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Reihe Hanser 71 Dylan Thomas • Abenteuer in Sachen Haut Seit 1941 schrieb Dylan Thomas an einem größeren, halb fiktiven, halb autobiographischen Roman, der damit begann, wie die Hauptfigur Samuel Bennet eines Morgens aus dem Elternhaus ausbricht, alle Bindungen an die Vergangenheit zerstört und nur mit einer Einpfundnote und der Adresse eines unbekannten Mädchens in der Brieftasche nach London fährt. Es sollte eine Reise durch das Inferno Londons werden, aber auch eine Komödie, in der Samuel Bennet nacheinander seine verschiedenen Häute ablegt. Nur vier dieser Abenteuer entstanden, dann blieb das Manuskript liegen, obwohl Dylan Thomas an seinen Freund Vernon Watkins geschrieben hatte: »Mein Prosabuch ist, soweit ich mich erinnern kann, das einzige wirklich spontan herausgeschriebene meiner Werke. Ich habe schon 10 000 Wörter geschrieben. Es ist anstößig und trivial, zuweilen komisch, zuweilen rührselig, und immerzu schlecht geschrieben — was mich allerdings nicht so sehr stört.« Dylan Thomas, geboren 1914 in Swansea (Wales), gestorben 1953 auf einer Vortragsreise in New York. Bekannt wurde er vor allem durch das auch als Theaterstück aufgeführte Hörspiel »Unter dem Milchwald« und seine Gedichte, von denen eine zweisprachige Auswahl in der Übersetzung von Erich Fried 1967 im Carl Hanser Verlag erschien.
Reihe Hanser 71 Dylan Thomas Abenteuer in Sachen Haut Aus dem Englischen von Alexander Schmitz Carl Hanser Verlag
Titel der Originalausgabe: Adventures in the Skin Trade Putnam, London 1955 © 1955 The Trustees of the Copyright of the late Dylan Thomas
ISBN 3 446 114939 Alle Rechte vorbehalten © 1971 Carl Hanser Verlag, München Ausstattung: Heinz Edelmann Gesamtherstellung: Friedrich Pustet, Regensburg Printed in Germany scan by párduc
ö 2002
Inhalt 1. Kapitel: Ein schöner Anfang 7 2. Kapitel: Haufenweise Möbel 39 3. Kapitel: Vier verlorene Seelen 65 Nachwort von Vernon Watkins 93
Erstes Kapitel Ein schöner Anfang 1 An jenem frühen Januarmorgen des Jahres 1933 es nur eine einzige Person in der Straße, die schon wach war, und diese Person war die stillste. Nennen wir sie Samuel Bennet. Er trug einen Schlapphut aus Filz, den er sonst immer neben seinem Bett zu liegen hatte für den Fall, daß die zwei Einbrecher, ein Mann und eine Frau, zurückkommen würden, um die Tasche zu holen, die sie vergessen hatten. In gestreiftem Schlafanzug, der zu eng unter den Achseln und zerrissen zwischen den Beinen war, tappte er barfuß die Treppe hinunter und öffnete die Tür des Frühstückszimmers in dem sechs Zimmer großen Haus seiner Eltern. Das Zimmer roch stark nach der letzten nächtlichen Pfeife seines Vaters. Die Fenster waren fest verschlossen und die Vorhänge zugezogen, die Hintertür war verriegelt, die Einbrechernacht konnte nirgendwo herein. Zuerst starrte er beklommen in die vertrauten, flackernden Ecken des Zimmers, als befürchtete er, die Familie könnte dort in dunkler Stille sitzen; dann zündete er mit der Kerze das Gaslicht an. Noch waren seine Augen schwer von einem Traum von unnahbaren Frauen in der Stadt und von verlorener Unschuld, aber dann konnte er sehen, daß Tinker, der tantengesichtige Spitz, vor dem ausgebrannten Feuer schlief und daß die Uhr auf dem Kaminsims zwischen den hohlen ausschlagenden Pferden aus falschem Ebenholz fünf vor zwei zeigte. Er stand reglos da und
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lauschte den Geräuschen des Hauses nach: nichts war zu befürchten. Im oberen Stockwerk atmete und schnarchte die Familie sorglos. Er hörte seine Schwester, wie sie in der umgebauten ehemaligen Rumpelkammer unter den signierten Fotografien von Schauspielern des Repertoire-Theaters und den eifersüchtigen Bildern der Hochzeiten von Freunden schlief. Im größten Schlafzimmer, dessen Fenster zum Feld hinausgingen, das der Rücken genannt wurde, ordnete sein Vater in einem seiner Träume die monatlichen Rechnungen; seine Mutter moppte und polierte sich in ihrem Bett durch einen Wald von Küchen. Er schloß die Tür: jetzt gab es niemanden, der ihn stören konnte. Doch all die anderen Geräusche des sonst toten oder schlafenden frühen Morgens, das vertraute Atmen dreier unsichtbarer Verwandter, der laute alte Hund, all das konnte womöglich die Nachbarn aufwecken. Und das sprudelnde Gaslicht konnte womöglich Mrs. Probert von nebenan auf seine Anwesenheit im Frühstückszimmer zu dieser Stunde aufmerksam machen; sie käme verwandelt wie eine Ziege im Nachtgewand und würde mit ihren Detektivfäusten die Luft verprügeln; oder es käme ihr adretter, kaufmännischer Sohn, mit einer tätowierten Uhrenkette auf seinem zunehmenden Bauch; oder der tuberkulöse Untermieter mit seinem eleganten Regenschirm über sich und seiner Waschschüssel in den Händen. Der regelmäßige Fluß des Familienatems konnte womöglich gegen die Häuser gegenüber schlagen und die Baxters stören. Er drehte das Gas herunter und stand für einen Moment nahe der Uhr, lauschte auf den Schlaf und sah Mrs. Baxter nackt aus ihrem Witwen-Bett steigen, mit einem Trauerband um den Schenkel.
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Bald verging ihr Bild, sie kroch zurück unter ihre Decken, schaute voller Gram in den Spiegel ihres Edelsittichs, allmählich kehrten die eigentlichen Gegenstände wieder zurück, und er verlor die Angst, daß die Fremden über ihm, die er schon so lange kannte wie seine Erinnerung zurückreichte, wach sein und mit Schürhaken und Kerzen herunterkommen würden. Das erste, was ihm ins Auge fiel, war der lange Bilderstreifen mit Schnappschüssen seiner Mutter, der gegen das geschliffene Glas des Fensterbretts gelehnt war. Ein Berufsfotograf unter einer Vogelkapuze hatte die Schnappschüsse von ihr gemacht, als sie im Dezember die Chapel Street hinuntergegangen war und hatte die Bilder entwickelt, während sie wartete und die Thermosflaschen und die Rauchgarnituren im nächsten Schaufenster betrachtete, und über die Straße den Einkaufstaschen, die sie kannte, den Ausgehkostümen würdiger Damen und den Blumentopfund Salonhüten auf den kräuseligen, dauergewellten Köpfen »Guten Morgen!« zurief. Das war sie, die da am Fensterbrett entlanglief, Schritt für Schritt, aufrecht, sicher, voller Selbstvertrauen, vertieft in ihre Wege, wie sie ihre Handtasche so fest an sich drückte, den gewöhnlichen Frauen, die blind und schwer unter den wöchentlichen Vorkehrungen waren, aus dem Weg ging und neugierig die Spiegelgläser an den Türen der Möbelgeschäfte erforschte. »Ihr Bild ist fertig.« Unsterblich geworden innerhalb eines Augenblicks ging sie seitdem für immer ihren Besorgungen nach zwischen der geschliffenen Vase mit den künstlichen Blumen und der Schachtel mit Haarnadeln, Knöpfen, Schrauben, leeren ShampooDosen, Zwirnrollen, Fliegenpapier, Zigarettenrekla-
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men. Um fast zwei Uhr morgens eilte sie an den Schatten des Einkaufszentrums der wuchernden, überschwemmten Stadt vorbei die Chapel Street entlang, vor einem Hintergrund aus Filzhüten und BurberryMänteln, die in der anderen Richtung vorwärtswogten, Regenschirmen, die vor den ersten Regentropfen seit einem Monat aufgegangen waren, und den ausdruckslosen Gesichtern von Leuten, die immer Fremde bleiben würden und halb sichtbar hinter ihr herpendelten. Er konnte ihre Schuhe auf den Straßenbahnschienen klappern hören. Er konnte unter dem pastellfarbenen Seidenschal das runde Metallabzeichen von Mrs. Rossers Gesellschaft und Großmutters Kameebrosche auf dem V-Ausschnitt der kleefarbenen Jacke erkennen. Die Uhr schlug zwei. Samuel streckte seine Hand aus und nahm den Schnappschußstreifen an sich. Dann zerriß er ihn in kleine Stücke. Ihr totes, zufriedenes Gesicht blieb als Ganzes bestehen, und auch das zerriß er, quer durch die Wangen, das Kinn hinauf und durch die Augen. Der Spitz knurrte in einem Alptraum und zeigte seine kleinen Zähne. »Bleib liegen, Tinker. Schlaf, mein Junge.« Er steckte die Schnipsel in seine Schlaf anzugtasche. Dann war da noch, gleich neben der Uhr, die gerahmte Fotografie seiner Schwester. Er zerstörte sie mit einer Bewegung und zerriß ihr gestelltes Lächeln und zerknüllte ihren kurzgeschnittenen Kopf zu einer Kugel, so daß "die Mädchenschule und die langbeinigen, lächelnden Grünschnäbel mit ihren schwarzen weiten Kniehosen und Halstüchern den selben Weg hinabführen: die hockey-beinigen Mädchen, die hinter vorgehaltenen Händen lachten, wenn sie durch die Tore gelaufen kamen und er gerade vorbeikam, gerie-
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ten nun zerrissen und ruiniert in seine Schlafanzugtasche; sie verschwanden, zerbrochen, in die Vorhalle und lagen dort zerstückelt an seinem Herzen. Stanley Road, wo die Mädchenschule war, würde ihn nie wiedersehen. Ab mit dir, Peggy, flüsterte er seiner Schwester zu, mit all den langen Beinen und den Tänzen der Jungen Liberalen und den Kerlen, die du an Sonntagabenden zum Essen mit nach Hause brachtest und Lionel, der dich in der Halle geküßt hat. Er ist jetzt Rechtsanwalt. Als ich elf Jahre alt war und du siebzehn, hab ich dich von meinem Schlafzimmer aus den Desert Song spielen hören. Die ganze Welt war ein Stockwerk tiefer. Die meisten der Geschichtshefte auf dem Tisch waren schon zensiert und verdammt in der violetten Schrift seine Vaters. Mit einem Stück Kohle aus dem toten Kamin zensierte Samuel sie neu, rieb die Kohle fest über die behutsamen Korrekturen, malte Beine und Brüste an die Ränder, strich die Namen und Klassenangaben aus. Alle Geschichte ist verlogener Kram. Zum Beispiel Königin Elisabeth. Zum Beispiel Alice Phillips, los, nimm sie mit ins Gebüsch. Sie war die Tochter vom Direktor. Oder mal den alten Bennet; prügel ihn durch die Korridore, stopf ihm sein Maul mit Daten, tauch ihm den gestärkten Kragen in die Zensurentinte und schlag ihm seine Zähne ein, hinein in seinen affektierten kahlen lahmen Schädel; mit seinem Immer-auf-die-Knöchel-Lineal. Mr. Nicholson so lange auf seinem Tellurium drehn, bis ihm sein Affenschwanz wegfliegt. Mr. Parsons erzählen, daß seine Frau gesehen worden ist, wie sie huckepack auf einem besoffenen Seemann aus dem Kompaß herauskam und Kleingeld unter den Strumpfbändern festhielt. Das ist genauso wahr wie Geschichte.
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Auf das letzte Blatt schrieb er einige Male seinen Namen unter ein riesiges Strichmännchen mit drei Beinen. Auf das oberste Blatt kritzelte er nichts. Auf den ersten Blick gab es keinerlei Hinweis auf irgendwelche Eingriffe. Dann warf er die Kohle auf den Rost zurück. Staub wirbelte in einer Wolke auf und ließ sich auf dem Rücken des Hundes wieder nieder. Wenn er doch jetzt nur die Decke anschreien könnte, die dunklen, vom Gaslicht erzeugten Kreise, die Risse und Linien, die schon immer die selben Risse und Figuren gewesen waren, zwei bärtige Männer auf Tierjagd über einen Berggrat, eine kniende Frau mit Gesichtern auf ihren Knien: kommt her und seht zu, wie Samuel Bennet das Haus seiner Eltern kaputtschlägt, in der Mortimer Street, nicht weit von Stanleys Grove; man wird ihm niemals mehr erlauben zurückzukommen. Mrs. Baxter, linsen sie ruhig unter ihren kalten Laken hervor: Mr. Baxter, der im Hafen-Trust-Büro gearbeitet hat, kann auch nicht wieder zurückkommen. Mrs. Probert Chesmuts, Ihr Ziegenbock ist fort und hat einen haarigen Fleck im Bett zurückgelassen; Mr. Bell, der Untermieter, hustet die ganze Nacht hindurch unter seinem großen Regenschirm; Ihr Sohn kann nicht schlafen, er zählt von seinen Monsieurs die Socken, Größe 36 und 43, die gerade wie Schäfchen über die zerwühlten Laken hüpfen. Samuel stieß unter seinem Atem hervor: »Kommen Sie nur und sehen Sie, Mrs. Rosser, wie ich die Beweise zerstöre; werfen Sie einen Blick unter Ihrem Haarnetz hervor. Ich habe Ihren Schatten auf dem Rouleau gesehen, als Sie sich auszogen, ich sah es von der Laterne beim Milchmann aus; Sie verschwanden unter einem Zelt und kamen mager und bucklig und schwarz wieder hervor. Von denen, die es nichts angeht, bin ich in Stanleys Grove
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der einzige, der weiß, daß Sie eine schwarze Frau mit einem Buckel sind. Mr. Rosser mit einem Kamel verheiratet; jeder ist verrückt und schlecht in seiner Bude, sobald nur die Rouleaus heruntersind; kommen Sie nur und sehen Sie zu, wie ich das Porzellan zerbreche, ohne ein Geräusch zu machen, so daß ich nicht mehr zurückkommen kann.« »Psst«, sagte er zu sich selbst, »ich kenn dich.« Er öffnete die Tür zum Porzellanschrank. Die schönsten Teller glänzten in Reih und Glied, ein Weidenbaum dicht neben einem Efeu-Schloß, Körbe mit festen Blumen über obst- und blumenumwundenen Sprüchen. Terrinen stapelten sich auf einem Regal, auf einem anderen die Salatschüsseln, die Fingerschalen, die Toastständer mit Namen Porthcawl und Baby, die Schüsseln für Kleinigkeiten, das Barttassen-Erbstück. Das Nachmittags-Teeservice war zerbrechlich wie Gebäck und hatte Goldränder. Er schlug zwei Untertassen gegeneinander, und die horngeschwungene Tülle der Teekanne brach ab und lag in seiner Hand. Nach fünf Minuten hatte er die ganze Sammlung zerbrochen. Sollen alle Töchter aus der Mortimer Street doch ruhig herkommen und mir zusehen, flüsterte er in den engen Schrank hinein: die blassen jungen Mädchen, die zu Hause immer helfen, die den Fuß weg ausrechnen bis zu den prachtvoll duftenden Geschäften und die in ihren Dachkammern ihr starres, trockenes Haar aufdrehen; ihr Blut fließt wie Salz durch sie hindurch. Und ich hoffe, daß die Büromädchen mit ihren Fingerkuppen an die Tür klopfen, Sir oder Madame auf die Glas-Veranda herauslocken, diese strahlenden Säuglinge, die niemals zu weit gehen. Man kann sie auf dem Heckenweg hinter der Post hören, wenn man auf Zehenspitzen vorbeigeht, und wie sie dann sagen,
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»sagte er und sagte ich und sagte er und ich sagte Au ja« und wie die eben männlich gewordenen Stimmen sanft beipflichten. Sie hierherlocken, fort aus der schnarchenden Stanleys Grove, ich weiß schon, wie sie schlafen, bis obenhin zugedeckt und voller Wünsche. Beryl Gee heiratet die Handelskammer in einer Pfeffer-und-Salzkirche. Mrs. Bürgermeisterkette, Madame Federhut, Lady Polsterbank, ich zerbreche Terrinen im Schrank unter der Treppe. Ein Terrinendeckel fiel ihm aus der Hand und zerbrach. Er erwartete die Geräusche seiner erwachenden Mutter. Oben regte sich nichts. »Tinkerwars«, sagte er laut, doch der harte Lärm seiner Stimme ließ ihn wieder still werden. Ihm war klar, daß seine Finger so kalt und steif geworden waren, daß er keinen weiteren Teller hochzuheben vermochte, um ihn zu zerbrechen. »Was tust du denn da?« fragte er sich schließlich mit kühler, flacher Stimme. »Laß doch die Straße in Frieden. Laß sie schlafen.« Dann schloß er die Schranktür. »Was tust du da? Große Töne spucken?« Nicht einmal der Hund war erwacht. »Große Töne spucken«, sagte er. Er mußte sich jetzt beeilen. Das Mißgeschick im Schrank ließ ihn so sehr erzittern, daß er kaum in der Lage war, die Rechnungen zu zerreißen, die er in der Sideboard-Schublade fand, um sie dann unter dem Sofa zu verstreuen. Die Häkelarbeiten seiner Schwester waren sehr schwer zu zerstören, die Deckchen und die gemusterten Teewärmer waren nämlich zäh wie Gummi. Er zerrte an ihnen so gut es eben ging und stopfte sie dann in den Kaminschacht. »Das sind alles so kleine Sachen«, sagte er. »Ich sollte
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eigentlich die Fenster einschlagen und die Kissen mit den Scherben ausstopfen.« Er sah sein rundes weiches Gesicht im Spiegel unter der Mona Lisa. »Aber du tust es doch nicht«, sagte er und drehte sich weg; »du hast Angst vor dem Lärm.« Er wandte sich wieder seinen Überlegungen zu. »Das ist es nicht. Du hast Angst, daß sie sich daran die Hände aufschneidet.« Er brannte eine Ecke des Sonnenschirms seiner Mutter an dem Gasglühstrumpf an und fühlte die Tränen seine Wangen herunterlaufen und in seinen Schlafanzugkragen tropfen. Sogar im ersten Augenblick seines Schuld- und Schamgefühls vergaß er nicht, seine Zunge auszustrecken und die Tränenspur zu schmecken, und noch immer weinend sagte er, »es ist Salz. Es ist richtiges Salz. Genau wie in meinen Gedichten.« Das Kerzenlicht flackerte, als er im Dunkeln hinaufging, an der Rumpelkammer vorbei, in sein eigenes Zimmer und die Tür hinter sich abschloß. Er streckte die Hände aus und berührte die Wände und sein Bett. Guten Morgen und Auf Wiedersehn, Mrs. Baxter. Sein Fenster, ihrem Schlafzimmer zugewandt, stand offen und ließ den windstillen, sternlosen frühen Morgen ein, aber er konnte sie weder atmen noch schlafen hören. Alle Häuser waren still. Die Straße war ein enges Grab. Die Rossers und die Proberts und die Bennets waren ruhig und sicher und tief versunken in ihren getrennten Schweigsamkeiten. Sein Kopf berührte das Kopfkissen, doch er wußte genau, daß er nicht mehr einschlafen konnte. Seine Augen schlössen sich. Kommt herab in meine Arme, denn ich werde nicht mehr schlafen, ihr schlummernden Mädchen überall in den Dachstuben und kärglichen Zimmern in den rechteckigen roten Häusern mit den Erkerfenstern, die
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hinausschauen auf die Bäume hinter den Geländern. Ich kenne eure Zimmer wie meinen Augapfel, wie eure Augen auf den Bildern, auf denen ihr euch zu den Nachbarschultern hinüberlehnt. Ich werd jetzt nicht mehr schlafen. Morgen, heute, werde ich mit dem 7 Uhr 15 Zug fahren, samt zehn Pfund und einem neuen Koffer. Legt eure Lockenwickler auf mein Kopfkissen, der Wecker um halb sieben wird euch schon zurücktreiben, die Jalousien hinaufzulassen und die Feuer anzuzünden, bevor der Rest herunterkommt. Kommt schnell, das Haus der Bennets schmilzt. Ich kann euch atmen hören, ich kann hören, wie Mrs. Baxter sich im Traum herumdreht. Oh, die Milchmänner sind auf! Er schlief, hatte noch immer seinen Hut auf und seine Hände zu Fäusten geballt.
2 Die Familie erwachte vor sechs Uhr. Er hörte sie, in versunkenem Halbschlaf, wie sie alle auf dem Treppenabsatz herumschwirrten. Sie würden wie gewöhnlich in Morgenmänteln sein, mit verschlafenen Blicken und unordentlichen Haaren. Peggy hat sich vielleicht etwas Rouge aufgelegt. Die ganze Familie eilte ins Badezimmer hinein und wieder heraus, das Waschen hörte niemals auf, und sie stießen auf dem engen Treppenabsatz zusammen, derweil sie keiften und herumhantierten, um alles für ihn fertigzumachen. Er ließ sich tiefer fallen, bis die Wellen wieder um seinen Kopf schlugen und die Lichter einer Stadt herumwirbelten und durch die Augen von Frauen schienen, die durch den letzten seiner erinnerten Träume wandel-
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ten. Aus plätschernder Ferne hörte er seinen Vater rufen wie einen Mann auf dem anderen Ufer: »Hast Du die Tasche für den Schwamm eingesteckt, Hilda?« »Ja, natürlich«, antwortete sie aus der Küche. Laß sie nur nicht in den Geschirrschrank sehen, betete Samuel zwischen den Frauen, die wie Laternenpfähle stolzierten. Sie benutzt zum Frühstück nie das beste Geschirr. »Schon gut, schon gut; ich frag ja nur.« »Wo ist seine neue Haarbürste?« »So ists richtig. Und ich schrei mir die Kehle aus dem Hals. Hier ist sie. Wie kann ich sie Dir geben, wenn Du in der Küche bist? Es ist die Bürste mit den Anfangsbuchstaben S. B.« »Ich kenne seine Anfangsbuchstaben.« »Mutter, will er alle diese Westen mitnehmen? Du weißt doch, daß er sie nie trägt.« »Wir haben Januar, Peggy.« »Sie weiß, daß wir Januar haben, Hilda. Du brauchst es nicht erst noch zu sagen. Riechst Du nicht auch, daß hier was verbrannt ist?« »Es ist nur Mutters Sonnenschirm«, sagte Samuel in seinem abgeschlossenen Zimmer. Er zog sich an und ging hinunter. Das Gas im Frühstückszimmer war wieder an. Seine Mutter kochte auf dem Gasherd für ihn ein Ei. »Wir werden später frühstücken«, sagte sie; »Du darfst den Zug nicht verpassen. Hast Du gut geschlafen?« »Keine Einbrecher letzte Nacht, Sam«, sagte sein Vater. Seine Mutter brachte das Ei herein. »Du kannst sie doch nicht jede Nacht erwarten.« Peggy und sein Vater setzten sich vor den leeren Rost.
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»Was hast Du als erstes vor, wenn Du angekommen bist?« sagte Peggy. »Er wird sich natürlich ein hübsches Zimmer besorgen; nicht zu zentral gelegen. Und paß auf, daß Du keine irische Wirtin bekommst.« Seine Mutter bürstete seinen Kragen aus, während er aß. »Geh los und besorg Dir gleich was; das ist das Wichtigste.« »Ja, ich kümmer mich drum.« »Vergiß nicht, wegen der Wanzen hinter die Tapeten zu sehn.« »Jetzt ist es gut, Peggy. Sam weiß schon, wann ein Platz sauber ist.« Er sah sich an die Tür eines Hauses klopfen, genau im Zentrum der Stadt, und eine Irin an der Tür erscheinen. »Guten Morgen, gnädige Frau. Haben Sie wohl ein billiges Zimmer?« — »Für Dich billiger als der Sonnenschein, Danny Boy.« Sie würde nicht älter als einundzwanzig sein. »Sind Wanzen drin?« — »An allen Ecken und Enden, dem Himmel seis gepriesen.« — »Ich nehms.« »Ich werd schon wissen, was ich zu tun habe«, sagte er zu seiner Mutter. »Der Wagen von Jenkins ist noch nicht da«, sagte Peggy. »Vielleicht ist ein Reifen geplatzt.« Wenn er nicht bald kommt, merken sie alles. Ich schneid mir an einem Stück Porzellan die Gurgel durch. »Denk dran, Mrs. Chapman zu besuchen. Grüße sie herzlich von uns allen aus Nummer 42.« »Ich werd morgen nach ihr sehen, Mutter.« Draußen fuhr das Taxi vor. Überall in der Straße würden sie die Ecken ihrer Jalousien hochschieben. »Hier ist Deine Brieftasche. Tu sie nicht in die Tasche für Dein Taschentuch. Man weiß nie genau, wann man sich die Nase putzen muß.«
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»Du wirst eitel Großmut verstreuen«, sagte Peggy. Sie küßte ihn auf die Stirn. Nicht vergessen, es im Wagen abzuwischen. »Du küßt in diesem Moment den Herausgeber der Times«, sagte seine Mutter. »Naja, noch nicht ganz, Sam. Noch nicht, was?« sagte sein Vater. »Sprossen an der Leiter.« Dann schaute er weg. »Schreib uns gleich morgen. Schick uns die Neuigkeiten.« »Schickt Ihr mir Eure auch. Mr. Jenkins' Hupe jubelt schon.« »Besser als Lobeshymnen auf Dich«, sagte Peggy. »Und außerdem gibt es in der Mortimer Street nie was Neues.« Abwarten, Schlaumeise. Wart ab, bis die Flammen an den Reiherdeckchen fressen. Er ging in die Knie, um Tinker zu streicheln. »Los, mach kein Gedöns mit dem alten Köter; er besteht nur aus Flöhen. Es ist sieben durch.« Peggy hielt die Tür des Taxis für ihn auf. Sein Vater schüttelte ihm die Hand. Seine Mutter gab ihm einen Kuß auf den Mund. »Auf Wiedersehn, Mortimer Street«, sagte er, und schon war das Taxi fort. »Auf Wiedersehn, Stanleys Grove.« Durch das Rückfenster sah er drei winkende Fremde. Er zog die Blende herab.
3 Weil sämtliche Abteile überfüllt waren, saß er mit seinem Gepäck im Waschraum des Zuges, las in
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seinem Notizbuch und riß fein säuberlich eine Seite nach der anderen heraus. Er trug einen nagelneuen braunen Tweedmantel, einen braunen Ausgehanzug, ein weißes gestärktes Hemd mit einer wollenen Krawatte und einer Krawattennadel und schwarze, glänzende Schuhe. Seinen steifen, braunen Hut hatte er in das Waschbecken gelegt. Da stand die Adresse von Mrs. Chapman gleich neben der Telephonnummer eines Mr. Hewson, der ihn einem Herrn vorstellen sollte, der bei einer Zeitung arbeitete; und darunter die Adresse des Literatur-Institutes, von dem er einmal für ein Gedicht in einem Wettbewerb einen Guinee erhalten hatte: Will Shakespeare am Grabe des Unbekannten Soldaten. Er riß die Seite heraus. Dann, in roter Tinte, Name und Adresse eines durch Gesammelte Werke bekannten Dichters, der ihm einmal für eine eingesandte Sonnettsequenz einen Dankesbrief geschrieben hatte. Und eine Seite mit Namen, die von Nutzen sein konnten. Die Tür des Waschraums öffnete sich zur Hälfte, und schnell verschloß er sie wieder mit seinem Fuß. »Verzeihung.« Sie hören, wie sie sich den ganzen Gang hinunter entschuldigt, dicke wie ein Ei. Sie könnte die ganze Länge des Zuges hindurch auf jede Klinke drücken, und in jedem WC würde ein komplett gekleideter Mann sitzen, mit seinem Fuß an der Tür, verloren und allem in dem langen, sich bewegenden Haus auf Rädern, schweigend und fensterlos auf Reisen, mit neunzig Stundenkilometern einem anderen Ort zurasend, der ihn nicht wollte, niemals zu Hause, wo auch immer der Zug halten würde. Die Klinke bewegte sich erneut, und Samuel hustete jemanden fort. Die letzte Seite des Notizbuches war die einzige, die
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er behielt. Unter der Zeichnung eines langhaarigen Mädchens, das in eine Adresse hineintanzte, hatte er geschrieben: Lucille Harris. Ein Mann, den er auf der Promenade getroffen hatte, hatte ihm gesagt, als sie beide auf einer Bank saßen und die vorübergehenden Beine betrachteten: »Sie ist in Ordnung. Ich kenn dieses Mädchen. Sie ist das beste der ganzen Welt; sie wird sich um Dich kümmern. Besuch sie mal, wenn Du dort bist. Sag ihr, Du seist ein Freund von Austin.« Diese Seite legte er in seine Brieftasche zwischen zwei Ein-Pfund-Noten. Die restlichen Seiten hob er vom Boden auf, knüllte sie zusammen und warf sie zwischen seinen Beinen hindurch in das Becken hinab. Dann zog er an der Kette. Hinab ging es mit den hilfreichen Namen, den einflußreichen Nummern, den Adressen, die so viel bedeuten konnten, hinein in das runde, röhrende Meer und auf die Schienen. Schon waren sie eine Meile hinter ihm, dann vielleicht schon über das Gleis hinweggeweht, über den kurzen Ausblick auf Hecken in die vorbeirasenden Felder. Heim und Hilfe waren dahin. Er besaß acht Pfund zehn und die Adresse von Lucille Harris. Viele haben schlechter angefangen, sagte er laut. Ich bin dumm, faul, unaufrichtig und sentimental; ich kenne niemanden. Wieder bewegte sich die Klinke. »Ich wette«, sagte er zu der Person auf der anderen Seite der verriegelten Tür, »Sie tanzen schon.« Schritte tappten den Zug hinunter. Wenn ich angekommen bin, beschloß er, werde ich erst mal ein Bier und ein trockenes Sandwich zu mir nehmen. Ich werde mich an einen Ecktisch setzen, mit meinem Hut die Kuchenkrümel wegwischen und mein
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Buch gegen den Essig- und Ölständer lehnen. Ich muß von Anfang an alle Einzelheiten klarkriegen. Der Rest muß sich von allein ergeben. Ich werde am Vormittag dort sitzen, lässig, meinen Hut auf den Knien, mein Glas in der Hand, haargenau wie zwanzig aussehn und so tun, als lese ich, und währenddessen aus meinen Augenwinkeln die wartenden, trinkenden, ruhelosen Leute beobachten, die emsig allein an der Theke sitzen. Die anderen Tische werden voll besetzt sein. Da werden Frauen, die verlockend sind ohne sich zu bewegen, über ihren Kaffee gebeugt sein; alte in Anonymität versunkene Männer mit Schnupftabak auf ihren Wangen werden überm Tee zitternd dasitzen; stille Männer, die niemanden aus den Zügen erwarten — sie warten verbissen und stundenlang; Frauen, die gekommen sind, um wegzulaufen, um einen Zug nach St. Ives oder Liverpool oder irgendwohin zu besteigen, die aber wissen, daß sie niemals irgendeinen Zug nehmen und einen Tee nach dem anderen trinken und sich sagen, »ich könnte den um zwölf nehmen, aber ich warte noch auf den um viertel nach«; Frauen vom Lande, die unfrisiert mit Dutzenden von Kindern kommen; Ladenmädchen, Büromädchen, Straßenmädchen, Leute, die nichts Schlechteres zu tun haben, alle die unglücklichen, die in Ketten glücklichen, verwirrten fremden Männer und Frauen im Bahnhofsrestaurant der Stadt, die ich kennengelernt hab von Oberfläche zu Oberfläche. Die Tür klapperte. »Sie da«, war eine Stimme von draußen zu vernehmen, »Sie sind schon seit Stunden da drin.« Er drehte den Warmwasserhahn auf. Bevor er aber seinen Hut herausnehmen konnte, schoß schon kaltes Wasser in das Waschbecken hinein. »Ich bin ein Di-
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rektor dieser Gesellschaft«, sagte er, aber seine Stimme klang schwach und schien ihm nicht sicher genug. Als die Schritte wieder verhallt waren, nahm er sein Gepäck zusammen, verließ den Waschraum und ging den Gang entlang. Und während er vor einem Abteil Erster Klasse stand, sah er einen Mann und einen Fahrkartenkontrolleur an die Tür gehen und heftig dagegenschlagen. Sie versuchten nicht, die Klinke zu bewegen. »Schon seit Neath«, sagte der Mann. Dann verlor der Zug an Fahrt, raste aus dem verlorenen Land hinein in den Qualm und einen Tunnel von Fabriken, dampfte vorbei an den Bahnsteigen der Bezirke und den großen Häusern mit den zerbrochenen Fenstern und der Unterwäsche, die in den schmutzigen Höfen tanzte. Kinder an den Fenstern winkten dem Zug nicht ein einziges Mal zu. Es hätte der Zugwind sein können. Eine gestikulierende Menschenmenge stand vor der Tür, als der Zug unter dem großen Glasdach einfuhr. »Ein kleines Bier bitte und ein Schinkenbrot.« Er nahm beides mit sich an einen Ecktisch und wischte übriggebliebene Krümel mit seinem feuchten Hut vom Tisch. Es war gerade kurz vor zwölf, als er sich setzte. Er zählte sein Geld: acht Pfund neun und ein. Penny, beinahe drei Pfund mehr als er jemals zu Gesicht bekommen hatte. Manche Leute hatten jede Woche soviel. Das mußte bis zu seinem Tode langen. Am Nebentisch saß ein beleibter, etwa vierzigjähriger Mann mit einem schokoladenbraunen Muttermal, das sich
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wie die Hälfte eines Bartes quer über das Kinn und eine Wange zog. Er lehnte gerade sein Buch gegen eine leere Flasche, als ein junger Mann von der Theke zu ihm herüberkam. »Hallo, Sam.« »Hallo, Ron. Was machst Du denn hier?!« Es war Ronald Bishop, der eigentlich im Crescent wohnte, gleich neben Stanleys Grove. »Schon lange im Gelände, Sam?« »Eben erst angekommen. Was macht die Kunst?« »Alles wie gehabt; wir müssen mit dem selben Zug gekommen sein. Denk mal an. Sonst alles beim alten, Sam?« »Ja, will mich mal nach irgendnem Job umsehn. Hast Du denn Deinen noch?« »Ja.« Sie hatten sich noch niemals irgendetwas zu sagen gehabt. »Wo wohnst Du denn hier, Ron?« »Wie üblich. Strand Palace.« »Nehme an, wir sehn uns nochmal.« »In Ordnung, treffen wir uns morgen unten an der Bar, so um halb acht.« »Keine Sorge.« Beide vergaßen es auf der Stelle. »Gut. Bis dann.« »Machs gut.« Während Ronald Bishop wieder zurückging, sagte Samuel leise in sein Glas hinein: ein schöner Anfang. Wenn ich aus dem Bahnhof komme und rechts um die Ecke biege, bin ich wieder zu Hause in Nummer 42. Die kleinen Proberts spielen wie immer Onkel Doktor draußen vor der Load of Hay. Der einzige Fremde überhaupt neben mir ist ein Geschäftsmann mit flek-
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kigem Gesicht, der gerade in seinen Handflächen liest. Nein, da kommt eine Frau in einem Pelzmantel; sie wird sich gleich direkt zu mir setzen. Ja, nein, nein. Ich hab sie gerochen, als sie vorbeikam; Eau de Cologne und Puder und Bett. Die Frau nahm am übernächsten Tisch Platz, schlug ihre Beine übereinander und puderte ihre Nase. Das ist der Beginn eines Fortschritts. Jetzt tut sie so, als merke sie gar nicht, daß ihre Knie unbedeckt sind. Ein Luchs schleicht durch den Raum, meine Dame. Nichts anmerken lassen. Sie klappert mit dem Teelöffel auf ihrer Untertasse, um meine Aufmerksamkeit zu erregen, aber wenn ich sie fest anschaue, ohne zu lächeln, sehe ich, wie sie freundlich und unschuldig die Augen auf ihren Schoß niederschlägt, als säße dort ein Säugling. Er war erleichtert darüber, daß sie nicht schamlos war. Liebe Mutter, schrieb er mit dem Finger auf die Rückseite eines Briefumschlags, währenddessen er zwischen beinahe jedem der unsichtbaren Wörter aufsah zu der gegenübersitzenden Frau, die keine Notiz nahm, hiermit will ich Dir sagen, daß ich gut angekommen bin und am Büffet gerade etwas trinke und ein Stück Torte esse. Später werde ich Dir sagen, ob sie eine Irin ist. Sie ist etwa achtunddreißig Jahre alt, und ihr Mann hat sie vor fünf Jahren verlassen wegen ihres Lebenswandels. Ihr Kind ist in einem Heim, und sie besucht es jeden zweiten Sonntag. Sie erzählt ihm jedesmal, daß sie in einem Hutladen arbeitet. Du brauchst nicht zu befürchten, daß sie all mein Geld an sich nehmen könnte, denn wir mochten uns auf den ersten Blick. Und Du brauchst nicht zu befürchten, daß ich daran verzweifle, sie ändern zu wollen, denn ich bin immer so erzogen worden zu glauben, daß
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Mortimer Street für all das steht, was richtig ist, und von niemand anderem wünsch ich mir das. Und außerdem will ich sie auch gar nicht umkrempeln. Nicht, daß ich sie für ordinär hielte. In ihrer Branche tut man sich recht schwer, darum werde ich die erste Wochenmiete für unser kleines Zimmer in Pimlico bezahlen. Jetzt geht sie hinüber zur Theke, um sich noch eine Tasse Kaffee zu kaufen. Ich hoffe, Dir fällt auf, daß sie sie selber bezahlt. Jeder hier im Saal außer mir ist unglücklich. Als sie an ihren Tisch zurückkam, zerriß er den Umschlag und starrte sie an, ohne zu lächeln, eine volle Minute lang, wie man an der Bovril-Uhr hätte ablesen können. Einmal erhob sie ihren Blick zu ihm und schaute dann weg. Sie klopfte mit dem Löffel an den Rand ihrer Tasse, öffnete und schloß dann den Verschluß ihrer Handtasche, wandte dann langsam ihren Kopf herum, um ihn anzusehen und schaute sogleich wieder weg und aus dem Fenster. Sie scheint eine Neue zu sein, dachte er mit einem plötzlichen Anflug von Mitgefühl, jedoch hörte er nicht auf, sie weiter anzustarren. Soll ich ihr zublinzeln? Er schob seinen harten, nassen Hut schräg über ein Auge und blinzelte: ein langes, abgewogenes Blinzeln, das sein Gesicht verzog und seine Zigarette beinahe das stumpfe Ende seiner Nase berühren ließ. Sie ließ ihre Handtasche zuschnappen, schob zwei Pennies unter die Untertasse und verließ schnurstracks den Saal ohne im Vorbeigehen ihn auch nur einmal anzuschauen. Sie hat ihren Kaffee stehenlassen, dachte er. Und dann: Mein Gott, sie ist rot geworden. Ein schöner Anfang. »Haben Sie was gesagt?« fragte der Mann mit dem Muttermal und spähte zu ihm herüber. Sein Gesicht
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war von roter bis purpurroter und ansonsten brauner Färbung, ein wenig ungepflegt und unrasiert, mit einem durchtriebenen Zug von Bosheit um die Augen, als sei seine Verschlagenheit ein Ärgernis, das unmöglich zu ertragen war. »Ich glaube, ich sagte, schönes Wetter heute.« »Fremd hier?« »Ja, ich bin gerade erst angekommen.« »Wie gefällts Ihnen?« Es schien nicht gerade so, als interessiere es ihn im geringsten. »Ich war noch nicht außerhalb des Bahnhofs.« Jetzt würde die Frau im Pelzmantel einem Polizisten erzählen, »gerade eben wurde ich von einem kleinen Burschen mit nassem Hut angeblinzelt«. »Aber es regnet ja gar nicht.« Das würde sie befriedigen. Er legte seinen Hut unter den Tisch. »Es gibt hier ne Menge zu sehn«, sagte der Mann, »falls Sie das überhaupt wollen. Museen, Kunstgalerien.« Ohne zu sprechen ging er eine Liste von Namen anderer Attraktionen durch, verwarf sie jedoch allesamt. »Museen«, sagte er nach einer langen Pause. »Es gibt eins in South Kensington, dann ist da das British Museum, und dann gibt es noch eins in Whitehall, eins mit Kanonen. Ich habe sie alle gesehn«, sagte er. Jetzt war jeder Tisch besetzt. Kalte, steife Leute, die hier ihre Zeit totschlugen, saßen da, starrten ihren Tee und die Uhr an, erdachten sich Antworten auf Fragen, die nicht gestellt wurden, rechtfertigten ihr Verhalten in Vergangenheit und Zukunft, ertränkten jeden Augenblick der Gegenwart, sobald er zu atmen begann, logen und begehrten und versäumten alle Züge im Entsetzen ihres Verstandes, ein jeder für sich allein an der Endstation. Überall im Saal lag die Zeit im Ster-
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ben. Und dann wieder waren alle Tische frei, außer dem, der Samuel am nächsten war. Die einsame Masse ging hinaus in einer Beerdigungs-Prozession und ließ Asche und Teeblätter und Zeitungen zurück. »Sie sollten sich irgendwann mal aus dem Bahnhof hinausbegeben, wissen Sie«, sagte der Mann und kehrte zu einer Konversation zurück, die für ihn nicht interessant war. »Falls Sie sich umsehen wollen. Das wäre nur recht und billig. Es ist aber nicht recht und billig, per Bahn hierherzukommen und in einem Speisesaal zu sitzen und dann zurückzufahren und zu sagen, Sie hätten London gesehn, stimmts nicht?« »Ich gehe gleich, sehr bald.« »Das ist recht«, sagte der Mann, »packen Sie London beim Schöpf.« Er hat es so satt, mir etwas zu erzählen, daß er beinahe seine Laune verliert, dachte Samuel. Erneut sah er sich um; nach den Trauernden, die sich unruhig zur Theke bewegten, nach den eiligen Whiskytrinkern, die in Trauben an der Teemaschine standen, nach den Kellnerinnen, die sich lustlos mit pappigem Kuchen und Wechselgeld zu schaffen machten. »Sonst ist es ja, als sei man noch immer nicht aus den Federn gekommen, nicht wahr?« sagte der Mann. »Sie müssen herumlaufen, verstehen Sie, Sie müssen sich irgendwann in Bewegung setzen. Jeder tut das«, sagte er in einem unvermittelten, teilnahmslosen Gemütsausbruch. Samuel kaufte noch ein Bier von einem Mädchen, das aussah wie Joan Crawford. »Das ist mein letztes, dann geh ich«, sagte er, als er an den Tisch zurückgekommen war. »Glauben Sie etwa, mich interessiert es, wieviel Sie
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noch trinken? Sie können hier den ganzen Tag lang bleiben. Was soll mich das kümmern?« Mit zunehmender Verärgerung vertiefte der Mann sich wieder in die Betrachtung seiner Handflächen. »Bin ja nicht Ihr Kindermädchen!« Ronald Bishop stand noch immer an der Theke. Mortimer Street hat mich bis hierher verfolgt, dachte Samuel verbittert, sogar bis in dieses einseitige Gezänk mit einem Handleser in einem Bahnhofsrestaurant. Es gab keinen Ausweg. Doch was er sich wünschte, war noch nicht einmal Flucht. Die Straße war ein sicheres Loch in einer Mauer hinter der Biegung in ein anderes Land. Er wollte ankommen und gefangengenommen werden. Ronald, mit seinem zusammengerollten Schirm, stand da wie eine Furie. Kommen Sie nur herein, Mrs. Rosser, ihn Ihrem reh- und beigefarbenen Antimakassar-Mantel, Sie mit ihrem Stammhut auf ihren Wellen, und schreien Sie die Neuigkeiten der Straße mit ihrer Whistturnier-Stimme quer über den Tisch. Nicht mal auf eine Vogelklippe könnte ich vor Ihrer Raserei fliehen, Sie würden hinterhertrippeln und mit Ihrem Schnabel, der aufgerissen ist wie eine Einkaufstasche. »Ich hasse Kaninchen, die überall herumschnüffeln«, sagte der Mann und erhob sich. Auf seinem Weg zur Theke kam er an dem Tisch vorbei, an dem die irische Prostituierte gesessen hatte und nahm die Münzen unter dem Teller hervor. »Halt, Dieb!« sagte Samuel leise. Niemand konnte es hören. Da ist eine Kellnerin mit einem verschwenderischen Mann, die diese Pennies braucht. Und zwei Kinder, Tristam und Eve. Schnell änderte er die Namen. Tom und Marge. Dann ging er hinüber und legte eine Sixpence-Münze unter den Teller, gerade
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in dem Moment, als eine Kellnerin an den Tisch kam. »Es war heruntergefallen«, sagte er. »Ach, wirklich?« Als er zurückging, sah er, daß die Kellnerin mit drei Männern an der Theke sprach und mit dem Kopf in seine Richtung wies. Einer war Ronald Bishop. Einer war der Mann mit dem Muttermal. Ach, gut, gut! Wenn er das Geschirr nicht zerbrochen hätte, würde er jetzt den nächsten Zug nach Hause nehmen. Die Scherben würden wohl schon zusammengefegt sein, aber im ganzen Haus würden die Tränen nur so fließen. »Mutter, Mutter, er hat meine Häkelsachen in den Kaminschornstein gesteckt«, hörte er seine Schwester kreischen wie die Pfeifen eines Wachpostens. Reiher, Blumenkörbe, Palmen, Windmühlen, kleine Rotkäppchen, alles hineingestopft in Feuer und Ruß. »Bring mir einen Gummi zum Kohleausradieren, Hilda. Ich werd natürlich meine Stellung verlieren. Nichts anderes ist zu erwarten.« — »Oh, meine Teekanne, oh, mein blaues Service, oh, mein armer Junge.« Er vermied zur Theke zu sehen, wo Ronald Bishop unhörbar dabei war, ihn anzuschwärzen. Die Kellnerin wußte von Anfang an, als sie ihn sah, daß er aus den Sammelbüchsen der Blinden stahl und sie am Arm in den dicksten Verkehr geleitete. Der Muttermalmann sagte, daß er einer Kundin im Pelzmantel eine gewisse Postkarte gezeigt hätte. Überm Klappern des Geschirrs waren die Stimmen seiner Eltern voller Tadel. Er starrte angestrengt in sein Buch, obwohl die Buchstaben emporkletterten und umher taumelten, als wären die Tränen des verlassenen Hauses die Schienen entlang hinter ihm hergerollt und in diesen stickigen, mißtrauischen Raum durch die teefarbene Luft in
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seine Augen geflossen. Aber das Bild war falsch und das Buch für Fremde ausgewählt. Er mochte es nicht und verstand es auch nicht. »Meine Rechnungen.« — »Meine Deckchen.«—»Meine Weidenteller.« Ronald Bishop ging auf den Bahnsteig hinaus. »Bis dann, Ron.« Ronald Bishops Gesicht war rot geworden aus lauter Verlegenheit, ihn nicht zu bemerken. Eine vergnügliche Sache ist die, sagte sich Samuel, daß ich nicht weiß, was ich für mich erwarte. Er lächelte der Kellnerin hinter der Theke zu, und sie starrte sofort an ihm vorbei und schien so schuldig, als hätte er sie beim Ausplündern der Ladenkasse erwischt. Ich bin nicht so unschuldig wie ich aussehe, dachte er. Ich erwarte von keinem spinnenumwobenen Fagin, der nach Charakter und Geschichten riecht, daß er aus einer Ecke angeschlurft kommt und mich fortführt in sein großartiges, lautes, dreckiges Haus; es wird keine Tunte geben, in einer Küche voller Taschentücher und lockender, ungemachter Betten, die meine Phantasie kitzelt. Ich erwartete nicht, daß ein ganzer Chor leichter Mädchen sogleich singen und um die kleinen Tische herumtanzen würde, in Plüschschärpen und angepriesenen Büstenhaltern, als ich zum ersten Male nach London hereinkam, mit meinem Vermögen rasselnd, unerfahren wie Copperfield. Die Strohhahne in meinem Haar waren mit einer Hand zu zählen. Psst! Dich kenn ich, sagte er, Patiencen-Betrüger, Schlüssellochgucker, Hüter von abgeschnittenen Nägeln und Ohrenschmalz, der hinter Laburnums Vorhang nach Schatten giert und in der Bibliothek der Lieblingsklassiker nach Schenkeln schielt, Sam Däum-
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ling im Straßenschacht, wie er an windigen Tagen nach oben späht. So bin ich überhaupt nicht, sagte er, als der Mann mit dem Muttermal herüber an seinen Tisch kam und sich ihm gegenüber setzte. »Ich dachte, Sie wollten gehn«, sagte der Mann. »Sie sagten mir, Sie würden gehen. Sie sind jetzt schon eine Stunde hier.« »Ich hab Sie gesehn«, sagte Samuel. »Ich weiß, daß Sie mich gesehen haben. Sie müssen mich gesehen haben, nicht wahr, weil Sie mich angeschaut haben«, sagte der Mann. »Nicht daß ich die Twopence haben will, schließlich habe ich ein ganzes Haus voller Möbel. Drei Zimmer bis zur Decke voll. Ich habe genug Stühle, daß jeder aus Paddington sich drauf setzen könnte. Twopence sind Twopence«, sagte er. »Aber auch für die Kellnerin waren es Twopence.« »Sie hat jetzt Sixpence bekommen, stimmts? Sie hat Fourpence dran verdient. Sie werden schon keinen Schaden daran nehmen, nur weil sie denkt, daß Sie versucht haben, sie ihr abzuzwacken.« »Es waren meine Sixpence.« Der Mann erhob seine Hände. Seine Handflächen waren mit Berechnungen aus Tinte bedeckt. »Und da redet man von Gleichheit. Ist es denn so wichtig, wessen Sixpence es waren? Es hätten auch meine sein können oder die von irgend] emand anderem. Man wollte schon die Geschäftsführerin rufen«, sagte er, »aber ich habe meinen Fuß dazwischengestellt.« Beide schwiegen einige Minuten lang. »Haben Sie sich schon überlegt, wo Sie hingehen wollen, sobald Sie hier rausgehen?« sagte der Mann schließlich. »Weil... ich meine, irgendwann müssen Sies ja mal.« »Keine Ahnung, wo ich hingehe. Ich hab nicht die ge-
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ringste Idee. Aus diesem. Grunde bin ich ja nach London gekommen.« »Sehn Sie mal«, sagte der Mann und hielt seine Stimme gedämpft, »in allem steckt irgendein Sinn. Das muß auch so sein. Wäre es nicht so, könnten wir nichts anfangen, verstehen Sie? Jeder Mensch weiß, wo er hinwill, besonders dann, wenn er mit der Bahn gekommen ist. Andernfalls hätte er den Ort nicht verlassen, von wo aus er die Bahn genommen hat. Das ist ein Grundprinzip.« »Manche laufen fort.« »Sind Sie denn fortgelaufen?« »Nein.« »Dann sagen Sie doch sowas nicht. Dann sagen Sies nicht.« Seine Stimme bebte; er schaute die Zahlen auf seinen Handflächen an. Leise und freundlich hob er erneut an. »Lassen Sie uns erstmal eins klären. Leute, die kommen, müssen auch gehen. Die Leute müssen wissen, wohin sie gehen werden, andernfalls könnte die Welt auf keiner vernünftigen Grundlage in Gang gehalten werden. Die Straßen wären voll von Leuten, die einfach so herumwandern würden, nicht wahr? Die herumwandern und sinnlose Debatten mit Leuten führen würden, die wissen, wo es langgeht. Mein Name ist Allingham, ich wohne in der Sewell Street Ecke Praed Street und bin Möbelhändler. Einfache Sache, nicht wahr? Man braucht die Dinge nicht komplizierter zu machen, wenn man einen klaren Kopf behält und weiß, wer man ist.« »Ich heiße Samuel Bennet. Ich wohne nirgendwo. Ich habe auch keinerlei Arbeit.« »Wo wirst Du dann aber hingehn? Ich bin wohlgemerkt kein Schnüffler; hab Dir ja gesagt, was ich mache.«
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»Ich weiß nicht.« »Er weiß nicht«, sagte Mr. Allingham. »Du glaubst doch nicht etwa, daß Du hier irgendwo bist. Du kannst das hier doch nicht Irgendwo nennen, oder? Ist doch ein richtiger Raum zum Atmen.« »Ich hab mich gefragt, was geschehen würde. Das ist es, was ich mit mir selber diskutiert hab. Eigentlich bin ich hierhergekommen, um zu sehen, was mit mir geschehen würde. Ich selbst will gar nichts geschehen lassen.« »Er hat mit sich selber darüber diskutiert! Mit einem Jungen von zwanzig Jahren. Wie alt bist Du eigentlich?« »Zwanzig.« »Richtig. So eine Frage mit einem Jungen in diesem Alter zu diskutieren ... Was hast Du denn erwartet? »Ich weiß nicht. Vielleicht, daß Leute zu mir kommen würden und gleich von Anfang an mit mir reden. Frauen«, sagte Samuel. »Warum sollten die mit Dir reden? Warum sollte ich mit Dir reden? Du gehst nirgendwo hin. Du tust nichts. Du existierst ja gar nicht«, sagte er. Doch Samuels ganze Kraft war in seinem Leib und in seinen Augen. Er sollte besser seine Augen verdecken ... sonst könnte die marmorverkleidete Theke hinwegschmelzen, und alle Kleider der Mädchen hinter ihnen würden sich abschälen und alle Tassen in den Regalen zerspringen. »Jeder kann hieraufkreuzen«, sagte er. Dann dachte er an seinen gelungenen Anfang. »Jeder«, sagte er ohne Hoffnung. Ein Buchhalter aus dem Crescent ein Dutzend Häuser weiter; eine kalte, gewöhnliche, von einem Blinzeln
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verscheuchte Frau aus Birmingham; jeder, jeder; ein Diakon aus den Valleys unter schäbigem Vorwand, mit seiner Brieftasche, die in seine Kämme eingenäht ist; und während ihres freien Tages die Mitarbeiterinnen eines Flannel- und Kattunladens, wo das Wechselgeld von guten Beziehungen lebt. Niemand, den er sich je gewünscht hätte. »Oh, jeder natürlich. Janet Gaynor«, sagte Mr. Allingham. »Marion Davies und Kay Francis und ...« »Sie verstehen nicht. Ich erwarte nicht diese Art von Leuten. Ich weiß eigentlich überhaupt nicht, was ich erwarte, aber das ist es bestimmt nicht.« »Wie bescheiden.« »Nein, ich bin auch nicht bescheiden. Ich glaube nicht an Bescheidenheit. Es ist eben so, daß ich hier bin und nicht weiß wohin. Ich möchte nicht einmal wissen wohin.« Mr. Allingham begann die Sache zu erörtern, lehnte sich über den Tisch, zog sanft an Samuels Kragen und zeigte ihm die Summen auf seinen Händen. »Sag nur nicht, daß Du nicht wissen willst, wohin Du gehen sollst. Bitte. Sei ein guter Junge. Wir sollten die Dinge leichter nehmen, nicht wahr? Wir sollten die Dinge nicht komplizierter machen. Fang an bei einfachen Fragen. Und immer mit der Ruhe. Nimm Dir die Zeit, die Dir zusteht.« Mit einer Hand ergriff er einen Teelöffel. »Wo willst Du heut nacht bleiben?« »Ich weiß nicht. Ich werde irgendwo anders bleiben, aber an keinem Ort, den ich ausgewählt habe, denn ich werde überhaupt nichts auswählen.« Mr. Allingham legte den knotig verzierten Teelöffel beiseite. »Was willst Du, Samuel?« flüsterte er. »Ich weiß es nicht.« Samuel berührte seine Brusttasche,
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in der sich seine Brieftasche befand. »Ich weiß nur, daß ich Lucille Harris finden will«, sagte er. »Wer ist das, Lucille Harris?« Dann schaute Mr. Allingham ihn an. »Er weiß es nicht«, sagte er. »Oh je, er weiß es nicht!« Ein Mann und eine Frau setzten sich an den Nebentisch. »Aber Du hast versprochen, ihn kaputtzumachen«, sagte die Frau. »Ich machs schon, ich rnachs schon«, sagte der Mann. »Mach Du Dir darum keine Sorgen. Trink Du Deinen Tee. Mach Du Dir keine Sorgen.« Sie lebten schon lange zusammen und waren sich immer ähnlicher geworden mit ihren trockenen, faltigen Gesichtern und ihren nagenden Mündern. Die Frau kratzte sich, als sie trank, als sie den Rand der Tasse mit ihren grauen Lippen erfaßte und schüttelte. »Twopence, daß sie hinten einen Schwanz hat«, sagte Samuel mit gesenkter Stimme, doch Mr. Allingham hatte ihr Kommen nicht bemerkt. »So ists richtig«, sagte er. »Jeder auf seine Weise. Und die da ist völlig mit Pelz bedeckt.« Samuel steckte seinen kleinen Finger in den Hals der leeren Flasche. »Ich gebs auf«, sagte Mr. Allingham. »Aber Sie verstehen nicht, Mr. Allingham.« »Ich versteh schon genug«, sagte er laut. Das Paar am Nebentisch hörte zu reden auf. »Du möchtest nicht, daß irgendetwas geschieht, stimmts? Ich aber sehr wohl. Du kannst hier nicht reinkommen und mit mir reden, wie Du sonst mit Dir redest. Lucille Harris. Luzi däh Aff!« Der Mann und die Frau begannen zu tuscheln. »Und
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es ist erst halb zwei«, sagte die Frau. Sie schüttelte ihre Tasse, als wäre es eine Ratte. »Los. Wir gehen.« Mr. Allingham schob geräuschvoll seinen Stuhl zurück. »Wohin?« »Laß nur. Ich bin ja schließlich hier derjenige, der was losmacht, oder?« »Ich krieg meinen Finger nicht aus der Flasche«, sagte Samuel. Mr. Allingham nahm die Koffer auf und erhob sich. »Was macht schon so eine kleine Flasche?« sagte er. »Nimm sie mit, mein Sohn.« »Auch Vater und Sohn«, sagte die Frau, als Samuel hinter ihm hinausging. Die Flasche hing schwer an seinem Finger. »Was jetzt?« Draußen im lärmenden Bahnhof. »Komm mit. Und steck Deine Hand in Deine Tasche. Es sieht albern aus.« Als sie die Biegung zur Straße hinaufliefen, sagte Mr. Allingham: »Ich war noch niemals zuvor mit irgendjemandem zusammen, der eine Flasche am Finger hatte. Niemand sonst hat jemals eine Flasche an seinem Finger gehabt. Wozu tust Du Deinen Finger bloß in die Flasche?« »Ich hab ihn einfach so reingestoßen. Mit Seife werd ich ihn schon rauskriegen, das ist kein Grund zur Aufregung.« »Niemand anders bisher hatte es nötig, mit Seife eine Flasche abzukriegen. Das ist alles, was ich meine. Das hier ist die Praed Street.« »Recht trübe, nicht?« »Alle Pferde sind verschwunden«, sagte Mr. Allingham. »Das hier ist meine Straße. Das ist die Sewell Street. Recht trübe, nicht?«
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»Genau wie die Straßen zu Hause.« Ein Junge lief an ihnen vorbei und rief »Ikey Mo« hinter Mr. Allingham her. »Das hier ist Nummer 23. Siehst Du? Da ist das Schild, 23.« Mr. Allingham öffnete die Haustür mit einem Schlüssel. »Zweiter Stock, erste rechts.« Er klopfte dreimal. »Mr. Allingham«, sagte er, und sie traten ein. Das Zimmer stand voller Möbel.
Zweites Kapitel Haufenweise Möbel 1 Jeder Zoll des Raumes war mit Möbeln bedeckt. Stühle standen auf Couches, die auf Tischen lagen; Spiegel, fast so hoch wie die Tür, waren Rücken an Rücken gegen die Wände gestapelt, warfen Bilder zurück und ließen die Berge von Pulten und kopfüber liegenden Stühlen, von Sideboards, Garderobentischen, Kommoden, anderen Spiegeln, leeren Bücherschränken, Waschbecken und Kleiderschränken unendlich werden. Es gab ein fein gearbeitetes Doppelbett, dessen Deckenenden zurückgeschlagen waren, um die Platte eines Eßtisches zu bedecken, der auf einem anderen Tisch stand; es gab elektrische Lampen und Lampenschirme, Tabletts und Vasen, Spülbecken und Bassins, die auf Sessel gestapelt waren, die ihrerseits auf Schränken und Tischen und Betten standen, so daß sie die Decke berührten. Das eine der Straße zugewandte Fenster konnte man gerade noch zwischen den geschwungenen Beinen auf dem Rücken liegender Sideboards erspähen. Die Wände hinter den stehenden Spiegeln waren übersät von Bildern und Bilderrahmen. Mr. Allingham kletterte über einen Matratzenstapel in das Zimmer hinein und verschwand. »Nimm Anlauf und komm rein, Junge.« Seine Stimme drang hinter einer hohen Küchenanrichte hervor, die mit Teppichen verhängt war; und Samuel erblickte ihn, als er hinüberkletterte, unter sich auf einem
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Stuhl sitzend, der auf einer Couch stand, sich wohlig zurücklehnend, einen Ellenbogen auf der Schulter einer Standfigur. »Zu traurig, daß wir hier nicht kochen können«, sagte Mr. Allingham. »Ich hab hier auch eine ganze Anzahl Herde. Das da ist ein Fliegenschrank«, sagte er, in dem er in eine Ecke wies. »Direkt unter der Schlafzimmer-Einrichtung.« »Haben Sie ein Klavier?« »Ich hatte immer eins«, sagte er. »Ich glaube, es steht im anderen Zimmer. Sie hat einen Teppich drübergelegt. Kannst Du spielen?« »Ich kann etwas begleiten. Sie würden ganz leicht herauskriegen, welche Stücke ich kann. Ist das andere Zimmer so eins wie das hier?« »Es gibt noch zwei Zimmer, aber ich glaube, das Klavier ist verschlossen. Ja, da stehen noch massenhaft Möbel«, sagte Mr. Allingham und sah sich mit Abscheu um. »Immer wenn ich sage ›Jetzt reichts‹, kommt sie hereinspaziert mit ihrem ›Noch massenhaft Platz, noch massenhaft Platz‹. Eines Tages wird sie einfach nicht mehr hier reinkönnen, so sieht es nämlich aus. Oder sie kann nicht mehr hinaus; ich weiß nicht, was schlimmer wäre. Manchmal reichts einem, verstehst Du«, sagte er, »diese ewigen Möbel.« »Ist sie Ihre Frau, Mr. Allingham?« »Sie wird nochmal begreifen, daß alles seine Grenzen hat. Man kommt sich vor wie in einer Falle.« »Schlafen Sie hier?« »Da oben. Es ist fast drei Meter hoch. Ich habs gemessen. Ich kann die Decke berühren, wenn ich aufwache.« »Mir gefällt das Zimmer«, sagte Samuel. »Ich glaube, es ist das beste Zimmer, daß ich je gesehen habe.«
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»Darum habe ich Dich ja mit hergebracht. Ich dachte mir schon, daß es Dir gefallen würde. Hübsche kleine Bude für einen Mann mit ner Flasche am Finger, was?! Ich sagte es schon, Du bist nicht wie jeder andere. Kein anderer kann diesen Anblick ertragen. Hast Du Deine Koffer sicher untergebracht?« »Dort stehen sie. In der Badewanne.« »Behalt sie ruhig im Auge, dann ist das klar. Mir ist ein Sofa weggekommen. Noch so eine Garnitur, und ich bin mein Bett los. Und was passiert, wenn ein Kunde kommt? Kann ich Dir sagen. Er wirft einen Blick durch die Tür, und weg ist er wieder. Man kann nur kaufen, was im Moment gerade obenauf steht, so ist das.« »Kann man in die anderen Räume hinein?« »Das geht schon«, sagte Mr. Allingham. »Sie springt hinein, per Kopfsprung. Ich selbst hab alles Interesse an den anderen Räumen verloren. Da drin kannst du leben und sterben, und keine Seele merkt was davon. Ich hab auch einige hübsche Chippendale-Sachen. Da oben, wo der Himmel durchscheint.« Er stützte seinen anderen Ellbogen auf einen Nachttisch. »Ich komm mir oft verloren vor«, sagte er. »Darum gehe ich rüber ins Bahnhofsrestaurant; es gibt nur Tische und Stühle da.« Samuel saß auf seinem hohen Sitz, schaukelte die Flasche hin und her und trommelte mit seinen Füßen gegen die Längsseite einer Badewanne, die sich meterhoch über dem Boden auf Matratzen erhob. Ein Teppich hinter ihm, flach und breit in der Luft ausgelegt und ohne sichtbaren Halt, trug einen großen tönernen Krug, der unsicher auf den Rücken der Mustervögel stand. Weit über seinem Kopf, in dem hohen Raum,
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balancierte ein Schaukelstuhl auf einem Kartentisch, und die dünnen Tischbeine ruhten ihrerseits auf einem Schrank, der aufrecht zwischen Kissen und Kaminvorsetzern stand, und seine Spiegeltür war weit offen. »Haben Sie keine Angst, daß etwas herunterfallen könnte? Schaun Sie sich den Schaukelstuhl da an. Ein kleiner Schubs, und ab geht er.« »Wag das bloß nicht. Natürlich habe ich Angst«, sagte Mr. Allingham. »Wenn Du da drüben die Schublade öffnest, fällt hier der Waschtisch runter. Man muß eben flink wie eine Schlange sein. Da oben gibt es wohl nichts, was Du gerne kaufen würdest, oder?« »Mir gefallen eine Menge von den Sachen, aber ich hab kein Geld.« »Nein, nein, Du hast halt kein Geld. Richtig. Andere Leute haben welches.« »Ich mag den großen Krug. Man könnte einen Menschen drin verstecken. Haben Sie wohl etwas Seife für meinen Finger?« »Natürlich gibts hier keine Seife, hier gibts nur Waschbecken. Hier kann man auch kein Bad nehmen, obwohl hier fünf Badewannen sind. Warum interessiert Dich ein Krug, der groß genug ist, daß man einen Mann drin verstecken kann? Keiner von denen, die ich so kenne, wollte je einen Mann in einem Krug verstekken. Jeder andere sagt, er sei für alles zu groß. Warum willst Du Lucille Harris finden, Sam?« »Ich dachte ja nicht wirklich daran, einen Mann da drin zu verstecken. Ich meine, daß man es könnte, wenn man wollte. Ich weiß nicht, Mr. Allingham, warum ich sie finden will, aber ihre Adresse ist in London die einzige, die ich aufgehoben habe. Die anderen
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habe ich alle im Waschraum des Zuges weggespült. Als der Zug fuhr.« »Gut, gut.« Mr. Allingham legte seine Hand auf den dicken weißen Hals der nackten Statue und umschloß ihn fest mit seinen angespannten Fingern. Die Tür zum Treppenabsatz öffnete sich. Zwei Personen kamen herein und kletterten ohne ein Wort zu sprechen auf die Matratzen. Die erste, eine dicke, untersetzte Frau mit schwarzem Haar und einem spanischen Kamm darin, die ihr Gesicht angemalt hatte, als wäre es eine Wand, machte einen plötzlichen Hechtsprung in die Ecke hinter Samuel und verschwand dort zwischen zwei Stuhlsäulen. Sie mußte auf Kissen oder auf einem Bett gelandet sein, denn es hatte kein Geräusch gegeben. Der zweite Besucher war ein größerer, recht junger Mann mit starrem Lächeln; seine Zähne waren groß, wie die eines Pferdes, jedoch sehr weiß; sein glitzerndes, helles Haar war in Locken gelegt und duftete quer durch den Raum. Er stand auf einer Sprungfedermatratze dicht hinter der Tür und hüpfte auf und nieder. »Nun komm schon, Rose, hör schon auf zu schmollen«, sagte er. »Ich weiß, wo Du Dich verkrochen hast.« Dann, indem er so tat, als sähe er Samuel zum ersten Mal: »Du lieber Himmel, Sie sehen ja aus da oben wie ein Vogel«, sagte er. »Versteckt sich Donald irgendwo?« »Ich versteck mich nicht«, sagte Mr. Allingham. »Ich bin neben der Statue. Sam Bennet, George Ring.« George Ring verneigte sich und machte einen Luftsprung, als er ein Bein von der Matratze erhob. Er und Mr. Allingham konnten sich nicht sehen. Niemand konnte die Frau mit dem spanischen Kamm sehen. »Ich hoffe, Du hast Dich bei Mr. Bennet für das Zimmer
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mer entschuldigt«, sagte George Ring. Er sprang einige Schritte in Richtung auf die verborgene Standfigur zu. »Ich glaube nicht, daß es einer Entschuldigung bedarf, Mr. Ring«, sagte Samuel. »Ich hab noch nie einen so gemütlichen Raum gesehen.« »Oh, aber er ist doch schrecklich.« George Ring bewegte sich jetzt sehr schnell auf und ab. »Es ist sehr freundlich von Ihnen, daß Sie sagen, er sei gemütlich, aber sehen Sie doch nur die Unordnung. Denken Sie nur, Sie müßten hier leben. Sie haben übrigens etwas an Ihrem Finger, wußten Sie das? Dreimal darfst du raten: es ist ne Flasche.« Er schüttelte seine Locken und lachte, derweil er weiterhüpfte. »Du weißt noch gar nichts«, sagte Mr. Allinghams Stimme. Das intensive Gespringe hatte einen Teppich über den Nachttisch fallen lassen, so daß es schien, als sei er in einem anderen, tieferliegenden Zimmer verschwunden. »Du weißt überhaupt noch nichts über ihn. Wart nur ab. Wozu hopst Du eigentlich so, George? Es gehört sich nicht, einfach wie ein Ball in der Gegend herumzuhopsen, wenn man eben erst reingekommen ist.« »Was weiß ich nicht von Ihnen?« Mit einem Satz stand George Ring direkt unter Samuel und drehte seine Locken nach oben. »Er weiß nicht, wohin er gehen soll. Das ist das eine. Und dann sucht er ein Mädchen mit Namen Lucille, das er nicht kennt.« »Warum suchen Sie nach ihr?« George Rings Kopf berührte die Wanne. »Haben Sie ihr Bild in der Zeitung gesehen?« »Nein, ich weiß gar nichts über sie, aber ich möchte sie sehen, weil sie der einzige Mensch in London ist, den ich mit Namen kenne.«
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»Jetzt kennen Sie aber schon zwei mehr, nicht? Sind Sie sicher, daß Sie sie nicht heben?« »Natürlich bin ich sicher.« »Ich dachte, sie war womöglich so eine Art Heiliger Gral. Du weißt, was ich meine. Eine Art Ideal.« »Los, Du großes Pussikätzchen«, sagte Mr. Allingham. »Laß mich hier raus.« »Sind Sie das erste Mal in London? Ich fühlte mich auch so, als ich das erste Mal herkam. Vor Jahren war das. Ich spürte, ich müßte irgend etwas ausfindig machen. Ich kanns nicht erklären. Irgendwas gleich um die Ecke. Ich hab gesucht und gesucht. Ich war so unschuldig. Kam mir wie so eine Art edler Ritter vor.« »Laßt mich hier raus«, sagte Mr. Allingham. »Ich komm mir vor, als wenn das ganze Zimmer auf mir daraufsitzt.« »Ich habs nie gefunden.« George Ring lachte und seufzte und streichelte die Längsseite der Wanne. »Vielleicht haben Sie Glück«, sagte er. »Sie kommen um die Ecke und laufen ihr direkt in die Arme. Lucille. Lucille. Steht sie im Telephonbuch?« »Ja. Ich hab ihre Nummer in meinem Ruch.« »Oh, das macht die Sache ja einfacher, oder? Los, Rose«, sagte er. »Ich weiß genau, wo Du steckst. Sie hat gerade schlechte Laune.« Samuel schaukelte vorsichtig auf seinem Kutschbocksitz inmitten all der Möbel. Das hier war das vollste Zimmer in ganz England. Wieviele Hunderte von Häusern sind hier wohl durch Einzelstücke vertreten, Tische und Stühle, die in wahrer Holzflut hereinkommen, Kommoden und Schränke segeln an Seilen durchs Fenster und lassen sich hier nieder wie Vögel. Die anderen Räume hinter der zerbufften Tür werden höher und dunkler sein als dieser hier, mit dem stum-
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men schwarzen Schatten des Klaviers, das sich wie ein Berg unter einem Leichentuch von Teppichen erhebt, und Rose, mit ihrem Kamm, der aussieht wie ein Schiffsbug, treibt hinein in deren Dunkelheit und liegt die ganze Nacht hindurch reglos und still dort, wo sie aufgekommen ist. Jetzt war sie noch tot auf einem versenkten Bett zwischen der Säule aus Stühlen, lebendig begraben, weich und dick und verloren im Grab eines Hauses. »Ich will eine Hängematte kaufen«, sagte George Ring. »Ich kanns nicht ertragen, unter all dem Möbelzeug zu schlafen.« Vielleicht war das Zimmer nachts überfüllt mit Leuten, die sich gegenseitig nicht sehen konnten, ausgestreckt unter Stühlen, unter Sofas, verwirrt im Schlaf auf den Platten hochgestellter Tische, und die jeden Morgen aufwachten und riefen »Erdbeben, Erdbeben!« »Und dann leg ich mich schlafen wie ein Seemann.« »Sag Rose, sie soll vorkommen und mir hier raushelfen«, sagte Mr. Allingham hinter dem verdeckten Nachttisch, »ich will was essen.« »Sie schmollt, Donald. Sie ist jetzt verrückt nach einem japanischen Wandschirm.« »Hörst Du das, Sam? Gibt es hier etwa nicht genügend Zurückgezogenheit? Jeder kann alles tun, niemand kann einen sehen. Ich möchte was essen. Ich will einen Happen bei Dacey zu mir nehmen. Schläfst Du heute nacht hier?« »Wer«, fragte Samuel, »ich?« »Du kannst in einem der anderen Zimmer pennen, wenn Du glaubst, danach wieder aufstehn zu können. Da sind genug Betten für nen ganzen Harem.« »Harem«, sagte George Ring, in dem er es anders aus-
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sprach. »Du hast Gesellschaft, mein Röslein. Komm raus und laß Dich vorstelln.« »Vielen Dank, Mr. Allingham«, sagte Samuel. »Haben Sie tatsächlich keine genaue Vorstellung gehabt?« George Ring hüpfte, und für einen Augenblick war sein duftender Kopf auf gleicher Höhe mit Samuels. Ein breites, weißes, pferdegebissiges Lächeln, und wieder war der Kopf verschwunden. »Vom Schlafen und so. Ich finde das doll mutig. Sie hätten an alle möglichen Sorten von Leuten geraten können. ›Er geriet unter Diebe.‹ Kennen Sie das Gedicht von Sir Henry Newbolt?« »Er warf seinen leeren Revolver den Abhang hinunter«, sagte Samuel. Unbekümmert bewegte der Tag sich auf ein verheißenes Ende zu, in einem dunklen Zimmer voller Möbel, wo er sich inmitten seiner Frauen in einem Krähennestbett niederlegen oder sich in einer Hängematte unter der Decke schaukeln würde. »Prächtig, prächtig! Es ist so aufregend, jemanden zu finden, der was von Dichtung versteht. ›Die Stimmen welkten und die Hügel ruhten. ‹ Ist das nicht wunderbar? Die Stimmen welkten . . .? Ich kann stundenlang Lyrik lesen, stimmts, Donald? Es ist mir egal, was für Lyrik. Ich lese alles. Kennen Sie ›Ist jemand da, sprach der Wanderer‹? Wo soll da die Betonung hin, Mr. Rennet? Darf ich Sie Sam nennen? Sagen Sie ›Ist jemand da‹ oder ›Ist jemand da‹?« »Das ist doch nicht natürlich«, sagte Mr. Allingham, »daß ein Mensch nicht in der Lage ist, die Leute zu sehen, wenn er genau neben ihnen sitzt. Ich nörgle ja nicht, aber ich kann nun mal nichts sehen. Das ist alles. Es ist so, als war man gar nicht da.« »Ach Donald, sei doch still. Sam und ich haben eine
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äußerst ernsthafte Diskussion. Ist doch klar, daß Du in diesem Zimmer bist, stell Dich doch nicht so morbid an.« »Ich glaube, ich würde alle Wörter gleich stark betonen«, sagte Samuel. »Aber findest Du nicht, daß dadurch die Zeile recht flach wirkt? ›Ist jemand da, sagte der Wanderer‹«, murmelte George Ring, hielt den Kopf schief und spazierte über die Matratzen. »Ich spüre genau, daß Du irgendwo eine Betonung haben willst.« Werde ich heute nacht allein in dem Zimmer mit dem Klavier sein? fragte sich Samuel. Allein wie in einem Kaufhaus, hintereinander auf allen Betten liegen, Schränke öffnen und meine Hand hineinstrecken und mich im Dunkeln in Spiegeln betrachten. »Nenn mich ja nicht morbid, George Ring«, sagte Mr. Allingham. Er versuchte sich zu bewegen, doch da fiel die Standfigur gegen seinen Stuhl. »Ich erinnere mich, wie ich mal neunundvierzig Glas Guinness hintereinander weggetrunken habe und auf dem Dach eines Busses nach Hause kam. Sowas zu können, ist doch kein morbider Zug. Direkt oben auf dem Dach des Busses, nicht im oberen Deck.« Oder wird das Zimmer vollgestellt sein wie ein Friedhof, nur daß die unsichtbaren Toten überall um mich herum atmen und schnarchen, sich in den Schränken lieben, stinkbesoffen in den trockenen Wannen liegen . .. Plötzlich könnte ein warmer Leib durch die Tür gesegelt kommen und die ganze Nacht in meinem Bett liegen, namenlos, wortlos. »Neunundvierzig Guinness, das ist ne Schweinerei, finde ich«, sagte George Ring. »Es regnete«, sagte Mr. Allingham, »und ich werde nie brutal. Womöglich singe ich oder tanze etwas
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durch die Gegend, aber ich werde nie ausfallend. Reich mir eine Hand, Sana.« Samuel nahm den Teppich von dem Nachttisch und stieß die Statue fort. Sie war zwischen Mr. Allinghams Beine gefallen. Langsam wurde er wieder sichtbar und rieb seine Augen wie jemand, der eben aufgewacht ist. »Ich hab Dir ja gesagt, daß man hier in Fallen gerät. Kommst Du mit zu Dacey, George?« »Ich brauche hier noch Stunden, verstehst Du«, sagte George Ring. »Du weißt ja, daß ich der einzige Mensch bin, der Rosie aufmuntern kann, wenn sie eine ihrer Touren hat. Herrjeh, Rosie, komm doch, sei doch nicht so störrisch. Sie besteht zu neunzig Prozent aus Launen und zu zehn aus Seele. Bloß weil Du Schauspielerin bist, denkst Du, Du kannst den ganzen Nachmittag unter den Möbeln bleiben. Ich zähle bis fünf . ..« Samuel folgte Mr. Allingham zur Tür. »Fünf, sechs, sieben«, sagte George Ring, als Mr. Allingham die Tür mit Wucht zuschlug, dann ging seine Stimme unter im Lärm fallender Möbel. Sie stiegen die Treppe hinab, die auf den Gang führte, wo es nach Kohl roch und traten hinaus auf die graue Straße. »Ich glaube, es kann nur der Schaukelstuhl gewesen sein«, sagte Samuel. »Mrs. Daceys Laden ist gleich um die Ecke«, sagte Mr. Allingham. »Da ist er. Siehst Du das CadburySchild?«
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2 Mrs. Daceys vorderes Schaufenster war von innen zugetüncht, und die Wörter »Große Klasse« waren quer darüber gekritzelt. »Susan Dacey, amtlich zugelassener Tabakverkauf«, las Samuel laut. »Ist es auch ein Restaurant?« »Das mußt Du ihr erzählen«, sagte Mr. Allingham und öffnete die Tür. Eine Glocke ertönte. »So ist es vorher nie genannt worden.« Er hielt seinen Fuß gegen die Tür, so daß die Glocke weiterläutete. »Unter tausend würdest Du sie sofort erkennen.« Eine große, schmale, würdevolle Frau kam durch die private Hintertür in den Laden hinein, ihre Hände vor sich gefaltet. Sie war fast bis zu den Knöcheln in Schwarz gekleidet, mit einem strengen weißen Kragen, und hielt ihren Kopf so geziert aufrecht, als könne er sogleich abfallen. Der Herr beschütze die übrigen neunhundertneunundneunzig. Dann aber lächelte sie, und ihre Augen wurden scharf und hell; die Düsterkeit wich von ihrem ansonsten grausamen und glücklichen Mund. »Nehmen Sie Ihre Haxe von der Tür«, sagte sie. Die Glocke hörte auf. »So ists besser. Sie haben genug Getöse gemacht, um Tote aufzuwecken.« Sie hatte eine gute Aussprache, klar und präzise, wie eine Schulmeisterin. »Sonst alles gesund, Mrs. Dacey? Das hier ist ein neuer Freund, Sam Bennet. Zwei Stück Torte und zwei Kaffee, bitte. Wo ist Polly?« »Auf nichts Gescheites aus«, sagte Mrs. Dacey und trat hinter den Ladentisch. Ihr imposantes Kleid floß gleichsam um sie herum. »Sie sind vom Lande«, sagte sie über ihre Schulter hinweg, während sie den Kaffee-
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hahn an dem Messingkessel aufdrehte. »Wie gefällt Ihnen Ikey Mo ?« »Das bin ich.« Mr. Allinghams eine Gesichtshälfte wurde puterrot. »Ich bin nicht direkt vom Lande.« Samuel erzählte ihr, woher er kam. »Ich traf Mr. Allingham im Bahnhof. Ich übernachte heute in seiner Wohnung.« »Eher würde ich in einem Ascheimer schlafen«, sagte sie. Der Kaffee war dick und weiß und ohne Geschmack. Sie nahmen ihre Tassen mit in einen abgeteilten Raum, und Samuel bürstete mit seinem Ärmel die Krümel von seinem Stuhl. Sein Hut war verschwunden. Kleine Schmutzkugeln lagen in dem Staub zu seinen Füßen. »Sie haben eine Flasche an Ihrem Finger«, sagte sie. »Hab ichs nicht gesagt?! Jeder merkt das. Warum nimmst Du sie nicht ab, Sam? Es ist doch keine Dekoration, und praktisch auch nicht, eben nur eine Flasche.« »Ich glaube, mein Finger ist geschwollen, Mr. Allingham. Die Flasche sitzt jetzt viel fester.« »Lassen Sie sich nochmal anschaun.« Mrs. Dacey setzte eine Brille mit Stahlrändern, die an einer Kette hing, auf. »Er ist ja noch ein Baby.« »Zwanzig bin ich.« »Ikey Mo, der Babyhüter.« Leise ging sie zum Ende des Ladens zurück und rief: »Polly, komm mal runter. Polly. Polly.« Von weit oben im Haus erwiderte eine Mädchenstimme: »Wasn los, Ma?« »Komm und befrei einen Herrn von einer Flasche.« »Das klingt wie von einem russischen Komponisten, stimmts?« sagte George Ring an der Tür. »Was für
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ein herrliches Kleid; Du siehst aus wie eine Mörderin.« Er setzte sich zu Samuel. »Rose war nicht zu bewegen. Sie liegt da den ganzen Tag mit einem Koller herum. Erzählt mal, was es Neues gibt.« »Schon wieder die Buddel«, sagte Mr. Allingham. »Warum konnte er den Finger denn nicht in ein Glas oder sowas stecken? Ich weiß erstmal schon nicht, wieso er überhaupt mit seinem Finger solche Geschichten macht. Das ist mir ein Rätsel.« »Dir ist doch alles ein Rätsel. Du verstehst nicht mal das geringste Fünkchen Originalität. Ich stells mir furchtbar vor, keine Phantasie zu haben. Genau wie mit dem Sinn für Humor.« »Ich sage ja nur, daß es mir wie ein Alp träum vorkommt, irgendwo reinzugehen, eine Flasche Bier zu kaufen und dann nicht wieder hinausgehen zu können, ohne die Flasche am Finger zu haben. Mehr sag ich ja gar nicht.« Samuel hörte die Tochter von Mrs. Dacey die Treppe herunterlaufen. Dann sah er ihre Hand um den Türrahmen greifen. Im selben Moment, in dem sie die Tür aufstieß und eintrat, stellte er sie sich noch in hundert verschiedenen Anblicken vor; er ließ sie sprechen und wandern in allen Verkleidungen seiner nächtlichen Flammen; er verlieh ihr goldenes Haar, schwarzes Haar, er wußte, daß sie die Haut einer Zigeunerin hatte und weiß war wie Milch. Polly, komm und setz den Kessel auf mit deinen weißen, schlanken, braunen, breiten Händen und sieh mich an, wie ich als Grenadier oder Kalif auf Dich warte in diesem mauselochigen Vorraum. »Es ist so wie einer dieser Alpträume, in denen du Bil-
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lard spielst und das Queue aus Gummi ist«, sagte Mr. Allingham. Ein Mädchen trat ein, bebrillt, blaß und mit langem, schmalem Gesicht. Ihr Haar war in keiner von Samuels Farben, sondern einfach nur dunkel und stumpf. »Komm und hilf, die Flasche loszukriegen«, sagte Mrs. Dacey. Polly setzte sich an den Tisch und nahm seine Hand. »Tut es weh? Ich hab sowas noch nie gemacht.« Sie zog an seinem Finger. »Ich hoffe auch nicht, daß Du es je nochmal tun mußt«, sagte Mr. Allingham. »Interessiert mich nicht, ob ich Phantasie habe oder nicht. Ich bin froh, so zu sein wie ich bin und nichts an meinem Finger zu haben.« Polly beugte sich über Samuels Hand, und er schaute an ihrem Kleid hinab. Sie wußte, daß er sie betrachtete, aber sie unterließ es, das gleiche zu tun oder mit ihrer Hand den Ausschnitt ihres Kleides zu bedecken; sie hob ihren Kopf und schaute ihm tief in die Augen. Das werd ich nie vergessen, sagte er sich. Im Jahre 1933 zog ein Mädchen an einer Flasche am kleinen Finger meiner linken Hand, während ich ihr Kleid hinabschaute. Es wird länger lebendig bleiben als alle meine Gedichte und Sorgen. »Ich kann sie nicht loskriegen«, sagte sie. »Nimm ihn mit rauf ins Badezimmer und tu etwas Seife drauf«, sagte Mrs. Dacey mit ihrer trockenen, reinen Stimme. »Und denk daran, daß es sich um nichts weiter handelt als um seine Flasche.« Als sie sich erhoben, um hinaufzugehen, sagte George Ring: »Schrei, wenn Du mich brauchst. Ich bin wie der Blitz oben. Sie ist das schrecklichste Wesen, stimmts, mein Schatz? Du würdest doch den kleinen
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George nicht schnappen, wenn er ganz allein da rauf gehen würde.« Polly führte den Weg nach oben an. »Ich klage ja gar nicht«, sagte Mr. Allingham, »ich sage nur, wie es ist. Ich sag ja nicht, daß alles so ist, wies sein sollte. Er hat ne Flasche am Finger und ich einen Zahn in meiner Torte.« Seine Stimme wurde leiser.
3 Irgendjemand hatte die verschlissenen Vorhänge im Badezimmer zugezogen, um den dumpfigen, seltsamen Tag auszusperren, und die Badewanne war zur Hälfte mit Wasser gefüllt, auf dem eine Gummi-Ente umhertrieb. Als Polly die Tür geschlossen und abgeriegelt hatte, begannen Vögel zu singen. »Das sind nur die Vögel«, sagte sie. Sie steckte den Schlüssel in ihr Kleid. »Du brauchst keine Angst zu haben.« Zwei Käfige hingen von der Decke herab. Doch Samuel sah angsterfüllt, wie sie den Schlüssel herumdrehte und wegsteckte an einen Ort, an dem er ihn keinesfalls wiederzufinden wünschte, erst recht nicht, als der Raum plötzlich zu einem Wald wurde in den verwobenen Schatten der grünen Vorhänge. »Ein ulkiger Platz für Vögel«, sagte er. »Die gehören mir.« Polly ließ warmes Wasser einlaufen, und die Vögel sangen lauter, gleichsam, als hörten sie einen Wasserfall. »Mr. Allingham kommt mittwochs zum Baden hierher, und er meint, während des ganzen Bades machen sie sich über ihn lustig und blasen kleine Himbeeren zu ihm hinüber. Aber ich glaube
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nicht, daß er sich besonders viel wäscht. Finden Sie ihn nicht auch zum Piepen?« Er erwartete, daß sie ihn beim Umdrehen anlächeln würde, aber ihr Gesicht war unbeweglich und schwermütig, und ganz plötzlich sah er, daß sie hübscher war als alle jene Mädchen, die er sich ausgedacht hatte, bevor sie unten die Tür öffnete. Er mißtraute ihrem Liebreiz wegen des Schlüssels. Er erinnerte sich an das, was Mrs. Dacey gesagt hatte, als Mr. Allingham fragte, wo Polly sei: »Auf nichts Gescheites aus.« Er glaubte nicht, daß sie ihre Arme um ihn legen würde. Das wäre etwas anderes. Wenn sie versuchen würde, seinen Kopf unter Wasser zu halten, würde er nach George Ring schreien, und der käme gleich wie ein Pferd, wiehernd und nach Parfüm duftend. »Ich hab nur abgeriegelt, weil ich nicht will, daß George Ring hereinkommt. Er spinnt. Er parfümiert seine ganze Unterwäsche; wußten Sie das? Die Vorbeiziehnde Wolke, so nennen wir ihn. Vorbeiziehnde Wolke.« »Sie brauchten den Schlüssel aber nicht dahin zu tun, wo Sie ihn jetzt haben«, sagte Samuel. »Ich könnte Sie niederschlagen und ihn mir angeln. Könnte ja sein, daß ich so einer bin.« »Interessiert mich nicht.« Wenn sie ihn doch jetzt nur angelächelt hätte, als sie das sagte. Aber sie sah so aus, als interessiere es sie wirklich nicht, ob er sie niederschlagen würde, oder ob er auf dem Wannenrand sitzen und die Ente mit seiner Flasche antippen würde. Die Ente zog Kreise durch das abgestandene, schmutzige Wasser. »Wie heißen Sie?« »Sam.«
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»Ich heiße Mary. Aber man nennt mich Polly. Das ist kürzer.« »Das ist doch kaum kürzer, oder?« »Nein, haargenau so lang.« Sie setzte sich neben ihn auf den Wannenrand. Er wußte nichts zu sagen. Da war nun die verschlossene Tür, die er oft in seinen erfundenen Geschichten erdacht hatte, im Bett in der Mortimer Street, der warme, verborgene Schlüssel und das Mädchen, das zu allem gewillt war. Das Badezimmer müßte ein Schlafzimmer sein, und sie dürfte keine Brille tragen. »Kannst Du Deine Brille absetzen, Polly?« »Wenn Du magst. Aber dann kann ich nicht sehr weit sehen.« »Du brauchst doch nicht sehr weit zu sehen, es ist doch nur ein kleiner Raum«, sagte er. »Kannst Du mich sehen?« »Natürlich. Du bist direkt neben mir. Gefall ich Dir so besser?« »Ich finde Dich sehr hübsch, Polly.« »Prachtpolly«, sagte sie ohne zu lächeln. Tja, sagte er sich, da sitzt du nun, und sie sitzt da ohne Brille. »Hier in der Sewell Street passiert nie etwas.« Sie nahm seine Hand und ließ den Finger mit der Flasche auf ihrem Schoß liegen. Da sitzt du nun, mit deiner Hand auf ihrem Schoß. »Da, wo ich her bin, passiert auch nichts. Ich glaube, es passiert überall was, nur nicht da, wo man gerade ist. Alle möglichen Sachen passieren anderen Leuten. So heißt es jedenfalls«, sagte er. »Der Mann aus dem übernächsten Haus hat sich die Kehle durchgeschnitten«, sagte sie, »vor dem Frühstück.«
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An seinem ersten freien Tag seit seiner Geburt saß Samuel mit einem leichten Mädchen in einem verschlossenen Badezimmer über einer Teestube, die schmutzigen Gardinen waren zugezogen, und seine Hand lag auf ihren Schenkeln. Er empfand überhaupt nichts. Oh Gott, dachte er, laß mich doch was empfinden, laß mich fühlen, wies sich gehört, hier geschieht etwas, und ich bin kalt und lahm wie ein Mann in einem Autobus. Gib, daß ich mich an all diese Geschichten erinnere. Ich nahm sie in meine Arme, mein Herz schlug gegen ihres, ihr Leib bebte, ihr Mund war geöffnet wie eine Blume. Der Lotus des Osiris öffnete sich zur Sonne hin. »Hör Dir diese verrückten Vögel an«, sagte sie, und er sah, daß das warme Wasser über den Rand des Waschbeckens lief. Ich muß impotent sein, dachte er. »Warum hat er sich denn die Kehle durchgeschnitten, Polly? Aus Liebe? Ich glaube, wenn ich Liebeskummer hätte, würde ich Brandy und Whisky und creme de menthe trinken und dieses Zeug, das mit Eiern gemacht wird.« »Beim alten Shaw wars keine Liebe. Ich weiß nicht, warum ers getan hat. Mrs. Bentley sagte, überall war Blut, sogar auf der ganzen Uhr. Er hinterließ eine kurze Nachricht in einem Briefständer, und alles, was sie besagte, war, daß er es schon seit Oktober tun wollte. Sieh bloß mal, das Wasser fließt gleich durch bis in die Küche.« Er stellte es ab. Die Vögel stellten den Gesang ein. »Vielleicht wars doch Liebe. Vielleicht hat er Dich geliebt, Polly, aber hätte es nie gesagt. So aus der Ferne.« »Blödsinn, er hatte ein Hinkebein«, sagte sie. »Das Tüpfelchen auf dem i. Wie alt bist Du?«
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»Zwanzig.« »Nein, bist Du nicht.« »Naja, fast.« »Nein, bist Du nicht.« Dann schwiegen sie und saßen auf der Wanne, seine Hand auf ihrem Schoß. Sie zog ihre blasse Hand durch das Wasser. Die Vögel fingen wieder an. »Blasse Hände liebe ich«, sagte er. »An der Seite des Schalimaren. Wirklich, Sam? Du liebst meine Hände? Komisch, so ein Kompliment zu machen.« Lustlos betrachtete sie das lange, fließende Wesen im Wasser und machte eine Welle. »Hier ist es, als wärs Abend.« »Als wärs Abend auf dem Lande«, sagte er. »Vogelgezwitscher und Wasser. Wir sitzen jetzt am Ufer des Flusses.« »Beim Picknick.« »Und dann ziehen wir unsere Sachen aus und gehen schwimmen. Hui, das wird kalt werden. Man wird alle Fische spüren können, wie sie um einen herumschwimmen.« »Den 47er Bus kann ich auch hören«, sagte sie. »Die Leute fahrn zum Tee nach Hause. Es ist kalt ohne was an, findest Du nicht? Fühl mal meinen Arm, er ist wie Schnee, nur nicht so weiß. Blasse Hände liebe ich«, begann sie zu singen. »Liebst Du mich denn überhaupt?« »Ich weiß nicht. Ich glaube, ich fühle überhaupt nichts derartiges. Ich empfinde nie viel, bis es vorbei ist, aber dann ist es schon zu spät.« »Jetzt ist es nicht zu spät. Es ist nicht zu spät, Sam. Wir sind allein. Polly und Sam. Ich komm mit Dir mit zum Schwimmen, wenn Du magst. In den schmutzigen alten Fluß mit der Ente.«
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»Lächelst Du denn niemals, Polly? Ich hab Dich noch nicht einmal lächeln sehen.« »Du kennst mich ja auch erst seit zwanzig Minuten. Es liegt mir nicht, viel zu lächeln. Ich glaube, ich sehe am besten aus, wenn ich ernst bin; so:« sie ließ Augen und Mund traurig werden. »Ich bin eine Tragödin. Ich weine, weil mein Geliebter tot ist.« Langsam traten Tränen in ihre Augen. »Er hieß Sam, und er hatte grüne Augen und braunes Haar. Er war so klein. Liebster, liebster, liebster Sam. Er ist tot.« Die Tränen liefen ihre Wangen hinab. »Hör auf zu weinen, Polly. Bitte. Hör mit dem Weinen auf. Du machst Dich noch krank.« Aber sie weinte jämmerlich. »Hör auf, Polly, hübsche Polly.« Er legte seinen Arm um ihre Schulter. Er küßte ihre Wange. Sie war warm und feucht. »Niemand ist tot, Polly, Liebling«, sagte er. Sie weinte, und in der Hemmungslosigkeit ihres gestellten Schmerzes stöhnte sie seinen Namen hervor, zog an dem losen, tiefen Ausschnitt ihres Kleides, warf ihr Haar zurück und erhob ihre feuchten Augen zu den Vögeln in ihren Käfigen und den gesprungenen Verzierungen an der Decke. »Du machst das großartig«, sagte er verzweifelt und schüttelte sie an den Schultern. »Ich hab noch nie ein so gekonntes Weinen gesehen. Hör auf jetzt, Polly, bitte, Polly, bitte, solange Du noch aufhören kannst.« Der Mensch besteht zu achtundneunzig Prozent aus Wasser, dachte er. Polly Dacey besteht nur aus Salzwasser. Sie saß neben ihm wie eine berockte Flut. »Ich tu alles was Du willst, wenn Du nur aufhörst«, sagte er. »Du wirst Dich noch ertränken, Polly. Ich versprech Dir, alles in der Welt zu tun.«
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Sie trocknete ihre Augen an ihrem nackten Arm. »Ich hatte doch keinen echten Liebeskummer, Unsinn. Ich habs nur so dargestellt. Was willst Du denn dann tun? Alles? Ich kann ja auch darstelln, wie glücklich ich bin, daß mein Geliebter nicht wirklich tot ist. Das Kriegsministerium hat sich geirrt.« »Alles«, sagte er. »Morgen seh ich mir an, wie Du glücklich bist. Du solltest eins nicht so schnell nach dem anderen bringen.« »Das macht mir doch nichts aus. Ich kann alles hintereinander bringen. Ich kann eine Geburt machen und völlig blau sein und —« »Sei jetzt still. Spiel eine stille Dame, Polly, die auf einer Wanne sitzt.« »Ich werd es tun, wenn Du jetzt mit mir zusammen schwimmen gehst. Du hast es versprochen.« Sie legte ihr Haar zurecht. »Wo?« »In der Badewanne. Du zuerst, los. Du darfst Dein Versprechen nicht brechen.« George Ring, flüsterte er, komm bloß raufgaloppiert und beiß Dir einen Weg durch die Tür. Sie will, daß ich mich samt Mantel und Flasche am Finger in dieses kalte, schmutzige Badewasser setze, in diesem halbdunklen Badezimmer unter den höhnenden Vögeln. »Ich hab einen neuen Anzug an«, sagte er. »Unsinn, zieh ihn aus. Ich will doch nicht, daß Du mit allen Sachen in die Wanne steigst. Paß auf, ich leg was übers Fenster, dann kannst Du Dich im Dunkeln ausziehn. Dann zieh ich mich auch aus. Ich komm mit in die Wanne. Sam, hast Du Angst?« »Ich weiß nicht. Könnten wir uns nicht ausziehn und die Wanne weglassen? Ich meine .. . falls wir uns überhaupt ausziehen wollen. Es könnte jemand her-
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einkommen. Es ist so entsetzlich kalt, Polly. Furchtbar kalt.« »Du hast Angst. Du hast Angst davor, mit mir in einer Wanne zu liegen. Es wäre nicht lange kalt.« »Aber ich seh keinen Sinn darin. Ich will nicht in die Wanne. Laß uns hier sitzen, Polly, und Du sei die Glückliche.« Er konnte seine Hand nicht bewegen. Sie hielt die Flasche zwischen ihren Beinen fest. »Du willst doch nicht etwa Angst haben. Ich bin kein Stückchen älter als Du«, sagte sie, und ihr flüsternder Mund war dicht an seinem Ohr. »Sobald Du in der Wanne bist, springe ich im Dunkeln auf Dich drauf. Du kannst doch so tun, als sei ich jemand, den Du hebst, wenn Du mich schon nicht wirklich magst. Du kannst mich nennen wie Du willst.« Sie grub ihre Nägel in seine Hand. »Gib mir Deinen Mantel, ich hänge ihn vor das Fenster. Dunkel wie um Mitternacht«, sagte sie, als sie den Mantel aufhängte, und ihr Gesicht war in dem grünen Licht, das durch die Vorhänge schien, wie das eines Mädchens unter Wasser. Dann verschwand alles Grün, und er hörte sie herumhantieren. Ich will nicht in der Sewell Street Ecke Circe Street ertrinken, flüsterte er unter seinem Atem. »Ziehst Du Dich aus? Ich kann Dich nicht hören. Schnell, schnell, Sam.« Er zog seine Jacke aus und zog sein Hemd über den Kopf. Mach schön die Augen auf, Mortimer Street, äug mal nach mir hier in London. »Mir ist kalt«, sagte er. »Ich wärme Dich gleich, Sam, Dir wird herrlich warm werden.« Er konnte nicht feststellen, wo sie war, aber sie bewegte sich im Dunkeln und ließ ein Glas klirren. »Ich
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geb Dir einen Brandy. Wir haben Brandy im Medizinschrank, mein Schatz. Ich geb Dir ein großes Glas. Du mußt es in einem Zug leermachen.« Nackt hob er ein Bein über den Wannenrand und berührte das eiskalte Wasser. Kommt her und seht Euch den impotenten Samuel Bennet aus der Mortimer Street, nicht weit von Stanleys Grove, an, wie er sich in einer kalten Badewanne im Dunkeln und nicht weit vom Bahnhof Paddington zu Tode zittert. Ich bin in der Hauptstadt verloren gegangen samt einer Gummi-Ente und einem Mädchen, das ich nicht sehen kann und das Brandy in ein Zahnputzglas gießt. Die Vögel werden im Dunkeln verrückt. Was das für ein kurzer Tag für sie war, Polly. »Ich bin jetzt drin.« »Ich zieh mich auch aus. Kannst Du mich hören?« sagte sie sanft. »Das ist mein Kleid, das da so raschelt. Jetzt bin ich nackt.« Eine kalte Hand berührte ihn im Gesicht. »Hier ist Dein Brandy, Sam. Sam, mein Lieber, trink ihn aus, und dann komm ich zu Dir hinein. Ich werde Dich lieben, Sam, Dich zufriedenmachen. Trink alles aus, dann kannst Du mich berühren.« Er fühlte das Glas in seiner Hand, hob es hoch und trank alles aus, was drin war. »Lieber Himmel!« sagte er mit klarer, normaler Stimme. »Lieber Himmel!« Dann stießen die Vögel herab und hieben ihn auf den Kopf, behutsam zwischen seine Augen, brutal auf jede Schläfe, und er fiel in die Wanne zurück. Das war ein einziges Vogelsingen unter Wasser, und das Meer war voller Federn, die in seine Nasenlöcher hinaufschwammen und in seinen Mund. Eine Ente, groß wie ein Schiff, segelte auf haushohen Wassertropfen
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empor und roch seinen Atem, wie er sich zwischen aufgesprungenen, blutigen Lippen hindurchzwängte, Flammen und Wasserstrahlen gleich. Eine Welle von Brandy und Vögeln brach herein, und nackt wie ein Säugling ritt darauf Mr. Allingham mit seinem Muttermal, das aussah wie ein Regenbogen, und George Ring schwamm in Brustlage durch die offne Tür herein, und drei Mrs. Daceys glitten herein, fast einen Meter überm fließenden Boden. Die Dunkelheit ertrank wie in einem grellen Ball aus Licht, und die Vögel hörten auf.
4 Stimmen begannen ihn aus großer Entfernung zu erreichen. Eine flüssige Spur entlang kamen sie herangereist in Waschräumen rasender Züge und tauchten von der unermeßlich hohen Decke hinein in das kalte Meer der ungeheuren Badewanne. »Siehst Du, was ich sehe?« Das war die Stimme des Mannes mit Namen Allingham, der unter den Möbeln schlief. »Er scheint ein bißchen Tauchen zu spielen.« »Laß mich bitte nicht hinsehen, Donald, er ist ja völlig nackt.« Ich kenne ihn, dachte Samuel. Das ist George Ring, das Pferd. »Und krank ist er auch. Schafskopf Sam.« »Glückspilz Sam. Er ist betrunken, George. Tja, ja, ja, nicht mal seine Flasche hat er runterbekommen. Wo ist Polly?« »Schau mal da drüben«, sagte Mrs. Dacey. »Da oben auf dem Regal. Er hat das ganze Eau de Cologne ausgetrunken.« Er muß recht durstig gewesen sein.«
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Große, körperlose Hände kamen über die Wanne und hoben ihn heraus. »Er ist exzentrisch«, sagte Mr. Allingham, als sie ihn auf den Boden gelegt hatten, »das ist meine Meinung. Ich predige nichts, ich verurteile nichts. Ich sage nur: andere Leute lassen sich an passenderen Plätzen volllaufen.« Die Vögel sangen wieder in der elektrischen Dämmerung, als Samuel in festen Schlaf versank.
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Drittes Kapitel Vier verlorene Seelen I Zum zweiten Mal versank er in das zerrissen grüne Wasser, und während er sich nackt erhob, umgeben von Seetang und mit einer Frau unter jedem Arm und den Mund voller zerbrochener Muscheln, sah er, unzerstörbar und unsinkbar, sein gesamtes totes Leben zitternd auf den Brandywellen vor sich stehen. Es sah aus wie ein Nachttisch. Er öffnete seinen Mund zum Sprechen, aber eine warme Woge schnellte hinein. »Tee«, sagte Mrs. Dacey. »Alle fünf Minuten Tee mit viel Zucker. Das habe ich ihm immer gegeben, und es hat nicht im geringsten gutgetan.« »Nicht zu viel Worcestersauce, George; schütt doch das Ei nicht zu.« »Nein, werd ich schon nicht«, sagte Samuel. »Oh, hör nur die Vögel. Es war eine so kurze Nacht für die Vögel, Polly.« »Hör doch die Vögel«, sagte er klar, und ein brennender Schluck ertränkte seine Zunge. »Sie haben ein Ei gelegt«, sagte Mr. Allingham. »Probiers mal mit Coca Cola, Donald. Das kann nicht schaden; er hat Tee bekommen und eine Prärieauster und einen Angosturabitter und Oxo und alles.« »Ich hab ihm kannenweise Tee eingetrichtert«, sagte Mrs. Dacey zärtlich, »und sofort kam alles hoch, der Würfelzucker und alles.« »Coca Cola will er nicht. Gib ihm einen Tropfen Haar-
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öl. Ich kannte einen Mann, der pflegte Schuhwichse durch ein Tuch zu drücken.« »Du kennst alle Verrückten. Er versucht, sich aufzusetzen, der arme Süße.« Samuel kämpfte sich in die Trockenwelt empor und sah sich in einem ihrer Räume um, sah Mrs. Dacey, jetzt auf wunderbare Weise aufgelöst in eine große, schlanke Frau, die im Türeingang ihre schwarzen Seidenarme faltete, sah George Ring, der sein Lächeln und sein Haar über die rostigen Hähne wölbte und Mr. Allingham, der sich um ihn kümmerte. »Polly ist fort«, sagte er. Dann begriff er, warum die drei Personen im Badezimmer so groß und fern wirkten. Ich liege auf dem Boden und sehe nach oben, sagte er sich. Aber die anderen lauschten. »Nackt bist Du auch«, sagte Mr. Allingham, »unter der Decke.« »Hier ist ein hübscher nasser Schwamm.« George Ring tupfte und beruhigte. »Laß ihn auf Deiner Stirn. So, schau mal. So besser?« »Eau de Cologne ist fürs Körperäußere«, sagte Mrs. Dacey ohne ihn zu tadeln, »und Polly bekommt ihre Tracht Prügel. Ich geb ihr eins aufs Ohr, sobald sie nur den Mund aufmacht.« Mr. Allingham nickte. »Whisky könnte ich ja verstehen«, sagte er. »Aber Eau de Cologne! Das tut man auf Taschentücher. Man tut aber Whisky nicht auf Taschentücher.« Er sah auf Samuel hinab. »Ich jedenfalls nicht.« »Nein, nicht doch den Schwamm aussaugen, Sam.« »Ich schätze, er glaubt auch, Brathühnchen sei dasselbe wie Brot und Milch«, sagte Mr. Allingham. Sie sammelten seine Sachen neben der Wanne auf und
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zogen ihn eilig an. Und er wagte erst wieder zu sprechen, als er fertig angezogen war und, wieder auf den Beinen, fröstelnd über den Treppenabsatz zur dunklen Treppe ging. George Ring und Mr. Allingham hielten seine Arme und führten ihn zur ersten Stufe des spiraligen Grabes. Mrs. Dacey, die Trauernde, folgte ihnen nach, umgeben von seidigem Geraschel. »Es war der Brandy aus dem Medizinschrank«, sagte er, und da ging es schon hinab in die rauhe erdhafte Stille der Stufen. »Gebt mir Möbelpolitur«, sagte Mr. Allingham. »Peng. Stoß Dir nicht den Kopf. Besonders dann, wenn ich im Bad bin und mir schlecht ist.« Die Dunkelheit senkte sich wie noch mehr Schmutz und Staub über den schweigenden Laden. Irgendjemand hatte ein »Geschlossen«-Schild an der Innenseite des Fensters aufgehängt, das nicht zur Straße hinausging. »Honiglikör war übertrieben«, sagte Mr. Allingham. Sie setzten Samuel auf einen Stuhl hinterm Ladentisch, und er hörte Mrs. Dacey, die noch im Treppenflur war, wie sie hinaufrief in die anderen dunklen, schmutzigen Etagen und Höhlen des trunkenen Hauses, um Polli zu finden. Aber Polly antwortete nicht. Sie würde jetzt wohl in ihrem abgeschlossenen Schlafzimmer sein und weinen, weil Sam sie verlassen hat, oder an ihrem Fenster stehen und hinausstarren auf die farblose, allmählich unsichtbar werdende Straße und zu den großen, verwahrlosten Häusern; oder, in der Küche, die Schmerzen einer Frau beim Gebären schauspielern und sich schreiend um den vollgestellten Ausguß krümmen; oder in einer dumpfigen Ecke des Treppenhauses stehen und glücklich sein.
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»Dumme Gans«, sagte George Ring, der langbeinig auf dem Tisch saß und Samuel mit grimmiger Zurückhaltung zulächelte. »Du hättest ja ertrunkt sein können. Ertrankt«, sagte er noch einmal und schaute listig unter seinen spinnenlinigen Augenbrauen hervor. »Dein Glück, daß Ihr die Tür offengelassen habt«, sagte Mr. Allingham. Er zündete sich eine Zigarette an und betrachtete das Streichholz so lange, bis er sich seinen Finger verbrannte. »Nehme ich an«, sagte er, den Finger im Mund. »Unser Dienstmädchen zu Hause sagte immer ›ertrunkt‹«, sagte George Ring. »Aber ich hab gesehn, wie Polly die Tür abgeschlossen hat. Sie hat den Schlüssel in ihr Kleid gesteckt.« Samuel sprach angestrengt hinter der Ungewißheit des Ladentisches hervor. Die Wörter überschlugen sich erst, gerieten dann durcheinander, gingen verloren und stürzten zwischen das saure Gesträuch unter seiner Zunge. »Sie hat ihn in ihr Kleid gesteckt«, sagte er und pausierte nach jedem Wort, um das nächste herauszulösen. Jetzt war der Laden fast völlig dunkel. »Und Garmin. Statt Kamin, verstehst Du. Na, mein Lieber, als wir hinaufgingen, war die Tür offen. Kein Schlüssel, keine Polly.« »Nur ein Junge in der Badewanne«, sagte Mr. Allingham. »Hast Du sowas oft, Sam? Das Wasser stand Dir bis zum Kinn.« »Und der Schmutz erst!« »Der war nicht von mir. Irgendjemand war vorher in der Wanne. Es war kalt«, sagte Samuel. »Ja, ja.« Samuel konnte sehen, wie Mr. Allingham nickte. »Das ändert die Situation, nicht wahr? Liebe
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Güte«, sagte er, »Du hättest in voller Kleidung reingehen sollen, wie jeder andere auch.« »Polly ist weg«, sagte Mrs. Dacey. Sie tauchte wie aus dem Nichts in der Wand auf und stand hinter dem Ladentisch an Samuels Seite. Ihr raschelndes Kleid streifte seine Hände, und er zog sie heftig zurück. Ich hab ein Begräbnis berührt, sagte er zu dem benommenen Jungen auf seinem Stuhl. Ihre leichenkalte Hand fiel gegen seine Wange und ließ ihn aus einem sekundenlangen Schlaf jäh auf frösteln. Der Sarg ist aufrecht in mein Sitzbett spaziert. »Ooch«, sagte er laut. »Noch so kalt, Süßer?« Mrs. Dacey beugte sich hinab, knarrend wie eine Tür, und streichelte ihm zärtlich über Haar und Mund. Den ganzen Tag über war wenig Licht zu sehen gewesen, sogar in der Morgendämmerung und mittags, meistens nur das beengende, künstliche Licht des Schlafzimmers und des Restaurants. Den ganzen Tag hatte er an engen, dunklen Plätzen verbracht, im Bad und im Waschraum des Zuges, einem Dschungel aus Möbeln, einem vollgepfropften Laden, in den niemand anders kam außer diesen Stimmen, die sagten: »Du sahst so schutzlos aus, Sam, wie Du so dalagst, so verfroren und weiß.« »Wo war Moses, als das Licht verlosch, Mrs. Dacey?« »Wie einer dieser Cherubim im alten Italien, nur natürlich mit einer Flasche am Finger.« »Im Dunkeln. Genau wie jetzt.« »Was hat Dir unsre Polly nur getan, diese kleine Dirne?« sagte Mrs. Dacey mit ihrer korrekten, damenhaften Stimme. Mr. Allingham erhob sich. »Ich hör nicht zu. Und sag Du ja kein Wort, Sam, auch wenn Du könntest. Kerne
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Erklärungen. Um halb fünf nachmittags völlig kaputt in der Badewanne. Ich kann ja allerhand vertragen.« »Ich möchte hinaus«, sagte Samuel. »Aus der Haut fahrn?« »Hinaus.« Aus dem undurchsichtigen, entblößenden Loch in der Wand des Vogelhauses, Zwingers und Kaltwasserladens hinein in die Straßen ohne Schloß und Riegel. Ich möchte nicht mit Polly in einer Schublade schlafen. Ich möchte nicht in einem Keller neben einer verrückten Frau liegen, die Politur säuft. London geschieht überall; laßt mich raus, laßt mich gehn. Mrs. Dacey besteht nur aus kalten Fingern. »Dann los. Es ist sechs Uhr. Kannst Du gehen, mein Sohn?« »Gehen kann ich gut; aber mein Kopf.« Ungesehen strich Mrs. Dacey ihm übers Haar. Niemand kann etwas sehen, sagte er unhörbar, aber Mrs. Susan Dacey, konzessionierte Tabakverkäuferin, streicht mir durchs Haar mit ihren Eidechsen; und er stieß einen Schrei aus. »Für sowas hab ich kein Verständnis«, sagte Mr. Allingham. »Kommst Du, Sue?« »Kommt darauf an, wo Ihr hinwollt.« »Den Edgeware Road runter, etwas Luft schnappen. Er muß sich umsehen, nicht wahr? Du kommst ja nicht aus der Provinz hierher, um in der Badewanne Eau de Cologne zu trinken.« Sie gingen alle hinaus, und Mrs. Dacey verschloß den Laden. Es regnete stark.
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»Ist ja'n Witz!« sagte George Ring. Arm in Arm bogen sie aus der Sewell Street in die Praed Street ein. »Mit mir scheints der Regen zu haben.« Er schüttelte seine fest sitzenden Locken und tanzte ein paar Schritte den Bürgersteig entlang. »Mein neuer brauner Mantel ist im Badezimmer«, sagte Samuel, und Mrs. Dacey hielt ihren Regenschirm über ihn. »Na los, Du bist doch nicht der Typ, der einen Mantel anzieht, nur weils regnet, oder? Hör mit dem Getanze auf, George.« Doch George Ring tanzte weiter den Bürgersteig entlang durch den stürmischen Regen und zog die anderen mit sich; ganz unbeabsichtigt begannen sie einen tänzerischen Wettlauf unter dem regenstaubigen Licht der Laternen hindurch, Mrs. Dacey sprang schwarz wie ein Diakon raschelnd und knarrend über die Pfützen hinweg, Mr. Allingham, der außen lief, stampfte herum und wich dem Bordstein aus, während Samuel leicht und benommen voranglitt, seine Füße kaum am Boden. »Vorsicht. Leute«, rief Mr. Allingham und zog die noch immer Tanzenden hinüber auf die glitschige Straße. Von Scheinwerfern gefangen und von Hupen gejagt stampften und rasten sie wieder auf den Gehsteig zurück, fest aneinandergeklammert, mit glitzernden, kalten und nassen Gesichtern. »Wo ist Dein Feuer geblieben, George? Immer mit der Ruhe, Junge, immer ruhig.« Aber Mr. Allingham, mit einem Fuß im Rinnstein, hoppelte wie ein Kaninchen voran, während er an George Rings Ärmel
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zerrte, um ihn anzutreiben. »Ist alles Sams Schuld«, sagte er im Hoppeln, und seine Stimme klang so hoch und laut wie die eines Jungen im Regen. Schaut London an, wies an mir vorbeifliegt, Busse und Glühwürmchen, Regenschirme und Laternenpfähle, Zigaretten und Augen unter den Wassertorwegen, ich tanze mit drei Fremden im Regen die Edgeware Road hinunter, rief Samuel dem vorbeifliegenden Jungen zu. Leicht und willenlos, wie in einem Anzug aus Federn, so hielt er sich an ihren Armen fest, und der Regenschirm fuhr über ihnen entlang wie ein Vogel. Kalt und ohne zu lächeln und blind hinter ihren beschlagenen Gläsern, so hüpfte Mrs. Dacey an seiner Seite entlang. Und George Ring sang zu jedem Hopser, wobei sein durchnäßtes Haar sich hob und wieder in welligen Schichten herabfiel: »Noch tanzen wir weit, sammeln Spaß und auch Maid, Sue Dacey, Don, George und auch Sam, wir vier Leut!« Als sie schließlich vor der Antelope zum Stillstand kamen, lehnte sich Mr. Allingham an die Wand und hustete, bis ihm die Tränen kamen. Solange er hustete, nahm er nicht ein einziges Mal die Zigarette aus dem Mund. »Seit vierzig Jahren bin ich nicht mehr so schnell gelaufen«, sagte er. Seine Schultern bebten, und sein Taschentuch hing wie eine Fahne an seinem Mund. Er führte sie in die Bar, wo drei junge Frauen, die ihre Schuhe ausgezogen hatten, vor dem elektrischen Kamin saßen. »Drei Whisky. Und Du, Sam? Nen guten Schluck Kiwi?« »Er trinkt auch Whisky«, sagte Mrs. Dacey. »Schau ihn an, er hat wieder Farbe.«
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»Kiwi ist Schuhwichse«, flüsterte eine der jungen Frauen, und kichernd beugte sie sich über den Rost. Ihr großer Zeh kam plötzlich, wie eine kalte, neugierige Nase, aus einem Loch in ihrem Strumpf hervor, und wieder kicherte sie. Das war eine Bar in London. Liebe Peggy, schrieb Samuel mit seinem Finger auf die Theke, ich trinke in einer Bar mit Namen Antelope an der Edgeware Road; zusammen mit einem Möbelhändler, der Inhaberin eines Teegeschäfts, drei jungen Frauen und George Ring. Ich habe diese Tatsachen vermerkt, weil das Parfüm, das ich in der Badewanne getrunken habe, mir noch immer zu schaffen macht und weil hier niemand Ruhe geben wird. Es geht mir ganz gut, aber ich weiß nicht, wie lange. »Was machst Du denn, Sam? Sieht aus, als ob Du zeichnest. Ich hab einen echten Friedhof in meiner Brust, was! Hust, hust«, sagte Mr. Allingham erbost zwischen jedem Huster. »Nicht der Husten hat ihm den Rest gegeben«, sagte die junge Frau. Ihr ganzer plumper Körper kicherte. Alles ist sehr trivial, schrieb Samuel. Mr. Allingham ist nach einem Whisky betrunken. Alles in seinem Gesicht wird blaß, nur sein Mal nicht. »Da sind wir also«, sagte Mr. Allingham, »vier verlorne Seelen. Wie kann man einen Menschen aber auch an so einen Platz stecken.« »Die Antelope ist charmant«, sagte George Ring. »In der Bar gibts ein paar richtige Jagdspuren.« Er lächelte Sam zu und bewegte seine langen, groben Finger schnell über die Theke, als ob er Klavier spielte. »Ich bestehe nur aus Rhythmus. Es ist wie eine Art Strom in mir.« »Ich meine die Welt. Das hier ist ja nur ein winziger
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Teil davon. In Ordnung, es gibt die gewohnten Stunden hier; man kann die Vorhänge zuziehn, man weiß eben, was man hier zu erwarten hat. Aber schau Dir mal die Welt an. Du und Deine Ströme«, sagte Mr. Allingham. »Nein, wirklich, es wogt richtig aus mir heraus.« George Ring schlug mit einem Fuß den Takt und machte mit seiner Zunge am Gaumen ein rhythmisches, kußähnliches Geräusch. »Wie kann man einen Menschen bloß in sowas reinstecken. Mitten zwischen Straßen und Häuser und Verkehr und Leute.« Die junge Frau bewegte ihren Zeh mit einem Finger hin und her. »Du sei still.« Jetzt kicherten ihre Freundinnen, verdeckten ihre Gesichter und schielten zwischen ihren Fingern hindurch zu Mr. Allingham hinüber und feuerten sich an, weiterzumachen und »hotscha« und »hei di ho« und »Minni Muhkuhs Hochzeitstag« zu sagen, während George Ring mit einem schmalen, gelben Buckskin-Schuh klopfte und auf die Theke einklimperte. Sie rollten mit ihren Augen und sagten, »swing it, Schwester«, und brachen wieder in ihr Gekicher aus. »Seit fünfzig Jahren frißt es jetzt an mir herum«, sagte Mr. Allingham, »sieh mich nur mal an. Sieh mich mal an.« Er nahm seinen Hut ab. »Haare!« flüsterte die junge Frau mit dem Loch im Strumpf. Sein Haar war fretchenfarben und obenherum dünn; es hörte an den Schläfen zu wachsen auf, kam aber hinter den Ohren wieder zum Vorschein. Sein Hut hinterließ eine tiefe, weiße Stirnfalte. »Da knabbern wir uns Tag und Nacht immer weiter
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auf, Mrs. Dacey. Knabber knabber.« Seine braunen Zähne kamen über seine Lippe. »Kein Sinn, keine Ordnung, kein Nichts; wir sind allesamt verrückt und bösartig. Seht Euch den Sam an. Da sitzt ein netter, harmloser Bursche, lockiges Haar und große Augen und so. Und was macht er? Seht Euch bloß seine verrückte Flasche an.« »Keine Reden«, sagte die Frau hinter der Theke. Sie sah aus wie eine Herzogin und bewegte sich beim Sprechen gleichsam reitend auf und ab, wie zu den Bewegungen eines Pferdes. »Tripptrapp«, sagte Samuel und errötete, als Mr. Allingham einen rostbraunen Finger erhob. »So ists recht. Immer zur rechten Zeit das rechte Wort am rechten Platz. Tripptrapp! Ich sag Dir doch, die ganze Welt ist verrückt. Keiner weiß, wos langgeht, keiner weiß, warum er wo ist; alles was sie wollen ist Liebe, Bier und Schlaf.« »Das erste würde ich nicht mal ablehnen«, sagte Mrs. Dacey. »Achten Sie nicht auf ihn«, sagte sie zu der Frau hinter dem Schanktisch, »er ist ein Philosoph.« »Jeden für böse zu halten«, sagte die Frau und erhob sich. »Es gibt auch Leute in Glashäusern.« Jetzt geht sie über die Hürde, dachte Samuel träge, und schon versank sie wieder in ihren verborgenen Sattel. Sie scheint nachts Kilometer zu fressen, sagte er zu seinem leeren Glas. »Die Leute denken über alle möglichen anderen Dinge nach.« George Ring schaute in Erwartung einer Vision zur Decke empor. »Musik«, sagte er, »und Tanz.« Seine Finger klavierten durch die Luft, während er auf den Zehen tanzte. »Sex«, sagte Mr. Allingham.
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»Sex, Sex, Sex, Du immer mit Deinem Sex, Donald. Du scheinst unterdrückt zu sein oder sowas«. »Sex«, flüsterte die junge Frau am Feuer. »Sex ist in Ordnung«, sagte Mrs. Dacey. »Laßt den Sex ruhig beiseite.« »Natürlich bin ich unterdrückt. Fünfzig Jahre lang hat man mich unterdrückt.« »Den Sex sollte man da mal rauslassen.« Die Frau hinter der Theke erhob sich im Galopp. »Religion auch.« Rüber geht sie, und wie ne Eins, rüber über die Hecke und den Wassergraben. Samuel nahm ein Pfund aus seiner Brieftasche und zeigte auf den Whisky im Regal. Noch traute er es sich nicht zu, die reitende Frau mit dem ausgestopften, ungeheuren Busen und den zwei langen milchweißen Laiben der Arme anzusprechen. Seine Kehle brannte noch immer; die Hitze des Raumes loderte durch seine Nasenlöcher in seinen Kopf hinauf, und alle Wörter auf seiner Zungenspitze schnappten wie Benzin und Stechginster; er sah drei junge Frauen vor den metallenen Scheiten flackern, und seine drei neuen Freunde donnerten und gestikulierten vor ihm mit der entsetzlichen Übertreibung von Leuten aus Fleisch und Blut, die sich wie die Gefangenen eines Schauspiels auf einer Leinwand bewegen, dazu verdammt, ihre Kleinheit in einer vergrößerten Ausstellung in Szene zu setzen. Er sagte sich: Mrs. Antelope, die den Whisky eingießt, als seien es vier Ehrenkränkungen, glaubt, daß Sex ein Bett ist. Der Liebesakt ist ein Akt des Bettes selbst; die Matratzenfedern schreien »Sprung auf«, und rüber geht sie, samt Pferd und allem. Ich kann sie in ihrem Bett liegen sehen wie ein Stück Holz, wie sie mit Haß und Abscheu der meisterlichen Stimme der zerbeulten Laken lauscht.
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Er fühlte sich alt und abgeklärt und unruhig. Seine augenblickliche Weisheit wog so schwer, daß er den Rand der Theke umklammerte und einen Arm hob, ganz so wie ein im Meer Gefangener, der sein Untergehen signalisiert. »Tun Sies doch«, sagte Mrs. Dacey, und der ganze Raum kicherte wie ein Mädchen. Jetzt weiß ich, dachte Samuel unter seiner Last, als er sich an die Oberfläche kämpfte, was mit einer Säule der Kirche gemeint ist. Lange, kalte Mrs. Dacey könnte ein Bethesda auf dem hohen Ende ihres ausgehöhlten Kopfes stützen und mit ihren Augen die käferschwarzen Sünder einfrieren, wo sie unter ihr gekratzt haben. Ihr Witz dröhnte im Dachstuhl. »Dir ist ein Fünfer runtergefallen, Sana.« Mr. Allingham hob ein Stück Papier auf und hielt es ausgebreitet auf seiner sonnengebräunten Handfläche. »Es ist die Adresse von Lucille Harris«, sagte Samuel. »Warum rufst Du sie nicht einfach an? Das Telephon ist da oben auf der Treppe.« George Ring wies in die Richtung. »Vor der Damentoilette.« Samuel teilte einen Vorhang und stieg hinauf. »Vor der Damentoilette«, sagte eine Stimme in dem versinkenden Raum. Er las sich die Anweisungen zum Telephonieren durch, steckte zwei Pennies hinein, wählte und sagte: »Miss Harris? Ich bin ein Freund von Austin.« »Ich bin niemandes Freund. Ich bin vogelfrei«, flüsterte er in den summenden Hörer. »Ich bin Trotto der Geächtete, trotte durch die Nacht, bin Kumpel von Eulen und Mördern. Twitt, twuhuuu«, sagte er laut in die Sprechmuschel. Sie antwortete nicht, und er schlurfte die Stufen
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hinab, öffnete den Vorhang und trat mit einem langen Schritt in den Barraum hinein. Die drei jungen Frauen waren fort. Er sah zum Rost hinüber, nach ihren Schuhen, aber auch sie waren fort. Leute lassen nichts zurück. »Sie war wohl nicht zu Hause«, sagte er. »Haben wir gehört«, sagte Mr. Allingham. »Wir haben Dich mit ihrer Eule sprechen hörn.« Er erhob sein Glas starrte es an und stand traurig und grimmig in der Mitte des Raumes, wie ein Mann, der die Vergessenheit in Händen hält. Dann traf er seine Wahl und trank. »Wir klappern einiges ab«, sagte er. »Wir nehmen ein Taxi, und Sam bezahlts. Wir fahren ins West End und sehen nach Lucille.« »Ich weiß, sie war so eine Art Heiliger Gral«, sagte George Ring, als sie alle in der Dunkelheit des Taxis waren und durch den Regen klapperten. Samuel fühlte Mrs. Daceys Hand auf seinem Knie. »Vier bewehrte Ritter, ist das nicht ungeheuer aufregend! Zuerst schaun wir ins Gayspot, dann ins Cheerioh, dann ins Neptune.« »Vier verlorne Seelen.« Die Hand schmerzte weiter auf dem Schenkel, fünf trockene Fische, die auf einem Tuch dörren. »Marble Arch«, sagte Mr. Allingham. »Da kommen die Mondfeen her.« Und die den Regen durcheilende Menschenmenge könnte ohne jedes Fleisch und Blut gewesen sein. »Park Lane.« Die Menge glitt am Wagendach und an den Fenstern vorbei, mischte ihre gesichtslosen Gesichter und flüssigen Körper unter eine plötzliche Lohe oder verschwand in das strömende Licht einer hohen Tür, die
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hineinführte in das Innere der reichen Londoner Nächte, wo alle Frauen Perlen trugen und ihre Arme mit Nadeln durchstachen. Ein Autoauspuff knallte. »Hörst Du die Champagner-Korken?« Mr. Allingham lauscht meinem Kopf, dachte Samuel, als er sich vor den Fingern in die Ecke zurückzog. »Piccadilly. Auf zu Allinghams Tour. Das ist das Ritz. Auf einen Kipper halten, Sam?« Das Ritz ist für immer geschlossen. Alle Ober würden hinter vorgehaltenen Händen brüllen. Gustave, Gustave, schrie ein Mann mit Klappzylinder, er benutzt die falsche Gabel. Er trägt eine Fliege mit Gummiband. Und eine Frau im Abendkleid beugte sich so tief, daß er ihren Nabel mit einem Diamanten darin sehen konnte, lehnte sich über schien Tisch, zog an seiner Fliege und ließ sie wieder an seinen Hals zurückschnellen. »Die dreckigen Reichen«, sagte er. Mein Platz ist unter Bettlern und Vogelfreien. Samuel Bennet zerstört die ganze Verschlagenheit der Gesellschaft in seinem neuesten Roman, Im Inneren, mit Macht und Gewalt. »Piccadilly Circus. Mittelpunkt der Welt. Siehst Du unter der Laterne den Mann, der in seiner Nase bohrt? Das ist der Premierminister.«
3 Das Gayspot war wie ein Kohlenkeller mit einer Bar an einem Ende, und zahlreiche Kohlenmänner tanzten mit ihren Säcken. Samuel, an der Tür, schwankend zwischen Mrs. Dacey und George Ring, fühlte – noch
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immer voller Furcht — nach seinem Schenkel. Er wagte nicht hinabzuschauen, aus Angst, das Äußere des Hosenbeins könnte den unentschuldbaren Abdruck seines Schreckens im Taxi tragen. »Kosmopolitisch hier«, flüsterte George Ring. »Sieh mal, der Schwarze.« Samuel rieb sich die Nacht aus den Augen und sah die schwarzen Männer, wie sie mit ihren Frauen tanzten und sie um die grünen Korbstühle zwischen dem Spielautomaten und dem Russischen Billard herumwirbelten. Einige der Frauen waren weiß und rauchten beim Tanzen. Sie poussierten und durchstöberten den Raum, ihres Tanzens nicht bewußt, die Arme um sich spürend, als würden sie die Körper anderer Frauen umschlingen: ihre Blicke galten den eintretenden Fremden, sie wanderten durch die heißen Bewegungen des Tanzes hindurch wie Frauen im Liebesakt und betrachteten über die Schultern der Männer hinweg in einem Spiegel ihre eigenen entrückten und unduldsamen Gesichter. Die Männer waren ganz Zähne und Gesäß, ganz Dampfkessel und Shakermönch, mit schmalen Taillen und breiten Schultern, mit nadelgestreiften Zweireihern und glänzenden, abgeleckten Schuhen, allesamt ohne Alter und Falten, in Erwartung des Fleischtopfes, stolz und schweigsam und freundlich und hungrig — so sprangen sie in dem verräucherten Keller umher unter dem Mittelpunkt der Welt und zu der Musik einer Trommel und eines Klaviers, die von zwei bleichen schrägen Burschen gespielt wurden, deren Lippen sich unablässig bewegten. Als George Ring Samuel zwischen den Tänzern hindurch zur Bar lotste, kamen sie an einem Automaten vorbei, und Samuel steckte einen Penny für eine Limonade hinein. Herauskamen anderthalb Schillinge.
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»Na, Sam, wer wird das Rennen machen?« sagte Mr. Allingham hinter ihnen. »Ist er nicht ein glücklicher Poet?« sagte George Ring. Mrs. Dacey hatte innerhalb einer halben Minute einen Partner gefunden, der so groß war wie sie und durch den Raum tanzte wie eine Kapelle. Er hatte sein Gesicht gepudert, um eine Narbe zu verdecken, die von einem Augenwinkel bis zum Kinn reichte. »Mrs. Dacey tanzt mit einem Rasierer-Onkel«, sagte Samuel. Das war der rechte Hauch und Schandfleck, den er da einzufangen gekommen war. Sieh nur die schlüpferlosen Frauen, die von den Korbtischen aus verzaubern und in den Schwaden auf die landfeinen Pinkel warten, daß sie hereingewankt kommen, ganz Ersparnis und Heusträhne, oder auf die rosagesichtigen alten Herren mit Knopflöchern, deren Frauen zu Hause so munter sind wie Säcke voller Schößlinge. Und die tanzenden, kannibalenmäuligen Rasiererkönige, die ihren Weibern Brüste und Blut zum Gestotter der Trommeln aufwühln, nach Schlangenmaß eingeschneidert in dem schäbigen, süß riechenden Dschungel unter dem nassen Pflaster. Und der verbogene Junge tanzte wie ein Mädchen, und die beiden Serviermädchen waren so rauh wie Männer. Mr. Allingham kaufte vier Weißwein. »Na los. Er hats auf einem Tivolitisch gemacht. Du könntest Deine liebe Tante mitbringen, was, Monica?« sagte er zu dem Mädchen mit der Fliege, die die Getränke einschenkte. »Nicht meine Tante«, sagte Samuel. Tante Morgan Pont-Neath-Vaughan in ihren gumrniverstärkten Stiefeln. »Sie trinkt nicht«, sagte er.
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»Zeig Monica Deine Flasche. Er hat eine Flasche am Finger.« Samuel vergrub seine Hand tief in seiner Jackentasche. »Sie will doch keine solche alberne Flasche sehen.« Seine Brust begann beim Sprechen zu kitzeln, und mit zwei Fingern seiner rechten Hand glitt er zwischen die Knöpfe seines Hemdes und auf sein nacktes Fleisch. »Kein Unterhemd«, sagte er überrascht, aber das Mädchen hatte sich abgewandt. »Das ist ne Sonntagsschule«, sagte Mr. Allingham. »Schon Deinen Wein probiert, Sana? Das Pferd hier ist unfähig zur Arbeit. Ein normales kleines Karnickeltänzchen. Man könnte die Frau vom Vikar hierher mitnehmen.« Mrs. Cotmore-Richards, rund einen Meter dreißig und Gequietsche in ihren bestrumpften Haxen. »Eine gewöhnliche kleine Gemeindefeier«, sagte Mr. Allingham. »Siehst Du die tanzende Frau dort? Die, die in das Mehlfaß gefallen ist? Sie ist die Nichte eines Bankmanagers.« Die Frau mit dem toten, weißen Gesicht lächelte, als sie in den Armen eines auswattierten Burschen vorbeiging»Hallo, Ikey.« »Hallo, Lola. Sie markiert, merkste. Denkt, sie ist Starr Faithfull.« »Ist sie eine Prostituierte, Mr. Allingham?« »Sie ist ne Maniküre, Sammy. Wie stehts um Deine Nagelhaut? Glaub bloß nicht alles, was Du siehst, besonders, wenns schon dunkel ist. Das ist alles Theater. Schau mal da den Casanova mit den alten Mädchen. Das letzte Mal, als er eine Frau angefaßt hat, hatte er einen Gummilutscher im Mund.« Samuel drehte sich um. In einer Ecke wieherte George
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Ring mit drei Frauen. Ihre Stimmen schrillten und raspelten durch den schrägen Lärm der Trommeln. »Lucy hat beim letzten Mal, als ich sie sah, ne Tracht Prügel bekommen«, sagte eine Frau mit falschen Zähnen und einem abgekahlten Pelz. »Er sagte, er war Apotheker.« »Lucille«, sagte George Ring und schüttelte ungeduldig seine Locken. »Lucille Harris.« »Mit einer Kleiderbürste. Er hatte sie in einer kleinen Tasche.« »Da ist ein Apotheker«, sagte eine Frau, die einen breitkrempigen schwarzen Federhut trug. »Er meint doch nicht Lucy Wakefield«, sagte eine andere Frau. »Lucy Wakefield ist mit einem Mann aus Crouch End zugange«, sagte die Nichte des Bankmanagers und tanzte vorbei. Der Bursche, der mit ihr tanzte, lächelte mit geschlossenen Augen. »Vielleicht hat er einen Lederriemen in seiner kleinen Tasche«, sagte die Frau mit dem Pelz. »Das ist in hundert Jahren noch genau dasselbe«, sagte die Frau mit dem großen Hut. Sie ließ sich zu ihrem Weißwein herab, spreizte die Beine wie ein altes Maultier an einer Tränke und kam keuchenderweise wieder nach oben. »Die haben Haaröl reingetan.« Das alles hier war verkehrt. Sie sprachen wie die Frauen, die Männermützen tragen und in den alten Seemannsbüchern Fischkörbe voller Leergut schleppen. »Gut gegen Schuppen.« Er erwartete nicht, daß die Frauen im Nachtklub unter der Straße wie Sirenen singen und schwirren oder ihm mit ihren gefährlichen, violett eingefaßten Augen seine Knöpfe abzaubern würden. London ist nicht un-
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ter den Bettüchern verborgen, unter denen die ganze Gesellschaft durch das Flackern des Kinoauges grandios und anstößig erscheint. Aber diese Frauen mit den schäbigen Gesichtern und den Komödiantenzungen, die zusammenhocken und sich um den Ruin ihrer Mutter zanken, könnten schwankend hereingekommen sein auf den Armen kleiner Männer in Welschgrün, direkt von einer Football-Nacht in Llanelly. Die Frauen an den Tischen, die er als fesselnde Umrisse wahrgenommen hatte, als er, benommen von der Nacht, hier hereingekommen war, waren stumpfsinnig wie weichliche Sissys, rotäugig und mit erkältungsprallen Köpfen; sie würden niesen, wenn man sie küssen wollte oder einen Schluckauf bekommen und in den dunklen Fallen der Hotelschlafzimmer von guter Kinderstube schwatzen. »Kreuzbrav hier«, sagte er zu Mr. Allingham, »ich dachte, Sie hätten gemeint, das war hier so ein heruntergekommenes Plätzchen, so eine Art Flüsterkneipe.« »Flüstere mal lieber selber. Hier unten hört man nicht gern das Wort heruntergekommen.« Mr. Allingham kam dicht heran und sprach aus dem Mundwinkel: »Die sind dazu schon zu heruntergekommen. Das ist son richtiges kleines Rattenloch«, flüsterte er. »Nur zum Aufwärmen. Bald ziehen sie ihre Klamotten aus und machen hula hula; wird Dir gefallen.« »Niemand kennt Lucille«, sagte George Ring. »Bist Du sicher, daß Du nicht Lucy meinst? Hier gibts ne ganz süße Lucy.« »Nein, Lucille.« ›»Sie wohnt an den Quellen der Unschuld.‹ Ich glaube, manchmal gefällt mir Wordsworth besser als Walter de la Mare. Kennst Du ›Tintern Abbey‹?«
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Mrs. Dacey tauchte an Samuels Schulter auf. »Tanzt unser Kleiner nicht?« Er erschauderte unter ihrer kalten Hand an seinem Hals. Nicht hier. Nicht jetzt. Dieser entsetzlich unpersönliche Bethesda-Raubzug dieser Finger. Er erinnerte sich, daß sie sogar beim Tanzen ihren Regenschirm bei sich hatte. »Ich hab eine Schwester in Tintern«, sagte ein Mann hinter ihnen. »Tintern Abbey.« George Ring schmollte ohne sich umzudrehen. »Nicht in der Abbey. Sie ist Kellnerin.« »Wir hatten über ein Gedicht gesprochen.« »Sie ist doch keine olle Nonne«, sagte der Mann. Die Musik hörte auf, aber die beiden Burschen auf der kleinen Plattform bewegten noch immer ihre Hände und Lippen und spielten den Tanz unhörbar weiter. Mr. Allingham erhob seine Faust. »Sagen Sie das nochmal, und ich hau Sie um.« »Ich puste Sie um«, sagte der Mann. Er blies seine Backen auf und pustete. Sein Atem roch nach Knoblauch. »Na, na.« Mrs. Dacey brachte ihren Regenschirm in Stellung. »Dann sollten die Leute nicht herumlaufen und Nonnen beleidigen«, sagte Mr. Allingham, als die Stockzwinge seine Weste abklopfte. »Dich pust ich um«, sagte der Mann. »Ich hab nie ne Nonne beleidigt. Ich hab noch nie mit einer gesprochen.« »Na, na.« Der Regenschirm näherte sich seinen Augen, und er duckte sich. »Pusten Sie noch mal«, sagte Mrs. Dacey höflich, »und ich jag Ihnen den hier ins Maul und mach ihn auf.«
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»Verabscheuen Sie denn nicht Gewalt?« sagte George Ring. »Ich war immer ein ausgemachter Pazifist. Ein Tropfen Blut, und ich fühlte mich schon völlig hilflos. Wollen wir tanzen?« Er legte seinen Arm um Samuels Taille und tanzte mit ihm von der Bar fort. Die Kapelle fing wieder an, obwohl keines der Paare sein Tanzen unterbrochen hatte. »Aber wir sind zwei Männer«, sagte Samuel. »Ist das ein Walzer?« »Hier werden nie Walzer gespielt. Sie spielen gerade, was ihnen auf der Seele liegt. Schau, da tanzen auch zwei Männer.« »Ich dachte, das wären Mädchen.« »Mein Freund dachte, Ihr wärt ein Weiberpärchen«, sagte George Ring mit lauter Stimme, als sie an ihnen vorbeitanzten. Samuel sah zu Boden und versuchte den Bewegungen von George Rings Füßen zu folgen. Eins, zwei, drei und drehen und tapp. Einer der beiden jungen Männer rief schrill, »komm her und sieh Dir meine Aga Cooker an«. Eins, zwei, drei und herum und tapp. »Was ist Polly Dacey eigentlich für ein Mädchen? Ist sie verrückt?« Ich fühl mich wie der Kopf der Distel, dachte Samuel. Herum und nochmal herum, auf die Zehen jetzt, und die Hüften kräftig schütteln. »Nicht so schwerfällig, Sam. Du bist wie ein kleiner Elephant. Als sie noch zur Schule ging, steckte sie immer Mäuse in den Briefkasten, und die fraßen alle Briefe auf. Und dann trieb sies auch mit Jungens in der Waschküche. Ich kann Dir nicht sagen, was alles. Man konnte sie durchs ganze Haus schreien hören.« Aber Samuel hörte schon nicht mehr zu. Er stolperte
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und drehte sich zu seinem eigenen Rhythmus zwischen den fliegenden Beinen, tauchte unter und zog sich zurück, hüpfte auf einem Bein und rotierte, sein Haar fiel ihm über die Augen, und seine Flasche wirbelte herum. Er klammerte sich an George Rings Schulter und bewegte sich abwechselnd im Zickzack von ihm fort und in Sprüngen wieder dicht an ihn heran. »Schlenker die Flasche nicht so. Nicht so schlenkern. Mach die Augen auf, Sam. Sam.« Samuels Arm flog herum, und eine kleine Frau ging zu Boden. Sie ergriff seine Beine, und er zog George Ring mit hinab. Ein anderer Mann stürzte und klammerte sich fest an den Rock seiner Partnerin. Ein langer Riß, und sie taumelte zwischen die anderen, die Beine in der Luft, ihr Kopf in einem Gewoge von Bäuchen und Armen. Samuel lag still. Sein Mund war auf den Nacken der Frau gepreßt, die zuerst gefallen war. Er streckte die Zunge heraus. »Von meinem Kopf runter; Sie haben Schlüssel in Ihrer Tasche.« »Au, mein Bein!« »Sos richtig. Immer mit der Ruhe. Schöne Aussicht hier.« »Irgendwer leckt an mir mm«, schrie die ganz unten liegende Frau. Dann standen die beiden Mädchen vom Ausschank über ihnen, schlagend und stoßend, und zogen sie an den Haaren hoch. »Der da hat Schuld. Er hat ihr eins mit ner Flasche verpaßt. Ich habs gesehn«, sagte die Nichte des Bankmanagers. »Wo hat der die Flasche her, Lola?« Das Mädchen mit der Fliege zog Samuel am Kragen
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hoch und zeigte auf seine linke Hand. Er versuchte, sie in die Tasche zu stecken, aber eine Hand wie ein schwarzer Boxhandschuh schloß sich um die Flasche. Ein großes schwarzes Antlitz beugte sich hinab und starrte in das seine. Er sah nur das Weiße der Augen und der Zähne. Ich will keinen Schnitt im Gesicht. Schneid mir nicht meine Lippen auf. Rasierklingen kommen nur in Geschichten vor. Gib, daß er keine Geschichten kennt. »Na, na«, sagte Mrs. Daceys Stimme. Das schwarze Antlitz schnellte zurück, als sie ihren geöffneten Schirm hervorstieß. Samuels Hand war frei. »Schmeiß ihn raus, Monica.« »Er hat getanzt wie ein Affe, schmeiß ihn raus.« »Wenn Ihr ihn rauswerft, könnt Ihr mich auch rauswerfen«, sagte Mr. Allingham an der Theke. Er erhob seine Fäuste. Zwei Männer gingen zu ihm hinüber. »Paßt auf meine Brille auf.« Er trug gar keine. Sie öffneten die Tür und stießen ihn die Treppe hinauf. »Dämliche Nonne«, rief eine Stimme. »Und nun zu Dir.« »Und die alte Jungfer. Paß auf ihren Schirm auf, Dodie.« Samuel landete eine Stufe unter Mr. Allingham, und Mrs. Dacey kam hinterhergeflogen mit hocherhobenem Regenschirm. Es regnete noch immer stark.
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4 »Ein kurzes Gastspiel«, sagte Mr. Allingham. Als ob er in einem Zimmer am Fenster saß, so streckte er seine Hand aus, um den Regen zu fühlen. Schuhe wateten über seinem Kopf auf dem Gehsteig vorüber. Durchnäßte Hosen und Strümpfe berührten fast die Krempe seines Hutes. »Rein und raus«, sagte er. »Wo ist George?« Ich bin gefeuert worden, dachte Samuel. »Das erinnert mich an meinem alten Herrn.« Mrs. Daceys Gesicht war hinter dem Schirm versteckt wie unter der privaten Begleitung einer Gewitterwolke. »Raus und rein, raus und rein. Ein Blick, und bumms war er wieder draußen; wie ein Uhrwerk.« Ach, das Gayspot?! Komm ich nicht rein, mein Alter. Samuel blinzelte ernst in das Dunkel. Ach, ich hatte da ein Problem. Ne Flasche rumgeschlenkert. Ein Blick, und draußen war ich. »Er hatte immer ein kleines Büchlein bei sich mit allen Plätzen, wo er nicht hinkonnte, und er besuchte sie jeden Sonnabend. Idiot, Idiot, Idiot, sagte sich Samuel. Plötzlich waren die Stufen in helles Licht getaucht: George Ring erschien. Er kam vorsichtig und unbeschädigt heraus, begleitet von einem Schwall Musik und Stimmen, die sogleich mit dem verräucherten Licht wieder verschwanden, und stand auf Mrs. Daceys Stufe, seine Lockenmähne golden gegen das fächerartige Licht, ein Gott oder Zentaur, der vor der Unterwelt in den gewöhnlichen Regen flieht. »Sind alle fürchterlich kaputt«, sagte er. »Mrs. Cavanagh zerriß sich ihr Kleid und hatte nichts drunter. Meine Herrn, genau wie im Alten Rom da unten, und
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jetzt hat sie die Hosen von einem Mann an, und der hat richtige Spinnenbeine. Ganz schwarz und haarig. Warum sitzt Ihr hier so im Regen?« »Ist sicher«, sagte Mr. Allingham. »Ist nett und sicher hier im Regen. Ist nett und vernünftig, im Regen auf der Treppe zu sitzen. Hier kannst Du keine Frau mit ner Flasche niederschlagen. Seht Ihr die Sterne? Das da ist Arcturus. Da ist der Große Wagen. Da Sirius, da, der grüne. Ich zeig Euch nicht, wo die Venus steht. Es gibt Leute, die sind nicht zufrieden, ehe sie nicht Frauen umhaun und sie auf dem Boden ablecken. Sie glauben, daß der Abend vertan ist, wenn sie das nicht tun. Ich wünsch, ich war zu Hause. Ich wünsch, ich war im Bett, gleich unter der Decke. Ich wünsch, ich läge unter den Stühlen, so wie Rosie.« »Wer hat die Schlägerei eigentlich angefangen? Kommt, wir gehn ins Cheerioh.« »Das war ganz moralisch.« Sie arbeiteten sich die Straße hinauf, George Ring an der Spitze, dann Mr. Allingham, dann Samuel und Mrs. Dacey. Sie hakte sich bei ihm ein. »Mach Dir keine Sorgen. Halt Dich nur an mich. Kalt? Du frierst ja.« »Im Cheerioh ists vorbei.« Das Cheerioh war ein gerechter Höllenladen, ein altes Loch voller Lichter. In der Dunkelheit ein geöffneter Schrank voller ausrangierter Kleidungsstücke, die sich in einem Wind bewegten, der von nirgendwo kam, Gestank von Mottenkugeln und altem Pelzwerk, dann die Entdeckung einer angezündeten Lampe, brennende Kerzen, ein spielendes Grammophon. »Nicht das Wahre für Deine Tanzerei«, sagte Mr. Allingham. »Du brauchst Platz. Du brauchst den Crystal Palace.«
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Noch immer hielt Mrs. Dacey Samuel am Arm. »Bei mir bist Du sicher. Ich hab mir meine Meinung gemacht. Wenn ich einmal eine habe, ändere ich sie nicht mehr.« »Und trau nie einer Frau, die nicht aufstehen kann.« Mr. Allingham zeigte auf eine Frau, die auf einem Stuhl am Rennboot-Tivolitisch saß. »Sie versucht schon die ganze Zeit aufzustehn.« Die Frau machte eine unvermittelte Bewegung mit ihren Schultern. »Nein, nein, erst die Beine.« »Das hier war früher der Kuhstall«, sagte George Ring, »und echtes Stroh lag auf der Erde.« Mrs. Dacey ändert nie irgendetwas. Samuel sah ihre Meinung durch ihre Brillengläser und in ihrem harten Mausefallenmund schimmern. Ihre kalte Hand hakte ihn fest. Wenn er sich losrisse und wegliefe, würde sie ihn in einer Ecke fangen und ihren Schirm in seiner Nase öffnen. »Und echte Kühe«, sagte Mr. Allingham. Die Männer und Frauen, die hier tranken und tanzten, sahen aus wie die älteren Brüder und Schwestern der Trinker und Tänzer in dem Club um die Ecke, niemand indessen war schwarz. Es gab hier in Wasserfarbe getauchte tiefgrüne Gesichter, mit angemalten Herzmuscheln als Mündern und flechtenartigem, auf den Wangen versiegeltes, Haar; rot und purpurn, schiefergrau, gepegelt, rattenbraun und zäh geweißt, mit violett getinteten Augen oder stiltonfarbenen Lippen; rosa zerspalten, rosa gelidet, rosa wie der Bauch eines neugeborenen Äffchens, nikotingelb mit senffleckigen Augen, mit Rost, der sich durch die Bleiche kratzt, schwarze Haare mit Achsenschmiere bis ins Wasserstoffsuperoxyd; zerdrückte Fliegenstoppeln, salzkellerige Hälse, eingedickt mit Streupfeffer;
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Mohrrübenköpfe, Eidotterköpfe, Köpfe kahl wie Thymusdrüsen. »Nur weiße Leute hier«, sagte Samuel. »Das Salz der Erde«, sagte Mr. Allingham. »Das verdorbene Salz der Erde. Betrunken wie Schweine. Schon mal ein betrunkenes Schwein gesehn? Schon mal einen Affen gesehn, der wie ein Mensch tanzt? Schau Dir diesen König der Tiere mal an. Siehst Du ihn? Der da, der seine Lippe aufgefressen hat. Der so lächelt. Der seine Hochzeitsreise auf ihren Füßen macht.«
Nachwort Ich wohnte im Frühjahr 1941 bei Dylan Thomas in Laugharne, als ein Brief ins Haus kam, auf den er schon gewartet hatte. Er war von seinen Verlegern. Er öffnete ihn hastig, aber der Inhalt war enttäuschend. Ich erinnere mich nicht mehr an die Namen der Verleger, jedoch ging aus dem Brief klar hervor, daß das Manuskript, das er ihnen geschickt hatte, keineswegs das große, ernsthaft autobiographische Werk war, das sie erwartet hatten. Sie gäben das Manuskript hiermit zurück und würden sich freuen, zu einem späteren Zeitpunkt etwas anderes von ihm zu erhalten. Wir gingen im Garten des Schlosses von Laugharne spazieren, dort, wo Dylan oft um diese Zeit in dem Sommerhaus arbeitete. Er war ungehalten, und dennoch amüsierte ihn die Nachricht. Warum wollten Verleger von einem Schriftsteller immer, daß er die Leute eher beeindruckt als unterhält? Sein ernstzunehmendes Werk, das wußte er, war seine Lyrik. Seine Eighteen Poems, Twentyfive Poems und die Gedichte in The Map of Love, das Buch, dessen Publikation beinahe mit dem Ausbruch des Krieges zusammengetroffen war, stellten einen besonderen Fortschritt dar, ein Abstreifen all des Zubehörs, das sein eben geläuterter Genius nicht länger benötigte. Und am Schluß dieser Gedichte hatte er gesagt: »In der endgültigen Richtung der elementaren Stadt rücke ich vor, solang Ewigkeit ist.« Ich selbst war ein sehr vertrauter Zeuge dieses Fortschritts gewesen, denn, obwohl ich Dylan nicht vor der Veröffentlichung seines ersten Buches kennengelernt hatte, sind mir doch sämtliche Gedichte seines zweiten
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Buches gesandt oder gezeigt worden, und Dylan schickte mir außerdem alle Gedichte aus The Map of Love, unmittelbar, nachdem er sie geschrieben hatte. Zugleich zeigte er mir seine Geschichten, aber deren Fortschritt war völlig anderer Art. Die allererste Geschichte überhaupt, die er mir vorlas, war The Orchards. Es war jene Geschichte, in der sein an Joyce erinnernder walisischer Ortsname Llareggub zum ersten Male erschien, derjenige nämlich, der viel später der provisorische Titel von Under Milk Wood werden sollte. Ebenfalls in dieser Geschichte erschien der Ausdruck »ein wunschloses Vertraut«, den er später in dem Gedicht To Others Than You in dem Band Deaths and Entrances verwenden sollte. Tatsächlich bestand eine Verbindung zwischen den Geschichten und den Gedichten, doch sie wurde bald durchbrochen. Zur Zeit seines vierundzwanzigsten Geburtstages, als das Geburtstagsgedicht, aus dem ich zitiert habe, geschrieben worden war, gab er plötzlich den in hohem Maße energetischen, künstlichen und doch impulsiven Symbolismus auf, der in solchen Geschichten wie The Orchards, The Lemon und dem unbeendeten Fragment In The Direction of The Beginning zu finden war. Ganz unvermittelt begann er über Leute zu schreiben, so, wie sie tatsächlich waren und sich benahmen. Durch die genaue Erinnerung, die er von seiner Kindheit hatte, und eine außergewöhnliche Kraft, sie aufs neue erstehen zu lassen, öffnete er eine Quelle der Komödie, sowohl durch Charaktere als auch Situationen, die ihm zunächst verborgen geblieben waren, da sie seiner Erlebniswelt zu nahe standen. Es waren die Geschichten über Swansea, seine Geburtsstadt, und deren Umgebung; und sie waren durchaus walisischer
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Prägung, sie stellten Swansea wahrhaftiger dar als es selbst war. Er brachte sie 1940 als Sammlung unter dem Titel Portrait of The Artist As A Young Dog heraus. Nach Abschluß all dieser Geschichten begann Dylan sich Gedanken zu machen über eine andere, die er zu schreiben beabsichtigte. Es sollte eine ausgedehnte Sache werden, nicht im strengen Sinne autobiographisch, doch in Beziehung zu den beiden Bereichen seiner Erfahrung, seinem eigenen Tun und dem seines dramatisierten Selbst. Was er im übertragenen Sinne tat, würde der zentrale Charakter der Geschichte in seinem wirklichen Leben tun, und er würde auch genau denselben Zug fort vom elterlichen Zuhause ins unbekannte London nehmen, mit dem Dylan gefahren war. Diese Geschichte war in gewisser Beziehung recht aufwendig, zumindest so wie sie geplant war. Die zentrale Figur, Samuel Bennet, würde Abenteuer anziehen durch ihre eigene unabenteuerliche Ruhe und natürliche Bereitschaft, jede Situation anzunehmen. Samuel Bennet würde das Leben in jeder Lage akzeptieren, gleichsam wie ein Säugling, dem völlige Selbständigkeit verliehen wurde. Er würde kein Geld haben, kein Eigentum, keine weitere Kleidung, kerne kultivierten Neigungen. Und das Leben würde zu ihm kommen. Doch wer und welche Situation auch immer kommen würde, er würde weiterziehen. Dann, an einem bestimmten Punkt, einem unvorhersehbaren Zeitpunkt, würde er zurückschauen und entdecken, daß er eine Haut abgeworfen hat. Nach Dylans erstem Plan sollten es, soweit ich mich entsinne, insgesamt sieben Häute sein. Am Ende der Geschichte würde die Person schließlich nackt sein. In
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einer Hinsicht sollte es eine Reise durch das Inferno Londons, andererseits auch eine Komödie sein. Dylan las mir die ersten Kapitel vor, bestimmt jedenfalls die ersten zwei. Was den Titel betraf, war er seiner Sache noch immer nicht sicher, und so diskutierten wir mögliche Titel. The Skins schien nicht das Richtige. A Trader in Skins oder A Traveller in Skins schien eher möglich. Schließlich, von dem großen Haus bei Chippenham aus, wo er zusammen mit John Davenport wohnte, schrieb er mir, daß er lange Fahrradtouren unternähme und auf den Titel für seine Geschichte gekommen sei: Adventures in the Skin Trade. Etwa Ende Mai war er wieder in Schloß Laugharne, und von dort schrieb er: »Mein Prosabuch kommt gut voran, aber ich mag es nicht. Es ist, soweit ich mich erinnern kann, das einzige wirklich spontan herausgeschriebene meiner Werke. Ich habe schon 10 000 Wörter geschrieben. Es ist anstößig und trivial, zuweilen komisch, zuweilen rührselig und immerzu schlecht geschrieben — was mich allerdings nicht so sehr stört.« Das war ein für seine Bescheidenheit charakteristisches Urteil, eine Unterschätzung seiner eigenen Arbeit. Eine Woche später traf ein deutlicherer Kommentar ein: »Mein Roman plappert sich so weiter. Er ist eine Mischung aus Oliver Twist, Little Dorrit, Kafka, Beachcomber und gutem altem 5-Adjektiv-pro-Pfennig magenschüttelndem Thomas, dem Rimbaud aus der Cwmdonkin Drive.« In dieser Zeit ging es Dylan ziemlich schlecht. Kurz danach muß es gewesen sein, daß ich zu ihm nach Laugharne fuhr und der Brief der Verleger ins Haus kam. Ich weiß nicht, wieviele Kapitel er ihnen geschickt hatte, aber bald legte er den Brief beiseite und setzte die Arbeit an dem Buch fort. Am Nachmittag
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verschwand er und zeigte mir, als er zum Tee wieder auftauchte, einen neuen Abschnitt, den er geschrieben hatte. Er umfaßte eine Seite und war ausgesprochen lustig. Solche Art von Prosa und Dialog konnte er schnell schreiben, genau wie die Geschichten aus dem Portrait of The Artist. Dann pflegte er das Geschriebene zu korrigieren. Diese Methode stand in scharfem Gegensatz zur Art der Komposition seiner Lyrik, für die er verschiedene Arbeitsblätter verwendete und das Gedicht Satz für Satz aufbaute, mit gletscherähnlicher Geschwindigkeit. Es scheint verwunderlich, daß Dylan nach der Niederschrift von vier Kapiteln aufhörte, zumal die Komposition dieser komischen Schreibweise ihm so leichtfiel und zumal sie seine Begabung förderte, andere zu unterhalten und zugleich selbst daran interessiert zu sein. Ein möglicher Grund mag sein, daß er seiner eigenen Neigung mißtraute. Ein tieferer Grund, so glaube ich, ist der Einfluß des Krieges, insbesondere der Luftangriffe auf London, auf sein verschrecktes und im wesentlichen tragisches seherisches Vermögen. Er war fähig, aus reinem Vergnügen heraus die Wirklichkeit seiner Kindheit wiedererstehen zu lassen, sowohl in seinen Gedichten als auch in seinen Rundfunk-Texten, denn diese Erfahrungen waren realer Natur; was indessen nur halb Wirklichkeit, halb Fiktion war, mußte er aufgeben. Das erste Kapitel der Adventures in the Skin Trade, betitelt »A Fine Beginning«, wurde in John Lehmanns »Folios of New Writing« im Herbst 1941 gedruckt. Es erschien dann auch in den Vereinigten Staaten im Jahre 1953 im zweiten »Mentor Book« der Serie New World Writting, und zwar zusammen mit dem zweiten Kapitel; und das dritte und vierte, »Four Lost Souls«,
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wurden im dritten »Mentor Book« im Mai des selben Jahres gedruckt. Ende des Jahres wurden die ersten zwei Kapitel in der Dylan Thomas-Memorial-Ausgabe von Adam veröffentlicht. Es ist bemerkenswert, daß diese Kapitel, obwohl sie einzeln schon gedruckt wurden, bis jetzt noch nicht in Buchform veröffentlicht worden sind. Wie alles, was Dylan geschrieben hat und wie all die Komik in seinen Briefen oder in seinen Gesprächen, trägt auch dieses einzigartige Fragment unverkennbar die Prägung seiner Persönlichkeit. Jetzt ist real, was einmal für ihn real war; es ist lebendig, weil es einmal Teil seines eigenen Lebens war und weil es den Schlüssel zu einer bestimmten Haltung der Welt und den einzelnen Situationen gegenüber in sich trägt, die ganz und gar seine eigene war. Dieser Haltung, die vor allem verstanden werden muß als verwurzelte Opposition gegenüber materiellem Fortschritt, blieb er noch lange, nachdem er die Arbeit an dem Roman aufgegeben hatte, treu. Seine anarchische Phantasie sagte ihm zu, und das ist abermals ein Beispiel für sein Desinteresse am Ruhm, seine Weigerung, der Vorhut seines Ruhms Folge zu leisten. Unter anderen Umständen hätte er daran weitergeschrieben, zumal dies ein Thema war, das ihn schon seit einem, vielleicht zwei Jahren beschäftigt hatte und das ihn noch zu einem so späten Zeitpunkt wie Juni 1953 verfolgte, als er in einem Brief an Oscar Williams schrieb, daß er »beginne, an den Adventures in the Skin Trade weiterzumachen«. Tatsache war, daß zu der Zeit, als er aufhörte daran weiterzuschreiben, der Druck der Anarchie des Krieges und der Vision eines entstellten London den Platz seiner halb-dichterischen Phantasie einnahm und seine Vorstellungsgabe der »Ceremony After A Fire
Raid« und den schönen Gedichten, die die Kindheit neu entdecken, »It Was My Thirtieth Year To Heaven« und »Fern Hill«, unterwarf. Noch immer konnte er zurück in den Frieden gehen, doch von dort aus würde es kein Vorwärts mehr geben. Etwas war geschehen, das ihn von der Reise abhielt, die Samuel Bennet zu unternehmen imstande war und die er zehn Jahre zuvor selbst unternommen hatte. Mai 1955
Vernon Waikins
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Hermann Schürrer Europa: Die Toten haben nichts zu lachen Reihe Hanser Band 59. 112 Seiten. Broschur 7.80 DM Die Prosa Hermann Schürrers könnte man Monologe nennen: die monomanische Suada eines Mannes, der sich einen Riesenkatalog abendländischer Bildungsfonneln und -Inhalte nicht von der Seele, sondern sozusagen vom Bewußtsein redet. Schürrer, beziehungsweise das »ich« dieses unablässigen, geradezu wütenden Sätzeschwalls, erzählt keine Handlungsgeschichte. Eher ist es die unfrisierte Autobiographie eines Gebildeten, der zwischen der Abhängigkeit und der Ablehnung von Bildung, Wissen und abendländischem Bewußtsein zerrissen ist und noch einmal, ein letztes Mal, mit einer — seiner - späten Kultur abrechnet. Alles, was ein Intellekt gezwungen war zusammenzubrauen: Geschichte, Kunst, Literatur, Politik, Technologie, wird in einem Sprachkraftakt abgestoßen. Vor allem um die Person, das sprechende »ich«, freizulegen und zu entfernen von einem bestimmten lemurenhaften österreichischen Traditionalismus. Hermann Schürrer wurde 1928 in Wolfsegg, Oberösterreich, geboren. 1951 kam er nach Wien und studierte Jura, Geschichte, Englisch, Psychologie und Germanistik. Nach der Relegation von der Universität lebte er als Mitarbeiter eines Grafikers, verrichtete Handlangerdienste, verkehrte in Kaffeehäusern und schrieb. Die erste Nummer (1970) des in Wien erscheinenden »Journal« veröffentlichte Lyrik und Prosa von Schürrer: »Der kleinere Teil einer größeren Abrechnung«.
Richard Brautigan In Wassermelonen Zucker Reihe Hanser Band 46. 144 Seiten. Broschur 7.80 DM In Wassermelonen Zucker scheint die Sonne täglich in einer anderen Farbe: es ist die Hauptstadt der Phantasie. Es gibt einen Schriftsteller dort in Wassermelonen Zucker, der dieses Buch geschrieben hat. Einmal wird er gefragt: »Wie gehts mit diesem Buch voran? / Ach, es geht voran. / Fein. Worüber ist es? / Einfach nur, was ich aufschreibe: ein Wort nach dem ändern«. So ergibt sich ein seltsames Mosaik komischer und tragischer Mini-Erzählungen über die Liebe zu einem Mädchen Margaret, das sich später erhängt, über die Liebe zu einem Mädchen Pauline, über iNBOIL und seine Gang, die in den Vergessenen Werken leben, über Forellenzucht und Spaziergänge in scheinbar endlosen Kiefernwäldern. Jede Geschichte ist wirklich und phantastisch zugleich, wie in einem Traum. Es ist der Traum von einer Welt ohne Konkurrenz und Entfremdung: alles ist so, wie es sein sollte. Aber plötzlich machen sich in diesem Paradies Irritationen bemerkbar, die es zerstören wollen: die schöne Fiktion kann die schlechte Wirklichkeit nicht ersetzen. »Brautigan versucht, den Traum einer Jugend zu artikulieren, die nicht einverstanden ist mit den Verhältnissen, in die sie hineingeboren ist, und die sie als vorgesetzt und aufgedrängt empfindet.« (Helmut Heißenbüttel)
Richard Brautigan Forellenfischen in Amerika / Roman Reihe Hanser Band 73. 128 Seiten. Broschur 7.80 DM
»Er war verkleidet als Forellenfischen in Amerika. Er trug Berge auf den Ellenbogen und Eichelhäher auf dem Kragen seines Hemdes. Ein Stierfrosch quakte unaufhörlich in seiner Uhrentasche, und die Luft war erfüllt vom süßen Geruch reifer Brombeerbüsche.« Richard Brautigans zweites Buch, nach »In Wassermelonen Zucker« (Reihe Hanser, Band 46), ist wiederum wie ein Puzzlespiel mit vielen möglichen Bildern aufgebaut. Es beschreibt das sonderbare Leben des Herrn Forellenfischen an den Flüssen und Seen im Westen, seine Reisen in den Osten und in die Kindheit, seine Freunde und seine Umwelt. Eine Welt, die sich aus verblüffenden Materialien zusammensetzen und auseinandernehmen läßt, die auf Worte reagiert: ein durch und durch künstliches Paradies. Die komische Phantasie des Richard Brautigan, seine ungeheuerlichen Assoziationen, sein naiv-zwinkernder Blick, seine akrobatische Sprachspielerei: dafür gibt es in Deutschland keine Vergleiche. Man muß ihn selber lesen.