BERTE BRATT
Aber dann kam der Sommer
Ein Pferd und eine Verlobung. Unni Björk wird von ihrer vermögenden Tante Agnete ...
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BERTE BRATT
Aber dann kam der Sommer
Ein Pferd und eine Verlobung. Unni Björk wird von ihrer vermögenden Tante Agnete als Gesellschafterin engagiert. Sie kommt in eine neue Welt des Reichtums und des Luxus, der Partys und kostspieligen Vergnügungen; sie verlobt sich mit dem feschen Leutnant Roar Steen und erhält als Geschenk das Reitpferd Dyveke. Unnis Glück scheint vollkommen, bis sie aufgeweckt wird wie aus einem Traum und erkennt, daß das Leben kein Partyrummel ist und daß die Wirklichkeit mehr verlangt als hohle Konversation.
Verlags-Nr. 532 5. Auflage Gesamtausstattung: E. Grauel von Mandelsloh Originaltitel: Men sa kom sommeren Erschienen im Verlag H. Aschehoug & .Co. Oslo Aus dem Norwegischen von Anne Busch © 1965 der deutschen Buchausgabe by Engelbert-Verlag, Balve Nachdruck verboten – Printed in Germany Satz, Druck und Einband: Gebr. Zimmermann, Buchdruckerei und Verlag GmbH, Balve/Westf.
Was alles geschehen kann, wenn es Schinken und Eier zum Frühstück gibt Hätten wir am Sonntag, dem einundzwanzigsten August, nicht Spiegeleier und Schinken zum Frühstück gehabt, wären nicht fünf fettige Teller und eine Bratpfanne extra abzuwaschen gewesen. Hätte ich nicht diese fünf Teller abzuspülen gehabt, wäre ich mit dem Abwaschen fünf Minuten früher fertig gewesen. Wäre ich fünf Minuten früher fertig geworden, hätte ich das Haus verlassen, und dann wäre niemand dagewesen, der ans Telefon ging. Hätte niemand den Telefonhörer aufgenommen, wäre Tante Agnete an diesem Vormittag nicht zu Besuch gekommen. Und wäre Tante Agnete nicht zu Besuch gekommen, dann hätte mein Leben einen ganz, ganz anderen Verlauf genommen. Oh, wieviel Merkwürdiges kann doch passieren, nur weil es Eier und Schinken zum Frühstück gegeben hat!
* Esther war mit dem Rad losgefahren, um zu baden, und Tor, um sich ein Fußballspiel anzusehen, und die Eltern machten ihren Sonntagsvormittagsspaziergang, um beschaulich schlendernd den Sonnenschein zu genießen. Nur ich stand allein vor dem fettigen Abwasch und kratzte Eierreste von den Tellern. Sobald ich mit der Arbeit fertig war, wollte ich fortgehen und Nora abholen, denn wir hatten ebenfalls vor zu schwimmen. In unserem Hause kommt es gar nicht in Betracht, gebrauchtes Geschirr einfach beiseite zu stellen. Und da ich nun einmal übernommen hatte, die Hausarbeit zu machen und dafür auch den entsprechenden Lohn bekam, konnte ich mich um das Spülen nicht drücken, selbst wenn die Sonne noch so strahlend schien, zumal heute nicht mein freier Sonntag war. Aber auch der fettigste Abwasch wird mit der Zeit einmal fertig. Ich hatte gerade meine langen Hosen und den quergestreiften Pullover angezogen und die Türklinke bereits in der Hand, da klingelte das Telefon. Jetzt hat die Nora die Geduld verloren, dachte ich und griff zum Hörer. Es war nicht Nora, sondern eine ganz unbekannte Männerstimme: „Ist dort bei Rektor Björk?“
„Ja!“ „Hotel Bristol! Ich verbinde weiter.“ Pause. Es knackte im Apparat, ein Zeichen, daß umgeschaltet wurde. So hatte ich Zeit, mir darüber klarzuwerden, daß es Tante Agnete sein mußte, die einzige Millionärin der Familie, übrigens nicht meine wirkliche Tante, sondern eine angeheiratete Tante meines Vaters. Sie mußte also in unserer Stadt sein. Jedenfalls kannten wir sonst niemanden, der im Bristol abzusteigen pflegte. Endlich meldete sie sich am anderen Ende der Leitung: „Wer ist da?“ Wenn eine Millionärstante am Telefon unhöflich ist, sagt man natürlich nicht, was man denkt, sondern man lächelt artig in die Sprechmuschel und antwortet wohlerzogen. „Hier ist Unni! Guten Tag, Tante Agnete! Willkommen in unserer Stadt!“ „Danke! Sind deine Eltern zu Hause?“ „Im Augenblick nicht, liebe Tante, aber sie werden bald heimkommen.“ „Ich reise heute abend ab, da wollte ich nachher mal auf einen Sprung zu euch hinauskommen, um euch guten Tag zu sagen.“ „Das ist ganz reizend von dir, Tante Agnete!“ Ach, du lieber Himmel, und ausgerechnet gestern abend hatte Tor die letzten fünf Makronen stibitzt! „Geht es euch gut?“ „Ja, danke, uns geht es sehr gut. Und dir, Tante Agnete?“ Sie sagte, sie käme gerade aus einem ausländischen Badeort, den sie wegen ihres Rheumas aufgesucht habe. Zwei Tage war sie dann noch in Oslo gewesen, und bevor sie heimreiste, wollte sie uns also mit ihrem Besuch beehren. Ich fand schlechterdings keine Zeit mehr, Nora anzurufen und ihr abzusagen. In voller Fahrt und noch ehe ich mir eine Schürze vorgebunden hatte, machte ich mich daran, Mürbeteigkekse zu backen. Zu ihrer Veredlung nahm ich respektlos von Mutters geheiligter Erdbeermarmelade. Ich machte rasch Wasser warm, um den Staub aus den chinesischen Tassen zu waschen, die seit Esthers Konfirmation nicht mehr gebraucht worden waren. Unser Haus zeichnet sich nämlich nicht gerade durch übertriebene Geselligkeit aus. Wir gewöhnen es uns nie ab, in Panik zu verfallen, wenn wir Gäste erwarten. In Windeseile riß ich Tischtuch und Servietten heraus, und
während ich mit der einen Hand den Tisch deckte, wischte ich mit der anderen – mit Hilfe eines Taschentuches – den Staub von der Nußbaumanrichte. Auf dem Weg durch die Diele ließ ich Esthers Gummi- und Tors Wanderstiefel samt vier oder fünf Kleidungsstücken verschwinden, um Platz zu schaffen für Tante Agnetes Modellmantel. Und währenddessen flehte ich unentwegt zu meinen Hausgöttern, einerseits meine Kekse wohlgelingen zu lassen, andererseits Mutter und Vater so rechtzeitig zur Umkehr zu bewegen, daß sie noch vor der Tante zu Hause eintrafen. Die Vorortbahn braucht eine halbe Stunde von der Stadt bis zu uns, hinzu kommt noch ein Fußweg von etwa zehn Minuten. Also war ich überzeugt, es müßten die Eltern sein, als es an der Haustür klingelte – ich hatte ja nicht mit Tante Agnetes Privatwagen und ihrem Fahrer gerechnet. Da saß sie nun in all ihrer Pracht in unserem besten Sessel – mit Brillanten in den Ohrläppchen, einer Stiellorgnette in der Hand, Smaragdringen an den Fingern und einer Pelzstola um die Schultern. Und plötzlich sah ich, daß die Tapeten verschossen und die Gardinen gestopft waren und daß der Fußboden an den Stellen, wo der Teppich nicht hinreichte, keine Farbe mehr hatte – Dinge, die ich bisher nicht bemerkt hatte. Ich schoß umher wie ein geölter Blitz, bis ich endlich mitten in der Küche mit der Teekanne in der Hand zum Stehen kam und streng zu mir sagte: „Unni, du bist ein Schafskopf! Tante Agnete ist doch bloß ein Mensch, auch wenn sie in Diamanten und Geld schwimmt. – Nimm dich zusammen!“ Also nahm ich mich zusammen. Tante Agnete und ich tranken den Tee allein. Zu meinem Glück war mir das Gebäck gelungen, und Tante war von der Erdbeermarmelade geradezu begeistert. Sie forschte mich bis in die letzten Einzelheiten aus, wie es ihr gutes Recht war auf Grund ihrer Stellung in der Familie, des traditionellen Zehnkronenscheins, den ich von ihr zu Weihnachten bekam, und des Geldes, das sie Vater geliehen hatte, damit er unser Haus kaufen konnte. So erzählte ich ihr, daß Esther ins Gymnasium ginge, daß Tor im nächsten Jahr konfirmiert werde, und daß ich selber… „Ja eben, was machst du eigentlich, Unni?“ unterbrach mich die Tante. „Arbeitest du nicht in einem Büro?“ „Jetzt nicht mehr! Die Firma mußte sich einschränken, und so wurde mir gekündigt.“ „Du hast also nun gar keine Arbeit mehr?“
„O doch! Ich mache den Haushalt und bekomme von Vati den Hausangestelltenlohn.“ „Aha! Soso!“ sagte die Tante gedehnt und offensichtlich verwundert. Sie schwieg eine Weile, ehe sie fortfuhr: „Aber das ist doch nichts für deine Zukunft, Unni. Hast du noch gar nicht darüber nachgedacht, ob du nicht etwas anderes tun könntest?“ „O doch, das habe ich, verlaß dich drauf! Ich ärgere mich jetzt, daß ich nicht das Lehrerseminar besucht habe, wie Vati es mir seinerzeit angeboten hatte. Nein, ich wollte unbedingt ins Büro – und da sitz’ ich nun!“ „Aber du bist doch noch nicht zu alt, um das Versäumte nachzuholen und jetzt aufs Lehrerseminar zu gehen.“ „Das nicht, aber nun kann Vati es nicht mehr. Esther möchte schrecklich gern Philologie studieren, und Tor wünscht sich nichts sehnlicher, als Ingenieur zu werden. Da kannst du dir sicher vorstellen, welche hohen Ausgaben ihm bevorstehen.“ Kaum war es gesagt, bereute ich es schon. Hoffentlich dachte die
Tante jetzt nur nicht, daß ich bei ihr schnorren wollte. Ich beeilte mich, der Unterhaltung eine andere Wendung zu geben. „Nun erzähle mir aber bitte mal, liebe Tante, wie es bei dir aussieht.“ „Genauso wie seit Jahren. Der letzte Winter war allerdings ein wenig netter und unterhaltsamer. Ich hatte mich im Herbst endlich einmal aufgeschwungen und mir eine Gesellschaftsdame genommen.“ „Und sie hat es dir behaglich gemacht, Tante Agnete?“ „Ja, es war richtig angenehm, sie um sich zu haben – eine kultivierte junge Dame aus sehr guter Familie. Ihr Vater ist Oberstleutnant. Aber nun hat sie sich mit meinem Hausarzt verlobt. Nächste Woche heiraten sie.“ „Denk mal an, wie nett für sie!“ sagte ich, und in diesem Augenblick wurde der Schlüssel in die Haustür gesteckt. Es waren – mein Glück! – Mutti und Vati. Ich brühte frischen Tee auf und bestrich weitere Kekse mit Erdbeermarmelade. Von nun an drehte sich das Geplauder um Onkel und Tanten, Großonkel und Großtanten, die ich nie gesehen hatte, und Vati holte ein dickes Buch hervor, eine Familienchronik, die irgendein pensioniertes Mitglied der Verwandtschaft mit viel Zeit und Energie zusammengestellt hatte. Als ich wieder einmal aus der Küche hereinkam, riß das Gespräch ab. Das bewies mir nur zu deutlich, daß man von mir gesprochen hatte. Kurze Zeit später brach Tante Agnete auf. Die Abschiedszeremonie wurde mit der ganzen Liebenswürdigkeit in Szene gesetzt, wie es dem Alter und den Millionen der Tante natürlicherweise entsprach. „Ich höre also wieder von euch“, sagte sie und nickte Mutti zu, während sich ihr Auto in Bewegung setzte. Was, in aller Welt, mag das sein, worüber sie etwas hören will? dachte ich. Doch dann entdeckte ich Nora auf der anderen Straßenseite und vergaß Tante Agnete für eine Weile. Doch am Abend erfuhr ich es. „Unni“, sagte Mutti, als ich mit der Küche fertig war und ins Zimmer kam, „Tante Agnete fragte uns, ob wir dich den Winter über ihr überlassen wollten.“ Ich glaube, ich schaute zuerst ziemlich blöde drein. „Ich? In ihr Heim? Mit drei Hausmädchen, einem Fahrer und zehn Zimmern? Ich
– die nur ein einziges Sonntagsnachmittagsausgehkleid besitzt und kein Abendkleid? Nein, danke! Ich habe nicht den Ehrgeiz, als armes, bedauernswertes Aschenputtel einherzugehen. Minderwertigkeitskomplexe hab’ ich sowieso schon genug.“ „Unni“, begann Vati im Rektorton. Doch Mutti strich mir übers Gesicht und sagte: „Dummchen! Wir werden dich so einkleiden, daß wir uns deiner nicht zu schämen brauchen. – überleg es dir, Unni! Hast du wirklich keine Lust? Wir dachten, du würdest dich freuen. Es könnte doch recht amüsant für dich sein, eine völlig neue Umgebung kennenzulernen. Und wer weiß, wenn du Gelegenheit hast, den Reichtum aus der Nähe zu betrachten, vielleicht verliert er dann einiges von seinem Märchenglanz. Du brauchst dich doch nicht vor Leuten zu fürchten, nur weil sie zufällig viel Geld haben!“ Dann räusperte sich Vati, und ich bekam die ausgezeichnete Rede vorgesetzt, auf die er sich offenbar gründlich vorbereitet hatte. Daß ich schließlich in den Plan einwilligte, geschah nicht auf Grund dieser Rede, obwohl sie – wie alles, was Vati sagt – sowohl pädagogisch als psychologisch und logisch gut untermauert war. Vielmehr entschloß ich mich, ja zu sagen, weil mir plötzlich ein Satz ins Gedächtnis kam, den ich einmal in einem amerikanischen Film gehört hatte: „Reiche Leute – das sind nur arme Leute mit Geld.“
Bei uns daheim Tante Agnete war mit Onkel Franz verheiratet gewesen. Onkel Franz war dick, jovial und freundlich und hatte stets ein offenes Herz und eine offene Brieftasche. In seiner Jugend machte er eine sogenannte gute Partie. Tante Agnete war nämlich eine reiche Erbin – eine sehr reiche Erbin sogar. Mit Hilfe ihres Vermögens gelang es Onkel Franz, einen gut fundierten Wohlstand aufzubauen, dem weder Krieg noch Krisen etwas anhaben konnten. Kinder bekamen sie nicht. Ob sie glücklich waren, weiß ich nicht. Aber ich weiß, daß Tante Agnete lange und tief trauerte, als Onkel Franz starb. Sie wurde rastlos, es hielt sie nicht mehr zu Hause, und so nahm sie ihr Auto, ihren Kraftfahrer und eine unzählige Menge Koffer und ging auf Reisen. Wenn ich darüber nachdenke, so habe ich eigentlich niemals jemanden etwas besonders Gutes über Tante Agnete sagen hören – allerdings auch nichts Schlechtes. Nun sollte ich also mindestens einen Winter lang bei dieser Tante wohnen, die ich noch kaum kannte. Ich wußte nur, daß ich in ganz und gar neue Lebensverhältnisse kommen sollte. Ich würde mit Menschen zusammentreffen, deren Einstellung zu ihrer Umwelt anders waren als meine, deren Begriffe weitab von denen lagen, die ich von daheim gewöhnt war. Das war eigentlich spannend. Ich schrieb einen freundlichen Brief an Tante Agnete, bedankte mich und sagte, daß ich gern käme. Und die Antwort kam. Ich sollte also die neuvermählte Ex-Gesellschaftsdame ablösen, ihre Arbeit übernehmen (worin mochte sie wohl bestehen?) und ihren Lohn erhalten. Er lag sogar etwas höher als mein Hausangestelltenlohn zu Hause! Und nun stand bei uns alles auf dem Kopf – Einkaufen, Nähen und Anprobieren! Nora kam und half uns, Säume zu legen und Nähte zu säubern. Dazu gab sie gute Ratschläge, sowohl in bezug auf Kleidung als auch auf Benehmen und Konversation. „Eines mußt du dir vor allen Dingen merken“, sagte Nora, „wenn du irgendwann einmal im Zweifel bist, was du sagen sollst, dann sage gar nichts. Lächele verständnisvoll, fragend oder anerkennend, und du kannst sicher sein, daß du für eine intelligente junge Dame gehalten wirst. Und im übrigen brauchst du nur an mich zu schreiben, wenn dir die Probleme völlig unlösbar erscheinen sollten.
Ich werde die Sache schon für dich klären.“ „Aha, also Überschrift: Verständnisvoller Freund’ oder ,Erleichtern Sie Ihr Herz’! So eine Art Briefkastentante willst du für mich sein.“ „Genau das! – Und sei nur nicht zu bescheiden oder gar unterwürfig! Ich gehe jede Wette ein, daß du mehr Grütze im Kopf hast als alle deine Millionäre zusammen. Und letzten Endes ist es doch gerade diese Grütze, auf die es ankommt.“ Ach, du weise Nora! Du hättest bloß Mäuschen sein sollen in der Zeit, die bald folgte! „Im übrigen werde ich schreckliche Sehnsucht nach dir haben“, sagte Nora abschließend und biß den Nähfaden durch. „So, jetzt ist diese Bluse von links fast ebenso fein wie von rechts, und das hast du mir zu verdanken. – Nun muß ich nach Hause.“ „Bleibst du denn heute abend nicht hier, Nora?“ fragte Mutti. „Es ist doch Donnerstag.“ „Willst du damit etwa sagen, daß ihr Ibsen-Abend habt, Tante Björk? Zwei Tage vor Unnis Abreise?“ „Wir können doch Vater nicht um seinen Ibsen-Abend betrügen“, meinte Mutti lachend, „seit sieben Jahren halten wir ihn jeden Donnerstag.“ „Ich bleibe!“ sagte Nora und lief ans Telefon.
* Ibsen-Abend im Hause Björk! Diesmal hatten wir uns „Rosmersholm“ vorgenommen. Vati saß im Ledersessel mit einer verschlissenen Erstausgabe in der Hand. Er las den Rektor Kroll. Ab und zu mußte er auf den Ulrik Brendel umschalten, denn es fehlte uns an männlichen Kräften, seit Onkel Studienrat in eine andere Stadt versetzt worden war. An diesem Abend durfte Tor mitwirken. Er platzte fast vor Stolz, denn es war ihm die Rolle des Rosmer zugeteilt worden. Mutti saß mit der Jubiläumsausgabe unter der Stehlampe in der Ecke. Sie las die Madame Helseth. Und in Anbetracht der Tatsache, daß es für viele Monate mein letzter Ibsen-Abend sein würde, hatte ich die Rebekka bekommen. Das war sonst Esthers Rolle. Diesmal saß sie neben Nora, und die beiden blickten zusammen in ein abgegriffenes Exemplar aus der Bibliothek, um mit Augen und Ohren zu folgen. Wenn die Szenen mit Mortensgard kamen, machte
Nora ihre Stimme tief und las seine Repliken. Jetzt kam der erste Auftritt Ulrik Brendels. Ich höre es an Vatis Stimme, wie er diese Szene genießt. Ich erinnere mich, daß er einmal darüber sagte: „Es gibt zwei kleine Szenen, die ich mir immer wieder vornehmen und mich daran erfreuen kann, und das sind die des Brendels in Rosmersholm.“ Ich denke daran zurück, wie wir „Peer Gynt“ gelesen haben. Es war der Winter, in dem ich zum erstenmal an den Ibsen-Abenden teilnehmen durfte. Ich debütierte als „Das grüngekleidete Mädchen“. Ich denke an unsere Lesungen der Ibsen-Dramen „Brand“, „Die Wildente“, „Die Kronprätendenten“… Oh, wieviel Freude haben wir immer an diesen Donnerstagabenden gehabt! Andächtig haben wir dagesessen und gelauscht, wenn Vati uns alles erklärte. So haben wir zusammen gelernt, diese „kostbarsten Schätze unserer Literatur“, wie Vati zu sagen pflegt, zu verstehen und zu genießen. Denn Vati ist ein Ibsen-Verehrer mit Leib und Seele, und er hat uns gelehrt, es ebenfalls zu sein. Esther gelang es einmal in der Literaturgeschichtsstunde, ihren Klassenlehrer derartig an die Wand zu spielen, daß er kopfschüttelnd aufgab und lächelnd meinte: „Es war aber auch leichtsinnig von mir, mich mit einer Tochter von Rektor Björk in eine Diskussion über Ibsen einzulassen.“ Und er notierte ein „Sehr gut“ für Esther. Zurück zu unserem heutigen Abend und „Rosmersholm“! Madame Helseth – will sagen, meine Mutter – schlich leise hinaus, um Wasser für den Tee aufzusetzen. Nach jedem Akt pflegen wir nämlich Tee zu trinken und Kekse zu essen. Dabei diskutieren wir über das, was wir eben gelesen haben. Da fliegen Zitate durch die Luft, da kreuzen sich heftig die Meinungen – doch am Ende sitzen wir alle stumm da und hören zu, was Vater sagt. – Denn er kennt seinen Ibsen. Während der Vater diesmal die Figur des Johannes Rosmer charakterisierte, glitt mein Blick in der Stube umher: Die Mutter, schon ein wenig grau an den Schläfen, aber mit jungen, wachen Augen hinter den Brillengläsern – Tor, strubbelig, lang und ungelenk und zur Zeit im letzten Stadium des Stimmbruchs – Esther, schlank, groß und hübsch, mit Vaters gerader Nase und Mutters lebhaften Augen und mit hoher, kluger Stirn – und Nora, die gleichsam zur Familie gehört, seit sie und ich mit Eimerchen und Schaufel im Sandkasten gebuddelt, die Höschen naßgemacht und uns geprügelt haben. Nora mit ihrem eigentümlich krausen Haar und den
strahlenden, graugrünen Augen, Nora, mit dem sonnigen Humor und dem Sinn für Spaß und Streiche, Nora, mit dem großen, guten, warmen Herzen, ein Kamerad und eine Freundin im wahrsten Sinne des Wortes! Dann streifte mein Blick den Spiegel in der Ecke, und ich sah mich selbst: mittelgroß und mittelblond, mit sogenannten regelmäßigen Zügen, mit ebenso regelmäßig schlanker Figur und glatten, halblangen Haaren. Nora nennt mich eine „Schönheit“, aber ich für mein Teil finde, daß sie unvergleichlich viel besser aussieht. Sie ist nämlich mit ihrer kleinen Nase und den breiten Backenknochen auf eine aparte Weise hübsch, während ich allenfalls langweilig hübsch bin. Und wie ich da so saß, empfand ich nur ein einziges Gefühl: daß ich mein Zuhause und alle meine Angehörigen unbeschreiblich liebe – auch Tor, mit dem ich mich ständig kabbele, und ebenso Esther, die mir meine Strümpfe stiehlt (und ich dafür ihre Handschuhe), und Mutter, selbst wenn sie Adleraugen bekommt, sobald es sich um ein winziges Staubkörnchen am unrechten Fleck handelt. Zu ihnen allen paßte ich. Hier gehörte ich hin. Und nächste Woche sollte der Ibsen-Abend ohne mich stattfinden. Dann würde Esther wieder die Rebekka lesen, und im Winter, wenn die historischen Schauspiele an die Reihe kommen sollten, würde Nora die Margrete übernehmen, auf die ich mich so gefreut hatte… Und ich sollte währenddessen zwischen lauter wildfremden Menschen hocken und es immer nur „gut“ haben… „Was ist mit dir, Unni?“ fragte Mutter. „Aber Unni!“ sagte Nora. Und Esther: „Na, hör mal – du!“ Ich bohrte meinen Kopf in ein Sofakissen, so tief hinein, daß ich gerade noch Tor sagen hörte: „Immer müssen die Mädel heulen!“
Tante Agnetes Heim Der Zug verminderte seine Fahrt und spie zischend Rauch in die Luft. Dann stand er still. Ich war müde und unfrisch nach der Nacht im Eisenbahnabteil. Der Zug war überfüllt. Vor zwei Stunden war ich aufgestanden, auf den Gang hinausgetreten und lehnte nun mit dem Rücken an der Tür zu dem Abteil mit den drei ungemachten Betten. Die Luft war dick und dumpfig, und der Apfel, den ich essen wollte, schmeckte nach Koffer. Ich schleppte meinen Koffer hinaus. Es war schwierig. Da kam mir ein grünbekleideter Arm zu Hilfe, und eine Stimme sagte: „Guten Tag, gnädiges Fräulein! Willkommen in unserer Stadt!“ Ich drehte mich um – es war Tante Agnetes Kraftfahrer. Von der Begegnung an jenem bedeutungsvollen Sonntag, dem einundzwanzigsten August, erkannte ich ihn wieder. „Danke!“ „Haben gnädiges Fräulein noch weiteres Gepäck aufgegeben?“ Ja, gnädiges Fräulein hatte! Es verwirrte mich nicht wenig, plötzlich in der dritten Person angeredet zu werden. „Wenn gnädiges Fräulein mir den Gepäckschein geben wollen, kann ich den Koffer holen.“ Er hatte offensichtlich Übung darin, Gäste in Empfang zu nehmen. In seiner maßgearbeiteten, dunkelgrünen Uniform führte er mich weltgewandt und überlegen – oh, und wie überlegen er war, trotz seines ehrerbietigen Tones – zuerst zum Wagen. Ich bekam ein seidenes Kissen in den Rücken, und während er zurückging, um mein Gepäck zu holen, hatte ich Zeit, mich umzuschauen. Dabei entdeckte ich ein Mikrophon, das zum Fahrersitz führte, und eine Kristallvase mit blaßrosa Nelken. Dann kam der korrekte Mann zurück und trug meinen bescheidenen braunen Kunststoffkoffer so beflissen, als sei er aus Schweinsleder und voller Hotelmarken von der Riviera. Uff! Es war bestimmt auf den ersten Blick zu erkennen, daß mein Kostüm keine Schneiderarbeit war, sondern von der Stange gekauft und geändert. So etwas merkt einer sofort, der gewöhnt ist, nur Qualitätsware um sich zu sehen. In den Augen des Chauffeurs sah ich wahrscheinlich geradezu ärmlich aus. Nicht einmal das schäbigste bißchen Pelz auf dem Kragen!
Der Wagen bog zwischen zwei dicken Steinpfeilern in eine Allee ein und hielt in einer überdachten Auffahrt. Mein Herz klopfte bis zum Halse. Ich fühlte mich so schrecklich allein, klein und häßlich gegenüber diesem Haus mit der Auffahrt, dem Chauffeur in Uniform, dem großen Auto mit dem Seidenkissen und der Kristallvase. Doch da erschien plötzlich ein richtig lebendiges, kleines Wesen aus Fleisch und Blut und kam mir zu Hilfe. Es war ein junges Mädchen mit hellblonden Löckchen unter einem weißen Kopftuch, mit großer Schürze und aufgekrempelten Ärmeln. Es stand auf der obersten Treppenstufe und knickste, als ich aus dem Auto stieg. „Guten Tag und willkommen, gnädiges Fräulein!“ Sie sprach einen ländlichen Dialekt, und ihr Mund lächelte mit weißen, kräftigen Zähnen. Und dann reichte sie mir die Hand, eine gute, starke Hand, rauh vom Abwaschen und Scheuern. Meine Hand war auch rauh. Es war, als verstünden sie einander, diese beiden Hände, die sich in einem festen Druck trafen und sich dabei von der Hausarbeit und ihren Freuden und Leiden erzählten. Nettes Stubenmädel! dachte ich. Doch es war nur das Küchenmädchen. Die gnädige Frau habe gerade geläutet und das Stubenmädchen in Anspruch genommen, erklärte mir die kleine Blondgelockte. „Darum bin ich’s bloß, die Sie begrüßt.“ Sie ging vor mir her durch eine große Halle, die mit Eichenholz getäfelt und mit Gemälden geschmückt war. Über eine breite Treppe kamen wir in einen langen, geräumigen Flur. Hier blieb die Kleine einen Augenblick vor einer Tür stehen, wandte sich zu mir und flüsterte: „Das ist das Zimmer der gnädigen Frau!“ Dann ging sie weiter bis ans Ende des Ganges. Dort öffnete sie die letzte Tür. Ich blieb auf der Schwelle stehen und kniff ein paarmal die Augen zu. Das konnte doch nicht wahr sein! Nein, hier stimmte etwas nicht. So wohnte kein Mensch alltags. So etwas gab es nur in amerikanischen Filmen! „Du liebe Zeit!“ murmelte ich. Die kleine Blonde lächelte, nicht die Spur eingelernt, sondern einfach menschlich und herzlich. „Ja, das ist toll, was? Ich war auch ganz hin, als ich’s das erste Mal sah. Aber mit der Zeit gewöhnt man sich daran. Jetzt find’ ich
bloß noch, daß es recht mühsam ist, diese Pracht sauberzuhalten.“ Empiremöbel in weiß und gold und mit kleingeblümter Seide bezogen, zwei große Fenster mit schweren, dicht gefalteten Veloursvorhängen, ein Toilettentisch mit dreiteiligem Spiegel, Garderobenschrank, Schreibtisch, Stehlampe, ein bildschöner, heller Teppich, und durch eine offene Tür sah ich – ein eigenes Badezimmer! Mit Wanne und Brause, mit Handwaschbecken und Waage und allem, was sonst noch dazugehört. Ich ließ mich – pardauz! – auf die Bettkante fallen. „Du liebe Zeit!“ wiederholte ich. „Ja, das ist das schönste der Gästezimmer“, erklärte das Mädchen, „die gnädige Frau hat gesagt, Sie sollten es haben, weil es ein eigenes Bad hat. Die gnädige Frau hat’s nämlich nicht gern, wenn jemand anders ihr Bad mitbenutzt. Es ist besser, wenn Sie eines für sich haben.“ Ach so, deshalb! Draußen im Flur ging eine Tür. Gleich darauf klopfte es. Eine etwas ältere Frau in schwarzem Kleid erschien im Türrahmen. Es war das Stubenmädchen. „Du kannst wieder nach unten gehen, Margit“, sagte sie. Die kleine Blonde verschwand. Die andere wandte sich zu mir: „Willkommen, gnädiges Fräulein! Ich bin Louise, das Stubenmädchen. Die gnädige Frau bat mich, Ihnen zu sagen, daß um zehn Uhr gefrühstückt wird. So haben Sie Zeit, ein Bad zu nehmen, falls Sie es wünschen, gnädiges Fräulein. Währenddessen könnte ich vielleicht die Sachen des gnädigen Fräuleins auspacken.“ Irgend etwas in mir widersetzte sich der Erscheinung dieser Louise. Erstens brauchte sie mir nicht vorzuschreiben, wann ich zu baden hätte, und zweitens wollte ich selbst bestimmen, wann ausgepackt wurde. Ich kratzte meine letzten Reste an Überlegenheit zusammen, für die ich glücklicherweise Margit gegenüber keine Verwendung gehabt hatte, und sagte: „Danke schön! Sagen Sie bitte der gnädigen Frau, daß ich um zehn Uhr unten sein werde. – Das Auspacken mache ich selbst.“ Louise erstarrte, murmelte etwas und verschwand. Mir war, als hätte ich einen Zweikampf gewonnen. Ich ging auf dem weichen Teppich umher, öffnete die leeren Schubladen und Schränke, strich mit den Fingern über die Verzierungen an den Möbeln, befühlte die weiche Daunendecke im
Bett – ein großes Bett, das ins Zimmer hinein- und nicht mit der Längsseite an der Wand stand wie meines zu Hause. Ich weiß mir nichts Schickeres als so ein Riesenbett mit dem Kopfende an der Wand. Eine Nachtlampe war da und eine Klingel und zwei Nachttischchen, an jeder Seite des Bettes eins, kleine, gebrechlichzarte, weißlackierte Dinger auf Empirebeinen. Ich warf einen Blick auf die Uhr. Oh, wenn ich noch baden und mich umziehen wollte, mußte ich mich beeilen. War das ein Genuß, sich ganz allein in dem schönen, gekachelten Badezimmer tummeln zu dürfen. Das war doch etwas anderes als zu Hause, wo man nicht einmal seine kalte Morgendusche beenden konnte, ohne daß Esther oder Tor an die Tür trommelten: „Unni, mach fix! – Beeil dich, Mädchen! – Ich komm’ zu spät in die Schule! – Unni, hab’ ich meinen Kamm drin liegenlassen? Gib ihn mir bitte durch den Türspalt! – Unni, du mußt rasch Frühstück machen, Vati ist schon aufgestanden!“ Da blieb einem nichts anderes übrig, als sich im Nu den guten alten Bademantel überzuwerfen und quer über den eiskalten Flur in Esthers und mein Zimmer zu rennen und sich anzuziehen. Der grüne Anstrich der alten Kinderzimmermöbel war schadhaft, die beiden schmalen Betten standen hintereinander an der Wand, und in der Kommode besaß jede zwei Fächer. Der Spiegel war zu klein, um sich in ganzer Figur darin zu sehen. Ich lag in dem wohlig-warmen Wasser und genoß meine neue Lebenslage. Plötzlich fiel mir die Flasche mit dem Badesalz ein. Ich sprang aus der Wanne und huschte auf pitschnassen Füßen über den Teppich, kehrte in meinem Koffer das Unterste zuoberst und fand schließlich das Badesalz. Nachdem ich eine ordentliche Portion von den hellgrünen Kristallen ins Wasser geschüttet hatte, begann ich, mich selbst als Millionär zu fühlen. Inzwischen war es ziemlich spät geworden. Im letzten Augenblick entschloß ich mich, statt des Kostüms das hübsche blaue Kleid anzuziehen. Also wieder den Koffer umgekehrt! Natürlich den verkehrten! Hier fand ich nur den Wintermantel und den Overall, fleckig und abgenutzt, aber ich hatte ihn trotzdem mitgenommen. Man weiß ja nie im voraus, was man vielleicht brauchen wird. Ich fand außerdem die Stoffreste, die Mutti mir vernünftigerweise mitgegeben hatte, falls etwas ausgebessert werden mußte. In dem Koffer befanden sich auch die schweren Winterstiefel, die warme Unterwäsche und die dicken Flanellnachthemden, die ich nicht
ausstehen kann, die ich aber trotzdem trage, weil ich eine brave und folgsame Tochter bin, und weil ich bei offenem Fenster schlafe. Ein Glück, daß ich Louise nicht ans Auspacken gelassen hatte! Der fleckige Overall und der rosa Flanell wären ja ein idealer Gesprächsstoff für die Küche geworden! Hinab auf den Grund des anderen Koffers! Da lagen die seidene Unterwäsche und überhaupt die besseren Dinge. Und – richtig – dort fand ich auch das blaue Kleid, sorgfältig zusammengelegt und mit Seidenpapier zwischen den Falten. – Jetzt brauchte ich mir nur noch die Haare zu bürsten, und da schlug es auch schon zehn Uhr. Ich hatte keine Zeit mehr, Ordnung zu machen, weder im Bad noch im Schlafzimmer, aber das konnte ich ja nach dem Frühstück tun. Also lief ich die breite Treppe hinab, suchte mir eine Tür aus und öffnete sie. Ich hatte Glück – es war wirklich das Speisezimmer. Ein großes, leeres Eßzimmer, dunkle Paneele und Goldledertapete und hochlehnige Stühle, ebenfalls mit Goldlederbezug. An der einen Schmalseite ein großes Gemälde, an der anderen ein wunderschöner, geschnitzter Schrank. Parkettfußboden und – ein kleiner, gedeckter Tisch in dem weitläufigen Halbdunkel mit zwei Gedecken. Plötzlich fuhr ich zusammen. Was war das für ein Geräusch? Es klang, als kratzte etwas an der Tür. Ich ging hin und öffnete, und herein stürzte ein kleines, strubbeliges Knäuel, ein komisches, unbestimmbares Etwas mit langen, weichen Haaren. „Hallo!“ sagte ich. „Woff!“ antwortete das Knäuel. Zuerst beschnupperte es meine Schuhe – höher konnte es nicht hinaufreichen – , dann trottete es weiter und legte sich vor den Kamin, in dem ein lustiges Birkenholzfeuer knisterte. Ich hockte mich neben den Hund auf den Boden. Tiere mag ich ohnehin sehr gern, und gerade jetzt war ich besonders froh, so ein Geschöpf getroffen zu haben, mit dem man gleich gut Freund sein konnte. Wir unterhielten uns ein bißchen, das Hündchen und ich. Unter seinen langen, seidenweichen Ponyfransen hervor blitzten mich ein Paar kluge, nußbraune Augen an. Eine Weile musterten sie mich kritisch, dann leckte es prüfend meine Hand. Ich kraulte den Hund hinter dem Ohr, und er blinzelte anerkennend. Damit war die Freundschaft geschlossen. Louise zerstörte dieses Idyll. Sie kam mit irgend etwas herein, das sie auf den Tisch setzte.
„Die gnädige Frau hat schlecht geschlafen und hat Kopfschmerzen“, erklärte sie, „aber sie wird bald kommen.“ Aha! Sollte das etwa ein Vorwurf gegen mich sein, daß ich so zeitig gekommen war und die gnädige Frau nun trotz Kopfschmerzen das Bett verlassen mußte? Louise schien zu ahnen, was ich dachte, denn sie fuhr fort: „Die gnädige Frau pflegt sonst das Frühstück im Schlafzimmer einzunehmen. Aber heute hat sie mir Bescheid gegeben, ich solle den Tisch hier unten decken, weil Sie gekommen sind, gnädiges Fräulein.“ „Ach…“ sagte ich. Louise verschwand, und wieder vergingen ein paar qualvolle Minuten. Wie war denn nun Tante Agnete wirklich? Ich kannte sie praktisch überhaupt nicht. Wie war der Mensch, dessen Wille hinter all dem hier stand, diesem gut geführten Haus, dem gut geschulten Personal, der gut geschmierten Maschinerie, die so lautlos und fehlerfrei lief? Margits ängstlich-unterwürfiger Tonfall fiel mir wieder ein, wie sie vorhin flüsterte: „Das ist das Zimmer der gnädigen Frau!“ Es hieß doch eindeutig: „Das Allerheiligste! Pst, leise gehen!“ Der Hund lief zur Tür. Er hatte wohl jemanden kommen hören. Und richtig – da war sie! Sie sah wahrhaftig schlecht aus. Die Haut war bleich und faltig, die Augen blickten matt. Die Tante bewegte sich schwerfällig und langsam an einem Stock. Ich ging auf sie zu, ergriff die Hand, die sie mir reichte, überlegte einen Augenblick, dann küßte ich ihre Wange. „Guten Tag, Tante Agnete! Ich danke dir tausendmal, daß ich zu dir kommen durfte.“ Die Andeutung eines Lächelns huschte über ihr Gesicht. „Willkommen, Unni! – Setz dich her, du wirst sicher hungrig sein.“ „Ja, ich freue mich schon richtig auf den Morgenkaffee.“ „Kaffee? Ach so, nun, dem wird wohl nichts im Wege stehen.“ Was? Hatte ich etwas Falsches gesagt? Oh, ich hätte mir die Zunge abbeißen mögen! Jetzt sah ich nämlich, daß Tante Agnete Tee mit Zitrone trank. „Louise, meine Nichte zieht es vor, zum Frühstück Kaffee zu trinken.“ „Sehr wohl, gnädige Frau! Er wird gleich fertig sein.“ Ich wurde rot wie die Tomaten auf dem Frühstückstisch, als ich widersprach. Aber um Himmels willen, nein, ich tränke doch ebenso
gerne Tee, die Tante möge doch nur nicht glauben… Aber ich lernte hierbei, daß die Tante glaubte, was sie glauben wollte, besonders an den Tagen, wenn sie Kopfschmerzen hatte. Ich bekam meinen Kaffee – dampfend, heiß und stark, einen herrlichen Kaffee! Er blieb mir fast im Halse stecken. Und ich notierte still für mich: Schnitzer Nummer eins! Tante Agnete fragte nach den Lieben daheim, es waren müde, höfliche Fragen, und ich antwortete darauf, obwohl ich genau wußte, daß die Tante gar nicht hörte, was ich sagte. Ich fragte, wie es ihr ginge, und erklärte ihr, wie glücklich ich über das hübsche Zimmer sei, das ich bekommen habe. Das freue sie sehr, sagte sie, und dann fanden wir nichts mehr, worüber wir uns unterhalten konnten. Da kam wiederum das kleine Strubbelknäuel zu Hilfe. Es baute sich neben meinem Stuhl auf und blickte mich fragend an. „Was für einen niedlichen, kleinen Hund hast du da, Tante“, sagte ich. Ihre Miene hellte sich auf. Mit einem Male schienen Kopfschmerzen und Müdigkeit vergessen zu sein. Sie streckte die Hand aus, und der Hund lief zu ihr. Sie goß ein wenig Sahne in ein Schälchen und bat mich, es dem Knäuel vorzusetzen. Danach bekam es ein weichgekochtes Ei und geröstetes Brot. „Das ist ein Yorkshire-Toy-Terrier“, erklärte mir die Tante. „Vor mehreren Jahren hatte dein Onkel die Eltern von ihm aus England mitgebracht. Zweitausend Kronen hat er für jedes der beiden Tiere bezahlt. Du siehst also, was für ein wertvoller Hund das ist. Beide Eltern waren hochprämiert. Nun ist nur noch dieser hier da. Seine Mutter starb bei der Geburt, so daß wir ihm eine Hundeamme beschaffen mußten.“ Du liebe Zeit! Tante Agnete war richtig gesprächig geworden. Ich begriff, daß ich hier auf ein Thema gestoßen war, auf das man im Notfall jederzeit ausweichen konnte. „Ein bezaubernder kleiner Hund“, beteuerte ich, „wie heißt er denn?“ Er hatte einen langen Namen, auf den ich mich nicht mehr besinnen kann. Für den täglichen Gebrauch wurde er „Nipp“ genannt. Und nun wurde ich eingeweiht in Nipps ungewöhnliche Intelligenz, in seine Pflege, das Füttern und Baden und die regelmäßigen Besuche beim Tierarzt, und ich erfuhr von mißgünstigen Freundinnen, die auch so gern einen Hund wie Nipp
besäßen. Und als wir uns von der Mahlzeit erhoben, berichtete mir die Tante, daß Nipp nun gebürstet werden müsse, sie habe vor dem Frühstück keine Zeit mehr gehabt, es zu tun. Die Bürsteprozedur sollte im Bad vorgenommen werden. Ich ging mit hinauf. Doch als wir in die obere Etage kamen, fiel der Tante ein, erst einmal nachsehen zu wollen, ob Louise mein Zimmer hübsch und behaglich hergerichtet habe. Ach, du gelber Chinese! Und ich hatte es hinterlassen wie ein Krähennest! „Aber meine Liebe“, rief Tante Agnete, „hat denn Louise nicht für dich ausgepackt?“ „Ich habe ihr gesagt, sie brauche es nicht“, erklärte ich hastig. „Das kann ich doch ebensogut selber machen, und…“ „Es sieht nicht danach aus“, meinte die Tante. Sie läutete an der Klingel neben dem Bett. „Weißt du, Tante, ich hatte bloß keine Zeit mehr. Es war schon zehn Uhr, und ich wollte…“ „Louise hätte das längst machen können, während wir frühstückten“, erwiderte die Tante in einem Ton, der mir allen Mut nahm. Louise erschien. „Louise, packen Sie die Sachen von Fräulein Björk aus! Und – was ist denn das? Woher kommen diese Flecken, Louise?“ O Gott, da waren auf dem hellen Teppich feuchte Spuren von meinen nassen Füßen! „Heute morgen waren die Flecke noch nicht da, gnädige Frau“, sagte Louise. Ich beichtete. Tante Agnete machte eine Bemerkung, die etwa andeutete, Louise hätte mir doch Badepantoffeln hinstellen können, während ich in der Wanne war. Als ich das Zimmer verließ, um der Tante und Nipp in ihr Bad zu folgen, warf ich Louise einen blitzschnellen Seitenblick zu. Sie legte gerade den fleckigen Overall beiseite und hob den Stoß rosa Flanell mit Zackenlitze auf. Louise war viel zu gut erzogen, um irgendeine sichtbare oder hörbare Meinung zum Ausdruck zu bringen. Aber als sie sich über die Schublade beugte, um die Flanellstücke hineinzulegen, sagte mir ihr Rücken genug. Ich schlich aus dem Zimmer. Louise hatte gewonnen. Ich notierte: Schnitzer Nummer zwei!
Gekochte Milch und andere Unannehmlichkeiten Die erste Woche bei Tante Agnete war wie ein unermüdlich sprudelnder Quell von Überraschungen. Da sollte einer die Fassung bewahren bei einer solchen Fülle durchgreifender Veränderungen, denen ich ausgesetzt war. Und es gelang mir auch nicht in jedem Fall, sie mit Haltung zu ertragen. Ich war es gewöhnt, um halb sieben von einem energischen Wecker hochgejagt zu werden, fröstelnd ins Bad zu laufen und dann in einem kalten Zimmer in Windeseile in die Kleider zu springen, damit pünktlich um halb acht das Frühstück auf dem Tisch stand. Und so ging es den ganzen Tag über Schlag auf Schlag: mit Abwaschen und Essenkochen, Einkaufen und Saubermachen, Haushaltsabrechnung, kleiner Wäsche, Backen und allem, was sonst noch in einem verhältnismäßig wohlgeordneten Haushalt vorkommt, der auf einem kleinen, festen Wirtschaftsetat aufgebaut ist. Am ersten Morgen bei Tante Agnete erwachte ich pflichtschuldigst und nach alter Gewohnheit um halb sieben. Doch ich lernte sehr rasch, mich auf die andere Seite zu drehen und bis neun Uhr weiterzuschlafen. Dann klopfte es an die Tür, und die nette kleine Margit – zum Glück nicht Louise – erschien mit dem Frühstückstablett. Kaffee in silberner Kanne, Butterbrötchen in silberner Schale, dazu Marmelade und ein weichgekochtes Ei. In den ersten Tagen war das für mich ein Erlebnis, das eines Filmstars würdig gewesen wäre. Doch schon nach einer Woche konnte ich mir nicht mehr vorstellen, daß ich es auch anders haben könnte. Nicht selten lag ein Brief auf dem Frühstückstablett. Mutti schrieb recht fleißig – und Nora fast noch fleißiger. Wenn ich vor neun Uhr wach wurde, konnte ich die Schritte des Postboten draußen auf dem Kies hören. Dann kribbelte es in mir, und ich wäre am liebsten aus dem Bett gesprungen und hinuntergelaufen, um zu erfahren, ob Post für mich dabei sei. Aber was hätte wohl Louise von einem so wenig damenhaften Benehmen gehalten? Und was hätte die Tante gesagt, wenn ich im Bademantel durchs Haus gelaufen wäre – womöglich vor den Augen ihres Chauffeurs? Nein, es war wohl das beste, sich zu beherrschen und zu warten. Natürlich hätte ich nach Margit klingeln können, aber ich brachte es noch nicht fertig, die Leute um ihre Dienste zu bitten. Etwas unaufgefordert gereicht zu bekommen ist etwas ganz anderes, als um etwas zu
bitten. Dazu hatte ich nicht den Mut. Nun konnte ich also in Ruhe frühstücken und danach noch im Bett liegenbleiben und lesen. Dann begab ich mich ins Bad und aalte mich eine halbe Stunde lang in der schneeweißen Wanne im duftenden Badesalzwasser. Ich hatte Zeit genug, dieses Vergnügen nach Belieben in die Länge zu ziehen, denn Tante Agnete erschien nie vor zwölf Uhr. Anschließend setzte ich mich vor den Toilettentisch, um mich zu verschönen. Ich verlor schnell die frische Gesichtsfarbe, die ich daheim durch die Hausarbeit und die Bewegung in der freien Luft bekommen hatte, und spendierte mir darum die erste Büchse Rouge meines Lebens, über das Rouge mußte Puder gelegt werden. Das nahm Zeit in Anspruch. Dann fing ich an, mir eine neue Frisur zu machen. Die Haare wurden sorgfältig toupiert. Dazu brauchte ich noch mehr Zeit. Meine Hände waren nun nicht mehr so rauh wie die von Margit. Tante Agnete hatte nämlich gleich am ersten Abend die Bemerkung fallen lassen: „Du liebe Zeit, was hast du denn mit deinen Händen gemacht, Unni? Was für ein Jammer, daß sie so rot sind, denn sie sind wirklich schön geformt.“ Daß sie schön geformt seien, milderte den Vorwurf etwas. Ich hatte nie meine eigenen Hände studiert. Ob sie wirklich so weiß und schön werden könnten wie die von Tante Agnete – mit gebogenen, hellrot lackierten Nägeln? Nach Ablauf einer Woche hatte ich sie soweit. Und ich bekam auch bald Übung darin, den Nagellack genau richtig aufzutragen – ganz dünn und gleichmäßig. Na bitte! Nun schien ich endlich so auszusehen, wie Tante Agnete mich haben wollte. Vormittags waren wir immer mit dem Wagen unterwegs, nachdem ich Nipp gebürstet und ihm ein Deckchen und Gummischühchen angelegt hatte. Das erste Mal dachte ich, ich hörte nicht recht, als es hieß, ich solle ihm Schuhe anziehen. Aber mit der Zeit gewöhnt man sich an alles, sogar an Hundeschuhe. Dann fuhren wir los, entweder zum Einkaufen in die Stadt, oder wir machten eine Spazierfahrt über Land. Bei diesen Fahrten lernte ich Tante Agnete allmählich näher kennen. Eines Tages – wir waren in der Stadt gewesen – kam Tante Agnete plötzlich der Einfall, sie wolle nach Sommerlund hinausfahren und dort Tee trinken. Sommerlund liegt ein paar
Kilometer außerhalb der Stadt. Der Fahrer bekam den Auftrag und startete. Da griff die Tante zum Mikrophon und sagte: „Lönnedal, Sie müssen tanken!“ Lönnedal stoppte, stieg aus, öffnete die Tür zu uns und erwiderte: „Wir haben genug Benzin, gnädige Frau.“ „Tun Sie, was ich Ihnen sage, sonst bleiben wir womöglich unterwegs sitzen.“ Lönnedal antwortete nicht, sondern fuhr zur nächsten Tankstelle. Es wurde Benzin nachgefüllt, und Tante Agnete erhielt eine Rechnung über vier Liter. „Da sehen Sie, daß wir nachtanken mußten, Lönnedal. Aber Sie müssen ja immer widersprechen.“ „Der Tank faßt fünfzig Liter, gnädige Frau, und es fehlten nur vier.“ „Aber es fehlte Benzin! – Nun fahren Sie los!“ Ich kochte vor Zorn für Lönnedal. Später verstand ich, daß er selber nicht die Spur kochte. Für solche Dinge hatte er ja sein gutes Gehalt. Wir fuhren und fuhren immer weiter. Die Natur um uns war wunderschön. Rotes und goldenes Laub leuchtete in der Herbstsonne, und dazwischen blitzte hier und da in einer Wegbiegung die See auf. Doch heute konnte ich mich darüber nicht so freuen, wie ich es sonst wohl getan hätte, ich war zu wütend. So ein launenhafter Troll, diese Tante! Ob sie nicht vielleicht jetzt doch ein bißchen verlegen war? Da fragte der Troll im alltäglichsten Ton: „Spielst du Bridge, Unni?“ Ich mußte mich erst einen Augenblick sammeln, ehe ich antworten konnte: „Bridge? Nein! Ich spiele überhaupt nicht Karten.“ „Was? Du spielst nicht Bridge?“ fragte Tante Agnete in einem Tonfall, als hätte ich behauptet, ich wüsche mich nie. Mein Zorn von vorhin mußte wohl noch zu fest in mir gesessen haben. Jedenfalls fiel mein Ton schärfer aus, als es beabsichtigt war, und auch meine Worte waren nicht geschickt gewählt. „Nein!“ sagte ich. „Irgendein berühmter Mann soll einmal gesagt haben, daß Leute, die Bridge spielen, Karten miteinander austauschen anstelle von Gedanken. Das ist auch meine Meinung. Bei uns daheim haben wir immer genug Gedanken auszutauschen.“ Tante Agnete schien zum Glück die ganze Unverschämtheit
dieser Bemerkung nicht zu begreifen. Sie war allzu erfüllt von der erschütternden Tatsache, daß eine junge Dame von einundzwanzig Jahren nicht Karten spielen konnte. „Ich hoffe, du wirst es rasch lernen“, sagte sie, „ich hatte nämlich damit gerechnet, daß du morgen als vierte mitspielst.“ Nun war ich völlig durcheinander. Tante Agnete hatte eine merkwürdige Art, über alles so zu sprechen, als sei es ganz selbstverständlich, daß jeder wisse, wovon sie redete. Ich ahnte absolut nicht, was morgen geschehen sollte. „Was ist denn morgen los, Tante?“ fragte ich. „Morgen ist doch Donnerstag!“ „Spielst du donnerstags immer Karten?“ „Ja, das tun wir. Toralf und Antoinette sind geradezu Meister im Bridgespiel, Else ist mit der Zeit auch recht geschickt darin geworden, obwohl sie die Karten vor ihrer Heirat überhaupt nicht kannte.“ Ich wurde immer ratloser. „Tante Agnete, du mußt entschuldigen, aber ich habe keine Ahnung, von wem du sprichst. Sind das die Gäste, die morgen zu uns kommen, und mit denen du Karten zu spielen pflegst? Wer sind Toralf, Antoinette und Else?“ Es war, als risse sich Tante Agnete für einen Augenblick von ihrem eigenen Gedankengang los. Das tat sie übrigens höchst selten. Offenbar war sie völlig außerstande, sich in andere Menschen hineinzuversetzen. Sie wandte sich zu mir um. „Himmel, wie schwerfällig und begriffsstutzig du bist, Unni! Der Donnerstag ist doch immer mein Familientag. Ich glaubte, du wüßtest das. Ein wenig Interesse könntest du wirklich auch meinen Angelegenheiten entgegenbringen und nicht immer nur an deine denken.“ „Na, nun hör aber auf, Tante Agnete!“ Mein Zorn flammte erneut heftig auf. „Wenn du ein bißchen nachdenken würdest, wüßtest du ganz genau, von wem ich spreche: natürlich von meiner Schwester Antoinette und ihrem Mann Toralf.“ „Ach so, ja!“ sagte ich matt. Es hatte keinen Zweck, noch weiterzufragen. Ich wollte mir nähere Auskünfte von Margit holen. Sie war schon oftmals mein Trost und meine Zuflucht gewesen. Inzwischen waren wir in Sommerlund angekommen. Nur wenige Gäste saßen hier, und wir bekamen einen Platz an der geschlossenen
Verandatür, von wo wir eine herrliche Aussicht hatten. Tee und Gebäck wurden gebracht. Ich genoß beides sehr. Tante Agnete nahm einen Bissen von einem runden Kuchenstück, das mit Schokoladenglasur überzogen war. Dann legte sie die Gabel aus der Hand und rief nach der Serviererin. „Was ist denn das für ein schauderhaftes Stück, Fräulein? Das ist ja Vanillecreme!“ „Ja“, sagte das junge Mädchen, das uns bediente, „die gnädige Frau hatte es doch bestellt.“ „Ich hatte keineswegs etwas mit Vanillecreme bestellt, sondern ein Stück mit Schokoladenguß.“ „Ja, gewiß, aber diese Kuchen sind mit Vanillecreme gefüllt, gnädige Frau.“ „Also ich will es jedenfalls nicht haben. Nehmen Sie es fort, und bringen Sie mir etwas anderes!“ Ich wurde glühendrot, und das Kuchenstück in meinem Mund wuchs und wurde immer dicker. Ich wagte nicht, die junge Kellnerin anzusehen. „Möchte gnädige Frau vielleicht eine Sahnerolle? Oder etwas aus Biskuitteig?“ „Ach, irgend etwas, nur nicht mit Vanille!“ Die Kellnerin ging. Ich starrte auf meinen Teller. Oh, wie peinlich war mir diese Szene! Mußte man sich denn unbedingt so aufführen, nur weil man viel Geld hatte? Dann ging es ans Bezahlen. „Sie haben hier vier Stücke Kuchen aufgeschrieben, Fräulein. Wir hatten aber nur drei.“ „Ich habe vier Stücke serviert, gnädige Frau: ein Apfelkuchen und eine Napoleonschnitte für das Fräulein, und für die gnädige Frau eine Sahnerolle und ein Vanillecremegebäck.“ „So eine Unverschämtheit! Sie setzen das Vanillestück auch mit auf die Rechnung? Das bezahle ich nicht!“ „Es war aber bestellt, gnädige Frau.“ „Ich bezahle keinen Kuchen, den ich nicht gegessen habe, sage ich Ihnen!“ „Dann werde ich ihn bezahlen müssen“, murmelte das junge Mädchen. Ich weiß nicht, wer tiefer errötete, sie oder ich. „Sie? Unsinn! – Bitte, hier ist das Geld, aber das Vanillestück bezahle ich nicht! – Komm, Unni!“ Wir gingen hinaus. Ich blickte noch einmal zurück. Die
Serviererin stand am Tisch und sprach mit einer anderen, wahrscheinlich der Oberkellnerin. Sie zuckte mit den Schultern und machte eine wegwerfende Handbewegung, die offenbar besagte: Was soll man da machen? Eine Frau Konsul Garde darf man nicht beleidigen. „Und dann kommt sie einem auch noch mit solchem Unsinn, sie müsse es selbst bezahlen“, sagte Tante Agnete, während sie in den Wagen stieg. „Ja, aber das muß sie doch, Tante“, erwiderte ich, „sie hatte das Stück ja an der Kasse gebont, und für die registrierte Summe ist sie verantwortlich.“ Tante Agnete verstand offensichtlich nicht das geringste von dem System einer Registrierkasse, und sie machte sich auch nicht die Mühe, es zu verstehen. „Jetzt fängst du auch noch an, mir zu widersprechen, Unni! Ich möchte ja gerne wissen, warum ihr alle so aufsässig gegen mich seid.“ Ach, du lieber Himmel, wie hoffnungslos war das alles! Als ich herkam, war ich so erfüllt von gutem Willen und dem Wunsch, der Tante alles zu Gefallen zu tun und mich nützlich zu machen für mein Monatsgehalt als Gesellschaftsdame. Aber nun ging alles schief und quer. Von daheim kannte ich es nicht anders, als daß zwei Menschen, die sich über irgend etwas uneinig waren, sich darüber aussprachen, um der Sache auf den Grund zu gehen. Konnte man auch dann nicht zu einer Einigung kommen, so ließ man die Angelegenheit ruhen und respektierte die Meinung des anderen. Dieses Prinzip hatte sich bei uns stets ausgezeichnet bewährt, und ich war so naiv zu glauben, es müsse überall anwendbar sein. Doch es sollten noch viele meiner Begriffe und Vorstellungen widerlegt werden. Eine Aussprache? Unmöglich! Hier galt es, zuzudecken, zu vergessen, darüberhinzureden. Bereits jetzt begann ich zu ahnen, daß der Aufenthalt bei Tante Agnete eine Pferdekur an Selbstbeherrschung werden würde. Glatt und lächelnd, höflich und formell, hübsch in Kleidung und Auftreten – so wollte sie mich haben. Sie selbst aber durfte schelten und herrschen, ihre Launen hätscheln und ihren Einfällen freien Lauf lassen. – Nun ja – vielleicht war das auch ein Vorrecht reicher Leute. Wir kamen zurück, ohne auf dem ganzen Weg auch nur ein einziges Wort gewechselt zu haben. Ich befreite Nipp von seinem Deckchen und den Schuhen und führte ihn an die frische Luft in den
Garten. Dann war es Zeit zum Mittagessen. Diese Mahlzeit war in den ersten vier Tagen ein Ereignis für mich gewesen, vor allem wegen des vielen Silbers, des schönen Porzellans und der Tellerdeckchen für alltags. Und immer standen frische Blumen da, und es gab Rotwein in Kristallkaraffen. An sich mache ich mir nicht viel aus Rotwein, aber es sah sehr vornehm aus! Das Essen war gut, konservativ und solide, sehr solide sogar. Ich fühlte mich schwer und belastet nach jeder Mahlzeit. Marie, die Köchin, hatte eine Vorliebe für schwere Puddings und süße Cremespeisen. Das war ein großer Übergang für mich. Neben Ibsen gehört nämlich die gesunde Kost zu den Hobbys meines Vaters. Bei uns gibt es fast jeden Tag einen Rohkostsalat und mindestens viermal in der Woche frisches Obst zum Nachtisch. Darum sind wir alle so kerngesund. Es war also kein Wunder, daß ich mich nun nach den schweren Mahlzeiten so unbehaglich »fühlte. Ich sehnte mich nach den Rohkostsalaten – hier wurde das Gemüse fast völlirr zerkocht – , und ich sehnte mich nach einem Glas Milch. Da jedoch die Tante keine Milch trank, kam niemand auf den Gedanken, daß ich vielleicht gern welche hätte. Eines Tages gab es Rote Grütze mit Sahne zum Nachtisch. Ich versorgte mich so reichlich mit Sahne, wie es der Anstand nur irgend zuließ, und genoß die Vorfreude auf einen lang entbehrten Genuß. „Ah!“ entfuhr es mir, denn es wurde genau das Gegenteil von einem Genuß. „Was ist denn?“ fragte Tante Agnete, die meinen kleinen Ausruf gehört hatte, so daß ich nun notwendigerweise Rechenschaft darüber abgeben mußte. „Ach nein, nichts“, stotterte ich, „es war nur – aber ich meine, es macht wirklich gar nichts – nur, weißt du, die Sahne ist ja gekocht.“ „Ja, natürlich ist sie abgekocht. Alle Milch und Sahne wird hier im Hause abgekocht.“ „Ja – aber – kauft ihr denn keine pasteurisierte Milch?“ „Doch, natürlich! Aber wir kochen sie trotzdem ab. In meinem Hause darf es keine rohe Milch oder Sahne geben.“ „Aber wenn sie doch pasteurisiert ist, dann ist sie doch keimfrei, Tante Agnete.“ Und schon waren wir wieder im Gang. Ich sprach von Pasteur, von seinen revolutionierenden Entdeckungen, von Nahrungsmittelwerten, Bazillen, Vitaminen und Kalorien… Hier war ich meiner Sache sicher, denn ich bin ja nicht umsonst Vaters
Tochter. Und Tante Agnete antwortete darauf, ich sei wählerisch, weil ich keine gekochte Milch trinken mag, und es sei ihr völlig unverständlich, daß meine Eltern so etwas zugelassen hätten. Wieso es mir trotzdem gelang, mit der gekochten Sahne fertig zu werden, ist mir unklar. Ich würgte sie zusammen mit den Tränen hinunter. Ich fing an, die Empiremöbel, das Badezimmer und das Frühstückstablett auf der Bettdecke zu verwünschen. Ich wollte heim in mein kleines grüngestrichenes Bett, zu Mutti und Vati, zu Nora und zur Hausarbeit. – Dies hier ertrug ich nicht! Aber durch gekochte Sahne kann man wahrhaftig die Fähigkeit zur Selbstbeherrschung ganz ungeheuer entwickeln. Gerade hatte ich den letzten Löffel voll davon geschluckt, da ließ sich die Tante herbei zu behaupten: „Zu meiner Zeit mußten wir alles essen, was uns vorgesetzt wurde. Dafür bin ich meinen Eltern heute noch dankbar.“ Da fuhr ein kleiner Teufel in mich. „Kannst du wirklich alles essen, Tante Agnete?“ „Ja, selbstverständlich!“ „Auch Vanillecreme?“ fragte ich. Doch in diesem Augenblick bellte Nipp, und vielleicht war es ein Glück, daß die Tante deshalb nicht hörte, was ich sagte. Den ganzen Nachmittag verbrachte ich an dem weißen Empireschreibtisch und schrieb Seite um Seite an Nora.
Familientag Als ich am folgenden Morgen mit einem „Guten Morgen, gnädiges Fräulein!“ geweckt und mir das Kaffeebrett hingestellt wurde, setzte ich mich im Bett auf und rief Margit zurück, die gerade zur Tür hinausgehen wollte. „Margit – einen Augenblick bitte!“ Margit drehte sich um und kam zu mir zurück. „Hören Sie, Margit, wer kommt eigentlich heute?“ „Na, die ganze Familie!“ „Gut, aber aus wem alles besteht diese Familie? Berichten Sie das mal genau, Margit! Ich kenne doch niemanden davon, und ich habe richtiges Lampenfieber.“ Margit fing an aufzuzählen, wobei sie die Finger zu Hilfe nahm. „Da ist zuerst der Schiffsreeder Brahmer mit seiner Frau. Die Frau ist die Schwester von unserer gnädigen Frau.“ Ich fragte, ob Frau Brahmer meiner Tante ähnlich sei. „Aber nein, Frau Brahmer ist furchtbar nett“, sagte Margit. Sie merkte gar nicht, daß sie etwas Auffallendes gesagt hatte. „Das waren zwei“, fuhr sie fort und griff nach dem Mittelfinger, „dann ist da Direktor Lindeng. Er ist der Sohn von dem Bruder unserer gnädigen Frau. Ja, also der ist tot – ich meine, der Bruder – und seine Frau auch. Aber der Sohn, der kommt her!“ „Und wie ist er?“ Margit holte tief Luft. „Ja – das ist ein sehr schöner Mann! Die gnädige Frau ist mächtig begeistert von ihm.“ Weiter ließ sich Margit nicht über Herrn Direktor Lindeng aus, sondern sie hatte bereits den Ringfinger vor. „Und dann die Frau vom Herrn Direktor. Die ist sehr nett. Aber es ist nicht ganz sicher, ob sie kommen wird, denn sie ist wohl nicht recht zupaß.“ „Aha, sie ist wohl etwas zart und anfällig?“ fragte ich. „Ach nein“, lächelte Margit, „aber sie wird bald ein Kind bekommen.“ „Ist sie vielleicht die Dame, die Else heißt?“ fragte ich weiter. „Ja, das ist sie! – Das waren also – ich muß nachrechnen – , das waren vier. Dann kommt bestimmt Herr Doktor Bogard. Er ist der Hausarzt von der gnädigen Frau.“ „Also ist er es wohl, der sich mit der früheren Gesellschafterin
meiner Tante verheiratet hat“, mutmaßte ich. „Na, gewiß, er hat sich vor etwa einem Monat mit Fräulein Thome verheiratet. – Nun haben wir sechs. Dann wird wohl auch die Witwe von dem anderen Bruder der gnädigen Frau kommen. Das ist Frau Lindeng, Hanna Lindeng! Oh, die ist vielleicht reizend, das können Sie mir glauben, gnädiges Fräulein. Eine Freundin von mir ist dort als Stubenmädchen. Also Sie glauben gar nicht, wie nett Frau Lindeng zu ihren Mädchen ist! Sie ist übrigens sehr christlich, die Frau Lindeng, und so eine feine Dame, glauben Sie mir.“ Ich mußte Margit ablenken, die vor Begeisterung überzufließen drohte. „Das wären also sieben! Wer noch?“ „Ja, wer noch? – Marie hat doch eben ausgerechnet, daß es zehn Personen zu Tisch sein würden. – Mal überlegen…“ Margit hielt nachdenklich den linken Zeigefinger umfaßt. Dann machte sie einen raschen Sprung zum Mittelfinger. „Richtig, da ist ja noch der Rechtsanwalt, das heißt, falls er schon zurückgekommen ist. Er war wohl verreist.“ „Wer ist der Rechtsanwalt?“ „Das ist der Sohn vom Schiffsreeder Brahmer. Ja, dann sind es acht – und die gnädige Frau und Sie – sind zehn!“ „Vielen Dank, Margit, nun ist mir alles klar. Aber hören Sie – nein, warten Sie einen Augenblick! Was, meinen Sie, soll ich anziehen?“ Margit überlegte ein Weilchen. „Ja – hm – ich weiß nicht recht. Vielleicht ein hübsches Nachmittagskleid…“ „Seien Sie so nett, Margit, und schauen Sie in den Schrank, und sagen Sie mir, welches von meinen Kleidern das passendste wäre!“ Mit einer nachdenklichen Falte zwischen den Brauen drehte und wendete Margit meine vier Kleider hin und her. „Das hier – glaub’ ich!“ Mein neues Sonntagsnachmittagsausgehkleid wurde behutsam aus dem Schrank genommen und auf den Diwan gelegt. Margit war wirklich ein Engel!
* Wenn wir bei uns daheim acht Gäste zu Tisch hätten haben sollen, wäre vorher eine Woche lang das Haus auf den Kopf gestellt worden. Wir hätten zu putzen und zu waschen gehabt, wir hätten acht Tage lang bei jeder Mahlzeit die Speisenfolge von neuem
durchgesprochen, und alles würde sich um „die Gesellschaft“ drehen. Ich erinnere mich noch deutlich daran, wie Vatis fünfundzwanzigjähriges Examensjubiläum gefeiert werden sollte. Ich war gerade konfirmiert und durfte zum erstenmal an einer Geselligkeit der Erwachsenen teilnehmen. Drei von Vatis ehemaligen Freunden aus der Studentenzeit waren von außerhalb nach Oslo gekommen, um dieses Fest zu feiern, und diese drei waren nun mit ihren Frauen für den Abend zu uns eingeladen. Ach, du meine Güte – was für eine Aufregung! Hin und her wurde diskutiert: Welches war der rechte Zeitpunkt? Sollte man ein großes Essen um sechs Uhr geben? Oder um sieben? Oder ein kleines, warmes Abendessen um acht Uhr? Brauchte man Tischkarten, wenn so wenig Gäste kamen? Wen sollte der Vater zu Tisch führen, und wer Mutters Tischherr sein? Welche Sorte Wein gehörte zu welchem Gericht? – Mutti baute auf ihre Erfahrungen, die sie bei der Taufe von Tor und meiner Konfirmation gesammelt hatte. Das Ergebnis war zufriedenstellend, aber – du lieber Himmel! – wie viele Umstände vorher! Vier Tage vor diesem Ereignis wollte ich mir die Haare waschen. „Nein, warte noch, damit du bei der Gesellschaft frisch gewaschen bist“, sagte Mutter. Dann war Ibsen-Premiere. Daß Vater hinging, war selbstverständlich, aber daß Mutti ihn begleitete – ausgeschlossen! „Bist du nicht bei Trost – zwei Tage vor der Gesellschaft?“ sagte Mutter. Esther quengelte um neue Sportschuhe. „Gedulde dich bis nach der Gesellschaft“, sagte Mutti. Die „Gesellschaft“ wurde zum Markierungspfahl auf dem Lebensweg der ganzen Familie. Vater kam mit einem großen Paket heim – drei ganze Flaschen Wein! Rotwein zum Braten, Weißwein zum Dessert und Whisky für nachher, Tor lungerte in der Küche herum, er und Esther freuten sich auf die Reste. Es wurde übrigens ein gelungener Abend. Vater gelang es zu einem verhältnismäßig frühen Zeitpunkt, die Unterhaltung auf Ibsen zu lenken, und er fand glücklicherweise Anklang bei den anderen Herren. Mutti saß mit den fremden Damen nebenan im kleinen Zimmer. Sie tauschten Kochrezepte aus. Und ich ging aus und ein, goß Kaffee
ein und servierte Obst. Kurzum, es war eine reizende Gesellschaft, und wir zehrten noch lange von der Erinnerung daran.
* Bei Tante Agnete sollten wir also zehn Personen zu Tisch sein. Von den Vorbereitungen war absolut nichts zu bemerken. Um halb zwölf ging ich zur Tante hinüber, um guten Morgen zu sagen, wie ich es immer tat. Ich bürstete Nipp und wusch ihm die Augen mit Borwasser aus – wie alle Tage. Durch das Haustelefon gab ich Lönnedal Bescheid, daß der Wagen vorfahren solle – wie immer. Wir machten unsere Spazierfahrt und suchten auf dem Rückweg ein Blumengeschäft auf, um Blumen für die Tischdekoration zu kaufen. Als wir zurückkamen, ließ sich die Tante ein Glas Madeira und etwas Gebäck bringen. Sie war übrigens heute viel besserer Laune, ja geradezu umgänglich. Sie bot mir ebenfalls ein Glas Madeira an, aber ich lehnte es dankend ab. Im Hinblick auf ihre gute Stimmung jedoch wagte ich zu fragen: „Tante Agnete, darf ich vielleicht statt des Weines eine Apfelsine nehmen?“ „Eine Apfelsine? Ja, selbstverständlich! Aber, Kind, danach brauchst du doch nicht zu fragen. Du kannst dir alles nehmen, was du haben willst.“ Begeistert griff ich nach der größten Apfelsine, die in der Silberschale lag. Louise und Margit kamen herein. Sie zogen den Eßtisch auseinander und legten Platten dazwischen. Alles geschah leise und flink und ohne die geringste Nervosität. Die Zeit verging, Tante Agnete leerte gemächlich ihr Glas, und dann läutete es an der Haustür. „Sei so nett und trag das Tablett hinaus, Unni!“ sagte die Tante. Dies war ihre einzige Vorbereitung, um die Gäste in Empfang zu nehmen. Natürlich ist das die einzig richtige Art. Was für ein Unsinn, nervös zu werden und das ganze Haus auf den Kopf zu stellen, bloß wegen ein paar Gästen. Sie sind doch wahrhaftig kein Anlaß, um Probleme zu wälzen. Mutti sollte nur einmal Tante Agnetes Ruhe sehen! Nun ja, Mutti hatte allerdings auch keine drei Hausmädchen und
kein dickes Bankkonto, die ihre Probleme lösten. Die ersten Gäste waren der Schiffsreeder Brahmer und seine Frau. Er war groß und dick, hatte eine rosenrote Glatze, und Stirn und Wangen waren noch um einen Schein röter. Er trug eine Brille, einen gut sitzenden Anzug und Schuhe mit breiten Sohlen. Er duftete nach Tabak und Rasierwasser. Seine Person füllte das Zimmer. „Schönen guten Tag, Agnetchen! Na ja, da wär’s mal wieder Donnerstag. Ich bin hungrig wie ein Wolf, du! – Ei, da haben wir ja die Kleine! Willkommen bei uns, kleines Fräulein! – Bewahr’ mich, Agnete, das ist ja eine Schönheit, die du dir da eingefangen hast. Wartet mal, da muß ich doch gleich eine andere Brille aufsetzen… Sieh an, sieh an, das nenne ich einen Pluspunkt für Haus und Familie! – Wie heißen Sie noch gleich? Unni, nicht wahr? Tja, also ich bin Onkel Toralf. Alle kleinen Mädchen der Stadt nennen mich Onkel, nicht wahr, Nettchen?“ Er wandte sich für einen Augenblick zu seiner besseren Hälfte um. Sie lächelte. Es war durchaus nicht das dressierte Lächeln einer diplomatischen Gattin, sondern ein ehrliches, aufrichtig bewunderndes Lächeln. „Lassen Sie sich nur nicht einschüchtern von meinem Mann, Fräulein Unni. So ist er nun mal, wie Sie sehen. Wie reizend, Sie kennenzulernen. Gefällt es Ihnen in unserer Stadt?“ „Ja, danke, sehr gut!“ sagte ich und streifte Tante Agnete flüchtig mit den Augen. Sie strahlte lauter Wohlwollen aus. Ich begann zu ahnen, daß dieser Onkel Toralf der anerkannte Stimmungsmacher der Familie war. Es sollte sich bald erweisen, daß diese Vermutung stimmte. Dann erschienen Direktor Lindeng und seine Gattin. Er war wirklich ein ungewöhnlich gut aussehender Mann, dieser junge Direktor, dazu höflich, lebhaft – kurz gesagt: ein Kavalier. Er küßte Tante Agnete die Hand, er war „sehr erfreut“, mich zu treffen, leicht und geschmeidig führte er die Konversation, hatte einen kleinen Scherz für Onkel Schiffsreeder und eine muntere Bemerkung für Tante Antoinette… Was hatte Margit noch von ihm gesagt? „Das ist ein sehr schöner Mann. Die gnädige Frau ist mächtig begeistert von ihm.“ Wieder blickte ich zu Tante Agnete hinüber. Sie strahlte förmlich. Die Ausführungen ihrer Schwester Antoinette über ein neues Kleidermodell waren mit einem Schlag vergessen. Sie verschlang den Neffen geradezu mit den Augen, saugte jedes Wort
von ihm in sich ein. Durch ihn geht der Weg zu Tante Agnete! dachte ich und schenkte dem Herrn Direktor mein süßestes Lächeln. Eine kleine, hellblonde Dame kam auf uns zu. Im normalen Zustand mußte sie hübsch und anziehend aussehen, jetzt allerdings war deutlich zu erkennen, daß das „freudige Ereignis“ nahe bevorstand. Ihr Gesicht war mager, die Haut ein wenig gelblich, aber in ihren Augen lag etwas, das sie mir sofort sympathisch machte. Sie wirkte weder geistig besonders hochstehend noch intelligent, eher ein wenig zaghaft. Aber ihre Augen waren unbeschreiblich klar, gut und ehrlich. „Bitte schön, dies ist meine Frau!“ stellte der Direktor lächelnd vor. Ach, wie sie nun alle lächelten – unbekümmert, freundlich – und unpersönlich. Es war das eingeübte, wohlerzogene, gleichsam nichtssagende Lächeln, das zu dem üblichen „sehr erfreut“ gehört, wenn man sich zum erstenmal präsentiert. „Dies, liebe Else, ist Tante Agnetes Nichte, Fräulein Björk – Unni Björk, nicht wahr?“ wandte sich der Direktor an mich. Ich nickte und gab seiner Frau die Hand. Zum zweitenmal begegnete ich hier einem Menschen, den ich gern mochte. Margit war der erste. Frau Else und ich schauten uns in die Augen und lächelten. In dieser Frau hast du eine Freundin gefunden! sagte ich mir. Später erzählte mir Else, daß sie in diesem Augenblick dasselbe Gefühl gehabt habe. Und wir wurden Freundinnen, obwohl Else zehn Jahre älter ist als ich. Aus dem Gesumm und Gemurmel, von dem das Zimmer erfüllt war, hörte ich Tante Agnetes Stimme heraus: „Aber Toralf, warum habt ihr Christopher nicht mitgebracht? Ich hatte ganz sicher damit gerechnet, daß er heute käme.“ „Bis vor einer halben Stunde glaubte ich das auch, Agnetchen. Aber er rief an und sagte, er sei noch auf dem Gericht. Er wollte sehen, ob er noch im Laufe des Abends kommen könne.“ Onkel Toralf wandte sich zu mir um. „Du mußt nämlich wissen, Unni, daß von meinem Sohn die Rede ist, meinem einzigen und teuren – sechsundzwanzig Jahre alt, der Stolz der Familie, erfolgreicher Anwalt beim Schwurgericht, der einzige Akademiker in unserem Kreis, und er heißt Christopher mit ph. Solltest du dich in ihn verlieben, beweist du damit einen guten Geschmack, aber Gott gnade
dir vor meiner Frau! Sie wird eine gefährliche Schwiegermutter, denn für unseren Christopher ist ihr keine gut genug. Du wirst ihn heute abend kennenlernen. Wenn du ahntest, wie du dich freuen kannst!“ Ich merkte bald, daß sich Onkel Toralf niemals mit einem einzelnen Satz begnügte, sondern um alles viele Worte machte, die übrigens nicht immer sehr gewählt waren. Trotzdem lag etwas Versöhnliches in seiner Art. Er war ein polternder Schwätzer, dabei aber unbedingt gemütlich. Louise kam herein, lautlos und korrekt. „Verzeihung, gnädige Frau, Frau Doktor Bogard rief eben an und bat, die gnädige Frau möge nicht auf sie warten. Herr Doktor sei noch zu einem Krankenbesuch fortgegangen, und sie wisse nicht, wann er zurückkäme.“ „Da haben wir es!“ polterte Onkel Toralf los. „Das sind so die Freuden, wenn man mit einem Arzt verheiratet ist. Hör auf mich, Unni: Tu, was du willst, aber nimm niemals einen Arzt! Der fliegt dir alle Augenblicke davon, Tag und Nacht. – Nein, nein, Nettchen, du brauchst dich nicht zu räuspern, ich habe nichts Schlimmes gesagt! – Na, dann können wir uns wohl endlich zu Tisch setzen – was für ein Segen! Ich bekomme doch wohl Unni an meine Seite, nicht wahr, Agnete?“ „Nein, lieber Onkel, Fräulein Unni habe ich bereits für mich abonniert!“ trat Direktor Lindeng dazwischen, und er schob ruhig und bestimmt seinen Arm durch meinen. „Dann setzen wir sie zwischen uns“, entschied Onkel Toralf mit dröhnender Stimme und nahm meinen anderen Arm. „Aber, meine Lieben, wir müssen doch auf Hanna warten!“ rief Frau Brahmer. „Ach du lieber Himmel, wir haben Hanna vergessen“, sagte Onkel Toralf, doch bevor er diesmal dazu kam, sich ausführlich dazu zu äußern, läutete es, und Frau Hanna Lindeng erschien. Sie war eine gebrechlich zarte Erscheinung mit weißem, gewelltem Haar, einem durchsichtig bleichen Gesicht mit milden Augen und einem ebenso milden, fast ein wenig betrübten Lächeln um den schmalen Mund. Sie sprach mit einer gedämpften, feinen Stimme, und mit einem Male schien die ganze Stimmung im Raum um ein paar Töne gedämpft zu sein. Nicht etwa, daß Frau Hanna durch ihre Anwesenheit einen Druck auf die anderen ausgeübt hätte. Vielmehr dämpfte jeder von selbst die Stimme, so wie man es in
einem Krankenzimmer tut. Für jeden hatte sie ein paar freundliche Worte. Am längsten unterhielt sie sich mit Else. Nun konnten wir zu Tisch gehen. Es gab Suppe mit Madeira, Forelle blau mit Weißwein, Geflügel mit Burgunder und eine Süßspeise mit Sherry oder Portwein. Zu Beginn des Essens war ich noch ein bißchen schüchtern, und ich dachte krampfhaft an Noras guten Rat: „Wenn du im Zweifel bist, was du sagen sollst, dann sage gar nichts. Lächele verständnisvoll, fragend oder anerkennend, und du kannst sicher sein, daß man dich für eine intelligente junge Dame halten wird.“ Und ich lächelte und lächelte, teils fragend, teils anerkennend, und im übrigen war es gar nicht so schwierig, sich zu unterhalten, denn Direktor Lindeng war ein Meister im Auffinden von Gesprächsstoffen, die sich für eine Tischkonversation eignen. Er mischte Anekdoten mit Fragen und zart angedeuteten Komplimenten zu einer wirklich netten und anregenden Unterhaltung, und noch ehe das Geflügel serviert wurde, fühlte ich mich ganz unbeschwert und pudelwohl. Onkel Toralf sorgte für die Getränke, und alle prosteten mir zu und hießen mich willkommen in der Stadt und in ihrer Mitte. Nun war der Alkohol für mich etwas völlig Ungewohntes, darum nippte ich immer nur vorsichtig an meinem Glas. Mit der Zeit aber summierte sich das Genippe – man darf ja schließlich nicht unhöflich sein, wenn die Leute einem zuprosten wollen. „Nein, nun habe ich aber genug, mehr vertrage ich nicht“, versuchte ich zu protestieren, als Onkel Toralf mir Burgunder nachgießen wollte, „nein, im Ernst…“ „Papperlapapp, hier wird nicht im Ernst gesprochen!“ scherzte Onkel Toralf. Sein rosenrotes Gesicht leuchtete vom Burgunder und der warmen Suppe. „Siehst du nicht, daß Tante Hanna mit dir anstoßen will?“ Ich mußte Tante Hanna zutrinken – sie trank übrigens nur Mineralwasser – , und ich hörte, quer über den Tisch, wie sie mit ihrer milden Stimme sagte: „Ich freue mich so für Agnete, daß sie Jugend ins Haus bekommen hat. – Sie haben hier eine große Aufgabe, liebes Kind!“ Ich wurde mit einem Schlage ernst. Eine große Aufgabe? Dieser Gedanke war mir noch nicht gekommen. Nicht einen Augenblick lang war mir eingefallen, ich könnte andere Aufgaben haben, als
Tante Agnete Gesellschaft zu leisten und ihr mit kleinen Diensten zur Hand zu gehen. Aber es gelang mir nicht, meine Gedanken auf irgendwelche großen Aufgaben zu konzentrieren. Ich fühlte mich so merkwürdig müde im Kopf. O weh, da hatte ich gewiß mehr Wein getrunken, als ich vertragen konnte. Als ich das nächste Mal den Wein ablehnte, merkte ich, wie Direktor Lindeng mir einen flüchtigen Seitenblick zuwarf. „Vielleicht möchten Sie auch lieber Mineralwasser trinken?“ schlug er vor und winkte Louise heran. Das perlende Wasser brachte wieder Klarheit in meinen verwirrten Geist. Ich lächelte dem vernünftigen Direktor dankbar zu. Da bemerkte ich plötzlich etwas in seinem Blick, das abstoßend auf mich wirkte. Es war überhaupt etwas in seiner ganzen Person, das mir nicht gefiel, und das ich erst jetzt entdeckte, nachdem ich das eiskalte, perlende Wasser getrunken hatte. Die Wirkung des Weines war verflogen, und nun sah ich in Lindeng nicht mehr den erfahrenen Gesellschafter, den höflichen Kavalier, sondern ich sah den selbstzufriedenen Mann, routiniert und jeder Situation gewachsen, ob es nun galt, alte Tanten zu unterhalten oder deren ungewandte Nichten, oder einzugreifen, um eine unerfahrene junge Dame daran zu hindern, zuviel Wein in sich hineinzugießen. Er schien in jeder Hinsicht erfahren und Herr über jede Lage zu sein. Aber was lag hinter dieser liebenswürdigen Schale? Wie sah es in seinem Hirn aus – und im Herzen? Die Älteren wollten Mittagsruhe halten. Sie verteilten sich rundum im Hause auf den Diwans und den Sofas, und Louise und ich liefen umher und brachten Decken und Kissen. Ich mußte Nipp im Garten spazierenführen. Das war mir recht, denn ich selber hatte ebenfalls frische Luft dringend nötig. Ich war satt und hatte einen schweren Kopf. Direktor Lindeng und Frau Else begleiteten mich. Doch plötzlich drehte er sich zu ihr um. „Nein, Elslein, du mußt dich auch ein wenig hinlegen, das ist das beste für dich.“ „Ach, ich würde lieber einen kleinen Gang machen, Ditlef.“ „Nein, mein Schatz, du mußt dich jetzt unbedingt schonen. Gewiß darfst du dich in Fräulein Unnis Zimmer legen. Dort bist du ungestört und kannst dich ausruhen.“ Die Worte klangen sehr freundlich, er umsorgte ja rührend seine kleine, ungraziöse Frau. Und doch lag etwas in seiner Stimme, das
wie eine Anordnung, ja wie ein Befehl klang. Nun ja, jedenfalls fügte sich Else und ging. Zum Glück besaß ich noch so viel Klarheit im Kopf, daß ich ihr folgte und sie zudeckte. „Tausend Dank!“ flüsterte sie. Ihre Augen waren feucht. So wanderten wir durch den Garten, Direktor Lindeng, Nipp und ich. Es war ein prachtvoller alter Garten mit Rotbuchen, riesengroßen Rhododendronbüschen, Buchsbaum und persischem Flieder – das heißt, Direktor Lindeng erklärte mir, es sei persischer. Jetzt, gegen Ende September, hatte sich das Laub schon ziemlich stark gelichtet. Der Garten war sehr groß, mit alten, verschlungenen Wegen und Hecken mit kleinen Nischen. Wie herrlich müßte man hier eine Gartenparty veranstalten können! Ganz hinten, am weitesten vom Haus entfernt, lag ein Stallgebäude. „Hier habe ich als Junge am liebsten gespielt“, berichtete der Direktor. „Das Haus gehörte ja meinen Großeltern, Tante Agnetes Eltern also. In dem Stall standen die Kutschpferde. Mein Großvater hatte ein paar Wagen und ein Reitpferd – mal sehen, ob die Tür offen ist – o ja, schauen Sie, da steht noch der alte Landauer. Du lieber Himmel, war das ein Ereignis, wenn im Mai die erste Ausfahrt unternommen wurde!“ Er betrat das Gebäude und blickte sich um. „Viel Platz ist ja nicht mehr, seitdem hier eine Garage eingebaut worden ist. Aber die Ställe sind noch da. – Herrgott, es macht doch eigentlich Spaß, das alles noch mal wiederzusehen. – Und dort oben der Heuboden… In jeder Ecke hatten wir unsere Räuberhöhlen…“ „Wie geräumig es hier ist“, sagte ich und dachte an meinen Bruder Tor. Oh, wenn er nur ein Stückchen des Heubodens oder einen Winkel im Stall für seine Kaninchen gehabt hätte, wie selig wäre er gewesen! Dann erzählte mir Direktor Lindeng, daß er außerhalb der Stadt wohne. „Ich habe mir dort ein Haus gebaut. – Ich ziehe es vor, möglichst weit weg von der Innenstadt zu wohnen. – Ich habe vier Kinder. – Nein, ich habe keinen Chauffeur, ich fahre selbst.“ Was er auch sagte, alles begann mit ich – ich – ich… „Nein, wirklich, Sie haben schon vier Kinder?“ fragte ich. „Jungen oder Mädel?“ „Drei Jungen und ein Mädchen!“ sagte er stolz. „Der älteste, Klein-Ditlef, ist acht, dann kommt die kleine Agnete und schließlich die Zwillinge Jörgen und John-Christen. Sie sind zwei Jahre alt. Und nun wollen wir mal sehen, ob wir nicht bald der kleinen Agnete ein
Schwesterchen schenken können.“ Es sähe Ihnen ähnlich, jetzt auch noch zu sagen: Ich bekomme ein Kind! dachte ich. Aber ich sagte es nicht. Nipp bellte ungeduldig und wollte zurück. So gingen wir wieder dem Hause zu. Vor der Tür zur Veranda wandte Direktor Lindeng sich zu mir um. „Sollten Sie bei Tante Agnete auf irgendwelche Schwierigkeiten stoßen, dann sagen Sie mir Bescheid“, sagte er. „Der Umgang mit ihr ist nicht immer leicht, aber ich werde ganz gut mit ihr fertig.“ Ich antwortete nicht, und wir gingen ins Haus. Kaffeeszene. Großer, runder Tisch mit Spitzendecke. Ausgesucht feines Gebäck in Silberschalen. Verschiedene Likörflaschen in einem silbernen Gestell. Während wir beim Kaffee saßen, erschienen Doktor Bogard und seine Frau. Bisher hatte ich die anderen Damen für elegant gehalten, aber neben Frau Bogard wirkten sie geradezu unscheinbar. Sie war sehr groß, platinblond, unwahrscheinlich schlank und hatte schmale, lange Hände. Ein einziger, großer Saphir blitzte an ihrer rechten Hand, sonst trug sie keinen Schmuck. Aber ihr Kleid war ein Märchen an raffinierter Einfachheit, die Schuhe von ausgesuchtem Schick in Form und Schnitt, und die Frisur saß so untadelig wie auf einem Werbefoto. Hochaufgerichtet und schön, sicher und lächelnd glitt sie über das Parkett auf Tante Agnete zu. „Liebste Frau Garde, es tut mir ja so leid, aber Henning ist unmöglich, wissen Sie. Vor einer Stunde erst ist er zurückgekommen. So haben wir rasch zu Hause noch ein wenig gegessen. Aber wir hoffen, daß Sie noch ein Täßchen Kaffee für uns übrig haben.“ Tante Agnete nickte lächelnd und betrachtete Frau Bogard mit sichtlicher Zufriedenheit. „Was für ein bildschönes Kleid haben Sie da, liebe Vera – aus Paris?“ „Ja, ein Modell von Dior. Sie wissen ja, wenn Henning etwas kauft, dann ist ihm nichts gut genug.“ „Ein teures Vergnügen, verheiratet zu sein, nicht wahr, lieber Doktor?“ scherzte die Tante und gab ihrem Arzt die Hand. „Sie scheinen Ihre Frau ja ordentlich zu verwöhnen.“ „Ich liebe es, etwas Schönes anzusehen“, erwiderte Doktor Bogard mit leiser, ein wenig schleppender Stimme. „Oh, ich sage Ihnen, die Woche in Paris hat meinem Mann eine Stange Geld gekostet! Er kaufte allerlei, das schön anzusehen ist“,
versicherte Frau Bogard lächelnd. Sie begrüßte uns der Reihe nach, machte eine liebenswürdige Bemerkung zu mir als ihrer „Nachfolgerin“, wie sie sagte, und ließ sich lässig auf einen Stuhl am Kaffeetisch nieder. Sie wurde ganz selbstverständlich der Mittelpunkt des Kreises. Der Doktor wurde sofort von Onkel Toralf mit Beschlag belegt, der ihn über Magengeschwüre auszufragen begann. Der Arzt war ein eigentümlicher Typ. Es war unmöglich zu erraten, wie alt er wohl sein mochte. Man konnte ihn ebensogut für dreißig als für sechzig Jahre alt halten. Klein von Wuchs – kleiner als seine Frau – , mit schmalem, spitzem Gesicht und nach hinten gestrichenem Haar, was offensichtlich die beginnende Glatze verdecken sollte. Das war deutlich zu erkennen, wenn er den Kopf schüttelte, und das tat er ziemlich oft über die Ansichten von Onkel Toralf. Der Doktor hatte magere, nervöse Hände, die er nicht einen Augenblick stillhielt. Wirklich, er war ein Studium wert – endlich einmal ein interessanter Typ zwischen all diesen fremden Menschen! Direktor Lindeng hatte mich versetzt. Er unterhielt sich nur noch mit Frau Bogard. Sie schien ihm etwas zu erzählen, denn er lauschte gespannt. Plötzlich drehte er sich zu Tante Agnete um. „Tante, hör mal zu! Du mußt unbedingt ein paar Tausend locker machen für ein neues Unternehmen!“ Sofort unterbrach Tante Agnete ihre Unterhaltung mit ihrer Schwägerin Hanna. „Um was handelt es sich denn, Ditlefmann?“ „Um eine Reitbahn, Tantchen. Unsere Stadt wird immer größer, und es gibt schon jetzt eine ganze Reihe von Leuten, die an der Gründung eines Reitklubs interessiert sind. Jetzt ergibt sich gerade die günstige Gelegenheit, daß wir den Bruder von Frau Bogard als Leiter und Reitlehrer bekommen könnten – den Leutnant, weißt du. Aber wir brauchen noch Geld, um eine Reithalle und Ställe zu bauen und um Pferde zu kaufen. – Sagen wir – zehntausend, Tantchen, ja? – Oder zwanzig?“ „Oh, Ditlef, Ditlef!“ rief die Tante und lächelte hingerissen. „Verlangst du auch noch, daß ich anfange zu reiten?“ „O nein, das kannst du dir schenken. Du darfst passives Mitglied werden. Du kannst ja Fräulein Unni reiten lassen. Nicht wahr, Fräulein Unni, wäre das nicht nett?“ Mein Herz machte einen Freudensprung. Reiten! Oh, das war schon immer mein Traum gewesen, mein sehnlichster, aber bisher unerfüllbarer Wunsch, wenn ich daheim in den vornehmen
Villenvororten die eleganten Damen und Herren reiten sah. Und ich liebe Pferde so sehr. Als ich klein war, gab es für mich kein schöneres Vergnügen, als auf dem alten Gaul des Nachbarn sitzen zu dürfen. Und nun sollte ich richtig reiten lernen! „Das müßte herrlich sein“, sagte ich, „immer schon habe ich mir gewünscht, reiten zu können.“ „Also abgemacht – hier wird geritten! Wir schreiten zum Einkauf von – nun, sagen wir zunächst – sechs Pferden plus einem Pony für Klein-Ditlef und Klein-Agnete. – Onkel Toralf, heraus mit dem Scheckbuch, wieviel zeichnest du?“ Ein Stimmengewirr erhob sich, dazwischen fröhliche Rufe und Gelächter. Große und immer größere Ziffern flogen durch die Luft. Tante Agnete beteiligte sich strahlend und voller Eifer. Auf ihren Wangen glühten rosige Flecke, sie war im Vergleich zum gestrigen Tag nicht wiederzuerkennen. „Hören Sie, wir müssen schnellstens Ihren Herrn Bruder zu fassen bekommen“, wandte sich Direktor Lindeng an Frau Bogard. „Ist er noch in der Stadt?“ „Ja, aber er wird morgen für eine Woche verreisen.“ „Dann rufen Sie ihn, bitte, sofort an. Wir brauchen ohnehin noch jemanden zum Bridge, nicht wahr, Tante Agnete?“ „Ja, eine ausgezeichnete Idee, mein Junge, ganz ausgezeichnet! Bestellt einen Gruß von mir, ich hoffte, daß er käme.“ Ich sollte reiten! Du lieber Himmel, meine Freude war einfach nicht zu beschreiben! „Na, Doktor – und mit wieviel beteiligen Sie sich?“ Onkel Toralf schlug dem Arzt so kräftig auf die Schulter, daß er richtig einknickte. „Das bestimmt meine Frau“, sagte der Doktor mit seiner schleppenden Stimme und seinem unentwegten Lächeln, „denn sie soll ja reiten. Glauben Sie nicht auch, daß sie zu Pferd sehr gut aussehen wird?“ Er wandte sich zum Fenster um und blickte in den Garten hinaus. „Ein weißes Pferd soll sie haben, das ist meine einzige Bedingung“, fuhr er fort. Er schwieg eine Weile, dann schlenderte er hinüber in den großen Salon. Und während im Wintergarten, wo wir Kaffee getrunken hatten, das Gesumm der Unterhaltung weiterging, hörte ich, daß nebenan auf dem Flügel ein paar Töne angeschlagen wurden. Ich schlich hinüber. Niemand bemerkte es. Im Wintergarten ging das Geplauder weiter. Im Halbdunkel am Flügel saß der wunderliche, schmächtige, kleine Doktor und ließ seine empfindsamen, weißen Finger über die
Tasten spielen. Ein Akkord klang auf, dann mehrere – ohne Zusammenhang angeschlagen – einzelne Töne folgten… Ich spitzte die Ohren. Etwas daran kam mir bekannt vor. – Ja, ganz recht! Jetzt vereinten sich die Töne zu einer Folge, die linke Hand fügte kraftvoll die Baßakkorde hinzu, die Musik schwoll an, immer mehr und mehr – und dann brauste mir eine Fuge von Johann Sebastian Bach entgegen, meisterhaft gespielt und so rein, so harmonisch und so logisch, wie nur Bachs Musik ist. Ich schwieg und lauschte. Die Stimmen nebenan störten mich nicht mehr. Ich hörte sie einfach nicht. Als die Fuge beendet war, blieb der Doktor still und zusammengesunken vor dem Flügel sitzen. Mir schien es nicht richtig zu sein, bei ihm zu sitzen, ohne einen Laut von mir zu geben. Ich ging zum Flügel. „Bitte, spielen Sie weiter Bach!“ Er sah mich an – oder vielmehr an mir vorbei. „Weiter? Was denn? Ich spiele nur Bach.“ „Bitte, spielen Sie weiter Bach!“ „Für Sie?“ „Für mich – oder für Sie selbst, wenn Sie wollen. Ich kann jedenfalls zuhören.“ „Sie verstehen Bach nicht.“ „Mag sein! Aber man kann doch auch etwas lieben, ohne es zu verstehen.“ Die Finger liefen quirlend über die Tasten. Plötzlich wandte er den Kopf zu mir um. „Was, in aller Welt, wissen Sie überhaupt von Bach?“ „Daß seine Musik mich anspricht!“ „Anspricht – anspricht! Bachs Musik ist himmelhoch erhaben über jede andere Musik. Sie ist nackt. Sie ist entkleidet. Sie ist frei von jedem Ornament, jeder Verzierung. Sie ist sich selbst genug. Sie ist nicht gewalttätig wie die Musik von Wagner, nicht so weitläufig wie von Beethoven, nicht sentimental wie von Schubert, nicht so effektvoll wie von Chopin – sie ist Musik. Die Apotheose der Musik. – Sie ist vollkommen.“ Es war, als nähme er seine ganze Kraft zusammen, während seine Finger die Tasten schlugen und dem Flügel seinen vollen Wohlklang abverlangten. Niemals habe ich dieses Präludium von einem Menschen so spielen hören wie von Doktor Bogard. Als das Stück zu Ende war, schlich ich hinaus. Ich hatte ein Erlebnis gehabt. Und ich
hatte Doktor Bogard kennengelernt. Es war die Mühe wert, näher mit ihm bekannt zu werden. Im Wintergarten war die Stimmung inzwischen auf den Höhepunkt gestiegen. Der Bruder von Frau Bogard war gekommen, in strammer Uniform. Nach einer Stunde kannte ich seinen ganzen Wortschatz und seinen leicht überschaubaren Interessenkreis. Gegen Abend erschien auch Christopher Brahmer, der Rechtsanwalt. Nach der Beschreibung seines Vaters hatte ich mir Wunders was von ihm erwartet. Um so enttäuschter war ich nun. Der junge Herr Christopher hatte Sommersprossen in seinem blassen Gesicht, eine Hornbrille vor seinen rotgeränderten Augen und eine harte, abgehackte Sprechweise, die entsetzlich irritierend wirkte. Dazu kam noch, daß er keine Bemerkung machen konnte, ohne sie in belehrendem Ton hervorzubringen. Der einzige Akademiker der Familie! dachte ich. Alle lauschten auf das, was der Herr Akademiker sagte. Er irritierte mich maßlos. Ich brannte geradezu darauf, ihn mal ein bißchen zu ducken. Auch mich würdigte er mit ein paar Bemerkungen. Er fragte, wie es mir in der Stadt gefiele, und was ich gemacht hätte, bevor ich herkam, ob ich schon jemanden kennengelernt hätte, seitdem ich hier sei, und so fort. Alles wurde in dem gleichen Ton hervorgebracht, wie wenn alte Tanten einem Kind auf den Scheitel klopfen und fragen: „Wie alt bist du denn schon?“ und „In welche Klasse gehst du denn?“ Offensichtlich vermutete er bei mir ein mittelgroßes Hühnergehirn. Louise zeigte mir, wie die Bridgetische aufgestellt werden mußten und was alles zum Spiel gehörte wie Karten, Blocks zum Aufschreiben, Bleistifte, Aschenbecher sowie Tischchen zum Abstellen der Gläser und für das Obst. Ich glaube, ich erwies mich als gelehrige Schülerin. Tante Agnete war in ihrem Element. Sie spielte mit ihrer Schwester Antoinette zusammen, während der dicke Onkel Toralf den Leutnant als Partner hatte. Die Bridgeintelligenz muß eine Intelligenz besonderer Art sein, die sozusagen einen eigenen Raum im Gehirn beansprucht, der mit der Intelligenz im landläufigen Sinne nichts zu tun hat. Jedenfalls hörte ich, wie Leutnant Thorne, Frau Bogards Bruder, wegen seines ausgezeichneten Spiels gelobt wurde. Am zweiten Tisch waren der Doktor und seine elegante Frau Partner und hatten Direktor Lindeng und den Rechtsanwalt als Gegenspieler. Im kleinen Zimmer nebenan saßen Frau Hanna
Lindeng, Frau Else und ich. Es war wie ein erholsames Aufatmen nach einer großen Anstrengung. Endlich konnte man sich so geben, wie man war. „Nun, wie geht es dir, Elsekind?“ fragte Frau Hanna und legte ihre Hand weich auf die von Frau Else. „Wann ist es denn soweit?“ „In ein paar Wochen, denke ich.“ „Und du bist ganz frisch und munter?“ „Aber ja, gewiß, liebe Tante!“ versicherte Else mit einem Lächeln, das nicht bis zu den Augen hinaufreichte. Frau Hanna betrachtete sie einen Augenblick, so, als wollte sie noch etwas sagen, unterließ es dann aber. Sie wandte sich mir zu. „Sie müssen einmal zu mir kommen, kleine Unni, Sie und Else, so für ein beschauliches Vormittagsstündchen. Sie müssen sich meine Vögel ansehen – ja, ich habe Vögel, Wellensittiche, Zwergpapageien und Kakadus. Das gibt viel Leben und Vergnügen, glauben Sie mir.“ So saßen wir gemütlich beisammen und unterhielten uns über kleine Alltagsdinge, über die Sehenswürdigkeiten der Stadt und über die Einwohner. Etwas fiel mir dabei besonders auf und freute mich: Es wurde kein einziges Wort der Herabsetzung über irgend jemand gesprochen, nicht die leiseste Andeutung von Klatsch war herauszuhören. „Sie werden hier noch viele Leute kennenlernen“, meinte Tante Hanna zu mir gewandt, „denn Sie werden gewiß oft mit Agnete zusammen eingeladen werden. Wie freue ich mich für Agnete, daß sie jetzt Sie um sich hat. Muntere Jugend um sich, das ist es, was sie braucht. Nehmen Sie es nur nicht tragisch, wenn Sie ab und zu das Gefühl haben, Ihre Stellung hier im Hause sei schwierig, sondern denken Sie daran, daß Sie allein schon durch Ihre Anwesenheit ein gutes Werk tun. Agnete ist einsam, die Ärmste, und es ist ein Jammer, daß sie keine Kinder bekommen hat. Sie braucht jemand, um den sie sich kümmern, für den sie eine Mutter sein kann. Sie müssen nett zu ihr sein, liebes Kind!“ In diesem Augenblick vergaß ich alles, was bisher unangenehm und schwierig gewesen war. Ich nickte Tante Hanna zu, und zwar nicht nur aus Höflichkeit, sondern mit dem ehrlichen, festen Entschluß, mein Bestes zu tun. Tante Hanna mußte Agnete ja besser kennen als ich. Aber mit ihr unter einem Dach zu wohnen – das hatte sie nie versucht!
Nora gibt gute Ratschläge Ein Brief auf dem Frühstückstablett. Ich sah auf den ersten Blick, daß er von Nora kam. Ich erkannte es sowohl an der großzügigen, steilen Handschrift als auch an dem langen, hellgelben Umschlag. Doppeltes Porto. – Sie hatte anscheinend allerlei auf dem Herzen. Zwischen einzelnen Schlucken Kaffee las ich: „Liebste Unni! Dachte ich es mir doch! Es hat ja nicht lange gedauert, bis Du Dein Herz ausschütten mußtest. Ich habe Deinen Brief mehrmals gelesen. Mein erster Eindruck war – ja, ich glaube, ich habe es sogar laut gesagt: So ein Biest! – Aber dann las ich alles zum zweiten- und zum drittenmal, und endlich kam ich auf den Standpunkt, daß es doch eigentlich ein Sport für Dich sein müßte, alle Schwierigkeiten und Hindernisse zu überwinden, um als Endziel mit dieser Hexe von einer Tante gut Freund zu werden. Denn das ist mal sicher: Da muß der eine oder andere Grund vorhanden sein für ihre Ungereimtheiten und ihre Herrschsucht. Und diesen Grund mußt Du herausfinden, ehe Du mit der Arbeit beginnen kannst. Hier liegt ein Fall vor, bei dem die Ursache behandelt werden muß und nicht das Symptom.“ (Nora, Nora, man merkt doch deutlich, daß du mit einem Mediziner so gut wie verlobt bist!) „Also – was könnte der Grund sein? Weißt Du, was ich glaube? Es müssen irgendwelche Kräfte in ihr schlummern, die nicht zur Entfaltung gekommen sind, Wünsche, die sich nicht erfüllt haben, etwas, das ihr vom Leben vorenthalten wurde. Und diese Kräfte und Wünsche haben jahrelang im Verborgenen – wenn Du es so nennen willst – gegärt. Was in Gärung übergegangen ist, wird meistens schlecht. Denk zum Beispiel an Marmelade. Selbst die feinste Konfitüre wird, wenn sie gegoren ist, zu einer blasigen, ungenießbaren Masse. Und wenn nun, sagen wir mal, Mutterinstinkte und Beschützerdrang fast ein ganzes Menschenleben lang brachliegen und gären, dann ist es doch nur verständlich, daß sie in Herrschsucht und widersprüchliche Verhaltensweise ausarten. Also: schaffe ihr die Entfaltung ihrer Mutterinstinkte! Nun bist Du zwar ein selbständiges Wesen (leider, muß man in diesem Fall sagen), und so brauchst Du natürlich Tante
Agnetes Rat nicht. Außerdem hast Du ja noch Deine Mutter, wenn es darauf ankommt (und mich – nicht zu vergessen!). Aber hier geht es nicht um Dich, sondern um sie. Du wirst ja wohl imstande sein, die eine oder andere Schwierigkeit zu erfinden, bei der Du sie um Hilfe bitten könntest. Brauchst Du nicht vielleicht bald ein neues Kleid? Stell Dich hilflos an, bitte sie, Dir zu raten, laß sie den Stoff aussuchen und nimm alles ruhig hin, auch wenn sie anfangs schimpft. Das wird sie bestimmt tun. Du mußt es eben ‘runterschlucken, wenn sie sagt, daß eine junge Dame von Deinem Alter doch so was allein schaffen müßte, und einen sicheren Geschmack haben sollte. Im Grunde wird sie es gern tun. Du sagst, daß sie ihre Zärtlichkeit und Fürsorge ausschließlich dem kleinen Hund zuwendet. Das, beweist eigentlich schon die Richtigkeit meiner Theorie. Sie braucht ein lebendes Wesen, das sie lieben kann. Und noch etwas kommt hinzu: Ich bin bei Deiner Mutter gewesen und habe sie ein bißchen ausgehorcht. Dabei habe ich in Erfahrung gebracht, daß Tante Agnete nicht immer besonders nett ihrem verstorbenen Mann gegenüber gewesen ist. Er aber soll sie mit Engelsgeduld auf Händen getragen haben, immer aufmerksam, fürsorglich, freundlich und entgegenkommend (es freut mich, daß Du mit ihm verwandt bist und nicht mit ihr!). Du mußt aber verstehen, wie sehr sie sich nun nach jemandem sehnt, der gut zu ihr ist, der sie umsorgt. Das geht ja schon aus der Bemerkung hervor, die sie Dir gegenüber gemacht hat: ,Du könntest auch ein wenig Interesse für meine Angelegenheiten aufbringen und nicht nur für deine eigenen…’ Natürlich war das Unsinn, eine solche Formulierung ist nur durch ihr unausgeglichenes Wesen erklärlich, und man muß schon im Besitz einer gehörigen Portion guten Willens sein, um auf den Grund zu sehen und Mitleid zu haben anstatt beleidigt zu sein. Du schreibst, daß das Stubenmädchen Louise Dich irritiere. Vielleicht irritiert sie Deine Tante ebenso. Man muß sich mal vorstellen, wie das ist, wenn man immerzu mit dieser unpersönlichen, korrekten Höflichkeit behandelt wird, einer Höflichkeit, die bezahlt wird. Deine Aufgabe ist es, ihr – wenn Du es kannst – Herzlichkeit zu geben. Sie ist nicht zu bezahlen, und gerade darum ist sie es, die Deine Tante nötig hat. Was mit Geld zu beschaffen ist, das hat sie. Du mußt ihr etwas geben, das nicht mit Geld zu vergüten ist. Ich bin mir völlig im klaren darüber, daß das Schwierigste für Dich der Anfang dazu sein wird. Du bist von
vornherein in ein schiefes Verhältnis zu ihr gekommen, das ist schade. Aber ich glaube, die Sache ist noch zu retten. Liebe Unni, wirf Dein Herz voran und spring hinterher! Steh nun auf (ich weiß, daß Du meinen Brief im Bett liest), zieh ein recht hübsches Kleid an und gib Dir besonders viel Mühe mit Deiner Frisur. Sie hat es ja so gern, wenn Du nett aussiehst. Dann geh lächelnd zu ihr hinein, frage, wie es ihr geht, und wenn sie über Kopfschmerzen klagt, empfehle ihr ein paar Mittel dagegen (ich lege Dir einen Zettel mit den Namen einiger guter Medikamente bei) und erbiete Dich, sie ihr zu besorgen. Sei recht lieb zu Nipp und sprich zu ihm in Kindersprache, auch wenn Du Dir noch so idiotisch dabei vorkommst. Die Schoßhund-Frauchen sind stets begeistert, wenn man etwa so mit ihren Lieblingen redet: ,Ja, wo ist denn das liebe Hündchen? Ei, ei, nun komm doch mal! Sollst ein feines Samtkleidchen haben. Ja, da ist er ja, der flinke, kleine Nippemann…’ Du wirst sehen, das hilft! Und zuletzt: Wenn du das nächste Mal ein Problem zu lösen hast – ich meine jetzt ein wirkliches, kein erfundenes – , dann verzichte darauf, es Deiner Mutter oder mir zu schreiben, sondern geh damit zu Tante Agnete. So, damit wäre mein Vorrat an weisen Ratschlägen erschöpft, und ich bin ganz erledigt. Heute abend werde ich bei Euch sein. Wir beschäftigen uns mit ,Die Wildente’. Ich lese die Hedwig. Meine Eltern und Fritjof wollen heute mit dabeisein. Der Letztgenannte allerdings nur, wenn er sich von einem Wälzer über Ohren, Nasen und Hälse losreißen kann. Lust dazu haben sie alle drei, und wir brauchten eigentlich noch mehr, denn Dein Vater kann doch nicht ganz allein mit den Rollen des Hjalmar, des Kaufmanns Werle, des alten Ekdal und noch drei weiteren Figuren fertig werden. Tor liest den Gregers – vielleicht nicht immer so, wie ihn sich Ibsen vorgestellt hat, aber der Wille ist gut und das Interesse glühend. Deine Mutter fühlt sich wohl ein wenig fremd als Frau Sörby, aber Esther als Gina ist fabelhaft. Es macht sehr viel Spaß, mit ihr zusammen zu lesen. Nun ist mein Arm aber lahm! Alles Gute, liebes Mädchen! Laß Dich tausendmal grüßen und umarmen von Deiner Nora“ Ich las den Brief dreimal. Dann stand ich auf. Ich war entschlossen, Noras Ratschläge Punkt für Punkt zu befolgen. Nora war ein prima Mädchen. Wenn ich sie nicht gehabt hätte!
Ich sang im Bad – zum erstenmal, seit ich hierhergekommen war – , ich frottierte mich kräftig, ich machte Gymnastik am offenen Fenster, und meine toupierte Frisur gelang mir heute ungewöhnlich gut. Dann stand ich mitten im Zimmer und schnappte vor Freude nach Luft. Ich sollte ja reiten lernen! Gestern hatte Tante Agnete für Ditlef Lindeng einen Scheck ausgeschrieben und ihn mit einem scherzhaften Klaps auf die Wange des geliebten Neffen überreicht. Und nun – auf in den Kampf! Jetzt sollte alles anders werden!
Es wird anders Ich gebe es zu: Bevor ich bei der Tante anklopfte, schloß ich für eine Sekunde die Augen: Lieber Gott, nun hilf mir bitte! Dann klopfte ich an. Die Tante saß im Morgenrock vor dem Toilettentisch. „Guten Morgen, Tante Agnete!“ Ich küßte sie auf die Wange. „Ah, guten Morgen! Du bist es schon.“ „Komme ich etwa zu zeitig?“ „Nein, nein, aber ich habe schlecht geschlafen. Ich habe Kopfschmerzen. “ „Oh, das tut mir aber leid, liebe Tante. Hast du es schon mit…“ – wie hieß es nun? – „… mit Pyramidon versucht? Es soll sehr gut sein.“ „Das nehme ich seit zehn Jahren“, sagte die Tante. „Da liegt es. Hast du es wirklich noch nicht gesehen?“ Wahrhaftig, da lag es! So ein Pech! „Aber Togal, Tante Agnete? Vielleicht hilft dir das.“ „Nein, nein – ach, lassen wir das doch! Ich bin ja daran gewöhnt, Kopfschmerzen zu haben.“ Dies war schwierig! Ob ich es jetzt mit dem Kleid versuchen sollte? Nein, zuerst Nipp. Er lag zusammengerollt auf dem Bett der Tante. „Komm, Nippemann, jetzt wollen wir dich feinmachen.“ Ich trug ihn ins Badezimmer und holte mir seine persönlichen Toilettensachen: Bürste, Kamm, Wattepäckchen und Borwasserflasche. „So, Nippilein, nun sei mal ein ganz liebes Hundewauwauchen. – Ja, so! Ei, ei, wie fein wir aber jetzt werden, was? – So, nun kriegst du einen Scheitel auf dem Rücken. Na, so ein liebes Hündchen haben wir! – Und nun wollen wir die Äugelchen wischen – so ein feiner, kleiner Wauwau. Wir waschen ganz vorsichtig – so, jetzt bist du fein, und alle Leute können sehen, was für ein niedlicher Wauwau du bist – mit ganz blanken Äuglein…“ Und wirklich reagierte die Tante darauf. Ja, sie lachte sogar ein wenig, als sie zu mir hinüberrief: „Das ist ja heute eine lebhafte Unterhaltung zwischen dir und Nipp!“ „Ja, weißt du, er hat es gern, wenn ich so mit ihm rede. Ich muß ihm doch erklären, weshalb er das Bürsten und Augenwaschen über
sich ergehen lassen soll. – So, Nipp, nun lauf zu deinem Frauchen und zeige ihr, wie fein du bist.“ Ich notierte einen Erfolg. Dann wollten wir ausfahren. Die Tante hatte einige Besorgungen in der Stadt zu erledigen. Im Auto wagte ich mich an die nächste Nummer meines Programms: ob die Tante mir wohl einen Rat geben wolle beim Kauf eines Kleiderstoffes. Ich sei darin so dumm, und außerdem wisse ich nicht, in welches Geschäft man hier am besten ginge. Sie war sofort interessiert. Was ich denn haben wolle, fragte sie, ein Tageskleid, ein Partykleid oder was sonst? „Ein Donnerstagskleid!“ sagte ich und lachte. Die Tante lächelte mir zu. Kein Zweifel, das hatte gezündet! Wir sahen uns Stoffe an. Die Tante nahm sich unbegreiflich viel Zeit. Ein Ballen nach dem anderen wurde auf dem Tisch ausgebreitet, und die Farben wurden unter der Tageslichtlampe begutachtet. Die Verkäuferin mußte einige der schweren Ballen ans Fenster schleppen. Andere Kunden warteten, das störte die Tante nicht die Spur. Sie entschloß sich schließlich (offiziell: wir entschlossen uns) für einen eigentümlichen Stoff mit einem originellen eingewebten Muster. Niemals hätte ich selbst ihn gewählt, aber nun sagte ich ja und amen. Das hätte ich auch getan, wenn sie Sackleinen mit Brokatbesatz vorgeschlagen hätte. Während die Tante noch einige Seidenstoffe prüfte, bekam ich meinen Stoff eingepackt und bezahlte. Sie sollte auf keinen Fall denken, ich wollte mir bei ihr ein Geschenk erschleichen. Endlich erhob sie sich, um zu gehen – Tante Agnete gehört zu den Kundinnen, die sich im Sitzen bedienen lassen – , doch plötzlich blieb sie stehen und sagte mit einer Selbstverständlichkeit, als handele es sich darum, eine Rolle Nahtband zu kaufen: „Ach ja, wir könnten doch gleich auch noch nach Material für dein Reitkostüm sehen.“ „Rei… Reitkostüm?“ stotterte ich. „Nun ja, Ditlef, der schreckliche Junge, hat mir doch eine ganze Stange Geld entlockt für sein Reitklub-Unternehmen. Und wenn du reiten sollst, mußt du auch ordentlich aussehen. – Fräulein, holen Sie mal den Schneider her!“ „Ja, aber, liebe Tante – weißt du – es ist ja sehr lieb von dir, daß du mich reiten lassen willst – aber im Augenblick habe ich nicht genug Geld dafür.“ „Das Kostüm und die sonstige Aussteuer gehören dazu“,
unterbrach mich die Tante, „und das kannst du mir überlassen. Meine Nichte soll gut gekleidet auftreten.“ Na, bitte sehr! Eine Stunde später waren die Stoffe gekauft und die Maße genommen. Es sollte ein wunderbares, dunkelbraunes Kostüm werden, vom teuersten Stoff des Ladens und nach dem flottesten Modell im ganzen Modejournal. Nachher im Auto fand ich nicht Worte genug, um der Tante meine ehrliche Dankbarkeit zum Ausdruck zu bringen. „Es ist ja schön, daß du zufrieden bist“, erwiderte sie. „Nun müssen wir nur noch Ditlef sagen, daß er ein dunkelbraunes Pferd besorgen soll, das zum Kostüm paßt.“ Ich würde wohl nie aus Tante Agnete klug werden. Heute war sie geradezu die Liebenswürdigkeit in Person. Zu Hause angekommen, holte ich ihren Madeira herbei, ich erbot mich, ihr aus dem Unterhaltungsteil der Zeitung vorzulesen, und ich wusch ihre weißen Waschlederhandschuhe. Und alles dies tat ich wirklich nur aus dem Bedürfnis, ihr eine Freude zu machen. Und da sie doch so gern Karten spielte, bat ich sie, ob sie mir ein Spiel zeigen könne, zu dem nicht mehr als zwei Personen gehörten, damit wir es zusammen spielen könnten. Bald darauf waren wir vertieft in die Geheimnisse der Zankpatience, und ich muß gestehen: ich fand es sehr amüsant. Wie nett und freundlich doch die Tante sein konnte, dachte ich, ohne mir dabei zu überlegen, daß sie es vielleicht deshalb war, weil ich mich selber netter und freundlicher gab.
Else Ein paar Wochen später klingelte das Telefon in Tante Agnetes Schlafzimmer, als ich gerade Nipp bürstete. So nahm ich den Anruf entgegen. Es war Direktor Lindeng. „Guten Tag, Fräulein Unni, wie steht’s? Ich rufe an, um zu berichten, daß meine Frau heute nacht ein Töchterchen bekommen hat. – Ja, danke, Mutter und Kind sind wohlauf. Ein großes, strammes Mädel, acht Pfund! – Ich soll schön grüßen von Else. – Wie bitte? – O ja, bitte!“ Die Tante hatte verstanden, um was es sich handelte, und kam selbst an den Apparat. Niemals, weder vor- noch hinterher, habe ich sie so redselig und so begeistert gesehen und so interessiert an etwas, das nicht direkt ihre Person anging. „Wie soll die Kleine denn heißen? Hanna? – Ach so, ja! Tante Hanna würde sich gewiß sehr darüber freuen, aber ich gebe zu, daß es kein besonders hübscher Name ist. – Und wenn ihr nun den Namen deiner Mutter nehmen würdet – oder vielleicht beide? Hanna-Elise klingt doch nicht schlecht. – Ja, natürlich komme ich hin, um Else zu begrüßen. – Ach nein, heute ist es wohl besser, wenn sie ihre Ruhe hat, aber morgen vielleicht? – Ja, Unni will ihr auch gern gratulieren. Also vielen Dank für den Anruf, Ditlefmann – was sagst du? – Ach so, ja, darüber kannst du mit Unni selbst sprechen.“ Sie reichte mir den Hörer. „Hallo, Fräulein Unni? Hören Sie, übermorgen kommen die Pferde. Sie wollen sie doch sicher so bald wie möglich sehen, nicht wahr? – Ja, das dachte ich mir. Also werde ich Sie übermorgen gegen zwölf Uhr abholen. Dann können Sie sich gleich das Pferd herauspicken, das Sie reiten wollen. – Oh, bitte sehr! Auf Wiedersehen Mittwoch um zwölf Uhr!“ „Ein lieber Junge, der Ditlefmann“, sagte die Tante, „nicht wahr, Unni?“ Ich nickte. „Er ist sehr liebenswürdig. Und er sieht so gut aus.“ Damit hatte ich nicht mehr gesagt, als ich meinte. „Er ist immer so rührend aufmerksam mir gegenüber“, fuhr die Tante fort. Das soll er wohl sein, dachte ich, wenn man von seiner Tante mit so leichter Hand das Geld für ein Unternehmen bekommt, an dem sie nicht das geringste persönliche Interesse haben kann.
„Und was für einen guten Geschmack er hat“, sagte ich. „Was meinst du damit?“ Die Tante blickte mich fragend an. „Ich denke an die reizende Frau, die er gewählt hat. Ich mag sie sehr gern.“ Tante Agnetes Mienenspiel war ein Studium wert. Es wechselte mehrmals, ehe sie murmelte: „Ja – hm – Else gehört ja nun nicht gerade in unsere Kreise.“ „Das mag schon sein. Aber er wird schon gewußt haben, was er tat, als er sie heiratete.“ Tante Agnete öffnete den Mund, um etwas zu sagen. Doch dann behielt sie es für sich und bat mich statt dessen, einen Blumenstrauß für Else zu besorgen. Auch ich ging vom Thema ab und erzählte, daß Herr Lindeng mich mitnehmen wolle, um die Pferde anzusehen. Die Tante strahlte vor Freude und Zustimmung. Am Mittwoch musterte sie mich, bevor ich abgeholt werden sollte. Das Wetter war inzwischen kalt geworden, und so hatte ich meinen Wintermantel angezogen. Kritisch betrachtete sie mich von oben bis unten. „Du müßtest wenigstens einen Pelzkragen darauf haben“, meinte sie. „Oder nein, warte mal!“ Sie klingelte nach Louise. „Louise, holen Sie meinen braunen Pelzmantel her – ja, den alten, dreiviertellangen!“ Kurze Zeit später war Louise mit einer großen Kleiderschutzhülle wieder da. „Probier ihn mal an!“ sagte die Tante. Ich schlüpfte in einen federleichten, weichen Pelzpaletot aus seidigen Fellen und warf einen Blick in den Spiegel. – Du lieber Himmel, er sah ja aus wie ein hypermoderner Hängemantel! Oh, wie elegant ich mir vorkam! „Den kannst du tragen“, sagte die Tante, „er sitzt nicht schlecht.“ „Tausend Dank, liebe Tante Agnete! Du willst wirklich so lieb sein und ihn mir heute leihen?“ „Leihen? Den kannst du behalten. Du brauchst ihn, und ich trage ihn nie.“ „Oh, Tante Agnete!“ Ehe ich noch selbst wußte, was ich tat, war ich ihr um den Hals gefallen und drückte sie stürmisch. „Ein Pelz! Ein richtiger Pelzmantel! Oh, Tantchen, du bist ja verrückt – oh, Verzeihung!“ „Na – kein Grund zur Aufregung. Schön, daß er dir paßt. Ich habe ihn mir vor vielen Jahren mal als Reisepelz machen lassen. Der
Schnitt ist jetzt gerade wieder modern.“ Ich kam mir unbeschreiblich vornehm vor, als ich die Treppe hinunterging und in Direktor Lindengs flotten Sportwagen stieg. Er war munter und guter Dinge und redete abwechselnd von seinem Töchterchen und von den Pferden. Die Pferde waren bildschön. Auch ein schneeweißes befand sich darunter. „Das ist für Frau Bogard“, sagte Lindeng, „nur für sie privat! Andere dürfen es nicht reiten. Aber diese fünf hier sollen für den Unterricht verwendet werden. Welches gefällt Ihnen am besten?“ Ich trat zu jedem einzelnen Pferd in die Box, klopfte und streichelte es. Am längsten verweilte ich bei einer dunkelbraunen, zierlich gebauten kleinen Stute. Sie sah mich mit großen, ein wenig furchtsamen Augen an, doch ihr feines, samtweiches Maul nahm zutraulich den Zucker aus meiner Hand. Ich mochte sie sofort gern leiden. „Dieses!“ sagte ich. „Mit diesem hier werde ich bestimmt gut Freund werden.“ „Sie haben einen guten Geschmack“, meinte Lindeng lachend. „Also gut, notieren wir, daß Fräulein Björk vorläufig die Stute Dyveke reitet. – Sagen Sie das Leutnant Thorne, Hansen!“ „Jawohl!“ sagte der Stalljunge Hansen und schrieb es auf. Nachdem wir uns von den Pferden verabschiedet hatten, gingen wir in eine Bar. Zum erstenmal in meinem Leben betrat ich ein solches Lokal, aber das wagte ich Lindeng nicht zu sagen. Obwohl es in meiner Heimatstadt Oslo viele Bars gibt, war ich noch nie in einer gewesen. Wir hatten ja viele Jahre lang außerhalb der Stadt gewohnt, und außerdem waren unsere Zerstreuungen anderer Art. „Was möchten Sie haben?“ fragte Lindeng. „Vielen Dank – ich weiß nicht recht… Bitte etwas, das nicht so stark ist.“ „Ich denke, dann bestellen wir für Sie ein ,Maidens Traum“‘, bestimmte Lindeng. „Sie sehen ohnehin so aus, als seien Sie aus den Mädchenträumen noch nicht ganz heraus“, fügte er mit seinem scharmantesten Beschützerlächeln hinzu. „Maidens Traum“ war etwas sehr Leckeres mit Schlagsahne darauf. Es schmeckte süß und frisch und nicht die Spur alkoholisch. Ich trank noch einen Cocktail und rauchte drei Zigaretten dazu. Das Rauchen gehörte auch zu den Dingen, die ich mir erst hier angewöhnt hatte, nicht weil ich das Bedürfnis danach hatte, sondern
nur weil es die anderen taten. Es hatte sich an den Donnerstagen wie von selbst ergeben, bei den ausgedehnten Kaffeeszenen und abends, wenn die anderen Karten spielten. Die Zigaretten standen überall herum, und irgend etwas wollen die Hände zu tun haben. Ich rauchte jetzt ziemlich regelmäßig, und nach und nach fand ich Geschmack daran. Direktor Lindeng war liebenswürdig und zu Scherzen aufgelegt, und wir tranken auf die glückliche Zukunft seines neugeborenen Töchterchens. Dann zog er einen Diamantring aus der Westentasche und zeigte ihn mir. „Wie gefällt er Ihnen?“ „Er ist prachtvoll!“ sagte ich. „Meine Frau bekam ihn zur Geburt von Klein-Ditlef. Damals war es nur ein Diamant. Seitdem ist bei jedem unserer Kinder einer hinzugekommen. Nun ist der Ring doch schön, mit dem großen Stein in der Mitte und je zwei kleinen Steinen an jeder Seite, nicht wahr?“ „O ja, er ist wunderschön!“ Ein Herr und eine junge Dame gingen vorbei und grüßten. Lindeng erhob sich und bot ihnen Plätze an unserem Tisch an. Dann stellte er vor: „Geschäftsführer Berger und seine Tochter Ellinor.“ Fräulein Ellinor sollte auch übermorgen nachmittag mit dem Reiten beginnen. Nach kaum zwei Minuten waren wir in Pferdegespräche vertieft. „Wir waren eben bei Leutnant Thorne und haben uns die Pferde angesehen“, berichtete Ellinor, „ich werde eine kleine Stute reiten – Dyveke heißt sie.“ „Ach?“ sagte ich und sah Lindeng fragend an. „Da kommen Sie zu spät, liebes Fräulein Ellinor“, erwiderte er lächelnd, „Dyveke ist bereits für Fräulein Björk reserviert.“ „Ja, aber – du, Papa, Thorne hat doch gesagt…“ Lindeng warf Herrn Berger blitzschnell einen scharfen Seitenblick zu. Das ganze dauerte nur den Bruchteil einer Sekunde, dann schien es mir, als schlüge Berger die Augen nieder. Er wandte sich seiner Tochter zu. „Ja, weißt du, mein Mädchen, wer zuerst kommt, mahlt zuerst. Und wenn Fräulein Björk schon die Zusicherung hat…“ Uff, die Sache begann unbehaglich zu werden! „Aber ich bitte Sie“, sagte ich, „wir können es doch beide reiten, nur eben nicht zur gleichen Zeit. Es werden außer uns noch viele kommen, die auch Dyveke reiten wollen. Wann wollen Sie denn
reiten, Fräulein Berger?“ „Jeden Tag zwischen fünf und sechs.“ Das war genau die gleiche Zeit, an die ich auch gedacht hatte, denn dann hielt Tante Agnete ihre Mittagsruhe und würde mich nicht vermissen. Fräulein Berger mußte doch meinen Namen auf der Anschlagstafel im Stall gelesen haben? – Nun, ich wollte keine Scherereien machen. „Ich kann ebensogut morgens zwischen neun und zehn reiten. Damit wäre alles all right, nicht wahr?“ So waren wir uns einig. Es wurden noch ein paar gleichgültige Worte gewechselt, die Herren sprachen von Geschäften, und bald darauf verabschiedeten sich Berger und Fräulein Ellinor von uns. Ihr Rücken war steif und abweisend, als sie verschwand. „Ein kleiner Satan von einem Mädel!“ murmelte Lindeng. Er beugte sich mir vertraulich entgegen. „Dieser Berger hat mir mal einen bösen Streich gespielt. Wir steckten damals in einem gemeinsamen Unternehmen. Ich hätte ihm den Hals brechen können, aber – na ja, ich ließ Gnade vor Recht ergehen. Verstehen Sie mich nicht falsch, Fräulein Unni! Ich habe die ganze Angelegenheit natürlich längst vergessen.“ Na, aber ab und zu scheinst du doch noch mal Gebrauch davon zu machen, du Lurifax! dachte ich. „Nun ist er ja wirtschaftlich wieder auf den grünen Zweig gekommen – Gott sei Dank“, fuhr Lindeng fort, aber sein Tonfall paßte keineswegs zu dem, was er sagte. „Und er verhätschelt seine Tochter über alle Maßen. Nun ja, man merkt es ihr auch an! – Nein, wie die Zeit vergeht! Kommen Sie zum Essen mit zu uns und begrüßen Sie meine vier – oder vielmehr fünf, meine ich?“ Daß ich ja dazu sagte, geschah nur, weil ich Else gern besuchen wollte. Ein Luxusheim kannte ich nun, das von Tante Agnete, und es interessierte mich, noch eines kennenzulernen. Das Haus von Direktor Lindeng war völlig anders als das der Tante, viel moderner, mit großen Fenstern, die sich um die Hausecken zogen, mit einem flachen Balkendach und einem riesigen Kachelofen im Rauchzimmer. Die Eingangshalle war mit allerlei Waffen geschmückt, mit Degen und den dazugehörigen Fechtmasken, mit Gewehren und Pistolen. Auch zwei große, ausgestopfte Elchköpfe hingen dort. Es gab einen großen Wohnraum mit einem Flügel und bequemen Sesseln am Kamin und einen
kleineren mit rohen Ziegelwänden und originellen Teakholzmöbeln. Doch irgend etwas vermißte ich, und endlich fand ich auch heraus, was es war: Nirgends im ganzen Hause gab es auch nur die geringste Spur von der Anwesenheit einer Frau. Hier lagen ein paar Pfeifen in einem Aschenbecher, dort auf dem Tisch ein paar Wirtschafts-Fachblätter, daneben standen eine Zigarrenkiste und ein Feuerzeug – aber kein Nähkasten, kein Strick- oder Stopfkorb, keine rasch aus der Hand gelegte und vergessene Handarbeit, keine Frauenzeitschrift. Ja, das hatte ich schon gefühlt, daß hier etwas nicht stimmte! Lindeng läutete nach dem Stubenmädchen. „Decken Sie für einen mehr – oder nein, warten Sie – für zwei! Klein-Ditlef kann mit uns hier unten essen. Wie geht es der gnädigen Frau?“ „Schwester Henny war gerade zum Essen unten. Sie sagte, die gnädige Frau schliefe jetzt.“ „Gut, dann wollen wir bis nach dem Essen warten, ehe wir zu ihr hinaufgehen. Sagen Sie Schwester Dora, sie solle Klein-Ditlef hinunterschicken!“ Er sah aus wie ein kleiner Feldherr, der seine Tagesbefehle ausgibt. Klein-Ditlef erschien, ein ungewöhnlich hübscher Junge von acht Jahren und aufgemacht wie „Little Lord Fauntleroy“. Er gab mir die Hand und verbeugte sich. Als wir zu Tisch gingen, zog er den Stuhl für mich zurecht, er antwortete, wenn er gefragt wurde, sonst sagte er kein Wort, er aß manierlich wie ein kleiner Gentleman – einen so wohlerzogenen Jungen hatte ich noch nie gesehen. Kurzum, er war so, wie Tanten und Großeltern meinen, daß Kinder sein müßten – aber nicht sind. Aber in Blick und Manieren hatte er viel Ähnlichkeit mit seinem Vater. Allmählich verstärkte sich bei mir der Eindruck immer mehr, daß sich dieser Junge einmal zu einem Tyrann entwickeln werde.
Nach der Mahlzeit gingen wir hinauf. Ich begrüßte die kleine Agnete und die Zwillinge, die sich mit ihrer Pflegerin in zwei geräumigen Kinderzimmern aufhielten. Dann besuchten wir Else. Sie lag nicht in dem großen Eheschlafzimmer, das sah ich nur im Vorübergehen. Es war ein riesiger, sonnenerfüllter Raum mit einer breiten Veranda davor und dem Blick auf den See. Else lag im Gästezimmer. Selbstverständlich war auch das hübsch, hell und sauber, aber… Der Ehemann küßte sie auf die Wange und überreichte ihr die traditionelle Quittung für das Kind: den neuen Diamanten im Ring. Das Baby war ein niedliches kleines Ding mit heller, glatter Haut und dichtem, dunklem Haar. Ich gratulierte herzlich. Lindeng wurde ans Telefon gerufen, und so blieben Else und ich allein. Sie nickte mir mit ihrem guten, ehrlichen Lächeln zu. „Lieb von dir, daß du gekommen bist, setz dich her! – Oh, Verzeihung!“ Sie errötete in hilfloser Verlegenheit. „Ich dachte gar nicht daran – ich sage einfach du…“ „Aber, liebe Else, bitte, tu es weiter!“ bat ich. „Ich möchte mich so gern mit dir duzen. Ich habe doch noch gar keine Freundin hier. Ich mußte soviel an dich denken. Bist du nicht überglücklich, daß du ein so süßes kleines Mädelchen bekommen hast? Ich finde, es ist fast zu niedlich, um Hanna zu heißen.“
Elses Kopf fuhr auf dem Kissen herum. „Wer hat gesagt, daß es so heißen soll?“ Ich wurde verwirrt. „Dein Mann, soviel ich verstanden habe. Er und Tante Agnete sprachen davon, daß es entweder Hanna oder Hanna-Elise genannt werden solle. Aber ich habe das vielleicht mißverstanden.“ Elses Augen waren außergewöhnlich blank, und ihr Mund zitterte. „Ach nein, du hast es nicht mißverstanden“, flüsterte sie. Lindeng kam zurück, strahlend, selbstsicher und fröhlich – ein krasser Gegensatz zu seiner kleinen Frau mit ihren zitternden Lippen und den feucht glänzenden Augen. „Ich muß rasch mal in die Stadt fahren, aber zum Kaffee bin ich wieder zu Hause. Sie bleiben doch wohl bei uns, Fräulein Unni? Ich werde Tante Agnete anrufen und ihr sagen, daß wir Sie heute hierbehalten möchten. – Bis nachher also – auf Wiedersehen!“ Else und ich schwiegen, bis wir die Gartentür ins Schloß fallen hörten. Else lag unbeweglich auf dem Rücken. Unter den geschlossenen Augenlidern perlten Tränen hervor. Endlich versiegten sie, und Else begann zu sprechen, leise und zögernd. „Unni, es ist besser, daß ich es erzähle, du wirst es doch von den anderen erfahren. Du hast schon längst bemerkt, daß da etwas nicht stimmt. Und ich habe niemand anderen, mit dem ich mich aussprechen könnte, außer Tante Hanna vielleicht. – Es war – weißt du – , es war – wegen des kleinen Ditlef, daß ich geheiratet wurde. Ich war Krankenschwester und pflegte monatelang Ditlefs Mutter. Er war zu Besuch bei ihr, und da – und da – Ditlef war doch so schön und so scharmant – du verstehst, was ich meine, ja? Ditlef erzählte seiner Familie, wie die Sache zusammenhing, und so fanden Tante Agnete, Onkel Toralf und alle anderen, daß er ein Ehrenmann sei, weil er mich heiratete, anstatt sich zurückzuziehen und nur den Unterhalt für das Kind zu bezahlen.“ Else unterbrach sich und schluckte. Ich drückte ihre Hand, und sie lächelte ein wenig, ehe sie fortfuhr: „Niemand hat einen Hehl daraus gemacht, daß ich nur Ditlef zuliebe in ihrer Mitte geduldet wurde. Ich war ja nicht fein genug. Mein Vater war nur kaufmännischer Angestellter. Wenn du wüßtest, wie oft ich zu hören bekommen habe, daß ich dankbar zu sein hätte, daß nicht alle so gehandelt haben würden wie Ditlef, und daß er jede, die er wollte, hätte haben können. Ich taugte ja nichts. Ich war weder in Paris gewesen, noch konnte ich Bridge spielen. Ich konnte kein
Menü für eine Gesellschaft zusammenstellen – kurzum, ich konnte nichts von dem, was ich können mußte. Wenn Ditlef seine ausländischen Geschäftsfreunde hier hat, bin ich stumm wie ein Fisch. Einmal habe ich versucht, die liebenswürdige Gastgeberin zu sein und mit meinen Sprachkenntnissen aus der Mittelschule Konversation zu machen. Aber nachher sagte Ditlef, ich solle das sein lassen, ich blamierte mich nur. Ich bin eben zu nichts zu gebrauchen – außer zum Kinderkriegen. Nur dazu hat er Verwendung für mich.“ Auf Elses Wangen hatten sich rote Flecken gebildet. Sie richtete sich auf einen Ellbogen auf. „Und die Kinder nimmt er mir fort. Er gibt ihnen die Namen seiner Onkel und Tanten, er erzieht sie selbst – nein, er erzieht sie nicht, er dressiert sie. Wenn er da ist, sind sie die reinen Musterexemplare, aber mir gegenüber sind Klein-Ditlef und Agnete naseweis und unartig, und zum Hauspersonal sind sie unverschämt. Doch davon weiß Ditlef nichts. Die Zwillinge sind ja so klein, daß sie mich vorläufig noch brauchen, aber lange dauert das auch nicht mehr. Und nun – nun soll es mit der Kleinen genauso gehen. Es beginnt wie immer damit, daß sie nach einer von Ditlefs Tanten benannt werden oder nach seiner Mutter. Als Agnete geboren wurde, hatte ich mir so gewünscht, sie nach meiner Mutter ,Wencke’ zu nennen. Aber Ditlef hörte mir gar nicht erst zu, er bestimmte den Namen Agnete. – Ja, das war gewiß vernünftig, Tante Agnete stiftete als Taufgeschenk ein dickes Bankkonto, und sie wird das Kind sicher auch mit einem ansehnlichen Anteil in ihrem Testament bedenken…“ Else legte sich wieder zurück und schwieg. Ihre Augen standen voller Tränen, während sie den Diamantring betrachtete. „Wenn du wüßtest, wie ich diesen Ring hasse!“ Ihre Stimme war mit einem Male ganz verändert, heiser von Bitterkeit und ohnmächtiger Wut. Ich konnte kein Wort herausbringen. Schweigend streichelte ich ihre Hand. Ihre Stimme war ruhiger, als sie weitersprach, beinahe gleichgültig. „Aber es ist bestimmt klug, sie Hanna zu nennen. Tante Hanna hat auch viel Geld.“ Nun hatte ich die Sprache wiedergefunden: „Ja, aber, Else, Tante Hanna ist ein so herzensguter Mensch, daß
sie sich bestimmt mit dir freuen würde, wenn die Kleine nach deiner Mutter genannt würde. Und es würde gewiß ihr Taufgeschenk oder ihr Testament nicht im mindesten beeinträchtigen.“ „Das glaube ich auch nicht. Im übrigen sind mir alle Taufgeschenke und Testamente völlig gleichgültig. Ditlef ist reich genug, um für jedes seiner Kinder Bankkonten anzulegen. Aber wir haben eben verschiedene Ansichten – ständig!“ Herrgott, wie entsetzlich leid sie mir tat! Etwas in dieser Richtung hatte ich mir schon gedacht. Oh, hätte ich doch Mutti hier – oder Nora – irgend jemanden, den ich um Rat fragen könnte! Else wandte mir den Kopf zu. „Unni, du darfst keinem einzigen Menschen erzählen, daß ich so mit dir gesprochen habe, hörst du? Ich habe mich bisher noch niemals beklagt, nicht einmal gegenüber Tante Hanna. Versprich es mir, Unni!“ „Auf Ehrenwort!“ versicherte ich. „Ich bin froh, daß du es mir erzählt hast, Else, daß du mir Vertrauen schenkst. Ich weiß nicht, ob ich dir irgendwann einmal einen Rat oder eine Hilfe geben kann. Aber wenn es für dich eine Hilfe bedeutet, dich auszusprechen, so will ich dir immer gern zuhören.“ „Wahrscheinlich hätte ich auch jetzt nichts gesagt, wenn ich nicht ein bißchen müde und abgespannt wäre“, meinte Else und lächelte mir wie um Entschuldigung bittend zu. „O weh, du Arme! Ich denke aber auch an gar nichts!“ sagte ich erschrocken. „Wie fühlst du dich denn? War es eine schwere Geburt?“ „Ach nein – nur vier Stunden hat es gedauert, und es ist ja auch schon zwei Tage her. Ich fühle mich so wohl, daß ich meine, ich könnte morgen aufstehen.“ „Du, Else, war denn niemand aus der Familie von Anfang an nett zu dir? Kam dir niemand freundlich entgegen?“ „Doch, Tante Hanna! Aber weißt du, sie ist so – so – ich meine, sie ist sehr sittenstreng. Sie ist sehr freundlich zu mir, aber es ist eben diese Art von Freundlichkeit, wie sie die Damen der Heilsarmee den Mädchen entgegenbringen, die sie von der Straße retten wollen. Sie versteht wohl, daß ich es schwer habe, aber sie meint, glaube ich, daß es meine Pflicht sei, dies zu ertragen, als Strafe des Herrgotts für das, was ich getan habe. Niemand denkt daran, daß vielleicht auch Ditlef etwas zu büßen hätte – wenn wir erst darüber sprechen sollen…“ Else atmete aus. Es war, als stieße sie alles Schmerzliche von
sich. „Weißt du, es war eigentlich doch gut, sich mal alles vom Herzen zu reden. – Oh, Unni, verzeih, ich habe ja ganz vergessen, dir etwas anzubieten. Steht da nicht eine Schachtel auf dem Nachttisch? – Bitte, bediene dich, wenn du magst!“ Es war eine Konfektschachtel von einem Format, daß ich nach Luft schnappen mußte. Und ob ich mochte! „Ditlef brachte sie vorgestern mit“, erklärte Else. „Konfekt und ein Diamant gehören dazu, wenn ich Kinder bekomme.“ Wieder diese ruhige, ironisch-gleichgültige Stimme… „Du, steht da nicht auch eine Flasche Kölnisch Wasser auf dem Toilettentisch? Nein? Uff, ich weiß nicht, wo ich meine Sachen habe. Dann muß sie wohl im Schlafzimmer stehen.“ Else läutete nach der Pflegerin und bat, ihr die Flasche zu bringen. „Warum, in aller Welt, bist du denn aus dem Schlafzimmer ausgezogen?“ fragte ich, als Schwester Henny gegangen war. Else lachte. „Das fragst du noch? Einer von uns mußte doch ausziehen, und da war es klar, daß ich das zu sein hatte. Ich habe alle meine Kinder in diesem Zimmer zur Welt gebracht. Es ist sozusagen die Geburtsstube des Hauses. Ditlef kann nur in dem Zimmer schlafen, an das er gewöhnt ist.“ „Macht es dir denn nichts aus?“ „Danach hat noch keiner gefragt“, antwortete Else trocken. Die Pflegerin kam und richtete aus, der Herr Direktor ließe grüßen und fragen, ob das gnädige Fräulein hinunterkommen und mit ihm Kaffee trinken wolle. „Du kommst nachher noch mal herauf und sagst mir auf Wiedersehen, ja?“ fragte Else und drückte meine Hand. „Ja, selbstverständlich!“ Langsam ging ich die Treppe hinab. Ich hatte mir in den Kopf gesetzt, wie ein Löwe darum zu kämpfen, daß das kleine Mädchen den Namen von Elses Mutter bekommen würde. Aber wie mußte man die Sache anfassen? Was würde Nora an meiner Stelle tun? Als ich die unterste Stufe erreicht hatte, kam mir eine Idee: Ein Mann wie Lindeng war Vernunftgründen nicht zugänglich. Es nützte auch nichts, an sein Herz oder seine Rücksichtnahme zu appellieren. Aber jeder eitle Mann hat einen wunden Punkt: Er hat Angst vor der Lächerlichkeit, Angst davor, komisch zu wirken. Als ich das Rauchzimmer betrat, hatte ich meinen Schlachtplan
fertig. Ganz entgegen meinen sonstigen Grundsätzen wollte ich diesmal die verwundbare Stelle eines Menschen ausnutzen. Ich wollte lügen, erfinden, intrigieren. Aber wenn es einmal galt, daß der Zweck die Mittel heiligte, so war es hier. Mit zwei Glas Likör trank ich mir erst einmal Mut an. Als ich mir die zweite Zigarette anzündete und Herr Direktor Lindeng eben die zwölfte Schmeichelei von sich gegeben hatte – sie galt meinen „aristokratischen Händen“ – , sagte ich so leichthin wie möglich: „Soll das Kind wirklich Hanna heißen?“ „Ja, ich dachte.“ Ich tat, als müsse ich ein Lächeln unterdrücken. Glücklicherweise bemerkte er es. „Warum lachen Sie?“ Dem Tonfall seiner Stimme war zu entnehmen, daß er sich unangenehm berührt fühlte. „Oh, Verzeihung! Habe ich gelacht?“ „Zumindest gelächelt.“ „Ach – da fiel mir nur gerade etwas ein.“ „A penny for your thoughts!“ Ich tat, als ob ich zögerte. „Vielleicht kann ich es Ihnen sagen… Aber nein, ich kenne Sie doch noch nicht gut genug dazu, darum…“ „Aber ich bitte Sie, meine Liebe, sind wir denn nicht Freunde?“ „Ja, natürlich, aber…“ „Nun hören Sie auf, sich zu drehen und zu wenden, und sagen Sie mir, worüber Sie gelächelt haben.“ „Nein, nein, es war nur, weil – weil – jemand gestern gesagt hat, daß… Nein, ich will nicht klatschen. Es war dumm von mir, davon überhaupt anzufangen.“ Bei dem lieben Ditlefmann zeigte sich eine winzig kleine Falte zwischen den Brauen. Er beugte sich vor. „Hören Sie mal, kleines Fräulein Unni! Es ist so selten, daß man erfährt, was die Leute über einen sagen. Die wenigsten haben den Mut, einem etwas Unangenehmes ins Gesicht zu sagen. Jetzt bitte ich Sie darum, es auszusprechen. Es kann vielleicht sehr nützlich für mich sein. Also – was hat dieser Jemand gesagt?“ „Ja, wenn Sie es absolut wissen wollen… Ich hörte, wie gesagt wurde: ,So, Lindengs haben wieder ein Kind bekommen. Ich bin ja gespannt, von welcher seiner reichen Verwandten es den Namen kriegen wird.’ Und der Betreffende lächelte ziemlich – ziemlich – äh – boshaft.“
Ich hielt die Luft an. Wenn das gutging, würde alles gutgehen. Lindeng stand mit einem Ruck auf. Er lief eine Zeitlang im Zimmer auf und ab, dann blieb er vor mir stehen. „Wer hat das gesagt?“ „Das weiß ich nicht. Ich hörte es in einem Geschäft.“ „Ach so!“ Er schwieg eine Weile. „Sind Sie mir nun böse?“ fragte ich. „Aber Sie wollten es doch wissen.“ „Böse? Ihnen? Selbstverständlich nicht! Sie haben mir im Gegenteil einen Dienst damit erwiesen, daß Sie es mir gesagt haben. So also reden die Leute! Oh, ich danke Ihnen, daß Sie mich darüber aufgeklärt haben.“ Lindeng trank seinen Kaffee aus und lächelte. „Wollen wir nun zu Else hinaufgehen?“ Wir gingen hinauf. Else hatte das Baby zu sich ins Bett genommen und streichelte über sein Köpfchen. „Na, ihr habt es ja gut, ihr beiden!“ lächelte Ditlef. Else blickte zu ihm auf. „Ist es nicht süß, Ditlef? Ich überlege mir gerade, wie wir es nennen sollen.“ „Darüber sprechen wir noch“, sagte Lindeng. „Wir brauchen uns im Augenblick ja noch nicht zu entscheiden.“ Gegen Abend kam ich heim. Tante Agnete war in bester Laune. Ich mußte ausführlich erzählen, was ich erlebt hatte, was es bei Lindengs zu Mittag gab und was ich von dem Neugeborenen hielt. Ich berichtete lang und breit, trug meine Begeisterung dick auf und schloß mit einer Lobrede auf Klein-Agnete. Tante Agnete war weich wie Butter. Nun galt es, das Eisen zu schmieden, solange es glühte. „Du, Tante Agnete, ich glaube, du könntest deinem Neffen einen großen Dienst erweisen.“ „Ja, wirklich? Womit denn?“ „Ja, weißt du, als wir so zusammensaßen, haben wir darüber gesprochen, wie das Kind wohl heißen soll. Dabei hatte ich den Eindruck, als wollte er Else gern eine Freude machen und ihm den Namen ihrer Mutter geben. Aber er möchte wohl seine eigene Familie nicht vor den Kopf stoßen. Da ich nun weiß, wie gern du ihm eine Freude machst, habe ich mir überlegt, daß du ihm seinen Entschluß erleichtern kannst, indem du von dir aus vorschlägst, das Kind Wencke zu nennen.“ Zuerst blickte Tante Agnete etwas mißmutig drein, und so beeilte ich mich, hinzuzufügen: „Du weißt ja, Tante Agnete, wenn zwei so raffinierte Frauen wie
du und ich sich zusammentun, dann erreichen sie alles. Ich glaube, er würde sich sehr freuen, wenn dieser Vorschlag von dir käme.“ „Dieser Ditlefmann!“ murmelte Tante Agnete. „Immer denkt er nur daran, anderen eine Freude zu machen.“ Ein paar Tage später begleitete ich Tante Agnete zu einem Nachmittagsbesuch bei Lindengs. Nach dem Kaffee saß ich eine Weile bei Else. Dann kamen Tante Agnete und ihr lieber Ditlefmann herauf. Lindeng beugte sich über seine Frau – ganz und gar der zärtliche Ehemann. Er hatte ja Publikum. „Na, Elslein, wie geht es euch denn – dir und Klein-Wencke?“ Else richtete sich halb auf. Mit weitoffenen Augen starrte sie ihren Mann an. „Was sagst du da, Ditlef? Klein…“ „Wencke – nach deiner Mutter. Tante Agnete und ich haben gerade darüber gesprochen, und wir dachten, du wärest einverstanden.“ Mit einem Aufschluchzen warf Else ihrem Mann die Arme um den Hals. „Ach, Ditlef, tausend Dank! Wie lieb du bist!“ Hatte ich geglaubt, er werde nun verlegen sein, so hatte ich mich schwer getäuscht. Es bestand gar kein Zweifel, daß er sich selbst ungeheuer lieb fand. Ich warf einen heimlichen Seitenblick zu Tante Agnete und stutzte. Mit der linken Hand führte sie das Taschentuch an die Augen, und mit der rechten tastete sie nach Elses Hand. Ich glaube, daß der Druck, den die beiden Hände sich in diesem Augenblick gaben, die Einleitung zu einem neuen und helleren Abschnitt in Elses Leben bedeutete. Von etwas war ich überzeugt: Daß alle höheren Mächte mir meine Intrigen und mein Ränkespiel vergeben hätten.
In den Kreis aufgenommen Die Wochen vergingen. Ich ritt jeden Morgen, ich fuhr jeden Vormittag mit dem Auto, und ich begleitete Tante Agnete zu Cocktailpartys, zu Damenkränzchen und Besuchen. Ich las abends vor, ich pflegte Nipp, und ich spielte Bridge – ja, nicht nur das, ich spielte es sogar ganz gut. Jedenfalls behaupteten das die anderen. Gesellschafterin zu sein, war doch ein leichterer Beruf, als ich gedacht hatte. Nora hatte recht, Tante Agnete brauchte mich, und zwar nicht nur als Objekt, zu dem sie nett sein konnte – nett auf ihre eigentümliche, manchmal beinahe unfreundliche Art – , sondern sie brauchte mich oft, um ihren Ärger und ihre schlechte Laune an mir auszulassen. Aber daran hatte ich mich gewöhnt. Ich machte es so wie der Chauffeur und die Hausmädchen: ich ließ es zum einen Ohr hineinund zum anderen hinausgehen und bezog mein Gehalt für meine Eigenschaft als Blitzableiter. Doch eines Tages wurde Tante Agnete so böse, daß ich glaubte, nun sei alles aus. Sie sah aus, als wollte sie im nächsten Augenblick explodieren. Es begann damit, daß ich in aller Harmlosigkeit von den Reitstunden erzählte. Ich war eben heimgekommen und saß, noch im Reitanzug, im Zimmer von Tante Agnete und trank eine Tasse Kaffee, während sie sich vor dem Toilettentisch das Haar machte und die Nägel lackierte. „Du kannst dir einfach nicht vorstellen, Tante Agnete, was für ein bezauberndes Pferd Dyveke ist. Manchmal könnte man glauben, sie habe Menschenverstand. Wir sind so gute Freunde, daß ich bei ihr weder Peitsche noch Sporen brauche. Sie begreift alles sofort. Leutnant Thorne sagt, Dyveke und ich seien füreinander geschaffen. Und denk mal, Tante Agnete, heute bin ich zum erstenmal gesprungen. Das hätte ich auf einem anderen Pferd nie im Leben gewagt.“ So schwatzte und erzählte ich, und Tante Agnete lächelte und war in bester Laune. „Ich möchte dich reiten sehen“, sagte sie und wandte sich zu mir um. „Veranlasse, daß die Stunden auf eine spätere Zeit verlegt werden. Du kannst ja nachmittags reiten.“ „Jaaa“, sagte ich gedehnt. „Weißt du, Tante Agnete, ursprünglich
hatte ich sowieso vorgehabt, täglich zwischen fünf und sechs Uhr zu reiten, und es war auch so bestellt. Aber um diese Zeit wollte Fräulein Berger so gerne reiten, und sie will^bsolut kein anderes Pferd als Dyveke. Darum…“ Da geschah es. Tante Agnete wurde kupferrot im Gesicht. „Berger? Du willst doch damit nicht etwa sagen, daß meine Nichte vor Ellinor Berger den Platz räumt?“ „Gott, ja, eine von uns mußte doch schließlich…“ „Du reitest ab morgen um fünf Uhr! Und du reitest das Pferd, das du wünschst!“ „Ja, aber, liebe Tante, das wird doch dumm für Fräulein Berger, wenn ich…“ „Die Tochter vom Geschäftsführer Berger hat sich nicht vor meine Nichte zu drängen. Dein Verhalten ist mir völlig unbegreiflich, Unni. Nach allem, was ich für dich getan habe, gehst du hin und demütigst dich vor Ellinor Berger? Denkst du denn nicht einen Augenblick daran, was Berger Ditlef angetan hat – und deinem Onkel, meinem lieben Franz? Hast du es nötig, dich klein und bescheiden zu geben vor einem Mann, der – einem Mann, der…“ Die Stimme versagte, und Tante Agnete schnappte nach Luft. „Aber, Tante Agnete, ich ahnte ja gar nicht, was…“ „Hat dir Ditlef nichts über Berger erzählt?“ „Er hat wohl mal etwas angedeutet, aber ich weiß nicht…“ „Na, siehst du! Selbstverständlich hat er die Sache erwähnt. Und dann gehst du hin und gibst dem Mädchen den Vortritt! Du läßt sie über dich triumphieren! über meine Nichte! über Franz’ Nichte! – Du reitest um fünf Uhr, und zwar ab morgen!“ „Aber, liebe Tante, könntest du nicht…“ Ich wollte sagen: ,… mal erzählen, was Berger eigentlich getan hat’, doch soweit kam ich gar nicht. „O ja, ich weiß, was ich kann! Geh ans Telefon und wähle Ditlefs Nummer!“ Ich tat, was sie verlangte, und die Tante nahm mir den Hörer ab: „Ditlef, ich muß mit dir sprechen! – Was? Zuviel zu tun? Ach was, eine halbe Stunde wirst du für deine alte Tante schon übrig haben. – Ja, es ist wichtig. Ich muß mit dir so schnell wie irgend möglich darüber sprechen. – Danke, Ditlefmann, ich wußte, daß du kommen würdest.“ Eine Dreiviertelstunde später war er da. Was die Tante und der „liebe Ditlefmann“ sagten, weiß ich nicht, denn sie verhandelten im
kleinen Zimmer hinter verschlossener Tür miteinander. Nur ab und zu hörte ich die Stimme der Tante, wenn sie scharf in den höchsten Diskant hinaufging. Endlich wurde sie ruhiger. Ditlefmann ging. Er sah sehr nachdenklich aus. Am Nachmittag kam ein Anruf für Fräulein Björk, und zwar vom Reitklub. Man fragte an, ob das gnädige Fräulein ab morgen um fünf Uhr reiten könne. – Ja, Dyveke sei frei. Ja, danke, ich konnte. Welcher Art die Intrigen waren, in deren Mittelpunkt ich – wenn auch völlig unschuldig – stand, das weiß ich nicht. Ich begriff lediglich, daß die Welt der Geschäftsleute eine Welt für sich ist, in der Feindschaften eigentümliche Formen annehmen können: Man trifft sich auf Partys oder im Café, man duzt sich und tut, als sei man herzlich miteinander befreundet, aber unter diesem Deckmantel verbirgt sich ein kleinlicher Haß. – Merkwürdige Menschen! Was Mutti und Vati wohl dazu sagen würden, wenn sie wüßten, welche Probleme mein Dasein ausfüllten? Reiten, neue Kleider, Gesellschaften, Bridge, Autofahren, Skandälchen und Klatsch, dann und wann ein wenig Kunstgenuß, eine Premiere mit Abendessen hinterher… Aber es gefiel mir. Ich hatte mich ausgezeichnet hineingefunden. Erst jetzt, lange Zeit danach, und nachdem ich Abstand von dieser Zeit gewonnen habe, schüttele ich den Kopf über mich selbst.
* Wir waren zu acht, die nachmittags zwischen fünf und sechs Uhr ritten. Der Klub hatte inzwischen weitere Pferde hinzubekommen, denn ständig meldeten sich neue Schüler an. Wir hatten viel Spaß. Ich war in der gleichen Gruppe wie Frau Bogard. Sie unternahm oft allein weite Geländeritte, dazwischen aber nahm sie auch gern hin und wieder am Unterricht teil. Sie sah auf dem herrlichen Schimmel bildschön aus. Jedesmal, wenn ich sie sah, fiel mir ein Zitat eines dänischen Dichters ein: „Königlich reitet sie auf dem prachtvollen Tier. Demütig unter der Bürde beugt es den herrlichen Hals.“ Mit der Zeit lernte ich auch die anderen näher kennen. Da waren der junge Schiffsreeder Rawen und seine noch jüngere Frau, die Leutnants Steen und Dankertsen, der Kaufmann Brender und schließlich Lilli Brahmer, eine Nichte von Onkel Toralf – alles
junge, muntere Menschen. Wir hatten uns bald einen Jargon zugelegt, der auf Nichteingeweihte wahrscheinlich idiotisch wirkte. Aber das tut wohl jeder Jargon.
Manchmal kam Tante Agnete, um zuzusehen. Umschichtig hatten wir einen Nachmittag Unterricht, und den anderen übten wir Quadrille. Hin und wieder machten wir auch lange Ausritte ins Gelände. – Oh, wir hatten es herrlich! Und die kleine Dyveke ritt sich so wunderbar. „Ist sie nicht bezaubernd, Tante Agnete?“ fragte ich und hielt an der Barriere, damit die Tante das Pferd genau betrachten konnte. „Ja, ein sehr schönes Pferd!“ bestätigte Tante Agnete. Sie war heute in besonders strahlender Laune. „Wenn ich dir doch sagen könnte, wie dankbar ich dir bin“, sagte ich, und es kam mir wirklich von Herzen. Dann ließ ich Dyveke angaloppieren und kehrte zu den anderen Reitern zurück. Es geschah oft, daß sich unsere Gruppe auch abends traf, entweder im Café oder zu Hause bei einem von uns. Im Café Grand hatten wir einen Stammtisch, und da wir als zahlungskräftige Gäste
angesehen wurden, dienerte man uns immer gleich in unsere Ecke, sobald wir auftauchten. Anfangs wurde mir ganz schwindelig bei dem Gedanken, daß wir dabei an ein paar Abenden fast soviel Geld ausgaben, wie Vati an Monatsgehalt bekam. Was hätten wir alles bekommen können von dem Geld, das die Klubmitglieder bei unseren Zusammenkünften mit leichter Hand ausgaben: Für Mutti einen neuen Wintermantel mit Pelzkragen, für Esther ein Paar Kunstlaufschlittschuhe, für Tor Slalomski und für Vati – ach, der gute, liebe Vati – , er hätte sich davon mal ein paar Monate Urlaub nehmen können, um endlich das große Werk über Ibsen zu Ende zu schreiben, das nie fertig wurde. Nun, ich fand mich darein. An Bequemlichkeiten gewöhnt man sich schnell. Jeden Morgen, wenn ich erwachte, hatte ich etwas, worauf ich mich freuen konnte. Einmal war es ein Teebesuch bei Tante Antoinette, zu dem auch Lilli und noch einige andere aus unserer „Bande“ kamen. Ein andermal wollten wir nach Sommerlund hinausreiten. Dann gab es eine „Hippologische Party“ – wie es in der Einladung stand – bei Rawens. Und heute sollten wir zu Bogards kommen – richtiger gesagt, zu Frau Bogard. Von dem Doktor sahen und hörten wir nicht viel. Manchmal machte er bei Tante Agnete seine Arztvisite, hörte sich ihre Klagen an, schrieb ein Rezept aus, zeigte sein unentwegtes Lächeln und ging. Ich war gespannt auf diesen Abend. Ich wollte gern Doktor Bogards Heim kennenlernen. Den Abend, an dem ich ihn Bach spielen hörte, hatte ich nicht vergessen. Er interessierte mich. Seine Frau empfing uns in einem engen, schwarzen, golddurchwirkten Brokatkleid, die Füße mit rotlackierten Nägeln steckten in hochhackigen, goldenen Sandaletten. Verrückt – aber schick! Wir aßen an der polierten Tischplatte, auf der nur kleine, farbige Decken lagen, wir tranken Kaffee aus henkellosen Messingbechern – dicken, schwarzen, türkischen Kaffee mit viel Zucker. Wir bekamen Wein aus verstaubten Flaschen und merkwürdige Gerichte, von denen ich nicht den Namen wußte, geschweige denn erraten konnte, woraus sie zusammengesetzt waren. Aber es schmeckte alles wunderbar, und der Wein versetzte uns in eine herrlich beschwingte Stimmung. Inzwischen war ich trainiert im Weintrinken. Ich bekam keinen
Brummschädel mehr von ein paar Gläsern Weißwein oder Burgunder und einem Sherry hinterher. An diesem Abend trank ich mich tapfer durch eine ganze Reihe verschiedener Weinsorten, darunter auch Tokayer, den ich noch nie zuvor probiert hatte. „Heute geht’s in Serpentinen nach Hause“, meinte Lilli lachend, während sie ihr zweites Glas leerte. „Immer auf dem Huf schlag an der Hauswand entlang, und leichten Schenkeldruck!“ schlug Dankertsen vor. „Wer läßt mal die Zigaretten eine Volte über den Tisch machen?“ rief Frau Rawen herüber. Steen streckte die Beine weit von sich, drehte den Kopf zu mir um und lachte mich an. „Amüsierst du dich, Unni?“ „Prächtig!“ lachte ich zurück. „Und du?“ „Auch! Komm, tanzen wir!“ Vera hatte den Plattenspieler in Bewegung gesetzt. Wir tanzten in dem großen, halbdunklen Speisezimmer, wo man den Tisch beiseite gestellt hatte. „Du tanzt gut, Unni. Da steckt Rhythmus in dir, genau wie beim Reiten.“ Und Roar Steen drückte mich ein klein wenig fester an sich. Weiter wurde nichts gesprochen. Wir tanzten nur. Er war genau passend größer als ich, und auch er hatte Rhythmus. Die gedämpfte Beleuchtung war wie eine weiche Umhüllung, der Tokayer war so süß und die Musik so einschmeichelnd, und Roar Steen sah so gut aus in seiner Uniform. Und als der Tanz zu Ende war, erschien es mir geradezu logisch, daß Roar seinen Arm fester um mich legte und mich küßte. Dann saßen wir wieder zwischen den anderen, wir bekamen noch mehr Zigaretten und noch mehr Wein.
Nachher kam der Doktor nach Hause. Er hatte noch im Laboratorium gearbeitet. Was er dort machte, danach fragte niemand, seine Frau erst recht nicht. Sie war wohl daran gewöhnt, daß er zu jeder Tages- und Nachtzeit fort war und heimkam, wann es ihm paßte. Er glitt, ohne zu stören und ohne viel zu sagen, in die Gesellschaft. Doch plötzlich wandte sich Roar Steen an ihn: „Interessieren Sie sich gar nicht für Pferde, Doktor?“ Ehe Doktor Bogard antworten konnte, sagte Lilli lachend: „O doch, Doktor Bogard würde am liebsten alle unsere Pferde mit Diphteriebazillen impfen, um Serum daraus zu machen.“ „Nicht alle“, sagte der Doktor ruhig, „Veras Pferd würde ich in Frieden lassen. Haben Sie schon das Gemälde von Vera auf Blanche gesehen?“ Wir gingen mit ihm hinüber in das große Wohnzimmer. Eine der Wände dort war mit einem einzigen großen Bild geschmückt: Vera Bogard auf dem weißen Pferd. Der Doktor starrte schweigend darauf. Ich beobachtete ihn heimlich. So, wie er jetzt, mußte ein fanatischer Mönch aussehen, der Andacht hält. „Ich habe ein hübsches Haus“, hatte Doktor Bogard an dem
ersten Donnerstag gesagt, den ich bei Tante Agnete erlebte. Ja, er hatte recht. Jeder Stuhl, jede Decke, jedes einzelne kleine Ding war mit wählerischem Geschmack ausgesucht. Da gab es keine „originellen und modernen“ Sachen, sondern nur edles Holz, reine Stilarten und wunderbare Bilder. Und wahrhaftig, die elegante Frau des Arztes paßte genau hierher, sie war gleichsam ein Teil der Einrichtung. Wir tranken noch mehr Wein. Der Doktor saß still mit seinem Glas in der Hand und betrachtete es fast liebevoll. „Ich liebe es, mir etwas Schönes anzusehen“, hatte er gesagt. Ja, diesen Satz konnte man beinahe als Motto für sein ganzes Dasein setzen. Und während Unterhaltung und Lachen sich noch steigerten und Roar in der Sofaecke saß und den Arm um mich gelegt hatte, glitt der schmächtige, wunderliche kleine Doktor aus dem Zimmer. Seine Schritte verloren sich in dem dicken Teppich. Bald darauf hörten wir eine von Bachs Präludien, weit fort, vom anderen Ende der geräumigen Wohnung. Einer nach dem anderen verstummte. Eine schläfrige Stimmung kam über uns. Hier und dort wurde eine Zigarette angezündet, geraucht und im Aschenbecher ausgedrückt. Hin und wieder klirrte leise der Fuß eines Glases, das auf den Tisch zurückgestellt wurde… Es war vier Uhr morgens, als wir endlich aufbrachen. Im Auto küßte mich Roar – auf den Mund, die Wangen, die Augen – , und als ich daheim und im Bett war, fühlte ich – ja, ich fühlte genau dasselbe, das wohl jedes junge Mädchen der Welt fühlt, das zum erstenmal geküßt worden ist. Jedenfalls war ich erfüllt von der festen Überzeugung, daß ich in Roar Steen verliebt sei.
Endlich wieder Arbeit Nachdem die Geschichte mit Ellinor Berger aus der Welt geschafft war, entstand zwischen Tante Agnete und mir ein richtig harmonisches Verhältnis. Ich hatte mir angewöhnt, sie wegen allem und jedem um Rat und Hilfe zu bitten, und das hatte sie gern. „Tante, was soll ich zur Party bei Rawens anziehen? – Tante Agnete, meinst du, es schadet den Haaren, wenn man sie oft wäscht? – Tante, ich möchte mir Schuhe kaufen. Bist du so lieb und kommst mit?“ Die Probleme waren nicht von welthistorischer Bedeutung, doch sie gaben der Tante die Vorstellung, gebraucht zu werden. Dann fing sie an, mich mit Geschenken zu überschütten. Nun ja, das geschah nicht nur aus Güte, das wußte ich wohl. Sie hatte eben nie eine Tochter gehabt, auf die sie stolz sein konnte, und sie wollte stolz auf mich sein. Sie wollte Staat mit mir machen, deshalb wurde ich so reichlich ausgesteuert. Ich bekam eine Pelzstola und einen hübschen Halsschmuck. Ich bekam Kleider und Hüte, und wenn jemand aus der Familie etwas Vorteilhaftes über mich sagte, strahlte die Tante. Wenn ich mich für solche Geschenke bedankte, pflegte sie immer – ein wenig abweisend – zu sagen: „Meine Nichte soll ordentlich aussehen.“ Nein, gegen mein Aussehen war gewiß nicht das geringste einzuwenden. Roar machte Besuch. Der Tante gefiel er. Er behandelte sie mit der Art von Ehrerbietung, wie sie sie schätzte. Ab und zu warf sie mir einen vielsagenden Seitenblick zu, lächelnd und verständnisvoll gleichzeitig. Aha! Ich verstand ihn: Sie ahnte eine Verlobung am Horizont, ihr Ehestifterin-Instinkt war zur hellen Flamme entfacht. Roar war wohlhabend und aus guter Familie, also wurde er von ihr anerkannt. Außerdem sah er in der Uniform so gut aus. Er wurde zur Donnerstags-Gesellschaft eingeladen und glitt leicht und selbstverständlich in diesen Kreis. Offensichtlich fühlte er sich wohl darin, und ich will nicht leugnen, daß es mir ebenso ging. Ich hatte mich völlig akklimatisiert, duzte mich mit allen Familienmitgliedern – mit einem gewissen Widerstreben allerdings auch mit Christopher – und machte keine Schnitzer mehr im „höheren Gesellschaftsleben“. Mit einundzwanzig Jahren ist man sehr elastisch. Man kann nicht behaupten, daß ich allzuviel tat für mein
Monatsgehalt. Ich pflegte Nipp, las vor, wischte dann und wann ein wenig Staub und goß Tee oder Wein ein. Die Tante sagte niemals etwas darüber, daß ich zuviel ausginge. Hörte sie von den anderen, daß ich ihnen gefiel, war alles in bester Ordnung. Trotzdem ging ich bei ihr ständig wie auf Eiern. So plötzlich wie Schauer im April konnte die schlechte Laune über sie kommen. Dann schalt sie mit den Hausmädchen und beklagte sich über den Chauffeur, und wenn ich dann nicht mithielt, war ich aufsässig und undankbar, hartherzig und verständnislos. Vera Bogard fragte mich manchmal, wie ich zurechtkäme. Ich zuckte die Schultern, denn im Grunde kam ich mit der Tante, wenn sie so unleidlich war, keineswegs zurecht, sondern ich schwieg einfach still und ließ sie schelten. „Ich will dir einen guten Rat geben“, sagte Vera, „wenn Frau Garde böse ist, darfst du ihr nicht recht geben, denn dann weiß sie ja nichts weiter zu sagen. Du darfst auch nicht schweigen, sonst glaubt sie, du hörtest ihr nicht zu. Aber widersprechen darfst du erst recht nicht, denn dann bist du aufsässig. Wenn du dir diese drei Dinge merkst, ist sie sehr umgänglich.“ Ich lachte über Veras Ratschläge, aber leider hatte sie vollkommen recht.
* Die Monate vergingen, und Weihnachten stand vor der Tür. Von irgendwelchen Vorbereitungen merkten wir kaum etwas. Nur in der Küche schien viel Betrieb zu herrschen, jedenfalls nach den Ergebnissen zu urteilen. Am Weihnachtsabend nahmen wir zu Hause einen kleinen Imbiß und fuhren dann zu Lindengs, wo die ganze Familie versammelt war. Ich hatte mich aufgerafft und für jeden eine kleine Handarbeit gemacht. Ich selber wurde mit einer Unzahl von Handschuhen und Strümpfen bedacht. Von der Tante bekam ich eine Abendtasche, in der fünfzig Kronen steckten. – Wie lieb sie doch sein konnte! Nach Weihnachten blühten die Geselligkeiten in einem Maße auf wie nie zuvor. Wir wurden rundum bei allen Familien eingeladen und aßen und tranken mehr, als uns gut war. Die ersten zwei-, dreimal machte es Spaß, dann kam eine Zeit, in der man es hauptsächlich anstrengend fand, und zum Schluß konnte ich mich im Abendkleid nicht mehr sehen. Ich war müde und überdrüssig und
wünschte mir nichts anderes als eine radikale Veränderung. Und sie kam. Margit war aufgeregt und in Eile, als sie mir eines Morgens den Kaffee brachte. „Marie ist krank geworden“, berichtete sie. „Wir haben nach dem Arzt gerufen. Es geht ihr sehr schlecht.“ Ach, du meine Güte, wie sollte das jetzt gehen? Die Köchin krank! Na, das konnte ja heiter werden! Plötzlich kam etwas von meiner alten Energie zurück. Mit einem Satz war ich aus dem Bett, zog mich an und lief in die Küche hinunter. Marie wurde gerade in einem Auto fortgebracht – akute Blinddarmentzündung, sagte der Doktor. Louise und Margit standen da und sahen ziemlich hilflos aus. „Du mußt es der gnädigen Frau sagen, Louise“, sagte Margit. „Die gnädige Frau hat noch nicht geläutet“, murmelte Louise mit ratloser Miene. „Nun hört mal zu“, sagte ich, „das ist doch kein Unglück – außer für die arme Marie natürlich. Das bißchen Kochen, das in diesem Hause nötig ist, kann doch jeder Mensch schaffen!“ Louise maß mich mit kühlem Blick. „Wir haben hier jeder unsere bestimmte Arbeit, gnädiges Fräulein. Außerdem sind weder Margit noch ich gelernte Köchinnen.“ „Aber ich!“ rief ich und war mit einem Male so froh. Und als Tante Agnete klingelte, griff ich nach dem Tablett und ging hinauf. Maries Krankheit war zweifellos nur in Szene gesetzt worden, um die Tante zu ärgern – jedenfalls mußte man diesen Eindruck bekommen bei Tante Agnetes empörter Reaktion. Es kostete meine ganze Diplomatie, daß ich ihre Zustimmung bekam, das Kochen zu übernehmen, während Marie im Krankenhaus lag. „Laß es mich doch wenigstens versuchen, Tante Agnete“, bat ich. „Denk mal, wie angenehm es für dich ist, keine Fremde ins Haus nehmen zu müssen. Man weiß doch nie, wen man bekommt.“ Dieses Argument half, und ich zog mit Siegermiene in die Küche. Louise war grenzenlos mißtrauisch, als ich sie bat, mir zu erklären, wie es bisher mit dem Einkauf gehandhabt worden war. Also, Marie pflegte zu bestimmen, was auf den Tisch kam, die gnädige Frau hätte nur die Tage festgesetzt, an denen es Fisch oder Fleisch geben sollte, sonst mische sie sich nicht in die Aufstellung des Menüs, ausgenommen an den Donnerstagen. Der Einkauf geschah per Telefon, und jeden Freitag wurde die Rechnung
geschickt. Die Liste der verschiedenen. Geschäfte hing neben dem Telefon in der Anrichte. Heute war Samstag, also Fischtag. Ich ließ Telefon heute Telefon sein und ging persönlich in die Stadt. Auf dem Markt fand ich das, was ich haben wollte – wunderbar frische, kleine Schollen. Während Margit große Augen machte, reinigte ich die Schollen, entgrätete sie, panierte die Filetstücke mit Ei und geriebener Semmel, rollte sie zusammen und ließ sie in heißem Fett garbacken. Endlich einmal etwas anderes als Maries gekochten Dorsch oder gebratene Rotbarschfilets! Anstelle des weichgekochten Blumenkohls, den sie dazu servierte, machte ich eine Schale voll Chicoreesalat, mit Tomaten und hartgekochten Eiern garniert. Zum Nachtisch gab es Pampelmusen mit kleingeschnittenen Äpfeln und Weintrauben gefüllt und mit Honig gesüßt. Louises Mißtrauen stieg noch um einige Grade, Margit dagegen verfolgte alles, was ich tat, mit brennendem Interesse. „Oh, heute gibt es ja A-, B-, C- und D-Vitamine auf einmal“, meinte sie lachend und zeigte alle ihre kräftigen weißen Zähne. „Verstehen Sie etwas von Vitaminen, Margit?“ fragte ich. „O ja, ich hab’ oft versucht, Marie klarzumachen, daß sie die Vitamine zerstört. Aber die pfeift darauf und sagt, wir wären bis jetzt ohne Vitamine ausgekommen, da könnten wir’s auch weiter.“ „So, Margit, nun machen Sie toi, toi, toi hinter mir“, sagte ich, während ich die Schürze abband, das Haar glättete und ins Speisezimmer ging. Es wurde ein Erfolg. Allerdings begann es mit Skepsis. Doch kaum hatte die Tante den Fisch probiert, meinte sie: „Hm – gar nicht schlecht!“ Und nachdem sie die zweite Portion gegessen hatte: „Hm – das ist wirklich gut.“ Nachdem sie zweimal von dem Salat genommen hatte, läutete sie nach Louise und fragte, warum denn, in aller Welt, Marie niemals frischen Salat auf den Tisch gebracht habe. Das konnte Louise nicht beantworten, aber es war ja nun einmal Tante Agnetes Gewohnheit, die falschen Leute die falschen Dinge zu fragen. Nun begann für die Tante eine neue Zeit. Sie bekam geröstetes Graubrot und Rohkostsalate, geraspelte Äpfel und den Saft von ausgepreßten Apfelsinen, sie bekam Seevögel als Schneehühner vorgesetzt, sie bekam saure Heringe und Leberpastete… Eines Tages wagte ich sogar, ihr Kalbsleber als Wildbraten zu servieren. Auch das ging glatt. Die Tante hielt sie für Hasenbraten, den sie seit ihrer
frühesten Kindheit nicht mehr gegessen habe, und sie lobte meine geschickte Art, ihn anzurichten, indem ich vorher alle Knochen daraus entfernt hätte. Mir wären Leber und Sahnesoße beinahe in den falschen Hals gerutscht, denn erst jetzt fiel mir ein, daß die Tante ja einmal gesagt hatte, Innereien hätte sie in ihrem ganzen Leben noch nicht gegessen, und sie kämen – Gott behüte! – auch nicht in ihr Haus oder gar auf den Tisch! Und dann beging ich das größte Wagnis meines Lebens. Als ich daranging, das Essen für die Donnerstags-Gesellschaft zusammenzustellen, bekam ich zufällig einen ganzen Schwung delikater Schweineherzen. Ich nahm mir einen Vormittag lang Zeit, um sie zurechtzumachen. Sie mußten gereinigt, gespickt, gefüllt und zusammengenäht werden. Dann schwitzte ich lange über Maries größtem Schmortopf, würzte, schmeckte ab, band die Soße mit saurer Sahne, und als endlich die Herzen auf der Platte lagen, in dünne Scheiben geschnitten und mit Tomatenhälften und Petersilie garniert, da sahen sie so lecker aus, daß es die reine Freude war. Und die Gäste aßen, prosteten der Köchin zu und versuchten mich auszuquetschen, was es sei. Ich antwortete ausweichend mit allerlei Scherzen, und Ditlefmann bereitete die Tante auf eine ungeheure Schlächterrechnung vor. Alle aßen mit sichtlichem Genuß, und Louise mußte die Platten immer wieder füllen. Plötzlich öffnete Else den Mund – etwas, das höchst selten geschah. Mit einem Stück Fleisch auf der Gabel wandte sie sich an mich: „Unni, hast du eigentlich den Schneewittchen-Film gesehen.“ „Ja – wieso?“ „Ach, ich dachte nur gerade an die Worte des Zauberspiegels: ,Es ist das Herz eines Schweins, das du in deiner Hand hältst…’“ Und dann steckte Else, mit dem Unschuldsgesicht eines Engels, das Fleisch in den Mund. Erst nach dem Kaffee gelang es mir, sie unter vier Augen zu sprechen: „Else, um Himmels willen, verrate mich nicht!“ „Ich denke nicht daran! Nenne es meinetwegen Wildschweinsteak, oder Fasanenbrust, oder wie du willst. Das hätte mir früher mal einer sagen sollen, daß ich bei Tante Agnetes Donnerstags-Gesellschaft Schweineherzen vorgesetzt bekäme – achtzig Öre das Stück!“ „Einszwanzig, Else!“ „So? Na, zu meiner Zeit kosteten sie achtzig. Das war bei uns ein feines Sonntagsessen, als ich klein war, mußt du wissen.“
Dieser Donnerstag brachte mir übrigens noch einen weiteren Triumph. Es gelang mir nämlich endlich einmal, Christopher mit ph das Maul zu stopfen. Ich hatte es schon fast aufgegeben, denn sofern sich die Unterhaltung nicht um Ibsen oder gesunde Ernährung dreht, habe ich ja nicht viel zu vermelden. Christopher und Ditlefmann hatten sich mit ihren Zigarren in je einer Ecke des Sofas niedergelassen. Christopher hielt einen Vortrag über irgend etwas, und Ditlefmann langweilte sich sichtlich. Ich beschloß, ihm zu Hilfe zu kommen. In letzter Zeit war er viel netter zu Else gewesen, vielleicht, weil er herausgefunden hatte, daß es seinem Charme gut stände und seinem Ansehen im Urteil der Leute förderlich sein könne, wenn man zu all seinen anderen guten Eigenschaften auch noch behaupten würde, er sei ein guter Ehemann. Jedenfalls wirkte er fast menschlich, und so tat es mir aufrichtig leid, daß Christopher mit ph ihn zu seinem Opfer gewählt hatte. „Störe ich in einer interessanten Unterhaltung?“ fragte ich mit Engelslächeln, während ich neben Ditlef auf das Sofa sank. „Aber nein, du störst uns keineswegs! Wir sprechen gerade von den riesigen Fortschritten der ärztlichen Kunst in den letzten Dezennien.“ Es hätte weit unter der Würde eines „Ph“ gelegen, von „Jahrzehnten“ zu sprechen, wenn es um „Dezennien“ ging. „Hat dich dein Blinddarm dazu veranlaßt, über die ärztliche Kunst zu philosophieren?“ fragte ich. „Ph“ hatte sich nämlich kürzlich von diesem überflüssigen Anhängsel getrennt. „Ja, unter anderem! Es ist doch erstaunlich, daß man heute eine akute Appendicitis mit lokaler Betäubung operieren kann.“ Lob und Preis dir, liebe Nora, die du deinen Mediziner seit drei Jahren liebst! dachte ich. Ihr und ihm hatte ich zu verdanken, daß ich nun Christophers Tiefsinnigkeiten folgen konnte. „Ja, die Spinalanästheie ist wirklich großartig“, stimmte ich zu. Ph blickte mich über die Brillengläser hinweg an. Sieh einer an! Das Hühnergehirn verstand etwas von medizinischen Ausdrücken! „Ja“, meinte Ditlefmann, „es ist wohl keine andere Wissenschaft mit solchen Sturmschritten vorwärtsgegangen wie die Medizin. Es ist ja auch keine andere Kunst für die Menschheit von solcher Bedeutung.“ „Doch“, sagte ich, „die Kochkunst!“ Ph lächelte nachsichtig. „Nun ja, jeder hält seine eigenen
Interessen für die wichtigsten.“ „Ich meine“, erwiderte ich, „deine Logik sollte dir doch eigentlich sagen, daß ich recht habe: Die Kochkunst baut den Körper auf, die ärztliche Kunst repariert nur die Fehler.“ Der Herrgott möge mir verzeihen, daß ich die Quelle, aus der diese Worte stammten, nicht preisgab. Es war nämlich Vatis Lieblingszitat. Christopher glaubt heute noch, daß der Satz meine eigene Erfindung sei. Er sah mich seitdem mit neuen, sichtlich achtungsvolleren Augen an. Dank sei dir, lieber Vater!
* Vierzehn Tage mußte Marie im Krankenhaus liegen und ebenso lange hinterher zur Erholung nach Hause fahren. Und in der ganzen Zeit besorgte ich das Kochen. Zuletzt allerdings fand ich in Margit eine eifrige Helferin. Sie hatte sich manches von meinen Künsten abgeguckt. Als am ersten Freitag die Rechnungen kamen, rief die Tante mich zu sich. „Unni, was bedeutet das? Hast du die Rechnungen nicht für die ganze Woche bekommen?“ „Doch, Tante Agnete! Hier siehst du es ja: Die erste ist für den Sonntagsbraten und die letzte für das Hackfleisch am Samstag.“ „Hm – merkwürdig!“ murmelte die Tante und griff nach den Rechnungen vom Bäcker und vom Lebensmittelhändler. „Kannst du mir das vielleicht mal erklären“, begann die Tante und musterte mich durch ihre Lorgnette. Ich fing an zu zittern. Hatte ich etwas falsch gemacht? „Kannst du mir erklären, wie es kommt, daß Marie doppelt soviel Geld für die Haushaltsführung braucht wie du?“ Ich atmete erleichtert auf. „Nun ja, vielleicht macht Marie feineres Essen als ich.“ „Unsinn! Du hast selbst gehört, wie Ditlef und Antoinette am Donnerstag gesagt haben, das Essen sei ungewöhnlich gut. Und ich fühle mich zur Zeit viel wohler und vermisse nichts. Also – woher kommt das?“ Ich setzte mich. „Ich brauche ein bißchen Zeit, um das zu erklären, Tante Agnete. Wenn du mir so lange zuhören willst, will ich dir gern sagen, woran es liegt.“ „Ja, es würde mich interessieren.“
„Ja, weißt du, Tante Agnete, es liegt nicht etwa daran, daß ich besonders geschickt im Kochen wäre. Aber bei uns zu Hause haben wir von jeher den Groschen umdrehen müssen; dabei lernt man manchen kleinen Kniff. Und dann habe ich ja, wie du weißt, einen Vater, der Ernährungswissenschaft studiert hat, wenn auch nur als Hobby. Daher weiß ich, daß der Körper Nahrung mit genügend Kalorien und den verschiedenen Vitaminen braucht. Nun kommt es nur noch darauf an, herauszufinden, welche Vitamine in welchen Nahrungsmitteln enthalten sind. Deshalb hast du zum Beispiel geröstetes Graubrot anstelle von frischem Weißbrot bekommen…“ „Ich habe mit Doktor Bogard darüber gesprochen. Er sagte, das sei ausgezeichnet für meine Verdauung.“ „Ja, und es ist viel billiger als Brötchen. Im ganzen Hause gibt es nur noch Graubrot, und in der Küche wagen sie nicht zu mucksen. Da ich Tee und Kaffee genau nach Maß zubereite, verbrauche ich nur halb soviel. Statt der Nachspeisen aus Unmengen von Eiern and Sahne hatten wir leichte Fruchtgerichte. Marie kauft teures Gemüse und kocht es viel zu lange. Ich habe dir nur Kohl, Mohrrüben, Kohlrabi und andere preisgünstige Sachen vorgesetzt und sie mit geriebenen, rohen Äpfeln veredelt. Ich habe soviel wie möglich Ungekochtes auf den Tisch gebracht; dadurch blieben die nahrhaften Stoffe erhalten.“ Ich legte eine Pause ein, um Luft zu holen. Die Tante saß ganz still und schaute mich an. Ausnahmsweise wußte sie einmal nicht, was sie sagen sollte. Und ehe ihr etwas einfiel, klingelte es, und Doktor Bogard erschien. Klein, dünn, blaß, etwas kahl über der Stirn, stand er in der Tür. Ich entschuldigte mich damit, daß ich in der Küche zu tun hätte, und verschwand. Doch als der Doktor fortgehen wollte, traf ich mit ihm in der Halle zusammen. Er blieb vor mir stehen und betrachtete mich eine Weile. Dann fragte er: „Wie alt sind Sie?“ „Wie bitte?“ „Wie alt sind Sie?“ „Einundzwanzigeinhalb.“ „Ich bin siebenundvierzig. Was ich mit Hilfe der Wissenschaft in acht Jahren Ihrer Tante vergeblich beizubringen versucht habe, das haben Sie in einer Woche mit wohlschmeckendem Essen geschafft. Der Herrgott mag wissen, wozu wir Ärzte eigentlich nütze sind.“ Und plötzlich bekam sein merkwürdig kleines Gesicht einen ganz neuen Ausdruck. Das aufgesetzte, starre Lächeln verschwand und
machte einem richtigen, herzlichen, warmen Lächeln Platz. „Sie sind direkt vom Himmel herab in dieses Haus gesandt, Fräulein Björk“, sagte Doktor Bogard und drückte meine beiden Hände. Oh, wie unverdient war das, wie unverdient! Ich hatte gefaulenzt, hatte Geschenke entgegengenommen, war von einer Party zur anderen gegangen – ein halbes Jahr lang. Und dann stellte ich mich nur ein paar Tage hin und kochte einfach so, wie es Mutti und Vati mich gelehrt hatten, und schon bekam ich zu hören, der Himmel habe mich gesandt. Dieses Kompliment hätten meine Eltern bekommen müssen – nicht ich.
Ein Pferd und eine Verlobung In der letzten Zeit hatte ich die Reitstunden geschwänzt – oder richtiger gesagt, ich war vom Kochen und Einkaufen zu sehr in Anspruch genommen, daß ich keine Zeit zum Reiten gefunden hätte. Doch da rief Vera Bogard an und fragte, ob ich nicht beim Unterricht im Springen mitmachen wolle. Es seien dazu Extrastunden angesetzt worden, und zwar morgens zwischen acht und neun Uhr, damit die Herren daran teilnehmen könnten, bevor sie in ihre Büros gingen. Ja, um diese Stunde konnte ich mir wohl ein wenig Zeit dazu nehmen. Es machte Spaß, die Freunde vom Reitklub wiederzutreffen. Aber Dyveke gefiel mir nicht recht. Sie war so verschreckt und scheu, ich fand nicht gleich wieder Kontakt mit ihr. „Das ist Ellinors Schuld“, plapperte Lilli Brahmer, „letzte Woche hat sie sie dauernd geritten – und so hart! Gestern gebrauchte sie die Sporen, daß sie blutete. Ellinor sagte übrigens, sie wolle Dyveke kaufen. Sie wolle ihr eigenes Pferd haben.“ Mit einem Ruck hielt ich an, mitten in einer Volte. Dyveke? Ellinor Berger wollte Dyveke kaufen? „Unni, was hast du denn?“ fragte Vera Bogard, die an meine Seite geritten war. „Ach – nichts!“ murmelte ich und würgte die Tränen hinunter. Ich saß ab und brachte das Pferd in den Stall. Dann ging ich nach Hause und sofort zu Tante Agnete. Diesmal geschah es nicht aus Berechnung oder Diplomatie, sondern es war mir ein ganz natürliches Bedürfnis, mich mit meinem Kummer an sie zu wenden. „Aber, liebe Unni!“ sagte die Tante verwundert. Sie läutete und ließ von Louise meinen Kaffee bringen. Ich versuchte, einen Schluck zu trinken, doch ich konnte es nicht. Meine Tränen fielen in die Tasse. „Aber Unni, was ist denn los?“ „Ach, Tante Agnete, es ist, weil – weil…“ Die Worte blieben mir im Halse stecken, und die Tränen strömten. Arme Tante Agnete! Sie streichelte über mein Haar mit rührend unbeholfener Hand. Aber dieses ungeschickte Streicheln sagte mir so viel. Unter Schluchzen begann ich endlich zu erzählen. „Weißt du, Tante Agnete, ich habe doch Dyveke so lieb, so schrecklich lieb. Und heute war sie blutig von Fräulein Bergers
Sporen – und so nervös – und so schreckhaft. Und nun – und nun soll ich sie nie mehr reiten können. Keinen Schritt tue ich mehr auf diese Reitbahn, wenn Fräulein Berger Dyveke kauft, und…“ Die Hand der Tante glitt von meinem Kopf. „Beherrsche dich, Unni, und rede deutlich! Was hast du da gesagt? Ellinor Berger will Dyveke kaufen?“ Die Stimme der Tante zitterte. „Ja, und niemand kann das verhindern. Rawen und Dankertsen haben sich auch die Pferde vom Reitklub gekauft. Wer sollte also Fräulein Berger untersagen, das gleiche zu tun? – Und ich hab’ doch Dyveke so lieb, weißt du – ich hab’ Dyveke genauso lieb wie du Nipp.“ Die Tante war ganz weiß im Gesicht. Sie bebte vor Zorn, und als sie weiter mit mir sprach, war ihre Stimme eine merkwürdige Mischung von Zärtlichkeit und Wut. „Geh in dein Zimmer, Unni, nimm ein Bad und zieh dich um! Wir sprechen nachher noch über diese Angelegenheit.“ Ich ging. Herrgott, daß man ein Pferd so lieben konnte! Als ob es nicht genug Pferde auf der Welt gäbe. Aber während ich in der Badewanne lag, meinte ich immerzu Dyvekes große, ängstliche Augen zu sehen und die wunden Stellen an ihren Flanken. Ich kühlte meine Augen, frisierte mich sorgfältig und machte mich so hübsch wie möglich. Die Tante war schon unten. Sie saß an ihrem Schreibtisch, hielt Nipp auf dem Schoß und starrte in die Luft. „Unni, ich soll dich von Else grüßen. Sie möchte dich heute den ganzen Tag über bei sich haben. Ditlef ist unterwegs, und sie fühlt sich so einsam. Lönnedal fährt dich hin.“ „Ja, aber, Tante Agnete – das Mittagessen!“ „Das wird Margit machen. Geh nur!“ Die Tante war geradezu mit Eifer bemüht, mich rasch fortzuschicken. „Ja – wie du willst. – Also auf Wiedersehen, Tante, auf Wiedersehen, Nipp!“ Ich kraulte Nipp rasch ein bißchen hinter dem Ohr. Die Tante lächelte. „Du hast also Dyveke genauso lieb wie ich Nipp“, murmelte sie gedankenvoll. Sie winkte, daß ich gehen solle, und rief mir „viel Vergnügen!“ nach. Ich verlebte einen sehr netten und gemütlichen Tag bei Else. Wir spielten mit den Zwillingen und beschäftigten uns mit der kleinen
Wencke. Klein-Ditlef und Agnete kamen herein und begrüßten mich. Heute benahmen sie sich nicht so wohlerzogen wie in Gegenwart des Vaters. „ Ditlefchen, bitte Schwester Dora, sie möchte herunterkommen, ja? Sei so lieb!“ sagte Else. Ditlefchen rührte sich nicht. Else wiederholte ihren Wunsch. „Ich lese!“ antwortete das liebe Ditlefchen. „Soll Tante Unni sehen, wie unartig du bist?“ „Pah!“ machte Ditlefchen. Else wurde streng. Sie faßte den Jungen beim Arm und setzte ihn vor die Tür. „Du tust, was ich gesagt habe!“ Mit durchdringender Stimme brüllte Klein-Ditlef von der Halle aus die Treppe hinauf: „Schwester Dora, mach, daß du ‘runterkommst, aber sofort! Mutti fällt mir schon auf den Wecker.“ Else sah mich mit einem traurigen kleinen Lächeln an. „Kannst du begreifen, daß mir die Mädchen und die Kinderpflegerin nicht davonlaufen?“ „Sie mögen wohl dich leiden“, sagte ich. „Mag sein“, sagte Else. Sie schien dabei an etwas ganz anderes zu denken. Um zehn Uhr abends kam Lönnedal mit dem Wagen und holte mich ab. Tante Agnete war schon zu Bett gegangen, und so schlich ich leise in mein Zimmer. Hier mußte ich wieder an Dyveke denken und weinte mein Kopfkissen naß. Am nächsten Morgen läutete die Tante ungewöhnlich zeitig, und schon vor elf Uhr war sie unten. Ich nahm wie immer Nipp, um mit ihm den allmorgendlichen Auslüftungsspaziergang durch den Garten zu machen. „Bring mir meinen Pelz“, sagte Tante Agnete, „ich gehe mit dir. Es ist so herrliches Wetter.“ Es war wirklich herrliches Wetter, zwei bis drei Grad Kälte, eine dünne Schneedecke und strahlender Sonnenschein. Wir spazierten gemächlich durch den Garten. Die Tante fragte mich, wie es gestern gewesen sei, und wir plauderten freundlich und ohne besonderes Thema miteinander. So kamen wir bis ans äußerste Ende des Gartens. Die Tante ging auf das große, alte Stallgebäude zu und öffnete die Tür. „Ach, wirf doch mal einen Blick hinein, Unni!“ Ich blickte in das Halbdunkel und zwinkerte mit den Augen. Ich sah einen Schatten, der sich bewegte. Dann hörte ich ein Stampfen
und Schnauben, und dann – dann – dann begriff ich. Ich konnte Dyveke nicht erkennen, und doch wußte ich sofort, daß sie es war. „Dyveke!“ schrie ich und stürzte zu ihr in den Stand, schlug meine Arme um ihren Hals, wühlte mein Gesicht in die dunkelbraune Mähne und schluchzte laut auf. Dyveke wieherte leise und rieb ihren Kopf an meiner Schulter. „Na?“ fragte eine Stimme hinter mir. „Freust du dich?“ Da stand die Tante im Nerzmantel mitten im Stall. „Ach, Tante Agnete, ich kann nicht – ich weiß nicht – ich weiß nicht, was ich sagen soll.“ „Dann sag eben gar nichts.“ „Aber, liebe Tante, erklär mir doch bitte…“ „Meinst du, da müsse noch etwas erklärt werden? Ich habe mich an Ditlef gewendet und gefragt, was man tun könne. Ich wollte mich doch nicht dreinfinden, daß diese unausstehliche Ellinor Berger uns überrumpelte. – Ja, Ditlef meinte, da sei nichts anderes zu tun, als daß wir Berger zuvorkämen – und so kauften wir das Pferd. Dein Freund Steen hat die Sache für mich erledigt. Gestern nachmittag hat er das Pferd hierhergeritten, und heute bekommen wir Heu und Hafer und wie das nun alles heißt. Auch das wird Steen in Ordnung bringen. Und Lönnedal hat sich bereit erklärt, das Pferd zu pflegen.“ Ich war sprachlos. Hätte mir jemand vor einem Jahr geweissagt, ich würde ein Pferd geschenkt bekommen, ich hätte ihm ins Gesicht gelacht. Ich mußte mich in den Arm kneifen, denn ich glaubte auch jetzt noch zu träumen. Und als ich es endlich begriffen hatte, umarmte ich die Tante so stürmisch, wie sie bestimmt noch nie umarmt worden war. „Unni, nun beherrsch dich aber“, sagte die Tante. „Pfui, wie du nach Pferd riechst!“ Wahrscheinlich hatte die Tante gar nicht gewußt, was sie für mich tat, bevor sie meine riesengroße Freude sah. Für einen gewöhnlich Sterblichen ist es wie ein Märchen, wenn er einen Pelzmantel, Schmuck und ein Reitpferd zum Geschenk erhält. Aber jemand, für den der Reichtum eine Selbstverständlichkeit ist, findet es ganz natürlich, sich alles anzuschaffen, was er haben möchte. Ich glaube, es war für die Tante etwas ganz Neues und Amüsantes, meine unbeschreiblich große Freude über ein Geschenk zu sehen, wenn es sich auch um ein ungeheuer großes Geschenk handelte. Und bald darauf kam Roar auf dem großen, schwarzen „Sleipnir“ angeritten. Er half mir beim Satteln, und wir machten einen langen
Ritt. Wie herrlich war es, einfach reiten zu können, ohne auf die Uhr blicken zu müssen, ohne daran zu denken, daß andere Schüler auf die Pferde warteten. Sleipnir gehörte Dankertsen, und Roar durfte das Pferd nehmen, wann er nur wollte. Wer niemals auf einem Pferd gesessen hat, weiß nicht, was vollkommenes Glücksgefühl ist. Das Reiten ist der wundervollste Sport der Welt, es läßt sich mit Worten überhaupt nicht beschreiben. Roar warf mir einen lächelnden Seitenblick zu, als ich ihm zu erklären versuchte, wie wunschlos glücklich ich sei. Auf einem Hügelkamm hielten wir die Pferde an und genossen die herrliche Aussicht über die schneebedeckten Felder, die Hügel und die Fjorde im Hintergrund. „Kleines, warmherziges, eifriges Mädel“, sagte Roar lachend, „du bist so bezaubernd, Unni, wenn du so froh und munter bist.“ „Ja, findest du denn das Reiten nicht auch so wundervoll?“ „Ja, gewiß! – Weißt du nicht, was die Araber sagen? ,Das Paradies liegt auf dem Rücken eines Pferdes und in den Armen einer Frau!’ Den ersten Teil des Paradieses erlebe ich jetzt – und den zweiten…“ Er blickte mich dabei so sonderbar an, daß ich errötete. Dann drückte er Sleipnir an Dyveke heran, so dicht, daß er einen Arm um mich legen konnte. „Du, Unni, ich möchte gern den zweiten Teil des Paradieses erleben – mit dir.“ Er küßte mich, wie er es vorher schon oft getan hatte, und blieb an meiner Seite, den Arm um meine Schultern gelegt. „Sag doch etwas, Unni!“ „Was soll ich denn sagen?“ „Uff, du kleiner Idiot, nun mach’s doch nicht so schwierig! Begreifst du denn nicht, daß ich hier sitze und versuche, dir einen Heiratsantrag zu machen?“ Die Luft war so klar, die Sonne schien so herrlich, Roar sah so gut aus in seiner Uniform, und seine Stimme war so warm. Der Ritt war so wunderbar und überhaupt das ganze Leben so unfaßbar schön – kurzum, ich sagte ja.
* Tante Agnete schwebte im siebten Himmel. Sie schrieb einen Brief an Mutter und Vater, und ich durfte ihn lesen. Er strotzte nur so von Stolz darüber, daß sie, Tante Agnete, den Anlaß zu meiner
großartigen Partie gegeben habe. Auch ich selbst schrieb natürlich heim, und Roar schrieb einen ganz reizenden Brief, in dem er versicherte, wie sehr er mich liebe und daß er auf die Zustimmung meiner Eltern hoffe. Und wir schickten Bilder von uns, sehr gelungene und geschickt retuschierte Bilder, vom besten Fotografen der Stadt gemacht. Und Mutter und Vater wurden zur Verlobung eingeladen. Postwendend kam Antwort von beiden. Leider hatte Vater gerade eine dumme Halsentzündung, und Mutter mußte bei ihm bleiben. So sandten sie ihre besten Glückwünsche und ein „Gott segne und behüte dich, liebe, kleine Unni“. Mehr als zwanzig Personen erschienen zur Verlobungsparty. Ich hatte ein neues Abendkleid bekommen, und Roar schenkte mir einen Diamantring. Einen richtigen Diamanten! Ich konnte die Augen nicht davon abwenden. Es war mir, als müsse ich jeden Augenblick erwachen und mich in dem schmalen, grüngestrichenen Bett daheim in Esthers und meinem Kinderzimmer wiederfinden. Es wurde zugeprostet, der Champagner floß in Massen, Onkel Toralf übertraf sich selbst mit anzüglichen Witzen, und Tante Hanna hielt eine schöne kleine Rede, während der wir alle auf unsere Teller starrten und Brotkügelchen drehten. Hätte Onkel Toralf nicht die Situation mit einer ungewöhnlich schlechten Blödelei gerettet, weiß ich nicht, wie wir aus dieser feierlichen Stimmung wieder herausgekommen wären. Tante Hanna hatte nämlich Roars verstorbene Eltern erwähnt. Das war gut und richtig, aber eine so ernste Rede zu halten – na ja! Nach dem Essen umringten mich alle, ich kam mir so schick vor in meinem eleganten Kleid, jeder sagte mir etwas Hübsches, und ich war wie berauscht, ja einfach auf dem Gipfelpunkt des Glücks. Als ich später einmal in mein Zimmer hinaufging, um meine Frisur und mein Make-up aufzufrischen, stand dort Else vor dem Spiegel. Langsam drehte sie sich um und lächelte mich an. „Ich bin so froh um deinetwillen, Unni“, sagte sie. „Ich glaube, du bekommst einen lieben Mann.“ Ich setzte mich auf den Diwan und blickte Else an. Ihre Augen waren so blank wie an dem ersten Abend, da ich mit ihr zusammen war. Plötzlich beugte sie sich zu mir herab und küßte mich auf die Wange. „Gott schütze dich, Unni“, flüsterte sie, „Gott gebe dir all das Glück, das…“ Und ehe ich mich versah, war sie aus dem Zimmer.
Ich setzte mich vor den Toilettenspiegel, knipste das Licht an und griff nach dem Kamm. Da sah ich mich selbst. Ich sah eine Gestalt, die aus einem Modejournal geschnitten zu sein schien. Mein Haar, das von Natur aschblond ist, hatte eine geschickte Friseuse goldblond getönt. Das Rouge lag genau richtig auf Wangen und Lippen. Das Kleid, weit ausgeschnitten und von raffinierter Machart, war blaßblau. An den Füßen trug ich hochhackige Silberschuhe, und um die Schultern lag das letzte Geschenk von Tante Agnete: eine weiße Pelzstola. Filmstar! dachte ich.
Mir fiel ein anderes Spiegelbild von mir ein, das ich am letzten Donnerstag daheim gesehen hatte. Damals trug ich einen Pullover und einen karierten Rock, mein Haar war glatt und schlicht geschnitten. Und ich saß in der Ecke neben dem Bücherschrank und las die Rolle der Rebekka. Und plötzlich ging mir auf, daß heute auch Donnerstag war. Ich wußte, daß es Vati wieder soweit gutging – er hatte sich wohl nur ein paar Tage schonen müssen – , und so saßen sie zu Hause jetzt wieder
bei Tee und Keksen zusammen. Sie lasen wohl nun „Die Kronprätendenten“ – und Vati sprach vielleicht in diesem Augenblick über den Bischof oder über Skule. Im Geiste sah ich, wie die anderen mit offenen Augen und Ohren lauschten, und hörte, wie Tor ab und zu eine Frage stellte… Die Stehlampe in der Ecke verbreitete ein behagliches Licht, und der Tee dampfte in den blauen Tassen. Herrgott, wie unwirklich erschien mir auf einmal alles. Tante Agnete und Roar waren einfach verschwunden aus meinem Bewußtsein. Ich war wieder nur Unni, nur Mutters und Vaters Tochter – und ich empfand ein grenzenloses Heimweh. Ich beugte mich vornüber, meine Stirn sank auf die kalte Glasplatte des Toilettentisches, und ich weinte und weinte.
Ein Mißklang Ich merkte bald, daß eine Verlobung ein höchst willkommenes Ereignis für den Reitklub bedeutete, eine ausgezeichnete Gelegenheit zum Festefeiern. Und diese Gelegenheit wurde bis zum äußersten genutzt. Jeden Abend war irgend etwas los. Tanzereien, Geselligkeiten in den Familien, Theater, Souper. Immer wieder erfand der eine oder andere etwas Neues, und Roar und ich waren überall der Mittelpunkt. Heute – lange Zeit danach – sehe ich ein, wie ungesund es für ein junges Mädchen von einundzwanzig Jahren ist, Mittelpunkt zu sein. Aber Spaß macht es. Ich ging umher wie in einem einzigen Rausch. In den seltenen Fällen, wenn Roar und ich allein waren, unterhielten wir uns über die Aussteuer und die Wohnung. Es war ausgemacht, daß wir im Herbst heiraten sollten. Dann kam eines Tages ein Brief von Vati. Das war an sich schon ein Ereignis, denn Vati ist kein sehr eifriger Briefschreiber. Für gewöhnlich begnügt er sich damit, durch Mutti Grüße auszurichten. „… Wir freuen uns für Dich“, schrieb Vati. „Dein Verlobter sieht hübsch und männlich aus, und wir freuen uns sehr, daß Du glücklich bist. Aber Du verstehst gewiß, daß es ein bißchen eigentümlich für uns ist, unseren zukünftigen Schwiegersohn nicht zu kennen. Schildere ihn uns doch einmal ausführlich. Wofür interessiert er sich? Verfolgt er die aktuellen politischen Fragen? Glaubst Du – ja, nun lachst du wohl über Deinen alten Vater – , glaubst Du, daß ihm unsere Ibsen-Abende gefallen würden? – Du weißt, wir haben noch keine Übung darin, Schwiegersöhne bei uns aufzunehmen. Du mußt uns ein wenig über Roar schreiben, damit wir die gleiche Wellenlänge finden, wenn wir mit ihm – hoffentlich recht bald – zusammentreffen…“ Lange saß ich mit dem Brief im Schoß da. Er zwang mich zum Nachdenken. Was, in aller Welt, sollte ich darauf antworten? Was wußte ich von Roar? Daß er reich war, daß er gut ritt, daß er mich liebte… Das war alles! Ich versuchte, mir Roar in meinem elterlichen Heim vorzustellen, doch ich konnte ihn nirgends richtig einordnen. Worüber sollten Mutti und Vati mit ihm sprechen? Doch nicht ausschließlich über unsere Aussteuer und Pferde! Mit einem Male ging mir mit erschreckender Klarheit auf – einer
Klarheit, die mir ein Frösteln über den Rücken jagte – , daß ich den Mann, mit dem ich mein ganzes Leben verbringen wollte, überhaupt nicht kannte „Wofür interessiert er sich?“ hatte Vati gefragt. Eine höchst naheliegende Frage! Aber ich hatte keine Ahnung, was ich darauf antworten sollte. Nun gut, das einfachste war ja, Roar selbst zu fragen. Noch am gleichen Abend, als wir in der Sofaecke zusammensaßen, fragte ich geradeheraus: „Du, Roar, erzähl mir doch mal: Was ist dein allergrößtes Interesse?“ „Mein allergrößtes Interesse? Das ist Fräulein Unni Björk. Und später wird es Frau Unni Steen sein.“ Ich mußte lächeln. Roar war so reizend in seiner Verliebtheit. „Du bist ein Unikum, Roar, aber nun antworte mir mal richtig. Wir können doch nicht unser ganzes Leben damit zubringen, uns gegenseitig zu erzählen, wie lieb wir uns haben. – Was liest du am liebsten, und was tust du besonders gern außer arbeiten und reiten? Also?“ „Aber nein, Unni, willst du wirklich anfangen, ernsthaft zu werden? – Was ich lese? Ich habe nie viel Zeit zum Lesen. Und wenn ich nicht arbeite oder reite, dann unterhalte ich mich am liebsten mit dir.“ Doch ich gab mich noch nicht zufrieden. „Worüber unterhältst du dich denn mit anderen Menschen?“ Nun wurde Roar ein klein wenig ungeduldig. „Nein, das kann ich dir wahrhaftig nicht sagen. Was meinst du eigentlich? Warum fragst du so?“ „Na ja, weil ich dich gern richtig kennenlernen möchte.“ Roar brach in schallendes Gelächter aus. „Ach, du mein kleiner, ernsthafter Schatz, du! Das Leben ist so herrlich, Unni, laß uns das nicht wegphilosophieren. – Schau dir lieber hier diese Zeichnungen zu den schicken Speisezimmermöbeln an. Ich glaube, die werden dir sicher gefallen.“ Und Roar breitete die Zeichnungen aus, und wir sprachen von Tischen und Stühlen und Schränken. Und so schrieb ich an Vater, daß Roar ein aufgeweckter, intelligenter Mensch sei, daß er aber zum Lesen kaum Zeit habe. Den Sommer über müsse er als Reserveoffizier exerzieren, und den Rest des Jahres nähme ihn sein Geschäft in Anspruch. Er sei Mitinhaber einer großen Eisenwarenhandlung. Doch mir schien es mit einem Male, als habe sich eine kleine Bakterie in mein Glück eingeschlichen und verursache dort eine Gärung.
Eines Abends hatten wir Gäste gehabt. Lönnedal fuhr ein paar von ihnen nach Hause, darunter auch Roar und Christopher mit ph. Am nächsten Morgen war Lönnedal krank. Er sei stark erkältet und habe Fieber, erzählte mir Margit. „Ja, aber wie hat er sich denn das geholt?“ fragte ich. Lönnedal hatte es Margit anvertraut, und sie sagte es mir: Der Herr Leutnant und ein paar andere Gäste seien noch zum Herrn Rechtsanwalt hinaufgegangen und hätten Lönnedal gebeten, so lange zu warten. In der Nacht sei es sehr kalt und windig gewesen, und die Nachfeier beim Herrn Rechtsanwalt hätte sich in die Länge gezogen. Lönnedal hätte eine Weile im Wagen gesessen, doch es wäre darin sehr kalt geworden. Er sei dann ausgestiegen und eine Zeitlang hin und her gelaufen, um warm zu werden. Aber dabei hätte er noch mehr gefroren. Die Gesellschaft schien ihn völlig vergessen zu haben. Die Herren seien sehr vergnügt gewesen, als sie endlich wieder in den Wagen gestiegen wären. Einer von ihnen sei gestolpert und der Länge nach hingefallen. „Aber es war nicht der Herr Leutnant!“ beeilte sich Margit hinzuzufügen. Ich schämte mich unsagbar für unsere Gäste. Ich klopfte an Lönnedals Tür. Ich gab ihm kochendheiße Milch mit Ei und Kognak und fühlte seinen Puls. Dann rief ich Doktor Bogard an. Es sei eine schwere Grippe, sagte der Doktor. Margit bekam Anweisungen über Pflege und Medizin. Nun hatte ich weiterhin etwas zu tun. Marie war zwar inzwischen wiedergekommen, aber sie mußte noch sehr geschont werden. Also blieb es dabei, daß ich mich in der Küche nützlich machte und auch hier und da den Hausmädchen half. Im Grunde war ich recht froh darüber. Lönnedals Krankheit verfinsterte Tante Agnetes Laune bis zur Rabenschwärze. Eine Hilfe war es allerdings, daß Roar sich erbot, sie zu fahren, wenn sie Besorgungen machen wollte. Für sie war anscheinend Lönnedals Krankheit, ebenso wie die von Marie, nur in Szene gesetzt worden, um sie zu ärgern. Ich wurde gescholten, weil ich den Doktor angerufen hatte, ohne die Tante zu fragen. Als ich erklärte, daß es dem Mann wirklich sehr schlecht ginge, bekam ich noch mehr Schelte. Ich ertrug es mit Fassung und war überhaupt niemals mehr böse auf die Tante. Längst hatte ich gelernt, sie zu nehmen, wie sie war, und sie austoben zu lassen, denn sie besaß ja trotz allem im Grunde ein gutes Herz.
Aber auf einen Menschen war ich wütend, und das war Roar. Sobald ich ihn einmal unter vier Augen hatte, gab ich ihm Bescheid. Er solle sich schämen, sagte ich, er und Ph und die anderen. Wollten sie noch eine Nachfeier haben, so war das all right. Aber dann hätten sie Lönnedal nach Hause schicken oder ihn mit hinaufnehmen sollen. Anfangs lächelte Roar dazu, dann blickte er sehr verwundert drein, und schließlich wurde er böse. „Hör mal zu, Unni, du willst doch wohl nicht damit sagen, daß du es mir mißgönnst, mich mit meinen Freunden zu amüsieren?“ „Quatsch! Davon rede ich gar nicht. Amüsier du dich, soviel du willst, aber nicht auf Kosten eines anderen, selbst wenn dieser andere ,nur’ ein Chauffeur ist.“ „Na, so ein Blödsinn! Ist es meine Schuld, wenn der Mann nicht dafür sorgt, daß er warm genug angezogen ist? Ich bin nicht so dumm, daß ich dich nicht verstehe. Die Sache mit Lönnedal ist natürlich nur ein Vorwand. Wie alle echten Frauensleute bist du bloß eifersüchtig, wenn der Mann mal sein Vergnügen auf einem Herrenabend haben will.“ „Roar! Du beschuldigst mich also einer Lüge?“ „Sag mal, willst du absolut streiten? Was ist denn mit dir los? Ich glaube, du warst gestern zu lange auf; du hast es wohl nötig, dich mal auszuschlafen. Kein Wunder, daß du nervös wirst, wenn du ständig zuwenig schläfst.“ Ich gab es auf und tröstete mich damit, daß Roar mich ja liebte. Später, wenn wir verheiratet waren, würde ich ihm mit der Zeit seine Schwächen und Fehler schon austreiben können. Wäre ich etwas vernünftiger gewesen, hätte ich sofort begriffen, daß dies das erste ernste Anzeichen für die Notwendigkeit war, Roars und mein Verhältnis zueinander gründlich zu prüfen. Aber an so etwas denkt man eben nicht, wenn man mit einem hübschen Leutnant verlobt ist, der einem auch noch einen Diamantring verehrt hat.
* Wir waren zu einer Party bei Doktor Bogard. Ausnahmsweise war der Doktor diesmal daheim. Er schwieg wie immer und blickte mit seinem unveränderlichen Lächeln auf seine schöne Frau. Plötzlich wandte sich Frau Rawen an ihn: „Herr Doktor, ist es wahr, daß Sie in Ihrem Labor lauter Meerschweinchen und weiße
Mäuse haben, die Sie aufschneiden, um mit ihnen zu experimentieren?“ Der Doktor warf ihr einen flüchtigen Seitenblick zu. „Angenommen, es wäre so“, sagte er, „was dann?“ „Um Himmels willen, Herr Doktor Bogard, Sie wollen doch damit nicht sagen, daß Sie wirklich Vivisektion betreiben?“ Das Wort Vivisektion ließ die Unterhaltung wie einen Wasserfall aufbrausen. Alle hatten etwas dazu zu sagen, und alle sprachen gleichzeitig. Der einzige, der wirklich etwas dazu hätte sagen können, war der Doktor, und der schwieg. „O Gott, wie kann man nur die armen, unschuldigen Tiere quälen“, rief Lilli mit einer Stimme, die vor Empörung zitterte. „Sie wären imstande, auch Pferde dazu zu verwenden“, rief Roar. „Nehmen Sie auch Einspritzungen bei Pferden vor?“ „Ist schon vorgekommen!“ sagte Doktor Bogard ruhig. Die Stimmung wurde nun fast feindselig gegen den Doktor. Als einmal eine winzige Pause in dem aufgeregten Stimmengewirr eintrat, wagte ich, mich einzuschalten: „Ja, aber nun hört doch mal, ihr dürft doch nicht vergessen, daß solche Tierversuche den Menschen unendlich viel genützt haben.“ „So, aha, du nimmst also seine Partei!“ rief Frau Rawen, die einen Pudel und eine Angorakatze besaß und als die anerkannt größte Tierfreundin des Klubs galt. „Ich finde, es ist eine Schande für die ganze sogenannte zivilisierte Welt, daß es so etwas wie die Vivisektion überhaupt gibt.“ „Sagen Sie mir, Frau Rawen“, sagte der Doktor leise, schleppend und völlig ruhig, „kennen Sie jemand, der zuckerkrank ist?“ „Ja, meine Mutter!“ „Ja – wie, in aller Welt, lebt sie denn dann noch?“ „Sie bekommt natürlich Insulinspritzen.“ „Ach so! Wissen Sie, daß bei der Entdeckung des Insulins vielen Hunden große Leiden verursacht wurden? Wissen Sie, daß es Tierversuche sind, die zahllosen zuckerkranken Patienten das Leben retten?“ Frau Rawen schwieg. Aber Roar sprach weiter. Er war mit seinen Gedanken noch bei den Pferden. „Aber die Pferde, Doktor! Wozu müßt ihr Ärzte denn auch die Pferde mißhandeln?“ „Wer sagt Ihnen, daß wir sie mißhandeln? – Wie viele Kinder, glauben Sie, sind wohl schon durch ein Serum gerettet worden, das
uns die Pferde liefern?“ „Sie meinen vermutlich das Diphtherie-Serum?“ „Ja, daran denke ich im Augenblick.“ „Man hätte ganz was anderes erfinden sollen“, sagte Roar. „Ihr hättet die Pferde in Frieden lassen sollen.“ Ich errötete bis unter die Haarwurzeln. Ich schämte mich, schämte mich unsagbar für Roar. Aber der Doktor blieb weiterhin ruhig. Sein Lächeln blieb unverändert. Nur schien es mir, als habe es einen leichten Anflug von Ironie bekommen. Langsam stand er auf und verschwand hinter einem dichten Vorhang. Ich wußte, daß er jetzt zum Flügel ging. „Na, ihr seid ja gut“, sagte Vera, „wißt ihr denn nicht, daß Henning berühmt ist – oder berüchtigt, wenn ihr wollt – wegen seiner Tierversuche?“ „Glaubst du, daß er nun böse ist?“ fragte Frau Rawen. Nach der Erläuterung über das Insulin war ihre Stimme recht zahm geworden. „Aber nein, Henning ist niemals böse“, erwiderte Vera. „Prost, Kinder, laßt uns von etwas Netterem reden!“ Aber ich stahl mich ebenfalls durch den Vorhang fort und schlich durch die Diele ins Musikzimmer. Der Doktor drehte sich nicht um, als er mich kommen hörte, sondern schlug die ersten Takte einer Toccata an. „Ich bin nicht sicher, ob Sie mit Leutnant Steen glücklich werden, Unni“, sagte er. Er sah mich nicht an dabei. Ich setzte mich still hin und hörte zu, wie er eine Toccata und Fuge von Bach spielte.
* Im Theater war Premiere zur „Wildente“ von Ibsen. Ich las es in der Zeitung, als gerade Doktor Bogard, Vera und Roar bei uns Kaffee tranken. „Oh, Roar, Dienstag ist Premiere!“ rief ich. „Wollen wir hingehen?“ „Ja, gern!“ sagte Roar. „Was wird denn gegeben?“ „,Die Wildente’“, sagte ich, und dann vergaß ich mich völlig und fuhr eifrig fort: „Um die ,Wildente’ bin ich nämlich im vorigen Jahr betrogen worden, denn ich fuhr ja gerade ab, als wir zu Hause anfingen, sie zu lesen.“ „Lest ihr zu Hause?“ fragte Roar verwundert. Und so mußte ich ihm erklären, daß wir daheim Ibsen-Abende veranstalteten.
„Das ist ja das Verrückteste, was ich je gehört habe“, rief Roar lachend. „Da sitzt ihr wahrhaftig jeden Donnerstag zusammen und lest laut vor?“ „Ja!“, sagte ich und fühlte, wie der Zorn in mir aufstieg. „Gott bewahre mich!“ sagte Roar. „Und ihr lest immer denselben Dichter?“ „Ja“, antwortete ich wieder. Das, was ich Roar sonst noch sagen wollte, mußte warten, bis wir unter uns waren. „Alle Achtung vor deinen Eltern, Unni“, fuhr Roar fort, „aber, du lieber Himmel, wie langweilig muß das bei euch sein.“ Ich war drauf und dran hochzufahren, doch da kam die schleppende Stimme von Doktor Bogard dazwischen: „Fräulein Unni, Sie sind doch nicht etwa die Tochter von Rektor Björk – Tor Björk, der die Abhandlungen über Ibsen geschrieben hat?“ „Doch“, sagte ich. Wer jetzt noch ein einziges herabsetzendes Wort über meinen Vater sagte, der sollte es mit mir zu tun bekommen! „Dann freut es mich doppelt, Sie kennengelernt zu haben“, sagte Doktor Bogard. „Ihr Vater ist eine der interessantesten Persönlichkeiten, die ich getroffen habe. Leider ist das schon sehr lange her. Ich begegnete ihm auf einer Studentenversammlung vor mehr als zwanzig Jahren. Wollen Sie ihm bitte die ergebensten Grüße übermitteln von jemandem, der seinen Vortrag über Ibsens ,Brand’ niemals vergessen wird.“ Oh, wie das mein Herz erwärmte! Und wie freute ich mich, daß Bogard dies sagte und Roar es hörte! „Ich bin übrigens der gleichen Meinung wie Ihr Vater“, sagte Bogard. „Wenn jemals in der norwegischen Dramatik etwas Besseres geschrieben worden ist als ,Brand’, dann ist es ,Die Wildente’.“ Roar reckte sich auf. Sein Gesicht bekam einen interessierten Ausdruck. „Apropos, Wildente!“ sagte er. „Hab’ ich euch eigentlich erzählt, daß ich im vorigen Herbst auf der Seevogeljagd zwei Wildenten mit einem Schuß heruntergeholt habe?“ Ich schielte vorsichtig zu Doktor Bogard hinüber. Sein sonst nur angedeutetes Lächeln war richtig breit geworden. Wie nett hätte es sein können, ihn so lächeln zu sehen, hätte es nur nicht meinem Verlobten gegolten, der sich lächerlich gemacht hatte. Auch Vera
lächelte ganz offensichtlich über ihn. Ich wünschte mir ein Mauseloch, um mich darin verstecken zu können.
* Als Roar mich fragte, ob ich mitkäme, wenn er mit Rawens und ein paar anderen aus dem Klub eine Osterfahrt mache, sagte ich nein. Ich verschanzte mich dahinter, daß ich in letzter Zeit Tante Agnete sehr vernachlässigt hätte und mich ihr jetzt für eine Zeit widmen müsse. Und ich versicherte Roar, er brauche keinerlei Rücksicht auf mich zu nehmen und solle ruhig allein reisen. Tante Agnete war gerührt über mich. Weder sie noch Roar ahnten den eigentlichen Grund, weshalb ich zurückbleiben wollte: Ich hatte mich entschlossen, meinen ganzen Mut zusammenzunehmen und mich durch alle Unannehmlichkeiten der letzten Zeit zu einer Klarheit über mich selbst durchzuringen.
Ostereier Die ganze „Bande“ war weggefahren, ebenso die ganze Familie. Nur Tante Hanna war in der Stadt zurückgeblieben, außer Tante Agnete und mir. Ich begleitete Roar und die anderen zum Bahnhof. Frau Rawen trug einen weißen Pelzanorak, und Roar sah in seinem dunkelblauen Sportanzug mit der Slalombluse besser denn je aus. Alle waren fröhlich und ausgelassen und schon richtig in Osterferienstimmung. Einen Augenblick war ich nun doch betrübt, daß ich in der Stadt zurückbleiben sollte. Aber dann dachte ich an das schöne Haus, in dem ich wohnte, an mein hübsches Zimmer und – vor allem – an Dyveke. An Dyveke hauptsächlich. Während Lönnedal krank war, hatte ich die Stute ganz allein gepflegt, und nun liebte ich sie noch mehr als vorher. So saßen also Tante Agnete und ich allein da. Wir spielten Karten, plauderten, strickten und hatten es ganz gemütlich. Manchmal kam Tante Hanna dazu. Sie paßte so gut in unser friedliches Dasein hinein. Und jeden Morgen stand ich zeitig auf, sattelte Dyveke selbst und trabte davon. Dabei rumorten die Gedanken in meinem Kopf. Darunter meldete sich auch einer, der meinte, ich solle besser Schluß machen mit Roar. Aber ein anderer hielt dagegen, daß es doch feige sei, gleich bei der ersten Schwierigkeit aufzugeben. War es denn nicht auch eine Art von Snobismus, wenn ich mir einbildete, Roar sei für mich nicht intelligent genug? Ich ritt hinauf zu dem Aussichtspunkt, wo Roar mir den Heiratsantrag gemacht hatte. Dort rief ich mir ins Gedächtnis zurück, wie reizend er immer zu mir war, wie sehr er mich liebte, ich dachte an all die Kosenamen, die er mir gegeben hatte, und ein wenig dachte ich wohl auch daran, wie mich meine Freundinnen um den hübschen Leutnant beneideten. Die Geschehnisse, über die ich mich so geärgert, und die Gelegenheiten, bei denen Roar sich blamiert hatte, glitten mehr und mehr in den Hintergrund. Und in meiner Erinnerung blieb nur noch der gute, verliebte Mann zurück, von dem ich so hübsche Geschenke bekam, und der so herrliche Geländeritte mit mir machte. Nein, ich wollte nicht weiter darüber nachdenken. Jetzt wollte ich mein Dasein genießen. Ich setzte Dyveke in Galopp, zuerst bergauf,
dann die ebene Landstraße entlang. Ach, war das wunderbar! Ich kitzelte die Stute leicht mit den Sporen. Sie schnaubte, griff aus, ich beugte mich vornüber, und dann jagten wir in Karriere dahin. Ich fühlte geradezu, wie wir die Kilometer fraßen. Da war ein Gatter. Wie hoch mochte es sein? – Ach was, ich wagte es! „Drauf, Dyveke! – Hei!“ Das Hindernis war höher, als ich geschätzt hatte. Ich japste, als das Pferd darübersetzte. Doch wir kamen heil drüben an, Dyveke und ich. Wir nahmen noch ein paar Gräben, dann ging es wieder im Galopp, und schließlich ließ ich Dyveke in ruhigem Schritt verschnaufen. Ich beneidete die anderen nicht mehr um ihre Skitour. Schöner als ich konnte es niemand haben. Oh, es war spät geworden. Wir mußten unsere Nasen heimwärts richten. Ich ließ Dyveke wieder hübsch gemächlich antraben. Aber kurz vor der Allee wollte ich doch noch meinen letzten Galopp haben. Wieder legte ich mich wie ein Jockey vornüber und raste auf das Haus zu. Da flatterte ein großes, weißes Papier quer über den Weg. Dyveke scheute und stieg. Es hätte nicht viel gefehlt, und ich wäre abgeworfen worden. Mit aller Kraft klammerte ich mich im Sattel fest. „Oh, lala, Dyveke! – Oh, lala!“ rief ich beruhigend. Aber die Stute war durch meinen wilden Ritt zu aufgeregt und nervös geworden, und als ihr meine Sporen versehentlich wieder zu nahe kamen, stieg sie abermals. Dabei streifte ein niedriger Zweig einer Kastanie über ihren Hals, und nun begann das Pferd geradezu einen Tanz mit mir aufzuführen. Ich wollte nicht um Hilfe rufen und biß die Zähne zusammen. Mit meinem eigenen Pferd mußte ich doch wohl allein fertig werden! Da – plötzlich hatte es wieder alle vier Hufe auf der Erde. Wie aus dem Boden geschossen stand ein Mann neben ihm und hielt es am Zügel fest. Er strich über Dyvekes schaumig-nassen Hals. „So – nun sei mal ganz ruhig – ganz ruhig“, redete er ihr gut zu. „Ich glaube, du mußt in den Stall, was?“ Und ohne weiteres führte er Dyveke durch das Gartentor und zum Stallgebäude. „Vielen Dank, nun komme ich wohl allein zurecht“, sagte ich. Er blieb stehen, ich sprang aus dem Sattel und nahm die Stute selbst an den Zügel.
„Schönes Pferd!“ sagte der Mann mit Kennerblick. „Aber Sie haben es heute hart geritten.“ „Das hat es aber gern“, erwiderte ich. „Mag sein, aber nun ist die Stute ein bißchen nervös geworden. Trocknen Sie ihr gründlich den Schweiß ab, und decken Sie sie sofort gut zu, damit sie nicht friert. Und warten Sie noch eine Weile, ehe Sie ihr Wasser geben!“ Er grüßte und ging. Ich stand da und starrte ihm nach. Was, in aller Welt, war denn das für ein Kerl? Wo kam er her? Woher wußte er, wo der Stall war? Wie kam er dazu, mir gute Ratschläge zu geben? Ich ging ins Haus und bekam meinen Kaffee serviert. Dabei berichtete Louise, der Eiermann sei gekommen, und sie fragte, wie viele Eier sie nehmen solle. „Ach, Rune ist da?“ sagte die Tante. „Dann komme ich gleich hinunter und spreche selber mit ihm.“ Ich folgte ihr. Da ich ja auch mit dem Kochen zu tun hatte, wollte ich auch beim Eiereinkauf dabeisein. Und wer saß am Küchentisch und trank Kaffee aus einer großen, blauen Küchentasse? Mein tapferer Lebensretter! Als die Tante eintrat, stand er auf. „Guten Tag, Rune! Wie geht es denn in Leirstad?“ „Danke, es ist alles beim alten. Wir haben jetzt gutes Wetter, da können wir bald mit der Frühjahrsarbeit beginnen.“ „So, das ist ja fein. – Und wie sieht es auf Kollen aus?“ „Ja, ich war gestern oben. Ich fürchte, gnädige Frau, Sie müssen an der Südseite neue Fensterläden anbringen lassen. Das Wetter hat ihnen in diesem Winter hart zugesetzt. Der Garten ist prächtig. Unter der großen Rotbuche kommen schon die Krokusse heraus.“ „Können Sie in diesem Jahr etwas Gartenarbeit für mich übernehmen, Rune?“ „Ich fürchte, das wird nicht gehen. Ich muß sozusagen den ganzen Hof allein bewirtschaften, da glaube ich nicht, daß ich noch mehr übernehmen kann.“ „Glauben Sie, daß Sivert es wenigstens tageweise machen könnte?“ „Das kann sein. Aber es wäre wohl das beste, Sie sprächen selber mit ihm, gnädige Frau.“ „Das werde ich tun. Ich denke, daß meine Nichte und ich an einem der Ostertage hinauffahren werden. Würden Sie Borgny wohl Bescheid sagen, daß sie heizt – sagen wir, am ersten Feiertag?“
„Ja, gern!“ Endlich fiel der Tante ein, uns miteinander bekannt zu machen. Der Eiermann, mein Retter, hieß Rune Tangen. Der Tangen-Hof war der nächste Nachbar von Kollen, Tante Agnetes Landsitz bei Leirstad, zwanzig bis dreißig Kilometer von der Stadt entfernt. Zu den Festtagen pflegte Rune herzukommen, um Tante Agnete mit Eiern und Sahne zu versorgen. Seit zwanzig Jahren verbrachte die Tante jeden Sommer einen Monat auf Kollen. In den übrigen elf Monaten war es Borgny Tangen, Runes Schwester, die das Haus verwahrte und im Winter auch heizte, damit das Inventar keinen Schaden litt. Sie gab auch Bescheid, wenn etwas nicht in Ordnung war. Als Halbwüchsiger hatte sich Rune manches schöne Stück Geld mit Gartenarbeit bei der Tante verdient. Ich freute mich darauf, Kollen zu sehen. Nach den Fotos zu urteilen, die die Tante mir gezeigt hatte, mußte es dort wunderschön sein. Tante Agnete nickte Rune zu und ging wieder nach oben. Aber ich tat, als hätte ich noch etwas in der Küche zu tun. Ich hatte Lust, mich noch ein wenig mit dem Eiermann zu unterhalten, der so gut mit Dyveke umzugehen verstand. „Tangen?“ sagte ich fragend. „Margit heißt doch auch Tangen, nicht wahr, Margit?“ Sie nickte sichtlich stolz. „Ja! Ich bin doch Runes Kusine. Ich stamme auch aus Leirstad. Rune hat mir die Stellung bei Frau Garde verschafft.“ „Geben Sie mir auch einen Schluck Kaffee, Margit? Seien Sie so lieb!“ bat ich. „Der Kaffee in den großen Tassen sieht so gemütlich aus.“ „Wollen Sie ihn denn hier trinken, gnädiges Fräulein?“ „Ja! Darf ich denn das nicht?“ Ich bekam meinen Kaffee und dazu dicke Scheiben frischen Würzkuchen und versuchte, mich mit Rune zu unterhalten. Er war höflich, aber zurückhaltend. Er antwortete kurz und sagte nicht mehr als nötig. Etwas fiel mir gleich an ihm auf: er aß bemerkenswert manierlich. Ich mußte an Tante Agnete denken, die immer Brot und Gebäck mit dem Kaffee hinunterspülte, was mich schrecklich irritierte. Sie hätte nur einmal sehen sollen, wie Rune ein Stückchen Würzkuchen nach dem anderen in den Mund schob, gründlich und lange kaute und dann den Kaffee hinuntertrank. Margit fing an, ihn nach Neuigkeiten von daheim zu fragen. Ich
merkte, daß ich störte, und darum ging ich. Aber ich fand, daß es in der Küche bei Rune und Margit viel behaglicher gewesen war als im Wohnzimmer. Später berichtete mir Margit ausführlicher über Rune. Er war der jüngere von zwei Brüdern und eigentlich Tierarzt. Kein Wunder also, daß er mir Anweisungen für die Behandlung von Dyveke geben konnte, dachte ich. Als sein Vater starb, übernahm zuerst der ältere Bruder den Hof. Aber dann starb auch er, und so gab Rune seine Tätigkeit als Tierarzt auf und kam heim, um als Landwirt weiterzuleben. „Sie können mir glauben, gnädiges Fräulein, Tangen ist ein feiner Hof“, versicherte Margit mit strahlenden Augen. „Solche Ställe und Scheunen gibt es nirgends. Rune hat alles umgebaut. Nun wohnen die Tiere so vornehm wie Prinzen und Prinzessinnen. Er hat vier prämiierte Kühe – außer den anderen Kühen, meine ich, und wegen seiner Pferde ist er richtig berühmt. Ja, sogar der Hofhund und die Katze im Stall sehen besser aus als andere Hunde und Katzen. Und wie gut Rune zu seiner Mutter ist. O ja, der ist schon ein feiner Kerl, der Rune, glauben Sie mir!“ Ja, den Eindruck hatte ich auch! Dann machte ich mich daran, für Tante Agnete, Tante Hanna, die Mädchen und Lönnedal Ostereier aus Marzipan zu fabrizieren. Dazu mußten Mandeln feingemahlen werden – kurzum, ich hatte viel zu tun und dachte nicht mehr an Rune. Dagegen dachte ich an Roar. Ich sah auf den glatten Ring an meiner Hand und auf den Diamanten, der an der anderen glänzte, und ich wußte, daß ich an Roar gebunden war. Heute mußte ich wirklich an ihn schreiben!
Auf Kollen Roar schrieb fleißig an mich. Seine Briefe waren zwar nicht gerade lang und vielleicht auch nicht allzu inhaltsreich, aber sie enthielten doch stets das, worauf ich den meisten Wert legen mußte: daß er sich sehr nach mir sehne, und daß er mich über alles liebe. Das brachte mein Herz zum Schmelzen, und ich ritt nochmals zum Aussichtspunkt hinauf und dachte an unseren Verlobungstag zurück. Die gute Stimmung setzte sich in mir fest, und so schrieb ich herzlicher an Roar, als ich es sonst vielleicht getan hätte. Roar war so gut zu mir, und er liebte mich und wollte nichts anderes, als mich glücklich machen. Also war das Wichtigste in Ordnung, und was es sonst an Unstimmigkeiten zwischen uns gab, das würden Zeit und Liebe wohl noch ausräumen. Am Karfreitag waren wir zum Mittagessen bei Tante Hanna in ihrem gemütlichen, altmodischen Heim, wo ein ganzes Zimmer nur mit exotischen Pflanzen und Vogelbauern ausgefüllt war – große und kleine Vogelbauer, in denen die Weibchen heckten. Jedes Jahr krochen hier die sonderbarsten Vögelchen aus, die Tante Hanna pflegte und aufzog. Sie machte Nester aus Körbchen und Watte und fütterte und versorgte die kleinen Vögel zärtlich wie eine Mutter. Ich war gern in Tante Hannas Vogelzimmer. Stundenlang konnte ich dort sitzen und den hübschen, munteren Tierchen mit den blanken, schwarzen Äuglein und den schimmernden, bunten Federn zusehen. Immer wieder hatte ich meinen Spaß an den Papageien, die ihre Sätze herplapperten oder an den Zuckerstückchen knabberten, die ich ihnen hinhielt. „Sei ja vorsichtig!“ schnarrte der Papagei Tommy, und sein Weibchen antwortete – ziemlich sinnlos, fand ich, aber es war das einzige, was sie konnte: „Guten Morgen, meine Herrschaften, haben Sie gut geschlafen?“ Onkel Toralf hatte diese Sätze den kleinen Papageiengehirnen eingehämmert. Er war sehr stolz darauf. Tante Hanna wollte am Ostersonntag auch gern nach Kollen kommen. „Ich habe Lust, auch Kersti einmal wiederzusehen“, sagte sie. „Das ist Runes Mutter“, erklärte sie mir. „Sie ist ein wundervoller Mensch, sage ich dir. Ich mag überhaupt die ganze Familie sehr gern. In Rune bin ich ja fast ein bißchen verliebt.“ Und Tante Hanna lachte auf ihre gutmütige Weise. „Ja, er ist bestimmt ein feiner Kerl“, sagte ich.
„Sei ja vorsichtig!“ ermahnte mich Tommy und zwinkerte mir mit einem Auge zu.
* Als wir am Sonntagmorgen losfuhren, wurden Körbe voll Proviant und Tüten mit Obst mitgenommen. Neben Lönnedal saß Margit – Tante Agnete konnte sich nicht’ vorstellen, auch nur einen Tag ohne Hausmädchen zu sein. Im übrigen war Margit hochbeglückt, auf diese Weise zu einer Extrafahrt in ihr geliebtes Leirstad zu kommen. Es war eine herrliche Fahrt. Nach einer guten Stunde sahen wir von einem Hügel aus die ganze Gegend von Leirstad vor uns liegen. Es war eine große Halbinsel, flach und fruchtbar. Nur am Ende einer der Buchten erhob sich eine runde Bergkuppe, und dort oben stand Tante Agnetes Sommerhaus. Breit und geräumig lag es da, weißgetüncht und von Efeu umrankt. Nach Süden hin hatte es eine große Terrasse, und dahinter erstreckte sich der Garten bis ans Wasser hinunter. Dort gab es ein Badehaus, ein Bootshaus, einen Anlegesteg und ein Sprungbrett – kurzum, für einen Sommeraufenthalt ein wahres Paradies! Das Haus war offen. In der langgestreckten Gartenstube brannte der Ofen, ein mächtiger, weißer Schwedenofen. Borgny Tangen stand in der Tür und begrüßte uns. Sie war ein großes, kräftiges Mädchen, etwa Anfang zwanzig. Sie begrüßte Tante Agnete höflich und Margit sehr herzlich. Dann zog sie sich mit ihr in die Küche zurück. Die beiden Tanten machten es sich vor dem Ofen bequem, und ich ging auf Entdeckungsreise. Die Zimmer waren groß, altmodisch eingerichtet und herzerwärmend behaglich. Zum oberen Stock gelangte man durch eine Halle, und auch sie wirkte gemütlich mit ihrem tiefen, breiten Sandsteinkamin an der einen Längsseite. Außer dem großen Wohnzimmer gab es noch ein kleines Eßzimmer und ein Eckzimmer mit Büchern, Bildern, einem Teppich und bequemen Stühlen. Auch ein alter Rauchtisch stand hier mit verräucherten, ehrwürdigen Meerschaumpfeifen in Reih und Glied, einer hübschen geschnitzten Tabaksdose, Aschenbechern und anderen Dingen, die darauf hindeuteten, daß dieser Raum die private Höhle von Onkel Franz gewesen sein mußte.
Im oberen Geschoß lagen eine Reihe kleinerer Zimmer zu beiden Seiten eines langen Flures. Die meisten hatten schräge Wände. Nur eines nicht, und zwar das geräumigste, das nach Süden über dem Gartenzimmer lag. Das war wohl Tante Agnetes Schlafzimmer. Daneben befand sich das Bad. Ich ging in die Küche hinunter. Sie schien ursprünglich eine hübsche, alte Bauernküche gewesen zu sein. Jetzt war sie modernisiert. Der rostfreie Stahl, der Abwaschtisch, der Kühlschrank und der Elektroherd wirkten stillos darin, aber sie erleichterten das Wirtschaften. Borgny und Margit ließen ihre Plaudermaschinen auf vollen Touren laufen. Lönnedal saß auf der Eckbank, trank Kaffee und sah aus, als wolle er sich durch nichts stören lassen. Zum Glück hatte er sich von seiner schweren Grippe wieder völlig erholt. Nach Margits Ansicht allerdings brauchte er auch weiterhin noch ihre fürsorgliche Pflege von früh bis spät. Es war ohnehin Margits Aufgabe, für das Wohl des Hauspersonals zu sorgen, denn Marie hatte ja genug mit Tante Agnete, den Gästen und mir zu tun. Borgny war nicht so verschlossen wie ihr Bruder. „Sie müssen bald mal kommen und sich bei uns umsehen“, meinte sie lächelnd und zeigte dabei eine Reihe schimmernd weißer Zähne, die mich an der Richtigkeit dessen zweifeln ließen, was ich kürzlich gelesen hatte, nämlich, daß die Norweger den Weltrekord in schlechten Zähnen hielten. „Margit, du bringst Fräulein Björk heute nachmittag mit, ja?“ Borgny war offensichtlich nicht orientiert über die scharfe Trennung zwischen Herrschaft und Dienerschaft in Tante Agnetes Haus. Ach was, ich hatte Lust, nach Tangen zu gehen. Wenn ich Margit beim Abwaschen half, waren wir im Nu fertig, und dann konnten wir uns drücken, während Tante Agnete Mittagsruhe hielt… Gesagt – getan! Und ich bereute es nicht. Es war gewiß schön auf Kollen, aber so zu Hause wie auf Tangen konnte ich mich dort niemals fühlen. Tangen war ein wirkliches Heim, ein Heim, wo Menschen wohnten, richtige Menschen, eine richtige Familie, wo jeder seine Arbeit zu verrichten hatte und sie tat, weil es die Väter und Mütter und viele Generationen vor ihnen auch getan hatten. Hier tickte eine herrliche alte, mit Rosen bemalte Standuhr, die auf dem Zifferblatt die zierlich verschnörkelte Jahreszahl 1716 trug. Hier stand ein Webstuhl mit einem angefangenen Stück Leinwand darauf. Hier spiegelte sich der
Raum in einem alten, bauchigen Kupferkessel. Und hier saß Mutter Kersti im guten Lehnstuhl am Fenster, grauhaarig und schwachsichtig – aber welch ein wunderbares Gesicht! Runzelig und alt war es und doch – wie ausdrucksvoll! Noch nie war mir soviel Ruhe und Harmonie in einem Menschenantlitz begegnet. Schlicht und selbstverständlich reichte sie mir ihre Hand, die hart und rissig war, und ich begriff sofort, daß Mutter Kersti im Laufe der Jahre unzählige Gäste in dieser Weise empfangen hatte. Sicher und ruhig bot sie mir einen Platz an, sicher und ruhig begann sie, mit mir zu sprechen. Ihr Verhalten wäre jeder Dame der großen Welt würdig gewesen. Das war Kultur! Oh, Himmel, wären doch Vati und Mutti hier! Plötzlich fiel mir etwas Merkwürdiges auf: Zum erstenmal, seit ich von daheim fort war, wünschte ich mir die Eltern herbei. Bisher hatte ich, ehrlich gesagt – und in Mutter Kerstis Gegenwart mußte man ehrlich sein – , oft geradezu eine Erleichterung empfunden bei dem Gedanken, daß Mutti und Vati mich nicht sehen konnten. Was waren Ditlefs Charme, Tante Agnetes Reichtum, Onkel Toralfs sogenannte Witze und Christophers Klugheit gegen das hier? Dieses einfache Sitzen in der dämmerigen Stube mit der Balkendecke gegenüber der Frau mit den klugen, freundlichen, alten Augen, die leise, kultivierte Stimme zu hören, die in dem Dialekt der Vorfahren fragte und erzählte – eben soviel fragte, daß es Interesse bewies und keine Neugier, eben soviel erzählte, daß es unterhaltend war und nicht aufdringlich. Borgny deckte den Kaffeetisch unter dem Fenster. „Ruf nach Rune“, sagte Mutter Kersti, „er schläft gewiß.“ Dann wandte sie sich lächelnd an mich: „Rune hat so viel zu tun“, erklärte sie, „er bewirtschaftet den ganzen Hof ohne eine andere Hilfe als einem halbwüchsigen Jungen. Borgny hat den Haushalt zu versorgen, mehr kann sie nicht übernehmen. Rune muß früh aufstehen und kommt spät ins Bett. Da muß er die Feiertage nutzen, um sich über Mittag auszuschlafen.“ Ich sagte, daß ich gern einmal die Ställe, die Scheune und den Hühnerhof sehen möchte. „Das läßt sich schon einrichten“, sagte Mutter Kersti, „aber macht sich denn eine junge Stadtdame etwas aus einem ländlichen Betrieb?“ Ich beeilte mich, ihr zu erzählen, daß unser nächster Nachbar
daheim Besitzer eines Bauernhofes sei, wo ich seit frühester Kindheit gespielt hätte. „Ach so! Nun, dann mag es wohl für Sie recht interessant sein, auch einmal einen Hof in dieser Gegend des Landes kennenzulernen“, meinte Mutter Kersti lächelnd. Dann kamen Rune durch die eine Tür und Borgny mit der Kaffeekanne durch die andere. Tante Agnete hätte es wahrscheinlich nicht richtig gefunden, daß ich neben ihrem Küchenmädchen beim Kaffeeklatsch saß. Aber ich fühlte mich so pudelwohl, daß ich keinen Augenblick lang auch nur einen Gedanken an Tante Agnete verschwendete. Ich war nur „Unni“ und nicht „meine Nichte, Fräulein Björk“. Rune war höflich, aber schweigsam. Ich erzählte Mutter Kersti von meiner Stute Dyveke, wie sie einmal wild wurde und stieg, und wie Rune mir geholfen habe. Mutter Kersti lächelte und nickte, als wollte sie sagen, man brauche ihr nicht zu erzählen, daß Rune stets und überall hilfsbereit sei. Nachher durfte ich mir die Ställe und die Scheunen ansehen. Am längsten hielt ich mich im Stall auf, und nun war Rune gezwungen, den Mund aufzumachen, denn ich fragte ihn gründlich über die Pferde aus. Mit der Zeit taute er auf und gab gute Ratschläge. Ich war ja selbst Pferdebesitzerin, vielleicht war ich ihm nur deshalb einer Unterhaltung wert, denn es war unüberhörbar, daß er sich nur mit mir als Pferdebesitzerin und nicht als Mensch unterhielt. Als wir unter der Scheunenbrücke zum Hofplatz zurückgingen, blieb ich plötzlich mit einem erschreckten „Oh!“ stehen. Einer meiner spitzen, hohen Schuhabsätze hatte sich zwischen zwei Steinen festgeklemmt und war nicht mehr herauszubekommen. So! Na, das war ja heiter! Ich zog und zerrte, aber es nützte nichts. Schließlich mußte ich den Fuß aus dem Schuh ziehen. Da stand ich nun auf einem Bein, denn der Boden unter der Scheunenbrücke war ziemlich feucht, und so ganz blitzsauber pflegt es vor einer Stalltür ja auch nicht zu sein. „Da werde ich Sie wohl tragen müssen“, sagte Rune. Und so trug er mich bis zum Wohnhaus, wo Borgny angelaufen kam und mir ein Paar Pantoffeln brachte. Roar hatte mich auch einmal getragen, als ich mit dem Fuß umgeknickt war. Aber er sagte dabei: „Ein Gutes hat die Sache wenigstens, sie gibt mir die Gelegenheit, dich zu tragen.“ Und dann hatte er mich hochgehoben, mich fest an sich gedrückt, mir warm
zugelächelt und mich nachher zart und behutsam niedergesetzt. Aber dieser Bauer hier, dieser ungehobelte Kerl, sagte nur: „Da werde ich Sie wohl tragen müssen.“ Bald darauf kam er mit meinem Schuh an und ging damit wortlos in ein anderes Zimmer. Ich hörte ein paar leichte Hammerschläge. Dann erschien er wieder. „Bitte schön – hier ist der Schuh!“ Roar wäre niedergekniet und hätte mir den Schuh angezogen. Rune drückte ihn mir bloß in die Hand. Ich sah flüchtig auf sein Gesicht. Er sagte nichts. Sein Blick war fest auf den hohen, spitzen Schuhabsatz gerichtet. – Uff, wie dumm von mir, daß ich nicht die hübschen neuen Sportschuhe aus Seehundfell mit den flachen Absätzen angezogen hatte!
* Als wir abends wieder in der Stadt waren und ich mit der Tante zusammensaß – sie las, und ich strickte – , gingen mir immer und immer wieder die albernen Worte durch den Kopf: „Da werde ich Sie wohl tragen müssen.“ Tölpel! Nichts mußte er – überhaupt nichts! Bevor ich mich zu Bett legte, schrieb ich einen ganz besonders langen und herzlichen Brief an Roar.
Aber dann kam der Sommer… „Ich habe mir überlegt“, sagte Tante Agnete beim Mittagessen, „ich könnte eigentlich nächste Woche nach Kollen hinausziehen. Es scheint, als sollten wir dieses Jahr einen zeitigen Sommer bekommen. Im Juli werde ich wahrscheinlich mit Hanna nach Montebello reisen. Wenn das Wetter schön bleibt, könnte man im Mai und Juni auf Kollen wohnen.“ „Oh, wie herrlich!“ rief ich aus. „Es war so schön auf Kollen.“ Aber dann fiel mir etwas ein. „Ach – Tante Agnete…“ begann ich zögernd. Ich wußte nicht recht, wie ich mich ausdrücken sollte. „Ja?“ „Du, Tante Agnete, du meintest wohl, daß ich dann nach Hause fahren sollte? – Weißt du, ich habe mich so daran gewöhnt, bei dir zu sein, und darüber habe ich ganz vergessen, daß du mich ja eigentlich nur für den Winter eingeladen hattest. Du brauchst nur zu sagen, wann ich…“ „Nach Hause fahren? Ja, aber warum, in aller Welt, solltest du das?“ sagte Tante Agnete und blickte mich verwundert an. „Du wirst dich doch im Herbst verheiraten. Ach, gut übrigens, daß wir gerade davon sprechen. Ich wollte ja deine Eltern darum bitten, daß sie mich deine Hochzeit ausrichten lassen.“ Etwas in mir sträubte sich dagegen. Meine Hochzeit hier feiern? Nein, daran war irgend etwas schief. Ich wollte nicht Mittelpunkt eines Festes sein, das so groß und so elegant war, wie meine Eltern es niemals veranstalten könnten. An diesem bedeutendsten Tag meines Lebens wollte ich keinesfalls „meine Nichte“, da wollte ich „unsere älteste Tochter“ sein. Aber ich hatte schon längst damit aufgehört zu sagen, was ich dachte. Also lächelte ich, so gut ich konnte, und erklärte, das sei ganz reizend von ihr, aber das müsse sie mit Mutti und Vati ausmachen. Und wenn sie mich wirklich noch eine Weile bei sich behalten wolle, so sei ich begeistert, den Sommer auf Kollen verbringen zu dürfen. Ich könne ja heimreisen, wenn sie nach Montebello führe. Irgendwann mußte ich ja nach Hause, um die letzte Hand an meine Aussteuer zu legen, wenn ich damit auch schon längst bei Tante Agnete begonnen hatte. Aber ich durfte doch meiner Mutter nicht die Freude nehmen, sich wenigstens noch zum Schluß an der
Herstellung der Ausstattung zu beteiligen. Ja, dagegen hatte die Tante nichts einzuwenden. Also eine Klippe umschifft. Vor einem halben Jahr wäre ich noch nicht so diplomatisch gewesen, o nein. Aber mit der Zeit lernt man auch das. An einem strahlenden Maitag siedelten wir nach Kollen über. Tante Agnete schickte Lönnedal voraus mit dem Wagen, vollgestopft mit allen möglichen Sachen. Margit fuhr mit, um zusammen mit Borgny das Haus herzurichten. Am folgenden Tag kam Lönnedal zurück, um Tante Agnete und Louise zu holen, und ich ritt nach Kollen. Marie war heimgefahren. Sie brauchte in diesem Sommer eine gründliche Erholung, denn sie hatte noch immer unter den Nachwirkungen der Blinddarmoperation zu leiden. Lönnedal bekam drei Wochen Urlaub, so daß unser Haushalt nun auf vier Personen zusammengeschrumpft war. Ich war von Tante Agnete für den Sommer neu eingekleidet worden. Sie hatte selber darauf geachtet, daß alles da war, was „meine Nichte“ brauchte: Shorts und lange Hosen, Badezeug nach letztem Modell und zu einem wahnsinnigen Preis, verschiedene Sandaletten, und auch eine Tennisausrüstung, denn auf Kollen gab es einen Tennisplatz, und wenn Ditlefmann sonntags zu Besuch kam, konnten wir spielen. Und Ditlefmann kam, und Else kam, und Vera und ihr kleiner Doktor kamen. Sie blieben zwei, drei oder vier Tage, und wenn sie wegfuhren, kamen andere. Louise und Margit hatten alle Hände voll zu tun. Und ich spielte Tennis mit Ditlef und Vera. Der Doktor spielte natürlich nicht, sondern saß im Korbstuhl daneben und sah zu. Vera federte wie Stahl, und wenn der Doktor ihr zusah, hatte er denselben Gesichtsausdruck, wie wenn er Bach spielte. Die Wochen vergingen, und allmählich verschwanden die Gäste. Bogards wollten ins Ausland fahren, Ditlefmann ging auf eine Geschäftsreise, und Else fuhr mit dem Kindermädchen und allen fünfen in eine Sommerpension. „Weißt du“, vertraute sie mir an, als sie sich von mir verabschiedete, „Ditlef ist jetzt so lieb und nett zu mir. Neulich hat er mir Sprachunterrichtsplatten für Englisch und Deutsch geschenkt. Er sagte, wenn ich erst eine gute Grundlage hätte und einigermaßen sprechen könnte, nähme er mich vielleicht das nächste Mal auf seiner Auslandreise mit. – Und er hat Wencke richtig lieb. Nie hat er mit den anderen so wie mit ihr gespielt, als sie Babys waren. Oh,
Unni, ich habe es noch nie so gut gehabt wie jetzt“, fügte Else lächelnd hinzu, und ihre Augen waren sehr blank, diesmal aber nicht auf die gleiche Weise wie damals. „Und nun heiratest du auch bald“, sagte sie, sah mich nachdenklich an und fuhr dann rasch fort: „Agnetchen freut sich schon sehr darauf, Brautjungfer zu sein. Sie spielt bereits dauernd Hochzeit mit ihren Puppen.“ Onkel Toralf und Tante Antoinette reisten ins Gebirge und nahmen ihre Nichte Lilli mit. So ging jeder seiner Wege. Und Roar mußte zum Exerzieren. Seit Ostern war es still und friedlich geworden zwischen uns. Wir hatten nett und kameradschaftlich über die Aussteuer und die Heirat geplaudert, wenn er sonntags nach Kollen kam. Wohlweislich umging ich alle Gesprächsthemen, die eine Mißstimmung hervorrufen konnten. Die Schwierigkeiten, die ich in meinem tiefsten Innern kommen fühlte, schob ich von mir weg – vorläufig wenigstens. „Im Juli fahre ich nach Hause“, erklärte ich Roar, „und dann mußt du zusehen, daß du dich so bald wie möglich ein paar Tage freimachen und hinkommen kannst, um meine Eltern kennenzulernen.“ Und Roar küßte mich und war ein lieber Junge und sagte, daß er sich sehr darauf freue.
* Dann wurde es still auf Kollen. Ich machte weite Ritte. Und jeden Tag ging ich nach Tangen und holte Milch. Auch zum Dorfkaufmann ging ich, um die notwendigen kleinen Einkäufe zu erledigen, überall begegnete man mir sehr höflich. Kam ich in den Laden, ließ der Kaufmann die anderen Kunden stehen, um mich „persönlich“ zu bedienen. Kleine Kinder mit Einkaufskörben, das Geld in Papier gewickelt in den Fäusten, trippelten ungeduldig hin und her, während ich unter der bescheidenen Auswahl an Schokolade, oder was ich gerade brauchte, das Beste aussuchte. Anfangs hatte ich dagegen Einspruch erhoben, vor den anderen bedient zu werden, aber dann gewöhnte ich mich daran. Im Grunde schmeichelt es ja doch der Eitelkeit, wenn so ein Staat um einen gemacht wird. Und wenn ich ritt – nicht in meinem braunen Reitkostüm,
sondern in rohseidenen Shorts und kurzärmeliger Hemdbluse – , dann knicksten die kleinen Mädchen mit dem Finger im Mund, und die Jungen standen am Wegrand und starrten mir nach. Die Burschen zogen bedächtig die Mützen und sagten guten Tag, und auch die Frauen murmelten eine Begrüßung. Aber es war keine Wärme in ihrem Lächeln und keine Herzlichkeit in der Stimme. Nur bei Mutter Kersti war es anders. Sie blieb stets die gleiche. Es war eine Freude und eine Erholung, in ihre Stube zu treten und mit ihr aus den geblümten Tassen Kaffee zu trinken. Rune sah ich nur, wenn ich Milch holte. Glücklicherweise hatte er jetzt eine Melkerin bekommen, aber er stand doch immer selbst dabei, in weißem Kittel und weißer Mütze, und maß und wog und nahm Fettproben. Ei war kühl und höflich und irritierte mich schrecklich.
Doch eines Abends, als ich wieder einmal Milch holte, geschah es, daß Rune nicht dastand und unerträglich kühl war. Er saß selber auf dem Melkschemel und molk so eifrig, daß es im Eimer nur so rauschte. Die Melkerin war krank geworden, und Rune mußte mit
der Arbeit allein fertig werden. Bei diesem Anblick fühlte ich plötzlich, wie mein Herz den gleichen Freudensprung machte wie damals, als ich die Arbeit der Marie übernahm. Ich sagte kein Wort zu Rune, sondern ging hin, holte mir Schemel und Eimer der Melkerin, setzte mich neben der „Frühlingsblume“ zurecht, einer schönen, großen, rotbunten Kuh, und gleich darauf zischte es auch in meinen Eimer. Da sprang Rune so heftig auf, daß sein Schemel hintenüberkippte. „Wo, um alles in der Welt, haben Sie denn melken gelernt?“ „Das kann Ihnen doch ganz gleichgültig sein!“ Nun war ich die überlegene. Ich arbeitete in voller Fahrt und sandte dabei meine wärmsten und herzlichsten Gedanken zu unserem Nachbarn daheim, der mir so oft erlaubt hatte, zu meinem Vergnügen seine Kühe zu melken. Rune sagte nichts mehr. Ich ging von einer Kuh zur anderen, ich filterte die Milch, ich wusch mir jedesmal die Hände, bevor ich das nächste Tier anfaßte – nein, war das ein Spaß! „Möchten Sie eine Schürze haben?“ fragte Rune und hielt mir eine hin. „Danke!“ erwiderte ich und nahm sie ohne ein weiteres Wort. Als wir fertig waren, gab er mir die Hand. „Tausend Dank für Ihre Hilfe, Fräulein Björk! Das war sehr nett von Ihnen.“ „Pah! Es hat mir Vergnügen gemacht!“ Er lächelte. Es war das erste Lächeln, das mir galt. „Wer hätte gedacht, daß Sie eine so flinke Melkerin sind“, sagte Rune, „bei Ihrem Aussehen!“ Nanu, war an meinem Aussehen etwas nicht in Ordnung? Im ersten Spiegel, den ich fand, betrachtete ich mich. Gewiß, mein Haar war etwas verstrubbelt. Vielleicht war es hier auf dem Lande zweckmäßiger, ein Band darumzubinden. Meine Lippen waren sorgfältig geschminkt, und die Fingernägel – sie waren lang und spitz und rot lackiert. Plötzlich fühlte ich, wie mein Gesicht fast genauso rot wurde. Am nächsten Morgen erwachte ich um halb sechs. Ich sprang aus dem Bett, fuhr in meinen alten Overall und knotete mir ein Tuch um den Kopf. Fünf Minuten bewilligte ich mir, um die Nägel kurzzuschneiden und den Lack zu entfernen. Dann hinein mit nackten Füßen in die Sandaletten – fertig und los! Rune war gerade in den Stall gekommen. Die Kühe brüllten und
waren unruhig. „Darf ich heute auch wieder melken?“ fragte ich. „Es hat mir solchen Spaß gemacht.“ „In Ordnung!“ sagte Rune, und: „Danke!“ fügte er hinzu. So molk ich, und nachher half ich, die Tiere zu füttern. Um halb acht saß ich am Küchentisch auf Tangen und bekam Haferbrei mit Sahne und selbstgebackenes Brot mit frischgekirnter Butter. Eine Woche lang fand ich mich täglich morgens und abends zum Melken ein. Rune wurde zwar nicht gerade redseliger in dieser Zeit, aber ein Lächeln hier und da entlockte ich ihm doch. Zwischendurch sagte er wohl auch einmal etwas, zum Beispiel, daß ihm Dyveke sehr gut gefiele, und er fragte mich über sie aus. „Wenn Sie Lust haben, sie zu reiten, dann kommen Sie nur“, sagte ich. Dabei fiel mir erst ein, daß ich bisher noch niemandem gestattet hatte, sich auf Dyveke zu setzen. „Danke!“ sagte Rune. Und nach einer Pause fügte er hinzu: „Mein Schwarzer ist auch zugeritten. Wenn es Ihnen Spaß macht, könnten Sie ihn ja einmal prüfen. Ich würde gerne hören, was Sie von ihm als Reitpferd halten. Eigentlich war er nur als unser StaatsWagenpferd angeschafft worden, aber dann dachte ich mir, es müßte ganz nett sein, ihn auch zu reiten.“ „O ja, das möchte ich schon!“ sagte ich. „Denn ob Sie es glauben oder nicht: ich habe noch nie ein anderes Pferd geritten als Dyveke.“ „Ach, darum! Sie sind nämlich gut aufeinander eingespielt, wenn ich so sagen darf. Sie reiten ausgezeichnet.“ Du lieber Himmel – wie freute mich das! Daß Rune überhaupt eine solche Anerkennung aussprach! Und zu mir! Und über mein Reiten! Damit traf er genau ins Schwarze. Mit nichts hätte er mir eine größere Freude machen können. Am nächsten Sonntag ritt ich nach Tangen. Ich hatte Glück. Rune stand gerade auf dem Hofplatz, als ich ankam. Ja, er wollte Dyveke gern reiten. Dyveke schaute ihn mit ihren schönen Augen prüfend an. Dann wieherte sie leise und rieb ihren Kopf an ihm. Rune saß auf. Gehorsam und ruhig folgte sie seinem Schenkeldruck. Sie ging so gut, daß es die reine Freude war. Mit mir und dem Schwarzen dagegen sah die Sache schon schlechter aus. Er war ein munteres Jungtier mit einem allzu großen Überschuß an Kraft und Lebenslust. Er tänzelte, sprang und stieg, so daß Rune schleunigst von Dyveke absitzen, herbeieilen und dem Schwarzen ins Zaumzeug greifen mußte.
Jeder bestieg nun sein eigenes Pferd, und wir ritten von Tangen fort und über den Weg zum Dorf. Die kleinen Mädchen knicksten wie immer, aber diesmal lächelten sie dabei und steckten nicht den Finger in den Mund. Auch die Buben standen wie gewöhnlich am Wegrand, doch sie starrten mir nicht wie sonst mit offenem Mund nach. Sie winkten Rune zu und riefen: „Gu’ Mor’n, Rune!“ Am nächsten Tag, als ich wieder allein ritt, schien es mir, als zeigten mir die Leute freundlichere Gesichter. Es war offensichtlich: Die Tangener hatten mich anerkannt. Und ihre Anerkennung war eine Auszeichnung.
* Mitte Juni bekam Tante Agnete den Besuch von Tante Hanna. Danach war Tante Agnete ziemlich nachdenklich. Offenbar grübelte sie über etwas. „Unni“, sagte sie endlich, „Hanna will unbedingt schon nächste Woche mit mir nach Montebello reisen.“ „Oh!“ sagte ich. Ich war furchtbar enttäuscht. „Ja – dann muß ich wohl nach Hause fahren.“ „Ich kann dich natürlich nicht zwingen, hierzubleiben, aber ich glaubte, du würdest mich erst einmal fragen, ob du mir nicht noch irgendwie nützlich sein könntest.“ „Aber Tante Agnete! Liebste, beste Tante, begreifst du denn nicht, daß ich mir nichts auf der Welt mehr wünsche, als hier bleiben zu dürfen? Das konnte ich dir aber doch nicht nahelegen, denn wenn du fort bist, brauchst du mich doch nicht.“ „Im Gegenteil, dann brauche ich dich erst recht. Du hast dich ja als ein ganz vernünftiges Menschenkind erwiesen, so daß ich beruhigter abreise, wenn du das Haus verwahrst. Dann kann Louise jetzt ihren Urlaub nehmen, und ich brauche sie nachher nicht zu entbehren. Es genügt wohl, wenn du und Margit euch des Hauses und Gartens annehmt. Bald sind die Erdbeeren, die Himbeeren und die Schattenmorellen reif und müssen eingemacht werden. Es gibt also viel zu tun. Sonst bin ich ja immer bis zum Juli hier, aber wenn Hanna absolut schon fahren will…“ Oh, geliebte Tante Agnete! Ein Troll, ein Ungeist warst du, denn es sprach der pure Egoismus aus dir. Aber Gottes Segen über deinen Egoismus in diesem Fall!
Die Freuden des Landlebens In den Tagen des Packens und der Reisevorbereitungen war Tante Agnete nicht gerade sehr umgänglich. Trotz ihrer Reisegewandtheit war sie sichtlich nervös. Alles machten wir falsch. Ich packte ihren Toilettenkoffer, und Louise mußte ihn wieder ausräumen, denn ich hatte die Plätze für die Flakons und die Bürsten verwechselt. Louise schwitzte über der Aufgabe, die Kleider zusammenzulegen, denn es mußte auf eine ganz bestimmte Weise geschehen, damit sie nicht kraus wurden. Ich erbot mich, die Karten für die Autofähre zu besorgen, und bekam zu hören, daß ich dafür in keiner Weise zuständig sei. Das alles geschah übrigens in der Stadtwohnung, wohin wir für ein paar Tage zurückgekehrt waren. Margit war auf Kollen geblieben, und Rune hatte Dyveke in Pension genommen. Mit großer Erleichterung sah ich die beiden Tanten ins Auto steigen. Ich versprach, auf Haus und Garten und überhaupt alles bestens zu achten, und so war jedenfalls Tante Agnetes letzte Bemerkung an mich uneingeschränkt freundlich: „Ich verlasse mich auf dich, Unni“, sagte sie, „und ich freue mich schon darauf, dich in einem Monat wiederzusehen.“ Dann fuhren sie ab. Die Nacht über blieb ich noch in der Stadt. Als ich mich am nächsten Morgen von Louise verabschiedete, präsentierte sie mir wahrhaftig ein Lächeln. Ob es der Erleichterung über die glückliche Abreise der Tante galt oder der Freude auf den Urlaub, der nun begann, oder ob es wirklich eine Art Sympathie für mich bedeutete, das möchte ich dahingestellt sein lassen. Ich aber reiste nach Leirstad zurück, leichten Herzens und fröhlicher, als ich es je zuvor gewesen war. Margit erwartete mich mit einem leckeren Frühstück. Sie hatte auf der Terrasse gedeckt – für mich allein. Da machte ich ein strenges Gesicht und sagte: „Margit, nun hören Sie mal zu! Wir beide werden nun einen Monat lang allein hier leben. Haben Sie allen Ernstes vor, es die ganze Zeit so zu halten, daß ich meine Mahlzeiten auf der Terrasse einnehme und Sie in der Küche, außer wenn wir Kaffeebesuch von Tangen bekommen?“ Da lachte Margit und holte für sich noch ein Gedeck.
Und damit begann ein Monat, der in meiner Erinnerung fortlebt wie ein wunderschönes Märchen: Frühzeitig aufstehen, Frühstück auf der Terrasse oder, wenn es regnete, in der Küche. Dann brachten wir das Haus in Ordnung, arbeiteten im Garten und sprangen in den See. Margit und ich waren gute Schwimmerinnen, und so hatten wir sehr viel Spaß daran, zu tauchen oder um die Wette zu schwimmen. Wir pflückten Beeren, kochten Marmelade oder weckten sie ein und genossen dabei so richtig, daß nicht die skeptischen Blicke von Marie und Louise auf uns ruhten. Wir „speicherten Vitamine“, wie Margit sagte, und sprachen geringschätzig und mitleidig von Maries altmodischen und vitaminzerstörenden Kochmethoden. Wir aßen zeitig zu Mittag, und dann trennten sich unsere Wege. Ich ritt, und Margit besuchte ihre Verwandten und Freunde, oder sie lud sie zu sich ein. Es waren kaum zwei Tage vergangen, da duzten wir uns. „Das geht nie und nimmer gut“, meinte Margit, „wir werden wieder auf ,Sie’ umschalten müssen, bevor die gnädige Frau heimkommt.“ „Kommt Zeit – kommt Rat!“ erwiderte ich. Eines Nachmittags fand ich Margit eifrig damit beschäftigt, sich ein Kleid zu nähen. Beim Anprobieren mußte ich ihr helfen. „Was hast du denn vor, daß du dich so fein machen willst?“ fragte ich mit Stecknadeln zwischen den Zähnen. „Morgen ist ein Fest im Schulhaus“, erklärte Margit, „vielleicht hast du Lust mitzukommen?“ Und ob ich Lust hatte! Ich lief ans Telefon und rief zu Hause an. Esther meldete sich, die anderen waren ausgegangen. „Um Himmels willen, bist du krank, Unni? Ist jemand gestorben?“ fragte Esther. In unserer Familie führt man Ferngespräche nur bei Todesfällen oder ernsten Erkrankungen. „Nein, aber ich will auf ein Fest“, entgegnete ich. „Liebste Esther, lauf auf den Boden und hol meine Tracht herunter, pack sie ein und schick sie mir per Eilboten, damit ich sie morgen hier habe.“ „Du bist wohl total durchgedreht!“ meinte Esther. „Tust du es, Esther?“ „Natürlich tue ich es! – Du, Unni, unsere Pussi hat heute vier Junge bekommen. Willst du eines davon haben, wenn du heiratest?“ Wenn ich heirate! Großer Gott, seit Tagen hatte ich nicht mehr an Roar gedacht! Esther handelte rasch. Es gelang ihr, daß das Paket noch mit dem
Abendzug fortkam, und so hatte ich es am nächsten Nachmittag. Ich besitze eine sehr schöne Tracht, die ich von meiner Großmutter aus Telemark geerbt habe. Bisher hatte ich sie nur zum Nationalfeiertag getragen, aber wenn ich nun zum Fest im Schulhaus von Leirstad ging, wollte ich meine Tracht anhaben. Ich nahm mir viel Zeit, um mich schön zu machen. Schluß mit dem Toupieren, Schluß mit Rouge und Lippenstift! Ich war so sonnenbraun und frisch wie nie zuvor. Ich zog Großmutters handgestickte Bluse an und knüpfte mir die grobgewebte Schärpe um, ich knotete ein Band um mein Haar und zog mir die Spangenschuhe an. – Ach, wieviel besser gefiel ich mir in dieser alten Tracht als in dem blaßblauen Abendkleid mit der Pelzstola! Ab mit dem Diamantring! Und mit Schrecken bemerkte ich, daß ich am liebsten den anderen Ring ebenfalls abgezogen hätte. Plötzlich erschien mir der schmale, goldene Ring an meinem Finger wie eine schwere Belastung. Margit jubelte, als sie die Tracht sah. „Oh, da werden die Leute Augen machen!“ rief sie, und ihre Finger glitten bewundernd über die feine Stickerei am Hals. Dann gingen wir. Vor dem Schulhaus blieben wir stehen. Wir waren eine Viertelstunde zu spät gekommen, das Fest hatte bereits begonnen. „Was ist das, Margit?“ fragte ich. „Wer singt denn da?“ Margit blickte mich verständnislos an. „Wer da singt? Na, alle zusammen!“ „Alle zusammen?“ „Ja, wir fangen jedes Fest mit einem gemeinsamen Gesang an.“ Du liebe Zeit! Gab es wirklich erwachsene Menschen, die gemeinsam laut sangen? – Nein, wie würde der Reitklub darüber lachen! Der Dorfschullehrer empfing uns. Er war ein Mann von etwa vierzig Jahren, einem offenen, freundlichen Gesicht und klugen Augen unter einer hohen Stirn. „Willkommen! Wie erfreulich, ein neues Gesicht hier zu sehen! Ich kenne Fräulein Björk bisher nur vom Ansehen.“ Wir nahmen unsere Plätze ein, und eine junge Dame reichte uns Liederbücher. Anfangs kam ich mir noch ein bißchen komisch vor bei dieser Singerei. Aber dann nahm ich mich zusammen und befahl mir, jetzt ebenso elastisch zu sein wie damals, als es galt, mich in die
Umgebung von Tante Agnete einzufügen. Und als der Lehrer sagte, wir wollten nun „Das Spätzlein“ singen, da sang ich aus voller Kehle mit. War das ein Vergnügen! Richtig festlich! Und als wir hinterher das Lied von „Peter Spielmann“ sangen, war ich überzeugt, daß niemand mit größerer Begeisterung sang als ich. Die Dame mit dem Liederbuch drehte sich um und lächelte mir zu. „Darf ich mich Ihnen bekannt machen?“ sagte sie nachher zu mir. „Ich heiße Sigrid Volden. Ich bin die Frau des Lehrers.“ „Ja, aber – Sie sind doch nicht von hier?“ „Ich stamme aus Oslo. Am Frognerweg bin ich aufgewachsen. Und wenn Sie mich jetzt fragen, wie ich mit dem Dorfleben zurechtkomme, so kann ich Ihnen nur versichern, daß ich es wunderbar finde.“ Ja, sie sah wirklich froh und munter aus, diese Sigrid Volden. Ich mochte sie sofort gut leiden. Nun folgten die Darbietungen Schlag auf Schlag. Ein junges Mädchen trug ein Gedicht vor. Ein Geschwisterpaar, ein Junge und ein Mädchen von sechzehn und achtzehn Jahren, sang ein Duett. Dann erhob sich Sigrid Volden und ging zum Flügel. Sie spielte Chopin, und zwar sehr gut. Es folgten einige Lesungen aus der Literatur, und danach trugen Frau Volden und ihr Sohn, ein hübscher Dreizehnjähriger, ein paar Stücke für Klavier und Violine vor. Anschließend wurde zu Tisch gebeten. Zwei lange Tafeln waren aufgestellt mit Bergen von Wecken und anderem Gebäck und Schokolade in dampfenden Kannen. Ich bekam meinen Platz neben Frau Volden, und mir gegenüber saßen Rune und Borgny. Margit war von einem jungen Mann fortgeführt worden, bei dessen Anblick sie verdächtig hochrote Wangen bekommen hatte. „Nun, und Sie?“ fragte Frau Volden. „Wie fühlen Sie sich denn auf so einem Fest im Schulhaus auf dem Lande? Etwas ungewohnt, nicht wahr?“ „Ja“, gab ich zu, „aber ich finde es ganz reizend.“ „Sie können ruhig sagen, daß es Ihnen noch etwas komisch vorkommt“, sagte sie lachend, „das fand ich zu Anfang nämlich auch. Es ist schon ein großer Unterschied zwischen einem Fest in der Stadt und einem Fest auf dem Lande. Aber ich habe mich noch nicht eine einzige Sekunde lang nach der Stadt zurückgesehnt.“ Rune lächelte mir über den Tisch zu. „Glaub nur nicht, Sigrid, daß Fräulein Björk eine verwöhnte
Stadtdame sei“, sagte er, „du solltest sie mal Kühe melken sehen. Ich habe mir schon ernstlich überlegt, ob ich sie nicht als Stallmagd bei mir einstellen soll.“ Die Nächstsitzenden hörten es und fingen an zu fragen, und Rune und Borgny berichteten von meiner freiwilligen Stalltätigkeit. Sie lachten und amüsierten sich, all diese netten jungen Menschen um mich herum, und sie wurden viel freier in ihrem Verhalten mir gegenüber. „Nun sagen Sie mir doch bitte mal“, wandte ich mich an Frau Volden, „warum sind denn alle jetzt so reizend zu mir? Oder richtiger, warum waren sie vorher so furchtbar kühl und höflich?“ „Weil sie Sie noch nicht kannten. Sie wurden nur als eine von Kollen betrachtet.“ „Ja, ist es denn ein Fehler, daß ich nach Kollen gehöre?“ „Nein, aber Frau Garde und ihre Familie haben sich noch nie – wie soll ich sagen – unter die Einheimischen gemischt.“ Mehr sagte sie nicht. Aber ich dachte an Tante Agnetes freundlich-herablassende Art, in der sie mit den Leuten hier sprach. Und ich konnte mir gut vorstellen, daß Ditlefmann und Christopher mit ph nicht in diesen Kreis paßten. Mich hatten sie nur in eleganter Sommerfrischlerkleidung, mit Diamantring und Make-up gesehen, oder ich ritt auf Dyveke an ihnen vorüber und hatte sicher sehr snobistisch und überlegen gewirkt. Wir hatten unsere Schokolade ausgetrunken, und nun sollte getanzt werden. Rune kam auf mich zu. „Ist es mir gestattet, mit der Melkerin zu tanzen?“ „Wenn es etwas ist, das ich tanzen kann“, meinte ich. „Ach, es wird schon gehen!“ Es begann mit einem Rheinländer. Den konnte ich glücklicherweise. Aber dann folgten Reigentänze, da wurde es schon schwieriger. Doch Rune hatte sich in den Kopf gesetzt, sie mir beizubringen. Ich gab mir große Mühe, seine Anweisungen rasch zu begreifen, und im übrigen machte ich nach, was ich bei den anderen sah, und – es ging! Ich war schlank und leicht, und jedesmal, wenn Rune mich hochheben mußte, flog ich fast bis an die Decke. Ich tanzte mit Margits Bruder, mit dem Dorfschullehrer und mit dem würdigen Dorfkrämer, der mich immer so ausgesucht höflich bedient hatte. Als es elf Uhr war, klatschte der Lehrer in die Hände und rief:
„Bevor jeder heimgeht, soll er noch einen musikalischen Genuß bekommen.“ Sigrid Volden ging zum Flügel. Rune folgte ihr. Ich spitzte die Ohren und sperrte die Augen auf. Was kam jetzt? – Nach dem Vorspiel horchte ich noch gespannter auf. Das war doch – ja, gewiß, es war das herrlichste Lied, das ich kenne: „Nun sehe wieder Berge ich und Täler, Wie einst ich sah in meiner Jugendzeit…“ Ich weiß nicht warum, aber ich fühlte plötzlich einen Kloß in meinem Hals aufsteigen, einen dicken, schweren Kloß. Ich hatte solche Sehnsucht nach Mutti. Ach, wenn sie doch jetzt neben mir säße! Gerade in diesem Augenblick hätte ich so gern ihre Hand gefühlt. Rune hatte einen wunderbaren Bariton, nicht groß, aber sehr rein und musikalisch. Unter den Zuhörern war kein Laut, kein Husten, ja nicht das leiseste Räuspern zu hören. Als das Lied zu Ende war, prasselte der Beifall los. Die urwüchsige Landjugend sparte nicht mit Begeisterungsäußerungen. Zum Schluß dankte der Lehrer den Vortragenden für ihre Darbietungen und uns für unser Kommen. „Und nun“, schloß er, „singen wir zusammen ‚Herrlich ist unsere Erde…’“ Wir erhoben uns. Und es wirkte nicht im mindesten unpassend, daß wir zum Abschluß dieses Festes ein Kirchenlied sangen. In dieser Nacht schlief ich nicht. Ich lag im Bett und war hellwach. Es nützte ja nichts, das Unangenehme immer wieder beiseite zu schieben. Wie würde Vati gesagt haben? „Drum herum, sprach der Krumme! Nein, dieses Mal, Peer, Mittendurch – ob auch der Weg noch so schwer!“ Dann stand ich auf und schrieb einen Brief an Roar. Ich schrieb, ich strich aus, ich schrieb von neuem und zerriß es. Ich fing wieder an und warf es ebenfalls weg. Ich versuchte zu erklären und wußte gleichzeitig, daß Roar es niemals verstehen würde. Dann versuchte ich, es in wenigen Zeilen klarzumachen, aber es ging auch nicht. Das, was ich endlich abschickte, war vermutlich auch chinesisch für ihn: „Lieber Roar! Nun sei bitte nicht allzu traurig. Ich weiß, daß Du mich liebst, und darum ist es bitter für mich, Dir weh tun zu müssen. Aber, mein lieber Roar, Du weißt und fühlst sicher genau das gleiche wie ich:
Wir beide passen nicht zusammen. Du bist ein so netter, anständiger Junge, und ich bin wohl auch kein schlechter Mensch, aber jeder von uns gehört in seine Welt, und so sprechen wir verschiedene Sprachen. Ich bin Dir und den Deinen wesensfremd. Ich glaubte, Dich zu lieben, weil Du immer so gut und rücksichtsvoll zu mir warst. Wie oft magst Du mich für einen launenhaften, undankbaren Menschen gehalten haben. Aber das bin ich nicht. Die Sache ist nur die, daß mir erst jetzt klargeworden ist, wohin ich gehöre, und das ist nicht zu Dir. Roar.“ Ich kaute an dem Kugelschreiber. Sollte ich ihm schreiben, was ich auf dem Heimweg zu Margit gesagt hatte? „Wenn man eine Zeitlang durch halbe Nächte im Grand-Hotel getrunken und geraucht, oder sich auf Partys mit Champagner in Sofaecken herumgedrückt hat, und morgens mit Kupfergeschmack im Mund und Sägemehl im Gehirn aufgewacht ist, dann fühlt man sich wie reingewaschen nach einem solchen Fest wie heute.“ Nein, Roar würde das nicht verstehen. Also schloß ich meinen Brief: „Ich schicke Dir die beiden Ringe zurück. Sei nicht böse, Roar. Du findest gewiß ein junges Mädchen aus Deinem Kreis, eine, die zu Dir paßt. Ich habe keinen anderen Grund als – es ist hart zu sagen, aber es ist so: Ich liebe Dich nicht. Ich wünsche Dir alles Gute. Unni.“ Als der Brief fertig war, schlug es vier Uhr. Ich ging wieder ins Bett, und nun schlief ich ein.
Drei Briefe „Meine liebe, kleine Unni! Soeben erhielt ich Deinen Brief. Laß mich gleich vorweg sagen: Ich bin nicht traurig über das, was Du berichtet hast. Zwischen den Zeilen Deiner Briefe in den letzten Monaten habe ich mehr herausgelesen, als Du vielleicht ahnen kannst. Alle Achtung vor Roar Steen – er ist gewiß ein untadeliger junger Mann – , aber Vati und ich hatten schon lange den Eindruck, daß Ihr nicht zueinander paßt. Gleich und gleich gesellt sich gern, das ist ein sehr wahres altes Sprichwort. Wir konnten Dir keinen Schmuck und keine kostspieligen Vergnügungen geben, aber ich glaube, wir haben Dir dafür etwas anderes gegeben: ein harmonisches Elternhaus. Denn wir haben doch ein gutes Heim, nicht wahr? Wie oft haben Vati und ich uns gesagt: Ob Unni wohl Geist, Glück und Harmonie ihres Elternhauses mit in ihr neues Heim nehmen kann? Ich glaube, es wäre Dir nicht geglückt, Unnilein. Du wirst es nun erst einmal schwer haben bei Tante Agnete. Übrigens kann ich Dir etwas Erfreuliches mitteilen. Ich sah sie kurz, als sie auf der Durchreise hier war. Sie sagte viel Nettes über Dich und betonte, wie froh sie sei, Dich bei sich zu haben. Dabei spielte es offenbar eine große Rolle, daß Du in ihrem Umgangskreis so beliebt bist. Aber ich muß Dir auch sagen, daß sie sich ganz begeistert über Peine Verlobung äußerte, also wird Dein Entschluß wohl eine große Enttäuschung für sie bedeuten. Aber diesen Kampf mußt Du allein durchstehen, wir können Dir nicht helfen. Ja, mein kleiner Schatz, nun will ich schließen. Tor soll mit dem Brief gleich noch zur Post laufen, damit Du ihn morgen hast. Du scheinst es ja auf Kollen wunderschön zu haben. Diese Margit muß ein reizendes Mädel sein. Wie nett, daß Ihr Euch so gut versteht. Grüß sie bitte von uns. Oh, mir ist so leicht ums Herz wie seit langem nicht. Sei nur ruhig und munter, iß und schlaf ordentlich und freue Dich am Schwimmen und Reiten, Du kleiner Glückspilz! Die herzlichsten Grüße von Vati und einen lieben Kuß von Mutti.“
*
„Liebe, kleine Unni! Agnete hat mich Deinen letzten Brief lesen lassen. Ich hoffe, Du hast nichts dagegen. Wir sind beide sehr erstaunt und auch etwas enttäuscht, Agnete wohl mehr als ich. Außenstehende können wohl nichts zu einer Angelegenheit sagen, die nur zwei Menschen etwas angeht. Aber Du kennst ja Agnete, und so wirst Du begreifen, daß sie augenblicklich nicht gerade heiter ist. Du böses Mädchen, daß du ausgerechnet jetzt eine solche Bombe zur Explosion bringst! Nun bin ich es, die Blitzableiter spielen und sich all die Scheltworte anhören muß, die Dir zugedacht sind. Agnete wird Dir noch selbst schreiben, aber zum Glück will sie damit warten, bis sich die erste Enttäuschung bei ihr gelegt hat. Schriebe sie jetzt, so würde sie, fürchte ich, recht unbeherrschte Ausdrücke gebrauchen, übrigens geht es ihr zur Zeit gar nicht gut. Der Arzt meint, es sei die Galle. Möglicherweise ist eine Operation notwendig. Aber er will versuchen, das Leiden noch ohne Eingriff auszukurieren. Ja, meine liebe Unni, ich kann schwerlich etwas dazu sagen, außer, daß Gott Dir helfen möge in dieser schwierigen Zeit, die Du verständlicherweise vor Dir hast. ER wendet alles zum Besten, für Dich und uns alle! Deine Tante Hanna.“
* „Liebe, liebe Unni! Ich versteh’ die Welt nicht mehr! Dein Brief war für mich ein Blitz aus heiterem Himmel. Was, in aller Welt, habe ich denn getan? Warum machst Du plötzlich Schluß? Doch wohl nicht wegen der dummen, alten Geschichte mit Lönnedal, der draußen warten mußte, während wir bei Christopher feierten? Das kann es doch wohl nicht sein, was Dich immer noch bedrückt. Sei doch endlich mal ein bißchen erwachsen, Unni! Man bauscht doch nicht eine Stimmung in dieser Weise auf, man löst doch nicht gleich eine Verlobung, weil man gerade mal einen Tag schlechte Laune hat. So scheint es ja bei Dir zu sein, eine andere Erklärung wüßte ich nicht für Deinen merkwürdigen Brief. Ich hoffe und glaube, daß ich bald einen
anderen Brief von Dir bekomme, in dem Du alles zurücknimmst, was Du gesagt hast. Jedenfalls werde ich Dir nichts nachtragen und diesen Zwischenfall gern vergessen. Denn ich will nichts anderes als glücklich sein mit meinem geliebten, süßen, kleinen Mädchen. Dein stets treuer Roar.“
* War ich mir bisher noch nicht völlig klar darüber gewesen, ob ich richtig gehandelt hatte, so bewies es mir dieser Brief von Roar. Ich war gerührt und schockiert, ich lachte, schnaubte und weinte auch ein bißchen. Aber ich fühlte mich grenzenlos erleichtert, daß ich diesen Entschluß gefaßt hatte.
Wohin du fährst… Margit blickte fragend auf den entkleideten Ringfinger meiner linken Hand. „Ja“, sagte ich, „ich habe Schluß gemacht.“ „Na, Gott sei Dank!“ entfuhr es Margit mit einem Seufzer. „Mir fällt ein dicker Stein vom Herzen.“ „Und ein – Steen – von meinem“, sagte ich, und dann lachten wir beide. Ich erzählte Margit alles, von meinen Zweifeln und meinen Erkenntnissen, und wie ich die Verlobung gelöst hätte. „All das habe ich die ganze Zeit deutlich gefühlt“, sagte Margit. „Ich war nur so gräßlich bange, daß du es nicht ebenso empfinden würdest. Gewiß, der Leutnant war schick und nett, aber er paßte nicht zu dir.“ „Und ich nicht zu ihm“, ergänzte ich, „denn er braucht eine Frau, die repräsentieren und ein großes Haus führen kann. Und das brächte ich nicht länger als höchstens ein halbes Jahr lang fertig.“ „Die gnädige Frau wird rasen!“ meinte Margit. „Das weiß ich“, sagte ich, „aber das muß ich eben ertragen.“ Dann gingen wir in den Garten, pflückten Johannisbeeren und waren so lustig wie immer. Abends ging Margit aus. Jeden Donnerstag blieb sie sehr lange fort. Selbstverständlich fragte ich nicht, wohin sie ging. Das war ihre Angelegenheit. Nipp und ich saßen allein auf Kollen. Nipp war ja nun auf Margits und meine Betreuung angewiesen. Er war übrigens lieb und putzig, trippelte überall hinter uns her und war uns sehr zugetan. Ich hörte Radio und strickte und überlegte eben, ob ich nicht bald ins Bett gehen solle, als ich Nipp winseln hörte. Er kroch am Boden zu mir hin, und plötzlich krümmte er sich zusammen und übergab sich. Ich bekam Angst, denn ich dachte daran, wie sehr Tante Agnete dieses kleine Wollknäuel liebte und wie kostbar der Hund war, und wie unmöglich es sei, wieder ein Exemplar dieser Rasse zu bekommen. Also warf ich mir eine Jacke über und lief nach Tangen. Aus dem Wohnzimmerfenster strahlte mir Licht entgegen. Leise schlich ich in den Flur und wollte eben an die Tür klopfen, doch da stutzte ich. Irgend jemand sprach drinnen. Es klang, als werde ein Vortrag gehalten. Ich dachte nicht daran, daß es sich eigentlich nicht
gehörte zu lauschen, sondern stand mäuschenstill. Nun erkannte ich die Stimme von Sigrid Volden: „Und im dritten Akt sagt uns die Dichterin die Wahrheit, und zwar in den Worten der armen, schwachsinnigen Magdalena. – Die siegreichen Soldaten feiern, der Feldgeistliche teilt ihre Freude. Aber die Frau des Pastors, Cornelia, eine wunderbare Frauengestalt – meiner Meinung nach eine der besten der norwegischen Dramatik – , sie ist so niedergeschlagen wie nie zuvor und kann an dem Siegesrausch nicht teilhaben. Denn Cornelia ist Humanistin, sie respektiert die Menschen mehr als die Soldaten, und deshalb wird sie von allen verdammt, auch von ihrem eigenen Mann, ja sogar von ihrem Sohn, obwohl er sie sonst immer verstanden hat. Und was Cornelia zu sagen versucht, das sagt Magdalena, das arme, vergewaltigte Mädchen mit dem Kind von dem feindlichen Soldaten. ,Liebt einander’, sagt sie. Dieser Ausspruch bleibt haften, wenn man das Buch zu Ende gelesen hat. ,Liebt einander!’ Das könnte man als Motto über das ganze setzen.“ Ich starrte auf die Tür und begriff, daß hier von einem Schauspiel die Rede gewesen sein mußte, von welchem, das wußte ich nicht. Ich klopfte und trat ein. Sie saßen alle um den langen Tisch: Mutter Kersti in ihrem Lehnstuhl. Ihrem Gesicht war anzusehen, wie aufmerksam sie zuhörte, während ihre Finger rasch und geschickt an einem Strickzeug arbeiteten. Außerdem waren Rune und Lehrer Volden anwesend, Margit, ihr Bruder und der junge Mann, mit dem sie im Schulhaus zusammen gewesen war, und endlich Borgny und drei junge Mädchen, die ich nicht kannte. Ich erinnerte mich aber, ihre Gesichter bei dem Fest und beim Kaufmann im Laden gesehen zu haben. Rune erhob sich. „Guten Abend, Unni! Kommen Sie herein!“ „Vielen Dank, ich kann leider nicht. Es tut mir leid, daß ich störe, aber – aber – könnten Sie nicht rasch mit mir kommen und nach Nipp sehen? Er ist krank.“ „Ja, natürlich!“ sagte Rune und trat zu mir. In der Tür drehte er sich zu den anderen um: „Trinkt inzwischen ohne mich Kaffee! – Vielen Dank für deinen Vortrag, Sigrid! Er war sehr interessant. Wer ist am kommenden Donnerstag an der Reihe?“ „Ich!“ sagte Margits Bruder. „Und worüber wird gesprochen?“ „Ich dachte an ,Die Kronprätendenten’.“
„Oh, darauf freue ich mich. – Schönen Dank für diesen Abend! Bis nächsten Donnerstag also! – Kommen Sie, Unni!“ Wir waren bereits über den Hofplatz und zum Tor hinausgegangen, als ich endlich fragte: „Ist das ein Klub, den Sie hier haben?“ „Ein Studienkreis. Ein literarischer Studienkreis. – Wissen Sie, wir, die wir so weit von der Stadt entfernt wohnen, müssen uns ja etwas anderes schaffen, um geistig auf der Höhe zu bleiben. Sie gehen ins Theater und können sich die Stücke ansehen. Wir lesen sie, und nachdem das Buch bei uns reihumgegangen ist, diskutieren wir darüber. Das ist ganz amüsant.“ „Das glaube ich Ihnen gern“, versicherte ich aus vollem Herzen. „Was für ein Stück war das, über das Frau Volden gesprochen hat?“ „,Die Kirche’ von Nini Roll Anker. Kennen Sie es nicht?“ „Nein, leider nicht!“ „Wären Sie Mitglied unseres Studienkreises, würden Sie es kennen. Vielleicht haben Sie Lust, am nächsten Donnerstag mitzukommen?“ „Sehr gern“, sagte ich, „vor allem, weil ich hörte, daß Sie sich ,Die Kronprätendenten’ vornehmen wollen.“ „Sind Sie eine Ibsen-Verehrerin?“ „Ja!“ sagte ich und begann, von unseren Ibsen-Abenden zu berichten, denn ich wußte ja nun, daß Rune nicht darüber lachen würde, wie Roar es getan hatte. Er lachte auch keineswegs, im Gegenteil, er war brennend interessiert. „Das hört sich verlockend an“, sagte er, „ich hätte Lust, diese Idee zu stehlen. Allerdings würden wir dann nicht ausschließlich Ibsen lesen, aber wenn wir auch die Rollen verteilen und die Stücke gemeinsam lesen würden, bevor einer den Vortrag hält… Ich muß mal mit Volden darüber reden.“ „Werden denn nur Schauspiele gelesen?“ fragte ich. „O nein, wir behandeln auch oft Romane. Aber wenn im Theater in der Stadt ein besonders interessantes Stück gegeben wird, dann lesen wir es, um nicht ganz unwissend zu sein. – Hören Sie, Unni, Sie müssen uns helfen! Wenn ich den Kreis am Samstag zusammentrommeln kann, übernehmen Sie doch bitte die Leitung. Sie verteilen die Rollen und erklären uns, wie Sie es zu Hause machen – wollen Sie?“ Und ob ich das wollte!
* Nipp lag still in seinem Körbchen. Rune untersuchte ihn und maß die Temperatur. „Ich glaube, es ist nichts Ernstliches, Unni“, sagte er dann, „Temperatur und Herzschlag sind normal. Wahrscheinlich hat er nur etwas gefressen, was er nicht vertragen konnte. Aber ich kann ja noch eine Weile hierbleiben und sehen, ob er sich noch mal übergibt.“ Wir setzten uns in die „Höhle“, das Zimmer von Onkel Franz. Ich brachte eingezuckerte Johannisbeeren und Kekse, und wir unterhielten uns über den Studienkreis und über Ibsen, und ich erzählte von daheim. Hin und wieder warf Rune eine Frage dazwischen, um mich zum Weitersprechen zu veranlassen. Dann berichtete ich von der ersten Zeit bei Tante Agnete, von der Verlobung mit Roar, von Freuden und Leiden, von Bummeln und Partys, endlich davon, wie unvergleichlich besser es mir hier in Leirstad gefiele. Rune knabberte Kekse und hörte zu. Als ich von der aufgelösten Verlobung sprach, nickte er. „Ich habe gesehen, daß Sie den Ring nicht mehr tragen“, sagte er. Dann schwieg er wieder. Wir gingen hinüber und schauten nach Nipp. Es schien ihm jetzt ganz gut zu gehen. Rune ging zum Klavier und klimperte darauf. Es war ein altes Tafelklavier, nicht sehr voll im Klang, aber rein und gut gestimmt. „Singen Sie doch etwas, Rune!“ Er lachte ein wenig. „Was soll ich denn singen?“ „Was Sie wollen!“ Er schlug ein paar Akkorde an, sang leise dazu, es war eigentlich nur ein Summen. Aber dann vergaß er seine Verlegenheit und sang richtig. Es war das Lied „Die Nebensonnen“ von Schubert. „Sie können wohl alles!“ entfuhr es mir, als er geendet hatte. „Das wohl nicht“, meinte er lächelnd. Er lächelte neuerdings oft. „Ja, Tiere versorgen, das soll ich wohl können als ausgebildeter Tierarzt. Aber sonst – ein bißchen Landwirtschaft, ein bißchen singen – weiter nichts!“ „Und dann lesen Sie sicher viel, und Sie sind bestimmt ein guter Sportsmann, und außerdem verkaufen Sie Eier und Sahne und…“ Nun lachte er laut auf. „Das sollten Sie lieber nicht erwähnen.
Meine Mutter lacht immer über mich, wenn ich versuche, mich als Geschäftsmann zu betätigen. Vor lauter Sorge, die Preise zu hoch anzusetzen, verkaufe ich meist mit Verlust.“ Rune erhob sich. Er sah noch einmal nach Nipp und beruhigte mich, daß wirklich kein Grund zur Besorgnis vorhanden sei. Dann machte er Miene zu gehen. Aber ich bat ihn, noch mal von den Johannisbeeren zu nehmen, und so blieb er sitzen. Es wurde dunkel. Wir sahen nicht mehr viel. Die Verandatür stand offen, und eine milde Nachtluft strömte herein. „Wie schön es hier ist“, sagte Rune. „Ja“, flüsterte ich, „und wie behaglich!“ Trotz der Dunkelheit merkte ich, daß Rune lächelte.
* Studienkreis auf Tangen! Wir waren alle beisammen. Ich hielt einen ausführlichen Vortrag – ziemlich stammelnd, wie mir schien – und erklärte, wie wir zu Hause die Schauspiele zu lesen pflegten. Alle die jungen, frischen Gesichter waren mir zugewandt, alle mit lebhaft teilnehmenden Augen, und niemand war darunter, der sich heimlich über mich lustig machte. Als ich geendet hatte, sagte Lehrer Volden: „Entschuldigen Sie, Fräulein Björk, Sie sind doch nicht etwa die Tochter vom IbsenBjörk?“ „Doch!“ sagte ich. „So ein Zufall! Ich kenne Ihren Herrn Vater gut, er war einmal mein Lehrer. Bitte, grüßen Sie ihn herzlich von mir. Er ist ein großartiger Mensch.“ Dann fingen wir an. Rune las den Hakon, und ich bekam einstimmig die Margrete zugeteilt. Nach dem ersten Akt gab es Kaffee aus Mutter Kerstis geblümten Tassen, und wir diskutierten eifrig und ebenso ernsthaft wie zu Hause. Oh, wie ich mich darauf freute, darüber Vati zu berichten! Dann nahmen wir uns den zweiten Akt vor. Wir kamen an den Aufbruch nach der Hochzeitsfeier, und Rune las die Worte Hakons: „Wenn du, Margrete, lieber in Bergen bleiben möchtest, so tu das!“ Und ich las weiter: „Wohin du fährst, will ich folgen, bis du es mir verbietest.“ Beim Umwenden des Blattes sah ich einen Augenblick auf, und
meine Augen trafen sich mit denen von Rune. Da fühlte ich mit einem Male meinen Herzschlag bis in den Hals. Mir schien, als gäbe es plötzlich eine eigentümliche drahtlose Verbindung zwischen uns. Hatte er etwas Bestimmtes aus meiner Stimme herausgehört, als ich diese Worte las? Wußte er… verstand er…? Ja, er wußte und verstand, bevor ich selbst verstand und wußte.
* Rune brachte mich heim. Margit war mit ihrem Freund schon vorausgegangen. Wir sprachen nicht, ehe wir an der Tür von Kollen standen. Aber Rune hatte meine Hand ergriffen, so gingen wir wie zwei Kinder Hand in Hand die Landstraße entlang, und die Sterne schimmerten über uns. Dann blieb er vor mir stehen. Im Halbdunkel sah ich sein Gesicht. „Unni!“ „Ja?“ Seine Hand strich über mein Haar. „Unni – Liebste!“ Ich lehnte mich gegen seine Schulter. Sie war breit, sicher und gut. Dann flüsterte er etwas. Seine Stimme war eigentümlich weich und zart: „Unni, hör zu! Ich muß dir etwas sagen, was ich noch nie zu einem Menschen gesagt habe.“ „Ja – sag es!“ „Denn jetzt kenne ich dich. Jetzt weiß ich, daß du nicht über mich lachen wirst.“ Er beugte sich herab und flüsterte mir ins Ohr: „Ich liebe dich!“
* Vor etwa einem Monat hatte ich Tante Agnete geschrieben, daß ich mit Roar Schluß gemacht hätte. Nun saß ich am Fenster meines hübschen Mansardenstübchens und sollte einen Brief schreiben, der noch viel schwieriger abzufassen war. Daß ich die Verlobung mit einem Leutnant löste, mochte für sie noch angehen, daß ich mich aber mit einem Bauern verlobte, das würde mir Tante Agnete nie
verzeihen. Ich brauchte mindestens drei Stunden, um diesen Brief so zu schreiben, daß ich fand, ich könnte ihn abschicken. Dann ritt ich auf Dyveke zur Post. Nun grüßten mich alle mit einem herzlichen Lächeln, alle hatten ein paar freundliche Worte für mich, und der kleinste Junge von Voldens durfte vor mir auf dem Sattel sitzen und ein Stück durchs Dorf reiten. Die größeren Jungen des Ortes rissen sich darum, Dyveke zu halten, während ich in der Post war, und das Pferd wurde mit Zuckerstückchen und Brot verwöhnt. Auf der Poststelle lag ein Telegramm für mich. Die Posthalterin wollte eben einen Boten damit zu mir hinaufschicken. Ich riß es auf, voller Sorge, es könne etwas Schlimmes darin stehen. „Unsere liebe Agnete entschlief heute nacht still an einem Herzschlag – unterrichte die Familie – Tante Hanna.“ Ich stand eine Weile wie erstarrt. Dann ritt ich spornstreichs nach Tangen. „Was soll ich tun, Rune?“ „Du brauchst gar nichts zu tun, Liebling, nichts anderes, als zu Mutter hineinzugehen und dir eine Tasse Kaffee geben zu lassen. Ich werde alles für dich erledigen.“ Ich saß auf einem Schemel zu Füßen von Mutter Kersti und fühlte ihre gute, rauhe Hand über meinen Kopf streicheln. So weinte ich mich in ihrem Schoß aus. Vielleicht hatte ich Tante Agnete nicht gerade liebgehabt, aber sie hatte trotz allem einen Platz in meinem Herzen, und sie hatte mir so viel Gutes getan. Am liebsten wäre ich gleich nach Tangen übergesiedelt, aber Rune wollte es nicht. „Du bist es deiner Tante schuldig, daß du auf dem Posten bleibst, auf den sie dich gesetzt hat“, meinte er. „Du mußt auf Kollen bleiben, bis die Familie kommt und alles ordnet.“ Die Tage waren lang und still. Endlich kamen Ditlef und Else und holten mich in die Stadt, als Tante Agnetes Sarg dort erwartet wurde. Rune nahm an der Beisetzung teil. Oh, wie gut war es, ihn in dieser Zeit neben sich zu haben. Am gleichen Tag wurde das Testament eröffnet. Es war lang und inhaltsreich. Die größte Summe erhielt die kleine Agnete, dann folgten die anderen Kinder von Ditlef und Else. Ein großer Teil ging auch an die Familie von Onkel Franz, aber zu ihr gehörten so viele, daß für jeden einzelnen nicht viel blieb. Außerdem gab es noch Schenkungen an verschiedene wohltätige Vereine.
Das Testament war schon vor ein paar Jahren aufgesetzt worden, doch es enthielt noch einen Zusatz, der erst vor vier Monaten hinzugefügt worden war. Er lautete: „Unni Björk, der Tochter meines Neffen, vermache ich zwanzigtausend Kronen, mein Perlenhalsband, meinen Nerzmantel und meinen Hund Nipp.“
* Der Haushalt der Tante war aufgelöst, Kollen verkauft. Christopher mit ph schnaubte. Denn Ditlef hatte den Flügel geerbt, von dem Ph mit Sicherheit angenommen hatte, er werde ihn bekommen. Und Tante Antoinette war neidisch auf Tante Hanna, weil sie den Breitschwanzmantel erhalten hatte. Tante Hanna sagte auf ihre milde Art: „Denk daran, daß Ditlef den chinesischen Schrank bekommen hat, von dem ich glaubte, Agnete würde ihn mir geben.“ In all dieser Aufregung über Verkauf und Aufteilung von Tante Agnetes Heim fand niemand Zeit, groß zur Kenntnis zu nehmen, daß ich inzwischen eine Verlobung gelöst hatte und eine neue eingegangen war. Man wunderte sich wohl ein wenig darüber, dachte aber nicht weiter über mich nach. Jeder hatte mit sich selbst zu tun.
* In der großen Stube auf Tangen sitzt Mutter Kersti in ihrem Lehnstuhl am Fenster, und ich hocke auf dem Schemel vor ihr. Auf dem Sofa sitzen meine Mutter und Borgny, am Fenstertisch unterhalten sich Vati und Rune über Ibsen. Ich konnte meinen Eltern die Reise hierher schenken. Sie sind Erster Klasse gefahren und haben es feiner gehabt als je zuvor. Mutti hat den Nerzmantel von mir bekommen, und wenn ich demnächst nach Hause fahre, um dort meine Hochzeit zu feiern, werden sich in meinem Koffer ein Paar Kunstlaufschlittschuhe und vieles andere mehr für Esther und Tor befinden. Die Hochzeit soll daheim bei Mutti und Vati gefeiert werden – mit Nora und Esther als Brautjungfern. Aber vorerst sind die Eltern für vierzehn Tage nach Tangen gekommen, um mein neues Heim kennenzulernen.
„Du mußt kommen, Mutter Kersti“, bitte ich, „du sollst ganz fein reisen, ich besorge dir eine Flugkarte. Wir können unmöglich ohne dich Hochzeit feiern.“ „Wir wollen sehen“, sagt Mutter Kersti lächelnd und streicht über meinen Kopf, wie sie es oft tut, „du wirst wohl keine Ruhe geben, ehe ich ja sage.“ Die Hand auf meinem Kopf bleibt still liegen, und ich weiß, daß Mutter Kersti nachdenkt. Endlich fährt sie fort: „Nun wirst du die Jungbäuerin auf unserem Hof sein, kleine Unni. – Und ich werde aufs Altenteil ziehen.“ Rune und ich widersprechen lebhaft. Doch Mutter Kersti erwidert: „So ist es auf Tangen anderthalb Jahrhunderte lang gehalten worden. Die Jungbäuerin soll nicht ständig die Alte an sich hängen haben. Ich mag nicht umherlaufen und dreinreden, so daß meine Kinder meiner überdrüssig werden.“ „Aber wir brauchen dich doch, Mutter Kersti“, wende ich ein. „Wenn du Rat und Hilfe brauchst, kommst du zu mir ins Altenstübchen. Und wenn du lieb darum bittest, komme ich auch und helfe dir beim Backen und Schlachten. Aber im übrigen sollst du es sein, die zu mir kommt. Dann werden wir manches gemütliche Kaffeestündchen bei mir haben – die geblümten Tassen nehme ich mit“, fügt Mutter Kersti lächelnd hinzu. Rune umfaßt uns beide zugleich mit seinem lächelnden Blick. Wenn ich das ganze Jahr im Geiste an mir vorüberziehen lasse, ist es mir, als sei ich im Kino gewesen und hätte einen spannenden Film gesehen. Spannend, amüsant – aber anstrengend. Und nun ist es gut, wieder nach Hause zu kommen. Ich habe irgendwie das Gefühl, daß ich es nicht bin, die dieses Jahr erlebt hat. Es war ein Film oder ein Traum. Nein, doch nicht ganz. Denn ein Traum kann kein lebendiges Reitpferd hinterlassen, das im Stall steht und Hafer malmt, oder ein Hündchen, das im Augenblick mit dem Kopf in Borgnys Schoß schläft, oder ein Bankbuch über fast zwanzigtausend Kronen, das in Runes allergeheimstem Schubfach eingeschlossen liegt. Und wäre es ein Traum gewesen, hätte ich ja jetzt Rune nicht und Mutter Kersti, und nicht den Tangen-Hof, auf dem ich in vier Wochen die „Jungbäuerin“ sein werde. Ich blicke zu Mutter Kersti auf und gelobe mir im stillen, auf ihrer Spur weiterzugehen.
Ich seufze tief vor lauter Glück und sehe mich noch einmal um in der niedrigen Stube mit der Balkendecke. Dann lächele ich Rune zu und lege meinen Kopf an Mutter Kersti. Hier gehöre ich hin. Ende