefährdeten Straße, mitten unter allen Leuten, die Wagen fuhren vorbei, und die Sonne schien; da im Sonnenschein am hellen Tage ward ihm das Geheimnis offenbar, nicht als
Gewißheit, sondern als etwas, was sein konnte, was in einem unter tausend Fällen so sein konnte, so daß andere es übersehen konnten, nur der eine nicht, der den Haß im Herzen trug. Und mit diesem Wissen vernichtete der Sergeant den Leutnant, weil der eine ein Leutnant war und der andere ein Sergeant, weil der eine den roten Eid geschworen hatte und der andere sich weigerte, weil der eine Befehlsgewalt hatte und in böser Laune Worte sagte, die nicht einmal Gott ungesagt machen kann. Und als er eine Stunde dort gesessen hatte und ihm die Kraft langsam zurückkam, kam Japie ihn besuchen, mit seiner Mappe voll Akten, die er so gern mit sich herumträgt. – Bruderherz, ich habe für Stephanie wieder Arbeit gefunden. – Wo? – Beim alten Louis Griesel und seiner Frau. – Und hast du ihnen Bescheid gesagt? – Ganz genau. Aber sie nehmen sie um des Herrn willen, sagen sie. Und der Leutnant lächelte zum ersten Mal an diesem Tage und sagte zu Japie: Japie, du bist ein guter Junge. Und Japie blätterte in seinen Akten und sagte: Du nimmst das schwarze Volk zu wichtig. – Bruderherz, sagte er, wenn ich sie so wichtig nehmen wollte, hätte ich keine ruhige Minute. – Heute morgen saß ich hier in meinem Zimmer, sagte der Leutnant, da kam ein kleiner Vogel und setzte sich auf die Fensterbank. – Da hast du dich wohl gefreut, sagte Japie, und sofort wurde dir ganz poetisch zumute. – Mir wurde gar nicht poetisch zumute, sagte der Leutnant. Und der kleine Vogel sagte: Der Name der Dame fängt mit V an. Japie wurde rot, dann stand er auf und machte die Tür zu.
– Um dir die Wahrheit zu sagen, sagte er, ich spüre was. Wohlverstanden, Bruderherz, ich habe schon mal was gespürt. Aber nicht so heftig, Pieter, nicht so heftig. – Hat sie Geld? fragte der Leutnant. – Das ist gerade das Komische, sagte Japie. Deshalb weiß ich, daß es besonders heftig ist, weil sie überhaupt kein Geld hat. Und da ist noch ein Grund, warum ich weiß, daß es heftig ist, denn ihr Vater ist für das britische Weltreich und hat den König und die Königin in der sitkamer hängen. Also muß ich sie jedesmal anschauen, wenn ich hingehe. – Schaust du sie lange an? – Na, nicht so sehr lange. Aber den alten Herrn muß ich an sehen, und der glaubt, daß Cecil Rhodes unter seiner schwarzen Jacke ein Paar Engelsflügel trug. Und er nennt mich nicht Grobler, sondern Grrrobler, das hört sich für mich an, als ob im Hof ein Truthahn kollert. Wie geht es Nella? – Sie schreibt, es geht ihr besser. Gestern abend bekam ich einen Brief. Japie seufzte. – Wie die Engländer sagen, Trennung macht die Liebe heißer. Es stimmt schon, Bruderherz. Ich möchte das Mädchen jeden Abend sehen. Aber das kann ich nicht, denn wenn ich’s tue, dann denken sie, ich habe ernste Absichten. Dann lachte er, so daß es in der ganzen Polizeiwache zu hören war. – Lach lieber nicht so laut, sagte der Leutnant, sonst kommt der Hauptmann herein. Japie war sofort still und stand auf und nahm seine Mappe. – Ich gehe schon, sagte er. – Ich habe Spaß gemacht, sagte der Leutnant. Er ist gar nicht da. – Ich kann diese schweigsamen Leute nicht leiden, sagte Japie. Und ich muß sowieso gehen, Bruderherz. Und mach dir
keine Sorgen um Stephanie und das übrige schwarze Volk. Mir liegen sie auch am Herzen. Er legte zum Beweis die Hand aufs Herz. – Meine Damen und Herren, sagte er auf englisch, ich weihe mich der Sache der Sozialfürsorge und werde ihr alle meine Gaben und alle meine Kraft widmen, um den Armen zu helfen und den Bedrängten beizustehen, in der Hoffnung, daß dadurch die menschliche Gesellschaft gebessert werde, auf daß… – Ich muß arbeiten, sagte der Leutnant. – Du hast kein Gefühl für Sprache, sagte Japie. Also ging er, und der Leutnant blieb zurück, und die schwarze Schwermut war nicht mehr ganz so schlimm. Er ging zum Lunch nach Hause und aß im Garten in der Sonne; und als er zurückkam, arbeitete er angestrengt, bis der Hauptmann ins Zimmer trat. Er stand auf, und der Hauptmann sagte nicht, er solle sich setzen. – Coetzee hat aus Sonop angerufen, sagte der Hauptmann, und sich beschwert, daß Kleinbooi erst gegen elf Uhr dort angekommen ist. – Ja, Sir. – Wie ist das möglich? – Mein Befehl wurde übersehen, Sir. – Ein schriftlicher Befehl? – Ja, Sir. – Wenn ich eines hasse, so ist es das, einen Mann für neun Uhr versprechen und um elf Uhr abliefern. Wahrscheinlich haben Sie den Wagen schicken müssen? – Ja, Sir. – Hatten Sie sich eine Notiz gemacht? – Nein, Sir. Aber es fiel mir ein, sobald ich den Mann sah. – Das war reiner Zufall, daß Sie den Mann sahen. Er hätte draußen bei der Arbeit sein können, oder Sie selber hätten außerhalb zu tun haben können.
– Ja, Sir. – Nächstes Mal schreiben Sie sich’s auf. Solche Sachen kann man nicht einem Sergeanten überlassen. Der Hauptmann ging hinaus, war aber kaum zwei Schritte im Flur gegangen, als er zurückkam. – Wenn ich eines hasse, so ist es das, sagte er. Pflicht ist Pflicht und muß getan werden. Solche Dinge kann man nicht auf andere abschieben. – Ja, Sir. Der Hauptmann ging wieder hinaus und kam noch einmal zurück. – Jemand muß für den Wagen bezahlen, sagte er. Ich finde, es wäre gerecht, wenn Sie beide sich darein teilten. – Sehr wohl, Sir. Und diesmal ging der Hauptmann hinaus und kam nicht zurück. Und als der Leutnant sicher war, daß er nicht zurückkommen würde, setzte er sich in schwarzer Zorneswut nieder, denn noch nie hatte der Hauptmann so zu ihm gesprochen. Er dachte, er wolle zu dem Hauptmann gehen und sich weigern, mitzubezahlen, denn er hatte einen schriftlichen Befehl gegeben, und was hätte er denn sonst noch tun sollen? Und warum sollte er für den Fehler dieses widrigen Menschen bezahlen, der einen so bitterbösen Haß auf ihn hatte? Er stand vom Stuhl auf und ging den Flur hinunter zum Zimmer des Hauptmanns, um ihm zu sagen, daß er nicht bezahlen wolle, daß er lieber seinen Abschied nehmen wolle als bezahlen. Des Hauptmanns Tür stand offen, und er wäre hineingegangen und hätte weiß Gott was alles gesagt, aber er hörte dominee Standers Stimme, also ging er nicht hinein. Er ging zurück und setzte sich auf seinen Stuhl und zog die Akten heran; dann nahm er die Akten und schmiß sie quer durchs Zimmer. Dann schrie er auf englisch: Der Teufel hole die verfluchte Polizei. Er holte seine Pfeife heraus und biß so wütend darauf, daß ihm
der Stiel zwischen den Zähnen blieb, und es war eine seiner Lieblingspfeifen. Er nahm die beiden Stücke und schmiß sie auch quer durchs Zimmer, dann stand er auf und hob die Akten auf und sagte vor sich hin: Verfluchte Akten, verfluchte Akten. Und das Ungerechte an der ganzen Sache stieg mir höher und höher in der Kehle, daß ich für das Versehen des Sergeanten bezahlen sollte. Also stand ich wieder auf und ging zum Zimmer des Hauptmanns, und immer noch hörte ich die Stimme des dominee. Also ging ich wieder in mein Zimmer und schrieb einen Brief an den Hauptmann, und ich schrieb folgenden Brief: Sir, Betr. Transport des eingeborenen Häftlings Kleinbooi nach Sonop. Unter keinen Umständen werde ich einwilligen, die Hälfte der Unkosten für den oben angeführten Transport zu bezahlen. Ich habe dem Sergeanten Steyn einen schriftlichen Befehl übergeben, und da kein gegenteiliger Befehl vorlag, betrachte ich meine Pflicht als erfüllt. Falls Sie nicht derselben Ansicht sind, werde ich das Vergnügen haben, meinen Abschied einzureichen, den ich baldmöglichst zu bewilligen ersuche, damit ich mich unverzüglich nach einer angenehmeren und besser bezahlten Tätigkeit umsehen kann. Gehorsamst Pieter van Vlaanderen (Leutnant). Und nie vorher in meinem Leben hatte ich so etwas über die Polizei gesagt oder geschrieben, noch hatte ich mich je beschwert, außer, wie das alle Polizisten tun, über die Bezahlung. Aber das war schon richtig, ich hätte hundert bessere Posten haben können mit meinem Kriegsdienst und
dem Rugby. Ich hätte einen Posten in Johannesburg bei den Minen bekommen können, da zahlen sie gut für Rugby. Und ich dachte, das ist ein ganz vorzüglich abgefaßter Brief, der genau das sagt, was er sagen soll, mit dem Stolz, der einem Manne zusteht, und mit der richtigen Mischung von Respekt und Empörung, und nicht ein Fehler im Englischen, soweit ich es beurteilen konnte, obwohl manche Worte schwierig waren. Da klopfte es an die Tür, und der kleine Vorster stand da, und das erste, was er sah, war die Pfeife, die in zwei Stücken auf dem Boden lag. Er hob sie auf und sah sie an und sagte: Ag, Herr Leutnant, Sie haben Ihre Pfeife zerbrochen. Und er sah so traurig dabei aus, daß mir davon leichter wurde. – Ag, Sie merken auch alles, sagte ich. – Er hielt die Stücke aneinander und sagte wieder kummervoll: Die ist erledigt. – Sie merken immer mehr, sagte ich. – Haben Sie noch eine? sagte er. – Nicht hier. – Soll ich schnell gehen und eine kaufen? sagte er. Ich verzog das Gesicht. – Neue Pfeifen mag ich nicht, sagte ich. Er sah mich an wie ein Mitverschworener. – Ich könnte Ihnen schnell eine von zu Hause holen, sagte er. – Ag, machen Sie sich keine Mühe. – Das ist keine Mühe, Herr Leutnant. Soll ich? – Gut, laufen Sie. – Welche Pfeife, Herr Leutnant? – Irgendeine einfache, keine von den ausgefallenen. Fort war er, um die Pfeife zu holen. Dann las ich den Brief an den Hauptmann noch einmal und nahm die rote Tinte und machte zwei Striche quer hindurch, und zwischen die Striche schrieb ich: UNGÜLTIG
GEKANSELLEER Aber ich dachte, es sei doch schade, daß ein solcher Brief nie gelesen werden würde.
19. Kapitel
ALS ER MIT der Tagesarbeit fertig war, trat er auf die van Onselenstraße hinaus, und wen anders traf er da, gleich vor der Polizeiwache, als unsere Base Anna, dieselbe, die in Pretoria gelbe Hosen trägt und behauptet, sie habe nicht geheiratet, weil der einzige Mann, den sie gewollt hätte, eine andere geheiratet habe. Und ich behaupte, daß sie mit Absicht auf der van Onselenstraße auf und ab ging und darauf wartete, daß ihr Vetter herauskäme, aber ich will damit nicht sagen, daß daran etwas Unrechtes ist, ich glaube es auch nicht. Genau das tun die Schulmädchen jeden Sonnabend morgen; sie gehen auf der van Onselenstraße auf und ab und brauchen drei Stunden, um auf der Post Briefmarken zu kaufen und Gemüse für ihre Mutter in Kaplans Laden. Und um diese Briefmarken und dieses Gemüse einzukaufen, muß man unbedingt ein Sonntagskleid anziehen, und da gehen sie dann die van Onselenstraße auf und ab und kichern und drehen und wenden sich und schauen nach den jungen Burschen, so daß der törichte van Belkum, der Lehrer an der Schule ist und soviel redet, auf den dummen Gedanken gekommen ist, am Sonnabend morgen Extra-Schulstunden einzulegen, um die Kinder von der Straße fernzuhalten, sagte er. Aber obwohl nichts dabei ist, wenn junge Burschen und Mädchen das tun, so gehört es sich doch wohl nicht für eine erwachsene Frau. Und fast hätte ich hier geschrieben, daß keine van Vlaanderen es je tun würde, aber da fiel mir ein, daß meine Nichte Martha um die Zeit auch ziemlich oft die van Onselenstraße auf und ab ging. Ag, schön ist das Leben, wenn man stundenlang die Straße auf und ab geht um eines
sekundenlangen Grußes willen, um ein einziges Mal zu einem Manne goeie middag zu sagen! Also sah Anna sehr überrascht aus, als mein Neffe aus der Polizeiwache herauskam, als ob am allerwenigsten zu erwarten gewesen sei, daß er gerade da herauskäme. Und sie sagte zu ihm: Pieter, ich verschmachte, wenn ich keinen Drink bekomme. – Dann komm, sagte er, ich will auch einen. Also gingen sie zu Abraham Kaplans «Royal» und setzten sich in den Raum, wo auch Frauen zugelassen sind, und unterhielten sich auf englisch, denn das ist so ihre Art, da ihre Familie hundert Jahre nach der unseren vom Kap heraufgekommen ist. – Was möchtest du? fragte er. – Cognac mit Selters, sagte sie. – Was wird dein Vater dazu sagen? Sie hob ihre Handtasche. – Ich habe Pfefferminzplätzchen bei mir, sagte sie. Denn ihre Eltern waren harmlose Leute, und wenn sie nach Hause kam und nach Pfefferminz roch, so dachten sie, das kommt von Pfefferminzplätzchen. Als er zweimal Cognac mit Selters bestellte, war sie erstaunt und sagte zu ihm: Cognac, du? Und dazu mitten in der Rugbysaison? – Ich habe einen bösen Tag gehabt, sagte er. Und sie war voller Teilnahme, so daß er ihr alles erzählte von Kleinbooi und dem Sergeanten und dem Hauptmann und sogar den Brief hervorholte, den er geschrieben hatte. Und als sie die beiden roten Striche sah und die rotgeschriebenen Worte UNGÜLTIG – GEKANSELLEER, lachte sie vor Vergnügen und legte die Hand auf seinen Arm und sagte: Pieter, du bist himmlisch. Darauf bestellten sie noch zwei Cognac mit Selters, denn das mußte gefeiert werden, daß sie ihn himmlisch fand.
Dann erzählte sie ihm, was für ein elendes Leben sie führte, und daß es einen umbringen könne, den Urlaub in Venterspan zu verbringen, wenn er nicht da wäre; und wie es war, als sie nach Durban fahren wollte, und ihre Eltern waren so gekränkt und unglücklich, als ob sie ihren Urlaub in der Hölle verbringen wollte, so war sie doch schließlich nach Venterspan gekommen. Aber wenn sie in den Krügerpark ging, dagegen hatten sie nichts, sie dachten wohl, dort bei den Löwen sei sie sicher aufgehoben. Und sie war so niedergeschlagen, daß sie noch zwei Cognac mit Selters bestellten, damit sie über die Depression hinwegkäme, und er rauchte ihre Zigaretten, und das tat er sehr selten. So lachten und scherzten sie, und er sagte vieles, was sie himmlisch fand. Wie oft sie noch Cognac bestellten, weiß ich nicht, aber es war mehr als genug, und ich schreibe es hier auf, obwohl ich es nicht beweisen kann, daß es mehr war, als er je zuvor getrunken hatte. – Hemel, Pieter, es ist sieben Uhr! Magtig, was soll ich nur sagen? Sie war außer sich, denn ihr Vater mag ein harmloses Gemüt sein, aber er ist streng und genau und will im Sommer wie im Winter sein Abendessen um halb sieben haben. – Gott sei Dank, daß ich mit dir aus war, sagte sie. Dann fing sie an, Pfefferminzplätzchen zu essen. Ängstlich fragte sie ihn: Bin ich nüchtern, Pieter? – Red keinen Unsinn, sagte er, du bist genau so nüchtern wie ich. Und als er ihre Besorgtheit spürte, sagte er beruhigend: Keine Sorge, ich komme mit dir. Eilig gingen sie durch die kalte Nacht zu Annas Elternhaus, und am Gartentor trennten sie sich. Sie fühlte sich besser und sagte zu ihm: Es hat sich gelohnt, Pieter, es war wunderbar. Dann bog sie sich übers Gartentor und küßte ihn, und er sah ihr
nach, wie sie ins Haus ging, leise und vorsichtig; und obwohl sie Angst hatte, winkte sie ihm doch noch unter der Tür zu. Dann ging er nach Hause, und als er in die Seitenstraße einbog, stieß er gegen den eisernen Pfosten an der Zaunecke, da merkte er, daß er zuviel getrunken hatte. Aber es war ihm gleichgültig, denn die ganze Welt war gut und wunderbar, die schwarze Schwermut, die ihn den Tag über geplagt hatte, kam ihm albern vor, und er hätte Bäume ausreißen können. Der schwarze Diener Johannes brachte ihm das Essen, und er trank die Suppe, aber das Übrige lehnte er mit Widerwillen ab, denn es hatte zu lange gestanden. Auch den Pudding wollte er nicht, sondern schnitt sich Brot und Käse zum Kaffee. Dann ging er an den Schrank, wo Nella für Krankheitsfälle Cognac stehen hatte, und holte ihn heraus und goß sich ein. Dann ging er in sein Zimmer und holte sich eine von den Zigaretten, die dort für Besuch bereitstanden, und als er Brot und Käse gegessen hatte, trank er Kaffee und Cognac und rauchte die Zigarette. Dann ging er zum Telefon und rief Kappie an und sagte, er könne nicht kommen, da er einen anstrengenden Tag gehabt habe, aber morgen werde er kommen. Und da war es halb acht Uhr. Er ging hinauf ins Schlafzimmer und zog die Uniform aus und zog eine Sporthose an und die alte Sportjacke aus braunem Tweed. Aber er sah nicht nach den Betten hin, weder nach seinem noch nach Nellas, nicht einmal nach den Betten der Kinder. Dann zog er den Mantel an und ging die Treppe hinunter und schloß die Haustür hinter sich ab und stand einen Augenblick am Gartentor still. Und die ganze Stadt war still und dunkel, nur der Wind klang in den Bäumen. Und er ging nicht zur van Onselenstraße, sondern in entgegengesetzter Richtung und bog rechts ein und wieder rechts und kreuzte die van Onselenstraße, wo sie dunkel ist, weit fort von den drei Lichtringen. Und er kam zu den Eukalyptusbäumen und dem unbebauten Grundstück, wo das
Unkraut kakiebos wächst. Und da stand er im Dunkeln und wartete, halb verrückt vor Begierde und Angst. Und da, Gott verzeih ihm, nahm er sie.
20. Kapitel
UND ALS SIE gegangen war, geräuschlos und vorsichtig zwischen dem Unkraut hindurch, blieb er dort im Dunkeln zurück und kniete am Fuß eines großen Eukalyptusbaumes nieder und lehnte den Kopf an den Stamm und betete zu Gott im Himmel. Und vor jeder Bitte sagte er in demütiger Verzweiflung: Indien ek mag, indien ek mag, das heißt: Wenn ich darf, wenn ich darf; damit, falls es eine Anmaßung sei und Gott sein Gebet nicht hören wolle, ihm doch wenigstens verziehen würde, daß er überhaupt betete. Denn es kam ihm vor, als sei im Himmel eine Posaune erklungen, und der Allerhöchste habe befohlen, die Tore zu schließen, damit das Gebet eines solchen Menschen nicht hereinkönne, der das Gesetz und die Gebote kannte und sie wissentlich und willentlich übertreten hatte. Und während er noch betete, wenn er denn beten durfte, hörte er auf dem leeren Grundstück einen Zweig knacken, und Entsetzen überkam ihn. Er blieb bewegungslos, als ob er in einer riesigen Falle aus Dunkelheit gefangen sei, umgeben von Feinden, die in der Dunkelheit sehen konnten und ihn beobachteten und warteten, aber sie taten nichts, weil das für ihn die größte Qual war. Wie lange er so blieb, wußte er nachher nicht, aber obwohl er auf jeden Laut merkte, hörte er nichts mehr; und wenn ein Spion da war, so war er ebenso geräuschlos und still. Dann begann er wieder zu beten und tat heilige Gelübde, wenn nur kein Spion da im Dunkeln wäre, so würde er sein ganzes Leben Gott weihen. Und nie mehr würde er Cognac trinken. Und er würde sein Rugby samt Ruhm und Ehre
aufgeben und demütig und pflichtgetreu und unbekannt weiterleben, wenn nur kein Spion da im Dunkeln wäre. Und er würde Nella nicht mehr damit quälen, daß sie ihm etwas geben sollte, was Selbstsucht und Fleischeslust war, das sah er jetzt ein. Und wenn sein Vater starb und er seinen Anteil bekam, so wollte er die Hälfte für Nella und die Kinder behalten und die andere Hälfte verschenken, wenn nur kein Spion da im Dunkeln wäre. Und wie lange er dort so blieb, das wußte er nicht, aber schließlich stand er auf und ging zur Straße zurück. Und sein Körper und seine Kleider stanken nach kakiebos, und der Gestank schien ihm ein Merkmal seiner Verderbtheit zu sein, so daß er Angst hatte, wenn er durch die Stadt ging, würde der Gestank sich verbreiten, und aus jedem Haus würden Männer und Frauen herauskommen und ihn sehen und wissen, was er getan hatte. Er ging langsam von der van Onselenstraße fort und bog links ein und wieder links und kam zurück zur van Onselenstraße, weit weg von den Lichtringen, und bog noch einmal ein und ging weiter auf der breiten Straße, die ins Grasland hinein und weiter nach Natal und Zululand führt. Dann ging er immer schneller und wollte nur von der Stadt weg. Er war eine Meile oder noch weiter gegangen, wo die Straße an der Farm Verdriet vorbeiführt, das heißt Kummer, weil Mann und Frau vor hundert Jahren dorthin gewandert waren, und kaum waren sie nach dem bitter schweren Treck dort angekommen, so starb die Frau und ließ den Mann allein zurück. Und da kam ein Auto von Venterspan her, und augenblicklich erfaßte ihn panischer Schrecken, und er rannte die Böschung hinauf und drückte sich ins Gras. Und wäre der Wagen stehengeblieben, so wäre auch sein Herz stehengeblieben, aber der Wagen fuhr weiter ins Dunkle hinein, und wie er zitternd dalag, wurde ihm sein verächtlicher Zustand erst recht klar.
Dann schlüpfte er durch den Zaun auf die Farm, die Kummer heißt, und setzte sich da bei den Ochsen nieder, einige lagen, und einige gingen umher und rupften Gras, und einige waren beim Wiederkäuen, und alle ruhten sie nach des Tages Arbeit. Und er erkannte, daß sie heilige und gehorsame Tiere waren, und beneidete sie. Und noch aus einem anderen Grunde beneidete er sie, das schrieb er später in sein geheimes Buch. Und er zog seinen Mantel aus, der durchdringend nach kakiebos stank, und legte ihn in den kalten, schweren Tau, daß der ihn reinigte. Und er selber legte sich auch in den kalten, schweren Tau, daß er gereinigt werde. Dann fiel ihm ein, er wollte nach Hause gehen und Töpfe mit Wasser auf den Herd stellen und sie in die Badewanne ausleeren und seine Verderbtheit abwaschen. Also stand er auf, ganz naß vom Tau, und zog den Mantel an und ging eilig nach Venterspan zurück und begegnete keinem Auto und keiner Menschenseele. Und er schwor von neuem seine Gelübde und war dankbar, daß er den Gestank vom kakiebos los war. Er ging durchs Gartentor und zur Haustür hinauf, und im Dunkeln sah er, daß ein zusammengefaltetes Stück Papier mit einer Stecknadel an der Haustür befestigt war. Er löste es ab und schloß die Tür auf. Er drehte das Licht an und betrachtete den Zettel. Darauf stand in Bleistiftschrift mit Druckbuchstaben, wie ein Kind schreiben würde, – darauf stand GESEHEN.
21. Kapitel
DA ERSCHRAK er zu Tode, weil ja im Dunkeln ein Zweig geknackt hatte. Und er vergaß die Wassertöpfe und Bad, denn nun war er nicht mehr um seine Sauberkeit besorgt, sondern um seine Sicherheit. Er schloß die Hand über dem Zettel, als ob ihn in dem leeren Haus jemand sehen könnte. Er nahm ihn mit in sein Arbeitszimmer und machte Licht und schloß die Tür. Dann sah er den Zettel an, aber es stand immer noch dasselbe darauf: GESEHEN. Es war ein Stück Papier, wie es jedermann im Hause hat. Es war unliniert und sauber, kein Name stand darauf, nichts als dieses einzige kleine Wort, sieben Buchstaben, aber genug, um eine Welt zu zerstören. Er saß am Schreibtisch, und obwohl die Vorhänge zugezogen waren, hielt er die Hand über den Zettel, damit niemand ihn seilen konnte. Und warum sollte das nicht möglich sein? Denn plötzlich war die Stadt voller Augen, die im nächtlichen Dunkel sehen konnten, und überall regten sich Gedanken im Dunkel der Gemüter. Und er sagte in seiner Seelenqual: O God wees my genadig, o Here Jesus wees my genadig, aber nun flehte er um eine andere Gnade, nicht vor der Sünde bewahrt zu werden, sondern vor ihren Folgen. Und er wiederholte alle seine Gelübde und verdoppelte sie, wenn ihm nur geholfen würde. Und da hörte er ein Auto auf der Straße, obwohl es nach Mitternacht war, und erschrak wieder zu Tode. Er legte den Zettel zwischen die Seiten eines Buches und stellte das Buch in den Bücherschrank, aber er hatte Angst, wenn irgend jemand käme, würde er stracks auf das Buch zugehen und es herausnehmen, so groß war seine Anziehungskraft; verzweifelt holte er seine Markensammlung heraus und legte sie auf den
Schreibtisch, aber er hatte Angst, wenn jemand käme, würde er sofort merken, daß er sie eben erst dorthin gelegt hatte, die Art, wie sie dalag, schien ihm nicht zufällig, sondern verräterisch absichtlich. Also setzte er sich sofort hin und zog das Album mit den Südafrikanern zu sich heran und versuchte, sie aufmerksam anzusehen, aber das brachte er nicht fertig, denn er horchte auf den Wagen. Und der Wagen hielt, so schien es ihm, genau vor dem Hause, und er war in Todesangst, bis er das Lachen junger Leute hörte; da wußte er, daß es die Vosloomädchen waren, die von der Gesellschaft auf Hammans Farm nach Hause kamen, und daß der Wagen nicht vor dem Hause gehalten hatte, sondern mehrere Häuser entfernt. Dann ging er wieder zum Bücherschrank und holte den Zettel aus dem Buch hervor und brachte ihn ins Licht beim Schreibtisch. Die Buchstaben sahen aus, als habe ein Kind sie geschrieben oder jemand, schwarz oder weiß, dem das Schreiben ungewohnt war, oder jemand, der mit Absicht so schrieb, um ihn zu quälen. Und voller Angst überlegte er, was wohl der nächste Schritt sein würde, denn dabei würde es sicherlich nicht bleiben. Dann betete er wieder und machte neue Gelübde in seiner Qual und dachte an Frau und Kinder, an seinen Vater und seine Mutter und an mich, an den Bruder und die Schwestern, besonders an Martha und den jungen dominee und auch an den alten dominee und an Nellas Vater und Mutter und Brüder und Schwestern und an den Hauptmann und die Sergeanten und an den kleinen Vorster, für den er ein Halbgott war, und an Hannes de Jongh und alle anderen vom Rugbyklub, und an Oberst de Wet, der im Krieg sein Oberst war und ihn für den Verdienstorden vorgeschlagen hatte, und an Professor Krige in Stellenbosch, der an Jakob van Vlaanderen geschrieben hatte: Sie können stolz auf Ihren Sohn sein, der sich ganz besonders ausgezeichnet hat und doch still
und bescheiden geblieben ist. Aber sein Vater hatte ihm das nie erzählt, sondern seine Mutter. Und am qualvollsten war der Gedanke an seine Kinder, denn was für ein Mensch mußte das sein, der zerstörte, was er geschaffen hatte, und dem Schmerz zufügte, was er liebte? Das konnte ich nicht verstehen, daß ich sie so gefährden konnte; daran erkannte ich die Macht meines Feindes. Denn hätte ein Engel zu mir gesagt: Diesen Sieg kannst du erkaufen, wenn du ein Auge oder eine Hand oder beide Augen und beide Hände drangibst, so hätte ich gesagt: Es gilt. Selbst als die Besessenheit mich ergriffen hatte, wenn ein Engel meinen Sohn gebracht und gesagt hätte: Einen Schritt weiter, und das Kind wird sterben, – so hätte ich sofort abgelassen. Aber weil das Kind nicht da war und kein Engel es brachte, setzte ich es einer weit schrecklicheren Gefahr aus als der des Todes. Dann ging er in die Küche und machte ein Feuer im Herd und stellte die Wassertöpfe darauf. Er legte Mantel und Kleider auf Stühle vor dem Feuer und fand eine Flasche Parfüm, die Nella zurückgelassen hatte, und versuchte, den Gestank vom kakiebos damit zu vertreiben. Er trat aus der Küchentür und ging an der Seite des Hauses entlang zum Nebeneingang. Die ganze Stadt war still und dunkel, nur ein unruhiger Hund bellte irgendwo weit fort, und die Kiefern regten sich leise. Und vielleicht schlief der Spion jetzt und würde ihn bis morgen in Frieden lassen. Dann plötzlich fiel es ihm ein, daß vielleicht in diesem Augenblick der Spion beim Hauptmann im Büro oder im Hause war, und der Hauptmann sah ernster aus als je zuvor; und vielleicht war auch Stephanie selber da, lächelnd und stirnrunzelnd, und leugnete alles, oder vielleicht – Gott erbarme sich – gab sie alles zu und war geständig. Oder vielleicht war der Spion in
einem anderen Hause, und man sammelte sich verstohlen um ihn und ließ sich die Geschichte erzählen von dem strahlenden Stern, der in den Schmutz und Schlamm hinuntergefallen war. Aber welchen Beweis konnte dieser Mann haben außer seinem Wort und ein paar zerdrückten Unkrautbüscheln, die irgend jemand hatte zerdrücken können? Aber darin fand ich keinen Trost, denn wenn sie gekommen wären und zu mir gesagt hätten: Dieses Verbrechen hast du begangen, – so konnte ich wohl lügen, aber sie würden wissen, daß ich log. Wie oft bin ich nicht selbst zu einem Menschen gegangen und habe gesagt: Dieses Verbrechen hast du begangen; aber er log, und mit dem geringen Beweismaterial, das ich hatte, konnte ich nichts ausrichten. Aber wenn sie zu mir kämen, so wäre ich überzeugt, daß nichts auf der Welt mein Verbrechen in seinem ganzen Ausmaß vor ihnen verbergen könnte, daß es sich in meinem Gesicht, meinen Augen, meinen Händen offenbaren würde und auf meinen zitternden Lippen, die etwas sagen würden, was sie nicht sagen wollten. Es würde mir vorkommen, als ob jede Handlung, jedes Wort, jede Bewegung einzig und allein in den Zusammenhang meines Verbrechens hineinpaßten; daß jeder klardenkende Mensch es sehen müßte, und daß ich, da ich ein klardenkender Mensch bin, es nicht leugnen könnte. Und wenn ich das leugnete, was alle so klar als die Wahrheit erkannten, dann würde etwas in mir zerbrechen, und ich würde laut aufschreien oder zusammenbrechen und weinen, oder etwas in mir würde zerbrechen, so daß alle, die genau wußten, daß ich so noch nie gewesen war, ganz unzweifelhaft auch wußten, daß ich log. Und doch war ich bestimmt töricht, denn wenn auch jemand dagewesen war auf dem Grundstück, durch welche
Zauberkunst konnte er wissen, wer dort gewesen war und das Unkraut zerdrückt hatte? Dann fielen ihm plötzlich die Hunde ein, denn innerhalb einer Stunde konnten die Hunde von Sonop hergeschafft werden; und er war wieder in Todesangst, wenn er auch wußte, daß man die Hunde erst einmal auf die Spur bringen mußte. Aber vielleicht hatten sie die Spur bereits aufgenommen, als er fort war. Und die Hunde würden die Landstraße entlanglaufen, die durchs Grasland nach der Farm Verdriet führt, und da würden sie dann zwischen den Ochsen umhersuchen, und da sie von Menschengram und Menschenreue nichts wußten, würden sie zurückkehren und ihn der Vernichtung ausliefern. Also ging er zu dem Nebenraum im Hof, wo der schwarze Diener Johannes schlief, und klopfte an seine Tür. Und als Johannes schließlich aufwachte und an die Tür kam und fröstelnd dastand, sagte er: War heute abend irgend jemand hier? Und Johannes sagte: Niemand, baas. Ganz bestimmt? Baas, ganz bestimmt. Warst du den ganzen Abend zu Hause? Ja, den ganzen Abend. Überlege es dir, Johannes, war niemand da? Niemand, baas. Dann gute Nacht, Johannes. Gute Nacht, baas. Dann holte er die Wassertöpfe und leerte sie in die Badewanne aus und wusch sich von Kopf bis Fuß und am meisten die Scham. Da war es ein Uhr, und er ging ins Schlafzimmer hinauf und stand und sah die Betten an und gelobte und betete von neuem. Dann legte er sich zu Bett und konnte nicht schlafen und hörte, wie die Uhr vom Kirchturm zwei und drei und vier schlug. Dann schlief er ein und träumte, daß er ganz oben auf einem hohlen Turm war, und man konnte weder hinunter- noch hinaufsteigen. Und der Turm war nicht wie andere Türme, denn seine Wände waren auch hohl vom Boden aufwärts, und der Raum zwischen den Wänden war mit Messern und Gabeln aufgefüllt, und die Messergriffe waren
nicht aus Bein, sondern aus Metall, wie sie in den Soldatenkantinen gebraucht werden. Und er lag nackt auf den Messern und Gabeln, und sie schnitten in sein Fleisch, daß das Blut floß, und tief unten auf dem Erdboden stand Anna, seine Base, und schrie ihm zu, er solle herabkommen, aber er wagte nicht, zu ihr hinunterzusehen, weil es so schwindelnd hoch war und weil der ganze Turm bebte und wankte, als ob er jeden Augenblick in sich zusammenstürzen könne. Dann wachte er auf, in Angstschweiß gebadet, und wußte zuerst nicht, daß es ein Traum war. Dann wußte er, daß es ein Traum war, und wäre erleichtert gewesen, aber plötzlich fiel ihm wieder der Zettel ein, der Zettel; und darum gelobte und betete er, wenn er nur dies eine Mal davonkäme, so wolle er nie wieder sündigen. Und so hörte er es fünf und sechs schlagen. Dann hörte er, wie Johannes leise unten in der Küche hantierte, um ihn nicht zu stören, und da schlief er ein. Als er aufwachte, überlegte er, ob er nicht den Hauptmann benachrichtigen solle, daß er krank sei und nicht kommen könne. Aber er beschloß, es doch lieber nicht zu tun, denn wenn der Spion zum Hauptmann ging, so machte es nichts aus, ob er krank war oder nicht. Und wenn der Spion zum Hauptmann ging, was würde der Hauptmann tun? Plötzlich stieg eine große Hoffnung in ihm auf, daß der Hauptmann vielleicht privat nach ihm schicken würde, und dann würde er bekennen, und der Hauptmann würde ihn retten, genau wie er Dick gerettet hatte. Und wiederum stieg eine furchtbare Angst in ihm auf, daß der Hauptmann seine Pflicht tun würde, denn die Pflicht war für ihn wie Gott selber; und hatte der Hauptmann denn nicht vor kaum mehr als zwölf Stunden gesagt: Pflicht ist Pflicht und muß getan werden? Und ich dachte bei mir: zwölf Stunden! In den zwölf Stunden war die ganze Welt anders geworden durch eine sinnlose
Handlung. Und was für eine Besessenheit das sein mußte, die einen Menschen zwang, etwas so unsagbar Bösem nachzujagen, taub für das Jammern von Frau und Kindern und Mutter und Freunden und blind für die Gefahr, der sie ausgesetzt wurden, nur um einen unsagbar bösen Genuß an sich zu reißen, in dem keine Freude war, und der, selbst zehntausendfach genossen, doch nicht ein Haar auf ihrem Haupte wert wäre. Solche Besessenheit war doch sicherlich nicht nur Fleischeslust, sondern die Besessenheit einer kranken, verworrenen Seele. Und warum kam sie über mich? Und woher kam sie? Und wie konnte sie geheilt werden? Aber auf diese Fragen hatte ich keine Antwort. Und eine noch größere Furcht befiel ihn, daß der Spion nicht zum Hauptmann gehen würde, sondern zum Sergeanten im Vorzimmer, und heute war dort Sergeant Steyn. Er würde zum Sergeanten Steyn sagen: Ich erstatte Anzeige gegen den Leutnant van Vlaanderen. Und der Sergeant würde die Akten zu sich heranziehen und voll Begierde zuhören. Und nach dem ersten oder zweiten Satz würde er zu dem Spion sagen: Kommen Sie ins Nebenzimmer. Und da würde er die Geschichte hören und niederschreiben, Satz für Satz, und sein Herz würde von Haß und Freude erfüllt sein. Und wenn die Geschichte zu Ende wäre, würde er zu dem Spion sagen: Warten Sie hier und sprechen Sie mit niemandem. Und dann würde er zum Hauptmann gehen und ihm den Bericht geben und dastehen wie ein Soldat, der seine Pflicht tut, als ob er von Haß und Freude nichts wüßte. Dann würde es keine Gnade geben, denn wenn einmal Anzeige erstattet ist, dann ist Anzeige erstattet, und was geschrieben ist, das ist geschrieben; und es kann ein Wort geschrieben sein, das den Tod eines Menschen bedeutet und ihm den Strick um den Hals legt und ihn in die Grube bringt; und es kann ein Wort geschrieben sein,
das einen Mann und seine Verwandtschaft und Freunde vernichtet, und keine Gewalt, weder Gottes noch der Menschen noch des Staates, und kein Engel, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Hohes noch Tiefes noch irgendeine Kreatur kann sie mehr retten, wenn einmal das Wort geschrieben ist.
Dann stand er auf mit erneuten Gebeten und Gelübden. Und er dachte, es sei unrecht, zu glauben, daß es keine rettende Macht gäbe, weder Gottes noch der Menschen noch des Staates, denn gewißlich gab es doch Gottes Macht, denn hatte er nicht von einem gehört, der von seinen Feinden gefangen und umstellt war, und sie wollten nur seinen Tod und kannten kein Mitleid? Und es blieb ihm nichts übrig als niederzuknien und zu beten, und als er die Augen wieder aufmachte, war er allein, und rings im weiten Veld war niemand als nur er allein. In Stellenbosch hatten sie darüber gesprochen, als er noch jung war; und manche sagten, daß Gott ein Wunder getan habe, und andere sagten, der Mann sei von Sinnen gewesen vor Hunger und Durst, und es seien gar keine Feinde dagewesen. Aber er glaubte doch lieber, daß Gott ein Wunder getan hatte und es jetzt wieder tun könnte, da er selber umstellt und in Todesgefahr war. Dann dachte er darüber nach, wie Gott es tun könnte. Und es fiel ihm ein, daß in diesem Augenblick vielleicht der Spion im Sterben lag, daß er vielleicht jetzt schon tot war; oder daß Stephanie vielleicht gestorben war. Oder daß vielleicht an diesem heutigen Tag die Riesenflugzeuge aus Rußland wie Heuschrecken den Himmel verdunkeln und Tod auf die Erde regnen lassen würden, und alle würden zu den Wallen stürzen, und alle Verbrechen wären vergessen. Oder daß Regen und schwarze Sommergewitter zurückkommen und Tag um Tag sich auf die Erde ergießen
könnten, obwohl es doch schon auf den Winter zuging, und der Büffelfluß würde immer weiter steigen und seine Ufer überfluten und die lokasie und die Stadt überfluten und alle in Lebensgefahr bringen, so daß die Polizei Tag um Tag nur damit zu tun hätte und alle anderen Pflichten vergessen würden. Und er selber würde Tag und Nacht arbeiten, um seine Sünde zu tilgen und seine Reue zu beweisen, und der Spion würde Mitleid mit ihm haben. Oder vielleicht würde er den Spion retten oder seine Frau oder seine Kinder, und dann würde er Mitleid haben. Oder vielleicht, wenn es gar keinen anderen Ausweg gäbe, würde der Spion ertrinken. So hatte er in seinem Jammer keine Bedenken, die Erde dem Tod anheimzugeben, wenn nur er gerettet würde; und er, der Gott um Gnade bat, wollte diese Gnade auf Kosten eines anderen Menschen oder Kindes oder selbst eines ganzen Volkes haben. Darum tat er Buße und bat um Vergebung und stellte alles in Gottes Hand, der mehr weiß als alle Menschen, und so ward er getröstet im Glauben an Gottes Allmacht. Er stand auf, und indem er aufstand, flutete das ganze Elend in ihn zurück, und er konnte sich überhaupt nicht vorstellen, daß Gott ihm helfen könne. Dann nahm er wieder ein Bad und wusch sich gründlich von Kopf bis Fuß und ging zum Frühstück hinunter und versuchte, unbefangen und munter mit Johannes zu sprechen. Aber er dachte nur an den Zettel, den Zettel mit den sieben Buchstaben, die einen Menschen umbringen konnten, Ehe er zur Polizeiwache aufbrach, ging er noch in die Küche und sagte zu Johannes: Ich habe ein Gefühl gehabt, daß gestern abend jemand hier war. Und Johannes sagte: Niemand, baas. und der Leutnant sagte: Es gibt so viele skelms (und ein skelm ist ein Taugenichts und Müßiggänger, der sich nicht scheut, das Gesetz zu brechen, aber in Venterspan gibt es wirklich kaum skelms, und die wenigen sind harmlos genug, Faulpelze
und Gelegenheitsdiebe, nicht wie in Johannesburg). Dann nahm er Gerte und Mütze und ging zum Gartentor, und dort stand er einen Augenblick still, ehe er es aufmachte und mit Furcht im Herzen nach der van Onselenstraße ging.
22. Kapitel
ABER AUF DER van Onselenstraße gab es nichts Besonderes zu sehen. Die ganze Stadt lag in der Morgensonne, und der große Kirchturm wachte über sie wie immer. Ein junger Rugbyspieler lächelte ihm flüchtig zu und sagte: Heute nachmittag, Pieter, als ob die Welt in aller Sicherheit weiterginge. Abraham Kaplan stand vor dem «Royal», und auch er lächelte und sagte: Ich höre, Sie trinken meinem Bruder allen Kaffee weg. Und die Schwarzen alle aus der lokasie gingen wie sonst einher und sahen nicht so aus, als ob sie ein Geheimnis wüßten. Und Sergeant Steyn saß am Tisch im Vorzimmer und stand auf und grüßte ihn ohne Lächeln, und obwohl er das an diesem Morgen schmerzlich empfand, so war es doch jeden Morgen so; denn wie kann man lächeln, wenn jemand hereinkommt, der am Tag vorher zu einem gesagt hat: Gott verflucht noch mal, können Sie nicht lesen? So brachten sie die Inspektion hinter sich, ohne ein feindseliges Wort zu wechseln, aber die Feindschaft war vorhanden wie immer. Er hätte zu dem Sergeanten sagen können; Erlauben Sie mir, mich vor Ihnen zu demütigen und hiermit zu erklären, daß ich nicht mehr Ihr Feind bin, und erlauben Sie sich selber, mir meine Worte zu verzeihen. Aber wie kann man so etwas sagen? Er ging in sein Zimmer, aber er machte die Tür nicht zu. Denn wenn das Verderben auf ihn zukam und der Spion zum Hauptmann ging, dann konnte keine Tür es ausschließen, und es war besser, es eher zu hören, als man es unbedingt hören mußte. Aber den ganzen Morgen über kam niemand. Als es Zeit war, zum Lunch zu gehen, ging er den Flur hinunter an des Hauptmanns Zimmer vorbei, und der Hauptmann stand im
Zimmer und hatte die Hände in den Taschen und tat nichts, als daß er auf den Fußboden sah. Da zwang sich der Leutnant und sagte: Guten Tag, Sir. Aber der Hauptmann sah weder auf, noch lächelte er, noch sagte er ein Wort. Und der Leutnant dachte, der Spion müsse doch dagewesen sein, und ging von neuem Schrecken erfüllt nach Hause. Er wollte nicht im Garten essen, obwohl Johannes dort gedeckt hatte, denn in seiner Qual erschienen ihm Bäume und Sonne wie Hohn und Spott, und im Hause schien es auch sicherer zu sein. Und er konnte auch nicht essen, aber er trank viele Tassen Kaffee; und er zündete die Pfeife an und legte sie wieder fort und holte die Besuchszigaretten und rauchte mit tiefen Lungenzügen, was er gewöhnlich nicht tat. Und er horchte auf jeden Schritt, denn vielleicht würde der Hauptmann lieber zu ihm nach Hause kommen und ihm wenigstens einen Teil der Schande ersparen. Und er ging ins Arbeitszimmer und machte die Tür zu und nahm das Buch wieder aus dem Schrank, und da die Fenster offen waren und die Vorhänge zurückgezogen, ging er in eine Ecke und nahm den Zettel heraus und sah ihn an, aber der sagte ihm nicht mehr und nicht weniger als zuvor, daß die Gefahr, die ihn bedrohte, schlimmer war als Todesgefahr. Und dort in der Ecke betete und gelobte er wieder, daß er all seinen Besitz hergeben würde, wenn nur der Spion ihn nicht verriete. Dann legte er den Zettel wieder in das Buch und stellte das Buch wieder zwischen die anderen Bücher und dachte mit einem allerersten Schimmer von Trost, daß es jetzt wie ein ganz gewöhnliches Buch aussähe. Dann nahm er Mütze und Gerte und ging mit Furcht im Herzen nach der van Onselenstraße. Aber wiederum war die Welt sonnig und heiter, und die Burschen und Mädchen grüßten ihn lächelnd auf der Straße, so daß er etwas getröstet war. Aber plötzlich hielt er den Atem an, wie man es tut, wenn man einen Schmerz wie einen Dolchstich
fühlt, denn der Zettel war ihm eingefallen. Der kleine Vorster saß am Tisch, als er hereinkam, denn der Sergeant war noch nicht zurückgekommen; und der kleine Vorster stand auf. Und der Leutnant legte Mütze und Gerte auf den Tisch und lehnte sich darauf. – Na, wie ist es, wenn man Alleinherrscher ist? sagte er. Und der Junge sah zu Boden und sagte ohne das leiseste Lächeln: All right, Herr Leutnant. Da erschrak der Leutnant, es fiel ihm nichts ein, was er noch hätte sagen können, und er nahm Mütze und Gerte, und der Junge wandte sich nach ihm um und sah ihn aus verzweifelten Augen an und sah dann wieder fort und stand stockstill da wie ein Soldat auf Parade, denn auf Parade steht der Soldat steif und gerade da und schaut niemanden an, und wenn er Kummer im Herzen hat oder Hoffnung oder Verachtung, so ist doch davon nichts zu sehen. Also ging der Leutnant in sein Zimmer und saß da auf seinem Stuhl. Und er hatte gar keinen Zweifel, daß der Spion es diesem Jungen gesagt haben mußte, denn der grüßte ihn sonst immer mit einem schüchternen, bewundernden Lächeln. Und den ganzen Nachmittag saß er von Angst verzehrt in seinem Zimmer. Und es fiel ihm ein: bittet, so wird euch gegeben, und suchet, so werdet ihr finden, und klopfet an, so wird euch aufgetan, wenn es wirklich von ganzem Herzen geschieht. Darum bat und suchte und klopfte er von ganzem Herzen dort in seinem Zimmer, wo er allein mit seiner Angst saß, bis es Zeit war, zum Rugby zu gehen. Und da beim Rugby sah ich ihn wieder, ich hatte ihn zwei ganze Tage nicht gesehen. Er war ernst und schweigsam und stand da wie einer, der große Verantwortung hat, mit Hannes de Jongh und dem jungen dominee. Er winkte mir und Martha zu, und ich dachte, wie gut und zuverlässig er doch aussah und wie töricht ich gewesen war, mir solche Sorgen zu machen. Denn er spielte nie in
einem verschwitzten Pullover und schmutzigen Shorts wie viele andere, sondern immer in einem weißen Pullover und weißen Shorts, die noch blank vom Bügeleisen waren. So daß mich einmal ein Fremder fragte: Wer ist der Mann dort in Weiß? Und ich sagte und gab mir Mühe, daß meine Stimme meinen Stolz nicht verraten sollte: Das ist meines Bruders Sohn, Pieter van Vlaanderen. Und der Fremde sagte: Ach, natürlich. Und dann noch einmal: Ach, natürlich! Und das sagte er so, daß er bei mir einen Stein im Brett gehabt hätte, wäre ich ihm je wieder begegnet. Aber von seiner Seelenqual wußte ich nichts, und ich wußte auch nicht, daß er den kleinen Vorster mit solchen Augen beobachtete. Denn manchmal beim Spielen sagte der kleine Vorster zu ihm, wenn sich eine Gelegenheit ergab und sie vielleicht gerade auf den Ball warteten: Mache ich’s recht, Herr Leutnant? Und dann sagte der Leutnant wohl: Ag, es könnte schlimmer sein, und dann war der Junge im siebten Himmel. Denn beim Rugby strahlte er immer vor Eifer, und wenn kein Übungsspiel war, so trainierte er jeden Abend außer sonntags und kam rot und schwitzend nach Hause zum Baden; und alles das nur, um in die Mannschaft des Leutnants aufgenommen zu werden. Aber an diesem Tage war der Junge still und in sich gekehrt und lächelte nicht und sprach mit niemandem. Aber das sah ich nicht mit eigenen Augen. Das wurde mir erst klar, als ich las, was er im Gefängnis geschrieben hat. Und nach dem Spiel sagte ich zu ihm: Kommst du heute abend? – Nein, ich gehe zu Kappie. – Ag, sagte ich, da warst du erst gestern abend. – Ich bin nicht hingegangen. – Das müssen wir nun büßen, sagte ich. Er lächelte mir zu. – Ich komme morgen, sagte er. – Du hast doch das Picknick nicht vergessen? – Nein, sagte er.
– Wir werden auch ganz bestimmt nicht zum See kommen. Er sah mich lächelnd an. Ich wagte zu sagen: Warum lachst du nicht öfter? Dann wünschte ich, ich hätte es nicht gesagt, denn an einer verborgenen Stelle tat es ihm weh. Er sah mich an und sah wieder fort, aber er konnte den Gram in seinem Blick vor mir nicht verbergen, obwohl niemand anders es bemerkt hätte. Darum kamen alle meine Sorgen zurück, obwohl ich nicht wußte, ob es diese eine Sache war oder etwas anderes, aber Ich wußte, es war etwas, wovor man Angst haben mußte. So gingen wir miteinander heim von Slabberts Feld, er und Martha und ich und Hannes de Jongh und der junge dominee. Und der junge dominee ging mit Martha und neckte sie immerfort, so daß ihr Gesicht und ihre Augen zu leuchten anfingen. Und ich dachte, ob mein Neffe es wohl auch sähe, aber ich wußte ja nicht, daß er nur für eines Augen hatte, nämlich für den kleinen Vorster, der vor uns herging. Denn der kleine Vorster ging nie vor uns her; er ging immer mit seinem Leutnant, aber an diesem Abend ging er für sich allein. Als er nach Hause gekommen war und gebadet hatte, stocherte er an dem Essen herum, das Johannes ihm gebracht hatte. Und Johannes sagte: Baas, der baas ißt nichts. – Ich habe keinen Hunger, Johannes. Dann sagte er leichthin zu ihm: Was reden deine Leute so untereinander, Johannes? Und Johannes erzählte ihm dieses und jenes, aber nichts von Belang. – Und was macht die alte Esther? Und Johannes sagte: Sie ist sehr alt. Also sprachen sie von der alten Esther und über alles Mögliche, was mit ihr zu tun hatte, und wenn da irgend etwas Besonderes gewesen wäre, so hätte Johannes es bestimmt erwähnt. Aber Stephanie erwähnte er nicht ein einziges Mal.
Und der Leutnant dachte, daß das alles sehr dumm von ihm war, denn obwohl Johannes in der lokasie zu Hause war, so wohnte er doch in dem Nebenraum hinter des Leutnants Haus, und was konnte er schon wissen? Und doch klammert sich ein Verzweifelter an jeden Strohhalm. – Johannes, hole mir die Zigaretten. Johannes ging die Zigaretten holen, und als er damit zurückkam, sagte er: Hat der baas die Pfeife aufgegeben? Dann ging er zu Kappie, und sie spielten die Mondscheinsonate, aber Kappie sagt, der Leutnant hat gar nicht zugehört, sondern verriet durch sein Benehmen, daß er sich in einem Zustand furchtbarer, innerer Qual befand. Und Kappie fielen die Zigaretten auf und gewisse ungewohnte Bewegungen, und wenn er sich nicht bewegte, so blieb doch die Qual in den dunklen Augen. Und er hätte alles darum gegeben, hätte er nur mit diesem Menschen, den er so sehr liebte, sprechen können, aber er war ängstlich wie jemand, der gern das Zimmer eines bedeutenden Mannes betreten möchte und einen Schritt auf die Tür zu macht und es dann doch nicht wagt. Dann ging der Leutnant nach Hause und hörte in seinem Bett, wie die Uhr von der großen Kirche elf und zwölf Uhr schlug. Da war der erste Schreckenstag vorbei. Aber nicht der Schrecken, denn er hörte die Uhr eins und zwei und drei schlagen, ehe Gottes Erbarmen ihm Schlaf schenkte.
23. Kapitel
UND DER ZWEITE Schreckenstag war so schlimm wie der erste, von dem Augenblick an, als er Mütze und Gerte nahm und am Gartentor anhielt und bei sich selber sagte: Beschütze mich diesen Tag, o allergnädigster Gott, und dann auf die Straße trat wie jemand, der aus der Sicherheit in die Gefahren des Unbekannten hinaus muß, und mit Furcht im Herzen nach der van Onselenstraße ging. Der kleine Vorster saß am Schreibtisch, als er hereinkam, und stand auf und grüßte ohne das geringste Lächeln mit verzerrtem und unglücklichem Gesicht wie jemand, der Gott zuliebe große Entschlüsse gefaßt und ihm vor aller Öffentlichkeit sein Leben und seinen Besitz geweiht hat und merkt, daß er nicht mehr an ihn glaubt. Also ging der Leutnant schweren Herzens in sein Zimmer, und da fühlte er sich ein wenig sicherer, so wie zu Hause, in den vier Wänden, wo er keine Augen sehen und keine Stimmen hören konnte und keiner Ablehnung ausgesetzt war. Er ging zur Inspektion, und wenn er etwas auszusetzen fand, so rügte er doch nichts. Denn hätte er ein einziges Wort gesagt, wie leichthin und großmütig es auch gemeint sein mochte, so hätte es doch den Haß des Mannes auslösen können, der sehr wohl bereits eine verborgene Waffe bei sich tragen mochte, die ihm der Spion gegeben hatte und die ihn vernichten konnte. Darum hätte er alles wortlos ertragen. Und der Hauptmann war immer noch schweigsam und nickte ihm so kurz zu, als ob er irgendein Fremder wäre. Aber an dem Morgen kam das Schrecklichste von allem. Er mußte zu Labuschagne gehen zur Tankstelle wegen einer Kleinigkeit; denn die Garage war sehr
klein, und Labuschagne hatte sich den bequemen Ausweg angewöhnt, jeden Morgen alle Wagen auf die Straße hinauszustellen und sie abends wieder hineinzufahren. Und letzthin hatte er es noch bequemer gefunden, sie Tag und Nacht einfach draußen zu lassen, und der Leutnant ging hin, um ihm zu sagen, daß man ihm Nachsicht genug erweise, wenn man zuließ, daß er die Wagen tagsüber hinausstellte, daß er sie aber wenigstens abends wieder hereinholen müsse. Er sprach sehr höflich mit Labuschagne, nicht wie ein Polizist zu einem Übeltäter, sondern wie ein Freund zum andern; und Labuschagne war dankbar für des Leutnants Höflichkeit und bot ihm eine Tasse Kaffee an und versprach, sich an die Vorschrift zu halten. Labuschagne war so harmlos freundlich, daß es ganz klar war, daß er von keinem Geheimnis wußte, und der einsame, geängstigte Leutnant fühlte sich einen Augenblick erleichtert; aber kein Labuschagne hätte je den hastig schmerzhaften Atemzug bemerkt noch das Schmerzenszeichen, das plötzlich zwischen den Augen stand, als dem Leutnant wieder der Zettel einfiel, der Zettel, und er wußte, es konnte keine Erleichterung geben. Dann verließ er Labuschagne und ging die van Onselenstraße zurück, und da stand der alte Herman Geyer an seinem Gartentor, denn der hatte auch wie mein Bruder die Farm seinem Sohn überlassen und war in die Stadt gezogen, und nun stand er oft am Tor und schaute nach einem Schwatz aus. So rief der Leutnant munter: Goeie more, Meneer Geyer, ein schöner Tag heute. Aber der alte Geyer antwortete ihm mit keinem Wort. Er nahm die Pfeife aus dem Mund und spie wütend und verächtlich aus. Dann drehte er dem Leutnant den Rücken und ging den Gartenweg zum Hause hinauf. Nun kann man sich, wenn man Angst hat, manches einbilden. Das Schweigen und die Zurückhaltung eines jungen Burschen konnten Ursachen haben, die nur ihn allein angingen; und der Hauptmann war
vielleicht nur darum schweigsam, weil er immer schweigsam war. Wenn aber ein Mann nicht antwortet, sondern ausspeit und sich abwendet, was kann das wohl anderes bedeuten? Darum stiegen die großen Wellen der Angst höher und höher, und alle Kraft wich aus seinem Körper, und sein Gesicht war weiß wie der Tod, und es wäre ihm als Gnade von Gott erschienen, wenn er augenblicklich gestorben wäre. Er fürchtete, auf der Straße zu stolpern und zu fallen, also ging er in unseren kleinen Park, der überhaupt kein Park ist, sondern nur ein eingezäuntes Stück Grasland, wo ein paar Bäume gepflanzt sind, und da saß er auf einer Bank und sagte: Gott erbarme dich meiner, o Herr Jesus Christus erbarme dich meiner. Und draußen auf der Straße gingen die Leute vorbei und sahen nur, daß der Leutnant sich im Dienst ein paar Augenblicke gönnte, um auf der Bank im Park zu sitzen, und wußten nicht, daß dort ein Mensch in Seelenqual Gott um Erbarmen anrief. Denn für sie schien die Sonne, und die Tauben gurrten, und sie hatten keine größeren Sorgen als General Smuts oder die Regierung oder das Gerücht, daß die Schwarzen in Johannesburg einen Streik und einen Protestumzug planten. Dann zwang er sich aus der Sicherheit des Parkes heraus in die Gefahr der Straße und ging mit Furcht im Herzen zur Polizeiwache und sah wieder den schweigenden, unglücklichen kleinen Vorster und setzte sich wieder in der Sicherheit seines Zimmers nieder. Und um ein Uhr zwang er sich wieder aus der Sicherheit seines Zimmers hinaus in die Gefahr der Straße, aber er brachte es nicht über sich, an Geyers Haus vorbeizugehen, sondern bog in eine der anderen Seitenstraßen ein und bog links ein und wieder links, bis er die Sicherheit seines Hauses erreichte, und er konnte sich nicht erinnern, je zuvor so etwas getan zu haben. Und er wollte nicht draußen in der Sonne essen, sondern im Hause; und er wollte überhaupt nichts essen, sondern trank viele
Tassen Kaffee und rauchte die Besuchszigaretten. Und wieder sagte er: Was reden deine Leute untereinander, Johannes? Aber Johannes hatte nichts von Belang zu berichten. Dann ging er in sein Arbeitszimmer und nahm das Buch mit dem Zettel nicht heraus, denn daran war doch nichts zu ändern. Aber er gelobte und betete und wünschte den Krieg mit Rußland herbei oder den Regen, daß der Regen vom schwarzen, schweren Himmel niederstürzen solle, und der Himmel solle sich nicht hin und wieder öffnen und die Sonne zeigen, sondern immer schwarz und schwer bleiben, Tag um Tag, Woche um Woche, und mit Blitz und Donner soviel Wasser ausleeren wie in Menschengedenken nicht und die Welt wegschwemmen und aller Menschen Jammer und alle Verbrechen und die Welt so tief überschwemmen, daß, wenn sie sich davon erholte, kein Mensch mehr wußte, was früher gewesen war. Oder daß der Spion stürbe, oder daß Stephanie stürbe. Oder, wenn alles andere fehlschlüge, daß er selber stürbe. Das war das erstemal, daß ich an meinen eigenen Tod dachte, aber ich schrak davor zurück, nicht weil ich Angst gehabt hätte, zu sterben, sondern weil es mir als die eine Sünde erschien, für die es keine Vergebung gab, die Zerstörung des Leibes, der Gott gehört, und der Zweifel an Gottes Erbarmen. Und vielleicht war selbst da noch ein Wunder möglich, obwohl ich mir nicht vorstellen konnte, was es sein könnte. Aber ich war in einem so jämmerlichen Zustand, daß ich wieder zu dem Buch ging und es in die dunkelste Ecke des Zimmers trug in der Hoffnung, daß durch eine große Gnade das Wort sich geändert habe. Aber da stand GESEHEN, wie zuvor. Und da begann ich zu denken, daß ich mich umbringen könnte, wenn kein Wunder geschähe.
Dann zwang er sich wieder auf die Straße hinaus, nicht nach der van Onselenstraße und an Herman Geyers Haus vorbei, sondern weg von der van Onselenstraße und dann rechts und wieder rechts und zurück in die Sicherheit seines Zimmers. Und der Tag verging langsam und qualvoll. Den Abend kam er zu uns, dunkel und schweigsam und verhärmt, und wir saßen beim Essen, er und seine Mutter und seine Schwester und ich, und seine Dunkelheit und sein Schweigen hingen wie in Schwaden über uns, über seiner Mutter und mir. Denn das Mädchen war verliebt. Nach dem Essen gingen wir zu meinem Bruder, und mein Bruder war bedrückt und düster und las uns aus dem zehnten Kapitel des Buches Hiob vor. Und man mag sich wundern, daß ich das behalten habe, denn mein Bruder las nicht planmäßig, sondern nach Wahl und Willen. Aber ich habe es behalten, weil dort steht: Warum hast du mich aus Mutterleib kommen lassen? Ach, daß ich wäre umkommen und mich nie kein Auge gesehen hätte! So wäre ich, als die nie gewesen sind, von Mutterleibe zum Grabe gebracht. Und es fiel mir ein, daß ich in einer kindischen Laune gesagt hatte: Ich wollte, ich wäre nie geboren. Und es fiel mir ein, daß er aus einem tiefen, dunklen Gram heraus gesagt hatte: Ich, ich sollte wünschen, daß ich nie geboren wäre. Aber nicht ich allein habe behalten, was mein Bruder gelesen hat, sondern auch er. Denn das gehört auch zu den Dingen, die er im Gefängnis aufgeschrieben hat. Wenn er nach Hause aufbrach, gingen wir gewöhnlich mit bis zur Tür, und ich neckte ihn wohl, ich sagte wohl: Wenn dein Rugby im Gange ist, dann sehen wir dich überhaupt nicht mehr, oder ich sagte: Willst du was gelten, dann komme selten. Und seine Mutter sagte wohl: Zieh den Mantel an, es ist kalt, oder: Das ist nicht recht, daß du keinen Schal mitgenommen hast. Aber an dem Abend sagte sie gar nichts, sondern gab ihm Mantel und Schal und sah ihn voller Liebe und Sorge an. Und
ich sagte auch nichts als: Gute Nacht, mein Kind, als er mich küßte, mitten auf den Mund, wie er es immer tut. Und als er fort war, sah ich seine Mutter an, aber sie sah mich nicht an. So fiel der Schatten auch über uns, die erste Wolke des Unwetters, das uns alle mit sich riß. Aber sie dachte nicht an so etwas und wußte von keinem Unwetter, sondern litt um ein Kind, das in tieferem Unglück war, als sie verstehen konnte; und ich glaube, sie dachte immer noch, es sei Nellas wegen, und verstand es nicht. Und ich, ich weiß nicht, was ich dachte, ich war von dem Hin und Her zwischen Furcht und Hoffnung ganz verwirrt. So ging ich zu Bett und betete, und er ging auch zu Bett und betete in der Sicherheit zu Hause, wo doch keine Sicherheit war, sondern nur der Schlag der Stunden am Ende eines Schreckenstages und am Beginn des nächsten.
24. Kapitel
UND DER DRITTE Schreckenstag war der schlimmste, nicht weil weder der Hauptmann noch der kleine Vorster lächeln und mit ihm reden wollten, sondern weil Herman Geyer ausgespien und sich abgewandt hatte; und er ging wieder die Seitenstraßen und wollte nicht an Geyers Haus vorbei. Und immer noch erzählte Johannes nichts von Belang. Und er konnte die Quälerei nicht länger aushalten und überlegte, daß er zum Hauptmann gehen wollte und ihn fragen, warum er so abweisend und schweigsam sei. Aber wenn das nun einen ganz anderen Grund hatte, etwas, was den Hauptmann allein anging, und wenn dann der Hauptmann kalt und ärgerlich zu ihm sagte: Van Vlaanderen, Sie vergessen sich, gehen Sie gefälligst an Ihre Arbeit. Darum sagte er zu dem kleinen Vorster, der mit Akten in sein Zimmer kam: Setzen Sie sich, und der Junge setzte sich, steif und stumm, als ob er es nur täte, weil es ihm befohlen wurde, aber wenn es nach ihm ginge, so würde er sich im Zimmer eines solchen Mannes nicht niedersetzen. Und der Leutnant sah die Akten durch, aber er sah auch, daß der Junge es vermied, ihn anzusehen, und auf den Tisch niedersah, ganz steif und stumm. Da sagte der Leutnant, während er noch in den Akten blätterte: Was ist los, Vorster? Aber der Junge antwortete nicht, und der Leutnant blätterte weiter in den Akten. – Ich habe Sie gefragt, was los ist, sagte er. – Es ist nichts los, Herr Leutnant.
Und der Leutnant nahm allen Mut zusammen und sagte: Das stimmt nicht. Dann sagte er: Sie haben Sorgen. Dann sagte er noch einmal mit befehlendem Unterton, soweit er das wagte: Sie haben Sorgen. Dann sagte er wieder: Sie haben etwas auf dem Herzen, aber Sie wollen es mir nicht sagen. Und der Junge sah ihn ganz kurz an und sagte: Das stimmt. Dann sah er wieder fort. Da sagte der Leutnant, und das war, als ob einer ins tiefe Wasser geht: Sie können es mir sagen. Und der Junge sagte: Es ist furchtbar schwer, so etwas zu sagen. Und der Leutnant sagte leise: Wie schwer? Und der Junge sagte auch leise und sah den Leutnant nicht dabei an: Ganz furchtbar schwer. Und der Leutnant sagte: Haben Sie eine schlechte Nachricht bekommen? Und der Junge sagte: Ja. – Wie haben Sie sie bekommen? – In einem Brief. Und der Leutnant sagte verzweifelt vor Angst: Darf ich den Brief lesen? Aber der Junge antwortete nicht, und der Leutnant sagte verzweifelt: Darf ich den Brief lesen? Denn wenn da so ein Brief war, dann wäre es besser, wenn er ihn läse, viel besser, jetzt gleich getroffen und vernichtet zu werden als noch länger in Angst und Qual zu leben und dann doch vernichtet zu werden. Und der Junge zog den Brief heraus, ein Blatt Papier ohne Umschlag, und gab ihn dem Leutnant. Und der Leutnant faltete ihn langsam auseinander und fühlte sein Herz brechen. Und er sah, daß es ein Brief von einem Geschäft in Johannesburg war, das den Jungen wegen einer Schuld von zwanzig Pfund zu
verklagen drohte. Und wie er da auf seinem Stuhl saß, dankte er Gott für die große Gnade. – Und die zwanzig Pfund haben Sie nicht, sagte er. – Nein, Herr Leutnant. – Und Sie haben Angst, daß Ihre Mutter davon erfährt? – Ja, Herr Leutnant. – Und es ist Ihnen keine Menschenseele eingefallen, die Ihnen zwanzig Pfund leihen würde? – Nein, Herr Leutnant. Also zog der Leutnant sein Scheckbuch heraus und schrieb einen Scheck über zwanzig Pfund aus. Und er gab dem Jungen den Scheck, und der legte den Kopf auf den Tisch und sagte: Herr Leutnant, Herr Leutnant, – so daß der Leutnant aufstand und die Tür schloß und zum Fenster ging, bis der Junge sich ausgeweint hatte. Als er soweit war, sagte der Leutnant: Da haben Sie was ausgestanden. – Ja, Herr Leutnant. Und er erzählte, daß er nicht habe schlafen können, sondern die Uhr vom Kirchturm jede Nacht Stunde um Stunde habe schlagen hören; und daß er Angst gehabt habe, der Hauptmann und der Leutnant könnten von seiner Schande erfahren, und er wagte doch nicht, irgend jemanden um so viel Geld, ganze zwanzig Pfund, anzugehen. Und er stand auf und sah den Leutnant mit leuchtenden Augen an. – Eines Tages werde ich’s Ihnen vergelten, Herr Leutnant. Nie werde ich das vergessen. Und der Leutnant sagte in plötzlichem Ärger: Lieber Himmel, glauben Sie wirklich, daß Ihre Seelenruhe mir nicht die zwanzig Pfund wert ist? Also ging der kleine Vorster hinaus, und sobald er draußen war, dankte der Leutnant Gott noch einmal für diese große Gnade. Und nun wagte er zu hoffen, daß es vielleicht noch
größere Gnade geben könne. Aber die Hoffnung erstarb wieder, als ihm der Zettel einfiel und wie der alte Herman Geyer ausgespien und sich abgewandt hatte. Aber als er wieder daran dachte, was das doch für eine Gnade war, dieser Junge und seine zwanzig Pfund, da kam die Hoffnung wieder. Darum, als er zum Lunch nach Hause ging, ging er den gewöhnlichen Weg und sah den alten Herman Geyer am Gartentor stehen auf der Ausschau nach einem Schwatz. Aber es war zu spät zum Umkehren. Und als er näher kam und sein Herz schneller klopfte, da drehte sich der alte Herman Geyer um und ging den Gartenweg zum Hause hinauf. Da sah er ein, was für ein Narr er war, aus einer Kleinigkeit solchen Trost zu schöpfen, und wiederum erfüllte ihn die Angst, so daß er nicht draußen im Sonnenschein und unterm freien Himmel essen wollte, sondern Johannes sagte, er solle alles ins Haus tragen. Und nach diesen Schreckenstagen und all den schlaflosen Stunden war er zu erschöpft vom Kämpfen, und als es Zeit wurde, daß er Mütze und Gerte nehmen und sich auf die Straße wagen mußte, mied er wieder die van Onselenstraße und bog rechts ab und wieder rechts und gelangte durch die unbelebten Seitenstraßen zur Polizeiwache. Und als er die van Onselenstraße überquerte, begegnete er Hannes de Jongh, der sagte zu ihm: Bist du in Form für das Wettspiel? Denn dies war kein gewöhnliches Wettspiel, sondern Nordtransvaal spielte gegen das Grasland, und in Nordtransvaal sind die Riesen zu Hause. Und er fürchtete sich vor dem Wettspiel, denn wenn der Spion zuschlagen wollte, so sollte er es lieber jetzt gleich tun oder bis nach dem Wettspiel warten, wenn er aber wirklich aufs Allerschlimmste aus war, so würde er den Tag des Wettspiels abwarten; dann würden an einem Tag dreißigtausend Menschen wissen, was Pieter van Vlaanderen getan hatte, und es ihm um so bitterer nachtragen. – Ich bin all right, sagte er.
Und Hannes sagte, nicht als ob er urteilen wolle, sondern als ob er etwas besorgt sei: Stimmt das, Pieter, daß du neuerdings Zigaretten rauchst? – Ach, eine oder zwei. Hannes de Jongh sah erleichtert aus. – Ich habe von zwanzig oder dreißig gehört, sagte er. Und das war auch wahr, daß er zwanzig oder dreißig Zigaretten am Tag geraucht hatte, weil die Angst ihn in den Klauen hielt. – Eine oder zwei macht nichts. Aber zwanzig oder dreißig wäre unglaublich, und darum wollte ich es auch nicht glauben. – Danie hat zwanzig oder dreißig am Tag geraucht. – Danie war kein großer Fußhallspieler, sagte Hannes kurz angebunden. – Er war gut. – Ich rede nicht von den guten, sagte Hannes, ich rede von den großen. Und damit ging er weiter, und der Leutnant ging zur Polizeiwache; und an dem Nachmittag besuchte ihn Japie. Er brachte die Aktenmappe mit allen seinen Akten mit, und wenn er zu einem kam, dann setzte er sich gern hin und machte die Mappe auf und nahm alle Akten heraus und sah sie schweigend durch, als ob sie ihn an wichtige Gedanken und Verhandlungen erinnerten, die wirklich sehr wichtig und zu schwerwiegend waren, um zufällig Anwesende darin einzuweihen. Aber im Grunde war er nicht wirklich eitel, sondern war bald wieder der Alte und brachte einen irgendwie zum Lachen. Und diesmal holte er einen Aktendeckel heraus, was die Engländer file nennen, und sah ihn an und sagte ag, und dann sah er den Leutnant an und sagte: Die Stephanie. Und der Leutnant war sofort auf seiner Hut und sagte: Was ist mit Stephanie? – Nichts auszusetzen, sagte Japie. Mutter Griesel sagt, so ein gutes Mädchen hat sie noch nie gehabt.
Und der Leutnant sagte: Gut. – Hoffentlich bleibt es so, sagte Japie, dann brauchen wir wegen des Kindes nichts zu tun. Komisch ist nur, daß deine Tante damit einverstanden ist, daß wir ihr das Kind lassen, und doch meint, ich solle das Mädchen lieber von Venterspan fortschicken. – Wirklich? – Ja, wirklich. Aber was hat das für einen Sinn, Bruderherz? Wird sie anderswo anders sein? Aber sie sind alle gleich: schafft das Mädchen fort, schafft das klonkie fort, schafft sie irgendwohin, solange es anderswo ist. Sie haben keinen Überblick. Aber siehst du, mit Tante Sophie ist es nicht so einfach, weil sie mich als Kind gekannt hat und immer noch denkt, sie kann mich herumkommandieren. Du wirst schon mit ihr reden müssen, Bruderherz. Und der Leutnant saß und überlegte sich, daß er mit mir über Stephanie sprechen sollte. Japie packte mit einem Seufzer seine Akten zusammen. – Es ist eine schwere Aufgabe, das Grasland zu bessern, sagte er. – Und wie steht’s mit dem Mädchen V? Japie wurde ernst. – Schlimm, sagte er, schlimm. Er sah den Leutnant düster an. – Darum mach’ ich auch keine Späße mehr, sagte er. Er stand auf und nahm seine Akten. – Heiraten ist eine ernste Sache, sagte er. Ich habe mich so lange drausgehalten, daß mir der bloße Gedanke schon einen Schrecken einjagt. Er wandte sich entschlossen dem Freunde zu. – Ich komme mal einen Abend, dich um Rat fragen. Dann ging er, kam aber sofort zurück und steckte sein Gesicht zur Tür hinein, und er, der keine Späße mehr machen konnte, platzte vor Spaßlust.
– Wie steht’s denn mit dem Mädchen A? sagte er. Der Leutnant sah ihn verständnislos an. – Welches Mädchen A? sagte er. – Anna natürlich. Glaubst du, ich habe euch nicht im «Royal» gesehen, wie ihr einander angeschmachtet habt? Der Leutnant lächelte. Dann sagte Japie: Hast du denn nicht den Zettel an der Tür gefunden? Dann ging er laut lachend den Flur hinunter, aber plötzlich fiel ihm der Hauptmann ein, und er verstummte und ging auf Zehenspitzen weiter. Aber der Leutnant war schon aufgesprungen und draußen im Flur und fragte mit zitternder Stimme: Was für ein Zettel an der Tür? Und Japie drohte mit dem Zeigefinger und sprach leise wegen des Hauptmanns und sagte: GESEHEN, GESEHEN.
25. Kapitel
ALSO WAR DOCH ein Wunder geschehen. Und der Zweig, der im Dunkeln geknackt hatte, war nichts gewesen als eben ein Zweig, der im Dunkeln knackte. Und der Spion und Quälgeist war kein Spion und Quälgeist, sondern nur ein Freund, der sich einen Spaß machte. Und die Sonne schien, und die Tauben gurrten in den Bäumen, und die Leute hatten keine größeren Sorgen als General Smuts oder die Regierung und den Streikumzug der Schwarzen in Johannesburg. Und darum stiegen aus dem Zimmer in der Polizeiwache Dankgebete zu Gott auf. Er trat aus der Polizeiwache und begegnete einem Jungen, der ihn mit lächelnder Bewunderung grüßte, und auf der Straße war Sicherheit und Freundschaft überall. Kappies Laden hatte gerade zugemacht, so ging er zu dem kleinen Hinterzimmer und sagte mit gewaltiger Stimme zu Kappie. Was gibt es heute, Kaffee oder Tee? Und Kappie, obwohl er sich freute, daß der Leutnant so umgänglich war, wunderte sich in seinem Herzen, denn so etwas hatte der Leutnant noch nie gesagt, er wartete immer, bis er gefragt wurde. Und der Leutnant ging vergnügt und lustig in dem kleinen Zimmer umher und sagte bittend zu dem kleinen Vogel, der Kappies Freund war: Komm doch, willst du nicht singen? Dann ging er zu den Plattenalben und sagte: Heute abend gehe ich zu meinen Eltern, aber morgen machen wir Musik. Dann sagte er: Aber nicht das traurige Zeug, Kappie, etwas Leichtes, Heiteres, wie wär’s mit Gilbert und Sullivan? So blätterte er mehr Seiten seines geheimen Lebensbuches auf, als Kappie je zuvor gesehen hatte, und jede war merkwürdiger als die vorhergehende, und das Buch wurde
immer geheimnisvoller. Aber soviel wurde dem anderen klar, daß die große Seelenqual von ihm genommen war. – Wie geht es Ihrer Frau, Herr Leutnant? – Gut, Kappie. Wissen Sie, was ich ihr geschrieben habe? – Nein, Herr Leutnant. – Ich habe ihr geschrieben: Eines Tages werde ich Kappie bitten, daß er nicht mehr Herr Leutnant zu mir sagt, sondern Pieter. Und Kappie war verlegen und machte sich mit der Teekanne zu schaffen und sagte: Das könnte ich doch nicht, Herr Leutnant. Und der Leutnant lachte und sagte: Dem Alter nach könnten Sie mein Vater sein. Und Kappie sagte: Das hat damit nichts zu tun. Und der Leutnant spürte, daß sein Freund in Verlegenheit war, und sagte ernst: Warum, Kappie? Und Kappie zuckte die Achseln und rückte an der Teekanne herum und auch an seinen Worten und sagte: Respekt, Herr Leutnant. Aber er sah das schmerzliche Zeichen, das plötzlich zwischen den Augen stand. Er machte sich mit dem Tee zu schaffen und goß ihn ein, und sie saßen ernsthaft beieinander und tranken ihn. Und Kappie saß da wie über einem Zusammensetzspiel aus hundert Teilen, und das Bild war fast vollständig, aber sechs oder sieben Stücke wollten einfach nicht hineinpassen, wie man sie auch drehte und wendete; und deshalb wußte man genau, daß dieses Bild falsch war und daß das richtige Bild etwas ganz anderes und sehr Merkwürdiges sein mußte, und was schon als fertiges Bild erschien, mußte in Wirklichkeit etwas ganz anderes sein, wenn diese sechs oder sieben Stücke überhaupt irgendwohin passen sollten. Dann erzählte ihm der Leutnant, daß auch ihm etwas rätselhaft war, denn was war wohl der Grund, daß der alte
Herman Geyer ausspie und sich abwandte? Kappie lachte und sagte, das könnte zwei Gründe haben. – Welche denn, Kappie? – Erstens, weil Sie ein Polizist sind, und zweitens, weil Sie sein Nachbar sind. Wissen Sie, einer seiner Nachbarn hat sich beim Hauptmann beschwert wegen der Viehställe und wegen der Fliegen, also kam der Hauptmann und sah sich die Ställe an. Und er hat dem alten Herman gesagt, daß er entweder neue Ställe bauen muß oder die Kühe auf die Farm zurück schicken, und Sie wissen doch, der Alte kann ohne seine Kühe nicht leben, und Sie wissen doch auch, wenn er Geld ausgeben muß, das ist genau so schlimm, wie wenn er sein Blut her geben müßte. Darum ist Herman schrecklich böse auf seine Nachharn und auf die Polizei. Und da Sie sowohl Polizist als auch Nachbar sind, da spuckt er eben. Darum, als der Leutnant dann fortging, hatte Kappie noch eine weitere Seite des Buches gesehen und saß für sich und dachte nach, wie sonderbar doch sein Freund war, daß die große Seelenqual von ihm genommen war und der kleine Schmerz immer noch wiederkommen konnte, und wie der große, ernsthafte Mann vergnügt und lustig im Zimmer herumgegangen war. Und er konnte es nicht verstehen, er begriff nur, daß es sehr tief ging und sonderbar war. An diesem Abend kam mein Neffe zu uns und schlich sich hinter seine Schwester Martha und legte die Hand über ihre Augen und sagte mit verstellter, hoher Stimme: Rate, wer ist es? Und sie sagte sofort: Pieter. Aber er sagte mit verstellter, hoher Stimme: Nein, rate noch einmal. Und sie sagte wieder: Pieter, und versuchte, sich loszumachen und ihn anzuschauen, obwohl das ein aussichtsloses Unterfangen war.
Und er sagte: Nein, rate noch einmal. – Ich gebe es auf, sagte sie. Da beugte er sich nieder und flüsterte ihr etwas zu, so daß sie feuerrot wurde und so böse war, wie ein Mädchen ihrer Art überhaupt werden konnte. Aber er lachte über ihren Zorn und ging auch bei uns im Hause umher und betrachtete alles mit Freude, was er schon so oft gesehen hatte. Sein Vater, der nun von der Influenza genesen war, sah ihn kurz unter den schweren Lidern an und las dann weiter seine Zeitung. Aber seine Mutter und ich betrachteten ihn mit Erstaunen. Und beim Essen war mein Bruder auch gesprächig und erzählte uns die Geschichte, wie er Sybrand Wessels ins Büro des Wohlfahrtsamtes in dem ehemaligen Metzgerladen mitgenommen und Japie gefragt hatte: Warum hast du den Haken da hängen? Und Japie wollte es nicht sagen, denn er wußte, daß der oubaas die Sache mit dem Haken gut kannte, und wenn auch Japie sich selber gern zum Narren macht, so mag er es doch nicht, wenn andere ihn lächerlich machen. Und als mein Bruder merkte, daß Japie die Geschichte von dem Haken nicht erzählen wollte, sah er ihn an, wie er ihn früher auf Buitenverwagting angesehen hatte, als Japie noch ein kleiner Junge war, und wiederholte etwas kalt und streng: Warum hast du den Haken da hängen? Da mußte Japie sein Sprüchlein hersagen, und Sybrand Wessels konnte sich nicht halten vor Lachen, nicht wegen der Geschichte von dem Haken, sondern weil mein Bruder ihm vorher gesagt hatte, wie er Japie zwingen würde, den Witz zu erzählen, und weil er wußte, daß der Neckteufel in meinem Bruder steckte, und weil er wußte, daß der Neckteufel und mein Bruder innerlich miteinander lachten, und weil er wohl sehen konnte, wie verlegen Japie war, daß er den Witz erzählen mußte. So lachten die beiden alten Clowns über den jungen, und der junge war der größte Clown von allen.
– Und wenn ich jetzt zum Wohlfahrtsamt gehe, sagte mein Bruder, so ist der Volkswohlfahrtsbeamte Grobler plötzlich verschwunden. Dann knurrte er uns an. – Ich werde es der Regierung schon zeigen, sagte er, wenn ich dreißig Minuten von meiner Zeit opfere und dafür nur Japie Grobler kriege. Da sagte mein Neffe: Ich will euch eine andere Geschichte erzählen, die ist genau so. Und er erzählte uns die Geschichte vom Herzog von Wellington, der, als er alt und berühmt und nicht mehr im Dienst war, sich eines Abends bei seinem alten Regiment zum Essen ansagte; und alle Offiziere waren freudig erregt und etwas nervös, weil ein so erlauchter Gast kam. Und der Herzog von Wellington erzählte ihnen die Geschichte, wie einmal auf einem seiner Feldzüge sein Bursche nach dem Essen eine Flasche Portwein aufgemacht hatte, und in der Flasche war eine tote Ratte. Da sagte einer der Offiziere beflissen: Das muß eine große Flasche gewesen sein, Sir. Und der Herzog von Wellington sah ihn an und sagte: Es war eine verdammt kleine Flasche. Und der Offizier sagte töricht und beflissen: Das muß eine kleine Ratte gewesen sein, Sir. Und der Herzog von Wellington sah ihn an und sagte: Es war eine verdammt große Ratte. Und dann sah er sich in der Runde um, aber keiner sagte mehr ein Wort. Und meinem Bruder gefiel die Geschichte so sehr, obwohl sein Sohn das Wort verdomde gebraucht hatte, das er nicht leiden kann, daß er plötzlich aus vollem Mund losplatzte und etwas vom Essen auf den Teller fiel. Und wir lachten alle, aber mein Bruder lachte nicht, weil er Zeit brauchte, um sich zu fassen. Er knurrte und sah selber aus wie der Herzog von Wellington, so daß wir alle noch mehr lachten. Und man konnte wohl merken, daß er sich im stillen etwas darauf zugute tat, mit dem Herzog von Wellington verglichen
zu werden, obwohl der ein Engländer gewesen war. Und meine Schwägerin sah ihren Sohn voller Erstaunen an. Am Sonnabend darauf fuhr er nach Pretoria, und da schlug das Grasland die Riesen vom Norden zum ersten Mal in der Weltgeschichte. Und dreißigtausend Menschen klatschten und schrien: Van Vlaanderen, van Vlaanderen. Und sie schrien auch nach dem jungen dominee, denn Pieter van Vlaanderen und der junge dominee hatten es geschafft, sie hatten die Riesen vom Norden geschlagen. Und das Mädchen war auch mit und kam mit strahlendem Gesicht zurück, da sie miterlebt hatte, wie dreißigtausend Menschen verrückt wurden vor Begeisterung wegen der beiden Männer, die sie liebte. Und ich erinnere mich so gut daran, denn das Glück kam noch einmal zu uns wie ein kurzer Sonnenblick aus einem drohenden Himmel. Und ich erinnere mich daran, denn Sergeant Steyn ging mit seiner Familie auf Urlaub an die Südküste von Natal, wo so viele Engländer leben. Und seine Tochter Henrietta, die zehn Jahre alt war, weil der Sergeant ja nicht im Krieg gewesen war, sammelte die kleinen, bunten Muscheln, die dort am Strand liegen. In aller Unschuld sammelte sie sie und tat sie in eine Schachtel und brachte sie mit nach Venterspan, und eine darunter, in aller Unschuld gesammelt, zerstörte das Haus der van Vlaanderen.
26. Kapitel
DANN KAMEN NELLA und die Kinder braungebrannt und gesund von der Farm Vergelegen zurück, denn dort am Rande des Unterlandes ist die Sonne auch im Herbst heiß. Er ging sie vom Bus abholen, freudig erregt, aber auch in großer Bangnis, denn er konnte an nichts anderes denken als an den Brief und wie er sich ihr wieder ganz anvertraut hatte, und sie war wieder zurückgewichen. Während er auf den Bus wartete, der etwas Verspätung hatte, dachte er, vielleicht wäre es doch besser gewesen, wenn er am Abend eine Sitzung gehabt hätte oder wenigstens Leute zu Besuch, halb, um sich gegen sie zu verteidigen, und halb, um zu zeigen, daß er kühl war und ihm die ganze Sache nicht besonders naheging; und er dachte an die Briefe, die sie seitdem gewechselt hatten, in denen nichts stand als die üblichen Berichte in aller Ausführlichkeit und ein paar förmliche Zärtlichkeiten. Als sie ankam, küßten sie sich, nicht kalt, aber mit Zurückhaltung; und als sie ankam, sah sie ihm nicht vom Bus aus entgegen, noch kam sie mit strahlenden Augen auf ihn zu, sondern sie führte die Kinder heran und sagte: Schaut, da ist der Vater. Aber beim Anblick der Kinder brach die Wärme doch aus ihm hervor. Und er nahm den kleinen Buben in den einen Riesenarm und das kleine Mädchen in den anderen und drückte sie erbarmungslos an sich, aber sie schrien nicht einmal, denn so machte er es ja immer. Dann stiegen sie ins Auto und fuhren nach Hause, und es war fast dunkel, also machten sie Licht und ließen die Rolläden herunter. Und sie sagte nicht: Wie schön, wieder daheim zu sein, und sie küßte ihn auch nicht noch einmal, sondern machte
sich mit den Kindern zu schaffen und mit dem Bad und ging im Hause herum, als habe sie tausend Pflichten. Und sie war so zurückhaltend, daß er in sein Zimmer ging und dastand und auf den Lärm horchte, den die Kinder beim Baden machten, und er hörte, wie sie sagte: Nun seid brav, dann hole ich den Vater. Und er dachte, er wolle nicht zu ihnen gehen, denn wie konnte eine Frau so blind sein? Er wollte einfach fortrennen und ins »Royal« gehen und dort mit seinen Freunden trinken und bei ihnen sitzen bleiben und erst wiederkommen, wenn das Haus dunkel war. Da kam sie ins Zimmer und schloß die Tür und kam mit strahlenden Augen auf ihn zu und stracks in seine Arme und sagte: Liebster, Liebster. Und er hielt sie in den Armen, dankbar und hungrig, und küßte sie auf Mund und Augen und Hals und legte seine Hände um ihre Brust. Und sie zog seinen Kopf zu sich herunter und flüsterte: Der Brief, es tut mir so leid, und da war seine Freude vollkommen. Dann sagte sie: Kriegen wir heute abend Besuch? Und er sagte: Nur drei Leute. Und sie sagte: Ich habe keine Verwandten mitgebracht. Da zog er sie wieder an sich und küßte sie auf Mund und Augen und Hals, und sie sagte, aber nicht abweisend: Komm, sei vernünftig, komm zu den Kindern ins Badezimmer. Also gingen sie zu den Kindern, und die schiere Lebensfreude brach in ihm durch, so daß er sie in der Wanne herumzog und ihnen wehgetan hätte, wäre er nicht bei all seiner Kraft so vorsichtig gewesen. Dann gab er seinem Sohn einen Klaps, weil er so lange fortgewesen war, und küßte ihn zum Heile-Segen; und dann mußte die Tochter auch ihren Klaps kriegen. Dann mußten sie beide Klapse kriegen, weil sie ihm nur Buntstiftzeichnungen geschickt hatten und keine Briefe; und dann kriegten sie noch beide Klapse, weil der Bus Verspätung gehabt hatte. Und sie lachten und kreischten und spritzten das
ganze Badezimmer voll, so daß Nella hereinkam und sagte. Ihr seid alle miteinander furchtbar ungezogen, solchen Unfug zu machen. Dann aßen sie zu Abend, und weder er noch sie konnten essen, denn sie waren krank vor Liebe. Die Kinder wurden zu Bett gebracht, und Johannes ging in sein Zimmer, und die Küchentür wurde abgeschlossen, so daß sie das Haus für sich allein hatten. Und dann war sie es, nicht er, die ein Lager für sie beide vor dem offenen Feuer machte, das hatten sie seit der allerersten Zeit ihrer Liebe nicht mehr getan. Und ihre Freude aneinander war so vollkommen, daß keine Worte nötig waren außer den Worten der Liebe. Und er brauchte nichts davon zu sagen, daß seine Liebe Körper und Seele in sich begreife, noch brauchte er von Gefahr zu sprechen, denn da gab es keine Gefahr mehr, und sie wäre auch nie wiedergekommen, wenn sie nur alles ganz bis auf den Grund verstanden hätte. Und er küßte ihre Füße und dachte daran, und auch sie dachte daran, daß sie geweint hatte, als er das zum erstenmal getan hatte; aber sie litt nicht, daß er so blieb, sondern zog ihn zu sich herauf, seinen Kopf neben den ihren, daß sie gleich wären. Und er sagte zu ihr: Ich bete dich an. Und sie sagte zu ihm: Ich bete dich auch an, so daß das Schmerzenszeichen da im Dunkeln zwischen seinen Augen stand. Dann stand sie auf und zog ein Hausgewand an und machte über dem offenen Feuer Kaffee. Und es brauchte nichts herbeigeholt zu werden, denn es stand alles bereit. Sie sagte: Endlich kannst du rauchen. – Ich habe nicht einmal meine Pfeife bei mir. – Du bist ja in einem schönen Zustand, sagte sie. Und sie ging in ihrem Hausgewand ihm Pfeife und Tabak holen. Als sie zurückkam, sagte sie: Wo ist denn deine Lieblingspfeife?
– Die ist zerbrochen. – Ag, wie schade. Wie hast du das gemacht? – Sie ist mir im Büro heruntergefallen. – Du Tolpatsch, sagte sie und küßte ihn. Dann gab sie ihm einen Zwieback von der neuen Sorte, und er sagte: Das ist der beste Zwieback der Weltgeschichte. Und sie lachten, denn wenn man in der Liebe so sicher ist, kann man über die swartgalligheid lachen, als ob sie überhaupt keine Bedeutung habe. Und sie redeten über dies und jenes und über das großartige Wettspiel in Pretoria und über die verliebte Martha, und sie hielt Hände und Füße ans Feuer und saß da wie ein Kind, und das hatte er so gern. Dann tranken sie den Kaffee aus und aßen die Zwiebäcke auf, und er legte die Pfeife fort und zog sie wieder in seine Arme, und ihre Liebe ward wieder neu. Es schlug zwölf vom Kirchturm, als sie ins Schlafzimmer hinaufgingen, und er dachte mit Staunen, daß das der einzige Stundenschlag war, den er an diesem Abend gehört hatte.
Am nächsten Morgen nahm er Mütze und Gerte und ging zur van Onselenstraße hinauf. Herman Geyer stand am Gartentor, und der Leutnant rief zu ihm hinüber, ehe er sich noch abwenden konnte: Goeie more, Meneer Geyer, schönes Wetter heute! Da wandte der alte Geyer sich ab und sagte kein Wort, und der Leutnant ging lächelnd seines Weges. Als er zur Polizeiwache kam, stand der kleine Vorster stramm und strahlte ihn voller Verehrung an, und Sergeant Fourie sagte: Wann befehlen Sie die Inspektion, Herr Leutnant? Und der Leutnant sagte mit dröhnender Stimme: Wann es Ihnen paßt, morgens, mittags oder abends, so daß der Sergeant ihn erstaunt ansah, und der kleine Vorster war stolz auf ihn. Denn Sergeant Steyn war auf Urlaub gegangen an die Küste von Natal, wo die
kleinen, bunten Muscheln zu Tausenden am Strand liegen. Als er in seinem Zimmer war, kam der Hauptmann herein, und er stand auf und blieb stehen, bis der Hauptmann sagte: Setzen Sie sich, van Vlaanderen. Dann sagte der Hauptmann: Nächsten Monat gehe ich auf Urlaub. – Ja, Sir. – Ich wollte Ihnen die Vertretung übergeben, aber man ist der Meinung, daß Sie zu jung sind. Darum schickt man Hauptmann Jooste aus Pretoria. Sind Sie enttäuscht? – Nicht sehr, Sir. – Gut. Jooste ist ein anständiger Kerl, Sie werden schon sehen. Jedenfalls, wenn Sie die Vertretung hätten übernehmen müssen, so könnten Sie nicht zu jeder Tages- und Nachtzeit Rugby spielen. Der Hauptmann lächelte nicht, aber plötzlich schob sich seine ganze Stirn in die Höhe, das war eine merkwürdige Angewohnheit von ihm, und eigentlich war es eine Art Lächeln. – Wir können nicht zulassen, daß die Amtspflichten mit dem Rugby in Konflikt geraten, sagte er. Dann sagte er im Hinausgehen: Wegen des Autos ist entschieden worden, daß wir nichts zu bezahlen brauchen. So wäre der Tag vollkommen gewesen, wäre nicht das Mädchen allzu bald zu ihrer Ordnung und Gewohnheit zurückgekehrt. Er spürte es beide Male, mittags und abends, als er nach Hause zurückkam, daß sie sich schon wieder auf sicheren Grund zurückzog, in eine Welt, wo ihr nichts geschehen konnte, und sie ahnte nicht, daß die Welt, die sie verließ, viel sicherer war, weil sie die gutgemeinte und aufrichtige und verkrampfte Vorstellung hatte, daß die körperliche Liebe einen Ort habe, wohin sie gehöre und von wo sie herbeigerufen werden müsse, und wie und wodurch sie herbeigerufen wurde, das weiß Gott, ich weiß es nicht. Und warum sich das Mädchen mitten aus
solcher Glückseligkeit so bald zurückzog, das weiß Gott, ich weiß es nicht. Und hätte er an dem Tag die Wahl gehabt, so hätte er weder Ruhm noch Reichtum gewählt, sondern noch einen Abend mit ihr am Feuer. Ach, welch eine herrliche Gabe Gottes ist die Liebe, die Leib und Seele und Geist in sich begreift, und warum verstand sie das nicht, der eine solche Liebe gehörte, und warum kann ich es verstehen, die es nie erfahren hat? Und warum habe ich, da ich es doch verstehe, es nie erfahren? Denn ich hätte gegeben, ohne Rücksicht auf Sitte und Ordnung und ganz rückhaltlos. Und wäre ihm so gegeben worden, dann – das behaupte ich – wäre er nicht zugrunde gegangen. Denn hab ich’s nicht hundertmal mit eigenen Augen gesehen, wie Männer und Frauen, denen dies vorenthalten wird, darnach suchen gehen? Wie jemand, der einen Edelstein verloren hat und ihn im Abschaum und im Schmutz sucht, und jedermann betrachtet ihn mit Mitleid und Abscheu, und niemand weiß, wie verzweifelt er ist. Und ist nicht Maria Duvenage, nachdem sie zwanzig Jahre verheiratet war und ein Kind nach dem anderen bekommen hatte und regelmäßig zur Kirche ging, plötzlich mit einem Taugenichts davongelaufen, der sie in ratlosem Elend sitzen ließ, so daß sie sich jetzt an jeden Hergelaufenen in Johannesburg verkauft? Die Leute haben ihr üble Namen beigelegt, aber ich habe sie ihre Geschichte erzählen hören, als sie mich zu den Mimosenbäumen auf Buitenverwagting herausrufen ließ; und vorher schon wußte ich, daß ihr Mann ein harter, liebloser Mensch war, der ihren Leib genoß und ihre Seele zerstörte und streng und korrekt im schwarzen Sonntagsanzug einherfuhr. Aber Gott vergebe mir, wenn es unrecht ist, was ich schreibe, wenn es gegen Sein Gebot verstößt; denn ich glaube, daß Seine Gebote auf Liebe gegründet sind, und wenn man sie auch nicht versteht, so muß man Joch gehorsam sein. Und weil ich gehorsam bin, darum
schreibe ich ja dies alles. Und doch, mein Kind, verstehe ich dich und jedes Wort, das du geschrieben hast. Und ich sage bei mir selbst: Mein Gott, mein Gott, was hat er getan, daß er zugrunde gehen mußte? Als er also nach Hause kam, war sie schon in sich zurückgewichen. Unnd als sie an dem Abend schlafen gingen, sprach sie ihr Gebet und küßte ihn und ging zu Bett. Und als ob es ihm nichts ausmachte, ging er auch zu Bett und löschte das Licht und lag dort allein und doch nicht allein, denn die schwarze Schwermut, die swartgalligheid, kam und lag bei ihm und horchte mit ihm auf den Stundenschlag.
Aber man soll nicht glauben, daß ich irgend jemanden verurteile, noch soll man denken, daß ich in kindischer Unwissenheit schreibe. Denn ich weiß wohl, beides hat seine Zeit: Weinen und Lachen, Trauern und Tanzen, Zerstören und Aufbauen, liebendes Beieinandersein und Alleinsein. Und wir essen und trinken der Sitte und Ordnung gemäß, und Leute wie mein Bruder halten es auch mit starken Getränken so, außer wenn er krank war. Und es ist eine gute Sache, ein Festmahl zu halten, zu essen, zu trinken und fröhlich zu sein, aber von Festmählern lebt man nicht. Und darum kann ich niemanden verurteilen. Aber warum hat sie nicht verstanden, daß dies ein Seelenhunger nach Sicherheit war, wenn nicht nach Liebe? Denn ich weiß gewiß, er hätte Ruhm und Ehre drangegeben, hätte er nur in der Sicherheit der Liebe leben dürfen; und er hätte nicht darnach gefragt, ob man ihn achtete, und wäre ein zufriedener Durchschnittsmensch gewesen, hätte er nur in der Sicherheit der Liebe leben dürfen. Und hätte er so leben dürfen, so wäre er vielleicht weniger förmlich und ernst gewesen und hätte sich weniger straff und gerade gehalten, und
vielleicht hätte er auch einmal einen groben, saftigen Witz gemacht und auch sonst seine Fehler gehabt, wie alle sie haben. Dann hätten sie wohl gesagt: Ja, der van Vlaanderen, das ist mal einer; sie hätten gesagt: Pieter, du alter Soundso (sie brauchen da ein bestimmtes Wort), komm und trink eins. Statt dessen sagten sie: Ja, Pieter, oder: Nein, Pieter; oder: Ja, Herr Leutnant, oder: Nein, Herr Leutnant. Und es gab sogar welche, die sagten: Herr Leutnant, wenn Sie erlauben, wird es mir eine Ehre sein, eine Runde zu bezahlen. Dennoch kann ich niemanden verurteilen, denn wenn man damit anfängt, wo soll man aufhören? Soll ich mich selber verdammen, weil ich an die Tür hätte hämmern und unaufhörlich hätte rufen sollen? Oder soll ich meinen Bruder verdammen, weil er stolz war auf den Jungen, der ein wildes Pferd meistern konnte, und sich des Mädchens schämte, das eine wilde Blume anstaunte? Oder soll ich den Sergeanten seines Hasses und seiner Freude wegen verdammen? Oder Coenraad Willemse, der Stephanie auf die Straße setzte? Oder das Mädchen selber, die um des Kindes willen zur reißenden Bestie wurde? Und soll ich den dunklen, unglücklichen Jungen verdammen, der so seltsame und einsame Freuden fand und tapfer und sanft war und Herr über alles außer einem, und dann ging er wissentlich und willentlich und suchte das eine im Abschaum? Und soll ich denn meinen Gott verdammen und den Herrn allen Mitleids, der uns alle geschaffen hat und mit dunklen, sonderbaren Dingen erfüllt, so daß der eine gesetzestreu und gehorsam seinen Weg geht, und der andere geht zugrunde? Darum kann ich niemanden verdammen; ich kann nur wünschen, das Mädchen wäre anders gewesen. Also kam die schwarze Schwermut wieder, die swartgalligheid. Und sie stritten sich über eine dumme Kleinigkeit. Und darum war ihr jämmerlich zumute, und sie wußte nicht, was da zu tun sei, und wünschte, sie wäre wieder
auf Vergelegen bei Vater und Mutter und mit ihren Kindern, das schien ihr eine zuverlässigere Liebe zu sein; und sie war auch im tiefsten Herzen gekränkt, daß das der Dank sein sollte für ihr schüchternes, strahlendes Geschenk. Und er rannte in seinem Jammer aus dem Haus und lief im Dunkeln mit all seinem Zorn in der Stadt umher, und dann ging er wieder zu dem leeren Grundstück, wo das stinkende Unkraut wächst, und brach das Gesetz mit Wissen und Willen.
27. Kapitel
UND DIE ENTSETZLICHE Erkenntnis seiner selbst lag dunkel und schwer in ihm und ließ kein Lachen aufkommen, auch nicht bei seiner Frau, so daß die Kinder die einzigen Geschöpfe waren, die in diesem Hause noch lachten. Düster und freudlos ging er zur Arbeit, düster und freudlos kam er zurück und spielte mit den Kindern beim Baden, weil er das immer tat, aber seine Frau hörte und sah wohl, daß es nicht dasselbe war. Aber was konnte sie anderes tun als es ertragen? Japie kam mit seiner Aktenmappe zu ihm und sagte: Bruderherz, hast du mit Tante Sophie wegen Stephanie gesprochen? Denn sie drängt immer noch darauf, daß ich das Mädchen fortschicke. – Nein. – Es hat keinen Zweck, sagte Japie. Jede Gemeinde muß ihre schwachen Glieder mit durchschleppen. Aber deine Tante will nicht auf mich hören, und wenn du nicht mit ihr sprechen willst, was kann ich dann tun? – Vielleicht, sagte der Leutnant, wäre es wirklich besser, sie fortzuschicken. Und Japie wurde böse und sagte: Warum denn, um Gottes willen? Aber der Leutnant konnte nicht antworten. Da schlug Japie mit der Faust auf den Tisch und sagte: Welches Gesetz gibt mir das Recht dazu? Aber auch darauf konnte der Leutnant nicht antworten. Da stand Japie auf und sagte: Ich habe immer geglaubt, du trittst für die Schwarzen ein. Das Mädchen hat Arbeit, und sie arbeitet gut. Tut sie denn nicht genau das, was der Richter ihr befohlen hat? Warum in drei Teufels Namen soll sie denn fort? Und der Leutnant antwortete nicht. Japie sah ihn gereizt an.
– Pieter, ich verstehe dich nicht, sagte er. Und das stimmte, daß er ihn nicht verstand, und er verließ des Leutnants Zimmer und wunderte sich, warum sein Freund ihn wohl so behandelte. An demselben Abend kam der junge dominee zum Hause meines Neffen und bat Nella mit all seinem knabenhaften Charme, ob er ihren Mann allein sprechen dürfte. Also gingen die beiden Männer in das Zimmer, in dem die Bücher und die Marken waren. Der junge dominee setzte sich und sagte mit strahlendem Gesicht zu dem anderen: Pieter, ich bin verliebt. Und der andere konnte es kaum ertragen, daß sie mit ihren Liebesgeschichten zu ihm kamen, aber er nahm all seine Kraft zusammen und rang sich ein Lächeln ab, so daß jedermann hätte sehen können, daß es kein wirkliches Lächeln war, nur ein Verliebter nicht. – Ach, du bist verliebt, sagte er. Dann sagte er, immer noch mit demselben Lächeln: Das ist mal eine Überraschung. – Gibt es Hoffnung für mich, Pieter? – Bist du denn blind? – Nein, blind bin ich nicht. Ich glaube schon, daß sie mich mag. Aber ich möchte mir nichts anmaßen. – Hast du denn ihre Augen nicht gesehen? – Was meinst du damit, Pieter? Mein Neffe stand auf und ging im Zimmer umher. – Wenn zu Hause die Rede auf dich kommt, sagt meine Mutter, sie kann dich wohl leiden, und meine Tante sagt, sie kann dich wohl leiden, und ich sage, ich kann dich wohl leiden. Aber diese Schwester von mir, die weiß nicht, was sie sagen soll; die sitzt nur da und hat Angst, daß jemand plötzlich auf steht und sie anschreit: Kannst du ihn leiden? Dann würde sie heulend aus dem Zimmer laufen.
Der junge dominee saß da, ganz atemlos vor Wonne. – Ist das wirklich wahr, Pieter? – Natürlich ist es wahr. Kannst du nicht hören? – Ich habe es schon gehört, Pieter. Aber ich kann es nicht recht glauben. – Sehe ich aus wie ein Lügner? Da sagte der junge dominee: Nein, nein, er meine nicht, daß mein Neffe aussähe wie ein Lügner, und mein Neffe solle ihm doch verzeihen, denn er wisse ja kaum, was er rede, er sei deurmekaar, das heißt ganz durcheinander, und er sei onderstebo, das heißt auf den Kopf gestellt, und seine Lage sei ellendig, das heißt etwas noch Schlimmeres als jämmerlich, und vielleicht ist es zutreffend, zu sagen, daß seine Lage jammervoll war. Und er hatte keine Ahnung, daß er seinem Freund gerade so gut ein Messer hätte ins Fleisch jagen können wie sagen, daß dies Entzücken dem äußersten Jammer gleichkam. Und sein Freund sagte: Ellendig, ellendig. Und der Verblendete sagte: Ja. ellendig, und fuhr fort, zu beschreiben, wieso sein Jammer Entzücken sei und sein Entzücken Jammer, bis der andere dachte, wie lange er es wohl noch aushalten könne, diese Liebesgeschichten anzuhören. – Und, Pieter? – Ja? – Und dein Vater? – Und mein Vater? – Ich habe Angst vor ihm, Pieter. Mein Neffe lachte – genau so wie sein Vater. – Da wärest du nicht der erste. – Manchmal glaube ich, daß er mich nicht leiden kann, Pieter. – Ag, er kann dich schon leiden, sonst würde er sie nicht necken.
– Neckt er sie denn, Pieter? – Er erzählt uns allen, was für ein braves Mädchen sie ist, immerzu geht sie in die Kirche. Und der junge dominee verfiel in neues Entzücken. – Soll ich ihn also fragen? sagte er. Und wieder lachte mein Neffe genau wie sein Vater. – Wer soll ihn denn sonst fragen? sagte er. – Das stimmt wohl, das stimmt. – Natürlich stimmt es. Und wenn du mit ihm sprichst, sag ja, wenn du ja meinst, und sag es so, daß es ganz klar ist, daß du es meinst; und sag nee, wenn du nee meinst, aber sag nur nicht ja, nee, dann denkt er nur, du hast Angst vor ihm. – Aber ich habe doch Angst vor ihm, Pieter. – Ja, aber das weiß er nicht, und du darfst es ihn nicht merken lassen. – Danke für den guten Rat, Pieter. Und mein Neffe lachte wieder und sagte: Raad is goedkoop, das heißt: Rat ist billig. Und dann sagte er: Willst du noch einen Rat haben? – Ja, Pieter. – Frag sie zuerst. – Ich wollte deinen Vater um Erlaubnis bitten, sie zu fragen. – Das ist altmodisch. – Gut, Pieter. Und, Pieter? – Ja? – Ich wollte dich noch etwas fragen. – Ja? – Würdest du einwilligen, diaken in unserer Kirche zu werden? Und mein Neffe ging wieder im Zimmer auf und ab. – Diaken, sagte er. – Ja, Pieter. – Ich glaube, lieber nicht.
Der dominee sagte, fast mit einem leichten Vorwurf: Man könnte es als Pflicht betrachten. Mein Neffe setzte sich an den Tisch. – Als Pflicht, sagte er. – Ja, Pieter. Die ganze Gemeinde hält dich in hohem An sehen. Der Herr hat dir große Gaben verliehen. Sollte Er sie nicht von dir zurückerhalten? Könnte es nicht sein, daß ein junger Mensch bei sich selber sagt: Sieh an, Pieter van Vlaanderen, was der tut, will ich auch tun? Da schloß Pieter van Vlaanderen das Visier und sah den jungen dominee stracks an und sagte: Dazu bin ich nicht gut genug. – Ach, das ist natürlich recht, daß du das sagst. Aber oft, wenn jemand sagt, ich bin nicht gut genug, das zu tun, aber ich will es tun, dann findet er in sich die Kraft, besser zu sein. – Wirklich? Und der junge dominee, der Ironie nicht gewahr werdend, sagte ernsthaft: Ganz bestimmt, Pieter, so daß der Ältere ihn ob seiner Unschuld beneidete. – Ich will’s mir überlegen. – Mehr will ich ja auch gar nicht, Pieter. – Ich will’s mir überlegen, aber versprechen kann ich nichts. Er sah den jungen dominee wieder stracks an. – Es gibt dabei sehr viel zu überlegen, dazu muß ich mir Zeit lassen. Der junge dominee sagte bewundernd: Du bist sehr bescheiden. – Bescheiden? – Ja, sehr bescheiden. Mein Neffe lachte seines Vaters Lachen. – Es braucht wohl mehr als Bescheidenheit, damit man ein diaken sein kann. Er stand auf.
– Komm, sagte er, laß uns Nella die große Neuigkeit er zählen. Der junge dominee streckte ihm die Hand hin. – Pieter, wünsche mir Glück. Mein Neffe ergriff seine Hand. – Ich wünsche dir Glück, sagte er. Aber mach dir keine Sorgen, er wird ja sagen. Und sie lachten darüber, daß der eine so leicht die Gedanken des anderen erraten konnte. Dann fiel den sanften Menschen eine böse, häßliche Spottlust an, und er sagte: Erzähle Nella alles, laß ja nichts aus, sie hört nichts lieber als eine richtige Liebesgeschichte. Als er fort war und Nella zu Bett gegangen war, ging ich in mein Zimmer und überdachte die Sache mit dem diakenwerden. Ich wußte nicht, ob es mir helfen könnte oder nicht, denn wenn ich imstande war, ein heiliges Gelübde zu brechen, warum sollte ich imstande sein, ein anderes zu halten? Und wenn ich ein Gesetz übertrat, warum sollten dann zwei Gesetze besser sein? Dann dachte ich, es würde mir vielleicht eine höhere Pflicht auferlegen, und die hohe Bedeutung dieser Pflicht würde mir helfen; aber warum sollte einer imstande sein, einer hohen Pflicht zu genügen, wenn er eine niedere nicht erfüllen konnte? Ich dachte an die Menschen zur Zeit der frühen Kirche, die sich unglaubliche Gelübde und Leiden auferlegt hatten und dabei verrückt wurden statt heilig. Und ich dachte mit Neid an den jungen dominee und den kleinen Vorster, die so offene Augen und Gesichter hatten, daß man ganz klar sah, sie hatten nichts zu verbergen. War ich nicht auch einmal so gewesen? Oder vielleicht nicht, ich wußte es nicht mehr. Die Gedanken und Handlungen fielen mir ein, die mich beunruhigt hatten, als ich ein Knabe war, aber ich glaube, das ist wohl bei fast allen Knaben so. Sicher doch hatte ich ein offenes Gesicht. Aber ich konnte mich nicht
erinnern. War ich zu sehr auf Lob ausgewesen, so daß ich mich in mich selbst zurückzog und alle meine Schwächen verbarg? Aber ich wußte es nicht mehr. Ich wußte auch nicht mehr, wann ich eigentlich so sündig geworden war, denn in der ersten Zeit meiner Liebe war ich es nicht. Ich saß da in großer Seelenqual und sehnte mich nach meiner fugend, daß ich noch einmal von vorn anfangen und alles besser machen könnte. Und ich dachte an die Farm Buitenverwagting und an meine einfachen Freuden, an den Ruf des Vogels piet-my-vrou, der mich noch heute mit unaussprechlichen Gedanken und Erinnerungen erfüllt. War ich denn damals auch sündig, da ich solche Freuden an der Schöpfung hatte? Wieder gelobte ich, niemals mehr das unsagbare Verbrechen zu begehen, und ich beschloß, kein neues Gelübde zu machen, ehe ich nicht das erste halten konnte. Und ich dachte an Nella und Martha und an die Frau meines Bruders Frans und an ihre einfache Keuschheit und wünschte, Gott hätte mich als Frau erschaffen.
Also kam der junge dominee zu uns und ging mit meinem Bruder in die sitkamer, und seine Frau und das Mädchen und ich blieben ängstlich wartend zurück. Denn mein Bruder hatte die jungen Leute, die sich um seine Töchter bewarben, manchmal recht sonderbar behandelt. Ich habe schon erwähnt, daß mein Bruder zwei Arten von Späßen machte, und bei der einen durfte man lachen und bei der anderen nicht; und wenn wir uns da auch auskannten, so kannten sich die jungen Leute nicht immer aus. Und manchmal lachte einer über einen Spaß der zweiten Art, und die ganze Familie saß stumm und beklommen da, so daß der arme Junge ganz allein lachte; dann sah mein Bruder ihn verächtlich unter den schweren Augenlidern an, und der kam dann nicht wieder. Das war der
Grund, warum meine Nichte Henrietta den Dick le Roux nicht geheiratet hatte, der ein guter Junge war, aber etwas unsicher; und darum heiratete sie dann ihren schweigsamen Mann, denn der lachte nie, und ein Witz galt ihm so viel und so wenig wie der andere. Der konnte in unserem Haus auf Buitenverwagting Abend für Abend sitzen, als sei er der einzige Mensch im ganzen Haus. Und als Emilys Bewerber kam, der sie dann nach Johannesburg entführte, da brach sich mein Bruder Gott sei Dank das Bein, und als es besser wurde, war der junge Mann schon wie Kind im Hause und kannte sich genau aus. Dann, nach dreißig Minuten, kam mein Bruder mit dem jungen dominee herein, und beide waren sehr ernst. Und mein Bruder trat zu seiner Tochter und sagte, als ob er es gar nicht glauben könne: Ich höre, du willst mich verlassen. Sie stand auf und begrub ihr Gesicht in des Vaters Bart und sagte: Nein, pappie. – Hören Sie das, dominee? Sie will nicht fort. Dann kam die teuflische Necklust über ihn, und er sagte: Siehst du, jetzt brauchst du nicht mehr so oft zur Kirche zu gehen. Dann küßte er sie und brummte: Ich hoffe, daß du glücklich wirst, Tochter. Dann sagte er zu dem dominee: Haben Sie ihr schon einen Kuß gegeben? Der dominee wurde so rot, wie einer nur werden kann, und sagte: Einmal, meneer. Und daran, sage ich, kann man sehen, wie wir immer noch nach der alten Sitte leben. Und mein Bruder brummte: Was soll denn dabei aus der Welt noch werden? Also wird es höchste Zeit, daß sie einen Kuß kriegt. Dann trat er zu seiner Frau und küßte sie und sagte: Du warst nicht so schüchtern.
Und der junge dominee ging zaghaft auf sein Mädchen zu, aber man kann sich vorstellen, was für ein Kuß das war, wo wir alle zusahen. – Ich will nicht behaupten, daß sie die beste von meinen Töchtern ist, sagte mein Bruder, aber die schlechteste ist sie auch nicht. Dann knurrte er mich an. – Magtig, Sophie, wie lange sollen wir noch auf den Wein warten?
28. Kapitel
UM DIESE ZEIT starb eine schwarze Frau in Madunas Land an den schwarzen Pocken, und eine andere in unserer lokasie in Venterspan erkrankte daran. Und ich sage offen, meine Schwägerin und ich und dominee Stander und des Hauptmanns Mutter und der Hauptmann selber und auch mein Neffe, wir alle schämten uns der lokasie von Venterspan; denn wenn es auch stimmt, daß wir das Christentum in den dunklen Erdteil gebracht haben, so haben wir doch auch andere Dinge mitgebracht. Und als die schwarzen Pocken ausbrachen, da gerieten manche in Panik. Es war eine schwere Zeit für die Polizei; die Ärzte und Pflegerinnen kamen aus Johannesburg und Pretoria, und sie arbeiteten Tag und Nacht und impften alle Leute im Grasland, weiße und schwarze. Labuschagne baute eine Maschine zusammen, die elektrisches Licht erzeugte, und sie arbeiteten Tag und Nacht in jeder kleinen Polizeiwache auf dem Lande und auf allen Farmen und in der Länge und Breite im ganzen Madunaland. Und meine Schwägerin, die eine wahrhafte Jüngerin unseres Herrn Jesu Christi ist, ging selber und arbeitete in der lokasie mit zwei Dienstboten von Buitenverwagting, und sie räumten den Schmutz und Abfall weg und schütteten Desinfektionsmittel in die Abflußgräben, aber das waren gar keine Abflußgräben, sondern die Furchen und Rinnen, die das weggeschüttete, schmutzige Wasser sich selber gräbt, ehe es schwarz und sauer in den Büffelfluß abfließt. Und mein Bruder redete weder dafür noch dagegen, außer daß er sie manchmal anbrummte: Genau das wünsche ich mir, die Pocken im Haus.
Und alle, die noch irgendein Gerechtigkeitsgefühl haben, werden sagen, wenn sie von dieser Zeit der Angst und harten Arbeit sprechen, daß der Leutnant am meisten getan hat. Er holte alles, was nötig war, aus Pretoria und verteilte es hierhin und dorthin und sorgte dafür, daß Autos und Lampen zur Verfügung waren, und traf alle Verabredungen, so daß es nicht ein einziges Mal vorkam, daß Ärzte und Pflegerinnen und Impfstoff und Impflinge nicht alle beieinander waren. Und er war es auch, der die Schwarzen alle zusammenbrachte in den lokasies und unten in Madunas Land und ihnen erklärte, daß sie keine Angst zu haben brauchten, daß sie nicht sterben würden, wenn sie nur zuließen, daß man sie ein bißchen am Arm ritzte. Und sie gehorchten ihm, weil er Macht über sie hatte, nicht nur wegen seines hohen Wuchses und Ranges, sondern die seltsame Macht, die einem Manne tief zu eigen sein kann. Aber er war sterbensmüde. Und am dritten Abend kam er sterbensmüde aus Madunas Land zurück und ging in sein Zimmer auf der Wache und meldete ein Gespräch nach Pretoria an, um mehr Impfstoff zu bestellen, denn während wir im Grasland gegen die schwarzen Pocken kämpften, konnten wir Tag und Nacht den Fernsprecher benutzen. Während er auf das Gespräch wartete, legte er den Kopf auf die verschränkten Arme, aber er schlief nicht, er dachte nach, nicht über die Pockenseuche, sondern über seine eigene. Er hörte also, daß der Hauptmann ins Zimmer kam, aber er fühlte sich so elend, daß er sich schlafend stellte. Und der Hauptmann legte die Hand auf des Leutnants Schulter und stieß ihn sachte an und sagte: Pieter, gehen Sie nach Hause. Nun hatte der Hauptmann ihn noch nie beim Vornamen genannt, noch rührte er je jemanden an. Als also der Hauptmann ihn beim Vornamen anredete und ihn anfaßte, wie manche Väter ihre erwachsenen Söhne anfassen, und manche
tun es nie, und weil er so sterbensmüde und so tief im Elend war, ergriff ihn eine tiefe Bewegung ganz innen, und etwas stieg in ihm auf, das, wenn er nicht alle Kraft zusammennahm, aus Kehle und Mund hervorbrechen würde wie bei einem Mädchen oder bei einem Kinde. Darum konnte er weder sprechen noch den Kopf heben noch aufstehen. Und der Hauptmann, als er sah, daß er wach war, und auch, daß er sich kaum beherrschen konnte, dachte, es sei die Müdigkeit, und wandte sich ab und ging hinüber und stand vor der Landkarte des Graslandes. Da stand der Leutnant auf und sagte: Ich warte auf Pretoria, Sir. – Ich werde auf Pretoria warten. Gehen Sie nach Hause. Der Hauptmann kam und setzte sich auf des Leutnants Stuhl und nahm ein Blatt Papier vom Tisch auf. – Ist das die Liste? – Ja, Sir. – Also gehen Sie nach Hause. Sie haben genug für zwanzig geschafft. Da stieg es wieder in ihm auf, als wolle es sich nicht abweisen lassen, als ob es ihm befehle: Sprich und sprich und sprich. – Ich muß Ihnen etwas sagen, Sir. Der Hauptmann hob die Liste auf und sagte: Hat es etwas hiermit zu tun? – Nein, Sir. – Dann, sagte der Hauptmann befehlend, hat es bis morgen Zeit. Da läutete das Telephon, und er hob grüßend und verabschiedend die Hand und griff nach dem Hörer. Als das Gespräch zuende war, verspürte er eine unbestimmte Unruhe und ging in den Flur hinaus und durchs Meldezimmer bis auf die Straße. Aber die ganze Stadt war dunkel und still, nur der
Wind summte in den Bäumen. So kam es, daß alles ungesagt blieb, und als der Morgen kam, da sagte der Leutnant dem Hauptmann etwas ganz anderes.
29. Kapitel
DEN TAG, an dem das Picknick war, werde ich nie vergessen. Solange ich lebe, werde ich ihn nicht vergessen. Wir waren zu siebt, mein Bruder und seine Frau und Pieter und Nella mit den beiden Kindern und ich; denn Martha war nach Rusfontein gegangen, um dem jungen dominee beim Rugby zuzusehen. Mein Bruder saß vorn im Wagen mit Sohn und Enkel, und wir packten ihn in Decken ein, denn er war noch schwach von der Influenza her, und auch wegen seines Herzens, aber das wußte er nicht. Es war, als ob man einen Löwen in einem Auto verstaut, denn er knurrte und warf den Kopf herum genau wie ein Löwe, und man weiß nicht, ist ihm wohlig, oder wird er einem plötzlich den Kopf abbeißen. Ach, es war ein ganz herrlicher Tag, und die Sonne schien, als würde sie immer und ewig scheinen, und nicht eine Wolke war in der blauen Himmelsschale, und das Grasland war im Gilben nach dem Winter hin, und der Großvater sprach mit dem Enkel und hielt die kleine Hand, rein aus Freude daran, so daß mich ein Gefühl überkam, als spräche er in Wirklichkeit mit seinem Sohn. Denn das ist bei allen guten Menschen so, daß sie gegen das Ende ihres Lebens milder werden. Bei der langen Kloof setzten uns die beiden Männer ab, wo die Berge in felsigen Stufen ins Unterland abfallen, und fuhren weiter nach dem See. Dort fuhren sie den Wagen geräuschlos in eine Baumgruppe hinein und stiegen geräuschlos aus mit den Ferngläsern und dem Buch und mit einem Stuhl für meinen Bruder. Eine Stunde oder länger blieben sie in ihrem Versteck und beobachteten die Vögel; das kann ich nicht recht verstehen, denn ich liebe Gottes Geschöpfe, wie sie wohl jeder liebt, aber
wenn es zur Besessenheit wird, dann sitzt einer und sitzt und beobachtet, bis er sich eine Lungenentzündung holt wie Japie Louw und fast daran stirbt. Aber ich erinnere mich, daß sie den grauen Reiher sahen und den hamerkop und im Gras nah dem Wasser die kievietjies, den gewöhnlichen und den, welchen die Engländer den Schmied nennen, weil er ein Geräusch macht, als ob ein Hammer auf den Amboß schlägt; auch den Sekretärvogel, der sorgsam und feierlich im Veld herumwandert und nach Schlangen ausschaut, und auf dem Wasser das bleshoender, die gelbschnabelige Ente und das kleine duikertjie, das die meiste Zeit unter Wasser zu sein scheint. Dann sagte mein Bruder plötzlich leise: Sieh! – Wo, Vater? – Dort. Und dann, da der Sohn nichts sah, trat der Vater hinter ihn und schob den Arm über die Schulter des Sohnes und deutete auf den Vogel. Aber der Sohn sah den Vogel nicht, denn wiederum ergriff es ihn ganz tief innen, und etwas stieg in ihm auf, das, wenn er nicht alle Kraft zusammen nahm, aus Kehle und Mund hervorgebrochen wäre wie bei einem Mädchen oder bei einem Kinde. Darum konnte er weder sehen noch sprechen. Da sagte der Vater erregt: Sieh dort, mein Junge, er läuft! Und als der Sohn keine Antwort gab, sagte er: Siehst du ihn nicht? Und der Sohn sagte leise: Ich kann nichts sehen. Mein Bruder sagte: Jetzt werden sogar die jungen Leute blind, und ging und setzte sich enttäuscht nieder, in Wirklichkeit aber, weil er erschöpft war. Der Sohn ging beiseite und nahm das Fernglas und wischte sich die Augen und war nun wieder gefaßt; dann sagte auch er aufgeregt: Ja, ich sehe ihn.
Mein Bruder stand sogleich wieder auf und sagte: Glaubst du immer noch, daß es ein ruitertjie ist? Hast du je ein ruitertjie mit einem so weißen Kopf gesehen? – Nein, das ist kein ruitertjie. – Was ist es denn? – Es ist ein Phalaropus. Es kann nichts anderes sein. Mein Bruder setzte sich nieder. – Natürlich ist es ein Phalaropus. Der Engländer hat unrecht. Er kicherte. – Sybrand wird mir Abbitte tun müssen, sagte er. Der hat gesagt, mit so gelehrten Leuten soll ich nicht streiten. Er stand wieder auf und sah noch einmal lange durch sein Glas nach dem Phalaropus. Dann seufzte er und sagte: Ja, nee, nun müssen wir wohl zurück zum Lunch. Sie kamen wieder zu uns in die lange Kloof, und wir saßen dort in der Sonne und aßen. Der Vater nickte auf seinem Stuhl ein, und der Sohn ging tiefer in die lange Kloof hinein, stumm und ernst, um unter Farnkräutern und Blumen, bei Vogelruf und vielerlei Wasserklang, bei den freundlichen Geistern der Kindheit umherzustreifen und der Unschuld zu gedenken, die auf immer dahin war. Als es Zeit zum Teetrinken war, ging ich ihn suchen, aber ich konnte ihn nicht finden. Ich kletterte über die Felsblöcke im krantz hinunter und schaute ins Unterland hinab, das tief unter mir lag, wo es Felsen und Dornbüsche gibt und heiße, rote Blumen. Und wie ich da stand, sah ich etwas tiefer eine Bewegung, und es war der Arm eines Mannes, der auf einem Felsblock ausgestreckt lag, nicht zwischen den Bäumen in der Kloof, sondern im Gras zwischen den Steinen im krantz. Und ich wußte, daß er in tiefster Verzweiflung betete. Darum stieg ich über die Felsblöcke hinunter und ging zu ihm, und er wandte sich um und sah mir entgegen.
– Mein Kind, mein Kind, sagte ich. Und er sagte kalt: Was willst du? Und ich sagte: Hast du gebetet? – Darf ich denn nicht beten? – Aber ich weiß, warum du betest. – Ach, wirklich? Das könnte dir so passen, daß du sogar weißt, warum dein Liebling betet. Dann könntest du ihn ganz und gar besitzen. Das ist alles, was du willst, ihn besitzen. Dann könntest du zu seinen Eltern, zu seiner Frau, zu seinen Kindern sagen: mir, mir gehört er. Denn als er ein Kind war, wollte ich, daß er mir gehört. Und jetzt ist er ein Mann, und ich will immer noch, daß er mir gehört. In Gottes Namen, hast du denn keinen Stolz? Mußt du deine Lektion noch ein mal bekommen? Dann wandte er sich ab und ließ mich stehen, er stieg über die Felsblöcke den krantz hinauf und ging zu den anderen zurück. Und ich weiß nicht, ob er nach mir hinsah, als ich schließlich zurückkam, denn ich sah nicht nach ihm hin. So fuhren wir nach Venterspan zurück, die Sonne war schon fast hinab, und die Welt war voller Schönheit und Entsetzen. Und Dunkelheit zog überm Grasland herauf und über dem Erdteil Afrika und über der Heimstatt der Menschen auf dieser Erde und über uns alle. Und die Sonne ging unter und ging nie mehr auf.
30. Kapitel
DARNACH GING der Hauptmann auf Urlaub und nahm seine Mutter mit nach Kapstadt, das ist tausend Meilen weit fort. Und der neue Hauptmann, Hauptmann Jooste, kam, um ihn zu vertreten, und er war ein netter, umgänglicher Mann mit einem roten Gesicht. Und Sergeant Steyn kam von seinem Urlaub in Natal zurück, und seine Tochter brachte die Schachtel mit den kleinen, bunten Muscheln mit. Und Vater Griesel starb ganz plötzlich. Und seine Söhne und Töchter kamen und begruben ihn und nahmen die Mutter mit sich fort, so daß das Haus traurig und leer zurückblieb. Und Stephanie war wieder arbeitslos. Und ich ging zu Japie Grobler und sagte wieder: Kannst du das Mädchen nicht wegschicken? Und er sagte: Weißt du vielleicht dafür ein Gesetz? Dann versuchte er, wieder eine Stellung für sie zu finden, aber er war nicht mit dem Herzen dabei, denn er sagte mürrisch und gereizt zu mir: Der Fall geht mir auf die Nerven. Und eines Tages sah Stephanie den Leutnant auf der Straße. Und da sie kein Mann war und keinen Hut trug, den man zum Gruß abnimmt, legte sie eine Hand über die Stirn mit der Handfläche nach außen als Ehrenbezeugung. Und sie sagte: Baas. Und der Leutnant blieb stehen, und obwohl er Herzklopfen hatte und beunruhigt war, so war doch kein eigentlicher Grund, besorgt zu sein. Denn es ist nichts weiter dabei, daß ein solches Mädchen einen solchen Mann auf diese Weise anspricht. Und die Straße war ein sicherer Ort, Leute gingen vorüber und Wagen fuhren und die Sonne schien. – Was gibt es, Stephanie? – Baas, ich bin arbeitslos.
Und nun konnte er nicht mehr sagen: Warum gehst du nicht zu baas Grobler? Also sagte er: Ich habe davon gehört. – Was soll ich tun, baas? Und während er noch überlegte und keine Antwort wußte, sagte sie: Wenn ich Schnaps brenne, dann schicken sie mich ins Gefängnis und nehmen mir das Kind weg. – Hast du Geld? sagte er. – Baas, es ist nur noch ein Pfund übrig. – Ich werde dir helfen, sagte er. Und dann fügte er leise hinzu: Hier kann ich es dir nicht geben. Er sah sie widerstrebend an, und sie sah ihn mit großer Ehrerbietung an, und ihre offene Hand hielt sie noch über der Stirne. – Ich bringe es heute abend, sagte er. – Danke, baas. Dann ging sie ihres Weges, und sie ging halb schreitend und halb tanzend, das ist an sich nichts Besonderes und hat weiter keine Bedeutung, und man sieht es oft auf der Straße und denkt sich nichts dabei, alles geht ja sicher und ordentlich zu. Und der Leutnant ging weiter, und Sergeant Steyn grüßte ihn eisig steif da auf der Straße. Nun hat die Welt Augen für tausend Dinge, aber der Gefangene nur für eines; und wenn einer im Haß gefangen ist, der lebt nur für einen einzigen Zweck: den Gegenstand seines Hasses zu zerstören. Und darum kam dem Sergeanten da im hellen Sonnenschein und auf offener Straße, wo die Wagen einherfuhren und die Leute vorübergingen, der eine Gedanke unter Tausenden, nicht als Gewißheit, sondern als etwas, was sein könnte, so daß alle anderen achtlos daran vorübergingen, nur der eine nicht, der den Haß im Herzen hatte. Und am Abend nahm der Leutnant drei Pfund und ging zu dem leeren Grundstück, und er übertrat das Gesetz nicht,
sondern dachte an sein Gelübde. Und ob er aus lauter Elend das Gesetz nicht übertrat oder aus einem anderen rätselhaften Grunde, das weiß Gott, ich weiß es nicht. Aber ich kann nicht hier niederschreiben, daß es Gottes Gnade war oder daß es überhaupt irgend etwas mit Gott zu tun hat. Darum schreibe ich, daß Gott es weiß, ich weiß es nicht. Und das Mädchen nahm das Geld bescheiden und dankbar, und er stand und wartete wie zuvor, voller Angst. Dann kam er heraus und ging durch die dunklen Straßen nach Hause.
Ich war einmal mit meinem Bruder und seiner Frau an den großen Wasserfällen in Rhodesien, und wir fuhren in einem Boot auf dem großen, breiten Strom, dem Zambesi. Dort gibt es Inseln und stille Buchten mit überhängenden Bäumen, und bunte Vögel rufen und singen in der friedlichen Stille. Dann wird der große Strom schneller und erbebt und braust grün und schäumend vor einem her, und das Boot wird auch schneller und bebt, denn nun ist man nahe bei den großen, donnernden, rauchenden Fällen. Und der das Boot steuert, der wendet es vom Rande des Abgrundes zurück, und man kommt wieder zu den Inseln und ihrem sicheren Frieden. Und wenn unser Boot nicht in den Abgrund stürzen sollte, so wäre es Zeit zum Wenden gewesen. Aber der es hätte steuern können, der war in Kapstadt, tausend Meilen weit fort.
31. Kapitel
UND ICH KONNTE nicht zu Japie gehen und sagen: Um Gottes willen, Japie, du mußt dies tun und du mußt jenes tun, ehe es zu spät zum Umkehren ist. Darum bin ich nicht zu ihm gegangen. Und der andere konnte nicht zu Japie gehen und sagen: Um Gottes willen, Japie, du mußt Arbeit für sie finden, es muß doch Arbeit geben, um Gottes willen, suche doch Arbeit für sie. Darum ist er nicht gegangen. Darum, weil sie keine Arbeit hatte und nicht fortgeschickt wurde, brannte sie wieder Schnaps und wurde dem Richter vorgeführt. Und meine Schwägerin und ich waren dabei, der Richter hatte darum gebeten. Aber der Leutnant war nicht da. Da stand sie, sie lächelte nicht und zog nicht die Brauen zusammen, sie spielte auch nicht mit den Fingern, sie stand da, still und aufmerksam, bis der Richter sie fragte, ob sie etwas zu sagen habe. – Der Richter hat gesagt, ich soll arbeiten. – Ja. – Da bekam ich Arbeit bei baas Willemse. – Ja. – Dann erfuhren sie, daß ich im Gefängnis gewesen war, und schickten mich fort. – Ja. Sie wandte sich um und sah Japie an. – Dann hat der baas eine Stelle für mich gefunden. – Ja. – Dann ist der oubaas gestorben. – Ja.
– Darum habe ich auch diese Stelle verloren. – Ja. Dann schwieg sie, sonst hatte sie nichts zu sagen. – Dann hast du nicht gearbeitet? – Nein. – Du hast wieder Schnaps gebrannt? – Ja. – Also muß ich dich zu zwei Wochen Gefängnis verurteilen. – Aber das Kind? – Das wirst du erfahren, wenn du aus dem Gefängnis kommst. – Ich konnte keine Arbeit finden, sagte sie. Und dann, als der Richter nicht antwortete, sagte sie zu ihm: Ich kann das Kind nicht hergeben. Und der Richter sagte: Glücklicherweise oder unglücklicherweise wirst du dabei nicht mitzureden haben. Da sagte sie wieder: Ich kann das Kind nicht hergeben. Dann wurde sie abgeführt, und ich begriff, daß sie wie eine Tigerin um ihr Kind kämpfen würde, und das erfüllte mich mit Angst, obwohl ich nicht recht wußte, wovor. Dann ließ uns der Richter sagen, er möchte uns in seinem Zimmer sprechen. Ich wollte nicht mit, aber meine Schwägerin bat mich, mitzukommen, also ging ich. Japie war auch da, und er sagte dem Richter nicht, daß er nicht mehr mit dem Herzen bei der Sache war, aber er sagte ihm, daß es so gut wie unmöglich sei, in Venterspan eine Stelle für das Mädchen zu finden. Dann sagte ich, als ob es mir eben erst eingefallen wäre: Könnte man sie nicht fortschicken? Und wenn der Richter nicht dabeigewesen wäre, hätte Japie zu mir gesagt: Dafür gibt es kein Gesetz. Aber der Richter sagte: Ob sie fortgeschickt wird oder nicht, das löst die Frage mit dem Kinde nicht. Er sah meine Schwägerin an, weil sie die Vorsitzende des Frauenfürsorgevereins war, und ich sah sie auch an, nicht weil
sie die Vorsitzende war, sondern weil ich Angst hatte, zu sprechen, wie man Angst hat, zu sprechen oder sich zu bewegen oder sich umzuwenden, wenn man spürt, daß man in Gefahr ist, und nicht weiß, was einen bedroht und wann und woher es einen treffen wird. Und meine Schwägerin sagte, und ihr Gesicht war voll Liebe und Sorge: Das Mädchen tut mir leid, aber ich sage mir, man muß an das Kind denken. Und der Richter sagte: Ich glaube bestimmt, daß Sie recht haben. Dies ist das zwölfte Mal, daß das Mädchen ins Gefängnis muß. Wenn sie wieder herauskommt und Mr. Grobler wieder Arbeit für sie findet und sie dann aus irgendeinem Grund die Stelle wieder verliert, so wird sie wieder denken, was sie offensichtlich jetzt schon denkt, daß sie eine Art Recht darauf hat, das Gesetz zu brechen. Und wie wird dabei das Kind heranwachsen? Offensichtlich auch in dem Glauben, daß es ein Recht darauf hat, das Gesetz zu brechen, wenn ihm nicht alles mundgerecht gemacht wird. Wenn ein solches Kind von der Mutter getrennt werden muß, so muß das zeitig geschehen, denn je länger der Junge bei seiner Mutter bleibt, desto wahrscheinlicher ist es, daß er ein skelm wird. Und ich muß hinzufügen, daß Mr. Grobler schon mehr als seine Pflicht getan hat, denn soweit ich weiß, ist er nicht verpflichtet, für eine solche Person Arbeit zu beschaffen. Stimmt das, Mr. Grobler? – Das ist richtig, meneer, sagte Japie. – Aber, sagte der Richter zu meiner Schwägerin, wir haben einen Fürsorgeverein, und ich werde immer versuchen, mich nach seinen Empfehlungen zu richten, wenn ich es mit meiner Pflicht vereinbaren kann. – Ich möchte, sagte meine Schwägerin, den Fall unserem Ausschuß vorlegen.
Also brachten wir den Fall bei der nächsten Sitzung vor, und es wurde mehr als eine Stunde darüber gesprochen; aber ich sagte nichts, da ich Angst hatte, zu sprechen oder mich zu bewegen oder mich umzuwenden. Und meine Schwägerin sagte auch nichts, sondern saß selber da wie ein Richter, wenn es einen so sanften Richter geben kann, und hörte zu, wie ein Richter die Meinungen aller Leute im Gerichtshof anhört und dann sein Urteil verkündet. Und dann verkündete sie ihr sanftes Urteil: Es sei an der Zeit, das Kind von der Mutter zu trennen.
Ungefähr um die Zeit sah ich den Briefumschlag mit den Marken. Mein Bruder saß an dem langen Tisch und las in dem großen Buch, und als er mich kommen hörte, steckte er den Umschlag schnell zwischen die Seiten und saß lauernd da und tat ganz unschuldig, aber ich hatte genug gesehen. Ich ging zu Kappie, und er saß in seinem kleinen Büro, dessentwegen ich ihm immer Vorwürfe machte. Und ich sagte es ihm auf den Kopf zu: Sie haben meinem Bruder Briefmarken verkauft. Er lachte und sagte: Mejuffrou, wie ist das möglich? – Es ist nicht möglich, sagte ich, es ist Tatsache. Ich habe sie gesehen. – Hat er sie Ihnen gezeigt, mejuffrou? – Natürlich nicht, sagte ich. Er wollte sie verstecken, aber ich habe sie gesehen. Er lächelte entschuldigend. – Es ist ein Geheimnis, sagte er. – Jetzt ist es kein Geheimnis mehr, sagte ich. Ist es ein Geburtstagsgeschenk? Er stand auf und machte die Tür zu. – Ja, ein Geburtstagsgeschenk, sagte er.
Und ich saß da und dachte bei mir, daß doch kein Mensch jemals die Welt verstehen könnte und die Menschen, die in ihr leben. – Er kam und saß da auf Ihrem Stuhl, sagte Kappie. Er sagte: Ich möchte eine Privatangelegenheit besprechen. Also stand ich auf und machte die Tür zu, genau wie ich’s eben getan habe. Dann sah er mich böse an und sagte: Ich will Briefmarken kaufen. Ich sah ihn an und sagte: Briefmarken? Da sagte er: Spreche ich undeutlich? Nein, nein, sagte ich, ich habe Sie verstanden. Da sagte er, immer noch böse: Was für Marken möchte er haben? Also saß ich und überlegte, was für Marken der Leutnant haben möchte. Dann sagte ich: Meneer, wieviel wollen Sie ausgeben? Und er sagte: Vielleicht haben Sie mich nicht verstanden, ich habe gesagt: Was für Marken möchte er haben? Also sagte ich: Wollen Sie einen Augenblick warten, meneer? Dann ging ich in mein Zimmer und holte eines meiner Alben und brachte es ihm und zeigte ihm den Vierersatz der dreieckigen Kap, dieselben Marken, die ich dem Leutnant an dem Morgen gezeigt hatte, als sein Vater so ärgerlich wurde. Und der oubaas sagte: Was kosten sie, Kappie? Und ich sagte: Zweiunddreißig Pfund. Er sah sie an und sah mich an und sagte: Sie scherzen doch nicht etwa? Und ich sagte: Ich kann Ihnen auch andere Marken zeigen. Da sagte er: Diese da gefallen ihm, nicht wahr? Ich sagte: Er findet sie herrlich, meneer. Die müssen schon herrlich sein, sagte er, wenn man bedenkt, daß ich für zweiunddreißig Pfund das beste Pferd im ganzen Grasland kaufen könnte. Dann sagte er: Wieviel kostet eine davon? Vier Pfund, sagte ich. So, sagte er, wer hat jetzt den Verstand verloren, Sie oder ich, Kappie? Es ist nur, weil sie alle beisammen sind, sagte ich. Kappie, sagte er, ich verkaufe Ihnen ein Schaf für vier Pfund und vier Schafe für sechzehn Pfund, auch alle beisammen. So ist das bei Marken, sagte ich.
Warum verlegen sich die Farmer nicht auf Briefmarken, sagte er, warum verschwenden sie ihre kostbare Zeit an Schafe? – Mejuffrou, so redete er daher, sagte Kappie zu mir. Ag, Sie kennen ihn ja. – Weiter, sagte ich. – Also dann schrieb er einen Scheck über zweiunddreißig Pfund aus. Und er gab ihn mir und sagte: Gaunerei ist das. Ich verstehe, sagte ich. Dann stand er auf und steckte den Um schlag in die Tasche und sagte: Ich bin froh, daß Sie es verstehen, denn niemand anders in ganz Südafrika würde es verstehen außer den anderen Gaunern. Ich ging mit ihm zur Tür, und an der Tür sagte er: Es ist eine Gaunerei, wohlverstanden, eine Gaunerei unter vier Augen. Ich möchte nicht, daß das ganze Grasland mich hinter meinem Rücken auslacht. Und ich saß da und bedachte die sonderbare Geschichte mit den Marken. Wäre sie zu einer anderen Zeit geschehen, so hätte man darüber lachen und sich von Herzen freuen können. Aber ich lachte nicht, noch freute ich mich. – Mejuffrou, was bekümmert Sie? – Ag, sagte ich. – Es ist ein großer Kummer. – Ja, sagte ich. Da erzählte mir Kappie, wie es ihm mit dem Zusammenlegspiel ging, das hundert Teile hatte, und er hatte das Bild so gut wie fertig, nur sechs oder sieben Stücke waren übrig, die nirgends hineinpaßten. Und darum konnte das Bild nicht das richtige sein. Und mein Herz drängte mich, ihm zu sagen, daß ich zu wissen glaubte, wohin das eine Stück paßte, aber ich hatte Angst. Und mein Herz drängte mich, ihm zu erzählen, was für harte und bittere Worte ich hatte anhören müssen bei den Felsblöcken im krantz auf Buitenverwagting, aber Gott verzeihe mir, ich tat mir selber leid und schämte
mich, daß jemand denken sollte, ich sei eine Frau, die sich solche Worte mußte sagen lassen. Also schwieg ich. Und wie ich dies schreibe, bin ich wie eine Frau, deren Geliebter gestorben ist durch einen Zufall, an den man nicht gedacht hatte, oder weil irgendein Doktor nicht geholt worden war, oder wegen irgendeines Wortes, das genau so klang wie andere Worte; und sie macht sich Vorwürfe und denkt, wenn sie nicht jahrelang immer gesagt hätte: Ach, wenn wir doch ein Auto hätten, oder wenn sie nicht gesagt hätte: Laß uns doch heute gehen statt morgen, oder wenn sie gesagt hätte: Laß uns lieber den unteren Weg fahren, dann wäre ihr Geliebter vielleicht noch am Leben. Und ob ich ihn da noch hätte retten können, oder ob Kappie, wenn er es gewußt hätte, ihn hätte retten können, oder ob der Hauptmann, wenn er dagewesen wäre, ihn hätte retten können, das weiß Gott, ich weiß es nicht.
Und Stephanie kam aus dem Gefängnis und wurde vors Gericht gerufen, und man sagte ihr, daß man ihr das Kind nehmen werde und es einem Ehepaar geben, das keine eigenen Kinder hatte und nüchtern und rechtschaffen war. Dann ging sie hinaus, aber damals sah ich nicht, was ich heute weiß, daß sie hinausging nicht wie jemand, über den ein Urteil gefällt worden ist, sondern wie jemand, der ein Urteil fällt. Nicht lange darnach war der Leutnant in der lokasie, und ein klonkie kam herbei und sagte ihm, daß die alte Esther ihn sprechen möchte. Also ging er zu ihrem Haus, aber es war nicht die alte Esther, die ihn sprechen wollte, es war Stephanie. Und er sagte und ließ seine Angst nicht merken: Was willst du? – Sie haben mein Kind fortgeholt, sagte sie. – Ich habe es gehört. – Ich kann ohne mein Kind nicht leben, sagte sie.
Er sah sie an, aber er wußte nicht, was er sagen sollte, denn er hatte Angst vor ihr und vor dem, was sie wußte, und er hatte noch mehr Angst vor ihr und vor dem, was sie wußte, als sie sagte: Ich habe dem baas immer gesagt, daß ich ohne das Kind nicht leben kann. – Ich bin nicht der Richter, sagte er. – Es ist nicht der Richter, sagte sie. Es sind die weißen Frauen, die das Kind fortgeholt haben. Da wußte er, was sie sagen wollte. – Der baas kennt diese weißen Frauen, sagte sie. – Ja, ich kenne sie, sagte er langsam, aber sie fragen mich nicht, was sie tun sollen. – Dann, sagte sie, muß eine neue Verhandlung sein. Und diese Worte erschreckten ihn furchtbar, so daß er mit entstellter Stimme sagte: Was für eine Verhandlung? Und sie merkte, wie beunruhigt er war, und sagte: Mit einem Rechtsanwalt. Und er stand da und hatte Angst, zu bleiben, und Angst, fortzugehen. Da sagte sie: Die Verhandlung wird auch des Kindes wegen sein. Da legte sich die Angst etwas, und er wartete, daß sie weitersprach. – Der Rechtsanwalt will Geld, sagte sie. – Wieviel? – Fünf Pfund. Und er sagte: Soviel könnte ich geben, aber ich bin nicht reich und kann nicht immer weiter Geld geben. – Es ist das letzte Mal, daß ich um Geld bitte, sagte sie. – Ich werde es bringen. – Heute abend? fragte sie. – Morgen abend, sagte er.
Da hob sie die Hand und legte sie über die Stirn, die Handfläche nach außen, und sagte unterwürfig: Ich werde sehr dankbar sein für das Geld, baas. Und es ist das letzte Mal, daß ich um Geld bitte. Also ging er, halb erleichtert, halb geängstigt, und ging zur Stadt zurück und gelobte und betete und betete und gelobte, und das Gelübde war, daß er das Gesetz nicht brechen wollte, weder das von Gott noch das von den Menschen gemachte, und das Gebet war: God wees my genadig, o Here Jesus wees my genadig. Also nahm ich die fünf Pfund und ging voller Angst zu dem leeren Grundstück. Und ich war fest entschlossen, wie ich es im Gebet gelobt hatte, das Gesetz zu halten. Und sie war fest entschlossen, und ich wußte nicht warum, das Gesetz zu brechen. Und ich führte ihren Entschluß aus und nicht den meinen, den ich doch im Gebet gelobt hatte.
32. Kapitel
DANN GING ER nach Hause, von einem unaussprechlichen Ekel vor sich selber erfüllt. Als er heimkam, saß Nella im Eßzimmer beim Feuer. Er ging nicht hinein, sondern rief ihr zu: Ich möchte ein Bad, und sie antwortete: Du brauchst kein so riesengroßes Feuer zu machen, es ist noch viel heißes Wasser in der Leitung. Und er wusch sich von Kopf bis Fuß und zitterte im geheimen Bewußtsein seiner Verworfenheit, daß er Gelübde tat, die er nicht halten konnte, daß er berufen war, das Gesetz zu schützen, das er doch brach, daß er tief im Herzen heiliger Dinge inne war und doch lüstern nach dem Verworfenen, daß er von anderen geachtet war und doch schlechter war als alle. Er dachte, er wolle nach Johannesburg gehen und einen Psychiater fragen, vielleicht könnte der ihm das Geheimnis der Heilung zeigen, denn auf seine eigene Kraft wagte er nicht mehr zu vertrauen; und er hatte auch keine Hoffnung mehr, daß er zum Geheimnis der Kraft Gottes Zugang fände. Und er dachte an die Worte, die geschrieben stehen: Bittet, so wird euch gegeben, suchet, so werdet ihr finden, klopfet an, so wird euch aufgetan; aber auch dabei war ein Geheimnis, das er nicht ergründen konnte. Und er dachte auch an die anderen Worte, die geschrieben stehen: Niemand soll über seine Kraft versucht werden; aber auch darin war ein Sinn, der ihm verborgen blieb. Als er sich sauber gewaschen hatte, zog er Schlafanzug und Hausrock an und ging und sprach zu Nella. Und diesmal, da er wenigstens äußerlich sauber war, wenn auch innen unrein, steckte er den Kopf zur Tür hinein und sagte: Ich will noch arbeiten.
Sie sagte: Ich bringe dir Kaffee. Er ging in sein Zimmer und suchte in seinen wissenschaftlichen Büchern herum, die alle Sünden und Schwächen der Menschen beschrieben, und hoffte, er könnte irgendwo sich selber erkennen, obwohl er schon vorher darnach gesucht und nichts gefunden hatte. Und er dachte, vielleicht hätte er es sich zu leicht gemacht und nur unter den Überschriften gesucht, und vielleicht müßte er sorgfältiger nachlesen. Nella brachte ihm Kaffee und Zwiebäcke und sagte: Was, noch eine Zigarette? – Dabei kann ich mich besser konzentrieren, sagte er. – Hannes wird es dir schon austreiben, sagte sie. Und er lächelte sie an, nicht wie jemand, der sich nicht dreinreden läßt, sondern sehr demütig. Und als sie wiederkam, um Tasse und Teller zu holen, wollte er es nicht zulassen, sondern trug das Geschirr selber hinaus. Und obwohl es nicht ihre Gewohnheit war, so hatte er doch Angst, sie könnte ihren Arm unter den seinen schieben und etwas Liebes sagen, das hätte er nicht aushalten können. Dann sagte sie: Ich bin müde, ich gehe schlafen, und hob das Gesicht zum Gutenachtkuß. Und er küßte sie mit geschlossenen Lippen auf die Stirn; und manchmal, wenn er das tat, sagte sie: Das soll wohl ein Kuß sein, und manchmal sagte sie es nicht, sie dachte weiter nichts dabei. Und an dem Abend sagte sie es nicht, dafür war er dankbar. Dann ging er zurück zu seinen Büchern, aber er konnte sich selbst nicht darin finden, wenigstens nicht so deutlich, daß er sagen konnte: So bin ich selbst, ganz ohne Zweifel bin ich so. Also las er von dem Elend anderer Menschen, von den dunklen Verbrechen und Sünden, die sie begingen, und er wußte nicht, sündigten sie oder fragten und suchten sie nur und klopften an sonderbare schreckliche Türen. Und er fand sich in einer traurigen, gemarterten Gesellschaft, und Mitleid erfüllte ihn für
all diese verquälten Seelen und am meisten für sich selber, weil er zu ihnen gehörte. Und den ganzen nächsten Tag erfüllte ihn diese neue Demut, und er war voll Hilfsbereitschaft und kleiner Gefälligkeiten. Und er wollte nicht zulassen, daß Nella dieses oder jenes tat, sondern tat es für sie mit einer Art trauriger Sanftmut wie jemand, der von seinen Freunden Abschied nimmt, und sie wissen nur, daß er auf eine Reise geht, aber den Sinn und Zweck der Reise verstehen sie nicht. Aber er versteht ihren Sinn und Zweck und ist schweigsam, weil er an nichts anderes denken kann, und traurig über das, was er allein weiß, und liebevoll, als ob seine Freunde des Mitleids bedürftig seien und nicht er selber. Und ich sah ihn auf der Straße. Er stand vor dem »Royal« und sprach mit Abraham Kaplan, dem Bruder seines Freundes Kappie. Und erst nachher fiel Abraham Kaplan auf, wie zuvorkommend und freundlich er gewesen war. Denn wenn des Leutnants Freunde mit ihm sprachen, dann wurden sie sich nur der Tatsache bewußt, daß er mit ihnen sprach, und merkten nicht auf die kleinen Dinge; außer Kappie, der – wie ich – abseits von der Welt lebt, der merkte auch die kleinen Dinge. Während sie miteinander sprachen, kam Abraham Kaplans Tochter Rachel, von der ich schon erzählt habe, daß sie die Geige spielt, auf dem Weg zur Schule aus dem Hause, das neben dem »Royal« steht, denn Abraham Kaplan würde niemals zugeben, daß seine Frau und seine Tochter in einem Hotel wohnen, nicht einmal in einem so ruhigen und anständigen wie dem »Royal«. Und der Leutnant sagte: Rachel, was macht die Geige? Das Mädchen errötete und gab irgendeine Antwort, aber Abraham Kaplan sagte stolz: Der Geige geht es sehr gut, Herr Leutnant.
Und der Leutnant sagte zu dem Mädchen: Wann wirst du uns wieder etwas vorspielen? Denn manchmal spielte sie in einem Konzert in Venterspan. – Mein Vater hat es nicht gern, sagte sie. Abraham Kaplan zuckte die Achseln und hob die Hände, und der Leutnant sagte: Dein Vater hat recht, deine Zeit kommt noch. Aber es macht nichts; manchmal höre ich dich spielen, wenn ich auf der Straße vorbeigehe. Und er sagte weiter: Dann denke ich genau dasselbe, was dein Onkel sagt, daß die Leute dich eines Tages in viel größeren Städten als Venterspan spielen hören werden, nicht nur hier bei uns, auch in anderen Ländern. Das Mädchen freute sich sehr und auch der Vater, wie jeder Vater sich freuen würde, der sein Kind so loben hört; und stolz war er auch, weil es der Leutnant war, der das Lob aussprach. – Noch ein Jahr, sagte Abraham Kaplan, dann geht sie fort zum Studieren. Und die Mutter geht mit, und dann lassen sie den Alten ganz allein. Dann verabschiedete sich der Leutnant und ging die van Onselenstraße hinunter. Und sie standen und sahen ihm nach und sprachen von ihm, wie man von jemandem spricht, der einem eine Freude gemacht hat. Aber erst nachher fiel Abraham Kaplan auf, daß etwas anders gewesen war als sonst. Und als ich ihn auf der van Onselenstraße sah, ging ich sofort in Kappies Laden, denn ich konnte an nichts anderes denken als an die harten, bitterbösen Worte, die mir bei den Felsen im krantz auf Buitenverwagting gesagt wurden, und ich schämte mich immer noch, daß es jemanden gab, der mich für eine Frau halten konnte, zu der man solche Worte sagen konnte. Und obwohl ich ihn seitdem gesehen hatte, konnte ich es nicht über mich bringen, ihm allein und auf offener Straße zu begegnen. Aber er kam mir in den Laden nach, wo ich an der Theke stand und mit Kappie sprach. Er schob seinen Arm in den meinen
und legte seine Hand oberhalb des Handgelenks um meinen Arm und hielt mich ganz fest und sprach mit Kappie, und mit seiner Hand bat er mich um Verzeihung. Da drückte ich seinen Arm fest an mich und sprach mit Kappie, und mit meinem Arm verzieh ich ihm. Und dann ging er davon. Er ging zur Polizeiwache und erledigte die Inspektion mit dem Sergeanten Steyn, und dann ging er in sein Zimmer. Es war Ende Juni und Zahltag, und der kleine Vorster brachte ihm wieder ein Pfund und sagte: Herr Leutnant, jetzt sind es noch achtzehn Pfund. Und der Leutnant sagte: Ich habe immer gesagt, daß Sie ein gescheiter Junge sind. Nach der Arbeit ging er wieder nach Hause, und wieder war er voller Hilfsbereitschaft. Mit den Kindern war er weder laut und grob noch düster und wortkarg, sondern sah still zu, während sie badeten, und dann trocknete er sie liebevoll und sorgsam ab und brachte sie ins Schlafzimmer und hörte zu, wie sie das Nachtgebet sprachen. Nach dem Essen saßen sie beim Feuer, seine Frau mit einer Handarbeit und er mit einem Buch, das nicht von zerquälten Seelen handelte, sondern von erfreulicheren Dingen. Er hatte Angst davor, daß sie sprechen oder ihn anrühren könnte, denn er wußte nicht, was er dann tun oder sagen sollte. Er hätte es aushalten müssen, aber sie sagte nichts und rührte ihn auch nicht an, und als sie sagte, sie wolle schlafen gehen, erhob er sich und küßte sie, aber diesmal auf den Mund, denn er fühlte sich sauberer. Dann saß er allein beim Feuer, und es kam ihm der Gedanke und sogar die Hoffnung, daß diese sonderbare Anwandlung von Demut und Sanftmut einen Wendepunkt bedeuten könnte, vielleicht war es das Finden nach dem Suchen, und die Tür wurde dem Klopfenden aufgetan. Also ging er mit einer Art Frieden im Herzen schlafen. Ag, wie sind doch Stimmungen so merkwürdig, sie kommen und gehen wie der Wind, der weht, wo er will. Denn es kann
sich einer glücklich und frei fühlen und durch ein Wort niedergeschmettert werden. Und eine Frau kann tief unglücklich sein, und eine Bitte um Verzeihung richtet sie wieder auf. So wechselt man von Freude zu Niedergeschlagenheit, von Gekränktsein zum Überglücklichsein, von Gewißheit zum Zweifel, als ob wie bei einem Sommergewitter die ganze Welt dunkel und trübe ist, bis die Sonne plötzlich durchbricht, gerade ehe sie untergeht, und Baum und Gras und Berg in grüngelbes Licht taucht, wie man es nie zuvor gesehen hat – wie die Engländer sagen: weder zu Lande noch zur See.
33. Kapitel
UND DIE STILLE, demütige Ruhe dauerte bis in den nächsten Tag hinein, bis der junge dominee anrief und sagte, er habe einen Brief von Hippo du Toit bekommen, der ist, wie jedermann weiß, der berühmteste Rugbytrainer in Stellenbosch, der bedeutendste im ganzen Land. – Pieter, er hält es für ganz sicher, daß du die Springbokmannschaft führen wirst. – Wirklich? Und was ist mit dir? – Da steht es auch nicht schlecht, meint er. – Das freut mich für dich. – Wäre das nicht fein, Pieter? – Ja, das wäre fein. – Zwei Springboks aus Venterspan, Pieter. Haben sie jemals einen in der Mannschaft gehabt? – Nein, noch nie. Der junge dominee saß am anderen Ende der Telephonleitung und träumte von einer wunderbaren Zukunft. Dann sagte er: Pieter. – Ja? – Ich glaube, ich fange an, den alten Herrn zu verstehen. – Wirklich? – Ich glaube ja. Ich glaube, ich fange an. Ich fange erst an, verstehst du? – Ich verstehe. Aber was ist mir von dominee Stander zu Ohren gekommen? – Was denn? – Ich habe gehört, er ist böse auf dich. – Weswegen, Pieter?
– Weil du deine Pflicht vernachlässigst. – Ag, du ziehst mich auf, Pieter. – Ja, vielleicht. Was macht meine Schwester? Und der junge dominee saß wieder da und fand sowohl die Gegenwart wie die Zukunft wunderbar. – Pieter, das kann ich nicht am Telephon erzählen. – Warum nicht? – Ag, das tut man nicht. Ich sag’s dir heute nachmittag beim Training. Dann kam Japie herein mit seiner dicken Aktenmappe. – Bruderherz, sagte er, ich glaube, ich kann Stephanie eine Stelle besorgen. Und der Leutnant sagte nichts, sondern sah seinen Freund aufmerksam an. – Abraham Kaplan sagt, er will es im Hotel mit ihr versuchen. Und der Leutnant zwang sich zum Sprechen und sagte: Es ist zu spät. – Hör zu, Bruderherz, du bist nicht der einzige, dem das schwarze Volk am Herzen liegt. Ich habe dem Richter vorgeschlagen, daß wir das Kind einstweilen wegschicken, und wenn Stephanie sich bewährt, kann sie es wiederhaben. – Und was hat er gesagt? – Er sagt, er will es sich gerne überlegen. Und der Leutnant sagte demütig zu seinem Freund: Du bist ein guter Junge, Japie. – Natürlich bin ich ein guter Junge. Du weißt es, und jedermann in Venterspan weiß es, aber der Haken ist, wissen sie es in Pretoria? Er legte die Arme auf den Tisch und sprach vertraulich. – Falls ich heiraten sollte, sagte er, muß ich mehr Geld verdienen, denn es ist wirklich und wahrhaftig so, dieser Eckpfeiler des britischen Weltreiches hat nicht einen Pfennig.
– Also wirst du heiraten? – Langsam, langsam, Bruderherz. Ich sagte, falls ich heiraten sollte. – Also hast du sie noch nicht gefragt? Japie wurde rot. – Um die Wahrheit zu sagen, Bruderherz, ich habe und ich habe nicht. Ich habe ihr gesagt, ich bin nicht der Typ, der heiratet, aber es kommt mir so vor, als könnte ich der Typ werden, der heiratet. Klarer konnte ich es doch nicht sagen, oder? Der Leutnant lachte. – Japie, du bist großartig. – Ag, ich weiß, daß ich großartig bin. Es stimmt schon, Bruderherz, ich bin fast entschlossen, fast entschlossen, verstehst du, dieses Mädchen samt ihrem Vater und samt dem König und der Königin und dem ganzen britischen Weltreich zu heiraten. Dann nahm er die Arme vom Tisch und sah zu Boden. – Ag, was für ein Zustand, sagte er. Bruderherz, ich muß gehen. Und der Leutnant ging leichten Herzens und fröhlich nach Hause und aß mit Nella im Garten bei den Vögeln im Sonnenschein. Und als er leichten Herzens zur Arbeit zurückging und nach der Polizeiwache abbog, sah er zwei Männer aus der Pretoriusstraße kommen, der Straße, die zur lokasie der Schwarzen führt, der Straße mit den Eukalyptusbäumen und dem leeren Grundstück. Und der eine war Hauptmann Jooste, und der andere war sein eigener Hauptmann, der in Kapstadt hätte sein sollen, tausend Meilen weit fort.
34. Kapitel
DARUM GING ER in sein Zimmer und schloß die Tür und saß da allein voller Angst und Entsetzen. Und wie er da saß, kam Sergeant Fourie herein und sagte: Hauptmann Jooste wünscht Sie zu sehen, Herr Leutnant. Also ging er zu des Hauptmanns Zimmer und klopfte an und trat ein, aber da war kein Hauptmann Jooste, nur sein eigener Hauptmann. Und sein eigener Hauptmann sah ernster und strenger aus als je zuvor. – Machen Sie die Tür zu, van Vlaanderen, und setzen Sie sich. Also setzte er sich. – Ich habe in Kapstadt gestern abend einen dringenden Anruf von Hauptmann Jooste bekommen. Deshalb bin ich heute morgen nach Johannesburg geflogen und sofort mit dem Wagen hergekommen. Sie können sich denken, daß es eine äußerst ernste Sache ist. – Ja, Sir. – Es ist eine Anzeige, van Vlaanderen, eine Anzeige gegen Sie, die sich auf den Parlamentsakt 5 von 1927 bezieht. – Parlamentsakt 5? Und der Hauptmann sah nicht auf, sondern sah auf die Akten nieder und sagte leise: Ja, das Sittlichkeitsgesetz. Und als der Leutnant nicht antwortete, sagte er: die Anzeige behauptet, daß Sie am letzten Montag abend zu dem leeren Grundstück in der Pretoriusstraße gegangen und dort das Gesetz übertreten haben. Und der Leutnant sagte: Wie ist das möglich? – Ist es wahr, van Vlaanderen? – Nein, Sir.
– Ich hoffe und ich bete, daß es nicht wahr ist, sagte der Hauptmann. – Es ist nicht wahr, Sir. – Sind Sie bereit, auf jede Weise bei der Untersuchung der Anzeige behilflich zu sein, van Vlaanderen? – Ja, Sir. – Was für eine Jacke tragen Sie, van Vlaanderen, wenn Sie nicht im Dienst sind? Wie viele Jacken haben Sie? – Nur eine, Sir. Die anderen sind Klubjacken. – Und Sporthosen: Wie viele? – Zwei, Sir. – Eine alte und eine neue? – Ja, Sir. – Und Schuhe? – Drei Paar, Sir. – Was für welche? – Ein schwarzes Paar, Sir, und zwei braune. – Die schwarzen für sonntags? – Ja, Sir. – Und die braunen? Ein altes und ein neues? – Ja, Sir. – Würde Mrs. van Vlaanderen etwas dabei finden, wenn Sie nach Ihrer Jacke und nach der alten Sporthose und den alten braunen Schuhen schickten? – Ich glaube nicht, Sir. Der Hauptmann schob dem Leutnant Bleistift und Papier hin. – Bitten Sie Ihre Frau, die Sachen in einem Koffer zu schicken, van Vlaanderen. Nein, warten Sie. Ehe Sie das schreiben, sagen Sie mir noch einmal, ist es möglich, daß die Anzeige begründet ist? – Nein, Sir. – Dann schreiben Sie, van Vlaanderen.
Als die Botschaft geschrieben war, nahm der Hauptmann sie und sagte zu dem Leutnant: Geben Sie mir Ihren Revolver. Also gab der Leutnant dem Hauptmann seinen Revolver. Dann ging der Hauptmann hinaus und ließ den Leutnant zwanzig Minuten lang mit seiner Angst und seinem Entsetzen allein, und er grübelte, was für ein schreckliches Geheimnis wohl die Jacke und die Schuhe bergen könnten. Dann kamen die beiden Offiziere mit dem Koffer zurück, in dem die Jacke und die Hose und die Schuhe waren. Und des Leutnants Hauptmann legte eine Zeichnung vor ihm auf den Tisch und sagte: Das ist der Abdruck eines Schuhs mit Gummisohle, er fand sich auf dem leeren Grundstück. Ist es der Ihre? – Nein, Sir. – Sie sind nie auf dem leeren Grundstück gewesen? – Nein, Sir. Dann machte der Hauptmann den Koffer auf und holte ein Paar Schuhe heraus. – Ich muß Ihnen sagen, van Vlaanderen, daß kürzlich ein Stück Boden auf dem leeren Grundstück umgegraben worden ist. Ein kleines Stück, etwa zwei Quadratfuß. Darauf fand sich der Abdruck. Dann verglichen die beiden Offiziere die Sohlen der Schuhe mit der Zeichnung des Abdrucks, aber das Muster war nicht dasselbe. – Wollen Sie bitte die Jacke herausnehmen, van Vlaanderen. Also nahm der Leutnant die Jacke heraus. – Ist irgend etwas in der linken Tasche, van Vlaanderen? Der Leutnant fühlte voller Angst in der Tasche, aber er fand nichts. – Nichts, Sir. – Sehen Sie noch einmal nach, van Vlaanderen, es ist ein kleiner Gegenstand.
Also fühlte der Leutnant noch einmal und brachte aus der Tasche eine der kleinen, bunten Muscheln zum Vorschein, wie sie am Strand von Natal in der Sonne liegen. – Die Anzeige besagt, van Vlaanderen, daß das Mädchen Stephanie am letzten Montag abend eine solche Muschel in Ihre Tasche gesteckt hat, als Sie mit ihr auf dem leeren Grundstück standen. Ist das wahr, van Vlaanderen? – Es kann nicht wahr sein, Sir. Da gab sein Hauptmann dem Hauptmann Jooste ein Zeichen, und der ging hinaus und kam mit dem Sergeanten Steyn zurück. – Sergeant, woher haben Sie diese Muschel? Und der Sergeant hielt ihm eine Schachtel hin und sagte: Aus dieser Schachtel, Herr Hauptmann. – Und die Schachtel? – Meine Tochter hat sie mitgebracht, Herr Hauptmann, und darin die Muscheln, die sie am Strand gesammelt hat. Und der Hauptmann sagte eisig zu dem Sergeanten: Und eine solche haben Sie dem Mädchen Stephanie gegeben? – Ja, Herr Hauptmann. – Und ihr befohlen, sie einem Manne in die Jackentasche zu stecken? – Ja, Herr Hauptmann. Und der Leutnant sagte: Ich hatte die Jacke bei mir, Sir, als ich selber auf Urlaub in Natal war. – An der See? – Ja, Sir. Da sagte der Hauptmann eisig zu dem Sergeanten: Hat die Muschel ein besonderes Kennzeichen? – Ja, Herr Hauptmann. Sie ist mit Kerzentalg gefüllt. Da zeigte der Hauptmann dem Leutnant die Muschel, und sie war mit Kerzentalg gefüllt.
– Noch eins, Sergeant. Wo waren Sie am letzten Montag abend? – Auf der Pretoriusstraße, Herr Hauptmann. – Und Sie sahen einen Mann die Pretoriusstraße herunter kommen und auf das leere Grundstück einbiegen? – Ja, Herr Hauptmann. – Und Sie haben ihn erkannt? – Ja, Herr Hauptmann. – Wer war es? Und der Sergeant stand ganz steif und gerade und ließ sich weder Freude noch Haß anmerken und sagte: Es war Leutnant van Vlaanderen, Herr Hauptmann. – Und noch etwas, Sergeant. – Jawohl, Herr Hauptmann? – Sie haben selbst das Stück Boden auf dem leeren Grund stück umgegraben? Und der Sergeant sagte und ließ sich weder Freude noch Haß noch Scham noch Kummer anmerken: Jawohl, Herr Hauptmann. – Sie können gehen. Dann legte der Hauptmann fünf Pfundscheine auf den Tisch und sagte zu dem Leutnant: Das Mädchen sagt ferner aus, daß Sie ihr dieses Geld dann und dort gegeben haben. Aber der Leutnant antwortete nicht. – Und sie sagt ferner aus, daß Sie das Gesetz gebrochen haben. Aber der Leutnant antwortete immer noch nicht. Da sagte der Hauptmann zu ihm: Leugnen Sie es immer noch? Und der Leutnant stand auf und sah die beiden Vorgesetzten aus angestrengten und verzweifelten Augen an. Und er sagte: Ich sehe, daß ich schuldig bin.
Sein Hauptmann sagte behutsam: Wie meinen Sie das, Sie sehen, daß Sie schuldig sind? Und der Leutnant sagte wie ein Kind: Ich sehe, daß alles gegen mich ist. Und der Hauptmann sagte behutsam: Wie meinen Sie das, van Vlaanderen? Sind Sie schuldig oder unschuldig? – Ich bin unschuldig. Da ging Hauptmann Jooste, der Hauptmann mit dem roten, lustigen Gesicht, hinaus und schloß die Tür hinter sich. – Wissen Sie ganz bestimmt, daß Sie unschuldig sind? – Ich weiß es ganz bestimmt. – Dann, sagte der Hauptmann ernst, wollen Sie noch eine Botschaft an Ihre Frau schreiben und sie bitten, das andere Paar Schuhe zu schicken? Da setzte sich der Leutnant nieder und legte die Arme auf den Tisch und schluchzte wie ein Kind. Und der Hauptmann sagte am Telephon zu Hauptmann Jooste, er möge dafür sorgen, daß niemand in die Nähe käme; und dann setzte er sich auf seinen Stuhl dem Leutnant gegenüber, und als er sprechen konnte, sagte er: Warum haben Sie mir das alles nicht gesagt? Und der Leutnant hob den Kopf und sagte in tiefem Gram und mit der Sehnsucht, mit der man an einen unwiederbringlich verlorenen Tag denkt: Ich wollte es ja, ich wollte es ja. Und der Hauptmann sagte traurig: Und ich habe gesagt, es hat Zeit bis morgen. – Ja. – Mein Gott, mein Gott. Dann sprach der Leutnant von seinen Gelübden und von seiner Reue, von seinen Gebeten bei Tag und Nacht, und wie er bei den Ochsen gesessen hatte, die unschuldige, gehorsame Tiere waren, und von den Tagen der Angst und von seiner Liebe zu Frau und Kindern und zu der sanften Mutter, und von der Besessenheit und dem Ekel, und wie die Angst von ihm
genommen wurde und er wieder lachen und sich freuen konnte, und von den Büchern, die von verquälten, gemarterten Menschen handelten, und wie er beschloß, es jemandem zu sagen, Kappie oder dem Hauptmann selber oder einem Psychiater, und von den harten, bitterbösen Worten, die er auf Buitenverwagting zu mir gesagt hatte. Und als er von allem Vergangenen und Gegenwärtigen gesprochen hatte, hätte er wohl über die Zukunft gesprochen, aber davor schreckte er zurück, der Zukunft konnte er nicht ins Gesicht sehen, denn die ganze Welt schwankte und bebte, und Gott allein wußte, was noch kommen mußte an Schrecken, Gram und Zorn für viele Menschenherzen, auf den Straßen, in den Häusern und Kirchen und Bars. Darum legte er den Kopf auf die Arme und schluchzte wie ein Kind. Und der Hauptmann trat zu ihm und legte ihm die Hand auf die Schulter und sagte: Es werden sehr böse Tage kommen, aber ich werde zu Ihnen halten und zu den Ihren und tun, was ich nur tun kann. Dann ging er zu Hauptmann Jooste und bat ihn, bei dem Leutnant zu bleiben. Also blieb Hauptmann Jooste bei dem Leutnant, während der Hauptmann das tat, was noch zu tun übrig war. Aber ehe er aus der Polizeiwache trat, hielt er an und sagte zum Sergeanten Steyn, der allein im Zimmer war: Gott möge Ihnen diese böse Tat vergeben. Denn eine Anzeige ist eine Anzeige; und was geschrieben ist, kann niemand ungeschrieben machen. Und es kann ein Wort geschrieben sein, das einen Mann und sein Haus und seine Sippe vernichtet, und es gibt keine Macht, weder Gottes noch der Menschen noch des Staates noch irgendeines Engels, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Hohes noch Tiefes noch irgendeine Kreatur, die sie retten kann, wenn einmal das Wort geschrieben ist.
35. Kapitel
UND WÄHREND der Hauptmann die van Onselenstraße entlang nach unserem Hause ging, erzählte mein Bruder Sybrand Wessels und meiner Schwägerin und mir die Geschichte von Theunis Burger und seinen schlechten Augen. Denn Theunis Burger ließ den Doktor rufen und sagte ihm, er sei am Erblinden. Und der Doktor sagte zu Theunis: Meneer, können Sie die Berge sehen? Und Theunis schaute nach der Richtung, wo die Berge waren, und schüttelte kummervoll den Kopf und sagte: Nein, ich kann die Berge nicht sehen. Da zeigte der Doktor mit der Hand und sagte: Meneer, können Sie die Bäume da drüben sehen? Und Theunis schüttelte wieder kummervoll den Kopf und sagte: Nein, ich kann gar keine Bäume sehen. Und der Doktor schüttelte auch den Kopf und sagte: Das ist schlimm, meneer. Und er wies mit der Hand mehr in die Nähe und sagte: Meneer, können Sie die Kühe dort sehen? Und Theunis schaute hin und sagte kummervoll: Nein, ich kann überhaupt keine Kühe sehen. Da wurde auch der Doktor traurig und zeigte noch einmal hin und fragte eindringlich: Meneer, können Sie ganz bestimmt die Kühe nicht sehen? Und Theunis sah sehr genau hin und beschattete die Augen mit der Hand und sagte ganz furchtbar traurig: Nein, ich kann überhaupt keine Kühe sehen, nur ein paar Ochsen. Und Sybrand prustete und schnaubte sich die Nase und benahm sich eher wie ein Schulmädchen als wie ein Mann, der in seinem Leben nicht noch einmal sechzig Jahre werden würde. Und meine Schwägerin und ich lachten auch, nicht über die Geschichte, denn die kannten wir, aber über die Art,
wie mein Bruder sie erzählte. Denn man konnte Theunis Burger und seinen Schabernack dabei wirklich vor Augen sehen. Das war die letzte lustige Geschichte, die in unserem Haus erzählt wurde, denn der Hauptmann klopfte an die Tür. Ich öffnete sie, und als ich sah, wie ernst sein Gesicht war, sagte ich nicht: Ich dachte, Sie seien in Kapstadt, sondern nur: Goeie middag, Herr Hauptmann, und ließ ihn herein. Aber mein Bruder sagte: Ich dachte, Sie seien in Kapstadt. Der Hauptmann sagte: Ich war in Kapstadt, aber ich mußte wegen einer dringenden Sache zurückkommen. Dann sah er uns der Reihe nach ernst an und besonders Sybrand Wessels und sagte zu meinem Bruder: Meneer, ich habe eine sehr vertrauliche Sache mit Ihnen zu besprechen. Also verabschiedete sich Sybrand Wessels. Dann sah der Hauptmann meine Schwägerin und mich an und sagte wieder zu meinem Bruder: Es ist eine sehr vertrauliche Sache. Und meine Schwägerin stand auf, und sie und ich wären aus dem Zimmer gegangen, aber ich merkte wohl, daß mein Bruder mit dieser sehr vertraulichen Sache nicht gern allein gelassen werden wollte, denn er sagte zu dem Hauptmann, als ob er eine Vorahnung habe: Betrifft sie uns alle? Der Hauptmann sagte ernst: Sie betrifft Sie alle. Aber er sah wieder uns zwei Frauen an, so daß wir wieder im Begriff waren, hinauszugehen, hätte mein Bruder nicht abschließend gesagt: Dann sagen Sie es uns allen. Und der Hauptmann zögerte, aber ohne Zweifel dachte er bei sich, früher oder später, also sagte er: Wie Sie wünschen, meneer. Da setzten wir uns, meine Schwägerin und ich, und mein Bruder bat den Hauptmann, sich auch zu setzen, aber er sagte, er wolle lieber stehen. – Ich habe eine sehr schmerzliche Pflicht zu erfüllen, sagte er. Und mein Bruder sagte leise: So erfüllen Sie Ihre Pflicht.
– Ich war in Kapstadt, sagte der Hauptmann, als Hauptmann Jooste anrief und mich bat, einer sehr dringenden Sache wegen sofort zurückzukommen. – Welche dringende Sache? – Die dringende Sache ist, sagte der Hauptmann, daß eine Anzeige gegen Ihren Sohn, Leutnant van Vlaanderen, vor liegt, daß er sich am Montag abend dieser Woche gegen das Sittlichkeitsgesetz von 1927 vergangen hat. – Und mein Bruder sagte ungläubig: Das Sittlichkeitsgesetz? – Ja. Und mein Bruder sagte nichts. Er saß da, seine Arme lagen ausgestreckt vor ihm auf dem Tisch, wie sie daliegen, wenn das Buch zwischen ihnen liegt, aber jetzt war das Buch nicht da. Er sah weder uns noch den Hauptmann an, sondern vor sich nieder auf den Tisch. Und ich sah meine Schwägerin nicht an, aber ich konnte sie aus einem Augenwinkel wohl sehen, und sie saß regungslos da. Und ich saß auch regungslos da und dachte und dachte, aber das ist nicht wichtig, was ich dachte, außer daß ich wußte: Das ganze Haus war vernichtet, weil ich nicht unaufhörlich an die Tür gehämmert und gerufen hatte. Und der Hauptmann regte sich auch nicht, sondern stand still vor uns da. Dann sagte mein Bruder: Beruht die Anzeige auf Wahrheit? – Ich fürchte ja, sagte der Hauptmann. Da sagte mein Bruder: Wissen Sie bestimmt, daß sie wahr ist? Und der Hauptmann sagte: Das muß das Gericht entscheiden. Aber mein Bruder fragte hartnäckig: Wissen Sie selber es bestimmt? Da sagte der Hauptmann: Er hat es mir gestanden. Darnach war Schweigen, außer daß wir alle den Atem meines Bruders hörten, der war wie der Atem einer Kreatur in großer Qual. Aber er sah uns nicht an, er starrte vor sich hin; und meine Schwägerin sah auf ihre Hände nieder; und der Hauptmann stand wie ein Soldat vor uns allen da. Dann hörte das schwere
Atmen meines Bruders auf, und er sagte zu mir: Sophie, das Buch. Also brachte ich ihm das Buch und legte es zwischen seine Arme und dachte, was er nun lesen würde; aber er las gar nichts, er schlug die erste Seite auf, wo die Namen aller van Vlaanderen seit mehr als hundertfünfzig Jahren eingeschrieben worden sind. Dann sagte er zu mir: Sophie, Feder und Tinte. Und er nahm Feder und Tinte und strich den Namen Pieter van Vlaanderen in dem Buch aus, nicht einmal, sondern viele Male, und er ließ dabei weder Zorn noch Kummer merken, noch sprach er ein Wort. Dann sagte er zu dem Hauptmann: Ist das alles? Ob nun der Hauptmann noch etwas hatte sagen wollen oder nicht, das weiß ich nicht, aber er hatte mit angesehen, wie der Name im Buch ausgestrichen wurde, und er trat zu meiner Schwägerin und nahm ihre Hände, die regungslos in ihrem Schoß lagen, und sagte zu ihr: Meine Hilfe steht Ihnen in allem zur Verfügung. Und mein Bruder sagte: Niemand hier im Hause wird irgend jemanden um Hilfe bitten. Der Hauptmann sah ihn an und dann wieder meine Schwägerin, und er sagte zu ihr: Ich werde dem Jungen beistehen. Dann sah er wieder meinen Bruder an und sagte: Ich werde dem Jungen beistehen. Und mein Bruder sagte: Wie Sie wünschen, und dann sah er ihn an, ob er noch nicht ginge. Also ging der Hauptmann fort. Ich folgte ihm, und mein Bruder sagte: Schließe die Tür ab und schiebe den Riegel vor und bringe mir den Schlüssel. Ich brachte ihm den Schlüssel, und er sagte zu uns: Die Tür wird nicht wieder geöffnet. Dann sagte er zu mir: Rufe Buitenverwagting an und sage Frans, er soll sofort kommen, allein. Ich ging zum Telefon und ließ Mann und Frau miteinander allein, und sie saßen da und regten sich nicht und sprachen
kein Wort. Als ich zurückkam, sagte ich: Er kommt sofort. – Du nimmst das Buch, sagte er, und die Pfeife und alles, was der Mensch mir je geschenkt hat, und alle Bilder von ihm und alles in diesem Hause, was irgend etwas mit ihm zu tun hat, und verbrennst und vernichtest alles. Und bringe mir Schreibpapier. Während ich die Pfeife und das Vogelbuch und alle seine Bilder und alles, was je mit ihm zu tun gehabt hatte, zusammensuchte, saß er da und schrieb; er schrieb an dominee Stander und an die nationalistische Partei und an den Farmerverein und an alle anderen Vereine, denen er angehörte, und trat von allen Ämtern und Ehrenämtern zurück. Und solange ich die Sachen zusammensuchte und er schrieb, saß die Mutter des Mannes da, die Mutter des Kindes, das als erstes ihren Schoß aufgetan hatte, die Hände lagen ihr im Schoß, und sie regte sich nicht und sprach kein Wort. Und dann kam Frans und klopfte an die Tür, die nicht wieder geöffnet werden sollte, und ich sagte ihm, er solle zur Seitentür hereinkommen. Mein Bruder wies auf das Buch und sagte: Du weißt, wessen Name da stand. Und Frans sagte: Ja, Vater, und stand da mit klopfendem Herzen und schneeweißem Gesicht, denn er begriff, daß etwas Entsetzliches geschehen war. Dann sagte mein Bruder ihm, welches Verbrechen der Mensch begangen hatte und daß sein Name in unserem Hause nie mehr genannt werden dürfe, daß auch kein Bild von ihm da sein dürfe und nichts, was ihm gehört oder mit ihm zu tun gehabt habe. Dann befahl er Frans, sofort zu gehen und dieses Menschen Frau und Kinder nach Buitenverwagting zu bringen und ihnen das alte Haus einzurichten, wo er und meine Schwägerin nach ihrer Verheiratung gewohnt hatten; und er befahl Frans, Nellas Vater und Mutter mitzuteilen, welch furchtbarer Schlag auch ihr Haus getroffen hatte, und es auch sofort seinen Schwestern mitzuteilen.
Dann befahl er mir, den Rechtsanwalt de Villiers anzurufen und ihm zu sagen, er möge sofort kommen, und darnach das Telephonamt anzurufen und zu verlangen, daß man noch an demselben Tage das Telephon wegnehmen solle. Dann kam Rechtsanwalt de Villiers, und ich mußte ihn bei der Seitentür hereinlassen; und sie änderten das Testament, und Frans erhielt den Anteil des älteren Sohnes und den zweiten Anteil Nella und die Kinder unter der Bedingung, daß weder sie noch die Kinder je wieder etwas mit diesem Menschen zu tun hätten. Als Frans und Rechtsanwalt de Villiers wieder fort waren, befahl mein Bruder mir, mich zu ihnen zu setzen, und obwohl es noch heller Tag war, nahm er das Buch und las die Worte des hundertneunten Psalms, das sind die schrecklichsten Worte, die je ein Mensch geschrieben hat, und sie sollten in keinem heiligen Buch stehen. Denn da steht geschrieben: Wenn er gerichtet wird, müsse er verdammt ausgehen, und sein Gebet müsse Sünde sein. Seiner Tage müssen wenige werden, und sein Amt müsse ein anderer empfangen. Seine Kinder müssen Waisen werden und sein Weib eine Witwe. Seine Kinder müssen in der Irre gehen und betteln und suchen, als die verdorben sind. Es müsse der Wucherer aussaugen alles, was er hat, und Fremde müssen seine Güter rauben. Und niemand müsse ihm Gutes tun, und niemand erbarme sich seiner Waisen. Seine Nachkommen müssen ausgerottet werden; ihr Name werde im anderen Glied vertilget. Seiner Väter Missetat müsse gedacht werden vor dem Herrn, und seiner Mutter Sünde müsse nicht ausgetilget werden. Der Herr müsse sie nimmer aus den Augen lassen, und ihr Gedächtnis müsse ausgerottet werden auf Erden, darum daß er
so gar keine Barmherzigkeit hatte, sondern verfolgte den Elenden und Armen und den Betrübten, daß er ihn tötete. Als mein Bruder zu Ende gelesen hatte, beugte er sich plötzlich tief über das Buch, und da regte sich meine Schwägerin und hob den Kopf und sah nach ihm hin. Vielleicht hörte ei es, und es rührte ihn ganz tief innen an, denn er sagte mit gequälter Stimme: Ich werde nicht beten. Sie stand auf und ging zu ihm und legte den Arm um seine Schultern, weiter nichts; und sein Kopf sank noch tiefer auf das Buch, bis sein Gesicht fast darauf lag. So blieb er vielleicht eine Minute, bis er wieder Herr über sich war; dann hob er den Kopf und schloß das Buch und stand vom Stuhl auf, wandte sich von uns ab und ging nach der Treppe zu seinem Zimmer. Als er zwei oder drei Stufen hinauf war, folgte sie ihm und sagte: Jakob, ich muß zu ihm gehen. Er hielt an, und ohne sich umzuwenden, sagte er zu ihr: Du kannst tun, was du willst, aber wenn du dieses Haus verläßt, darfst du nicht mehr zurückkommen. Da sah sie mich an, und ich sagte zu ihm: Dann will ich gehen. – Also willst du uns verlassen? fragte er. – Wenn es sein muß, sagte ich. – Wenn du jetzt gehst, dann muß es sein, sagte er. – Dann muß es sein, sagte ich. Nun hatte ich dreißig Jahre in meines Bruders Hause gelebt, und es war nicht leicht, daß das nun zu Ende sein sollte; darum wandte er sich um. – So will ich dir Lebewohl sagen, sagte er und grüßte mich mit einer Neigung des Kopfes. – Ich wünsche dir alles Gute, sagte er. Dann wartete er einen Augenblick oder zwei auf meine Antwort, aber die einzige Antwort, die mir einfiel, war: Ich wünsche dir auch alles Gute! Aber wie konnte ich das wohl sagen? Also wandte er sich um, ohne Antwort von mir, und
stieg die Treppe hinauf, und meine Schwägerin sah ihm von den Stufen aus nach und ich vom Zimmer, bis wir die Tür seines Zimmers sich schließen hörten. Dann kam sie die Stufen herunter zu mir, und wir umarmten uns, aber wir weinten nicht. Schließlich sagte sie: Hast du alles verbrannt? – Nicht alles. – Was hast du behalten? – Ein Bild, sagte ich. – Gib es mir, sagte sie. Also gingen wir in mein Zimmer, und ich holte das Bild unterm Kopfkissen hervor und gab es ihr; und es war eines, das sie besonders liebte, es war gemacht worden, als er Soldat war und weit fort im Krieg, und sie betrachtete es voller Liebe und Herzeleid. – Was hast du für dich selber behalten? sagte sie. Und ängstlich zog ich das Vogelbuch hervor, und sie schrie auf um dessentwillen, was hätte sein können, und in Erinnerung an den Abend, an dem das Buch geschenkt wurde, und im Leid um die tief verborgenen Dinge, die es zwischen Vätern und Söhnen gibt und die kein Mensch verstehen kann. Und sie sagte mir, wie sie von seiner Kindheit an Angst um ihn gehabt hatte und wußte, daß er tief in seinem Innern Dinge verbarg, die niemand ungestraft in sich verbergen darf; und wie sie, obwohl sie nicht wußte, was für Dinge es waren, unaufhörlich gebetet hatte, sie möchten von ihm genommen werden. Aber jetzt, da sie alles wußte, liebte sie ihn um so mehr. Und sie erinnerte sich, wie ihre Hoffnung auflebte, als er so glücklich in seiner Liebe war; aber sie hatte bald gespürt, daß er nicht einmal da sich offenbart hatte, so daß Nella einen Fremden geheiratet hatte, den nicht einmal alte, erfahrene Leute verstehen konnten, noch konnten sie ihm helfen. Und sie
sagte zu mir: Sie hat keine Schuld daran, das soll die ganze Welt wissen. Dann sagte sie: Liebes Kind, unglückliches Kind, Dann sagte sie zu mir: Wer könnte wagen, sie zu richten? Weder du noch ich. Denn Gott tut beides, Er liebt und richtet die Menschen, und Er hat uns geboten, daß wir in Seiner Liebe eines mit Ihm sein sollen, aber zu richten ist uns verboten. Du sollst beiden, meinem Sohn und meiner Tochter, sagen, daß ich sie um so mehr liebe, und wenn auch die Tür dieses Hauses mich von ihnen trennt, so sind doch alle Türen meines Herzens offen; ich werde Tag und Nacht an sie denken, bis ich zu meiner Ruhe eingehen darf. Aber die Liebe, die ich ihnen nicht zeigen darf, die sollst du ihnen an meiner Statt zeigen. Und ich konnte ihr nicht antworten, so tief empfand ich Vorwurf und Beschämung; und es war mir auch bange, denn noch nie hatte ich solche Worte von ihr gehört. – Und meinem Sohn sollst du sagen, sagte sie, wenn er auch unter dem Gesetz zu leiden haben wird, so gibt es doch kein Gesetz, das ihn von meiner Liebe und von der seiner Freunde scheiden kann. Sein Leben gehört Gott und mir und dir und seiner Frau und seinen Kindern und allen seinen Freunden; und darum wird er es werthalten und nicht zugrunde gehen. – Geh jetzt, sagte sie, eile dich. Sie küßte mich und sagte: Ich gehe zu meinem Mann. Dann ging ich und packte ein paar Sachen zusammen, und als ich fertig war, ging ich aus dem Haus, aber ich wagte nicht, mich zu eilen, wie sie mich gebeten hatte, denn die Dämmerung auf der Straße war noch nicht tief genug. Und ich wagte nicht, ins Haus zurückzugehen, denn es war mir ja nun verboten, und ich wollte mich auch meiner Schwägerin nicht mehr zeigen, denn sie wäre sofort gegangen, ob es hell oder dunkel war. Und weil ich meiner Nichte Martha nicht begegnen wollte, wenn sie nach Hause kam, ging ich und setzte mich im Garten nieder;
und wie ich da saß, kam sie und der junge dominee mit ihr und klopfte an die Tür, die nicht aufgemacht werden durfte, und ich hörte die Stimme meiner Schwägerin vom Hause her, wie sie leise und ruhig sagte, sie möchten zu der anderen Tür gehen, und sie gingen nahe an mir vorüber, und sogar in dem halben Licht konnte ich erkennen, daß sie es wußten. Also war es bekannt geworden, und nun würde es wie ein Lauffeuer von Haus zu Haus fliegen und von einer Farm zur anderen im Grasland und die Kloofs und die Steilhänge hinunter in die heiße Welt der Felsen und Blumen und zu jedem Kraal und jeder Hütte in Madunas Land und durch Telephon- und Telegraphendrähte in jedes Dorf und jede Stadt und in die Zeitungen und in die Häuser der Soldaten, die im Krieg gewesen waren, und in die Regierungsgebäude in Pretoria und sogar zu den großen Rugbyplätzen, wo Zehntausende zusammenströmten, um das Wettspiel zu sehen. Darum wartete ich, bis es ganz dunkel war. Dann wagte ich mich hinaus auf die Straße mit den drei Lichtringen, und als ich in die Nähe des »Royal« kam, überquerte ich die Straße und ging ins Dunkel hinüber, und so kam ich zur Polizeiwache und ging zu des Hauptmanns Zimmer und sagte: Wo ist er? – Er ist eben nach Hause gegangen, sagte er. – Dort ist niemand. Mein Bruder hat sie abholen lassen. – Kommen Sie schnell, sagte er. Während wir auf die Straße eilten, sagte er besorgt: Er wollte es ihr selber sagen, er wollte es ihr unbedingt selber sagen. Und in dreißig Minuten sollte ich nachkommen. – Haben Sie die Gewehre weggenommen? – Alle Gewehre und seinen Dienstrevolver. – Und seinen eigenen Revolver?
– Ich wußte nicht, daß er einen hat. Können Sie schneller gehen? Ich kann laufen, sagte ich.
36. Kapitel
DENN SOBALD ES dunkel war, war Sergeant Fourie mit dem ExLeutnant nach dessen Hause gegangen. Und der Ex-Leutnant hatte ihm gezeigt, wo die Gewehre waren, aber er selber hatte lauschend dagestanden, denn das Haus war still, man hörte die Frau nicht und man hörte die Kinder nicht im Bade spielen. Dann ging der Sergeant, und Johannes kam lachend und vergnügt aus der Küche; und da er so vergnügt war, konnte der Mann ihn fragen, fast als ob nichts dabei wäre: Wer hat die Frau und die Kinder abgeholt? Und Johannes sagte: Baas Frans ist mit dem Auto gekommen. Und der Mann fragte obenhin: Ist ein Brief da? Und Johannes sagte: Ja. Der Junge ging in die Küche und kam mit dem Brief zurück, der war schwer, und es stand darauf: P. van Vlaanderen. Er riß den Umschlag auf, und der war voller Papiergeld, und ein Zettel war dabei, auf dem stand geschrieben: Hiermee jou agtien pond, J. Vorster, das heißt: Hiermit Ihre achtzehn Pfund. Aber es drückt nicht genau dasselbe aus, denn das Wort jou, wenn es auf solche Weise gebraucht wird, ist ein Ausdruck äußerster Verachtung. Da begriff er, daß nun nichts mehr helfen konnte, und ging ins Schlafzimmer und nahm den Revolver aus dem Schrank, wo er verwahrt war, und zog den langen Mantel über die Uniform und ging in die dunkle Stadt hinaus. Als der Hauptmann und ich hinkamen, war er schon fort. Aber wir sahen das Geld und den Brief, und obwohl wir nicht wußten, welche Bewandtnis es mit dem Gelde hatte, begriffen wir doch, daß der Brief äußerste Verachtung ausdrückte. Ich ging ins Schlafzimmer und sah mich ratlos um, denn da ich nicht
wußte, wo der Revolver verwahrt war, wußte ich auch nicht, ob er noch da war oder nicht. Ich lief zu dem Hauptmann und sagte: Wohin sollen wir gehen? – Das weiß Gott, sagte er, aber wir können es versuchen. Dann eilten wir durch die Stadt nach der Pretoriusstraße, wo der stinkende kakiebos auf dem leeren Grundstück wächst. Aber auch Kappie war zum Hause geeilt, als er hörte, daß sein Freund allein dort sei. Und auch er sah das Geld und den Brief, der höchste Verachtung ausdrückte. Und darum ging er sofort wieder weg, aber nicht zu dem leeren Grundstück, sondern zu Slabberts Feld; und da in der untersten Reihe der Zuschauerbänke sah er den Freund im Dunkeln sitzen, die Hände auf den Knien zusammengelegt und den Kopf tief auf die Brust gesenkt. Und Kappie kam leise über die Bänke hinunter, bis er zwei oder drei Reihen hinter ihm war. Dann sagte er: Herr Leutnant. Und der Mann wandte sich nicht um, aber er sagte sofort: Wer ist da? – Kappie, Herr Leutnant. Herr Leutnant, in Gottes Namen und im Namen Ihres Herrn Jesu Christi, tun Sie den Revolver fort. Und der Mann sagte: Ich bin kein Leutnant. Da sagte Kappie: Pieter, in Gottes Namen, tu ihn fort. Dann hörte er den Revolver aus des Freundes Hand fallen und ging vollends hinunter und setzte sich neben ihn und legte den Arm um ihn, nicht um die Schultern, das konnte er nicht, da er so klein war. Und er sprach zu ihm wie zu einem Kinde, wie eine Frau spricht, wie die meisten Männer sich scheuen würden, in Gegenwart eines anderen Menschen zu sprechen, über Freundschaft und Mut, und daß niemand es verdiene, auf immer und ewig zu leiden, und er sprach von einem Plan, daß Mann und Frau und Kinder in ein anderes Land gehen könnten, wo sie Angst und Leiden vergessen würden.
– Meine Frau und die Kinder, Kappie? Die sind schon fort. Und Kappie sprach weiter zu ihm, über Panik und Angst, die so groß sein konnten, daß man nur noch fortlaufen wollte und im Augenblick vergaß, wieviel Liebe und Glück man erfahren hatte. Er sprach, wie eine Frau zu ihrem Kinde spricht, wenn es zu schluchzen aufgehört hat und fragt und fragt, und sie antwortet und tröstet, so daß die Gegenwart sicher und warm ist und es scheint, als ob die Zukunft nicht zu kommen brauche. Dann stand Kappie auf und hob den Revolver auf. – Pieter, laß uns nach Hause gehen. – Kappie? – Ja. – Hast du es gewußt? – Ich habe gewußt, daß etwas war, aber ich wußte nicht, was. – Ich wollte es dir sagen, Kappte. Und Kappie stand und dachte zurück, und aus dem Schweigen über Slabberts Feld klang plötzlich, im Dunkeln anschwellend und wieder leiser werdend, die Musik des herrlichen Konzerts auf, so deutlich und klar, daß er sich wunderte, daß der andere es nicht hörte. Aber vielleicht hörte er es, denn er sagte: Ich war ja gekommen, um es dir zu sagen. Und miteinander horchten sie auf die Musik, die damals erklungen war, als einer kam und sprechen wollte und dann nichts sagte, nicht einmal ein Wort darüber, wie kalt und schön die Winternacht sei; als einer in Todesgefahr ganz nah vor der Rettung noch zurückwich und dann vernichtet wurde. Und die Musik verklang, und Slabberts Feld war nur noch ein kaltes, dunkles Feld, und man wußte wieder, daß die Zukunft doch kommen mußte. Also gingen sie schweigend miteinander zur Stadt zurück und kamen im Dunkeln an uns vorüber; und als sie ins Haus gegangen waren, gingen der Hauptmann und ich langsam nach.
37. Kapitel
ABER OBWOHL der Hauptmann und ich ihnen nachgefolgt waren, gingen wir nicht ins Zimmer, sondern standen an der Tür; denn wir hörten ihn sagen, daß er geläutert sei, ein- für allemale, und daß der Schlag, der ihn zu Boden schmetterte, ihn ein- für allemale geläutert habe, aber warum mußte ein Mensch zu Boden geschmettert werden, ehe er geläutert wurde, und warum hatte der, der den Schlag führte, ihn nicht gewarnt, denn eben diese Warnung hätte doch schon die Läuterung ein- für allemal bewirkt, und warum hatte Gott ihn nicht gewarnt, und warum mußte Gott ihn so ganz und gar vernichten, und warum mußten auch die Unschuldigen vernichtet werden, und warum und warum und warum. Da wußte ich, daß er zugrunde gerichtet war. Denn er war wie einer, den die Legende berühmt gemacht hat, daß er unter seinen Kleidern nicht ein Mensch wie andere Menschen sei, sondern die Merkmale eines Gottes trage; aber irgendein Feind machte ihn betrunken und zog ihm die Kleider aus und ließ ihn so nackt auf der Straße zum Gespött der Menschen. Und ich begriff mit plötzlichem Erschrecken, daß das zerbrochene und zerknirschte Herz etwas viel Schrecklicheres ist als Reue. Ach, warum müssen wir uns wappnen und auf der Hut sein? O hätten wir doch tiefere Liebe und tieferes Verstehen, daß keinem Kinde je wieder ein Leid geschähe. – Und Kappie, meine Mutter? Und Kappie sagte: Wir müssen auf deine Tante warten. Darum ging ich hinein und sagte: Ich soll dir ausrichten, daß deine Mutter in Liebe an dich denkt. Und Kappie ging hinaus, und der Junge umschlang mich und preßte den Kopf an meine
Brust und war wieder, wie er als Kind war, ehe er mich so gekränkt hatte. Und ob es darum war oder aus einem anderen Grunde, aber er hörte auf, sich zu zerquälen, und fing an, zu sprechen, wie man spricht, wenn der erste, verzweifelte Schmerz um einen Toten vorüber ist, wie man dann wohl aufsteht und sagt: Möchtest du ein Kinderbild von ihm sehen? So sagte er jetzt zu mir: Verstehst du es denn alles? – Manches, sagte ich, nicht alles. Er stand auf und ging in sein Zimmer und kam mit einer großen ledernen Tasche zurück, die mußte im offenen Kamin versteckt gewesen sein, denn sie war schwarz von Ruß. Daraus nahm er ein Paket, das er auf dem Boden öffnete, und aus dem Paket einen großen Briefumschlag. Seine Hände waren rußig, und er sagte mit kindlichem Ernst zu mir: Mach du es auf, Tante, es ist sauber. Ich hob den Umschlag auf, und darauf stand: Im Falle meines Todes ungeöffnet zu übergeben an Matthew Kaplan, Südtransvaaler Handelsgesellschaft, Venterspan. P. van Vlaanderen. Ich öffnete den Umschlag, und darin war ein dickes, schwarzes Heft, wie es die Schüler der höheren Schulklassen benutzen. – Darin steht alles, sagte er, ich habe alles aufgeschrieben. – Ist das für Nella? sagte ich. – Für Nella, sagte er, und wenn sie es will, auch für die Mutter und für dich. Dann sagten wir nichts mehr, und der Hauptmann und Kappie kamen herein, als sie uns schweigen hörten. Kappie sagte: Pieter, kann ich heute nacht hier schlafen? Also beschied ich mich, obwohl ich gern selbst dort geschlafen
hätte, und nahm mein Köfferchen auf und ging bereitwillig mit dem Hauptmann fort. Auf der Straße sagte er: Wollten Sie dort übernachten? – Ja. Da wollte er mich zu meines Bruders Haus bringen, aber ich sagte ihm, daß ich dahin nicht zurückkehren dürfe und ins Hotel gehen wolle. – Keineswegs werden Sie ins Hotel gehen. Sie werden bei meiner Mutter und mir wohnen. Darnach sagte er nichts mehr, bis wir an seinem Gartentor waren. Da hielt er an und sagte mit ganz veränderter, zitternder Stimme: Ein Missetäter muß bestraft werden, mejuffrou, dagegen kann ich nichts sagen. Aber strafen und nicht wieder aufrichten, das ist das größte aller Verbrechen. – Ist das die Sünde gegen den Heiligen Geist? sagte ich. – Ich weiß nicht, sagte er, aber ich hoffe nicht, denn ich habe sie einmal begangen. Und ich erkühnte mich, zu fragen: War das Ihr Sohn? – Ja, sagte er. Ja, das war mein Sohn. Aber ich bin fest entschlossen, diese Sünde nie wieder zu begehen. Er machte das Tor auf. – Das Haus und alles darinnen ist zu Ihrer Verfügung, mejuffrou. Und ich sagte leichthin: Alles werde ich nicht brauchen. – Mejuffrou, sagte er ernsthaft, Sie sind eine wunderbare Frau. Aber darauf fand ich keine Antwort, denn es war das erste Mal, daß mir jemand so etwas gesagt hat. Als wir ins Haus kamen, wartete Nellas Vater auf uns, der große, heftige alte Mann mit dem Raubvogelprofil und den blauen, durchdringenden Augen. Der Hauptmann erzählte ihm die ganze Sache, und als er fertig war, schlug der heftige alte Mann mit der Faust auf die Stuhllehne und sagte: Ich konnte ihn niederschießen wie einen Hund. Und dann, da niemand
etwas sagte, sagte er zu dem Hauptmann: Sie nicht? Und der Hauptmann sagte: Nein. – Was, Sie nicht? – Nein. – Aber er hat sich an der Rasse versündigt. Da sagte der Hauptmann zitternd vor Erregung: Meneer, als Polizist kenne ich die Sünde gegen das Gesetz, und als Christ kenne ich die Sünde gegen Gott; aber von einer Sünde gegen die Rasse ist mir nichts bekannt. Da wandte sich der alte Mann an mich und sagte: Mevrou… – Mejuffrou, sagte ich. Da erkannte er mich endlich mit seinen durchdringenden Augen und sagte: Mejuffrou, entschuldigen Sie… – Meneer, sagte der Hauptmann, wenn der Mensch sich Gottes Recht zu strafen anmaßt, so muß er auch Gottes Verheißung sich zur Pflicht machen, den Sünder wieder aufzurichten. Wenn wir… – Sie sind ein Engländer, sagte Nellas Vater heftig, aber nicht in kränkendem Ton. Sie verstehen von diesen Dingen nichts. – Ich bin kein Engländer, sagte ich, aber ich verstehe sie. Der alte Mann sagte: Es hat keinen Sinn, noch länger hier zu bleiben, und mit kurzem goeie nag ging er fort. Der Hauptmann sagte: Wann bringen Sie ihr das Buch? Als ich nicht sofort antwortete, sagte er: Ich hoffe, Sie tun es bald. Ich sagte in meiner Torheit: Wird das helfen? Er sagte leise: Wenn sie nicht wiederkommt, kann überhaupt nichts helfen. Sie glauben doch nicht, mejuffrou, daß irgendeine andere Frau ihn retten kann? Und wenn Sie vielleicht denken: Sie hat ihm vorher auch nicht helfen können, sehen Sie denn nicht, daß das ein ganz anderer Mensch ist? – Es tut mir leid, sagte ich. Das wollte ich nicht sagen. – Ich denke nicht nur an ihn, sagte er, sondern auch an sie. Es gibt ein strenges Gesetz, mejuffrou, daß wir, wenn uns ein
großes Unrecht angetan worden ist, uns nicht eher davon erholen, bis wir verzeihen. – Ich werde ihr das Buch bringen, sagte ich. Ag, aber ich habe Angst.
38. Kapitel
SO WURDEN WIR alle vernichtet. Weil er es einem Menschen nicht sagen wollte, darum wußte es nun die ganze Welt. Sein Vater schloß die Tür seines Hauses ab, und sein Bruder wagte sich nicht aus dem Schutz von Buitenverwagting heraus, und seine verheirateten Schwestern hofften, daß niemand sich ihres Mädchennamens erinnerte. Seine jüngste Schwester, Martha, hatte ihren Ring zurückgegeben, und der junge dominee wußte nicht, sollte er ihn zurücknehmen oder nicht; und der alte dominee wußte nicht, was er ihm raten sollte, die Wahl wurde ihm schwer zwischen seiner Zuneigung zu dem jungen Mann und seiner Liebe zur Kirche, die über allen Vorwurf erhaben sein muß und keinen Anstoß erregen darf. Denn ich sagte zu dem alten dominee: Wie Gott der Gott der Liebe ist, so muß auch Seine Kirche die Kirche der Liebe sein, oder Er wird sie zerstören. Und er antwortete: Mejuffrou, Er hat das Recht, sie zu zerstören, aber nicht Sie oder ich. Aber dann blieb es dem jungen dominee gar nicht überlassen, sich zu entscheiden, denn das Mädchen selbst sagte, sie wolle nie wieder einen Schritt aus dem Hause tun, nicht weil ihr Vater es so wollte, sondern weil sie selbst es wollte. Und sie klammerte sich auch nicht mit Tränen und Verzweiflung an den Geliebten, sondern erlaubte ihm nicht einmal, sie zu berühren. Darum schreibe ich hier auf, daß ihres Bruders Sünde auch sie zerstörte. Das Leben schlug ihr mitten ins Gesicht und versetzte sie unvermittelt aus der Traumwelt eines jungen Mädchens in eine harte, böse Welt, in der die Liebe eine Torheit schien. Und von dieser Härte kam etwas in ihr Herz, so daß sie es mitansehen konnte, wie
unglücklich und halb wahnsinnig der einst Geliebte war, ohne daß es sie drängte, ihn anzurühren und zu trösten. – Also gehst du fort, sagte ich zu ihm. – Tante, was soll ich denn anders tun? Und obwohl sein knabenhafter Jammer meinem Herzen wehtat, sagte mir doch mein Verstand: Er wird es überstehen, aber wir nicht. Seine Stimme erhob sich anklagend. – Sie selber wollte, daß mir die Tür verschlossen wurde, Tante. Es war, als habe sie mich ausgelöscht. Er schüttelte den Kopf. – Ich kann’s nicht glauben, sagte er. Ich kann’s nicht glauben. – Es ist nicht deinetwegen, sagte ich. – Ich hätte sie beschützt, Tante. – Das hättest du nicht gekonnt, sagte ich. Ein predikant kann keine Frau heiraten, die sich verstecken muß. Aber davon ganz abgesehen, sie will zurück zu Vater und Mutter und Kindheit und sich wieder sicher fühlen. – Aber sie hat mir doch gesagt, Tante, sie liebt mich mehr als alles. – Ach. Also ging er unvermittelt auf Urlaub und kam nicht wieder, denn er wurde an eine andere Kirche berufen; und da hat er uns hoffentlich vergessen. Aber wir wurden an ihn erinnert, denn er wurde in die Springbokmannschaft gewählt, und sein Name stand in allen Zeitungen. Ja, ich verstand sie wohl, und ich verstand auch, daß sie ihn ohne Tränen gehen ließ und es sogar kaum erwarten konnte, daß die Tür sich hinter ihm schloß. Denn die Wahrheit ist, daß ihr Kummer und ihre Sorgen größer waren als ihre Liebe. Die Wahrheit ist, daß wir nicht mehr so waren wie andere Leute. Ich dankte Gott, daß ich in des Hauptmanns Hause wohnte und meine Hände an die Zimmerwände legen konnte und mich vergewissern, daß sie nicht wankten, und daß ich nicht hören
konnte, was man auf der Straße und in den anderen Häusern sagte. Denn ich merkte wohl, daß die Vorübergehenden nach des Hauptmanns Haus sahen, wie sie auch nach meines Bruders Haus sahen, wo vorn die Läden alle geschlossen waren und die Haustür versperrt, sagten sie, und zwar auf immer. Die Schulkinder gingen auch vorüber, nicht einmal, sondern viele Male, und sprachen leiser, wenn sie näher kamen, und verstummten ganz und sahen verstohlen hin, bis dieser van Belkum, den ich für einen Narren gehalten hatte, ihnen entrüstet verbot, überhaupt vorbeizugehen. Sie gingen auch am Hause des Ex-Leutnants vorüber, bis auch das verboten wurde; er aber, ehe sie ihn fortbrachten, wußte, daß die Kinder vorübergingen, und die Kinder zwangen ihn, den Kelch bis zur Neige zu leeren. So saß ich in der Sicherheit meines Zimmers mit dem geheimen Buch. Ich hätte es gern aufgemacht, aber er hatte ja gesagt: Wenn Nella will. Was er keinem Menschen, Mann oder Frau, sagen konnte, das hatte er in ein Buch geschrieben. Ich nahm den großen Briefumschlag in die Hand und hätte ihn wohl öffnen können, wäre es mir nicht verboten gewesen. Und trotzdem hätte ich ihn öffnen können. Darum legte ich ihn in eine Schublade und sagte mir, daß ich ihn bald fortbringen müsse. Und als ich die Schublade schloß, klopfte es an die Tür, und mein Neffe Frans war da. – Die Mutter braucht dich, sagte er. Der Vater ist gestorben.
39. Kapitel
SO STARB Jakob van Vlaanderen, acht Tage nachdem ihn der Schicksalsschlag getroffen hatte. Er starb allein, und niemand wußte, daß er tot war, bis meine Schwägerin ihn fand, über das Buch Hiob gebeugt. Mir fiel der Betrunkene ein, wie er fragte: Wozu lebt man? Was ist der Sinn des Lebens? Und die Antwort, die mein Bruder mit Donnerstimme gegeben hatte: Der Sinn des Lebens ist, dem Herrn unserem Gott zu dienen und die Ehre unserer Kirche, unserer Sprache und unseres Volkes aufrecht zu erhalten. Aber nun fand er selber keine Antwort und suchte voll Verlangen in dem Buch. Darum habe ich die Wahrheit geschrieben, als ich schrieb, daß er vernichtet wurde. Meine Schwägerin fuhr nach Buitenverwagting, sie müsse sich um das Begräbnis kümmern, sagte sie; aber sie nahm das geheime Buch mit. Sie brach am frühen Morgen auf und kam erst am Abend zurück; aber als sie kam, brachte sie Nella und die Kinder mit. Was sie miteinander gesprochen hatten und ob sie in dem Buch gelesen hatten, das weiß ich nicht, aber das Mädchen kam zurück, schweigend, doch unbeirrbar, von dem starken, tiefen Strom der Liebe dieser Frau getragen, die uns alle aufrecht erhielt. Mein Bruder wurde in aller Stille auf Buitenverwagting bei seinen Vätern begraben. Wären die Umstände anders gewesen, so wären Stadt und Land zum Begräbnis gekommen und Leute aus Johannesburg und Pretoria und alle die Parlamentsmitglieder, die er im Scherz sein Ochsengespann zu nennen pflegte.
Dann wurde die große Haustür in der van Onselenstraße aufgeschlossen und die Fensterblenden hochgezogen, denn meine Schwägerin sagte: Es muß etwas heraus aus diesem Hause; und sie und ich verbargen uns nicht länger, weil sie es nicht wollte. Aber sie hatte schon ihr Amt als Vorsitzende des Frauenfürsorgevereins niedergelegt, und obwohl man noch niemand anders gewählt hatte und sie wieder hätte wählen können, wenn man gewollt hätte, so wählte man schließlich Elisabet Wagenaar, die sicherlich eine der dümmsten Frauen auf der Welt ist. Und ich schreibe hierher, daß wir dabei waren, als sie das Urteil über ihn sprachen, nicht nur seine Mutter und ich, sondern auch seine Frau, Nella, weil wir es für unsere Pflicht hielten. Darum mußten wir die schrecklichen Worte anhören, daß ein Mann das ihm gegebene Vertrauensamt mißbraucht habe, daß er zu diesem Amt nicht tauge und der Liebe seiner Frau und Kinder nicht würdig sei. Aber das ist nicht wahr, was in der Zeitung stand, daß er lächelnd zu uns hinsah, als sie ihn abführten. Denn ich sehe ihn immer noch vor mir. Und ich sage, er verneigte sich vor uns, demütig und ernst, und gelächelt hat er nicht.
Was nun noch kommen wird, das weiß ich nicht, außer, daß sie in ein anderes Land ziehen werden, weit von uns allen fort. Ich hoffe, daß sie dort miteinander einen Frieden finden werden, selbst wenn er immer so schweigsam und ernst bleiben muß. Und auch ich, nachdem ich diese Geschichte in Schmerz und Leidenschaft durchlebt habe, beschließe sie in einem Frieden und denke an Gottes Gnade, die uns allen solche Freunde geschenkt hat. Und doch kann mein Schmerz wieder aufleben, wenn ich von einem armen Menschen höre, der das eiserne Gesetz übertreten
hat. War auch er zwei Menschen, ein tapferer und sanftmütiger und ein gequälter? Und hat er Freunde, oder muß er nun sein ganzes Leben lang leiden? Und gab es vielleicht jemanden, der wußte, warum er die Tür seiner Seele versperrt hatte, und an die Tür hätte hämmern und unaufhörlich rufen sollen? Und es ist mir leid um ihn und um das Haus, das er mit sich zu Fall gebracht hat, nicht wie Simson das Haus seiner Feinde, sondern das Haus seines eigenen Fleisches und Blutes. Und es ist mir leid um das Volk, das ihn hervorgebracht hat, das vom Althergewohnten und Bekannten weg auszog in den riesigen, geheimnisvollen Erdteil und dort die Lieder aus heimwee und Sehnsucht erdachte und die eisernen Gesetze. Und da nun der Herr unsere Knechtschaft gewendet hat, bete ich, daß wir nicht im Hochmut wandeln, und ich denke an Herodes, den der Engel des Herrn zu Boden schlug, weil er sich selbst zum Gott machte.
Aber am meisten ist es mir leid um Frans und seine Frau, die jetzt ganz einsam auf Buitenverwagting leben. Der Knabe Koos ist hochgewachsen und dunkel, und es ist, als sei er von der Einsamkeit gezeichnet. Werden die anderen, wenn sie ihn kennenlernen, sagen: Wo habe ich doch deinen Namen schon gehört? Und wird ihn das unglücklich machen, oder ist er schon unglücklich? Ach, ich bete, die Welt möge es doch vergessen sein lassen.
Und alles, was ich hier geschrieben habe, ist wahr, denn ich habe das geheime Buch gelesen und auch alles, was er im Gefängnis geschrieben hat; und meine Schwägerin sagt auch, es ist wahr, obwohl sie selber manches anders geschrieben hätte. Und ich wollte, sie hätte es geschrieben, denn vielleicht
würde die Kraft ihrer Liebe, die nie an sich selber dachte, die Menschen bewegen, sich der heiligen Pflicht der Vergebung zuzuwenden, auf daß der Leib unseres Herrn nicht aufs neue gemartert werde und Missetat in rechten Wandel sich kehre.
Worterläuterungen der Übersetzerin
ag: ach (die Aussprache ist die gleiche) baas: Herr, im Sinne von Gebieter; nur von Schwarzen gebraucht, wenn sie Weiße anreden bleshoender: Wasserhuhn mit Blesse Boerewors: Burenwurst, Bauernwurst boomslang: Baumschlange Buitenverwagting: wörtlich: außerhalb der Erwartung; über alle Erwartung dankbaarheid: Dankbarkeit diaken: Diakon dominee: Pfarrer duikertjie: Taucherchen frikkadel: Fleischkloß aus Hackfleisch goeie middag, goeie nag: guten Nachmittag, gute Nacht Grobler: afrikaans ausgesprochen: Chrobler, englisch ausgesprochen: Grobler hamerkop: Hammerkopf, reiherartiger Vogel hangende sake: wörtlich: hängende Sachen heimwee: Heimweh hemel: Himmel kakiebos: Khakiebusch, übelriechendes Unkraut kiewietjies: Kiebitze klonkie: kleiner Negerjunge kloof: Schlucht koeksusters: Schmalzgebackenes konfyt: Eingemachtes krantz: in steilen Stufen abfallender Fels liedjies: Liedchen
liefste: Liebste lokasie: wörtlich: Ortschaft. In Südafrika nennt man so nur die Niederlassungen der Neger, die zu den Städten und Dörfern der Weißen gehören. Kein Weißer darf in einer lokasie wohnen, und meistens müssen Weiße Erlaubnis einholen, wenn sie eine lokasie betreten wollen magtig: mächtig, gebraucht als Ausruf wie »Allmächtiger« mejuffrou: Fräulein mektert: Milchtorte, Spezialität der Burenküche meener: Herr; mevrou: Frau more: Morgen, morgen; auch: guten Morgen nooitgedacht: wörtlich: nie gedacht oubaas: alter baas (siehe baas), Oberhaupt der Familie pannekoek: Pfannkuchen piet-my-vrou: Spottdrossel, Kuckucksart (nach einer alten Geschichte ruft der Vogel den Farmer Piet, der seine Frau ermordet hat) predikant: Prediger, Geistlicher der holländischen reformierten Kirche ruitertjie: Sandpfeifer sitkamer: Wohnzimmer sonop: Sonnenaufgang springboks: die südafrikanische Rugbymannschaft, so genannt nach dem Wappentier Südafrikas stinkhout, stinkwood: südafrikanisches Teakholz stoep: überdeckte Veranda vor der Haustür an der Vorderseite des Hauses veld: wörtlich: Feld, wird aber nur vom unbebauten Feld gebraucht verdomde: verdammte vierkleur: Fahne, die die Farben der vor dem Burenkrieg bestehenden südafrikanischen Republiken und des OranjeFreistaates in sich vereinigt (kleur von couleur)
Vredendal: Friedenstal weltevreden: wohl zufrieden